Pierre Klossowski
Das Bad der Diana
Brinkmann & Bose
Berlin 1982
Deutsch von Sigrid von Massenbach
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Pierre Klossowski
Das Bad der Diana
Brinkmann & Bose
Berlin 1982
Deutsch von Sigrid von Massenbach
Allerlei Exemplare wurden vom Autor signiert.
Digitalisiert in Deutschland 2002
Nunc tibi me posito visam velamine narres Si poteris narrare, licet. Ovid, Metamorphosen III. Ich möchte mit euch über Diana und Aktaion sprechen: zwei Namen, die im Geiste des Lesers nur wenige oder sehr viele Assoziationen auslösen: eine Situation, Positionen, Formen, das Motiv eines Gemäldes, doch kaum etwas von der Sage, denn da Bild und Erzählung durch die Enzyklopädien vulgarisiert worden sind, verknüpft sich nur noch die Vorstellung von Frauen, die im Bade von einem Eindringling überrascht werden, mit diesen beiden Namen, deren erster einer der tausend Namen war, die die Gottheit nach Ansicht einer längst entschwundenen Menschheit trug. Dazu ist diese Vision, wenn auch nicht «das Beste, was wir genossen haben», so doch das am schwersten Vorstellbare. Für einen Leser aber, der nicht ganz bar aller Erinnerungen, nicht ganz bar aller Erinnerungen ist, die durch andere Erinnerungen vermittelt worden sind, können diese beiden Worte plötzlich erstrahlen in einer Explosion glanzumflossener Emotionen. Wie war diese Menschheit, die in einem Maße verschwunden ist, daß der Ausdruck «verschwunden», all unseren Ethnologen und all unseren Museen zum Trotz – daß schon dieser Ausdruck, sage ich, keinen Sinn mehr hat: wie war diese Menschheit, wie war ihr Dasein überhaupt möglich ? Und doch, was sie zu ihrer Zeit träumte, was sie in ihren Wachträumen mit den Augen des Aktaion sah – so deutlich, daß sie die Augen des Aktaion zu sehen wähnte –, erreicht uns wie das Licht der für uns erloschenen und für immer verschwundenen Sternbilder: nun blitzt also der helle Stern in uns auf, in der Düsternis unseres Gedächtnisses, in der großen Sternennacht, die wir in unserem Herzen tragen, die wir jedoch bei der trügerischen Helle des Tages fliehen. Dort vertrauen wir uns unserer lebenden Sprache an. Zuweilen aber schleichen sich zwischen zwei Wörter der Umgangssprache einige Sil[9]
ben der toten Sprachen ein: Wortgespenster von der Transparenz der Flamme am hellen Mittag und des Mondes im Blau der Nacht, doch sobald wir sie in den Halbschatten unseres Geistes bergen, sind sie von strahlendem Glanz: mögen so die Namen Diana und Aktaion den Bäumen, dem durstigen Hirsch, dem Gewässer, jenem Spiegel unberührbarer Nacktheit, für einen Augenblick noch einmal ihren verborgenen Sinn geben. [10]
Sollen wir die Theologen fragen, ob es unter all den Theophanien, die jemals stattgefunden haben, eine gibt, die verwirrender wäre als jene, in der sich die Gottheit den Menschen mit den Reizen der lichtumflossenen und todbringenden Jungfrau darbietet und wieder entzieht? Oder wäre es eher Sache der Magier, der Astrologen, der Hebammen oder noch besser erleuchteter Jagdkundiger, uns ihre so verschieden gearteten Embleme zu interpretieren: Bogen, Mond, Hunde, Fackeln, Hirsche, Gewänder schwangerer Frauen, Ruten zum Geißeln der Epheben, Jagdspieße, Blüten heiliger Bäume; könnten sie uns wohl sagen, ob die Auslegung so vieler Zeichen, bevor sie in gewisse Praktiken ausartet, es ermöglichen würde, die Theophanie in ihren widersprüchlichen Attributen zu erfassen: Jungfräulichkeit und Tod, Nacht und Licht, Keuschheit und Verführung. Der Bogen der Jungfrau warnt uns, indem er die unaufhörliche Bewegung zwischen den niedersten Regionen, zu denen wir hinabzusteigen neigen, und den höchsten, denen wir zustreben, regelt, vor den niedersten, in denen sie als Besitzbare herrscht, ebenso, wie ihre Mondsichel uns beim Aufstieg in die höchsten leitet, wo sie als nicht in Besitz Genommene wohnt. Wer immer sich an eines ihrer Attribute klammert, zieht sofort den Widerspruch des anderen auf sich. Ihr Jäger, die ihr sie anruft, hütet euch davor, diesen Widerspruch zu genau zu nehmen: ihr könntet ein Schicksal erleiden, das dem des Wildes nur allzusehr ähnelt. Der Bogen, den ihr spannt, ist flexible Substanz aus dem heiligen Arsenal der Jungfrau; auf jede eurer Begierden antwortet ein Pfeil aus ihrem Köcher; wie die Sehne sich beim Abschnellen des Pfeiles entspannt, so läßt im Leben die Spannung nach, wenn die Begierde befriedigt ist; und das ist euer Los: wenn eure Geschosse die er[11]
wählte Beute treffen, so geschieht das um den Preis eures Begehrens. Aber wenn ihr die Beute mit ihr teilt, seid mäßig und umsichtig: die Bogenschützin hat ihren Bogen niedergelegt, und das ist eure höchste Prüfung: in Artemis schlummert Elaphia ein, und Britomartis, die sanfte Jungfrau, erscheint mit einem zärtlichen Lächeln: befruchtbar, aber noch unbefruchtet, kräftig und anziehender denn je, aber noch im Kreise ihrer Nymphen, umringt von ihren Hunden und dem erlegten Wild: deine höchste Prüfung in der Tat, Meleagros, wenn sie in der Gestalt der geschmeidigen Atalanta einwilligt, die Huldigung deiner erregten Leidenschaft entgegenzunehmen. Werdet ihr dem Los des Meleagros entgehen? Möget ihr nicht verführt werden, die Jägerin in weit innigerer Eintracht mit den Tieren als mit den Jägern, die sich ihrer Meute zugesellten, ausruhen zu sehen: Oh, wie fühlt sich der Jäger ausgeschlossen aus dem Kreis, der aus Haarknoten, Hundeschnauzen und Knien besteht und in dessen Mitte die Jungfrau Gewand und Köcher niederlegt; sie hatte uns beim Lauf außer Atem gebracht; indem sie selbst Atemlosigkeit heuchelt, tut sie so, als habe sie unsre Glut erschöpft; und um diese bis zum äußersten anzufachen, wirft sie ihr Gewand ab: sie offenbart einen Körper, der erregt ist, einen Körper, den sie streichelt, und da sie in Schweiß geraten ist, vertraut sie dem Gewässer ihr Geheimnis an. Aphrodite bot sich wasserbeperlt den Blicken der Sterblichen als heiterste aller Gewißheiten dar. Was aber zählt die Gewißheit der Aphrodite neben der Bitternis, in die Artemis uns stürzt! Das Bad, das die Jagd der Artemis beschließt, ist der grausamste Augenblick unseres Lebens: die Erquickung, die wir in den Armen der Gottheit zu genießen hofften, ist uns verwehrt: und wenn sie jetzt auf ihrer Unberührbarkeit beharrt, so nur, um uns desto leichter von der theophanischen Wirklichkeit ihrer Wangen, ihrer Brüste und ihrer Schenkel zu überzeugen, die sie dem Tod unserer Sinne entleiht, während das Gewässer mit seinen bewegten Flächen den jungfräulichen Schoß einhüllt, den befruchtbaren Leib, den die zärtlichen Hände liebkosen, die Hände, die den Bogen hielten, die geschmeidigen Finger, die so behend die Pfeile auswählten und die jetzt an ihrem Nabel und den harten Spitzen ihrer Brüste spielen ... [12]
Gibt es einen Anblick, der sinnverwirrender wäre als jener, der sich den Augen des Aktaion durch das beiseite geschobene Laubwerk darbietet? Träumt er wirklich so tief am hellichten Mittag, beim Klange des Horns? War es der Zufall oder das unbestimmte Begehren, was seine Schritte auf dem Wege des Heils mitten ins Unheil lenkte? Hat er ernsthaft geglaubt, die Jungfrau in ihrer unbesitzbaren Göttlichkeit besitzen zu können? War er es, der dieser Theophanie ihre Formen verlieh? War er deren Exeget? Hätte sich Artemis je den Bildhauern dargeboten, wenn Aktaion ihr nicht so nahe gekommen wäre? War es eine Falle seiner jägerischen Einbildungskraft, die er seinem Schutzgeist stellen wollte? Aber was für ein Einfall, den Ursprung seiner Berufung überraschen zu wollen, gleichsam um ihn aufs Spiel zu setzen! Und muß man nicht nahezu toll sein, um anzunehmen, die Gottheit werde sich entspannen, sich entkleiden und sich im Wasser erquicken; um zu glauben, sie langweile sich so sehr, daß sie euch ein exklusives Vergnügen gewähren und euch ein Vorrecht einräumen werde, das ihr wie eine wilde Frucht pflücken könntet? Hatte Aktaion genug von der Jagd? Ahnte er einen tieferen Sinn ihrer Nutzlosigkeit? Mit einem Wort: die Beute um des Schatten willens fahrenlassen – war das nicht das Geheimnis aller Jäger, sobald nämlich die irdischen Güter zum Schatten der künftigen Güter werden? Aber wenn das Himmelreich den Gewalttätigen gehört, so tat Aktaion den ersten Schritt auf dem Wege zur Weisheit, als er sich diesem brennenden Busch näherte, den er als der erste der Propheten, die bewaffnet und maskiert unterwegs sind, auseinanderbog. [13]
Diana und der Zyklop Brontes
Der Zyklop lieferte Diana ihren Bogen und ihre Pfeile. Will das besagen, daß er durch die Überreichung der Attribute der Göttin verschleierte, was er ihr in Wirklichkeit verschafft? Daß nämlich Diana in dem Augenblick, da sie dem Zyklopen Brontes einige Haare aus seiner zottigen Brust ausreißt, mit dem Ungeheuer kämpfte, dessen Energie sich bei der Erholung von der Arbeit im Finsteren spielerischerweise mit der Geschmeidigkeit des lichtumflossenen jungen Mädchens maß? Verselbständigte er damit nicht in ihr das grausame Prinzip ihrer Jungfräulichkeit? In ihrer kernigen Kraft bestätigt durch ein von den Göttern und den Sterblichen ungeahntes (den Zungen ihrer Hunde vorbehaltenes) Attribut, ging sie aus den Armen des Zyklopen hervor. Dadurch, daß sie dem Ansturm des Zyklopen standgehalten hatte, war sie für eine Kaste von Eingeweihten fortan unausbleiblich die Rivalin der Aphrodite: in ihrer Eifersucht auf Artemis sucht Aphrodite vergebens, sie nachzuahmen: die Hörner der Sichel des Nachtgestirns, die das Haar der Diana schmücken, bleiben das Emblem eines Ritus, von dem die Vögel des Waldes nach Belieben zwitschern. Wer aber hat je ernstlich behauptet, er verstünde deren Sprache? Es bedurfte eben dieser Häresie, damit Diana, angerufen von den Frauen im Kindbett, am hellichten Tag die Wandlung vollzog und als Schutzgottheit der Fruchtbarkeit wie auch der Verlöbnisse erschien: sie, die sich von jeder ehelichen Vereinigung ausschließt, nimmt nun den Eid der Verlobten entgegen und bestraft ihre Vergehen. Warum aber muß sie mit ihrer schönen Hand die Epheben bis aufs Blut auspeitschen? [14]
«Eine harte oder vielmehr unerhörte Bedingung»
Aktaion fürchtete die Gefahr von der Hand der Diana deshalb so sehr, weil er an der Keuschheit ihrer Finger zweifelte. Diese Eigenschaft der Göttin war für ihn nur eine Attitüde, dazu bestimmt, das niedere Volk in Sicherheit zu wiegen, das darin einen außergewöhnlichen Beweis von Ernsthaftigkeit unter all den olympischen Frivolitäten erblickte und das darin die Gnaden der göttlichen Barmherzigkeit spürte, die ihm von einem erbarmungslos heiteren Himmel herab gewährt wurden: Diana als Schutzgottheit des tierischen und pflanzlichen Lebens, die den Verlöbnissen wie der Fruchtbarkeit der Ehefrauen wohlgesonnen ist und die gesunde junge Mädchen nach ihrem Bilde formt, die aber dennoch «eine Löwin für die Frauen» ist; die auf den Feldern der ihr feindlichen oder ihren Altären gegenüber gleichgültigen Königreiche verheerende Ungeheuer losläßt – in dem Maße, in dem die Jagd allmählich aufhörte, eine wirtschaftliche Notwendigkeit zu sein, und ein Spiel wurde, gleichsam um die Menschen daran zu erinnern, daß sie, da sie ein Zeichen sowohl des düsteren wie auch des heiteren Aspekts des Universums war, für dessen Integrität bürgte. Worin aber stimmte diese Integrität mit der ihrer jungfräulichen Natur überein, entsprach sie ihrer Keuschheit? Warum lehnte sie für sich die Gefühlsregungen, die das Universum beseelen, ab? Warum verbarg sie, vor den Göttern wie vor den Sterblichen, ewig ihr anderes Antlitz? Aktaion begriff einfach nicht, daß die Integrität des Universums von einer einfachen Gottheit abhängen könne, noch auch, daß sich eine weibliche Gottheit, die sich jeder männlichen Gottheit verschloß, in der Einfachheit einer in sich geschlossenen, sich selbst genügenden Natur ausdrücken sollte, die in der Keuschheit die Fülle ihres Wesens fand. Eine Göttin, die über dem Schick[15]
sal stand und mit der zu vereinen nach dem Willen des Schicksals kein Sterblicher sich anmaßen durfte. «Es sollte den Göttern gestattet sein, sich mit den Frauen der Sterblichen zu vereinen, den Menschen jedoch verboten, Göttinnen zu besitzen? Eine harte oder vielmehr unerhörte Bedingung!» rief ein berühmter Verächter der Götter aus. Aber Aktaion sagte sich das schon vor ihm. Er war vielleicht ein Weiberfeind, aber da er die Analogie des Seins auf sein Mißtrauen anwandte, durch die verschiedenen Phasen seines Schutzdämons neugierig geworden und bald entschlossen war, auf dem mondsüchtigen Temperament eine Sekte aufzubauen – da er so ehrgeizig war, inmitten der ephesischen Orthodoxie die Rolle eines eifersüchtigen Sektenführers spielen zu wollen, hatte er in einer so banalen Redensart wie: die Hunde heulen den Mond an so etwas wie die Spur einer geheimen Wahrheit entdeckt. So offenbarten die Kunst des Jagens und die Astrologie, die zwar unterschiedliche Wissenschaften waren, aber auf Grund ihres pragmatischen Charakters zusammengehörten, daß sie ein und denselben uneingestehbaren Gegenstand hatten. Abgesehen davon, daß man die Kunst des Jagens, die doch eigentlich immanent ist, sich nun zur Transzendenz emporschwingen sieht, die von der sich selbst überlassenen Astrologie in so trügerischer und eitler Weise ausgedeutet wird; während sie, gleichsam aufgeheitert durch den Sinn der jägerischen Wirklichkeiten, hier ein lobenswertes Korrektiv ihrer Träumereien erfährt und in aller Demut darein willigt, auf das Niveau des Hundes herabzusteigen, der im gleichen Augenblick die Erhabenheit der Gestirne gewinnt. Denn bald ist die Mondsichel das Diadem, das die Stirn der Artemis ziert; bald bildet sie die kleinen Hörner, die aus ihrem Haar hervorlugen, nie aber stellt die Göttin das Bild des vollen Gestirns zur Schau. Wenn es seinen silbrigen, betörenden Schein in dieser Gestalt in der lauen Nacht ausbreitet, verschmilzt es in der Tat mit ihren keuschesten Reizen; ist es unsichtbar, zieht es sich in deren tiefstes Innere zurück; eben dorthin in Artemis, wo der am besten Eingeweihte ihrer Hunde es von neuem zunehmen lassen wird. [16]
Der silberne Bogen und der Dianenbaum
Diana versucht ihren silbernen Bogen viermal: sie versucht ihn gegen vier Ziele: ihr erstes Ziel ist eine Ulme, ihr zweites eine Eiche, ihr drittes ein wildes Tier, ihr viertes eine Stadt voll ungerechter Menschen. Gehört das zu ihrer Theophanie ? Oder handelt es sich hier um Formen, die das unaussprechliche Wesen ihrer Göttlichkeit erklären? Bei Diana ist nämlich auch die Göttlichkeit in ihrer «Höhe und Tiefe, Breite und Länge» zu betrachten; stets gilt es, ihren vier Dimensionen gerecht zu werden: der Raum ist nichts anderes als der Geist in seinen vier Bewegungen. Es scheint, als sähen wir hier Diana die drei Reiche belehnen: somit würde sie, da sie selbst das Geistige ist – die Bogenschützin, die Lichtbringerin –, die Affinität mit den drei Reichen bekunden; dies aber durch Vermittlung des Mineralischen (der silberne Bogen), zu dem sie eine geheime Affinität unterhält: und da diese Affinität sich durch die Ulme und die Eiche auf das Pflanzenreich sowie durch das wilde Tier auf die animalische Bestialität erstreckt, sollte die Untersuchung hier eigentlich zu Ende sein. Denn kann man die Stadt voll ungerechter Menschen noch in das Tierreich einreihen – wer würde das wagen? Die vierte und letzte Geste der Diana, der vierte und letzte Pfeil, den sie für die Stadt zurückbehält, wäre also ein Hinweis auf die Überwindung der drei Reiche, die sie sich einverleiben will: sie scheint nunmehr die Grenzen eines vierten Reiches abzustecken, zu dem sie allerdings eine negative Affinität bekundet. Denn ähnlich wie ihr silberner Bogen in der ersten Bewegung ihre positive Affinität zum Mineralischen im höchsten und transzendenten Sinne bezeichnete, so weist [17]
Diana jetzt bei der letzten Bewegung, der vierten, hin auf eine Affinität zwischen der animalischen Bestialität und dem Seelischen, aber auch auf eine kontradiktorische Affinität des Seelischen zum Geistigen in den Formen der Ungerechtigkeit. Wenn man bedenkt, daß der silberne Bogen, der identisch mit der Mondsichel und folglich das emblematische Abbild der Göttin ist, hier der Ausübung göttlicher Macht als Werkzeug dient und daß somit gerade dieses Werkzeug erprobt wird, dann stellt man fest, daß, da das Silber (Mineralreich) hier im Verhältnis zu den anderen Reichen (Pflanzen- und Tierreich) die aktive und überlegene Rolle spielt, sein eigentliches Wirken sich auf moralischem Gebiet vollzieht: die Stadt voll ungerechter Menschen, deren zersetzender Charakter einen sofort an die Funktion des Salmiakgeistes in der Alchimie denken läßt. Denn «gießt man ein wenig Quecksilber in eine Lösung aus Silber und Salmiakgeist, so zieht es das Silber an und teilt dieses in Zweige und Blattwerk, die den Dianenbaum darstellen». So liegen der silberne Bogen und die Stadt voll ungerechter Menschen oder ganz einfach die Ungerechtigkeit (dieses andere Mineral), wenn man sie miteinander vergleicht, in derselben geistigen Region: der Schuß der Diana muß über die drei Reiche hinausgehen, um das eigentliche Ziel zu treffen. Eine zyklische Entwicklung, deren Stadien Aktaion entsprechend den Gesten seines Schutzdämons zu durchlaufen gedachte. (Diese Exegese der Parabel scheint dennoch einen schweren Fehler zu begehen, da sie gänzlich außer acht läßt, daß die Ulme, die Eiche, das wilde Tier und die Stadt voll ungerechter Menschen genaugenommen auf derselben Ebene liegen; daß sie nebeneinander im Raum stehen; daß es kein anderes Reich gibt als das dieses Raumes, der mythisch ist; und daß diese vier Objekte, weit davon entfernt, eine Stufenfolge, eine Progression darzustellen, in bezug auf Diana dieselbe Qualität besitzen und die vier Zielpunkte der vier Bewegungen sind, die sie ausführt, indem sie «ihre Höhe, ihre Tiefe, ihre Breite und ihre Länge» entfaltet; nicht etwa, daß die Ulme ihre Höhe wäre oder die Stadt voll ungerechter Menschen ihre Tiefe: in Wahrheit ist jedes dieser Objekte Anlaß der vier Bewegungen, die sich viermal reproduzieren, weil diese Objekte jedes für sich eine Ganzheit sind und weil die Geste der Diana ebenfalls ein Ganzes ist.) [18]
Diana schießt nacheinander auf zwei Bäume, auf die Ulme und auf die Eiche, und diese Dualität (der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis oder des Todes) hängt zusammen mit ihrer doppelten Natur: mörderisch und lichtumflossen, oder vielmehr: lichtumflossen weil mörderisch. Ihrem doppelten Wesen: unbefruchtet, aber befruchtbar, oder vielmehr befruchtend, weil unbefruchtet. Unversehrtheit, die auf dem Tode der Männlichkeit außerhalb ihrer beruht – da diese wie eine Drohung über ihrer unsterblichen Unversehrtheit schwebt: und der Verlust der Jungfräulichkeit steht hier für den Tod im Schöße des unversehrbaren Seins. Sie selbst, obwohl Jungfrau, handelt dennoch als befruchtendes Prinzip: denn die Männlichkeit, die sie außerhalb ihrer vernichtet, ersteht in ihr selbst neu als Prinzip des Lebens im Schoß des Todes: oder als Prinzip des Todes im Schoße des Seins. Diana erlegt alsdann ein wildes Tier: dieses ist Mittelglied zwischen dem Traum der Begierde und der erwachten Männlichkeit. In der Tat streift das wilde Tier in den Wäldern umher, wie der jähe Zorn durch unsere Adern läuft; aber bevor er im Herzen des Menschen wüten und sein Denken zum Frevel treiben kann, macht Diana sich ihn zu eigen, indem sie ihn mit ihrer Göttlichkeit durchdringt: damit ist die vom Geist geschlagene tierische Energie dem Menschen entzogen und wird eine himmlische Macht. Diana richtet nun ihren Pfeil gegen die Stadt voll ungerechter Menschen: ganz und gar erbaut aus und bevölkert mit jenen Gefühlsregungen, die die Jungfrau auf Grund ihres Prinzips (der Keuschheit) mit dem Bann belegt:, eine Stadt, die durch ihre eigene Theophanie in Aufruhr gerät: sie, die «Göttin des Draußen», wird zur fortwährenden Erregung der unterjochten Gefühlsregungen im Inneren. Mit einem Wort, es ist dies die Versammlung all jener Menschen und Dämonen, die von diesen Gefühlsregungen gefoltert werden; sie kennen Diana, aber während sie vorgeben, ihr göttliches Antlitz nicht zu bemerken, betreiben sie deren ketzerische Anbetung: denn nachdem sie dank dem Opfertode des Aktaion in ihre Mysterien eingedrungen sind, feiern sie diese lasterhaft und blasphemisch, öffentlich, außerhalb der geheiligten Stätten. Sie glauben, wenn Diana sie herausfordere, so tue sie das nicht, ohne jenen Geistern, die danach trachten, sie zu [19]
entschleiern, eine Möglichkeit der Erfüllung zu bieten. So meinen sie, Aktaion habe unter der Ulme oder der Eiche (unter dem Baum des Lebens oder unter dem Baum der Erkenntnis) gleichsam auf eine Präfiguration des Dianenbaums gesonnen, den das Salz der Boshaftigkeit entstehen lassen würde, das Ammoniak der Befleckung, die ein Blick der großen «Schaustellerin» zufügen sollte. [20]
Körperliche Bedürfnisse und Reinigungen der Diana
Das Wildbret, das Diana von der Jagd heimbringt, ist den Zyklopen zugedacht: wie auch dem Herkules. Dieses buchstäblich genommene Detail gehört zu der Rationalisierung des Mythos. Offensichtlich können die Götter essen und trinken, aber nicht so, wie sie lachen, sich ärgern, die Liebe betreiben oder nicht betreiben. Sobald die Götter einen eigenen Körper annehmen, pflegen sie diesen, und sie finden ihr Ergötzen daran, ihn zu pflegen und seine Bedürfnisse zu verspüren, die sie ja nicht wirklich verspüren. Sie tun das aus menschlicher Ehrfurcht. Diana spielt wie die anderen Göttinnen ihre Rolle als Frau vollkommen aus. Diana wäscht sich wie die anderen Göttinnen. Doch hat man niemals vernommen, daß Diana die Tiere, die sie erlegt, auch verspeise. Sie ernährt mit ihrem Wildbret jene «Proletarier» des Olymps, die Zyklopen, die ihr den Bogen und die Pfeile geliefert haben. Wer sind nun diese einäugigen Ungeheuer, die sie mit ihrer Jagd ernährt? Mindere, weil dem Fleiß und der Arbeit unterworfene, der spielerischen und ewig lächelnden Existenz der Götter dienstbare Energien. Diese Energien würden, wenn man ihnen nicht ein sozusagen nützliches Ziel zuwiese, den verabscheuungswürdigen Krieg der Titanen wiederaufnehmen; so aber halten sie sich für unabkömmlich, da sie für den vollkommen nutzlosen Olymp arbeiten: derartig nutzlos, daß er sehr wohl auf sich selbst verzichten könnte. Zum Ausgleich nähren sich diese Energien vom Wildbret der Jungfrau: labt sich nicht auch Herkules, der Halbgott, voller Gier damit? Das Wildbret der Diana, das sind unsere eigenen blinden, von der Göttin gezähmten und durch die der Arbeit unterworfenen Energien aufgebrauchten Energien: beide sind durch die Jagd und durch die Arbeit unter dem Vorwand eines Bedürfnisses oder eines Nut[21]
zens ihres Sinnes beraubt worden – zum «Vorteil» der heiteren Nutzlosigkeit. Es ist wahr, daß jene heitere Nutzlosigkeit sehr wohl auf sie verzichten könnte. Sie ist das Prinzip dieser Energien – diese letzteren aber vermögen sich nicht als solche zu ertragen. Das Gefühl, nutzlos zu sein, würde sie unglücklich machen. Einzig die Gottheit ist glückselig ob ihrer Nutzlosigkeit. Aber Diana wäscht sich nach der Jagd: nicht etwa weil sie sich von dem erdigen Staub, der ihren Körper bedeckt, oder vom Schweiß reinigen müsste; beiläufige Einzelheiten, die Aktaion zum Träumen veranlassen, in die Irre führen können; Diana reinigt sich von dem vergossenen Blut, von der Berührung mit den blinden Energien, von der Berührung mit den irdischen Bedürfnissen: sie reinigt sich von einer nützlichen Tätigkeit: sie findet im Gewässer ihr Prinzip der nutzlosen Heiterkeit wieder: und deshalb wird diese Nacktheit eines scheinbar nützlichen Körpers für Aktaion zum Motiv seiner eigenen Vernichtung. Er nimmt all diese Einzelheiten, die doch rituell sind, wortwörtlich, dergestalt, daß er darin die Möglichkeit findet, eine List anzuwenden: sich als Hirsch zu verkleiden. Er glaubt, daß Diana wirklich «von der Jagd ermüdet» ist, daß sie «schwitzt», daß sie das Bedürfnis verspürt, sich zu «erfrischen», und daß dies der gegebene Augenblick sei für einen unwiderleglichen Beweis der leiblichen Gegenwart, usw. [22]
Die Identifikation mit dem Hirsch
Aktaion versucht als Hirsch zu leben; er wartet «den Aufstieg des Arkturus in den Monaten Boödromion und Maimakterion» ab, die Zeit, in der die Hirsche die Hirschkühe bespringen, verläßt den königlichen Palast und begibt sich allein in den Wald; dort beschäftigt er sich damit, die Bewegungen, die Sprünge und die Gangart der Hirsche zu studieren, um sie alsbald nachzuahmen; indem er galoppiert, jählings stehenbleibt, zu röhren versucht; indem er wie der Hirsch den Kopf an den Bäumen reibt und Löcher in den Boden schaufelt, bis Stirn und Antlitz von Erde beschmutzt sind. Der Juckreiz der Hirsche ist für ihn die lebendige Analogie seines eigenen Gelüsts: Diana. Er läßt sich von seinen dazu dressierten Hunden verfolgen; er stellt sich vor, er habe Diana im Bade überrascht, er habe vernommen, wie sie die Worte der Verwandlung sprach; so lange, bis ihm der Gedanke kommt, die heilige Umfriedung auf dem Grunde des von Zypressen und Pinien beschatteten Tales aufzusuchen und in der dunklen Grotte, in der die Quelle sprudelt, darauf zu warten, daß Diana komme, um sich zu waschen. Welche Geistesverwirrung war jetzt bei dem Enkel des Kadmos eingetreten? Einige sagen, Aktaion sei eines Tages in irgendein Lusthäuschen des Königs eingedrungen und habe dort einen berühmten Künstler von der Art des Parrhasios angetroffen, der gerade dabei war, ein Wandgemälde zu malen: Diana. Aktaion verharrt sprachlos vor der Komposition: jäher Zorn übermannt ihn; er ergreift einen Schemel und versetzt damit dem Vorläufer des Parrhasios einen tödlichen Schlag. Etliche andere fügen hinzu, er habe ausgerufen: «Spion» oder «Verräter» – so als ob der Künstler von vornherein im Einverständnis mit ihm gewesen wäre –, da aber [23]
niemand der Szene beiwohnte außer einem kleinen, kaum dem Kindesalter entwachsenen Sklaven, der überdies Hebräer war, ist anzunehmen, daß ihm dieser Ausruf erst nachträglich in den Mund gelegt wurde, als sich nämlich nach seinem tragischen Ende die seltsamsten Gerüchte über ihn verbreiteten. Indessen soll der Herrscher bei der Nachricht von dem Mord, den sein Sohn an dem geschicktesten seiner Künstler begangen hatte, tiefen Kummer empfunden haben; er sieht die Geste des Prinzen als eine äußerst frevelhafte Tat an und verhängte zur Sühne, um den Zorn der Göttin von dem Königreich abzuwenden, den Bann über ihn. Seltsames Quiproquo, wenn man das Ende dieses wunderbaren Abenteuers bedenkt. Noch am Tage des Mordes reitet Aktaion los, begleitet von seinen Knappen und seiner Meute; er dringt in die Wälder ein, und fortan sollte man ihn nicht mehr wiedersehen. Aber während er seinem Schicksal entgegeneilt, erscheint auf dem Wandbild vor aller Augen die damals noch unbekannte Szene der Sage: Diana, vom hirschköpfigen Aktaion besprungen. Wann hätte ein so umsichtiger Künstler wie dieser Vorläufer des Parrhasios jemals eine derart der Tradition widersprechende Komposition entworfen? War es das, was der Prinz auf der Wand gesehen hatte? War dann nicht sein Grimm berechtigt gewesen? Aber die Beamten des Königs stritten das entschieden ab: kurz bevor der Prinz in das Lusthäuschen trat, hatten sie selbst den Künstler dorthin geführt und die Skizze seines Werkes betrachten können: es stellte nichts Unschickliches dar. Kann man erwarten, auf einem Bild zu sehen, was einem widerfahren kann? Es müßte eine geheimnisvolle Übereinstimmung zwischen dem Bild und unseren unvorhersehbaren Absichten bestehen. Es sei denn, das Bild übte eine solche Überzeugungskraft auf uns aus, daß wir nicht umhinkönnten, es im alltäglichen Leben nachzuvollziehen. Aber wenn es auch zweifellos angenehm ist, einen Künstler uns das vorschlagen zu sehen, was unser Geist uns vorgaukelt: und insbesondere, das Vertrauen einer wenig redseligen Gottheit zu erzwingen; so liegt doch zwischen diesen angenehmen Empfindungen und dem Entschluß, uns in die intime Sphäre unseres Hausdämons zu drängen, immerhin ein Abgrund: wie wäre es also mit einem Bild, das gleichzeitig unsere Sühne und unser Verbrechen darstellen würde? Besäße es nicht zumindest die Kraft, uns in unserem Zimmer zurückzuhalten? [24]
Aktaion und Dionysos
Weit verführerischer und einleuchtender scheint uns die Meinung derjenigen, die in dem Verhalten des Aktaion einen wachsenden Einfluß des Dionysoskultes sehen, dessen Riten er mit dem Kult der delischen Göttin zu verbinden beabsichtigt hätte. Wie begegnet Aktaion Dionysos? Die Antwort ist einfach: der Gott der Weinrebe und der Raserei, der Gott, der stirbt und wieder aufersteht, gehört zur gleichen Familie wie der berühmte Jäger. Und man kann ohne Übertreibung behaupten, daß dieser Gott diese Familie wie ein Gärstoff durchdrang, bevor er seinen irdischen Ursprung in ihr nahm. Aktaion ist der Enkel des Kadmos. In der Tat hatte Kadmos drei Töchter: Autonoë – die-die-von-selbst-denkt –, die Mutter unseres Helden; Semele, die Mutter des Dionysos; und schließlich Agave, die Priesterin des Gottes und Mutter des Pentheus. Nichts also ist im Sinne der geistigen und der fleischlichen Genealogie legitimer, als Aktaion den «Vetter» des Gottes zu nennen. Semele, die Mutter des Gottes, war also seine Tante; und ebenso Agave, die Mutter des Pentheus. Aber was Semele widerfuhr, widerfährt in gewisser Weise, auf analoge, jedoch negative Art, auch Aktaion: beide gehen an ihrer Vision zugrunde. Semele, Agave, Aktaion wurden von dem gleichen Leiden geplagt: der Ekstase. Es scheint, als sei dies ein Familienleiden, eine Erbkrankheit in der Sippe des Kadmos: sie hatte eben die Götter im Blut. Daher zeigt sich bei den beiden Frauen wie bei ihrem Neffen Aktaion eine Verachtung für die herkömmliche Liturgie, die die Beziehungen zu der Ewigkeit der Götter im Alltagsleben regelt und zügelt, sie vor jedem Überschwang bewahrt. Für jene aber wird der Kult eins mit dem Schicksal, und ihre Religion besteht darin, sich in den Gott oder die Göttin hineinzustürzen. Der Semele ist ein heimlicher [25]
Verkehr mit dem Vater der Götter nicht genug, sie sträubt sich dagegen, das mit dem Gott vereinigende Leben im Muff eines ehebrecherischen Alkovens zu ersticken. Sie will von Zeus in seiner für Menschen unerträglichen göttlichen Gestalt vollkommen in Besitz genommen werden. Sie will ihn sehen. Gänzlich verzehrt, triumphiert sie: Dionysos wird geboren, um zu sterben und wiedergeboren zu werden. Mußte dem Aktaion dies seiner Familie widerfahrene Ereignis nicht zu denken geben? Das Seltsamste ist, daß nach einer von Stesichoros übermittelten Variante der Sage Aktaion seine Tante Semele hat besitzen wollen und daß seine Verwandlung in einen Hirsch die Strafe für diesen Frevel gewesen ist. Hier vermengen sich Semele und Artemis einen Augenblick lang, und obwohl es sich augenscheinlich um eine Namensverwechslung handelt («Selene» war das Epitheton der Diana als Mondgöttin), würde diese Verwechslung die Vermutungen von einem Einfluß des Dionysos auf Aktaion nur stützen. Wenn man überdies bedenkt, daß Aktaion, Sohn Autonoës, der Schwester der Agave und der Semele, jener großen Mystagoginnen, Aristaios, den Sohn des Apollon und der Nymphe Kyrene, zum Vater hatte, dann erscheint uns unser Held von einer schweren Erbschaft belastet: ist er nicht der Neffe der Artemis, seines Schutzdämons? Welcher Art also ist sein Verbrechen: eine verzweifelte Anstrengung, zwei einander widerstreitende Verlangen, die über seine Kräfte gehen, miteinander zu versöhnen? Verzehrt er sich nicht in einem zugleich blutschänderischen und mystischen Feuer? Aktaion versucht als Hirsch zu leben. Wenn es die Mysterien des Dionysos waren, die ihn veranlaßten, so zu handeln, dann kann man annehmen, daß eine Eingebung dieses Gottes ihn dazu trieb, in der Raserei die zur Vergewaltigung der Artemis nötige Kühnheit zu suchen. Man stelle sich den schon von der neuen Häresie angesteckten «Neffen» der Semele vor in dem Augenblick, in dem er in seiner Meditation über Artemis versinkt. Ein solches Treiben muß notwendigerweise ein Sakrileg sein, da dabei die bisherigen Grenzen überschritten werden: bevor Aktaion so etwas tut, mußte er das Bewußtsein verlieren; er mußte es verstehen, das Bewußtsein zu verlieren; und er mußte die Raserei kennen. Einzig Dionysos konnte ihn leiten, ihm beistehen und ihn freisprechen. Er bereitet sein Verbrechen so vor, als ob er sich selbst der Artemis opfern wolle; er empfängt [26]
die Strafe der Göttin wie eine Offenbarung; zum Hirsch geworden, dringt er ein in das Geheimnis der Gottheit; von seinen Hunden zerrissen – nimmt er die Botschaft des Orpheus vorweg. Aber dieser Tod, bei dem er – in Nachahmung des Göttlichen Meisters – in Stücke gerissen wird, ist das Bild der Verbreitung und der Konsekration eines Geheimnisses. Und Pentheus, der Verächter der neuen Religion, erinnerte sich, als er von seiner eigenen Mutter in Stücke gerissen werden sollte, dieses seltsamen Abenteuers, und obwohl es ihm als eine Verirrung erschien, wollte er in seiner äußersten Not den unbegreiflichen Märtyrer anrufen: aber als er im Sterben lag, kam er auf menschlichere Gefühle und rief Autonoë an: «Du, Schwester meiner Mutter, laß dich durch den Schatten des Aktaion erweichen.» Konnte Aktaion seine eigene Sage kennen und absichtlich in Raserei geraten? Oder aber war ihm diese Sage stets vorausgegangen, war seine Raserei allzu simuliert, allzu genau abgestimmt, allzu langsam, um jemals die Sage erreichen zu können ? Aktaion raste in der Tat, weil er wußte, daß er raste. Und weil er an der Keuschheit der Artemis zweifelte, zweifelte er auch an seiner eigenen Verwandlung. Da tötete Aktaion, der fürchtete, nicht Aktaion zu sein, den Hirsch, schlug ihm den Kopf ab und setzte sich diesen auf. Und seine eigenen Hunde wandten sich, als sie ihn wiedererkannt hatten, von ihm ab und verließen ihn. [27]
Erwartung
Dies Profil der Berge, diese Wälder, dieses Tal und diese Quelle wären also nur in ihrer Abwesenheit wirklich? Diese Lichtung, auf der meine Meute sich tummelt, diese Schneise, auf der Rehkitzen auftauchen, wären also nur ein Augenschein, der trügerisch würde durch meinen Entschluß, sie hier zu erwarten? Warum sollten diese Buchengruppe, diese Silberpappeln, deren Blätter tausend Dinge flüstern, um mir abzuraten oder mich zu überreden, hierzubleiben, warum sollten diese Weiden etwas weiter unten, in denen sie sich verstecken könnte, warum sollten sie das darstellen, was den dergestalt geordneten, für einen solchen Einbruch zu alltäglichen Raum ausmachen würde? Je mehr ich mich im trügerischen Anblick dieser Gegenstände verliere, desto deutlicher sehe ich, was die Brise hervortreten läßt: ihre Stirn, ihr Haar, ihre Schultern – wenn nicht ein heftigerer Windstoß ihr noch dazu die Tunika oberhalb der Knie zwischen den Schenkeln zu Falten bauscht. Spürt dieser Wiesenhang, auf dem sich bisweilen ein paar Mohnblumen sanft hin und her bewegen, nicht ihre raschen Fersen, und peitscht nicht das glänzende Gras ihre vergoldeten Stiefelchen, aus denen die zierlichen Rundungen ihrer Beine emporsteigen? Mehr als je empfinde ich die Würde des Raumes: als den nüchternsten Genuß meines Geistes, sobald ihre Stirn, ihre Wangen, ihr Hals, ihre Brust, ihre Schultern sich ihm einschmiegen, sich in ihm einrichten, sobald ihr nicht zu ertragender Blick ihn durchforscht, sobald ihre behenden Finger, ihre Handflächen, ihre Ellenbogen und ihre Beine die Luft zerteilen und erfüllen. Doch wenn der Raum ihr Kommen vorwegnimmt – ich bezweifle, daß diese Wälder, wenn sie kommt, vor meinen Augen weiterbestehen, daß mir dieses Tal bis in die kleinsten Wurzeln als etwas anderes denn ein Trug er[28]
scheint; ich bezweifle, daß die Quelle noch außerhalb meiner selbst murmelt, sobald sie sich ihr nähert. Aber das Gewässer bleibt ruhig: ehe die Nymphe es mit der Zehe berührt, wird sie es, nachdem sie ihren Bogen weggeworfen hat, von meinem Denken abgetrennt haben. In dem Raum, der bestimmt ist, sie zu empfangen, bin ich nur geduldet, sofern ich ebenso einfach bin wie diese Bäume. Meine Gedanken gehen über die Grenzen dieses Raumes hinaus, in dem sie doch sprudeln wie die Quelle, die dieses Becken speist. Sie selbst will diese Stätten in ihrem ursprünglichen Aussehen vorfinden. Und ich bin es, der die Konturen verschiebt, der die Bewegung der Zweige steigert, der das Gewässer in Aufruhr versetzt... Den Weg finden, der in diesen absoluten Raum hineinführt! Zuweilen schien es mir, als sähe ich dort oben, auf dem Felsen, den Rücken des alten Pan, der ihr ebenfalls auflauerte. Aus der Ferne jedoch hätte man ihn für einen Stein, für den Stamm eines alten, verkrüppelten Baums halten können. Dann war er nicht mehr zu erkennen, während seine Schalmeientöne noch weiter erklangen. Er war Melodie geworden. Er war übergegangen in die vibrierende Luft, in die sie den Wohlgeruch ihres Schweißes, den Duft ihrer Achselhöhlen und ihres Unterleibs verströmte, als sie sich entkleidete. [29]
Die Neugier der Diana
Haec loca lucis habent nimis, et cum luce pudoris. Si secreta magis ducis in antra, sequor. Ovid, Fasti, VI.
Aktaion maskiert sein Gesicht mit einem Hirschkopf, und er hält sich als «larvatus pro Dea» für sehr gewitzt; so geht er zur Quelle und versteckt sich in der Grotte. Er wartet, daß sie kommt. Währenddessen betrachtet die unsichtbare Diana Aktaion, der dabei ist, sich die nackte Göttin vorzustellen. In dem Maße, wie Aktaion in seiner Meditation versinkt, nimmt Diana Gestalt an. Sie hat zunächst das Verlangen, ihren eigenen Körper zu sehen, dann, ihn in das Gewässer zu tauchen. Sollte Aktaion zufällig auch das wissen? Zweifellos weiß er es, aber er denkt nicht daran; es ist dies eine Gewißheit, von der seine Träumerei unter der Hirschmaske ihren Ausgang nimmt. Diese Gewißheit ist von der Göttin selbst eingegeben. Das Verlangen, sich zu sehen, ist eine Anwandlung, die sie im Laufe der Jagd überkommt. Wenn man den Raum gewählt hat, um auf Geschöpfe ohne Bewußtsein Jagd zu machen, etwa auf Großwild – wie Eber, Bären, Hirsche – die nur Entitäten von Bedürfnissen sind, in denen Befriedigung und Furcht miteinander abwechseln –, dann muß man sich selbst in bewegliche, elastische Formen eingrenzen und einschränken, und man unterwirft sich den Bedingungen aller beweglichen Körper, bei denen die Möglichkeit besteht, daß sie sich an anderen Körpern stoßen und Gegenstöße empfangen. Man beugt sich ihrem Gewicht ebenso, wie man sich ihre Elastizität zunutze macht, und man lernt seinerseits die Müdigkeit und das Ruhebedürfnis nach der Bewegung kennen; obzwar man als Gottheit unerregbar ist, nimmt man auch die Unannehmlichkeit oder Annehmlichkeit auf sich, als Göttin gesehen zu werden. Ihr laßt dem Wild nicht die Zeit, euch zu sehen; im übrigen kennt [30]
und fürchtet das Wild euch. Doch das Verlangen, seinen eigenen Körper zu sehen, schließt das Risiko ein, durch den Blick eines Sterblichen befleckt zu werden, und mit diesem Risiko schleicht sich zunächst die Vorstellung von und alsbald das Verlangen nach Befleckung in die Natur der Göttin ein. Sie empfindet plötzlich, was ihre Natur an Widersprüchlichem birgt: sie hat niemals einem anderen Gott angehören wollen. Und ihr Bruder freut sich darüber. Sie hat beschlossen, sich darin zu gefallen, die Entscheidung, ob sie einem männlichen Prinzip zugehören will oder nicht, niemals zu treffen. Das eben ist ihr Reich, ihr Universum. Sie liegt auf der Lauer, und sie wird selbst zum Objekt derer, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, auf der Lauer zu liegen. Hat sie nicht Schüler unter ihren Anbetern? Und wird nicht der Hellsichtigste ihrer Schüler, der Frömmste und Kenntnisreichste sie am schlimmsten profanieren? «Der Geliebte, den du begehrst, bleibt von deiner Strenge nicht verschont.» So kann die Göttin der Bestimmung, die sie sich selbst gegeben hat, nicht entgehen. Als sie sich von ihrem Laufen ausruhen will, will sie sich in ihrem Ausruhen sehen. Doch während sie sich bei ihrem Ausruhen im Gewässer sehen will, kämpft sie dennoch weiter. Sie willigt darin ein, gesehen zu werden, sofern sie weiterhin morden und töten kann; doch indem sie tötet, gibt sie sich hin. Mag man sie mit dem Blick beflecken, sie wird töten; aber sie wird denjenigen erhöhen, der sie im Sterben gesehen hat. Gewiß denkt die unsichtbare Diana, die Aktaion betrachtet, wie er dabei ist, sie sich vorzustellen, an ihren eigenen Körper; aber diesen Körper, in dem sie sich selbst erscheinen wird, entlehnt sie der Einbildungskraft des Aktaion. Diana hätte eine andere sichtbare Form – Hindin oder Bärin – wählen können, oder, insofern sie Wert darauf legte, ihr eigenes Prinzip zur Erscheinung zu bringen, eine Form, die Aktaion in Schrecken versetzt und ihn von ihr ferngehalten hätte. Aber ganz im Gegenteil: sie, die als Göttin anbetungswürdig ist, will es nun auch als Frau sein, in einem Körper, der auf den ersten Blick einen sterblichen Mann um Sinn und Verstand bringt. Man begreift hier, daß, da die Zwölf Götter der Essenz nach identisch, aber der Person nach verschieden sind, keine Initiative eines von ihnen den [31]
anderen verborgen bleibt und daß das geringste «Abenteuer» eines der Götter oder einer der Göttinnen alsbald jedem und jeder derer bekannt wird, die nur eine einzige Essenz darstellen. Die Gottheit in zwölf Personen gibt sich selbst ein ständiges Schauspiel: ihr «Leben» besteht also darin, sich in ihrer grenzenlosen Freiheit und in ihrem unerschöpflichen Reichtum an ihren verschiedenen Theophanien zu ergötzen. Kein Wunder, daß die Götter selbst das Theaterspiel bei den Menschen eingeführt haben. Die verschiedenen Modifikationen des göttlichen Gedankens, die nur reines Spiel an sich sind, ohne jeden Nutzen, es sei denn der Verbrauch von Energien in ständig neuen Formen, ohne einen anderen Zweck als den, sich von jeder Unterwerfung unter einen Zweck, ja sogar von einer Unterwerfung der Gottheit unter die Gottheit freizuhalten, preisen den Sterblichen, der aus seiner Sphäre der Knechtschaft heraustritt, sobald bei der Begegnung mit dem Menschen diese Modifikationen und Spiele für ihn, den Menschen, ein Ereignis darstellen, von dem aus sich sein bis dahin einer gestaltlosen Notwendigkeit unterworfenes Leben auf die Höhe der Sage von solchen Spielen erhebt: dergestalt haben die Götter die Menschen gelehrt, sich selbst im Schauspiel zu betrachten, so wie die Götter sich selbst in der Einbildungskraft der Menschen betrachten. [32]
Diana und der vermittelnde Dämon
Argument: Diana läßt sich, um dem Aktaion erscheinen zu können, mit einem Dämon ein, der in der Mitte zwischen den Göttern und den Menschen steht. Mit seinem ätherischen Körper simuliert der Dämon Diana in ihrer Theophanie und flößt so dem Aktaion das Begehren und die wahnwitzige Hoffnung ein, die Göttin besitzen zu können. Er wird zur Einbildung des Aktaion und zum Spiegel der Diana. Dieser Dämon der Diana nun schleicht sich in die Seele des Aktaion ein, stellt ihn seinem Schatten gegenüber, löst ihn aus seiner eigenen Sage heraus und lehrt ihn den Begriff der göttlichen Unerregbarkeit. Dem Dämon zufolge verdanken die Götter diese ihre Unerregbarkeit nur dem Umstand, daß sie all ihre möglichen Gefühlsregungen in die Seele der Dämonen verdrängen. Die Dämonen tragen also die Kosten der olympischen Heiterkeit, wie sie auch die Kosten der Verwandlung von Menschen in Halbgötter tragen. Denn wenn die Menschen körperlich sterben, so vermögen sie geistig die göttliche Unerregbarkeit zu erlangen, und zwar aufgrund ihrer Fähigkeit zu sterben: indem sie ihrerseits die Leidenschaften von sich wegdrängen, die die Dämonen auf sie zu übertragen suchen. Eingeschlossen in ihren ätherischen und unsterblichen Körpern, sind die Dämonen außerstande, ihrer Mittlerrolle durch einen Tod, der sie verwandeln würde, zu entrinnen. In dieser Zwangslage laden sie bald alles, was sie beunruhigt, auf die Menschen ab, bald verbünden sie sich mit den Menschen, um wieder zu den Göttern aufzusteigen, und drohen – den Titanen gleich –, die spielerische Heiterkeit des Olymp durch den Ernst der Leidenschaften zu ersticken. Aber die Götter wenden diese Drohung ab, indem sie die her[35]
kömmliche Fabel, sie seien selbst in Leidenschaften verstrickt, aufs neue bestätigen: sie hat die Kraft, die Menschen zu erbauen und die Dämonen friedlich zu stimmen. In der Tat finden die Götter trotz ihrer Unerregbarkeit größtes Gefallen an dem Schauspiel, das sie sich durch jene Klasse in der Mitte zwischen Göttern und Menschen stehender Dämonen geben: sie bedienen sich ihrer, um die Gefühlsregungen zu erforschen, die ihr eigenes Prinzip ausschließt, und nehmen dann die körperliche Gestalt eines Dämons an, um sich unter die Sterblichen zu mischen: so werden sie den Menschen sichtbar, sei es in einer Theophanie, sei es im Umgang mit einer unter den Sterblichen bevorrechtigten Frau. In diesem Sinne sind die Dämonen entweder Vermittler zwischen Göttern und Menschen, oder aber – und das ist meistens der Fall – sie sind nur die Masken, die Mimen, die ihre Rolle spielen. In beiden Fällen simulieren sie die Götter, und wenn sich diese, gleichgültig gegenüber jenen Wesen, mit denen sie einen Augenblick lang verschmolzen waren, wieder in ihre Unerregbarkeit – aus der sie in Wirklichkeit niemals heraustreten – zurückgezogen haben, ahmen die dämonischen Histrionen sie bisweilen weiterhin nach. Die Unerregbarkeit der Götter geht so weit, daß es bei diesem Spiel, das sie untereinander mit vollkommener Loyalität spielen, zur Regel gehört, den Partner zu täuschen, um auf diese Weise seine Unerregbarkeit auf die Probe zu stellen: Mars schläft mit Venus – aber man weiß nicht, ob Mars ein Dämon ist, der die Göttin mißbraucht, oder ob im Gegenteil Venus nicht nur ein weiblicher Dämon ist, der Mars zu schwächen sucht. In der Tat haben die Dämonen kein bestimmtes Geschlecht: dank einem unendlich geschmeidigen und subtilen Körper können sie ihre Formen sehr verschiedenen Göttern leihen, und ihr Körper ist von so erstaunlicher Zartheit, daß er den Göttinnen wunderbar paßt. Von solcher Art ist der Geisteszustand des Dämons. Er langweilt sich, und er ist Voyeur. Er zerstreut sich damit, Szenen beizuwohnen, die für Götter und Menschen gleichermaßen erniedrigend und entehrend sind. Wenn er sich an dem Anblick solcher Schändlichkeiten gesättigt hat, erwartet er, besänftigt, eines Besseren belehrt zu werden. Aber die Besänftigung widerspricht seiner Natur. In der Schwebe zwischen der Heiterkeit der Götter, mit denen er nur die körperliche Unsterblichkeit gemein hat, [36]
und den Leidenschaften, von denen er wie die Menschheit geplagt ist, kennt er nur ewige Unrast. Sein Körper ist ebenso formbar wie unzerstörbar und fließend: und da er es müde ist, ihn den Göttern für undankbare Theophanien herzuleihen, die nichts an seiner Lage ändern, bevorzugt er fortan die Göttinnen, in der einzigen Hoffnung, sie dazu bringen zu können, sich mit den Sterblichen zu prostituieren. So faßt er seine Mittlerrolle auf. Wie aber hat Diana, die heitere Gottheit, jemals mit etwas so Abscheulichem in Berührung treten können? Indem sie sich reflektierte; und Diana ist, in einem komplexeren Sinne als Pallas, die Theophanie, in der die göttliche Natur ihr Wesen am stärksten reflektiert hat. Diana schaut also in diesen dämonischen Spiegel und wird so das Objekt der Einbildungskraft des Aktaion. Was vollzieht sich in dieser Reflexion anderes als der Austausch der Eigenheiten Dianas und des Dämons: sobald die von Natur aus unerregbare Göttin ihre weibliche Gottheit in einem Körper reflektiert, der sichtbar sein soll, aber zugleich berührbar und ungeschändet, aber zugleich schändbar und keusch, übernimmt sie damit die Erregbarkeit des Dämons. Infolgedessen beschränkt sich ihre Keuschheit auf das Äußere des dämonischen Körpers; während der vermittelnde Dämon, der sich die Reflexion der Göttin anmaßt, sie dafür mit seiner eigenen Laszivität ausstattet, die alsbald auf die inkommensurable Natur der Göttin übergreift. Daraus entsteht dann jene hypostatische Union, die so herausfordernd auf die Sterblichen wirkt, die bei dieser unlösbaren Verbindung nicht mehr genau zu unterscheiden vermögen, wem die Anmaßung und wem die Keuschheit zukommt. Diana wäre hier voll verantwortlich: unter der Maske dieses Dämonenkörpers kann sie sich heimlich hingeben oder die Gefühlsregungen inkognito erproben, die ihr unveränderliches Prinzip ausschließt, die Regungen der Keuschheit einbegriffen; dergestalt daß sie, ohne Schaden für ihren eigentlichen, unsichtbaren Körper, der von ihrem göttlichen Prinzip nicht zu trennen und unerregbar, weil unberührbar ist, als Zuschauerin – denn Diana liebt das Theater mehr als alle anderen Götter – ihren eigenen Abenteuern bewohnt – Abenteuern, bei denen ihre Keuschheit auf die Probe gestellt wird. [37]
Der Rücken der Artemis
Betrachte Artemis nicht von Angesicht zu Angesicht: du würdest unter ihrem Blick vergehen. Denn wenn ihr ganzer Körper sichtbar ist, so bin ich es, der ihr Wesen umhüllt; das einzige, was ich nicht zu verschleiern vermag, ist der Blick: für euch bedeutet er den Tod. Doch betrachte sie von der Seite, wenn du kannst; oder im Profil; am besten aber von hinten: nicht daß sie dich nicht sehen könnte – fern sei mir eine so törichte Behauptung –, aber hinter sich wird sie dich, selbst wenn sie dich über die Schulter anblicken sollte, dulden: und wer weiß, eben dann wäre sie vielleicht genötigt, dich zu ertragen: denn mit meiner Hilfe tritt sie in Erscheinung in dem entliehenen Körper, dem sie sich anbequemen muß und mit dem sie, ihrer anmaßenden Unerregbarkeit zum Trotz, die Regungen übernehmen muß, die mich beunruhigen und die fortan ihre eigenen Regungen sind. Und sei gewiß, daß meine Koketterie, die ihre Keuschheit überlagert, ihr einiges zu schaffen macht: je mehr sie sich den niederen Regungen verschließt, die uns Dämonen und Sterbliche verwirren, desto mehr fällt sie nun den Regungen der Schamhaftigkeit zum Opfer, die bei ihr nur eine Vorstellung war; sie weiß, daß sie mit mir auf wenig angenehme Überraschungen gefaßt sein muß, aber ihre Furcht davor ist mit einer Neugier gemischt, die ihr unerregbares Wesen sich gestattet: wenn sie unablässig auf die Jagd geht – und die Jagd ist hier nur ein Vorwand –, so tut sie das nur, um den sichtbaren Körper, den ich ihr leihe, zu vergessen, einen, wie du weißt, bezaubernden Körper: sieh nur diesen Nacken unter dem zum Knoten hochgesteckten und über den Ohren gekräuselten Haar, sieh den schlanken Hals, die durch den hohen Gürtel unterhalb des verhüllten Busens gebrochene Linie des Rückens: mehr als einmal entfliehe ich diesem Mieder, [38]
wenn all meine feurige Bosheit sich in der einen oder der anderen Brustwarze sammelt und hervorbricht. Aber laß den Blick weiter hinunterwandern: betrachte die schlanken Weichen, das Hinterteil, das geformt ist wie das eines schönen Jünglings: Oh, sie tadelte mich beim ersten Versuch, aus Bescheidenheit, wegen dieser festen und runden und kräftigen Hinterbacken, die nichts von der geschmacklos üppigen Fülle der Aphrodite besitzen ... Darf ich so kühn sein, dir zu sagen, daß du grade da die größte Chance auf Erfolg hast, weil ich an diesen Schenkeln entlang herabsteige, oh, es sind die längsten und in ihrer Makellosigkeit dennoch die anmutigsten; sieh das kräftige Knie, das die wilden Tiere zermalmt; diese Waden, diese Kniekehlen, diese Fersen, die Verwüstungen anrichten, wie es der Göttin geziemt, die schneller ist als der Geist, als der Blitz und der Sturm. Aber diese Schultern und diese Arme; aber diese langen Hände, die schrecklich sind, wenn die Göttin den Bogen ergreift, und so sanft, wenn sie die Stirn der in den Wehen liegenden Frauen streichelt. Doch du mußt wissen, daß es auch da einen schwachen Punkt gibt, wenn ich mich so von ihr zu reden erkühne: die Haut ihrer Handflächen und ihrer Finger; sobald sie sich im Bade berührt, erschauert sie vor Erstaunen über die Berührung mit den Formen, die ich ihr leihe: denn ich habe ihren Händen die ganze Reizbarkeit, unter der ich selbst leide, mitgegeben – ihre zarten Handgelenke waren außerstande, sich aus den Klauen der Hera zu befreien, als diese sie züchtigte –, weil in ihren Handflächen und in den Höhlungen ihrer Achsel, ihrer Schenkel und ihrer Kniekehlen mein Anteil weit größer ist als der ihrer unerregbaren Natur. [39]
Indiskretionen des Dämons der Diana
Der Vater der Götter hatte Artemis ewige Jungfräulichkeit zugebilligt: doch kaum hatte er ihr dieses Zugeständnis gemacht, schon zeigte sich, daß ein solcher Anspruch seiner Tochter nichts Geringeres war als die Infragestellung der Personenpluralität innerhalb der Gottheit; Artemis setzte die Integrität der Gottheit mit der Keuschheit gleich. Was darauf hinauslief, daß Artemis die ganze Gottheit für sich alleine beanspruchte und daß sie, soweit sie zwischen den anderen Göttinnen figurierte, Auto-Monotheismus betrieb. Der Vater der Götter war es sich keineswegs schuldig, über die Inkonsequenz seiner Taten oder seiner Versprechen nachzudenken: da er jedoch die Verantwortung für das Gleichgewicht im Olymp hatte, gab er sich, wiewohl ihn ein Widerspruch mehr oder weniger in seinen Taten nicht kümmerte, wie gewöhnlich dem Schicksal, der Unvorhersehbarkeit seiner unerschöpflichen Natur anheim und folgte der Lehre, die seine eigene Diskontinuität ihm vorbehielt: er entbrennt jählings in Liebe zu Kallisto, der Lieblingsgefährtin der Artemis, nicht minder keusch als seine eigene Tochter, und denkt sich, das beste Mittel, mit der einen Hand zurückzunehmen, was er mit der anderen unvorsichtigerweise gegeben hatte, sei es, die jagende Nymphe in der Gestalt seiner eigenen Tochter zu überlisten. Gleichzeitig würde er so eine derart enge Auffassung wie jene, die sich unterfing, das Wesen der Gottheit mit der Keuschheit gleichzusetzen, feierlich Lügen strafen. So wäre, nachdem das Gleichgewicht wiederhergestellt und damit die unwandelbare Natur des Göttlichen aufs neue gesichert war, die olympische Heiterkeit kein leeres Wort. [40]
Aber wird er, ja kann er überhaupt ohne Wissen der Artemis handeln? Die Theophanien des Vaters der Götter vollziehen sich niemals, ohne daß gleichzeitig die den zwölf Göttern gemeinsame Göttlichkeit darein verwickelt wäre. Das göttliche Prinzip erheischt die Anwesenheit aller bei den Taten eines jeden von ihnen, sollten sie auch durch diese Taten für einen Augenblick lang einander widersprechen, wie es stets dem Geist der Sterblichen scheint, der, weil er den Bedingungen der Intervalle von Zeit und Raum unterliegt, eine solche Gleichzeitigkeit von Widersprüchen nicht zu erfassen vermag. Nun also schickt Zeus den Hermes zu Artemis: und folgenden seltsamen Handel war der Gott mit den geflügelten Füßen der Göttin zu unterbreiten beauftragt: Der Vater der Götter hatte zu seinem großen Bedauern darin eingewilligt, daß du jungfräulich bleibst; dafür bittet er dich (wozu er übrigens durchaus nicht verpflichtet wäre, aber aus Respekt vor deinem göttlichen Willen erbittet er als ein Pfand töchterlicher Liebe): du mögest ihm gestatten, für einen Augenblick deine Gestalt anzunehmen. Artemis wittert den Diebstahl. Sie lehnt ab. Darauf Hermes: Wenn du dabei beharrst, stehe ich nicht mehr für die Laune des Vaters der Götter ein; willst du ihn dazu treiben, einen Skandal zu entfachen, viel schlimmer als der, den du vermeiden möchtest? Was macht es ihm aus, eidbrüchig zu werden, deine Jungfräulichkeit wieder in Frage zu stellen; irgendeinen sakrilegischen Anschlag auf dich zu fördern, den keine Züchtigung deinerseits wieder auslöschen würde: ist nicht er der Verwahrer deines Keuschheitsgelübdes, ruht nicht in ihm dein Sein? Artemis gibt nach – das heißt, sie überläßt mich selbst dem Zeus, mich, den Dämon, der bei den Menschen ihren Körper simuliert. Sie tritt Zeus ihre eigene Theophanie ab. Aber mußte Zeus, um seine Zwecke zu erreichen, unbedingt den Körper seiner Tochter annehmen – den Körper, den ich ihr leihe ? Hätte er nicht die Form irgendeines zahmen Tieres – Schwan, Stier – annehmen können, das im rechten Augenblick von Kallisto vertrauensvoll liebkost worden wäre? Aber abgesehen von seinem Widerwillen dagegen, sich zweimal hintereinander der gleichen Mittel zu bedienen, hätte er dann sein Ziel nicht erreicht. Wenn es Hermes schließlich gelingt, Artemis zu überzeugen, so nur durch das folgende abschließende Argument: Erinnere dich, Göttin, daß du, bevor du auf Delos zur Welt kamst oder vielmehr von Leto zur Welt gebracht wurdest, in deinem Ursprungszustande warst und daß du es [41]
immer noch bist, die uralte Gottheit der fruchtbaren Nacht, und daß der Vater der Götter dich trotz deiner gegenwärtigen Keuschheit besessen und dich zur Mutter gemacht hat, dich, die du jenen Gott gebarst, den du jetzt, in deiner gegenwärtigen Theophanie, nur allzusehr verleugnest, einen Gott, dessen Name allein schon, obwohl er dein Sohn ist, dir die Schamröte ins Gesicht treibt: Eros, dessen Mutterschaft mit deiner Duldung schamloserweise Aphrodite sich zuschreibt. Bei diesen Worten des Hermes ergreift Artemis, die Bringerin des nächtlichen Lichtes, ihre Fackel und entzündet sie am Blitz ihres Vaters. Mit dieser rituellen Geste bekundet sie ihre töchterliche Unterwerfung, aber außerdem will sie damit ihre strahlende Keuschheit von neuem bekräftigen, scheint sie dem Vater der Götter die Gewalt, die er ihr antut, zum Vorwurf zu machen. So herrscht Einheit im Schoße der Gottheit, wiewohl Vater und Tochter aufgrund der Personenpluralität der göttlichen Essenz dieser Einheit verschiedene Bedeutungen beilegen. Ich bin es, der dir das beibringt, o Aktaion, ich, dessen ewige, aber nach den Wünschen der Götter formbare Gestalt sich so bereitwillig ihren unergründlichen Absichten anpaßt, um euren Sinnen einen Beweis ihrer willkürlichen Existenz zu liefern: euer Geist zieht sie nur allzuoft in Zweifel, weil er gewohnt ist, der Realität der unsichtbaren Dinge zu mißtrauen und nur gelten zu lassen, was mit Händen zu greifen ist. Möge es dir gelingen, Diana mit Händen zu greifen! [42]
Die reflektierte Diana
In seiner Sage sieht sich Aktaion, wie er sich aufs Geratewohl auf den Weg macht, keineswegs auf die Entdeckung der Diana gefaßt. Oder aber, wie er sich aufs Geratewohl auf den Weg macht, in der festen Absicht, sie zu überraschen. In beiden Fällen ist es Aktaion, der sich auf den Weg macht, der im Raum vorwärts schreitet, der zu der Stätte gelangt, wo Diana bereits im Bade weilt, als er unversehens auftaucht. So erforscht Aktaion den Raum, in dem Diana sich soeben in dieser oder jener Haltung niedergelassen hat. In der Welt des absoluten Raumes ist die Entfernung Aktaions von Diana ebenso absolut, wie ihrer beider Begegnung plötzlich und unvermittelt ist; zwischen ihrer Entfernung voneinander und ihrer Begegnung gibt es nichts; doch in ebendiesen Zwischenraum fügt Aktaions Betrachtung sich ein: so schafft er sich eine Spannung, die nur der Dichter kennt, die der Künstler der Szene, die er darzustellen beabsichtigt, verleihen kann, die aber der Held entweder unbewußt empfindet – und wir würden sagen, daß dies für sein Umherirren im heiligen Hain bestimmend ist – oder nachträglich rekonstruiert; aber zu welchem Zeitpunkt? Als er die badende Diana erblickt, als er weiß, daß er verloren ist, weil er sie in ihrem Erschrecken sieht? Oder als er spürt, wie er von seinen Hunden zerrissen wird? Oder ganz im Gegenteil, als er beschließt, sie in der Grotte zu erwarten, und die Ereignisse vorausnimmt? (Vielleicht ist er zu diesem Zeitpunkt zum Opfer des vermittelnden Dämons geworden; da dieser Dämon weder Gott noch Mensch, sondern gleichsam die Reflexion des einen in dem anderen und aus der mythischen Welt ausgeschlossen ist, leitet er in seiner Mittelstellung die Seh- und Denkweise der Theologen* und Metaphysiker ein; von dieser Zeit an gliedert er das Universum in drei Be[43]
reiche: den Bereich der Götter, die er als unerregbar und unsterblich bezeichnet; den seiner eigenen unsterblichen, aber erregbaren Artgenossen; den der erregbaren Sterblichen. Seine Unsterblichkeit wird, da sie für ihn nur endlose Zeit ist, zum Objekt eines Versuchs; so projiziert er in den mythischen Raum die Zeit der Reflexion; er nimmt damit den mythischen Raum, der für ihn das Außen ist, in den inneren oder «mentalen» Raum hinein, und in seiner Rolle als Vermittler zwischen den beiden vor seiner eigenen Vermittlung noch im absoluten mythischen Raum geeinten Welten, der der Götter und der der Sterblichen, fragt er sich, was «Außen» und was «Innen» ist, und erkennt schließlich auf das Nichts reiner Erscheinungen: das Denken. So leitet er die Träume des Aktaion.) Diana scheint keine andere Welt zu kennen als die des absoluten mythischen Raumes, in dem sich ihre Jagd abspielt: treiben, fangen, töten, baden. Aber in dem Abenteuer mit Aktaion wird Diana selbst zum Jagdwild, da der Jäger sie überrascht, als sie waffenlos und nackt ist. Dieser Zwischenfall gehört noch in die Welt des unumkehrbaren und unwiderruflichen Raums: die Gefahr, das Risiko – wie das der Jagd und des Bades nach der Jagd – besteht darin, daß in dem gleichen Raum die heilige Umfriedung des Bades der Diana liegt und daß Wege, die nirgendhin zu führen scheinen, grade dort enden. In dem gleichen Raum scheint Diana für Aktaion auf immer ungreifbar; – im nächsten Augenblick schände ich sie, sagt er bei sich; im nächsten Augenblick – auf diese retrospektive Erfahrung der Zeit bereitet ihn der vermittelnde Dämon vor. Und im nächsten Augenblick bin ich tot. Aber dieser Dämon befähigt ihn, noch von jenseits des Todes die Göttin zu sehen und sich zu sagen: «Jetzt wäscht sie sich also, während die Hunde mich zerfleischen.» In der Tat, Diana vollendet ihr unterbrochenes Bad. Was geht in ihr vor, während sie sich wäscht, nachdem sie kurz zuvor einen Mann, der sie hüllenlos gesehen hat, in einen Hirsch verwandelt und den Hunden ausgeliefert hat? Hat denn der Blick mit seinem Erlöschen seine Wirkung verloren, und kann das Wasser die Schändung von ihr, von ihrem Körper tilgen, der die Gebärde des Auslöschens und des Tilgens gemacht hat? Diese Frage gehört nicht in die Welt des absoluten Raums des Mythos; sie wird von dem Dämon gestellt und ist spezifisch für dessen krankhafte Neugier, und diese Neugier bestimmt das morose Ergötzen des Ak[44]
taion. Im Raum der mythischen Welt ist es eine deplacierte Frage. In dem absoluten Raum des Mythos, der identisch ist mit dem unreduzierbaren Wesen der Götter, begründet Diana die ewige Wiederkehr ihrer weiblichen Periodizität (die Mondsichel) und die Bewegung eines kreisförmigen Fortschreitens (die Jagd, das Bad, der Wiederaufstieg in den Olymp, die Jagd, etc. ...). Sogar eine Göttin in ihrer Göttlichkeit akzeptiert die Weiblichkeit, die ihre Theophanie bestimmt. Doch hier hat der Dämon leichtes Spiel. Diana, eine weibliche Gottheit, will in ihrer Theophanie eine keusche Jungfrau sein. Dadurch verrät sie eine Reflexion auf ihre eigene Göttlichkeit: sie ist im eigentlichen Sinne eine reflektierte Gottheit, wiewohl innerhalb des mythischen Raumes. Auf diese Weise schleicht der Dämon sich als Vermittler ihrer Theophanie ein. Nicht nur, weil er ihr zu diesem Zweck seinen sichtbaren Körper leiht, sondern weil er als Reflexion der Diana einen Theophaniebegriff ganz neuer Art begründet: die Theophanie im Sinne der Theologen – im Gegensatz zum Raum des Mythos ; und das auf der Grundlage des Keuschheitsgelübdes der Göttin, der reflektierten Diana. Demzufolge übernimmt Diana, die als göttliches Prinzip unerregbar ist, als Göttin, die in einem jungfräulichen Körper ihre Göttlichkeit reflektiert hat, die Erregbarkeit eines Dämons, der ihr seinen Körper leiht, damit sie als Keusche erscheint. So unterwirft sich Diana mit dem Körper, den sie entleiht, der Zeit der Reflexion; aber die Reflexion des Denkens, die ein Heraustreten aus der mythischen Zeit, aus der ewigen Wiederkehr ist, verwandelt die Zeit in mentalen Raum; die Zeit kann sich die Gottheit, die bis hinein in ihre Periodizität eins ist mit der mythischen Zeit, nicht unterwürfig machen; aber durch die Zeit macht sich die Reflexion die Akzidentien des Körpers unterwürfig, den die Gottheit in Anspruch nimmt. Die Theophanie des Bades der Diana hat also eine doppelte Wirkung: als Licht, das vom göttlichen Prinzip ausgeht, unterbricht sie die Zeit und unterbricht die Reflexion der Zeit; nun hüllt der mythische Raum den Aktaion ein, und die Verwandlung in einen Hirsch vollzieht sich. Das ist die Ekstase eines Aktaion, der sich aufs Geratewohl auf den Weg macht und der hereinbricht in den mythischen Raum, in dem Diana badet. Aber ebendiese Theophanie durchquert den mythischen Raum; und das Gewässer selbst, das Diana umspült, erweist sich nun als der Spiegel ihrer unberühr[45]
baren Nacktheit: die reflektierte Diana nimmt ihre Nacktheit, die sie einen Augenblick lang ausgestrahlt hat, wieder in ihr Prinzip auf. Sobald Aktaion sich seiner Meditation hingibt, kommt er der Ekstase zuvor – deshalb macht er sich nicht aufs Geratewohl auf den Weg, er wartet in seinem mentalen Raum, im Hintergrund der Grotte, darauf, daß sie in die Quelle eintaucht; zwischen Diana und Aktaion schiebt sich der Dämon, der mit seinen theologischen Indiskretionen beginnt, und schon verletzt Aktaion, der dergestalt die reflektierte Diana in der Reflexion unterbricht, die intimste Einfalt der Göttin; oder vielmehr, diese Einfalt entgleitet ihm, und die Vielfältigkeit des Dämons tritt an ihre Stelle. [46]
Die Warnung des Alpheios
Seit einigen Tagen vernahm Aktaion seinen Dämon nicht mehr. Weit davon entfernt, sich darüber Sorge zu machen, erholte er sich vielmehr von dessen trügerischem Geschwätz. Von neuem sprachen, vom Winde bewegt, das Blattwerk und die Quelle zu ihm, und sanft schläferten sie seinen Geist mit ihrem abwechselnden Flüstern ein. Plötzlich wurde das Rauschen des Wassers lauter und zunehmend eindringlicher: und mit triefendem Bart tauchte Alpheios auf, aber da er eine faßbare Form angenommen hatte, wandte er sich mit folgenden Worten an den müßigen Jäger: «Dulde, o Aktaion, daß ich ob deiner Sprachlosigkeit in Rührung gerate; vielleicht kann die Erfahrung meines langen Daseins als Fluß dir einige hilfreiche Hinweise geben. Es gibt rings um dich her mehr Chancen, als du ahnst; vor dir habe auch ich wie viele andere vor mir die unbezwingbare Jägerin, die unnahbare Jungfrau begehrt: und doch ist sie die Gottheit, und ich bin nur der Gott eines Flusses; wenn die Götter, um miteinander zu sprechen, gern die Form annehmen, die sie euch Sterblichen gegeben haben, weil diese Form das Abbild ihres Wesens ist, so stehen sie sich bei ihren Zwistigkeiten zuweilen in anderen Verkleidungen gegenüber. Wir kämpften nicht mit gleichwertigen Listen: als mir mein fließender Zustand zur Last fiel, verfügte ich nur über die Gestalt, in der du mich siehst; sie aber über zahllose Zaubermittel, sich meiner Beharrlichkeit zu entziehen. Und dennoch forderte sie meine geheimsten Gedanken heraus und bestand darauf, mir als das geschmeidige junge Mädchen zu erscheinen, dem ich beim Herannahen ihrer brausenden Jagd auflauerte. Und ich war wahnwitzig genug, darin ein Entgegenkommen zu sehen und die starre Form des Menschen anzunehmen, um sie zu verführen. Eines Nachts stahl ich mich in einen [47]
Reigen ihrer Nymphen, aber schon hatte sie meinen Plan durch einen kindlichen Streich vereitelt: da alle sich das Gesicht mit Schlamm beschmiert hatten, muß ich auf der Suche nach ihr von einer zur andern gehen, und mehr als einmal komme ich an ihr vorbei, die mich unter ihrer Schlammmaske auslacht. Wieder ins Bett meiner bescheidenen Anfänge zurückgekehrt, sah ich sie eines Tages in der Gestalt ihrer Nymphe Arethusa herankommen, zögern, sich entkleiden und sich schließlich meinem noch gemächlich dahinfließenden, von Weiden und Pappeln beschatteten Wasser überlassen; das war zuviel, und als ich sie so erblicke, wie sie, nackt, aber verhüllt in der greifbaren Nacktheit der Arethusa, mit ihren Händen und ihren Schenkeln den flüssigen Frieden meines gefaßten Geistes trübt, gebe ich ein weiteres Mal dem wahnwitzigen Bedürfnis nach, ihr in der Gestalt eines Sterblichen meine Männlichkeit anzubieten: alsbald ergreift sie, vollkommen nackt, die Flucht; aber das Bild ihrer Nacktheit teilt meinem Körper das keimende Ungestüm meiner Fluten mit; und mein Atem erkühnt sich, sie mit ihrem Decknamen anzurufen: Arethusa, rief ich, Arethusa, wohin fliehst du? Ich trete über die Ufer, und je mehr Täler, je mehr Wiesen wir zwischen den bewaldeten Bergen und Felsen durcheilen, je mehr Hindernisse ich überwinde, um so bereitwilliger unterwirft sich die Landschaft meiner Entscheidung und begünstigt meinen Liebeslauf; bald gewinne ich an Breite, bald vertieft sich mein Bett; ich verfolge sie bis in die Tiefe der Höhlen, in denen sie sich keuchend verbarg und vielleicht auf mich wartete; dann streift sie die bezaubernde Gestalt ab, die meine Verwirrung ausgelöst hatte, und läßt sich zu einer Huldigung an meine wahre Natur herbei; ihre Formen werden flüssig und durchsichtig, nachdem sie sich mit den meinen gemischt haben; ich spürte sie jetzt an der intensiven Strömung, die sie mir aufzwang; aber während sie dergestalt mein Brodeln im Schoße der Erde besänftigte, öffnet sie Abgründe und ergießt sich in andere finstere Höhlen bis nach Ortygia; dort steigt sie zum Licht empor und befindet sich wieder im Zustand ihrer durchsichtigen Keuschheit. Das, o Aktaion, war die glücklichste Lehre meines abenteuerlichen Überströmens; das Begehren vergeht mit dem Schwinden der Gestalt, auf die es sich richtet; und die göttliche Macht verleiht, um uns unserer friedlichen Bewegung zurückzugeben, dem Gegenstand des Begehrens eine andere Gestalt; aber sie verleiht dem Begehren selbst die Fähigkeit, sich in ihr, [48]
der göttlichen Macht, zu erkennen; es wandelt sich gleichzeitig mit dem, was es verfolgt- es ergreift den Gegenstand in verwandelter Gestalt, und diese ist so innig in diese Bewegung eingeschlossen, daß sie ihm die Erfüllung seines eigenen Gesetzes bringt: nicht sich zurückzuhalten und nicht sich nicht mehr auszubreiten, nicht zu stagnieren; sondern in unaufhörlichem Sprudeln sich selbst zu besiegen. Somit habe ich die schwerste Prüfung bestanden, der wir Flußgötter unsere Kraft zu unterwerfen haben: die Gefahr, in eine trübe Stummheit zu verfallen. Siegreich rausche ich weiter: und Arethusa ist meine Belohnung.» – Wenn Aktaion das Rauschen des Alpheios verstanden hätte, wäre er keinen Augenblick länger in der Grotte geblieben. Er hätte seine Knappen und seine Meute zusammengerufen, wäre im Vertrauen auf sein Jagdglück wieder aufgebrochen und aufs Geratewohl der Verwandlung des Menschen in einen Hirsch entgegengegangen. Denn in der Tat ist das Bad der Diana ein unvorhersehbares Ereignis, das unabhängig von Aktaion stattfindet; das Bad der Diana steht außerhalb: um es zu entdecken, braucht Aktaion es nicht an diesem oder jenem Ort zu lokalisieren, sondern muß aus seinem eigenen Geist heraustreten; was Aktaion dann sieht, formt sich jenseits der Entstehung der Sprache: er sieht Diana im Bade, und er kann nicht sagen, was er sieht. Selbst wenn er mit der Absicht, sie zu überraschen, umherirrt, ist sein Umherirren wie eine Rückkehr zum vorsprachlichen Zustand: im Walde voranschreiten und plötzlich der stets unerwarteten Szene gegenüberzustehen, wiewohl gerade seine Erwartung den Weg durch die Wälder bestimmte, das läßt sich so formulieren: das Ereignis zehrt auf, was es in der Wahrnehmung an Ausdrückbarem noch gab. Ich kann nicht sagen, was das war, was ich gesehen habe. Nicht daß man, was man nicht sagen kann, auch nicht begreifen könnte: noch daß man nicht sehen könnte, was man nicht begreift. In der Sage sieht Aktaion, weil er nicht sagen kann, was er sieht: könnte er es sagen, würde er aufhören zu sehen. Aber Aktaion, der in der Grotte meditiert, leiht dem Aktaion, der unversehens in die heilige Umfriedung hereinbricht, in der Diana ihr Bad nimmt, folgende Worte: Ich dürfte nicht hier sein, deshalb bin ich hier. Aber die reale Erfahrung würde sich auf den absurden Satz reduzieren: Ich mußte hier sein, weil ich nicht hier sein durfte. [49]
venaturam oculis facere ...
Plautus, Miles gloriosus, 990
Solange Aktaion die Jagd ausübt, fühlt er sich in einem Körper, der andere Körper verfolgt, recht wohl; und besonders in seinem kräftigen, jungen, männlichen Körper, der den geschmeidigen Körper des göttlichen jungen Mädchens verfolgt, der, wie er nicht bezweifelt, der Körper der Diana ist und den im gegebenen Augenblick besitzen zu können er ebenfalls nicht bezweifelt. Aber als der enttäuschte Jäger sich in der Grotte niederläßt, um über den nur als reine Erscheinung vorhandenen Körper der Diana zu meditieren, da müssen auch die Quelle, die Grotte und die gesamte Landschaft in seiner Meditation versinken. Dachte Aktaion, der den unvorhersehbaren und zeitlich nicht festzulegenden Augenblick des Bades der Diana als entscheidendes Ereignis seines Geistes empfand, daran, nach Beispiel der dionysischen Zönobiten ein artemisisches Eremitentum zu begründen? Vielleicht beginnt er unter der Maske des Hirsches Übungen solcher Art, die in der Sage vom durch die Wälder irrenden Aktaion dann nur präfiguriert wären; die Verwandlung in einen Hirsch wäre dann nur der letzte, erleuchtende Grad, zu dem über verschiedene mentale Etappen – eine purgative, eine kontemplative – der Weg führen würde, auf dem der artemisische Asket fortschreiten muß: von der Jagd selbst behält diese Meditation zuallermindest die List, sofern sie sich wie ein Netz auszubreiten scheint, dessen Beute die Jägerin sein soll, eben der Schatten des eigentlichen Körpers der Diana. Wenn sich die Göttin den Körper eines Dämons ausleiht, wenn sie in der sichtbaren Welt auf die Jagd gehen will, so begibt sie sich nur zu der heiligen Quelle, um dort ihre Theophanie zu vollenden: das Bad der Diana gibt dieser die Reinheit ihres eigentlichen, unsichtbaren Körpers zurück. Aber selbst dort noch sieht der artemisische Asket nur [50]
eine Gestalt, da das Bad selbst nur die Reinigung der Bilder ist, die der Name Diana in seinem Geiste entstehen läßt: um die wahre Quelle zu finden, in der die Göttin badet, muß der Asket in der dunklen Nacht zurückgehen bis zur Entstehung der Wörter, bis zum Ausgangspunkt der Reflexion der Diana; dort entledigt sich die Göttin ihres sichtbaren Körpers, dort bekundet sie sich in ihrem eigentlichen Körper ... Eine Meditation voller Fallstricke: wenn der Asket auch nur im geringsten an der Vorstellung vom Netz festhält, wenn er es sich einfallen läßt, seine Übungen mit dem Aufstellen einer Falle zu vergleichen, ist alles gefährdet: die Beute um des Schattens willen fahrenzulassen wird wieder eine ärgerliche Trivialität, ein Hindernis für sein Unternehmen; und die Umkehrung dieses Satzes, die ihm gerade zu gelingen schien, läßt sich nicht rechtfertigen; er darf also nicht mehr an seine List denken, muß seine noch derbe Jägermentalität ablegen, damit Diana sich in ihrem sichtbaren Körper, als Jägerin, vertrauensvoll dem Gewässer nähern kann in der Absicht, sich darin zu waschen; und jetzt möge der Asket auf der Hut sein; sollte er auch nur an jene Absicht denken, dann spielt er falsch; deshalb muß der Hirschkopf, mit dem er sich ausstaffiert hat, wenn er nicht der Gipfel des Falschspiels sein soll, die Kraft haben, ihn, bei aller Täuschung, zu einer authentischen Handlung anzuregen: gleich diesem Hirschkopf, der so leer ist, daß er seinen eigenen Kopf enthält, muß er, wenn der Hirschkopf wirklich das Büßerhemd ist, unter dem sich seine dunkle Nacht vorbereitet, sich selbst von allen Gedanken, allen Worten leeren, ja er muß sogar den Namen Diana vergessen; er muß nach und nach die Transparenz des Gewässers gewinnen, dann wird Diana in der dunklen Nacht seines Geistes ... aber niemals gab es in einem Hirschkopf mehr Gedanken als in diesem; denn selbst der Gedanke, der großzügigerweise völlig bereit ist, sich zu vernichten, bleibt darum doch eifersüchtig auf sein zunehmendes Nichts, und so tief er sich auch in die Nacht versenken mag, er bleibt darum doch ein Blick, der die Nacht durchforscht: – die gefährlichste Versuchung, dieses Bad zu unterbrechen, die Trennung der Diana von ihrem Dämon, die Trennung der Diana von ihrem sichtbaren Körper, und sei es nur für einen Augenblick, aufzuheben; ... armer Jäger in der dunklen Nacht, falscher Asket am hellichten Tag: – denn niemals hört Diana auf, ihre Keuschheit in einem sichtbaren Körper zu reflektieren: – welch ein Circulus vitiosus! [51]
... Seit unvordenklichen Zeiten also lauert er ihr auf, seit unvordenklichen Zeiten empfindet sie die Befleckung seines Blickes, seit unvordenklichen Zeiten verspürt sie das Bedürfnis, sich von dieser Befleckung zu reinigen – und keine Hirschmaske kann es ihm jemals ermöglichen, das Bad der Diana mit reinem Blick zu betrachten – wenn nicht Diana selbst von außen im Innern des Jägers die Augen des sterbenden Hirsches öffnet ... [52]
hic dea silvarum venatu fessa ...
In Wahrheit ist die Darstellung des Gesichtsausdrucks der Diana in dem Augenblick, da sie in das Gewässer eintaucht, an sich eine Abweichung von der Szene «in der Sage». Bei dem Ereignis, so wie es von Aktaion erlebt wird, scheint für diese Art von Beobachtung kein Platz zu sein; er sieht die Physiognomie der Diana aus zu großer Entfernung und zugleich aus zu großer Nähe, um über diesen oder jenen Gesichtsausdruck der Göttin nachsinnen zu können. Und dennoch sagt der Dichter zu Recht: Hic Dea silvarum venatu fessa, solebat Virgineos artus liquido perfundere rore. Diana ist von der Jagd ermüdet – das erklärt die äußere Ursache der Situation, eine Ursache, die auch ein Wechsel der Stimmung, des Seelenzustandes ist, der sie, ganz wie eine schlichte Sterbliche, zum durchsichtigen Wasser der Quelle führt, die in der Grotte entspringt. Nehmen wir an, Aktaion habe in seiner Meditation plötzlich diese Einzelheit im Gesichtsausdruck der Göttin erfaßt oder besser, gerade das Ereignis habe, während er meditierte, ohne überhaupt an diese Einzelheit zu denken, seine Meditation durch die Erscheinung ebendieser Einzelheit unterbrochen: und das dank einer Verlangsamung des Vorganges. Sie ist soeben angekommen. Ist es noch er oder seine Vernunft, was – schon bei den verschiedenen angenehmen Geräuschen dieser Ankunft – [55]
überlebt? Ich meine: die erste Gruppe der Jagdnymphen, die, während sie das Gefilde mit einiger Geschäftigkeit herrichten, unter fröhlichem Geplauder und kindlichem Geschrei im Tanzschritt umherwirbeln. Dann ferne Stimmen: der Rest des Zuges nähert sich, und plötzlich Schweigen, kein Hauch, es sei denn das Auffliegen eines Vogels oder das Murmeln der Quelle; und dann: gleichsam ein heftiger Windstoß, und gleichsam ein blitzartiger Widerschein in der Grotte: das ist sie, dort draußen. ... Alles hat sich so rasch abgespielt: – war es heute morgen oder schon vor Monaten, daß Aktaion seinen Palast verlassen hatte? Ihm scheint es, daß er sie, vor Erstaunen starr, mit angehaltenem Atem, schon eine Ewigkeit lang sieht – sie, die er sich immer in raschem Lauf vorgestellt hatte, nun in Ruhestellung, groß und erhaben, ein wenig zurückgelehnt, auf ihre Ellenbogen gestützt, ihre langen Beine, deren sich zwei Nymphen bemächtigen, um ihr die Stiefel auszuziehen, lässig hingestreckt, während sie den Kopf ganz geradehält, den Blick in die Ferne gerichtet; er sieht sie so im Profil, als die Gottheit durch eine schwache Bewegung des Kopfes einen Ausdruck von Mißgestimmtheit, einer leichten Langeweile, vielleicht der Erwartung zeigt; Aktaion ist sich vielleicht nicht darüber im klaren, daß er selbst ihr diesen Ausdruck verleiht, daß er nur deshalb die Erschöpfung der Göttin, eine verheißungsvolle und gefährliche Erschöpfung zu bemerken glaubt, daß ihm nur deshalb die von der Jagd ermüdete Diana erscheint; wie eine Sterbliche runzelt sie ein wenig die Brauen, die Augen – blau kommen sie ihm vor – etwas umschattet, die leicht vorgeschobene Unterlippe zu einem Schmollen verzogen, das alsbald in dem Lächeln erstirbt, welches sich, wie ein Hinweis auf eine befriedigte Begierde, aber auch auf ein ersticktes Lachen, in den Mundwinkeln andeutet, das Kinn leicht auf die Brust geneigt; unter der reinen Stirn entspannen sich die Augenbrauen, während sich die Lider, die die Wangen beschatten, zusammen mit dem Blick auf die Gefährtinnen senken, die die Weichen der Göttin von dem breiten Gürtel befreien. Sieht Aktaion oder nennt er nur: die Rundung der Schultern und einen Teil der behaarten Achselhöhle, der im Winkel des aufgestützten Armes sichtbar wird; und weiter abwärts das zarte Gelenk der schmalen Hand [54]
mit den geschmeidigen Fingern; die Geste der anderen Hand, die den Bogen fahrenläßt, die Innenfläche dieser müßigen Hand, deren Finger über das Haar gleiten und sich schließlich vereinen, um mit einiger Ungeduld die Bänder des Haarknotens zu lösen –, und, wiederum, diesen Blick ins Weite, wobei sie selbst den Duft von wilden Blumen tief einatmet, der von ihrem ganzen Körper aufsteigt, der von ihr aufsteigt, die noch von ihren Gefährtinnen umgeben ist...
[55]
Schließlich entfernen sich die Nymphen: sie erhebt sich, erhaben in ihrer Nacktheit –, aber wer würde es wagen, wer hätte jemals die Kühnheit gehabt zu glauben ..., – sie tut einen Schritt zum Gewässer hin, und noch ehe der Körper langsam eingetaucht ist – Ovid sagt uns, daß die Nymphen Schreckensschreie ausstießen bei dem unerwarteten Anblick eines Männergesichtes; daß sie sich um Diana drängten, um sie zu verbergen; – aber das ist für Aktaion nur eine Rekonstruktion und für ihn selbst eine barocke Vorwegnahme – denn als der Blick der Diana auf ihm ruht, als sie selbst, die nichts ist als das Sein ohne Leben und Tod, die Negation der Landschaft, in der sie sich bewegt und sich zeigt, ja, die Unmöglichkeit eines Ortes, an dem er sie jemals erwarten könnte, in den wirren Augen des abtrünnigen Jägers dem Leben begegnet, das vor Begierde erstirbt, sie zu nennen, da endlich sieht sie sich selbst so, wie der vermittelnde Dämon ihr vorschlug, sich sehen zu lassen, sie, die Unerregbare, erkennt die Bösartigkeit dieser Vermittlung, die sie bloßstellt, die ihr das unbändige Gelüst einflößt, gesehen zu werden; und während der befleckende Blick eines sterblichen Menschen ihrer Nacktheit mit den nunmehr sichtbaren Umrissen, die sie fortan nicht mehr verleugnen kann, endgültig Form verleiht, genießt sie den frevelhaften Einbruch in diesen in sich geschlossenen Körper. «Diana hätte gern ihre Pfeile zur Hand gehabt.» Aber sie hat ihre Waffen abgelegt. Dagegen machen ihre Hände, die sich anschickten, ihren Körper zu waschen, nunmehr eine unvorhergesehene Geste der Schamhaftigkeit und verraten jetzt, indem sie erkennen lassen, was sie verbergen, einen befruchtbaren Leib, unterhalb dessen ihre Handflächen den deutlich her[56]
vortretenden Schamhügel bedecken; die Vulva indes gleitet ihr durch die Finger: eine List des Dämons, der ihr diese sichtbaren Reize als den dichtesten Schleier ihrer Göttlichkeit verleiht. Unerregbar in dem Sein, in dem sie einen unaussprechlichen Körper bewohnt, der aus Schweigen besteht, in ihrer Theophanie aber den Gefühlsregungen eines Körpers unterworfen, in dem sie sich begehrt weiß, öffnet sich die keusche Diana der Schande, benennbare Reize darzubieten; und da sie unerregbar ist, errötet Diana vor den Augen des Aktaion, errötet Diana über ihre Keuschheit. [57]
Wenn du es sagen kannst, steht es dir frei ...
Die zweite Geste ihrer waffenlosen Hände besteht darin, Wasser zu schöpfen und damit das Gesicht des Aktaion zu besprengen; eine rituelle, eine konsekrierende Geste, die die Verwandlung des Jägers in einen Hirsch bewirkt. Vermochte Aktaion noch zu hören, wie Diana die Worte aussprach: Nunc tibi me posito visam velamine narres Si poteris narrare, licet? Erfaßte er den Sinn oder nur den Klang dieser Worte, nun, da er aufhörte, Mensch zu sein, aber noch nicht Hirsch war? Diese von Diana ausgesprochenen Worte scheinen den Sinn der rituellen Besprengung auf eine doppeldeutige Art wiederzugeben; denn sie provozieren die sprachliche Verbreitung dessen, was sich soeben vollzogen hat, und beweisen gleichzeitig, daß die Verwandlung solche Verbreitung unmöglich macht. Sobald man diese Worte analysiert, entdeckt man darin zugleich die Provokation und die Ironie: Erzähle jetzt, du habest mich gesehen, nachdem ich meine Hülle habe fallen lassen – Wenn du es kannst, steht es dir frei! Die Provokation: Sag es doch – beschreib die Nacktheit der Diana – beschreib meine Reize – das ist es doch, was du willst, was deinesgleichen gerne wissen möchten! Die Ironie: Wenn du es kannst, steht es dir frei. Worte, die die Sprache in dem mythischen Ereignis außer Kraft setzen, weil sie zum Wesen des Spiels gehören, das der einzige Ausdruck des Mythos ist, und weil dieses Spiel der Mythos selbst ist. Und in diesem Sinne ist Aktaion unter der Hirschmaske, mit seiner Suche nach der Wahrheit [58]
und seinem Bedürfnis, diese mitzuteilen, von vornherein verurteilt und nicht erhöht: verurteilt, aber nicht offenbart; er tritt also nicht ein in das Licht, das er sucht, denn alles, was offenbar wird, ist Licht (Eph. 5, 15). Dagegen fordern die Worte der Göttin ironisch dazu auf, die Szene der nackten Diana vor dem Hirschmenschen mittels der indiskreten oder profanen Sprache zu beschreiben und auf anderem Wege als durch das szenische Spiel, in dem sich das Mysterium vollendet, einen faßbaren Sinn für das Mysterium zu finden. Aber nun ist es nicht einmal nötig, daß die Gottheit auch nur gesprochen hat: Diana vollzog die Geste der Besprechung schweigend, im Schweigen der Pantomime, die der Mythos selbst ist, sie ließ Aktaion herankommen, bereit, ihn zu empfangen, ihn dem Ritus des Hirsches zu unterwerfen –, wenn Aktaion diese Worte nur in seinem tiefsten Innern vernahm, so, weil er sich kühn aus dem Mysterium ausschloß, weil er sich nur auf das «steht es dir frei» verließ; nun gab es nichts weiter in ihm als Wörter, die zum Erzählen geeignet waren – «wenn du es kannst» –, zum Erzählen der Szene bis in die kleinsten Einzelheiten. [59]
... nec nos videamus labra Dianae ...
«In Wirklichkeit, Madame, beweist nichts, daß Ihr nicht selbst der Vater der Götter seid: hat er nicht Euer sanftes Antlitz angenommen, um die treueste Eurer Gefährtinnen zu überzeugen? Soeben habe ich gesehen, wie Ihr Kallisto umschlungen hieltet; ich sage soeben; denn, nicht wahr, wir können diese Szene jeden Augenblick oder niemals herauf beschwören; aber wenn das Göttliche seine erschreckenden Formen auf diese Weise gegen die angenehmsten austauschen und dergestalt die Seelen seiner Anbeter ins Verderben stürzen kann, hätte ich dann nicht das Recht, zu argwöhnen ...» Diese letzten Worte blieben ihm, kaum geformt, schon in der Kehle stecken; schon wuchs das Geweih auf seiner Stirn, schon verlängerten sich seine Nase und seine Kinnbacken: aber er bedurfte der Rede nicht mehr; seine Augen spiegelten eine Lust wider, die sich, so unschuldig sie auch noch war, mit dem Entsetzen des Tieres vermischte; und nun ließ dieses Entsetzen die Scham der Badenden in sich eindringen, und alles, was diese Scham an Jungfräulichem besaß, verwandelte sich in Sehnsucht zu fliehen, aber in eine Sehnsucht, Schutz zu finden im Vlies der Göttin; der sterbende Mann wollte noch etwas sagen, sich in höflichen, frommen Worten entschuldigen; doch unterdessen wurde diese dezente Haltung, die er auf den Grasbüscheln eingenommen hatte, einen Fuß ein wenig vor den anderen gesetzt, zur Huldigung eines auf seinen Hinterläufen aufgerichteten Tieres, das sich mit riesigem Glied darbot und mit seiner Gabe die Gottheit bedrohte. Hat sich also Diana, indem sie Aktaion verwandelte, selbst einen Gegenstand des Erstaunens schaffen wollen? Mit einer Hand hatte sie ihm das Wasser ins Gesicht gesprengt, aber in demselben Augenblick, in dem sie das Urteil aussprach, zog sie schon die andere Hand aus [60]
der Vertiefung zwischen ihren Schenkeln zurück und entblößte durch diese Geste – sei es, daß sie nun Aktaion initiiert hatte, sei es, daß sie ihn nach der Initiation zu ihrem höchsten Ritus zuließ, sei es schließlich, daß sie ihrer Theophanie ein Ende machte – ihre rosige Vulva, entblößte ihre verborgenen Lippen: in dem gleichen Augenblick, in dem der Wasserguß Aktaion über die Augen rinnt, ihn blendet und ihn emporreißt, sieht er, wie diese infernalischen Lippen sich öffnen: sein Denken findet seine Vollendung in dem Geweih, das ihm auf der Stirne sproßt, und der Schock einer solchen Erfüllung wirft ihn nach vorn; nachdem seine Arme zu Beinen, seine Hände zu gespaltenen Hufen geworden sind, staunt er nicht einmal, als er sieht, wie sie sich augenblicks auf die Schultern der Göttin legen und wie sein ganzer behaarter Leib an der glänzenden Haut der wasserbeperlten Weichen der Göttin erbebt; und eben dieses Erbeben ist das der Diana selbst, wenn ein Mann es wagt, sie zu berühren, das Erbeben der Diana, wenn ihre Hand, von der sie weiß, daß sie ebenso mörderisch wie schön ist, ein wollüstiges Tier am Maule packt und sie dessen Zunge auf ihrem Handteller spürt; durch das Trampeln des Hirschmenschen, durch die Bewegung der langen Beine der Göttin, die sich aneinanderpressen und die sich spreizen, ist das Gewässer in Aufruhr geraten; man vernimmt das Keuchen der gehörnten Kreatur, das Stöhnen der waffenlosen Jägerin; – sie heult durch die Stimme ihrer Nymphen, und sie lacht in ihrem Geheul; er versetzt ihr mit der Ungeschicklichkeit des Neophyten einen Stoß, sie will sich entziehen, sie gleitet aus, er fällt auf sie und in sie; ah! dem Ziel so nahe zu sein und doch so fern – jener Schacht von Schweigen, der seinem Bedürfnis zu sprechen so hinderlich ist, setzt ihn in Brand. Aber Diana ist so abgefeimt, die Verwandlung nicht ganz zu vollenden, ihm noch einen Teil seiner Person zu lassen: die Beine, der Rumpf, der Kopf des Aktaion sind ganz Hirsch; aber während sein rechter Arm nur noch ein beharrtes Bein und seine Hand nur noch ein gespaltener Huf ist, sind der linke Arm und die linke Hand unverändert, und diese Inkonsequenz deutet auf eine zögernde und gleichsam herausfordernde Haltung der Göttin: wie weit wird sein noch vom Anblick der Diana beherrschter Trieb sich vorwagen, während die Brunst des Tieres ihn überkommt? Die Göttin ist sogar so ungeniert, ihm sein Jagdgewand zu lassen, das um seine [61]
Hirschmenschenglieder flattert, und sein Jagdhorn schwingt am Schulterriemen hin und her und wird die Schenkel der Badenden verletzen; in diesem Zustand gleitet sein Vorderfuß, der seine rechte Hand war, von den Schultern der Göttin den Rücken, den sie ihm zuwendet, abwärts, stützt sich auf ihre Hüfte, und indem er sich ruckweise um die Weiche herum zum Bauch vortastet, versucht er vergeblich, den Schamhügel zu erreichen, während sie selbst ihn, mit gesenkten Augen und einem Lächeln, das ihre zusammengepreßten Lippen ein wenig schürzt, einen Augenblick lang gewähren läßt; und tatsächlich faßt er mit der linken, noch unveränderten Hand, voller Schrecken, die Brust, die zu streicheln er sich nicht enthalten kann; sie macht eine Kehrtwendung, wobei sie aber wirkt, als ob sie ihn aus den Augenwinkeln betrachte, hebt den Arm und gibt so die Achselhöhle frei, in die er gierig seine Schnauze hineinwühlt, doch mit einer ängstlichen Gier, als seine Zunge ihr endlich die Brustwarze leckt; in dem herrlichsten Körper, den sie je angenommen hat, erbebt Diana ... [62]
... Ein großer Hirsch, weiß wie Schnee, trennte Aktaion von der Gottheit; und den Rücken der Göttin der Wälder bespringend, tritt der gehörnte König ein in sein Reich. Aber seine Herrschaft ist kurz: die Nymphen haben ihn jubelnd empfangen; und er geht ihnen ohne jede Furcht entgegen, und sie schmeicheln ihm auf tausenderlei Art und streicheln ihn zwischen den Stangen des Geweihs, auf der Stirn, am Hals und bald auch über den Flanken und unter dem Bauch; er bewegt den Kopf hin und her und stampft voller Unschuld, und als sie ihn mit Lorbeer gekrönt haben, führen sie ihn zu der Göttin; zwei Nymphen machen die ruhende Jägerin zurecht, streifen ihr Gewand bis zu den Brüsten empor: Diana spreizt ihre nackten Schenkel; die Nymphen bringen den Hirsch heran, dessen Brunst sie jetzt ein wenig dämpfen müssen; und zuletzt empfängt die Göttin der Wälder den gehörnten König. Aber der glorreiche Tod des Heros beschließt seinen Hochzeitsgang: kaum hat er die Königin zum Seufzen gebracht, als auch schon die zahllose Meute die Grotte mit ihrem Gebell erfüllt; die Hunde schlagen ihre Fänge in sein Fell, und während sie ihn in Stücke reißen, netzt der König mit seinem Blut den blendenden Körper der Jungfrau. Dann unterziehen die Nymphen die Göttin der letzten feierlichen Reinigung; aber die Reize der Diana zerfließen in dem reinen Licht, das sie verbreitet, und bald bezeugt nur noch das Diadem auf ihrer nunmehr unsichtbaren Stirn ihre Anwesenheit: als glänzende Mondsichel erhebt es sich über den Kamm der Berge und tritt in das smaragdene Gewölbe der Dämmerung. [63]
Den Mond mit den Zähnen packen
Aktaion hatte den Zufall gefürchtet: er wollte dem Schicksal zuvorkommen, sich zu dessen Komplicen machen, mit aller Kraft seines Willens mit dem Schicksal übereinstimmen, das Schicksal des Hirschmenschen wie eine Berufung auf sich nehmen; er hatte gemeint, sein Heil zu erringen, und er hatte sein Bild zerstört. Aber es ist möglich, daß wir ihm in diesem Punkt unrecht tun, daß wir ihm entweder zuviel dionysische Absichten unterschieben: zerrissen und dann in alle Winde zerstreut zu werden; – oder zuviel grobschlächtige List: sie wird mich für einen Hirsch halten, und ich kann ganz unbedenklich handeln, – oder, im Gegenteil, zuviel Feingefühl: sie wird sehen, daß ich meine Sühne im voraus annehme. – Oder aber sein Verhalten beruhte auf einer Wette: Wenn Diana wirklich kommen soll, ist es besser, als Hirsch denn als Jäger gelebt zu haben – eine Wette, die die Praxis als Grundlage des Glaubens voraussetzt: worauf der Hirsch immer antworten kann, daß die einfachste Art, sich auf das Kommen der Diana vorzubereiten, die Flucht ist. Bei all diesen Regungen, die vielleicht die seinen waren, läßt sich auf jeden Fall folgendes hervorheben: die aberwitzige Überschätzung des freien Willens auf Kosten der Gnade (um hier nicht den Begriff des Hirschwillens* einzuführen); ein beunruhigender Mangel an Naivität, eine totale Verständnislosigkeit gegenüber dem Ewigweiblichen der Gottheit, ein vollkommenes Mißverständnis hinsichtlich der spielerischen Natur der Götter. Denn wenn Diana Diana ist, ver* Frz. «cerf-arbitre»; ein Wortspiel. Cerf-arbitre ist gleichlautend mit serf-arbitre, unfreier Wille, lat. servum arbitrium, nach Luthers gegen des Erasmus von Rotterdam De libero arbitrio [1524] im Dezember 1525 verfaßtem Werk De servo arbitrio. [Anm. d. Übers.]
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mag sie einen lebendigen Hirsch durchaus von einem ausgestopften zu unterscheiden und muß im voraus wissen, daß nicht ein Hirsch, sondern eine Maske sie dort in der Grotte erwartet, ein Mann, der seine Begehrlichkeit maskiert; – oder sollte sie es nicht im voraus wissen, und will sie es gar nicht wissen, weil sie, da sie den Augenblick mit ihrem ganzen ewigen Wesen erfüllt, ebenso unstet scheint wie ihr Vater und mit einem Vorherwissen des Künftigen nicht mehr zu schaffen hat als mit der Erinnerung an das Vergangene? Hätte Aktaion somit doch recht, alles vorauszubedenken, um auf die Launen einer Natur, die überhaupt nichts vorauszubedenken sucht, besser vorbereitet zu sein? Ändert das etwas an dem Verlauf der Ereignisse? Stellt er sich vielleicht vor, daß sie schließlich jene Verwandlung vergessen könnte ? Wie immer man diese Situation auch dreht und wendet, man findet stets den gleichen Fehler: den anmaßenden und pietätlosen Willen, sich den Mythos durch die Vermittlung der Sprache anzueignen: die schändbare entschleierte Diana – die ungeschändete nackte Diana – reine Interferenz oder buchstabengetreue Anwendung der Analogie des Seins ? Ein Kunstgriff der Vermittlung der Wörter! Über die entschleierte Diana hatte er den Schleier der Nacktheit geworfen. Die nackte Diana, die errötende Diana, die befleckte Diana, die sich waschende Diana – lauter abscheuliche Trugbilder, die es zu zerstören galt; blieb noch das letzte: die Mondsichel, er wollte eine neue Version von ihr geben, den Trug ihres falschen Glanzes nachweisen: Aktaion mißtraute nämlich dieser leichtfertigen Erhebung einer Sinneswirklichkeit in den Rang einer übersinnlichen Wahrheit, von der Gottheit entlarvt, weil er die Fähigkeit zu sprechen hatte behalten wollen, mußte Aktaion sein Nicht-Hirsch-Sein als Liebe zur Wahrheit selbst rechtfertigen. Weder Jäger noch Hirsch, wird Aktaion, der fortan einen Abscheu vor dem Bilderkult hat, zum Bilderstürmer, und zwar in Gegenwart der Diana, genauer gesagt: als er den Rücken der Diana sieht, der Diana, so wie die Dichter sie uns beschreiben, so wie die Bildhauer sie darstellen – und Aktaion zürnte jetzt diesem Idol, das sowohl den Gegenstand seiner Leidenschaft als auch seine eigene Verwerfung konsekrierte: da steht sie wieder in ihrer kurzen Tunika, Arme und Knie nackt, die langen Beine gestiefelt, die linke Hand hält den silbernen Bogen, der rechte Arm, dessen Ellenbogen angehoben ist, gibt die Achselhöhle frei, die Hand ist über die Schulter zurückgebogen, die Finger, [65]
zwischen Nacken und Haarknoten, sind im Begriff, einen Pfeil aus dem Köcher zu ziehen ... Bereit, loszustürzen, das Haupt erhoben, den Blick ins Weite gerichtet – diese Strenge ihres reinen Antlitzes, ganz, als ob nichts geschehen wäre, die erhobene Hand, das Spiel der Finger am gefiederten Ende der Pfeile – Aktaion ist ganz sicher, daß diese Finger ihm irgendein Zeichen machen –, all das versetzt jetzt unseren Helden in einen finsteren Geisteszustand: «Schamlose Hündin!» ruft er ihr ein erstes Mal zu; aber die Reglosigkeit der Diana in ihrer Läuferstellung ist derart, daß er einen Augenblick lang wähnt, vor einem steinernen Trugbild zu stehen; vielleicht entstand die Illusion der Bewegung, dieses erstarrten Elans durch das, was sich soeben ereignet hat, was sich noch ereignen wird: sie tötet, dann wäscht sie sich, entschwindet, um wieder zu erscheinen, um von neuem zu töten, als ob nichts geschehen wäre. Selbstverständlich wartet Aktaion nicht mehr, bis die Nymphen die Göttin entkleidet haben: er selbst muß nun die Kleidung Stück für Stück von diesem grauenhaften Idol herunternehmen. «Schamlose Hündin!» schreit er abermals: der Anflug eines Lächelns erscheint auf den Lippen der Göttlichen. Und da ist es, als hätte ihn Diana, ohne auch nur eine Bewegung gemacht zu haben, mit ihrem spitzesten Pfeil durchbohrt; mit einer Hand entreißt er ihr den silbernen Bogen, mit der andern packt er das Gelenk der Hand, mit der die Göttin zum Köcher langte, und schon beginnt er, ihr den Bogen um die Ohren zu schlagen, und während sie den Kopf senkt, um den Schlägen auszuweichen, während die Tunika fällt, der Gürtel aufgeht und der Köcher seine Pfeile auf dem Boden verstreut, entblößt er schließlich ihren Hintern und verpaßt ihr eine Tracht Prügel, daß fast der Bogen zerbricht, man könnte meinen, der Bogen tanze ganz von selbst auf Dianas Hinterbacken; und wirklich, von da unten steigt das Horn der leuchtenden Mondsichel herauf, deren Glanz sie noch mit ihren schmalen Schattenhänden verbirgt; aber je mehr Prügel es hagelt, desto klarer entfaltet sich die Sichel; und als der Hintern des Idols sich ein wenig öffnet, stürzt Aktaion blindlings darauf los: er hat das Ziel seiner Berufung erreicht: flache Stirn, gespaltene Schnauze, fangzahnbewehrte Kinnladen: er selbst endlich Hund! ... die Mondsichel zwi[66]
schen den Zähnen rollt, entgleitet, sie entschwindet, sie steigt in die Höhe hinauf ... Speichel ertränkt die letzten Beleidigungen ..., ein Hund für nichts? ... Er bellt – o ruhmreicher Tod des Hirsches! ... als die leuchtende Sichel sich über den Kamm der Berge erhebt und in das smaragdene Gewölbe der Dämmerung tritt. [67]
Lange Zeit, so geht die Sage, ist sein Gespenst im Land umgegangen; er bewarf die, die sich in die Nacht hinauswagten, mit Steinen und ließ sich ich weiß nicht zu welchen anderen Untaten noch hinreißen; da man seine sterblichen Überreste nicht finden konnte, befahlen die Orakel, ihm an einem Felsen ein Standbild mit dem Blick ins Weite zu errichten; so lauerte er weiter auf sie, gleichsam für immer in ihren Bann geschlagen; er, der das Trugbild abgelehnt hatte – ein Trugbild machte seine Liebe zur Wahrheit unsterblich ... ... Aber wissen wir nicht, daß unser ganzes Wohlbefinden von dieser Geschäftigkeit abhängt? Seht ihr nicht, daß nicht nur in Ephesus, sondern in fast ganz Asien sehr viele Leute überzeugt sind, daß die keine Götter sind, die mit den Händen gemacht sind? Daraus erwächst nicht nur die Gefahr, daß unsere Geschäftigkeit in Mißkredit gerät, sondern auch die, daß der Tempel der großen Göttin Diana für bedeutungslos gehalten wird; ja sogar die Gefahr, daß die Majestät derjenigen, die in ganz Asien und in der ganzen Welt verehrt wird, sich in nichts auflöst ...
Gross ist die Diana der Epheser!
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Erläuterungen
Artemis / Diana
Die Etymologie des Namens dieser olympischen Gottheit bleibt recht zweifelhaft: deshalb kann man sich darauf beschränken, hier diejenige des Kratylos von Plato zu erwähnen: «... der Name Artemis bedeutet ‹Reinheit›, artemes, und Bescheidenheit, wegen ihrer Leidenschaft für die Jungfräulichkeit. Aber es ist möglich, daß ‹Kennerin der Tugend›, aretes histor, der Name ist, den die Göttin vom Namengeber erhalten hat. Andererseits wäre es auch möglich, daß der Name so etwas bedeutet wie ‹die Verachtung der Besamung› durch den Mann, ‹aroton misesa›: das, was ein Mann mit einer Frau tut...» [Kratylos 406]. Man hat auch vorgeschlagen: artemes: die Starkgliedrige, die Unversehrte, die Jungfrau; «die, die zerschneidet» von aratao: zerschneiden; «die, die von oben versammelt» von: airo: ergreifen und themis: die, die legt, setzt etc. Der Mythos dieser seltsamen und komplexen Gottheit, der eng mit dem delphischen Apollonkult verbunden ist, ist wahrscheinlich viel älter als dieser. Deshalb braucht man sich nicht zu wundern, daß, während die von Homer überlieferte Tradition die Jungfräulichkeit der Göttin als Tochter des Zeus und der Leto, die zusammen mit Apollon, ihrem Zwillingsbruder, auf Delos geboren wurde, betonte, noch andere Traditionen fortgelebt haben, zum Beispiel die aus Ägypten stammende und von Aischylos überlieferte, die Artemis zur Tochter des Zeus und der Demeter und zur Schwester der von Hades [Pluton] geraubten Persephone macht; oder sie mit Persephone selbst identifiziert oder sie zur Tochter der Persephone macht und Mutter des Eros nennt. Diesen mythischen Fundus hat Kerenyi erforscht in seinen Studien über die Kore, das göttliche junge Mädchen, in dem die befruchtbare Jungfräulichkeit und die Mutterschaft einander die Waage halten, [cf. Ein[73]
führung in das Wesen der Mythologie.] Creuzer hatte in seiner Symbolik die dialektische Entwicklung des Artemis-Mythos beschrieben: nach seiner Auffassung wäre Artemis, die Tochter der Leto, ganz einfach die Wiedererscheinung von Illithya, der Göttin der fruchtbaren Nacht und der Geburten, und in dieser Eigenschaft hätte Artemis der Leto beigestanden, als diese am Ende ihres langen Umherirrens auf Delos Zuflucht findet und mit den beiden göttlichen Zwillingen niederkommt. In der Tat erblickt Artemis der homerischen Tradition zufolge vor ihrem Bruder das Licht der Welt und steht, kaum geboren (die Gottheiten werden fertig geboren), Leto bei der Geburt des Apollon bei. Daher die Schutzherrschaft der Artemis über die Frauen im Kindbett. So wurde nach Creuzer die Göttin der Nacht, die Lichtbringerin inmitten der Finsternis, wiedergeboren als Schwester des Tages, mit dem sie sich als mit ihrem Widerspiel verband. Die homerische Tradition, die doch über alle anderen Versionen des Mythos obsiegen und ihren Charakter als bogenschießende Jungfrau endgültig fixieren sollte, verband sie eng mit dem Mythos des Apollon: gemeinsam mit ihrem Bruder tötet sie den Python und den Riesen Tityos, der Leto hatte Gewalt antun wollen. Verschiedene Dokumente erlauben sogar die Annahme einer inzestuösen Verbindung zwischen den göttlichen Zwillingen, [cf. dazu die bemerkenswerte Untersuchung von Aimé Patri: «La Lumière noire d'Apollon», in: La Tour Saint Jacques, III, 1956.] Indes sind sich heute, in der Nachfolge Creuzers, aber aus anderen Gründen, mehrere moderne Mythographen darüber einig, daß sich unter den Zügen von Artemis, Tochter der Leto und uneheliche Tochter des Zeus, die Homer uns darstellt, wie sie von der eifersüchtigen Hera mit Ruten gepeitscht wird [Ilias, XXI], eine ältere Gottheit verbirgt. Wahrscheinlich weist die von Kallimachos wiederaufgenommene Tradition, der zufolge die Amazonen den Kult der Diana in Ephesus eingeführt und begründet haben sollen, auf die wahre Quelle hin – obwohl man in Ephesus selbst zur Zeit des Kallimachos, trotz starker Abweichungen, Artemis als Zwillingsschwester des Apollon verehrte, [cf. Picard, Ephése et Claros.] Man braucht sich nur das Hauptwerk Bachofens über das Mutterrecht zu vergegenwärtigen, um die organischen Bande zwischen dem Mondkult und dem aus der Lebensweise der Amazonen hervorgegangenen Prototyp der spröden, waffentragenden Jungfrau in jener letzten, exzessiven Phase der Frauenherrschaft [74]
zu erkennen, die das Amazonentum darstellte. Von dort scheint der glanzvolle Aufstieg der Göttin ausgegangen zu sein: in Kreta sollte sie bald verschmelzen mit Britomartis, der «dulcis virgo», Göttin der Berge, die unter dem Namen Diktynna [von diktys: Netz], der einer der geläufigsten Beinamen der Artemis ist, von Jägern und Fischern gleichermaßen verehrt wurde. Was die Artemis von Ephesus anlangt, deren Kult noch zur Zeit des heiligen Paulus in Blüte stand, so stellt sie, in der Endzeit des Heidentums, die abschließende Synthese all der Eigenschaften dar, die man dieser seltsamen Gottheit seit ihren Ursprüngen beigelegt hatte: Jungfrau-Mutter-Gottheit, nahrungsspendend und bestialisch, mit zahlreichen Brüsten, alle dunklen und hellen Kräfte in sich vereinend, sich manifestierend zugleich in ihrem Madonnenlächeln, in der hieratischen Gebärde ihrer Hände und in einem Kult mit orgiastischem Charakter. Die römische Herrschaft führte zur Identifizierung der hellenischen Artemis mit der alten italischen Diana, die ihr Heiligtum im Hain von Aricia hatte. Daher der Name des ihrem Kult obliegenden Priesters, des Rex Nemorensis, den sein Nachfolger im Zweikampf erschlagen mußte. Ebenso wie Artemis das weibliche Gegenstück zu Apollon darstellte, wurde Diana als Gegenstück des doppelgesichtigen Janus angesehen [Djana]. Nach einer von Macrobius überlieferten Auffassung entspricht Janus sowohl dem Apollon wie der Diana und vereint in sich beide Gottheiten. Janus würde so die Welt darstellen, die sich unaufhörlich in einem von ihm ausgehenden und zu ihm zurückkehrenden Kreis bewegt [eat]. Cicero schrieb nicht Janus, sondern Eanus, von eundo. Diese Auffassung wäre auch für Diana gültig, die sich, entsprechend der Periodizität ihrer göttlichen Natur, gleichfalls unaufhörlich bewegt. Natürlich gäbe es viel zu sagen über die Beziehung zwischen Janus und Diana, über das Doppelspiel der Diana, das durch diese Beziehung offenbar wird. Ovid, der uns die klassischste und bekannteste Beschreibung vom Abenteuer des Aktaion geliefert hat, wenn er es auch in seiner dezentesten Version wiedergibt, dem Aktaion keinerlei unzüchtige Absichten unterstellt und in seiner Darstellung einen gewissen elegischen Ton anschlägt, Ovid, dieser einschmeichelndste aller Dichter, scheut sich in seinen Fasti nicht, Diana mit der koketten Nymphe Grane zu identifizieren, und schildert sie uns, wie sie, in deren anmutiger Gestalt, [75]
von Janus mit seinem Werben verfolgt und von diesem Gott vergewaltigt wird, der dank seinem doppelten Gesicht das Versteck zu entdecken vermochte, in dem die Nymphe vor ihm sicher zu sein geglaubt hatte. Dafür machte Janus sie zur «Göttin der Haspen».
Der Mythos von Aktaion
Einer Sage zufolge wurde Aktaion, der Sohn des Hirten Aristaios und der Autonoë, Tochter des Kadmos, von dem Kentauren Cheiron in die Jagd eingeweiht. Nach dieser Sage begannen seine eigenen Hunde, nachdem sie ihn in Gestalt des Hirsches zerrissen hatten, umherzuirren und das Gesicht ihres Herrn zu suchen, und sie beruhigten sich erst, als sie ihn in der Statue, die man auf Rat des Kentauren an einem Felsen errichtet hatte, wiedererkannten. Hier scheint sich die Sage von Aktaion dem Jäger zu vermengen mit der von einem anderen Aktaion, einem Felsgott oder -dämon, der die Reisenden, die Hirten und die Herden mit Steinen bewarf. Dieser Dämon soll sich erst beruhigt haben, als man ihm ein Standbild an einem Felsen errichtet hatte, um ihn an sein Bild zu binden. Die archäologischen und literarischen Dokumente zum Mythos von Aktaion dem Jäger, der die nackte Artemis [Diana] beim Bade überrascht hat, sind vergleichsweise jung, und Kallimachos [4. Jahrhundert vor Chr.] ist nach Ansicht seines Kommentators und Übersetzers E. Cahen der erste Dichter, der die Bestrafung des Aktaion durch Artemis auf die Tatsache zurückführt, daß er die Göttin nackt gesehen habe. [cf. Bad der Pallas, in dem Hymnos an Artemis ist davon nicht die Rede.] Vor Kallimachos wurden andere Motive geltend gemacht: Aktaion soll sich gerühmt haben, er übertreffe die Göttin in der Jagd; oder er soll irgendeine Orgie in ihrem Heiligtum gefeiert haben, etc. Tatsächlich verraten die Versionen dieses Mythos besonders vom 4. Jahrhundert an eine immer ausgeprägtere erotische Färbung und Tendenz: die Keuschheit, aber auch die verführerischen Reize der Göttin – die sowohl Homer wie Euripides und später Vergil und Ovid zu preisen nicht verfehlt hatten – bilden die Grundlage dieser Entwicklung. Seitdem haben bekanntlich Reliefkunst und Malerei die zau[76]
berhaftesten Darstellungen dieser Szene geliefert. Indessen wird das Motiv der von Aktaion überraschten nackten Diana bald mit dem Walten des Schicksals, bald mit der festen Absicht zur Vergewaltigung erklärt. Diese letztere Erklärung gibt Hyginus [1. Jahrhundert] in seiner Mythographie: Actaeon Aristaei et Autonoës filius pastor Dianam lavantem spectaculus est et eam violare voluit. Ob id Diana irata fecit ut ei cornua in capite nascerentur et a suis canibus consumeretur. Ungeachtet dieser späten Versionen scheint der Mythos selbst uralt zu sein: der Heilige König des vorhellenischen Hirschkultes wurde am Ende seiner Herrschaft in Stücke gerissen. Die Göttin nahm ihr Bad nach der Tötung des Hirsches [cf. Ranke-Graves, The Greek Myths.] Man kann sich auch die Profanierung des Kultus durch eine wirkliche Person vorstellen, die in irgendeiner Verkleidung das heilige Tier ersetzt hätte in der Absicht, die Priesterin, die die Rolle der Artemis spielte, zu vergewaltigen. Nach Lanoë-Villene [cf. Le livre des Symboles – Dictionnaire de symbolique et de mythologie] «scheint dieser Mythos zwei Bedeutungen gehabt zu haben: Aktaion mußte, so meinen die Gelehrten, die Nation Attika zu einer Einheit zusammenschweißen, indem er die sozialen Leitsätze des alten delphischen Kultes preisgab und die des aufblühenden Dionysos-Kultes übernahm, der, wie man glaubte, von den Nachfahren des Kadmos in Griechenland eingeführt worden war ...» Nach Lanoës Ansicht ist es Kekrops, der erste König von Attika, das Akte oder Aktaia genannt wurde, dem der Name Aktaion zukommt, der an die Küste erinnert: er ist der Wächter der Stadt. Man zeigte zwischen Megara und Plataiai den Ort, wo er Artemis nackt gesehen haben sollte. Daneben scheint uns diese Geschichte Aktaion als einen delphischen Priester zeigen zu wollen, der sich, nachdem er, ohne in die Mysterien der Artemis eingeweiht zu sein, in diese eingedrungen war und sie verbreitet hatte, gezwungen sah, in die tiefste Tiefe des Waldes zu den dionysischen Zönobiten zu flüchten [die Verwandlung in einen Hirsch], wo er schließlich von seinen ehemaligen Palastwächtern [seinen Hunden] entdeckt und getötet worden sein soll. Wir haben uns die linguistische Interpretation von Lanoë-Villene zu eigen gemacht, der zufolge Kerberos [Hund] von Ker [gehörnt] kommt und gleichzeitig der alte Gehörnte oder der alte Hirsch bedeutet, seiner Ansicht nach ein Symbol für den dionyischen Eremiten. Der Versuch des Aktaion, [77]
Artemis zu vergewaltigen, wäre so der Ausdruck einer Rivalität zwischen dem delphischen Kult [Artemis] und dem dionysischen [Aktaion]. Die Vorstellung von der Vergewaltigung der Artemis ist der Natur ihres Mythos inhärent, und die Furcht vor männlicher Gewalttätigkeit ist konstitutiv für ihre ganze, zugleich keusche und herausfordernde Gestalt: Aktaion hatte Vorläufer gehabt: eine Vasenmalerei zeigt Artemis, wie sie sich gegen den Riesen Otos verteidigt, der ihr laut einer Episode der Odyssee [XI, 305ff.] Gewalt antun will. Orion, der eigene Jagdgefährte der Göttin, will sie mit Gewalt besitzen und stirbt am Stich eines Skorpions [Hesiod, Fragmente XLIII].
Atalanta
Atalanta, die Tochter des Iasos, König von Argos [oft verwechselt mit Atalanta, Tochter des Schoineus, König von Skyros] – die jungfräuliche Jägerin von Tegea; sie erscheint als eine Gestalt der Artemis in der Sage von Meleagros, Sohn des Oineus, König von Kalydon, und seiner Gemahlin Althaia. Da der König den Kult der Artemis vernachlässigt hat, hetzt die Göttin den gräßlichen Eber auf, der das Land Kalydon verwüstet. Darauf laden die Brüder der Althaia und ihr Sohn Meleagros, der Held der Argonautenfahrt, alle berühmten Männer Griechenlands zu einer Treibjagd auf das Ungeheuer ein: Iason, Theseus, die Dioskuren, Telamon, Nestor [den Vater des Achilleus]; unter diese Jagdgesellschaft mischt sich Atalanta, «die Schnellfüßige», «der Ruhm der Wälder des Lykaion», die sich «wie ein Jüngling mit der Grazie einer Jungfrau» oder «wie eine Jungfrau mit der Strenge eines jungen Helden» bewegt. Während der Jagd bemüht sich die ganze Gesellschaft vergebens, das Ungeheuer zur Strecke zu bringen, bis Atalanta – das heißt die Göttin selbst – es mit ihrem Pfeil erlegt. Da will Meleagros, der sich hoffnungslos in die Jägerin verliebt hat, ihr den Kopf des Tieres als Trophäe zusprechen. Die Onkel des Meleagros empfinden dies Geschenk an eine Fremde als Beleidigung, und in dem Streit, der nun ausbricht, erschlägt Meleagros sie. Kaum hat Althaia den [78]
Tod ihrer Brüder erfahren, da wird sie heimgesucht von dem Gedanken an die Sühne, die sie selbst ihrem Sohn auferlegen müsse. In der Tat hatten, als sie ihm das Leben schenkte, die Parzen ein Holzscheit in das Herdfeuer geworfen und verkündet, das Kind werde so lange leben, wie dieses Holzscheit nicht verbrannt wäre. Alsbald riß Althaia es aus dem Feuer und löschte es im Wasser. Jetzt, im Zwiespalt zwischen der Mutterliebe und der Liebe zu ihren Brüdern, überliefert Althaia nach einem furchtbaren inneren Kampf das Holzscheit dem Feuer und damit ihren Sohn dem Tode. Dieses Abenteuer, bei dem Artemis sich ihrer Reize bedient, um zu strafen, illustriert deutlich den provozierenden Charakter der Göttin. – So interpretiert Sueton das berühmte Gemälde des Parrhasios, das Tiberius in seinem Arbeitszimmer aufbewahrte und das «Meleagro Atalanta ore morigeratur» darstellt [Sueton, Tiberius, XLIV].
Kallisto / Kalliste
Kallisto ist die Tochter des Lykaon, König von Arkadien, und die Jagdgefährtin der Artemis; von Zeus verführt, fällt sie bei Artemis, die beim Bade ihre Schwangerschaft bemerkt, in Ungnade, wird von Hera [Juno], die auf die Ehebrecherin eifersüchtig ist, in eine Bärin verwandelt und dann von Zeus unter die Gestirne versetzt. Einer anderen Version zufolge soll sie nach ihrer Verwandlung in eine Bärin von Artemis selbst getötet worden sein. Von Zeus geschwängert, schenkte Kallisto dem Arkas [Arktos: der Bär] das Leben. Diese Sage scheint einen dunklen, viel älteren Mythos zu rationalisieren. In Wirklichkeit wäre dann Lykaon niemand anderes als der lykäische Zeus, den die Arkadier verehrten; Kallisto wäre nur die Vertreterin von Artemis Kalliste [«die Schönste»], die unter diesem Namen in Arkadien verehrt wurde. Da die Bärin eines der emblematischen wilden Tiere der Artemis war – manche leiten ihren Namen von arktos her –, könnte man in diesem Abenteuer die dunkle Ahnung eines inzestuösen Anschlags des Zeus auf seine eigene Tochter entdecken. [79]
Kadmos
Kadmos, Sohn des Agenor, König der Phönizier, wurde von seinem Vater auf die Suche nach seiner von Zeus entführten Schwester Europa geschickt; auf dieser Suche findet und tötet er in Böotien den Drachen, den Sohn des Ares [Mars], und sät auf Befehl der Athena die Zähne des Ungeheuers im Boden aus, aus dem eine Schar von Kriegern entsprießt, die alsbald aufeinander losschlagen. Fünf von ihnen überleben, und Kadmos gründet mit ihnen die Stadt Theben. Kadmos heiratet dann Harmonia, die Tochter des Ares und der Aphrodite, die ihm vier Töchter gebiert: Ino, die Frau des Athamas, Agave, die Mutter des Pentheus, Autonoë, die Mutter des Aktaion, und Semele, die Mutter des Dionysos. [80]
* Anmerkung zu Seite 43 Der heilige Augustin – dessen apologetisches Ziel es ist, die Immoralität der Götter zu beweisen, auf die die heidnische Reaktion sich berief – geht von einer Angabe der römischen Tradition aus, der zufolge die Götter, als sie anläßlich des Wütens der Pest angerufen wurden, die Einrichtung szenischer Spiele in Rom befohlen haben sollen. Die Pest ging zurück, aber eine neue Pest brach aus, und die war nahezu unheilbar: die Sittenverderbnis durch das Theater. Deshalb arbeitet der heilige Augustin zunächst den Begriff eines Tauschhandels heraus: die körperliche Heilung wird mit der Krankheit des Geistes bezahlt. In der Tat ist das Thema der von den Göttern eingerichteten Spiele die Darstellung der Schandtaten dieser Götter, und die Darstellungen verschmelzen mit den kultischen Feiern. Nächster von Augustin herausgearbeiteter Begriff: diese Götter stellen eine widersprüchliche Forderung: sie wollen in ihrem unmoralischsten und schamlosesten Verhalten angebetet werden. Diese Götter finden Vergnügen an ihrer eigenen Schande. Ein solcher Begriff konnte natürlich nur in der Reflexion eines christlichen Geistes entstehen, der das Mysterium der Inkarnation in eine Theologie projiziert, für welche die mythische Szene die Stelle der Inkarnation einnahm. Der antike Geist ist sich dieses Widerspruchs nicht bewußt, er partizipiert zu stark daran, insofern die Amoralität in der Funktion des Mythos inbegriffen war. Die heidnischen Philosophen protestierten gegen die sakrilegische Einbildungskraft der Dichter nur von einem moralischen und rationalen Gesichtspunkt aus. Besonders originell beim heiligen Augustin ist seine Annahme, daß die Dämonen, indem sie sich als Gottheiten ausgaben, sich in der Gestalt von Göttern darstellen konnten, die als vom sittlichen Standpunkt aus böse Gottheiten angebetet werden wollten oder es erduldeten, von der menschlichen Einbildungskraft als solche verleumdet zu werden. Die Götter wollen nicht nur, daß man ihre Schandtaten feiert, sie sehen es sogar gern, wenn man ihnen imaginäre Verbrechen zuschreibt. Nachdem der heilige Augustin dergestalt die widersprüchliche Natur der theologa theatrica dargelegt hat, schließt er auf die Falschheit ihrer Göttlichkeit, auf die Realität ihres dämonischen Wesens. In welchem Maße konnte das Dilemma, in das er seine heidnischen Gegner hineinzwingen wollte, [81]
von diesen letzteren realisiert werden? [Zweifellos dadurch, daß er ihnen die Inkonsequenz der römischen Gesetze ins Gedächtnis rief: jener Gesetze, die den Kult der Götter respektieren und die Schauspieler der bürgerlichen Ehren berauben. Nun sind aber die Schauspieler ebenso Offizianten des Kults wie die Priester. Man verehrt den Gott, man entehrt den Menschen, der seine Rolle spielt. In dieser Hinsicht beweisen die Römer Inkonsequenz und Pietätlosigkeit. Die Griechen zeigen eine viel kohärentere Frömmigkeit, da sie sowohl die Person des Gottes ehren wie die des Schauspielers, der sie darstellt. Bleibt zu sagen, daß die Beweisführung des heiligen Augustin, um sich entwickeln zu können, von der christlichen Vorstellung der Inkarnation und insbesondere von dem Begriff der Kenosis ausgehen mußte. Und es ist wirklich sonderbar, daß Augustin, der die Absicht hat, im Namen des inkarnierten Gottes, des fleischgewordenen Wortes, den Glauben an Gottheiten, die wollten, daß man ihnen Laster unterstellte, zu widerlegen, schließlich dazu kommt, die Natur dieser Götter unter dem Gesichtspunkt der widersprüchlichen Vorstellung, die von ihnen herrscht, zu rekonstruieren: dabei ist diese Vorstellung nur in seinem platonischchristlichen Geist kraß widersprüchlich: in der Tat, wer Gott sagt, setzt einen guten Gott voraus – da eine böse Gottheit eine Contradictio in adjecto ist –, daher die Vorstellung, daß diese Götter Dämonen sind [wobei die Dämonen – in der platonischen Theologie vermittelnde Gottheiten – mit den Dämonen des Evangeliums, die von ganz anderer Natur sind, durcheinandergebracht werden]. Dabei nimmt er aber an, daß diese Gottheiten, so böse sie auch sind, dennoch Gottheiten sind – eine Gottheit, die als böse oder lasterhaft angebetet sein will, übernimmt von den Menschen eine Art zu handeln, die von den Menschen als böse beurteilt werden kann. Insofern die Gottheiten, um wahre Gottheiten zu sein, in ihrem Wesen unerregbar sind, und gut, weil unerregbar, mußten diese Gottheiten nach der platonischen und stoischen Philosophie, wenn sie sich je den Menschen näherten, von den Sterblichen genau das entleihen, was sie ihrer Natur nach von diesen letzteren am meisten unterschied, die Leidenschaften. Was Wunder also, daß die Gottheiten, als sie die menschlichen Leidenschaften annahmen, diese Leidenschaften bis zum Übermaß ihrer göttlichen Natur steigerten und daß die von den Göttern angenommenen Laster schrankenlose Ausmaße annahmen, wie sie die Menschen nur in ihrer Einbildungs[82]
kraft erreichen konnten, weil sie sie als Sterbliche nicht ungestraft ausleben konnten? Warum gaben sie gerade das Beispiel der Laster, warum nicht das der Tugenden? Warum schrieben sie keinerlei moralische Gesetzgebung vor, warum kümmerten sie sich nicht um die Sitten ihrer Anbeter? Warum? Weil die Götter, wenn sie sich tugendhaft zeigen wollten, gerade wegen ihrer unerregbaren Natur den Menschen keinerlei verdienstvolles Beispiel geben konnten, da die höchste Tugend vom Gesichtspunkt des erregbaren und sterblichen Menschen aus mit der unerregbaren Unsterblichkeit zusammenfällt. Wenn sich vom Standpunkt des Menschen aus ein sterbliches Individuum, je großmütiger es sich zeigte, um so unerregbarer zeigte, zeigten sich die Götter von ihrem Standpunkt aus, sobald sie daran dachten – oder sobald man sich vorstellte, daß sie daran dächten –, in göttlicher Großmut mit den Menschen in Verbindung zu treten, tugendhaft für die Menschen, wenn sie, obwohl sie Götter waren, die furchtbarsten, die gefährlichsten Leidenschaften der menschlichen Natur annahmen. Den Menschen vorzuschreiben, sie auf der Bühne nicht in ihrer Unerregbarkeit darzustellen, nicht in ihrer Unzugänglichkeit, sondern als außerordentlich verderbte Naturen – ehebrecherisch, blutschänderisch, diebisch, meineidig –, in gewisser Weise erniedrigt, doch ohne daß man je vergessen könnte, daß es ja Götter waren, die sich allein deshalb erniedrigten, weil sie mit ihren Anbetern in Verbindung traten und sich ihnen auf der Bühne darboten – dies vorzuschreiben, sage ich, hieß also für diese Götter, soweit das den Vorstellungen des heidnischen Rom entsprach, sich zu inkarnieren. Inkarnationen gleichwohl in den Gestalten des histrionischen Körpers –, der durch sein Spiel das Geheimnis der stummen Geste der göttlichen Statuen verbreitet [die eigentlichen Trugbilder]. [83]
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Diane et Actéon, 1954, Bleistift auf Papier, 210 x 150 cm, Privatbesitz.
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M. de Max et Mlle Glissant dans le rôle de Diane et Actéon, 1954-73, Farbstift auf Papier, 152 x 107,5 cm, Galleria d'arte contemperaneo Turin.
69
Diane et Actéon, 1981, Farbstift auf Papier, 242 x 150 cm, Privatbesitz.
© 1982 VERLAG BRINKMANN & BOSE, BERLIN / LE BAIN DE DIANE © 1956 UND 1972 JEAN-JACQUES PAUVERT, PARIS © 1980 EDITIONS GALLIMARD, PARIS / SATZ UND DRUCK: POESCHEL & SCHULZ-SCHOMBURGK, ESCHWEGE / BINDUNG: BRINKMANN & BOSE / SCHRIFT: CICERO WALBAUM ANTIQUA / PAPIER: SCHEUFELEN, OBERLENNINGEN / ERSTE AUFLAGE 1000 EXEMPLARE, ISBN 3-922 660-10-X.