Jan T. Svatner
Das Abschiedsessen Roman
Erstes Kapitel
Fünf Jahre lang glaubte ich, die eleganteste Art Selbstmord z...
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Jan T. Svatner
Das Abschiedsessen Roman
Erstes Kapitel
Fünf Jahre lang glaubte ich, die eleganteste Art Selbstmord zu begehen, sei hemmungsloser Genuß. Ich frönte der Sünde der Völlerei. In dieser Zeit lebte ich allein und erhielt nur selten Besuch. Das Gerümpel neben der Einfahrt meines Hauses und der dschungelartig zugewachsene Vorgarten schreckten Gäste eher ab. Wer dem äußeren Eindruck widerstand und wagte, die Schwelle zu überschreiten, den erwartete eine Überraschung. Der spontane Ausruf “Mann, das riecht aber gut bei dir!” freute mich mehr als jedes noch so ausgefallene Mitbringsel. Wen der aromatische Duft exotischer Speisen in den Bann schlug, wurde blind für das Fehlen der Möbel in Flur und Wohnzimmer oder die Staubflusen in den Ecken. Ehe mein Gast Zeit fand, sich genauer umzuschauen, führte ich ihn in die Küche, den einzigen Raum des Hauses, der stets blitzblank und mit allem Luxus ausgestattet war. Ich lud den Ankömmling zu einem kleinen Spiel mit verbundenen Augen ein. Dazu ließ ich ihn an dem großen, überfüllten Tisch in der Mitte Platz nehmen und nach Herzenslust kosten. Die Aufgabe bestand natürlich darin herauszufinden, welches Gericht mein Gegenüber gerade auf der Gabel hatte. Angenommen, Sie wären am Vorabend jener entscheidenden Begebenheit, der dieser Bericht seine Entstehung verdankt, meine Besucherin oder mein Besucher gewesen. Zuerst hätten Sie den Duft registriert: ein milder, mehlig-buttriger Hintergrund, davor die kräftigere Note von Chili und Basilikum. Dann die Geschmacksprobe: Vorn rechts hätten Sie eine Mischung aus Kartoffeln, Butterschmalz, Hackfleisch und dicken Kidneybohnen gefunden in einer pikanten Gewürzmischung, der Quelle des Geruchs. Erraten Sie die Lösung? Backkartoffeln mit Chilifüllung. Sehr nahrhaft. Bei sechs gefüllten Knollen mittlerer Größe – was ein durchschnittlicher zweiter Gang ist – kommen Sie schon auf über tausend Kilokalorien purer Genuß. Eine Idee weiter links hinten wären Sie auf geröstetes Weißbrot mit einem dicken Aufstrich aus Schweinegeschnetzeltem gestoßen, in Butterschmalz angebraten, darin Zwiebeln, Champignons, Curry, Rahm, mit einem halben Pfirsich und gerösteten 2
Mandelsplittern garniert. Wußten Sie, daß Toastbrot drei Komma sieben Prozent mehr Fett enthält als normales Brot? Ich aß über zwei Jahren kein anderes mehr. Was schätzen Sie? Was ist der gehaltvollste Brotaufstrich - unter dem Gesichtspunkt der Energiezufuhr gesehen? Nuß-Nougat-Creme. Je dicker, desto besser. Auf den Plätzen zwei und drei liegen übrigens Leberwurst und Fleischsalat. Doch Süßes hat fast immer die Nase vorn. Und nun stellen Sie sich vor, Sie greifen mit immer noch verbundenen Augen nach rechts hinten und beißen in einen köstlichen Sandteig, leicht schwammig, mit sahniger Creme überzogen, dazwischen Früchte, kandiert, klein, dick und fleischig, das Ganze mit einem kräftigen Schuß Johannisbeerlikör getränkt. Nun? Meine persönliche Variante von Schwarzwälder Kirschtorte. Oder gleich daneben: trockener, leicht bitterer Kakaogeschmack, durchdrungen von der feuchten Kühle eines Mascarpone, gebettet auf Biskuits, von Rum und Marsala durchtränkt – Richtig! Sie spürten die sanfte Gaumenerotik eines Tiramisu. Nicht zu vergessen der Wein. Gestern hätten Sie einen fünfundneunziger Chablis testen dürfen. Ich habe keine Ahnung, ob das ein guter Jahrgang war. Dem Preis nach müßte er es gewesen sein. Damit haben Sie einen ersten Anhaltspunkt. Sie lesen die Aufzeichnungen eines Mannes, der gutes Essen und erlesene Getränke liebt. Und sich diesen Spaß etwas kosten läßt. Von meiner letzten Orgie war noch allerhand übrig, dennoch brutzelte im Backofen schon der Nachschub. Ich erwähnte schon, daß ich in der letzten Zeit nicht sehr oft Gelegenheit bekam, mein Gaumenparadies vorzuführen. Das hat mir aber die Freude am Schmoren, Blanchieren, Backen und Essen nicht genommen. Eher im Gegenteil. Das Aroma einer Blätterteigfüllung verliert dadurch, daß keine zweite Person es wahrnimmt, kein Jota an Qualität. An diesem Abend freilich hatte ich mit besondere Mühe gegeben. Ein Soufflé à la Wagner als Krönung meiner Laufbahn war im Entstehen, Höhepunkt und feierlicher Abschluß meiner mehrjährigen Selbstausbildung zum Maître de Cuisine. Diesmal würde ich nicht allein essen müssen. Monique hatte ihren Besuch angekündigt. Unsere letzte Begegnung, bevor sie endgültig über den großen Teich und aus meinem Leben verschwinden wollte. Ein Abschiedsessen und dann fort für immer? Ich war fest entschlossen, ihre Pläne zu durchkreuzen, zum ersten Mal in meinem Leben nicht nach ihrer Pfeife zu 3
tanzen. Einmal wenigstens wollte ich den Rhythmus vorgeben. Ich bereitete eine kleine Überraschung vor. Sie fing gerade an, in meiner Backröhre bei zweihundertzwanzig Grad vor sich hin zu brutzeln.
Als sie mit ihrer Mutter in unsere Straße zog, fehlten noch zwei Monate bis zu meinem siebten Geburtstag. Damals ging so ein Umzug eher unbemerkt über die Bühne. Irgendwann würde die Neue auf dem Spielplatz an der Ecke und im Kindergarten in der Nebenstraße auftauchen, sie würde ihren Namen nennen, die Jungs würden sie ein wenig hänseln und sie – je nachdem wie gelassen, wütend oder weinerlich sie reagierte – nach einer Weile in Ruhe lassen oder ihre Sticheleien in ein tägliches Ritual verwandeln. Diesmal gab es jedoch eine Besonderheit. Kaum war der Möbelwagen fort, nahm mich meine Mutter beiseite und flüsterte: “Daß ihr ja nett zu der Kleinen seid, du und deine Freunde.” Sie wußte genau, daß ich keine Freunde hatte. Lehrersohn, das sagt wohl alles. Bis zu diesem Tag nahm sie die Kinder der Nachbarn höchstens als Störfaktor zur Kenntnis. Die Jungs grinsten und schnitten Grimassen, wenn sie mich sahen. Anzurühren wagten sie mich nicht mehr, nachdem mein Vater Andy einmal erwischt hatte, wie er mich von der Schaukel stieß. Der schöne Andy, wie er überall genannt wurde wegen seines Lockenkopfs und der glutvollen dunklen Augen, verstand wie kein anderer die Kunst, kleine und große Untaten hinter einer Unschuldsmiene zu verbergen. Mein Vater, durch Tausende von Schülern abgehärtet, ließ sich davon nicht beeindrucken. Er lief sofort zu Andys Eltern, einfachen Leuten, Schlosser und Köchin, und redete ihnen auf eine Weise ins Gewissen, für die das Wort Einschüchterung eine harmlose Umschreibung darstellen dürfte. Ich weiß nicht genau, wie das Gespräch verlief, aber wenn er mit denen genauso redete wie mit mir ... Sobald mein Vater mich bei einer Sünde ertappte, trat sofort eine pädagogische Ernsthaftigkeit auf sein Gesicht, die ich mehr fürchtete als Ohrfeigen, Fernsehverbote und Stubenarrest. Nicht, daß er mich je angerührt hätte! Nicht mal ein Klaps auf den Hintern, nicht mal ein Stups in die Seite. Statt dessen äußerte er mit Trauer in der Stimme sein Mitgefühl, weil ich leider wieder einmal nicht imstande war, meinen Eltern Kummer zu ersparen. Ob es mir nicht lieber wäre, sie könnten stolz auf mich 4
sein? Hätten Sie im Alter von sechs Jahren darauf mit Nein geantwortet? Ich kam nicht auf die Idee. Nach meinem unausbleiblichen verschämt gehauchten Ja nickte er verständnisvoll und fing an, meinen Fall unter der Perspektive des größeren Weltganzen zu betrachten. Da konnte aus einer zertrümmerten Vase schon mal die vergebliche Mühe der Werktätigen werden, die sich gerade mit diesem Tongefäß bemüht hätten, in eine Lehrerfamilie etwas Freude an der Ästhetik von Blumen und gebrannter Tonerde zu bringen. Er sprach von dem Geld, daß meine armen Eltern erst einmal hätten verdienen müssen. Von meiner armen Mutter, die abends wenn ich schlafen durfte (durfte!), noch fleißig Aufgabenhefte lernunwilliger Schüler korrigierte. Nach etwa zehn Minuten dieser Gewissensprüfung empfand ich es wie eine Erlösung, mich mit einem vierzehntägigen Taschengeldentzug in mein Kinderzimmer zurückziehen zu dürfen. Meine Mutter hatte es unter diesen Voraussetzungen sehr einfach. Wollte ich mal nicht so wie sie, brauchte sie mich nur zu fragen, ob ich möchte, daß lieber mein Vater mit mir über dieses Problem unterhält. Ich bestand dann nicht länger auf meiner Meinung. Ich will meine Kindheit nicht schwarz malen. Sie hatte durchaus ihre erfreulichen Seiten. Zum Beispiel, wenn ich die Rolle des unbeteiligten Beobachters einnehmen durfte. Etwa, als zum ersten Mal meine Schwester Katrin Opfer der väterlicher Erziehungsmethodik wurde. Daß sie nach ihrem vierten Geburtstag als verständig genug galt für Appelle an ihre erwachende Vernunft, erfüllte mich mit einer gewissen Schadenfreude. Auf jede von Vaters Ermahnungen nickte sie ratlos in seine strengen Augen. Erst als er ihr für zwei Tage ihren Lieblingsteddy entzog, fing sie an zu heulen. Noch interessanter fand ich, daß die Eltern auch uns Kindern Rechte zugestanden. Das wichtigste war die Freiheit, sie jederzeit mit Fragen zu nerven. Äußerungen mit ansteigendem Tonfall zum Satzende hin galten ihnen als Zeichen von Wißbegier und erwachender Intelligenz. Deshalb reagierte ich auf den Appell meiner Mutter wegen der Neuen mit einem spontanen “Warum?” In ihrer Miene kämpften zwei Überzeugungen gegeneinander. Erstens: Man soll Kindern auf alle Fragen eine Antwort geben. Zweitens: Über manche Dinge soll man mit kleinen Kindern lieber nicht reden, um sie nicht zu ängstigen. Schließlich rang sie 5
sich zu einer halbherzigen Auskunft durch: “Wo sie herkommt, in Potsdam, da ist ein Kind aus ihrer Kindergartengruppe verunglückt. Sie mußte es mit ansehen, ohne helfen zu können.” Meine Neugier war geweckt. Dem nächsten “Warum?” kam meine Mutter mit einem Vortrag über die Gefahren von Spielplätzen, Straßen, Autos, Wassertümpeln, fremden Männern, Frauen, Katzen und Hunden zuvor. Ihre Hoffnung, daß ich währenddessen meine Frage vergessen würde, mochte ich aber nicht erfüllen. “Was ist mit dem Kind passiert?” “Es hat nicht auf seine Eltern gehört und ist verunglückt.” “Ist es tot?” “Was dieser Junge getan hat, war sehr ungezogen. Du wirst doch niemals versuchen, es nachzumachen, oder?” “Was nachmachen?” “Daß du das Mädchen niemals danach fragst, hörst du! Das tut man nicht.” “Warum?” “Das würde sie sehr traurig machen.”
In meiner Phantasie tummelten sich quietschende Lastkraftwagen über zerquetschten Kinderkörpern, angstverzerrte Gesichter, die sich vergeblich von außen an Balkonbrüstungen im fünften Stock klammerten, und kleine Mädchen mit grausigem Lächeln und blutverschmiertem Küchenmesser. Am Einzugstag hatte ich von der Neuen kaum mehr gesehen als ein paar blonde Zöpfe, die im Schatten des Hauseingang verschwanden. Ihre Mutter war eine hagere Frau mit Bubihaarschnitt, an deren Armen sich wie bei einem Mann die Muskeln unter der Haut abzeichneten. Ehrlich gesagt, die Möbelpacker mit ihren schweren Lasten hatten mich stärker beeindruckt. Am nächsten Tag, einem Samstag, waren die Spediteure verschwunden, doch die Neue mit den kurzen, abstehenden Zöpfen, blieb da. Und von wem, wenn nicht von ihr, sollte ich die Auskunft erhalten, die meine Mutter mir verweigerte? Das Wetter nahm meine Partei. Wir hatten Mitte April, aber draußen schien die Sonne warm von einem wolkenlosen Himmel. An einem solchen Tag fanden meine Eltern kein Argument, mir eine Stunde Freiheit auf dem Spielplatz neben unserem Wohnblock zu verweigern. Sie sahen es zwar lieber, wenn ich in ihrer unmittelbaren 6
Nähe aus Bauklötzern meterhohe Türme oder aus Teilen verschiedener Stabilbaukästen kranähnliche Gebilde konstruierte. Ein bißchen Luft tut dem Jungen ganz gut, meinte mein Vater schließlich, als um elf immer noch kein Wölkchen am Horizont auftauchte, und ließ mich unter prophylaktisch strafendem Blick ziehen. Sie war schon da und turnte an der Wäschestange. Unter ihr standen Andy und Joe. Eigentlich hießen sie Andreas und Johannes, aber niemand nannte sie so. Nicht mal ihre Eltern. Warum sie ihnen dann nicht gleich die Namen gegeben hatten, mit denen sie sie riefen, blieb mir schleierhaft. Ich zum Beispiel hieß Manfred und so redeten mich meine Eltern auch an. Höchstens im Kindergarten rief mal jemand Manne, aber eher aus Jux. Ansonsten hatte ich dort noch einen häßlichen Spitznamen wegen meines Untergewichts (“Mucki” – scheußlich, nicht wahr?), aber ich achtete sorgfältig darauf, daß zu Hause niemand davon erfuhr. Der schöne Andy ging schon in die zweite Klasse, Joe in die erste. Wie üblich nahmen sie von mir keine Notiz. Diesmal galt all ihre Aufmerksamkeit der Göre, die fröhlich mit einem Bein über der Querstange hing und ihre Zöpfe nach unten baumeln ließ. Ihr Röckchen wehte ihr um die Nase und ein buntbedruckter Baumwollschlüpfer glänzte in der Sonne. Ungeniert summte sie vor sich hin, als die beiden Jungs sie grinsend musterten. “Mein Alter sagt, wir sollen uns vor dir in acht nehmen”, rief Joe gerade die Wäschestange hinauf, als ich um die Ecke kam. “Warum tust du es dann nicht?” trällerte sie. “Du siehst gar nicht gefährlich aus.” “Wie heißt du, Schlaumeier?” rief sie, ihren Körper nach oben schwenkend. “Joe. Mich kennt hier jeder.” “Wenn du Joe heißt, bin ich Marilyn.” Ich verstand die Anspielung nicht. Weder von Marilyn Monroe noch von Joe DiMaggio hatte ich je etwas gehört. “Eins zu null”, grinste Andy. “Weiber”, sagte Joe verächtlich. Er trat einen Schritt zurück, um sie ohne Genickstarre mustern zu können: “Was ist nun mit dem Jungen, den du ertränkt haben sollst?” Ich hielt den Atem an. Zu meiner Überraschung lachte sie. “Will einer von euch auch mal mit mir Schlittschuh fahren?” 7
“Jetzt im Frühling?” fragte Andy. “Wie wär’s mit Schwimmen?” Andy hatte letzten Sommer am Meer eines Schwimmkurs besucht, mit dem er seit Monaten prahlte. “Kein Problem”, entgegnete sie prompt. “Falls du dich bei vierzehn Grad ins Wasser traust.” Joe wandte sich zum Gehen. “Komm, die hat doch einen an der Waffel.” “Nein warte.” Andy hielt ihn am Arm fest. “Kannst du überhaupt schwimmen?” fragte er nach oben. “Wie wär’s mit einem Wettschwimmen? Hier soll es doch einen Kiessee geben.” Den gab es tatsächlich, jenseits der Ausfallstraße. Dort traf sich an warmen Tagen die halbe Nachbarschaft. Im letzten Jahr war ich zweimal mit meinen Eltern dort, die mich ein wenig am Rand planschen ließen. “Morgen um neun, okay?” fragte sie. “Gib nicht so an. Deine Mutter läßt dich doch überhaupt nicht fort. Wo ist eigentlich dein Vater?” Statt einer Antwort drehte sie sich zu mir. “Wer bist’n du?” “Das ist das Lehrersöhnchen Manfred Rotzlöffel”, stellte Andy mich vor. “Komm dem nicht zu nah, du kriegst es gleich mit seinem Alten zu tun. Außerdem kann der weder schwimmen noch Schlittschuh fahren.” “Dich hat auch noch keiner schwimmen sehen.” Die Anwesenheit der Neuen machte mich tapfer. “Paß auf, du ... Der kann nicht mal Fahrrad fahren.” “Ehrlich?” fragte das Mädchen neugierig. Ich senkte den Kopf. Wie sollte ich ihr erklären, daß meine Eltern solche Fähigkeiten in meinem Alter für überflüssig, ja gefährlich hielten. Außerdem trügen sie nichts zur Förderung der Intelligenz bei. Statt dessen trainierten sie Schach mit mir. Jeden Sonntag nachmittag spielte mein Vater mit mir zwei Partien, bei denen er mich innerhalb von fünfzehn Zügen fertig machte und mir anschließend ausführlich die Gründe meines Versagens erklärte. Wenn ich schon mit Paukern als Eltern geschlagen war, konnte nicht wenigstens ein Sportlehrer dabei sein? Mein Vater traktierte von Berufs wegen Elf- bis Vierzehnjährige mit Mathe und Physik. In der Zehnten gab er außerdem noch Astronomie. Ich fürchtete bereits den Abend, der nach diesem Sonnentag garantiert wolkenfrei enden würde. Da hieß es dann 8
wieder: auf dem Balkon Sterne beobachten. Und wehe, ich verwechselte Deneb mit Atair oder gar die Venus mit einem Fixstern! Meine Mutter unterrichtete Biologie und Erdkunde, das war auch nicht besser. Was interessierten mich die Unterschiede zwischen Korb- und Lippenblütlern? Wieso mußte ich mir merken, warum der Kiessee ein Kiessee war, und kein Überbleibsel der letzten Eiszeit wie der Liebnitzsee im Norden? Statt eines Fahrrades schenkten sie mir zum sechsten Geburtstag Sternkarten und ein Quartettkartenspiel mit dreiunddreißig Pilzarten. Der tödlich giftige Pantherpilz war der Schwarze Peter. Ich ahnte nicht, daß sich diese Kenntnisse tatsächlich noch einmal als nützlich erweisen würden. “Hast du ein Fahrrad?” erkundigte das Mädchen sich prompt. Ich schüttelte den Kopf. “Macht nichts. Wir können meines nehmen. Ich bringe es dir bei.” Sie sprang mit einem Satz von der Stange und gab mir die Hand. “Ich bin Monika.”
Solange ich denken kann, habe ich meine Eltern als wohlbeleibt in Erinnerung. Höflich ausgedrückt. Wenn Sie aber vermuten, daß ich von ihnen meine Vorliebe für die Kochkunst geerbt hätte, sind Sie auf dem Holzweg. Unsere Mittagsmahlzeiten bestanden aus Eisbein, Schweinsgulasch oder Hefeknödel mit Pflaumen, unsere Cremetorten kamen vom Bäcker. Simple Hausmannskost. Eine ordentliche Mahlzeit mußte nahrhaft, reichlich und gut gewürzt sein. Und es durfte nichts übrig bleiben. Sie spachtelten wie die Weltmeister. Mein Vater blieb trotz seines Gewichtes sehr agil, weil er während des Studiums Gewichte gestemmt hatte. Er hatte den Sport wegen einer Verletzung aufgegeben. Meine Mutter stöhnte bereits, wenn sie vier Treppen nach oben steigen mußte. Wenn ich mir überlege, daß sie damals gerade dreißig Jahre alt war! Sie gab sich stets abgekämpft und müde. Mein Vater dagegen wirkte dynamisch und furchteinflößend, wenn er seine stämmige Figur durch den Raum schwenkte. Daß er in Schule keine Disziplinprobleme kannte, glaubte ich aufs Wort. Beide bemühten sich, aus mir einen guten Esser zu machen. Die Mahlzeiten waren das einzige Gebiet, auf dem ich mich ihrer Erziehung erfolgreich widersetzte. Schon als Säugling soll ich mäkelig gewesen sein. Nicht so extrem, daß die Ärzte besorgt gewesen wären, aber doch so, daß meine hervorstehenden Rippen meiner Mutter schlaflose Nächte bereiteten. Wenn sie mehr in mich hineinstopfen wollte, als 9
ich mochte, schloß ich einfach fest den Mund. Kein Zureden, kein Drücken beider Finger zwischen die Kiefern konnte meinen passiven Widerstand erschüttern. Zwangen sie meine Zähne mit Gewaltanwendung auseinander und stopften Nahrung in die entstandene Höhle, ließ ich sie, sobald sie losließen, bei geöffnetem Mund wieder herausfallen. Auf das verlogene “Ein Löffel für die Oma” reagierte ich mit Kopfschütteln. Konnte die Oma ihren Brei nicht selber essen? Noch bevor ich fünf wurde, nahm mein Vater das Problem in bewährter Manier in Angriff. Daß ich meinen Eltern Freude bereiten wollte, gab ich noch zu. Doch den Schritt zum Weltganzen ging ich nicht mit. Den Hinweis auf die fleißigen Bauern konterte ich mit dem Gegenfrage, warum sie nicht einfach weniger arbeiteten. Beim Vergleich meiner beneidenswerten Lage mit den hungernden Kindern in Algerien (später wahlweise in Vietnam oder Afrika) bot ich an, die Reste per Paket in den armen Länder zu schicken. Als ich sogar vorschlug, von dem Geld der gesparten Lebensmitteleinkäufe Paketschnur und Packpapier zu kaufen und selbst die Überbleibsel zu verpacken, erlebte ich ihn zum ersten Mal sprachlos. “Du bereitest uns sehr viel Kummer, mein Sohn” beendete er nach zehn Sekunden nachdenklichen Schweigens das Gespräch. Psychoterror wie Strafsitzen vor dem Teller, bis alles aufgegessen ist, lehnte er als Pädagoge zum meinem Glück strickt ab. Er probierte es mit dem Entzug von Bausteinen und Sterntafeln. Ich war froh, die Dinger eine Weile los zu sein. Schließlich, als er merkte, daß er auf anderen Gebieten mit seiner Pädagogik bei mir erfolgreicher war, fand er sich damit ab, daß ich dünn blieb. Wenn es um kaputte Vasen oder unaufgeräumte Zimmer ging, war es nicht schwer, mir ein Schuldgefühl einzureden. Aus dem Kindergarten wußte ich, daß für solche Vergehen alle Kinder bestraft werden. Nicht aber fürs Zuwenigessen. Die Eltern der anderen Kinder waren alle schlanker als meine. So verliefen die Mahlzeiten immer in der gleichen Manier. Sie schaufelten, und ich schaute zu. Auch meine Schwester Katrin mampfte mit vollen Backen und wurde zusehends runder. Bekannte riefen bei ihrem Anblick entzückt: “Ganz die Mutter!” Zu mir sagte keiner so was. Ich stocherte in meinem Essen und langweilte mich. “War der fremde Junge beim Schlittschuhlaufen ins Eis eingebrochen und ertrunken?” versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen. 10
“Wie lautet der Spruch?” rief mein Vater böse. “Beim Essen muß man stille sein, sonst geht nichts in den Mund hinein.” “Na also!” Nahrungsaufnahme stand in ihrer Wertehierarchie über der Förderung kindlicher Wißbegier. Aber der Keim für eine Aussprache war gelegt. Ich sah es an ihren Blicken. An der Eile, mit der sie mich und meine Schwester ins Bett scheuchten. Kein Sternenhimmel heute, dem Himmel sei Dank. Ein hastig vorgelesenes Dornröschen – bekanntlich eines der kürzesten Märchen der Gebrüder Grimm – und dann Gute Nacht. Sie wollten für sich sein! Ich mußte nur noch nach dem Schlafengehen meinen Lauschplatz in der hinteren Ecke des Kinderzimmers einnehmen. Ich lag im Doppelstockbett oben, direkt neben einem Loch zum Wohnzimmer, wo frühere Mieter ein Antennen- oder Lautsprecherkabel durchgezogen hatten. Es war von Tapete verdeckt, ließ aber alles durch, was nebenan gesprochen wurde. Ich preßte mein Ohr gegen die Wand. “Was machst du da?” rief meine kleine Schwester von unten. “Das werde ich Papa sagen.” Ich stopfte ihr den Mund mit einem Bonbon aus meinen aufgesparten Vorräten vom letzten Besuch unserer Großeltern. Sofort zog Ruhe ein, und ich konnte deutlich die Stimme meiner Mutter vernehmen. “Unmöglich”, sagte sie. “Die Kleine war erst fünfeinhalb. Der Bengel war zehn.” “Ein Gerücht entsteht nie ganz grundlos. Wenn es heißt, sie hätte ihn hinausgestoßen, so daß er auf das Eisloch zuschlitterte ...” “Wenn niemand anderes dabei war ...” “Eben. Es heißt, sie hätte solange am Ufer gewartet, bis der Junge aufgehört hat zu schreien. Erst dann rief sie um Hilfe.” “Pfui. Das alles hat Bertrand dir erzählt?” Bertrand war ein Freund meines Vaters aus frühester Jugend, nach dessen Besuchen die Wohnung regelmäßig nach Zigarren stank. Wenn er kam – nie vor abends um zehn – lag ich immer schon im Bett. Einmal war ich von dem dröhnende Gelächter des Fremden wach geworden und hatte unter dem Vorwand, auf Toilette zu müssen, einen Blick riskiert. Bertrand war ein kleiner, dicklicher Zwerg mit überdimensionaler Hornbrille, unterrichtete die gleichen Fächer wie mein Vater und wohnte irgendwo im 11
Süden Berlins. “Die Mutter ist eine Mittelstreckentrainerin”, ließ sich mein Vater vernehmen, “die kennt da unten jeder. Was meinst du, warum die hierher gezogen ist, wo sie anderthalb Stunden Anfahrtsweg zu ihrem Sportzentrum hat?” Hatte Monika ein Glück! Eine Sportlerin als Mutter! “Es wäre nicht die erste Schauergeschichte, die dein Bertrand sich ausgedacht hat.” “Willst du es darauf ankommen lassen?” “Du mußt den Kindern eine plausible Begründung geben, wenn du ihren Umgang mit ihr unterbinden willst.” “Du könntest dir auch mal was einfallen lassen.” Sie wollten verhindern, daß ich Fahrrad fahren lernte! Ich hörte schon meinen Vater die übliche Frage stellen, ob ich meine Eltern nicht stolz auf mich sein sollten, und war diesmal fest entschlossen, mit Nein zu antworten. Ich fürchtete freilich, daß mich im entscheidenden Moment die Courage im Stich lassen könnte. Eine leise Hoffnung blieb mir noch: daß meine Mutter am Ende einen Dreh finden würde, der ein Verbot vermied, auf die Befürchtungen des Hausherrn Rücksicht nahm und ihrem Harmoniebedürfnis Rechnung trug. Sie fand eigentlich immer einen Dreh. Ein Grundsatz unseres Familienlebens lautete, daß alle gleiche Rechte und Pflichten haben sollten. Der führte zu so unerfreulichen Schlußfolgerungen wie: Vati räumt das Arbeitszimmer auf, Mutti räumt die Küche auf, also wird Manfred das Kinderzimmer aufräumen. “Und Katrin?” rief ich dann. “Die geht solange auf Töpfchen.” Verstehen Sie nun, daß mein Gerechtigkeitssinn durch frühkindliche Schädigungen beeinträchtigt ist? Lichtblicke gab es, sobald meine Eltern anfingen, untereinander um die Auslegung ihres Grundsatzes zu streiten. Mein Vater verlangte, alle Minuten und Stunden, die er als Fahrer hinter dem Lenkrad unseres Familiengefährts verbrachte, auf seinen Anteil Hausarbeit aufzurechnen. Einschließlich der Fahrzeiten von und zur Schule. Er fuhr sie und sich jeden Morgen hin und am Nachmittag zurück. Meine Mutter bot an, ihrerseits die Fahrprüfung zu absolvieren, was mein Vater als überflüssig 12
ablehnte. Bis sie – Sie ahnen es schon – einen Dreh fand. Eines Tages fuhr sie demonstrativ mit ihrem Fahrrad zur Schule und drehte den Kopf weg, als er aus dem Autofenster heraus an ihre Vernunft appellierte. Kurz darauf hatte er freiwillig den Abwasch übernommen. “Bis der Junge zur Schule kommt, Dann kann er das machen”, .fügte er einschränkend hinzu. Ich hatte ihm vorläufig einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bei der schulärztlichen Untersuchung hatte ich nur 16 Kilo auf die Waage gebracht. Mein Einschulung wurde um ein Jahr verschoben. “Unser Mucki bleibt noch ein Jahr bei uns!” jubelten die Tanten im Kindergarten. Wenn mir heute Kindheitsfotos in die Hände fallen, kann ich nicht leugnen, daß mein Spitzname mein Aussehen korrekt widerspiegelte. Damals haßte ich ihn wie die Pest. Ich verspürte keine Sehnsucht nach der Schule. Auch noch von Montag bis Samstag ganztägig unter dem Kommando meiner Eltern stehen, nein danke. Insgeheim jubelte ich, daß der Abwasch meinem Vater noch ein Jahr erhalten blieb. Als ich mit meinen Überlegungen an dieser Stelle angekommen war, muß ich eingeschlafen sein. Das nächste, woran ich mich erinnerte, war ein heller Sonnenstrahl und der Anblick meiner tief schlummernden Schwester, mit einem halb aufgelutschten Bonbon im verklebten Haar.
Beim Frühstück gab es heißen Kakao, auf dem dicke weiße Milchhaut schwamm. Dazu aufgebackene Brötchen, innen gummiartig mehlig, außen mit schwarzen Streifen verziert – Folge der halbherzigen Bemühungen meiner Mutter, die verbrannte Kruste mit einem Messer zu entfernen. Ich schob die Tasse so weit wie möglich von mir und knabberte tapfer an der genießbareren Brötchenhälfte. Als die Tortur überstanden war, fragte ich, ob ich draußen spielen dürfte. “Eine Stunde”, antwortete mein Vater. “Wenn du deine Schwester mitnimmst und auf sie aufpaßt.” Ich blickte ungläubig von ihm zu meiner Mutter. War ihr nichts Genialeres eingefallen? Ich als Aufpasser meiner Schwester! Das hatten wir doch schon ein Dutzend Mal durch. Das kleine Dickerchen würde sich über und über mit Sand einschmieren, irgendwann seinen Kopf am Klettergerüst stoßen und heulend nach oben 13
laufen. Die verbleibende Zeit würde kaum ausreichen, um meiner neuen Freundin Guten Tag zu sagen. In meiner kindlichen Einfalt konnte ich mir nicht vorstellen, wie vorausschauend und raffiniert sich der Einfall meiner Mutter noch erweisen sollte. Monika erwartetet mich schon neben ihrem hellblauen Kinderfahrrad. Sie runzelte unzufrieden die Stirn, als sie sah, daß ich meine Schwester dabei hatte. Ich schob sie auf die Schaukel und eilte zu ihr. “Es ist wie Roller fahren, bloß ohne ein Bein auf dem Boden. Steig auf und fahre, ich halte dich.” Sie wollte mich halten? Mit ihren noch nicht einmal sechs Jahren? Ich war zwar ein Leichtgewicht ... Doch zunächst galt es ein anderes Problem zu lösen. Als ich meine Hände auf das Lenkrad legte, entdeckte ich plötzlich zwei weitere kleine Hände neben mir. Meine Schwester Katrin versuchte mich zur Seite zu drängen. Ich suchte in meiner Hosentasche vergeblich nach einem Bonbon. Monika sprach sie an. “Du möchtest Fahrrad fahren lernen?” Katrin nickte eifrig. “Dein Bruder soll es nicht lernen?” Sie nickte eifriger. “Auf meinem Fahrrad? Hast du mich denn schon gefragt, ob du darfst?” Sie sah Monika verblüfft an und schüttelte dann unmerklich den Kopf. “Siehst du. Du mußt deinen Bruder fragen, ob er es dir beibringt.” Meine Schwester drehte tatsächlich ihren Kopf zu mir und sah mich fragend an. “Ich kann nicht Fahrrad fahren”, sagte ich. Jetzt war Katrin ratlos. Das ging über ihren vierjährigen Verstand. Sie ließ den Lenker los, versperrte uns aber weiter den Weg. “Du mußt zuschauen, bis dein Bruder es gelernt hat”, erklärte Monika. “Dann kann er es dir zeigen und dich festhalten, wenn du auf dem Fahrrad übst.” Zu meiner Verblüffung ging Katrin zur Seite, setzte sich auf den Rand des Sandkastens und schaute erwartungsvoll zu. Daß ich nicht länger brauchte zum Lernen als andere Kinder, hat wohl damit zu 14
tun, daß ich meine Angst auf dem wackligen Gefährt mit aller Macht unterdrückte. Vor meinen Eltern hätte ich mich gehen lassen, aber vor Monika wollte ich tapfer wirken. Ich biß mir auf die Zunge, wenn das Fahrrad ins Wanken geriet. Ich staunte nicht schlecht, daß sie mich tatsächlich in der Balance hielt. Daß ihre Mutter jeden Tag mit ihr Kraft und Gelenkigkeit trainierte, erfuhr ich erst viel später. Am Ende des Vormittags gelang es mir zu meiner eigenen Verblüffung, die Strecke von einer Haustür zur anderen allein zurückzulegen und am Ende abzuspringen, bevor ich umstürzte. Zwischendurch kam Katrin noch einmal angelaufen und legte wieder ihre Hände aufs Lenkrad. “Jetzt ich!” “Dein Bruder kann es noch nicht. Du mußt noch warten”, antwortete Monika. Als meine Schwester zum Spielplatz zurücktrottete, fragte ich: “Soll ich wirklich das dicke Ding da auf einem Fahrrad festhalten?” “Das ist dein Problem.” Das klang nach “Du hast dir deine Schwester aufhalsen lassen, nun sieh zu, wie du sie wieder los wirst”. An diesem Tag glaubte ich noch, sie brächte mir das Fahren aus lauter Gutherzigkeit bei. Wenn ich geahnt hätte, was sie mit mir vorhatte! Nach einer Woche, als ich mehrfach und einigermaßen sicher ums Karree gefahren war, sagte sie: “Sprich mit deinen Eltern, sie sollen dir ein eigenes Fahrrad kaufen. Wir machen nächsten Sonntag eine kleine Radtour.” Da kannte sie meine Eltern aber schlecht. Solange ich noch kein Schulkind war, gab es weder ein Fahrrad für mich noch die Erlaubnis, mich allein von zu Haus zu entfernen. Und dann noch mit ihr. “Ich renne die ganzen Tage mit der Hand am Sattel hinter dir her, und da willst du mir einen klitzekleinen Gefallen verweigern?” Ich fing an, ihr unsere häuslichen Sitten zu erklären. Sie schnitt mir das Wort ab. “Wenn dich deine Alten nicht fahren lassen, wieso hast du es dir dann vor mir beibringen lassen?” Auf dieses ungewöhnliche Argument fiel mir keine intelligente Antwort ein. “Also schön, ich werde ein zweites Fahrrad besorgen. Du mußt aber nächsten 15
Sonntag nachmittag bereit sein.” Wir einigten uns schließlich, daß sie noch jemanden verpflichten werde, der in dieser Zeit meine Schwester beschäftigte, und zwar so, daß sie nicht zwischendurch nach oben lief und meine Eltern alarmierte. Sie hatten in den letzten Tagen etwas Vertrauen gefaßt, weil ich täglich mit meiner Schwester allein draußen spielen war, und wir beide anschließend unverletzt und unzerstritten zurückkehrten. Meine Mutter verzichtete mittlerweile sogar darauf, alle fünf Minuten nach unten zu eilen, um uns zu kontrollieren. Ich konnte nur hoffen, daß es am Sonntag genauso laufen würde. Im letzten Moment hätte ich am liebsten alles abgeblasen. Der Babysitter, den sie mir präsentierte, als wir uns wie verabredet um halb vier trafen, war Andy. Er hielt Monika sein Fahrrad hin. “Aber nur du darfst darauf fahren”, sagte er zu ihr. “Der Spinner da”, er zeigte auf mich, “würde es nur kaputt machen.” “Schon gut, er kriegt meins”, antwortete sie. “Andy soll auf Katrin aufpassen?” fragte ich ungläubig. “Was dagegen, Alter?” Andy wies auf die Hauswand, wo ein kleines Kinderfahrrad mit Stützrädern stand. “Sie kann sich darauf austoben. Wenn ich dabei bin, wird sie keiner anrühren, klar?” Zu Monika sagte er: “Du erinnerst dich, was du versprochen hast?” Sie nickte. “Wenn alles klappt.” Ich traute mich nicht zu fragen, für welche Gegenleistung sie Andy zu dieser unmännlichen Dienstleistung verpflichtet hatte. Wir stiegen auf unsere Drahtesel und fuhren los. Zum ersten Mal entfernte ich mich ohne meine Eltern von unserem Wohnblock. Wir kamen an fremden Häusern, Gärten und einem Park vorbei, in dem ein kleiner Springbrunnen rauschte. Dicht neben mir sprang plötzlich ein riesiger Dobermann kläffend an einem Gitter empor und schob seine gefletschten Zähne über den Zaun. Der Schreck warf mich vom Fahrrad. Die einzige Gefahr, an die ich bis zu diesem Augenblick gedacht hatte, war mein Vater. Daß er meinem Abenteuer im letzten Moment mit einem Familienausflug in die Quere kommen könnte. Wenn ich erst mal weg bin, hatte ich mir überlegt, kann er mich höchstens hinterher bestrafen und mir wie üblich ins Gewissen reden. Doch jetzt – wir waren gerade mal zwei Minuten unterwegs, und ich hatte nicht die geringste Idee, wo wir uns befanden – wurde mir 16
mulmig. Beim Anblick der unbekannten Leute und Häuser überkam mich eine große Verlassenheit. Stieg mir ein Schluchzen in die Kehle? Sämtliche Warnungen meiner Eltern vor den bösen Fremden, die auf kleine Jungs lauern, um mit ihnen etwas nicht genau Definiertes, aber auf jeden Fall Fürchterliches anzustellen, schwirrten auf einmal durch meine Erinnerung. Zugegeben, Monika war bei mir, und sie fuhr zielstrebig weiter, als wohnte sie hier schon seit Jahren. Wir fuhren auf Bürgersteigen und schoben die Räder vorsichtig über die Kreuzungen. Von den Spaziergängern beachtete uns niemand. Trotzdem fiel es mir immer schwerer, mich mutig zu fühlen. “Wir fahren zu meinem Vater”, erklärte sie. “Du hast einen Vater?” Sie grinste. “Natürlich, jeder hat einen, was dachtest du denn? Ich habe ihn früher schon ein paar Mal in seinem neuen Haus besucht. Er hat mich von Potsdam immer mit seinem Auto abgeholt. Ich habe die Gegend gleich wieder erkannt, als wir eingezogen sind. Bei den Fahrradtouren mit meiner Mutter in den ersten Tagen hat sie aber sein Viertel sorgfältig vermieden. Ich weiß schon, warum” “Darfst du ihn nicht mehr sehen?” “Klar darf ich. Gestern war ich da.” “Warum fahren wir dann heute heimlich hin? Und wieso soll ich mit? Und was hast du Andy versprochen, damit er auf meine Schwester aufpaßt?” “Mann, frag nicht soviel. Du wirst schon sehen. Ich brauche jemanden, der für mich Schmiere steht. Ich will etwas herausfinden.” Mehr war vorläufig aus ihr nicht herauszubekommen. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen. Wir überquerten eine stark befahrene Hauptstraße an einer Ampel und gelangten in eine Gartensiedlung mit vielen Einfamilienhäusern. Wir kreuzten eine Schotterstraße und radelten auf einem Sandweg weiter. Plötzlich bremste sie. “Wir sind da.” Links breitete sich eine Wiese aus, rechts blickten wir auf die Rückfront mehrerer Grundstücke. Wir lehnten unsere Räder gegen einen ziemlich morschen Bretterzaun, den eine dichte Brombeerhecke vor dem Umfallen bewahrte. Dahinter erblickte ich, halb verdeckt von einem mächtigen Nußbaum, die Hofseite eines schmucklosen Einfamilienhaus mit ziemlich großen Fenstern, die einen neuen Anstrich vertragen konnten. Monika hielt mir ihr linkes Handgelenk hin. 17
“Wie spät ist es?” Ich blickte auf eine Uhr mit blauem Plastikarmband. Endlich etwas, womit ich mich auskannte. “Zehn Minuten vor um vier.” “Ah gut. Ich hoffe, sie war pünktlich.” “Wer denn?” “Paß auf. Da vorne ist ein halb eingeknicktes Brett im Zaun, da gehe ich jetzt ‘rüber. Wenn ich ‘reingehe, wird sein Hund angebellt kommen. Das ist Steffi, ein Dackelweibchen. Du mußt sie die ganze Zeit streicheln, damit sie ruhig wird.” Ich schüttelte energisch den Kopf. Wenn ich vor etwas eine Heidenangst hatte, so waren das Hunde ohne Leine, Maulkorb oder Gitter. “Stell dich nicht so an! Steffi hat noch nie jemanden gebissen. Sie schnüffelt ein bißchen, um dich kennenzulernen, und dann kannst du sie unbesorgt anfassen.” “Aber warum ...” “Wenn sie weiter bellt, merkt mein Vater, daß jemand auf dem Grundstück ist. Also, ich bleibe fünf Minuten, vielleicht auch zehn. Wenn es länger dauert, komme ich zwischendurch und sage Bescheid.” “Und wenn jemand kommt?” “Hier? Wenn es ein Spaziergänger ist, der weiter geht, machst du gar nichts. Wenn er stehenbleibt und guckt, machst du Miau wie eine Katze. Ich geh dann vorne ‘raus und komme über die Straße zurück.” “Willst du mir nicht endlich sagen, weshalb ...” “Was meinst du, warum ich dich mitgenommen habe und nicht Andy oder einen anderen Spinner?” Ich ahnte es. Und wünschte mir im selben Moment, ich hätte nicht gefragt. Wer möchte schon als gutmütiger Trottel gelobt werden? “Also mach keinen Streß. Ich erzähle dir alles auf dem Rückweg.” Kaum hatte sie ein Bein durch Zaun geschoben, fing die Bellerei an. Der Dackel – die Dackelin – steckte seine Schnauze durch den Zaun. Ich hielt vorsichtig meine Hand hin, weit genug entfernt, daß er nicht zubeißen konnte. Während Monika aus meinem Blickfeld verschwand, strich ich vorsichtig über den Rücken der Hündin. Sie 18
ließ sich das tatsächlich gefallen. Ich streichelte, bis mir das Handgelenk weh tat. Das Dackelmädchen grunzte wohlig. Da hatte ich wohl eine Freundin gewonnen, aber die, an der mir lag, blieb unangenehm lange verschwunden. “Monika?” fragte ich nach einer Weile leise über den Zaun. Nichts. Nur das Säuseln des Windes im Brombeergebüsch. So einsam hatte ich mich noch nie gefühlt. Ich spähte halb aufgerichtet über den Zaun, die Fingerspitzen der rechten Hand weiter auf dem Hunderücken, um ein Loskläffen zu verhindern. Keine Spur von ihr. Das Grundstück lag wie ausgestorben. Wenn sie nicht wiederkam ... ich würde nie mehr den Weg nach Hause finden. Meine Eltern hatten mir meinen Straßennamen und die Hausnummer eingebleut, aber was sollte ich hier in der Einsamkeit mit diesem Wissen anfangen? Was suchte ich hier? Ein kleiner verlassener Junge, der von zu Hause ausgerissen war? Gerade wollte ich anfangen zu heulen, da entdeckte ich sie auf dem Dach. Genauer gesagt, ihr Hinterteil, das an der rechten Ecke hervorschaute. Ich ließ den Hund los und rannte den Weg entlang, um zu sehen, was sie da oben tat. Zum Glück lief der Dackel innen mit ohne zu bellen. Monika hockte über der Dachrinne und spähte durch ein Mansardenfenster. Sie grinste! Ich winkte aufgeregt mit den Armen, aber sie schenkte mir nicht die geringste Beachtung. Was gab es da zu glotzen! Wenn sie abstürzte! Ein leises “Wuff” erinnerte mich an meine Pflichten. Ich steckte die Hand durch das Gesträuch und kraulte den Hund weiter. Vor und zurück, vor und zurück wie eine Streichelmaschine... Ich hatte genug. Ich empfand sogar Sehnsucht nach meinen Eltern! Plötzlich stand Monika wieder neben mir. “Sagenhaft!” sagte sie. “Ich hatte es nicht geglaubt.” “Können wir jetzt zurückfahren?” “Interessiert dich denn gar nicht, was ich gesehen habe? Weswegen wir hier waren? Meine Mutter sagte mir, Papa wäre deswegen bei uns ausgezogen, und ich habe ihr nicht geglaubt. aber es stimmt!” “Ich will nach Hause!” “Das mußt du dir ansehen! Als ich ihn erblickt habe, wie er ... Igittigitt! Ehrlich, die Erwachsenen spinnen. Das kann man nicht beschreiben!” 19
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte weg. “Du verpaßt was, ehrlich!” Es sei ganz leicht. Ich müsse nur um das Haus herumgehen. Neben dem Eingang stände eine Leiter, damit käme ich auf das Vordach und von dort brauche ich nur die Dachrinne entlang ... “Nun geh schon! Ich steh Schmiere.” Schon damals konnte ich ihr nichts abschlagen. Sie hatte so eine Art, mir in die Augen zu sehen ... Ich schlich also über den Zaun, am Nußbaum vorbei um das Haus und die Leiter hinauf. Das war ja leichter als auf Bäume klettern, dachte ich – bis ich zufällig einen Blick nach unten warf. War das hoch! Und jetzt noch über das Dach, wo zwischen mir und dem Erdboden nichts weiter war als jede Menge dünne Luft. Zentimeterweise schob ich mich nach links, die Hände an den Rändern der Dachziegel festgeklammert und bemüht, keinen Blick mehr nach unten zu riskieren. Als ich das Dachfenster erreichte, kam es mir vor, als seien Stunden vergangen. Ich blickte in einen schrägen Raum, der vom Licht des gegenüberliegenden Fensters erhellt wurde. Zuerst fiel mir auf, daß das Zimmer keine Möbel enthielt. Statt dessen lagen überall Matratzen auf dem Boden. darauf verstreut Kissen und Decken. Als zweites erblickte ich die Spiegel. Die ganze Wand war mit reflektierendem Glas verkleidet, sogar die Zimmerdecke. Und in diesen Spiegeln bewegte sich etwas hellbraun Glänzendes. Meine Augen wanderten zurück auf den Boden und entdeckten auf dem Boden hinter einem Deckenberg einen nackten Rücken und Hintern, dessen Schweißperlen im Licht glitzerten, in einem ständigen Auf und Ab. An jeder Seite des Rückens ein Knie, aber irgendwie verkehrt herum. Ich wunderte mich einige Sekunden, ehe ich kapierte, daß die Beine wohl zu einer zweiten Person gehören mußten. Um mehr Einzelheiten zu erkennen, kroch ich weiter, bis ich direkt vor dem Fenster hockte. Hatten die Leute da drin keine Gesichter? Ich preßte meine Nase gegen die Scheibe. In diesem Moment rief die Stimme meines Vaters von unten in scharfem Ton: “Manfred! Komm da sofort ‘runter!” Aus den Decken im Zimmer sprangen zwei verschwitzte Köpfe nach oben, ein verhblüfftes Männergesicht und der Kopf einer jungen Frau mit erschrockenen Augen. Ich äugte hinab und erblickte tief unter mir vor dem Tor unser Auto und daneben meinen Vater, meine Mutter, die Mutter von Monika sowie Katrin und Andy. Die 20
Erwachsenen guckten zornig, meine Schwester und Andy grinsten. Meine Füße rutschten ab, so sehr erschrak ich, doch zum Glück hielten meine Hände den Fensterrahmen umklammert. Ich wendete meinen Kopf nach links. Meine Augen suchten Monika. Die Fahrräder standen noch an der Rückseite, aber sie selbst war verschwunden.
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Zweites Kapitel
Wäre meine Mutter eine bessere Köchin gewesen, hätte ich nicht erst vierzig werden müssen, um einzusehen: Ein gutes Essen ist das halbe Leben. Alles andere sind nur Nebenschauplätze des Daseins. Gepflegte Gespräche mit guten Freunden? Dazu benötigen Sie Kumpels, die auch dann für sie dazu sind, wenn Sie sie wirklich mal brauchen. Sport? Ist am gemütlichsten vor dem Fernsehen, oder? Schlafen? Sehr erholsam, aber man erlebt nichts dabei. Außer Alpträumen. Unterhaltungswert gering. Heimwerken? Artet zu schnell in Arbeit aus. Ich hab das Haus hier errichtet, Ziegel für Ziegel, ich weiß Bescheid. Aber das Essen – das ist stets von neuem ein Quelle von Genuß und wohliger Behaglichkeit. Es muß nur gut gekocht sein. Was nicht allzu schwer ist. Die Zahl der Küchen und der Gerichte ist unerschöpflich. Selbst Wiederholung erzeugt keine Langeweile. Auch der hundertste Gulasch schmeckt noch. Und das Schönste: Lassen Sie ein, zwei Stunden nach einer Mahlzeit vergehen – und Sie können schon wieder. Ein duftender Apfelmandelkuchen, frisch aus dem Ofen, hat einen höheren Wiedererweckungswert als die kurvenreichste Playmate. Reden Sie mir jetzt nicht von der Liebe! Sie ist ganz nett in den ersten Wochen der Leidenschaft, dann aber wird sie eintönig und anstrengend, und die meisten Jahre fühlen wir uns ohne besser als mit. Sie ersparen sich Eifersucht, Machtkämpfe und Streitereien, wer den Müll hinunterbringt. Spätestens ab fünfundvierzig geht die Liebe bloß noch durch den Magen. Das alles hätte ich nach meinen ersten Erlebnissen im Vorschulalter schon wissen können. Aber als Kind ist man ja unbelehrbar.
Seit jener unerlaubten Radtour galt ich meinen Eltern als Problemkind. Ich bekam erst einmal acht Wochen Stubenarrest, bis zu meinem siebten Geburtstag. Mein Vater setzte durch, daß ich Geschirr abtrocknen lernte und ab Anfang Mai das Abwaschen. Meine Mutter führte mich in die Kunst des Fußbodenwischens und -bohnerns ein. Ich stand unter Bewährung. Vom Ausgang dieser Prüfung hing ab, ob mein Ehrentag gefeiert würde oder nicht. Es gab zwei Gründe, weshalb ich mich klaglos der Tortur unterzog: ich wollte mir ein Fahrrad wünschen und Monique zur Feier einladen. Sollten Sie mir nur eins davon verweigern, war ich entschlossen, selbst mit einer heroischen 22
Geste den Geburtstag abzusagen. Meine Eltern weigerten sich mir zu sagen, wie sie von unserem Ausflug erfahren hatten, aber ich erfuhr alles Bonbon für Bonbon von meiner kleinen Schwester. Sie war johlend auf dem Kinderfahrrad unter dem Fenster meiner Eltern entlang geradelt, und das hatte meine Mutter schließlich gehört. Alles Folgende ging sehr schnell. Mein Vater nahm Andy ins Gebet, doch der stellte sich standhaft unwissend. Katrin plauderte schließlich aus, daß ich mit Monika unterwegs war. Er klingelte bei ihrer Mutter, und die vermutete sehr schnell, was das Ziel unseres Ausflugs war. Nachdem ich vom Dach des fremden Hauses heruntergeklettert war, gab es noch einen unangenehmen Auftritt mit Monikas Vater, der im Bademantel und zerzausten Haaren vor seiner Tür erschien. Der heftige Wortwechsel brach schnell ab, als Monikas Mutter mich fragte, wo ihre Tochter sei und ich mit den Schultern zuckte. Sie fanden sie nach fünf Minuten hektischen Suchens zusammengekauert neben dem Dackel in der Hundehütte. Sie können sich vorstellen, welche Vorträge über die Folgen frühkindlicher Verderbtheit ich mir anhören durfte! Nach Meinung meines Vaters führte eine gerade Linie von frühreifem Voyeurismus zu Syphilis, Asozialität und Jugendstrafanstalt. Mit Ausnahme des letzten konnte ich mir unter diesen Begriffen nichts vorstellen. Aber als er mir erklärte, daß immer der Junge schuld sei, auch wenn das Mädchen ihm die Verführung leicht mache, ahnte ich, daß er die Rollenverteilung nicht durchschaute. Er hatte Monika nur stumm und dackelstreichelnd erlebt. Bemerkte er wenigstens, daß ich mich in seinem Sinn veränderte? Von einem Tag zu andern fing ich an zu essen. Tapfer kaute ich Nahrungsmittel in mich hinein, die ich am Tag zuvor nicht einmal mit den Fingerspitzen berührt hätte. Schuld an dieser Wandlung war der beim Mittagessen nebenbei hingeworfene Satz meiner Mutter: “Wenn sie ihn nicht noch mal zurückstellen, kommen beide nächsten September in eine Klasse. Wie wollen wir sie dann voneinander entfernt halten?” Mein Vater antwortete nichts, sondern warf nur einen verächtlichen Blick auf meinem Teller mit dem unberührten Milchreis. Fast reflexartig schob ich den Löffel in den weißen Pamps und anschließend in den Mund. Um jeden Tag mit Monika in einem Raum zu sitzen, war mir kein Preis zu hoch. Das Zeug quoll in meinem Mund, daß ich es beinahe wieder ausgespuckt hätte. Rechtzeitig erinnerte ich mich, daß Kauen eine gute Methode war, um Nahrung 23
unbemerkt wieder aus dem Mund zu entfernen. Also bewegte ich mechanisch meine Kiefer auf und ab: und eins, und zwei, und drei ... Bis zehn, dann schlucken. Und von vorn. Am Ende der Mahlzeit fühlte ich mich total erledigt, aber ich hatte mehr als die Hälfte aufgegessen. Bis zu meinem Geburtstag nahm ich zwei Kilo zu. Ich bekam mein gewünschtes Fahrrad und durfte Monika einladen. Meine Eltern baten ihre Mutter mitzufeiern. Mit dem Ergebnis, daß ich ihre Tochter zwar den ganzen Nachmittag anschauen, aber nicht ein Wort unbeobachtet mit ihr sprechen konnte. Dabei brannten mir einige Fragen auf der Zunge. Weshalb der Ausflug damals, und was hatte sie Andy versprochen? An dem Fahrrad sollte ich nicht viel Freude haben. Ich durfte nur unter Aufsicht meiner Eltern drauf steigen. Das hieß in der Praxis: maximal auf dem Hof einige Runden drehen. Als es vier Jahre später eindeutig zu klein für mich geworden war und in die Hände meiner Schwester überging, hatte ich auf ihm alles in allem keine dreißig Kilometer zurückgelegt. Es war wie neu, als ich es abgab. Katrin ließ es einige Male nachts draußen stehen. Nach der ersten nacht fehlte am nächsten Morgen die Klingel. Später verschwanden die Lampe, die Ventile und schließlich das Vorderrad. Wenig später landete der Rest auf dem Müll.
Monika und ich kamen in zwei verschiedene Klassen, ich in die Eins C, sie in die Eins A. Wir sahen uns höchstens in der Pause. Sie grüßte mich knapp und wendete sich wieder den Kindern aus ihrer Gruppe zu. Sie galt von Anfang an als Sport-As, während mir der Turnunterricht meine einzige Vier auf dem Zeugnis einbrachte. Sie ruderte dreimal in der Woche mit einer Nachwuchstrainingsgruppe auf dem Müggelsee, während ich im Hort Kartoffeldrucke anfertigte. Lieber wäre ich Drachensteigen gegangen mit den anderen, die mittags nach Hause durften. Die Jungs aus der Nachbarschaft hatten mich einmal am Sonntag Fußball mitspielen lassen, als ihnen sie einer zu wenig waren, um zwei gleich große Mannschaften zu bilden. Aber nachdem ich dreimal den Ball verfehlt hatte und durch eine unglückliche Eingabe das einzige Tor für die gegnerische Mannschaft in Form eines Eigentors erzielte, wurde ich für alle Zeit feierlich ausgeschlossen. Monika stieg derweil zur besten Turnerin der unteren Klassen auf. Bei einem Schulfest bot sie eine sagenhafte Kür am Stufenbarren dar und drehte ihren Leib in 24
schwindelerregendem Tempo und mit der Biegsamkeit eines Schilfrohres um die Holmen. Von der zweiten Klasse an wechselte sie zu einer Spezialschule in Grünau, wo die Ruderolympioniken des nächsten Jahrzehnts ihre erste Dressur erhielten. Ich wäre beinahe Klassenbester geworden - wenn mich meine Sportvier nicht nach unten auf Rang drei gezogen hätte. Zwei brave Mädchen, deren Namen ich längst vergessen habe, teilten sich am Jahresende das Siegertreppchen, aber ich wurde wenigstens der einzige Junge unter den ersten fünf. Mein Klassenkameraden hielten sich durch Spott über mein Ungeschick beim 60-Meter-Lauf schadlos für meine schnellen Lösungen beim Kopfrechnen. Als guter Pädagoge lobte mein Vater meine Leistungen und schüttelte nachsichtig den Kopf über meine Sportnote. “Also von mir hast du das nicht”, sagte er im Brustton der Überzeugung. Ich fixierte sein feistes Gesicht und verkniff mir die logische Antwort “Von wem sonst?”. Auf Fotos von mir aus dieser Zeit blickt ein schmächtiger, bläßlicher Knabe schüchtern links unten an der Kamera vorbei, einen Rechenschieber in der rechten Hand und einen Globus neben sich auf dem Tisch. Im Hintergrund erkennt man auf einem Regal, was den Inhalt meiner nächsten Jahre bestimmen sollte: Bücher. Damals bildete ich mir ein, in naher Zukunft Genugtuung für alle Verbote und allen erlittenen Spott zu erhalten. Ich sah mich als Wunderkind der Wissenschaft, das mit zwölf seine erste nobelpreisverdächtige Entdeckung präsentiert, und ab spätestens zwanzig als berühmter Professor mit zwei Dutzend um sich herum scharwenzelnden Schülern die Früchte des erzwungenen Lerneifers erntet. Bewundert von Fans in aller Welt, insbesondere von Monika und natürlich meinen stolzen Eltern. Eine Illusion, die meine Mutter mit phantasievoll ausgeschmückten Erzählungen aus den Biographien Darwins, Einsteins und Newtons förderte. Wenn ich mit sechs neugierig einer Fliege ein Bein nach dem andern ausriß und ihre Zuckungen studierte, klopfte mir meine Mutter nicht etwa auf die Finger, sondern erläuterte mir geduldig den Bau des Außenskeletts der Gliederfüßer, wissenschaftlicher Name Arthropoda. Zu deren umfangreichsten Unterstamm Tracheata gehöre auch das vor uns liegende Insekt. Als ich Mitte der ersten Klasse flüssig lesen konnte, häuften 25
sich Ostern, zum Geburtstag und Weihnachten naturwissenschaftliche Bücher auf meinem Gabentisch. Von nun an brauchte ich keinem Tier mehr persönlich zu begegnen. Detaillierte Beschreibungen und Zeichnungen von Autoren, die mir die Mühe des persönlichen Herumwühlens in Sümpfen, Schluchten und der Tiefsee abnahmen, ersetzten mir die äußere Welt. Mit neun wußte ich, daß der zweite Unterstamm der Tracheata die Kieferklauenträger (Chelicerata) die Klasse der Spinnen (Arachnida) enthält. Wenn ich in meinem Zimmer einer Vertreterin in natura begegnete, rannte ich erschrocken zu meiner Mutter, damit sie das Malheur mit einem Besen beseitigte. Unbeweglich auf Papier gebannt, konnte ich mich an ihnen nicht satt sehen. Inzwischen hieß ich in der ganzen Klasse “Mucki”. Sogar die Lehrer grinsten, wenn sie den Namen hörten. Hing ich im Sportunterricht schlaff am Reck, wieherten alle Jungs, die eine Stunde zuvor noch außerstande waren, zwölf und zwölf zusammenzuzählen. Die Folgen waren einschneidend. Die Klassenkameraden hänselten mich und drohten mir Prügel an, sobald ich heulend zur Klassenlehrerin laufen wollte. Also verkroch ich mich so oft es ging in meinem Zimmer. Was tut man als Junge von neun, zehn Jahren, wenn man allein im Kinderzimmer hockt? Man liest. Ich schmökerte alle Nachmittage, sonntags ganztägig. Meine Eltern, froh ihre Ruhe zu haben und in dem Glauben befangen, damit meine Persönlichkeitsentfaltung zu unterstützen, förderten dieses unselige Hobby. Sie meldeten mich in der Kreisbibliothek an und schenkten mir weitere Bücher, immer nur Bücher. Bis ich mit zwölf wegen Kurzsichtigkeit eine Brille verschrieben bekam. Wie ein richtiger Intellektueller sieht du jetzt aus, meinte meine Mutter stolz. Zu dieser Zeit brachte ich es bereits auf zweihundertfünfzig ausgelesene Schmöker im Jahr mit durchschnittlich dreihundert Seiten. Selbst mein Lieblingswitz drehte ich im Bücher: Wie findest du mein neues Buch, fragt der Schriftsteller seinen Freund. – Ehrlich gesagt, zuwenig Handlung, zuviel handelnde Personen. – Oh, dann habe ich dir wohl aus Versehen mein Telefonbuch mitgegeben. Romane, die ich wie mein Vater als niedere Form von Literatur betrachtete – zuviel Spinnerei, zuwenig Tatsachen – überflog ich schräg von links oben nach rechts unten. Nach zwei Jahren war ich durch die Belletristikabteilung der Bibliothek durch. Die Zahl ihrer Neuerwerbungen hielt mit meinem Lesetempo nicht Schritt. Niemand 26
fragte, ob ich mir überhaupt merken konnte, was ich da in mich hineinfraß. Eines Tages fand ich einen amüsanten Roman von Romain Gary in der hinteren Reihe des elterlichen Bücherregals. Ich schmökerte mich im Eiltempo durch die Lebensgeschichte einer Lady, die aus geheimnisvollen Gründen den Abriß ihres Gartenpavillons verhüten will, bis ich auf Seite 137 plötzlich einen Satz entdeckte, den jemand mit Bleistift angestrichen hatte. Daneben, am Seitenrand, stand ein verschnörkeltes Ausrufezeichen. Das Zeichen kannte ich. Es stammte von mir. Ich mußte das Buch schon einmal gelesen haben, konnte mich aber partout nicht erinnern. Auf mich wirkte die Handlung wie neu. Nach dem Inhalt des Angestrichenen zu urteilen – es war das Oskar WildeZitat “Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung” – lag meine letzte Lektüre höchstens zwei, drei Jahre zurück. Leider zog ich keine Lehren aus diesem Vorfall. Sollte ich etwa die Bellektristikabteilung ein zweites Mal durchlesen? Während Monika in Grünau mit ihren Kameradinnen im Viererkanu ohne Steuerfrau in ihrer Altersklasse Landesvierte wurde, warf ich mich auf die Regale der Abteilungen Medizin, Geschichte und Philosophie. Ich entdeckte, daß ich für die Werke von Hegel, Kant und Aristoteles viermal solange brauchte wie für einen Roman. Die neue Herausforderung reizte mich. Als ich anfing, meine Leseleistung zu steigern, indem ich eine Uhr neben das Buch legte, um die Zeit pro Seite zu stoppen, hätte irgendwer die Notbremse ziehen sollen. Meine Eltern kümmerte es nicht. Daß ich das Abitur machen werde, galt als Selbstverständlichkeit. Da ich vor dem Schulwechsel einen vorläufigen Berufswunsch angeben mußte, nahm mich mein Vater beiseite und riet mir, “Arzt” einzuschreiben. Das Medizinstudium verspreche Geld, Ansehen und einen garantierten Doktortitel. Ich sah ihn entsetzt an. Von den Büchern weg zu richtigen Menschen mit richtigem Blut, Exkrementen und schmerzvollen Gestöhne? Leichen aufschneiden? In Gedärmen herumwühlen? Selbstverständlich verschwieg ich meine Zweifel und schrieb in das Formular, was er verlangte. Mit dreizehn war ich zum folgsamen Mustersohn degeneriert. Ihm müssen selbst Bedenken gekommen sein, als er mich am folgenden Sonntag mit meinem üblichen Ungeschick beim Abwaschen hantieren sah. Zwei Gläser und ein Teller blieben auf der Strecke, außerdem schnitt ich mich mit dem Küchenmesser. 27
Beim Anblick meines Blutes wurde mir so schwindlig, daß ich mich hinsetzen mußte. Am Nachmittag brachte meine Mutter einen Maulwurf an, um ihn mit mir auf dem Balkon fachgerecht zu sezieren. Als nach dem ersten Schnitt das rote Fleisch hervorquoll, würgte mich die Übelkeit in der Kehle, und ich stürzte ins Bad, um das Mittagessen wieder von mir zu geben. Seitdem war von Medizin nicht mehr die Rede. Zum Glück gibt es noch viele andere Naturwissenschaften, tröstete mich mein Vater am Abend, nachdem sich mein Magen einigermaßen beruhigt hatte. Physik, Biologie, Elektronik, irgendetwas in dieser Richtung sollte es sein. Als unser Klassenlehrer in der Elften die Bewerbungsunterlagen für die Hochschulen verteilte, wagte ich zwei Akte der Rebellion: Ich wählte Philosophie, und ich legte mir eine Freundin zu. Ethiker, Psychologen und ähnliches Gelichter galten in meinem Elternhaus schon immer als Schwätzer, die die mühsam erarbeiteten Tatsachen der exakten Wissenschaften mit Sprachspielchen zerreden. Daß die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert, die Mathematiker sie aber erklärt hätten, war ein fester Glaubenssatz meines Vaters. Wenn jemand den Menschen verändern würde, dann die Genetiker, fügte meine Mutter hinzu. Für sie war die Philosophie eine Fortsetzung der Religion mit anderen Mitteln. Früher Opium, heute Heroin fürs Volk. Von ihr als geistiger Drogendealer betrachtet zu werden, schmeichelte meinem Ego. Dann hätte ich ja doch eine Art von Macht. Meine Mutter schwieg bekümmert, als ich meinen Entschluß verkündete. Mein Vater predigte zwei Tage auf mich ein, dann gab er auf. Er habe sich schon gedacht, daß ich ihn am Ende doch enttäuschen würde. “Du bereitest uns viel Kummer, mein Sohn”, lautete sein abschließendes Urteil. Meine Freundin hieß Karin und war mager, was meine dicke Schwester wegen der Namensähnlichkeit mit ihr zu schrillen Heiterkeitsausbrüchen reizte. Pedanten hätten das Mädchen sogar als knochig oder kantig bezeichnet. Für mich machte ihre Figur sie zu einer Verbündeten gegen die Nahrungsberge meines Elternhauses. Sie ging in die Parallelklasse und war dort ebenso schief angesehen wie ich in meiner. Ich hieß “Mucki” und sie die “Brillenschlange”. Ihr große dunkle Hornbrille mit dicken Gläsern dominierte in auffälliger Weise ihr Gesicht. Vom Sehen kannte ich sie schon lange. Ihre nähere Bekanntschaft machte ich bei einer gemeinsamen Fete beider Klassen an einem Novemberabend. Während alle bei 28
Schummerlicht tanzten und knutschten, hockten wir Übriggebliebenen an benachbarten Tischen und taten sehr beschäftigt. Dabei wäre es auch den ganzen Abend geblieben, wenn nicht gegen halb neun die fünf Fußballer beider Klassen nach einem verlorenen Spiel unseres Schulsportvereins verspätet und schlecht gelaunt eingetroffen wären. Schon die Frage “Wie war’s?” am Einlaß rief nur ein mürrisches Grunzen als Antwort hervor. Ausgerechnet an meinem Tisch machten sie halt. “Mach ‘ne Fliege, Mucki”, knurrte Henning, das Sportas aus der Nachbarklasse. Ich wollte mir schon einen Stehplatz neben der Musikanlage an der Wandseite suchen, da sprach mich die sitzengebliebene Karin an, als ich an ihrem Tisch vorbei schlich. “Setz dich.” Ich gehorchte. Erst danach fiel mir ein, daß mit wochenlangen Hänseleien bestraft wurde, wer sich zusammen mit der Brillenschlange sehen ließ. Aber da ich sowieso jeden zweiten Tag Mode war wegen irgendeiner Lappalie, kam es darauf auch nicht mehr an. “Willst du was trinken?” fragte sie. Sie schob mir ein Glas und ihre angefangene Colaflasche herüber. “Wir müssen nicht tanzen, weißt du. Wir können reden.” Auch das noch! “Was machst du, wenn du nicht in der Schule bist?” fragte ich eilig, bevor sie mich ausfragen konnte. Sie spielte Querflöte im Orchester der Musikschule und ging zweimal in der Woche reiten auf einem Wallach namens Radiator. Sie erklärte mir, daß wegen der Abstammung der Pferde die ersten beiden Buchstaben des Namens mit den Elterntieren übereinstimmen müssen. Daß beim Reiten die Mädchen unter sich sind. Daß eine Querflöte mindestens fünfzigmal so teuer ist wie ein einfache Blockflöte und die beiden Instrumente auch ansonsten so verschieden sind wie etwa Mundharmonika und Ziehharmonika. Ich schwieg die meiste Zeit und ließ ihren Rededrang über mich ergehen, bis die anderen auf der Tanzfläche anfingen über uns zu tuscheln. Was verstand ich von Flöten und Pferden! Am Ende war ich überzeugt, einen ziemlich dämlichen Eindruck hinterlassen zu haben. Die Frage nach dem Nachhausebringen stellte sich glücklicherweise nicht. Sie 29
wohnte in Sichtweite der Schule. Sicher hatte ich manchmal von Mädchen geträumt, aber keines meiner Phantasiegeschöpfe sah aus wie die Brillenschlange. Ihr Traummann hatte vermutlich auch keine Ähnlichkeit mit mir. Beim Abschied sagte sie: “Weißt du, was das beste an dir ist? Daß du einem nicht wie diese andern Prahlhänse alle Nase lang ins Wort fällst.” Wir verabredeten uns nicht. Es war gar nicht nötig. Denn der Spott der Klassenkameraden – jeder fragte mich am nächsten Morgen grinsend “Was macht dein Brillenmonster?” – trieb uns von den anderen weg, bis wir uns in der Pause in der zugigsten Ecke des Schulhofs wiederfanden. Zwangsläufig redeten wir miteinander. Wir versicherten uns gegenseitig, daß wir uns über die Blödeleien der anderen erhaben fühlten. Vom nächsten Tag an pfiff ich, wenn ich auf dem Schulweg morgens an ihrer Wohnung vorbeikam. Meistens wartete sie schon im Torweg. Einmal hatte sie verschlafen. Ich pfiff wieder und wieder, bis alle Nachbarn der Umgebung am Fenster standen. Als sie schließlich erschien, wußte schlagartig das ganze Viertel über uns Bescheid. An diesem Tag kamen wir beide eine Viertelstunde zu spät. Die erste Unpünktlichkeit in meiner Schülerlaufbahn. Von der zweiten Woche an gehörten ihr auch meine Nachmittage. Ich begleitete sie zum Reitstall oder zur Musikschule, setzte mich mit einem Band Platon in eine Ecke und wartete lesend, um sie wieder nach Haus zu bringen. Vier Wochen lang passierte nichts. Wir redeten über Lehrer, Eltern, Mitschüler und Geschwister. Wir waren Kumpels, ich hätte es nicht gewagt, sie anzufassen. Das änderte sich an einem Abend nach ihrem Flötenunterricht. Vor ihrem Haus sagte sie plötzlich: “Komm mit ‘rein.” Ihre Eltern waren zu Weihnachtseinkaufen ins Zentrum gefahren. Draußen war es längst dunkel, in den Fenstern leuchteten Adventskerzen. Karin schob mich durch die Wohnungstür direkt in ihr Zimmer, ohne das Licht anzuschalten. Im Dämmerlicht von der Straße sah ich, wie sie ihre Jacke und Schuhe auszog und zu meinem Erschrecken Pullover, Jeans, Strümpfe und Höschen folgen ließ. Nackt griff sie nach meiner Jacke und riß sie von meinen Schultern. Sie drückte mich auf ihr Bett, ohne sich um meinen gestammelten Protest zu kümmern. Als nächstes machte sie sich an meinem 30
Reißverschluß zu schaffen und saß plötzlich rittlings auf mir. Ich glaube, das Ganze hatte keine drei Minuten gedauert. Kaum war alles vorbei, stieg sie herunter und sagte: “Du mußt jetzt gehen. meine Eltern können jeden Augenblick hier sein.” Ich versuchte, irgendwelche Liebesschwüre zu erfinden, aber sie winkte ab und schob mich mit noch offener Hose Richtung Tür. Bis heute ist mir nicht klar, ob ich der erste für sie war oder nicht. Etwa um diese Zeit erfuhren meine Eltern durch meine Schwester Katrin von meiner Beziehung, Sie hatte es wiederum von ihren Mitschülern. Sie ging in die Neunte, und fand alles ungeheuer spannend, was mit Liebe, Knutschen und Fummeln zu tun hatte. In anderen Familien hätte der Vater mit seinem Sohn ein paar Takte geredet. Nicht bei uns. Als Biologielehrerin galt meine Mutter als zuständig. Sie kam sofort zur Sache, und zwar genauso wie in der Schule, wo sie in den achten Klassen für die Sexualkunde zuständig war. Sie wollte wissen, ob Karin beim Frauenarzt war, ob er ihr rechtzeitig vorher die Pille verschrieben hat, ob ihre Eltern von der Affäre wüßten und einverstanden wären. Ich hatte keine Ahnung. Vorsichtshalber beantwortete ich alle Fragen mit Ja. Als nächstes holte meine Mutter einen Bildband aus der hinteren Reihe ihre Fachbuchregals. “Die Biologie der Geschlechter” oder so ähnlich. Sie zeigte mir die Farbfotos im DIN A4 Format mit tripper- und syphilisangefressenen Geschlechtsorganen. Ich wandte den Blick ab. Ich solle hinschauen. Ob ich das Risiko dessen kenne, was ich da tue? Ich kannte es. Schließlich hatte ich den Bildband schon mit neun Jahren heimlich durchgeblättert und angeekelt weggestellt. Aber meine Mutter hatte noch einen Trumpf parat. “Erinnerst du dich, als du mit noch nicht mal sieben mit dem fremden Mädchen auf das Dach eines fremden Hauses geklettert bist, um andere Leute beim Intimverkehr zu beobachten? Voyeurismus nennt man so etwas. Weißt du, in welchem Kapitel des Buches ein solches Verhalten beschrieben wird?” Ich wußte es. “Im Kapitel Sexuelle Perversionen”, fuhr sie gnadenlos fort. “Bist du sicher, daß du reif genug bist für eine verantwortungsvolle Partnerschaft?” 31
Ich schwieg und beschloß, mich mit Karin nie bei meinen Eltern sehen zu lassen. Von uns beiden existieren noch einige Fotos. Auf dem ältesten sehen wir aus wie zwei beim Klauen ertappte große Kinder. Mit meinen schulterlangen dünnen Strähnen nach der Haarmode der siebziger Jahre sah ich einfach zum Schießen aus. Karins Haare waren dicht, kürzer als meine und von einem schönen Dunkelbraun. doch der Gesamteindruck wurde beherrscht ihrer eckigen Brille und dem noch eckigeren Körper. Ein Jahr später hatte sie an Haltung gewonnen, ihre Schultern und Hüften wirkten runder, ihre neue Brille war schmaler , runder, mit einem dünnen Metallgestell. Unsere Studienwünsche waren bestätigt worden, meiner für Philosophie, ihrer für Tiermedizin. Ich erinnere mich noch, daß kurz vor dem Abitur einige Klassenkameraden erstmals die Bemerkung von sich gaben, der Mucki habe es mit der Karin aus der Parallelklasse gar nicht so schlecht getroffen. “Sie kann immerhin reiten und flöten”, fügte Henning, unser Klassenkasper, mit anzüglichem Grinsen hinzu. In jenem Monat bestand ich meine Fahrprüfung im ersten Anlauf. Um ihren Hobbys etwas halbwegs Gleichwertiges entgegenzusetzen, hatte ich mich mit achtzehn sofort in der Fahrschule angemeldet. Mein Vater, der ihren Direktor kannte, sorgte dafür, daß ich noch im laufenden Kurs unterkam. Autofahren gehöre zur Allgemeinbildung. Er bestand darauf, daß ich gleich auf Lastkraftwagen lernte. Wenn schon, dann richtig. Ein weiteres unserer Familienmottos. Daß ich es im ersten Anlauf schaffte, verdanke ich seinen zusätzlichen Übungsstunden mit mir auf seinem Schulhof nach Einbruch der Dunkelheit. Nicht, daß er mich später hätte unser Auto allein fahren lassen! So kam es, daß es mir nur einmal gelang, meine Freundin im Auto auszufahren. Als meine Eltern mit der U-Bahn ins Theater gefahren waren, weil es dort wenig Parkplätze gab. Da fuhr ich sie eine halbe Stunde durch die Gegend und zitterte noch tagelang, ob mein Vater am Tachostand erkennen würde, daß seine Kiste in seiner Abwesenheit benutzt worden war. Als ich im November nach dem Abitur zum Wehrdienst eingezogen wurde, sperrte man mich folgerichtig in eine Kraftfahrerkompanie. Die Ausbildung erschöpfte sich im Auseinander- und Zusammenbauen der Motoren und Getriebe nach Stoppuhr sowie im mehrstündigen Blankwienern und Ölen selbst der unzugänglichsten Teile. 32
Alle paar Tage hatten wir die Soldatenhaufen ins Gelände und zurück zu fahren. Meine Freundin schickte mir acht Monate lang heiße Briefe und besuchte mich einige Male in meiner Kaserne im dreihundert Kilometer entfernten Schönberg, einem vergessenen Städtchen im Hinterland der Ostsee. Dann Ende Mai, schrieb sie mir, sie habe nach dem letzten Besuch bei mir noch einen Abstecher an das Meer unternommen, und am FKK-Strand ihren neuen Liebhaber kennengelernt, einen zweiunddreißigjährigen Pferdezüchter aus Brandenburg. Er und sie als künftige Tierärztin, das wäre einfach traumhaft. Am nächsten Tag kam der Brief meiner Mutter mit der lapidaren Ankündigung, sie und mein Vater ließen sich scheiden. Ich legte beide Schreiben meinem Kompaniechef vor in der Hoffnung auf Sonderurlaub. Er klopfte mir auf die Schultern: “Die Mutter des Soldaten ist die Armee, seine Waffe ist seine Braut. Kopf hoch, mein Junge.” Ich Trottel hatte ein Drittel meines Solds gespart, um im nächsten Sommer nach der Entlassung mit meiner treuen Karin bei einem vierwöchigen Urlaub in Ungarn die wiedergewonnene Freiheit zu genießen. Einen Moment lang war ich versucht, die tausend Mark beim nächsten Ausgang zu versaufen. Da ich so etwas aber noch nie getan hatte, nahm ich schließlich Abstand davon. Zuerst ließ ich das Geld aus Ratlosigkeit liegen. Wofür hätte ich es da draußen ausgeben sollen? Kleidung und Essen waren frei, zu erleben gab es nichts außer Kiefern und Sand. Nach drei Wochen überlegte ich: Warum sollte ich die Reise im kommenden Jahre nicht allein unternehmen? Von zu Haus verdoppelten sich die Briefe. Vater und Mutter wetteiferten darin, mich aus der Ferne von ihrer Unschuld zu überzeugen. Als Kern schälte sich heraus: Meine Mutter habe meinem Vater sexuell nur noch lustlos und schließlich gar nicht mehr beigewohnt (seine Briefe). Mein Vater habe eine seiner Schülerinnen, bei der ersten juristisch straffreien Gelegenheit, das heißt als sie achtzehn und Studentin war, zu seiner Geliebten gemacht. Wahrscheinlich aber schon eher (ihre Briefe). Die Wahrheit erfuhr ich nie. Dazu ellenlange Versicherungen der väterlichen beziehungsweise mütterlichen Zuneigung und Beweisführungen gegen die Schlechtigkeit des andern, der sich endlich als Wolf (beziehungsweise Wölfin) im 33
Schafspelz entpuppt habe. Ihre Formulierungen stimmten über lange Passagen wörtlich überein. Sie waren immer noch ein eingespieltes Team. Ich fand es zum Kotzen. Das Sorgerecht für meine Schwester für die verbleibenden drei Monate bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag wurde meiner Mutter zugeteilt. Sofort schrieb ich meinem Vater, ich würde während meines Studiums bei ihm wohnen wollen. Er bedankte sich umgehend für diesen Beweis meiner Zuneigung, leider sei in seiner neuen Zwei-Zimmer-Wohnung kein Platz für mich. Seine junge Geliebte sei schwanger. Meine Mutter schrieb mir eine Woche später, ich solle bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ich staunte. Ich hatte bei ihr noch gar nicht angefragt. Als ich anrief, war meine Schwester dran, die mir mit schadenfroher Stimme den Grund nannte. Mein Vater hatte sich nicht enthalten können, bei einem Streit am Telefon vor ihr mit meiner brieflichen Anfrage zu prahlen.
Bis zum folgenden April, dem Monat meiner Entlassung aus der Armee, hatte sich der neue Status quo etabliert. Mein Vater schickte mir eine bunte Karte mit einem Baby, darunter stand “Deine Schwester Yvonne”. Meine Mutter “gewährte mir Zugang”, wie sie sagte, zu der vertrauten Wohnung. Meine Schwester hatte zwar das ehemalige Kinderzimmer für sich allein in Beschlag genommen, dafür war das frühere Arbeitszimmer meiner Vaters für mich frei. Ich sortierte altes Spielzeug aus und zog in Gedanken eine niederschmetternde Bilanz meiner Kindheit. Nie ein Tadel in der Schule wegen schlechtem Betragen, nur einen einzelnen Eintrag ins Klassenbuch wegen morgendlichem Zuspätkommen. Vater und Mutter gehorcht, bei ihrer Scheidung nicht Partei ergriffen, dennoch in punkto Liebling der Eltern meiner lauten und aufsässigen Schwester den Vortritt gelassen. In all den Jahren nicht einen Knochen gebrochen, kein einziges Mal beim Stehlen erwischt worden – und was das Schlimmste war: weil ich es nie versucht hatte. Wenn ich geahnt hätte, daß ich noch in diesem Sommer meine angestauten Vorrat an Pluspunkten wegen nicht ausgelebter Kriminalität über Gebühr verbrauchen würde, hätte ich vielleicht meine Reise nach Ungarn nie angetreten. Oder erst recht, ich weiß es nicht. Meine einzige Konzession an meine Mutter war, daß ich auf das Trampen verzichtete. Ursprünglich wollte ich die ganze Strecke per Anhalter zurücklegen. Nach ihrer Drohung, nach einer Schnorrertour als Asozialer der Landstraße brauchte ich nie 34
wieder bei ihr aufzukreuzen, entschied ich mich für die Bahn. Zwanzig Stunden bis Budapest und von dort zwei Stunden nach Síofok am Balaton. Wie viele andere baute ich außerhalb des internationalen Campingplatzes mein kleines Zelt direkt am Wasser auf und sparte so die Stellplatzgebühren. Die ungarische Polizei, die alle paar Stunden Streife lief, vertrieb niemanden von den selbstgewählten Standorten außerhalb des offiziellen Geländes. Die Sonne knallte von einem wolkenlosen Himmel auf den Sandstrand. Das Wasser war vierundzwanzig Grad warm und spiegelglatt. Baden konnte man Tag und Nacht. Leute in meinem Alter um mich herum redeten in zehn verschiedenen Sprachen. Abends Lagerfeuer und Gitarrenmusik. Wir kauften wie die offiziellen Camper in den umzäunten Buden ein und nutzten deren Toiletten und Waschräume. Manchmal, wenn ich am Strand döste, dachte ich mit Wehmut an Brillenschlangen-Karin und ihre FKKBekanntschaft. Erst nach vier Tagen unternahm ich einen Spaziergang in die Stadt. Sie lebte vom Tourismus. Ihre Sehenswürdigkeiten waren Werbeschilder von Coca Cola, Geschäfte mit Stars-and-Stripes-T-Shirts in den Schaufenstern und der Wochenmarkt, wo meine Landsleute preiswerte Pfirsiche und Strickjacken in Bonbonfarben einkauften. Plakate wiesen auf Sommerkonzerte von Rockgruppen hin. In den nächsten Tagen sollten Lokomotiv GT und Fonográf auftreten. Das waren in jenem Jahr die angesagtesten ungarischen Bands. Einem kleineren, unscheinbaren Aushang entnahm ich, daß auch eine Band aus Berlin auf der Freilichtbühne spielen würde. Ich war mir nicht sicher, ob ich die ungarischen Ankündigung richtig deutete. Eine Truppe aus meiner Stadt, die ich nicht kannte und im Ausland spielte? Die Vertigos. Entweder waren sie neu, oder es handelte sich um eine Tanzcombo für ältere Semester. Da las ich unterhalb des Namens der Band die Zeile: “Monique, ének”. Ének heißt Gesang. Die Sängerin war im bürgerlichen Leben sicherlich auch nur eine gewöhnliche Monika wie meine Freundin aus Kindertagen, dachte ich. Mir fiel ein, daß ich von ihr seit Jahren nichts mehr gehört hatte. In der Olympiaauswahl der Kanuten im vorigen Sommer in Montreal fuhren andere und holten die Medaillen. Die Namensähnlichkeit reizte mich hinzugehen. Die Freilichtbühne lag in einem Park und war nicht sehr groß. Dennoch füllten 35
die knapp hundert Zuschauer die Sitze nicht einmal zur Hälfte. Keine Schwierigkeit, einen Platz in der zweiten Reihe zu erwischen. Zuerst kam die Band, vier Knaben in TShirt und Jeans, höchstens zwei Jahre älter als ich. Beim Anblick ihrer langen Mähnen dachte ich wehmütig an meine Haare, die seit der Armeezeit noch nicht wieder nachgewachsen waren. Sie spielten als Auftakt eine Art Blues, dessen schräge Melodie der Frontmann von seiner Gitarre in ein gleichgültiges Publikum wimmerte. Der Applaus blieb dünn. Dann schwebte ein Wesen auf die Bühne, das im Nu alle Blicke von den Jungs abzog. Ich erkannte sie sofort, obwohl ich sie mindestens fünf Jahre nicht gesehen hatte und da auch nur flüchtig vor ihrer Abreise zu einer Kanumeisterschaft. Sie war meine kleine Freundin aus der Nachbarschaft und zugleich vollkommen anders. Ein Gänseblümchen, das zur Rose aufgeblüht war. Das tiefrote Kleid floß lang und eng an ihrem Körper entlang, jeder Zentimeter eine einzige Lobpreisung der Natur. Auf ihren Schultern glänzte ihr blondes Haar in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Aus Pippi-Langstrumpf.Zöpfen war ein seidiger Traum in Gold geworden. Ihr Gang wirkte sexy und selbstsicher. Jede ihrer Bewegungen verriet, daß sie sich ihrer Wirkung genau bewußt war. “Strammes Weib”, sagte einer hinter mir. “Würde ich nicht von der Bettkante stoßen”, erwiderte sein Nachbar. Ich hätte ihn zusammenschlagen mögen. “Das macht nur das Kleid”, meinte ein Mädchen zwei Sitze weiter. “Wenn ich so etwas anziehen würde ...” “Warum tust du es dann nicht?” fragte ihr Nebenmann. Mit einem Schlag war alles wieder da, die Übungsstunden auf dem Fahrrad, die Spannung bei der Kletterei auf dem Dach ihres Vaters, die verstohlenen Blicke des Einverständnisses nach der Bestrafung. Diesmal sah ich sie mit den wissenden Augen eines Einundzwanzigjährigen. Eine atemberaubend erwachsene Ausgabe ihrer selbst, dachte ich. Im Vergleich mit meiner Erinnerung wirkte sie wie ihre eigene große Schwester. Unwillkürlich setzte ich mich gerade hin, machte ich mich größer, in der Hoffnung, sie möchte mich bemerken. Doch ihre Augen blickten über die Leute hinweg, als sie mit “Killing me softly” von Roberta Flack ihr Programm eröffnete. Ich weiß nicht, wie gut ihr Gesang war. Meine Fähigkeit, richtige von falschen Tönen zu 36
unterscheiden, war schon immer unterentwickelt. Ohnehin dominierte für mich der optische Eindruck den akustischen. Den anderen ging es genauso. Monika als professionelle Sängerin namens Monique zu betrachten, daran mußte ich mich erst gewöhnen. Ich hatte sie nur Kinderlieder summend erlebt. Der Applaus gewann an Stärke, hauptsächlich durch das Gejohle und Gestampfe einiger Kerle. Sie nahm es entgegen wie eine Huldigung. An das folgende Lied erinnere ich mich genau. Es war “The Chain” von Fleetwood Mac. Der Song stammte aus dem erfolgreichsten Album des Jahres, er war brandneu. Ich kannte keine andere Band, die ihn schon spielte. Als die ersten Takte erklangen, lief ein Ruck durch die Reihen. Von nun an gingen die Leute mit, das war nicht zu übersehen. Bei der Textzeile “So if you don’t love me now you will never love me again” streckte Monique drohend ihre Hand nach vorn, und wies mit dem Zeigefinger anklagend auf einen Punkt hinter uns. Ich drehte mich um. Dort, am Ende des Mittelganges, stand das Technikerpult, hinter dem ein junger Kerl mit dunkelbraunem Lockenkopf und weißem T-Shirt mit der roten Rolling-Stones-Zunge auf der Brust lässig die Regler verschob. An seiner Schulter lehnte eine dunkle Schönheit. Als er merkte, daß Moniques Finger auf ihn gerichtet war, schob er den Kopf des Mädchens von sich. Sie blickte erst in seine Augen, dann zu Monique. Sie fing an zu lachen. Als Antwort grinste er zurück. Und an seinem Grinsen erkannte ich ihn. Es war Andy. Ihn an der Technik zu sehen, hätte mich nicht verwundern dürfen. Als ich mein Abitur ablegte, war er der Diskjockey unseres Jugendklubs und verdiente jeden Abend mehr als ich in einem Vierteljahr an Taschengeld erhielt. Doch hier, fern von zu Haus in Síofok ... Daß er an den Reglern der Vertigos saß, verdankte er mit Sicherheit ihr. Oder brachte umgekehrt er sie in die Band? Das Publikum bemerkte nichts von dem stummen Dialog, der zwischen ihnen ablief. Deren Aufmerksamkeit war allein auf die Bühne gerichtet. Als sie beim nächsten Refrain ein zweites Mal auf Andy zeigte, winkte er zurück. Ob es seine Geliebte war, die neben ihm saß oder nur ein zufälliger weiblicher Fan? Insgeheim hoffte ich, daß Monique mit niemandem weiter liiert war außer ihrer Musik. Von diesem Lied an hatten die Vertigos das Publikum auf ihrer Seite. Die Leute 37
tolerierten sogar die eher schwachen Eigenkompositionen. Ihre Stärke waren die neuen internationalen Hits und natürlich Monique. Ich versuchte ein paar Mal, in ihr Gesichtsfeld zu gelangen. Einmal stand ich sogar auf, als sie zwischen zwei Lieder nach unten blickte. Ein wütendes Zischen hinter mir riß mich auf meinen Sitz zurück. Sie gab den ganzen Abend kein Zeichen von sich, daß sie mich bemerkt hätte. Vor fünf Jahren war ich noch ein halbes Kind mit langen Strähnen, dem ein paar einzelne Härchen am Kinn sprossen. Ich kam nicht auf die Idee, nach dem Konzert zur Garderobe zu laufen. Künstler und Publikum waren für mich zwei getrennte Welten. Ich stellte mir zwei bullige Leibwächter vor, die jedem einen Tritt in den Hintern verpaßten, die ihrer Tür zu nahe kam. Vielleicht würde sie sich nicht einmal an mich erinnern. Also schnappte ich meine Jacke und schlug mit den andern den Heimweg Richtung Zeltplatz ein. Die Familien durchquerten die Schranke zum offiziellen Camping, wir anderen trotteten hinunter zum Strand. Ich lag lange wach in meinem schmalen Zelt und fing an mich zu ärgern, daß mir nichts eingefallen war, um mich bemerkbar zu machen. Beim Hinüberdämmern in einen unruhigen Schlaf stellte ich mir vor, Monique hätte mich im Publikum gesehen und habe nach dem Konzert angefangen mich zu suchen. In meiner Phantasie lief sie zwischen den Zelten und Caravans umher und rief meinen Namen. So deutlich war mein Traum, daß ich ganz klar ihr “Manfred! Manfred Wagner!” hörte. Was nicht so recht zu meinem Traum paßte, waren die ärgerlichen Rufe aus verschiedenen Zelten: “Ruhe, zum Donnerwetter noch mal! Wie soll man da schlafen!”. Ich war schon so weit ins Traumland hinübergeglitten, daß ich bereit war, auch das noch als meine Phantasie zu akzeptieren. Als jedoch die ärgerlichen Proteste auch in anderen Sprachen erklangen, auf Ungarisch, Englisch und in irgendwelchen slawischen Idiomen, setzte ich mich auf. Konnte ich in Sprachen träumen, die ich nicht beherrschte? Ich hörte immer noch, wie sie meinen Namen rief und Leute schimpften. Im Nu war ich im Freien und suchte mit meinen Augen die Finsternis ab. “Monika?” fragte ich zögernd. “Hier steckst du also!” Sie trat mit Jeans und einer Windjacke bekleidet aus der Dunkelheit, die blonde Mähne unter einer Kapuze verborgen. “Nenn mich bitte nur 38
noch Monique.” “Hallo Monique”, sagte ich und sah sie fragend an. “Du kannst doch Auto fahren?” erkundigte sie sich und hockte sich vor mein Zelt. “Ja, aber wieso ...” Sie hatte mich während des Konzerts also doch bemerkt! “Gott sei Dank!” Sie klang ungeheuer erleichtert. “Komm mit!” “Jetzt?” Meine Uhr zeigte auf zehn nach eins. “Ich erkläre dir alles unterwegs.” Es war wie vor fünfzehn Jahren. Sie sagte, was ich tun sollte, und ich gehorchte aufs Wort. Hastig zog ich mir Hose und Jacke an und lief ihr nach. Sie schlug am Strand den Weg nach links ein, und zwar in einem Tempo, daß ich sie beinahe aus den Augen verlor. “Warte!” rief ich. “Wie hast du mich überhaupt gefunden?” “Wo hättest du sonst sein sollen, wenn nicht bei den Campern? Ein Hotel im Ort könntest du dir bestimmt nicht leisten, oder? Eine Viertelstunde hat es bestimmt gedauert, ehe ich dich fand.” Als ich sie endlich eingeholt hatte, wies sie auf eine der schlecht beleuchteten Ferienpensionen am Strand, eine größere Villa, die laut Aufschrift über dem Eingang dem staatlichen ungarischen Reisebüro gehörte. “Wir sind gleich da.” “Du hast mir immer noch nicht gesagt ...” “Erschrick nicht, wenn wir in mein Zimmer kommen, hörst du?” In ihr Zimmer? Wenn sie einen Mann brauchte, würde sie da zum Strand laufen und ausgerechnet mich holen? Sie legte ihren Zeigefinger über ihre Lippen und machte “Pst”, als sie den Schlüssel hervorkramte. “Zum Glück gibt es hier keinen Nachtportier.” Sie winkte mich durch einen schmalen Flur, von dem eine Tür in die Rezeption, eine zweite zum Gepäckraum führte. Vor dieser blieb sie stehen und öffnete sie mit einem zweiten Schlüssel. Links und rechts erblickte ich halb leere Regale. Sie zeigte nach links unten. 39
“Die Zeltplane, schnell. Das Gestänge kannst du liegen lassen.” Ich zog ein riesiges, schlampig verschnürtes Bündel hervor. Monique erklärte mir später, daß die Band ein Acht-Mann-Zelt bei sich führte, weil sie nicht an allen Auftrittsorten eine erschwingliche Hotelunterkunft fand. Besonders in Budapest, wo sie eine Woche lang auftraten, sparten sie viel Geld, indem sie sich auf dem Zeltplatz am Römischen Ufer im Norden der ungarischen Hauptstadt niederließen. Zu zweit trugen wir die Plane in den ersten Stock. Ich wußte immer noch nicht, wozu ich hier war. “Ganz schön schwer, das Teil”, keuchte ich, als wir oben angelangt waren. “Zurück nach unten wird sie noch bedeutend schwerer sein”, antwortete sie und schloß ihr Zimmer auf. “Leise”, flüsterte sie, als ich die Plane über den Fußboden zog. “Es ist nicht nötig, daß irgendwer aufwacht.” Als ich das Paket endlich über der Schwelle bugsiert hatte, machte sie Licht. Trotz ihrer Warnung hätte ich beinahe aufgeschrien. In dem engen Zimmer befand sich links ein Doppelbett, daneben ein heller Kleiderschrank und rechts, unter einer Dachschräge mit dem Fenster ein kleiner runder Tisch mit zwei Hockern. Auf einem der Hocker saß Andy, in sich zusammengesunken, den Kopf auf der Tischplatte. Man hätte meinen können, er schliefe – wenn da nicht eine gräßliche Platzwunde an seiner linken Schläfe gewesen wäre und das viele verkrustete Blut in seinen verklebten Haaren, auf der Stirn und über dem geschlossenen linken Auge. Ich biß mir vor Entsetzen in die Hand. “Reiß dich zusammen”, sagte Monique. “Das Schwein hat ausgelitten. Du mußt mir helfen, ihn in die Plane zu wickeln.” Sie hatte gut reden. Mich würgte es im Hals. Um mir solche Anblicke zu ersparen, hatte ich schließlich auf ein Medizinstudium verzichtet. “Wir müssen einen Arzt rufen!” rief ich, als ich die Sprache wieder fand. “Es muß doch hier einen Bereitschaftsarzt oder so was geben!” “Begreifst du denn nicht? Der braucht keinen Doktor mehr.” “Wir müssen die Polizei ...” “Das fehlte noch! Pack mal mit an.” Sie fing an, die Plane auseinander zu falten. Mechanisch packte ich mit zu, als sie 40
mir die hinteren Enden hin hielt. Bloß nicht das Blut sehen müssen! “Was soll das werden? Wie konnte das überhaupt passieren?” “Nicht so laut!” Flüsternd fuhr sie fort: “Wir brauchten einen Techniker für die Auftritte, und ich dumme Kuh hab Andy empfohlen. Er hatte ja Erfahrung als Diskjockey.” “Aber weswegen ...” “Mann, frag nicht so blöd ... Ich bin auf seine Locken und seine braunen Augen ‘reingefallen wie eine Anfängerin. Dabei wußte ich, wie viele er schon auf seinen Diskos abgeschleppt hatte. Und richtig, am dritten Abend in Budapest kam er mit diesem Flittchen an, Férenc Zsuzsa... Du hast sie doch bemerkt beim Konzert? Sie ist ihm gefolgt während der ganzen drei Wochen, rund um den Balaton. Weiß der Teufel, wo sie gepennt hat ... Der Kerl besaß die Frechheit mir zu erzählen, er hätte nichts mit ihr!” Inzwischen hatten wir die Plane über dem Bett ausgebreitet. “Du hast ihn aus Eifersucht erschlagen!” rief ich in einer Art geflüstertem Schrei. “Aus Eifersucht? Daß ich nicht lache. Er wollte sich mit unseren Einnahmen davon machen! Du mußt wissen, heute war unser letzter Auftritt und das einzige richtige Konzert. Bisher spielten wir nur zum Tanz mit Diskoeinlagen zwischendurch. Sonst haben wir immer am gleichen Abend die Technik abgebaut. Diesmal sagte Andy, er kümmere sich gleich morgen früh darum, er sei müde. Das kam mir verdächtig vor. Ich kannte ihn gut genug, er konnte alles mögliche sein, nur nicht müde. Die andern wollten noch in die Stadt. Also tat ich so, als ob ich mitgehe, bin aber nach fünf Minuten umgekehrt. Und was glaubst du? Meine Ahnung hat mich nicht getrogen. Der Kerl stand am Schrank, packte seine Reisetasche und war gerade dabei, die Kasse einzusacken.” “Deswegen kann man einen doch nicht einfach umbringen!” “Wieso nicht?” “Wenn jeder sich seiner Schwierigkeiten auf diese Weise entledigen wollte ...” “Dann würde mancher es sich zweimal überlegen, bevor er jemandem eine Gemeinheit antut. Glaubst du, der wäre hier geblieben, bloß weil ich protestierte?” Sie zeigte auf den Toten. “Wenn ich daran denke, daß dieses Miststück jetzt irgendwo da draußen wartet, auf ihn und unser Geld ... Faß an!” 41
Sein Gewicht zog mächtig an unseren Armen. Dabei war Andy weder besonders dick, noch überdurchschnittlich groß. Wenn wir bei der Armee Abtransport von Verletzten übten, halfen die “Opfer” mit, indem sie sich leicht machten und sich selbst in die gewünschte Lage drehten. Der hier hing schlaff mit seinem ganzen Gewicht in unseren Armen. Als wir ihn eingewickelt hatten, war das Zeltpaket ein auffälliges Stück gewachsen. Monique steckte den Kopf durch die Tür nach draußen. “Wir können.” Schon auf dem Weg nach oben war die Plane schwer und unhandlich gewesen. Jetzt zog sie wie ein Bleigewicht an meinen Fingern. Nach drei Metern mußten wir sie erschöpft fallen lassen. “Das wird nichts”, keuchte ich. “Es muß.” Als wir den Treppenabsatz erreichten, ging unten die Eingangstür auf. Fröhliche Stimmen schallten durch den Flur. Wir konnten mit unserer Last weder vor noch zurück. Vier junge Leute, zwei Männer und zwei Mädchen mit Weinflaschen unter dem Arm, torkelten die Treppe hoch. “Wo wollt ihr denn damit hin?” fragte einer, als er unser mächtiges Gepäckstück sah. Monique zeigte nach unten. “Wir machen das”, sagte er großspurig, drückte seine Flasche seiner Begleiterin in die Hand und gab seinem Kameraden ein Zeichen. Als beide versuchten, das Bündel mit einem Ruck anzuheben, gerieten sie mächtig ins Schwanken. “Wow, habt ihr da Felsbrocken drin?” “Eine Leiche”, erwiderte Monique ungerührt. Die Mädchen prusteten los. “So seht ihr aus! Wo soll das Ding hin?” “Auf den Hof.” Mit vereinten Kräften zogen, schoben und schleiften wir zu viert die Zeltplane durch den Hinterausgang zu einem Campinganhänger mit Berliner Kennzeichen. Die beiden Männer waren durch die Schlepperei halbwegs nüchtern geworden. Zum Glück 42
waren sie so außer Atem, daß sie keine weiteren Fragen stellten, sondern nur die Hand zum Gruß hoben und ziemlich still nach oben verschwanden. “Wie geht es nun weiter?” fragte ich. “Den Körper hier zu vergraben, wo wir aufgetreten sind, ist zu riskant. Auf den Rückfahrt brauchen wir das Zelt nicht mehr. In Tihany und Bratislava sind Hotelzimmer gebucht. Wir lassen den Toten irgendwo unterwegs verschwinden. Ich hab da auch schon eine Idee. Die Jungs brauchen davon nichts zu wissen. Es genügt, wenn sie erfahren, daß Andy abgehauen ist und ich dich als Fahrer angestellt habe.” “Und jetzt?” “Du kannst da bleiben, wenn du willst.” Als wir oben anlangten, fragte ich: “Womit hast du ihn eigentlich ...? “Mit dem Hocker. Er hat eine scharfe Kante. Keine Angst”, fuhr sie fort, als sie meinen Blick sah, “ich habe alle Spuren gleich abgewischt.” “Ich glaube, ich gehe doch lieber zu meinem Zelt zurück.” Das erste Mal seit unserem Wiedersehen lächelte sie. “Kannst du bis zehn mit deinem gesamten Gepäck wieder hier sein?” Ich nickte und ging. Zehn Minuten später erreichte ich mein Zelt. Alle Leute um mich herum lagen in friedlichem Schlaf. Meine Sorge, nach diesem Erlebnis stundenlang wachzuliegen, erwies sich als grundlos. Kaum hatte ich mich in meinen Schlafsack verkrochen, war ich weg. Als ich das nächsten Mal mit den Augen blinzelte, erhellte die Sonne das Innere meines Refugiums. Hatte ich tatsächlich in der Nacht einen Toten gesehen und auf einem Campinganhänger versteckt? Mein Entschluß war schnell gefaßt. Ich packte meine Sachen. Um mein EinMann-Zelt abzubauen und einzurollen, brauchte ich keine fünf Minuten. Bei aller Freundschaft, die Truppe sollte selber sehen, wie sie mit dem Problem klar kam. Monique würde schon eine Lösung finden. Andys letzte Ruhestätte ging mich nichts an. Mir hatte er nichts getan. Was lag näher, als nach Balatonföldvar weiterzureisen und dort meine restlichen Ferientage zu verbringen. Ich schulterte meinen Rucksack und marschierte Richtung Straße. Als ich am Eingang des offiziellen Zeltplatzes vorbeikam, bremste plötzlich ein roter Škoda vor meinen Füßen. Die rechte Tür öffnete sich, und Monique stieg aus. 43
“Schon aufgestanden? Wir sind gekommen, dich abzuholen.” Der Fahrer öffnete seine Tür. Ich erkannte den Keybordspieler der Vertigos, einen kleinen, untersetzten Burschen von Mitte zwanzig, auf dessen Stirn sich das Haar bereits lichtete. “Das ist Ralf. Der einzige von uns, der einen Führerschein hat. Da Andy weg ist und wir zwei Fahrzeuge haben ... Steig ein.” Überrumpelt schob ich meinen Rucksack auf den Rücksitz und setzte mich daneben. “Ein Glück, das Monique dich gefunden hat”, sagte Ralf, als er startete. “Ohne zweiten Fahrer säßen wir ganz schön in der Patsche.” “Wie wollt ihr an der Grenze und zu Hause das Verschwinden von Andy erklären?” fragte ich. “Wir sind nicht seine Kindermädchen!” antwortete Monique. “Trotzdem müssen wir sein Verschwinden melden”, entgegnete der Keyborder. “Er ist bei seiner Zsuzsa, wo soll er sonst sein? Der wird schon zurückkommen, wenn er sich ausgetobt hat. Er ist volljährig, oder nicht? Wenn wir in Berlin seinen Eltern Bescheid geben, haben wir mehr getan als nötig.” “Hoffentlich.” Ralf fuhr den Wagen nicht zur Pension, sondern zur Freilichtbühne, wo die andern drei die Anlage abbauten und in einem graugrünen Kleintransporter verstauten. Daneben stand der Campinganhänger. Ich zwang mich, den Blick von dem aufgeladenen Zelt abzuwenden. “Jörg, Olaf, Dieter”, stellte Monique nacheinander den Gitarristen, den Bassisten und den Schlagzeuger vor. Die drei wirkten von nahem auf mich noch wie halbe Kinder. Sie waren höchstens neunzehn und musterten mich ungeniert. Da hat sich unsere Sängerin nicht gerade verbessert, sagte ihre Blicke. “Wie weit seid ihr?” fragte sie. “Ohne Techniker möchte ich die Anlage nicht wieder aufbauen müssen”, antwortet Olaf, der mit einem Gewirr von Kabeln kämpfte. “Wir legen zwei Ruhetage in Tihany auf dem Nordufer des Balaton ein”, erklärte 44
mir Monique. “Danach fahren wir zurück mit Zwischenstop in Bratislava. Du fährst den Škoda mit drei von uns und dem Campinganhänger. Ralf fährt die Anlage. Wer sitzt diesmal neben ihm?” fragte sie in die Runde. “Ich”, antwortete der Bassist. “Hast du schon was gefrühstückt?” fragte mich Ralf. Ich schüttelte den Kopf. Monique gab mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Während die Jungs sich weiter an der Technik zu schaffen machten, bestellte sie mir ein Frühstück in einem Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie winkte mich zu einem Tisch am Ende der Terrasse. “Alles in Ordnung?” fragte sie leise. Schweigend rührte ich in meinem Espresso. Mit meinem erholsamen Sonnenurlaub war es wohl vorbei. Andererseits spürte ich ein freudiges Kribbeln bei dem Gedanken, daß sie bei mir war. Daß sie mich brauchte. “Du bist sauer, nicht wahr?” fragte sie plötzlich. Ihre Stimme klang bitter. “Glaubst du wirklich, ich hätte dem Kerl mit Vorbedacht das Lebenslicht ausgepustet? Als ich ihm die Geldkassette entreißen wollte, hat er mich zur Seite gestoßen, da hab ich nach dem Hocker gegriffen ... Er sollte nur die Kassette hergeben, weiter nichts. Erst als er sich nicht mehr rührte, hab ich die scharfe Kante gesehen.” Schweigend drehte ich weiter meinen Löffel in der Tasse. Ich mußte mich erst an den Gedanken gewöhnen, daß kleine Monika nicht nur verdammt schön und erwachsen, sondern auch gefährlich geworden war. “Was hättest du an meiner Stelle getan?” fragte sie. “Nach den anderen gerufen.” “Die waren in der Stadt.” Plötzlich kam mir ein Gedanke. “Wie war das damals mit dem Tod des Jungen beim Eislaufen? Bevor du in unsere Straße zogst?” “Das war ein Unfall!” Täuschte ich mich oder bildeten sich wahrhaftig Tränen in ihren Augenwinkeln? “Du denkst doch nicht ... Was willst du jetzt mit der alten Geschichte? Das ist fünfzehn Jahre her!” “Zwei tödliche Unfälle”, murmelte ich. 45
“Schön, ich sag dir die Wahrheit. Der Junge hieß Holger Koninski und wohnte im Haus gegenüber. Der See war für das Betreten bei Eis gesperrt, aber natürlich gingen wir Kinder alle hin, wenn kein Erwachsener zusah. Man mußte nur wissen, daß es eine warme Strömung von einem Zufluß auf der Westseite gab, und die Stelle meiden, wo sie die Oberfläche erreichte. An dem Tag Mitte Februar waren wir bei Einbruch der Dämmerung die einzigen, die noch nicht nach Haus mußten. Meine Mutter ließ mir ziemlich viel Freiheit, wie du weißt. Ich war schon öfter mit ihm und anderen Kinder draußen, die Situation war also keineswegs ungewöhnlich. Als die andern gegangen waren, versprach er mir plötzlich eine Belohnung, wenn ich ... na, wenn ich eben mein Höschen ausziehen würde. Guck nicht so, hast du nie in dem Alter Doktor gespielt?” Mit mir wollte als Kind leider niemand spielen. “Was für eine Belohnung, hab ich gefragt. Sein Taschenmesser. Mein Gott, ich war fünf. Ich wußte, es war nicht recht, hätte aber nicht genau sagen können, weswegen. Ich dachte eher an die Kälte. Also feilschte ich mit ihm, ob er mir erst das Messer geben muß oder ich ihm erst zeigen soll, was er sehen will. Als ich mich weigerte nachzugeben, bekam er so einen seltsamen Gesichtsausdruck, den ich mir nicht erklären konnte. Er griff nach mir, doch ich bin ihm entwischt. Die Schlittschuhe hatte ich an, also ‘raus aufs Eis. Er hinterher. Und dann kam mir die Idee, nah an der warmen Stelle vorbeizuschlittern.” Ich hielt den Atem an. “Ich dachte nichts weiter, als daß er einen großen Bogen um den gefährlichen Abschnitt machen würde, und ich könnte dadurch einen Vorsprung gewinnen und ihm entwischen. Ich fuhr also auf jene Bucht zu und hörte es auch knirschen unter meinen Füßen. Ich dachte, der Dummkopf wird abbiegen, aber keineswegs! Ohne zögern hinter mir her, bis er auf drei, vier Meter heran war. Nun, ich war fünfeinhalb, also ziemlich leicht. Holger war fast elf und wog bestimmt doppelt soviel wie ich. Gerade als er mich fast erreichte, hörte ich hinter mir das Krachen. Ich bin sofort abgebogen zur Mitte des Sees, sonst wäre ich selbst noch mit weggetaucht. Holger konnte schwimmen, und das Loch war nicht all zu weit vom Ufer entfernt. Ich habe geglaubt, er würde gleich an Land kommen und mich verprügeln, deswegen bin ich erst einmal abgehauen. Der hat vielleicht gebrüllt! Ich hab gedacht, aus Wut. Die Ärzte meinten später, er hätte eine Art Schock erlitten. Ich hab mich also im Gebüsch versteckt. Als plötzlich Ruhe war 46
und nichts passierte, bin ich nachschauen gekommen. Es war inzwischen dunkel, ich konnte kaum etwas erkennen. Dann bin ich nach Haus, und hab meine Mutter alarmiert.” “Was hast du erzählt, wie es passiert ist?” “Was schon ... Nur daß wir Schlittschuh fuhren und Holger über den gefährlichen Abschnitt fuhr. Man wollte mir nicht so recht glauben, weil Holger wie alle anderen von der Gefahr wußte. Aber das andere ... ich konnte es niemandem erzählen. Nachher hätten sie mich noch verantwortlich gemacht. Ich war fünf! Ich hatte keine Ahnung, von wegen Sex und so. Ich habe in den folgenden Wochen natürlich genauer zugehört, wenn die älteren Mädchen über Knutschen und Jungs und nackt Ausziehen redeten. Ich erinnerte mich auch an Anspielungen meiner Mutter bei Telefonaten mit ihren Freundinnen und meiner Oma, daß mein Vater den Reizen einer jüngeren erlegen sei. Jedenfalls wußte ich, es ging um irgendetwas, das Erwachsene heimlich miteinander tun, wovon kleine Kindern nichts wissen sollen. Im Schrank meiner Mutter fand ich dann ein Buch mit Zeichnungen von Stellungen, du weißt schon.” “Deshalb unser Ausflug damals zu deinem Vater!” Sie nickte. “Er hatte mir gesagt, Sonntag nachmittag könne ich ihn nicht besuchen, ich müsse immer samstags kommen. Da vermutete ich, daß jene Jüngere ...” “Warte mal”, unterbrach ich sie. “Was hattest du Andy damals versprochen, wenn er auf meine Schwester aufpaßt?” “Ich sollte mit ihm nackt baden gehen. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, daß das jemand so spannend fand, daß er dafür sonst was verspricht. Ich ging mit meiner Mutter alle Tage nackt baden. In der Badewanne, zugegeben, aber für mich machte das keinen großen Unterschied. Wie ein Junge nackt aussieht, wußte ich sowieso. Die kleinen Kinder hatten am See keine Badesachen an, und im Sommer davor waren wir an der Ostsee am FKK. Ich fand das eher häßlich. Also mußte da noch etwas sein, und das wollte ich unbedingt wissen.” “Und als du deinen Vater gesehen hattest?” “Ich war entsetzt! Du nicht? Da schwitzt man doch, dachte ich, und fremder Schweiß stinkt. Nachdem die Aufregung vorbei war, hat meine Mutter mich nach allen Regeln aufgeklärt. Ich sagte mir dann, wenn das dazu notwendig ist, um eine Mutti zu werden, verzichte ich lieber mein Leben lang. Ich weiß ja nicht, was deine Alten dir 47
erzählt haben ... Andy mußte fünfzehn Jahre warten, bevor er mich ohne Kleidung sehen durfte.” So genau wollte ich es gar nicht wissen. “Apropos Andy ...” “Ja?” fragte sie, als ich das Satzende in der Schwebe ließ, und wechselte dann in die Gegenwart zurück. “Das Zelt gehört den Eltern einer Freundin von mir, keiner von den Jungs wird da ohne zu fragen ‘rangehen. Bei Tihany, auf der Halbinsel, wo wir übernachten, gibt es ein Naturschutzgebiet. Viel Bäume, Gestrüpp und vor allem das Verbot, dort zu bauen. Wenn wir es schaffen, ihn dort zu vergraben, kann er da Jahre liegen, ohne daß ihn jemand findet.” “Wie soll das gehen bei den Massen an Touristen?” “Früh um drei, vor Sonnenaufgang, ist kein Mensch draußen. Ich besorg uns heute noch zwei Spaten.” Ich fand das ziemlich makaber. Sicher, der Tote spürte nichts mehr. Ich hatte ihn gekannt und wußte, er war oberflächlich, angeberisch und wenig einfühlsam. Hundert Mal behandelte er mich von oben herab. Trotzdem ... er hätte wie jedermann ein ordentliches Begräbnis verdient. Von der Freilichtbühne meldete ein zweimaliges Hupen, daß die vier zur Abfahrt bereit standen. Ralf fuhr mit dem Kleintransporter vorne weg, ich folgte mit dem Škoda und dem Campinganhänger – und der Leiche. Wenn wir in eine Kontrolle gerieten! Daß Monique in dieser Situation den Nerv hatte, uns auf die Schönheiten der Landschaft hinzuweisen! Ich hielt meine Augen starr auf die Hinterräder meines Vordermannes geheftet und schaute weder nach links noch nach rechts. Die Jungs hatten es gut. Die ahnten nicht, was für eine Fracht sie mit sich führten. Als wir hinter Balatonalmádr am Straßenrand hielten, war höchstens eine Stunde vergangen, aber ich fühlte mich restlos erledigt. “Sind wir schon da?” fragte ich gedankenlos. Ralf stieg aus und kam auf uns zu. “Wir gehen ‘runter zum Strand und baden eine Runde.” Wie die andern griff ich nach Handtuch und Badehose. Ich hüpfte ins Wasser, schwamm ein paar Meter und legte mich auf die Decke. Ich begnügte mich zuzusehen, während die anderen fünf Ball spielten. 48
Den ganzen Tag hier liegen und an nichts denken müssen. Warum lag ich nicht an meinem vertrauten Strand in Síofok und plauderte mit meinen Zeltnachbarn, einem Haufen lustiger Studenten aus Bielefeld? Und fuhr weiter nach Budapest, sobald ich das letzte meiner von zu Haus mitgebrachten Bücher ausgelesen hatte? Durchstreifte dort die Antiquariate nach neuem Lesestoff? Ich hatte mir vorgenommen, dort nach seltenen Werken alter Philosophen zu fahnden und dafür einen Teil meiner Reisekasse in Reserve gehalten. Statt dessen begleitete ich einen Toten. Wozu das alles? Die Antwort stand wenige Meter vor mir. Alles, was an diesem Strand männlich und über zehn war, hielt seine Augen auf Monique geheftet, auf den gelben Bikini, auf ihren braungebrannten, schlanken Körper, auf die prächtigen Brüste, die jedesmal ein wenig hüpften, wenn sie nach dem Ball sprang, auf die blonden langen Haare, die bei jedem Sprung um ihren Kopf wehten. Ich konnte mir zehnmal sagen, daß sie mehrere Nummern zu schön war für mich mit ihrer selbstbewußten Ausstrahlung. Ich begehrte sie. Ich wollte sie für mich allein. Jawohl, ich liebte sie. Hatte ich nicht ein größeres Recht auf sie als alle andern? Ich kannte sie länger als jeder andere hier am Strand. Waren wir nicht Komplizen? In diesem Moment hätte ich zehn Leichen für sie versteckt. Nach einer halben Stunde packten wir die Badesachen zusammen und gingen über den Waldweg zur Straße zurück. Ralf sah es als erster. “Ich werd’ verrückt. Unser Campinganhänger ist weg.” “Was?” Monique rannte vor, um die Autos zu sehen. Die standen noch da, vorn der Lieferwagen, dahinter der Škoda. Der Anhänger fehlte. Das Stromkabel baumelte am Boden. “So eine Sauerei”, meinte Ralf. “Bloß gut, daß wir das Zelt nicht mehr brauchen.” Monique blickte ihn mit einem Ausdruck der Verblüffung an, den außer mir keiner verstand. “Das Zelt ...”, murmelte sie. Dann brach sie in ein irrsinniges Gelächter aus.
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Drittes Kapitel
Mit Anfang zwanzig bildeten Bratkartoffeln mit Spiegelei den Höhepunkt meiner Kochkunst. Ein Soufflé konnte ich mir bestenfalls als Spezialität eines französischen Vier-Sterne-Restaurants vorstellen. Dabei unterscheiden sich beide im zeitlichen Aufwand überhaupt nicht voneinander. Im ersten Fall müssen Sie Kartoffeln kochen und braten. Das dauert über eine halbe Stunde. Für ein Soufflé brauchen Sie nur die gewählten Grundbestandteile anzudünsten, in eine Form füllen, die Soße anrühren, den Rest erledigt die Backröhre von selbst. Wenig Zeit ist eine Ausrede der Kulturlosen. Ob genußvoll speisen oder nur schnell mal den Magen füllen – das ist eine Frage von Lebensart und Bildung. Möglicherweise machen Sie gerade eine Diät, weil Sie Ihr Hausarzt vor Cholesterin und gesättigten Fettsäuren gewarnt hat. Doch selbst wenn Sie mittlerweile zum überzeugten Gemüsefreak konvertiert sind: ein dickes Stück Aprikosenschaumtorte auf der Zunge zergehen lassen, dazu ein kräftiger Mokka mit Sahnehäubchen – weckt das nicht heimliche Sehnsüchte? Mal ehrlich! Hinterher einen Kognak oder zwei, voll Vorfreude auf das Spanferkel am Abend, mit Zitronenscheibe im Maul? Wenn Sie solche Leckereien ohne Nachteil für die Gesundheit, die Figur und ähnliche Heiligtümer Ihres Egotrips genießen dürften: Würden Sie dann nicht Ihre Rohkostsammlung mit Freuden in den Müll werfen? Haben Sie sich mal gefragt, warum es heutzutage soviel unzufriedene Zeitgenossen gibt? Wo wir doch angeblich zu den reichsten Ländern der Welt gehören? Man hat uns die Freude am Essen genommen. Ein Knäckebrotscheibchen hier, ein Äpfelchen da. Wie der Hase an der Möhre kauen – als Nagetier startet der Mensch ins dritte Jahrtausend. Und alle Zeitschriften voll mit neuen Diäten. “Abnehmen ohne weniger zu essen.” Wer es glaubt, hat unzählige verzweifelte stumme Dialoge mit seiner Waage vor sich. Der letzte Trend, von dem ich las, heißt Gemüseeintopf pur. Morgens, mittags und abends. Sie benötigen einen kleinen Kohlkopf, sechs Möhren, sechs Zwiebeln, zwei Paprikaschoten, Stangensellerie, grüne Bohnen, einen halben Liter Tomatensaft, Brühwürfel, eine Tüte Zwiebelsuppe, geschälte Tomaten, Dill und Petersilie. Wenn Ihnen bei dieser Aufzählung das Wasser im Munde zusammenläuft, befinden Sie sich 50
eindeutig im falschen Buch. Nichts als Brühe und weichgekochtes Grünzeug. Nennen Sie das Lebensfreude? Im übrigen habe ich nichts gegen Gemüse. Sechs hübsche Champignontorteletts mit schaumig geschlagenen Eiern, Sahne, Schnittlauch, geriebenem Käse und Muskat, goldgelb überbacken, da sage ich nicht nein. Sogar einen Bohnenauflauf würde ich tolerieren, wenn er dick ist und nicht häufiger als einmal im Jahr auf den Tisch kommt. Ich fasse zusammen: Schmackhafte Nahrung ist der Lebenssinn schlechthin. Beobachten Sie mal einen Säugling, wenn seine Mama ihn nicht pünktlich an ihre Fläschlein läßt. Nasse Windeln, Bohrmaschinen in der Nachbarschaft, Wärme, Kälte, alles läßt sich so ein Baby bis zu einem gewissen Grade gefallen, aber wenn sich das Essen nur um zehn Minuten verspätet ... Ich weiß, wovon ich rede, ich habe vier mitaufgezogen. Und später – in der Jugend gibt es ein paar Verirrungen, weil eine andere Art von Fleisch zeitweise unverhältnismäßig große Gier erweckt. Wenn ich damals geahnt hätte, wie schnell einen die Wirklichkeit einholt. Ich will gar nicht davon anfangen, wie wenig Männer und Frauen einander verstehen. Ein gutes Mahl dagegen enttäuscht uns nie. Die Konsequenz ist klar: Betriebsfeiern, Geburtstage, sogar Hochzeiten, Begräbnisse oder hochintellektuelle Kongresse, immer wird die Bedeutung der Zusammenkunft an der Qualität des kalten Büfetts oder eines Fünf-Gänge-Menüs gemessen. Nicht an den anwesenden Schönheiten und den Ausmaßes ihrer Dekolletés. Haben Sie mal darüber nachgedacht? Ich habe das leider zu spät begriffen.
An den Rest des Ungarnurlaubs und die Wochen danach erinnere ich mich nur mit Unbehagen. Ralf, dem der Campinganhänger gehörte, empfand Moniques Lachen als Spott. Sie wies darauf hin, daß sie immerhin für das wohlbehaltene Zurückführen des Zeltes gebürgt hatte, und trotzdem imstande sei, das Komische der Situation zu empfinden. Ich hörte als einziger aus ihrem Gelächter Erleichterung heraus. Die Jungs stritten sich, ob man die Diebe verfolgen oder sofort die Polizei informieren sollte. Monique setzte sich durch mit dem Vorschlag, erst mal in Tihany die Hotelpension aufzusuchen. Ich unterstützte sie. Kaum waren wir dort, eilte Ralf zur Wache. Monique versuchte vergeblich, ihn zu bremsen. Welches Argument hätte sie seiner Feststellung entgegenhalten sollen, daß ohne eine sofortige Anzeige seine Versicherung den Anhänger nicht bezahlen wird? 51
Jetzt konnten wir beide einander und den Dieben nur die Daumen drücken. Wenn Andy oder was von ihm übrig war irgendwo auftauchte ... Das Glück war uns hold. Außer zwei Befragungen von ärgerlichen, deutsch radebrechenden Polizisten hatten wir nichts auszustehen. Ralf mußte einen Haufen Papiere ausfüllen und mehrmals mit der Budapester Botschaft telefonieren, dann war alles überstanden. Und mein Urlaub war vorüber. “Wenn ich mir die Überraschung der Gangster vorstelle, wenn sie das Zelt auseinanderrollen”, meinte Monique kichernd zu mir, als wir das letzte Mal die Polizeiwache verließen. Ade, Budapester Antiquariate. Statt in die Welt gedruckter Weisheiten früherer Jahrhunderte einzutauchen, fuhr ich halben Kindern das Auto nach Berlin. Mein Ärger schmolz in nichts zusammen, sobald Monique mir tief in die Augen blickte und ihr “Bitte, Manfred”, ins Gesicht hauchte. Und hinzufügte, ich würde es nicht bereuen. Wie jeder in diesem Alter lebte ich von der Hoffnung. Eines meiner Lieblingszitate, als Kind in einem der vielen geliehenen und bald wieder vergessenen Bücher gelesen, lautete sinngemäß: Wie traurig, wenn deine Wünsche sich nicht erfüllen! Aber welche Enttäuschung steht dir erst bevor, wenn sie sich erfüllen! Meine Mutter staunte nicht schlecht, als ich zwei Tage nach meiner Heimkehr eine Vorladung der Berliner Kriminalpolizei erhielt. Zwecks Überprüfung eines Sachverhalts, hieß es in dem amtlichen Schreiben. Als ich das düstere Gebäude in Berlin-Mitte betrat, hatten Monique und ihre vier Vertigos schon stundenlange Verhöre hinter sich. Das erfuhr ich aber erst später. Wir hatten ausgemacht, eine Weile jeden Kontakt zu vermeiden. Die fünf wollten versuchen, mich aus der Sache herauszuhalten, da sie mich erst nach Andys Verschwinden als Fahrer engagiert hatten. Das gelang natürlich nicht. In dem Zimmer, in dem ich mich pünktlich um zehn Uhr dreißig zu melden hatten, warteten zwei uniformierte Herren auf mich. Nach Aufnahme der Personalien stellte der Größere der beiden sofort die ihrer Meinung nach entscheidende Frage: “Wie kam es, daß Sie genau in diesem Moment in Síofok zur Stelle waren, als der Fahrer der fünf Musiker verschwand?” “Es war Zufall.” Der Größere der beiden lächelte ironisch. “Das sollen wir Ihnen abnehmen?” 52
“Ich war im Urlaub!” Der Kleinere hämmerte die Antwort in die Schreibmaschine, als sei sie das entscheidende, mich entlarvende Beweisstück. “Allein? Ohne Freundin, ohne Gleichgesinnte? In Ihrem Alter? Mit dem Zug gefahren, obwohl Sie hätten Auto fahren können?” “Ich besitze keins.” “Wir haben festgestellt, daß Sie, der Vermißte und die Sängerin als Kinder in derselben Straße wohnten.” Triumph schwang in seiner Stimme mit. “Das ist kein Geheimnis”, antwortete ich. “Die Gruppe ist in Ungarn an zwölf verschiedenen Orten aufgetreten. Aber Sie treffen ausgerechnet am letzten Abend mit ihnen zusammen, als der Techniker sich absetzt.” Allmählich wurde mir mulmig. Wußten Sie etwas? Hatte Monique sich verplaudert? “Warum geben Sie nicht zu, daß Sie sich verabredet hatten?” Ich atmete auf. Sie klopften nur auf den Busch. “Alte Freunde, wie Sie beide! Sie fuhren nach Ungarn, die Vertigos fuhren nach Ungarn. Völlig verständlich, daß man da ein Wiedersehen verabredet. Ich bin überzeugt, Sie haben sich nichts Böses dabei gedacht, als die Gruppe Sie ausgerechnet zum letzten Auftritt in Síofok einlud.” Ich schwieg erwartungsvoll. “Sie konnten nicht wissen, daß Ihre Verabredung sorgfältig geplant war.” So ging es noch eine Weile weiter. Allmählich schälte sich heraus, daß die beiden Fahnder die Vertigos wegen Beihilfe zur geplanten Republikflucht drankriegen wollten. Mir war in diesem Stück die Rolle des vertrauensseligen Freundes und mißbrauchten Zeugen zugedacht. “Warum hätten sie ihm zur Flucht verhelfen, selbst aber hier bleiben sollen?” fragte ich. “Die Fragen stellen wir, junger Mann!” Der Vernehmer beugte sich vor und raunte in vertraulichem Ton: “Sie wollen doch ab nächsten Monat hier in Berlin 53
Philosophie studieren?” “Sicher. Ich habe eine Studienzulassung.” “Die möchten Sie doch gern behalten?” “Was wollen Sie damit sagen?” Er richtete sich auf und wechselte zurück in den amtlichen Verhörton. “Sie bleiben dabei, daß Sie sich in Ungarn nicht verabredet hatten, sondern nur deswegen die Musiker zurückfuhren, weil Sie gerade völlig zufällig anwesend waren?” “Das ist die Wahrheit.” “Unterschreiben Sie.” Der Kleinere riß sein Papier aus der Schreibmaschine und hielt es mir hin. Ich las es sorgfältig durch. So sorgfältig, daß ich förmlich spürte, wie die Atmosphäre in dem Raum zu vereisen begann. Dann setzte ich meinen Namen unter das Blatt. “Denken Sie noch einmal über Ihre Aussagen nach. Wir melden uns wieder.” Das taten sie. Nach fünf Tagen, in denen ich wie auf glühenden Kohlen gewartet hatte. Diesmal klingelten zwei andere Herren in identischen grauen Anzügen an unserer Haustür. Meine Mutter wurde blaß, als sie ihnen die Tür öffnete. “Lehmann”, stellte sich der ältere von beiden höflich vor und fügte hinzu “Können wir Ihren Sohn sprechen?”, obwohl ich direkt hinter meiner Mutter stand. Sie gab den Weg frei, und ich führte die Herren in mein Zimmer. Als sie ihre Klappausweise zückten, schaute ich kaum hin. Dem Geheimdienst unseres Landes ging sein Ruf voraus. “Sie können sich denken, weshalb wir kommen?” fragte der zweite, der sich als “Müller” ausgewiesen hatte. Ich wußte, von jetzt ab sollte ich jedes Wort auf die Goldwaage legen. Sie suchten den Beweis, daß es sich bei Andys Verschwinden um eine Art politische Verschwörung handelte. “Ich bin mir nicht ganz sicher.” “Herr Wagner, wir untersuchen einen Fall von Republikflucht. Das ist keine Bagatelle. Unser Land hat Ihnen ermöglicht, Abitur zu machen und finanziert Ihnen ein Studium. Finden Sie nicht, daß das ein wenig Dankbarkeit von Ihrer Seite rechtfertigt? Jetzt erhalten Sie Gelegenheit dazu. Helfen Sie uns.” 54
Bei diesen Worten kam mir die rettende Idee. Sie wollten meine Mitarbeit? Sie sollten sich wundern. “Sie haben völlig recht.” Ich legte soviel Enthusiasmus wie möglich in meine Stimme. “Seit der Vorladung im Polizeipräsidium habe ich lange nachgedacht, um mich auf jede noch so unbedeutenden Kleinigkeit zu besinnen. Wissen Sie, was mir dabei eingefallen ist?” “Müller” zückte seinen Notizblock. “Der Bursche hatte seine Absichten gut getarnt! Obwohl jeder, der ihn kannte, ahnen mochte, daß es mit seiner politischen Einstellung nicht weit her war.” “Das müssen Sie uns genauer erläutern.” “Gern. Sie wissen sicher, daß er Diskothekenabende durchführte. Jeder wußte, daß er nicht einmal das gesetzlich vorgeschriebene Minimum an einheimischer Musik auflegte. Westliche Titel dominierten sein Programm.” Die beiden Herren lächelten über meine Naivität. Sie wußten genauso gut wie ich, daß jeder Diskjockey, der sein Publikum nicht vergraulen wollte, ausschließlich westliche Musik spielte – außer wenn Kontrolleure den Saal betraten, also Männer mit kurzem Haarschnitt und Krawatten. “Ich fürchte, das ist etwas wenig an Anhaltspunkten”, antwortete “Lehmann” schließlich. “Haben Sie Vertrauen zu mir, meine Herren?” An dem Blick, den sie sich zuwarfen, erkannte ich, daß ihnen diese Frage im Laufe ihrer Berufspraxis noch nie gestellt worden war. “Ich kenne Andy persönlich, und er kennt mich gut. Ich wette, er hält sich bei seinen nächsten Verwandten in der Bundesrepublik auf. Wenn Sie mir den Auftrag geben hinzufahren ...” Auf den Gesichtern der beiden stand deutlich geschrieben, was sie von mir dachten. Mochten sie mich für bescheuert halten! Dummheit war nicht mal bei uns strafbar. “... werde ich ihn ausfindig machen”, fuhr ich fort. “Ich bringe ihn zurück.” “Gesetzt den Fall, das wäre möglich”, grinste “Lehmann”, “wie wollen Sie ihn überzeugen?” “Ich werde ihm sagen, daß ihm nur in unserem Land alle 55
Entwicklungsmöglichkeiten offen stehen. Als Techniker der Vertigos kann er international Karriere machen und mit dem wachsenden Erfolg ihrer Musik schließlich ganz legal ins westliche Ausland reisen ...” “Für solche Dinge sind andere Leute zuständig.” Dem Mann, der sich “Lehmann” nannte, riß der Geduldsfaden. “Wir brauchen zunächst sichere Beweise, daß eine Republikflucht vorliegt und wie es dazu kommen konnte.” “Verzeihen Sie.” Ich bemühte mich, beschämt zu klingen. “Leider habe ich erst Kontakt zu den fünf Musikern bekommen, als Andy schon fort war. Ich werde mit ihnen reden. Mir werden sie bestimmt nicht verschweigen, was sie wissen. Schließlich sind sie mir seit der Rückfahrt einige Dankbarkeit schuldig.” “Sie mischen sich bitte nicht in unsere Ermittlungen ein!” “Selbstverständlich”, murmelte ich. “Überlegen Sie, ob Ihnen noch etwas einfällt. Nur Beobachtungen, Theorien sind unser Metier, ist das klar? Was während der Rückfahrt gesprochen wurde und so weiter. Sie können diese Nummer anrufen. Nennen Sie nur Ihren Namen, das genügt.” “Lehmann” schob mir einen Zettel zu, auf dem sieben Ziffern standen. Dann erhoben Sie sich. “Sie hören von uns.” Kaum waren sie fort, winkte mich meine Mutter zu sich. “Was wollten die in meiner Wohnung?” “Du weißt doch, der Andreas von nebenan ist in den Westen gegangen ...” Sie schnitt mir das Wort ab. “Ich wünsche diese Leute nicht in meiner Wohnung zu sehen! Ein für allemal!” “Ich konnte sie schlecht ‘rausschmeißen.” “Trefft euch woanders. Wenn sich an meiner Schule herumspricht, daß ich Besuch von der Sicherheit erhalte ... Eine Lehrerin, die das Vertrauen ihrer Schüler und Kollegen verspielt hat, kann einpacken!” “Was soll ich tun?” “Du bist einundzwanzig. Such dir endlich eine eigene Bleibe!” Und daß bei der Wohnungssituation in Berlin! Ich versuchte es. Bei den wenigen alten Damen, die über Zeitungsannoncen Zimmer vermieteten, erfuhr ich, daß sich vor 56
mir mindestens schon zwei Dutzend Bewerber gemeldet hatten. Nach dem zehnten Versuch ging ich zu meinem Vater und bat ihn, mich wenigstens vorübergehend aufzunehmen. Er empfing mich zwischen Windeln und Babygeschrei. Ich hatte noch nicht ausgeredet, da schüttelte er schon den Kopf. “Es läuft mit meiner Freundin zur Zeit nicht so gut. Da einen Untermieter mit politischen Schwierigkeiten aufzunehmen ... also bei aller Liebe ...” Meine letzte Hoffnung war das Studentenwohnheim. Ihre Zimmer standen im Regelfall nur Studierenden von außerhalb zur Verfügung, aber ich wußte, daß sie in Härtefällen gelegentlich Ausnahmen machten. Als ich zur Sprechzeit dort eintraf, warteten bereits über zwanzig andere. Nach über zwei Stunden empfing mich eine resolute Dame von Mitte Fünfzig mit Walkürenfigur. “Sind Sie schwanger? Hat der Vater des ungeborenen Kindes Sie im Stich gelassen? Sind Ihre Eltern Alkoholiker oder straffällig? Nein? Dann liegt auch kein Härtefall vor. Vertragen Sie sich mit Ihren Eltern.” Mit diesen Worten war ich entlassen. Pech, Mama, dachte ich. Am späten Nachmittag kam ich nach Haus. Als ich in die Wohnung wollte, gelang es mir nicht, den Schlüssel in das Schloß zu stecken. Dann sah ich genauer hin. Jemand hatte ein neues Schloß eingebaut. Ich klingelte. “Wer ist da?” rief meine Mutter von innen ohne zu öffnen. “Ich. Manfred.” “Wirf die Adresse, wo ich deine Sachen hinschicken soll, unten in den Briefkasten.” “Was? Mach bitte auf!” Keine Antwort. Ich klingelte wieder. Noch einmal. Ich hämmerte gegen die Tür. Nichts. Ich stellte mir das grinsende Gesicht meiner Schwester Katrin vor, die das bestimmt zum Schreien komisch fand. Einen Augenblick erwog ich, die Tür einzutreten. Sollte meine Mutter die Polizei rufen, würde sie erklären müssen, warum sie ihren eigenen Sohn nicht in die Wohnung ließ, in der er polizeilich gemeldet war. Wenn ich selbst zur Polizei ging? Mich obdachlos meldete? Ich brauchte mir nur das Grienen der Beamten vorzustellen, um von dieser Idee Abstand zu nehmen. Ein 57
erwachsener Mann, der sich von seiner Mama aussperren ließ. Aber wo sollte ich hin? Ich hatte zehn Mark im Portemonnaie und nicht einmal eine Zahnbürste bei mir. Fürs erste benötigte ich ein Dach über dem Kopf. Zumindest für die kommende Nacht. Noch einmal zu meinem Vater? Nein, eine Demütigung genügte mir. Aus den Romanen meiner Kindheit wußte ich, daß man in einer solchen Situation bei seinem besten Freund klingelte. Nur: ich hatte keinen. Und Monique? Ihr verdankte ich schließlich den ganzen Ärger. Laut Absprache wollten wir einander eine Weile nicht besuchen, außer im Notfall. Das war einer. Sie wohnte seit zwei Jahren nicht mehr bei ihrer Mutter, sondern in einer kleinen Straße irgendwo in Köpenick. Um nicht mit leeren Händen aufzukreuzen, kaufte ich von meinem letzten Geld eine Flasche Egri Bikavér. Erlauer Stierblut. Ich hatte einige Mühe, die Adresse zu finden, da mein Stadtplan in der Wohnung lag, die ab heute nicht mehr meine sein sollte. Mehrmals fragte ich nach dem Weg und wurde zweimal in die falsche Richtung geschickt. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit stand ich schließlich vor einem imposanten Altbau. An der Wohnungstür im dritten las ich über ihrem “M. Gersbach” einen zweiten Namen “I. Reichelt”. Mein Finger zögerte auf seinem Weg zum Klingelknopf. Was bedeutete das “I”? Ingo? Ingolf? Iwan? Es fehlte gerade noch, daß ich mit meinem Erscheinen eine Eifersuchtsszene auslöste. Andererseits: Wenn der Typ sie mir fünf Kerlen nach Ungarn fahren ließ ... Ich klingelte. Einen Moment fürchtete ich, daß niemand da war. Doch dann hörte ich Schritte. Ihre Schritte. Die Tür öffnete sich und vor mir stand Monique in einem gelben Trägerkleid und mit einem atemberaubenden Lächeln. Als sie mich erblickte, verdüsterte sich ihre Miene. “Manfred? Bist du verrückt? Weißt du nicht mehr, was wir ausgemacht hatten?” “Kann ich erst mal ‘reinkommen?” Ich hatte geglaubt, die Wohnung, in der Monique wohnte, müßte eine besondere, exotische Ausstrahlung besitzen. Aber ich betrat eine gewöhnliche Studentenbude mit Jalousien statt Gardinen, Regalen und Kisten statt Möbeln und Matratzen auf dem Boden anstelle eines Bett. Die Wände bedeckt mit Theaterplakaten. In der Ecke ein durchgesessenes Sofa. Darüber hing eine Pinwand mit Fotos: Monique im Abendkleid, in Jeans, im Bikini, Arm in Arm mit einem anderen, sehr schlanken Mädchen mit dunklen Haaren. Ich erklärte ihr die Lage in wenigen Worten. Sie überlegte einen 58
Moment. “Du Ärmster! Immerhin, so haben wir einen Grund, daß wir uns sehen. Du kannst fürs erste hier schlafen. Irina bleibt bis Semesterbeginn zu Hause.” “Das ‘I’ an der Tür bedeutet Irina!” rief ich erleichtert. “Was dachtest du?” Sie zeigte auf das magere Mädchen auf der Fotowand. “Daß ich mit einem Kerl zusammen ziehen würde? Nein, Irina hat wie ich vor zwei Jahren mit Theaterwissenschaften an der Uni angefangen. Erst war sie im Wohnheim. Um diese Wohnung mieten zu können, brauchte sie noch eine Mitbewohnerin. In den Ferien habe ich sie für mich allein. Sie fährt dann zu ihren Eltern nach Wismar.” Um über die letzten Tage zu reden, schlug sie mir einen Spaziergang vor. Sie glaube zwar nicht, daß ihre Wohnung abgehört werde, aber warum ein Risiko eingehen? Monique war fünfmal verhört worden und führte auf dem Polizeipräsidium jedes Mal so gut sie konnte die Rolle der betrogenen Geliebten auf, deren große Liebe sie über Nacht im Stich ließ. Unter anderem hatte man die Truppe verdächtigt, den Diebstahl des Campinganhängers nur vorgetäuscht zu haben. Allerdings konnte der zuständige Ermittlungsbeamte auch nicht erklären, wie der Verschwundene sich ohne Fahrzeug mit dem Anhänger davongemacht haben sollte. Ihre Haftpflichtversicherung hatte den Eltern ihrer Mitbewohnerin, von denen sie das Zelt geborgt hatte, inzwischen den Verlust anstandslos bezahlt. Ich schilderte ihr, wie ich die beiden Geheimdienstler los geworden war. Zum ersten Mal in meinem Leben las ich so etwas wie Anerkennung in ihrem Blick. Zurück in ihrer Wohnung servierte sie ein einfaches Abendessen aus Vollkornbrot, Tomaten, Radieschen und Käse auf zwei Holzbrettern, dazu Tee. Als ich sie mit Teebeuteln, Gläsern und Messern hantieren sah, überkam mich so etwas wie eine Vision. Ich sah uns zwanzig Jahre gealtert genauso am Tisch setzen, ein vertrautes Paar, das alle Stürme gemeinsam gemeistert hatte und sich liebte wie an diesem ersten Abend. Was konnte ich tun um unserem Beisammensein Dauer zu verleihen? Ich hätte mich sicherer gefühlt, wenn ich am Morgen schon geahnt hätte, wo ich diesen Abend verbringen würde. Ich hätte meine neuen, in Ungarn gekauften Jeans angezogen statt dieser Nylonhosen von undefinierbarem Braungrau, ein sauberes Hemd, frische Wäsche. Statt flüchtigem Zähneputzen am Morgen hätte ich meinen Atem alle Stunden 59
mit Mundspray aufgefrischt und meine Haare, die allmählich wieder über die Ohren wuchsen, gründlich gewaschen. Nach dem Essen ließ ich mich in die Sofakuhle sinken und bat um einen Korkenzieher und zwei Gläser. Ich wies auf das schwarze Etikett mit dem roten Stierkopf und der ungarischen Schrift. “Zur Erinnerung an das überstandene Abenteuer.” Sie setzte sich neben mich und hielt mir ihr Glas hin. “Reden wir lieber über die Zukunft. Ein paar Tage kannst du sicher in Irinas Bett schlafen. Ich werde nicht immer da sein, aber du kannst den zweiten Schlüssel haben. Nur, in spätestens drei Wochen ist sie wieder hier.” Ich blickte auf die Matratzen in der Ecke. Die waren breit genug für zwei. “Wenn du nur wolltest ...” stammelte ich, all meinem Mut zusammennehmend. “Ja?” Sie mußte doch kapieren, was mit mir los war. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ihrem selbstbewußten Lächeln, ihren langen, blonden Haaren und ihrem biegsamen Körper je ein männliches Wesen widerstand. “Nach allem, was wir miteinander erlebt haben ... was wir voneinander wissen ... Was meinst du, warum ich ohne groß zu fragen mitgemacht habe, Andy ...” “Sag`s nicht!” “Ich liebe dich!” Sie verdrehte ihre Augen. Nicht nur, daß der Typ unangemeldet zum Übernachten kommt, sagte ihr Blick, eine durchgeknallte Sicherung im Oberstübchen hat er auch noch. “Du? Red keinen Unsinn.” “Aber es stimmt! Du hast an Andys Zuneigung geglaubt ... Warum glaubst du mir nicht?” “Weil es unglaubwürdig klingt. Nach allem, was du von mir weißt.” ”Ich tu alles für dich!” Sie runzelte ärgerlich die Stirn. “Ich fürchte, das stimmt sogar. Gerade deswegen ist es unmöglich.” “Warum, wenn sogar Andy ...” 60
“Ich will den Namen von dem Schwein nicht mehr hören!” “Und ich dachte, du wärst über meine Hilfe froh gewesen.” “Du willst eine Gegenleistung? Einverstanden, danach sind wir aber quitt.” Zu meinem Entsetzen hob sie ihren Po an und zog sich das Kleid über den Kopf. Darunter war sie völlig nackt. Sie legte sich zur Seite und schwang ihr linkes Bein über mich hinweg, so daß sie mir offen all ihre Reize präsentierte. “Bedien dich.” Ich sprang von ihr weg. “So habe ich das nicht gemeint!” “Beeil dich, ehe ich es mir anders überlege.” “Was habe ich dir getan? Ich habe dir doch nur eine Liebeserklärung gemacht.” Sie zuckte mit den Schultern und zog das Kleid wieder an. “Indem du eine ausstehende Rechnung einforderst?” Ich nippte schweigend an meinem Glas und dachte mir finstere Pläne aus, um ihr Herz zu erweichen. Ich könnte ihr jeden zweiten Tag einen meiner Finger mit der Post schicken und dazu ein paar Zeilen: “Wenn du mich nicht erhörst, kann ich ab übermorgen keinen Füllhalter mehr halten.” Ich sah mich meine seltenen Bücher vor ihrer Tür verbrennen, mit einem Plakat “Ich liebe Monique” über den Alexanderplatz schreiten und Andys Leiche in Ungarn wieder ausgraben. Erst nach einigen Sekunden erinnerte ich mich, daß man uns den Toten geklaut hatte. Ich kramte vergeblich in meinem Gehirn nach dem entscheidenden Satz, mit dem ich an ihren Gefühle rühren konnte. Er fiel mir nicht ein. Eine Weile saßen wir stumm nebeneinander. Schließlich legte sie ihre linke Hand auf meinen rechten Arm und meinte freundlich: “Du kennst meine Lebensweise nicht. Nach ein paar Wochen würdest du vor Eifersucht verrückt werden. Nicht ohne Berechtigung.” “Wenn du deine Band meinst ...” “Ach, die Vertigos ...” Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der andern Hand. “Das ist vorbei. Nach dieser Geschichte bekommen wir sowieso keine Auslandsauftritte mehr.” “Ihr werdet Erfolg haben, dann müssen sie euch reisen lassen.” 61
“Du hast doch die Eigenkompositionen gehört? Schaurig, nicht wahr? Meine Stimme ist auch nur Durchschnitt. Meinst du, ich weiß nicht, mit welchen Körperteilen ich meine Erfolge erzielt habe? Spar dir deine Komplimente”, meinte sie, als ich protestieren wollte, “Ich kenne meine Grenzen. Bei den Kanuten hatte ich in der Zwölften aus dem gleichen Grund aufgehört. Ich kam einfach über den vierten Platz nicht hinaus.” “Ich dachte Sport treibt man aus Freude, dabei sein ist alles und so?” “Ach, du lieber Himmel! Spaß kann ich überall haben, dafür muß ich mich nicht an den Rudern abquälen. Das Gebiet, auf dem meine Talente wirklich zum Tragen kommen, habe ich noch nicht gefunden. Ich suche noch. Mit der Band bin ich nur Ralf zuliebe mitgetourt. Inzwischen sieht auch er ein, daß die Begabung seiner Jungs für die ganz großen Hits nicht ausreicht.” “Dann verstehe ich nicht, wovor du mich bewahren willst.” “Hast du eine Vorstellung, wie selten es ist, daß du mich wie heute zu Haus antriffst, ohne daß ich vorhabe, noch wegzugehen oder Besuch zu empfangen?” “Ein neuer Freund?” fragte ich vorsichtig. Sie lachte hell auf. “Bewahre dir dein argloses Gemüt.” Sie drückte mir die Rotweinflasche in die Hand. “Sei mir nicht böse, ich möchte heute früh schlafen gehen. Wer weiß, wann ich wieder dazu komme. Du findest in Irinas Zimmer bestimmt was zu lesen.” Im Wohnraum ihrer Freundin lagen jede Menge Plüschtiere herum. An der Tür hingen Familienfotos. Ansonsten unterschieden sich die Räume nicht sehr. Auch hier gab es Matratzen, Kisten, Regale und ein Sofa mit ausgeleierten Federn. Ein Teil der Bücher stand gestapelt in eine Ecke, fast alles Theaterstücke. Mir war weder nach Brecht noch nach Shakespeare zumute. Ich löschte das Licht und legte mich hin. Auf dem Rücken liegend und die Arme im Nacken verschränkt grübelte ich vor mich hin und starrte Löcher in die Dunkelheit. Mit Monique unter einem Dach! Enttäuschender hätte mein Traum nicht wahr werden können. Zu Hause ‘rausgeflogen, von ihr einen Korb bekommen. In ein paar Tagen würde ich endgültig ohne Obdach sein. Ganz zu schweigen von der schwebenden Untersuchung wegen Andys Verschwinden. Was hatte sie nur gemeint mit der Anspielung auf mein argloses Gemüt? Nicht zum ersten Mal überkam mich das Gefühl, von einem Wissen ausgeschlossen zu sein, über das jeder 62
Trottel im meiner Umgebung verfügte. Das erinnerte mich an die Sportstunden, als ich als einziger beim Bockspringen scheiterte. In das Gelächter der Kameraden hinein versuchte unser Lehrer mich zu trösten: “Unser Manfred hat andere Qualitäten.” Das löste eine neue Lachsalve aus und einer meinte: “Der kriegt doch nie eine ab.” Ich muß ziemlich bescheuert drein geblickt haben. Sonst hätte der Lehrer nicht versucht, die Diskussion mit dem Spruch zu beenden: “Auch dieser Deckel wird seinen Topf finden.” Vier Wochen lang riefen sie mich nicht mehr Mucki, sondern “Hallo, Deckel, wo ist dein Topf?” Erst als ich mich auf der Klassenfete mit Karin zusammentat, beruhigten sich die Gemüter. Eine Zeitlang glaubte ich sogar, in praktischen Fragen des Geschlechtslebens nun auch zu den Wissenden zu gehören. Als mich meine erste Liebe gegen einen FKKler eintauschte, kehrten die Zweifel zurück. Ich sagte mir: “Du hast zwar alle Bücher zu dem Thema gelesen, aber was ist, wenn es da noch Sachen gibt, die sich niemand aufzuschreiben traut?” Der Gedanke war nicht gerade geeignet, mich aufzubauen. Doch dann überkam mich ein Geistesblitz: Wenn sie nun in diese Irina verliebt war? Sappho, Gertrude Stein ... ich wußte aus der Literatur, daß es so etwas gab. Daß gerade intelligente und selbstsichere Frauen solchen Neigungen nachgaben. Nicht gerade schmeichelhaft für uns Männer, aber ich konnte es nachfühlen. Ich stand ja auch auf Frauen. Warum nicht Monique? Andererseits hatte sie sich mit diesem Andy abgegeben. Wenn sie ihn vor Wut mit dem Hocker niederschlug, kann er ihr nicht gleichgültig gewesen sein. Nein, da steckte mehr dahinter. Eigentlich hatte ich andere Sorgen. Ich mußte mich erst mal um eine eigene Wohnung kümmern ... Bei der elften oder zwölften Wiederholung dieser Grübeleien muß ich eingeschlafen sein. Das nächste, woran ich mich erinnere, war Moniques Stimme aus dem Nebenraum. Ich schlug die Augen auf. Draußen war es hell. Einige Minuten lag ich so und versuchte, etwas von ihren Worten durch die Wand zu erlauschen. Vergeblich. Dann wurde es nebenan still, und sie klopfte an die Tür. “Manfred?” “Ich bin wach.” Sie trat ein. “Ich habe ein bißchen herum telefoniert. Ich glaube, ich habe ein Zimmer für dich.” 63
Ich erfuhr, daß sie eine halbe Stunde lang alle ihre Kommilitonen angerufen hatte, ob in den letzten Wochen irgendwo eine Bleibe frei geworden war. Schließlich erreichte sie einen Typ aus dem siebten Semester, dessen bisheriger Mitbewohner im Sommer sein Diplom abgelegt und eine Stelle als Dramaturg in Quedlinburg angenommen hatte. Ich könne sofort einziehen. Eine dreiviertel Stunde später befand ich mich wieder auf Wanderschaft. Die vorläufige Endstation meiner Odyssee fand ich in der Raumerstraße im Prenzlauer Berg. “Bernd Sulker” stand auf einem Zettel an der Tür. Ein zweiter Zettel war ungeschickt abgerissen worden. Der Wohnungsinhaber erwartete mich schon und musterte mich kritisch. “Dein Haarschnitt ist okay”, war sein erster Satz. “Du brauchst neue Klamotten. Übrigens, ich bin Bernie.” Bernie war etwas kleiner als ich, aber muskulöser. Er hatte seine vollen schwarzglänzenden Haare mit irgendeinem Klebemittel zur einem steifen Wirbel über der Stirn hochgedreht. An Ohren und Nacken rasierte er sie kurz. Dadurch wirkte sein ursprünglich rundes Gesicht länglich. Auch der Rest an ihm war sehenswert. Ein Ring im linken Ohr. Ein weißes Seidenhemd, darüber eine braune Lederweste. Die Hose im Jeansschnitt aus dem gleichen Leder mit Schlaufen an den Seiten. Die Schuhe glänzende Slipper. Am auffälligsten war das Duftwasser. Tabak mit Moschusnote. Sollte ich das schick finden oder einfach albern? Da ich um jeden Preis einziehen wollte, entschied ich positiv: Der Typ hat etwas aus sich gemacht. Als dezent konnte man sein Outfit zwar nicht bezeichnen, aber solange er nicht von mir verlangte, daß ich ihn nachahmen sollte ... Dessen konnte ich mir nach seiner Begrüßung leider nicht sicher sein. Er schlug mir herzhaft auf die Schulter, nachdem ich mich vorgestellt hatte. Den Arm um meinen Nacken gelegt, zog er mich in einen Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. “Das ist deine neue Heimat.” Das Zimmer war beinahe so hoch wie lang und völlig leer. Er sah meinen Blick zur Decke und meinte: “Ideal für große Regale. Ich empfehle ein Hochbett - je höher, desto wärmer die Zimmertemperatur. Genau das richtige für heiße Nächte. Du verstehst.” 64
Ich war mir nicht sicher. Währenddessen schnurrte er einen Vortrag herunter über geteilte Kosten, Küche und den halben Kühlschrank, über den ich verfügen konnte. Vorausgesetzt, ich zahlte ihm einen Abschlag auf dessen Anschaffungskosten. Ich nickte alles ab. Hauptsache, mein Zustand der Unbehaustheit fand ein schnelles Ende. Die verbleibenden Stunden des Tages verbrachte ich damit, den größten Teil meiner restlichen Ersparnisse auszugeben. Ein paar Matratzen, einige Möbel – Tisch, zwei Stühle, zwei Regale – aus dem An- und Verkauf, ein paar Klamotten zum Wechseln, danach verblieben mir noch hundertfünfzig Mark zum Leben. Ende September sollte ich mein erstes Stipendium erhalten, bis dahin mußte ich Bernie bitten, mir meinen Mietanteil zu stunden. Eine Decke und Geschirr lieh er mir. Er half mir die Möbel durch die Straßen in die Wohnung zu tragen, wofür wir viermal hin und zurück laufen mußten. Mit dem Geld solle ich mir Zeit lassen. Daß Monique mich empfohlen hatte, wäre ihm Bürgschaft genug. Ich erfuhr, daß er nicht wie sie an der Uni, sondern an der Schauspielschule studierte. Daß er kürzlich in einem “Polizeiruf 110” einen Kellner spielte, der aus falscher Scham ein entscheidendes Detail verschweigt. Daß Monique eine Klassefrau mit einer ganz großen Zukunft sei. Wie ich ihre Talente fände, insbesondere ... na, ich wisse schon. Ich versuchte geheimnisvoll zu grinsen. Offenbar gelang es mir einigermaßen, denn er schlug wieder herzhaft auf die Schulter. Am Abend war ich ziemlich erledigt. Bernie verschwand gegen acht. Er habe noch einen Auftritt in einem kleinen Klub irgendwo in der Nähe von Oranienburg. Schräge Verse rezitieren und dabei mit Keulen und Fackeln jonglieren. Ich schrieb einen kurzen Brief an meine Mutter mit der neuen Adresse. Dort möge sie wie versprochen meine Sachen hinschicken. Nebenbei bemerkt: Sie tat es natürlich nicht, sondern schrieb zurück, Bücher und Kleidung lägen zur Abholung im Hausflur bereit. Mir blieb nichts anderes übrig, als nach und nach alles Bewegliche in Reisetaschen und Rucksack per S-Bahn in den Prenzlauer Berg zu transportieren. Ich brachte mein Schreiben noch zum Briefkasten, dann legte ich mich hin und las eine Weile in einem von Bernies Büchern, das sich als entsetzlich schnulziger Liebesroman entpuppte. Es war schon komisch, in einem fast leeren Zimmer zu liegen, in dem jedes Geräusch als ein Höhlenecho von den kahlen Wänden zurückhallte. Nachdem ich das Licht gelöscht hatte, beobachtete ich noch eine Weile, wie die 65
Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos helle Schatten über die Mauern jagten. In der Nacht wachte ich auf und spürte eine mächtigen Erektion. Das war aber noch nicht alles. Als zweites bemerkte ich nämlich, wie ein feuchter Mund den Schaft meines besten Stücks rauf und runter glitt. Vor Verblüffung hielt ich den Atem an. So verdattert wie ich war, vergaß ich mein Recht auf Gegenwehr. An dem rauhen Kinn, daß bei der Auf- und Abbewegung meinen Bauch berührte, erkannte ich, daß der eifrige Mund einem Mann gehörte, und ich brauchte nicht lange zu grübeln, um zu erraten, daß es sich nur um meinen Mitbewohner Bernie handeln konnte. Was tut man in einem solchen Fall, vor allem, wenn sich der Mund als kundig und sensibel erweist? Wie eine erschrockene Jungfer aufspringen und um Hilfe kreischen? Ich war ja nicht aus Stein, das Ding zwischen meinen Beinen reagierte seiner Bestimmung gemäß. Eindeutige Empfindungen rasten durch mein Inneres und brachten mich dazu, heftige Grimassen zu schneiden. Meine Lippen entfloh ein ungewolltes Stöhnen. Mein Gott, wenn ich weiter still halte, überfiel es mich siedend heiß, denkt der Typ noch, ich bin von der andern Fraktion. “Aufhören”, rief ich und schob seinen Kopf weg. “Na, was denn”, hörte ich Bernies Stimme, “du hast es doch fast geschafft.” “Danke, kein Bedarf”, antwortete ich und wickelte hastig die Decke um mich, während mein steifer Hammer meine Worte Lügen strafte. “So? Na, schade. Gute Nacht”, meinte er und ging ohne jeden weiteren Kommentar. Am nächsten Morgen verlor Bernie kein Wort über die vergangene Nacht. Er deckte den Frühstückstisch, kochte Kaffee und fragte, ob ich gut geschlafen hätte. Wie redet man mit jemandem, der vor ein paar Stunden versucht hat, einem am Pimmel zu lutschen? Ich hatte gelesen, daß die Mehrheit der Jungen einander in der Pubertät solche Dienste erweist. Mich betrachte ich bisher als zur Minderheit gehörig. Ich hatte geglaubt, aus dem gefährdeten Alter heraus zu sein. “Hör mal, letzte Nacht ...” fing ich an. “Schon vergessen”, antwortete er großzügig und reichte mir das Brot. “Bitte halte mich nicht für prüde, aber das ist einfach nicht mein Ding.” “Dein Ding sah mir aber ganz danach aus.” “Ich hatte geschlafen, sonst wäre ich nie ...” 66
“Ja, ja, ich sagte ‘Schon vergessen’. Nimm dir Kaffee.” Ich weiß nicht, warum ich nicht den Mund halten konnte, sondern unbedingt unser Verhältnis klären mußte. “Versteh mich nicht falsch, mir ist es egal, ob jemand Männer oder Frauen bevorzugt. Bloß ich selbst möchte nicht ...” “Wo hat Monique dich bloß aufgerissen?” Mit einer theatralischen Gebärde warf er sein Messer hin, daß es klirrte, und lehnte sich zurück. “Bist du tatsächlich nur so ein kleiner Spießer, der anfängt ängstlich zu zappeln, sobald er etwas erlebt, wovor ihn seine Mutti immer gewarnt hat?” Endlich begriff ich, daß ich besser daran tat zu schweigen. “Wenn ich Monique am Telefon nicht völlig verkehrt verstanden habe, hast du sie durch irgend etwas beeindruckt. Also mußt du etwas an dir haben, was die Masse der Leute weder als normal noch als anständig bezeichnen würde. Was es auch war, du kannst es jedenfalls gut verbergen.” Seine Schlußfolgerung gefiel mir nicht. Er brauchte nur noch eine Verbindung zu Andys Verschwinden herzustellen ... Wenn er auf solche Ideen kam, warum nicht auch die Polizei? “Ich kenne Monique, seit sie fünf war”, sagte ich schließlich. “Das wäre für sie eher ein Grund, sich mit dir nicht mehr abzugeben.” Hätte ich ihn die halbe Nacht an meinem Pimmel nuckeln lassen sollen, nur um sein Mißtrauen nicht zu wecken? Ich riß mich zusammen. Selbst wenn er die Wahrheit ahnte: er würde Monique bestimmt nicht verpfeifen. Nach dem Frühstück verließ ich die Wohnung und meldete meinen Wohnsitz um. Ich brauchte dringend Geld. Deshalb fuhr ich zur Uni. Nachdem ich auch dort meine neue Adresse hinterlassen hatte, meldete mich für die letzten zwei Wochen vor Semesterbeginn zum Arbeitseinsatz für Studenten. Verpflegung war frei und die Bezahlung großzügig. Ohne Steuerabzüge. Erst hieß es, nachträgliche Anmeldungen seien nicht mehr möglich. Dann aber stellte sich heraus, daß noch Leute zum Kabelziehen auf dem Gelände der Charité fehlten. Ich könne bereits am nächsten Tag anfangen. Das beste an den folgenden zweieinhalb Wochen war der Frieden, den meine aufgeregten Gefühle fanden. Ich mußte über nichts nachdenken, mich um nichts 67
kümmern. Wenn ich morgens um halb sieben die Wohnung verließ, schlief Bernie noch. Kam ich abends nach sechs zurück, war er schon wieder verschwunden, um in irgendeinem Klub Gedichte aufzusagen und zu jonglieren. Nachts, wenn er zurückkehrte, schlief ich bereits. Ich hörte ihn nie. Sogar die Polizei ließ mich in Ruhe. Das einzige, was ich von denen eine Woche später erhielt, war ein Schreiben, daß die Untersuchung wegen Mangel an Beweisen eingestellt sei. Am Ende stand allerdings der drohende Satz, daß die Nachforschungen jederzeit wieder aufgenommen werden könnten, sollten neue Fakten bekannt werden. Zwischen Mensa und Zentraler Poliklinik hob ich mit zwanzig anderen Studienanfängern Gräben aus. Einige wollten Gartenbau studieren, andere Slawistik, die dritten Informatik. Ich war der einzige geisteswissenschaftliche Student und wurde belächelt. Ein Philosoph mit einer Schaufel in der Hand? Ich zuckte mit den Schultern. Das Erdreich umzugraben hatte ich bei der Armee ausgiebig üben dürfen. In der Mittagspause trafen sich die meisten Jungs in einer Turnhalle, um Volleyball zu spielen. Wir übrigen suchten ein sonniges Plätzchen und legten uns auf den Rasen. Am dritten Tag lieferten zwei Lastkraftwagen mächtige Kabeltrommeln. Zu zehnt rollten wir das armdicke Kabel herunter und zogen es durch die Gräben. Für diese Tätigkeit wurde ein Erschwerniszuschlag gezahlt. Ich fand sie angenehmer als die Schaufel zu schwingen. Zumindest verursachte sie keine Schwielen mehr an den Händen. Wenn ich mit meinem Körpergewicht an den zukünftigen Telefonleitungen zog, vergaß ich Andy, die Polizei und sogar Monique. In den ersten Tagen hatte ich versucht, sie abends anzurufen, um mich für die Wohnungsvermittlung zu bedanken, erreichte sie aber nie. Ich hoffte, sie würde sich von sich aus mal melden – vergeblich. Vielleicht hatte sie ja mit Bernie telefoniert. Ich traute den beiden durchaus zu, daß sie sich gemeinsam über meine Prüderie lustig machten. Mir klang immer noch ihre Bemerkung über mein argloses Gemüt im Ohr.
Mit dem Beginn des Semesters hatte wieder Geld und konnte bei Bernie endlich meinen Anteil an Miete und Lebenshaltungskosten begleichen. Als ich ihm eines Abends die Scheine überreichte, lag etwas Verächtliches in seinem Blick. Wer außer braven Familienvätern und verklemmten karrieregeilen Trotteln würde schon freiwillig und unaufgefordert seine Schulden bezahlen? Später begriff ich, daß er insgeheim froh 68
war über meine fehlende Leichtlebigkeit. Auch wenn er mich nie anpumpte (Monique hatte es ihm regelrecht verboten), so war er doch oft genug blank. Dank meiner finanziellen Zuverlässigkeit fand er immer etwas zu essen im Kühlschrank. Die meisten Vorlesungen fanden im zweiten Stock der Universitätsstraße 3b statt, einem düsteren Altbau, vor dessen hohen schmutzigen Fenstern alle drei Minuten die S-Bahn vorbei donnerte. Die Theaterwissenschaftler hatten ihr Domizil im gleichen Gebäude zwei Treppen höher. Ich hoffte jeden Tag, in den Pausen, wenn wir uns in den Gängen drängelten, Monique vorüber gehen zu sehen. Aber es dauerte fast einen Monat, bis ich sie tatsächlich einmal in der Menge erblickte, die die Treppen nach oben stürmte. Als ich ihr zuwinkte, machte sie ein Zeichen nach oben. Ich hab’s eilig, hieß das. “Du gehst aber ‘ran”, grinste ein Kommilitone, der den nonverbalen Dialog bemerkt hatte. “Die würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen.” Ich ließ ihn stehen und ging in den Hörsaal zurück, um in meinen Vorlesungsmitschriften zu blättern. Frauen waren unter Philosophiestudenten kein Thema. Unter uns gab es nur einen allgemein akzeptierten Gesprächsstoff: Bücher. Bisher hatte ich mir eingebildet, mich auszukennen. Ich begriff schnell, daß dies ein Irrtum war. Viel und schnell lesen konnte hier jeder. Um an die Spitze zu gelangen, genügte es nicht, das Alphabet zu kennen. Wer die wichtigen Philosophen studieren wollte, mußte sich ihre Werke besorgen. In der DDR fehlten nicht nur die modernen Denker wie Sartre, Heidegger oder Habermas, sondern auch Klassiker wie Platon, Aristoteles, Descartes oder Spinoza. Sogar Hegel und der Marxist Georg Lukács war Mangelware. In den Buchhandlungen ausverkauft, in den Bibliotheken verliehen und auf Monate vorbestellt. In allen Bibliotheken Ostberlins zusammen fanden sich mit Glück zwei oder drei Exemplare, auf die sich hundert Studenten zur gleichen Zeiten stürzten. Kopiergeräte waren unbekannt. Trotzdem wurde die Lektüre als Bedingung der Hauptprüfungen verlangt. Wehe, einer fragte: Wie sollen wir das schaffen? Die Antwort lautete unweigerlich: Bis jetzt haben es alle geschafft. Lassen Sie sich was einfallen. Ich erkundigte mich also, wie die höheren Semester das Problem meisterten. Ganz einfach: Man lieh sich die Bücher untereinander, die man sich privat beschafft hat. Geben und nehmen. Nur der kann sich was borgen, der selbst einige begehrte 69
Werke zum Verborgen besitzt. Ich besaß Hegels Geschichte der Philosophie und zwei Bücher von Kant, die ich mir als Abiturient zugelegt hatte. Das war besser als nichts, da diese drei Sachen inzwischen vergriffen waren. Aber viele andere besaßen sie auch, ihr Tauschwert blieb folglich gering. Die einzige Quelle für Studenten ohne großzügige Westverwandte waren die zentralen Antiquariate in Rostock, Berlin, Leipzig und Aue, die ein- oder zweimal im Jahr Kataloge herausgaben. Ich erinnere mich noch an das erhebende Glücksgefühl, als ich in meinem ersten Katalog zweiundzwanzig wichtige Bücher ankreuzte und bestellte – und meine maßlose Enttäuschung, als ich kein einziges davon erhielt. Leider können wir nicht liefern, da der Bedarf die Liefermenge übersteigt, informierte mich ein Stempel auf der Antwortkarte. Erst bei meiner vierten Bestellung schlug meine Stunde. Es ging um eine dreibändige Schopenhauerausgabe. Ein Kommilitone aus dem neunten Semester verriet mir, daß die Zahl der eingegangenen Postkarten für solch heiße Ware bei durchschnittlich achthundert lag. Kurz, bei jeder Bestellung spielte ich in einer Lotterie mit und hatte das erste Mal gewonnen. Und das auch nur, weil ich einen Trick anwandte. Ich hatte gleich bei der Bestellung einen Giftschein mitgeschickt. Es war ja nicht so, daß im Osten jeder Hinz und Kunz Schopenhauer kaufen durfte, wenn zufällig mal ein Exemplar seinen Weg kreuzte. Im Normalfall lief die Prozedur folgendermaßen ab: Man schickte seinen Bestellschein. Wer aus der Lostrommel gezogen wurde, erhielt zunächst nur ein Formular zugeschickt, auf dem der Direktor der wissenschaftlichen Einrichtung, wo man arbeitet oder studiert (Normalbürger ohne eine solche Arbeitsstelle schieden an dieser Stelle bereits aus dem Rennen aus), mit Stempel und Unterschrift bestätigen mußte, daß Herr oder Frau Sowieso das gefährliche Werk für wissenschaftliche Zwecke benötigt und es nicht weiterverkaufen oder verleihen wird. Sobald der Schein ordnungsgemäß ausgefüllt zurückkam, schickten sie das Buch ab. Niemand hielt sich an die Bedingungen dieser Scheine. Die Bücher zu verleihen und sich selbst welche zu borgen, war ja gerade der Sinn ihres Erwerbs. Giftscheine zu bekommen, fiel uns nicht schwer. Es lag im Interesse der Professoren, daß die Studenten ihre Literaturbeschaffungsprobleme eigenständig und ohne großes Trara 70
lösten. Also hatten die Sekretärinnen die Anweisung, uns solche Scheine auszustellen und “im Auftrag” zu unterschreiben, wann immer wir wollten. Im Normalfall legten die Studenten die Formulare erst vor, wenn sie in der Lostrommel der Antiquariate einen Gewinn gezogen hatten. Das kam so gut wie nie vor. Mit meiner Idee, die Scheine für alle bestellten Bücher im voraus mitzuschicken, gewann ich vor der Konkurrenz zum ersten Mal einen Vorsprung. Ich entwarf an der Schreibmaschine mein eigenes Formular mit dem üblichen Text und tippte es zwölfmal ab. Damit lief ich zu der Sekretärin des obersten Chefs, die alle ohne mit der Wimper zu zucken abstempelte und unterschrieb. Ich vermute, beim Antiquariat freuten sie sich über die Gelegenheit, einen Zwischenschritt auf dem Weg zu ihrem Geld einzusparen und zogen mich wenigstens einmal in die engere Wahl. Mein Stipendium für drei Wochen ging dabei drauf. Aber der Neid, als ich drei dunkelblauen Bände im Seminar herumzeigte, entschädigte mich. Gedruckt in altdeutscher Sütterlinschrift, das Vorwort der Herausgebers von 1902. Sechs Kommilitonen und der Seminarleiter, ein Doktor Hellbrecht, sagten: Ach, du bist das, der uns den Schopenhauer weggeschnappt hat. Sie hatten ihn auch bestellt. Wenn es nach der Wende hieß, die Philosophen hätten keine Ahnung von der Lebenswirklichkeit gehabt, konnte ich nur lachen. Ohne Organisationstalent wäre ich bereits in der ersten Zwischenprüfung durchgerasselt. Zum Dogmendreschen fehlte die Zeit. Ich war dauernd auf Bücherjagd. Nach einem halben Jahr kannte ich alle Buchhändler im FünfKilometer-Umkreis von Angesicht, zum Teil sogar mit Namen. Ich nehme als Beispiel die Aufregung, als zum ersten Mal ein Büchlein von Sigmund Freud erscheinen sollte. Das war sehr viel später, 1982, kurz vor Ende meines Studiums. Da war ich schon ein erfahrener Bücherjäger. Das Buch wurde angekündigt unter dem Titel “Trauer und Melancholie” und enthielt unter anderem den gesellschaftskritischen Text “Vom Unbehagen in der Kultur”, in dem Freud die Gesellschaft für unsere Neurosen verantwortlich macht, weil sie das Triebleben unterdrückt. Völlig klar, jeder Philosophie- und Psychologiestudent wollte ein Exemplar haben, und es war ebenso klar, daß viele interessiert, aber nur wenige auserwählt sein würden. Ich fing brav an, die mir bekannten Verkäuferinnen zu bitten, mir eins zurückzulegen. “Wir nehmen keine Bestellungen entgegen.” Das war immer die erste Reaktion. “Können Sie nicht für mich eine Ausnahme machen? Ich studiere Philosophie, 71
und gerade dieses Buch ...” “Es waren schon zwei andere da, die das gleiche behauptet haben. Wir bekommen ohnehin höchstens fünf oder sechs Exemplare, das reicht gerade für unsere Kollegen.” Nur ein Anfänger hätte an dieser Stelle schon aufgegeben. Immer weiter nachfragen, Tag für Tag, bis sich eine mitleidige Verkäuferseele deiner erbarmt, lautete die Regel für Fortgeschrittene. Noch besser, wenn man über das wertvolle Vitamin B, sprich Beziehungen, verfügte. Zu jener Zeit besaß ich einen wertvollen Kontakt, eine Dame aus einem Verlag, über dessen Zustandekommen ich noch berichten werde. Die Frau hatte ich in den letzten Monaten aber schon über Gebühr strapaziert. Also beschloß ich mich auf mein Glück zu verlassen. Nach einigen vergeblichen Laufereien erspähte ich eines Nachmittags in der Buchhandlung unter der S-Bahn-Brücke an der Friedrichstraße drei schwarze dünne Bücher unter dem Ladentisch, auf dem die Kasse stand. Von meinem Blickwinkel aus war nicht zu erkennen, worum es sich handelte. Aber irgendwie hatte ich die Ahnung, das könnte der gesuchte Freud sein. Ich setzte alles auf eine Karte und sprach den Mann an der Kasse an, der mich wie seine Kollegen auch vom täglichen Nachfragen kannte. “Ich habe gestern mit einer ihrer Kolleginnen gesprochen.” Dabei beschrieb ich ihm eine kleine, junge Buchhändlerin, die in dieser Woche, wie ich aus der Beobachtung wußte, die Vormittagsschicht hatte. “Sie sagte mir, der Freud sei eingetroffen, und sie wolle mir einen zurücklegen, den ich abholen könne, sobald die Ware ausgepackt sei.” Er murmelte: “Das muß Gisela gewesen sein”, griff unter die Kasse und zog eines der drei Bücher hervor. Richtig geraten. Nach dieser Aktion ließ ich mich in dem Laden sicherheitshalber vier Wochen nicht mehr blicken. Ich könnte heute noch zu jedem meiner Bücher eine Geschichte erzählen, wie ich zu ihm gekommen bin. Hinzu kommen die mit der Hand abgeschriebenen Werke. Ganze Nächte schlug ich mir um die Ohren! Wen könnte man heute noch mit einer handschriftlichen Kopie von Heideggers “Sein und Zeit” begeistern, vierhundert eng beschriebene Blätter? Oder mit fünfzig Seiten Auszügen aus Spenglers “Untergang des Abendlandes”? 72
Jetzt werfen einem die Buchhändler das Zeug hinterher. Ich beklage mich nicht. Der eine erwirbt sich Lebenserfahrung bei Frauen, der andere bei der Jagd nach Büchern, ein dritter beim Kochen ... Dazu komme ich noch. Zurück zu meinem ersten Semester. Als ich Monique das nächste Mal traf, wollte ich gerade das Unigebäude verlassen, um eine neue Bücherbestellung auf den Postweg zu bringen. Es ging unter anderem um Nietzsche, Pascal und Simone de Beauvoir. Ich sollte keines der Bücher erhalten, aber zu diesem Zeitpunkt war ich noch voller Hoffnung. Diesmal rannte sie nicht an mir vorbei, sondern sprach mich an: “Hey, Manfred, neulich erst fragte ich Bernie, wieso du nicht mehr anrufst.” Sie schaffte es immer wieder, mich zu verblüffen. Bislang glaubte ich, sie sehne sich nicht gerade nach meiner Gegenwart. Ich druckste ein wenig herum, ich hätte es vor einiger Zeit ein paar Mal vergeblich versucht. Sie fragte mich, ob die Postkarte in meiner Hand an eine Freundin adressiert sei. Ich wette, sie wußte durch Bernie genau, daß ich noch nie eine Frau in seine Wohnung mitgebracht hatte. Er dagegen hatte alle naselang etwas Weibliches oder Männliches dabei, wenn wir uns zufällig am Frühstückstisch begegneten. Selten zweimal die gleiche Person. Ich wurde jedes Mal unübersehbar rot, wenn eines der Mädchen oder gar ein Junge in seiner Gegenwart mit mir zu flirten versuchte. Und dann Bernies Grinsen, wenn er meine Verlegenheit bemerkte. Ich ging jede Wette ein, daß er seine One-night-stands vorher instruierte, daß sie mich mit einem frechen Zwinkern außer Gefecht setzen sollten. Ich zeigte ihr die Postkarte, damit sie sah, daß es nur um Bücher ging. Sie schaute mich ungläubig an, als ich ihr erzählte, welche verqueren Wegen ich ging, um an Lesestoff zu gelangen. Um ihr zu beweisen, daß das Bestellen Sinn machte, schilderte ich ihr, wie ich auf diesem Wege kürzlich zu einer wertvollen Schopenhauer-Ausgabe gekommen war. Wie ich im Austausch von anderen Studenten Platons Gesetze, die von Diehls herausgegebenen Vorsokratiker und Boethius’ Trost der Philosophie ausgeliehen hatte. “Den ganzen Streß, um ein paar Bücher zu lesen?” “Was machst du zum Beispiel, wenn du mal ein modernes Theaterstück brauchst? Ionesco oder Botho Strauss?” 73
“Ich frage im Seminar, ob es mir jemand leihen kann. Das hat bisher noch nie versagt.” Das konnte ich mir vorstellen. Was macht aber jemand, der nicht ihre Figur besitzt, sondern meine? “Es muß einen einfacheren Weg geben”, fuhr sie fort. “Paß auf, ich rufe dich an, okay?” Hoffentlich nichts Illegales, dachte ich. Letzte Woche hatte es im Lehrkörper der Philosophen ziemliche Aufregung gegeben um einen Studenten des fünften Semesters, der sich von seiner Tante aus Hamburg ein Buch über den Eurokommunismus schicken ließ. Der Zoll nahm das anrüchige Werk aus dem Paket und legte einen Zettel hinein, der den Empfänger über die Beschlagnahme wegen des Verstoßes gegen die Einfuhrbestimmungen informierte. Der Student beging den Fehler, sich im Recht zu fühlen. Er meinte, daß ein Buch, das der Chef der spanischen Kommunisten geschrieben hatte, nicht auf dem Index stehen dürfe. Also marschierte der schnurstracks zur zentralen Zollverwaltung und beantragte die Herausgabe des Bandes. Der Zöllner, korrekt und höflich wie ein preußischer Beamter, nahm den Antrag zu Protokoll und schickte eine amtliche Anfrage an unseren Institutsdirektor, ob sein Student berechtigt sei, dieses Werk zu lesen und zu besitzen. Hätte der Student ihn unter vier Augen gefragt, wäre seine Antwort gewesen: Lies, aber erzähl es keinem. Leider handelte es sich um eine offizielles Papier, das eine ebenso offizielle und politisch korrekte Antwort verlangte. Da gab es nur eins: Aussprache vor der Gruppe, Asche aufs Haupt streuen vor versammelter Mannschaft, Verwarnung, Besserung geloben. Er durfte weiter studieren. Vorausgesetzt, daß er bis zum Diplom nicht mehr auffiele. Die halbe Truppe grinste hinter vorgehaltener Hand über seine politische Naivität. Ansonsten zeigten wir ernste, besorgte Gesichter. Wer keine Westverwandten hatte, vergaß für eine Weile seinen Neid und freute sich, daß ihm solche Konflikte erspart blieben. Heute lockt der Eurokommunismus keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor, und seine Erfinder sind vergessen. Damals galten sie als Spalter der kommunistischen Bewegung, sie wurden angefeindet wie einst Martin Luther vom Papst. Ich wurde jedesmal daran erinnert, wenn ich einen neuen Giftschein zum Unterschreiben abgab. 74
Ein Vierteljahr lang ließ sich der Chef alle Scheine persönlich vorlegen und begründen, warum der Student das fragliche Werk brauchte. Danach zog allmählich der alte Schlendrian wieder ein. Monique rief nicht an. Statt dessen fand ich nach einer Woche eine gedruckte Einladung in der Post. “Wir beehren uns, Sie zur Eröffnung der Ausstellung ‘Wasser und Leben, fotografiert von Mark Toledo’ in der staatlichen Galerie für junge Kunst ...” Und so weiter. Daß sie von Monique kam, erkannte ich an ihrem handschriftlichen Absender auf der Rückseite des Umschlags. Mark Toledo? Der Name klang nach Pseudonym. Wie ich dort zu seltenen Büchern gelangen sollte, war mir unklar. Aber sie steckte ja immer voller Überraschungen. Mit allem hatte ich gerechnet, als ich eintraf – nur nicht damit, daß hundert Augen die nackte Monique anstarren würden. Sie ahlte sich vor aller Augen im Wasser, ohne einen Fetzen Stoff am Leib. Auf gestochen scharfen Unterwasseraufnahmen, beinahe lebensgroß. Monique beim Schwimmen von unten fotografiert, kein Körperteil ausgespart – außer dem Kopf. Der war nicht mehr als eine undeutliche Silhouette über dem Wasser, das übrige schillerte in vielfarbigen Lichtstrahlen, die sich unter Wasser auf ihrem Leib brachen. Die Gäste marschierten ohne Verlegenheit von Foto zu Foto und diskutierten die Rundungen ihres Körpers. Menschen mit Kunstverstand, die über die Ästhetik des dargestellten Motiv reden? Lachhaft. Von wegen Ästhetik! Die Geilheit stand ihnen zu offensichtlich ins Gesicht geschrieben. Außer mir schien es keinem peinlich zu sein. Konnten sie nicht wenigstens so tun, als interessierten sie sich ausschließlich für Blenden, Farbfilter und Zoomtechnik? Das Original stand mitten unter ihnen. Monique trug Jeans aus schwarzem Leder, einen flauschigen Pullover in Violett und riesige Ohrgehänge. In all der anwesenden Eleganz – selbst ich hatte ein Jackett und eine Hose mit Bügelfalte angezogen – wirkte sie wie die kesse Göre von nebenan, die zufällig auf einen Staatsempfang geriet. Keine Frage, sie war der Blickfang des Abends: auf den Fotos ebenso wie im Saal. Als ich ankam, plauderte sie mit drei Herren: dem Künstler selbst, dem Chef der Galerie und einem Professor für Kulturwissenschaften, der später die Eröffnungsrede hielt. Sie winkte mich zu sich, als sie mich verloren in der Menge herumstehen sah und stellte mich als Schulfreund vor. 75
“Dann waren sie wohl einer der ersten, der das Motiv meiner Fotos so in Augenschein nehmen durfte wie ich”, zwinkerte mir der Fotograf zu. Mark Toledo wirkte mit seinen fast zwei Metern und seinem Vollbart wie ein Hüne neben drei Zwergen. Er trug einen Anzug aus einer Art Seidenstoff, über Hals und linke Schulter hing ein weißer Schal. Ich schüttelte den Kopf. Monique verabschiedete mich bald aus ihrer Talkrunde, als sie merkte, daß ich immer einsilbiger wurde, je mehr die drei ihre darstellerischen Qualitäten lobten. “Ich will dir nachher noch jemanden vorstellen. Erinnere mich nach der Eröffnung daran.” Ich drehte wie die übrigen meine Runden an den Fotos vorbei und bemühte mich um einen intelligenten Gesichtsausdruck. Aber nah an die Bilder heranzugehen oder gar mit der Lupe Einzelheiten von Hüfte und Po zu betrachten, wie ein älterer Herr mit Kinnbart und wehenden weißen Haaren und seine hagere Begleiterin, die ihn um Haupteslänge überragte, das brachte ich nicht fertig. Nicht daß ich ihre Schönheit nicht hätte würdigen wollen! Es waren wirklich tolle Fotos. Aber so in der Öffentlichkeit ... es war doch klar, daß die beiden nicht nur Bilder miteinander gemacht hatten. Zum Glück war sie nicht das einzige Motiv. Aber die anderen Mädchen machten es nicht besser. Ein Don Juan, der seine Erfolge öffentlich aushängte! Die übrigen Akte wirkten braver, wie aus einer weiter zurückliegenderen, schamvolleren Epoche. Kein Wunder, daß sich vor Moniques Bildern eine Menschentraube bildete, während die übrigen nur verlegene Einzelgänger wie mich anzogen. Natürlich war ich scharf auf Monique, aber ich würde mich eher totschlagen lassen, als es anderen auf die Nase zu binden. Also blieb ich vor den älteren Fotos stehen. Die eine von den Mädchen, gertenschlank, knabenhaft mit schmalen Hüften und kleinen festen Brüsten und einer Tätowierung auf der linken Pobacke, kam mir bekannt vor. Aber wo hätte sie mir begegnen sollen? Wie auf den Bildern, die Monique zeigten, fehlte der Kopf. Ich nahm mir vor, sie nachher danach zu fragen. Inzwischen begann das offizielle Programm, das der Fleischbeschau seine kunsttheoretische Weihe verlieh. Der Chef der Galerie dankte und begrüßte, der fotografierende Frauenheld dankte und begrüßte – und wünschte außerdem Genuß und Freude an seinen Produkten, die er hiermit einer interessierten Öffentlichkeit übergebe. Der Professor beschwor in einer längeren Rede 76
die Tradition, schwatzte über Man Ray und Neorealismus, und nannte die Fotos einen Beweis, daß das Betrachten menschlicher Schönheit kein Selbstzweck sein müsse wie in westlicher Pornographie, sondern Ausdruck der Lebensfreude, die für die neue Gesellschaft typisch sei. Es fiel mir schwer, den Unterschied zu begreifen. Offenbar war ich der einzige, dem es so ging, denn er erhielt frenetischen Beifall. Zwei Blondinen mit identischen Kleidern und Lächeln reichten Sektgläser herum. Die Gäste drängten sich um den Künstler und Monique, als ob sie Einzelheiten über ihre Liaison erfahren wollten. Ich merke, daß ich heute noch verbittert reagiere. Ich sehe ja ein, ihren Lebensstil mit vielen Theaterabenden, Reisen und teuren Kleidern, von dem ich bis zu diesem Abend keine blasse Ahnung besaß, konnte sie kaum mit ihrem Stipendium finanzieren. Und Nacktschwimmen war sicher eine leichtere Arbeit, als am Sonntag morgen Zeitungen austragen oder im Glühlampenwerk in Nachtschichten Fassungen löten. Andererseits hätte sie sich und vor allem mir viel Ärger und Herzklopfen erspart. Im Rampenlicht stehen, Bewunderung entgegennehmen wie eine ungekrönte Königin, das war ihre Welt. Ob sie rechtzeitig abgesprungen wäre, wenn sie geahnt hätte, welch schreckliche Ernte sie einige Jahre später einfahren müßte? Die Frage habe ich mir oft gestellt. Ich fürchte die Antwort lautet Nein. Noch sonnte sie sich in ihrem Erfolg. Alle Welt schien sie zu kennen und begrüßen zu wollen. Mich kannte niemand. Ich kam mir so überflüssig vor wie ein Buch im falschen Regal. Die meisten schienen einer Clique anzugehören, die sich jeden dritten Tag bei einer anderen Vernissage wieder traf. Ich entdeckte auch ein paar ungesellige Typen wie mich, die mit vorgetäuschtem Interesse herumschlichen wie aus dem Rudel vertriebene alte Wölfe. Sie benahmen sich bemüht unauffällig und blieben auf ihrer unablässigen Wanderung nur manchmal stehen, um einander um Feuer zu bitten. Dann verschwanden sie wieder in der Menge. Leider gab es nur wenige Sitzgelegenheiten. Einige Mädchen waren wirklich schön und doch fehlte ihnen Moniques Magnetismus, der unweigerlich alle Blicke auf sich zog. Jeder Mann, der mit ihnen ins Gespräch kam, verwandelte sich nach eingelerntem Ritual zum Gentleman, und hatte dennoch Mühe, seinen Augen nicht immer wieder zu Mark Toledos Topmodel schweifen zu lassen. Die Ehegattinnen im Publikum wirkten alle so, als wären sie vor zehn oder zwanzig Jahren solche schönen Mädchen gewesen. Sie verbreiteten mit ihren 77
Kleidern aus kostbaren Stoffen und ihren kubistischen Brillen ein Atmosphäre ästhetisierter Intellektualität. Sie erzählten einander Klatschgeschichten über unbekannte Dritte und bestellten Grüßen an Aribert, Lori und ähnlich sagenhafte Namen. Ich fühlte mich fehl am Platz. Ich und holte mir ein neues Glas Sekt von dem Tisch neben dem Eingang. Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um. Es war Monique. Neben ihr stand ein anderes Mädchen. Kein Zweifel, es war die gertenschlanke Androgyne von den ausgestellten Fotos. Jetzt wußte ich auch, woher sie mir bekannt vorkam. Ich hatte Fotos von ihr im Bikini auf Moniques Pinwand gesehen. “Irina Reichelt, meine Mitbewohnerin” stellte Monique sie mir vor. Fünfzig Augenpaare waren Monique gefolgt und begleiteten sie, als sie zu ihrem Mark Toledo zurückging. Erst als die Leute nicht mehr zu mir schauten, wagte ich es, Irina genauer anzusehen. Sie sah hinreißend aus. Das kurze helle Kleid schmiegte sich eng an ihren Körper und verriet, daß sie es nicht nötig hatte, irgendein Fettpölsterchen zu verbergen. Ihr größter Vorzug im Vergleich mit dem übrigen Publikum und sogar mit Monique: Sie sah erfrischend normal aus, einfach wie das Mädchen von nebenan. “Du bist also der Typ mit dem Bücherfimmel.” Mein Augen rutschten wie ertappt von ihrem Körper hoch zu ihren Augen. “Du bist also ihre Mitbewohnerin”, echote ich zurück. Als sie lächelte, bildeten sich Grübchen auf ihren Wangen. “Müssen wir hier stehen bleiben?” Ich fand die Geistesgegenwart, ihr ein Sektglas zu reichen, bevor wir unsere Schritte zurück zu den Fotos lenkten. Die meisten Besucher hatten inzwischen ihr Interesse an den Bildern verloren und bildeten kleine schwatzende Grüppchen, aus denen von Zeit zu Zeit ein Gelächter hochstieg. Irina hielt vor einer Tafel an, an der nebeneinander ein Foto mit ihr und eins mit Monique hingen. Die Bilder waren beinahe identisch. Die Mädchenkörper, wie immer ohne Kopf, senkrecht im Wasser, mit den Beinen strampelnd, um das Gleichgewicht zu bewahren. Die Kamera fotografierte etwa von Kniehöhe nach schräg oben und erfaßte dadurch den Raum zwischen ihren Beinen in einer Deutlichkeit, die an Einblicken nichts zu wünschen übrig ließ. “Wie findest du unsere Bilder?” fragte sie. 78
Ich wand mich vor Verlegenheit. “Faszinierend”, krächzte ich. Sie lächelte spöttisch. “Danke für die ausführliche Kritik.” “Das sind ohne Frage tolle Fotos”, erwiderte ich tapfer. “Für mich ist das alles neu und überraschend, ich meine, daß man so in aller Öffentlichkeit ... Da gehört bestimmt Mut dazu.” “Ja?” “Ich meine, ich weiß nicht, ob ich das fertig bringen würde, mich ohne alles im Wasser zu zeigen, wo du dem Fotografen nicht mal ins Auge sehen kannst, nicht mitkriegst, was der da unten macht. Gut, wenn da eine besondere Vertrauensbeziehung besteht ... und dann die Bilder, die nichts verbergen, Fremden vorzuführen, wo man quasi die Kontrolle über seinen Körper weggibt ... es sind zwar nur Bilder davon . trotzdem ... halte mich nicht für prüde ... ich weiß das klingt blöd, wie ich das so sage ...” “Im Gegenteil.” Sie wirkte auf einmal ungeheuer interessiert. “Bitte sprich weiter.” “Ich könnte mir vorstellen, daß man im Rausch der Verliebtheit solche Fotos macht und sogar stolz ist, den andern damit zu zeigen, wie glücklich man ist, ein Herz und eine Seele und daß man keine Geheimnisse haben muß. Aber die Fotos sind nach Jahren auch noch da, wenn die Liebe vielleicht schon lange zerbrochen ist.” In dem Moment, als ich diese Amateurpsychologie vor ihr entfaltete, fand ich bereits, daß meine Theorie jämmerlich dilettantisch klang. Ich übernahm sie direkt aus einem amerikanischen Thriller, den ich letzte Woche gelesen hatte. Mein eigenes Denken sagte nur: es ist alles furchtbar peinlich. “Andererseits freust du dich nach Jahre vielleicht, daß du in deiner Jugend ...” “Nein, nein”, unterbrach sie mich, “Was du eben gesagt hast, ist völlig richtig!” Ich war baff. “Ich war ja so blöd!” fuhr sie fort. “Ich hab ihm sogar selbst Monique vorgestellt.” “Sie hat ihn dir ...” “Nein, ich bin ihr nicht böse. Sie hatte mir ja vorher schon prophezeit, daß er sein Interesse verlieren würde, sobald er die Fotos im Kasten haben würde.” 79
“Dann verstehe ich nicht, wieso sie selbst ...” “Schau doch hin! So gut müßtest du sie eigentlich kennen. Sie ist in ihrem Element. Er wird sich wundern. Sie wird ihn als Sprungbrett benutzen und dann fallen lassen. So wie er es sonst macht. Das gönne ich ihm! Auf den Tag freue ich mich schon.” Ihr hübsches Gesicht sah einen kurzen Augenblick gar nicht freundlich aus. “Mir hat er Heirat und Kinder versprochen, um mich in seinen Swimmingpool zu kriegen, und ich hab mich ‘reinlegen lassen wie ... wie ein gräfliches Dienstmädchen bei Courths-Mahler.” Die letzten Worte sprach sie mehr zu sich selbst. Dann glätteten sich ihre Gesichtszüge wieder und sie wechselte das Thema. “Monique sagte mir, du suchst philosophische Bücher über Antiquariate. Meine Tante arbeitet im Henschel-Verlag. Verlagsmitarbeiter werden bevorzugt berücksichtigt. Wenn es nicht öfter als zwei oder dreimal im Jahr vorkommt, könnte ich für dich was bestellen lassen.” Daß ausgerechnet dieses hübsche Mädchen mir einen Vorsprung vor meinen Kommilitonen verschaffen wollte, haute mich um. Nicht erst seit Monique mich eine Abfuhr erteilte, hatte sich in mir die Überzeugung festgesetzt, daß ich mir bei Mädchen, die schön und intelligent waren und deren Herz nicht an Unterkühlung litt, nur den Kopf einrannte. Wenn sogar die Brillenschlange mich sitzen ließ ... Irina hätte die halbe Männermannschaft hier herumkriegen können, und wenn sie gewartet hätte, bis Monique mit ihrem Fotografen verschwand, sogar die ganze. Statt dessen redete sie mit mir, schaute in mein Gesicht und machte mir Angebote. Bis jetzt bezogen sie sich nur auf Bücher, aber jeder fängt mal klein an, oder? Also erzählte ich von den Mühen mit der Literatur, den zahlreichen vergeblichen Versuchen und meinem einmaligen Erfolg mit Schopenhauer. Sie lächelte, als ich mich in Eifer redete. “Am besten, du machst mir eine Liste.” Sie sah sich suchend um. “Ich hasse an diesen Vernissagen, daß man sich den ganzen Abend nicht hinsetzen kann.” Ich stürzte los, um einen freien Stuhl zu suchen. Ich fand nach einer Weile einen leeren Sessel hinter einer Fotowand. Leider war er am Boden angeschraubt. Er diente wohl als Sitzgelegenheit für eine Aufsichtskraft, wenn in diesem Haus normaler Ausstellungsbetrieb herrschte, ohne zusätzliche Aufsteller quer durch den Saal. Ich 80
belegte ihn vorsichtshalber mit meinem Sakko, obwohl sich bisher keiner in die dunkle Nische hinter den Bildern verirrt hatte. “Egal”, sagte sie und folgte mir hinter die Pappwände. Ich nahm mein Jackett vom Sitz. “Worauf wartest du”, sagte sie. “Setz dich.” Sie stupste mich vor die Brust. Ich ließ mich auf das Polster fallen. Sie setzte sich mit ihren nackten Schenkeln auf mein rechtes Knie und legte einen Arm um meinen Hals. Ihr erster Kuß nagelte mich gegen die Rücklehne, daß ich im Nu Ausstellung, Monique und das Stimmengewirr der hundert Leute hinter der dünnen Wand vor uns vergaß. Ich tauchte daraus auf, geblendet und ungläubig über die plötzliche Veränderung, auf einmal unverwundbar wie ein mit Drachenblut getaufter Held. Beim dritten Kuß legte ich mein Hand auf ihre kleine Brust. Sie schob sie weg. “Mach nicht alles kaputt”, flüsterte sie. “Wenn dir etwas an mir liegt, wirst du heute allein nach Hause gehen.” Hatte Monique ihr verraten, wie leicht es ist, mich um den kleinen Finger zu wickeln?
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Viertes Kapitel
Wir heirateten ein gutes Vierteljahr später, im Mai. Da war Irina schon im dritten Monat. Ihre Eltern, Bäckermeister aus dem Wismarer Neubauviertel, hatten sich nicht lumpen lassen und einen chinesischen Koch gemietet. Fernöstliches Essen galt bei uns als das Feinste vom Feinsten. Die Plätze im ostasiatischen Restaurant im Berliner Palasthotel beispielsweise waren stets auf Wochen ausgebucht, obwohl ein Essen dort etwa das Sechsfache des sonst Üblichen kostete. In Mecklenburg kannte man es nur vom Hörensagen. Wie eine Legende von einem andern Stern. Dieser Tag muß Irinas Eltern mehr gekostet haben als zwei Autos. Nun, es traf keine Armen. Bäckerhandwerk besaß goldenen Boden. Heute bekommen Sie die Zutaten in den meisten Supermärkten. Ich könnte jeden Tag so ein Essen auf den Tisch zaubern, ohne höhere Kosten. Um etwas Besonderes zuzubereiten, müßten Sie sich schon für thailändisch, afghanisch oder tibetanisch entscheiden – was sich von chinesischer Küche übrigens so klar unterscheidet wie Pasta von Paella. Historisch gesehen hat nichts so sehr die Erfindungsgabe der Völker gefördert wie das Essen. Es ist quasi die Grundlage jeder höheren Kultur. Sie halten diese Aussage für übertrieben? Ich verweise absichtlich nicht auf die Franzosen, bei denen versteht sich das von selbst. Ich sage nur Camembert, Bouillabaisse, Roquefort, Entrecôte. Nicht zu vergessen die Champagner: Mouton Rothschild, Veuve Cliquot und Konsorten. Die Weinkunde gilt dort als eigene Wissenschaft. Önologie. Falls Sie mir nicht glauben: Schauen Sie im Lexikon nach. In Weingegenden wie Bordeaux haben die Universitäten eigene Lehrstühle für das Fach eingerichtet. Da gibt es tatsächlich Professoren, die sich beim gemeinsamen feuchtfröhlichen Zechen mit Studenten ihre Brötchen verdienen und darüber noch gelehrte Abhandlungen schreiben. Das nur nebenbei. Wie gesagt, die Franzosen sind eine Ausnahme. Aber kommen wir zurück auf die Chinesen. Altes Kulturvolk, wie Sie wissen. Viel Binnenland, wenig Vegetation. Woran hat es bei denen am meisten gehapert? An Salz und Heizmaterial. Folglich erfanden sie halbgares Kleingeschnetzeltes, mit Sojasoße aufgepeppt. Auf anderen 82
Gebieten hingegen sind sie in den Anfängen steckengeblieben. Haben zwar eine Schrift erfunden, aber sind nie vom Wortzeichen zum Buchstabenalphabet vorgedrungen. Um eine Zeitung zu verstehen, braucht der Bürger dort mindestens Abitur. Oder nehmen Sie das Fehlen von Besteck. Sie sind über ihre Holzstäbchen nicht hinausgelangt, trotz der größten Eisenerzvorkommen der Welt. Gut, sie haben das Schießpulver erfunden, aber hat es ihnen was genützt? Ohne die Amerikaner wären sie im letzten Krieg von den Japanern eingesackt worden. Die sind übrigens noch genialer. Rohen Fisch als Delikatesse anzubieten, bis alle Welt das für den letzten Schrei erlesener Eßkultur hält, darauf muß man erst einmal kommen. Aber die Amerikaner selbst! Wodurch sind sie Weltspitze geworden? Sie haben das Essen auf die einfachen, wesentlichen Bestandteile zurückgeführt. Zu diesem Zweck nahmen sie eine Soße, die eingewanderte Chinesen an ihre Speisen rührten, schütteten sie über in heißes Fett getauchte Fleischscheiben und Kartoffelstücke und überschwemmten damit die Welt. Der Geschmack von Herzhaftem, kombiniert mit Zucker, das alles in der Farbe der Liebe. Was meinen Sie, was passiert, wenn der Verkauf von Ketchup eingestellt wird? So geschehen hier im Osten Anfang der Achtziger. Jede Menge Beschwerdebriefe an die Regierung, Proteste vor und in den Kaufhallen. Parteiagitatoren wurden losgeschickt um zu verkünden, die Qualität unseres Ketchup sei so gut, daß er komplett exportiert werde. Das erfülle den Bürger mit Stolz. Hätten die Oberen nicht bald auf weiteren Export verzichtet, hätten wir die Wende fünf Jahre früher gehabt. Was bedeutet, ich wäre fünf Jahre eher ruiniert gewesen. Und heute? Restaurants mit deutscher und französischer Küche machen dicht, Burger King- und MacDonaldsStuben breiten sich aus. Einheimische Küche ist einfach zu kompliziert. Zu viele verschiedene Zutaten, zu lange Zubereitungszeiten. Nur wenige Restaurants können auf dieser Basis rentabel wirtschaften. Unser Hochzeitsessen hatte die Gäste dermaßen beeindruckt, daß jedermann bereit war zu schwören, eine so glänzend begonnene Ehe müssen für die Ewigkeit geschlossen sein. Sogar mein Vater und meine Mutter stellten ihren Krieg vorübergehend ein. Ihrer Teilnahme gingen wochenlange Verhandlungen voraus. Meine Mutter verlangte kategorisch, daß er ohne sein “Flittchen” erscheine, sie nicht anspreche, gegenüber Dritten keine negativen Auskünfte über sie und ihre einstige Ehe 83
gebe und sich nicht betrinke. Mein Vater erklärte im Gegenzug, daß er nur mit seiner neuen Flamme und ihrer gemeinsamen Tochter, meiner vierzehn Monate jungen Halbschwester Yvonne, anreise. Er forderte, daß seine Verflossene ihn und seine neue Familie nicht anspreche, keine negativen Auskünfte über ihn und seine einstige Ehe gebe und sich gegenüber Dritten jeden abfälligen Urteils über seine Partnerin und das Kind enthalte. Beide stellten sich stur. Nachdem Irina, meine zukünftigen Schwiegereltern und ich sie mehrfach ergebnislos anflehten, nicht durch ihre Weigerung die Feier zu schmeißen, schrieb ich ihnen schließlich fünf Tage vor der Hochzeit in zwei Sätzen, daß nach ihrem Fernbleiben die Familienbande für mich auf immer zerrissen seien. So wäre es auch gekommen, wenn meines Vaters Flamme nicht am Vorabend eingefallen wäre, daß sie sowieso nicht bereit sei, seiner Ehemaligen gegenüberzutreten. Er solle mal schön allein fahren. Ein paar aufgeregte Telefonate – schließlich mußten die Schwiegereltern schnell für die beiden noch zwei Einzelzimmer in verschiedenen Hotels reservieren – dann war die Gästeliste komplett. Meine Schwester Katrin – längst vom Pummelchen zur Walküre gemausert – rauschte mit ihrem Freund herein, einem Vollblutneger aus dem östlichen Afrika, ein Meter fünfundneunzig, schlank, muskulös, kahlrasierter Schädel, blendendweißes Gebiß. Sein Deutsch war so drollig wie seine bunte Tracht, Stoffballen in Gold- und Brauntönen, in kunstvoller Art um seinen Leib geschwungen. Dank eines Entwicklungshilfestipendiums studierte er an der Magdeburger Technischen Hochschule Maschinenbau. Ob er in solcher Aufmachung eine Drehbank bediente? Bernie, der zusammen mit seinem Vater anreiste, pfiff bewundernd durch die Zähne, als der Afrikaner den Raum betrat. Meine Schwester präsentierte ihn jedem Anwesenden als eine selbst erlegte Trophäe und betonte immer wieder, daß sie erst seit Ngoubawe wisse, was ein richtiger Mann sei. Der Exot aus Tansania stahl vorübergehend sogar Monique die Schau. Sie erschien in langem glitzerndem Abendkleid, hauteng, mit Seitenschlitz und tiefem Dekolleté. Im hochgesteckten Haar trug sie eine Art rubinbesetzte Spange. An ihrer Seite tänzelte ein etwas dicklicher Herr von Ende vierzig mit angegrautem Haar in den Saal, den sie um rund zehn Zentimeter überragte. Sie stellte ihn uns als Doktor Dieter Wickler vor, Direktor des Berliner Instituts für Internationale Mode, das in der 84
Hauptsache Aufträge für französische, italienische und englische Designer realisierte und bei der Staatsführung in hohem Ansehen stand. Solange seine Angestellten dem Land harte Dollars einbrachten, besaß sein Chef Narrenfreiheit. Monique und meine Schwester hegten seit vielen Jahren eine tiefe Aversion gegeneinander. Mein Fahrradausflug mit Monique, der einst dank Katrins Gejohle ans Licht kam, bildete den Auftakt zu einer Serie von Gehässigkeiten und Intrigen, mit denen meine Schwester ihre Nachteile im äußeren Erscheinungsbild auszugleichen suchte. Monique begnügte sich damit, ein paar Mal sich genau von den Jungs ein Eis spendieren zu lassen, auf die Katrin vergeblich ein Auge geworfen hatte. An meinem Hochzeitstag erneuerten sie ihre Feindschaft. Anlaß waren Ngoubawes Augen, die, sobald sie Monique erblickt hatten, an ihrem Ausschnitt förmlich festklebten. Damit hatte Monique, was die allgemeine Beachtung betraf, mit dem Afrikaner gleichgezogen. Der Schwarze lachte, als meine Schwester ihn wütend in die Seite knuffte. Er bemühte sich nicht im geringsten, sein Interesse an Monique zu verbergen. Sie nahm seine Komplimente huldvoll entgegen, ohne ihre Hand aus Doktor Wickler Armbeuge zu nehmen. Ich fürchtete schon, es würde zu einer Szene kommen, doch meine Schwester hatte in den letzten Jahren dazu gelernt. Als sie einsah, daß ihre Proteste keine Wirkung zeigten, ließ sie ihren exotischen Liebhaber los und verwickelte Moniques Begleiter in ein Gespräch über internationale Finanzen. Sie studierte seit einem Jahr Volkswirtschaft. Ihr Versuch, Schönheit durch Geist zu schlagen, blieb nicht ohne Erfolg. Sie erreichte, daß sie im folgenden Jahr an jenem Modeinstitut ein Praktikum absolvieren durfte. Der Skandal blieb also aus. Gegen Mitternacht zog sie mit ihrem Afrikaner ab und Monique mit ihrem Direktor. Meine Eltern hatten sich gleich zu Beginn an entgegengesetzten Enden der Tafel niedergelassen. Meine Mutter zog mich zur Seite und beschwor mich, ein besserer Ehemann zu werden als mein Vater. Dieser winkte mich anschließend zu sich und riet mir, von Anfang an klar zu stellen, wer der Herr im Haus ist. Natürlich solle jeder gleich Pflichten haben, aber bei Meinungsverschiedenheiten müsse klar sein, wer letztlich bei wichtigen Entscheidungen den Hut auf habe. Ich möge seine Fehler nicht wiederholen. Meine Braut sei nett, ein bißchen zu mager für seinen Geschmack. Von Bäckersleuten hätte er übrigens einen nahrhafteren Hochzeitsschmaus erwartet. Bei den Geschenken bewiesen 85
meine Eltern seltene Einmütigkeit. Beide erfreuten uns mit dem gleichen Eßservice mit Weinlaubmuster. Irinas Vater war trotz seines Berufes nicht in die Breite gegangen. Er wirkte stämmig, aber nicht fett. Die Erleichterung über die Heirat seiner einzigen Tochter stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Er wußte natürlich von den Unterwasserfotos und besaß eine ungefähre Vorstellung über die Geschwindigkeit, mit der sie in den letzten Jahren ihre Liebhaber wechselte. Seine Freude, daß sie solide und Mutter werden wollte, erklärte, warum er sich bei der Feier überdurchschnittlich spendabel erwies. Mein Schwiegermutter sagte mir bereits bei unserer ersten Begegnung sechs Wochen vor der Hochzeit, daß sie deshalb so viel rundlicher als ihr Gatte sei, weil ihr Mann ihr gleich nach ihrer Heirat die Aufgabe zugewiesen hatte, alle Produkte ihrer Backstube vorzukosten. Der vielgerühmte Wohlgeschmack von Bienenstich und Apfelstrudel made by Bäckerei Reichelt sei allein ihrer Aufopferungsbereitschaft zu danken. Sie sei froh, daß ihre Tochter ihr in dieser Hinsicht nicht nachschlage. Dabei kniff sie sich seufzend in ihre Hüften. Die Plätze in der Nähe des Getränkebuffet hielt der Dramaturg Alfons Degenhardt mit drei Kommilitoninnen Irinas besetzt. Ein kleiner, energiegeladener Mann mit viel grauem Haar auf Kopf und Kinn. Er arbeitete am Deutschen Theater, Starschauspieler wie Dieter Mann, Ebernard Esche und Otto Mellies gehörten zu seinen engsten Freunden. In Irinas Studienjahr leitete er Übungen in praktischer Theaterarbeit. Angeblich war er von seinem Intendanten mit der Suche nach Nachwuchstalenten beauftragt worden. Man munkelte allerdings, daß ihn die Vorliebe für junge Studentinnen in diese Umgebung trieb. Auch Irina, die mir sonst keine Details über ihr Vorleben verriet, gab zu, im ersten Semester mit ihm ein mehrwöchiges Techtelmechtel erlebt zu haben. Die Vereinbarung, unser früheres Liebesleben mit undurchdringlichem Schweigen zu übergehen, hatte ich eingeführt. Pure Selbstverteidigung. Dadurch wirkte ich in punkto Erfahrung im Vergleich zu meiner Braut nicht so zweitklassig. Ich sagte höchstens mal “meine früheren Freundinnen”, wenn das Gespräch auf unsere Teenagerjahre kam, wobei der Plural schon eine Lüge enthielt, oder setzte lediglich eine geheimnisvolle Miene auf. Das ersparte mir auch, über meine Begegnung mit 86
Monique in Ungarn mehr zu erzählen, als in den Polizeiberichten stand. Das wissenden Lächeln, mit dem Degenhardt von Zeit zu Zeit die Braut betrachtete, nahm ich mit Fassung zur Kenntnis. Für mich gehörte er zur Vergangenheit. Daß sein Tun in meinem Leben noch einmal eine wichtige Rolle spielen könnte, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die übrigen Gäste waren entfernte Onkels, Tanten und Cousinen der Braut, außerdem einige ihrer Schul- und Studienfreundinnen. In Erinnerung ist mit nur die Tante Rosie vom Henschel-Verlag geblieben. Sie brachte mir als Hochzeitsgeschenk eine sechsbändige Nietzscheausgabe von 1911 mit, Dünndruck, in Leder gebunden und in erstklassigem Zustand. Allein dafür hätte die Heirat sich gelohnt. Ich hatte nur einen einzigen Freund einladen können: Bernie. Daß er als Begleitung keinen Liebhaber, sondern seinen Erzeuger mitbrachte, hielt ich damals nur für einen originellen Spleen. Mir fiel allerdings auf, daß der Vater, ein Abteilungsleiter aus dem Außenministerium, und Doktor Wickler sich wie alte Bekannte begrüßten. Meinen Verdacht, daß sich ausgerechnet an jedem Abend jene unheilvolle Liaison anbahnte, die unser aller Leben umkrempeln sollte, hat mir Monique inzwischen bestätigt. An diesem Abend wies nichts auf spätere Verstrickungen hin. Bernies Vater überreichte uns eine Severin-Kaffeemaschine aus einem der Genex-Läden, in denen höhere Staatsbeamte Westwaren gegen Ostgeld kauften. Bernie hatte mir den marineblauen Hochzeitsanzug besorgt. Was mir Bücher bedeuteten, diesen Platz nahmen in seinem Leben Stoffe und Schnitte ein. Er war mit allen Textilhändlern Berlins per du. Wenn irgendwo eine Lieferung italienischer Jeans oder in Griechenland genähter Hemden unter der Hand verteilt wurde, war er zur Stelle. Das Kleid meiner Braut stammten von einem Maßschneider. Seinen Preis kenne ich bis heute nicht. Ich vermute, Irina hat ihn selbst nie erfahren. Meine Schwiegereltern wollten dazu einen Schleier mit Schleppe, aber ihre Tochter setzte einen Hut durch. Durch dieses Detail blieb unserem Hochzeitsfoto erspart, eine bloße Kopie des Fotos ihrer Eltern zu werden. Ich habe auch keine Ahnung, wie hoch das Bestechungsgeld für den Standesbeamten war, um innerhalb von drei Wochen einen Hochzeitstermin zu erhalten. Wir sollten unbedingt heiraten, bevor auch nur die leiseste Andeutung der Schwangerschaft sichtbar wurde. 87
“Ein Maßkleid kann nicht dauernd geändert werden”, lautete das praktische Argument ihrer Mutter. Erst als alles überstanden war, meinte sie: “Trotz aller Lockerung der Sitten stehen mein Mann und ich auf dem Standpunkt, daß eine jungfräulich wirkende Braut ein finanzielles Opfer wert ist. Wenn ihr in zwanzig Jahren euer Hochzeitsbild betrachtet, werdet ihr froh sein, daß Irina darauf keinen dicken Bauch vor sich her trägt.” Als wir beide ihre Äußerung mit Schweigen quittierten, fuhr sie fort: “Im übrigen habt ihr es ganz richtig gemacht. Bevor man heiratet, sollte man sich überzeugen, daß die Ehe fruchtbar wird.” Zu meiner Verblüffung stimmte sie ihrer Mutter mit einem ernsten Nicken zu. Nach unserem Kennenlernen bei Mark Toledos Vernissage hatten wir uns jeden zweiten Tag verabredet. Dreimal trafen wir uns in Cafés, dann schleppte ich sie mit in eine meiner Vorlesungen über Aristoteles. Sie als künftige Dramaturgin müßte es interessieren, welche Philosophie der Mann entwickelte, der auch die erste Theorie des Dramas schrieb, sagte ich. In Wahrheit ging es mir lediglich darum, meinen Kommilitonen mein sexy Mädchen vorzuführen. Ihre anerkennden und neidischen Blicke, als ich im Hörsaal meinen Arm um Irina legte, entschädigten mich für Jahre der Enthaltsamkeit. Die übrigens noch nicht zu Ende waren. Sie knutschte mit mir wie eine Ertrinkende, aber sobald ich meine Hand auf ihren Schenkel zu legen versuchte, wurde sie wieder nüchtern. Die andern merkten nichts davon, ich konnte unbesorgt den großen Frauenheld mimen. Allerdings ging es mir selbst gegen den Strich, daß ich nach dem ersten Abend keine Fortschritte mehr machten. Noch dazu, wo ich wußte, daß sie bereits eine Reihe von Kerlen vernascht hatte und jeder, der es wollte, ihre Aktfotos in der Galerie für Junge Kunst bewundern konnte. Ich schob es auf ihren Vorsatz, an meiner Seite ein anderes Leben zu beginnen. Einerseits fühlte ich mich geschmeichelt, andererseits fragte ich mich, warum gerade ich unter ihrem Meinungsumschwung leiden sollte. Ich ahnte ja nicht, wie raffiniert diese Frau vorging. Denn nach drei Wochen fing ich an, den Entschluß zu fassen, auf den Irina vom ersten Abend an gezielt hinarbeitete. Mir war klar, daß ich auf dem Partnerschaftsmarkt nicht gerade erste Wahl war. Spielchen konnte ich mir nicht leisten. Kein Anbändeln 88
mit anderen, um Irina eifersüchtig zu machen. Kein großspuriges Ich-hab-es-nichtnötig-Getue. Sie würde mir sofort den Laufpaß geben. Dachte ich. Ich Dussel merkte nicht, daß sie sich längst entschieden hatte, mich nicht mehr entkommen zu lassen. Ich ahnte nicht, daß ich ihr Dinge bieten konnte, nach denen sie bei Erfolgstypen wie Mark Toledo vergeblich suchte. Zuverlässigkeit. Treue. Dankbarkeit. Statt meine Trümpfe auszuspielen, überlegte ich dauernd: Manfred, wie kannst du sie halten? Sei realistisch, so ein schönes Mädchen findest du nie wieder. Du hast ja erlebt, daß eine Superfrau wie Monique eine Verbindung mit dir als absurdes Hirngespinst weit von sich weist, obwohl ihr sogar ein tödliches Geheimnis miteinander teilt. Die Kluft zu Irina ist ein Stück geringer. Greif zu, ehe es zu spät ist. Ich hatte sie in ihre Vorlesung über Lessings Hamburgische Dramaturgie begleitet, als ich mir ein Herz faßte und ihr zuflüsterte: “Ich möchte dich heiraten.” “Was willst du?” flüsterte sie zurück. Ich wiederholte: “Ich möchte dich heiraten.” “Wir kennen uns doch erst seit kurzem”, meinte sie scheinbar zweifelnd. Dann wies sie mit dem Kopf nach vorn zum Professor am Rednerpult, weil sich schon einige Köpfe nach uns umdrehten. Aber ihre Augen leuchteten. In der Pause fragte sie mich: “Hast du das vorhin ernst gemeint?” “Sicher. Du würdest mich sehr glücklich machen.” Sie blickte mich einige Sekunden prüfend an. “Schnapp dir deine Sachen und komm mit.” Entschlossen zog sie mich zu unseren Plätzen und stopfte hastig ihren Hefter und das Schreibzeug in ihre Mappe. Etwas verwundert tat ich es ihr nach, dann verließen wir den Hörsaal. “Wir fahren zu dir, das ist näher”, verkündete sie. Sie war noch nie bei mir gewesen. Wir erreichten die Straßenbahn, die im Begriff stand abzufahren, im Laufschritt. “Was hast du vor?” fragte ich. “Du wirst doch nicht die Katze im Sack kaufen wollen?” Solange hatte meine Heimfahrt noch nie gedauert. Ich verfluchte die Ampeln, die 89
auf rot standen und die langsamen Lastwagen, hinter denen die Bahn gemächlich hinterherzuckelte. Irina schaute scheinbar teilnahmslos aus dem Fenster und sprach für die Dauer der Fahrt kaum ein Wort mit mir. Die Wohnung erreichten wir atemlos. Kaum schlug die Tür hinter uns zu, flüsterte Irina: “Wo ist das Bett?” Ich deutete auf die Tür zu meinem Zimmer. Sie stieß sie auf. “Zieh dich aus.” Sie nahm sich keine Zeit, sich umzusehen, sondern zog hastig ihr Kleid über den Kopf. Sie sprang aus ihrem Slip und unter die Bettdecke. “Was ist mit Verhütung”, fragte ich vorsichtig. “Red keinen Quatsch und beeil dich.” Sie mußte es ja wissen ... Ich kämpfte noch mit Hose und Hemd. Als es an meine Unterwäsche ging, drehte ich ihr den Rücken zu. Wieso glauben wir in solchen Momenten eigentlich, daß wir von hinten besser aussehen als von vorn? Wahrscheinlich weil man sein Aussehen von vorn genau kennt, über seine Rückseite kann man sich Illusionen hingeben. Nachdem die Socken gefallen waren, hob sie die Bettdecke an, um mich hereinzulassen. Da war er in natura, der schlanke Leib, den ich von den Fotos längst kannte. Sie zog mich an sich und griff nach meinem besten Teil. Wenn ich befürchtet hatte, daß die Aufregung mich vielleicht schachmatt setzen würde, so hatte ich nicht mit Irinas kundiger Hand gerechnet. Im Nu war es, wo es in diesem Augenblick hingehörte. Ich griff nach ihren Brüsten. Diesmal streckte sie sie mir entgegen, umarmte mich und zog mein Ohr an ihren Mund. “Fick mich”, flüsterte sie. Ich war begeistert. Das hatte Karin, meine einzige Erfahrung, nicht einmal in ihren heißesten Momenten zu mir gesagt. Dieses Mädchen hier wollte ich heiraten! Und dann würden wir es morgens, mittags und nachts miteinander treiben, bis an unser seliges Ende. Ich sah es uns in einem Swimmingpool treiben, auf den hinteren Sitzen der Straßenbahn, während weiter vorn zwei Dutzend Fahrgäste stur geradeaus glotzten, im Restaurant meinen Riemen in ihrem Mund, während sie so tat, als ob sie in der Handtasche nach einem Taschentuch kramte. Ihre Beine umschlangen meine Hüften, während ich tat, wozu sie mich aufgefordert hatte. Ihre spitzen Schreie feuerten mich an, so daß ich kaum hinhörte, als 90
sie in mein Ohr keuchte: “Bitte, ich will ein Kind von dir!” Ich explodierte in ihr mit einem Brunftschrei.
Unsere Tochter Henriette kam am vierundzwanzigsten November zur Welt. Entgegen allen ärztlichen Befürchtungen gab es keine Komplikationen, das Kind mußte auch nicht mit Kaiserschnitt geholt werden. Knabenhafte Frauen, hatte der Arzt mich vorher aufgeklärt, hätten es schwerer als die mit breitem, gebärfreudigem Becken . Nach dem Blick, den ich ihm zuwarf, hütete er sich, diesen Ausdruck noch ein zweites Mal zu gebrauchen. Der Geburtstermin sollte der fünfzehnte sein. Als er ohne Wehen verstrich, wartete man noch eine gute Woche, dann hieß es: künstliche Einleitung der Geburt. Nach den damaligen Sitten hatte der Ehemann in der Nähe des Kreißsaals nichts zu suchen. So erfuhr ich von den Ereignissen nur aus ihren Erzählungen. Sie hängten sie an den Tropf, und wenige Stunden später war alles vorbei. Nun begann ein neues Zeitalter, das mit meinen Phantasien von Sexspielen am Swimmingpool und auf hinteren Straßenbahnsitzen wenig zu tun hatte. Wir bewohnten seit zwei Monaten eine gemeinsame Wohnung im fünften Stock in der Elisabethkirchstraße. Nach wenigen Wochen Erholung nahm Irina ihr Studium wieder auf. Ab Januar brachte ich die Kleine jeden morgen um halb sieben mit dem achtundsiebziger Bus an das andere Ende des Stadtbezirks, wo die einzige Kinderkrippe stand, in der ein Platz für unseren Nachwuchs frei war. Viertel nach sieben begann die erste Vorlesung. Kurz bevor die Krippe schloß, etwa halb sechs, holte einer von uns das Kind wieder ab. Selbstverständlich übernahm ich mehr Fahrten als Irina. Sie hatte schließlich ein versäumtes Vierteljahr nachzuholen. Im Februar standen Prüfungen an. Meine Träume von einem aufregenden Liebesleben hatte ich erst einmal beiseite gelegt. Ich schätzte mich glücklich, daß Irina ihre schlanke, mädchenhafte Figur bewahrte. Sie gewann sogar noch an Sexappeal. Ihre Brüste erreichten eine frauliche Größe. Ich bekam sie mehrmals am Tag zu sehen. Beim Stillen. Das übrige enthüllte sie in dieser Zeit nur noch selten. Sie ließ dann meinen Eifer mit einem freundlichen Lächeln über sich ergehen. Das wird wieder, hoffte ich, den Versprechungen der Sexualratgeber vertrauend. 91
Als ob ich blind gewesen wäre für das neue Ziel, das ihre erotische Energie aufsaugte! Wenn sie sich über Henriette beugte, ihren Popo mit Babyöl einschmierte, mit schwungvollen Bewegungen die Windeln um den Unterleib der Kleinen wickelte, dann kehrte jenes Glitzern in ihre Augen zurück, das mich vor einem halben Jahr noch im Bett zu Höchstleistungen angespornt hatte. Ihre Hände, die einst so sanft meine empfindlichsten Teile streichelten, fanden ihre Erfüllung, in dem sie einfühlsam Wattestäbchen in Babyohren drehte und die Arme und Beine der Kleinen auf- und abschwenkten – eine von Kinderärzten empfohlene Säuglingsgymnastik. Ich gebe zu, unser Leben hatte seine romantischen Seiten. Im Februar fror der Wasserhahn ein, da sich in der Küche kein Ofen befand. Die Fenster dichteten wir mit Wolldecken ab. Repariert wurde nichts, Proteste waren zwecklos. Die Handwerker seien auf Monate ausgebucht, außerdem sei kein Geld da. Bei den niedrigen Mieten organisiere der findige Mieter seine Reparaturen selbst. Im übrigen wäre die Wohnungsgesellschaft nicht böse, wenn wir auszögen, sie hätten einige hundert potentielle Mieter auf der Warteliste, Leute, die nicht klagten, sondern sich selbst kümmerten. Wir kauften eine Duschkabine und ließen auf Schwiegervaters Kosten eine zweite Wasserleitung durch den Flur legen, um das Wasser bei Frost nicht mit Eimern aus dem Keller holen zu müssen. Die Toilette befand sich anderthalb Treppen tiefer. Wir teilten sie mit drei Familien. Wenn wir den Kinderwagen im Hauseingang stehen ließen, natürlich mit Fahrradschloß gesichert, statt ihn fünf Treppen hoch zu schleppen, schütteten freundliche Nachbarn ihren Müll hinein. Fragten wir nach, hatte keiner was gesehen, aber alle grienten in sich hinein. Wir waren im Haus die einzigen mit Kleinkind. Die Leute unter uns, zwei Rentner mit erwachsenem Sohn klingelten alle Nase lang bei uns. Ob wir ihr Toilettenpapier verbraucht hätten? Protest, wenn nach zweiundzwanzig Uhr das Kind schrie. Besorgnis, wenn es drei Tage lang nicht schrie. Mißtrauisches Nachfragen, wenn wir spät nach Haus kamen, obwohl wir doch studieren sollten. Ebenso, wenn wir früh nach Haus kamen, obwohl wir doch studieren sollten. Aber die kleine Henriette! Entschädigten ihre Fortschritte nicht für alles? Als sie ihre ersten Silben lallte! Als sie ihre ersten Schritte durch das Wohnzimmer tapste! Aus Papis Prüfungslehrbuch die Lektionen über Raum und Zeit herausfetzte! Beim Wickeln 92
in einem unbewachten Moment vom Tisch hopste! Notarzt, Röntgen und beruhigende Worte: Nichts passiert. Drei Wochen danach holte sie sich in der Kinderkrippe ein blaues Auge. Sie war von außen gegen die Ecke eines Laufgitter gestolpert. Ihre plötzlichen Krankheiten verwandelten meine Studienplanung in eine Achterbahn. Selbstverständlich war ich ab jetzt an der Reihe mit dem Zu-Hause-bleiben. Da hab ich für das Leben gelernt. Wickeln, Fläschchen geben, Fieberzäpfchen ‘reinschieben, Einschlafmärchen erzählen, Babybreie kaufen, auf den Grad genau erwärmen und verfüttern, Spielzeugtürme bauen (Erinnerungen an eigene Kindheitsleidenschaften wurden wach) und Verkäuferinnen beschwatzen, daß sie pädagogisch wertvollen Spielzeug unter dem Ladentisch hervorzauberten. “Endlich kannst du deine Erfahrungen bei der Bücherjagd für nützliche Dinge einsetzen”, meinte meine Frau und gab mir einen schwesterlichen Schmatz auf die linke Wange, als ich einen Satz Holzbausteine nach Haus brachte, in jenen Jahren absolute Bückware. Mit Büchern versorgte mich derweil ihre Tante Rosi. Irinas Familie vergaß uns nicht. Während meine Eltern sich unangenehm an ihr Alter erinnert fühlten, als ich ihnen schrieb “Ihr seid jetzt Großeltern”, wußten meine Schwiegereltern sich vor Freude kaum zu beruhigen. Mein Schwiegervater sprach, als er uns während einer Frostperiode besuchte, ein Machtwort. “Ihr müßt hier ‘raus!” Auch ein hochangesehener Bäckermeister mit weitreichenden Verbindungen kann nicht hexen. Er benötigte fast ein dreiviertel Jahr, bis er ein Grundstück in Mahlsdorf, ganz im Osten Berlins, dem nur für Eingeweihte existenten Immobilienmarkt entzog. Das Haus, das darauf stand, sah aus wie ein Mittelding zwischen Baracke und Brandruine. “Nichts, was ein halbes Dutzend Maurer nicht in Ordnung bringen könnten”, lautete sein Urteil. “Wie sollen wir das bezahlen?” fragte ich zaghaft. Er klopfte mir gönnerhaft auf die Schulter. “Ich strecke euch das Geld vor. In Kürze seit ihr zwei gutverdienende Akademiker, dann dürfte die Rückzahlung für euch eine Kleinigkeit sein. Außerdem”, zwinkerte er mir zu, “Irina erbt sowieso alles.” 93
Der Mann war gerade erst fünfzig geworden und sah nicht so aus, als denke er an ein baldiges Lebensende. Er kümmerte sich um den Kaufvertrag und das Architektenbüro. Meine Kommilitonen rieben mir immer wieder unter die Nase, welch ein Glück ich mit meiner Frau hätte. Intelligent, reich, sexy. Ich versuchte mich zu freuen. Ich stellte mich vor den Spiegel und zog probeweise die Mundwinkel nach oben. Ich fand, meine Grimasse sah eher zum Heulen aus. Im Spätherbst kam ein Abbruchkommando. Der Architekt betonte, welches Glück wir hätten, daß der Keller nur saniert zu werden brauchte. Keine Fundamente ausheben, das spart! Er übergab mir eine Materialliste und Adressen von möglichen Handwerksbetrieben. Das Bauamt stempelte alles ab. Nun brauchte ich nur noch Aufträge zu verteilen und mit Schwiegervaters Schecks zu winken. Dachte ich. Bei meinen zahllosen Bittgängen, mir einen Platz in ihren Auftragsbüchern zu reservieren, traf ich auf zwei Sorten von Meistern. Die einen versperrten den Zugang zu ihren Büros von vornherein mit dem Schild “Wegen Überlastung nehmen wir vorläufig keine Aufträge entgegen”. Die anderen empfingen mich zwar, aber fragten als erstes: “Was für Material haben Sie?” Ich verwies auf meine gestempelten Papiere. Das Bauamt hatte mir doch ein ausreichendes Kontingent an zu liefernden Rohstoffen genehmigt! Mein Ansinnen, daß der Betrieb sein Material daher selbst mitbringen möchte, erregte Heiterkeitsausbrüche. “Welches Material soll ich denn für Sie besorgen?” fragte ich nach dem dritten Lacher zurück. Der Meister sah mich skeptisch an und seufzte schließlich: “Na schön, ich mache Ihnen eine Liste. Obwohl es sowieso für die Katz ist.” Damit marschierte ich zur Baustoffversorgung. Vier Männer saßen in einer Ecke und droschen Skat. Sie ließen mich fünf Minuten warten, dann warf einer seine Karten hin. “Okay, ich setze eine Runde aus.” Ich grüßte, so höflich ich konnte, und hielt ihm die Liste hin. Er streifte das Papier mit einem flüchtigen Blick und musterte mich eingehend. “Was sind Sie von Beruf?” “Ich studiere.” “Ach, deshalb”, sagte er, als sei damit mein Ansinnen erklärt. “Was meinen Sie wohl, weshalb wir hier Skat spielen?” 94
“Weil Sie Mittagspause haben?” Es war nachmittags halb drei. Er schüttelte betrübt den Kopf. “Haben Sie schon mal versucht, einem nackten Mann in die Tasche zu greifen?” Ich kannte den Spruch. Als Antwort auf meine Kaufwünsche erschien er mir etwas mager. Das sagte ich ihm auch. War das hier der zuständige Fachhandel oder nicht? “Wenn Sie einen Ort finden, wo die Sachen herumliegen, die Sie da auf Ihrer Liste haben, geben Sie uns Bescheid. Wir kommen mit sämtlichen Wagen, die wir haben, und sacken alles ein.” Mit diesen Worten ließ er mich stehen. Irina schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ich ihr von meinen Erkundungen erzählte. “Warum machst du es nicht wie bei den Büchern? Immer wieder hingehen, die Leute in Gespräche verwickeln, Sachkenntnis beweisen, eventuell einen Schein ‘rüberschieben, mein Vater zahlt ...” “Bei Bücher kenne ich mich aus, aber hier ... Außerdem haben die Buchhändler wenigstens ein bißchen Ware und bekommen immer wieder etwas herein.” “Die auch! Was meinst du wohl, wie es die anderen Häuserbauer machen?” Das hätte ich auch gern gewußt. Obwohl ich zugeben muß, meine Neugier hielt sich in Grenzen. Warum durfte ich nicht wie andere über meinen Bücher sitzen und studieren, was die Welt im Innersten zusammenhält? Du hast es so gewollt, Alter, sagte meine innere Stimme. Windeln kochen, mit bloßen Händen ein Haus bauen? fragte meine Vernunft zurück. Das ist der Preis für die sexy Braut, antwortete die Stimme. “Ich werde mich kümmern”, meinte Irina mit einem Anflug von Verachtung. “Nimm mal Henriette.” Während ich das Kind hielt, das greinend seine Ärmchen nach der Mama ausstreckte, schnappte sie sich Jacke und Handtasche und verließ die Wohnung. Am Abend erzählte sie mir, sie wäre bei Monique gewesen, und sie würden den Handwerkern und Baustoffhändlern einen gemeinsamen Besuch abstatten. Ich hatte Monique seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Sie studierte im gleichen Studienjahr wie Irina, war aber noch seltener anwesend als die junge Mutter. Sie fuhr für das Modeinstitut ihres Doktor Wickler als Model (Mannequin im 95
offiziellen Sprachgebrauch) durch die Lande, lief bei der Leipziger Messe, aber auch in Budapest und Moskau über den Laufsteg, und führte westliche Mode vor, billig genäht im Osten. Erstaunlich, daß Irina sie sofort zu Haus erreichte, dachte ich. Die Wahrheit war simpel. Die beiden trafen sich, wenn Monique in Berlin war und hielten sich wechselseitig über ihre kleinen Kümmernisse und Erfolge auf dem Laufenden. Warum Irina glaubte, was in der Welt von Glamour und Haute Couture vor sich gehe, läge so weit jenseits meines Horizontes, daß es sich nicht lohne, mir davon zu erzählen, weiß ich nicht. Am nächsten Morgen kurz nach neun jedenfalls trat meine Angetraute in Minikleid und High Heels, dezent geschminkt, die Haare offen und die Fingernägel pink lackiert, aus dem Bad. Ich hatte schon fast vergessen, daß sie über eine Sonntagsseite verfügte. Als sie das Staunen in meinen Augen bemerkte, lächelte sie zufrieden. “Na, sehe ich heiß aus?” Ich streckte meine Hand nach ihr aus. “Nicht anfassen!” rief sie und sprang zur Seite. “Ich habe eine dreiviertel Stunde gebraucht, um alles so hinzukriegen.” Ich ließ resigniert meine Arm sinken. “Hab Geduld, ja?” Sie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel im Flur. “Wenn ich zurückkomme, stehe ich mit allem Styling zu deiner Verfügung. Okay?” Ich nickte stumm. Monique klingelte um halb zehn. Auch sie kam mit Minikleid und lang wehenden Haaren. Sie winkte mir von der Schwelle aus zu und sagte zu Irina: “Laß uns gleich losgehen, ich hab um nachmittags um zwei einen Auftritt.” Weg waren sie. Henriette und ich schauten ihnen verdutzt hinterher. Meine Tochter hatte seit einer Woche die Windpocken und durfte nicht in die Krippe. Halb zwölf kehrte Irina zurück. “Alles geritzt”, meinte sie gut gelaunt und gab mir die Liste der Baumaterialien, auf der alle Posten abgehakt waren. “Sie liefern übernächste Woche.” Als sie mein verdutztes Gesicht sah, fing sie an zu lachen. Sie deutete ein kokettes Schwenken ihrer Hüften an und fügte hinzu: “Auf die richtigen Argumente kommt es an.” Sie überzeugte sich, daß unsere Tochter friedlich in ihrem Laufgitter spielte, dann 96
zog sie mich ins Schlafzimmer. Beim Mittagessen meinte sie beiläufig: “Übrigens, der stellvertretende Chef von der Baubude kennt dich.” Ich zuckte mit den Achseln. Ich kannte keine Bauarbeiter. Da war ich mir sicher. “Er stutzte, als ich deinen Namen nannte, und als ich erzählte, wo du früher gewohnt hast, ging ihm ein Licht auf.” “Wie heißt er?” “Ich hab nicht gefragt.” Als zwei Wochen danach der Laster der Bauwirtschaft auf unser Grundstück fuhr, sprang ein junger Kerl mit heller Haut und weißblondem Haar von der Beifahrerseite herunter und eilte schnurstracks auf mich zu. “Du bist es tatsächlich! Manne Wagner, wie er leibt und lebt” feixte er. Sein Grienen erinnerte mich an etwas. Ich kramte in meiner Erinnerung, ohne so recht fündig zu werden. “Sag bloß, sie hat dir nichts gesagt?” meinte er mit einem Seitenblick auf Irina, die gerade in Gummistiefeln Schäden am hinteren Zaun flickte. “Weiber!” fügte er mir verschwörerischem Grinsen hinzu. An diesem Ausdruck erkannte ich Johannes Wellner, genannt Joe, in frühen Kindertagen Andys bester Freund. “Wo hast du diese schicke Braut aufgetrieben?” Aus den Augenwinkeln beobachtete er Irinas Hinterteil, als sie sich gerade über einen Strauch beugte. “Monique hat sich auch nicht schlecht ‘rausgemacht, wie? Das gab ein Hallo, wie die beiden bei uns aufkreuzten. So was brauchte ich öfter, um meine Jungs von ihren Skatkarten loszueisen. Wo sollen wir abladen?” Ich zeigte auf die freie Fläche links von dem frei liegenden Keller. Er gab seinem Fahrer ein Zeichen, der den Laster daraufhin wendete und rückwärts bis dicht an die Grube heranfuhr. “Hast du inzwischen mal was von Andy gehört?” Ich vermied es, ihm in die Augen zu sehen, als ich den Kopf schüttelte. “Merkwürdig, wie? Daß er in den Westen abgerückt ist, wundert mich nicht, aber daß er nie geschrieben hat, um mit seinem neuen Leben anzugeben ... Sieht ihm gar 97
nicht ähnlich.” Ich erfuhr, daß er nach der Zehnten seinen Baufacharbeiter mit Abitur gemacht hatte. Zwar war er nur mit Ach und Krach durchgekommen, wie er mir triumphierend gestand, aber das reichte, um sofort als Stellvertreter eingesetzt zu werden, der Aufträge schreiben und Planerfüllungen abrechnen durfte. Irina war inzwischen zu uns getreten. Sofort verwandelte sich sein Gehabe. Wichtigtuerisch marschierte er an der Kellergrube entlang und musterte die übriggeblieben Bausubstanz. “Ich mach euch eine Aufstellung, was ihr noch braucht. Wie lange werdet ihr an dem Haus bauen?” “Ein, zwei Jahre”, murmelte ich. Er lächelte spöttisch. “Mit wieviel Mann?” “Sicher werden uns ab und zu ein paar Studenten helfen.” “Dann seit ihr in fünf Jahren noch nicht fertig! Habt ihr Geld?” “Nun ja ...” fing ich an zu überlegen, da unterbrach mich Irina: “Ausreichend. Warum?” “Ich könnte euch meine Jungs schicken, nach Feierabend.” “Die Skatspieler?” fragte ich erschrocken. “Die können ‘ranklotzen! Am Abend, wenn es auf eigene Rechnung geht, erkennt ihr sie nicht wieder. Habt ihr schon Kinder?” “Eine Tochter” antwortete Irina. “Beneidenswert. Weitere in Arbeit? Okay”, fügte er hinzu, “geht mich nichts an. Bloß da werdet ihr allein an Abenden und Wochenenden nicht viel schaffen.” Wir machten uns zu viert ans Abladen. Nachdem ich den Lieferschein unterschrieben hatte, gab mir Joe seine Telefonnummer. “Ruft mich an, wenn ihr was braucht. Solange es nicht über den Betrieb läuft ... Privat ist alles möglich.”
Die meisten Menschen halten Studenten für aufmüpfig und unangepaßt, für idealistische Spinner mit einem eigenen Kopf. Ich war das perfekte Gegenbeispiel. Es brauchte nur jemand an meiner Seite aufzutauchen, der vorgab, genau zu wissen, was ich zu tun hatte – schon warf ich mich in seine Spur. Irina wußte immer, wo der Hase 98
lang lief. Es sollte ein Haus gebaut werden, also baute ich ein Haus. Ich lernte mauern, verglasen, Anschlüsse installieren. Nachts hockte ich im Sessel und studierte das “Handbuch für das Haus”. Ich malerte, schabte, verlegte Teerpappe und verputzte Löcher voll verzweifelter Hysterie. Die Spritzpistole handhabte ich mit dem tapsigen Geschick eines Vierjährigen, kehrte reumütig zum Pinsel zurück, holte mir an Platten und Dachziegeln blutige Wunden und behielt eine Narbe von einem Sturz aus dem Obergeschoß zurück, bei dem ich mir wunderbarerweise nichts brach. Ich haßte es zwar, in Mörtel und Zement zu wühlen, Ziegelsteine lotrecht auszurichten und Betonplatten auf ein Gerüst zu hieven. Aber ich bildete mir ein, als Verantwortung tragendes Familienoberhaupt müsse ich meine Abneigung schnellstens überwinden. Also schuftete ich jede freie Minute auf dem Bau. Meine Hefter hatte ich immer dabei. Alle Viertelstunde warf ich einen Blick hinein. Mein Mund murmelte die schnell gelesenen Lehrsätze in unablässiger Wiederholung vor sich hin, während meine Hände schon wieder Kalk und Sand schaufelten. Ohne Joes Feierabendbrigade wäre ich gescheitert. Aber seine Leute ackerten tatsächlich wie die Tiere, sobald sie meine Brieftasche sahen, prall gefüllt mit Schwiegervaters Scheinen. Irina drängte, wir sollten uns bei ihren spendablen Eltern mit weiteren Enkelkindern revanchieren. Also zeugte ich Enkelkinder. Friederike kam am letzten Märztag des folgenden Jahres, Katharina am siebzehntem Mai ein Jahr später zur Welt. Noch ein Jahr verging, und ich beendete mein Studium und den Hausbau. Bei der Einweihungsfete im Oktober kamen beinahe dieselben Leute zusammen wie bei der Hochzeit. Meine Eltern, ihre Eltern. Monique und Doktor Wickler, inzwischen die Haare vollständig ergraut. Meine Schwester fehlte. Es hieß, ihr Afrikaner habe damals in der Tat eine heiße Affäre mit Monique gehabt. Zwar schwiegen sich die Beteiligten aus, aber wenn Irina sagte, es sei mehr als ein Gerücht – sie als ihre beste Freundin mußte es wissen. Statt ihrem Ngoubawe eine Szene zu machen, bändelte Katrin mit ihrem Professor für politische Ökonomie an. Die nächsten vier Wochen liegen im Dunkeln, aber eins ist sicher. Im Monat darauf waren sie verheiratet, der Afrikaner und sie. Katrin lud weder meine Eltern noch mich dazu ein. Monique war als Trauzeugin dort, auf Ngoubawes ausdrücklichen Wunsch. Aber das erfuhren wir erst viel später. Katrin kam auf diese Weise zu einem tansanianischen Paß. Einen Monat nach der Hochzeit reist das Paar ab nach Daressalam. Sie lebten ein Vierteljahr da unten, dann übersiedelte das Paar nach Hamburg, wo er sofort eine Stelle 99
als Maschinenbauingenieur erhielt. Kurz, Katrin hatte die einzige legale Form der Ausreise gefunden, die den beiden sogar erlaubte, jederzeit wieder die DDR zu besuchen. Joe brachte zwei seiner Leute mit und seine Frau. Bis zu diesem Tag wußte ich nicht einmal, daß er verheiratet war. Er hatte nie von ihr gesprochen. Seine Frau war klein, dunkel und auf eine unauffällig Art hübsch. Sie hatte glutvolle Augen und hielt sich bescheiden im Hintergrund. Auf Irinas Frage, ob sie Kinder hätten, schüttelte sie nur kummervoll den Kopf. Joe trug ihr ab und zu ein Glas Wermut in ihre Ecke, ansonsten steckte er mit seinen Kumpels zusammen oder belagerte Irina, um sie mit abenteuerlichen Geschichten von Schiebereien in seiner Firma zu unterhalten. Bernie war mit einem hübschen Knaben von höchstens achtzehn gekommen. Der Junge erinnerte ein bißchen an Andy, war aber schlanker, und seine Haare waren glatt. Bernie hatte in den letzten Wochen bei der Inneneinrichtung unseres Hauses geholfen und einige Möbel besorgt, die nur unter der Hand zu haben waren. Mit Monique hatte ich seit einem Jahr nicht mehr sprechen können. Sie pendelte ständig zwischen Berlin, Kiew, Budapest und Sofia hin und her und präsentierte gewagte Abendkleider, mit denen westliche Couturiers über die Vermittlung von Wicklers Modeinstitut östliche Prominenz einkleideten. Ab und zu schickte sie uns die neuesten Hochglanzprospekte, auf deren Titelblatt ihr Lächeln und ihr kaum verhüllter Körper den Blickfang bildeten. Als ihr Begleiter das gewisse Örtchen aufsuchen mußte, zog sie mich in eine Ecke und fragte: “Wie läuft es so mit Irina?” “Du siehst doch, wir haben inzwischen ein Haus, drei Töchter ...?” “Bist du glücklich?” Das war genau die Frage, die ich seit Jahren vermied, mir zu stellen. “Sehe ich unglücklich aus?” Sie sah mich prüfend an. “Ich kann dir jedenfalls versichern, daß auch das ungebundene Leben nicht nur eitel Sonnenschein bietet.” “Du bist doch mit deinem Chef auch schon ein paar Jahre zusammen”, erwiderte ich. “Wir sehen uns nicht sehr oft.” “Werdet ihr irgendwann heiraten?” 100
Sie lachte. “Heiraten? Aber der Mann ist verheiratet!” Sie mußte für erschreckend naiv halten. Sicher wußten Irina und alle übrigen Bescheid. Ich kam all die Jahre nicht einmal auf die Idee, nach Wicklers Familienstand zu fragen. Irina hatte es für so selbstverständlich gehalten, daß sie es mir gegenüber nicht einmal erwähnte. Logisch. Der Mann war fast doppelt so alt wie Monique und ihr Vorgesetzter. Nur ich zog daraus keine Schlüsse. “Ich kann es dir sagen, weil ich weiß, daß du ein Geheimnis für dich behalten kannst”, fuhr sie leise fort. Über Andy hatte ich nicht einmal mit Irina gesprochen. “Die Geschichte mit Wickler geht zu Ende. Ich war jetzt zwölf Mal in Moskau und acht Mal in Kiew. Meine nächsten Ziele sind Mailand und Paris.” Sie nickte leicht in Bernies Richtung, der mit seinem Knaben in einem breiten Sessel lümmelte und ihm ungeniert über das Haar strich. “Dort liegt die Zukunft.” “Bei Bernie?” fragte ich ungläubig. In diesem Augenblick kam Doktor Wickler zurück. Monique blieb keine Zeit mehr für eine genauere Erklärung. Sie flüsterte mir noch ein schnelles “Psst” zu, dann ging sie ihm mit strahlendem Lächeln entgegen und hakte sich bei ihm ein. Sehr merkwürdig. Mir blieb keine Zeit darüber nachzudenken, denn mein Schwiegervater holte mich zur Getränkebar und fing an, mit mir über das geliehene Geld zu sprechen. Er hatte fast hunderttausend Mark in den Hausbau gesteckt, für östliche Verhältnisse eine ungeheure Summe. Er schlug mir vor, die Schuld in Darlehen an seine Enkel umzuwandeln. Ich sollte nach und nach das Geld auf Sparbücher für meine Töchter einzahlen und sie ihnen zu ihrem achtzehnten Geburtstag aushändigen. Vorläufig war an Sparen nicht zu denken, und das sagte ich ihm auch. Irina hatte nach der Geburt von Friederike und Katharina ihr Studium unterbrochen. Erst seit einem Monat besuchte sie wieder Vorlesungen und trug nur mit ihrem Stipendium zum Familieneinkommen bei. Ich war nicht viel besser dran. Ich bekam ein Forschungsstipendium der Akademie der Wissenschaften, um innerhalb von drei Jahren eine vergleichende Doktorarbeit über den Realitätsbegriff bei Dos Passos, Döblin und Joyce zu schreiben. Drei Schriftsteller, die in ihren Romanen die im Film übliche Technik der rasanten Schnitte zwischen den einzelnen Szenen anwandten. Spannend, aber vom finanziellen Standpunkt nicht sehr einträglich. Zusammen würden wir beide 101
im Monat gerade mal tausend Mark verdienen, einschließlich Kindergeld. “Um so mehr verdienst du als Doktor”, entgegnete Irinas Vater. “Es dauert ja noch vierzehn Jahre, ehe deine Älteste soweit ist.” Ich sah mich in Gedanken Abend für Abend über Rechnungen und Haushaltsbücher gebeugt, um Pfennig auf Pfennig auf die hunderttausend Mark meiner Schwiegereltern zuzuarbeiten, ein pfennigfuchsender Scrooge, direkt aus Dickens Weihnachtsgeschichte entstiegen. Ich solle mir keine Sorgen machen, meinte Irina am nächsten Morgen. Die beste Methode, einen Aufschub zu erwirken, sei ein Enkelsohn. Ein Stammhalter könnte ihren Vater zu einer größeren Schenkung veranlassen. Damit zog sie mich in unser Schlafzimmer. Es war phantastisch. Irina wußte wieder einmal genau, was ich zu tun hätte. Dabei stand das Ereignis, daß mit seinen Folgen unser Leben vollkommen umkrempeln würde, schon unmittelbar vor der Tür.
Es war ein Montagabend Mitte November. Draußen klatschten wilde Sturmböen unablässig Regengüsse gegen unser Haus und unterzogen unsere neuen Fensterscheiben einem ersten Härtetest. Irina saß über einem Stück von Brecht und machte sich Notizen für ihre Diplomarbeit. Ich las “Die Hochfinanz”, den dritten Band von John Dos Passos berühmter USA-Trilogie, der gerade im Aufbau-Verlag erschienen war, und dachte darüber nach, wie ich an sein Hauptwerk “Manhattan Transfer” gelangen könnte. Meine eigene Schuld, ich hätte mir ja ein Dissertationsthema suchen können, für das ich nur einheimische Werke benötigte. Unsere Töchter schliefen tief und fest. Gegen Viertel vor elf schaute ich auf die Uhr und gähnte. Zeit zum Schlafengehen. In diesem Moment klingelte es. Erst meinte ich, ein schrilles Pfeifen des Windes mißdeutet zu haben, aber Irina hatte es auch gehört. Ein zweites, längeres Klingeln wenige Sekunden später beseitigte jeden Zweifel. Bei solchem Wetter blieben selbst die hartnäckigsten Fetenfreaks unter Irinas Kommilitonen zu Haus. Ich spähte daher vorsichtig durch das gewölbte Glas unserer Eingangstür nach draußen, ehe ich öffnete. Dort trat Monique in einem schwarzen Ledermantel, der von den Knie abwärts den Blick auf ihre nackten Beine freigab, unruhig von einem Fuß auf den andern. Das Wasser lief in Strömen in ihre hochhackigen Pumps. Ihre Haare klebten klatschnaß am 102
Kopf, ihr Make-up war verlaufen. Mir klopfte noch immer das Herz bis zum Hals, wenn ich sie erblickte. Das Unwetter hatte das Strahlen aus ihrem Blick und das Lächeln von ihren Lippen fortgewischt. Sie wirkte so klein und hilflos im Regen. Als sie ins Flurlicht trat, entdeckte ich einen großen blauen Fleck unter ihren wild drein blickenden Augen. Sie verrieten Panik. Sie drängte an mir vorbei ins Haus und keuchte erregt: “Ist Irina zu Haus?” “Selbstverständlich. Was ist passiert?” Irina kam aus dem Wohnzimmer. “Monique? Wolltest du heute nicht ...” Meine Frau ließ den Satz unvollendet, als sie sah, in welchem Zustand sich ihre beste Freundin befand. Eins verriet mir ihr Satzfetzen unmißverständlich: Sie wußte wieder mal mehr als ich. “Es ist schiefgelaufen. Kannst du mir von dir was zum Anziehen geben?” Monique öffnete ihren Ledermantel. Das kleine Schwarze, was sie darunter trug, war über der linken Brust eingerissen. Ein Träger hing lose herunter. Ich spürte eine Regung, den Arm beschützend um sie legen zu wollen, eine Mischung von Mitgefühl und Begehren. Ich schaute schnell zur Seite. Irina lief wortlos zum Kleiderschrank und holte ihr kleines Schwarzes heraus. Monique schüttelte Kopf. “Nein, der gemütliche Teil des Abends ist vorbei. Ein paar Jeans und ein Pullover genügen.” Sie sah die Fragezeichen auf unseren beiden Gesichtern. “Bitte. Es ist eilig. Kann Manfred mitkommen?” Irina reichte ihr die gewünschten Kleidungsstücke. Ohne viel Federlesens stieg Monique vor meinen Augen aus dem Kleid, unter dem sie nur einen Slip trug, zog den Pullover über und zwängte sich in die Jeans. Irina waren sie zu weit gewesen. “Albrecht?” fragte Irina. Wer zum Teufel war Albrecht? Monique nickte. “Es gab einen Unfall.” Wenn Monique von einem Unfall sprach ... Mir schwante nichts Gutes. Hatte sie Andys Ableben nicht auch einst als Unfall bezeichnet? Wer immer dieser Albrecht auch sein mochte, ich verspürte keine Sehnsucht, das ein zweites Mal zu erleben. “Wieder so ein Unfall wie damals?” fragte ich. 103
Irina sah uns beide erstaunt an. ”Wovon sprichst du?” “Bitte, Irina, nicht jetzt!” flehte Monique. “Kommst du, Manfred?” Mit einer Kopfbewegung wies sie nach draußen, wo irgendein Unheil auf mich wartete. Sie warf mir diesen Blick mädchenhafter Hilflosigkeit zu, dem ich schon in Síofok nicht zu widerstehen vermochte. Ein Teil meines Selbst drängte mich hinaus, ein anderer riet mir, den warmen, hellen Flur nicht zu verlassen. “Nun geh schon!” rief Irina, als Monique schon draußen war und ich noch zögerte. “Hast du vergessen, was wir ihr alles verdanken?” Mein erstes eigenes Zimmer. Unser Kennenlernen. Die ersten Ziegelsteine für unser Haus. Wenn beide mich drängten ... Ich schnappte mir meine Lederjacke. Während mein logisches Denkvermögen mich noch warnte, nagte an meinen Gefühlen bereits die Neugier und trieb meine Füße vorwärts. Natürlich ahnte ich, daß ich mein Nachgeben bald bereuen würde. Ich war schon fast draußen, da rannte Irina hinter mir her. “Nimm Handschuhe mit”, sagte sie. Ich griff gedankenlos nach den Lederhandschuhen, die sie mir hinhielt. Erst eine Stunde später, als ich sie über meine Hände streifte, merkte ich mit Erstaunen, wie weit sie in diesem Augenblick schon vorausgedacht hatte. Monique hatte ihr Auto in der Nebenstraße stehen lassen. Ich bot ihr an, das Steuer zu übernehmen, aber sie lehnte kopfschüttelnd ab. Gleich nach unserer Rückkehr aus Ungarn hatte sie sich bei der Fahrschule angemeldet. Sie startete und lenkte den Wagen Richtung Stadtzentrum. Der Regen lief noch immer in Strömen über die Windschutzscheibe, durch die uns die Scheibenwischer nur kurzzeitig klare Sicht verschafften. Zum Glück gab es um diese Zeit auf der Frankfurter Allee kaum noch Verkehr. Monique überquerte die zweite Ampel bei kirschgelb und erwischte von da an eine grüne Welle, die uns schnell voran brachte. Nur gelegentlich blitzten die Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge durch den regennassen Vorhang vor unseren Augen. “Darf ich nun wissen, was eigentlich los ist?” fragte ich nach etwa einer Minute schweigenden Fahrens. “Wer ist dieser Albrecht, und was hast du mit dem zu schaffen?” “Je weniger du darüber weißt, desto besser für euch beide.” “Was soll ich dann überhaupt hier?” rief ich ärgerlich. 104
“Es gab einen Unfall, wie gesagt. So ähnlich wie in Ungarn.” Ich stöhnte auf. “Warum hast du nicht einen Krankenwagen gerufen?” “Das hätte nichts mehr genutzt.” “Dann eben die Polizei. Wenn es wirklich ein Unfall war ...” Ich glaubte selbst nicht so recht an das, was ich da vor mich hin plapperte. “Ich hab dich nie nach deinen Männergeschichten gefragt ...” setzte ich zu eine längeren Erklärung an, aber sie unterbrach mich sofort. “Das ist auch besser so.” “Aber du kannst die Kerle doch nicht immer umlegen, wenn sie dir Schwierigkeiten bereiten!” “Warum können sie sich nicht anständig betragen?” Sie bog in die Magazinstraße ein und stellte den Wagen an der Ecke zur Alexanderstraße ab. “Das Haus ist zwei Straßen weiter. Besser, wenn wir nicht direkt davor parken.” Der Regen hatte etwas nachgelassen. Trotzdem rannten wir, um schnell ins Trockene zu gelangen. “Es ist eine Gästewohnung des Außenministeriums.” sagte sie, als wir das Hochhaus erreichten. “Im dritten Stock.” Ich beschloß, mich jeden weiteren Kommentars zu enthalten, bis ich die Bescherung gesehen hatte. Wir fuhren mit dem Lift und betraten einen langen Flur. Links und rechts führten Türen zu Ein-Zimmer-Wohnungen. Wie die Buchten einer Schweinezuchtanlage, dachte ich. Monique hielt vor einer Tür ohne Namensschild und schloß auf. Drinnen erwartete mich genau das, was ich befürchtet hatte. Ein kleiner Flur, links eine Tür zum Bad. Dahinter das Zimmer mit einer Küchenecke vorn links. Im Zimmer ein Schrank, ein Tisch, zwei Stühle, rechts daneben ein breites, zerwühltes Bett. Ein fauliger Geruch lag in der Luft. Jetzt fehlte nur noch ihr Kerl. “Er ist weg!” Monique zeigte entsetzt auf das Bett. “Still!” rief ich. Wir hielten den Atem an. “Hörst du?” Ein leises Röcheln drang aus der Ecke hinter dem Bett zu uns hoch. Ich sprang hin. Ein dunkelhaariger Mann lag ohne Bewußtsein auf dem Fußboden, nur mit einer 105
verrutschten Unterhose bekleidet. Seinen Kopf entstellte eine riesige Platzwunde, neben ihm lag ein Häufchen aus Blut und säuerlichem Erbrochenem. Ich merkte, wie mir das Abendbrot hochkam. “Scheiße”, flüsterte Monique angeekelt. “Das Schwein lebt noch.” Ich wandte mich ab. “Gibt es hier ein Telefon?” “Was hast du vor?” “Der braucht dringend einen Arzt.” “Bist du verrückt? Siehst du nicht, wer das ist?” Ich beugte mich mit zugehaltener Nase über den bewußtlosen Mann. “Doch nicht Bernies Vater?” fragte ich ungläubig. “Wer sonst! Hohes Tier im Außenministerium und so weiter. Weißt du, wo ich den Rest meines Lebens verbringen darf, wenn der hier lebend ‘rauskommt?” “Du willst ...” Ich wagte es nicht, den Satz zu vollenden. Obwohl ich genau wußte, was sie vorhatte. Monique reichte mir ein Kopfkissen. “Fest zudrücken.” “Wie willst du Bernie jemals erklären ...” “Schnell. Sonst wacht er noch auf.” Ich versuchte es. Behutsam legte ich dem Mann das Kissen über das Gesicht. Aber dann schüttelte ich den Kopf. Ich konnte das nicht. Plötzlich stöhnte der Mann auf und machte eine Bewegung. Ich schrak zurück. Da warf sich Monique über das Bett, stieß mich beiseite und preßte ihr ganzes Gewicht auf das Kissen. Ein kurzes Zucken lief durch den Männerkörper, dann lag er still. Sie hatte es tatsächlich getan. Vor meinen Augen. Ich war entsetzt. Und bewunderte zugleich ihren Mut. “Und nun? Wie willst du den fortschaffen?” fragte ich. “Oder hast du die Absicht alles so liegen zu lassen, bis ihn jemand findet?” “Um Gottes willen, nein. Ich habe mir auf der Fahrt eine Lösung überlegt. Wir nehmen den Müllschlucker. Aber erst müssen wir gründlich sauber machen.” Sie stürzte sich mit einem Elan in die Reinigungsarbeit, den ich ihr nie zugetraut hätte. Ich konnte mir Monique als Sängerin vorstellen, als Model, als Muse 106
erfolgreicher Künstler, aber als Putze? Wie sie in der Küchenecke einen Eimer mit Wasser und Flüssigseife füllte und nach einem Scheuerlappen griff – es war, als schaute ich der Selbstbesudelung eines Heiligtums zu. Sie kniete sich tatsächlich auf den Boden, um Blut und Erbrochenes aufzuwischen! Zumindest wollte ich nicht tatenlos dabei stehen, ich griff mir einen Lappen und rubbelte alle Möbel und Türklinken ab, um keine Fingerabdrücke zurückzulassen. Sie erzählte inzwischen, was passiert war. “Ich kam kurz nach acht, wie verabredet. Er empfing mich so wie du ihn gesehen hast, in Unterhose. Sternhagelvoll. Ich war noch gar nicht richtig drin, da zerrte er schon an meinem Kleid. Dazu die üble Fahne aus seinem Mund und sein Gestammel ‘Los runter mit dem Fummel, ich will dich ...’ na, du weißt schon. Du hast ja den blauen Fleck gesehen. Er hat mich geschlagen, einfach so, noch bevor ich ja oder nein sagen konnte. Aber wie! Richtig brutal. Der Typ war so was von eklig. Dabei hatte ich ihn vorher oft genug auf Empfängen gesehen, immer perfekter Gentleman. Ich hab ihn mit aller Kraft weggestoßen, da ist er sofort gestolpert und gegen den Tisch geknallt. So blau wie der war ... Von der Tischkante fiel er aufs Bett. Ich war so in Wut, ich hab ihm noch eins mit dem Stuhl da übergezogen und liegen lassen. Deswegen war ich so erschrocken, als er plötzlich nicht mehr dort lag.” Ich tauchte meinen Lappen in das Wischwasser und wienerte erneut über Tisch und Stühle. Noch gründlicher als beim ersten Mal. “Ich verstehe nicht, was du hier überhaupt zu suchen hattest.” “Um genau das zu tun, was er ... Bloß nicht so. Ich hatte mit Champagner, Kerzen und festlich gedecktem Tisch gerechnet. Der Herr gut gekleidet, gepflegt und Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Wie so etwas eben läuft.” Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, wie so etwas eben läuft. “Guck nicht so ungläubig. Ich kam bestimmt nicht zum Schäfchen zählen her. In der Öffentlichkeit sah der Mann immer elegant aus und legte tadellose Umgangsformen an den Tag. Auch als er mich einlud. Du hast ihn doch auf deiner Hochzeit erlebt. Den Hang zur Eleganz hat Bernie von ihm. Er saß in der richtigen Position, um mir weiterzuhelfen. Als ich herkam ... ich konnte doch nicht annehmen, daß mir ein Besoffener auf diese brutale Weise ... Was hättest du in meinem Fall getan?” Ich? Wieso fragte sie ausgerechnet mich? 107
“Was sagt dein Doktor Wickler dazu?” “Der ist bei seiner Mami. Bei seiner Frau”, fügte sie erklärend hinzu, als sie meinen verständnislosen Blick bemerkte. “Begreifst du nicht, die Anträge für Auslandsdienstreisen in den Westen gehen in meiner Branche über Albrechts Tisch, und das hier war meine einzige Chance, mit auf die Liste zu gelangen ... Verdammt, wie komme ich jetzt nach Mailand?” Ihr mußte selbst klar geworden sein, daß ihre letzte Äußerung nicht ganz passend war, denn mit einem Mal zeigte sie sich sehr geschäftig. “Wir müssen das Bett neu beziehen. Den Läufer hinter dem Bett, die alte Bettwäsche und das Kissen nehmen wir mit zum Verbrennen. Und seine Sachen! Die müssen irgendwo liegen, er wird ja nicht nackt hergekommen sein. Der Müllschlucker ist zehn Meter weiter links in einer Nische. Da schicken wir ihn durch und holen ihn unten mit dem Auto ab. Im Schrank oben sind Decken, die nehmen wir mit, um ihn einzuwickeln.” Wir fanden seine Klamotten, unordentlich zusammengeknüllt, und eine prall gefüllte Reisetasche ausgerechnet im Küchenschrank neben Töpfen und Pfannen. Ich warf einen flüchtigen Blick in die Tasche. Sie enthielt mehrere Hemden, ein Reisenecessaire, Unterwäsche, und ein paar Schuhe. Als ob er sich auf einer mehrtägigen Fahrt befand und nicht nur auf einem Rendezvous in der eigenen Stadt. Um so besser, dachte ich, wenn er sich zu einer Reise abgemeldet hat, wird man ihn nicht so schnell vermissen. Ich steckte seinen Anzug, Hemd und Schuhe in den blauen Einkaufsbeutel, der in der Küche an einem Haken hing. Aus der Bettwäsche knüpfte Monique eine Art Sack, in den sie den Läufer und das Kissen stopfte. Bevor ich die Wohnungstür einklinkte und abschloß, zog ich meine Handschuhe über. Wieder einmal schleppten wir einen Toten über einen Flur. Im Haus herrschte absolute Stille. Als ob die anderen Wohnungen auch nur als gelegentliche Absteigen für die Privilegierten dieses Landes dienten. Ein Stoß, und der Körper, der bis heute abend der einflußreiche Albrecht Sulker war, verschwand hinter der Klappe eines Müllschluckers. Wir nahmen den Fahrstuhl, um alles übrigen nach unten zu transportieren, seine Sachen, die Bettwäsche, die Decken. Der Regen nahm wieder zu. In gewisser Hinsicht hatten wir Glück mit dem Wetter, kein Mensch war auf der Straße, als wir das Auto an die Klappe an der Rückseite des Hauses heranfuhren, wo sonst nur Müllautos halten. 108
Bis zum Morgen würde der Regen alle eventuellen Spuren verwischt haben. Den Toten aus den stinkenden Abfällen der Bewohner zu bergen, war nicht einfach. Er war ziemlich weit nach hinten gefallen und in einem Brei aus verfaulendem Fisch, grün verfärbten Kartoffelschalen und mayonnaiseverschmiertem Zeitungspapier versunken. Der Gestank konnte einen umhauen. Ich schaute nach, ob wenigstens draußen die Luft rein war, bevor wir den Körper im Kofferraum verstauten. Zum Glück trieb bei diesem Matschwetter niemand mehr kurz nach Mitternacht seinen Hund auf die Straße. Als wir auf die Karl-Marx-Allee bogen, hielt sie hinter dem Kino “International”. “Mach die Reisetasche auf und schmeiß alles in die Mülltonne.” Ich ließ den Inhalt hinein fallen und warf die Tasche in die zweite Tonne daneben. Hoffentlich würde die Müllabfuhr würde schneller sein als die Polizei. Erst als wir uns von dem Schreckensort mehr als einen Kilometer entfernt hatten, stellte ich ihr die Frage, die mich schon mindestens eine halbe Stunde beschäftigte. “Was willst du mit dem Toten machen?” “Ihr wolltet doch sowieso in den nächsten Tagen eure Terrasse mit Beton ausgießen? Ich werde euch helfen.” “Kommt überhaupt nicht in Frage”, protestierte ich. “Da haben uns die Bullen innerhalb von drei Tagen.” “Unsinn. Ihr habt doch mit Bernies Vater nichts zu schaffen. Der hat unter Garantie niemandem erzählt, daß er sich mit mir treffen wollte. Auch er ist verheiratet, wie sich das für einen loyalen Beamten gehört.” “Wir haben drei Töchter! Allein die Nachbarn, wenn wir da ein schweres in Decken gehülltes Paket in die Baugrube legen ...” “Das machen wir gleich, wenn wir ankommen. Ich habe gesehen, daß ihr die Gräben für das Streifenfundament schon ausgehoben habt.” “Wenn ein Mann vom Außenministerium verschwindet, da wird nicht nur die Polizei Großeinsatz fahren, sondern auch noch die Sicherheit. Nein, da mußt du dir etwas anderes einfallen lassen.” “Manfred, bitte. Fragen wir doch erst einmal Irina.” Sie legte einen Arm über meine Schulter und sah mich wieder mit diesem Blick an, bei dem mir jedes Nein im Hals stecken bleibt. 109
“Am besten, du läßt mich hier heraus und fährst gleich weiter”, sagte ich mit weniger fester Stimme als vorher. “Und dann? Nehmen wir an, ich fahre aufs Land und lasse mein Gepäck irgendwo im Gebüsch. Nach zwei Tagen haben sie ihn gefunden, und dann brauchen sie nur noch zu fragen, wer welche Fahrzeuge da draußen gesehen hat. Außerdem hinterlasse ich in den aufgeweichten Feldwegen Reifenspuren. Wenn sie mich dann geschnappt haben, meinst du, die Polizei merkt nicht sofort, daß mir jemand geholfen haben muß? Selbst wenn ich im Verhör stand halte, wieviel Leute kämen da wohl in Frage, hm?” “Warum haben wir keinen Krankenwagen gerufen? Bernies Vater hätte euren Zusammenprall bestimmt nicht an die große Glocke gehängt, denn das hätte das Ende seiner Karriere bedeutet.” “Auf jeden Fall das Ende meiner Karriere. Nein, wir haben schon richtig gehandelt. Wir müssen ihn nur noch sauber entsorgen.” Ohne sich um meine Proteste zu kümmern, bog sie von der Landstraße ab, auf der wir uns mittlerweile unserem Mahlsdorfer Wohnviertel näherten. Als sie vor unserem Haus hielt, stand Irina schon vor der Tür. Monique ging auf sie zu und flüsterte ihr einige längere Sätze ins Ohr. Zu meinem Erstaunen versuchte Irina nicht einmal zu protestieren, sondern öffnete das Tor zur Gartenauffahrt, als handle es sich lediglich um eine normale Zementlieferung. Monique stieg wieder ein und lenkte den Wagen auf das Grundstück. Als ich ausstieg, sah ich mich vorsichtig um. Bei keinem unserer Nachbarn war das Licht angegangen, aber das mußte nichts besagen. Der Regen hatte aufgehört. Die beiden Frauen öffneten die Kofferklappe und hoben das schwere Bündel an. “Willst du nicht endlich mit anfassen”, zischte meine Angetraute mir zu. Ich griff zu. Zu dritt hoben wir den Toten samt Decke heraus und schleppten ihn zu dem Graben am Haus. Irina holte eine Plane aus unserem Schuppen und deckte die bewußte Stelle ab. Skeptisch schaute ich in das nasse Erdreich. “Bis morgen mittag ist das Wasser eingesickert”, erklärte Irina, “dann können wir diese Seite verschalen.”
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Fünftes Kapitel
Daß Essen und Tod untrennbar zusammen gehören, ist zumindest in unseren Breiten, in denen der Überfluß regiert, eine Binsenweisheit. Wer daran zweifelt, sehe sich den Film “Das große Fressen” an, in dem vier lebensmüde Freunde mittels einer Kalorienorgie einen Schlußstrich unter ihr Dasein ziehen. Seit Papst Gregor der Heilige vor tausendfünfhundert Jahren seine Liste der sieben Todsünden zusammenstellte und dabei der Völlerei eine herausragende Position einräumte, wissen wir doch alle: Nur Hungern ist tugendhaft. Wer praßt und schlemmt, den erwartet ein frühes Ende. Wer sich schlank hungert, kann hundert werden. Es sei denn, es hilft jemand nach. Ich vermute, Albrecht Sulker hätte es auch ohne Moniques Nachhilfe nicht mehr lange gemacht. Es war unser Glück, daß wir seine sterblichen Überreste nur wenige Meter weit schleppen mußten. Gegen den war Andy ein Fliegengewicht gewesen. Von meiner Hochzeit hatte ich ihn nicht als dick, sondern lediglich als einen wohlgenährter Mann in den besten Jahren in Erinnerung. Als ich ihn ohne Kleidung sah, verstand ich, wie viele Fettringe ein guter Maßanzug zu kaschieren vermag. Sie verteilten sich vom Halsansatz bis zu den Waden. Bei diesem Mann von über eins neunzig war das Übergewicht quasi in die Länge gestreckt. Bei kleinen Männern fällt das Wampige viel eher auf. Ihr Fett konzentriert sich am Bauch. An kurzen Beinen und Armen bleibt halt nicht viel Platz für Vorratswirtschaft übrig. Am nächsten Morgen sah ich die Bescherung. Der Tote machte sich derart breit in unserem Graben, daß er den Hohlraum bis über die Oberkante ausfüllte. Im Dunkel der letzten Nacht war uns das nicht aufgefallen, wir hatten ihn in den Graben gekippt, Plane drauf, fertig. Aber jetzt bildete sich unter der Plastikabdeckung ein auffälliger Huckel. Wie sollte ich da noch Beton darüber gießen? Während Irina unsere drei Töchter in Krippe und Kindergarten brachte, griff ich mir einen Spaten und schaufelte neben ihm einen weiteren halben Meter aus dem nassen, lehmigen Erdreich heraus. Immer ein Auge zu den Nachbarhäusern. Wenn bloß keiner etwas Ungewöhnliches bemerkte! Um halb zehn fand Monique endlich aus den Federn. Sie hatte bei uns übernachtet. So konnten wir am Morgen unseren Töchtern die schlafende Tante zeigen – für den Fall, daß die Polizei nach Moniques Alibi fragte, wäre sie für die Kinder seit 111
gestern abend bei uns gewesen. Gemeinsam schoben wir den schweren Körper in den tieferen Grubenabschnitt. Dann schlug ich vorsichtig die Decke zurück und schüttete ein paar Schaufeln Kalk darüber. Ob es etwas brachte, wußte ich nicht, aber in Kriminalfilmen hatte ich mehrfach gesehen, daß dies ein Mittel ist, um die Geruchsausbreitung der Leichenverwesung einzudämmen. Als Irina zurückkehrte, setzte sie als erstes unsere Heizung in Gang. Diesmal fütterte sie den Ofen im Keller nicht nur mit Holz und Koks, sondern auch mit der blutverschmierter Bettwäsche aus der Absteige des Außenministeriums und mit den Kleidung des Verblichenen. Danach fuhr sie mit der Schubkarre Zementsäcke aus dem provisorischen Holzschuppen, den wir später mal zu einer Garage ausbauen wollten, auf das Baugelände und schloß den Wasserschlauch an. Ich setzte die Betonmischmaschine in Betrieb. Eimer für Eimer rührten wir die teigige hellgraue Masse an und gossen sie in die Tiefe. Nach über einer Stunde schaute immer noch mehr als die Hälfte der Wolldecke heraus. Das war um zehn vor zwölf. Ich erinnere mich deswegen so genau, weil in diesem Moment jemand am Eingang klingelte. Ich schaute um die Ecke des Hauses und erblickte zu meinem Entsetzen Bernie. Aufgeregt kam er auf mich zu. “Ich suche meinen Alten. Bei euch hat er sich nicht zufällig gemeldet?” Ich rang um Fassung. Die Leiche lag noch offen in der Grube! “Kein Ahnung”, krächzte ich mühsam. “Monique, kommst du mal?” Sollte sie ihn abwimmeln. Es war ihre Leiche, und im Schwindeln war sie drei Klassen besser als ich. Monique bekam keinen schlechten Schreck, als sie Bernie erblickte, faßte sich aber gleich wieder. “Willst du mithelfen?” “Hier bist du!” rief er. “Bei dir habe ich gerade geklingelt.” “Ich hab hier geschlafen. Die Terrasse soll bis zum Wochenende fertig werden.” “Mein Vater ist verschwunden.” “Und da suchst du ausgerechnet hier?” “Ich hab im Ministerium angerufen und bei ihm zu Hause. Meine Mutter sagte, er sei auf Dienstreise. Im Ministerium hieß es, er habe sich für den Vormittag abgemeldet. Dann habe ich alle seine Freunde angerufen, die ich kenne.” 112
“Wieso suchst du ihn überhaupt?” “Wir waren um neun verabredet. “Mein Gott, er wird irgendwo verschlafen haben. Wenn deine Mutter glaubt, daß er auf Dienstreise ist und er gleichzeitig ...” “... und er sich mit mir verabredet, dann hat er die Nacht bei irgendeiner Mieze verbracht.” “Na also.” Monique schien überhaupt nicht unangenehm berührt von ihrer Einordnung als “irgendeine Mieze”. “Ältere Herren entwickeln manchmal eine Leidenschaft, die sie alles andere vergessen läßt”, meinte sie achselzuckend. “Du kennst meinen Alten nicht.” Monique und ich tauschten einen kurzen Blick. Du aber auch nicht, besagte er. “Wenn er sagt, um neun, dann steht er Punkt neun auf der Matte. Immer, ohne Ausnahme. Ich habe ihn nie anders erlebt. Sogar Zugverspätungen und Staus plant er so ein, daß er seine Verabredungen auch nicht um eine Minute verfehlt.” “Selbst Immanuel Kant, der Inbegriff zwanghaft regelmäßiger Lebensführung, ist zweimal im Leben von seinem pedantischen Tagesplan abgewichen”, fing ich an, meine philosophische Gelehrsamkeit auszubreiten. “Das erste Mal, als er Rousseaus ‘Gesellschaftsvertrag’ in die Hände bekam und sich die halbe Nacht von der Lektüre nicht losreißen konnte ...” “Aber nicht mein Alter”, unterbrach mich Bernie brüsk. “Also ihr habt ihn nicht gesehen?” “Vielleicht steht er jetzt gerade mit schlechtem Gewissen vor deiner Tür?” meinte Monique. Er schüttelte den Kopf. “Ich ließ einen Zettel zwischen Rahmen und Schloß. Auf dem Weg von deiner Wohnung hierher, habe ich noch mal bei mir vorbeigeschaut. Der Zettel steckte vor einer halben Stunde noch unverändert.” “Wann soll er wieder im Ministerium sein?” “Um zwei.” “Warum wartest du nicht bis dahin und rufst noch einmal dort an?” “So etwas ist noch nie vorgekommen. Ich hab das Gefühl, ihm ist etwas zugestoßen. Wenn er unentschuldigt fern bleiben sollte ... für den Minister ist jedes Dienstversäumnis sofort politisch verdächtig.” 113
Bernie machte sich Sorgen um seinen Vater! So etwas kannte ich nur aus Trivialromanen. Für meinen Vater gehörte ich zu einem alten Leben, dessen Spuren er so weit wie möglich aus seinem Dasein tilgte. Irinas Familie hielt zwar zusammen, aber in ihren Gesprächen ging es nie um Gefühle, sondern immer nur um Geld, Kinder, Häuser und wer mal was von wem erbt. Bernie ließ uns stehen und lief zu Irina, die inzwischen einen weiteren Eimer Beton in die Grube kippte. Wir folgten ihm besorgt. “Du weißt auch nichts von meinem Alten?” fragte er sie hoffnungsvoll. Sie zog ihn geistesgegenwärtig von der Grube weg, bevor sie antwortete. “Ich hab ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.” Er ließ den Kopf hängen. “Dann entschuldigt die Störung.” Wir setzten alle drei mitfühlende Gesichter auf. “Viel Erfolg”, meinte er im Gehen und deutete auf unsere Baustelle. In diesem Moment erspähte er das Bündel in der Tiefe. “Was habt ihr denn da drin?” fragte er. Irina fiel als einziger sofort eine Antwort ein. “Wir sind etwas knapp mit Zement. Deswegen die Auffüllung mit Sperrmüll.” Bernie gab sich mit dieser Auskunft zufrieden. Hätte er vom Bauen soviel verstanden wie von Kleidung, wäre er mißtrauisch geworden. Nur ein glattes Fundament ohne Luftlöcher in der Tiefe gewährleistet eine hohe Belastbarkeit des Betonsockels. Er winkte uns vom Tor aus zu, stieg in sein Auto und verschwand. “Wenn er sich an diesen Anblick erinnert, sobald klar ist, daß sein Vater nicht wieder auftauchen wird ...” formulierte Irina meine Zweifel. Wir brauchten nur einen Blickwechsel, dann war unser Entschluß gefaßt. Ich griff zur Schaufel und hob in dem gegenüberliegenden Graben ein zweites Loch aus, während die beiden Frauen den noch feuchten Beton von der Leiche wieder herunterkratzten. Um zwei betteten wir den Körper in das neue Loch um, fünf Meter von dem ersten entfernt. Im ersten Loch ließen wir die Decke und packten ein paar Mauersteine darunter. Den Toten zogen wir, von der Regenplane verdeckt, zu dritt in sein endgültiges Grab. Wir brauchten bis zum Einbruch der Dunkelheit, ehe er gänzlich unter Beton verschwunden war, und den ganzen nächsten Tag, um die restlichen 114
Grubenabschnitte aufzufüllen. Am Abend fuhr Monique ihren Wagen in unseren Holzschuppen auf dem Hof, wo wir ihn einer umfassenden Reinigung unterzogen. So gründlich hatte ich nicht einmal bei der Armee einen Wagen gewaschen. Selbst die kleinste Ritze spritzte ich mit Seifenschaum aus, jede einzelne Profilrille der Reifen reinigte ich zweimal. Hinterher hätte man vom Boden ihres Kofferraums essen können. Monique wohnte bei uns, bis der Beton trocken und sämtliche Bodenplatten auf der Terrasse verlegt waren. Wir nahmen an, daß Polizei und Sicherheitskräfte schon emsig nach Albrecht Sulker fahndeten. In jedem anderen Land hätte sich längst die Presse auf den Fall gestürzt. Wir wüßten aus Zeitungen und Fernsehen, ob die Polizei eine heiße Spur verfolgte oder noch im Dunkeln tappte. Bei uns herrschte amtlich verordnete Unkenntnis. Monique telefonierte am Mittwochabend von unserem Apparat aus mit Bernie. Sein Vater sei im Ministerium nicht aufgetaucht und seit einigen Stunden offiziell als vermißt gemeldet, berichtete er. “Er hat Angst, daß sein Vater in den Westen abgerückt ist”, erzählte sie, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. “Wenn sich diese Annahme allgemein durchsetzt ...”, meinte ich hoffnungsvoll. Monique schüttelte den Kopf. “Dann hätte es das Westfernsehen schon gemeldet. Daran klammert er sich. Wenn sich ein hochrangiger Funktionär absetzt, ist das denen immer eine Schlagzeile wert.” “Hört auf, euch verrückt zu machen”, sagte Irina. “Wir haben ihn sicher verwahrt.” Am nächsten Tag passierte nichts, außer daß abends nach neun meine Schwester aus Hamburg anrief. Der Anruf an sich stellte schon eine Sensation dar. Seit sie jenseits der Mauer lebte, hielt sie sich für das intelligenteste Mitglied der Familie Wagner. Für die einzige, die es verstanden hatte, auf die Gewinnerseite zu gelangen. Folglich rief normalerweise nicht sie bei uns an, sondern nahm höchstens gnädig den Hörer ab, wenn wir bei ihr anriefen, weil seit Monaten Funkstille herrschte. Ich hatte es einmal getan. Um sie zu bitten, mir Camus’ “Der Mensch in der Revolte” für meine Abschlußprüfung “Moderne bürgerliche Philosophie” zu schicken. (Einen Giftschein hatte ich mir rechtzeitig besorgt.) Nach zwei Anrufen und zwei brieflichen Kniefällen, die sie meiner lebenslänglichen Dankbarkeit versicherten, 115
schickte sie endlich das Werk. Ein schmales Taschenbuch, für vier Mark im modernen Antiquariat gekauft. Sie hatte es nicht für nötig gehalten, den mit Bleistift auf das Deckblatt geschriebenen Preis herauszuradieren. Das Päckchen erreichte mich auf den letzten Drücker, zwei Tage vor dem Prüfungstermin. Ich hatte mich in meiner Verzweiflung schon beinahe entschlossen, im Rowohlt Verlag anzurufen und zu bitten, ob sie mir nicht ein Exemplar schenken könnten. Ein Kommilitone von Irina hatte diesen Schritt unternommen, um an die Kafka-Ausgabe von S. Fischer zu kommen. Sie schickten ihm das Gewünschte postwendend. Vier Wochen freute er sich seines Geniestreichs. Dann teilte ihm die Leitung der Universität mit, daß er leider für das beantragte Doktorandenstudium nicht berücksichtigt werden könne. Ohne Begründung. Ich beschloß, beim nächsten Mal lieber nach Prag oder Budapest zu trampen, um dort alle Antiquariate auf den Kopf zu stellen, als mich noch einmal auf eine Zitterpartie mit meiner Schwester einzulassen. Um so erstaunter war ich über ihren Anruf. Zwei Minuten lang glaubte ich tatsächlich, sie interessiere sich für das Wohlergehen ihrer armen Ostverwandtschaft. Dann aber rückte sie mit dem wahren Grund heraus. “Da fällt mir ein, auf der letzten Seite der Hamburger Morgenpost fand ich heute morgen eine Meldung, daß bei euch ein wichtiger Beamter vermißt wird. Warte, ich hab es mir aufgeschrieben. Albrecht Sulker. Sag mal, haben wir den nicht auf eurer Hochzeit kennengelernt?” “Stimmt, das ist der Vater von dem Studenten, bei dem ich wohnte, als Mutti mich zu Hause vor die Tür setzten.” Wozu du sie kräftig aufgehetzt hattest, hätte ich beinahe hinzugefügt. Katrin ignorierte meine Anspielung. “Dann weißt du bestimmt, was dahinter steckt.” Vor mir tat sich eine herrliche Gelegenheit auf, ihr die bisherigen Demütigungen heimzuzahlen. “Möglich”, antwortete ich vage. “Na, weißt du’s oder weißt du es nicht?” Ihre Stimme gierte nach einem Skandal jenseits des Eisernen Vorhangs, den sie am nächsten Morgen beim Friseur vor den Ehefrauen der Kollegen ihres Mannes breit 116
treten konnte. “Ich überlege, wieviel ich dir von der Geschichte mitteilen darf.” “Spinnst du?” Oh, wie gern hätte sie mich durch die Leitung gezogen! “Haben Sie dich einer Gehirnwäsche unterzogen, oder was? Als ich dir das Buch von diesem Franzosen schicken sollte, warst du auch nicht auf den Mund gefallen!” “Schwesterchen, du kennst doch das Sprichwort ‘Wer schreit, hat Unrecht’?” Es klickte an meinem Ohr. Sie hatte aufgelegt. Eine alte Schwäche aus Kindertagen, sie gab zu schnell auf. Befriedigt legte ich den Hörer auf die Gabel. Jenseits der Mauer stand es also schon in der Zeitung. Damit mußte allen Ermittlern klar sein, daß der Vermißte nicht von seinem Dienstvisum Gebrauch gemacht hatte, um sich über die verbotene Grenze aus dem Staub zu machen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Polizei alle unter die Lupe nahm, die ihm jemals begegnet waren. Am folgenden Nachmittag stellten wir die Terrasse fertig, und Monique verabschiedete sich mit dem Versprechen, uns sofort zu benachrichtigen, wenn die Polizei bei ihr auftauchte. Wieder hatte ich Kopf und Kragen für sie riskiert, und sie entschwand, meine Göttin, unerreichbarer denn je. Unsere Töchter spielten unterdessen ahnungslos Hüpfen auf den verschiedenfarbigen Platten. “Was, wenn die Kripo alles umgräbt?” fragte ich Irina, während ich den ausgelassenen Mädchen zuschaute. Wir hatten erst vor einer Woche eine solche Szene in einem “Polizeiruf 110” gesehen. “Den Sulker kannten mindestens hundert Leute. Da hätten die Kriminalbeamten viel zu tun.” “Vermutlich haben nicht alle ein eigenes Grundstück.” “Das hättest du dir vorher überlegen sollen.” Ich? “Hör mal, das war euer beider Idee! Du warst doch dabei, oder?” “In der Magazinstraße? Ich glaube nicht, daß ich es fertig bringen würde, jemanden unter einem Kissen zu ersticken. Daß du das konntest, alle Achtung.” Das klang eher nach Hohn als nach Anerkennung. “Es war Monique” protestierte ich lahm, “und sie war es auch, die ...” “Daß müßt ihr unter euch ausmachen”, unterbrach sie mich. “Ich wundere mich bloß über eins: Wenn du den Mut hattest, einem Mann den Garaus zu machen, den du kaum kanntest und der dir persönlich nichts getan hatte, wieso fehlt dir dann die 117
Courage, zu deiner Verantwortung zu stehen?” Ich war platt. “Hattest du mich nicht an die Dankbarkeit erinnert, die wir Monique schulden?” “Ihr helfen, ja. Aber ich kann mich nicht erinnern, daß ich dir empfahl, jemanden ....” Sie machte mit der flachen Hand die Geste des Abmurksens vor ihrer Kehle. “Ich habe ihn nicht ...!” Ich wiederholte die gleiche Geste. “Wenn du es sagst ...” Allmählich wurde ich wütend. Ich wußte, ich sollte mich jetzt lieber in das Arbeitszimmer zurückziehen und mich beruhigen, aber eins wollte ich doch noch klar stellen. “Er war schon tot”, log ich. “Ich habe nur die vollendeten Tatsachen weggeschafft. Ich wäre lieber zu Haus geblieben, aber bin auf deinen ausdrücklichen Wunsch mitgefahren.” “Offenbar tust du immer, was man dir sagt.” “Das hat dir doch bisher recht gut gepaßt!” Auf einmal legte sie mir ihre Hand auf den Arm und sagte ganz freundlich: “Es wird schon gut gehen. Wenn nicht ... dann paß auf, was du erzählst. Ich denke, wenn einer von uns die Suppe mit auslöffeln muß, genügt das. Im Ernstfall wirst du dich hoffentlich erinnern, daß eine Mutter zu ihren Kindern gehört.” Mich fröstelte es. Hatte ich nicht immer geahnt, daß für Irina die Familie oberste Priorität besaß, daß ich als Ehemann und Vater nur Mittel zum Zweck war? Bisher bemühte sie sich, diese Tatsache auf nette Art zu verschleiern. Ich sah mich schon während der Besuchszeit im Gefängnis vergeblich warten, mit einem Brief von Irina in der Hand, daß es für meine Töchter nicht gut sei, ihrem Vater in diesem Milieu zu begegnen. Ein Klingeln riß mich aus meiner Horrorvision, um einem naheliegenderen Schrecken Platz zu machen. Polizei? Irina und ich wechselten einen Blick. Da sie keine Anstalten machte, die Terrassen zu verlassen, schlich schließlich ich zum Vordereingang. Es war noch einmal Bernie. Kein Grund zum Aufatmen. “Ich muß mit jemandem reden, der mich versteht”, sagte er und schüttelte mir die Hand. Es geschah selten, daß 118
jemand mir gegenüber so deutlich seine Wertschätzung zum Ausdruck brachte. Dieser Moment gehörte nicht dazu, wie ich gleich begreifen sollte, denn er fügte hinzu: “Ist Irina zu Haus?” Kaum hatte ich genickt, ließ er mich stehen und lief zur Terrasse. Er und Irina begrüßten sich mit Küßchen links und rechts. Eine Sitte, die in jenen Jahren anfing, auch im Osten als schick zu gelten, und die ich heute noch albern finde. Genügte es nicht, daß unsere Staatschefs sich auf diese Weise lächerlich machten? “Ich weiß jetzt, warum mein Vater verschwunden ist”, hörte ich ihn sagen, als ich zu ihnen trat. Irina winkte ihn ins Haus. Wenn er von der Verabredung mit Monique in der Magazinstraße erfahren haben sollte, ging mich das auch etwas an. Ich flitzte in die Küche, schnappte mir Mineralwasser, Fruchtsaft, drei Gläser und ein Tablett und servierte die Getränke, als Bernie in unserer Couchecke schon am Erzählen war. “Er hat sich umgebracht”, murmelte er. “Unsinn”, entfuhr es mir unwillkürlich. Irina und Bernie sahen mich strafend an. “Ich meine, warum sollte ein Mann in seiner Position ... er hatte doch gar keinen Grund”, stotterte ich. “Ich versuche es gerade zu erklären”, erwiderte unser Besucher gereizt. Ich setzte mich still in einen Sessel, während Irina ihn mit einem Zunicken ermutigte. “Ich komme gerade von zu Hause, das heißt von meiner Mutter.” Bernies Elternhaus ist eine hochherrschaftliche Villa im Pankower Diplomatenviertel. “Sie hat ihn ‘rausgeschmissen.” “Deinen Vater?” fragte ich überflüssigerweise. Irina machte mir ein Zeichen, ich solle endlich den Mund halten. “Ausgerechnet an dem Abend, bevor wir uns bei mir treffen wollten. Sie ist ja nicht blöd. Sie hatte im Ministerium angerufen, und zwar nicht seine Sekretärin. Die hätte natürlich gewußt, was sie der Ehefrau ihres Chefs für Auskünfte zu erteilen hatte. Nein, sie rief bei Doktor Winter in der Nachbarabteilung an und dessen Sachbearbeiterin wußte von keiner Dienstreise. Sie sah auf dem Anwesenheitsplan nach und las vor, daß mein Vater bis zum nächsten Mittag Bereitschaft und am Nachmittag zwei Termine in seinem Büro hatte. Als mein Vater gegen vier nach Hause 119
kam, um seine fertig gepackte Reisetasche zu holen, eröffnete sie ihm, er könne gleich alle seine Sachen mitnehmen.” “Ist er gegangen?” “Er hat erst versucht, sich herauszureden. Winters Vorzimmerdame wisse nicht Bescheid und so weiter. Er sagte zu meiner Mutter, wegen einer Dienstreise werde er seine Ehe nicht gefährden, er werde sich krank melden. Meine Mutter ist nicht darauf eingegangen, sondern schlug vor, seinen Chef, den stellvertretenden Minister, anzurufen. Unglücklicherweise war der sogar zu Hause, was im Jahr keine fünfmal vorkommt. Mein Vater hoffte wohl noch, er würde schnell schalten, wenn meine Mutter nach der Dienstreise fragt. Aber der Minister polterte in seiner bulligen Art durch die Leitung, diese Woche sei keine Dienstreise, er müsse es schließlich wissen, er habe den Plan selbst abgesegnet.” “Da saß er ziemlich in der Tinte”, meinte Irina. “Sie hatten schon öfter Streit wegen Frauengeschichten, und meine Mutter drohte seit Jahren, ihn für immer zu verlassen. Das war auch ein Grund für mich, mit achtzehn eine eigene Bude zu suchen. Trotz aller Affären, er hing an ihr.” “Wie kommst du darauf, daß er sich umgebracht hat?” “Er hat es schon einmal versucht.” “Dein Vater?” fragte Irina ungläubig. “Am Anfang ihrer Ehe. Ich war noch klein. Sie hatten heiraten müssen, weil ein Kind unterwegs war, also ich, wie das Ende der Fünfziger so üblich war. Mein Vater verfügte mit Mitte zwanzig schon über einige Lebenserfahrung, aber sie machte gerade ihr Abitur. Er war ihr erster. Deswegen traf sie die Begegnung mit einem Atomexperten aus Kiew, der für sechs Monate eine Gastprofessur an der Akademie der Wissenschaften wahrnahm, wie ein Blitz. Sie lernte ihn durch meinen Vater kennen, der damals als sein Betreuer eingesetzt war. Sie bemühte sich nicht, die Affäre geheimzuhalten, sondern wollte die Scheidung.” “Das haben sie dir alles erzählt?” “Was meint ihr, was die Sache für Staub aufgewirbelt hat! Damals galt so etwas nicht als Privatangelegenheit, sondern die Kollegen wachten über die moralische Sauberkeit jedes Einzelnen. Mein Vater hat nicht ihr, sondern sich selbst die schwersten Vorwürfe gemacht. Er hätte den Ukrainer ja nicht abends zu sich nach Haus 120
einladen und mit seiner Frau bekannt machen müssen. Sie war drauf und dran, den Liebhaber nach Ablauf der sechs Monaten nach Kiew zu begleiten. Um ein Haar würde ich heute russisch und ukrainisch sprechen statt deutsch. Mein Vater hat damals in einem Hotelzimmer ein Röhrchen Valium geschluckt. Er hatte verdammtes Glück, daß er das meiste von dem Zeug im Schlaf ausgebrochen hat.” Ich wußte nicht, sollte ich lachen oder weinen. Genau so eine Story hatte ich vor etwa einem halben Jahr in einem Roman aus dem Emigrantenmilieu während der Nazizeit gelesen. “Deine Mutter war daraufhin so gerührt, daß sie ihre große Liebe sausen ließ”, erzählte ich den Roman zu Ende. Daß Bernie zustimmend nickte, wunderte mich nicht. Wohl aber, daß Irina ihm in einem Ton voller Verständnis und Mitgefühl sagte: “Wer sich für eine Familie entscheidet, muß auf mancherlei verzichten, und zwar für immer.” Über diesen Satz werde ich mich mit ihr einmal ausführlich unterhalten, nahm ich mir vor. “Ihr versteht, daß seitdem zwischen meinen Eltern Treue ein sensibles Thema darstellt.” Nachdem sein Vater sich wieder gefangen hatte, glaubte er, sich das Recht auf eigene Eskapaden erworben zu haben, während seine Mutter im Gegenteil meinte, das Recht auf felsenfeste Treue zu besitzen, da sie ja seinetwegen auf ihr Lebensglück verzichtete, berichtete Bernie weiter. In einem Kriminalfilm hätte sie ihm beim dritten oder vierten Mal den Hals umgedreht, in der Wirklichkeit litt sie still vor sich hin. “Ist das nicht nach dreißig Jahren irgendwie bereinigt?” fragte ich. “Er hat immer wieder gesagt, er bringt sich um. Jedes Mal wenn meine Mutter sich scheiden lassen wollte.” “Wäre es ihm ernst gewesen, hätte er nicht darüber geredet”, vermutete ich. “Was verstehst du denn davon”, blaffte mich meine Frau plötzlich an. “Merkst du denn nicht, wie Bernie zumute ist?” “Hast du schon mal mit Monique darüber gesprochen?” fragte ich ihn. “Ach, Monique”, meinte er traurig, “mit der kannst du über Kunst, Haute Couture und Karrieretricks reden, aber nicht über familiäre Probleme. Dazu braucht es Leute, die selbst eine Familie haben.” 121
“Aber beim Männern in der zweiten Lebenshälfte kennt sie sich aus.” “Wie wär’s, wenn du mal nach den Kindern schaust?” meinte Irina zu mir. Ich erhob mich beleidigt und verzog mich nach draußen. Allerdings ging ich nicht auf den Hof, um meinen Töchtern beim Hüpfen zu assistieren, sondern ließ die Tür offen und setzte mich auf die Treppenstufen im Flur. Ich wollte mir kein Wort entgehen lassen. “Das wichtigste habe ich noch gar nicht erzählt”, setzte Bernie seinen Bericht fort, sobald ich außer Sichtweite war. “Heute früh war jemand von der Kripo bei mir, Tschirnitz oder so ähnlich. Am Abend vor seinem Verschwinden hat mein Vater einige Stunden im Café Moskau zugebracht.” Das Café Moskau, nur wenige hundert Meter vom Alexanderplatz entfernt, galt als zwielichtige Edelkaschemme, in der laut Gerücht betuchte Touristen aus Ost und West mit einheimischen Halbweltdamen in Kontakt traten. “Er fiel dadurch auf, daß er allein kam, allein bleiben wollte und zwischen halb sechs und halb acht eine Getränkerechnung von über hundert Mark produzierte. Zu einer Zeit, wo er fast der einzige Gast war.” “Wo er danach hingegangen ist, weiß keiner?” fragte Irina. “Ich weiß es. Er hat sich Mut angetrunken, und dann irgendwo die Pistole an die Schläfe gesetzt. Seine Dienstwaffe ist weg.” Ich bekam einen Schreck. Gerade als ich anfing zu hoffen, die Polizei könne sich die Selbstmordtheorie zu eigen machen und sich darauf beschränken, die Wälder rund um Berlin nach dem Vermißten abzusuchen. Wieso hatten wir seine Sachen nicht genauer durchsucht? Wenn ich die Waffe nun in jener Nacht mit den übrigen Sachen in die Mülltonne des Kinos “International” entleert hatte? Die Kripo brauchte nur auf die Idee zu kommen, die Deponie, auf der die Abfälle von Berlin Mitte landeten, zu durchforsten. Wenn sie dann die Pistole und daneben seine Reisetasche und verstreut seine Sachen fanden? Jemand, der seine Pistole wegwirft, kann sich kaum damit erschossen haben, oder? Vielleicht war die Pistole bei seinen Klamotten gewesen? Ich hatte die Sachen nie auseinander sortiert. Irina hatte das Bündel mitsamt dem Einkaufsbeutel verbrannt. Ich verließ meinen Horchposten und eilte nach draußen. Wir besaßen eine Mülltonne aus Plastik für die normalen Abfälle und eine kleinere aus Metall für die Verbrennungs-rückstände. Mit einem Stock stocherte ich in der Asche, und fand das 122
Ding innerhalb von zwei Sekunden. Die Pistole war mit einer Rußschicht überzogen und sah auch sonst nicht mehr so aus, als könnte man sie noch gebrauchen. Aber immerhin war deutlich zu erkennen, daß es sich um eine Schußwaffe handelte. Ich verzichtete darauf, sie herauszuangeln, denn meine Töchter liefen bereits neugierig auf mich zu. “Was hast du da, Papi?” fragte Henriette, mein Älteste. Ich schob das Ding mit dem Stock wieder unter die Asche und sagte: “Ich habe nachgesehen, ob auch keine Glut mehr da ist.” Ich redet solange über den Zusammenhang von Brandgefahr und Leichtsinn, bis die drei zurück zu ihrem Springseil flüchteten. Ich hoffte, sie für längere Zeit von der Tonne vergrault zu haben. Dennoch, ich durfte kein Risiko eingehen. Also rief ich meine Töchter mit dem Hinweis auf die Abenddämmerung ins Haus und in ihr Kinderzimmer. Das Wichtigste war jetzt, ihre Aufmerksamkeit an einen neuen Gegenstand zu fesseln. Ich baute das Puppentheater auf und spielte den Froschkönig vor. Dann Dornröschen. Schneewittchen. Sie waren begeistert. Ich sah nach jedem Märchen nach draußen, ob unser Besucher endlich das Haus verließ. Aber nein, Bernie erzählte und erzählte, und Irina hörte geduldig zu. Nach dem fünften Märchen kroch langsam die Wut in mir hoch. Falls inzwischen die Polizei vorgefahren kam, waren wir geliefert! Mir gingen auch langsam die Märchen aus. Schließlich lief ich nach unten und bat Irina, mal einen Moment herauszukommen. “Was ist denn?” rief sie ärgerlich. “Entschuldige, Bernie”, sagte ich zu ihm. Und zu ihr: “Ich muß dir schnell etwas zeigen.” “Kannst du mir das nicht einfach sagen?” “Bitte! Es dauert nur eine Minute. In der Mülltonne draußen ...” Wie konnte ich ihr einen Hinweis geben, ohne daß Bernie mißtrauisch wurde? “Verschone mich mit deinem Haushaltskram, ja? Siehst du nicht, daß sich Bernie Sorgen um seinen Vater macht?” Eben. Das war ja das Beunruhigende. “Es tut mir leid, daß ich euch so lange aufgehalten habe”, sagte Bernie entschuldigend und erhob sich von der Couch. “Bernie bleibt zum Abendessen”, informierte mich Irina. “Natürlich, du bleibst!” 123
sagte sie zu ihm, als er eine abwehrende Handbewegung machte. “Wozu sind Freunde sonst da?” Bernie blieb bis abends um elf. Während die beiden ihre Köpfe zusammensteckten, spielte ich für meine Töchter den Alleinunterhalter. Ab halb sechs fing ich an, eigene Märchen zu erfinden. Um zehn nach sechs fühlte sich mein Gehirn wie ausgesaugt an. Wo ich früher Geschichten speicherte, gähnte ein Vakuum. Ich versuchte, das Puppenspiel zu beenden und aus den Grimmschen Hausmärchen vorzulesen (von Walter Klemke farbig illustrierte Ausgabe, drei Jahre zuvor durch glücklichen Zufall in Prag erworben), aber der lautstarke Protest meiner drei Zuhörerinnen vereitelte diesen Versuch. Seit Irina als künftige Theaterfrau das Spiel mit verteilten Rollen als einzig würdige Form der Gute-Nacht-Geschichte in unser Familienleben eingeführt hatte, ging ohne Puppen gar nichts mehr. Ich rettete mich, indem ich vorschlug, meine Töchter mögen nun ihrem Papi etwas vorspielen. Sie maulten. “Nö, Papi, du kannst das besser.” Ich versprach ein tolles, noch nie gehörte Märchen, wenn sie mich zuvor mit Aschenputtel erfreuten. Meine Rechnung ging auf. Zehn Minuten verloren sie bei dem Streit, wer Aschenputtel sein durfte und wer sich mit den Rollen der bösen Stiefmutter und der häßlichen Töchter begnügen mußte. Dann entdeckten sie, daß sie ihren Papi für den Vater und den Prinzen brauchten. Ich zierte mich, bis es fünf vor halb sieben war. Nun konnte ich eine bedauernde Miene aufsetzen und sagen: “Zeit für das Abendessen.” Ein ging Wehklagen los, das ich mit der Frage unterbrach: “Wollt ihr zehn vor sieben das Sandmännchen verpassen?” Das wollte niemand. Ich ging nach unten, schmierte Stullen und kochte Milch. Fünf Minuten später kamen Irina und Bernie und aßen, was ich ihnen vorsetzte. Selbst meine Töchter merkten, daß sie mit ihren Gedanken woanders waren. Als Henriette anfing, ihr Fragen zu stellen (“Bist du traurig, Mami? Ist Onkel Bernd traurig?”), riet sie ihr, sich heute mal ausschließlich an Papi zu halten. Das taten sie auch. Kaum war das Sandmännchen vorbei und die Zähne geputzt, erinnerten sie mich an das versprochene tolle neue Märchen. Ich griff mir die Teufelspuppe und fing an zu improvisieren. Der Teufel wollte die schöne Prinzessin 124
heiraten, aber natürlich wollte sie mit ihm nichts zu tun haben. Deshalb verwandelte er sich in einen Prinzen und hielt um ihre Hand an. Sie ließ sich täuschen und glaubte dem Teufel, daß er der Prinz sei. Sie ging mit ihm mit, um ihn zu heiraten. Doch als er die Braut küßte, nahm er wieder seine wahre Gestalt an. Ich schleuderte die Prinzenpuppe von meiner rechten Hand und schlüpfte zurück in den Teufel, während meine linke Hand eine verliebte Prinzessin hielt, die mit geschlossenen Augen auf den Kuß wartete. Meine drei Töchter saßen erstaunlich still und folgten gebannt der Handlung. Der Teufel erschien, drückte seinen Mund auf den der Prinzessin, sie kreischte, packte einen Stock und schlug den Teufel nieder. Da lag er nun, unbeweglich, tot. Meine Töchter jubelten. doch die Prinzessin hatte Angst. Wenn das des Teufels Großmutter, die Hexe Baba-Jaga, erfuhr! Au weia! “Au weia”, echoten meine drei Grazien. Die Prinzessin rief den echten Prinzen zu Hilfe. Henriette, Friederike und sogar die knapp zweijährige Katharina bangten so sehr um die schöne Königstochter, daß sie vergaßen sich zu wundern, woher auf einmal der echte Prinz kam. Er versteckte jedenfalls den Teufel unter seinem Mantel. Mühsam stopfte ich mit der linken, der Prinzessinnenhand, den zusammengerollten Teufel in den Raum zwischen rechter Handfläche und Prinzenpuppe. Ich verabschiedete die Prinzessin vorübergehend und ließ nun die Hexe auftreten, die überall nach ihrem Teufelsenkel suchte. Das war ein Gaudi für meine drei Zuschauerinnen, wie die Alte vergeblich um den Prinzen herumschnüffelte. Daß ich ihnen die Geschichte von Sulker, Monique und mir als Märchen auftischte, zeigt zur Genüge, in welcher nervlichen Verfassung ich mich befand. Während die meine drei Grazien schadenfroh kicherten, stand ich tausend Ängste wegen der Aschentonne neben der Einfahrt aus. Es brauchte nur jemand von der Kripo kommen, der sich bei uns wenig genauer umsah. In jedem Krimi sahen Detektive zuerst im Müll nach und fanden dort entscheidende Hinweise. Ich ließ die Hexe ohne Erfolg in die Hölle abziehen und Prinz und Prinzessin glücklich werden bis an ihr seliges Ende. Gute Nacht, halbherzige Proteste, Licht aus. Ich atmete auf. Aus dem Wohnzimmer klang Stimmengemurmel. Bernie schüttete Irina immer noch sein Herz aus. Ich wartete eine Viertelstunde und überzeugte mich, daß unsere Töchter schliefen. Dann schnappte ich mir unsere Sackkarre aus dem 125
Keller, lud die Tonne auf und bugsierte sie über die Kellertreppe holpernd nach unten, aus dem Sichtfeld der Nachbarn heraus. Die Pistole fand ich ziemlich schnell. Trotzdem werde ich die Aschen durchsieben müssen, überlegte ich. Möglicherweise hatte er ein Schulterhalfter dabei. Außerdem gehört zu jeder Waffe Munition. Bei diesem Gedanken überlief es mich eiskalt. Munition! Die wäre doch im Ofen explodiert! Welch ein Leichtsinn von uns, die Sachen zu verbrennen ohne sie zu durchsuchen! Ich hatte keine Ahnung, wieviel Sprengkraft der Inhalt einiger Patronen hergibt, aber zumindest hätte es hörbar geknallt. Ich versuchte das Magazin aus der angekohlten Pistole zu ziehen. Vergeblich. Die Hitze hatte die Teile verbogen. Ich holte Hammer und Meißel und schlug ein Loch hinein. Das Magazin war leer. Einige Minuten siebte ich weitere Ascheschichten durch, ohne Ergebnis. Vermutlich durften die Beamten nur zu bestimmten Anlässen mit scharfer Munition herumlaufen, beruhigte ich mich. Ich kannte solche Vorschriften aus meiner Armeezeit. Sicher ruhten seine Patronen noch unversehrt in der Waffenkammer des Ministeriums. Das mußte dem Menschen von der Kripo, der mit Bernie redete, bekannt sein. Wieso glaubte Bernie dann an einen Selbstmord mit der Dienstwaffe? Ich ließ alles stehen und liegen, rannte nach oben, wusch mir flüchtig die Hände und unterbrach die Unterhaltung der beiden, die längst bei irgendwelchen gemeinsamen Bekannten aus ihren ersten Semestern angelangt waren. In einer Zeit, als ich noch Lastkraftwagen in Tarnfarben über abgesperrtes Gelände fuhr. “Bernie, was ist mit der Munition?” wechselte ich abrupt das Thema. Beide sahen mich an wie ein grünes Männchen von einem andern Stern. “Dein Vater”, erklärte ich, “der kann doch gar keine Munition besessen haben. Die ist laut Vorschrift außer zu Übungen und Einsätzen immer in einer Waffenkammer eingeschlossen.” Bernie verstand sofort und seufzte. “Mein Vater hatte wie jeder dort ein paar Patronen als Andenken beiseite geschafft. Du weißt schon, bei Schießübungen eine Patrone weniger abgefeuert und behauptet, sie sei an der Scheibe vorbeigegangen. Er hat mir mal welche gezeigt, als ich zwölf war.” Irina musterte mein Hose. “Wo bist du gewesen?” Sie zeigte auf graue Spuren an meinem linken Bein. 126
“Mit der Heizung stimmt was nicht”, murmelte ich und verzog mich wieder nach unten. Ich nahm mir vor, gleich am nächsten Tag die Pistole in die Wuhle, das kleine Flüßchen eine Viertelstunde von unserm Haus, zu werfen. Ein Glück, das ich das Ding noch gefunden hatte. Aber wie viele weitere Spuren mochte ich übersehen haben? Wieso zerbrach ich mir eigentlich den Kopf und wühlte abends um neun in der Asche? Wieso nicht Monique? Schließlich war es ihr Toter. Metallteile oder Lederreste eines Schulterhalfters hatte ich nicht gefunden. Und wenn sich eine einzelne Patrone im Lauf der Waffe befand? Aber auch die hätte beim Verbrennen hörbar explodieren müssen. Ich hielt den Lauf der Pistole gegen das Licht. Schade. Mit ihr hätten wir so herrlich die Polizei irre führen können. Das Ding hundert Kilometer von hier irgendwo liegen lassen, ein anonymer Anruf bei der Kripo, und mehrere Hundertschaften hätten wochenlang ferne Wälder durchkämmt. Plötzlich hörte ich schnelle Schritte die Treppe herunterkommen. Geistesgegenwärtig tauchte ich meine rechte Hand, die die Pistole hielt, bis zum Ellenbogen in die Aschentonne. “Bringst du bitte eine Flasche Wein mit nach oben und trinkst mit uns ein Glas?” fragte Irinas Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Sie stand auf der Treppe und spähte mir über die Schulter. “Sitzt er noch oben?” fragte ich leise. “Bist du jetzt gänzlich am Durchdrehen?” rief sie statt einer Antwort. “Was willst du mit der Tonne im Keller?” Ich zog schweigend die Hand mit der Pistole heraus und zeigte sie ihr. “Das Ding war in seinen Sachen. Du hast sie mitverbrannt.” “Ich weiß. Ich hab sie gefunden, als ich die Asche aus dem Ofen holte.” “Du hast sie einfach ... Wenn die Polizei gekommen wäre!” “Mach keine Panik! Spätestens Montag kommen die Müllfahrer, die befreien uns für immer von den Überresten. Es sei denn, du versteckst vor ihnen die Tonne hier unten. Bring das Ding ‘raus, wasch dir die Hände und komm endlich.” Ich legte die Pistole vorläufig in den Aschkasten des Heizofens und schleppte die Tonne mühsam wieder hinaus, indem ich sie von Stufe zu Stufe mit der Sackkarre nach oben zog. Als ich zehn Minuten später mit einer Flasche Pinot Noir im Wohnzimmer 127
auftauchte, plauderten sie recht fröhlich über irgendwelche heimlichen Liebesverhältnisse zwischen Schauspielschülerinnen und Theaterleuten. Meine Rolle beschränkte sich auf Wein einschenken und Zuhören. Bis um elf, als die Flasche schon eine halbe Stunde leer und Bernie endlich bereit war zu gehen, erwähnten sie seinen Vater mit keinem Wort mehr. Ich ließ mich todmüde ins Bett fallen und freute mich, am nächsten Morgen, einem Sonnabend, ausschlafen zu können. Irina, die wie alle Theaterleute erst bei Einbruch der Dunkelheit so richtig mobil wurde, hatte unsere Töchter von Anfang an dazu erzogen, nach dem Erwachen so lange still miteinander zu spielen, bis Mami und Papi aufstanden. Um so ärgerlicher war ich, als mich zehn nach sieben ein unangenehmes Klingeln aus dem Tiefschlaf riß. Erst schlug ich nach dem Wecker, aber als das Läuten erneut einsetzte, kapierte ich, daß es von unten kam. Ich hoffte, daß der Störenfried nach dem dritten Versuch aufgeben würde und zog mir das Kissen über den Kopf. Statt dessen setzte ein wildes Hämmern an der Haustür ein. Irina knuffte mich in die Seite. “Los, geh runter, sieh nach, wer da ist.” “Geh doch selbst”, knurrte ich. Sie knuffte mich weiter, bis ich mich aufsetzte und mit halb geschlossenen Lidern nach meinem Bademantel langte. Als ich nach unten schlurfte, lärmten auch schon meine Töchter: “Papi, Mami, Einbrecher!” “Machen Sie endlich auf!” hörte ich eine herrische Männerstimme von draußen. Die Tür ächzte schon unter dem Donnern der Fäuste. Vor der Tür stand ein hochgewachsener Mann von Anfang vierzig mit Hut und Regenmantel und schnauzte mich böse an: “Warum öffnen Sie nicht, wenn ich klingle?” “Was wollen Sie mitten in der Nacht?” murrte ich gähnend. “Es ist zehn nach sieben, heller Tag”, stellte er in entschiedenem Ton fest. Ich blinzelte. Es dämmerte gerade. “Herr Wagner? Ich nickte. “Kriminalpolizei.” Er ließ eine Klappkarte wenige Zentimeter vor meinem Augen auf- und zuschnappen. “Darf ich eintreten?” Ohne meine Zustimmung abzuwarten, drängte er sich an mir vorbei. Jetzt erst 128
entdeckte ich fünfzig Meter weiter auf der anderen Straßenseite das Polizeiauto, in dem ein Uniformierter am Steuer wartete. Der Mann von der Kripo sah sich in unserem Flur gründlich um, als gelte es sich Einzelheiten eines Tatorts einzuprägen. Irina erschien oben auf der Treppe in ihrem kurzen, durchsichtigen Negligé. Sie räkelte sich müde, so daß ihre Brüste voll im Licht der Korridorlampe glänzten und gähnte: “Was soll der Überfall?” Wenn das eine bewußte Inszenierung war, so verfehlte sie ihren Zweck gänzlich. Der Polizist würdigte sie kaum eines Blickes, sondern knurrte nur: “Tschirnitz, Kriminalpolizei. Ziehen Sie sich was über und kommen Sie herunter. Ich habe einige dringende Fragen an Sie.” Irina warf ihren Kimono über, ein Geschenk von Monique, das sie auf der Leipziger Messe bei japanischen Ausstellern abgestaubt hatte, und kam die Treppe herunter. Als Irina vor ihm stand, fragte sie in einem für diese Tageszeit erstaunlich freundlichen Ton: “Nehmen Sie eine Tasse Kaffee?” Er überlegte einen Moment und nickte schließlich: “Einverstanden.” Während Irina die Kaffeemaschine anwarf, zückte er einen Notizblock und wandte sich an mich: “Sie kennen Herrn Albrecht Sulker?” Ich registrierte mich Erleichterung, daß er darauf verzichtete, Irina und mich einzeln zu befragen. Also bestand kein dringender Verdacht gegen uns. Ich entspannte mich. Ich gab ihm ein Nicken zur Antwort, während Irina erklärte, daß wir vor allem seinen Sohn kennen und den Vater nur einmal life erlebten, während unserer Hochzeit. Allerdings hätte wir durch Bernie viel von ihm gehört, auch von seinem Verschwinden. Es war deutlich zu sehen, daß der Kripobeamte das alles schon wußte. “Hat er sich in den letzten sieben Tagen mal bei Ihnen gemeldet? Angerufen oder so? Keine Idee, wo er sein könnte? Wir verneinten alle drei Fragen. Er warf einen Blick auf den Kaffee, der noch durch die Maschine lief, und dann einen Blick auf seine Uhr. “Was dagegen, wenn ich mich mal umsehe?” Ich weiß nicht, ob irgendwer im Osten gewagt hätte, nach einem Hausdurchsuchungsbefehl zu fragen. Ich erhob mich klopfenden Herzens, um ihn zu begleiten. Er ging durch den Flur, warf einen Blick in das Wohnzimmer und stieg schließlich die Treppe nach oben, wo sich das Kinderzimmer und unser Schlafzimmer 129
befand. Ich immer hinterher. Unsere Töchter, die sich neugierig auf dem Treppenabsatz versammelt hatten, rannten kichernd in ihr Zimmer zurück. Tschirnitz stieß ihre Tür auf und blickte sich um. “Bist du ein Einbrecher, Onkel?” fragte Friederike, unsere Mittlere. “Frag deinen Vater”, knurrte er und ging wieder hinaus. Mit Kindern wußte er offensichtlich nicht viel anzufangen. Im Schlafzimmer öffnete er unsere Kleiderschränke und spähte hinein. Dann lugte er unters Bett und hinter die Spiegelkonsole. Glaubte er wirklich, wir würden seit Tagen mit einer Leiche zusammen schlafen? Er wirkte wie ein Beamter, der eine sinnlose Pflicht erfüllt. Ohne einen Kommentar abzugeben, stiefelte er wieder nach unten und zurück zur Küche, wo Irina gerade den Filter von der Kaffeekanne nahm. Wortlos öffnete er die Kellertür neben dem Kücheneingang und stieg die Treppe hinab. “Herr Wagner?” rief er mahnend, als ich nicht sofort folgte. Ich verzichtete auf meinen Versuch, Irina zuzuflüstern, sie solle in ein paar Sekunden rufen, daß der Kaffee eingegossen sei. Bei einer oberflächlichen Hausbegehung konnte der Mann zwar nichts finden, dafür lag der Tote tief genug unter dem Beton. Aber diese stumme Musterung zehrte an meinen Nerven. Der Kripobeamte gab nicht mit einem Wort zu erkennen, worüber er nachdachte. Ob er irgendwelche Schlüsse zog. Wenn das nur eine Masche war, seine Zeugen in Angst und Schrecken zu versetzen, so war er damit bei mir außerordentlich erfolgreich. Ich fand die Spannung unerträglich. Warum durfte ich nicht in Ohnmacht fallen wie die vornehmen Damen in alten Zeiten? Er betrachtete die Kellerwände, klopfte hier und dort mit den Fingern dagegen, besah sich das Weinregal und zog eine Flasche heraus, um sich das Etikett anzusehen. Er legte sie zurück, ging an dem aufgeschichteten Koks und an dem Ofen vorbei und blieb plötzlich stehen. Ich stand am unteren Ende der Treppe und biß mir nervös auf die Unterlippe. Wieso rief uns Irina nicht endlich zum Frühstück! Er öffnete die Ofentür, zauberte eine Taaschenlampe aus seinem Mantel und leuchtete hinein. Er schloß die Tür sorgfältig, bückte sich und zog den Aschkasten heraus. Verdammt, die Pistole! Ich unterdrückte mit Mühe einen Aufschrei. An das verkohlte Ding hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Der Polizist schüttelte den Kasten und schaute angestrengt in die kalten Reste des gestrigen Heizens. Jeden Moment mußte Metall auf Metall klirren. Ich 130
hörte nichts. Der Mann beugte sich wieder nach unten, um den Kasten zurück in den Ofen zu schieben. Ich rannte zu ihm und langte nach dem Griff. “Bitte lassen Sie ihn gleich draußen, ich muß ihn sowieso ausleeren.” Er überließ mir den Kasten und wandte sich der Kartoffelschütte am anderen Ende des Kellers zu. Verstohlen faßte ich in die Asche. Da war nichts. Die Pistole war fort. Hatte er sie etwa gefunden und herausgenommen? Um während eines folgenden Verhörs mit uns Katz und Maus zu spielen? Nein, das hätte ich bemerken müssen. Hatte ich mir nur eingebildet, daß ich die Pistole da hinein tat? Ich wurde doch nicht etwa senil? Ich wischte meine Hand an den Stoffhandschuhen ab, die wir benutzten, um die heiße Ofentür anzufassen. Unser Besucher wühlte inzwischen in den Äpfeln. Da endlich ertönte Irinas Stimme von oben: “Der Kaffee steht auf dem Tisch.” Tschirnitz brummte etwas, das ich nicht verstand und stapfte nach oben. Ich folgte ihm langsam. Meine Frau hatte einen kompletten Frühstückstisch gedeckt. Henriette, Friederike auf der Sitzbank und Katharina auf ihrem Babystühlchen beobachteten brav, wie Mama ihnen Schnitten schmierte. Der Polizist langte im Stehen nach seiner Tasse und nahm zwei Schluck. Dann setzte er sie wieder ab und brummelte: “Was dagegen, wenn ich mich draußen mal umschaue?” Wieder wartete er die Antwort nicht ab, sondern stapfte hinaus. Irina und ich wechselte einen besorgten Blick. Als ich nicht sofort nachkam, rief er wieder “Herr Wagner?” in mahnendem Ton. Er spazierte mit auf dem Rücken verschränkten Händen über unseren Rasen, warf einen Blick in den Geräteschuppen, schaute über den Zaun zu den Nachbarn und trat schließlich auf unsere Terrasse. Er prüfte mit der rechten Ferse die Festigkeit der Platten. “Ganz neu, wie?” murmelte er. “Wir sind noch nicht ganz fertig mit Bauen”, antwortete ich. Er nickte. Plötzlich faßte er einen Entschluß, lief in schnellen Schritten zum Eingang und brüllte über die Straße: “Rainer!” Aus dem Polizeiauto stieg der Uniformierte, der die ganze Zeit am Steuer gewartet hatte, ein junger Kerl mit blonder Stoppelfrisur. Zu meinem Entsetzen kam er nicht allein. An einer Leine führte er einen jungen Schäferhund mit Maulkorb. Am Flurfenster sah ich Irina, die nachsah, was hier draußen vorging. Statt herauszukommen 131
und mir beizustehen, verschwand sie wieder im Innern des Hauses, sobald der Polizist mit dem Hund unser Grundstück betrat. Tschirnitz wies mit der Hand zur Terrasse. Du lieber Himmel, steh mir bei, dachte ich nur, als der Uniformierte dem Hund den Maulkorb abnahm und dieser anfing, über unsere neuen Terrakottafliesen zu schnüffeln. Ein paar Sekunden lang passierte nichts. Dann stürzte der Hund plötzlich los und jaulte, als ihn die Leine zurückhielt. “Ruhig, ruhig”, mahnte der Uniformierte, “was hast du gefunden?” Der Hund zog und zog. Er führte sein Herrchen geradewegs in Richtung Betonsockel – blieb aber nicht stehen, sondern zog ihn weiter über ein Stück Rasen um die Ecke des Hauses zu den Stachelbeersträuchern an der Rückseite. Dort wühlte der seine Schnauze in den Sand und versuchte nach etwas zu schnappen. Sein Führer riß ihn zurück und griff mit einem Handschuh in die Erde. Es war ein Stück Rindfleisch. Ich erkannte es. Ich hatte es am Tag zuvor eingekauft für den Gulasch am Sonntag und in das mittlere Kühlschrankfach getan. Mit Mühe verbarg ich meine Überraschung. “Tut mir leid, das haben wohl die Kinder dahin geworfen.” Tschirnitz winkte ab und gab seinem Untergebenen ein Zeichen, den Hund zurückzuziehen und ihm den Maulkorb wieder aufzusetzen. “So ist das immer”, sagte er unzufrieden. Vor einigen Minute noch bärbeißiger Bulle, benahm er sich auf einmal leutselig und verständnisvoll. “Unsere besten Hunde haben sie an die Grenze abgezogen, weil da wieder so ein paar junge Spunde auf Wache eingepennt sind und im Halbschlaf einen Vorfall gemeldet haben. Letztens haben unsere Leute drei Tage draußen das Hinterland abgesucht, und alles, was sie fanden, war ein Reh, daß hinter Henningsdorf in die Grenzanlagen geriet. Wir müssen in der Zwischenzeit mit halb ausgebildeten Rüden ohne Erfahrung auskommen.” “Dürfen wie Sie beide noch zum Kaffee einladen?” fragte ich. Der Uniformierte warf seinem Vorgesetzten einen sehnsüchtigen Blick zu. Der schüttelte den Kopf. “Wir müssen weiter. Die machen uns ziemlich Dampf wegen dem Vermißten.” Er überreichte mir eine Karte. “Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, oder Sie von dritter Seite etwas erfahren, rufen Sie bitte an. Das Außenministerium wird wahrscheinlich eine Belohnung aussetzen. Grüßen Sie Ihre Frau.” 132
Sie drehten sich um und stapften zum Auto. Ich wartete, bis sie wegfuhren, dann ging ich zurück ins Haus. Irina kam aus der Küche. “Alles überstanden?” “Du hättest mir ruhig zur Seite stehen können.” “Das hab ich!” Leise, so daß es die Kinder in der Küche nicht hören konnten, fügte sie hinzu: “Was glaubst du wohl, wie das Fleisch für den Hund in den Strauch gekommen ist?” Ich erschrak. “Das hätte aber ins Auge gehen können.” “Hast doch geklappt, oder? Keiner hat mich am Wohnzimmerfenster gesehen. Reden wir vielmehr von deiner Schnapsidee, die Waffe im Aschkasten aufzubewahren.” “Du hast sie herausgenommen?” “Ich dachte mir gleich, daß du sie nicht in der Tonne gelassen hast, wo sie sicher gewesen wäre. Bei der Panik, die du gestern verbreitet hast! Zum Glück warst du helle genug, ihn eine Weile in der oberen Etage festzuhalten.” Ich verschwieg ihr, daß das Schnüffeln des Zivilbeamten in unseren Schränken nicht mein Verdienst war. “Ich hab es vorhin aus dem Keller gerade so in die Küche zurückgeschafft, da kamt ihr auch schon wieder ‘runter.” “Wo ist sie jetzt?” “Im Mülleimer, in Toilettenpapier gewickelt.” “Ob sie schon bei Monique waren? Oder gerade dorthin unterwegs sind?” Ob sie unsere Leitungen abhörten? überlegte ich. Vermutlich hätte es sowieso nichts genützt, bei ihr anzurufen, sie war sicher irgendwo unterwegs, wie immer Mode vorführen, Kontakte knüpfen, ihren Doktor Wickler umsorgen. Oder jemand anderes, der ihr auf dem Sprung nach oben die Hand hielt. Wir irrten uns. Zwei Stunden später – wir zogen den Kindern gerade die Jacken an, um zu einem Spaziergang aufzubrechen, bei dem wir die verräterische Pistole im nächsten Gewässer versenken wollten – klingelte sie an der Haustür. Ich mußte zweimal hingucken. Wohin war ihr blondes, langes Haar verschwunden? Die Monique, die an diesem Morgen vor mir stand, trug eine dunkelrote Schüttelfrisur. Ihre Haarsträhnen endeten auf halber Höhe zwischen Kinn und Schultern. “Gefällt’s dir?” fragte Monique. 133
“Warum hast du das getan!” rief ich enttäuscht. “Meine Zeiten als blondes Dummchen sind vorbei. Du hast ja gesehen, wohin das führt. War dieser Mensch von der Kripo heute früh bei euch?” Irina hatte die Kinder stehen gelassen und kam die Treppe herunter. “Eh, das sieht klasse aus!” rief sie, als sie Moniques neue Frisur erblickte. Andere Frauen färben sich die Haare blond, dachte ich, aber sie, die das von Natur aus hat, versteckt sich freiwillig unter einer Art Hexenscharlach. Niemand ist zufrieden, mit dem, was er hat. Aber meine Meinung zählte nicht. Irina und Monique steckten die Köpfe zusammen. Meine Frau berichtete leise von dem amtlichen Besuch heute früh. An dem Kichern der beiden erkannte ich, daß sie sich über den Trick mit dem Fleisch und das erfolgreiche Verbergen der Pistole amüsierten. War ich hier der einzige mit Herzklopfen? Ich ging nach oben und zog unsere Töchter ausgehfertig an. “Gib mir das Ding”, sagte Monique gerade, als ich meine drei Kleinen die Treppe hinunterführte, “ich schaffe es fort.” Die Tüte mit dem eingewickelten Stück Metall wechselte den Besitzer. “Ich begleite euch ein Stück.” Eigentlich war der Ausflug überflüssig geworden. Aber da wir die Kinder nun einmal mühsam in ihren Mänteln, Schuhchen und Schals verstaut hatten, gingen wir trotzdem hinaus. Monique erzählte: “Ich habe Wickler endgültig den Laufpaß gegeben.” “Und das Modeinstitut? Wovon willst du leben?” “Die Fotos für die ‘Sybille’ und ‘Für dich’ mache ich weiter, da habe ich feste Verträge.” Beides waren Frauenzeitschriften der DDR mit einem großen Modeteil. “Doch die übrige Zeit ... Du weißt ja”, wandte sie sich an Irina, “daß wir an der Uni schon lange ein eigenes Studententheater gründen wollten. Seit gestern ist die Sache perfekt. Degenhardt hat uns sogar eine Probenraum besorgt, den wir täglich vier Stunden nutzen können.” Alfons Degenhardt hatte ich auf unserer Hochzeitsfeier kennengelernt. Er arbeitete immer noch als Dramaturg am Deutschen Theater und hatte vor knapp zwei Jahren eine der Studentinnen geheiratet, mit denen er nach der Probenarbeit ins Bett stieg. Die Ehe hielt, weil sie seinen ständig wechselnden Liebschaften mit ungewöhnlicher Toleranz begegnete. 134
“Du bist doch längst fertig mit deinem Studium”, wandte ich ein. “Ich habe meine Beziehungen eingesetzt, damit Degenhardt endlich die letzten Genehmigungen erhält. Folglich werde ich auch mitspielen.” “Er hat es also endlich erreicht”, meinte Irina, eine Anspielung auf die Querelen Degenhardts mit seinem Intendanten, der nicht dulden wollte, daß einer seiner Mitarbeiter möglichen talentierten Nachwuchs für ein Konkurrenzunternehmen einspannte. Andererseits forderten seit Jahren die Professoren der Uni eine eigene Studentenbühne. Sie blickten mit Neid auf die Schauspielschule in Schöneweide, deren Studenten mit einer eigenen, grotesk überspitzten Inszenierung der “Dreigroschenoper” Triumphe im Sommertheater des Palastes der Republik feierten. “Also keine Reise nach Mailand mehr?” fragte ich Monique. Monique deutete ein Schulterzucken an. “Niemand kann wissen, was sich daraus ergibt. Wenn wir erfolgreich sind, warum nicht? Hier stehen uns alle Türen offen. Bei der andern Geschichte dagegen steckte ich seit längerem in einer Sackgasse. Und da Sulker weg ist ... Ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich euch bin. Was ihr für mich getan habt ...” “Das war doch selbstverständlich”, sagte ich großmütig. Wenn nur das Theaterspielen mit diesem Degenhardt nicht zu neuen Komplikationen führte! “Wie werdet ihr miteinander auskommen, du und Alfons?” fragte Irina, als hätte sie meine Gedanken erraten. Monique lachte. “Sei unbesorgt. Privat habe ich ihn schon im ersten Studienjahr hinter mich gebracht. Genau wie du.” Sie kicherten beide über Erinnerungen, deren Inhalt ich mir ungefähr vorstellen konnte. Sie schwatzten über neue Stücke und die Regieauffassung eines jungen Rebellen namens Frank Castorf, der irgendwo in der Provinz Zuschauer aus allen Bezirken unseres Landes anlockte. Der Name war ein paar Jahre später in aller Munde, damals sagte er mir nichts. Nach einer halben Stunde, als wir uns in einem großen Bogen wieder unserem Haus näherten, reichte Monique Irina und mir die Hand und sagte: “Dahinten steht mein Auto. Macht euch keine Sorgen wegen der Polizei. Ich kenne noch jemanden im Außenministerium. Die verfolgen eine ganz andere Spur. Es hat Unterschlagungen von Reisemitteln gegeben, Sulker gehörte mit zu den Verdächtigen. Ich habe den Eindruck, es ist ihnen ganz recht, den heiklen Fall dem 135
Verschwundenen in die Schuhe zu schieben und darüber die Akten zu schließen.” “Stimmt es denn?” fragte ich. “Hat Sulker ...” Ich ließ den Satz mit Blick auf unsere Töchter unvollendet. Zumindest Henriette war alt genug, um sich auf manches, worüber ihre Eltern in Andeutungen redeten, selbst einen Reim zu machen. “Keine Ahnung. Für Bernie hoffe ich, daß sich der Verdacht nicht erhärtet. Und für uns, daß er auf keinen anderen fällt.”
Erst nach Monaten wagte ich zu hoffen, daß die Gefahr vorüber war. Zwar wird die Akte eines Vermißten nie endgültig geschlossen, aber wer in der DDR mit ihren abgeschotteten Grenzen nach einigen Monaten nicht wieder auftauchte, galt faktisch als tot. Seit jenem Besuch von Monique erwähnten wir den Mann, der sich unter unserer Terrasse langsam in Erde und Staub zurückverwandelte, mit keinem Wort mehr. Monique besuchte uns alle zwei, drei Wochen. Ihr einziges Thema war das Studententheater. Die Truppe probte zwei Stücke von Frank Wedekind, “Erdgeist” und die Fortsetzung “Die Büchse der Pandora”. Beide wurden um mehr als die Hälfte gekürzt und an einem Abend hintereinander aufgeführt, unter dem Titel “Lulu”. Monique spielte die Titelgestalt, die Anfang des Jahrhunderts mit ihrer naiven, unbewußten Verführungskraft die Männer und ihre patriarchalischen Beziehungen zerstört. So zumindest erklärten mir die beiden Frauen das Stück. Monique erwähnte nie, wo die Pistole ihre letzte Ruhestätte fand. Auch Bernie sprach nicht mehr von seinem Vater. Die einzige Veränderung bestand darin, daß er uns seit seinem Verschwinden fast jede Woche besuchte. Er litt an Liebeskummer und suchte bei uns Trost. In der Redaktion der Zeitschrift “Neue deutsche Literatur”. wo er seit Abschluß seines Studiums für das Theaterressort Texte von Nachwuchsdramatikern lektorierte, lernte er eine Autorin von Anfang zwanzig kennen, die mit einem Einakter über die erste Begegnung von Jeanne d’Arc mit dem Dauphin von Frankreich, dem späteren Karl VII., literarischen Ruhm suchte. Nach Bernies Beschreibung stellte das junge Talent selbst die perfekte Verkörperung ihrer Heldin dar: kurze dunkle Haare, knabenhafter Körper, tiefe Stimme, eine verwirrende Mischung aus Mann und Frau. Während er seine Autorin überzeugen wollte, daß in ihrem Stück das Verfallensein des künftigen Königs an die kriegerische Maid eine tiefere Motivierung als ihr Aussehen und das bestimmte 136
Auftreten der Heldin benötigte, verfiel er ihr unrettbar allein wegen ihres Aussehens und ihres Auftretens. Sie ließ ihn zappeln. Bernie wandte sich an seinen Ressortleiter, um das Stück wenigstens auszugsweise zu veröffentlichen. Der Ressortleiter schaute sich den Text an und gab ihn zurück mit der Bemerkung, das Verfallensein des Königs an die Heldin sei nur durch Äußerlichkeiten motiviert. Bernie brachte nicht den Mut auf zu erklären, daß er selbst der beste Beweis für die Wahrheit des Stücks sei. Und daß sie sich ihm verweigerte wie Jeanne ihrem König, solange der Sieg nicht endgültig war. Irina riet ihm, das Stück Degenhardt zu geben, um es an der neuen Studentenbühne aufzuführen. Eine erfolgreiche Aufführung wäre in der Redaktion ein starkes Argument gewesen. Degenhardt verzog schmerzhaft das Gesicht, als er hörte, daß er eine Jungfrau in Szene setzen sollte, und gab das Manuskript an Monique weiter. Sie überflog den Text und meinte: “Zuwenig Sex.” Bernie brauste auf und wies auf die unterschwellige erotische Spannung hin, die sich hinter dem Gerede der Protagonisten von Krieg und Heimatliebe verbarg. “Mag ja alles sein”, antwortete Monique. “Aber sieh mal, die Leute, die sich lieber eine Studentenaufführung ansehen als ein gestandenes Ensemble, kommen wegen der Jugendlichkeit und Frische der Darsteller. Die wollen eine direkte Sprache und nackte Tatsachen.” Mit der Premiere von “Lulu” im Studentenklub lieferte die Truppen einen grandiosen Beweis für ihre Behauptung. Insgesamt vierzehn Minuten und dreiundzwanzig Sekunden – ich hatte vorsorglich eine Stoppuhr mitgebracht – bewegte sich Monique als Lulu nackt über die improvisierte Bühne, kaum zwei Meter von den Bänken der Zuschauer entfernt. Ich muß zugeben, ihre roten Haare verliehen ihrer Lulu genau die dämonische Kraft, die sie brauchte, um Männer in glotzende Stiere, brünstige Hengste und geifernde Idioten zu verwandeln. Eine Blondine wäre zu harmlos gewesen. Nicht nur die männlichen Figuren des Stücks verfielen nach und nach ihrem Charisma, ruinierten und massakrierten sich, auch die Zuschauer rutschten unruhig auf ihren Sitzen hin und her. Die Männer starrten atemlos auf die Szene, bis ihnen buchstäblich die Augen aus dem Kopf quollen, die Frauen bissen sich teils empört, teil voll Neid auf die Lippen. Nur Bernie schaute gleichgültig auf das Geschehen. “Zu offensichtlich, 137
Striptease, weiter nichts.”, lautete sein Kommentar. “Meine Jeanne dagegen, da ist Geheimnis, da ist Spannung. Wie weit ist sie Mann oder Frau, was empfindet sie. Sublimierte Erotik, Rätselhaftigkeit, darauf kommt es an.” Zumindest noch eine Person äußerte ernsthafte Einwände. Der Rektor der Universität, der von einem (oder einer?) anwesenden Getreuen einen Bericht über die Premiere erhielt, ließ weitere Aufführungen unter Androhung der Exmatrikulation sämtlicher Mitwirkenden verbieten. Das war genau der Skandal, den das Ensemble brauchte. Monique, die diese Drohung nicht schreckte, da sie ihr Studium schon vor mehr als zwei Jahren abgeschlossen hatte, organisierte eine Privataufführung im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, wo die unmittelbaren Vorgesetzten des Rektors arbeiteten. Wieder einmal kannte sie einige Herren in den entscheidenden Positionen. Ich war nicht eingeladen in diesen exklusiven Kreis, aber das Ergebnis sprach für sich. Der Rektor erhielt einen Rüffel wegen seines Versuchs die künstlerische Initiative der Jugend zu behindern, das Verbot wurde aufgehoben. Vom nächsten Tag an kamen Einladungen aus allen Ecken der Republik. Die Kulturhäuser des Landes rissen sich um das heiße Drama. An manchen Wochenende konnte sich die Truppe unter fünf oder sechs Engagements das lukrativste aussuchen. Das trieb die Preise in die Höhe. Offiziell galten sie als Amateure, aber daß Monique ihren Job als Fotomodell aufgeben und sich dennoch einen VW Golf kaufen konnte, sagt wohl alles. Im Mai, vier Monate nach der Uraufführung, kam das erste Angebot aus Westberlin. Wie üblich, erhielten sie kein Ausreisevisum. Aber die Hochschule der Künste wiederholte ihr Einladung, und beim zweiten Mal durften sie fahren. Sie kehrten alle zurück. Wieso auch nicht? Mit selbstverdientem Westgeld waren sie bei uns die Größten. Als Flüchtlinge wären sie nicht mehr als ein kurzfristiger Sensationserfolg gewesen. Von da ab bekamen wir Monique kaum mehr zu Gesicht. Als wichtige Devisenverdiener für die Republik räumte ihnen das Kulturministerium sämtliche Hindernisse, die den Bewegungsraum des Normalbürgers einengten, aus dem Weg. Sie mußten einen Teil des Westgeldes eins zu eins in DDR-Mark umtauschen, erhielten dafür aber alles, was Mangelware war, auf Bestellung frei Haus geliefert. Im November wurden sie als “Verdientes Volkskunstensemble” ausgezeichnet. Sie fuhren zu internationalen Theaterfestivals, durften vier Wochen Urlaub an der Côte d’Azur verbringen und verfügten über Dauervisa, um sich jederzeit Inszenierungen in aller 138
Welt anzusehen. Bernie konnte die Freude über den Erfolg seiner ehemaligen Kommilitonin nicht teilen. Um seiner Autorin wenigstens eine kleine Öffentlichkeit zu verschaffen, stellte Irina einen Kontakt mit dem Intendanten des Schweriner Schauspiels her. Als Wismarer Abiturientin mit dem Studienwunsch Theaterwissenschaften kannte sie dort noch einige Leute von früheren Probenbesuchen. Die Mecklenburger brachten das Debüt mit mäßigem Erfolg auf die Bühne. Die Autorin bedankte sich, wie Bernie gehofft hatte, mit ihrer Zuneigung. Allerdings nicht bei ihm, sondern bei dem Schweriner Intendanten. Seit dieser Zeit saß er noch öfter bei uns herum und beklagte sich über seine Berufspflichten, die hauptsächlich darin bestanden, aus den Texten des Nachwuchses politisch bedenkliche Stellen auszumerzen. Dennoch war Bernie keineswegs einsam. Immer wieder tauchte er mit einem knabenhaften Mädchen oder einem mädchenhaft weichen Jüngling auf und schwärmte von der großen Liebe, nur um sie wenige Wochen später durch eine noch größere zu ersetzen. Mißtrauisch hätte ich werden sollen, als er Ende des Sommers anfing, nur noch allein zu kommen. Irina beendete ihr Studium und erhielt dank der Fürsprache ihrer Tante Rosi eine Stelle beim Henschel-Verlag, der als Inhaber der Aufführungsrechte von Heiner Müller inzwischen ebenfalls zu einem wichtigen Devisenbringer aufgestiegen war. Sie nannte sich Lektorin, tat unterm Strich aber genau das Gleiche wie Bernie: Sie prüfte Texte junger Autoren, von denen die meisten keine Chance erhielten, je veröffentlicht zu werden. Wer einmal abgelehnt war, hatte für alle Zeit verspielt. Es gab keinen zweiten Theaterverlag. Sie sahen beide nicht sehr glücklich aus, wie sie auf dem Sofa saßen und über eingereichte Texte, deren Autoren, neue Richtlinien der Kulturbosse und die fehlende Risikobereitschaft der Theater fachsimpelten. Ich verkniff mir die Frage, wie es denn mit ihrer Risikobereitschaft stand. Alle Gespräche endeten mit Klagen über die konservativen Ansichten der alteingesessenen Lektoren und Chefredakteure. Ich schloß im gleichen Herbst meine Doktorarbeit ab. Die mir fehlenden Bücher – Dos Passos’ “Manhattan Transfer” und Finnigan’s Wake” von James Joyce – brachte Monique von einer Reise aus Hamburg mit, so daß ich eine vollständige Analyse abliefern konnte. Die Uni bot mir eine Assistentenstelle im Bereich Ästhetik an mit der 139
Verpflichtung, nun meinerseits Studenten von der Überlegenheit des sozialistischen Realismus zu überzeugen. Ich quälte mich ab, Leute, die höchstens fünf bis acht Jahre jünger waren als ich, von einer Literatur zu überzeugen, die ich selbst als langweilig, antiquiert und unerträglich belehrend empfand. Wir drei litten an denselben Verhältnissen. Der Unterschied bestand nur darin, daß sich Bernie und Irina für meine Klagen nicht interessierten. Sie arbeiteten immerhin in der Praxis, während ich nur eine veraltete Theorie unterrichtete, die in den Redaktionen und Verlagen niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlockte.
Immer, wenn man denkt, das Leben sei in festgefügte Bahnen eingelaufen und es werde nun immer so weiter gehen, bereiten sich insgeheim schon entscheidende Veränderungen vor. Sie begannen ein halbes Jahr danach, an einem verschneiten Winterabend mitten im Februar. Im Kamin, den wir letzten Herbst mit Joes Hilfe einbauen ließen, verbreitete ein lustiges Feuer wohlige Hitze und ließ rote Schatten über unsere Gesichter tanzen. Die Beschaffung der Rohteille und Materialien für diese zusätzliche Feuerstelle im viktorianischen Stil hatte Monique mit ein paar ForumSchecks, die zum Einkauf in den Intershops berechtigten, unterstützt. Wie schon oft, war Bernie zu Besuch. Gerade hatte ich eine Flasche Erlauer Stierblut geöffnet, da klingelte es draußen an der Tür. Noch immer zuckte ich leicht zusammen, wenn es unerwartet läutete, obwohl keiner mehr mit einem Polizeibesuch rechnete. Es war immer nur ein Telegrammbote oder ein Nachbar, dem der Feueranzünder ausgegangen war. Diesmal stand Monique vor der Tür. Wir hatten zwei Monate nichts mehr von ihr gehört, da die Truppe sich zu intensiven Proben für eine neue Inszenierung in ein prächtiges Landhaus im Erzgebirge, eine Leihgabe des Kulturministers, zurückgezogen hatte. Seit Degenhardt, der seinen Dramaturgenjob beim Deutschen Theater längst gekündigt hatte, im Dezember als Leiter des Studententheaters den Nationalpreis (nur dritter Klasse, aber immerhin) empfing, waren sie endgültig zum Aushängeschild der offiziellen Kultur- und Jugendpolitik avanciert. Monique warf ihren Mantel auf unsere Garderobe und rauschte in einem atemberaubenden roten Minikleid ins Wohnzimmer. Sie schwenkte eine Flasche echten Champagners und platzte mit der Neuigkeit heraus: “Ich fliege nach New York!” 140
Galten Hamburg, Westberlin oder München unter Schauspielern und Regisseuren als Karriereziele, die nur wenige Auserwählte je zu Gesicht bekamen, sprachen sie von New York wie über ein sagenhaftes Paradies von einem andern Stern. Der Broadway, Woody Allens Manhattan und die junge Künstlerszene, die Paris oder Rom als verkitscht und bürgerlich arriviert ablehnte, entzündete die Phantasie der Ehrgeizigen. Das HST – das Humboldt Studenten Theater, wie sie sich nach ihrer Universität nannten, obwohl sie deren Räume schon lange nicht mehr von innen gesehen hatten – erhielt eine Einladung zu einem New Yorker Off-Theater-Festival. Eine Kulturstiftung der Europäischen Gemeinschaft bezahlte den Akteuren Flug und Hotels. Sie würden, wie Monique begeistert berichtete, “Lulu” aufführen und ihre neue Inszenierung, eine gemeinsam erarbeitete Theaterfassung von Bulgakows “Der Meister und Margaritha”. Die Truppe weitete den zweiten Teil des Originals, in dem Margaritha als nackte Hexe über die Dächer Moskaus schwebt, unverhältnismäßig aus und reduzierte den in eine Irrenanstalt eingesperrten Meister mitsamt seinem Jesusroman auf eine komische Nebenfigur. Klar, daß Monique die rothaarige, verführerische Hexe spielte. Degenhardt selbst übernahm die Rolle des Teufels Voland, der in einer Art Perestroika der zwanziger Jahre die sozialistischen Spießbürger das Fürchten lehrte. Das war hochaktuell, Gorbatschow war seit einigen Monaten an der Macht, und seine Glasnost wurde von der ostdeutschen Politikern mit Mißtrauen beäugt. Von jedem anderen Theater hätten die Zensoren des Kulturministers Änderungen verlangt, aber das HST konnte bereits vor der Premiere vierzehn Einladungen in den Westen für die ungekürzte Fassung vorweisen. Die angebotenen Honorarverträge ließen die Kritik von oben verstummen. Irina holte Sektkelche, Monique öffnete die Flasche mit einem Knall und ließ das rare Getränk in die Gläser perlen. Das war etwas anderes als Rotkäppchen-Sekt! Ein Hauch von großer Welt zog in unsere Hütte ein. Monique schwärmte von New York, beschrieb, welche Theater es dort gab und welche berühmten Regisseure dort schon gearbeitet hatten. In sechs Wochen würde sie dazu gehören. Sie schwenkte ihre Hüften, um den Tanz der Margaritha bei der Show anzudeuten, während der Teufel Voland falsche Geldscheine unter das Publikum regnen ließ, die sich nach der Vorstellung in stechende Hummeln verwandelten. Ach was, mochte der Dollarregen eine vom Teufel geschaffene und entlarvte Illusion sein, angenehm war er doch! Als der Champagner alle war, zauberte Monique ein zweite Flasche aus ihrem Mantel. 141
“Wußtet ihr, daß das Wort Dollar von dem deutschen Wort Thaler kommt?” rief sie, die Flasche schwenkend. “Also ist es doch nur gerecht, daß wir ein paar von den Scheinchen in die alte Heimat zurückholen.” Als auch diese Flasche leer war, holte ich Wein aus dem Keller. Wir wurden immer ausgelassener. Irgendwann bestand Monique darauf, den Tanz der Margaritha ein zweites Mal vorzuführen, diesmal im Originalkostüm. Das sei das mindeste, was sie ihren Freunden schuldete, die sie wegen der Borniertheit der Bürokraten nicht begleiten dürften. Sie sprang auf und zog sich das Kleid über den Kopf und warf den Slip ins Feuer. Das Licht aus dem Kamin warf einen rötlichen Schimmer über ihren Körper. Sie tanzte den lasziven Slowfox einer Hexe über dem Höllenfeuer. Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam, daß auf einmal Irina neben ihr tanzte, ebenfalls im Evakostüm. Hatte Monique sie zum Mittanzen aufgefordert oder kam sie von sich aus auf die Idee? Daß an Irina die drei Schwangerschaften nicht spurlos vorübergegangen waren, davon war in dem Dämmerlicht nichts zu bemerken. Ihre Silhouette bog sich schlank wie eh und je vor der Glut des Kamins, und im Tanzen zeigte sie sich Monique durchaus ebenbürtig. Bernie schnalzte mit der Zunge. Monique zog ihn vom Sessel hoch und rieb ihren nackten Leib an seinem bekleideten Hintern. Sie drehte sich um ihn herum und drückte sich an seine Vorderseite, wo sie unter Garantie seine Erektion spürte. Dann sah ich einen Moment lang nicht hin, weil ich mich mit einer neuen Flasche Wein abmühte, deren hartnäckiger Korken mir eine halbe Minute widerstand. Als ich aufblickte, hockte Monique auf Bernies Schoß und knutschte ihn ab nach allen Regeln der Kunst. Ich vergaß vor Verblüffung das Eingießen. Besonders als Irina, mein angetrautes Eheweib, sie ablöste. Bernie hatte zwar noch alles an, aber ich ahnte schon, daß es nicht lange dabei bleiben würde. “Hey”, versuchte ich zu protestieren, “kann mir mal jemand erklären, was das werden soll?” “Pscht”, wandte sich Monique mir zu, “heute ist Walpurgisnacht.” Ehe ich einwenden konnte, daß es noch ein Vierteljahr hin war bis zum dreißigsten April, spürte ich schon ihre Zunge im Hals und ihren warmen Hintern an meinen Händen. Ich brauchte überhaupt nichts tun. Sie war es, die mir die Hose öffnete. Mein Kopf steckte zwischen ihren Brüsten, während meine Ohren vom Sofa 142
gegenüber Irinas Stöhnen registierten. So einfach ging das also. Fast zehn Jahre hatte ich mich danach gesehnt, und heute fiel mir Monique buchstäblich in den Schoß. Sie besorgte es mir, daß mir Hören und Sehen verging. Sie drückte sich an mich, hüpfte auf meinem Schoß auf und ab, drehte mich zur Seite, daß es im Liegen weiterging, schwenkte mich erneut herum und plötzlich merkte ich, daß ich die vertrauten Brüste von Irina in den Händen hielt. Ich öffnete die Augen und sah die vertrauten dunklen Haare meiner Frau über mir. Monique war einen Meter weiter gerutscht. Ihre Füße drückten noch gegen meine linke Seite, während ihr Kopf in Bernies Schoß vergraben war, wo sie lutschte, was das Zeug hielt. Bernie verdrehte die Augen vor Lust. Später hatte ich meine Zunge zwischen zwei weiblichen Beinen und meinen Ständer in der feuchten Höhle der anderen, aber ich könnte nicht beschwören, zu welcher von beiden welches Teil gehörte. Einen Moment danach fielen sie gemeinsam über Bernie her, während ich aus der Weinflasche trank. Irgendwann brannte das Feuer nieder, und irgendwann schlief ich ein. Als ich mit einem Brummschädel erwachte, hörte ich auf der oberen Etage meine Jüngste nach Mama und Papa rufen, während Bernie, Monique und Irina, provisorisch mit Decken und Kissen zugedeckt, auf dem Fußboden und auf dem Sofa schliefen. Mir hatte eine mitleidige Seele ebenfalls eine Sofadecke übergeworfen. Um uns verstreut lag ein Stilleben aus leeren Flaschen, umgekippten Gläsern und Krümeln von Salzgebäck. Offenbar jemand Hunger bekommen und nichts anderes gefunden. Im grauen Tageslicht kein schöner Anblick. Trotz der Decken war es bitterkalt. Ich schnappte mir Moniques gefütterten Mantel von der Garderobe und schlich nach oben, um meine Töchter von dem Ort des Geschehens fern zu halten. Wie hätte ich ihnen erklären sollen, warum Papi, Mami, Onkel Bernie und Tante Monique nicht im Bett und ohne Pyjama schliefen? Obwohl wir genau das unseren Töchtern nie erlaubten? Ich zog mich oben um und führte meine drei Rangen direkt von oben in die Küche zum Frühstücken. Eine Weile später erschienen Monique, Bernie und Irina halbwegs bekleidet und mit auffällig verkaterten Gesichtern. Von diesem Tag an gab es ein weiteres Thema, über das nie wieder gesprochen wurde. Ich versuchte es, als sich Bernie und Monique verabschiedeten. “Wann treffen wir uns wieder?” fragte ich so unbefangen wie möglich. Monique und Bernie schüttelten entschieden den Kopf. 143
“Verbuche es einfach unter interessanter Erfahrung”, sagte Monique und hauchte mir ein flüchtiges Küßchen auf die Wange. “Ihr Kerle wollt aus einem einmaligen Entgegenkommen gleich eine dauernde Verpflichtung ableiten”, meinte Irina, als wir allein waren. “Von euch ging die Initiative aus. Gestern schien es dir Spaß zu machen.” “Meine Familie ist mir wichtiger.” Damit war das Thema erledigt. Dachte ich in meiner Naivität. Meine Frau begegnete mir einige Monate lang mit neu erwachter Leidenschaft. Monique fuhr mit der Truppe nach New York und kehrte mit einer Mappe voll farbenfroher Dias vom Times Square und dem Broadway zurück. Bei ihrem Besuch nach der Reise, als sie ihre Bilder vorführte, war auch Bernie bei uns. Wir benahmen uns alle sehr gesittet, keine Berührung, keine Küsse. Dann wurde Irina wieder schwanger. Unsere vierte Tochter Margaritha – raten Sie mal, wie wir auf den Namen kamen – wurde im folgenden Januar geboren. Gott sei Dank kein Ergebnis jenes leidenschaftlichen Abends, dachte ich. Dafür hätte Geburtstermin Anfang Dezember liegen müssen. Meine Schwester schickte aus Hamburg eine Großpackung Penatencreme für das Baby und schrieb, sie würde gern ihre alte Heimat wiedersehen. Ich lud sie ein. Sie kam zu Ostern mit Schokolade für Henriette, Friederike und Katharina und einem Buch für Irina und für mich. Es war “Das Parfüm” von Patrick Süskind. “Das ist jetzt der große Bestseller”, raunte sie. Wir dankten freundlich und taten sehr erfreut. Leider entdeckte Katrin am zweiten Tag beim Stöbern im Regal unsere DDR-Ausgabe des Duftkrimis. Sie blätterte eine Weile darin und meinte schließlich: “Unser Papier ist besser.” Ihr Mann war in Hamburg geblieben. Als Irina sie abends beim Wein fragte, wieso er nicht mitgekommen sei, brach sie in Tränen aus. Nach und nach brach die Tragödie aus ihr hervor. Nachdem er durch die Ehe mit ihr an einen deutschen Paß und Dauerwohnsitz gelangt war, hielt er sich nur noch selten zu Hause auf. Ngoubawe galt sehr bald auf dem Kietz als bekannte Erscheinung. Er bevorzugte Anfängerinnen, blutjunge Blondinen aus Polen und den Niederlanden. Katrin hatte noch Glück in Unglück, sie fand mit ihrer Ausbildung als Diplomvolkswirtin sofort eine Stelle. “Warum läßt du dich nicht scheiden?” fragte Irina. “Er wird zurückkehren, das weiß ich”, heulte Katrin. 144
Als sie loslegte, wie schön es im Osten gewesen war, wo alle einander beistanden, und wie jenseits der Grenze jeder allein gelassen wird, der Probleme hat, begann ich meine Einladung zu bereuen. Solange sie in Berlin wohnte, hatte ich bei meiner Schwester von einem Bedürfnis nach Gemeinschaft und Zusammenhalt nichts gespürt. “Ihr habt hoffentlich keinen Ausreiseantrag gestellt?” schniefte sie. Als ich hinter den Tränen ihren lauernden Blick gewahrte, ahnte ich die Wahrheit. Sie hatte Angst, daß wir zu sechst bei ihr aufkreuzen und ihr auf der Tasche liegen könnten! Ich schüttelte entschieden den Kopf. Dieses Haus, das ich im Schweiße meines Angesichts errichtet hatte, würde ich niemals im Stich lassen. Außerdem, was sollte ich dort mit meinem Philosophiediplom anfangen? Hilfsarbeiter mit Abitur? Hausmann, falls Irina eine Stelle als Lektorin fände? Man munkelte, daß die Zahl der Ausreiseanträge in jenen Wochen die hunderttausend überschritt. Wahrscheinlich wurde maßlos übertrieben, aber von einigen Nachbarn wußte ich, daß sie in der Tat weg wollten. Wir dagegen entschlossen uns, anzubauen, statt unsere Habe zu verkaufen. Die drei Mädchen in nur einem Kinderzimmer, das ging schon lange nicht mehr gut. Nach Margarithas Geburt wurde die Situation prekär. Irina rief Joe an. Er besuchte uns eine Woche, nachdem meine Schwester in ihr brüchiges Paradies heimgekehrt war. “Wie sieht es bei dir aus”, fragte ich ihn. “Willst du irgendwann einen Ausreiseantrag stellen?” Er hob die Hände. “Bei der Konkurrenz im Baugewerbe drüben? Hier bin ich der King, selbst wenn ich acht Stunden nur Skat spiele.” Einen Moment später fügte er hinzu: “Freilich, halten würde mich nichts.” “Und deine Frau?” “Wir haben uns vor vier Jahren getrennt.” Das war typisch Joe. Er sprach nie von sich aus über sein Privatleben. Als ich erstaunt nach den Gründen fragte, erfuhr ich, eine Ehe ohne Kinder, daß sei nichts. Er beneide uns. Ob sie denn nicht mal einen Arzt konsultiert hätten, hakte ich nach. Bei den heutigen Fortschritten der Medizin! Statt einer Antwort wollte er wissen, womit er uns helfen könne. Als wir ihm unsere Pläne schilderten, einen Anbau zu errichten, meinte er: “Ihr 145
werdet keine Baugenehmigung erhalten.” Er hatte recht. Aufgrund irgendwelcher Paragraphen, die ein bestimmtes Verhältnis von bebauter und unbebauter Fläche pro Grundstück vorschrieben, erhielten wir vom Bauamt prompt eine Absage. Zuerst versuchten wir es mit einer Eingabe an die Staatsführung. Mit vier Töchtern galten wir als kinderreich, ein schwerwiegendes Argument in diesem Land. Die Ablehnung war bedauernd und höflich, Verweis auf die Gesetzeslage. Man würde einen Antrag auf Zuweisung einer Sechs-Raum-Wohnung unterstützen und uns vorrangig versorgen. Wenn wir bereit wären, das Haus aufzugeben. Irina zeigte den Brief Monique, die gerade von einer erfolgreichen Tournee durch die Tschechoslowakei zurückkehrte. “Die brauchen ein Eigenheim für einen ihrer Mitarbeiter und wollen euch ‘raus haben”, vermutete sie. Sie überlegte und blätterte in ihrem voluminösen Adreßbuch. “Schreibt an Doktor Jürgen Schulte im Bauministerium. Beruft euch auf mich. Der schuldet mir noch was.” Ich fragte nicht nach Einzelheiten. Die Baugenehmigung kam postwendend. Dann begann alles wieder von vorn, was ich mit dem ersten Hausbau für immer hinter mich zu bringen gehofft hatte. Einen Architekten finden und bestechen, meinen Schwiegervater zur Kasse bitten. Mein Schuldenkonto bei ihm, in den letzten zwei Jahren um wenige tausend Mark verkleinert, wuchs wieder an. Während meine Studenten in die Sommerferien nach Bulgarien oder Ungarn abreisten, zog ich auf der Rückseite unseres Hauses den Anbau hoch. Zuerst wollte der Architekt die Terrasse aufreißen und den Neubau an die Westfront des Hauses anfügen. Mit Mühe konnten wir ihm den Einfall ausreden. Dann hätten wir die Terrasse auf die Nordseite verlagern müssen, sagten wir, und wer will schon eine Terrasse, die mittags im Schatten liegt? So wurde die letzte Ruhe Albrecht Sulkers nicht gestört. Joe schaffte Steine, Kies, Kalk, Zement und Einbaufenster heran. Mehrere Fuhren transportierte er selbst, weil zwei seiner Leute in Ungarn geblieben waren und mit vielen anderen in Zeltlagern ihre Ausreise Richtung Bundesrepublik verlangten. Ich fand das ärgerlich, weil ich bis zum Wintereinbruch mit dem Rohbau fertig werden wollte. Auch meine Arbeitsstelle erschwerte mir das Leben. Seit Anfang September rief der Direktor dauernd Versammlungen ein, bei denen es nur um die eine Frage ging: Wie viele von unseren Studenten werden sich zu Semesterbeginn zurückmelden? 146
Daß Philosophen, die sich als Anhänger einer wissenschaftlichen Weltanschauung bezeichneten, sich dazu herabließen, Wahrsagern Konkurrenz zu machen! Tiefer konnten wir kaum sinken. Außerdem ergab sich die Antwort zwei Wochen später von selbst. Alle meldeten sich zurück. Ihnen ging es wie mir: Mit dem im Osten Gelernten wäre jeder von ihnen auf der anderen Seite der Mauer zum Sozialfall geworden. Ich empfand die Wendestimmung vor allem als störend. Ständig Versammlungen und Veranstaltungen, die als dienstliche Verpflichtung galten. Hatte ich auf meinem Bau nicht genug zu tun? Als Gradmesser der allgemeinen Verunsicherung kann gelten, daß keiner der oberen Chefs wagte, uns ein Verhalten vorzuschreiben. Niemand rief uns zusammen, wie es vor wenigen Monaten noch üblich war, um uns vorsorglich zu instruieren, welche Linie wir zu vertreten hatten. Wie immer tat ich, was alle taten. In der Akademie der Künste hörte ich mir Vorträge über einen neuen Sozialismus mit menschlichem Antlitz an. Bei der großen Demonstration am vierten November, der einzigen, die mehrere hunderttausend auf die Straße trieb, marschierte ich mit. Am Donnerstag darauf fand ich mich wie alle Kollegen um neunzehn Uhr in der Kongreßhalle am Alexanderplatz zu einem Meeting über eine neue Bildungspolitik ein. Ich hörte den Lehrern, Schülern, Eltern und Ibrahim Böhme, dem Aushängeschild der neuen SPD, zu, der an Bebelsche Traditionen erinnerte. Niemand ahnte, daß er in Kürze wegen Mitarbeit für die Kollegen vom Großen Ohr bald dem Vergessen anheim fallen würde. In den hinteren Reihen machte sich auf einmal Unruhe breit. Vorn wurde zu energischen Veränderungen aufgerufen, hinten begannen Zuhörer den Saal zu verlassen. Ich schlich ins Foyer und erkundigte mich bei Studenten, die ich vom Sehen kannte, was los sei. Sie zuckten mit den Schultern. Ich ging nach draußen, wo mehrere Dutzend Leute eilig Richtung S-Bahn zustrebten. “Ist was passiert?” fragte ich. “Sie haben die Mauer aufgemacht. Wir gehen ‘rüber.” Von einem neuen Reisegesetz mit erweiterten Freiheiten wurde seit Tagen gemunkelt. Hätte ich nur meinen Walkman mit Radio dabei gehabt! Ich eilte zu einer Telefonzelle und rief Bernie an. Es nahm keiner ab. Draußen war nichts Auffälliges zu bemerken. Keine Massen, die in Richtung Grenze strebten. Trotzdem ... wenn das 147
stimmte, dann waren alle Versammlungen überflüssig. Der wirtschaftlich stärkere Westen würde den Osten schlucken mitsamt meiner Assistentenstelle. Ich hatte genug Ökonomievorlesungen gehört um zu wissen, daß dieses Land unter den Bedingungen der freien Konkurrenz nicht lebensfähig war. Ich rief alle Nummern an, die in meinem Taschenkalender standen. An diesem Abend schien alle Welt unterwegs zu sein. War ich etwa der einzige, der noch im Osten war? Schließlich erreichte ich meinen Schwiegervater. Gott sei Dank, auf Mecklenburg, wo nach einer alten Volksweisheit alle Veränderungen hundert Jahre später stattfinden, war Verlaß. “Von wo rufst du an”, fragte er mich. “Wir haben es gerade im Fernsehen gehört.” “Was gehört?” “Machst du dich über mich lustig? Daß sie ab sofort die Westgrenze öffnen. Meine Frau packt gerade. Wir fahren nach Lübeck.” “Jetzt?” Es war abends halb neun. “Keine Sorge, wir kommen wieder.” Wenn er es sagte, mußte es stimmen. Vielleicht sollte ich auch... meinen Personalausweis hatte ich dabei. Leider beging ich einen verhängnisvollen Denkfehler. Ich entschloß mich nämlich, zuerst nach Haus zu fahren und Irina mitzunehmen. Henriette, unsere Älteste, wurde in drei Wochen elf, sie konnte auf ihre Schwestern aufpassen. Die S-Bahn nach Mahlsdorf war leer wie an einem Sonntagmorgen. In den entgegenkommenden Zügen drängten sich die Leute. Einer winkte mit einer Bierflasche zu mir herüber und rief: “Du fährst in die falsche Richtung, Kumpel.” So lang war mir die Fahrt noch nie vorgekommen. Endlich mal jene faszinierende Welt sehen, von der Monique so schwärmte, aus der sie jedes Mal voll Enthusiamus und neuer hochfliegender Pläne zurückkehrte. Dieser Gedanke ließ auch mich nicht kalt. Er vermochte meine Zukunftssorgen für eine Weile in den Hintergrund zu drängen. Das ist übrigens typisch für mich. Ich ahnte Unheil, irrte ich mich jedoch vollkommen über die Richtung, aus der es auf mich zukam. Es war halb zehn, als ich vor unserm Haus stand. Das erste, was mich stutzig machte, war die Dunkelheit. In keinem Zimmer brannte Licht. War Irina schon 148
schlafen gegangen? Sie ist allein in Richtung Westberlin abgefahren! dachte ich voll Schreck. Möglicherweise ging sie sogar in die Kongreßhalle, um mich abzuholen und suchte gerade alle Reihen nach mir ab. Ich schloß auf und trat ein. Aus dem Wohnzimmer erklang Musik. Also ist sie da, dachte ich beruhigt, trat ein und schaltete das Licht ein. Ich glaubte ein Déjà-vu zu erleben. So etwas hatte ich mit sechs Jahren schon einmal gesehen, von außen durch das Fenster einer fremden Mansarde. Damals verstand ich nichts, diesmal kapierte ich leider allzu gut. Mein Blick fiel auf einen nackten Männerrücken und die ebenso nackten Schenkel von Irina, die ihn umklammerten. Das ist das Ende, dachte ich, unfähig etwas zu unternehmen. Der Mann schaute hoch. Es war Joe. Irina sah mich böse an. “Kannst du nicht draußen warten?” Ich weiß, ich hätte ihr jetzt den Hintern versohlen, Teller zerschmeißen, den beiden einen Stuhl über den Schädel schlagen oder wenigstens herumschreien müssen. Statt dessen gehorchte ich, zog ich den Kopf ein und ging nach draußen. In mir war nichts als das Gefühl einer einzigen umfassenden Niederlage. Ich weiß nicht, wie lange ich untätig im Flur herumstand. Wahrscheinlich waren es nur wenige Sekunden. Mir kamen sie ewig vor. Endlich ging die Wohnzimmertür hinter mir auf. Irina stand im Rahmen, provisorisch in einen Bademantel gehüllt, und sagte: “Es tut mir leid, daß du es so erfährst. Ich werde mich scheiden lassen.”
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Sechstes Kapitel
Wie so viele andere, die noch nie die Mauer von der andern Seite gesehen hatten, lief ich eine schlaflose Nacht durch die Straßen zwischen Wedding und Schöneberg. Überall boten mir fröhlich winkende Menschen einen Schluck aus ihren Sektflaschen an. Am Morgen war ich so weit hinüber, daß die Erinnerung an Joe und Irina hinter einem angenehmen Nebel von Gleichgültigkeit verschwamm. In irgendeiner Bahnhofsecke pennte ich eine Weile. Womit ich nicht auffiel. Zum ersten Mal traf ich auf Leute, die überhaupt kein anderes Nachtquartier als Brücken und öffentliche Gebäude kannten. Die Kerle waren dreckig und stanken fürchterlich aus dem Mund. Aber der Schnaps, den sie bei sich hatten, besaß die angenehme Eigenschaft, die Novemberkühle zu mildern und den Zustand des Wachträumens zu verlängern. Ihre Freigebigkeit und mein unklares Bewußtsein, daß ich vor ein paar Stunden mein Zuhause verloren hatte, trieb mir Tränen in die Augen. “Der weint ja”, rülpste ein zahnloser Alter neben mir. “Was müßt ihr da drüben hinter eurer Mauer gelitten haben!” Am Vormittag stolperte ich müde und betrunken in die nächstgelegene Bank und holte mir meine hundert Mark Begrüßungsgeld ab. Die Angestellten lächelten nachsichtig, als ich sie mit einem Schluckauf begrüßte. An diesem Freitag wurde einem Ostdeutschen alles verziehen. Mir gingen die fröhlich feiernden Menschen allmählich auf die Nerven, dieses unerschütterliche Jubeln und In-die-Arme-fallen, das so gar nicht zu meiner Weltuntergangsstimmung paßte. Ich stieg in die nächste S-Bahn und sah zu, daß ich zurück nach Mahlsdorf kam. Im Flur fand ich einen Zettel: “Wir sind in Westberlin. Mutti, Henriette, Friederike, Katharina, Margaritha.” Sollten sie. Ich nahm ein Bad, dann ließ ich mich ins Bett plumpsen und schlief zwölf Stunden durch. Als ich erwachte, begrüßten mich Dunkelheit und Stille. Das Kissen neben mir war leer. Ich schlich nach draußen und schaute ins Kinderzimmer. Meine vier Töchter lagen in ihren Betten wie es sich gehörte und schlummerten friedlich. Irina fand ich im Wohnzimmer auf dem Sofa, wo sie den Schlaf der Gerechten schlief. Kein Wunder, mit den vier Mädchen einen ganzen Tag unterwegs, dazu die vielen ungewohnten Eindrücken, das Gedränge, danach wäre ich auch fertig 150
gewesen. Ich dagegen war hellwach. Schlug Irina ihr Lager hier unten auf, um mich nicht zu wecken, oder begann sie bereits mit der sichtbaren Trennung von Tisch und Bett? Können Sie sich vorstellen, daß ich eine ganze schlaflose Nacht nichts weiter tat, als über dieser Frage zu grübeln? Statt sie zu wecken und einfach zu fragen? So kaputt war ich! War es ihr wirklich ernst mit der Scheidung? Oder hatte sie nur damit gedroht, weil ich sie flagranti erwischte? Aus Stolz? Um nicht zugeben zu müssen, daß sie sich unüberlegt in eine Affäre stürzte? Williges Fleisch, schwacher Geist und so weiter? Wir hatten schließlich vier Kinder! Ein Haus und zahllose gemeinsame Erinnerungen! Das wirft man nicht einfach weg! Ich war bereit, ihr zu verzeihen, einen Neuanfang zu wagen, mich zu ändern – wenn ich auch nicht wußte, wie. Schön, ich war kein toller Hecht, aber war Joe vielleicht besser? Ein Baustoffverteiler! Dessen große Zeit als Mangelverwalter ohnehin zu Ende ging. Wir beide teilten wenigstens geistige Interessen miteinander, Philosophie und Kunst, das lag auf einer Wellenlänge. Aber Holz, Teer und Pappe – das interessierte im Theater höchstens Bühnenbildner und Kulissenschieber! Diesen Spießer ohne eigene Erziehungspraxis wollte sie unseren Töchtern als Vaterersatz oktroyieren? Lachhaft! Sie und Joe mit seinem ewigen “Weiber!”, das konnte gar nicht funktionieren. Um sechs Uhr früh hatte ich mich endlich selbst überzeugt, daß Irinas Entschluß nicht mehr als eine Laune sein konnte. Eine gründliche Aussprache mit anschließender Versöhnung bei Sekt und Kerzenschein würde die Dinge wieder ins rechte Lot bringen. Sie ahnen es schon – ich irrte mich gründlich. Meine Frau ging mir den ganzen nächsten Tag aus dem Weg. Ich war drauf und dran zu ihr zu sagen: Ich liebe dich. Diesen Satz hatten wir beide, solange wir uns kannten, nie ausgesprochen. Ich liebte Monique, und nach allgemein anerkannter Auffassung konnte man nicht zwei Personen gleichzeitig lieben. Irina und ich, wir brauchten einander, um Stabilität in unser Leben zu bringen. Daß ein anderer von heute auf morgen meinen Platz übernehmen sollte, zerstörte meinen letzten Rest Selbstachtung. Abends um neun traf Joe ein, um Irina bei der notwendigen Aussprache mit mir zu unterstützen. Innerhalb von zehn Minuten machten sie mir klar, daß meine Ansicht niemanden mehr interessierte. Sie hatten alles schon genau durchdacht und geplant. Scheidung so schnell wie möglich, solange noch das DDR-Recht galt. Im Osten konnte 151
man sich ohne Anwalt, ohne Trennungsjahr und für weniger als fünfhundert Mark gerichtlich trennen, eine Prozedur von einer knappen halben Stunde. Wenn ich darauf verzichtete, um das Sorgerecht der Kinder zu prozessieren, würden sie mir das Haus lassen. Ein großes Entgegenkommen, denn ich wüßte wohl, daß im Osten ohnehin das Erziehungsrecht in neunundneunzig Prozent der Fälle der Mutter zugesprochen wird, unabhängig von jeder Schuldfrage. “Ich werde zu den ein Prozent gehören!” protestierte ich wütend. “Bin ich rückfällige Alkoholikerin?” fragte Irina. “Die zweite Begründung, versuchte Republikflucht der Mutter, dürfte ja kaum noch zur Anwendung kommen.” “Was soll ich mit dem Haus ohne meine Familie? Was hab ich euch getan?” heulte ich auf. Joe sah angewidert zur Seite. Wenn er nicht so viel größer und muskulöser gewesen wäre als ich, hätte ich das erste Mal in meinem Leben eine Prügelei angefangen. “Es ist halt so gekommen”, sagte Irina verdrossen. “Können wir nicht sachlich bleiben?” Sie setzten mir auseinander, daß Joe für alles Notwendige gesorgt habe, um seiner künftigen Familie ein ordentliches Zuhause zu bieten. Da er vor zwei Jahren zum Chef seiner Baubude aufgestiegen war, hatte er die Gunst der Stunde genutzt, und vor drei Tagen mit einem mittelständischen Baustoffversorger aus dem Schwarzwald ein Joint Venture vereinbart. Was der Osten billig produzierte, würde er nach Süddeutschland liefern. Was hier fehlte, würde der Westpartner liefern und Joe zu vierfachen Preisen gegen Ostgeld verkaufen. Sobald die Währungsunion käme – aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem günstigeren Kurs als eins zu vier, schließlich könne der Westen seine Brüder und Schwestern nicht finanziell ruinieren, wenn er ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung wolle – würden sie sich den Gewinn in D-Mark teilen. Als Prämie für den Vertrag liefert der Westpartner zwei Fertigteilhäuser, eins in Berlin, eins unweit vom Titisee, die Joe als Wohnhäuser nutzt und zugleich als Musterhäuser für Kundenbesichtigungen zur Verfügung stellt. Joe übernimmt die Koordination des Unternehmens, wird also in den folgenden Monaten ständig zwischen Freiburg und Berlin hin und her reisen. Ich war sprachlos. Die Grenze war noch zu gewesen, von Reiseerleichterungen 152
wurde bloß gemunkelt, da organisierten die Brüder schon den Ausverkauf. Kaum ging endlich die Mauer auf, schritten sie zur Tat. Gegen das, was sich in den folgenden Jahren an millionenschweren Deals im Osten abspielen würde, war das ein kleiner Fisch, aber zu diesem Zeitpunkt fehlten mir noch die Vergleichsmaßstäbe. “Nicht nur meine Familie, gleich das ganze Land wollt ihr unter euch aufteilen? Und du machst da mit?” schrie ich Irina empört an. “Du solltest lieber so schnell wie möglich die Philosophie an den Nagel hängen.” Das wußte ich selbst. “Ich will meine Zukunft nicht in Anwesenheit Außenstehender diskutieren.” “Joe bleibt bei mir”, antwortete Irina. “Das ist sicherer.” “Was soll das heißen?” Empört blickte ich von einem zum andern. “Ich möchte nicht, daß du gegenüber meiner künftigen Frau ausrastest.” “Ich?” Als ich Irinas abweisenden Blick sah, durchfuhr es mich eiskalt. Sie dachte an Albrecht Sulker! Sie traute mir zu, daß ich Hand an sie legte! Sie und meine Töchter waren doch alles, was ich hatte! Ich begriff. Deswegen verzichtete sie leichten Herzens auf das Haus. Mit ihm war sie die Leiche los, die immer noch unter der Terrasse moderte. Hatte sie etwa mit diesem Kerl darüber gesprochen? Ich sackte mitsamt meiner Empörung förmlich in mich zusammen. Gegen die beiden hatte ich überhaupt keine Chance. Beim geringsten Aufmucken gegen die Beschlüsse, die sie über mich gefällt hatten, konnten sie mir mit der Polizei drohen. Sicher, Irina hatte mitgeholfen, den Toten zu begraben. Das war aber eine Bagatelle im Vergleich zu meiner Anwesenheit am Tatort. “Ihr habt gewonnen”, murmelte ich und schlich die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Von diesem Tag an schwieg ich. Ob es um die Aufteilung der Bücher ging, die Möbel, die Konten, den Auszugs- und den Scheidungstermin, ich sagte kein Wort. Meine Töchter heulten, als Irina ihnen ihren Entschluß mitteilte. Natürlich kamen sie sofort zu mir gelaufen. Ich heulte mit ihnen. “Papa hat nichts mehr zu bestimmen”, klagte ich. “Von nun an müßt ihr in allem eure Mama fragen.” Was ich nicht im Traum für möglich gehalten hätte, trat ein. Nach ein paar Wochen hatten sie Joe als neuen Papa akzeptiert. Schließlich kannten sie ihn schon seit 153
Jahren. Er war immer nett zu ihnen gewesen, hatte auf der Baustelle mit ihnen Verstecken gespielt, während ich seinen LKW ablud. Als Ende Januar zwei Möbelwagen vorfuhren, riefen sie zwar noch “Wir wollen unseren alten Papa mitnehmen”, aber nach einem entschiedenen Kopfschütteln Irinas stiegen sie voll Begeisterung in die beiden Fahrerkabinen und winkten mir von da oben fröhlich zu. Inzwischen war das Joint Venture so weit gediehen, daß sie es sich leisten konnten, ihren Hauptwohnsitz im Schwarzwald aufzuschlagen. Das ist auch besser für uns, um unnötige Konflikte zu vermeiden, behauptete meine Noch-Frau. Meine Meinung wollte keiner wissen. Wenn ich wenigstens Monique erreicht hätte. Wende oder nicht, sie kam auch ohne Maueröffnung nach draußen. Mit ihrer Theatertruppe tourte sie um den Globus. Kein Wunder, alle Welt schaute in jenen Monaten auf die Noch-DDR, Degenhardts Ensemble konnte sich vor Aufträgen nicht retten. Bühnen in Madrid, Wien, Zürich, New York, Tokyo, L.A. und so weiter waren bereit, für ein Gastspiel des HST ein kleines Vermögen zu bezahlen. Auf einer Ansichtskarte schrieb sie, daß sie meine und Irinas Trennung bedauere, und zwei Zeilen darunter, daß ein Hollywoodstudio erwägt, die Filmrechte an ihrer Bulgakow-Version zu erwerben. Letztendlich wurde nichts daraus, weil das Interesse am Mauerfall und seinen Folgen vom Sommer an rapide zu sinken anfing. Aber ich verstand, daß sie sich auf dem Höhepunkt ihres Erfolges kaum um die provinziellen Sorgen der Daheimgebliebenen kümmern mochte. Den Scheidungstermin hatte das Familiengericht auf Mittwoch, den achten März festgelegt. Ausgerechnet am Frauentag! Gab es ein schlechteres Omen? Vor uns saßen eine Richterin und zwei Schöffinnen. Da war mir endgültig nach Handtuchwerfen. Die Frauenbewegung der DDR riefen in jenen Tagen dazu auf, die historisch einmalige Chance zur Abschaffung der patriarchalischen Gesellschaft zu nutzen. Es war zehn Tage vor den letzten Volkskammerwahlen. Ich merkte zu meiner Erleichterung, daß die drei Frauen hinter der Barriere genauso verunsichert waren wie ich. Konnte es nicht sein, daß ihre Urteile bald vor einem bundesdeutschen Gericht angefochten würden? Die Richterin bat um Verständnis, daß sie vorläufig weiter nach DDR-Recht verfahren müsse! Ich witterte meine Chance. Als es um das Sorgerecht ging, hob ich die Hand und sagte, ich möchte einen neuen Antrag stellen. Da mir im Einvernehmen der streitenden Parteien das Haus 154
zugesprochen wurde, beantragte ich das Sorgerecht für die Kinder, damit sie in der gewohnten Umgebung bleiben können. Die Richterin stöhnte auf. Hatte sie nicht gerade an mein Verständnis appelliert? Hätte ich mir die Zeit genommen, eine Minute über mein spontanes Aufmucken nachzudenken, hätte ich geschwiegen. Meine vier Lieblinge wohnte ja längst im Schwarzwald, dem Arm der DDR-Justiz entzogen. Selbst im Falle eines Erfolges, hätte sich praktisch nichts geändert. Das war mir aber in diesem Moment nicht klar. Ich rechnete deshalb mit hysterischem Protest von Irina, und wunderte mich, als er ausblieb. Aus welcher Richtung der Gegenangriff kommen würde, hätte ich aber auch bei sorgfältigster Überlegung nicht ahnen können. Meine Noch-Frau fragte in gleichmütigem Ton die Richterin: “Stimmt es, daß Sie außer in begründeten Notfällen Geschwister nicht trennen?” Die Frau im schwarzen Talar stimmte verwundert zu. “Mein Gatte ist nicht der Vater meiner jüngsten Tochter.” Ich fuhr hoch, wie von einem Skorpion gestochen. “Das ergibt sich schon aus den Blutgruppen. Mein Gatte hat Null, ich A, Margaritha aber AB.” “Das wußten Sie nicht?” fragte mich die Richterin teilnahmsvoll. Ich habe Irina immer vertraut, ich wäre nicht auf die Idee gekommen, die Blutgruppen zu vergleichen, wollte ich schreien ... aber es kam nur gekrächztes “Nein” heraus. Irina erhielt eine milde Verwarnung, wegen des Versuchs, durch Verschweigen dieses Fakts für Margaritha eine Unterhaltszahlung zu erschleichen. Mein Antrag auf Übertragung des Unterhaltsrechts wurde abgelehnt. Geschwister trennt man nicht. Die restlichen Punkte nickte ich nur noch ab. Auch die vorläufige Urteilsbegründung: Unverträglichkeit der Charaktere, zerstörte Vertrauensbasis. Bloß ‘raus hier, dachte ich. Ohne den beiden Siegern noch einen Blick zuzuwerfen machte ich mich davon, sobald die Richterin die Akte zuklappte, während Joe, der vor der Tür gewartet hatte, meine (ab jetzt) Ex-Frau glücklich in den Arm nahm. Margaritha nicht meine Tochter. Ich war schon fast um die Ecke, da fiel mir ein, daß die Richterin eine entscheidende Frage nicht gestellt hatte. Ich drehte mich um, und rief sie den beiden zu: “Darf ich nicht einmal wissen, wer ihr Vater ist?” Ich hatte keine Reaktion erwartet, doch Irina antwortete prompt. 155
“Bernie!” hallte es triumphierend durch den Flur des Gerichtsgebäudes. Sechs Wochen nach unserer Orgie zu viert. Von wegen einmalige Ausnahme! Ich erinnerte mich genau an ihre Worte von damals, mit denen sie eine Wiederholung ausschloß. Ich kehrte in mein stilles Haus zurück und wanderte durch die leeren Zimmer. In den Räumen der Kinder und im Schlafzimmer stand nichts mehr, im Wohnzimmer ein Sofa, auf dem ich schlief und einige Regal mit den mir verbliebenen Büchern. Ich hatte mich schweren Herzens von der halben, sorgsam zusammengetragenen Bibliothek getrennt. Eine Stunde Fahrt mit der S-Bahn zum Ernst-Reuter-Platz, und ich konnte jedes beliebige Buch kaufen. Kein Jagen nach Bückware, kein Beschwatzen hilfloser Buchhändler mehr. Kein halbes Jahr war vergangen, seit dieser bequeme Zustand herrschte, und schon fehlte mir der Kick des Jagens. Ich würde mir eine neue Leidenschaft suchen müssen. Meine Wanderung durch das Haus endete in der Küche, dem einzigen Zimmer, aus dem Irina bis auf ein paar Teller kaum Gegenstände entfernt hatte. Joes neue Häuser enthielten moderne Einbauküchen. Deshalb verschonten sie diesen Raum bei ihrem Raubzug. Noch zog ich aus diesem Zufall keine Schlußfolgerungen. Das Leben mußte weitergehen, also briet ich mir ein Kaßlerkotelett, kochte Kartoffeln und erhitzte Sauerkraut aus der Büchse. Das hatte ich früher auch schon getan. Wenn Irina unterwegs war, kochte ich für die Kinder. Was die Qualität des Essens betraf, fiel ihnen kein Unterschied zwischen Papas und Mamas Kochkunst auf. Irina erwies sich am Herd trotz ihrer Herkunft (Bäckerstochter!) nicht begabter als andere. Jeden zweiten Sonntag Schmorbraten mit Salzkartoffeln (an Festtagen mit Knödeln) und Rotkohl, nachmittags trockenen Streuselkuchen nach Familienrezept. “Das Geheimnis eines guten Hefeteigs sind vorgewärmte Zutaten und doppelte Mengen”, das war die Quintessenz ihrer Küchenweisheiten. Drei, vier Stammrezepte, die schon ihre Mutter Woche für Woche in ewiger Langeweile herunterkochte. Ihrem Vater hatte es genügt. Mir auch, muß ich zugeben, zwölf Jahre lang. Vielleicht hätte ich ewig so weitergemacht mit Bratkartoffeln, Schnitzeln und Bockwürsten, wenn nicht zwei Ereignisse zusammengetroffen wären. Das erste war ein Brief meines Ex-Schwiegervaters. Er drückte sein Bedauern über meine Trennung von seiner Tochter aus (wer hatte sich hier von wem getrennt?!) und seine Hoffnung, daß ich den Querelen zum Trotz in der Rückzahlung der von ihm 156
vorgeschossenen Baukosten nicht nachlassen werde. Werden Sie mir glauben, daß ich daran überhaupt nicht mehr gedacht hatte? Von meinem Konto ging automatisch ein Drittel meines Gehaltes per Dauerauftrag auf Sparbücher meiner Töchter, die meine Schwiegereltern verwalteten, damit war die Angelegenheit für mich erledigt und vergessen. Jetzt mußte ich erstmals in Betracht ziehen, daß ich mich meines Wohnrechts in meinem mühevoll errichteten Haus nicht mehr lange würde erfreuen können. Denn zur gleichen Zeit ging die Universitätsleitung daran, in größerem Maße Mitarbeiter zu entlassen. Etwas, was es solange ich denken kann, nie gegeben hatte. Die erste Welle überstand ich heil. Eine Lehrkraft für Ästhetik galt auch unter den neuen Verhältnissen als notwendig. Das war aber erst der Anfang. Man munkelte, daß ab Herbst alle Stellen neu ausgeschrieben würden, und sich jeder für den Posten, den er schon seit Jahren inne hatte, neu bewerben müsse – zusammen mit Konkurrenten aus dem Westen, die automatisch als besser qualifiziert galten. Nur bei gleicher Qualifizierung sollte der Ostdeutsche vorgezogen werden, aber ein solcher Fall konnte kaum vorkommen, zu unterschiedlich waren in der Vergangenheit die Studienprogramme und Arbeitsbedingungen. Wer von uns konnte schon eine längere Liste von Publikationen und Studienaufenthalte in Amerika vorweisen? Noch verdiente ich Geld. Aber von nun an schwebte der drohende Offenbarungseid wie ein Damoklesschwert über meinem Haupt. Das zweite Ereignis betraf Monique. Sie kündigte mir durch eine Postkarte aus Kopenhagen einen Besuch für den kommenden Donnerstag an. Ich kramte Irinas Kochbücher hervor und entwarf ein Vier-Gänge-Menü. Nichts Sensationelles, einen Krevettencocktail, Hirschmedaillons mit Trauben und Spätzle, Cremeorangen à la russe und Espresso. Ich kaufte einen neuen Tisch, zwei Stühle, ein weißes Damasttuch, weinrote Leinenservietten und einen dreiarmigen Kerzenständer. Sie kam nur wenige Minuten zu spät. Um so größer die Überraschung. Monique war schlanker geworden, beinahe dünn wie Irina und trug wieder lange, blonde Haare. Sie kam in Sportschuhen, T-Shirt und Jeans wie das Schulmädchen von nebenan. “Ich werde die Julia spielen”, erklärte sie mir ihr neues Outfit. “Mit fünfunddreißig?” rief ich überrascht. “Willst du behaupten, ich sehe zu alt aus dafür?” “Im Gegenteil, du scheinst nie älter zu werden. Aber weshalb so ein 157
mittelalterliches Stück?” Man hätte schon sehr nah an sie herantreten müssen, um die feinen Linien zu bemerken, die sich allmählich in ihren Augenwinkeln bildeten. Für mich erhöhten sie eher ihren Reiz. Degenhardts Truppe wollte die Handlung aus dem Italien der Renaissance in die Gegenwart Berlins verlegen. Keine Nacktszenen diesmal, sondern keusch und romantisch, bestenfalls eine wie zufällig entblößte Schulter. Dafür jede Menge politischer Zeitgeist. Julia und ihre Familie Capulet wohnen im Osten, Romeo und seine Montagues im Westen. Schauplatz der berühmten ersten Szene ist kein öffentlicher Platz in Verona, sondern die freie Fläche vor dem Brandenburger Tor. In jenen Tagen kündigten sich die ersten Zeichen der Ernüchterung innerhalb der Wendeeuphorie an, die Begriffe “Ossi” und “Wessi” wurden geboren. Monique verriet mir, daß es noch einen weiteren Grund für die Stoffwahl gab. Ihr neuer Freund, der Produzent Robert Hopkins, eine große Leuchte in Hollywood, soll ihr den Weg zum nächsten Karriereziel, dem Film öffnen. “Der Meister und Margaritha” zu verfilmen, das würde niemand mehr riskieren. Zu intellektuell. Die Jugoslawen hätten es mal versucht, ihr Werk erhielt auch mehrere Preise, aber vom Einspielergebnis blieb es unterer Durchschnitt. Ein klassisches Liebesdrama, modern interpretiert, würde dagegen die Kassen klingeln lassen. Als ich das Menü servierte, wechselte sie das Thema. “Wieso hast du Irina gehen lassen?” Ich erzählte, wie ich sie am Abend des neunten November auf dem Sofa überraschte. Monique zuckte mit den Schultern. “So was kommt vor. Wie an dem Abend, wo wir zu viert ... Das ist keine Trägödie. Man revanchiert sich mit gleicher Münze und verträgt sich wieder. Also. Wieso hast du sie gehen lassen?” Mein Gesicht verwandelte sich in ein einziges großes Fragezeichen. “Du müßtest inzwischen gelernt haben, wie man solche Schwierigkeiten löst.” “Du meinst, ich hätte meine Frau ...” rief ich ungläubig und fügte die Geste des Halsabschneidens hinzu. “Die Mutter meiner Kinder, bei all dem, was wir gemeinsam durchgemacht haben? Selbst wenn ich es gekonnt hätte, vergiß nicht, daß für die Polizei der Ehegatte immer der erste Verdächtige ist.” 158
“Ich rede doch nicht von Irina, du Dummkopf. Ich meine diesen Joe Wellner. Um solche Schmarotzer ist es nicht schade. Ein Unfall auf der Baustelle ...” Ich schüttelte den Kopf. “Irina hätte mich angezeigt.” “Quatsch! Du wärst in ihrer Achtung gestiegen! Ein richtiger Mann, der für seine Frau ein Risiko wagt.” Sie tauchte den Löffel in den Krevettencocktail und kostete. “An dir ist ein Koch verloren gegangen.” Ich servierte einen Gang nach dem andern und freute mich über ihre Komplimente wegen meiner Kochkunst. Wie mochte sie mit Irina über unsere Scheidung reden? Ich war mir sicher, sie stattete ihr ebenso Besuche ab wie mir. Alte Freundinnen, und so weiter. Zu meiner Enttäuschung ließ sie die Hälfte des Essens stehen. “Du hast dir soviel Mühe gegeben”, entschuldigte sie sich. “Julia war vierzehn, wie du weißt. Ich wog in ihrem Alter knapp fünfzig Kilo. Es müssen noch über zehn Pfund ‘runter.” “Du bist perfekt.” Sie erkundigte sich nach meinem Job und nickte zerstreut, als ich von der bevorstehenden Kündigung erzählte. Klar, zwischen der begehrten Schauspielerin und dem verlassenen Ostphilosophen lagen Welten. Ich wette, es war Mitleid, was sie zu ihrem Angebot trieb, die Nacht bei mir zu verbringen. Auf dem Sofa tröstete sie mich mit einer Portion sanftem Kuschelsex. Wenn ich sie nur zum Bleiben überreden könnte, dachte ich, als sie friedlich an meiner Seite einschlummerte. Hatte sie in den vergangenen Jahren nicht genug Geld eingenommen, um weitere fünfzig Jahre sorgenfrei zu leben? Wir hätten uns in meinem Haus einen schönen Lebensabend bereiten können. Morgens lange schlafen, dann Sex, dann Mittagsruhe, dann wieder Sex, dann Theaterbesuche, dann wieder Sex und schlafen, gelegentlich eine Reise nach Florida oder in die Karibik. Mit Monique an meiner Seite hätte ich nichts vermißt, weder Arbeit noch Familie. Aber natürlich lächelte sie nur mitleidig, als ich am nächsten Morgen eine Andeutung in dieser Richtung fallen ließ, und verließ mich mit dem vagen Versprechen, mich wieder zu besuchen. Sobald sie das nächste Mal nach Berlin käme. Nach meiner Erfahrung konnten bis dahin Jahre vergehen. Sollte ich nur für diese Hoffnung leben und inzwischen mit verschränkten Armen 159
zuschauen, wie mein Leben den Bach herunterging? An der Uni erfuhr ich wie alle Kollegen durch einen Aushang am Schwarzen Brett, daß drei Viertel aller noch bestehenden Stellen gestrichen werden. Das restliche Viertel wird neu ausgeschrieben, es kann sich bewerben, wer will, die bisherigen Mitarbeiter ebenso wie die arbeitslosen Akademiker des Westens, die sich seit Jahren mit Taxifahren und Kellnern über Wasser halten. Ich bewarb mich für die einzige Stelle im Fachgebiet Ästhetik. Natürlich vergeblich. Den Posten bekam ein Absolvent aus Bremen. Dreiundzwanzig Semester, der mußte einfach gut sein. Einziger Trost: meinen Kollegen ging es genauso. Im Herbstsemester meldeten sich unter den neuen Studenten auch ein paar Münchner, die ein paar Tage später empört wieder abfuhren. Ich traf zwei von ihnen vor dem Sekretariat des Direktors. “Wir sind extra in den Osten gekommen, weil wir mal die linken Philosophen hören wollten”, schimpfte der eine. “Da hätten wir gleich zu Hause bleiben können.” “Seid ihr noch zu retten?” fragte mich sein Kumpel. Ich hatte im Sekretariat gerade von meiner Entlassung erfahren. “Was allein die Rausschmisse an Abfindungen, Umschulungen und Arbeitslosengeld kosten werden!” “Wir sind eben ein reiches Land”, sagte ich. Für ihre Beschwerden war ich der falsche Adressat. Job weg, Frau weg, Kinder weg, Unterhalt zahlen für die drei Ältesten, Schulden abzahlen für das Haus, und keine Ahnung, wovon. Im Prinzip konnte ich nach Hause gehen und mich aufhängen. Am Abend, als ich mir ein einsames Spiegelei in die Pfanne schlug, kam mir die entscheidende Idee. Warum sollte ich ängstlich abwarten, bis mich der Bankrott endlich von meinem verbliebenen Besitz erlöst? Statt passiv bis zu meinem Ruin auszuharren, konnte ich aktiv etwas dafür tun. Ich kannte mich. Wenn ich tatenlos dem Verfall zuschaute, würde ich Depressionen kriegen, und mich irgendwann in einem Anfall von Verzweiflung von der Aussichtsplattform des Französischen Domes stürzen. Warum nicht statt dessen die verbleibende Zeit genießen und das Geld mit vollen Händen verschwenden? Nächste Überlegung: Welcher Genuß bleibt einem Mann, dem die Frau davon gelaufen ist und der keine Chance hat, wieder eine zu finden? Der auch keine Freunde mehr hat, weil seine Freunde die Freunde seiner Verflossenen waren und mit ihr 160
verschwanden? Richtig, das Essen. Zuerst machte ich die notwendige Mittel dafür flüssig. Der Bankmensch, mit dem ich verhandelte, war regelrecht entzückt. Eine Hypothek auf ein neues Haus in bester Lage in der künftigen Hauptstadt – ich sah, wie die blanke Gier in seine Augen trat. Ein Finanzökonom liebt schnelle, klare Prozesse. Ein flotter, geradliniger Ruin ist ihm tausendmal lieber als ein jahrzehntelanges Auf- und Abkränkeln. Wir wußten beide, daß ich den Kredit nie bis zur Tilgung abstottern würde. Es war ein verschleierter Verkauf, wahrscheinlich unter Wert. Von dem Geld zahlte ich als erstes meinen ExSchwiegervater aus. Als Gläubiger war mir die Bank tausendmal lieber als die Familie Reichelt. Wenn die Börsenjongleure einem das Fell über die Ohren zogen, erledigten die wenigstens nur ihren Job und befriedigten keine persönliche Schadenfreude. Wo nur Schulden sind, ist nichts zu erben. Natürlich hätte ich mir ein teures, schnelles Auto kaufen und damit als Geisterfahrer über die Autobahn brettern können bis zum tödlichen Crash bei hundertneunzig. Aber ein solches Ende erschien mir stillos. Schließlich hatte ich meinen Doktor in Ästhetik gemacht. Wenn ich dagegen die verbleibende Restsumme des Kredits in Kohlenhydrate, Fette, Eiweiße und Aromastoffe verwandelte – wie lange würde ich brauchen, meine Gesundheit irreparabel zu ruinieren? Jeder Arzt warnt, daß der Mensch sich durch maßloses Fressen unweigerlich umbringt. Das war eine Herausforderung, die mich reizte. Elvis hatte es ja auch geschafft. Mit zweiundvierzig der King of Rock’n Roll wog zweihundert Pfund. Das reichte für seinen frühzeitigen Exitus im August siebenundsiebzig. Warum sollte das bei mir nicht klappen? Wenn ich die Probe aufs Exempel machte, womit wäre ich zuerst am Ende: mit meinem Geld oder mit meinem Leben? Ich könnte wie Elvis das Jahr nach meinem zweiundvierzigsten Geburtstag als Deadline anzielen. Meine Idee war, Geld und Gesundheit so zu koordinieren, daß beide zur gleichen Zeit zum Teufel gingen. Das einzige, was ich benötigte, waren Zielstrebigkeit und Durchhaltevermögen, Eigenschaften, die ich vor Jahren schon bei der Bücherjagd entwickelt hatte. Zunächst studierte ich gründlich die Kochbüchersammlung Irinas. Ich ging systematisch vor, nicht anders als bei einem wissenschaftlichen Lehrbuch. Zuerst die Grundbegriffe – passieren, blanchieren, tranchieren, flambieren – dann die Methodik, das waren in diesem Fall die Rezepte. Im Gegensatz zur Philosophie konnte ich am Herd meine 161
neuen Kenntnisse sofort praktisch überprüfen. Und wissen Sie was? Kochen ist gar nicht so schwierig! Die Frauen tun immer so, als verberge sich irgendein geheimnisvoller Hokuspokus dahinter. Den man über lange Erfahrung irgendwie in sein Gefühlsleben einsickern lassen muß, damit die Hefe rechtzeitig aufgeht und das Schnitzel innen nicht roh und außen nicht schwarz wird. Und mit Emotionen hätten wir Männer ja sowieso unsere Schwierigkeiten. Wie Irina mich ausgerechnet mit BaustoffJoe auf meinem Sofa betrog, nennen Sie das vielleicht gefühlvoll? Und meine Töchter in den Schwarzwald zu entführen, zehn Stunden Zugfahrt hin, zehn zurück – wie soll ich da mein Umgangsrecht wahrnehmen, das ich ohnehin nur für die drei Ältesten habe? Die ganze Kochkunst reduziert sich für mich auf den Satz: Halten Sie sich exakt an die Anweisungen, dann kann nichts schief gehen. Wenn es heißt: Fünfzig Gramm Butter, ein Viertel Liter Wasser, Prise Salz, je zwei Eßlöffel Kristall- und Puderzucker plus Zitronenschale aufkochen, hundertdreißig Gramm Mehl auf einmal zufügen und den Teig auf kleiner Flamme köcheln, bis er sich von der Topfwand löst, Topf vom Feuer nehmen, vier verquirlte Eier nach und nach darunter rühren, dreißig Minuten kühlen, dann Kugeln abstechen und auf ein gebuttertes Blech legen - was ist daran mißzuverstehen? Meine verflossene Bäckerstochter tat jedenfalls so, als sei die Herstellung von Windbeuteln eine Geheimkunst, die vier Generationen Backhandwerk mühsam herangezüchtet hätten. Inzwischen habe ich ein Dutzendmal Windbeutel gebacken, mit Sahne, mit Schinkenmousse, mit Käsecreme, und sie sind immer geworden. Die Erfahrung hat damit überhaupt nichts zu tun. Außer, daß man mit der Zeit ein paar Rezepte auswendig kennt und nicht mehr alles nachschlagen muß. Als Privatkoch, der inzwischen auf etliche Jahre Praxis zurückblicken kann, will ich Ihnen das Geheimnis verraten. Es gibt keins. Die einzige Schwierigkeit, der ich am Anfang begegnete, war der Einkauf. Als ich das erste Mal Safran brauchte, mußte ich extra nach Westberlin fahren. Der Osten war noch nicht so weit. Heute weiß ich genau, wo ich in der Nähe hingehen kann, wenn ich Marsala, Oelek, Sambal oder Ajinomoto benötige. Damals ahnte ich nicht einmal, nach was für einer Art von Geschäft ich Ausschau halten muß. Wer blamiert sich schon gerne damit, daß er in einem Gewürzladen nach etwas fragt, was in Wahrheit ein philippinisches Gemüse oder ein westsizilianischer Rotwein ist? 162
Als ich die Tricks 'raus hatte, ging ich in die Vollen. Wachteln in spanischer Marinade, einem leicht bitteren Aufguß aus Sellerie, Essig, Mohrrübe, Thymian und Rotwein. Clam Chowder, eine Muschelsuppe mit Lauch, trockenem Weißwein und Magerspeck. Oder Pfirsiche in italienischer Weinschaumsauce, genannt Zabaione. Bißchen schade, daß niemand vorbeikam, den ich mit meinen Künsten hätte beeindrucken können. Monique war weit weg. Mein Vater, der in seiner zweiten Ehe mittlerweile drei neue Kinder großzog, hatte seine alte Familie längst aus dem Gedächtnis gestrichen. Meine Mutter war im Monat der Wiedervereinigung nach Hamburg in die Wohnung meiner Schwester gezogen, wo die beiden Frauen einander über erlittenes männliches Unrecht hinwegtrösteten. Auf meine Einladung an die beiden, mich zu besuchen, erhielt ich keine Antwort. Gut, da war noch Bernie, aber Sie werden verstehen, daß ich den Typ nicht mehr in meiner Nähe haben wollte, seit ich wußte, daß die männliche Genhälfte meiner vierte Tochter von ihm stammt. Ich kochte, um zu essen. Und ich aß, um bald wieder kochen zu können. Mit dem Herumwerkeln in der Küche hielt ich mich auch gefühlsmäßig über Wasser. Nennen Sie es meinetwegen Beschäftigungstherapie. Erst mampfte ich den Kram nur aus selbst auferlegtem Pflichtbewußtsein in mich hinein. Aber an reichliches Essen kann man sich gewöhnen. Vor allem, wenn nichts anderes zu tun ist. Ich machte es mir immer gemütlich. Stets das gute Sonntagsgeschirr. Vollständige Gedecke. Weiße Damastdecke, dunkelrote Stoffservietten. Kerzen. Besteck nacheinander von außen nach innen zu benutzen. Langsam kauen. Jeden Bissen auf der Zunge zergehen lassen, über ihre ganze Länge wandern lassen, damit alle Papillen was zu schmecken kriegen. Ich verlor nie mein Ziel aus den Augen, Geld und Gesundheit durchzubringen. Es ist gar nicht so einfach, stets die teuersten Weinjahrgänge zu kaufen, Tag für Tag korsische Schnepfen, gefüllten Kapaun oder frische Trüffel auf den Tisch zu bringen, nur um das Geld auf den Kopf zu schlagen. Immobilien waren von der Wende an bis zum dem Tag, an dem ich den Kredit erhielt, so verflucht schnell im Preis gestiegen. Da kommen Sie erst mal nach, wenn Sie alles durch Ihren Darm jagen müssen. Seitdem war jeder Tag ein Festtag. Während meine ehemaligen Kollegen verzweifelt Bewerbungen pinselten und Klinken putzen, in der Hoffnung, daß irgendein Arbeitgeber in diesem Land an ihren marxistischen Philosophiekenntnissen Interesse zeigt, ließ ich es mir wohl ergehen. Über Monate blieb meine Postfrau mein einziger Kontakt. Seit sie mitbekam, daß es bei mir immer nach ungewohnten Speisen duftete, 163
hielt sie öfter auf ein paar Minuten für ein Schwätzchen an, obwohl sie mir schon seit Monaten nichts mehr einzuwerfen hatte. Monique trieb sich in der Weltgeschichte herum, zog von Triumph zu Triumph, wie ich aus den Kultursendungen des Fernsehens erfuhr, und brachte es nicht einmal fertig, mir zum Geburtstag eine Karte zu schicken. Je länger sie fortblieb, desto wütender wurde ich auf sie. Wo wäre sie heute ohne meine Hilfe? Ruhte der Beweis meiner Zuneigung nicht immer noch unter meiner Terrasse, eingegossen in Beton? Zum Teufel mit ihr! Ich tröstete mich mit Filets medaillons auf Spargel in Sauce Hollandaise und Forelle gefüllt mit gemahlenen Walnüssen und gebacken in einer Kruste aus Mandelbechamelsauce. Und dann das Honigspanferkel! Mit ihm entdeckte ich den Reiz des Süßen. Ich wette, nicht einmal mein bäckernder Ex-Schwiegervater ahnt, wie viele Arten von Kuchen möglich sind. Eine Zeitlang war ich völlig auf dem Zuckertrip. Unendliche Kombinationen von Früchten, schaumiger Sahne und Mischungen aus Butterschmalz, Mehl und Kristallzucker. Mürbeteig, Hefeteig, Sauerteig, Blätterteig, Brandteig! Zimtäpfel, Birnenauflauf, flambierte Zwetschgen, Schokoladenfondue, Rahmkaramellen, Brombeertörtchen mit Zimt und Mandelsplit! Die Folgen zeigten sich bald beim Blick in den Spiegel. Kein hohlwangig-abgezehrtes Stück Elend schaute mir mehr entgegen, sondern ein lebensfrohes Kerlchen in den besten Jahren mit rosigen Wangen und gut genährt. Mir geht's gut! sagte ich zu meinem Spiegelbild und klopfte auf mein behäbiges Bäuchlein. Ehrlich gesagt, ich hatte gehofft, daß es schneller mit mir zu Ende gehen würde. Schließlich war ich nie besonders robust. Aber da ich als Kind eher dünn war, sammelten meine Körperzellen nur zögernd größere Mengen Fett an. Nach fünfeinhalb Jahren überschritt ich zwar endlich die Hundert-Kilo-Grenze, hatte aber noch keine richtige Krankheit. Nur erhöhten Blutdruck, was ist das schon. Elvis konnte in meinem Alter schon hartnäckige Verstopfung, Atemnot und Muskelkrämpfe aufweisen. Wenn ich im Keller Erdreich wegschaufelte und die Mauer zwei Meter weiter hinten wieder hochzog, um mehr Raum für meine unterirdische Vorratskammer an Konserven und eingelagertem Gemüse zu schaffen, dauerte es fast eine Stunde, ehe ich außer Atem geriet. Meine Verdauung funktionierte von Kindheit an eher zu gut als zu schlecht, daran hatte sich nichts geändert. Nicht einmal Vorboten eines Herzinfarkts trotz angeblich bedenklicher Cholesterinwerte. Das kummervoller Kopfschütteln meines Hausarztes, als er mich an seinen Elektrokardiographen anschloß, gab mir zwar neue 164
Hoffnung, aber wenn ich nicht bald konkrete Resultate fühlte, würde mein Plan schiefgehen. Meine Geldreserven schmolzen zusehends. Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als noch einmal zur Bank zu gehen. Die schickten einen Gutachter, um den aktuellen Wert des Hauses zu schätzen. Der leerstehende Anbau gab den Ausschlag. Ich erhielt einen zweiten, allerdings deutlich kleineren Kredit. Es war ein Aufschub, mehr nicht. Der Tag, an dem auch dieses Geld in meinem Bauch verschwunden sein würde, war abzusehen. Ich mußte zu einer endgültigen Lösung kommen. Der entscheidende Anstoß, der mich zu einem Entschluß brachte, war ein Brief von Monique. Ihre letzte Karte lag schon zwei Jahre zurück. Damals hatte sie beim Chicagoer Festival of Modern Performance Art als Julia einen Darstellerpreis gewonnen. Jetzt erfuhr ich, Hollywood habe sich endlich durchgerungen, “Romeo und Julia” neu zu verfilmen. Und zwar in der Gegenwartsfassung ihrer Truppe. Die Einzelheiten des Vertrages würden gerade verhandelt. Aus diesem Grunde werde sie endgültig zu Bob Hopkins, ihrem Produzenten, nach L.A. ziehen. Bevor sie Europa verlasse, wolle sie zwei Tage nach Berlin kommen. Ob mir ein Abschiedsbesuch recht wäre. Ich hatte in all den Jahren nie aufgehört, Monique zu lieben. Wenn ich auch akzeptieren mußte, daß sie mir stets andere Männer vorzog, Männer mit Ausstrahlung, Einfluß und Macht, so war es mir ein Trost gewesen, daß sie immer wieder hierher zurückkehrte, wenn sie in Schwierigkeiten geriet. Daß wir Geheimnisse miteinander teilten, die niemand kannte außer ihr und mir. (Zum Teil noch Irina, aber seit sie so rüde aus meinem Leben verschwunden war, zählte sie für mich nicht mehr.) Daß ich sie länger kannte, als jeder andere Kerl, der sie in den Armen hielt. Deshalb traf mich ihr Brief wie ein Keulenschlag. Ich sollte sie definitiv nie wieder sehen außer auf der Leinwand? Ich hatte auch vorher nicht viel von ihr gehabt, aber mir blieb immer die Hoffnung auf ein weiteres Wiedersehen. Selbst wenige Stunden Zusammensein entschädigten mich für lange Abstinenz. Ihre Ankündigung zwang mich zu einer Entscheidung. Bei unserem letzten Treffen wollte ich die Spielregeln bestimmen. In meinem Antwortbrief lud ich sie zu einem großen Abschiedsessen ein. Ich befand mich gerade in meiner Auflauf-Phase, jeden zweiten Tag gab es etwas Gebackenes aus einer länglichen Form. Nudel-, Kartoffel-, Fisch- und Fleischsoufflés, 165
alles hatte ich schon durch. Was noch fehlte, war ein Auflauf auf Pilzbasis. Schuld an diesem Aufschub war die Jahreszeit. Niemals hätte ich ordinäre Zuchtchampignons aus dem Supermarkt verwendet. Nein, ich brauchte eine andere, individuelle Geschmacksvariante. Den Rohstoff dafür wollte ich selbst sammeln, in den Wäldern am Rande Berlins. Monique beabsichtigte, mich am Abend des vierzehnten September zu besuchen. Der Termin lag günstig, mitten in der Pilzsaison. Ich versprach Monique ein Soufflé à la Wagner, den Höhepunkt meiner Kochkunst, ein Gericht, daß ich an diesem Abend zum ersten und letzten Mal zubereiten wollte, ihr zu Ehren. Ja, wir würden Abschied nehmen für immer. Aber nicht nur voneinander, fügte ich in Gedanken hinzu, sondern auch von dieser Welt. Für mich wird es Zeit zu gehen, bevor Ende des Jahres die Bank ihr Geld einfordert, und dich nehme ich mit mir. Ich habe mich immer gewundert, woher die Experten in den Büchern die Geschmacksangaben für die Giftpilze nehmen. Nehmen Sie den tödlichsten von allen, den Grünen Knollenblätterpilz, amanita phalloides. Der mordende Phallus soll angenehm nußartig schmecken. Dem Opfer bleiben im Höchstfall vierundzwanzig Stunden Zeit, dem Fachmann über seine Geschmacksempfindungen zu berichten, danach hat es genug mit dem Versagen der eigenen Leber zu tun. Ich entschied mich für seinen Verwandten zweiten Grades, den Pantherpilz, Amanita pantherina, leicht süßlich, was gut zu Kartoffeln und Tomaten paßt, die ich meiner Kreation in kleiner Menge als Geschmacksverstärker beifügte. In den Kiefernwäldern um Berlin sei der Pilz ausgesprochen häufig, schreibt Bruno Hennig in seinem “Taschenbuch für Pilzfreunde”. (Was ich mittlerweile aus eigener Erfahrung bestätigen kann.) Schnelle Giftwirkung garantiert. Symptome: Rauschartige Zustände wie nach starkem Alkoholgenuß, Lachen und Tobsuchtsanfälle, Krämpfe, starke Sehstörungen, Bewußtseinstrübung, schließlich Bewußtlosigkeit und ewiger Schlaf. Kein Erbrechen, kein Durchfall, nur ein kleiner, sauberer Trip ins Nirwana als krönender Abschluß einer beispiellosen Freßkarriere. Von der Apotheke Natur frei Haus geliefert und von keinem Suchtmittelgesetz unter Verschluß genommen. Leicht zu verwechseln mit dem eßbaren Perlpilz, daher Vorsicht! Oh ja, ich mußte aufpassen, daß ich nicht aus Versehen Perlpilze sammelte. Das wäre ein Witz gewesen! Gescheitert wegen Verwechslung mit eßbaren Doppelgängern. Mein Timing war perfekt. Viertel nach sieben, fünfundvierzig Minuten vor der 166
vereinbarten Zeit, schob ich das rohe Soufflé in die Röhre. Der Tisch war gedeckt, der Wein kaltgestellt. Glauben Sie mir, daß ich Herzklopfen hatte wie bei einem ersten Rendez-vous? Immerhin wollte ich ihr meine Tat und meine Motive gestehen, bevor es uns in die ewigen Jagdgründe hinwegraffte. Ich durfte nicht zu früh mit der Hiobsbotschaft herausplatzen, damit sie nicht etwa noch einen Rettungswagen herbeitelefonierte, der uns dem Tod von der Schippe holte. Aber auch nicht erst, wenn schon das Delirium begann. Zehn vor acht hörte ich ein Auto rückwärts durch die offene Einfahrt auf mein Grundstück fahren. Ich stand noch in der Küche und rührte an der Ananascreme für die Nachspeise. Ich schaffte es kaum, mir die Hände an einem Geschirrtuch abzuwischen, da bimmelte es schon. Sie mußte vom Auto zur Tür gerannt sein. Kaum hatte ich die Tür einen Spalt geöffnet, griff sie nach meinem Arm und rief mit dem Blick eines gehetzten Tieres: “ Mein Gott, bist du fett geworden. Komm schnell mit zum Auto.” Die Begrüßung hatte ich mir eigentlich etwas herzlicher vorgestellt. Sie trug Jeans und Lederjacke wie beim letzten Mal, kaum die richtige Kleidung für einen festlichen Abschied. “Willst du nicht erst einmal hereinkommen?” fragte ich leicht pikiert. “Mein Soufflé ...” “Vergiß den Mampf. Wir haben andere Sorgen.” Das war nicht nett. Schließlich hatte ich mir Mühe gegeben und war stolz auf mein Werk. Was hatte sie nur? Ein Geschenk vielleicht, so schwer, daß sie es nicht allein tragen konnte? Als sie mit fahrigen Händen an dem Schloß ihres Kofferraums fuhrwerkte und mehrere Versuche benötigte, ehe endlich die Heckklappe aufging, ahnte ich es schon. Auf dem Boden zwischen Verbandskasten, Decken und Warndreieck lag ein toter Mann.
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Siebtes Kapitel
Wir wickelten den Toten in eine Decke und schleppten ihn in den Keller. Die Hälfte meines neu geschaffenen Vorratsraumes mußte ich wieder aufgeben. Eine neue Wand, um einen Meter nach vorn versetzt, verschloß die Grabstätte des Filmproduzenten Robert Hopkins. Hätte der Amerikaner über Albrecht Sulker und Andy Bescheid gewußt – er hätte es sich zweimal überlegt, ob er versuchen sollte, Monique zu betrügen. Die Sache war beängstigend banal. Hollywood hatte längst entschieden, Romeo und Julia in klassischer Manier getreu nach Shakespeare und mit jungen amerikanischen Schauspielern zu verfilmen. Hopkins hatte Monique jedoch im Glauben gelassen, daß sie noch im Rennen sei. Alles nur, um seine aufregende Geliebte bei Laune zu halten. Jetzt, wo es ernst wurde, wo Monique Übersiedlung und Green Card beantragt hatte, kam die Stunde der Wahrheit. Zu ihrem Entsetzen bestätigte Hollywood den von Hopkins unterzeichneten Vorvertrag nicht, die Erteilung der Green Card wurde abgelehnt. Hätte Hopkins sich nur rechtzeitig aus dem Staub gemacht. Vermutlich hoffte er, Monique noch einmal mit Versprechungen zu vertrösten und ihr in seiner bereits gekündigten Wohnung in Steglitz ein letztes Mal seine unveränderte Leidenschaft beweisen. Sie ertränkte ihn in seiner Badewanne. Dieser Hopkins war ein kleines, mickriges Männlein von Ende fünfzig mit vertrockneter Gesichtshaut. Ein Fliegengewicht. Deshalb gelang es ihr auch, ihn ohne fremde Hilfe in seinem Reisekoffer auf Rollen aus der Wohnung bis zu ihrem Auto zu transportieren. Trotzdem mußte ich verschnaufen, nachdem wir ihn in den Keller getragen hatten. Monique dagegen fing sofort an, mit wütender Energie Erde über ihn zu häufen. “Hat das nicht Zeit bis morgen?” fragte ich. “Mein Soufflé ...” “Laß mich in Ruhe mit deinem Soufflé. Ich könnte keinen Bissen ‘runter kriegen.” Oh Gott, der Herd war noch an! Ich ließ sie mit Brechstange und Schaufel allein und eilte nach oben. Beißende Rauchschwaden zogen aus der Küche durch den Flur. 168
Verdammt! Meine Kreation Soufflé à la Wagner – nur noch ein schwarzer, stinkender Klumpen Teer. Das einzige Mal, wo es wirklich auf meine Kochkunst ankam, erwies ich mich als kompletter Versager. Ich schlich nach unten und half ihr. Nachts um zwei hatten wir den Toten halbwegs vergraben und eingemauert. Am nächsten Tag mußte ich nur noch die neue Mauer ordentlich verputzen und meine Regale mit den Konserven davorstellen. “Gehen wir schlafen?” fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. “Sein Rückflugticket lautet auf morgen nachmittag. Von da an wird man ihn vermissen. Ich werde zu den Hauptverdächtigen zählen, dich dagegen kann niemand mit Hopkins in Verbindung bringen. Ihr seid euch ja nie begegnet, und auch wir beide haben uns seit Jahren nicht gesehen. Ich fahre jetzt los und besorge mir ein Alibi für diese Nacht.” Ich stellte keine Fragen. Es war auch so klar, daß sie zu einem andern Mann fahren wollte. “Ich habe, als ich den Toten zum Auto schleppte, einen Entschluß gefaßt. Ich werde dieses Wanderleben aufgeben. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, muß ich zugeben, ich habe wahrscheinlich alles erreicht, was mir möglich war. Wenn es mit Hollywood nichts wird, bin ich bereits auf dem Höhepunkt meiner Laufbahn angelangt. Ich werde demnächst vierzig, dann dürfte ich sowieso nur noch Mütter und sitzengebliebene späte Mädchen spielen. Das liegt mir nicht. Kurz und gut: Willst du mich noch haben?” Ich traute meinen Ohren nicht. “Das wolltest du doch immer?” fuhr sie fort. “Du hast ein Haus, du bist ungebunden wie ich, du bist verläßlich. Genau das, was ich jetzt brauche.” Sollte ich am Ende mein unmöglicher Traum noch wahr werden? Und ich hätte uns beide beinahe umgebracht! Aber nein, es war unmöglich! “Monique, du ...”, fing ich an. Sie unterbrach mich sofort. “Bitte nicht mehr! Nenn mich bei meinem richtigen Namen. Ich heiße Monika.” Verdammt. Es schien ihr tatsächlich ernst zu sein. “Ich bin arm”, gab ich zu bedenken. “Am Jahresende wird die Bank das Haus kassieren.” “Wie hoch sind deine Schulden?” 169
Ich nannte ihr die Summe. Sie lachte. “Mehr nicht? Das bezahle ich, und du trägst mich als Miteigentümerin ein.” Dann wurde sie wieder ernst. “Aber erst einmal dürfen wir uns ein, zwei Monate nicht sehen. Keinen Kontakt, möglichst auch nicht telefonieren. Solange, bis die Polizei den Fall abschließt.” “Spätestens Weihnachten ziehe ich bei dir ein”, fügte sie hinzu, als sie die Zweifel in meinen Gesicht sah. Ich kannte sie. Bis Weihnachten konnte noch viel passieren. “Vorausgesetzt, du nimmst ab”, fügte sie hinzu und klopfte mir auf den Bauch. Sie widerlegte meine Skepsis. Am achten Dezember stand sie mit Auto und mehreren Koffern vor meiner Tür. An diesem Tag zeigte meine Waage neunundsiebzig komma fünf. Erstmals seit fünf Jahren wieder unter achtzig Kilo! Ich hatte mich elf Wochen lang fast ausschließlich von Gemüsesuppe ernährt. Ein kleiner Kohlkopf, sechs Möhren, sechs Zwiebeln, zwei Paprikaschoten, Stangensellerie, grüne Bohnen, einen halben Liter Tomatensaft, Brühwürfel, eine Tüte Zwiebelsuppe, geschälte Tomaten, Dill und Petersilie – Sie erinnern sich? Ein kleiner Zweifel an der Richtigkeit meines Weges muß während meiner Zeit als einsamer Hobbykoch in meinem Unterbewußtsein hängen geblieben sein, sonst hätte ich mir das Rezept nicht aufgehoben. Außerdem joggte ich jeden Tag eine halbe Stunde. Das erste Mal in meinem Leben, daß ich freiwillig Sport trieb. Nur die Hoffnung auf Monique – nein, Monika – war in der Lage, mich derart umzukrempeln. Da in Hopkins’ Wohnung, als die Polizei eintraf, ein Fenster offen stand, das Monika in der Hektik vergessen hatte zu schließen, und da sich kaum Bargeld fand (sie hatte seine Brieftasche und alle Papiere mitgenommen und bei mir verbrannt, da sie wußte, daß er Fotos und Briefe von ihr besaß), vermutete die Kripo zunächst eine Entführung. Als sich kein Erpresser mit einer Lösegeldforderung meldete, schloß sie auf einen Raubüberfall. Monika wurde zwar befragt, aber niemand aus ihrer Truppe schien verraten zu haben, daß sie seine Geliebte gewesen war, und die Angehörigen des Amerikaners wußten nicht Bescheid. Daher ließ man sie bald in Ruhe. Monika trennte sich von dem Studententheater im Einvernehmen. Sie verzichtete auf eine Abfindung. Die zweite Besetzung der Julia, eine blonde Studentin von Anfang 170
zwanzig, wartete schon lange auf ihre Chance. Degenhardt nutzte die Gelegenheit, das Ensemble zu verjüngen. Als wir Weihnachten zu zweit unter einem Tannenbaum saßen und aneinandergeschmiegt in den Kerzenschein sahen, sagte ich mir: Es gibt tatsächlich eine irdische Gerechtigkeit. Nach vierzig Jahren Niederlagen war ich endlich auf der Gewinnerseite angekommen. Wir liebten uns, wir lasen, ich kochte für uns und wusch ab – meinetwegen konnte es ewig so weitergehen. Ende Januar klingelte es eines Nachmittags an unserer Tür. Der Mann, der vor der Tür stand, kam mir bekannt vor. “Tschirnitz”, stellte er sich vor. “Sie erinnern sich?” Das war der Mann von der Kripo, der einst mit einem Hund auf meinem Grundstück nach Albrecht Sulker suchte! “Ist ihre Freundin Monika Gersbach zu Hause?” Ihr Erscheinen an der Haustür enthob mich einer Antwort. “Ich möchte gern mit Ihnen über die Herren Andreas Meininger, genannt Der schöne Andy, Albrecht Sulker und Robert Hopkins sprechen.” “Sind die nicht alle tot?” fragte Monika. “Das ist eine interessante Aussage. Laut Polizeiakten sind sie nur verschwunden. Darf ich hereinkommen?” Ihm seien in den drei Fällen einige merkwürdige Gemeinsamkeiten aufgefallen. Dazu gehöre, daß Monika zu allen drei Toten Kontakt gehabt habe. “Sie finden sicher noch hundert weitere Verschwundene in den Akten, zu denen ich keinen Kontakt hatte”, antwortete sie. “Zumindest die ersten beiden haben auch Sie gekannt”, wandte er sich an mich. “Möglicherweise kannte sie auch Mister Hopkins?” “Wir verkehrten nicht in denselben Kreisen”, entgegnete ich vorsichtig. “Sie waren doch im Osten bei der Kripo in einer Spitzenposition”, rief Monika plötzlich. “Sind Sie überhaupt noch im Amt? Können wir mal Ihren Ausweis sehen?” “Sie haben recht”, lächelte er etwas trübsinnig, “ich wurde vor zwei Jahren pensioniert. Mit fünfundfünfzig, nachdem ich ein Jahr nur noch in der Registratur gearbeitet habe. Aber wie man so schön sagt, wer mit Herz und Leidenschaft an seinem 171
Beruf hängt, hört nie völlig auf.” “Deswegen müssen wir, glaube ich, uns nicht von Ihnen verhören lassen”, schloß Monika. “Sicher, ich kann auch mit meinem Nachfolger über meine Beobachtungen reden. Wenn Sie es lieber haben, daß er Sie offiziell vorlädt, mit Vorladung und Protokoll ...?” Er ließ seine Stimme in der Schwebe. Monika überlegte. “Ihre Fragen richten sich vor allem an mich, wenn ich Sie richtig verstanden habe?” Der Pensionär nickte. Sie wandte sich an mich. “Kannst du mich bitte mit Herrn Tschirnitz eine halbe Stunde allein lassen?” Ich machte mich erleichtert aus dem Staub. Monika würde sich allein viel besser aus der Schlinge ziehen, da war ich mir sicher. Ihre Selbstsicherheit, ihre Abgeklärtheit, ihre Fähigkeit, jeden Mann um den kleinen Finger zu wickeln, würden ihr eine bessere Hilfe sein als meine Ängstlichkeit. Als ich nach einer Stunde zurückkehrte, war er fort. “Und?” “Ich weiß nicht”, sagte sie. “Man hat in Ungarn vor kurzem Andys Leiche auf einem Bauernhof in der Puszta gefunden.” “Konnte man ihn da überhaupt noch identifizieren?” “Sein Gebiß ... Außerdem gäbe es da neuerdings ein Verfahren, auch bei stark verwesten Körpern die Fingerabdrücke zu rekonstruieren.” “Warte mal. Sagtest du eben in der Puszta? Das ist doch in Südungarn? Ist doch wunderbar, wir sind nicht mal in die Nähe der Puszta gekommen!” “Du nicht. Ich schon. Unsere Tournee führte uns bis nach Szeged.” “Aber dann wäre jeder von den Musikern verdächtig, dieser Ralf und die andern drei.” “Richtig. Wenn es nicht die andern beiden Fälle gäbe.” “Meinst du, die werden meinen Keller und die Terrasse aufreißen?” “Solange Wolfgang nur privat seine neugierige Nase in unsere Angelegenheiten steckt ...” “Wolfgang?!” rief ich alarmiert. 172
“Ich habe ihm das Du angeboten. Was ist dabei? Hör mal, mach keine Szene. Ich weiß schon, wie ich ihn behandeln muß, okay? Solange er nur seine Neugier befriedigen will, ist er harmlos. Ein gewisses Vertrauen muß da sein, wenn ich verfolgen will, was er im Schilde führt.” “Du nennst ihn Wolfgang?” Ich konnte es nicht fassen. “Ist dir lieber, er rennt ins Kommissariat und schickt uns einen Suchtrupp auf den Hals? Laß mich nur machen. Ich habe schon ganz andere Kerle weich geklopft.” Wieder spüre ich das Damoklesschwert über meinem Haupt. Aber ich habe dazu gelernt. So leicht gebe ich unsere Idylle ungestörter Zweisamkeit nicht preis. Monikas Methode, Schwierigkeiten im Frontalangriff aus dem Weg zu räumen, mißfällt mir immer mehr. Ich wußte doch aus Erfahrung, wie das immer endet. Als sie neulich aus dem Haus ging, ohne mir zu sagen wohin, schlich ich ihr nach. Sie traf sich mit Tschirnitz in einem Café. Wie ich es befürchtet hatte. Wie er ihr in die Augen sah und ihre Hand hielt, gefiel mir gar nicht. Noch weniger gefällt mir, wie sie mich neuerdings ansieht. Manchmal abschätzend, manchmal wiederum schaut sie durch mich hindurch, als ob ich gar nicht mehr da sei. Wer ist ihr mehr im Wege, der Spürhund oder der Mitwisser? Ich weiß, was mit Männern geschieht, die ihr in die Quere kommen. Ich werde nicht warten, bis es zum Krachen kommt, diesmal nicht. Im Keller, auf dem Vorratsregal vor der Mauer, die das Grab Robert Hopkins’ verschließt, wartet seit langem eine Büchse mit aufgemalten Schädel und gekreuzten Knochen auf ihren Einsatz. Darin befinden sich getrocknete Pilze. Pantherpilze, übrig geblieben von meinem Wanderungen letzten September. Sie verlieren durch lange Lagerung keine Spur von ihrer Wirkung. Mein Rezept für das Soufflé à la Wagner liegt griffbereit zwischen den Seiten 54 und 55 meines Bildbandes “Spezialitäten der südfranzösischen Küche”. Ist es nicht an der Zeit, meine Kochkünste zu reaktivieren? Ihren guten Bekannten Wolfgang Tschirnitz zu einem festlichen Essen einzuladen? Für wen soll es ein Abschiedsessen werden? Nehme ich die Pilze aus der Büchse für das gesamte Soufflé, werden unsere Probleme mit einem Schlag gelöst. Allerdings wäre mein Glück an Moniques Seite ebenfalls futsch. Ich werde also das Soufflé durch dünne, nur für mich sichtbare Linien dritteln. Eine Portion Pilze aus meiner Büchse, zwei Portionen Champignons aus dem Supermarkt. Eine solche Entscheidung will gut 173
überlegt sein. Die Frage lautet: Weiß noch jemand von dem Verdacht des pensionierten Kommissars? Gibt es Angehörige oder frühere Kollegen, die Staub aufwirbeln, wenn sich ein ehemaliger Polizist von siebenundfünfzig Jahren plötzlich und unerwartet in Luft auflöst? Und wie kann ich sicher vorbeugen, daß beim Aufschneiden und Verteilen des Soufflés jeder das richtige, ihm zugedachte Ende erwischt? Der Gedanke, auf Weg vom Leben zum Tode ein wenig nachzuhelfen, schreckt mich nicht mehr. Bei der dritten Wiederholung verwandelt sich auch diese härteste Form des Schlußstrichziehens in Routine. Alles, was ich bisher tat, geschah, um meine Monika vor den Folgen ihrer Courage zu beschützen. Sie handelt und denkt erst dann an die Konsequenzen. Bei mir ist es umgekehrt. Bis jetzt ging es gut. Aber diesmal ist das Risiko höher als sonst. Der Todesfall Hopkins liegt noch nicht lange zurück. Diese Aufzeichnungen, geschrieben während meiner glücklichen Wochen mit Monika als Erinnerung und Mahnung, das einmal gewonnene Glück nie wieder aus den Händen zu geben, halte ich zu meinen Lebzeiten gut verschlossen in meinem Schreibtisch verborgen. Sollten meine Notizen je in Ihre Hände gelangen, in die Hände einer Leserin oder eines Lesers außerhalb meiner eigenen vier Wände, so wissen Sie in diesem Moment bereits, was für mich noch offen bleibt, wenn ich jetzt den Füllhalter aus der Hand lege: Ob mein Abschiedsessen ein voller Erfolg wurde oder ob ich scheiterte.
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