Das Beste aus meinem Leben Anno 2001
Axel Hacke
Inhalt
# 1/2001 "Wir haben kein Haustier..."
# 2/2001 "Vor einem...
97 downloads
1003 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Beste aus meinem Leben Anno 2001
Axel Hacke
Inhalt
# 1/2001 "Wir haben kein Haustier..."
# 2/2001 "Vor einem Jahr habe ich den Keller aufgeräumt..."
# 3/2001 "Immer noch habe ich nicht..."
# 4/2001 "Gestern morgen passierte dies..."
# 5/2001 "Reden ist Silber... Schweigen ist Gold..."
# 6/2001 "Ich saß in der Küche und las..."
# 7/2001 "Ein trüber Tag, grau der Himmel..."
# 8/2001 "Es war dunkel, als Luis eines Sonntags..."
# 9/2001 "Sie wollen wissen, warum ich neuerdings..."
# 10/2001 "Meine Lieblingshose war..."
# 11/2001 "Es gibt so Tage, die verbringe ich in meinem Büro..."
# 12/2001 "Es ist eine Weile her..."
# 13/2001 "Es war zwischen zwei und drei in der Nacht..."
# 14/2001 "Neulich lag der Werbebrief einer Umzugsfirma..."
# 15/2001 "Vor einer Weile nahm ich an einem Empfang teil..."
# 16/2001 "Von chinesischer Küche weiß ich nichts..."
# 17/2001 "In der Zeitung las ich..."
# 18/2001 "Gesundheitstipps lese ich gern..."
# 19/2001 "Früher war es ja so..."
# 20/2001 "Drei Fragen beherrschen mich im Frühling..."
# 21/2001 "Als ich das letzte Mal in Österreich war..."
# 22/2001 "Ich saß spät in der Küche..."
# 23/2001 "Was für ein ungebärdiger kleiner Kerl..."
# 24/2001 "Einschlafen. Nichts mehr sehen..."
# 25/2001 "Vor einer Weile las ich..."
# 26/2001 "Manchmal wäre ich gern Polizist..."
# 27/2001 "Neulich komme ich in die Küche..."
# 28/2001 "Urlaub. Ist das nicht diese herrliche Zeit..."
# 29/2001 # 30/2001 # 31/2001 # 32/2001 # 33/2001 # 34/2001 # 35/2001 # 36/2001 # 37/2001 # 38/2001 # 40/2001 # 41/2001 # 42/2001 # 43/2001 # 44/2001 # 45/2001 # 46/2001 # 47/2001 # 48/2001 # 49/2001 # 50/2001 # 51/2001
"Im vergangenen Winter..."
"Seit sehr langer Zeit wünsche ich mir..."
"Wenn ich nicht schlafen kann..."
"Es gibt so Tage..."
"Manchmal, an freien Tagen..."
"Paola, Luis und ich..."
"Den Sommer in der Stadt zu verbringen..."
"Ich saß in der Küche..."
"Wir waren bei Nachbarn zum Abendessen..."
"Neulich las ich, ein Desiger habe..."
"Wir saßen in einer kleinen Trattoria in Rom..."
"Spät saß ich nachts am Küchentisch..."
"Mein Arbeitstag beginnt so..."
"Ich hatte meinen freien Tag..."
"Ich fuhr mit dem ICE..."
"Ein melancholischer Nachmittag..."
"Luis und ich machten einen Ausflug..."
"Nun wir haben schon seit längerem zwei Handys..."
"Kürzlich fuhren Paola und ich..."
"Es war elf, als ich den Weinladen betrat..."
"Die beste Taxi-Anekdote, die ich kenne..."
"Weihnachten ist die Zeit der Rituale..."
#1 2001 Wir haben kein Haustier. Aah, Haustiere sind so konkret, verlangen Zuwendung, schmutzen. Machen Arbeit. Ich habe Arbeit genug. Obwohl… Wenn es der Gentechnologie gelänge, Pferde zu schaffen, die nicht größer wären als zehn Zentimeter – das wäre was für mich. Ich würde eine kleine Pferdeherde in der Wohnung halten. Abends, wenn ich heimkäme, könnten die Tiere mir fröhlich entgegengaloppieren, den Flur entlang. Oder man konstruierte Nashörner, die auch nicht größer wären. So eines würde ich zum Einkaufen mitnehmen und auf sein Horn den Einkaufszettel spießen. Später säße ich auf dem Sofa, Nashörnchen neben mir. Wir würden Tierfilme anschauen. Ich würde ihm den Rücken tätscheln, wenn vom Aussterben der Rhinozerosse die Rede wäre. Bei uns in der Wohnung wird nicht ausgestorben, liebes Kleines, bei uns nicht, gaaanz ruuuhig. Paola hatte, als sie klein war, einen Hamster. Er floh eines Tages auf den Dachboden und kam erst nach einer Woche zurück, bepudert von Staub, hungrig wie ein Wolf. Ich glaube, was für Hamster als Haustiere spricht, ist ihre Zählebigkeit. Neulich las ich was von einem Hamster in Moskau, der von einem Jagdhund verschluckt worden war. Man schnitt dem Jagdhund den Bauch auf und holte den Hamster heraus, lebend. Dann nähte man den Jagdhundmagen wieder zu. Auch der Jagdhund überlebte. In der Zeitung stand, die Meldung stamme aus der Komsomolskaja Hamstra, äh, Prawda. (Wetten, dass die beiden heute beste Freunde sind?! Unzertrennlich?) Neulich waren wir, aus Zufall, im Zoogeschäft. Zuerst
standen wir vor den Aquarien. In denen gab es winzige, rot leuchtende Garnelen und muskulöse Seesterne und auch Zwergfische, Siamesische Saugschmerlen, welche die ganze Zeit an den Scheiben lutschten, ja, sie schleckten mit breit gedrückten weißen Lippen die Aquariumsscheiben nach Algen ab. Man schaute von draußen diesen Scheibenlutscherfischen ins Maul, wie sie sehr aufgeregt am Glas herumtanzten: Es sah aus, als ob sie sprächen, als ob sie was verraten wollten, ein Scheibenlutscherfischgeheimnis. Hatte nicht Kohl als Kanzler ein Aquarium im Büro? Aber gewiss besaß er diese Fische nicht, die alles sehen und alles zu sagen versuchen. Schwatzhafte, ehrlose Saugschmerlen. Vor Jahren träumte ich übrigens mal von einem unheimlichen Tier, vierbeinig wie ein Hund, gepanzert wie ein Krokodil. Es lief auf hell erleuchteter Straße hinter mir und schleckte mit breitem Maul und langer Zunge meinen Schatten von der Straße. Der Große Schattenfresser. Schattenschmerle. Paola stand dann lange vor dem Terrarium, in dem es Leguane gab, welche mit jahrhundertealten Augen meine Frau betrachteten. Ich betrachtete den Käfig mit den Finken, welche heitere, gemütliche Geräusche von sich gaben. Manchmal hätte ich gerne einen Vogel, einen netten mit rotem Schnabel. Aber auf die Dauer macht mich die Betrachtung eines Vogels in einem Käfig wahrscheinlich noch melancholischer, als ich es ohnehin bin. Später saßen wir beim Abendessen. Ich sagte: »Luis! Als ihr neulich mit dem Kindergarten im Zoo wart: Welche Tiere habt ihr gesehen?« Er antwortete, den Mund voller Spaghetti: »Holtschratten.« »Was?«, fragte ich. Er schluckte und sagte: »Holzratten.« »Holzratten?«
»Ja, Holzratten.«
»Wie sehen die denn aus?«
»So.« Er legte seine Gabel hin und machte eine
unbestimmte Bewegung mit den Händen.
»Aha. Und was fressen sie?«
»Holz. Und Mohrrüben.«
»Du meinst Biber, was?«
»Nein, Holzratten.«
Ich sprach mit der Kindergärtnerin, war selbst im Zoo,
wälzte Lexika – ich weiß nicht, was er meinte. So ist das
bei uns: Wir träumen von kleinen Nashörnern,
Schattenfressern und Holzratten. Haustiere haben wir
nicht.
#2 2001 Vor einem Jahr habe ich den Keller aufgeräumt. Jetzt ist
er schon wieder voll. Man kann ihn nicht mehr betreten.
Ein nie abreißender Strom von nicht mehr benötigten,
vielleicht aber noch mal irgendwann nützlichen
Gegenständen ist von unserer Wohnung in den Keller
geflossen. Hat ihn verstopft. Zuletzt habe ich einen
Klapptisch und zwei Stühle hinuntergebracht, die ich mal
bei einem Händler für englische antike Möbel kaufte.
Jetzt ist der Keller so voll, dass die Tür nur einen Spalt zu
öffnen ist. Man kommt kaum hinein und käme man es
doch, bestünde Gefahr, nicht mehr hinauszukommen. Nie
mehr. Gefangen im eigenen Keller! Mann begraben von
Möbeln! Der Sperrmüll-Tote! Vergessen, verhungert,
verwest.
»So geht es nicht weiter«, sagt Paola beim Frühstück.
»Man muss endlich mal den Keller aufräumen.«
»Was soll der vorwurfsvolle Ton?«, sage ich.
»Das ist kein vorwurfsvoller Ton«, sagt sie. »Es ist eine
Feststellung.«
»Eine vorwurfsvolle Feststellung«, sage ich. »Ich hatte
keine Zeit. Sag mir, wann ich es hätte machen können!«
»Wenn du es wirklich gewollt hättest, wäre es schon
gegangen«, sagt sie.
»Ich hole meinen Terminkalender«, sage ich. »Dann
zeigst du mir, wann ich es hätte machen können.«
»Schrei nicht!«, sagt sie.
»Ich habe nicht geschrien!«, schreie ich.
Man muss den Keller aber wirklich aufräumen. Bloß:
wohin dann mit Tisch und Stühlen?
Ich rufe den Händler an: Nimmt er sie zurück? Er könne
nicht, sagt er, sein Lager sei voll, selbst der Keller… Ich
inseriere. Niemand meldet sich. Der Keller erinnert an eine Geschichte aus Friedrich Torbergs Tante Jolesch, eine Anekdote aus dem Prager Tagblatt. Da gab es einen Sportredakteur von legendärer Unordentlichkeit: Dr. Raabe-Jenkins. Sein Büro war ein Chaos, wie mein Keller ein Chaos ist. Als in den Umsturztagen 1918 tschechische Radau-Nationalisten die Redaktion plündern wollten, stürmten sie zuerst Raabe-Jenkins’ Büro, kehrten aber angesichts des wüsten Bildes mit den Worten »Hier waren wir schon!« sofort wieder um. Ach, wenn doch jemand meinen Keller plündern würde! Ich rufe Bruno an, meinen alten Freund. Bruno sagt, er denke schon lange, in jedem Haus müsste es einen Vernichtungsraum für nicht benötigte Gegenstände geben. Man nimmt das Zeug, stellt es hinein. Am nächsten Tag ist es nicht mehr da. Natürlich müsse man aufpassen, kein spielendes Kind dort zu vergessen, sagt Bruno. Und wie wäre es, frage ich, mit einer Verkleinerungsmaschine? So was Ähnliches habe es in einer legendären Folge von Mit Schirm, Charme und Melone gegeben, sagt Bruno. Terroristen hätten sich irgendwie verkleinern können und seien in geheime militärische Anlagen eingedrungen. Den Rest habe er vergessen. Alles wird kleiner, sage ich abends zu Paola. Handys werden kleiner, Computer auch, nur das Zeug in meinem Keller nicht. Neulich habe ich was gelesen über Roboter, die nicht größer sind als Bakterien. Man kann sie einem Menschen in die Blutbahn spritzen. Dort suchen sie nach verengten Stellen in den Adern oder nach Krebszellen – unglaublich, aber wahr. In eine Verkleinerungsmaschine, sage ich zu Paola, könnte man die Möbel hineinstellen. Dann würde man auf einen Knopf drücken und ping! wären sie so klein, dass man sie in einer
Zündholzschachtel aufbewahren könnte. Oder noch kleiner, so dass man sie meinem Blut zu injizieren in der Lage wäre. Dort könnten sie verengte Stellen suchen. Oder anders: Die Möbel würden durch die Maschine in eine winzige Parallelwelt zu unserer Wirklichkeit hinübergeschickt. Dort könnten sie von kleinen Parallelmenschen benutzt werden, bis wir sie wieder brauchen, zurückholen und… »Schätzchen…«, unterbricht mich Paola sanft. »Ja?«, sage ich. »In der Zeit, in der du dir den ganzen Quatsch ausgedacht und mir erzählt hast, hättest du schon den halben Keller aufräumen können, nicht wahr?« »Ach.«
#3 2001 Immer noch habe ich nicht die Hoffnung aufgegeben, Italienisch zu lernen. Immer noch denke ich, es könnte mir gelingen, diese wunderschöne Sprache so zu beherrschen, wie Paola sie beherrscht, meine Frau, deren Großvater Italiener war. Ich teile diesen Traum mit meinem alten Freund Bruno, der einmal mit seiner halbwüchsigen Tochter in München eine Paninoteca betrat, ein Geschäft, in dem Panini gekauft und verzehrt werden können, also Semmeln, belegte Semmeln. Bruno betrat den Laden, strebte forsch zur Theke und bestellte, um der Tochter väterliche Weltläufigkeit zu demonstrieren, laut: »Due Paganini!« Was soll man sagen: Es war um die Mittagszeit, das Geschäft war voll mit Leuten, alle verstanden Italienisch und alle lachten. Mein aktueller italienischer Lieblingssatz steht in Italien auf fast allen Lebensmitteln: da consumarsi preferibilmente entro …, zu verbrauchen vorzugsweise bis … Wer nach einer Flasche Wein noch flüssig preferibilmente sagen kann, bekommt von mir im Fach »Aussprache« ein Sehr gut. Prebefirilmente, prefibirilmente, pribiferelmente – preferibilmente. Brovassimi, äh, bravissimo! Warum möchte ich so gerne Italienisch können? Weil ich das Gefühl habe, dass alle Italiener gerne Deutsch können möchten, dass es aber auch eine Weile dauern wird, bis sie es können werden. Ich finde, wir sollten ihnen entgegenkommen. Sie tun sich schwer. Vor einer Weile besuchte ich die Stadt Lucca. Dort gibt es einen Turm, auf dem Bäume wachsen, den Torre Guinigi.
Dort kaufte ich einen Prospekt mit deutschem Text und las die rhetorische Frage: »Wer weiß warum der Turm gebäumt ist?« Die Antwort: »Da der baum im Mittelalter das Symbol der Wiedergeburt war, ließen die Guinigi einen auf ihrem Bild, den Palast genau, setzen und verbanden das mittelaterlichen Haus mit dem Turm, der nun nicht mehr fur ihre Beherrschung benotig war, aber der blieb schon gerade das Symbol der Kämpfe, um die Macht zu erreichen.« Ist das nicht süß? Weitere Fragen, die Bäumung von Türmen betreffend, sind pre-fe-ri-bil men-te ans Fremdenverkehrsamt Lucca zu richten. Das erinnert mich an ein Hotel, welches ich mal in Mantua bewohnte. Es bot im Prospekt »Saloni und Räume für Konferenze, Eischrank und fernesher nach Anfrage, Panoramische Terase«, dazu noch ein »Tüppisches Restaurant, Spätiälitaten Päten der guten tradizion«. Auch denke ich an ein venezianisches Restaurant, welches auf der Karte Folgendes bot: »Teufel fisch dem Grill«, »Gekochtes Gemuse Gemishter« sowie »Frittieste Fische der Adriatico«, wobei mir in dem Wort »Frittiest« der Keim einer europäischen Gemeinschaftssprache zu liegen scheint: Das französische Verbum frire (= braten) und seine deutsche Version frittieren sind von Italienern zu einem Partizip verschmolzen worden, das geradezu englisch klingt, wie der Superlativ von fritty etwa: fritty, frittier, frittiest. Was das heißt, müsste man noch festlegen. »Fernesher« ist natürlich auch klasse. Unten auf der Karte las ich: »Die produkt durfensein gefrierene/tiefgefrorene und/oder aufbewahrene«. Haben wohl einen Eischrank dort. In einem Dorf in Apulien landete ich mit Paola mal in einer Trattoria, auf deren ausschließlich italienischer Karte man auch formaggio, also Käse, anbot. Weil ich
Schafs- und Ziegenkäse verabscheue, fragte ich Paola,
was »Kuh« auf Italienisch heiße. Sie antwortete in einem
Moment geistiger Abwesenheit manzo. Ich bestellte
daraufhin in ähnlich erfreut-selbstbewusstem Tonfall wie
Bruno formaggio di manzo, das bedeutet Ochsenkäse.
Was soll ich sagen: Es war um die Mittagszeit, der Laden
war voll mit Leuten, alle verstanden Italienisch und alle
lachten. Auch Paola. Nur ich nicht.
Als wir draußen waren, rief ich erbost: Ob sie mich habe
blamieren wollen! Sie: Nein, sie sei in Gedanken gewesen!
Zur Beruhigung machten wir einen Spaziergang. Auf einer
Hauswand stand in großen Buchstaben: La speranza è
l’ultima a morire.
»Was heißt das?«, fragte ich.
»Die Hoffnung stirbt zuletzt!«, sagte Paola.
»So ist es«, sagte ich. »Ich werde Italienisch lernen! Und
Bruno auch! Venceremos!«
»Das ist spanisch«, sagte sie.
»Aber es stimmt«, sagte ich.
#4 2001 Gestern Morgen passierte dies: Ich will ins Büro, Paola
muss zum Zahnarzt, Luis soll in den Kindergarten. Wir
frühstücken. Bereiten Luis die Brotzeit. Dann sage ich:
»Wir müssen los.« – »Ich will das Bild zu Ende malen«,
sagt Luis.
»Das kannst du heute Abend«, sage ich.
»Du hast nicht Zähne geputzt«, sagt Paola.
»Natürlich habe ich Zähne geputzt«, sage ich.
»Ich meine Luis«, sagt sie.
»Ich will nicht Zähne putzen«, sagt Luis.
»Du musst«, sage ich.
»Ich muss das Bild fertig malen«, sagt er.
Wir stehen um das Bild herum, das Luis gerade malt.
»Sehr schön malst du«, sagt Paola.
»Sehr schön malst du«, sage ich.
»In einer halben Stunde ist mein Zahnarzttermin«, sagt
Paola.
»Ich muss ins Büro«, sage ich.
»Luis muss Zähne putzen«, sagt Paola.
Luis trottet widerwillig ins Bad. Es folgt eine Diskussion
mit ihm, welche Schuhe er anziehen soll. Es folgt eine
Diskussion, ob er einen dicken oder einen dünnen
Pullover braucht. Es folgt eine Diskussion, ob er einen
Mantel oder eine Jacke benötigt. Es folgt…
Zehn Minuten später stehen wir vor dem Fahrstuhl. »Wo
sind meine Schlüssel?«, fragt Paola.
»Woher soll ich das wissen?«, sage ich.
»Ich muss noch mal rein«, sagt sie.
»Das gibt’s nicht!«, rufe ich.
»Ich finde den Schlüsselbund nicht«, ruft sie aus der
Wohnung. »Hilf mir!«
Ich gehe zurück. Wir suchen gemeinsam die Schlüssel.
Wir sind alle in der Wohnung, auch Luis.
»Ich hab die Schlüssel!«, ruft Paola.
Wir gehen zum Fahrstuhl. Stehen zum zweiten Mal davor.
»Ist die Kerze in der Küche aus?«, frage ich.
»Ich habe sie nicht ausgemacht«, sagt Paola.
»Dann muss ich noch mal nachsehen«, sage ich.
»Aber wir müssen los!«, sagt Paola.
»Ich habe die Kerze nicht angezündet«, sage ich. »Warum
müssen wir bei Kerzenschein frühstücken? Soll uns die
Wohnung abfackeln?«
Den ganzen Winter über streiten wir uns über Kerzen. Sie
findet, Kerzen machen die Wohnung gemütlich; eine
gemütliche Wohnung sei wichtig. Ich hasse Angst vor
Feuer, auch Feuer selbst und finde, eine nicht
abgebrannte Wohnung sei wichtig. Außerdem
verabscheue ich das auf Tische und Bänke fließende,
langsam härtende Wachs. Eines Tages werden wir in
einem Wachsfluss verenden wie Opfer eines
Vulkanausbruchs im Lavastrom.
Ich gehe zurück, um nach der Kerze zu sehen. Luis läuft
mir hinterher. Paola läuft Luis hinterher. Wir sind wieder
in der Wohnung. Die Kerze ist aus. Wir gehen zum
Fahrstuhl. Stehen nun zum dritten Mal davor. Durch die
Tür hört man das Telefon.
»Da gehen wir nicht mehr ran«, sage ich.
»Natürlich nicht«, sagt Paola.
»Ich muss mal«, sagt Luis.
»Dann müssen wir wohl wieder rein«, sage ich.
Ich schließe die Tür auf. Wir stehen wieder in der
Wohnung. Luis geht zur Toilette. Mein Handy klingelt.
Das Büro: Wo ich denn bliebe, ein Besucher warte, ob ich
den Termin vergessen hätte. »Ich bin aufgehalten
worden«, rufe ich. Paola kommt mit Luis von der Toilette.
Wir gehen wieder zum Fahrstuhl und stehen zum vierten
Mal davor.
»Warum kommt der Fahrstuhl nicht?«, frage ich.
»Keine Ahnung«, sagt Paola.
»Wir nehmen die Treppe«, sage ich.
»Ich will den Fahrstuhl«, nölt Luis. Ich zerre ihn entnervt
zur Treppe.
»Kann ich mal dein Handy haben?«, fragt Paola. »Ich
kann nicht mit euch fahren, ich muss mir ein Taxi rufen,
sonst schaffe ich den Zahnarzttermin nicht mehr. Er ist
fast vorbei.«
Sie geht neben mir und dem nach dem Lift kreischenden
Luis zur Treppe. In diesem Moment hört man den
Fahrstuhl fahren, dann dessen Tür sich öffnen. Ein Mann
tritt heraus. Er klingelt an unserer Wohnungstür.
»Was wollen Sie?«, frage ich.
»Strom ablesen«, sagt er. »Haben Sie die Nachricht nicht
gelesen? Heute ist Zählerablesung.«
Paola und ich schauen uns an. In unseren Augen:
Resignation, schweigendes Einvernehmen. Wir gehen die
wenigen Treppenstufen, die wir bereits hinter uns hatten,
wieder zurück. Öffnen die Wohnungstür. Gehen hinein.
Sind nun wieder in der Wohnung. Paola zündet eine Kerze
an. Ich wähle die Nummer des Büros. Dass ich nie wieder
komme, sage ich. Und dass diese Familie ab sofort nie
mehr aus ihrer Wohnung geht. Es hat keinen Sinn mehr,
sie zu verlassen.
Zu schwierig.
#5 2001 Reden ist Silber, ist klar, aber du redest zu wenig, sagt
Paola, warum redest du so wenig?, sagt sie, rede mit mir,
du musst mehr mit mir reden.
Jawohl, sage ich. Aber ich habe Tage, da kann ich nicht
reden, da ist mein Mund wie zugenäht, verflixt!, und es
kann nichts heraus. Ich bin mit diesem und jenem so
beschäftigt, dass ich durch alle und alles um mich herum
nur hindurchgucke wie durch Glas, Paolaglas, Luisglas…
Was geht in dir vor?, was fühlst du?, was beschäftigt
dich?, fragt Paola.
Ähm, also… , denke ich, und dann: Kann man denn nicht
mal ’n bisschen so rumbrüten hier?
Wie soll ich denn wissen, wie es dir geht, wenn du nicht
redest?, fragt sie. Rede!
Wie es mir geht?, sage ich, das musst du doch fühlen.
Wie soll ich es fühlen?, sagt sie, bin ich deine Mutter?
Ach..., sage ich.
So geht das an manchen Tagen. Was ich den Frauen
neide, ist ihre unbegrenzte Fähigkeit zum Reden, ihre
immer währende Sprechbereitschaft, bitte, ich
pauschalisiere, es gibt auch andere, aber das ist nicht
wichtig. Es hat so was Helles, Silbriges, Lebendiges, das
Reden, und das Schweigen kommt mir vor wie der Tod.
Mein Vater, der sieben Jahre lang Soldat war, saß oft
stundenlang im Sessel, schweigend, in sich versunken, das
eine Auge geschlossen, das andere Auge, das er nicht
mehr schließen konnte, weil es ein Glasauge war, starr in
eine ewige Ferne gerichtet. (Apropos Soldaten: Neulich
hörte ich im Radio ein Interview mit einem Oberst der
Bundeswehr zum Thema »Frauen in der Armee«. Er
benutzte ein Wort, das ich noch nie hörte, sprach nicht
von »Männern«, sondern von »Geschlechtskameraden«. Aber das nur nebenbei.) Dann wieder macht es mich sehr nervös, wenn ich nach Hause komme, den Anrufbeantworter abhorchen will und erst einmal Vorträge von Paolas Freundinnen hören muss, die nicht für mich bestimmt sind, sondern natürlich für Paola, aber ich höre sie trotzdem, weil es ja auch mein Anrufbeantworter ist: »Ja, hallo Schatzi, ich bin jetzt hier am Max-Weber-Platz, muss dringend mit dir reden… Stell dir mal vor… Und dann habe ich zu ihm gesagt... Und weißt du, was dann passiert ist... Also, ich versuche es nachher noch mal... Oder vielleicht komme ich auch vorbei, oder, nein, das wird möglicherweise schwierig… Findest du nicht unglaublich, wie er sich verhält?… Na, mal sehen, he, jetzt klopft der hier gegen die Scheibe… Ich melde mich später noch mal.« Und irgendwo dazwischen mein alter Geschlechtskamerad Bruno: »Hallo, kannst du mich kurz zurückrufen?« In Heinrich Bölls wunderbarer Satire Doktor Murkes gesammeltes Schweigen hebt der Rundfunkredakteur Murke alle Sprechpausen auf, die er bei seiner Arbeit aus Tonbändern irgendwo mal herausgeschnitten hat, klebt sie zusammen und hört sie sich zu Hause an. Und er nötigt seine Freundin Rina, ein ganzes Band für ihn zu beschweigen, sie sitzt also vor eingeschaltetem Mikrofon und darf nicht reden. »Ich kann nicht mehr«, sagt sie dann, »ich kann nicht mehr, es ist unmenschlich, was du verlangst. Es gibt Männer, die unsittliche Sachen von einem Mädchen verlangen, aber ich meine fast, was du von mir verlangst, wäre noch unsittlicher als die Sachen, die andere Männer von einem Mädchen verlangen.«
Und in Tucholskys Schloss Gripsholm liest man nach der
berühmten Zeile »Wir lagen auf der Wiese und baumelten
mit der Seele« diese Sätze:
»Und dann ließen wir wieder den Wind über uns hingehen
und sagten gar nichts. Das ist schön, mit jemand
schweigen zu können.«
Das sind so Männerfantasien. Maulhalteträume. Im
wahren Leben ist es so, dass wir auf einer Wiese liegen
und ich nicht den Wind, sondern Paolas Redefluss über
mich hingehen lasse. Und denke: Ich könnte ihr
Schweigen mit dem Tonband aufzeichnen – wenn sie mal
schwiege, würde ich es aufzeichnen und anhören, aber sie
schweigt nicht. Dann denke ich, dass sie Recht hat: Reden
ist besser als Schweigen, auf jeden Fall, und auch ich
werde sehr viel reden, denke ich, über mich, über alles
reden, damit sie glücklich ist, ab morgen, ab übermorgen,
meine süße, liebe Silberzunge, reden, reden, reden…
Schweigen ist Gold, ist klar, aber Luis schweigt ein
bisschen viel. Fragen beantwortet er überhaupt nicht.
Morgens sitzen wir am Frühstückstisch, aber er
frühstückt gar nicht, sondern setzt ein Puzzle zusammen.
»Wie hast du geschlafen, Luis?«, frage ich.
Keine Antwort.
»Hast du was geträumt?«
Keine Antwort.
»Was möchtest du auf die Semmel? Marmelade?«
Keine Antwort.
»Oder Wurst?«
Schweigen.
»Käse?«
Stille.
»Luis?!«
Schweigen.
»Luis, ich habe dir neulich lang und breit erklärt, dass
man Antwort gibt, wenn man gefragt wird! Ich frage jetzt
noch mal: Was möchtest du auf die Semmel?«
»Na gut, Marmelade.«
Abends frage ich: »Wie war es im Kindergarten?«
Nichts.
»Hallooo! Wie es im Kindergarten war!?«
Nichts.
»Was habt ihr da heute gemacht? Ich will eine Antwort!«
»Nichts.«
»Und wie war es, nichts zu machen?«
»Schön.«
Er ist ein einsilbiger junger Mensch. Und ich weiß nicht,
was in ihm vorgeht. Nur manchmal stellt er Fragen, die
darauf hindeuten, dass er in seinem kleinen Kopf
Riesenprobleme hin und her und her und hin wälzt.
Kürzlich blickte er beim Abendessen von seinen
Schinkennudeln auf und fragte:
»Papa, ist heute heute?« Ich dachte einen Moment nach.
»Ja«, sagte ich dann, »heute ist heute. Aber morgen wird
heute gestern sein. Und gestern war heute morgen.
Allerdings wird morgen auch ein Heute sein.«
»Aha«, sagte er und verfiel wieder in Grübeln.
Ich dachte, dass ich neulich mit der Bahn gefahren war,
mit dem ICE Malwida von Meysenbug. Als wir uns einem
Bahnhof näherten, gab es eine Ansage, mit der bekannt
gegeben wurde, wann wir in den Bahnhof einfahren
würden, und dann sagte der Sprecher:
»Nun Ihre nächsten Reisemöglichkeiten…«
Gott, dieses Wort! Reisemöglichkeiten! Ich musste an
Sten Nadolnys Roman Netzkarte denken, dessen
Hauptfigur einen Monat lang kreuz und quer mit der
Bahn durch Deutschland fährt. Da gibt es eine Stelle, die
geht so:
»Zwei Uhr. Braunschweig ist durch. Vielleicht hätte ich dort schon in irgendeinen anderen Zug umsteigen können. Nein, nur zurück nach Berlin um 2 h 30. Oder nach langem Warten um 5 h 58 nach Jerxheim. Es taucht die Frage auf: Was mache ich um 6 h 46 früh in Jerxheim? Aber das ist es gerade, was ich wissen will. Erst wenn man einmal ohne jedes Ziel um 6 h 46 in Jerxheim war, dann weiß man, was daraus werden kann.« Reisemöglichkeiten. Heute, morgen, gestern. Als ich in Fulda aus dem Zug stieg und auf einen anderen Zug nach Leipzig wartete, hatte der Verspätung, eine Viertelstunde sogar. Es war 15 Uhr 33 , als er einfuhr, der Zug hätte schon um 15 Uhr 18 abfahren sollen, und in dem Moment, in dem er einfuhr, sagte die Stationssprecherin, dass nun der Zug nach Leipzig einfahre, »die Abfahrt war 15 Uhr 18 «. Ein Zug fährt ein und seine Abfahrt war schon. Jetzt war vorhin. Gleich ist schon vorbei. Ist heute wirklich heute? Ist es ein Wunder, dass dieser Junge schweigt angesichts so großer Fragen, die unvermittelt aus dem Alltag hervorbrechen? Er ist wahrscheinlich ein Genie. Denkt mit fünf schon über Riesensachen nach. Mir fiel der Witz ein, in dem es um die Frage geht, wovon der Tee süß wird: vom Umrühren oder vom Zucker? Der eine sagt, natürlich vom Umrühren, denn kein Tee sei süß, den man nicht umrühre. Aber wozu man dann Zucker brauche, wenn es sich so verhalte, fragt der andere. Dummkopf, sagt der andere: um zu wissen, wie lange man rühren müsse. »Luis, möchtest du Zucker in deinen Pfefferminztee?« Keine Antwort. Er schweigt. Denkt sicher wieder nach. Mein Goldjunge.
#6 2001 Ich saß in der Küche und las. »Was liest du?«, fragte Bosch, mein sehr alter Kühlschrank und Freund. »Seneca«, sagte ich. »Das Buch heißt Apocolocyntosis, eine Verhöhnung des Kaisers Claudius, den Seneca gehasst hat. Claudius hatte ihn in die Verbannung geschickt, ein grausamer und blöder Herrscher. Er wurde von seiner Frau mit Pilzen vergiftet. Apocolocyntosis heißt »Verkürbissung«, vielleicht besser: »Veräppelung«. Ein Wortspiel mit Apotheosis, Vergöttlichung. Lauter griechische Fremdwörter, die die Lateiner benutzt haben. Das Buch ist zweisprachig, lateinisch und deutsch. Kompliziert, was?« »Und warum liest du es?« »Ich habe meinen altmodischen Tag«, sagte ich. »Und Sehnsucht nach der Kindheit. Bei der Arbeit bin ich nicht vorangekommen und dann war Bruno da, um meinen Computer zu reparieren. Ich sehne mich nach den Zeiten, in denen ich morgens zur Schule ging und nachmittags Hockey spielte und weder Arbeit noch Computer hatte.« »Und wenn du zurückkamst vom Sport«, sagte Bosch, der schon in meinem Elternhaus stand, »hast du mir eine Flasche Apfelsaft entnommen und sie leer getrunken.« Er seufzte. »Damals war ich neu und fast ohne Kratzer.« »Und dann habe ich Latein gelernt«, sagte ich. »Immer noch interessanter als Computer.« »In der Küche hast du Vokabeln gepaukt«, sagte Bosch. »Und ich mit dir. Gallia est omnis divisa in partes tres…« Ich trank einen Schluck Bier. »Ich sehne mich nach den Zeiten, als ich auf dem Schulweg an einem Automaten vorbeikam, in den man Geld steckte. Dann drehte man einen Griff und bekam
eine Kaugummikugel. Bruno sagt, er habe in Finnland Cola-Automaten gesehen, in die man kein Geld mehr wirft. Man bezahlt mit dem Handy.« »Wirft man es hinein?«, fragte Bosch. »Man stellt eine Verbindung zwischen Handy, ColaFirma, Bank und Automat her. Geld wird vom Konto abgebucht. Der Apparat gibt das Getränk frei. Ein ColaWunsch geht um die Welt! Satelliten fliegen durchs All, weil einer Cola will. Das ist Fortschritt. Lächerlich. Wahrscheinlich steht der Automat in einem Funkloch oder der Computer der Bank ist kaputt und man kriegt nichts. Früher warf man Geld in den Automaten. Er war meistens defekt und man bekam nichts. Wo ist da Fortschritt? Er liegt nur in der Größe des Gedröhnes, das um eine Cola gemacht wird, die man nicht bekommt.« »Was ist das Silberne da auf dem Tisch?«, fragte Bosch. »Alles Mechanische verschwindet«, sagte ich. »Münzautomaten – weg. Dreieckige Seitenstellfenster an den Autos – weg. Schrullige Klappfenster an alten Citroëns – weg. Schiebefenster am Renault 4 – weg.« »Alte sprechende Kühlschränke – weg«, flüstert Bosch. »Alles wird elektrisch und unsichtbar«, sagte ich. »Wusstest du, dass es zu Senecas Zeiten Wasserautomaten gab? Man warf eine Münze hinein, Wasser lief in einen Löffel, eine Klappe öffnete sich, eine steinerne Hand reichte dir ein Stück Bimsstein. Weg, alles weg.« »Was ist nun das Silberne da?«, fragte Bosch noch mal. »Brunos Handy«, sagte ich. »Er hat es vergessen. Ein sehr modernes. Bei Handys ist jede Nummerntaste auch noch mit drei oder vier Buchstaben belegt, mit denen man die SMS-Text-Botschaften eingeben kann. Bei den alten Handys muss man, um zum Beispiel ein C einzutippen, dreimal die 2 drücken, für ein N zweimal die 6, für ein Z viermal die 9. Und so weiter. Bei diesem Apparat drückt
man jede Taste nur einmal und das Gerät reimt sich die
Wörter von selbst zusammen. Wenn es sie kennt! Wenn
es sie nicht kennt…«
»Gib mal Verkürbissung ein«, sagte Bosch. »Soll es uns
doch zeigen, was es kann.«
Ich klappte das Handy auf und tippte. Aber da stand nicht
Verkürbissung, sondern Verlusbirstung.
»Jetzt Apocolocyntosis«, sagte Bosch. »Mach es fertig, das
kleine Scheißding!«
Ich tippte. Brocnkoawovorgs.
»Tja«, sagte ich, hielt das Handy vor mein Gesicht und
nahm den Tonfall meines Lateinlehrers an. »Viel ist das
nicht, junges Ding. Schreiben Sie bis morgen das Wort
fünfzigmal. Fehlerlos.«
Ich stand auf. »Ich gehe jetzt schlafen«, sagte ich.
»Eine Bitte noch«, sagte Bosch.
»Ja?«
»Legst du mir den Seneca ins Eisfach? Ich möchte mich
noch etwas damit beschäftigen.«
#7 2001 Ein trüber Tag, grau der Himmel, ab und an Regen, fein
wie Staub. Den Vormittag hatte ich vor dem Computer
gesessen, gegrübelt, ein oder zwei Sätze geschrieben,
wieder gelöscht, weitergegrübelt, getippt, gelöscht… »Es
hat keinen Sinn«, dachte ich gegen zwei Uhr, »heute hat
es keinen Sinn.« Ich beschloss, in die Stadt zu gehen,
einen neuen Bademantel zu kaufen. Ich brauchte
dringend einen neuen und außer dem einen Trost, an
diesem Tag.
Ich betrat ein Kleiderkaufhaus. Hatte zwischen Frottee
und Flausch zu stöbern begonnen, als neben mir ein
Ehepaar stand. Er: ein freundlich lächelnder Weißhaariger
mit Goldrandbrille, Hörgerät hinterm rechten Ohr. Sie:
Kurzhaarfrisur, viele Fältchen, heller, schlichter Mantel.
Zwei nette ältere Leute. Über dem linken Arm der Frau
hing ein Bademantel. Ein weißer Spitz trippelte herum.
»Entschuldigung«, sagte sie, »können Sie uns helfen?«
»Aber ich bin kein Verkäufer. Ich kaufe selbst ein.«
»Wir suchen einen Bademantel für unseren Sohn, ein
Geschenk. Uwe ist so groß wie Sie, sicher jünger…«, sagte
sie.
»Er wird nächste Woche 50!«, rief der Mann.
»Ich bin 45«, sagte ich leise.
»Wie bitte?«, rief er, eine Hand am rechten Ohr.
»Ich bin erst 45!«, rief ich. Er nickte lächelnd.
»Könnten Sie diesen Bademantel hier anprobieren?«,
sagte die Frau und zeigte auf den Mantel auf ihrem Arm.
»Wenn er Ihnen passt, passt er Uwe sicher auch.«
»Gerne«, antwortete ich, nahm den Mantel, schlüpfte
hinein. Er war lila, mit grün-gelben Blüten.
»Könnten Sie hin und her gehen?«, sagte sie. Ich ging hin
und her, wie auf dem Laufsteg.
»Der Mantel ist mir zu klein«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie, »aber Uwe ist nicht so dick wie Sie.«
»Wie bitte?«, sagte ich.
»Was sagtest du?«, rief ihr Mann.
»Dass Uwe nicht so dick ist!«, rief sie.
»Stimmt!«, rief er.
»Ich bin nicht dick«, sagte ich.
»Entschuldigung«, sagte sie. »Uwe ist sportlich. Er hat
breitere Schultern. Er trainiert dreimal die Woche mit
Gewichten. Der Mantel würde von seinen Schultern
anders fallen.«
»Ich trainiere auch«, sagte ich. »Im Fitnessstudio.«
»Ach ja?«, sagte sie.
»Was hat er gesagt?«, rief ihr Mann, Hand am Ohr.
»Dass er Sport treibt, aber nicht so viel wie Uwe!«, rief
sie. Der Spitz schnupperte an meinen Beinen, er störte
mich, ich schob ihn mit dem Fuß beiseite. Er begann zu
kläffen. Ich erschrak.
»Haben Sie Angst?«, rief der Mann. Er hatte immer noch
ein freundliches Lächeln. »Er riecht, wenn Sie Angst
haben. Sie müssen keine Angst haben!«
»Aber ich habe keine Angst«, sagte ich. »Er wimmelte so
vor meinen Füßen herum. Ich wollte ihn nicht treten.«
»Sie dürfen ihn nicht treten!«, rief er. »Keine Angst!«
Der Hund zog sich ein paar Meter zurück und schwieg.
»Es ist sehr freundlich von ihnen, dass Sie uns helfen«,
sagte die Frau und nestelte am Kragen des Bademantels
herum. Sie setzte mir die Kapuze des Mantels auf. Der
vordere Kapuzenrand hing mir ins Gesicht. Ich schwitzte.
»Sie stehen irgendwie schief«, sagte sie. »Wenn Sie
aufrechter stünden, würden Sie schlanker wirken. Unser
Uwe hat immer eine sehr straffe Haltung. Obwohl er ja
bis zum Umfallen arbeitet, wissen Sie. Er arbeitet zu viel!
Er hat ja nicht mal Zeit, sich einen neuen Bademantel zu
kaufen.« Sie trat etwas vor und betrachtete mich. Innerlich hatte sie sich bereits von mir verabschiedet. Ich war nicht mit Uwe zu vergleichen. Ich konnte ihm nicht das Wasser reichen. Ich konnte nicht mal einen Bademantel für ihn probieren. »Was sind Sie von Beruf?«, fragte sie. »Schriftsteller«, sagte ich. »Was?«, rief ihr Mann, Hand am Ohr. »Schriftsteller!«, rief ich. »Ich schreibe. Meistens.« Er nickte. »Wie schööön!«, rief seine Frau schrill. »Sie haben sicher heute schon viele schöne Sachen geschrieben und sich einen kleinen Einkaufsbummel verdient!« »Ja«, sagte ich unter meiner lila Kapuze hervor. Sie gab mir die Hand. »Vielen Dank!«, sagte sie. »Aber man kann an Ihnen doch nicht erkennen, ob der Mantel der Richtige ist für unseren Sohn.« »Ich dachte es mir«, sagte ich. Ihr Mann hob die Hand und grüßte mich winkend. Der Hund stob noch einmal aufkläffend an mir vorbei, hinter ihnen her. Langsam zog ich den lila Bademantel mit den grün-gelben Blüten aus und legte ihn über einen Garderobenständer. Dann verließ ich das Kaufhaus und ging die Straße entlang, ohne Bademantel, ungetröstet, ziellos.
#8 2001 Es war dunkel, als Luis eines Sonntags erwachte, in unser
Bett kroch, sich quer zwischen uns legte, an Paolas
Haaren zupfte und mit den Füßen in meinem Gesicht
stocherte. Nach zehn Minuten stand Paola auf und
machte das Licht an. Sie sagte, sie habe schlecht und
wenig geschlafen. Deshalb werde sie sich im
Kinderzimmer noch etwas hinlegen. Sie brachte einen
Korb mit Spielzeug, ging in Luis’ Zimmer, schloss die Tür
und ließ uns allein.
Ich machte das Licht wieder aus. »Lass uns noch schlafen,
Luis«, sagte ich.
»Nein«, sagte er.
»Doch«, sagte ich.
»Nein«, sagte er.
Ein schmaler Lichtstrahl traf meine geschlossenen Augen.
Ich öffnete sie und wurde von einem winzigen Lichtpunkt
direkt vor meinem Gesicht geblendet.
»Was ist das denn?«, fragte ich.
»Eine Alien-Schock-Lampe«, sagte er.
»Was?«
»Eine Alien-Schock-Lampe. Man kann damit Aliens
erschrecken, damit sie einem nichts tun.«
Ich nahm ihm das Lämpchen aus der Hand und leuchtete
meinen Wecker an. Es war sechs Uhr. Sonntags.
»Die Aliens schlafen noch«, sagte ich müde. »Man darf sie
nicht erschrecken. Woher hast du dieses Ding?«
Er knipste die große Schlafzimmerlampe an und holte aus
dem Spielzeugkorb ein zerlesenes Mickymaus-Heft.
Mitten im Heft war eine Geschichte über einen Jungen
namens Tom, der von einem Poltern aus dem Schlaf
geweckt wird, mit seiner Alien-Schock-Lampe in den
Garten geht und dort ein kaputtes Raumschiff findet.
»War die Lampe bei dem Heft?«, fragte ich.
»Ja«, sagte Luis aufgeregt und leuchtete auf dem Bild
herum. Er lenkte den Lichtstrahl auf ein grünes Männlein
mit Fliegenaugen, das im Gebüsch versteckt war. Auf
dem nächsten Bild unterhielt sich dieser Alien mit Tom.
»Liest du mir vor, was der Alien sagt?«, fragte Luis.
Ich las. Seltsam! »nennöK« stand da und »kcülgnurev«.
»Es ist ein türkisches Alien«, sagte ich. Ich las alle Wörter
vor, wie sie gedruckt waren. enieK emaN hcI nennöK
eniem ztalpttorhcS....
Luis fiel vor Lachen aus dem Bett. Ich kapierte, dass man
die Wörter von rechts nach links lesen und in die richtige
Reihenfolge bringen musste.
»Du keine Angst!«, las ich. »Mein Name Zopotek. Ich mit
meine Ufo verunglück! Können helfen und Schrottplatz
zeige?«
Sofort glitt Luis’ Finger auf dem nächsten Bild die Wege
eines Irrgartens entlang. Er fand gleich die Strecke zum
Schrottplatz. Er musste das schon x-mal gemacht haben,
seit er das Heft bekommen hatte.
»Lies weiter!«, sagte er.
Das vorletzte Bild: ein riesiger Schrotthaufen, in dem man
ein passendes Zahnrad für das kaputte Ufo finden sollte.
Luis zeigte mit dem Lampenstrahl auf das richtige Rad.
Die letzte Zeichnung zeigte, wie der Alien in seinem
reparierten Raumschiff abflog.
Ich machte das Schlafzimmerlicht aus.
»Pass auf!«, sagte ich zu Luis. »Du musst dich jetzt mit
deiner Alien-Schock-Lampe ans Fenster stellen und
schauen, ob uns ein Alien besucht.«
Luis sprang auf und lief zum Fenster. Ich kuschelte mich
in die Kissen. Im Dämmerlicht sah ich meinen Sohn, wie
er aus dem Fenster starrte und mit seiner kleinen Lampe
hinaus blinkte. Die Sache schien ihm sehr wichtig zu sein.
Er schaute und blinkte und schaute und blinkte. Ich lag im Bett und betrachtete Luis, wie er den dünnen Strahl seiner Lampe durch den Hof gleiten ließ, auf der Suche nach Sendboten fremder Galaxien. Mann! Es ist wunderbar, seinem fünfjährigen Sohn zuzusehen, wie er mit ernstem Gesicht den Aliens im Weltraum Blinkzeichen gibt. Mir standen Tränen in den Augen. Einmal rief Luis ein kehliges »Daaaa!«, fuchtelte mit der Lampe, pochte gegen die Scheibe. Ich rannte zum Fenster. Es war nur Herr Neumann aus dem Hinterhaus, der immer im gelben Trainingsanzug, mit rosa Helm, Schutzbrille und Mountainbike zum Frühsport aufbricht. Herr Neumann ist etwas seltsam. Aber er ist kein Alien. Als er eingesehen hatte, dass sein Warten erfolglos bleiben würde, kroch Luis wieder ins Bett. Ich las ihm noch zwei Donald Duck- Geschichten vor. Irgendwann öffnete sich die Tür und Paola kam herein. »Was macht ihr?«, fragte sie. »netuG negroM! riW netraw fua nehcnnämsraM!«, sagte ich. »tshcaM uD nehcsiwzni eeffaK?«
#9 2001 Sie wollen wissen, warum ich neuerdings so seltsam unproportioniert aussehe. Mein Oberkörper irgendwie so lang… Die Beine dazu seltsam kurz… Gut. Kürzlich hatte ich einen Urlaubstag. Wir beschlossen, ihn in Salzburg zu verbringen, eine Autostunde von hier. Morgens frühstückten wir. Luis wollte Zitronenlimonade zum Frühstück. Ich wollte nicht, dass er Zuckerwasser zum Frühstück trank. Aber ich wollte auch keine Diskussion. Ich wollte Ruhe. Und Zeitung lesen. Es war mein freier Tag. »Wir haben keine Zitronenlimonade mehr«, log ich. Man soll nicht lügen. Aber manchmal ist die Lüge die einzige Waffe fauler Väter gegen ihre fünfjährigen Söhne. Luis gab sich zufrieden. Er trank Milch. Doch nach dem Frühstück sah ich, wie er in die Vorratskammer ging. Als später Paola ihn im Kindersitz anschnallte, hörte ich, wie er ihr ins Ohr flüsterte: »Papa lügt. Es war noch Limo da.« Paola sah mich seltsam an. Ich schaltete das Autoradio ein. Jemand sagte (und es handelte sich wirklich um ein merkwürdiges Zusammentreffen): »Die Lüge ist in unserer Gesellschaft moralisch negativ besetzt.« Luis blickte von dem Buch auf, das er auf den Knien hielt, und sagte kurz: »Negativ besetzt. Aha.« Er hat gerade eine altkluge Phase. Alle Fünfjährigen haben eine altkluge Phase. Die Altklugheit ist die einzige Waffe der Fünfjährigen gegen ihre verlogenen Väter. Luis hob das Buch hoch, ein schönes Bilderbuch, Peter und der Wolf. Er sagte, er wolle die CD hören, auf der Loriot zur Musik von Prokofjew die Geschichte von Peter und dem Wolf erzählt. Wir legten die CD ein und hörten
zu, während wir fuhren. Loriot sagte, Peter und der Wolf sei ein musikalisches Märchen. Alle Menschen und Tiere würden dargestellt von verschiedenen Instrumenten, der Wolf zum Beispiel durch die Hörner, Peter durch die Streicher. Und die Gewehrschüsse würden durch Pauken und die große Trommel dargestellt. »Mama, was ist eine Gewehrschüssel?«, fragte Luis. Paola sagte: »Es heißt, ›Gewehrschüsse‹, Luis. Schüsse mit Gewehren.« »Aha«, sagte Luis. Als die CD zu Ende war, wollte er sie gleich noch mal hören. »Bitte nicht«, sagte Paola. Sie wolle Johnny Cash hören. »Nein«, sagte Luis, dann wolle er Big Big Girl von Emilia hören, sein aktuelles Lieblingslied! »Bitte nicht«, sagte Paola, »Johnny Cash.« »Aber Big Big Girl ist so cool«, sagte Luis. Er ist fünf und altklug und sein Lieblingswort ist »cool«. »Johnny Cash ist cooler«, sagte ich. »Heute Morgen in der Zeitung habe ich gelesen, dass es eine neue Liste cooler Musik gibt. Und wer ist auf Platz eins? Johnny Cash!« (Meine zweite Lüge an diesem Tag. Schweinetag. Wenn die Dämme mal gebrochen sind… Paola sah mich nur seltsam an.) »Na gut«, sagte Luis. Wir hörten Johnny Cash. Delia’s gone. Let the train blow in the whistle. Drive on. Und so weiter. The man who couldn’t cry. »Ich habe es doch gewusst«, sagte Luis. »Johnny Cash ist der coolste Rhythmus.« Wir kamen in Salzburg an. Stellten das Auto in die Altstadtgarage. Gingen Richtung Getreidegasse. Kaum waren wir ein paar Meter gegangen, sagte Luis: »Ich kann nicht laufen, Papa. Du musst mich tragen.« »Du bist zu schwer«, sagte ich.
»Du musst mich tragen«, sagte er. »Du musst.« »Nein. Zu schwer.« »Doch. So ist das nun mal im Leben. Die Großen müssen die Kleinen tragen.« Ich sagte: »Luis, gestern hat der Arzt zu mir gesagt, mein Rücken sei…« Das wäre meine dritte Lüge an diesem Tag geworden. Mein Rücken ist ganz gesund. Aber Paola zischte: »Jetzt ist es genug…« »Na gut«, sagte ich. »Dann trage ich dich eben.« Ich trug ihn zum Dom. Ich trug ihn auf die Festung. Ich trug ihn ins Café »Tomaselli«. Ich trug ihn zurück zum Auto. Sehen Sie, deshalb habe ich so kurze Beine. Weil wir einen ganzen Urlaubstag lang in Salzburg waren.
#10 2001 Meine Lieblingshose war aus leichtem, sehr dünnem Stoff, kein Hautschmeichler jedoch, sondern von einer gewissen metallischen Härte, welche den Bügelfalten eine Dauerhaftigkeit gab, die ihresgleichen nicht hatte. Diese Lieblingshose gehörte zu einem leicht glänzenden Sommeranzug von schwer zu beschreibender Farbe. Taupe, sagt Paola, heiße die Farbe auf Französisch, ein Maulwurfsgrau oder Braungrau, ein gräuliches Braun oder bräunliches Grau. Hmmm, sagte ich, ich weiß nicht, Braun konnte ich nicht entdecken, eher so ein Mittelgrau, das von dunkleren Fäden durchwirkt war, der Anzug hatte die Farbe eines leichten Frühlingsregens, was die Hemdenwahl nicht einfach machte, am besten war Weiß, ebenfalls kam ein gewisses dunkelgraues Hemd in Frage, aber es ist unterdessen ziemlich abgetragen. Auch ein schwarzes Polo nahm ich gelegentlich. Er trug sich äußerst angenehm, der Anzug, dessen Bestandteil meine Lieblingshose war. Seine Leichtigkeit und Formbeständigkeit übertrugen sich auf mich, wenn ich ihn auf dem Leib hatte. Ich fühlte mich stets beschwingt, dennoch physisch und psychisch klar konturiert. Meine Wirkung auf Frauen war erfreulich und jedenfalls klar besser als in anderen Anzügen, welche ich besitze. Ich könnte stundenlang über diesen Anzug reden, er war wie ein Freund, aber nicht einer von den einfachen Freunden, sondern einer von den schwierigen, über deren Art und Weise man immer wieder nachdenkt, so wie ich über die Farbe dieses Anzugs nachdenke, die nicht eindeutig ist. Übrigens saß die Hose sehr gut, körpernah,
doch bequem, was bei einem Mann meines Alters nicht unwichtig ist, um nicht zu sagen, es ist fast das Wichtigste, denn: »Eine passende Hose kann glücklicher machen als alles andere«, wie der Peymann in Thomas Bernhards Dramolett Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen sagt, nachdem er in einem Luxusgeschäft sechs leichte Sommerhosen von Zegna probiert und die zweitprobierte gekauft und gleich anbehalten hatte. Die Schwäche dieser Hose war, wie soll ich sagen?, eine gewisse Überempfindlichkeit des Stoffes an seinen Rändern, sodass schon nach kurzer Zeit die Nähte an den Hosentaschen auszureißen begannen, weshalb ich, dieser Hose zuliebe, auf meine Gewohnheit verzichtete, die Hände in die Taschen zu stecken. Das verlängerte die Lebensdauer der Hose, jedoch geschah dann Folgendes: Ich bückte mich nach einem Spielzeug meines Sohnes und exakt in diesem Moment gab es ein Geräusch von reißendem Stoff, ein kurzes Prasseln, und mir war in derselben Sekunde klar, dass etwas Scheußliches geschehen war, dass nämlich der Stoff meiner Lieblingshose nicht nur an der Naht der Sitzfläche gerissen war, sondern das Material selbst zerfetzt war, eine so weit gehende Zerstörung, dass der Schneider, zu dem ich die Hose brachte, sagte, er könne das schon reparieren, aber nur zum Preis, erstens, einer Verengung der Hose im Lendenbereich und zweitens, angesichts fortgeschrittener Zermürbung des Materials, neuer, größerer Gefahr des Reißens. Es sei meine Lieblingshose, sagte ich. Das verstehe er, sagte der Schneider, manchmal hänge man an Hosen. Ja, manchmal hänge man sehr an Hosen, sagte ich, aber dass gerade diese Hose so früh vernichtet werde… Der Schneider nickte, er verstand etwas von diesen Dingen. Ich legte meine Lieblingshose über den Arm und spazierte die Straße in Richtung meiner Wohnung, als
mich an der Trambahnhaltestelle angesichts eines öffentlichen Mülleimers eine solche Wut und ein solcher Schmerz überkamen, dass ich, um der Gefühle Herr zu werden, meine Lieblingshose in den öffentlichen Mülleimer warf. Kein schönes Ende für eine Hose, aber es gab keine andere Möglichkeit, ich musste es tun. Nun sehe ich im Kleiderschrank das verwitwete Anzugsakko zu dieser Hose, ein schwer kombinierbares und darum überflüssig gewordenes Sakko, von einer tiefen, geradezu unmenschlichen Einsamkeit umflort, ein Sakko, das vielleicht nie wieder getragen werden wird, obwohl es das Sakko meines Lieblingsanzuges war, und ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis ich wieder eine Hose finde, die mir so ans Herz wächst, eine Lieblingshose wie die, welche sicher längst zu Ascheflocken verbrannt ist.
#11 2001 Es gibt so Tage, die verbringe ich im Büro, oben in meiner Mansarde im fünften Stock, und keiner ruft an. Und keiner schickt eine E-Mail. Und keiner sendet ein Fax. Und keiner schreibt eine SMS. Und keiner klingelt unten an der Haustür und krächzt in die Gegensprechanlage: »Wärrrbunk!« Und im Hausflur ist es auch sehr still. Morgens kommt mir nicht, wie sonst jeden Tag, der seltsam-scheue Herr Dobler die Treppe entgegengeflogen, ein heiseres »Kräss Kott!« hervorstoßend. Nicht einmal Herr Majewski, der Nachbar, erscheint wie gewohnt am Fenster und schaut hinaus. Und ich denke: Bin ich tot oder was? Ist die Welt draußen untergegangen und ich bin hier der letzte Mann in einem gestorbenen Land? Fühlt sich so der Astronaut, der im Raumschiff die explodierte Erde umkreist? An solchen Tagen, sagt Bruno, mein alter Freund, nehme er manchmal sein Handy, wähle die Nummer seines eigenen Telefons und lasse es läuten. Könnte ja sein, sagt Bruno, dass es kaputt ist. Dass sehr viele Leute versuchen, mich zu erreichen, sagt Bruno, aber es geht nicht, weil mein Anschluss defekt ist. Aber mein Anschluss hier im Büro ist nicht defekt. Niemand will mich sprechen. An solchen Tagen ist der Briefkasten meine letzte Hoffnung. Der Trostkasten. Ich mache mich auf den Weg nach unten, die Treppen hinunter. Ein Brief wäre jetzt etwas sehr … also, es wäre einfach nett, wenigstens einen Brief zu bekommen. Es wäre großartig, wenn der Briefkasten nicht tot wäre, sondern ein Lebenszeichen enthielte, von wem auch immer. Einen Brief! Bitte. Ein
Brieflein. Wenigstens eine Ansichtskarte. Ich schließe den Kasten auf. Ein Brief sinkt mir entgegen. Die Werbeaussendung einer Parfumfirma. Da fällt mir eine Szene ein, aus einem Theaterstück von, glaube ich, Botho Strauß. Die Hauptdarstellerin findet im Postkasten nur Reklame, sonst nichts. Und sie seufzt: »Noch mal knapp an keiner Post vorbeigekommen.« Und mein Brief hier? Eine Frau Rademacher schenkt mir, namens einer Parfumfirma und »mit herzlichen Grüßen«, einen »heißen Tip, wie Sie Ihre Haut in Top-Form bringen können«, nämlich mit einer Spezialpflege für »fahle, müde Männerhaut«. Fahle, müde Männerhaut! Die einzige Nachricht, die mich an diesem Tag erreicht, ist die, dass ich offensichtlich in einer fahlen, müden Männerhaut stecke, einer Haut, in der gewiss niemand sonst stecken möchte, und mit der verständlicherweise außer Parfumfirmen niemand etwas zu tun haben möchte. Wie viele solcher Tage wird es noch geben? Wozu gibt es überhaupt Briefkästen, wenn sie nichts enthalten außer dann und wann einem Schreiben von Frau Rademacher oder von Veronika Loeschke aus Karlsruhe, die mir, beziehungsweise Paola, meiner Frau, wieder und wieder im Auftrag einer Katzenfutterfabrik poetische Sendschreiben zukommen lässt, mit Sätzen wie diesem: »Ist es nicht immer wieder schön zu sehen, was für ein unerschütterliches Freundschaftsband einen mit seiner kleinen Samtpfote verbindet?« Ist ja gut, Veronika Loeschke, ist ja schon gut, so ist es wohl, aber ich habe nun mal keine Katze. Bin ich ein Hund, dass ich nicht mal eine Katze habe! Und dass niemand mir schreibt, richtige Briefe, meine ich. Nicht die rhythmisch wiederkehrende Glücksrubbelpost von Dr. Gerd Glöckle (Staatliche Lotterie-Einnahme Glöckle) oder von Peter Winter (Staatliche Lotterie-Einnahme Günther).
Stürbe ich in meinem Büro, würde niemand es merken, weil niemand versucht, mich zu erreichen. Nicht mal Nachbarn würden es merken. Bei anderen fiele ihnen bald der überquellende Briefkasten auf. Nicht bei mir. Ach, es gibt so Tage, da schleppe ich mich vom Briefkasten wieder nach oben, da ist es ein Glück, dass wenigstens eine Mahnung vom Urologen dabei war, dessen Rechnung ich nicht bezahlte, damit er mir noch mal schreiben muss, immerhin, eine Urologen-Mahnung, das ist was halbwegs Persönliches. Keine Massensendung. Müde stapfe ich nach oben und lege mich in aller Stille aufs Bürosofa, auf die fahle Haut.
#12 2001 Es ist eine Weile her, da überraschte mich mein Sohn Luis mit der Frage: »Papa, wozu bist du eigentlich da?« Ich rang kurz um Fassung, dann entschloss ich mich zur Gegenfrage: »Was glaubst du denn, wozu ich da bin?« Er runzelte seine fünfjährige Stirn, schloss kurz die Augen, grübelte hierhin und dorthin, dann sagte er langsam: »Um mich in den Kindergarten zu bringen… Um mir abends vorzulesen… Um mir das Badewasser einzulassen… Um mit mir zu spielen…« Was für eine wunderbare, zutiefst sinnvolle Existenz!, seufzte ich. Wenn ich den kleinen Luis nicht hätte, wenn ich ihn nicht in den Kindergarten bringen könnte, ihm abends nicht vorlesen dürfte, ihm nicht das Badewasser einließe, nicht mit ihm spielte – mein Leben wäre nichts. »Und wozu bist du da?«, fragte ich ihn. »Um zu spielen!« »Dann lass uns spielen!«, rief ich. »Wenn du dazu da bist.« Und wir spielten. Wenn wir spielen, ist es meistens so, dass ich von Luis zu irgendetwas ernannt werde oder in irgendetwas verwandelt werde. Luis sagt: »Du bist jetzt mein Pferd.« Dann bin ich sein Pferd, er reitet auf meinem Rücken, gibt mir Zuckerstücke zu fressen und ich muss eine selbst gebastelte Kutsche durch die Wohnung ziehen. Oder Luis sagt: »Du bist jetzt mein Klettergerüst.« Dann bin ich sein Klettergerüst, er hüpft auf meinen Bauch, steigt auf meine Schultern und springt von dort zu Boden. Oder Luis sagt: »Du bist jetzt ein Wassermonster.« Und dann bin ich ein Wassermonster, muss den Kopf im Schwimmbad unter Wasser stecken und blubbern, mit den Armen Wellen aufpeitschen und Luis mit »Ich-fress
dich«-Schreien durch das ganze Bad verfolgen. Was halt die Wassermonster so tun den lieben langen Tag. Ist doch interessant, denke ich, zu was der menschliche Körper alles taugt. Zu welchen Verwandlungen. Und was er aushalten kann. Welche Belastungen so ein Vaterkörper erträgt, als Klettergerüst vor allem. Übrigens gehören zu meinen intensivsten Kindheitserinnerungen die Turnereien auf meinem eigenen Vater. Warum? Weil sie so selten waren. Mein Vater war kriegsverletzt. Ihm tat schnell was weh. Alle Väter waren damals kriegsverletzt. Jedem erwachsenen Mann in unserer Straße fehlte ein Bein oder ein Arm. Allein drei waren blind und wurden morgens von ihren Söhnen zur Bushaltestelle geführt. Meinen Vater schmerzte immer und immer das linke Bein, von einer Wunde, die nie heilte, und eines seiner Augen hatte er durch ein Glasauge ersetzen müssen. Wenn ich nachts ins Bad ging, um einen Schluck Wasser zu trinken, sah es mich an, das Glasauge. Es badete in einer Borwasserlösung in einem Glas und guckte mich an. Vielleicht turne ich deshalb so gern mit meinem Sohn herum, weil ich weiß, wie es ist, wenn ein Vater nicht mit seinem Sohn herumturnt. Oder nur selten. Es gibt ein Foto von meinem Vater und mir, da sitzt er auf einer Bank im Garten und ich sitze oben auf seinen Schultern. Aber ich kann das Foto nicht anschauen, ohne zu heulen. Also: Es ist schön, ein Pferd, ein Klettergerüst oder ein Wassermonster zu sein. Ich bin es, so lange Luis es wünscht. Manchmal, wenn er schon aufgehört hat, mit mir zu spielen, wiehere ich noch in der Wohnung herum, und wenn er fragt, warum ich wiehere, sage ich: »Ich bin ein Pferd, hast du gesagt.« »Aber du bist kein Pferd mehr. Verwandel, verwandel!«
»Ach so. Das musst du mir sagen.«
Oder wenn Paola und Luis schon am Tisch sitzen und zu
Abend essen, liege ich noch auf dem Flur herum.
»Warum kommst du nicht zum Essen, Papa?«
»Weil ich ein Klettergerüst bin. Du hast mich nicht
zurückverwandelt.«
»Verwandel, verwandel! Du bist kein Klettergerüst
mehr!«, ruft er
. »Danke«, sage ich und komme auch zum Essen.
Fürchten Sie sich also nicht, wenn im Schwimmbad
einmal ein herrenloses Wassermonster auf Sie zukommt,
den Kopf unter Wasser steckt und blubbert und mit den
Armen Wellen schlägt und »Ich fress dich!« schreit.
Das bin nur ich (und Luis hat mich vergessen).
#13 2001 Es war zwischen zwei und drei in der Nacht, als ich im Pyjama in die Küche wankte, mir ein Bier nahm, ein paar Schlucke trank und mich auf einen Stuhl fallen ließ. »Was ‘n los?«, fragte Bosch, mein sehr alter Kühlschrank und Freund. »Schlechten Traum gehabt«, sagte ich. »Nicht mal ‘n richtig großen, schweren Alptraum, bloß so einen kleinen miesen Dooftraum.« »Erzähl!« »Bloß nicht auch noch drüber reden.« Wir schwiegen eine Weile. Dann sagte ich in die Stille hinein: »Träumst du eigentlich auch?« Er antwortete nicht. Ich wiederholte, ein bisschen lauter: »Träumst du eigentlich auch?« Er war eingeschlafen und von der zweiten Frage aufgewacht. »Was?«, murmelte er. Ich wiederholte die Frage. »Klar träume ich auch«, sagte er. »In meinen Alpträumen träume ich, dass plötzlich die ganze Welt so kalt wird, dass man keine Kühlschränke mehr braucht, oder ich träume von fliegenden Mikrowellen mit offenen Klappen, die Löcher in meine Tür hineinbrennen, oder von sirrenden Pürierstäben, die auf mich abgeschossen werden wie brennende Pfeile, oder von Elektroherden mit Polizeimützen, die mich mit glühenden Kochplatten bestempeln, oder vom Entsorgtwerden. Sehr oft träume ich vom Entsorgtwerden, vom Verrotten im Schlamm einer Sperrmüllkippe …« Er schwieg einen Moment, dann wollte er etwas fragen, aber ich ahnte natürlich, was er fragen wollte, nahm einen Schluck Bier und sagte: »Niemals entsorge ich dich, Mann, dieses Bier ist von so unvergleichlicher Kühle, das
macht dir keiner von den Neuen nach, ehrlich.« Er seufzte erleichtert. »Und wenn du schöne Träume hast?«, fragte ich. »Was träumst du dann?« »Da träume ich, kein Kabel zu haben und gehen zu können, oder ich träume von einer Kühltruhe, die ich mal gekannt habe, als ich noch sehr jung war, oder dass ich Weltmeister im Riesenslalom werde, oder dass ich in einem Meer von Eiswürfeln schwimme, oder dass ich über der Antarktis fliege wie ein Albatros und alle Pinguine brechen in ein gewaltiges ›Hurra!‹ aus.« »Super!«, sagte ich. »Ein Supersupersupertraum.« Wir schwiegen wieder eine Weile, dann sagte Bosch plötzlich: »Hast du schon mal von mir geträumt?« »Noch nie, Gott sei Dank.« »Wieso ›Gott sei Dank‹?« »Weil ich im Buchladen neulich ein Lexikon der Traumdeutung in der Hand hatte. Darin stand, der Kühlschrank als Traumsymbol stehe für das Wegstecken von Triebkräften, für Verdrängung, Gefühlskälte und Distanz. Und für Egoismus.« »Gemein!«, sagte er. »Was stand da über die anderen Geräte?« »Warte …«, sagte ich, »über die Geschirrspülmaschine las ich, sie habe von allen Küchengeräten die männlichste Ausprägung, weil sie in einer Zeit erfunden worden sei, als Frauen von Männern die Mitarbeit im Haushalt forderten. Und der Herd sei schon bei Freud das Symbol der Frau und des weiblichen Körpers gewesen.« »Quatsch!«, zischte er. »Der Herd ist ein Idiot! Immer und immer habe ich dir gesagt, dass der Herd ein Idiot ist, sonst nichts!« (Er hasst den Herd wie nichts, muss man wissen.) »Weiblicher Körper!«, höhnte er. »Lächerlich.« »Und wenn du träumst«, sagte ich, ihn unterbrechend,
»brennt dann das Licht in deinem Innern oder nicht?« »Oh Mann!«, stöhnte er. »Wie oft hast du mich das schon gefragt? Schon als du ein kleines Kind warst und ich noch bei deinen Eltern stand, hast du es mich gefragt. Ich sag’s dir nicht. Es geht dich nichts an. Alles sage ich dir, das nicht. Es ist ein Geheimnis. Auch eine Maschine wie ich braucht ein Geheimnis. Das weißt du.« »In der Zeitung stand, zwei amerikanische Buben hätten aus Lego einen Roboter gebaut, der beweisen kann, dass das Licht im Kühlschrank ausgehe, wenn die Tür zu sei. Ich könnte mir diesen Roboter ja besorgen.« »Stell ihn nur in mich rein«, sagte Bosch leise. »Ich mach ihn kalt.«
#14 2001 Neulich lag der Werbebrief einer Umzugsfirma im Briefkasten. Ich habe ihn nicht mit in die Wohnung genommen, sondern gleich in den Container geworfen. Warum? Damit Paola ihn nicht sieht. Könnte sein, dass so eine Werbesendung in ihr wieder den Gedanken an Umzug weckt. Den scheußlichen, schrecklichen Gedanken an Umzug. Umzug. Ich versuche das Wort von unseren Räumen fern zu halten. Vor unserer Tür hängt ein unsichtbares, engmaschiges Sieb, in dem gewisse Wörter hängen bleiben, und dazu gehören die Wörter Umzug, UmZuck, Umpzuhg, Rumzug, Auszug, Wegzug, Umziehen, andere Wohnung, bessere Wohnung und so weiter. Abends klaube ich die Wörter aus den Maschen und werfe sie ungetrennt in den Müll, jawüll. Ich will nicht umziehen. Ich finde es dort schön, wo ich lebe. Wenn irgendwo eine Unterschriftenliste für ein allgemeines Umzugsverbot ausläge – ich würde mich als Erster eintragen. Umzüge sind das Letzte. Sich vorzustellen, ich müsste all das hier … um mich herum … einpacken … in Kartons tun … wegtragen … und irgendwo wieder auspacken … Nee. NEE! Es lässt sich aber nicht verhindern, dass Paola an diesen und jenen Tagen vor mir steht und sagt: »Eigentlich könnten wir mal wieder umziehen.« Und ich sage: »Aber wir wohnen erst zehn Jahre hier, alles ist schön.« Dann sagt sie, sie ertrage das Licht in der Wohnung nicht mehr, es sei so dunkel hier, sie brauche Licht, um nicht depressiv zu werden. Und sie hätte gerne eine neue Umgebung, eine andere Straße, andere Leute, eine neue Küche, ein Zimmer mehr … Einfach mal anders wohnen wolle sie. Schöner.
Wenn sie so zu reden beginnt, gehe ich in die Küche, nehme mir ein Bier, setze mich und warte, ob das vorübergeht oder ob es ernst wird, richtig ernst, meine ich. »Was ist?«, flüstert dann Bosch, mein sehr alter Kühlschrank und Freund. Ich antworte leise: »Sie will umziehen.« Dann spüre ich, wie Bosch leise wird und noch weißer, als er es ohnehin ist. Er hasst das Umziehen noch mehr als ich. Er sei zu alt, sagt er, er habe genug Kratzer und Dellen. Und er habe Angst, dass wir die Gelegenheit nutzen könnten, uns ein neues, stahlglänzendes Kühlschrankmodell zuzulegen oder eines in Farbe oder einen Eisschrank mit Internetanschluss. Dann muss ich ihn beruhigen und mich selbst muss ich auch beruhigen, denn ich will nicht weg, nur Paola will und die eigentlich auch nicht. Fünf Minuten später sagt sie, wie schön es bei uns eigentlich sei und dass wir es nie so schön hatten wie hier. Trotzdem fängt sie immer damit an, ich weiß nicht, warum. Um mich zu ärgern? Meine Reaktion zu testen? »Aber«, sagt sie, wenn wir das Thema hin- und hergewendet haben, »irgendwann ziehen wir mal um, oder?« »Ja«, sage ich aufseufzend, »irgendwann.« Wahrscheinlich gibt es in jeder Beziehung einen dynamischen und einen beharrenden Teil. Bei uns bin ich der beharrende; einer muss es sein und Paola ist es nicht. Von Karl Valentin, fällt mir ein, gibt es ein Stück mit dem Titel Der Umzug, da spielen Liesl Karlstadt und er ein Ehepaar, das einen Wagen mit seinem Hab und Gut belädt, für einen Umzug. Er macht alles falsch, sie meckert ununterbrochen. Er bringt sogar das Aquarium mit Wasser die Treppe herunter. Sie fragt, was er mit dem alten Wasser wolle, sie hätten seit einem Vierteljahr
keine Goldfische mehr.
»Wenn ma aber wieder neue Fisch kriegn?«, sagt er.
»Dann nehmen wir wieder a neus Wasser!«, sagt sie.
»Oder des reinigen lassen!«, sagt er.
Sie sagt, er solle das Wasser wegschütten, und er schüttet
es in einen Eimer. Sie schreit, warum er es in einen Eimer
schütte, der Eimer müsse auch mit. Er schüttet das
Wasser vom Eimer in eine Kanne und sie schimpft, die
Kanne müsse auch mit. Er schüttet das Wasser wieder ins
Aquarium.
Warum er es nicht wegschütte, in den Kanal, schreit sie,
aber er sagt, er finde keinen Kanal.
»Dann saufst es aus!«, ruft sie. Und er säuft das
Aquarium leer. Am Ende, als sie den Wagen ganz beladen
haben, kippt der Wagen um und das Stück beginnt von
vorn.
Ich will nicht umziehen.
#15 2001 Vor einer Weile nahm ich an einem Empfang teil, welcher einer Tagung folgte, die den ganzen Tag gedauert hatte. Ich hatte der Tagung selbst nicht beigewohnt, mir fehlte die Zeit. Aber der Empfang – mal unter Leute, dachte ich, warst den ganzen Tag allein im Büro –, warum nicht? Es gab einen Aperitif. Ich verabscheue Aperitifs, weil ich nicht gern auf leeren Magen trinke. Hier nahm ich jedoch einen Martini. Ich kannte niemanden unter 200 Menschen. Ein Aperitif wird dich lockerer machen, dachte ich. Jemand hielt eine Rede, das Buffet wurde eröffnet. Im Nu bildete sich eine lange Schlange. Es hatte mir an Geistesgegenwart gefehlt, mich in Buffetnähe zu postieren, nun war es zu spät. Ich hasse Schlangen, Drängeln, Schieben. Aber es gab Kellner, die hervorragenden Weißwein aus schlanken grünen Flaschen servierten. Den trank ich. Ist genug zu essen da, dachte ich. Bleib locker, die Schlange ist bald weg. Warte den ersten Ansturm ab. »Ich verabscheue Buffets«, sagte eine Frau, die plötzlich neben mir stand. Sie hatte kurze blonde Haare und ein feines, offenes Gesicht. Sie trug ein kurzes Kleid und ihre langen Beine steckten in mintgrünen Slingpumps. »Buffets bringen das Fieseste im Menschen zum Vorschein, schamlose Gier, gemeine Rücksichtslosigkeit«, sagte ich. »Und Tische gibt es auch nicht.« Ein Kellner kam, schenkte Wein nach. Ich hätte lieber gegessen als getrunken, zu Mittag hatte ich auch nichts gehabt, aber man konnte nun hier nicht alles bekommen. »Doch, da drüben sind zwei Tische«, sagte sie. »Und wer da sitzt!«, sagte ich. Ich wies auf einen
bekannten Filmproduzenten, den ich von einer Party bei Bekannten her flüchtig kannte. Er saß allein am Tisch und hieb auf seinen Teller ein, als befürchte er, der würde gleich wieder abserviert. »Ja«, sagte sie. »Er war sicher der Erste«, sagte ich. »Zur Strafe muss er allein essen. Das hat etwas Armseliges, nicht? Es gibt eine Hohnrede von Juvenal auf den einsamen Völler. ›Kein Tischgenosse ist zu sehen. Wer möchte auch ertragen derlei schmutziges Schwelgen?‹ Passend, nicht wahr?« »Ja«, sagte sie und wandte sich abrupt ab. Hatte sie einen Bekannten getroffen? Allmählich wurde mir durch den Wein neblig zumute. »Was soll dein blödes Bildungsgehubere!«, dachte ich. »Diese JuvenalZitiererei, albern. Du hast zu viel getrunken.« In Wahrheit tat mir der Mann ja Leid. Es gibt nichts, was mich unwillkürlich mehr dauert, als einen Menschen allein essen zu sehen. Es hat etwas sehr Trauriges, wenn jemand ohne Gesellschaft essen muss. Ein Kellner brachte Wein. Ich schüttete ihn hinab. Noch trauriger ist es aber, dachte ich, wenn man allein ist und nichts zu essen hat. Nur zu trinken. Um mich herum standen Leute, die Teller und Gläser balancierten. Manche versuchten, gleichzeitig zu rauchen oder sich zu küssen. Seltsamerweise wurde die Schlange vor dem Buffet nicht kürzer. Noch seltsamererweise sah ich den Filmproduzenten mitten in ihr. Konnte es sein, dass hier Leute zum zweiten Mal aßen, während ich...? Ein Kellner eilte vorbei. Ich rief ihn zu mir und bat darum, mein Glas nachzufüllen. Es hat was mit Würde zu tun, sich nicht auf ein Buffet zu stürzen, dachte ich, mit Selbstbeherrschung. Andererseits steht man dann hier mit seinem Hunger und so einem
Gefühl von Minderrangigkeit. Es ist wie in der Steppe, dachte ich, zuerst fressen die Löwen, dann die Schakale, am Schluss die Geier. Man fühlt sich wie ein zweitklassiges Raubtier, hyänös irgendwie. Der Filmproduzent war jetzt beim Nachtisch. Ich war so angetrunken, dass ich das Wort »Filmproduzent« nur noch lallend denken konnte, Filllmmmprosssent. Ich hätte jetzt gar nicht mehr essen können. Jemand schlug mir auf die Schulter. »Lieber!«, röhrte er. »Haben Sie schon gegessen?« Es war der Verleger W., ein alter Bekannter. »Ja«, hörte ich mich leise sagen. »Da hinten an der Bar gibt es einen Schnaps«, sagte er, »der wird uns gut tun nach dem vielen Essen.« Ich folgte ihm taumelnd. Ich weiß nicht mehr, was wir geredet haben. Irgendwann ging ich. Das Letzte, was ich sah, war der Filmproduzent, der eine Zigarre rauchte und im Arm eine Blonde mit kurzen Haaren hielt. Sie trug ein kurzes Kleid und mintgrüne Slingpumps und eines ihrer sehr langen Beine schlang sie im Stehen um seine Waden.
#16 2001 Von chinesischer Küche weiß ich nichts, außer dass die Chinesen Gerichte nummerieren, wie man in jedem chinesischen Restaurant sehen kann. Oder sie geben ihnen schöne Namen, »Platte des siebenfachen Morgenglücks« oder so. Manchmal, wenn zwei Chinesen zusammensitzen, kann man den einen vielleicht schwärmen hören: »Meine Lieblingsspeise ist immer noch die 153, aber nur, wie meine Mutter sie kochte.« Und den anderen vernimmt man möglicherweise so: »Manchmal, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, bereite ich mir schnell eine ›Platte des siebenfachen Morgenglücks‹, ganz simpel und ohne allen Schnickschnack, nur pure ›Platte des siebenfachen Morgenglücks‹. Ich liebe einfache Gerichte.« Im übrigen gehört es zum Standardwissen auch dessen, der von chinesischer Küche nichts weiß, dass die chinesische Küche in Deutschland mit wahrer chinesischer Küche nichts zu tun hat. Kürzlich waren wir nun bei dem Sinologen T. zum Essen eingeladen. T. hatte zwei chinesische Köche gebeten, für ihn zu kochen. Die Köche waren morgens gekommen und hatten Brühe zubereitet, zwei Woks voll. Die standen nun, abends um acht, auf dem Tisch. Man musste Drahtnetze mit Gamberi, Fisch, Fleisch, Pilzen oder Eierstich hineinhängen, ähnlich wie beim Fondue. Als ich mein Netz zum ersten Mal aus der Brühe zog, fand ich darin zehn kleine rote Schoten. Sie erinnerten mich an Spaghetti all’arrabiata, die Paola einmal mit drei solcher Schötlein zubereitet hatte. Eine von ihnen verzehrte ich damals aus Versehen mit. Danach bekam ich eine Art
Mundschleimhautentzündung. Diesmal legte ich die Schoten vorsichtig beiseite und aß. Sekunden danach spürte ich, wie sich mein Mundinneres in eine Feuerhölle verwandelte. Ich schluckte rasch. Das war nun ein Gefühl, als brenne sich das Geschluckte auf senkrechtem Wege durch den Körper, durch den Sitz, direkt in den Boden und ins Erdinnere, hin zu Seinesgleichem, dem flüssig-glühenden Globuskern aus geschmolzenem Stein. Habe ich doch eine Schote erwischt?, dachte ich. Oder zwei? Oder zwanzig? Ich sah Paola an, die neben mir saß. Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden, auf ihrer Stirn schimmerten Schweißperlen. Ihre Lippen formten sich zu einem O, durch das sie scharf Luft einzog. »Ist es zu scharf?«, fragte T. besorgt. »Ach, ef geht fon«, flüsterte ich. T. warf Hände voll Feldsalat in die Woks. Das werde die Schärfe mildern, rief er. Wir aßen weiter. Mir gegenüber saß meine alte Freundin M., deren Teint nach mehreren Bissen aussah wie handgeschöpftes Büttenpapier. Sie hyperventilierte und ließ ihre Strickjacke fallen. »Man muss Reis essen«, flüsterte ich zu Paola. »Ich habe gelesen, dass Reis dem Essen die Schärfe nimmt.« »Es gibt ja keinen Reis«, flüsterte sie. »Ich werde fragen, warum es hier chinesisches Essen ohne Reis gibt.« »Nein«, flüsterte ich. »Er könnte es falsch verstehen und denken, wir fühlten uns nicht wohl ohne Reis.« »Übrigens ein Gericht mongolischen Ursprungs«, sagte unser Gastgeber. »Es gibt keinen Reis dazu. Falls sich jemand wundert.« Er warf wieder Berge von Salat in die Brühe. Jedes Mal, wenn ich ein Netz aus der Brühe zog, kullerten kleine rote
Schoten heraus. Ein anderer Herr am Tisch goss Ströme
von Mineralwasser in sich hinein. Aus seinen Ohren
quollen Wasserdampfwölkchen. Längst waren alle nur mit
dem Nötigsten bekleidet. Wir fühlten uns wie die Sünder
in der Vision eines irischen Mönchs aus dem 12.
Jahrhundert: Sie liegen auf einem Riesenrost und braten
und langsam tropfen ihre Seelen hinab in eine
schreckliche Feuertiefe zum wartenden Teufel. Flüssige,
tropfende Seelen – chchch!
»Wie heißt dieses Gericht?«, fragte jemand.
»Auf Chinesisch heißt es Huo Guo, sagte der Sinologe. »Es
bedeutet Feuertopf.«
»Hat es auch eine Nummer?«, fragte ich.
»Was für eine Nummer?«, fragte er verblüfft.
»112 vielleicht«, sagte ich und zündete mir an Paolas
feuerwehrroter Zunge eine Zigarette an.
#17 2001 In der Zeitung las ich: 75 Prozent aller Frauen hoffen bei der Hochzeit, dass sich ihr Mann im Lauf der Ehe ändert. Aber 75 Prozent aller Männer hoffen bei der Hochzeit, dass sich ihre Frau im Lauf der Ehe nicht ändert. Ich erzählte das Bruno, als wir uns in einer Bar trafen. Er senkte den Kopf und schüttelte ihn dabei und sagte: »Das sagt alles. Das sagt nun wirklich alles.« Zum Beispiel, sagte Bruno, könne er mit seiner Frau nicht mehr zusammen Auto fahren. Wenn sie es täten, und sie führen zusammen nach Hause, und er wolle da vorne links abbiegen, dort, wo er immer links abbiege, dann sage seine Frau hundert Meter vorher: »Da vorne musst du links abbiegen!« Das wisse er, sage er dann, immer biege er hier links ab, es gehe gar nicht anders, aber sie höre ihn nicht, sondern sage schon: »Hier musst du parken!« – »Ja, wieso denn nicht?«, rufe er, hier parke er jedes Mal, wieso sie ihn nicht in Ruhe tun lasse, was er immer tue? Sie antworte dann nur, warum er sich so aufführe – und schon sei der schönste Abend im Eimer. »Das hat sie doch früher nicht gemacht«, sagte Bruno, während sein Gesicht über dem Bierglas hing. »Das hat sie doch nicht gemacht, als wir uns kennen lernten.« Ich meinte, auch ich könne mit Paola zusammen nicht mehr Auto fahren; ehrlich gesagt, wüsste ich überhaupt kein Ehepaar, das zusammen Auto fahren könne. »Wenn ich irgendwo links abbiege«, sagte ich, »fragt Paola sofort: ›Warum fährst du nicht geradeaus und biegst da hinten ab, das ist kürzer?‹« Weil ich glaube, antworte ich dann, dass es hier kürzer sei und weniger Verkehr gebe. Aber garantiert tauche dann ein Lkw auf und Paola rufe: »Ah, hier ist es also kürzer und hier ist weniger Verkehr!« Ich schreie dann, ob sie nicht fahren
möchte, wenn sie alles immer anders haben wolle als ich,
ob sie nicht einfach immer fahren wolle? Sie frage, warum
ich mich so aufführe – schon sei der schönste Abend im
Eimer.
»Und?«, fragte Bruno. »Hat sie das am Anfang auch
gemacht, als ihr euch noch nicht lange kanntet?«
»Nein«, sagte ich.
»Siehst du!«, sagte er. »Diese Zeitungsmeldung sagt alles.
Alles.«
Wenn die Frauen so geblieben wären, wie sie am Anfang
gewesen seien, wäre alles wunderbar.
Wir saßen eine Weile stumm da und grübelten, warum die
Liebe so oft in den Sümpfen des Alltags versinkt.
Dann sagte ich: »Wahrscheinlich waren sie ja schon am
Anfang so, aber man hat es nicht gemerkt.« »Warum
bleibt es nicht so, dass man es nicht merkt? Warum muss
es sich ändern? Ich finde es besser, wie Männer sind. Sie
möchten, dass der Mensch, in den sie sich verliebt haben,
bleibt, wie er war, als sie sich verliebten. Warum sollte
man wollen, dass er sich ändert?«
»Weil man mit ihm in einer Beziehung lebt. Wenn man
jemanden kritisiert, setzt man sich in Beziehung zu ihm.«
»Beziehung, Beziehung!«, sagte Bruno, »Wenn ich das
Wort schon höre!«
Ich sagte: »Aber wenn man mit jemandem
zusammenlebt, setzt man sich mit ihm auseinander, mit
seinen guten und schlechten Eigenschaften. Und die
schlechten Eigenschaften möchte man ändern. Man
möchte nur jemanden ändern, den man liebt. Die anderen
sind einem egal.«
Bruno sagte, er habe mal einen Film mit Meryl Streep
gesehen, da saß sie neben einem Mann im Auto, der ihr
Ehemann war. Er fuhr. Sie hasste ihn. Dann platzte es aus
ihr heraus: »Würdest du bitte aufhören zu atmen?«
»Sage ich doch«, sagte ich. »Auto fahren geht nicht.« »Das Schlimmste ist«, sagte Bruno, »wenn Frauen immerzu an einem herumkorrigieren. Wenn sie mir die Haare so zurechtstreicht, dass man die Geheimratsecken nicht mehr sieht. Wenn sie meinen Hemdkragen zurechtzupft oder den Krawattenknoten zurechtrückt. Es erinnert mich an meine Mutter mit ihren Allmachtsvorstellungen.« »Viel schlimmer ist«, sagte ich, »wenn Frauen resignieren. Wenn sie glauben, Männer nicht mehr ändern zu können. Sie werden gehässig. Man sieht das manchmal an alten Ehepaaren.« Ich machte eine Pause, dann fragte ich: »Wie lange seid ihr verheiratet?« »Zehn Jahre«, sagte Bruno. »Wir feiern es in dem Restaurant, in dem wir den ersten Abend verbracht haben.« »Gut«, sagte ich. »Da sieht man dann, was sich geändert hat.« »Und was geblieben ist«, sagte er und lachte laut und herzlich.
#18 2001 Gesundheitstipps lese ich gern, alles, was mit Gesundheit zu tun hat und mit neuesten wissenschaftlichen Studien, ziehe ich mir sofort rein, ha! Mit Vitamin C lebt es sich länger, heißt es hier; zu viel Vitamin C erhöht die Infarktgefahr, heißt es dort. Zu viel Telefonieren mit dem Handy kann dich töten, lese ich hier; andererseits – das lese ich dort – wurde mal dem Handwerker Tim R. nur dank seines Handys das Leben gerettet. Er war in einen neunzig Meter hohen Schornstein gefallen und man fand ihn dank seiner telefonischen Hilferufe. (Gut, dass der Schornstein nicht in einem Funkloch stand, Mann.) Und was ist das hier für eine Meldung? »Wer Kreuzworträtsel löst, lebt länger.« Wieso? Wer noch im hohen Alter geistig interessiert sei, sagt Psychologe Heiner Maier, habe ein um siebzig Prozent geringeres Sterberisiko. Siebzig Prozent! Her mit den Rätseln, sage ich, und wenn der Tod dann kommt, werde ich ihn mitraten lassen, bis er vergessen hat, warum er eigentlich bei mir geklopft hat. (So wie der Brandner Kaspar in dem berühmten Theaterstück den Boandlkramer erst mit Kirschgeist abfüllt und ihm dann beim Kartenspiel 18 Lebensjahre abnimmt.) »Was lese ich hier?«, sagte ich neulich abends zu Paola. »Männer werden fünfmal öfter vom Blitz erschlagen als Frauen. Das hat eine amerikanische Studie ergeben.« »Wahrscheinlich, weil sie’s verdient haben«, sagte sie. »Nein, weil sie öfter draußen sind«, sagte ich. »Übrigens sind Männer kitzeliger als Frauen. Das ist das Resultat einer schottischen Studie. Man hat Testpersonen an unterschiedlichen Körperstellen mit einem Stück Plastik berührt. Die Männer kicherten hysterischer als die Frauen.«
»Männer sind ja auch hysterischer als Frauen«, sagte sie mit abwesendem Gesichtsausdruck. »Hast du gesagt: ›mit einem Stück Plastik‹? Mit ’ner Kreditkarte oder was?« Sie löste gerade ein Kreuzworträtsel. »Nagetier, fünf Buchstaben?«, fragte sie. »Ratte. Werden eigentlich die Leute älter, die das Rätsel ausfüllen, oder jene, die es lösen?«, sagte ich. »Wusstest du übrigens…?« »Nein«, sagte sie und arbeitete weiter an ihrem Rätsel. Mir war eingefallen, dass ich mal von einer Studie an der Bowling Green State University in Ohio gelesen hatte. Sie habe ergeben, dass Ratten kitzlig sind. Ja, das ist wahr, die Forscher (sie heißen Panksepp und Burgdorf, das nur nebenbei) sagten, sie seien eines Morgens ins Labor gegangen und hätten gesagt: »Lasst uns mal ein paar Ratten kitzeln!« Die Ratten hätten mit den Beinen gestrampelt und gezappelt, sie hätten gequiekt vor Vergnügen und das Quieken sei eindeutig ein Lachen gewesen, sagten die Forscher, ein sehr hohes Rattenlachen. Es war der erste Beweis dafür, dass Tiere, die nicht unmittelbar mit dem Menschen verwandt sind, lachen können. Dass Affen kitzlig sind und lachen können, weiß man schon länger. Junge Orang-Utans, schreibt Charles Darwin in Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren, bekämen ganz glänzende Augen, wenn sie gekitzelt würden, sie grinsten dann und machten »ein kicherndes Geräusch«. Junge Schimpansen übrigens auch. Ältere nicht mehr so. In einem Gesundheitstipp las ich neulich, es gebe überhaupt nichts Gesünderes, als häufig zu lachen, und häufig lachen könne nur, wer sich selbst nicht zu ernst
nehme. Gelächter, stand da, kräftige das Herz sowie achtzig weitere Muskeln, stärke Immunglobuline und THelferzellen, massiere das Zwerchfell und setze einen Schauer von Glückshormonen frei. Und wer kann sich selbst weniger ernst nehmen als jener Mann, der morgens in ein Büro geht und eine Ratte nach der anderen durchkitzelt, bis sie nach Luft ringt und um Gnade winselt? Herrlicher Beruf! Was gibt es noch? Kaffee ist gut gegen Depressionen, lese ich hier, wer per Kaiserschnitt zur Welt komme, leide später weniger unter Stress, lese ich dort. Bier macht doch nicht dick, lese ich hier, Mittagsschlaf sei sehr gesund, bis zu einer halben Stunde täglich, lese ich dort, oh, morgen werde ich damit beginnen, mich mittags hinzulegen, und träumen möchte ich, dass mich eine riesige Ratte durchkitzelt, so dass ich lachen muss, lachen und lachen und lachen, ein einziges riesiges, unsterbliches Lachen.
#19 2001 Früher war es ja so, dass die Kinder die Wilden, Ungebärdigen, Ungeduldigen waren, die von strengen Eltern hie und da zurechtgewiesen werden mussten. Heute ist es umgekehrt. Nehmen wir den kleinen Luis, welcher die Ruhe selbst ist, wenn morgens die Sonne aufgeht und der Kindergarten wartet. Sein Vater, also ich, zappelt derweil in der Wohnung herum, will dringend ins Büro, sucht nach Kleidungsstücken für den Kleinen, ermahnt ihn, endlich sein Frühstücksbrot zu essen. Seine Mutter, also Paola, sucht ihren Schlüsselbund, führt erste Telefonate und ruft dem Kleinen zu, er solle sich die Zähne putzen. Und Luis? Er sagt: »Ich werde heute viermal kein Bild malen und dreimal werde ich ein Bild malen.« Man beachte die Tiefe dieser Überlegung, auch angesichts der Uhrzeit! Das Keinbildmalen ist in diesem Luis’schen Lehrsatz dem Bildmalen gleichgesetzt, ein gleichwertiger, vielleicht sogar höherwertiger Vorgang. Der Verzicht auf die Schaffung eines Kunstwerks ist danach der Schaffung eines Kunstwerks möglicherweise überlegen, ein Gedanke, den man manchem modernen Künstler nahe legen möchte. »Luis, es ist schon halb neun, ich muss ins Büro, bitte zieh deine Schuhe an!« (So reden die Erwachsenen, nervös, aufgeregt, eilig, ängstlich, etwas zu verpassen.) Er steht vor der Kommode im Flur und skizziert etwas auf ein Blatt, die Gelassenheit selbst. »Luis, es muss jetzt vorangehen, ich komme sonst zu spähät…« Er skizziert weiter, versunken. »Luis, ich fahre jetzt allein los. Ich nehme dein Frühstücksbrot mit und gebe es im Kindergarten ab.« Da platzt es aus ihm heraus: »Manno, ich muss mich hier konzentrieren und dann steht dauernd so eine
Nervensäge neben mir und will etwas!« Nervensäge. Warum bin ich nicht gelassener morgens, warum kommt es mir auf jede Viertelstunde an? Warum denke ich nicht: »Ich werde heute vier Sätze nicht schreiben und drei Sätze werde ich schreiben.« Kann es sein, dass nur die Kinder noch nicht vom Schnelligkeitswahn erfasst sind, der uns alle wahnsinnig zu machen droht? Von diesen schrecklichen Zeiten der Ungeduld, in denen wir leben? Immer noch schnellere Pentiumprozessoren, immer noch schnellere Internetanschlüsse, immer noch schnellere Eisenbahnzüge. Wenn ich dann später im Büro sitze, vor dem Bildschirm, und auf eine Verbindung warte, auf irgendeine verdammte Verbindung mit irgendeinem verfluchten Server, dann trommeln gleich die Finger und der Puls beschleunigt sich und man denkt: »Himmel, was für eine lahme, lahme, lahme Kiste!« Obwohl es vor Jahren weder die Kiste noch den Server noch überhaupt irgendwas in der Richtung gab und das Leben langsamer lief, einfach langsamer. Nicht besser. Nicht schlechter. Nur langsamer. Immer geht uns heute alles zu langsam. Das ist die moderne Menschheitskrankheit, die Seuche namens Ungeduld, welche schon Proust beschrieb in der Suche nach der verlorenen Zeit, als er zum ersten Mal ein Telefonat mit der Großmutter in Doncières führen wollte. Er musste zur Post gehen und auf eine Verbindung warten, auf eine Verbindung, die noch kurze Zeit zuvor undenkbar war, und doch ging es Proust nicht anders, als es mir morgens zu Hause oder später vor dem Computer geht. Er hatte das Gefühl, »dass ich, als die Verbindung nicht sofort zustande kam, einzig den Gedanken, die Sache sei sehr langwierig und unbequem, sowie beinahe die Absicht hegte, mich deshalb zu beschweren. Wie wir
alle jetzt, fand ich, dass der an jähen Überraschungen reiche, bewunderungswürdige, märchenhafte Vorgang nicht rasch genug funktionierte…« Nervensäge. Ich lasse mich, glaube ich, jetzt von meinem Sohn erziehen. Ich will ruhiger werden, wie Luis will ich werden, konzentriert auf das künstlerische Schaffen oder Nichtschaffen, entspannter, gelassener, sehr schnell will ich so werden, ab morgen, nein, morgen ist mir zu spät – ab sofort.
#20 2001 Drei Fragen beherrschen mich im Frühling. Erstens: Wie kann ich die Sommerzeit verstehen? Zweitens: Soll ich die Stockmalve vom Treppenhaus zum Balkon tragen? Oder wegwerfen? Drittens: Wie nehme ich fünf Kilo ab? Die Sommerzeit ist seit ihrer Einführung ein Rätsel für Paola und mich. Jahr für Jahr versuchen wir zu verstehen, wie die Zeitumstellung funktioniert. Jahr für Jahr scheitern wir. »Warum ist es jetzt noch mal abends länger hell?« – »Weil die Uhren eine Stunde vorgestellt wurden.« – »Aber dann müsste es doch dunkler sein.« – »Wir stellen nur die Uhren vor, es ist nicht so, dass die Erde ihre Umlaufbahn um die Sonne verändert.« - »Aber morgens ist es jetzt auch immer früher hell.« – »Das liegt daran, dass es langsam Sommer wird. Also die Tage werden allgemein länger.« – »Und warum verstellt man überhaupt die Uhren, wenn die Tage sowieso länger werden?« - »Ich weiß nicht mehr. Es ist so lange her, dass sie das eingeführt haben. Damals wurde alles erklärt, aber ich habe es vergessen.« Dann beschließen wir, die Sommerzeit im Herbst zu verstehen, wenn die Uhren wieder umgestellt werden. So machen wir’s jedes Jahr. Mit der Stockmalve ist es so: Es handelt sich um eine zwei Meter hohe Riesenpflanze, welche sommers den Balkon bewohnt, so dass wir ihn nicht mehr betreten können. Im Winter steht sie auf einem Fensterbrett im Hausflur und lässt Blatt um Blatt ins Treppenhaus segeln, eines welker als das andere. Der Putzmann legt sie vorwurfsvoll als Häuflein vor die Wohnungstür. Im Frühjahr muss ich dann entscheiden, ob das Gerippe wieder auf den Balkon
kommt, um neu zu sprießen.
»Ich hasse sie«, sage ich. »Außerdem wird sie wieder
Läuse bekommen. Die Läuse werden auch alle anderen
Pflanzen befallen.«
»Aber sie blüht sehr schön, wenn sie blüht«, sagt Paola.
»Wahrscheinlich spürt sie auch, dass du sie hasst, und
davon wird sie krank und leichter anfällig für Läuse.«
Dann versuche ich, die Stockmalve zu lieben, und trage
sie zum Balkon. Und beschließe, die Entscheidung, sie
wegzuwerfen, im Herbst zu treffen.
Das Bedürfnis abzunehmen ist das schwierigste
Frühlingsgefühl. Ich bin Diätenhasser. Paola isst in jedem
Frühjahr Trennkost und steigt morgens triumphierend
von der Waage, wieder einige hundert Gramm leichter.
Dann versucht sie, mir die Trennkost zu erklären und
mich dafür zu gewinnen, aber ich höre nicht zu. Es ist mir
zu blöd und zu kompliziert. Abnehmen will ich trotzdem.
Ich esse dann einen Tag lang mehr oder weniger nichts,
bloß Obst, und dann esse ich noch einen Tag lang mehr
oder weniger nichts, bloß Obst, und dann bekomme ich
einen solchen Wühlhunger, dass ich zum Beispiel im
vergangenen Jahr spontan das im Hof spielende Kind
eines Nachbarn auffraß. Er hat’s übel genommen und
grüßt mich nicht mehr.
Im Sommer letzten Jahres hatten wir in Italien
Gelegenheit, hinter dem Motorboot meines Freundes
Wasserski zu fahren. Aber das Boot hatte nur 25 PS. Es
zog Paola ohne weiteres aus dem Wasser, sie fuhr jeden
Tag, sogar mit Luis. Auch ich fuhr jeden Tag Wasserski,
stand auf den Skiern, hielt das Seil, jedoch war der Motor
zu schwach für mein Gewicht, ich kam nicht heraus, nur
mein Kopf war über dem Meeresspiegel zu sehen, der
Rest meines Körpers fuhr Unterwasserski. Irgendwie sah
es wohl aus, als versuche einer, mit einem Seil ein davonfahrendes Boot festzuhalten. Übrigens las ich zu der Zeit am Strand eine Zeitungsmeldung, wonach ein taiwanesischer Kraftsportler namens Tu Chin-Sheng mit seinen fünf Freunden einen Lkw mit achtzig Leuten auf der Ladefläche gezogen habe – und zwar mit ihren sechs Penissen. »Die Meister der Kampfsportart Chi Kung«, las ich, »banden ihre Geschlechtsteile an den beladenen Elftonner und zogen ihn vor den Augen Hunderter Zuschauer etwa einen Meter weit.« Banden ihre Geschlechtsteile… Ich fiel vor Lachen und Staunen aus dem Liegestuhl. Demnächst wollten die Männer ein Passagierflugzeug ziehen, stand da. Ich dachte, ich würde Herrn Tu Chin-Sheng gern Wasserski fahren sehen. Vor allem aber sähe ich mich selbst gern Wasserski fahren, Hände am Seil, Badehose am Leib, Körper über Wasser. Aber es ist Mai, der Sommer naht, dann der Herbst. Wollte nicht mein Freund einen stärkeren Motor kaufen? Ich werde ihn anrufen und zu ihm von den Jahreszeiten sprechen, von Kürze und Vergänglichkeit des Lebens.
#21 2001 Als ich das letzte Mal in Österreich war, in Salzburg, um genau zu sein, spazierte ich durch eine Seitengasse. Dort sah ich vor einer Garageneinfahrt ein Schild, auf dem sinngemäß stand: Wer vor dieser Einfahrt parke, werde wegen »Besitzstörung« abgeschleppt. Ich freute mich über das wunderbare, mir bis dahin unbekannte Wort, eines dieser Wörter, die es nur in Österreich gibt und die für mich einen wichtigen Grund darstellen, in dieses Land zu reisen. Ich zog mein Notizbuch aus der Tasche, um das Wort aufzuschreiben, blickte dabei nach unten und sah vor meinen Füßen ein Zehn-Groschen-Stück silbern blinken. Ich hob es auf. Es war sehr leicht, wie alle Zehn-Groschen- Stücke, sie sind aus Aluminium, glaube ich. Ich habe es noch. Es liegt vor mir. Es ist, habe ich ausgerechnet, 1,4285714 Pfennig wert. Zu derart kleinen Geldstücken habe ich ein seltsames, hoch neurotisches Verhältnis. Ich bin im Allgemeinen nicht abergläubisch, im Fall von kleinen Geldstücken aber schon. (Und ein Zehn-Groschen-Stück ist das kleinste Geldstück Österreichs.) Sehe ich irgendwo auf der Straße ein Pfennigstück liegen, muss ich es aufheben. Ich bin von dem Gedanken beherrscht, dass, würde ich dieses Geldstück nicht aufheben, mein finanzieller Untergang unvermeidlich wäre, ja unmittelbar vor der Tür stünde. Weil ich den Pfennig nicht geehrt habe. Man ehrt Pfennige, indem man sich bückt. Sich vor ihnen verbeugt. Es ist lächerlich. Bisschen peinlich auch. Zwanghaft. Klarer Fall von neurotischer Besitzstörung. Und was macht man mit den Pfennigen, die man im Laufe eines Lebens gefunden hat? Es gibt Leute, die bewahren sie in Gläsern auf, randvoll mit Pfennigen. So auch ich.
Oder sie werfen die Geldstücke in einen Speicher, genießen es, wie Seehunde hineinzuspringen, wie Maulwürfe darin herumzuwühlen und sie in die Luft zu schmeißen, dass sie ihnen auf die Glatzen prasseln. Übrigens gibt es bei Dagobert Duck, welcher sich ähnlichen Vergnügungen hingibt, den berühmten Glückszehner. Er befindet sich in manchen Heften unter einem Glassturz, dann wieder in einem mit Vorhängeschlössern versperrten Bilderrahmen, gelegentlich im Safe, oft – mit einem Band gesichert – direkt am Leib des reichen Mannes. Der Glückszehner ist Dagobert Ducks erste selbst verdiente Münze, zehn Kreuzer, die er als Zehnjähriger in seiner Heimat Glasgow als Schuhputzer verdiente. Kleines Rätsel am Rande: Kreuzer und Taler sind die Währung Entenhausens; wie kommt ein Zehnjähriger in Schottland daran, wo man in Pfund und Shilling rechnet? Das ist nachzulesen in Das Geheimnis des Glückszehners. Um es kurz zu machen: Die Münze kommt von einem reichen Amerikaner auf Umwegen zum Schuhputzer Duck, welcher sie dann in der Hand hält und sagt: »Das ist ja eine ausländische Münze! Völlig wertlos! Das soll mir eine Lehre sein! Das Leben ist hart und voller Menschen, die mich betrügen wollen! Aber ich werde härter sein als die Härtesten und schlauer als die Schlauesten und ich werde es bis ganz nach oben schaffen.« Der Glückszehner ist der Grundstock für Dagoberts unermesslich großes Vermögen und ohne ihn… Was wäre ohne ihn? Um es mit Dagoberts eigenen Worten zu sagen: »Buhuhuh! Ohne meinen Glückszehner bin ich verdammt und verloren!« Auch meine Glückspfennige schützen mich vor finanzieller Vernichtung, hingegen sind sie nicht Grundstock eines unermesslich großen Vermögens, schade irgendwie. Sie sind auch nicht selbst verdient, nur
gefunden. Mein erstes Geld verdiente ich, indem ich für meine Tante Kamillenblüten sammelte, welche sie trocknete und zu Tee verarbeitete. Ich gab alles sofort aus. Was geschieht, wenn der Euro kommt und der Cent? Sind dann die Kupferpfennige und die glänzenden ZehnGroschen-Stücke noch wirksam, rein magisch gesehen? Oder verlieren sie auch in dieser Hinsicht ihren Wert? Jedenfalls werde ich ab Januar meinen Kopf noch gesenkter halten und die Bürgersteige und Geschäftsfußböden Deutschlands und auch Österreichs absuchen mit geschultem Blick, auf Centsuche – damit ich gefeit bin gegen Störungen meines Besitzes.
#22 2001 Ich saß spät in der Küche und trank ein Bier, als Bosch, mein sehr alter Kühlschrank und Freund, fragte: »Was ist das für ein gelber Zettel an meiner Tür?« Ich sah den Zettel an. Es war einer von diesen gelben Post-it-Zetteln. Paola hatte »Petersilie« darauf geschrieben. »Ein Merkzettel«, sagte ich. »Paola geht morgen einkaufen und sie darf anscheinend unter keinen Umständen die Petersilie vergessen. Deshalb hat sie für sich den Zettel geschrieben.« »Und warum klebt der an meiner Tür?«, fragte Bosch. »Bin ich eine Pinnwand?« »Was ist daran so schlimm?«, fragte ich. »Ein kleiner Zettel. Und morgen kommt er weg, Mann.« »Möchtest du Merkzettel auf der Stirn haben?!« »Was meinst du, was andere Leute an ihre Kühlschränke heften?«, sagte ich. »Immer mehr Leute heften immer mehr Sachen an ihre Kühlschränke. Kleine Palmen oder Zuckerwürfel mit einem Magneten hinten oder magnetische Bananen. Manchmal machen sie Zettel damit fest.« »Und wieso nicht an den Herd oder an die Mikrowelle?« »Weil man am Tag mehrmals zum Kühlschrank geht. Sei froh! Du stehst mitten im Familienleben. Es gibt auch Leute, die sich die Sachen an den Spiegel heften.« Ich trank einen Schluck Bier. Dann fiel mir ein, dass mir kürzlich ein Verlag zwei Kistchen mit magnetischen Wörtern geschenkt hatte, die er herausgebracht hatte. Man kann die Wörter an die Kühlschranktür heften. Ich holte sie aus dem Bücherregal. »Man kann damit Gedichte machen, seinen Partner beschimpfen, sich selbst an was erinnern, den eigenen Hochzeitstag zum Beispiel«, sagte ich. »Das hätte Paola
neulich gut gebrauchen können. Sie vergisst ihn immer.«
»Kommt das Wort ›Hochzeitstag‹ in dem Kasten vor?«
»Nein«, sagte ich. »Aber ›Hoch‹ und ›Zeit‹ und ›Tag‹
und ein einzelnes ›S‹ gibt es auch.«
»Gibt es auch ›Kühlschrank‹?«
»Nein, nur ›Schrank‹«, sagte ich. »Und in dem anderen
Kasten ›Cool‹. CoolSchrank.«
»Und so was machen immer mehr Leute?«
»Immer mehr«, sagte ich. »Manche heften sogar
neuerdings Fotos an die Türen ihrer Kühlschränke.«
»Mach doch mal ein Gedicht für mich!«, sagte er. »Ein
Gedicht mit ›Immer Mehr‹ oder vielleicht mit ›Immer
Meer‹. Ein schönes melancholisches Gedicht, das zu mir
passt. Ich bin ein alter Melancholiker.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Gib mir ein Bier. Aber ich mach es
nicht bloß aus magnetischen Wörtern. Das sind zu
wenige.«
Ich nahm mir noch ein Bier, setzte mich eine Weile an den
Tisch und schrieb. Dann las ich es ihm vor.
»Es variiert sozusagen das Seufzer-Gedicht von Christian
Morgenstern«, sagte ich. »Kennst du das?«
»Klar«, sagte Bosch. »Ein Seufzer lief Schlittschuh / auf
nächtlichem Eis / und träumte von Liebe und Freude…«
»Und das hier geht so«, sagte ich und las:
»Ein Seufzer schwamm durchs Immermeer,
trieb einsam in Nebelfluten.
Da kam ein Haifisch von unten her
und hörte den Seufzer tuten.
Der Haifisch dachte voller Gier,
wie Haifische nun mal denken:
Was tutet dieser Seufzer hier,
so nahe den Seehundbänken?
Ich zähle jetzt von eins bis vier,
dann werd ich den Seufzer versenken.
Er vertreibt mir mit seinem Gelärme
die leckeren Seehundschwärme.
Der Seufzer bemerkte den Haifisch nicht.
Er tutete weiter bei schlechter Sicht.
Da zählte der Hai
von eins bis drei,
und dann rief er: ›Vier!‹«
Und erseufzte den Seufzer in seinem Revier.
Ach, ein Seufzer schwamm durchs Immermeer,
doch hört man ihn jetzt nimmermehr.«
»Kleb’s mir an die Tür«, sagte Bosch leise. »Kleb’s mir
bitte an die Tür!« Und dann klebte ich es ihm mit etwas
Tesafilm an die Tür und ging
#23 2001 Was für ein ungebärdiger kleiner Kerl der Luis manchmal ist, so voller Energie, wie man nur in seinem Alter sein kann. Er ist ja nun schon fünf, und wenn er nach Büroschluss daheim auf mich zustürmt, den Kopf zwischen den Schultern und einen Hurra-Schrei auf den Lippen, dann knicke ich, ein Mann in den besten Jahren, in der Leibesmitte vorsichtshalber ein, drehe ihm den Hüftknochen entgegen und versuche ihn mit den Armen aufzufangen – er hat gerade eine kritische Körpergröße, unser kleiner Wilder. Wenn Sie wissen, was ich meine. Im Frühjahr beschlossen Paola und ich, mit ihm nach Rom zu fahren, zum Besuch einiger Onkels und Tanten aus dem italienischen Zweig von Paolas Familie und zur Besichtigung Roms natürlich. Eine Woche lang liefen wir durch die große Stadt, vom Vatikan zum Kolosseum, vom Kolosseum durchs Forum, vom Forum hinauf zu den Kapitolinischen Museen, von den Kapitolinischen Museen zur Fontana di Trevi, von der Fontana di Trevi zur Spanischen Treppe. Jeden Tag wurden meine Beine kürzer vom Laufen, ich lief sie mir ab, die Beine, wie Kerzen wurden sie durch Gebrauch immer stummeliger. Ich wanderte am Ende zwischen den Beinen der Menschen herum und bezahlte überall nur den Eintrittspreis für Kinder. So viel, so lange liefen wir durch alle Straßen Roms. Aber Luis lief noch viel mehr. Wenn Paola und ich erschöpft auf die Stühle eines Cafés fielen, blieb Luis nur einen Moment sitzen, dann schoss er wieder empor und machte sich auf den Weg, um am nächsten Brunnen zu spielen oder mit dem kleinen Roller, den wir für ihn mitgenommen hatten, Tauben zu jagen, oder überhaupt irgendwo im Gewimmel zu verschwinden,
so dass Paola oder ich ihm panisch vor hinterherjagen mussten.
Angst
Es gab nur ein einziges Mittel, ihn für einen Moment zur Ruhe zu bringen, das war: der Verzehr von Eis. Um ein Eis zu essen, war er jederzeit bereit, sich zu setzen, zu ruhen, innezuhalten. Für einige Minuten schien Eis das Feuer in seinem Innern zu kühlen, seine Wildheit zu mäßigen. Eis ermöglichte uns so überhaupt den Besuch einer der Geburtsstätten der abendländischen Zivilisation. Rücksichtslos machten Paola und ich von dieser Möglichkeit Gebrauch. Sorgsam dosieren wir Luis’ Eisverbrauch, wenn wir daheim sind. Eins am Tag? Höchstens. Noch nie in seinem Leben aß Luis in so kurzer Zeit so viel Eis wie in Rom. Vielleicht wird er nie wieder so viel Eis essen. Vor einiger Zeit las ich mal einen Artikel über die Sprache der Inupiaq-Eskimos im Norden Alaskas, welche ungezählte Wörter für Eis kennen: sikuaq nenen sie dünnes, von Schnee bedecktes Eis auf dem Meer, mugaliq ist matschiges Eis, sikulgauraq ist neues Eis, das sich zwischen Eisschollen gebildet hat. Der Italiener aber nennt seine Eissorten Malaga und Stracciatella, Bacio und Fragola, Lampone und Yogurt, hinzu kommt noch die unübersehbare Zahl der Namen für Fertigeissorten. Ich kenne sie nun alle, und Luis kennt sie auch. Nur wenige Eisvarianten gibt es, die er in Rom nicht probiert hätte. Bereits morgens zum Frühstück in einer Bar bekam er ein Eis, wenn er wollte. Er wollte immer, und uns war es egal, eine Woche lang war es uns egal, wie viel Eis er aß. Er stand vor der großen Farbtafel mit Bildern von Eis am Stiel und Eis in Tüten und Bechern. Grübelte hin und her, ob er ein Sorbetto oder ein Cornetto wählen sollte. Sann über die Wahl der Waffeln. Ich erinnerte mich, ihn
beobachtend, an eine Stelle in Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit, den Seefahrer John Franklin betreffend: »John blickte ins Eis, studierte die Formen und versuchte zu verstehen, was sie bedeuteten.« So war das in Rom. Wenn Luis still saß und sein Eis aß, erzählte ihm Paola von Romulus und Remus, von den Gladiatorenkämpfen im Kolosseum und vom Leben der Kinder in der Antike. Ich kletterte mit meinen Kurzbeinen auf einen Stuhl, hantierte mit dem Fotoapparat, legte einen Film ein, fotografierte die beiden – und einmal sprang Luis dabei auf, rannte zur großen, bunten Eistafel und bestand darauf, dass ich ein Bild von ihm machte, wie er mit dem Zeigefinger auf die Abbildung seines Lieblingseises zeigte, eines Eises am Stiel, das nach Orange schmeckt. Ich drückte ab. So haben wir nun eine schöne Erinnerung, einen eingefrorenen Moment vom Besuch des kleinen Luis in Rom, der Stadt ewigen Eises.
#24 2001 Einschlafen. Nichts mehr sehen. Großes Thema. Bei Luis’ Erziehung haben Paola und ich insofern einen Fehler gemacht, als er bis heute nicht allein einschlafen kann. Er ist fünf, aber immer noch muss dabei jemand neben ihm liegen, Paola oder ich, anders geht es nicht. Nun läuft ein großes Luis-schläft-jetzt-allein-einProgramm: langwierige Sache! Immer wieder kommt Luis aus seinem Zimmer heraus, um nachzusehen, ob Paola noch da ist, ob ich noch da bin, ob das Wohnzimmer noch da ist, ob die Welt noch da ist. Dann gehen wir mit ihm in sein Zimmer, bleiben einen Augenblick und sagen, dass wir in fünf Minuten noch mal kämen, um nach ihm zu sehen. Das täten wir auch, wäre er nicht vor Ablauf der fünf Minuten bereits wieder bei uns, um… Wie gesagt. Vor einer Weile habe ich ein Interview mit einem jungen Schauspieler gelesen, der sagte, bis vor kurzem habe er nicht einschlafen können, ohne dass jemand neben ihm saß, ihm beim Einschlafen zusah und seine Atmung kontrollierte. Hatte er Angst zu sterben? Anscheinend. Es ist übrigens seltsam, jemand beim Einschlafen zuzusehen: wie sich die Pupillen langsam nach oben drehen, die Lider langsam nach unten klappen, der Atem gleichmäßiger wird. Ich kenne das ja von Luis. Irgendwie wünsche ich mir, dass mich mal jemand beim Einschlafen filmen würde; ich könnte mir dann diesen Film abends ansehen, als Schlafmittel. Ich schlafe meistens schlecht schlafen, neben mir, wenn ich auch zwischendurch auf dem nicht. Als Kind bewegte ich
ein. Paola kann überall Auto fahre, im Flugzeug, Sofa. Das kann ich alles meinen Kopf vor dem
Einschlafen immer hin und her, hin und her, hin und her, wie man es beim Nein-Sagen tut: Nein, nein, nein, ich will nicht einschlafen. Ich hatte Angst vor dem Verlust des Bewusstseins und davor, den eigenen Körper nicht mehr zu spüren. Meine Eltern brachten mich zu einem Arzt, um mich auf eventuelle Geisteskrankheiten untersuchen zu lassen: ob ich ein normales Leben führen könne. Er fand nichts, und ich wurde Journalist. Von Gottfried Keller gibt es ein Abendlied, das beginnt so: »Augen, meine lieben Fensterlein, Gebt mir schon so lange holden Schein, Lasset freundlich Bild um Bild herein: Einmal werdet ihr verdunkelt sein!« Das hört sich angstvoll an in der letzten Zeile, und es zeigt, wie viel Vertrauen in die Welt man braucht, um die lieben Fensterlein zu schließen und schlafen zu können, Vertrauen darin, dass man wieder aufwachen wird. Seltsamerweise betrifft das Einschlafenkönnen in bestimmter Hinsicht vor allem den Sehsinn; man hat jedenfalls noch nie von jemand gehört, dessen Ohren herunterhängen, wenn er schläft, oder dessen Nase sich auf die Seite legt. Aber die Lidmuskeln müssen sich entspannen! Manches wäre einfacher, könnte man abends die Augen ablegen wie eine Brille. Oder säßen die Augen auf den Fingerspitzen: Man würde zum Einschlafen einfach die Hände ins Dunkle legen, unters Kopfkissen oder die Decke. Ich lese immer vor dem Einschlafen, weil es mich ruhiger macht, wenn ich mich eine Weile anschließe an den jahrtausendealten Erzählkreislauf von Liebe und Tod, an die alten, immer wieder variierten Mythen von den Geschicken der Menschen. Neulich las ich vor dem Einschlafen ein wunderbares neues Buch, Nach dem
Monsun von David Morley, worin der Autor von seiner Kindheit in den britischen Kolonien berichtet. Darin kommt ein exzentrischer englischer Dorfjunker namens Commander Shankley vor, der immer, bevor er nach dem Mittagsschlaf sein eigenes Wohnzimmer betrat, mit einem Periskop um die Ecke schaute, um zu sehen, ob jemand zu Besuch war. Säßen die Augen auf den Fingerspitzen, wäre das einfacher gewesen – er hätte einfach unauffällig einen Finger durch einen Türspalt lugen lassen können. Aber uns Exzentriker hat ja niemand gefragt vor der Erschaffung der Welt… Ach ja. Einschlafen. Nichts mehr sehen. Großes Thema.
#25 2001 Vor einer Weile las ich eine Zeitungsnotiz: Gegen eine Spende von 5000 Mark könne man das Namensrecht an einem Tier erwerben. Es war die Rede von einer neu entdeckten Froschart in Peru, einem Phrynopus. 5000 Mark von mir – und der Frosch ginge als Phrynopus Axeli in die Literatur ein. Ich konnte mich nicht entschließen. 5000 Mark! Nun die folgende Geschichte: Oft gehen wir in einem Tal am Rand der Berge spazieren. Dort gibt es auf einer Wiese ein altes Schwimmbad, welches nur aus einem betonierten Bassin besteht. Dieses Schwimmbad wird von einem Bach gespeist, welcher kaltes, klares Wasser führt. Wenn man früh im Frühjahr zu diesem Schwimmbad kommt, sieht man im Wasser Frösche (oder sind es Kröten?), welche bewegungslos im Wasser sitzen, und auf diesen Fröschen (oder sind es Kröten?) sitzen andere Frösche (oder Kröten?), auch bewegungslos. »Was machen die da?«, fragt Luis. »Sie machen kleine Frösche«, sage ich. »Oder Kröten.« Aber er hört nicht zu, holt einen Stock und stupst die Tiere an. Sie sehen aus wie tot. Erst als Luis’ Stock sie berührt, machen sie träge Bewegungen. Wenn es Sex ist, was sie da haben, dann ist das bei Lurchen eine sehr intensive, voll ins Meditativ-Metaphysische lappende Angelegenheit. Oder das Wasser ist zu kalt. Und lähmt sie. Jedenfalls: Zwei Monate später, im späten Frühjahr oder frühen Sommer, also jetzt, sind die Frösche (nehmen wir nun mal an, es waren Frösche) weg. Etwas anderes ist da: Kaulquappen. Hunderte. Tausende. Im Auto haben wir eine leere Milchflasche, die füllen wir
mit Wasser. Die Kaulquappen sitzen an einer Wand des Bassins, die mit Algen bedeckt ist. Ununterbrochen stupsen sie gegen die Wand. Sie sind schwarz, winzig klein. Irgendwie erinnern sie an Spermien, von der Form her. »Sie fressen die Algen an der Wand«, sagt Paola. »Oder sie versuchen das Schwimmbad in die Sonne zu schieben«, sage ich. Paola schöpft mit der Hand Wasser. Ist eine Kaulquappe darin, lässt sie die in die Flasche gleiten. Dann zupft sie Algen aus dem Wasser und tut sie in die Flasche. »Damit sie was zu essen haben«, sagt sie. »Ob man das Wasser wechseln muss?« »Ich glaube nicht«, sage ich und versuche mich zu erinnern, wie wir Kinder Kaulquappen aus Teichen im Wald fischten. Ob wir ihnen Algen gaben. Ob wir das Wasser wechselten. Ob je ein Frosch entstand. Mir fällt nichts ein. Zu Hause kommen die Kaulquappen in Luis’ Zimmer. Er starrt in die Flasche. Die Quappen wuseln an der Wasseroberfläche, manche scheinen matt und schwimmen unten. Ich suche aus Grzimeks Tierleben den Band über Lurche heraus, aber ich bin müde. Schlafe lesend ein. Am Morgen sind alle Kaulquappen tot. Man sieht sie nicht mehr. Sie müssen zwischen den Algen liegen. »Vielleicht schlafen sie«, sagt Luis und starrt. »Man hätte das Wasser wechseln müssen«, sage ich, lese im Grzimek und entdecke, dass man Kaulquappen in flachen Schalen aufziehen soll. Dass man das Wasser wechseln muss. Dass sie eine flache Sandrampe brauchen, um sich bei der Froschwerdung herausschieben zu können. Dann soll man sie freilassen. Mir fällt nun ein:
Von den Kaulquappen, die ich als Kind fing, überlebte keine. So viele Jahrzehnte – nichts dazugelernt. Wie viele Jungfrösche willst du mit deiner Ignoranz noch töten? Ich lese vom Darwin-Nasenfrosch, bei dem das Männchen die Kaulquappen im Maul aufbewahrt, während sie sich froschwärts entwickeln; sind sie fertig, erbricht er sie ins Wasser und frisst sich erst mal satt, denn er ist abgemagert bis aufs Skelett. Ich lese von einer Froschart namens Hurters Schaufelfuß, welche in Pfützen aufwächst: Manchmal ist es nur eine Frage von Stunden, ob die Kaulquappen in der verdunstenden Pfütze noch Frösche werden oder wasserlos verdorren. Ich lese vom Riesenbeutelfrosch, der im Urwald lebt: Das Weibchen bewahrt seinen Nachwuchs in einem Beutel im Körperinnern auf, bis sich am Froschrücken ein Spalt öffnet, »ein schmaler Schlitz, wie wenn zwei Jalousiebrettchen auseinander gebogen werden«. Aus dieser Öffnung ergießt sich sodann ein Strom von purzelnden, kepelnden, sich überschlagenden Fröschlein, welche frohgemut ins Leben hüpfen… Ich fange jetzt an zu sparen.
#26 2001 Manchmal wäre ich gern Polizist. Weil mein Sohn dann größeren Respekt vor mir hätte. Er verehrt die Polizei über die Maßen. Sobald er einen Polizisten sieht, hat er viele Fragen: Ob die Polizei schneller fahren darf als alle anderen? Ob die Polizei alle Verbrecher fängt? Ob es auch welche gibt, die sie nicht fängt? Ob die Polizei Kanonen hat? Und so weiter. Wenn irgendwo ein Polizist steht oder ein Polizeiauto fährt, liegt plötzlich in seinem Blick so ein Interesse und ein Respekt... Nie sieht er mich so an. Vor einer Weile las ich in der Zeitung, ein Mann habe seiner Frau sieben Jahre lang erzählt, er sei Polizist, obwohl er in Wahrheit Weichensteller bei der Bahn war. Jeden Morgen verließ er in Polizeiuniform das Haus und abends erzählte er von seinen Kämpfen mit dem Unrecht. Erst als er überraschend ins Krankenhaus kam und die Frau seine angebliche Dienststelle informieren wollte, flog die Sache auf. Er kriegte ein Verfahren an den Hals. Und mit seiner Frau soll er auch Probleme bekommen haben. So könnte ich es auch machen. Jeden Morgen in Uniform zum Büro, dort umziehen und abends umgekehrt. Luis würde ja nie auf dem Revier anrufen, wenn ich mal krank wäre, oder? Aber sein Respekt und seine Bewunderung wären mir sicher und abends hätte ich die spannendsten Einschlafgeschichten parat. Und woher kriege ich eine Uniform? Übrigens sahen wir neulich an einem Autobahnrastplatz
ein gelbes Auto mit Blaulicht. Und zwei Zivilpolizisten
drin.
»Schau mal, Luis, ein Polizeiauto!«, rief ich.
»Aber Polizeiautos sind grün und weiß«, sagte er.
»Es ist Zivilpolizei«, sagte ich. »Man kann das Blaulicht
vom Dach nehmen. Dann sehen die Verbrecher nicht,
dass es ein Polizeiauto ist. Sie fühlen sich sicher. So kann
man sie besser verhaften.«
Wir redeten die ganze Autobahnfahrt lang über
Zivilpolizei. Später vergaß ich die Sache. Tage darauf
fuhren wir durch München. Luis fragte plötzlich:
»Gibt es bei uns auch so eine Revierpolizei?« »Du meinst
ein Polizeirevier. Natürlich, irgendwo, aber ich weiß
gerade nicht, wo.«
»Ich meine nicht ein Polizeirevier. Ich meine so eine
Servierpolizei.« Servierpolizei ist ein schönes Wort,
dachte ich. Du gehst die Straße lang. Da steht ein Polizist.
Reißt den Mantel auf wie ein Exhibitionist. Hat auf der
Innenseite lauter Fläschchen befestigt. Und serviert dir
einen Drink.
»Servierpolizei – was ist das?«
»Nicht Servierpolizei, ich meine Servilpolizei.«
Auch gut, dachte ich, überall unterwürfige Polizeibeamte,
die dir die Strafmandate von der Windschutzscheibe
lecken. Sie aufessen, wenn du es befiehlst.
»Servilpolizei – was meinst du?« Ich verstand nicht.
»Nein, keine Servilpolizei, eine ... eine Persilpolizei.«
Er fand das Wort nicht. Und ich stand auf dem Schlauch.
Ich dachte an die Geschichte vom Räuber Hotzenplotz,
die ich ihm mal vorgelesen hatte: Darin jagen der Kasperl
und der Seppel den Räuber, weil er die Großmutter
entführt und dem Oberwachtmeister Dimpfelmoser die
Uniform geklaut hat. Während sie ihn jagen, spielen sie
Wörterverdrehen mit Schimpfnamen für den Hotzenplotz
aus: Plotzenrotz, Kummdopf, Vindrieh, Krohstopf,
Aumenpflaugust. Das fand Luis sehr witzig. Dies hier
nicht. Wir kamen noch auf Rasierpolizei, Pressierpolizei,
Zuvielpolizei, dann rief er wütend:
»Mann, ich meine die Polizei, die wir neulich auf dem Parkplatz gesehen haben, an der Autobahn...« »Ach, du meinst Zivilpolizei!!« »Jaaaa. Gibt’s die hier auch?« »Natürlich. Man kann sie aber nicht erkennen. Sie sehen aus wie normale Leute in normalen Autos und sie stehen irgendwo herum. Wenn ein Verbrecher vorbeikommt, schwupp, verhaften sie ihn.« Den Rest der Fahrt blickte Luis stumm, konzentriert zum Fenster hinaus, ob er einen Zivilpolizisten sähe, der einen Verbrecher verhaftet. Und ich dachte darüber nach, wie es wäre, wenn ich mich eine Weile als Zivilpolizist ausgäbe, nur probeweise, nur für ihn, nur ein paar Wochen.
#27 2001 Neulich komme ich in die Küche – und was steht da: eine Packung Wasa-Knäckebrot. »Wie kommt das denn hierher?«, fragte ich. »Luis wollte es unbedingt haben, im Supermarkt«, sagte Paola. »Er hat gesagt, es schmeckt ihm.« »Woher kennt er es denn überhaupt?« »Ich weiß nicht. Ich glaube, von der Oma.« Ich nahm die Packung in die Hand. Auf der Vorderseite las ich, dass die Firmen Wasa und Lätta eine gemeinsame Verlosung veranstalteten. Zu gewinnen: zehn Reisen zu dritt und 23 »Schlemmerorgien« im Wert von je 500 Mark. Das Wort »Schlemmerorgie« hatte ich schon sehr lange nicht mehr gehört, ungefähr so lange, wie ich kein Knäckebrot mehr gesehen hatte, sicher also zehn oder zwanzig Jahre lang. Irgendwie schienen mir Schlemmerorgie und Knäckebrot plötzlich ein Gegensatzpaar zu sein aus einer längst vergessenen Zeit, in der wir abends in meinem niedersächsischen Elternhaus um einen Tisch herum saßen und etwas aßen, das »Abendbrot« hieß. Meine Brüder, mein Vater und ich türmten dabei Margarine, Wurst und Käse auf große Brotscheiben, während meine Mutter nichts aß, aber uns wieder und wieder aufforderte, auch die Brotkanten zu essen, den »Knust«. Wenn dieser Aufforderung niemand nachkam, nahm sie sich die härtesten Teile des Brotes selbst vor, aß sie, dünn mit Quark bestrichen und mit vorwurfsvoller Miene, während wir – tief im Innern, unter vielen Wurst- und Käsebroten begraben – ein kleines Schuldgefühl verspürten. Wenn keine Brotkanten vorhanden waren, aß meine Mutter Knäckebrot. Mit langen Zähnen und
irgendwie nach oben gezogenen Lippen aß sie es – als wolle sie sich nicht an den scharfen Rändern der Brotscheiben verletzen. Ich erinnere mich an: das raue Geräusch, wenn man Knäcke mit Margarine bestreicht; das leichte Krümelrieseln, wenn man Knäcke bricht; die kleinen Explosionen im Kopf, wenn man Knäcke kaut; die leisen Flüche, wenn man ein Knäckebrot auf einem Teller zu bestreichen versucht – es bricht dann, unweigerlich, in der Mitte durch. Wenn ich in meinen Computer das Suchwort »Knäcke« eingebe, erscheint kurioserweise die Website eines Menschen namens Dr. Hähnchen, auf der einige Leute von ihren Erfahrungen mit der Zusendung einer »Knäckebox« zur trockenen und hygienischen Aufbewahrung von Knäckebrot berichten. Es sind sehr traurige Geschichten: Einer namens Paule, 54, erzählt, dass er nach dem Tod seiner Frau oft Sachen bestelle und dann von der Post abhole (auch die Knäckebox), und wie sehr er hoffe, dass ihn dort, auf der Post, mal »eine hübsche junge Frau« anspreche. Ein Paar namens Lars und Sylvie schreibt, die Box zu bekommen sei »voll schwierig« gewesen. Die Box habe ihnen zweimal zugeschickt werden müssen. Beim ersten Mal hätten sie das Ding, wegen eines Indonesien-Urlaubs, nicht rechtzeitig abholen können. Beim zweiten Mal habe der Postbote die Box bei einer neunzigjährigen Nachbarin abgegeben, die wenig später starb. Darauf sei der Hausmeister gekommen und habe ihnen die Box gegeben, nicht ohne den Hinweis, sie habe zwei Wochen neben der Leiche gestanden. »Wir haben die Box dann nie benutzt«, schreiben Lars und Sylvie. Seltsam, das alles. Für mich ist Knäcke das harte Brot der frühen Jahre, um 1970 herum, die Zeit vor meinem
ersten Billy-Regal: Knäckejahre. (Komisch übrigens: Ich glaube, das original schwedische Knäckebrot, das heute bei Ikea verkauft wird, ist rund – vielleicht, damit man es nicht mit Regalbrettern verwechselt.) Die Knäckezeit war nicht meine beste: Das Abendessen war kalt, das Milieu protestantisch, mein Haar sehr lang, meine Stimmung mild verzweifelt. Ich kämpfte mit den Eltern und rang mit mir selbst – seltsam, welche Assoziationen eine Packung harten Schwedenbrotes in der Küche noch heute auslöst. Luis kam herein. Ich gab ihm eine Scheibe K., er biss davon ab und mit den anderen Knäckeplatten bauten wir auf dem Küchentisch ein Haus für seine beiden LegoMonster.
#28 2001 Urlaub. Ist das nicht diese herrliche Zeit, die man frei von Arbeit mit den Seinen verbringt? In der man sich entspannt? Und wieder zu sich selbst findet? Aber manchmal ist man mit seiner Arbeit vor dem Urlaub nicht gut vorangekommen, so wie ich neulich, und man denkt im Urlaub weiter an sie, die Arbeit, so wie ich neulich, und man findet nicht den rechten Kontakt zu den Seinen, so wie ich neulich, und entspannt sich gar nicht, so wie ich neulich, und findet nicht zu sich selbst, weil man gar nicht recht weiß, wo und wer man eigentlich ist. So wie ich neulich. Für eine Woche waren wir aufs Land gefahren. Am zweiten Tag saßen wir beim Mittagessen, als Paola sagte: »Was ist eigentlich los? Du hast heute höchstens drei Sätze zu mir gesagt und gestern hast du mich von dir aus überhaupt nicht ein einziges Mal angesprochen.« (Kennen Sie das, wenn eine Situation plötzlich umkippt? Wenn, von einer Sekunde auf die andere, Blei in der Luft liegt und große Gefahr droht?) Ich ließ die Gabel auf den Teller klirren und sagte: »Was ist denn jetzt schon wieder?« (Bitte, das hätte ich nicht sagen sollen, aber ich konnte nicht anders. Echt.) Paola: »Ich habe doch gesagt, was jetzt wieder ist. Dass wir im Urlaub sind und du bist irgendwie nicht dabei.« Ich: »Muss ich dauernd an mir herummaulen lassen?« Paola: »Könntest du nicht darauf verzichten, die Gabel fallen zu lassen? Könntest du nicht sagen: ›Ja, Baby, du hast Recht, ich kann irgendwie nicht reden im Moment, mir geht immerzu dies oder jenes im Kopf herum‹?« Ich: »Könntest du nicht mal darauf verzichten, mich zu kritisieren?« Ich ging hinaus, damit nichts Schlimmeres passierte. Am Nachmittag fuhren wir – die Stimmung war belastet – zum See, zwanzig Minuten Autofahrt. Die Sonne schien, der Himmel war blau, die
Blumen blühten. Wir nahmen Rudi mit, Luis’ Freund. Rudi ist empfindlich, was Autofahren angeht, ihm wird schlecht dabei. Deshalb führte er ein Medikament mit sich, einen Kaugummi gegen das Kotzen. Nach einem halben Kilometer Autofahrt sagte Rudi: »Mir ist schlecht.« Paola packte einen Kaugummi aus, gab ihn Rudi, und der war’s zufrieden. Nicht hingegen Luis. »Ich will auch einen Kaugummi!«, rief er. Paola gab ihm einen von den Wrigley’s im Handschuhfach, aber den wollte Luis nicht, er wollte den gleichen wie Rudi. »Das geht nicht, Luis, Rudi hat nur noch einen dabei und den brauchen wir für die Rückfahrt.« »Aber ich will!« »Nein. Außerdem ist das ein Medikament, und ein Medikament nimmt man nur, wenn man es benötigt. Rudi muss kotzen, wenn er es nicht nimmt.« »Ich muss auch kotzen!«, rief Luis. »Ich kotz’ gleich!« »Du musst nicht kotzen. Du hast noch nie im Auto gekotzt«, sagte Paola. »Doch, ich muss kotzen! Ich will einen Kaugummi wie Rudi! Ich kotz’ gleich!« Er warf sich auf seinem Kindersitz hin und her und versuchte das Fenster hinten zu öffnen. »Lass das Fenster zu, Luis!«, sagte ich. »Aber ich kotz’ gleich! Ich kotz’ gleich!« »Du kannst keinen Kaugummi wie Rudi bekommen, zum letzten Mal. Ich habe es dir erklärt«, sagte Paola. »Aber ich kotz’ gleich! Ich kotz’ gleich!« Er zerrte am Sicherheitsgurt, drohte sich abzuschnallen, wurde hysterisch, weil er wähnte, benachteiligt zu sein. Ich verlor die Nerven. Man soll die Nerven nicht verlieren in solchen Situationen, die meisten Leute verlieren sie auch nicht, aber ich verlor sie. Ich war müde und ich konnte das Geschrei nicht ertragen. Ich brüllte was von Umkehren, Heimfahren, »versautem Tag!«. Ich fuhr aber weiter: in einem Auto, in dem nun Stille herrschte. In dem eine Frau saß, die schwer atmete, um Ruhe zu bewahren angesichts des Nervenwracks am Steuer. In dem ein Kind namens Luis saß, das in das
Schweigen eines Geschockten versank. In dem ein anderes Kind namens Rudi saß, das abends seinen Eltern von Luis’ seltsamem Vater erzählen würde. Die Sonne schien, der Himmel war blau, die Blumen blühten. Im Auto: bleierne Zeit. Wir fuhren zum See. Urlaub. Ich kotz’ gleich.
#29 2001 Im vergangenen Winter war ich einmal in dem Tiroler Ort Söll beim Skifahren – und was entdeckte ich dort? Ein Lokal mit dem Namen »Apre’s Ski«. Vor einer Weile fuhr ich durch einen Münchner Vorort – und woran kam ich vorbei? An einem Geschäft mit dem Namen »Präsentkörber’l«. Letzte Woche trat ich auf den Vorplatz des Rosenheimer Bahnhofs – und was erblickte ich? Einen Imbiss mit dem Namen »Döner-Store’s«. Das ist ein bisschen unheimlich, was? Aber es ist anscheinend nur ein winziger Ausschnitt aus einem globalen Geschehen: dem ganz und gar unaufhaltsamen Vordringen des Apostrophs, welcher, wohl vom angelsächsischen Genitiv (McDonald’s, His Masters’s Voice) ausgehend, allmählich nicht nur unsere Genitive, sondern überhaupt alle Wörter zu durchdringen und auf unvorhersehbare Art und Weise zu erobern scheint. Man fühlt sich an jene Wegschneckenart erinnert, welche ursprünglich auf der Iberischen Halbinsel zu Hause war und dort durch die natürliche Trockenheit des Landes sozusagen in Schach gehalten wurde, was ihre Geburtenzahl anging. Durch irgendwelche Obst- oder Gemüsetransporte gelangte sie zu uns, ins Land ewigen Regens, wo sie nun wie im Paradies lebt, sich exponentiell vermehrt und den Anbau von Pflanzen in manchen Gärten nahezu unmöglich macht. Kürzlich las ich in den Hausnachrichten der Versandartikelfirma Manufactum, man habe sich dort einmal die Mühe gemacht, eine Internetsuchmaschine mit der Fahndung nach dem Begriff »nicht’s« zu beauftragen. Es gab 2690 Fundstellen, darunter die Verzweiflungspoesie eines jungen Dichters (oder
Dichter’s?): »Ich bin nicht’s. Nicht’s. Nur Dunkelheit und Schwärze.« Was soll man dazu sagen? Nichts? Oder nicht’s? Oder soll man sich erregen und wie der Schleizinger-Hans in Oskar Maria Grafs Bayerischem Dekameron ausrufen: »Tua’s Messa aussa, Simmerl, der muaß hi sei!«? Im Internet findet man ja unterdessen schon Kämpfer (www.diebombe.de) gegen den Apostroph, die zum »Apostrophozid» aufrufen: »Alle nichtexistenzberechtigten Apostrophe müssen aus dem öffentlichen Leben verschwinden.« Ach, so’n Fanatismus, nee... Übrigens, tua’s Messa aussa... Bei Graf oder Ludwig Thoma gibt es Sätze, die von Apostrophen nur so wimmeln, in Thoma’s (Achtung: das ist mal sinnvoller Genitiv-Apostroph!) Stück Magdalena zum Beispiel: »Gafft’s no her und schlagt’s d’Händ z’samm.« Bloß hat der Apostroph hier, wenngleich ziemlich regellos verstreut, einen Sinn: Er markiert eine Auslassung. Das ist ja sozusagen des Apostrophs Aufgabe im Leben und beim Schreiben: Er soll etwas leichter lesbar machen. Wohingegen die Apostrophe an einer Berliner Imbissbude einem eher wie kleine satte Rülpser oder eine Art Schluckauf vorkommen: »Hier kann’ste futtern wie bei Mutter’n.« Dieses Beispiel habe ich übrigens nicht selbst gesehen, sondern auf der Apostroph-S-Hass-Seite von Daniel Fuchs unter http://members.aol.com./apostrophs gefunden. Dort gibt es Einsendungen von ApostrophHassern aus Frankreich (»Rollmop’s au Vinaigre de Vin Doux«), Indien (»In a few day’s....«), Heilbronn (»Müslim’s Kebap«) und dem gesamten Internet, in welchem der Apostroph in bisher undenkbaren Varianten auftritt, etwa in Thomas’s Homepage, MORGERS’s Homepage, Georgs’ Link Site und auch – bitte sehr, ein irgendwie abgesoffener Apostroph – Meyer,s Homepage.
Wird es bald überhaupt nur noch Wörter mit Apostroph geben? Lui’s? B’osch? Pa’ola? Kann es sein, dass es irgendwann gar keine Wörter mehr gibt, nur noch ’’’’’’? Schon jetzt ist fast nichts mehr denkbar, das es nicht längst gäbe. Auf Fuchsens Website findet man: – die Werbung eines Dresdner Antiquitätenhändlers »Kaufe alles aus Oma’ß Zeiten« – das an der Uni Marburg vergebene Dissertationsthema »Musik und Literatur im Exil – Dodekaphone Exilkantaten Hann’s Eislers« – einen Text über den französischen Winzer Roland Bouchancourt und »seine L’eidenschaft für Authentizität«. Was soll man sagen? So viel Dunkelheit und Schwärze. So viel Wahnsinn und Gewimmel. Ich schließe für heute mit dem Text einer Todesanzeige im Göttinger Tagblatt: »Warum nur, Pap’s?«
#30 2001 Seit sehr langer Zeit wünsche ich mir, jenen Film sehen zu können, in dem Peter Ustinov den Nero spielt. Es gibt viele Filmklassiker, die ich schon seit sehr langer Zeit sehen möchte, den Paten III zum Beispiel oder den Coup oder Die Faust im Nacken. Aber immer wenn ich sage, dass ich diesen oder jenen Film gern aus der Videothek leihen würde, sagt Paola, sie habe ihn bereits dreimal gesehen, ob wir nicht was Neueres anschauen könnten. Dann schauen wir was Neueres an, weil ich Paola so liebe, und ich wünsche mir die anderen Filme weiter und denke, es wird ein Tag kommen. Vor einer Weile waren wir in Rom. Oft kam die Rede auf Nero. Jedes Mal sagte Paola, wie toll Peter Ustinov als Nero gewesen sei, sie habe den Film als Kind gesehen und Nero habe für sie bis heute Ustinovs Gesicht. Ja, sagte ich, diesen Film würde ich gerne sehen. Paola antwortete, wenn wir zurückkämen, würden wir ihn sehen. Mit mir zusammen würde sie ihn noch mal sehen, weil sie mich liebe und weil der Film sehr gut sei. Wir kamen zurück. Ich sagte, nun sei der Tag gekommen, endlich Peter Ustinov als Nero zu sehen. Aber Paola sagte, gerade heute sei ihr nicht nach Monumentalem zumute, jeden Gefallen täte sie mir, sie liebe mich sehr, aber heute Abend?! Ob wir nicht etwas Neueres…? So geschah es. Ich liebe Paola zu sehr, als dass ich ihr zumuten würde, etwas zu sehen, wonach ihr nicht zumute ist. Dann fuhr sie für eine Woche weg, aufs Land, mit Luis. Ich ging zur Videothek, um mir den Film mit Ustinov als Nero auszuleihen. Aber ich wusste nicht, wie er heißt. Ich
hatte dunkel im Hinterkopf, dass es ein sehr kurzer Titel sei. Natürlich hätte ich den Herrn fragen können, der die Videothek verwaltet und alle Filme kennt, aber es war mir peinlich, einen Cineasten nach einer Sache zu fragen, die zur Allgemeinbildung gehört. Auch war der Herr beschäftigt. Also entlieh ich Ben Hur. Zwar fand ich es merkwürdig, dass Ustinovs Name außen auf der Kassette nicht verzeichnet war, aber ich dachte, ach, was dachte ich ...? Zu Hause war mir nach fünf Minuten klar, dass dieser Film alles enthielt, was einen guten Filmschinken ausmacht, einschließlich des längsten Wagenrennens aller Zeiten. Dass jedoch Peter Ustinov darin nicht die allerkleinste Nebenrolle spielt. Aber Paola war ja noch ein paar Tage lang weg. Am nächsten Tag überwand ich meine Scheu und fragte nach Ustinov als Nero. Der Film heiße Quo vadis?, sagte der Mann, aber er sei ausgeliehen. Gewiss werde er morgen zurückgegeben. Ich lieh mir den Coup. Am nächsten Tag war Quo vadis? weiter ausgeliehen, aber am Tag darauf sollte er ganz gewiss zurückkommen. Ich lieh mir den Paten III und sah in der Abteilung für Kaufvideos nach, ob Quo vadis? vorrätig sei, so dass ich ihn morgen kaufen könnte, falls die Leihkassette doch nicht zurück wäre. Er war da. Ich fühlte mich sicher. Am Samstag würde ich Quo vadis? sehen. Sonntags sollte Paola zurückkehren. Samstags war Quo vadis? immer noch verliehen. Und: Die einzige Kaufkassette davon war weg. Irgendjemand in dieser Stadt wollte verhindern, dass ich je Quo vadis? sähe. Ich lief zu einer anderen Videothek – dort war der Film nicht im Programm. Quo vadis jetzt noch?, dachte ich. Es war 15.55 Uhr. Jemand erwähnte ein Geschäft in der Stadt, das einzige, in dem der Film sicher zu kaufen sei. Ich rannte wie Franka Potente als Lola. Letzte Chance! Heute Quo vadis? oder nie. Heute Peter Ustinov
als Nero – oder ich brenne München nieder.
Um 16.10 Uhr erreichte ich den Laden. Samstags um
zehn nach vier! Der Laden war zu. Niemand mehr drin.
Nach Luft schnappend starrte ich durch die Glasfront auf
die Regale. In einem von ihnen sah ich Quo vadis?, gleich
neben Ben Hur, unerreichbar. Ich schleppte mich heim.
Warum soll ich diesen Film nicht sehen?, dachte ich,
warum? Ich sah Die Faust im Nacken, toll, aber kein
Ersatz jetzt. Als die Kassette zu Ende war, zappte ich im
Programm und sah das Ende eines Films, in dem ein
Mann, der Peter Ustinov ähnlich sah, eine Rolle spielte,
die … Quo vadis? war im Fernsehen gelaufen. Ich hätte
nur ins Programm zu sehen brauchen. Weinend fiel ich ins
Bett.
»Was hast du denn so gemacht an den Abenden, als wir
nicht da waren?«, fragte Paola am nächsten Tag.
»Alte Filme gesehen«, sagte ich.
»Wie schön! Dann konntest du endlich Quo vadis?
anschauen«, sagte sie.
»Nein!«, schrie ich. »Nein, das konnte ich nicht!«
#31 2001 Wenn ich nicht schlafen kann, lese ich Bosch, meinem sehr alten Kühlschrank und Freund, nachts vor. Ich mache das schon lange so, angefangen habe ich mit Jandl, von dem ich Bosch eines Tages aber dieses Gedicht hier vortrug, es heißt kühlschrank: er onaniert / ununterbrochen. / es zittert das ganze haus. / abhilfe: / man schleicht sich an, / reißt die tür auf / sofort / hört er auf. / man schlägt die Tür zu; / einige zeit bleibt ruh. »Was für ein Schmarrn!«, knurrte Bosch. Er war so ärgerlich, dass ich ihm seitdem keinen Jandl mehr vorlesen darf, nicht mal kaltes gedicht, pst, hier: die schinke und das wurst / in kühlschrank drin / der schöne deutsche wort / in kühlschrank drin.... (Na, nun, für den Rest kaufen Sie sich bitte die JandlGesamtausgabe von Luchterhand!) Gern hört Bosch aber nach wie vor Reiseliteratur, Chatwin vor allem, auch Jules Vernes Reise um die Erde in achtzig Tagen haben wir schon ein paar Mal durchgenommen, dann natürlich Texte über Abenteuer in Eis und Schnee, letzthin erst einen Bericht über Shackletons gescheiterte AntarktisDurchquerung 1914 bis 1917. Darin wird beschrieben, wie Shackleton und seine Mannschaft ihr Schiff, die vom Eis zerdrückte Endurance, verlassen und nur wenige persönliche Habseligkeiten mitnehmen. Shackleton selbst steckte eine Bibelseite ein, mit Versen Hiobs: Aus wessen Schoß geht das Eis hervor, / und wer hat den Reif unter dem Himmel gezeugt, / dass Wasser sich zusammenzieht wie Stein / und der Wasserspiegel gefriert? Danach musste ich Bosch dies auch aus der Bibel reißen
und ins Eisfach legen. Wochenlang hörte ich ihn nachts die
Verse murmeln. Als ich die Seite wieder aus dem Fach
nehmen wollte, war sie weg. Nur ein Buch erwähne ich
ihm gegenüber nie: Mit dem Kühlschrank durch Irland
von Tony Hawks, der Bericht eines Mannes, der nach
einer Wette mit seinem Kühlschrank vier Wochen lang
durch Irland trampte. Bosch würde auch wollen, dass ich
mit ihm verreise, sicher würde er es auch wollen, am
Ende sogar in die Antarktis.
Vor einer ganzen Weile habe ich ihm Arthur Millers Tod
eines Handlungsreisenden vorgetragen, schwierig, weil ich
selbst alle Rollen lesen musste. Wir kamen an den Beginn
des zweiten Akts, wo Linda Loman ihrem Mann Willy,
dem Handlungsreisenden, sagt, dass die letzte Rate für
den Eisschrank fällig sei:
WILLY: Er ist doch schon wieder kaputt!
LINDA: Na, er ist alt, Willy.
WILLY: Ich hab dir ja gesagt, wir hätten eine bekannte
Marke kaufen sollen. Charley hat einen General Electric
gekauft; der ist zwanzig Jahre alt und das Drecksding
läuft immer noch!
LINDA: Aber Willy –
WILLY: Wer hat je im Leben was von einem Eisschrank
Marke Hastings gehört. Ich möchte nur, dass mir einmal
was ganz gehört, bevor’s kaputtgeht. Immer dieser
Wettlauf mit dem Schrottplatz. Kaum hab ich das Auto
abbezahlt, schon ist es schrottreif. Der Eisschrank
verschleißt Keilriemen wie ein Wahnsinniger. Ist alles
Berechnung. Die berechnen die Dinger so, dass sie nach
der letzten Rate im Eimer sind ...
Bosch unterbrach mich. »46 Jahre!«, rief er.
»Was meinst du: 46 Jahre?«, fragte ich.
»46 Jahre bin ich alt, nicht wahr? Nicht zwanzig, 46! 1955
haben deine Eltern mich gekauft, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich, »kurz vor meiner Geburt.«
»Ich war nie kaputt. In 46 Jahren war ich nie kaputt.«
»Ich glaube nicht.«
»Was heißt hier: Ich glaube nicht. Ich war noch nie
kaputt, klar? Abbezahlt bin ich auch. Und noch was.«
»Was?«
»Nenn mich nie Drecksding, ja! So wie dieser Willy. Nie
Drecksding, klar?«
»Aber ich…ich würde niemals auf den Gedanken
kommen...«, stotterte ich empört.
»Ich mein ja nur. Ich sag’s nur so. Liest du weiter? Liest
du jetzt weiter?«
»Ja«, sagte ich und las weiter.
#32 2001 Es gibt so Tage, da verliere ich mich in Grübeleien über dieses und jenes, und irgendwie scheint es dann wohl, als sei ich für die Außenwelt nicht erreichbar. Einmal hat Paola mir ein rotes Holzherz geschenkt, auf das ein kleiner grüner Holzfrosch mit verzweifelter Miene hinaufzukriechen versucht. »So wie der Frosch fühle ich mich manchmal mit dir«, hat sie gesagt. »Oder wie jemand, der vor einer Burg einen Tanz aufführt und hofft, dass jemand da drinnen ihn sieht.« »Hmmmm…«, war meine Antwort. »Du bist ein Autist«, sagte sie. »Autist? Ich denke Tag und Nacht an Luis und dich und meine Verantwortung für euch.« »Das schließt sich nicht aus«, sagte sie. »Das Charakteristische an Autisten ist, dass man nicht richtig weiß, woran sie denken. Weil sie es nicht äußern.« Es gibt auch Tage, an denen gehen Paola und ich redend und redend und redend in die Stadt, sitzen im Café und machen Besorgungen, während Luis bei der Oma ist. Wie neulich. Wir gingen hierhin und dorthin und dann trennten wir uns für eine Weile. Wir verabredeten einen Treffpunkt. Als ich später dorthin kam, sah ich, dass auf der anderen Straßenseite gerade ein Haus abgerissen wurde. Und weil Paola noch nicht da war, setzte ich mich auf eine Bank und sah beim Abreißen zu. Von dem Haus stand nicht mehr viel, nur noch ein paar Mauern. Eine Riesenmaschine mit langem Greifarm, an dessen Ende sich eine Art Zange befand, biss mit dieser Zange immer wieder in die Mauern hinein, mit schnellen
ruckartigen Bewegungen wie ein gierig-hungriger Dinosaurier. Steine und Mauerteile fielen zu Boden. Ein Arbeiter spritzte mit einem Wasserschlauch in die Staubwolken hinein. Schließlich stand von der Mauer, welche die Riesensteinbeißmaschine gerade bearbeitete, nur noch ein etwa einen Meter hohes Stück. Sie stoppte. Ein Mann mit gelbem Helm und roten, runden Ohrenschützern stieg aus dem Führerhäuschen. Er nahm einen Vorschlaghammer und begann, mit wuchtigen Hieben auf den Mauerrest einzudreschen. Das Mäuerchen beulte sich hier und da aus, dann erlosch unter den Schlägen des Mannes sein Dasein. Es blieb ein Haufen Steine. Seltsam, dachte ich, wie sehr ich den Mann darum beneide, dass er diese Mauer zerlegen darf, dass es ihm erlaubt ist, auf die steinerne Wand einzuprügeln. Wie gern ich ihm seinen Vorschlaghammer aus der Hand nähme und meinerseits ein Stückchen Mauer zerschlüge. Oder wie froh ich wäre, dürfte ich mich ins Führerhäuschen der Steinbeißriesenmaschine setzen und eine andere der noch stehenden Mauern fressen, happ. So eine Mauer, dachte ich, übt einen unwiderstehlichen Reiz aus, so oder so. Ein paar Tage zuvor waren Paola und ich in Salzburg gewesen, mal wieder. Wir waren oben auf dem Kapuzinerberg an der Mauer des Klosters entlanggegangen, einer sehr hohen, mit allerlei Ranken bewachsenen Mauer, und dann hatten wir durch eine Lücke im Holztor der Mauer in den Garten geguckt, aber wenig gesehen, außer einem schönen Garten und einer ganz und gar mönchsfreien Terrasse. Paola sagte, die Mauer erinnere sie an Süskinds Parfum, darin gebe es auch eine Mauer von Bedeutung, die Stadtmauer von Grasse. Hinter ihr lebt das herrlich schöne Mädchen Laure Richis. (Es wird dann von Grenouille, dem genial monströsen Parfümeur erschlagen, damit er ihren Duft
auf Flakons ziehen kann). Hinter Mauern, sagte Paola, ahne man doch immer wunderschöne Gärten, verwunschene traumvolle Häuser, ein Geheimnis und große Leidenschaft. Ja, eine Mauer könne etwas faszinierend erscheinen lassen, das, mauerlos, vielleicht ganz uninteressant sei. Schade, sagte sie, dass es heute in deutschen Wohngebieten nur wenig Mauern gebe, bloß Zäune, die den Blick frei ließen, weil jeder den anderen kontrollieren wolle. An diese Dinge dachte ich, als ich das Mäuerchen niedersinken sah, und als Paola zu unserem Treffpunkt kam, auf mich zutrat und fragte: »Woran denkst du denn, du schaust so verträumt?« – »Ach, nichts weiter«, sagte ich.
#33 2001 Manchmal, an freien Tagen und bei schönem Wetter,
fahren wir zu einem See, holen das Kanu aus dem
Schuppen und paddeln aufs wellenlose Wasser hinaus.
Jeder sticht sein Paddel in die glatte, spiegelnd grüne
Fläche, Paola vorne, ich hinten und Luis sein kleines
Plastikpaddel in der Mitte. So gleiten wir aus der Bucht –
wohin?
»Fahren wir zu der Dusche?!«, ruft Luis.
»Wohin?«, fragt Paola.
»Zur Dusche!«
»Was für eine Dusche?«, frage ich.
»Na, die Dusche, wo ich neulich mal geduscht habe. Diese
Dusche, die draußen ist.«
Paola und ich grübeln eine Weile paddelnd vor uns hin.
Dann fällt uns gleichzeitig ein, was er meint. Wenn man
von unserer Bucht aus eine halbe Stunde nach links
paddelt, kommt man zu einem kleinen Badestrand mit
einer Wiese dahinter. Da steht eine Freiluftdusche. Vom
Strand aus hat man einen herrlichen Blick auf den See.
Auf die Berge dahinter. Auf eine Insel mitten im See. Auf
dieser Insel gibt es eines der besten Wirtshäuser, die ich
kenne, mit einem der schönsten Biergärten, die ich kenne.
»Aber Luis, wir wollten zur Insel hinüberpaddeln und in
das Wirtshaus gehen mit dem Biergarten«, sagt Paola.
»Dort wollten wir mittags essen«, sage ich.
»Aber ich will zu der Dusche.«
Wir paddeln und paddeln. Nach einer Viertelstunde
halten wir an einem verfallenen Steg, machen das Boot
fest und baden ein bisschen. Dann liegen wir im Boot in
der Sonne und schlagen ein paar Bremsen tot. Von hier
aus kann man die Insel schon sehen. »Wann fahren wir zu der Dusche?«, fragt Luis. »Was willst du denn da bloß?«, fragt Paola. »Na, duschen. Das war so schön beim letzten Mal, als wir da waren.« »Stell dir vor«, sage ich zu Luis, »die Insel da drüben ist Amerika. Und wir müssen mit unserem Boot über den großen gefährlichen Ozean fahren, um Amerika zu besuchen. Vielleicht begegnen wir einem Seeungeheuer. Das ist ein großes Abenteuer, das wir bestehen müssen.« Das war jetzt ein Fehler, oh! Luis ist ein ängstliches Kind. Er versteckt sich schon hinter dem Sofa, wenn bei Biene Maja eine Wespe auftritt. Paola sieht mich an. »Idiot!«, sagt ihr Blick. »Ich will aber nicht nach Amerika«, sagt Luis. »Das war nur Spaß, was Papa gesagt hat«, sagt Paola. »In Amerika gibt es ein Eis für dich. Nach dem Essen.« »Ich will aber zu der Dusche!« Er will nicht in mein Amerika. Er ist gegen mein Amerika. Wir paddeln weiter. Gerade lese ich, zum dritten- oder vierten Mal, Hotel Savoy, von Joseph Roth. Darin kommt ein Kroate namens Zwonimir vor, ein Kriegskamerad des Erzählers. Zwonimir liebt Amerika. Alles, was gut ist, nennt er Amerika. »Wenn eine Stellung schön ausgebaut war, sagte er: Amerika! Von einem feinen Oberleutnant sagte er: Amerika. Und weil ich gut schoss, nannte er meine Treffer: Amerika.« Auch kommen in dem Buch vor: ein Friseur, der Christoph Kolumbus heißt, und ein Reicher namens Bloomfield. Der reist aus New York ins »Hotel Savoy«, um des Vaters Grab zu besuchen. Der Erzähler wird für kurze Zeit und hohes Honorar sein Sekretär. »Amerika«, sagt Zwonimir dazu. Das hat mit dieser Sache hier nichts zu tun, aber ich lese das Buch eben gerade. Mir geht alles durcheinander im Kopf, es ist heiß, ich habe Durst und gern säße ich jetzt
drüben in dem Biergarten auf der Insel. Wir paddeln am Seeufer entlang. Dies hier ist eine Gegend, welche von Amerikanern besucht wird, auch von Japanern und Holländern und Menschen aus Norddeutschland. Warum? Weil sie so schön ist. Weil es hier ein berühmtes Schloss gibt. Hohe Berge. Und Biergärten auf Inseln. Wir aber besuchen eine Dusche. Knirschend fährt das Kanu auf den Kies, wir ziehen es aufs Ufer und Luis läuft zum Wasserhahn, dreht die Dusche auf und springt juchzend darunter umher. Es ist mittags. Paola geht noch einmal schwimmen. Ich setze mich an den Strand und schaue auf den See, die Berge, die Insel. Von hier aus sehe ich das Wirtshaus nicht, aber ich spüre die Sehnsucht danach. »Amerika«, seufze ich.
#34 2001 Paola, Luis und ich besuchten einen sehr kleinen Zirkus, der sein Zelt am Stadtrand aufgeschlagen hatte. An der Kasse saß ein Mann von vielleicht 40, 45 Jahren. Er hatte schwarze, in der Mitte gescheitelte Haare, trug einen schmalen Clark-Gable-Schnäuzer und lächelte abwesend. Wir setzten uns. Musik ertönte. Zwei Helfer trugen einen Kasten in die Manege. Eine Stimme rief, »Orlando, der Jongleur« werde seine Kunst darbieten. Ein kleiner, fast schmächtiger Mann sprang in großen Sätzen in das Rund. Er trug ein rot-weiß geringeltes Hemd und sah dem Herrn, der uns die Karten verkauft hatte, sehr ähnlich: schwarze Haare, Mittelscheitel, dünner Schnäuzer. Doch lächelte er nicht. Er öffnete den Kasten, entnahm ihm drei Keulen und begann zu jonglieren, das heißt: Er versuchte, mit dem Jonglieren zu beginnen, denn jedes Mal, wenn er die Keulen ein wenig in der Luft bewegt hatte, fiel eine von ihnen zu Boden und die anderen taten es ihr nach. Orlando hob sie wieder auf, begann von neuem, scheiterte, versuchte es mit Bällen, scheiterte, versuchte es mit Reifen, scheiterte. Es war offensichtlich: Wenn dieser Mann etwas nicht konnte, dann war es Jonglieren. Orlando trat ab. Ponys galoppierten herein. Es dauerte etwas, bis ihr Dompteur folgte, ein Mann, ich wage es kaum zu sagen, der Orlando ähnelte wie ein Jonglierball dem anderen, nur dass sich über dem Ringelhemd nun eine Frackjacke spannte. Mir fiel das berühmte Zitat aus Marx’ und Engels’ Deutscher Ideologie ein, wonach es in der kommunistischen Gesellschaft möglich sei, »morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu
treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«. Für Orlando schien der Kommunismus Wirklichkeit geworden zu sein, er riss Karten ab, jonglierte, dressierte… Ja, die Ponynummer absolvierte er mit Anstand. Luis stand begeistert auf seinem Sitz, auch Paola, die etwas von Pferden versteht, war erfreut. Worauf würde Orlando, der Vielfache, als Nächstes Lust haben? Seine Helfer trugen Stühle ins Rund, dazu vier Flaschen, auf welche Orlando, nun im weißen Artistendress, den ersten Stuhl mit seinen vier Beinen stellte. Er türmte weiter Stuhl auf Stuhl, ein schwankendes Gebilde errichtend, daran arbeitend wie ein bildender Künstler, immer wieder auf seinem Stuhlturm herumturnend – und weil er selbst uns gute Karten verkauft hatte und wir weit vorn saßen, konnte ich auf seiner Stirn Schweißperlen erkennen, die ich für Folgen der physischen Anstrengung hielt. Dann aber, als O. die Spitze seines Stuhlbaus erklomm und eine Weile dort verharrte, balancierend, in die Tiefe starrend wie in einen Orkus, erkannte ich in einer Sekunde, dass es die reine Angst war, die Orlando das Wasser auf die Stirn trieb. Ich sah, dass hier einer Nachmittag für Nachmittag Haut und Knochen riskierte. In der Pause verkaufte Orlando Popcorn. Was für eine Idee, die Jongliernummer an den Anfang zu stellen! Welche Spannung das erzeugte! Bei jedem folgenden Auftritt dachte ich: Kann er’s? Oder nicht? Ein großes Brett wurde aufgestellt, eine Frau erschien, stellte sich vor das Brett. Ich dachte: Er wird doch nicht Messer werfen?! Bitte, das wird er uns nicht antun?! Doch unser Mann erschien mit Messern in den Händen. Ich hielt mich bereit, um Luis die Augen zuhalten zu
können. Es stellte sich heraus, dass Orlando unter allen Menschen, die ich kenne, der schlechteste Messerwerfer war, ausgenommen jene, die, aus gutem Grund, niemals mit Messern werfen. Er warf Messer, ohne je Messerwerfer geworden zu sein. Mit ruckartigen Bewegungen wich die Frau vor dem Brett den Würfen aus. Keine Messerwurf-Nummer, eine MesserwurfAusweichnummer. Ob sie seine Frau ist?, dachte ich. Ob sie sich gestritten haben? Ich war schweißgebadet. Orlando trat noch als Clown und als Feuerschlucker auf, doch daran habe ich keine Erinnerung. Was für ein Leben!, dachte ich. Wenn ich Bücher nicht nur schreiben, sondern auch illustrieren, drucken, verkaufen, den Leuten abends vorlesen müsste! In Gedanken versunken verließ ich mit Paola und Luis den sehr kleinen Zirkus. Als wir den Omnibus bestiegen, der uns in die Stadt zurückbringen sollte, betrachtete ich kurz den Fahrer: ob er einen Mittelscheitel trüge, schwarze Haare, dünnen Schnäuzer, abwesendes Lächeln…
#35 2001 Den Sommer in der Stadt zu verbringen, das haben wir schon sehr lange nicht gemacht, und auch diesmal bleiben wir ja nicht den ganzen Sommer hier. Aber zwei Wochen lang, in denen wir sonst nicht da wären, sind wir plötzlich doch da. Es gibt einfach sehr viel Arbeit, und Luis besucht für eine Weile die Großeltern. Das ist ein anderes Leben jetzt. Das ist eine andere Stadt jetzt, entvölkert von den vielen, die irgendwo im Süden hängen. Sogar der griechische Gemüsehändler ist weg, auf einer Insel in der Ägäis. Sonst wacht er vom frühen Morgen bis in den Abend hinein über das Leben in unserer Straße, nun vertritt ihn für drei Wochen sein Schwager, der sonst Taxi fährt. Plötzlich gibt es Parkplätze, plötzlich ist im Straßencafé immer ein Stuhl für dich frei, plötzlich senkt sich – an den Wochenenden zumal – eine Stille in die Stadt, die man hier sonst nicht kennt. »Wer es jetzt über sich vermag, in der Stadt zu bleiben, der ist ihr liebes Kind, und dem winkt sie mit ihrem ganzen Zauber«, schrieb Walther Kiaulehn einmal über den Sommer in der großen Stadt, Berlin in seinem Fall. Aber in München ist es nicht anders. Im Morgengrauen nehme ich eine alte Gewohnheit wieder auf, sehr früh nämlich eine halbe Stunde in den Isarauen zu laufen, von der Corneliusbrücke bis beinahe zum Flaucher und zurück. Als ich zurückkomme, steht Paola im Nachthemd da, mit verstörtem Blick. Kaum war ich weg, hatte das Telefon geklingelt. Jemand hatte sich verwählt, aber sie war darauf wach und ich nicht da. In einem Anfall von Panik wähnte sie mich mit Herzinfarkt allein irgendwo an der Isar verendend – »du bist doch so lange nicht mehr gejoggt«. Dann gehen wir frühstücken in
einem kleinen Café, und als wir uns verabschieden, nimmt sie mich in den Arm und seufzt: »Ach, ich habe dich so geliebt, vorhin, als ich dachte, dass du tot wärst.« Solche Freuden birgt der Sommer in der Stadt, und im Büro mache ich die Tür zum kleinen Balkon weit auf, wo zwei Clematis nebeneinander aus großen Töpfen herauswuchern, sich in den Armen liegen und einander umschlingen. Auf einem Clematis-Blatt weit unten sitzen zwei Marienkäfer, als wären sie hier zu Hause, das heißt, eine Käferin sitzt auf dem Blatt, ein Käfer sitzt auf ihr, und beide machen Liebe oder wie Marienkäfer das nennen. Natürlich sind auch die Tauben da, auf dem Nachbarbalkon, schnäbelnd, sich duckend, voreinander paradierend, Gefieder putzend, in endlosem Vorspiel begriffen. Ich hasse die Tauben an anderen Tagen, aber heute ziehe ich mich diskret an den Schreibtisch zurück, irgendwie ist es mir peinlich, ihnen zuzusehen, und sie tun mir ja auch Leid, die beiden, wenn sie ihre Schnäbel aneinander reiben: Sie würden sich wohl gern küssen, aber das geht nicht, dazu braucht man Lippen, und die haben Tauben nicht. Dies ist ein Tag, an dem man Sommer lesen muss, Sigi Sommer, den Münchner Stadtpoeten. Er steht in meinem Büroregal. (Viel zu viele Bücher stehen in meinem Büroregal, ich lese ständig, dabei müsste ich schreiben.) Von Sigi Sommer gibt es eine Geschichte, die heißt Drei Maß im Schatten und beschreibt einen heißen Münchner Sommertag. Die Blutegel in der Zoo-Apotheke kommen darin vor, die an den Wänden ihres Aquariums kleben, »sie träumen wohl lechzend von einem schlagflüssigen Immobilienhändler«. Auch ist von einem streunenden grauen Hund die Rede: »Die Zunge hängt ihm lang aus dem Maul wie ein Lesezeichen. Und als er am nächsten Hauseck das Bein hebt, kommt nur noch ein bißchen
Staub heraus.« Das mag ich heute, und den Vers am
Anfang der Geschichte mag ich auch:
»I hob so Durscht,
daß i vor lauter Hunger net woaß,
wo i heit auf d’Nacht schlafa soid,
so friert’s mi in d’Fiaß.«
Und ich muss arbeiten, Mensch!
Aber abends gehen Paola und ich in die Stadt, zum
Odeonsplatz, sitzen im »Café Tambosi« und schauen auf
die Theatinerkirche. Und lieben die Stadt, und die Stadt
liebt uns.
#36 2001 Ich saß in der Küche, trank ein letztes Bier und blätterte in einer alten Illustrierten, die ich in der Schublade des Küchentischs gefunden hatte. »Was war das eigentlich für ein schwarzer Umhang und eine schwarze Maske, mit der dein Sohn heute immerzu rumgelaufen ist?«, fragte Bosch, mein sehr alter Kühlschrank und Freund. »Sein Batman-Kostüm«, sagte ich. »Es ist sein Lieblingsspielzeug. Er fühlt sich stark und unverletzlich damit.« »Ich wäre auch gern stark und unverletzlich«, sagte Bosch. »Stattdessen habe ich solche Eisfachschmerzen.« »Soll ich dir ein Aspirin reinlegen?«, fragte ich. »Im übrigens ist Luis ja nicht stark und unverletzlich. Er fühlt sich nur so, durch das, was er anhat. Seltsam, was Kleidung beim Menschen bewirken kann…« »Davon verstehe ich nichts«, sagte Bosch. »Ich trage ja nie Kleidung. Ich bin immer nackt und weiß.« »In dieser Illustrierten hier steht, man habe ein T-Shirt erfunden, das Vitamin C freisetzt, sobald man es anzieht«, sagte ich. »Und dann?«, fragte Bosch. »Keine Ahnung«, sagte ich. »Dann zieht das Vitamin durch die Poren in den Körper, und man muss kein Obst essen. Vielleicht erfinden sie ja auch ein Aspirin-Shirt gegen Kopfschmerzen. Oder einen Pyjama gegen Schlaflosigkeit. Oder einen Anzug, in dem Glückshormone stecken. Sobald du ihn trägst, dringen sie in deinen Körper vor und machen dich glücklich, auch an melancholischen Tagen.« »Wäre was für dich«, sagte Bosch. »Und neulich«, sagte ich, »sah ich einen Bericht im
Fernsehen: Man ist dabei, intelligente Kleidung zu entwerfen, zum Beispiel ein Hemd, das automatisch die Ärmel aufrollt, wenn es heiß wird. Und eine Jacke, die dich mit einem Piepston erinnert, wenn du deinen Schlüsselbund vergessen hast. Und ein Sakko, das Blutdruck misst.« »Vielleicht könnte man ja auch Anzüge erfinden, die allein ins Büro gehen, ohne Mensch drin«, sagte Bosch. »Ich glaube, das gibt es schon«, sagte ich. Dann trank ich einen Schluck Bier, legte die Illustrierte weg und sagte: »Übrigens gibt es eine Superman-Folge, in der ein Mann einen Anzug erfindet, der den Träger unsichtbar macht. Eine Bande von Kriminellen stiehlt die Anzüge und begeht damit allerhand Verbrechen, bis Superman kommt und sie mit Phosphor besprüht – da ist es vorbei mit der Unsichtbarkeit. Und in Batman und Robin gibt es einen Großverbrecher namens Victor Freeze, der nach einem Unfall nur in eisiger Kälte leben kann. Er trägt einen Anzug, der seinen Körper immer bei null Grad hält und hat eine Kältekanone, mit der er jeden tiefgefrieren kann.« »Cool«, sagte Bosch. »Jetzt sagst du auch schon cool«, sagte ich. »Tatsächlich«, sagte er. »Ich hab’s mir von deinem Sohn angewöhnt. Wahrscheinlich ist dieser Victor-FreezeAnzug ja aus dem gleichen Zeug wie die Flaschenkühler, die Paola gekauft hat. Sie liegen hinten auf dem Fensterbrett. Man kann eine Flasche hineintun und den Reißverschluss zumachen, und dann steckt die Flasche drin wie in einem Maßanzug und wird gekühlt. So was ist groß in Mode. Wenn ihr das noch für Wurst und Käse und Eier kauft, könnt ihr mich wegwerfen.« »Victor Bosch – Sie haben wohl heute ihren wöchentlichen Klage- und Jammertag«, sagte ich. »Die Dinger kühlen nicht. Sie halten nur das eine Weile kühl,
was vorher Kühlschränke gekühlt haben, sehr alte Kühlschränke zum Beispiel, die nie weggeworfen werden.« »Mir kannst du viel erzählen«, brummte er. »Batman selbst hat einen Winteranzug«, sagte ich. »In den sind Wärmekapseln integriert, die auf Batmans Körpertemperatur reagieren und ihn in eisiger Kälte warm halten. Wahrscheinlich gibt es das längst für uns, und nur die Wintermantelindustrie verhindert die Markteinführung.« »Wieso weißt du eigentlich so viel über Batman?«, fragte Bosch. »Liest du das etwa, oder siehst du die Filme?« »Muss mich informieren«, sagte ich. »Luis will alles wissen.« Ich gab Bosch ein Aspirin und ging schlafen. In dieser Nacht träumte ich von einem fliegenden Batbosch mit wehendem schwarzem Umhang, der mit einer riesigen Kältekanone Mikrowellen und Elektroherde tiefgefror.
#37 2001 Wir waren bei Nachbarn zum Abendessen eingeladen, Leute, die noch nicht lange in unserem Haus wohnten. Ein Ehepaar in mittleren Jahren, nicht unsympathisch, nicht sympathisch. Bloß langweilig. Sie hatten uns schon mehrere Male zu sich gebeten. Immer wieder hatten wir etwas vorschützen können, Krankheit, Berufstermine, irgendwas. Eines Tages fanden wir keine Ausrede mehr. »Nachbarn sind Nachbarn«, sagte Paola im Treppenhaus. »Man muss ein gutes Verhältnis zu ihnen haben. Schließlich leben wir mit ihnen unter einem Dach.« »Aber sie wohnen drei Stockwerke über uns«, sagte ich. »Das sind fast keine Nachbarn mehr. Und dann gibt es auch noch Fondue!« Ich hasse Fondue. Vor der Wohnungstür wollte ich Paola noch fragen, wie die Leute hießen. Da öffneten sie schon die Tür, und außerdem war ich mir plötzlich sicher, ihr Name sei Sanders. »Vielen Dank für die Einladung, Frau Sanders!«, sagte ich und überreichte Blumen. Für eine Zehntelsekunde huschte ein seltsamer Ausdruck über Frau Sanders’ Gesicht, dann sagte sie seltsamerweise: »Langemanns danken.« Und führte uns hinein. Ihr Mann brachte Prosecco. Wir tranken auf gute Nachbarschaft. »Es gibt Fondue«, sagte der Mann. »Sie mögen Fondue?« »Sehr, Herr Sanders«, sagte ich. »Es ist mein Lieblingsessen. Gibt es bei uns viel zu selten.« Er ließ eine winzige Pause entstehen, dann sagte er: »Bei Langemanns gibt es oft Fondue. Fast jede Woche.« Wer zum Teufel sind Langemanns?, dachte ich. Andere neue Nachbarn? Oder Leute, die hier schon lange
wohnten? Ich verfluchte mein schlechtes Namensgedächtnis. Vor ein paar Wochen hatte ich mit Bruno in einer Bar gesessen. Wir tranken Bier, als eine Bekannte von mir vorbeikam und mich begrüßte. Wir redeten ein paar belanglose Sätze. Ich hätte sie Bruno vorstellen müssen, wäre sie noch zwei Sekunden länger geblieben. Aber sie ging. Auf dem Heimweg fiel mir ein, dass ich sie mit einer anderen Frau verwechselt hatte. Hätte ich sie mit Bruno bekannt gemacht, dann unter falschem Namen. Nur um Lidschläge war ich einer unfassbaren Blamage entgangen. Wir aßen. Es gab einen österreichischen Weißwein. Herr Sanders erzählte von einem Urlaub am Wörthersee. »Haben Sie den Wein selbst importiert, Herr Sanders?«, fragte ich. Wieder dieses kleine Zögern bei beiden. Diese Leute waren merkwürdig gehemmt. Total unspontan, dachte ich. »Langemanns kaufen Wein in einer kleinen Vinothek in Schwabing«, sagte Frau Sanders. Ihr Gesicht hatte etwas Verzerrtes, fiel mir auf, eine seltsame, unterdrückte Verzweiflung. Ob sie verrückt war? Zum sechsten oder siebten Mal beantwortete einer von den beiden eine Frage, indem sie etwas von Langemanns erzählten… Ich wagte nicht zu fragen, wer Langemanns sein könnten, zu oft war jetzt die Rede von ihnen gewesen. Und ich hatte Angst, mich zu blamieren. Mein Namensgedächtnis ist, wie gesagt, nicht gesellschaftsfähig. Seit dem Vorfall mit Bruno hatte ich mit Paola ein Zeichensystem vereinbart. Wenn wir eine Party oder ein Lokal besuchten, und jemand, den sie nicht kannte, begrüßte mich, ohne dass mir sein Name eingefallen wäre, zupfte ich Paola dreimal hintereinander kurz an der Hand, für sie das Signal, sich sofort zu entfernen, auf die Toilette oder sonst wohin. Warum? Damit ich nicht in Verlegenheit käme, ihr den Menschen vorzustellen,
dessen Name mir ums Verrecken nicht einfiel, den ich aber schon lange kannte und ihr unbedingt hätte vorstellen müssen. Wir verabschiedeten uns gegen elf. »Langemanns gehen immer früh schlafen«, hatte Frau Sanders gesagt, und ich hatte noch überlegt, ob das hier vielleicht eine Wohngemeinschaft sei und Langemanns bald kämen und dann Ruhe herrschen müsse. »Vielen Dank, Frau Sanders, ein sehr netter Abend!«, sagte ich in der Tür. Paola ging noch mal hinein, Frau Sanders wollte ihr ein Buch geben, das hatte sie vergessen. Ich rief, ich wolle rasch um den Block spazieren, dann werde ich heimkommen. Als ich zurückkehrte, merkte ich, dass ich keinen Hausschlüssel dabei hatte. Ich drückte unseren Klingelknopf. Vor der Haustür wartend, las ich die Namensschilder an den Klingelknöpfen. An einer Wohnung im vierten Stock las ich auf einem neuen Schild den Namen Langemann. Den Namens Sanders las ich nirgends.
#38 2001 Neulich las ich, ein Designer habe einen Toaster entwickelt, der je nach Wetterbericht Bilder mit Wolken, Sonnenschein oder Schneefall auf die Brotscheiben brenne. Das würde ja nun Bruno gefallen, meinem alten Freund. Er ist für solche Sachen immer zu haben, ständig grast er Kataloge und Läden nach irgendwelchen Nutzlosigkeiten ab, von denen er glaubt, er brauche sie oder werde sie vielleicht einmal brauchen. Neulich sah ich in seiner Wohnung einen Trekkingrucksack liegen. »Gehst du jetzt wandern?«, fragte ich. »Nein«, sagte Bruno. »Ich bin überhaupt noch nie wandern gegangen. Aber dieser Rucksack war sehr günstig bei Aldi zu haben, und ich dachte mir, vielleicht wache ich eines Morgens mal sehr früh auf und denke: Heute würde ich gern mal in die Berge gehen und wandern. Und dann habe ich einen Rucksack, noch dazu einen sehr preiswerten. Hätte ich keinen, könnte ich nicht wandern gehen. Das wäre doch traurig, nicht wahr?« Ein andermal lag auf Brunos Esstisch ein etwa vierzig Zentimeter langer Aluminiumstab. »Was ist das denn?«, fragte ich. »Oh, das ist der Vibrasonic-Molechaser«, sagte Bruno. »Man steckt ihn in die Erde, und alle 15 Sekunden sendet er seismische Schwingungen aus. Damit vertreibt er alle Maulwürfe aus deinem Garten.« »Aber du hast keinen Garten«, sagte ich. »Nein«, sagte Bruno. »Aber immer mal wieder habe ich mir gedacht, ich ziehe vielleicht doch noch um. Dann habe ich eventuell einen Garten, und möglicherweise sind dort
Maulwürfe, die ich vertreiben möchte. Dann gibt es den Vibrasonic-Molechaser vielleicht nicht mehr im Handel. Aber ich hätte ihn.« So ist Bruno. Immer für alle Fälle gerüstet. Stets auf alles vorbereitet. Für jede Spielerei zu haben. Er erinnert mich an einen Nachbarn, den wir hatten, als ich ein kleiner Junge war. Wir lebten damals in einer Siedlung mit mittelgroßen Einfamilienhäusern und mittelgroßen Rasenflächen. Ein Nachbar kaufte sich damals einen Rasenmäher-Traktor, mit dem er seinen eigenen mittelgroßen Rasen in null Komma nix abgemäht hatte. Dann fuhr er mit seinem Treckerlein von Nachbar zu Nachbar und bettelte regelrecht, dort auch mal Rasen mähen zu dürfen. Einmal mähte er sogar heimlich unseren Rasen, als wir zwei Tage lang verreist waren. Danach hatte er ernsthaften Streit mit meinem Vater, der selbst sehr gern Rasen mähte. Bruno hat auch einen elektronischen Wachhund, ein Gerät, das zu bellen oder zu knurren anfängt, sobald sich jemand der Wohnungstür nähert. Wenn Bruno ausgeht, führt er einen Ultraschall-Hundevergrämer mit sich, mit dem er jeden Kampfhund in die Schranken weisen würde – bloß gegen seine eigene elektronische Kläff- und Knurranlage nutzt er nichts, natürlich. Kürzlich hat sich mein Freund eine vollautomatische Espresso- maschine angeschafft. Seitdem muss ich immer Kaffee trinken, wenn ich Bruno besuche. Überhaupt muss ich ihn öfter besuchen, und wir treffen uns nicht mehr unten in dem kleinen Café in seinem Haus. Bruno steht an seiner Kaffeemaschine wie ein Barmann an seiner Cimbali, mahlt Kaffee, reguliert Druck, schäumt Milch, und wenn ich nach dem dritten Cappuccino einen vierten ablehne, ist er ein bisschen traurig und sieht aus, als
würde er am liebsten bei seinen Nachbarn klingeln und sie fragen, ob es ein Espresso sein dürfe oder eine Latte macchiato. Das Allerneueste: Brunos Blutdruckmesser. Man schnallt ihn ums Handgelenk, dann hält man das Handgelenk auf Herzhöhe. Plötzlich surrt und pumpt das kleine Ding. Sekunden später zeigt es den Blutdruck an. Als wir vor Tagen in der Kneipe saßen (eine Bierzapfanlage hat Bruno nicht) maßen wir uns immer wieder den Blutdruck, die Leute kamen an den Tisch, auch ihnen maß Bruno den Blutdruck – er kann nicht anders, immer muss er mit Neuanschaffungen im Mittelpunkt stehen, immer bestimmen sie sein Leben und das seiner Freunde. Vielleicht erfindet dieser Designer einen Toaster, auf dessen Brot man seinen Blutdruck ablesen kann. Oder einen Elektronikhund, der bei hohem Blutdruck kläfft. Oder eine Maschine, die nur Kaffee zubereitet, wenn der Blutdruck stimmt. Oder einen Hypertonievergrämer, mit dem man hohen Blutdruck vertreibt. Oder… Irgendwas Schönes für Bruno jedenfalls.
#40 2001 Wir saßen in einer kleinen Trattoria in Rom, nicht weit vom Kolosseum, und studierten die deutsch-italienische Speisekarte. Ich machte mir Notizen für mein neues großes Projekt: den Entwurf einer deutsch-italienischen Gemeinschaftssprache. Ich denke, in zwei, drei Jahren werde ich zur Buchmesse ein erstes Nachschlagewerk herausbringen können, in zehn Jahren werden alle deutschen Touristen und alle italienischen Kellner die Sprache beherrschen, in zwanzig Jahren können Deutschland und Italien vereinigt werden. Was mit Österreich geschieht, das dabei im Weg herumliegt, wird man sehen. Bereits heute gibt es Bücher einzelner Autoren, die in einer Art Deutschalienisch erscheinen, die VenedigKrimis von Donna Leon zum Beispiel, in denen das deutsche Wort Gasse nicht mehr vorkommt, sondern immerzu durch calle ersetzt wird. »Er ging durch die calle zum campo, nahm sein telefonino in die Hand und sagte: ›Pronto!‹.« So muss man sich das vorstellen. Noch weiter geht man bei der Herausgabe der Werke des Sizilianers Andrea Camilleri, sehr empfehlenswerte Literatur übrigens, welche streckenweise in einer deutsch-italienisch-sizilianischen Mischsprache gehalten ist. In Der Hund aus Terracotta liest man Sätze wie diesen: »Der Duft der triglie fritte, der aus der Osteria kam, gewann das Duell. Er aß ein antipasto speciale di frutti di mare, dann ließ er sich zwei spigole bringen…« Oder: »›Ma chi è stamattina stu scassamento di minchia?‹, heulte drinnen Signora Carmilina, und Montalbano verschwand grußlos.« Das kann von Deutschen kaum verstanden werden, erzeugt dafür aber
viel Atmosphäre: Es wird einem sehr sizilianisch im Kopf. Das Deutschalienische, welches ich konzipiere, wird viel weiter gehen. Es wird komplett unverständlich sein, dafür molto funny. »Was soll ich als Antipasto essen?«, fragte ich Paola. »Es gibt Pflanzlich Vorspeisen und Salm Vorspeisen, und dann gibt es noch Rösten Brot sicilian stil.« »Das wird so etwas Ähnliches sein wie gestern Abend«, antwortete sie. »Da gab es geroestete brotschein.« Wir erinnerten uns eines Lokalbesuchs vor einem Jahr, das war in Florenz – da gab es die Speisekarte nur auf Italienisch. Als der Wirt mitbekam, dass Paola, deren Großvater Italiener war, beide Sprachen perfekt spricht, bat er sie, seine Karte zu übersetzen. Das dauerte eine Weile, sie gab sich Mühe. Als wir dieses Jahr wieder mal vorbeigingen, lasen wir auf der draußen aushängenden Karte von Gerichten wie Raw Schinken und zieghe ckeese, Franciert kalman sowie Orade See barsch einsalzen. Von Paolas Übersetzung hatte der Wirt kein Wort benutzt. »Was soll das?«, fragte sie entgeistert. »Es ist Deutschalienisch«, sagte ich. »In einigen Jahren werden alle Speisekarten so aussehen.« »Aber wie kommt man auf zieghe ckeese?«, fragte sie. »Das ist Engleutsch, aus Ziege und cheese«, sagte ich. »Das Wörterbuch dieser Sprache werde ich bereits nächstes Jahr herausbringen.« Die wirklich guten Ausdrücke, fügte ich hinzu, entstünden sowieso nur durch Hin- und Herübersetzen zwischen mehreren Sprachen. Vor Jahren hatte ich in einem Magazin eine Gebrauchsanweisung für die aus Taiwan stammenden »Luftmatrotze ES 223« zitiert gefunden. Da stand: »Entrollen die Puff Unterlage und liegen auf ihr, dann wird sie von der Wärme sich Inflationen
bekommen.« In einer Zeitung las ich den Text zu einer Quarzuhr: »Wenn alles richtig eingesielli isluruchen Sie S2 bis Slunuen and Mirunan mii blindendern Coppalpunki arschetuen. Sollite die Doppelpunki ruchi blinish denn drucken Sie S1.« Das passiert, wenn man einen Text aus dem Chinesischen ins Englische, dann ins Ungarische, von dort wieder ins Chinesische und schließlich ins Deutsche übersetzen lässt, und zwar ausschließlich von zwölfjährigen Sudanesen, die keine dieser Sprachen beherrschen. Nur Kinder können Wörter wie arschetuen und Coppalpunki erfinden, so wie Luis neulich das Wort Gerichtheber benutzte. Er meinte Gewichtheber. Ich beschloss, im Deutschalienischen das Wort Gerichtheber für Kellner einzusetzen. Zurück zu unserer römischen Trattoria. Paola bestellte, für mich Spaghetti mit Rührei und Bäuchlein und für sich Scheibegrobfleisch m,it Kase, Zitrone Pfeffer und Öliö. Der Gerichtheber zuckte nicht mit der Wimper, notierte alles und sagte: »Grazie an Ihnen.«
#41 2001 Spät saß ich nachts am Küchentisch und trank ein Bier,
um besser schlafen zu können. »Es ist was Seltsames
passiert«, sagte ich zu Bosch, meinem sehr alten
Kühlschrank und Freund. »Etwas, das mich nervös
macht.«
Er begann sonor zu brummen und fragte: »Was?«
»Seit ein paar Tagen steht oben in der Datumszeile auf
dem Bildschirm meines Computers der 5. Januar 1904.
Wenn ich das dann korrigiere, ist es okay. Aber am
nächsten Tag steht da wieder: 05.01.1904.«
»Die spinnen, die Dinger.«
»Das ist nicht alles«, sagte ich. »Heute war ich in einem
großen Elektrokaufhaus, um mir ein Notebook anzusehen.
Ich stehe davor, spiele an der Tastatur – und dann sehe
ich auf die Datumszeile. Und was steht da?«
»Lass mich raten! Der 05.05.55?«
»Wieso das denn?«
»Der Tag, an dem ich deinen Eltern geliefert wurde.
Kleiner Scherz.«
»Nein. Da stand: 05.01.1904.«
Bosch sagte gar nichts.
»Das ist unheimlich, oder?«, sagte ich. »Zumal es damals
keine Computer gab. Ich habe dann meinen Bruder
angerufen. Er sagte, er hätte neulich eine E-Mail mit der
Jahreszahl 1904 bekommen. Er wusste aber nicht mehr,
was drinstand. Er hat sie gleich gelöscht.«
»Vielleicht will jemand eurer Familie aus dem Jenseits
eine Nachricht zukommen lassen. Eine Nachricht, die für
euch sehr wichtig ist. Oder für die ganze Welt. Du solltest
nachsehen, was am 5. Januar 1904 passiert ist.
Möglicherweise verstehst du die Nachricht dann.«
»Ich habe schon nachgesehen. US-Marines sind in Korea
gelandet, Königin Tamara von Hamsun wurde uraufgeführt, und ein französischer Ringer namens Pons hat einen Dänen namens Petersen besiegt. Sagt mir alles nichts. Und niemand aus meiner näheren Verwandtschaft ist an diesem Tag geboren oder gestorben. Spielt nicht Ulysses von Joyce an einem Tag im Jahr 1904?, fällt mir gerade ein. Das ist aber der 16. Juni, glaube ich.« »Gab es 1904 Kühlschränke?«, fragte Bosch. »Nicht im Haushalt. Das ging erst zehn, fünfzehn Jahre später los, in Amerika«, sagte ich. »Hätte ja sein können. Dass mir wer was sagen will…« »Was soll dir einer mitteilen wollen?« »Zum Beispiel, dass ich bald auch im Jenseits sein werde. Dass eine gewisse Familie sich einen neuen Kühlschrank kaufen wird, so ein modernes Riesending mit Eiswürfelspender und Hausbar in der Tür. Oder mit Computer, der die Einkäufe erledigt. Oder so’n schickes Design-Kühlmöbel, dass man auch im Wohnzimmer…« »Hör auf«, sagte ich. »Solange ich lebe, kühlst du mein Bier und sonst keiner.« »Warum stellst du mich nicht ins Wohnzimmer? Ich war nie im Wohnzimmer. So schlecht sehe ich auch nicht aus.« »Paola will es nicht«, log ich. »Ah, warum hast du sie geheiratet?«, stöhnte er. »Ich könnte vor Wut das Magnum schmelzen lassen, das sie mir heute Nachmittag ins Eisfach gelegt hat.« »Was noch komisch ist: Immer wenn in der Datumszeile 1904 steht, geht der Drucker nicht. Und wenn ich das Datum korrigiert habe, funktioniert er wieder«, sagte ich. »Klar«, sagte Bosch. »1904 gab’s keine Drucker.« »Vielleicht bin ich in eine Zeitmaschine geraten«, sagte ich. »Vielleicht werde ich langsam ins Jahr 1904 transportiert. Erst taucht der 5. Januar 1904 nur auf den Computern auf, dann sind plötzlich die Computer weg. Eines Morgens steht eine Kutsche da, wo ich gestern mein
Auto geparkt hatte. Mittags lese ich in der Zeitung etwas
über den Fall Dreyfus oder eine Rede Rosa Luxemburgs.«
»Und abends bin ich weg, und dein Bier ist warm.«
»1904? Du wärst nie da gewesen. Und hättest dein Leben
noch vor dir.«
»Und dass dein Bier warm wäre, würde dich gar nicht
wundern. Es wäre ganz normal.«
»Aber jetzt ist es sehr kalt, danke schön«, sagte ich.
»Es lebe der Fortschritt!«, seufzte Bosch.
#42 2001 Mein Arbeitstag beginnt so: Ich entnehme Bosch, meinem sehr alten Kühlschrank und Freund, einige Behälter mit frischen, gut gekühlten Buchstaben. Breite die Buchstaben auf dem Schreibtisch aus. Bilde langsam, mühsam, einsam Wörter. Reihe die Wörter zu Sätzen. Ordne die Wörter zu Texten. Dann rufe ich in der Redaktion an. Sofort eilt ein Bote herbei, um die Texte mit einem kleinen Lieferwagen abzuholen. Was dann geschieht, weiß ich nicht genau. Jedenfalls: Wenn ich die Buchstaben, Wörter, Texte wieder sehe, sind sie auf Papier gedruckt. Und wenn es nun das Papier nicht gäbe, denke ich manchmal, wenn es nie erfunden worden wäre… Wie könnte ich leben? Müsste ich von Haus zu Haus und von Café zu Café ziehen und den Menschen dort anbieten, ihnen Geschichten ins Ohr zu flüstern, gegen Gebühr? Es gibt ja Männer und Frauen, die im Restaurant erscheinen, von Tisch zu Tisch gehen und jeweils einen abgegriffenen Zettel und einen kleinen Gegenstand ablegen. Auf dem Zettel steht, man könne den kleinen Gegenstand kaufen. So bin ich zu einer ansehnlichen Sammlung kleiner Gegenstände gekommen, alle aus Fernasien: ein Monsterkopf mit leuchtenden Zottelhaaren aus Plastik, ein rosa Elefant als Schlüsselanhänger, ein Feuerzeug mit dem Bild einer halb nackten Tänzerin… Wenn der/die Taubstumme dann gegangen ist, wird am Tisch die immer gleiche Frage aufgeworfen: Ob der/die denn wirklich taubstumm sei. Ob er/sie nicht bloß so tue, um sich das Geschäft zu erleichtern. Die Antwort ist: Es ist egal! Ob taubstumm oder nicht – über den Wert von
kleinen Monsterköpfen und winzigen rosa Elefanten und Feuerzeugen mit halb nackten Tänzerinnen kann man nicht diskutieren. Das ist, was der/die Taubstumme uns sagen will: Ich habe euch nichts zu geben. Das, was ich habe, ist so lächerlich – es ist weniger als nichts. Ihr braucht auch nichts. Ihr habt alles. Ich nicht. Von Alfred Polgar gibt es ein Feuilleton über die Frage, warum man dem Bettler, der einem die leere Hand entgegenstreckt, öfter gibt als dem armen Teufel, der geringfügige Gegenstände zu verkaufen sucht, ein Paar Schnürsenkel vielleicht oder Zündhölzer oder eben einen Monsterkopf. Dem einen gibt man, den anderen schickt man weg: »Ich brauche nichts.« Aber er braucht doch, Mann! Es sei eben so, schrieb Polgar: Der mit den Schnürsenkeln und den Zündhölzern begebe sich sozusagen auf eine Ebene mit uns. Er maskiere sich als Geschäftsmann und werde entsprechend behandelt. »Aber der Bettler, der fordert, ohne zu bieten, ist ein Subjekt außerhalb deiner Welt. Ein Untermensch. Schwärzlich dräut um ihn, sei er noch so winselnd und zerknickt, acherontische Drohung! Mit seiner offenen Hand langt die Tiefe nach dir. Seine Ohnmacht spürst du in der Magengrube, wie Kriegslist. Sein gebeugter Rücken ist auf dich zielender gespannter Bogen, sein Tierblick Dolch in der Scheide, sein Winseln verwehter Klang von Schlachtmusiken einer fernen, sehr furchtbaren Heerschar. Mein Lieber, aus Angst gibst du ihm. Aus blanker Furcht. Du kaufst dich los, du zahlst Lösegeld, du entrichtest Tribut. Du bestichst die Unterwelt.« Buenaventura Durruti, der berühmte spanische Anarchist, wurde Ende der zwanziger Jahre in einem Madrider Café namens »La Tranquilidad« mal in einer
Diskussion mit Genossen von einem Bettler unterbrochen. Durruti zog eine Pistole, legte sie in die Hand des Bettlers und sagte: »Nimm sie! Frag in einer Bank nach Geld!« Das ist natürlich sehr lässig, aber man muss dazu Anarchist sein und bewaffnet. Ich bin kein Anarchist. Und ich habe nie eine Pistole dabei. Wer weiß, was ich damit machen würde, wenn ich im Restaurant säße und so ein Fußgängerzonenperuaner käme herein und spielte mir El Condor Pasa vor… El Condor Pasa! Also, ich gebe wirklich immer, ob einer nun einen Hut in der Hand hat oder ein Plastikmonster, ich gebe immer, es sei denn, einer redet mich schräg an, ich gebe – bloß wenn diese peruanischen Musikroboter anfangen, El Condor Pasa in diesem immer gleichen, heiseren Hochlandgeflöte vorzutragen, dann wäre es mir wirklich lieber, sie kämen vorher und fragten: »Zahlen Sie oder sollen wir erst El Condor Pasa spielen?« Dann würde ich auch ihnen geben. Im Übrigen danke ich dem Himmel, dass er den Menschen das Papier gegeben hat und ich nicht mit meinen Texten durch Cafés ziehen muss.
#43 2001 Ich hatte meinen freien Tag, saß in der Küche und las in
der Zeitung, als Luis hereintrat und fragte:
»Papa, was ist eigentlich Glück?«
Glück, dachte ich – wie erklärt man einem Fünfjährigen,
was Glück ist? Und Glück, dachte ich – weiß ich
überhaupt selbst, was Glück ist? Welche Ahnung hat ein
Jammerlappen wie ich, der sich leicht Tag für Tag in
Klagen und Melancholie verliert, vom Glück? Was wäre
Glück für mich in diesem Moment? Wenn ich noch zwei
Stunden hier sitzen könnte und Zeitung lesen, unbehelligt
vom Leben? Und was wäre Glück für ihn, den Kleinen –
jetzt?
»Ähm, also, Glück ist… weißt du… «, hob ich an, weil ich
mich zu einer Antwort verpflichtet fühlte, »Glück also
ist… Luis?! Wo bist du denn?«
Er war aus der Tür gegangen. Er hatte die Frage gestellt
und anschließend sofort den Raum verlassen, vielleicht im
Gefühl, die Frage könnte für mich zu groß sein. Oder die
Antwort für ihn zu klein. Ich las wieder in meiner Zeitung,
ohne weiter über Glück nachzudenken und etwas anderes
zu empfinden als eine kleine Zufriedenheit. Da betrat Luis
wieder das Zimmer. Er trug drei lange Leisten aus Holz
und eine Plastiktüte mit kleinen und größeren
Holzklötzen, die der Schreiner ihm geschenkt hatte, als er
einen Einbauschrank installierte.
Luis sagte: »Ich möchte eine Maschine bauen.«
»Was für eine Maschine?«, fragte ich.
»Eine Maschine eben«, sagte er. »Eine Maschine, die
etwas kann.«
»Und was?«, fragte ich.
»Na, etwas eben, irgendetwas«, sagte er. »Hilfst du mir? Gibst du mir dein Werkzeug?« Ich dachte, wie gern ich noch eine Weile mit meiner Zeitung allein gewesen wäre, wie gern ich danach vielleicht einen Spaziergang gemacht hätte, dass ich vielleicht auch Freude an einem Buch gehabt hätte. Wie schön es wäre, Luis würde allein in seinem Zimmer spielen! Und: Ich bastele nicht gern und verstehe nichts von Maschinen. Teufel auch, ich hatte meinen freien Tag! Aber!!! Luis bastelt gern und er versteht noch weniger von Maschinen und ich konnte ihn ja nicht allein mit Hammer und Säge werkeln lassen. Ich dachte einen Augenblick nach, dann sagte ich: »Wir bauen eine Schranke.« »Was ist eine Schranke?« »Das gibt es bei der Eisenbahn, wenn sie über eine Straße fährt, damit die Autos stehen bleiben. Und an den Grenzen zu anderen Ländern.« »Ach so, eine Schranke«, sagte Luis. »Jaaa!« Dann holte ich den Werkzeugkasten und Nägel. Wir sägten eine Stange für die Schranke zurecht, so breit wie unser Flur, nagelten an das eine Ende einen Holzklotz, bauten ein Gestell mit Halterungen für das eine und das andere Ende der Schranke und machten sie so daran fest, dass man sie auf- und zuklappen konnte. Dann holte Luis seinen Malkasten mit den Wasserfarben und ich holte Wasser. Weil ich keine alte Zeitung fand, nahm ich die neue, die ich eigentlich noch lesen wollte, und breitete sie unter der Holzkonstruktion aus. Wir malten die Schranke weiß und rot an: Ich machte die weißen Streifen, Luis die roten, und den dicken Holzklotz am Ende machten wir gemeinsam schwarz. Dann nahmen wir ein Brettchen und nagelten es an die Schranke, als Schild.
»Was sollen wir auf das Schild schreiben?«, fragte ich.
»Wir schreiben: Halt, hier muss man stehen bleiben, das
ist eine Schranke!«, sagte Luis.
»Dafür ist das Schild viel zu klein«, sagte ich. »Wir
schreiben einfach: Stop!«
»Gut«, sagte Luis.
Ich schrieb: »Stop!« Wir waren fertig. In diesem Moment
kam Paola vom Einkaufen. Sie blieb vor der Schranke
stehen und fragte: »Was ist das denn?«
»Eine Schranke«, sagte Luis. »Siehst du doch.« Er klappte
die Schranke auf, ließ Paola gehen, klappte die Schranke
zu und sah dabei aus, als wäre er in der Zeit, als wir
bastelten, zehn Zentimeter größer geworden.
Dabei war er bloß glücklich. Und ich auch.
#44 2001 Ich fuhr mit dem ICE. Großraumwagen. Immer fahre ich
im Großraumwagen, außer wenn Paola dabei ist. Paola
besteht auf Abteil, legt ihren Mantel auf einen freien Sitz,
Zeitungen auf einen zweiten, stellt die Handtasche auf
einen dritten. Erweckt den Eindruck, alles sei belegt.
»So hat man seine Ruhe im Abteil«, sagt sie.
»Ich mag das nicht«, sage ich. »Dieser Revierkampf.
Kaum sitzt man im Zug, verteidigt man sein Territorium.
Wie ein Tier. Oder wenn man in ein Abteil kommt, in dem
schon Leute sitzen – die leise Erbitterung, mit der sie
einen als Eindringling betrachten. Das ist mir zu blöd.«
»Dann verteidige dein Territorium halt nicht«, sagt sie.
»Häng meinen Mantel an den Haken und stell meine
Handtasche auf die Gepäckablage.«
»Da kann ich gleich in den Großraum gehen«, sage ich.
Hänge ihren Mantel an den Haken, stelle ihre Handtasche
auf die Gepäckablage und setze mich, ihr genau
gegenüber.
Ohne Paola aber fahre ich immer Großraum. Erster
Klasse, Dienstreise – ha! Als es die Eisenbahn noch nicht
lange gab, hatte die Bahn übrigens vier Klassen. Klasse
eins: Abteile, gepolsterte Sitze – wie in der Kutsche.
Klasse zwei: Holzbänke, offene Fenster. Klasse drei:
Holzbänke, ohne Dach. Klasse vier: ohne Bänke, ohne
Dach. In Österreich gab es eine fünfte Klasse, ohne
Fußboden, sodass die Fahrgäste mitlaufen mussten.
(Stimmt nicht, das hat Herzmanovsky-Orlando erfunden,
der Schriftsteller.)
Und welches war, nebenbei, die gefährlichste Klasse?
Genau: die erste. Denn man betrat die Abteile direkt vom
Bahnsteig aus, jedes hatte seine eigene Tür, und zwischen den Abteilen gab es keine Verbindung. Ein Abteil in einem fahrenden Zug war ein erstklassiger Ort für einen schönen, gepflegten Mord. Es kam immer wieder vor (in Büchern von Agatha Christie zum Beispiel), dass am Zielbahnhof der Schaffner die Abteiltür öffnete und einen toten Fahrgast fand. (Noch ’n Argument für Großraum!) … fuhr ich also im Großraum. Der Zug war voll. Eine Dame in der Reihe hinter mir erboste sich grummelnd über einen Allesklarsuperbedankemich-tschühüssTelefonierer weiter vorn. Dann herrschte eine Weile gedämpfte Stimmung, bis zwei Reihen schräg vor mir ein älteres Ehepaar einen Lederbecher und drei Würfel auspackte. Die beiden tranken Kaffee aus einer Thermoskanne, aßen Brote aus einer Brotschachtel – und würfelten klackend auf ihrem Tischchen. Ab und zu lachten sie vergnügt, notierten Zahlen, aßen, tranken, nahmen von der Umwelt kaum Notiz. Ein Geschäftsmann stand auf, sah das Ehepaar missbilligend an, verließ den Waggon, kehrte wieder, sah das Ehepaar missbilligend an, verließ den Waggon in anderer Richtung, kehrte wieder, sah das Ehepaar missbilligend an, setzte sich. Die Dame in der Reihe hinter mir grummelte, sich erbosend. Die beiden würfelten… Wie nett!, dachte ich, ein selbstvergessen spielendes Paar. Und wie seltsam, welche Formen das Reisen in der ersten Klasse angenommen hat! Dass man hier – unterwegs in einem Sehrschnellzug – totale Ruhe erwartet. Kinder sind nicht da, jetzt fühlt sich der deutsche Reisende von spielenden Senioren gestört. Alles stört. Das Leben stört. Ich begann, mich nach Zügen zu sehnen, in denen geredet, gespielt, gesungen wird. Nach einer Eisenbahn wie in Jerofejews Reise nach Petuschki, in der die
Passagiere sich im Suff darüber streiten, ob Friedrich
Schiller am liebsten schrieb, wenn er die Füße in einer
Wanne mit Eiswasser hatte und Champagner soff, oder ob
er die Füße in Champagner hatte und Wodka trank. Nach
Waggons voller Geschrei sehnte ich mich.
Die beiden würfelten… Da erhob sich die Dame hinter mir
und rief: »Würden Sie jetzt bitte aufhören zu würfeln. Das
geht schon anderthalb Stunden, niemand hat was gesagt.
Es stört!«
Die beiden Alten sahen erschrocken auf. »Der Herr da
fühlt sich auch gestört«, rief die Dame.
Der Mann, der vorhin durch den Waggon gegangen war,
nickte heftig. Eine andere Dame drei Reihen hinter mir
rief: »Ja, hier stört es auch!« Eilig packte das Ehepaar die
Würfel ein und begann, in Zeitungen zu blättern.
Ich stand auf, sah die Frau hinter mir fest an und rief:
»Mich hat das Würfeln nicht gestört. Ich fand es schön!
Hingegen: Sie stören mich mit Ihrem blöden Schweigen!
Gehen Sie doch in ein Abteil!«
(Stimmt nicht. Ich bin ausgestiegen, weil der Zug bremste
und ich am Ziel war. Aber ich bin an der Dame
vorbeigegangen und habe sie missbilligend angesehen.)
#45 2001 Ein melancholischer Nachmittag. Ich hatte nicht viel
gearbeitet, es ging nicht gut mit dem Schreiben. Es
regnete feine dünne Fäden. In der Küche hatte ich Paola
etwas vorgejammert. Sie nahm mich in den Arm und
sagte, ich solle mich ablenken, zu Luis ins Kinderzimmer
gehen oder einen Spaziergang machen. Ich ging zu Luis.
Luis hatte seine Lego-Männchen auf dem Boden
ausgebreitet. Ich stakste dazwischen herum wie ein
Storch und warf dabei einen oder zwei von ihnen um.
Er rief: »Tritt nicht immer so auf den Kollegen herum!«
Er sagte wirklich: Kollegen.
Ich setzte mich aufs Bett. Blätterte in einem Comic-Heft.
Luis sagte: »Weißt du, was ich werden möchte?«
»Nein«, sagte ich.
»Ich möchte nicht Polizist werden. Ich möchte etwas
werden, wo man nicht so früh aufstehen muss. Und wo
man nicht ermordet werden kann. So etwas wie du von
Beruf bist, möchte ich werden.«
»Luis, weißt du…«
»Und Papaaa…?!«
»Ja?«
»Lebst du nächstes Weihnachten noch?«
Wie lange ist es bis Weihnachten?, dachte ich. 45 Tage.
Das schaffe ich, dachte ich. Muss ich schaffen. Dann sehen
wir weiter. Ermordet werden kann ich ja nicht. Schön
ausschlafen – dann schaffe ich’s. Nicht jeder Tag ist wie
heute. Vielleicht geht es mit dem Schreiben besser…
»Ganz bestimmt lebe ich, Luis. Warum sollte ich nicht
mehr leben? Weihnachten ist nicht mehr lange hin.«
»Wie lange?«
»45-mal schlafen«, sagte ich.
»Und weißt du, was ich gern zu Weihnachten hätte?«
»Was?«
»Ich hätte gern, dass du nicht tot bist.«
»Ja, das bekommst du sicher. Und was noch?«
Er nahm ein paar Lego-Feuerwehrmänner, setzte sie auf
ein Feuerwehrauto und schob es auf den Knien rutschend
durchs Zimmer.
»Dann wünsche ich mir«, sagte er, »einen Flieger und ein
Militärauto, die können alles abwehren, was gefährlich ist.
Ich wünsche mir ein Krankenhaus, damit ich mich
hinlegen kann, so wie neulich, als mein Gehirn so
erschüttert war, weißt du. Als ich die Treppe
runtergefallen bin.« Er war wirklich die Treppe im Haus
heruntergefallen und musste zwei Tage im Krankenhaus
liegen, mit Gehirnerschütterung, zur Beobachtung.
»Ja, das weiß ich noch.«
»Und das ganze Krankenhaus soll voll Popcorn sein, damit
ich es essen kann, weil ich ja so wenig zu essen bekommen
habe, wegen meinem Erschütterungsgehirn. Und ich
wünsche mir, dass ich Trompete spielen kann.«
»Das kann man sich nicht wünschen, Luis, Trompete
muss man lernen. Man muss Unterricht nehmen.«
»Gut, dann wünsche ich mir, dass ich einmal Unterricht
habe und dass ich dann Trompete spielen kann.«
»Hmmmm…«, machte ich und sah zu, wie er Lego-
Männchen auseinander nahm und wieder
zusammensetzte. Oh, wie ich ihn beneidete um sein
Leben! Mit so vielen netten Kollegen.
»Und ich wünsche mir«, sagte er, »dass es kein
Zähneputzen gibt.«
»Und was ist mit den Bakterien, die deine Zähne
auffressen, wenn du sie nicht wegputzt?«
»Dann wünsche ich mir, dass es keine Bakterien gibt.«
»Man kann es sich schon wünschen, aber es geht nicht in
Erfüllung. Bakterien gibt es immer.« Er hörte gar nicht zu. »Und ich wünsche mir noch tausend Schäkel und Karabiner, weil ich eine große Eisenmaschine bauen will, nein, noch mehr, acht-unendlich viele Schäkel und Karabiner, nein, neun-unendliche viele. Ist neun unendlich mehr als acht-unendlich?« »Ich glaube«, sagte ich. Er schwieg. Ich blätterte ein wenig in den Comics, dann stand ich auf, ging vorsichtig zwischen seinen Kollegen aus dem Zimmer und machte einen Spaziergang in die Stadt, um mich noch mehr abzulenken. Und um ein Krankenhaus voller Popcorn, einen Schnelltrompetenlehrer, neun-unendlich viele Schäkel und Karabiner und noch ein paar andere Kleinigkeiten zu besorgen.
#46 2001 Luis und ich machten einen Ausflug zum Samerberg, nach
Törwang, genauer gesagt. Wir fuhren zur Autobahn.
»Papa, wann sind wir in Törwagen?«, fragte Luis.
»Es dauert ungefähr eine Stunde, Luis«, sagte ich. »Und
es heißt Törwang, nicht Törwagen.«
Interessant, dachte ich, wie man seine eigene schlampige
Aussprache von Kindern zurückbekommt. Keiner sagt
»Lastwagen« oder »Wagenwäsche«, sondern »Lastwang«
oder »Wangwäsche«. Luis denkt, wenn ich »Törwang«
sage, meine ich »Törwagen«.
Er schwieg einen Moment, dann fragte er: »Gehört
Törwagen noch zu München?«
»Nein«, sagte ich und überholte einen Lastwang,
»München ist eine Stadt und Törwang ist ein Dorf.«
»Und warum?«, fragte Luis.
»Was warum?«, fragte ich verdattert.
»Warum kann ein Dorf nicht zu einer Stadt gehören?«
»Weil es was Eigenes ist«, sagte ich. »Es ist kleiner als
eine Stadt, aber es hat einen eigenen Bürgermeister, ein
eigenes Rathaus und…«
»Gehört das hier noch zu München, wo wir jetzt sind?«
Ich sah hinaus. Wir waren über die Stadtgrenze hinaus.
Links und rechts Felder. »Nein, das ist nicht München.
Ich glaube, es gehört zu Unterhaching.«
Er sah ratlos auf die abgeernteten und gepflügten Felder,
dann fragte er: »Und was ist das, Unterhachingen?«
»Auch ein Dorf. Es heißt aber Unterhaching. Ein ziemlich
großes Dorf. Vielleicht ist es auch schon eine Stadt, ich
weiß nicht genau. Ich glaube, es ist eine Stadt.«
»Aber wenn es eine Stadt ist und kein Dorf, könnte es
doch zu München gehören. München ist auch eine Stadt.«
»Ja, aber es gibt viele Städte in der Welt, große und
kleine und mittlere«, sagte ich.
»München ist groß, oder, Papa?«
»Ja«, sagte ich.
»Ist es die größte Stadt der Wehelt?«
»Nein«, sagte ich.
Luis sah wieder nachdenklich auf die Felder, dann fragte
er: »Gibt es in Unterhachingen keine Häuser?«
»Ja, äh, doch, Luis, aber die Häuser sind weiter da
hinten.« Ich zeigte nach links, wo meiner Meinung nach
Unterhaching lag. Es war von hier nicht zu sehen. »Ich
meine nur, dass diese Felder wahrscheinlich auch zu
Unterhaching gehören.«
Ich dachte nach, was ich Luis noch an geografischen
Kenntnissen mit auf den Lebensweg geben könnte.
»Weißt du, Luis, München und Törwang und
Unterhaching gehören alle zu einem Land, das heißt
Bayern, und Bayern gehört zu einem größeren Land, das
heißt Deutschland. München ist die Hauptstadt von
Bayern und die Hauptstadt von Deutschland heißt
Berlin.«
»Fahren wir da mal hin, Papa?«
»Wohin?«
»Nach Deutschland.«
»Wir sind da! Alles um uns herum ist Deutschland.«
»Aber du hast gesagt, es ist, ähm – wie hieß das da
draußen noch mal?«
»Unterhaching?«
»Ja«, sagte Luis.
»Aber Unterhaching ist auch Deutschland«, sagte ich.
»München ist Deutschland und Törwang ist Deutschland
und Unterhaching ist Deutschland.« Allerdings war da
draußen schon nicht mehr Unterhaching, es war schon
Taufkirchen oder gar Sauerlach oder… Was weiß ich?!
Das konnte ich ihm nicht auch noch zumuten. Für ihn war
erst mal wichtig zu wissen, dass die Welt in München und
Nichtmünchen zerfällt. Dass es noch was anderes gibt als
München. Luis ist Münchner, von hier aus betrachtet er
die Welt. Und ganz Nichtmünchen muss sich an München
messen lassen. Sich in Beziehung zu ihm setzen. Wir
fuhren an Holzkirchen vorbei über den Irschenberg und
weiter. Vor uns: die Berge.
»Papa«, fragte Luis, »was ist hinter den Bergen?«
»Italien«, sagte ich. »Da waren wir schon mal.«
»Ja, ich weiß. Und Italien gehört zu München, oder?«
Ich antwortete nicht. »Jetzt fahren wir von der Autobahn
runter«, sagte ich. »Gleich sind wir in Törwang.«
»Und wann fahren wir zurück nach München?«, fragte
Luis.
#47 2001 Nun haben wir schon seit längerem zwei Handys, also
Paola hat eines, und ich habe eines. Wir telefonieren
immer öfter. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir uns
auch immer gut verstehen.
Zum Beispiel kann es sein, dass ich Paola anrufe, um ihr
zu sagen, dass ich mich sehr auf einen gemütlichen Abend
zu Hause mit ihr freue. Ich wähle ihre Handynummer,
und Paola meldet sich.
Ich: »Liebling, du, ich wollte nur sagen, dass ich mich sehr
auf einen gemütlichen…«
Paola: »Ah, du bist’s.«
Ich: »Ja, ich wollte dir nur sagen, dass ich mich sehr auf
einen gemütlichen…«
Paola: »Hallo!?«
Ich: »Hallo!?«
Paola: »Hallo?! Halloooo! Haaaalloooo!«
Ich: »Schrei mich doch nicht so an!«
Paola: »Hallo? Halloooho! Hallllllo!«
Ich: »Was plärrst du denn so? Ich höre dich doch!«
Paola: »Hallo? Bist du noch da?«
Ich: »Natürlich bin ich noch da. Ich verschwinde doch
nicht einfach vom Erdboden. Ich höre dich sogar die ganze
Zeit.«
Paola: »Aber ich habe dich nicht gehört. Du bist in einem
Funkloch.«
Ich: »Nein, du bist in einem Funkloch. Ich habe hier die
volle Antennenzahl auf dem Display.«
Paola: »Ich auch. Bei dir stimmt etwas nicht.«
Ich: »Hallo? Halloooo!«
Paola: »Schrei doch nicht so herum!«
Ich: »Halllloooo!«
Paola: »Was schreist du denn so! Hör auf damit!« Sie legt
auf. Ich rufe sie wieder an.
Ich: »Wieso legst du einfach auf?«
Paola: »Weil du so sinnlos herumschreist.«
Ich: »Du hast doch selbst geschrien.«
Paola: »Ich kann jetzt nicht mit dir diskutieren. Was ist
denn?«
Ich: »Wo bist du eigentlich?«
Paola: »Im Schuhgeschäft. Wieso?«
Ich: »Hallo... Ja, jetzt wieder… Weißt du, ich wollte dir nur
sagen, dass ich mich sehr auf einen gemütlichen…«
Paola: »Hallo? Jetzt höre ich dich wieder nicht mehr.«
Ich: »Hallo?«
Paola, leise zu jemand anders: »Haben Sie die vielleicht
auch in Größe 39? Nein, die nicht, die braunen, ja, die…«
Ich: »Hallooooo?«
Paola: »Ja? Bist du wieder da?«
Ich: »Ich war immer da. Warum redest du denn nebenbei
mit jemand anders?«
Paola: »Ich sagte doch, dass ich im Schuhgeschäft bin.«
Ich: »Hab ich nicht gehört.«
Paola: »Ich kann nicht so lange mit diesem Handy
telefonieren. Lass uns aufhören! Ich... Es wird so komisch
heiß, wenn man länger damit spricht, und ich spüre, dass
mir die Schläfe wehtut. Ich glaube, es ist sehr ungesund.«
Ich, ungeduldig: »Jetzt piept schon wieder mein Akku, er
ist gleich leer, das Scheißding, er hält nur eine Stunde
oder so… Du, ich wollte ja auch nur schnell… Hallo?«
Paola, wieder leise zu jemand anders: »Ach, nein, die habe
ich nicht gemeint. Ich meinte diese hier. In 39, ja. Das ist
sehr freundlich, vielen Dank.«
Ich: »Hallo?«
Paola: »Ja?«
Ich: »Mein Akku ist gleich leer. Er piept schon die ganze
Zeit. Rede doch nicht dauernd mit jemand anders da! Hör
mir doch mal zu!«
Paola: »Halloooo…!«
Ich: »Ja, hallo… HALLO? HALLO?«
Paola: »Ja, hier bin ich doch. Ist ja gut! Was wolltest du
denn eigentlich?«
Ich: »ICH WOLLTE DIR NUR SAGEN, DASS ICH MICH
SEHR AUF EINEN GEMÜTLICHEN…«
Stille. Akku leer. Abbruch des Gesprächs.
#48 2001 Kürzlich fuhren Paola und ich für zwei Tage mit dem Zug
nach F. Ich hatte dort zu tun. Paola hatte mit Luis zu
Hause bleiben wollen. Aber dann beschloss sie, ihn zur
Oma zu bringen und mitzukommen. Das tue unserer
Beziehung gut, sagte sie, eine kleine Reise zu zweit.
Wir fuhren mit dem Taxi zum Bahnhof.
»Du freust dich gar nicht, dass ich mitkomme«, sagte
Paola plötzlich.
»Natürlich freue ich mich«, sagte ich.
»Man sieht es dir aber nicht an.«
»Ich freue mich innerlich. Außerdem habe ich in F. zu
arbeiten, das vergisst du. Ich bin angespannt.«
»Wärst du lieber allein gefahren?« Sie betrachtete mich
mit leicht schief gelegtem Kopf von der Seite.
»Wieso das denn?«
»Könnte ja sein…« Sie machte eine Pause, schaute mich
lange an, dann sagte sie: »Du machst schon wieder so!«
Sie äffte mich nach, verzog ihren Mund und biss sich von
innen auf die Lippen. Ich mache das manchmal, wenn ich
nervös bin, und eben hatte ich es auch gemacht.
»Entspanne deinen Mund!«, sagte Paola. »Es sieht blöd
aus, wenn du so machst. Ich mag es nicht.«
Ich machte ein Geräusch, »humpf« oder so. Wir stiegen
aus dem Taxi. Paola hatte noch keinen Fahrschein und
wir gingen zu den Schaltern.
»Ach, Schatz«, sagte Paola plötzlich. »Ich möchte mir
noch schnell ein Buch holen. Besorgst du die Fahrkarte?«
Vor den Schaltern warteten jeweils drei, vier Leute. Ich
stellte mich an. Nach zehn Minuten kam Paola.
»Warum stehst du hier?«, fragte sie.
»Weil ich eine Fahrkarte kaufen will«, sagte ich.
»Warum stehst du nicht drüben an Schalter vier? Die
Schlange dort ist viel kürzer.«
»Als ich reinkam, schien mir diese Schlange kürzer.«
An Schalter vier stellte sich ein Herr im grauen
Staubmantel an. »Siehst du«, sagte Paola, »der Herr da
hat gesehen, dass die Schlange an Schalter vier kürzer
ist.«
Wir warteten. Ich war nun der Dritte. Wir hatten Zeit bis
zur Abfahrt des Zuges. Ein junger Mann mit Rucksack,
der bei uns ganz vorn an der Reihe war, schien länger zu
brauchen. Paola ging nach vorn, schaute ihn an, schaute
die Schalterdame an und kam wieder zurück.
»Das wird dauern«, sagte sie. »Und der Herr da drüben
ist schon eins vorgerückt.«
»Nicht so schlimm«, sagte ich. »Wir haben es nicht eilig.«
»Ich hasse Warten«, sagte Paola. »Entspanne deinen
Mund!«
Der Rucksackjunge vorn war immer noch nicht fertig.
»Was macht der denn da?«, fragte Paola. Geduld ist nicht
ihre Stärke. Man spürt ihre italienischen Vorfahren.
»Gib halt Ruhe!«, sagte ich. Aber sie ging nach vorn und
fragte die Schalterdame, wie lange es noch dauern werde.
Die Dame gab ihr eine leicht indignierte Antwort.
»Blöde Kuh!«, sagte Paola, als sie wieder neben mir stand.
»Der Herr drüben ist fertig. Wenn du dich…«
Tatsächlich verließ der Herr im Staubmantel gerade den
Raum mit den Schaltern. Ich ärgerte mich.
»Du machst schon wieder so mit dem Mund.«
»Ich mache mit meinem Mund, was ich will«, sagte ich.
»Ich muss ja auch die Fahrkarte holen, während du im
Buchladen stöberst.«
»Was soll diese Bemerkung, bitte sehr?«
»Nichts. Nur so.«
»Das finde ich ziemlich blöd von dir. Ziemlich blöd!«
Paola atmete tief und langsam ein. Der Rucksackreisende
vorn war fertig. Hinter uns warteten drei Leute. Sie
lauschten unserem Streit. Ich hasse es, wenn Leute
unseren Streitereien lauschen. Die Dame vor uns wollte
nur eine Auskunft. Während ich die Fahrkarte kaufte,
trommelte Paola mit den Fingerspitzen auf dem Tresen.
»Schneller geht es nun mal nicht«, sagte die
Schalterdame.
»Ich sehe«, sagte Paola pampig.
»Meine Frau ist nervös«, sagte ich. Auf dem Weg zum
Zug stritten wir leise zeternd weiter.
»Ich habe mich so bemüht, dass ich mitfahren kann…«,
sagte Paola. »Und du freust dich nicht ein bisschen!«
»Warum auch?«, sagte ich.
»So eine Unverschämtheit!«, sagte sie.
Wir stiegen in den Zug und fuhren nach F., zu einer
kleinen Reise, die unserer Beziehung gut tun sollte.
Paola fuhr in Waggon zwölf und ich im Speisewagen.
#49 2001 Es war elf, als ich den Weinladen betrat. Ich wollte für Bruno, bei dem Paola und ich eingeladen waren, eine Flasche besorgen. Im Laden stand nur ein kleiner Dicker mit Halbglatze und graulockigem Resthaar. Er tänzelte, wenn er sich bewegte, und näselte leicht beim Sprechen. »Roten oder Weißen?«, fragte er. Ich war schon öfter hier gewesen, aber ihn hatte ich nie gesehen. »Rot«, sagte ich. »Vielleicht sollte er zu Zigarren passen. Ich will ihn verschenken. Mein Freund raucht Zigarren.« »Gehen wir zu den Spaniern«, sagte der Händler. Er nahm eine Flasche. »Dieser hier, delikat, würzig, traubig, fast wuchtig, hält jeder Zigarre stand. Probieren Sie mal…« Er entkorkte eine Flasche, die bereitstand, und goss Wein in ein Glas. Ich nahm einen ordentlichen Schluck. Er goss sich selbst auch ein und trank. »Unglaublicher Nachhall, was?«, sagte er. »Hört gar nicht mehr auf, ha!« Ich hatte noch nie gesehen, dass ein Weinhändler selbst trank, wenn er Weine verkaufte. »Ja«, sagte ich. Ich verstehe nicht viel von Wein, obwohl ich ihn gern trinke. Wenn ich über Wein reden soll, versage ich ganz. Er nahm noch einen Schluck und griff nach einer anderen Flasche. »Dieser hier«, sagte er. »Voll konzentriert, opulent, auch geschmeidig, seidig im Abgang, gleichzeitig stählern – eine Wuchtbrumme.« Er goss den Wein in zwei Gläser. Wir probierten. »Hmmm«, machte ich, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich dachte über stählerne Seide und seidigen Stahl nach. »Ah, der hat Kraft, der hat Frucht, was für ein Spaß!, der
hat Fun!« Der Dicke steigerte sich allmählich in die Sache hinein. Er zündete sich einen Zigarillo an. Wie kann es sein, dass ein Weinhändler in seinem Laden raucht?, dachte ich. Er trank eilig einen zweiten Schluck. Ich auch. »Aber jetzt zeige ich Ihnen diesen hier«, sagte er. Er goss Wein in Gläser, brummte vor Vergnügen und hielt sie gegen das Licht. »Was für ein Rot!«, flüsterte er. »Wie das Blut aus dem Hals des Holofernes, nachdem Judith ihn köpfte.« Er atmete über dem Glas tief ein und trank schlürfend. »Zwetschgig, kirschig, johannisbeerig«, sagte er. »Und dahinter irgendwo kalter Rauch, Suppengemüse, Fleischbrühe, ja, und Noten von Rohöl.« Ich trank. Er auch. »Ich habe noch nie Rohöl getrunken«, sagte ich. »Was Weinfachleute alles saufen müssen!« Er hörte nicht zu. Wir tranken. »Hier, ein Chilene!«, sagte der Mann. »Ich gebe Ihnen von dem.« Er füllte zwei Gläser und trank. »Muskulös, was?«, sagte er. Er seufzte hingerissen. »Stämmige Textur, gleichzeitig dieses Wilde, Unnahbare – und ich schmecke Brot und Winzerschweiß, das Unterholz eines sterbenden Mischwaldes und die Spur eines streunenden Wildschweins im Moos und das Geschrei eines brünstigen Hirschkäfers…« »Banane«, sagte ich, weil ich auch was sagen wollte. »Als wäre Banane im Abklang, äh, Nachgang. Und Radiergummi?« Er nickte versonnen, als horche er auf etwas Fernes. »Einen Letzten«, sagte er rasch, nahm eine Flasche, füllte Gläser. »Den könnten Sie auch nehmen, ein 98er Bonchambon de Bonchamps, feinstaubig-tanninig, vibrierend-tabakig am Gaumen, rotebetig irgendwie auch, wachsig-mineralig, kräuterzuckrig im fernen Hintergrund, vibrierend-straff, irgendwie jovial und doch
sexy, ein Geschmack wie schwarzer Chiffon…«
Wir tranken. Ich dachte, wenn er nicht mit Wein handeln
würde, könnte er auch ein Adjektivgeschäft aufmachen.
Da war hinter einer Tür am Ende des Ladens ein
Geräusch zu hören.
»Ich muss gehen«, sagte der kleine Dicke plötzlich hastig.
»Machen Sie’s gut!«
»Aber…«, sagte ich, da war er schon rausgehuscht. Aus
der Tür am Ladenende trat ein hoch aufgeschossener
Mann mit randloser Brille und weißer Schürze. Er
schnupperte und sagte: »Bitte, rauchen Sie hier nicht!«
»Ich habe nicht geraucht«, sagte ich. »Da war ein kleiner
Dicker – ich dachte…«
Er seufzte auf, ging zur Ladentür, schaute hinaus, kam
wieder zurück.
»Mein Bruder…«, sagte er. »Er soll hier eigentlich nicht…
Ich habe es ihm verboten, er…«
Der Mann hielt mitten im Satz inne, zwinkerte und
machte eine Bewegung, als führte er ein Glas zum Mund.
»Er schreibt mir die Prospekte, verfasst auch Bücher
über Wein und arbeitet für Weinjournale, wissen Sie«,
fügte er hinzu. »Das kann er gut.«
»Ich glaub’s«, sagte ich.
»Sie suchen Wein?«, sagte er. »Wählen wir zusammen
einen aus?«
»Oh, bitte, nein«, sagte ich, nahm eine Flasche von dem
Chilenen, zahlte und eilte von dannen.
#50 2001
Die beste Taxi-Anekdote, die ich kenne, hat mir Bruno erzählt, mein alter Freund. Bruno war auf einem Fest, das sich bis in die Morgenstunden hinzog, und auf dem sich einige Anwesende so betranken, dass sie von anderen die Treppe hinuntergetragen werden mussten, als sie sich auf den Heimweg machten. So musste zum Beispiel Bruno einen Kollegen, den wir hier Herrn B. nennen wollen, auf seinem Weg ins Erdgeschoss halb stützen, halb schleppen und in ein Taxi schieben. Als das getan war, ging Bruno wieder nach oben. Nach fünf Minuten klingelte der Taxifahrer. »Können Sie mir nicht sagen, wohin ich den Herrn da unten bringen soll?«, fragte er. »Warum fragen Sie ihn nicht?«, fragte Bruno zurück. »Das tue ich ja«, sagte der Taxifahrer. »Aber immer wenn ich ihn frage, wo er wohne, schreit er nur: ›Das geht Sie gar nichts an!‹« Ehrlich gesagt, ist das auch schon die einzige TaxiAnekdote, die ich kenne. Alle anderen Taxi-Geschichten stammen aus Filmen, Night on Earth zum Beispiel von Jim Jarmusch, in dem Roberto Benigni einen Priester morgens um vier durch Rom fährt und ihm in halsbrecherischer Fahrt seine sämtlichen sexuellen Obsessionen beichtet – es geht darin unter anderem um Kürbisse und um die Frau seines Bruders. Am Ende stirbt der Geistliche an einem Herzanfall und der schockierte Benigni deponiert ihn am Straßenrand. Das ist natürlich wunderbar. Aber sonst? Freund A. erzählt, um Taxi-Geschichten
gebeten, von einem Fahrer, der so rassistisches Zeug herauskotzte, dass A. an einer Ampel die Tür öffnete und einfach wegging. Freund B. berichtet von einem anderen Fahrer, der kein Wort Deutsch sprach, sich nicht in der Stadt auskannte und ständig haarscharf am Rande eines gefährlichen Unfalls chauffierte – sodass B., der nur von einem Viertel in ein anderes gewollt hatte, schließlich irgendwo in der Wüstenei des Stadtrandes zwischen einer Kläranlage und einer Autobahnauffahrt ausstieg und sich über das Handy einen anderen Wagen rief. Das war’s. Eigentlich müssten Taxis mehr hergeben. Man erlebt im Taxi irgendwie zu wenig. Überhaupt ist es seltsam, dass sich das Taxigewerbe wenig Gedanken über einen Zweitnutzen des Taxifahrens macht. Ich meine: In der Bahn kann man während der Fahrt essen, trinken und sogar Videos sehen. Was kann man im Taxi? Von A nach B fahren. Mit dem Fahrer reden. Hmmm… Mit dem Fahrer reden? Bruno sagt, er habe kürzlich mit seiner Frau im Taxi gesessen. Sie hätten ein Erziehungsproblem, ihre Tochter betreffend, diskutiert, hätten sich keinen Rat gewusst – da drehte sich plötzlich der Fahrer um und gab ihnen einen »astreinen« (Bruno) pädagogischen Tipp. Warum? Der Mann war Kindergärtner von Beruf und verdiente sich als Taxifahrer was dazu. Hier liegt die Zukunft des Taxiwesens. Mein Vorschlag: das Beratungstaxi. Mit jeder Fahrt wird man nicht nur transportiert, sondern nutzt die Zeit für eine Beratung durch arbeitslose Pädagogen, Psychologen, Bankangestellte… Man hätte grüne Erziehungsberatungstaxis, gelbe Beziehungsberatungsdroschken, blaue Anlageberatungswagen, schwarze Sinn-des-LebensAutos mit geschulten Philosophen am Volant, rote Taxis für Sportfachgespräche, weiße Schweigelimousinen, braune Wut- und Schrei-Fahrzeuge mit schalldichter
Passagierkabine. Beispiele? Ich fahre mit Paola abends zu einer Party, und wir streiten uns schon in der Wohnung darüber, dass sie nicht pünktlich fertig ist? Schicken Sie ein gelbes Ehegesprächstaxi! Der Fahrer bringt jedes zeternde Paar binnen einer Viertelstunde in einen partyfähigen Zustand! Ich habe gerade die Kontoauszüge aus dem Automaten gezogen und muss ins Büro? Einen blauen Spezialwagen für Trostgespräche bei akuter Finanzpanik heranwinken! Nie wieder müssten wir uns das Genöle von Taxifahrern über die schlechte Lage auf dem Taximarkt anhören. Erstens gäbe es die schlechte Lage nicht mehr, denn jeder von uns würde immerzu Taxi fahren. Und zweitens müssten die Taxifahrer uns anhören und helfen, in jeder Lebenslage, einfach und schnell helfen.
#51 2001 Weihnachten ist die Zeit der Rituale: Den Christbaum beispielsweise kaufe ich immer ganz zuletzt, einen Tag vor Heiligabend, Paola wird jedes Mal verrückt vor Angst, ich könnte keinen Baum mehr bekommen oder nur ein räudiges Restbäumerl mit dünnen Ästen. Ich aber lebe immer von neuem in dem Gefühl, so kurz vorm Fest müsste ich meinen Christbaum billiger bekommen, weil ja der Händler mit der Ware nach Weihnachten nichts anfangen kann, er kann sie nicht aufheben bis zum nächsten Jahr, kann den Baum nicht in den Wald zurückpflanzen. Er müsste so knapp vor Heiligabend in Schlussverkaufsstimmung sein, alles mehr oder weniger herschenken. Tut er aber nicht. Denn was ich jedes Jahr wieder vergesse, das ist erstens: Auch ich sitze in der Christbaumfalle. Ich kann nicht ohne Baum heimkehren. Selbst wenn der Verkäufer jetzt die Preise erhöhen würde – ich müsste kaufen. Zweitens: Wenn man etwas billiger haben will, muss man handeln. Das kann ich nicht. Ich konnte es nie. Ich bin zu schüchtern. Vor Monaten dachte ich, mit der Einführung des neuen Rabattgesetzes würde sich meine Situation bessern. Ich dachte, überall würden mir nun Verkäufer entgegeneilen, »Rabatt!« schreiend, sich überbietend in der Gewährung höchster Nachlässe. Nichts. Ich müsse mich selbst bemühen, hieß es, müsse feilschen. Selbst dann sei das Personal gehalten, nichts billiger herzugeben, sondern eine Zugabe zu verschenken. Eine Zugabe? Was soll ich beim Christbaumhändler für eine Zugabe bekommen? Einen zweiten Baum? Das erinnert mich an eine Notiz in Thomas Manns Tagebuch vom 24. Dezember 1918: »Moni, die, wie Golo, auf Wunsch ein kleines Separatbäumchen bekommen hatte,
kam damit hereingetanzt und küsste das Bäumchen.« Ein Separatbäumchen... Ich könnte beim Händler einen Separatbaum für Luis verlangen, aber erstens würde ich den auch bezahlen, wie ich mich kenne. Zweitens würde Luis wollen, dass dieser Baum in seinem Zimmer aufgestellt werde, Kerzen bekomme, diese Kerzen auch zu brennen hätten – er hat gerade so eine pyromanische Phase, ständig fummelt er mit Streichhölzern herum. Wie heißt es dazu in Helmut Qualtingers Travnicek-Dialogen? FREUND: Sie haben keine Poesie, Travnicek. Denken Sie an Ihre Kindheit. Was pflegten Sie da zu Weihnachten zu kriegen? TRAVNICEK: Watschen. FREUND: Warum? TRAVNICEK: Ich pflegte den Baum anzuzünden. FREUND: Absichtlich? TRAVNICEK: Naa. Es hat sich so ergeben. Im Übrigen, was Rabatt angeht: Heute haben sicher auch Christbaumhändler Bonusprogramme oder MembershipRewards-Systeme, bei denen man nach zwanzig Jahren treuen Kaufs eine Tanne gratis erhält, jedoch nur, wenn sie nachts zwischen drei und vier Uhr online bestellt wurde. Und nicht zwischen 30. Oktober und 6. Januar. Wo hatte ich angefangen? Bei Ritualen. Thomas Mann las Weihnachten gern aus Eigenem vor, das könnte man aufnehmen, seinerseits aus Manns Tagebüchern vorlesen, was er jeweils am 24. Dezember notierte, in München, der Schweiz, den USA, sehr oft etwas über den Christbaum, 1935 etwa: »Bescherung schöner und brauchbarer Dinge an alle im Licht eines schlanken Baumes mit etwas zu steilen Zweigen.« Mit etwas zu steilen Zweigen... Ist es nicht großartig? Wenn ich dann einen Baum habe, muss ich den Christbaumständer suchen. Seit Jahrzehnten fällt mir traditionell erst nach Ladenschluss ein, dass man dazu einen Ständer braucht – nie weiß ich, wo ich ihn
vergangenes Jahr verstaut habe, den ganzen Keller muss ich absuchen, irgendwo muss er sein, und Paola wird mich beschimpfen, oh, wird sie mich beschimpfen... Dann werde ich, ganz kurz bevor ich die Kerzen anzünde, den Feuerlöscher suchen und entdecken, dass seine Füllung bereits vor Jahren hätte erneuert werden müssen, dass er nichts nützt, der Feuerlöscher. Er ist untauglich so, wenn es mal brennen sollte, wird Paola sagen, wo ist der Wassereimer?, wird sie fragen, jedes Jahr müssen wir einen Wassereimer neben den Baum stellen, dabei hätte man nur nach dem letzten Weihnachten den Feuerlöscher zum Füllen bringen müssen. Aber es brennt nie bei uns, werde ich antworten, das ist auch eine Tradition, dass es bei uns nie brennt, jedes Jahr brennt es nicht...