K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSEN8
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HANS WILHELM SMOL1K
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSEN8
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HANS WILHELM SMOL1K
IN WALD UND FLUR
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
M U R -N A 0 • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K •
BASEL
Frühling auf der Schutthalde So eigenartig es auch klingt und so verwunderlich es ist, ausgerechnet auf den Schutthalden und Abraumplätzen, den steinigen Ödländern und lehmigen Wegrändern pflanzt der Frühling seine allerersten Blütenbanner auf. Mag sich der Winter auch noch so grimmig zeigen, mag der Schnee noch auf den Feldern und in den Wäldern liegen, urplötzlich sind sie da, die kleinen goldenen und süß nach Honig duftenden Sonnenräder des Huflattichs. Auf seltsamen weißlichen und dicht beschuppten Stengeln drängen sie sich zum Licht, stehen dicht an dicht und zaubern den ersten Farbenfleck in das graue Land. An die dreihundert feine goldgelbe Strahlenhlüten reihen sich um etwa dreißig ein wenig dunklere Röhrenblüten in der Mitte des runden Körbchens. Und diese Röhrenblüten bieten den Schmetterlingen und Wildbienen, den Hummelköniginnen und Schwebfliegen, die sich ebenfalls vom ersten Sonnenstrahl aus winterlichen Schlupfwinkeln locken ließen, reichlich Nektar, bieten ihnen den Willkommenstrunk des nabenden Frühlings. Schon Ende Februar wagt sich der Huflattich heraus und blüht dann den ganzen März und April hindurch. Wenn das Wetter allzu unfreundlich wird, schließt er seine Blüten, genau so, wie er sie in den kalten Nächten geschlossen hält. Und noch ehe er seine Blattrosette gebildet hat, wird er schon von den weißen und-hellpurpurroten Lippenblüten der Weißen und der Roten Taubnessel eingerahmt. Sind die Taubnesseln erblüht, dann haben die geflügelten Nektarnäscher ausgesorgt. Die langen Kronenröhren sind voll des süßen Seimes, der sogar uns Menschen schmecken kann und uns auch bekommt. Denn der Huflattich wie die weiße Taubnessel sind wertvolle Heilpflanzen und werden schon von alters her geschätzt und genützt. Und der dritte im Bunde dieser kleinen Wundertäter ist das zierliche Hirtentäschel, das sich im April auf eben diesen Schutthalden und Ödländern erhebt, uns mit kleinen weißen Blütendolden grüßt und nun bis in den Oktober hinein seinen Platz behauptet. Kernstücke aus des Herrgotts Apotheke sind diese drei Schuttpflanzen, wobei der Huflattich besonders auf die Atmungorgane, die weiße Taubnessel vor allem bei Blutungsstörungen und das Hirten2
Urplötzlich sind sie da, die kleinen goldenen und süß nach Honig duftenden Sonnenräder des Huflattichs täschel auf die entzündeten, blutenden Schleimhäute heilend und lindernd einwirkt. Wo diese drei stehen, da ist auch meist die Brennessel nicht weit, die zwar recht unscheinbar und wenig beliebt ist, dafür aber in geradezu wunderbarer Weise unser Blut zu reinigen vermag. Ist jedoch der Lenz mit Blühen und Prangen vergangen, und der Sommer glühend und gleißend ins Land gezogen, dann versammeln sich am gleichen Schuttplatz einige recht düstere Gesellen aus der Pflanzenwelt. Zuerst macht sich da gewöhnlich das Schwarze Bilsenkraut breit, das wir leicht an seinen mattgrünen und übelriechenden Blättern, seinen zottig behaarten und klebrigen Stengeln und seinen schmutziggelb gesäumten, violett geäderten und rotscblündigen
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Blüten erkennen. Es blüht vom Juni ab, genau so wie der benachbarte Gefleckte Schierling und die sich bald hinzudrängende Hundspetersilie. Auch diese beiden Giftpflanzen strömen eigentümliche und widerliche Gerüche aus, gerade so, als wollten sie vor sich selbst warnen. Der Schierling riecht scharf und hat ebenfalls graugrüne, weiche und schlaffe Blätter. Und die Hundspetersilie verbreitet einen starken Knoblauchgeruch, wenn wir ihre gefiederten Blätter zerreiben. Mächtig wuchern diese Pflanzen, deren ganzer Leib gefährlichste und schwerste Gifte enthält. Aber noch kräftiger ist der vierte Giftmischer, nämlich der Stechapfel, der seine großen weißen Trichterblüten erst im Juli öffnet. Auch den Stechapfel können wir gar nicht übersehen oder verkennen. Sperrig und platzheischend drängt sich der meterhohe Stengel über die Pflanzennachbarn. Die seltsam gezackten Blätter riechen geradezu betäubend, und die Blüten verbreiten gegen Abend einen narkotischen Duft. Besonders auffällig aber sind die stachligen grünen Früchte, die uns sehr an grüne Kastanienfrüchte erinnern. Wie überall im Leben steht also auch auf den Schutthalden und ödplätzen Heilsames und Schädliches dicht nebeneinander. Was wir im allgemeinen so als Unkräuter über die Achsel ansehen, bi viele geheimnisvolle und starke Kräfte und wurde uns vielleicht nicht ohne Absicht so dicht an den Weg gestellt. Denn in der Hand des Arztes können auch die gefährlichsten Pflanzengifte Wunder wirken und dem kranken Menschen entscheidend helfen.
Silberkätzchen und Goldtroddeln Die kühnsten Vorboten des Lenzes haben noch kaum ihre weiße Glocken, blauen Sterne und goldenen Sonnenräder aufgetan, da erwachen auch schon die Büsche und Bäume zu neuem Leben. Aber während die ersten Blumen im wintergrauen Gras und Forst nur selten übersehen werden, bleibt das Erblühen der Wipfel oftmals ein geheimes Frühlingsfest. Nur die Silberkätzchen der Weiden an Bach und Fluß und die Goldtroddeln des Haselbusches am Waldrand und Feldrain erfreuen sich allgemeiner Beachtung. Vielleicht
ist das so, weil sie sich schon im Februar und im März entfalten, also die allerersten blühenden Bäume sind, vielleicht aber auch, weil es die wenigsten Menschen vermuten, daß die Bäume so frühzeitig schon erblühen und daß es auch noch viele andere Kätzchenträger gibt. Darum laßt uns in jedem Frühjahr eifrig in die Wipfel der Erlen und Birken, der Hainbuchen und Pappeln spähen! Bevor dort das erste Blättchen nur aus der Knospenkapuze zu lugen wagt, beginnen sich, ebenso wie beim Haselbusch, die schon im Vorjahr vorgebildeten dunklen Blütenspindeln zu dehnen und zu strecken. Die feinen Deckschuppen spreizen sich, die Staubgefäße lugen hervor, und auf einmal ist aus der unscheinbaren Spindel eine goldene Troddel oder ein silbernes Kätzchen geworden. All diese Kätzchenträger beeilen sich darum sehr mit dem Erblühen, weil sie fast alle Windblütler sind und der Wind natürlich durch die kahlen Wipfel viel stärker und kräftiger als durch belaubte Wipfel streichen kann. In ungeheueren, in unvorstellbaren Massen halten sie den Samenstaub in ihren goldenen Troddeln bereit, sammeln ihn oft noch in den Gruben der gespreizten Deckschüppchen, so daß er dann in dichten Wolken davongewirbelt wird. Die weiblichen Blüten, die den goldenen Samenstaub aufnehmen sollen, sind dagegen oft recht unscheinbare Gebilde. Beim Haselstrauch bleiben sie in kleinen Zweigknospen eingeschlossen und lassen nur ganz schüchtern ihre roten Narben als ein winziges Büschelchen hervorlugen. Bei der Schwarzerle sind es bescheidene eiförmige Kätzchen, kaum drei bis vier Millimeter lang, dazu fein rötlich angehaucht von der Farbe der ebenfalls kaum sichtbaren Narben. Ein wenig stattlicher zeigen sie sich schon bei den Birken, streben als schlanke grüne und aufrecht stehende Kätzchen ins Licht. Bei den Weiden wachsen sie sich zu großen grüngoldenen Blütentürmen aus, und bei den Zitterpappeln haben sie dieselbe graue oder meergrüne Troddelgestalt wie die männlichen Blüten. Und während nun beim Haselbusch, bei der Erle, der Birke und der Hainbuche die männlichen und die weiblichen Kätzchen und Troddeln auf demselben Strauch und Baume sitzen, erscheinen sie bei den Weiden und Pappeln getrennt auf verschiedenen Bäumen. Es gibt also gleichsam männliche Weiden und weibliche Weiden, männliche Pappeln und weibliche Pappeln. Mit anderen Worten: 5
Die eine Weide trägt nur die schlanken grüngoldenen Blütentürme der weibliehen Blüten und die andere Weide nur die goldgelben ovalen Kätzchen der männlichen Blüten. Außerdem sind die Weiden die einzigen Kätzchen träger, die dem verschwenderischen und unzuverlässigen Wind die Freundschaft gekündigt haben und sich von Insekten bestäuben lassen. Deshalb ist jede Weide im Frühjahr die reinste Insektenorgel, in der es nur so summt und dröhnt von den unzähligen Flügeln der Bienen und Hummeln, Wespen und Fliegen, Käfer und Schmetterlinge. Bei den männlichen Blüten holen sich die geflügelten Bestäuber das nahrhafte Pollenbrot und bei den weiblichen Blüten löschen sie dann ihren Durst. Ganz eigenartige Klunkertroddeln und äußerst liebliche Büschelkätzchen entwickeln im April und Mai auch die Eichen und Buchen, die Ulmen und Eschen. Aber nur bei den Eschen geschieht das vor der Laubentwicklung und kann darum bei den anderen Bäumen nur schlecht beobachtet werden. Auf alle Fälle aber sollten wir diesen Blütenfesten der Bäume ein aufmerksameres Auge schenken und uns mehr als bisher an ihrer zarten und heimlichen Schönheit erfreuen.
Der Bach und seine Blumen Der goldene Blütenstaub des Haselbusches war das Tausalz des Lenzes. Die silbernen Kätzchen der Salweiden waren die Standarten des Frühlings. Und nun ließ sich der Bach nicht länger mehr vom Schnee und Eis gefangen halten. Fast über Nacht befreite er sich von den Fesseln des Winters, und schon Anfang März sang er mit den warmen Winden um die Wette, blühten die Erlen, Pappeln und Birken an seinen Ufern und hob die Pestwurz ihre großen rosafarbenen Blütengebilde ins Licht. Die Blütenstände der Pestwurz fehlen an keinem Bach im Frühling, bis hoch in die Berge hinauf, und werden freudig von den sie bestäubenden Bienen und Fliegen begrüßt. Ihre mächtigen herzförmigen Blätter entwickelt diese Pflanze erst später. Es sind die größten Blätter in Europa, wahre Blattgiganten, die einen herrlichen, heimlichen Wald für vielerlei
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kleines Getier bilden. Wo die Pestwurz sich breitgemacht hat, ist darum für andere Pflanzen kein Raum mehr und vermag sich selbst die sehr derbe, rauhaarige und hohe Schwarzwurz — auch Wallwurz und Beinwell genannt — kaum noch durchzusetzen. Aber die Schwarzwurz blüht auch erst im Mai und dann ununterbrochen bis Ende September. Und sie hebt sich bis zu einem Meter empor und prangt mit weißen und rosafarbenen, karminroten oder violetten Glockenbündeln. Noch dichter als Pestwurz und Schwarzwurz rückt die Sumpfdotterblume an den Bach heran. Sie wagt sich ins Wasser selbst hinein, verankert sich gut mit weitverzweigten Wurzeln im Grund und glänzt geradezu vor Frische und Kraft. Ihre großen goldgelben Blüten eröffnen sieh erst Anfang April und sind für die ersten aus dem Winterschlaf erwachten Insekten eine üppige Pollen- und Honigweide. Sie wimmeln von Käfern und Fliegen, Bienen und Hummeln. Und selbst der finsterste Schwarzseher muß an den Frühling glauben, wenn der Bach in diesem leuchtenden Blütenkleid vor sein Auge tritt. Bis in den Juni hinein blüht die Sumpfdotterblume und wird im Mai dann oft noch von den feinen, den zarten, den himmelblauen Blüten des Sumpfvergißmeinnichts gesäumt. Auch das Sumpfvergißmeinnicht fehlt an keinem Bach und in keinem Graben. Flach wie ein Tellerchen ist seine lichtblaue Blüte und lacht uns selbst noch im Oktober entgegen. Unter all den kräftigen Bachblumen ist es die zierlichste Erscheinung. Wieder ein wenig vom Bach abgerückt, schießen schon zeitig der Gelbweiderich und der weinrote Schotenweiderich zu einer schier undurchdringlichen Wildnis empor. Mit dem Blühen lassen sich beide aber bis in den Sommer Zeit. Erst im Juni entfaltet der Gelbweiderich seine goldenen Sterne, und im Juli folgt ihm der Schotenweiderich und verströmt einen feinen MandeJgeruch. Kerzengerade und gewaltige Blütenmassen, die von unten nach oben abblühen, schiebt der Schotenweiderich fast mannshoch empor. Aber selbst er verblaßt gegen die purpurrote Blütenkerze des Blutweiderichs, die gleich einer leuchtenden Flamme aufzüngelt. Und immer steht er einzeln und allein, der Blutweiderich, und immer nur dort, wo Bach, Teich und Wiese selbst im hohen Sommer noch genügend
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Buschwindröschen im kalkreichen Buchenwald Wasser aufzuweisen haben. Auch er erblüht erst im Juli, hält dann aber bis zum September durch und steht dann oft wie ein König zwischen den blühenden Sumpfkratzdisteln, die sich gleich wehrhaften Rittern um ihn drängen. So ist der Bach vom März und April an bis zum September und Oktober nie ohne reichen Blumenschmuck. Und man sieht es seinen Blumen an, sie leiden keine Not bei ihm, sie stehen sich gut seit dem Tage, da sie an seine Ufer rückten und zur Gemeinschaft der Bachblumen zusammenwuchsen.
Blumenkinder des Buchenwaldes Habt ihr schon einmal Heidelbeeren oder Preiselbeeren in einem Buchenwald gepflückt? Oder habt ihr die schwefelgelben Wald8
Schlüsselblumen schon einmal in einem Fichtenwald gefunden? Ihr werdet lachen! Und die unter euch, die sich in Wald und Flur ein bißchen auskennen, werden sagen, was für eine dumme Frage! Aber seht, eine Frage kann gar nicht „dumm" genug sein. Nehmen wir doch einmal an, es würde uns jemand fragen: Ja, wieso wachsen die Heidelbeeren und Preiselbeeren nicht unter den Buchen, nicht in den Laubwäldern? Und wieso ist der Buchenwald im Frühling ein einziger Blumenteppich von Buschwindröschen, von Waldmeisterkolonien und Maiglöckcheninseln und Waldschlüsselblumenversammlungen? Warum wachsen diese Blumen nicht auch in den benachbarten Fichtenwäldern? Da können wir schließlich nicht einfach sagen: Das ist nun einmal so! Sondern wir müssen notgedrungen den Finger an die Nase legen und einmal darüber nachdenken. Dabei wird es uns sehr helfen, wenn wir wissen, daß die Buchen den Kalkboden bevorzugen, ja unbedingt auf Kalk angewiesen sind. Na, und nun brauchen wir keine allzu großen Denker zu sein, um zu vermuten, daß auch die Blumenkinder des Buchenwaldes echte und rechte Kalkliebhaber sind. Und wirklich haben wir damit bereits den Nagel auf den Kopf getroffen. Die blauen Leberblümchen wie die weißen Buschwindröschen, die seltsame bleiche Schuppenwurz wie die dunkelgrüne Haselwurz, das zweifarbige Lungenkraut wie die schwefelgelben Waldschlüsselblumen, die ebenfalls zweifarbige Frühlingsplatterbse wie der duftende Waldmeister, die zierlichen Maiglöckchen wie viele unserer wildwachsenden Orchideen, der violette Lerchensporn wie das feine Perlgras sind ausgesprochene Kalkpflanzen und deshalb die regelmäßigen Buchenbegleiter. Die Pflanzengemeinschaft des Buchenwaldes baut sich also auf dem gleichen Nahrungsbedürfnis auf. Und genauso lassen sich auch die meisten anderen Pflanzengemeinschaften in Wald und Flur erklären. Deshalb vermag der kundige Forstmann und Landmann lediglich von dem Auftreten bestimmter Pflanzen her zu sagen, wie der Boden, auf dem sie wachsen, beschaffen ist. Sogar die Techniker, die Geologen und ölsucher haben gelernt, auf den Pflanzenwuchs zu achten, und sparen sich damit viele langwierige und kostspielige Untersuchungen des Bodens.
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Zu Hunderten summen und surren, kribbeln und krabbeln die kleinen Schwelger in dem herrlichen Pflanzenwirtshaus herum, fühlen, sich pudelwohl und bestäuben so nebenbei alle die weiblichen Blüten. Sogar von den Wänden des Blütenkessels trieft süßer Seim, so daß keiner der Gefangenen an Flucht denkt. Sind aber die weiblichen Blüten bestäubt, dann wartet der Aronstab mit einer neuen Überraschung auf. Dann öffnen sich nämlich die über den weiblichen Blüten sitzenden männlichen Blüten und lassen aus ihren purpurnen Staubbeuteln goldenen Blütenstaub über die Insekten rieseln. Gleichzeitig schrumpfen die Haare am Blüteneingang zusammen und geben die Türe frei. Über und über bepudert, suchen die Gäste des Aronstabes das Weite und haben nichts eiligeres zu tun, als das nächste Aronstabgefängnis aufzusuchen und dort den Blütenstaub wieder abzuladen. Wir aber richten uns wieder auf. Einen tiefen Blick in das Verhältnis zwischen Blütenpflanze und Insekt haben wir getan. Ein Verhältnis, das voll der erstaunlichsten und wunderbarsten gegenseitigen Anpassungen ist. Ein Verhältnis, in dem die Pflanze das Tier mit großer List und vielen Gaben in ihren Dienst nimmt. Ähnliche Kesselfallen finden wir übrigens auch bei der im Mai gelbblühenden und ebenfalls stinkenden Osterluzei und einigen unserer einheimischen Orchideen.
Die blühende Wiese Drei Kleider hat die blühende Wiese und legt sie in jedem Jahr schön der Beihe nach an. Im zeitigen Frühjahr, wenn die Gräser noch grau vom Schnee und sehr niedrig sind, schmückt sie sich mit dem zarten weißen Spitzenkleid der Gänseblümchen. Es ist das gleichsam ihr einfaches und schlichtes Jungmädchenkleid, und man muß schon genau hinsehen, um seine Schönheit wahrzunehmen. So gewandet geht die Wiese durch den Februar und März. Im April aber, wenn die Laufkäfer wieder durch den Graswald krabbeln und die ersten Bienen und Schmetterlinge die Matten überfliegen, hüllt sich die Wiese in das goldgelbe Kleid der hohen 12
Das Spitzenkleid des Gänseblümchens ist das Jungmädchenkleid der Wiese und der niederen Schlüsselblumen, der wie lackiert glänzenden Butter- oder Schmalzblumen und der strahlenden Löwenzahnsonnen. Glanz und Schimmer ist in diesem üppigen Brautkleid, und ein Leuchten geht von ihm aus, daß uns Menschen das Herz aufgeht. Und hier und da wird dieses goldgelbe Kleid noch mit einem lilafarbenen Schleier von feinen Wiesenschaumkräutern oder mit einem dichten Saum von weißen Margeriten verziert. Werden dann aus den goldenen Löwenzahnsonnen silberne Samenkugeln, dann schlüpft die Wiese in ihr duftiges Sommerkleid, in das Blau der Glockenblumen, des Wiesensalbeis und des Storchenschnabels und stickt sich auch noch blaue Wegwartenborten darum. In diesem Schmuck geht sie durch den Juni, Juli und August, bis ihr die Sense alle Schönheit raubt. 13
Die goldene Löwenzahnsonne verwandelte sich in silberne Strahlen Wir -brauchen keine Dichter zu sein, um das zarte Gänseblümchenkleid mit Jen ersten zarten Schaf ehenwolken, das goldgelbe Brautkleid mit der strahlenden Frühlingssonne und das blaue Sommerkleid mit dem blauseidenen Sommerhimmel zu vergleichen. Gänseblümchen und Schlüsselblume, Butterblume und Löwenzahn, Margerite und Wiesenschaumkraut, Wiesensalbei und Glockenblume, Storchschnabel und Wegwarte sind die echten Wiesenblumen, die wir in allen deutsehen Gauen antreffen. Besonders das Gänseblümchen, dieses wundersame Wundkraut der alten Völker, nimmt mit jedem Wiesengrund vorlieb. Insgeheim hat es freilich eine Vorliebe für lehmigen Boden, genauso, wie es der Löwenzahn, der Hahnenfuß und das Wiesenschaumkraut gern 14
recht feucht haben und deswegen am üppigsten auf nassem Wiesengrund gedeihen. Auch die hohe, die schwefelgelbe Schlüsselblume steht nur auf feuchten Wiesen, während ihre niedere, ihre goldgelbe Schwester wieder trockenen Boden bevorzugt. Diese Vorliebe teilen mit ihr der Wiesensalbei, der Storchschnabel und der Weißklee. Es ist also gar nicht schwer, von dem Vorkommen der einzelnen Wiesenblumen auf den Wiesengrund und seine Bodenbeschaffenheit zu schließen. Der erfahrene Bauer braucht nur einen Blick auf die Wiese und ihre Blumen zu werfen, und schon weiß er. ob er sie entwässern oder berieseln muß und was sie wert ist. Ganz besonders verzieht er das Gesicht, wenn die Wiese über und über mit den glänzenden Butterblumen (Hahnenfuß) bestickt ist. Demi im Gegensatz zu den heilkräftigen Gänseblümchen, dem Wiesenschaumkraut und Löwenzahn ist der Hahnenfuß ein giftiger Geselle, so giftig, daß auf diese Wiesen kein Weidevieh getrieben werden kann. Auch wir Menschen sollten uns vor dem Hahnenfuß hüten. Schon das Lagern in einer solchen Wiese kann den Badenden böse Hautentzündungen bringen. Wer aber Butterblumen gar in den Mund nimmt, an ihren Stengeln herumkaut und den Saft schluckt, der muß mit schweren Sehleimhaut-, Rachen-, Magen- und Darmentzündungen, mit Erbrechen, Durchfällen, ja sogar mit Schwindel, Ohnmacht und Krämpfen rechnen. In alter Zeit haben sieh die Bettler und Landstreicher, die Mitleid erregen wollten, den Hahnenfuß ins Gesicht, auf die Hände und Beine geschmiert und dann die bösen Geschwüre zur Schau getragen. Dieses Gift ist aber nur in der frischen grünen Pflanze. Das getrocknete Heu ist dann wieder ganz ungefährlich und kann unbedenklich verfüttert werden. Und da wir gerade bei den giftigen Wiesenpfla/izen sind, soll auch der letzte Blütenschmuck der Wiese, die Herbstzeitlose, nicht vergessen sein. Auch sie treffen wir am häufigsten auf nassen und sauren Wiesen. Der zartrosa- und lilafarbene Kelch erschließt sich erst im September und Oktober, wenn die dunkelgrünen Laubblätter schon wieder unter die Erde geschlüpft sind. In diesem Blumen15
kleid nimmt die Wiese Abschied vom Sommer, und es ist, als ob sie sagen wollte: Laßt mir diesen letzten Schmuck! Rührt mich nicht an! Das Weidevieh jedenfalls vernimmt diese Warnung und macht einen großen Bogen um diese bleichen Blutenkelche, genauso, wie es im Frühjahr und Sommer die Blätter dieser Blume meidet.
Blütenfest im Wiesenteich Die Blüte einer Wasserpflanze kennen fast alle Menschen, nämlich die große glänzendweiße Blumenkrone der Seerose. Und da mag der Mensch ein Naturfreund sein oder nicht, ganz unwillkürlich stockt sein Fuß, bestaunt er dieses Blütenwunder auf der stillen Wasserfläche, das sich so prachtvoll von den tiefdunkelgrünen Schwimmblättern abhebt und aus dessen Mitte ein starkes Büschel goldener Staubgefäße leuchtet. Vielleicht entdeckt er zu allem Überfluß dann noch einige der wunderschönen Rosen- oder Goldkäfer, die in ihrem erzschimmernden grünen Panzer gleich Edelsteinen die auserlesene Blüte schmücken. Dieser und jener weiß vielleicht sogar noch, was eine „Mummel" ist, und kennt die schlichtere, die kleinere Schwester der Weißen Seerose, die dottergelbe Teichrose. Dann aber ist es aus mit dem Latein! \om Wasserhahnenfuß und Froschlöffel, vom Wasserknöterich und Pfeilkraut, vom Froschbiß und Tausendblatt, vom Laichkraut und Wasserschlauch und von der schönen Schwanenblume weiß kaum einer noch zu sagen, wie sie blühen. Was nur drei Schritte weg vom Wege sein stilles Pflanzenleben fristet, liegt schon so weit, daß der Mensch es kaum beachtet. Dabei überwuchern die zierlichen und fein gelappten Schwimmblätter des Wasserhahnenfußes die Teiche und die Gräben gar nicht selten bis zum Rand und bilden große grüne Inseln auf den stillen Wasserläufen. Und wenn der Wasserhahnenfuß im Juni und im Juli blüht, wenn sich dann dicht an dicht die kleinen weißen Blüten öffnen, dann sieht es aus, als habe es geschneit, steht jeder Teich im Brautkleid und ist wie verzaubert. Ein prächtiges Bild bietet den Augen um die Sommerzeit auch die hohe Blütenrispe des Froschlöffels. Bis zu einem Meter Höhe ragt sie empor, locker und fein16
gegliedert, stockwerkartig sich verjüngend, und ist von vielen kleinen rosafarbenen Blüten bedeckt. Mit keiner anderen Wasserpflanzenblüte ist der ragende Froschlöffel zu verwechseln, nicht einmal mit dem nahverwandten Pfeilkraut, dessen Blätter gleich Lanzen aus dem Wasser stechen. Wer solch ein Pfeilkrautblatt nur einmal gesehen hat, vergißt es niemals wieder. Nur selten erreicht der dreikantige Blütenschaft des Pfeilkrautes die Höhe des Froschlöffels. Dicht sitzen die schneeweißen Blüten am Stengel und sind sehr reizvoll purpurrot gepunktet. Auch der hohe Blütenstand der schönen Schwanenblume — oft wird sie Wasserliesch und Blumenbinse genannt — ist ein prachtvoller Schmuck unserer Gewässer. Zu einer großen Dolde vereinigt, spreizen sieb auf seinem hohen Schaft die rosafarbenen Blüten, Einen Blick für die verborgenen, die heimlichen Schönheiten müssen wir dagegen haben, um überhaupt die kleinen Blütenähren des Tausendblattes, des Laichkrautes und des Wasserknöterichs als Blüten anzusprechen und zu entdecken. Durchweg grünlich und nur ganz zart gerötet, dazu völlig blattlos, heben sie sich kerzengerade aus der dunklen Flut. Die winzigkleinen Blüten sind mit dem bloßen Auge kaum noch auszumachen. Der Wind bestäubt sie. Und dennoch sind diese kleinen Blütenschäfte, wenn sie in großer Anzahl sich zum Lichte heben, ein Anblick, ein Erlebnis ganz besonderer Art. Es ist, als ob die gänzlich dem Wasser angepaßten Pflanzen, die wir als regelrechte Dauertaucher anzusehen haben, aus der geheimnisvollen, tiefen, grünen Flut sehnsüchtig in die Welt der Sonne streben. Noch zarter, noch geheimnisvoller ist das Blütenfest der Wasserlinsen. Wie.goldene Kügelchen ragen da immer zwei runde Staubgefäße ein wenig übers grüne Blütenblatt und erinnern so recht an Märchenperlen, die über einen grünen Teppich rollen. Da müssen wir uns also schon recht liebevoll in diese Wasserpflanzenwelt versenken, um all das Schöne zu entdecken, das sie birgt. Und dazu läßt der Mensch sich heute kaum noch Zeit. Er weiß nicht mehr, wie schön die Welt doch überall und an allen Enden ist. Er sieht kaum noch, was die Natur ihm vor die Augen stellt. Dabei sind alle diese Wasserpflanzen wahre Lebenskünstler, und es würde sich wahrhaftig reichlich lohnen, ihr Dasein etwas näher zu 17
betrachten. Sie haben es gelernt, zu schwimmen und zu tauchen, zu atmen wie die Fische und vermögen in wunderbarer Weise — gleich den tierischen Amphibien — zu wechseln zwischen dem Leben auf dem Lande und im Wasser. Wir könnten manches von ihnen lernen. Doch wer das nicht will, der schaue wenigstens die Schönheit ihrer Blüten und lasse sich von ihr das Herz erhellen.
Bunte Fallensteller im Moor Ein alte? lustiges Sprichwort sagt: „In der Not frißt der Teufel Fliegen!" Und das soll wohl ausdrücken, daß man in der Not auf die seltsamsten Einfälle kommt und oft einen recht ungewöhnlichen Ausweg findet. Seht ihr, und in großer Not befinden sich auch viele Pflanzen, die in den Sümpfen und Mooren leben. Denn in dem stickigen Wasser und dem verschlackten und übersäuerten Grund genügend Luft und Nahrung zu finden, ist wirklich ein Kunststück. Darum ist denn nun der Sonnentau, der eines der kleinsten Moorpflänzchen ist, dazu übergegangen, sehr eigenartige Blätter zu entwickeln. Auf diesen seinen rundlichen Blättern stehen nämlich viele rote Härchen. Diese Härchen enden in einem kleinen Kolben, und aus diesem Kolben tritt eine klare Flüssigkeit, die wie Tau in der Sonne funkelt. Kommt eine Mücke oder eine kleine Fliege, um diese vermeintlichen Tautropfen zu versuchen, dann erweist sich, daß dieselben verflixt klebrig sind. Das Insekt bleibt mit dem Rüssel kleben, strampelt verzweifelt und versucht mit aller Gewalt, sich wieder loszureißen. Heimtückischerweise aber neigen sich jetzt alle umliegenden roten Drüsenhaare über das unglückliche Tierchen, betupfen es mit ihrem Klebtropfen und drücken es auf das Blatt nieder. In wenigen Sekunden ist das Insekt erstickt. Hierauf beginnen sich die Blattränder zu wölben und die Gestalt einer hohlen Hand anzunehmen. Der von den Blatthaaren ausgeschiedene Saft zersetzt das Tier und die Blattporen saugen den Nahrungsbrei auf. Der Sonnentau ist zum Fleischfresser geworden! Und es ist nicht die einzige Pflanze, die sich auf diese ungewöhnliche Weise hilft. In seiner unmittelbaren Nähe steht das Fettkraut, 18
bei dem das ganze Blatt einen klebrigen und verlockend glitzernden Schleim absondert und ebenfalls ein grüner Fliegenfänger ist. Und im Wasser des Moortiimpels selbst schwebt mit feingeschlitzten Blättern der Wasserschlauch, der es nun nicht auf Fliegen und Mücken, sondern auf Wasserflöhe und Mückenlarven abgesehen hat. An seinen schwimmenden Blättern befinden sich viele kleine Bläschen mit einer saugenden Mundöffnung und schleimabsondernden Mundhaaren. Die angelockten Wassertierchen geraten in den Strudel dieser Mundöffnung, werden in die Fangblase gerissen, dort von Säuren zerfressen und von den Blasenwänden aufgesogen.
Kostbarkeiten in Wiese und Wald Die Blätter der Büsche und Bäume schimmern wie Samt und Seide in der Sonne. Und zwischen den üppig wuchernden Gräsern und Kräutern erblühen jetzt die deutsehen Orchideen: das Knabenkraut, der Frauenschuh, die Sumpfwurz, die duftende Stendelwurz, die Hummelorchis, die Vogelnestwurz und viele andere. Wie ihre berühmten überseeischen Verwandten sind auch unsere Orchideen zu großen Kostbarkeiten geworden. Der unvernünftige Mensch hat sie in solchen Massen gepflückt und ausgegraben und stellt ihnen noch heute so begierig nach, daß ihr Bestand ernstlich gefährdet ist. Dabei halten sich diese schönen und eigenartigen Blumen weder in der Vase noch lassen sie sich verpflanzen. Denn alle unse Knabenkrautgewächse stehen in einer so innigen und engen Lebensgemeinschaft mit ganz bestimmten Bodenpilzen, daß sie ohne diese nicht mehr leben können. Selbst ihre^ Samen vermögen nur mit Hilfe dieser Pilzpartner aufzugehen. Diese Gemeinschaft mit den Pilzen geht z. B. bei der bräunlichen Vogelnestorchis so weit, daß sie sogar auf grüne Blätter verzichten kann und nur unscheinbare Schuppen entwickelt. Es ist also sinnlos, diese kostbaren und übrigens auch unter Naturschutz stellenden Pflanzen auszugraben und in den eigenen Garten zu verpflanzen. Sie gehen unweigerlich und samt und sonders zugrunde! Die noch am häufigsten in Auenwäldern, auf feuchten Wiesen und 19
Seerose: Blüten wunder auf der stillen Wasserfläche in tiefen Tälern aufzufindenden Orchideen sind wohl das Breitblättrige und das Gefleckte Knabenkraut. Rank und schlank heben diese Blumen ihre wein- oder rosenrote Blütenähre über die hellgrünen und braungefleckten Blätter. Die einzelne Blüte lädt die Bienen und Hummeln durch eine breite Lippe zum Landen ein. Den Nektar hält sie in einem tiefen Weinkeller verborgen. Über dem Türchen zum Weinkeller befinden sich, gleichsam wie in einem Geheimfach, die auf klebrigen Scheibehen stehenden, zu zwei Kolben vereinigten Pollenkörner. Versenkt das durstige Insekt seinen Rüssel in den Nektarsporn, so stößt es mit dem Kopf gegen dieses blitzschnell aufspringende Geheimfach und bekommt die Pollenkolben aufgepappt. Gehörnt wie ein Teufelchen, fliegt der Nektarnäscher dann davon. Die Pollenkolben aber drehen sich während des Fluges nach vorn und werden beim Besuch der nächsten Blüte auf deren Narbe abgestreift. 20
Die Blüte der Frauenschuh-Orchidee ist im wahrsten Sinne eine InseKtenrutschbahn Einen ebenso sinnreichen Blütenmechanismus weist auch der fast schon gänzlich ausgerottete Frauenschuh auf, der mit langen rotbraunen bis purpurroten Zipfelblättern und einer großen, goldenen, pantoffelähnlichen Unterlippe um die Insekten wirbt. Diese leuchtende und glänzend gewachste Blütenlippe ist im wahrsten Sinne eine Insektenrutschbahn. Denn alle die geflügelten Nektargierigen, die auf ihr landen, kommen ins Schlittern und Gleiten, torkeln in die kleine eirunde Öffnung des Blütenschuhes und stürzen in ihn hinein wie in eine geräumige Kesselfalle. Doch das Insekt rutscht sozusagen in sein Glück. Tief im Grunde des Schuhes findet es reichlich Nektar und wird, wenn es endlich den Ausgang ertastet 21
hat, auch noch mit Blütenstaub überpudert. Die mitgebrachten Pollenkörner bürstet ihm der Frauenschuh; gleich beim Absturz vom Leib. Andere Orchideen wieder, wie z. B, die Fliegenragwurz und die Hummelorchis, geben dem Naturforscher fast unlösbare Ratsei auf. Sie entwickeln nämlich Blüten, die den Eindruck erwecken, als ob an ihren Stengeln bereits naschende Fliegen oder Hummeln säßen. Und wirklich vermeiden die Insekten die eigenartigen Blüten so sehr, daß diese Blumen zur Selbstbestäubung gezwungen sind. Es scheint, als ob diese Orchideen mit ihrer „Erfindungsgabe" danebengetippt haben und zu ihrem eigenen Unglück die Insekten nun eher abstoßen als anlocken. Ihr seht, auch unsere Orchideen sind eine kleine Wunderwelt im Reigen der großen Naturwunder und verdienen es wirklich, daß wir sie hüten und beschützen, so gut wir nur können.
Am Rande des Kornfeldes Das Korn ist reif. Die hohen Halme wiegen sich im Winde. Deutlich hebt sich der feine blaue Schimmer der Roggenfelder von den golden überhauchten Weizenfeldern und dem samtenen und seidigen Glanz der Gerstenfelder ab. Und wie von einem liebevollen und kunstverständigen Gärtner gepflanzt, breitet sich rings um das Meer der Halme ein bunter Saum von blauen Kornblumen, rotem Mohn, karminvioletten Kornraden, purpurroten Taubnesseln und stark duftenden Kamillen. Zottenwicken und Ackerwinden klettern an den hohen Halmen empor und hängen ihre violetten Trauben und großen weißen oder rosigen Trichterblüten ins Licht. Es ist ein Bild, das das Herz jedes Naturfreundes mit Freude erfüllt. Und diesem und jenem Wanderer mögen dabei vielleicht die Worte Schopenhauers, des deutschen Philosophen, in den Sinn kommen, der einmal die Dichter und Künstler mit den Blumen der Felder verglich. Sie scheinen wohl unnütz zu sein, sagte er, aber doch geben sie den Feldern erst die Schönheit und den Glanz. Schopenhauer wußte damals noch nicht einmal, daß unter diesen scheinbar so unnützen und vom Bauer bisher mit Stirnrunzeln be99
grüßten „Unkräutern" auch wichtige Bundesgenossen unserer Getreidepflanzen sind. Durch die neuesten Untersuchungen stellte sich ganz einwandfrei heraus, daß* der Roggen bedeutend schneller wächst und gedeiht, wenn er mit genügend Kornblumen durchsetzt ist. Der Roggen auf dem von Kornblumen restlos gesäuberten Feld bleibt fast um die Hälfte im Wachstum zurück. Es scheint also doch so zu sein, daß sich die Pflanzen, die sich immer wieder und trotz aller Gegenmaßnahmen des Menschen zusammenfinden, aufeinander eingestellt und in ihren Bedürfnissen fein abgestimmt haben. Nicht der blinde Zufall, sondern das Angewiesensein auf die gegenseitige Hilfe und Förderung führt sie zusammen. Weitere Betrachtungen werden in dieser Hinsicht sicherlieh noch viele überraschende Zusammenhänge enthüllen. Wenn wir bisher glaubten, daß die Blumen der Felder dem Getreide das Licht, das Wasser und die Nährstoffe nehmen, so werden wir bald lernen, daß sie dafür das Erdreich mit Stoffen bereichern, die das Wachstum der Nutzpflanzen fördern. Warum sollte es auch auf dem Kulturland viel anders als auf dem Freiland sein, wo sich die Pflanzen ja auch zu einer wunderbar aufeinander abgestimmten Lebensgemeinschaft zusammenfinden und in schönster Harmonie nebeneinander leben und gedeihen? Auf jeden Fall dürfen wir uns heute an den sogenannten Unkräutern am Rande des Getreidefeldes getrost erfreuen und überzeugt sein, die meisten von ihnen sind nicht nur ein farbiger und lieblicher Schmuck der Felder, sondern sind wahre Freunde unserer Getreidepflanzen. Ganz abgesehen davon, daß zum Beispiel die Kamille und die Taubnessel zu unseren wichtigsten Heilpflanzen gehören und schon unendlichen Segen gestiftet haben. Auch die beliebte blaue Kornblume findet als Heilwasser für entzündete Augen und eiternde Wunden und als Tee für den Husten und das Brustleiden noch vielerorts Verwendung. Ein Absud der Ackerwinde aber stellt das beste Abführmittel dar, das wir haben. Nur die karminviolette Kornrade, deren Wurzel man früher gegen Blutflüsse, deren Kraut gegen Hautkrankheiten, deren Samen gegen Spulwürmer verwendete, darf der Ländmann nicht in zu großer Anzahl auf seinen Feldern dulden. Denn der Samen der 23
Kornrade enthält ein gefährliches Gift, das Mehl, Brot und Kornkaffee bitter schmecken läßt und schon zu ernsten Erkrankungen führte. Wir aber erkennen an diesem Beispiel der Feldblumen wieder einmal, wie vorsichtig wir Menschen sein müssen, wenn wir diese natürlichen Pflanzengemeinschaften zerstören wollen und wenn wir von „unnützen Blumen" reden.
Zwischen den Stoppeln Der Sommer ist vorüber. Die Zugvögel verlassen uns in Scharen und wimmelnden Wolken. Die Wolfs- und Krabbenspinnen begeben sich auf die große Wanderschaft. Die Luft ist erfüllt von den seidenen Fäden des Altweibersommers, und schon geht hier und dort der Pflug über das abgeernte Land. In diesen Wochen vor der großen winterlichen Ruhepause feiert ein zwerghaftes, ein tiefgeducktes und bescheidenes Pflanzenvolk noch einmal ein kleines und heimliches Blütenfest. Nicht viel höher als die Stoppeln selbst hebt es sich in das Licht, und wir müssen uns schon zu diesen Blumen niederbeugen, um ihre ganze und zierliche Schönheit mitzubekommen. Verschiedene von ihnen kennen wir schon vom Frühjahr und Sommer her, wo sie bereits zwischen der aufsprießenden Saat standen, dann aber allzusehr in den Schatten und die Bedrängnis der ragenden Halme gerieten. Nun aber haben sie Luft und Licht und Lebensraum in Hülle und Fülle nnd nützen die kurze Frist, um schnell noch einmal zu blühen und zu fruchten. Wir erkennen die krausen Blättchen und die zarten rosafarbenen Blütenrispen des Erdrauchs, die zierlichen weißen Sterne der unverwüstlichen Vogelmiere, die ziegelrot brennenden Blüten des Ackergauchheils, die feinen blauen Blütenähren des Ehrenpreises und die hübschen Großmütterchenkapuzen des Augentrostes. Wie um die Wette erobert sich dieses zähe Völkchen das weite Feld und ist ein wahres Wunder von Kraft und Schönheit in der lieblichsten Liliputausgabe. Wer sich die Mühe macht und ein Sträußchen dieser Blüten sammelt und dann zu Hause in eine kleine Vase stellt, der hat sich 24
noch einmal den Sommer in die Stube geholt und wird nicht müde werden, diesen Formenreichtum und diese Farbenpracht zu bewundern. Dann wird er übrigens auch das Ackerhornkraut mit seinen einzelnen weißen Blütchen und das Hirtentäschel mit seiner herzförmigen Fruchttraube unter diesen Stoppelfeldschönheiten entdecken und dazu noch viele andere, ihm wahrscheinlich ganz und gar unbekannte Blumen. Mit gelben Sternchen prangt da der Lattich, mit blauen Blüten die kleine Sonnenwende, mit rosafarbener Blütenwalze der Zwergknöterich, mit zarten Köpfchen das Ackerknorpelkraut, der Vogelkopf, die Ackerminze, der Ackergoldstern, der Ackerhohlzahn, das Turmkraut und wie sie alle heißen mögen. Und selbstverständlich darf auch das Feldstiefmütterchen bei diesem letzten Blütenfest nicht fehlen. Mit dem Ackervergißmeinnicht und der nickenden Ackerglockenblume zaubert es noch einmal einen blauen und gelb gesäumten Märchenschimmer zwischen die Stoppeln.
Der bunte Bahndamm Das Jahr neigt sich seinem Ende zu. Mit Sichel und Sense hat der Landmann zusammengerafft, was ihm Wiese und Rain noch einmal für die hungrigen Mäuler seiner Tiere bescherten. Kahl und ausgebeutet liegen die Felder, bunt und immer bunter werden die Wälder, und merklich kürzer sind schon die Tage. Um diese Zeit lohnt es sich, die Eisenbahndämme aufzusuchen, allwo das stachlige, wehrhafte und verfemte Volk der Disteln und Kletten, der struppigen Eisenkräuter und Ochsenzungen, der Wegwarten und Brennesseln eine letzte Lebensinsel fand. Herrlich haben sich hier die von allen Feldern und Wiesen, aus allen Gärten und von allen Nutzflächen Verstoßenen entfaltet. Es flammt und funkelt nur so von Kronen und Blütentürmen und silbernen Samenrispen. Die feinen Spinnwebfiligrane und der purpurrote Schimmer der Klettenblüten wetteifern mit den roten Distelschöpfen, den leuchtenden Rädern der Wegwarten und den azurblau klaffenden Märchenmäulern der Natternköpfe. Feierlich heben stolze Königskerzen und Goldruten ihre hohen Blütenschäfte über das Gewirr 25
Das stachlige, wehrhafte und verfemte Volk der Disteln . .. des Ampfers und der Beifußkräuter. Ganze Hecken bildet der fast ein Meter hohe Steinklee und spreizt seine gelben Bliitenrispen. Um ihn schmiegt sieh das blaublühende Gurkenkraut, der üppig wuchernde Borretsch, und daneben schwanken die glockenförmigen, rötlich-violetten und tiefblauen Blüten der Ochsenzunge. Es ist ein Farbenfest wie in den schönsten Sommermonaten! Aber diese Pflanzen und Blumen sind auch außerordentlich straff, fest und stark, sind stattlich und sperrig und verstehen es, mit tiefen Pfahlwurzeln durch Sehutt und Schotter zum nährenden Grund zu dringen. Was steckt doch für Saft und Kraft allein in diesen Disteln, von denen wir hier so ziemlich alle versammelt finden! Da steht die weißschaftige Saudistel neben der dornigen und fast ein Meter hohen Eselsdistel, die weißgeöeckte Mariendistel neben der mächtigen Weberkarde, und ringsum breiten sich die Krausdisteln, Kratzdisteln und Kugeldisteln in drangvoller Fülle ans. Nicht weniger ansehnlich ist die große Klette mit ihren breiten herzförmigen 26
Blättern und ihren stachligen Blütenköpfen, die sich fast unlöslich im Fell der Tiere und unserer Kleidung verhaften. Wahrhaftig aus Draht scheinen die Stengel der Wegwarte und des rotblühenden Eisenhartes zu sein. So stark wie ein Finger sind die hochaufragenden Königskerzen und so dick wie ein Samttueh ihre Blattrosetten. Und diese Lebenskraft steckt auch in den Säften dieser Pflanzen. Der Saft der Wegwarte wirkt auflösend, abführend, blutreinigend, appetitanregend, stärkend und schmerzstillend. Eine Tinktur der Königskerze heilt Krankheiten der Atmangswege und der Verdauungsorgane. Der Goldrutentee ist gut bei Hals- und Rachenentzündungen, bei Zahngeschwüren und Geschwülsten aller Art, bei Nierenkrankheiten und Keuchhusten. Klettenwurzelextrakt leistet beste Dienste bei der Behandlung der Furunkulose und stillt die Schmerzen bei starken Verbrennungen. Der Borretseh tut wahre Wunder bei Brust- und Bauchfellentzündungen und bei Gelenkrheumatismus. Der Steinklee stillt Blutungen, löst Krämpfe, erweicht Geschwüre und heilt Wnnden. Eine große und wunderbare Herrgottsapotheke steht da also am Bahndamm und gerade unter diesen allgemein verachteten Pflanzen beieinander. Und dann — was unser farbendurstiges Auge jetzt besonders entzückt — versammelt sieh hier auch zum letzten Male das leichte Völklein der Sommervögel, der Schmetterlinge, und hebt ein fröhlich Schaukeln und Gaukeln, Wippen und Nippen, Spreiten und Gleiten an. Nicht nur die ausgesprochenen Distelfreunde, wie die lebhaften Scheckenfalter, Füchse und Kaisermäntel, finden sich hier ein. Auch der braunweiße Brettspielfalter, das schwefelgelbe Posthörnchen, bedächtige Admirale und behende Distelfalter sind noch beim Umtrunk zu sehen. Darum vergeßt jetzt die Eisenbahndämme nicht! Hier feiert der Sommer seinen Abschied, und hei dieser Feier sollte kein Naturfreund fehlen.
An einer alten Mauer Viele Male sind wir an der alten Gartenmauer vorübergegangen und haben sie keines Blickes gewürdigt. Wer schaut sich auch schon
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eine Mauer an, wenn die Welt voller Blüten ist und die grünen Fluren lachen? Aber heute, da diese alte Mauer im vollen Licht der Wintersonne steht und wahrhaftig noch Wärme ausstrahlt, fühlen wir uns doch von ihr angezogen. Und heute sehen wir auch plötzlich, daß diese Mauer keine kahle und nackte Steinwand ist, sondern einer fein- und zartgemusterten Tapete gleicht. Es ist, als ob die Eintönigkeit der winterlichen Landschaft, der noch die glitzernde Schneedecke fehlt, unsere Augen für die kleinen Wunder am Wege geschärft hat. Ja, wirklich, ein Kunstmaler hat die alte Mauer mit vielen seltsamen Mustern und geheimnisvollen Ornamenten verziert, hat ihre Ritzen und Fugen mit geschwungenen Girlanden und Schnörkelleisten geschmückt und ihre Zinne mit vielfältigem Spitzenwerk versehen! Hauchzart sind die Farben, die er aufgetragen hat, sind gleichsam nur eine Ahnung von Gelb und Rot, Orange und Goldbraun, B!au und Graugrün. Aber je schärfer wir seine Kunst ins Auge fassen, umso mehr müssen wir ihn bewundern. Da finden wir Gebilde, die an krause Schriftzeichen, an zierliche Schüsselchen, an winzige gebuckelte Schilde, an vielverschlungene Bänder, an feinstes Blattwerk und gewölbte Krusten erinnern. Und nun erkennen wir diesen Künstler auch, es ist die bescheidenste und genügsamste aller Pflanzen, ist die — Flechte! Mit einer kaum sichtbaren Winzigkeit von Staub und Erde und Wasser weiß die Flechte auszukommen, schmiegt ihre Saugnäpfe in die geringste Vertiefung des Gesteins und vermag selbst noch dem härtes-ten Felsen ihr tägliches Brot abzuringen. Hier auf der alten Mauer aber geht es den Flechten gut, hier sind sie tüchtig „ins Kraut geschossen". Denn hier ist der Stein bereits so mürbe und so stark von Nässe durchdrungen, daß sogar schon Moose und Farne und hochentwickelte Blütenpflanzen gedeihen können. Die grünen und gelappten Girlanden zum Beispiel, die wie dicht an den Stein geschmiegte Blattianken aussehen, gehören zum Lebermoos. Auf diesem Mooskörperchen wachsen im Sommer richtige Becherchen, in denen die „Ableger" des Lebermooses liegen und vom Regen herausgespült werden. Und jene kleinen lederartigen und winterharten Blätter in der großen Mauerritze hier gehören der Mauerraute, einem Farnkraut. Flechten und Moose und Farne, 28
das sind ja die ältesten Pflanzengeschlechter, sind die Pioniere, die einstmals als die ersten Pflanzen das Festland eroberten. Auf eine Vergangenheit von vielen Millionen Jahren können sie zurückschauen. Sie sind es, die das nackte und gnadenlose Gestein mit ihren Saugnäpfen und Saugfasern angehen, es allmählich zermürben und den anderen Pflanzen den Weg bereiten. Der Siegeszug der grünen Pflanzenwelt wäre ohne die Flechten, die Moose und Farne gar nicht möglich gewesen. Und auch hier, auf der alten Mauer, haben sie so gründliche Arbeit geleistet, daß nun bereits der Mauerpfeffer dichte Rasen auf der Mauerzinne bilden kann. Auch der Mauerpfeffer wird kaum spannenhoch, denn noch ist die Steinmauer kein üppiger Wiesengrund. Haushälterisch spart er das kostbare Wasser als einen zähen Schleim in seinen dachziegelartig geordneten Blättchen. Unermüdlich schickt er seine wandernden Sprossen auf die Suche nach jeder Ritze voll Feuchtigkeit. Und so vermag er noch im heißesten Sommer zu bestehen und so üppig zu blühen, daß die Mauerzinne wie die Zinne einer Märclienburg im reinsten Gold aufleuchtet. Die gleiche Kunst der Wasserwirtschaft beherrscht auch die Hauswurz, die unter allen diesen Mauerpflanzen die fetteste und größte ist. Dichte Rosetten bilden ihre fleischigen Blätter, und aus ihnen erhebt sich dann der hohe Langtrieb, der eine stattliche Anzahl roter Sternblüten trägt. Die Hauswurz wurde früher gern auf die Dächer der Häuser, Scheunen und Ställe gepflanzt, denn die Menschen glaubten daran, daß sie vor dem Blitzschlag bewahre. Und im April blühen auf der alten Gartenmauer auch noch die Mauergänsekresse und die binsengrünen Hornkräuter. Ja, selbst der Löwenzahn findet auf ihr schon genügend Wurzelgrund, und Wasser. Im Frühjahr und im Sommer schimmern auch die Flechten farbiger, leuchten die Moose stärker. Darum vergeßt nicht, der alten Mauer auch im nächsten Jahre einen Besuch abzustatten!
Erste und letzte Blume des Jahres Über Nacht haben sich Feld und Wald in einen dichten Flockenmantel gehüllt. Gut geborgen, warm und weich liegen unter der 29
lockeren Decke die Samenkörner, die jungen Triebe, die Wurzeln und Knollen. Und mit den Pflanzen sind auch alle die leicht- und schnellfüßigen Kribbler und Krabbler, die beschwingten Flieger und Flatterer, die heimlichen Spinner und Spanner, die unterirdischen Bohrer und Raspier, Wühler und Nager schlafen gegangen. Still und selbstverständlich fügten sich alle in den Lauf des Jahres. Da gibt es keinen Eigensinnigen, der es ausgerechnet andersherum versucht. Oder doch? Tanzt wirklich keiner aus der Reihe? Gibt es keinen Schmetterling, der ausgerechnet im Winter um die Wipfel der Obstbäume flattert? Natürlich! Solch ein Eigensinniger ist der Frostspanner. Und bei den Pflanzen? Gibt es da wahrhaftig keinen winterlichen Sonderling? Doch, kommt nur mit in den stillen, den tief verschneiten Wald! Da unter den Haselbüschen können wir eine Blume finden, der es gefällt, ausgerechnet im Sommer zu schlafen und im Winter zu blühen, die erst dann aufwacht, wenn draußen Stein und Bein vor Frost krachen, wenn der Schnee vor Kälte knirscht, wenn sich kaum ein Tier aus seinem Bau wagt. Das klingt fast wie ein Märchen. Aber da 6teht sie eben doch, dort, unter dem Haselbusch, und hebt ihre schneeweißen Blütenblätter ins Licht. Nicht einmal einige wärmende Hüllblätter hat sie! Nackt und frank und frei ragt die weiße Blume in den Wintertag. Wie eine kleine Sonne leuchten die goldenen Staubgefäße. Und es ist, als ob ihr der Wind feine rote Bäckehen angeblasen hätte. Ist sie nicht schön? Fast erschreckt bleibt eben jetzt ein ziemlich dürrer Hase vor ihrer Schwester dort neben der Buche hocken. Argwöhnisch beäugt er sie und hopst schnuppernd näher. Nun schüttelt er gar seine langen Ohren. Vielleicht denkt auch er sich: „Ja, gibt's denn so was wirklich? Oder ist mir schon schlecht vor Hunger, sehe ich schon Gaukelbilder?" Und langsam hoppelt er weiter. Warum er die Blume nicht gefressen hat? Warum sie auch die Rehe verschmähten, deren Spuren dicht an ihr vorüberführen? Wer ahnt es? Klar, diese weiße Rose im Schnee ist giftig! Es war gut, daß der hungernde Hoppelsterz die länglichen, gesägten Grundblätter nicht gekostet hat. Sie sind eine Kost, die ihm die Gedärme um und um gedreht hätten. Und noch giftiger sind die Wurzeln. Schon auf der 30
Die kleine weiße Rose im Schnee ist giftig Haut ruft der Saft dieser seltsamen Blume heftiges Brennen und dicke Blasen hervor. Und wer von diesem Saft schleckt, dem kratzt es in Mund und Rachen, dem wird bald darauf schwindlig, der muß sich erbrechen, bekommt Durchfall und Krämpfe und kann, wenn ihm nicht geholfen wird, sogar sterben. So schützt sich diese Blume vor dem Gefressenwerden. Und das können wir ihr eigentlich gar nicht verargen. Denn wer würde sonst in dieser kargen Zeit nicht alles über sie herfallen? Da muß sie sielt schon ihrer schönen Haut wehren. Und um sich vor der Kälte zu bewahren, hat sie diese ihre dunkelgrünen Blätter mit einer feinen Lederschicht versehen. Und um soviel wie nur möglich vom 31
Licht der Sonne aufzufangen, verwandelt sie ihre weißen Blütenblätter — gleich nachdem die Blüte befruchtet wurde — in grüne Laubblätter. Ja, dieser kleine schöne Pflanzensonderling weiß sich zu helfen! Und die Lebenskraft, die in ihm steckt, kommt auch uns Menschen zugute, wenn wir sie richtig gebrauchen. Seht, da kommt sie schon, die alte Rosel, die Kräutermutter, die Holztaube, und späht scharf unter die Büsche. Sie kennt ja alle die verborgenen Flecken, wo die seltenen Heilpflanzen wachsen. Jetzt bleibt sie vor der Blume stehen und murmelt erfreut: „Da bist du ja wieder, mein tapferes Weihnachtsröslein, mein Schneeroserl, mein Winterröschen, du heimliche, schwarze Nieswurz! Und wie schön du wieder blühst! Ja, ja, ja, da sieht man es, daß einer trotz Wetter, Wind und Frost, trotz Not und Gefahr gesund und schön sein kann! Sollst nicht umsonst geblüht haben, sollst Menschen gesund machen, sollst Gicht und Rheuma lindern, Ausschläge und Flechten heilen und traurige und schwermütige Herzen wieder froh und leicht werden lassen!" Und sorgsam gräbt das alte Kräuterweiblein den starken Wurzelstock aus und schiebt ihn in ihre Tasche. Wer von euch aber die Heimat der Christrose kennenlernen will, der muß um die Osterzeit hoch in die Berchtesgadener Bergwelt steigen. Dort, zwischen der Salzach und dem Inn, blüht sie so reich, so üppig, daß wir wahrhaftig meinen, mitten im Rosengarten des Zwergkönigs Laurin zu sein. Wer das einmal gesehen hat, vergißt es sein Leben lang nicht wieder!
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