Höllenjäger Band 9
Dämonengezücht von Des Romero
Anto-Dschagerass wurde mir mehr denn je zum Rätsel, das sich mir i...
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Höllenjäger Band 9
Dämonengezücht von Des Romero
Anto-Dschagerass wurde mir mehr denn je zum Rätsel, das sich mir in nicht nur einer einzigen Antwort offenbaren würde. Gleichzeitig mit mir selbst war er auf Col'Shan-duur erschienen, gerettet aus einer Situati on, die uns beide den Hals hätte brechen können. Was steckte dahin ter? Welches Mysterium umgab diesen Mann, der gemeinsam mit mir in einem Atemzug dreißig Millionen Lichtjahre zurückgelegt hatte? Ab gesehen von der scheinbaren physikalischen Unmöglichkeit eines sol chen Vorgangs verschleierte Anto-Dschagerass ein Geheimnis, das uns alle - mich, die Priester und natürlich ihn selbst - den Kopf kosten konnte. Das Fressplasma - jenes stumpfsinnige Überbleibsel aus der Verpuppung des Dämons Amalnacron, das die tonale Erhebung der ir dischen Dimensionalität mit vollzogen hatte - griff nach der dunklen Zitadelle, griff sie an. Und dieser Kerl vor mir, dessen abschätziges Lächeln ich nicht einzuordnen gewusst hatte und das nun gänzlich aus seinen Zügen verschwunden war, hatte zugegeben, die Ursache des Angriffs zu sein. Ich konnte es kaum glauben! »Was soll das bedeuten: Es ist wegen dir hier?« »Sprichst du nicht meine Sprache?«, antwortete Anto-Dschagerass brüsk. Seine Augen wirkten wie Glasperlen im zerfurchten Gestein sei nes Gesichts. »Was hast du an meinen Worten nicht verstanden?« Jetzt wurde es mir aber zu bunt. »Du weißt verdammt genau, wie ich es gemeint habe! Ich hoffe, deine Erklärung für den Angriff ist ebenso gut, wie deine Arroganz ausgeprägt ist!« »Kleiner Emporkömmling!«, schmetterte sein Tiefbass. »Was glaubst du, wer du bist...?« In diesem Moment mischte sich Gon'O'locc-uur ein. »Es besteht keine Gefahr, meine lieben Freunde. Der Kernbereich ist abgeriegelt. Ihr solltet eure Energien nicht in unnützen Kraftproben vergeuden. Sucht gemeinsam nach Lösungen. Euch obliegt die Zu kunft...« »Weise wie immer«, reagierte Anto-Dschagerass gefasst. Seine anfängliche Erregung war verschwunden, ihre Grundlage nur ein flüch tiges Aufwallen widersprüchlicher Emotionen gewesen. 4
Zweimal sagte sie scharf den Namen ihres Sohnes, der jedoch hartnäckig wegguckte. Zorbac-Tan wollte die Situation entspannen, indem er sagte: »Ein ziemlich langer Name für so einen kleinen Kerl.« Er lachte trocken, konnte den tiefen Ernst dieses Laienschauspiels da mit kaum überspielen. Der Junge tat ihm leid. Aber er strahlte auch etwas aus, das die Neugier Zorbac-Tans weckte. »Er ist schon ein ganz Besonderer, unser Kleiner hier.« Imi setzte erwartungsgemäß eine fröhliche Miene auf. Ihre Schönheit erschien Zorbac-Tan jedoch plötzlich in einem anderen, nicht mehr so schmei chelhaften Licht. »Der zukünftige Mann Sikus kommt leider nicht so gut mit ihm aus. Ach, was sage ich, streiten tun sie sich und schlimme Wörter wirft er unserem Gast an den Kopf. Man stelle sich das einmal vor, wo doch der junge Herr von außerhalb extra ins Dorf kam. Aber jedes Mal dasselbe. Und wir geben uns solche Mühe, sprechen mit dem Bengel, was er denn habe und er solle sich doch höflicher verhal ten. - Meister Zorbac-Tan, egal, was du jetzt denken magst, das Wohl unserer über alles geliebten einzigen Tochter geht meinem Mann und mir über alles. Ich wage gar nicht mir vorzustellen, wenn denn ihr Zu künftiger sich dafür entschiede, sich eine andere zu nehmen - nur, weil unser Kleinster hier sich nicht zu benehmen weiß. Verstehst du unsere Lage, Meister Zorbac-Tan? Das Glück der lieben Siku wäre dahin. Tag täglich sähen wir ihr Leid - und dessen Ursache!« Die junge Mutter neigte ihr Gesicht herunter zu ihrem Sprössling, der sie keines Blickes würdigte. Imi meinte, ihn ungesehen in die Seite knuffen zu können. Zorbac-Tan war die kurze, kraftvoll ausgeführte Bewegung ihres linken Arms jedoch nicht entgangen. »Ich kann deinen Sohn mit zum Tempel nehmen, wenn dies dein Wunsch ist«, wollte der Meister nun schnell diese Farce beenden. »Das würdest du wirklich tun?« Es war fast ein Aufschrei höchsten Glücks, den Imi da von sich gab. »Ich kann dir gar nicht sagen, welche Last mir von den Schultern fällt.« »Dir ist aber schon bewusst, dass du dein Kind nicht wieder sehen wirst, Imi?« 11
Trotzdem verschlug es ihm den Atem und viel zu lange starrte Jessrinh untätig auf den hilflosen Leelocvan, der hin und her ge schubst, auf und nieder geschlagen wurde. Seine Arme und Beine baumelten wie abgestorben umher, waren sich gegenseitig im Weg und beschrieben Bewegungen, als hingen sie an dünnen Fäden, die ein Laienspieler dirigierte. Jessrinh Ola-Min'Azul stockte der Atem, als sein Wegbegleiter kei ne zehn Meter entfernt von irgendetwas zerrissen und in Einzelteilen fortgeschleudert wurde. Blutige Fleischstücke prasselten auf ihn herab, während er am Boden saß und schrie und schrie. Dann preschten die Schatten heran, diese lebendige Schwärze der Nacht. Jessrinh fühlte sie, ohne dass er etwas sah oder hörte. Ein neuerlicher Aufschrei brachte ihn auf die Füße. Er stolperte zu rück, schickte panikerfüllt einen stummen Hilferuf an das Kammerbe wusstsein und sah die mörderische Schwärze wie ein reißendes Raub tier nach sich greifen. Jessrinh fiel nach hinten, verlor seine Waffe und bemerkte den Sog an seinem Körper, die unsanften Berührungen und das metaphysi sche Grollen, das Ohren nicht hören konnten. Beim Zurückkippen zog der Mond rasend schnell seine Bahn durch Wolken und Geäst. Sein Anblick streckte die Sekundenbruchteile zu Intervallen genussvollen Friedens. Noch vor Ende des nächsten Atemzugs wurde Jessrinh OlaMin'Azul mit Stumpf und Stiel verschlungen! * Der Übergang erfolgte geräuschlos, ebenso die neuerliche Materialisa tion. Jessrinh Ola-Min'Azul stürzte zum zweiten Mal an diesem Tag aus der Siegelkammer zu Boden und blieb keuchend liegen, ohne auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, sich zu erheben. Er war sich auch gar nicht bewusst, was mit ihm geschehen war, denn eigentlich hatte er mit seinem Leben bereits abgeschlossen. 15
»Bitte, überlege genau und berichte mir, was du gesehen hast. Auch Dinge, die dir vielleicht unwichtig erscheinen.« Jessrinh Ola-Min'Azul zog die Knie an und schlang die Arme dar um. »Die Nacht ist lebendig geworden«, flüsterte er. »Wir haben nie manden gehört oder gesehen, nur dunkle Schatten, die sich aus der Schwärze formten. Nichts Greifbares. Kein Gegner, den man bekämp fen konnte. Und dieses finstere Nichts, es hat... es hat...« ... Leelocvan getötet!, ergänzte Velor Yongerheim, während Jess rinh sich die Tränen aus den Augen wischte. Es war natürlich hart für den Jungen, der während seiner Ausbildung zwar schon viel Mysteriö ses und Unheimliches erlebt hatte, allerdings noch nie in dieser ex tremen Form mit dem Tod konfrontiert worden war. Doch Yongerheim konnte auf die Befragung nicht verzichten. Einen ähnlichen Vorfall hat te es bisher nicht gegeben. Das Kammernetz war sicher. Allerdings sprach der Bericht des jungen Schülers eine andere Sprache. Wenn also eine übernatürliche Gefahr dräute, dann musste sie entlarvt und unschädlich gemacht werden. So verlangten es die Grundsätze des Ordens. Nur deshalb war er vor vielen tausend Jahren gegründet wor den. »Was weiter?«, forderte Velor Yongerheim unnachgiebig. »Etwas griff nach mir, zerrte an meinen Gliedern. Erst, als ich in Chin Soi Sans Gesicht blickte, da wusste ich, dass der Siegelgeist mich rechtzeitig transferiert hatte. Ich dachte, mein Ende wäre gekommen.« Ich weiß nicht, wo ich ansetzen soll, dachte Yongerheim. Die An
gaben sind zu vage.
»Bist du sicher, dass ihr in Abaac angekommen seid? Ich meine, habt ihr vor dem Durchgang das Ziel eindeutig fixiert?« Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass die Layshi-Pan-Schüler die nötigen In formationen für den Transport nicht klar genug umrissen hatten; das Siegelbewusstsein hätte in einem solchen Fall rein theoretisch nach eigenem Gutdünken die Koordinaten gewählt. »Der Gedankenfluss zwischen Leelocvan und mir funktionierte rei bungslos. Der Siegelgeist muss die Koordinaten richtig empfangen haben.« 18
Doch eine weitere Konsequenz zeichnete sich am Horizont seiner Schlussfolgerungen ab.
Die negativen Kräfte werden wieder aktiv. Sie höhlen unser Sys tem aus, unterwandern es. Wer weiß, wie lange schon! Jetzt greifen sie nach dem Kammernetz. Dann nach dem Orden. Und schließlich nach der ganzen Welt...! * Der Tempelraum wurde erhellt von perfekt ausgerichteten Lichtkuben. Um einen mehrere Quadratmeter großen, rechteckigen Steinquader gruppierte sich ein Dutzend Layshi-Pan, darunter Meister und Krieger. Die Stimmung war ernst und in den starren Zügen jedes einzelnen Gesichts konnte man sie ablesen. »Ich habe euch berichtet, was ich in Erfahrung gebracht habe«, brach Velor Yongerheim das betretene Schweigen. »Jetzt gilt es zu beratschlagen, wie wir der Bedrohung begegnen.« »In der Tat. Die Gefahr ist offensichtlich.« Shri Bashwar legte sei ne Hände auf den Quader und formte eine Pyramide. »Wir werden Abaac vom Netz trennen.« »Das ist nur eine Teillösung«, warf Chin Soi San ein. »Die dunkle Macht kann sich lange schon auf andere Bereiche ausgeweitet haben.« »Was also schlägst du vor?« Die dunkelhaarige Layshi-Pan lachte freudlos auf. »Den Feind aufs Korn nehmen! Suchen, umstellen, vernichten! Zwischenzeitlich müssen die infizierten Siegelkammern gereinigt werden.« »Es ist nicht gerade einfach einen Feind zu finden, der sich bisher so geschickt zu tarnen wusste.« Shri Bashwar öffnete die Handflächen und schaute Chin Soi San fragend an. »Wir berufen eine Kollektivmeditation ein«, entgegnete die Frau selbstbewusst. »Wir werden jeden Winkel der Welt und im Anschluss die Astralebenen durchkämmen. Meter für Meter. Niemand kann die sem engmaschigen Netz entkommen.« 21
Eine Siegelkammer war kein Raum, den man einfach betreten konnte wie den Versammlungssaal im Tempel oder den man über eine Treppe erreichte. Wenn man es genau betrachtete, dann war sie ein kleiner, abgeschlossener Kosmos, der nur für sich existierte. Sie lag verankert zwischen den Obertönen zweier Daseinsebenen, erlaubte das Hindurch schreiten, um große Entfernungen zu überbrücken, ermöglichte aller dings auch den Aufstieg in die nächst höhere Ebene oder den Abstieg in eine darunter liegende. Ein normaler Mensch würde jedoch eine solche Kammer nicht finden können, denn durch ihre besondere Lage entzog sie sich dem Lichtspektrum und war praktisch unsichtbar. So schien es, als würden Zorbac-Tan und Anto-Dschagerass aus dem Nichts heraus materialisieren. Nur ihrer Logensignatur hatten sie es zu verdanken, dass sie sich in die Kammer hineindrehen konnten und der Siegelgeist sie passieren ließ. Velor Yongerheim nahm die Ankömmlinge in Empfang. Anschei nend hatte er bereits geraume Zeit auf ihre Ankunft gewartet. Die Ef fekte relativ verstreichender Zeit beim Transport durch das Siegelbe wusstsein waren hinlänglich bekannt. Die Abweichungen zwischen gemessener Zeit und verstrichener Zeit waren dabei eher vernach lässigbar; die Toleranzen lagen im Bereich des Akzeptablen. Differen zen von einigen wenigen Minuten gehörten zur Tagesordnung. Was darüber hinausging, geschah höchst sporadisch und man schenkte ihm kaum Beachtung. Nie hatte jemand eine Erklärung gesucht, geschwei ge denn gefordert, warum denn über etwa gleich große Distanzen merkliche temporale Abweichungen auftraten. Für die Männer und Frauen des Ordens gehörten derartige Phänomene zum Alltag und ebenso waren sie ihnen in Fleisch und Blut übergegangen wie der Sonnenauf- und -untergang. »Du bist zurück, Meister Zorbac-Tan«, kam Yongerheim ihnen entgegen. »Und auch dein Schüler ist wohlauf.« Die Erleichterung des Layshi-Pan kam deutlich zum Tragen. »Worüber sorgtest du dich?«, erkundigte sich Zorbac-Tan. 30
»Kampf bewirkt nie etwas Gutes. Kampf ist Widerstand. Kampf er zeugt immer neuen Widerstand. Daran werdet ihr zerbrechen.« »Wenn wir nichts tun, wird es unser Untergang sein!«, brachte Zorbac-Tan im Brustton der Überzeugung hervor. »Du sprichst in Rät seln.« »Du legst so großen Wert auf den Erhalt deines physischen Selbst, dass du die wahre Natur dessen, was du wirklich bist, nicht erkennst. Mensch zu sein ist nicht das Ziel, sondern der Übergang zu etwas Grö ßerem.« »Sind wir Menschen denn wahrhaftig so wenig wert?«, wollte der Layshi-Pan-Meister schließlich wissen. Leise und schwach kamen die Worte über seine Lippen. »Alles, was ist, besitzt einen Wert. Die Schöpfung kennt keine Verschwendung. Erkenne in dem Wert jedoch auch dessen Belang. Unterscheide zwischen materieller und spiritueller Bedeutung.« »Dir ist sicher bekannt, warum all diese Männer und Frauen sich dort draußen versammelt haben«, wich Zorbac-Tan aus. »Die negati ven Kräfte holen zu einem mächtigen Schlag aus. Dem müssen wir uns stellen. Und das bedeutet Kampf.« Er untermauerte damit deutlich die Position der Layshi-Pan, ohne allerdings den Hova provozieren zu wollen. »Ihr müsst tun, was euch bestimmt ist.« Mehr die Augen denn die Stimme des obersten Hova unterstrichen dessen Traurigkeit. ZorbacTan vermochte nicht zu unterscheiden, ob es die Trauer über den Ei gensinn der Layshi-Pan war oder jene über die schwere Bürde, die das Schicksal ihnen auferlegte. »Wirst du noch da sein, wenn wir zurückkehren?« »Ich werde auf euch warten«, erwiderte der Hova zu Zorbac-Tans Überraschung. »Ich weiß, dass ich noch gebraucht werde.« Der Meister ließ es dabei bewenden. Da er sich nicht anders zu behelfen wusste, senkte er den Kopf vor dem Hova und verabschiede te sich. »Meine Gefolgsleute erwarten mich. Ich muss jetzt gehen.« 38
Der Hova nickte andeutungsweise, lächelte dabei freundschaftlich und sagte sanft: »Du brauchst dein Haupt nicht zu beugen vor deinem Bruder.« Der Layshi-Pan-Meister erwiderte das Lächeln. Doch verstanden hatte er nicht. * Die Layshi-Pan hatten sich von Venora Ghol aus in alle Himmelsrich tungen zerstreut. Velor Yongerheim und seine Begleiter passierten ohne Probleme die Siegelkammer, die sie in Ferog aus dem Netz ent ließ. Unschlüssig standen sie nebeneinander und hielten Ausschau nach irgendwelchen Auffälligkeiten. »Wenn ich wusste, wonach wir suchen, wäre mir wohler«, be merkte Chin Soi San und umfasste den Griff der Sichel, die sie am Gür tel trug. Es handelte sich nicht um eine Waffe, sondern war dazu ge dacht, sich den Weg durch dichte Vegetation zu bahnen. Daher verlieh das Werkzeug der Schwarzhaarigen auch kein spürbares Gefühl von zusätzlicher Sicherheit. Über Ferog spannte sich weiter blauer Himmel. Vereinzelt trieben Schleierwolken umher, zogen rasch über die Gruppe hinweg, angetrie ben von böigem Wind, der sich allerdings nur in der Höhe bemerkbar machte; am Boden blieb es still und ruhig. »Maoi, sieh nach dem Kristall«, verlangte Yongerheim, der bereits zehn Schritte auf der Lichtung zurückgelegt hatte und vor einer Wand aus Schlinggewächsen und Dornenranken stand. Shri Bashwar, Ennat to-Jon-Estelahaiza sowie Chin Soi San fächerten nach den Seiten aus, um das Gebiet um die Siegelkammer weiträumig zu untersuchen. »Wenn ich bloß wüsste, wonach wir suchen«, wiederholte die Kämpferin und ließ ihre Sichel wahllos durchs Unterholz mähen. »Halt einfach die Augen offen«, riet ihr Maoi von der gegenüber liegenden Seite. »Du wirst es wissen, wenn du es siehst.« »Na fein.« Chin Soi San hieb erneut und ohne Sinn durch die Schlingpflanzen, machte einen unbedachten Schritt zur Seite und trat in eine weiche Masse. 39
»Jetzt hab ich die Faxen aber dick!«, schnauzte sie lauthals. »Was ist los bei euch?«, rief Yongerheim herüber. Der Layshi-Pan tastete Zentimeter für Zentimeter über die Rinde eines Baums. An manchen Stellen verhielt seine Hand und seine Fingerkuppen schienen sich an dem Stamm festzusaugen. Chin Soi Sans überflüssige Kom mentare störten seine Konzentration. »Ach, nichts. Bin nur in einen großen Haufen rein getreten...« »Da hat sich wohl ein Mastodon verewigt«, lachte Estelahaiza und befühlte ebenfalls mit sensiblen Fingern die unterschiedlichsten Pflan zen. »Sieht ja eklig aus.« »Maoi!«, rief Velor Yongerheim und ließ für weitere Sekunden von seinem Tun ab. »Was ist jetzt mit dem Kristallstein?« »Alles in Ordnung«, antwortete er rasch, da er bereits mit anderen Dingen beschäftigt war und den Boden auf ungewöhnliche Spuren hin untersuchte. Nicht nur auf sichtbare. »Warum erhalte ich dann keine Meldung?« »Ich war abgelenkt«, entschuldigte sich Maoi. »Ich dachte, ich hätte etwas gefunden.« »Such weiter!«, kommandierte Yongerheim. In seiner Stimme schwang unterschwellige Hektik mit. »Ihr alle: sucht weiter!« Der Wind der obersten Luftschichten fand ab und zu seinen Weg zur Erde und streichelte zwischen den Bäumen hindurch die Lichtung, bildete kraftlose Wirbel und brach sich kaum spürbar an den Men schen. Die Siegelkammer, die sich als hochragender Felsblock dar stellte und nichts von ihrer eigentlichen Funktion preisgab, war stum mer Zeuge der Bemühungen des Quintetts. Es deutete nichts darauf hin, dass sie das Objekt einer Fremdmanipulation geworden war. Zu diesem Schluss kamen auch die Layshi-Pan. »Wenn ihr nichts gefunden habt«, fasste Velor Yongerheim zu sammen, »bei mir ist es dasselbe. Die Pflanzen schweigen. Ihr Reso nanzfeld trägt keine verwertbaren Informationen. Ich gehe daher da von aus, dass dieser Ort sicher ist.« Die anderen nickten. »Also machen wir weiter mit unserer Rundreise«, schlug Bashwar vor, was bereits beschlossene Sache war. 40
»Unser nächstes Ziel ist Korronth«, gab Yongerheim bekannt, da mit seine Mitstreiter sich darauf fixieren konnten. Vor dem Felsen auf gereiht warf Yongerheim noch einen letzten Blick auf den grün leuch tenden Kristallstein. Der Siegelgeist fragte die Signatur ab und öffnete den zwischen den Dimensionsebenen verankerten Zugang. Dieser drehte sich förmlich aus dem Nichts heraus und schuf eine Passage zum gewünschten Bestimmungsort. Die Layshi-Pan traten nacheinander hindurch und waren wenige Sekunden darauf verschwunden. * »Terekk ist ein Paradies«, schwärmte Fyn. Sie hatte nach dem Austritt aus der Siegelkammer nicht lange gewartet und war gleich zu den Klippen gelaufen, von denen aus sie einen herrlichen Blick aufs Meer hatte. Golden sank die Sonne hinter den Horizont und tauchte die Um gebung in warmes Licht. »Und damit das so bleibt, sind wir hier«, nahm Meister PagshaTan der löwenmähnigen Ordensschwester sogleich jegliche Illusion, ihren Tagträumereien nachhängen zu können. »Du denkst nur an Kampf. Denn darauf wird es früher oder später hinauslaufen«, erwiderte sie. »Unsere Aufgabe ist es, den Kampf zu verhindern, Fyn. Es mag sein, dass dazu kleinere Opfer vonnöten sind.« »Kleine Opfer. Große Opfer. Wer will das beurteilen? Jeder Tote ist einer zu viel.« Natürlich, gab der Meister ihr in Gedanken Recht. Liebe süße Fyn,
du wurdest nicht zur Kämpferin geboren, doch du bist eine Layshi-Pan vom Kopf bis zu den Sohlen. »Lassen wir es dabei bewenden«, sagte er stattdessen. Und an die Gruppe gerichtet fuhr er fort: »Fangt mit eurer Arbeit an, Getreue. Boden, Luft und Wasser gilt es zu untersuchen. Befragt die Pflanzen und redet mit den Steinen. Vergesst nicht die Insekten. Wenn etwas vorgefallen ist, dann können nur sie es uns berichten.« 41
Für Fyn war bereits klar, dass sie zum Strand hinuntergehen wür de. Sie setzte zum Sprung über die Klippe an, schoss pfeilschnell dar über hinweg, nur um im nächsten Moment sanft wie ein Blatt nach unten zu sinken. Es war, als hätte sie jemand mitten in ihrer blitzarti gen Bewegung - mit der sie wahrscheinlich weit übers Ziel hinaus geschossen wäre - einfach aus der Luft gepflückt und in seichteres Fahrwasser gelotst. Der sichtbare Effekt dieser Darbietung widersprach allem, was ein Mensch zu vollbringen imstande war. »Übertreibs nicht, Fyn«, schickte ihr der muskulöse Jukotur hin terher. »Nachher probiert das noch einer aus, der nicht über deine Konditionierung verfügt.« Fyn konnte die Worte während ihres gebremsten Falls kaum ver stehen und winkte mit der rechten Hand lässig ab. Als sie den Strand erreichte und locker abfederte, da war sie von oberhalb der Klippe nur noch als daumennagelgroß erkennbar. Jukotur ging an Ort und Stelle auf die Knie, streckte sich der Län ge nach und hielt sich lediglich auf den Finger- und Zehenspitzen. Die Informationen flossen wie ein nicht enden wollender Strom durch sei nen Körper. Die Datenflut war so gewaltig, dass es ihm kaum mehr möglich war, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Jede Zelle in seinem Innern schien mit der Bearbeitung beschäftigt, ohne andererseits die biologische Grundversorgung zu vernachlässigen. Trotzdem schwächte die Prozedur den stämmigen Jukotur und er konnte seinen Leib nicht länger in der Schwebe halten und sackte keu chend auf den steinigen Grund. Valecc, Shita-Shikatayn sowie Meister Pagsha-Tan bekamen davon nichts mit. Die drei waren ebenfalls an unterschiedlichen Ecken des kleinen Plateaus mit ihren Untersuchungen beschäftigt. Pagsha-Tan hörte man bei geschlossenen Augen fremdartige Silben murmeln, wäh rend seine Finger unendlich langsam durch die Furchen des schroffen Felsgesteins glitten. Immer höher tasteten sie sich, so dass der Meister wahrhaftig den Fuß ansetzte, um an der Wand empor zu klettern. Er bekam gar nicht richtig mit, was er da tat und hatte sich eingeschlos sen in seine Gedanken. 42
Layshi-Pan-Schüler Valecc - gerade vierzehn Lenze jung - erwisch te unter Geröll einen Tausendfüßler, der auch sogleich über seine Hand krabbelte und sich um den Unterarm wickelte. Dort verharrte das knapp halbmetergroße Insekt, als stünde es in stiller Verbindung mit dem Jungen. Und der Eindruck trog tatsächlich nicht: Valecc verstand, was der Tausendfüßler sagte. Der junge Schüler hatte sich in die Git ternetzstruktur dieser Spezies eingeklinkt, die natürlicher Bestandteil des morphogenetischen Feldes war. Alle Informationen von allem, was lebte und allem, was war und einst gewesen war fand sich dort wie der. Das lebende Gedächtnis des Planeten Erde versorgte den, der darauf Zugriff hatte, mit sämtlichen Informationen, die er benötigte. Es gab nicht eine unbedeutend scheinende Kleinigkeit, die in diesem gewaltigen Erinnerungsspeicher verloren ging. Shita-Shikatayn zog es vor, die sphärischen Strömungen des Win des zu befragen. Auch sie enthielten wertvolle Angaben und Mitteilun gen von überall aus der Welt. Die kleinwüchsige Frau mit den asiati schen Zügen stieß bei ihren Untersuchungen allerdings auf dieselben Schwierigkeiten wie Jukotur. Die Masse der herangetragenen Botschaf ten drohte sie zu überwältigen. Sie musste bereits im Vorfeld filtern und damit unter Umständen das Risiko eingehen, die eine oder andere Information von wirklicher Bedeutung auszulassen. Es dauerte unterschiedlich lange, bis jeder seinen Aufgabenbe reich abgearbeitet hatte. Valecc schien sogar in dem Tausendfüßler einen dicken Freund gefunden zu haben, denn der krabbelte unweiger lich sofort auf den Unterarm des Jungen zurück, wenn dieser ihn auf dem Boden abgesetzt hatte. »Seid ihr so weit?«, erkundigte sich Pagsha-Tan schnaufend, als er den letzten Meter von der Felsenwand wieder herabkam, die er zwei Mannslängen hoch erklommen hatte. »Wo ist Fyn?« Gemächlich schritt der Meister auf den Abhang zu und schaute zum Strand und aufs Meer. Auf den ersten Blick konnte er die Frau nicht finden. Er kniff die Augen zusammen und sah schließlich eine Bewegung im Wasser. Fyn stand bis auf Brusthöhe in der sachten Brandung. 43
»Ich hätte nie geglaubt, dass es mal einen Zwischenfall wie diesen geben könnte.« Ben-Imam hatte sich ein Stück aus dem Lichtkegel zurückgezogen, während Godun'O an der Brüstung des Aussichtsturms lehnte und versuchte, irgendetwas in der stockdunklen Umgebung zu erkennen. »Aber du musstest damit rechnen«, entgegnete Godun'O trocken. »Du bist ein Layshi-Pan.« »Sicher, ja, schon klar. Ein Layshi-Pan ist etwas Ehrenwertes und ein nicht zu unterschätzender Kämpfer. Aber diese Vorstellung hätte doch bereits gereicht. Ich meine, müssen wir nun wirklich unsere Fä higkeiten unter Beweis stellen?« Godun'O grinste und drehte sich zu Ben-Imam herum. »Dir reicht der Odem des stolzen Recken, nicht wahr? Du brauchst einfach nur die Anerkennung und dass die Leute sich hinter deinem Rücken ehrfürch tig flüsternd unterhalten.« »Was ist so verwerflich daran?« Ben-Imam trat einen halben Schritt vor. Sein fein geschnittenes Gesicht mit der blassen weichen Haut wurde direkt angestrahlt. »Haben wir denn nicht ein wenig Aner kennung verdient? Sieh die Mühen und Strapazen, die wir Tag für Tag auf uns nehmen. Irgendwann müssen sich diese Entbehrungen doch auszahlen. Und wenn es schon nichts von materiellem Wert gibt, dann doch wenigstens Ruhm und Respekt.« Godun'O hatte den Kameraden ausreden lassen, ohne ihn zu un terbrechen. Als er zu einer Antwort ansetzte, wurde seine Miene sehr ernst. »Der Status eines Layshi-Pan dient nicht der Befriedigung deiner Eitelkeit. Haben dich die Meister nicht Selbstlosigkeit gelehrt? Hat die Meditation dein Gemüt nicht bannen können, dass es profaner Erfül lung hinterher jagt?« Ben-Imam wurde nachdenklich. Er war nicht so oberflächlich, wie er es Augenblicke zuvor noch zur Schau getragen hatte. Vielleicht hat te er lediglich einem spontanen Impuls gehorcht, der unter normalen Umständen niemals die Gelegenheit gehabt hätte, ausgesprochen zu werden. 49
»Das... war nur so eine Idee«, sagte er bekümmert. »Ich habe meinen Mund nicht halten können.« »Der Gedanke hätte dich verraten. Wenn nicht heute, dann zu ei nem anderen Zeitpunkt.« »Ich habe nicht überlegt, bevor ich zu reden anfing. Ich bin mir unsicher, wie ich mich zu verhalten habe. Möglich, dass es Furcht vor dem Unbekannten ist...« »Furcht ist nichts Frevelhaftes. Sie ist einzig hinderlich. Die Medi tation hilft uns, die Furcht...« Godun'O legte den Kopf schief und lauschte angestrengt in alle Richtungen. »Was ist? Was...« »Sssscht!« Godun'O stieß einen Zischlaut aus und erhob den Zei gefinger. »Ich habe ein Geräusch gehört!« Alarmiert suchte Ben-Imam die Seite seines Gefährten auf. Hek tisch blickte er von links nach rechts und von oben nach unten. In sei nen Ohren hatte er ein leichtes Rauschen; die Aufregung pumpte das Blut in seinen Kopf. »Ich kann nichts sehen!« Es war ein geflüsterter Schrei. »Himmel noch mal! Sei bitte ruhig!« Godun'O sah Ben-Imam scharf an, der sich daraufhin abwandte und mit zu Schlitzen verengten Augen die Nacht durchkämmte. »Es kommt nicht von draußen«, konstatierte Godun'O. »Was kommt nicht von draußen...?« »Dieses... Schleifen. Als würde etwas Schweres über den Boden gezogen. Etwas Schweres und... Nasses...« »Das kannst du alles hören?«, fragte Ben-Imam entgeistert und sein blasses Gesicht wurde noch eine Spur bleicher. »Wenn du dich ein wenig leiser verhalten würdest, könntest du es ebenfalls hören!« Godun'O stieß Luft aus. »Die Laute kommen aus dem Innern des Tempels.« »Nicht weit von hier steht doch der nächste Posten. Er müsste et was mitbekommen haben.« Ben-Imam schluckte gequält, als er sich seinen eigenen Reim darauf machte. »Es sei denn, der Wachposten wäre nicht mehr am Leben...!« 50
»Die erste Regel jetzt lautet: Nicht den Kopf verlieren!« Die Hände Godun'Os formten ein Mudra, das er von sich weg in die Dunkelheit des Tempelinnern richtete. »Unterstütze mich und bilde das entspre chende Angriffsmudra aus.« »Wenn sich nun jemand einen Scherz mit uns erlaubt...« »Mir ist nicht nach Scherzen zumute! Das wird jeder spüren, der mir zu nahe kommt! - Und jetzt hilf mir bitte!« Gebannt starrten die beiden Männer in die vor ihnen liegende Düs ternis. Je länger sie hineinsahen, desto mehr Details konnten sie er kennen. Konturen wurden sichtbar, Sitzmöbel, ein Schrank. »Da ist nichts!«, fauchte Ben-Imam gereizt, doch Godun'O ließ sich nicht ablenken. Ein Glucksen ertönte, das diesmal allerdings nur von Ben-Imam wahrgenommen wurde. Er wollte seinen Kameraden anstoßen, doch wie unter Zwang hob er den Kopf - und stierte in ein grellgelbes Au genpaar. Etwas... klebte zwei Meter über ihm an der Zinne. Etwas, das eine zähe Flüssigkeit absonderte. Aus Ben-Imams Kehle löste sich ein krächzendes Röcheln. Seine Stimme Wich der Beklemmung des Anblicks. Die Hände zitterten und das Mudra verlor seine Form. Es war der Moment, da Godun'O das Verhalten seines Partners bemerkte, verärgert eine Zurechtweisung formulieren wollte und plötz lich wie magisch von diesen hell strahlenden Augen angezogen wurde. Auch sein Schrei erstickte noch vor der Mundöffnung. Und dann ließ sich das schwere, feuchte Etwas einfach auf die Layshi-Pan herabfallen! * Meister Wo-Tan schrak auf. Er war über einem Stapel Bücher zusam mengesunken und in leichten Schlaf gefallen. Was immer ihn dann so plötzlich aus dem Schlaf gerissen hatte, es war derart intensiv, dass er die Unruhe auch weiterhin im Wachzustand nicht abschütteln konnte. 51
Ich schweifte ab, versuchte mich auf das Wesentliche zurückzube sinnen und kam dann beiläufig irgendwie zu dem Schluss, AntoDschagerass wäre doch nicht der arrogante Wichtigtuer, als den ich ihn bei unserer ersten Begegnung eingeschätzt hatte. Aber noch eine andere Sache hatte mich aus der bildreichen Dar stellung Anto-Dschagerass' wegblenden lassen. Und diese stand in direktem Zusammenhang mit seiner Person. Es ging um das Fressplasma! Ich hatte die gegenwärtige Gefahr, die durch seinen plötzlichen Angriff auf Col'Shan-duur entstanden war, zwar zurückgedrängt, doch in meinem Unterbewusstsein hatte sie einen Stammplatz. Genau von da aus meldeten sich auch wieder die Alarmsirenen. Ich konnte nicht beschreiben, welchen Gesichtsausdruck ich machte - oder vielleicht sogar eine Mischung aus verschiedenen Ge mütszuständen, die ein Schauspieler bei aller Erfahrung und Übung niemals zustande gebracht hätte und die wirklich und wahrhaftig nur eine Reflexion tatsächlich Erlebten sein konnten - doch AntoDschagerass hatte offensichtlich keine Probleme damit, in ihm zu le sen. »Sei ohne Sorge, Richard. Gon'O'locc-uur bietet uns größtmögli chen Schutz.« »Die Frage ist«, gab ich eine spontane Erwiderung, »ob größt möglicher Schutz ausreichend ist für uns. Außerdem wüsste ich gerne, was die Priester so anstellen. Vielleicht sind sie in akuter Gefahr...!« »Gon'O'locc-uur wacht über Col'Shan-duur. Ihm entgeht nichts...« Der Höllenjäger aus der Post-Exon-Zeit sah mit einem Mal nachdenk lich aus. Mir kam der Gedanke, dass er seine Lobeshymnen über den Schrein wohl ein wenig verfrüht losgelassen hatte. Schließlich konnte er unmöglich wissen, in welchem Zustand sich das Gehirn der ›dunklen Zitadelle‹ befand. »Du kennst ihn gut, nicht wahr?« Ich blickte Anto-Dschagerass prüfend an. Er nickte. »Ja, in den alten Tagen der Layshi-Pan...« Er wollte noch etwas hinzufügen, behielt jedoch den Rest des Satzes für sich. 56
Seine Unentschlossenheit setzte ihm zu. Er hatte sich fest vorge nommen, das Problem der Siegelkammern über die Weißlichtspirale in Augenschein zu nehmen. Der Nutzen der Aktion lag klar auf der Hand und würde neue Möglichkeiten schaffen, der Manipulation entge genzuwirken. Gleichzeitig kamen dem Layshi-Pan-Kämpfer aber auch Zweifel an seinem gewagten Vorhaben, da ein durchschlagender Erfolg nur theoretischer Natur war und er des Weiteren unter Umständen sein Leben verlieren konnte. Gebannt starrte er auf das wie abgeschnitten wirkende Ende des Stollens, als könnte sein brennender Blick es durchdringen, in den Raum einstürmen und entgegen aller Regeln und Gesetze sehen, was ansonsten nur durch die Trennung von Geist und Körper zu sehen war. Nein! Entschlossen riss er sich los und stürmte den matt ausge leuchteten Gang entlang in Richtung des Tempels. Wenn seine Kame raden sich in Not befanden, dann galt es, jetzt zu helfen und nicht irgendwann. Keuchend erreichte er den Ausgang und nur für einen unscheinbar kurzen Moment kam ihm der Verdacht, dass seine Kurzatmigkeit nicht in erster Linie auf die physische Belastung zurückzuführen war, son dern auf die schlechte und vor allem dünne Luft in dem Stollen. Diese Überlegung fortzuführen und daraus eine Störung des Belüftungssys tems abzuleiten - so viel Zeit ließ ihm sein Tatendrang nicht mehr. Denn das Erste, worauf er stieß, war ein am Boden liegender Wächter, dessen Körper zerfressen war wie von stark ätzenden Flüssigkeiten. Um den Toten herum fanden sich überall Spuren einer grünlich schwarzen Substanz. Und da erhaschte Yongerheim noch einen flüch tigen Blick auf eine schattengleiche Gestalt, die sich ins Dunkel drückte und hinter einem gemauerten Rundbogen verschwand. Hastig setzte er nach, legte sich sekundenschnell eine Angriffsstra tegie zurecht, erreichte die Arkade, sprang herum und... ... stieß einen Entsetzensschrei aus! * 63
Schüler nun darstellte, im Begriff war, ihn nicht nur kampfunfähig zu machen, sondern vollkommen zu vernichten. Zorbac-Tan sah auf die Stiefelspitzen, die unmittelbar vor ihm er schienen. Er konnte sich die Mühe sparen, den Kopf zu heben und in dieses gemeingefährliche Antlitz zu schauen, das sowieso keine emoti onale Überraschung mehr für ihn bereithielt. Doch dann stutzte der Layshi-Pan. Eine unwiderstehliche Kraft hob ihn vom Boden an, ließ ihn hoch schweben, als wäre er gewichtslos. Die Aufwärtsbewegung endete, als sich die Blicke von Schüler und Meister kreuzten. »Du bist schwach, Zorbac-Tan.« Es klang verächtlich, doch diese Spitze glitt an dem Angesprochenen ab, der angestrengt überlegte, wie Anto-Dschagerass beizukommen war. »Hast du nicht die Stimmen gehört, Meister? Hast du nicht den Gesang vernommen?« Keine Spur mehr von Boshaftigkeit und Sadis mus, eher ein flehentliches Bitten um Erkenntnis und Zustimmung.
Welche Teufelei brütet dieses Wesen denn noch aus?
»Ja, ich höre es auch«, ging Zorbac-Tan zum Schein auf die Fra gen ein. Er fühlte sich unsagbar hilflos, wie er an unsichtbaren Fäden im freien Raum hing. Anto-Dschagerass' Miene wollte sich erhellen, doch auf der Stelle zogen dort finstere Gewitterwolken auf, aus denen der Zorn gleich Blitzlanzen hervorschnellte. »Du lügst!«, schrie er seinen Lehrmeister an und schleuderte ihn mit einem wütenden Gedankenbefehl fort, als wäre er ein lästiges In sekt. Buchstäblich im letzten Sekundenbruchteil gelang es Zorbac-Tan eine Pufferzone zu errichten, die seinen Aufschlag an die Wand abfing. Aus mehr als anderthalb Metern Höhe fiel er wie ein Stein auf die Bo denkacheln. Sein Röcheln und das Pfeifen der Lungenflügel machten es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Und schon erwischte ihn ein dumpfer Stoß im Rücken, gerade als er es geschafft hatte, auf die Knie zu kommen. Hart prallte er ungebremst gegen die Wand, schlug sich die Nase auf, wollte sich kraftlos nach hinten fallen lassen und musste erkennen, dass sein teuflischer Schüler auch das nicht 65
mehr zuließ. Dieselbe Kraft, die ihn hatte schweben lassen, hielt nun seinen Leib in der Waagerechten, stabilisierte ihn, um im Nachhinein irgendetwas mit ihm anzustellen, was dann wohl sein Ende bedeuten würde. Die Ungewissheit brannte in jeder Pore Zorbac-Tans, zumal er seinem Gegner den Rücken zudrehte und keine Chance hatte, sich zu ihm umzuwenden. »Was hast du dir dabei gedacht, alter Mann?«, fragte AntoDschagerass höhnisch, obwohl unterschwelliges Bedauern herauszuhö ren war. »Glaubtest du, mich so leicht täuschen zu können? Glaubtest du, Amalnacron betrügen zu können, um damit dein kümmerliches, wertloses Leben zu retten?« Zorbac-Tan fühlte den Druck am Oberkörper und den Beinen, wie sie mit Gewalt zusammengeführt werden sollten, um sein Rückgrat wie morsches Holz zu zerbrechen. »Amalnacron ist ein verstandloser Handlanger!«, brachte der Meister unter Schmerzen hervor. Anto-Dschagerass lachte überheblich. »Ihn kann dein Spott nicht treffen«, belehrte er seinen Gefange nen. »Doch er spricht durch mich. Und ich bin durchaus empfänglich für Provokationen...« Eine unscheinbare Handbewegung Anto-Dschagerass' ließ ZorbacTan aufbrüllen. Seine Rückenwirbel knackten, als das Rückgrat immer weiter unnatürlich durchgebogen wurde. Nicht mehr lange und der körperliche Schaden würde nicht mehr zu heilen sein. »Was willst du?«, krächzte Zorbac-Tan. Speichel lief über seine Lippen und er musste husten. »Welche Bedingungen stellst du?« Viel leicht gelang es ihm, seinen Schüler in ein Gespräch zu verstricken. Jede Sekunde, die er herausschinden konnte, zählte. Wenn es eine Möglichkeit gab, mit heiler Haut aus der Sache herauszukommen, galt es, diese bedingungslos zu nutzen. »Bedingungen?«, stutzte Anto-Dschagerass. »Abgesehen davon, dass ihr seine Bedingungen gar nicht akzeptieren könntet, würde eine solche Forderung doch bedeuten, dass ihr etwas besitzt, das ihm lieb und teuer ist...« Der Druck um Meister Zorbac-Tan lockerte sich ge ringfügig, als Anto-Dschagerass ganz nahe an ihn herantrat, in die Ho 66
cke ging und seine Lippen an das Ohr des Layshi-Pan führte und ihm zuflüsterte: »Das ist aber nicht der Fall. Amalnacron kann und wird sich alles nehmen, was er haben möchte. Wer ihm dabei im Wege steht, der wird verlöschen wie eine Kerze im Zugwind.« Zorbac-Tan war klar, was die Stunde geschlagen hatte. Jahrtau sende hatte Amalnacron im Verborgenen zugebracht, um für den alles vernichtenden Gegenschlag gewappnet zu sein. Er selbst würde eines der ersten Opfer dieser unbegreiflichen Bestie werden, niedergestreckt von dem eigenen Schüler, der momentan nicht mehr war, als eine willfährige Marionette in den Fängen eines virtuosen Puppenspielers. Mit eisigem Grausen dachte er daran, dass Venora Ghol wahrscheinlich gerade infiltriert wurde, um die Hochburg des Layshi-Pan-Ordens mit einem Schlag auszuradieren! * Mitten in der Vorwärtsbewegung stoppte Velor Yongerheim, als wäre er gegen eine Wand gelaufen, torkelte bedenklich und balancierte das Ungleichgewicht mit dem rechten Fuß wieder aus. Sein eigener Schrei hallte ihm noch in den Ohren und was seine Augen ihm zeigten war dazu angetan, einen gewöhnlichen Menschen an die Grenzen zum Wahnsinn zu treiben. Unzählige grell leuchtende Augenpaare stierten ihn aus der matt hellen Düsternis des Bogengangs an. Einige ruckten erst in seine Rich tung, als sein Schreckensschrei aufgeklungen war und wieder andere mochten ihn beobachten, ohne dass er sie sehen konnte. Ein tiefes Brummen lag in der Luft und schien sich aus den Kehlen jener Wesen zu formen und stets zu erneuern, zu denen auch diese furchtbaren Augen gehörten. Die Falle schnappt zu!, dachte der Layshi-Pan bitter, um in dersel ben Sekunde einen Konterschlag einzuleiten. Die Kombination aus Fin germudras und Lautfolgen erzeugte einen unsichtbaren Blitz, der in mitten der sich windenden und transformierenden Gestalten einschlug. Schwarzes Protoplasma spritzte Yongerheim entgegen, nahm ihm die Sicht und ließ ihn rücklings stolpern. Ein durchdringendes Fiepen be 67
schleunigte seine Anstalten, sich den Schleim aus dem Gesicht und den Augen zu wischen. Instinktiv rollte er zur Seite und hörte gleich neben sich einen feuchtnassen Aufschlag, gefolgt von einem züngelnden Zischen und dem Anschwellen des allgegenwärtigen Brummens. Als er die Lider wieder öffnen konnte, sah er sofort die Kreaturen, die sich an der Runddecke tummelten und an den Arkadensäulen zu ihm herunter krochen, wobei sie hässliche Schmatzgeräusche, Schlur fen und Glucksen von sich gaben. Das wird knapp!, drängte er sich selbst zur Eile, wollte dem infer nalischen Gegner die Arme entgegenstrecken und ihn mit einer mäch tigen Symbolfigur zurück in die Hölle schicken - doch seine Arme und Hände waren wie festgewachsen! Ausgestreckt lag der Kämpfer am Boden, die Unterarme von plasmatischen Schlingen gefesselt und über ihm furchterregende Geschöpfe, deren Gier nach Menschenleibern schier unerschöpflich war. Beherzt schickte Yongerheim einen Zornesaufschrei los, warf die Beine über den Kopf und setzte aus dem Liegen eine kraftvolle Rück wärtsrolle an, die seine Arme gewaltsam und unter scheußlichem Kna cken der Umklammerung entrissen. Der Schmerz zauberte blinkende Lichtpunkte in seine Wahrnehmung, während er mit den tauben Müh lenflügeln, die seine Arme nun waren, blindlings um sich schlug. Schon zerrte es an seinen Füßen, spürte er den Widerstand im Rücken und das Reißen von überall an seiner Kleidung. Velors Sinne erlaubten ihm noch keinen kontrollierten Überblick der Situation; er konnte lediglich durch unberechenbare Aktionen den Versuch unternehmen, die An greifer von sich abzuschütteln und sich einen kleinen Freiraum zu ver schaffen. Angesichts der Zahl seiner Feinde ein wahrhaft unmögliches Vor haben. Doch der Wille zum Kämpfen war ungebrochen in diesem Mann und als er ausgezehrt in die Knie ging, sich Schmerz und Taubheit die Waage hielten und trotzdem seine Hände und Arme nicht zu gebrau chen waren, da glomm der Funken des Widerstands noch einmal un glaublich hell in ihm auf - um im darauf folgenden Moment unerbittlich erstickt zu werden. Selbst er musste voller Verzweiflung erkennen, dass er verloren hatte. 68
»Dort vorne ist er!«, ertönte der Ruf ganz in der Nähe, gefolgt vom Stampfen schwerer Stiefel. »Zu mir! Die Brut muss sterben!« Sechs Lichtkuben flammten auf und tauchten die wimmelnden Plasmawesen in unnachgiebigen Schein. Über sie ergoss sich ohne Warnung die Sturmflut zornrasender Layshi-Pan. Acht von ihnen ent fesselten aus unterschiedlichen Richtungen ein Inferno zersprengter Protomasse. Yongerheim wurde beiseite gezerrt und hinter dem Schutzwall abgelegt, den seine Ordensgenossen bildeten. Die Mudraat tacken nahmen an Heftigkeit zu. Die Layshi-Pan stimmten ein regel rechtes Angriffszeremoniell an, waren überdurchschnittlich gut aufein ander abgestimmt und glichen ihre Offensivhandlungen untereinander ab oder ergänzten sie zu einem noch machtvolleren Ganzen. Die De ckung der Kämpfer war undurchdringlich. Jede Höllenkreatur, die ei nen Schwachpunkt in der Abwehr zu erkennen glaubte und ein schein bar wehrloses Opfer vor sich sah, wurde von einem aufmerksamen Gefährten gesichtet und erbarmungslos zerfetzt. Die sich teilweise ü berlappenden Schallattacken der Layshi-Pan ließen kaum noch schwar ze Aschereste von den widerlichen Antagonisten zurück. Velor Yongerheim erlebte den Kampf in beinahe völliger Abwesen heit. Er hielt sich die dumpf vibrierenden Handgelenke, obwohl kaum Gefühl in seinen Fingern war. Seine brachiale Lossprengung der Plas mafesseln hatte gewirkt wie Schmiedehämmer, die auf seine Un terarme geschmettert worden waren. Es würde Stunden dauern, bis er sich davon erholt hatte. »Geht es dir gut?«, hörte er die Stimme von weit, weit weg. Je mand rüttelte ihn an der Schulter. »Kannst du aufstehen?« »Habt... ihr das Pack besiegt?«, fragte Yongerheim stattdessen. »Dieses hier - ja! Doch da sind noch mehr. Bleib bitte in unserer Nähe, auch wenn du nicht kämpfen kannst. Keiner von uns kann im Augenblick sagen, wo in Venora Ghol es sicher ist.« Erschöpft öffnete Velor die Augen und blickte in das verschwitzte Gesicht von Shri Bashwar. »Ich komme mit euch! Helft mir hoch!« Bashwar winkte Jon-Estelahaiza zu sich. Der junge Layshi-Pan hat te eine dunkle Schicht verkrusteten Plasmas auf seiner Kleidung. 69
»Stütz dich auf mich«, bot sich Ennatto-Jon-Estelahaiza an. »Dann räuchern wir die letzten Nistplätze der Brut aus!« Stockend noch floss die Energie durch Velor Yongerheims Venen. Er warf einen Blick zurück auf das Schlachtfeld und Tränen schossen hoch, als er zwischen den verkohlten Schlackeklumpen von Säure zer fressene menschliche Gliedmaßen und Torsostücke ausmachte. Die Wut wollte gären bis zum Überschäumen, doch die Vernunft gebot ihr Einhalt. Meine Zeit wird kommen, sprach er ein stilles Gelübde. Wenn es
so weit ist, dann bin ich bereit...
* »Aaahhh! Herr! Nein!!!« Zorbac-Tan schrak zusammen unter dem gepeinigten Aufschrei seines Schülers. Immer noch wandte er Anto-Dschagerass den Rücken zu, doch war es deutlich spürbar, dass die mentale Zwinge, die den Meister hielt, ihren Druck verringerte. »Ich... ich werde ihn töten! Auf der Stelle!« Anto-Dschagerass wand sich wie unter Fausthieben. Sein Kopf ruckte von einer Seite zur anderen, während sein Körper mechanische Zuckungen vollführte. Auch wenn der Layshi-Pan-Meister es nicht sehen konnte, so ahn te er doch den Konflikt. Amalnacrons Werkzeug wurde von seinem Herrn vehement aufgestachelt. Sicher ging es dem Dämon aus der Vorzeit der Erdgeschichte nicht schnell genug und er ging daran, mit physischer und psychischer Folter seine Mordmarionette zu erhöhter Effektivität anzutreiben. Damit war natürlich nichts anderes gemeint als seine, Zorbac-Tans, Hinrichtung! Meine Kräfte sammeln sich!, stellte der Meister fest und gab sich für einen Moment dem belebenden Strom hin, der seinen geschunde nen Körper durchfloss und gleichzeitig andeutete, dass die Umklamme rung schwächerund schwächer wurde, je mehr Druck Amalnacron auf Anto-Dschagerass ausübte. 70
Das kann jetzt meine Rettung sein! Ich brauche nur noch ein klein wenig Zeit...
»Ich werde dich nun töten!«, krächzte Anto-Dschagerass, doch seinen Worten folgten keine Taten. Die stählerne Klammer um ZorbacTans Körper war kaum noch spürbar.
... ein klein wenig Zeit...
Der junge Layshi-Pan ächzte, jedoch wusste Zorbac-Tan genau, dass Amalnacron ihm nur oberflächlich zugesetzt hatte. Diese unbe greifliche Kreatur würde einen derart starken Trumpf nicht leichtfertig aus der Hand geben und Anto-Dschagerass' jugendlicher Körper kom pensierte den erlittenen Schmerz naturgemäß recht schnell.
Jetzt!
Zorbac-Tan brach die magische Spange beinahe spielerisch leicht auf. Er wirbelte um die eigene Achse, blockte gedankenschnell das Angriffsmudra seines Schülers und schoss einen Schallstoß auf ihn ab, der Anto-Dschagerass von den Beinen fegte. Ohne Unterlass setzte der Meister nach, dass es ihn in seinem Innern schmerzte, das Leid seines Zöglings mit ansehen zu müssen, der sich schreiend am Boden wälzte und von Zorbac-Tans Mental- und Magieattacken durchgeschüttelt wurde. »Das Böse soll aus dir weichen, Anto-Dschagerass!«, rief der Meis ter ihm zu. »Aber du musst mir dabei helfen! Bekämpfe es gemeinsam mit mir! Reiße dir selbst den Stachel der Finsternis aus dem Fleisch!« »Neeiiiin!!!« Anto-Dschagerass wehrte sich verbissen, doch ließ Zorbac-Tan es nicht zu, dass er seine Energien gegen ihn ausrichtete. Die Angriffswelle des Alten rollte stets aufs Neue über seinen Schüler hinweg und Zorbac-Tan mahnte sich selbst zur Vorsicht, wollte er den sich wehrlos Windenden nicht im Eifer des Gefechts schwer verletzen oder gar töten.
Es ist genug! Mehr kann er nicht verkraften.
Erschöpft ließ Zorbac-Tan die Arme hängen. Die Stiche in seiner Brust und die verrenkten Wirbel seines Rückgrats meldeten sich fast gleichzeitig zurück. Der Alte sank zu Boden. Zittrig stützten sich seine Handflächen auf den Kacheln ab. »Stirb, du greiser Narr!« 71
Anto-Dschagerass lag immer noch auf dem Rücken, hatte aller dings den Oberkörper leicht erhoben und die Hände spitz angewinkelt vorgestreckt; Daumen und Zeigefinger bildeten eine Schlinge.
Himmel! Er hat sich tot gestellt und ich habe es nicht bemerkt! Zorbac-Tan wurde wie von einem Rammbock erwischt. Es krachte vernehmlich, als sein Körper unter wegplatzendem Gestein an die Wand schlug. Zweimal noch wollte ihn diese Ramme weiter in den Stein treiben, quetschte dabei seinen Leib zusammen und brach jene Knochen, die den ersten Aufschlag überstanden hatten. Ich habe versagt!, wehte der Gedanke durch Zorbac-Tans Be wusstsein. Hoffentlich ist Venora Ghol vorbereitet... Blut lief über die Lippen des Meisters, als er an dem rauen Gestein herabrutschte, den Kopf zur Seite wandte, um in das Gesicht seines Mörders zu schauen. »Verrate nicht die Allianz«, keuchte er. »Zerstöre nicht alles, was Hunderte Generationen vor dir aufgebaut haben.« Anto-Dschagerass stand stumm da. Er spreizte die Arme ab, führ te sie vor der Brust zusammen und war im Begriff, eine neue Fingerfi gur zu formen. Es würde die letzte sein und sie sollte seinem Meister den Todesstoß versetzen. »Dein neuer Herr kennt keine Freundschaft, er kennt keinen Dank...«, redete Zorbac-Tan weiter, doch das Sprechen strengte ihn zu sehr an und so schickte er seinem Schüler seine Gedanken.
Wir sind deine wahren Freunde! Wir kennen keine Strafe und Fol ter! Du wirst so akzeptiert, wie du bist! Halte zu uns und hilf uns! Flackerte in Anto-Dschagerass' Miene ein Funken der Einsicht auf?
Erkenne das Böse in dir, erkenne die wahre Natur deines neuen Herrn! Er benutzt dich nur! Und wenn er seinen Diener nicht mehr gebrauchen kann, wird er ihn ohne Reue vernichten! Anto-Dschagerass' Finger wurden unsicher, zitterten. Die Stimme seines Herrn war nicht mehr stark in ihm, zog sich aus einem unerfind lichen Grund zurück und ließ breiten Raum für die Worte des alten Mannes, der mehr tot als lebendig am Boden kauerte. 72
Besinne dich auf dich selbst und deine Freiheit zu entscheiden! Lasse dir nicht das Letzte nehmen, was deinen Geist und dein Menschsein auszeichnet! Zorbac-Tan schwanden die Sinne. Er tauchte ein in eine Ohn macht... ... und wurde, wie es ihm vorkam, bereits eine Sekunde später wieder aus ihr herausgerissen, als er die sanften Schläge auf seiner Wange wahrnahm. »Meister, wach auf! Gib ein Lebenszeichen von dir!« Es war Anto-Dschagerass. Und er war wieder er selbst. »Wirst du mir nun... endgültig den Garaus machen...?« Meister Zorbac-Tan war noch nicht wieder ganz beisammen, sah lediglich das Gesicht seines Schülers wie durch Milchglas dicht vor dem seinen. »Aber nein! Der Herr bewahre! Ich...« Anto-Dschagerass wurde nachdenklich. Die zurückliegenden Minuten, in denen er von einer fins teren Macht manipuliert worden war, lagen als weißer, verschwomme ner Fleck in seiner Erinnerung. Ihm war einzig bewusst, entgegen sei nem Willen gehandelt zu haben. Ein Blick in das Antlitz seines Lehr meisters mit all seinen Blessuren malte ein bedrückendes Bild von dem, was sich zugetragen hatte. »Niemand wird mehr sterben! Wir gehen heim nach Venora Ghol und dann werde ich diesen Raum zerstören - mit allem, was sich darin befindet!« Anto-Dschagerass trug den Verwundeten auf seinen Armen hin über zur Siegelkammer. Ohne weitere Schwierigkeiten erreichten sie die Tempelanlage. * Als der Siegelgeist sie freigab und sie sich in den Mauern Venora Ghols wieder fanden, da spürte Anto-Dschagerass auf Anhieb, dass etwas nicht in Ordnung war. »Ich lege dich hier ab, Meister«, sagte er zu Zorbac-Tan, der re gungslos auf seinen Armen lag. »Ich sehe mich erst um, ob keine Ge fahr droht. Dann komme ich dich holen.« 73
Zorbac-Tan nickte andeutungsweise. Er vermied es zu sprechen, um seine Kräfte zu schonen. Schon jetzt war klar, dass sein Gene sungsprozess sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Anto-Dschagerass vertrieb die Gedanken an das, was vorgefallen war. Er würde seinen Meister nach den Ereignissen in Cor-Shan befra gen, wenn dessen Zustand sich wesentlich verbessert hatte. Momen tan konzentrierte der Layshi-Pan-Schüler sich voll und ganz auf seine Umgebung, war alarmiert und äußerst wachsam und bereit, ohne Ver zögerung zu reagieren, wenn er auf einen Hinterhalt stieß. Hässliche Flecken auf dem Boden und an den Wänden zogen sei ne Aufmerksamkeit an. Der Geruch verbrannten Fleischs und anderer, unbekannter Substanzen hing in den Gängen, Winkeln und Nischen. Kohlrabenschwarze Klumpen von... ja, von was? - fanden sich ver streut in Ecken und unter den Arkaden. Doch das war nicht alles. Vol ler Ekel erkannte Anto-Dschagerass Teile von Menschen - Arme und Beine, Finger, Hände sowie Stücke von Schädeln, teils wie von zerset zenden Flüssigkeiten angefressen, teils verbrannt oder einfach ausge rissen - und es war der Hass auf jene, die dieses Blutbad angerichtet hatten und der Zorn über sich selbst, nicht da gewesen zu sein, die sein Blut zum Kochen brachten. Sein schwer kontrollierbares Tempe rament wischte alle Vorsicht beiseite. Der Killerinstinkt überlagerte Vernunft und Besonnenheit. Anto-Dschagerass war nun nicht mehr nur auf einen möglichen Feind vorbereitet, er suchte ihn regelrecht. Forsch durcheilte er die Gänge, sah in alle Räume, fand ähnliche Bilder wie zuvor, aber auch vollkommen unversehrte Gemächer. Als er schließlich bei der großen Versammlungshalle ankam, traf er zum ersten Mal auch auf lebende Menschen. »Du siehst nicht aus wie jemand, der in Freundschaft kommt«, schlug es ihm entgegen. »Was ist hier geschehen?«, keuchte Anto-Dschagerass. »Mäßige deinen Zorn. Ein Layshi-Pan sollte erkennen, wann Ge walt keinen Sinn mehr hat.« Shri Bashwar stand mit zwei Dutzend Gefolgsleuten an der Längs seite des Tischblocks. 74
Ein paar mal atmete Anto-Dschagerass tief ein und aus. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, den er mit der Handfläche abwischte. »Venora Ghol wurde... angegriffen?«, fragte er frei heraus. »Man kann es tatsächlich als Angriff bezeichnen«, fuhr ein LayshiPan fort, den Anto-Dschagerass nicht kannte und der wohl von einem entfernten Standort aus zu ihnen gestoßen war. »Auch wenn es keine Soldaten und Heere im üblichen Sinne waren, die diese Mauern er obern wollten.« »Ich sah Anhäufungen verkohlter... Organismen.« »Protomaterie«, ergriff Shri Bashwar erneut das Wort. »Amalnac ron hauchte diesem Urschlamm Leben ein und verseuchte ihn gleich zeitig mit der ihm innewohnenden negativen Energie. Der Überfall ist abgewehrt, wenn wir auch hohe Verluste zu beklagen haben.« »Hohe Verluste...«, wiederholte Anto-Dschagerass flüsternd. Da bei fiel ihm Meister Zorbac-Tan wieder ein. »Kommt mit mir zur Siegelkammer. Mein Meister braucht eure Hil fe. Es hat ihn übel erwischt.« »Ihr wart in Cor-Shan!«, erregte sich Shri Bashwar. »Ist etwa auch dieser Außenposten für uns verloren?« »Nach dem, was ich dort gesehen habe, hat er uns nie wirklich gehört.« Der Layshi-Pan-Schüler überlegte kurz. »Ich muss dorthin zurück! Es gibt noch etwas, das es zu erledigen gilt!« Entschlossen wandte er den Anwesenden den Rücken zu und rannte los. Einige Kämpfer folgten ihm, um Zorbac-Tan aufzulesen. Die Schritte in den weitläufigen Fluren waren noch nicht verhallt, da trat eine Gestalt in den Saal, die Respekt und Ehrfurcht einflößte und durch ihre bloße Erscheinung die finsteren Gemüter der Menschen mit hellem warmem Licht erfüllte. Maoi sah ihn als erstes. »Du bist zurück!«, rief er dem Hova entgegen. »War der Aufent halt auf deinem Schiff angenehm?« Der Vorwurf war deutlich herauszuhören. »Ich hätte nicht bleiben können, ohne in euren Kampf einzugrei fen«, erwiderte der charismatische Außerirdische ohne Groll und ohne auf die Anspielung einzugehen. Sein Wesen kannte keine negativen 75
Strömungen und strahlte stets mit allen Sinnen erfahrbare Freundlich keit aus. »Das jedoch ist mir nicht gestattet worden. Nicht zu diesem Zeitpunkt.« Damit mussten sich die Layshi-Pan zufrieden geben, auch wenn ihre Gesichter alles andere als Zustimmung oder Akzeptanz ausdrück ten. »Dutzende Ordensbrüder und -schwestern haben ihr Leben verlo ren!«, begehrte ein Einzelner auf. »Was wäre schlecht daran gewesen, sie zu retten?« »Ihr Tod genügt einem höheren Schicksal«, belehrte ihn der Hova. »Ihr irdisches Dasein hatte seinen Zweck erfüllt.« Es folgte keine Erwiderung, keine Frage mehr. »Ich möchte mich mit eurem Schüler Anto-Dschagerass unterhal ten.« »Er ist nicht mehr hier. Eine wichtige Aufgabe verlangte seinen Einsatz.« Der höchste Hova lächelte mild. »Die wichtigste Aufgabe liegt noch vor ihm. Ebenso der wichtigste Dienst für euren Orden. Ich werde hier auf seine Rückkehr warten.« Der Hova setzte sich an den mächtigen Steinquader, legte die Hände in den Schoß und schloss die Augen zur Meditation. Die LayshiPan zerstreuten sich. Es gab vieles zu tun. Der Tempel gehörte gerei nigt, die Leichen bestattet. Danach würde alles wie vorher sein. Einzig ihr behütetes Leben würden sie für immer ablegen müssen. * Die Stunden mühseliger Arbeit waren im Nu vergangen und gegenwär tig saßen die geschlagenen und arg dezimierten Kämpfer des LayshiPan-Ordens müde und schweigsam beim gemeinsamen Mahl im gro ßen Speisesaal. Umso größer war ihr Erschrecken, als eine zerlumpte Person hereinstolperte, ächzend auf die Knie fiel und beim Aufblicken eine gemarterte Miene bloßstellte. »Anto-Dschagerass! Was um alles in der Welt ist dir zugestoßen?« 76
Es dauerte nur wenige Herzschläge und der Schüler Zorbac-Tans war von vier Layshi-Pan umringt, die ihn auf die Füße stellten und zu einem Sitzplatz geleiteten. »So berichte doch, was dir widerfahren ist!«, drängte eine Stim me. Erst als Anto-Dschagerass zur Seite schaute, erkannte er in dem Sprecher Maoi. Neben ihm stand Shri Bashwar. Anto-Dschagerass brach ein Stück Brot aus einem Laib, biss davon ab und kaute gemächlich, ohne eine Antwort zu geben. Im Anschluss füllte er aus einer Karaffe Wasser in einen Tonbecher, setzte ihn an den Mund und trank in einem Zug aus. Die Männer und Frauen übten sich in Zurückhaltung. Einerseits vielleicht, weil sie gar nicht wissen wollten, welcher Bedrohung sie sich als nächstes zu stellen hatten. Andererseits, weil sie wussten, dass der Layshi-Pan-Schüler erst dann reden würde, wenn er es für richtig hielt. Die Sturheit Anto-Dschagerass' war bekannt, genauso seine Ver bissenheit und sein ansatzweise cholerisches Temperament. »Ich konnte nichts ausrichten«, floss es tonlos über seine Lippen. »Ich habe alles gegeben, was ich hatte, doch es reichte nicht aus.« »Wovon sprichst du?« »All meine Kräfte, all mein Wissen, meinen Zorn und meinen Hass habe ich der Siegelkammer entgegen geschleudert. Doch es war nutz los. Sie steht noch immer...« »Du wolltest den Durchgang nach Cor-Shan zerstören?«, klang es verständnislos auf. »Er hätte beinahe mich zerstört. Meine eigenen freigesetzten E nergien hätten mich aufgezehrt, wenn ich nicht frühzeitig die Sinnlo sigkeit meines Tuns eingesehen hätte. Nichts auf dieser Welt könnte dem entfachten Feuersturm Widerstand entgegensetzen - diese Ka thedrale des Bösen aber schleuderte ihn auf mich zurück und blieb dabei fast unversehrt.« »Begreifst du denn nicht, dass du niemals mehr nach Venora Ghol hättest zurückkehren können, wenn dein Plan aufgegangen wäre?« Maoi legte tiefe Betroffenheit in seine Aussage. »Doch«, flüsterte Anto-Dschagerass und kaute dabei auf einem weiteren Stück Brot. »Die Konsequenzen waren mir bewusst. Doch es 77
geht nicht um mein Leben, sondern um das des Ordens, möglicherwei se der ganzen Welt. Die Tragweite meiner Entscheidung hatte ich ver innerlicht. Mein Bemühen war ehrlich und frei von materiellem Lohn.« »Das ehrt dich!«, erschallte es laut vom anderen Ende des Saales. »Mir scheint jedoch, dass es eine bessere - weil einfachere - Lösung gibt!« »Meister Zorbac-Tan!«, rief Anto-Dschagerass aus. Für eine Se kunde unterbrach er die Kaubewegungen und saß überwältigt mit of fenem Mund da. »Du bist wieder auf den Beinen? Es geht dir gut?« »Das würde ich so nicht unterschreiben«, brachte der Meister so gar ein Lächeln zustande, als er sich auf einen schweren Gehstock gestützt der Tafel näherte. »Meine Heilkünste vermögen schon einiges, doch sind sie weit entfernt von Zauberei, verstehst du?« Er lachte be herrscht. »Von welcher Möglichkeit sprachst du?« Shri Bashwar griff die Äu ßerung des alten Meisters sofort auf. Natürlich war jedem daran gele gen, die Verbindung nach Cor-Shan abzuschneiden. Die ersten Worte Zorbac-Tans, als er wieder in der Lage gewesen war zu sprechen, hat ten in geraffter Form die Ereignisse beschrieben, die sich bei seinem Ausflug in Begleitung seines Schülers zugetragen hatten. Selbst einge fleischte Skeptiker hatten danach die Bösartigkeit des geheimnisumwit terten Ortes nicht mehr in Abrede gestellt und die Abtrennung vom Netz gefordert. Das Wie war hingegen nicht zur Sprache gekommen. Die Layshi-Pan rutschten auseinander, um dem Meister Platz an ihrem Esstisch zu machen. Dieser winkte jedoch ab. »Später, meine Freunde. Später sollt ihr von meinen Absichten er fahren. Doch nun...« - ein eigentümlicher Blick streifte AntoDschagerass - »... wird mein Schüler vom obersten Hova erwartet. Wir sollten die Geduld unseres Mäzens nicht unnötig auf die Probe stel len.« Ihr sollt alle zu mir kommen, wehte plötzlich ein Gedanke gütig durch den weiten Raum. Denn was den Einzelnen betrifft, das betrifft
gleichermaßen auch das Ganze.
»Er wartet im Versammlungssaal«, wusste Shri Bashwar. »We nigstens sah ich ihn dort das letzte Mal.« 78
Zorbac-Tan umschloss seinen Krückstock, dass die Knöchel weiß hervortraten. »So lasst uns keine Zeit verlieren.« * Die Lichtkuben im Versammlungssaal blieben auf Wunsch des Hova stark abgedimmt. Lediglich dort, wo er saß, gab es eine strahlende Aura weißen Lichts, die jedoch nicht in den Augen brannte, sondern warm und weich war. Anto-Dschagerass nahm ihm gegenüber Platz, während mehr als sechzig Layshi-Pan im Halbdunkel den ausladenden Tischquader umlagerten. Es herrschte eine angespannte Atmosphäre und selbst das ewig sanftmütige schmale Gesicht des Hova vermochte in diesem Fall kaum, den auf den Menschen lastenden Druck zu mil dern. Selbstverständlich vertrat und wahrte diese außerirdische Rasse die Interessen der Menschheit, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Leider war es den Menschen aber nicht immer möglich, die Entscheidungen der Hova nachzuvollziehen, auch wenn es für ihr Fort bestehen und ihre Entwicklung das Beste sein mochte. Langfristige Planungen gingen über das Verständnis eines Normalsterblichen weit hinaus und hinterließen lediglich Unverständnis, besonders, wenn sich dabei anscheinend nachteilige Tendenzen herauskristallisierten. Gera de in dieser Hinsicht würden die Menschen im Laufe der nachfol genden Jahrzehntausende noch manche Überraschung erleben. »Ich danke dir, dass du meinem Aufruf gefolgt bist«, wandte der Hova sich an Anto-Dschagerass. »Es liegt nicht in meinem Ermessen, dein Ansinnen zu ignorieren«, erhielt er zur Antwort. Dem Layshi-Pan-Schüler war im Augenblick nicht unbedingt an einer Konversation gelegen. Ihn wurmte der Kampf mit seinem Meister, an den er sich nicht erinnern konnte und der doch stattgefunden hatte, wie die Verletzungen Zorbac-Tans einwandfrei bewiesen. Außerdem wollte er wissen, auf welche Art und Weise die Verbindung nach Cor-Shan stillgelegt werden konnte. Aus eigener Kraft war es ihm, dem Schüler, jedenfalls nicht möglich gewesen. Un klar war des Weiteren, mit welchen Mitteln die negativen Kräfte Veno 79
ra Ghol infiltriert hatten. Irgendwie war das alles viel zu schnell gegan gen. Von den ersten Anzeichen einer Manipulation bis zum eigentli chen Angriff waren keine zwei Tage vergangen. »Dir geht einiges im Kopf herum, ist es nicht so?«, deutete der Hova den Gesichtsausdruck seines Gegenübers. »Doch allen Wirrnis sen zum Trotz ist die Ratlosigkeit über dein eigenes Selbst Ursache deiner größten Unruhe.« »Was weißt du schon über mich?«, sagte Anto-Dschagerass leicht abfällig. Der Hova blickte ihm liebevoll in die Augen. »Nur das, was ich se he.« Einige Momente herrschte Schweigen. Jede leise Bewegung der Männer und Frauen im Hintergrund, jedes Gewänderrascheln und un terdrückte Räuspern war gut hörbar. Für Anto-Dschagerass bedeute ten diese Geräusche die einzige Möglichkeit, sich nicht der unange nehmen Stille hingeben zu müssen. Es war eine Sache, einem Ver trauten schweigend gegenüber zu sitzen, aber eine gänzlich andere bei einem Wesen, das im Grunde genommen ein Fremder war. »Es ist mir sehr wichtig, dass du unsere Beweggründe verstehst«, fuhr der Hova fort und meinte damit seine ganze Rasse, als deren Sprecher er auftrat und deren Kollektiventscheidung er verkündete. »Diese Welt wird von gravierenden Veränderungen heimgesucht wer den. Euer Orden wird in der bekannten Form nicht weiterexistieren können. Das alles habe ich bereits Meister Zorbac-Tan berichtet. Doch noch ist eure Zeit nicht abgelaufen, noch ist es von Bedeutung, dass die Layshi-Pan bestehen. Und das ist auch genau der Grund, warum du, mein junger Schüler, Venora Ghol für immer verlassen musst.« Anto-Dschagerass glaubte, sich verhört zu haben. »Das ist nicht dein Ernst!«, erregte er sich. »Wozu soll das gut sein? Zwanzig Jahre habe ich dem Orden gedient, habe mich seinen Regeln unterworfen und ihm meine ganze Kraft geschenkt. Das soll ich jetzt einfach wegschmeißen?!« »Du hast dem Orden gedient, weil du es als deine Bestimmung erachtet hast, nicht um Lohn und Anerkennung zu bekommen«, stellte der Hova klar. In seiner Stimme schwang keine Strenge mit. »Dein zu 80
leistender Beistand muss nun von außerhalb erfolgen, damit die Ge meinschaft überleben kann. Das, was du von Cor-Shan mitgebracht hast, wird ansonsten euer aller Untergang sein.« »Mitgebracht? Von Cor-Shan?« Wie auf ein geheimes Kommando drang das scheußliche Kreischen des eingekerkerten Jessrinh Ola-Min'Azul an ihre Ohren. AntoDschagerass zuckte innerlich zusammen. Der böse Einfluss war mit der Vernichtung der Protowesen nicht ausgelöscht. Es gab immer noch den besessenen Jessrinh - und ihn selbst! »Du bist infiziert vom Keim des Bösen«, sagte der oberste Hova ruhig, um gleich darauf zu spezifizieren: »Eine energetische Substanz hat sich in deinem Bewusstsein verankert. Du hast keine Möglichkeit der Kontrolle. Sie wird dich zu einem Werkzeug der negativen Mächte formen. Ihre Ausstrahlung wird auf den Tempel übergreifen und alle Layshi-Pan zu Handlangern Amalnacrons transformieren. Dieser Pro zess wird sich exponentiell erweitern und ist nicht mehr rückgängig zu machen.« Das Aufstöhnen aus den Reihen der Anwesenden verunsicherte Anto-Dschagerass noch mehr, als die Eröffnung des Hova es bereits getan hatte. Es war unwiderruflich, dass er die Layshi-Pan verlassen sollte. Die Gründe dafür hatte jeder mitbekommen. Es gab keine Aus flüchte mehr, kein Herauswinden. »Dann willst du mich einsperren lassen? So wie den armen Teufel Jessrinh?« »Nein«, lächelte der Hova gütig. »In deinem Fall wäre das keine Lösung. Die negative Strahlung ließe sich dadurch nicht bändigen.« »Ich soll... hingerichtet werden?« Anto-Dschagerass schluckte hart. Ihm schien es die einzige logische Schlussfolgerung. »Ich richte nicht über euch«, wurde der Schüler belehrt. »Also richte ich auch niemanden hin. Deine Worte offenbaren die Eingleisig keit deines Denkens. Es ist bedauerlich, dass dein Meister dich nicht weiter unterweisen kann. Doch in Zukunft wirst du dir selbst Lehrmeis ter sein müssen. Eine andere Alternative kann selbst ich nicht anbie ten.« 81
»Aber ihr seid die Hova!«, erhob Anto-Dschagerass seine Stimme, ohne die soeben angesprochene Alternative zu erfragen. »Ihr könnt immer etwas ausrichten! Ihr steht über den Dingen! Für euch ist es doch ein Leichtes, sogar die Welt aus den Angeln zu heben...!« »Wenn dies einen Nutzen erfüllen würde, so wäre es machbar. Doch überschätze nicht unsere Möglichkeiten. Wir mögen dir mächtig und allwissend erscheinen, doch handeln wir in höherem Auftrag. Wir entscheiden auf der uns überlassenen Ebene. Und nur dort. Alles wei tere liegt außerhalb unserer Einflussnahme. Doch diese Zusammen hänge solltest du schnell wieder vergessen; sie könnten dir die Sicht auf das für dich Wesentliche versperren.« Anto-Dschagerass seufzte. Was sollte er nur mit diesen Informati onen anfangen? Gut, er würde weiterleben. Doch unter welchen Um ständen? Und wo? Der Hova hatte diesen Punkt bisher außer Acht ge lassen. »Bitte sage mir, was mit mir geschehen wird.« Die Erläuterung folgte prompt, freundlich und mitfühlend. »Dein Geist muss fragmentiert werden. Damit wird die Einheit der negativen Substanz in dir sowie ihre Koordinationsfähigkeit aufgelöst. Einher geht der Verlust deines bewussten Selbst. Du wirst die Erinne rung verlieren an die Layshi-Pan. Du wirst deinen Instinkten folgen und nur vage Vorstellungen deiner wahren Herkunft im Hinterkopf behalten. Niemals wieder dürfen deine Bewusstseinsfragmente zu sammengeführt werden, denn dies würde unweigerlich die negative Strahlung deines energetischen Parasiten aktivieren. Die Prozedur muss noch heute auf Col'Shan-duur vorgenommen werden.« Der Hova stand auf, ging um den steinernen Quader herum und legte seine Hände auf Anto-Dschagerass' Kopf. »Eine große persönliche Prüfung steht dir bevor. Erwarte dafür keinen Dank und keine Güter, sondern handle mit uneigennütziger Leidenschaft. Der Profit, den du erhältst, wird eine geläuterte Seele sein.« Die Aura um den Hova hellte sich für einen Sekundenbruchteil stark auf. Danach reduzierte sie sich allmählich, bis sie ganz ver 82
schwunden war und nur noch die Lichtkuben dem Raum Helligkeit spendeten. »Ich werde mich sofort auf den Weg machen«, erklärte AntoDschagerass, der mit salbungsvollen Predigten nichts anfangen konnte und die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen gedachte. »Die Priester erwarten dich bereits. Die Vorbereitungen laufen.« Zorbac-Tan begleitete seinen Schüler bis zur Siegelkammer. Es war ein Abschied ohne Worte. Was gab es auch zu sagen? Die zwanzig gemeinsamen Jahre verloren ihr Gewicht angesichts der teuflischen Bedrohung und angesichts der Bürde, die Anto-Dschagerass auf sich nahm. Er würde vergessen, würde sein gesamtes Leben hinter sich lassen, um als gewöhnlicher Unwissender eine bedeutungslose Exis tenz zu fristen. Es war das erste Mal im Leben des Kriegers, dass er die Feuchtig keit in seinen Augen spürte. * »Er ist fort.« Schwer stützte sich Meister Zorbac-Tan auf seinen Gehstock. Die Lippen waren zu blutleeren Strichen zusammengepresst. »Ich wünschte, ich hätte ihn begleiten können. Unsere Wege sind zu eng miteinander verflochten.« »Menschen kommen und gehen«, sinnierte der oberste Hova. Sei ne Kleidung war wie gewohnt weiß und strahlte dabei auf nicht be schreibbare Weise auch seine innere Reinheit aus. »Gewöhnen wir uns zu sehr an jemanden, vereinnahmen wir ihn, machen ihn zu unserem Besitz. Entsprechend schmerzvoll ist dann der Verlust.«
Ich habe ihn nicht vereinnahmt. Ich habe ihn geliebt wie einen Sohn. Zorbac-Tan ließ die Gedanken unausgesprochen, denn irgendwie war ihm klar, dass die Liebe ebenfalls besitzergreifend und damit e goistisch war. Wirkliche Liebe zeigte sich erst in schmerzloser Tren 83
nung. Doch trotz seines Alters war er weit entfernt davon, diese Tat sache zu akzeptieren. »Ich werde euch ebenfalls verlassen.« Der Hova stand immer noch an jener Stelle, an der er Anto-Dschagerass' Kopf berührt hatte. Friedvoll wanderten seine Augen über die Gesichter der Layshi-Pan und ruhten schließlich auf dem Antlitz des alten Meisters. »Du wirst noch gebraucht. Rufe dir deine eigenen Worte ins Ge dächtnis. Es gibt eine Aufgabe, die du erledigen wolltest.« »Das sagte ich ja. Ich hoffe, ich bin imstande, sie zu erfüllen. Sieh mich an« - er lachte humorlos auf - »ich bin alt, schwach und krank. Wenn eine wie auch immer geartete Möglichkeit bestanden hätte, ich hätte mein Leben hingegeben für das meines jungen Schülers. Ihm stand die Zukunft noch offen. Ich habe meine schon fast hinter mir.« »Anto-Dschagerass wird Gelegenheit haben, sein Leben zu führen. Es ist nicht beendet, nur weil er nicht mehr bei euch sein kann. Siehe doch die große Chance, die sich ihm bietet, seinen eigenen Horizont zu erweitern und Eindrücke sowie Erfahrungen einzuholen, die ihm in euren Kreisen versagt geblieben wären.« »Es klingt so schön«, gab Zorbac-Tan zu, »doch es sind nur schlichte Worte.« »Besinne dich«, riet ihm der Hova, »denn du weißt, was geschrie ben steht: Am Anfang war das Wort...« »... und das Wort war Gott!« »Alles hat mit dem Wort - dem Klang oder Ton - begonnen. Das Wort ist der Ursprung. Aus dem Wort ist alles entstanden, auch das Licht. Das Wort ist das Fundament des Universums.« Der Hova ließ das Gesagte auf die Menschen wirken und sah, dass sie nur bedingt verstanden. »Wenn es an der Zeit ist, werden wir euren Planeten wieder besu chen. Es wird noch einige Male geboten sein, denn ihr seid ahnungslo se Kinder, die geistiger Führung bedürfen. Ihr werdet durch die Zeital ter hindurch große Opfer bringen, denn von überall her seid ihr auf der Erde gestrandet und nur wenige von euch wurden gesät. Und so ver schieden eure Herkunft ist, so verschieden sind auch eure Ziele. Ob sie jemals in Einklang zu bringen sind, kann ich nicht vorhersagen, doch 84
seid unserer Beaufsichtigung und unseres Geleits gewiss. Das sind wir den Menschenkindern schuldig.« Mehr sagte er nicht. Seine Erscheinung verlor an Struktur, wurde durchsichtig. Kleine Lichtpartikel spritzten aufleuchtend auseinander. Als sie verglüht waren, da war auch von dem höchsten Hova nichts mehr zu sehen. Diese Rasse würde stets unerreichbar sein für die Be wohner des Planeten Erde. Ganze Galaxienhaufen trennten sie vonein ander. Ebenso groß war die Kluft zwischen den Entwicklungsstufen. Die Hova standen unermesslich weit oben auf der Evolutionsleiter. Verständlich, dass sie sich für niedere Lebensformen verantwortlich fühlten. Zumindest stellte Zorbac-Tan sich die Bindung zu den Hova so vor. Doch auch sie würden nicht immer zur rechten Zeit zur Stelle sein. Die Menschen würden sich unweigerlich selbst behelfen müssen, wenn es galt, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Die Layshi-Pan verstanden sich in allem, was sie taten, als Diener der Menschheit. Daran sollte sich zukünftig nichts ändern. »Du siehst müde aus, Meister und bist schlecht zu Fuß.« EnnattoJon-Estelahaiza reichte dem alten Mann seinen Arm. »Ich werde dich zu Bett bringen.« In der Miene Zorbac-Tans spiegelte sich grimmige Entschlossen heit. »Noch nicht! Erst werde ich nach Cor-Shan gehen und sehen, was ich dort ausrichten kann. Vielleicht habe ich ja meine Möglichkeiten überschätzt, als ich zu Anto-Dschagerass von einer einfacheren Lösung sprach.« »Du wirst keinesfalls alleine gehen!« Hinter Estelahaiza tauchten Maoi und Shri Bashwar auf. »Ich brauche keine Hilfe«, winkte Zorbac-Tan ab. »Legt euch schlafen. Der Tag war aufreibend genug.« »Sicher war er das. Doch unser Entschluss steht fest.« Weitaus weniger förmlich feixte Ennatto-Jon-Estelahaiza: »Wir können die Rettung der Welt doch nicht einem alten Mann überlassen. Wie stehen wir dann da...?« 85
Alle lachten. Das Lachen kam aus tiefstem Herzen, war befreiend und brachte ein klein bisschen Licht und Wärme in diesen Stunden der Dunkelheit.
Gegen die Unverfrorenheit der Jugend ist doch wahrhaftig kein Kraut gewachsen...! *
Der Junge hat gewütet wie ein Berserker. Zorbac-Tan spürte noch deutlich den Nachhall der Energieeruptio nen, als die Siegelkammer ihn mit seinem dreiköpfigen Geleitzug in Cor-Shan entließ.
Dieser Bereich scheint gegen gewaltsames Vorgehen unempfind lich. Die Präsenz des Bösen ist so stark, dass sie sich durch einen An griff nur potenziert und ständig unüberwindlicher wird. AntoDschagerass wollte einen Feind bekämpfen, den man nicht besiegen kann. Brandgeruch lag in der pulvertrockenen, staubigen Luft. Rußge schwärzt zeigte sich die Domkuppel und auch an den Wänden waren große dunkle Flächen sichtbar, an denen Flammenlohen geleckt hat ten. Die Spuren eines Kampfes waren unübersehbar. Ebenfalls die Tat sache, dass rohe Gewalt rein gar nichts bewirkt hatte. Es gab keine Anzeichen von Zerstörung. Alles stand so, wie Zorbac-Tan es in Erin nerung hatte. Nicht eine Bodenkachel war geplatzt, der Altar schmuck unberührt. »Was immer Anto-Dschagerass getan hat - Amalnacron hat ihm widerstanden«, brachte Maoi ihre Beobachtungen auf den Punkt. »Das Einzige, was er vernichtet hätte, wäre er selbst gewesen.« »Kannst du das Werk deines Schülers fortsetzen?«, fragte Estela
Lediglich einige flüchtige Sekunden vergingen, bis Meister ZorbacTan seinen Leibwächtern zeigte, was er unter passivem Handeln verstand. Die Luft rauschte. Atome sammelten sich zu Milliarden, vereinigten sich zu Molekülen. Inmitten der dunklen Kathedrale verfestigte sich etwas, nahm Konturen an. »Hat er Ähnliches nicht auch in Abaac probiert?«, flüsterte Shri Bashwar seinem Gefolgsmann Maoi zu. »Ich hörte von einem Siegelschild. Keine Ahnung, ob es dasselbe ist.« »Solche Kräfte möchte ich eines Tages auch mein eigen nennen«, staunte Ennatto-Jon-Estelahaiza. »Ganz bestimmt wirst du das«, bekräftigte Maoi. »Allerdings eines noch sehr fernen Tages.« Um das Zentrum der Partikelansammlung bildete sich immer mehr Materie, wurde scheinbar aus dem Nichts magnetisch angezogen, um eine neue Form zu bilden. »Ein Rechteck«, konstatierte Estelahaiza ernüchtert. »Aus Stein.« Er wusste nicht zu sagen, was er erwartet hatte, doch eine gewöhnli che Steinplatte war es nicht gewesen. Die Platte sank zu Boden, direkt neben den Eingang zur Siegel kammer, der in bearbeiteten Fels eingefasst war. »Für die Layshi-Pan kann ich nichts mehr tun«, orakelte ZorbacTan murmelnd. »Der Eingang wird sich nicht verschließen lassen. Die se Tafel jedoch soll ahnungslose Eindringlinge vor dem warnen, was sie hier unten erwartet.« Der Meister schrieb Symbole in die Luft, die sich wie von Geister hand in die Steintafel meißelten. »Es ist die Sprache unserer Vorväter, die noch zu Zeiten des ExonMatriarchats gesprochen wurde.« »Meinst du denn, dass Jahrtausende entfernt die Menschen noch in der Lage sein werden, sie zu lesen?«, wandte Shri Bashwar ein. »Das werden sie. Die psionische Komponente wird dafür Sorge tragen. Wer sich den Schriftzeichen gegenüber öffnet, dem werden sie 87
sich erschließen, ganz gleich, wes Geistes Kind er ist. Der Gedanke ist frei von sprachlichen Hürden.« »Mehr kannst du nicht vollbringen?« Wieder war es Ennatto-JonEstelahaiza, der seine Enttäuschung offen aussprach. Meister Zorbac-Tan senkte sein Haupt. Dann sah er den jugendli chen Layshi-Pan an, als wollte er um Entschuldigung bitten. »Du hast mir wohl mehr zugetraut.« Nun musste er sich mit bei den Händen an dem Stab festhalten, denn seine Kräfte neigten sich rasch dem Ende. Sofort war Estelahaiza zur Stelle, um dem alten Mann zur Seite zu stehen. »Aber glaube mir, wenn ich dir sage, dass es für uns an diesem unheiligen Ort nicht mehr zu tun gibt...« Er stockte plötzlich. »Was hast du, Meister?« Der junge Layshi-Pan deutete das leise Erschrecken Zorbac-Tans falsch und war der Meinung, es durch seinen unbedachten Vorwurf ausgelöst zu haben. Maoi und Shri Bashwar erkannten allerdings im selben Moment, was die wirkliche Ursache seiner Bestürzung war. »Das Portal steht offen!« Es war nur ein Spalt, gerade breit genug, einen Menschen hin durch zu lassen. Wer immer das Tor geöffnet hatte verfügte über grö ßere Machtmittel als die Ordensbrüder. Was immer sich hinter den mächtigen Portalflügeln am Grunde des ›Auges von Cor-Shan‹ verbarg - augenblicklich war es angeraten, das nicht herauszufinden! »Sammelt euch und fokussiert den Rückweg!« Der gehetzte Ausdruck in Zorbac-Tans Worten trieb die Männer zu größter Eile. Noch war nichts zu sehen oder zu hören, was auf die An wesenheit eines oder mehrerer Angreifer schließen ließ. Die Aussicht jedoch, erneut Wesen aus Protomaterie gegenüberzutreten, ließ ihnen kaum eine andere Wahl, als die Flucht anzutreten. Auf eigenem Ter rain war ihnen bereits eine schmerzhafte Niederlage zugefügt worden. Auf feindlichem Grund und Boden standen ihre Überlebenschancen deutlich schlechter. Nacheinander passierten sie die Siegelkammer, nicht ahnend, dass in Venora Ghol schon die nächste böse Überraschung wartete! 88
*
Die Nacht war ruhig und brachte den erschöpften Männern und Frauen des Layshi-Pan-Ordens tiefen, erholsamen Schlaf. Die Wachposten standen nur an strategisch wichtigen Stellen und wurden alle zwei Stunden abgelöst. Die Furcht vor einem erneuten Angriff stellte sich als unbegründet heraus und als Zorbac-Tan am darauf folgenden Mor gen erwachte und die Sonne hell in sein Gemach schien, da vertrieben ihre goldenen Strahlen die dunklen Erinnerungen für kurze Zeit und erweckten den Eindruck, dass die entsetzlichen Vorfälle des vergange nen Tages einzig einem bösen Traum entstammten. Immer noch schwach und von dem Kampf mit seinem Schüler ge zeichnet, tappte der alte Meister hinaus in den Korridor. So rasch es eben ging suchte er den Speisesaal auf und war erstaunt, viele seiner Brüder und Schwestern schlafend am Boden vorzufinden. Etwas unbe holfen bewegte er sich um die Schlafenden herum und erreichte die Küche. Nicht als Erster, wie er feststellte. »Velor Yongerheim«, raunte Zorbac-Tan. »Was treibt einen ver wundeten Krieger in den frühen Morgenstunden hierher?« »Der Hunger«, bekannte der Angesprochene. »Da noch niemand das Essen ausgibt, musste ich mich selbst bedienen.« »Ich hasse es, meinen niederen Gelüsten nachzugeben«, erklärte Zorbac-Tan. »Doch mein Magen hängt mir auf den Knien. Bei aller Heilkunst muss dem Körper auch Nahrung zugeführt werden.« »Dem kann ich nur zustimmen.« Yongerheim schnitt eine Scheibe Brot ab und reichte sie dem Meister zusammen mit einem Kanten Kä se. Zorbac-Tan setzte sich auf einen Stuhl und legte den Gehstock beiseite. Gemeinsam aßen sie mit Heißhunger und wechselten erst ei nige Worte miteinander, als sich das Gefühl der Sättigung einstellte. Velor Yongerheim schien etwas zu bedrücken und nur einem Men schen, der ihn sehr gut kannte, fiel dies an seinem Verhalten auf. »Willst du mir nicht sagen, welchen Kummer du hast?«, erkundig te sich Zorbac-Tan. Yongerheim versuchte erst gar nicht, seine hinter aufgesetzter Heiterkeit verbarrikadierte Schwermut zu verheimlichen oder auf seine 89
physischen Schmerzen zu schieben. Einen echten Freund würde er damit kaum hinters Licht führen. »Ich habe nachgeforscht«, begann Yongerheim. »Als wir die Lei chen wegtrugen.« »Worauf willst du hinaus?« Zorbac-Tan wurde schlagartig hellhö rig. »Der Angriff der Protowesen kam nicht von außen. Er ging vom großen Schlafsaal aus. Die Spuren, die das belegen, sind eindeutig.« »Das ist mir neu«, kommentierte der Meister. Er hatte allerdings noch keine Gelegenheit gehabt, sich mit dem Phänomen näher zu be schäftigen. »Ich konnte es zuerst auch nicht glauben. Es machte einfach kei nen Sinn!« Der Layshi-Pan legte sich seine Worte genau zurecht, be vor er weiter sprach. »Aber dann sah ich die Leiche...« Er schluckte und atmete heftig aus. »... die Überreste von Chin Soi San. Und da war mir mit einem Mal alles klar.« »Wovon redest du? Was war dir klar? Und was hat Chin Soi San damit zu schaffen?« »Es ist alles so verrückt! Eine boshafte Ironie!« Velor Yongerheim schüttelte den Kopf, als kämen ihm nachträglich Zweifel an der Wahr haftigkeit seiner Beobachtungen. »Unsere erste Station war Perog. Du erinnerst dich? Nun, wir untersuchten die Umgebung nach Standard prozedur. Und dann...« Er lachte und es klang tatsächlich amüsiert. »Dann ist Chin Soi San in irgendetwas rein getreten, einen Dunghau fen. Zumindest hat Estelahaiza diese Vermutung geäußert. Ich habe nicht mehr darüber nachgedacht. Warum auch? Doch dann stand ich an ihrem Bett, neben ihrem zerstörten Körper. An ihren Stiefeln kleb ten noch Reste dieser... dieser Masse...!« Zorbac-Tans Gesicht verdunkelte sich. »Du meinst...« »Ich weiß, dass Chin Soi San keine Exkremente, sondern Protoma terie unter ihren Sohlen hatte. Sie hat diese grauenvollen Wesen ein geschleppt. Unbewusst ist sie zum Überträger eines mörderischen Vi rus geworden, der sich rasend schnell ausgebreitet und gnadenlos gewütet hat.« 90
Zorbac-Tan verdaute den Schock relativ schnell. »Wissen die anderen davon?« »Ich habe ihnen noch nichts gesagt. Ich weiß nicht, wie sie rea gieren werden. Nur mit dir konnte ich über die Wahrheit sprechen.« »Wir sollten auch weiterhin schweigen. Ich möchte keine Unruhen der Layshi-Pan untereinander heraufbeschwören. Doch es ist unbe dingt erforderlich, nach weiteren Ablegern zu suchen. Wenn es ir gendwo in der Tempelanlage Protomaterie geben sollte, dann müssen wir sie finden! Ansonsten werden wir nicht so glimpflich wie gestern davonkommen!« Als die Kameraden einer nach dem anderen im Nebenraum er wachten, da war ihr neues Tagesprogramm bereits beschlossene Sa che. * Unversehens lag die Antwort, die Anto-Dschagerass mir zu Anfang schuldig geblieben war und die schlichtweg lautete, welchen Zusam menhang es zwischen ihm und dem Fressplasma gab, das derzeit die dunkle Zitadelle angriff, unübersehbar auf der Hand. Auf Cor-Shan hatte Amalnacron die Verbindung hergestellt und seinen Samen in den Layshi-Pan gepflanzt. Wie immer das vonstatten gegangen war und wie es auch funktionieren sollte - das Fressplasma war ein Teil des verpuppten Dämons! Und dieser Teil fiel förmlich über AntoDschagerass her, dessen Bewusstsein nach etlichen Zeitaltern de fragmentiert worden war und auf diese Weise wieder als Köder fun gierte. Nur in seiner ursprünglichen Konstellation war der Geist AntoDschagerass' für das Plasma überhaupt wahrnehmbar. Nun hatte es seine Fährte aufgenommen und würde alles in dessen Umfeld befallen und auslöschen. Insofern saß mir der leibhaftige Tod vis-à-vis! »Du musst von Col'Shan-duur verschwinden!«, wich ich ein Stück vor ihm zurück. »Wir werden sonst alle sterben müssen!« »Du hast mir gar nichts zu befehlen!«, gab er barsch zurück. Mir fiel auf, dass seine eigene Erzählung wohl alte Wunden aufgerissen hatte. Anto-Dschagerass fühlte sich verletzt und verraten. Und ausge 91
rechnet ich wollte diesem Mann, dessen Leben nach Jahrzehntau senden zählte, unter diesen Voraussetzungen gute Ratschläge geben. Es war beinahe lächerlich. »Was hast du dann vor?« Ich ließ meinen Blick kreisen, konnte je doch keine beunruhigenden Signale ausmachen. »Ich meine, willst du abwarten, bis die Teufelsbrut dich holen kommt?« »Wir verschwinden!«, gab er knapp zur Antwort. »Die Aufhebung des inneren Sperrriegels ist leider nicht möglich«, richtete der Sehrein uns aus. Manchmal vergaß ich glatt, dass er stän dig anwesend war. Anto-Dschagerass blieb gelassen. »Ich denke, du sagst uns da nicht die volle Wahrheit.« Er sprang auf, sezierte mit kurzen, intensi ven Blicken seine Umgebung und rannte auf eine meterhohe Einbuch tung zu. Links von ihr befand sich eine Art Terminal, auf dem aller dings keine Funktionstasten oder Schalter angebracht waren. Wie alles auf Col'Shan-duur erforderte die Bedienung eine Kombination manuel ler und mentaler Schritte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was der Layshi-Pan in seiner abgewetzten Wehrmachtstracht zu tun beabsich tigte. Dass er sich bestens auskannte zeigte nicht nur sein forsches, entschlossenes Handeln, sondern auch die Reaktion Gon'O'locc-uur. »Das solltest du nicht machen, mein lieber alter Freund. Die Zita delle wird dann nicht mehr sicher sein.« »Das ist sie seit geraumer Zeit schon nicht mehr«, gab AntoDschagerass bissig zurück. »Und ich werde nicht tatenlos zusehen und mich zu Wurmfutter verarbeiten lassen.« Dreimal hintereinander erfolgte ein stählernes Schnappen mit an schließendem Einrasten. »Ich bitte dich nochmals, die Aktion abzubrechen«, sagte der Schrein. Seine Stimme war angenehm moduliert und drückte keinerlei negative Emotion aus. Ein durchdringender Summton wurde hörbar und endete in einer aufsteigenden Klangfolge. »Zu spät«, wehrte der Layshi-Pan ab. »So durcheinander kannst du doch nicht sein, dass du vergessen hast, wie ich deine Verschlüsse lungen knacke.« Er sandte einen letzten Impuls aus. 92
Sechs übereinander liegende Stahltore glitten sternförmig ausein ander. »Kommst du mit oder bleibst du da?«, drehte er sich zu mir um, wartete meine Antwort jedoch nicht ab und verschwand behände in der gewaltigen Öffnung. Natürlich folgte ich ihm. In seiner Nähe fühlte ich mich irgendwie sicherer, auch wenn das Pressplasma ihm auf den Fersen war. Ihm würde es kein Leid zufügen, vermutete ich. Dabei hegte ich die Aus sicht, ebenfalls ungeschoren davonzukommen. »Eine vernünftige Entscheidung«, rief Anto-Dschagerass mir zu. »Vielleicht kann ich verhindern, dass das Plasma dich frisst!« »Darum will ich aber auch bitten!«, erwiderte ich lautstark. »Um der alten Freundschaft willen...« Anto-Dschagerass zerbiss eine beleidigende Verwünschung zwi schen den Zähnen und spurtete weiter drauflos. Mir schenkte er keine Beachtung mehr. Wenn ich nicht aufschließen konnte, hatte ich eben Pech gehabt. Bei solchen Freunden brauchst du echt keine Feinde mehr! Ich verdoppelte meine Anstrengungen an ihm dranzubleiben und wunder te mich einmal mehr darüber, mit welcher Leichtigkeit dieser Mann die Initiative ergriff und fast schon schlafwandlerisch sicher jedem Hinder nis auswich. Denn der Gang vor uns war mit allerlei Gerumpel voll ge stopft und es gab genug Ecken und Kanten, an denen man sich stoßen und über die man gefährlich stürzen konnte. Das Licht beschränkte sich auf einen Bereich, der gerade einmal die halbe Ganghöhe aus leuchtete. Wenn über uns bereits dieser schreckliche Parasit Amalnac rons hockte - und ich hatte dabei immer die Schilderungen der Proto wesen aus Venora Ghol vor Augen - konnte jeder weitere Schritt für mich das Ende bedeuten. Meine unbedeutende Kampferfahrung mach te mich zum leichten Opfer. In annähernd panischer Hektik kletterte ich über ausrangierte technische Gerätschaften hinweg, sprang über Röhren und mehrfach schenkeldicke Kabelstränge. An einem Überstand stieß ich mir die Stirn. Es tat höllisch weh, aber das freigesetzte Adrenalin in meinem 93
Körper verbannte den Schmerz fast vollständig aus meinem bewussten Denken. Es wurde heller, als ich etwa fünfzig Meter entfernt das Ende des Tunnels ausmachte. Und dann sah ich glücklicherweise AntoDschagerass, der regungslos dastand, als wartete er auf mich. Du musst wohl immer die dicke Hose markieren, dachte ich vor wurfsvoll und gleichfalls erleichtert. Als ich Anto-Dschagerass eine knappe Minute darauf erreichte, verstand ich augenblicklich, dass er nicht meinetwegen stehen geblie ben war! * Nicht weit voraus befand sich eine Gruppe aus drei Priestern bei einem Generatorturm. In ihrem Rücken ragte eine Wand dieser schwammar tigen Substanz auf, die überall auf Col'Shan-duur zu finden war. Der Weg nach vorne und zu den Seiten wurde ihnen von einer dunklen Masse versperrt, aus der ab und an einzelne Finger hervorstachen, die sich unablässig bewegte und ohne Unterlass der plumpen Gestalten habhaft werden wollte. Leises Zischen und ein Klappern wie von Kas tagnetten drang an meine Ohren. Die Priester vermieden offenbar jeg liche Berührung mit dem Plasma und beschränkten sich auf die menta le Abwehr. Irgendwann jedoch würde ihre Konzentration nachlassen und dann war es um sie geschehen. Der gefräßige Ableger Amal nacrons brauchte bloß zu warten, bis der geistig erzeugte Verteidi gungswall zusammenbrach. »Lass uns das Gezücht in die Hölle schicken!«, kam AntoDschagerass meiner Frage nach dem weiteren Vorgehen zuvor. Er redete mit mir, ohne sich mir zuzuwenden. Sicher nicht die höflichste Art Kontakte zu pflegen. Andererseits konnte man in Anbetracht der prekären Lage den Knigge ruhig einmal beiseite lassen. Anto-Dschagerass sprang über den Rand der kleinen Plattform, die das Kopfstück der Tunnelröhre bildete. Untrainiert wie ich war tat ich es ihm gleich, konnte den Aufprall dann aber nicht nur durch Abfe dern auffangen, sondern schlug unfreiwillig das Rad und rollte mich 94
seitwärts ab. Nicht ganz ohne Neid musste ich anerkennen, dass dieser 70.000-Jährige meine magere Beweglichkeit zigfach übertrumpfte.
Ist gerade erst aufgestanden und überspringt locker das Aufwärm training.
Ich nahm die Beine in die Hand, um nicht wieder ins Hintertreffen zu geraten. Der Kerl legte ein Tempo vor, als wollte er sich unge bremst auf die Plasmamasse stürzen und es mit bloßen Händen be kämpfen. Dabei würde ich ihn aber nicht unterstützen, so viel war si cher! Die schwarze Masse begann zu brodeln, platzte in ihrer größten Ausdehnung auf. Tropfen und Fäden spritzten in alle Richtungen. Ich stoppte meinen Lauf, warf mich auf den Rücken und entging einem Schwall der tödlichen Schrapnelle. »Bist du verrückt!«, schrie ich Anto-Dschagerass hinterher. Der Layshi-Pan hatte noch während er lief eine geistige Attacke abge schossen. Jetzt war er in unmittelbarer Nähe der eingekesselten Pries ter und beharkte die Stelle des Generators, um die sich pulsierende Tentakel gewickelt hatten, mit Fingermudras. »Befinden sich alle Leute in deiner Nähe permanent in Lebensgefahr?« Ich wälzte mich zweimal zur Seite. Die schwarzen Tropfen am Bo den bewegten sich noch, folgten einem grausamen Instinkt, der sie in ihrer blanken Tötungslust bis zur Selbstzerstörung vorantrieb. Nicht jeder Bestandteil der Masse war säurehaltig. Aus Anto-Dschagerass' Geschichtsstunde reimte ich mir zusammen, dass die Protomaterie das Austreten ihrer Zersetzungsflüssigkeit nach Belieben regulieren konnte. In dieser Hinsicht wollte ich jedoch mein Glück nicht auf die Probe stellen. »Sich in meiner Nähe aufzuhalten bedeutet nicht, an meinem Rockzipfel zu hängen!« Er fetzte die letzten Reste des Plasmas vom Generatorsockel, wich dem wegspritzenden Schleim aus und ließ jedes noch so kleine Partikel unter seinem Mentalangriff verdampfen. Da stieß einer der Priester einen Schrei aus. Ich vernahm ihn deutlich in meinem Kopf. Sein Abwehrschild war zusammengebrochen und das Fressplasma hatte sich ohne Verzögerung auf den Zweimeterfünfzig-Koloss ge 95
stürzt. Eher hilflos umstanden ihn seine Amtsbrüder. Es ließ sich nur ahnen, dass sie ihre geistigen Kräfte benutzten, um dem Befallenen zu helfen. Anto-Dschagerass brannte eine Breche in den schwarz wogenden Ring, der die Priester einpferchte. Der zuvorderst Stehende rollte sich ein und kugelte durch die Lücke in der Absperrung, konnte jedoch nicht verhindern, dass einige Plasmafäden sich an seinem Körper fest setzten. Der Layshi-Pan reagierte ohne Verzögerung und attackierte den Priester direkt. Dessen Sprechmembranen gaben ein dumpfes Dröhnen von sich, als die mentalen Blitze sich in sein Fleisch bohrten und dabei das Plasma vernichteten. Auch der zweite Priester löste sich von dem Infizierten und nahm dieselbe Behandlung in Kauf. Für den unglückseligen Dritten kam jede weitere Hilfe zu spät. Das Plasma bäumte sich auf und schwappte über dem schutzlosen Riesen zusammen, begrub ihn unter sich, so dass auch Anto-Dschagerass' schnelles Eingreifen nicht mehr fruchtete. Die schwarze Masse war einfach zu groß und zu widerstandsfähig, um den Priester noch lebend ihren Klauen entreißen zu können. »Gibt es noch mehr von den Viechern?«, wollte Anto-Dschagerass wissen. Er ballte die Hände zu Fäusten und verzog das Gesicht im Zorn. Für jemanden wie ihn war es kaum zu ertragen, die Grenzen seiner Möglichkeiten aufgezeigt zu bekommen. Er war ein Mann der Tat, nicht des Wortes. Im Grunde seines Herzens war er ein Heißsporn geblieben. Es gibt Übergriffe an mehreren Stellen, erhielt er die Antwort eines Priesters. Den Fluch verschluckte Anto-Dschagerass. Er schien mit sich zu ringen und kümmerte sich nicht mehr um das Plasma, das durch die Körperöffnungen in den Priester eindrang, ihn aushöhlte und als zer fressene Hülle zurücklassen würde. Ich hingegen begutachtete sehr genau wo ich stand und mich be wegte. Und ich hielt es für durchaus angemessen, uns schnellstens zu verabschieden. Das Fressplasma war nicht wählerisch. Wir vier gaben doch gute Appetithäppchen ab. 96
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In meinem Verstand ging es drunter und drüber. Jetzt, da ich mich in Sicherheit befand, hatte ich endlich Gelegenheit, die Geschichte, die Anto-Dschagerass mir erzählt hatte, zu verarbeiten. Das Schicksal die ses Layshi-Pan bewegte mich nachträglich zutiefst. Er war noch recht jung gewesen, als er eine Entscheidung von immenser Tragweite zu treffen hatte, die sein Leben für immer verändern sollte. Ich konnte mir kaum vorstellen wie es sein mochte, in vollem Bewusstsein einen Zustand der Unbewusstheit zu wählen. Er hatte seine Herkunft abge streift, um fortan zwar weiterzuleben, jedoch ohne Erinnerung an sei ne frühere Existenz und immer mit bohrenden Fragen und Zweifeln im Hinterkopf, die ihm einen Hauch von dem suggerierten, was er verlo ren hatte. Nie würde er Frieden finden und ständig Antworten hinter herlaufen, die er bereits fest in den Händen gehalten hatte und schließlich doch loslassen musste. Heute hatte Anto-Dschagerass die selbe Entscheidung noch einmal getroffen, allerdings mit dem frischen Wissen um den Zustand des Nichtwissens. Welche Überwindung mochte es ihn gekostet haben, ohne merkliches Zögern erneut sein Dasein abzulegen und genau zu wissen, was auf ihn zukam? Ich ver glich es mit dem Elektroschock an einem Weidezaun: Wenn die Tiere ihn das erste Mal berührten, zuckten sie erschrocken zurück. Es war kein schlimmer Schmerz, doch er setzte sich in der Erinnerung als äu ßerst unangenehm fest. Freiwillig würde kein Tier seine Nase ein wei teres Mal daran halten, sondern die Nähe der Elektromaschen zu künftig meiden. Tatsächlich steigerten sich Abneigung und Überwin dung beträchtlich, wenn man alte unerfreuliche Erfahrungen in voller Absicht auffrischen wollte. Ich überlegte, ob es in Anto-Dschagerass' Fall nicht noch eine andere Betrachtungsweise gab. Man brauchte sich nur vorzustellen, dass er nach über 70.000 Jahren erstmals wieder in seinen angestammten Körper zurückgekehrt war. Es war nicht auszu schließen, dass ihn die Konfrontation mit seinem alten Leben überfor dert hatte, zumal er mir die Details seines Lebensweges dargelegt hat te. Musste sich ein denkendes Wesen angesichts der schrecklichen 100
Zustände in der Welt nicht fragen, ob es besser war, von alledem nichts zu wissen? Lebte man freier und sorgloser, wenn einem die wirklichen Zusammenhänge des Seins verborgen blieben? Auch ich hatte mich schon mit diesen Fragen beschäftigt und keine verbindliche Antwort gefunden, da sie von vielen Stimmungen abhängig war. Manchmal glaubte ich, die Welt erobern zu können, fühlte mich stark und unüberwindlich. Es gab jedoch auch Momente, in denen ich mich schlichtweg verkriechen wollte, um nichts mehr zu sehen und zu hö ren. Dann wurde ich mit einem Mal stutzig. Da war doch immer noch eine Angelegenheit, die mir Kopfzerbrechen bereitete. Entweder hatte ich nicht mehr nachgehakt oder meine entsprechende Frage war nur ausweichend beantwortet worden. Ich wusste es nicht mehr. »Schrein? Kannst du mich hören?« »Aber natürlich, mein Freund. Natürlich kann ich dich hören. Ich bin doch immer hier.« Er antwortete so schnell, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich mit ihm sprach. »Die Priester haben mit Anto-Dschagerass dasselbe gemacht wie mit mir, nicht wahr? Ich meine, sie haben ihn implantiert, zusätzlich sein Bewusstsein fragmentiert und schließlich wieder umgekehrt.« »So hat es sich in etwa zugetragen, Richard.« »Welchen Grund gibt es dafür, dass er ausgerechnet mit mir zu sammen aufgetaucht ist?« »Ich... verstehe deine Frage nicht.« Lag ein Zögern in seiner Stimme? Fast war ich mir sicher. »Er hat sich doch nicht selbst reimplantiert! Irgendjemand hat diesen Vorgang eingeleitet. Zu einem vorgegebenen Zeitpunkt, wie mir scheint.« »Wer sollte so etwas tun?«, fragte Großvater Schrein blauäugig. »Wer hätte dazu die Möglichkeiten, Richard?« »Ich hatte da an jemanden wie dich gedacht«, platzte ich heraus.
Wieso lässt er mich jetzt auf seine Antwort warten? Ich habe bei nahe den Eindruck, dass er sich mit dem Erscheinen von AntoDschagerass verändert hat. Ich stelle Unsicherheit bei ihm fest. 101
»Warum sollte ich eine Reimplantierung veranlassen?«, fragte er schließlich. Wir bewegten uns im Kreis. Offensichtlich kam ich so nicht weiter. »Geht es dir gut?«, wollte ich von Gon'O'locc-uur wissen. »Du weißt, dass sich meine Auffassung von ›gut‹ nicht mit der deinen deckt. Letztendlich bin ich kein Mensch...« »Gibt es denn irgendwelche Schwierigkeiten, die du zu bewältigen hast?« »Wenn du auf den Angriff des Fressplasmas anspielst, so kann ich dich beruhigen. Ich habe drei gesperrte Sektoren freigegeben. Die Kämpfe sind zum Erliegen gekommen. Die Mutation ist größtenteils von Col'Shan-duur assimiliert worden.« »Nein, das hatte ich an sich nicht gemeint.« Trotzdem war der letztgenannte Aspekt interessant, ging er doch einher mit einer ande ren Aussage des Schreins, in der er von Veränderungen oder Wuche rungen in der dunklen Zitadelle gesprochen hatte, die er toleriert hät te, weil er sich dem natürlichen Wandlungsprozess, dem alles unter worfen ist, nicht hatte entgegenstellen wollen. Damit leitete ich direkt zur nächsten Frage über, was Col'Shan-duur überhaupt war? Ich hatte viel darüber spekuliert und war immer wieder in jenem kleinen Raum gelandet, von dem aus ich einen Blick auf die Erde geworfen hatte aus vielen, vielen tausend Kilometern Entfernung! Natürlich konnte ich es nicht beschwören, doch meines Erachtens musste man einen sol chen Ausblick vom irdischen Mond aus haben. War Col'Shan-duur eine einsame Station auf dem Mond? Handelte es sich um ein Raumschiff? Oder war die Ansicht der Erdkugel, wie sie langsam unter einem schwarzen Schatten begraben wurde, entgegen meines ursprünglichen Eindrucks über einen Monitor erfolgt und nicht durch ein Fenster? »Hast du Anto-Dschagerass nach Col'Shan-duur geholt?«, wech selte ich sprunghaft zum eigentlichen Thema. Langes Zögern. »Ich weiß es nicht.« Das haute mich ja fast um! »Das heißt weder ja noch nein.« Ich dachte nach. »Du erkennst doch selber den Widerspruch in deiner Aussage. Du gibst die Möglich 102
keit zumindest zu, an der Reimplantierung beteiligt gewesen zu sein.
Da du jedoch die vollständige Kontrolle über die Zitadelle hast, musst du es eigentlich sehr genau wissen. Demnach kann ich dir nur eine Funktionsstörung attestieren.« »Es gibt verschiedene neue Eindrücke«, gestand Gon'O'locc-uur. »Speicherbereiche, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren. Ich würde gerne Klarheit darüber erlangen. Hast du etwas dagegen, wenn ich mich für einige Zeit zurückziehe, Richard?« Der Schrein erweckte um ein Haar mein Mitleid. »Aber vernachlässige deine Routinearbeiten nicht«, gab ich ihm scherzhaft mit auf den Weg. Keine zehn Sekunden vergingen und ich hörte am Schnappen schwerer Stahlriegel, wie der Kernbereich sich wieder nach außen öff nete. Nur den Bruchteil dieser Zeit brauchte es, um eine Handvoll Priester hereinstürmen zu lassen. An ihren auf mich gerichteten Ge danken erkannte ich die helle Aufregung, in der sie sich befanden.
Ist alles in Ordnung mit dir, Richard? »Selbstverständlich«, antwortete ich laut. »Beim Schrein bin ich sicher wie in Abrahams Schoß.« Offensichtlich teilten sie meine Auffassung nicht. »Wir dachten schon, er hätte dir etwas angetan!«, raunten die Sprechmembranen eines Priesters, der seine kleinwüchsige Kinderge stalt zwischen den Erwachsenen hindurch schob. »Philip!«, rief ich ihm zu. Wieder sah ich die Absurdität klar vor Augen, den imposanten Höllenjäger in diesem grobschlächtigen Körper vorzufinden. Dazu mit 1.20 Meter in einer Größe, die eher Heiterkeit denn Eindruck hinterließ. »Anto-Dschagerass ist zwar nicht mein bester Kumpel«, ging ich auf die Bemerkung Ravenmoor/Sha'am-Os ein, »doch hat er sich mir gegenüber recht zivilisiert verhalten.« Ich lachte trocken. »Ich meine nicht Anto-Dschagerass! Ich rede vom Schrein!« Was, bei allen finsteren Kreaturen der Hölle, wollte er mir damit sagen? 103
»Der Komplex wurde von Gon'O'locc-uur hermetisch verschlos sen«, fuhr mein ehemaliger Mentor fort. »Aber nicht, um das Plasma fernzuhalten, sondern uns!« Die Priester sammelten sich. Ich meinte, F'att-Enoq, den Ajar, zu erkennen. Die Pigmentierung seiner Haut hatte sich mir eingeprägt. Auch glaubte ich Stakk-Ar Vel'Enan-Jai zu sehen, der an meiner Im plantierung in Tats-Lobodsch maßgeblich beteiligt gewesen war. Doch es war ebenso gut möglich, dass ich mich täuschte; die Un terscheidungsmerkmale der Priester waren aus der Sicht eines Men schen kaum zu beurteilen. »Das ist unlogisch!«, widersprach ich Ravenmoor. »Der Schrein hat keinen Grund, euch in den Rücken zu fallen. Ihr irrt euch.« Wieder ziehst du die falschen Schlüsse, dröhnte es in meinem Kopf. Diesmal war ich sicher, es mit dem Ältesten zu tun zu haben.
Den Schrein trifft keine Schuld. Er wurde nur benutzt.
»Von wem?«, schrie ich heraus. Die Anspannung der letzten Minu ten, das erlebte Grauen und der tragische Abgang von AntoDschagerass setzten mir mehr als erwartet zu. Ich wollte alleine sein mit mir selber, brauchte Ruhe, um meinen Verstand und meine Gefüh le zu ordnen. Und plötzlich lag die Antwort - die einzige Antwort - un verhüllt vor mir. »Anto-Dschagerass«, sprach Sha'am-O aus, was auch ich gerade hatte sagen wollen. Der feine Kranz seiner Sinneshärchen vibrierte leicht. »Seine Verbindung zum Schrein ist uns nicht ganz klar, doch er scheint Einfluss auf ihn genommen zu haben. Auf eine Weise, die wir genauso wenig erklären können.« »Wozu das Ganze?«, schüttelte ich zweifelnd den Kopf. »Erst kommt er aus dem Nirgendwo hierher, dann schraubt er an Gon'O' locc-uur herum, nur, um sich schließlich wieder in Luft aufzulösen.« Vielleicht glaubst du uns das jetzt nicht, Richard, meldete sich er neut der Älteste. Jedoch ist sein Erscheinen auf Col'Shan-duur uns ein
großes Mysterium. Die Initiative für seinen Transfer ist keinesfalls von unseren Amtsbrüdern ausgegangen. »Du meinst Zuul und Jai?«, präzisierte ich. Die beiden Dreibeine hatten mich nach meiner Rückkehr auf die Ankunft eines alten Be 104
kannten vorbereitet. Dann war auch schon Großvater Schrein einge
sprungen und hatte mich ins Zentrum gelotst, wo ich Anto-Dscha gerass erstmals in seinem Originalkörper begegnet war. Er hatte selt samerweise sofort gewusst, wen er vor sich gehabt hatte, obwohl ich ihm nur als Tats-Lobodsch bekannt gewesen war. »Demnach hat Gon'O'locc-uur den Layshi-Pan eigenverantwortlich zurückgeholt«, folgerte ich weiter. »Er hat ihn mit allen nötigen Infor mationen versorgt.« Zu mir selbst sagte ich: »Daher kannte er sich auf Anhieb mit der Instrumententafel aus.«
Gon'O'locc-uurs Programmierung lässt es nicht zu, Informationen weiterzugeben, die anschließend gegen ihn verwendet werden könn ten. »Genau das ist aber doch geschehen!« Ich konnte die Einfalt des Ältesten nicht nachvollziehen.
Anto-Dschagerass wusste, wie er in das Gehirn Col'Shan-duurs eindringen konnte. Er hat den Kernbereich indirekt versiegelt, um dich in Ruhe zu studieren. »Mich studieren?« Ich lachte, so grotesk war die Argumentation. »Er hat nur von sich erzählt. Eine ellenlange Geschichte. Ich weiß ga rantiert eine Menge mehr über ihn, als er über mich.«
Er weiß, dass du der Tott'amh-anuq bist, Richard. Er hat es im Speicher Gon'O'locc-uurs gelesen. Seinem mentalen Profil nach hält er sich momentan für den Einzigen, der wirkungsvoll gegen die negativen Mächte vorgehen kann. Selbst wenn er deinen Status nicht akzeptiert, wird er kaum untätig bleiben und für unsere gemeinsame Sache kämp fen. »Das wird ihm wohl nicht gelingen«, trumpfte ich auf. »Wenn er erst wieder implantiert und fragmentiert ist, wird einzig sein Name von seiner wirklichen Bestimmung zeugen.«
Falls er sich dementsprechend geäußert hat, sei versichert: Dies mal geht er als der echte Anto-Dschagerass auf die Jagd. Und sein Revier wird die Erde sein, seine Heimat. Stumm blickte ich die gesichtslosen Kreaturen an. »Ihr seid der Meinung, er könnte sich zu einem Problem entwi ckeln?«
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