JÖRG KLEUDGEN
COSMOGENESIS
Blitz
© 2005 BLITZ-Verlag GmbH Redaktion: Markus K. Korb Cover Artwork: Mark Freier Inne...
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JÖRG KLEUDGEN
COSMOGENESIS
Blitz
© 2005 BLITZ-Verlag GmbH Redaktion: Markus K. Korb Cover Artwork: Mark Freier Innenillustration: Jörg Kleudgen/Mark Freier
Lektorat: TTT, Mallorca Satz: MF, München Druck und Bindung: Drogowiec, Polen All rights reserved www.BLITZ-Verlag.de ISBN 3-89840-925-2
„Der Keller, summende Kohlefadenlampen aus schwarzem Bakelit. Im grünalgigen Ausguß sitzt eine fette Kröte. Der Meister hat sie noch nicht bemerkt. Sein Diener deckt verstohlen seine Hand darüber, führt den unerwarteten Fund zum Mund, und schluckt das Amphibium eilig, fast unzerkaut und noch lebendig hinunter.“ In den verfallenen Gassen der alten Stadt Cathay, in der es nie aufhört zu regnen, begegnen sich die Mysterien des Indischen Subkontinents und die Dekadenz Europas. Die in Vergessenheit geratene Kolonie, umgeben von wilden Urwäldern und himmelstürmenden Bergen, auf denen die Götter einer vor Jahrhunderten untergegangnen Kultur hausen, ist Schauplatz einer Sammlung grotesker Erzählungen, in denen Jörg Kleudgen einen komplexen Kosmos von dunkler Faszination erschaffen hat. Zu Recht wird „Cosmogenesis“ als die atmosphärischste und düsterste Schöpfung des Autors betrachtet. Der 1999 erschienene Privatdruck war binnen weniger Monate vergriffen. Erst in der gründlich überarbeiteten und erweiterten Neuauflage offenbart sich der große Plan, der das Schicksal Cathays bestimmt.
Der Autor: 1968 geboren in Zülpich bei Köln, begann während eines Architekturstudiums, seine schriftstellerische und musikalische Arbeit in professionelle Bahnen zu lenken. Neben etlichen phantastischen Büchern erschien 2002 in der Reihe „Die Schwarzen Führer“ des Eulen-Verlages sein Band „Eifel-Mosel“, ein Reiseführer zu sagenumwobenen Stätten. Außerdem werden seine Geschichten als Beilage zu den Tonträgern seiner Band THE HOUSE OF USHER veröffentlicht, welche als eine der letzten deutschen Bands einen klassischen authentischen Gothic-Rockstil pflegt. Mit ihr veröffentlichte er fünf Alben und etliche Singles und trat auf bedeutenden Festivals, u. a. in Deutschland, Belgien, Italien, Frankreich, England und dem Libanon auf.
TRANSMUTATION
„Gott erschuf den Menschen mit seinen eigenen Händen, doch als er schlief, säte der Teufel die böse Saat des Unreinen in des Menschen Herz, um Mord, Zwietracht und Laster zu ernten. Und als der Herr sah, was mit seinen mißratenen Zöglingen geschehen, sandte er Feuer, Erdbeben, schreckliche Fluten und Stürme, ihn vom Antlitz der Erde auszulöschen.“ „Evangelium des XX. Jhdt.“ Richard Ernst
WENN ICH IM FOLGENDEN von der Geschichte Cathays berichte, so dürfen Sie, lieber Leser dieses Reports, sich darauf verlassen, daß jedes meiner Worte von mir sorgfältig abgewogen und nach bestem Wissen und Gewissen auf seinen Wahrheitsgehalt geprüft wurde. Wenngleich ich den Schwerpunkt meiner Forschung auf die Chemie und deren Randgebiete gelegt habe, so habe ich mir doch im Laufe meines Lebens eine empirische Vorgehensweise angeeignet, die mich dazu zwingt, jede Theorie so lange anzuzweifeln, bis ich den Beweis erbracht habe, daß es nur so und nicht anders sein kann. Und bevor ich auf die Ereignisse zu sprechen komme, die ich als Augenzeuge selbst miterlebt habe, möchte ich über jene Dinge berichten, die meines Erachtens erst den Boden hier bereitet haben. Ich bin – im Gegensatz zu den meisten Menschen europäischer Abstammung hier – nicht in Cathay geboren. An der Seite meines Lehrmeisters kam ich vor vielen Jahren hierher, auf der Flucht vor einem menschenverachtenden Regime, mit dem wir leichtsinnig geliebäugelt hatten. Auf die näheren Umstände will ich nicht ausführlicher eingehen, denn sie würden lediglich von den Dingen ablenken, wegen derer ich das Wort erhebe. Allein soviel will ich sagen: am Vorabend eines gewaltigen Weltenbrandes hatten wir hoch gepokert und alles verloren, beinahe auch unser Leben. Während mein Meister, eben erst hier angekommen, wo er sich – für mich unverständlich – sogleich wohlfühlte, mit der Wiederaufnahme seiner Forschungen begann, interessierte ich mich in erster Linie für die Vergangenheit dieses obskuren Ortes. Leider waren die Quellen, derer ich mich bedienen konnte, äußerst dürftig. Die Universität der Stadt verfügte zwar über einen ansehnlichen Bestand, der vor allem aus den verwaisten
Privatsammlungen reicher Kaufleute genährt worden war, doch hatte sich kaum ein Chronist gefunden, die Stadtgeschichte niederzuschreiben. So erschien es mir wie eine kleine Sensation, als ich, kaum wohnten wir gut zwei Monate in einem ehemaligen Patrizierhaus, das günstig zum Verkauf angeboten worden war, auf einen Bericht stieß, der sich – in einer ledernen Kladde verborgen – in ein verstaubtes Regal mit belletristischer Literatur verirrt hatte. Der Text, dessen Autor bedauerlicherweise nicht genannt wurde, kündete von der ersten Besiedlung Cathays durch Flüchtlinge aus dem Dreißigjährigen Krieg im Jahre 1636. Nun, es wäre vielleicht falsch, von einer tatsächlichen Besiedelung zu sprechen, denn eine solche setzt den Willen dazu voraus, die ersten europäischen Bewohner Cathays aber waren alles andere als freiwillig gekommen. Ihr Segelschiff, die Crusade, strandete in der stürmischen und nebligen Nacht vom 10. auf den 11. November 1636 an der zerklüfteten Küste vor der Bucht, die der Stadt heute als natürlicher Hafen dient. Ich bin einmal zu den Klippen hinausgefahren. Wie Haifischzähne wachsen sie aus dem Meer, bedrohlich, messerscharf und eine Gefahr für jedes Schiff, auch heute noch, wenn sie bei Flut knapp unter der Oberfläche der See lauern. Als ich den Bericht vom Schicksal der Crusade las, begann ich mich für die Nautik zu interessieren. Es gibt drunten am Hafen einen kleinen Laden, der allerlei Schiffahrtszubehör führt, zum Teil auch sehr alte Gerätschaften. Ich stieß dort auf einen verrosteten Sextanten, in den die Jahreszahl „1596“ eingraviert war. Womöglich stammt er noch von dem gekenterten Schiff und wurde irgendwann von eingeborenen Perlentauchern gefunden. Ich erstand ihn für einen lächerlich geringen Geldbetrag und verwende ihn heute als Buchstütze.
Sieben Seeleute, ein deutscher Kaufmann und eine Frau, die als einziger Passagier an Bord zu den weiter östlich gelegenen britischen Kolonien gebracht werden sollte, konnten sich von dem der Länge nach aufgeschlitzten Schiff an Land retten, waren dort aber gleich einer weiteren Gefahr ausgesetzt: jenseits der weitläufigen, felsigen Bucht wartete der Urwald mit wilden Bestien und kannibalischen Ureinwohnern. Man beschloß, nicht weiter ins Landesinnere vorzudringen, sondern auf einer kleinen Anhöhe eine provisorische Unterkunft, ein Blockhaus, zu errichten, das sich notfalls auch von wenigen Männern verteidigen ließ. Innerhalb weniger Tage wurde das Gebäude aus den angespülten Trümmern des Schiffes und gefällten Bäumen aus dem nahen Urwald erbaut. Es soll sogar über einen Speicher verfügt haben, auf dem die dürftigen Vorräte gelagert und Fische geräuchert werden konnten. Von der Ladung hatten die Männer lediglich eine einzige eisenbeschlagene Kiste bergen können. Über ihren Inhalt war nichts bekannt, aber allein die Tatsache, daß sie von dem Chronisten erwähnt wird, läßt eine herausragende Bedeutung erahnen. In der Tat wird dieser Inhalt in Bezug auf die Geschichte, die ich erzählen möchte, noch eine Rolle spielen. Die wenigen Dinge, die das Meer an Land spülte, waren durch das Salzwasser vollkommen verdorben. Aber mit der Crusade gelangte etwas Monströses, etwas nicht Greifbares an den Ort, der später Cathay genannt werden sollte. Dieses Etwas manifestierte sich bereits nach wenigen Wochen in Form einer furchtbaren Krankheit, die einen der Seeleute nach dem anderen erfaßte: man hatte vollkommen unbemerkt die Pest an Bord gehabt. Als erstes erkrankte die britische Passagierin. Es stand außer Frage, daß Rattenflöhe die Krankheit übertragen hatten, aber es war müßig, die Frage der Schuld zu stellen. Die Besatzung der
Crusade hatte keine Ahnung, was in einem Fall wie dem nun eingetretenen zu tun war. Man errichtete an einem höhergelegenen Berghang eine weitere Holzhütte zur Abgrenzung der Kranken – bereits nach einer Woche waren fünf Leute betroffen – und versorgte deren Wunden. Nach zwei Wochen elenden Dahinsiechens starb die Frau völlig entkräftet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es auch den Letzten erwischte. Der allerdings führte tapfer das Logbuch der Crusade fort bis zu seinem Tode. Dieses Logbuch mußte wohl auch dem unbekannten Chronisten als Grundlage für seinen Bericht gedient haben.
NEBEN DEN IN ALLEN DETAILS beschriebenen schrecklichen Qualen der verfluchten Seeleute stieß ich auf die Schilderung einer Begebenheit, die der Autor eher beiläufig erwähnte. Und zwar war hier die Rede von einem Schacht, der in einen Berg unweit der heutigen Stadt getrieben, jedoch kurz nach seiner Fertigstellung mit lockerem Geröll zugeschüttet worden war. Aus welchem Grund war das geschehen? Was hatten die Schiffbrüchigen dort vergraben? Und wenn die Geschichte stimmte: ruhte das Geheimnis noch immer dort, wo es einst zur Ruhe gebettet worden war? Neben der Geschichte Cathays im Allgemeinen begann mich nun auch das Schicksal des Stollens brennend zu interessieren. Auf den gab es auch in der nächsten Quelle, auf die ich zwei Wochen später in einem Antiquariat stieß, einen Hinweis, und zwar in Gottlieb Brekers Historie der Siedlung Kathai von 1878, einem zwar rührig recherchierten, aber insgesamt doch sehr unzulänglichen Werk, das zum größten Teil aus einer Wiedergabe von Frachtschiffstonnagen bestand. Aber
immerhin deckte es die Zeit von der ersten geplanten Besiedelung im Jahr 1715 bis zu dem Zeitpunkt, da das Buch verfaßt worden war, ab. Darüber hinaus gab es Auskunft darüber, wann welches Gebäude errichtet worden war und enthielt sogar einige höchst aufschlußreiche Grundrisse. Das Buch war inzwischen wohl längst von den geschichtlich interessierten Köpfen der Stadt vergessen worden, hatte es doch überhaupt nur in einer Auflage von 175 handnumerierten Exemplaren existiert. Hierin fand ich eine Bestätigung des Logbuches der Crusade, denn es wurde geschildert, wie der reiche Lübecker Kaufmann Gustav Hansen eine Expedition aussandte, um Spuren seines vor der ostindischen Küste verschollenen Großvaters zu finden, und dabei auf die Reste einer Siedlung und – man beachte dies! – einen Stollen stieß. Handelte es sich dabei um jenen Stollen, den die Gestrandeten rund achtzig Jahre zuvor in den Fels getrieben hatten? Doch die Expedition ließ den verschütteten Eingang unbehelligt und begnügte sich damit, die sterblichen Überreste des letzten an der Epidemie Gestorbenen zu begraben und einen kleinen Friedhof mit Holzkreuzen zu errichten, der sich an derselben Stelle befand, wo auch heute noch die Toten Cathays ihre letzte Ruhe finden. Einige Expeditionsteilnehmer – es handelte sich ausnahmslos um Deutsche – ließen sich in der Bucht nieder und begannen, einige niedrige Holzhütten zu errichten. Die Schilderungen des Dschungelfiebers, das immer wieder auf die Siedlung übergriff, sowie der Kämpfe mit den Eingeborenen erweckten in mir den Eindruck eines wenig lebenswerten Daseins, und ich begann zu verstehen, woher die kränkliche Ausstrahlung der Stadt rührte. Immerhin schien sich die Siedlung soweit zu festigen, daß Hansen im Jahr 1732 selbst nach Cathay zog, um hier eine
Handelsstation zu gründen. Es ließ sich tatsächlich mit den Eingeborenen Handel betreiben. Ihre Artefakte aus Elfenbein und Obsidian sowie dem Gold, das im Oberlauf des reißenden Flusses Kar gewaschen wurde, brachten den Europäern in der Heimat gute Profite. Im Tausch brachten sie den Urwaldmenschen ihre europäische Kultur mit all ihren negativen Auswirkungen. Vor allem mit hochprozentigen Alkoholika richteten die ungeladenen Einwanderer großen Schaden unter den Eingeborenen an, die nur das herbe, durch die Gärung verschiedener – von ihren Frauen zerkauter – Baumfrüchte hergestellte, bierartige Getränk kannten, das ausschließlich zu kultischen Anlässen getrunken wurde. Die Annäherung der Rassen ging nach wenigen Jahren allerdings soweit, daß Gustav Hansen eine der sanften Eingeborenenfrauen heiratete und somit die Bindungen an den mächtigsten Stamm des nahen Waldes festigte. Die vermeintlich Wilden kürten ihn zu einer Art Stammesältesten, dessen Wort neben dem des bisherigen Häuptlings nahezu gleichviel galt. Virginia Hansen – ihren ursprünglichen Namen konnten die Zungen der europäischen Einwanderer nicht korrekt wiedergeben – gebar ihrem Mann einen Sohn, doch das scheinbare Glück ihrer Schwangerschaft verwandelte sich am Tag der Niederkunft in Abscheu und Entsetzen. Es gab nur wenige Menschen, die das Kind der Frau zu Gesicht bekamen (den Gerüchten nach gehörte noch nicht einmal sie selbst dazu), bevor man es im Dschungel aussetzte, um es seinem Schicksal zu überlassen. Breker geht in seiner Chronik nicht näher auf dieses Ereignis von 1746 ein, aber die kurz darauf erlassenen Gesetze, die die Ehe zwischen Eingeborenen und Menschen europäischer Abstammung, insbesondere aber das Mischen des Bluts beider verboten, gehen darauf zurück.
Und wenn es später doch zu Bastarden beider Rassen kam, dann stand ihr Leben oft unter einem schlechten Stern, egal ob nun gesund oder mißgebildet. Die Geschehnisse in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts indes konnten Cathays Aufstieg zum wichtigen Handelsstützpunkt Europas auf dem indischen Subkontinent nicht bremsen. Das Handelskontor Hansens war Cathays erster Steinbau gewesen. Es steht noch immer an seinem ursprünglichen Platz direkt neben dem alten Hafenkran, der allerdings erst später errichtet wurde. Das Datum auf dem Abschlußstein des gotischen Bogens über dem Eingang nennt das Jahr 1738 für die Fertigstellung. Bald folgten weitere Bauten. Es hatte sich auch im alten Europa, besonders in Hansens Heimat, herumgesprochen, daß das Leben in Cathay angenehm sei und sich dort der deutschen Depression leicht entfliehen lasse. Cathay stieg und stieg, wurde zur lebendigen, reichen Stadt, einer Stadt, in der Kultur und Kunst einen Aufschwung erlebten, beeinflußt vom Geist zweier Kontinente. Doch auch das Dunkle wirkte forthin und erreichte eine Blüte. Dekadenz, Genußsucht und die Inzucht, die in Cathay unaufhaltsam an Macht gewannen, untergruben die blühende Stadt und ließen ihren Fall unvermeidbar erscheinen.
MIR KOMMT ES VOR, als habe sich Cathay seit jenen historischen Tagen kaum verändert, denn so fand ich es vor: eine düstere, von einem unseligen Geist beherrschte Ruine, deren einst blühendes Leben etwas anderem gewichen ist, etwas, das ich bislang nicht habe fassen können. Von Anfang an suchte ich in der Geschichte Cathays Abwechslung von den immer verwunderlicher werdenden
Versuchen meines Meisters, die jeden gelehrten Geist gleichermaßen in Staunen wie Abscheu versetzt hätten, und die alle einem einzigen Ziel dienen. Bislang ist er nicht erfolgreich gewesen, obgleich auch ich mein Bestes tat, um ihn zu unterstützen. Meine Studien nahmen mich gewiß eine Zeitlang in Anspruch, sicher, doch wenn er mich brauchte, der Meister, so war ich ihm zu Diensten. Vor zwei Monaten etwa fanden wir das lang gesuchte Blut von Golgatha, ein sirupartiges, zähflüssiges Elixier, das von vielen gelehrten Alchimisten schon oft aufs Genauste beschrieben und doch von keinem heute noch lebenden Menschen je erblickt worden war. Nach der Beendigung der abscheulichen Zeremonie, während derer wir es generierten, schlief mein Meister noch vor der Versuchsanordnung ein, ich aber schlich mich aus der Mansarde die Treppe hinab und verließ das Haus. An jenem Tag stieß ich in der Privatbibliothek der Psychiatrischen Abteilung der Universität Cathays, zu der ich mir unter dem Vorwand der Forschung Zutritt verschafft hatte, auf die Kliniktagebücher Doktor Justus Ardenheims, der im Jahre 1871 die Errichtung der Psychiatrie durchgesetzt hatte, nachdem sich die Fälle vererbungsbedingten Schwachsinns in bedrohlichem Maße gehäuft hatten. Ich erwartete kaum, in diesem Tagebuch etwas über die Stadt oder gar jenen Stollen zu erfahren, der mich in meinen Gedanken stets beschäftigte. Wieviele Wanderungen hatten mich sowohl tagsüber als auch zu nächtlicher Stunde durch die unheimlichen Gassen Cathays und in das umgebende Grenzland zwischen Stadt und Dschungel geführt, ohne daß ich fündig geworden war! Ich weiß nicht, warum ich das Buch schließlich doch aus dem Regal nahm. Vielleicht, weil es eine Zeit beschrieb, über die
ich kaum etwas wußte. Erfreulicherweise stellte sich heraus, daß es zugleich die wissenschaftlichen Ergebnisse von Ardenheims Forschung wiedergab wie auch höchst persönliche und gesellschaftliche Ereignisse. Der Doktor hatte ein wertvolles Dokument über seine Zeit angefertigt. Für mich war es von um so größerem Wert, als ich völlig unverhofft auf einen Eintrag stieß, der einen Patienten betraf, der als einer der ersten in die von Ardenheim geleitete Klinik eingewiesen worden war. Sein Name war Tomasz Waldczeck, und seine Vorfahren waren rund hundert Jahre zuvor mit einer polnischen Auswanderergruppe nach Cathay gekommen, wo sie es als geschickte Handwerker rasch zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht hatten. Waldczeck war offensichtlich wahnsinnig. Nicht nur die Dinge, von denen er sprach und die teilweise in den Protokollen Ardenheims wiedergegeben waren – schreckliche, gestaltlose Alpträume, die den Mann allnächtlich heimsuchten –, auch seine wiederholte Aussage, er sei tief in den Bauch der Erde vorgedrungen, mehr noch aber sein merkwürdiges Verhalten, wiesen ihn als hochgradig schizophren aus. Man mußte diesen Mann vor sich selbst schützen, das stand für Dr. Ardenheim fest. Immer wieder fiel in dessen Bericht der Begriff eines Loches, das, uralt und menschenvergessen, nach Ansicht des Psychiaters als einziges Element der verworrenen Geschichte Waldczecks tatsächlich existierte, und das er gefunden zu haben glaubte. Der Doktor hatte gar eine grobe, unbeholfene Erinnerungsskizze des Fundortes gezeichnet, sie jedoch bedauerlicherweise nicht genordet und auch sonst mit Hinweisen gegeizt. Trotzdem kam mir irgendetwas daran bekannt vor. Ich lieh das Buch aus und begab mich damit auf schnellstem Wege zu dem Haus, das wir bewohnten.
Es war früher Nachmittag, doch als ich die Treppe hinaufstieg, vernahm ich eine Vielzahl von Geräuschen, die besagten, daß mein Meister entgegen seiner Gewohnheit, nachts zu arbeiten, bereits dabei war, einen neuen Versuch vorzubereiten. Entweder hatte sich das Blut von Golgatha im Nachhinein doch instabil erwiesen, oder aber es war nur ein weiterer Schritt in Richtung des Zieles gewesen, das wir seit vielen Jahren verfolgten: der Transmutation eines unedlen Metalls wie Blei in Gold! „Ich bin dem Ziel ganz nahe! Diesmal soll’s gelingen!“ stieß der Meister, wie immer in einen schäbigen, weißen Laborkittel gekleidet, mit glasigem, fanatischen Blick hervor, während er einen Erlenmeyerkolben gegen das Licht hob, das gedämpft durch eine verhangene Dachluke fiel. Wie oft hatte ich das bereits aus dem Mund Franz Tausends gehört? Wie lange hatte er die Geldgeber in der Heimat mit seinen Versprechungen hingehalten. Und auch mich. Ja, ich glaubte an ihn, das muß ich gestehen. Es war ohnehin zu spät, aufzugeben. „Was hast du denn da, laß sehen!“ Er duldete wie üblich keine Widerrede. „Tagebuch Dr. Ardenheims von 1873 bis 1937’. Hmm, was war der Mann… Psychiater, ha! Willst du mich…“ Franz Tausend war hochgradig paranoid, kein Wunder, wenn man bedachte, was er alles durchgemacht hatte. Sprunghafte Stimmungsumschwünge waren ebenso an der Tagesordnung wie lang anhaltende Phasen der Depression. Dennoch betrieb er seine Wissenschaft äußerst beharrlich. „An die Arbeit!“ rief er aus und riß meinen weißen Kittel aus dem Spind, um ihn mir zuzuwerfen. Ich konnte nicht anders, als Ardenheims Tagebuch fallen zu lassen. „Wir haben keine Sekunde zu verlieren! Schau, dies erhielt ich heute mittag im Hafen!“
Er hob ein verkratztes Glas gegen das Licht. Es enthielt durchscheinende Steine. Etwas schien darin eingeschlossen zu sein. Bernstein. ,Tränen Gottes‘ stand auf einem vergilbten Etikett geschrieben. „Wir müssen morgen sehr früh aufstehen und uns zum Taubabziehen auf das Mondfeld am Rande der Stadt begeben“, meinte Tausend und schraubte den Verschluß des Glases auf, um einen Stein in die linke Hand rollen zu lassen. Vorsichtig gab er ihn in eine Retorte, in der eine dickflüssige Substanz siedete. Dann schwieg er. Widerspruch duldete Franz Tausend nicht. Während der Arbeit gelang es mir dann doch, ihm von meinen Erkundungen der Cathayschen Geschichte zu berichten. Zuerst schien er mir gar nicht zuzuhören. Als ich von der verschollenen Kiste, der Fracht der Crusade berichtete, wendete er den Blick für einen kurzen Moment von der Versuchsapparatur ab und zog die linke Augenbraue in die Höhe. Er sagte jedoch nichts. Ich fuhr mit meinen Schilderungen fort und hätte kaum geglaubt, daß ich einen Funken des Interesses in ihm geschlagen haben könnte.
ÜBER DIE JÜNGERE GESCHICHTE der Stadt gibt es eine Vielzahl von sicheren Quellen, darunter der glücklicherweise komplett archivierte, wöchentlich erscheinende „Cathay Kurier“. Vom Niedergang der Stadt berichteten vor allem zeitgenössische Chronisten aus der Zeit nach dem Großen Krieg, in dem Cathay eine unbedeutende Rolle gespielt hatte, als nur wenige Seemeilen entfernt ein deutsches und ein britisches Panzerschiff aufeinandergestoßen waren. Eine Granate hatte sich im Laufe des Gefechtes verirrt und war im Bahnhof eingeschlagen, wo damals noch mindestens einmal
pro Woche der Postzug als einzig regelmäßige Verbindung mit dem Rest des Landes eingelaufen war. Zu Beginn der Zwanziger Jahre, als der Abstieg der Stadt greifbare Form angenommen hatte und sich auch die optimistischsten Naturen nach der Zukunft zu fragen begannen, war die Stadt beinahe an ihrem eigenen Müll erstickt. In der veralteten Kanalisation hatte sich im Lauf der Zeit ein dichtes Schimmelpilzgeflecht ausgebreitet und die engen Gänge vollkommen verstopft. Fett, Pflanzenfasern und Abfälle hatten dem Organismus, der zum Teil durch die giftigen Abwässer eine Mutation durchlaufen hatte, als Nahrung gedient. Nur unter diesen günstigen Bedingungen hatte das amöbenhafte Wesen die Grenzen des natürlichen Wachstums überwinden können. Schenkte man den Schilderungen der Kommission Glauben, die zur Reinigung der Abwasserkanäle eingesetzt worden war, so war es unwahrscheinlich schwierig gewesen, der botanischen Kreatur beizukommen. Sie war schlichtweg schneller nachgewuchert, als man sie hatte vernichten können. Irgendjemand war auf die Idee gekommen, das widerstandsfähige Gewächs mit Feuer zu bekämpfen. Tatsächlich hatten sich soviel Petroleum und Fett in den steinernen Röhren angesammelt und im Gewebe des Pilzes abgelagert, daß die Flammen munter durch die Kanalisation gefegt waren. Leider hatten sie durch aufsteigende Schächte auf die marode Bausubstanz Cathays übergegriffen, und bei dem außer Kontrolle geratenen Feuer war beinahe ein Drittel der gesamten Stadt abgebrannt. Es wäre ein Segen gewesen, hätte die Feuersbrunst Cathay vollkommen vernichtet! Im Zuge der Industrialisierung war 1935 eine chemische Fabrik am südöstlichen Stadtrand errichtet worden, ferner hatte
man stolz eine eigene Straßenbahn eingeweiht, welche die Stadt seither in einer regelmäßigen Acht durchkreiste.
DIE VERSUCHSREIHE WAR FEHLGESCHLAGEN, und weitere folgten ihr. Keines der durchgeführten Experimente hatte den gewünschten Erfolg gebracht, stets war das Ergebnis, das wir unserem Schmelzofen entnahmen, eine amorphe, klumpige Masse von meist bleigrauer Färbung. Blei war Blei geblieben. Wie hätte es auch anders sein sollen? Wir jagten einem Phantom hinterher, hatten wertvolle Jahre unseres Lebens einem Traum geopfert, einem Hirngespinst. Auch Tausend war zutiefst deprimiert. Er schickte mich für eine ganze Woche aus dem Labor, und zuerst glaubte ich, er arbeite fieberhaft an neuen Versuchen, doch dann stellte ich fest, daß das Labor unbeleuchtet war und mein Meister sich in seinen Privaträumen aufhielt. Er mußte in diesen schweren Stunden eine tiefe Sinnkrise durchleben.
NACH VERSTREICHEN dieser von Untätigkeit geprägten Woche trat mir eines Nachmittags ein sichtlich entspannter, wenn auch abgemagerter Franz Tausend entgegen. Ich war gerade im Begriff gewesen, einen Tee aufzubrühen. „Hanns, komm, wiederhole noch einmal, wovon du letztens im Labor erzählt hast… die Geschichte von der eisenbeschlagenen Truhe…“ Ich war so verwirrt, daß ich die Einzelheiten nicht mehr richtig herausbekam, doch als wir beim Tee die Skizzen Dr. Ardenheims studierten und ich den fiebrigen Glanz in den Augen Tausends sah, wußte ich, daß ich ein Feuer entflammt hatte, so heiß, daß es diesen Menschen verzehren konnte.
Und so kam es, daß wir am nächsten Morgen nach der ersten durchschlafenen Nacht seit Wochen voll neu erwachter Kraft in die Hügelkette nördlich Cathays aufbrachen, die sich stetig höher und höher auftürmte und nur wenig landeinwärts alpinen Charakter gewann. Eine seltsame Expedition waren wir. Ich mit den knielangen Hosen und einem Wollpullover, der meinen untrainierten Körper noch fülliger wirken ließ, einen Rucksack auf den Rücken geschnallt; Tausend, der Grabwerkzeug trug, mit dem pittoresken, fast lächerlichen Tropenhelm, dem dünnen Hemd und der Hose, die um seine Knöchel flatterte. Unsere Suche richtete sich nach den Karten Dr. Ardenheims – natürlich, denn sie versprachen die größte Trefferquote –, doch wie erwartet erwiesen sie sich als äußerst ungenau. Bald begannen wir, Skizzen der Wege zu zeichnen, die wir bislang beschriften hatten, schmale, felsige Pfade, die durch Täler und über schroffe Grate führten. Aus dem so gewonnenen Muster wollten wir Rückschlüsse ziehen. Es wurde Abend, wir übernachteten in einer Hütte am Rande der Waldgrenze, wo sich ein Hirte mit indischen Bergziegen niedergelassen hatte, der den wenigen Wanderern, die sich gelegentlich hierher verirrten, Schutz und Unterstand bot. Und es wurde Morgen. Als wir bei dem Frühstück, bestehend aus dem selbstgebackenen Brot und dem Käse, den der Einsiedler aus der Milch seiner Ziegen gewann, unsere Karten auf dem groben Tisch ausbreiteten, kam der wortkarge Mann hinzu und runzelte die Stirn. Er wies uns darauf hin, daß wir eine der Karten um 90° drehen müßten. Er hatte sich in einer von Ardenheims Skizzen zurechtgefunden! Als wir ihm erklärten, daß wir einen Stollen suchten, nickte er wissend und fand sich bereit, uns zu dem Ort zu führen, wenn wir nur abwarteten, bis er seine Tiere versorgt habe.
Die Zeit zog sich endlos dahin. Ich glaube, Tausend war noch ungeduldiger als ich. Hinter vorgehaltener Hand fluchte er über den unzivilisierten Gastgeber und trieb diesen zu größter Eile an. Der Mann aber meinte nur, der verschüttete Schacht sei ja schon seit Menschengedenken dort, er werde auch in hundert Jahren noch unversehrt sein. Der Weg war nicht weit. Gut eine halbe Stunde bemühten wir uns, mit dem drahtigen Mann, der nicht die geringste Rücksicht auf unsere städtische Kondition nahm, Schritt zu halten, dann erreichten wir die südlichen Hänge des Kalvarienberges, einen schroffen Abhang, auf dem nur vereinzelt dorniges Gestrüpp wuchs. In weiter Ferne ließ sich im Morgendunst Cathay erahnen. Vermutlich schlief man dort noch. Die Sonne hatte den Grat zur Rechten noch nicht erklommen. Als wir von der Hütte des Einsiedlers losgezogen waren, hatte diese bereits im wärmenden Schein gelegen, doch hier war es merklich kühler. Erst im Laufe des Tages würde, wie wir bald merken sollten, die sengende Hitze auch diese reflektierende Wand erreichen. Unser Führer sprach immer noch nicht viel, doch plötzlich machte er Halt. Der Weg verbreiterte sich so, daß hier eine Gruppe von fünf oder mehr Männern bequem Platz gefunden hätte. Wir hatten unser Ziel erreicht! Der Ziegenhirte deutete auf ein verschüttetes Loch, das wohl einen Durchmesser von gut anderthalb Metern gehabt hatte. War dies etwa der gesuchte Stollen? Warum so weit von der Stadt entfernt? Zum ersten Mal überkam mich ein ungutes Gefühl. Hatte man die Kiste wegschaffen wollen, aus der unmittelbaren
Reichweite der Siedlung entfernen? Warum, so fragte ich mich, hatte man sie dann nicht einfach im Meer versenkt? Nun, man weiß, daß gewisse Dinge immer wieder aus dem Meer zurückkehren, und ich stellte mir vor, wie die Kiste von einer besonders stürmischen Flut an Land gespült wurde. Franz Tausend interessierten solche Fragen in diesem Moment nicht. Er dankte unserem Führer und reichte ihm für seine Dienste einen kleinen ledernen Beutel, in dem sich Tabak befand. Dieses Zahlungsmittel war durchaus nicht unüblich und für den Mann gewiß mehr wert als bares Geld, mit dem er nur in der Stadt etwas hätte anfangen können. Der Hirte verabschiedete sich rasch mit der Erklärung, er müsse seine Tiere versorgen, und stieg dann in entgegengesetzter Richtung bergauf. Tausend und ich inspizierten den eingestürzten Stollen. Offenbar hatten zuerst Waldczeck, dann Ardenheim, die beide vor uns hier gewesen waren, ganze Arbeit geleistet und einen Durchgang geschaffen, der erst später wieder durch die Bodenbewegung verschüttet worden war. Würden wir die Kiste – wenn es überhaupt eine gab – wohl unversehrt finden? In Ardenheims Tagebuch stand nichts davon, daß er sie gefunden oder gar geöffnet hatte. Die Spannung stieg ins Unermeßliche, während sich unsere Schaufeln ins lockere Geröll fraßen und der Durchgang mit jedem Stich größer wurde. Die Luft, die aus der Höhle drang, war frisch, unverbraucht und erfreulich kühl. Wir waren trotzdem bald bis aufs Hemd naßgeschwitzt, denn die Sonne stand nun direkt über der Wand und verdorrte alles, was nicht aus Stein war, aufs Ungnädigste. Endlich, wir hatten das Geröll so weit zur Seite geschafft, daß ein Nachrutschen nicht zu befürchten war, war der Weg frei. Ha! Der Weg, sage ich! Es war ein Loch, das sich unserem neugierigen Blick im Licht der mitgefühlten Taschenlampe
offenbarte! Die Männer, die einst den Stollen gegraben, hatten seinen Durchmesser gerade so angelegt, daß sie selbst hatten darin arbeiten können. Kein überflüssiger Zentimeter Fels war abgeschlagen worden. Hätte man hier etwas Wertvolles verstecken und vernünftig sichern wollen, so hätte man gewiß mehr Sorgfalt aufgebracht. Ich wollte in das Loch hineinsteigen, da ergriff Tausend mich an der Schulter und meinte: „Laß mich, Hanns! Ich bin zu gespannt auf das, was uns dort erwartet, und du hast deinen Teil ja schon beigetragen…“ Ich wollte einen Moment lang widersprechen, nickte dann aber nur. Franz Tausend war kein Mann, der den persönlichen Triumph suchte und die Leistung anderer unterschlug. Schon war er zur Hälfte in dem düstren Schlund verschwunden, da hallte seine Stimme dumpf zu mir heraus. „Reich mir die Taschenlampe, es ist stockfinster hier! Das Tageslicht wird vom Gesteinsstaub in der Luft sofort geschluckt!“ Ich tat das Gewünschte, vernahm ein Husten, dann die schlurfenden Laute des gebückt gehenden Tausend auf dem Schotter, der den Boden der künstlichen Höhle bedeckte. Minuten vergingen. Dann ertönte ein ferner Aufschrei… und bald vernahm ich das Rumpeln eines schweren Gegenstandes, der über den Boden geschleift wurde… die Truhe!? „Hilf mir, Hanns!“ stieß Tausend hervor. Sein Gesicht tauchte als bleiches Oval in der Düsternis des Tunnels auf und verschwand gleich wieder. Ich wollte schon in den Schacht steigen, da schob sich mir der vordere Teil einer kleinen, aber ausgesprochen gewichtigen hölzernen Lade entgegen. „Sie ist verdammt schwer!“ Ich griff mit beiden Händen unter den Boden der Kiste. Mit vereinter Kraft hievten wir sie über die Schwelle aus Geröll,
die vor dem Loch im Fels lag, dann setzten wir sie vorsichtig ab. Tausend sah erbärmlich aus. Sein Anzug, dank der verzehrenden Arbeit der letzten Wochen um den ausgemergelten Körper flatternd, war völlig verstaubt. Die Haare standen wüst in alle Richtungen ab, und der Staub hatte sich in der kurzen Zeit selbst auf seinen Gesichtszügen abgesetzt. Doch sein Gesichtsausdruck versprach so viel Optimismus, daß ich das Ende des Tals in Sicht hoffte. Die Kiste bestand aus einem hellen Holz, vermutlich Eiche. Es war gequollen und rissig, wurde jedoch durch die ehernen Bänder vorzüglich eingefaßt und hatte über die Jahrhunderte hinweg seinen Schatz wohl behütet. Das Schloß allerdings war aufgebrochen, wenn es überhaupt jemals verschlossen gewesen war. Wir waren Narren gewesen, wenn wir erwartet hatten, die Kiste unversehrt zu finden, nachdem zuerst Waldczeck, dann Ardenheim ihren Aufbewahrungsort gefunden hatten. Doch ihr Gewicht sprach dafür, daß sich noch etwas darin befand. Wir verloren keine Zeit, dies zu überprüfen. Tausend schob den Riegel beiseite, der Deckel und Kasten verband. Er ließ sich so leicht bewegen, als sei er gerade geölt und stets benutzt worden. Dann der bange Moment, in dem wir den Deckel aufklappten und brütendes Sonnenlicht den jahrhundertelang in Finsternis verharrten Hohlraum erfüllte. Ich war von dem Anblick, der sich uns bot, zutiefst enttäuscht. Es war ein Stein, ein unscheinbarer, etwa kindskopfgroßer Felsklumpen, der nicht den Eindruck machte, als handle es sich bei ihm um ein besonders wertvolles Mineral.
Hatten Ardenheim oder Waldczeck ihn in der Kiste hinterlassen, oder war diese schon lange vorher gefunden und ausgeraubt worden? Ich wollte ihn aus dem Behälter, der mehr wert schien als er selbst, herausheben, da legten sich Franz Tausends Hände auf meinen Arm: „Nein, berühre ihn nicht, jedenfalls nicht mit bloßen Händen. Wir wissen nicht, um was es sich hier handelt, aber ich habe eine Vermutung, die ich mit Hilfe einiger Versuche gerne bestätigen würde.“ Ich hatte erwartet, daß mein Meister beim enttäuschenden Anblick des Felsbrockens in Tränen ausbrechen würde, doch ihn schien diese Entdeckung weitaus weniger mitzunehmen als mich. Hatte er mit etwas Derartigem gerechnet? Er hatte es nun plötzlich eilig, klappte den gewölbten Deckel der Kiste zu und wies mich an, sie an einem der seitlichen Griffe zu packen. Gemeinsam machten wir uns auf den direkten Rückweg nach Cathay, dessen Stadtrand wir kurz vor dem Dunkelwerden erreichten.
FRANZ TAUSEND WURDE in den darauffolgenden Tagen immer schweigsamer und absonderlicher. Er behandelte den Stein sehr sorgfältig, und ich fragte mich, ob er ihn wohl für so außerordentlich wertvoll hielt oder sich davor fürchtete, daß er ihn nur durch doppelwandiges, zentimeterdickes Glas zu betrachten wagte und niemals berührte. Nachts schloß er ihn gar in den schweren, bleigefutterten Tresor, aus dem er zuvor alle Proben, auch die der bisher vielversprechenden Experimente, entfernt hatte. Früher war es unvorstellbar gewesen, daß ich auch nur Einblick in diesen Schrank hatte, nun räumte er die Ergebnisse jahrelanger Arbeit
auf das breite, spinnenverwobene Fensterbrett zur Straße hin, so als habe all das seinen Wert verloren. Die Versuche, die wir nun machten, waren eher physikalischer denn chemischer Natur. Ständig mußte ich Photoplatten entwickeln, die Tausend in der Nacht mit seltsamen Mustern belichtet hatte. Einmal nahm er mich zur Seite und meinte: „Mein lieber Hanns! Wir sind dem Stein der Weisen auf der Spur, und ich verspreche dir, ich werde sein Geheimnis lösen, auch wenn es das letzte ist, was mir gelingt.“ Dann hatte er sich wieder an die Arbeit begeben, die er ganz wie ein Besessener vorantrieb, jedoch weniger verzweifelt als zuvor und mit einem scheinbar ganz klaren Ziel vor Augen. Mir war aber auch seine unbegründete Ahnung eines möglicherweise nahen Todes nicht entgangen. „Wenn es das letzte ist, was mir gelingt“, hatte er gesagt. Das klang so, als bezweifle er, seinen wissenschaftlichen Triumph auskosten zu können. Ich beschloß, ihn offen und direkt auf diese Sache hin anzusprechen, aber dazu sollte es nicht mehr kommen. Den Franz Tausend, so wie ich ihn kannte, sollte ich nie mehr sehen.
ICH HATTE DIE GANZE ZEIT über nicht mitbekommen, daß mein Meister seine Versuche sehr erfolgreich abschloß. Was hätte ich auch den Photographien, den wirren Aufzeichnungen und seiner meist bekümmerten Miene entnehmen sollen? Wie hätte ich ahnen sollen, daß Tausend das letzte Experiment alleine wagen würde, nachts, ohne daß er mich darüber informierte oder meine Hilfe erbat.
Es war eine schwüle Nacht, und die Hitze lag drückend über der Stadt. Auf den Straßen feierte man ausgelassen eines der wilden Feste der Eingeborenen, so daß weder bei offenem noch bei geschlossenem Fenster Erholung zu finden war. Dennoch fiel ich in einen leichten Schlummer, aus dem ich aber gegen Mitternacht erwachte. Geräusche drangen aus dem über meiner Kammer liegenden Geschoß herunter zu mir, das Bersten von Glas, laute, animalische Schreie, der Lärm eines unbändigen Kampfes. Ich warf mir den leichten Morgenmantel über und lehnte mich weit aus dem Zimmerfenster, von wo aus ich erkennen konnte, daß im Laboratorium noch Licht brannte. Der Schein fiel bis auf die Straße, wo immer noch das Fest im Gange war. Keiner der Tanzenden und Musizierenden nahm wahr, was in unserem Haus geschah. Ich stürmte aus dem Zimmer, ans andere Ende des Korridors, die Treppe hinauf… hinter der Tür zum Labor war nun Dunkelheit, wie ich durch den Glaseinsatz sehen konnte. Das jedoch schreckte mich nicht ab. Es war niemand die Treppe hinabgekommen, also mußten der Eindringling und mein Meister noch in den zwei Arbeitsräumen sein. Ich drückte die Türklinke herunter und stieß die Tür auf. Das einfallende Licht zeigte die grausige Verwüstung, die anstatt des hervorragend ausgerüsteten, von mir liebevoll gepflegten Laboratoriums den Raum ausfüllte. Von Tausend war nichts zu sehen. Möglicherweise lag er niedergeschlagen im Nachbarzimmer, womöglich war auch sein Gegner dort zu finden. Ich wollte ihm zu Hilfe eilen, trat in den Raum hinein, da traf mich etwas mit unbarmherziger Wucht im Nacken und Myriaden von Sternen zerplatzten vor meinen Augen.
ICH ERWACHTE ERST AM NÄCHSTEN MORGEN aus der tiefen Bewußtlosigkeit. Die schmerzhafte Schwellung am Hinterkopf erinnerte mich daran, warum ich die Nacht auf dem harten Laborboden verbracht hatte. Bei Tageslicht betrachtet war das Ausmaß der Zerstörung noch größer als befürchtet. Von Franz Tausend keine Spur. War er entführt worden? War er einem wahnsinnigen Mörder zum Opfer gefallen? Ich durchsuchte das Laboratorium nach Spuren, konnte jedoch keinen Hinweis auf Tausends Verbleib finden. Und noch etwas: der wohlbehütete Felsklumpen war verschwunden! Ich war mir sicher, daß ich dort, wo ich ihn finden würde, auch auf meinen Meister stieße. Nachdem ich einen Tag lang gewartet und mich vergewissert hatte, daß der Stein nicht einfach nur versteckt oder weggeschlossen worden war, begab ich mich zur Polizeibehörde und schilderte einem Beamten, was vorgefallen war. Der Mann nahm alle Daten und Fakten auf und versprach, sich den Ort des möglichen Verbrechens in den nächsten Tagen anzusehen. Das vorangegangene Fest hatte wie stets eine Vielzahl kleinerer Delikte mit sich gebracht, die die Polizei über Gebühr beschäftigten. Und solange Tausends Leiche nicht gefunden worden war, galt der Fall als nicht dringend. Ich ging nach Hause, ratlos, was ich tun sollte. Es war wenig sinnvoll, auf eigene Faust eine Suche nach dem Verschollenen zu starten. Die verschlungenen Sträßchen und Gassen Cathays mit ihren verfallenen Bauten, die endlosen Kais im Süden und die sich daran aneinanderreihenden Lagerhallen, die vergessenen Katakomben und Zisternen unter der Stadt boten unendlich viele Verstecke.
Es waren eher die tiefe Hoffnungslosigkeit und das Gefühl der unendlich dumpfen Betäubung, die mich durch die Stadt laufen ließen. Nach drei Tagen verließ ich Cathay und streunte durch die umliegenden Lande, das Mondfeld und die Sümpfe im Osten, die zerklüfteten Felsen im Westen und zuletzt die Berge im Norden. Und es war gewiß keine gelenkte Überlegung, die mich zum Kalvarienberg trieb, sondern ein Zufall. Ohne es recht zu bemerken, stieg ich die schmalen Pfade hinauf, zwischen schroff aufragenden Felsnadeln, durch wilde Schluchten, bis auf das Plateau, auf dem sich die Hütte des Einsiedlers befand, der uns Unterkunft gewährt hatte. Der Mann war nicht da, die Hütte stand leer. Vermutlich hütete er sein Vieh an einem saftigeren Hang denn diesem. Ich überlegte, ob ich ihm eine Nachricht hinterlassen sollte, war mir jedoch nicht sicher, ob er des Lesens kundig sei. Dann folgte ich dem Weg, den wir erst kurz zuvor gegangen waren. Mir war nämlich der Gedanke gekommen, daß Franz Tausend etwas übersehen haben könnte, als er – nur nach dieser suchend – die Kiste aus dem finstren Schacht geborgen hatte. Doch welche eine Überraschung: der Stollen war zugeschüttet worden – nicht oberflächlich durch einen Erdrutsch, sondern gezielt durch menschliche Arbeit. Wer dies getan hatte, konnte ich nur mutmaßen, eines wußte ich jedoch: ich kam zu spät. Wenn sich noch etwas in der Höhle befunden hatte, so war es nun nicht mehr dort. Ich ging zur Hütte des Einsiedlers zurück und rief nach dem Mann, erhielt jedoch keine Antwort. Da hier nichts zu erreichen war und der Grad meiner Verwirrung einen Höchststand erreicht hatte, machte ich mich auf den Heimweg.
Im Dunkeln übte die Wildnis auf einen stadtgewohnten Menschen wie mich einen noch größeren Eindruck der Bedrohung aus. In den Bergen rumpelte und schürfte es unheimlich, als ob gigantische Echsen sich über den Schiefer schöben, in den Tälern rauschten die Bäume, und im dichten Urwald drang von allen Seiten das Geschrei der Affen und Vögel auf mich ein. Völlig außer Atem, mehr laufend als gehend, kam ich durch einen verfallenen Triumphbogen von Norden in die Stadt. Die wenigen Menschen, die noch auf den Straßen waren, musterten mich, der ich einen gehetzten und völlig verstörten Eindruck machen mußte, von oben bis unten. Das störte mich nicht. Ich wollte nur möglichst schnell nach Hause. Dort aber traute ich meinen Augen nicht. Im Obergeschoß brannte Licht! Das Obergeschoß… hier lagen die Räume des Laboratoriums. Wie war das möglich? Wer hatte hier Zutritt außer Franz Tausend und mir, seinem treuen Gehilfen? Freude erfaßte mich jäh, und ich nestelte nervös den Schlüssel zur Haustür hervor. Unnötig, denn sie war offen. Es paßte nicht zu Tausend, daß er so nachlässig war, die Tür unverschlossen zu lassen. Andererseits – wer ahnte, in welchem Zustand er sich befand? Vorsichtig stieg ich die Treppen hinauf, darauf gefaßt, von einem Eindringling niedergeschlagen zu werden, ließ das Erdgeschoß vorerst unbeachtet, auch das erste Stockwerk. Erst als ich vor der Labortür stand, verharrte ich einen Moment und lauschte in die Stille hinein. Das Holz des Dachstuhl arbeitete unter der Hitze und Feuchtigkeit des späten Sommertages. Äußerst behutsam stieß ich die Tür auf und spähte in den Raum hinein. Er war menschenleer. Das Chaos, das zu beseitigen ich in den vergangenen Tagen noch nicht die Kraft
gehabt hatte, schien unverändert. Aber das mit Sicherheit zu sagen war schwierig. Sollte etwa ich selbst das Licht angelassen haben? Bei Tage geschah dies leicht! Ich wußte, ich würde darauf keine Antwort finden. Oberflächlich suchte ich auch die unteren Geschosse ab, selbst die privaten Räume Franz Tausends, dann legte ich mich, völlig erschöpft und auch geistig entkräftet, zu Bett, wo ich in einen tiefen, von bunten Alpträumen gehetzten Schlaf fiel.
ICH NAHM MIR VOR, das Labor endlich gründlich aufzuräumen. Die Polizei hatte bislang nichts von sich hören lassen. Die Gefahr, Spuren zu verwischen, erachtete ich als so gering, daß sie zu vernachlässigen war. Nun, ich fand stattdessen selber einige Spuren, die mich in noch größere Ratlosigkeit stürzten. Sie wiesen darauf hin, daß in der Nacht, da ich vom Kalvarienberg zurückgekehrt war, mit ziemlicher Sicherheit doch jemand ins Labor eingedrungen war. Zertretene Gläser, die vorher heil gewesen waren, verschüttete Flüssigkeiten, die längst hätten getrocknet sein müssen… Ich zweifelte nicht mehr daran, daß wir einen nächtlichen Besucher gehabt hatten. Von Tausend fehlte derweil zuerst jede Spur. Ich überlegte schon, was ich ohne ihn tun sollte, da stieß ich auf einen schmutzigen, zerknüllten, jedoch kaum lesbar beschriebenen Zettel. Es war die Schrift eines Menschen, der nicht sieht, was er da schreibt, und sie gehörte zweifellos Franz Tausend. Ich kannte seinen Federstrich, und die trotz ihrer Unbeholfenheit anmutigen, geschwungenen Linien konnten nur von ihm stammen. Wichtiger aber war die Feststellung, daß dieser Zettel ganz offensichtlich nach dem schrecklichen Kampf im Labor geschrieben worden war und einen Hilferuf enthielt:
„Hanns… hilf, bin in diesem (unlesbar) gefangen, furchtbare Qual, Moment der Freiheit zu kostbar. Wenn nicht bald (unlesbar) zu spät!“ Alle Pläne, Cathay zu verlassen und in die Heimat zurückzukehren, ließ ich augenblicklich fallen. Mein Meister lebte, und er brauchte meine Hilfe. Zu ärgerlich nur, daß sein Hilferuf keinerlei Ortsangaben oder Hinweise auf seinen Aufenthaltsort enthielt. Wie auch immer ich die Botschaft las – die fehlenden Worte waren kaum sinnvoll zu ergänzen.
ICH WACHTE NUN NACHT FÜR NACHT auf dem Flur vor dem Labor. Wer in die beiden Kammern wollte, mußte diesen Weg nehmen, es sei denn, er hätte es verstanden, gleich einer Echse entlang der bloßen Wand vom Nachbarhaus herüberzuklettern. Und doch geschah es, daß ich in der dritten Nacht meiner Wache für einen kurzen Moment einnickte und durch ein Geräusch aus dem Labor geweckt wurde. Ich schreckte hoch, griff nach einer Jagdflinte, die ich in Tausends Kammer gewußt hatte und die scharf geladen war. Im Laboratorium brannte Licht. Gott, ich wünschte, es wäre nicht so gewesen, denn durch die von innen beleuchtete Milchglasscheibe erblickte ich die gräßliche Silhouette einer abnormen Kreatur. Es waren alleine ihre Proportionen, die mich erschreckten, ohne daß ich Genaueres erkennen konnte. In diesem Augenblick war mein Mut größer, als ich mir jemals hätte vorstellen mögen. Ich mußte ins Labor, wollte ich mehr über den Verbleib Franz Tausends erfahren. Doch als ich die Klinke herunterdrückte, stellte ich fest, daß die Tür abgeschlossen war. Der Schlüssel steckte von innen. Diese Erkenntnis ließ Panik in mir aufkommen. Nicht nur, daß der mysteriöse Fremde lautlos an mir vorbeigekommen war, er
besaß tatsächlich einen Schlüssel und nutzte ihn, um mich auszusperren. Alle Abscheu und meine lähmende Furcht überwindend, bückte ich mich und versuchte, durch das Schlüsselloch genaueres zu erkennen. Und da stand er, blickte argwöhnisch zur Tür herüber, mußte mich bemerkt haben, zweifellos! Der ungeschlachte, walzenhafte Leib, der knochige, schwere Kopf, der ohne Hals direkt auf die Schlüsselbeine aufgepfropft zu sein schien, die säulenartigen Beine, die viel zu kurz waren und in Klauen anstelle von Füßen endeten – all das sprach dagegen, daß es sich um einen Menschen handelte. Selbst die Dschungelmenschen kamen nicht in Frage. Wer zum Teufel war er also? Er war in einen schäbigen, schmutzigen Lumpen gehüllt, der den Kitteln nicht unähnlich war, die wir im Labor trugen. Und er schien mit etwas beschäftigt gewesen zu sein. Oder hatte die Bestie lediglich etwas nachgeäfft, das sie bei Franz Tausend beobachtet hatte? Der Gedanke an meinen Meister verlieh mir neue Kraft. Mit einem einzigen Tritt sprengte ich die altersschwache Tür, sah jedoch nur noch einen durchs Zimmer fliegenden Schatten, der eines der Fenster auf der Gartenseite durchbrach und in einem Scherbenregen zu Boden fiel. Den Sturz aus dieser Höhe konnte niemand unverletzt überleben. Und die Glasscherben mußten scharf wie Messer sein. Ich rannte zum Fenster und sah, daß die Kreatur sich gerade aufrichtete. Sie war von einem dichten Distelgebüsch aufgefangen worden, schien jedoch verwirrt und benommen zu sein. Sie zögerte, dann wollte sie sich abkehren und ins Dunkel des rückwärtigen Gartens fliehen. In einer Reflexhandlung hob ich die Jagdflinte und zog den Hahn durch.
Der Knall war ohrenbetäubend, der Rückstoß warf mich zu Boden, und ich wußte nicht, ob ich getroffen hatte oder nicht. Es war in diesem Moment egal. Die Ereignisse forderten ihren Tribut. Ich war in dieser Nacht über mich selbst hinausgewachsen. Gnädige Ohnmacht umfing mich.
ALS ICH ERWACHTE, war es, als hätte ich nur wenige Augenblicke dagelegen. Tatsächlich vermochte ich nicht zu sagen, wie lange ich wirklich bewußtlos gewesen war. Ich konzentrierte mich auf meine Umgebung. Das Licht strahlte schmerzhaft hell von der Decke, wo eine nackte Birne in der leichten Brise, die durchs geborstene Fenster drang, leicht hin- und herschwang. Die feine Spur einer animalischen Ausdünstung überlagerte den süßen Duft der exotischen Blüten im Garten, der bislang den Raum erfüllt hatte. Aus dem Garten war ein leises Rascheln zu vernehmen, ferner grunzende, tief grollende Laute, unter die sich von Zeit zu Zeit ein markerschütterndes unterdrücktes Heulen mischte. Die Kreatur lebte noch. Ich mußte sie von nahem sehen, soviel Überwindung mich dies auch kosten mochte. Vom Fenster aus war fast nichts zu erkennen, nur ein Schemen, der sich im kniehohen Gras wälzte und die Halme niederdrückte. Ich rannte durch den Flur zur Treppe, beachtete nicht, daß ich das Jagdgewehr im Labor fallengelassen hatte. Zu einem weiteren Schuß hätte mir so oder so der Mut gefehlt. Ich stieß die Hoftür auf und stürzte auf die freie Fläche in der Mitte des Gartens. Hierhin hatte sich die Kreatur geschleppt, hier rang sie mit dem Tode, und lange würde ihr Ringen nicht mehr währen, denn selbst der zäheste Organismus vermochte mit einem Loch der Art, wie es der Schuß aus nächster Nähe in die Brust des Wesens gerissen hatte, nicht lange zu überleben. Ein Wunder, daß sie überhaupt zu einer Regung fähig war.
Ich trat näher heran, vielleicht aus einem menschlichen, vielleicht auch aus einem wissenschaftlichen Interesse. Und plötzlich durchfuhr mich eine furchtbare Erkenntnis. Ja, nun wußte ich, daß es nicht die Pest gewesen war, die jene ersten Einwanderer an Bord der Crusade gehabt hatten, sondern etwas anderes, etwas, das von dem Felsbrocken ausgegangen war, den sie für immer hatten vor der Menschheit verbergen wollen. Sie waren nicht gründlich genug in ihrem Bestreben gewesen, hatten womöglich selber schon zu stark unter dem Einfluß des unseligen Gesteins gestanden. Gott, vergib mir – ich verstand nicht, was die Kreatur mir sagen wollte, kurz bevor das Licht in ihren Augen für immer verlosch, ihren Augen… den Augen Franz Tausends.
BETHANY
DAS WASSER des Flusses stand so niedrig, daß ich die mit Trauerweiden bewachsene Insel an diesem Abend trockenen Fußes erreichte. Es war ungewöhnlich kühl diesen Herbst, und ich führte den Stand des Flusses darauf zurück, daß in den fernen Bergen, die sich als kaum zu erahnende Schemen am nördlichen Horizont abzeichneten, der Niederschlag bereits als Schnee zu Boden ging. Erst im Frühjahr würde die Schmelze zu neuen Überschwemmungen führen. Dann läge die Stelle, an der ich mich nun befand, wohl zwei Meter unter der Oberfläche des reißenden Flusses. Das Singen der Telegraphenleitungen mischte sich unter den Chor der Zikaden, die unermüdlich im paarungslüsternen Konzert wetteiferten. Bald würden sie verstummen. Im Winter ruhte die Stadt für Monate wie tot, nur aus der Kanalisation würde sich die sumpfige Schwüle nicht vertreiben lassen, würde das Ungeziefer weiter rumoren und rastlos seine abscheuliche Brut gebären. Ein gutes Stück flußaufwärts befanden sich die in den weichen Specksteinuntergrund der Stadt gegrabenen Zisternen, in denen die Frauen ihre Wäsche wuschen. Im Flußbett wimmelte es nur so von feucht glitzernden Ratten, die in den runden Austrittsöffnungen der Abwasserkanäle hervorragende Brutstätten fanden. Niemand unternahm etwas gegen diese Plage. In der Regel fielen sie in ihrer natürlichen Feigheit nur Kinder und Schwache an, die sich in ihr Revier begaben, so daß ich mich sicher fühlen konnte. Im Licht des Sonnenuntergangs glühten die Uferbebauung und die noch höher aufragenden Türme der Kernstadt, als ob Cathay brenne.
Schon einmal hatte ich erlebt, daß die Stadt brannte. Das war nun wohl fast auf den Tag genau zwölf Jahre her, und noch heute zeugten unzählige rußige Ruinen von dem einstigen Inferno, das wie ein Sturm über die altehrwürdigen Mauern gefegt war und die letzten Reste von Kultur im dekadenten Cathay hinweggebrannt hatte. Selbst auf der flachen Insel, auf der ich nun stand, fanden sich Spuren jener schrecklichen Tage. Ich mußte nur ein wenig mit dem Fuß zwischen den algenüberzogenen Steinen und fächerförmigen Muscheln scharren. Die meisten Zeugnisse der Vergangenheit hatte der Fluß in seiner stetigen Drift sicherlich mit ins endlos weite Meer gerissen, doch hartnäckig widersetzten sich die Opfer von einst dem Vergessen. Da, das beinern schimmernde Fragment eines Kinderschädels. Der Größe nach zu urteilen, war das Kind kaum über das Säuglingsalter hinaus gewesen. Ob es in den aus Degeneration geborenen Riten oder der darauffolgenden Feuersbrunst gestorben war, vermochte ich anhand dieses Bruchstückes nicht zu sagen, doch das machte auch keinen Unterschied. Die Geschehnisse jener finsteren Tage, die auf ewig an diesem Ort das Antlitz der Erde verdunkeln würden, riefen sich mir ins Gedächtnis zurück…
MAN HATTE MICH zu dem Zweck nach Cathay geholt, daß ich ein Haus baue. Das war nichts Ungewöhnliches an sich, denn ich bin Architekt. Ich hatte Häuser in Deutschland gebaut, einige größere Projekte, die sich über Jahre hingezogen und mir zu einem hervorragenden Ruf verholfen hatten. Doch niemals hatte ich Erfüllung in dem gefunden, was ich tat. Meine Gebäude schienen leer, auch wenn sie bewohnt waren, seelenlos, auch nach Jahren noch.
Dann traf ich auf einem Empfang, zu dem mein damaliger Bauherr und Auftraggeber geladen hatte, einen Mann, der mir durch sein bestimmendes und beherrschendes Auftreten imponierte. An der Tafel hatte ich ausgerechnet neben ihm gesessen, und während wir aßen, hatte er mich in ein angeregtes Gespräch verwickelt, in dessen Verlauf ich erfuhr, daß sein Name Jakob Bellthal lautete und daß er nicht in Deutschland lebte, sondern in Cathay, einer Stadt am Rande der südlichen Himalaya-Ausläufer. Bellthal beschrieb das Leben dort in den buntesten Worten, und mich ergriff eine unglaubliche Sehnsucht nach der Ferne. Weg, hinfort aus dem faden Leben, das ich bis dahin geführt hatte, auf ins Abenteuer, auf in eine Welt der Herausforderungen. Ich wurde zum interessierten Zuhörer, und Bellthal war ein Mann, der sich selbst gerne reden hörte. Ich unterbrach ihn während der mehr als einstündigen Rede nicht. Dann erkundigte er sich nach mir und dem Grunde meiner Anwesenheit auf dem Empfang. Als er von meinem Beruf erfuhr, stieß er einen Laut des Entzückens aus und sagte: „Mein Freund, welch ein Glück, daß ich Ihnen begegnet bin. Sie scheinen mir der rechte Kerl für die Sache zu sein, die ich als nächstes angehen will.“… Und begann zu berichten, von einem Projekt, einem Wohnhaus für ihn und seine Gemahlin, doch anders als jedes bislang errichtete Haus solle es werden. Pläne, ja, Pläne habe er bereits – im Kopf, doch er bräuchte jemanden, der sie aufs Papier brächte. Am Geld solle es nicht mangeln. Und ich erfuhr, daß die einzige Süßwasserquelle der am Ozean gelegenen Stadt von seinem Trust verwaltet wurde. Was er mit den entflammten Worten eines begeisterten Geschäftsmannes akklamierte, hatte für mich einen irgendwie schalen Beigeschmack. Ich hatte den Eindruck, als bedeute diesem Mann das Leben eines Menschen nur wenig. Seine
Macht über die Bewohner Cathays schien er ohne Skrupel auszuspielen. Wehe dem, der sich in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihm begab. Dann änderte sich der Tonfall seiner Rede, und Bellthal verwandelte sich zurück in einen aufgeschlossenen Kosmopoliten. Er schlug mir vor, ihn auf seiner Rückfahrt zu begleiten und mir den Ort anzuschauen, den er sich für sein zukünftiges Heim ausgesucht hatte. Was hätte mich in Deutschland halten sollen? Ich schlug ein und besiegelte den Handel. Da schlug es Mitternacht. Sektkorken knallten, die Kirchturmglocken läuteten in der Ferne, und ein farbenfrohes Feuerwerk verglühte am Nachthimmel. Ein neues Jahr begann.
CATHAY zeigte sich bei meiner Ankunft im Hafen als eine blühende Stadt, der aber eine nur schwer greifbare Schwermut zu eigen war. Seine Bewohner, gut dreißig von hundert waren deutscher Abstammung, hatten sich zweifellos an die ungewöhnlichen Lebensumstände dort gewöhnt. Mir fiel von Anfang an die Orientierung in der Stadt schwer. Die Grundlagen der Stadtplanung waren mir geläufig, doch Cathay schien in dieser Hinsicht keinen Gesetzmäßigkeiten zu folgen. Seine Viertel verteilten sich auf verschiedene Höhenebenen, so daß das Bild der Stadt von Hundertschaften kleiner Treppen und Stiegen, Tunneln, Arkaden und Brücken bestimmt wurde. Eine wahre Fundgrube für einen Architekten, denn hier ließen sich die verschiedensten Spielarten der Baukunst studieren. Vorherrschend war eine archaisierende Form der Neogotik, die von den Einwanderern mitgebracht und mit den Urformen einer fernöstlichen Architektur vermischt worden war. Ich selber lebte in einem solchen Haus,
war in einem der weniger feuchten oberen Geschosse untergebracht. Die Feuchtigkeit in Cathay ist an manchen Tagen erdrückend. Es regnet durchschnittlich zweihundertsiebzig Tage im Jahr, und die durch Verdunstung in der Luft befindliche Nässe schlägt sich auf allem nieder und sorgt für eine unglaublich rasche Korrosion. Und wenn die Fluten des Kar steigen, drücken sie das Grundwasser in die Keller. Ich habe davon gehört, daß sich an schwülen und feuchten Tagen besonders viele Selbstmorde in der Stadt ereignen. Nun, meine Wohnung befand sich in ausreichender Entfernung vom Fluß, doch wenn die von Südwinden über der See zusammengetriebenen Wolken sich an den Hängen der Dschungelgebirge im Norden entluden, setzte tagelang anhaltender Dauerregen ganz Cathay unter Wasser. Nur drei der acht Wohnungen des Hauses in der Eisenstraße waren überhaupt bewohnt. Es war ein Bau aus den Gründertagen der Stadt, mit tiefen Kellern, die mehrere Etagen weit in den Grund vordrangen, Wurmlöchern gleich – klamm, finster und kaum belüftet. Auch in diesen Kellern gab es Wohnungen. Hier hausten mitunter die Ureinwohner, die in einer fragwürdig sprunghaften Mimikry gewisse Züge des europäischen Lebens angenommen hatten. Das Haus, das ich für Bellthal plante, sollte den Traditionen der Stadt folgen. Es würde einen absolut quadratischen Grundriß aufweisen und nach außen klar strukturiert erscheinen; im Inneren wünschte sich der Industrielle aber ein wahres Labyrinth von Räumen, die er grob skizziert hatte. In den tiefsten Kellern wollte er Baderäume und Zisternen untergebracht sehen, in deren Pracht sich der Reichtum, den er durch das wertvolle Naß gemacht hatte, widerspiegeln sollte. Mich wunderte diese hingebungsvolle Anbetung des Elements
zwar, doch ich hatte wohl schon absonderlichere Wünsche erfüllen müssen. Und auch hier begegnete ich bald einer recht merkwürdigen Vorgabe des Bauherren. Ins Fundament des Gebäudes sollten, so verlangte er, die Zahlen 4, 9, 2, 3, 5, 7, 8, 1 und 6 aus korrosionsbeständigem Kupfer eingelassen werden. Erklärung gab er mir keine, und das brauchte er auch nicht, denn er bestimmte in jeder Bauphase, wie vorgegangen wurde. Ich war alleine für die Ausführung seiner Vorstellungen zuständig und hatte alle Hände voll zu tun, Lösungen für die zum Teil schwierigen Probleme zu finden, die sich uns in den Weg stellten. Die ersten Wochen nahmen denn auch häufige Besuche bei Bellthal zur Besprechung des Projektes in Anspruch, bevor überhaupt die Arbeiten beginnen konnten. Ich begab mich hierzu zu dem alten, an einem Hang unweit der Reichtum spendenden Quelle gelegenen Gebäude, in dem mein Auftraggeber zu dieser Zeit noch lebte. Überraschenderweise bekam ich in dieser ersten Zeit die Gemahlin Bellthals nicht zu Gesicht. Nur den Schattenriß einer wohl außerordentlich hübschen Person sah ich hinter einem der erleuchteten Fenster im ersten Obergeschoß des düsteren Hauses, wann immer ich mich dem maskarongeschmückten Portal näherte. Oft hörte ich auch, wenn ich mit Bellthal in dessen Arbeitszimmer am offenen Kamin saß, dem Knistern des Holzes lauschte und den vorzüglichen Cognac genoß, den er stets einschenkte, aus der Ferne das traurige Spiel einer Oboe. Und manchmal kam es mir so vor, als zucke mein Gastgeber bei den dumpfen, reibenden Klängen wie unter Schmerzen zusammen. Einmal gar entschuldigte er sich, und ich hörte ihn die knarrenden Stufen der Treppe zum Obergeschoß hinaufsteigen. Als er zurückkehrte, war das Spiel des einsamen Instrumentes verstummt.
Oft träumte ich nachts, in die kühle, noch recht kahle Wohnung zurückgekehrt, von diesem Spiel, und selbst wenn ich erwachte, schien es mich klagend zu rufen. Ich wagte nicht, Bellthal darum zu bitten, mich seinem Weibe vorzustellen, denn ich hielt ihn für einen gewiß sehr eifersüchtigen Menschen, der das, was ihm gehörte, mit jeder Konsequenz beanspruchte. Der Beginn der Bauarbeiten verzögerte sich, da Handwerker in der Stadt nur schwer zu finden waren. Das erklärte auch den baufälligen Zustand vieler Gebäude. Es fehlte schlichtweg an handwerklichem Vermögen. Die Dschungelmänner hatten stets ein Leben als Nomaden geführt und konnten sich auch jetzt nur schwerlich an eine feste Behausung gewöhnen. Die Bewohner europäischer Abstammung aber lehnten es ab, ihr Brot durch körperliche Arbeit zu verdienen, und darüber hinaus – aber sie hätten das niemals eingestanden – war ihnen längst das notwendige Wissen verlorengegangen. Auch Bellthal war mir keine große Hilfe. Es schien, als betrachte er es alleine als meine Aufgabe, für die ich ja auch überdurchschnittlich entlohnt wurde, in der mir fremden Stadt das zusammenzusuchen, was ich für das Bauvorhaben benötigte. Ich faßte dies als Herausforderung auf und begab mich auf tagelange Streifzüge durch die Stadt. Im Hafen, so hatte man mir berichtet, gäbe es eine Reihe von Bauhütten mit alter Tradition, doch als ich durch die engen Gassen ging, die lotrecht auf die einstige, die Kais verbindende, nun allen einstigen Glanzes verlustig gegangene Promenade stießen, traf ich nur bärtige alte Männer, die von der Glorie früherer Tage sprachen. So stellte ich mit der Zeit fest, daß unter dem angenehmen Gesicht Cathays etwas anderes, etwas Düsteres lauerte, das Bellthal entweder selbst noch nicht wahrgenommen oder aber absichtlich verschwiegen hatte.
Auch wurde ich der Tatsache gewahr, daß der Fabrikant nicht bei allen Bewohnern der Stadt wohlangesehen war. Womit das zusammenhing, fand ich erst später heraus, will es aber bereits an dieser Stelle erwähnen, um zu einem besseren Verständnis der Vorgänge beizutragen. Und zwar verhielt es sich so, daß das Wasser, das der Deutsche sowohl an die ursprünglichen Cathayer als auch die Nachfahren der europäischen Kolonialisten verkaufte, nicht von bester Güte war. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wußte: es war geradezu hochgradig gesundheitsschädlich. Denn oberhalb der angeblichen Quelle lag ein Friedhof. Es handelte sich bei der Quelle, die Bellthal anzapfte, nicht um eine solche im engeren Sinne, sondern lediglich um einen dort zutagetretenden, bis dahin verborgenen Gebirgsbach, der, aus dem Fels rinnend, unglücklicherweise geradewegs seinen Weg zwischen den Gräbern suchte und immer wieder mit den herabsickernden Leichenflüssigkeiten vermengt wurde. Zu welchem Zeitpunkt Bellthal davon erfuhr oder ob er jemals ein geologisches Gutachten in Auftrag gegeben hatte, weiß ich bis heute nicht. Zumindest muß er etwas geahnt haben, denn viele der Arbeiter in der Fabrik waren häufig erkrankt, ja, nicht selten tödlich, ohne daß eine Ursache ersichtlich gewesen wäre. Nicht ganz geheuer war mir – ich kann nicht sagen, warum es mir in diesem Zusammenhang einfällt – ein seltsam gnomenhafter Mann, der nur abends im Hause Bellthals anzutreffen war und offenbar als eine Art Berater meines Auftraggebers fungierte. Worauf genau sich seine Tätigkeit bezog, erfuhr ich nie. Ich vermutete anfangs, es handle sich um rein Geschäftliches, wurde aber bald eines Besseren belehrt, als ich zufällig – Bellthals Diener Conrad hatte mich gebeten, im Flur darauf zu warten, daß der Herr mich hereinbäte – Ohrenzeuge eines Gesprächs wurde, das ich leider nur
fragmentarisch verstand, und aus dem ich mir keinen so rechten Reim machen konnte. „… seltsame Krankheit, von der Ihr mir nichts berichtet habt. Bethany…“ „… ist die Frucht reif, naht die Zeit der Ernte, und…“ – das war nicht Bellthals Stimme, sondern zweifellos die Fistelstimme des Wichts – „… müßt nur warten, bis der Mond neunmal voll geworden und wieder hohl als wie zuvor, dann… Eure heilige Pflicht!“ Kurz darauf öffnete sich die Tür und ein Mann, der mir gerade bis zur Brust reichte, trat aus dem Besprechungszimmer. Bellthal folgte ihm, doch seine sonst so hochaufragende Erscheinung schien im Vergleich zu dem Zwerg irgendwie ebenfalls kleiner. Verwirrt grüßte ich, doch die beiden ignorierten mich. Sie gingen geradewegs zur Haustür und reichten sich wortlos zum Abschied die Hand. Als er sich zu mir umdrehte, schien es, als müsse der nachdenklich dreinblickende Fabrikant erst aus einer Art Trance erwachen: „Ach, Sie sind es! Das helle Licht der Laterne hat mich so sehr geblendet, daß ich Sie einen Moment lang nicht erkannt habe. Was führt Sie zu mir, lieber Freund?“ „Das Verblendmauerwerk im Sockelbereich… Sie haben meinem Plan zugestimmt, einen frostfesten Stein in doppelter Standardhöhe zu verwenden, doch leider…“ – Ich berichtete vom Fortgang der Planung, und auch an diesem rätselhaften Abend erfuhr ich nichts weiter über den merkwürdigen Besucher.
ENDLICH waren die groben Züge des Bauvorhabens geklärt, und mit einiger Mühe hatte ich einen Bautrupp zusammengestellt, der aus teils betagten, teils noch sehr unerfahrenen Leuten zusammengesetzt war. Ich setzte darauf,
daß ich sie nach spätestens einem Monat soweit haben würde, die komplizierten Pläne umzusetzen. Bis dahin sollten sie die Ausschachtung des Kellers so gut wie möglich mit dem unzureichenden technischen Gerät vorantreiben. Bellthal ließ sich nun häufiger auf der Baustelle blicken. Meine Besuche bei ihm hingegen wurden seltener. Und ich wäre auch in jener verhängnisvollen Sommernacht nicht zu ihm gegangen, wäre es am späten Abend, kurz vor Einstellung der Arbeiten für diesen Tag, nicht zu einem verhängnisvollen Unfall gekommen, der einen Arbeiter das Leben kostete. Es war nicht meine Schuld gewesen. Der Boden hatte unter einem Pfeiler einfach nachgegeben, und gleich war ein Teil einer gerade frisch gemauerten Wand heruntergekommen und hatte den Mann unter sich begraben. Er war sofort tot. Von diesem Zwischenfall mußte ich meinem Auftraggeber berichten. Es würde eine Untersuchung durch die Behörden geben, die den Fortschritt der Bauarbeiten zwangsläufig behindern würde. Ich nahm eine Kutsche, denn ich mußte die halbe Stadt durchqueren. Doch alle Eile war umsonst. Bellthal öffnete nämlich nicht. Weil aber Licht im Salon brannte und ich ganz deutlich das traurige Oboenspiel seiner Gemahlin hörte, läutete ich ausdauernder. War denn nicht wenigstens der treue Conrad im Hause? Er verließ es meist nur am Morgen, um auf einem der Märkte die Einkäufe zu erledigen. Dabei war ich ihm schon mehr als einmal begegnet. Es vergingen einige Minuten, und ich wollte mich schon zum Gehen wenden, da hörte ich Schritte in der Halle. Ein Riegel wurde langsam und knirschend zurückgeschoben, die Tür öffnete sich. Gegen das Licht zeichnete sich eine schlanke Silhouette ab, die weder die Conrads noch die Bellthals war. Es war eine Frau. Mit der Linken umklammerte sie eine Oboe, als sei das
Instrument eine Waffe. Sie hat Angst, schoß mir durch den Kopf, und: sie ist allein im Haus! „Guten Abend, Sie kennen mich nicht. Ich stehe als Architekt in Diensten Ihres Gatten und muß ihn unbedingt sprechen.“ Noch immer schwieg sie. Mein Gott, wie eingeschüchtert mußte sie sein. Ich verstand, daß das Oboenspiel ihre eigene Form des Ausdrucks war, mit dem sie wortlose Hilfeschreie aussandte. „Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Ich komme nur, um Herrn Bellthal mitzuteilen, daß es auf der Baustelle zu einem Unfall gekommen ist. Aber da er offenbar nicht zu Hause…“ „Kommen Sie doch bitte herein!“ sprach sie, mir das Wort abschneidend. Mehr nicht. Ihre Stimme war glockenhell. Ich hielt es für keine gute Entscheidung, in Bellthals Abwesenheit allein mit seiner Gemahlin im Haus zu sein, doch sie zerstreute meine Bedenken. „Herr Bellthal wird erst morgen früh zurückkehren, und ich furchte mich vor der Dunkelheit in diesem Haus. Wenn Sie mir nur eine oder zwei Stunden Gesellschaft leisten, wird es besser sein.“ Während sie so gesprochen hatte, war sie langsam in den Eingangsflur zurückgewichen, und ich war ihr unwillkürlich gefolgt. Hier im hellen Licht mußte ich sie – ob ich wollte oder nicht – näher betrachten. Das lange schwarze Haar trug sie hochgesteckt wie eine griechische Göttin, deren Gesichtszüge sie auch besaß. Große dunkle Augen im fast alabasterweißen Antlitz, schlanke Glieder, die sich im engen weißen Gewand mit katzenhafter Grazie bewegten. „Ich befand mich im Salon, als es läutete. Wollen wir nicht dorthin zurückkehren?“ schlug sie vor. Ich folgte ihr in das geräumige Zimmer und nahm auf einem Kanapee im rechten Winkel zu ihr Platz. Kaum daß sie sich
ebenfalls gesetzt hatte, fuhr sie mit ihrem traurigen Spiel fort und ließ die Wände des Salons von den tiefen, schnarrenden Lauten widerhallen. Nach einer halben Stunde, in der ich nichts anderes hatte tun können, als nur ihr zuzuhören, brach sie das Stück plötzlich ab und entschuldigte sich: „Ich habe Ihnen gar nichts angeboten, aber ich habe sehr selten Besuch. Und, entschuldigen Sie, ich habe mich auch nicht vorgestellt. Mein Name ist Bethany.“ Bethany, das klang seltsam. Ein Name, den ich nie zuvor gehört hatte, und der mich doch an irgend etwas erinnerte. Ich stellte mich ihr ebenfalls mit Namen vor, und zuerst sehr zögerlich, dann sehr lebhaft begann sie von ihrem Leben in diesem Haus zu berichten. Ihr Gatte betrachte sie als seinen persönlichen Besitz, erklärte sie, und es sei ihr verboten, das Haus ohne seine Begleitung zu verlassen. Ihr mangele es jedoch an nichts, und im Grunde genommen sei sie ihm zu ewigem Dank verpflichtet, denn er sei es gewesen, der sie aus einer Missionarsstation in sein Haus geholt habe, und er ehre und liebe sie aufrichtig, daher wolle sie sich nicht über ihr Schicksal beschweren. Mein abendlicher Besuch, der sich bis in die frühen Morgenstunden hinzog, blieb von Bellthal unentdeckt. Als ich im Licht der ersten Sonnenstrahlen in meine Wohnung in der Eisenstraße zurückkehrte, hatte ich einige Dinge über meinen Auftraggeber erfahren, die ich für recht bedenklich hielt. Auch die Weise, in der er sein Weib in einen wunderschönen, aber freudlosen Paradiesvogel im goldenen Käfig verwandelt hatte, erschreckte mich. Nach nur wenigen Stunden Schlaf aber, als ich ihm gegenübertrat, um vom Unfall zu berichten, traten diese Dinge in den Hintergrund. Meine Arbeit vereinnahmte mich, und es gab viel zu tun.
Gemeinsam suchten wir das Verwaltungsgebäude am Bahnhof auf, um – wie Bellthal meinte – die Angelegenheit zu klären. Unser Besuch dort währte nur kurz. Der Industrielle wurde an höchster Stelle sofort vorgelassen, während ich auf einer Bank vor den Amtsräumen warten mußte, und als er zurückkehrte, stellte er fest, die Arbeiten könnten ohne Verzug wieder aufgenommen werden. Er hatte mich für den Vorfall nicht getadelt, wohl aber durchblicken lassen, daß so etwas nicht noch einmal geschehen dürfe. Nun, es gab keine weiteren Probleme. Die Trauerfeier für den Verunglückten fand im kleinen Kreis statt. Die Arbeiter waren durch den Zwischenfall nur enger zusammengeschweißt worden und ließen keinen Zweifel daran, daß sie mir ihr vollstes Vertrauen schenkten. Es war mir hinsichtlich des Hauses gelungen, Bellthals Wünsche umzusetzen und ihn unbemerkt dahingehend zu beeinflussen, weitestgehend auf meine Vorschläge einzugehen. Er hatte sich jedoch nicht von allem abbringen lassen, zum Beispiel der meines Erachtens unsinnig weiträumigen Ausgestaltung des Kellers. Vielmehr schien er in dieser Beziehung eine noch größere Empfindlichkeit zu entwickeln. Ich durfte nach Fertigstellung des Erdgeschosses den Keller nicht mehr betreten! Gleiches galt für meine Arbeiter. An ihrer Stelle beauftragte Bellthal eine obskure Handwerkerfirma, die – wie er mir gegenüber verlauten ließ – die Wände mit wertvollen Fliesen verzieren sollte. In dieser Firma arbeiteten ausschließlich die düsteren, von Ureinwohnern abstammenden Cathayer, die zu niemandem ein Wort sprachen und ihren Arbeitsplatz auch in den Pausen nicht verließen. Sie kamen früh am Morgen zur Arbeit und verließen die Baustelle lange nach uns. Und sie gaben Anlaß zu allerlei Vermutungen unter meinen abergläubischen Männern.
Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte Bellthals Behauptungen nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können, denn das erste, das von den neu engagierten Handwerkern eingerichtet wurde, war eine schwere, massive Eisentür, die jeden Zugang zum Keller verschloß. Einen Schlüssel besaßen nur der Industrielle und der Vorarbeiter der Arbeiter, ein gefühlsarmer Mensch namens Uxlu, der eine teuflische, hinterhältige Intelligenz besaß und als Mischling geboren worden war. Obwohl wir nicht viel miteinander zu tun hatten – Bellthal selbst beaufsichtigte diese Arbeiten –, verfehlten wir um Haaresbreite handfeste Streitigkeiten. Im selben Maße, in dem sich meine Beziehung zu meinem Bauherrn in dieser Zeit verschlechterte, verringerten sich meine Skrupel in einer Angelegenheit, die ich hier nicht verschweigen möchte, da sie im Verlauf meines Berichts noch von Bedeutung sein wird. Ich spreche von meiner Liebe zu Bethany. Sie war die ungewöhnlichste Frau, die mir in meinem ganzen Leben begegnet war. In unseren nächtelangen Gesprächen, die immer dann stattfanden, wenn sich Bellthal und Conrad auf Geschäftsreisen befanden, wovon ich durch ein in ihr Fenster gestelltes blaues Licht erfuhr, sprachen wir über die ungewöhnlichsten Dinge, und abgesehen von Phasen der Lethargie und Versponnenheit, die immer wieder unerwartet eintraten, wies bei ihr alles auf einen ausgesprochen klaren und hellen Geist hin. Als beunruhigend empfand ich ihre Visionen. Bethany berichtete, daß ich nicht ihr einziger Besucher sei, ja, daß sie von Zeit zu Zeit Zusammenkünfte mit sich unziemlich gebärdenden Göttern pflege. Und während sie das sagte, kicherte sie auf und verwirrte mich vollends. Ich deutete ihre rätselhafte Rede als Offenbarung eines unterdrückten Wunschtraumes, als den Ausdruck ihrer
geheimsten Sehnsüchte, die, das schloß ich aus ihren Worten, ihr Gatte nicht befriedigen konnte. Als ich dies aber eines Abends ihr gegenüber andeutete, wurde sie sehr ernst und widersprach aufs Heftigste. Nein, sie habe nicht gelogen, meinte sie, wie ich bloß an ihr zweifeln könne. Zwischen Bethany und mir war es im Verlauf der vergangenen zwei Monate nicht zu Zärtlichkeiten gekommen, obschon ich mich oft danach gesehnt und dieses Begehren auch bei ihr gefühlt hatte. Ich hätte wissen müssen, daß wir unserem inneren Drängen nicht auf Dauer würden widerstehen können. Als es dann aber in einer regnerischen und stürmischen Nacht – ich war vom Weg durch die Stadt bis auf die Knochen naß und mußte meine Kleidung ablegen – geschah, waren wir beide vollkommen unvorbereitet. Danach lagen wir schweigend auf dem Bett und lauschten dem Regen. Als ich mich am Morgen verabschiedete, vergoß Bethany bittere Abschiedstränen. Wir beide ahnten nicht, daß es ein Abschied für lange Zeit sein würde. Am nächsten Tag sah ich Bethany nicht. Und auch an den darauf folgenden Tagen nicht. Nachts wanderte ich durch die Stadt und hoffte immer wieder, das blaue Licht in ihrem Fenster zu finden. Doch im ganzen Haus war es dunkel. Erst nach einer Woche wagte ich es, Bellthal beiläufig bei einem meiner Besuche nach dem Verbleib seiner Frau zu fragen, deren Oboenspiel man sonst stets vernommen hatte. Sie sei nach Europa gereist, entgegnete er kalt. Die Reise sei plötzlich notwendig geworden, da ihr das Klima Cathays gesundheitlich abträglich sei. Wahrscheinlich befinde sie sich
bereits in Genf. Mit ihrer Rückkehr rechne er nicht vor einem Jahr. Dann bedankte er sich für mein Interesse und erkundigte sich nach dem Fortschritt der Bauarbeiten. Doch ich war nur halbherzig anwesend. Ich verstand nicht, wie Bethany, ohne mir gegenüber etwas zu erwähnen, hatte abreisen können. Hätte sie mich nicht über die bevorstehende Reise informiert, wenigstens an diesem letzten Tag, an dem wir uns gesehen hatten, und nach all dem, was geschehen war? Die Geschehnisse, die kurz darauf Cathay mit Schrecken überzogen, hielten mich davon ab, die fadenscheinige Erklärung Bellthals, die ich inzwischen ernsthaft anzweifelte, zu prüfen. Denn in diesen Tagen brach eine Vielzahl furchtbarer Epidemien in der Stadt aus, deren Ursachen verzweifelt erforscht, aber nicht gefunden wurden. Die Cholera und andere pestilenzialische Krankheiten suchten vor allem die Stadtbewohner europäischer Herkunft heim. Dahingegen erwiesen sich die Cathayer als ungewöhnlich resistent, was dazu führte, daß sich die Nachkommen der einstigen Einwanderer grausame Strafmaßnahmen ausdachten, so als trügen jene die Schuld an den Erkrankungen. Besonders Bellthal tat sich darin hervor, die vermeintlichen „Brunnenvergifter“ für die Vorgänge verantwortlich zu machen. Er wies auf die unhygienischen Verhältnisse in den Unterkünften der Cathayer hin und unterstützte eine Initiative zur Ausräucherung dieser sogenannten „Nester“. Dennoch verschlechterte sich die Situation in der Stadt zusehends, und binnen eines Monats mußten Hunderte von Leichen auf dem längst überfüllten Friedhof zu Grabe gelassen werden. Was niemand ahnte: sie vergifteten das Wasser durch die ungünstige Lage des Gräberfeldes in noch größerem Maße.
Der Fortgang der Bauarbeiten – dafür sorgte Bellthal mit aller Energie – wurde nicht beeinträchtigt. Und so kam es, daß meine Arbeiter mit dem Innenausbau fast fertig waren, als ich selbst erkrankte. Und ich glaubte nicht, jemals wieder von der schrecklichen Seuche zu genesen, die mir alle Flüssigkeit entzog und jede Nahrungsaufnahme unmöglich machte. Meine Wirtin pflegte mich liebevoll wie eine Mutter und ohne Furcht vor der Krankheit. Zwei Wochen lang hütete ich das Bett, dem Tode nahe. Während dieser Zeit erhielt ich nur einmal Besuch. Johann, einer meiner erfahrensten Arbeiter, der in meiner Abwesenheit die Bauleitung übernommen hatte, erkundigte sich nach meinem Befinden und brachte eine Medizin, die er bei einem eingeborenen Medizinmann in den Bergen für mich geholt hatte – einen schrecklich bitteren Pflanzensud, der tatsächlich das einzige war, was ich bei mir behielt. Der Mann beschrieb weiterhin, wie die Arbeiten voranschritten. Er beschwerte sich, daß die Handwerker im Keller einen gräßlichen Lärm verursachten, und das, wo sie doch längst ihre Arbeiten hätten abgeschlossen haben müssen. Einmal habe er Bellthal darauf angesprochen, der aber habe nur beantwortet, es würden Badebecken in den felsigen Grund gestemmt. Noch am selben Tag erhielt ich von dem Industriellen Besuch. Er versuchte gar nicht erst zu verbergen, daß er nicht wegen meiner Krankheit gekommen war. „Ich muß Sie warnen!“ platzte er heraus. „Sie haben Ihre Arbeit gut gemacht und werden dafür gebührend entlohnt werden. Doch sorgen Sie dafür, daß Ihre Arbeiter ihre Nasen nicht in Dinge stecken, die sie nichts angehen! Ich bin längst nicht so unbedarft, wie Sie glauben mögen, mein Freund. Glauben Sie nicht, daß ich nicht merke, wie Sie die Männer gegen mich aufbringen! Glauben Sie nicht, ich hätte nicht
bemerkt, was zwischen Ihnen und meiner Frau stattgefunden hat. Das war – sehr dumm! Aber ich verzeihe Ihnen. Ja, ich verzeihe Ihnen. Ich will keine Details wissen. Bethany ist unerreichbar in Sicherheit.“ Als ich das nächste Mal aus meinem Fieber erwachte, wußte ich nicht mehr, ob Bellthals Besuch wirklich stattgefunden hatte, oder ob ich ihn nur geträumt hatte. Ich war nicht alleine. „Wir haben Johann verloren!“ Es war einer meiner Arbeiter, der mir die schreckliche Nachricht überbrachte. „Wie ist es geschehen? Als er mich besuchte, war er gesund. Wie konnte die Seuche so schnell…“ „Es war nicht die Seuche!“ stieß der Mann hervor. „Er ist verschwunden. Ich wette… umgebracht. Mein Gott, er hinterläßt eine Frau und zwei kleine Kinder!“ Ich verstand nicht. Wer hätte das tun sollen, und warum? Das fragte ich den Mann, wobei ich rasch, wenn auch vor Entkräftung zitternd meine Kleidung anlegte. Mit umständlichen Worten versuchte er mir zu erklären, was seiner Ansicht nach geschehen war. Johann hatte die Baustelle stets als letzter verlassen. Eines Morgens war er nicht zur Arbeit erschienen, und die Männer hatten dieselbe Befürchtung wie ich gehegt, nämlich, daß auch er erkrankt sei. Als sie einen aus ihrer Mitte zu seiner Frau geschickt, hatten sie diese in Tränen aufgelöst vorgefunden. Sie hatte die ganze Nacht auf die Heimkehr ihres Mannes gewartet und befürchtete nun zu recht, daß ihm etwas Schlimmes zugestoßen war. Inzwischen hatten die Arbeiter die Baustelle untersucht und einen Hinweis auf den Vermißten gefunden: sein Taschentuch lugte unter der verschlossenen eisernen Kellertür hervor. Bellthals Männer waren nicht aufzutreiben, und zum Bauherrn selbst hatten sie nicht vordringen können, weil dessen Haus
von einem aufgebrachten Mob belagert wurde, den die Polizei nur mit Mühe davon abhalten konnte, den Industriellen zu lynchen. Es war nämlich bekannt geworden, daß die größte Zahl der Todesfälle auf das seit langem von Bellthal verkaufte vergiftete Wasser zurückging. Der Beschuldigte hatte sich in dem Gebäude verschanzt. Obgleich von Fieber geschüttelt und unter den Flüchen meiner Hauswirtin, folgte ich dem Mann auf der Stelle zum Tatort des vermuteten Verbrechens, wo wir von der Schar meiner Getreuen erwartet wurden. „Wir brechen die Tür auf!“ entschied ich kurz entschlossen. Es gab nur diese eine Möglichkeit, herauszufinden, was geschehen war. Doch dies in die Tat umzusetzen, war schwieriger als erwartet, denn das Hindernis widerstand all unseren Versuchen, es auszuhebeln, aufzubohren oder einzurammen. Erst als die Männer mit Spitzhacken die Leibung aufmeißelten und die Tür mit ihrem Rahmen freilegten, erreichten wir unser Ziel. Das gähnende, schwarze Loch flößte mir Furcht ein. Während drei Mann den Kellereingang bewachten, begleiteten mich zwei weitere mit brennenden Fackeln hinab in den warmen, feuchten Schoß des Hauses. Sie zitterten genauso sehr wie ich, und mir mußte man die krankheitsbedingte Schwäche zugute rechnen. Doch auch ohne sie: ich hätte gezittert! Ich kannte diese Räume nicht. Es waren nicht die, die ich hatte errichten lassen! Dieser Keller war viel weitläufiger als der, den ich geplant hatte. Ich begriff nun, woher die von Johann beschriebenen Geräusche stammten. Johann!
Wir fanden ihn im ersten Raum am Ende der endlos erscheinenden Treppe. Wie ein ausgenommenes Vieh war er kopfüber an einer Wand aufgehängt. Aus einer klaffenden Wunde am Hals war er verblutet. Geronnenes Blut stand stockig in einer gefliesten Ablaufrinne im Boden, durch die es in ein Becken im nächsten Raum weiter geflossen sein mußte. Im Licht der Fackeln erkannten wir, daß dieses Becken bis zum Rand mit Blut gefüllt war. Johanns Blut alleine hätte dazu aber längst nicht ausgereicht. Entweder war es stark verdünnt, oder… Ich wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Vor uns lag eine unübersehbare Zahl weiterer Räume, die ohne System und Sinn hinter- und nebeneinander angeordnet waren und weitere Becken enthielten, die zum Teil von aus den Wänden hervorstechenden Zuläufen mit Wasser gespeist wurden. Wir wollten gerade umkehren, um uns nicht unnötig der Gefahr des Verirrens auszusetzen, da ließ ich die Männer innehalten. Ich hatte nämlich ein leises Wimmern vernommen, das aus einem Raum halb links vor uns gekommen war. Sofort hatte ich dabei ein Bild assoziiert, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Doch es sollte noch schlimmer kommen. „Schnell, hierher!“ dirigierte ich die fackeltragenden Männer, die sogleich mit mir zurückwichen, als das flackernde Licht auf den blutleeren, ausgelaugten Leib fiel, der wie eine leere Ballonhaut auf der Wasseroberfläche trieb. Es war Bethany. Ihr war anzusehen, daß sie nur noch kurze Zeit leben würde, auch wenn das, was wir von ihr sahen, nur der Oberkörper war, der aus dem Wasser ragte. Ihr Unterleib, furchtbar aufgequollen und entstellt, war nur zu erahnen. „Meine Kinder, wo sind meine Kinder!“ stammelte sie, ohne mich zu erkennen, dann verlor sie das Bewußtsein und drohte in die wallenden Fluten des Beckens hinabzugleiten. Beherzt
griff einer der Männer, die ihr am nächsten standen, zu. Sie schien fast nichts zu wiegen. Ich gab dem Mann zu verstehen, daß ich sie halten wollte, und bückte mich mit Tränen in den Augen zu ihr herab. Nur wenig war von ihrer einstigen Schönheit übriggeblieben. Sie war mehr tot als lebendig und hatte keine Kraft mehr, sich zu halten. Ich preßte meine Lippen auf ihre nasse, runzlige Stirn. Unter meinem Druck quoll Wasser aus ihrer aufgeweichten Haut. Mein Gott, wie lange mußte sie schon hier gelegen haben! Es war ein Wunder, daß überhaupt noch Leben in ihr war. Und dieses Leben wich von Minute zu Minute. Ich bemerkte nicht, daß einer der Umstehenden seine Fackel in eine Wandhalterung steckte und zusammen mit den anderen den Raum verließ. Als sich Bethanys große schwarze Augen für immer schlossen, war ich mit ihr alleine.
KEINE NOCH SO AUFGEBRACHTE MENGE, kein Polizeiaufgebot der Welt hätte mich davon abhalten können, zu Bellthals Haus vorzudringen. Ich kannte nur ein Ziel: er mußte sterben. Doch die fünf, die mich begleiteten, und ich kamen nur sehr langsam voran, denn Cathays Straßen waren von aufgebrachten Menschen verstopft. Alles schien einem Punkt entgegenzustreben, und ich ahnte, welcher das war. In dem Viertel, in dem Jakob Bellthals Haus lag, wütete eine gewaltige Feuersbrunst, die eine ganze Häuserzeile erfaßt hatte. Der Gluthauch war schon einige Straßenzüge entfernt zu spüren, und die Ascheflocken der Verbrannten wirbelten durch die Luft. Es konnte nur ein weiterer, auf die Spitze getriebener Fiebertraum sein. Es war nicht möglich, daß all dies wirklich
geschah. Einen Moment lang glaubte ich gar, niemals nach Cathay gegangen zu sein, sondern mich noch immer in Deutschland zu befinden, an einer tropischen Infektion erkrankt, die meine Sinne verwirrte. Auch Bellthals altes Haus brannte. Die Menschen waren inzwischen zurückgewichen, nachdem sie sich vergewissert hatten, daß der, der Ziel ihres Hasses gewesen war, nicht mehr entkommen konnte. Keiner hatte Anstalten gemacht, ihn zu retten, nur sein treuer Diener Conrad war noch einmal in das Gebäude zurückgelaufen, als dieses – von der wuterfüllten Menge angezündet – lichterloh in Flammen aufgegangen war. Ihn hatten bereits im Flur die herabfallenden Trümmer erschlagen. Dort lag er nun mit verdrehten Gliedern. Bellthal hätte sich in diesem Augenblick wahrscheinlich gewünscht, das Schicksal seines Dieners zu teilen. Er machte keinen Versuch zu fliehen. Es war ein schauriger Anblick: mit einer geradezu überlegenen Ruhe, die mich an die Beschreibungen von Hexenverbrennungen erinnerte, stand er unbewegter Miene inmitten eines Flammenmeeres, das Teppiche und Vorhänge, Stofftapeten und Bücherschränke der Salons erfaßt hatte. Es war die Frage, wer wen beobachtete: die, die ihn verdammt hatten, oder er sie, die so lange stehenblieben, bis die Fensterscheiben in der infernalischen Glut dahinzuschmelzen begannen. Und dann, als das Feuer erloschen war, drangen sie ungeachtet der Einsturzgefahr in das Gebäude ein und machten sich über den rot glänzenden Körper des Toten her und zerrissen ihn, um ihn zu verschlingen. Und mir war, als sei da immer noch Leben in den von blutigem Schorf überzogenen Resten Jakob Bellthals gewesen.
Mit Bellthals unrühmlichen Ende kehrte wieder Ruhe in die Stadt ein. Es wurde eine Wasserleitung errichtet, die das lebensnotwendige Naß von einer der klaren Gebirgsquellen des Kar der Stadt zuleitete. Obwohl noch viele Menschen infolge der Epidemie ihr Leben lassen mußten, war die Gefahr bald gebannt. Und nach der Katastrophe schwieg man peinlich berührt über die Vorfälle, deren Zeuge man geworden war. Allerdings hatten nur die wenigsten Menschen die ganze Wahrheit über Bellthal und seine teuflischen Umtriebe erfahren. Ich war als einer der ersten im Haus gewesen, kaum daß das Feuer erloschen war. Zwischen rotglühenden Ziegelmauern und glimmenden Fußböden war ich einer unbegründeten Ahnung folgend hinauf zu Bethanys einstigem Gemach gestürmt. Hier hatte das Feuer kaum Nahrung gefunden und war dem entsprechend rasch zum Erlöschen gelangt. Dennoch war alles rußgeschwärzt, und das Atmen fiel schwer. Hinter mir hörte ich die Schritte meiner Männer, die mir todesmutig gefolgt waren. Und ich war froh darüber, denn die Tür zu Bethanys Schlafräumen war verschlossen. Es brauchte keine Anweisungen; die beherzten Männer brachen mit gezielten Tritten die Tür auf, ohne lange zu fragen, was ich überhaupt hier suchte. Ich wußte es ja selber nicht. Wie hätte ich auch ahnen können, daß wir auf Bethanys Kinder stoßen würden? Sie waren also keine Ausgeburt ihrer Phantasie gewesen, auch wenn ich bis heute nicht verstanden habe, wie das, was wir sahen, wirklich sein konnte. Ich weiß weder, wer sie genährt, noch wer sie aus dem Bauch der Mutter ans Tageslicht geholt hatte. Wir zählten insgesamt zwanzig Babys, die noch lebten. Ein Dutzend war in den giftigen Rauchschwaden, die auch diese Zimmer erreicht hatten, jämmerlich erstickt.
Ich wehre mich bis heute, zu glauben, daß sie alle Kinder einer Mutter sein sollten, doch wie sonst hätte man diese Ähnlichkeit mit Bethany erklären wollen, vor allem die ernsten dunklen Augen, in denen man sich so leicht verlieren konnte. Was auch immer geschehen war, diese bemitleidenswerten Kreaturen, die nun Vollwaisen waren, trugen keine Schuld an den Umständen ihrer Existenz, und so setzte ich mich mit all meiner Kraft, selbst noch vom Tode gezeichnet, dafür ein, daß sie nach ihrer geheimgehaltenen Entdeckung möglichst rasch per Schiff die Stadt verließen. In meiner alten Heimat fand ich dank meiner Beziehungen schon bald Familien, denen ich soviel von meiner Geschichte anvertrauen konnte, wie unbedingt nötig war. Mehr nicht, zum Schutze der Kinder und meiner selbst, denn ich wähnte mich nicht ganz unschuldig am unglücklichen Verlauf der Ereignisse. Der gnomenhafte Berater Bellthals, den ich wenigstens für die Einflüsterung jenes irrsinnigen Plans in des Fabrikanten Geist verantwortlich machte, ward ebenso wenig wieder gesehen wie die dämonischen Helfer, angeführt von Uxlu, die wahrscheinlich wieder in den schwarzen Dschungel verschwanden, aus dem sie hervorgekrochen waren. Das Haus, dessen Errichtung ich ein Jahr meines Lebens gewidmet hatte, wurde versteigert und fertiggebaut, wobei man – man nenne es eine Geschmacklosigkeit oder Ironie des Schicksals – auch die Knochen der während der Katastrophe Getöteten verwendete, um daraus Mörtel und Leim herzustellen. Nur Bethanys Leiche wurde ein anderes Schicksal zuteil. Ich ließ sie wie schon ihre Kinder aus dieser verfluchten Stadt fortschaffen.
Was hält mich noch an diesem Ort? Ich weiß keine Antwort darauf, und dennoch bleibe ich. Vielleicht, weil ich weiß, daß es kein Entkommen, keine Hoffnung gibt, nicht hier, und nirgendwo sonst auf dieser von Gott verlassenen Welt.
DES SAMMLERS LETZTE TAGE
ALS ICH GEORGE BENNETT vor zwei Wochen traf, war sein körperlicher Zustand bemerkenswert angesichts seines Alters von fünfundsiebzig Jahren. Nein, er hatte Grund, stolz zu sein auf seinen straffen, sportlichen Körper, und besonders stolz war er auf die in Hunderten von Farben schimmernde Tätowierung, die seine Brust überzog. Sie stammte aus seiner Jugend, dem Krieg 70/71, den er als Söldner mit bestritten hatte. Ich hatte ihn kurz danach kennengelernt, in Joe’s Bar, in einem der eher finsteren Viertel Londons, und wir waren unzertrennlich geworden, beide unverbesserliche Einzelgänger. Wir waren Genießer, teilten die Liebe zum Alkohol, lernten die Wirkung anderer Drogen auf Reisen ins Ausland kennen und schätzen. Die meiste Zeit lebten wir von Gelegenheitsjobs. Wir hatten keine besondere Ausbildung genossen, übernahmen jede noch so waghalsige Arbeit, und so konnte sich bald jeder ein kleines Vermögen beiseite schaffen. Als dann die Zeit gekommen war, da wir zu alt für unseren Job geworden, waren wir nach Indien gezogen und hatten uns in einer kleinen Kolonialsiedlung niedergelassen. Ich hatte begonnen, meine Sammlung seltener Bücher zu vervollständigen, George sein Haus in ein Museum ausgestopfter Tiere umgewandelt.
WIR SAHEN UNS FORTAN SELTENER, jeder – so schien es – wollte nun seinen eigenen Weg gehen, und nur bisweilen zog es uns zueinander, um über die alten Zeiten zu reden. So auch vor zwei Wochen. Es war ein außerordentlich stürmischer Tag im November, und der Wind trieb die trockenen, knisternden Blätter vor sich her. Glitzernde Regentropfen, winzigen Fischen gleich, fielen vom Himmel herab, als ich gerade den rettenden Schutz von
Georges Haus erreichte. Er bat mich in den dunklen Flur, nachdem ich ausdauernd und energisch die Schelle bedient hatte. „Oh, hallo, Asaph, ich bin froh, daß du gekommen bist, denn ich habe etwas, das ich dir unbedingt zeigen muß! Doch komm erst einmal herein, bei dem Wetter würde man ja keinen Hund rausjagen!“ Wir gingen in das Wohnzimmer, den größten Raum des Hauses. Beinahe jeder freie Flecken Wand war verdeckt. Da waren Geweihe, Köpfe von Elchen, Hirschen und exotischen Huftieren; da waren Kuhschädel neben Wildschweinköpfen, ganze Schwärme von ausgestopften Vögeln, ein prächtiger bunter Pfau. Schlangen hatten eine besondere Ecke im Raum bekommen. Hier standen die bequemen Sessel an einem kleinen runden Tisch, an dem wir oft saßen. Mit den Schlangen gemischt waren andere Arten von Reptilien, einige in Kunstharz gegossene Amphibien, Fische, ein ansehnlicher Hai und der Kopf eines jungen Wals, dessen winzige Augen tot in den Raum lugten. Durch ein Regal, in dem Hunderte von Gläsern mit Insekten standen, war ein kleinerer Teil des Raumes abgetrennt, in dem sich Georges ganzer Stolz befand: eine Sammlung von Monstrositäten, Unfälle der Natur, die sehr schwer zu bekommen waren. Mein Freund hatte viel Zeit und Geld in diese abscheuliche Sammlung investiert. Einige davon kannte ich bereits. Den Affen ohne Unterkiefer, ein siamesisches Froschmännchenpaar, Hunde, denen von Geburt an die Hinterbeine fehlten, eine Schildkröte mit einem flachen, völlig deformierten Panzer. Welcher ungnädige Gott hatte diese Kreaturen erschaffen? Wie schon früher überkam mich ein unwiderstehlicher Ekel vor Georges perverser Lust, diese Kreaturen zu sammeln und auszustellen. Ich hatte kein Verständnis für jemanden, der
Leben und Schicksale sammelte, so als seien sie Briefmarken oder Münzen, aber noch weniger Verständnis hatte ich für jemanden, dessen Geist sich an diesen Entgleisungen ergötzte. Wir ließen uns bei den Schlangen nieder und unterhielten uns über die laufenden Geschäfte. Heute, das spürte ich recht bald, brannte George eine Thematik auf der Zunge, die ihn mehr erregte als alles frühere. Ich fürchtete – und sollte damit recht behalten –, daß es mit seiner Sammlung zusammenhing. „Du glaubst es nicht“, begann er seinen Bericht, den ich niemals vernommen zu haben wünschte, „du glaubst einfach nicht, was ich meiner Sammlung als neustes Stück hinzugefügt habe!“ Er machte eine theatralische Pause, um dann mit einem irren Leuchten in den Augen fortzufahren. „Lange Zeit glaubte ich, nichts könne mich bezüglich meiner Sammlung noch in Erregung versetzen. Ich habe die seltensten Schmetterlinge, längst ausgestorbene Raubvögel, für die andere Sammler Unsummen hergeben würden und die ich unter Einsatz meines Lebens erlegte. Ich besitze die giftigsten Reptilien und Insekten; die meisten fing ich selbst. Als ich jedoch in der letzten Woche durch die Stadt ging, entdeckte ich einen neuen Laden mit antiken Büchern, und ich dachte, daß ich hier ein geeignetes Geschenk für deinen bald anstehenden Geburtstag aufspüren könnte; ich kenne deine Sammlung ja recht gut. Bisweilen findet man ja am ehesten gerade dort etwas, wo man es eigentlich nicht erwartet. Der Laden, ein langer Gang eigentlich nur, an beiden begrenzenden Wänden meterhohe Regale, voll mit Büchern, Kräutern, gewundenen Gefäßen, gefüllt mit verruchten Dingen… am Ende stand ein alter, schwerer Schreibtisch, hinter dem der Besitzer des Ladens fast verschwand. Dieser Mann strahlte so viel Böses aus, wie ich in meinem ganzen Leben niemals zuvor verspürt habe, weder in den unheimlichen Tempeln der Maya, die wir
zusammen durchwanderten, noch in den verlassenen Nekropolen Urs. Und ich kam mit diesem Menschen ins Gespräch über Dinge, die aufzuzählen zu lange dauern würde, denn die Zeit verging auf unerklärliche Weise anders an diesem Ort. Erst als der Händler sich versichert hatte, einen echten Sammler vor sich zu haben, führte er mich zu einem Vorhang und zeigte mir etwas, das ich nun besitze. Bitte folge mir!“ Mit diesen Worten stand George auf. Wir verließen das Wohnzimmer, in dem die meisten Exponate standen, und wandten uns der steilen Treppe nach oben zu, die in den kleinen Erkerturm führte, wo George sein Sternglas und einige Bücher aufbewahrte. Dies war – so sah ich, als er die massige Eichentür mit dem großen Schlüssel aufschloß und in den Raum drückte – nun nicht mehr der Fall. Ich habe Mumien ausgeraubt, die seit Jahrtausenden ruhten, habe die entsetzlich verstümmelten Opfer unzähliger Kriege und mein eigenes Leben tausendfach bedroht gesehen, und doch wäre ich beinahe rückwärts die Treppe hinuntergefallen ob der abscheulichen Ausstattung dieses grauenhaften Altarraumes. Auf einer monolithischen Säule von etwa 150 cm Höhe, auf ein Brokatpolster gebettet, stand das Prunkstück von George Bennetts Sammlung. Es war noch ein Fötus gewesen, als der Konservator es bekommen hatte, und trotz der Tatsache, daß die Haut faltig und pergamentartig wirkte, die Adern bläulich durchschimmerten, wirkte er irgendwie lebendig. Zwei Köpfe blickten in verschiedene Richtungen, der Hals spaltete sich kurz unterhalb des Kinns; Köpfe, in denen reptilienhafte, kalte Augen saßen, und anstatt einer Nase lediglich zwei längliche Schlitze. Ihre Zähne waren stiftartig. Dieses Wesen war weder
Tier noch Mensch, aber doch Mensch genug, um mir das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. „Nun, was sagst du dazu?“ fragte Bennett mich. „Und was glaubst du… ich habe es nicht einmal bezahlen müssen!“
ICH HÄTTE ihn an diesem Abend am liebsten die Treppe hinabgestoßen, meinen alten Freund. Ich tat es nicht. Heute sah ich George wieder. Er sah gut aus, wirklich! Joseph De Vries ist ein teuflisch guter Präparator. Es ist ihm gelungen, Georges Tätowierungen auf der Brust in all ihren Farben zu erhalten, ja, sie scheinen durch die dünne Lasurschicht noch intensiver zu schillern. Ich kam mehr durch Zufall an dem Laden vorbei. In dieser Gegend treibt sich viel Gesindel herum, viele Verrückte, ehrlich, aber man entdeckt immer wieder etwas Besonderes. Ich überlege, ob ich ihn kaufen soll, meinen alten Freund George. Ich glaube, er würde sich in der Halle ganz gut machen. Aber ich befürchte, daß ich meinen Ekel gegenüber Präparaten nicht überwinden kann, und ich ahne, daß mir der Preis zu hoch sein wird.
DIE HÖLLE
DER EINGANG war verdeckt durch Efeuranken, richtig zugewuchert, und alleine das Vorhandensein von Fußspuren auf der sandigen Fläche davor deutete auf eine Öffnung in der langen Ziegelmauer hin, die im Abstand von einigen Metern schmale, gemauerte Pfeilervorsätze aufwies. Die Krone der wohl mindestens drei Meter hohen Wand wurde durch einen dichten Verhau aus rostig braunem Stacheldraht gebildet. Es mußte hier eine lange Dürreperiode gegeben haben, denn die Felsen aus grauem Schiefer, die überall zwischen den wenigen krumm gewachsenen Obstbäumen und weiten hügeligen Grasflächen emporragten, strahlten noch jetzt eine angenehme Wärme ab. Die Pflanzen, die in ihrer Umgebung wuchsen, waren trocken und verdorrt, und ich fragte mich, wovon wohl die Handvoll Schafe leben mochte, die bisweilen klagend blökten. Eines Tages hatte ich das Bedürfnis verspürt, in jener Gegend spazierenzugehen. Dabei hatte ich dieses stille Plätzchen gefunden, mit seiner einladenden Steinbank vor der Mauer, von wo aus man den ganzen endlosen, flach abfallenden Hang beobachten konnte. Krähen flogen von Baum zu Baum, verschwanden in den geduckten Dornbüschen und kreisten mit lautem Gekreische über dem, was hinter der hohen Mauer lag. Zuerst hatte ich mich nicht darum gekümmert, hatte mich einfach nur hingesetzt, gelesen und manchen Blick an die wundervoll friedliche Landschaft verschenkt. Dann war ich weitergeschlendert, aber: als ob es ein Wispern des Windes gewesen sei, der in diesen abgelegenen Hügeln oberhalb der Stadt wehte, waren fremdartige Stimmen an mein Ohr gedrungen – verstohlen, leise und furchtsam. Auf der gesamten Länge der Mauer – und das mochten gute hundertachtzig Meter auf jeder Seite sein – fand ich keine einzige noch so kleine Öffnung. Ich maß das Bauwerk mit
Schritten, wobei ich immer wieder von Holunderbüschen zu Umwegen gezwungen wurde, und entdeckte schließlich bei meiner Umrundung der ungefähr quadratischen Anlage eine kleine Pforte. Es stand kein Name an der Tür, die man nur bemerkte, wenn man direkt davor stand. Mich interessierte dieses Bauwerk, das so weit von Cathay entfernt errichtet worden war. Lebte dort jemand? Ein kurzer Ausflug auf eine der höher gelegenen Hügelkuppen erlaubte mir die Sicht auf einen Ausschnitt des Innenhofes hinter der Mauer. Dort stand – dem Auge des zufällig Vorbeigehenden verborgen – ein vierstöckiger Bau, streng symmetrisch in drei Teile unterteilt, wobei der Mittelrisalit ein Treppenhaus barg. Große runde, an die Bullaugen eines Schiffes erinnernde Fenster, vor die – wie vor alle Fenster des Hauses – Gitter mit dünnem Maschendraht gespannt waren, hoben diese Zone des Gebäudes besonders hervor. Im Erdgeschoß befanden sich hier auch die gewaltigen Türflügel des Hauptportals. Zeichen von Leben konnte ich keine erkennen, da die schmalen, hochformatigen Fenster des gesamten restlichen Gebäudes von innen mit Stoff verhängt waren.
ICH HATTE AUF DEM HÜGEL fast eine ganze Stunde gestanden, ausgeharrt zwischen Krähennestern in den Ginsterbüschen, deren dornige, trockene Zweige einen dichten Verhau bildeten. Wie riesige silberne Schiffe zogen die Wolken über den freien Himmel, und das ummauerte Anwesen erschien winzig unter ihnen. Nach diesem Tag war ich eine Weile nicht aus dem Haus gegangen. Meine Arbeit fesselte mich an meinen Schreibtisch,
dieses bedrückende Szenario von Tuschfässern, Zeichengeräten, Kartons und dicken Papieren und nicht zuletzt dem mit feinen Mustern übersäten Plan, an dem ich arbeitete. Dieses Gefangensein in meinem engen Dachzimmer brachte das Gefühl mit sich, auch geistig eingeschlossen zu sein. Mit zentnerschwerer Last drückte die Zimmerdecke auf meinen Schädel, und die Wände, die mich mit der bunten Vielfalt meiner Werke umgaben, rückten mit jeder Minute näher und näher.
ALS ICH MICH mit einer Lektüre dem liebgewonnenen Platze dann an einem frühen Herbstnachmittag näherte, hatte ich wohl die meisten der fledermaushaft flatternden Gedanken vergessen, die mich bei meinem ersten Besuch beschäftigt hatten. Von der Bank aus konnte ich das Efeugestrüpp beobachten, das die Pforte verbarg, allerdings vernahm ich an jenem Nachmittag nicht das Wehklagen der Stimmen, die ich als aus dem Wind entstandene Geräusche identifiziert hatte. Um so erstaunter war ich hingegen, als ich einen Wagen den staubigen Weg heraufkommen sah. Es gab hier oben nichts anderes als dieses Haus, soweit ich wußte. Der Pfad verlief sich in den wurzeldurchdrungenen Hängen des sanft geschwungenen Hügelkammes. Ich konnte leider das Fabrikat des Wagens nicht erkennen, vermutete aber, daß es sich um eines der robusten, schweren europäischen Automobile handelte. Als das Fahrzeug vorüberfuhr, sah ich, daß es von einem hageren hohlwangigen Fahrer mit einer ausgeprägten Hakennase gesteuert wurde, dessen blonde Koteletten unter einer Chauffeursmütze hervorragten. Er mußte mich bemerkt haben, denn seine schmalen wasserblauen Augen musterten
mich kurz, während sich das Lächeln eines Reptils auf seine Lippen schlich. Im Fond des Wagens sah ich nur zwei Schatten, denn die Fensterscheiben waren durch zugezogene schwarze Spitzengardinen undurchsichtig gemacht worden. Das Gefährt rollte noch etwa zwanzig Meter an mir vorüber, dann kam es gemächlich in dem Bereich, in dem sich das Tor befand, zum Stehen. Der Fahrer öffnete seine Tür und ging um den Wagen herum, um einem kleinen, dicken Menschen aus dem Beifahrersitz zu helfen. Ich hatte ihn wegen seiner geringen Körpergröße nicht gesehen, er war vom Chauffeur verdeckt gewesen. Vorsichtig öffnete dieser nun auch die Tür des Fonds, und beide Männer halfen einer schwarz gekleideten Gestalt auf den Weg. Es war eine Frau. Sie schien von kränklicher Natur zu sein. Meine Neugierde war geweckt. Waren dies wohl die Besitzer des großen Anwesens? Nein, zweifellos wären dann das Tor geöffnet, das Gestrüpp entfernt und der Wagen im Innenhof geparkt worden. So öffnete sich nur ein Flügel des Tores – ich vermutete, daß die Ankömmlinge geläutet hatten –, und der kleine Mann geleitete die Frau hindurch. Ich blickte auf meine Armbanduhr und stellte fest, daß sie stehengeblieben war. Sie zeigte sechzehn Uhr an, und ich glaubte gegen fünfzehn Uhr eingetroffen zu sein. Es konnte gut möglich sein, daß ich mich bereits eine Stunde hier aufhielt. Ich zog das Werk neu auf, und als ich wieder aufblickte, mußte ich feststellen, daß sich der schwere Wagen in Fahrt gesetzt hatte. Er wendete jenseits der langen Mauer und kam dann auf mich zu. Ich hatte mich unwillkürlich in die Bank gepreßt und beobachtete, wie das Fahrzeug vorüberfuhr. Es saßen nunmehr nur noch der Chauffeur und der dickliche kleine Mann darin.
Als der Wagen in einer gewaltigen Wolke aus Staub und Abgasen verschwunden war, wuchs ich wieder zu meiner ganzen Größe an und tauchte in den Schatten der Mauer ein, ihrem Verlauf folgend. Das Tor war wieder geschlossen worden, und die Efeuranken hingen darüber, als sei es nie geöffnet gewesen. Was war das für ein Haus? Welchem Zweck diente es? Ich glaube, in genau diesem Moment beschloß ich, mehr über das Gebäude hinter der Mauer zu erfahren.
DENNOCH DAUERTE ES wiederum einige Tage, bis ich an jenen Ort zurückkehrte, und es lag nicht nur daran, daß ich so sehr mit meiner Arbeit beschäftigt war. Ich fühlte mich gleichsam angezogen von diesem Rätsel wie auch abgestoßen von der Furcht vor dem, was hinter jener Mauer auf mich warten würde. Es war ein zeitloser Tag, als ich endlich in einem Aufschwung der Gefühle wärmere Kleidung anzog, eine Taschenlampe, ein Seil und etwas Proviant in einen Rucksack packte und mich auf den Weg machte. Ich erreichte die Mauer gegen vierzehn Uhr, wanderte noch einmal um den gesamten Komplex herum und suchte nach einer Stelle, an der ich die hohe Begrenzung ungesehen überqueren konnte. Es gab einige durch Hecken verdeckte Partien, und an manchen Stellen wuchsen die Efeuranken in einer so ungeheuren Dichte, daß es wohl leicht gewesen wäre, bei anbrechender Dunkelheit über den Stacheldraht zu steigen. Indes fragte ich mich: wollte ich denn die Mauer wirklich überqueren? Und vor allen Dingen: war es klug, dies zur Nachtzeit zu wagen? Warum benahm ich mich wie ein Einbrecher, anstatt einfach am Tor zu schellen?
Als ich gerade nicht allzuweit von diesem entfernt war, öffnete es sich mit einem leisen Quietschen, und ein Mann trat hindurch. Er war hochgewachsen, gekleidet in einen festen grauen Wintermantel und eine Hose gleicher unscheinbarer Färbung. Alleine seine Schuhe, die außergewöhnlich spitz zulaufend waren, riefen ein Gefühl der Fremdartigkeit hervor. Und wenn man sagt, die Augen seien ein Fenster zur Seele, so schien dieser Mann eine, nun, will sagen, zumindest merkwürdige Seele zu haben, ohne daß ich meine Gefühle konkretisieren könnte. Er wandte sich in meine Richtung und ging mit einem Gruß an mir vorüber, ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Seltsamerweise war ich mir von Anfang an sicher, daß es sich bei ihm um einen Arzt handelte. Ich wurde durch diese Begegnung daran gehindert, das ummauerte Gelände zu betreten, und für viele Tage davon abgehalten, mich dem Haus wieder zu nähern. Plötzlich wurde ich allerorts gebraucht, konnte mich der Aufträge kaum mehr erwehren. Und das, was ich eigentlich zu erledigen vorgehabt hatte, konnte ich erst etwa zwei Wochen später in Angriff nehmen.
DER DEM BAU am nächsten gelegene Stadtteil war ein ziemlich altes und leider heruntergekommenes Viertel mit aufwendigen Stuckfassaden, an denen der Verfall mit gefräßigem Zahn nagte. Ja, und als sei die Vergänglichkeit ein spiritueller Vampyr, der sich des Viertels bemächtigt habe, so wirkten auch die Bewohner der verfallenen Häuser anämisch und kraftlos. Ihre bleichen Gesichter standen in deutlichem Kontrast zu den schwarz umringten, bernsteinfarbenen Augen und den eingefallenen Mündern, die wie ausgefranste Wunden wirkten.
Ich war hergekommen, um Auskunft über die Vorgänge in jenem Haus hinter der Mauer zu erhalten, das mir so geheimnisvoll erschien. Doch es wurde von den Bewohnern der Umgebung nicht sonderlich wahrgenommen, wie ich erfuhr, als ich mich zunächst in einem Tabakladen umhörte. Es war ein altes Geschäft mit verstaubten Auslagen und einem Verkäufer, der mir nicht minder verstaubt und grau erschien. „Das alte Kloster meinen Sie? Ja, das ist schon noch bewohnt. Ich kann Ihnen allerdings nicht sagen, von wem“, meinte der Mann achselzuckend. „Ab und zu fährt mal ein Wagen hinauf, aber ich glaube, man will dort unter sich sein.“ Als ich ihn fragte, welcher Orden dort ansässig gewesen sei, konnte er sich nicht mehr recht erinnern. Es war eine versprengte Sektierergruppe gewesen, derer es so viele in Cathay gab. In einem Café erfuhr ich, daß in dem ehemaligen Klostergebäude heute ein Arzt praktiziere, und in meinem Geist begannen sich Bilder von riesigen Hallen mit Versuchslaboratorien zusammenzufügen, gewaltige Generatoren, an monströse Operationstische angeschlossen, Blitze durchzuckten einen künstlichen schwarzen Himmel, ein hohes Tonnengewölbe, von dem zerfetzte Drähte herabhingen. Dann verblaßte das Bild wieder. „Die Klinik wurde bereits 1937 eingerichtet, als letztmöglicher Ort, an dem psychisch Schwersterkrankte behandelt werden sollten. Betrachten Sie’s als eine Art Sterbehaus. Zur damaligen Zeit wahrscheinlich noch eine der besseren Einrichtungen.“ Als die Serviererin dies sagte, zogen wiederum Bilder an meinem geistigen Auge vorbei. Richtig, Geisteskranke waren in Massen deportiert und kaltblütig ermordet worden, grausam dahingeschlachtet.
„Dr. Graf fährt die Klinik seit 1954, ein netter Herr übrigens, der hier häufiger mit Gästen speist. Ich möchte in seinem Beruf nicht arbeiten. Haben Sie von den furchtbaren Ereignissen ‘66 gehört? Nein?“ Ein Schaudern erfaßte die Frau, die sich sichtbar schüttelte. „Mein Gott, der Mensch, der in einer Gewitternacht entkam – ein Patient des Doktors –, tötete drei junge Frauen, bevor er gefaßt werden konnte.“ „Ist denn das Haus so schlecht gesichert?“ fragte ich. „Ach was, aber solche Menschen schaffen es immer, einen Weg zu finden. Mit einem spitz zugeschliffenen Besteckmesser hat er seine Pflegerin bedroht, und die hat ihn dann aus dem Haus geschleust.“
ÜBER DIE VERGANGENHEIT des Dr. Graf wußte niemand Näheres. Er stammte nicht aus Cathay, sondern war nach dem Krieg hergezogen und hatte recht bald die Erlaubnis erhalten, psychisch Kranke zu behandeln. War der Mann, dem ich begegnet war, der Doktor gewesen? Und wenn er immer noch in jenem mauerumzogenen Haus praktizierte, warum gab es keine Tafel an der zugewucherten Pforte, die darauf hinwies? Ich fragte einen Zeitschriftenhändler am Stadtrand, der sich jedoch äußerst unwohl zu fühlen schien, als er sagte: „Natürlich, der Doktor behandelt dort oben noch Menschen, doch seitdem es wiederholt zu Ausbrüchen gekommen ist, führt er das Haus wie eine Festung.“ „Mir war, als hätte ein leises Stöhnen gehört, als ich an der langen Ziegelmauer entlangwanderte…“, warf ich beiläufig ins Gespräch ein. „Natürlich! Was glauben Sie denn, was für Menschen er dort behandelt? Das sind lauter Fälle, mit denen sich niemand sonst mehr abgeben möchte!“
DÄMMERUNG SCHOB SICH über das Land wie eine Tuschwolke im Wasserglas. Und ich schwamm auf dem Grund desselben, ein einsamer Taucher am Rande der Finsternis. Einsam? Nein, das Haus lauerte mit beinahe kreatürlicher Vitalität zu meiner Linken. Die Mauer, die von meinem Standpunkt aus unüberwindlich erschien, wuchs gleich einem mächtigen Zyklopenwall empor. Ich zögerte diesmal nicht lange. Mein Seil flog in hohem Bogen über die Ziegelwand, der eiserne Haken verfing sich in dem dichten Netzwerk grober Efeustränge, die offenbar auch auf der anderen Seite das Mauerwerk überzogen. Das Seil trug mein Gewicht, und, mich mit den Füßen in die Fugen stemmend, klomm ich in die Höhe. Die rostigen Eisenspeere auf der Mauerkrone verstärkten den Eindruck, daß hier etwas verborgen werden sollte. Es fehlte nicht viel, und ich wäre mit einem Hosenbein dort hängengeblieben. Unter mir samtige Dunkelheit, dahinter die schummrigen, verhangenen Fenster des Klinikgebäudes. Ihre kränklich fahlorange Färbung nährte meine Zweifel nur noch mehr. Und wieder hörte ich ein Stöhnen von gequälten Körpern und Geistern. Als ich auf der anderen Seite der Mauer (Gefangen! stahl sich der Gedanke in mein Hirn) hinab sprang, versank ich tief in moosigem Boden. Zweige krachten (oder waren es… Knochen?), dann brachten mich zwei lange Sätze in den Schatten eines Holunderbusches. Die gesamte Innenseite der Wand war mit solchen Gehölzen zugewuchert, was mir nur dienlich sein konnte. So mochte es mir wenigstens gelingen, ungesehen zu dem mir am nächsten stehenden Gebäudetrakt zu gelangen, in dem ich die Küche vermutete. Ein Schornstein
war hoch aufgemauert, Rauch stieg empor. Möglicherweise handelte es sich auch um die Wäscherei des ehemaligen Klosters. Hier hoffte ich ungesehen einsteigen zu können, wenn auch die Fenster selbst dieses abgelegenen Gebäudes vergittert waren. Augenscheinlich handelte es sich bei den Gefangenen, ich korrigiere mich: bei den Patienten, um sehr gefährliche Personen. Als ich bis auf etwa zwanzig Meter an dieses Gebäude herangekommen war, nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung rechts von mir wahr. Ein schwarzer Schatten schoß heran, geifernd, grollend, voll ungebändigter Wut. Ein Dämon? Nein, ein Hund, ein schwarzer Wachhund von der Größe eines erwachsenen Menschen, wenn er sich aufrichtete. Mindestens genauso gefährlich, wie ich mir einen echten Teufel hätte vorstellen können. Einen solchen aber hätte ich nicht mit einem Fußtritt beiseiteschleudern können. Auch der Hund zeigte sich weitgehend unbeeindruckt. Er heulte jedoch schmerzerfüllt auf, und ich hatte für wenige Sekunden etwas Luft gewonnen. Bei einem Fluchtversuch hätte ich gewiß nicht die geringste Chance gehabt. Beim Erklettern der Mauer hätte mich das Tier unweigerlich gepackt. Es blieb also nur der Weg nach vorne. Ich schaltete die Taschenlampe ein und strahlte der Bestie direkt in ihre rotglühenden Augen. Gepeinigt wandte sie den schweren Schädel von mir ab, und ich konnte seitlich das scharfe weiße Gebiß erkennen, das zweifellos dazu geeignet war, Knochen mühelos zu zerbeißen. Ich mag Tiere, allein Hunde jagen mir eine gewisse Angst ein, denn jahrhundertelange Domestizierung hat aus dem ursprünglich besten Freund des Menschen in vielen Fällen blutrünstige Bestien gemacht. Dennoch wollte ich den Hund nicht ernsthaft verletzen.
Ich streifte meinen schweren Mantel ab und warf ihn über das Tier, das sich wie verrückt wand und drohend knurrte. Da ich auch später nicht von ihm angefallen werden wollte, legte ich den Strick, mit dem ich über die Mauer gelangt war, um das relativ wehrlose und dennoch furchteinflößende Knäuel und zurrte ihn fest. Man mag sich das schwerlich – oder gar nicht heiterkeitserregend – vorstellen, wie ich in der Dunkelheit, meine Taschenlampe hatte ich im Eifer des Kampfes fallenlassen müssen, mit einem Hund rang. Indes, die geschilderten Ereignisse liefen innerhalb von Sekunden ab! Ich konnte und durfte keine Aufmerksamkeit durch den Lärm erreichen, den wir zwangsläufig erzeugten: ich, um Atem ringend und bemüht, nicht gebissen zu werden, und der Hund, der wild drauflos kläffte, wenn er nicht gerade versuchte, sein messerscharfes Gebiß in meine Waden zu versenken. Was für mich zählte, war das Ergebnis. Das verschnürte Knäuel lag in einem der Holunderbüsche und gab kaum noch Laute von sich; ich aber hatte das Hauswirtschaftsgebäude erreicht und stand an der mit Stahlblech verkleideten Tür. Sie war nur angelehnt, und der typische Küchengeruch drang nach außen. Ich zog sie auf und stand in einem Raum, der durch bleiches Mondlicht gespenstisch beleuchtet war. Die Einrichtung wirkte veraltet, aber die wuchtigen Herde blinkten, und auf Töpfen und Pfannen spiegelte sich mein gehetzt blickendes Gesicht. Ob ich wegen des Tosens meines Blutes in den Adern nichts gehört hatte, oder ob die Geräusche erst in diesem Moment einsetzten… ich weiß es nicht. Die Schreie, gemischt mit einem gequälten Stöhnen, das mich an wundgelegene Leiber, blutige Verbände und Amputationen denken ließ, drangen aus den oberen Stockwerken des Hauses herab. Wahrlich, in der Hölle
mochten die Schreie der gemarterten Seelen nicht schauriger klingen. Jenseits einer Holzrahmentür mit Drahtglaseinsatz schien gelbliches Licht; von dort drangen nun auch andere Geräusche an mein Ohr. Es waren Schritte. Sie verharrten in dem Gang, den ich dahinter vermutete, und als ich mich lautlos zur Tür bewegte, wurde ich Zeuge eines Gespräches, das meine Befürchtungen bestätigte. „Und Sie glauben also, man sollte die Dosis erhöhen?“ sagte eine tiefe Stimme, und sofern ich mich richtig erinnerte, gehörte sie dem Mann, den ich vor Tagen an der Pforte getroffen hatte. Eine hohe, angenehme Stimme antwortete, die einer Krankenschwester vermutlich. „Ja, dieser Meerheim macht mir Sorgen, er ist einer der aggressivsten Patienten überhaupt; und ich glaube, er wird seine Situation trotz der Medikamente erkennen. Was das bedeutet, wissen Sie.“ „Was meint Oberschwester Inge dazu?“ „Sie kennen ihre Meinung: bevor jemand von uns bedroht ist, muß eingegriffen werden.“ Etwas, das nach eisiger Kälte klang, schwang in den Worten der Schwester mit: „Es interessiert niemanden, was hier mit den Menschen geschieht. Jeder ist doch froh, wenn er einen unliebsamen Verwandten hierher abschieben kann.“ „Und dennoch zweifle ich manchmal daran, daß wir das Richtige tun. Niemand sollte Einblick in diese Dinge gewinnen…“ Leider entfernten sich in diesem Moment die Stimmen. Wenige Minuten später wurde das Licht gelöscht. Mit größter Vorsicht drückte ich die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich, und ich stand vor einem langen Flur. In der einen Richtung, dort, wohin der Arzt und die Schwester verschwunden sein
mußten, stieß er nach zwei Metern auf eine Holztür, in der anderen war eine weite Halle – der Eßsaal vermutete ich – zu durchqueren, dann erreichte man eine Tür, ähnlich der, die ich gerade durchschritten hatte. Auf dieser stand in abblätternden schwarzen Lettern: „Sektor A, geschlossene Station“
ICH FRAGTE mich, ob ich umkehren sollte. Es war ein Fehler gewesen, daß ich die Mauer überstiegen hatte. Nun war ich im Begriff, einen weiteren großen Fehler zu machen, das spürte ich. Und dennoch… Der Flur hinter der Tür, die ich hatte aufsperren müssen, war von einer üblen Luft erfüllt. Ich fragte mich, ob jemand gerade gestorben war oder in diesem Augenblick starb. Ein ohrenbetäubender Todesschrei ließ mich zusammenfahren. Das Geräusch wuchs crescendoartig an und erstarb dann abrupt. Ich näherte mich der ersten Zellentür. Ich mußte eine blecherne Klappe anheben, um ins Innere des Raumes blicken zu können. Was ich dahinter erblickte, erschreckte mich zutiefst.
ICH HABE Wahnsinnige gesehen, die den Eindruck völliger Normalität erweckten. Auch die arme Kreatur, die hier gefangengehalten wurde, mußte einst vernunftbegabt gewesen sein. Es war ein älterer Mann, und was mich an ihm besonders erschütterte, war sein Blick. Er wirkte verloren und vollkommen hoffnungslos. Der Gefangene war mit einer stählernen Halskrause unter das schmale Fenster an der Wand geschmiedet. Neben ihm stand ein hölzernes Schälchen mit
einem ekligen Brei. Ob wohl daher der süße Geruch stammte, der in der Luft lag? Die Zelle war karg eingerichtet aber sauber: eine Matratze, ein Wäscheregal, keine persönlichen Gegenstände. Ich riß mich von dem Anblick los und stürmte zur nächsten Tür, hinter der sich mir ein ähnliches Bild bot. Insgesamt sechs Türen dieser Art gab es. Auch wenn die Patienten einen sehr gequälten Eindruck machten, so konnte ich keine Anzeichen von Gewaltanwendung feststellen. Eher war es wohl eine seelische Folter, die hier den menschlichen Geist zermürbte. Über eine enge steinerne Wendeltreppe erreichte ich den ersten Stock. Hier gab es einen Verteilersaal, von dem aus Flure in drei Richtungen verliefen. Mit wieviel Personal mochte Doktor Graf hier arbeiten? Es war dunkel, und auch hier herrschte eine schwere, dunstige Atmosphäre vor, darunter der stechende Geruch von Desinfektionsmitteln! Wahllos öffnete ich eine der drei Türen – ich wußte nicht, wonach ich suchte, wußte nicht, was ich erwarten sollte. Hinter vergitterten Fenstern oder blechernen Klappen hörte und sah ich das gekrümmte Menschengeschlecht sich winden, junge wie alte Menschen, in verschiedenen Lagen gefesselt, entweder mit Lederriemen oder Eisenketten. Waren sie Grafs geistige Sklaven? Glauben Sie an den Zufall? Vorsehung? Schicksal? Wenn, dann war es kein gütiger Gott, der mich hierher geleitet hatte, und doch wußte ich, daß ich gefunden, was ich im Unterbewußtsein gesucht hatte. Ich hatte viele Frauen in den Zellen an den sich ewig wiederholenden, leeren Gängen gesehen. Es waren schöne Frauen darunter gewesen, bei denen ich mir nicht hatte vorstellen können, daß sie verwirrt oder gefährlich sein könnten. Ich hatte das Bedürfnis zu helfen mit Mühe unterdrücken können.
Bis jetzt. Vor mir lag ein bleiches Bündel Mensch, es war schlank und zusammengefaltet und entbehrte nicht einer faszinierenden Ästhetik. Und wie ich das Mädchen so da sah – ich wußte nicht, ob sie mich durch den schmalen Spalt sehen konnte, aber ich fühlte: sie wußte, daß ich hier war –, spürte ich eine unsterbliche Liebe in mir aufsteigen, die mich der Dramatik eingedenk werden ließ, aufgrund derer hier Menschen von ihren Lieben getrennt sein mochten. Es war jene schwarzverhüllte Gestalt, deren Ankunft ich unlängst beobachtet hatte. Ihre Augen glitzerten wie schwarzer Obsidian, und das füllige Haar umspielte schmeichelnd die edlen Züge des Gesichts. Dann öffnete sich ihr Mund, und sie hauchte ein verzweifeltes: „Hilf mir!“ in meine Richtung. Das Nachtkleid verrutschte einen Augenblick, und entgegen meinen Willen spürte ich, wie meine Hand nach dem Schlüssel neben der stabilen Stahlblechtür tastete, das kalte Metall ergriff und ins Schloß einführte. Wenn ich nur den Mut aufbrachte, die Tür aufzuschließen… Ich hatte durch den schmalen Spalt nicht gesehen, daß das Mädchen mit einem breiten Ledergurt an einer Matte festgeschnallt war. Ich löste den Gurt und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, das von dem zusehends an Kraft gewinnenden Bündel unter mir erwidert wurde. Mit einem Ausstrecken der langen, zarten aber gepeinigten Glieder erhob sich das feengleiche Wesen. „Du hast mir geholfen, dafür sollte ich… dankbar sein.“ Unwirklich schön leuchteten ihre tiefgründigen Augen, und eine elfenbeinerne Hand umfaßte mich sanft. „Wir müssen von hier fliehen, der Doktor darf nicht vor dem Morgengrauen erfahren, daß jemand hier eingedrungen ist und dich befreit hat!“ stieß ich hervor.
„Du Idiot. Nein, das werden wir nicht tun, wir müssen… Verwirrung stiften. Und ich weiß auch schon wie.“ War die Schönheit in ihrem Gesicht nicht in diesem Moment etwas anderem gewichen, etwas, das mich das Fürchten lehren sollte? Ich wagte nicht zu widersprechen. So, als hätten wir die Rollen getauscht, ergriff sie mich bei der Hand und zerrte mich aus der Zelle. „Frei, endlich bin ich wieder frei!“ Sie sah mich an. „Du bist sehr schön. Ich… schade!“ Was wollte sie sagen? Natürlich! Sie war krank, verrückt, irre – ich weiß nicht, welche Ausdrücke man dafür noch finden könnte, aber sie alle bezeichneten den Zustand, der mich in diesem Moment so erschreckte und wie erstarrt stehen ließ. Ich konnte diese Frau nicht lieben, denn sie würde nie in der Lage sein, meine Gefühle zu erwidern. Das war ihr Wahn, das hatten sie alle, all die bedauernswerten Kreaturen, die hier in ihren Zellen lagen, gemeinsam. Doch – meine Gedanken konnte ich nicht zu Ende führen. Der Schlag kam völlig unerwartet und mit vernichtender Gewalt. Ihre Rechte zuckte vor und traf mich im Gesicht. Samtige Schwärze breitete sich über mich, und eine Art wohltuender Bewußtlosigkeit, entließ mich aus meiner Verantwortung für den weiteren Verlauf der Dinge.
ALS ICH ERWACHTE, stand die Welt in Flammen. Es mußte ein fiebriger Traum sein. Wo war ich? In den Flammenwänden um mich herum taumelten verkohlte Körper umher, krächzten, aber es klang nicht gequält, eher – wie soll ich es beschreiben? Orgiastisch? – Einmal tanzte eine der Gestalten durch den flammenleeren Kreis, der sich um mich gebildet hatte. Sie blieb ein Schemen und tauchte kurz darauf wieder im grellen
Feuervorhang unter. Während die Gardinen und Lackierungen, der nutzlose Zierrat des vergehenden Gebäudes in Brand geraten waren, lag ich auf einer freien Fläche. Das hatte mein Leben gerettet. Aber ich würde sterben, wenn ich mich jetzt nicht bewegte. Doch erst als einer der Körper auf mich zutaumelte, inmitten der brennenden Haut, verdeckt von der Asche brennender Haare und vor Hitze Blasen werfendem Blut, zwei lebendige Augäpfel, die irre um sich blickten, wußte ich: sie hatte es getan! Meine wahnsinnige Tat hatte eine Kettenreaktion ausgelöst, in deren Verlauf das Mädchen zuerst alle Patienten der geschlossenen Abteilungen befreit hatte. Daß dies nicht unbemerkt vom Personal vor sich gegangen war, konnte ich mir ausmalen. Die Insassen des ehemaligen Klosters mußten für wenige Augenblicke von soviel Verstand beseelt gewesen sein, daß sie sich gemeinsam gegen die Pfleger zur Wehr gesetzt und sie überwunden hatten. Dann hatten sie das Gebäude in Brand gesteckt. Es sollte zu einer Flammenhölle werden, aus der es kein Entrinnen gab. Und daß die Kranken nicht fliehen wollten, das sah ich an ihrem irrationalen Tanz durch das Feuermeer. Es erschien mir selber wie ein Wunder, daß ich entkam. Nicht nur dem Feuer hatte ich auszuweichen, sondern auch den größtenteils brennenden Gestalten, die mir in den endlosen Gängen entgegentaumelten und nach mir griffen. Ich kam an der grausam entstellten Leiche des Doktors vorbei. Wenige Meter entfernt lag der mißhandelte Körper einer Krankenschwester. Ein Funke Leben glomm in ihren Augen, doch als ich mich ihr näherte, um zu sehen, ob ich ihr helfen könne, trat an dessen Stelle nackter Wahnsinn und kurz darauf Tod.
Wie in einem fürchterlichen, unentrinnbaren Alptraum stürzte ich durch das Haus und fand einen Weg in den Garten, wo mein Seil und die Jacke verstreut lagen. Als ich aus der Richtung des nun im Ganzen brennenden Hauses ein lautes Jaulen hörte, wußte ich, daß sich das treue Tier befreit hatte und versuchte, seinem Herren zu Hilfe zu kommen. Ich verbarg mich auf dem nahen Hügel, von wo aus ich beobachten konnte, wie nach einer halben Stunde zwei Fahrzeuge den schmalen Feldweg hinauffuhren. Es waren Löschwagen der Feuerwehr. Aber sie kamen zu spät. Das Haus stürzte bereits in sich zusammen und begrub diejenigen unter sich, denen es gelungen war, als brennende Fackeln das Gebäude zu verlassen, aber den Weg über die Mauer oder durch das Tor nicht gefunden hatten. Es ist schwer, zu schildern, was ich in diesem Augenblick fühlte. Ich hatte erfahren, daß das, was uns als böse erscheint, in Wirklichkeit gut oder neutral sein kann. Ja mehr noch: daß der Schein niemals das wahre Abbild der Realität ist, die wir durch unseren eigenen Zerrspiegel zu entstellen wissen. In manchen Nächten sehne ich mich zurück in jene kahle Zelle, in der das zerbrechliche Bündel Mensch auf dem Boden liegt. Ich spüre, daß es nicht die Lust war, die mein Handeln bestimmte, sondern etwas Höheres. Ich nenne es Liebe.
DER DEN STURM SÄT
„DREI-ZWEI-EINS, ich zähl die Tage bis zum Ende des Jahrhunderts. Allein ich weiß, ich bin ein schwarzer Stern; auf meinem Weg durchs Universum saug ich alles Licht in mich hinein.“
NIEMAND ACHTETE auf den hageren Mann, dessen Gesicht vom schwarzen Regenschirm verdeckt wurde. Niemand wunderte sich, daß er bereits seit zwei Stunden im unaufhörlich fallenden Regen ausharrte und über den Platz hinüber auf das honiggelb erleuchtete Fenster eines Bürgerhauses starrte, ohne etwas anderes als seine Lippen zu bewegen, seine Lippen, die einen seltsam rhythmischen Monolog beteten. Sein rechter Arm war von der unbequemen, unveränderten Stellung verkrampft, doch der Mann machte keine Anstalten, den Schirm in seine Linke zu wechseln, denn die glitt beinahe liebevoll in die weite Tasche des staubgrauen Mantels und über ein Rasiermesser, dessen Klinge die Länge einer Handspanne hatte.
DIE MORDE IN CATHAY begannen an einem stürmischen Tag im späten Herbst, was für die Stadt dichten, unaufhörlichen Regen und Windböen bedeutete, die das nasse Laub in kleinen Windhosen durch die Straßen trieben. Auch ich fühlte mich wie eine von der Gewalt des Windes gelenkte Puppe. Von einem Treffen mit Dr. Ardenheim kommend, einem der ältesten Einwohner der Stadt, von dem ich mir Aufschluß über der Ursprünge der Kolonie erhofft hatte, hatte ich den Fluß überquert und befand mich nun auf dem Weg in das Viertel, in dem ich seit zehn Jahren lebte und arbeitete. Das Licht der Gaslaternen schien im Sturm zu flackern, doch es waren nur Zweige, die, vom Sturm gepeitscht, für diesen seltsamen Eindruck sorgten. Motten versammelten sich im vermeintlichen Schutz der anbrechenden Dunkelheit im lockenden Schein und wurden zum leichten Raub hektisch
flatternder Nachtjäger, die die hohen Giebel der Bürgerhäuser zu Hunderttausenden bevölkerten. Wie leicht und schmerzlos erschien er mir doch, dieser Übergang vom Leben in den Tod. Er beschäftigte mich, seitdem ich in der Stadt angekommen war. War es das gewesen, was mich dazu veranlaßt hatte, meine Forschungen ins Feld der Morphologie der indischen Mythen zu verlagern? Sicher hatten die düstren, wurmstichigen Mauern Cathays ihren Teil dazu beigetragen. Niemand konnte sich der Last der Jahrhunderte gänzlich entziehen, die wie ein schweres, mit einem üblen Fluch beladenes Fatum auf der Stadt ruhte. Fraglos war auch meine eigene Seele dem Geheimnisvollen zugeneigt, das mit der Geschichte Cathays einherging. Morde geschahen in Cathay selten aus Haß, der verletzten Ehre oder eines ideellen Motivs wegen. Hier tötete man wie in den Urzeiten der Menschheitsgeschichte um eines besseren Stückes Fleisch, eines Weibes oder eines geringfügigen Besitzes wegen. Die Cathayer waren eine wilde, ungestüme Rasse barbarischer Herkunft. Etwas Primatenhaftes zeichnete sich auf ihren Gesichtszügen ab, und ihr Gang war schleppend und schwerfällig, doch wenn sie sich zur Verrichtung niederer Arbeiten affengleich an den Fassaden der reichen Bürgerhäuser und in den engen Gassen der Stadt bewegten, wurde man der tatsächlichen Behendigkeit ansichtig, die ihnen zu eigen war. Der Mensch, dessen Geschichte ich erzählen möchte, war weder einer der europäischen Einwanderer, noch gehörte er zu den düsteren Ureinwohnern. Auch tötete er aus einer anderen, vielleicht noch ursprünglicheren Motivation heraus, und als ich ihm begegnete, wurde etwas so nachhaltig tief in mir berührt,
daß der Ausdruck Furcht zu harmlos wäre für das, was ich empfand.
MEIN WEG führte an diesem Abend durch die gotischen Arkaden am Flußufer, dort, wo tagsüber farbige Marktstände aufgebaut waren und exotische Speisen ihren Duft verbreiteten. Nun herrschte der unerträgliche Gestank der Abwässer über die feuchten, menschenleeren Gewölbe. Menschenleer? Nein, nicht ganz. Denn in einer kleinen gemauerten Kammer, in die mein Blick zufällig fiel, regte sich ein wirres Knäuel, das ich für ein Liebespaar hielt. Wenn man genau hinsah, fand man sie überall, die sich in lasterhaftem Treiben einander hingebenden Bewohner des dekadenten Cathay, nicht Scham noch Anstand kennend. Ich glaubte, unfreiwilliger Zeuge einer solchen Vereinigung zu werden, doch irgendetwas ließ mich zögern. Eine Frau stöhnte, doch es war kein lustvolles Stöhnen, sondern ein schmerzerfüllter, gewaltsam erstickter Aufschrei. Mein Gott, hier geschah ein Mord! Ich hob meinen schweren Spazierstock und wollte mich in die Finsternis stürzen, da schnellte ein massiger Schemen auf mich zu, stieß mich beiseite, so daß ich auf dem tropfnassen Pflaster zu liegen kam, und verschwand hinter einer Reihe von Pilastersäulen. Während ich aufsprang und beschloß, mich zuerst um das Opfer zu kümmern, verschwand der Unbekannte im Gewirr der verwinkelten Gassen Cathays.
ES WAR WIE ICH BEFÜRCHTET HATTE. Jede Hilfe kam für die Frau zu spät.
Das sah ich schon, als ich ein Zündholz anriß und das Innere der kleinen steinernen Kammer notdürftig ausleuchtete. Zuviel Blut hatte sie bereits verloren, durch einen Schnitt, der ihre Kehle durchtrennt hatte. Vermutlich hatte ich in diesem Moment den Mörder überrascht. Er war in Panik geraten und geflohen, doch sein Werk hatte er bereits vollendet gehabt. Diese Erkenntnis sollte mich später mit einem noch erschütternderen Grauen erfüllen, als die Gendarmerie feststellte, daß man der Frau alle Zähne herausgebrochen hatte. Es mußte geschehen sein, als sie noch gelebt hatte. Eine unvorstellbar grausame und rohe Tat! Das anfangs wenig interessierte Verhalten der herbeigerufenen Polizisten änderte sich rasch, als diese feststellten, daß es sich keineswegs um eine Eingeborene handelte, sondern um eine Tochter aus gutem Hause, ein unbescholtenes Kind, das auf dem Weg zur Klavierstunde gewesen war, wie die überall am Tatort verstreuten Notenblätter verraten hatten. Ich beneidete den Beamten nicht, der der Familie die schreckliche Nachricht überbringen mußte. Derweil wurde meine wohl kaum zur Aufklärung des Verbrechens beitragende Aussage aufgenommen. Ich hatte den Mann ja nur von hinten gesehen und auch da nur von weitem, während ich meine Verblüffung zu überwinden gesucht hatte. Also schickte man mich nach Hause, und ich bekam nur noch mit, wie in dunkelgraues Wachstuch gekleidete Männer einen Sarg herbei- und unter den Augen der Beamten die Überreste der Ermordeten hinfortschafften.
ICH ERSCHRAK, als ich einer düsteren Gestalt gewahr wurde, die vor der Pforte meines Hauses wartete.
Hatte mich der Mörder erkannt und wollte sich nun eines gefährlichen Zeugen entledigen? Als ich näherkam, atmete ich erleichtert auf. Es war Roderich Lux, ein einstiger Studienkamerad, der mich von Zeit zu Zeit in meinem Haus besuchte, wenn ihn seine Geschäfte in diesen Teil der Stadt führten. Er war ebenso bis auf die Knochen durchnäßt wie ich, und erst als wir im Studierzimmer einen heißen Tee tranken, in den ich einen kräftigen Schuß Rum gegeben hatte, kehrten unsere Lebensgeister zurück. „Ein scheußliches Wetter!“ stellte er mit einem Blick aus dem Fenster fest. „Keinen Hund würde man vor die Tür jagen, doch die Geschäfte lassen einem keine andere Wahl! Sag, ich habe den Eindruck, daß du deine Bibliothek in beträchtlichem Maße erweitert hast!“ Meine Sammlung war, und das wußte er, das Heiligtum meines vor einigen Jahren sehr günstig erworbenen Hauses. Offenbar hatte der Raum, den ich als Studierzimmer nutzte, schon immer als Bibliothek oder Arbeitszimmer gedient, denn schon bei meinem Einzug hatten sich die Regale bis unter die Decke erstreckt und waren vom Staub schwerer, alter Bücher bedeckt gewesen. Zu gern hätte ich mehr über den vorherigen Besitzer des Hauses, einen Sonderling, erfahren. Die Nachbarn, die ich nach ihm befragt, hatten leider allesamt erklärt, sie hätten in keinem Kontakt zu ihm gestanden. Das Gebäude war über die Jahre verfallen, und im baufälligen Zustand hatte es mir der Makler verkauft. Ich hatte eine Menge Geld und Arbeit hineingesteckt, doch dieser Aufwand hatte sich gelohnt. Abseits meiner anstrengenden Tätigkeit für den Lehrstuhl der Altindischen Kosmogonie, der einzig in Cathay existierte und einen hervorragenden Ruf in der gesamten Welt genoß, fand ich hier ein Refugium, in dem ich ungestört meinen Vorlieben nachgehen konnte.
Doch ich lebte alleine in dem großen Haus, und nachts, wenn der Wind durch die Korridore heulte, Fensterläden gespensterhaft klappern ließ, wenn bizarre Schatten von den knorrigen Bäumen im kleinen Vorgarten durchs Fenster fielen und mich das Ticken der Wanduhr in der Schlafkammer keine Ruhe finden ließ, verfluchte ich meine Einsamkeit. „Ja, du hast recht. Mit dem letzten Frachter kam eine umfangreiche Lieferung aus Bremen“, antwortete ich und fragte mich, wieviel Zeit wohl seit Roderichs Frage vergangen sein mochte. Es konnte jedoch nur ein kurzer Augenblick gewesen sein, den mich meine herumirrenden Gedanken von meinem Gast abgelenkt hatten. „Dieses hier, eine äußerst seltene Beekmann-Ausgabe von Marbods ,Liber lapid’, oder dort, Le Contes ,Correlation of Vital with Chemical and Physical Forces’. Ich habe für die gesamte Sendung einen lächerlich geringen Preis zahlen müssen, aber die Sichtung wird mich über den Winter viel Zeit kosten.“ Roderich nickte nur. Er wußte, daß meine Liebe zu Büchern für mich zur Besessenheit geworden war. Er selber lieh sich bisweilen ein seltenes Werk bei mir aus, so auch an diesem Abend. Wir unterhielten uns eine Weile, auch über den Mord, den ich beobachtet hatte. Dabei teilten wir eine weitere Leidenschaft, nämlich die für erlesenen Wein und gutes Essen. Als mein Freund das Haus verließ, hing der Mond wie eine leuchtende Scheibe in den Ästen der Bäume vor dem Haus gefangen, greifbar nah. Ich mußte am nächsten Morgen bereits früh aufstehen, daher widerstand ich der Versuchung, eines der neu erworbenen Bücher mit zu Bett zu nehmen, und löschte alsbald das Licht.
Ich sollte jedoch in dieser Nacht keinen Schlaf finden, und auch in der darauffolgenden nicht, fiel lediglich in einen leichten Schlummer, aus dem ich ohne die Spur einer Erholung bereits nach wenigen Minuten wieder erwachte.
DIESER SCHLAFMANGEL zog sich bereits über Tage hinweg, als ich in den kurzen Phasen des Dämmerns mit einer erschreckenden Intensität zu träumen begann. Es erscheint mir müßig, zu berichten, welchen Gegenstand meine Träume hatten. Es handelte sich natürlich um den Mord, den ich beobachtet hatte. Währenddessen schritten die Untersuchungen des Falles, die ich aufmerksam verfolgte, nur schleppend voran. Nach etwa zwei Wochen geschah ein weiterer Mord, allerdings war der Täter diesmal unbeobachtet geblieben. Meine Leistungen am Institut begannen abzufallen, und der Direktor lud mich zu einem Gespräch ein, empfahl mir, eine oder zwei Wochen Urlaub zu nehmen. Als ich ihm von meinem Erlebnis berichtete, zeigte er sich verständnisvoll. Da er wußte, wie sehr ich meine Arbeit liebte, bestand er nicht länger auf seiner Empfehlung, sondern wünschte mir lediglich alles Gute und verlieh seiner Hoffnung Nachdruck, daß ich bald Linderung fände. Ich begann, in meinen schlaflosen Nächten ziellos die finsteren Gassen der Stadt zu durchstreifen, in der Hoffnung, des Mörders habhaft zu werden. Ich selber wog mich nicht in Gefahr, da bislang nur Frauen der Bestie in Menschengestalt zum Opfer gefallen waren. Oftmals überkam mich eine solche Müdigkeit, daß ich am Morgen in einen Zustand kurzzeitiger Bewußtlosigkeit fiel und mich bei meinem Erwachen kaum mehr der Orte erinnerte, die ich des nachts aufgesucht hatte.
ES WURDE WINTER, und die Nächte wurden länger und feuchtkalt. So blieb es nicht aus, daß mich bald eine Lungenentzündung ans Bett fesselte. Neben der liebevollen Umsorgung durch meine treue Haushälterin fand ich in diesen Tagen um den Jahreswechsel Trost und Unterstützung durch Roderich, der so oft wie möglich vorbeikam und mich sogar mit neuer Literatur versorgte. Wenn ich schlief, dann war es ein Schlaf der Erschöpfung. Nur mit Widerwillen hatten mich Roderich und die Hausangestellte in den Nächten alleine gelassen. In diesen einsamen Stunden, die ich nicht bewußt wahrnahm, mußte ich wie ein Wahnsinniger gewütet haben, denn Bett und Zimmer waren in Unordnung gebracht, so als habe ich nach etwas gesucht oder mich im Schlaf hin- und hergeworfen. Wie ich später erfuhr, war meine Lage wesentlich ernster gewesen, als ich geglaubt hatte, und tatsächlich war ich dem Schnitter bedrohlich nahe getreten. Als ich mich von meiner Krankheit erholte, erfuhr ich, daß ein weiterer Mord geschehen war. Diesmal hatte das Phantom einen jungen Mann getötet, der sich im Hurenviertel am Bahnhof aufgehalten hatte. Dort gab es unzählige enge Seitengassen, die im scheinbaren Nichts endeten. Ratten tummelten sich zwischen den Abfallbergen, im Laub, das sich im letzten Herbst in rostenden Federbettgestellen verfangen hatte, und Bergen von Zeitungen, die der Wind durch die Straßen trieb, bis sie in den Sackgassen ihre letzte Ruhe fanden. Doch der Mörder war von einer der Huren beobachtet worden. Um einen Europäer handelte es sich ganz offenbar,
und er war wie ein Mitglied der Oberschicht gekleidet gewesen. Roderich bat mich inbrünstig, meine nächtlichen Wanderungen, die ich vor ihm nicht hatte verborgen halten können, einzustellen, da ich, wie dieser neue Fall bewiesen hätte, keineswegs sicher vor dem Unhold sei. Dann fügte er hinzu: „Ich habe von einem weisen Mann erfahren, der schon in vielen Fällen, in denen das seelische Gleichgewicht eines Menschen verlorengegangen war, für Abhilfe gesorgt haben soll. Er lebt in den Bergen, schau, man hat mir eine Skizze des Weges gegeben. Vielleicht solltest du ihn aufsuchen, da dir alle eigenen Versuche, deinen Geist zu bändigen, mißlungen sind. Man sagte mir, der Weise blicke mit anderen Augen hinter die Geheimnisse des Kosmos als unsereins, und ich habe im Gefühl, daß es eben diese ganz andere Sicht der Dinge ist, was du brauchst.“ Natürlich wies ich den Vorschlag des Freundes weit von mir. Ich hatte mich geweigert, mich in dieser Sache in die Hände meines Hausarztes zu geben, wie abwegig erschien mir da der Gedanke, mich einem Medizinmann anzuvertrauen!
DAS RASIERMESSER schimmerte matt im Licht der untergehenden Sonne, doch das konnte nicht über die Schärfe der Klinge hinwegtäuschen. Er wußte, wie leicht man sich daran schnitt; wie die Klinge durch Haut, Sehnen und Muskeln, selbst kleine Knochen drang. Er legte das Messer zur Seite und betrachtete das Werk des vergehenden Tages. Obwohl das Material längst noch nicht ausreichend war, ließ sich anhand des irdenen Modells erkennen, wie das Ergebnis seiner Arbeit aussehen sollte. Er konnte zufrieden sein. Man
hatte ihm bislang nur Steine in den Weg gelegt. Sah denn niemand die großartigen Zusammenhänge seines Plans? Der Mann begann zu summen; ein tonloses Lied, einen archaischen Rhythmus: „Die Sterne so kalt, sie blenden mich, Rauhreif im Blick, doch ich sehe euch, in euren Städten rennt ihr kopflos durch die Straßen, hier werd ich’s aushalten!“ Er wußte: wenn er über sie kam wie eine Naturgewalt, waren sie hilflos. Das, was er dabei empfand, war all die Mühen wert! SELTSAM GENUG, daß ich, ein bislang von der Ratio dominierter, gestandener Mann, mich am darauffolgenden Morgen auf den Weg machte, über die alte Poststraße, die Cathay in Richtung der ganzjährig schneebedeckten Gipfel verließ, zu jener Gruppe von Erhebungen zu gelangen, die man die Eulenberge nannte, wohl, weil sich diese Nachtvögel dort in außergewöhnlich großer Zahl fanden. Der Weg zu Kuruü, so der Name des weisen Mannes, sei mühsam, hatte der Freund gesagt, und damit hatte er recht gehabt. Ich konnte mich noch an die Zeit erinnern, da Cathay mit anderen von Europäern errichteten Städten verbunden gewesen war. Damals hatte man kein Schiff nehmen müssen wie heute, um die Stadt zu verlassen. Mindestens einmal täglich war eine von robusten Pferden gezogene Kutsche zur antiken Karawanenstraße gefahren und hatte Güter und Menschen aufgenommen. Doch nun trieb man nicht länger Handel, waren einige der Siedlungen bereits verlassen, der Vegetation preisgegeben. Tiefer in den Dschungel vermochte man nur noch auf Elefanten vorzudringen. Die Gefahren, die dort lauerten, befanden sich jenseits meiner Vorstellung. So weit entfernt wiederum lag auch die Siedlung des Schamanen nicht. Sie war über einen gewundenen Pfad zu erreichen. Und auch wenn ich damit rechnen mußte, erst im
Dunkeln zurückzukehren, drohte mir doch unterwegs keine Gefahr. Das kleine Urwalddorf war ein beliebtes Ziel sowohl für Einwanderer als auch Cathayer, denn dort bekam man frische Lebensmittel und wunderschön gewebte Stoffe zu einem sehr günstigen Preis, so daß ich darauf zählte, bisweilen anderen Menschen zu begegnen. Zwischen hüfthoch mit Gras bewachsenen Hügeln, unter jahrhundertealten Urwaldriesen hindurch wand sich der schmale Pfad, bis man schließlich in nicht allzu weiter Ferne den schroffen Bergkamm ausmachte, hinter dem das Dorf lag. Wenngleich dichtes Gewölk beängstigend niedrig über den Wipfeln der Bäume hing, blieb es an diesem Tag trocken. Der Boden war noch vom Vortag aufgeweicht. Schmale Rinnsale verliefen sich auf dem feuchten Grund. Das Wetter ließ Salamander und andere Amphibien aus ihren Erdhöhlen hervorkommen und auf Beutejagd gehen. Scheinbar ungeschickt tappten sie durch das nässetriefende Laub, fanden jedoch überall ein Durchkommen und durften sich an diesem Tag einer reich gedeckten Tafel sicher sein, denn Schnecken und Würmer hatte ihre Gruben ebenfalls instinktiv verlassen und waren ein leichter Fang für die stillen Jäger. Der Aufstieg zwischen den aufgeworfenen Felsschichten des Bergkammes war mühsam. Die ansonsten dichte Urwaldvegetation machte hier zähen Flechten und Moosen Platz, mancherorts konnten sich auch gebückte Dornsträucher und Büsche mit ledrigen braunen Blättern gegen die Witterung und den nährstoffarmen Untergrund behaupten. Der Pfad über den Bergrücken, der den einstigen Fahrweg um etliche Meilen abkürzte, war zwar nicht befestigt, jedoch leicht begehbar. Die Tritte von Tausenden von Wanderern hatten Stufen in dem ölig glänzenden Schiefer geformt, die das Erklimmen der Anhöhe überhaupt erst ermöglichten.
Dann stand ich auf dem höchsten Punkt, einer kleinen ebenen Fläche, von der aus man das liebliche romantische Talrund auf der anderen Seite des Berges überschauen konnte. Verschlafen duckte sich der vom Charakter her eher an ein europäisches Bergdorf erinnernde Weiler zwischen hoch aufragenden Felswänden und einem schmalen, aber reißenden Fluß, den ich über eine schmale Brücke würde überqueren müssen, um in die Ansammlung kleiner spitzgiebeliger Häuser zu gelangen. Woher der Wasserlauf kam und wohin er verschwand, war nicht zu erkennen, aber ich vermutete, daß es sich um einen der unzähligen Zuläufe des Kar handelte, dessen klares Wasser sich durch die Berge und lehmigen Täler grub, um schließlich in Cathay als schlammiger breiter Fluß ins Meer zu münden. Ich stieg hinab ins Tal und mußte beide Hände zu Hilfe nehmen, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Ein Wanderer kam mir entgegen, ich sah ihn bereits auf der halben Höhe des Bergkammes, einen jungen Kerl, der mit weit ausholenden Schritten zu mir heraufstrebte, um wohl den Weg, auf dem ich hergekommen war, in entgegengesetzter Richtung zu nehmen. Er war ein Abkömmling einer Familie gemischten Blutes. Selten waren diese Verbindungen glücklich ausgegangen, meist entsprossen ihnen furchtbare inzestuöse Bastarde. Dieser jedoch schien körperlich wie geistig gesund, und er grüßte knapp, aber freundlich. Ich bat ihn, mir den Weg zum alten Kuruü zu weisen, und er erklärte mir in einfachen Worten, daß ich die Ansiedlung durchqueren müsse, bis ich zu einem Taleinschnitt käme. Das Haus sei nicht zu verfehlen, meinte er, dann machte er sich auf den Weg in die Wälder jenseits der steinernen Barriere, um der Jagd nachzugehen.
Ich folgte der Wegbeschreibung, gelangte über den bequemen Steg in das Dorf, in dem einige wenige europäische Siedler inmitten von Urwaldbewohnern ein beschauliches Leben führten. Hier profitierte man von den verschiedenen Fertigkeiten beider Kulturen, und nicht umsonst waren die hochwertigen Waren aus der Siedlung in Cathay so geschätzt. Ich jedoch schenkte an diesem Tag den farbigen Stoffen, den wohlriechenden Gewürzkissen, den großen Gläsern mit eingelegten Früchten, Fleisch und Gemüse, den kunstvoll gefertigten Musikinstrumenten und Töpferwaren keine Aufmerksamkeit, sondern schritt geradewegs zwischen den unverhohlen neugierig gaffenden Dörflern hindurch. Zwischen zwei mächtig aufragenden Felsen, die an gigantische Haifischzähne erinnerten, lag das Haus Kuruüs. Einst hatte es wohl einem der weißen Siedler gehört, der es aus solidem Schiefergestein errichtet hatte. Aus einem Felssockel erwuchs ein weißgetünchtes, schlankes Gebäude mit zwei Stockwerken und einem Giebel, der ein weiteres niedriges Geschoß barg. Hier trocknete, wie ich später erfuhr, der Schamane seine Kräuter und Fleisch in langen Streifen, um es haltbar zu machen. Es war ein wirklich seltsames Gefühl, das Haus zu betreten. Schon von außen wirkte es sehr gepflegt, aber im Wohnraum, in den ich nun gelangte, befand sich eine säuberlich aufgereihte Sammlung von Zaubermitteln, wie ich sie eher bei einem haitianischen Voodoo-Priester vermutet hätte. Sie waren in Vitrinen untergebracht, geordnet nach einem Prinzip, das so akribisch eingehalten war, als handle es sich um eine wissenschaftliche Ausstellung. In den Gläsern befanden sich neben den vielgestaltigen Fetischen, Knochen, Hufen und Panzern auch Kräuter und gemahlene Mineralien. Ich nahm einen der zerbrechlichen Behälter und wendete ihn vor dem hereinfallenden Sonnenlicht in meiner Hand.
„Sie interessieren sich für Magie… Hexerei?“ fragte mich in diesem Moment die angenehm sonore Stimme eines gebildeten Mannes. Kuruü war von hinten an mich herangetreten. Er verzog die wulstigen Lippen zu einem Grinsen, das seine ausgesprochen langen, elfenbeinfarbenen Zähne zeigte. Sie waren von beeindruckendem Ebenmaß. Groß und dunkel blickten mich seine Augen an, und es war eine Spur Trauer darin. „Nein, Sie glauben nicht“, meinte er und reichte mir die Hand. Dann wies er auf eine schmale Türöffnung, hinter der sich ein lichtdurchfluteter kleiner Raum erstreckte – eine Art Küche. Auch hier verbreiteten Kräuter einen würzigen Duft. Dem Mann mußten alle Pflanzen des Dschungels bekannt sein, und jede schien für ihn einen Verwendungszweck zu haben. Ich versuchte, das Alter Kuruüs zu schätzen, doch es fiel mir außerordentlich schwer. Die faltigen Gesichtszüge konnten entweder ein Hinweis auf seine ausgelebten Emotionen sein – auch jetzt lachte der Farbige herzlich –, oder auf sein fortgeschrittenes Alter. Ich vermutete, daß er zwischen vierzig und fünfzig Jahre zählte und eine hervorragende europäische Erziehung genossen hatte. Man hatte den Eingeborenen vergeblich beizubringen versucht, sich zu kleiden, angeblich scheuerte noch der feinste Stoff unerträglich auf ihrer Haut, oder sich auf Stühle zu setzen. Kuruü war eine Ausnahme. Er bat mich an einen Tisch, an dem er mir gegenüber Platz nahm. „Nun… was führt Sie hierher?“ „Ein Freund… er berichtete mir…“ Und ich begann dem aufmerksam lauschenden Fremden zu erzählen, von meinem Erlebnis in jener stürmischen Herbstnacht, von meiner Schlaflosigkeit und meinen schlimmen Träumen. Er sprach kein Wort, hörte mir zu, nickte nur von Zeit zu Zeit. Dann, als
ich schilderte, was in meinen Träumen geschah, daß der Mörder mir als Schatten erschien, um mit mir zu sprechen, legte sich seine Stirn in Falten, und einen Moment lang blickte er aus dem Fenster. An diesem frühen Nachmittag befanden sich noch viele Menschen auf der Straße, die sich nach dem Regen der vorhergegangenen Tage erstmals wieder aus ihren Häusern wagten. Der Schamane sagte: „Wenn Sie ihm zuhören, erzählt er Ihnen, was es heißt, den Sturm zu säen, denn das ist es, was er tut. Möglicherweise kennen Sie ihn, und er versucht, sich Ihnen mitzuteilen. Er wünscht, sein Geheimnis mit Ihnen teilen zu können. Und Sie werden ihn nicht hassen können, denn Sie werden verstehen, daß etwas von ihm sich auch in Ihnen wiederfindet, und das ist der Grund, warum Sie wirklich hergekommen sind. Doch das Böse im Menschen kann auch ich nicht auslöschen. Ich kann nur dem Guten helfen, die Oberhand zu gewinnen. Sie müssen auch die Schattenseite in sich als Teil Ihres Lebens anerkennen, nur dann wird es Ihnen möglich sein, Ihren inneren Frieden zu finden.“ Als er meine Enttäuschung als Reaktion auf diese ebenso allgemeine wie rätselhafte Auskunft bemerkte, fügte der Schamane hinzu: „Ich kenne kein konkretes Mittel gegen Ihre Schlaflosigkeit, aber ich weiß, wie Sie Linderung finden können. Ihr seelischer Schmerz ist sowohl Ursprung als auch Auswirkung ein- und desselben Übels. Wieviel auch immer Sie von dem, was ich Ihnen rate, glauben mögen: lassen Sie Ihre Zähne untersuchen. Ich fühle, daß der Schmerz von ihnen ausgeht. Und solange kauen Sie auf dieser Wurzel…“ Er erhob sich und ging zu einem schweren, verschließbaren Arzneischrank hinüber, dem er ein schlankes Glasröhrchen entnahm. Darin befanden sich einige dünne, schwarze Wurzeln. Eine von diesen reichte er mir und empfahl, sparsam mit diesem Schmerz- und Betäubungsmittel umzugehen.
Dann entließ mich Kuruü, der Schamane.
DIE MORDE beschäftigten jeden in der Stadt. Sie waren Tagesgespräch in den Läden, und Mutmaßungen über den Täter sowie sein schlecht gezeichnetes Konterfei, das wahrscheinlich ohne jede Grundlage war, füllten die Titelseiten der wöchentlich erscheinenden Zeitung. Es schien, daß das Phantom vor allem an stürmischen und regnerischen Tagen zuschlug, beziehungsweise in finsteren, feuchten Nächten, in denen der ehrbare Bürger nicht aus dem Haus ging. Es vergingen einige Tage, bevor ich zum Zahnarzt ging, und in dieser Zeit starben drei weitere Menschen. Die Abstände zwischen den Morden wurden immer kürzer. Was mochte sein Ziel sein? Ich wurde aus den Worten Kuruüs nicht schlau.
ZWEI HEILKUNDIGE verstanden sich in Cathay auf die Behandlung von Zahnerkrankungen. Bislang hatte ich ihre Dienste glücklicherweise noch nicht in Anspruch nehmen müssen, da mir von Natur aus ein hervorragendes Gebiß gegeben war, zu dessen Pflege ich viel Sorgfalt aufbrachte. Ich konnte kaum glauben, daß der Grund für meine Schlaflosigkeit tatsächlich hier zu suchen sei. Professor Steinacker hatte noch in der Alten Welt studiert und praktiziert. Er griff auf ein umfangreiches Wissen und große Erfahrung zurück, war aber, wie man mir gesagt hatte, schon ein wenig zittrig und daher schmerzempfindlichen Gemütern nicht uneingeschränkt zu empfehlen. Ein gewisser Doktor Hartmann, sein einstiger Schüler, hatte sich mit seiner Praxis im Bahnhofsviertel niedergelassen,
einem Viertel, das diesen Namen inzwischen zu Unrecht trug, denn zwar gab es den Bahnhof noch, doch er erfüllte nicht mehr die frühere Funktion, da in Cathay keine Züge mehr ankamen. Die Gleise waren von Vegetation überwuchert und in den Bergen und Sümpfen, einige Kilometer außerhalb der Stadt, längst durch Erdrutsche und Bodensenkungen unbefahrbar geworden. Die Praxis war in einem Haus untergebracht, das im für Cathay typischen historisierenden Stil erbaut worden war. Hartmann teilte sich das Gebäude mit zwei Anwälten und einem Notar. Er bewohnte das hatte ich erfahren, als ich mich über die Ärzte erkundigt hatte ein Haus unterhalb des alten Friedhofs am Südhang der Berge, auf der Westseite des Kar. Ich erhielt sogleich einen Termin für den übernächsten Tag, einen Freitag. Die Schlaflosigkeit hatte nachgelassen, seitdem ich vor dem Schlafengehen Kuruüs Wurzel kaute, doch mein Schlaf war dumpf und wenig erfrischend, und nicht selten schrak ich daraus schweißgebadet mitten in der Nacht auf, ohne mich erinnern zu können, was ich geträumt hatte. Dennoch war ich wieder in der Lage, meinen Forschungen nachzugehen und meine Kollegen am Institut, selbst Roderich, dessen Besuche meinen Alltag auflockerten, hielten mich für genesen. Der Freund war stolz darauf, daß sein Rat es gewesen war, der mir diese erstaunliche Heilung beschert hatte, und ich verriet ihm nicht, daß ich seit meinem Besuch bei dem Schamanen tief in meinem Inneren eine Beunruhigung fühlte, die sich auf Dauer nicht verdrängen lassen würde.
FÜR MEINEN ARZTBESUCH hatte ich mir einen freien Tag genommen.
Rudolph Hartmann empfing mich mit festem Händedruck und geleitete mich zu einem Ledersessel, der sich in alle denkbaren Positionen kippen ließ und nach Desinfektionsmitteln roch. Bald lag ich darauf, eine Lampe mit großer Leuchtkraft über mir, die Hände in die Armlehnen verkrallt. „Sie müssen sich entspannen und den Mund weit öffnen. Und keine Angst, ich schaue ja nur mal nach“, beruhigte mich der Arzt, und seine wasserblauen Augen kamen noch ein Stück näher heran. Vor dem Licht der starken Lampe wirkten seine Umrisse geradezu grotesk – die struppig abstehenden Haare, das kantige Gesicht. Seine Ohrläppchen waren angewachsen. Ich konzentrierte mich auf jede Einzelheit, während ich mich bemühte, die in meinem Mund herumstochernden Werkzeuge zu ignorieren. Plötzlich gab es einen gewaltigen Ruck, und ein stechender Schmerz fuhr durch meinen Schädel. Für einen Augenblick bildete sich Schwärze vor meinen Augen, doch die wurde von einem blendenden Licht beiseite gesprengt. Das triumphierende Lächeln Hartmanns bildete sich langsam aus zusammenfließenden Farbpartikeln. In der Rechten hielt der Arzt eine Zange, und in dieser steckte ein Backenzahn von beeindruckender Größe. „Ein prächtiges Exemplar von Weisheitszahn! Kein Wunder, daß er Ihnen Kopfschmerzen bereitet hat, aber damit dürfte in Zukunft Schluß sein. Legen Sie Wert darauf, ihn zu behalten?“ Ich konnte immer noch nicht glauben, daß der Mann mir einen Zahn gezogen hatte. Er war so schnell und geschickt vorgegangen, daß ich den Schmerz nur einen kurzen Moment gespürt hatte. Der Geschmack von rostigem Wasser erfüllte meinen Mund. Ich tastete mit der Zunge nach der neu entstandenen Lücke und spürte, wie mein Mund sich mit Blut zu füllen begann.
Hartmann reichte mir ein weißes Leintuch. Ich tupfte mir die Lippen ab. Das Tuch färbte sich rot. „Nein, werfen Sie ihn ruhig weg“, stieß ich hervor. „Und das, glauben Sie, war die Ursache für meine Schlaflosigkeit?“ „Der Zahn war völlig entzündet. Er hätte schon längst gezogen werden müssen. Ich hoffe, ich kam rechtzeitig, bevor er die gesunden Zähne beeinträchtigen konnte. Ich muß Sie bitten, in den nächsten Tagen noch einmal hereinzukommen. Ich möchte sicher sein, daß die Wunde verheilt. Und hier, nehmen Sie diese Paste und behandeln Sie das Zahnfleisch damit.“ Er reichte mir die Hand und führte mich zur Tür. Im Wartezimmer saßen bereits drei weitere Patienten mit schmerzverzogenen Gesichtern.
ES SCHIEN, als solle Hartmann recht behalten. Mit dem gezogenen Zahn verschwand auch die Schlaflosigkeit vollends. Ich schlief einen Tag und eine Nacht durch. Die Mordserie allerdings hielt Cathay weiterhin in Atem. Die Zahl der Opfer belief sich mittlerweile auf vierzehn Personen. Allen waren auf dieselbe Weise die Kehlen durchgeschnitten und sämtliche Zähne gezogen worden. Vom Täter fehlte jede Spur. Ich begann zu mutmaßen, daß meine Erkrankung eine Art psychosomatische Folge meiner schrecklichen Beobachtung gewesen war. Kuruü mußte das mit einem Blick erkannt haben, und Hartmann hatte die Ursache des Übels wortwörtlich an der Wurzel gepackt. Ich überlegte, daß der Arzt mit seinem Wissen der Polizei möglicherweise unschätzbare Dienste hätte leisten können – irgendwoher mußte der Mörder ja das für seine Taten
notwendige Handwerkszeug beziehen – und sprach ihn bei unserer letzten Sitzung darauf an. Hartmann aber lehnte es ab, seine Hilfe den Behörden zur Verfügung zu stellen.
ES WURDE FRÜHLING, und selbst das schwermütige Cathay konnte sich der allumfassenden Erneuerung nicht gänzlich widersetzen. Obwohl weitere Morde geschahen, begann die Stimmung in der Stadt seltsamerweise umzuschlagen. Man verlor schlichtweg das Interesse an den Vorgängen. So wie man mit Naturgewalten zu leben lernt, so lebte die Herde mit dem Wolf, der ungehindert Schafe aus ihrer Mitte riß. Doch es waren nicht ausschließlich die Kranken und Schwachen, die er sich als Opfer aussuchte. Und dann kam der Tag, an dem ich erneut in den Strudel der Ereignisse gezogen wurde. Ich traf Roderich bisweilen im Kaffeehaus an der unteren Flußbrücke, das einem aus Wien stammenden Kaufmann gehörte und eine wundervolle Stimmung besaß. Es war ein launischer Apriltag, der sich dem Ende zuneigte, als ich mit einer erneuten Sendung wertvoller Bücher, darunter Jamblichus’ „De Vita Pytap“, der „Codex Nazaräus“ und das „Idra Sutra“ des Rabbi Eleazar, in Richtung Kaffeehaus aufbrach. Roderich und ich hatten ausdrücklich vereinbart, daß wir uns vor dem Gebäude treffen wollten. Ich kannte den Freund als einen zuverlässigen Zeitgenossen und wunderte mich, als ich ihn zur vereinbarten Stunde nicht antraf. Auch in den angenehm beleuchteten Räumen, in denen einige Geschäftsleute ihre Tagespost erledigten oder sich Müßiggänger zu einer Tasse Kaffee niedergelassen hatten, war er nicht aufzuspüren.
Ich beschloß, ihm entgegenzugehen, denn sein Weg führte ihn am Fluß entlang, und wenn ich auch in diesem Moment nicht an den Phantommörder dachte, so doch an das Gesindel, das mit Anbruch der wärmeren Jahreszeit aus seinen winterlichen Löchern gekrochen war und sein unehrliches Auskommen suchte. Es wurde rasch dunkel, und ich beschleunigte meine Schritte, als ich in die Platanenallee einbog, und sich die Äste der schweren Bäume im Sturm zu beugen begannen und die Luft mit ihrem Rauschen erfüllten. Die Straßen waren menschenleer, die Fenster der angrenzenden Häuser hingegen von bieder familiärem Leben erfüllt. Ich fühlte mich wie ein einsamer Kahn auf hoher See, und am Ende der Allee wartete die Schwärze eines Tunnels auf mich. Doch ich wußte, daß es nur die Bäume waren, die dort kein Licht mehr durchließen. In diesem Moment ertönte ein Schrei! Es war der Todesschrei eines Menschen, und obwohl er von weither an mein Ohr drang und dumpf war, befürchtete ich zu wissen, wer da schrie. Die Stimme, das war niemand anderes als mein Freund Roderich Lux! Woher war der Schrei gekommen? Doch direkt aus der Schwärze! Ungeachtet der Gefahr, in die ich mich begab, rannte ich blindlings voraus und schrie aus Leibeskräften um Hilfe, doch nichts rührte sich, niemand hörte mein Rufen. Es war wie in meinen Alpträumen. Ich war unfähig, etwas zu tun. Und als ich bei dem reglosen Bündel ankam, wußte ich, daß ich einmal mehr zu spät kam. Es war Roderich. Er war tot. Vom Mörder keine Spur!
DIE BEAMTEN, die mich am Tatort fanden, nahmen mich mit zur kleinen Polizeiwache im Hafenviertel. Ihr anfänglicher Verdacht, ich könne etwas mit dem Mord zu tun haben, der dieselben Merkmale aufwies wie die vorangegangenen Verbrechen der letzten Monate – man hatte Roderich die Kehle aufgeschlitzt, ihm die Zähne herausgebrochen –, wich ehrlichem Bedauern, als ich den Ablauf der Geschehnisse und meine Beziehung zu dem Toten beschrieb. Da man an mir weder Blutspuren noch einen sonstigen Hinweis darauf fand, daß ich der Mörder sei, wurde ich sehr höflich behandelt. Zudem erfuhr ich, wohl weil ich den Toten persönlich gekannt hatte, daß der Mörder durch mein unerwartetes Auftauchen so erschreckt worden sein mußte, daß er etwas am Tatort verloren hatte. Man zeigte mir den silbernen Gegenstand, und eisiger Schrecken durchfuhr mich: es war eine Zange, ganz ähnlich der, mit der Doktor Hartmann meinen Weisheitszahn entfernt hatte.
DIE POLIZISTEN hatten wohl bemerkt, was in mir vorgegangen war. Sie hatten ihre Fragen auf das Nötigste reduziert, nachdem ihnen bewußt geworden war, unter welchem Schock ich stand. Mein Haus kam mir furchtbar leer und verlassen vor. Zum ersten Mal begriff ich, wie alleine ich war. Nur langsam kam ich zu mir, doch dann fiel mir ein, daß ich etwas Wichtiges vergessen hatte: meine Bücher! Am Ende der Platanenallee, dort, wo ich Roderichs Leiche gefunden, hatte ich das Paket achtlos zur Seite geworfen, als ich mich über den Toten gebeugt.
In meiner Verwirrung und Bestürzung hatte ich es dort auch vergessen. Ich warf den Mantel über und verließ das Haus noch einmal, um mich zum Schauplatz des Verbrechens aufzumachen. All die düsteren Schatten, die mich umgaben, kümmerten mich nicht länger, zu tief saß mir der Schreck in den Knochen. In der Platanenallee leuchteten inzwischen die Gaslaternen in trübem Licht und ließen die Straße als langgestreckte Halle mit darüber lastendem Tonnengewölbe erscheinen. Ich war nicht der einzige Besucher. Ein Fremder suchte die Straße an genau der Stelle ab, an der wenige Stunden zuvor der Mord geschehen war. War der Mörder zum Ort seiner schrecklichen Tat zurückgekehrt? Immer wieder las man von solchem Verhalten! Oder suchte er seine Zange? Der Mann wollte sich verstohlen zum Weggehen abwenden, als er mein Nahen bemerkte, doch ich rief ihn an, stehenzubleiben. Ich kannte den Menschen nicht, aber er konnte unmöglich das Phantom sein, denn weder besaß er dessen Kraft noch sein Alter. Als er sah, daß er nicht entkommen konnte, ohne sich noch mehr verdächtig zu machen, blieb er stehen, zog den Hut, der sein schütteres Haupt bedeckte und grüßte mich: „Guten Abend, Steinacker ist mein Name.“ Der Arzt! Ich nannte ihm meinen Namen und bat den Mann, nur einen Augenblick zu warten. In einem Gestrüpp neben der Straße fand ich die Bücher. Dann lud ich den Arzt ein, mich zu meinem Haus zu begleiten. Als ich ihm berichtete, daß ich den Mord beinahe beobachtet hatte, zögerte er nicht länger, und bald saßen wir bei einem Cognac in meinem Studierzimmer.
„Wenn Sie den Verdacht hegen, daß es sich bei dem Mörder um einen Fachmann handelt, dann liegen Sie richtig“, meinte mein Gast. „Es ist unfaßbar, aber es muß sich um einen Kollegen handeln. Auch die aufgefundene Zange spricht eindeutig dafür.“ „Hartmann?“ warf ich ein. „Ja, das heißt… nein, ich kann mir das wirklich nicht vorstellen, und das macht diese Geschichte ja so seltsam. Ich kenne Rudolph Hartmann als einen respektablen Menschen, dem diese Reihe von Morden nicht zuzutrauen wäre. Sicher, seit dem tragischen Tod seiner jungen Frau ist er ein Zyniker, doch diese Morde erscheinen so planlos, so irrsinnig… Hartmann war mein Schüler, und er ist vermutlich der einzige in der Stadt, der zu dem fähig ist, was der Mörder vollbringt.“ Es fiel Steinacker nicht leicht, diese Vermutung auszusprechen, und doch war Hartmann die einzige denkbare Verbindung zwischen den bizarren Verbrechen, meinen traumatischen Visionen und dem aufgefundenen Werkzeug. Neben Steinacker, der zu alt und gebrechlich war, kam nur er in Frage. „Wollen Sie mir einen Gefallen tun?“ fragte der Alte. „Beobachten Sie Hartmann! Ich kann mit meinen Vermutungen unmöglich zur Polizei gehen, es gibt keine eindeutigen Beweise. Wenn Sie ihn aber auf frischer Tat ertappten…“ „Ich kann ihn unmöglich vierundzwanzig Stunden am Tag überwachen… davon abgesehen habe ich auch berufliche Pflichten. Aber ich habe eine Idee. Ich werde ihn herausfordern…“
DIE FREUNDSCHAFTLICHE BEZIEHUNG zum jüngsten Opfer des bestialischen Mörders war ohne Zweifel der Motor
für die Anstrengungen, die ich in den darauf folgenden Tagen betrieb. Zuerst beobachtete ich Hartmann. Da der Mörder nur abends zugeschlagen hatte, konnte ich dabei meinem Beruf nachgehen, ohne daß dieser beeinträchtigt wurde. Allein meine Nervosität und Ungeduld konnte ich schlecht vor den Kollegen verbergen. Da sie aber wußten, daß Roderich Lux ein nahestehender Bekannter von mir gewesen war und ich den Mord beinahe beobachtet hatte, führten sie meine Konzentrationsschwäche auf dieses Geschehnis zurück. Allabendlich nach Dienstschluß zog Hartmann aus und durchstreifte ziellos die Gassen Cathays, anstatt nach Hause zu gehen. Immer trug er eine kleine lederne Instrumententasche mit sich herum, und manchmal blieb er mit aufgespanntem Regenschirm minuten-, ja, stundenlang stehen und beobachtete. Wenn ich auch nicht wußte, wonach er suchte und was genau er sah, so konnte ich doch seinen Blicken folgen. So war ich bald sicher, daß es sich bei dem Arzt um den seit langem gesuchten Mörder handelte. Ich schrieb ihm noch am selben Abend einen Brief und warf ihn persönlich in den Briefkasten seiner Praxis. Am nächsten Morgen würde er ihn finden, und ich bedauerte, daß ich sein Gesicht in diesem Moment nicht würde sehen können. Ich hatte nur wenige Zeilen geschrieben; daß ich ihm wohlgesonnen sei und mit ihm in privater Sache sprechen müsse, um ihn vor weiterem Schaden zu bewahren. Die ein oder andere Andeutung über meine Vermutung hatte ich ebenfalls in dem unverbindlichen Schreiben untergebracht. Was ich tun würde, wenn er sich, von mir offen zur Rede gestellt, offenbaren würde, wußte ich nicht so recht. Ich hatte mir keinen Plan zurechtgelegt. Die Situation würde mein Handeln bestimmen.
Als ich nach Hause kam, fand ich ein stilvoll beschriftetes Kuvert aus dickem, leicht gelblichem Büttenpapier unter der Haustür hindurchgeschoben. Hartmann bat mich um ein Treffen am nächsten Abend.
DAS HAUS, in das mich der Mann bestellt hatte, war ein verrußter alter Bau, dessen Fassade ein unbekannter Architekt kunstvoll mit steinernen Medusenhäuptern, mäandernden Mauerwerksfriesen und schlanken Fenstern verziert hatte. In Cathay herrschte dieser Häusertyp vor. Meist wurde er von mehreren Familien bewohnt. Die Hinterhöfe dieser Gebäude im ältesten Teil der Stadt waren lichtlos, und in den schlechteren Lagen sammelten sich dort Abfälle, in denen Ungeziefer seine Brut aufzog und Herde des Verfalls entstanden. Vor besagtem Haus befand sich ein schmaler Streifen eines verwilderten Gartens, der von der Straße durch ein rostiges, mit vertrockneten Rosen beranktes Gitter abgetrennt war. An einer Seite wurde es durch einen schmalen Kanal begrenzt, der in gut zwei Metern Tiefe eine schmutzige Brühe führte, in der sich Ratten tummelten. Dieser Kanal wurde durch einen steinernen Bogen überspannt, der, mit Erde bedeckt, gleichfalls als Garten diente und mit einer schmiedeeisernen Laube im Sommer gewiß zum Verweilen einlud. Mir war unbegreiflich, warum Hartmann seine Praxis nicht in dem geräumigen Haus untergebracht hatte. Das Obergeschoß schien komplett leerzustehen, und auch die von einem hohen Dach gekrönte Mansarde war ungenutzt. Sie wirkte ein wenig verwahrlost, was sicherlich an den schief in ihren Führungen hängenden, klappernden Rolläden lag, von denen die Farbe in großen Fetzen abblätterte.
„KOMMEN SIE bitte herein.“ Hartmann war so höflich und reserviert, wie ich ihn von meinen Sitzungen in seiner Arztpraxis kannte. Ich folgte ihm in einen geschmackvoll, wenn auch etwas zu düster eingerichteten Salon und nahm auf sein Bitten hin an einem Eßtisch Platz, auf dem der Arzt eine Flasche Wein und zwei Gläser bereitgestellt hatte. „Mir war klar, daß früher oder später jemand die Schlüsse ziehen würde, die Sie in Ihrem Brief andeuten“, erklärte der Arzt. „Und ich bin froh darüber, daß Sie derjenige sind, dem dies gelungen ist.“ Er entkorkte den Wein, füllte beide Gläser etwa zur Hälfte und reichte mir eines. „Sehen Sie, ich kenne Sie als einen zivilisierten Menschen“, fuhr er fort und prostete mir zu. „Sie werden verstehen…“ „Ja, ich verstehe. Wieviel Tote hat es in Cathay nun bereits gegeben? Ich weiß nicht, aus welchem wahnwitzigen, menschenverachtenden Grund Sie diese irrsinnigen Morde begehen, aber ich weiß, daß Sie krank sind. Begeben Sie sich in ärztliche Behandlung, oder besser noch: stellen Sie sich der Polizei!“ Ich konnte meine Entrüstung über die Selbstverständlichkeit, mit der Hartmann gestand, ein vielfacher Mörder zu sein, kaum verbergen. „Ja, sehen Sie denn nicht, daß ich diese Dinge tun muß? Die Stadt läßt mir keine andere Wahl!“ Er meinte ganz offensichtlich ernst, was er sagte. „Als ich herkam, war ich ein gewöhnlicher Bürger, so wie Sie. Doch nach und nach drang ich tiefer in das Geheimnis Cathays ein, und ich begann zu begreifen: Jedes Aeon verlangt nach einer Reinigung! Und jedem von uns kommt eine ganz spezielle Rolle in dem göttlichen Theater zu, zu dessen
unfreiwilligen Schauspielern uns das Leben macht. Die Zeit für meinen Einsatz ist gekommen, und ich werde meinen Akt bis zum Ende spielen, so wie er im Buch der Bücher vorgegeben ist.“ Hartmann schien nicht zu bemerken, daß das, was er sagte, keinen Sinn machte. Aber die Art, wie er es sagte, machte mir Angst, denn sie drückte eine Entschlossenheit aus, die keinen Widerspruch duldete. „Warum mußten Sie Ihren Opfern die Zähne rauben? Mein Gott, Hartmann, ist Ihnen denn nicht klar, daß nur Sie selbst für dieses Vorgehen verantwortlich gemacht werden können? Sie können die Schuld nicht von sich weisen. Nur Sie alleine tragen die Verantwortung an den Geschehnissen. Ihr Spiel ist aus. Stellen Sie sich, bevor noch mehr Unschuldige sterben müssen!“ „Vielleicht haben Sie recht.“ Er leerte sein Glas in einem Zug, so hastig, als sei es sein letztes. „Niemand außer mir versteht den Plan, niemand sieht das Ganze, begreift es in seiner Unabänderlichkeit, welchen Sinn hat es also, weiterzumachen? Egal, ob ich das Werkzeug bin oder jemand anderes; an der Notwendigkeit meines Tuns gibt es keinen Zweifel, aber meine Kraft ist nun bald aufgebraucht. Meine Arbeit ist beinahe getan. Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich möchte etwas holen, bevor ich mit Ihnen gehe!“ Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, alleine in dem Zimmer zurückzubleiben. Würde Hartmann fliehen? Sollte ich ihm folgen, heimlich, ohne daß er es bemerkte? Wahnsinnige handeln meist vollkommen unberechenbar. Aber Hartmann machte nicht den geringsten Eindruck, nicht einschätzbar zu sein. Das, was er sagte, trug er ruhig und mit dem Wissen vor, sich im Recht zu befinden. Und seine Entscheidung, sich der Polizei zu stellen, schien eine Folge
logischer Gedankenabläufe zu sein, die ich mit meinen Worten herbeigeführt hatte. Ich sah mich im Zimmer um. Die Schatten waren länger geworden, der Abendhimmel zeichnete sich in tiefem Dunkelblau vor dem Fenster ab. Alleine eine Gaslaterne leuchtete gelb herein. Wir hatten die ganze Zeit über im Schein einer Kerze gesessen, die nun nur noch ein helles Rund zu schaffen vermochte, während der Rest des Raumes im Dunkeln lag. Ich stand von meinem Platz auf und ging umher. Am Fenster hingen schwere samtene Gardinen. Wenn man sie zuzog, würde weder Licht von draußen herein- noch von drinnen hinausfallen. Und wenn ich um Hilfe schrie, würde mich niemand hören können. Eine Gänsehaut überzog mich. Mich schauderte. Hartmann war wie ich ein Büchernarr. Zwar handelte es sich zum größten Teil um Fachliteratur, doch erstaunlicherweise befaßte er sich auch mit der Geschichte Cathays, den Mythen des Landes und metaphysischen Weltanschauungen. Ich ließ meine Finger über die alten Bände gleiten und gelangte zu einem manieristisch verzierten Kabinettschrank, der in eine Regalwand integriert war. Besonders die zweiflügelige Tabernakeltür interessierte mich. Sie war mit knorpeligem Musterwerk versehen und schien die wertvollsten Bände vor meinem Blick zu verbergen. Ich zögerte. Sollte ich sie öffnen? Ich blickte mich um und lauschte ins Dunkel hinein. Wieviel Zeit war inzwischen vergangen? Packte er lediglich die Dinge zusammen, die er mitnehmen wollte?
Meine Neugier siegte. Der Schlüssel, der die Türen verschloß, ließ sich geräuschlos drehen. Mit einem leisen Klicken schob er den Riegel im Innern beiseite. Nun ließen sich die Flügel ganz leicht aufziehen. Ich trat zur Seite, damit der schwache Schein der Kerze in den Hohlraum fallen möge… und trat rasch wieder vor das Licht, um nicht mehr von dem zu sehen, was sich meinem Blick offenbart hatte… ein scheußliches Ding, aus lauter winzigen weißen Fragmenten zusammengesetzt, bestimmt zwei Ellen hoch, ein abscheuliches Idol einer unbekannten Gottheit. Gefügt aus den Zähnen der Ermordeten, hielt… bewachte?… sie eine bauchige Flasche. Das Ding war nicht ganz fertig, soweit ich das sehen konnte. Dort, wo sich ein aufgedunsener Balg gebläht, konnte ich noch eine Art Modelliermasse durchschimmern sehen, die den Kern des Götzen bildete, den Hartmann in diesem Schrein hütete. Ich sah ein breites, mit messerscharfen Zähnen bestücktes Maul, glotzende Augen unter schweren Lidern, spitze Ohren, die zu beiden Seiten des wuchtigen Schädels in die Höhe… Eine Bewegung im Lichtschein machte mich stutzig, doch noch bevor ich mich umdrehen konnte, schnellte etwas auf mich zu, nur ein Schatten, der von hinten auf mich einhieb. Ich warf mich zur Seite und sah etwas Blitzendes an mir vorüberzischen, etwas, das ins Holz des Tabernakels fuhr und dort steckenblieb. Hartmann versuchte mich zu töten! Aber anstatt das Rasiermesser aus dem Holz zu befreien und sich auf mich, der ich nun hilflos in ungünstiger Position am Boden lag, zu stürzen, griff das Phantom in den Schrank, packte die leere Flasche und stieß sich mit enormer Geschwindigkeit ab.
Als ich auf die Beine kam, schloß sich die Tür des Salons, und ich hörte nur noch hastige Schritte im Flur, bevor die Haustür zuschlug. Aber da war ich schon hinter dem Mörder her.
SO LEICHT SOLLTE HARTMANN mir nicht entkommen, nicht jetzt! Ich kannte sein Ziel nicht, aber das Hallen seiner Schritte in den menschenleeren Straßen Cathays war leicht zu verfolgen, und auch wenn ich einige Male irrte, so erkannte ich doch bald, daß der Wahnsinnige sich auf den Stadtrand zubewegte. Vor den Umfassungsmauern aber, auf dem freien Feld, würde ich ihn sehen und stellen können. Dann gab es für ihn kein Entkommen. Hartmann mußte über eine gute Konstitution verfügen. Wir ließen die letzten Häuser hinter uns, da sah ich ihn im Schein des Mondes, der dicht über den Sümpfen im Osten hing. Dort lag wohl auch das Ziel, das wir ansteuerten. Obschon ich meine Schritte beschleunigte – ich kam dem Mann nicht näher. Aber ich verlor seine Spur auch nicht, und das war das wichtigste. Ich zählte darauf, daß ich mich am Ende als ausdauernder erweisen würde. Irrlichter umschwirrten uns, und ich wußte, daß wir uns auf dem Mondfeld befanden. Um diese sumpfige Ebene, die Cathay an einer weiteren Ausdehnung in Richtung Osten hinderte, rankten sich unzählige Sagen und Mythen. Plötzlich konnte ich Hartmann nicht mehr ausmachen. Er konnte unmöglich verschwunden sein, hatte sich vermutlich auf den Boden gekauert. Das Gras besaß hier eine ausreichende Höhe, um genügend Deckung zu bieten. Vielleicht war der Arzt zu Sinnen gekommen und verbarg sich, um mir eine Falle zu stellen. Hier würden sich Hunderte von
Möglichkeiten finden, einen Toten unbemerkt verschwinden zu lassen. Vorsichtig ging ich weiter, bis ich – nicht weit vor mir – ein leises, gurgelndes Flüstern vernahm. Kein Zweifel, das war Hartmann, aber mit wem sprach er? Niemand antwortete dem ununterbrochenen Redefluß des Mannes. Ich orientierte mich an den Lauten, die er in einer gutturalen Sprache von sich gab, einem archaischen Gebet gleich. Dann sah ich ihn. Um ihn herum waren die Halme des steifen, schilfartigen Grases niedergedrückt. Hartmann kniete und hielt die Flasche hoch über dem Kopf, so daß sich der Mondschein darin fing. Es war, als schwappe eine leuchtende, fluoreszierende Flüssigkeit darin, doch ich hatte vorher ganz eindeutig gesehen, daß sie leer gewesen war. Nun galt es zu handeln! Ich sprang aus meinem Versteck in das Rund, auf den in Trance versunkenen Mann zu und warf mich auf den schemenhaften Körper, der augenblicklich ins Wanken geriet. „Nein, nicht!“ stieß Hartmann hervor, dessen glasige Augen nun wieder einen Funken Vernunft zu zeigen begannen, doch es war bereits zu spät. Ich hatte ihm die Flasche aus den Händen geschlagen, und sie flog in hohem Bogen zur Seite. Ich hatte nicht geglaubt, daß sie Schaden nehmen würde, denn um uns herum waren nur Schlamm, Sumpf und kniehohes Gras. Doch die Flasche verschwand zwischen den Halmen, die leicht im Wind gingen, und wir vernahmen ein klirrendes Bersten. Ein Zischen ertönte, so als habe sich ein Vakuum in dem Gefäß befunden. Es mochte aber auch nur ein Windzug gewesen sein, der übers Moor gefegt war.
Ja, das war sogar wahrscheinlich, denn weitere Winde folgten nun und ließen das Ried rauschen, so daß ich kaum mehr verstand, was Hartmann sagte. Dessen Widerstand war vollends gebrochen, und er sank in sich zusammen, so daß ich Mühe hatte, ihn noch aufrecht zu halten. Also ließ ich ihn nieder, schnallte den Mantel fest, an dem der Wind nun heftig zerrte, und eilte dorthin, von wo das Bersten der Flasche zu hören gewesen war. Ich sah, daß die Flasche auf einen Stein aufgetroffen und vollends zerbrochen war. Das Etikett war lehmverschmiert, aber noch gut lesbar; ein ‘95er „Mons Ignis“, nicht einmal ein besonderer Jahrgang. Ich kehrte zu dem am Boden liegenden Hartmann zurück. „Der Wind“, stieß er hervor, und es bereitete ihm sichtlich Mühe, gegen den aufkommenden Sturm anzukämpfen, „die Saat geht auf!“ „Welche Saat… was meinen Sie, Hartmann?“ „Meine Saat, mein…“ Dann brach er ohnmächtig zusammen.
DER WAGEN der neurologischen Abteilung des an die Universität angegliederten Hospitals quälte sich über die aufgeweichte Straße, und jedesmal, wenn die Reifen durchdrehten, befürchtete ich, er könne steckenbleiben. Es gab keine schlimmere Vorstellung für mich, als zusammen mit Hartmann im geräumigen, aber bedauerlicherweise nur schlecht beleuchteten Fond des kleinen Lastwagen für mehrere Stunden eingesperrt zu sein, so lange, bis das Fahrzeug wieder flottgemacht wäre. Der unablässig auf das Dach trommelnde Regen, der mit dem Sturm eingesetzt hatte, war nicht im geringsten dazu angetan, meine Nerven zu beruhigen.
Die beiden stämmigen Pfleger, die zusammen mit den Polizisten gekommen waren, nachdem ich durch die nächste Ansiedlung, den düsteren Moorweiler eines Torfstechers, Bescheid gegeben hatte, daß der Phantommörder gefaßt sei, hatten sich in die Fahrerkabine zurückgezogen. Einem Mann alleine wäre es unmöglich gewesen, den Wagen durch diesen unbändigen Sturm zu führen. Für mich war weder dort noch im Polizeiwagen Platz gewesen, und es war mir recht, den Weg Hartmanns in die sichere Verwahrung mitzuverfolgen. Der Wahnsinnige hatte eine katatonische Haltung eingenommen. Man hatte ihn mit einer Zwangsjacke so gefesselt, daß er kaum Bewegungsspielraum hatte. Blöde stierte er ins Nichts, so als sei sein Geist ausgelöscht worden und habe eine leere Hülle zurückgelassen. Er bot einen unheimlichen Anblick. Endlich erreichte der Wagen die ersten Häuser am Stadtrand Cathays. Über die gepflasterten Straßen ratterte er in Richtung Fluß und bog durch das säulengesäumte Tor in den Park der Anstalt ein, wo der Wind die Äste der Bäume fast bis auf den Boden peitschte und den Wagen ein letztes Mal mit unsichtbarer Faust ergriff und durchschüttelte. Die Türen des Fonds öffneten sich, und die Pfleger packten den Gefangenen unsanft und zerrten ihn durch die Notaufnahme in das Labyrinth der kalten Hospitalgänge. Es war alles vorbereitet. Die Zelle war winzig und von quadratischem Grundriß. Durch die blechbeschlagene Tür oder das vergitterte Fenster zu entkommen, war unmöglich. Die Zellentür schloß sich mit einem dumpfen Hallen. Man würde mit der Untersuchung erst am nächsten Tag beginnen. Der Spuk war vorüber.
ES IST HEISS, UNERTRÄGLICH HEISS. Die Windböen, die von der See her Cathay erreichen, bringen der Stadt keine Kühlung, vielmehr reichern sie die Luft mit dem schweren Geruch von faulendem Tang und verdorbenem Fisch an. Er macht mich schier wahnsinnig, dieser Gestank dumpf lastender Fäulnis und unaufhaltsamen Verfalls. Wenn doch nur der Wind drehte und frische, unverbrauchte Luft aus den Bergen brächte. Meine Kehle ist wie ausgedörrt. Ich nehme die Weinflasche aus dem Regal, entkorke sie und schenke großzügig ein.
GRACELAND
UNWEIT DER STÄDTE LIEGEN SIE, verschwiegen und von uns vergessen, die Orte, die uns an unsere Kindheit erinnern, wo die Zeit stehengeblieben ist; Plätze, an denen sich in den Dämmerungsstunden das Nachtvolk versammelt, um geheimen Feierlichkeiten beizuwohnen. Ich liebte es, diese Orte aufzusuchen und unter dem goldenen Laub der Herbstwälder oder im kniehohen, sandfarbenen Gras nach den verfallenen Mauern und Grenzsteinen unserer Ahnen zu suchen. Wieviel Glückseligkeit bescherten mir allein schon die basaltenen Wegkreuze, die man bisweilen entlang der alten Poststraßen findet, von leuchtend gelben oder rostroten Flechten bewachsen, so daß man kaum noch die daraufstehenden Jahreszahlen oder Sinnsprüche zu entziffern vermag. Meine Wanderungen führten mich über die regendurchweichten Feldwege der nächsten und näheren Umgebung, und ich genoß sie am meisten, wenn mir ein steifer Wind um die Ohren blies und alle trüben Gedanken vertrieb. Dann blieben nur die ursprünglichen, die kosmischen Wahrheiten zurück, und ich fühlte mich eins mit der Natur, deren Teil ich also wieder geworden war. An einem Nachmittag im späten Herbst, Anfang November war es wohl, machte ich mich auf den Weg zum Karmelenberg, einer abgerundeten Bergkuppe, die ein gutes Stück von der Stadt entfernt zwischen hügelig geschwungenen Feldern und lichten Hainen von Buchen und alten Eichen gelegen war. Es handelte sich dabei um einen längst erloschenen Vulkan, von dessen infernalischer Glut noch die schwarzen, verbrannten Gesteinsbrocken kündeten, die auf den umliegenden Äckern verteilt lagen. Der Berg selbst war von ausgesprochen alten Bäumen bewachsen, die knorrig und teilweise sogar ausgehöhlt vor den
Stürmen Schutz boten und Hohlwege bildeten, die nun ich als einziger Wanderer an diesem grauen Tag durchschritt. Wiewohl gedeckte und erdige Farben vorherrschten, so malten doch leuchtend rote, pralle Hagebutten und blauschwarze Schlehen immer wieder bunte Farbtupfer, die zeigten, daß noch im Tod Leben war. Ich hatte in einem Gasthof Einkehr gehalten, der zu einem der umliegenden Einsiedlerhöfe mit klingendem Namen gehörte. Sie hießen Eiserne Hand oder Karmelenbergerhof und wurden von durch lebenslange harte Arbeit gebückten Menschen bewohnt, die dennoch trotz allem Leid kein Iota ihrer Lebensfreude eingebüßt hatten. Einen würzigen Sauerbraten mit schweren vollen Klößen hatte es gegeben, und ich hatte mich satt und zufrieden gefühlt und wäre beinahe gar nicht mehr zum Berg aufgebrochen, hätte den Weg dorthin auf ein anderes Mal verschoben. Aber dann war ich doch losgezogen und hatte nach einer etwa halbstündigen Wanderung die sanfte Rundung erreicht. Die Bäume hier waren älter, das Land vernachlässigt und in den Zustand eines Urwaldes zurückgefallen, doch es drang genügend Licht durch die entlaubten Baumkronen, ein gedämpftes Licht, das weder allzu tiefe Schatten noch zu helle Reflexionen zuließ. Ein schmaler, wohl selten vom Fuß eines Menschen berührter Weg wand sich hinauf zur Bergkuppe, wo ich zwischen grasbewachsenen Wällen die Ruinen eines klassisch griechischen Monopteros entdeckte. Der kleine tempelartige Bau war wohl in vergangenen, vielleicht weit zurückliegenden Zeiten als Kultstätte genutzt worden. Vielleicht hatten sich hier die Bewohner der abgelegenen Höfe zu rauschenden Festen getroffen. Es waren nur noch die Bodenplatte mit einem Durchmesser von etwa fünf Metern und einige Säulen sowie deren einstige
Anordnung zu erkennen. Das weiße Gestein, das für diese Gegend völlig untypisch und zweifellos aus größerer Entfernung herbeigeschafft worden war, leuchtete unter der Efeuberankung weithin sichtbar. Vom einstigen Kuppeldach waren nur noch wenige Bruchstücke zu sehen, die als Schutthalde neben der Ruine ruhten. Wieviele Jahrzehnte mochten die Trümmer nun schon da liegen? Und was hatte das in seiner Form einst vollendete Gebäude so gewaltsam zerstört? War es ein Erdstoß gewesen, der den Berg erschüttert hatte? Ich wollte mich gerade zum Gehen abwenden, da stieß mein rechter Fuß gegen etwas, das scheppernd umfiel. Ich bückte mich und fand, daß es eine Urne oder Lampe aus einem matten, fast schwarzen Blech war. Als ich den merkwürdigen Gegenstand aufnahm, um ihn genauer zu begutachten, bewegte sich etwas in dem rußigen Rund, in dem einst wohl eine Flamme geglommen: Eine Spinne von der Länge zweier Fingerglieder entfloh ihrer bisherigen Behausung und lief geradewegs über meine Hand, die das seltsame Fundstück hielt. Der Arachnide war fast haarlos und hatte lange, zerbrechliche Glieder wie ein Weberknecht. Geräuschlos verschwand er im Gras, das leise im Wind rauschte.
ES BEFAND SICH sogar noch Öl in der Lampe, wie ich feststellte, als ich sie zu Hause von Laub und Erdresten befreite. Ich bewohnte einen einsam gelegenen Hof am Rande der Stadt. Vom Karmelenberg aus ging ich gute drei Stunden zu Fuß, doch an diesem Nachmittag legte ich die Strecke eine halbe Stunde rascher zurück, denn mein Fundstück hatte mich neugierig gemacht.
Es handelte sich um ein aus zwei Teilen bestehendes Gefäß. Ein runder, oben spitz zulaufender Deckel war durch dünne Glieder an einem konischen, bauchigen Korpus befestigt. Das Gefäß war womöglich einst mit einem Haken, der am Deckel befestigt war, im Kuppeldach des Monopteros aufgehängt gewesen. Doch diese Schlußfolgerungen machte ich erst später, als ich in meinem Studierzimmer saß und den Fund begutachtete. Vor dem Fenster dunkelte es bereits, und ich hatte mir einen aromatischen Tee zubereitet. Mein Blick glitt auf die Straße, die sich als graues Band in die Ferne wand, dann in den Garten. Die Rosen des Sommers waren an ihren Stöcken vertrocknet, und auch die Birken hatten ihr Laub längst abgeworfen. Es war insgesamt ein trauriger, an die Vergänglichkeit des Seins erinnernder Anblick. Nachdem ich die Lampe vom Schmutz befreit und einen Docht in der öligen Flüssigkeit an ihrem Grund getränkt hatte, zündete ich sie an und hängte sie vors Fenster. Augenblicklich durchdrang ein angenehm weiches Licht das Zimmer. Wenige Minuten darauf atmete ich einen herben, würzigen Duft. Ich erfreute mich an dem Anblick der ruhig brennenden Flamme. Er wirkte in höchstem Maße entspannend. Selten hatte ich eine so wohlige Wärme in meinem Körper gefühlt, eine Wärme, die ihren Ursprung in einem Punkt zwischen meinen Augen zu finden schien. Um den Tag nicht gänzlich im Müßiggang enden zu lassen, nahm ich mein Schreibzeug zur Hand und begann mit der Niederschrift eines Briefes an meinen alten Freund Christoph Kristenson: „ Lieber Freund! Nach einigen schweren Wochen fühle ich mich nun wieder in der Lage, mich mit einem kurzen Schreiben bei Dir zu melden
und Dir meine Meinung über die Konflikte im Nahen Osten und auf dem Balkan darzulegen, um die Du mich gebeten hast. Zweifellos handelt es sich um Geschehnisse von größter Tragweite, die die Welt, wie wir sie kennen, verändern werden. Inwiefern wir unmittelbar von diesen Dingen betroffen sein werden, läßt sich schwer abschätzen. Der Herbst ist so friedlich, und manchmal habe ich das Gefühl, die Welt ende am fernen Horizont, so als stünde ich auf einer wenige Kilometer durchmessenden Scheibe, umgeben von einem Nichts, von dem unsere Seele nach unserem Ende aufgesogen wird, nur um dann – in anderer Gestalt wiedergeboren – erneut Teil dieser abgeschlossenen kleinen Welt zu werden. Meine gesundheitliche Situation stimmt mich bedenklicher denn je zuvor. Machte heute eine ausgedehnte Wanderung, wie es mir der Doktor verschrieben hat. Ich wünschte, Du hättest mich begleiten können, es war wie in alten Tagen: Ich streifte durch die Felder und habe sogar ein kleines Geheimnis gefunden. Dennoch waren in den letzten Tagen die Stiche in meiner Lunge deutlicher und schmerzhafter zu spüren. Ich empfehle mich Gott und befolge die Anweisungen des Arztes, auf daß sich da nichts Schlimmeres entwickelt. Hoffe auf baldige Nachricht von Dir!“
AUF EINMAL war ich furchtbar müde geworden. Lag es an der Wärme, die mich nun erfüllte? Oder zollte ich dem anstrengenden Marsch verspäteten Tribut? Wie auch immer – kaum hatte ich die Feder ins Glas gesteckt, schlief ich noch über meinem Brief ein.
DAS PALLADIO-MOTIV des Rundbogens schimmerte verschwommen illuminiert über mir, ansonsten war da nur Schwärze, lichtschluckende Finsternis, die erst allmählich andere schattenhafte Formen gebar. Diese und die Musik, die nun an mein Ohr drang, ein leises, dissonantes Flötenspiel, verwirrten mich. Dies war nicht mein Studierzimmer. Dies war kein Ort, den ich kannte, und wenn doch, dann erinnerte ich mich nicht daran, ihn jemals gesehen zu haben. Ich fühlte mich schwer trunken, taumelte aus der Dunkelheit ins Licht, doch auch das brachte keine Erkenntnis, sondern förderte nur weitere Rätsel zutage. Verwischte Formen von uralten Gemäuern. Darin bewegten sich Dinge, lebende Dinge, wie Schemen aus der Vergangenheit. Zweifellos befand ich mich in vorgeschichtlicher Zeit, einer anderen, fernen Epoche. Ich blickte in alle Richtungen, versuchte, Genaueres zu erkennen, dann… … erwachte ich mit einem furchtbaren Druck hinter der Stirn. Immer noch glomm die Lampe am Fenster. Ich konnte nicht lange geschlafen haben, doch draußen war es bereits so dunkel, daß ich deutlich mein Spiegelbild und das des Raumes, in dem ich mich befand, erkennen konnte. Wich da nicht ein Schatten hinter mir in eine der Ecken zurück? Ich drehte mich um, doch da war nichts. Ich faltete den Brief, auf dem ich gelegen, steckte ihn in einen Umschlag und löschte die Lampe. Dann machte ich mich auf den Weg zum Postamt.
EINIGE TAGE vergingen, und ich vergaß, was an jenem Abend geschehen war. Die Entwicklung der Weltlage, die geschäftlichen Probleme, die sich daraus ergaben, und nicht zuletzt meine seit Jahren
dramatisch angeschlagene Gesundheit forderten meine ganze Konzentration und hielten mich von einer weiteren Untersuchung der Lampe fern. Sie war zu einem gewöhnlichen, fast schon vertrauten Einrichtungsgegenstand geworden, und auch wenn ich sie nicht anzündete, so fiel doch bisweilen mein Blick darauf. Kristenson antwortete wie gewohnt wenige Tage, nachdem ich ihm geschrieben hatte. Sein Brief drückte tiefste Sorge aus. Dann endlich fand ich Zeit für einen erneuten Spaziergang, der mich zu ungewöhnlich früher Stunde zurück zum Karmelenberg führte. Ich hatte das Gefühl, als habe ich dort etwas vergessen oder übersehen. Als ich mich der Erhebung aber über die Felder, die unter dichtem Frühnebel lagen, näherte, überkam mich die unbestimmte Ahnung eines verbotenen Geheimnisses, an das ich besser nicht rühren sollte. Meine Neugierde jedoch trieb mich voran. Ich ließ die nebeldurchtränkten Flächen hinter mir zurück und drang in den alten Wald ein, der die Bergkuppe bedeckte. Hier war es geradezu unheimlich still. Flechten hingen von dem Gezweig, und das Moos gab unter meinen Schritten schmatzend nach. Überall tropfte es. Rasch fand ich den schmalen Pfad, den ich schon einmal zum Gipfel des Berges emporgestiegen war. Während ich ihn nun beschritt, vernahm ich mit einem Mal eine traurige Melodie, die durch den Nebel zu mir herübergetragen wurde. Sie klang seltsam klagend und undeutlich. Ich wurde nun vorsichtiger, hielt mich am Rand des Weges, blieb von Zeit zu Zeit stehen, um in die sich langsam lichtende Dämmerung vor und über mir zu lauschen. Dann befand ich mich am Rand des oberen Rundes der Bergkuppe, in dessen Mitte der Tempel einst gestanden hatte. Der Platz hatte sich kaum verändert, die Einsamkeit aber, die
ich kennengelernt hatte, war einem lebhaften Fest gewichen. Wer zum Teufel feierte hier um diese Zeit? Abgesehen von der herbstlichen Kühle, die an diesem Morgen herrschte… es war noch fast dunkel. Das aber schien den Feiernden nicht das Geringste auszumachen. Augenscheinlich waren sie Dunkelheit gewöhnt. Zuerst hielt ich sie noch für Kinder, dann aber sah ich die alten zerfurchten Gesichter und die vertrockneten dürren Glieder, die in braunem Linnen staken, als sei diese Kleidung etliche Nummern zu groß. Es waren Gnome, und sie waren wohl direkt aus der Erde emporgestiegen, denn Lehm und feuchter Boden, Blätter und Lärchennadeln hafteten an ihrer unförmig geschnittenen Kleidung. Sie lachten meckernd und tanzten um die Reste des Tempels, hielten sich an den kleinen Händen gepackt und sangen. Aber irgend etwas sagte mir, daß es kein bloßer Spaß war, der das kleine Volk an diesen Ort getrieben hatte, sondern eine Pflicht, eine uralte Weisung. Ich grübelte noch über diesem seltsamen Schauspiel, als ich die Anwesenheit eines Wesens in meiner Nähe spürte. Ich drehte mich um, und da stand einer der Gnome und betrachtete mich stumm, ernst, fast mitleidig. Seine Augen waren von einem Schwarz, so tief, daß ich mich darin zu verlieren drohte, wenn ich weiter versucht hätte, ihnen standzuhalten. Es gab kein Weiß, keine farbige Iris, nur diese schwarzen Kugeln, deren Blick mich lähmte, so lange, bis ich mich endlich von ihrem Anblick losriß und seitwärts in den dunklen Forst davonstürzte.
ATEMLOS WAR ICH den Weg zurückgelaufen, hatte nicht gewagt, mich umzudrehen und einen weiteren Blick auf den Berg und die darauf Feiernden zu werfen.
Zuhause fragte ich mich dann, ob das, was ich zu sehen geglaubt hatte, tatsächlich passiert oder nur ein Produkt meiner Phantasie gewesen war. Ich hatte am Tag zuvor einen Brief Kristensons bekommen. Der Freund erkundigte sich mit großem Interesse nach dem Geheimnis, auf das ich gestoßen, das ich ihm nicht näher erläutert hatte. Um mir selber klar zu werden, was eigentlich passiert war, beschloß ich, ihm die Geschehnisse zu schildern. „Bester Christoph! Das Geheimnis, heute hat es sich zu einem wirklichen Rätsel entwickelt. Stell Dir vor: Ich kehre soeben von einem Spaziergang zum Karmelenberg zurück. Es war sehr früh am Morgen, ich war noch im Dunkeln losmarschiert, ohne recht zu wissen, wohin mein Weg mich führen würde. Als ich ganz oben auf der Kuppe anlangte…“
ICH BESCHRIEB, was ich gesehen hatte, fügte noch einige allgemeine Sätze über mein Befinden hinzu und bat den Freund, er möge mir seine Meinung zu dem seltsamen Vorfall mitteilen. An diesem Tag war ich kaum zur Arbeit fähig. Ich erledigte die wichtigsten Dinge, aß im Dorfgasthof zu Mittag und setzte mich später mit einem Buch ans Fenster des Studierzimmers. Als das Licht schwächer wurde, zündete ich zum ersten Mal seit Tagen wieder die Lampe an, die ich oben auf dem Berg gefunden hatte, und wieder erfreute mich ihr wunderschöner Schein. Doch plötzlich ermüdete mich meine Lektüre. Ich konnte mich nicht mehr so recht darauf konzentrieren und fiel in einen leichten Schlaf, vielleicht eher einen Schlaf-Wachzustand, in
dem schlecht zu sagen war, wann ich mehr wachte, wann mehr schlief. Als ich jedoch erschrocken hochfuhr und gähnendes Schwarz vor meinem Fenster erblickte, hatte sich ein böser Alptraum in meinem Geist festgesetzt, und ich konnte ihn nicht loswerden. Ja, ich war wieder in jener seltsamen vorgeschichtlichen Zeit gewesen und zwischen merkwürdigen Ruinen und ruinösen Bauten umhergewandert, von nebelhaften Schemen umtanzt, bis ich schlußendlich am Eingang eines Gartens angelangt war, in den es mich unwiderstehlich gezogen hatte. Ich hatte dem Bedürfnis nachgegeben, die grüne Oase inmitten des Verfalls zu betreten, doch als ich die Pflanzen näher betrachtet hatte, sie nun weniger undeutlich und verschwommen vor mir sah, hatte ich gewahrt, daß sie dornenbesetzt und schuppig und widerlich waren, und ich war zurückgewichen, geradewegs durch eine offene Tür in das Haus gestolpert, zu dem der Garten wohl gehörte. Dieses Haus war voller dunkler Korridore, in denen meine Schritte dumpf und hohl hallten. Bald hatte ich mich verlaufen, und wann immer ich glaubte, das trübe Licht einer Türöffnung zu erkennen, fand ich mich doch nur in einem blind endenden Gang wieder. So drang ich tiefer und tiefer in den warmen feuchten Schoß des Hauses ein, tiefer in das morsche schimmelbefallene Fundament, bis es nicht mehr tiefer ging und ich von wallenden Nebeln umgeben einem Ding gegenüberstand, das meine bloße Phantasie zu bilden niemals imstande gewesen wäre. Fledermaus- oder eulenköpfig würde ich es nennen, die Nase scheußlich platt und gespalten, die Augen mit schweren Lidern versehen, der Körper plump und schwerfällig und doch fähig…
In diesem Moment war ich erwacht und hatte meinem Schöpfer dafür gedankt, von diesem Alptraum befreit zu sein.
IN DEN NÄCHSTEN TAGEN bemerkte ich rund um mein Haus verteilt auffällige Spuren. Zuerst waren lediglich einige Pflanzen umgeknickt und Gartengeräte umgeworfen. Es wimmelte vor Katzen auf dem Gehöft. Nachts lag ich oft wach, um ihrem schrillen Konzert zu lauschen. Dann aber wurden die Spuren eindeutiger. Frische Fußabdrücke von nackten, kleinen Füßen im Beet, Kratzspuren an den Schlössern und Türen, Fensterläden, die am Abend noch verschlossen gewesen waren, am Morgen plötzlich offen standen. Zuletzt fand ich auf den Gehwegplatten vor meiner Tür eine abstrakte Kreidezeichnung, deren Bedeutung ich nicht verstand. Sie hatte etwa den Durchmesser einer Erwachsenenhand. Ich war besorgt über die Besucher, die von nun an des Nachts erschienen, doch als ich eine Nacht über Haus und Garten wachte, kam mir niemand zu Gesicht. Auch beschäftigten mich die seltsamen Träume, die ich in kurzem Abstand, jeweils nach einem Besuch am Karmelenberg, gehabt hatte. Ich hegte die Vermutung, die Lampe, die ich auf dem Berg gefunden hatte, habe eine betäubende Wirkung. Möglicherweise hatte sich die Zusammensetzung des Öls über die Zeit in einem solchen Maße verändert oder mit mir unbekannten Stoffen angereichert, daß sie dazu angetan war, dem, der ihren Dunst einatmete, zu schlechten Träumen zu verhelfen.
ENDLICH UNTERZOG ICH die Lampe einer genaueren Untersuchung, stellte aber lediglich fest, daß das Öl klar und wohlriechend war und das Gefäß selbst keine besonderen Merkmale aufwies. Abgesehen von der etwas ungewöhnlichen Form gab es nichts Außergewöhnliches, auf das mein Auge gestoßen wäre. Ich bemerkte lediglich, daß das Öl in Kürze aufgebraucht sein würde und beschloß, die Wirkung seiner Verbrennung nun gezielter zu prüfen. Zu diesem Zweck nahm ich an einem Nachmittag am Schreibtisch Platz, ließ die Lampe ein Stück von ihrem vertrauten Platz herab, bis sie etwa in der Höhe meines Gesichts zu hängen kam. Dann zündete ich den mit Öl vollgesogenen Docht an. Ich fühlte mich hellwach. Die Nacht über hatte ich in tiefstem Schlummer gelegen und war am Morgen erfrischt und ausgeschlafen aufgewacht. Die Flamme brannte ruhig und zitterte nur wenig im leichten Windhauch, der durch die Fugen des Fensters zog. Die Farben im Raum veränderten sich. Ein warmes, tiefes Orange überzog die Dinge und ließ sie in neuem Licht erstrahlen. War es möglich, daß das Licht auch nach draußen, vor das Haus strahlte? Auch dort hatten sich die Farben verändert, begannen nun die Formen zu verschwimmen. Mein Geist löste sich und… ich versuchte wach zu bleiben… Das scheußliche Ding war verschwunden, und ich befand mich nicht länger in dem alten Haus, sondern in einer engen Gasse, die seitlich von hochaufragenden Mauern begrenzt wurde. Etwas bewegte sich auf diesen Mauern, aber wie auch in meinen vorherigen Träumen war das Bild vor meinen Augen zu verwaschen, um zu erkennen, was es war.
Ein bleicher, kalter Mond verstrahlte am Himmel sein Licht. Er schien so groß und nah wie nie zuvor, fast hätte ich seine Anziehungskraft spüren müssen, so dicht schwebte er über der Stadt, deren Name, das wußte ich mit einem Male, als hätte ich es schon immer geahnt, Cathay lautete. Die Stadt selbst war unheimlich und abschreckend und doch gleichzeitig geheimnisvoll und anziehend. Und ich fühlte etwas, das mir furchtbare Angst einjagte: sie wollte mich nicht wieder loslassen. Keckerndes Gelächter zerriß die Stille, die ich bis dahin um mich herum geglaubt hatte. Ich drehte mich um und sah eine lumpige Gestalt, deren Umrisse im Sturm, der nun durch die Gassen fegte, zerfaserte. Warum ich nicht floh, weiß ich nicht. Vielleicht war ich neugierig darauf, den ersten Bewohner, der mir in der fremden Stadt begegnete, kennenzulernen. Mein Gott, jeder Schritt schien für ihn mit Beschwerden verbunden zu sein! Er schleppte sich über das Pflaster, und plötzlich strauchelte er, nur wenige Schritte von mir entfernt. Ich sprang dem Unheimlichen mit ausgestreckten Armen entgegen, bekam ihn zu fassen… ihn?… nein, lediglich ein Bündel Lumpen, eine leere Hülle, mehr nicht. Aber da war etwas in den Kleidern verborgen. Ich schloß meine Finger zur Faust und…
DER MORGEN DÄMMERTE. Die Sonne schien direkt in mein Gesicht – es mußte gegen Mittag gehen, wenn sie schon auf mein Bett fiel. Ich erinnerte mich nicht daran, wie ich überhaupt in mein Schlafzimmer gekommen war. Ich mußte völlig übermüdet gewesen sein, denn ich hatte mich wohl gerade noch meiner Hose und meines Oberhemdes entledigen können.
Die ganze Sache war sehr ungewöhnlich. Hatte ich nicht am frühen Nachmittag des Vortages… Ich setzte mich hastig im Bett auf und spürte, wie mich etwas unter dem linken Fuß stach. Ein kaum fingerlanger, aus schwarzem Stein gefertigter Gegenstand lag dort auf dem Bettvorleger. Ich hatte ihn nie zuvor in meinem Haus gesehen. Irgendwer mußte ihn während meines ausgesprochen tiefen Schlafs dort hinterlassen haben. Mit welcher Absicht? Nun, um mich zu erschrecken zweifellos, denn die mattschwarze Plastik zeigte ausgerechnet jenes abscheuliche Idol der fledermausköpfigen Kreatur, die ich in den feuchtwarmen Kellern des schrecklichen alten Hauses gesehen hatte. Wie aber konnte derjenige, der mir dieses unerbetene Geschenk dargebracht hatte, wissen, was ich in meinem Traum gesehen hatte? Ich wußte keine Antwort auf diese Frage.
AM DARAUFFOLGENDEN TAG erhielt ich einen Brief von Herrn Dr. Pfeiffer, meinem Hausarzt. Ich war in der vorangegangenen Woche zu einer gründlichen Untersuchung bei ihm gewesen und beruhigt nach Hause gegangen, als er mit attestiert hatte, daß mit meinem Atemvolumen alles in Ordnung sei. Rein vorsorglich hatte er Röntgenphotographien gemacht und diese zur Entwicklung an ein Institut in der nahe gelegenen Bezirksstadt geschickt. Das Ergebnis der Untersuchungen lag nun vor. „… tut es mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß die Diagnose auf einen Tumor im fortgeschrittenen Stadium lauten muß. Ich empfehle… “ Der Satz brannte sich mir ins Gedächtnis. Niemals würde ich diesen Tag vergessen können. All meine Pläne, alle waren mit
einem Schlag zunichte gemacht worden. Was er empfahl, war mir egal. Lungenkrebs! Das bedeutete mein Todesurteil, nicht mehr und nicht weniger. Doch es befand sich noch ein weiterer Brief in der Post. Es handelte sich um einen kleinen vergilbten Umschlag, und meine Adresse war krakelig und verschmiert, offensichtlich von Kinderhand, mit einer Tusche wie aus Gallapfelsaft und Asche darauf geschrieben worden. Das Postwertzeichen war in die falsche Ecke geklebt worden, jahrzehntealt, zerknittert und vergilbt wie eines, das man auf der Straße gefunden hatte. Es gab keinen Absender. Ich riß das Schreiben auf, glaubte, daß sein Inhalt mich nicht mehr erschrecken könne als Pfeiffers infames Schreiben. Der Briefbogen selbst war nicht weniger verschmutzt und bekritzelt als der Umschlag. Ganz zuoberst befanden sich drei Zahlenreihen, die ich hier wiedergeben möchte, auch wenn sich mir ihr Sinn bis heute entzogen hat: Darunter standen nur wenige Worte geschrieben: „unser ist dein ist unser muß unser werden bevor großes Unheil geschieht!“ Mit zitternden Händen legte ich den Brief beiseite. Ich mußte meinen Kopf abstützen – mit einem Male schien er zu schwer geworden, zu voll der schweren Gedanken. Ich wollte den Brief des Arztes noch einmal zur Hand nehmen, da bemerkte ich zwischen dem Efeu, der mein Fenster umrankte, und den dürren Rosen einen grauen Schemen, den ich früher für ein Kind aus der Nachbarschaft gehalten hätte. Ja, da war ein Gesicht jenseits des Fensters, klein, aber gleichzeitig runzelig und alt. Ich glaubte darin exakt jenen Erdgnom vom Berge wieder zu erkennen, der mich schon da so stumm betrachtet hatte. Nun wußte ich, daß der rätselhafte, nachgeäffte Brief vom kleinen Volk stammte. Ich stürmte aus dem Zimmer, doch als ich aus der Haustür und um die Gebäudeecke bog, war die
kleine Gestalt geschwungenen verschwunden.
bereits irgendwo zwischen den sanft Hügeln in Richtung Karmelenberg
DUNKELHEIT SENKT SICH über die Hügel, und in der Ferne glaube ich die grüne Kuppe des Berges zu erkennen. Auf der Spitze, glimmt da nicht ein Feuer? Tanzen da nicht kindhafte Gestalten um die funkensprühende Glut? Unmöglich, daß mein Auge, und sei es noch so geschärft, diese Dinge ausmachen könnte, und doch… Ich habe mit Doktor Pfeiffer gesprochen. Er ist sich seiner Sache ganz sicher. Mein Entschluß steht fest: Ich werde die Lampe noch einmal anzünden und Kristenson einen letzten Brief schreiben. Diesmal werde ich mich nicht dem Ruf der fremden Welt widersetzen.
Epilog AUS DER ZEUGENAUSSAGE DES CHRISTOPH KRISTENSON: DURCH DIE SELTSAMEN BRIEFE meines Freundes Richard Ernst beunruhigt, fuhr ich Anfang Dezember diesen Jahres zu dessen Hof. Ich hatte seine Beschreibungen von merkwürdigen Träumen, in denen Fabelgeschöpfe wie aus der Erde heraufsteigende Gnome und uralte troglodytische Idole auftauchten, nicht ernst genommen, und auch als er erklärte, die Gnome suchten sein Haus auf, hatte ich an einen Scherz von mit Masken verkleideten Kindern geglaubt. Allerdings führte mich nicht die Sorge um den Geisteszustand meines Freundes zu dessen Gut, sondern vor
allem befürchtete ich eine vom sensiblen Charakter Richard Ernsts hervorgerufene Kurzschlußhandlung auf die Nachricht seiner unheilbaren Erkrankung. Das Haus indes lag leer und verlassen da. Durch eine angelehnte Hintertür gelangte ich ins Innere, doch mein Rufen gab mir keinen Aufschluß über den Verbleib des Freundes. Alleine die alte Lampe, die Ernst beschrieben hatte, hing – noch nicht gänzlich erkaltet, jedoch ausgebrannt – vor dem Schreibtisch, auf dem ein unvollendeter Brief lag, der an eine nicht genannte Person gerichtet war. Er beschrieb den oben wiedergegebenen Sachverhalt und endete mit den Zeilen: „… auf daß ich nicht zuletzt die Unsterblichkeit der Seele verliere.“
DAS HAUPT DER MEDUSA
ALS ICH heute morgen aus einem wirren Traum erwachte, hatte ich das erschreckende Gefühl, mich nicht mehr bewegen zu können. Furchtbare Bilder des gerade Erlebten schossen durch meinen Geist, seltsam verwaschene Blitzlichtphotographien von meiner Führung einer Reisegruppe zu einer schaurig gotischen Burganlage, auf einem Felssporn gelegen, die einen uralten Mönchskonvent beherbergte, unser Abstieg vom gegenüberliegenden Bergkamm durch ein liebliches Tal mit Streuobstwiesen – ich erinnerte mich an den Duft wilder Apfelblüten –, die rätselhafte Frage einer Reisenden, ob man wohl noch vor elf, also vor der Öffnung der schweren, mit graugrüner Patina besetzten, buckelig genieteten Palasttüren in die Küchenräume Einblick haben könne, wie wir über geländerlose schmale Treppen das Labyrinth der vom Kochdunst speckigen Küchengemächer durchqueren, verschlagen dreinschauende Mönche in dunklen Kutten, ein seltsames Kauderwelsch von sich gebend, plötzlich obskures Latein in einem gedruckten Buch vor meinen Augen, ein uralter Fluch, ich schlage die Augen auf, unfähig, mich zu bewegen, zu Stein geworden, will schreien, den Gegenzauber sprechen… und erwache. Dunkelheit. Diese Dunkelheit ist echt. Ich sehe sie nicht, aber ich fühle sie. Absolute Finsternis, und jedes Geräusch hallt von den kahlen Wänden schauerlich hohl an mein Ohr. Ja, mein Gehör ist seit meinem Leben in dieser lichtlosen Mansardenkammer trefflichst geschult worden. Ich höre das unruhige Ziepen der Fledermäuse im Firstknie, Schritte drunten auf der Straße und den Regen, der mich durch die meisten Tage in Cathay hindurch begleitet hat. Das Platschen des Regens scheint nicht enden zu wollen. So war es auch an jenem verhängnisvollen Tag…
IM HAFEN CATHAYS gibt es eine Vielzahl verfallener Schuppen und Lagerhäuser, deren Fenster und Türen notdürftig mit verwitterten Brettern vernagelt sind. Ich will nicht wissen, welche furchtbaren Geheimnisse sie bergen. Den unaussprechlichen Schrecken eines dieser Gebäude kenne ich nur zu gut, und mein Bericht möge dazu dienen, andere zu ermahnen, nicht an die Dinge zu rühren, die uns alleine ein untugendhaft eitles Verlangen als besitzenswert erscheinen läßt. In Cathay, so hatte ich vernommen, sollte ein ungeheuerlicher Schatz ruhen, dem klassisch gebildeten Menschen vertraut als Haupt der Medusa. Was mich dazu getrieben hatte, das Haupt zu suchen? Zum einen war es der reine materielle Wert dieses Schatzes an sich, zum anderen – und das möge für meine arme Seele sprechen, wenn ich dereinst vor den Thron des Herrn trete – die unerhörte Schönheit, die dem Haupt zu eigen sein sollte und mein Unterbewußtsein wohl glauben machen wollte, ich könne hier eine auf tragische Weise verlorene Liebe wiederfinden. Zuerst hatte ich nur nach einem von Menschenhand geschaffenen Bildnis geforscht, doch bald hatten sich die Hinweise derart verdichtet, daß ich glauben mußte, die Sage um das Medusenhaupt besitze ebenso einen wahren Kern wie Homers Epos über den Fall Trojas und die Irrfahrt des Odysseus. Und bei der Sage selbst fand ich den Ausgangspunkt für meine Suche. Der Grieche Perseus hatte die Gorgo Medusa einst bezwungen, indem er sie und ihre ungeheuerlichen Schwestern überlistet hatte. Der Anblick der Gorgonen allein nämlich verwandelte einen Menschen in Stein, doch Perseus hatte die
drei im Schlaf überrascht und sie in seinem spiegelnden Schild betrachtet, als er der Medusa das Haupt vom Rumpf geschlagen hatte. Das Haupt in einem Sack verstaut – es hieß, die Blutstropfen, die herausgeronnen seien, hätten sich in giftige Nattern verwandelt – war er mittels beflügelter Schuhe mit Mühe und Not den erzürnten Schwestern entkommen. Nachdem das grausige Haupt noch den Riesenkönig Atlas in Fels verwandelt und die Geliebte Andromeda befreit hatte, schien es seinen Zweck erfüllt zu haben und verschwand für eine ganze Weile aus der Geschichtsschreibung. Gerüchte sprachen davon, es sei ins finstere Eibon, ein Land zwischen den Dimensionen, gebracht worden, doch zweifellos handelte es sich hierbei um ein weiteres Beispiel für das in jenen Tagen modern gewordene pseudo-philosophische Geschwätz, wie es die Theosophen ungehindert verbreiteten. Die wenigen Experten, die sich ernsthaft mit der Forschung nach dem Verbleib des Hauptes befaßten, stritten darüber, ob es im Mittelalter im Großmeisterpalast in Valetta auf der kargen Insel Malta aufgetaucht oder durch Alexander den Großen nach Indien gebracht worden sei – eine Theorie, die ich unterstützte, denn ich war auf einen Bericht gestoßen, in dem von einem grausigen Haupt die Rede gewesen war, dem man in einem Bergdorf einen Tempel errichtet hatte. Ein mysteriöser Kult, der der abscheulichen Reliquie Menschenopfer dargebracht, hatte sich durch seine unmenschlichen Praktiken alsbald unbeliebt gemacht in diesem Landstrich, genannt Phna-Tem, und seine Mitglieder hatten mitsamt Haupt eines Nachts fliehen müssen. Ich ging davon aus, daß es daraufhin gleich nach Cathay gelangt war, nicht nur, weil hier der ideale Ort für Dinge dieser Art war. Verschiedene glaubwürdige Quellen nannten die Stadt am Indischen Ozean als mögliches Versteck, und als ich selber nach Cathay fuhr, hegte ich nicht den geringsten Zweifel, daß
die von Regression gezeichnete Stadt dem Haupt ein gebührendes Zuhause bieten könne. Doch was konkret sprach dafür? Zum einen sei das Vorkommen unzähliger Schlangenarten erwähnt, die nirgends sonst auf der Welt so konzentriert und so überaus giftig auftraten. Vergiftet war auch die gesamte Atmosphäre der Stadt, die gewiß manch sensibles Gemüt vernichten konnte und auch mich in meiner derzeitigen seelischen Verfassung in meinen Grundfesten erschütterte. Zweifellos war mein Blick geschult, Indizien für eine Anwesenheit des Hauptes zu erkennen, bisweilen auch überempfindlich. Waren nicht auch die steinernen Wasserspeier der aschfarbenen Häuser Cathays oftmals als Medusenhaupt abgebildet? Tauchte das Gorgonenmotiv nicht ungewöhnlich oft auf dem edlen Porzellan der Kaffeehäuser und in den im Jugendstil gearbeiteten Türfenstern der Ladengeschäfte rund um den Bahnhof auf? Ja, konnte man es denn einen Zufall nennen, daß ich, nachdem ich bereits zwei Monate im düstren Cathay gelebt und nach dem Verbleib der unheiligen Reliquie geforscht hatte, ausgerechnet am Bahnhof auf eine vielversprechende Spur stieß? Mehr noch, daß ich geradewegs zum Versteck des Hauptes geführt wurde? Wie jeden Tag hatte ich auch an diesem Tag im Juli den Weg zur Eisenbahnstation nicht gescheut. Die europäischen Zeitschriften bekam man nur dort, wenn auch mit mehr als einer Woche Verspätung. Und wie lange das noch möglich sein würde, stand in den Sternen, denn wie ich beiläufig erfahren hatte, sollte die Bahnlinie mangels Rentabilität geschlossen werden. Verständlich, daß sich die Bürger der Stadt gegen diesen Plan sträubten, blieb ihnen doch dann nur noch die in Richtung Osten führende Schotterstraße, deren
Benutzung ein Abenteuer für sich darstellte, oder der zeitaufwendige Seeweg, um einen Kontakt zur Zivilisation herzustellen. Es gab nicht sonderlich viele Reisende am Bahnhof Cathays, und doch war er ein Schmelztiegel der unterschiedlichsten Völker. Wie wohl auf allen Bahnhöfen, so fand man auch hier etliche gestrandete Existenzen, die armselig gekleidet um ein Almosen bettelten. Obschon ich selbst mit meinen Mitteln haushalten mußte, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, das Rückgeld des täglichen Zeitungskaufs in einen der löchrigen Hüte zu werfen und den armen Teufeln so vielleicht eine warme Mahlzeit zu geben. Der blinde Bettler, der an diesem Tag auf der Straße vor dem Eingang saß, war mir bisher noch nicht aufgefallen, was nicht bedeuten mußte, daß er nicht schon immer dort gesessen hatte. Er machte einen weniger zerlumpten Eindruck als die anderen, erregte aber dennoch mein Mitgefühl. Um die toten Augen hatte er sich einen schmutzigen Fetzen gebunden, um nicht durch seinen Anblick die Vorbeigehenden zu erschrecken. Ich blieb stehen und gab ihm etwas Geld. Als er vernahm, wie es in seinem Hut klimperte, bedankte er sich herzlich. Ich wollte weitergehen, und ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, daß ich stehenblieb und ihm eine Frage stellte. Ich erkundigte mich nämlich, wie es zu seiner Erblindung gekommen sei. Soviel Mitgefühl schien der Ärmste, der ja wohl erst kürzlich diesen Platz angenommen hatte, nicht gewohnt zu sein, denn gerührt ergriff er meine Hand und sprach: „Ihr würdet es nicht glauben, wenn ich Euch davon berichtete, doch es sei Euch zum Trost gesagt, daß ich nicht lebte, hätte ich mein Augenlicht noch. Die Dunkelheit ist zum beschützenden Element meines Lebens geworden. Ich muß ihr dankbar sein.“
Seine Rede war mir ein Rätsel, doch ich entdeckte darin eine gewisse Analogie zur Sage der Gorgonen. Nur jemand, der blind war, konnte dem Medusenhaupt gegenübergetreten sein und dennoch überlebt haben. Ich konnte den Mann aber nicht direkt darauf ansprechen. So tröstete ich ihn mit der leeren Floskel, daß alles Schlechte auch sein Gutes habe, und wünschte ihm einen guten Tag. Anstatt jedoch nach Hause zurückzukehren, wo sicherlich dringende Tagespost auf Erledigung wartete, setzte ich mich im Bahnhofscafé an einen der direkt an einem Fenster gelegenen Tische, von wo aus ich den Bettler beobachten konnte. Noch immer regnete es in Strömen, und nur notdürftig hatte der Blinde sich unter einem vorspringenden Dach zusammengekauert, so daß er nicht naß wurde. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, begann ich in meiner Zeitung zu lesen, und bei einem schwarzen Tee besserte sich meine aufgrund des Wetters und der bislang erfolglosen Suche gedrückte Laune rasch. Der Mittag verstrich, und ich aß lustlos eine der kleinen Speisen, die das Café anbot. Beinahe ließ ich mich vom Treiben der anderen Gäste ablenken. Die Anhänger der Cathayschen Fin-de-Siècle-Gesellschaft unterschieden sich kaum von ihren in Europa gebliebenen Stammvätern. Dieselben Gespräche, dieselben absurden Phantasien, dieselbe Hoffnungslosigkeit zur Jahrhundertwende. Während ich noch ihren Gesprächen lauschte, hatte sich der Blinde erhoben und entfernte sich rasch vom Bahnhof in Richtung Südstadt. Ich erschrak, als ich seinen Platz leer fand, sah ihn dann aber in etwa fünfzig Metern Entfernung unter einem der alten schuppigen Bäume, die die Nord-Süd-Achse der Stadt flankierten.
Rasch stand ich auf, ließ einige Münzen auf dem Tisch liegen und folgte dem Blinden, dessen Vorsprung ich wohl rasch aufgeholt haben durfte, denn er tastete sich vorsichtig mit einem Stock an den Häuserwänden entlang. Tatsächlich sah ich ihn noch in etwa fünfundsiebzig Metern Entfernung in einer in steilem Winkel abbiegende Gasse verschwinden und beschleunigte meine Schritte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Abseits der Straßenachse begann nämlich das für Cathay typische Gewirr von Gäßchen, Treppen und Brücken, die die im Laufe der Jahrhunderte gewachsene und nie durch kriegerische Auseinandersetzungen zerstörte Stadt wie ein Netz von Adern durchzogen. Nur wurden sie anstatt von Blut von schmutzigem Wasser durchronnen, Regenwasser, das sich in spiegelnden Tümpeln sammelte und in Kaskaden über die steinernen Stufen ergoß. Ich hatte mir wirklich umsonst Sorgen gemacht. Ohne größere Mühe und ohne besondere Vorsicht, denn er konnte mich ja nicht sehen, verfolgte ich den Blinden bis ins Hafenviertel. Es roch ekelerregend nach Fisch und salzigem, brackigen Wasser. Abfälle wie Fischköpfe, Gräten, schimmelndes Holz und faulende Netze lagen am Straßenrand. Niemand schien sich um den Zustand dieses Viertels zu kümmern. Wir erreichten eine enge Gasse, die zu beiden Seiten von hohen Gebäuden begrenzt war. Vor einem der Häuser, seine unsymmetrische Vorderfront war der eines venezianischen Palazzo am Canal Grande nachempfunden, blieb der Blinde einen kurzen Moment stehen, dann stieß er dreimal seinen Stock an ein schwarzes Tor. Sogleich öffneten sich die Flügel, und der Mann verschwand im Nachtdunkel des alten Hauses. Einige Minuten lang hatte ich vor dem düsteren Palast ausgeharrt, doch die dunklen augenhöhlengleichen Fenster hatten sich nicht erhellt, und auch die Tür war verschlossen
geblieben. Also ging ich nach Hause und verbrachte den Abend mit allerlei Spekulationen. Ja, dieser Palazzo wäre wohl ein angemessenes Aufbewahrungsort für das Haupt der Medusa gewesen. Ob es wohl dem Blinden gehörte? Oder existierte gar die schreckliche Bruderschaft noch, die einst in Phna-Tem eine Regentschaft des Schreckens errichtet hatte? Ich mußte mit dem Blinden sprechen! So begab ich mich am nächsten Tag zum Bahnhof, wo ich auch den Alten wieder sah. Als kein anderer Passant in der Nähe war, ging ich zu ihm und gab mich ihm durch meine Worte zu erkennen. Er schien sich zu freuen, daß ich wiedergekommen war. „Ich ahnte, daß ich Sie wieder treffen würde!“ meinte er. „Sie sind neugierig. Aber sind Sie sicher, daß Sie wirklich das verderbliche Wissen besitzen möchten, das Sie dazu verleitet hat, herzukommen?“ Konnte er Gedanken lesen? Hatte der, wer auch immer es gewesen sein mochte, der ihm die Tür geöffnet hatte, oder ein anderer mich gesehen? Nun, ich antwortete mit fester Stimme, daß ich sein Geheimnis erahnte und mich nicht davor furchte. Und er entgegnete, wenn es denn so sei, so wolle er sich nicht gegen das Schicksal stellen, das mich hergeführt habe. Da fragte ich ihn frei heraus, ob er wirklich wisse, wo das Medusenhaupt sei. Er zögerte einen Moment lang, dann sagte er: „Ja, es ist das verfluchte, die Seelen der Menschen verderbende Haupt, dem ich mein nichtiges Leben gewidmet habe, und ich wünschte, Ihr würdet meinem Rat folgen und von Eurem Wunsch ablassen. Da ich aber die unstillbare Neugierde kenne, ja, mich nur zu gut erinnere, wie es mir erging, als ich an Eurer Stelle war, weiß ich, daß es sinnlos ist, Euch belehren zu wollen. Führte ich Euch nicht freiwillig zu
diesem unglückseligen Schatz, so würdet Ihr mir folgen, gewaltsam in das Haus eindringen, in dem er aufbewahrt wird, und ein noch größeres Unheil über die Welt bringen als das, unter dem sie ohnehin schon zu leiden hat. Deshalb folgt mir nur, ich will Euren Wissensdurst schon stillen!“ Er erhob sich, und ohne darauf zu achten, was ich tat – er war sich dessen offenbar vollkommen sicher – schlug er den Weg ein, den ich ihm schon tags zuvor gefolgt war. Als wir das düstere Gebäude erreichten, bat er mich innezuhalten. „Ihr werdet Euch vielleicht wundern, doch glaubt mir, daß das, was nun geschieht, alleine Eurem Schutze dient“, sprach er und zerrte ein fleckiges Tuch aus der rechten Tasche seines Mantels, um es mir mit geschickten Fingern, wenn auch stets vorsichtig tastend, in Augenhöhe um den Schädel zu binden. „Ihr seid nicht blind wie ich. Die Gefahr, daß Euer Blick unbeabsichtigt oder aus Neugierde auf das Haupt fällt, ist zu groß, als daß ich sie eingehen möchte.“ Auf diese Weise ebenfalls erblindet, wurde ich in das Haus geführt, dessen Tür sich abermals nach dreifachem Klopfen öffnete. Der Blinde und derjenige, der ihm öffnete, tauschten nur wenige Worte aus, die ich nicht verstand. Dann wurde ich durch einen langen Gang geführt, immer begleitet vom Klacken des Blindenstockes, mit dem sich mein Führer den Weg ertastete. Es ging eine Treppe hinauf. Zweiundzwanzig Stufen zählte ich, die dreizehnte knarrte laut. Dann durch zwei Türen hindurch, die verschlossen gewesen waren. Zwischendurch murmelten meine beiden Begleiter einander etwas zu. Waren wir bereits auf dem Weg zur Medusa? Wie schützte sich der, der uns geöffnet hatte? Oder würde er vor jenem Raum warten, in dem der Schatz verborgen war? Und
würde man mir erlauben, das Haupt in einem Spiegel zu betrachten? Fragen über Fragen, und ich wußte keine Antwort, fand keine» Zeit, über eine mögliche nachzusinnen, denn rascher ging unser Lauf nun durch Flure und Zimmer, die merkwürdig verschachtelt angeordnet waren. Unsere Schritte hallten laut durch die leeren Räume. Daß sie leer seien, malte ich mir aus, denn aller Schall wurde von den glatten Wandflächen, vom steinernen Fußboden und der hohen Decke ungebrochen reflektiert. Soweit mich die Augenbinde erkennen ließ, war es im Inneren des Gebäudes stockfinster. Ich hätte wahrscheinlich auch ohne das Tuch nicht die Hand vor Augen sehen können. Um so konzentrierter lauschte ich und versuchte, mir auf diese Weise den Weg einzuprägen. Und, irrte ich mich da, waren es wirklich nur die Echos unserer Schritte, oder hatten sich weitere Begleiter unserer Prozession angeschlossen, so daß wir nun mindestens zu sechst waren? Ich versuchte, Gewißheit zu erlangen, als plötzlich alle auf ein stummes Kommando hin stehenblieben und ich wieder nicht abschätzen konnte, wieviele Tritte da verklungen waren. „Wir sind am Ziel!“ erklärte der Blinde ohne große Umschweife, und irgendwer begann, sich an einer Reihe von Schlössern und Riegeln zu schaffen zu machen. Dann verriet mir ein leiser Lufthauch, daß die Tür, eher wohl ein zweiflügeliges Portal, geöffnet worden war. Hatte ich nun erwartet, daß man mir die Binde von den Augen abnähme, so täuschte ich mich. Ich wurde an beiden Armen gepackt und weitergeführt. Ich wagte nicht, mich loszureißen, obwohl ich – das muß ich gestehen – unerträgliche Angst vor dem hatte, was in diesen Momenten mit mir geschah. Längst hatte ich die Kontrolle über die Geschehnisse verloren.
Panik stieg in mir auf. Kalter Schweiß auf der Stirn, mein Puls raste. Ich verlangsamte meinen Gang, durfte nicht länger reagieren, sondern mußte agieren, die Initiative ergreifen. Und das tat ich. Ich blieb stehen, und als meine Begleiter stolperten, warf ich mich zur Seite. Ich stieß mit der linken Schulter gegen eine Säule oder einen Vorsprung und schrie schmerzerfüllt auf. Augenblicklich war meine linke Körperhälfte gelähmt, und ich konnte mich nur über den Boden abrollen, um dem Zugriff der Männer zu entgehen, die blitzschnell reagiert hatten. Vermutlich war es in diesem Raum nicht ganz so dunkel wie im Rest des Hauses. Ich mußte diesen Vorteil ausgleichen und erst einmal diese verdammte behindernde Augenbinde loswerden. „Vorsicht, er muß leben, wenn wir ihn vorbereiten! Ihr dürft ihn nicht töten! Macht ihn nur bewegungsunfähig!“ hörte ich da eine Stimme, die ich bislang noch nicht vernommen hatte. Diese Worte verrieten mir zwei Dinge, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen. Erstens wußte ich nun mit Sicherheit, daß ich es mit mehr als zwei Gegnern zu tun hatte. Zweitens erinnerte ich mich an das, was ich gehört und gelesen hatte: die dunkle Bruderschaft speiste das gräßlich schöne Haupt mit Menschenfleisch, und es bestand kein Zweifel daran, daß ich ihr nächstes Opfer werden sollte! Ungeachtet der Gefahr, in der ich mich befand, wenn ich dem Medusenhaupt Aug’ in Aug’ gegenüberstand, riß ich mir das Tuch vom Kopf. Doch ich sah nicht viel. Noch in meiner Bewegung wurde ich von zwei massigen Körpern umgerissen und zu Boden geworfen. Ich hatte nur erkennen können, daß wir uns in einem langgestreckten Saal befanden, dessen hohe Decke von
mannsstarken Säulen getragen wurde. Durch einen nicht ganz dichten Fensterladen fiel schummriges Licht in diesen Saal, und im hinteren Teil des Raumes befand sich eine Art Schrein, den ich aber nur undeutlich sehen konnte. Auch meine Gegner konnte ich kaum erkennen. Sie sammelten sich gerade umständlich. Da wurde ich hinterrücks gepackt. Ein mächtiger Arm legte sich mit stahlhartem Griff um meinen Hals und raubte mir die Luft, so daß ich beinahe ohnmächtig wurde. Vor meinen Augen barsten farbige Supernovae, Sternsysteme wurden geboren und vergingen binnen eines Herzschlages, und ich glaubte, der Mann, der mich hielt, wolle mich töten. Doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil, ich hatte ja gerade erst gehört, daß ich geschont werden sollte. Dabei wäre es leicht gewesen, mich das Medusenhaupt erblicken und zu Stein erstarren zu lassen. Aber das schien nicht das Ziel der Männer zu sein. Natürlich nicht – fuhr es mir durch den Kopf –, wenn ich geopfert werden sollte, durfte ich nicht verwandelt sein. Sie brauchten mich wirklich lebend. Weitere Überlegungen wurden mir nicht erlaubt. Schon waren sie über mir wie eine Welle, die über einem Schiffbrüchigen zusammenbricht, hielten mich unnachgiebig umklammert und preßten mir einen übelriechenden Lumpen aufs Gesicht. Ich schrie, strampelte, wehrte mich verbissen, doch vier Männer hielten meine Gliedmaßen, während ein fünfter meinen Haarschopf gepackt hatte und mein Gesicht durch das Tuch betastete. Aus welchem Grund er das tat, sollte ich bald erfahren. Denn als er meine Augen fand, begann er wie verrückt mit seinen klauenartigen Fingernägeln zu kratzen und zu bohren, so als wolle er mich blenden.
Ich war wahnsinnig vor Schmerz, verlor für einige endlos erscheinende Augenblicke das Bewußtsein und weiß bis heute nicht, woher ich die Kraft nahm, den Griff der Männer zu sprengen. Doch tatsächlich gelang es mir. Dort aber, wo sich meine Augen befunden hatten, war ein einziger Schmerz, und ich konnte durch all das Blut, das mir übers Gesicht lief, nicht das Geringste erkennen. Lautlos schlug ich um mich, nicht darauf achtend, wen ich wo traf, dann taumelte ich gegen eine Tür, vermutlich jene, durch die wir hereingekommen waren, und fiel in einen benachbarten Raum oder Gang hinein. Hinter mir hörte ich hektische Schritte. Meine Gegner formierten sich, und sie taten dies mit siegesgewisser Langsamkeit. Ich konnte den Schmerz in meinem Gesicht nicht länger tolerieren und verband mir hastig die Augen mit dem Lumpen, der nun locker um meinen Hals baumelte. Dann warf ich mich blind in die lichtlose Schwärze des dämonischen Hauses.
AUCH ALS ICH ERWACHTE, war ich von Finsternis umgeben. Ich erinnerte mich daran, durch die Stockwerke des sich endlos ausdehnenden Hauses gelaufen zu sein, bis ich auf eine Tür gestoßen war, die zu einem winzigen Raum unter einer Treppe führte. Da ich meine Jäger schon längere Zeit nicht mehr gehört hatte, hatte ich das Zimmer mit Schritten ausgemessen, hatte einen Haufen mottenzerfressener Decken gefunden und mich darin eingehüllt, bevor ich völlig entkräftet in einen betäubenden Schlaf gefallen war. In dieser feuchten dunklen Kammer fand ich mich nun wieder. Der erste Impuls nach dem Erwachen war, die Binde zu entfernen, die mich erneut blind machte, doch sie war durch das getrocknete Blut derart mit der Haut verklebt und jede
Bewegung schmerzte ungeheuerlich, so daß ich auf einen weiteren Versuch in dieser Richtung verzichtete. Ich tastete mich, auf jedes Geräusch achtend, zur Tür des verborgenen Raumes, öffnete sie und begann mit meiner Suche nach einem Ausweg aus dem Labyrinth von Räumen und Korridoren. Was für einen sehenden Menschen schon schwierig sein mußte, war für mich fast unmöglich. Doch das Wichtigste war, daß ich nicht wieder in die Hände der Unbekannten fiel, denn dann wäre ich wohl endgültig verloren gewesen. Sicherlich hatten sie Wachen aufgestellt. Oder waren sie sich so sicher, daß es für mich kein Entrinnen aus diesem Haus gab? Ich gelangte in einen Teil des Gebäudes, der mir vertraut vorkam. Die etwa brusthohe Steinverkleidung der Wände, die lederne Tapete darüber… ja, ich kannte diesen Flur. Er endete an einer zweiflügeligen Tür. Ich lauschte, nichts war zu hören, ich stieß sie vorsichtig auf, tastete mich vor, bis ich an der ersten Säule zum Stehen kam. Von hier aus mußte ich den Rückweg finden können. Ich brauchte mich nur genau zu erinnern, wie ich hergeführt worden war. Doch zuerst mußte ich noch das tun, weshalb ich hergekommen war. Und so ging ich tiefer in den Raum hinein, anstatt ihn wieder zu verlassen, so weit, bis ich einen kalten Steinblock unter meinen Händen fühlte, nicht unähnlich einem Altar. Was meine Hände ertasteten, ist nur schwer zu beschreiben. Es war das Haupt, und es lebte! Die Haut war weder kalt, noch war sie trocken und spröde, wie ich es erwartet hatte, und auch die sich anstelle von Haar darauf windenden Schlangen lebten.
EINEN KURZEN MOMENT hätte ich vielleicht die Möglichkeit gehabt, es zu vernichten, doch ich brachte die Kraft dazu nicht auf. Selbst wenn ich es nicht sah, übte es doch eine hypnotische Macht auf mich aus, und diese hatte das scheußliche Ding wahrscheinlich durch die Jahrhunderte seit seines Raubes durch Perseus vor der Zerstörung bewahrt. Und dann vernahm ich auch schon Schritte, versteckte mich hinter dem Altar, in der Hoffnung, daß – wer auch immer sich da näherte – nicht um den Steinblock herumkommen würde. Mehrere Männer betraten den Saal. Sie sprachen leise und verhalten miteinander, während ich mich kaum traute zu atmen. Sie blieben nur kurz, schienen ihr Heiligtum mit bloßen Händen zu berühren und verließen uns dann wieder, mich und die Gorgone. Als ihre Schritte verstummt waren, ging auch ich.
DER REST MEINER GESCHICHTE ist rasch erzählt. Tatsächlich war ich aus dem Haus geflohen, blind wie ich war, ohne einem der Wächter des Hauptes zu begegnen. In meiner Mansardenwohnung angekommen, zweifelte ich an dem, was ich erlebt hatte. Ich hoffte, ich würde mich ins Bett legen, eine Nacht durchschlafen und dann erwachen, um für immer von meiner Sehnsucht nach dem Medusenhaupt erlöst zu sein. Nun, ich schlief. Und ich erwachte. Doch als ich erwachte, war es Nacht, eine immerwährende, denn ich hatte mein Augenlicht unrettbar verloren, in dem Moment, da sich die schartigen Fingernägel des Wächters in mein Gesicht gegraben und ich für einen Moment das Bewußtsein verloren hatte.
Seitdem habe ich nur selten das Haus verlassen und mich immer nur soweit davon entfernt, daß ich das Nötigste zum Überleben kaufen konnte. Denn nach wie vor muß ich befürchten, daß das Haupt und die teuflische, ihm zu Diensten verschworene Bruderschaft noch immer ihr Unwesen in Cathay treiben.
IM REPTILIENHAUS
SCHON IN DEM MOMENT, da ich das Reptilienhaus betreten hatte, hatte ich mich unwohl gefühlt. Es war früher Abend gewesen, und die Dämmerung war bereits über die Stadt hereingebrochen, doch der in feinen Fäden vom Himmel fallende Regen hatte mir das schwarz aufragende Gebäude angenehmer erscheinen lassen als eine Straßenbahnhaltestelle. Die nächste Bahn sollte erst in einer Stunde kommen. Ich lebte in einem abgelegenen Viertel. Und während die Passanten, ihre Hüte und Schirme fest umklammert haltend, damit sie im aufkommenden Sturm nicht davonflogen, sich ihren Weg durch die regennassen Straßen bahnten, war ich der Lockung des warmen Scheins erlegen, der durch die Glaseinlagen des hohen Eingangsportals fiel. Jenseits der Tür erwartete mich ein winziger Verschlag. Hinter einer fleckigen Glasscheibe saß ein säuerlich dreinblickender Mann mit eingefallenen Wangen. Grau beherrschte sein Gesicht, in dessen Stirn strähniges, farbloses Haar herabhing. Wortlos zahlte ich das Eintrittsgeld und wandte mich der grauen Metalltür zu meiner Linken zu, an der auf dilettantische Weise ein Schild angebracht war, das darauf verwies, daß die Temperatur im Inneren des Reptilienzoos ungewöhnlich hoch sei und daß der Besucher mit einer Geruchsbelästigung zu rechnen habe, die von den Ausscheidungen der Tiere herrühre und leider nicht zu vermeiden sei. Ich hatte die Tür geöffnet und mich tatsächlich im selben Moment in einem wahren Dschungelklima vorgefunden. Feuchtwarme Luft schlug mir entgegen, und in ihr lag ein animalischer Geruch von einem fremdartigen Aroma, einem Aroma allerdings, das im ersten Moment gar nicht einmal unangenehm erschien.
Dennoch war da dieses Unbehagen gewesen. Gleich links neben dem Eingang befand sich ein großer Glaskasten, der fast bis an die Raumdecke reichte. Hinter dem lächerlich dünn erscheinenden Glas ruhte ein wohl drei Meter in der Länge messender Mississippi-Alligator – so jedenfalls wies das bereits vergilbte Namensschild das schwere, schläfrig blickende Tier aus. Ich möchte nicht behaupten, daß ich mich bis zu jenem Moment jemals vor Kriechtieren gefürchtet hätte. Es kommt ja selten genug vor, daß man ihnen Aug’ in Aug’ gegenübersteht. Doch dieses Exemplar war durchaus dazu geeignet, einem das Fürchten zu lehren. Rasch beschleunigte ich meine Schritte und trotzte dem Wunsch, das träge Tier länger zu betrachten. Da, hatte sich nicht die hornige Pranke mit den gefährlich aussehenden Klauen bewegt? Schlief die Bestie, oder lauerte sie? Auf der rechten Seite befanden sich mehrere kleinere Terrarien, in denen Schlangen verschiedener Gattungen, nicht wenige, deren Biß in kurzer Zeit tödlich war, leblos auf kahlen Ästen ruhten. Eine braune Kornnatter musterte mich mit geradezu unverschämter Offenheit, wohingegen einige Glatte Grasnattern von grünlicher Färbung damit beschäftigt waren, ihre ineinander verschlungenen Leiber mit fast unhörbarem Rascheln aneinander vorbeigleiten zu lassen. Geradezu schön zu nennen war eine Arizona-Königsnatter, deren Färbung rot, schwarz und gelb in ringähnlichem Muster angeordnet war. Während ich weiter zu den größeren Schlangen ging, die entlang des nach links abknickenden Ganges in geräumigeren Glaskästen untergebracht waren, wurde ich im Schummrigen einiger kleiner Terrarien gewahr, in denen rotbepelzte Spinnen von Handflächengröße ihr Dasein fristeten.
Mein Gott, die Tiere in diesem Haus hatten viel zu wenig Platz! Unwillkürlich war mein Blick an die Decke des Raumes gefallen, wo sich mir eine marode Dachkonstruktion offenbarte. Der Raum war schlecht belüftet. Infolgedessen hatte sich Schimmel an den Balken und in der dazwischen befindlichen Dämmung gebildet. In diesem Moment gab es ein lautes Geräusch, das von dort kam, wo ich nur wenige Minuten zuvor noch gestanden hatte. Ich erschrak. Es läßt sich schwer beschreiben, welcher Natur dieses Geräusch war. Es war furchtbar laut gewesen, ein schreckliches Knattern und Rasseln. Nun sah ich, daß sich der Alligator bewegt hatte. Von einer steinernen Bank, auf der er bis dahin gelegen hatte, hatte er sich rasch hinabgleiten lassen und befand sich nun am Rand eines kleinen, künstlichen Wasserbassins – der Scheibe wesentlich näher als vorher. Meine angespannten Nerven befahlen mir, auf der Stelle kehrtzumachen. Einen Moment zögerte ich noch, dann näherte ich mich mit vorsichtigen Schritten der Tür, durch die ich den Raum betreten hatte. Ich ergriff den Knopf, wollte ihn drehen, doch das ging nicht. Aus welchen Gründen auch immer; die Tür ließ sich in nur eine Richtung öffnen. Es war absurd. Doch ich erkannte, daß mir kein anderer Weg als der durch das Reptilienhaus blieb. Also beschloß ich, ohne lange die bemitleidenswerten, eingesperrten Kreaturen zu betrachten, die Flucht nach vorne anzutreten. Lieber im strömenden Regen auf die Straßenbahn warten als an diesem schaurigen Ort, in dem einem beinahe das Herz stillstand und die schwere Luft den Atem raubte! Der Gang wand sich zwischen den Terrarien hindurch. Ich konnte nicht umhin, verstohlene Blicke auf die mächtige
Abgottschlange, die meterlange Königspython und die gefleckte Anakonda zu werfen. Durch einen niedrigen Türbogen erreichte ich einen größeren Raum. Dem Besucher wurde auch hier einiges geboten. In grünlichem Licht erstrahlten Glaskästen, in denen verschiedene Eidechsen- und Geckoarten in Schlafstellung auf Steinen ruhten. Im rechten Teil gab es ferner Terrarien mit sehr kleinen, aber sicherlich sehr giftigen Schlangen, darunter verschiedene Ottern und Kobras. Mehr beiläufig bemerkte ich, daß zwei schwarze Tiere – auf der Scheibe vor dem künstlichen Szenario war zu lesen, daß es sich um Indigonattern handelte – sich einen Weg durch das Netz gebahnt hatten, das über dem Terrarium gespannt war. Glücklicherweise waren die Behälter zusätzlich durch eine Glasplatte gesichert. In der linken Raumhälfte befand sich ein einziges großes Gehege, das durch eine mehr als mannshohe Glaswand abgetrennt war. Es war dunkel. Doch in der Dunkelheit glommen zwei bernsteinfarbene Augenpaare. Und je mehr sich meine Augen an das Licht gewöhnten, desto deutlicher wurden die Umrisse zweier gewaltiger Krokodile, deren knochige Schädel hin- und herwiegten, so als ob sie mich abschätzend betrachteten. In diesem Moment wurde es ein wenig dunkler, und zuerst erkannte ich nicht warum. Dann aber wurde mir bewußt, das in dem Teil, den ich soeben verlassen hatte, eine Birne kaputtgegangen sein mußte. Lediglich die schwachen Lampen der Terrarien glommen dumpf weiter, doch in dem Halbdunkel waren keine Einzelheiten mehr zu erkennen. Die Schwänze der Bestien vor mir schabten lautstark über den zementierten Grund ihres Gefängnisses.
In diesem Moment fiel das Licht auch in dem Raum aus, in dem ich mich befand. Oder wurde es einfach ausgeschaltet? Egal. Ich scherte mich nicht darum. Ich tastete mich an den Terrarien entlang, bemüht, den schuppigen Leibern keine Beachtung zu schenken. Dann hörte ich ein Klirren, weiter vorn, und noch einmal. Es mußte etwas zu Bruch gegangen sein. Absolute Finsternis dort, die feuchte Luft schien nahezu greifbar. Mein Atem ging stoßweise. Ich folgte dem Gang, der erneut einen Knick machte. Einmal strich meine Hand über einen armdicken, gestreckten Körper, dessen Haut schuppig war. Schnell zog ich den Arm zurück, unterdrückte meinen Schrei. Plötzlich bildete sich in einer Entfernung von etwa zehn Metern ein dämmriger Riß in der Dunkelheit. Eine Tür wurde geöffnet. Jemand betrat den Raum. Erleichtert wollte ich etwas ausrufen – es mußte der Mann sein, der mich eingelassen hatte – doch dann, kurz bevor die Tür wieder ins Schloß fiel, sah ich die monströsen Umrisse eines schweren Schädels. Die Gliedmaßen der Kreatur waren seltsam gedrungen und standen in einem völlig unnatürlichen Winkel vom Torso ab. Und wieder vernahm ich ein Klirren, diesmal hinter mir. Es gab keinen Zweifel: was da zerbrach, waren die gläsernen Deckel der Terrarien. Meine größte Sorge jedoch galt dem Eindringling, der sich mit schnarrenden, schleifenden Klauen und rasselnden Schuppen auf mich zubewegte. Er mußte wohl damit gerechnet haben, daß ich umkehren und fliehen würde, doch ich tat das genaue Gegenteil, instinktiv, ohne zu überlegen. Ich warf mich ihm entgegen. Der Fremde stieß einen unwilligen Laut der Verblüffung aus, und sein beißender Atem ließ mich würgen. Doch schon hatte
ich seinen ledrigen Leib beiseite gestoßen und warf mich gegen die Tür. Sie öffnete sich nach außen. Und endlich stand ich wieder in dem kleinen Foyer, durch das ich das schreckliche Museum betreten hatte. Der gläserne Kasten, in dem noch zuvor der Kartenverkäufer gesessen hatte, war leer. Keine Spur war von ihm zu sehen, und es kümmerte mich auch nicht, was aus ihm geworden war. Nur wenige Sekunden waren seit der Begegnung mit dem Grauen vergangen. Ich stürzte aus dem Gebäude. Die Lichter einer Straßenbahn näherten sich der verlassenen Haltestelle, und der Regen, der meine Haut benetzte, wirkte seltsam erfrischend. Er holte mich in die Realität zurück. Ich ruderte wild mit dem Armen, gab dem Fahrer der Bahn zu verstehen, daß ich mitgenommen werden wollte, egal wohin. Die Türen falteten sich auf, in dem Moment, da die Bahn quietschend zum Stehen kam. Ich sprang hinein, einen letzten Blick über die Schulter werfend. Im Reptilienhaus wurde das letzte Licht gelöscht.
COSMOGENESIS
IM 17. JAHRHUNDERT errechnete der im irischen Armagh lebende Erzbischof James Usher aus den Angaben über die Lebenszeit biblischer Gestalten und deren Beziehungen zueinander den 22. Oktober 4004 vor Christus, 20 Uhr als Datum für die Erschaffung der Welt. Soweit bekannt, wollte er sich nicht auf einen Tag für ihr Ende festlegen.
HÖREN SIE DOCH: Die Stimmen der Toten. Mein Gott, sie lassen mich nicht zur Ruhe kommen!“ Ich wußte, daß der Mann nicht log. Er konnte sie hören, ohne Zweifel, senkte nun den Kopf und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Erst in der Abgeschiedenheit dieses Ortes, an dem ich auf ihn gestoßen war, hatte er seinen Frieden gefunden. Doch immer noch verfolgten ihn schreckliche Bilder.
AN EINEM FRÜHEN MORGEN im Februar war ich mit festem Schuhwerk und robuster, warmer Kleidung zu einer ausgedehnten Wanderung in ein augenscheinlich vergessenes Tal aufgebrochen. Von der Landstraße führte ein enger Tunnel unter einer Eisenbahntrasse hindurch, über die gerade in dem Moment, da ich mich unter ihr befand, ratternd ein Zug jagte. Das Geräusch schwoll zu einem ohrenbetäubenden Lärm an. Dann plötzlich war es still, und als ich aus dem dunklen Gang hervortrat, sah ich mich einer unberührten, fremden Welt gegenüber. Zwischen kargen, schroffen Felswänden rauschte ein Bach. Ihm folgte ich bergauf, immer wieder über hölzerne Stege die Seite wechselnd, zwischen uralten, bemoosten Bäumen, von denen Efeu wie in dichten Vorhängen herabhing. Bald ging es steiler bergauf. Der schmale Weg wurde nun zur einen Seite vom Bachlauf, zur anderen von einer brüchigen, kniehohen Mauer morschen Schiefers begrenzt, aus deren Fugen Farne wuchsen. Ich geriet ins Schwitzen. Die Bergflanken rückten enger zusammen. Ich überlegte schon, ob es wohl ratsam sei, umzukehren, da schien ich am Ende meines Weges angelangt. In einen ausgewaschenen Kessel fiel aus rund zehn Metern Höhe ein Katarakt herab und formte in einem natürlichen
Becken einen kristallklaren Teich. Fische schwammen darin. Rechts am Weg stand eine von Schlingpflanzen überwucherte Bank, auf der seit Urzeiten niemand mehr geruht hatte. Verzaubert öffnete ich mich der Ruhe des Ortes und verharrte eine Weile. Dann bemerkte ich zu meiner Linken am gipfelstürmenden Steilhang die Andeutung eines Weges. Abenteuerdurstig wie selten zuvor begann ich mit dem Aufstieg. Als ich einmal den Blick vom Weg nahm und über die verwunschene Schlucht gleiten ließ, sah ich auf dem gegenüberliegenden Hang wilde Bergziegen. Unter ihren Tritten glitt Geröll zu Tale. Nach dem kraftraubenden Aufstieg wurde ich mit einer einzigartigen Aussicht belohnt. Ohne es recht zu bemerken, war ich gut zweihundert Meter hoch in den Felsen geklettert und befand mich nun auf einem Plateau. Von hier aus konnte man sowohl in die Klamm hinabblicken, aus der Wasserdampf aufstieg, als auch in ein weitläufiges Tal auf der andere Seite des Felssporns. Der Hang war hier durch Mauern gestützt, flacher und terrassenförmig angelegt. Auf den einstigen Wingerten wuchsen nun wilde Schwarzdornsträucher. Ich schauderte bei dem Gedanken, erneut zum Wasserfall hinabsteigen zu müssen, doch angesichts eines heraufziehenden Sturms fühlte ich mich unter Entscheidungszwang. So kam ich zu dem Schluß, der Weg durch die wilden Gärten sei weniger anstrengend. Doch ich hatte mich geirrt. Zuerst war es ein Leichtes, von Terrasse zu Terrasse zu eilen, und ich erfreute mich am Duft von Moos und Eichenlaub. Plötzlich aber befand ich mich inmitten eines verwilderten Weinbergs, wurde von Schlehen- und Brombeersträuchern
immer wieder bergauf gelenkt und schöpfte in unversehens endenden Wegen vergeblich Hoffnung. Schon gab es weder ein Vor noch ein Zurück. Dornranken umgaben mich. Da, links, die Reste einer Mauer, rostige Eisen ragten heraus. Ich sprang hinab, doch erneut befand ich mich in hoffnungsloser Situation, umgeben von knorrigen Obstbäumen und toten Weinreben, zwischen denen sich ein undurchdringliches Gespinst von Dornen und Nesseln spannte. Ich war soweit vorgedrungen, daß eine Rückkehr unmöglich schien. Also wandte ich mich in Richtung eines offensichtlich von Wild geschaffenen Hohlweges, in den ich nur auf allen Vieren eindringen konnte. Und, siehe da, er weitete sich und führte dann entlang einer Mauer hoch, zur nächsten Bergflanke. Es dunkelte bereits, und von Minute zu Minute wurde mir deutlicher bewußt, daß ich kaum vor Anbruch der Nacht in die Zivilisation zurückkehren würde. Da wurde ich eines Lichtes hoch zu meiner Rechten gewahr, und mein Herz erwärmte sich. Ich hätte nicht fehlgehen können. Der Weg führte zu dem Licht hin, und als ich das honiggelbe Rechteck eines Fensters, eingerahmt vom nachtblauen Himmel vor mir hatte, beschleunigten sich meine Schritte. Da streifte etwas Felliges mein Gesicht. Voller Panik griff ich danach.
MEIN GASTGEBER hatte meine Gedankenverlorenheit bemerkt. Er schwieg. Dann sagte er: „Sie müssen verzeihen, daß ich Sie erschreckt habe. Es kommt niemand hier herauf, und, nun, es muß auf andere Menschen abscheulich und abstoßend wirken, aber alleine so finde ich Frieden. Wann immer ich sie erwische…“
… Er sprach von den Eulenkadavern, die mumifiziert an den knorrigen Apfelbäumen rund ums Haus im Wind baumelten. Was mich so sehr erschreckt hatte, hatte ich erst erkannt, als der Alte die Tür seiner Hütte geöffnet und der helle Schein nach draußen gedrungen war. Der Mann hatte mich hereingebeten und willkommengeheißen wie einen lang erwarteten Gast. Er hatte mir eine kräftige Brühe und frisches, offenbar selbstgebackenes Brot vorgesetzt und zu reden begonnen: „Sie werden mir diese Eigenheit sicher verzeihen. Nach dem, was mir zeitlebens widerfahren ist. Was glauben Sie, wieviel Schmerz kann ein Mensch ertragen, bis sein Geist zusammenbricht? Wie viel Leid hat die Menschheit als gesamtes auf sich genommen? Gäbe es einen Ausweg, und sei er noch so schrecklich, würden Sie ihn wählen?“ Ich nickte stumm, ohne lange überlegt zu haben. In diesem Moment erinnerte ich mich an die furchtbaren Kriegsjahre, in denen ich zu einem rastlosen Wanderer auf den verbrannten, von Granaten gepflügten, blutgetränkten Schlachtfeldern geworden war. „Das menschliche Leid ist unfaßbar, das des Einzelnen wiegt oftmals das der anderen auf. Und ich würde alles tun, um nur einen geringen Teil der Erinnerungen auszulöschen, die ich in meinem Leben gesammelt habe“, sagte ich. In den Zügen meines Gegenübers las ich gespannte Erwartung. „Ich war und bin auf der Suche nach meiner Vergangenheit. Einmal war ich ihr greifbar nah. Die Nacht wurde von den Blitzen der Geschütze erhellt, die wie ein gigantisches Orchester nach dem Taktstock der Generäle spielten. Giftige Nebelschwaden trieben todbringend umher. Es war die Götterdämmerung. Der gesamte Kosmos war in Aufruhr. Den ganzen Tag lang war ich über die verwüsteten Schlachtfelder gestreift, war immer wieder auf tödlich Verwundete oder Wahnsinnige gestoßen,
die katatonisch verkrümmt in den öligen Lachen am Grund der Granattrichter oder in verschütteten Schützengräben lagen. Kein Mensch, der nicht selbst Zeuge dieses unmenschlichen Schauspiels geworden ist, kann sich vorstellen, was es heißt, ständig befürchten zu müssen, sein Leben im nächsten Moment auf schrecklichste Weise verlieren zu können.“ Ich hielt einen Moment inne. „Ich habe den Namen des Dorfes längst vergessen. Mal war es deutsch, mal französisch gewesen. In der Ruine eines Klosters hatte man ein Lazarett eingerichtet. Von den ursprünglichen Bewohnern der Gegend war kaum jemand übrig geblieben. Dafür fanden sich in den einst ehrwürdigen Hallen die vergessenen Söhne des Mars. Niemand schien mich wahrzunehmen. Man war damit beschäftigt, die Toten fortzuschaffen. Da bemerkte ich einen jungen Mann, dessen Augen verbunden waren. Ich fühlte eine seltsame Zusammengehörigkeit zu ihm. Unauffällig näherte ich mich ihm, betrachtete das schrundige, einstmals wohl von unvergleichlicher Ebenmäßigkeit gezeichnete Gesicht. Ich ahnte plötzlich, was uns verband, da trafen Granaten die Klosterruine und umherfliegende Trümmer raubten mir das Bewußtsein. Als ich unter Stein begraben erwachte, war ich der einzige Überlebende. Ich hatte den wiedergefundenen Bruder erneut verloren.“ Der Alte schwieg betroffen. Ich ahnte, daß nun er mit einer Geschichte aufwarten werde, doch er ließ sich noch einen Moment Zeit, um meinen Teller mit dampfender Suppe zu füllen. „Sehen Sie“, begann er schließlich, „ich glaube nicht an den Zufall. Und ich danke dem, der heute abend Ihre Schritte zu mir gelenkt hat, denn ich muß reden. Ich habe den Eindruck, als sei es mir damit noch nie zuvor so ernst gewesen wie heute.“ Er atmete tief ein. „Die Könige des Lichts haben sich zornig entfernt. Die Sünden der Menschen sind so schwarz
geworden, daß die Erde in ihrem großen Schmerz erbebt. Die azurnen Throne bleiben leer. Wer könnte auf den Sitzen der Heiligen Platz nehmen, den Sitzen der Erkenntnis und Barmherzigkeit? Wer kann die Blume der Macht übernehmen, die Pflanze mit dem goldenen Stengel und der azurnen Blüte? Seit jeher war der Lotus eine Medizin der Götter, doch selbst er könnte mir keinen Frieden geben. Denn ich finde keine Ruhe vor den Geistern der Toten, seit ich vor vielen Jahren dem Scharlachroten König und den Seinen diente. Es begab sich in der barbarischen Zeit der Großen Verfinsterung, die den größten Teil der Welt heimsuchte und Not und Schrecken hinterließ. Es war die Zeit des Blutopfers und des geistigen Niedergangs, und auch der Friedfertigste entkam nicht den Schergen der dunklen Macht, die das irdische Gleichgewicht zu ihren Gunsten verändern wollten.“ Mein Gastgeber sog tief Luft in seine Lungen, hustete, dann raunte er geheimnisvoll ins Zwielicht des Raumes hinein: „In dieser Zeit sprach zu mir der Herr der Herren, der lebendiges Feuer war, und Feuer wurde auch ich in seinen Händen. Er befahl mir, mich in die Reihen der Versucher einzureihen und die Pläne des Scharlachroten Königs zu durchkreuzen. So war ich einer von jenen, die beim Vormarsch des Schattenheeres den Schatz der Habsburger aus der Wiener Hofburg raubten und sie nach der Stadt Nürnberg brachten. Nicht von ungefähr hatte mich mein Weg hergeführt. Der Herr wollte mir eine Waffe in die Hand geben, wie es mächtiger keine auf der ganzen Welt gibt: den Speer des Schicksals, jenen Speer, den der Sage nach der Römer Gaius Cassius in die Seite des ans Kreuz genagelten Christus gestoßen hatte, auf daß diesem nicht wie den Räubern zur Linken und Rechten des Königs der Juden die Glieder zerschlagen würden. Seit jenen Tagen hatte der Speer immer wieder das Schicksal der Welt besiegelt, hatte oftmals das Blatt zum Guten gewendet. Nun wollte ihn das
Böse seinen eigenen Zielen zunutze machen, denn es hatte von der Wirkung der legendären Waffe erfahren.“ Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß der Alte schwerkrank und todmüde sei, doch er hielt nur kurz inne. „Der Scharlachrote König war siegreich. Den Speer in den sichersten Gemächern seiner Trutzburg, wagte er unerhörte Feldzüge. Bis zu jener Novembernacht, als ich meine Zeit gekommen sah und den Speer, der Theodosius 385 nach Christus half, die Goten zu zähmen, der im Kampf gegen Attilas Hunnen eingesetzt worden war und den auch Karl Martell, Karl der Große, Friedrich II. von Hohenstaufen und nach ihnen wahrscheinlich viele andere bedeutsame Männer besessen hatten, aus der uneinnehmbaren Feste raubte. Und von diesem Zeitpunkt an sank der Stern des Scharlachroten Königs.“ Der alte Mann betrachtete mich mit prüfender Miene. Sicherlich glaubte er, ich hielte ihn für einen Wahnsinnigen. Er erhob sich aus seinem Sessel, um über eine schmale steile Leiter in das spitze Dreieck unter dem Dach der Hütte hinaufzusteigen und mit einem ebenholzfarbenen Speer von etwa 2,50 Metern Länge zurückzukehren. „Es gibt keinen sichereren Ort als diesen, doch die Zeit ist gekommen, ihn weiterzugeben, denn ich bin zu schwach geworden, um die letzte aller Aufgaben zu erfüllen. Ich kann nur Erlösung erflehen. Ich will Euch ein Versprechen abnehmen: Im fernen Osten gibt es eine Stadt, in der die Linien einer uralten Kraft zusammenfließen. Ihr Name ist Cathay, und Ihr müßt Euch hüten, wenn Ihr dorthin geht. Alles wird sich von selbst fügen. Ihr werdet manches nicht verstehen, was Euch begegnet, doch solange Ihr den Speer besitzt, wird alles rechtens sein. Daher frage ich Euch nun: Wollt Ihr nach Cathay gehen und die heilige Aufgabe zu Ende bringen, die ich einst angenommen habe?“
Der Alte gewährte mir Zeit, über meine Entscheidung nachzudenken. Er lud mich ein, bei ihm zu übernachten. Mir fiel es leichter, hierzu ja zu sagen als zur zuvor gestellten Frage. Denn zur Stadt hätte ich in der Dunkelheit ohnehin nicht zurückgefunden.
IN DER NACHT tobte ein furchtbarer Sturm um das Haus. Mühelos fiel ich in einen tiefen Schlummer, begleitet von einem gebetartigen Singsang des Alten, der behauptet hatte, er brauche keinen Schlaf und wolle über uns wachen. Gegen Mitternacht weckte mich ein Schrei, und ich sah den Alten inmitten des Raumes stehen, in eine angelaufene, ehemals silbern glänzende Rüstung gewandet, mit dem Schicksalsspeer bewaffnet. Der Sturm riß an dem Gebäude, und während ich es noch für ein letztes Verebben meines Schlafes hielt, wurde mir bewußt, daß sich die Hütte wie ein Schiff auf tobender See bewegte. Die blakende Lampe über dem Tisch, an dem ich wenige Stunden zuvor noch gegessen hatte, schwankte, Bilder hingen schief an den Wänden, und ich wurde in meinem Bett hin- und hergeworfen. Nun schrie auch ich gegen das Unwetter an. Der Alte aber beachtete mich nicht, sondern schien mit der Lanze einen Kampf gegen einen für mich nicht sichtbaren Gegner auszufechten, wobei sein wirres, graues Haar wie elektrisch aufgeladen vom Haupte abstand. Vor den dunklen Fenstern tauchten gräßliche Fratzen auf, körperlose Dinge, die das Leben des Alten forderten. Der rang mit aller Kraft, stieß das Fenster auf und mit der Lanze ins wimmelnde Dunkel hinein. Schreie des Entsetzens waren die Antwort, doch dann brach der Alte zusammen. Im selben Augenblick verstummte der schreckliche Sturm, als habe es ihn nie gegeben.
DER ALTE MANN WAR TOT. Und ich, der ich nicht einmal seinen Namen gekannt, bahrte ihn auf dem Bett auf, das noch die Wärme meines eigenen Körpers trug. Als die Morgenröte über dem Tal aufstieg, ergriff ich den Speer, der sich in zwei Teile zerlegen ließ, und mein Bündel und verließ die Hütte, nachdem ich in alle vier Ecken des Raumes Feuer gelegt hatte. Noch während dieses auf das Dach und die dem Haus am nächsten stehenden Bäume übergriff, tauchten die ersten Sonnenstrahlen den abgelegenen Grat in ein barmherzigen Licht, und mir war, als trugen die in den leckenden Flammen zu neuem Leben erwachten Kadaver der Eulen die Seele des letzten Ritters dem lohenden Stern entgegen.
CATHAY EMPFING MICH mit morbidem Charme. Der Überseedampfer spie seine Fracht, das Scherflein Verwegener, unter denen auch ich mich befand, an Land. Ich hatte meine Ankunft nicht vorbereitet. So irrte ich zwischen den Kais und Piers umher, unter den Blicken dunkelhäutiger, ölverschmierter Hafenarbeiter aus aller Herren Länder. Ich gelangte in immer finsterere Viertel, und üble Gerüche drangen an meine Nase. In die Schatten verfallener Hauseingänge und anderer Schächte preßten sich schemenhafte Gestalten. Einmal blickte ich in das verwitterte, lepröse Gesicht einer alten Frau; eingefallene Züge, ein zur schrundigen Narbe verheiltes Auge, Hoffnungslosigkeit. Die sumpfige Düsternis wurde bisweilen durch das phosphoreszierende Leuchten einer etwa fingerlangen Käferart illuminiert, die sich wohl von demselben Unrat ernährte wie die Menschen, die das Labyrinth des Viertels bewohnten.
Langsam entfernte ich mich vom dröhnenden Hafen, und die mich umgebende Geräuschkulisse änderte sich. Das Ächzen der schweren Schiffsgiganten, ihr Kettenrasseln und dumpfes Hallen wich dem Konzert eines vielstimmigen Amphibienchors, der Unterstützung von einem tausendfachen Zikadenheer aus der nahen Flußmündung erhielt. Immer noch befand sich mir zur Linken die träge bleierne See, die nahtlos in den regenschwangeren Himmel überging, zur Rechten eine abenteuerliche architektonische Mischung von gotischen und fernöstlichen Bauelementen. Immer wieder hingen verwitterte Türen und Gatter schief in ihren rostigen Angeln, und ich wollte nicht wissen, welche Abgründe menschlichen Leides sich dahinter auftaten. Aus steinbogenüberspannten Gassen rannen bisweilen schleimige Rinnsale, und mir war, als handle es sich hierbei um nichts anderes denn die widerlichen öligen Ausflüsse der sterbenden Stadt selbst. Und immer wieder, chimärenhaft, wie Wasserspeier, sich aber doch träge bewegend… die Bewohner des Hafens. Ich wunderte mich bereits, noch nicht von ihnen angesprochen worden zu sein. Gegen ihre Übermacht hätte ich keine Chance gehabt, und mir graute bei dem Gedanken, mit einem der feuchtwarmen Körper in Berührung zu kommen. Da trat aus einem schattenumwobenen Arkadengang eine schlanke Gestalt hervor. Der Mann überragte mich um Haupteslänge und hielt sein Gesicht im Schatten verborgen, was ihm nicht schwer fiel, denn um uns herum herrschte ein bedrückendes Halbdunkel. „Folgt mir, Sahib!“ sprach er in fast akzentfreiem Deutsch. Ohne meine Antwort abzuwarten wandte er sich ab und tauchte in die gähnende Öffnung ein, aus der er gekommen war.
Ich folgte ihm, ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken. Sollte es sich hier um eine Falle handeln? Unser Weg führte über Hunderte von schiefwinkligen Treppenstufen, zwischen einsturzgefährdeten, von Unkraut bewachsenen Mauern hindurch, hinter denen blasphemisches Geflüster das fortwährende Konzert der Amphibien noch übertönte. Mein Begleiter zeigte sich von all dem unbeeindruckt. Er schritt weit aus und strebte wortlos einem mir unbekannten Ziel entgegen. Immer wieder überragten Rankgerüste mit bizarr gezackten Blättern die Gassen. Auf hervorstehenden Steinkonsolen brüteten glotzäugige Kriechtiere, die mich entfernt an Geckos erinnerten. Sie ließen sich durch unser Vorübergehen nicht stören. Zungenschnalzend verdrehten sie ihre Augen, wiegten die schuppigen Köpfe. Wenngleich sie nur handspannengroß waren, hätte mich mehr als nur gegruselt, wäre da nicht mein Begleiter gewesen, der – obschon mir selbst nicht ganz geheuer – in dieser Umgebung geradezu beruhigend auf mich wirkte. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen und wußte später nicht, wie weit und in welche Richtung unsere Wanderung wohl geführt hatte, als wir an einer schmiedeeisernen Pforte zu unserer Rechten Halt machten. Auf ein unauffälliges Zeichen meines Begleiters hin öffnete sie sich. Als auch ich hindurch war und mich in einem weitläufigen Park befand, schloß sie sich von selbst wieder. Ich war gefangen. Jedenfalls hätte ich die das Grundstück umgebende Mauer nicht ohne weiteres überwinden können. Der Mann, der immer noch schwieg, führte mich auf einem schmalen, steinigen Pfad zu einem düsteren Haus. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, daß in dunkler Vergangenheit in
diesem Gebäude abscheulichste Schandtaten von unvorstellbarer Grausamkeit stattgefunden hatten. Einerseits paßte es mit seinen gotischen Fensterbögen, den Fialen und chorartigen Türmchen, dem wuchtigen Portal und seiner strengen und doch fremdartigen Geometrie nicht im geringsten in dieses Land, andererseits wirkte es so alt und ergänzte das Bild der Stadt so perfekt, daß ich es mir an keinem anderen Ort der Welt hätte besser vorstellen können. Es war düster. Und es erinnerte mich an etwas. Mutter. Das Mauerwerk war bis auf die feuchtigkeitstriefenden, moosbewachsenen Fugen schwarz. Ich war stehengeblieben, in meiner Seele tief berührt, da sprach mich der bereits im Dunkel eines Flures verschwundene Führer an: „Kommen Sie. Mein Herr erwartet Sie bereits!“ Doch wo mochte sich dieser Herr aufhalten, und wer war er? Ich hatte bemerkt, daß trotz der hereinbrechenden Dämmerung im Haus hinter nur einem einzigen Fenster Licht gebrannt hatte. Es war ein Turmfenster gewesen. Und richtig: Der Unheimliche führte mich durch einen beeindruckend geräumigen Saal, in dem ich trotz spärlicher Beleuchtung eine Vielzahl grotesker Jagdtrophäen an den hohen, von einem kunstvoll ausgeführten Schlangenmuster bedeckten Wänden bemerkte. Das Fell eines gigantischen Tigers befand sich darunter, der schwere Schädel eines Elefanten, zahllose Reptilien, aber auch geierartige Raubvögel mit starrem Blick und Fische mit gierig aufgerissenem, zahnbestückten Maul. Ich hätte schwören mögen, daß sich darunter auch Tiere befanden, die seit Menschengedenken ausgestorben waren. Wir erreichten nun eine geschwungene Treppe und klommen sie empor. An den Wänden befanden sich astronomische Lithographien. Ich hatte keine Gelegenheit, ihre Präzision und
die feine Strichführung zu begutachten, denn längst war mein Begleiter am oberen Ende der Treppe angelangt, eilte durch dunkle Korridore, schmale Stiegen hinauf, durch großzügige Bibliotheken, gefüllt mit den herrlichsten Folianten. Dann blieb er vor einer geschlossenen, beinahe vier Meter hohen Tür stehen und bat mich, einen kurzen Moment zu warten. Er verschwand in dem Raum, aus dem ein warmer Schein drang. Dann ertönte eine Stimme, die die seines Herren sein mußte: „Treten Sie bitte ein, lieber Freund!“ Ich leistete der Aufforderung Folge. Das Haus hinter mir blieb finster. „Sie werden sich fragen, warum ich Sie hierher eingeladen habe“, fragte mein Gastgeber, den ich mit unverhohlener Neugierde betrachtete. Er erschien mir wie die mystische Romanfigur eines teuflischen Dr. Fu Manchu, trug ein dunkelgrünes Gewand aus einem von schillernden raschelnden Schuppen bedeckten Stoff. Auf dem Kopf saß eine hochgereckte Kappe gleicher Farbe. Man hätte den hageren Mann wohl für einen fernöstlichen Priester halten können, doch sein Deutsch war perfekt, und seine Züge waren eher die eines Europäers denn eines Asiaten. Er schien die Aufmerksamkeit, die ich ihm widmete, zu genießen, und daß er mir ein Rätsel aufgab, belustigte ihn auf eine an Hochmut grenzende, überlegene Art und Weise. Andererseits musterte auch er mich mit offenem Interesse, und ich fragte mich, was er über mich wußte. „Sehen Sie“, sagte er, „im Grunde genommen weiß ich nur wenig mehr als Sie selbst. Man hat mich gebeten, Sie am Hafen abholen zu lassen und Ihnen Unterkunft zu gewähren. Bereits morgen werden Sie Ihre Reise fortsetzen. Doch so lange sollen Sie mein Gast sein und Leben in den schwermütigen Alltag bringen, in dem ich mein unglückseliges Dasein friste!“
Der Mann wies auf einen hochlehnigen Stuhl vor einem durch einen schweren Vorhang verdeckten Fenster. Ein Tisch und ein weiterer Stuhl standen dort. Auf dem Tisch brannte in einer Lampe aus orange gefärbtem Glas eine Kerze, die ein gedämpftes Licht abgab. Dieses hatte ich wohl von draußen gesehen. „Wie meine Herren es wünschen, habe ich ein Schlafgemach für Sie herrichten lassen. In diesem Augenblick bereitet Horatio, mein treuer Diener, unser Essen zu. Ich denke, Sie werden die erlesenen Köstlichkeiten zu schätzen wissen, die dieses Land zu bieten hat. Unterdessen wollen wir uns ein wenig unterhalten. Zu selten bekomme ich Besuch!“ Der Mann stellte sich mir als Richard Ernst vor und erklärte, er habe sein Leben der Erforschung jener Kräfte gewidmet, die unseren Kosmos beherrschten. Er sei nicht religiös, führte er aus, im Gegenteil, er wollte sich als technokratischer Geist verstanden wissen, und er fragte mich geradeheraus, was mich selbst nach Cathay geführt habe. Als ich ausweichend antwortete, gestand er, er wisse nicht genau, aus welchem Grund seine Herren mich zu sehen wünschten. Auch wollte er mir nicht erklären, wer diese Herren waren. „Als ich selbst vor langer Zeit herkam“, sprach er – und ich fragte mich still, wie alt er denn wohl sein möge, da er doch um die Dreißig zu sein schien, also wenig älter als ich –, „leitete mich die tiefe Erkenntnis, daß in jedem Menschen ein Rest jener Materie in ihrem Urzustand vorhanden sein müsse, die seit Anbeginn aller Zeiten existiere. Als Forscher widmete ich mich ihr, drang in die untersten Ebenen unteilbarer Materie vor, die verschwindend winzig und doch viel komplexer ist, als sich unser schwächliches, menschliches Gehirn vorzustellen vermag. Es kapituliert vor dieser Vorstellung ebenso wie vor der unfaßbaren Grenzenlosigkeit des Kosmos. Sagen Sie, wie lautet Ihre Meinung? Da doch nichts unendlich sein kann –
was lauert jenseits der sichtbaren Grenzen? Verkleinern Sie es auf die Größe einer Erbse, betrachten Sie die jenseitige Sphäre, die lichtlosen Abgründe… auch sie sind begrenzt. Setzen Sie dieses Spiel beliebig fort! An seinem Ende winkt dem Spieler nur eines: der Wahnsinn.“ Hatte mein Gegenüber diese gedankliche Reise bereits zu Ende gemacht, oder war er der Wahrheit so nahe wie kein Mensch zuvor? „Nun, wie ich bereits sagte: Ich war auf der Suche nach einer verborgenen inneren Wahrheit, nach einer universalen Erinnerung an die Geburt des Kosmos, jener Essenz, die allen Menschen gemein ist. Im Zuge meiner Forschungen erfuhr ich von einem Ort, Agarthi genannt, an dem alle Geschehnisse dieser Welt in Schriften festgehalten sein sollten. Ein Zufall führte auf Umwegen nach Cathay, wo ich weise Lehrer fand, die, über jede körperliche Schwäche erhaben, sich dem Studium der Geheimwissenschaften hingegeben hatten, seit Äonen schon. Doch mehr will ich nicht vorwegnehmen. Sie, mein Lieber, sind ebenfalls auf der Suche, und auch Ihnen dürfte geholfen werden können. Ach, da kommt ja Horatio und trägt unser Essen auf.“ Ja, und was für ein Essen! Ich hatte nicht erwartet, die Zutaten oder Früchte zu kennen, doch das Mahl, das Horatio zubereitet hatte, war gar zu exotisch, als daß ich allzu viel davon hätte verzehren mögen. Richard Ernst schien sich zu perfekt in die fremdartige Gesellschaft Cathays eingefügt zu haben. Hauptmerkmal der Speisen war, daß sie für den Feinschmecker offenbar nur dann ihren Geschmack voll entfalten konnten, wenn noch ein wenig Leben in ihnen war. Dazu wurde ein merkwürdig bitteres Gebräu serviert, das an Bier erinnerte.
Ich gab vor, mir auf der Seereise eine Magenverstimmung zugezogen zu haben, und versuchte mich an den harmloser erscheinenden Leckerbissen. So fiel ich auf einen Cocktail herein, serviert in einer wundervoll zarten Lotusblüte, den ich für Garnelen gehalten hatte, der aber auf eine widerliche Weise süß und erdig wie Würmer schmeckte. Währenddessen saugte Ernst genußvoll eine Art Wolfsspinne aus, wobei ihm flüssiges Fett und Saft aus dem Körper des dampfenden Tieres übers Kinn liefen. In diesem Moment wurde mir bewußt, was mein Gastgeber mit Wahnsinn gemeint hatte.
ES WAR, ALS WOLLE ERNST mich nach dem grausigen Mahl gütlicher stimmen, denn er ließ von seinem schattenhaften Diener einen hervorragenden Rotwein servieren, der prickelnd die Zunge liebkoste und sie lockerte! Als der finstre Geselle mir einschenkte, sah ich, daß seine Fingernägel außergewöhnlich lang und spitz zugefeilt waren. Um keinen Preis der Welt hätte ich ihn in meinen Diensten haben wollen. Auch Ernst schien dem Wein nicht standzuhalten, er verfiel in eine endlos anmutende Schwafelei. Ihm zuzuhören fiel mir, der ich müde und nun von einer wohligen, warmen Schwere erfüllt war, nicht leicht, und doch lauschte ich seinen ausufernden Beschreibungen der wundersamen Stadt Cathay, die, so sagte er, einst von deutschen Kolonisten errichtet worden sei. Er sprach beinahe liebevoll von dieser Zeit, so als habe er selbst sie miterlebt oder bereist, doch da die Gründung Cathays etliche Jahrhunderte zurücklag, konnte dies nicht der Fall sein. Benommen überlegte ich, inwieweit wohl mein Schicksal mit der Stadt zusammenhing und wünschte mir die Gabe, in die
Vergangenheit blicken zu können, oder besser noch: in die Zukunft! Ernst schien meine Gedanken gelesen zu haben, denn er lenkte seine Rede auf dieses Thema. „Vielleicht weiß ich etwas, das Sie interessiert. Ich weiß, daß Sie nicht zufällig hergekommen sind. Ich lese den Namen Cathay in ihrem Geist, und zwar in Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit.“ „Aber ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt!“ entgegnete ich und spürte, wie meine Stimme zitterte. „Hmm, ich kennte eine Prophezeiung, die an diesem Ort ausgesprochen wurde und Sie vielleicht interessiert.“ Er erschien einen Moment lang geistesabwesend, so als müsse er sich in sich selbst vertiefen, und ein Schatten legte sich über sein Gesicht. Dann sprach er mit schwerer, kratzender Stimme: „So wurden die Keime der weißen und schwarzen Magie in jenen Tagen gesät. Die Samen lagen einige Zeit verborgen, um erst während der ersten Periode der fünften Rasse hervorzusprießen. Die heiligen Jünglinge weigerten sich, sich zu vermehren und eine Art nach ihrem Vorbilde, nach ihrer Art zu schaffen. Sie weigerten sich, in die Chayas derer, die unter ihnen standen, einzugehen. So herrschte selbstsüchtiges Gefühl von Anfang an, selbst unter den Göttern, und das Auge des karmischen Lipikas heftete sich auf sie.“ Seine Züge entspannten sich. „Das Auge des karmischen Lipikas. Nun, sagt Ihnen das nichts? Oder der Name Bethanien?“ Plötzlich sprang er auf und meinte: „Kommen Sie, ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, wo ich doch Ihres jetzt kenne! Sie sollen den Preis kennenlernen, den ich zahlte und immer noch zahle, an jedem Tag meines verfluchten Lebens.“ Er ergriff das rote Licht, das während meiner Anwesenheit nicht spürbar heruntergebrannt war, und führte mich zu einem Verschlag, den ich für einen Eckschrank gehalten hatte. Er
öffnete die schmale Tür und wurde im selben Moment von der Finsternis dahinter verschluckt. Als ich ihm folgte, gelangte ich auf eine enge, steil nach unten führende Spindeltreppe. Die Stufen waren zu schmal und höher als gewohnt, so daß ich mich an den aus einem elfenbeinartigen Material gefertigten Handlauf klammern mußte, um nicht zu stürzen. Das Licht, das mein Gastgeber trug, leuchtete wenige Stufen unter mir und erhellte gerade soviel unseres Weges, daß ich diesen erahnen konnte. Ich war träge und wie benebelt vom Wein, der einen öligen Nachgeschmack in meinem Mund hinterlassen hatte. Ernst verlangsamte seine Schritte, blieb einen Moment stehen, schaute sich nach mir um. Überlegte er? Zweifelte er an der Richtigkeit seines Tuns? Nein, wir waren endlich auf einer ebenen Fläche angekommen. Tief sog ich die Luft ein, die von einem merkwürdig moschusartigen Geruch erfüllt war. „Wir haben unser Ziel erreicht“, stellte Ernst nüchtern fest und deutete auf eine bronzene, äußerst massiv wirkende Tür, die am Ende eines engen Gewölbeganges saß. Im Licht der blutroten Lampe schien sie zu glühen. Ich weiß nicht, was ich dahinter zu sehen erwartete. Mein Geist war infolge des Weingenusses nicht fähig, einen klaren Gedanken zu verfolgen. Vielleicht bemerkte ich das hintergründige Lächeln im Gesicht meines Gastgebers, vielleicht auch nicht. Er öffnete die Tür, und wir betraten ein großzügiges Gemach, das von einer Kuppeldecke überspannt wurde. Hier verstärkte sich der merkwürdige Geruch, und mein Begleiter benötigte die kleine Lampe nicht länger, da eine Lichtquelle am höchsten Punkt der Decke glomm und ein kaltes weißes Licht über uns ergoß; über uns und über ein widerliches, aus dem Stein gehauenes, vorstehendes Relief, das in der Mitte des Saales
emporragte und von einem wohl genialen, aber gleichermaßen schrecklichen Künstler stammte. Es zeigte den Kopf und die Schulterpartie einer Statue, die in Treibsand versunken zu sein schien. Dies darzustellen mochte die Absicht des Bildhauers gewesen sein, der mit besessener Detailverliebtheit ans Werk gegangen war. Ich zögerte nicht einen Augenblick, Richard Ernst und seinen unheimlichen Diener Horatio für die abscheuliche Arbeit verantwortlich zu machen. Die Statue stellte nicht etwa einen Menschen dar, sondern ein furchtbares fledermausköpfiges Wesen. Seine großen runden Augen wurden von schweren geschlossenen Lidern bedeckt. Sogar bei der Wiedergabe der Wimpernhaare hatte sich der Künstler erstaunliche Mühe gegeben. Die Nase war platt und gespalten, aus dem breiten schiefen Maul ragten zwei nadelspitze Fangzähne. Auf dem wuchtigen Haupt saßen spitze eulenhafte Ohren. Das Wesen wirkte auf mich, als sei es keineswegs unbelebte Materie, sondern schlafe vielmehr nur, jeden Moment bereit aufzuwachen. Ernst schwieg. Sichtlich genoß er die Wirkung, die die gräßliche Statue auf mich ausübte. Ich hätte näher herantreten mögen, um die einmalige Arbeit zu begutachten und gerechter zu würdigen, doch das Werk hatte mich in einen Bann aus kombiniertem Ekel und Faszination geschlagen, und so stand ich dort, bis Ernst mich durch seine Worte erlöste. „Die Entwicklung des Weltalls ist in der indischen Kosmogonie in zwei Akte geteilt, die die Prakrita- und die Padma-Schöpfung heißen. Bevor die warmen Strahlen, die aus der Wohnung des Glanzes hervorströmen, die großen Wasser des Raumes zum Leben erwecken, treten die Elemente der ersten Schöpfung hervor, und aus ihnen wird der Riese Ymir
gebildet – die aus dem Chaos differenzierte, ursprüngliche Materie. Alles, was dem menschlichen Leben vorhergeht, ist Dunkelheit, in der der Allvater, die Ursache von allem wohnt. Der, den Ihr hier seht, ist der erste Jnata, eine Reflexion und Offenbarung. Er ist ein Energiezentrum, aber solche Energiezentren gibt es nahezu unzählige. Ihre Zahl ist unendlich.“ Wir standen schweigend vor dem grausigen Bildnis. Schließlich stiegen wir die endlosen Treppen hinauf in das Haus zurück, dessen Ausstrahlung ich nun als beklemmender denn je zuvor empfand. Ich bezweifelte, daß ich in dieser Nacht ein Auge würde zutun können.
UND DOCH WAR ES HELLICHTER TAG, als mich die Stimmen der Vögel im Garten vor meinem Fenster aus dem Schlaf rissen. Sie drangen grell, schmerzerfüllt und lüstern zu mir herauf und beendeten eine Reihe sich gegenseitig jagender Alpträume, die ich bereits in dem Moment zu vergessen begann, da ich die Augen aufschlug. Richard Ernst hatte mich gleich nach unserem Aufstieg aus dem Schreckensgelaß tief unter dem Haus in ein Zimmer geleitet, das Horatio wohl während unseres Mahls vorbereitet hatte. Hier mangelte es mir an keinem Komfort. Ich hatte mich gleich zu Bett begeben, nachdem mein Gastgeber mich verlassen hatte, und war rasch eingeschlafen. Nun fand ich einen leinenen Reiseanzug von nachtschwarzer Farbe und legte diesen nach einem ausgiebigen Bad an. Offenbar wollte Ernst mir vor der Reise ein wenig Ruhe gönnen, denn weder von ihm noch vom scheußlichen Horatio sah oder hörte ich etwas. Nachdem ich schließlich eine Weile auf der Bettstatt der vergangenen Nacht gesessen hatte, ging ich zur Tür und
verließ das Zimmer. Mein nötigstes Gepäck trug ich bei mir. Die Kleidungsstücke, die durch die lange Schiffsreise beschädigt oder verschmutzt waren, ließ ich zurück. Ich irrte durch die nicht enden wollenden Korridore des Hauses und verirrte mich immer hoffnungsloser in dem scheinbar planlosen Gewirr von Kammern, Treppenfluchten und Fluren, die mit den obskursten Ausstellungsstücken der verschiedensten Kulturen bestückt waren, und gelangte zufällig in den Saal, in dem ich am Vorabend zusammen mit meinem Gastgeber gespeist hatte. Der Tisch war auch heute gedeckt, wenn auch nur für eine Person. Und Ernst hatte glücklicherweise darauf verzichtet, Horatio erneut seine Kochkünste anhand von frisch zubereiteten Spezialitäten unter Beweis stellen zu lassen. Statt dessen gab es Marmeladen und ein brötchenartiges Gebäck. Und auf meinem Teller fand ich einen Brief mit folgendem Wortlaut: „ Mein lieber Freund! Ich bedaure zutiefst, nicht mit Ihnen frühstücken und unsere interessante Konversation vom Abend fortsetzen zu können, doch wichtige Geschäfte erfordern noch in dieser Nacht meine Anwesenheit in der Stadt. Da mich mein treuer Diener begleitet, werden Sie alleine speisen. Bitte seien Sie um Punkt 11:00 Uhr an der Pforte, durch die Sie gestern ins Haus gelangten. Man wird Sie dort erwarten. Ich bitte Sie noch einmal: Seien Sie pünktlich! Meine Herren warten nur höchst ungern. Im übrigen danke ich Ihnen noch einmal für die überaus interessante Darlegung Ihrer Ansichten und… “
ICH LAS DEN BRIEF nicht zu Ende, denn meine Taschenuhr verriet mir, daß es just fünf vor elf war. Also stopfte ich das Schreiben achtlos in die Hemdtasche, ergriff eine Handvoll Gebäck und suchte mich zu erinnern, auf welchem Weg Horatio mich wohl am Vorabend hergeführt hatte. Am Ende verließ ich mich dann doch auf mein Gefühl und kam mit viel Glück gerade rechtzeitig an der Pforte an. Was auch immer ich erwartet hatte, meine Erwartungen wurden übertroffen. So rätselhaft meine Ankunft in Cathay gewesen war, so mysteriös sollte ich aus der Stadt hinausgeführt werden. Vier haushohe Elefanten hatten die Unbekannten, die mich zu sehen wünschten, als Reittiere aufgeboten, mit samtenen Tüchern bedeckt und mit prächtigen farbenfrohen Wimpeln geschmückt. Vielfältige Muster von Sonnen und Blitzen zierten diese. Jeder Elefant wurde von vier Mann Fußvolk begleitet, halbwilden Ureinwohnern, die einen grimmigen Gesichtsausdruck zur Schau tragen. Während zwei der Dickhäuter mit verstärkten klingenbestückten Stoßzähnen offenbar als Kriegselefanten dienten, handelte es sich bei den beiden hinteren wohl um Lasttiere. Auf dem ersten der beiden Giganten saß ein Afrikaner von beeindruckender Statur. Als er mit Hilfe des Elefantenrüssels sein Tier verließ, konnte ich ihn in aller Ruhe in Augenschein nehmen. Er mochte gut und gerne 2,50 Meter in der Höhe messen und war schlank, aber doch muskulös, was ihn um so gefährlicher erscheinen ließ. Zähne und Augen kontrastierten mit der dunklen Gesichtsfarbe, so daß sie selbst in der trüben Bedrücktheit Cathays leuchteten, und ein herausforderndes Lachen prägte den Mund.
Der Mann, der sich weder in meiner noch irgendeiner mir bekannten Sprache artikulierte oder diese verstand, deutete zuerst auf mich, dann auf den zweiten Elefanten. Ich erklomm das Tier in der Hoffnung, mich nicht allzu sehr der Lächerlichkeit preiszugeben und war von der Ahnung erfüllt, daß eine weite, gefährliche Reise vor uns lag.
CATHAY PRÄSENTIERTE SICH auch an diesem Tag von seiner dekadentesten Seite. Die verfallenen Paläste, die das Stadtbild prägten, zeugten von vergangenem Glanz. In ihnen hausten nun tierhafte Wesen, die sich bei unserem Vorbeiritt rasch in die stygische Finsternis der schäbigen, von ihren ursprünglichen Besuchern verlassenen Flure zurückzogen. Sie kommunizierten offenbar mittels greller Schreie, und ich hatte den Eindruck, als formierten sie sich, um an einem bestimmten Punkt, den wir passieren mußten, über uns herzufallen. Einmal schwang sich einer von ihnen an einem lianenähnlichen Seil quer über die Straße, von einem Haus zum anderen, und einen kurzen Moment konnte ich erkennen, daß seine Haut von olivgrüner Farbe war. Der riesige Schwarze zeigte sich völlig unberührt und führte die ungewöhnliche Karawane in immer höher gelegene Regionen der Stadt, bis wir urplötzlich durch einen einstigen Triumphbogen kamen. Dahinter begann der Regenwald. Mit einem Male schwand die unterschwellige Schwermut der todgeweihten Stadt. Ein unwohles Gefühl wollte jedoch während der gesamten Dschungelreise nicht weichen. Mehrmals versuchte ich, mit unserem Führer ins Gespräch zu kommen, was allerdings über die Entfernung, in der wir unsere Tiere voneinander getrennt ritten, alleine aus akustischen Gründen nicht ganz leicht war. Ich bekam aus ihm nicht mehr
als die gutturalen Silben Oonuga heraus, woraufhin ich schlußfolgerte, damit müsse entweder das Ziel unserer Reise oder aber sein eigener Name gemeint sein. Später fand ich heraus, daß tatsächlich letzteres der Fall war. Da sich also die Unterhaltung recht problematisch gestaltete und mein Reittier ohnehin dem Leitbullen folgte, den der Schwarze ritt, hatte ich Zeit, mein Frühstück nachzuholen und den Brief zu lesen, den Richard Ernst mir hinterlassen hatte. Die Schrift wirkte zum Ende hin hektisch und überstürzt: „…für die überaus interessante Darlegung Ihrer Ansichten und das Vertrauen, das Sie mir entgegengebracht haben. Ich weiß sehr wohl, daß die Zeit, die ich in Cathay verbracht habe, mich prägte, doch es fällt mir schwer, einen Bezugspunkt zu meinem früheren Leben zu finden. Der Preis, den ich für meinen Einblick in die Kosmischen Geheimnisse zahlte, war höher, als Sie auch nur mutmaßen können. Das furchtbare Wissen, das ich in meiner Brust hüte, hat mich verändert, so sehr, daß eine Rückkehr in die Zivilisation mir für immer verwehrt bleiben muß, selbst wenn ich eines Tages von jenem chronischen Schrecken tief unter den Fundamenten meines Hauses befreit werde… Daher warne ich Sie: Hüten Sie sich vor den Versprechungen meiner Herren! Weiß das Insekt, was ihm geschieht, wenn der Mensch es zertritt? Kümmert es den Sturm, wen er hinwegfegt? Streben Sie nicht nach dem blasphemischen Wissen, nach dem mich einst dürstete. Bewahren Sie den Rest Menschlichkeit, der in Ihrem Herzen wohnt! Und denken Sie an das Auge des lipischen Karmas! Gezeichnet Richard Ernst“
ICH MUß GESTEHEN, daß ich vom Appell, den Ernst mittels dieses Schreibens an mich richtete, zutiefst berührt war. Doch selbst wenn ich mich nun entschieden hätte, diese wahnsinnige
Reise abzubrechen: Was hätte ich tun können? Ich saß hoch über der Erde auf einem Elefanten, und meine Situation unterschied sich kaum von der eines Gefangenen. Selbst wenn ich von dem haushohen Tier herabgesprungen und in den Dschungel geflohen wäre… ich wäre nicht weit gekommen. Oonugas kleinwüchsige Helfer erweckten den Eindruck, mit den Speeren, die sie bei sich trugen, gut umgehen zu können. Der Schwarze selbst drehte sich von Zeit zu Zeit um und schenkte mir ein diabolisches Grinsen. Als wir am Abend dieses Tages lagerten, hatten wir den Dschungel bereits hinter uns gelassen. Die genügsamen Elefanten hatten uns etliche hundert Höhenmeter hinaufgetragen. Den Einheimischen schienen die körperlichen Strapazen nichts auszumachen. Unermüdlich folgten sie dem Marsch der Dickhäuter. Mit zunehmender Höhe lichtete sich der Wald. Es wurde bedeutend kühler, und die Vegetation paßte sich den veränderten Lebensbedingungen an. Lederblättrige Kräuter, kniehohe Farne und gedrungene Nadelbäume bewuchsen den felsigen Grund. Doch immer wieder leuchteten auch verlockende farbige Blüten exotischer Orchideen auf. Wir ließen uns auf einer Hochebene nieder, und unter den Anweisungen Oonugas errichteten unsere Begleiter aus geschmeidigen dünnen Tierhäuten zwei geräumige Zelte, in denen wir alle Platz fanden. Auf den Transportelefanten hatten sie reichlich Proviant und Felle mitgeführt, auf denen sich bequem ruhen ließ. Als das Lager aufgebaut und gesichert war, begannen die Männer mit der Zubereitung des Essens. Sie füllten dazu große Gemüsezwiebeln, Lauch, Pilze, eine kartoffelähnliche Knollenfrucht und lange Streifen getrockneten Fleisches in eine hohe gußeiserne Schale mit Wasser, würzten und erhitzten
diese über offener Flamme. Bald stieg ein angenehmer Geruch in meine Nase. Mein Gott, welchen Hunger ich hatte! Ich versuchte während des gemeinschaftlichen Mahls die Gedanken Oonugas, aber auch die der Cathayer zu erahnen, doch das Ergebnis meiner Bemühungen darf mehr als dürftig genannt werden.
NACH VIEL ZU KURZER Nachtruhe brachen wir am nächsten Morgen ohne Frühstück auf. Unser schwarzer Führer trieb uns zur Eile. Schon unterwegs, aßen wir Früchte, die unter den Männern verteilt wurden, damit diese sie im Laufen zu sich nähmen. Auch ich hatte mit dieser frugalen Mahlzeit vorlieb zu nehmen. Wir verließen die Ebene und reisten auf einer schmalen Straße. Neben den Reittieren hätte kein Mensch mehr Platz gefunden, und manches Mal sah ich mich bereits mit zerschmetterten Gliedern am Grunde einer mehr als hundert Meter tiefen Schlucht liegen. Den ganzen Tag über bewegten wir uns in nordöstlicher Richtung, und die ängstliche Ehrfurcht, die ich von den Gesichtern meiner Begleiter ablas, verriet mir, daß auch sie wohl zum ersten Mal diese Reise machten. Doch nichts geschah. Wir reisten auf dem lebensgefährlichen Pfad, wie Hannibal einst mit seinen Elefanten die Alpen überquert hatte. Dabei hatte ich viel Zeit, über mein Schicksal nachzudenken. Ich hing nicht am Leben. Doch wie jeder Mensch fürchtete ich den Schmerz. Ich nahm noch einmal den Brief zur Hand, den Ernst mir hinterlassen hatte. „Der Preis, den ich für mein Wissen um die Kosmischen Gesetze zahlte.“ Was meinte er damit?
Ich betrachtete das Schreiben und ließ meine Finger vorsichtig über seine Oberfläche gleiten. Es handelte sich nicht um Papier, sondern etwas Weicheres, Faseriges, fast wie Stoff oder Baumwollpapier. Als ich den Brief wendete, war mir, als sähe ich ein Wasserzeichen. Sieh einer an, dachte ich, der schlaue Fuchs hat einen Weg gefunden, mir unauffällig eine Mitteilung zukommen zu lassen; und hob das Blatt vor die silberne Sonnenscheibe. „Ich fühle, daß diese Reise Ihr Leben bedroht. An ihrem Ende mag ein Wissen stehen, das zu besitzen Sie Ihr Leben lang gedürstet hat. Glauben Sie an den kosmischen Plan? Manche von uns werden geboren, um als Werkzeug zu dienen. Andere nicht. Kehren Sie um!“ Ich erschrak, als ich den Brief herunternahm. Oonuga hatte sich umgedreht und schenkte mir ein sardonisches Grinsen. Ich unterdrückte den ersten Impuls, den Brief rasch zu verbergen, erwiderte die Geste und wollte nur zu gerne wissen, was er wohl in diesem Moment dachte.
ES WURDE ERNEUT ABEND, und mit schmerzenden Gliedern glitt ich von meinem Reittier herab. Auf einer winzigen schiefernen Plattform schlugen wir unser Lager auf. Ich bemerkte, daß der schwarze Hüne mich aufmerksam beobachtete, seinen Blick aber rasch belanglos und uninteressiert erscheinen ließ oder gar abwendete, wenn er sich bewußt wurde, daß mir sein Interesse auffiel. Welche Rolle spielte er in dieser merkwürdigen Scharade? War er wirklich nur der harmlose Führer, der zu sein er vorgab? Ich schlief in dieser Nacht außergewöhnlich tief, jedoch traumlos, und am nächsten Morgen fühlte ich mich, als hätte
ich ein Jahrhundert lang in einem finstren, kalten Pyramidengrab gelegen. Das Wetter war nicht dazu angetan, meine Stimmung aufzubessern. Ein stetiger Nieselregen ging nieder, und kaum hatten wir unsere Zelte verlassen, waren wir völlig durchnäßt. Oonuga trieb alle zu noch größerer Eile an. Ich fragte mich, wann wir wohl am Ziel unserer Reise anlangen würden und ob der Afrikaner wußte, was uns dort erwartete. Auch er schien stündlich nachdenklicher zu werden und lachte weniger häufig. Gegen Mittag des dritten Tages gelangten wir auf ein weiteres, höher gelegenes Plateau. Links fiel der überhängende Fels inzwischen wohl an die tausend Meter senkrecht ab. Rechts erhob sich eine unbezwingbare Steilwand, aus der ein verfallenes Monument heraus gearbeitet war. Auf drei mächtigen Säulen, es hätte wohl zwei Männer gebraucht, jede einzelne zu umfassen, türmte sich eine schwere, mit zwanzig Metern etwa gleich hohe monolithische Steinmasse. Im Dunst, der sich mit dem Einsetzen der Sonnenstrahlung gebildet hatte, nachdem der Regen aufgehört, waren nur die Umrisse des unvollendeten oder zerstörten Monuments zu erkennen, das mich an griechische Bauten der Alexandrinischen Epoche erinnerte. Durch die Reihen meiner Begleiter ging eine Woge erschreckter Laute. Sie weigerten sich weiterzugehen, und erst als Oonuga kurzerhand einen von ihnen mit bloßen Fäusten erschlug, strömten sie furchterfüllt voran. Dabei warfen sie dem Schwarzen haßerfüllte Blicke zu. Alleine seine übermenschliche Kraft schützte ihn. Ich befürchtete das Schlimmste für den weiteren Verlauf der Reise. Doch soweit sollte es nicht kommen, denn kaum hatten wir das antike Bauwerk erreicht, stoben die Männer auseinander. Aus meiner Position konnte ich nicht sehen, was geschah. Ich
hörte lediglich entsetzte Schreie, dann brach der Elefant, der sich hinter meinem Reittier befunden hatte, aus der Reihe aus und stürzte unter panischem Trompeten den Steilhang hinab. Ich konnte seinen Aufprall nicht verfolgen, bekam nur mit, daß er einen Teil unseres Fußvolkes mit sich über die Felskante gerissen hatte. Einige der Männer kletterten nun, an Ameisen erinnernd und sich mühsam an kümmerlichen Weiden festklammernd, zurück aufs sichere Plateau. Der Rest befand sich in wilder Flucht in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Oonuga sah die Situation unaufhaltsam seiner Kontrolle entgleiten. Genau wie ich hatte auch er Mühe, zu sehen, was da vor sich ging. Er tat das einzig Richtige in dieser Situation, wendete sein Tier und stieg mit einem kraftvollen Sprung ab. Inzwischen war auch der hinterste Elefant in wilder Panik von dem schmalen Saumpfad gesprungen oder hinabgestoßen worden. Alleine mein Tier trieb es in eine andere Richtung, und zwar nach vorne. Ungestüm preschte es davon, und ich mußte alle Aufmerksamkeit darauf richten, es zu lenken, wenn ich nicht mein Leben am Grund der Schlucht beenden wollte. Unter fürchterlichem Wanken – unter weniger ernsten Umständen wäre ich seekrank geworden – lief das schwerfällige Tier davon. Erst nach rund hundert Metern beruhigte es sich, und ich konnte es wagen, einen hastigen Blick auf das Geschehen am Plateau zu richten. Ich war zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen, aber was ich sah, reichte aus, um mich in die Klauen des Wahnsinns zu treiben. Es war ein wimmelndes Chaos, leckende Flammenzungen, eine Art Kalmar, ein monströses, tintenfischköpfiges Ding, dessen verderblicher Anblick so absurd war, daß mein Verstand sich weigerte, es als existent anzuerkennen.
Oonuga, gefangen im Gewimmel wirbelnder Tentakel, deren einzelne Saugnäpfe die Größe seines Kopfes hatten, schien verloren. Tapfer, selbst mit dem verzweifelten Mut einer wilden Bestie ausgestattet, kämpfte er um sein Leben. Ohne Aussicht auf Rettung. Das Fußvolk war allesamt geflohen oder zerrissen. Der dritte Elefant wälzte sich sterbend im eigenen Blut. Ich verlor die Besinnung.
ICH WAR EINE WEILE bewußtlos gewesen. Mein Reittier aber mußte mich während dieser Betäubung aber weitergetragen haben. Ich war mir sicher, den Wahnsinn des Schwarzen förmlich gefühlt zu haben. Für mich gab es trotz dieser Ereignisse keine Zweifel daran, daß ich diesen Weg fortsetzen mußte, zumal es keine andere Alternative gab, es sei denn, ich hätte mich erneut der Gefahr aussetzen wollen, der meine Begleiter zum Opfer gefallen waren. Die schmale Straße folgte den Windungen des Gebirges. Sie mußte nach Agarthi führen, denn dies, das glaubte ich inzwischen zu wissen, war das Ziel meiner Reise. Ich wurde von einer inneren Spannung erfüllt. Als die Straße endlich zu schmal wurde, bedankte ich mich bei meinem Elefanten für seine Treue, indem ich ihm die Freiheit schenkte. Während er gemächlich dahin zurücktrottete, woher wir gekommen, betrachtete ich den Weg, der sich zu einer fernen Bergkuppe emporwand. Dort oben, auf einem der wohl höchsten Gipfel der Erde, sah ich etwas, das nur von Menschenhand geschaffen sein konnte: eine Befestigung! Doch wer hatte sich die Mühe gemacht, diesen unzugänglichen Ort zu besiedeln?
Ich begann mit dem kraftraubenden Aufstieg, und als es dunkelte, errichtete ich in der Einsamkeit der Berge notdürftig mein Lager. Ich hatte eine klare Quelle gefunden und erquickte mich an ihrem Wasser. Meine Vorräte, ein wenig getrocknetes Fleisch, Früchte und gekochte Knollen vom Vorabend, ergaben ein stärkendes Mahl, und ich empfand Trost beim Schein des kleinen Feuers, das ich mit dem verblichenen steinharten Holz einiger abgestorbener Bergkiefern entfacht hatte. Die Sterne beleuchteten mein Lager ungewöhnlich hell und groß, und der Mond stand als schwere honiggelbe Scheibe dicht über der Spitze des Berges. In der Nacht wachte ich mehrmals aus meinem unruhigen alptraumgestörten Schlaf auf. Mir war, als schleiche etwas um den durch den schwachen Schein des vom heruntergebrannten Feuers begrenzten Bereich. Jenseits lag nun vollkommene, wattige Schwärze, die alles Licht gierig verschlang. Am Morgen untersuchte ich den felsigen Boden in der Umgebung des Lagers nach Spuren, doch wie erwartet fand ich kein Zeichen, das auf die Anwesenheit eines Menschen oder größeren Tieres denn einer Maus hinwies. Ich packte das wenige zusammen, das mir geblieben war, und setzte meinen Marsch fort. Stundenlang folgte ich dem Pfad zwischen kargen Felswüsten und ausgedörrten Riedgrasflächen, dann wurde das Gestein zerklüftet und rissig. Tiefe Spalten waren teils von den gewaltigen Bewegungen der Erdkruste aufgerissen, teils durch den Regen aus dem Fels herausgewaschen worden. Manche konnte ich durch einen großen Schritt oder einen Sprung überqueren, über andere waren teilweise Stege gelegt oder kleine Brücken gespannt, doch diese waren von Wind und Wetter oft so stark in Mitleidenschaft gezogen worden, daß ich
ihnen kein Vertrauen schenkte und mich sehr vorsichtig auf ihnen bewegte. Das befestigte Bauwerk, das ich tags zuvor auf einem fernen Bergkamm erahnt, rückte näher, und ich behielt es die meiste Zeit über im Blickfeld. Die Sonne stand, mit unerbittlicher Kraft strahlend, ohne jedoch dem Land Wärme geben zu können, direkt darüber, und sie schien mit jedem Schritt, den ich tat, größer zu werden. Glücklicherweise wußte ich, daß dies unmöglich war. Stieg ich auch noch so hoch, so war doch die Entfernung zum Stern Sol stets so gewaltig, daß es war, als stünde eine Zikade am Grunde der tiefsten See und glaubte, dem Gipfel des höchsten Erdenberges näherzukommen, wenn sie einen Sprung tat. Gegen Mittag machte ich einen Fund, der zuerst wenig aufsehenerregend schien, mir aber doch zu denken gab. Mitten auf dem felsigen Pfad lag ein toter Käfer. Von länglicher Form und schwarz, war er durch irgendetwas zerquetscht worden. Mich interessierte das Schicksal des Insekts, denn es verriet mir, daß möglicherweise jemand erst vor kurzer Zeit dieses Weges gekommen war, was mich mit Sorge erfüllte. Ich hatte das Ereignis jedoch beinahe schon vergessen, als ich an eine breitere Schlucht gelangte, über die man den Bogen einer Steinbrücke geschlagen hatte. Am gegenüberliegenden Ende verschwand der Weg in einem engen düstren Einschnitt. Ein ungutes Gefühl erfaßte mich, zu Recht, denn als ich mich in der Mitte der Brücke befand, trat gestaltgewordene Finsternis auf den Weg. Seine Statur war größer als menschlich und von flatternden Lumpen umgeben. Oonuga! Sein Geist, von Wahnsinn umwölkt, kannte nur einen einzigen Gedanken: Haß! Ungerichtet wie dieser Gedanke war, projizierte er ihn auf jeden Menschen, dem er
begegnete. Es bestand kein Zweifel daran, daß er mich töten wollte. Eine Flucht war nicht möglich – schon war der Rasende heran und drosch windmühlenartig mit beiden Armen auf mich ein. Ich war längst ausgewichen, stand nun jedoch mit dem Rücken zur Brüstung der Brücke. Ein rascher Blick verriet mir, daß dahinter ein bestimmt fünfzig Meter tiefer Abgrund klaffte. Ich kämpfte verzweifelter denn je zuvor in meinem Leben. Hätte ich nur in jenem Moment den Speer nutzen können! Oonuga gelang es indes, mich zu packen, und ich hatte das Gefühl, als wolle er mich niemals mehr loslassen. Ich stieß ihm ein Knie in den Bauch und warf ihn nach hinten, doch mein eigener Schwung riß mich mit, und so kam ich auf dem Schwarzen zu liegen. Der aber sprengte meinen Griff mit müheloser Leichtigkeit, und als sich unsere Gesichter fast berührten, las ich in seinen Augen neben dem alles verzehrenden Wahnsinn auch eine tiefsitzende namenlose Furcht. „Oonuga! Komm zur Vernunft!“ schrie ich ihn an. Ich hatte erwartet, er werde bei der Nennung seines Namens zusammenzucken. Doch nichts dergleichen geschah. Sein Blick wurde glasig, durchdrang mich plötzlich, als sei ich Luft. Dann erhielt ich einen Fausthieb, der mir selbige aus den Lungen trieb. Sterne explodierten vor meinen Augen, einen Sekundenbruchteil glaubte ich mein Bewußtsein zu verlieren. Das wäre mein Ende gewesen. So sah ich Oonuga gerade noch als schwarzen Schatten vor mir auftauchen und warf mich zur Seite. Dabei stolperte und stürzte ich. Um keinen Preis der Welt hätte ich mehr aufstehen mögen. Ich erwartete den tödlichen Schlag. Doch nichts geschah. Ein Wunder?
Ich weiß nicht, wie lange ich dalag. Als ich genügend Kraft geschöpft hatte, zog ich mich mühsam an der Brüstung hoch. Der Schwarze war nicht zu sehen. Eine furchtbare Ahnung ließ mich in die Schlucht hinabblicken. Und da sah ich ihn, zerschmettert, tot, für alle Zeit endlich aus der Welt seiner Alpträume befreit.
JE NÄHER ICH dem Gebäude kam, das aus dem hellen grauen Stein des Gebirgsmassivs erbaut worden war, desto mehr wurde mir zur Gewißheit, daß es sich um einen Herrschaftssitz handelte. Es war unter Berücksichtigung der natürlichen Gegebenheiten aus dem Fels herausgearbeitet worden und wirkte geradezu alpin. Aufgrund glücklicher klimatischer Umstände lag hier jedoch kein Schnee. Ich sah kein Zeichen menschlichen Lebens. Also verharrte ich in einer Entfernung von etwa hundert Metern, um das Gebäude eingehend zu studieren. Einer strengen schlichten Geometrie folgend, hatten seine Erbauer um einen zentralen Eingang von beachtenswerter Höhe, über eine großzügige Treppe zu erreichen, auf zwei Stockwerken zu jeder Seite hin jeweils fünfzehn hohe schmale Fenster arrangiert. Die Stockwerke wurden in der Fassade durch ein mit Sonnenmotiven verziertes Fries getrennt. Das Dach war mit dünnen Steintafeln gedeckt. Bemerkenswerterweise waren die Fensteröffnungen mit Glas verschlossen. Über dem Eingang befand sich ein gläserner Okulus von rund fünf Metern Durchmesser, zusammengefügt aus einer Vielzahl schmaler Scheiben. Nachdem ich mich endlich von diesem Anblick gelöst hatte, machte ich mich daran, auch das letzte Wegstück hinter mich zu bringen, sicher, am Ziel meiner langen Reise angekommen zu sein.
Ich begab mich die verwitterten Stiegen hinauf und stand vor einem Portal, das aus einem dunkleren Gestein gefertigt und in Eisen gefaßt war. Keilförmige Blitze zuckten auf den Tafeln, und eine kupferne Sonne, deren sengende Strahlen selbst wie Blitze waren, schien heiß zu glühen. Die tatsächliche Sonne stand als Feuerball senkrecht über dem Gebäude. Ich hatte sie nie zuvor in dieser Größe gesehen. Als ich gegen die Türflügel drückte, schwangen sie mit einem den Fels erschütternden Rumpeln nach innen. Ich blickte in einen geräumigen Saal und stellte fest, daß sich drinnen dieselbe monumentale Architektur fortsetzte. Es herrschte ein seltsam opakes Dämmerlicht. Es war undenkbar, daß nur die Fenster als Lichtquelle dienten. Mein Körper warf auf alle Wände riesenhafte verzerrte Schatten, die einander bisweilen umtanzten. Ich fühlte mich in dem großen leeren Raum ausgesprochen unwohl. Zu beiden Seiten gab es je drei Türen, die zu den Flügeln führten. Intuitiv öffnete ich die mittlere rechte Tür, wo sich ein großer Raum anschloß, in dem Bücher teils achtlos aufeinandergestapelt, teils sorgfältig geordnet in Regalen ruhten. Zu gern hätte ich darin gelesen, doch als ich einige zur Hand nahm, stellte ich fest, daß die Schrift für mich unverständlich, ja, kaum als Schrift zu erkennen war. Zeichen füllten das Blatt in scheinbar wüster Unordnung. Dazwischen gab es immer wieder Skizzen und Schemata, doch auch deren Sinn entzog sich mir. Ich ließ drei weitere ähnlich ausgestattete Räume hinter mir zurück. Jedem war ein großes Fenster zugeordnet. Der Ausblick war beeindruckend. Ich stellte mir vor, welche Freude es gewesen sein mochte, an diesem Ort, hoch über der kargen Bergwelt, zu studieren, als er noch von Leben erfüllt gewesen war.
Die Herren des Palastes erblickte ich nicht. Doch als ich den vierten Raum durchschritten, an mächtigen papierenen Globen und Astrolabien aus fein geschmiedetem Kupfer vorbeigekommen war, war mir, als habe ich eine flüchtige Schattengestalt hinter einem der hohen Regale verschwinden sehen. Ich fand niemanden, als ich nachschaute. Als ich mich aber zum Gehen wandte und durch die nächste Türöffnung treten wollte, vernahm ich eine flüsternde Stimme: „Die Menschheit, von der Erde, war nicht bestimmt, von den Engeln des Ersten Göttlichen Atems geschaffen zu werden. Die erste Menschheit war daher ein blasses Abbild ihrer Vorfahren; zu materiell, selbst in ihrer Feinheit, um eine Hierarchie von Göttern zu sein; zu geistig und rein, um Menschen zu sein.“ Sie kam von überallher und von nirgends. Handelte es sich bloß um einen Widerhall aus vergangener Zeit? Von neuem tönten Worte an mein Ohr. Sie kamen aus dem nächsten Raum. Auch er war menschenleer. Sonnenlicht tanzte in dem durch mein Eindringen aufgewirbelten Staub. Die Elemente gerieten in Bewegung. Ordnung. Unordnung. Und die fremde Stimme: „Aber der an die Spitze des tierischen Reiches, an die Spitze der Schöpfung gestellte Mensch war der tierische, der seelenlose, der vergängliche Mensch. Daher würde der Mensch, obzwar scheinbar die Krone der Schöpfung, durch seine Ankunft den Schluß derselben bezeichnet haben; da die Schöpfung, welche in ihm ihren Höhepunkt erreichte, bei seinem Tode in ihren Verfall eingetreten wäre.“ Wieder Stille. Ich holte nun mit meinen Schritten weiter aus, achtete nicht mehr auf die Schätze, die mich umgaben, übersah die reich verzierten Ledertapeten und Fußböden aus edlen Hölzern. Ich
gelangte in den letzten Raum. Er hatte Fenster nach drei Seiten und nahm allein die gewendelte Treppe von faszinierenden Ausmaßen auf. Sie führte ins Obergeschoß. Noch während ich die viel zu hohen Stufen erklomm, schlich sich von neuem die Stimme in meinen Geist, die sich auch dann nicht vertreiben ließ, als ich versuchte, meine Ohren mit den Händen zu verschließen: „Dieses Kollegium gehört der fünften Rasse und ist eine schwache Rückerinnerung an das Adi-Varsha der ursprünglichen dritten Rasse. Es ist der höchste Punkt Zentralasiens und läßt die vier Ströme – Oxus, Indus, Kar und Silo – aus einer gemeinsamen Quelle fließen, dem See der Drachen.“ Auch im Obergeschoß erwarteten mich lichtdurchflutete, stauberfüllte Räume. Hier lag ferner ein Klingen in der Luft. Ein alleine aus schwebenden Obertönen zusammengesetzter Klang, ein sphärisches Rauschen ohne klare Melodie, dennoch ohne Rhythmus. Und als die Stimme ein letztes Mal sprach: „Schöpfung ist das Ergebnis des auf den Stoff einwirkenden Willens!“, hatte ich fünfzehn Räume hinter mir gelassen und erreichte eine Halle, deren Fläche der monumentalen Eingangshalle im Erdgeschoß entsprach. Ihre Wände waren vollkommen mit einem dunkelblauen sternengesprenkelten Brokatstoff verhangen. Licht erhielt sie durch ein blaues Feuer, das in einer metallenen Schale auf dem Boden brannte. In der Mitte des Gemachs befand sich ein gewaltiger, aus dünnem Messingblech getriebener Globus; und hinter dem Feuer ein Thron, und darauf saß eine von sinnverwirrenden Schatten umwobene Gestalt. All das hatte ich innerhalb von Sekundenbruchteilen erfaßt. Noch bevor ich mich bewegen konnte, erschallte erneut die machtvolle Stimme, tausendfach verstärkt in meinen Ohren dröhnend.
„Sieben Herren schufen sieben Menschen; drei Herren waren heilig und gut, vier weniger himmlisch und voll Leidenschaft. Sei gegrüßt, Sohn Bethaniens!“ Die Gestalt gab mir durch einen Fingerzeig zu verstehen, daß ich nähertreten solle. „Lange habe ich gewartet, unermeßlich lange. Doch ich bin belohnt worden durch dein Kommen. Tritt näher!“ Ich war ehrfürchtig vor der Gestalt von übermenschlicher Statur stehengeblieben und hatte versucht, die Schatten ihres Gesichtes zu durchdringen. Sie standen in merkwürdiger Analogie zu jenen, die stets Horatios Züge verdeckt hatten. Doch je besser sich meine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, desto mehr konnte ich erkennen. Das Gesicht war eine unbewegte Maske mit Zügen, die Zielstrebigkeit und einen unbeugsamen Herrschaftsanspruch zum Ausdruck brachten. Auf dem Haupt befand sich eine gar merkwürdige Kopfbedeckung, von der beiderseits imposante Widderhörner abstanden. „Tritt näher, damit ich dich betrachten kann!“ wiederholte der Mann. Dann meinte er: „Ja, du bist es. Dich habe ich erwartet. Man nennt mich Andromorpheus, und ich bin der letzte eines uralten Geschlechts. Meine Brüder sind hinausgezogen, sich unter euch zu mischen, und sie haben mich zurückgelassen als Wächter des Kosmischen Geheimnisses.“ Während der Mann sprach, bewegte sich sein Gesicht nicht merklich, nur dann, wenn die flackernden Lichter darauf eine Reflexion erzeugten. So, als habe er mein Zögern bemerkt, erhob sich der Hierophant und überragte mich nun um etliche Köpfe. Dann ging er mit schweren Schritten, die den Boden der Halle erbeben ließen, zu einem Vorhang, um ihn zu öffnen. Dahinter befand sich der Okulus, den ich schon von draußen gesehen hatte. Doch der Ausblick zeigte eine völlig veränderte Landschaft.
Hatte ich noch beim Betreten des Palastes die Sonne schwer und aufgedunsen über dem Dach schweben sehen, so erblickte ich durch das runde Fenster den Mond, der, ebenso voll, erschreckend nah zu hängen schien, denn ich konnte das Mare Orientale, das Mare Moscoviense und den Korolev deutlich erkennen. Nicht mehr als fünftausend Meter konnte der Erdtrabant von mir entfernt sein, und doch war es unmöglich. Gleiches galt für die Sterne. Fomalhaut, Rigel, das Südkreuz, Spica, Antares, Arktur, Procyon und viele andere konnte ich greifbar nahe vor mir ausmachen. Andromorpheus zog einen weiteren Vorhang zur Seite, und eine Schalttafel mit mir unbekannten Symbolen und fremdartigen Bedienelementen kam zum Vorschein. Klobige Hebel, Zahnräder, angetrieben von Lederriemen, Quarzlampen, Gläser, in denen Flüssigkeiten verschiedenster Färbung zirkulierten. „Dies ist das Zentrum eures Universums, Mensch. Und ich bin euer Gott!“ Laut hallte die Blasphemie aus dem Schlund des Giganten. „Du wurdest einst geboren, mein Statthalter unter den Menschen zu werden, mächtiger als alle anderen. Ich werde dich in alle Geheimnisse einweihen. Tritt näher, dann will ich es dir erklären!“ Instinktiv hob ich die Lanze, die ich seit Oonugas Angriff zusammengesetzt mit mir trug, schützend vor mich und erhielt ein infernalisches Aufleuchten in Andromorpheus Augen als Antwort. Dann lachte er, und sein Lachen erschütterte den Palast in seinen Grundfesten. Der Magier hob die Rechte, und schwarze Feuerstrahlen drangen aus seinen Fingerspitzen. Ich wich ihnen durch einen Hechtsprung aus, doch obgleich sie mich um
mehrere Ellen verfehlt hatten, hatten sie mir Haut und Haar versengt. „Spüre das Schwarze Feuer von Zohar! Ich verstehe: Du willst mich prüfen, willst bezwungen werden, denn nur wer dich bezwingt, kann dein Herr sein. Wohlan! Ich werde dich lehren, mir zu Willen zu sein!“ schrie der Gigant, doch in all seinem sturmgleichen Zorn war ein Zittern, und wilder noch warf er seine todbringenden Blitze, die blau züngelnd wie Quecksilber über den Boden liefen. Ich war bemüht, den Angriffen auszuweichen, konnte einen Schlag mit dem Schicksalsspeer abwenden, doch fast wäre mir dieser dabei aus der Hand geschleudert worden, so gewaltig war Andromorpheus’ Macht. Gleichsam hatte ich den Eindruck, daß dieser mich lediglich einschüchtern wollte und durch seine Attacken auf Distanz hielt. Da wagte ich es selbst, einen Streich gegen den Gegner zu führen. Die eiserne Spitze der Lanze fuhr zwischen die Platten des Brustpanzers und blaue Funken stoben daraus hervor, während es ein gräßliches Knirschen gab. Andromorpheus schien in diesem Moment das Gleichgewicht zu verlieren. Gott, ja, er geriet ins Taumeln wie ein Spielzeugkreisel, der zum Stillstand kommt. Die allmächtige Energie, die ihn zuvor noch hatte unbesiegbar erscheinen lassen, war mit einem Male versiegt. Mir fiel der Vergleich einer ausgebrannten Batterie ein. Dann stürzte der Gigant, der mich um bestimmt einen Meter überragte. Er machte nicht die geringsten Anstalten, den Sturz abzufangen. Fast mitleiderfüllt beobachtete ich, wie er zu Boden ging, sich dort überschlug und zerbrach! Ja, er zerbrach! Winzige Rauchwolken stiegen aus den auseinandergerissenen Gelenken auf, dann löste sich erst das
linke Bein, schließlich der rechte Arm vom Torso, und ein gräßlicher Schrei entrang sich dem Hierophanten. Doch es war nicht die einst machtvolle Stimme des Riesen, die ich nun hörte, sondern ein hyänisches Kreischen. Was mir bis dahin im schwachen Glimmen der unbekannten glimmenden Sternbilder und des ewigen Feuers in der metallenen Schale entgangen war, wurde nun offensichtlich. Die Beschaffenheit der Glieder jenes Riesen war nicht organischer, sondern kybernetischer Natur: Herausgerissene Kabel dort, wo sich bei einem Menschen Adern befunden hätten. Im Inneren der dünnen blechernen Hülle glommen Relais und Dioden ein letztes Mal auf, bevor ihr Summen endgültig verstummte. War Andromorpheus eine Maschine? Unmöglich! Plötzlich vernahm ich ein leises Wimmern. Es war nicht das Jammern eines Kindes oder einer verängstigten Frau, sondern das eines Greises. Ein unerhörter Verdacht schlich sich in meinen Geist. Er wurde bestätigt, als ich sah, daß das Geräusch aus dem immer noch am Boden liegenden Andromorpheus kam. Der wallende Umhang, den er getragen hatte, war zur Seite verrutscht, darunter die metallenen Brust- und Bauchplatten zum Vorschein gekommen, die ich für den Teil einer Rüstung gehalten und mit dem Longinusspeer durchbohrt hatte. Ich vermutete dahinter Motoren und Schaltkreise. Das Wimmern aber kam aus exakt dieser Richtung. Hastig löste ich Schnallen und Riegel, riß die Abdeckung ruckartig beiseite. Das, was dahinter zum Vorschein kam, war der beeindruckende Andromorpheus, der finstre Hierophant. Er war nur ein Zwerg. Einen Meter maß er bestenfalls und wirkte nun allenfalls mitleiderregend.
Er weinte. Sicher glaubte er, ich würde ihn töten, doch das war es nicht, was ich wollte. Ich suchte Antworten! „Sprich, du Gott!“ herrschte ich ihn an. „Was wird hier gespielt!“ Andromorpheus verbarg die Augen hinter seinen Händen, so als könne ich ihn nicht sehen, wenn auch er mich nicht sähe. Dann jammerte er: „Lang sind sie vorüber, die glorreichen Zeiten. Doch wir wollten sie wieder aufleben lassen. Nach dem göttlichen Menschen kam der Hierophant. Er erfüllte die Stadt mit herrlichem Glanze. Die Priester herrschten, denn sie machten die Gesetze. Es heißt, daß es dreihundertneunundzwanzig Hierophanten seit jener Zeit gegeben hat, die alle unbekannt geblieben sind. Denn einst ging die alte Theokratie zugrunde, die durch so viele Jahrhunderte der ganzen Welt das Schauspiel ihrer gekrönten Priester bot. So kommt es, daß von diesen Mysterien selbst und von ihrem speziellen Inhalt so gar wenig durch all die Jahrhunderte bei so verschiedenen Zeiten und Völkern bekanntgeworden ist. Der Grund liegt in der Zerstörung und dem gänzlichen Verlust aller schriftlichen Denkmale der Geheimlehren unserer Kultur. Ich bin. Und ich bin Gott!“ „Du bedienst diese Maschinen?“ „Sie arbeiten ohne mein Zutun, seit Jahrhunderten bereits. Ich begreife ihre Funktionsweise nicht, aber das ist auch nicht vonnöten. Die Tage der Götter sind vorüber, längst glauben die Menschen, sie selbst seien Götter!“ Ich hatte ihn beim Kragen gepackt, ließ ihn nun jedoch los, den armseligen Zwerg, der sich Gott nannte. Ich war enttäuscht. Enttäuscht von dem, was ich zu finden geglaubt hatte. Zornig rammte ich die heilig geglaubte Lanze in den marmornen Boden, wo sie mit einem hellen Klingen steckenblieb.
Hier verlor ich nur wertvolle Zeit. Das Wissen, das ich gesucht hatte, war längst verloren.
ICH WUSSTE NICHT, ob sie mich verstand, die Frau aus Cathay, die ich im Hafen kennengelernt hatte. Angeblich wartete auch sie auf das Schiff, das erst in drei Tagen hier einladen würde. Vielleicht hatte sie keinen Fahrschein. Vielleicht war ich ihr Fahrschein in eine andere Welt. Es war mir im Großen und Ganzen egal. Ich brauchte jemanden, der mir zuhörte, gleich, ob derjenige mich verstand oder nicht. „Weißt du, meine Schöne“, sagte ich, doch sie war nicht im eigentlichen Sinne hübsch, wies dieselben scheußlichen Merkmale wie alle Bewohner dieser Stadt auf, „eins habe ich doch aus dieser Sache gelernt, glaube ich. Es ist unerheblich, wer ich bin, woher ich komme.“ Sie blickte mich mit ihren großen tiefen Augen an, doch es war kein Geist darin. „Wichtig ist, was ich daraus mache. Denke an Richard Ernst. Es kommt mir vor, als ob auch er kein Mensch gewesen ist, ganz wie Andromorpheus. Vielleicht war sein Körper noch menschlich, doch sein Denken… Horatio war wie sein Schatten. Die dunkle Seite seines Ichs! Ich wünschte, ich könnte ihm einige Fragen stellen. Zweifelsohne wußte er, was mich erwartete. Wie schwach Andromorpheus auch immer sein mag: er besitzt noch immer Macht und Einfluß auf diese Stadt“, stellte ich fest und nahm einen tiefen Schluck aus dem Becherglas, in dem eine flaschengrüne, an Absinth erinnernde Flüssigkeit schwappte. „Andromorpheus ist der Hüter eines kosmischen Wissensschatzes, den er selbst nicht mehr begreift… den niemand jemals wieder wird begreifen können, denn die Schrift, in der dieses Wissen bewahrt wurde, ist für
immer verloren, ähnlich den zu Knoten geschnürten Fäden der Inka.“ Die Frau aus Cathay lächelte mich unverständig an. Auf ihre Weise war sie wirklich hübsch, mehr Mensch, als ich es je sein konnte, der ich weiterhin würde zu fremden Gestaden aufbrechen müssen, ruhelos nach Vergangenheit und Zukunft suchend, dazu verdammt, anders zu sein.
DER DIE TRÄNEN VON DEN AUGEN DER LIEBENDEN STIEHLT
ALS ICH ALLEINE WAR, wurde ich mir zum ersten Mal richtig der neuen Umgebung bewußt: das winzige Zimmer, in dem sich Umzugskartons stapelten, voll mit Büchern, Kleidungsstücken und Erinnerungen an ein vergangenes Leben. Vorbei, aus, kein Weg zurück! Doch irgendwann würde dieses Zimmer zu meinem Zuhause geworden sein wie so viele andere zuvor, trotz des scheußlichen, geschmacklos altmodischen Interieurs, der mißlungenen Farbzusammenstellung und all seiner Schäbigkeit. Mein Blick fiel aus dem Mansardenfenster, dem einzigen Fenster, das den Raum nur notdürftig beleuchtete. Ich konnte die Straße kaum sehen, nur die schiefwinkligen buckeligen Häuser, auf deren schuppigen Dächern Schornsteine wie alte Schirmpilze ruhten. Dahinter zeichnete sich im zinnoberroten Licht der untergehenden Sonne eine weitere ausgefranste Silhouette ab: der Bergkamm des jenseitigen Flußufers, mit strauchigem Gestrüpp. Bewachsener, krauser Fels, der dem, der in seinem Schatten schlief, gewiß keine guten Träume verhieß. Seufzend wandte ich mich vom Bild des Sonnenuntergangs ab und begann damit, den ersten Karton leerzuräumen.
ICH ERWACHTE UM 5:00 UHR ENDGÜLTIG aus meinem unruhigen Schlaf. In den Nachtstunden hatte ich immer wieder Geräusche von der Straße heraufdringen zu hören geglaubt. Meine Vermieterin hatte mich vorgewarnt. Gleich gegenüber dem Haus befand sich ein Lebensmittelgeschäft, das frühmorgens beliefert wurde. Ich griff nach dem Wecker, bekam jedoch Papier zu fassen. Dein Brief!
Ich hatte ihn wie immer, seitdem ich ihn bekommen hatte, vor dem Einschlafen gelesen, die Haarsträhne liebkost, die Photographie betrachtet. Über die all die Hunderte von Kilometern erschien mir unsere Liebe nicht geringer, als wenn wir uns ganz nahe gewesen wären. Daß darauf ein tragischer Schatten fiel, ließ sie in nur noch ehrwürdigerem und heiligerem Licht erscheinen. Das erbarmungslose Rasseln des Weckers riß mich aus meinen Gedanken. Ich fand das Gerät auf Anhieb und brachte es rasch zum Verstummen. Es wurde Zeit, daß ich mich wusch, anzog und meine neue Arbeitsstelle antrat. Ich mußte schon früh an einem vereinbarten Treffpunkt sein, wo ich das Material für meine Tätigkeit – ich war eine Art Handelsreisender – erhalten sollte.
ALS ICH AM ABEND erschöpft von meinem Weg durch die Stadt zurückkehrte, war ich innerlich ausgelaugt. Obwohl die Arbeit nicht körperlich anstrengend war, hatte den ganzen Tag über ein psychologischer Druck auf mir gelastet. Die Menschen in der Firma waren unerträglich gewesen, ich hatte sie von Anfang an gehaßt, aber ich hatte auch gewußt, daß es nicht ihre, sondern meine Schuld war. Die Kunden ließen sich in zwei Gruppen einteilen. Die eine war von vornherein unwirsch und abweisend, die andere suchte verzweifelt das Gespräch mit mir, doch beide waren nur schwer von den Vorzügen meiner Angebote zu überzeugen. Ich wußte nicht, welchen Typus ich vorziehen sollte. Beide waren mir zuwider. In Gedanken war ich nur bei dir. Ich sah dich vor mir, dein Haar, deine Augen, in denen ich aus deiner Seele las wie aus einem offenen Buch, – es gab soviel zu entdecken in deinem Gesicht.
Erschöpft sank ich aufs Bett. So also sollte mein zukünftiges Leben aussehen. Ich würde langsam zu Tode erschöpft werden. Kein Mensch würde mich vermissen. Du würdest dich wundern, wenn eines Tages keine Briefe mehr einträfen, doch schon jetzt wußte ich, daß ich seltener und seltener schreiben würde, da diese Umgebung all meine Kraft, all mein Leben aufzehren würde. Schon sah ich mich mit grauen Gesichtszügen den eigenen Tod herbeisehnen, weil alles besser wäre als dieses Leben fern von dir. Und doch bedeutete mir allein der Gedanke an dich Hoffnung genug, um nicht aufzugeben.
ICH FAND AN DIESEM ABEND keinen Schlaf. Trotz der Erschöpfung, die Besitz von mir ergriffen hatte, war ich von einer inneren Unruhe erfüllt. Immer wieder verspürte ich Durst, ging ans Fenster, um die mir fremden Sternkonstellationen zu betrachten, oder lag arrhythmisch atmend mit pochendem Herzen da. So bekam ich mit, wie in den frühen Morgenstunden erneut Lärm von der Straße heraufdrang, und diesmal wollte ich wissen, wer oder was ihn verursachte. Ich mußte mich weit aus dem Fenster lehnen, um einen Blick auf die Dinge erhaschen zu können, die dort unten auf der Straße vor sich gingen. Über Nacht hatte es zu regnen begonnen. Kleine Sturzbäche rannen über die feucht glänzenden Dachziegel, sammelten sich in löchrigen Fallrohren und ergossen sich aufs grobe Kopfsteinpflaster. Auch die Männer, die dort unten einen geschlossenen Lastwagen entluden, wurden von der allgegenwärtigen Feuchtigkeit nicht verschont. Doch sie trugen lange schwarze Mäntel und breitkrempige Hüte aus Wachstuch und erinnerten mich an Fischer oder Seeleute.
Mit etwa dreißig mal fünfzig mal dreißig Zoll großen Kisten beladen gingen sie über einen düsteren Innenhof zum Haus gleich neben dem Lebensmittelladen. Ich hätte mich gewundert, wenn die Kisten Nahrung enthalten hätten. Mir erschienen ihre Träger einen Moment lang wie stumme Diener einer abscheulichen raupenartigen Göttin, deren verpuppte Brut sie liebevoll umhegten. Einmal glaubte ich, einer der Männer habe mir einen heimlichen, verstohlenen Blick zugeworfen. Seine Augen, die ich noch auf diese Entfernung deutlich erkennen konnte, waren von wasserblauer, fast weißer Farbe. Doch nicht das war es, was mich innerlich erschauern ließ, sondern das, was ich dahinter zu sehen glaubte, ohne es benennen zu können. Der Mann wandte sich sofort wieder ab, und mir war, als sei er kurz zuvor unmerklich zusammengezuckt, so als habe er ein für mich unhörbares Kommando befolgt. Müde fragte ich mich, ob ich noch oder bereits wieder träumte, und begab mich ins Bett zurück, jedoch nicht ohne zuvor deinen Brief noch einmal in Händen gehalten und an mein Herz gepreßt zu haben.
AUCH IN DEN DARAUF FOLGENDEN NÄCHTEN fand ich keine Ruhe und erschien morgens hohlwangig und mit dunklen Rändern unter den Augen auf der Arbeit. Abends galt mein erster Blick dem Briefkasten. Und ich wohnte etwa eine Woche in der neuen Wohnung, da traf ein Brief von dir ein, der die vorherigen an Süße nur noch übertraf und wie Engelszungen in meinen Ohren klang. Du warst der einzige Mensch, zu dem ich Kontakt hatte – haben wollte! Ich wußte, daß es ein Fehler war, nur für diesen Gedanken zu leben, und dennoch. Nur du und ich in einer feindlichen Welt, ungewiß, wann wir uns wiedersehen würden.
Doch niemals würde ich verzweifeln, solange du mir nur schriebst. Die Arbeit wurde bald so sehr zur Routine, daß ich sie gar nicht mehr richtig wahrnahm und wie ein Androide versah. Ich trat morgens stets pünktlich meinen Dienst an, den ich korrekt, aber ohne Enthusiasmus versah. Für die Kollegen, die zielstrebig miteinander wetteiferten, brachte ich nur wenig Verständnis auf. Was ich tat, tat ich mit dem Gedanken an dich und in dem Bewußtsein, daß ich keine andere Wahl hatte, wollte ich dich wiedersehen.
EINES NACHTS verbarg ich mich im zurückgesetzten Eingang des Hauses, unter dessen Dach meine kleine Wohnung lag, und harrte dort zwei Stunden aus, um Zeuge der allnächtlichen Vorgänge zu werden. Es war ein seltsamer innerer Zwang. Ich mußte – wollte ich meinen Frieden wiedererlangen – das Rätsel der Verladungen in frühester Morgenstunde ergründen. Kurz nach Mitternacht rollte der schwere Lastwagen, ein deutsches Vorkriegsfabrikat, durch die gespenstische Stille der Straße. Im Führerhaus saßen drei Männer, unter ihnen auch jener, von dem ich glaubte, daß er mich als stummen Beobachter bemerkt hatte. Klappernd öffnete sich die Beifahrertür, und nacheinander sprangen zwei der in schwarze Regenschutzkleidung Gehüllten heraus. Da ich von absoluter Finsternis umgeben war, konnten sie mich unmöglich sehen. Dennoch fühlte ich mich unwohl, als ihre Blicke über die Fassaden der Häuser streiften. Sie begannen sogleich mit dem Abladen der Kisten, derselben vollkommen regelmäßig schwarzen Kisten oder
Kartons, die sie schon in den vergangenen Tagen transportiert hatten und die keinen Rückschluß auf ihren Inhalt zuließen. Ich trat aus dem Schatten, gerade so, daß ich die Männer von der Seite sah, wenn sie an mir vorbei zum Wagen gingen oder von dort kamen. Sie waren hager und ausgemergelt und schlecht oder gar nicht rasiert. Sie erschienen mir wie die Besatzung eines verfluchten Geisterschiffes, dazu verdammt, auf ewig einen gräßlichen sinnlosen Dienst zu vollziehen. Mein Interesse galt jedoch nicht so sehr ihnen als vielmehr ihrer Fracht. An den schmalen Seiten der Kisten waren, das sah ich nun, kleine Schilder mit fein gezeichneten Beschriftungen angebracht. Ich konnte sie nur immer einen kurzen Augenblick lesen und erinnere mich heute nur noch vage an die Aufschriften, bei denen es sich um Adressen und Zahlenreihen handelte. Waren es Warenlieferungen an diese Personen oder etwa Akten? Ich war nur auf weitere Fragen gestoßen. Lautlos zog ich mich in den Hauseingang zurück und öffnete die Tür. Übermüdet stieg ich die Treppen hinauf ins zweite Obergeschoß und fiel in mein Bett, wo ich sofort einschlief. In der Nacht träumte ich von grotesken ichtyoiden Dingen, die in schwarzen Särgen über die Weltmeere trieben und dort, wo sie am Ufer strandeten, eine neue, furchtbare menschliche Identität annahmen.
ICH WOLLTE WISSEN, welche Firma es war, die vornehmlich nachts diese seltsamen Geschäfte abwickelt und ging am nächsten Nachmittag zu dem Torbogen, durch den die lastbeladenen Männer stets verschwanden.
Ein angelaufenes Metallschild gab mir Auskunft: Der Besitzer des alten Fabrikgebäudes war ein Mann namens Lyan Zo, und ich glaubte ihn zu kennen, einen Orientalen von unbestimmbaren Alter. Ich hatte seine dürre Gestalt etliche Male im von Schatten beherrschten Dunkel des Hofzugangs stehen sehen, und sein Anblick hatte mir eisige Schauer über den Rücken gejagt. Dieser Mann war für mich die Inkarnation der finstersten Abgründe einer menschlichen Seele, und nur zu gerne hätte ich gewußt, welche blasphemischen Vorgänge sich hinter den Türen seines Hauses abspielten. Oftmals zuckten seine feinen schwarzen Schnurrbarthaare, wenn ich an ihm vorüberging, und ein sphinxenhaftes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Seine Augen blitzten dann amüsiert auf, aber ich verstand nicht, was er mir sagen wollte. Ich hatte ihm bei unserer ersten Begegnung recht erschrocken einen knappen Gruß zugeworfen, den er jedoch nicht erwidert hatte. Vielmehr hatte er sich rasch noch tiefer in den Schatten der Einfahrt zurückgezogen. Später hatte ich versucht, ihn zu ignorieren, wenn ich ihn von weitem bemerkt hatte, doch es war mir nicht gelungen, an ihm vorüberzugehen, ohne ihn anzublicken. Mit hypnotischer Macht zog er meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich fragte mich bald, ob mein Interesse immer noch den geheimnisvollen Kisten und dem, was mit ihrem Inhalt geschah, galt, oder ob ich nicht vielmehr herausfinden wollte, wer dieser Mann war. Eine in sichtlicher Hast geschriebene Karte von dir aber lenkte mich von all diesen Dingen ab. Ein Lebenszeichen von dir! Ich war aufgeregt, las die lieben Zeilen und genoß das allen Schmerz betäubende Gefühl der Glückseligkeit, das mich mit einem Mal erfaßte.
Doch wie schnell wich diese Hochstimmung dem Bewußtsein, daß da für eine unermeßlich lange Zeit keine größere Nähe sein würde als die deiner Briefe. Dieses Wissen brach mir das Herz und ließ alle Farben in meinem Umfeld zu einem stumpfen, leblosen Grau verblassen.
ES WAR SICHERLICH auch die Rastlosigkeit und Verzweiflung, die mich wenige Tage später geradezu zwanghaft zu dem ehemaligen Fabrikgebäude trieb, in dem der Orientale seinem unheimlichen Gewerbe nachging. Es war in der Dämmerung, in der sich die Dimensionen schneiden, um die Transition der flüchtigen Wesen und Träume zu ermöglichen, die in den darauffolgenden Stunden die Nacht beherrschen werden. Der Durchgang zum Hof war menschenleer. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Lyan Zo war an diesem frühen Abend nicht zu sehen. Womöglich schlief er um diese Zeit, während er nachts seinen Wareneingang überwachte und vormittags damit beschäftigt war, seine Transaktionen abzuwickeln. Auch ich war unendlich müde, und es wäre sicherlich vernünftiger gewesen, sich wenigstens für einige Stunden aufs Bett zu legen und zu schlafen. Nässe triefte aus dem Gebäude, und das obwohl der letzte Regenguß bereits über zwölf Stunden zurücklag. Der Boden unter meinen Schuhen war rutschig wie von Algen. Es war bloße Neugier, die mich hertrieb. Ich dachte nicht einen Moment daran, daß ich mich möglicherweise in Gefahr begab. Das alte Fabrikgebäude hatte ich bislang nur von weitem durch den Torbogen gesehen. Es war ein rußgeschwärzter Koloß aus dem vergangenen Jahrhundert und hatte große
Sprossenfenster, bei denen zerbrochene Scheiben einfach durch grobes Tuch ersetzt worden waren. Selbst das Glas war verrußt. Die Fassade des zweistöckigen Gebäudes, in dessen Erdgeschoß sich eine einstige Produktions-, nun wohl Lagerhalle befand, war kaum gegliedert. Das Bauwerk insgesamt war relativ schmucklos. Selbst das Eingangsportal, durch das man gleichzeitig in die Halle wie auch ins ehemalige Verwaltungsgebäude gelangte, und zu dem eine kleine Treppe hinaufführte, war ausgesprochen schlicht gehalten. Es gab jenseits eines mannshohen Schutthaufens, auf dem Bretter und Bohlen vergammelten und Unkraut wucherte, einen winzigen Nebeneingang, eine verfallene schiefe Tür, die wahrscheinlich in einen Schuppen führte. Ich öffnete sie und befand mich in einer Abstellkammer mit verrosteten Spaten, zerbrochenen Besen, Eisenketten, Drahtrollen, Kanistern und zerquetschten Schachteln, ähnlich denen, die die Arbeiter allnächtlich ins Gebäude trugen. Ich untersuchte sie im dämmrigen Licht, das vom Hof hereindrang. In einigen befanden sich Reste einer schorfig eingetrockneten braunen Masse. Ich kratzte mit dem Fingernagel daran, doch ich hatte keine Ahnung, worum es sich bei der rätselhaften Substanz handelte. Es gab eine Verbindungstür zur großen Lagerhalle, doch sie klemmte, als ich versuchte, sie zu öffnen. Offensichtlich waren die Angeln vollkommen verrostet. Ich stemmte mich dagegen. Außer meinem stoßweise gehenden Atem hörte ich kein Geräusch. Oder doch? Ich lauschte in die Dunkelheit hinein. War es das Rauschen meines eigenen Blutes, das ich vernahm, oder war es nicht vielmehr ein gedämpftes, vielstimmiges Tosen, das von jenseits der Tür kam?
Noch einmal preßte ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen diese, und diesmal gab sie ächzend nach; etwas fiel auf der anderen Seite zu Boden, und ich stolperte in die Halle hinein, fiel über das, was mir geradewegs vor die Füße gekippt war. Es waren einige der Kisten, die sich in der geräumigen Halle bis unter das Dach stapelten. Der Deckel eines der Behälter war verrutscht. Eine zähflüssige braune Substanz verteilte sich durch den Schlitz rinnend langsam auf dem staubigen Hallenboden. Ich konnte einen Aufschrei nur mühsam unterdrücken. Aus irgendeinem Grund wußte ich sofort, daß es sich dabei um Blut handelte, dickflüssiges altes Blut. Vorsichtig hob ich den Deckel ab, der verklebt und schmierig war und meine Finger rot färbte. Und dann schrie ich wirklich, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß man mich hören könne: in der Schachtel befand sich ein menschliches Herz. Das heißt: Ich hatte keinen Zweifel daran, daß es das Herz eines Menschen war. Was den Schrecken, der mich erfaßte, noch vergrößerte, war die Tatsache, daß das Herz lebte, ja, es schlug, obschon es alleine in der eklen Flüssigkeit schwamm und seine Arterien und Venen durchtrennt waren. Und sein Schlagen im Chor mit all den anderen Herzen erzeugte das dunkle Rauschen, das die Halle erfüllte. Voller Abscheu ergriff ich einen der Spaten, die bei meinem Sturz in den Raum gefallen waren und schlug immer und immer wieder auf das gräßlich pulsierende Herz ein, bis es zu einer unkenntlich gemachten, formlosen Masse geworden war und vollkommen reglos in einer Lache langsam eintrocknenden Blutes lag. Ich mußte mich dazu überwinden, das Lagerhaus nicht fluchtartig zu verlassen. Tief in meinem Inneren ahnte ich, daß
ich wegen etwas ganz Bestimmten hergekommen war, etwas, dessen ich mir selbst noch nicht bewußt war. Ich mußte mich einer bestimmten Sache vergewissern. Die Morgenröte der Erkenntnis dämmerte in mir, und sie ließ mich vor Aufregung zittern. Ich schritt die Reihen ab, las die Namen auf den zum Teil vergilbten kleinen Schildern. Manche der Kisten waren verstaubt, andere schienen neueren Datums zu sein. Sie alle waren von derselben anonymen Machart. Im vorderen Teil des Lagerhauses waren einige Kisten abgeladen worden, die offensichtlich noch nicht in den Lagerbestand einsortiert worden waren. Ich ließ meine Blicke aufgeregt über die Etiketten gleiten und erstarrte wie vom Blitz getroffen, als ich auf einem die Beschriftung davon einen mir nur allzu bekannten Namen las. Ich hob vorsichtig den Deckel ab und sah im fahlen Mondschein: ein wunderschönes großes Herz, ganz frisch, in sprudelndem, weinrotem Blut. Es schlug gesund und kraftvoll. Und noch während ich die Hände vors Gesicht schlug und nicht länger die Tränen unterdrücken konnte, die der Schmerz mir ins Gesicht trieb, vernahm ich Schritte aus der Richtung des großen Portals. Ich hatte nicht gehört, daß es sich geöffnet hatte, doch offenbar war jemand hereingekommen, der nun sprach: „Was haben Sie nur angerichtet! Seien Sie vorsichtig!“ Ich nahm die Hände von den Augen und blickte angestrengt ins Zwielicht. Der, der da aus dem Schatten trat, den kannte ich. Es war Lyan Zo, und ich erkannte, wer er war. „Ich könnte Sie aus meinem Haus hinauswerfen lassen, oh ja! Sie wissen, daß ich das könnte! Doch ich will darauf verzichten, denn ich verstehe, was in Ihnen vorgeht, mein Freund. Ja, ich kenne Sie besser, als Sie selbst es ahnen. Nicht nur Sie haben mich beobachtet, sondern auch ich Sie, und ich
weiß um Dinge, die Sie selbst seit langem vor sich verbergen. Keine Angst, ich werde sie nicht vor Ihnen enthüllen. Ich will Sie nur vor etwas warnen.“ Und er wies mit der Rechten, an deren langgestreckten Fingern gräßlich klauenhafte Nägel saßen, auf die schwarze längliche Kiste, in der ich dein Herz gefunden hatte. „Es gibt Dinge, die man nicht besitzen kann. Das weiß ich besser als jeder andere.“ In einer Art väterlicher Geste legte er seine sehnige dürre Hand auf meine Schulter, und mit einem Male schien der Schmerz in meinem Inneren ebenso rasch abzunehmen wie sich Lyan Zos verhaßte Gesichtszüge entspannten und er mir ganz langsam das wohl intensivste Gefühl raubte, das ein Mensch zu empfinden in der Lage ist: den Schmerz der Liebenden.
DER EQUINOX
„Äquinoktium (l. ,Nachtgleiche’), die Tage, an welchen die Sonne 1. Schnittpunkt von Äquator u. Ekliptik steht; an diesen Tagen sind a. d. ganz. Erde mit Ausnahme der Pole Tag u. Nacht gleich lang.“
EIN KELLER. Aus allen Richtungen laufen Lüftungsrohre zusammen, enden blind, mit tot starrenden, runden, schwarzen Mündern. Hier sammeln sich Hoffnungen und Ängste. Einer lauscht dem Geflüster. Dem Geflüster, das aus allen Häusern der Stadt, aus allen Zeiten dringt. Und es macht ihn schier wahnsinnig. Und doch hungert ihn nach mehr. So sendet er seine fledermausbeflügelten Nachtmahre hinaus in die Dunkelheit. Der Keller, summende Kohlefadenlampen aus schwarzem Bakelit. Im grünalgigen Ausguß sitzt eine fette Kröte. Der Meister hat das noch nicht bemerkt. Sein Diener deckt verstohlen seine Hand darüber, führt den unerwarteten Fund zum Mund und schluckt das Amphibium eilig, fast unzerkaut und noch lebendig hinunter. Richard Ernsts Gedanken drehen sich um andere Dinge; um das, was er einst war, das, was er nun ist, und was er tun wird, wenn sein Herr ihn ruft. Als habe der bloße Gedanke genügt, erschallt eine mächtige Stimme in dem dämmrigen Gemäuer. Ernst zuckt zusammen. Sein Diener Horatio ergreift die Flucht zur Tür hinaus. Er ist es, und Ernst verneigt sich voller Demut, ohne zu wissen, aus welcher Richtung er angesprochen wird. Längst hat er es aufgegeben, dies herausfinden zu wollen und sein Ohr an die kalten Rohre zu legen. Der Herr erwartet in dieser Nacht nur seinen Bericht. Ernst atmet erleichtert auf und spult automatenhaft das herunter, was ihm im Laufe des Tages zugetragen wurde. Er ist müde, doch es gibt für ihn keinen Ausweg. Auf Gedeih und Verderb ist er ihm ausgeliefert. Endlich verstummt die verhaßte Stimme. Ernst sinkt entkräftet auf einen Stuhl, und seine Gedanken schweifen ab
zu dem schrecklichen Geheimnis, das im Keller, noch viel tiefer, lauert. „Warum ich?“ flüstert er und schrickt zusammen, als Horatio in den Raum zurückkehrt. Hat er das Seufzen gehört? „Horatio, meinen Mantel, rasch! Wir müssen in die Stadt!“ Er ist plötzlich voller Energie. Der Diener nickt stumm. Der volle Mond erhellt die Stadt, als sie das Haus durch eine schmale Seitentür verlassen. Wie Wasserspeier sitzen auf den morschen Mauern diejenigen, denen dieses Land einst gehörte; die beängstigenden Ureinwohner Cathays. Sie sind selbst Ernst nicht geheuer. Er bemüht sich, im Schatten der gotischen Häuser zu gehen. Nur Horatio, der ihm ein Rätsel geblieben ist, seit er ihn eingestellt, empfindet offenbar nicht die geringste Furcht. So als sei er einer von ihnen. Doch dem ist nicht so. Der Diener ist zwar ein Kind dieser Stadt, doch auch seine Mutter war eine Weiße. Ernst kennt die Geschichte in allen traurigen Einzelheiten, nicht zuletzt deshalb, weil er in dem Haus wohnt, das Teil des Geschehens war. Doch diese Dinge hat man in Cathay längst vergessen. Die Stadt hat heute andere Probleme. Ihr äußerer Verfall ist unübersehbar. Ihr innerer… nun… Ernst weiß das besser als jeder andere. Seine hilflosen Versuche, den Niedergang aufzuhalten, haben kaum Auswirkungen gezeigt. Plötzlich weiß er, welchen Weg er einzuschlagen hat. Zu seiner Linken führt ein schmaler Pfad zwischen brüchigen Mauern am Friedhof vorbei. Auch auf den schiefen Grabsteinen sitzen die bestienhaften Cathayer. Ernst muß an die Sagen von Ghulen denken. Ob sie wohl hier ihren Ursprung haben?
Horatio bewegt sich völlig lautlos. Manchmal erscheint diese Stille Ernst unheimlich. Oft steht der Diener stundenlang im Schatten und wartet auf Befehle seines Meisters, so als diene sein Leben keinem anderen Zweck. Am Ende des Friedhofs geht es bergauf. Hier hat einst der Galgen gestanden. Nun drängt sich Haus an Haus. Rauch wirbelt aus den Kaminen der schmalen hohen Gebäude hervor, doch es brennt kein Licht. In der ganzen Stadt nicht! Nur in einem Haus am Ende der Straße ist ein einsames Fenster honiggelb erleuchtet. Die beiden nächtlichen Wanderer nähern sich ihm rasch, und das Mondlicht ermöglicht es, die Schrift auf dem kleinen, weißen Schild über dem Eingang zu lesen: Hotel zur ewigen Lampe. Welch treffender Name! Vor dem Fenster bleibt Ernst stehen. Der Diener verharrt im Schatten, unsichtbar. Das Bild, das sich beiden bietet, ist nicht außergewöhnlich, und doch läßt es ihr Herz laut schlagen. Ein Mann mit seltsam hoher Stirn und einer ausgeprägten Nase sitzt vor einem Tisch. Er schreibt mit einer Feder, und seine dunklen Augen folgen seiner sehnigen Hand, die in hektischen Bewegungen begriffen ist. Er zieht eine Augenbraue hoch und streicht etwas durch. Richard Ernst weiß weder, warum er ihn haßt, noch woher er diesen Mann kennt. Er fühlt sich als ein Teil von ihm und umgekehrt: der Mann könnte sein Bruder sein. Neid erfüllt ihn. Neid darauf, daß der andere alles hat, was ihm gehört, und daß er zu einem Schicksal verdammt ist, das der andere ausgewählt hat.
ER WENDET SICH AB und geht die feucht glänzende, gepflasterte Straße hinab. Horatio folgt ihm stumm.
JÖRG KLEUDGEN & ARNOLD REISNER
DER GASMANN
der leuchtturm… von spalten zerfressene klippen… wesen mit verformten gliedern… in umhängen…die schrillen schreie clarissas… aus dem loch… blut spritzte heraus… mischte sich mit… gischt… regen… regen… schreie… schreie… cla… riss… saaaaaaaaa!
NUR LANGSAM ERWACHTE ICH aus dem Dämmerzustand und starrte zur schmutzigen Decke dieses Loches, das sich mein neues Zimmer nannte. War es wirklich schon Monate her seit meinem ersten Besuch beim Leuchtturm? Danach die heimlichen Treffen, Gespräche, die Frist, sie lief ab. Ich blieb auf dem Rücken liegen, wußte ja, was draußen vorging: jeden Tag derselbe nicht enden wollende Regen! Häuser, Plätze und ganze Straßenzüge versanken im Meer, langsam aber unaufhaltsam. Selbst das Klima in der verfluchten Stadt schien sich anzupassen. Aus dem Boden stieg Erdrauch, jener dunkle brandige Qualm, in dem sich Kreaturen bewegten, die nur noch bedingt menschlich zu nennen waren. Ich drehte nur meinen Kopf, als ich ein Rascheln hörte. Wie meine eigenen glänzten auch die Pupillen meiner Mitbewohnerinnen vom Genuß der in Marinade eingelegten fleischigen Blütenblätter der schillernden Orchidee. Mir blieb es ein Rätsel, wie die beiden gerade achtzehn Jahre alten Mädchen in all dem Schmutz und Chaos ihre Eleganz bewahrt hatten. Die in einen Jeansanzug Gekleidete sprach leise mit ihrem tschechischen Akzent, worauf ihre die Freundin antwortete und Feuer gab. Mit Leder bekleidet, wirkte die Türkin rockig und rauchte eine ihrer Selbstgedrehten. Beide machten sich dann auf den Weg zur Arbeit in einem Büro, nicht ohne mir freundlich und gutgelaunt zugewinkt zu haben. Während die Wirkung langsam nachließ, starrte ich zur Tür des winzigen Vorraums. Cathay bereitete sich auf den Untergang vor, in seiner speziellen Art und Weise. Straßenfeste gingen ineinander über, Orgien und Verbrechen wechselten einander ab, sofern sie nicht schon längst ein- und
dasselbe geworden waren. Durch die Scheiben drangen wilde aufpeitschende Musik und laute, größtenteils trunkene Stimmen. Dann heftige Flüche, als Countrymusik samt dem unverwechselbaren Dröhnen des Motors die Ankunft des Hellraisers ankündigte. Nun wieder bei klarem Verstand, zog ich mir nicht mal einen Bademantel über, sondern trat einfach nur zur Tür, sperrte auf und kehrte zurück, wartete auf der Bettkante sitzend, bis sie eintraten. „Howdy!“ Ich murmelte einen Gruß. Doch mein Blick galt nicht dem Burschen mit dem hochgezogenen Pagenkopf und von Aknenarben verwüsteten Wangen, in seiner Cowboykleidung wie aus einem billigen Western zu kommen scheinend. Vielmehr der Gestalt, welche vor ihm hereingestolpert war: Clarissa. Nein, sie war es natürlich nicht wirklich. Die kleine Mulattin war seit vergangenem Sommer tot. Dies war ein nur für mich geschaffener Homunkulus, eine künstliche Kreatur, die wie Clarissa sprach, dachte und all ihre Erinnerung in sich trug. Einzig Verhalten und Aussehen hatte man leicht verändert. Schüchtern, fernab des mir so vertrauten früheren Selbstbewußtseins und Temperaments, stand sie vor mir. In bunte, enganliegende Kleidung gezwängt, die den mehr als nur füllig zu bezeichnenden Körper betonte, das Haar zu Dreadlocks geformt. „Rattenloch!“ kommentierte Nadder, wie sich der Bursche nannte. „Verdammt eng.“ „Meine Sache.“ Ruhig reichte ich dem Pseudocowboy meinen Beitrag unserer Vereinbarung. „Clarissa schläft sowieso bei mir.“ Ich legte meine Arme um das künstliche Wesen und preßte es fest an mich. In ihren Augen eine Mischung aus Scham und Naivität zum Ausdruck bringend, tat sie nichts dagegen.
„Okay, alles da!“ Tippte gegen die Krempe seines Hutes. „Bis später!“ Dann ging er, warf die Tür hinter sich zu. Ich konnte keine Freude empfinden, denn ich wußte, daß ich lediglich einen Pyrrhussieg errungen hatte. Ohne etwas dagegen tun zu können, fühlte ich, wie sehr viel mehr mir die neue Clarissa gefiel, und ich erinnerte mich der Dinge, die vor etwa einem Jahr geschehen waren…
DAS TICKEN DER UHR donnert hohl durch das alte Haus. Es erscheint wie das Schlagen eines Hammerwerks, und es ist das einzige Geräusch, das selbst das Heulen des Sturmes übertönt, der durch die engen Straßen tobt, das Donnern, das von Zeit zu Zeit in der Ferne erklingt und die wenigen vorbeifahrenden Automobile, die sich an diesem Herbstabend hinaus ins Dunkel gewagt haben. Die Mauern des Hauses sind zwar feucht und kalt, aber sie sind dick und aus massivem Schiefer gefügt und halten alles fern, was nicht in die von ihnen umfangene Welt hinein gehört. Die Uhr tickt in alternierenden Rhythmen… 4/4, 6/8, 3/4, 5/4… Irgend etwas in diesem Raum-Zeit-Kontinuum ist außer Kontrolle geraten. Das Licht flackert, als ob das ferne Gewitter die Elektrizitätsversorgung betroffen hätte, schlimmer noch als sonst. Womöglich sind es nur die brüchigen Leitungen. Gäbe es einen Besucher im Haus, so würden ihm folgende Dinge sofort ins Auge fallen: Jedes sorgsam geordnete Detail, angefangen bei den teuren Stilmöbeln bis hin zur Wahl der Bilder, zeugt vom Wohlstand und Geschmack des Besitzers, der abgesehen von der Haushälterin allein lebt. Einzig im Arbeitszimmer wird dem Hang zur Gemütlichkeit nachgegeben. Hier tickt auch die massive Standuhr, diese Rarität, von der es nur noch dieses eine und einzige Exemplar
in Cathay gibt, das Werk eines Erfinders, der zugleich Physiker, Philosoph und Magier gewesen war, und der zuerst sechs dieser Uhren konstruiert hatte, um dann nach der Vollendung der siebten, der Meisteruhr, spurlos zu verschwinden. Das fast an die Decke reichende Ungetüm wirkt nicht nur uralt und wie aus Stein geformt, es ist zusätzlich noch mit mehr als fremdartigen Gravuren und Figuren bedeckt, von denen manche unangenehm die Seele des Betrachters berühren. Dies gilt ebenso für das Zifferblatt, das nicht die übliche Zeit anzeigt. Bedeckt von Zahlen, Symbolen und Buchstaben, besteht es vielmehr aus mehreren Scheiben und Zahnrädern, die sich immer wieder aufs Neue verschieben. Dieses Gewirr samt all den Verzierungen soll der Legende nach einem Wissenden genügen, um die Uhr in jenem speziellen Sinne zu bedienen, den ihr Schöpfer vorgesehen hatte. Köstlich verlockender Duft heißer Schokolade erfüllt die Luft. Und so trinkt die Enkelin des Hausbesitzers einen großen Schluck. Vierzehn Jahre alt, umrahmt das dunkelbrünette Haar ihr rundlich weiches Gesicht, betonen die Grübchen der Mundwinkel das Kindliche noch. Die Süße des Getränkes läßt den Beigeschmack einiger Tropfen des seltenen, nur in bestimmten verborgenen Läden erhältlichen Sirups fast gänzlich verschwinden. Das Mädchen bekommt davon nichts mit, fühlt einzig, wie sich Wärme in ihr ausbreitet. Dank der durch den Kachelofen erzeugten Hitze des Raumes trägt es nur ein grellgrünes Leibchen mit Spaghettiträgern, das die vollen, schon ausgeformten weichen Brüste ebenso unvorteilhaft betont wie ihr Übergewicht, da Bauch und Hüftfett über den Rand der Leggings drängen.
Um den Streitigkeiten ihrer Eltern aus dem Weg zu gehen, ist sie gerne bei ihrem Großvater. Er ist der einzige, der niemals etwas gegen ihre Kleidung sagt. Und immer nimmt er sich viel Zeit für sie, erzählt von früher, oder – wie heute – spielt geduldig mit ihr. Dieser, ein hochgewachsener Mann, der trotz des hohen Alters seine Schlankheit bewahrt hat, sitzt in auffallend gerader Haltung am Tisch. Er verkörpert Disziplin und Ordnung, trägt das kurze weiße Haar ohrenfrei, den Nacken sauber ausrasiert. Obwohl an die Siebzig, wirkt er nicht nur um Jahre jünger, sondern besitzt auch eine für sein Alter ungewöhnliche körperliche und geistige Vitalität. Was ihn trotz Emeritierung zu einem ebenso gesuchten wie geschätzten Gastdozenten an der Universität von Cathay macht. Ein Glas mit dunklem, teuren Wein steht vor ihm auf dem Tisch. Unter buschigen Brauen liegende hellblaue Augen haben ihren scharfen Blick auf die beiden Mädchen gerichtet. Denn diesmal ist auch erstmals die beste Freundin seiner Enkelin mit eingeladen, und obwohl sie in der Schule hochbegabt sind, sind sie im täglichen Leben von einer schon sträflichen Naivität. Bertas Freundin, Clarissa, ist wenig mehr als ein Jahr jünger und optisch das genaue Gegenteil ihrer Freundin – schlank, sportlich und quirlig. Passend zu ihrer Figur trägt sie ein schwarzes ärmelloses und bauchfreies Leibchen mit Zippverschluß. Dieses betont ihre kakaofarbene Haut ebenso wie die gürtellose Jeans. Da sie für ihr Alter zu groß ist, wirken beide Mädchen gleichaltrig. Das Haar der Mulattin ist zu zwei seitlichen Zöpfen geflochten, die langsam schwingen, als sie ihre Schokolade trinkt. Dabei brütet sie über dem nächsten Zug des seltsamen Brettspieles, daß Bertas Großvater diesmal als Überraschung
präsentiert hat, eine Art Fantasyspiel und Schach zugleich, mit sehr seltsam verzierten Würfeln und Karten. Und Figuren, bei deren Anblick beide albern gekichert hatten. Der alte Herr wartet geduldig, nickt dem vierten Menschen im Raum zu. Einem Mann, den die Mädchen vorher noch nie gesehen haben, jünger, aber aus ihrer Sicht auch schon alt. „Erstaunlich!“ meint dieser und nickt fast unmerklich anerkennend. Dabei spiegelt sich Licht in seinem Monokel, das angesichts der leichten Bekleidung der Mädchen irgendwie anachronistisch steif wirkt. Diese lassen sich aber durch die Strenge der Situation nicht beeinflussen und kichern gerade erneut im Chor ob der Obszönität einiger Spielfiguren auf. Die Regeln des Spiels sind einfach. Die Mädchen haben innerhalb einer Viertelstunde gelernt, sie umzusetzen, und beherrschen sie inzwischen besser als der Erfinder selbst. Es ist ein Experiment. Und es gelingt. „Sie besitzen eine spontane Form der Intelligenz“, – wieder der Vierte –, „eine ungeheure Vitalität, aus der wir viel lernen können.“ Er umrundet den Tisch. „Lassen Sie uns nun zum zweiten Teil voranschreiten!“ – Tut jedoch nichts dazu, beobachtet nur. Da plötzlich ertönt ein leises Klicken, das man für einen Mechanismus im Inneren der Uhr halten könnte, wenn es nicht direkt aus der Richtung des Spielbretts käme. Nur die Mädchen scheinen es nicht wahrgenommen zu haben. Zu sehr sind sie in ihr Spiel vertieft. Sie haben auch nicht gesehen, daß aus einer Figur eine winzige Nadel hervorgesprungen ist, die eine gelbliche Flüssigkeit gefährlich glitzern läßt.
WAR DAS WIEDER EIN TAG GEWESEN! Seitdem ich von der Recherche aus der Stadt zurückgekehrt war, hatte ich keine ruhige Minute gehabt. Nicht einmal Mantel und Schuhe hatte ich ablegen können. Als nun das Telefon zum dritten Mal in Folge läutete, überlegte ich, ob ich den Hörer überhaupt abnehmen sollte. Welche unangenehme Neuigkeit mochte auf mich warten? Ein verärgerter Kunde? Eine offenstehende Rechnung? Das schrille Klingeln ließ sich nicht ignorieren. Es hallte in meinem vor Kopfschmerz pochenden Schädel wider wie in einer Kathedrale. Entnervt griff ich zum Hörer. „Hallo?“ Ein ersticktes Keuchen. Dann Stille. „Hallo!“ Ein Geräusch drang aus der Leitung. Es erinnerte mich an einen vorbeifahrenden Zug. Der Anrufer mußte sich in der Nähe der Bahnstrecke befinden, die Cathay teilte. Ganz ähnlich wie ich selbst. Wenn sich der Zug auf der Höhe meines Arbeitszimmers befand, ließen die Erschütterungen meine Schreibtischlampe zittern. Moment! Da der 16:00-Uhr-Zug noch nicht vorbeigekommen war, befand sich der mysteriöse Anrufer irgendwo zwischen dem Bahnhof und meiner Wohnung. Da, schweres Atmen, dann gestammelte Worte: „Ich habe kch… kch… kch gesehen… vor dem Haus… der Hellraiser kch… kch… kch.“ Und wieder wurde die Stimme des unbekannten Anrufer vom seltsamen, schweren Keuchen unterbrochen, dessen Rasseln gar nicht so klang, als ob er bloß zu lange oder kurz, aber heftig gelaufen wäre, nur um jetzt um Luft zu ringen. „… Ausgestiegen… wartete ab… kch… kch… kch… nicht lange… kch… kch… kch… zurück wieder eingestiegen… kch… kch… kch… näher heran! Aber da! Da…“
Noch während der letzten, unter größter Anstrengung hervorgepreßten Worte knallte ich wie vom Schlag getroffen den Hörer auf die Gabel. Das Zimmer schien sich um mich zu drehen. Noch in Mantel und Schuhen taumelte ich an das Fenster, riß es auf, um selber nach Luft zu schnappen. Eine alte Gewohnheit, die sich jedoch in dieser elenden Stadt als gewaltiger Fehler erwies. Fast ebenso röchelnd wie die Stimme am Telephon hustete ich mit geöffnetem Mund, als mich ein Schwall der verseuchten Luft Cathays traf, dieses im wahrsten Sinne des Wortes unvergleichliche Miasma aus den überfluteten Abwasserkanälen, vermischt mit den schwülen Dschungeldämpfen. Schnell warf ich das Fenster wieder zu, so daß die Scheiben klirrten.
ERST ALS IHR GROSS VATER zum Gewinn des Spieles gratuliert, schreckt Berta hoch. Unwillkürlich blickt das Mädchen zur Standuhr, nur um erstaunt festzustellen, wieviel Zeit vergangen ist. Ganz offensichtlich ist sie zu sehr vertieft gewesen, um dies wahrzunehmen. Während der Vierte mit seinem Monokel steif, aber herzlich klatscht, richtet sie verlegen den Träger ihres Leibchens, der sich verdreht hat. Dabei verzieht sie ihr Gesicht, entdeckt eine kleine Wunde am Daumenballen und fährt mit der Zunge über die brennende Stelle. „Na, hat euch das Spiel gefallen?“ fragt der alte Mann. „Ihr seid ja richtige Meister! Aber jetzt wird es Zeit zu gehen.“ Auch Anna, die versonnen an einer Fingerspitze lutscht, scheint erst jetzt hochzuschrecken und streckt sich durch, ganz so wie nach einer Turnstunde. Sichtlich müde, murmelt sie nur ein leises ,Dankeschön’, fragt, ob mit ihrer Freundin wieder vorbeikommen dürfe.
„Das ist doch selbstverständlich!“ verkündet der steif wirkende Herr. „Bis dahin wird das Spiel erweitert. Damit es euch nicht langweilt.“ „Und wir werden den Figuren zwei weitere Motive hinzufügen“, wendet sich Bertas Großvater plötzlich an ihn. „Oder?“ „Wenn ich sie bis dahin nach den neuen Vorlagen gestaltet habe, gewiß“, erfolgt die berechnende Antwort. „Die Skizzen sind erstaunlich gut. Einzig das Formen dauert seine Zeit.“ „Wie jedes Formen, egal ob es sich um Gegenstände oder Menschen handelt.“
WENIG SPÄTER SASS ICH mit meinen Notizen bewaffnet im kleinen Café der Frühstückspension. An diesem ruhigen Ort trafen sich überwiegend ältere Männer und Frauen, um die Zeitung zu lesen oder einfach nur zu plaudern. Hier also, ein Stockwerk unter meinem Zimmer, analysierte ich das eben Gehörte. Seit meiner Ankunft war dies die heißeste Spur. Auch wenn sie den Informanten mit Sicherheit das Leben gekostet hatte. Denn die allerletzten Worte, die wie eine Totenglocke in meinem Kopf widerhallten, waren: „da… war… der Gasma ................................................................. !“ Es bedurfte wenig Phantasie, um diese Fetzen zu dem Wort Gasmann zu vollenden, jenem Phantom, dessen Spuren ich von Deutschland aus bis hierher, in diese irreal wirkende Stadt, gefolgt war; ausgerüstet mit einem Paket uralter Akten, zwei vergilbten unscharfen Photos, die einzig einen hochgewachsenen, zur Zeit ihrer Entstehung noch jungen Mann in schwarzer Uniform zeigten. Doch auch wenn sie alt waren, mußte noch heute von den scharfen, fast asketischen Zügen eine Spur übrig sein, wohl
auch vom Blick der berüchtigten toten Augen des Gasmannes, die kein Gefühl ausdrücken konnten. Ebenso bedurfte es wenig Vorstellungskraft, welchen Anblick der durch das bislang nicht identifizierte Gas getötete Informant bieten würde: Den Körper, nach einem letzten Schwall erbrochenen Blutes im Todeskampf verkrampft, auf der Gesichtshaut scharlachrote Flecken, einige davon Geschwüren ähnlich aufgebrochen, um eine wäßrige Flüssigkeit abzusondern. Vom Hellraiser hatte ich schon mehr als einmal gehört, jenem großen schwarzen Pick Up mit blutrotem Flammenmuster an den Flanken, ausgerüstet mit Zusatzscheinwerfern sowie auffälligen Gittern vor den Lampen. Er war der Schrecken der Umgebung von Cathay, vor dem die Menschen die Türen verschlossen, wenn die Maskierten zu ihren gewalttätigen Späßen aufbrachen. Ich winkte der Wirtin meiner Pension, die gerade den Raum betreten hatte, freundlich zu. Die Frau war zweimal verheiratet gewesen und hatte aus jeder Ehe ein Kind. Das jüngere, eine hübsche Mulattin, war quirlig und das blühende Leben, während der Sohn aus erster Ehe, der mich trotz seiner erst knapp fünfzehn Jahre an Größe und vor allem Gewicht übertraf, ein plump wirkender Koloß war, träge, aber stark und auf seine Art beweglich, mit kurzem hellbrünetten Haar, und mehr als nur selbstbewußt und intelligent. Er benahm sich seiner Mutter gegenüber oft so, als sei er der Herr im Haus. Ich konzentrierte mich wieder auf meine Gedanken zum Gasmann. Welche Verbindung bestand zwischen ihm und den Hellraiser-Psychopathen? Und wo lag das Haus, von dem aus sich mein Informant gemeldet hatte? In gerade dem Moment, da ich mir einen starken Kaffee bestellte, schlich Clarissa an mir vorbei; die Tochter der
Wirtin. Sie stieß gegen den Tisch, entschuldigte sich gedankenverloren und hastete weiter. Mir war ihr Kommen völlig entgangen. Sonst öffnete sie in ihrem Ungestüm den Zugang zum Café so laut, daß meist alle Gäste hochschreckten. Vielleicht war sie einfach nur müde. Ihrer luftigen Kleidung zufolge, dem schwarzen Leibchen und ihrer bauchfreien Jeans, mußte sie ihrem Temperament gerade freien Lauf gelassen und sich ausgetobt haben. Von ihrer Mutter wegen des Ungeschicks heftig gescholten, kam sie zurück und servierte mir mit einer erneuten Entschuldigung den Kaffee, wobei ihr Gesichtchen einen merkwürdigen Ausdruck annahm. Ihre Augen weiteten sich, und ich blickte in zwei tiefe schwarze Seen, an deren fernem Grund sich eine formlose Furcht abzeichnete. Ohne Warnung und wie ein gefällter Baum fiel sie zu Boden.
DAS KALTE LICHT der Neonröhre spiegelt sich auf den Gläsern der Schweißerbrille. Als es flackert, kommt Leben in das Gesicht, das bis dahin tot war. Hart, faltig wie Leder, vom Lichtschein enthüllt, zeichnet sich das filigrane Netz der Adern in blassem Lila darunter ab. Unter einer schwarzen Ledersturmhaube lugen einige eisgraue, spröde Haarsträhnen hervor. Am Hals geht die Gesichtsbedeckung fast nahtlos in eine enganliegende Ledermontur über, welche die unnatürliche Dürrheit des Mannes erahnen läßt. Seine Beine stecken in engen schwarzen Röhren, die Füße in Stiefeln, die vorne spitz zulaufen. Auf den ersten Blick könnte man ihn für ein überdimensionales Insekt halten. Der Mann flucht. Gleichzeitig zischt das Ventil der Gasflasche. Das Beschriftungsetikett hat sich an einer Ecke soweit aufgerollt, daß nur noch die Lettern „Zykl…“ zu lesen sind. Die Flasche ist stark verrostet, macht keinen sonderlich
sicheren Eindruck, doch das scheint den Mann nicht zu stören. Er füllt eine Reihe kleiner Glasflaschen mit sicherer Hand ab. Er weiß: Ein Fehler würde den unweigerlichen Tod bedeuten, doch jahrzehntelange Routine verhindert einen solchen Fehler. Könnte man durch die Schweißerbrille hindurchblicken, so sähe man rote, entzündete Augen. Eine seltene Augenkrankheit sorgt dafür, daß dem Mann alles andere als Kunstlicht unerträglich erscheint und er selbst dieses dämpfen muß. Da flackert das Licht erneut, und synchron erzittert die Fensterscheibe, die die Nacht aus dem Zimmer fernhält, vom Rattern eines Zuges. Unwillkürlich hält der Mann kurz in seiner Tätigkeit inne, um den Klang des Schienenfahrzeuges nachzulauschen. Seine Gedanken gehen zurück zu einer anderen Zeit, zu anderen Zügen, und wie automatisch strafft er seine magere Gestalt zu einer aufrecht strammen Haltung. Hinter den Gläsern funkeln die Augen mit kalter Energie, welche dem Inhalt der Flasche und der Phiolen wenig in Tödlichkeit nachsteht. Dann beendet er seine Arbeit, sichert das Ventil und Zubehör. Pedantisch steckt er Phiole um Phiole in dafür vorgesehene Halterungen der breiten, metallisch schimmernden Bänder oberhalb des Handgelenkes. Ein leises metallisches Klicken ertönt, als die Spangen zuschnappen. Dann ist es vollbracht. Beim Griff zum langen schwarzen Ledermantel wirft er einen bizarr anmutenden Schatten auf die Wand. Mehr denn je trifft der Vergleich eines Insektes zu, das seine Flügel ausbreitet. Der hochgestellte Kragen läßt einzig die Linsen der Gläser samt einem Teil des Filters seiner kombinierten Maske erkennen. Den Abschluß bildet ein schwarzer Hut.
NIEMALS kam die Zwiespältigkeit Cathays mehr zum Vorschein als in diesen Tagen. Dank der deutschen
Stadtgründer gab es hier, am elendsten Fleck des indischen Subkontinents, einen Weihnachtsmarkt. Er war auf einem der Plätze der verfluchten Stadt aufgebaut, wo der Nieselregen das marode Pflaster in eine tückische Falle verwandelte. Denn in Cathay fiel das Fest mitten in die Regenzeit, in der Häuser, Straßen, Gassen und Plätze ebenso obskur erschienen wie die immaterielle Ausstrahlung dieses Ortes. Ich weiß nicht, weshalb ich mich hatte überreden lassen, mit Clarissa diesen Markt aufzusuchen. Vielleicht war es dieser namenlose Abgrund von Furcht und Schmerz in ihren Augen gewesen, den ich zu erkennen geglaubt hatte. Ihre Pupillen flackerten, als stünde das Mädchen unter der Nachwirkung einer schweren Droge. So durchstreiften wir das groteske Nebeneinander der Buden, wo kitschige Christkindfiguren, Weihnachtsmänner und hölzerne Heilige mit fremdartig wirkendem Schmuck und exotisch duftendem Räucherwerk wetteiferten. Ein kleines Karussell mit Holzpferden stand nicht weit entfernt vom windschiefen Verschlag eines Schattenspiels, wo Dämonen gegen nicht weniger heidnische Helden kämpften. Es war ein Gewirr an Eindrücken von Menschen und Stimmen. Natürlich gab es hier viele Deutsche, aber auch Afrikaner, Nachkommen der zur Stadtgründung importierten Sklaven, aber überraschend wenige der ursprünglichen Bewohner dieses Landes. Die Alten mieden Cathay, einzig die Jüngeren, die hier arbeiteten, und die Eingeheirateten gaben sich dem zweifelhaftem Vergnügen hin. Während ich einen Glühwein trank, beobachtete ich das Gewimmel um mich herum. Unwillkürlich mußte ich an den Gasmann denken. Wie hielt er es hier aus in dieser Vielfalt der Rassen und Mischungen? Gerade er, mit seiner Vergangenheit. Und vor allem, was wollte er hier? Tausende von Fragen, auf die ich keine Antwort wußte.
Erhitzt von der Fahrt auf dem Karussell kam Clarissa wieder zu mir. Ich bestellte ihr ein mildes Getränk, fühlte die Quirligkeit und Energie, die von dem Mädchen ausging. Und noch etwas war mir aufgefallen bei unserem Besuch. Manchmal, wenn ich meiner Stimme ohne Absicht einen bestimmten Klang verlieh, unterbrach sie ihre Lebhaftigkeit, und Schmerz und Furcht kamen zurück, als ob eine verdrängte Erinnerung aufkeimte.
DER HOCHGEWACHSENE INDER schreitet langsam durch die Gasse, gefolgt von seiner Frau und dem Enkel. Nein, nicht mehr lange wird er hier wohnen, in diesem Sumpf. Die Wände rings umher gleichen einer Schlucht aus altem, rissigen Gestein. Die Fenster bilden Schlitze, während selbst das nasse Pflaster ihnen feindlich gesonnen scheint. Deswegen hat er mit dem jungen Burschen auch bis jetzt gestritten, ein häßlicher Wortwechsel, da dieser seinen bescheidenen Luxus nicht aufgeben will, sich weigert wegzuziehen. Mit einer hektischen Bewegung deutet er mehr Eile an und umrundet eine Ecke, wo der abgeblätterte Verputz einen übelriechenden Schutthaufen bildet. Die füllige Frau folgt, zerrt, ihrer Erziehung gemäß um Verzeihung bittend, den übelgelaunten, gedrungenen, aber kräftigen Achtzehnjährigen mit. Im selben Moment taucht ein hochgewachsener Schatten auf, mitten in der Gasse. Gläserne Linsen unter breitem Hut. Ehe der vordere Mann begreift, packt einer der schwarzen Handschuhe zu, gräbt sich in seinen Hals. Reflexartig öffnet dieser den Mund, während unter leisem Klicken eine Phiole vorschnellt, darin verschwindet. Zugleich läßt der Gasmann los, schlägt von unten leicht gegen den Kiefer, hört befriedigt das Splittern. Mit
brutaler Gewalt dreht er sein Opfer um die eigene Achse, hält es aufrecht, so daß Frau und Enkel den kurzen, aber grauenvollen Todeskampf mit ansehen müssen. Dann erst läßt er den Mann los, läßt ihn zu Boden fallen wie ein Bündel schmutzigen Stoffes. Wie gelähmt vor Entsetzen und Furcht stehen sie da, unfähig etwas zu tun, wegzulaufen oder auch nur um Hilfe zu schreien. Letzteres hätte hier auch wenig Sinn, in dieser Stadt, wo fast jeder sich selbst der Allernächste ist. Lange schweigende Momente, und der Gasmann steht vor ihnen wie ein nächtlicher Dämon. Zischend, verzerrt durch seine Maske, erklingt die Stimme, mit der er sich an den jungen Mann wendet. „Du erbärmliche Kreatur willst leben!“ Eine pure Feststellung. „Ja, du willst leben.“ Die gläsernen Linsen schimmern im Licht der Laterne… „Ich frage mich und frage dich!“… wandern zu ihr und dann zurück zu ihm. „Was zu tun bist du bereit, damit ich dir dein wertloses Leben schenke?“ Der Junge kommt nicht dazu, zu antworten, denn plötzlich biegen am Ende der Gasse vier angetrunkene Besucher des nahen Weihnachtsmarktes um die Ecke. Ihre lächerlich wirkenden Nikolausmützen sind von aggressivem Purpur, wie rohes Fleisch, das in den müden, entzündeten Augen des Gasmannes geradezu pulsiert. Er zischt einen ungehaltenen Fluch zwischen den Lippen hervor und kreiselt herum, so daß er vor einem verfallenen Hauseingang zu stehen kommt. Ein wuchtiger Tritt, und die morsche Tür fliegt ins lichtlose Innere des verlassenen Gebäudes. Noch bevor ihn die vier Weihnachtsmanntravestien überhaupt wahrgenommen haben, ist er bereits einen Straßenzug entfernt und hat ein weiteres Mal rätselhaften Schrecken zurückgelassen.
WIEDER ZU HAUSE angekommen hatte ich das Gefühl, daß mich nur ein dünner Schleier von einer wichtigen und offensichtlichen Erkenntnis trennte. Mich beschlich immer mehr eine Ahnung, etwas sehr Wesentliches übersehen oder zumindest nicht genügend beachtet zu haben. Es schien mir so, als ob ich etwas gehört oder gesehen hatte, das wie eine glitzernde Seifenblase an meiner Wahrnehmung vorbei geglitten war, ohne bewußt wahrgenommen zu werden. Erfolglos versuchte ich mich in meine Aufzeichnungen zu vertiefen, die Konzentration aufzubringen, für die ich in gewissen Kreisen berüchtigt war. Doch vergeblich! Um mich abzulenken, betrachtete ich das Zimmer, das ich gemietet hatte. Es war einiger kleinerer Renovierungen bedürftig, ohne daß es vernachlässigt wirkte. Aus einer Vase heraus schob sich die prächtige Blüte einer fleischig wirkenden, eindringlich duftenden Orchidee. Kleine, wie selbstverständlich dargebrachte Aufmerksamkeiten der Pensionsbesitzerin wie diese waren ein Umstand, der mir zum Wohlfühlen verhalf. Und doch stimmte etwas nicht. Oder war auch das wieder nur ein Auswuchs meines übersteigerten Mißtrauens? Zum ersten Mal traute ich meiner viel gerühmten Objektivität nicht. Mein Blick schweifte hinüber zum Fenster, an dem Regenschlieren herabliefen, zitternd wie Amöben. Und so schien mir ganz Cathay, wie ein Sumpf lebender Zellen, der alles was von Außen kam, absorbierte oder vernichtete: Cathay mit seiner amorphen Struktur, diesen labyrinthisch verschlungenen Straßen und Gassen. Ich preßte die Hände gegen meine Schläfen. Welche Gedanken gingen mir da durch den Kopf, so hatte ich doch sonst nie gefühlt.
Beim Frühstückstisch überlegte ich weiter. Ich war mir selbst fremd geworden. Dazu kam die zeitweilige Lethargie, mein Durchstreifen der Stadt, die ausgiebigen Aufenthalte in Cafés und Gaststätten. Hatte Cathay begonnen, mich in seinen unheilvollen Bann zu ziehen? Das durfte nicht geschehen! Die Stadt durfte mich nicht verändern. Jedenfalls nicht noch mehr, als es offensichtlich schon passiert war. Anders Clarissa, die mit der Energie eines Wirbelsturms durch den Frühstücksraum tobte, laut kichernd und keine Spur verstört. Bei einer ihrer Umkreisungen hielt sie kurz und sah mich an, bedankte sich für den Gang zum Weihnachtsmarkt und legte einen gefalteten Zettel auf den Tisch: „Eine Zeichnung von mir als Dankeschön.“ Sie wehrte ab, als ich diese aus Höflichkeit ansehen wollte. „Das ist nur für Sie!“ sprach sie mit der Ernsthaftigkeit eines Kindes. „Deswegen müssen Sie sie auch ganz alleine angucken.“ Ich wollte die Kleine nicht enttäuschen, bedankte mich und schob den Zettel in die Mappe meiner Unterlagen, legte diese in die Tasche, bereit, nach Beendigung des Frühstücks in das Zentrum Cathays aufzubrechen. „Und du bist dir sicher?“ vernahm ich die Stimme der Pensionswirtin, der man das Alter von Mitte Dreißig kaum ansah. Das markante Gesicht mit dem die Schultern bedeckenden schwarzen Haar in den Nacken gelegt. Sie blickte auf ihren Sohn, der breitbeinig vor ihr stand. „Daß ich richtig gekleidet bin, wenn wir in die Zitadelle gehen?“ Schnell ging ich weiter, nicht ohne die barsche Antwort des Jungen zu hören. Ihre Frage schien berechtigt, da in der Zitadelle von Cathay eine Eliteschmiede untergebracht war. Da mußte sie in dem weißen Bustier und der schwarzen Lederhose, die ihren Körper und die sonnengebräunte Haut noch betonten, zweifellos auffallen.
LANGSAM, in gerader Haltung und fast militärisch, schreitet der hochgewachsene alte Mann die Schmalseite des spartanisch eingerichteten Klassenraumes ab. Die Augen schillern, als würde er farbige Kontaktlinsen benutzen. Seine Schlankheit paßt perfekt zum dezenten, eng geschnittenen Anzug. Dann plötzlich bleibt er stehen, macht eine Wende und beendet seinen Vortrag über Ethik. Mit spröder Stimme, die keine Spur der privaten Freundlichkeit enthält, gibt er noch die Aufgaben zur nächsten Stunde bekannt. Der kalte Blick schweift über die Klasse, deren Alter äußerlich bei weitem nicht dem eben gehörten Inhalt zu entsprechen scheint. Als der laute Klingelton durch den Saal hallt, entspannen sich alle. Nur noch eine Doppelstunde, dann die große Pause. Er nickt ihnen zu, doch vor Verlassen des Saales wendet er sich noch an seine Enkelin. „Clarissa!“ Diese zuckt unwillkürlich zusammen. „Du meldest dich nachher bei mir im Lehrerzimmer.“
OFFENSICHTLICH waren meine Gedanken noch immer auf eigenen Wegen unterwegs, denn nach einer längeren Wanderung fand ich mich gegenüber der geduckten, mächtigen Zitadelle wieder. Flüchtig blickte ich auf den monströsen Steinbau hinüber und sah an einem der Fenster meine Wirtin und ihren Sohn. Ich war ihnen nicht absichtlich gefolgt. Vielmehr hatte mich, als die Verteidigungsanlage am Rande Cathays erwähnt worden war, ihr Bild nicht mehr losgelassen. Sie war langgestreckt und weißgetüncht, und sie überragte die Stadt majestätisch am Berghang. Halb lag sie im kargen Fels, halb schon im wuchernden Urwald, der jedoch in ihrer Nähe immer wieder mit großem Aufwand gerodet wurde. Ihre exponierte
Lage machte den Aufstieg schwierig. Es gab hier nur einen altersschwachen Lastschlitten, der auf Schienen hinauf zu einem gähnenden Tor gezogen wurde, das meist offenstand. Besucher mußten sich die rund fünfhundert schmalen Steinstufen zum Eingangstor zu Fuß hinaufquälen. Ob eine bequemere Erschließung aus geographischen Gründen nicht möglich gewesen war, oder was die Erbauer mit dieser Bauweise bezweckt hatten, war für mich unerklärlich. Denn die Zitadelle diente nicht wirklich der Verteidigung. Cathay war niemals von außen angegriffen worden. Und das Bauwerk war auch längst nicht so alt, wie es schien. Vor rund siebzig Jahren erst waren die Arbeiten daran abgeschlossen worden. Vielleicht zum letzten Mal war es ein Deutscher gewesen, der der Stadt seinen Stempel aufgedrückt hatte: Johann Arcksleben, ein Hamburger Kaufmann, der nach dem Krieg nach Cathay gekommen war und einen florierenden Handel mit Gewürzen und Heilpflanzen aus dem Dschungel betrieben hatte. Leider hatte er nicht in den riesigen Gebäudekomplex einziehen können, da er kurz nach Fertigstellung des Rohbaus plötzlich verstorben war. Es hatte sich glücklicherweise bald ein neuer Verwendungszweck gefunden, als ein Flügel der alten Cathayer Universität aufgrund seiner Baufälligkeit eingestürzt war. Seitdem teilte sich die Hochschule die Zitadelle mit der bereits erwähnten Schule für Begabte. Die Treppe machte einen Knick und wand sich in der nächsten Serpentine an den unteren Verwaltungsräumen hinauf zum eigentlichen Erdgeschoß. Für einen Augenblick verlor ich das Fenster aus den Augen, hinter dem ich meine Zimmerwirtin und ihren Sohn gesehen hatte. Dafür fiel mein Blick nun, abermals völlig zufällig, in einen Raum, der von Bücherregalen und einem gewaltigen Schreibtisch beherrscht wurde. Hinter diesem, mir mit dem
Rücken zugewandt, stand ein hagerer Mann, der etwas betrachtete, das auf dem Tisch stand. Es erinnerte mich zuerst an ein Schachspiel, dann aber auch wieder nicht, weil die Figuren, soweit ich sie aus dieser Entfernung erkennen konnte, nicht den mir bekannten Schachfiguren ähnelten, und das Brett neunmal neun Felder hatte. Es sah so aus, als versuchte er der Schülerin, die auf der anderen Seite des Tisches stand und für mich bis dahin durch den Mann verdeckt worden war, die Regeln des Spieles zu erklären. Vielleicht drehte sich das Gespräch auch um ein ganz anderes Thema, und das merkwürdige Spielbrett zierte einfach nur den Tisch. Ich hatte kurz innegehalten und um Luft gerungen. Im ungewohnt feuchten Klima Cathays fiel mir immer noch das Atmen schwer, und ich hatte das Gefühl, als ob sich auch meine Kleidung bereits mit Nässe vollgesogen habe. Das letzte Stück des Weges wollte ich zügiger zurücklegen. Ich hoffte, auf dem Aussichtsplateau der Zitadelle werde die Luft besser sein. Ich versuchte, das Fenster wieder zu finden, hinter dem ich meine Zimmerwirtin gesehen hatte, und stolperte bei dem Anblick, der sich mir stattdessen bot: hinter dem honiggelb erleuchten Feld eines Fensters erkannte ich die Silhouette einer dürren Gestalt, um deren knochige Schultern sich ein Cape spannte. Ihr Kopf war eine ledrige schwarze Kugel mit hervorquellenden, insektoiden Glasaugen: der Gasmann! Um ein Haar hätte ich vor Schreck das Gleichgewicht verloren. Schnell umklammerte ich das rostige Geländer, während mein Herz wild gegen den Käfig der Rippen hämmerte, das Blut in den Ohren wie ein Ozean rauschte. Wieder bei Atem stieg ich über das Geländer und sprang trotz der Feuchtigkeit knapp drei Meter. Ich landete auf der Plattform der Endstation des Lastschlittens. Schnell glitt ich in
das gähnende Tor und fand mich im feuchten kalten Gewölbe der ehemaligen Kasematte wieder. Mich fröstelte, wobei daran sicherlich nicht nur dem Wetter die Schuld zu geben war. Ich hatte unverschämtes Glück. Die Pforte zu den Treppen war offen. Der enge stickige Schlauch des Stiegenhauses schien sich unendlich nach oben zu winden.
DIE KLEINE KAMMER mit den kahlen, von seltsamen Reliefs bedeckten Wänden bietet einen unheimlichen Anblick. Diesen scheint Frau Sigrid nicht mitzubekommen, denn immer wieder durchläuft ein Zittern die Mittdreißigerin. Ihre sonst von Leben und Energie sprühenden Augen wirken nun wie matte Tümpel. Erneut sinkt ihr Kopf nach vorne, die Stirn mit Schweiß bedeckt.
DANN endlich kam eine Pforte, die sich jedoch verschlossen als unüberwindliches Hindernis präsentierte. Immerhin spähte ich durch das Schlüsselloch auf einen Tisch, auf dem ein Plan von Cathay aufgerollt lag. „Der Regen!“ Der verzerrten Stimme nach mußte es der Gasmann sein. „Er kommt zu früh. Aber das soll nicht stören. Wir…“ Als sein Schatten vor mein Guckloch glitt, war ich fast erleichtert darüber. Hastig und lautlos zog ich mich zurück. Es war das Ziel meines Aufenthalts in Cathay, den Gasmann zu finden. Doch zwischen dem Stöbern in vergilbten Akten und der unmittelbaren Konfrontation war ein himmelhoher Unterschied. Diese Kreatur schien nichts, aber auch absolut nichts mit einem menschlichen Wesen gemeinsam zu haben. Und doch, die hagerknochige Silhouette, die gerade Haltung verbunden mit militärisch sparsamer Gestik, dies alles
erinnerte mich an jemanden, den ich gut kannte. Doch gerade jetzt klaffte in meinem Gedächtnis ein Loch, das sich nicht mit Inhalt füllen ließ.
DIE PLATANENALLEE war von düsterem Gewölk überschattet, und mir war klar, daß der Regen nur kurzzeitig aufgehört hatte. Noch immer tropfte es von den vor Nässe schwarzen Borken der Bäume, und gurgelnde Wasserströme suchten sich ihren Weg im Rinnstein. Zwei Jungen hatten sich auch durch das scheußliche Wetter nicht von ihrem Spiel abhalten lassen und liefen jauchzend hinter einem papiernen Schiffchen her, das auf dem Gerinne taumelte. Aber ich hatte keinen Blick für sie oder die verrosteten Automobile, die Pfützenwasser aufspritzend an mir vorüberfuhren. Ich hatte Mühe genug, meine Gedanken beisammenzuhalten und den Löchern im Gehsteig auszuweichen. Das Schiffchen verschwand in einem Gullyschacht mit zerbrochenem Deckel. Wären doch meine Erinnerungen an die verfluchte Zeichnung Clarissas so leicht aus meinem Gedächtnis zu löschen gewesen! Unwillkürlich griff ich in die Tasche und betrachtete sie: Die bocksbeinige, gehörnte Gestalt mit gewaltigem erigierten Glied, vor geiler Feuchtigkeit triefend, die sich von hinten einer ausschließlich auf sekundäre Geschlechtsmerkmale reduzierten Frauengestalt näherte. Dazu Kritzeleien, hingeschmierte Notizen, lästerliche Worte, die das Mädchen unmöglich kennen konnte. Ich mußte Clarissa finden, und ich wußte auch wo. Es gab einen Platz, zu dem sie sich zurückzog, wenn sie ihre Ruhe haben wollte. Es war ein verfallenes Haus, ein Spukhaus, das eine Vergangenheit hatte, die normalen Menschen eine Gänsehaut zauberte, nicht aber Clarissa.
Plötzlich mußte ich an meinen Rückzug denken. Wahrlich, dachte ich in einem Anflug von Selbstironie, ich gab das perfekte Bild eines wahren Helden ab. Der Gasmann war in greifbarer Nähe gewesen, und ich war geflohen. Geflohen, als ob, ja, als ob ich nicht Herr meiner Sinne gewesen war. Stundenlang war ich durch die Stadt geirrt und erinnerte mich kaum mehr, an welchen Orten ich mich aufgehalten hatte.
ICH ERREICHTE die Ruinen in einer knappen Viertelstunde, die mir wie eine Ewigkeit erschien. Im Geiste kam es mir vor, als würden sich die Brände seiner Vergangenheit auf ewig wiederholen. Der erste, nachdem der Bau doch vollendet wurde, der zweite als Rache Gottes, um es für alle Zeiten zu vernichten. Langsam tastete ich mich vorwärts zur Außenmauer des einstmals quadratischen Hauses. Die Fassade ähnelte einem aufgebrochenen Geschwür, aus dem Gift und Eiter hervorgequollen waren. Man hatte nie versucht, an dieser Stelle einen Neubau zu errichten. Dann stand ich im Inneren und starrte auf die geborstenen Grundmauern, die das einstige Labyrinth der Räume noch erahnen ließ. Vor mir schimmerte die Zahl 9, kupfern und im gesprungenen Boden eingelassen. Vorsichtig stieg ich die schmalen zerfallenen Stufen abwärts, in den Bauch der Fundamente, einzig begleitet vom Schein der Lampe. Je tiefer ich im Labyrinth gelangte, umso feuchter und wärmer wurde Luft. Gerade als führten die von dünnen Sprüngen durchzogenen, mit obszön anmutenden Schlieren bedeckten Wände und Treppen direkt in die Hölle, begleitet von dem tiefen Summen, einer zähen, brutalen Musik, die lauter wurde, je tiefer ich hinabstieg. Für Sekunden stockte ich vor dem niedrigen Durchgang, dessen massiver Türstock von feinen Sprüngen durchsetzt war.
So tief hatte sich Clarissa noch niemals zurückgezogen. Der Raum, in dem ich mich fand, bildete den ältesten Teil der Krypta, erfüllt vom Licht zweier hoher metallener Stelen aus stilisierten Rippen und schreienden Gesichtern, in deren Innerem Flammen loderten. Der entstehende Rauch zog durch Öffnungen ab, die bis zur Oberfläche reichen mußten. Die Wände waren von alten Ritzzeichnungen bedeckte große Steinplatten. An ihnen sickerte Feuchtigkeit herab und wurde von im Boden eingelassenen Schalen gesammelt. An zwei Ecken erhob sich je ein fast zur Gänze mit verbautes Gebilde, welches im Volksmund noch immer Phallusstein genannt wird. Das Ganze erinnerte mich an die Skizzen und Gemälde einer Vernissage, die ich vor meiner Abreise nach Cathay besucht hatte. Die Atmosphäre wurde selbst durch einen wuchtigen Schreibtisch ebensowenig zerstört wie durch die Maschine, die die seltsamen Klänge erzeugte. Ich trat an den Schreibtisch und betrachtete die Skizzen. Und wieder fühlte ich heiße Röte im Gesicht aufsteigen. Sie zeigten allesamt Clarissa und ihre dickliche Freundin. Einige davon waren offensichtlich von den beiden Mädchen selbst angefertigt worden. In diesem Moment verstummte die Musik. Clarissa und ihre Freundin traten durch die Öffnung und gingen an mir vorüber. Das Klicken des Sturmfeuerzeugs ertönte im Dunkel, dann leuchtete kurz eine kleine Flamme auf. Als ich das Gesicht dahinter erkannte, gefror mir das Blut in den Adern. „Sie brauchen Ihre Waffe nicht.“ Seine Stimme klang selbstsicher, als er mich durch seine Linsen fixierte. „Ich bin sicher, daß wir uns wie zivilisierte Menschen unterhalten werden.“ „Der Gasmann!“ Meine Pistole blieb griffbereit. „Endlich habe ich Sie aufgespürt!“
„Narr! Ohne mein Wollen hättest du mich niemals gefunden.“ Er trat ins Licht und richtete seinen Zeigefinger auf mich. „Du hast freies Geleit, dieses eine Mal. Denn der Gasmann hat dir ein Angebot zu machen!“ Plötzlich verstärkte sich das Gefühl unterdrückten Wissens. Und in einem kurzen, heftigen Anfall von Schmerz, als ob sich meine Nerven, mein Fleisch verformen würde, stürmten die Erinnerungen an meine Ankunft in Cathay in mein Gedächtnis. Ich wußte plötzlich, weswegen mich die Skizze so verstörte, aber nicht überraschte. Ebenso, weshalb ich den Raum kannte, Clarissa und ihre Freundin fand, egal wo sie sich aufhielten. Denn ich selbst war der Künstler, der diese Zeichnungen angefertigt hatte, und ich erinnerte mich, wie das alles begonnen hatte, ja, selbst in welchem Zusammenhang all dies mit der Gestalt des Gasmannes stand. Ich mußte mich an einer Wand abstützen, um nicht zusammenzusacken.
NACH EINER KURZEN ZEIT, die wir schweigend hatten verstreichen lassen, hatte mich mein Gastgeber gebeten, ihm zu folgen. Beinahe willenlos war ich mit ihm gegangen, hinab in noch tiefere Kellerebenen, durch gemauerte, gemeißelte, wie geätzt wirkende Gänge, bis wir in einem Raum angelangt waren, der eine Art Vorzimmer war, ein mit kostbaren Teppichen ausgekleideter Felskeller. Drei mit Leder bezogene Sessel luden ein Platz zu nehmen. Während unserer stummen Wanderung hatten meine Gedanken fieberhaft gearbeitet. All die Bilder aus der Vergangenheit waren wieder aufgetaucht, Bilder, die mir mein Vater gezeigt hatte, der als Photograph von 1941 bis 1944 in Mauthausen gelebt und das Grauen auf Anweisung derer, die
ein perverses Vergnügen dabei empfunden hatten, Menschen zu quälen und zu morden, dokumentiert hatte. Als ihr Werkzeug hatte er überlebt, von Alpträumen und Schmerzen geplagt, bis zu seinem Tod. Denn der Gasmann hatte ihn mit einem Bakterium infiziert, das seine Augen in eitrige Geschwüre verwandelte. Ich hatte den Nachlaß meines Vaters durchsucht, mit dem Schwur, ihn zu rächen. Und dann war ich auf eine Spur gestoßen, das Photo eines großen, hageren Arztes, dessen aristokratische Gesichtszüge durch die SSUniform auf perverse Weise noch besser zur Geltung kamen. Trotz seiner Verblendung war er genial gewesen, wie ich dank meiner Recherche wußte. Ich hatte Material über das Leben dieses Wissenschaftlers gesammelt, dessen Intelligenz für mehr als nur einen Nobelpreis gereicht hätte. Dem gegenüber standen jedoch die Skrupellosigkeit und der Wahnsinn eines psychopathischen Killers. Verbunden mit Interesse an jeder Art von Mythen, hatte es ihm eine hohe Position innerhalb der Stiftung Ahnerbe bescherte. Als er jedoch begonnen hatte, Wissenschaft und Magie wieder zu einer Einheit zusammenzufügen, war er sogar dieser Institution zu unheimlich geworden. Versetzt nach Mauthausen, hatte er seine Forschungen ungehindert fortgeführt, um vor der Befreiung des Lagers mit sämtlichen Aufzeichnungen spurlos zu verschwinden. „… dann war ich wieder im Besitz meines Hauses“, holte er mich wieder in die Gegenwart. „Was denken Sie, mir anbieten zu können?“ Es gelang mir, wesentlich ruhiger zu wirken, als ich tatsächlich war. „Vielleicht die berühmten letzten Worte?“ „Für Scherze ist keine Zeit! Der Regen, er ist erst der Anfang der Katastrophe! Meine Mittel allein reichen nicht aus, um diese abzuwehren! Ich brauche Ihre Hilfe! Ich biete für diese Zeit einen Waffenstillstand an! Stimmen Sie zu, erfahren Sie
alles. Ansonsten haben Sie freies Geleit aus dem unterirdischen Cathay. Mein Ehrenwort.“ Er gab sich betont gelangweilt. „Und Sie können sofort die lächerliche Vendetta gegen mich weiterführen!“ Seine Reaktion zeigte mir, wie wenig er mich als Gegner sah, geschweige denn als Gefahr ernstnahm. Während dieser Worte tobten die Widersprüche in mir. Sagte ich zu, konnte ich ihn studieren, seine Schwachpunkte feststellen. Aber machte ich mich nicht mitschuldig, wenn ich mit diesem Monster zusammenarbeitete? Seine knappe Handbewegung lenkte meinen Blick auf den Tisch, wo ein Nußknacker stand, eine kleine Figur. Mit nachgebildetem Waffenrock, zugleich ein Husar und Bosniak, Vertreter einstmals gefürchteter Elitetruppen. Dazu ein hochgezwirbelter Schnurrbart. Was sollte das bedeuten? „Vergessen Sie nicht, Sie Held! Ich kann Ihnen einige Möglichkeiten bieten…!“ Ich griff reflexartig danach und fühlte ein seltsames Brennen, wie einen schwachen Stromstoß. Dann sah ich doppelt. Einmal durch die Augen dieser genial gemeinen Kreation, sah ein Kinderzimmer von gigantischen Proportionen. Und war sicher, daß ich, wenn ich es wollte, mich mit und in dem Duplikat des Dinges bewegen konnte. Zugleich sah ich mir gegenüber nach wie vor den Gasmann. „Entscheiden Sie! Ich gebe Ihnen Bedenkzeit! Exakt für die Dauer eines Spiels…“ Wieder sprang Energie auf mich über und ich merkte, wie mein zweites Ich an Größe zunahm. „… mit Clarissa! Sie ist eine hervorragende Spielerin!“ zischte der Gasmann. Das Mädchen trat herbei: „Ich muß hierbleiben, kann nicht nach Hause zurück“, sagte sie. „Du weißt, was mit Mutter geschehen ist, du selbst hast es gezeichnet.“ „Wie lange kennst du diese Männer?“ fragte ich.
„Seitdem ich das erste Mal hier gewesen bin. Und das war nachdem, nachdem…“ dem Mädchen stockten die Worte. Was wollte sie mir erzählen? „Das tut im Augenblick nichts zur Sache“, fuhr der Gasmann dazwischen. „Wir werden darüber sprechen, sobald Sie mir glaubhaft versichert haben, daß wir für die Dauer unseres Kontrakts unseren Streit begraben wollen!“ Verdammt, ich war von vollkommen falschen Voraussetzungen ausgegangen, hatte geglaubt, der Gasmann sei ein Einzelgänger, akzeptiere allerhöchstem die Hellraiser als Handlanger neben sich. Damit hatte ich komplett daneben gelegen. Und mehr noch. Die ganze Zeit war ich dem Gasmann so nah gewesen, ohne es zu ahnen. Und sicherlich hatte er auch von meinen Nachforschungen erfahren. Doch warum hatte er mich nicht getötet? War er so überheblich, wiegte sich so in Sicherheit, daß er mich nicht fürchtete? Wie konnte es dann sein, daß er mich brauchte? Oder gab es da noch etwas anderes, spielte ich etwa eine besondere Rolle in seinem Spiel? „Spiel!“ hörte ich nur noch als Echo aus dem Mund hinter der Maske meines Gegners. Er reichte mir die Puppe, die er mir kurzzeitig aus der Hand genommen hatte, um sie zu manipulieren. Ich ergriff sie und erschrak – das Ding zitterte und brummte böswillig. „Setzen Sie ihn auf den Tisch! Er hat eine ganz besondere Eigenart. Sie können ihn mit Ihren Gedanken steuern!“ Die Stimme des in schwarzes Leder Gekleideten klang alterstrocken und dabei schneidend wie eine zum Zerreißen gespannte Cellosaite. Ich nahm nicht mehr wahr, was um mich herum geschah. Selbst der Gasmann schwand aus meinem Bewußtsein, das sich nun vollkommen auf das seltsam makabre Spielzeug konzentrierte. Plötzlich verschwamm meine Umgebung, und ich befand mich an einem anderen Ort, dem Kinderzimmer Clarissas nämlich, das ich
nun wieder erkannte. Und sie war ebenfalls dort. Gekleidet in das blaßrosa Tüllkleid einer kleinen Ballerina, tanzte sie über das Bett, landete auf dem Sims des geöffneten Fensters, sprang leichtfüßig auf den weichen Teppich zurück. In meiner Rechten fühlte ich die schwere Waffe, ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett.
OBWOHL der Hof sich mitten in Cathay befindet, scheint er zu einer anderen Welt zu gehören. Die Luft, kühl und dämmrig wie knapp vor oder nach einem Platzregen, ist erfüllt von tanzenden Wasserpartikeln, so daß die umgebenden Wände kaum zu erkennen sind. Der Boden selbst besteht aus Schlamm.
„WAS IST DAS für ein Spiel?“ Plötzlich wurde ich von Bildern überschwemmt. Cathay, der Gasmann, wie er ankam und erste Kontakte knüpfte, sich eine bürgerliche Existenz zur Tarnung zulegte. Der Tag, an dem er auf Schriften stieß, der Tag, an dem zum ersten Mal der Regen gefallen war. Daraufhin eine Gruppe Psychopathen um sich versammelte, tief unter der Oberfläche Cathays, wo er sich besser als jeder andere auszukeimen schien. „Fang mich doch.“ Mit einem einzigen Sprung beförderte sich Clarissa auf das Bett und drehte sich in Richtung Fenster. Schnell trat ich vor, hielt ihr mehr scherzhaft das Gewehr vor. „Abrakadabra!“ Im selben Moment verwandelte sich das Bajonett in Zuckerwatte. Seelenruhig griff sie danach, um zu naschen. Zugleich durchfuhr mich ein elektrischer Stoß. Fluchend stöhnte ich auf. Ein Hoch auf meine Naivität! Selbst ein Spiel war nicht harmlos, wenn der Gasmann darin verwickelt war.
„SIE SPIELEN“, flüstert Berta mit leerem Blick. „Ja! Wirklich. Der Gasmann hat das Spiel begonnen.“ Sie steht im Schlamm versunken, flankiert von mehreren Gestalten, zwei stützen sie ab. Alle tragen lange graue Umhänge, die Gesichter unter weit vorgezogenen Kapuzen verborgen. „So ist es gut, Kleine!“ Eine Hand hebt den Kopf des dicken Mädchens an, sie trinkt wieder von der ihr gereichten bläulich schimmernden Flüssigkeit. Und erneut beginnen ihre Knie zu zittern.
KICHERND KOSTETE sie von der Zuckerwatte, hüpfte plötzlich vom Bett und lief auf die Tür zu. Während ich mich vor mir selbst erschreckte, hob ich das Gewehr und zielte auf ihren Rücken. Als Clarissa die Türklinke berührte, drückte ich ab. „Abrakadabra!“ Ein schnalzendes Geräusch erklang. Aus dem Lauf schob sich ein dünner, kurzer Stock, dann entrollte sich die daran angebrachte Fahne. Gerade als ich das aufgedruckte Wort Peng las, traf mich der nächste Schlag. Diesmal war er so stark, daß er mich auf den Rücken warf. Die Umgebung verschwamm vor meinen Augen. Und sah jemanden, ohne ihn genau erkennen zu können. Jemand, der den Gasmann seit seiner Ankunft beobachtet hatte. Wieder mußte ich an die Zitadelle denken. Und eben wegen dieses Mannes brauchte mich offenbar der Gasmann. Ich sollte mich erinnern! Ächzend richtete ich mich auf, während das Mädchen mich umkreiste. Zwei Dinge registrierte ich gleichzeitig. Auf dem Rücken ihres Kleides hatten sich große Schmetterlingsflügel
gebildet. Im selben Moment spürte ich ein Kribbeln, das den nächsten Stromschlag ankündigte. Zugleich zerbrach etwas in mir. Blitzartig drehte ich meinen Kopf, öffnete die Kiefer und schloß sie wieder. Knisternd brachen die Flügel unter dem Druck und Clarissas Kichern wurde zu einem schrillen Schrei, als sie wie ein Stein abwärts stürzte. Ich fühlte den Ruck, der durch ihren Körper ging, während das Mädchen in meine vorgestreckten Arme fiel und diesmal wohl ihrerseits einen fürchterlichen Stromstoß erhielt.
„ER WIRD mitspielen!“ Berta hängt wie regungslos im Griff der Kapuzen. Ihre Worte werden zu einem Gurgeln, als ihr auch der Rest der Flüssigkeit eingeflößt wird. „Bitte… ich… kann…“, für einen Moment herrscht Schweigen. Dann erklingt wieder ihre Stimme. „… nicht… mehr.“ Zwei stoßen Berta vor, auf den Bauch und halten sie am Armen und Beinen fest. Das dicke Mädchen bäumt sich verzweifelt auf, als sich ein dritter Vermummter auf ihren Rücken setzt und ihr Gesicht tief in den Schlamm drückt. „Schade, das war zu wenig!“
WIEDER KLAR im Kopf befand ich mich im Kinderzimmer, jedoch in meiner normalen Gestalt. Ich lag auf dem Bett, neben mir Clarissa im zerrissenen Kleid. Und obwohl ich das Erlebte zu verdrängen versuchte, konnte ich mich an alles erinnern. Die kleine Mulattin starrte ins Leere. „Ich soll dir etwas vom Gasmann ausrichten.“ Sie richtete sich auf und begann sich ungeschickt von den Überresten ihres Kleides zu befreien, sprach völlig mechanisch: „Sie haben das Spiel gewonnen und mich überzeugt. Der Eschtalogische Club hat Berta ausgeschaltet. Egal ob sie noch lebt, sie ist nutzlos geworden. Der Club besitzt einige meiner Skripte und das U-Boot, mit
dem ich nach Cathay kam. Warten Sie, bis ich Kontakt zu Ihnen aufnehme. Ich hoffe, Sie hatten Ihr Vergnügen! Genau wie damals, als Sie sich einquartierten.“ Mir lief es kalt den Rücken herab. Nicht nur, weil Clarissa diese Worte mit einer eiskalten Grabesstimme gesprochen hatte, sondern weil sie andeuteten, wie viel der Gasmann über mich wußte. Und mehr noch: daß er mich bei meiner Ankunft beobachtet hatte, wenn nicht gar erst hergelockt. Das hätte meine Vermutung, daß ich für diesen mir noch unbekannten Plan von herausragender Bedeutung war, noch unterstützt. Ich war erschüttert und versuchte, meine Fassung zurückzugewinnen. Die Antwort auf all meine Fragen stand neben mir: Clarissa. Die Stimme verstummte und Clarissas Gesichtszüge fielen in sich zusammen. Sie begann zu weinen und preßte sich an mich. Ich spürte das Naß ihrer Tränen durch mein Hemd hindurch und hielt sie mit dem rechten Arm fest, während ich versuchte, die Reste von Zuckerwatte aus der Linken zu entfernen. Wären sie und Clarissas seltsames Verhalten nicht gewesen, hätte ich denken mögen, ich hätte all das, was soeben vorgefallen war, nur geträumt. Aber ich wußte, daß die Vorgänge sehr real gewesen waren, lediglich verzerrt durch Drogen, die mir der Gasmann eingeflößt hatte. Ich mußte ein gefährliches doppeltes Spiel spielen und schlauer sein als er und seine Gegner zugleich. Verdammt, der Schädel brummte mir zu sehr, als das ich mich darauf hätte konzentrieren können. Vielleicht war es das Beste, sich an die frische Luft zu begeben, auch wenn – wie ein rascher Blick aus dem Fenster verriet – es schon wieder in Strömen regnete und das Dunkel der hereinbrechenden Nacht nur mühsam vom flackernden Licht der Straßenlaternen aufgehellt werden konnte.
Ich beschloß, Clarissa mit auf eine Wanderung zu dem Leuchtturm zu nehmen, der im Osten der Stadt auf einem schroffen Felssporn errichtet war und schon längst keine Lichtzeichen mehr aufs Meer hinausschickte.
ES WAR EIN wunderschöner Abend. Clarissa machte einen irgendwie befreiten Eindruck. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten, desto mehr schien der Einfluß des Gasmannes von ihr zu schwinden. Als wir das letzte Haus hinter uns ließen und die Pflasterstraße in einen Feldweg überging, begann das Mädchen zu singen, zuerst leise und verhalten, dann zunehmend lauter. Wir gingen am Meer entlang, wo sich der Pfad zwischen mannshohen Basaltblöcken wand. Von Zeit zu Zeit verschwand der Leuchtturm aus unserem Blickfeld, ein Stumpf, dessen Spitze amputiert war, wund, schorfig. „Ich habe Freundinnen, die uns helfen könnten“, meinte das Mädchen überraschend plötzlich, als es ein letztes naives Lied beendet hatte. „Freundinnen?“ – Ich stutzte. Was wußte Clarissa eigentlich über die ganze Geschichte? Hatte sie mit ihrem kindlichen Instinkt etwa längst Zusammenhänge hergestellt, die mir verborgen geblieben waren? „Ja, weißt du, eigentlich waren Berta und ich gar nicht so gut miteinander befreundet. Ich habe sie nur manchmal mit in die Festung genommen, weil…“ „Was in aller Welt habt ihr in der Zitadelle getan? Hör zu: Mit dem Gasmann ist nicht zu spaßen! Warum bloß hast du mir nicht früher…“ „Es geht ja dabei gar nicht um den Gasmann! Ihn habe ich doch erst später beim Spielen kennengelernt. Und überhaupt,
er ist gar nicht so, wie du denkst!“ Vorwurfsvoll sah sie mich an. „Ach, wie ist er denn dann?“ gab ich rauh zurück. „Er ist… sehr sensibel, und ich glaube, er ist überzeugt von dem, was er tut. Deshalb habe ich ihm geholfen. Was weißt du eigentlich über seine Feinde?“ „Die Hellraiser? Ich dachte, die arbeiten für ihn?“ „Neee, die sind verrückt, wollen nur Spaß. Die kann man nicht ernstnehmen, obwohl sie gefährlich sind und manchmal Botengänge erledigen, mal für den Gasmann, mal für die anderen…“ „Und die sind…?“ Ich konnte meine Verblüffung kaum verbergen. „Na, der Eschatologische Club!“ – dieses komplizierte Wort aus dem Mund einer Vierzehnjährigen! „Sag mal, was hast du eigentlich getan, als der Gasmann uns alles erklärt hat? Hattest du was genommen?“ Sie mußte unser Spiel meinen. Hatte sie etwas anderes gesehen und gehört als ich? Und was, glaubte der Gasmann, hatte ich wohl gesehen? Verdammt, wenn nur nicht dieses Druckgefühl in meinem Schädel gewesen wäre, dieses zähe Gespinst, das jeden klaren Gedanken verhinderte! „Nein, wie kommst du darauf? Und was zum Teufel ist dieser Club?“ Clarissa verdrehte die Augen: „Das will ich dir ja die ganze Zeit erklären. Mann, du hast beim Gasmann so bedröhnt ausgesehen, als ob du zuviel Lotus gegessen hättest. Und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob er das nicht merkt.“ „Moment mal, er selbst hat mir doch dieses Zeug angeboten, nach dem ich mich so komisch gefühlt habe. Willst du etwa behaupten, wir hätten gar nicht gegeneinander gekämpft?“ „Ey, spinnst du? Paß mal auf, der Gasmann hat selbst von dem Zeug getrunken, das er dir angeboten hat. Keine Ahnung,
was das war, aber bei ihm hat’s keine Wirkung gehabt. Du aber sahst auf einmal ziemlich komisch aus und hast nur noch genickt, wenn er dich angesprochen hat. Wir müssen ihm davon berichten, kann sein, daß das von Bedeutung ist… aber jetzt erzähl ich dir erst mal, was du verpaßt hast…“ Und sie berichtete, was der Gasmann ihr offenbart hatte. Daß nämlich jener Club eine Gruppe sei, hinter denen man zwölf mächtige Cathayer vermutete. Sie operierten im Verborgenen und traten niemals selber in Erscheinung. Leute wie die Hellraiser dienten als Handlanger, aber auch das Heer der zahllosen Obdachlosen schien verläßliche Dienste zu leisten. Der Gasmann hingegen bekämpfte den Club, aus welchen Gründen, wußte Clarissa nicht. Persönlicher Haß schien eine wichtige Rolle zu spielen, aber wohl auch die Tatsache, daß sich beider Pläne kreuzten. „Du hast den Gasmann vor kurzer Zeit bei der Zitadelle aufgespürt, hm?“ Ich nickte und spürte Ärger über meine Ungeschicklichkeit an diesem Tag aufsteigen, an dem ich ihn beinahe in die Finger bekommen hatte. Ich fragte mich, wer wohl das größere Übel war: der Gasmann, oder diese ominöse Vereinigung. „Er war davon nicht sonderlich begeistert, denn er hatte gerade eine heiße Spur. Ich glaube, er vermutet den Treffpunkt des Clubs in den Kellern der Festung. Ich glaube, deshalb hat er mich auch die ganze Zeit so freundlich behandelt… weil ich mich dort auskenne. Onkel Johan holt mich ja manchmal zu sich…“ Ja, auch ich hatte schon festgestellt, daß Clarissas Familie auf seltsame Weise mit dem monumentalen Bau in Verbindung stand. Ihr Bruder besuchte die dort untergebrachte Eliteschule, seine Mutter, mit der er ein widernatürliches Verhältnis unterhielt, Clarissa, ihr Onkel… Wie war sein Name? Johan? Meine Gedanken drehten sich im Kreis und bissen sich
schließlich selbst in den Schwanz. Warum konnte ich nicht eins und eins zusammenzählen, ohne Kopfschmerzen zu bekommen? Johan, wer? Gerade als ich mich zu konzentrieren versuchte, bückte sich Clarissa plötzlich und hob etwas Glitzerndes auf, reichte es mir: „Schau mal!“ Meine Augen weiteten sich, als ich die Schachfigur in meinen zitternden Fingern hielt. Während ich das Fundstück betrachtete, sah mich die kleine Mulattin aufmerksam an, verträumt und seltsam wissend zugleich. Ja, ich hatte dieses kleine Ungetüm schon einmal gesehen. Gleich nach meiner Ankunft in der verfluchten Stadt. Bei ihrem Onkel Johan Arcksleben. Moment mal, Arcksleben galt doch als tot, oder? Von meinem Blick fixiert, schien die Gestalt drohend vor Clarissa aufzuragen, obszön in Form und Darstellung, aber in all ihren Details von einer geradezu sensiblen Ausführung. Mittlerweile glaubte ich nicht mehr an den Zufall, auch was den Fund dieser Spielfigur betraf nicht, denn bei ihrem Anblick kehrte eine Szene in mein Gedächtnis zurück, die ich nie erlebt zu haben glaubte.
DER VORNEHM gemütliche Arbeitsraum wird vom Ticken einer monströsen Standuhr dominiert, die auch als Weltuntergangsmaschine bezeichnet wird. Das fast an die Decke reichende Ungetüm wirkt uralt, wie aus Stein geformt, und ist mit mehr als fremdartigen Gravuren und Zeichen bedeckt, deren Anblick nur schwer zu ertragen ist, was auch für das Zifferblatt gilt, das nicht nur die Zeit in Stunden, Minuten und Sekunden anzeigt. Bedeckt mit Zahlen, Symbolen und Buchstaben, besteht es aus mehreren Scheiben
und Zahnrädern, welche sich immer wieder aufs Neue verschieben. Der köstlich verlockende Duft heißer Schokolade im Raum drängt sich mit der Erinnerung in meine Nase. Ja, hier im Banne der monströsen Uhr und des süßen Duftes hatte ich Clarissa zum ersten Mal gesehen. Sie hatte auf den Zug eines seltsamen Brettspiels gewartet, mit Würfeln und Figuren, bei deren Anblick unter normalen Umständen nicht nur die beiden Mädchen rot geworden wären, die sich gegenüber saßen in jenen altmodisch hohen Stühlen, welche die Sitzenden winzig erscheinen ließen. Das galt ganz besonders für Clarissas Freundin. Das Berta genannte Mädchen trägt sein hüftlanges und transparentes Leibchen in Weiß, das Bustier darunter von gleicher Farbe, eine Bekleidung, die ihr Übergewicht unvorteilhaft betont. Berta starrt konzentriert auf das Spielbrett, eine Hand schwebt unschlüssig über zwei Figuren, die andere ist um die Kante der Tischkante verkrampft. Sie sitzt auf dem Schoß von Arckslebens, eines mittelgroßen, schlanken Afrikaners, dessen Goldrandbrille mit einer altmodischen Kette versehen ist. Ich erinnere mich, als ob es gerade erst geschehen wäre. Berta, völlig versunken, ein wenig vorgebeugt… der winzige Einstich in ihren Finger. Beide schauen mich an, sie und von Arcksleben… seine schimmernde Brille, die gepflegte Stimme, mit welcher er langsam und geduldig auf mich einredet. Von Clarissa sehe ich nur den Rücken des grellgrünen Leibchens, bauchfrei mit Spaghettiträgern, dazu die Jeans. Sehe ihren Hinterkopf und die zwei kurzen seitlich abstehenden Zöpfe. Plötzlich wird mir bewußt, daß die kleine Mulattin auf meinem Schoß sitzt. Überrascht vom Klicken ihrer Figur zuckt sie zusammen, dreht den Kopf und… schaut mich an.
Mit einem Schlag war ich wieder in der Gegenwart. Und plötzlich konnte ich nicht anders und reichte Clarissa die Figur hastig zurück. Sie griff danach, und noch während ich losließ, tastete ich wie zufällig über ein Detail. Ein leises Klicken ertönte, gefolgt vom überraschten Aufschrei des Mädchens, als die kurze dünne Nadel aus der Spielfigur in ihre Hand fuhr, gerade lange genug, um ihr eine Dosis der Droge aus dem kleinen Figurenbehälter einzuimpfen, ehe sie sich wieder ins Innere der Konstruktion zurückzog. Da hatten sich die Augen der kleinen Mulattin jedoch bereits geweitet, und sie hatte begonnen, schwer zu atmen. Genau wie damals… „Na, mein junger Freund, Sie sehen aus, als hätten Sie gerade einen Geist gesehen!“ Ja, genau das hatte er damals gesagt und mich dabei mißtrauisch gemustert. Und ich? Ich hatte mit dem Kopf geschüttelt und das Experiment fortgesetzt. Warum wußte ich das nun plötzlich? Waren diese Bilder schon immer in meinem Geist gewesen? Ich hatte sie vor kurzem schon einmal gesehen, auf den Zeichnungen, die Clarissa mir gegeben hatte. Und mehr noch: Ich sah mich nun dem dunkelhäutigen Arcksleben folgen und es ihm nachtun, als er aufstand und sich eines der beiden Mädchen über die Schulter warf. Vorbei an der sakrilegischen Uhr zu einer runden Tür, die nur angelehnt nach außen aufschwingt. Wir betreten eine Röhre von nahezu runden Querschnitt, gemauert, mit Ausschwemmungen weißen Salpeters. Dumpf hallende Schritte und ferner Lärm bilden eine düstere Geräuschkulisse. Über uns muß der Straßenverkehr rollen. Es geht abwärts, ohne Stufen neigt sich der gemauerte Ziegelschlauch in die Tiefe. Dann von links und rechts die ersten Einmündungen anderer Gänge, die wir unbeachtet lassen. Es wird zunehmend kühler und feuchter.
Arcksleben trägt eine Fackel, die seine Züge dämonisch beleuchtet. Er dreht sich kurz zu mir um und entblößt erneut sein blendendweißes Gebiß, dann stößt er eine Tür vor sich auf. Wir betreten einen unterirdischen Felsendom mit einer Deckenhöhe von gut dreißig Metern und einer Flächenausdehnung, die es erlauben würde, ein mittleres Bürogebäude aufzunehmen. Ähnlich einem solchen ist die Grotte ausstaffiert, jedoch nicht mit Akten-, sondern Apothekerschränken mit ausziehbaren Schubladen, die sorgfältig beschriftet und numeriert sind: „Alf-An“, „503-IVX“ oder auch „Joh-III“. Mir erscheinen die Beschriftungen seltsam vertraut. Von Arcksleben steuert auf einen Tisch aus blitzendem Stahl zu und legt dort die immer noch bewußtlose Berta ab. „Unser Gegner schläft nicht!“ sagt er mit ruhiger, Überlegenheit demonstrierender Stimme. „Aber er hat keine Chance. Er ist alleine, und seine technischen Spielereien werden ihm in dieser Situation nicht helfen. Unsere Leute sind überall.“ „Aber…“ „Richtig, sie wissen es nicht. Aber es ist leicht, sie zu aktivieren, dank der psychoaktiven Substanz, die wir bloß mit dem Regen über der Stadt verteilen müssen. Ich schnippe mit den Fingern und… Da fällt mir ein… wie gefällt Ihnen die Blume, die Clarissa Ihnen bei Ihrer Ankunft in Cathay schenkte?“ „Die… Blume?“ Das Bild der fleischige Blütenblätter erscheint äußerst plastisch vor meinen Augen, fast hypnotisch. Hypnotisch? „Es geht ihr gut“, stammele ich. „Es geht ihr gut… gut… gut…“ schallte es in meinem Schädel nach, ganz wie in dem Felsendom. „… gut?“ Ich schlug die Augen auf und blickte in Clarissas Gesicht.
„Ist dir nicht gut?“ wiederholte sie ihre Frage. „Du warst einige Minuten lang vollkommen weggetreten.“ „Ich? Und ich dachte, du…! Nein, es ist alles in Ordnung. Im Gegenteil. Erst jetzt ist alles in Ordnung. Endlich weiß ich… komm schnell, wir müssen nach Hause!“ Ich fühlte mich, als habe eine gewaltige Woge den ganzen Unrat, der meinen Geist monatelang erstickt hatte, hinweggespült. Das war es gewesen! Das eiserne Band, das meine Gedanken gefesselt hatte, war plötzlich weggesprengt. In meinem Schädel schien sich eine Blüte der Erkenntnisse zu entfalten, die daran monatelang gewaltsam gehindert worden war. Mit einem Mal überkam mich die unbändige Angst, ich könne in diesen merkwürdigen Zustand des Somnambulismus zurückfallen.
DEN GANZEN Rückweg zur Herberge hatte ich das Bild der fleischigen Orchidee vor Augen, ihren süßlichen, fast aasähnlichen Geruch in der Nase. Ich mußte mich vor diesem unheilbringenden Einfluß schützen. Als wir das Haus erreichten, machte ich kurz an dem gußeisernen Brunnen an der Fassade halt, um ein Taschentuch zu befeuchten. Doch ich zögerte: Was, wenn das Wasser bereits verseucht war…? In Zukunft mußte ich sehr vorsichtig sein, doch jetzt galt es rasch zu handeln. Mein Zimmer: Dämmerlicht, das Rattern des Zuges, der stadtauswärts fuhr, jenseits des gesprungenen Fensters. Diesseits das vielarmige Grün der Orchidee. Ich stürmte zum Fenster, die Hand mit dem Taschentuch auf Nase und Mund gepreßt. Und dennoch spürte ich ein Zerren an meinem Verstand.
Ich riß das Fenster auf und warf die Pflanze mit weitem Schwung hinaus auf den Bahndamm, wo der Topf scheppernd zerbrach. Dann nahte der Zug aus der Gegenrichtung. Als er vorüber war, lagen nur noch lose Faserbündel auf dem Schienenstrang. In diesem Moment schellte das Telefon. Ich nahm den Apparat mit auf den Flur, um abzuwarten, bis sich die schädlichen Dünste der Pflanze, die immer noch im Zimmer hängen mußten, verflogen waren, und hob ab. „Es ist soweit! Wir schlagen zu!“ – es war die Stimme des Gasmannes. „Treffen heute abend achtzehn-null-null, Kreuzung Gerichtsweg – Kapellenstraße.“ „Gasmann, hören Sie, ich…“ – Zu spät. Das metallische Klicken in der Leitung verriet mir, daß er aufgelegt hatte.
DIE PALME bot kaum Schutz vor dem dicht fallenden Regen. Ich wünschte mir, der Gasmann hätte einen anderen Treffpunkt vorgeschlagen, doch offensichtlich hatte er es mit Bedacht getan. Die Straße war um diese Zeit menschenleer. Alleine ein Melonenwagen – eines der lärmenden, von einem Gemisch aus Öl und Benzin angetriebenen Dreiräder – nahte aus Richtung Stadtrandbezirk. Das laute Rattern schreckte mich aus meinen Gedanken, während das Gefährt direkt vor mir hielt, mit von Schlamm verschmierten Scheiben, welche vom Fahrer nur Umrisse erkennen ließen. Als die Tür aufgestoßen wurde, erkannte ich endlich die insektenhafte Gestalt des Gasmannes. Mit mehr als gemischten Gefühlen stieg ich ein und schloß die Tür, woraufhin die Fahrt sofort weiterging. Was für ein Gedanke, daß ich nun dicht neben dem Mann saß, den ich um die halbe Welt gejagt hatte!
Der scharfe Geruch von Leder vermischte sich mit dem von Öl und Benzin. Die bizarre Maske des Mannes ließ keinerlei Rückschluß auf seine Gesichtszüge oder Emotionen zu. Ich schaute nach hinten, nur um mich mit blassem Gesicht wieder zurückzudrehen. Was unter den scheinbar unachtsam im winzigen Laderaum verstauten Obststeigen hindurch schimmerte, war eindeutig Metall. Auch wenn ich kein Experte in solchen Dingen war, sah es mehr als eindeutig nach einer Bombe aus. Und wie ich meinen unfreiwilligen Verbündeten zu kennen glaubte, war sie wohl weder eine Attrappe noch von geringer Sprengkraft. Zu meiner Überraschung nahmen wir nicht den Weg zum Lastenaufzug, sondern eine jener engen, fast schlauchartigen Gassen, in welche der kleine Transporter kaum hineinzupassen schien. „Das Rondell!“ erläuterte der Gasmann mit durch die Maske verzerrter Stimme. „Jetzt ein Magazin für die Zitadelle. Der Keller ist ein Gang, der tief genug in den Hügel führt, breit genug in den Fels geschlagen, um unsere köstliche Fracht direkt hinein zu liefern.“ Und wie würden wir wieder herauskommen? Wußte der Gasmann, was er da tat, oder war er schlichtweg ein Irrer? Wie dumm war ich gewesen, für kurze Zeit Verständnis oder sogar Sympathie für diesen Mann aufzubringen? Wie leichtgläubig, anzunehmen, er wolle Cathay vor Schlimmerem retten. Und was wollte ich? Wo stand ich? War ich nur ein Blatt im Wind, ohne eigenen Willen, eigene Meinung? „Achtung!“ Die Fahrt des Vehikels verlangsamte sich. Vor uns, am Ende der steilen Straße, versperrte eine wie für die Ewigkeit gebaut erscheinende Mauer die Sicht. Das Rondell. Das kleine Lebensmittelgeschäft im Gemäuer wirkte ebenso provisorisch wie deplaziert.
„Aufgepaßt! Wir halten! Sie steigen aus, unterschreiben den Passierschein, warten, bis daß man uns öffnet. Danach steigen Sie wieder ein.“ Wie zufällig hob er seinen rechten Ärmel hoch. Am Handgelenk warteten etliche tödliche Glasphiolen darauf, auf ein Opfer geschleudert zu werden. „Verpatzen Sie es nicht!“
DER WÄCHTER, der aus dem Schatten einer Nische zur Rechten trat, trug eine graue Uniform nach maoistischer Mode. Am Kragenspiegel blinkte jedoch anstatt des Sterns ein roter Blitz. Er musterte mich aus kalten wasserblauen Augen mit leicht stierem Blick, dann verglich er unser Kennzeichen mit den Daten auf seinem Klemmbrett. „Alles in Ordnung“, sprach er mit sonorer Stimme. „Wenn Sie bitte noch den Passierschein abzeichnen würden!“ Meine Hand zitterte und gehorchte doch meinem Willen. Das alles funktionierte zu reibungslos, oder? Selbst wenn der Gasmann die Aktion sorgfältig vorbereitet hatte. Unmittelbar vor uns tat sich ein gähnender Schlund auf. Eine Wand des Rondells verschwand mitsamt Fenster einfach im Erdboden. Der Durchlaß hätte gereicht, um einen Panzer hinein- oder herauszulassen. Der Posten winkte uns durch und salutierte, als wir langsam an ihm vorüberrollten. Das Knattern des Dreirades hallte vielfach verstärkt von den Wänden des uns umgebenden Schachts wider. „Das wäre geschafft. Der Rest ist ein Kinderspiel!“ Täuschte ich mich, oder war da ein echtes Grinsen auf dem Gesicht des Gasmannes zu erkennen?
„Wir dringen in den verletzlichen Unterleib unseres Feindes ein und stoßen den Dolch bis zum Anschlag in sein nachgiebiges Fleisch. Woll’n sehen, ob er dann noch triumphiert!“ Der Gang machte einen Knick nach rechts. Leuchtende Signaturen an den Wänden verrieten uns den Weg hinab ins Magazin der Feste, hinab in die ehemaligen Pulverkeller, wie ältere, notdürftig übermalte Schilder uns lehrten. Einmal kreuzten wir den Schienenstrang eines Lastschlittens. Ich prägte mir dieses nebensächliche Detail ein, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, später noch einmal Nutzen aus diesem Wissen ziehen zu können. Plötzlich mündete der schmale Tunnel in einen weitaus breiteren, großzügig angelegten. Das Dreirad lief knatternd aus, der Gasmann brachte den Motor zum Verstummen. Im Halblicht der Fackeln, die ölig rauchend an den Wänden flackerten, so als bekämen sie zu wenig Sauerstoff, erkannten wir eine Gruppe Uniformierter, die damit beschäftigt war, einen Lastschlitten zu beladen. Sie waren mit Maschinenpistolen bewaffnet und trugen Helme, die den Eindruck erweckten, als befanden wir uns mitten in einem Gefecht. Als wir in den breiten Gang eingebogen waren, hatten die Söldner ihre Arbeit auf der Stelle unterbrochen und die Läufe der Waffen auf uns gerichtet, nun betrachteten sie uns stumm. Ich rechnete damit, daß uns schon in wenigen Sekunden Gewehrfeuer zerfetzen würde, doch nicht dergleichen geschah. Stattdessen stieg der Gasmann aus dem Gefährt aus und bedeutete mir, ihm zu folgen. „Es ist alles vorbereitet, wie Sie es wünschten, Herr!“ salutierte der mit dem Abzeichen – dem von einem Ring umgebenen, dem Saturn ähnelnden Planeten auf dem Kragenspiegel – nach ranghöchste Mann. Der Gasmann hatte
also ebenfalls seine Leute in Position gebracht in diesem undurchschaubaren Spiel. „In exakt…“ – der Uniformierte blickte auf die Uhr am Handgelenk – „… dreizehn Minuten wird sich der Schlitten in Bewegung setzen, um Material in den Tiefenbunker zu transportieren. Er wird auf dem Weg noch einmal kontrolliert.“ „Ich weiß. Deshalb werde ich zusammen mit meinem jungen Freund hier mit von der Partie sein, um die Kontrollen auszuschalten, auch wenn menschliche Passagiere verboten sind…“ Etwas von der Art eines Grinsens zog über die versteinerten Züge des Gasmannes, dann winkte seine behandschuhte Rechte mit einer herrischen Geste Helfer herbei, die sich sogleich daran machten, mittels eines überdimensionalen Seilzuges die zwischen Melonen versteckte Bombe auf den Lastschlitten zu hieven. Diese Aktion dauerte keine zehn Minuten. Die Zeit verging zu rasch, während ich noch damit beschäftigt war, mich von dem Schrecken zu erholen. Ich hatte geglaubt, mein Auftrag sei erfüllt, sobald ich den Gasmann in die Festung begleitet hatte. Daß ich die Reise jedoch ins Innerste derselben fortsetzen sollte… gab es denn überhaupt eine Chance, lebend dem zu erwartenden Inferno zu entkommen? Mein einstiger Gegner schien meine Gedanken gelesen zu haben. Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen, dann sagte er: „Die Chance, zu überleben ist 50:50, ich habe alles sorgfältig durchgerechnet. Wir brauchen nur etwas Glück. Sollte am anderen Ende des Gleisstranges kein zweiter Lastschlitten auf uns warten, sieht es schlecht aus. Trösten Sie sich damit, daß Ihre Chancen auf der anderen Seite erheblich schlechter stünden. Die Bombe geht in einer halben Stunde hoch, und sie wird von der Festung nicht viel übrig lassen. Es ist eine reine Sicherheitsmaßnahme, daß wir sie zur untersten Ebene bringen. Kommen Sie, es geht los!“
Und erstaunlich behende sprang er auf eine niedrige Plattform, ein über einen Stahlrahmen gespanntes Drahtgeflecht im Vorderteil des Schlittens, der sich sogleich in Bewegung setzte. Ich zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Was würde geschehen, wenn ich dem Gasmann nicht folgte? Würden die Uniformierten auf mich schießen? Oder würde er selbst mich mit einer seiner tödlichen Gasampullen auslöschen? Die Überlegung war rein hypothetisch. Ich wußte, es gab keinen anderen Weg als den in die Tiefe, und so sprang ich mit Anlauf auf die Bahn, die knarrend an Geschwindigkeit hinzugewann. Es wurde schlagartig stockfinster. Der Schlitten wurde durchgerüttelt, und so auch wir, seine blinden Passagiere. In engen Kurven, derer es etliche an der Zahl gab, wurde ich schmerzhaft gegen spitz hervorstechende Felszacken gepreßt. Schwer lastete das Gefühl, erdrückt zu werden, auf mir. Aus Richtung des Gasmannes hörte ich von Zeit zu Zeit ein leises Kichern, geradezu so, als mache ihm die Fahrt Spaß. Nach wenigen Minuten verlangsamte der Schlitten seine Höllenfahrt. Wir näherten uns einer Lichtquelle. „Die Kontrolle!“ zischte der Gasmann. „Aber kein Grund zur Sorge!“ Behende kletterte er am Rande des Schlittens entlang zum Bug und wartete geduldig, bis eine etwa 1,5 mal 1,5 Meter große Fensteröffnung sichtbar wurde. Der Posten, dessen Schatten sich gegen das Licht abzeichnete, mußte völlig übermüdet sein. Mit nachlässigen Bewegungen ließ er den Strahl einer Taschenlampe über unser Transportmittel gleiten. Als dieser Strahl den Gasmann erfaßte, war es für eine Gegenwehr bereits zu spät. Eine dünne Drahtschlinge legte sich von sicherer Hand geworfen um seinen Hals. Ein Ruck beförderte den Wächter hinaus ins Dunkle und in die
unauslotbaren Tiefen des Schachts. Nicht einmal für einen Schrei hatte er Zeit gehabt. „Gas wäre zu gefährlich gewesen!“ murmelte der Gasmann in meine Richtung. „Hier im engen Tunnel. Weiter geht’s!“ Und mit einem sanften Ruck ging die Fahrt weiter. Tiefer, immer tiefer, jedoch nicht gradlinig, sondern den Windungen eines steinernen Schneckenhauses folgend. Unmöglich, abzuschätzen, wie lange die Fahrt dauerte. Endlich spie uns der Schacht aus in eine Halle, das Gefährt kam abrupt zum Stehen, wobei sich die stählernen Seile, die es führten, sich mit einem peitschenden Twang spannten. Beinahe wurde ich durch diese plötzliche Bremsung vom Schlitten geworfen. Unter Aufbringung aller Kraftreserven klammerte ich mich am kalten Metall der Bombe fest. Weniger glücklich traf es den Gasmann. Die Trägheit der Masse riß ihn von dem Schlitten und ließ ihn einige Meter weit über den Boden der Halle schleifen, bevor er ächzend zum Liegen kam. Welch eine Gelegenheit, mich meines verhaßten Feindes zu entledigen! Mit einem Sprung hechtete ich vom Schlitten und zu ihm herüber, da sah ich schon, wie er sich aufrichtete. Einen Augenblick lang verharrte er wortlos. Hätte ich nur einen Blick hinter seine Maske werfen können, die blanke Mordlust in seinen Augen sehen, den unbarmherzigen Haß, den auch er verspüren mußte, auf den Erben seines einstigen Erzfeindes. „Wir haben keine Zeit zu verlieren!“ sagte er stattdessen nur. „Wir haben unser Ziel erreicht. Die Bombe wird in exakt 33 Minuten und 47 Sekunden explodieren. Diese Zeit reicht gerade aus, um uns aus ihrer Reichweite herauszubringen. Jetzt sind Sie am Zuge! Führen Sie uns hier heraus!“ „Moment, ich dachte, der Lastenaufzug…“ „Vergessen Sie ihn. Die Männer am oberen Ende des Schachtes sind längst getötet worden. Glauben Sie etwa, unser Eindringen sei unbemerkt geblieben? Bereits jetzt sind die
Sturmtruppen unseres Feindes auf dem Weg hierher. Also, nutzen Sie Ihr verborgenes Wissen!“
WAS DER GASMANN von mir verlangte, war leichter gesagt als getan. Ich ahnte, worauf er anspielte, nämlich meine Doppelrolle als Agent Johan von Arckslebens in diesem Spiel. Doch leider hatte ich die immer nur unbewußt durchlebt, hatte noch keinen völligen Zugang zu den Erlebnissen meines anderen Ichs gewonnen. „31 Minuten! Die Bombe läßt sich nicht aufhalten. Jeder Versuch, sie zu manipulieren, ruft ihre vorzeitige Zündung hervor“, drängte der Gasmann. Wir verschenkten wertvolle Zeit! „Hier entlang!“ stieß ich hervor und zwängte mich zwischen hochgestapelten Fässern und aufgetürmten Paketen unbestimmbaren Inhalts hindurch, ohne wirklich zu wissen, wo der Weg entlangführte. Weg, erst einmal einfach nur hinaus aus der direkten Gefahrenzone. Der Gasmann folgte mir ohne Kommentar. Ich ahnte, was sich in den Fässern befand, nämlich ebenjene psychoaktiven Substanzen, mit denen der Eschatologische Club zuerst Cathay und dann die ganze Welt überschwemmen wollte, angeführt von Johan Arcksleben, Bertas Großvater. Plötzlich war mir alles klar. So einfach, so verdammt einfach! Er hatte es mir schließlich selber gesagt. Damals, als ich nach Cathay gekommen war. Ja, damals… war ich auch hier unten gewesen. Oder nicht? Doch, ich erinnerte mich… … Ein Gang mündet in die Halle, die eine andere als die ist, in der Arcksleben sein teuflisches Klonprogramm in die Tat umsetzt. Der Farbige ist noch immer an meiner Seite, hat seinen linken Arm kameradschaftlich auf meine Schulter gelegt. „Hier“, sagt er, „hier sehen Sie das, was uns die Macht
gibt, zu tun und zu lassen, was uns gefällt, sobald die Zeit reif und wir bereit sind!“ Und mit der Rechten vollführt er eine weitläufige Bewegung über die unter uns lagernden Fässer. Tausende müssen es sein. Genügend, um mehr als nur die Einwohner Cathays zu beeinflussen. „Kommen Sie, mein Freund, ich bringe Sie nun dahin zurück, wo wir hergekommen sind.“ Er steigt eine scheppernde Eisentreppe hinab, und ich folge ihm willenlos. Ich wußte plötzlich wieder, wo ich war! Viele Male war ich hier unten gewesen, nach all den Sitzungen, die Arcksleben mit mir abgehalten hatte. Zu welchem Zweck eigentlich? Ich wußte immer noch nicht, welche Rolle ich in seinen Plänen spielte. Aber ich wußte, wie wir von hier fort kamen, und zwar auf einem Weg, den zu finden unsere Häscher uns niemals zutrauen würden. Denn sie wußten ja nicht, daß ich mein Bewußtsein wiedererlangt hatte! „Hier entlang, kommen Sie, rasch!“ raunte ich dem Gasmann zu und tauchte nach rechts ab in einen arkadenartigen Umgang, der einst wie die ganze Halle in den Berg unter der Zitadelle gemeißelt worden war. Wie Wurmlöcher durchzogen Gänge das Felsmassiv. Das sollte uns nun zugute kommen, wenn mich meine Erinnerung nicht trog. Plötzlich war da ein Loch im Fels. Ich kannte es nur zu gut. Denn viele Male war ich hier hergekommen, wenn Arcksleben sich meiner bedient hatte. Der Gasmann zögerte mir zu folgen. Glaubte er etwa, ich wollte ihn in eine Falle locken? „Kommen Sie, Gasmann, wir haben keine Zeit zu verlieren. Der Weg ist lang und beschwerlich, aber er führt in die Freiheit.“ Endlich setzte er sich in Bewegung und folgte mir geduckt ins Dunkel des Ganges.
WIR WAGTEN es nicht, unsere Taschenlampen einzuschalten, denn ihr Schein hätte uns jedem Gegner vorzeitig verraten. Von Zeit zu Zeit blieb ich horchend stehen. Doch wir waren allein in dem unterirdischen Labyrinth, wenngleich um uns herum vermutlich längst eine hektische Betriebsamkeit eingesetzt hatte. Was würde Arcksleben tun? Wie würde er versuchen, sich und seine Pläne zu retten? Oder verkannte der geniale Planer gar seine Situation und unterschätzte die explosive Kraft der Bombe, die wir in sein heiligstes Heiligtum geschmuggelt hatten? Wir sprachen nur wenig. Ich hörte den rasselnden Atem des Gasmannes hinter mir. Fast hatte ich vergessen, wie alt er eigentlich schon war. Unglaublich, welche Kraft in dem Mann steckte. Und dann: eine Tür. Ich wußte, was dahinter lag, stieß sie weit auf und prallte doch zurück. Denn: die Schreibtischlampe brannte so, wie ich sie verlassen hatte. Vor dem Fenster fuhr in diesem Moment ratternd ein Zug vorbei. Seine Erschütterungen ließen das alte Haus erzittern. Auf einem Stuhl vor dem breiten Sekretär, auf dem ich meine Unterlagen ausgebreitet hatte, bevor ich mich zu dem mit dem Gasmann vereinbarten Treffpunkt aufgemacht hatte, saß ein Mann, der uns den Rücken zuwandte. Er war schlank, sein Haarschopf schwarz. Er schien aus dem Fenster geschaut und auf irgendetwas gewartet zu haben, doch nun, da er das Geräusch der sich öffnenden Geheimtür hörte, drehte er sich langsam um. Und ich sah… … in mein eigenes Gesicht! Der Gasmann stieß einen häßlichen Fluch aus. Neugierig hatte er sich an mir vorbeigedrängt, um zu sehen, was mich
stutzen ließ. Das wurde ihm zum Verhängnis. Irgendetwas in der Hand meines Spiegelbildes blitzte kurz auf. Ein peitschender Knall erfüllte den Raum. Gleichzeitig wurde der Körper meines alten Gegners gegen mich geworfen und riß mich in den Geheimgang zurück. Und dann brach die Welt zusammen. Ein orangefarbener Ball blähte sich vor dem Fenster auf und explodierte in einer Schockwelle, gegen die das Vorbeifahren des Zuges das Husten einer Mücke gewesen war. Sämtliche Fensterscheiben zerbarsten in einem silbrigen Splitterregen, der mich mit Tausenden winziger Wunden überzog. Doch mir blieb nicht viel Zeit, Schmerz zu empfinden, denn eine zweite Explosionswelle ließ den Geheimgang über uns einstürzen. Schwärze.
BIN ICH ICH? Hat der Gasmann sein Ziel erreicht? Habe ich ihn getötet? Vor dem Fenster fallen dichte Regenschleier. Eine Wolke weißen Wasserdampfes hängt über dem rotglühenden Bergrücken, auf dem vor einer Stunde noch die machtvolle Zitadelle gestanden hat. Sie vermischt sich mit den tiefhängenden Nebelschwaden und geht als Regen zu Boden. Ich bin alleine, seitdem ich zu mir kam, unverletzt. Ich wende mich vom Fenster ab. Es klopft an der Tür, und…
CATHAY bereitete sich in seiner ganz speziellen Art und Weise auf den Untergang vor. Straßenfeste gingen ineinander über, Orgien und Verbrechen wechselten einander ab, sofern sie nicht schon längst ein- und dasselbe geworden waren. Durch die Scheiben drangen wilde, aufpeitschende Musik und laute, größtenteils trunkene Stimmen.
Draußen fiel nach wie vor in dichten Schleiern der Regen, verlief auf verwitterten Fassaden, ließ sie noch verwahrloster und verfallener erscheinen. Das von ihnen umgebene Viertel gewährte keinen Blick auf den rauchenden Hügel am Rande der Stadt. Schlauchartig mündeten Gassen ein. Wie ich wußte, führten eine oder zwei davon schon direkt zum Meer, dessen Wellen in den vergangenen Tagen immer wilder gegen das Ufer gepeitscht hatten. Immer wieder durchbrach ein mörderisches Knirschen und Prasseln den Lärm der Feiernden, wenn wieder ein Haus, eine Straße oder ein ganzer Block in die Fluten gerissen wurde. Einzig dieser ausgerechnet etwas tiefer gelegene Platz in unserem war von den Wassermassen verschont geblieben. Noch – ergänzte ich! All das schien die Bewohner dieser verfluchten Stadt nicht zu berühren. Wie zum Hohn fand hier ein Straßenfest statt. Männer und Frauen tummelten sich auf dem Platz, teilweise bis auf die Haut durchnäßt. Kleine Stände boten Getränke, Imbisse, Spielwaren, Schmuck und Süßigkeiten feil. Die Mitte des Platzes wurde jedoch von zischenden, bebenden Konstruktionen eingenommen. Zwei oder drei, die genaue Anzahl ließ sich kaum festlegen, durch Preßluft in Form gebrachte und in Bewegung versetzte Hüpfburgen mit durchsichtigen Kriechschläuchen boten Kindern wie Erwachsenen ein aufregendes Abenteuer. Bunt und lustig bemalt, war das Ganze so bizarr geformt, daß es einen mehr als zwiespältigen Eindruck aufkommen ließ, besonders einer der Gänge, dessen Anfang oder Ende sich wie ein schwerfälliger plumper Wurm mir zuwandte. „Wollen wir?“ Clarissas Stimme riß mich aus meinen Gedanken. Ich sah auf das merkwürdige Gebilde vor uns und strich ihr über die Dreadlocks.
Dieses Geschöpf entsprach meinen geheimsten Gedanken so sehr wie kein anderes auf dieser Welt. Kein Wunder, denn nach meinen Plänen war es aus dem besten Erbmaterial generiert worden. „Geh nur voran“, sagte ich und wischte mir Schweiß von der Stirn. Es herrschte eine unerträgliche Schwüle. Mich wunderte es beinahe, daß nicht Dampf aus den Rissen und Löchern im Pflaster quoll. Und selbst in dem Spielgerät mußte die Hitze extrem sein. Neben dessen Eingang standen ein kleiner Junge und eine Frau, seine Mutter vermutlich, die dafür sorgten, daß zwischen den Besuchern ausreichend Abstand blieb. Dieser Eingang war eine Spalte zwischen zwei sich nach außen wölbenden Wülsten. Clarissa verschwand darin mit einem schmatzenden Geräusch. Ich wartete, bis ich ein Zeichen erhielt, dann folgte ich ihr.
EIDECHSENHAUT
DIE STRASSENBAHN rumpelte auf ausgefahrenen Schienen unter den flackernden Laternen dahin wie an all den unzähligen Morgen zuvor. Den schwankenden Stromspannungen schenkte kaum einer der Fahrgäste Beachtung. Wenigstens fiel in letzter Zeit die Elektrizität seltener ganz aus. Vielleicht hatte man ja dieses Problem inzwischen in den Griff bekommen. Zu Fuß hätte ich dieses Viertel nicht durchquert. Es hatte einen selbst für Cathayer Verhältnisse schlechten Ruf, und wenn ich das tranige gelbe Licht hinter zerschlissenen, löcherigen Gardinen sah – nur wenige Fenster waren zu dieser frühen Stunde beleuchtet – dann erinnerte ich mich wieder der merkwürdigen verbotenen Silhouetten, die ich einst darauf geblickt hatte, und ich wünschte mir, die Erinnerungen abstreifen und vergessen zu können.
ICH WOHNE in einem Randbezirk der Stadt, dort, wo ein schroffer Felssporn ins Meer ragt, auf dessen Spitze ein gedrungener Turm steht. Oft habe ich mir gewünscht, nie mehr in die Stadt fahren zu müssen, wenn die Straßenbahn mich durchs finstere Hafenviertel, entlang des Kar, an der Universität vorbei bis zu jenem kalten hochaufragenden Haus brachte, in dem ich, einer Biene in ihrer Wabe ähnlich, zehn Stunden meines Tages in einem engen verstaubten Büro saß. Meine Kindheit ist, sofern ich das sagen kann, völlig normal verlaufen. Meine Eltern waren streng aber gerecht, und sie umsorgten mich mit geradezu erdrückender Fürsorge. Manchmal kam ich mir wie ein Vogel im goldenen Käfig vor, wenn ich, anders als die anderen Kinder, außerhalb der Schule mit keinem Menschen in Kontakt kommen durfte.
Mein Vater sorgte dank weitreichender Beziehungen dafür, daß ich nach Abschluß der Schule die Anstellung im Büro bekam. Hier saß ich Tag für Tag einem Kollegen gegenüber, mit dem ich kaum ein Wort wechselte. Fünf Jahre lebte ich so halb im Büro, halb im Hause meiner Eltern, dann verstarben diese in noch jungem Alter bei einem gräßlichen Unfall. Mein Leben erfuhr eine schmerzhafte Zäsur, als ich beinahe gleichzeitig das elterliche Haus in der Liliengasse verlassen mußte, das mein Vater durch riskante Finanzgeschäfte aufs Spiel gesetzt und verloren hatte. Und zum ersten Mal ahnte ich, daß nicht alles in unserer Familie so perfekt gewesen war, wie es den Anschein gehabt hatte. Es gab in unserem Haus ein Zimmer, in dem sich meine Eltern von Zeit zu Zeit mit Gästen getroffen hatten und dessen Betreten mir stets verboten gewesen war. Als das Haus kurzzeitig in meinen Besitz überging und ich auch den Schlüssel zu diesem Zimmer ausgehändigt bekam, entdeckte ich etwas, das bis dahin in meinem Leben keine Bedeutung gehabt hatte, und das man Sexualität nennt. An den mit rotem Samt bespannten Wänden reihten sich lästerliche Gemälde aneinander, deren Szenen damals zu unvorstellbar und erschreckend auf mich wirkten, um sie hier wiederzugeben. Im Raum verteilt fanden sich verschiedenste Lager und Gerätschaften, mittels deren Hilfe jene Obszönitäten während der ausschweifenden Orgien wohl in die Tat umgesetzt worden waren. Einem ersten Impuls folgend, warf ich die Tür ins Schloß, nur um sie wenige Herzschläge später wieder aufzureißen. Mich schockierte, was hinter der Fassade unseres bürgerlichen Hauses vor sich gegangen war. Es beschmutzte das Ansehen meiner toten Eltern, und ich wollte es nicht wahrhaben.
Ich beschloß, daß nichts davon an die Öffentlichkeit dringen dürfe, allerdings bedachte ich dabei nicht, wie viele Leute bei uns ein- und ausgegangen waren. In den nächsten Tagen suchten mich einige von diesen auf. Anfangs gaben sie vor, mir ihr Beileid bekunden zu wollen, doch nach und nach kamen sie auf das Geheimnis zu sprechen, das sie von mir gehütet wissen wollten. Manche boten mir Geld, wenn ich schwieg, andere drohten mir mit weitreichenden Konsequenzen; unter ihnen auch der Direktor meiner Firma. Beinahe hatte ich mit seinem Besuch gerechnet. Er war es auch, dem das Haus zufiel, und als ich es verließ, um in ein winziges Mansardenzimmer in der benachbarten Flußstraße zu ziehen, beobachteten mich seine tiefliegenden Augen auf meinem Weg, und in seinen fleischigen Händen drehte und wendete er den kleinen versilberten Schlüssel zum verbotenen Zimmer. Wie bereits gesagt, hatte ich nicht vorgehabt, das Geheimnis, das diese Menschen mit mir teilten, zu verraten. Auch hatte ich im Haus nichts verändert oder entnommen, was nicht mir persönlich gehört hatte. Bis auf eine unbedeutende Ausnahme. Im Tresor im Arbeitszimmer meines Vaters hatte ich zwischen Schuldscheinen und ungedeckten Wechseln eine Visitenkarte gefunden. Auf einem mit Reptilienhautprägung versehenen Papier stand in sauberen Lettern gedruckt: Mdme. Celine Lézard Lacertagasse 3-5 Cathay
ICH KANNTE diese Gegend in unmittelbarer Nähe des Hafens kaum. Einmal hatte ich mich als Kind dorthin verirrt
und von den dort lebenden Rotzbengeln die Prügel meines Lebens bezogen. Folglich verspürte ich wenig Lust, Madame Lézard, die doch im Leben meiner Eltern eine wichtige Rolle gespielt zu haben schien, einen Besuch abzustatten. Und ich hätte es gewiß nicht getan, hätte mein Vorgesetzter nicht einige Tage später beiläufig gefragt, ob mir nicht zufällig eine Adresse aufgefallen sei, die mein Vater irgendwo notiert habe. Als er dies sagte, bekam ich eine Gänsehaut, und mit Mühe nur überspielte ich meine Nervosität, als ich die Frage verneinte. Plötzlich kam mir ein furchtbarer Verdacht. Was, wenn meine Eltern nicht Opfer eines Unfalls, sondern einer Verschwörung geworden waren. Der einzige Nutznießer ihres Todes stand in diesem Moment vor meinem Schreibtisch. Da kam mir der Gedanke, daß ich mich für alle bisher erlittene Schmach rächen könnte. Ich hatte noch keinen konkreten Plan, aber ich überlegte, daß die Lacertagasse ein geeigneter Ort für eine Rache sein könne. Als sei es mir gerade wieder eingefallen, schlug ich mir die Hand vor die Stirn und berichtete dem Direktor von einem Notizzettel, den ich im Tresor meines Vaters gefunden hatte. Diesen, nämlich eine Abschrift der Visitenkarte, übergab ich ihm am Nachmittag.
ER GING NICHT am nächsten Tag zur angegebenen Adresse, und auch nicht am übernächsten. Vergeblich wartete ich vor seinem prunkvollen Haus in der Platanenallee. Am Abend des dritten Tages aber sah ich, wie er sich nach dem Hereinbrechen der Nacht unter der Vorgabe, geschäftlich unterwegs zu sein, von seiner Ehefrau verabschiedete und auf den Weg in Richtung Hafen machte.
Ich folgte ihm in sicherem Abstand. Da die Straßenbeleuchtung einmal mehr ausgefallen war, fiel es mir nicht schwer, unentdeckt zu bleiben. Er blickte sich mehrmals um und wählte nicht den direkten, sondern einen zeitraubenden Umweg, der ihn in gefährliche Nähe der Kaianlagen brachte. Das schien ihm nichts auszumachen. Ich fragte mich, welche Beweggründe diesen Mann antrieben, den ich seit jeher verabscheut hatte und nun wegen meines Verdachts richtiggehend haßte. Welche Dienste er bei Madame Lézard in Anspruch zu nehmen wünschte, glaubte ich zu wissen; Dienste, die entweder nicht jedem gewährt wurden oder ein Geheimtip waren. Wieso war diese Adresse so wichtig, daß mein Vater sie in seinem Tresor aufbewahrt hatte? Ich ahnte, daß weitaus mehr dahintersteckte, als ich bisher geglaubt hatte, auch wenn ich gewisse Befürchtungen bestätigt fand, als wir in die enge, aber lange Lacertagasse einbogen. Mein Opfer zögerte kurz. Wir betraten die Gasse von der falschen Seite her. Die Hausnummer zur Linken war die 48, rechts endete die Zeile unmittelbar aneinandergebauter Häuser mit der 51. Die Fenster aller Häuser waren rot oder orange beleuchtet und mit Leinen verhängt. Dennoch verbargen sie weniger, als sie zeigten, nämlich, daß dieser Ort der Treffpunkt der Sadisten, Masochisten und Sodomisten im dekadenten Cathay war. Hier wurden Menschen im Namen des Lustgewinns geschlagen und verstümmelt und empfanden dabei höchste Wonnen. Die Silhouetten dieses scheußlichen Treibens reichten aus, um in meiner Phantasie jene Bilder des verbotenen Zimmers wiederauferstehen zu lassen. Endlich hatte der Direktor das Doppelhaus Nr. 3-5 erreicht. Nervös verglich er die Adresse mit der auf meinem Zettel, dann schien er etwas an der Haustür zu suchen. Kurz darauf erklang ein leises Schellen, und wiederum einige Momente
später öffnete sich die Tür, und der Mann verschwand. Die Fenster jedoch waren und blieben unbeleuchtet. Ich hatte immer noch keinen Plan. Sollte ich versuchen, mir ebenfalls Einlaß zu verschaffen? Ich näherte mich der Tür und studierte die Klingelschilder. Sie waren allesamt unbeschriftet. Einen kurzen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, einfach heimzugehen, war schon auf die Straße zurückgetreten, da fiel mir auf, daß es zwischen Haus Nr. 1 und Nr. 3-5 einen schmalen, von Gestrüpp halb verdeckten Durchgang gab. Ich zwängte mich hindurch und zerriß Hemd und Hosen. Dann stand ich in einem verwilderten Garten, in dem mannshoch blutroter Mohn blühte. Aus einem nach hinten liegendem Zimmer vernahm ich Stimmen, leise, fern, erst zu verstehen, als ich unter das halb geöffnete Fenster trat. „Sind Sie sich ganz sicher?“ fragte eine Frau mit rauchig geheimnisvollem Timbre, zweifellos Madame Lézard. „Ja“, antwortete nach kurzem Zögern eine Männerstimme, die ich nur zu gut kannte. Er klang erregt. Zu ärgerlich, daß ich den Anfang ihres Gespräches verpaßt hatte. Die Stimmen entfernten sich. Vermutlich begaben die Sprecher sich in eine entlegene Zimmerecke. Die Vorhänge vor dem Fenster flatterten im Wind und ließen mal mehr, mal weniger von dem durchdringen, was gesprochen wurde. Ich verstand nicht alles, doch aus der Rede ging hervor, daß sich der Direktor unserer Firma als mein Vater ausgab. Das war riskant, denn möglicherweise wußte Madame Lézard von dessen Ableben. Ich überlegte, ob ich das Fenster aufreißen und in das Zimmer eindringen sollte, um den verhaßten Mann zur Rede zu stellen. Doch was hätte es genützt? Hätte ich mich dadurch nicht der Lächerlichkeit preisgegeben?
Indes näherten sich eine der Stimmen wieder dem Fenster. Es war die der Frau, die von der Sensibilität der Haut sprach, und von ungeahnten Lüsten und himmlischen Qualen, und kurz darauf vernahm ich ein Stöhnen, das immer wieder von Schreien durchbrochen wurde. Endlich wurde ich mir der Absurditität der Situation bewußt. Es wurde Zeit, daß ich mich zurückzog. Meinen Plan, den Direktor zu töten, hatte ich aufgegeben. Ich war kein Mörder. Als ich auf die Lacertagasse hinaustrat und mir Staub und Spinnweben von der Kleidung klopfte, wurde ich mir bewußt, daß ich nicht alleine auf der Straße war. Aus den Hauseingängen der benachbarten Häuser sah ich die ehrenwertesten Herrschaften der Stadt strömen.
AM NÄCHSTEN TAG erschien der Direktor nicht in der Firma, auch an den darauffolgenden nicht. Der Aufsichtsrat ließ in meiner Abteilung erklären, daß unser Chef ernsthaft erkrankt sei, und setzte einen kommissarischen Stellvertreter ein, doch alsbald kursierten sich täglich steigernde Gerüchte, die ich aufmerksam verfolgte, bis am Ende der Woche die ausgelaugte, wie gegerbt wirkende Hülle eines Menschen aus dem Kar gezogen wurde. Sie enthielt weder Fleisch, noch Knochen, noch Organe. Dieser Fall war nur eines der vielen ungelösten Rätsel Cathays, und er erregte nur wenige Tage Aufsehen. Ich jedoch ahnte, um wessen sterbliche Überreste es sich handelte. Denn ich glaubte nun zu wissen, was geschehen war. Mein Vater war finanziell ruiniert gewesen. Auf einem mir unbekannten Wege war er auf ein Angebot gestoßen, das ihm verheißen hatte, im Augenblick größter Lust zu sterben. Er mußte gewußt haben, daß ein Besuch bei Madame Lézard einem Selbstmord gleichkam.
Doch bevor er sich auf den Weg zu ihr gemacht hatte, mußte er gegenüber einigen Menschen von ihren Diensten Andeutungen gemacht haben. Vielleicht hatte er dem Direktor, der an seiner finanziellen Lage offensichtlich nicht ganz unschuldig gewesen war, absichtlich von den Verlockungen der Madame berichtet. Doch er hatte nicht die ganze Wahrheit erzählt. Ich wollte mich nicht alleine auf meine Vermutungen verlassen und suchte nach einer Woche des Zauderns und Zögerns die Lacertagasse bei Tageslicht auf. Das Haus Nr. 3-5 war seit Monaten unbewohnt, wie mir ein alter Mann versicherte, der Müll aus der Gosse fischte und nach etwas Brauchbarem darin stocherte. Ich wartete an der Ecke zur Kanalstraße, bis er humpelnd am anderen Ende der Straße verschwunden war, dann zwängte ich mich wie schon vor Tagen durch den engen Durchgang und gelangte in den Garten. Das Fenster stand immer noch halb offen, die Vorhänge wehten durch den Spalt hinaus. Ich öffnete es vorsichtig und spähte in das Zimmer hinein, in dem nichts als ein rostiges Gitterbett mit einer stockfleckigen Matratze stand. Auf dieser lag etwas, das ich zuerst für eine Bettdecke oder ein dunkles Laken hielt. Doch als ich genauer hinsah, erkannte ich, daß die pergamentartigen Fetzen von einem eigentümlichen, schuppenartigen Muster überzogen waren. Da wußte ich, daß Madame Lézard weitergezogen war, um ihre lustbringenden Dienste andernorts anzubieten.
WASSERZEICHEN (FRAGMENTE)
ZWEI BECKEN an der Wand verbreiten einen stechenden Geruch. Der Blick aus dem Fenster zeigt einen gemauerten Lichtschacht, auf dessen Grund braunes faltiges Laub. Vom Wind bewegt zittert es. Laub? Nein, herbstbraune Unken, deren bernsteingelbe geschlitzte Augen von aderigen Nickhäuten überzogen und wieder freigegeben werden. Wollüstern fahren die feuchten Zungen der Amphibien über die Ränder ihrer Münder, während Körper über Körper kriecht. Im Nebenraum hämmert die Heizung, als wolle sie jeden Moment explodieren. Sie gibt ihre Hitze nur an die oberen Geschosse ab. Hier unten verstohlen die von Fliegendreck fleckigen Wände eisige Kälte. Ich wasche mir das Blut des Lammes von den Händen. Agnus Dei. Es färbt das sich gurgelnd dem Nichts entgegenwindende Wasser rostrot. Niemand weiß mich hier. Dies ist eine Anstalt. Hier gehöre ich hin. Dies ist mein Zuhause. Ich bin ein Experiment. Ein geglücktes, möchte ich behaupten! Seitdem ich das weiß, habe ich mein Leben der Forschung gewidmet. In meinen Versuchen entschlüssele ich das Geheimnis des Lebens. Daß ich dabei töten muß, stand von vornherein außer Frage. Das Lamm hängt an der gefliesten Wand. Vorwurfsvoll schauen mich seine toten Augen an. Sein letztes Wort hallt noch in meinen Ohren nach: „Warum?“
AN DIESEM ABEND saßen wir wie üblich in der schlecht beleuchteten Küche und schnitten Vogelherzen für den nächsten Mittag. Das Blut troff von unseren Fingern auf das
leinene weiße Tuch und färbte es dunkelrot. Nur langsam füllte sich die Blechschüssel, von der das Email abblätterte. Arch, der jüngste in unserer Familie, dem man noch keine Aufgaben anvertrauen konnte, hockte in einer Ecke und stierte blöde vor sich hin. Seine angeborene Glotzäugigkeit war mir geradezu unheimlich, aber dennoch konnte ich seinen Anblick besser ertragen als den Gracies, die gerne Tieren, noch lieber aber mir, ihrem Bruder, Schmerzen zufügte und offensichtlich auch vor sich selbst nicht haltmachte, denn ihr Gesicht war von Narben entstellt, und ich wollte nicht wissen, wie der Rest ihres Körpers aussah. Ich ahnte nur, was im Mädchenflügel unseres Hauses geschah – die Eltern hatten uns nach Geschlechtern geteilt, um solche Unglücke wie das zwischen dem stummen Johann und Maria, die nur zwei Jahre älter war als ich, zu verhindern. Durch die zerbrochene Fensterscheibe fuhr ein kräftiger Windstoß, der mich frösteln ließ. Seitdem Vater vor zwei Wochen von einer Schlange gebissen worden war und im Bett liegen mußte, ging es wirklich drunter und drüber. Selbst Mutter, die ihn mindestens einmal am Tag zur Hölle verfluchte, wünschte ihn sich zur Hilfe, wenn Freddie oder Deidre wieder einmal wie am Spieß schrien. Freddie hatte ununterbrochen furchtbare Schmerzen, seit Johann ihm in einem Tobsuchtsanfall eine Schrotladung in den Bauch verpaßt hatte. Mutter stand auf, um in dem rußigen Topf über der Feuerstelle zu rühren. Wie meist befanden sich Bohnen darin. Ich konnte den Geschmack kaum mehr ertragen, aber etwas anderes gab es nicht. Endlich waren wir mit unserer mühseligen Arbeit fertig. Ich erhielt den Auftrag, Vater einen Teller mit Bohnen zu bringen. Beinahe blieben meine Finger an dem dünnen, heißen Blech kleben. Aber ich durfte den Teller nicht loslassen. Ich
wußte: das, was mir dann geblüht hätte, wäre weitaus schmerzvoller gewesen. Also beeilte ich mich einfach, möglichst rasch in das muffige Zimmer mit den verhangenen Fenstern zu kommen. Das Fieber ging nur sehr langsam zurück. Kalter Schweiß stand auf der Stirn des kranken Mannes, doch ich empfand kein Mitleid für ihn. Er hatte es nicht anders verdient. Mochte er krepieren; keiner würde ihm eine Träne nachweinen, wenn sich seine verschlagenen Augen ein letztes Mal schlossen. Es roch mehr noch als sonst nach den üblen Ausdünstungen, die dieses Zimmer schon immer ausgefüllt hatten. Ich wußte nicht, ob sie dem feuchten Mauerwerk oder der muffigen Bettwäsche entstiegen, die nie gewechselt wurde, denn es war die einzige, die Mutter besaß. Vater schlief vollkommen harmlos unter einer aufgeschlagenen Zeitung, die er als leichte Decke gegen den zugigen Wind benutzt hatte. Lesen konnte er nicht. Ich glaube, ich war der einzige in dem Haus, der es je gelernt hatte. Ich wollte gerade den Teller neben dem Bett absetzen und mich davonschleichen, bevor der Alte mich bemerkte, da fiel mein Blick auf eine Schlagzeile. Die Zeitung war auf den Oktober vergangenen Jahres datiert und schon ziemlich vergilt. Im Wind flatterte sie leicht, doch ich hatte dennoch keine allzu große Mühe, den Bericht über einen toten Mann zu entziffern, der vier Jahre lang unbemerkt in seiner Wohnung vor einem unentwegt spielenden Radio gesessen hatte. Verwest sei er gewesen, hieß es in dem Artikel, aber seltsam wachsartig, fast mumifiziert. Der Mann war nicht vermißt worden, und erst als das Haus im Auftrag einer Erbengemeinschaft überprüft werden sollte, war man auf die Leiche gestoßen. Mich faszinierte die Vorstellung, daß es da Menschen gegeben hatte, die vier Jahre lang neben einem Toten gewohnt hatten.
Und das Radio… wir besaßen keinen dieser wundersamen, aber unerschwinglichen Apparate, aber für kurze Zeit hatte einer in Berthie Napiers Gemischtwarenladen gestanden, der seit fünf Jahren geschlossen war. Ständig waren seltsame Geräusche aus der stoffbespannten Frontseite gedrungen, und ich hatte mich stundenlang in dem Laden herumgetrieben, um das merkwürdige Gerät zu bestaunen. Ein Geräusch riß mich aus meinen Gedanken. Vater erwachte! „Was gaffst du denn so, blöder Balg! Wart’s nur ab… ich krieg dich schon!“ Mit unerwarteter Kraft sprang er aus dem Bett auf und griff mit seinen haarigen Klauen nach mir. Ich warf mich nach hinten und stolperte über einen Stapel schmutziger übelriechender Wäsche. Zum Glück, muß ich sagen, denn der Mann hatte soviel Schwung, daß er geradewegs gegen die Brüstung des einzigen schiefen Fensters krachte. Durch eben dieses hechtete ich nun mit einem einzigen weiten Sprung. Ich landete in einem dornigen Gebüsch, von wo aus ich auf die Halde mit Küchenmüll rollte. Mein Fall endete erst nach rund zehn Metern in einem schlammigen Wasserlauf, in den wir unsere Abwässer einleiteten. Schon erschien eine Gestalt im dunklen Rechteck des Fensters, aber nicht um nachzuschauen, ob ich mich verletzt hatte, sondern um mir eine leere Rumflasche hinterherzuwerfen. Der Werfer hatte schlecht gezielt. Das Glas zersprang auf einem der kopfgroßen Felsbrocken. Lediglich einige kleinere Splitter trafen mich, ohne jedoch eine Wirkung zu haben. Ich schlich zur Rückseite des Hauses, zu dem windschiefen Bretterverschlag, in dem wir eine magere Hühnergesellschaft hegten. Dort hatte ich im Laufe der letzten Wochen immer wieder kleine Rationen meiner ohnehin schon kargen
Mahlzeiten zurückgelegt und die große silberne Münze verborgen, die ich von Großvater geerbt hatte, und von der weder Mutter, noch Vater, noch die anderen etwas wußten. Ich hatte gewußt, daß eines Tages der Moment kommen würde, da ich Proviant und Rücklagen für eine größere Reise brauchen konnte. Der Zeitpunkt war da. Wenn ich noch länger an diesem Ort blieb, mußte ich entweder erschlagen oder wahnsinnig werden.
ICH WUSSTE, wohin ich mich wenden mußte. Unser Haus lag abseits einer verlassenen Siedlung. Einst hatten die Menschen hier versucht, das Moor trockenzulegen und urbar zu machen. Es war gründlich mißlungen. Nach etwa einer halben Meile wurden die Büsche spärlicher, und rechts und links des Weges standen halbverfallene, mit Wellblech bedeckte Holzhütten, in denen vor einigen Jahren noch weitere Familien gelebt hatten. An einem der Häuser des Geisterdorfes hing eine riesige Tafel, die das Gebäude als Holiness Church auswies. Hier waren wöchentlich jene Messen abgehalten worden, die Vater und Mutter im kleinen Kreis unserer Familie weiterhin feierten, und zu deren Liturgie es gehörte, sich rasselnde Klapperschlangen um den Hals legen zu lassen. Daß Vater bei eben dieser Zeremonie gebissen worden war, war ein Zeichen dafür, daß Gott seiner zürnte. Ich überlegte, ob er oder Mutter einen der anderen hinter mir hergeschickt haben könnte. Vermutlich würde mein Fehlen gar nicht weiter auffallen, geschweige denn, daß mich meine Eltern oder eines meiner dreizehn Geschwister vermißte! Die Siedlung, in der ich mein bisherigen Leben verbracht hatte, war auf keiner der alten Karten meines Großvaters
verzeichnet, und an der rund zwei Meilen entfernten Straße am Rande des schilfbewachsenen Mondfeldes gab es noch nicht einmal ein Hinweisschild. Worauf hätte man auch hinweisen sollen? Etwa auf den armseligen Bretterverschlag, den unsere Familie ihr Heim nannte? Ich lief die schotterige Piste dorthin, wo ich Cathay vermutete. Noch nie hatte ich mich so weit von zu Hause entfernt. Was, wenn ich mich in die falsche Richtung bewegte? Ich mußte es wagen. Es gab nur zwei Möglichkeiten, und ich hoffte, ich würde die Anzeichen eines Irrtums meinerseits rechtzeitig erkennen. Stadtauswärts, das hatte mir noch Großvater berichtet, dessen Weg ihn öfter nach Cathay, aber auch ins umgebende Bergland geführt hatte, sollte das Land bergiger werden, noch öder als selbst das Mondfeld. Ich konnte mir kaum vorstellen, daß es etwas Trostloseres als dieses Sumpfgebiet geben konnte. Der volle milchige Mond und außerordentlich klare und helle Sterne leuchteten mir den Weg. Wiewohl sich meine Umgebung anfangs nicht veränderte, spürte ich doch, daß ich mich in die richtige Richtung bewegte, und vollkommene Gewißheit erlangte ich, als ich am fernen, schroffzackigen Horizont, der die Himmelsgestirne beinahe zu berühren schien, einige außerordentlich tief stehende Sterne entdeckte. Die Lichter Cathays!
ICH HATTE NIEMALS eine Stadt gesehen, nur in den Erzählungen meines Großvaters davon gehört. Nie aber hätte ich mir die erdrückende finstere Großartigkeit Cathays im Geiste ausmalen können. Wie war es überhaupt möglich, daß so viele Menschen auf so engem Raum zusammenlebten, ohne einander in wilder Raserei zu töten? Wie konnten diese vielstöckigen,
himmelstürmenden Steinhäuser stehen, ohne einzustürzen, und wer hatte sie erbaut? Wer ernährte diese Menschen, und wo besaßen sie Felder und Weiden, auf denen sie arbeiteten? Oder hielten sie ihr Vieh ebenfalls in den geräumigen Bauten, die so ganz anders waren als die Hütte, in der ich aufgewachsen war? Ich schaute, betrachtete die Menschen, die vereinzelt auf den leicht erhöhten Wegen gingen, was sie noch einmal gegenüber mir erhob, der ich mich nicht traute, es ihnen gleichzutun. Ich ging auf dem groben Pflaster in der Mitte der Straße und hielt mich von den monströsen Bauten fern, so gut es ging. Und während ich mich so umsah, bemerkte ich, daß auch ich betrachtet wurde. Mißtrauische Gesichter warfen mir unverhohlen unfreundliche Blicke zu, die Münder darin verzogen sich, manche Menschen tuschelten sich heimlich etwas zu. Ich wußte wohl, daß meine Kleidung zerrissen und lumpig war. Zuviele Generationen von Trägern hatte sie bereits erlebt, zu oft war sie geflickt worden, ja, bestand gar nur mehr aus Flicken, so daß sich die ursprüngliche Farbe der Jacke nur noch erahnen ließ. Ich blieb vor einem der dunklen Schaufenster stehen. Was ich sah, war ein kleiner Mensch, ein Zwerg, armselig gekleidet und von durch und durch groteskem Wuchs. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, aus welchem Grund jemand dieses Ding in seiner Auslage aufbaute. Es war nichts Schönes daran.
ZUERST WAR ES NUR EIN KRATZEN, ein undeutliches Rauschen gewesen, und Grauer hatte geglaubt, der Radioempfänger, den er auf dem Speicher des alten Hauses gefunden hatte, sei defekt. Dann aber war er auf eine Frequenz gestoßen, auf der er klar und deutlich eine Übertragung gehört hatte. Seitdem war sein Ehrgeiz erwacht.
Grauer drehte die Bürolampe so, daß er das Magische Band des Gerätes genau beobachten konnte, während er vorsichtig am rechten Rad der Armatur drehte. Er drehte es zurück – nichts – und wieder vor – auch nichts. Hatte er sich etwa getäuscht? Er hatte nun schon seit zwei Stunden vor dem Apparat gesessen, aufgeregt wie ein kleiner Junge, und die Aussicht darauf, hier einen Sender empfangen zu können, ließ ihn unverzagt suchen. Schon etliche Male mußte er nun schon das gesamte Frequenzband durchgegangen sein. Mit unglaublichem Fingerspitzengefühl drehte er das Rad. Es erschienen die Zahlen 4-9-2 auf der Anzeige, und in genau diesem Moment war sie wieder da, die klare, kalte Stimme eines Technokraten: „Flottenverband von Q 14 nach A 3, schwere Bewaffnung… weitere Legionen bewegen sich auf äquatorialer Bahn Richtung Zielgebiet, Zusammentreffen in X minus 17… Marschordnung axial, Durchschlagskeil versetzt zu…“ Dann plötzlich verschwand die Stimme. Aufgeregt und mit zitternden Fingern drehte er das Frequenzrad weiter. Er hatte nicht viel Ahnung von Funk- und Sendetechnik, doch – so überlegte er – es mochte sein, daß sich durch die Drehung der Erde der Empfang verschoben hatte. Und richtig, bald war dieser wieder möglich, unter der Frequenz 3-5-7. „Fünftausend Mann aus nordwestlicher Richtung, atomare Geschütze in Position bringen… Vorstoß in…“ Der unverständliche Sermon endete in einem Rauschen. Der Sender war weitergewandert. Grauer notierte, welche Frequenzen bislang zum Erfolg geführt hatten, dann drehte er erneut am Frequenzrad, um kurz darauf inne zu halten und bei 8 – 1 – 6 zum letzten Mal an diesem Tag die kalte herrische
Stimme zu hören: „… werden uns alle folgen, zu verkünden das Ende der Welt!“ Die Sendung brach endgültig ab. Kalter Schweiß stand auf Grauers Stirn. Er notierte die Frequenzziffern ordentlich untereinander und betrachtete sein Werk. Es mochte ein Zufall sein: Die Summe der untereinander, nebeneinander oder diagonal angeordneten Zahlen lautete immer 15!
AM DARAUFFOLGENDEN MORGEN begann Grauer Nachforschungen über das Gerät anzustellen. Zuerst schraubte er die Rückenplatte vorsichtig auf und nahm sie ab, ohne das komplizierte Gewirr von Drähten und elektronischen Bauteilen zu verletzen. Anstelle der erwarteten Röhren stieß er auf etwas, das er nicht kannte, das aber seiner Meinung nach eindeutig nicht in ein normales Radiogerät hineingehörte.
AM MORGEN DES SECHSTEN NOVEMBERS 19 – bewegte sich ein seltsamer Zug von den Gebäuden der alten Psychiatrischen Abteilung des Cathayer Hospitals kommend aus der Stadt hinaus. Auf den schlechten Pflasterstraßen rumpelte ein zum Krankenwagen umgebauter Mannschaftstransportlaster der Armee, begleitet von zwei Kraftradfahrern, zwischen den Resten der verfallenen Stadtmauer hindurch, befand sich für einige hundert Meter in dem Niemandsland, das die Stadt umgab, niemals vollständig urbar gemacht, aber auch niemals in ihren wilden Urzustand zurückgekehrt, und kämpfte sich dann über einen Weg, der bald zur löchrigen Piste wurde, durch das Sumpfland im Osten.
Es regnete in Strömen, und die Gefahr, daß der Lastwagen steckenblieb, war groß. Die zwei Männer, die im vorderen Teil des Wagens saßen, fluchten über das Wetter und die Umstände der Reise. Ihr Passagier im Fond war in eine Zwangsjacke gehüllt und zusätzlich auf eine Bahre geschnallt. Er bekam nichts von Sturm und Regen mit. Seine Gedanken befanden sich in der Vergangenheit. Sein Bewußtsein stand seit zwanzig Jahren still, erfuhr keine Bewegung. Als der Wagen eine stegartige Brücke erreichte, die einige Meilen durch ein flaches Gewässer führte, einen salzigen Binnensee, der vom Meer genährt wurde, das regelmäßig das Tiefland flutete, schien das schwierigste Stück des Weges geschafft. Jenseits der Brücke wußten die Fahrer eine feste Schotterstraße, die sie in den vergangenen Jahren mehr als einmal befahren hatten. Doch diesmal erreichte der Transport sein Ziel nicht.
DIE UNFALLSTELLE MACHTE EINEN EINDRUCK, als habe eine verheerende Katastrophe dem Land eine tiefe Wunde zugefügt. Die Straße war auf einer Strecke von rund dreißig Metern einfach fortgerissen worden. Grassoden, felsiger Grund, kleinere Büsche – all das war hinweggesprengt und über das Land verteilt worden. Der leicht gepanzerte Transporter, der nun umgekippt auf der Seite lag, war scheinbar explodiert, seine blecherne Haut aufgerissen; von den Motorrädern, die ihn begleitet hatten, keine Spur zu finden. Der Vorfall wurde in Cathay jedoch nicht bekannt, und dafür gab es einen guten Grund. Der einzige Insasse des Transporters nämlich war Rudolph Hartmann gewesen, ein Mann, den man zwanzig Jahre vor diesen Ereignissen des mehrfachen Mordes
überführt und aufgrund seiner Geistesschwäche in die Anstalt eingewiesen hatte. Da die veralteten Heilungsmethoden und der Sicherheitsstandard des Sanatoriums den modernen Ansprüchen nicht länger genügt hatten, hatte er in ein Gefängnis verlegt werden sollen. Der Überfall auf den Transportzug warf Fragen über Fragen auf. Die Umstände waren nicht weniger mysteriös als jene, die zur Verhaftung Hartmanns geführt hatten. Das Unheimlichste aber war, daß man am Ort der Explosion weder eine Spur seiner Leiche fand noch einen Hinweis darauf, daß er entkommen war.
AUS EINEM TONBANDPROTOKOLL der letzten Sitzung von Prof. Dumont mit Dr. Rudolph Hartmann, vom 13. Oktober 19 –: (leises Klicken, das Aufnahmegerät summt, ein Mann räuspert sich, dann:) „Herr Hartmann, wie ich Ihnen mitgeteilt habe, steht in wenigen Wochen Ihre Verlegung aus unserem Haus in eine etwa dreißig Meilen von hier gelegene indische Haftanstalt bevor. Diese Verlegung wurde, ich möchte, daß Sie das wissen, von mir abgelehnt. Könnten Sie bitte für mich noch einmal die Geschehnisse zusammenfassen, die zu Ihrer Festnahme und Einlieferung in unsere Abteilung führten?“ Dumont hat eine tiefe Stimme von beruhigender Wirkung. Hartmann hingegen wirkt nervös und innerlich zerrüttet, als er zu sprechen beginnt. „Sie werden mir auch dieses Mal keinen Glauben schenken, Dumont. Und ich nehme es Ihnen noch nicht einmal übel. Wie sollten Sie auch anders! Die gesamte Geschichte ist zu grotesk.
Und dennoch will ich es ein weiteres Mal versuchen, denn ich weiß, daß Ihnen mein Wohl am Herzen liegt.“ Hartmann machte eine Pause, so als müsse er sich besinnen. „Ich kann nicht recht beschreiben, was wirklich in jenen Tagen geschah. Die Ereignisse liegen weit zurück, wenn auch nicht in der Zeit, sondern in meinem Bewußtsein. Ihre Behandlung hat vieles von diesen Dingen ausgelöscht. Ihre Elektroschocks, die Medikamente, die man mir verabreichte, die Abgestumpftheit dieser Mauern, in denen auch ein Mensch gesunden Geistes den Verstand verlieren muß… all das hat seine Wirkung auf mich nicht verfehlt. Und doch – selten war mein Geist klarer denn heute. Ich will Ihnen sagen, was wirklich geschehen ist.“
WIE EINE PROZESSION eilen sie unter Pulverdampf und Granateneinschlägen der Festung entgegen, mit wehenden Fahnen und lauten Gesängen. Wie in glücklich vergangen geglaubten Zeiten. Da, ein weiterer Donnerschlag erfüllt die Nacht, der Himmel fahl erleuchtet vom Feuer der Raketen, die zischend und pfeifend über unseren Köpfen aufsteigen. Ich ziehe den Kopf zwischen die Schultern. Als ob das Schutz böte. Sinnlos, mitgerissen im Taumel der Masse, durch den breiten Tunnel, in dessen Wänden von Zeit zu Zeit Nischen und darin stumme stählerne Wächter untergebracht sind. Der Lärm schwillt an, als wir ins Freie kommen. Hinter uns erschüttert das Grollen eines Einschlags den Tunnelschlund, aus dem immer noch Menschen hervorquellen, geboren, nur um wieder zu vergehen. Sie spülen uns hinfort, auf den Graben zu, über die schmale Brücke, durch das Tor, auf den Platz, der zur Rechten und Linken von hohen Gebäuden gefaßt wird, als gelte es, ein Ausbrechen zur Seite zu verhindern.
Hier spritzt die Menge auseinander, doch die Richtung bleibt klar: auf die Kante zu, wo das Plateau sich im Nichts des tief liegenden Flusses und der Stadt verliert. Nur wenige Minuten noch, das Feuer steigert sich noch einmal, der Lärm ohrenbetäubend, ein Schwindel erfaßt uns, wir laufen in das Licht und… durchbrechen die letzte Barriere.
SIE VERLASSEN DIE STADT durch den eingestürzten Torbogen, erleichtert darüber, diesen schaurigen Ort hinter sich zurücklassen zu können. Selbst die Herde hat sich hier nicht wohlgefühlt. Doch die Hirten wissen, daß die Stadt Schutz vor den mächtigen Krustentieren bietet, die sie aus einer Urfurcht heraus meiden. Die drei Männer können die Zeichen nicht lesen, die überall angebracht sind, doch sie wissen aus den Überlieferungen, daß die vergangene Stadt einst den Namen Kathai getragen hat und von ihren Vorfahren bewohnt wurde. Doch das liegt lange zurück, und keiner der Alten im Lager, hoch oben zwischen den schroffen und schneebedeckten Hängen der Berge, an der Quelle des Kar, erinnert sich noch an diese Tage. Das Helle Licht hat alle Erinnerung ausgelöscht, für alle Zeit. Die Hirten verlieren an solche Dinge nicht viele Gedanken. Ihr Überleben ist alles, was ihr Denken in Anspruch nimmt. Die Tiere sind unruhig. Immer wieder brechen sie zu den Seiten aus. Auf der schilfbewachsenen Sumpfebene, auf der sich die Männer nun befinden, verliert man leicht den Überblick, doch sie kennen das Verhalten ihrer Tiere zu gut. Ein Widder muß noch durch den geschickten Stoß mit dem stumpfen Ende eines Speeres gebändigt werden, dann ist die Herde wieder auf dem gewohnten Kurs.
Das Ziel der Männer ist ein Hochplateau östlich der Stadt, hoch über dem Meer, wo Salzgras als Futter das Fleisch der Tiere besonders zart und wohlschmeckend macht. Der Wolkenbruch, vor dem sie sich in die Ruinen der Stadt geflüchtet hatten, hat auch hier Spuren hinterlassen. Die meisten der Pfade, die sie sonst benutzen, sind davongespült. In metertiefen Prielen strudelt das Wasser Bruchstücke von Schilf und Blätter davon, Richtung Meer, wo sich Hunderte von Wasserfällen mit Getöse in die See ergießen. Eine kurze Abstimmung in ihrer gutturalen vokalreichen Sprache, schon eilen die drei auf die Abbruchkante zu. Die Sturzbäche haben den Fels auf etlichen Metern mitgerissen und abgetragen. Dabei ist eine Höhlung freigelegt worden; ein schmaler Spalt nur. Doch wenn er Bestand hat, kann er in Zukunft vielleicht Schutz bieten, bei Angriffen der Krustentiere oder bei Sturm. Das Wissen um solche Orte kann im Zweifelsfall über Leben und Tod entscheiden. Deshalb entzündet einer der drei umständlich ein mitgefühltes trockenes Reisigbündel und leuchtet in den klaffenden Spalt hinein. Das, was da zum Vorschein kommt, ist alles andere als erwartet: keine natürliche Höhle, sondern ein gewaltiger Saal dehnt sich in den Berg aus. Ein Gemach, dessen hohe Wände mit fettglänzendem schwarzen Serpentingestein verkleidet sind. Und im Hintergrund, da wo es endet: ein mächtiger Thron, auf dem eine in Purpur gehüllte Gestalt sitzt. Als die drei sich ihr nähern, sehen sie, daß der Mann tot ist. Fliegen umschwirren den leblosen Körper, der sich schon im fortgeschrittenen Zerfallsstadium befindet. Und sie wissen plötzlich, daß das Ende der Zeit naht.
DIE KOSMOGRAPHIE
INMITTEN CATHAYS, zwischen zwei verfallenden Häuserzeilen, liegt ein Park, dessen uralte Bäume wie zu Holz erstarrte Riesen ein Dach aus dichten Blättern tragen. Verwitterte Statuen blicken stumm und ohne Ziel. Im Laufe der Zeit hat so mancher Eros seinen Arm verloren, einem Atlas fehlt die Schädeldecke, und Schlangenglieder liegen wüst verteilt um eine Laokoon-Gruppe herum. Zwischen den Standbildern gerät plötzlich etwas in Bewegung. Ein alter Mann, zu mehr als drei Vierteln von Schatten verborgen, hält in der Rechten ein großes Pflanzholz, in der Linken rote Zwiebeln. Von Zeit zu Zeit macht er halt, sticht ein Loch in den Boden und legt behutsam eine Knolle hinein. So arbeitet er sich langsam zum Zentrum des Parks vor, wo in tiefem Blaugrün schimmernd ein Teich von nahezu perfekt runder Form angelegt ist. Fische schwimmen darin, deren schuppige Haut von seltsam bartförmigen Algen überwuchert ist. Er beobachtet ihre Bewegungen so aufmerksam, als verberge sich darin alle Weisheit des Universums. Sie aber erwidern seine Aufmerksamkeit mit einem mechanischen Schnappen ihrer Mäuler. Einmal hat er versucht, einen der Fische zu essen, doch das Fleisch hatte die Farbe von Ölschiefer und schmeckte bitter. Und als der Mann ihn in den Garten, den Katzen zum Fraß vorgeworfen, hatte er am nächsten Tag an jener Stelle nur noch eine tintige Lache verbrannten Grases gefunden. Schweigend löst er seinen Blick von der Wasseroberfläche und steckt die letzte Zwiebel in den weichen Boden am Teichrand. „Ich habe mich nun lange genug in Geduldspielen geübt!“ denkt er, wischt das Holz im Gras ab und geht zu der südlich
gelegenen Häuserzeile, deren Fassade so verschattet ist, als habe sich hier ein Stückchen Nacht dem Tag widersetzt. Hinter einem gesplitterten Fenster im zweiten Stock brennt eine kleine Laterne, deren Dach von einem filigranen Muster durchbrochen ist, so daß sie an die Decke des hohen Raumes weich gezeichnete Sterne wirft. Dieses Zimmer ist das Ziel des Mannes. Er steigt die ächzenden Stufen der Treppe hinauf, öffnet die Tür mit einem langen verschnörkelten Schlüssel und geht sofort ins Studierzimmer, das voll ist von Gläsern mit Muscheln, Flaschen, in denen Kräuter in Alkohol eingelegt schwimmen, interessant geformten Steinen, getrockneten Pflanzenbüscheln und Büchern. Auf dem wurmstichigen Schreibtisch vor der brennenden Lampe liegt etwas von der Form einer Artilleriegranate, etwas, das so korrodiert ist, als habe es hundert und mehr Jahre in der Erde vergraben gelegen. Eine eingravierte Jahreszahl in der Metallhülle verrät, daß der Behälter noch weitaus älter ist. „1652“ steht da in tief eingelassenen Ziffern. Er erinnert sich: in diesem Jahr war Cathay von europäischen Siedlern gegründet worden. Der Alte weiß, welchem Zweck der Behälter dient. Er ist eine sogenannte Zeitkapsel. Seine Hände zittern vor Aufregung, als er die konischen Hälften der Hülle gegeneinander dreht. Dann, einer plötzlichen Ahnung folgend, läßt er das Ding los, das polternd zu Boden fällt. Noch durch seine ledernen Gärtnerhandschuhe hat er den mächtigen Stromschlag gespürt. „Hm, die Kapsel ist vor einem unbefugten Zugriff geschützt. Das macht sie um so interessanter und läßt einige Rückschlüsse auf den klugen Kopf zu, der sie vor so langer Zeit begraben hat. Ich möchte doch zu gerne wissen, was er zu schützen versucht hat!“
Der Ehrgeiz des Alten, das Rätsel zu lösen, ist zu einem lodernden Feuer angefacht, das seinen im Licht der Lampe glühenden Gesichtszügen etwas beinahe Jugendliches verleiht. Er nimmt den Behälter vorsichtig vom Boden auf, schüttelt ihn und dreht ihn in seinen Händen, um ihn durch ein Monokel zu betrachten, das er sich vors linke Auge geklemmt hat. Wohl eine Viertelstunde vergeht, da fallen ihm seltsam regelmäßige Vertiefungen auf, die um die Naht der Kapsel verteilt sind, gerade so groß, daß eine Bleistiftspitze hineinpaßt. Der alte Mann öffnet eine verbeulte Blechdose und sticht vorsichtig mit einem daraus entnommenen sorgsam angespitzen Stift nacheinander in jede der winzigen Vertiefungen. Mit einem Zischen fallen die beiden Hälften der Kapsel auseinander und geben drei Dinge frei: eine papierene Kladde, die aufgeschlagen liegenbleibt und eine Kalligraphie von ungeheurer Gleichmäßigkeit zeigt, das ausgewaschene weiße Haus einer Schnecke, und einen großen Schlüssel mit kompliziert gefeiltem Bart. Der Alte wiegt zuerst den Schlüssel in der Linken, nimmt dann das Schneckenhaus und streicht sanft über die perlmuttenen Windungen. Dann legt er beide zur Seite und greift nach dem Büchlein, dem einzigen Gegenstand, der wohl Aufschluß über die Herkunft des Fundes geben kann. Er schlägt es zu und liest auf dem Einband: „Cosmographia universalis“
ER SCHLÄGT das Buch wieder auf und liest. Liest den Rest des Tages und die ganze Nacht hindurch, muß mehr als einmal das Öl der Lampe erneuern und kann seine Augen nicht
abwenden von dem Ungeheuerlichen, das da geschrieben steht. So komplex auch das Rätsel der Kapsel ist, die er im Schutt eines alten Bergwerksstollens vor den Toren der Stadt gefunden hat, so klar und schockierend unverkleidet sind die Worte, in denen ein unbekannter Autor aus längst vergangenen Tagen zu dem Leser spricht. Erschütternd ist der sachliche und zugleich spannend verfaßte Bericht des Fremden, der von seiner Flucht aus einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt erzählt, in die er wegen der Häresien eingewiesen worden war, als die man seine prophetischen Visionen bezeichnet hatte. Vier Monate hatte er als Sehender unter Blinden, als Wissender unter Narren, als Auserwählter unter Verfluchten gelebt und sich allein dadurch bei klarem Verstand gehalten, daß er Tagebuch geführt hatte. Seine Erinnerungen an die Anstalt waren fragmentarisch: Namen, die von Essenslisten gestrichen wurden, bekannte Gesichter, die am nächsten Tag nicht mehr im Speisesaal auftauchten, nächtliche Krankentransporte, von denen die Patienten nicht mehr zurückkehrten. Und wie er schließlich geflohen, seine rettende Idee: Es würde nicht ausreichen, aus der Anstalt zu entkommen. Er mußte zu existieren aufhören. Richard Ernst – er nannte zum ersten Mal seinen Namen – durfte es nicht geben und niemals gegeben haben. Und so hatte er damit begonnen, die Eintragungen in den Krankenakten zu falschen. Sehr behutsam war er dabei vorgegangen, so vorsichtig, daß er einen ganzen Monat benötigt hatte, um seine Existenz vollständig und gänzlich auszulöschen. Der Rest war damit verglichen ein Kinderspiel gewesen. Er hatte die Abläufe im Betrieb der Anstalt sorgfältig erkundet und minutiös dokumentiert. Als eines Nachts einer jener heimlichen Transporte stattfinden sollte, hatte er die Gelegenheit genutzt, sich anstelle eines Toten unbekleidet in die Wanne aus kaltem Zinkblech gelegt
und durch die unüberwindbaren Sicherheitsbarrieren hindurchtragen lassen. An dieser wichtigen Stelle gab es einen unerklärlichen Bruch in der chronologisch geordneten Folge der Ereignisse. Ohne den Ausgang seiner wagemutigen und gefährlichen Tat zu schildern, hatte Ernst nun einen geradezu phantastisch anmutenden Text eingefügt, in dem er unvermittelt von der von Anbeginn der Zeiten an verfluchten Stadt Cathay berichtete. Er begann mit der Besiedelung des Landes zwischen See und Bergen durch die Schiffbrüchigen eines Seglers, den die Stürme vom fernen Europa an diese fremden Gestade geworfen hatten. Der Kapitän dieses ersten Schiffes war ein Verhältnis mit einer Eingeborenenfrau eingegangen, einem Mädchen, das wohl aber den Göttern als Braut versprochen gewesen war. Göttern, denen der Seefahrer, der ein zur strengen Gottesgläubigkeit erzogener Mann war, nicht huldigen wollte. Der Häuptling des Eingeborenenstammes hatte die weißen Eindringlinge verflucht und das Mädchen verstoßen. Doch mehr noch: der Medizinmann, ein furchterregend tätowierter Kerl, dessen Weichteile von einer Vielzahl von Nadeln und Ringen durchbohrt wurden, die als einziges seine völlige Blöße bedeckten, hatte das Mädchen und seine Nachkommen verhext. All dies hätte – abgesehen von dem unglücklichen weiteren Verlauf der Geschehnisse – vermutlich wenig Anlaß zur Sorge gegeben, wäre nicht eben dieser Schamane in den darauf folgenden Jahrhunderten immer wieder dabei beobachtet worden, wie er Dinge in verborgenen Winkeln der Stadt versteckt hatte, Dinge, bei denen es sich um primitive Puppen von ebenholzschwarzer Farbe handelte. Gleichzeitig hatte sich über die Zeit in den nur geflüstert weitergegebenen geheimen Überlieferten das Gerücht gehalten, die Stadt werde erst Ruhe
finden und dann endlich untergehen, wenn den Göttern das vorenthaltene Kind geschenkt würde. An dieser Stelle endet der Bericht. Der Alte stutzt, blättert verwirrt die leeren Seiten um. Das Buch ist nicht zu Ende geschrieben worden. Das letzte Kapitel fehlt, und er ahnt plötzlich, daß es seine Aufgabe ist, es hinzuzufügen. Als er die Tuschefeder ergreift und beginnt, steil geschwungene Lettern auf das schwere stoffartige Papier zu werfen, stellt er fest, daß man nicht erkennen kann, wo der alte Bericht aufhört und die Fortsetzung beginnt. So ähnlich sind Duktus und Signatur. Er schreibt, und die Worte fließen aus ihm heraus wie das Wasser aus einem geborstenen Staudamm: Die Prophezeiungen sind nicht erfüllt worden. Ich bin der letzte Mensch, der noch in Cathay lebt. Die Stadt steht kurz vor der Katastrophe, das Kanalsystem ist von den Eingeborenen, die sich über all die Jahrhunderte weder angepaßt noch verändert haben, zu Wohnhöhlen ausgebaut geworden. Der Meeresspiegel steigt stündlich, Risse durchziehen die Straßen, Cathay zerfällt. Und dann wirft er einen Blick auf den Schlüssel aus der Kapsel. Er erinnert sich an eine Tür im Kellergeschoß. Er hat sie niemals geöffnet, hat niemals den Wunsch verspürt, dies zu tun. Er erhebt sich von seinem Platz am Fenster und geht zu einer Art Eckschrank im hinteren Bereich des Raumes. Er öffnet die schmale Tür und tritt auf die dahinterliegende Treppe, die sich steil in die Tiefe schraubt, tiefer als die Keller des Hauses reichen. Sie mündet in einen engen Gewölbegang, der wiederum an einer bronzenen Tür endet. Der Schlüssel paßt auf Anhieb in das Schloß, die Verriegelung öffnet sich mit einem schnarrenden Geräusch, die Tür schwingt auf, dahinter: eine Kuppelhalle, an deren höchstem Punkt ein kaltes Licht strahlt. Der Alte wünscht sich, es wäre nicht so hell, denn allzu deutlich enthüllt es eine gräßliche Statue in der Mitte des
Raumes. Eine Statue? Nein, das Ding, seit Jahrhunderten schlafend, erkennt, daß der Zeitpunkt gekommen ist, seinem Schöpfer zu dienen. Schwere Liddeckel öffnen sich, entblößen bernsteingelbe Augen mit geschlitzten Pupillen. Aus seinem schiefen Maul ragen nadelspitze Fangzähne, schlängelt sich eine peitschenartige gespaltene Zunge. Eines der eulenhaften Ohren zuckt, dann die flache gespaltene Nase. Es ist erwacht. Und es ist bereit, das zu tun, weswegen es erschaffen wurde. Mit einem Geräusch, nicht unähnlich dem, das beim Spannen eines Regenschirmes entsteht, befreit es sich von Sand und Geröll. Doch viel schwerer als Schirmstoff scheint die Membrane zu sein, aus altem knittrigem Leder, das bei jeder Bewegung zu reißen droht. Endlich hat es sich erhoben und ragt meterhoch vor seinem Herren auf. Und dann senkt es eine der beiden fledermausartigen Schwingen, so daß der Alte hinaufklettern und sich rittlings auf seinem haarigen Rücken niederlassen kann. Ohne die Kuppel über sich zu beachten, erhebt sich die Kreatur, verdrängt die Luft mit ihren mächtigen Schwingen, durchdringt mühelos Raum und Zeit, und trägt ihren Reiter in kreisenden Bahnen hoch über die Stadt, hoch über die aufgepeitschte See, die Cathay zu verschlingen beginnt, Straßenzug für Straßenzug hinabzieht, in ihre grundlosen gurgelnden Tiefen. Sie kreisen noch, als sich der Ozean mit mächtigem Getöse urplötzlich beruhigt und der Meeresspiegel abfällt, um eine harte Abbruchkante zu hinterlassen. Als der Himmel aufreißt, wird sichtbar, was von der Stadt übriggeblieben ist. Es sind nur wenige Gesteintrümmer, die wie zufällig dahin geworfen wirken, und die Linien der Straßen auf dem vom aufgewühlten Meer sauber gewaschenen Plateau. So soll es also enden. Dies ist die Wahrheit.
Cathay hat niemals existiert und wird niemals existieren. Der Alte lacht und stößt der Kreatur seine Sporen in die weichen Flanken, um sie zu noch rascherem Flug anzustacheln. Mit einem schrillen Pfeifen fliegt der Fledermausköpfige nach Norden, und Richard Ernst mit ihm seiner Bestimmung im Zentrum des Kosmos entgegen.
WAS BLEIBT
VERFALL IST SCHÖNHEIT. Bevor der Mensch in dem für seine Rasse typischen Irrglauben beharrlich daranging, der naturgegebenen Auflösung entgegenzuwirken und Unsterblichkeit anzustreben, befand sich der Kosmos im Gleichgewicht. Erst als dieser Mensch lernte, den Stein zu behauen, Stahl zu kochen, das Atom zu spalten, da gerieten die Dinge aus dem Lot. Und doch wird er am Ende selbst vergehen. Und auch Cathay wird diesen Weg alles Irdischen gehen. Die Frage, was von ihren unheilvollen Mauern übrigbleiben wird, beantwortet die Stadt schon heute selbst. Der Putz wird rissig, Feuchtigkeit setzt sich in den Fugen ab, Pionierbewuchs siedelt sich dort an, die Risse werden breiter, und wenn der Urwald sich schließlich bis an die Stadtmauern vorkämpft, werden schon die ersten Gebäude eingestürzt sein, der alte Friedhof zugewuchert und die großzügig angelegte Kanalisation von den Bewohnern des Dschungels zu Wohnhöhlen umfunktioniert. Das Böse aber, das als unsichtbares Fluidum die engen Gassen durchströmt wie das Blut die Adern eines Lebewesens, wird die Zeiten selbst überdauern, denn es ist älter als der Mensch und seine lächerliche, kleine, selbstgeschaffene Welt.
NACHWORT
„WIR SEHEN UNS IN CATHAY!“ COSMOGENESIS – Die Reise zum Mittelpunkt unserer Seele
1. Die Edition COSMOGENESIS gleicht dem Turmbau zu Babel. Nicht nur die Stadt Cathay, auch deren erzählerische Entsprechung ist in ständigem Wandel begriffen. Insofern kann auch dieses Nachwort nur als Versuch einer temporären Annäherung verstanden werden. Im Vergleich zur ersten Auflage sind einige Geschichten weggefallen (DAS BLATTWERK, DER KRÜCKENMANN, DER ZAUBER DES ORTES und RUNKEL). Grund hierfür ist, daß einige der ursprünglichen Texte nach außen hin keinen direkten Bezug zu Cathay hatten oder sich nicht in den neuen Zusammenhang fügen (so ist der Schauplatz von DER ZAUBER DES ORTES nicht in Cathay selbst, sondern in der Drüggelter Kapelle am Möhnesee in Deutschland angesiedelt). Eine andere wurde umbenannt (WATERMARK in WASSERZEICHEN). Dafür finden sich mit BETHANY, DAS HAUPT DER MEDUSA und DER DEN STURM SÄT jene Geschichten, die bislang ausschließlich den Tonträgern der Gothic-Rockband THE HOUSE OF USHER, als deren Texter und Sänger Jörg Kleudgen seit über zehn Jahren kreative Verantwortung trägt, als ergänzende Booklets beigelegt waren bzw. sich an deren Songtitel anlehnen. Daneben gibt es ganz
neue Erzählungen wie DER GASMANN (gemeinsam mit Arnold Reisner), DIE KOSMOGRAPHIE und EIDECHSENHAUT (allein der Zusammenhang zwischen einzelnen Geschichten und gleichlautenden englischsprachigen Songtiteln der Band THE HOUSE OF USHER wäre eine eigene Betrachtung wert. Man lese EIDECHSENHAUT und höre danach den THOU-Song LIZARD SKIN!).
2. Der Ort „UNWEIT DER STÄDTE LIEGEN SIE, verschwiegen und von uns vergessen, die Orte, die uns an unsere Kindheit erinnern, wo die Zeit stehengeblieben ist, Plätze, an denen sich in den Dämmerungsstunden das Nachtvolk versammelt, um geheimen Feierlichkeiten beizuwohnen. Ich liebte es, diese Orte aufzusuchen und unter dem goldenen Laub der Herbstwälder oder im kniehohen, sandfarbenen Gras nach den verfallenen Mauern und Grenzsteinen unserer Ahnen zu suchen.“ (Graceland)
Wo eigentlich liegt dieses Cathay? Im Vorwort zur ersten Auflage dieses Buches beruft sich Jörg Kleudgen auf die Freiheit der Kunst und erklärt: „Es beschreibt einen nichtexistenten, geographisch unmöglichen Ort.“ Läßt sich also schlußfolgern, daß der Schauplatz der hier versammelten Geschichten auch anderswo angesiedelt sein könnte? Ich behaupte: Nein. Dieser merkwürdige Ort ist es, der in diesem Buch die Hauptrolle spielt und um den sich die einzelnen Begebenheiten ranken, an dem sie erst zum Leben erwachen, ja, überhaupt einzig denkbar sind.
COSMOGENESIS ohne Cathay? Ebenso könnte man sich fragen, ob Lovecrafts Stories in Arkham oder Innsmouth auch anderswo ihre Wirkung entfalten würden. Oder ob Tolkiens HERR DER RINGE auch ohne Mittelerde möglich gewesen wäre.
Der Autor selbst beschreibt Cathay erstaunlich präzise, das geographisch Unmögliche seziererisch exakt: Die Stadt wurde 1652 von europäischen Siedlern gegründet und liegt am Rande der südlichen Himalaya-Ausläufer. Durchschnitten wird sie von dem Fluß Kar. Nähert man sich vom Hafen aus, zeigt sie sich als blühende Metropole. Ihre Viertel verteilen sich auf verschiedenen Höhenebenen, so daß das Bild der Stadt von einem verwirrenden System kleiner Treppen und Stiegen, Tunneln, Arkaden und Brücken bestimmt wird. Es ist ein im Laufe der Jahrhunderte entstandenes Labyrinth – wir erfahren aber auch von kriegerischen Auseinandersetzungen und damit verbundenen Zerstörungen, die im Laufe der Jahrhunderte das Bild Cathays mitprägten. Architektonisch vorherrschend ist eine archaisierende Form der Neogotik, von den Einwanderern mitgebracht und vermischt mit den Urformen einer fernöstlichen Architektur. Allen Bauten sind tiefe Keller eigen. Auch diese sind teilweise bewohnt – von den Ureinwohnern – oder sie dienen anderen Zwecken, wie in der Titelgeschichte COSMOGENESIS, in der in einem Keller eine abscheuliche Götterstatue aufbewahrt wird, vielleicht sogar demselben Keller, in dem BETHANY gefangengehalten wird. Zuweilen erinnert die Architektur an Venedig – ausdrücklich ist die Vorderfront eines Hauses einem venezianischen Palazzo am Canal Grande nachempfunden. Auch die gotischen
Arkaden am Flußufer und die dort tagsüber aufgebauten farbigen Marktstände erinnern an mediterranes Treiben. Ebenso wie die Stadt selbst, wird die Gegend um Cathay bildhaft beschrieben: Folgt man der alten Poststraße, sind ganzjährig schneebedeckte Gipfel zu erkennen. Zuvor gelangt man zu den Eulenbergen. Es gab eine Zeit, in der Cathay mit anderen von Europäern errichteten Städten verbunden war, doch irgendwann versiegte der Handel und die anderen Städte sind längst der Vegetation preisgegeben. Dahinter liegt geheimnisvoller Dschungel. Eine Eisenbahnlinie hat es gegeben, jedoch haben Erdrutsche und Bodensenkungen die Linie unbefahrbar werden lassen. So sind weitere Reisen nur per Schiff möglich. In manchen der Geschichten existiert eine Straßenbahn. Ob diese regelmäßig verkehrt, scheint angesichts der zuweilen ausfallenden Straßenbeleuchtung und auch sonst unsichereren Infrastruktur eher fraglich. Richtung Osten erstreckt sich eine sumpfige Ebene, das Mondfeld genannt, um die sich unzählige Sagen und Mythen ranken. Im Westen stoßen wir auf eine zerklüftete Felsenlandschaft.
Dreißig von hundert Bewohnern Cathays sind deutscher Abstammung (man speist gar Sauerbraten mit schweren, vollen Klößen!). Die Straßennamen in Cathay klingen vertraut: Eisenstraße oder Liliengasse. Es sind deutsche Namen. Daneben erweist sich Cathay als Schmelztiegel europäischer Kulturen, in der sogar an Wien erinnernde Kaffeehäuser ihren Platz haben.
Das Verhältnis zwischen Europäern und Ureinwohnern ist rassistisch geprägt, wenngleich es für den Leser ersichtlich ist,
daß die Europäer der Dekadenz anheimzufallen scheinen, während die Ureinwohner einfach nur fremdartig und dem Erzähler ihre Wesenszüge und ihr Handeln unverständlich bleiben. Die Ureinwohner werden zumeist zu niederen Arbeiten herangezogen und scheinen weitestgehend rechtlos. Es gibt zauberkundige Medizinmänner unter ihnen. Die von den Ureinwohnern abstammenden Cathayer werden als düster geschildert, die zudem zu niemandem ein Wort sprechen. Ihre Herkunft wird als barbarisch bezeichnet, etwas Primatenhaftes zeichnet sich auf ihren Gesichtszügen ab (wulstige Lippen), ihr schleppender, schwerfälliger Gang erinnert den Leser an Affen. Tatsächlich zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie mit affenartiger Behendigkeit die Fassaden reicher Bürgerhäuser erklimmen können. Ihre Namen klingen fremd (Uxlu, Kuruü). Bei Epidemien wie Cholera und anderer pestilenzialischer Krankheiten erweisen sie sich als resistenter als die Europäer. Morde geschehen in Cathay aus niedrigen Beweggründen heraus – wie in den Urzeiten der Menschheitsgeschichte um eines besseren Stückes Fleisch, eines Weibes oder eines geringfügigen Besitzes wegen –, selten wegen ideeller Motive. Die Dekadenz ist allerorten. Stadt und Bewohner sind eine unheilvolle Symbiose gegenseitigen Verfalls eingegangen. Auf Suchende wirkt Cathays Anblick gleichermaßen unheimlich und erschreckend wie geheimnisvoll und anziehend.
Der Autor läßt Cathay vor unseren Sinnen entstehen. Wir hören den Chor der Zikaden, wir spüren die sumpfige Schwüle, die erdrückende Feuchtigkeit, spüren den Regen, der an durchschnittlich zweihundertsiebzig Tagen im Jahr niedergeht. Wir riechen den ekelerregenden Geruch der Fischabfälle und des brackigen Wassers im Hafen, wir
rümpfen die Nase über schimmelndes Holz und faulende Netze, die dort am Straßenrand liegen. Der beständige Niedergang Cathays zieht sich durch fast alle Geschichten des Zyklus. In TRANSMUTATION wird dessen Ursache ebenso beschrieben wie die eigentliche Unmöglichkeit, daß in Cathay je etwas Gutes gedeihen sollte – brachten die ersten Siedler doch quasi die Saat des Bösen auf ihren Schiffen gleich mit. Noch näher erläutert wird dieser Fluch in DIE KOSMOGRAPHIE, wo es heißt: „… eines Seglers, den die Stürme vom fernen Europa an diese fremden Gestade geworfen hatten. Der Kapitän dieses ersten Schiffes war ein Verhältnis mit einer Eingeborenenfrau eingegangen, einem Mädchen, das wohl aber den Göttern als Braut versprochen gewesen war. Göttern, denen der Seefahrer, der ein zur strengen Gottesgläubigkeit erzogener Mann war, nicht huldigen wollte. Der Häuptling des Eingeborenenstammes hatte die weißen Eindringlinge verflucht und das Mädchen verstoßen. Doch mehr noch: der Medizinmann, ein furchterregend tätowierter Kerl, dessen Weichteile von einer Vielzahl von Nadeln und Ringen durchbohrt wurden, die als einziges seine völlige Blöße bedeckten, hatte das Mädchen und seine Nachkommen verhext. All dies hätte – abgesehen von dem unglücklichen weiteren Verlauf der Geschehnisse – vermutlich wenig Anlaß zur Sorge gegeben, wäre nicht eben dieser Schamane in den darauf folgenden Jahrhunderten immer wieder dabei beobachtet worden, wie er Dinge in verborgenen Winkeln der Stadt versteckt hatte, Dinge, bei denen es sich um primitive Puppen von ebenholzschwarzer Farbe handelte. Gleichzeitig hatte sich über die Zeit in den nur geflüstert weitergegebenen, geheimen Überlieferten das Gerücht gehalten, die Stadt werde erst Ruhe finden und dann endlich untergehen, wenn den Göttern das vorenthaltene Kind geschenkt würde.“ – Übrigens: viele der Protagonisten sind
heimkehrende Kinder Bethanys, was in den Geschichten nicht immer deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Als das letzte der Kinder, der Erzähler aus COSMOGENESIS, sich den alten Göttern verweigert, ist das Schicksal der Stadt endgültig beschlossen.
3. Die Zeit Die frühesten der in diesem Buch vereinten Geschichten spielen in einer Zeit, in der man die Keller in Cathay noch mit Fackeln ausleuchtete. In DAS HAUPT DER MEDUSA ist von der Fin-de-Siècle-Gesellschaft der Jahrhundertwende die Rede – ihren Phantasien und ihrer Hoffnungslosigkeit. Gaslaternen in den Straßen und Kerzenbeleuchtung in den Häusern deuten ebenfalls auf eine Zeit vor der vorletzten Jahrhundertwende hin. Widersprechenderweise existieren dort bereits Lastwagen. Kerzenschein und Motorisierung – wie paßt das zusammen? Erst wenn man allzu genau mit der Ratio hinterfragt, kommt man auf die Lösung: Die Geschichten aus Cathay spielen in einer Parallelwelt. Vor allen Dingen in DIE KOSMOGRAPHIE wird dies deutlich: „An dieser Stelle endet der Bericht. Der Alte stutzt, blättert verwirrt die leeren Seiten um. Das Buch ist nicht zu Ende geschrieben worden. Das letzte Kapitel fehlt, und er ahnt plötzlich, daß es seine Aufgabe ist, es hinzuzufügen. Als er die Tuschefeder ergreift und beginnt, steil geschwungene Lettern auf das schwere stoffartige Papier zu werfen, stellt er fest, daß man nicht erkennen kann, wo der alte Bericht aufhört und die Fortsetzung beginnt. So ähnlich sind Duktus und Signatur. Er schreibt, und die Worte fließen aus ihm heraus, wie das Wasser aus einem geborstenen Staudamm: Die Prophezeiungen sind
nicht erfüllt worden. Ich bin der letzte Mensch, der noch in Cathay lebt. Die Stadt steht kurz vor der Katastrophe, das Kanalsystem ist von den Eingeborenen, die sich über all die Jahrhunderte weder angepaßt noch verändert haben, zu Wohnhöhlen ausgebaut geworden. Der Meeresspiegel steigt stündlich, Risse durchziehen die Straßen, Cathay zerfällt. (…) So soll es also enden. Dies ist die Wahrheit. Cathay hat niemals existiert und wird niemals existieren.“ Das ist der Schlüssel, mit der sich alle offenen Antworten erschließen. Daher folgen die Geschichten keiner allzu logischen Chronologie. In manchen von ihnen erblicken wir Cathay wie in einem vierdimensionalen Modell, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart wie ein Vexierbild überlappen. Nur wenige Geschichten wie DES SAMMLERS LETZTE TAGE lassen sich zeitlich exakter einordnen. In GRACELAND stoßen wir gar auf das Cathay-Motiv als Vision aus vorgeschichtlicher Zeit, in der der Träumer zwischen merkwürdigen Ruinen umherwandert, umtanzt von nebelhaften Schemen. Hier erweist sich Cathay als Menetekel, das sich dem Todgeweihten im Traum offenbart. Ganz und gar SF mit Endzeitatmosphäre ist WASSERZEICHEN, in der von einer vergangenen Stadt die Rede ist, die einst den Namen Kathai getragen hat. Damit schließt sich der Kreis.
4. Die Themen Die Themen in COSMOGENESIS klingen trotz aller Verfremdung vertraut: So glaubt man in BETHANY Edgar Allen Poes düsterer Phantastik zu begegnen oder einem Gespenst von CARMILLA. DAS HAUPT DER MEDUSA greift griechische Sagenwelten auf – wir begegnen dem Motiv
der Medusa ein weiteres Mal in DER DEN STURM SÄT als steinerne Fassadenverzierung. DER DEN STURM SÄT erinnert an die düsteren Taten eines Jack The Ripper, der ebenso wie der Mörder hier im gelben Licht der Gaslaternen seine Opfer reißt. Daß Cathay die Geschichten prägt und das eigentliche Hauptthema einer jeden bildet, erkennt man IN DES SAMMLERS LETZTE TAGE – selbst marginale Anekdoten brillieren angesichts ihrer Umgebung zu grausamen Pointen, während DER DIE TRÄNEN VON DEN AUGEN DER LIEBENDEN STIEHLT oder DIE HÖLLE kleine Perlen bedeuten, die sich in das große Puzzle um das Geheimnis Cathays einfügen. Manche gar, wie GRACELAND, bringen mit Wunderlampen und Gnomen ganz neue Cathayer Mythen ins Spiel und verwirren denjenigen, der die einzelnen Facetten zu einem Zyklus einschnüren will. Das Rätsel Cathay entzieht sich uns, je mehr wir es in die Realität zerren wollen. Also: Lassen wir unserer Phantasie freien Lauf. In Cathay herrschen Götzen anstelle der Götter – ganz zu schweigen von dem einen, einzigen Gott, der die Welt längst verlassen hat. Dazwischen finden wir ganz und gar bizarre Anekdoten wie REPTILLIENHAUS oder EIDECHSENHAUT. Andere, COSMOGENESIS, sind voller Bezüge zu Mythen und Mythologien (u. a. Der Alte vom Berge, Agarthi etc.). Fantasy und Cyberfiction vermengen sich zu einem merkwürdig irritierenden Gebilde. Wäre das ganze Buch eine Musik-CD, würde man es wohl als Konzeptalbum bezeichnen und das Titelstück käme zweifelsohne als Bombastrock daher.
5. Die Illustrationen Als Jörg Kleudgen begann, diesen Band zu illustrieren, merkte er bald, daß es inzwischen unmöglich ist, das Wesen Cathays auf eine zweidimensionale Papierfläche zu bannen. Auch hier würde das Bild von der Tuschwolke im Wasserglas passen, auf dessen Grund der Erzähler schwimmt – ein einsamer Taucher am Rande der Finsternis (DIE HÖLLE). Jeder andere Künstler würde daran ebenso scheitern. Leider habe ich nie eine der Zeichnungen zu Gesicht bekommen – Jörg Kleudgen hat seine Versuche vernichtet. Dafür finden sich in diesem Band Fotografien, die der Autor im bretonischen Rothéneuf gemacht hat. Dort stößt man auf dreihundert behauene Strandfelsen, die teuflische Fratzen, entsetzliche Antlitze und Dämonen zeigen, in Stein gehauen von Abbé Fouéré, genannt der Einsiedler. Für den Geistlichen wurde das Bearbeiten der Felsen zur Lebensaufgabe – man mag es auch Besessenheit nennen. Der Betrachter wird konfrontiert mit einem Bestiarium der Sinne, und wer dieses zu interpretieren versteht, wird mit seinen eigenen Ängsten und seelischen Abgründen konfrontiert. Wie in den Geschichten über Cathay, so möchte man hinzufügen.
6. Was bleibt Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen den Mond längst bereist haben und sich anschicken, den Mars zu erobern. In einer Zeit, in der die Menschen über Weihnachten wie selbstverständlich Urlaub in exotischen Gebieten wie Sri Lanka oder Malaysia machen. Sie entfliehen in weit entfernte Orte vor der Einsamkeit unserer Gesellschaft, der Sinnlosigkeit ihres Daseins, vielleicht auch der Erkenntnis ihrer eigenen
Ohnmacht – nur um dort, so schrecklich es ist, in den vermeintlichen Paradiesen auf entfesselte, fürchterliche Urgewalten zu stoßen. So geschehen um Weihnachten 2004. Die uns nur mit dem Verständnis biblischer Ausmaße vorstellbare Flutkatastrophe in Südasien müßte Anlaß für uns sein, unsere Stellung zur Natur und Umwelt kritisch nachzudenken. Weit gefehlt! Noch während die Leichenberge wachsen und die Spendendosen klingeln, wird auf der anderen Seite schon wieder fleißig für die betroffenen Länder als Urlaubsregionen geworben und wir sehen dekadente Urlauber in Thailand beim Sonnenbaden. Der durch Verbrennung fossiler Energieressourcen ausgelöste Klimawandel geht so mit jedem Urlauberjet munter weiter…
Auch Jörg Kleudgen ist ein Kosmopolit – aber einer, der nicht flieht, sondern sich seinen Träumen wie Alpträumen stellt – und den die meisten seiner Reisen in einen fast mikroskopisch zu nennenden Kosmos führen.
Auf einigen dieser Reisen sind wir uns begegnet oder wir haben sie zusammen unternommen: Zur Schwarzen Hand in Bödefeld, zu den Externsteinen in Horn-Meinberg, zur sturmumtosten Hallig Hooge, zum Kloster Himmerod oder zum Nerother Kopf in der Vulkaneifel. Der am weitesten entfernte Ort, an dem wir uns trafen, lag rund tausend Kilometer von zu Hause: Das mystische Friedhofsörtchen St. Martyre in der Bretagne. Doch immer trug Jörg Kleudgen dabei seine ureigene Landkarte mit – diejenige, auf der all diese realen Orte verzeichnet sind. Aber auch Orte wie Cathay. Diese Landkarte existiert nur in seinem Kopf und hier führen
alle Abenteuer – erlebte wie erdichtete – zusammen. Doch was ist schon real?
Ich wünsche mir, daß wir noch viele solcher Orte besuchen. Ganz am Ende unserer Reisen aber wird er seinen schwarzen, altertümlichen Koffer wie üblich in das Zugabteil hieven. Er wird sich aus dem Fenster lehnen und kurz, bevor der Zug – es muß eine Dampflokomotive sein! – abfährt, ein letztes Mal in altvertrauter Weise lächeln und mir lässig zuwinken: „Wir sehen uns in Cathay!“
Was uns dort erwarten mag, davon erzählen diese Geschichten. Uwe Voehl, Bad Salzuflen, am Vorabend des Silvester 2004