Coriolis ist ein unbedeutender Planet in einem Doppelsternsystem im Sternbild des Schützen. Er dreht sich in etwa zwei ...
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Coriolis ist ein unbedeutender Planet in einem Doppelsternsystem im Sternbild des Schützen. Er dreht sich in etwa zwei Stunden einmal um seine Achse; das hat zur Folge, daß in der Atmosphäre ungeheure Strömungen entstehen: Passate mit Windegeschwindigkeiten von Orkanstärke, die in Hochtälern eine Gewalt erreichen können, daß man sich selbst auf ebenem Gelände nur angeseilt vorwärtsbewegen kann. Und trotzdem trägt dieser unwirtliche Planet Leben – freilich eine Pflanzen- und Tierwelt, die sich völlig diesen extremen Bedingungen angepaßt hat, und eine katzenähnliche intelligente Rasse auf einer vortechnischen Entwicklungsstufe. Dies ist die Geschichte von Kazazi, einem weiblichen Jungling, die von ihrer Dorfgemeinschaft windabwärts verbannt wird und die gefahrvolle Reise um den gesamten Planeten wagt, denn nur wer vor dem Wind gereist ist und eine Weltumrundung überlebt hat, wird in Ehren wieder in der heimatlichen Gemeinde aufgenommen. Dieser Romanerstling eines jungen Niederländers besticht vor allem durch seinen Einfallsreichtum, eine Tier- und Pflanzenwelt zu erschaffen, die sich unter diesen Klimaverhältnissen entwickelt haben könnte, und durch seine frische, natürliche Art, ein spannendes Abenteuergarn zu erzählen.
Gerben Hellinga, jr.
Coriolis Der Sturmplanet Science Fiction Roman Deutsche Erstveröffentlichung Ins Deutsche übersetzt von Hildegard Höhr
v 1.0
Titel des holländischen Originals: CORIOLIS Copyright © 1985 by Gerben Hellinga Copyright © 1986 der deutschen Ausgabe und Übersetzung ISBN 3–453–31208–2
Inhalt Inhalt.........................................................................................................1 Prolog .......................................................................................................2 Auszug aus dem Logbuch ALPHERATZ II ...............................................5 Karte von Coriolis .....................................................................................7 Erster Teil Die Abreise............................................................................8 1.
Die Verbannte ................................................................................9
2.
Aller Anfang ist schwer ................................................................15
3.
Kommunikation ............................................................................21
4.
Sprachunterricht ..........................................................................28
5.
Probleme .....................................................................................33
6.
Fehlstart.......................................................................................41
7.
Unterwegs....................................................................................52
Zweiter Teil Die Reise...........................................................................61 8.
Biologieunterricht .........................................................................62
9.
Auf der Ebene ..............................................................................69
10.
Ob Osten – ob Westen – daheim ist's doch am besten .............76
11.
Nardovs Dorf..............................................................................84
12.
Windstärke 12 ............................................................................93
13.
Die Halbinsel Niviner................................................................100
14.
Snobdorf ..................................................................................109
15.
Der Windtunnel ........................................................................118
16.
Enthüllungen ............................................................................128
17.
Der Isthmus..............................................................................135
18.
Das dicke Ende........................................................................150
19.
Ankunft und Abreise.................................................................164
Epilog....................................................................................................170
1
Prolog PRINT–OUT BORDCOMPUTER ’ALPHERATZ–II’ BEREIT ZUR EINGABE:
GIB INFO UEBER NAECHSTGELEGENES STERNENSYSTEM INFORMATION NAECHSTLIEGENDER STERN DATUM: 9 SKORPION 2147, ZEIT: 12:45:18 KATALOGNUMMER: UNBEKANNT BEREIT ZUR EINGABE:
GIB DATEN FUER SPEKTRALANALYSE EIN D O P P E L S T E R N ALPHA–STERN KATEGORIE LEUCHTKRAFT TEMPERATUR OBERFLAECHE DURCHMESSER MASSE ROTATIONSGESCHWINDIGKEIT
ROTER RIESE 99.83 X SOL CA. 3100C 250 X SOL 1.102 X SOL UNZUREICHENDE DATEN
BETA–STERN KATEGORIE LEUCHTKRAFT TEMPERATUR OBERFLAECHE DURCHMESSER ROTATIONSGESCHWINDIGKEIT
WEISSER ZWERG 0.0018 X SOL CA. 6800 C 0.011 X SOL UNZUREICHENDE DATEN
ABSTAND ALPHA–BETA DURCHSCHNITTLICH ZUM ZEITPUNKT DER ANALYSE
UNZUREICHENDE DATEN 10’209 AE 2
ROTATIONSPERIODE UM DEN GEMEINSCHAFTLICHEN SCHWERPUNKT ZUM ZEITPUNKT DER ANALYSE
UNZUREICHENDE DATEN CA. 200 STANDARDJAHRE
PLANETEN ALPHA BETA
KEINE VIER
BETA BETA BETA BETA
KEINE ATMOSPHAERE ATMOSPHAERE KEINE ATMOSPHAERE KEINE ATMOSPHAERE
I II III IV
BEREIT ZUR EINGABE:
GIB DATEN BETA-II: ABSTAND VOM SCHIFF UND REISEZEIT INFORMATION BETA II DATUM: 9 SKORPION 2147, ZEIT: l2:46:23 BETA II ATMOSPHAERE
JA, WEITERE DATEN UNBEKANNT 0.978 AE 12’000 KM
ABSTAND ZU BETA DURCHMESSER
KENNZEICHEN SEHR STARKE ABWEICHUNG VON DER KUGELFORM 1 ZU 25 (SOL III: 1 ZU 298.26) NAHELIEGENDER SCHLUSS: SEHR HOHE ROTATIONSGESCHWINDIGKEIT
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INFORMATION ABSTAND, REISEZEIT DATUM: 9 SKORPION 2147, ZEIT: 12:46:27 ABSTAND ALPHERATZ–II ZUM SYSTEM REISEZEIT KONVENTIONELLE GESCHWINDIGKEIT
120’000 AE 28.3 STANDARDTAGE
BEREIT ZUR EINGABE:
ENDE DER AUSGABE BORDCOMPUTER 'ALPHERATZ–II' AUS DATUM: 9 SKORPION 2147, ZEIT: 12:47:01
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Auszug aus dem Logbuch ALPHERATZ II 7 SCHÜTZE 2147 Wir befinden uns nun in einer Umlaufbahn um Beta-II und haben inzwischen etwas genauere Daten über diesen Stern zur Verfügung. Beta-II ist mit Sicherheit keine sonderlich erfreuliche Welt. Die Annahme des Computers über seine Rotationsgeschwindigkeit hat sich als korrekt erwiesen: Der Planet dreht sich in ungefähr zwei Stunden um seine eigene Achse. Einige weitere Daten: Die Achse von Pol zu Pol steht fast senkrecht auf der Umlaufebene, und da der Planet so stark abgeflacht ist, müßte zwischen den Polen und dem Äquator ein ziemlich großer Temperaturunterschied bestehen. Aber dies wird durch Luftströmungen von den Polen zum Äquator hin ausgeglichen, die im Zusammenwirken mit der Rotationsgeschwindigkeit von Coriolis einen Passat von unglaublicher Stärke erzeugen. Die auf der Erde herrschenden Temperaturunterschiede und die Rotationszeit der Erde von vierundzwanzig Stunden rufen einen Passat von ungefähr Windstärke vier hervor. Auf diesem Planeten hingegen ist die Temperaturschwankung wesentlich größer, und die Rotationsgeschwindigkeit ist zwölf mal so hoch wie die der Erde! Wir müssen daher mit einem Passat rechnen, der mindestens mit Windstärke neun über die Ebenen rast, und wenn es dort Berge gibt, muß er in den Tälern bis zu Windstärke elf nach der Beaufort-Skala ansteigen. Übrigens wird es wohl auch in den relativ ruhigen Gegenden mit Windstärke neun, vorsichtig ausgedrückt, schwierig sein, sich auf den Beinen zu halten. Das müßte zumindest auf die gemäßigten, subtropischen Zonen zutreffen. Die Polregionen sind unglaublich kalt und daher unbewohnbar. Die tropischen Regionen sind so heiß, daß wir uns dort wahrscheinlich nicht ohne Thermoanzüge aufhalten können. Die Atmosphäre des Planeten enthält genügend lebensnotwendige Gase und keine schädlichen. Der riesige Stern Alpha ist so weit entfernt, daß er zwar Licht spendet, aber keine Wärme erzeugt, und wenn man diesen Stern als Lichtpunkt annimmt, so rotiert das System Beta/Beta-II so, daß die Tage dort ungefähr eine Standardeinheit lang sind. Es gibt Pflanzen– und Tierleben, aber intelligentes Leben scheint auf dem Planeten nicht zu existieren. Wir können zumindest nirgendwo Städte oder Dörfer entdecken. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Beta-II in den gemäßigten Bereichen auf den ersten Blick bewohnbar erscheint... Wir nennen den Planeten >Coriolis<, weil >Beta-II< so nichtssagend klingt. Wir haben ein Gebiet entdeckt, in dem es radioaktives Material 5
geben muß, und wir werden mit unserer Landefähre so nahe wie möglich bei diesem zu landen versuchen. Zum Glück liegt das Gebiet in der gemäßigten Zone! Übrigens wird es für Everett noch ein ziemlich riskantes Kunststück werden, das Landungsboot mit dem wenigen Brennstoff, den wir noch haben, ohne Schaden auf den Boden zu setzen. Windstärke neun! Aber wenn irgend jemand dazu fähig ist, dann ist es Everett, das muß ich diesem Arschloch leider lassen. Und wir müssen es versuchen. Ohne unsere Uranvorräte zu ergänzen können wir nun einmal den interstellaren Antrieb nicht benutzen...
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Karte von Coriolis
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Erster Teil Die Abreise
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1.
Die Verbannte
Als der Richter nach der Ratssitzung wieder die Rechtshöhle betrat, den Schwanz in die Höhe streckte und den Endhaken nach vorne richtete, wußte Kazazi, daß sie mit ihrem Pessimismus recht gehabt hatte. Die maximale Strafe! Aber was sie getan hatte, war doch nicht sooo schlimm gewesen... Sie war in den windaufwärts gelegenen Teil des Dorfes gegangen, um zu versuchen, einem reichen Einwohner ihres Dorfes eine ihrer Hieroglyphen zu verkaufen. Gjata hatte schon oft Interesse an ihren Kunstwerken gezeigt, wenn er sie bei anderen gesehen hatte, und Kazazi hatte ihn gedrängt, doch nun auch endlich einmal eines ihrer Kunstwerke zu kaufen. Nun ja, sie hatte tatsächlich ihre Geduld verloren, als Gjata den von ihr geforderten Preis nicht bezahlen wollte. Sie verlor nun einmal leicht die Geduld... Aber Gjata hätte sie auch nicht so unsanft aus der Höhle werfen zu lassen brauchen! Und er hätte sicher nicht so weit zu gehen brauchen, sie an der nächstgelegenen Öffnung des Höhlendorfes an die Erdoberfläche setzen zu lassen! Wenn jemand Kazazi so behandelte, mußte er eben mit Schwierigkeiten rechnen, und Gjata hatte somit praktisch regelrecht darum gebeten, daß Kazazi aus Rache versuchte, Gjatas Windmühle zu zerstören. Natürlich war das nicht richtig gewesen, und Kazazi wußte sehr genau, daß sie dafür bestraft werden mußte. Diese verdammten Wutanfälle, die sie immer wieder hatte! Aber sie hatte leider auch Pech gehabt; es war nicht nur ihre Schuld gewesen. Wenn sie etwas besser gezielt hätte, hätte ihr windabwärts geworfener Stein tatsächlich Gjatas Windmühle zerstört. Aber sie hatte nicht gut gezielt, und jetzt fehlte einer Windmühle, die etwas weiter windabwärts stand, ein Flügel... Die Folge einer solchen Tat war meist ein Zwangsumzug nach windabwärts (dabei hing es vom Ernst des Delikts ab, wieviele Längen man windabwärts ziehen mußte), verbunden mit dem Verbot, jemals wieder die besseren Gegenden des Dorfes zu betreten. Aber die von Kazazi eindeutig unabsichtlich beschädigte Windmühle gehörte ausgerechnet dem Dorfrichter persönlich, und in einem solchen Fall konnte sich der Übeltäter schon bei einem ziemlich geringen Vergehen die Maximalstrafe einhandeln. Es tat ihr gut, zu merken, daß die Zuschauer auf der dichtgedrängten Publikumstribüne entrüstet zu fauchen begannen, als sie den Schwanzstand des Richters bemerkten – aber leider bestimmen nun einmal die Richter, wie ein Vergehen bestraft wird, und nicht die öffentliche Mei9
nung. Der Richter machte dies in seiner Urteilsbegründung auch deutlich. Er richtete die telepathische Verkündigung der Strafe an diejenigen, die ihm am nächsten saßen, und diese gaben das Urteil dann von einem zum anderen an alle Anwesenden weiter. Auf diese Weise konnte jeder fast gleichzeitig erfahren, warum Kazazi so streng bestraft werden sollte. Kazazi saß ziemlich nahe beim Richter und konnte seine bösartige Rachlust sehr gut sensen, aber nur diejenigen, die wie sie selbst ziemlich nahe beim Richter saßen, konnten dies bemerken. Beim telepathischen Kontakt war es. üblich, niemals das an andere weiterzugeben, was man von dem Betreffenden senste. Der Richter eröffnete seine Darlegung mit einer sehr einseitigen Darstellung des Geschehens, wobei er jede Möglichkeit des Affekts oder des Versehens negierte, fuhr dann fort mit einer Abhandlung über den zunehmenden Sittenverfall und die sich ausbreitende Kriminalität bei der Jüngern Generation und endete schließlich mit der Mitteilung, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, ein warnendes Exempel zu statuieren. Er schien selbst kaum noch Interesse am weiteren Verlauf seiner Ausführungen zu haben und schloß sie endlich mit der Verkündigung der zur Maximalstrafe gehörenden rituellen Konditionen ab: »Kazazi Bogdan Siligi, Sie werden aus dieser Gemeinschaft nach windabwärts verbannt. Es ist Ihnen nur dann erlaubt, wieder in dieses Höhlensystem zurückzukehren, wenn Sie dem Passat folgen. Sollte Ihnen dies gelingen, so wird Ihnen vollständige Amnestie gewährt, und Ihr Reisebericht wird in die Grotte der Hieroglyphen eingemeißelt werden. Da Ihnen dies jedoch höchstwahrscheinlich nicht gelingen wird, wird Ihr gesamter Besitz, soweit Sie ihn nicht auf Ihre Reise mitnehmen können, beschlagnahmt. Bei Ihrer Abreise steht es jedermann frei, alte Rechnungen mit Ihnen zu begleichen. Eine Stunde nach dem nächsten Aufgang der Roten Sonne müssen Sie abgereist sein. Die Sitzung ist geschlossen.« Der Richter verließ die Rechtshöhle in Totenstille, denn es standen beträchtliche Strafen auf Ruhestörungen während eines Prozesses. Aber unmittelbar nach seinem Abgang ertönte ein anhaltendes Fauchen, und Kazazi wurde von Bekannten und Familienangehörigen umringt. Niemand schien Verständnis für das Ausmaß der Strafe aufbringen zu können, und das war auch kaum verwunderlich. Die Verbannung aus einem Dorf konnte praktisch nur auf zwei Dinge hinauslaufen: Entweder versuchte man, die ganze Welt zu umreisen, um schließlich wieder ins eigene Dorf zurückkehren zu können – und dies war ein tödliches Unternehmen – oder man versuchte, windabwärts vom eigenen Dorf einen neuen Wohnort zu finden. Aber Fremde wurden nicht so gerne in eine 10
andere Dorfgemeinschaft aufgenommen. In jedem Dorf nahmen ja alle Einwohner telepathisch sehr intensiv an allem teil, was die übrigen Dorfbewohner erlebten, und ein Fremder mußte sich folglich stets mit dem Handicap herumschlagen, als einziger die kollektiven Erinnerungen der Gemeinschaft nur vom >Hörendenken< zu kennen. Die Höchststrafe bedeutete also, daß Kazazi entweder auf einer langen Reise umkommen würde, die gewöhnlich nur einer von Hundert überlebte, oder daß sie für den Rest ihres Lebens ein einsames und unsicheres Dasein weit entfernt von ihrem Geburtsdorf führen mußte. Glücklicherweise kam Kazazi der Umstand zugute, daß sie eine außergewöhnliche Schönheit war. In den meisten Dingen war sie natürlich ein ganz gewöhnlicher Osbork. Ihr stark stromlinienförmiger Körper wich hinsichtlich der Länge kaum von dem eines durchschnittlichen Osborks ab (sie war fast genau eine Standardlänge lang), und ihr Kopf befand sich ungefähr eine halbe Länge über dem Boden, wenn sie auf allen vier Beinen stand. Wie die meisten Osborks hatte sie intelligente Augen. Sie besaß einen langgestreckten Kopf mit scharfen Zähnen in einem Maul, um den stets ein leicht zynischer Zug spielte, was nicht sehr typisch für einen Osbork war. Ihre Beine waren kurz und kräftig. Wenn man näher hinschaute, konnte man sehen, daß die Innenflächen von Kazazis Vorderpfoten an der Außenseite auffallend wenig Hornhaut aufwiesen und daß sie außergewöhnlich empfindlich zu sein schienen, aber das war eigentlich auch nicht verwunderlich. Kazazi war keine Jägerin oder Wasserträgerin, sie verdiente sich ihren Lebensunterhalt durch das Malen von Hieroglyphen, und das schonte natürlich die Vorderpfoten. Kazazi ging daher auch öfter als die meisten Osborks nur auf ihren Hinterbeinen, zumindest solange sie sich innerhalb der Höhlen befand. Doch dies war es noch nicht, was Kazazi zu einem bemerkenswerten Osbork machte. Zu einer solch außergewöhnlichen Schönheit machte sie ihr Fell und ihr Schwanzansatz... Ihr Fell war graublau, was bei den Osborks ziemlich selten vorkam und schon allein deshalb eine große Anziehungskraft auf ihre männlichen Artgenossen ausübte. Außerdem glänzte ihre Haut wie nur bei wenigen anderen, und auf ihrer linken Flanke befand sich ein fast blauer Fleck, den viele männliche Osborks äußerst anziehend fanden. Das Auffälligste jedoch war Kazazis Schwanz. Dieser maß ungefähr eine Länge und war damit etwa ein Zehntel länger als ihr gesamter Körper, und der Ansatz dieses Körperteils war dick und weich... zu Ehren von Kazazis Schwanz hatten Dichter Hieroglyphen gemalt, und mindestens zwei Duelle zwischen Osborks hatte es gegeben, weil die Kontrahenten Kazazis Gunst (und ihren Schwanzansatz...) begehrten. Ihr Äußeres war ein angemessener Ausgleich für Kazazis schwierige Art 11
– das war zumindest die Meinung vieler. Ihre bissigen Reaktionen auf geringfügigste Frustrationen waren für die Sensorgane ihrer Artgenossen oft sehr unangenehm und unmöglich zu übersehen, und man senste bei ihr öfter Verärgerung oder Wut als Zufriedenheit oder Freude. Es half ihr natürlich ein wenig, daß die Gründe für ihre harsche Art allgemein bekannt waren. Ein Passatfolger hatte sich vor sechzehn Jahren an Kazazis Mutter vergangen, und daher hatte es dem Jungen, das die Folge dieser Schandtat war, an Liebe gefehlt. Wirklich übel nahm man Kazazi ihre oft unangenehmen Emotionen daher auch nicht, aber außer der Anteilnahme an dem ungerechten Urteil senste Kazazi doch auch eine allgemeine Erleichterung – und natürlich auch Schuldgefühle über diese Erleichterung... Als sie wieder in ihrer eigenen Höhle war, schaute sich Kazazi mißmutig um. Innerhalb von fünfzehn Jahren sammelt sich manches an, was einem lieb und teuer ist, und es ist schwierig, daraus etwas auszuwählen, insbesondere dann, wenn das Gepäck höchstens ein Zehntel des eigenen Körpergewichts betragen darf. Es erschien Kazazi sinnlos, mehr mitzunehmen, denn sie würde von der Jagd leben müssen, und dazu brauchte sie leichtes Gepäck. Ihre Gebetsflöten nahm sie natürlich mit; es war undenkbar, mit dem Passatsturm zu reisen, ohne die Mittel bei sich zu haben, ihn anzubeten. Ihre Sammlung von Rennerhäuten, die mit exquisiten Hieroglyphen von bekannten Meistern bemalt waren, würde sie zurücklassen müssen. Sie konnte sie nicht einmal ihren Freunden geben, denn das Inventar war beschlagnahmt worden. Das war dumm, denn wenn sie jemals wieder zurückkommen sollte, würde sie von Freunden ihre Sammlung sicherlich wieder zurückbekommen – jetzt hingegen war sie wohl für immer verloren. Auch ihre eigenen Hieroglyphen würde sie zurücklassen müssen, aber das erschien ihr weniger schlimm. Bei ihrer Begabung war es keine Schwierigkeit für sie, immer wieder neue anzufertigen. Dann suchte Kazazi in ihrer Hieroglyphensammlung nach der Weltkarte, die dort irgendwo herumliegen mußte. Passatfolger, die vor ihr verbannt gewesen waren und die Große Reise überlebt hatten, hatten ziemlich genaue Karten angefertigt, und Kazazi war jetzt froh, daß es ihr damals sinnvoll erschien, eine davon zu kaufen. Solch eine Karte konnte unter Umständen entscheidend für das Überleben auf der Großen Reise sein. Was sonst noch? Ja, natürlich, die drei Erdschlangenhäute, die sie sich damals gekauft hatte. Sie würde sicher bald Tauschwaren benötigen, und die Haut einer Erdschlange war, wenn sie gut gegerbt war, ziemlich wertvoll. Das Fell eines braunen Springers konnte ihr, wenn sie es mit den Beinhäuten des Tieres um ihre Schultern knotete, dazu dienen, dies 12
alles zu tragen. Dabei mußte sie es belassen; ihr >Rucksack< war nun schon fast voll, und sie würde auch noch etwas Proviant für die erste Etappe mitnehmen müssen. Die Rote Sonne war gerade über den Horizont gestiegen, als Kazazi aus ihrer Höhle in das Gangsystem des Höhlendorfes trat. Etwas enttäuscht schaute sie sich um. Sie hatte eigentlich erwartet, daß ein paar Freunde kommen würden, um ihr eine gute Reise zu wünschen... Da fiel ihr plötzlich ein, daß sie in der vergangenen Nacht nicht gerade guter Stimmung gewesen war – sogar für ihre Verhältnisse war ihre Stimmung ziemlich schlecht gewesen, noch viel schlechter als sonst. Kein Wunder also, daß man ihre Höhle in dieser Nacht gemieden hatte. Sie hoffte, wenigstens am Dorfrand noch ein paar Freunde zu treffen. Aber nur nicht zuviele andere! Erleichtert sah Kazazi kurze Zeit später, daß am unterirdischen Dorfrand nur zwei oder drei ihr feindlich gesinnte Osborks standen und einige Dutzend Dorfgenossen, die ihr gegenüber neutral und gutgesinnt waren. Das war mehr, als sie erwartet hatte, und natürlich auf den Umstand zurückzuführen, daß ihre erzwungene Reise allgemeine Empörung hervorgerufen hatte. Trotzdem rührte es sie. Diese Leute hätten ja schließlich auch zu Hause bleiben können! Sie senste bei den anderen sofort die Erleichterung darüber, daß ihre Gefühle jetzt etwas positiver waren. Dadurch war es ihnen möglich, ihr ohne Vorbehalte alles Gute zu wünschen, und sie schienen es wirklich ernst zu meinen, als sie sie wissen ließen, daß sie willkommen sei, wenn sie wieder zurückkäme. Und mehr noch: Ein paar gutsituierte Dorfbewohner versprachen ihr, beim öffentlichen Verkauf ihrer Besitztümer die schönsten Stücke aus ihrer Kollektion zu kaufen und ihr diese zurückzugeben, falls sie die Große Reise überleben würde – wie konnten sie nur so sicher sein, daß ausgerechnet sie zu dem einen Prozent überlebender Passatfolger gehören würde? Schien denn niemand an die Möglichkeit zu denken, daß sie sich irgendwo anders niederlassen würde, um die Große Reise gar nicht erst machen zu müssen? Auf diese Fragen erreichten sie alle möglichen Antworten gleichzeitig. Von einem ihrer früheren Liebhaber erfuhr sie: »So ein schönes Mädchen wie du schlägt sich überall durch – du wirst einen Beschützer finden, der dir auf deiner Reise weiterhilft!« Von einer etwas zynischen Freundin: »Beste Kazazi, mit deinem schwierigen Charakter wird man dich nirgendwo für längere Zeit dulden. Du wirst zu uns zurückkehren müssen, wenn du nicht allein bleiben willst!« Von einem wohlwollenden Onkel: »Nun, Mädchen, wir wollen ganz einfach, daß du wieder zurückkommst!« Am meisten rührten sie die ernsten Gedanken eines älteren 13
Dorfgenossen: »Kindchen, du hast es in deiner Kindheit so schwer gehabt, und da hast du dich auch gut durchgeschlagen. Deshalb erwarte ich, daß dir dies auf der Großen Reise auch gelingen wird.« Das war nicht sehr realistisch, denn die Große Reise war mit erheblich größeren Risiken verbunden als eine lieblose Kindheit, aber zumindest war das sehr nett von dem Alten, wirklich. Angesichts des zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen Freunden und Feinden, die bei ihrer Abreise zugegen waren, war die Menge an Hausmüll und Steinen, die ihr beim abschließenden Verbannungsritual nachgeworfen wurden, gering. Aber da derartiges Zeug bei Windstärke neun doch ziemlich weit fliegen und hart treffen konnte, sorgte Kazazi dafür, daß sie so schnell wie möglich ein gutes Stück Wegs zurücklegte. Es war übrigens auch notwendig, gerade die erste Zeit schnell und weit zu reisen, denn windabwärts von einem Osborkdorf findet man nicht viel Wild. Die meisten Tiere, die dem Passat folgen und in die Nähe eines Dorfes kommen, werden ja gefangen, und meistens findet man erst viele Kilolängen windabwärts von einer solchen Niederlassung wieder Beutetiere, die von den Haushaltsabfällen angezogen werden, welche über weite Gebiete auf der Leeseite des Dorfes vom Passat mitgeführt werden. Vorläufig würde es mit dem Jagen also wohl nichts werden. Nachdem sie ungefähr zwanzig Kilolängen gelaufen war, blieb Kazazi stehen. Etwas ängstlich schnaubend schaute sie sich um. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie so weit von ihrem Dorf entfernt gewesen. In ihrer Pubertät hatte sie zwar hin und wieder mit den anderen Jungen des Stammes gejagt, aber dies hatte sie getan, um es auch einmal mitgemacht zu haben, und nicht, weil es ihr besonders gut gefallen hätte. Ihre Begabung lag mehr im Bereich des Zeichnens und der Hieroglyphenherstellung. Damit hatte sie immer gut ihren Unterhalt verdienen können und demzufolge nie selbst aktiv auf Nahrungssuche gehen müssen. Das würde nun anders werden. Es war nicht ausgeschlossen, daß sie da und dort etwas mit ihrem Malen verdienen konnte, aber die Dörfer der Osborks liegen weit auseinander, da sonst nicht genug Wild vom Passat herangetrieben wird, und zwischen diesen liegen oft viele hundert Kilolängen – die für einen schnellen Reisenden in etwa zwei bis drei Tagen zu bewältigen sind. Und ein Unerfahrener, der sich zwar der Gefahren der Natur bewußt ist, aber noch nicht so gut weiß, wie er darauf reagieren soll, tut gut daran, sich nicht zu sehr zu beeilen...
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2.
Aller Anfang ist schwer
In der Gegend, in der sich Kazazi nun befand, herrschte eine trügerische Stille. Es irrten keine Plattiere, Renner oder Springer umher, und auch die Fleischfresser, die sich von solchen Tieren ernährten, waren nirgends zu sehen – außer Kazazi selbst natürlich. Allerdings konnte in der Wildnis auch die Pflanzenwelt eine Gefahr darstellen, und Kazazi war sich dessen ständig bewußt. So schlug sie am Anfang einen wahrscheinlich unnötig großen Bogen um einen Dornenwerferstrauch, bis sie sich ein paar Kilolängen weiter windabwärts sicher fühlte. Dornenwerfersträucher haben die unangenehme Eigenschaft, giftige Dornen zu produzieren, die zu bestimmten Zeiten abfallen und vom Sturm mitgeführt werden. Die unterirdisch windabwärts wachsenden Wurzeln erstrecken sich fächerförmig über mehr als hundert Längen. Sie bilden überall Ausläufer, die aus dem Boden ragen und jedes Lebewesen verzehren, mit dem sie in Berührung kommen. Wenn ein solcher Dorn ein Tier trifft, fällt es bewußtlos zu Boden und wird von den Wurzeln sofort gefressen. Der Sturm nimmt die spärlichen Überreste dann mit sich, so daß in dem fächerförmigen Gebiet windabwärts auch keine Skelette liegen bleiben, die vor den gefährlichen Sträuchern warnen könnten. Kazazi sah auch Serpentinensträucher, deren mehr als zehn Längen messende Tentakel aufgerollt auf den Augenblick warteten, in dem die Vibrationen von Füßen, Hufen oder Pfoten signalisierten, daß Nahrung in der Nähe war. Wenn das geschieht, entspannen sich die Fasern, die die Serpentinen aufgerollt halten, und diese schwirren vom Sturmwind getragen durch die Luft. Wenn sie auf ein Tier treffen, klammern sie sich an diesem fest und saugen ihre Beute aus. Das Tier kann während dieses Prozesses oft noch viele Kilolängen weit laufen, nachdem es die Serpentine von der Mutterpflanze losgerissen hat. Doch das hindert die Aktivität des Strauches nicht im geringsten. Die Serpentine bildet nun vielmehr eine eigenständige Einheit und pflanzt sich auf diese Weise fort. All diese Pflanzen wirkten ziemlich karg, denn seit Kazazis Stamm sich windaufwärts niedergelassen hatte, war nicht mehr viel tierische Beute für sie übrig geblieben. Mit einem etwas bösartigen Vergnügen versetzte Kazazi, als sie sich etwas selbstsicherer fühlte, jedem Dornenwerferstrauch, dem sie sich windaufwärts näherte, einen festen Schlag. Der Strauch verschoß dann auch jeweils prompt seine reifen Dornen, so daß Kazazi weniger Gefahr lief, von einem solchen Ding in den Rücken getroffen zu werden, wenn sie an der Pflanze vorüberging. Die Serpentinensträucher hingegen ließ sie lieber in Ruhe. Diese haben an der 15
Windseite giftige Stacheln, um zu verhindern, daß Pflanzenfresser die Serpentinen am Ansatz abbeißen können. Die nicht–fleischfressenden Pflanzen sahen viel weniger unterernährt aus als ihre bösartigen Artgenossen. Diese ernähren sich von dem, was sich im Boden befindet (oder höchstens noch von kleinem Getier, das durch die Luft windabwärts getrieben und in Kazazis Dorf nicht abgefangen wurde). Die Samen, Insekten und Pflanzenreste, die in den riesigen ostwärts gerichteten Trichtern von Saugschwämmen landen oder an den klebrigen Tentakeln der Polypen kleben bleiben, waren so im Überfluß vorhanden, daß das Gebiet hier dicht bewachsen war und Kazazi sich nur mit Mühe einen Weg bahnen konnte. Ein Stück weiter würde dies jedoch wohl leichter werden, denn die Tentakel der Polypen sind ein Lekkerbissen für Plattiere, wohingegen die Trichter der Saugschwämme die Lieblingsnahrung von Braunen und Roten Rennern sind. Kazazi bemühte sich, soweit die Pflanzen dies zuließen, genau nach Westen zu gehen. Wenn sie zu weit nach Süden abwiche, würde sie dem rätselhaften Gebiet der Plumpssamensträucher gefährlich nahe kommen, und davor wurde sie von ihrer Karte sehr nachdrücklich gewarnt. Mit heraushängender Zunge erreichte Kazazi schließlich das Ende des dichtbewachsenen Gebietes. Allmählich wurde die Landschaft nun abwechslungsreicher. An den Pflanzen waren Spuren von losgerissenen Trieben und entblätterten Zweigen zu sehen, was nicht die Folge des Sturmwindes sein konnte, denn dagegen sind die Pflanzen aus Kazazis Welt gefeit. Offensichtlich war das auf die in dieser Gegend wieder grasenden Tierarten zurückzuführen. Ein Dornenwerferstrauch, den sie in einiger Entfernung sah, machte auch einen ziemlich wohlgenährten Eindruck... Kazazi wußte, daß sie nun Beute finden konnte, aber auch, daß sie sich jetzt vorsehen müßte, nicht selbst zur Beute zu werden. Trotz günstiger Geländebeschaffenheit zog sie es immer noch vor, fürs erste nicht allzu schnell zu reisen. Denn zum einen glaubte sie, noch mehr Erfahrungen sammeln zu müssen, bevor sie sich mit der für Osborks normalen Reisegeschwindigkeit fortbewegen könnte, und zweitens... Sie hockte sich hin und leckte vorsichtig ihre Handrücken. Die Hände eines Osborks sind an den Innenseiten weich und ziemlich empfindlich. Die Finger sind unabhängig voneinander zu bewegen, und einen davon können sie sogar abwinkein. Die Außenfläche einer Osborkhand ist im allgemeinen hart und mit Hornhaut überwachsen, und wenn sich jemand außerhalb seines Höhlendorfes auf der stürmischen Oberfläche von Coriolis fortbewegen will, so tut er dies auf allen vieren. Mit zu Fäu16
sten geballten Händen läuft er dann auf der Hornhautfläche. Da ein Osbork außerdem jeden Fingernagel nach Belieben einziehen oder ausstrecken kann, ist seine Vorderpfote für ihn eine vielseitige Überlebenshilfe. Aber das bleibt natürlich nicht so, wenn man die Nägel schlecht behandelt. Kazazi hatte auf ihren ungeübten Fäusten nun ungefähr hundert Kilolängen zurückgelegt, und das war nicht ohne Schäden abgegangen. Es kam ihr äußerst gelegen, daß sie noch nicht zu jagen brauchte. Osborks essen höchstens einmal am Tag und können auch, wenn es sein muß, ein paar Tage ohne Nahrung auskommen. Kazazi hatte sich vor Antritt ihrer Reise satt gegessen und würde daher erst in ein paar Tagen ihren Proviant anbrechen müssen. Danach würde sie noch ein paar Tage Zeit haben, bis sie wirklich jagen müßte – natürlich wäre es vernünftiger, mit dem Jagen nicht so lange zu warten, bis sie vom Hunger erschöpft war. Kazazi fühlte sich äußerst bemitleidenswert. Sie zog den Knoten ihres Rucksackes noch fester um die Schultern und nahm stolpernd ihren Weg wieder auf. Die Plumpssamenfelder hatte sie inzwischen wohl hinter sich gebracht, und nördlich von ihr lag nun ein Gebirge. Da es in solchen Gegenden in den Tälern ziemlich stark stürmen kann, versucht ein vorsichtiger Passatfolger stets, das Durchqueren von Gebirgen möglichst zu meiden und sie auch so weit wie möglich zu umgehen. Kazazi änderte daher ihre Marschrichtung und schlug einen südwestlichen Kurs ein. Ein paar Tage später war es dann doch Zeit zu jagen. Ihre Vorderpfoten schmerzten an zwei Stellen immer noch sehr stark, aber ansonsten hatten sie nun eine dickere Hornhautschicht als zur Zeit ihres Aufbruchs, und – Schmerzen hin, Schmerzen her – sie mußte sich jetzt unbedingt etwas zu essen besorgen. Sie sah schräg vor sich eine Gruppe von sechs Plattieren. Sie versuchte, den Schmerz in ihren Händen möglichst zu ignorieren und schlich sich an die kleine Gruppe von Tieren an. Die ovalförmigen Tiere waren fast eine halbe Länge groß und mußten daher alle erwachsen sein. Sie versuchte sich einem Dornenwerferstrauch gegen den Wind zu nähern. Daß dieser all seine reifen Dornen auf die Plattiere abfeuerte, störte diese nicht im geringsten. Ihrem Panzer, der fast den ganzen Körper bedeckt, können die giftigen Projektile nichts anhaben. Als sie die Pflanze erreicht hatten, rissen sie mit ihren kleinen scharfen Klauen die jungen Triebe ab und trotteten dann träge davon. Das war der Augenblick, auf den Kazazi gewartet hatte. 17
Die Tiere befanden sich nun ungefähr nördlich von ihr, so daß ihr äußerst entwickelter Geruchssinn sie nicht warnen konnte. Und während Kazazi dem Sturm verbissen Widerstand leistete, kämpfte sie sich einen Weg zu der Gruppe hin. Es störte sie dabei nicht, daß sie eine Menge Lärm verursachte, denn der Wind verwehte jedes Geräusch. Das einzige, was die Plattiere nun noch retten konnte, war, daß sie Kazazi entdeckten, doch Kazazi konnte sich auf dem ziemlich dicht bewachsenen Terrain leicht in Deckung halten. Plattiere sind träge Tiere, aber trotzdem war es meist gar nicht so einfach, eines von ihnen zu fangen. Meuchelmörder beispielsweise, die auf ihren blitzschnellen Spurt angewiesen sind, zu dem sie allerdings auch nur bei Rückenwind fähig sind, erlegen nur selten ein Plattier. Diese wittern den Gegner sofort und rollen sich auf, so daß der gepanzerte Schwanz ihren einzigen verletzbaren Körperteil, die Nackenhaut, bedeckt. Aber Kazazi kam nicht von windaufwärts und konnte von den Plattieren daher nicht gewittert werden. Nach einem kurzen, schnellen Spurt packte sie das erste Tier und biß ihm in den Nacken. Mit einem Knall sauste der gepanzerte Schwanz des Tieres auf Kazazis Nacken, denn das Tier versuchte noch im letzten Moment, sich aufzurollen. Kazazi wurde klar, daß sie noch viel üben mußte, bevor sie schnell genug sein würde, ein Plattier ohne Gefahr für sich selbst erlegen zu können. Es dauerte eine Weile, bis sie die Benommenheit von dem Schlag überwunden hatte und sich wieder umschauen konnte. Von den übrigen Plattieren war keine Spur mehr zu sehen. Sie hatten sich bei Kazazis Angriff sofort aufgerollt und sich vom Wind aus der Gefahrenzone tragen lassen. Aber ein einziges Plattier ist mehr als genug für einen Osbork, und als Kazazi bemerkte, daß sie ein Weibchen gefangen hatte, war sie völlig zufrieden. Plattierweibchen sind fast immer schwanger. Dies ist auch notwendig, um sie vor dem Aussterben zu bewahren, denn der Hauptbestandteil der Ernährung fast jedes Fleischfressers auf Kazazis Welt ist Plattierfleisch. Es gibt dort auch viele andere Arten von kleinen Tieren, aber diese sind nun einmal nicht so schmackhaft, und außerdem enthält Plattierfleisch viele wichtige Nährstoffe, ohne die ein Osbork nicht leben kann und die im Fleisch anderer Tierarten kaum zu finden sind. Plattiere wären deshalb sicherlich schon lange ausgestorben, wenn sie nicht dreimal im Jahr zehn bis fünfzehn Jungen hätten – die alle ihrerseits wiederum innerhalb eines Jahres geschlechtsreif werden. Auch dieses Plattier schien schwanger zu sein. Kazazi stillte zuerst ihren größten Hunger mit dem Fleisch des Muttertiers und aß dann als Nachtisch drei der fast ausgewachsenen Embryos. Die übrigen hob sie sich für später auf. 18
Als die Rote Sonne nach Kazazis fünftem Reisetag unterging, hatte sie erst ungefähr siebenhundert Kilolängen zurückgelegt... Wenn sie wirklich die ganze Welt umreisen wollte, hatte sie noch mindestens sechzehntausend Kilolängen vor sich. Eifersüchtig schaute sie zu einer Gruppe Segelschwärmer auf. Sie wurden auf ihren riesigen Hautflügeln mühelos vom Passatsturm getragen. Für ihn dauert eine Reise um die Welt vielleicht ein Dutzend Rote Tage – dann beginnt er mit einer neuen Umrundung. Kazazi wußte, daß sie bei ihrem derzeitigen Reisetempo hundertfünfzehn Rote Sonnenperioden benötigen würde, um wieder nach Hause zurückzukehren, und sie war sicher, daß sie noch in viele Situationen geraten würde, die Zeitverlust mit sich brächten. Zum Glück stand die Rote Sonne zur Zeit weit von der Blauen entfernt. Ein paar tausend Tage früher oder später, und die Temperatur wäre so hoch gewesen, daß sie nicht mehr hätte reisen können. Osborks sind an subtropische Temperaturen gewöhnt, und wenn es merklich kälter oder wärmer wird, so bekommt ihnen das nicht sonderlich gut. Die Blaue Sonne, die auf ihrer Welt für Wärme sorgt, geht so schnell auf und unter, daß sie die subtropischen Gebiete niemals wirklich heiß werden läßt, und in den kurzen Perioden, in denen sie während der Roten Nacht unter dem Horizont steht, kann die Luft nicht richtig abkühlen. Das hängt mit den unentwegten Passatstürmen zusammen, die die Temperaturunterschiede ständig ausgleichen. Wenn die beiden Sonnen ihre größte Nähe erreichen und auch die Rote Sonne eine merkliche Wärmestrahlung abgibt, so daß die Temperatur deutlich ansteigt, verschanzen sich die Osborks in ihren unterirdischen Dörfern. Auf diese Zeiten bereiten sie sich durch Anlegen großer Nahrungsvorräte vor. Kazazi hätte, wenn sie zu einem solchen Zeitpunkt verbannt worden wäre, die Hitzeperiode natürlich in einem anderen Dorf verbringen können, aber dies sind Zeiten des Mangels, und ein Fremder ist dann meist nicht sonderlich willkommen. Glücklicherweise brauchte sie sich aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit diesen Problemen nicht ernsthaft auseinanderzusetzen! Danke dem Wind auch für eine kleine Gunst, dachte Kazazi unglücklich. Auch ohne die Komplikationen eines heißen Sommers hatte sie schon genug Probleme. Sechzehntausend Kilolängen kamen ihr trostlos weit vor. Schließlich war sie ja erst seit kurzem zum ersten Mal in ihrem Leben weiter als fünf Kilolängen von ihrem Dorf entfernt. Der Muskelkater vom ungewohnten Reisen war nun fast verschwunden, und die Schmerzen an ihren Händen würden natürlich auch irgendwann vorübergehen. Aber wenn ihr die Jagd auf solch ein simples Plattier 19
schon einen kräftigen Nackenschlag einbrachte, sagte sie sich, was mochte ihr dann wohl sonst noch alles bevorstehen? Während der Periode der Finsternis, die nur im Abstand von einer Stunde vom schwachen Schein der Blauen Sonne leicht aufgehellt wurde, schlief Kazazi erschöpft und unruhig und hoffte stets, nicht im Schlaf von einem Fleischfresser entdeckt zu werden. Am nächsten Morgen nahm sie ohne große Begeisterung ihren Weg wieder auf. Zwei Tage nach ihrer ersten erfolgreichen Jagd dachte Kazazi gerade darüber nach, ob sie wieder auf die Jagd gehen sollte, als sie sich bewußt wurde, daß sie schon seit geraumer Zeit ein seltsames Geräusch hörte. Osborks sind im allgemeinen nicht sehr geräuschbewußt, denn in ihrer Welt werden sämtliche Geräusche so rasch vom Wind verschluckt, daß sie nicht viel damit anfangen können. Das Geräusch aber war äußerst ungewöhnlich – und es wurde immer lauter! Kazazi preßte sich flach auf den Boden und spähte windaufwärts. Sie kannte das Geräusch nicht und fragte sich, ob es wohl Gefahren gäbe, von denen sie noch nicht einmal etwas gehört hatte. Da entdeckte sie die Ursache des Lärms: ein riesiges Ding, das irgendwie künstlich aussah, schoß donnernd und mit unvorstellbarer Geschwindigkeit über ihren Kopf hinweg. Es schien immer tiefer zu fliegen. Kazazi erkannte, daß es bald auf den Boden aufschlagen mußte; aus seiner Vorderseite sprühten Flammen. So etwas hatten nicht einmal die geschwätzigsten Passatfolger auch nur mit einem Wort erwähnt; und wenn sie selbst ihre Große Reise jemals überleben würde, würde man sie bei ihrer Rückkehr sicher fragen, was das für ein Ding gewesen sei, denn es mußte ihr Heimatdorf fast direkt überflogen haben. Aber niemand konnte natürlich so weit windabwärts Untersuchungen anstellen. Kazazi dachte eine Zeitlang darüber nach, was jetzt zu tun sei. Wenn sie einfach ihre Reise fortsetzen würde, käme sie in die Nähe jenes Dings, das offensichtlich ein Stück weiter windabwärts gelandet war. Das konnte natürlich gefährlich werden! In Kazazis Welt war alles, was man nicht gut kannte, potentiell gefährlich. Aber sie würde sich ihm von windaufwärts nähern... und sie war auf das, was sie sehen würde, immerhin schon vorbereitet, während das seltsame Ding sie mit Sicherheit nicht gesehen hatte – und außerdem käme sie auf diese Weise zu Informationen, mit denen sie sich in den nächsten Dörfern eine willkommene Aufnahme sichern würde...
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3.
Kommunikation
Kazazi blieb in sicherem Abstand zu dem seltsamen Ding hinter einem Kriechwurzelstrauch liegen und beobachtete es eine Weile. Sie hatte zwei Umläufe der Blauen Sonne bedurft, um den Landeplatz zu erreichen, und in der Zwischenzeit schien dort eine ganze Menge geschehen zu sein. Schon bevor sie in die Nähe des Dings gekommen war, hatte sie erkennen können, wo es entlanggerast war. Eine breite Spur von versengtem Gebüsch und abgebrochenem Gesträuch wies ihr den Weg zur Landungsstelle. Am Ende dieser Spur war eine Grube in den Boden gebohrt, und an deren Ende lag das Ding. Als sie es aus der Nähe sah, war sie verblüfft über die Ausmaße. Es maß sicherlich zehn Längen und war drei bis vier Längen breit. Dies war das größte Ding – oder war es ein Tier? –, das sie jemals gesehen hatte. Das Ding hatte jetzt ein Loch, aber mit so glatten Rändern und so ebenmäßigen Ecken, daß Kazazi nicht glaubte, es könnte durch eine Beschädigung entstanden sein. Das Loch glich eher einer Art Tür – oder war es vielleicht ein Mund? Von den breiten Flügeln war der eine faltig, während der andere gerade und flach war, aber daß das so sein sollte, bezweifelte Kazazi. Das konnte sehr wohl eine Beschädigung sein. Zum Glück! Vielleicht war das Ding kaputt oder verwundet oder etwas Derartiges. Wenn es tatsächlich ein gefährliches Tier war, würde es auf Grund dieser Beschädigung vielleicht weniger gefährlich sein. Kazazi hielt sich behutsam in Deckung und schlich sich in einem Halbkreis an das Ding an. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, nur ja keine einzige Länge windabwärts von dem Monster zu geraten. Sie beschränkte sich auf den Halbkreis Nord–Ost–Süd, aber leider erfuhr sie auf diese Weise kaum etwas Neues. Gerade hatte sie beschlossen, einen Stein gegen das Ding zu werfen, um festzustellen, ob es tot war, als zwei Wesen in der Öffnung erschienen. Das Ding war also eine Art Höhle! Die Tiere, die herauskamen, mußten es gebaut haben. Was für unglaubliche technische Fähigkeiten sie besitzen mußten! Kazazi betrachtete die fremden Wesen eingehend, hielt sich dabei aber gut versteckt. Sie ähnelten sich so sehr, daß sie keinen Unterschied zwischen den beiden feststellen konnte, und sie war zu weit von ihnen entfernt, um ihre Gefühle sensen zu können, ganz zu schweigen von ihren Gedanken. Sie waren wohl Osborkoide: Ihre zylinderförmigen Körper waren etwas kleiner als eine Standardlänge; sie besaßen vier Gliedmaßen und einen Kopf. Aber sie hatten keinen Schwanz und standen auf ihren 21
Hinterpfoten. Letzteres überraschte Kazazi ziemlich. Da der Passat unentwegt raste, schwankten die Wesen ständig, und eines von ihnen wurde sogar einmal umgeblasen, woraufhin es sich mühsam wieder aufrappelte. Warum waren sie nur so umständlich? Osborks stellen sich nur dann auf ihre Hinterpfoten, wenn sie sich unter der Erde oder in einer anderen windgeschützten Umgebung befinden. Außerhalb der Höhlen bewegen sie sich natürlich auf vier Pfoten fort. Da deutete eines der beiden Wesen plötzlich in Kazazis Richtung, worauf auch der andere zu ihr herschaute. Kazazi erschrak. Sie war davon überzeugt gewesen, daß sie sich hervorragend versteckt hatte, aber die beiden schauten so direkt auf ihren Platz in den Kriechwurzelsträuchern, daß es Kazazi so vorkam, als ob es überhaupt keinen Schutz zwischen ihr und diesen unheimlichen Wesen gäbe. Doch sie taten nichts anderes, als sie anzustarren und ab und zu ihren Mund leicht zu öffnen und zu schließen. Kazazi war allmählich gegenüber Gefahren etwas gleichgültig geworden; das war eine Reaktion auf die ständigen Bedrohungen der letzten Zeit, und einer mußte ja in dieser Situation etwas unternehmen. Also beschloß sie, ein Risiko einzugehen. Sie trat vorsichtig durch eine Öffnung des Kriechwurzelstrauchs und blieb in einer Entfernung von etwa fünf Längen vor den beiden Wesen stehen. Ihre zitternden Flanken verrieten, daß sie sich bereit hielt, jeden Augenblick zu fliehen, und sie war sich sicher, daß diese Wesen ihre ängstliche Vorsicht sensen konnten. Sie war aber auch davon überzeugt, daß sie ihren Wunsch sensen konnten, mit ihnen zu kommunizieren. Telepathischer Kontakt blieb aus, aber das war auch kaum verwunderlich. Dafür hätten sie sich einander noch mehr nähern müssen, bis auf zweieinhalb Längen, vorausgesetzt, diese Wesen hatten die gleiche telepathische Reichweite wie die Osborks. Wohl aber konnte Kazazi nun den emotionalen Zustand der Fremden sensen. Es war erstaunlich, wie unterschiedlich die Gefühle waren, die sie von den beiden auffing. In ihrem Aussehen ähnelten sie sich so sehr, daß Kazazi geglaubt hatte, sie niemals auseinanderhalten zu können, aber bei dem einen senste sie wachsende Aggressivität, bei dem anderen hingegen freundliche Neugier, verbunden mit einer leichten Unruhe, aber das konnte sie gut verstehen. Wie war es möglich, daß zwei Wesen von der gleichen Art in ein und derselben Situation so verschieden reagierten? Kazazi trat langsam vor, bis sie ungefähr zwei Standardkörperlängen von dem Freundlichen entfernt war, und feuerte dann telepathisch die unterschiedlichsten Fragen auf ihn ab. Das fremde Wesen reagierte 22
jedoch überhaupt nicht darauf. Es schirmte offenbar seine eigenen Gedanken gänzlich von ihr ab, und dies war ein beunruhigender Umstand – denn wenn man nichts zu verbergen hat, kann man doch einem anderen unbesorgt Einblick in die eigenen Gedanken gewähren, oder etwa nicht? Außerdem ließ sich diese Geheimnistuerei nicht mit den Emotionen, die sie senste, in Einklang bringen. Etwas verwirrt versuchte Kazazi, aus diesen Tatsachen ein paar vorläufige Schlüsse zu ziehen. Der Sensabstand war ungefähr der gleiche wie bei den Osborks. Also mußte es sich mit Sicherheit um intelligente Wesen handeln, denn auf ihrer Welt gab es keine einzige nicht–intelligente Tierart, deren Emotionen die Osborks sensen konnten. Die fliegende Höhle dieser Wesen war im übrigen auch ein Hinweis darauf, ebenso wie die Tatsache, daß die beiden einen so verschiedenen Charakter zu haben schienen. Aber warum dann dieses Abschirmen der Gedanken? Oder konnten sie vielleicht den telepathischen Kontakt mit ihr erst in unmittelbarer Nähe herstellen? Nun, sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, sich den beiden noch mehr zu nähern, als sie es schon getan hatte. Dafür wußte sie zu wenig von ihnen. Nachdem sie sich eine Zeitlang gegenseitig angestarrt hatten, wandte sich der Freundlichere der beiden dem anderen zu, und auf irgendeine Weise mußte er wohl mit ihm kommuniziert haben, denn dieser machte eine schockierte Gebärde (Kazazi senste leichte Rachlust und Skepsis), und ging in das große Ding hinein. Kurze Zeit später trat er wieder ins Freie und brachte dem Freundlichen einen toten Braunen Renner. Der Freundliche näherte sich Kazazi, legte das Tier auf den Boden und wich dann wieder ein paar Schritte zurück. Es war schon verrückt, denn auch als er für einen kurzen Augenblick sehr nahe bei ihr stand, konnte Kazazi keinen einzigen seiner Gedanken sensen. Sie ging auf das tote Tier zu und betrachtete es sorgfältig. Sie sah ein fast kreisrundes Loch in seiner Flanke. Die Ränder dieses Lochs waren schwarz angesengt, und ein seltsamer beißender Geruch ging von der Öffnung aus. Argwöhnisch schaute sie den Fremden an. Wollten sie sie etwa vergiften? Oder warnen? Wie etwa: >Dies können wir mit einem so schnellen Tier tun, also nimm dich in acht, wenn du nicht viel schneller laufen kannst!< Sie senste jedoch bei den beiden Wesen keine Bedrohung, sondern eher ein Abwarten und Neugier auf ihre Reaktion. Moment mal! Kazazi zischte vor Empörung, als sie erkannte, was dies bedeuten mußte. Die glaubten natürlich, daß sie nicht für sich selbst sorgen könne, und wollten sie füttern! Die Beleidigung traf um so mehr, als Kazazi sich ja tatsächlich selbst gar nicht so sicher war, ob sie dies wirklich konnte. Aber woher sollten die beiden Fremden das denn wissen? Konnten sie etwa ihre Gedanken lesen? Einbahntelepathie? Wie dem 23
auch sein mochte, es ging die Fremden nichts an, ob sie für sich selbst sorgen konnte oder nicht. Also wich sie ein Dutzend Schritte zurück, um klarzumachen, daß sie das Geschenk abwies. Wenn sie diese Beleidigung nur zurückgeben könnte! Plötzlich erinnerte sie sich an die Plattierembryos, von denen noch zwei übrig waren. Sie waren eigentlich zu köstlich, um sie einfach wegzugeben, aber sie war nun zu einer Geste gezwungen. Sie legte die Tierchen neben den Braunen Renner und ging wieder zurück an ihren Platz. Die beiden fremden Wesen untersuchten die Plattierembryos, und nachdem sie untereinander eine Reihe von Gebärden ausgetauscht hatten, ging der Wachsam–Aggressive der beiden wieder zur Reisehöhle. Kurze Zeit später lag ein totes Plattier neben den übrigen Kadavern – auch dieses hatte wieder so ein verrücktes Brandloch im Panzer. Etwas verwirrt fragte sich Kazazi, wie groß der Kadaverhaufen wohl noch werden würde, wenn sie selbst nun auch wieder ein totes Tier hinzufügen würde. Nur gut, daß sie keine weitere Beute mehr hatte. Jedenfalls machte sie durch weitere Schritte rückwärts deutlich, daß sie auch dieses Geschenk zurückwies. Doch was nun? Das Nächste, was die beiden Wesen taten, beunruhigte Kazazi nun wirklich. Sie drehten sich mit dem Gesicht zu ihr und hoben beide eine Vorderpfote hoch, zeigten ihr die Innenseiten ihrer Pfoten und streckten die Finger in die Luft. Eine Geste unversöhnlicher Feindschaft! Dabei strahlten sie nicht die geringste Aggression aus! Bei dem einen senste sie zwar tatsächlich Feindseligkeit, aber die war im Vergleich zu vorher nun eher weniger geworden, und von dem anderen senste sie – und da konnte sie sich unmöglich irren – eine ausgesprochen freundliche Gesinnung. Was mochten dies für verrückte Wesen sein, deren Gesten und Gefühle nicht im geringsten übereinstimmten? Da kam Kazazi auf eine Idee, die ihr so neu und beeindruckend erschien, daß sie sich hinlegen mußte, um in Ruhe über alle damit verbundenen Konsequenzen nachzudenken. Sie hatte diese Art von Wesen noch nie in der Grotte der Hieroglyphen abgebildet gesehen. Die beiden kamen aus einem Ding, das es ihres Wissens auf ihrer eigenen Welt gar nicht geben konnte. Sie hatten eine völlig andere Gestik als die Osborks – das mußte so sein, denn an ihren eigenen Sensfähigkeiten wollte Kazazi nicht zweifeln. Ob diese Wesen womöglich gar nicht von ihrer Welt stammten? Von der Blauen Sonne vielleicht? Oder von der Roten? Sie waren so unvorstellbar weit von ihrer Welt entfernt, daß dort möglicherweise tatsächlich alles ganz anders war als hier... Dann war das eben wohl doch keine Beleidigung gewesen? Und kein Zeichen unversöhnlicher Feindschaft? Kazazi stand auf und ging auf die beiden zu (mehr in die Nähe des Freundlichen, man konnte schließlich 24
nie wissen), und setzte sich ungefähr zwei Schritte von ihnen entfernt auf den Boden. Jetzt war es an ihnen, etwas zu unternehmen. Der Freundliche kam auf sie zu und streckte eine Vorderpfote aus. Kazazi ließ ihren Schwanz nach vorne schwenken und berührte mit ihrem Endhaken die Vorderpfote des Fremden. Dieser drückte den Endhaken leicht, und auch wenn dies in Kazazis Augen eine sonderbare Reaktion war, so mußte sie sich doch eingestehen, daß es im Grunde kein unangenehmes Gefühl war... Dann deutete der andere auf den Höhleneingang, und es war nicht schwer zu verstehen, daß sie damit eingeladen wurde, in die bewegliche Höhle zu kommen. Das konnte natürlich sehr nett gemeint sein (und nach alldem, was sie von dem Fremden senste, traf das auch zu), aber so sicher war sich Kazazi noch nicht über diese beiden Fremden. Es waren zu viele seltsame Dinge geschehen, seit sie sie getroffen hatte... Soll er (oder sie? oder es?) doch selbst mit mir mitkommen, dachte Kazazi. Erst einmal schauen, ob sie selbst bereit sind, mir das Vertrauen zu schenken, das sie von mir erwarten... Sie stand auf und packte mit ihrem Schwanz fest die Vorderpfote des anderen. Dieser schaute sie ohne irgendeine erkennbare Reaktion an. Sanft zog Kazazi ihn an seiner freien Hand in Richtung des Kriechwurzelstrauches. Dort hatte sie während ihrer Erkundung des großen Dinges einen Platz gefunden, der groß genug war, um zwei oder drei Osborks vor dem Wind zu schützen. Das mußte nun zumindest vorläufig ihre >Höhle< darstellen. Jedenfalls würde sie auf diese Weise den Fremden aus der Nähe beobachten können, und zusammen konnten sie dann vielleicht eine Methode herausfinden, mit deren Hilfe sie kommunizieren konnten. Das hoffte sie zumindest... Tatsächlich folgte ihr das Wesen, als es verstand, wohin es geführt werden sollte. Das andere reagierte darauf sofort mit höchster Alarmbereitschaft und fuchtelte mit einem Ding in Kazazis Richtung. Ihr Gast machte eine schnelle Geste, und Kazazi meinte auch, eine Art Geräusch gehört zu haben, aber der Wind war zu stark, als daß sie dies mit Sicherheit hätte behaupten können. Es schien jedenfalls böse auf seinen Kameraden zu sein (Kazazi nahm zumindest an, daß die Wut, die sie bei ihm senste, nicht auf sie selbst bezogen war), und kurze Zeit später erleichtert, als der andere das Ding in seiner Hand nicht mehr auf Kazazi richtete. Kazazis Gast legte sich auf den Platz, den sie in dem Raum innerhalb des Kriechwurzelstrauches für ihn freigelassen hatte, und dann taten beide eine ganze Weile nichts anderes, als einander ausführlich zu untersuchen. Auch aus der Nähe drang keinerlei telepathische Botschaft 25
von dem anderen zu ihr durch, und dieser reagierte auch in keiner Weise auf das, was Kazazi aussandte. Doch schienen alle Handlungen der beiden Fremden auf eine ziemlich ausgeprägte Intelligenz hinzudeuten. Als der Fremde Kazazi immer wieder anschaute und den Mund öffnete und schloß, fing sie schließlich doch an zu glauben, daß die Kommunikation auf irgendeinem anderen Wege als über Telepathie stattfinden müsse. Kazazi betastete den Pelz des Fremden an verschiedenen Stellen, und danach verstand sie überhaupt nichts mehr. Der Pelz des Fremden war an manchen Stellen glatt und hart, an anderen faltig und gröber, und an wieder anderen Stellen leicht behaart, von lauwarmer Temperatur und fester als der Rest mit dem Körper verbunden. Und oben auf seinem Kopf hatte das Tier Haare von einer Länge, wie sie Kazazi noch nie an einem Tier gesehen hatte. Das Wesen gestattete ihr, es zu betasten, obgleich seine Unruhe sofort stark zunahm, als sie an seinen langen Haaren zog. Kazazi hörte daher sofort wieder damit auf, aber wie sollte sie jetzt nur fortfahren? Als sie sich gerade den Kopf darüber zerbrach, öffnete das Wesen wieder sein Maul und brachte ein Geräusch hervor, das sie nur so eben aus dem Heulen des Windes heraushören konnte. Daraufhin schaute es sie an, als ob es sagen wollte: »Jetzt bist du an der Reihe.« Sollte diese fremde Tierart etwa mit Geräuschen kommunizieren? Das konnte unangenehm werden, denn auf ihrer Welt gab es nicht viele Orte, an denen der Wind es ermöglichte, Geräusche so deutlich hörbar zu machen, daß man genügend nuanciert damit umgehen konnte, um sich auf diesem Wege zu verständigen. In den Höhlendörfern war das natürlich möglich, aber Kazazi kannte in dieser Gegend keine Osborksiedlungen. Trotzdem mußte dies wohl die Methode sein, denn kurze Zeit später klopfte der Fremde mit der Vorderpfote gegen seine Brust und machte wieder ein Geräusch. Kazazi konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Wesen seinen Namen genannt hatte! Aber wie sollte sie nur ihren Namen nennen? Denn dieser wurde nicht mit Geräuschen ausgedrückt (sie wußte nicht einmal, wie sie das hätte machen sollen), und telepathisch war das Wesen nicht, das war ihr inzwischen klar. Kazazi fegte mit ihrem Schwanz ein Stück des Bodens zwischen sich und dem Fremden glatt, und mit einem ausgefahrenen Nagel ihrer Vorderpfote zeichnete sie rasch die Hieroglyphen, die ihren Namen ausdrückten: Ein Osbork, der zeichnete (Kazazi, Künstlerin), Ein junger Osbork mit einem Muttertier, das ihm den Rücken zuwandte (unerwünschte Tochter von Bogdan), Einen Passatfolger, der in der Ferne wegläuft (Siligi, der unbekannte Vater). 26
Danach deutete sie mit ihrer Zeichenhand zuerst auf die Hieroglyphen und dann auf sich selbst. Wenn der Fremde dies nur begreifen würde... Das fremde Wesen reagierte mit Begeisterung und Aufregung. Sein Mund öffnete und schloß sich rasend schnell und produzierte alle möglichen Geräusche. Er erwartete doch wohl nicht, daß Kazazi all die Klänge verstehen konnte? Kurz darauf zeigte sich jedoch, daß die Geräusche nicht für sie bestimmt gewesen waren. Der andere Fremde kam herbeigelaufen und legte ein Stäbchen und einen rechteckigen Gegenstand auf den freien Platz zwischen den Kriechwurzelsträuchern. Kazazis Gast ergriff das Stäbchen und drückte damit auf den rechteckigen Gegenstand. Als er es anschließend hin und her bewegte, entstand dort, wo das Stäbchen sich bewegte, auf der weißen Oberfläche ein Strich! Dann hob das Wesen den rechteckigen Gegenstand auf, und dieser bestand aus unzähligen hauchdünnen weißen Flächen. Das Wesen riß die oberste davon los und ließ sie im Wind davonwehen. Kazazi wurde schwindelig von all dem, was sie in wenigen Sekunden zu verarbeiten hatte. Der eine der beiden machte direkt neben Kazazi kaum hörbare Geräusche, und der andere, der reichlich fünf Längen entfernt stand, hörte und verstand sie! Diese Wesen besaßen das praktischste Material, um Hieroglyphen aufzuzeichnen, das sie jemals gesehen hatte! Und vor allem – innerlich jubelte Kazazi, als sie sich immer klarer über die Bedeutung all dessen wurde – diese Wesen waren gar nicht so anders wie sie! Sie hatte immerhin gerade gesehen, daß auch sie (er? es? nun ja... ) dem Wind Opfer brachte! Und was für eine wundervolle Art, den Passat zu verehren! Seine schönsten Hieroglyphen aufzuzeichnen auf solch ein dünnes Häutchen und dieses dann fortwehen zu lassen! Solch ein dünnes Häutchen mußte im Sturm Tausende von Kilolängen zurücklegen können... Welch ein großartiges Opfer! Blitzartig war Kazazis Reserviertheit verschwunden. Sie ergriff den weißen Block und den Schreibzylinder (sie hatte jetzt gemerkt, daß das Stäbchen hohl war und eine Art Farbe enthielt) und steckte diese in ihren Rucksack. Anschließend hakte sie ihren Endhaken um die Hand ihres Gastes und zog ihn resolut mit sich fort zu dem großen Reiseding der beiden Fremden hin. Wenn diese wollten, daß sie dort hineinginge, dann wollte sie es tun.
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4.
Sprachunterricht
Hinter dem rechteckigen Loch in der großen Reisehöhle befand sich ein kleiner Raum. Erstaunt fragte sich Kazazi, wo der Rest der riesigen Höhle wohl sein mochte. Die Fremden gesellten sich zu ihr, und damit war der kleine Raum fast vollständig ausgefüllt. Dann drückte einer von ihnen auf die Mauer, und die Öffnung schloß sich, während plötzlich ein Licht an der Decke des kleinen Raumes aufleuchtete. Kazazi war zu erstaunt, um Angst haben zu können. Außerdem senste sie die ruhig abwartende Haltung der beiden, und somit schien klar zu sein, daß hier wirklich nichts Gefährliches vor sich ging. Nach einer Weile verschwand plötzlich eine andere Mauer des kleinen Raumes, und Kazazi sah, daß sich dahinter ein größerer Raum befand. Sie merkte nun, daß sie durch eine Art Schleuse gegangen war, aber so umfangreiche Vorsorgemaßnahmen, nur um einen Sturm abzuhalten, erschienen ihr übertrieben. Oder reisten diese Wesen vielleicht auch zu anderen Orten? Zu Orten, wo viel schlimmere Dinge als ein Sturmwind abzuhalten waren? Sie verweilte nicht lange bei diesen Fragen. Der Raum, in dem sie sich nun befand, fesselte ihre ganze Aufmerksamkeit. Neugierig schaute sie sich die unzähligen kleinen flackernden Lichter an, die Reihen kleiner Ausstülpungen, die großen glatten Oberflächen, auf denen sich stillstehende oder sich bewegende leuchtende Linien abzeichneten. Am meisten fesselte sie ein großes rechteckiges Ding, das offenbar eine sehr glatte Oberfläche hatte, und auf dem sie eine sehr genaue Abbildung des Teiles der Kriechwurzelsträucher sah, in denen sie sich versteckt hatte, als die Wesen aus ihrer Reisehöhle herausgekommen waren. Sie achtete darauf, daß sie nichts mit ihren Händen oder mit dem Schwanz berührte, denn sobald sie sich anschickte, dies zu tun, reagierte der eine der beiden Fremden sofort mit Beunruhigung und der andere mit Verärgerung. Nachdem sie sich alles gründlich angeschaut hatte, ging Kazazi zur Mitte des Raums, rollte ihren Schwanz um ihre Hinterpfoten und hockte sich hin. So! Jetzt waren sie wieder an der Reihe, zu zeigen, wie es weitergehen sollte. Übrigens, jetzt, wo sie die beiden Wesen so nahe nebeneinander stehen sah, konnte sie erkennen, daß sie doch nicht ganz gleich waren. Ihre losen Felle waren fast die gleichen, aber die Teile des Pelzes, die, wie sie wußte, lauwarm waren, waren bei dem Freundlichen dunkelbraun und bei dem Aggressiven hellrosa. Zu Kazazis großem Erstaunen fingen die beiden Wesen nun an, einige der losen Felle abzulegen. Darunter befanden sich weitere lose Felle, 28
aber diese unterschieden sich bei den beiden viel stärker voneinander. Danach setzten sie sich auf eine Art Erhöhung, in die ihr Unterleib genau hineinzupassen schien, und damit begann ein mühseliger Informationsaustausch. Da das Heulen des Windes jetzt nicht mehr zu hören war, merkte Kazazi nun, daß die Fremden eine unglaubliche Menge von Klängen und Klangkombinationen erzeugen konnten, und jede dieser Klangkombinationen schien ein Wort oder einen Begriff zu repräsentieren! Da Kazazi mit dem Zeichenmaterial der Menschen blitzschnell Skizzen anfertigen konnte und dazu das hervorragende Gedächtnis eines Osborks hatte, gelang es ihnen gemeinsam, innerhalb von wenigen Stunden, ein einfaches Gespräch zu führen. Kazazi zeichnete auf, was sie erklären wollte, und die anderen beiden waren intelligent genug, um meist schnell zu verstehen, was sie meinte. Die Fremden produzierten Klänge, die ihr klarmachten, welcher Klang zu welcher Abbildung gehörte. Nach einer Weile gab es ein paar hundert >Worte<, deren Bedeutung sie sofort verstand, und in der Zwischenzeit hatten sie eine ganze Menge Informationen miteinander ausgetauscht. Die Wesen nannten sich >Menschen<. Der Braune hieß >Makombo< und der Rosige >Everett<, und sie waren nicht von der Blauen oder der Roten Sonne gekommen, sondern von einem der unzähligen winzigen Lichter, die man nachts am Himmel sehen konnte. Das waren angeblich ebenfalls Sonnen, und Kazazi konnte sich keine Vorstellung davon machen, wie weit diese wohl entfernt sein mochten. Die Menschen besaßen zwei Arten von Reisemaschinen, so erzählten sie. Die eine diente zur Bewältigung gewaltiger Entfernungen von Sonne zu Sonne – sie nannten sie ein Sternenschiff – und die andere war für das Reisen auf einer Welt gedacht – diese nannten sie ein >Landefahrzeug<. Kazazis Welt gaben sie aus irgendeinem Grunde den Namen >Coriolis<, und die Osborks wollten sie zunächst als >Panther< bezeichnen, weil sie angeblich einer gewissen Tierart dieses Namens auf ihrem eigenen Planeten ähnelten. Aber diese Panther waren wohl keine besonders intelligenten Tiere, und sie waren anscheinend auch gefährlich, denn Kazazi senste Reserviertheit, Angst und ein leichtes Mißtrauen bei den Menschen, als sie darüber sprachen. Deshalb beschloß sie, ihnen sobald wie möglich klar zu machen, daß sie ein Osbork war. Ihren eigenen Namen hatte sie zwar auch schon gezeichnet, aber daß die Aussprache Kazazi war, war auch etwas, das sie ihnen später unbedingt noch klar machen mußte. Der rosige Mensch nannte sie ständig >Panther< oder >Mieze<, und der Braune hatte alle möglichen Namen für sie, die offenbar freundlich gemeint waren, obwohl sie sich immer wieder änderten und daher verwirrend waren. Im einen Augenblick sagte er >guter Freund<, dann wieder >Kerl< 29
oder >alter Junge<, und ab und an sagte auch er >Panther< oder >Mieze<... Aber wie soll man verständlich machen, wie ein Name lautet, wenn man diesen zwar denken, aber nicht aussprechen kann? Dieses Problem mußte vorläufig warten, denn Kazazi hatte schon seit ein paar Tagen nichts mehr gegessen, und allmählich bekam sie Hunger. Sie hatte gerade vorgehabt, auf die Jagd zu gehen, als sie die große Reisehöhle landen sah, und dies war inzwischen auch schon wieder eine ganze Weile her. Sie zeichnete sich selbst auf der Jagd und danach, wie sie mit einer Beute zum >Landefahrzeug< zurückkehrte, wie die Menschen ihre große Reisehöhle nannten. Der Rosige begleitete sie daraufhin durch die Schleuse und blieb draußen stehen, während Kazazi sich nach grasenden Platttieren umschaute. Die toten Tiere, die die Menschen erlegt hatten, ignorierte sie. Sie würde ihnen beweisen, daß sie ihre Nahrung selbst finden konnte. Sie begann, sich gegen den Wind in östliche Richtung vorzukämpfen. Dies hatte zwei Vorteile: Im Osten des Landefahrzeugs war mehr Wild zu erwarten als im Westen, denn mit ihrem guten Geruchssinn würden die Plattiere windabwärts von dem Ding sicherlich scheu sein, und außerdem näherte sie sich selbst auf diese Weise einer eventuellen Beute von windabwärts. Schon nach ein paar hundert Längen entdeckte sie eine Herde. Ein Dutzend junger Tiere, zwei Weibchen, von denen eines hochschwanger zu sein schien, und drei Männchen. Das Tier, das am weitesten windabwärts graste, war nicht sehr groß, aber es würde für eine Mahlzeit ausreichen, und Kazazi wollte nicht allzu lange fortbleiben. Die Menschen waren so überaus interessant, daß sie so schnell wie möglich mit dem Sprachunterricht fortfahren wollte. Kazazi schlug einen Bogen nach rechts, und als sie so weit war, daß sie beim Anspringen ihrer Beute den Wind nicht gegen sich, sondern auf ihrer Seite hatte, schoß sie auf das Tier zu. Auch dieses Mal bekam Kazazi von ihrer Beute einen Schlag mit dem Schwanz in den Nacken. Als sie nach einer Weile etwas benommen wieder zu sich kam, fragte sie sich mißmutig, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie schnell genug sein würde, um ungestraft ein Plattier töten zu können. Dies war der zweite harte Schlag innerhalb von ein paar Tagen gewesen, und diesmal dauerte es länger als beim ersten Mal, bis sie sich wieder davon erholt hatte. Plötzlich sah sie einen roten Lichtstrahl, der direkt an ihr vorbeiblitzte, und im gleichen Augenblick sprang fünf Längen weiter windaufwärts ein Meuchelmörder in die Luft, der mit einem rauchenden Loch im Kopf zukkend auf sie zurollte. 30
Kazazi machte fauchend einen Satz zur Seite. Das Monster schien zwar tot zu sein, aber man konnte nie wissen... Als sie sah, daß das schwarzumrandete Loch im Kopf des Tieres bis zum Hinterkopf verlief, rappelte sie sich zitternd hoch. Sie schaute sich um und sah, wie Everett sie anstarrte. Er hatte ein Ding in seiner Hand, das leicht rot glühte, und er stand genau an der Stelle, von der der Lichtstrahl ausgegangen war. Großer Passat! Everett! Dieser aggressive, unangenehme Mensch hatte ihr eindeutig das Leben gerettet... Mit sehr gemischten Gefühlen versuchte Kazazi einen Entschluß zu fassen, der nicht einfach war. Wie sollte sie nun in bezug auf Everett reagieren? Er war ein unerfreuliches Wesen, aber sie stand in seiner Schuld. Wenn sie diese beglich, indem sie ihm nicht nur den von ihm getöteten Meuchelmörder, sondern auch ihre eigene Beute schenkte, mußte sie wieder auf die Jagd gehen, und es war ihr bewußt, daß sie sich vorläufig keinen dritten Schlag in den Nacken mehr leisten konnte. Schon dieser zweite hätte sie fast das Leben gekostet, wenn Everett nicht... – und das war es ja gerade. Sie mußte dem Menschen beide Tiere geben, da war nichts zu machen. Dies ging ihr um so mehr ans Herz, weil Meuchelmörderfleisch das beste war, was sie kannte. Während ihr das Wasser im Munde zusammenlief, setzte sie ihre Zähne in die Schulter des Raubtiers. Nicht durchbeißen! ermahnte sie sich selbst streng, und mit Hilfe des Sturmwindes schleppte sie das Tier, das mindestens doppelt so schwer war wie sie selbst, zu der Stelle, wo Everett stand, um es dort fallenzulassen. Darauf ging sie zurück zu dem Plattier, schlug ihre Zähne in den Schwanz des Tieres und zerrte auch diesen Kadaver zu Everett. Sie würde noch bis morgen ohne Essen auskommen können, und bis dahin würde der Schmerz in ihrem Nacken wohl auch wieder nachgelassen haben. Everett reagierte sehr merkwürdig auf ihr Geschenk. Kazazi senste Rührung und Sympathie, etwas, was sie niemals von diesem rosigen Menschen erwartet hätte! Er nahm sie mit in das Schiff und zeichnete dort einen Menschen, der einen Meuchelmörder aß, und dann einen Menschen, der offensichtlich tot war. Sein Zeichenstil war abscheulich, aber Kazazi verstand trotzdem, was gemeint war. Menschen konnten offenbar kein Fleisch von Wesen ihrer Welt essen! Hatte er das Monster nur getötet, um sie zu retten? Das setzte sie tief in die Schuld. Der Hunger wurde ihr nun zuviel. Wie sie ihre Schuld bei Everett begleichen sollte, mußte sie sich später überlegen. Wenn er das Fleisch nicht wollte... Kazazi ging in die Schleuse, drückte auf die Stelle in der Wand, auf die sie die Menschen immer hatte drücken sehen, und als die Außenöffnung sichtbar wurde, stürzte sie sich ohne zu zögern auf das große Tier und begann es gierig zu verschlingen. 31
Völlig gesättigt und etwas benommen von dem Festschmaus betrat Kazazi eine Stunde später wieder das Schiff. Dort merkte sie, daß sich Everetts Stimmung inzwischen erneut geändert hatte. Sie senste spöttische Verachtung, als er ihr eine Zeichnung vorhielt, auf der ein Osbork neben einem toten Plattier stand – mit einem sehr großen Plattierschwanz in seinem Nacken. Sofort war Kazazis gute Laune verflogen. Dieser Mistkerl zog sie mit ihrer Ungeschicklichkeit auf! Er hatte leicht reden! Mit solch einem roten Strahlding konnte er aus sicherem Abstand Tiere töten. Ob er es wohl besser machen würde, wenn er genauso wie sie jagen müßte? Sie hatten nicht einmal das richtige Maul dazu, diese Menschen. Übrigens... Kazazi nahm den Zeichenstift und zeichnete das Landefahrzeug der Menschen, das an der einen Seite einen schönen unbeschädigten Flügel und an der anderen einen verstümmelten Flügel hatte. So! Wer war hier ungeschickt? Es war offensichtlich, daß ihre Antwort ins Schwarze traf. Everett verfärbte sich leicht, und seine Stimmung wechselte zwischen Wut und Scham. Einen Augenblick lang befürchtete Kazazi, daß er mit dem roten Strahlding auch in ihren Kopf ein Loch brennen würde, aber glücklicherweise kam Makombo dazwischen. Sie senste Amüsiertheit und auch einen Anflug von Beunruhigung, als der braune Mensch eine Zeichnung von Coriolis anfertigte, mit übertrieben schlimmen Stürmen und einer Menge Landefahrzeugen, die völlig zerstört waren. Neben jedes zerstörte Fahrzeug zeichnete er einen Menschen. Dann zeichnete er ein nur leicht beschädigtes Fahrzeug, daneben einen Menschen und deutete schließlich auf Everett. Kazazi senste bei Makombo Bewunderung und Abneigung gleichzeitig. Es war offensichtlich, daß es nach Makombos Ansicht nur Everett gelingen konnte, ein derartiges Fahrzeug relativ unbeschädigt zu landen. Kazazi neigte den Kopf in Everetts Richtung und klopfte mit dem Endhaken ihres Schwanzes leicht gegen seine Füße. Hoffentlich begriff er, daß ihr übereiltes Urteil ihr nun leid tat. Nach einer komplizierten Unterhaltung, die für Kazazi zu schnell ging, als daß sie hätte folgen können, streckte Everett ihr eine Vorderpfote hin. Sie senste, daß dies eine Geste des guten Willens war, und streckte ebenfalls ihre Vorderpfote aus, die der andere dann leicht drückte. Ein merkwürdiges Ritual, aber offensichtlich betrachteten die Fremden die ganze Angelegenheit damit als erledigt, denn sie setzten sich wieder und begannen mit der nächsten Sprachlektion.
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5.
Probleme
Kazazi mußte sich erst daran gewöhnen, daß sie den Menschen nur etwas über ihre Situation mitteilen konnte, wenn sie ihnen vorher die alltäglichsten Dinge erklärt hatte. Sie wußten zum Beispiel nicht, daß man nur auf der nördlichen Halbkugel die ganze Welt umreisen konnte, weil es dort einen zusammenhängenden Kontinent gab. Und daß die Verbannung nach windabwärts in ihrer Welt eine oft verhängte Strafe war. Was Kazazi über die Pflanzen- und Tierwelt von Coriolis erzählen mußte, wurde jedem jungen Osbork noch vor Verlassen des Nestes eingetrichtert, doch für Everett und Makombo schien all dies neu zu sein. Die beiden Menschen waren jedoch besonders interessiert an allem, was Kazazi ihnen über ihre Welt zu erzählen hatte, daher beantwortete sie ihre Fragen mit großer Genugtuung. Während der >Gespräche<, die sie über diese Materie führten, tauschten der Osbork und die Menschen nicht nur Informationen aus, sondern auch Worte und Hieroglyphen. Kazazi zeigte ihnen, wie man die Zeichnung eines Osborks auf zwei Linien reduzieren konnte, und daß dies eine ganze Menge Zeit ersparte, wenn man einigermaßen schnell miteinander kommunizieren wollte. Die Menschen begriffen das Prinzip der Hieroglyphen rasch – etwas Ähnliches schien es auch auf ihrem Planeten zu geben. Von diesem Augenblick an lernte Kazazi >Worte< verstehen und die Menschen Hieroglyphen. Der Kontakt wurde auf diese Weise erheblich erleichtert, obwohl sich nicht jedes Thema für ein solches Gespräch eignete. Es kostete Kazazi große Mühe, den Fremden verständlich zu machen, daß sie zwar ihre Gefühle sensen konnte, nicht aber ihre Gedanken. Everett blieb in diesem Punkt etwas mißtrauisch. Makombo glaubte es hingegen, und er schien merkwürdigerweise beruhigt zu sein, als sie es ihm erklärt hatte. Ob diesen Menschen Telepathie etwas Unangenehmes war? Die wußten ja gar nicht, was sie versäumten! Natürlich konnten Gespräche zwischen Kazazi und den Fremden auf diese Weise nur in einer Umgebung geführt werden, von der der Wind ferngehalten wurde, oder draußen, wenn sie nahe genug beieinander standen, daß die Menschen Kazazis Zeichnungen sehen konnten. Wenn sie weiter voneinander entfernt waren, konnte Kazazi allerdings auch hören, was die Menschen sagten, denn Makombo hatte ihr ein praktisches kleines Ding gezeigt, das in ihrem Ohr befestigt wurde und jedes Wort von Everett und Makombo ebenso klar wiedergab, als ob diese direkt neben ihr stünden. Kazazi ihrerseits konnte aus der Entfernung nur durch Gesten mit ihren Händen oder ihrem Schwanz den Menschen etwas mitteilen. 33
Jetzt, wo sie von einem Tier gegessen hatte, das von einem Menschen getötet worden war, und gemerkt hatte, daß sie daraufhin nicht mit Verachtung gestraft wurde, hatte Kazazi beschlossen, sich vorläufig weitere Nackenschläge zu ersparen und die Menschen fürs Erste für ihre Ernährung sorgen zu lassen. Wie sich schon bald zeigen sollte, konnte sie ihnen genug zurückgeben – in Form verschiedenartigster Informationen. Auf diese Weise konnte sie sich trotzdem ihnen gegenüber als gleichwertig betrachten. Während der Tage nach Kazazis letztem Jagdversuch lernte sie die beiden Menschen allmählich besser kennen. Dabei zeigte sich, daß sie komplizierter waren, als sie anfänglich gedacht hatte. Sie empfand Everett weiterhin als unangenehm, aber sie hatte ihn einmal auch ganz anders erlebt, nämlich als sie ihm die toten Tiere brachte. Wenn sie ihn ruhig beobachtete, während er mit irgendeiner Tätigkeit beschäftigt war, konnte sie sensen, daß unter seinem Panzer aus Aggressivität und Mißtrauen völlig andere Gefühle verborgen lagen. Kummer über etwas, das vor langer Zeit geschehen sein mußte, und auch Angst. Eine Angst, die sie vor allem dann sensen konnte, wenn Makombo oder sie selbst etwas Herzliches oder Nettes für ihn taten. Hatte er etwa Angst vor liebevoller Behandlung? So etwas erschien Kazazi völlig unbegreiflich, aber das mußte es wohl sein. Und auf der anderen Seite senste Kazazi doch auch die Einsamkeit, das Verlangen nach mehr als nur einem bissigen Schlagabtausch. Und das konnte sie nur allzugut verstehen! Auch ihre Vorstellungen über Makombo mußte Kazazi zum Teil revidieren. Sie fand ihn weiterhin nett, denn seine Freundlichkeit war ernst gemeint, das ließ sich nicht leugnen. Aber Makombo konnte ab und zu äußerst gereizt reagieren. Das kam vor allem dann vor, wie Kazazi nach einigen Tagen bemerkte, wenn Makombo eine Zeitlang weniger >geraucht< hatte, wie er es nannte. Ab und zu steckte er sich ein Stäbchen in den Mund, das langsam schwelend verglimmte, nachdem er es mit einem kleinen Feuermachapparat angesteckt hatte. Makombo sog dann den Rauch ein und stieß ihn mit sichtbarem Genuß wieder aus – zum großen Ärger von Everett, der dieses Ritual sichtlich verabscheute. Abgesehen davon, daß sie Makombo sehr nett fand, war er auch ein Windanbeter, und dies hatte sie bei Everett noch nicht feststellen können. Daß Makombo genauso wie sie selbst den Wind anbetete, hatte sie nicht nur daran erkannt, daß er dem Wind eine Zeichnung geopfert hatte, sondern sie merkte es auch bei einem noch viel beeindruckenderen Vorfall. Eines Morgens war sie kurz im Freien gewesen, um ihre Flöten in den Wind zu halten – ein kurzer Augenblick des Zusammenseins mit dem Passat, der ihr jeden Morgen wieder neu das Gefühl gab, daß der Wind ihr Bundesgenosse war und ihr helfen würde, die große Reise zu 34
vollenden. Als sie zurückkehrte, hatte sie beim öffnen der Innentür der Luftschleuse im Fahrzeug der Fremden wunderschön reine Töne gehört, und wie viele Arten von Tönen! Als sie den großen Raum vorn im Landefahrzeug erreicht hatte, hatte sie Makombo auf einem gelben Instrument blasen sehen – einem seltsam gebogenen Ding mit Ausstülpungen, die Makombo mit seinen Fingern eindrückte. Sie senste, daß Everett es schrecklich fand, wenn Makombo dies tat, und Kazazi dachte zuerst, daß es daran liegen müsse, weil Makombo damit den Wind anbetete (indem er selbst Wind machte), während jeder zuschauen konnte. Sie selbst machte dies immer so, wie es sich gehörte: Sie suchte ein stilles Plätzchen auf, wo niemand Zeuge ihres Zusammenseins mit dem Passat war. Sie senste jedoch, wie sehr Makombo es genoß, auf seiner Trompete zu spielen – so hieß das Ding –, und bekam den Eindruck, daß Everett dies vor allem deshalb so schlimm fand, weil er die Art von Klängen nicht mochte, die Makombo dabei erzeugte. Als ob das etwas zu bedeuten hätte! Trotz des angenehmen Gefühls, daß Makombo ihre Liebe zum Wind teilte, und trotz der Tatsache, daß sie ihn einfach nett fand, ließ sich nicht leugnen, daß Makombo furchtbar gereizt sein konnte, und dies war vor allem dann der Fall, wenn er eine Zeitlang keines jener merkwürdigen Stäbchen verbrannt hatte. Einmal fragte Kazazi ihn, warum er nicht einfach viel mehr rauche, wenn er die Stäbchen so offensichtlich vermisse. Es schien jedoch nur eine begrenzte Anzahl von ihnen auf dem Landefahrzeug zu sein – und die Reise hatte schon so viel länger gedauert, als es ursprünglich beabsichtigt gewesen war, so daß die Vorräte zu Ende zu gehen drohten. Dies stand in Zusammenhang mit dem Grund, weshalb die Menschen überhaupt auf Coriolis gelandet waren. Sie erzählten, daß sie auf der Reise von einer Sonne zu einer anderen gewesen waren, als ein Meteorit mitten durch ihr Sternenschiff flog und den Tank beschädigte. Ein Meteorit war angeblich ein Stück Stein oder etwas Ähnliches, das durch den Raum sauste. Ohne Uran als Brennstoff konnte ihr Sternenschiff nicht funktionieren, und deshalb waren sie mitten zwischen den Sternen plötzlich auf ihren Antrieb für kurze Entfernungen angewiesen. (Was heißt hier kurz, dachte Kazazi. ) Nach einer unverhältnismäßig langen Zeit hatten sie so den nächsten Planeten erreichen können – Coriolis. »Sucht ihr denn jetzt hier nach diesem Uran?« fragte Kazazi. »Und seid ihr sicher, daß es hier zu finden ist?« Kazazi senste bei Makombo Sicherheit und Besorgnis gleichzeitig, als dieser sagte: »Daß es hier Uran gibt, wissen wir sicher. Wir waren auf dem Weg zu einem Gebiet, wo es, wie unsere Instrumente angezeigt haben, welches geben muß. Aber wegen unseres Treibstoffmangels konnten wir den 35
Kurs nicht einhalten. Dieser verfluchte Sturm hier hat uns ein riesiges Stück nach Westen verschleppt. Und ob wir dieses Gebiet über Land gegen den Wind erreichen können, ist noch die Frage... Reisen ist hier fast unmöglich, es sei denn, windabwärts. Und es ist schließlich auch nicht gerade so, als ob wir das Zeug, das wir suchen, in jedem beliebigen Dorf finden oder kaufen könnten. Eure Zivilisation ist nicht so weit entwickelt, daß du auch nur ahnen könntest, was wir suchen.« Das ärgerte Kazazi. Diese Aufschneider! Sie besaßen zwar eine Menge schöner und komplizierter Dinge, aber sie hatte schon lange gemerkt, daß sie diese nicht alle selbst gemacht haben konnten. Andere Leute etwas für sich machen lassen und dann so tun, als ob man selbst so klug gewesen wäre! Osborks konnten alles selbst. Wenn sie es nicht selbst taten, geschah dies aus rein praktischen Gründen. Sie selbst beispielsweise war Zeichnerin von Beruf, weil sie besser zeichnen konnte als die meisten Osborks, aber jeder von ihnen konnte ein bißchen zeichnen. Und sie ließ andere zwar im Tausch gegen Hieroglyphen für sich jagen, aber wenn es darauf ankam, konnte sie es auch selbst tun. Obwohl... Wenn sie es recht bedachte, so hatte es schon auch seine Vorteile, wenn man sich spezialisierte... Aber dennoch brauchten diese Menschen nicht abfällig über das Zivilisationsniveau der Osborks zu reden! Sie würde ihnen schon noch zeigen, daß sie ihnen besser helfen könnte, als sie zu erwarten schienen. »Was ist denn das für ein Zeug?« fragte sie. »Vielleicht weiß ich, wo es zu finden ist?« »Uran? Ach Tier, natürlich kannst du das nicht wissen! Ihr lebt doch gerade erst in der Eisenzeit!« schnaubte Everett. »Das heißt gar nichts, Mann«, stellte sich Makombo zwischen beide. »Sie benutzen es hier natürlich nicht, aber es ist nicht so schwierig, es zu beschreiben!« Und an Kazazi gewandt fuhr er fort: »Das Zeug, das wir suchen, ist lebensgefährlich, wenn man nicht richtig damit umgeht. Zumindest wird unser Organismus todkrank, wenn wir ungeschützt eine Zeitlang in seiner Nähe sind.« Neugierig fragte Kazazi, warum sie es dann suchten. Es gab doch wahrlich weniger komplizierte Arten, um zu sterben, wenn man dies wollte. »Oh, wir wissen schon, wie wir damit umgehen müssen! Mit den Anzügen, die wir trugen, als du uns trafst, können wir eine ziemlich große Strahlungsmenge sicher abhalten, und wenn das Zeug in Bleikisten verpackt ist...« »Was ist das, Blei?« »Mein Gott... wie soll ich das nun wieder erklären. Siehst du, Makombo, es hat keinen Zweck. Dieses Tier weiß nichts, verd...« 36
»Kazazi, weißt du, daß es manchmal in Steinen etwas gibt, das herausläuft, wenn man es erhitzt?« »Ja, das wird dann später wieder hart, und dann kann man Beitel daraus machen und Messer.« »Genau! Weißt du auch, daß es mehrere Sorten von diesem Zeug gibt?« »Nein. Davon habe ich noch nie etwas gehört, glaube ich...« Auch Makombo verspürte nun allmählich, ärgerliche Frustration. Deshalb fragte Kazazi hastig: »Aber ist das alles, was du über dieses Uran sagen kannst? Daß es lebensgefährlich ist und in Bleikisten aufbewahrt werden muß?« »Blei ist das schwerste Metall, das man benutzen kann, um Gegenstände herzustellen. Wenn Uran nicht darin aufbewahrt wird, stirbt alles, was in der Nähe wächst oder lebt. Nicht sofort, zuerst wird alles krank, auch die Menschen. Zuerst wird man immer schwächer, und schließlich stirbt man. Wir haben zwar Bleikisten, um das Uran darin aufzubewahren, aber wir wissen nicht genau, wo wir es finden können...« »Also suchst du eine Stelle, an der nichts leben kann! Davon gibt es genug auf Coriolis!« »Orte, wo das Klima Leben ermöglichen würde, an denen aber aus anderen Gründen alles abstirbt?« »Hmm... als ob der Ort vergiftet wäre, meinst du? Solch eine Stelle kenne ich! Ich kenne einen Ort, an dem alles abstirbt außer einer einzigen Pflanzenart. Aber das ist doch eigentlich etwas anderes...« Everett sah Makombo an. »Man kann nie wissen, wie ein Plattier einen Osbork fängt«, sagte er und grinste. »Erzähl mal, Mieze, welche Pflanze kann dort leben?« »Nun, die Plumpssamensträucher.« Auf ihre Frage, was das für Pflanzen seien, erklärte Kazazi: »Wenn eine Pflanze ein Samenkorn erzeugt, nimmt der Passat es mit. Dann kann dieses Samenkorn manchmal Hunderte von Kilolängen befördert werden, bevor es irgendwo stecken, hängen oder liegen bleibt und wieder zu einer Pflanze wird. Dies ist so, weil Samenkörner so leicht sind. Aber den Plumpssamensträuchern ist es offensichtlich angenehm, nahe beieinander zu wachsen, denn sie produzieren sehr schwere Samen. Wenn sie reif sind, fallen sie fast senkrecht hinunter, selbst wenn es sehr stark stürmt, und dies sind die einzigen Pflanzen, die ich kenne, die nicht überall verstreut wachsen, sondern nur hier und dort, dann aber auf einer großen Fläche.« 37
»Und sonst wächst nichts anderes in ihrer Nähe?« fragte Everett begierig... »Doch, meistens schon. Aber es gibt eine Sorte, die vergiftet ist. In ihrer Nähe kann gar nichts wachsen. Südlich von meinem Heimatdorf gibt es ein ziemlich großes Gebiet, in dem solch eine giftige Sorte wächst. Ich habe es nie gesehen, wohl aber eine Beschreibung davon gehört.« Kazazi legte die Enden ihres Rennerfells auseinander, so daß ihr Rucksack offen auf dem Boden lag. Sie suchte und fand die Weltkarte und zeigte auf die betreffende Stelle. »Passatfolger haben berichtet, daß es dort ein Gebiet gibt, in dem nur eine Pflanzensorte wächst. Dies sind die giftigen Plumpssamensträucher. Aber wie du schon sagtest, Everett, alles, was in ihre Nähe kommt, stirbt sofort. Es gab einmal einen Passatfolger, der ein paar von diesen Samen mitgenommen hat, und dort, wo er auf seinen Schultern den Rucksack trug, entstanden ein paar Tage später üble Geschwüre. Ich habe ihn noch gesehen, kurz bevor er in unserem Dorf starb. Er sah wirklich bedauernswert aus. Aber seitdem geht niemand mehr dorthin, das verstehst du wohl.« »Everett, denkst du das gleiche wie ich?« »Hmm, hmm... Die Pflanzen konzentrieren die schwersten Elemente in ihren Samen – und wenn dort Uran im Boden ist, müssen diese Samen Uran enthalten! Makombo, wenn wir davon eine Ladung mitnehmen könnten, wären wir reich! Dann hätten wir nicht nur genug, um nach Hause zu kommen, sondern auch genug, um ein neues Schiff zu kaufen! Oder auch für jeden von uns eins, wenn wir wollten! Kazazi? (Fanatische Begierde traf Kazazi so stark, daß ihre Sensorgane fast überlastet wurden. ) Du kommst mit uns, um uns diese Stelle zu zeigen!« Die Intensität, mit der Everett reagierte, jagte Kazazi etwas Angst ein. Sie schrak zurück und fuhr vorsichtshalber ihre Krallen aus. Wieder war es Makombo, der sich zwischen beide stellte. »Du brauchst doch nicht gleich einen Befehl daraus zu machen! Ich weiß sicher, daß Kazazi gerne mit uns gehen wird. Weißt du was, das ist doch eine ausgezeichnete Chance für dich, um in dein eigenes Dorf zurückzukehren!« Das begriff Kazazi überhaupt nicht, und sie zeichnete ein großes Fragezeichen auf das Papier. »Also! Wir gehen zu dritt windaufwärts. Wir sorgen für dein Essen und halten dir die Raubtiere vom Leib. Und du zeigst uns, wo die Fundstelle ist, und wenn wir dann zum Schiff zurückkehren, brauchst du nur noch schräg zum Wind zu deinem Dorf zurückzulaufen! Dann tust du so, als ob du von windaufwärts kämst und erfindest eine Menge Geschichten über das, was du erlebt hast.« Kazazi drehte sich um, ging durch die Luftschleuse nach draußen und legte sich in die Kriechwurzelsträucher, um nachzudenken. Was sollte 38
sie in Windesnamen nur tun? Mit diesen beiden Ungläubigen weiterzureisen, war natürlich ausgeschlossen. Es würde vollkommen unmöglich sein, ihren telepathischen Artgenossen einen derartigen Betrug glaubhaft zu machen, aber darum ging es ihr nicht einmal! Den Zorn des Passats heraufzubeschwören, indem man so tat, als ob. man ein überlebender Passatfolger sei? Schon allein die Vorstellung... Sie hörte fortwährend aufgeregte Fragen in ihrem rechten Ohr, aber sie wollte auch damit nichts zu tun haben. Mit einer wütenden Bewegung warf sie den Ohr–Apparat in den Sturm. Als Makombo Kazazi nach einer Stunde auf dem freien Platz zwischen den Kriechwurzelsträuchern aufsuchte, hatte sie sich noch immer nicht beruhigt, und es dauerte noch eine lange Zeit, bis sie schließlich wieder bereit war, dem Menschen zuzuhören. Langsam drang es zu ihr durch, daß dieser genauso erstaunt über ihre Reaktion war, wie sie über seine Blasphemie, und es war ziemlich viel Erklärung von beiden Seiten notwendig, bevor sie beide den Standpunkt des anderen zu verstehen anfingen. Erst jetzt wurde Kazazi klar, daß der Passat für Makombo lediglich eine lästige Naturerscheinung war. Auf seiner Trompete hatte er nur zu seinem eigenen Vergnügen gespielt (und auch, um Everett ein wenig zu ärgern, der diese Geräusche offenbar überhaupt nicht leiden konnte). Das weggewehte Papier bei ihrer ersten Begegnung hatte für Makombo keinerlei Bedeutung gehabt... Auf der anderen Seite schien sich Makombo sehr schuldig zu fühlen, weil er überhaupt nicht darüber nachgedacht hatte, daß der Passat auf Coriolis natürlich mehr war als nur ein lästiges Naturphänomen. »Jetzt verstehe ich auch, warum du jeden Morgen kurz das Schiff verläßt und die beiden Flöten in die Luft hältst! Das ist wohl eine Art Verehrung des Windes?« fragte er begeistert, weil er nun endlich anfing, Kazazi zu verstehen. »Fängst du schon wieder an?« Kazazi war verzweifelt. Nun hatten sie gerade wieder einigermaßen guten Kontakt miteinander, und jetzt fing der Mensch über so etwas Persönliches wie über ihre Windflöten zu reden an... Damit betete man nur den Passat an, wenn niemand dabei war. Hatte Makombo sie etwa dabei beobachtet? Diese verdammten Apparate natürlich! Damit konnten sie alles... Glücklicherweise ist es schwierig, einen Streit aufrechtzuerhalten, wenn beide Parteien sich eigentlich eine gute Beziehung zueinander wünschen. Bei einem Streit zwischen Telepathen löst der eine Gedanke den 39
anderen aus, und dadurch eskaliert alles sehr schnell, vor allem dann, wenn eine der beiden Streitenden Kazazi hieß. Aber wenn einer der beiden nur mit Hilfe von Zeichnungen kommunizieren kann, müssen die beiden Streithähne zu sehr ihren Verstand benutzen, um die ständigen Rätsel und Bilderrätsel zu lösen. Wenn man dann gerade ein schönes Schimpfwort gezeichnet hat, fragt der andere, was man damit meint, und dann muß man es umständlich erklären. Und wenn der andere es endlich verstanden hat... dann hat das Schimpfwort schon lange keine emotionale Ladung mehr. Dann überwiegt plötzlich das Gefühl, gemeinsam etwas erreicht zu haben. Es dauerte daher auch nicht lange, bis beide sich einig waren, daß sie in Zukunft viel vorsichtiger mit ihrem Urteil sein und weniger stark ihre eigene Vorstellungswelt zum Ausgangspunkt ihres Denkens machen müßten. Außerdem nahmen sie sich vor, eventuelle Fehler des anderen vorläufig zu akzeptieren. Als sie gemeinsam zum Landefahrzeug zurückkehrten, fiel Kazazi plötzlich ein, daß sie ihren Rucksack darin liegengelassen hatte. Ihre hitzige Natur hätte sie fast um das Wenige gebracht, das sie besaß – unter anderem um ihre Karte! Es wurde wirklich höchste Zeit für sie, etwas mehr Selbstbeherrschung zu entwickeln...
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6.
Fehlstart
»So«, sagte Everett, als sie das Schiff wieder betraten. »Hat das Tier jetzt seine Mucken überwunden?« Kazazi fühlte, wie sie wieder wütend wurde, aber gerade noch rechtzeitig senste sie die Erleichterung, die Everett mit seiner geringschätzigen Bemerkung zu überdecken versuchte, daher reagierte sie nicht darauf. »Wir haben ein paar Mißverständnisse geklärt«, bemerkte Makombo. »Aber du kannst dir aus dem Kopf schlagen, daß er mit uns kommt. Kazazi besteht darauf, weiter in westliche Richtung zu reisen. Wir werden also zu zweit Weiterreisen müssen.« »Was für ein Unsinn«, brummte Everett. »Aber gut, wenn du dir sicher bist... Jedenfalls gibt diese Karte uns einen guten Anhaltspunkt für die Stelle, die wir aufsuchen müssen.« »Die Frage ist nur, ob wir es auch tun!« sagte Makombo nachdenklich. »Ob wir es tun? Red keinen Unsinn, Mann! Wie sollten wir denn sonst jemals wieder von hier wegkommen? Warum sonst sind wir denn auf diesem gottverlassenen Planeten gelandet?« »Weil unsere Instrumente anzeigten, daß es hier Uran gibt, und daß es tatsächlich ungefähr in der Gegend sein müßte, wo Kazazi die Plumpssamen lokalisiert hat. Alles schön und gut, Everett, aber unser Plan war, Pechblende auszugraben und daraus Uran herzustellen. In diesem Falle könnten unsere Strahlenschutzanzüge jede Gefahr einer Verseuchung ausschließen. Diese radioaktiven Samen hingegen bestehen möglicherweise aus konzentriertem Uran. Wieviel Strahlung wird dabei wohl abfallen, was meinst du?« »Okay, okay... es ist also gefährlich! Was willst du denn, Makombo? Hier bleiben? Gut, wir haben Nahrungstabletten für ein paar Jahre mit, und das Wasser dieses Planeten ist trinkbar. Laß uns gemütlich im Licht der Roten Sonne sitzen, bis wir von diesem ewigen Wind völlig verrückt geworden sind. Ja? Na, du vielleicht, aber dann gehe ich allein! Ich bleibe hier nicht sitzen, bis ich verfaule!« Kazazi hörte mit weit aufgerissenen Augen und heraushängender Zunge zu. Sie verstand von dem, was die Menschen sagten, vielleicht ein Wort von dreien, aber sie begriff trotzdem, daß hier Ärger hochkam, der wahrscheinlich schon sehr lange unter der Oberfläche gebrodelt hatte. Was hieß da schon Ärger! Bei Makombo traf das vielleicht zu, aber bei der letzten Bemerkung von Everett hatte sie viel stärkere, gefährlichere Emo41
tionen gesenst. Daß die beiden es überhaupt so lange zusammen in einer so kleinen Kabine hatten aushalten können! »Ich will hier auch nicht verfaulen, verdammt!« schnaubte Makombo. »Aber ich will mich auch nicht Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzen, ohne zu wissen, woran ich eigentlich bin!« »Dann hör einmal gut zu, du Angsthase! Erstens haben wir den Geigerzähler, und das heißt, wir können jederzeit feststellen, wie gefährlich die Strahlung ist, die wir abbekommen. Außerdem kennen wir die isolierenden Eigenschaften unserer Strahlungsanzüge. Also müßte es eine einfache Rechnung sein, festzustellen, wieviel Strahlung unsere Körper trifft. Zweitens haben wir den Autodoc, der uns heilen kann, wenn wir die Strahlungskrankheit bekommen. Wir müssen einfach nur dafür sorgen, daß wir rechtzeitig hierher zurückkommen. Aber ich habe auch nie behauptet, daß es leicht werden würde. Und drittens ist der Kerl, von dem Panther gesprochen hat, tagelang mit dem Samen auf dem Buckel herumgereist und hat noch Wochen später gelebt. Bist du wirklich der Meinung, daß wir keine Chance haben?« Makombo schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Gut, du hast mich überzeugt. Aber warum du bei solchen Anlässen jedesmal schimpfen mußt, ist mir nicht klar. Kannst du so etwas denn nicht auch in normalem Ton sagen?« »Wenn du zu dumm bist, um so einfache Zusammenhänge ohne ausführliche Erklärung zu verstehen, mußt du auch akzeptieren, daß ein anderer die Geduld verliert«, fauchte Everett verächtlich, und zu Kazazis großer Erleichterung schien das Thema damit beendet zu sein. Eigentlich hatte sie lediglich verstanden, daß die Menschen die Plumpssamen für überaus wichtig hielten und daß sie bereit waren, eine Menge Risiken einzugehen, über deren genaues Ausmaß sie sich nicht klar waren. Schade eigentlich. Sie wäre gerne noch eine Zeitlang bei den beiden geblieben, aber die Fremden hatten offensichtlich vor, schon bald aufzubrechen. Ganz soweit war es aber doch noch nicht. Zuerst mußte das Landefahrzeug repariert werden. Der Flügel mußte ausgebeult werden, und bei der ziemlich unsanften Landung waren noch mehr Dinge beschädigt worden. Diese Zeit benutzte Kazazi dazu, sich im Jagen zu üben. Demnächst würde sie dies ja wieder selbst tun müssen, und jetzt waren die Menschen noch da, um sie zu beschützen, falls wieder etwas schiefgehen würde. Makombo schlug ihr vor, sie solle, um es schneller zu lernen, mehr Tiere töten, als sie zum Essen benötigte. Anfänglich schockierte sie dieser Vorschlag. Man tötete doch nur, wenn es unbedingt nötig war? Makombo rechnete ihr jedoch vor, daß sie in den sechs Tagen, in denen 42
sie noch beisammen sein würden, nur noch dreimal etwas zu essen brauchte, und daß dreimal Jagen ihr wenig zusätzliche Übung verschaffen würde. Also beschloß sie, dem Rat des Menschen doch zu folgen. Da den Menschen klar war, daß ihre Reise gegen den Wind eine ziemlich lange Zeit dauern würde, schien es ihnen sinnvoll, für den Fall, daß sie anderen Osborks begegnen würden, von Kazazis Hieroglyphen so viele wie möglich verstehen zu lernen, und Kazazi brachte ihnen gerne alles bei, was in ihrer Möglichkeit lag. Dabei entdeckte sie, daß die Menschen selbst auch Hieroglyphen benutzten. Es handelte sich zwar nur um eine begrenzte Anzahl, die sie >Buchstaben< nannten, aber mit ihrer Hilfe konnten sie durch Kombinationen und kleine Grüppchen eine unglaublich große Anzahl von Wörtern und Klängen darstellen. Als Kazazi das System einmal verstanden hatte, konnte sie den Menschen ihren eigenen Namen >Kazazi< und den Namen ihrer Art, >Osborks<, aufschreiben, und von diesem Zeitpunkt ab nannte Makombo sie Kazazi. Osborks sind intelligente Wesen, und so haben sie auch eine bescheidene Technologie entwickelt. Trotzdem ist das Ausdenken neuer Lösungen nicht gerade die stärkste Seite ihres technischen Könnens, und Kazazi gehörte sicher nicht zu jenen seltenen Osborks, die manchmal etwas Neues erfanden. Überaus fasziniert beobachtete sie daher auch die effiziente Weise, in der die Menschen zuerst auf einer Zeichnung, danach in der Realität etwas produzierten, das sie einen >Karren< nannten. Sie entfernten eine Tür aus einer Wand zwischen zwei Räumen ihres Raumschiffs, brachten darunter zwei >Achsen< an und stellten Räder aus runden Metallscheiben her, die sie mit ihren Laserpistolen aus einer Stahlplatte geschnitten hatten. Um diese Räder herum befestigten sie Wurzeln von Kriechwurzelsträuchern, die als >Reifen< dienen sollten. Kazazi konnte sich nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte. Die Menschen fragten sie, ob man auf Coriolis auch >Seile< kenne, und als sie solche für sie aufzeichneten, erkannte sie sofort die fleischfressenden Serpentinen wieder. Sie brachte Makombo zu einem Serpentinenstrauch und zeigte ihm, was geschah, wenn man das Ding reizte. Sie zeigte ihm, wie die giftigen Stacheln die Pflanzen an der Windseite schützten, so daß Pflanzenfresser sich nicht aus der Windrichtung her nähern und die Serpentinen am Ansatz losreißen konnten. Die einzige Tierart, die sich von Serpentinensträuchern ernähren kann, sind daher die Platttiere. Diese kriechen so niedrig über den Boden, und die klebrigen Serpentinen haben einen so geringfügigen erodierenden Effekt auf ihren Panzern, daß sie sich von der Seite nähern, unter den Serpentinen hindurchkriechen und so die Leeseite des Mutterstrauches erreichen 43
können. Dort beißen sie dann eine Serpentine ab und saugen diese aus. Ein Plattier kann von einer solchen Serpentine länger als einen Tag leben. Die Plattiere schlafen auch gerne unter Serpentinensträuchern, weil es dort für sie sicher ist. Unter den flatternden Serpentinen dieser Pflanze entdeckten Kazazi und Makombo ein Nest von Plattieren mit einer großen Anzahl von Jungen, die ein oder zwei Wochen alt sein mußten und kurz vor dem Ausschwärmen waren. Makombo schnitt mit seiner Laserpistole eine Anzahl von Serpentinen ab, aber diese wurden sofort vom Wind weggeweht. Dann ging er zur Luvseite der Pflanze und schoß alle ihre giftigen Stacheln ab. Nun konnte er um den Stamm herumgreifen und einige Serpentinen festhalten und abschneiden. Kazazi erschrak – sie wußte, was passiert, wenn Serpentinen mit der Haut in Berührung kommen. Aber dann sah sie, daß Makombo eine Art zweiter Haut über seine eigenen Hände gestreift hatte. Auch auf diese wirkten die Serpentinen zwar ein, aber das ging ziemlich langsam, so daß Makombo zum Schiff zurückkehren konnte, während die Serpentinen hinter ihm herflatterten. Als sie wieder in der Luftschleuse des Raumschiffes angekommen waren, achtete Kazazi sehr sorgfältig darauf, daß die noch lebenden Schlieren sie nicht berühren konnten. Im Schiff zog Makombo rasch seine Handschuhe aus. Der linke war an manchen Stellen schon fast durchgefressen und somit unbrauchbar geworden. Die Menschen berieten sich, was sie tun könnten, um die Schlieren abzutöten, ohne sie allzusehr zu beschädigen, und führten eine Reihe von Experimenten durch. Sie kochten eine Serpentine aus, mit der Folge, daß das Ding tatsächlich tot, aber auch so brüchig geworden war, daß man es nicht mehr als Seil verwenden konnte. Bei ihren Bemühungen, das Ding zu vergiften, probierten sie die verschiedensten Stoffe aus, jedoch ohne Erfolg. Säuren zeigten entweder gar keine Wirkung, oder, wenn sie stark genug konzentriert waren, wirkten sie zerstörend. Als sie es schließlich mit einfacher Seifenlauge versuchten, hatten sie endlich Erfolg: die Serpentine wurde leblos, behielt aber ihre Elastizität und Widerstandsfähigkeit. Danach mußte das Ding zwar noch ausgepreßt werden, um alle verbliebenen erodierenden Stoffe zu beseitigen, aber dann war es tatsächlich zu einem strapazierfähigen Stück Tau geworden, das gut zehn Längen maß. Kazazi war sehr beeindruckt. Was ihre Dorfgenossen nicht alles würden tun können mit Serpentinen, jetzt, nachdem sie diese Methode der Seilherstellung kannte. Einen kurzen Augenblick lang kam sie in Versuchung, doch mit den Menschen zurückzukehren. Wenn sie diese technische Neuigkeit mitbrächte, würde man ihr vielleicht eine Amnestie gewähren, ohne daß sie dafür die ganze Welt umreisen mußte... Dann kam 44
sie wieder zu sich und versprach dem Passat schuldbewußt eine sehr schöne Zeichnung, sobald sie eine Gelegenheit dazu hätte, sie anzufertigen – und dazu ein langes Flötenopfer. Zwei Tage später hatten die Menschen ihren Karren fertig. Aus den Seilen hatten sie zwei Schlepptaue angefertigt, und auf den Karren hatten sie sechs Behälter gelegt. Sie ließen Kazazi ausprobieren, wie schwer eine solche Kiste war, und sie konnte nur mit Mühe eine einzige davon hochheben. »Die sind aus Blei gemacht, Kazazi«, sagte Makombo. »Nur in einem solchen Behälter sind diese giftigen Samen ungefährlich. Wir werden jetzt aufbrechen. Es tut mir leid, daß du nicht mit uns kommen kannst. Ich glaube, daß sogar Everett inzwischen an dir hängt!« Dies stritt Everett natürlich heftigst ab, aber Kazazi senste seine Unsicherheit und Verwirrung. Sie ging auf ihn zu und streckte ihm ihre rechte Vorderpfote hin. Das war doch bei den Menschen eine Geste der Freundschaft? Sie wollte Everett zeigen, daß sie ihm sein unangenehmes Verhalten nicht übel nahm. Wie oft mochte sie wohl ihre eigenen Artgenossen unabsichtlich gegen sich aufgebracht haben! Everett packte ihre Pfote und drückte sie. Sie senste, daß sie genau die richtige Geste getroffen hatte. Da legte Makombo seine Hand auf ihren Kopf. Sie wußte nicht, warum, aber es löste ein äußerst angenehmes Gefühl bei ihr aus. Wind! Wenn diese Wesen doch nur sensen könnten. Wie könnte sie ihnen nur klar machen, daß sie sie sehr vermissen würde? Vor allem Makombo – sie hatte das Gefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben einen Freund gefunden zu haben, der es längere Zeit mit ihr aushielt... Kazazi schaute den beiden Menschen noch lange nach. Wegen ihres Kampfes gegen den Sturm kamen sie nur sehr langsam vorwärts. Den Karren mit seiner schweren Last zogen sie mühsam hinter sich her. Einige Stunden später waren sie noch immer in der Ferne zu sehen, aber schließlich faßte Kazazi den Entschluß, ihre eigene Reise nicht länger hinauszuzögern. Schade, daß die Menschen ihr nur das Papier und den Schreibstift dagelassen hatten und nicht das Radio oder eine Laserpistole. Makombo und Everett waren sich jedoch beide darüber einig gewesen: Sie wären in größte Schwierigkeiten geraten, wenn sie hochentwikkelte Artefakte auf einem unterentwickelten Planeten hinterlassen hätten. Eigentlich waren Papier und Schreibstift auch schon verboten, aber Makombo hatte Everett davon überzeugen können, daß so etwas doch nicht schaden konnte und daß sie ihrem Freund doch wenigstens dies überlassen konnten. Und was hätte bei der Künstlerin Kazazi besser gepaßt 45
als ein solches Geschenk? Insgesamt war Kazazi fast eine Woche lang bei den Menschen gewesen. Während dieser Zeit hatte sie entweder in Makombos oder Everetts Gesellschaft Plattiere gejagt. Sie war inzwischen sehr geschickt im Jagen, und dies war ein Geschenk der Menschen, das noch wichtiger war als das Zeichengerät. Gut genährt, ausgeruht und viel selbstbewußter als eine Woche zuvor nahm Kazazi ihre Reise wieder auf. Eine Stunde später, als sie über das nicht sehr dicht bewachsene Gelände rannte, dachte sie darüber nach, wieviel besser sie doch für das Leben auf Coriolis ausgerüstet war als diese Fremden. Sie hatte in einer Stunde schon eine größere Entfernung zurückgelegt als diese es wahrscheinlich innerhalb eines ganzen Tages tun würden, und dazu noch auf eine viel angenehmere Weise. Wenn man einfach nur dem Wind folgte, wie alles auf Coriolis es tat! Moment mal... Wie alles auf Coriolis? Daß sie daran nicht eher gedacht hatte! Kazazi erstarrte mitten in ihrem schnellen Lauf und taumelte daraufhin Hals über Kopf über die Ebene, vom Passat mitgerissen. Es dauerte eine Weile, bevor sie sich mit ihrem Endhaken irgendwo verankern konnte, und dann kam sie mit einem Ruck zum Stillstand. Keuchend blieb sie liegen und wartete, bis der Schwindelanfall vorüber war. Dann rappelte sie sich wieder hoch und wandte sich in die Richtung, aus der der Passat kam. Wie weit war sie nun wohl vom Raumschiff entfernt? Ungefähr zwanzig Kilolängen, schätzte sie. Sie würde einen ganzen Tag benötigen, um diese Strecke wieder zurückzulegen, wenn sie gegen den Wind laufen müßte, und in den zwei Tagen, die die Menschen dann gereist wären, hätten sie ungefähr zehn Kilolängen zurückgelegt. Das würde für sie noch einmal einen halben Tag bedeuten. Sie konnte also in anderthalb Tagen die Menschen einholen. Wie würden diese wohl reagieren, wenn sie sie erblickten? Sie jedenfalls würde sich sehr freuen, Makombo wiederzusehen... Einen Tag später hatte Kazazi das Raumschiff passiert. Sie sah die Spuren der Karrenräder und beschloß, diesen zu folgen. So konnte sie die Menschen kaum verfehlen. Keuchend und todmüde kämpfte sie weiter gegen den Sturm an. Osborks sind nicht dafür geschaffen, über lange Strecken gegen den Wind zu kriechen. Sie tun dies nur selten länger als zwei Stunden. Während sie ihren Kopf dicht am Boden hielt, um dem Wind möglichst wenig Widerstand zu bieten, kroch sie zwischen den parallel verlaufenden Spuren weiter. Hin und wieder blickte sie auf, um zu schauen, ob sie keiner gefährlichen Pflanze oder einem Raubtier ausweichen mußte. 46
Ungefähr fünf Kilolängen hinter dem Schiff entdeckte sie einen Dornenwerferstrauch, und sie sah zu ihrem Erstaunen, daß die Karrenspuren geradeaus weiterführten, genau auf die gefährliche Pflanze zu. Hatte sie den Menschen denn nicht von diesen Sträuchern erzählt? Sie war sich dessen völlig sicher – zumindest hatte sie ihnen geraten, diese Pflanzen zu meiden, weil sie giftig waren. Die Geschichte mit den Wurzelausläufern usw. hatte sie überschlagen, wie sie sich jetzt zu erinnern glaubte, denn es war am Anfang ihrer Begegnung gewesen, und eine derartige Geschichte war zu jenem Zeitpunkt noch zu kompliziert, als daß sie sie detailliert hätte erzählen können. Es waren ohnehin schon so viele andere Informationen auszutauschen gewesen... Kazazi beschloß, nicht mehr genau den Karrenspuren zu folgen. Vielleicht waren die Menschen den giftigen Dornen gegenüber gar nicht empfindlich und hatten sich deshalb über ihre Warnung hinweggesetzt; sie selbst wollte in jedem Fall lieber vorsichtig sein. Sie bog nach rechts ab und folgte in einem gewissen Abstand den Furchen im Boden. Sie liefen am Rande der fächerförmigen Gefahrenzone des Strauches entlang, gerade noch innerhalb dieses gefährlichen Bereichs, und plötzlich sah Kazazi dort einen grellfarbenen Flecken liegen. Das war die Farbe jener Dinger, welche die Menschen ihren >Strahlenschutzanzug< nannten. Kein einziges Tier von Coriolis war, soweit sie wußte, so gefärbt. Wer lag dort wohl? Makombo? Everett? Oder gab es auf Coriolis noch mehr von diesen Menschen? Kazazi wollte es sich genauer anschauen, beschloß aber, zunächst zum Dornenwerferstrauch zu gehen und diesem einen festen Schlag zu versetzen. Das würde die mittlerweile reif gewordenen Dornen lösen, so daß sie nicht in Gefahr geriet, wenn sie sich dem Menschen näherte. Als sie den Strauch auf diese Weise unschädlich gemacht hatte, kehrte sie zu dem reglosen Körper zurück. Sie hakte den Endhaken ihres Schwanzes in die Kleider des Menschen und fing an, mit aller Kraft zu ziehen. Zuerst war dies ohne Auswirkung; Tausende von kleinen Ausläufern des riesigen Strauches hatten sich bereits in die Kleider und in die Haut des Menschen gebohrt, und Kazazi bekam Angst, daß sie zu spät gekommen sein könnte. Wenn diese Fasern zu tief eingedrungen waren, gab es keine Rettung mehr... Da schoß sie mit einem Ruck vorwärts, und der Körper war frei. Es war Makombo. Sie sah drei Dornen in seiner Gesichtshaut stecken und Dutzende weitere in seinen Kleidern. Die drei in seinem Gesicht hatten ihn bewußtlos gemacht, das war offensichtlich. Kazazi entfernte vorsichtig alle Dornen, die sie sah. Das Gift war nicht tödlich, wenn es nicht in großen Mengen verabreicht wurde, aber drei Dornen reichten sicher für viele Stunden Bewußtlosigkeit aus. Das Unglück konnte noch nicht 47
sehr lange her sein, denn soweit Kazazi die von den Wurzelausläufern erzeugten Wunden sehen konnte, machten diese den Eindruck, als handle es sich erst um rein oberflächliche Verletzungen. Also abwarten... Das Gift mußte abgebaut werden; die Saugwurzeln waren schon losgerissen. Ob Makombo überleben konnte, würde sie innerhalb von ein paar Stunden wissen. Als Makombo wenige Stunden später die Augen öffnete, hockte Kazazi geduldig neben ihm und wartete. Die Verbindung von Erstaunen, Freude, Erleichterung und Verwirrung, die sie senste, war eines der beeindrukkendsten Erlebnisse, die sie jemals gehabt hatte. »Kazazi... Mein Gott, wo kommst denn du her?« »Ich bin dir gefolgt und fand dich hier.« »Aber wie kommt es, daß ich nicht tot bin? Die Dornen von diesem Strauch... Wir hatten überhaupt nicht darauf geachtet, und plötzlich regneten die Dinger auf uns herab ... Wo ist Everett, lebt er noch?« »Everett ist nicht hier. Der Karren ist weitergefahren, also muß Everett noch am Leben sein, denke ich.« »Er dachte natürlich, daß ich tot sei... obwohl... Sag mal, diese Pflanze soll doch tödlich sein? Hattest du das nicht gesagt?« »Ja, aber nicht sofort, es sei denn, man wird gleichzeitig von einer großen Anzahl dieser Dinger getroffen. Ein paar von den Dornen betäuben nur, die Wurzeln erledigen dann den Rest. Aber diesmal haben sie keine Gelegenheit dazu gehabt.« »Was sollen wir jetzt tun, Kazazi?« Diese Frage überraschte Kazazi. Wieso sollte sie denn plötzlich entscheiden, was weiter zu tun war? Sie war doch überhaupt kein Führertyp... Aber als sie Makombo anschaute, der sich die ganze Zeit über kaum bewegt hatte, wurde ihr klar, daß sie nun vorläufig wohl die Führung übernehmen mußte. Das Gift der Dornen hatte den Menschen wahrscheinlich sehr krank gemacht, aber das war nicht weiter verwunderlich. Wenn ein Mensch schon starb, sobald er das Fleisch eines gewöhnlichen Tieres von Coriolis aß, dann war der Giftstoff dieser Pflanze womöglich äußerst riskant für die Fremden. »Wir müssen dich so schnell wie möglich wieder zum Schiff bringen, denke ich«, gab Kazazi unsicher zu erkennen. »Es ist zu gefährlich, sich über lange Zeit an einer Stelle wie dieser aufzuhalten.« »Zurück zum Schiff? Mein Gott, Kazazi, dann habe ich dieses elende Stück Wegs wohl auch noch umsonst zurückgelegt? Können wir nicht 48
versuchen, Everett einzuholen?« »Vielleicht schon, aber das scheint mir schwierig zu sein. Er geht übrigens in die falsche Richtung. Darum bin ich euch gefolgt: mir fiel plötzlich ein, daß ihr über einen Umweg zu den Plumpssamen gehen müßt! Wenn man sich ihnen von windabwärts nähert, kommt man, lange bevor man die Plumpssamen erreicht hat, durch ein Gebiet, das vergiftet ist, und zwar von all dem, was der Wind aus dem Gebiet der Plumpssamen mitgebracht hat!« »Mein Gott, ja... Fallout...«, murmelte Makombo. Es dauerte eine Weile, bis sich Makombo der Tragweite dieser Tatsache bewußt geworden war. Dann fing er leise zu lachen an, obwohl Kazazi keine Freude, sondern eher Verbitterung und Selbstanklage senste. Um dies zu durchbrechen, fragte sie: »Sag, wenn ihr doch wußtet, daß dieser Strauch gefährlich ist, warum seid ihr dann so unvorsichtig gewesen?« »Wir waren so abgelenkt, daß wir nicht einmal daran dachten. Ab und zu auf Tiere zu achten, haben wir ja noch geschafft, doch die waren für uns nicht gefährlich, weil wir ja die Pistolen haben. Aber wenn man auch noch auf Pflanzen achten soll, muß man wirklich sehr aufmerksam sein. Und das waren wir bestimmt nicht mehr. Wir hatten Streit, weißt du...« – Kazazi senste Makombos Verlegenheit –, »ich hatte den ganzen Tag lang noch keine Zigarette geraucht, denn das ging in diesem Sturm nicht, und dann werde ich ziemlich gereizt. Und du weißt, wie Everett ist... Als wir allmählich merkten, wie langsam wir vorwärtskamen und wie weit der Weg noch war... Das reichte uns, um in heftigen Streit zu geraten. Aber komm, Kazazi, du hast recht, wir sollten sehen, daß wir möglichst rasch wieder zum Schiff kommen! Ich fühle mich so schlapp wie eine Serpentine und auch genauso hungrig... Everett hat alle unsere Nahrungstabletten auf dem Karren bei sich, und ich kann erst im Schiff wieder welche bekommen. Ich verstehe diesen Burschen überhaupt nicht. Wie will er es nur alleine schaffen, den Karren so weit zu ziehen?« Kazazi wies ihren Freund auf vier dunkle Rechtecke hin, die etwas weiter oben neben der Karrenspur lagen. »Offenbar hat er sich gedacht, daß zwei Kisten auch genug sind, und die kann ein Einzelner ziehen!« »Ja, das stimmt. Eine Kiste ist eigentlich schon genug, die anderen fünf hatten wir füllen wollen, weil wir damit ohne große Mühe steinreich geworden wären. Als wir merkten, was für eine Höllenfahrt es werden würde, um die Plumpssamen zu erreichen, wollte ich ein paar der Behälter liegen lassen, aber Everett bestand darauf, mit allen sechs weiterzureisen. Darüber kam es dann zum Streit. Jetzt, wo er alleine ist, gibt er sich 49
offensichtlich mit einer zusätzlichen Kiste zufrieden. He, Kazazi, vielleicht ist er alleine ja noch nicht sehr weit gekommen! Kannst du ihn nicht sehen?« »Es tut mir leid, das Gelände hat eine leichte Steigung, und er muß irgendwo dahinter sein. Es scheint mir das Beste zu sein, dich jetzt erst einmal außer Gefahr zu bringen, bevor wir uns um Everett kümmern.« Beide vermieden zu erwähnen, daß Everett weitergereist war, ohne sich überhaupt vergewissert zu haben, ob Makombo auch wirklich tot war. Kazazi erinnerte sich an die Habsucht, die Everett ausgestrahlt hatte, als er von dem Uran erfuhr, und an seine Mordlust während des Streits in der Kabine. Sie glaubte, daß es ihm vielleicht gar nicht so ungelegen wäre, der einzige zu sein, der wußte, wo diese Welt, Coriolis, sich befand... Weil sie bei Makombo Mißtrauen, Zweifel und Abscheu senste, vermutete sie, daß auch er einen ähnlichen Verdacht hatte. Sie machten sich schweigend auf den Rückweg. Makombo stützte sich schwer auf Kazazi und mußte sich alle hundert Längen erschöpft auf den Boden sinken lassen, um auszuruhen. Nur dank des Passats in ihrem Rücken würden sie das Schiff erreichen können, aber Kazazi wußte schon lange, daß der Passat stets auf der Seite der Schwachen ist. Als sie nur noch ungefähr einen Kilometer vom Schiff entfernt waren, ging die Rote Sonne unter. Weil die Blaue Sonne alle zwei Stunden für eine Stunde unter dem Horizont verschwindet, mußten sie nun eine Stunde lang in völliger Dunkelheit warten, bis das schwachblaue Licht ihren Weg wieder genügend erleuchtete, so daß sie einigermaßen sicher Weiterreisen konnten. In dieser Stunde zeigte sich, wie schwach Makombo geworden war. Solange sie weitergegangen waren und nur ab und zu eine kurze Ruhepause eingelegt hatten, hatte er sich aufgerappelt und sich jedesmal wieder weitergeschleppt. Aber nach einer vollen Stunde erzwungener Ruhe hätte er es fast nicht mehr geschafft, auf die Beine zu kommen. Kazazi war nicht stark genug, um ihn auf ihrem Rücken zu tragen, und ihn zu schleppen, war eine sehr unelegante Art der Fortbewegung. Schließlich war sie der Verzweiflung nahe, und weil ihr nichts anderes mehr einfiel, biß sie ihn sanft in die Schulter. Das half. Der benommene Makombo gab ihr einen Schlag auf die Schnauze, aber da er kaum noch Kraft hatte, war das nicht besonders schmerzhaft. Jetzt war er wenigstens wieder aktiv und reagierte, wenn sie ihn anfauchte oder wenn sie an seinem Körper zerrte. Taumelnd legten sie schließlich den letzten Kilometer zurück. 50
Wenn die Außentür der Schleuse geschlossen war, konnten nur Makombo oder Everett das Raumschiff betreten. Nur sie kannten den Code, mit dem die Tür zu öffnen war. Aber nachdem Makombo die Außentür geöffnet hatte, überließ er den Rest Kazazi. Sie zog ihn in die Schleuse, bediente den Mechanismus und ließ Makombo schließlich in der großen Kabine auf ein Bett fallen. Sie wußte, wo die Nahrungskapseln lagen und wie sie Wasser aus einem Metallrohr in der Mauer herausfließen lassen konnte – sie hatte immerhin eine ganze Woche bei den Menschen verbracht. Aber mehr, als Makombo zu essen und zu trinken zu geben, konnte sie nicht tun. Ruhe war das einzige, was dem Menschen helfen konnte, fürchtete sie. Kazazi ging wieder nach draußen, verehrte den Passat mit ihren Flöten und mit einem gezeichneten Bericht von Makombos Rettung und fing schließlich ein Plattier für sich. Als sie satt war, kehrte sie zum Schiff zurück, das sie natürlich jederzeit betreten konnte, solange die Außentür offen blieb. Dann begann eine lange Zeit des Wartens. Makombo war einige Tage lang kaum in der Lage zu kommunizieren. Manchmal redete er stundenlang vor sich hin, ohne daß Kazazi irgend etwas davon verstehen konnte. Der Name Everett tauchte des öfteren auf, und weil sich bei dem todkranken Makombo alle möglichen Gefühle vermischten (und manchmal auch gänzlich fehlten, was Kazazi jedesmal große Angst einjagte), konnte sie nur vermuten, daß er in seiner Krankheit Dinge über den anderen sagte, die er normalerweise nicht gesagt hätte. Allmählich kam Makombo jedoch wieder zu Kräften, und Kazazi wußte schließlich, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis ihr Freund wieder gesund sein würde.
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7.
Unterwegs
Nach einer erfolgreichen Jagd (ein Plattier mit Embryos) döste Kazazi ein paar Tage später neben Makombos Bett vor sich hin, als sie plötzlich eine warme Hand auf ihrem Kopf fühlte. Das war das erste Mal seit langer Zeit! Sie wollte gerade aufstehen und fragen, wie sich Makombo fühlte, als sie erstarrte. Die Finger des Menschen glitten von ihrem Kopf hinter ihr rechtes Ohr... und verursachten dort ein Kitzeln. Das durfte doch wohl nicht wahr sein... Wollte dieser Mensch sie etwa in sein Nest lokken? Es war ein sehr erregendes Gefühl, und sie fand Makombo riesig nett, aber das hieß doch nicht, daß sie mit ihm... übrigens war das höchstwahrscheinlich nicht einmal möglich... Aber was wollte er dann? Solch eine intime Geste machte man nicht, wenn... und dann bestimmt nicht mit den Händen! Nur mit Mühe konnte Kazazi sich vom wachsenden Gefühl lustvoller Erregung freimachen. Dann versuchte sie zu sensen, was Makombo eigentlich wirklich von ihr wollte. Sie merkte schnell, daß er mit seinem Verhalten keinerlei erotische Bedeutung verknüpfte. Er fühlte sich zufrieden, ruhig und erleichtert (offenbar wußte er, daß er das Schlimmste nun überstanden hatte), und dieses Gefühl schien er mit Kazazi teilen zu wollen. Aber das war doch wohl nicht die richtige Art und Weise, so etwas mitzuteilen! Kazazi fühlte sich jedenfalls nicht gerade besonders ruhig dabei. Sie beschloß, bevor sie von diesem Gefühl allzu sehr in Beschlag genommen würde, Makombo zu fragen, was er mit dieser Geste sagen wolle. »Um Himmels willen!« erschrak dieser. »Habe ich schon wieder etwas falsch gemacht? Tut mir leid, Kazazi, aber es war rein freundschaftlich gemeint! Auf meiner Welt habe ich einmal einen Hund gehabt, das ist eine Tierart, die zwar lange nicht so intelligent ist wie die Osborks oder die Menschen, mit der wir uns aber meistens sehr gut verstehen. Und die sind verrückt danach, hinter den Ohren gekrault zu werden. Ein Mensch und sein Hund genießen das beide sehr, und es gibt ihnen ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Und als ich eben wieder zu Bewußtsein kam, sah ich dich neben mir liegen. Du hast mich durchgebracht, nicht wahr, alter Junge? Genau, das dachte ich. Nun ja, und dann habe ich dich aus alter Gewohnheit hinter den Ohren gekrault. Hätte ich das nicht tun dürfen?« Was soll man dazu sagen? grübelte Kazazi. So etwas ließ man eigentlich nur zu, wenn es ein Nestgenosse tat. Aber Makombo war kein Osbork, und wenn ein Mensch es tat, war es etwas völlig anderes... Und 52
außerdem war es ein unglaublich angenehmes Gefühl... Kazazi reagierte nicht direkt auf Makombos Frage, sondern drückte mit gespitztem rechten Ohr ihren Kopf gegen Makombos Hand. Dieser benötigte keine weiteren Worte, und dann wurde es eine Weile ganz still in der Kabine. Die Beziehung zwischen Kazazi und ihrem Menschen war nun enger als je zuvor, und Kazazi hatte das Gefühl, daß sie für Makombo, wenn es sein müßte, die ganze Welt umreisen würde – sogar gegen den Wind, wenn er das wollte! Das würde jedoch nicht einmal nötig sein; sie hatte Makombo davon überzeugen können, daß es kaum länger dauern würde, wenn er, um sich den Plumpssamen zu nähern, dem Passat folgen und rund um Coriolis reisen würde, anstatt jetzt noch Everett zu folgen. Und er war ohnehin so schlecht dafür ausgerüstet, gegen den Wind zu reisen mit seinem aufrechten Gang! Und wenn er dem Wind folgen würde, könnten sie miteinander reisen. Kazazi gewann den Eindruck, daß Makombo im Grunde Lust zu einer solchen gemeinsamen Reise hatte, daß es aber andererseits doch etwas zu geben schien, was ihn davon abhielt, etwas, worüber er nicht zu sprechen wagte. Schließlich hielt sie ihm dies unverblümt vor und bat ihn, zu sagen, was ihn bedrückte. »Tja, Kazazi, es bedrückt mich sehr, aber es wird wohl keine Lösung dafür geben... Es ist Everett, weißt du. Mit diesem Fallout Gebiet wird er wohl nicht so große Schwierigkeiten haben. Der Geigerzähler wird ihn rechtzeitig warnen, und dann wird er es in nördlicher oder südlicher Richtung umgehen können. Alles in allem besteht tatsächlich die Möglichkeit, daß er es schafft, und dann ist er vielleicht eher zurück als wir, wenn wir in die andere Richtung gehen. Er geht natürlich davon aus, daß ich tot bin, also wird er dann wegfliegen...« »Aber wenn wir aufbrechen, kannst du doch eine Nachricht für Everett hinterlassen, in der du ihn bittest, auf dich zu warten, wenn er früher zurückkommt?« »Nun ja, das könnte ich tun... Aber stell dir vor, Everett ginge davon aus, daß ich die Reise doch nicht überleben würde, und er wollte nicht auf mich warten... Und daß ich hier so lange warte, bis er zurück ist, das geht natürlich auch nicht. Er würde es mir nie verzeihen, wenn ich hier ruhig auf ihn warten würde, und außerdem, wenn er unterwegs stürbe, so würde ich hier warten, bis ich schließlich nur noch ein Pfund wiege.« »Willst du ihm dann doch folgen?« fragte Kazazi beunruhigt. Nicht, daß sie ihren Freund am Ende doch noch verlieren würde! »Nein... Ich würde ihn nicht mehr einholen, wenn ich jetzt hinter ihm her53
reise, das ist auch klar...« »Hmm... dann gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit, nämlich daß ich versuche, ihn einzuholen, nicht wahr?« Makombo schämte sich furchtbar, Kazazi um so etwas bitten zu müssen, das konnte sie deutlich sensen, aber es war offenbar genau das, was ihr Mensch gerne wollte. Kazazi rechnete aus, daß sie ungefähr drei Tage benötigen würde, um Everett einzuholen, und sie bat Makombo, ihr dafür wieder eines von diesen kleinen Radios ins Ohr zu setzen. Er zeigte ihr, wo sie eines finden könne, fügte aber hinzu: »Wenn du dadurch mit mir in Kontakt bleiben willst, nützt es nichts, denn so ein Ding hat eine Reichweite von allerhöchstens zwei oder drei Kilolängen. Aber wenn du Everett findest, ist es natürlich brauchbar. Wenn er genauso laut in dein Ohr schreien muß, wie ich es tun mußte, als ich dich fand, ist er innerhalb kürzester Zeit heiser...« Kazazi holte Everett gegen Ende des dritten Tages ein. Der Mensch, der sich nur langsam vorwärtskämpfte, merkte bis zuletzt nicht, daß sie ihn fast erreicht hatte, und Kazazi kannte Everett ein bißchen – sie überlegte sich, daß sie besser nicht unerwartet vor ihm auftauchen würde, denn Everett konnte so furchtbar gut mit seiner Laserpistole zielen. Deshalb schlug sie einen Bogen um ihn und näherte sich ihm bewußt auffällig von schräg windaufwärts. Als Everett sie sah, blieb er stehen und starrte sie an. »Da ist ja schon wieder einer von diesen verdammten Osborks«, hörte sie ihn in ihrem rechten Ohr brummen. »Ob er wohl gefährlich ist?« Um ihm zu zeigen, daß sie der Osbork war, den Everett schon kannte, hielt sie mit einer Hand ihren Papierblock hoch. »Verdammt... das ist ja Kazazi! Mein Gott, wo kommst du denn so plötzlich her?« Kazazi trat näher und fing an zu zeichnen. Als sie aufgezeichnet hatte, wie Makombo von ihr gerettet worden war, und daß er jetzt lebend in der Landekapsel auf Everett wartete, erschrak sie furchtbar. Sie hatte erwartet, daß Everett erleichtert sein würde – erleichtert, weil er nun seine einsame Reise gegen den Wind aufgeben konnte. Zu ihrem Entsetzen senste sie jedoch Wut, Frustration, Schuldgefühle, aber vor allem auch eine wachsende Mordlust... Sie schaute nicht von ihrem Papier auf und tat, als ob sie nichts bemerkt hätte, hielt aber ihren Schwanz bereit. In dem Augenblick, in dem sie an 54
Everetts Entschlossenheit sensen konnte, daß dieser ansetzen würde, sie umzubringen, registrierte sie kurz, wo er genau stand, und packte mit ihrem Schwanz sein Handgelenk. Sie zog kräftig daran, und im Sturmwind von Coriolis ist es nicht besonders schwierig, einen Menschen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Everett ließ im Fallen seine Pistole los, und Kazazi ergriff diese so rasch wie sie nur konnte. Danach rannte sie mit dem Passat im Rücken in gestrecktem Lauf zum Landefahrzeug zurück. Bevor sie dort ankam, stand sie einen Augenblick lang keuchend still, um sich zu überlegen, was sie Makombo erzählen sollte. Genau das, was tatsächlich geschehen war? Wenn ihr jemand erzählen würde, daß ein anderer Osbork sie lieber tot als lebendig sähe und einen Mord der Zusammenarbeit vorzöge, würde sie dies nie glauben. So etwas würde natürlich auch niemand erzählen, denn Telepathen können einander nicht so leicht etwas vormachen. Aber Makombo war kein Telepath. Würde er ihr glauben? Und wenn er ihr glaubte, wäre es dann nicht schrecklich für ihn? Was würde geschehen, wenn sie Makombo erzählen würde, daß auch Everett vom Dornenwerferstrauch getroffen worden sei? Von einem kleinen Dorn, so daß er noch eine Zeitlang hätte weiterlaufen können, dann aber bewußtlos hingefallen wäre? Und daß Fleischfresser sich dann natürlich über seinen Körper hergemacht hätten? Eine etwas unwahrscheinliche Geschichte, aber Makombo würde das wohl nicht beurteilen können. Und als >Beweis< würde sie ihm dann die Laserpistole geben, die sie sozusagen neben Everetts Leiche gefunden hatte... Tatsächlich wäre das nicht einmal besonders weit von der Wirklichkeit entfernt gewesen. Everett hatte ja nun keine Waffe mehr, und bei den vielfältigen Gefahren, die in der Natur von Coriolis lauerten, würde es eine Frage von Tagen sein, bis er aufgefressen würde. Wenn man so schlecht für den Kampf ums Überleben ausgerüstet war, wie die Menschen es zu sein schienen... Eigentlich war Everett tatsächlich so gut wie tot, aber eher durch ihre Schuld als durch die eines Dornenwerferstrauches. Es schien ihr besser, daß Makombo dies nicht erführe, denn möglicherweise würde er es ihr sonst übel nehmen! Entschlossen, zum ersten Mal in ihrem Leben zu lügen, setzte Kazazi den Rückweg zum Landefahrzeug fort. Als sie das Schiff betrat, traf sie Makombo zu ihrem großen Erstaunen in bester Verfassung an. »Du hast dich aber schnell erholt! Ich hatte erwartet, du würdest noch Wochen brauchen, um wieder ganz hergestellt zu sein!« 55
»Ach, wenn ich meine Sinne beieinander gehabt hätte, als du mich hierher brachtest, hätte ich dir gleich sagen können, was zu tun war. Dann hätte sich mein Zustand schon nach ein paar Stunden gebessert! Aber erzähl doch, Junge, was ist mit Everett?« Völlig nervös erzählte Kazazi die von ihr erfundene Geschichte. Menschen konnten doch hoffentlich nicht spüren, wenn man log? Zu ihrer großen Erleichterung glaubte Makombo ohne Vorbehalte, was sie ihm erzählte. Er schien eigentlich eher erleichtert über den Verlust seines Reisegenossen zu sein, und Kazazi war sich nun sicher, daß sie gut daran getan hatte, Makombo nicht die Wahrheit zu erzählen. Der Mensch fing jedoch an, sich nach den Details zu erkundigen, und das machte sie nervös – möglicherweise würde sie sich noch verplappern! Sie zog sich mit ein paar oberflächlichen Antworten aus der Affäre und fragte ihn dann, um vom Thema abzulenken: »Was hätte ich denn tun sollen, als ich dich hierher brachte?« »Oh, das! Nun, schau dir dies hier einmal an.« Makombo führte sie zu einer kleinen Tür in einer der Wände der großen Kabine und öffnete sie. »Wenn sich ein Mensch in diesen Behälter legt, beginnt sofort eine große Anzahl der verschiedensten Instrumente, an ihm zu arbeiten. Alles an ihm, was nicht genauso ist, wie es sein muß, wird verändert, und das Instrument läßt dich erst dann wieder gehen, wenn du wieder völlig gesund bist. Wir nennen dies einen Autodoc.« Makombo nahm ein Messer und zeigte es Kazazi. »Eine kleine Demonstration«, sagte er und ritzte sich am linken Unterarm. Dann legte er sich in das kleine Kämmerchen und schloß die Tür. Fünf Minuten später öffnete sich die Tür wieder, und Makombo hielt Kazazi seinen Unterarm zur Begutachtung hin. Kazazi sah zu ihrer Überraschung, daß an der Stelle, wo zuvor der Schnitt gewesen war, jetzt nur noch ein dünner weißer Strich zu sehen war. »Laß mich bitte auch mal da hinein, Makombo!« bat sie ihn begierig. »Ich habe eine Blase auf der Hand, die noch immer weh tut, und das Ding kann daran sicher auch etwas tun!« »Tut mir leid, mein Bester, aber das würde dein sicherer Tod sein. Wenn du dich dort hineinlegst, versucht der Autodoc, einen >gesunden Menschen< aus dir zu machen, nicht einen gesunden Osbork. Ein Mensch sollte keinen Schwanz haben, also würde er ihn dir amputieren. Dein Pelz paßt nicht zu einem Menschen, also würde er auch diesen beseitigen, und so weiter. Du hast Organe, die ein Mensch nicht hat, dein Blut ist anders als das unsrige... Nichts würde von dir übrig bleiben, Junge, wenn das Ding dich erst einmal in seinen Klauen hätte!« 56
Da ließ Kazazi den Gedanken doch lieber fallen... Nachdem Makombo nun wieder völlig gesund war, konnten sie ernsthafte Pläne für die Reise nach Westen schmieden, und sie taten dies mit einer Hingabe, die zeigte, daß es dabei für beide um mehr ging als nur um eine beliebige unvermeidliche Reise. Kazazis Karte wurde stundenlang studiert, und alle Vor– und Nachteile der verschiedenen Routen wurden sorgfältig durchgesprochen. Anfänglich war Kazazi daran gelegen, möglichst der warmen Küste des nördlichen Kontinents zu folgen. Dies war das wärmste Gebiet, und außerdem würden dort die meisten Pflanzen wachsen. Somit würde man dort auch viele Plattiere finden, und mit Hilfe von Makombos Laserpistole ab und zu auch einen dieser köstlichen Meuchelmörder... Makombo wollte jedoch lieber etwas weiter nördlich reisen. Dort war die Temperatur für ihn erträglicher. Außerdem würde es dann an manchen Stellen vielleicht sogar Schnee geben... Kazazi fragte ihn, was das sei und warum es von so großem Vorteil sein sollte. Darauf zeichnete Makombo einen Schlitten mit einem großen Segel darauf. Kazazi schaute das Ding staunend an, blieb aber der Idee gegenüber, so weit nach Norden zu reisen, ziemlich skeptisch. »Erstens weiß ich gar nicht, ob der Passat so weit nördlich überhaupt noch weht«, eröffnete sie ihm. »Und außerdem müssen wir dann wirklich sehr weit in den Norden. Ob dies uns für die Verkürzung der Reise etwas einbringt, möchte ich bezweifeln. Außerdem wäre es mir dort ziemlich kalt, und schlage dir am besten gleich jetzt aus dem Kopf, daß du mir jemals solch eine zusätzliche Schicht von Fellen anziehen könntest!« Als sie sich schließlich für einen Kurs entschieden hatten, der etwas nördlicher von der Route lag, die Kazazi sich ursprünglich vorgenommen hatte, mußten die näheren Einzelheiten noch besprochen werden. Die Reise würde sie viele Kilolängen durch Steppengebiet führen, wo nur wenige Plattiere lebten. Zwar gab es dort Braune und Rote Springer im Überfluß, aber diese schmeckten nicht so gut, und sie waren für Osborks viel zu schnell. Die meisten anderen Tiere, die in diesen Landstrichen lebten, waren klein, und Kazazi würde daher öfter als einmal innerhalb von zwei Tagen auf die Jagd gehen müssen. Makombo wies sie darauf hin, daß kein Springer so schnell wie seine Laserpistole sein konnte und daß in den Steppen auch die schmackhaften Meuchelmörder zu finden seien. Als er außerdem eine Zeichnung von einem Ding anfertigte, das er einen >Segelwagen< nannte, der nach seinen Worten dreimal so schnell wie ein rennender Osbork fahren konnte, falls man sich auf relativ ebenem Gelände bewegte, wurde der Vorschlag für Kazazi annehmbarer. 57
Diese Route hatte, wie sie zögernd zugeben mußte, noch einen anderen Vorteil. Ihr eigener Plan hätte sie durch ein weitläufiges Gebirge geführt. Und wegen des Turbineneffekts in den Tälern würde der Wind dort wirklich unvorstellbar stark sein. Sie hatte von Passatfolgern Geschichten über Durchquerungen von Gebirgen gehört und einen großen Widerwillen dagegen entwickelt. Die Route durch das Steppengebiet war zwar weniger bekannt, dafür würden die Bergketten im Norden aber nicht so breit sein. Andererseits... wurden die Steppengebiete nicht von Nomaden unsicher gemacht? Makombo besaß zwar eine Laserpistole, aber über die Grausamkeit dieser Landstreicher gingen die entsetzlichsten Geschichten um... Je länger Kazazi über die verschiedenen Routen nachdachte und über das, was sie jeweils erwartete, um so mehr Widerwillen entwickelte sie gegen die ganze Reise. Sie würde es einfach Makombo überlassen, beschloß sie. Dieser schien genau zu wissen, was er wollte. Da blieb noch das Problem des Segelwagens. Dieses Ding konnte jetzt nicht gebaut werden, denn dazu war der Boden hier viel zu dicht bewachsen. Bis zu den Steppengebieten waren es sicher noch gut tausend Kilolängen, und erst dort würden sie einen solchen Wagen benutzen können. Makombo stellte eine Liste all dessen auf, was er brauchte, um das Ding zu bauen. Eine Sitzfläche, auf der sie beide sitzen könnten, könnten sie später an Ort und Stelle flechten. Aus den Schwingen eines Segelschwärmers, den Makombo im Fluge abschießen wollte, sollte ein Segel angefertigt werden. Das Tier dürfte nur nicht in allzu großer Entfernung von ihrem Standort herunterfallen. Taue wären auch kein Problem, solange sie Serpentinenpflanzen fänden. Achsen, Mast und Räder hingegen verursachten ihnen einiges Kopfzerbrechen. Räder und Achsen konnte Makombo zwar aus dem Material des Landefahrzeuges herstellen – obgleich schon ein großer Teil davon bei der Herstellung des Zugkarrens verbraucht worden war, den Everett mitgenommen hatte. Aber wenn sie diese Teile jetzt schon herstellten, würden sie sie über achthundert Kilolängen oder noch weiter mitschleppen müssen, und beide sahen ein, daß dies unmöglich war. Diesmal fand Kazazi die Lösung. Sie überredete Makombo, mit ihr zu den Kriechwurzelsträuchern zu kommen, die in der Nähe wuchsen, und zeigte ihm, daß der Hauptstamm ein fast gerader Pfahl war, der genau in Windrichtung von Osten nach Westen wuchs. »Die Hauptachsen der Windmühlen in meinem Dorf sind auch daraus gemacht«, erzählte sie. »Mit unseren Messern dauert es eine Ewigkeit, bis wir ein langes gerades Stück abgeschnitten haben, denn dieses Holz 58
ist härter als jedes andere, das wir kennen. Aber wenn es dir ein paar stumpfe Messer und viel Zeit wert ist, hast du gutes Material. Mit deiner Laserpistole müßte es doch leicht sein, genau die Stücke abzuschneiden, die du benötigst.« »Hmm. Wenn du dir sicher bist, daß diese Sträucher auch weiter nördlich wachsen...« »Soweit ich weiß, schon, genauso wie die Serpentinensträucher. Sie wachsen zwar nicht mehr am Rand der großen Ebenen, bestimmt aber etwa hundert Kilolängen vorher. Dann brauchen wir zumindest die Taue und Achsen nicht tausend Kilolängen weit zu schleppen!« Sie brauchten also nur noch die Metallräder mitzunehmen – und natürlich das Gepäck. Dazu gehörte auch eine Kiste für die Plumpssamen, und es war naheliegend, einen kleinen Karren zu bauen, auf den die Kiste paßte. Den würden sie durch das bewachsene Gelände hinter sich her ziehen. So trugen auch die Räder zur Erleichterung der Reise bei, anstatt eine erschwerende Belastung zu sein, und windabwärts konnte man so ein Ding natürlich ohne große Schwierigkeiten ziehen. Sie wollten nach Norden und nach windabwärts. Ein nordwestlicher Kurs war daher das Naheliegendste. Makombo fragte sich, was sie in den Stunden tun sollten, in denen die beiden Sonnen hinter dem Horizont verschwanden; denn dann war es jeweils eine Stunde stockdunkel. Kazazi versicherte ihm jedoch, daß die dunklen Stunden auf Coriolis sozusagen die einzig sicheren Zeiten seien. Kein Tier wage es, sich in der vollkommenen Finsternis zu bewegen, und wenn sie selbst still sitzen blieben, könnten ihnen auch die Pflanzen nichts anhaben. »Ehrlich gesagt, mache ich mir die größten Sorgen wegen der Zeit, in der zwar die Rote Sonne untergegangen ist, die Blaue aber noch nicht. Dann gibt es zwar nur wenig Licht, jedoch genügt es manchen Nachttieren zum Jagen, und unter ihnen gibt es ziemlich gefährliche Biester.« »Wie hast du das denn bis jetzt gemacht?« »Einfach darauf gehofft, daß ich Glück habe, und der Passat ist bis jetzt auf meiner Seite gewesen...« »Glücklicherweise reisen wir jetzt zu zweit und brauchen nicht mehr so ausschließlich auf unser Glück zu vertrauen. Schau!« Makombo zeigte Kazazi seine Armbanduhr. »Darin ist ein Wecker. Wie wäre es, wenn wir während der Roten Nächte folgendes täten: Jedesmal, wenn die Blaue Sonne in einer Roten Nacht über dem Horizont steht, halte zunächst ich eine Stunde lang Wache. Nach dieser Stunde geht die Blaue Sonne unter, und wir können beide schlafen. Ich stelle dann, wenn ich mich schlafen lege, den Wecker auf eine Stunde später ein und lege das Ding ne59
ben das Funkgerät. Wenn die Blaue Sonne wieder aufgeht, weckt dich der Wecker über deinem Ohrhörer. Dann hältst du eine Stunde lang Wache, und wenn du dich schlafen legst, stellst du den Wecker auf eine Stunde später ein und legst das Ding direkt neben mein Ohr. Dann werde ich wieder wach, nachdem ich drei Stunden geschlafen habe, und halte wiederum eine Stunde lang Wache usw., bis die Rote Sonne wieder aufgeht.« Ein komplizierter Plan, aber auf diese Weise brauchte jeder von ihnen während einer zwölfstündigen Nacht nur dreimal jeweils eine Stunde Wache zu halten. Das System schien ziemliche Sicherheit zu garantieren! Kazazi war mit dem Vorschlag voll und ganz einverstanden. Als der kleine Zugkarren fertig war, wurde das Gepäck aufgeladen. Makombo behielt die Nahrungstabletten in seiner Tasche: Schon einmal war er von seinem Gepäck getrennt worden, und wenn dies wieder geschähe, könnte dies innerhalb von wenigen Tagen seinen Hungertod bedeuten. Dieses Risiko wollte er nicht noch einmal eingehen. Die sonderbaren Dinger waren so klein, daß er einen Vorrat für hundertfünfzig Tage in einer Anzahl von Druckfolien in der Tasche mitnehmen konnte. Kazazi betrachtete sie mit gemischten Gefühlen. Die Tablettennahrung erschien ihr zwar praktisch, aber selbst zu jagen, machte doch eigentlich viel mehr Spaß. Makombo hätte am liebsten sein gesamtes Gepäck am Körper getragen, wie er Kazazi erklärte, aber ein Geigerzähler ist schwer, und ein Bleibehälter natürlich noch wesentlich schwerer. Kazazi bemerkte zu ihrer Genugtuung, daß vier Schreibblöcke und eine Anzahl von Reserveschreibstäbchen auf dem Wagen lagen. Ihr Mensch sorgte hervorragend für sie! Sie wollte sich dafür erkenntlich zeigen und schaute gründlich nach, ob Makombo nicht vielleicht selbst etwas vergessen hatte. Und tatsächlich, so war es! »He, Makombo! Deine Zigaretten! Oder sind sie aufgebraucht?« »O nein, sie sind nicht aufgebraucht... Aber ich dachte ... Ich habe jetzt eine Woche lang nicht geraucht, während ich mich von diesen Dornen erholt habe. Und es ist mir gelungen, sie danach nicht wieder anzurühren... Ich will versuchen, damit aufzuhören, weißt du. Dies scheint mir eine gute Gelegenheit zu sein...« Kazazi senste die verbissene Entschlossenheit, und sie verstand das nicht so recht. Was mochten das nur für komische weiße Stäbchen sein, daß sie jemanden wie Makombo so sehr in ihren Bann schlagen konnten? 60
Zweiter Teil Die Reise
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8.
Biologieunterricht
Kazazi merkte, daß sie die Reise zu den Steppen genoß. Sie hatte nun selbst viel mehr Erfahrung im Jagen (und auch darin, nicht selbst gejagt zu werden!) als damals, als sie gerade ihr Dorf verlassen hatte, und ihr Reisegefährte war eine Garantie dafür, daß sie die meisten Gefahren ohne große Mühe bewältigen konnte – oder besser gesagt: die Pistole ihres Reisegefährten. Von Makombo selbst hatte sie, zumindest in dieser Phase der Reise, nicht viel. Der Mensch konnte zwar schnell laufen, wurde aber lächerlich schnell müde, und sein normales Tempo war so langsam, daß sie pro Tag höchstens vierzig Kilolängen zurücklegen konnten. Und das schien für ihn immer noch viel zu sein! »Tja, Kazazi, bei diesem Seitenwind! Wenn wir Rückenwind hätten, könnten wir vielleicht fünfzig Kilolängen pro Tag schaffen!« Kazazi ließ sich lieber nicht anmerken, daß dieses Schneckentempo sie einfach müde machte. Es sah ganz so aus, als ob ihre Reise zumindest in dieser Phase sehr viel länger dauern würde, als wenn sie allein gewesen wäre. Aber ihre Chance, die Reise zu überleben, war nun natürlich auch viele Male größer. Jedenfalls langweilten sie sich nicht. Überlebende Passatfolger pflegten nach der Rückkehr in ihr Heimatdorf ausführlich von ihren Reisen zu erzählen. Bei diesen Erzählungen hatte Kazazi an vielen Abenteuern so lebendig teilgenommen, daß es ihr fast so schien, als hätte sie sie selbst erlebt. Und trotzdem war es etwas völlig anderes, vieles von dem, was sie nur vom Hören–Denken kannte, nun in der Realität zu sehen. »Schau!« Sie hielt Makombo zurück und zog ihn auf den Boden. »Dort! Ein Meuchelmörder, der einen Braunen Springer jagt!« Makombo entdeckte den Braunen Springer ziemlich schnell. Das Tier lag auf dem Bauch, und mit seinem langen, geschmeidigen Hals graste es alles Grün in einem weiten Umkreis um sich ab. Es dauerte jedoch eine Weile, bis Makombo das ausgezeichnet getarnte Raubtier sah, das sich sehr langsam windaufwärts kämpfte, indem es um den grasenden Springer einen Bogen beschrieb. Ungefähr fünfzehn Längen nordöstlich von der Beute entfernt erhob er sich plötzlich und sprang mit unglaublicher Geschwindigkeit den Pflanzenfresser an. Aber dann sah Makombo, daß Springer ihren Namen nicht zu Unrecht tragen. Der Meuchelmörder hatte erst zwei Sprünge gemacht (jeweils über drei bis vier Längen), als das andere Tier seine zieharmonikaartigen Pfoten streckte und einen Riesensatz machte, schräg gegen den Wind 62
und ungefähr drei Längen von der Startposition entfernt. Danach verschwand es mit kollosalen Zick–Zack–Sprüngen rasend schnell windabwärts, verfolgt von dem Meuchelmörder. »Das wird ihm nicht mehr gelingen«, sagte Kazazi zufrieden. »Wenn ein Springer einmal einen Vorsprung hat, läßt er sich nicht mehr fangen.« »Hätte sich der Meuchelmörder nicht besser windabwärts gehalten, bis das Tier beim Grasen dicht an ihm vorbeigekommen wäre? Das Tier wird doch wahrscheinlich auch dem Wind folgen, wenn es nicht in Gefahr ist?« Kazazi sah ihren Freund ehrerbietig an. Dieser Mensch fing an, eine ganze Menge zu verstehen! »Das tun Meuchelmörder tatsächlich manchmal, aber dann ist es immer noch eine Frage von Glück, denn Springer bewegen sich oft auch schräg windabwärts. Übrigens sind Meuchelmörder fast immer hungrig, und ich vermute, daß dieser hier einfach keine Geduld zu einem solchen Glücksspiel hatte.« Ein anderes Mal hielt sie Makombo an, um ihn auf einen stark zugespitzten Kopf hinzuweisen, der aus dem Boden hervorschaute, und dessen kleine Augen suchend um sich blickten. Etwas weiter schräg windabwärts grasten ein paar Plattiere, und das merkwürdige Wesen beobachtete diese schon seit längerem. Dann verschwand der Kopf wieder. »Das mußt du dir anschauen, Makombo! Achte ungefähr fünf Längen windaufwärts von den Plattieren genau auf den Boden!« Nach etwa fünf Minuten erhob sich an der Stelle, die Kazazi bezeichnet hatte, der gelbliche Kopf wieder aus dem Boden. Das Tier schaute kurz zu den Plattieren hinüber, kroch dann weiter aus dem Boden heraus und breitete die Segelhäute aus, die direkt hinter seinem Kopf saßen. Sogleich erfaßte der Passat sie und mit einem Ruck wurde der schlangenartige Leib aus dem Boden gezogen. Das Tier hatte offensichtlich gut gezielt, denn es wurde genau gegen eines der Plattiere geworfen. Sogleich schlossen sich die Nackenhäute, und die Erdschlange wickelte sich um ihre Beute. Sie mußte über unglaubliche Kräfte verfügen, denn innerhalb weniger Minuten brach der Panzer des Plattieres in Stücke. Mit einem leichten Schaudern fragte Makombo: »Jagen diese Tiere auch manchmal Menschen... äh... ich meine Osborks?« »Erdschlangen? Ja! Aber man braucht sie dann nur hinter dem Kopf zu packen und an den Nackenhäuten zu ziehen. Dann lassen sie sofort los. Und da man meistens eine Hand frei hat, wenn sie angreifen, gelingt dies fast immer. So groß sind sie auch nicht, mußt du wissen. Diese hier ist schon ziemlich groß; länger als eine ganze Länge werden sie nie. Sie 63
sind also auf die kleineren Tierarten angewiesen.« Makombo schien zwar noch nicht ganz beruhigt zu sein, aber er beließ es dabei. Es gab natürlich auch weniger dramatische Aspekte der Natur, und weil Kazazi merkte, daß Makombo sehr interessiert an allem war, was sie über Coriolis zu erzählen wußte, zeigte sie ihm immer wieder neue Dinge. »Siehst du den spitzen Hügel dort drüben? Das ist nur ein kleines Exemplar, manchmal werden sie ungefähr eine Länge hoch.« »Seltsam, daß diese Dinger nicht vom Sturm abgetragen werden!« »Das werden sie schon, aber sie werden immer wieder erneuert. In diesem Hügel befinden sich unzählige kleine Tierchen, die eine Art Baustoff ausscheiden. Der Hügel ist porös, und der Sturm bläst ständig durch ihn hindurch. Alles, was der Wind mit sich trägt, dient diesen Tierchen als Nahrung.« Ein Stück weiter entdeckte Makombo ein anderes hügelartiges Ding, das jedoch nur ungefähr eine halbe Länge hoch war. Als er es berührte, gab es nach. Erstaunt sah er Kazazi an. »Nein, das ist wieder etwas anderes«, beantwortete sie Makombos unausgesprochene Frage. »Dies ist ein Schwamm. Er ernährt sich genauso wie die Hügelbauer, ist aber ein Ganzes und keine Ansammlung von einzelnen kleinen Tierchen. Wir nennen sie >Siebenschwämme<.« Ein anderes Mal hatte Makombo ein Stück windaufwärts von ihrem eigenen Standort einen jungen Meuchelmörder getötet. Als Kazazi fast bei dem soeben erlegten Tier angekommen war, sauste etwas blitzschnell an ihnen vorbei, und plötzlich war Kazazis Festschmaus verschwunden. Völlig überrascht schaute sie windabwärts und sah dort einen Segelschwärmer, der mühsam seine riesigen Flügeln schlug und versuchte, sich wieder in die Höhe zu kämpfen. Makombo konnte sich kaum halten vor Lachen. Als er schließlich wieder sprechen konnte, fragte er, was dies nun wieder gewesen sei. Kazazi ärgerte sich ein wenig, denn junge Meuchelmörder schmeckten viel besser als Plattiere, aber sie sah auch das Komische an der Situation und erklärte Makombo, daß es drei Arten von Segelschwärmern gäbe: die pflanzenfressende Art, die nur selten auf den Boden kommt und sich von fliegenden Samen und Pflanzenresten ernährt, außerdem die Art, die sich von kleinen Tieren ernährt und diese mit ihrem großen Schnabel im Sturzflug vom Boden holt (unter dem Schnabel befindet sich 64
ein Beutel, in dem die Beute lange aufbewahrt werden kann und schon vorverdaut wird), und schließlich die Art, zu der das Tier gehörte, das ihr soeben zuvorgekommen war. Mit seinem langen spitzen Schnabel spießt es kleine bis mittelgroße Tiere auf, und diese nimmt es dann mit sich fort. Daß diese Segelschwärmer mitunter auch ein viel zu großes Beutetier erwischen, hatte sich soeben gezeigt. »Aber wie kann er denn nur fressen? Sein Schnabel steckt doch in seiner Beute?« »Segelschwärmer fliegen meist in Gruppen. Wenn dieses Tier wieder bei seiner Gruppe ist, picken alle anderen den Kadaver von seinem Schnabel. Die Stücke, die dabei herabfallen, fangen sie in der Luft auf, bevor sie noch auf den Boden fallen können. Segelschwärmer sind unglaublich gute Flieger!« Das wollte Makombo gerne glauben. Um Kazazi für ihre verpaßte Mahlzeit zu entschädigen, wollte Makombo kurze Zeit später auf einen windabwärts grasenden Roten Renner schießen, aber Kazazi hielt ihn davon ab. »Das ist doch sinnlos, Mann! Wenn du dieses Tier tötest, zieht es automatisch seine Klauen ein, und dann wird es vom Wind fortgeweht – etwas zu töten, daß man doch nicht essen kann, hat doch wirklich keinen Sinn, nicht wahr?« Beschämt wandte Makombo ein, daß der Sturmwind für ihn allmählich so normal geworden sei, daß er manchmal überhaupt nicht mehr daran dächte. »Übrigens, es wird wahrscheinlich öfter vorkommen, daß ein totes Tier vom Wind weggeblasen wird. Was geschieht denn dann damit?« Kazazi beschrieb eine Reihe von Aasfressern, die ihr bekannt waren. Diese hatten alle gemeinsam, daß sie sich mühsam gegen den Wind ankämpften und ständig darauf warteten, daß ihnen etwas sozusagen vors Maul geweht wurde. Wenn sie sich abends von der Tagesreise ausruhten, erzählte Makombo manchmal stundenlang von seiner eigenen Welt und von seinem Leben vor Coriolis. Die >Erde<, von der dieser Mensch kam, war wohl eine sehr merkwürdige Welt. Dort gab es zwar auch Wind, wie Makombo erzählte, aber der war manchmal stark und dann wieder schwach oder gar nicht vorhanden. Und der Wind konnte aus allen Richtungen kommen und innerhalb von Minuten seine Richtung ändern! Das muß eine furchtbare unsichere Welt sein, dachte Kazazi, aber die Menschen schienen dies nicht so zu sehen. »Fast alle gefährlichen Tiere in der Natur sind von uns ausgerottet worden«, erzählte Makombo. »Leider auch viele ungefährliche übrigens. Ich wünschte, daß ich dir dies alles einmal zeigen könnte, Kazazi!« 65
»Wie sieht denn deine Welt aus?« wollte Kazazi wissen. Aber das war nicht einfach zu beschreiben, denn auf der Erde gab es so viele verschiedene Gebiete – eigentlich genau wie auf Coriolis. Makombo erzählte von Sansibar, der Insel, auf der er geboren war. Sein Vater war dort der Besitzer einer großen Plantage gewesen, und Makombo hatte seine Kindheit in Luxus verlebt. Deshalb hatte er auch als einer der wenigen >Afrikaner< – so wurden die Menschen aus seinem Land genannt – auf einer >weißen< Universität studieren können, und dies war der Anfang seiner Ausbildung zum Sternenschiff–Piloten gewesen. Plantage? Weiße? Universität? Fast jeder Satz in Makombos Geschichten enthielt so viele Worte, die eine Erklärung erforderten, daß eine Geschichte die andere ablöste. Nein, während all der Abende auf ihrer Reise langweilten Kazazi und ihr Mensch sich selten. Eigentlich nur, wenn es regnete. Denn dann konnte Kazazi nicht ihr Papier benutzen. Das erste Mal, als sie dies bei Regen probierte, wurde der ganze Schreibblock dick und pappig und so grob und brüchig, daß sie nicht mehr darauf schreiben konnte. Als Makombo sah, was sie tat, riß er ihr den Schreibblock aus den Händen und steckte ihn ein, so daß dieser nicht mehr mit dem Regen in Berührung kam. »Dummkopf! So wird doch der ganze Block unbrauchbar!« sagte er verärgert. »Du weißt doch, daß wir nur ein paar davon bei uns haben. Du solltest wirklich etwas vorsichtiger damit umgehen!« Kazazi spürte, daß sie selbst nun auch wütend wurde. Woher sollte sie denn wissen, daß das blöde Zeug nicht einmal ein bißchen Wasser vertragen konnte? Sie hätte Makombo gerne klargemacht, daß er ihr dies auch vorher hätte sagen können, und wahrscheinlich hätten Sie dann einen heftigen Streit bekommen – aber sie konnte Makombo ohne Zeichenpapier nichts mitteilen. Sie drehte sich deshalb demonstrativ auf die andere Seite und schlief ein. Am nächsten Tag zeigte Makombo ihr, daß er den Schaden am Schreibblock in Grenzen gehalten hatte, indem er sich während der Nacht daraufgelegt hatte, und Kazazi beließ es dabei. So vergingen die Tage und die Wochen. Makombo wunderte sich, daß sie in der ganzen Zeit noch keinen einzigen anderen Osbork gesehen hatten, geschweige denn eine Niederlassung, aber Kazazi fand dies nicht weiter verwunderlich. Auf einer südlicheren Route hätten sie sicher schon einige Dörfer gesehen. Die Gegend, durch die sie reisten, war hingegen ziemlich dünn besiedelt. Dann wurde die Vegetation spärlicher, und in der Ferne wurde leicht an66
steigendes Flachland sichtbar. Jetzt mußten sie nach einem Kriechwurzelstrauch suchen, der lang und alt genug war, um einen Mast und Achsen für ihren Segelwagen liefern zu können. Eigentlich hatten sie schon etwas zu lange damit gewartet. Schließlich mußten sie eine Tagereise zurück nach Südosten, bevor sie fanden, was sie suchten. Das Herauslösen der erforderlichen Pfähle war nicht so schwierig. Kompliziert war es, die langen Dinger ins Flachland zu transportieren. Aber schließlich gelang ihnen auch dies, so daß sie nun nur noch auf einen Segelschwärmer warten mußten. Makombo wußte, daß es sinnlos war, eines dieser Tiere aus großer Höhe herunterzuholen – es würde hundert Kilolängen entfernt zu Boden fallen – deshalb mußten sie versuchen, einen dieser Segler herunter zu locken. Sie erlegten also einen jungen Renner, der klein genug war, um das Interesse eines Segelschwärmers zu erwecken. Ein Plattier würde solch ein Tier nicht interessieren, denn den Panzer eines Plattieres konnten die Beutelschnabelschwärmer nicht verdauen, und die Spitzschnabelschwärmer hüteten sich, ihre Schnäbel daran zu zerbrechen. Nach einigen Stunden geduldigen Wartens sahen sie, wie sich hoch oben am Himmel aus einer Gruppe von Punkten ein einzelner herauslöste. Aus diesem Punkt wurde ein Flecken und dann schließlich ein Tier, das sich mit unglaublicher Geschwindigkeit im Sturzflug näherte. Makombo erschoß es, als es eben zustieß, so daß es sich mit einem gewaltigen Aufprall (den er zwar nicht hören, wohl aber sehen konnte) in den Boden bohrte. Es war ein Spitzschnabelschwärmer. Als sie den Schnabel des Tieres aus dem Boden gezogen hatten, schien dieser unbeschädigt zu sein – offensichtlich war der Boden nicht sehr hart gewesen. Deshalb schnitten sie nicht nur die Flügel sondern auch den Schnabel des Seglers ab. Kazazi wußte, daß diese Dinge in vielen Osborkdörfern von großem Wert waren. Das Bauen des Segelwagens erforderte zwei Tage. Es dauerte eine Weile, bis sie Zweige gefunden hatten, die so biegsam waren, daß man sie flechten konnte, und weil sie nicht gerade das ideale Material dazu benutzten, löste sich das Ganze an den Rändern immer wieder auf. Makombo, der die Flechtarbeit übernahm, während Kazazi für ihn die Zweige suchte, zweifelte daran, ob der Osbork auch wirklich verstand, was er genau benötigte, und begleitete deshalb nach einer Weile Kazazi bei der Suche, um ihr zu zeigen, welche Zweige er brauchen konnte. Dabei stießen sie auf ein riesiges Spinnennetz, und als Makombo versuchte, die 67
Fäden zu zerreißen, schnitt er sich tief in einen Finger. Fassungslos starrte Makombo auf das heraustropfende Blut und sah Kazazi an. »Wußtest du, daß diese Spinnweben so stark sind?« fragte er mit einem wütenden Unterton. »Ja, natürlich!« antwortete Kazazi, die sich keiner Schuld bewußt war. »Wie sollten die Spinnweben sonst den Sturm überdauern können?« »Und davon hast du mir nichts erzählt?« Makombo wurde nun wirklich wütend. »Erinnerst du dich, verdammt noch mal, an all die Mühe, die wir hatten, aus den Serpentinen Taue zu machen? Und hast du nicht gesehen, wie schwierig es ist, ein Flechtwerk zusammenzuhalten?« »Ja, natürlich weiß ich das!« Kazazi wurde nun ebenfalls zornig denn Makombo sollte jetzt bloß nicht so tun, als ob alles ihre Schuld wäre. »Und die ganze Zeit über wußtest du von diesen Spinnweben und hast nichts davon gesagt!« Kazazi verstand allmählich, was Makombo so wütend machte, und sie sah ein, daß ihr Mangel an technischem Durchblick und an Kombinationsvermögen für den technisch versierten Makombo unbegreiflich sein mußte. Aber inzwischen war sie selbst zu wütend, um vernünftig darauf reagieren zu können, und sie lief mit hocherhobenem Schwanz zu einer Gruppe von Sträuchern, an denen sich ein paar junge Zweige befanden. Der Endhaken ihres Schwanzes war gerade nach vorne gestreckt! So war das also! Sie würde Makombo zwar weiterhin bei seinem dummen Segelwagen helfen, aber reden würde sie mit diesem Menschen niemals mehr! So brauchte sie sich nicht behandeln zu lassen... Schweigend bauten sie an dem Fahrzeug weiter. Gegen Ende des Tages erlegte Kazazi ein Plattier, obwohl sie eigentlich noch gar keinen Hunger hatte. Dies war eine gute Gelegenheit, Makombo zu zeigen, daß er ihr keine Gunst mehr zu erweisen brauchte. Nein, danke! Nach dem Essen kam sie wieder zurück. Die Rote Sonne war untergegangen, und die Blaue auch schon fast. Es wurde sehr dunkel, und Kazazi fühlte sich schon lange nicht mehr wütend, sondern eher traurig. Sie senste, daß Makombo ebenfalls vom Streiten genug hatte, und kroch etwas dichter zu ihm. Da spürte sie eine kraulende Hand hinter ihrem rechten Ohr.
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9.
Auf der Ebene
Die Rote Sonne war am nächsten Morgen gerade erst über dem Horizont aufgestiegen, als sie sich zum Aufbruch fertig machten. Segeln auf einem Segelwagen ist ein schwieriger Sport. Makombo hatte überhaupt keine Erfahrung damit, und Kazazi hielt es für eine lebensgefährliche Angelegenheit und konnte ihm vorläufig nicht im geringsten behilflich sein. Außerdem war Segeln bei Windstärke neun über eine ziemlich unebene Oberfläche etwas, was viele erfahrene Segler sogar mit einem relativ kleinen Segel nicht so schnell gewagt hätten. Makombo hatte die Abreise so früh angesetzt, um für die ersten Übungen einen vollen Tag zur Verfügung zu haben. Den sie unbedingt benötigten, bevor sie sich endgültig auf die große Ebene wagen konnten. Kazazi hielt sich zitternd an der Bleikiste fest. Bewegung, bei der man sich nicht selbst bewegte, war eine völlig neue Erfahrung für sie, und mit einer Mischung aus Bewunderung und Erstaunen schaute sie Makombo zu, während dieser, das kleine Segel am Mast hißte. Als Schoten dienten Serpentinentaue, denn der dünne Spinnwebenfaden war zu scharf, als daß man ihn mit den Händen hätte benutzen können. Die Spinnwebe konnte hervorragende Dienste für die Stagen leisten und auch als Verstärkung des Zweigeflechtwerks dienen. Am Anfang enttäuschte der Segelwagen Kazazi ein wenig. Der Wagen holperte entsetzlich; alles, was darauf lag, rumpelte und schoß jedesmal hoch, wenn sie über eine unebene Stelle fuhren. Und das Tempo war langsamer als Makombos normales Marschtempo... Dies änderte sich jedoch bald, nachdem Makombo das Manövrieren in den Griff bekommen hatte. Der Wagen fuhr immer schneller, und Kazazi wurde allmählich klar, daß diese Art zu reisen tatsächlich eine Menge Reisezeit einsparen konnte. Der Segelwagen erreichte schon jetzt eine Geschwindigkeit, die Kazazi sogar mit ihrem schnellsten Trab nicht hätte mithalten können, und immer noch wurde das Ding schneller und schneller... Plötzlich geriet Kazazi in Panik. Eine so hohe Geschwindigkeit konnte doch niemals beabsichtigt sein! Sie schlug hinter dem Wagen ihren Schwanz mit dem Endhaken in den Boden... und im gleichen Augenblick flog sie mit einem unglaublichen Ruck durch die Luft. Der Segelwagen war sofort ein ganzes Stück weiter, und nur Makombos Geistesgegenwart war es zu verdanken, daß dieser sofort das Segel fallen ließ, den Wagen, so schnell er konnte, mit einer halben Drehung wendete, und sich, als dieser stand, zu Fuß zu Kazazi durchkämpfte. 69
Inzwischen blieb Kazazi benommen liegen. Ihr Schwanzansatz schmerzte furchtbar, und ihre Bruchlandung hätte ihr am ganzen Körper Prellungen eingebracht. Der Schwanz eines Osborks kann glücklicherweise einiges aushalten, aber dies war nun doch etwas zuviel gewesen. In den nächsten Tagen würde sie mit Sicherheit nicht auf ihrem Hinterteil sitzen können! Während Makombo noch auf dem Weg zu ihr war, erholte sich Kazazi ein wenig. Sie hörte ununterbrochen seine Stimme in ihrem rechten Ohr. Zu ihrer größten Verwunderung tobte er. Eine Verwünschung folgte auf die andere. Er schien keine besonders hohe Meinung von ihrer Intelligenz zu haben. Ob Kazazi denn völlig übergeschnappt sei? Ob er, wenn er Selbstmord begehen wolle, dies vielleicht ihm, Makombo, kurz mitteilen könne, damit er sich wenigstens darauf einstellen könne... Ob er denn noch nie vom Trägheitsgesetz gehört habe... Was Trägheit nun mit diesem viel zu schnellen Reiseding zu tun haben sollte, überstieg Kazazis Vorstellungsvermögen, aber die anderen Dinge, die Makombo sagte, verstand sie nur allzu gut. Offensichtlich war das, was sie getan hatte, dumm gewesen, obwohl es für sie die normalste Sache auf der Welt gewesen war. Wenn man als Osbork glaubte, man würde zu schnell, nun, dafür war doch der Endhaken schließlich da? Oh, Sturm, wenn Makombo ihr nur nicht für immer böse sein würde! Sie fühlte sich so elend, krank und zerschlagen, daß sie ihn jetzt mehr denn je brauchte. Endlich war Makombo in der Nähe angelangt. Und als er sich keuchend, schwitzend und mit einem furchtbar bösen Gesicht über sie beugte, um zu sehen, ob sie noch lebte, senste sie seinen Schrecken, seine große Besorgnis und seine grenzlose Erleichterung, als er ihr ängstliches Gesicht zu sich aufblicken sah. Trotz aller Schmerzen fühlte Kazazi sich plötzlich glücklicher als jemals zuvor. Er schimpfte sie zwar aus, dieser Mensch, aber trotz allem, was er zu ihr gesagt hatte, ließ sich nicht leugnen, daß er sie offenbar sehr gern hatte. So etwas kannte sie noch nicht. Bedingungslose Liebe oder vielmehr Freundschaft war ihr noch nie in ihrem Leben begegnet. Sie seufzte tief und ließ sich genußvoll von Makombo an seinen Körper drücken. Kazazi konnte die Strecke zum Segelwagen zwar auf ihren eigenen Pfoten zurücklegen, aber ihr Schwanzansatz schmerzte so stark, daß sie diesen Körperteil nicht hochhalten konnte. Makombo rollte den Schwanz deshalb wie ein Stück Seil auf und schlang ihn um seine Schultern. Er schlurfte hinter Kazazi her und begleitete sie zurück zum Segelwagen. Mit der vorsichtigen Bitte, ob Makombo vorläufig etwas langsamer segeln könne, streckte sich Kazazi schließlich sehr behutsam auf dem Wagen aus. Sie war etwas beunruhigt, denn sie wußte nicht, ob sie ernsthaften 70
Schaden erlitten hatte. An der Umgebung hatte Kazazi jetzt natürlich nicht das geringste Interesse mehr. Sie konzentrierte sich verbissen darauf, sich auf dem Segelwagen festzuhalten, ohne allzusehr durchgerüttelt zu werden. Gleichzeitig versuchte sie, sich an die irrsinnige Geschwindigkeit dieses verwehten Segeldings zu gewöhnen. Makombos Begeisterung über dessen Funktionsweise konnte sie nicht teilen. Was hatte man denn nur davon, wenn man sein Ziel schnell, aber todkrank erreichte? Erst ungefähr einen Tag später überwand Kazazi allmählich ihre Angst vor der Geschwindigkeit, und dann kam sie selbst auf den Geschmack. Sehr vorsichtig ließ Makombo sie schließlich ab und zu das Segel bedienen, und nach einer Weile konnten sie einander sogar regelrecht ablösen. So verstrichen die Tage, und tatsächlich legten sie relativ mühelos große Entfernungen zurück. Außer zum Jagen oder zum Schlafen brauchten sie auf der ganzen Steppenreise nur ein einziges Mal anzuhalten. Das war, als sie nach ungefähr Zweiundzwanzighundert Kilolängen an einem Osbork vorbeifuhren. Er lag scheinbar leblos mitten in der Steppe, aber als sie an ihm vorüberfuhren, bewegte es sich ein wenig, und Makombo ließ sofort das Segel fallen, warf einen Schleppanker aus. Inzwischen hatten sie das schnelle Anhalten immerhin so weit perfektioniert, daß sie nur noch eine halbe Stunde windaufwärts laufen mußten, um zu dem Osbork zu gelangen. Sie beratschlagten kurz, was zu tun sei. Kazazi hatte sich noch längst nicht genügend von ihrem verunglückten Bremsversuch erholt, um einen ausgewachsenen Osbork tragen zu können, aber Makombo würde dem Verwundeten nur Angst einjagen, da er zu keinerlei telepathischem Kontakt fähig war. Also beschlossen sie, gemeinsam auf Erkundung zu gehen. Der Osbork befand sich in einem entsetzlichen Zustand. Seine linke Vorderpfote stand in einem höchst ungewöhnlichen Winkel zu seiner Schulter, seine rechte Seite war stark aufgeschürft, und auf seinem Rücken war eine häßliche Fleischwunde zu sehen. Er hatte offenbar schon eine ganze Weile an dieser Stelle gelegen, und es grenzte an ein Wunder, daß noch kein Raubtier vorbeigekommen war. Mit Mühe konnte Kazazi ihren kaum bei Bewußtsein befindlichen Artgenossen beruhigen, daß alles wieder gut werden würde, wenn er nur eine halbe Kilolänge windabwärts mit ihnen kommen würde. Auf Makombo gestützt und immer wieder von Kazazi beruhigt gelangte der fiebernde Osbork zum Segelwagen, wo Makombo seine Schulter abtastete. 71
»Hmm. Ich weiß genau, was ihm fehlt«, brummte er nach einer Weile. »Das Vorderbein ist durch irgend etwas aus der Gelenkpfanne gerissen worden. Wahrscheinlich sind die Sehnen dabei verletzt worden. Das kann nur wieder heilen, wenn es eingerichtet wird. Aber wie soll ich, in Gottes Namen, ein Bein wieder in die Pfannen setzen, wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, wie das Gelenk normalerweise aussieht?« »In jedem Dorf gibt es jemanden, der dies tun kann«, wandte Kazazi ein. »Und mit einer solchen Fleischwunde muß er doch ohnehin so schnell wie möglich in ein Dorf gebracht werden.« »Weißt du vielleicht auch zufällig, wo hier das nächste Dorf ist?« gab Makombo gereizt zurück. Kazazi senste, daß Makombo nicht böse auf sie war, sondern frustriert wahrscheinlich, weil ihre doch ohnehin schon so komplizierte Reise nun auch noch mit einer weiteren Komplikation belastet wurde. Da drangen ganz schwache fiebrige Gedanken zu ihr durch. Der verwundete Osbork versuchte, ihr etwas klarzumachen. Durst... und Hunger... und Heimweh... Für Wasser konnte Makombo sorgen, denn sie hatten genug davon in ihrem Vorrat. Nahrung konnte sie selbst schnell beschaffen. Eine Stunde später kam der Kranke schon etwas mehr zu sich, allein dadurch, daß er nun etwas satter war. Telepathisch etwas zu erzählen, ist einfacher, als dies mit Worten zu tun, und deshalb konnte Kazazi Makombo schon bald berichten, was mit dem Osbork geschehen war. Sein Name war Nardov, und er war, genau wie sie, Passatfolger. Aber während Kazazi gerade erst am Anfang ihrer großen Reise stand, war er schon fast wieder zu Hause. Sein Dorf lag am Westrand der großen Steppen. Er hatte während seiner Reise um die Welt allen Gefahren getrotzt, und war daher auch in eine Art Übermut, in eine Triumphstimmung verfallen, als er am Rande der Steppen angekommen war. Nur noch die Steppen, die er durch seine Jagdzüge vom Dorf aus doch so gut kannte! Er hatte sich so gut gefühlt, während er über die Prärie stürmte, daß er gar nicht mehr windaufwärts geschaut hatte, ob dort etwa eine Gefahr auf ihn lauerte. Seine Geschwindigkeit war für einen Osbork ziemlich schnell gewesen, denn eine Reise um die ganze Welt bezahlte man entweder mit dem Leben, oder man entwickelte eine ausgezeichnete Kondition. Wer sollte ihm jetzt schon noch etwas anhaben können? Plötzlich hatte er einen Ruck an seinem Arm gefühlt und einen stechenden Schmerz im Rücken. Er sah sich von Dutzenden von Osborks umringt, die kleiner als er selbst waren, aber längere Haare hatten. Barbaren aus dem Norden! Jeder wußte, daß diese Barbaren die nördlichen Teile der Prärie unsicher machten, aber daß sie auf ihren Raubzügen 72
auch manchmal so weit in den Süden kamen, war Nardov unbekannt gewesen. Kazazi senste Nardovs Abscheu vor diesen Barbaren, aber auch Achtung, und das konnte sie sehr gut nachfühlen. Sie waren immerhin in der Lage, viel weiter im Norden zu leben als alle übrigen Osborks – und dort wehte kein Passat. Sie bewegten sich daher auch immer in Kreisen fort: im Norden von Westen nach Osten, dann in den Süden und mit dem Passat im Rücken wieder nach Westen. >Verbündete des Windes< war ihr Beiname. Den hatten sie sich zwar selbst gegeben, aber auch die gewöhnlichen Osborks nannten sie oft so, und dabei erschauerten sie oder fauchten... Solch eine Bande hatte Nardov überfallen. Sie hatten ihm im vollen Trab seinen Rucksack von den Schultern gerissen, und ihm einen der kurzen Speere, die sie benutzten, in den Rücken gestochen. Sie hatten ihn für tot gehalten, und es war ein unglaubliches Glück für ihn, daß Kazazi und ihr Mensch ihn nun gefunden hatten. »Verstehst du nun, warum nur einer von hundert die Große Reise überlebt?« fragte Kazazi Makombo entrüstet. »Wenn sogar ein so durch und durch erfahrener Passatfolger, solch ein außergewöhnlich starker und muti... eh« Verwirrt strich Kazazi die letzte Zeichnung durch, als sie bemerkte, daß die Zeichnung Nardov etwas zu sehr idealisierte. Aber das war Makombo glücklicherweise entgangen. Ihn interessierte viel mehr, ob es tatsächlich ein Dorf gab, in das sie Nardov bringen konnten (eigentlich war er überhaupt sehr neugierig auf ein Osborkdorf). Er bat Kazazi, sich einmal bei Nardov darüber zu informieren, wie sie ihn am schnellsten unter Dach bringen könnten. Nardov erklärte, daß an der Westseite der Ebene zahlreiche Osborkniederlassungen zu finden seien. Als sie ihm auf der Karte ihren ungefähren derzeitigen Aufenthaltsort zeigte, konnte er ihr die ungefähre Richtung zu seinem Dorf angeben. Dies würde ihre Reise zwar um ein paar Tage verlängern, aber weder Kazazi noch Makombo zögerten auch nur einen einzigen Augenblick, Nardov nach Hause zu bringen. Also wurde das Segel ein wenig gedreht, so daß sie nun einem nördlicheren Kurs folgten. Sie betteten Nardov so bequem wie möglich und benutzten dafür Kazazis Rollsackfell und die Häute all der Tiere, die Kazazi als Nahrung gedient hatten. Nach ein paar Tagen hatte Nardov auf diese Weise ein einigermaßen komfortables Bett. Aber trotzdem hatte das Tier ständig Schmerzen, und Kazazi war tief beeindruckt von der fröhlichen Art, in der sich Nardov mit ihnen unterhielt, nachdem sie ihn über ihren Plan informiert hatten, ihn zu seinem Dorf zu bringen. Kazazi bewunderte ihn und beneidete ihn auch, denn so tapfer wie Nardov wollte sie auch gerne sein. Der Schmerz an ihrem Schwanzansatz störte sie nämlich jeden Tag mehr, statt daß er abnahm. Und über Schmerz und 73
Unwohlsein an solch einer intimen Stelle spricht man natürlich nur mit einem Heiler... Derartige Gedanken kann man vielleicht unbemerkt hegen, wenn ein Mensch der einzige Reisegenosse ist, aber wenn ein anderer Osbork in der Nähe ist, wird so etwas schnell bekannt. Nardov tat lange Zeit so, als ob es ihn nichts anginge, aber als er bemerkte, daß Kazazis Schmerzen täglich stärker wurden, ließ er Sie schließlich doch wissen, daß sich eiligst einmal jemand darum kümmern müsse. Kazazi genierte sich schrecklich, aber sie mußte eingestehen, daß sie nicht länger so weitermachen konnte, wenn sie nicht genauso krank werden wollte wie Nardov. Nach langem Zögern war sie schließlich damit einverstanden, daß der Osbork sie untersuchte. Mit bemerkenswert sanften Händen kämmte dieser jenen dichten Pelz zur Seite, der Kazazi in ihrem Dorf so berühmt gemacht hatte – und fauchte leise, als er eine ziemlich tiefe Rißwunde entdeckte, die häßlich entzündet war. Kazazi teilte seine Gedanken, und sie merkte, daß dieser schöne, männliche, ihr aber fast unbekannte Fremde nicht nur klinisches Interesse an ihrem Schwanzansatz hatte. Sie wußte jedoch auch – und das, was sie senste, bestätigte dies –, daß er Kazazis Zustand nicht ausnutzen würde. Beiden Osborks war klar, daß es nur eine Möglichkeit gab, den Schmerz ein wenig zu lindern und die weitere Ausbreitung der Entzündung zu verhindern, solange es niemanden gab, der mehr über Heilkunde wußte. Osborkspeichel ist steril und eignet sich gut zum Desinfizieren von Wunden. Außerdem mußte der Abszeß geöffnet werden. Kazazi gab Nardov widerwillig die Erlaubnis, zu tun, was getan werden mußte. Es war eine sehr peinliche Situation, aber Sturm! Sie mußte doch schließlich dafür sorgen, daß sie überlebte... Nardov biß kurz und kräftig in den Abszeß – und hatte das Maul voll mit stinkendem Eiter. Er spuckte ihn aus, und als Makombo sah, was geschah, lief er erschrocken mit einem Topf Wasser herbei. Dankbar spülte Nardov seinen Mund damit aus und tastete anschließend vorsichtig die Wunde ab. Kazazi spürte, daß nach dem ersten heftigen Stich der Schmerz schnell nachließ. Sie erlitt einen leichten Schwächeanfall. Verschwommen bemerkte sie, daß Nardov die Wunde mit Wasser reinigte und daß er danach mit langen, vorsichtigen Strichen seiner Zunge die Wunde und deren Umgebung sauberleckte. Kazazi reagierte geistesabwesend und mit sehr gemischten Gefühlen. Sie genierte sich furchtbar, aber eigentlich war ihr das ganze auch sehr angenehm – aber wie konnte man sich so etwas von einem Unbekannten gefallen lassen? Nun ja, es war nicht sexuell gemeint gewesen – das konnte sie von Nardov deut74
lich sensen – oder... nun, so ganz sicher war sie sich dessen nicht. War die Wunde denn immer noch nicht sauber?
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10. Ob Osten – ob Westen – daheim ist's doch am besten Die letzte Etappe der Reise über die Steppen mußte für Makombo anfänglich ziemlich langweilig gewesen sein. Nardov hatte unglaublich viel erlebt auf seiner großen Reise. Er schwelgte ständig in seinen Erinnerungen, und es kam Kazazi fast so vor, als habe sie die ganze Reise selbst miterlebt. Auch aus anderen Gründen hielt Kazazi Nardov für eine äußerst fesselnde Persönlichkeit, und daher kommunizierte sie über lange Zeit lautlos mit dem Passatfolger. Für Makombo gab es daher auch oft nichts anderes zu sehen als zwei Osborks, die einander endlos lange bewegungslos anschauten. Während ihrer gemeinsamen Reise zu den Steppen hatten Kazazi und ihr Mensch nur gelegentlich miteinander in Kontakt treten können, denn auf einer Reise durch die Wildnis hatte man zwangsläufig nicht viel Gelegenheit zum Zeichnen. Auf dem Segelwagen war dies jedoch anders gewesen. Wenn Kazazi nicht selbst am Steuer saß, hatte sie ausgiebig Gelegenheit, ihren Teil der Konversation mit dem Zeichenstift zu führen, und Makombo konnte natürlich über den Sender in ihrem Ohr jederzeit mit ihr reden. Wenn sie nicht miteinander sprachen, lehnte Kazazi sich oft gegen ihn, und dann kraulte er sie mit der Hand, die er nicht zur Bedienung des Segels brauchte, hinter dem Ohr. Aber neuerdings hatte Kazazi überhaupt kein Interesse mehr an ihrem Zeichenblock, und als Makombo einmal versucht hatte, sie hinter dem Ohr zu kraulen, war sie fauchend ein Stück von ihm abgerückt. Normalerweise war Kazazi sehr sensibel für Makombos Stimmungen, aber dieses Mal dauerte es geraume Zeit, bevor sie bemerkte, daß etwas nicht stimmte. Eigentlich war es Nardov gewesen, der zuerst etwas gemerkt und Kazazi gefragt hatte, was Makombo denn nur hätte. Mit Mühe konzentrierte sie sich auf ihren Menschen und erschrak furchtbar, als sie senste, wie Langeweile, Kummer und Eifersucht bei Makombo einander abwechselten. Da wurde ihr erst wieder bewußt, daß Makombo kein Telepath war und daß er demzufolge völlig vom fesselnden Gedankenaustausch der Osborks ausgeschlossen war. Etwas schuldbewußt dachte sie jetzt auch daran, daß sie Makombo schon eine ganze Weile daran gehindert hatte, sie hinter dem Ohr zu kraulen. Schließlich war es für sie ja eine erotische Handlung, und so etwas ließ man nicht einfach mit sich geschehen, wenn ein anderer Osbork dabei war, selbst wenn ein Mensch dies tat. Es hätte Nardov auf falsche Gedanken brin76
gen können... Nun wurde ihr plötzlich klar, daß Makombo dies überhaupt nicht hatte verstehen können. Sie merkte, daß für ihn nur eine Erklärung möglich war: Kazazi hatte einen anderen Osbork getroffen und brauchte daher nun ihren Menschen nicht mehr. Es rührte sie, daß Makombo in dieser Situation keinerlei Druck auf Sie ausgeübt hatte. Nichts an seinem Verhalten ihr selbst und Nardov gegenüber hatte sich auch nur im geringsten verändert, seit sie so intensiv mit Nardov beschäftigt war. Aber er konnte seine Gefühle natürlich nicht ausschalten, und Kazazis Herz wurde warm, als sie ihn so unglücklich vor sich hinstarren sah. Sie verständigte sich rasch mit Nardov, machte ihm etwas zögernd einen Vorschlag, und dann traten die beiden Osborks jeweils an eine Seite des Menschen und legten beide ihren Kopf auf seine Knie. Makombo schaute vom einen zum anderen, und da geschah etwas Merkwürdiges. Aus beiden Augen des Menschen quollen plötzlich Wassertropfen. Was dies nun wieder zu bedeuten haben mochte, wußte Kazazi nicht, aber es war klar, daß Makombo sich nun nicht mehr einsam fühlte. Er hielt den Segelwagen an, und als er seine Hände frei hatte, kraulte er beide Osborks hinter den Ohren. Von diesem Zeitpunkt an beschränkten sich die Osborks etwas in ihrer Kommunikation miteinander. Während des Rests der Reise sorgte entweder Kazazi oder Nardov dafür, daß Makombo mit Hilfe von Zeichnungen ebenfalls einen Eindruck von Nardovs Abenteuern erhielt. Kazazis Zeichnungen waren zwar um einiges besser als die Nardovs, aber das schien Makombo nicht zu stören. Er war vor allem neugierig auf den Grund für Nardovs Reise. Nardov erzählte, daß er früher ein ziemlicher Draufgänger gewesen sei und eine Reihe von Freundinnen gehabt habe. Dies war nicht gerade ungewöhnlich für einen jungen Osbork, aber Nardov hatte sich wohl etwas zu sehr gehen lassen, und als plötzlich zwei seiner Freundinnen schwanger waren, nachdem er gerade beschlossen hatte, mit einer dritten ein Nest zu bauen, war ihm der Boden unter seinen Pfoten zu heiß geworden. Makombo verstand nicht, wie es dazu hatte kommen können. »Wie können sich die Frauen nur so von dir einwickeln lassen, wenn sie doch deine Gedanken lesen können und wissen, daß du es nicht ernst meinst?« fragte er, aber Nardov versicherte ihm, daß dies ohne weiteres möglich sei, und Kazazi, die während des Gesprächs am Steuer saß und sich darauf beschränkte, Makombos Fragen für Nardov zu übersetzen, mußte im stillen zugeben, daß sie sich so etwas auch sehr gut vorstellen konnte, bei jemandem wie Nardov zumindest... Aber als sie den Stolz und die 77
Selbstgefälligkeit Nardovs senste, merkte sie, daß dies sie furchtbar ärgerte. Wind! Sie war tatsächlich eifersüchtig! Einfach lächerlich! Glücklicherweise konnte sie ihre Gedanken vor Nardov abschirmen, aber ihre Gefühle konnte dieser natürlich sehr gut sensen, und Kazazi freute sich, als sie bemerkte, daß Nardov sich nun doch etwas genierte. »He, Kazazi! Das war doch alles vor meiner Großen Reise!« versuchte er ihr zu erklären. »Ich habe meine wilden Haare jetzt doch verloren!« Inzwischen hatte Makombo weiter über Nardovs Geschichte nachgedacht. »Sag mal, du bist doch jetzt bald wieder zu Hause, wie soll das dann mit deinen Freundinnen weitergehen?« »Ach, das geht schon in Ordnung. Erstens bin ich demnächst eine angesehene Persönlichkeit in meinem Dorf, und dann ist man nicht mehr so sehr an Regeln gebunden wie gewöhnliche Osborks. Ich könnte in Zukunft sogar zehn Freundinnen haben, wenn ich es wollte – aber das will ich gar nicht mehr!« fügte er hastig hinzu. »Wenn ich demnächst zu Hause bin, werde ich mir eine Ehegefährtin wählen und alle früheren Abenteuer... nun ja, für deren Folgen werde ich nicht mehr verantwortlich gemacht, wenn ich von der Großen Reise zurückgekehrt bin. Ich werde den beiden Frauen natürlich bei der Erziehung ihrer Jungen behilflich sein, aber ich bin nicht dazu verpflichtet, sie in mein Nest zu nehmen.« Offenbar war es Nardov doch lieber, nun das Thema zu wechseln, denn er bat Makombo, etwas von seiner eigenen Welt zu erzählen. Dabei brauchte nicht übersetzt zu werden, denn Kazazi verstand Makombos Worte ohne große Schwierigkeiten, und Nardov hielt sich an Kazazis interne Simultanübersetzung. So wie schon vorher Kazazi schien auch Nardov die größten Schwierigkeiten zu haben, eine Welt zu verstehen, auf der außerhalb der Höhlen kein Wind wehte. Sträucher auf Stöcken sollte es dort geben, die aufrecht standen und manchmal zehn, zwanzig Längen hoch wurden! Dinge, die lose auf dem Boden herumlagen, ohne wegzufliegen! Man konnte dort ebenso leicht in den Osten wie in den Westen reisen! Und Meere, davon hatten sie zwar beide schon gehört, denn die gab es auch auf Coriolis, aber Meere mit stehendem Wasser? Ohne Wellen, die Dutzende Längen hoch waren? Auf denen man sogar reisen konnte! Atemlos hörten die beiden Osborks den Erzählungen des Menschen zu. Kazazi wurde nun doch etwas unsicher darüber, wie es nun weitergehen sollte. Bisher hatte sie diesbezüglich nie Zweifel gehabt. Sie mußte und sie würde die große Reise vollenden und zu ihrem Dorf zurückkehren. Aber jetzt erschienen ihr andere Möglichkeiten auch sehr attraktiv... Nardov hatte sie nicht danach gefragt, aber in dem Denkbereich, den je78
der Telepath verschließen kann, wenn er das Bedürfnis nach einer Privatsphäre hat, dachte sie manchmal darüber nach, wie es wohl sein würde, in seinem Nest zu wohnen... Sie war sich ziemlich sicher, daß er sie dazu einladen würde, wenn ihr Schwanzansatz geheilt wäre. Und Makombo... Sie wußte, wie gern er sie mochte, und diese Gefühle erwiderte sie auch. Er war der erste echte Freund, den sie jemals gehabt hatte, und was hatten sie nicht schon alles zusammen erlebt! Wenn er sie bitten würde, mit ihm zu seiner verrückten Welt zu kommen, würde sie dann nein sagen? Sie wußte, daß sie auf Makombos Erde eine Berühmtheit sein würde, und selbst wenn Makombo später wieder zu den Sternen reisen würde, würde sie sicher bei ihm bleiben dürfen! Was könnte sie dann nicht alles erleben! Andererseits... Was waren Erlebnisse und Erfahrungen, auch wenn sie noch so beeindruckend waren, wenn man sie nicht mit jemandem teilen konnte? Sie würde nie mehr telepathisch mit einem Osbork eins sein, und ob sie das sehr lange aushalten könnte, schien ihr zweifelhaft. Als sie dies alles genau durchdachte, wurde ihr noch etwas anderes klar. Selbst wenn Makombo Telepath wäre, so wäre er damit noch immer kein Osbork. Das merkte sie immer wieder an den verrücktesten Dingen. Einmal beispielsweise war er einen halben Tag lang mit einem Stückchen Holz im Mund herumgelaufen. Er hatte ständig daran gelutscht und gesaugt, und nach ein paar Stunden war ihm davon speiübel geworden. Wenn ein Mensch nur an einem Stückchen Holz von ihrer Welt lutschte, so rief das bei ihm schon Vergiftungserscheinungen hervor! »Eigentlich hättest du doch damit rechnen müssen, Makombo? Warum hast du es dann doch getan? Hattest du vielleicht Hunger?« »Nein... wenn ich die Nahrungstabletten schlucke, habe ich keinen Hunger. Aber ich mußte etwas im Mund haben, Kazazi. Ich habe mich so sehr nach einer Zigarette gesehnt...« Nardov wollte wissen, was eine Zigarette sei. Kazazi erklärte ihm dies und berichtete ihm auch ihre eigenen– Beobachtungen über Makombos auffällige Abhängigkeit von diesen kleinen Dingern. »Und wenn du damit aufhören willst, hilft es dir dann, wenn du an etwas saugst?« fragte Nardov Makombo. »Ja...«, seufzte dieser unglücklich. »Aber sogar dieses Hilfsmittel ist mir hier nicht vergönnt..: « »Ich weiß nicht. Als ich einmal eine Zeitlang keine Nahrung finden konnte, habe ich mir einen Stein in den Mund gesteckt und daran gesaugt. Das half. Könntest du das nicht auch versuchen? Ein Stein löst sich nicht im Mund auf, und wenn du ihn vorher gründlich abwäschst...« 79
Das schien tatsächlich eine Lösung zu sein, und seitdem lutschte Makombo an einem kleinen runden Stein. Aber damit hatte er Kazazi wieder einmal vor Augen geführt, wie sehr sich Osborks von den Menschen unterschieden, allein schon hinsichtlich der Probleme und der Vergnügungen, die sie hatten. So hatte Makombo sie auch einmal gefragt, ob er wohl in einem Osborkdorf ein >Bad< nehmen könne. Das mußte eine ziemlich tiefe Mulde sein, in die ein Menschenkörper ganz hineinpassen würde, und die mußte dann bis zum Rand mit Wasser gefüllt werden. Mit heißem Wasser! Ein Osbork wäscht sich mit seiner Zunge, und daß man sich waschen konnte, indem man sich in warmes Wasser eintauchte, war etwas völlig Neues für Kazazi. Sie merkte, daß sich Makombo nicht nur nach einem solchen Bad sehnte, weil er sich allmählich furchtbar schmutzig fühlte. Der Mensch schien ein Bad auch als ein Vergnügen an sich zu betrachten, selbst dann, wenn es nicht unbedingt notwendig war! Kazazi würde die Osborks in Nardovs Dorf natürlich bitten können, für Makombo ein solches Bad zu ermöglichen, wenn ihm dies Vergnügen bereitete. Aber wenn er nur sauber sein wollte? Sie schlug ihrem Menschen vor, sich doch auszuziehen, wenn er meinte, schmutzig zu sein. Dann würden Nardov und sie selbst ihn schon sauberlecken. Ohne sagen zu wollen warum, lehnte der Mensch diesen Vorschlag entrüstet ab. Kazazi senste bei Makombo eine ihr völlig unbegreifliche Scham. Tja, sie waren schon seltsame Wesen, diese Menschen. Dann kam der Tag, an dem Nardov mit seiner unverletzten Pfote auf einen sehr langgestreckten Kriechwurzelstrauch deutete. Dieser erstreckte sich in gerader Linie Kilolängen weit vom Südosten in den Nordwesten. »Da! Wir kommen nun in die Nähe des Dorfes!« »Woran siehst du das?« »An diesem Kriechwurzelstrauch! Am Westrand der großen Ebene stellen alle Dörfer eine Falle aus Kriechwurzelsträuchern auf, und die unsrige ist eine der längsten. Das muß unsere sein!« »Das stimmt auch ungefähr mit Kazazis Karte überein«, sagte Makombo. »Aber wie schafft ihr es in Gottes Namen nur, diese Kriechwurzelsträucher so zu formen? Ich dachte, daß das Holz dieser Pflanze für euch praktisch nicht zu bearbeiten ist?« »Wenn es alt ist, ja. Aber wenn man Geduld hat, kann man viel mit einem solchen Strauch anstellen, solange er noch jung ist. Wir beißen die jungen Sprößlinge von den Kriechwurzelsträuchern ab, wenn diese in eine unerwünschte Richtung wuchern; die übrigen Sprößlinge lassen wir wachsen. So wächst die Pflanze innerhalb von ein paar Jahrzehnten 80
dorthin, wo wir sie haben wollen. Auf diese Weise verbinden wir die Kriechwurzelsträucher miteinander, die halbwegs an den richtigen Stellen wachsen. So errichten wir eine Hecke, die von Nordosten nach Südwesten verläuft, und eine andere von Südosten nach Nordwesten. Diese beiden Hecken laufen im Westen in einer Spitze zusammen. Dort liegt unser Dorf. Du kannst dir nicht vorstellen, wieviele Steppentiere in so eine Falle gehen! Wir brauchen fast nie zu jagen! Natürlich müssen wir zu diesem Zweck sehr gut für unsere Hecken sorgen.« »Ich würde sagen, daß die Hecken auch ganz gut für sich selbst sorgen können! Ich habe zumindest noch nie solch hartes Holz gesehen.« »Wenn es wirklich nichts gäbe, was diese Pflanzen zerstören kann, dann würde die ganze Welt doch schnell damit überwachsen sein.« Kazazi war an diesem Gespräch nicht nur in ihrer Funktion als Dolmetscher interessiert. Sie hatte zwar von diesen Heckenfallen schon gehört, kannte aber die genauen Details derselben noch nicht. Sie wußte natürlich, daß die jungen Triebe der Kriechwurzelsträucher ein beliebtes Nahrungsmittel für Plattiere und andere kleine Pflanzenfresser waren, aber gab es denn noch weitere Gefahren für solch einen Strauch? »Könntest du den Segelwagen einmal in der Nähe der Hecke anhalten?« schlug Nardov vor. Als sie die Hecke aus der Nähe betrachteten, bemerkte Kazazi, daß Nardovs Berichte über die >gut gepflegte Hecken< nicht gerade mit dem übereinstimmte, was sie vor sich sahen. An vielen Stellen sah sie junge Triebe, die offensichtlich nicht in die gewünschte Richtung wuchsen, und da und dort waren völlig kahl gefressene Stellen zu sehen, wo die Triebe ursprünglich in die richtige Richtung gewachsen waren. Nardov sah dies offenbar auch. Kazazi senste, daß es ihn verärgerte und auch beunruhigte. »So etwas lassen wir normalerweise nicht zu!« sagte er besorgt. »Als ich das Dorf verließ, befand sich dieser Teil der Hecke in einwandfreiem Zustand! Es sieht so aus, als ob hier schon wochenlang keine Kontrolle mehr gewesen sei...« Es war natürlich unmöglich für die drei Reisenden, die Sache selbst zu reparieren. Als Nardov seinen Freunden den Vorschlag machte, anzuhalten, wollte er ihnen etwas zeigen, das nur aus der Nähe zu erkennen war. »Schaut, seht ihr diesen dicken alten Zweig? Man könnte denken, daß er nicht zu zerstören ist, nicht wahr? Aber achtet einmal auf dieses Stück dort unten in dem schmalen Spalt!« 81
Die beiden anderen schauten in die angegebene Richtung und entdeckten einen blaßweißen Trichter, der in dem Spalt steckte und in den Wind zeigte. »Dies ist ein Keildreher«, sagte Nardov, während er plötzlich den Trichter des Tierchens abbrach. »Der Wind, der in seinen weitgeöffneten Rachen weht, übt von innen Druck auf den Körper des Tierchens aus. Dies erscheint auf den ersten Blick vielleicht harmlos, aber das Tier hält diesen Druck wochenlang aufrecht. Schließlich bricht der Stamm auseinander, und in seinem hohlen Teil befinden sich alle möglichen Insekten und Eier, die dem Keildreher als Nahrung dienen. Es sind elende Biester, denn auf diese Weise zerstören sie die Hauptstämme unserer Hecken, und manchmal hat es zur Folge, daß ein ganzes Heckensegment abstirbt. Dann kann es Jahre dauern, bis das Loch wieder zugewachsen ist. Wenn wir nicht aufpassen, zerstören sie übrigens auch gerne unsere Windmühlenachsen.« Kazazi fauchte leise. »Ich kann mir vorstellen, daß es ziemlich viel Arbeit ist, jedesmal wieder von neuem so viele Kilolängen weit gegen den Wind an den Hecken entlang anzukämpfen, bevor man ans Ende gelangt.« Nardov schaute sie an. »Du bist wohl auch nicht gerade technisch begabt, Mädchen! Wir gehen natürlich an der Außenseite entlang windaufwärts – dadurch ist man durch die Hecke größtenteils vor dem Wind geschützt. Wenn wir dann am Ende angekommen sind, gehen wir an der Innenseite der Hecke zurück.« Kazazi mischte sich danach beschämt für eine Weile nicht mehr ein und beschränkte sich darauf, Makombos Fragen zu übersetzen. »Gibt es noch mehr Gefahren für eure Hecken?« »Klar! Wanderdünen zum Beispiel. Ab und zu rasen Sandstürme über die Ebene, und selbst, wenn dies nicht der Fall ist, wird hier ständig Sand angeweht. Dieser bleibt in oder neben den Sträuchern liegen, und wenn wir nicht aufpassen, überdeckt er schließlich die ganze Hecke. Dann können manche Tiere aus der Falle entkommen, und andere versuchen es und bleiben dabei mit ihren Pfoten im lockeren Stand stecken, so daß wir sie herausholen müssen. Es ist uns lieber, wenn sie durch die Falle in unser Dorf kommen. Wenn wir einen solchen Sandhügel auf einem Strauch liegen lassen würden, bekäme die Pflanze außerdem auch kein Licht und keine Luft mehr; auf diese Weise sind schon viele wildwachsende Kriechwurzelsträucher eingegangen. Nein, wir brauchen zwar nicht viel zu jagen, aber das Pflegen unserer Hecken ist nicht so leicht. Ich möchte übrigens zu gerne wissen, was der Grund dafür sein mag, daß hier alles so verwahrlost wirkt...« 82
Makombo schlug vor, der Hecke bis zu Nardovs Dorf zu folgen. Dann würden sie die Ursache schnell feststellen können. Nach drei Kilolängen war die Sache klar. An den Dorfeingängen standen Gruppen kleinwüchsiger Osborks. Jetzt entdeckten die drei Reisenden auch, daß alle Windmühlen zerstört waren, und außerdem lagen ein paar Osborks von normalem Wuchs bewegungslos am Boden. »Barbaren!« Fauchend tastete Nardov nach seiner verwundeten Schulter. »Sie belagern unser Dorf!«
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11. Nardovs Dorf Gegen eine Streitmacht von vierzig Barbaren ist ein friedliches Dorf machtlos. Früher oder später mußten die Dorfbewohner in die Hände der Angreifer fallen, denn sie waren in ihren Höhlen eingeschlossen und von Energie und Nahrungsmitteln abgeschnitten. Aber das ändert sich natürlich sofort, wenn plötzlich von windaufwärts her rumpelnd ein Segelwagen angerast kommt und eine merkwürdige Gestalt rote Lichtblitze auf all die langhaarigen Wilden abfeuert, die sich nicht blitzschnell nach windabwärts aus dem Staube machen. Als sich schließlich ein Dutzend Barbaren mit rauchenden Löchern im Leib zuckend auf dem Boden wälzten, beeilte sich der Rest der Horde, so schnell wie möglich zu verschwinden. Die Dorfbewohner mochten noch lange Zeit nicht glauben, daß die Gefahr tatsächlich vorüber war. Erst als einer von ihnen Kazazi und Nardov näher als fünf Längen an sich herankommen ließ, konnten diese in Senskontakt mit ihm treten. Und beim Abstand von zwei Längen wurde die Sache allen Beteiligten schnell klar. Die Dorfbewohner strömten ins Freie, begruben ihre ermordeten Dorfgenossen und nahmen den toten Räubern ihre Beute und alles andere ab, was diese bei sich trugen. So fand sich auch Nardovs Rucksack wieder. Kazazi und Makombo wollten nun das Dorf betreten. Sie waren schon so viele Wochen ununterbrochen dem Sturmwind ausgesetzt gewesen, daß sie sich sehr danach sehnten, sich endlich einmal wieder in ruhiger Luft zu bewegen. Außerdem hatte Makombo sich in der letzten Zeit ständig kratzen müssen – er benötigte dringend ein Bad. Also gingen sie zum nächsten Dorfeingang. Dort wurden sie aber von einem der Dorfbewohner aufgehalten. Kazazi konnte seine große Ehrfurcht sensen, als er sie bat, bei ihrem ersten Eintritt ins Dorf den am weitesten windaufwärts gelegenen Eingang zu benutzen. Ja, natürlich! fiel es Kazazi nun ein. Sie waren ja die Retter des Dorfes! Und außerdem waren sie auch noch auf einem vom Wind getriebenen Wagen hergekommen! Wenn schon die Barbaren >Verbündete des Windes< genannt wurden, was würde man dann wohl erst über sie denken? Und schließlich – hatten sie nicht außerdem auch noch einem der Dorfbewohner geholfen, mit halbwegs heiler Haut von der Großen Reise zurückzukehren? Nardov würde sicherlich durch den windaufwärts liegenden Eingang hineingehen. Warum sollten es seine Retter dann nicht ebenfalls tun? 84
Kazazi fühlte. sich geschmeichelt. Soviel Bewunderung und Ehrerbietigkeit hatte sie noch nie in ihrem Leben genossen, und die Gedanken der Dorfbewohner paßten ausgezeichnet zu ihren eigenen Gefühlen... Mit hocherhobenem Schwanz und sanft wiegendem Endhaken schritt Kazazi ins Dorf. Diese Schwanzhaltung hielt sie jedoch nicht lange durch, denn sie erforderte von den Muskeln um den Schwanzansatz das Äußerste – und ihre Wunde fing sofort wieder zu schmerzen an. Nardov hatte diese zwar jeden Tag gepflegt (und nach dem ersten Mal war er dabei auch sehr sachlich geblieben), aber nun wurde es doch wohl Zeit, daß einmal ein richtiger Arzt danach schaute. Man brachte sie sofort zu einer Höhle, die als Krankenstation diente. Dort lagen ein paar durch den Überfall der Nomaden verwundete Osborks. Auch Nardov sollte eine gewisse Zeit dort verbringen. Seine Schulter war eingerenkt und mit einem dicken Stück Fell verbunden worden. Da er nun einer der angesehensten Dorfbewohner war, wurde er in einem Raum gesundgepflegt, der so weit vom Rest der Krankenstation entfernt lag, daß telepathischer Kontakt oder Senskontakt nur nach Durchschreiten eines langen Gangs möglich war. Die Dorfbewohner hatten nämlich schon längst bemerkt, daß Nardov mehr als nur Erinnerungen von seiner Reise mitgebracht hatte, und daß er vielleicht einen eventuellen Krankenbesuch gerne in privater Atmosphäre empfangen wollte. Eigentlich bedauerte Kazazi es fast, daß die Wunde an ihrem Schwanz genäht und mit einem Kräuterbrei behandelt worden war, so daß kein Grund mehr für sie bestand, im Bett zu bleiben. Nardovs Privatzimmer wäre auch für zwei groß genug gewesen... Makombo war es natürlich so lieber, da er nun wenigstens mit ihr kommunizieren konnte. Alleine hätte er sich wahrscheinlich furchtbar gelangweilt. So konnte Kazazi ihn durch das Osborkdorf führen. Vom Eliteviertel ausgehend, in dem sie untergebracht waren, führte sie ihn durch immer ärmere Teile des Ortes, die jeweils ein Stück weiter westlich lagen. »Diese Anordnung der Wohngebiete ist die einzig mögliche«, erklärte Kazazi ihm, »denn der Haushaltsabfall, der aus den Höhleneingängen geworfen wird, damit der Sturm ihn wegbläst, fliegt natürlich an den Zugängen zu den niedrigsten Höhlen in größeren Mengen vorbei als an denjenigen, die windaufwärts liegen. Außerdem funktioniert die Lufterneuerung im oberen Teil des Höhlensystems natürlich besser.« Sie zeigte Makombo eine Anzahl von kleinen Löchern, aus denen Luft mit bemerkenswerter Kraft herausströmte. »Davon können wir beliebig viele verschließen«, erklärte sie. »Wieviel Frischluft wir brauchen, hängt vor allem von der Anzahl der Fackeln ab, die auf den Gängen brennen.« 85
»Diese Fackeln sind mir auch schon aufgefallen«, sagte Makombo. »Sie brennen nicht richtig, nicht wahr? Sie glühen zwar, aber Flammen oder Rauch sehe ich eigentlich nicht.« »So ist es. Dies sind die Wurzeln einer bestimmten Art von Sträuchern. Wenn sie einmal angezündet sind, glühen sie sehr langsam weiter. Glühwurzeln brennen eine ganze Weile und hinterlassen fast keine Rückstände. Nun ja, wenn im gesamten Höhlensystem die Fackeln brennen, merkt man das in den windabwärts gelegenen Teilen eines Dorfes doch etwas an der stickigen Luft.« »Die gesellschaftliche Stellung ist also sehr wichtig in einem Osborkdorf!« »Na und wie! Jedes Vergehen kann durch Verbannung in einen tiefergelegenen Dorf teil bestraft werden.« »Und wenn man einmal ganz unten im Dorf angekommen ist, wie kann man dann noch bestraft werden?« fragte Makombo. »Dann bleibt nur noch die Große Reise. Meistens werden daher die asozialen Elemente auch schließlich Passatfolger. Und natürlich die, die zu unrecht bestraft werden...«, fügte Kazazi schnell hinzu. Makombo tätschelte sanft ihren Kopf. »Mach dir keine Sorgen, mein Guter, ich weiß schon, daß du nicht asozial gewesen sein kannst. Es ist übrigens ein sehr gutes System. Wenn die Bestrafung einigermaßen gerecht erfolgt, weiß jeder stets genau, woran er ist und was er sich erlauben kann. Die Unverbesserlichen müssen früher oder später auf die Reise gehen, und auf diese Weise werden die meisten von ihnen endgültig ausgeschaltet, oder sie haben so viel erlebt bis zu ihrer Rückkehr, daß sie sich von selbst bessern!« »Nun ja, nicht alle«, warf Kazazi ein. »Einige kommen zurück und sind die gleichen Spitzbuben wie vorher. Aber weil sie wieder oben auf der gesellschaftlichen Leiter beginnen, haben sie dann so viel zu verlieren, daß sie sich hüten werden, weitere Schandtaten zu begehen.« Auf dem Rückweg windaufwärts sah Makombo ein paar Osborks an einem langen Pfahl arbeiten, der durch die Höhlendecke nach draußen ragte. »Dieses Ding hat wohl mit einer Windmühle zu tun?« fragte er. »Hm, hm. Willst du sehen, wie es auf der anderen Seite funktioniert?« fragte Kazazi, und nahm ihn zu einem Teil des Dorfes mit, der ein Stockwerk tiefer unter der Verbindungsachse der Windmühle lag. Sie selbst hatte kein technisches Interesse daran, aber sie kannte Makombo 86
gut genug, um anzunehmen, daß dieser gerne die technischen Leistungen der Osborks sehen wollte. Sie brachte Makombo zum großen Antriebsrad, das unterhalb der Zentralachse acht Bänder antrieb. Einige davon hielten eine Pumpe in Betrieb (in diesem Teil des nördlichen Kontinents von Coriolis lag der Grundwasserspiegel ziemlich tief). Ein anderes Band war mit einer Töpferscheibe verbunden, und wieder ein anderes mit etwas, was Makombo nach genauer Inspektion als eine Art Nähmaschine identifizierte. Ein solches Ding war Kazazi unbekannt, aber sie war stolz, als sie von Makombo senste, daß er den Apparat für einen genialen Einfall hielt. Makombo betrachtete interessiert die Bänder, die die Antriebsräder mit der Windmühlenachse verbanden. Sie bestanden aus schmalen Lederstreifen, die mit Metallklammern aneinandergeheftet waren. Er bat Kazazi, den Technikern, die sich mit der Reparatur befaßten, von dem Serpentinentau zu erzählen. Dies tat sie und merkte an der Reaktion, daß sie sich von jetzt ab in Nardovs Dorf wohl alles würden erlauben können. Die Lederbänder rissen nämlich ständig, und das Serpentinentau – ungefähr zehn Meter aus einem Stück, ohne irgendwelche Verbindungen! – schien ein weitaus besseres Material zu sein als alles bisher bekannte. »Ihr dürft aber auch nicht zuviel davon erwarten!« Makombo wollte die Osborks vor einer Enttäuschung bewahren. »Wir konnten die Serpentinen ohne große Schwierigkeiten losschneiden, weil ich meine Laserpistole dabei einsetzen konnte, aber wie wollt ihr das denn machen?« »Ach, das wird schon gehen«, antwortete einer der Techniker. »Bisher hatten wir noch keinerlei Veranlassung, dies auszuprobieren, aber es müßte doch möglich sein, mit ein bißchen Geduld eine Serpentinenpflanze von ihren giftigen Dornen zu befreien, und wenn wir unsere Hände mit einem dicken Fell umwickeln, bevor wir die Serpentinen anfassen, werden wir es bestimmt schaffen.« Als Makombo überzeugt davon war, daß sie wirklich von seiner Erfindung profitieren konnten, grinste er Kazazi an. »Möglicherweise ist damit auch in den nächsten Dörfern unsere Unterkunft schon gesichert. Eine neue Idee scheint hier eine Rarität zu sein, und ich habe noch ein paar weitere davon auf Lager, wenn es nötig sein sollte. Wird denn auf Coriolis niemals etwas Neues erfunden?« Kazazi schaute ihn kurz an und senste eben noch rechtzeitig, daß Makombo sie aufzog. Er hatte doch gerade eine Menge Osborkerfindungen angeschaut! Aber gut, der Mensch hatte recht, die Osborks erfanden tatsächlich nicht so oft etwas. Sie beschloß, seine Frotzelei zu ignorieren und antwortete: »Wenn in einem unserer Dörfer etwas Neues erfunden wird, dann wird 87
dieses Wissen von den Passatfolgern immer weiter windabwärts verbreitet, bis es auf dem ganzen Kontinent bekannt geworden ist. Wenn wir also nicht ziemlich schnell Weiterreisen, werden andere Passatfolger uns überholen und uns mit der Information über dein Serpentinentau zuvorkommen. Dann werden sie für deine Erfindung geehrt werden!« »Das ist nicht so tragisch! Ich sagte doch schon, daß ich auch noch ein paar andere Neuheiten kenne?« »Erzähl mir davon!« Kazazi war zwar nicht an technischen Dingen interessiert, aber jetzt wurde sie doch neugierig. »Tut mir leid, das darf ich nicht. Dort, wo ich herkomme, gibt es Gesetze, die den Menschen verbieten, ihr technisches Wissen auf Planeten zu verbreiten, die eigentlich noch nicht so weit sind. Ab und zu kann man dabei zwar einmal eine Ausnahme machen; wenn man zum Beispiel etwas >erfinden< muß, um das eigene Leben zu retten, dann ist das erlaubt. Aber wir müssen es auf das absolute Minimum beschränken. Wenn wir also wieder einmal etwas brauchen, wirst du es schon merken, aber ich darf nicht so mir nichts dir nichts darüber reden.« »Ist das nicht furchtbar egoistisch von den Menschen? Wenn auf Coriolis etwas Neues erfunden wird, darf jeder es wissen!« »Das schadet ja auch nichts! Es handelt sich dabei doch meist nur um ziemlich kleine Neuerungen. Aber wenn der Schritt zu groß ist... Stell dir vor, daß es einen sehr asozialen Osbork gäbe, der plötzlich dahinter kommt, wie er in einem Dorf die Herrschaft an sich reißen kann, jedem die schönsten Dinge wegnehmen kann, alle anderen für sich arbeiten lassen kann, ob sie wollen oder nicht... Dies würde geschehen, mußt du wissen, wenn ein asoziales Individuum sich zum Beispiel meine Laserpistole aneignen würde oder noch ein paar andere Dinge wüßte, die ich erzählen könnte... Wieso kratzt du dich eigentlich dauernd in deinem rechten Ohr?« Als Makombo dies sagte, wurde ihr erst bewußt, daß ihr rechtes Ohr schon seit einer ganzen Weile juckte, ohne daß sie bisher darauf geachtet hatte. Makombo schaute sich das Ohr an und pfiff leise. »Der Sender hat dein Ohr ziemlich gereizt, Junge. Du wirst es herausnehmen müssen, um dem Ohr etwas Ruhe zu gönnen.« »Dann stecke ich es in mein anderes Ohr!« »Nun warte erst einmal damit. Ich will es gleich in unserer Höhle kurz überprüfen, um festzustellen, ob es noch richtig funktioniert. Stell dir vor, daß es später unterwegs plötzlich kaputt gehen würde, dann hätten wir die Bescherung. Hier brauchen wir nicht unbedingt ständig miteinander in Kontakt zu bleiben. Aber laß uns erst einmal sehen, was es hier noch 88
alles zu besichtigen gibt.« Als sie etwas weiter gegangen waren, zeigte ihm Kazazi, daß das Dorf auch über eine Uhr verfügte. Diese stand jetzt natürlich still, weil die dazugehörige Windmühle noch nicht repariert worden war. Die Uhr diente dazu, ungefähr festzustellen, wann Tag und wann Nacht war. Ohne Uhr wäre das in einem unterirdischen Dorf mit einem ziemlichen Hin– und Hergelaufe verbunden gewesen. Stolz zeigte Kazazi ihrem Menschen auch den zentralen Gebetsplatz, wo eine Reihe von windgetriebenen Instrumenten Musik machten. Windmühlen trieben ein Rad mit Stäbchen an, und diese Stäbchen schlugen immer wieder gegen Saiten. So entstand eine sich ständig wiederholende Melodie. Kazazi senste, daß Makombo die Musik nicht besonders gefiel, aber daß er sehr beeindruckt war von dem, was er ihre >Kirche< nannte. Trotzdem erschien es ihm offenbar merkwürdig, daß die Windmühlen, die mit dem Gebetsplatz in Verbindung standen, als erste repariert worden waren. Aber das war doch wohl wirklich eine Selbstverständlichkeit. Makombo blieb sehr lange bei einer >Orgel< stehen. Der Wind wurde durch unterirdische Kanäle zu dem Apparat geführt, von dem aus er mit Hilfe von Klappen durch ungefähr zwanzig Rohre geleitet wurde. Ein Priester spielte gerade darauf – Kazazi erkannte an der Melodie, daß er dem Sturm für die Rettung des Dorfes dankte. Das war natürlich völlig richtig. Denn hätte sie mit ihrem Menschen ohne den Wind jemals das Dorf erreichen können? Die Melodie war zwar etwas anders als diejenige, die sie aus ihrem Heimatdorf kannte, aber so sehr unterschied sie sich auch wieder nicht. Nicht nur Erfindungen, auch kulturelle Gewohnheiten wurden auf der nördlichen Halbkugel von Coriolis ständig weitergegeben, und so fand man, wohin man auch kam, selten etwas, das man nicht schon von zu Hause her kannte, obgleich natürlich einige Dörfer ihre speziellen Eigenheiten hatten. Als sie Makombo auf einem kleinen Umweg noch ein paar andere Dinge zeigen wollte, senste sie bei dem Menschen Ungeduld, und so fragte sie ihn, was los sei. »Nun, schau! Ich finde dies alles unglaublich interessant, und ich will mir später auch noch viel mehr davon anschauen, aber, mein Gott, Kazazi, ich fühle mich so schmutzig. Können wir nicht erst einmal dafür sorgen, daß ich ein Bad nehmen kann?« Aber natürlich! Wie dumm von ihr, daß sie diesen armen Menschen nicht zuerst einmal seinem seltsamen Vergnügen hatte nachgehen lassen, bevor sie ihn durch das Dorf geschleppt hatte! 89
Während Makombo sein Bad nahm, stattete Kazazi Nardov ohne Ohrradio einen Besuch ab. Dieser schien sich schon ziemlich gut von seiner Verletzung erholt zu haben, und sie besuchte ihn auch eher deshalb, weil es ihr angenehm war, in Nardovs Nähe zu sein, weniger weil sie sich zu einem Krankenbesuch verpflichtet fühlte. Als sie eine Viertelstunde bei ihm gewesen war, wurden sie plötzlich gestört. Zwei Osborks kamen in Nardovs Zimmer gestürmt, und nachdem sie sich für die Störung entschuldigt hatten, baten sie Kazazi, sofort mitzukommen, weil ihr Mensch sich so verrückt aufführe. Kazazi erschrak und fragte nach den näheren Einzelheiten. Es stellte sich heraus, daß Makombo in seinem Bad saß und sehr laute Geräusche produzierte. Etwas Gefährliches schien dies nicht zu sein, denn er fuhr seelenruhig mit dem Waschen und Planschen fort. Er hatte ohne irgendeinen offenkundigen Anlaß plötzlich begonnen, sehr laute Geräusche von sich zu geben. Jeder im Dorf wußte, daß Makombo auf diese Weise kommunizierte, und viele waren auch schon dabeigewesen, wenn er leise in Kazazis Ohrradio >redete<, aber jetzt tat er dies viel lauter, und er war doch schließlich allein! Das hatte Kazazi noch nie bei ihrem Menschen erlebt, und daher rannte sie so schnell wie möglich zu Makombos Zimmer. Als sie dort ankam, hörte sie ihn sehr laut rufen: »Oh when the saints... Go marching in... Oh when the saints go marching in... How I want to be in that number... Oh when the... Heh, hallo Kazazi! Ist etwas passiert?« In der Zwischenzeit waren die Dorfbewohner nicht nur mit der Reparatur ihrer Windmühlen beschäftigt. Auch die Kriechwurzelsträucher mußten gestutzt und die Parasiten entfernt werden. Man lud Makombo ein, einmal eine solche Expedition zu begleiten, aber er hatte wenig Lust dazu. Er sagte, daß er viel zu froh sei, endlich kein Sturmgeheul mehr um die Ohren zu haben. Wohl aber wolle er gerne zur Spitze der Falle mitgehen, um zu schauen, wie die Jagd dort vor sich ginge. Kazazi wollte das auch sehen, denn diese Art zu jagen war in ihrem Dorf nicht gebräuchlich, und so machten sie sich zusammen auf den Weg dorthin. Die Spitze der Falle lag etwas nordöstlich vom Dorf, und es war, wie Nardov ihnen bereits gesagt hatte, eigentlich gar keine Spitze. Die Hecken, die sich einander viele Kilolängen lang schräg annäherten, ließen am Ende eine Öffnung frei, die ungefähr acht Längen breit war. »Wenn diese Spitze wirklich geschlossen wäre, könnte kein Tier aus der Falle entkommen«, erklärte ihnen einer der Jäger. »Und oft kommen viel 90
mehr Tiere hier vorbei, als wir im Dorf benötigen. Manchmal sind es so viele, daß sie einander aufscheuchen und eine wilde Horde bilden. Wenn die Hecken in einem Punkt zusammenliefen, würden sich die Tiere zu Dutzenden gegenseitig zu Tode trampeln, und es ist uns zuwider, sie sinnlos sterben zu sehen. Nein, wir machen das anders – paßt auf!« Er kroch hinter das Ende der südlichen Hecke. Kurze Zeit später näherte sich ein Brauner Springer. Das Tier hatte offenbar schon vor langer Zeit seinen Weg von den Kriechwurzelsträuchern blockiert vorgefunden, und so sprang es immer weiter an der Hekke entlang, um dann überrascht festzustellen, daß sie immer noch kein Ende nahm. Schließlich erreichte es die Öffnung. Dort angekommen schaute es sich etwas perplex um, denn plötzlich konnte er wieder überall hinspringen. Es zögerte für einen Augenblick, um eine Richtung zu wählen, und diese Zeit reichte dem Jäger, der nur eine kurze Entfernung zurückzulegen brauchte, um dem Tier in eine Pfote zu beißen. Ein Springer kann sich nicht mehr fortbewegen, wenn er seine Pfoten nicht mehr benutzen kann, und es war dann ziemlich leicht, ihn zu töten. »Seht ihr, wie einfach das ist?« sagte der Jäger, als er zurückkam. »Und ihr müßt wohl einsehen, daß wir dies mit fast jedem Tier tun können, wenn es uns sogar gelingt, Springer zu fangen. Nur Meuchelmörder lassen wir in Ruhe. Die beißen zurück!« Makombo erbot sich, ein paar Meuchelmörder für die Dorfbewohner abzuschießen, denn er wußte, daß sie für die Osborks ein Leckerbissen waren. Dieses Angebot wurde mit Freuden angenommen. Während sie auf eines dieser Raubtiere warteten, zeigte der Jäger Makombo eine kleine polypenartige Pflanze, die sich in den Kriechwurzelstrauch eingeflochten hatte. »Auch eine Folge der Verwahrlosung!« sagte er tadelnd. »Das ist ein junger Serpentinenstrauch. Wenn wir diese jungen Sträucher nicht rechtzeitig entfernen, sind unsere Hecken bald voll davon.« Makombo fragte: »Dornenwerfersträucher gibt es sicherlich auch in euren Hecken?« »Wenn wir nicht aufpassen, ja! Dann besteht die Gefahr, daß unsere Hecken zu einer Bedrohung für uns selbst werden.« Kazazi besuchte Nardov regelmäßig ohne Makombos Begleitung, nun allerdings wieder mit dem Sender im Ohr. Die fachmännische Behandlung hatte Nardov offensichtlich sehr gut getan. Wenn er sein Schultergelenk nicht benutzte, fühlte er sich schon wieder ganz wie früher, versicherte er Kazazi, und diese merkte das auch, denn Nardovs Gedanken 91
waren inzwischen schon wieder mächtig auf Sex ausgerichtet... Und Kazazi war auch nur ein Osbork, sie hatte schon sehr lange keinen Mann mehr gehabt und ihr Schwanzansatz war so gut wie geheilt... Als Nardov daher den Endhaken seines Schwanzes um Kazazis Ohr hakte und mit dem knochigen Ende sanft hin und her kratzte, ließ Kazazi dies mit genußvollem Schaudern zu. Ja! Das war es ... Das Ohrenkraulen ihres Menschen war diesem Gefühl zwar ähnlich, aber dies hier war erst wirklich der Himmel... Etwas später legte sich Kazazi an Nardovs gesunde Seite. Die Endhaken ihrer Schwänze verhakten sich ineinander, und ganz langsam ließ Nardov die beiden Schwänze sich in einer Spiralbewegung immer weiter ineinander verschlingen. Von den Spitzen zur Mitte hin, und von der Mitte zu den Schwanzansätzen... Als die beiden Schwanzansätze fest gegeneinander gedrückt wurden, spürte Kazazi, wie Nardovs Geschlechtsorgan hervortrat und in sie eindrang. Und dann gab sie sich völlig ihrem Orgasmus hin.
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12. Windstärke 12 Kazazi kam am nächsten Morgen erst spät in die Höhle zurück, in der sie zusammen mit Makombo untergebracht worden war. Makombo hatte schon eine Weile nach ihr gesucht. Er war leicht verärgert über ihre lange Abwesenheit und auch ein wenig beunruhigt. »Kazazi, du bist in diesem Dorf ständig unauffindbar. Ich merke zwar, daß es dir hier gut gefällt, und wenn du lieber hierbleiben willst, bin ich damit einverstanden, allerdings hättest du mir das dann früher sagen können. Schließlich bin ich die ganze Zeit über nur hiergeblieben, weil deine Wunde noch nicht geheilt war...« »Meine Wunde ist so gut wie verheilt, Makombo. Und ich weiß, daß ich dich oft allein gelassen habe. Aber Wind! Kannst du dir nicht vorstellen, wie es für mich ist, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder unter Osborks zu sein?« »Das verstehe ich nur zu gut. Meinst du, ich sehne mich nicht danach, wieder einmal eine menschliche Stimme zu hören?« lautete seine brummige Antwort. »Ich will wirklich nicht mehr viel länger warten, Kazazi. Wenn es deinem Schwanz jetzt besser geht, können wir ja aufbrechen. Ich fände es sehr schade, wenn du nicht mit mir kämst, aber ich würde es natürlich akzeptieren.« Und Kazazi senste, daß Makombo am liebsten hinzugefügt hätte: »Mir bleibt ja auch nichts anderes übrig...« »Ich gehe mit dir...«, beruhigte sie ihren Menschen. »Ich habe einfach eine Weile gebraucht, um den Entschluß zu fassen.« Die ganze Nacht über hatte sie mit Nardov darüber geredet. Wie sie erwartet und gehofft hatte, hatte Nardov sie tatsächlich gebeten, mit ihm sein Nest zu teilen, und Kazazi hatte sogleich mit »ja, gerne« geantwortet. Aber etwas später wußten beide, daß Kazazi in dem Moment zu sehr vom Sex überwältigt gewesen war und nicht gewußt hatte, was sie sagte. Als sie wieder etwas zu sich gekommen war, hatte Nardov ihr versichert, sie brauche sich nicht an das Versprechen gebunden zu fühlen – und dann hatten sie sich sehr ernsthaft über die ganze Sache unterhalten. Schließlich hatte Kazazi beschlossen, doch weiterzureisen. Sie mochte Nardov sehr – und sie wußte auch, daß sie in diesem Dorf nicht einfach nur willkommen wäre, sondern auch einen hohen Status einnehmen würde, weil sie an der Rettung des Dorfes beteiligt gewesen war. Aber sie würde hier auch immer die fremde Verbannte bleiben und die Nestgefährtin eines überlebenden Passatfolgers, nicht aber jemand, der die Große Reise selbst überlebt hatte. Übrigens war das Dorf eigent93
lich von Makombo gerettet worden, und das wußte natürlich jeder. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie mit der Rettung nicht mehr in Zusammenhang gebracht werden würde? Und dann war da noch Makombo... Ohne ihren Menschen wäre sie wahrscheinlich nie so weit gekommen. Etwas beschämt und doch auch gerührt dachte sie an die Zeit zurück, in der die Jagd auf Plattiere für sie ein lebensgefährliches Unterfangen gewesen war. Nein, alleine hätte sie wahrscheinlich noch nicht gut ein Drittel der Großen Reise zurückgelegt. Und die nächste Etappe, das waren die Berge – es könnte sein, daß nun Makombo derjenige war, der es alleine nicht schaffen würde. Also hatte sie mit Nardov aus der Nacht das Bestmögliche gemacht, und deshalb war Kazazi nun so spät dran. »Aber dann will ich, daß wir noch heute abreisen, Makombo, denn sonst kann ich nicht dafür garantieren, daß ich es mir vielleicht doch noch anders überlege!« Natürlich fühlte sich Makombo nun ein wenig überrumpelt, aber im übrigen hielt er dies für eine ausgezeichnete Idee. Nur wenn Kazazi und ihr Mensch viel weiter südlich gereist wären, die Südküste des Kontinents entlang, hätten sie alle Gebirge vermeiden können, und dies war daher auch die Route, die die meisten Passatfolger wählten – und die meisten wandernden Tiere ebenfalls. In diesem Gebiet traf man deshalb viel Wild an – und entsprechend viele Raubtiere –, und ebenso konnte man dort viele Osborkniederlassungen finden, die ziemlich dicht beieinander lagen. Passatfolger waren dort alles andere als selten, und sie wurden von den dort ansässigen Osborks als lästige Landstreicher angesehen. Trotzdem hatte Kazazi anfänglich diese Route einschlagen wollen, weil es die gebräuchlichste war, und nur auf Makombos Drängen hin hatten sie die sehr warmen Regionen gemieden. Kazazi hatte sich nicht grundlos gegen die nördliche Route gewehrt. Sie wußte damals schon, daß dieser Weg unvermeidlich eine Überquerung der Berge mit sich brachte, und sie hatte das Gefühl gehabt, daß Makombo die damit verbundenen Risiken ziemlich stark unterschätzte. Während der vergangenen Tage hatten die Osborks aus Nardovs Dorf ihnen die wichtigsten Geschichten über die Bergetappe erzählt. Diese Geschichten hatten Kazazis schlimmste Vermutungen bestätigt, und Makombo hatte sich gefragt, ob er vielleicht doch besser auf Kazazi hätte hören sollen. Aus diesen Geschichten ließ sich jedoch auch entnehmen, daß sie gut daran getan hatten, Nardov in sein Dorf zu begleiten, da sie nun schon weit im Norden waren. Auf diese Weise waren sie viel weiter 94
nördlich gekommen, als nach Makombos Plan, und so befanden sie sich jetzt etwas nordöstlich von einer Verengung der Bergkette. Soweit es in Nardovs Dorf bekannt war, gab es nur dort und nirgendwo anders in dieser riesigen Aneinanderreihung von Bergen einen Paß. Wenn man diesen lebend überquerte, hatte man das Gebirge hinter sich gebracht. Kazazis Karte hatte dies alles nicht sehr genau wiedergegeben. Die Passatfolger, die ihr Dorf passiert hatten, waren fast alle durch den Süden gereist, und auf ihren Karten hatten sie die Berge im Norden nur auf Grund von Gerüchten eingezeichnet. Die Größe des Gebirges, durch das sie nun reisen mußten, wurde auf Kazazis Karte sehr stark übertrieben. Die überlebenden Passatfolger aus Nardovs Dorf hatten natürlich ausnahmslos dort mit ihrer Reise begonnen, und so konnten sie sehr detaillierte Information über das Gebirge geben. Makombo erzählte Kazazi, er sei überzeugt, daß nur ein Tier mit sehr scharfen Klauen sich auf diesem Paß vor der Kraft des Sturmes schützen könne, und er, Makombo, besäße nun einmal keine Klauen. Er würde nur mit Hilfe eines anderen durchkommen, soviel hatte er in den letzten Tagen begriffen. »Warum hast du das nicht früher gesagt?« fragte Kazazi erstaunt. »Das hätte mir meine Entscheidung sehr erleichtert!« »Nun, gerade deshalb! Ich wollte nicht, daß du dich in deiner Entscheidung beeinflussen lassen würdest, nur um mir auf dieser Etappe zu helfen. Aber jetzt, wo ich weiß, daß du sowieso mitkommst... bin ich verdammt froh darüber!« Den Segelwagen brauchten sie nun natürlich nicht mehr, aber ein paar Einzelteile des Dinges würden ihnen noch nützen. Die Serpentinentaue und der Spinnwebendraht waren bei der Überquerung der Berge dringend notwendig, und natürlich mußten die Bleikisten wieder auf einer Art Zugkarren mitgeführt werden; also konnten sie auch die Räder gut gebrauchen. Den Mast schenkten sie den Dorfbewohnern. Und zu Makombos Überraschung wollten diese die Plattform ihres Wagens auch gerne behalten. »Sie können doch sicher etwas viel Haltbareres flechten, als wir es getan haben?« sagte er zu Kazazi. »Ja, das denke ich auch«, antwortete sie. »Aber sie wollen ein Denkmal daraus errichten.« Die ersten Tage waren nicht leicht für Makombo, der das Laufen nie sonderlich geliebt hatte und durch das Sitzen auf dem Segelwagen und durch den Aufenthalt in Nardovs Dorf seine gerade erst erworbene Kon95
dition wieder eingebüßt hatte. Kazazi mußte sich am Anfang daher auch wieder sehr zurückhalten, und erst nach drei Tagen kamen sie etwas schneller voran. Letzteres war allerdings auch auf den immer stärker werdenden Rückenwind zurückzuführen. Die Bergketten, die sich im Norden und Süden vor ihnen erhoben, rückten immer näher, und sogar Kazazi, für die die Überquerung wesentlich leichter werden würde als für Makombo, sah dem, was sie erwartete, mit Schrecken entgegen. Am Ende des Tales, durch das sie gingen, befand sich ein Bergpaß, der ungefähr fünfhundert Längen hoch sein mußte. Dahinter sollte sich ein Tal befinden, und diesem mußten sie dann nur weiter folgen, um die Berge endgültig hinter sich zu lassen. Das bedeutete also, daß das wirklich schwere Stück nur kurz sein würde – aber dafür war es höchst lebensgefährlich. Je mehr sie sich dem schmaleren Teil des Tales näherten, um so schwieriger wurde es, ein Tempo einzuhalten, bei dem sie nicht halsüberkopf nach vorne flogen. Kazazi mußte schon bald ihre Krallen benutzen. Makombo lehnte sich sehr weit nach hinten und fiel, sobald er sich etwas zu stark nach vorne beugte, mit lautem Getöse zu Boden. Anfänglich hatte die hohe Windstärke den Vorteil, daß es sie, während sie aufstiegen, sozusagen dort hinschob, wo sie hin mußten, aber dieser kleine Vorteil wurde schließlich durch die Unannehmlichkeiten völlig zunichte gemacht. Die Natur war hier natürlich völlig anders als in den Ebenen. Alle kleinen Unebenheiten des Bodens waren schon vor sehr langer Zeit vom starken Wind abgeschliffen worden, nur größere Felsbrocken konnten an ihrem Platz liegen bleiben, und nur in den Felsspalten befand sich Geröll, Sand oder Erde. Aber wie überall in der Natur, so war es auch hier. Wenn irgend etwas wachsen kann, so wächst es auch. Es gab daher auch eine Pflanze, die selbst unter diesen Bedingungen ziemlich gut gedieh. Es handelte sich um eine Art Ranke, die sich in Netzen von längenlangen Lianen über den Boden ausbreitete. Dies brachte Makombo auf eine Idee. »Kazazi, warte mal«, keuchte er, während er nach einem weiteren seiner zahlreichen Stürze wieder zu sich kam. »Könntest du versuchen, ein paar Lianen abzubeißen? Möglichst lange Stücke.« »Das wird schon gehen«, sagte Kazazi. »Aber was willst du damit anfangen?« »Wenn ich hier schon andauernd ausrutsche, obwohl ich angestrengt versuche, mich auf den Füßen zu halten, dann wird das oben auf dem Paß natürlich noch viel schlimmer werden. Dann fliege ich, wenn ich nicht aufpasse, mit einem Ruck über den ganzen Berg, und so schnell 96
brauche ich nun auch wieder nicht zu reisen. Wenn wir das verhindern wollen, werden wir verdammt viel Tau benötigen, und das, was wir bei uns haben, reicht meiner Meinung nach nicht aus.« Kazazi konnte sich noch nicht so recht vorstellen, wie Makombo diese Taue benutzen wollte, aber wenn ihr Mensch dies für eine gute Idee hielt... Er war schließlich der Techniker. Wenige Minuten später mußte sie ihr optimistisches Vertrauen in die Schärfe ihres Kiefers revidieren. Sie sah keine Möglichkeit, die Liane abzubeißen, und Makombo mußte daher wieder seine Laserpistole benutzen. Kazazi verstand nicht, warum er dies nicht gleich getan hatte. »Die Ladung ist fast aufgebraucht... Die Ladung meiner eigenen Pistole hatte ich übrigens schon vor einiger Zeit verschossen; das hier ist die Ladung aus Everetts Pistole. Ich schätze, daß ich ungefähr noch hundertmal damit schießen kann. Danach sind wir auf das angewiesen, was uns dieser Planet zu bieten hat, und ich hoffe, daß wir dann keinen Barbaren mehr begegnen.« Über diese Mitteilung war Kazazi nicht sehr glücklich. Nach den Bergen mußten sie den Isthmus passieren, und die Geschichten, die sie über diesen Teil der Welt gehört hatte, hatte sie mit amüsierter Gleichgültigkeit an sich abgleiten lassen können, weil sie auf Makombos Laserpistole vertraut hatte. Aber wenn sie die demnächst gar nicht mehr zur Verfügung hätten... Sie legte Makombo ans Herz, sehr sparsam damit umzugehen, aber das war eigentlich überflüssig. Mühselig ging es weiter aufwärts. Es kostete sie die größte Mühe, dafür zu sorgen, daß sie nicht zu schnell aufstiegen. Makombo hielt sich nun ständig an dem Karren mit der Bleikiste fest, und um dem Wind möglichst wenig Widerstand zu bieten, beugte er sich sehr tief über den Karren. Etwas weiter oben setzte er sich auf den Karren – Kazazi konnte ihn mit Hilfe des Sturmes ohne große Mühe hochschieben. Während Makombo auf dem Karren saß, hatte er Gelegenheit, sich etwas mehr umzuschauen, und er sah, daß es sogar noch hier, in diesem Inferno, Tiere gab. Völlig überrascht wies er Kazazi darauf hin. »Schau dir das an! Dies scheinen Schildkröten zu sein!« Kazazi hörte auf zu schieben und kroch an die Leeseite des Wagens, um ihre Antwort aufzeichnen zu können. Nicht, daß es ihr so wichtig erschien zu antworten, aber sie sah darin eine willkommene Gelegenheit, sich ein wenig auszuruhen. »Was Schildkröten sind, weiß ich nicht, aber das Wort >Schild< trifft tatsächlich zu. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen, denn sie kommen nur in Gebirgsregionen vor, aber es sind die Tiere, die wir >Schwergewich97
te< nennen. Ich werde versuchen, einmal näher an eines von ihnen heranzukommen.« Sie schob den Karren näher an das Tier heran und versuchte, es hochzuheben, um es Makombo zu zeigen. Sie konnte das Tier, das ungefähr eine halbe Länge im Durchmesser hatte, kaum vom Boden heben. Makombo kletterte vom Karren. Er hielt sich sorgfältig fest und untersuchte das Ding. Zwischen zwei flachen Scheiben befand sich ein Tier mit weichem und zartem Fleisch. Die Scheiben waren extrem schwer, und um sicherzugehen, untersuchte Makombo sie mit seinem Geigerzähler. Dieser tickte nicht lauter. Er sagte überrascht: »Ich glaube, daß diese Schilde aus fast reinem Blei bestehen! Wenn wir das gewußt hätten, hätten wir nicht die ganze Zeit über unseren Container mitzuschleppen brauchen. Eins dieser Tiere und ein paar Stücke Schild von einem zweiten, um die Löcher zu verschließen, und wir haben einen Behälter!« Dann stieg Makombo wieder auf den Karren, und die letzten Kilolängen des Paßanstiegs legten sie mit großer Mühe zurück. Sie konnten nun unmöglich Gespräche miteinander führen. Der heulende Wind verursachte einen so ohrenbetäubenden Lärm, daß Kazazi Makombos Worte in ihrem Ohrradio kaum noch verstand. Dennoch kam etwa die Hälfte ihrer Gespräche irgendwie doch zustande. Die Orkanböen von manchmal über sechzig Kilolängen pro Stunde zerrten mit unglaublicher Gewalt an Kazazi, und die Klauen an ihren Händen und Füßen reichten schon lange nicht mehr zum Festhalten aus. Glücklicherweise bot in den meisten Fällen der Karren genügend Halt, aber ab und zu mußte sie bei besonders heftigen Windstößen ihren Schwanz um einen Felsblock winden oder den Endhaken des Schwanzes in einem Felsspalt festhaken. Auf diese Weise benötigte sie all ihre Gliedmaßen, um ihre Geschwindigkeit in Grenzen zu halten – Verständigung durch Gestik war daher ausgeschlossen, ebenso das Anfertigen von Zeichnungen, es sei denn, sie krochen gemeinsam hinter einen großen Felsblock, wo sie vor dem Sturmwind geschützt waren. Oben angekommen setzten sie sich in eine breite Felsspalte, um zu überlegen, was nun zu tun sei. Der Paß bestand aus einer Art Hochebene, die schmal war und fast horizontal verlief. Dieses Stück schien ungefähr fünf Kilolängen zu betragen, und danach würde der Abstieg beginnen. Noch windaufwärts spähend sagte Makombo: »Hör mal, überall auf diesem Bergpaß liegen große Steine herum. Mit ein bißchen Glück können wir uns von Stein zu Stein vorkämpfen.« 98
»Und wenn wir kein Glück haben und weiter oben keine Steine mehr liegen?« »Dann weiß ich mir auch keinen Rat mehr, aber wir können ohnehin nicht mehr zurück«, sagte Makombo mürrisch. »Ich habe folgenden Vorschlag, Kazazi: Wir knoten die Serpentinentaue und die Lianen aneinander. So erhalten wir ein Seil, das ungefähr fünfundzwanzig Längen mißt. Wir knoten das eine Ende an einem Stein fest, und das andere am Gepäckkarren. Diesen lassen wir dann windabwärts hinunterollen, bis das Ende des Seiles erreicht ist. Dann können wir nur darauf hoffen, daß der Karren an dem großen Stein dort drüben ankommt. Ist das der Fall, machst du hier das Seil los und kommst zu mir. Die ganze Zeit über ist dein Körper mit dem meinen durch ein weiteres Seil verbunden, denn wenn einer von uns wegfliegt, kann ihn der andere vielleicht noch retten. Wenn wir schließlich beide wieder bei diesem Stein dort beisammen sind, beginnt das ganze Spiel wieder von vorne. Was hältst du von dieser Methode?« »Fünfundzwanzig Längen Tau... Ungefähr zwanzig Längen pro Etappe. Das heißt ungefähr zweihundertfünfzig Mal, wenn wir Glück haben. Nette Spielchen, die du dir da ausdenkst! Aber gut, mir fällt auch nichts Besseres ein, also laß uns anfangen...« »Bist du verrückt? Hier haben wir zumindest noch etwas Schutz. Mir scheint es vernünftiger, uns den Rest des Tages auszuruhen und erst morgen früh weiterzugehen.« Dagegen war natürlich wenig einzuwenden. Die folgenden Tage waren entsetzlich. Es dauerte anderthalb Tage, die zehn Kilolängen des Passes mit der nötigen Vorsicht zurückzulegen. Am Ende des ersten Tages waren vier von Kazazis Klauennägeln abgebrochen, und Makombos Hände waren an den Innenseiten völlig aufgerissen. »Großer Gott!« stöhnte der Mensch, als sie abends hinter einem riesigen Felsblock einen Zufluchtsort gefunden hatten. »Und morgen haben wir noch eine Kilolänge vor uns, Kazazi! Ich habe auf der Erde schon eine ganze Menge Berge bestiegen, aber das hier ist lächerlich...« »Warum hast du denn auf der Erde soviele Berge bestiegen?« fragte Kazazi neugierig. »Einfach zum Vergnügen. Es ist ein großartiger Sport, mußt du wissen.« Dazu wollte Kazazi sich lieber nicht äußern. Zum eigenen Vergnügen Berge besteigen? Das erschien ihr nun wieder ziemlich lächerlich. 99
13. Die Halbinsel Niviner Als sie am Mittag des nächsten Tages das Ende der Paßhöhe erreicht hatten, sahen sie zu ihrer Erleichterung, daß der nun vor ihnen liegende abfallende Berghang nur spärlich bewachsen war und daß nur wenige Steine dort lagen. Nicht, daß sie dies erstaunt hätte. Wenn ein ständig tobender Orkan und die Schwerkraft zusammenwirken, kann natürlich nicht viel auf einem solchen Abhang liegenbleiben. Mit Makombos Händen war nun nicht mehr zu rechnen, soviel war sicher. Glücklicherweise waren seine Füße in den schweren Stiefeln vorläufig wichtiger als seine Hände. Makombo setzte sich so nahe wie möglich an die Vorderkante des Zugkarrens, wobei er die Hacken seiner Stiefel vor dem Karren in den Boden stemmte. Kazazi band das Gepäck hinter Makombo fest. Leider war für sie kein Platz mehr auf dem Gefährt. So schwer der Aufstieg für Makombo gewesen war, so einfach war nun der Abstieg für ihn. Die Osborks von Nardovs Dorf hatten das Flechtwerk des Zugkarrens ziemlich stark gemacht, aus mehreren übereinanderliegenden Schichten von Zweigen. Deshalb konnte das Ding Makombo tragen, obgleich es ursprünglich gar nicht für diesen Zweck gedacht gewesen war. Indem er ständig mit seinen Stiefeln über den Boden schleifte, hielt er die Geschwindigkeit des Karrens so niedrig wie möglich. Als der Hang gelegentlich etwas steiler wurde, nahm auch die Geschwindigkeit immer mehr zu, und Makombo mußte alle Unebenheiten, in die er seine Hacken setzen konnte, nutzen, um abzubremsen oder um den Felsbrokken auszuweichen, die hie und da doch noch herumlagen. Nach ein paar Kilolängen wurde das Tal etwas breiter, und der Wind hatte nun ab und zu nur noch die Kraft eines gewöhnlichen schweren Sturms, was eine große Erleichterung für die beiden Reisenden war. Kazazi war während des Abstiegs von Zeit zu Zeit weit zurückgeblieben, aber weil Makombo gelegentlich die Möglichkeit hatte, kurz anzuhalten, hatte sie ihn immer wieder einholen können. Als der Karren schließlich von selbst anhielt, hatten sie sich so weit von den Bergen entfernt, daß die Windgeschwindigkeit bis auf etwa Beaufort Neun abgenommen hatte. Fast windstill kam es Kazazi nun nach dem schweren Sturm der vergangenen Tage vor. Inzwischen war klar, daß mit Makombos Händen etwas geschehen mußte. Sie hatten eine Krampfhaltung angenommen, so daß er sie nur noch mit größter Mühe bewegen konnte, und dabei krümmte er sich jedesmal 100
vor Schmerzen. Sie brauchten lauwarmes Wasser, um die Hände einzuweichen, und dies würden sie nur in einem Dorf bekommen können – denn auf der Ebene ließ sich nicht so leicht ein Feuer machen. Es war nur ein Glück, daß Makombo keine Entzündung zu befürchten brauchte. Die biochemischen Eigenschaften der Menschen waren so grundverschieden von denen allen Lebens auf Coriolis, daß die hiesigen Mikroorganismen bei einem Menschen einfach keinen Nährboden fanden. In Nardovs Dorf hatte man den beiden sehr ausführliche Karten vom Gebiet unmittelbar hinter den Bergen gezeigt. Darauf war eine Anzahl von Dörfern eingezeichnet gewesen, die in Kazazis Dorf unbekannt waren. Es hätte sie mindestens noch ein paar Tagesreisen gekostet, um das nächstgelegenste Dorf zu erreichen, und sie beschlossen daher, zunächst einmal zu schlafen und dann so rasch wie möglich dorthin zu gehen. Ihren Wachplan konnten sie jetzt natürlich nicht mehr einhalten, denn Makombo war nicht imstande, seinen Wecker zu stellen. Es gab in dieser Gegend jedoch kaum Tiere, und so beschlossen sie, das Risiko einzugehen, sich ungeschützt schlafen zu legen. Makombo streckte sich auf dem Boden aus und brummte leise vor sich hin, während er sich seine Hände anschaute. »Es ist ein Glück, daß ich nicht mehr rauche...« Was sollte denn das nun wieder bedeuten? fragte sich Kazazi verwirrt. Was hatte das bloß mit Makombos Händen zu tun? Und wie konnte man in dieser Situation noch von Glück sprechen? Sie zeichnete ein großes Fragezeichen, das all ihre Fragen ausdrücken sollte. »Nun, stell dir vor, ich würde jetzt noch immer regelmäßig rauchen. Dann könnte ich mir nun, mit diesen Händen, keine Zigarette mehr anzünden, würde gleichzeitig aber ein besonders starkes Bedürfnis danach haben. Was bin ich doch für ein Glückspilz, daß ich dieses Problem jetzt nicht mehr habe, nicht wahr? Das habe ich gemeint...« Kazazi lernte auf diese Weise erstmalig das kennen, was die Menschen Galgenhumor nannten, und daher nahm sie Makombo ernst. Sie dachte: Hmm. Wenn du selbst in dieser Situation an Zigaretten denken kannst, bezweifle ich, ob du dir die Stäbchen wirklich schon so endgültig abgewöhnt hast, wie du behauptest, alter Junge! Es erschien ihr jedoch besser, dies nicht aufzuzeichnen! Ein paar Tage später erholten sie sich gerade von einer Tagesetappe und warteten auf den Untergang der Roten Sonne, als sie vor sich im Südosten einen Punkt näherkommen sahen. Für einen Springer war er zu langsam, und ein Meuchelmörder hätte sich nie so offen gezeigt. Ka101
zazi kannte eigentlich nur eine Art, die sich auf diese Weise fortbewegte, und das waren die Osborks selbst. Darum fragte sie Makombo, ob dieser damit einverstanden sei, wenn sie versuchte, die Aufmerksamkeit ihres Artgenossen auf sich zu lenken. Makombo hatte nichts dagegen einzuwenden. Er war übrigens etwas benommen von seinen Schmerzen, und Kazazi gewann den Eindruck, daß er zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu allem »Ja, ist gut« gesagt hätte. Kazazi band ein Stück Springerfell an ihren Schwanz und hob diese >Flagge< so hoch wie möglich in die Luft. Sie schwenkte sie hin und her, und auf diese Weise gelang es ihr tatsächlich, den Osbork auf sich aufmerksam zu machen. Er änderte sogleich seine Richtung und war eine Stunde später bei ihnen. Kazazi war schrecklich neugierig. Sie hatten die Reise durch die Berge zwar nur mit knapper Not überlebt, hatten dafür aber auch nur einen Paß zu überqueren brauchen. Dieser Osbork kam aus dem Süden und hatte bestimmt eine längere Reise durch die Berge hinter sich. Sie war neugierig, was er über seine Reise zu erzählen hätte. Oder war er südlich von den Bergen an der Küste entlanggereist? Was tat er dann aber so weit im Norden? »Ich muß dich enttäuschen, Kazazi«, sagte der Fremde, der sich als Spirta vorgestellt hatte. »Ich bin nicht durch die Berge gereist, ich komme vom Meer und bin erst ein Stück von hier wieder an Land gegangen.« Kazazi glaubte ihm natürlich, denn ein Telepath kann niemanden betrügen, aber das Ganze kam ihr höchst unwahrscheinlich vor. Sie hatte noch nie gehört, daß es möglich sei, über das Meer zu reisen, und außerdem... daß jemand so verrückt war, dies überhaupt zu versuchen! »Dafür mußt du wohl einen sehr guten Grund gehabt haben«, nahm sie an, und den schien Spirta tatsächlich gehabt zu haben. »Ich komme von der Halbinsel Niviner«, sagte er, und Kazazi senste den Abscheu und den Haß, den er mit dem Namen Niviner verband. Sie selbst hatte jedoch noch nie davon gehört. »Hast du eine Karte?« fragte Spirta sie, und als sie ihre Karte hervorholte, zeigte er ihr, wo auf dem Festland ein Binnenmeer lag. Eine Landzunge ragte in dieses hinein, die sich nach Westen krümmte. Wo diese Landzunge endete, darüber gab ihre Karte keinen Aufschluß: die vermutliche Form der Halbinsel war mit gestrichelten Linien angedeutet. »Wenn du einverstanden bist«, sagte Spirta, »korrigiere ich deine Karte ein wenig. Dann ist sie etwas exakter, und du kannst auch anderen helfen, ihre Karten zu korrigieren. Und rate vor allem jedem, alles daran zu setzen, niemals auf Niviner zu landen!« 102
Kazazi schaute zu Makombo hinüber, der unglücklich und etwas fiebrig vor sich hinstarrte. Von der ganzen Konversation zwischen den beiden Osborks hatte er natürlich nichts verstanden. Jetzt schien es Kazazi aber doch besser, den Rest ihres Gesprächs mit Spirta für Makombo zu übersetzen. Sie vermutete, daß das, was sie nun hören würden, ihn wahrscheinlich für eine Weile den Schmerz in seinen Händen vergessen ließe. Sie berichtete Makombo, was sie inzwischen erfahren hatte, und bat Spirta anschließend, seine Geschichte zu erzählen. Dabei kroch sie dichter zu Makombo hin und hoffte, daß ihr Mensch daran denken würde, daß er sie jetzt nicht hinter den Ohren kraulen durfte, wo nun ein anderer Osbork anwesend war. Doch gleich darauf fiel ihr ein, daß Makombo dazu vorläufig ja ohnehin nicht in der Lage war. »Nun«, begann der Flüchtling, »um dir eine Vorstellung vom Zustand auf Niviner zu geben, mußt du dir vor Augen führen, wo es liegt. Du weißt natürlich, daß fast alle Passatfolger südlich der Bergketten die Küste entlangreisen. Die Gebiete im Süden des Kontinents werden daher auch relativ stark bereist. Hier sind die Osborks demzufolge auch besonders empfindlich gegenüber den Passatfolgern.« Spirta deutete auf der Karte auf ein Gebiet, das ungefähr zwölfhundert Längen Durchmesser hatte und zwischen dem Küstengebiet im Süden und dem großen Binnenmeer im Norden lag. »Warum denn das?« fragte Makombo. »Passatfolger verbreiten doch Neuigkeiten und neue Erfindungen. Ich dachte, daß sie auf Coriolis eine sehr wichtige Funktion erfüllen!« »Das kann schon sein, aber so viele Neuigkeiten gibt es hier nun auch wieder nicht. Einer von tausend Passatfolgern kann seine Durchreise für ein Dorf vielleicht schmackhaft machen, indem er den Bewohnern von einer neuen Entwicklung berichtet, aber der Rest wird nur als störend angesehen. Passatfolger sind in den meisten Fällen nun einmal nicht die umgänglichsten Individuen, und manchmal gibt es sogar Verbrecher unter ihnen... Und selbst wenn sie ziemlich anständige Leute sind, essen sie das ganze Wild auf, von dem ein Dorf lebt. Sie gehören einfach nicht dorthin.« »Mir fällt auf, daß du eine ziemlich schlechte Meinung über Passatfolger hast«, sagte Kazazi leicht pikiert. »Aber als ich dir zuwinkte, kamst du sofort zu uns!« »Ach so! Nun hör mal, ich bin auf Niviner aufgewachsen. Wenn ich gemerkt hätte, daß ihr mir Unannehmlichkeiten bereiten wolltet, hätte ich ohne große Schwierigkeiten mit euch fertig werden können. Ich bin fünfundzwanzig, weißt du, und so alt wird man auf Niviner nur, wenn man 103
sehr gut auf sich selbst aufpassen kann. Nun gut, ob es nun berechtigt ist oder nicht, dort im Süden sind die Passatfolger jedenfalls ziemlich verhaßt. Man verweigert ihnen sofort den Zugang zu den Höhlendörfern, oder, was noch schlimmer ist: man läßt sie zwar hinein, beraubt sie aber dann. Es gibt also einige Passatfolger, die, bevor sie in diese Gegend kommen, sofort in nördliche Richtung zu den Bergen abbiegen. Dann versuchen sie, dieses ungastliche Volk nördlich zu umgehen und stoßen dabei auf das Binnenmeer. Dieses umgehen sie dann natürlich südlich. Das ist nicht gerade eine angenehme Reise, denn das Gebiet südlich und westlich des Binnenmeers ist sumpfig –wie könnte es auch anders sein, wenn es fortwährend regnet? Aber viele dieser Leute reisen am Ostrand entlang nach Norden, und so gelangen sie oft auf die Landenge, die geradewegs nach Niviner führt. Wie du sehen kannst, liegt diese Landenge genau in Richtung des Passats. Viele Tiere (und Passatfolger) wissen nicht, daß sie sich auf einer Landzunge befinden, und glauben, daß sie an den Nordrand des Binnenmeeres kommen, wenn sie einfach nur dem Wind folgen.« »Niviner ist also eine einzige riesige Falle?« fragte Makombo, der offenbar sein Bestes versuchte, um sich aktiv am Gespräch zu beteiligen. Eine Falle! Erinnerungen an die Situation in Nardovs Dorf gaben Kazazi eine Vorstellung, wie es auf der Landzunge aussehen mußte. Aber hier ging es doch um etwas anderes, denn Spirta sagte: »Das ist zwar praktisch der Fall, aber man merkt es nicht sofort. Die Landenge ist dort noch ungefähr zweihundert Kilolängen breit, daher ist es an dieser Stelle noch nicht richtig voll. Aber auf der Landzunge bewegt sich alles im Einbahnverkehr, und deshalb wird es auf der Halbinsel immer voller.« »Hmm. Alles, was dorthin kommt, bleibt dort...«, grübelte Makombo. »Man kann nur auf eine Art wieder fort: indem man stirbt«, sagte der andere grimmig. »Ihr könnt euch keine Vorstellung davon machen, wie gewalttätig das Leben auf Niviner ist. Nicht nur die Tiere, auch die Osborks kämpfen dort ständig gegeneinander. Hast du schon einmal etwas von >Krieg< gehört?« fragte er Kazazi. Die Gedankenbilder, die er dabei zu ihr aussandte, waren so verworren und blutrünstig, daß Kazazi die größten Schwierigkeiten hatte, sie für Makombo aufzuzeichnen. Zu ihrer Überraschung erkannte dieser jedoch sofort, worum es ging. Diese Art von Dingen waren Kazazi selbst völlig unbekannt, und das senste Spirta sofort. »Das kann ich mir gut vorstellen. Wenn auf dem Festland der eine Stamm den anderen verjagen würde, würden sich die Vertriebenen ein104
fach an einem anderen Ort niederlassen. Fast überall sonst macht es keinen Unterschied, wo man wohnt. Es hat überhaupt keinen Sinn, ein Gebiet windabwärts zu erobern, denn dann müßte man ständig hin und herreisen, und dazu hat niemand Lust.« »Ach so!« Makombo begriff. »Und auf Niviner besteht der Unterschied darin, daß man am Ende nicht mehr weiter kann!« »Genau. Die Stärksten oder die Rücksichtslosesten behaupten sich daher im östlichen Teil von Niviner, und die Schwächeren werden windabwärts gejagt. Windaufwärts ist es nun einmal am sichersten, und außerdem fliegt einem dort auch nicht der Abfall der Nachbarn um die Ohren. Wenn jemand nach windabwärts verjagt worden ist, steht er vor der Wahl, entweder die Osborks, die dort leben, wiederum zu vertreiben und das Gebiet selbst in Besitz zu nehmen, oder im Kampf zu fallen, wenn er nicht stark genug dazu ist. Daher gibt es im Osten der Halbinsel eine Osborksiedlung, in der die Einwohner sich vor allem aus den Passatfolgern und Ureinwohnern zusammensetzen, die sich im Kampf um den Osten am besten zu helfen wußten. Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, daß das nicht gerade die sympathischsten Osborks sind...« »Aber wenn jeder gerne im Osten wohnen möchte, und die bösartigen Osborks befinden sich dort, dann wollen diese doch auch einfach nur dort bleiben? Das brauchte doch kein Problem für diejenigen zu sein, die noch weiter östlich wohnen?« fragte Kazazis etwas naiv. Spirta blickte sie mitleidig an. »Wenn es so einfach wäre ... Die Leute im Osten wollen nicht allzu hart für ihren Unterhalt arbeiten, und die meisten Tiere kommen natürlich im Westen an. Also fordern die Bewohner des Ostens Steuern von den Osborks, die an der Grenze ihres Gebietes wohnen. Wer nicht bezahlt, wird abgeschlachtet. Die Dörfer, die etwas westlich von diesen Leuten liegen, werden dadurch so schwer belastet, daß der Ertrag ihres Gebietes zum Leben nicht ausreicht. Sie müssen schließlich selbst auch essen und fordern daher ihrerseits wieder Steuern von ihren westlichen Nachbarn, und so geht das weiter bis zur anderen Seite von Niviner. Ganz im Westen der Halbinsel ist es natürlich nicht so schwierig, an Nahrung zu kommen, aber die Dörfer in dieser Gegend müssen furchtbar hohe Steuern aufbringen. Außerdem müssen sie die Nahrungsmittel auch noch in den Osten transportieren. Meistens dauert das eine oder zwei Tagesreisen, denn dort wohnen dann die nächsten der Kette, aber es ist ein ziemlich mühseliges Herumgeschleppe.« »Im Westen gibt es wahrscheinlich auch nicht nur Pflanzenfresser«, überlegte Makombo laut. »Auch die Fleischfresser werden dort wahrscheinlich eine große Gefahr sein!« 105
»Und das nicht zu knapp! Kannst du nun verstehen, daß es für mich kein Vergnügen war, dort zu leben? Seit meiner Geburt habe ich in einem Dorf gewohnt, das ziemlich weit im Westen von Niviner liegt, und glaube mir, das bedeutet harte Arbeit und kaum Vergnügen! Und dann kam eines Tages ein Passatfolger in unser Dorf. Er besaß eine Karte vom Rest der Welt und konnte uns viel darüber erzählen. Er hatte nicht gemerkt, daß er auf der Landzunge gelandet war. Er dachte, er befände sich viel weiter nördlich.« »Was für ein Dummkopf, wenn er eine Karte besaß! Dann weiß man doch, wo man ist!« sagte Kazazi erstaunt. »Er hatte erst vor kurzer Zeit sein Dorf verlassen und hatte noch nicht soviel Erfahrung«, erwiderte Spirta. »Ich weiß nicht, wie du angefangen hast, aber die meisten Osborks müssen am Anfang ihrer Großen Reise noch eine Menge Dinge lernen, die später selbstverständlich sind.« Kazazi erinnerte sich an ein paar unangenehme Nackenschläge und zog es vor, darauf nicht näher einzugehen. »Nun gut, der Bursche konnte uns also erzählen, wie der Rest der Welt aussieht, und da beschloß ich, mit ein paar Freunden zusammen zu versuchen dorthinzukommen. Der Passatfolger hatte inzwischen auch genug von Niviner, und wir sind dann zu siebt aufgebrochen. Wir entschieden uns, nicht über die Landzunge in den Osten zu reisen. Dann hätten wir nicht nur gegen den Wind kämpfen müssen, sondern auch gegen jeden Osbork den wir getroffen hätten, denn je mehr Osborks man windabwärts von sich hat, um so besser. Auf Niviner läßt man niemanden einfach so an sich vorbeigehen.... Also blieb uns nur eine Reiseroute, und die führte über das Wasser...« »Ja, das scheint mir einleuchtend«, sagte Makombo. »Wie seltsam, daß das nicht mehr Osborks versuchen!« Kazazi hatte von Spirta jedoch schon die Gedankenbilder empfangen, die ein Bild davon gaben, wie eine Reise auf dem Binnenmeer aussah. »Makombo«, sagte sie. »Du und ich, wir haben beide die Reise über die Berge überlebt, und wir wissen, wie schwierig sie war. Spirta ist mit sieben Freunden losgezogen!« »Ach du meine Güte, ja!« Makombo erschrak. »Da hast du recht. Was ist mit den anderen geschehen?« »Wir haben ein Floß gebaut«, erzählte Spirta weiter. »Dieses Floß war riesig, denn als wir ans Wasser kamen, sahen wir sehr schnell, wie unglaublich hoch die Wellen dort waren. Glücklicherweise wehte der Wind vom Land weg, sonst wären wir nie durch die Brandung gekommen. 106
Nun, als wir alle auf dem Floß saßen, ruderten wir in westliche Richtung. Der Wind half dabei natürlich auch mit. Wir hätten eigentlich nach rechts rudern müssen, um die nordwestliche Küste zu erreichen – der Wind blies aber mehr nach Südwesten. Wenn wir ihm einfach gefolgt wären, hätten wir ungefähr fünfzehnhundert Kilolängen zurücklegen müssen. So, wie wir fuhren, betrug der Abstand nur etwa zweihundertfünfzig Kilolängen.« »Du hättest natürlich ein Segel anfertigen können«, warf Makombo in seiner praktischen Art ein. Davon hatte Spirta noch nie etwas gehört. Als Makombo ihm erklärt hatte, wie solch ein Ding funktionierte, meinte Spirta verbittert, es hätte sicher zwei Osborkleben retten können, wenn sie dies rechtzeitig gewußt hätten. »Wieso?« »Um rudern zu können, muß man am Rand sitzen. Wenn wir ein Segel benutzt hätten, hätten wir in der Mitte des Floßes sitzen können. Und am Rand...« Spirta fauchte leise vor sich hin. »Im Binnenmeer leben sehr unangenehme Tiere. Oft sind sie unvorstellbar groß. Wir hatten noch keine Kilolänge zurückgelegt, als zwei sehr lange, mit Saugnäpfen bedeckte Tentakel aus dem Meer emporschnellten. Der eine packte unseren Wasserkrug, der andere zog einen meiner Freunde ins Wasser hinab... Und dieser hatte noch Glück im Vergleich zu ein paar der anderen. Die Reise dauerte sechs Tage, und das Wasser des Binnenmeeres ist nicht genießbar... Der Passatfolger ist vor Durst gestorben, und einer von den anderen ebenfalls. Und bevor es soweit gekommen war, hatte eine außergewöhnlich hohe Welle unser Floß auf die Seite gekippt. Wie ich schon sagte: wenn man rudert, muß man auf der Seite sitzen. Als zwei von uns über Bord gingen, bekamen wir augenblicklich einen Eindruck von all den fleischfressenden Monstern, die unter der Meeresoberfläche leben. Am Schluß waren nur noch einer meiner Freunde und ich selbst übrig. Da erreichten wir die Küste. Habt ihr jemals eine Küste gesehen, gegen die das Meer vom Osten her schlägt? Ihr solltet es euch auch besser ersparen, wenn es sich vermeiden läßt. In diesen Gegenden scheinen keine Osborks zu leben, denn die Wellen, die sich dort brechen, sind so unglaublich groß, daß man das Leben dort getrost unruhig nennen darf. Wir kamen auf einer riesigen Welle an, und mit einer Geschwindigkeit, die ich nicht schätzen kann, schlug das Ding irgendwo in dem zwielichtigen Zwischenreich zwischen Land und Meer auf. Mein letzter Freund muß mit einer solchen Gewalt auf den Boden aufgeprallt sein, daß er bewußtlos liegen blieb. Als ich selbst wieder halbwegs zu mir gekommen war, habe ich mich kurz nach ihm umgeschaut – er war in einer höchstens ein Zehntel Länge tiefen Pfütze bewußtlos liegen geblieben. Zweihundertfünfzig Kilolängen Meer überleben und dann auf dem Land ertrinken... Aber ich konnte ihn mir nicht lange anschauen, 107
denn ich mußte so schnell wie möglich von diesen verfluchten Wellen fortkommen, deren Gischt Kilolängen weit landeinwärts geweht wird. Es ist dort alles naß und salzverkrustet. Das ist nun eine Woche her. Glücklicherweise fand ich ziemlich schnell Wasser, das nur leicht salzig war, denn ich war inzwischen so ausgetrocknet, daß ich mich kaum noch weiterschleppen konnte. Mein Freund war ertrunken, und ich selbst wäre fast noch vor Durst umgekommen! Nun gut, als ich erst einmal Wasser gefunden hatte, konnte ich schon bald auf die Jagd gehen. Ich war nur ziemlich geschwächt. Das erste Plattier, das ich fing, kostete mich fast meinen Kopf. Weißt du, daß ein Plattier...« »Ja, ja!« sagte Kazazi hastig. »Ich weiß alles darüber. Fahr nur fort!« »Nun, es bleibt nicht mehr viel zu erzählen. Ich bin jetzt auf der Suche nach einem Dorf, in dem ich mich niederlassen kann und wo das Leben etwas erfreulicher ist, als ich es gewohnt bin. Es gibt hier doch wohl Dörfer?« Kazazi beruhigte Spirta und lud ihn ein, am nächsten Tag gemeinsam mit ihnen weiterzureisen. Dann legten sie sich für den Rest der Nacht schlafen. Spirta und Makombo zumindest. Kazazi konnte sich nicht so recht entspannen, und dies lag nicht an den aufregenden Geschichten, die Spirta erzählt hatte. Sie hatte in den letzten Tagen ein unangenehm schweres Gefühl in ihrem Bauch; Sie würde doch wohl nicht krank werden? Wenn es etwas gab, was man auf der Großen Reise überhaupt nicht gebrauchen konnte... Es dauerte ziemlich lange, bis auch Kazazi endlich einnickte.
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14. Snobdorf Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, rannte Spirta sofort in gestrecktem Galopp nach Westen, und es dauerte eine ganze Weile, bis er merkte, daß er der einzige war, der rannte. Überrascht schaute er sich um und sah in der Ferne Kazazi und ihren Menschen langsam herantrotten. Er hockte sich hin und wartete, bis sie ihn eingeholt hatten. Als sie endlich angekommen waren, erklärte Kazazi ihm, daß ihr Mensch nun einmal nur ein sehr langsames Reisetempo durchhalte und daß sie sich daran anpassen müßten. Aber wenn Spirta jetzt doch lieber alleine reisen wollte, so könnte er das natürlich tun. »Nun, nein...«, sagte Spirta zögernd. »Ich kenne die Situation im Flachland nicht so gut. Für mich ist es sicherer, wenn ich mit euch komme. Aber es kommt mir ziemlich idiotisch vor, nur so langsam voranzukommen, wenn man den Wind im Rücken hat.« Kazazi fühlte sich etwas verstimmt. Keiner sollte sich unterstehen, ihren Menschen zu kritisieren! Deshalb erzählte sie Spirta nun ausführlich von dem Windwagen, den sie auf der Ebene benutzt hatten, und Spirtas Achtung vor Makombo stieg darauf erheblich. Die beiden Osborks tauschten weiterhin Informationen über ihre Abenteuer aus, so daß zumindest für sie die Zeit ziemlich schnell verging. Makombo schien es nicht viel auszumachen, daß die anderen beiden unterwegs so sehr miteinander beschäftigt waren, denn Kazazi und er waren es gewöhnt, beim Gehen nicht so gut miteinander kommunizieren zu können. So erreichten sie gegen Abend ein Dorf in der Hoffnung, daß Makombos Hände dort durch Ruhe und Pflege heilen würden. Als sie den nächstgelegenen Eingang des Dorfes erblickten, gingen sie sofort darauf zu und freuten sich schon auf die Ruhe, die in den Höhlen eines unterirdischen Osborkdorfes herrscht. Aber als sie gerade eintreten wollten, kam ein Osbork aus der Höhle und fragte sie unfreundlich, was sie sich wohl in Windes Namen dabei dächten, diesen Eingang zu benutzen. Kazazi erklärte, wer sie seien, und der Osbork dachte kurz nach. Schließlich sagte er: »Gut! Kazazi, du gehst dort durch den vierten Eingang von hier aus. Dein Mensch muß eine Höhle weiter hineingehen, aber was ich mit Spirta anfangen soll...« Kazazi fragte verwundert, warum sie nicht alle durch das gleiche Loch hineingehen könnten, worauf der andere leise fauchte. »Es scheint fast so, als ob außerhalb von Anderberg niemand wüßte, 109
was gute Manieren sind. Also gut, ich werde es erklären, aber paß gut auf, denn wenn du bei uns keine Manieren hast, fliegst du sofort wieder raus. Buchstäblich! Kazazi, du hast die Hälfte der Großen Reise hinter dir, hast du erzählt, deshalb betrittst du auch unser Dorf in der Mitte. Passatfolger, die fast am Ende ihrer Reise sind, können durch dieses Loch hier eintreten (er wies auf die Öffnung im Boden, die ihnen am nächsten windabwärts lag), und unsere eigenen Osborks, die dem Passat gefolgt sind, können natürlich hier hinein. In Anderberg ist der Status dafür ausschlaggebend, welchen Eingang man benutzen darf. Dein Mensch ist auf der Großen Reise noch nicht so weit wie du gekommen, also nimmt er eine Öffnung hinter der deinen. Aber Spirta ist kein Passatfolger. Er ist ein Flüchtling, und zwar einer von so ungewöhnlicher Art, daß ich nicht weiß, ob er nun sehr wichtig ist oder nur ein Niemand... Darüber muß ich mit dem Dorfrat reden.« »Darf ich auch eine Öffnung benutzen, die weiter windabwärts liegt, als mein Status es mir zugestehen würde?« Der Osbork sah sie schockiert an. »Wer wollte denn, in Windesnamen, freiwillig von seinem Status Abstand nehmen? Nun, du mußt es selbst wissen, aber wenn du dies tust, so wird es auch weiterhin deinen Status bestimmen. Und so etwas ist sehr wichtig in unserem Dorf, denn du weißt, was Anderberg bedeutet.« Nachdem er zu Spirta gesagt hatte, daß dieser zunächst draußen warten müsse, verschwand der Dorfbewohner (offensichtlich ein ortsansässiger Patrizier) ins Innere der Höhlen. Neugierig fragte Makombo, als Kazazi ihm einen kurzen Bericht über die soeben geführte Konversation gab, was Anderberg denn nun hieße. Kazazi antwortete: »Es heißt: Das Dorf der guten Manieren.« »Nun«, brummte Makombo, »meiner Meinung nach sollten wir dieses Dorf besser Snobdorf nennen.« Die drei Reisenden berieten sich kurz, und da es ihnen unwahrscheinlich erschien, daß Spirta durch das gleiche Loch wie Kazazi und Makombo Zutritt zum Dorf erhalten würde, verabredeten sie, daß Spirta draußen warten solle, während die beiden anderen so schnell wie möglich mit der Pflege von Makombos Händen beginnen wollten. Später würden sie versuchen, einander wiederzufinden. Sie betraten das Dorf zusammen durch die Makombo zugewiesene Höhlenöffnung. Kazazi hatte nicht vor, hier lange zu bleiben, deshalb war ihr ein geringfügiger Statusverlust gleichgültig – sie wollte bei Makombo bleiben. Als sie das Dorf betreten hatten, fragte sie den ersten Osbork, 110
den sie sahen, ob er ihr sagen könne, wo sie eine Unterkunft fänden? Kazazi senste Entrüstung, als der Osbork sie anschaute, und zunächst gab er auch keine Antwort. Nachdem er geringschätzig gefaucht hatte, gab er Kazazi zu verstehen, wenn sie mit ihm reden wolle, solle sie sich gefälligst westlich von ihm hinstellen. Ob sie denn nicht merke, daß sie es mit einem höheren Stand zu tun hätte? Erschreckt tat Kazazi, was der andere gefordert hatte, und dann taute dieser ein wenig auf. »Wohl neu hier?« sagte er, und nachdem er sie ermahnt hatte, sich schnell gute Manieren anzugewöhnen, wenn sie für längere Zeit in Anderberg bleiben wollten, beschrieb er ihnen, wie sie eine Besucherhöhle finden könnten. Diese Höhle war kahl und ungemütlich, aber zumindest gab es hier Wasser, und Makombo konnte seine Hände darin einweichen. Als die härtesten Krusten sich gelöst hatten und er ohne allzu große Schmerzen seine Hände wieder ein wenig bewegen konnte, bat er Kazazi, aus seinem Gepäck eine bestimmte Salbe zu holen. »Ist das Medizin?« fragte Kazazi erstaunt, als sie sah, wie Makombo seine Hände damit einrieb. »Warum hast du das denn nicht eher gesagt, du Dummkopf, dann hätte ich sie dir schon vor Tagen geben können!« »Damals konnte ich sie noch nicht gebrauchen«, erklärte Makombo. »Meine Hände befanden sich in einem Krampfzustand, und wenn ich damals die Haut meiner Handflächen hätte heilen lassen – das geht mit diesem Mittel nämlich verdammt schnell, mußt du wissen –, dann währen meine Hände für immer in dieser Stellung verblieben. Jetzt kann ich sie gestreckt halten, während die Salbe auf sie einwirkt. Ich denke, daß sie morgen schon sehr viel besser aussehen werden.« Das erleichterte Kazazi etwas. Die Bewohner des Dorfes gefielen ihr nicht gerade, und je früher sie Weiterreisen konnten, um so lieber war es ihr. Aber da sie hier wohl doch noch kurze Zeit bleiben mußten, wollte sie sich natürlich einmal das Dorf anschauen. Es zeigte sich, daß es eine ansehnliche Zahl von Gängen und Höhlen gab, in die sie mit ihrem Status nicht eintreten durften. Im übrigen gab es im unterirdischen Teil des Dorfes nicht viel zu sehen. Die Einwohner schienen nicht sonderlich an ihnen interessiert zu sein. Es kamen zwar nicht viele Passatfolger an diesem Dorf vorüber, aber die Bewohner hatten kein gesteigertes Interesse an den Dingen, die außerhalb ihres eigenen Dorfes vor sich gingen. Der Flüchtling von Niviner war inzwischen auch eingelassen worden, und was er zu erzählen hatte, erschien den Ansässigen äußerst fesselnd. Ihr Interesse an Kazazi und ihrem Men111
schen war dadurch allerdings noch wesentlich geringer, als es normalerweise der Fall gewesen wäre. Kazazi war zwar nicht sonderlich darauf aus, hier neue Freunde zu gewinnen, aber es wurmte sie trotzdem, daß man sie einfach windabwärts liegen ließ. Sie hatte nämlich jetzt, nachdem sie endlich in etwas sicherer Umgebung war, zum ersten Mal Zeit zum Nachdenken, und merkte nun, daß sie Nardov sehr vermißte. Kazazi konnte vor Makombo nicht verbergen, daß ihr etwas fehlte, aber dieser wußte nicht, was die wirkliche Ursache für ihren Mißmut war. Über sexuelle Beziehungen sprach man als Osbork nun einmal nicht, und deshalb hatte Kazazi Makombo nur erzählt, daß sie Nardov sehr gemocht habe. Das hatte Makombo natürlich selbst schon bemerkt, aber er hatte gedacht, dies sei einfach deshalb so gewesen, weil Nardov der erste Osbork war, mit dem Kazazi seit ihrem Aufbruch auf dem Heimatdorf Kontakt gehabt hatte. Übrigens hatte er selbst Nardov ja auch gemocht. Bei all dem Grübeln über Nardov war Kazazi sehr froh, als Spirta sie spät am Tag aufsuchte. Er wurde von einem Dorfbewohner begleitet, aber als Spirta zu erkennen gab, daß er mit seinen Freunden allein gelassen werden wolle, entfernte sich dieser. »Oh, oh, endlich einmal keiner von diesen Snobs in der Nähe, die mir ständig erzählen wollen, wie ich mich zu verhalten habe!« »Hast du davon etwa auch schon genug? Übrigens, welchen Status haben sie dir denn gegeben?« »Du wirst es nicht glauben, aber sie fanden meine Geschichten über Niviner so interessant, daß sie mir eine Position im Dorf angeboten haben, zu der ihr Eingang Nummer zwei gehört!« Makombo pfiff leise durch die Zähne. »Hast du ein Glück! Ein Flüchtling kann es wahrlich schlechter antreffen, möchte ich meinen! Und so ein hoher Posten in diesem Dorf wird wahrscheinlich bedeuten, daß dich ein wahres Faulenzerleben erwartet!« »Oh, aber ich bleibe auf keinen Fall hier! Ich bleibe keine Minute länger als notwendig! Wann brecht ihr wieder auf? Ich darf doch mit euch kommen?« Erstaunt fragte ihn Kazazi, was ihm hier denn nicht gefalle. »Nun hör einmal, ich bin ein einfacher Mensch und gesellschaftliches Gehabe liegt mir nicht. Ich komme gerade von einem Diner, das mir zu Ehren gegeben wurde. Der Platz jedes Teilnehmers war aufs sorgfältigste nach seinem jeweiligen Status im Dorf ausgewählt worden, es war 112
einfach verrückt! Und ich saß natürlich nicht am Kopf des Tisches, obwohl das Essen mir zu Ehren gegeben wurde! Es waren ein paar von den wirklich wichtigen Leuten dort, und die saßen östlich von mir. Natürlich... Dieses Grüppchen von Idioten ist fortwährend so sehr auf der Hut, um Fehler im Umgang miteinander zu vermeiden, daß mich das völlig nervös macht. Übrigens weiß ich ganz genau, daß ich das niemals lernen würde. Selbst wenn ich diesen Unsinn gut finden würde, würde ich ihn doch einfach nicht durchhalten! Und dann hätten sie schließlich irgendwann genug von meinem unschicklichen Verhalten, und ich verlöre meinen Status doch wieder. Nein, ich ziehe lieber mit euch weiter, wenn es euch recht ist.« »Dann wirst du aber noch einen Tag warten müssen«, sagte Makombo. »Ich denke, daß wir übermorgen früh wieder aufbrechen können. Versuche also, bis dahin dein Luxusleben noch auszuhalten.« Kazazi senste, daß ihr Mensch dabei keine Eifersucht empfand, sondern eher Freundschaft. Offenbar gefiel Makombo Spirtas Reaktion. Sie selbst dachte übrigens ebenso darüber. Sehr lange konnte Spirta natürlich nicht in diesem >Armenviertel< bleiben, und sein Begleiter kam auch schon wieder herbeigelaufen; er war offensichtlich etwas ungeduldig. Sie verabredeten sich, am folgenden Tag die Umgebung zu erkunden. Nicht etwa, weil sie erwarteten, daß dies besonders fesselnd werden würde. Es ging mehr darum, für eine Zeit der erstickenden Atmosphäre dieses Dorfes zu entkommen. Am nächsten Morgen gab es aber doch noch etwas, das sie alle fesselte. Als sie ins Freie traten – natürlich durch die für Makombo erlaubte Öffnung –, beschlossen sie, windabwärts zu gehen. So konnten sie zur Not durch eine der »niederem Öffnungen wieder ins Innere des Dorfes kommen. Sie gingen dabei nicht geradewegs nach windabwärts, sondern in einem leichten Winkel in diese Richtung. Dabei stießen sie auf zwei sehr lange, straff gespannte Kabel aus geflochtenen Spinnweben. Diese verliefen in Windrichtung und waren ziemlich dünn, so daß sie erst aus der Nähe zu sehen waren. Das Seltsame war, daß sich diese Kabel zu bewegen schienen – eines in nordöstlicher Richtung und das andere in südwestlicher Richtung. Während sich die drei Besucher dies anschauten, sahen sie plötzlich einen mit Osborks besetzten Schlitten, der sich an einem Draht in nordöstliche Richtung bewegte. Die Osborks, die darauf saßen, machten einen gut genährten und gepflegten Eindruck, und sie schauten mit etwas ab113
fälliger Geringschätzung zu Kazazi und Makombo herüber. Einer von ihnen grüßte Spirta sehr höflich – sein Status war offenbar niedriger als der des Verbannten. Als sie sich gerade fragten, wie dieser Schlitten wohl windaufwärts gezogen würde, sahen sie von windaufwärts her einen leeren Schlitten auf sich zukommen, auf dem sich ein großes Segel befand. Der Wind blies dieses Gefährt in südwestliche Richtung, aber viel langsamer, als man es eigentlich erwartet hätte. Der Schlitten schien an dem anderen Spinnwebenkabel befestigt zu sein. Makombo sagte: »Verdammt! Jetzt begreife ich es... so müssen sie es hier natürlich machen!« Kazazi verstand das Ganze noch nicht so recht, und auch Spirta war neugierig auf Makombos Erklärung. »Nun, was sollen sie machen? Wenn man hier einen höheren Stand bekleidet, dann darf man nur oberhalb des Windes in das Dorf eintreten. Immer wenn man aus irgendeinem Grunde ein kurzes Stück windabwärts gegangen ist, kann man nicht – wie beispielsweise in Nardovs Dorf –durch eine beliebige Öffnung hineingehen und unter der Oberfläche zurück zu den windaufwärts gelegenen Teilen des Dorfes gehen! Dann muß man sich über der Oberfläche mit viel Mühe einen Weg zu dem Eingang zurück erkämpfen, der dem eigenen Status angemessen ist. Nun ist dies nicht gerade das, was einem hochgestellten Osbork dieses Dorfes gefallen würde! Deshalb haben sie eine Art Seilbahn erfunden. Wenn sich unten genug Osborks gesammelt haben, um ein Fahrzeug zu füllen, schicken sie einen Osbork von niedrigerem Stand hinauf, damit dieser dem Schlitten, der dort steht, die Segel hißt. Dieser wird dann vom Wind nach unten getrieben und zieht so den anderen Schlitten nach oben, denn der hat seine Segel natürlich gestrichen. Ob es tatsächlich genau so funktioniert, weiß ich nicht, aber so ungefähr müßte es wohl vor sich gehen.« »Ich halte sie zwar immer noch für einen Haufen eingebildeter Gecken, aber klug sind sie schon, das muß man ihnen lassen!« sagte Kazazi bewundernd. »Was ich nicht verstehe, ist, daß sie hier Spinnwebenfäden benutzen«, sagte Makombo. »Ich weiß noch allzu gut, daß du gesagt hast, du hättest noch niemals etwas davon gehört. Und in Nardovs Dorf habe ich auch keinen Schlitten gesehen.« »Oh, das Prinzip des Schlittens ist uns schon bekannt, aber niemand hat bisher etwas davon gehabt, denn wenn man solch ein Ding fortziehen will, reißt das Tau ständig. Jetzt, nachdem du uns gelehrt hast, Serpenti114
nen als Taue zu benutzen, können wir vielleicht auch mit einem Schlitten mehr anfangen. Aber ich verstehe ebensowenig wie du, warum außerhalb dieses Dorfes noch nie etwas über den Gebrauch von Spinnweben bekannt geworden ist...« Spirta hatte den beiden anderen zugehört und mischte sich nun ebenfalls in die Unterhaltung ein: »Ich denke, das ist so, weil dieses Dorf so isoliert liegt«, sagte er. »Passatfolger kommen nur selten in das Gebiet nördlich des Binnenmeeres. Nur diejenigen, die aus Nardovs Dorf oder aus anderen Dörfern am Westrand der großen Steppen durch die Berge gezogen sind, kommen durch diese Gegend und damit möglicherweise auch an Snobdorf vorbei.« »Hmm, hmm, und die werden dann meist noch nördlich von diesem Dorf weiterziehen«, fügte Makombo hinzu. »Der einzige Grund, warum wir direkt auf dieses Dorf zugegangen sind, war, daß ich meine Hände pflegen mußte und wir deshalb gezwungen waren, das nächstgelegene Dorf aufzusuchen. Ich denke, daß hier die einzigen echten Provinzler von ganz Coriolis wohnen!« »Aber die Erfindung dieser Seilbahn, man könnte sich doch vorstellen, daß die Passatfolger, die hier vorbeikommen, darüber berichten würden?« »Bist du dir da so sicher, Kazazi? Stell dir vor, daß du in einem Dorf wohnst und ein Passatfolger käme vorbei und würde dir etwas von so einer Seilbahn erzählen! Dann wäre es doch wohl ziemlich wahrscheinlich, daß es dich kaum interessierte? Was hat man in einem Dorf mit gewöhnlichen Osborks von solch einem Ding? Auf der Erde würde dann wohl jemand sagen: >Die Seilbahn interessiert mich nicht, das Seil schon<, aber ich habe schon lange begriffen, daß es nicht allzu viele Osborks gibt, die so pragmatisch denken können! Wahrscheinlich hat es sogar ziemlich viele Passatfolger gegeben, denen es nicht der Mühe wert erschien, über die Seilbahn auch nur zu berichten.« Das war das einzig Interessante gewesen, das Kazazi und ihre Freunde hatten finden können. Sie und Spirta gingen an diesem Tag noch kurz auf die Jagd, aber im übrigen warteten alle drei ungeduldig darauf, daß Makombos Handsalbe ihre Wirkung tat und sie Weiterreisen konnten. Ohne den anderen davon zu erzählen, suchte Kazazi inzwischen einen Heiler auf. Sie wollte ihre Reisegefährten nicht beunruhigen, aber dieses seltsame Gefühl in ihrem Unterbauch... sie hätte doch zu gerne gewußt, was es damit auf sich hatte. Der einzige Heiler, den sie finden konnte und der sich herabließ, jemanden von niedrigem Stand zu untersuchen, sagte, es läge nichts Besonderes vor. »Für jemanden deines Standes zumindest ist es nichts Besonderes«, sagte er, und Kazazi senste bei 115
ihm Verachtung. Er weigerte sich im übrigen, Kazazi zu erklären, was er mit dieser Bemerkung gemeint hatte, und er hielt seine Gedanken vor ihr verschlossen. An diesem Abend sprachen Kazazi und Makombo über ihre Abenteuer. »Weißt du, daß ich mich in diesem Dorf oft genauso fühle wie früher zu Hause?« sagte Kazazi. »Zu Hause waren die Leute zwar viel netter zu mir, aber manchmal fühlte ich mich dort ebenso unerwünscht.« »Du hast mir einmal erzählt, dies sei so gewesen, weil du einen so schwierigen Charakter gehabt hättest«, sagte Makombo. »Aber das hat dich in Nardovs Dorf doch auch nicht behindert?« »Nein, das stimmt. Aber ich glaube, es war dort anders, weil wir als Helden angesehen wurden.« »Glaubst du das nur? Ich dachte, daß ihr derartige Dinge immer voneinander wüßtet?« »Nein, jetzt wo du es sagst... Es hat tatsächlich keine klar erkennbare Rolle gespielt! Sie akzeptierten mich einfach so, wie ich war!« »Und wenn du dort etwas mürrisch warst, oder leicht gereizt?« “...Wind! Ich kann mich eigentlich nicht an ein einziges Mal erinnern, wo dies so gewesen wäre!« Eine Zeitlang war es nun still, und dann sagte Makombo: »Kazazi, ich kann mich auch nicht mehr erinnern, wann wir das letzte Mal Streit gehabt haben, weißt du das?« »Ja, kein Wunder. Du rauchst jetzt schon so lange nicht mehr, daß du dich daran gewöhnt hast. Du warst eine Zeitlang nicht so umgänglich, Makombo!« »Das könnte vielleicht eine Rolle gespielt haben, aber das kann doch nicht der einzige Grund gewesen sein. Die Streitigkeiten, die wir hatten, waren sicherlich nicht nur auf mich zurückzuführen. Und in diesem Dorf gibt es doch streitsüchtige Personen genug, möchte ich sagen, und doch ist alles, was ich von dir bemerke, eher leichte Amüsiertheit als etwas anderes. Schau dir zum Beispiel einmal diese Zeichnung an, die du gerade von einem der Dorfbewohner angefertigt hast! Meiner Meinung nach hat er einen auffällig kleinen Schwanz. Ist das eine Art Beleidigung?« »Ha, ha – ja. Er würde furchtbar wütend werden, wenn er wüßte, daß ich ihn so gezeichnet habe. Und dabei ist er hier eine so wichtige Persön116
lichkeit! Aber ich glaube, du hast tatsächlich recht, Makombo. Ich rege mich tatsächlich nicht mehr so schnell auf, das stimmt. Wie sonderbar, daß sich ein Osbork so verändern kann... Bin ich vielleicht netter geworden?« »Du bist auf jeden Fall weniger schnell verletzt. Aber netter? Nein, ich fand dich schon von Anfang an sehr nett.« »Vielleicht ist es das gewesen, Makombo. Vor dir hat es in meinem Leben noch nie jemanden gegeben, der mich über längere Zeit wirklich nett fand. Was für ein Glück, daß du nicht sensen kannst!« »Unsinn! Auch ohne zu sensen habe ich gemerkt, daß du ab und zu ziemlich unausstehlich warst. Aber das ändert doch nichts an der Tatsache, daß ich dich im Grunde ziemlich nett finde!« Darauf erwiderte Kazazi nichts. Ihr wurde bewußt, daß ihre Liebe zu Nardov, die eindeutig auf Gegenseitigkeit beruht hatte, bei der Verwandlung ihrer Persönlichkeit ebenfalls eine Rolle gespielt haben konnte. Oder war diese Liebesbeziehung nur möglich gewesen, weil sie sich schon vorher verändert hatte? Nun gut, diese Art von Fragen führten zu nichts. Sie hatte sich verändert, und das gefiel ihr ausgezeichnet. Dabei würde sie es einfach belassen. Als Makombo am Morgen des dritten Tages in Snobdorf stolz und erleichtert die dünne, leuchtend rosafarbene und noch sehr empfindliche Haut auf den Innenflächen seiner Hände Kazazi zeigte, war diese sehr beeindruckt. Wie schade, daß ihre Körper so verschieden waren! Sonst hätte Makombo damals den Riß an ihrem Schwanzansatz auch so schnell heilen können! Obwohl... dann hätte Nardov vielleicht nie... Genug davon! dachte sie. Es ist nun einmal so, wie es ist! Als Spirta sich kurze Zeit später zu ihnen gesellte, brachen die drei Reisenden auf. Die Einwohner von Snobdorf schauten sich kaum nach ihnen um. Die vereinzelten Dorfbewohner, an denen sie auf ihrem Weg zum Ausgang vorbeikamen, schienen über die Abreise der unmanierlichen Gäste eher erleichtert zu sein.
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15. Der Windtunnel Eine Woche lang reisten sie langsam und ohne besondere Ereignisse weiter, bis sie an einen großen Fluß kamen, den man nicht durchwaten konnte – was bisher immer möglich gewesen war. »Das heißt, wir müssen schwimmen...«, sagte Makombo. »Schwimmen? Was ist denn das?« »Nun... äh... daß man durch bestimmte Bewegungen an der Wasseroberfläche bleibt und sich vorwärtsbewegt. Du kannst es offenbar nicht, Kazazi, aber kennst du denn das Prinzip nicht einmal?« »Wind! Ich mag nicht einmal daran denken! Wasser ist dazu da, um sich damit zu waschen oder um es zu trinken, aber nicht dazu, freiwillig hineinzugehen! Schau mal!« Kazazi tat einen schnellen Satz und packte mit ihrem Maul ein kleines Nagetier, das an einer moosartigen Pflanze geknabbert hatte. Sie nahm das Tierchen in die Hand und warf es in den Fluß. Innerhalb von wenigen Sekunden wurde das Wasser um es herum aufgewühlt, und Makombo konnte sehen, daß zahllose kleine und große (manchmal auch sehr große) Wassertiere auf das unglückliche Opfer zuschwammen und ein rasender Kampf begann, so daß die Überlebenden am Schluß viel mehr zu fressen hatten als nur den mageren Körper des kleinen Nagetiers. Makombo erschauderte. »Allmächtiger! Ist das in all euren Flüssen so?« »Nein... Nur in den großen, glaube ich. In den kleinen Flüssen, die wir zuvor durchwatet haben, haben sie uns doch wohl in Ruhe gelassen, oder?« »Gott, Kazazi, wenn ich gewußt hätte, daß diese Art von Tieren überhaupt existiert, hätte ich wahrscheinlich nie...« »Nun, dann ist es nur gut, daß du es nicht wußtest«, sagte Kazazi praktisch. »Übrigens würde ich auch nicht gerne in den Fluß gehen, wenn es diese Tiere nicht gäbe.« Makombo betrachtete den wirbelnden, rasend schnellen Strom, auf dem der Sturmwind schäumende Wellenkämme bildete, und mußte zugeben, daß er vielleicht wirklich eine ziemlich unrealistische Lösung vorgeschlagen hatte. »Aber wie sollen wir dann in Gottesnamen auf die andere Seite kommen?« »Mit einem Floß vielleicht?« schlug Kazazi vor. »Wir haben einen erfah118
renen Floßbauer unter uns, nicht wahr, Spirta?« »Unter keinen Umständen!« Spirta fauchte vor Entrüstung. »Mich bekommst du, so lange ich lebe, nicht wieder auf ein Floß! Ich will euch gerne helfen, eines zu bauen, aber dann müßt ihr ohne mich Weiterreisen!« Nun, das konnte Kazazi verstehen, aber was sollten sie nur statt dessen tun? Sie wollte eben Makombo vorschlagen, trotzdem mit einem Floß überzusetzen und Spirta seines Weges ziehen zu lassen, als ihr Mensch sie darauf hinwies, daß er seine Laserpistole nicht mehr so oft benutzen konnte und daß sie Spirta als Reisegefährten unbedingt brauchten. Deshalb schlug Makombo vor, dem Fluß zu folgen, bis sie an eine Stelle kämen, wo sie ihn durchwaten konnten. »Es wird wohl nicht anders gehen, aber in welche Richtung sollen wir dann gehen?« Spirta antwortete: »Gegen den Strom, würde ich vorschlagen. Dieser Fluß mündet möglicherweise ins Binnenmeer, und wenn wir dem Strom flußabwärts folgen, laufen wir Gefahr, in das Sumpfgebiet zu geraten, das im Osten des Binnenmeers liegt.« »Außerdem erreicht man früher oder später doch von selbst einen schmaleren Teil des Flusses, wenn man ihm stromaufwärts folgt«, meinte Makombo. In jedem Fall würde dies einen Umweg von vielen Tagen zur Folge haben, aber ihnen blieb nichts anderes übrig. Etwas mißmutig über diesen Rückschlag trotteten sie stromaufwärts. Nach ein paar Tagereisen sahen sie plötzlich neben einem riesigen Geröllhaufen ein großes Schild. In Hieroglyphenschrift stand darauf, daß an dieser Stelle ein Tunnel unter dem Fluß hindurchführe, und daß es jedermann frei stünde, ihn zu benutzen. Makombo war begeistert, aber Kazazi und Spirta hatten ihre Bedenken. In ihrer Welt tat man nicht so ohne weiteres etwas für Unbekannte. Sie vermuteten, daß auf der anderen Seite des Tunnels eine Falle aufgestellt sein könnte. »Dann werde ich wohl doch noch meine Pistole brauchen!« brummte Makombo. »Dann hätten wir natürlich genausogut den Fluß mit einem Floß überqueren können. Aber gut, jetzt sind wir einmal hier. Wenn tatsächlich auf der anderen Seite Räuber auf uns warten, werden sie wahrscheinlich nicht mit meiner Pistole rechnen, also können wir auch durch den Tunnel gehen.« Der Eingang des Tunnels war merkwürdig. Man hätte sich doch auch mit einem Loch im Boden begnügen können, wozu sollte dieses Labyrinth gut sein, das man durch einen Berg von Steinen betreten mußte, bevor 119
man in den eigentlichen Tunnel gelangte? Aber gut, der Tunnel selbst erfüllte seine Funktion ausgezeichnet. Er war sehr geräumig und so breit, daß zwei Personen ohne Schwierigkeiten nebeneinander her gehen konnten. Als sie den Tunnel betreten hatten, merkten sie, daß es darin stockdunkel war, aber sobald sie vor dem Wind geschützt waren, hatten sie kaum Schwierigkeiten, eine Fackel anzuzünden. Makombo zog mit der einen Hand den Karren hinter sich her und hielt mit der anderen seine Pistole fest. Er ging auf der linken Seite, und rechts von ihm befand sich Spirta. Der war ein geübter Kämpfer, und er schien gut mit Kazazis Segelschwärmerschnabel umgehen zu können. Kazazi war die Verletzlichste des Trios, und deshalb ging sie mit einer Fackel in der Hand hinter Spirta und neben dem Karren her, denn sie rechneten mit einem eventuellen Angriff erst am Ende des Tunnels. Als sie einmal im Tunnel waren, wurde dieser ziemlich schnell schmaler, so daß sie schließlich hintereinander her gehen mußten. Würde der Tunnel später plötzlich aufhören und würden sie dann von hinten angegriffen werden? Sie beschlossen, daß Spirta mit dem Degen – so nannte Makombo die Hälften des spitzen Segelschwärmerschnabels – vorangehen solle, und Kazazi sollte ihm mit der Fackel und dem Karren folgen. Makombo würde dann die Nachhut bilden. Bei einem eventuellen Angriff von hinten konnte er die Verteidigung übernehmen, während er bei einem Angriff von vorne mit seiner Laserpistole über Kazazi und Spirta hinwegschießen konnte. Der Tunnel schien jedoch nicht in einer Sackgasse zu enden. Nach einer Weile fragten sie sich jedoch, ob er wohl überhaupt jemals ein Ende nehmen würde. Sie mußten doch den Fluß inzwischen schon lange hinter sich gelassen haben? Sie hielten an, um sich zu beraten. Die Sache wurde immer verdächtiger, je länger sie hier waren. Ob sie besser umkehren sollten? Da hörten sie weit hinter sich ein seltsames Gerumpel, und plötzlich jagte ein sehr starker Wind durch den Tunnel. Bevor sie sich irgendwo festhalten konnten, wurden sie Hals über Kopf vorwärts geweht. Kazazi konnte sich einen Augenblick lang an dem schweren Karren festhalten, wurde dann aber fortgerissen, als Makombo mit einem schweren Aufprall gegen sie flog. Sie versuchte nach Kräften zu vermeiden, an der Wand vorzuschürfen, aber sehr gut gelang ihr dies nicht, denn die Fackel war sofort erloschen, so daß sie so gut wie nichts sehen konnte. Plötzlich landete sie mit einem dumpfen Dröhnen auf dem Boden. Der Orkan hatte sich von einer Sekunde auf die andere wieder gelegt. Die windstille Luft stank und war stickig warm, aber sonst geschah nichts weiter. 120
Sie hörte, wie Spirta sich neben ihr hochrappelte. Seine Gedanken waren ebenso verwirrt wie die ihren, aber eins wußten beide: Makombo war noch hinter ihnen. Ohne Zögern gingen sie gemeinsam durch den Tunnel zurück, um herauszufinden, was mit Kazazis Mensch geschehen war. Ungefähr nach fünf Längen stießen sie mit ihm zusammen. Kazazi senste bei ihrem Menschen eine Mischung aus Genugtuung und Verzweiflung. Sie wollte ihn fragen, was passiert sei, aber wie soll man das machen, wenn man mit Zeichnungen kommunizieren muß und alles stockdunkel ist. Makombo benötigte jedoch keine Frage. Er sagte schnell: »Ich habe meine Laserpistole auf >maximal< und >Breitfeuer< gestellt und die gesamte Ladung, die ich noch hatte, auf den Tunnel hinter mir gerichtet, und dadurch ist er zugeschmolzen.« Das war doch großartig! Kazazi war stolz auf ihren Menschen, weil dieser sie so wirksam gerettet hatte. Makombos Verzweiflung konnte sie allerdings nicht nachvollziehen. Nun gut, danach würde sie ihn später fragen. Ohne daß sie etwas zu sagen brauchten, war es allen dreien klar, daß sie so schnell wie möglich den Tunnel verlassen mußten, und daher machten sie sich auf den Weg, wobei Spirta wieder vorausging. Er war jetzt, nachdem Makombos Pistole leer war, der beste Kämpfer unter ihnen. Ob Makombo deshalb so verzweifelt ist? fragte Kazazi sich, während sie sich bemühte, ihm nicht auf die Hacken zu treten. Aber Wind! Zusammen hatten sie doch auch ohne Pistole eine Chance, die Reise zu vollenden! Natürlich würde es jetzt viel schwieriger werden, aber sie war es von Makombo nicht gewöhnt, daß er so stark auf Rückschläge reagierte! Nach ungefähr fünfundzwanzig Längen sahen sie in der Ferne Tageslicht. Kazazi hatte nun keine Zeit mehr, über Makombo nachzugrübeln. Jetzt, wo sie Licht hatten, würden sie endlich schneller vorwärtskommen. Makombo sagte leise zu Kazazi: »So schnell wie wir können und sobald wir genug Platz haben, geht Spirta etwas mehr rechts, ich etwas nach links und du in die Mitte. Weitergeben an Spirta!« Aber das hatte Kazazi natürlich schon längst getan. Mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit, die Makombo über eine kurze Entfernung möglich war, rannten sie aus der Tunnelöffnung, und dort wären sie fast direkt in ein riesiges grobmaschiges Netz gestürmt, das am Ausgang aufgespannt war. Makombos Kampfordnung wurde dadurch zerstört, denn er selbst mußte nun weiter nach links abbiegen, als er beabsichtigt hatte, und konnte gerade noch am Netz vorbeisausen. Kazazi sah dies voraus und machte, um nicht von Makombo ins Netz gedrückt zu werden, einen Satz nach vorne. Kurz vor Makombo schlüpfte sie links 121
an der Falle vorbei. Ungefähr fünfzig Längen weiter bremste sie ihre Geschwindigkeit ab, um sich umschauen zu können. Was sie nun sah, war äußerst beeindruckend. Auf der einen Seite des Netzes kämpfte Makombo mit einem aufrecht stehenden Osbork, der seinen Schwanz um Makombos Kopf und Hals gewickelt hatte und versuchte, Makombos Hände von seinem Hals wegzuziehen. Einen kurzen Augenblick lang sah es so aus, als ob beide ungefähr zur gleichen Zeit ersticken würden, als eine Windung des gegnerischen Schwanzes direkt an Makombos Mund vorbeiglitt. Da öffnete dieser seinen Mund und biß kräftig zu. Der Osbork stand einen Augenblick lang ganz still, und das genügte Makombo. Er schlug seinem Feind die Hinterbeine weg, und als dieser auf den Boden fiel, rannte er mit einer für einen Menschen bemerkenswerten Geschwindigkeit zu Kazazi hinüber. Er spuckte ausgiebig aus und brummte, daß er Osborkfleisch gar nicht möge, aber Kazazi hörte ihm nicht zu. Sie war zu sehr von dem in Beschlag genommen, was sie Spirta tun sah. Der Flüchtling von Niviner war inzwischen an der anderen Seite des großen Netzes beschäftigt gewesen, und er ließ keinen Zweifel daran, daß es auch seine Vorteile hatte, auf dieser Halbinsel aufgewachsen zu sein. Er hielt in jeder Hand eine Hälfte des Segelschwärmerschnabels und war damit auf die Osborks an seiner Seite der Falle zugerannt – es waren vier gewesen. Als Kazazi zu ihm hinüberschaute, war es schon einer weniger geworden, und sie sah gerade noch, wie Spirta die Spitze der einen Schnabelhälfte durch den Hals des zweiten bohrte. Daraufhin schlang er seinen Schwanz um die Pfoten eines Dritten, umrollte sie stramm und zog. Während dieser Dritte zu Boden fiel, tauchte er unter den Händen eines Vierten hindurch und rammte mit seinem Kopf dessen Unterbauch, und zwar so kräftig, daß der Gegner über seinen Kopf hinaus in die Höhe schoß. Dann rannte Spirta mit großer Geschwindigkeit zu seinen Reisegefährten. Als er bei ihnen angekommen war, senste Kazazi etwas schockiert, wie sehr Spirta diesen Kampf genossen hatte. »Wie einfach das war! Und das wollen Räuber sein?« lachte sich der Osbork ins Fäustchen und leckte zufrieden seinen Endhaken sauber, der beim Kampf etwas schmutzig geworden war. Es schien Kazazi das beste zu sein, nicht mehr länger hier zu verweilen, und die anderen waren der gleichen Meinung. Sie gingen so schnell wie möglich weiter, wobei sie sich wieder an die Geschwindigkeit Makombos anpaßten. Wegen einer etwaigen Verfolgung machten sie sich übrigens keine großen Sorgen. Schließlich interessiert es ja auf Coriolis niemanden, eine entkommene Beute zu verfolgen, weil man sich anschließend mühsam zurückkämpfen muß, um die gut funktionierende Falle wieder benutzen zu können. 122
An diesem Abend rekonstruierte Makombo für die anderen, wie er sich das Vorgefallene vorstellte. »Ich denke, daß in diesem Steinhaufen eine Windfalle verborgen war«, sagte er. »Der immer enger werdende Gang funktionierte wie eine riesige Turbine. Ein paar Osborks, die sich versteckt hielten, als wir ankamen, haben wahrscheinlich die Windfalle in Gang gesetzt, sobald wir im Tunnel waren, indem sie eine Menge Steine weggenommen haben; und was ein bißchen Turbinenkraft ausrichten kann, brauche ich dir nicht zu erzählen, Kazazi. Nun, wenn ich das Ganze nicht hätte einstürzen lassen, hätten sie uns betäubt oder tot, auf jeden Fall aber ziemlich aufgeschürft in ihrem Netz gefangen. Was für ein Glück übrigens, Spirta, daß du die meisten von ihnen vor dir hattest! Mir wäre es nicht gelungen, ohne Pistole durchzukommen!« Kurze Zeit später senste Kazazi wieder jene tiefe Verzweiflung bei Makombo. Sie fragte: »Makombo, was ist nur mit dir los? Du hast uns aus der Falle gerettet, und ohne Pistole werden wir es bestimmt auch schaffen! Ich kenne dich so gar nicht!« »Kazazi, was meinst du, wo der Bleibehälter ist?« fragte Makombo etwas müde. »Oh! Ist er etwa im Gang geblieben?« »Unter dem eingestürzten Teil, ja. Oder auf der anderen Seite. Wir können auf jeden Fall nicht mehr an ihn herankommen. Es gefällt mir natürlich sehr gut hier auf diesem Planeten«, sagte der Mensch leicht sarkastisch, »aber zu gegebener Zeit möchte ich doch auch ganz gerne wieder einmal nach Hause. Hast du irgendeine Idee, wie das gehen soll?« Es dauerte eine Weile, bevor Kazazi darauf antworten konnte, denn Spirta wollte wissen, was so schlimm am Verlust des Bleibehälters sei. Als sie ihm alles erklärt hatte, sagte Spirta: »Dieser Behälter ist also unersetzlich?« Das brachte Kazazi auf eine Idee. »Makombo, weißt du noch? Die Schwergewichte?« »Ja, natürlich. Du meinst also, wir sollten einfach schnell zurückgehen und eines von diesen Tieren vom Bergpaß holen?« Makombo wurde nun völlig zynisch. Den Verlust des Behälters konnte er offenbar besonders schwer verkraften. Kazazi bemerkte mit Erstaunen, daß ihre erste Reaktion auf Makombos zynische Antwort Verständnis war. Vor einiger Zeit wäre das sicher anders gewesen! »Es gibt noch mehr Berge auf Coriolis, Makombo«, sagte sie, ohne auf 123
seinen Zynismus zu reagieren. »Schau einmal auf die Karte. Wir müssen zuerst durch den Isthmus, aber dann kommt wieder ein Gebirge. Wenn wir dorthin gehen würden, brauchten wir es nicht zu überqueren, wir müßten nur weit genug gehen, um Schwergewichte zu finden, und könnten dann wieder umkehren!« »Vorausgesetzt natürlich, daß auch dort welche leben...« »Oh, natürlich leben welche dort! Ich habe schließlich schon vorher Beschreibungen von diesen Tieren gehört, und zwar, weil Passatfolger aus unserem Dorf sie dort gesehen haben!« »Hmm. Und dann müssen wir zurück, gegen den Wind, mit solch einem Tier im Schlepp... Und dann ist so ein Ding natürlich auch keinesfalls so dicht wie der Container...« Kazazi zog es vor, Makombo nun für eine Weile in Ruhe zu lassen. In diesem Zustand konnte man ohnehin nichts mit ihm anfangen. Kurze Zeit später sagte Makombo: »Mein Gott, was ist bloß mit mir los! Kazazi, du hast recht. Es ist eine Perspektive, und ich darf mich nicht so gehen lassen. So einfach, wie du es darstellst, wird es wahrscheinlich nicht werden, aber es ist eine Chance, und das muß vorläufig genügen.« Kazazi senste, daß Makombos Gefühle noch lange nicht so waren, wie sie hätten sein sollen, aber er gab sich jetzt zumindest einen Ruck, und wenn er das tat, würde ihr Mensch es bestimmt auch schaffen. Übrigens begann sie auch, sich Sorgen über sich selbst zu machen. Ihre Stimmung war bestens, aber ihre Kondition ließ allmählich etwas nach. Sie fragte sich, ob dies mit dem unangenehmen Gefühl in ihrem Bauch zusammenhängen könnte. Was auch immer die Ursache dafür sein mochte, der kurze Sprint bei der Falle vor dem Windtunnel hatte sie ungewöhnlich kurzatmig gemacht... Daß sie ihre Gedanken nicht für sich behalten hatte, merkte sie erst, als sie Spirtas Gedanken in ihrem Kopf wahrnahm. »He, Mädchen, du bist doch nicht etwa schwanger, oder?«, und Kazazi senste Spirtas amüsiertes Schmunzeln. Großer Passat! War das denn die Möglichkeit? Kazazi schirmte ihre Gedanken sofort vor Spirta ab und rechnete schnell zurück... Ja, das mußte es sein! Was für eine lästige Komplikation auf der Großen Reise... Gleichzeitig verspürte sie aber auch eine Erleichterung darüber, daß sie nun wenigstens wußte, daß sie nicht krank war. Ein paar Stunden später wurde die Reisegesellschaft mitten in der Nacht überfallen. Spirta hatte zu diesem Zeitpunkt gerade eine Stunde Wache, 124
aber er konnte nichts gegen den Überfall tun. Was kann man auch schon gegen zehn Millionen Angreifer ausrichten? Kazazi wurde durch ein unglaubliches Jucken aufgeweckt, und als sie sich untersuchte, merkte sie, daß Tausende von kleinen Insekten dabei waren, sich in ihren Pelz zu graben. Sie konnte fast nichts um sich herum erkennen, denn die Luft war voll von wirbelnden Schwärmen dieser Tierchen. »Kazazi!« hörte sie Makombo panisch rufen. »Was, in Gottes Namen, ist das nun wieder?« Sie konnte jedoch erst antworten, als der >Regen< dieser Tiere vorüber war. »Dies ist eine Kriechinsektenplage«, erklärte sie schließlich. »Das kann unangenehm werden, denn diese Tiere sind unglaublich beharrlich. Hast du schon versucht, eines zu entfernen?« »Ja, natürlich, verdammt. Ich habe schon eine ganze Reihe von ihnen plattgedrückt, aber mit diesen Saugnäpfen an ihren Beinen bleiben sie fest sitzen.« »Wir müssen versuchen, so schnell wie möglich in ein Dorf zu kommen, dann sind wir sie im Nu los.« »Wieso?« Kazazi erklärte Makombo, daß die einzig wirksame Methode, diese Plage loszuwerden, darin bestünde, sich regungslos in einen windstillen Raum zu stellen. Dann gerieten die Tiere in einen Schockzustand, ließen einfach los und fielen von selbst zu Boden. Aber einfach in ein Dorf zu gehen, war nicht so leicht. Die Osborks, die den Windtunnel geplant hatten, konnten zwar von windaufwärts gekommen sein – und diese Falle angelegt haben, weil die Situation sich dazu anbot. Es konnte aber ebensogut auch eine Gruppe von Osborks aus einem Dorf in der Nähe sein, und dann wäre es nicht besonders klug, dieses zu betreten. Kazazis Karte gab keinen Hinweis auf Dörfer in dieser Gegend, aber das besagte nichts, denn die Einzeichnungen auf ihrer Karte stammten von vorangegangenen Passatfolgern, die eben nur das eingezeichnet hatten, was sie auf ihrer Reise angetroffen hatten, und in diesem Landstrich waren die Passatfolger aus ihrem Heimatdorf eben noch nie gewesen. Die Osborks aus Nardovs Dorf hatten dieses weiße Gebiet auf ihrer Karte zwar mit einer Menge Details ausgefüllt, aber es hängt letztlich ziemlich stark vom Zufall ab, ob man ein Dorf entdeckt oder nicht. Da sie jedoch annahm, daß es in der Nähe doch noch irgendwo Osborksiedlungen geben müsse, beschlossen sie, nach solchen zu suchen und, wenn sie eine gefunden hätten, vorsichtig Kontakt aufzunehmen. Wenn man wirklich nach einem Dorf suchte, hatte man gute Chancen, auch ei125
nes zu finden. Passatfolger steuern meist nur dann ein Dorf an, wenn sie besondere Gründe dafür haben, denn der Aufenthalt in jedem am Wege liegenden Dorf verlängert die Reise unnötig. Aber wenn man wirklich danach sucht, ist ein Dorf im allgemeinen schon aus der Ferne an den Windmühlen zu erkennen, die immer über das niedrige Gestrüpp herausragen. Am Mittag des nächsten Tages sahen sie tatsächlich ein Dorf, und Spirta ging vor, um es auszukundschaften. Er sollte möglichst zuerst einen einzelnen Osbork suchen und zu sensen versuchen, wie dieser auf Spirta reagierte. Wenn dies in Ordnung zu sein schien, sollte er mit dem Dorfbewohner in telepathischen Kontakt treten. Danach würde man Klarheit haben – im Guten oder im Bösen. Spirta kam ein paar Stunden später keuchend zurück, da er gegen den Wind hatte ankämpfen müssen, und er kratzte sich, wo er nur konnte, denn auch in seinem Pelz saßen tausende jener lästigen Tierchen. »Wind!« senste Kazazi erschrocken. »Hilft es nicht?« »Sich regungslos in eine Höhle zu stellen, um diese Bande loszuwerden? O doch, ganz bestimmt! Aber ich kann mich doch nicht in aller Seelenruhe in dieses Dorf stellen, wenn ihr noch hier steht und euch kratzt!« Kazazi erkannte, daß ein solches, in, ihren Augen vielleicht etwas übertriebenes Zusammengehörigkeitsgefühl wohl die einzige Möglichkeit war, sich mit einer kleinen Gruppe in einer feindlichen Umgebung durchzuschlagen. Für Spirta war das die natürlichste Sache der Welt. Eine halbe Stunde später erreichten sie völlig entnervt vom ständigen Jucken das Dorf. Etwas zögernd traten sie durch den erstbesten Eingang ein; hier schien niemand auf gute Manieren zu achten. Sobald sie sich in der Windstille des Höhlenganges befanden, blieben sie alle drei regungslos stehen. Plumps... plumps... plumpsplumpsplumps... innerhalb von wenigen Minuten lagen die Kriechinsekten in kleinen Häufchen zu ihren Füßen. Auch Makombo, bei dem die Tiere natürlich nur auf der Kopfhaut und an den Händen saßen und der ansonsten vom Jucken verschont geblieben war, war maßlos erleichtert, wie Kazazi senste, als die Tierchen endlich regungslos auf dem Boden lagen. Ein freundlicher Dorfbewohner bot den Reisenden an, die Insekten zusammenzufegen und einen Kuchen für sie daraus zu backen, und Kazazi und Spirta nahmen dieses Angebot gerne an. Ein Kuchen aus Kriechinsekten war als eine Delikatesse bekannt und enthielt außerdem die verschiedensten wichtigen Nährstoffe. Also kam ihnen das Angebot sehr gelegen. Makombo schaute etwas verdrießlich drein und murmelte etwas 126
wie: »Zwar die Last, aber nicht die Lust«, doch für ihn war dieser Leckerbissen nun einmal leider ungenießbar.
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16. Enthüllungen Als erstes nahm Makombo, nachdem man ihnen irgendwo eine Unterkunft gezeigt hatte, ein Bad. Danach gesellte er sich mit erleichtertem Gesichtsausdruck wieder zu Kazazi, die inzwischen mit ein paar Dorfbewohnern Informationen ausgetauscht hatte. Die Bewohner waren sehr erfreut über den Besuch der drei Reisenden, und dies nicht nur, weil Makombo ein so fremdartiges Wesen war oder weil Spirta so viele fesselnde Geschichten über Niviner zu erzählen wußte. Die drei waren nämlich die ersten Fremden seit langer Zeit, die ihr Dorf besuchten. »Wir waren es gewöhnt, daß mindestens alle hundert Tage ein Passatfolger über den Messansfluß kam und uns besuchte«, sagte einer von ihnen. »Wir haben einen Tunnel unter dem Fluß gegraben, und dadurch hatten wir immer eine ungewöhnlich hohe Zahl von Besuchern. Das gefällt uns, denn auf diese Weise erhalten wir eine Menge Informationen, die unsere eigenen Passatfolger gebrauchen können!« »So ist das! Ihr habt also den Tunnel gegraben!« sagte Kazazi. »Nun, dafür haben inzwischen andere eine neue Art von Verwendung gefunden.« Sie brauchte nicht zu erzählen, wie sie diesem Hinterhalt entkommen waren, denn der Osbork, den Spirta >ausgekundschaftet< hatte, hatte von ihm schon die ganze Geschichte gehört. Nun verstanden die Dorfbewohner auch, warum schon so lange selbst ihre eigenen Passatfolger es nicht mehr geschafft hatten, in ihr Heimatdorf zurückzukehren. »Ich verstehe das überhaupt nicht«, sagte Makombo zu Kazazi, die ihn als Dolmetscherin ständig über den neuesten Stand des Informationsaustauschs in Kenntnis setzte. »Wenn die Leute so verrückt nach Gästen sind und wenn dann so lange niemand mehr kommt, daß sie schon anfangen, sich Sorgen darüber zu machen, warum gehen sie der Sache dann nicht nach?« »Oh, aber das haben sie ja getan. Sie haben doch eine ganze Reihe von Passatfolgern ausgesandt. Das erzählen sie doch gerade!« »Ich meine natürlich windaufwärts! Sie hätten doch zumindest einmal zu ihrem Tunnel gehen können, um festzustellen, ob irgend etwas damit nicht in Ordnung ist?« Kazazi schaute Makombo völlig überrascht an. Jetzt war dieser Mensch schon so lange auf Coriolis und verstand immer noch nichts. »Makombo, windaufwärts zum Tunnel zu gehen, dauert doch mindestens eine Wo128
che! So etwas tut man bei uns einfach nicht, verstehst du das denn nicht?« »Sie haben den Tunnel doch auch gebaut, Kazazi?« »Ja, aber das haben natürlich ihre Passatfolger getan, als die auf den Fluß stießen. Weil sie in ihr eigenes Dorf zurückkehren wollten, haben sie den Tunnel gegraben. Der erste grub vielleicht nur einen schmalen Gang, durch den er sich hindurchzwängen konnte. Der nächste verbreiterte diesen ein wenig, ein dritter stellte das Schild auf – so macht man das! Dafür geht man nicht gegen den Wind!« Und etwas enttäuscht darüber, daß Makombo immer noch nichts zu verstehen schien, gab sie ihren Versuch auf, es ihm zu erklären. »Übrigens«, sagte sie zu den Dorfbewohnern, »eure Passatfolger geben sich offensichtlich ziemliche Mühe, es anderen Passatfolgern leichter zu machen!« »Ja, wenn es ein Dorf gibt, das Passatfolgern eine gute Chance gibt, die Große Reise zu überleben, dann ist es das unsere«, sagten die Dorfbewohner stolz. »Ich gewinne allmählich den Eindruck, daß man bei euch die Reise der Passatfolger anders sieht als es die Bewohner der übrigen Dörfer, die wir kennen, zu tun pflegen«, sagte Makombo. »Ja, das stimmt! Überall sonst ist es nur eine Strafe. Nun, auch aus diesem Grunde machen sich bei uns manchmal Osborks auf die Große Reise, aber außerdem gibt es bei uns noch etwas anderes. Ein junger Osbork kann anstreben, in den Dorfrat einzutreten, aber das ist ihm nur dann möglich, wenn er über irgendein außergewöhnliches Talent verfügt, wie deine Zeichenkunst beispielsweise, Kazazi, oder aber er muß dem Passat gefolgt sein. Darum gehen viele Osborks, die zwar jung, aber nicht besonders talentiert sind, auf die Große Reise. Und wir ermutigen sie dazu, denn auf diese Weise besteht unser Dorfrat stets aus den Besten des Stammes. Ich selbst bin auch vor langer Zeit um die Welt gereist und so Ratsmitglied geworden. Manchmal machen sich drei oder vier unserer Jungen gemeinsam auf den Weg – dann ist ihre Chance zu überleben natürlich größer.« »Wie groß ist sie denn?« Makombo war erstaunt darüber, daß ein so lebensgefährliches Unternehmen zu einem Teil des Prestigekampfes geworden war. »Bei uns kommt einer von acht Passatfolgern zurück«, erzählte der andere stolz. Und etwas traurig korrigierte er sich: »Kam...« »Und dies wird wieder so sein«, sagte ein anderer Dorfbewohner entschieden. »Wir müssen eine Expedition zum Tunnel aussenden, um die129
se Bande auszurotten und den Tunnel wieder instandzusetzen. Viele unserer Jüngeren sind noch unterwegs, und vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee von Kazazis Mensch, gegen den Wind dorthin zu gehen. Das erwarten die Räuber mit Sicherheit nicht!« Spirta war begeistert darüber. »Darf ich mitmachen?« fragte er begierig. »Ich will mich ja nicht selbst loben, aber ich kann sehr gut kämpfen. Und die Leute dort gefallen mir nicht.« Kazazi schaute ihn an. »Ich glaube, daß Makombo und ich nun allein weiterreisen müssen, Spirta«, sagte sie. »Du scheinst es hier nach deinem Wunsch zu haben!« Spirta schaute erschreckt zu den Dorfbewohnern, senste aber sogleich, daß er sich wegen ihnen keine Sorgen zu machen brauchte. Makombo bat Spirta, wenn er demnächst mit der Expedition loszöge, um den Tunnel wieder zu öffnen, solle er versuchen, den Zugkarren wiederzufinden. Wenn es eben möglich wäre, wollte er gerne seinen Originalbehälter und vor allem den Geigerzähler mitnehmen. Spirta versprach zu tun, was er könne. Die Expedition brach noch am gleichen Tage auf, und nach ihrem Aufbruch berieten sich Kazazi und Makombo ernsthaft über die Fortsetzung ihrer Reise. Makombo hatte alles verloren, was er nicht am Körper getragen hatte. Nur seine Nahrungstabletten hatte er in der Hosentasche gehabt, und ein langes scharfes Messer hatte er sich in den Gürtel gesteckt. Kazazi hatte ihr Gepäck ebenfalls auf dem Karren transportiert und dieses daher auch verloren. Das einzige, was sie noch im Rucksack auf ihren Schultern hatte, waren ihre Windflöten (davon trennte man sich natürlich nie!), die Weltkarte und der Schreibblock, mit dessen Hilfe sie mit Makombo kommunizierte. Davon war nun nur noch ein Drittel übrig. Der letzte, noch gänzlich unbeschriebene Schreibblock hatte auf dem Karren gelegen, und sie mußte deshalb von nun an sparsam und sehr klein zeichnen, wenn sie ihr wichtigstes Kommunikationsmittel im Kontakt mit Makombo nicht vorzeitig verlieren wollte. »In jedem Fall brauchen wir Waffen«, sagte Makombo und zeichnete etwas, das Kazazi nicht verstand. »Dieses Ding nennen wir eine Armbrust«, sagte er. »Mir ist schon seit einiger Zeit klar, daß ihr Pfeil und Bogen nie erfunden habt, weil deren Gebrauch bei diesem starken Wind etwas schwierig ist, aber eine Armbrust schießt ihre Projektile mit solcher Kraft, daß wir damit doch etwas anfangen könnten, sogar gegen den Wind, wenn beispielsweise ein Meuchelmörder auftauchen sollte.« Er zeichnete Kazazi auf, wie das Ding funktionierte, aber sie unterbrach 130
Makombo. »Schade, aber das ist nichts für mich. Dafür sind Bewegungen notwendig, die mir nicht einmal möglich sind! Wir Osborks sind keine Menschen, mußt du bedenken.« »Ach du lieber Himmel, ist das wahr? Dann mach einmal so«, bat Makombo. Kazazi versuchte, ihre oberen Glieder zur Seite auszustrecken, während sie auf ihren Hinterpfoten stand, aber das gelang nicht. »Aber gut, dann werde ich nur eine für mich bauen«, seufzte Makombo. »Aber was könntest du als Waffe benutzen?« »Dein Messer vielleicht?« »Hmm... lieber nicht. Ich habe zwar volles Vertrauen in dich als Reisegefährten, Kazazi, aber als Kämpfer hast du überhaupt keine Erfahrung. Ich glaube, daß ich das Messer viel besser brauchen kann als du. Aber gibt es denn hier keine Messer? Wenn ja, könntest du dir vielleicht eines von ihnen besorgen. He, ich habe eine Idee! Wenn die Osborks hier Messer zu machen verstehen, können sie natürlich auch Degen oder Schwerter machen. Wie komisch, daß noch niemand daran gedacht hat. Ihr scheint wirklich nicht sehr mit dem Gebrauch von Waffen vertraut zu sein.« Er zeichnete auf, wie ein Degen aussah und was er mit einem Schwert meinte. »So einen Degen hat Spirta benutzt! Ich meine den Segelschwärmerschnabel. Und ich habe den Eindruck, daß er schon einige Erfahrungen damit hat!« »Ich auch. Auf Niviner werden wahrscheinlich mehr Waffen benutzt als auf dem gesamten übrigen Coriolis zusammen. Er könnte den Dorfbewohnern hier eine ganze Menge Kampftechniken beibringen. Er fällt sozusagen in ein gemachtes Bett...«, fügte Makombo etwas eifersüchtig hinzu. Die Dorfbewohner waren sehr an den neuen Waffen interessiert, die Makombo ihnen aufzeichnete, und mit großer Begeisterung begannen sie mit der Herstellung einer Armbrust und einer großen Zahl von Schwertern und Degen. Damit würden ihre eigenen Passatfolger in Zukunft noch mehr Chancen haben, die Große Reise zu überleben! »Weiß dein Mensch vielleicht auch noch etwas, was den Isthmus ungefährlich macht?« fragten sie Kazazi später. »Das ist für uns nämlich die gefährlichste Etappe, und dazu auch noch gleich zu Anfang der Großen Reise, wenn man fast noch keine Erfahrung hat.« Kazazi teilte telepathisch die Erinnerungen der anderen, die einst selbst durch den Isthmus gereist waren, und sie beschloß sogleich, daß es auch für sie selbst und Makombo viel besser wäre, wenn sie sich dafür etwas im voraus überle131
gen würden. Mit zwei der Dorfältesten ging sie zu Makombo, um ihn danach zu fragen. Dieser wußte nicht gleich eine Lösung. »Es sei denn, wir reisen durch die Luft«, sagte er nach einer Weile nachdenklich. Die drei Osborks schauten ihn erstaunt an, und Makombo erzählte ihnen, daß man auf seinem Planeten Fahrzeuge, die durch die Luft flogen, in großem Umfang einsetzte. »Dann könnte man den ganzen gefährlichen Isthmus unter sich liegen lassen«, sagte er. »Aber dann ist man ja völlig dem Wind ausgeliefert«, fauchte Kazazi, obgleich die Idee auch sie ansprach. Immerhin war ihnen der Wind bis jetzt stets günstig gesinnt gewesen. Sie bat Makombo, gut über die Möglichkeit eines Luftfahrzeuges nachzudenken, aber Makombo schaute nicht einmal mehr auf die Zeichnungen, auf der sie ihn darum bat. Eine Viertelstunde später beschloß Kazazi, ihn noch einmal kurz zu stören. Sie hatte inzwischen nachgedacht und war zu dem Entschluß gekommen, es sei nun doch an der Zeit, einmal darüber zu sprechen, wie es am Ende der Großen Reise weitergehen sollte. Sie hatten zwar niemals ein Wort darüber verloren, aber sie hatte das eindeutige Gefühl, daß Makombo genauso an ihr hing wie sie an ihm – würde er erwarten, daß sie mit ihm zurück zur Erde reiste? Als sie den Eindruck hatte, daß ihr Mensch gerade einmal nicht mit seinem Luftfahrzeug beschäftigt war, fragte sie ihn, wie er darüber dächte. »Ach, Junge, das würde ich großartig finden, aber das geht nicht einmal! Erstens würdest du von unseren Nahrungsmitteln wohl mindestens genauso krank werden wie ich von deinen...« (O je! Daran hatte sie überhaupt noch nicht gedacht!) »Und außerdem, selbst wenn dies kein Problem wäre, so kann ich mit Sicherheit sagen, daß mit diesen Schwergewichtsbehältern und ohne Geigerzähler der Transport der Plumpssamen ziemlich riskant wird. Das Schild wird bestimmt nicht so gut abschließen wie ein richtiger Container, und wenn die Strahlung durchdringt... ich kann froh sein, wenn ich mein Landefahrzeug erreiche, bevor mich die Strahlungskrankheit zu schwach zum Reisen gemacht hat! Wenn ich es bis zum Schiff schaffe, ist es natürlich kein Problem mehr, mit dem Autodoc... Nein, Junge, es geht einfach nicht. Hättest du es denn gerne gewollt?« »Zuerst ja«, gab Kazazi zu. »Aber jetzt bin ich eigentlich froh, daß ich dies nicht zu entscheiden brauche, denn ich... äh... ich bin schwanger, und ich will eigentlich gerne das Junge in meinem Heimatdorf zur Welt bringen...« »Was bist du?« »Ich bin schwanger. Ich habe es dir bisher noch nicht gesagt, weil ich 132
mich ein bißchen geschämt habe. Aber früher oder später wirst du es ja doch merken...« »Nardov?« »Ja...« »Mein Gott, Junge... äh... Mädchen, das ist absolut verrückt! Weißt du, daß ich immer gedacht habe, daß du ein Männch... äh, ein Mann bist?« »Warum ist es so verrückt?« Kazazi war etwas beleidigt. »Was können Männerosborks denn, was Osborkweibchen nicht können?« »Nein, nein, das meine ich nicht. Als ich dir zum erstenmal begegnet bin, sah ich keine Geschlechtsorgane. Nun, und dann habe ich eigentlich nicht mehr darüber nachgedacht... Übrigens, selbst wenn ich darüber nachgedacht hätte, ich weiß nicht, ob ich dich danach gefragt hätte. So etwas fragt man doch nicht jemanden, den man gerade erst kennengelernt hat, nicht wahr? Aber sag mal, wenn ich dich mit >Junge< angesprochen habe, hast du nie etwas dagegen gesagt! Warum eigentlich nicht?« »Sagt man das denn nicht zu Weibchen?« »Nein, es sei denn, man sucht Streit mit ihnen... Entschuldige, Kazazi, aber ich muß mich erst noch daran gewöhnen...« Kazazi war etwas beleidigt. Hatte Makombo denn die ganze Zeit über nicht gesehen, wie dick ihr Schwanzansatz war? Wie komisch, daß Menschen überhaupt nicht auf das Äußere achteten! Wie mochten sie sich bloß fortpflanzen? Als sie Makombo danach fragte, zeichnete dieser einen männlichen und einen weiblichen Menschen auf, und sagte dann, daß er selbst ein Mann sein. Kazazi verstand dies überhaupt nicht. Wenn Männer- und Frauenmenschen sich so sehr unterschieden, warum versteckten sie dann diese Unterschiede hinter einer merkwürdigen zusätzlichen Schicht von Fellen? Sie erinnerte sich, wie sie Makombo in Nardovs Dorf im Bad gesehen hatte. Damals hatte sie zum ersten Mal einen Menschen ohne zusätzliche Felle gesehen, aber weil das Wasser, in dem Makombo gesessen hatte, ziemlich schmutzig gewesen war, hatte sie damals bei ihm keine äußeren Geschlechtsorgane gesehen. Sie hatte allerdings auch nicht gerade danach Ausschau gehalten. Wie sollte sie denn wissen, daß diese komischen Menschen auch dann mit aus dem Körper vortretenden Geschlechtsorganen herumliefen, wenn sie diese nicht brauchten? Seltsame Wesen, diese Menschen... »Zeig doch mal?« bat sie ihn neugierig, aber aus irgendeinem Grund wollte Makombo das nicht tun. 133
»Wenn es bei euch nicht eindeutig von außen zu sehen ist, wie wißt ihr dann, wer männlich und wer weiblich ist?« wollte Makombo wissen. »Aber es ist ja deutlich sichtbar!« sagte Kazazi entrüstet. »Ich will nicht angeben, aber mein Schwanzansatz... Außerdem sind wir Telepathen, und die Art und Weise, wie Männchen und Weibchen denken, ist ziemlich verschieden!« »Zumindest in dieser Hinsicht gibt es dann also eine Übereinstimmung zwischen Osborks und Menschen«, sagte Makombo grinsend. »Übrigens, wann erwartest du die Geburt?« »In acht Wochen. Wenn wir ein bißchen Glück haben, könnten wir rechtzeitig in meinem Dorf ankommen. Es würde mir schon sehr gefallen, wenn ich in meinem eigenen Dorf gebären könnte!« Makombo dachte kurz nach. Dann sagte er: »Darf ich bis nach der Geburt in eurem Dorf bleiben? Und gibt es auf Coriolis so etwas wie Paten?«
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17. Der Isthmus Am Mittag des nächsten Tages schaute Makombo von dem Blatt Papier auf, auf dem er stundenlang Berechnungen angestellt und auf das er die seltsamsten Zeichnungen gekritzelt hatte. »Kazazi«, sagte er, »könntest du den technisch begabtesten Osbork, den es hier gibt, einmal bitten, zu mir zu kommen?« Kurze Zeit später machte Kazazi Makombo mit Pelika bekannt, einem sehr alten Osbork. »Pelika ist nicht nur der technisch versierteste Osbork, den ich finden konnte, sondern er ist auch selbst Passatfolger gewesen. Er kennt den Isthmus also aus eigener Erfahrung.« »Ausgezeichnet!« sagte Makombo. »Schaut einmal her! Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Isthmus durch die Luft zu überqueren. Dies wäre die einfachste...« Er deutete auf die Zeichnung einer großen ovalen Kugel, an der Seile befestigt waren, und daran wiederum hing ein Körbchen. »Das ist ein Ballon«, erklärte er. »Die Luft, die sich in diesem Ballon befindet, muß leichter sein als gewöhnliche Luft. Diese Luft steigt dann hoch und zieht diejenigen, die im Korb sitzen, mit hinauf. Der Sturm treibt das ganze dann nach Südwesten.« Pelika war sehr beeindruckt und wollte wissen, wie die Luft im Ballon denn leichter als die Außenluft sein könne. »Dafür gibt es zwei verschiedene Methoden, aber ob die hier anzuwenden sind... ?« sagte Makombo zögernd. »Ich habe hier noch nirgendwo Sumpfland gesehen. Gibt es so etwas in der Nähe?« »Ja!« sagte der alte Osbork und Kazazi senste an Makombos Erleichterung, daß er diese Methode offenbar der anderen, die er noch nicht genannt hatte, vorzog. »Ausgezeichnet! Hier ist die Karte. Ist es weit von hier?« Der alte Osbork streckte einen Nagel aus und zeigte auf eine Stelle nordwestlich vom Isthmus. Kazazi verstand nur allzu gut, worauf Makombos Enttäuschung und Ärger basierten, als er dies sah, und sie beeilte sich daher, Pelika klarzumachen, daß sie das Sumpfgas natürlich zur Verfügung haben müßten, bevor sie den Isthmus überflögen. »Oh... nein, dann weiß ich es auch nicht«, sagte Pelika zögernd, und Makombo fragte Kazazi gereizt: 135
»Sag mal, bist du sicher, daß dieser Typ der technisch versierteste Osbork ist, den es hier gibt?« Kazazi schämte sich ein wenig für ihren Artgenossen und versicherte Makombo, daß er für einen Osbork technisch sehr begabt sei. Etwas spitz fügte sie hinzu, wenn er lieber mit Menschen zusammenarbeiten wolle, solle er sich doch besser anderswo nach Mitarbeitern umschauen... Makombo ging nicht weiter darauf ein und fuhr fort: »Man kann es auch mit gewöhnlicher Luft machen. Wenn wir im Korb ein Feuer anzünden, das die darüber befindliche Luft erwärmt, steigt diese in den Ballon, und dann hält sich das Gefährt so lange in der Luft, wie das Feuer brennt. Aber ich weiß nicht, ob es uns gelingen wird, das Ganze so zu bauen, daß der Sturm das Feuer nicht ausbläst, das Feuer den Korb nicht verbrennt und daß die heiße Luft nicht fortgeblasen wird, bevor sie in den Ballon gelangt. Wenn es hier kein Sumpfgas gibt, würde ich folgende Lösung vorziehen.« Er zeigte nun ein anderes Blatt Papier, und was darauf stand, war so kompliziert, daß Kazazi größte Mühe hatte, es zu verstehen. Doch nun bewies Pelika, daß er tatsächlich über ein ziemlich großes technisches Verständnis verfügte. »Wind!« sagte er. »Dieses Ding ist ja ein riesiger Segelschwärmer! Schau doch nur, Kazazi, dies sind die Flügel, und sie tragen ein hölzernes Gerüst mit Stühlen, und darauf sitzen dann sechs Osborks und der Mensch... Warum eigentlich sechs Osborks?« fragte er Makombo. »Weil ein einfaches Segelflugzeug diesen Sturm nicht überstehen würde«, erklärte Makombo ihm. »Wir würden vom Wind fortgeblasen, und außerdem gibt es fast keinen Auftrieb. Die Flügel können zwar dafür sorgen, daß wir nicht zu rasch absinken, wenn wir erst einmal aufgestiegen sind, aber wir müssen zunächst selbst für den Antrieb sorgen, der uns in die Luft bringt. So ein Flugzeug ist ziemlich schwer, und zwei Personen sind zu schwach, um es in die Luft zu bringen.« Er erklärte, wie die Insassen durch heftiges Treten eine Anzahl von Propellern antreiben konnten, die die Luft nach unten drückten. »Wenn wir dies mit sechs Mann versuchen, könnte es uns gelingen«, sagte Makombo. »Wir müssen dann zwar wie verrückt treten, aber ihr seid an schnelles und langes Laufen gewöhnt, also wird es schon eine Weile gehen.« Die Osborks waren sehr beeindruckt. Jeder kannte natürlich das System des Propellers von den Windmühlen her, aber daß es möglich sein sollte, nicht den Wind die Propeller antreiben zu lassen, sondern daß ein Ding selbst Wind erzeugte, das erstaunte sie doch sehr. »Ich denke«, fuhr Makombo fort, »daß wir nach ungefähr acht Stunden 136
den Isthmus hinter uns haben werden, und selbst wenn hin und wieder einer ausruhen muß, halten die anderen wahrscheinlich durch. Das größte Problem ist, wie wir an fünf Freiwillige kommen, die Kazazi und mich begleiten wollen.« »Oh, die findest du im Nu! Es gibt hier viele Jüngere, die schon lange mit der Großen Reise begonnen hätten, wenn es uns nicht so verdächtig vorgekommen wäre, daß niemand mehr hier an unserem Dorf vorbeikam. Nachdem dieses Problem jetzt gelöst ist, trappeln bestimmt schon mindestens zehn Jüngere ungeduldig von einem Fuß auf den anderen!« »Zehn ungefähr, hmm?« grübelte Makombo. »Wenn ich das Ganze etwas größer anlegen würde... ich wüßte etwas Besseres, was sie mit ihrem Trappeln machen könnten...« »Aber wie kommst du an das Material?« fragte Pelika. »Das wird ein wenig Zeit kosten, aber es ist alles hier zu finden. Ihr könnt offenbar für eure Windmühlen Pfähle herstellen. Dazu werden wir eine Menge Geduld benötigen, und wahrscheinlich werden dabei viele Messer stumpf werden, aber es wird gehen. Nun, auf diese Weise könntet ihr auch ein paar davon für das Flugzeug machen. Als Seil benutzen wir Spinnweben. Die sind unglaublich stark und haben fast kein Gewicht. Und für die Flügel nehmen wir natürlich die Flügelhäute eines Segelschwärmers.« »Davon werden wir dann aber sehr viele benötigen! Und in unserem ganzen Dorf haben wir insgesamt vielleicht zehn...« »Oh, aber diese Tiere sind nicht so schwer zu fangen«, sagte Makombo grinsend. »Weißt du noch, Kazazi?« Makombo brauchte im Verlauf einer ganzen Woche vierzig Stunden dazu, um die fünfundzwanzig Segelschwärmer zu fangen, die er für sein Flugzeug benötigte. Den Rest der Zeit verbrachte er damit, die Arbeiter zu beaufsichtigen, die das Skelett dafür bauten. Das ganze Dorf beteiligte sich begeistert am Bau. Man war Makombo natürlich sehr erkenntlich für seine Ideen für neue Waffen und für die Tatsache, daß man nun die Räuberbande am Tunnel bekämpfen konnte, aber noch glücklicher waren die zukünftigen Passatfolger über die Möglichkeit, den Isthmus auf eine einigermaßen sichere Art und Weise zu überqueren. »Malt euch das Ganze nicht zu rosig aus!« brummte Makombo. »Wenn uns dieses Ding gelingt, wird das Fliegen selbst immer noch verdammt harte Arbeit werden, und wenn es uns nicht gelingt, ist alle Mühe vergeblich gewesen.« »Nun, dann machen wir uns doch alle zusammen auf den Weg!« sagte einer der jungen Leute vergnügt. »So eine große Gruppe ist noch nie 137
aufgebrochen, und sollen sie doch nur einmal versuchen, uns etwas anzuhaben, selbst wenn wir zu Fuß gehen müßten!« Die Mitglieder der Expedition zum Tunnel kamen ungefähr eine Woche nach ihrem Aufbruch zurück. Sie hatten zwei Tote begraben müssen, und drei von ihnen waren verwundet – aber die Räuberbande war unschädlich gemacht worden. Nur zwei von ihnen waren entkommen, und der Tunnel war wieder instand gesetzt. »Habt ihr auch...?« fragte Makombo, und Spirta wußte sofort, was er fragen wollte. »Tut mir leid, dein Karren war nicht in dem Teil des Gangs, den wir untersuchen konnten. Er muß in dem zugeschmolzenen Teil sein, und dorthin konnten wir nicht vordringen.« »Das hatte ich schon befürchtet... Eigentlich habe ich auch nicht mehr damit gerechnet, aber man kann ja nie wissen...« Kazazi fragte, um Makombo abzulenken: »Wie habt ihr den Gang eigentlich repariert? Makombo sagt, daß der Teil, den er beschossen hat, so hart wie Glas geworden sein müsse!« »Oh, den haben wir einfach so gelassen!« erzählte Spirta. »Der Tunnel braucht gar nicht dort entlangzulaufen. Der ursprüngliche Tunnel kam kurz hinter dem Fluß wieder an die Oberfläche. Die Räuber hatten den Ausgang verschlossen, den Tunnel verlängert, den Anfang verbreitert und ihn dann mit einer Windfalle versehen.« »Warum haben sich diese Leute nur solche Mühe gegeben!« Makombo war offenbar nicht allzu niedergedrückt über den Verlust seines Karrens. »Soviel Beute läßt sich doch bei Passatfolgern nicht fangen?« »Das ist genau das richtige Wort: fangen! Der Sinn der Netze lag darin, daß die Osborks zwar beschädigt, aber doch lebend dort ankommen sollten. Dann wurden sie als Gefangene mitgenommen zu einem Dorf, das ungefähr sechs Tagereisen entfernt im Norden liegt und von dem wir noch nie gehört haben. Und die Bewohner jenes Dorfes lassen die Gefangenen dann für sich arbeiten! Sie halten sie ständig unterirdisch fest, damit sie nicht fortlaufen können, und das einzige, was sie selbst tun, ist jagen. Alle anderen Arbeiten, nämlich die unterirdischen, werden von den Gefangenen verrichtet. Ich versuche gerade, die Dorfältesten davon zu überzeugen, daß es gute Gründe gibt, dieses Dorf anzugreifen.« »Um die Sklaven zu befreien?« fragte Makombo, aber dies schien für Spirta nicht Grund genug zu sein, einen Krieg zu beginnen. »Nein«, antwortete er. »Vor allem, um dieses Dorf zu vernichten! Wenn 138
diese Dinge sich jetzt auch hier auf dem Festland ausbreiten, hätte ich ja auch ebensogut auf Niviner bleiben können!« Kazazi dachte sich ihren Teil. Wenn Kämpfen so wichtig war, wie Spirta zu glauben schien, würde er mit seiner Erfahrung genau über das spezielle Talent verfügen, das ihm einen Platz im Dorf rat einbringen würde. Im Dorf der Snobs hatte er zwar nicht oben auf der gesellschaftlichen Leiter stehen wollen, aber hier... Nun ja, das war nicht ihre Angelegenheit. Es war tatsächlich nicht allzu schwierig, zehn Freiwillige für ihre Flugreise zu finden. Makombo gab ihnen mit Kazazis Hilfe Unterricht in Zusammenarbeit auf Kommando, etwas, das auf Coriolis noch unbekannt war. »Wenn ich über das Radio in Kazazis Ohr >Vorwärts – Marsch!< rufe, muß jeder auf >Marsch< sofort zu treten anfangen, und zwar so feste wie möglich! Dann zähle ich >eins – zwei, eins – zwei< in dem Tempo, das jeweils notwendig ist. Dies müßt ihr so lange durchhalten, wie ihr keinen anderen Befehl hört! Wenn ich einen anderen Befehl für nötig halte, zum Beispiel wenn wir absinken oder wenn ich selbst gerade erreichen will, daß wir absinken, dann gebe ich das Tempo an, und ihr müßt mir unbedingt folgen. Wenn wir eine Kurve nach links drehen müssen, rufe ich >Rechts – schnell!<, und dann muß die rechte Reihe auf dieses >schnell< hin etwas schneller zu treten anfangen! Dann wird der rechte Flügel etwas ansteigen, und wir werden uns von selbst nach links drehen. Um eine Rechtskurve zu fliegen, tun wir das Umgekehrte. Wir haben drei Reihen von jeweils vier Sitzplätzen. Meiner befindet sich in der mittleren Reihe vorne. Ich halte meine Armbrust bereit, aber das ist die einzige Waffe, die wir gebrauchen können, solange wir fliegen, daher müssen wir, solange wir über dem Isthmus sind, hoch genug in der Luft bleiben. Ungefähr zwei oder drei Längen Höhe ist das Niedrigste, was wir uns erlauben können. Noch Fragen?« Die schien es nicht zu geben. Die meisten gingen davon aus, daß sie erst einmal erleben müßten, wie das alles vor sich ging – und Kazazi konnte deutlich sensen, daß ein paar der Osborks schon jetzt, wo der Zeitpunkt der Abreise sich näherte, bereuten, daß sie sich darauf eingelassen hatten. Wind! Sie selbst scheute auch davor zurück, und sie hatte doch schon einige Erfahrungen mit Makombos Segelwagen gesammelt. Die anderen Mitreisenden konnten nur über sie Vertrauen in das technische Können Makombos setzen. Am Tag der Abreise aus dem Dorf gab Makombo die letzten Instruktionen. 139
»Wir werden nun zuerst einmal üben«, sagte er. »Das tun wir auf dem Weg zum Isthmus denn der ist ja noch einige Wochenreisen von hier entfernt... (Die Osborks schauten sich völlig verdutzt an, und Kazazi erklärte hastig, daß Makombo über seine eigene Art zu reisen spreche. Osborks brauchten für diese Entfernung nur wenige Tage). »Wir fliegen zunächst einmal nur ein kurzes Stück«, fuhr Makombo fort. »Wie kurz, das wird sich noch zeigen. Das hängt davon ab, wie es sich entwickelt. Wenn irgend jemand von euch oder mehrere es wirklich nicht mehr durchhalten, dann müssen sie Kazazi Bescheid geben, die hinter mir sitzt. Kazazi, du gibst mir dann einen Schlag auf die Schulter und zwar jeweils auf der Seite, wo die Schwierigkeiten auftauchen. Ich werde in diesem Fall dafür sorgen, daß wir landen. Dann weiß ich zumindest, mit welchen Schwierigkeiten in unserem >Motor< ich zu rechnen habe. Aber prägt euch bitte eines gründlich ein! Was auch immer geschehen mag, versucht auf keinen Fall zu bremsen, indem ihr euren Schwanz als Anker auswerft! Das kann die verheerendsten Unglücke zur Folge haben.« Kazazi fügte nach kurzem Zögern Makombos Warnung ihre eigene Erfahrung mit einem derartigen Bremsversuch bei. Makombo fuhr fort: »Alle Mann auf die Plätze jetzt!« Als alle Platz genommen hatten, rief Makombo – und sie konnten dabei alle seine Spannung und auch seine Unsicherheit sensen: »Vorwärts – Marsch! Eins – zwei, eins – zwei...« Das Flugzeug erhob sich ganz langsam ein wenig, und seine Spitze senkte sich sofort wieder zum Boden, als der. Sturm es erfaßte. Es glitt auf den Kufen vorwärts, die als Landungsvorrichtung dienen mußten. Makombo rief »Halt!« und stieg aus. Er musterte die Osborks gründlich und nickte dann. »Wie dumm von mir, daß ich nicht früher daran gedacht habe! Du, und du... und ihr zwei, setzt euch hinten hin, und ihr vier müßt nach vorne. Nein, ihr zwei nicht auf die gleiche Seite! Wir müssen rechts und links gleich belasten, und der Schwerste von euch muß hinten sitzen.« Der nächste Start klappte schon merklich besser. Sie flogen ein paar Längen über den Boden und entwickelten eine beachtliche Geschwindigkeit. Doch schon bald schlug Kazazi mit ihrer Hand auf Makombos Schulter: rechts, links und in der Mitte... »Eins – zwei, eins – zwei – eins – zwei, eins... zwei... eins... zwei«, rief Makombo in Kazazis Radio, und diese gab die Kommandos an die übrigen weiter. Das Fugzeug senkte sich und glitt über den Boden, bis es schließlich still stand. »Was ist denn jetzt schon wieder los?« Da drehte sich Makombo um und sah elf Osborkgesichter, die ihn so erschrocken 140
anschauten, daß er brüllte vor Lachen. Kazazi verspürte trotz ihres Entsetzens Erleichterung darüber, daß Makombo lachte. Wind! Es war lange her, daß ihr Mensch so fröhlich gewesen war! »Man muß sich erst daran gewöhnen, nicht wahr?« sagte Makombo, als der Lachanfall vorüber war. »Ich kann es verstehen, ihr seid noch nie vom Boden entfernt gewesen. Aber das geht nun einmal nicht anders, wenn man fliegen will.« Die Osborks sensten, daß es für Makombo überhaupt kein Problem war, so hoch über dem Boden zu sein, und ein paar beruhigten sich schließlich. Wenn ein Mensch dies konnte, dann mußte ein Osbork... Nach einer Weile erklärten sich alle zögernd dazu bereit, es noch einmal zu versuchen. Der Zeitraum, bis wieder eine Notlandung erforderlich wurde, vergrößerte sich schon ein wenig. Beim nächsten Mal ging es schon ein paar Kilolängen weit gut, und als sie etwa einen Tag später in der Ferne den Isthmus vor sich liegen sahen, waren sie bereit für den großen Flug. Sie befanden sich nun auf einem Hügel, ungefähr vier Kilolängen östlich vom Anfang des Isthmus entfernt, und dort hatten sie eine wunderschöne Aussicht auf die zertrampelten Ebenen an der Landenge. Makombo murmelte leise: »Allmächtiger...«, und Kazazi senste, wie beeindruckt er war. Und Makombo war nicht der einzige. Alle Tiere, die dem Passat folgten und sich normalerweise in sehr großem Abstand von einander bewegten, mußten an dieser Stelle über eine Landenge, die nur dreißig Kilolängen breit war. Über die ganze Breite des Kontinents war für diese Tiere auf ihrem Zug nach Westen der Weg durch das Meer blockiert – sie mußten daher der Küste folgen, bis sie beim Isthmus endlich wieder weiterziehen konnten. Von weit aus dem Nordosten bis tief in den Südosten strömten die Tiere in einer riesigen trichterförmigen Falle zusammen, und je näher sie dem Isthmus kamen, um so voller wurde es von immer dichter zusammengedrängten Tieren aller möglichen Arten. »Was für eine Herde!« sagte Makombo. »Kazazi, ich habe noch nie zuvor auf Coriolis Herden gesehen. Woher kommen sie denn nur so plötzlich?« Das wußte Kazazi auch nicht, aber einer ihrer Besatzungsmitglieder erklärte: »Die bilden sich hier spontan. Kein Tier fühlt sich wohl, wenn mehr als ein paar Artgenossen in der Nähe sind, aber hier müssen sie dicht beeinander sein.« 141
»Man kann sehen, daß es ihnen unangenehm ist...«, sagte Kazazi. »Unangenehm?« schnaubte Makombo. »Diese Tiere sind vollkommen in Panik! Das ist eine wildgewordene Horde! – Wie kann sich ein Osbork in diesem Gewühl in Gottes Namen nur am Leben erhalten?« »Die meisten überleben es auch nicht«, sagte Kazazi nüchtern. »Aber es gibt eine Chance, wenn man sich in der Mitte der Landenge hält. Die meisten Herden folgen der Küste, und in der Mitte ist es relativ ruhig.« »Was heißt hier ruhig? – Übrigens, ich sehe auch ziemlich viele Raubtiere in der quirlenden Menge. Wie macht man das denn, wenn man nicht darüber hinwegfliegen kann?« »Hoffen und auf den Wind vertrauen«, sagte Kazazi etwas frommer, als sie sich eigentlich fühlte. »Auf dem Isthmus sind die Raubtiere selbst viel zu beschäftigt damit, vor den alles niederwalzenden Herden davonzulaufen. Sie werden erst gefährlich, wenn du auf der anderen Seite angekommen bist, aber dann sind sie dafür auch wirklich gefährlich, denn sie haben dich gesehen, und wenn du hinter dem Isthmus weiterreist, folgen sie dir oft, bis du eine ruhige Gegend erreicht hast. Du weißt, Meuchelmörder sind verrückt nach Osborkfleisch...« »Entsetzlich... Auf dem Isthmus läufst du dir die Lungen aus dem Leib, um nicht zertrampelt zu werden, und wenn du es dann geschafft hast, packt dich so ein verdammtes Biest. Ich verstehe nicht, daß es überhaupt noch Osborks gibt, die die Große Reise überleben!« »Ach, ein Osbork kann sehr lange ziemlich schnell laufen. Ein Meuchelmörder ist natürlich noch schneller, aber das hält er nicht lange durch. Und in ihrer Panik versucht so eine Herde von Rennern oder Springern erst gar nicht, dem Raubtier auszuweichen – sie überrennen es einfach. Auf dem Isthmus sterben nicht nur Osborks!« »Hmm. Auf jeden Fall bin ich froh, daß wir zwölf eine andere Lösung gefunden haben«, sagte Makombo mit düsterem Gesicht. Und dann berieten sie sich gemeinsam, wie sie am besten reisen würden. Sie wußten, daß die Entfernung, die sie zurücklegen mußten, mindestens hundertfünfzig Kilolängen betrug, bevor sie wieder auf einigermaßen sicherem Boden landen konnten. Schon weit vor dem Isthmus wimmelte es nur so von Tieren. Die Herden bildeten sich meist schon ungefähr zwanzig Kilolängen östlich der Landenge an den Küsten. In der Mitte dieses Gebietes war es noch relativ ruhig – bis ungefähr drei Kilolängen vor dem eigentlichen Isthmus; dort war dann auch in der Mitte ein ziemliches Gedränge. Hinter dem Isthmus würden die Tiere ausschwärmen, sobald sie eine Gelegenheit dazu sähen, aber da man nicht vorhersagen konnte, wohin 142
genau die Tiere sich bewegen würden, gab es ein riesiges Gebiet, in dem das Risiko, totgetrampelt zu werden, noch immer ziemlich groß war. Südlich und nördlich von diesem fächerförmigen Gebiet gab es außerdem noch andere Gefahren. Das Meer toste dort, nachdem es Tausende von Kilometern vom Sturm getrieben worden war, mit unglaublicher Gewalt gegen die Küsten, und es gab dort nicht viele Wesen, die ein einigermaßen ruhiges Leben führten. Etwas östlich vom nördlichen Küstenstreifen befanden sich Sümpfe. Der Gischt, der von den Flutwellen über das Land geweht wurde, erzeugte in diesem Landstrich einen ständigen salzigen Regen, und die Pflanzen– und Tierwelt war in diesem Gebiet daher auch ganz anders als auf der nördlichen Halbkugel. Weitere Einzelheiten waren jedoch nicht bekannt, denn die Sumpfgebiete waren als äußerst gefährlich verschrien, und kluge Reisende mieden sie. Makombo rechnete damit, daß sie am Anfang mit Rückenwind eine Geschwindigkeit von ungefähr vierzig Kilolängen pro Stunde erreichen könnten, so daß sie in etwa einer Stunde den Isthmus überflogen hätten. Wenn sie hinter dem Isthmus in nördliche Richtung fliegen würden, würde die Geschwindigkeit, wenn der Wind von schräg hinten käme, ungefähr fünfzehn Kilolängen pro Stunde betragen. Dies bedeutete, daß sie mit etwa acht Stunden ununterbrochenem schnellen Treten rechnen mußten, um das Flugzeug in der Luft zu halten, bis sie einigermaßen sicher landen konnten. Die noch reichlich unerfahrenen Osborks würden vor eine harte Aufgabe gestellt werden, und alle stiegen mit einem gewissen Widerwillen auf ihre Sitze. Makombo benutzte diese letzte Gelegenheit, um seine Besatzung neu zu verteilen. Während der vorangegangenen Flüge war klar geworden, wer beim Treten am längsten durchhalten konnte, und soweit dies mit einer halbwegs gleichmäßigen Gewichtsverteilung in Einklang zu bringen war, ließ er die besten Treter auf der linken Seite sitzen. Wenn der Wind hinter dem Isthmus von schräg rechts hinten kommen würde, würden die Besatzungsmitglieder auf der linken Seite zum Ausgleich der Kursabweichung am kräftigsten treten müssen. Dann war der Augenblick gekommen, in dem Makombo in Kazazis Ohren rief: »Vorwärts – Marsch! Eins – zwei, eins – zwei, eins – zwei...« Die erste Stunde glich fast einer Vergnügungsfahrt. In den vorangegangenen Tagen hatte die Besatzung längstens vier Stunden geflogen, und danach waren ein paar von ihnen nicht einmal müde gewesen. Sie hatten nur angehalten, weil Makombo mit der Überquerung des Isthmus bis zum Morgen warten wollte. Auf diese Weise würden sie ausgeruht mit dem schwersten und längsten Stück beginnen. 143
Deshalb konnten sie anfangs in aller Ruhe nach unten und um sich herum schauen, und dort gab es in der Tat viel zu sehen. Das ständige Schauspiel der einander bedrängenden und zertrampelnden Tiere wurde nach einer Weile jedoch geradezu eintönig. Doch es setzte sich noch über ziemlich lange Zeit so fort, bis sie nach ungefähr einer Stunde den Isthmus hinter sich gelassen hatten. Von diesem Zeitpunkt ab wurde alles allmählich immer ruhiger, und jede Länge, die sie weiter zurücklegten, erhöhte ihre Überlebenschancen. Da rief Makombo in Kazazis Radio: »Kazazi, schau! Dort! Rechts vorne! Ein Osbork!« Kazazi und mit ihr zusammen die übrigen zehn Osborks schauten in die Richtung, in die Makombo wies, und erblickten ihren bedrohten Artgenossen. Der Osbork war offensichtlich erschöpft. Er hatte die Strecke über den Isthmus überlebt, aber ob ihm das viel nützen würde... Hinter ihm sahen sie eine riesige Gruppe von Tieren, die auch vom Isthmus kamen und die genau auf den vorwärtsstolpernden Passatfolger zurannten. Konnten sie dem Ärmsten denn nicht helfen, dachte Kazazi, und sie merkte, daß ein paar andere sich das Gleiche fragten. Die Meinungen darüber waren jedoch geteilt. »Bist du Verblasen?« fragte einer scharf. »Ich trete mich ja schon jetzt tot. Ich halte nichts davon, mich für so einen Passatfolger noch mehr anzustrengen. Wer weiß, wie asozial er in seinem eigenen Dorf gewesen ist? Ich setze dafür nicht mein Leben aufs Spiel!« »Wer ist hier asozial?« entgegnete Kazazi bissig. »Mit einer solchen Mentalität willst du demnächst einer der Führer deines Dorfes werden?« »Fühlst du dich etwa beleidigt, weil du selbst auch wegen asozialen Verhaltens dem Passat folgen mußtest?« war die spöttische Reaktion, und Kazazi wollte gerade wütend darauf antworten, als die neun anderen Osborks ihre Gedanken überstimmten. Es war klar, daß die meisten anderen sich ihr anschlossen: Für den Flüchtling mußte etwas getan werden! Aber sie konnte auch sensen, daß die anderen über sie und den anderen Kampfhahn verärgert waren. »Hör auf zu streiten, Kazazi!« sagte einer. »Frag lieber Makombo, was wir tun können!« Das hätte Kazazi zwar auch gerne getan, aber wie sollte sie das nur anfangen? Ein telepathischer Dialog ging blitzschnell, und der ganze unerquickliche Gedankenaustausch hatte nur ein paar Sekunden in Anspruch genommen. Offensichtlich hatte Makombo sich auch gefragt, ob sie etwas unternehmen sollten, denn zu ihrer riesigen Erleichterung hörte sie Makombo plötzlich sagen: 144
»Wollt ihr einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, um diesen Osbork zu retten? Wenn ja, dann schlage auf meine rechte Schulter!« Dies tat Kazazi ohne zu zögern. »Links... schnell!« rief Makombo daraufhin fast sofort. »Und schrei... äh... faucht, so laut ihr könnt!« Das Flugzeug beschrieb einen Bogen nach rechts und sank dann etwas ab. Makombo ließ es dicht über den Boden rasen, und so holten sie die Vorhut der Herde ein. Die vordersten Tiere sahen von links hinter sich einen riesigen fliegenden Gegenstand herankommen, der ein lautes fauchendes Geräusch von sich gab. Dieses unbekannte Ding ängstigte sie noch mehr als die kopflose Angst, die sie schon vor dem Isthmus in Panik versetzt hatte. Die ersten Tiere wichen erschreckt nach rechts aus, und der Rest der Herde folgte ihnen. Der Passatfolger schien damit jedoch noch nicht von seinen Problemen befreit zu sein. Nicht weit von ihm entfernt, aber so, daß er nicht von der stampfenden Herde zertrampelt werden konnte, rannte ein Meuchelmörder daher, und es war offensichtlich, daß das Tier seine Geschwindigkeit an die des Osborks angepaßt hatte. Das konnte nur eines bedeuten: Das Raubtier hatte seine Panik überwunden und versuchte, in der Nähe des Passatfolgers zu bleiben, um diesen später in einem ruhigeren Gebiet anzugreifen. Kazazi fragte sich, was sich dagegen nun wieder unternehmen ließe. Es müßte jedenfalls sehr schnell geschehen, denn sie hatten den Flüchtling jetzt fast eingeholt – noch einen Augenblick, und sie würden windabwärts von ihm sein und damit nicht mehr in der Lage, ihm zu helfen. Wenn Makombo versuchen würde, das Tier totzuschießen, würde er es bei dem starken Seitenwind mit Sicherheit verfehlen. Wie schade, daß sie in ihrem Eifer, etwas zu tun, die Möglichkeit übersehen hatten, das elende Biest von der Herde überrennen zu lassen... Aber auch hier hatte Makombo in der für ihn typischen Weise schon wieder alleine eine Lösung gefunden. »Schwänze – runter!« brüllte er plötzlich in Kazazis Ohr, und dieser höchst ungewöhnliche Befehl kam so unerwartet für sie, daß sie ihn weitergegeben hatte, noch bevor sie wußte, was er in Windesnamen damit bezwecken mochte. Elf Schwänze streckten sich sogleich so weit wie möglich nach unten. Makombos Drill schien hervorragend gewirkt zu haben! Der Passatfolger mußte sie wohl fassungslos beobachtet haben. Das Fauchen der Besatzung in Kazazis Flugzeug war vom Wind zu ihm hinübergeweht worden, noch bevor das Flugzeug selbst ihn eingeholt hatte. 145
Ängstlich hatte er sich nach der Ursache für dieses fremde Geräusch umgesehen und hatte so beobachtet, wie die Herde vor dem heranstürmenden fliegenden Gegenstand zur Seite geflohen war. Und kurz darauf flog das Ding genau über ihm, und eine beeindruckende Zahl von Osborkschwänzen senkte sich einladend zu ihm herab. Sogleich zeigte sich, daß er außergewöhnlich geistesgegenwärtig war und sehr schnell reagieren konnte. Er ergriff mit beiden Händen einen der über ihm vorbeifliegenden Endhaken, und als er mit einem Ruck hochgezogen wurde, ließ er seinen eigenen Schwanz hochschnellen, um ihn als dritten Anker um einen der Stützpfeiler des Flugzeuges zu schlagen. Sofort senkte sich der linke Flügel nach unten. »Links, schnell!« rief Makombo. »Er soll das Ding loslassen!« Kazazi begriff die Gefahr und gab dem Osbork zu verstehen, daß er sich zwar an den Schwänzen festhalten könne, nicht aber an Teilen des Flugzeuges. Daraufhin hakte der Passatfolger seinen Schwanz an einen der noch freien Endhaken fest, und an diesen drei Punkten hängend ließ er sich so ruhig wie möglich mitschweben. Der schafft die Große Reise bestimmt, dachte Kazazi. Schnelles Reaktionsvermögen und nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen! Außerdem hatte der Passatfolger jetzt, nachdem er den Isthmus durchquert hatte, den gefährlichsten Teil der Großen Reise sowieso hinter seinem Schwanz. Obwohl... warum stieg ihr Flugzeug nicht hoch? Sie trampelte sich fast tot und war sicher, daß die anderen dies ebenfalls taten, aber offenbar war diese zeitweilige Sonderbelastung mehr, als sie verkraften konnten. Gleich würden sie alle dreizehn abstürzen! Als sie Makombo fragen wollte, was nun zu tun sei, sah sie, daß der inzwischen noch eine weitere Sorge hatte. Er hätte seine Armbrust angelegt und begann, so schnell er konnte, Pfeile auf einen Meuchelmörder abzuschießen, der windabwärts stand und auf sie wartete. Das dicht über dem Boden sausende Ding, an dem ein Osbork hing, hatte ihn offensichtlich auf eine Idee gebracht. Es gab keine Hoffnung, daß sie nach links oder rechts abschwenken konnten, denn sie traten alle so feste wie möglich. Wenn Makombo in dieser Situation nur gut zielen würde... Makombo schoß den ersten Pfeil schon aus ziemlicher Entfernung ab und verfehlte sein Ziel bei weitem. Der zweite flog dicht an dem Monster entlang, und erst, als sie in ziemlicher Nähe waren, konnte Makombo gerade noch rechtzeitig einen dritten Pfeil abschießen. Dieser traf den Meuchelmörder in die linke Seite. Keine tödliche Wunde, aber so überraschend für das Tier, daß es seinen Plan sofort vergaß und knurrend nach dem Stück Holz biß, das plötzlich in seiner Schulter steckte. 146
Alle traten weiterhin mit maximaler Kraft und versuchten gemeinsam, das Ding in der Luft zu halten. Dies erforderte so große Konzentration, daß niemand die Energie aufbringen konnte, mit dem unerwarteten Gast zu kommunizieren. Dieser begriff jedoch sehr gut, was das Problem war, und beschloß, es für sie zu lösen. »Hört, Freunde, ich lasse los! Ich bin jetzt außer Gefahr, und das haltet ihr doch nicht länger aus! Riesigen Dank! Ich hoffe, ich erfahre später einmal, was ihr für ein seltsames Trüppchen seid!« Und dann war jeder telepathische Kontakt unmöglich, denn er ließ los, fiel zu Boden und schlug ein paar Purzelbäume, bis es ihm gelang, seinen Endhaken in einen Strauch zu schlagen und so zum Stillstand zu kommen. Das Flugzeug schoß sofort wieder in die Höhe, und die Entfernung wurde daher auch zu groß für Telepathie. Sobald sie eine gute Flughöhe erreicht hatten, rief Makombo: »Eins – zwei, eins – zwei, eins – zwei...«, und mit einer Geschwindigkeit, die ihnen plötzlich sehr langsam erschien, traten sie nun weiter. Kazazi dachte noch kurz über den Reisenden nach. Sie hätte ihm gerne erklärt, wer sie waren, aber ihr heroischer Flug würde in ein paar hundert Tagen wahrscheinlich fast auf dem ganzen Planeten bekannt sein, und dann würde er es wohl verstehen. »Kazazi, jetzt können wir uns keine Ausflüge mehr erlauben, Mädchen«, rief Makombo. »Wir fliegen nun etwas mehr nach rechts und folgen dem Rand des Sumpfes. Dies tun wir so lange, bis wir wirklich am Ende unserer Kraft sind, und dann müssen wir landen. Gib an die anderen weiter, daß wir noch lange nicht in Sicherheit sind!« Danach war der Flug nur noch ein gedankenloses Pedaletreten. Immer öfter mußte Makombo »Eins – zwei, eins – zwei!« rufen, um das Tempo zu korrigieren; immer öfter mußte entweder die eine oder die andere Seite der Besatzung etwas schneller treten, um eine Abweichung auszugleichen, die von einem erschöpften Besatzungsmitglied verursacht worden war. Kazazi merkte, daß Makombos Stimme dunkler und später auch sehr leise wurde. Sie wollte ihn nach dem Flug einmal fragen, warum sich seine Stimme so verändert hätte. Schließlich ging es nicht mehr länger. Dies war nicht nur auf die Ermüdung zurückzuführen, sondern auch darauf, daß sie wegen der Reise nach Nordwesten ständig Seitenwind hatten, und unter dieser Voraussetzung war es natürlich sehr viel schwerer vorwärtszukommen, als wenn man mit Rückenwind fliegen konnte. Diese Richtung hatte jedoch den Vorteil, daß es nicht so viele Tiere gab, die sie ebenfalls wählten, so 147
daß sie weniger weit zu fliegen brauchten, um aus der Gefahrenzone zu gelangen. Das war aber nicht der wahre Grund, weshalb sie dieser Route folgten, obgleich es ein erfreulicher Nebeneffekt war. Der Hauptgrund war, daß Makombo zu den Bergen mußte, um ein Schwergewicht zu fangen für seinen Urantransport. Kazazi wollte ihn natürlich auf diesem Umweg begleiten, und die anderen hatten einstimmig erklärt, es sei das Mindeste, was sie als Gegenleistung für die Erfindung des Flugzeugs tun könnten, ihn dorthin zu bringen, wo immer er hin wollte. Als dann schließlich die Berge in der Ferne sichtbar wurden, die auf Kazazis Karte angegeben waren, konnte jeder noch etwas zusätzliche Energie in die Pfoten geben, weil sie alle wußten, daß sie nun das Ziel fast erreicht hatten, aber lange bevor sie wirklich dort waren, mußte Makombo das Flugzeug landen. Mit stark schmerzenden Pfoten streckten sich die Reisenden auf dem Boden aus, fest entschlossen, nie wieder ein solches Flugzeug zu besteigen... Zwei Osborks klagten nicht nur über Muskelschmerzen, sondern auch über Schmerzen an ihrem Schwanzansatz. An ihrem Endhaken hatte sich der Reisende bei der Rettung festgehalten, und Kazazi konnte sich aus eigener Erfahrung sehr gut vorstellen, welchen Effekt ein solch harter Ruck haben mußte. Sie beschränkte sich darauf, ihnen telepathisch zu empfehlen, sich von einem anderen untersuchen zu lassen. Als Weibchen konnte sie dies natürlich nicht tun. Die anderen sensten ihre Verlegenheit, während sie den Ratschlag gab, und verstanden das nicht so recht. So peinlich war es doch nun auch wieder nicht, so etwas vorzuschlagen? Aber Kazazi hielt es nicht für erforderlich, ihnen zu erklären, daß dieser Zustand sie an einige sehr intime Augenblicke mit Nardov auf dem Segelwagen erinnerte... Am nächsten Morgen erklärten sich alle Besatzungsmitglieder spontan dazu bereit, sich wieder in das Flugzeug zu setzen, um sie noch näher zu den Bergen zu bringen. Makombo war gerührt, das konnte jeder sensen, wies ihr Angebot aber zurück. Auf der Karte zeichnete er ihnen auf, daß sie sich nun eigentlich schon fast zu weit westlich von den Bergen befänden, und daß sie mit ihrem Flugzeug unmöglich noch näher kommen könnten, wenn er und Kazazi das Gebirge nicht gegen den Wind besteigen wollten. Als sie die Karte vor sich hatte, sah auch Kazazi ein, daß sie nun geradewegs nach Norden gehen mußten, um aus der gewünschten Richtung in die Berge zu gelangen, und als auch die anderen dies verstanden hatten, wurde beschlossen, daß jeder, der meinte, seine Pfoten wieder gebrauchen zu können, seine eigene Große Reise antreten sollte. 148
Fünf von den zehn brachen noch am gleichen Tage zusammen auf. Die anderen fünf waren am nächsten Tag abreisebereit, und auch Kazazi und Makombo konnten an diesem Tag ihre Reise in die Berge antreten. Makombos Stimme war >heiser< gewesen, hatte er Kazazi erklärt, aber am Tage ihrer Abreise hatte sie sich schon fast wieder erholt.
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18. Das dicke Ende »Kommen diese verfluchten Berge denn immer noch nicht näher?« brummte Makombo zwei Tage später. Kazazi antwortete ihm vorsichtshalber nicht. Sie zogen in nördliche Richtung, und der Sturmwind peitschte unaufhörlich von rechts. So zu reisen, war schon Schwerstarbeit, wenn man nicht zusätzlich auch noch Zeit damit vertrödelte, das Gemeckere eines Reisegefährten mit Zeichnungen zu beantworten. Wind! Makombo war in den vergangenen Tagen ganz schön mürrisch geworden! »Ich muß erst mit eigenen Augen sehen, daß es in den Bergen Schwergewichte gibt«, fuhr Makombo in seinen pessimistischen Betrachtungen fort. »Vielleicht stellt sich am Ende noch heraus, daß diese ganze verdammte Reise umsonst gewesen ist.« Jetzt verlor Kazazi zum ersten Mal seit langer Zeit die Geduld. Sie setzte sich hin und griff zu ihrem Papier. »Nun hör einmal gut zu, Makombo! Ich mache diesen Umweg nicht zu meinem Vergnügen! Ich brauchte nur noch mit Rückenwind durch ziemlich sicheres Gebiet zu reisen, um nach Hause zu kommen, mußt du wissen! Und wenn ich erst einmal wieder mein Reisetempo selbst bestimmen könnte, wäre ich in ungefähr sieben Tagen zu Hause! Ich weiß nicht, ob du jemals schwanger gewesen bist, aber dieser Umstand macht mir auch schon ziemlich zu schaffen. Und wenn ich nicht spätestens in vierzig Tagen zu Hause bin, kann ich nicht einmal in meinem eigenen Dorf gebären!« Sie bemerkte, daß sich Makombo schockartig darüber klar wurde, daß er daran überhaupt noch nicht gedacht hatte. Der Mensch schaute eifersüchtig auf ihren Bauch, der nun tatsächlich merklich dicker zu werden begann, und zuckte dann die Achseln. »Nun ja...«, sagte er, und dann ging er wieder weiter. Ein paar Kilolängen später zeigte sich, daß Makombo über ihre Worte nachgedacht hatte. »Entschuldigung, Kazazi, ich stelle mich an wie ein Kind. Du nimmst für mich ein ziemliches Risiko auf dich, das wird mir erst jetzt klar!« Erleichtert beschloß Kazazi, noch einmal kurz anzuhalten. Ein guter Kontakt zwischen ihnen beiden war wohl so wichtig, daß er eine Unterbrechung wert war. »Du bist in den letzten Tagen tatsächlich ziemlich gereizt. Man könnte 150
fast glauben, daß du schwanger wärest und nicht ich!« »Das stimmt. Aber auch ich leide an einer Art von Zeitdruck, genau wie du. Wenn du zu spät in dein Heimatdorf kommst, mußt du dein Junges in der Fremde gebären. Das wäre zwar unangenehm, aber wenn es sein muß, finden wir bestimmt einen geeigneten Ort dafür. Bei mir hingegen besteht das Problem darin, daß meine Nahrungstabletten bald aufgebraucht sind. Ich habe ungefähr noch achtzig Stück davon, aber wenn die aufgebraucht sind, bevor ich mein Schiff erreiche, gibt es für mich keine Notlösung. Du weißt, daß ich sofort sterbe, wenn ich irgend etwas von Coriolis zu essen versuche...« Richtig! Makombo mußte ja auch essen! Kazazi hatte das tatsächlich fast vollkommen vergessen, weil ihr Mensch einmal am Tag im Gehen eine Pille in den Mund steckte, und das war's dann. So hatte sie diese Tatsache irgendwann schlicht vergessen. Schon komisch, sie waren beide in den letzten Tagen so sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen, daß sie kaum noch an die des anderen gedacht hatten! In einem Punkt zumindest waren sie sich einig: Jetzt hieß es, so schnell wie möglich in die Berge zu kommen – und dann so rasch es ging zu Kazazis Dorf. Weitere Gespräche mußten fürs erste warten bis zur nächsten Rast. In der richtigen Höhe fanden sie schließlich ohne große Schwierigkeiten die gesuchten Schwergewichte, und mit einiger Mühe gelang es Makombo, zwei von ihnen auf den Rücken zu drehen. Er hätte die Tiere am liebsten an Ort und Stelle ausgekocht; dann hätte er ihre Panzer gleich entleeren können. Aber das Anzünden eines Feuers war schon auf ebenem Gelände eine schwierige Aufgabe. Und hier, bei diesem schweren Sturm, war es natürlich erst recht unmöglich. »Mit meiner Laserpistole wäre das überhaupt kein Problem«, murmelte er. Auch jetzt wieder fiel Kazazi auf, daß Makombo immer häufiger pessimistisch auf Probleme reagierte, die er früher gut gelaunt zu lösen versucht hätte. Deshalb nahm sie sich vor, ihn zu fragen, ob er das wohl auch bemerkt habe. Lag der Grund wirklich nur in der Angst wegen der zuendegehenden Nahrungstabletten? Ansonsten verlief doch alles wie geplant? Gut, wenn sie jetzt keine Schwergewichte gefunden hätten, aber sie hatten doch welche gefunden. Makombo schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich muß dir schon wieder recht geben, Kazazi... Aber ... äh... also... ich will deine Welt ja nicht beleidigen, aber Coriolis macht mich allmählich völlig verrückt. Dieser ständige gottverdammte Wind hier und diese verrückte Natur um uns herum. O Mann, ich sehne mich so nach der Erde!« 151
Was war da zu tun? Kazazi verstand ihn nur allzu gut. Sie selbst sehnte sich ja auch nur noch nach ihrem Heimatdorf, und er war immerhin noch viel weiter von seiner normalen Umgebung entfernt. Obwohl, normal... Es wurde höchste Zeit, daß sie einen Versuch unternahm, sich selbst und Makombo aus der Heimwehstimmung herauszuholen. »Könnten wir die Tiere denn nicht hier schon töten?« schlug sie schließlich vor. »Dann fangen sie schon an zu faulen, und wenn du sie schließlich in die Nähe der Plumpssamen geschleppt hast, werden ihre Überreste leichter zu entfernen sein, als wenn sie dann noch lebendig wären. Und übrigens... Du brauchst eigentlich nur eins mitzunehmen! Dem anderen könntest du hier schon die Stücke aus dem Schild schneiden, die du später zum Abdichten der Löcher benötigst. Das erspart uns eine Menge Schlepperei!« Sieh da, dachte sie stolz, ich fange allmählich auch an, etwas technischer zu denken! »Wird das denn nicht furchtbar stinken?« fragte Makombo mit skeptischem Gesichtsausdruck, aber auch diesem Einwand wußte Kazazi zu begegnen. »Das stimmt zwar«, sagte sie. »Aber fürs erste macht das nichts aus, denn in den ersten Tagen werden wir ohnehin noch gegen den Wind reisen, und den Panzer der Schwergewichte schleppen wir hinter uns her. Wenn wir später wieder auf der Ebene sind, wird der Gestank womöglich größer werden, aber ganz ohne Unannehmlichkeiten kommen wir sowieso nicht nach Hause. Oder hast du das immer noch nicht begriffen?« Etwas beschämt mußte Makombo zugeben, daß dagegen wohl nicht viel einzuwenden war, und so stach er mit seinem Messer durch die Öffnungen zwischen den Schildpanzern, bis er sicher war, daß die beiden Schwergewichte wirklich tot waren. Dann befestigte er Lianen am Schild des einen Tieres, so daß er ihn verhältnismäßig mühelos über den Boden ziehen konnte. Auch war es nicht schwierig, ein paar schon einigermaßen zugeschnittene Stücke aus dem Schild des anderen Tieres herauszuschneiden. Die Schildpanzer schienen tatsächlich aus fast reinem Blei zu bestehen, und das ist zwar sehr schwer, aber gleichzeitig auch ziemlich weich und daher leicht zu bearbeiten. Makombo befestigte die zugeschnittenen Schildpanzerstücke an dem anderen Schwergewicht, das er als Ganzes mitnehmen wollte. Anschließend machten sie sich wieder auf den Weg. Allerdings mußte Kazazi vorher noch etwas loswerden. »Sag mal, Makombo, ist dir eigentlich klar, daß du vorhin schon wieder >Mann< zu mir gesagt hast? Ich bin das zwar gewöhnt, aber du solltest wirklich besser >Mädchen< oder etwas ähnliches zu mir sagen.« 152
Makombo schaute sie überrascht an. »Du hast recht. Ich kann es tatsächlich noch nicht so ganz glauben, daß ich die ganze Zeit mit einem Mädchen unterwegs gewesen bin!« sagte er. Dann fügte er leise vor sich hin murmelnd hinzu: »Manche Leute behaupten ja, ich hätte auf jedem Planeten eine Freundin sitzen, aber das ist natürlich lächerlich...« Kazazi senste, daß ihn die Vorstellung doch irgendwie amüsierte. Die Reise verlief danach in einer merklich besseren Atmosphäre. Sobald sie die Ebene erreicht hatten, bogen sie schräg in den Südwesten ab, geradewegs auf Kazazis Dorf zu. Kazazi spürte in ihrem Bauch immer deutlicher das Treten kleiner Pfötchen, und ihr Bauch kam ihr außerdem selbst für diese Situation ziemlich dick vor. Ob das wohl etwas mit ihrer Angst zu tun hatte, daß sie ihr Dorf nicht rechtzeitig erreichen würde? Oder war etwas nicht in Ordnung mit ihrer Schwangerschaft? »Sag, Makombo, denkst du, daß jetzt auf Coriolis alles anders werden wird?« fragte Kazazi, als sie abends einen Ruheplatz für die Nacht gefunden hatten. »Wenn du später mit anderen Menschen wieder zurückkommst?« »Mach dir deswegen keine Sorgen, Kazazi, das wird nicht geschehen. Kein Mensch weiß etwas von eurem Planeten, und das soll auch so bleiben. Coriolis gehört nur dir und mir.« »Und außerdem doch wohl auch noch ein paar Millionen anderen Osborks«, fügte Kazazi bescheiden hinzu. »Aber was machst du dann mit den Plumpssamen? Everetts Reaktion darauf war so heftig, daß ich annehme, ihr könntet steinreich werden durch so eine... äh... Uranquelle. Willst du denn nicht steinreich werden?« »Ja, und ob ich das will! Ich habe bestimmt auch vor, zurückzukommen, aber dann alleine, und ich werde es so anstellen, daß niemand je etwas von Coriolis erfährt. Jetzt, wo Everett tot ist, werde ich die Alpheratz II alleine zurück zu der Welt steuern müssen, wo die Menschen wohnen. Und ich kann es schaffen, obwohl es nicht gerade einfach sein wird. Und zurückkommen werde ich auch alleine, und zwar mit einem Schiff, das nicht defekt ist und mit genügend Brennstoff für eine gute Landung. Dann werde ich zuerst dein Dorf besuchen, Mädchen, und anschließend mein Schiff bis oben hin mit Plumpssamen beladen. Dieser Meteorit hat die Alpheratz II schrottreif gemacht, deshalb werde ich mir zuerst ein neues Raumschiff besorgen müssen. Wie ich das schaffen soll, weiß ich noch nicht, aber so bald ich die Möglichkeit dazu habe, komme ich wieder zurück. Vielleicht kann ich auf meinem Weg zu den bewohnten Welten noch irgendeinen Handel treiben... In der Zwi153
schenzeit werde ich bestimmt niemandem erzählen, daß ich eine Fundstelle für fast reine radioaktive Stoffe kenne. In dieser Hinsicht ist es nur gut, daß Everett tot ist! Ich habe niemals darauf vertraut, daß er diesen Planeten geheimhalten würde. Wenn er sich dadurch irgendeinen Vorteil hätte verschaffen können...« Ursprünglich hatte Kazazi vorgehabt, Makombo nie die Wahrheit über Everett zu erzählen. In der letzten Zeit hatte sie überhaupt nicht mehr an diesen Menschen gedacht. Aber jetzt erschien es ihr doch besser, Makombo über den tatsächlichen Verlauf ihrer letzten Begegnung mit Everett zu berichten. Nicht auszudenken, wenn dieser unangenehme Kerl seine Reise zu den Plumpssamenfeldern und zurück nun doch überlebt hätte... Also beichtete sie Makombo die ganze Geschichte und versuchte dabei auch zu erklären, warum sie ihm damals die Wahrheit vorenthalten hatte. »Allmächtiger! Kazazi, das ist ja furchtbar!« Kazazi senste, daß Makombo in nackte Panik geriet. »Ist dir denn nicht klar, was das bedeutet? Wenn Everett die Reise tatsächlich überlebt hat, hat er vielleicht das Landefahrzeug schon längst wieder erreicht! Und wenn er wirklich gehofft hat, daß ich tot wäre, ist er jetzt vielleicht schon auf und davon! Wir haben viel zu lange für unsere Reise gebraucht, weil wir diesen verfluchten Karren in dem Tunnel zurücklassen mußten, und dann ist er... O Gott, Kazazi, dies wird mein Tod...« Kazazi bemerkte erleichtert, daß Makombo trotz ihres Lügens nicht einmal böse auf sie war. Andererseits wäre ihr dies jedoch lieber gewesen als die Verzweiflung, die ihn jetzt überfiel. Was sollte sie denn nur tun? An der Situation ließ sich nun einmal nichts mehr ändern. Natürlich konnte Everett seine Reise überlebt haben, und in diesem Fall war er sicherlich schon abgereist. Dann würde Makombo tatsächlich sterben, sobald seine Nahrungstabletten aufgebraucht waren. Aber viel wahrscheinlicher war, daß Everett es nicht geschafft hatte, und in diesem Fall brauchte Makombo seine Reise nur einfach zu Ende zu bringen. Dann bestand auch nicht der geringste Grund zur Verzweiflung. »Makombo«, sagte sie vorsichtig. »Habe ich dir nicht erzählt, daß ich Everetts Laserpistole mitgenommen habe? Weißt du denn nicht mehr, daß ich sie dir gegeben habe? Wie groß ist deiner Meinung nach Everetts Chance, ohne Pistole die Reise zu überleben? Kein Osbork wird Everett helfen wollen, mußt du wissen. Er hat eine viel zu unangenehme Ausstrahlung.« Aber Makombo wurde in letzter Zeit ziemlich leicht mutlos. Er starrte dumpf vor sich hin und schaute sich nicht einmal mehr ihre Zeichnungen an. 154
Als Kazazi am nächsten Morgen in ihrem Ohrradio das Wecksignal für ihre letzte Wachstunde hörte, fühlte sie sich wie gerädert. Ekelhafte Träume hatten sie die ganze Nacht über verfolgt: eine Fehlgeburt mitten auf der Ebene, ein Kampf mit Makombo und Everett, der doch noch am Leben war. Neben ihr wälzte sich Makombo unruhig hin und her. Auch er schlief offenbar nicht gut. Aber was war das für ein Ding auf seiner Hüfte? Allmächtiger Wind! Das war eine Klebeklette! Dieses Ding mußte sofort entfernt werden! Sie konnte deutlich erkennen, daß die Verdauungssäfte der Pflanze bereits einen Teil von Makombos Anzug zerfressen hatten. Wäre das Ding noch ein paar Stunden dort geblieben, dann hätte die Klette Makombos Strahlenschutzanzug an dieser Stelle völlig zerfressen und würde mit Makombo selbst anfangen. Ob sie ihren Menschen wecken sollte oder besser versuchen, die Klette selbst zu entfernen? Schließlich beschloß sie, es selbst zu versuchen. Ihr Mensch schlief doch ohnehin schon so schlecht, und wenn sie es leise tat, würde er weiterschlafen können. Sie biß zwei Zweige von einem Strauch ab, hinter dem sie Schutz vor dem Wind gesucht hatten, und mit diesen Zweigen versuchte sie, vorsichtig die kleinen Widerhaken zu lösen, mit denen sich die Pflanze an Makombos Anzug festgehakt hatte. Sie hatte gerade erst damit angefangen, als Makombo aufwachte. Er war offenbar so angespannt, daß er sich sofort in Gefahr wähnte und Kazazi einen kräftigen Schlag auf ihre Pfoten versetzte. »Was machst du da?« schrie er überreizt. Kazazi sprang fauchend ein Stück zurück, deutete auf die Klette an seinem halb zerfressenen Strahlenschutzanzug. »Verdammt«, schimpfte Makombo. »Sind denn alle Pflanzen auf diesem verhexten Planeten gefährlich?« Er packte die Klette mit Handschuhen und riß an ihr, doch das hätte er besser nicht tun sollen. Nicht umsonst hatte Kazazi die Widerhaken mit so großer Vorsicht behandelt. Das Gewebe des Strahlenschutzanzuges war nämlich an der Stelle, wo die Klette saß, schon ziemlich schwach geworden, und als Makombo die Klette mit einem so festen Rucke von seinem Anzug riß, löste sich ein Stück davon ab: die aufgenähte Tasche, in der sich die Streifen mit den eingeschweißten Nahrungstabletten befanden! Die glitzernden Durchdrückstrips wurden sofort vom Sturm entführt. Jetzt geriet Makombo vollends in Panik. Er erinnerte Kazazi stark an ein Osborkjunges, das zum ersten Mal vom Wind erfaßt wird und noch nicht gelernt hat, seinen Endhaken zu benutzen. 155
»Kazazi! Meine Pillen! Halte sie fest!« Kazazi hatte längst gemerkt, daß da etwas sehr Unangenehmes im Gange war und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Sie fand auch gleich einen der Tablettenstrips – er war gegen einen kleinen Strauch geweht worden. Nachdem sie im spärlichen Licht des Morgens alles gründlich abgesucht hatte, entdeckte sie ein Stück weiter noch einen zweiten Streifen. Sie machte einen Satz in seine Richtung und setzte sofort eine Pfote darauf. Leider stellte sich heraus, daß es der Streifen war, den Makombo gerade benutzte. Von den zwanzig Pillen, die er ursprünglich enthalten hatte, waren nur noch sechs übrig. Dann suchte sie weiter windabwärts nach den übrigen Strips, aber diese waren inzwischen durch den Sturmwind so weit fortgeweht worden, daß nichts mehr davon aufzufinden war. Mutlos kehrte sie zu Makombo zurück und zeigte ihm die sechsundzwanzig Pillen, die sie noch hatte retten können. Makombo steckte sie in die Tasche auf der anderen Seite seines Anzuges und sank verzweifelt zu Boden. Eine ganze Weile starrte er mißmutig vor sich hin. Kazazi wagte kaum, sich zu bewegen. Sie fühlte starkes Mitleid mit Makombo, aber was konnte sie tun? Da gab ihr plötzlich der Junge in ihrem Bauch einen kolossalen Tritt, und blitzartig wurde ihr bewußt, daß es mit Sicherheit nichts helfen würde, hier herumzusitzen. Also hielt sie Makombo ihren Zeichenblock vor die Nase, auf dem sie ihm den Vorschlag machte, doch auf alle Fälle erst einmal weiterzugehen, doch dieser schaute nicht einmal hin. Als sie ihn daraufhin an seinem Arm zog, merkte sie erleichtert, daß er sich zwar ziemlich passiv, aber doch ohne Widerstand hochziehen ließ. Sie drückte Makombo das Zugseil des Containers in die Hand und schob ihn in die richtige Richtung. Dann machten sie sich stolpernd auf den Weg. Inzwischen stellte Kazazi eine Berechnung an. Ungefähr vier Tage würden sie noch benötigen, um ihr Dorf zu erreichen. Dort würde Makombo ein Bad nehmen müssen, aus dem Schwergewichtpanzer seine Bleikiste anfertigen... Wie lange mochte das wohl dauern? Hmm, vielleicht einen halben Tag? Dann mußte er zu den Plumpssamen. Ungefähr drei Tage! Dann einen Tag, um die Dose mit den Samen zu füllen... Danach würden ihm immer noch fünfzehn oder sechzehn Tage bleiben, um zu seinem Landefahrzeug zurückzukehren... Das konnte er schaffen, wenn er sehr schnell reisen würde und wenn jetzt nichts mehr schiefginge. Es war zwar furchtbar schade, daß Makombo nun nicht bei der Geburt dabei sein konnte, aber mit den verbleibenden sechsundzwanzig Pillen könnte er die ganze Angelegenheit wohl ohnehin nur knapp überleben! Höchste Eile war jetzt geboten, und Pausen für die aufwendigen Gespräche mit Hilfe von Zeichnungen würde es von jetzt ab nicht mehr ge156
ben. Die mußten bis abends warten, wenn sie ohnehin Ruhepausen einlegen mußten. Außerdem war es fraglich, ob sie bei Makombos jetzigem Zustand überhaupt noch jemals ein Gespräch mit ihm würde führen können... Vorher hatte er das Schweigen während des gemeinsamen Marsches von Zeit zu Zeit mit einer Bemerkung unterbrochen, aber jetzt sagte er schon seit Stunden kein Wort mehr. Selbst sein Gemurre der letzten Tage wäre Kazazi jetzt recht gewesen! Plötzlich erstarrte sie. Wie gewöhnlich hatte sie die ganze Zeit über die Umgebung gemustert, denn auf Coriolis konnte gerade in den unerwartetsten Augenblicken Gefahr drohen. Sie waren viele Kilolängen an einem Kriechwurzelstrauch entlanggewandert. Das Ding erstreckte sich, so weit sie sehen konnten, rechts neben ihnen in ihre Marschrichtung aus, also windaufwärts. Solch einen Strauch brauchte man nicht ständig zu beobachten, denn er bildete eine ziemlich wirksame Barriere gegen Angriffe. Aber jetzt waren sie an einen weniger dichten Teil des Strauches gekommen, und Kazazi sah, was sich auf der anderen Seite befand... Sie zog Makombo am Arm und blieb stehen. Ohne das geringste Zeichen von Anteilnahme schaute er in die Richtung, in die sie deutete. Dann zuckte er die Achseln. »Aber Makombo! Das ist ein Meuchelmörder! Wir müssen etwas unternehmen! Das Biest wird uns folgen, und gleich, wenn der Strauch endet, wird er angreifen, das weiß ich sicher!« Makombo zuckte erneut die Achseln, zog dann an seinem Container und stolperte weiter. Sie konnte sensen, daß seine Verzweiflung in Gleichgültigkeit umgeschlagen war und machte sich immer größere Sorgen. Makombo hatte offenbar den Kampf ums Überleben aufgegeben und hatte daher auch nicht das geringste Interesse daran, daß sie auf der anderen Seite des Strauches von einem Meuchelmörder begleitet wurden. Da überfiel Kazazi eine rasende Wut, und merkwürdigerweise war nun auch ihr ganzer früherer Jähzorn wieder da. War er denn völlig idiotisch? Sie stellte sich vor Makombo und zwang ihn zum Anhalten. Dann versetzte sie ihm mit ihrem Schwanz einen schweren Schlag auf den Kopf, und während Makombo noch benommen den Kopf schüttelte, zeichnete sie ihm blitzschnell auf, was sie auf dem Herzen hatte. Zu ihrer Erleichterung sah sie, daß er durch ihren unerwarteten Überfall etwas aus seiner Depression herausgerissen worden war – sie senste bei ihm Verwirrung und Erstaunen. Und dann schaute er auch auf ihren Zeichenblock, den sie ihm vorhielt. 157
»Hör gut zu, Makombo! Allmählich reicht es mir wirklich! Wenn du alleine auf der Welt wärest, könntest du dich natürlich für den leichtesten Weg entscheiden. Von mir aus könntest du dich dann auch gleich umbringen. Aber ich gehe davon aus, daß wir zu zweit sind, und bis jetzt hat es mit unserer Zusammenarbeit doch immer ganz gut geklappt. Aber wenn du mich jetzt im Stich läßt, mußt nicht nur du dran glauben, sondern ich auch – und außerdem noch mein Junges. Und das wäre dann einzig und allein deine Schuld, denn wenn du dich selbst nicht so hängen lassen würdest, könntest du erkennen, daß wir immer noch eine Überlebenschance haben. Aber Wind! Du mußt dich schon etwas zusammenreißen!« Dem Passat sei Dank! Sie senste, daß ihre Botschaft diesmal angekommen war. Makombos Gefühl von Verzweiflung verflog. Merkwürdigerweise trat auch kein anderes Gefühl an dessen Stelle. Das ängstigte sie zwar auch etwas, aber trotzdem hielt sie es für einen Fortschritt. Nicht einmal Schuldgefühle oder Scham waren zu finden, wie Kazazi es eigentlich erwartet hätte... Dann schaute Makombo sie plötzlich lächelnd an. »Also wenn die Dinge so liegen, werden wir wohl etwas gegen dieses Biest unternehmen müssen, nicht wahr?« Kazazi verstand seine Reaktion zwar nicht ganz, aber sie beschloß, ihre Frage bis zum Abend aufzuheben. Jetzt ging es erst einmal um diesen Meuchelmörder! »Was könnten wir tun?« fragte sie ihn. »Nun, einfach Weiterreisen. Wenn der Strauch sich seinem Ende nähert, kann ich das Tier leicht mit meiner Armbrust erledigen.« »Das wird uns nicht helfen... Makombo, mit der Strahlenpistole, die du früher hattest, konntest du einen Meuchelmörder mit einem Schuß töten, aber sieh dir dieses Tier einmal genau an!« Die leuchtend grünen Augen des Meuchelmörders funkelten, als Kazazi ihren Freund auf die dicke Haut, die riesigen Muskelbündel und den zähen Körper hinwies. »Wenn der gleich losspringt, geht alles unglaublich schnell«, erklärte sie. »Und ich kann dir garantieren, daß du schon eine gehörige Portion Glück brauchst, um ihn mit einem Schuß so zu treffen, daß er sofort tot umfällt – du kannst dir nicht vorstellen, wie zäh diese Viecher sind. Wenn du ihm einen Pfeil in seine Muskeln schießt, kümmert er sich nicht einmal darum. Ein zweiter Pfeil könnte ihn vielleicht töten, aber bevor du den abgeschossen hast, hat er mich schon gepackt...« 158
»Hmm. Laß uns trotzdem erst einmal weitergehen, Kazazi! Wir müssen uns beeilen. Ich verstehe das Problem jetzt. Laß mich einmal kurz darüber nachdenken!« Siehe da! Makombos Gefühle waren ja vielleicht immer noch nicht normal, aber zumindest schien er seine alte Effizienz wiedererlangt zu haben! Voll Vertrauen, daß jetzt alles wieder gut werden würde, ging sie weiter neben Makombo her. Dieser blieb nach ein paar Kilolängen plötzlich stehen, nahm seine Armbrust von der Schulter und schoß einen kleinen Renner ab, der ein kurzes Stück weiter gegrast hatte. Erstaunt schaute Kazazi ihren Menschen an: »Heh du, ich brauche noch lange nichts zu essen!« »Weiß ich, aber würdest du mir das Tier bitte schnell bringen?« fragte Makombo und suchte inzwischen die Ebene ab. Als Kazazi den Renner geholt hatte, begann Makombo sofort mit dem Häuten des Tieres. Er schnitt mit seinem Messer ein paar Zweige eines Strauches ab und befestigte die Pfoten des toten Renners daran. Dann deutete er auf einen Dornenwerferstrauch, der sich schräg windaufwärts in der Ferne abzeichnete. »Kommst du mit?« fragte er. »Wir müssen zuerst noch einen kleinen Umweg machen.« Schon wieder ein Umweg, dachte Kazazi mutlos. Ob Makombo verrückt geworden war? Sie mußten sich doch sowieso schon ziemlich beeilen, und jetzt wollte er auch noch einen Umweg machen... Aber Makombo schien genau zu wissen, was er tat, also zog sie es schließlich doch vor, ihm zu folgen. Als sie den Dornenwerferstrauch erreichten, versetzte Makombo dem Stamm der Pflanze einen festen Schlag. Sämtliche reifen Dornen flogen sogleich herab. Anschließend spannte Makombo die Haut des Renners mit Hilfe der Zweige in unmittelbarer Nähe des Strauches über den Boden. Der Dornenwerferstrauch hielt den Sturmwind so sehr ab, daß das Fell nicht wegflog. »Wie lange dauert es, bis er wieder reife Dornen hat?« »Zwei Umläufe der Blauen Sonne...« Kazazi verstand noch immer nicht, was das alles zu bedeuten hatte. »O je, das ist lange«, sagte Makombo. »Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Laß uns warten...« Kazazi beschloß, die Gelegenheit für ein ruhiges Gespräch beim Schopf zu ergreifen. »Makombo, was ist eigentlich mit dir los? Wind sei Dank habe ich jetzt 159
wenigstens wieder Kontakt zu dir, aber ich sense überhaupt keine Gefühle mehr bei dir?« »Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich fühle ja auch nichts. Ich kann kühl und klar denken, seit du mich eben so scharf angefahren hast – womit du übrigens völlig recht hattest... –, aber mein Gefühl ist verschwunden, es gibt manchmal Momente, in denen man sich einfach jemand anderem überläßt, Gott oder dem Wind, oder wenn man nicht gläubig ist, einfach dem Schicksal... Ich habe darüber nachgedacht, aber mir ist bewußt geworden, daß ich doch nichts daran ändern kann, wie dies alles ausgeht. Wenn Everett noch lebt, bin ich so gut wie tot. Und wenn ich mit meinen Nahrungstabletten nicht auskomme, schaffe ich es auch nicht. Aber wenn ich mich beeile und auch sonst nichts mehr schief geht auf dieser Reise, und wenn Everett tot ist, habe ich noch eine Chance, und die muß ich zu nutzen versuchen. Und wenn ich es dann doch nicht schaffe, habe ich zumindest dir noch helfen können, nach Hause zurückzukehren... Das einzige, was ich wirklich schade finde, ist, daß ich jetzt auf keinen Fall deine Geburt abwarten kann, aber ansonsten... Wir werden sehen, Kazazi, ich bin jetzt an dem Punkt, daß ich einfach nur noch fatalistisch abwarte...« Kazazi war sehr erleichtert und auch ein wenig stolz auf ihren Menschen. Er hatte natürlich seine schwachen Momente, aber im Ganzen war er ein großartiger Bursche. Wie schade, daß er kein Osbork war... Bald würde sie Mutter sein, ohne zu jemandes Nest zu gehören, und ein Kind alleine erziehen... Sie wurde ein bißchen melancholisch bei dem Gedanken. Kazazi hatte jedoch noch etwas anderes auf dem Herzen, und das mußte sie unbedingt noch mit Makombo besprechen. »Aber bist du mir denn eigentlich gar nicht böse, Makombo? Ich habe dich doch angelogen!« »Nö, böse nicht. Das Lügen stört mich zwar etwas, aber ich kann verstehen, warum du es getan hast. Und indem du Everett entwaffnet hast, hast du die Chance sehr vergrößert, daß er nun tot ist. Ich habe einmal darüber nachgedacht, was geschehen wäre, wenn du mir die Wahrheit erzählt hättest. Dann hätte ich auf Everett gewartet, bis er mit dem Uran zurückgekommen wäre, und dann wäre es zwischen uns wahrscheinlich zu einem Kampf gekommen. Er hätte keine Waffe gehabt, was hätte ich also tun sollen? Einfach schießen? Ich bin doch kein Mörder... Höchstwahrscheinlich hätte Everett wohl eher mich getötet. Jetzt lebe zumindest ich noch. Nein, ich glaube, so wie es was, war es am besten.« Nun brauchten sie nur noch auf den Dornenwerferstrauch zu warten, und schließlich konnte Kazazi nach einer vorsichtigen Inspektion melden, 160
daß sich der Strauch wieder >bewaffnet< hatte. »Gut so«, sagte Makombo und versetzte dem Stamm wieder einen festen Schlag. Dutzende von Dornen schossen los und bohrten sich in die straffgespannte Rennerhaut. Danach nahm Makombo die Haut vorsichtig ab, kratzte mit seinem Messer den giftigen Saft der Dornen sorgfältig ab und bestrich damit die Spitzen seiner Pfeile. Er hatte Kazazi während des Wartens seinen Plan schon erläutert, und Kazazi hielt es zwar für eine kluge Idee, den Meuchelmörder mit vergifteten Pfeilen zu erlegen, aber sie sah nicht ein, wieso ihnen das helfen sollte, denn so schnell wirkte das Gift nicht. Auf kurze Entfernung wäre das Tier danach nicht weniger gefährlich. Und solange der Kriechwurzelstrauch noch zwischen ihnen und dem Tier stand, konnten sie es nicht treffen... Makombo hatte jedoch geheimnisvoll gelächelt und gesagt, sie sollte einfach abwarten... Sie kehrten zum Kriechwurzelstrauch zurück und konnten das Raubtier auf der anderen Seite sitzen sehen. Offensichtlich war es ihm ein langes, geduldiges Warten wert, einen Osbork fangen zu können... Makombo drehte sich so, daß er gegen den Wind schaute und richtete seine Armbrust hoch. »Erst einschießen«, sagte er, und er nahm einen nicht vergifteten Pfeil aus dem Köcher. Der Pfeil flog hoch durch die Luft gegen den Sturm, verlor schließlich seine Geschwindigkeit, drehte sich und flog dann mit dem Wind zurück. Die Richtung war schon ganz gut gelungen – auf dem Rückweg flog der Pfeil über ihren Feind hinweg. Aber Makombo hatte viel zu hoch geschossen, und erst mit seinem dritten Pfeil erreichte er die richtige Höhe: Der Pfeil traf das Monster direkt ins Hinterteil. Während der Meuchelmörder knurrend versuchte, das lästige Ding herauszubeißen, brummte Makombo zufrieden vor sich hin. Jetzt schoß er die giftigen Pfeile auf die gleiche Weise ab. Von den fünfen, die er präpariert hatte, erreichten drei ihr Ziel. »Das reicht wahrscheinlich nicht aus, um ihn zu töten«, sagte Kazazi. »Aber er wird zumindest ziemlich lange schlafen. Laß uns schnell dafür sorgen, daß wir hier wegkommen!« Durch diesen Zwischenfall hatten sie erneut viel Zeit verloren, und daher reisten sie nun so schnell sie konnten weiter. Als sie abends todmüde zum Schlafen niedersanken, hatte Kazazi wieder eine Reihe von Fragen auf dem Herzen, die sie noch mit Makombo besprechen wollte. Ihre Hände zitterten schon vor Erschöpfung, aber schließlich gelang es ihr doch, ihre Frage einigermaßen lesbar auf dem letzten Rest des Zeichen161
blocks zu Papier zu bringen. »Makombo, ehrlich gesagt verstehe ich nicht, daß Everett jemals dein Freund war!« »Mein Freund? Nun hör mal, damit bin ich aber schon etwas wählerischer!« »Du bist doch mit ihm zusammen gereist?« »Ja, aber das tue ich doch nicht nur mit Freunden, das tue ich auch manchmal einfach, weil es den Geschäften nützt!« »Äh... Geschäfte?« »Hör zu, so ein Raumschiff, wie Everett und ich es besitzen, kann man zwar auch alleine steuern, aber das ist ziemlich schwierig. Besser fährt man solch ein Schiff zu zweit. Everett hatte zwar ein Schiff, war aber im übrigen völlig abgebrannt und konnte sich weder Proviant noch Treibstoff kaufen. Und ich selbst hatte damals zwar etwas Geld, aber kein eigenes Schiff. Deshalb sind wir Partner geworden.« »Wie hast du ihn denn kennengelernt?« »Tja, also... Das ist eine lange Geschichte. Ich habe dir schon erzählt, daß es sehr viele bewohnte Welten gibt, und auf vielen von ihnen leben Menschen und andere Rassen, die Raumschiffe haben. Auf einem dieser Planeten ging ich einmal durch ein Armenviertel, als ich sah, daß ein Mensch von vier Pilotos überfallen wurde. Das ist eine Rasse, die genau wie die Menschen auf vielen Planeten zu finden ist. Komisch... ich war nicht einmal wütend darüber, daß sie vier gegen einen waren, so etwas passiert ziemlich häufig. Meistens mischt man sich dann besser nicht ein. Aber daß ein Mensch von diesen Echsen angefallen wurde... Ich dachte überhaupt nicht darüber nach, sondern sprang einfach dazwischen, und zu zweit waren wir zu stark für sie. Als zwei von ihnen bewegungslos auf dem Boden lagen, waren die anderen schnell verschwunden. Und dieser Mensch, das war Everett. Er erzählte eine lange Geschichte über einen Raub und sowas, aber rückblickend halte ich es auch ohne weiteres für möglich, daß die Pilotos Everett berechtigterweise verprügeln wollten! Aber gut, damals kannte ich Everett noch nicht, und als wir den Sieg mit einer Menge Drinks gefeiert und entdeckt hatten, daß sein Schiff und mein Geld wie füreinander geschaffen zu sein schienen, tja... da beschlossen wir noch am gleichen Tag, als Partner nach Geschäften in den weniger bekannten Gebieten der Milchstraße zu suchen. Später ist mir aufgefallen, daß Everett geradezu verdächtig schnell abreisen wollte. Vielleicht waren noch mehr Leute hinter ihm her...« »Es fiel ihm wohl nicht gerade schwer, sich Feinde zu machen, nicht wahr? Sind die Menschen oft so?« »Ach, es gibt Menschen der verschiedensten Art. Everett ist in einem 162
Elendsviertel aufgewachsen, das hat er mir einmal erzählt. Er war ziemlich eifersüchtig auf mich, weil ich in meiner Kindheit so großes Glück gehabt hatte. Er hat ständig um sein Überleben kämpfen müssen, und das kann für einen Menschen zu einer solchen Gewohnheit werden, daß er selbst dann noch weiterkämpft, wenn es gar nicht nötig ist... Er hatte auch seine guten Seiten, mußt du wissen. Ich glaube, daß wir es wirklich miteinander hätten aushalten können, wenn diese Reise normal verlaufen wäre. Aber als unser Sternenantrieb ausfiel, mußten wir achtundzwanzig Tage lang im Schneckentempo zu diesem Planeten hier reisen. Wenn man in einer solchen Situation zu zweit in einem so beschränkten Raum sitzt, werden Reibungspunkte bis zum äußersten überspannt. Am Schluß wollte ich ihn manchmal sogar ermorden, und er mich offenbar auch...« Kazazi erinnerte sich daran, wie sie Everett gelegentlich alleine ruhig bei der Arbeit gesehen hatte. Sie hatte damals seine Einsamkeit gesenst und seinen Kummer über etwas, was sie nie erfahren hatte. Es fiel ihr schwer, diesen Menschen wirklich zu hassen, wenn sie daran dachte, daß sie und Everett einige Kindheitserfahrungen gemeinsam hatten! Während dieses Gesprächs bemerkte Kazazi, daß Makombos Gefühl allmählich wieder zurückkehrte! An diesem Morgen war es so gewesen, als ob er jegliches Gefühl verbannt hätte, aber seit sie jetzt über Everett sprachen, senste sie bei ihrem Menschen immer stärkere und differenziertere Gefühle: zunächst Ärger und Aggression Everett gegenüber, später aber auch etwas mehr Sympathie und Mitleid – es sah so aus, als ob Makombo bald wieder ganz der Alte sein würde! Wenn Menschen den Osborks ähnelten, dann kam das wahrscheinlich daher, daß sie, während sie so zusammen in ihrer Schlafgrube lagen, sehr bewußt ihre Freundschaft erlebten! Wind! Was war dieses Ohrenkraulen doch für ein schönes Gefühl!
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19. Ankunft und Abreise Als Kazazi und ihr Mensch zwei Tage später schließlich die Windmühlen von Kazazis Dorf sehen konnten, steigerten sie trotz ihrer Müdigkeit noch ein letztes Mal ihr Tempo. Kazazi wäre am liebsten im gestreckten Galopp vorausgerannt, aber ihr Bauch war inzwischen geradezu beunruhigend schwer geworden. Deshalb war es ihr in der letzten Zeit eigentlich sehr recht gewesen, daß Makombo so langsam reiste. Viel schneller hätte sie jetzt nicht mehr laufen können. Es war übrigens auch besser so, ermahnte sie sich selbst! Zusammen aus, zusammen nach Haus, nicht wahr! Wind! Sie waren ja fast da! Sie hatte schon mehrere Male – etwas eifersüchtig – der Rückkehr eines überlebenden Passatfolgers beigewohnt, weshalb sie sicher war, daß auch ihr ein herzlicher Empfang bevorstand. Die Leute in ihrem Dorf konnten es zwar noch nicht wissen, aber sie selbst war sich zumindest der eindrucksvollen Veränderung sehr stark bewußt, die sich in ihrer Persönlichkeit vollzogen hatte. Sie würde in ihrem Dorf nie mehr so wie früher in Schwierigkeiten geraten. Zwar rief es immer ein gewisses Maß an Stirnrunzeln hervor, wenn ein weiblicher Osbork so dumm war, schwanger zu werden, ohne zu jemandes Nest zu gehören (sogar ihre Mutter, die ja wirklich nichts dafür konnte, war nach der Vergewaltigung nie mehr so wie früher akzeptiert worden), aber sie hatte in ihrem Leben schon Schlimmeres erlebt. Immerhin war sie eine Überlebende! Und dazu eine namhafte Künstlerin – wenn ihr dies alles keine gute Position in ihrem Dorf sichern würde, hatte sie wohl doch nicht so viel dazugelernt, wie sie selbst glaubte ... und ihr Junges würde in diesem Dorf nicht verstoßen werden, und wenn nur aus dem Grunde, daß sie als Mutter so glücklich über dieses Souvenir von Nardov war! Als sie sich dem windaufwärts gelegenen Eingang des Dorfes näherten, sah Kazazi zu ihrer Überraschung, daß dort sehr viele Osborks auf sie warteten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, daß irgend jemand bei seiner Rückkehr von der Großen Reise so viel Aufmerksamkeit geerntet hatte! Etwas nervös darüber, weil sie nicht wußte, was dies wohl zu bedeuten hätte, trat sie noch näher, gefolgt von dem keuchenden Makombo (ohne daß sie es gemerkt hatte, hatte sie offensichtlich ihre Geschwindigkeit doch erhöht), und erst als sie innerhalb des Sens–Bereichs war, beruhigte sie sich. Sie senste Freude, Herzlichkeit, Neugierde und Gastfreundschaft. Auf eine Erklärung über das Ausmaß des Empfangskomitees mußte sie allerdings noch warten. Ein Sturm von Fragen, Mitteilungen und Bemerkungen schlug ihr entgegen, als sie bei der Gruppe Osborks angekommen war. Was sie in diesem Chaos verstehen konnte, gab ihr schon einen Teil der Antwort. Eine Gruppe von fünf Osborks, die 164
zur Flugzeugbesatzung gehört hätten, war vor ungefähr fünfzehn Tagen am Dorf vorbeigekommen und hatte Kazazis Rückkehr angekündigt. Die Reisenden hatten die vielen Geschichten über ihren merkwürdigen Gefährten mit seinen wunderbaren Erfindungen nur so hervorgesprudelt, doch Kazazis Freunde waren stärker daran interessiert gewesen, was die Passatfolger über Kazazi selbst zu erzählen hatten. Sie hatten gehört, Kazazi sei nun völlig anders, als man sie im Dorf gekannt hatte, und deshalb hatte die Neugier so viele Dorfeinwohner zusammenkommen lassen. Schließlich fiel einem von ihnen etwas auf, das eigentlich nicht zu übersehen war. »Beim Passat! Kazazi, du bist ja schwanger! Und das nicht zu knapp!« Ein paar Osborks schauten mit einer Mischung von Mißtrauen und Verwunderung Makombo an, aber die meisten gingen davon aus, daß Kazazi einen anderen Partner gehabt haben müßte, um in diese Umstände zu geraten. Als die anderen endlich etwas ruhiger geworden waren, konnte sie selbst auch etwas dazu sagen: »So ist es, Studav, und es müßte, denke ich, in ein paar Tagen so weit sein. Wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich mir jetzt gerne erst einmal eine Wohnung suchen. Wenn ich mich dann eingerichtet habe, erzähle ich euch alles, okay?« Das hörte sich zwar etwas sachlich an, aber jeder Anwesende konnte sensen, daß Kazazi wegen des herzlichen Empfangs völlig durcheinander war. Kazazi war schon immer sehr praktisch gewesen; in dieser Hinsicht hatte sie sich offensichtlich nicht geändert. Eine Wohnung also! Welche sollte sie nehmen? Ein zurückgekehrter Passatfolger hatte das Recht, jede Wohnhöhle für sich zu beanspruchen, die nicht schon einem anderen überlebenden Passatfolger gehörte, und es gab eine Anzahl von Patrizierwohnungen, die Osborks gehörten, mit denen sie noch ein Hühnchen zu rupfen hatte... zum Beispiel war da der Richter... und Gjata... Jeder im Dorf hätte Verständnis dafür gehabt, wenn sie einen der beiden aus seiner Höhle hätte setzen lassen, aber Kazazi war nicht mehr so rachsüchtig gesinnt. Nicht mehr... »Ist im obersten Teil des Dorfes irgendwo eine Höhle frei?« fragte sie, und sie war sofort froh, daß sie sich nicht für Rache entschieden hatte. Sie senste Erleichterung und die Sympathie der anderen. »Der alte Latior ist vor zwei Wochen gestorben, Kazazi«, sagte ein Freund. »Es gab einige Anwärter für seine Höhle, aber weil wir wußten, daß du bald zurückkommen würdest, und weil wir hofften, daß... äh... nun ja, wir haben die Höhle so lange für dich freigehalten. Willst du sie sehen?« Aber das war nicht nötig. Kazazi kannte die Höhle sehr gut, denn Latior war einer ihrer besten Kunden gewesen, und sie wußte, daß 165
seine Höhle eine der schönsten des Dorfes war. Kazazi und ihr Mensch waren am späten Nachmittag angekommen. Makombo beschloß, den Rest des Tages in Kazazis Dorf zu verbringen und am nächsten Morgen so schnell wie möglich weiterzureisen. So konnte er sich noch ein wenig auf seine weitere Reise vorbereiten. Man erzählte ihm, daß das Gebiet windabwärts von Kazazis Dorf für einen Segelwagen zu dicht bewachsen sei – er würde nicht einmal einen Karren dort hindurchziehen können. Das Gebiet weiter westlich jedoch würde etwas offener sein, so daß er dann zumindest einen Zugkarren verwenden konnte. Als er den Osborks zeigte, wie eine Achse und Räder funktionierten, fauchten sie leise vor sich hin. Was für gute Ideen diese Menschen doch hatten! Makombo machte sie darauf aufmerksam, daß sie das Prinzip von Achse und Rädern ja schon seit langem kannten. Ihre Windmühlen mit den Antriebsachsen und Windrädern waren im Grunde nichts anderes als das, was er ihnen zeigte – nur eben in der Horizontalen. Dies sahen die Osborks zwar ein, aber niemand verstand, warum Makombo die Übereinstimmung dieser beiden Anwendungen so selbstverständlich fand. Horizontal war doch etwas völlig anderes als vertikal? Wie anders dachten diese Menschen doch als die Osborks! Kazazi hatte natürlich schon sehr viel über ihre Abenteuer mit Makombo erzählt, auch die Episoden mit dem Windwagen und dem Zugkarren, den Everett windaufwärts mitgenommen hatte. Kazazi war jedoch technisch furchtbar unbegabt, daß man aus ihren Gedanken nicht hatte entnehmen können, wie diese Dinge tatsächlich aussahen, bis Makombo sie für sie aufzeichnete – da begriffen sie es sofort. Man beschloß, Makombo soweit wie möglich zu den Materialien zu verhelfen, mit denen er sich einen Karren bauen konnte. Spinnwebenfäden konnte er selbst überall finden, ebenso wie Zweige und Äste, die er zum Flechten einer Plattform benötigte. Achsen konnten die Dorfbewohner ohne große Schwierigkeiten für ihn anfertigen, da sie diese von ihren eigenen Windmühlen her kannten, aber Räder, die stark genug wären, um einen Karren über unebenes Gelände rollen zu lassen... das war schon schwieriger. Jeder Dorfbewohner überlegte sich, wie man für Makombo schon im Dorf Räder herstellen könnte. Schließlich übergaben sie ihm vier runde Scheiben von einer Holzsorte, die zwar nicht so hart war wie Kriechwurzelholz, doch nahm man an, daß die Scheiben ihren Dienst als Räder wohl eine Weile versehen würden. Schließlich brauchte der Karren ja nur groß genug zu sein, um den mit Plumpssamen gefüllten Behälter zu tragen, denn das würde in jedem Fall ein schnelleres Reisetempo ermögli166
chen, als wenn Makombo dieses Ding selbst schleppen müßte. Makombo hatte inzwischen die Zeit genutzt, die Schildpanzerstücke genau nach Maß zuzuschneiden. Er würde sie bald benötigen, um die Löcher seines Behälters damit zu verschließen. In Kazazis Dorf hatte er den Schildpanzer des Schwergewichts ohne Schwierigkeiten ausgekocht und von innen ausgekratzt. Anschließend dichtete er alle Löcher dieses Schildpanzers bis auf eines sehr sorgfältig ab, und den Pflock des letzten Loches festigte er so genau wie möglich auf Maß. Nachdem er noch einmal ausgiebig von seiner letzten Gelegenheit, ein Bad zu nehmen, Gebrauch gemacht hatte, suchte er Kazazi in ihrer neuen Höhle auf. »So, dies ist also die letzte Nacht, die wir zusammen verbringen werden, Mädchen!« sagte er etwas säuerlich lächelnd. Aus dem Schlafen wurde jedoch nicht viel. Sie waren einfach zu sehr damit beschäftigt, die verschiedensten Erinnerungen noch einmal hervorzuholen. Und um nicht zuviel über all die Unsicherheiten von Makombos Zukunft nachdenken zu müssen, beschäftigten sie sich noch einmal ausführlich mit der Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten. Doch trotz all ihrer Bemühungen, ihr letztes Zusammensein in einer erfreulichen Atmosphäre zu verbringen, stand Makombos Frohsinn in krassem Widerspruch zu seiner wahren Stimmung, was Kazazi nicht verborgen blieb, und sie konnte das nur allzu gut verstehen. Jener lebensgefährliche Wettlauf mit der Zeit, der Makombo bevorstand, und dazu noch die Möglichkeit, daß er diesen zwar schaffte, aber dann sein Landefahrzeug nicht mehr antreffen würde... Und Kazazi selbst würde, ganz gleich ob Makombo es nun schaffte oder nicht, ihren Menschen furchtbar vermissen. Natürlich schliefen sie in dieser Nacht auch ein wenig. Das schnelle Reisetempo der letzten Tage hatte sie beide erschöpft. Kazazi brauchte wegen ihrer Schwangerschaft auch wesentlich mehr Schlaf als sonst. Und Makombo war sich dessen bewußt, daß er nach dieser Nacht jede weitere Nacht allein verbringen und vielen Gefahren ausgesetzt sein würde. Er beschloß, den Funkempfänger bei Kazazi zu lassen. »Das Ding hat eine Reichweite von ein paar Tagereisen. Mit etwas Glück werde ich dir hin und wieder mitteilen können, wie es mir geht, bis ich bei den Plumpssamen angekommen bin.« »Wie schade, daß ich dir nicht antworten kann...« Kazazi fühlte sich bei dieser Vorstellung schon jetzt einsam. »Aber als du mit Everett aufgebrochen bist, durfte ich dieses Ding doch auch nicht behalten? Damals hast du gesagt, das würde gegen eure Gesetze verstoßen.« 167
»Tja... aber inzwischen hat sich einiges geändert. Jetzt, nachdem wir zusammen die Große Reise gemacht haben, kennt ihr Osborks Segelwagen, Radachsen, Flugzeuge, Seile aus Spinnwebenfäden... Ich gehe davon aus, daß all diese Dinge das Leben auf Coriolis stärker verändern werden als dieser kleine Empfänger, der nicht einmal einen Sender hat. Dieser technologische Sprung dürfte wohl doch ein wenig zu groß für euch sein.« Kazazi beließ es dabei. Sie war so froh darüber, Makombos Stimme noch etwas länger hören zu können. Am nächsten Tag reiste Kazazis Mensch ab. Eine beträchtliche Anzahl von Dorfbewohnern war bei seinem Abschied anwesend, denn man fühlte große Sympathie für dieses merkwürdige Tier, das Kazazi so gut bei ihrer Großen Reise geholfen hatte. Viele Osborks hatten daher auch die ganze Nacht hindurch gearbeitet, um Makombo beim Abschied die Räder und Achsen überreichen zu können, die er demnächst dringend benötigen würde. Weil so viele Zuschauer zugegen waren, die dazu auch noch sensen konnten, was Kazazi und Makombo fühlten, hielten diese ihren Abschied ziemlich nüchtern. Eigentlich hatten sie ja auch am Abend zuvor schon Lebewohl gesagt. Trotzdem war dies ein Abschied, der in Kazazis Dorf nicht so rasch in Vergessenheit geraten würde. Kurz vor seinem Aufbruch schaute Makombo Kazazi in die Augen und trat auf sie zu. Er ergriff mit jeder Hand eines ihrer Ohren und kraulte sanft in ihrem Fell. Danach drehte er sich um und lief mit schnellen Schritten zu der Stelle, an der sein Gepäck lag. Ohne sich noch einmal umzuschauen, ging er fort. Die Osborks waren äußerst schockiert über Makombos Verhalten – und über das von Kazazi natürlich auch. Sie senste, daß die Anwesenden nicht so sehr über Makombos Handlung entsetzt waren – denn bei so einem fremden Wesen mußte man natürlich mit allem rechnen –, sondern vor allem über Kazazis Reaktion darauf... »Kazazi! Das läßt du einfach mit dir machen! Das ist ja geradezu schamlos!« Und jemand anders fügte etwas verwirrt hinzu: »Und dann auch noch an beiden Ohren gleichzeitig...« Kazazi achtete nicht auf all diese Reaktionen. Sie schaute noch sehr lange ihrem Menschen nach. Dort ging er, eine tragische Gestalt, die trotz ihrer klugen Lösungen für zahllose Probleme so schmerzhaft deutlich nicht zu ihrer Welt gehörte. 168
Dann kam der Tag der Geburt. Kazazi hatte in ihrem Unterbrauch in den letzten Stunden einen immer stärker werdenden Druck verspürt, und die kleine Öffnung, die normalerweise im dichten Pelz des Schwanzansatzes verborgen blieb, war schon lange größer und weicher geworden. Und dann sah sie plötzlich das zappelnde Schwänzchen ihres Jungen hervorkommen. Zwei kleine Schwänzchen waren es! Deshalb war ihr Bauch so dick geworden! Sie senste, daß der Heiler, der ihr bei der Geburt half, ebenfalls darüber erschrak, und das war nur zu begreiflich, denn Zwillinge waren bei den Osborks sehr ungewöhnlich, zumindest in Kazazis Dorf. In Nardovs Dorf war das ja vielleicht anders. »Wenn du etwas tust, dann tust du es gründlich, nicht wahr, Kazazi?« sagte der Heiler mit einem Anflug von Bewunderung, aber dann hatte er keine Zeit mehr für derartige Scherze. Kazazi senste seine Verwirrung, und tatsächlich: mit welchem von den beiden Kleinen sollte er denn, in Windesnamen, anfangen? Wenn er unglücklicherweise am Schwänzchen des Jungen zog, das weiter hinten lag, würde er das arme Ding ja auseinanderreißen... Der Heiler beobachtete sehr genau und sah dann zu seiner Erleichterung ein Hinterteilchen hervorschauen. Er packte das dazugehörende Schwänzchen und schon glitt das Erstgeborene her aus. Darauf folgte das andere ohne große Probleme. Die beiden jungen Osborks waren ein Männchen und ein Weibchen. »Wie willst du sie nennen, Kazazi?« fragte der Heile kurze Zeit später. Darüber brauchte sie nicht lange nachzudenken. »Nardov und Makombo natürlich!« sagte sie und genoß dabei einen leichten Anflug von Rachsucht. Der Heiler senste zwar ihre Gefühle, verstand aber nicht den Zusammenhang. Kazazi hatte auch keine Lust, ihm diesen zu erklären. Wie sollte er auch wissen, daß Makombo ein Name für ein Männchen war? Makombo hatte sie während des größten Teils ihrer Reise mit >Junge< angeredet. Sie war der Meinung, daß es nun höchste Zeit war, zum Ausgleich zu jemandem, der Makombo hieß, >Mädchen< zu sagen!
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Epilog Vierundzwanzig Tage später war Kazazi damit beschäftigt, den Bericht von ihrer Großen Reise in die Grotte der Hieroglyphen einzumeißeln. Ihr war dafür ein großes Stück Wand zugeteilt worden, denn man erwartete von ihr mehr, als nur ein schönes Bild von ihren Abenteuern zu zeichnen. Ihre Reise mit dem Menschen war ja schließlich eine ziemlich außergewöhnliche Reise gewesen. Da wurde sie in ihrer Arbeit unterbrochen. »Kazazi! Bitte komm sofort zu deiner Höhle? Etwas Merkwürdiges geht dort vor!« Die Kinder! schoß es ihr durch den Kopf, aber der Bote fing den Gedanken auf und beruhigte sie sogleich. »Nein, das ist es nicht. Es geht um den seltsamen Apparat, den Makombo zurückgelassen hat.« Als sie in ihrer Höhle ankam, hörte sie Makombos Stimme. Mit einem starken Gefühl von Sehnsucht und Heimweh ergriff sie den Empfänger, der schon seit so vielen Tagen keinen Laut mehr von sich gegeben hatte. “...aber als ich beim Landefahrzeug ankam, war ich sterbenskrank, das kann ich dir sagen!« sagte Makombo soeben. »Doch du weißt, was der Autodoc alles kann, und als ich mich erst einmal hineingeschleppt hatte, war alles schnell wieder in Ordnung. Nun, und dann bin ich zu meinem Sternenschiff geflogen. Diese Plumpssamen bestehen zwar nicht aus reinem Uran, aber sie enthalten doch so viel davon, daß ich mehr als genug habe, um nach Hause zu kommen. Ich dachte mir, daß du das wohl gerne wissen möchtest. Nun, mein liebstes Mädchen, ich verspreche dir, daß ich wieder zurückkommen werde!« Dann ertönte ein Piepen, und Makombos Stimme begann wieder: »Hallo Kazazi? Ich weiß nicht, ob dein Empfänger dies auffangen wird, aber ich bin wieder an Bord meines Schiffes, in einer Umlaufbahn um Coriolis, und der Sender von Alpheratz II ist so stark daß ich es einfach einmal versuchen will. Ich werde dir kurz schildern, wie es mir ergangen ist, und ich werde diese Botschaft einen ganzen Tag lang wiederholen, 170
damit du eine Chance hast, sie zumindest einmal zu hören. Du weißt wahrscheinlich, daß ich ohne Probleme bei den Plumpssamenfeldern angekommen bin – wenn nichts schiefgegangen ist, hast du diese Nachricht von mir wohl noch empfangen können. Bei den Feldern bin ich natürlich nicht lange geblieben. Ich habe nur schnell den Behälter gefüllt und bin dann so rasch wie möglich weitergereist. Von Everett war nirgendwo auch nur die geringste Spur zu finden. Erst vier Tagereisen später sah ich Everetts Behälter, und ungefähr noch einmal drei Tage später fand ich einen weiteren. Er hat offensichtlich doch noch eine ganze Weile durchgehalten... Aber was mit ihm selbst geschehen ist, werde ich wahrscheinlich nie erfahren. Der Sturm verstreut die Überreste eines Toten ziemlich schnell. Ich hoffe nur, daß es eine ganze Menge Meuchelmörder gewesen sind, die von ihm gekostet haben. Wenn sie Menschenfleisch genauso schlecht vertragen wie ich die Nahrung von Coriolis, hat Everett wenigstens nach seinem Tod noch etwas Gutes getan. Ich habe natürlich auch nicht sehr lange nach ihm gesucht, denn ich mußte unbedingt weiter. Mit dem Zugkarren bin ich sehr schnell vorwärtsgekommen aber als ich bei dem Landefahrzeug ankam...« Darauf folgte der Text, den Kazazi schon gehört hatte. Und danach noch einmal... und noch einmal... Die Sendung dauerte alles in allem noch viele Umdrehungen der Blauen Sonne an. Kazazi hörte die ganze Zeit über zu. Immer wieder und wieder und wieder... – bis sie schließlich aufhörte.
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