Sie funkelte ihm einen schnellen Blick zu
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Sie funkelte ihm einen schnellen Blick zu
Kapitel I Worin seidene Damen eine Treppe hinaufsteigen und ein einsamer Wanderer eine andere hinaufsteigt und mit alten Freunden von Angesicht zu Angesicht kommt.
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as große Haus, das auf einem hohen Hügel stand, der die Stadt überblickte, zeigte im Mondlicht die grotesken Umrisse einer gemischten Architektur. Ursprünglich war es ein quadratisches Gebäude von kolonialer Einfachheit gewesen. Ein späterer und weniger maßvoller Geschmack hatte einen wabenartigen Effekt angestrebt und gewisse Kuppen und Türmchen waren hinzugefügt worden. Drei dieser Türmchen waren aufgesetzte Wucherungen, offenbar mit einer Vorstellung der Verzierung. Der vierte Turm jedoch war vervollständigt und vergrößerte ein Zimmer im zweiten Stock. Dieses Zimmer war eines einer Suite und die Räume waren als die Turmzimmer bekannt und besaßen jene, die sie bewohnt hatten, um die begehrenswertesten in dem scheunenartigen Gebäude zu sein. Heute Abend hatte das Haus einen ungewohnten Anblick der Festlichkeit angenommen. Seine Geräumigkeit schillerte bunt von golden erleuchteten Fenstern. Lieferwägen und Automobile kamen und gingen, einige entluden köstliche Waren an der Hintertür, andere entluden hübsche Waren an der Vordertür. Im Windschatten einer der Ladungen an der Vordertür mit flatternder Weiblichkeit folgend kam ein etwas düsterer Passant. Seine Schritte zögerten ein wenig, sodass, als sich die große Tür öffnete, er noch am Fuß der Terrasse war, die nach oben führte. Er wartete, bis die Tür geschlossen war, bevor er sich wieder näherte. Bei dem flüchtigen Blick, den er so auf das Innere hatte, war er sich einer Art 3
rosaroten Glanzes bewusst, und in diesem leuchtenden Licht davon, überlappt und sozusagen hinaufgetragen zu der breiten Treppe, sah er schlanke Mädchen in blass gefärbten Kleidern – eine schimmernde himmlische Gesellschaft. Als er den obersten Teil der Terrasse erreichte, flog die Tür wieder auf und gab einen etwas zögernden Grund für sein Eindringen an. „Mir wurde gesagt, ich soll nach Miss Ballard fragen – Miss Mary Ballard.“ Es schien, dass er erwartet wurde und dass der Hüter des Eingangs den Unterschied zwischen seiner Angelegenheit und der der himmlischen Wesen, die ihm vorangegangen waren, verstand. Er wurde in ein kleines Zimmer links vom Eingang geführt. Es war irgendwie nackt, mit ein paar Gesetzesbüchern und einem großen altmodischen Schreibtisch. Er urteilte, dass das Zimmer vielleicht für den Bürogebrauch umgewandelt worden war, aber heute Abend war der Schreibtisch mit offenen Schachteln angehäuft und seltsame Möbelstücke waren zusammengedrängt, sodass nur eine kleine Oase freien Raumes übrig war. Auf dem einen Stuhl in dieser Oase setzte sich der düstere Gentleman. Er fand daran Gefallen, als er dort saß und wartete, dass weder er noch dieses Zimmer in Übereinstimmung mit den Dingen waren, die in dem großen Haus vor sich gingen. Draußen vor der geschlossenen Tür stiegen die strahlenden Gäste noch immer die Treppe auf leuchtenden Lichtflügeln hinauf. Er konnte die Musik ihres Lachens hören und den tieferen Tonfall von Männerstimmen, die anhoben und schwächer in einer Art von überweltlicher Harmonie wurden. Als die Tür endlich geöffnet wurde, wurde es schnell getan und wurde schnell geschlossen, und das Mädchen, das eingetreten war, lachte atemlos, als sich zu ihm drehte. „Oh, Sie müssen mir vergeben – ich habe Sie warten lassen?“ 4
Wenn ihre Begegnung im Sherwood Forest gewesen wäre, hätte er sie sofort als einen guten Kameraden erkannt; wenn er ihr im Garten von Biaucaire begegnet wäre, hätte er sie sofort für mehr als das erkannt. Aber da er weder ein Held der Ballade noch der alten Romantik war, wusste er nur, dass hier ein Mädchen war, anders als die seidenen Damen, die die Treppe hinaufgestiegen waren. Hier war eine Atmosphäre von fast offener Jungenhaftigkeit, ein Lächeln angenehmer Freundlichkeit, mit gerade genug errötenden Wangen, um Fraulichkeit und warmes Blut zu zeigen. Sogar ihr Kleid war anders. Es war einfach, fast bis zu dem Punkt der Schlichtheit. Sein Reiz lag in seinem schimmernden glitzernden Glanz wie die Innenseite einer Muschelschale. Sein Stoff war gerafft, um schlanke Füße in niedrigen Schuhen zu zeigen. Eine reizende Haube aus silbernem Seidenpapier hielten die Wellen des dichten blonden Haares fest zusammen. Ihre Augen waren wie das Meer in einem Sturm – tiefgrau mit einem Schimmer grün. Diese Dinge bemerkte er nicht sofort. Er sollte sie bemerken, als sie ihre Erklärungen machte, und als er ihr zu den Turmzimmern folgte. Aber zuerst musste er sich bei ihr berichtigen, daher sagte er: „Es tat mir leid, Sie zu unterbrechen. Aber Sie sagten – sieben?“ „Ja. Es war die einzige Zeit, dass die Zimmer gesehen werden konnten. Meine Schwester und ich bewohnen sie – und Constance soll heiraten – heute Abend.“ Dies also war der Grund für den Glanz und den seidenen Damen. Es war auch der Grund für die Lieblichkeit ihres Kleides. „Ich werde Sie hier entlang führen.“ Sie ging ihm durch einen schmalen Gang zu einer Treppenflucht vor, die hinauf in die Dunkelheit führte. „Diese Treppe wird nicht oft benutzt, aber wir werden den Menschenmengen in der anderen Halle entkommen.“ Ihre Stimme war entschwunden, als sie eine abrupte Drehung machte, aber indem er seinen Weg tastete, folgte er ihr. 5
Hinauf und hinauf, bis sie zum Treppenabsatz des zweiten Stockes kamen, wo sie stehen blieb, um zu sagen: „Ich muss sicher sein, dass niemand hier ist. Wollen Sie warten, bis ich nachsehe?“ Sie kam bald zurück, um zu verkünden, dass die Luft rein war, und so betraten sie das Zimmer, das durch den vierten Turm vergrößert und vervollständigt worden war. Es war ein großes Zimmer, in dunkler Eiche möbliert. Die Möbel waren geräumig und bequem und von abgenutztem rotem Leder. Ein starker viereckiger Tisch hielt eine Kupferlampe mit einem tiefen sich ausbreitenden Lampenschirm. Da war ein Kamin und auf dem Kaminsims darüber ein oder zwei Büsten. Aber es waren nicht diese Dinge, die sofort die Aufmerksamkeit von Roger Poole auf sich lenkten. Die Wände säumend waren alte Bücher in starken Einbänden, neue Bücher in Stoff und feinem Leder – die Poeten, die Philosophen, die Propheten aller Zeitalter. Als seine Augen über die Regale fegten, wusste er, dass hier die lebendige, atmende Sammlung eines wahren Buchliebhabers war – keine muffige, modrige Anhäufung, zusammengebracht durch bloßen Stolz des Intellekts. Der Eigentümer dieser Bibliothek hatte die Herzschläge der Welt gezählt. „Dies ist das Wohnzimmer“, sagte ihm seine Fremdenführerin, „und man kommt zum Schlafzimmer und Bad.“ Sie hatte eine Verbindungstür geöffnet. „Dieses Zimmer ist fürchterlich durcheinander. Aber wir haben Constance gerade fertig angezogen. Sie ist jetzt unten im Arbeitszimmer. Wir packen morgen ihre Schrankkoffer und verschicken sie, und dann, falls Sie die Zimmer nehmen wollen, können wir die Schlafzimmermöbel, die Vater hatte, zurückstellen. Er benutzte diese Suite und brachte seine Bücher herauf, nachdem Mutter starb.“ Er blieb auf der Türschwelle dieses inneren Raumes stehen. Wenn das alte Haus unten mit rosigem Glanz erfüllt gewesen zu sein schien, 6
war dies das Herz der Rose. Zwei kleine weiße Betten waren nebeneinander in einem Alkoven. Ihre Decken waren rosarot, überlegt mit Spitze, und der Chintz der großen Couch und der Stühle reflektierten die gleiche bezaubernde Farbtönung. Bei aller Farbe jedoch war da die Frische der Einfachheit. Zwei hohe Glaskerzenleuchter auf dem Frisiertisch, ein paar Fotografien in Silber‐ und Elfenbeinrahmen – das waren die einzigen Ziergegenstände. Doch überall war Verwirrung – zarte Dinge waren halb in offene Schrankkoffer gezogen, hauchdünne Stoffe schwebten von unerwarteten Plätzen, kleine Pantoffeln wurden von Behältern gehalten, die niemals für Schuhe entworfen waren, glänzende Hüte erstrahlten in Schachteln. Auf einem Stuhl lag ein Brautstrauß aus Rosen. Diesen Strauß hob Mary Ballard auf, als sie vorbeiging, und über den Strauß darüber fragte sie befangen: „Denken Sie, dass Sie die Zimmer nehmen möchten?“ Mochte er? Sehnte sich der Elf draußen vor dem Tor danach einzutreten? Hier innerhalb seiner Reichweite war das, von dem er vor fünf Jahren abgetrennt worden war. Fünf Jahr in Pensionen und billigen Hotels und nun die Chance, wieder zu leben – wie er einst gelebt hatte! „Ich will sie – ungeheuerlich – aber der in Ihrem Brief genannte Preis scheint lächerlich klein zu sein ‐“ „Aber verstehen Sie, es ist alles, was ich brauchen werde“, sie war so herrlich unkaufmännisch wie er. „Ich will meinem Einkommen einen gewissen Betrag hinzufügen, daher bitte ich Sie, das zu bezahlen“, lächelte sie, und mit zunehmender Schüchternheit fragte sie: „Könnten Sie sich entscheiden – jetzt? Es ist wichtig, dass ich es wissen sollte – heute Abend.“ Sie sah die Frage in seinen Augen und beantwortete sie: „Sie verstehen – meine Familie hat keine Ahnung, dass ich dies tue. Wenn 7
sie es wüssten, würden sie nicht wollen, dass ich die Zimmer vermiete – aber das Haus gehört mir – ich werde tun, was mir gefällt.“ Sie schien es ihm trotzig entgegenzuschleudern. „Und Sie wollen, dass ich der Komplize Ihres Verbrechens bin.“ Sie warf ihm einen erschrockenen Blick zu. „Oh, sehen Sie es – auf diese Weise? Bitte nicht. Nicht, wenn sie Ihnen gefallen.“ Für einen Augenblick nur schwankte er. Da war etwas eindeutig Ungewöhnliches, einen Weinstock und Feigenbaum auf diese Weise zu erlangen. Aber dann wiederum war ihre Anzeige ungewöhnlich gewesen – es war das, was ihn angezogen und sein Interesse angestachelt hatte, sodass er sie beantwortete. Und die Bücher! Als er zurück in das große Zimmer blickte, schienen ihn die Reihen an Buchbänden mit den Gesichtern alter Freunde anzulächeln. Einsam, sich nach einem Hafen nach den Stürmen zu sehnen, die ihn geschlagen hatten, was konnte er Besseres als dies finden? Was die Familie von Mary Ballard betraf, was hatte er mit ihr zu tun? Sein Geschäft war mit Mary Ballard selbst, mit ihrem offenen Lachen und ihrer Freundlichkeit – und ihren Armen voller Rosen! „Sie gefallen mir so sehr, dass ich mich äußerst glücklich betrachte, sie zu bekommen.“ „Oh, wirklich?“ Sie zögerte und hielt ihm ihre Hand entgegen. „Sie wissen nicht, wie Sie mir ausgeholfen haben – Sie wissen nicht, wie Sie mir geholfen haben ‐“ Wieder sah sie eine Frage in seinen Augen, aber dieses Mal beantwortete sie sie nicht. Sie drehte sich um und ging in das andere Zimmer und zog die Vorhänge der tiefen Fenster des runden Turmes zurück. 8
„Ich habe Ihnen das Beste von allem nicht gezeigt“, sagte sie. Unter ihnen lag die hübsche Stadt, übersät mit ihren goldenen Lichtern. Von Osten nach Westen das schattenhafte Halbdunkel des Kaufhauses, hinter den Schatten eine Flusslinie, silbern unter dem Mondlicht. Ein oder zwei Uhrentürme zeigten gelbe Ziffernblätter; die großen öffentlichen Gebäude waren scharfgeschnitten wie Karton. Roger machte einen tiefen Atemzug. „Wenn es nichts sonst gibt“, sagte er, „würde ich die Zimmer dafür nehmen.“ Und nun kam von der unteren Halle der Lärm von Stimmen. „Mary! Mary!“ „Ich darf Sie nicht aufhalten“, sagte er sofort. „Mary!“ Mit einem letzten funkelnden Blick war sie fort, und als er sich seinen Weg hinunter durch die Dunkelheit ertastete, fiel es ihm wie eine erstaunliche Offenbarung ein, dass sie sein Kommen als eine zu dankende Sache genommen hatte, und es war so viele Jahre her gewesen, seit eine Tür weit aufgerissen worden war, um ihn willkommen zu heißen.
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Kapitel II In dem Rosenblätter und alte Schuhe ein glückliches Paar jagen; und in dem Süß und Zwanzig eine neue und moderne Sprache spricht und es einen Grund gibt, die Bibliothek eines Gentleman zu mieten.
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rotz der Tatsache, dass Mary Ballard Roger Pool wie ein weißbeflügelter Engel vorkam, wurde sie von der Familie nicht als Schönheit angesehen. Es war Constance, die die „Hübsche“ war, und heute Abend, als sie in ihrem Brautkleid stand und ihre Schwester anstarrte, die die Treppe herunterkam, war sie mehr als hübsch. Ihr zartes Gesicht war von einem inneren Strahlen erleuchtet. Sie war zwei Jahre älter als Mary, aber schlanker, und ihr Farbton war stärker betont. Ihre Augen waren blau und ihr Haar war golden, im Gegensatz zu dem Graugrün und dem faden Blond von Marys Haar. Sie schien auch von einer Art weiblichen Aura umgeben zu sein, sodass man auf einem Blick wusste, dass hier eine Frau war, die ihr Zuhause, ihren Ehemann, ihre Kinder lieben würde; die sich an männlichen Schutz lehnen und an männlicher Vernachlässigung leiden würde. Von Mary Ballard konnten diese Dinge nicht sofort gesagt werden. Trotz ihrer Einfachheit und Offenheit war an ihr eine rätselhafte Atmosphäre. Sie war wie ein stiller Teich mit den noch nicht ausgeloteten Tiefen, ein unbekanntes Meer – mit seinem Rätsel an unentdeckten Ländern. Der Kontrast zwischen den Schwestern war nie ausgeprägter gewesen, als Mary, während sie sich über das Treppengeländer beugte, dem atemlosen: „Liebste, wo bist du gewesen“ mit ihrer Ruhe antwortete: „Es ist reichlich Zeit, Constance.“ 10
Und Constance, wie immer von der Gelassenheit ihrer Schwester beruhigt, wiederholte Marys Worte zum Wohl einer behäbigen ängstlichen Persönlichkeit in bernsteinfarbenem Satin. „Es ist reichlich Zeit, Tante Frances.“ Diese Tante Frances wurde offensichtlich durch gewisse äußere Beweise zu einer Persönlichkeit gemacht. Man wusste es an ihren feinen Schultern, der Haltung ihres Kopfes, an der mit Diamanten besetzten Lorgnette, an der Halskette um ihren Hals, an dem Federschmuck in ihrem weißen Haar, an den goldenen Schnallen auf ihren Schuhen. „Es ist fünf Minuten vor acht“, sagte Tante Frances, „und Gordon wartet unten mit seinem Trauzeugen, der Chor friert auf der Seitenveranda und alle sind angekommen. Ich verstehe nicht, warum ihr wartet ‐“ „Wir warten, dass es acht Uhr wird, Tante Frances“, sagte Mary. „Genau um acht gehe ich hinunter vor Constance, und wenn du dich nicht beeilst, werden du und Tante Isabelle nicht vor mir dort sein.“ Die bernsteinfarbene Schleppe schlüpfte und schimmerte die polierten Stufen hinunter und die goldenen Schnallen glänzten, als Mrs. Clendenning, die ein wenig keuchte, und mit einem Gefühl der Entrüstung, dass ihre nervöse Angst vor dem bevorstehenden Augenblick umsonst gewesen war, sich ihren Weg zu dem Salon bahnte, wo sich die Gäste versammelten. Tante Isabella folgte sanft lächelnd. Tante Isabella war zu Tante Frances wie Mondlicht zu Sonnenschein. Tante Frances war verheiratet, Tante Isabelle war ledig; Tante Frances trug Bernsteinfarben, Tante Isabelle Silbergrau; Tante Frances hielt ihren Kopf wie eine König hoch, Tante Isabella senkte ihren abwehrend; Tante Frances’ schnelle Ohren fingen das Flüstern der Bewunderung, das ihr folgte, auf, Tante Isabellas Ohren waren für immer gegenüber aller Musik des Universums verschlossen. 11
Sobald die beiden Tanten ihre Plätze links von der Blumenlaube eingenommen hatten, hörte man ohne den singenden Hochzeitschor von einer Seitentür den Geistlichen und den Bräutigam und seine Trauzeugen einen Schritt machen; dann aus der Halle kam die kleine Prozession mit Mary an der Spitze und Constance, die am Arm ihres Bruders Barry lehnte. Sie waren sich sehr ähnlich, dieser Bruder und diese Schwester. Ähnlicher als Mary und Constance. Barry hatte das gleiche Gold in seinem Haar und Blau in seinen Augen, und während man nicht wagte, es anzudeuten, war in dem Gesicht seiner breitschultrigen Stärke ein fast femininer Reiz in der Anmut seiner Art und der Trägheit seiner Bewegungen. Es gab keine Brautjungfern, außer Mary, aber vier hübsche Mädchen hielten die breiten weißen Bänder, die einen Gang die Länge des Zimmers hinunter kennzeichneten. Diese Mädchen trugen Rosarot mit engen Hauben aus alter Spitze. Nur eine von ihnen hatte dunkles Haar, und es war die Dunkelhaarige, die, während sie sehr still die ganze Zeremonie stand, mit dem zu ihr eingeholten Band in glänzenden Girlanden, nie ihre Augen von Barry Ballards Gesicht nahm. Und als nach der Zeremonie sich die Braut umdrehte und ihre Freundinnen begrüßte, kam das dunkelhaarige Mädchen nach vor, wo Barry ein wenig abseits von der Hochzeitsgruppe stand. „Scheint es nicht merkwürdig?“, sagte sie zu ihm mit einem schnellen Atemzug. Er lächelte auf sie herab. „Was?“ „Dass ein paar Worte einen solchen Unterschied machen?“ „Ja. Vor einer Minute gehörte sie uns. Nun gehört sie Gordon.“ „Und er bringt sie nach England?“
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„Ja. Aber nicht für lange. Wenn er das Zweigbüro dort drüben zum Laufen bringt, werden sie zurückkommen und er nimmt hier den Platz seines Vaters ein und lässt den alten Mann in Pension gehen.“ Sie hörte nicht zu. „Barry“, unterbrach sie, „was wird Mary tun? Sie kann hier nicht alleine leben – und sie wird Constance vermissen.“ „Oh, Tante Frances hat das organisiert“, sagte er leichthin; „sie will, dass Mary das Haus absperrt und den Winter in Nizza mit ihr und Grace verbringt – es ist eine großartige Chance für Mary. „Aber was ist mit dir, Barry?“ „Mir?“ Er zuckte mit seinen Achseln und lächelte wieder auf sie herab. „Ich werde irgendwo eine Unterkunft finden, und wenn ich zu einsam werde, werde ich herüberkommen und mit dir reden, Leila.“ Die reichhaltige Farbe durchströmte ihre Wangen. „Komm schon“, sagte sie wieder mit schnellem Atemzug, dann wie ein Kind, das sich sein begehrtes Bonbon gesichert hat, schlüpfte sie durch die Menge und hinunter in das Speisezimmer, wo sie Mary fand, die einen letzten Rundblick machte. „Hat nicht Tante Frances die Dinge schön gemacht?“, fragte Mary; „sie bestand darauf, Leila. Wir hätten uns nie die Orchideen und die Rosen leisten können; und die Klunker sind reizend – rosarote Herzen mit Amoretten daran, mit silbernen Pfeilen ‐“ „Oh, Mary“, das dunkelhaarige Mädchen legte ihre errötenden Wangen an den Arm ihrer größeren Freundin. „Ich denke, Hochzeiten sind wundervoll.“ Mary schüttelte ihren Kopf. „Ich nicht“, sagte sie nach einem Augenblick des Schweigens. „Ich denke, sie sind entsetzlich. Ich mag Gordon Richardson gut genug, außer wenn ich denke, dass er Constance stiehlt, und dann hasse ich ihn.“
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Aber die Braut kam herunter, mit allen murmelnden Stimmen hinter ihr, und nun stiegen die seidenen Damen die Treppe zum Speisezimmer hinab, das den ganzen unteren Westflügel des Hauses einnahm und auf einen altmodischen Garten hinausging, der heute Abend unter einem kühlen Oktobermond seine Reihen an Buchsbäumen und Zedern wie scharfe Schatten gegen die Weiße zeigte. In diesen Garten kam später Mary. Und hinter ihr Susan Jenks. Susan Jenks war eine kleine Frau mit grauem Haar und einer kaffeefarbenen Haut. Da sie weder schwarz noch weiß war, hatte sie etwas von der Natur beider Rassen. Hinter ihrer afrikanischen Liebenswürdigkeit war fast eine Yankee‐Schläue und der feste Wille, der hin und wieder in Dickköpfigkeit ausartete. „Es gibt kein Glück an einer Hochzeit ohne Reis, Miss Mary. Diese Papierrosenblattdinger, die Sie in den Beuteln haben, sind mächtig hübsch, aber wie werden Sie wissen, dass sie Glück bringen?“ „Tante Frances dachte, dass sie reizend und ausländisch sein würden, Susan, und sie sehen sehr echt aus, wenn sie in der Luft davonschweben. Du musst dort auf der oberen Veranda stehen und den Gästen die kleinen Beutel geben.“ Susan stieg die Terrassenstufen hinauf und beklagte sich. „Sie gehen direkt hinaus in die Nacht, Miss Mary“, rief sie zurück, „und mit nichts auf Ihrem nackten Hals!“ Mary, die sich umdrehte, kam von Angesicht zu Angesicht mit dem Trauzeugen von Gordon, Porter Bigelow. „Mary“, sagte er stürmisch, „ich habe dich überall gesucht. Ich konnte meine Augen während des Gottesdienstes nicht vor dir nehmen – du warst – himmlisch.“ „Ich bin kein bisschen engelhaft, Porter“, sagte sie zu ihm, „und ich friere hier draußen einfach. Ich musste Susi das Konfetti zeigen.“ 14
Er zog sie hinein und schloss die Tür. „Sie schickten mich, dich zu suchen“, sagte er. „Constance braucht dich. Sie geht nach oben sich umziehen. Aber ich hörte gerade jetzt, dass du nach Nizza fährst. Leila erzählte es mir. Mary – du kannst nicht gehen – nicht so weit weg – von mir.“ Seine Hand war auf ihrem Arm. Sie schüttelte ihn mit einem Lachen ab. „Du hast nichts damit zu tun, Porter. Und ich fahre nicht – nach Nizza.“ „Aber Leila sagte ‐“ Ihr Kopf ging hoch. Es war eine charakteristische Geste. „Es macht keinen Unterschied, was jemand sagt. Ich fahre nicht nach Nizza.“ Nochmals im Turmzimmer waren die beiden Schwestern zum letzten Mal zusammen. Leila wurde nach unten auf einen schnell erfundenen Botengang geschickt. Tante Frances, die kam, wurde gedrängt, zurückzugehen und sich um die Gäste zu kümmern. Nur Tante Isabelle durfte bleiben. Sie konnte von Nutzen sein, und die Dinge, die gesagt werden sollten, konnte sie nicht hören. „Liebste“, Constances Stimme hatte ein Krächzen, „Liebste, ich fühle mich so egoistisch – dich zu verlassen ‐“ Mary kniete auf dem Boden und löste Haken. „Mach dir keine Sorgen, Con. Ich komme zurecht.“ „Aber du wirst – die Dinge – ganz alleine tragen müssen. Es ist nicht, als ob jemand es wüsste und du könntest es ausreden.“ „Ich würde lieber sterben als davon zu sprechen“, sagte sie grimmig, „und ich werde dir darüber nichts schreiben, denn Gordon wird deine Briefe lesen.“ „Oh, Mary, wird er nicht.“ 15
„Oh ja, wird er, und du wirst wollen, dass er es tut – du wirst dein Herz für ihn nach außen kehren, um es zu lesen, ganz zu schweigen von dienen Briefen.“ Sie stand auf und legte beide Hände auf die Schultern ihrer Schwester. „Aber du darfst es ihm nicht sagen, Con. Egal, wie sehr du es willst, es ist mein Geheimnis und Barrys – versprich es mir, Con ‐“ „Aber, Mary, eine Ehefrau kann nicht.“ „Ja, sie kann vor ihrem Mann Geheimnisse haben. Und das gehört uns und nicht ihm. Du hast ihn geheiratet, Con, aber ich nicht.“ Tante Isabella, die liebenswürdige Tante Isabella, ausgeschlossen von der Welt der Geräusche, konnte Cons kleinen Protestschrei nicht hören, aber sie blickte gerade rechtzeitig auf, um das schimmernde Kleid zu Boden fallen und die Braut zu sehen, ummantelt wie eine Lilie in Weiß, die ihren Kopf auf Marys Schultern vergrub. Tante Isabella taumelte nach vor. „Meine Liebe“, fragte sie mit ihrer dünnen beunruhigten Stimme, „was lässt dich weinen?“ „Es ist nichts, Tante Isabella.“ Marys Ton war nicht laut, aber Tante Isabella hörte und nickte. „Sie ist todmüde, die arme Liebe, und überreizt. Ich laufe und hole den aromatischen Alkohol.“ Mit Tante Isabella aus dem Weg setzte sich Mary hin, um den Schaden, den sie angerichtet hatte, zu reparieren. „Ich habe dich an deinem Hochzeitstag zum Weinen gebracht, Con, und ich wollte, dass du so glücklich bist. Oh, sag es Gordon, wenn du musst. Aber du wirst finden, dass er es nicht so wie du sieht. Er wird die Ausreden nicht machen.“ „Oh ja, wird er.“ Constances Glück schien plötzlich in einer Flut der Beteuerung zu ihr zurückzukommen. „Er ist der beste Mann auf der 16
Welt, Mary, und so liebenswürdig. Es ist, weil du ihn nicht kennst, dass du so denkst.“ Mary konnte das Vertrauen in ihren blauen Augen nicht löschen. „Natürlich ist es gut“, sagte sie, „und du wirst die Glücklichste sein, Constance.“ Dann kam Tante Isabella zurück und fand dass der Bedarf nach aromatischem Alkohol vorüber war, und zusammen zogen sie Constance schnell ein Reisekleid aus mattem Blau und Silber mit zobelbesetzten Umhang an und setzte ihr einen Hut auf. „Wenn nicht Tante Frances gewesen wäre, wie könnte ich Gordons Freunden in London gegenübertreten?“, sagte Constance. „Bin ich jetzt in Ordnung, Mary?“ „Hübsch, Con, Liebes.“ Aber es war Tante Isabellas gedämpfte Stimme, die den passenden Satz von sich gab. „Sie sieht wie ein Singvogel aus – vor Glück.“ Am Fuß der Treppe wartete Gordon auf seine Braut – gut aussehend und erfolgreich wie ein Bräutigam sein sollte, mit einem dunklen glatten Kopf und begierigen Augen, und neben ihm Porter Bigelow, der ihn um einen Kopf überragte und einen roten Kopf hatte. Als Mary Constance folgte, hakte Porter sie unter. „Oh, Mary, Mary, quite contrary, Your eyes they are so bright; That the stars grow pale, as they tell the tale To the other stars at night“, 1
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Oh, Mary, Mary, ganz widerspenstig Deine Augen, sie sind so hell; Dass die Sterne blass werden, wenn Sie die Geschichte Nachts den anderen Sternen erzählen.
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sagte er leise aus dem Stegreif. „Oh, Mary Ballard, weißt du, dass ich mit aller Macht mich zurückhalte, in die Menge zu schreien: ‚Mary fährt nicht fort. Mary fährt nicht fort.’“ „Dummkopf ‐“ „Du sagst das, aber du meinst es nicht. Mary, du kannst in einer solchen Nacht wie dieser nicht hartherzig sein. Sage, dass ich fünf Minuten bleiben darf – zehn – nachdem die anderen gegangen sind ‐“ Sie waren jetzt draußen auf der Veranda und er hatte den Umhang um sie gelegt, den sie mit sich hinuntergebracht hatte. „Natürlich darfst du bleiben“, sagte sie., „aber viel Gutes wird es dir tun. Tante Frances bleibt und General Dick – es soll im Arbeitszimmer eine Familienversammlung geben.“ Und wie die Rosenblätter zu flattern begannen! Susan Jenks hatte Beutel ausgegeben und hatte sich heimlich und mit viel Euphorie über das Geländer gelehnt, als Constance die Stufen hinunterging, und hatte ihre eigene kleine Reisgabe in die Mitte des blauen Huts der Braut entleert! Es war Barry, unterstützt und angestiftet von Leila, der die alten Schuhe herausbrachte. Da waren Constances Schuhe, hochhackig und von zarten Farbtönungen, Marys individuellere mit niedrigem Absatz, Barrys abgenutzte Halbschuhe, eilig von Leila für den Anlass mit Liebespaarknoten aus Seidenpapier geschmückt. Und es war gerade, als die Braut „auf Wiedersehen“ aus Gordons Limousine winkte, dass ein neuer Schuh den alten folgte, denn Leila, durch die Aufregung mitgerissen und da sie in dem Augenblick kein anderes Wurfgeschoss bei der Hand hatte, fasste hinunter und indem sie eine ihrer eigenen rosaroten Sandalen aufhob, schleuderte sie ihn mit all ihrer Macht auf den fahrenden Wagen. Er landete oben auf dem Dach und Leila bemerkte mit einem Keuchen, dass er für immer fort war. 18
„Es geschieht dir recht.“ Als sie aufsah, begegnete sie Barrys lachenden Augen. Sie sank hinunter auf die Stufe. „Und es war ein neues Paar!“ „Zum Glück ist nächste Woche dein Geburtstag“, sagte er. „Willst du rosarote?“ „Barry!“ Ihr Entzücken war überwältigend. „Himmel, Kind“, verzieh er ihr, „schau nicht, als ob ich der Großmogul wäre. Denkst du, dass ich manchmal glaube, dass du acht statt achtzehn bist? Und jetzt, wenn du meinen Arm nimmst, kannst du in das Haus hüpfen. Und ich hoffe, dass du dir das merken wirst, dass, wenn ich dir rosarote Schuhe schenke, du sie nicht wegwirfst.“ In der Halle begegneten sie Leilas Vater – General Wilfred Dick. Der General hatte im späten Junggesellentum eine junge Frau geheiratet. Leila war wie ihre Mutter in ihrer dunklen funkelnden Schönheit und sittsamen Süße. Aber sie zeigte manchmal den Geist ihres Vaters – den Geist, der den General galant durch den Bürgerkrieg gebracht und ihn nach dem Krieg geleitet hatte, um einen Erfolg aus der Anwendung des Gesetzes zu machen. Er war seit Jahren der intime Freund und Ratgeber der Ballards und es war auf Marys Bitte, dass er bleiben und an der bevorstehenden Versammlung teilnehmen sollte. Er sagte Leila dies. „Du wirst auch warten müssen“, sagte er. „Und jetzt, warum hüpfst du auf einem Fuß auf diese absurde Weise.“ „Dad, Lieber, ich verlor meinen Schuh ‐“ „Ihre besten Rosaroten“, erklärte Barry; „sie warf ihn hinter der Braut her und jetzt muss ich ihr ein anderes Paar zu ihrem Geburtstag schenken.“
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Die alten Augen des Generals leuchteten, als er das junge Paar begutachtete. Dies war, wie es sein sollte, der Sohn seines alten Freundes und die Tochter seines Herzens. Er versuchte jedoch ernst zu schauen. „Habe ich dich nicht immer mit rosaroten Schuhen und blauen Schuhe und Schuhe mit allen Regenbogenfarben versorgt!“, forderte er zu wissen. „Und warum solltest du Barry belasten?“ „Aber, Dad, er will es.“ Sie blickte begierig um Barrys Bestätigung. „Er will sie mir schenken – zu meinem Geburtstag –“ „Natürlich“, sagte Barry leichthin. „Wenn ich ihr nicht die Schuhe gebe, würde ich ihr etwas anderes geben müssen – und es liegt mir ferne zu wissen, was – die – kleine – hübsche – Leila – will ‐“ Und zu der Melodie des Gesangs hüpften sie zusammen die Treppe auf der Suche nach einem vereinzelten Schuh hinauf, der dem Fuß der kleinen hübschen Leila passte! Ein wenig später, nachdem die seidenen Damen zum letzten Mal die Treppe hinuntergestiegen waren, brachte Tante Frances ihre bernsteinfarbene Satinstattlichkeit im Arbeitszimmer. Hinter ihr, ein Silberschatten, kam Tante Isabella und brachte die Nachhut, General Dick und die vier jungen Leute; Leila in einem ungleichen Paar Schuhe, die mit Barry hinterher hüpfte, und Porter, der Mary versicherte, dass er wusste, dass er „kein Recht hätte, sich in eine Familiengesellschaft einzumischen“, aber dass er auf jeden Fall käme. Das Arbeitszimmer war das vordere Zimmer des ersten Stockes. Es war das Zimmer der Kleinen Mutter gewesen, als sie noch bei ihnen war, und nun war es zu einer Zuflucht geworden, wohin die jungen Leute trieben, wenn sie Ruhe wollten, oder wo sie sich für Beratung und Rat trafen. Außer dass das Walnussbett und der Schreibtisch hinausgenommen worden waren, war nichts verändert worden und 20
die Bücher ihrer Mutter waren noch immer in den niedrigen Bücherschränken; religiöse Bücher, viele davon, die den sanftmütigen Glauben der Besitzerin widerspiegelten. Auf dem Kaminsims und dem Tisch und an den Wänden waren Fotografien ihrer Kinder in langen und kurzen Kleidern, und dann wieder in langen; dort war Barry in weißen Krägen und Knickerbockers, und Constance und Mary mit Hermelinmützen und Capes; da war wieder Barry in der Militäruniform seiner Vorbereitungsschule; Constance in ihrem Abschlusskleid und Mary mit zum ersten Mal aufgestecktem Haar. Da war ein Bild von ihrem Vater auf Porzellan in einer blauen Samtschatulle, und ein anderes Bild von ihm über dem Kaminsims in einem ovalen Rahmen mit einem der Kleinen Mutter, auch in einem ovalen Rahmen, die es flankierten. Auf die Blondheit der Kleinen Mutter führte man die Blondheit von Barry und Constance zurück. Aber die Blondheit und Gesichtszüge des Vaters waren die Marys. Nun hatte Mary nie mehr wie ihr Vater ausgesehen als jetzt, als sitzend unter seinem Bild sie ihren Fall vortrug. Was sie zu sagen hatte, sagte sie einfach. Aber als sie geendet hatte, war erstauntes Schweigen. In einem Tag, fast in einer Stunde war die kleine Mary erwachsen geworden! Mit Constance als das symbolische Oberhaupt des Haushalts hatte keiner bemerkt, dass es Marys Verstand war, der die Probleme ausgearbeitet hatte, über die Runden zu kommen, und dass es Marys Stärke und Fleiß war, die Susans warnenden Bemühungen in der Betreuung des großen Hauses ergänzt hatten. „Ich will das Haus behalten“, wiederholte Mary. „Ich musste es heute Abend besprechen, Tante Frances, weil du am Morgen zurück nach New York fährst, und ich konnte vor heute Abend nicht sprechen, weil ich Angst hatte, dass ein Hinweis meines Planes zu Constance gelangen und sie beunruhigen würde. Sie wird es später erfahren, aber ich wollte nicht, dass sie es jetzt im Sinn hat. Ich will hier bleiben. Ich habe immer hier gelebt und auch Barry – und während ich deine Pläne 21
für mich schätze, nach Nizza zu fahren, denke ich nicht, dass es gerecht und richtig für mich ist, Barry zu verlassen.“ Barry, ein wenig verlegen, hineingebracht zu werden, sagte: „Oh, du musst dir um mich keine Sorgen machen ‐“ „Aber ich mache mir Sorgen.“ Mary war aufgestanden und sprach ernsthaft. „Ich bin sicher, du musst es verstehen, Tante Frances. Wenn ich mit dir gehe, würde sich Barry so – treiben lassen – und ich möchte nicht daran denken. Mutter hätte es nicht gefallen, oder Vater?“ Ihre Stimme berührte fast einen schrillen Ton des Protestes. Porter Bigelow, der unauffällig im Hintergrund saß, war durch ihre Ernsthaftigkeit bewegt. „Da steckt etwas dahinter“, sagte ihm sein schneller Verstand; „sie weiß wegen – Barry ‐“ Aber Barry war auch auf seinen Beinen. „Oh, schau her, Mary“, er protestierte. „Ich habe nicht vor, dich zu Hause zu haben und einen Winter mit guten Zeiten zu versäumen, nur weil ich ein paar Mahlzeiten in einer Pension essen muss. Und ich werde nicht viele essen müssen. Wenn ich nach Hausmannskost hungere, werde ich meine Freunde aufsuchen. Sie werden mich hin und wieder zum Sonntagsessen aufnehmen, nicht wahr, General? – Leila sagt, dass Sie es werden; und es ist nicht, als ob du nie zurückkommen würdest – Mary.“ „Wenn wir jetzt das Haus schließen“, sagte Mary, „wird es bedeuten, dass es nicht mehr geöffnet wird. Ihr wisst das alles.“ Ihr anschuldigender Blick ruhte auf Tante Frances und dem General. „Ihr alle denkt, es sollte verkauft werden, aber wenn wir es verkaufen, was wird aus Susan Jenks werden, die sich um uns kümmerte und die Mutter pflegte, und was sollen wir mit all den lieben alten Dingen tun, die Mutter und Vater gehörten, und wer wird in den lieben alten Zimmern wohnen?“ Sie kämpfte um Fassung. „Oh, seht ihr nicht, dass ich – ich nicht gehen kann?“ 22
Es war Tante Frances forsche Stimme, die sie zurück zur Ruhe brachte. „Aber meine Liebe, du kannst es dir nicht leisten, es offen zu halten. Dein Einkommen, mit dem, was Barry verdient, ist nicht mehr als genug, um deine laufenden Kosten zu bezahlen; da ist nichts übrig für Steuern und Ausbesserungen. Ich bin vollkommen gewillt, dich nach meiner besten Fähigkeit zu finanzieren, aber ich halte es für sehr töricht, mehr Geld hier – reinzustecken ‐“ „Ich will nicht, dass du etwas reinsteckst, Tante. Constance bat mich, ihren kleinen Teil unseres Einkommens zu benutze, aber ich wollte nicht. Wir werden es nicht brauchen. Ich habe die Dinge geordnet, sodass wir Geld für die Steuer haben werden. Ich – ich habe die Turmzimmer vermietet, Tante Frances!“ Sie starrten sie sprachlos an. Sogar Leila riss ihren bewundernden Blick von Barrys Gesicht und richtete ihn auf das Mädchen, das diese erstaunliche Behauptung machte. „Mary“, keuchte Tante Frances, „meinst du, dass du – Mieter – aufnehmen wirst?“ „Nur einen, Tante Frances. Und er ist vollkommen anständig. Ich inserierte und er antwortete, und er gab mir eine Bankauskunft.“ „Er. Mary, ist es ein Mann?“ Mary nickte. „Natürlich. Ich würde es hassen, eine Frau zu haben, die hier ein Getue macht. Und ich setzte die Miete für die Suite mit genau dem Betrag an, den ich brauchen werde, um mich durch das Jahr zu bringen, und er war zufrieden.“ Sie drehte sich um und hob ein bedrucktes Papier vom Tisch. „Dies ist die Art, wie ich meine Anzeige schrie“, sagte sie, „und ich hatte siebenundzwanzig Antworten. Und diese schien die Beste zu sein ‐“
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„Siebenundzwanzig!“ Tante Frances streckte ihre Hand aus. „Wirst du mich sehen lassen, was du geschrieben hast, um so bemerkenswerte Ergebnisse zu bekommen?“ Mary reichte es ihr und durch die mit Diamanten besetzte Lorgnette las Tante Frances: „Zu vermieten: Suite aus zwei Zimmern und Bad; mit Herrenbibliothek. Haus auf der Kuppe eines hohen Hügels, der die Stadt überblickt. Außergewöhnliche Vorteile für einen Studenten oder Gelehrten.“ „Ich ziehe in Erwägung“, sagte Mary, als Tante France innehielt, „dass der Herrenbibliothekteil eine Inspiration war. Es war der Köder, den sie alle schluckten.“ Der General kicherte. „Sie wird es schaffen. Lassen Sie ihr ihren Kopf, Frances. Sie hat einen Kopf wie ein Mann.“ Tante Frances wandte sich an ihn. „Mary spricht, was für mich eine ziemlich neue Sprache der Unabhängigkeit ist. Und sie kann hier nicht alleine bleiben. Sie kann nicht. Es ist nicht richtig – ohne eine ältere Frau in dem Haus.“ „Aber ich will eine ältere Frau. Oh, Tante Frances, bitte, darf ich Tante Isabelle haben?“ Sie hatte ihre Stimme erhoben, sodass Tante Isabelle den Namen verstand. „Was will sie, Frances?“, fragte die taube Frau; „was will sie?“ „Sie will, dass du bei ihr wohnst – hier.“ Tante Frances dachte schnell; es war kein so schlechter Plan. Es war immer ein Problem, Isabelle mitnehmen, wenn sie und ihre Tochter reisten. Und falls sie sie in New York ließen, war da immer die quälende Furcht, dass sie krank werden könnte, oder dass sie kritisiert werden könnten, sie zurückgelassen zu haben. 24
„Mary will, dass du bei ihr wohnst“, sagte sie. „Während wir im Ausland sind, würde es dir gefallen – ein Winter in Washington?“ Tante Isabellas sanftes Gesicht leuchtete. „Willst du mich wirklich, meine Liebe?“, fragte sie sie mit gedämpfter Stimme. Es war eine lange Zeit gewesen, dass Tante Isabelle gefühlt hatte, dass sie irgendwo gewollt wurde. Es schien ihr, dass die Krankheit, die sie in eine Welt der Stille geschickt hatte, dass ihre Anwesenheit erduldet, nicht begehrt worden war. Mary kam herüber und legte ihren Arm um sie. „Willst du, Tante Isabelle?“, fragte sie. „Ich werde Constance so vermissen, und es wäre fast wie Mutter zu haben ‐“ Niemand wusste, wie verrückt das hungrige Herz unter dem silbergrauen Kleid schlug. Tante Isabella war erst achtundvierzig, zwölf Jahre jünger als ihre Schwester Frances, aber sie war verwelkt und schlaff, während Frances sich wie eine starke Blume auf ihrem Stängel erhoben hatte. Und die kleine verwelkte schlaffe Dame sehnte sich nach Zärtlichkeit, hungerte danach, und hier war Mary in ihrer Jugend und Schönheit, viel versprechend. „Ich will dich so sehr, und Barry will dich – und Susan Jenks ‐“ Sie lachte zitternd und Tante Isabella lachte auch, wobei sie sich zurückhielt, sodass sie nicht im Gesicht oder an der Geste die Wildheit ihrer Freude zeigen mochte. „Es wird dir nichts ausmachen, nicht wahr, Frances?“, fragte sie. Tante Frances erhob sich und schüttelte ihre bernsteinfarbenen Röcke. „Ich werde natürlich sehr enttäuscht sein“, sagte sie mit lauter Stimme und sprach mit kühler Stattlichkeit: „Ich werde sehr enttäuscht sein, dass für den Winter weder du noch Mary bei uns sein werden. Und ich werde alleine überfahren müssen. Aber Grace kann mich in London treffen. Sie fährt dorthin, um Constance zu besuchen, und ich werde für eine Weile bleiben und die jungen Leute gesellschaftlich in 25
Gang bringen. Ich sollte denken, dass du Constance sehen möchtest, Mary.“ Mary machte einen schnellen Atemzug. „Ich will sie sehen – aber ich muss an Barry denken – und für diesen Winter zumindest ist mein Platz hier.“ Dann vom hinteren Teil des Zimmers sprach Porter Bigelow. „Wie heißt der Mieter?“ „Roger Poole.“ „Es gibt Pooles in Gramercy Park“, sagte Tante Frances. „Ich frage mich, ob er einer von ihnen ist.“ Mary schüttelte ihren Kopf. „Er ist aus dem Süden.“ „Ich würde denken“, sagte Porter langsam, „dass du etwas von ihm wissen willst, außer seine Bankauskunft, bevor du ihn in dein Haus nimmst.“ „Warum?“, fragte Mary. „Weil er ein – Dieb oder eine Bösewicht sein könnte“, sprach Porter scharf. Über den Köpfen der anderen begegneten sich ihre Augen. „Er ist keines“, sagte Mary. „Ich kenne einen Gentleman, wenn ich einen sehe, Porter.“ Dann flammte das Temperament des Rotkopfs auf. „Oh, wirklich? Also, für meinen Teil wünsche ich, du würdest nach Nizza fahren, Mary.“
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Kapitel III In dem ein einsamer Wanderer Herrscher von allem, was er begutachtet, wird, und in dem einer, der als der Held dieser Erzählung dargestellt hätte werden sollen, nicht durch seine eigene Schuld gezwungen wird, mit dem Rest seine Chance zu ergreifen.
A
ls Roger Poole eine Woche später zu dem großen Haus auf dem Hügel kam, war es an einem Regentag. Er trug seine eigene Tasche und wurde an der niedrigeren Tür von Susan Jenks eingelassen. Ihr lächelndes braunes Gesicht gab ihm sofort ein Gefühl des Zuhauses. Sie führte den Weg durch die weite Halle und die vordere Treppe an, forsch und kompetent in ihrer großen weißen Schürze und ihrem schwarzen Kleid. Als er ihr folgte, war sich Roger bewusst, dass das Haus seinen Glanz verloren hatte. Die Blumen waren fort, und der Glanz und die Treppe, die die seidenen Damen einst hinaufstiegen, zeigten bei genauerem Hinsehen gewisse Zeichen der Schäbigkeit. Der Teppich war alt und ausgebessert. Es war eine Frostigkeit in der Atmosphäre, als ob auch das Feuer ausgebessert werden müsste. Aber als Susan Jenks die Tür des Turmzimmers öffnete, begegnete ihm Wärme und Helligkeit. Hier war das Licht von hüpfenden Flammen einer niedrigen Schirmlampe. Auf dem Tisch neben der Lampe war ein Topf mit rosaroten Hyazinthen und ihr Wohlgeruch machte die Luft süß. Der innere Raum war nicht länger eine Rosenlaube, sondern die Zuflucht eines Mannes mit seinen stabilen Möbeln, seiner Einfachheit, seinem Fehlen an Unwesentlichem. In diesem Zimmer stellte Roger seine Tasche hin und Susan Jenks, die große Handtücher und kleine in das Badezimmer hängte, die Vorhänge zurückzog und das Feuer 27
schürte, flitzte gemütlich für ein paar Minuten hin und her und zog sich dann zurück. Es war dann, dass Roger seinen Bereich begutachtete. Er war Herrscher von allem. Der große Stuhl gehörte ihm, um sich darauf auszuruhen, das Feuer gehörte ihm, die niedrige Lampe, alle alten Freunde in den Bücherschränken! Er ging wieder in den inneren Raum. Die Glaskerzenständer und die Fotografien in ihren Silber‐ und Elfenbeinrahmen waren fort, aber über dem Kaminsims war ein Corot‐Druck mit Waldblick, und ein anderer über seinem kleinen Nachttisch. Auf dem Tisch war eine kleine elektrische Lampe mit einem grünen Lampenschirm, eine neue Zeitschrift und ein kleine alte sich wölbende Bibel mit einem weichen Ledereinband. Als er stand und hinunter auf den kleinen Tisch blickte, war er von dem Gefühl der Sicherheit nach einem Sturm begeistert. Draußen war die Welt mit ihren groben Urteilen. Draußen waren der Regen und das Schlagen des Windes. Drinnen waren diese Zeichen der herzerwärmenden Gastfreundschaft. Hier war keine trostlose Sauberkeit, keine oberflächliche Anordnung, sondern ein Platz wie für einen Ehrengast hergerichtet. Unten erklärte Mary Tante Isabelle. „Ich werde Susan Jenks ihm Kaffee bringen lassen. Er soll sein Abendessen in der Stadt bekommen und Susan wird sein Frühstück in seinem Zimmer servieren. Aber ich dachte, dass der Kaffee heute Abend nach dem Regen gemütlich sein könnte.“ Die beiden Frauen waren im Speisezimmer. Der Tisch war für drei gedeckt worden, aber Barry war nicht gekommen. Das Abendessen war eine einfache Angelegenheit gewesen – eine unmodern nahrhafte Suppe, ein gegrillter Fisch, ein Salat und nun der Kaffee. So kamen Mary und Susan Jenks mit dem Einkommen und den Ausgaben über die Runden. Susans gute Kochkunst, die Marys 28
gastronomische Diskriminierung ergänzte, machte ein Festmahl aus der einfachen Kost. „Was macht er beruflich, meine Liebe?“ „Mr. Poole? Er ist im Finanzministerium. Aber ich denke, dass er etwas studiert. Er schien so begierig auf die Bücher zu sein –„ „Die Bücher deines Vaters?“ „Ja. Ich ließ sie alle dort oben. Ich ließ sogar Vaters alte Bibel dort. Irgendwie fühlte ich, dass, wenn jemand müde oder einsam sei, die alte Bibel sich auf der richtigen Seite öffnen würde.“ „Dein Vater war oft einsam?“ „Ja. Nach Mutters Tod. Und er arbeitete zu hart und die Dinge liefen mit seinem Geschäft falsch. Ich schlich manchmal in den letzten Tagen hinauf zu seinem Schlafzimmer, und dort war er mit der alten Bibel auf seinen Knien und Mutters Bild in seiner Hand.“ Marys Augen wurden nass. „Er liebte deine Mutter und vermisste sie.“ „Es war mehr als das. Er hatte Angst vor der Zukunft wegen Constance und mir. Er hatte Angst vor der Zukunft wegen – Barry ‐“ Susan Jenks, die ein Mahagonitablett trug, auf dem eine schlanke Kaffeekanne war, flankiert von einer Schüssel mit Käse und getrockneten Keksen, fragte, als sie durch das Zimmer ging: „Soll ich für Mr. Barry etwas vom Abendessen aufheben?“ „Er wird hier sein“, sagte Mary. „Porter Bigelow führt uns ins Theater, und Barry soll den Vierten abgeben.“ Barry war oft spät dran, aber heute Abend war es halb acht, als er hereingesaust kam. „Ich will nichts zu essen“, sagte er und blieb an der Tür des Speisezimmers stehen, wo Mary und Tante Isabelle noch warteten. 29
„Ich hatte Tee in der Stadt mit General Dick und Leilas Sippschaft. Und wir tanzten. Da war ein Mädchen aus New York und sie war eine Königin.“ Mary lächelte ihn an. Für Tante Isabelles schnellen Augen schien es ein erleichtertes Lächeln zu sein. „Oh, also warst du bei dem General und Leila“, sagte sie. „Ja. Wo, dachtest du, dass ich war?“ „Nirgendwo“, errötete sie. Er ging nach oben und kam dann zurück. „Ich wünsche, du würdest mir Glauben schenken, ein Versprechen zu halten, Mary. Du weißt, was ich Con sagte ‐“ „Es war nicht, dass ich nicht glaubte ‐“ Mary durchquerte das Speisezimmer und stand in der Tür. „Ja, war es. Du dachtest, ich wäre bei der alten Sippschaft. Ich könnte ebenso gut mit ihnen gehen, wie es dich immer denken zu lassen.“ „“Ich denke es nicht immer.“ „Ja, tust du auch“, sagte er scharf. „Barry – bitte ‐“ Er stand unruhig am Fuß der Treppe. „Du kannst nicht verstehen, wie ich fühle. Wenn du ein Junge wärest ‐“ Sie unterbrach ihn. „Wenn ich ein Junge wäre? Wenn ich ein Kerl wäre, würde ich die Welt sich drehen lassen. Oh, ihr Männer, ihr macht, was ihr wollt und lässt sie still stehen ‐“ Sie hatte ihre Stimme erhoben und ihre Worte schwebten immer höher, erreichten die Ohren von Roger Poole, der oben auf der Treppe erschien. 30
Es war ein augenblickliches erschrockenes Schweigen, dann sprach Mary. „Barry, es ist Mr. Poole. Ihr kennt einander nicht, nicht wahr?“ Die beiden Männer, wobei einer nach oben ging, der andere herunterkam, begegneten sich und schüttelten einander die Hand. Dann murmelte Barry etwas darüber, davonzulaufen und sich anzuziehen, und Roger und Mary wurden alleine gelassen. Es war das erste Mal, dass sie seit des Abends der Hochzeit einander gesehen hatten. Sie hatten alles telefonisch organisiert und bei dem zweiten kurzen Besuch, den Roger diesen Zimmern abgestattet hatte, hatte sich Susan Jenks um ihn gekümmert. Es schien Roger nun, dass wie das Haus, Mary ein neues und weniger strahlendes Aussehen angenommen hatte. Sie sah blass und müde aus. Ihr weißes Kleid mit seinem schmalen Rand aus dunklem Pelz machte sie größer und älter. Ihr blondes gewelltes Haar war an der Seite gescheitelt und kompakt ohne Zierde oder Bänder frisiert. Er war jedoch wieder von der fast offenen Jungenhaftigkeit ihrer Art beeindruckt, als sie sagte: „Ich will, dass Sie Tante Isabelle kennenlernen. Sie kann nicht sehr gut hören, daher werden Sie lauter sprechen müssen.“ Als sie zusammen hineingingen, war Mary gezwungen, gewisse Meinungen, die sie sich über den Mieter gebildet hatte, neu anzupassen. Unlängst war er von den eleganten jungen Leuten ihrer eigenen Clique durch seinen Mangel an Aktualität, seiner Melancholie, seines rätselhaften Auftretens getrennt worden. Aber heute Abend trug er eine lockere Jacke, die sie sofort als guten Stil erkannte. Sein dunkles Haar, das in einer unordentlichen Locke hineinging, war so glatt und schnittig wie das von Gordon Richardson zurückgebürstet. Seien dunklen Augen hatten einen aufgeweckten 31
Blick. Und da war ein Hinweis auf Farbe auf seinen sauber rasierten olivfarbenen Wangen. „Ich kam herunter“, erzählte er ihr, als er neben ihr ging, „um Ihnen für den Kaffee zu danken, für die Hyazinthen; für das Feuer, für das – Willkommen, das mir mein Zimmer gab.“ „Oh, gefiel es Ihnen? Wir waren heute den ganzen Vormittag dort oben beschäftigt, Tante Isabelle und ich und Susan Jenks.“ „Mir war danach, Susan Jenks für die großen Badetücher zu danken; sie schienen den letzten perfekten Schliff hinzuzufügen.“ Sie lachte und wiederholte seine Bemerkung zu Tante Isabelle. „Denke, er ist dankbar für Badetücher, Tante Isabelle.“ Nach seiner Vorstellung zu Tante Isabelle sagte er lächelnd: „Und da war ein anderer Schliff – die große graue Miezekatze. Sie war auf dem Fensterplatz, und als ich mich setzte, um die Lichter anzusehen, steckte sie ihren Kopf unter meine Hand und sang mich an.“ „Pittiwitz? Oh, Tante Isabelle, wir ließen Pittiwitz dort oben. Sie beansprucht Ihr Zimmer als ihres“, erklärte sie Roger. „Wir haben sie seit Jahren. Und sie war immer dort bei Vater und dann bei Constance und mir. Wenn sie ein Ärgernis ist, setzen Sie sie einfach auf die Hintertreppe und sie wird herunterkommen.“ „Aber sie ist kein Ärgernis. Es ist etwas sehr Angenehmes, etwas Lebendiges zu haben, das mir Gesellschaft leistet.“ In dem Augenblick, als seine Bemerkung gemacht wurde, hatte er Angst, dass sie es als eine Bitte um Gesellschaft auslegen könnte. Und er hatte kein Recht – Was für ein irdisches Recht hatte er zu erwarten, in diesen reizenden Kreis einzutreten?
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Susan Jenks kam herein mit ihren Armen voll mit Umhängen. „Mr. Porter ist gekommen“, sagte sie, „und es ist jetzt acht Uhr.“ „Wir gehen aus ‐“ Mary war interessiert anzumerken, dass ihr Mieter Tante Isabellas Umhang genommen hatte und ihr ohne Befangenheit hineinhalf. Ihr eigener Umhang war von einem schimmernden graugrünen Samt, der zu ihren Augen passte, und da war ein Kragen aus dunklem Pelz. „Es ist eine hübsche Sache“, sagte Robert, als er ihn für sie hielt. „Es ist wie das Meer in einem Nebel.“ Sie funkelte ihm einen schnellen Blick zu. „Er gefällt mir“, sagte sie in ihrer geradlinigen Art. „Er ist hübsch. Tante Frances brachte ihn mir letztes Jahr aus Paris. Wenn Sie mich etwas besonders Nettes tragen sehen, werden Sie wissen, dass es Tante Frances kam – Tante Isabelles Schwester. Sie ist das reiche Mitglied der Familie. Und der Rest von uns ist so arm wie eine Kirchenmaus.“ Draußen dröhnte eine Autohupe. Dann kam Porter Bigalow herein – ein vollkommen zusammengestellter junger Mann, gepflegt, maßgeschneidert, ausgestattet nach der Mode. „Bist du bereit, Contrary Mary?“, sagte er, dann sah er Roger und blieb stehen. Porter war ein Gentleman, daher zeigte seine Art Roger Poole keinen Hinweis darauf, was er von Mietern im Allgemeinen und diesem insbesondere hielt. Er schüttelte die Hand und sagte ein paar angenehme und oberflächliche Dinge. Persönlich dachte er, dass der Mann heruntergekommen aussah. Aber niemand konnte sagen, was Mary denken mochte. Marys Maßstäbe waren die der Träumer und Sterngucker. Was sie suchte, würde sie nie an einem bloßen Mann finden. Die Gefahr lag jedoch in der Tatsache, dass sie irrtümlich ihre 33
Zuneigungen um den Hals eines erdgebundenen Objekts hängen mochte und es Ideal nannte. Was ihn betrifft, trotz seines Buff‐Orpington‐Kamms und seiner Hahn‐im‐Korb‐Manier war Porter, sofern Mary betroffen war, mit Demut durchtränkt. Er wusste, dass sein Geld, der gesellschaftliche Rang seiner Familie nichts in ihren Augen war. Wenn unter dem Gewicht dieser Dinge Mary genug von einem Mann an ihm zu lieben finden könnte, konnte das seine einzige Hoffnung sein. Und diese Hoffnung hatte ihn seit Jahren an gewisse ziemlich gelassene Ambitionen gehalten, und hatte ihm moralische Maßstäbe gegeben, die seine Mutter entzückt und seinen Vater verwirrt hatten. „Was ich auch als Mann bin, du hast mich gemacht“, sagte er zu Mary zwei Stunden später in der Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt der musikalischen Komödie, die für einige Zeit ihre Aufmerksamkeit beansprucht hatte. Tante Isabelle vor der Theaterloge lächelte liebenswürdig, glücklich in dem goldenen Licht und der Nähe der Musik. Barry besuchte Leila und den General, die gleich unten auf Parterrestühlen waren. „Was ich auch als Mann bin, du hast mich gemacht“, wiederholte Porter, „und jetzt, wenn du mich dich nur gerne haben lässt ‐“ Bis dahin hatte Mary sein Liebeswerben leicht genommen, aber heute Abend wandte sie ihm ihre besorgten Augen zu. „Porter, du weißt, ich kann nicht. Aber es gibt Zeiten, wo ich wünsche ‐ ich könnte ‐“ „Warum dann nicht?“ Sie hielt ihn mit einer Geste auf. „Es wäre nicht richtig. Ich fühle mich einfach einsam und verloren, weil Constance so weit weg ist. Aber das ist kein Grund, dich zu heiraten. Du verdienst eine Frau, die dich mag, die dich wirklich mag, mit Herz und Seele. Und ich kann nicht, lieber Junge.“ 34
„Ich war ein Narr zu denke, du könntest“, sagte er wild, „ein Mann mit einem roten Kopf ist immer ein Scherz.“ „Als ob das etwas damit zu tun hätte.“ „Aber hat es, Mary. Du weißt so gut wie ich, dass, als ich ein Kind war, ich immer Reddy Bigelow in unserer Clique war ‐ Reddy Bigelow mit einem Karottenkopf und Sommersprossen. Wenn ich arm und gewöhnlich gewesen wäre, wäre das Leben nicht lebenswert gewesen. Aber Mutters Familie und Dads Geld richteten das für mich. Und ich hatte ein Taschengeld, groß genug, um die Nachbarschaft mit Süßigkeiten zu versorgen. Du warst ein kleines Ding, aber ich tat dir leid und ich musste dich nicht kaufen. Aber ich würde dich jetzt kaufen ‐ mit einem Haus in der Stadt und einem Landhaus und Personenwagen und hübsche Kleider ‐ wenn ich dächte, dass es einen Sinn hätte, Mary.“ „Du würdest mich so nicht wollen, Porter.“ „Ich will dich ‐ auf jeden Fall.“ Er hielt inne, als der Vorhang hochging und Dunkelheit herabstieg. Aber bald kam aus der Dunkelheit sein Flüstern: „Ich will dich ‐ auf jeden Fall.“ Sie aßen nach dem Theaterstück zu Abend, Leila und der General schlossen sich ihnen bei Porters unwiderstehlicher Einladung an. Bis zum Servieren des Abendessens hielt Barry Leila für einen Augenblick in einer Ecke des prächtigen Gangs, der mit Palmen abgeschirmt war, zurück. „Dieses Mädchen aus New York, Leila ‐ Miss Jeliffe? Wie ist ihr Vorname?“ „Delilah.“ „Ist er nicht.“ 35
Leilas leichtes Lachen verspottete ihn. „Ja, ist es, Barry. Sie nennt sich Lilah und spricht ihn so aus, wie ich meinen. Aber sie unterschreibt ihre Schecks De‐lilah.“ Barry erholte sich. „Wo hast du sie kennengelernt?“ „In der Schule. Ihr Vater ist im Kongress. Sie kommen morgen zu uns. Dad hat mich gebeten, sie als Hausgäste einzuladen, bis sie eine Wohnung finden.“ „Also, sie ist verblüffend.“ Leila brauste auf. „Ich verstehe nicht, wie du ‐ ihre Art ‐ mögen kannst.“ „Kleine Dame“, ermahnte er, „du bist eifersüchtig. Ich tanzte vier Tänze mit ihr, und nur einen mit deinen neuen rosaroten Schuhen. Sie streckte einen kleinen Fuß heraus. „Sie sind hübsch, Barry“, sagte sie reumütig, „und ich habe dir nicht gedankt.“ „Warum solltest du? Schau einfach freundlich, bitte. Ich habe genug Schelte für einen Tag gehabt. „Wer schalt?“ „Mary.“ Leila blickte in den Speisesaal, wo in ihrer schlanken Blondheit Mary wie eine blasse Lilie war, zwischen allen Tulpenfrauen und Mohnblumenfrauen und Orchideenfrauen und Nachtschattenfrauen des gesellschaftlichen Gartens. „Wenn Mary dich schalt, verdientest du es“, sagte sie loyal. „Du auch? Leila, wenn du nicht zu mir hältst, könnte ich ebenso gut aufgeben.“
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Sein Gesicht war mürrisch, grüblerisch. Sie vergaß die Delilah‐ Tänzerin des Nachmittags, vergaß alles, außer dass dieses wundervolle männliche Geschöpf in Schwierigkeiten war. „Barry“, sagte sie einfach wie ein Kind, „ich werde zu dir halten, bis ich sterbe.“ Er blickte hinunter in die bewundernden Augen. „Ich glaube, dass du es würdest, Leila“, sagte er mit einem jungenhaften Krächzen in seiner Stimme, „du bist das liebste Ding auf Gottes großer Erde!“ Das gekühlte Obst war schon auf dem Tisch, als sie hineingingen, und es wurde gefolgt von einem Rechaud, über das der General herrschte. Mit rotem Gesicht und stürmisch würzte und rührte er, und als Ergebnis seiner Zauberei wurden vor sie bald solche Teller mit kreolischen Krabben gestellt, wie sie im Norden von New Orleans nicht gleichkamen. „Um zu kochen“, sagte der General, der sich in seinem Stuhl zurücklehnte und Mary anstrahlte, die neben ihm war, „muss man ein Poet sein ‐ für mich ist mehr an diesem Gericht, als bloß etwas zu essen. Da ist Farbe ‐ das Rot der Tomaten, das Grün der Paprikaschoten, das blasse Elfenbein der Pilze, das Schneeweiß der Krabbe ‐ das ist Atmosphäre ‐ Aroma.“ „Der Unterschied“, sagte ihm Mary lächelnd, „zwischen Ihrer Kochkunst und Susan Jenks ist der Unterschied zwischen einem Epos ‐ und einem Kinderreim. Sie sind beide gut, aber Susans ist unüberlegte Kunst.“ „Ich ziehe vor Susan Jenks meinen Hut“, sagte der General ‐ „wenn ihre Poesie sich in Waffeln und Brathühnern ausdrückt.“ Mary widmete sich dem General. Porter Bigelow, der auf der anderen Seite von ihr war, widmete sich Tante Isabelle. Tante Isabelle war gelassen zufrieden in ihrem neuen Amt der Anstandsdame. 37
„Ich kann in einer Menge so viel besser hören“, sagte sie, „und dann gibt es so viel zu sehen.“ „Und dies ist die Zeit für die Berühmtheiten“, sagte Porter und schrieb auf die Ecke der Speisekarte den Namen einer berühmten russischen Gräfin am Tisch neben ihnen. Dahinter war der Vorsitzende des Repräsentantenhauses der britische Botschafter mit seiner hübschen Gesellschaft von Damen; der spanische Botschafter an einem Tisch mit dunklen Schönheiten. Mary, die Porters angenehmer Stimme zuhörte, war gezwungen zuzugeben, dass er charmant sein konnte. Was die Sommersprossen und den „Karottenkopf“ angeht, sie sind von einem feinen, wenn auch frischen Teint abgelöst worden, und die lockige Dichte seines brillanten Haarwirbels gab seinem Kopf eine fast klassische Schönheit. Als sie ihn genau betrachtete, begegneten seinen Augen den ihren und er erstaunte sie durch ein schnelles Lächeln des Verständnisses. „Oh, Contrary Mary“, murmelte er, sodass der Rest es nicht hören konnte, „was denkst du von mir?“ Sie fand sich erröten. „Porter.“ „Du hast mich Pro und Kontra abgewogen? Roter Kopf gegen meine liebenswürdige Gemütsart?“ Bevor sie antworten konnte, hatte er sich wieder Tante Isabelle zugewandt und Mary mit ihren heißen Wangen zurückgelassen. Nach dem Abendessen bestand der junge Gastgeber darauf, dass Leila und der General in seiner Limousine mit Barry und Tante Isabelle nach Hause fahren sollten. „Mary und ich werden in einem Taxi folgen“, sagte er in das Angesicht ihrer Proteste.
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„Junger Mann“, frage der zwinkernde General, „wenn ich akzeptiere, werden Sie mich in dem Licht einer Last oder eines Wohltäters ansehen?“ „Eines Wohltäters, Sir“, sagte Porter prompt, und das erledigte es. „Und jetzt“, sagte Porter, als, nachdem er den Rest der Gesellschaft verabschiedet hatte, er seinen Platz neben der schlanken Gestalt in dem grünen Samtumhang einnahm, „nun werde ich mich mit dir aussprechen.“ „Aber ‐ Porter!“ „Ich habe eine Menge zu sagen. Und wir werden um den Speedway fahren, während ich es sage.“ „Aber ‐ es regnet.“ „Umso besser. Es werden wir zwei und die endlose Welt sein, Mary.“ „Und es gibt nichts zu sagen.“ „Oh ja, es gibt ‐ Unmengen.“ „Und Tante Isabelle wird sich Sorgen machen.“ Er zog die Autodecke um sie hoch und lehnte sich zurück, als ob die Zeiger auf dem mondförmigen Ziffernblatt der Uhr des Postamtsturms nicht auf Mitternacht zeigten. „Tante Isabelle ist es gesagt worden“, informierte er sie, „dass du vielleicht ein bisschen spät kommst. Ich schrieb es auf die Speisekarte und sie las es ‐ und lächelte.“ Er wartete schweigend, bis sie die Avenue verlassen hatten und auf der Zufahrtsstraße hinter dem Finanzministerium waren, die zum Fluss führte. „Porter, das ist eine wilde Sache.“
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„Ich bin in wilder Stimmung ‐ eine Stimmung, die zu dem Regen und Wind passt. Ich bin in solcher Stimmung, dass, wenn die Zeiten anders wären und das Zeitalter romantischer, würde ich dich hochheben und auf mein bestes Ross setzen und dich zu meinem Schloss davontragen.“ Er lachte und für den Augenblick war sie von seiner Meisterhaftigkeit begeistert. Aber leider ist mein Ross ein Taxi ‐ das Zeitalter ist prosaisch ‐ und du ‐ ich habe Angst vor dir, Contrary Mary.“ Sie waren jetzt auf dem matt erleuchteten Speedway, die eine Reihe von winkenden Weidenbäumen zeigte, gespensterhaft gegen einen Hintergrund von grauem Wasser umrissen. „Ich habe Angst vor dir. Ich habe es immer gehabt. Sogar, als du erst zehn warst und ich fünfzehn. Ich zitterte in meinen Schuhen, wenn du mich ansahst, Mary; du warst damals die Einzige ‐ du bist jetzt die Einzige.“ Ihre Hand lag auf der Außenseite der Decke. Er legte seine eigene über sie. „Seit du heute Abend sagtest, dass du mich nicht magst ‐ hat etwas in meinem Verstand gesungen und es hat gesagt, ‚bring sie dazu, bring sie dazu‘. Und ich werde es tun. Ich werde dich nicht damit beunruhigen ‐ und ich werde meine Chancen mit dem Rest ergreifen. Aber am Ende werde ich ‐ gewinnen.“ „Es gibt keine anderen.“ „Wenn es keine gibt, wird es welche geben. Du hast dich bis jetzt durch diese kleine unabhängige Art von dir geschützt, die Männer abschreckt. Aber eines Tages wird ein Mann kommen, der keine Angst hat ‐ und dann wird es ein Kampf bis zum Schluss zwischen ihm ‐ und mir.“ „Oh, Porter, ich will nicht an heiraten denken ‐ nicht für zehn Millionen Jahre.“ 40
„Und doch“, sagte er prophetisch, „wenn du morgen einem Mann begegnen solltest, der dich denken lassen könnte, er sei der Einzige, würdest du ihn im Angesicht der ganzen Welt heiraten.“ „Kein Mann dieser Art wird je kommen.“ „Was für eine Art?“ „Der mich dazu bringen wird, die Welt zu verlieren.“ Der Regen schlug gegen die Fenster des Taxis. „Porter, bitte. Wir müssen nach Hause.“ „Nicht, wenn du mir nicht versprichst, es mich beweisen zu lassen ‐ mich zeigen zu lassen, dass ich ein Mann bin ‐ kein Junge.“ „Du bist der beste Freund, den ich je gehabt hatte. Ich wünsche, du würdest nicht darauf bestehen, etwas anderes zu sein.“ „Aber ich muss bestehen ‐“ „Und ich bestehe darauf, nach Hause zu gehen. Sei so gut und bringe mich nach Hause.“ Es wurde entschieden gesagt und er gab dem Fahrer den Befehl. Und so wirbelten sie endlich die Allee der Präsidenten hinauf und den Grenzen des Parks entlang und trafen am Fuß der Terrasse des großen Hauses ein. Es gab ein Licht im Turmfenster. „Der Kerl ist noch auf“, sagte Peter. Er hielt einen Regenschirm über sie und schützte sie so gut er konnte vor dem Regen. „Ich denke nicht gerne an ihn in dem Haus.“ „Oh, er sieht dich jeden Tag. Redete mit dir jeden Tag. Und was weißt du von ihm? Und ich, der sich mein ganzes Leben lang kennt, muss mit zusammengestoppelten Minuten, mit anderen Leuten 41
rundherum, zufrieden sein. Und auf jeden Fall glaube ich, dass ich auf Satan selbst eifersüchtig wäre, Mary.“ Sie waren jetzt unter dem Vordach, und sie rückte ein Stück weg von ihm und begutachtete ihn mit missbilligenden Augen. „Du bist heute Abend nicht du selbst, Porter.“ Er lege eine Hand auf ihre Schulter und stand und sah auf sie herab. „Wie kann ich es sein? Was werde ich tun, wenn ich dich verlasse, Mary, und der Tatsache gegenübertrete, dass ich dir nichts bedeute ‐ dass ich nicht mehr für dich bin ‐ als dieser Kerl dort oben in dem Turm?“ Er richtete sich auf, dann mit dem Wahnsinn seiner früheren Stimmung sagte er eine weitere Sache, bevor er sie verließ: „Contrary Mary, wenn ich nicht ein solcher Feigling wäre, und du wärest nicht so ‐ wundervoll ‐ würde ich dich jetzt küssen ‐ und dich dazu zu bringen ‐ mich zu mögen ‐“
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Kapitel IV In dem ein kleiner Bronzejunge im Dunkeln grinst und in dem Mary vergisst, dass noch jemand im Haus ist.
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ben zwischen seinen Büchern hörte Roger Poole Mary hereinkommen. Mit den Vorhängen hinter sich zugezogen, um das Licht auszusperren, blickte er hinunter in die strömende Nacht und sah Porter alleine davonfahren. Dann Marys Schritte auf der Treppe; sie hob die Stimme, als sie Tante Isabelle grüßte, die auf sie gewartet hatte. Eine Tür wurde geschlossen und wieder sank das Haus in Stille. Roger wandte sich seinen Büchern zu, aber nicht, um zu lesen. Die alte Depression stand ihm bevor. In der Glut seiner Ankunft war er durch die Hoffnung gewärmt worden, dass die Dinge anders sein könnten; hier in diesem gastfreundlichen Haus hatte er zufällig ein Heim gefunden. Also war er hinuntergegangen, um zu finden, dass er ein Außenseiter ‐ ein Fremder ‐ war, alt, wo sie jung waren, getrennt von Barry und Porter und Mary durch Jahre dunkler Erfahrung. Für ihn in diesem Augenblick stand Mary Ballard als ein Symbol der Dinge, das er verloren hatte. Ihre Jugend und Unbeschwertheit, ihr Mut und jetzt vielleicht ihre Romanze. Er kannte den Blick, der in Porter Bigelows Augen war, als sie auf ihr ruhten. Der Blick eines Mannes, der sein Eigenes beansprucht. Und hinter Bigelows angenehmem und oberflächlichem Gruß hatte Roger eine hintergründige Feindseligkeit gespürt. Er lächelte bitter. Kein Mann muss ihn fürchten. Er war aus dem Rennen. Er war mit der Liebe fertig, mit Romantik, mit Frauen, für immer. Eine Frau hatte sein Leben zerstört. Doch, wenn er vor der anderen Mary Ballard begegnet wäre? Die Möglichkeiten überrollten ihn. Sein Leben wäre heute anders gewesen. 43
Er würde der Welt gegenübertreten, nicht ihr seinen Rücken zuwenden. Als er über dem verlöschenden Feuer grübelte, waren seine Augen ernst. Wenn es seine Schuld gewesen wäre, hätte er seine Bestrafung ohne zu zucken angenommen. Aber durch einen Akt der Ritterlichkeit umgestoßen zu werden ‐ den Ausdruck dessen, was in ihm wogte, versagt zu bekommen. Täglich beugte er sich über einen Schreibtisch, wobei er die Arbeit tat, die jeder Mann tun mochte, er, der auf den Schulter seiner Mitstudenten getragen worden war, er, dessen Stimme mit einem Weckruf ertönt war! In der unteren Halle wurde eine Tür wieder geöffnet, und nun waren da Schritte, die hinaufstiegen. Dann hörte er ein leises Lachen. „Ich habe sie gefunden ‐ Tante Isabelle, sie besteht darauf hinaufzugehen.“ Er knipste sein Licht aus und öffnete vorsichtig seine Tür. Mary war in der unteren Halle, die schwere graue Katze in ihren Armen. Sie trug eine Spitzenboudoirhaube und ein blassblauer Morgenmantel schleifte hinter ihr her. So gesehen war sie äußerst weiblich. Schwach durch sein Bewusstsein flitzte Porter Bigelows Name für sie ‐ Contrary Mary. Warum contrary, widerspenstig ‐ Contrary? Gab es eine andere Seite, die er nicht gesehen hatte? Er hatte ihre flammenden Worte zu Barry gehört: „Wenn ich ein Mann wäre ‐ ich würde die Welt sich drehen lassen ‐“ und er war für den Augenblick angewidert. Er hat keine Sympathie für moderne feminine Rebellionen. Frauen waren Frauen. Männer waren Männer. Die Dinge, die sie gemeinsam hatten, war Liebe und das, was folgte, das Heim, die Familie. Über diese Dinge hinaus war ihr Leben notwendigerweise, richtigerweise geteilt. Er tastete seinen Weg zurück durch die Dunkelheit zum Turmfenster, öffnete es und lehnte sich hinaus. Der Regen schlug auf sein Gesicht, der Wind blies sein schwarzes Haar und ließ die Enden seiner losen Krawatte flattern. Unter ihm lag die sturmgepeitschte 44
Stadt, ihre Lichter schwach und flackernd. Er erinnerte sich an einen Test, den er in einer solchen Nacht gewählt hatte. „O Herr, du bist mein Gott. Ich werde dich lobpreisen, ich werde deinen Namen preisen, denn du hast wundervolle Dinge getan; du bist eine Stärke für die Armen, eine Stärke für die Bedürftigen in Drangsal ... eine Zuflucht vor dem Sturm ‐“ Wie die Worte zurück zu ihm kamen, aus dieser lebhaften Vergangenheit. Aber heute Nacht ‐ na, da war kein ‐ Gott! War er der Narr, der einst Gott gesehen hatte ‐ in einem Sturm? Er schloss das Fenster und als er eine schwere Jacke und eine alte Mütze fand, zog er sie an. Dann ging er leise die Turmstufen hinunter zu der Seitentür. Mary hatte ihm aufgezeigt, dass dieser Eingang es für ihn möglich machen würde, zu gehen und zu kommen, wie es ihm gefiel. Heute Nacht gefiel es ihm, in dem strömenden Regen spazieren zu gehen. Am anderen Ende des Gartens gab es einen alten Springbrunnen, in dem ein Bronzejunge auf einem Bronzedelfin ritt. Das Becken des Brunnens war mit durchweichten Blättern gefüllt. Eine Straßenlaterne am Fuß der Terrasse erleuchtete das Gesicht des Bronzejungen, sodass er ein schiefes Grinsen zu tragen schien. Es war, als ob er über den Sturm und über das Leben lachte, wobei er den Elementen mit sardonischer Fröhlichkeit trotzte. Hin und her, ruhelos, ging der einsame Mann und hasste es, wieder die Zimmer zu betreten, die erst ein paar Stunden zuvor eine Zuflucht gewesen zu sein schienen. Es wäre besser gewesen, in seiner letzten Pension geblieben zu sein, besser, sich von diesem Ort ferngehalten zu haben, der Erinnerungen brachte ‐ besser, nie diese Gruppe junger Leute gesehen zu haben, die so fröhlich waren, wie er es einst gewesen war ‐ besser, nie Mary Ballard gesehen zu haben! Er blickte hinauf zu dem Zimmer unter seinem eigenen, wo ihr Licht noch brannte. Er fragte sich, ob sie wach geblieben war, um an den 45
jungen Apollo mit dem rotbraunen Kopf zu denken. Vielleicht war er schon ihr akzeptierter Liebster. Und warum nicht? Warum sollte er sich dafür interessieren, wen Mary Ballard liebte? Er hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Er glaubte es jetzt nicht. Er wusste nur, dass er von einem Blick erregt, durch eine Freundlichkeit gewärmt, durch eine Offenheit und Aufrichtigkeit berührt worden war, wie er es an keiner anderen Frau gefunden hatte. Und weil er durch diese Dinge erregt und gewärmt und berührt worden war, fühlte er heute Nacht den Spott eines Schicksals, das sie zu spät in sein Leben gebracht hatte. Als sie zitternd und aufgeregt nach ihrer Fahrt mit Porter hereinkam, hatte Mary Beweise für Tante Isabelles eifrige Fürsorge für sie gefunden. Ihr Feuer brannte hell, die Decken ihres Bettes waren zurückgeschlagen, ihr blauer Morgenmantel und die kleinen blauen Pantoffel wärmten vor dem Feuer. „Niemand tat je solche Dinge für mich“, sagte Mary mit Wertschätzung, als die liebenswürdige Dame hereinkam, um ihrer Nichte einen Gutenachtkuss zu geben. „Mutter war nicht diese Art. Wir alle bedienten sie. Und Susan Jenks ist zu beschäftigt; es ist nicht richtig, sie aufzuhalten. Und auf jeden Fall bin ich immer mehr wie ein Junge gewesen und habe mich um mich selbst gekümmert. Constance war die eine, die gehätschelt wurde, Con und Mutter.“ „Ich tue es sehr gerne“, sagte Tante Isabelle eifrig. „Wenn ich bei Frances bin, gibt es so viele Diener und ich fühle mich hinausgestoßen. Da ist nichts, was ich für jemanden tun kann. Grace und Frances haben jeweils ein Mädchen. Daher führe ich mein eigenes Lebens und manchmal ist es einsam gewesen.“ „Du Liebling.“ Mary legte ihre kühlen jungen Lippen auf die weiche Wange. „Ich bin auch schrecklich einsam. Darum wollte ich dich.“ 46
Tante Isabelle stand für einen Augenblick und sah in das Feuer. „Es ist Jahre her, seit jemand mich wollte“, sagte sie schließlich. Es war keine Bitterkeit in ihrem Ton, sie behauptete einfach die Tatsache. Doch in ihrer Jugend war sie die Schönheit der Familie gewesen, und der Star des Landkreises. „Tante Isabelle“, sagte Mary plötzlich, „ist Heirat der einzige Weg hinaus für eine Frau?“ „Der einzige Weg?“ „In die Freiheit. Es scheint mir, dass eine ledige Frau immer zu ihrer Familie zu gehören scheint. Warum sollte man nicht tun, was einem gefällt? Warum sollte ich es nicht? Und doch hast du nie dein eigenes Leben gelebt. Und ich werde meines nicht leben können, außer ich erkämpfe jeden Zoll des Weges.“ Eine Röte überzog Tante Isabelles Wangen. „Ich bin immer arm gewesen, Mary ‐“ „Aber das ist es nicht“, sagte sie grimmig. „Es gibt arme Mädchen, die nicht gebunden sind ‐ ich meine durch Konventionen und Familientraditionen. Na, Tante Isabelle, ich vermietete das Turmzimmer nicht nur zum Trotz der Lebenden ‐ sonder der Toten. Ich kann Mutters Gesicht sehen, wenn wir an eine solche Sache gedacht hätten, während sie lebte. Doch wir brauchten damals das Geld. Wir brauchten es, um Dad zu helfen ‐ ihn zu retten ‐“ Die letzten Worte wurden leise gesprochen und Tante Isabelle verstand sie nicht. „Und jetzt will jeder, dass ich heirate. Oh, Tante Isabelle, setz dich und lass es uns ausdiskutieren. Ich bin nicht schläfrig, du?“ Sie zog die kleine Dame neben sich auf eine Couch mit hoher Rückenlehne, die gegenüber vom Feuer stand. „Jeder will, dass ich heirate, Tante Isabelle. Und heute Nacht habe ich es mit Porter ausgesprochen.“ „Du liebst ihn nicht?“ 47
„Nicht ‐ auf diese Weise. Aber manchmal ‐ lässt er mich fühlen, als ob ich ihm nicht entkommen könnte ‐ als ob er beharren und beharren würde, bis er gewinnt. Aber ich will nicht, dass die Liebe auf diese Weise zu mir kommt. Es scheint mir, dass, wenn man liebt, man es weiß. Es muss einem nicht gezeigt werden.“ „Meine Liebe, manchmal ist es eine Tragödie, wenn eine Frau es weiß.“ „Aber warum?“ „Weil Männer gerne erobern. Wenn sie Liebe in den Augen einer Frau sehen, stirbt ihre eigene Liebe.“ „Ich würde einen solchen Mann hassen“, sagte Mary offen. „Wenn ein Mann dich nur liebt wegen der Eroberung, was wird geschehen, wenn er dich heiratet und die Jagd vorüber ist? Nein, Tante Isabelle, wenn ich mich verliebe, wird es in einen Mann sein, der wissen wird, dass ich die eine Frau bin. Er muss mich lieben, weil ich ich bin ‐ ich selbst. Nicht, weil mich jemand anderer bewundert oder weil ich ihn im Ungewissen lasse. Er wird mich kennen, wie ich ihn kenne ‐ als seine vorherbestimmte Gefährtin! So sprach Süß und Zwanzig glühend. Und Süß und Vierzig, die dieser Flamme mit ihrem eingedämmten Feuer begegnete, zögerte. „Aber meine Liebe, wie kannst du wissen? „Wie wusstest du es?“ Die abrupte Frage trieb jeden Tropfen Blut aus Tante Isabelles Gesicht. „Wer erzählte es dir?“ „Mutter. Eines Nachts, als ich sie fragte, warum du nie geheiratet hast. Es macht dir nichts aus, nicht wahr?“ Tante Isabelle schüttelte ihren Kopf. „Nein. Und Mary, Liebes, ich bin der ganzen Einsamkeit, der ganzen Abhängigkeit lieber gegenübergestanden, statt dem untreu zu werden, was er mir gab und 48
ich ihm. Da war eine Nacht in diesem alten Garten, als ich deine Mutter besuchte, und er war im Kongress zu der Zeit und der Garten war voller Rosen ‐ und es war ‐ Mondlicht. Und wir saßen beim Springbrunnen und da war das sanfte Plätschern des Wassers und er sagte: ‚Isabelle, der kleine Bronzejunge wirft dir Küsse zu ‐ siehst du ihn lächeln?‘ Und ich sagte: ‚Ich will keine Küsse außer deinen‘ ‐ und das war das letzte Mal. Am nächsten Tag wurde er getötet ‐ von seinem Pferd geworfen, während er hier heraus ritt, um mich zu besuchen. Es war danach, dass ich so krank wurde. Und etwas schien in meinem Kopf zu klicken und eines Tages, als ich beim Brunnen saß, fand ich, dass ich das Plätschern des Wassers nicht hören konnte, und die Dinge begannen zu gehen; die Stimmen, die ich liebte, schienen weit weg zu sein und ich konnte nur durch die Bewegung der Blätter erkennen, dass der Wind wehte, und die Vögel plusterten ihre kleinen Kehle auf ‐ aber ich hört ‐ keine Musik ‐“ Ihre Stimme verlor sich in Schweigen. „Aber vor der Stille gab es andere, die ‐ mich wollten ‐ denn ich hatte meine Schönheit nicht verloren, und Frances tat ihr Bestes für mich. Und es gefiel ihr nicht, wenn ich sagte, ich könnte nicht heiraten, Mary. Aber jetzt bin ich froh. Denn in der Stille leben meine Liebe und ich in unserer eigenen Welt.“ „Tante Isabelle ‐ Liebling. Wie hübsch und süß und traurig ‐“ Mary kniete neben ihrer Tante, ihren Arm um sie gelegt, und Tante Isabelle, die ihre Lippen las, musste die Worte nicht hören. „Wenn ich stark gewesen wäre, wie du, Mary, hätte ich mich gegen Frances behaupten können und hätte etwas selbst gemacht. Aber ich bin nicht stark, und vor fünfundzwanzig Jahren baten die Frauen nicht um Freiheit. Sie baten um ‐ Liebe.“ „Aber ich will Freiheit in meiner Liebe finden. Nicht gebunden, wie Porter mich binden würde. Er würde mich auf ein Podest stellen und mich anbeten, und ich würde lieber Schulter an Schulter mit meinem 49
Mann stehen und sein Kamerad sein. Ich will nicht, dass er zu weit hinaufschauen muss, oder herabschauen, wie Gordon auf Constance herabschaut.“ „Herabschaut? Nanu, er betet sie an, Mary.“ „Oh, er liebt sie. Und er tut alles für sie, aber er tut es, als ob sie ein Kind wäre. Er fragt in keiner hochwichtigen Angelegenheit um ihre Meinung. Er teilt seine großen Interessen nicht mit ihr und so wird er nie die große feine Weiblichkeit entdecken. Und sie wird zu seinem Maß von ihr zusammenschrumpfen.“ Tante Isabelle schüttelte ihren Kopf lächelnd. „Analysiere nicht zu viel, Mary. Männer und Frauen sind Menschen ‐ und du verlierst dich vielleicht in einer Suche nach dem Ideal.“ „Weißt du, wie Porter mich nennt, Tante Isabelle? Contrary Mary. Er sagt, dass ich nie Dinge so tue, wie die Leute es erwarten. Doch tue ich sie so, wie ich muss. Es ist, als ob eine Macht in mir wäre ‐ die mich antreibt.“ Sie stand auf, als sie es sagte, wobei sie ihre Arme in einer begierigen Geste ausstreckte. „Tante Isabelle, wenn ich ein Mann wäre, gäbe es etwas auf der Welt für mich zu tun. Doch hier bin ich und komme gerade so über die Runden, indem ich meinen Anteil der Haushaltsführung mit Susan Jenks aufrechterhalte und von den Händen meiner reichen Freunde solche Vergnügen nehme, wie ich ohne Rückgabe anzunehmen wage.“ Tante Isabelle zog sie neben sich hinunter. „Rebellische Mary“ sagte sie, „wer wird dich zähmen?“ Sie lachten ein wenig, wobei sie sich aneinander klammerten, und dann sagte Mary: „Du musst zu Bett gehen, Tante Isabelle. Ich halte dich schändlich auf.“ Sie küssten sich wieder und trennten und Mary machte sich für das Bett bereit. Sie nahm ihre Haube ab und ihr hübsches Haar fiel herab. 50
Das war eine andere ihrer widerspenstigen Weisen. Ihr und Constance war beigebracht worden, es ordentlich zu flechten, aber von Kindheit an hatte Mary protestiert, und wenn sie mit zwei steifen Zöpfen zu Bett ging, war sie bekannt gewesen mitten in der Nacht aufzuwachen und sie herunterzunehmen, nur um am Morgen zu entdecken, dass ihre blonden Locken ganz verheddert waren. Schimpfen hatte nicht genützt. Einmal als entsetzliche Bestrafung waren die Locken abgeschnitten worden. Aber Mary hatte gejubelt. „Es lässt mich ein einen Jungen aussehen“, hatte sie ruhig ihrer Mutter gesagt, „und es gefällt mir.“ Eine andere ihrer Kleinmädchenlaunen war gewesen, ihre Gebete laut zu sagen. So sagte sie heute Nacht auf diese Weise, wobei sie sich neben ihr Bett hinkniete, mit ihrem hellen Kopf auf ihren gefalteten Händen. Dann drehte sie das Licht aus und zog ihre Vorhänge zurück. Als sie hinaus auf den strömenden Regen schaute, zeigte das Leuchten der Straßenlaterne eine bewegungslose Gestalt auf der Terrasse. Für einen Augenblick guckte sie mit klopfendem Herzen, dann floh sie in Tante Isabelles Zimmer. „Dort ist jemand im Garten.“ „Vielleicht ist es Barry. „Kam er nicht mit dir?“ „Nein. Er fuhr weiter mit Leila und dem General.“ „Aber es ist zwei Uhr, Tante Isabelle. „Ich wusste es nicht; ich dachte, dass er vielleicht gekommen sei.“ Als sie zurück in ihr Zimmer ging, zog Mary ihren blauen Morgenmantel und ihre Pantoffeln an und öffnete ihre Tür. Das Licht brannte noch auf dem Flur. Barry drehte es immer ab, wenn er kam. Sie stand unentschlossen, dann ging sie die Hintertreppe hinunter, 51
aber blieb stehen, als sich die Tür öffnete und eine dunkle Gestalt auftauchte. „Barry ‐“ Roger Poole blickte hoch zu ihr. „Es ist nicht Ihr Bruder“, sagte er, „ich ‐ ich muss Sie um Verzeihung bitten, Sie zu stören. Ich konnte nicht schlafen und ich ging hinaus ‐“ Er blieb stehen und stotterte. Dort über ihn stehend, mit dem ganzen Wunder ihre ungebundenen Haar war sie wie eine himmlische Vision. Sie lächelte ihn an. „Es macht nichts“, sagte sie, „bitte, entschuldigen Sie sich nicht. Es war töricht von mir ‐ verängstigt zu sein. Aber ich hatte vergessen, dass noch jemand in dem Haus ist.“ Sie war sich der Wirkung ihrer Worte nicht bewusst. Aber seine Seele zuckte in ihm zusammen. Für sie war er der Mieter, der die Miete bezahlte. Für ihn war sie, also, gerade jetzt war sie für ihn die Heilige Jungfrau! Schwach in der Ferne hörten sie das Schließen einer Tür. „Es ist Barry“, sagte Mary und plötzlich rollte eine Welle der Befangenheit über sie. Was würde Barry denken, sie zu dieser Stunde mir Roger Poole reden vorzufinden? Und was würde er von Roger Poole denken, der in einer Regennacht im Garten spazieren ging? Roger sah ihre Verwirrung. „Ich werde dieses Licht abdrehen“, sagte er, „und warten ‐“ Und sie wartete auch in der Dunkelheit, bis Barry sicher in seinem eigenen Zimmer war, dann sprach sie leise. „Vielen Dank“, sagte sie und war fort.
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Kapitel V In dem sich Roger an ein Gesicht erinnert und Delilah sich an eine Stimme erinnert ‐ und in dem ein Gedicht und eine Miezekatze eine wichtige Rolle spielen.
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eit der Nacht seiner Ankunft war Roger nicht in den Familienkreis eingedrungen. Er hatte Feindseligkeit in Barrys Augen gelesen, als der Bursche zu ihm hoch blickte, und Mary, trotz ihrer Freundlichkeit, hatte vergessen, dass er im Haus war! Also, sie hatten das Tempo angegeben und er würde Schritt halten. Hier im Turm konnte er alleine leben ‐ doch nicht einsam sein, denn die Bücher waren dort ‐ und sie brachten Vergessen. Er unternahm lange Spaziergänge durch die Stadt, die nun zu gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten erwachte. Zurück in die Stadt kamen die Leute, die vor der Sommerhitze geflohen waren; zurück kamen die Mitglieder des Repräsentantenhauses und des Senats, indem sie aus Norden, Süden, Osten und Westen zu dem kommenden Kongress strömten. Zurück kamen die Arbeitssuchenden und die pathetische geduldige Gruppe, deren Forderungen war, auf das Inkrafttreten eines unmöglichen Gesetzesentwurfs zu warten. Es kamen auch die Touristen und Ausflügler, die von einem Ende der Stadt zum anderen strömen, auf die Kuppel des Kapitols steigen, die Stufe des Monuments hinuntergehen, sich in das Weiße Haus wagen, durch das Amtszimmer geführt werden, wo Geld verdient wird, mit „Touristenwägen“ fahren, in Taxis herumfahren, den Mt. Vernon bestürmen, Fort Myer bombardieren und alles glorreich unter dem goldenen Novemberhimmel tun. Und wegen der Touristen und Staatsmänner und des Volks, das für den Sommer fort gewesen war, begannen die Geschäfte Schönheit anzunehmen. Die F Street hinauf und um die Vierzehnte in die H 53
strömte die begierige Prozession, und alle Fenster standen für sie in Blüte. Roger ging auch auf dem Land spazieren. In anderen Ländern oder zumindest behaupten es die Poeten, ist November der Monat des Frosts und der Trübseligkeit. Aber in die Stadt am Potomac kommt er mit sanften rosaroten Morgennebeln und gegen Sonnenuntergang mit amethystfarbenen Ausblicken. Und wenn hinter der Stadt die Felder mit Reif überzogen sind, ist es Reif von federartiger Weiße, der in der Herrlichkeit eines wärmeren Mittags schmilzt. Und wenn die Bäume nackt sind, ist unten noch Blassgelb und Blassrosa, wo die Blätter auf die Winterwinde warten, die sie später in einem verrückten Tanz wie braune Schmetterlinge wirbeln sollen. Und da ist das Grün der Föhren und das flammende Rot der Kletterpflanzen. Es war an einem sonnigen Novembertag, daher kam Roger, als er Rock Creek durch den Park folgte, zu der alten Mühle, wo eine kleine Teestube Nachmittagserfrischungen bereitstellte. Da sie weit weg von den Straßenbahnlinien war, kam ihre Kundschaft großteils von denen, die mit Personenwägen oder zu Pferde kamen, und ein paar mutige Fußgänger. Hier setzte sich Roger, um sich auszuruhen, wobei er eine ziemlich kräftige Mahlzeit bestellte, denn der lange Spaziergang hatte ihn hungrig gemacht. Es war, während er wartete, dass ein großer Wagen mit fünf Passagieren ankam. Er erkannte Porter Bigelow sofort, und da waren außerdem zwei ältere Männer und zwei junge Damen. Die Größere der beiden jungen Frauen hatte Augen, die herumstreiften. Sie hatte blauschwarzes Haar und sie trug Schwarz ‐ einen kleinen schwarzen Hut mit einer dünnen gebogenen Feder und ein maßgeschneidertes Kostüm, das ihre Größe und Schlankheit betonte. Ihre Pelze waren aus Leopardenfelle. Ihre Wangen hatten unter ihrem Schleier eine gesunde Gesichtsfarbe. 54
Das andere Mädchen hatte auch dunkles Haar. Aber sie war klein und vogelartig. Von Kopf bis Fuß war sie in einem tiefdunklen Rosarot, dass in der Wolle ihres Mantels und dem Chiffon ihres Schleiers die Farbtönung der Rose zurückgab, die an ihrem Muff festgesteckt war. Aber es war das Mädchen in Schwarz, worauf Roger seine Augen richtete. Wo hatte er sie gesehen? Sie wählte einen Tisch in seiner Nähe und gingen in Reichweite an ihm vorbei. Porter erkannte ihn nicht. Der große Mann in dem alten Mantel und weichen Hut stand in seinem Gedächtnis mit dem Augenblick der Begegnung in Marys Speisezimmer nicht in Verbindung. „Jeder bringt unsere Namen durcheinander, Porter“, sagte das Mädchen mit der Rose, als sie sich setzten, „die Mädchen taten es in der Schule, nicht wahr, Lilah?“ „Ja“, das Mädchen in Schwarz brauchte nicht viele Worte bei ihren Augen, um für sie zu reden. „War es große Lilah und kleine Leila?“, fragte Porter. „Nein“, die dunklen Augen über dem Leopardenmuff weiteten sich und hielten seinem Blick stand. „Es war liebe Leila und schreckliche Lilah. Ich schockierte sie, weißt du.“ Die drei Männer lachten. „Was hast du getan?“, fragte Porter und beugte sich ein wenig nach vor. Männer beugten sich immer zu Delilah Jeliffe. Sie zog sie an, sogar während sie sie zurückwies. „Ich rauchte Zigaretten, zum einen“, sagte sie, „jeder tut es jetzt. Aber damals ‐ ich kam einem Hinauswurf dafür nahe.“ Das kleine Rosenmädchen unterbrach heftig. „Ich denke, es ist noch immer schrecklich, Lilah“, sagte sie.
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Lilah lächelte und zuckte die Achseln. „Aber das war nicht das Schlimmste. Eines Tages ‐ brannte ich durch.“ Sie brachte sie alle zum Zuhören. Die alten Männer und den jungen und den Mann am anderen Tisch. „Ich brannte mit einem Jungen von der privaten Vorbereitungs‐ schule durch. Er war neunzehn und ich war zwei Jahre jünger. Wir fuhren bei Mondlicht in Romeos Wagen los ‐ es machte großen Spaß. Aber der Geistliche wollte uns nicht trauen. Ich denke, er vermutete, dass wir ein Paar Kinder von der Schule waren ‐ und er schimpfte uns und schickte mich in einem Taxi nach Hause ‐“ Der große, dünne alte Gentleman protestierte: „Meine Liebe ‐“ „Oh, du wusstest es nicht, Daddy Liebling“, sagte sie. „Ich kam zurück, bevor ich entdeckt wurde, und ließ mich bei der Tür hinein, die ich aufgesperrt hatte. Aber ich konnte es nicht vor den Mädchen geheim halten ‐ es machte solchen Spaß, sie zum Zittern zu bringen.“ „Und was wurde aus Romeo?“, fragte Porter. „Er fand eine andere Julia ‐ eine hübsche kleine Blonde, und sie leben seither glücklich.“ Leilas Augen wurden rund. „Aber ich verstehe nicht“, begann sie. „Natürlich nicht, Süße. Für mich war die ganze Sache ein Abenteuer entlang der Straße ‐ für dich wäre es großer Kummer gewesen.“ Ihre Worte kamen deutlich zu Roger. Dann also war das, was für einige Frauen Liebe bedeutete ‐ ein Abenteuer entlang der Straße. Ein Mann diente zum Vergnügen an einer Kurve auf der Fernstraße sie einem anderen begegnet. Lilah forderte ihr Publikum heraus. „Und nun seht ihr, warum ich die schreckliche Lilah war. Ich passte zu dem Namen, den sie für mich hatten, nicht wahr?“ 56
Ihre Frage war an Porter gerichtet, und er beantwortete sie. „Es sind die Frauen, die das Tempo für uns angeben“, sagte er; „wenn sie wagen, wagen wir. Wenn sie führen, folgen wir.“ General Dick unterbrach. Mit seinem Heiligenschein aus weißem Haar und seinem rosarote Gesicht sah er wie ein entrüsteter Cherub aus. „Die Art, wie ihr jungen Leute ernsthafte Themen behandelt, ist erschreckend“, dann fühlte er die Hand seiner kleinen Tochter auf seinem Arm. „Lilah sagt immer Dinge, die sie nicht meint, Dad. Bitte, nimm sie nicht ernst.“ „Niemand nimmt mich ernst“, sagte Lilah, „und darum weiß niemand, wie ich wirklich bin.“ „Ich kenne dich“, sagte ihr Vater, „und du bist wie eine kleine Stute, die ich früher auf der Ranch hinaustrieb. Solange ich ihr ihren Kopf gelassen hatte, war sie lieb. Aber lasst mich versuchen, sie zu bändigen, und sie würde über die Stränge schlagen.“ Sie alle lachten darüber; dann kam ihr Tee und eine großer Teller Toast, und die Unterhaltung wurde unterbrochen und weniger interessant. Doch der Mann an dem anderen Tisch hatte seine Aufmerksamkeit wieder auf sie gerichtet, als Lilah zu Porter sagte, als sie ihre Handschuhe anzog: „Wir sind zu Mary Ballard zu Thanksgiving eingeladen, und du sollst dort sein.“ „Ja ‐ Mutter und Vater fahre in den Süden, so kann ich den Familienfest entkommen.“ „Mary Ballard ist ‐ reizend ‐“ Es wurde vorsichtig gesagt, mit einem Aufschlag ihrer Wimpern. 57
Aber Porter antwortete nicht, und als er hinter ihrem Stuhl stand, war eine tiefere Röte auf seinen blühenden Wangen. Marys Namen hielt er in seinem Herzen. Er war selten auf seinen Lippen. Mary hatte Delilah und ihren Vater zu Thanksgiving nicht gewollt. „Aber wir können nicht Leila und den General ohne sie haben“, sagte sie zu Barry nach einer Unterhaltung mit Leila am Telefon, „und es wäre nicht wie Thanksgiving ohne den Dicks.“ „Delilah“, sagte Barry behaglich, „macht viel Spaß. Ich bin froh, dass sie kommt.“ „Sie mag viel Spaß machen“, sagte Mary langsam, „aber sie ist nicht ‐ unsere Art.“ „Leila sagte das zu mir“, sagte Barry zu ihr. „Ich verstehe nicht ganz, was ihr Mädchen meint.“ „Also, du würdest es nicht“, stimmte Mary zu, „Männer verstehen es nicht. Aber ich würde denken, wenn du Leila ansiehst, würdest den Unterschied erkennen. Leila ist wie eine kleine wilde Rose und Delilah Jeliffe ist eine ‐ Tulpe.“ „Ich mag Tulpen“, murmelte Harry dreist. Mary lachte. Was hatte es für einen Sinn? Barry war Barry. Und Delilah Jeliffe würde in sein Leben rein‐ und rausflitzen, wie andere Mädchen geflitzt waren, aber es würde für ihn immer Leila geben. „Wenn du eine Frau wärest“, sagte sie, „würdest du an ihrer Kleidung und dem Rosa ihrer Wangen und an der Art, wie sie sich frisiert erkennen ‐ dass sie einfach ein wenig zu viel von allem ist, Barry.“ „Da ist einfach genug von Delilah Jeliffe“, sagte Barry, „um einen Mann im Ungewissen zu lassen.“ 58
„Ungewissen was?“, fragte Mary mit einem Funkeln in ihren Augen. „Oh, einfach Ungewissen“, sagte er leichthin. „Ob sie dich mag?“ Barry nickte. „Aber warum solltest du es wissen wollen, Barry? Du bist nicht in sie verliebt.“ Seine blauen Augen tanzten. „Liebe hat nichts damit zu tun, kleine ernste Schwester, es ist nur im ‐ Spiel.“ Später hatten sie einen Streit darüber, Marys Mieter einzuladen. „Es scheint so ungastlich, ihn den Tag dort oben allein verbringen zu lassen.“ „Ich verstehe nicht, wie er womöglich erwarten könnte, mit uns zu essen“, sagte Barry wütend. „Du weißt nichts über ihn, Mary. Und ich stimme Porter zu ‐ die Bankauskunft eines Mannes ist nicht ausreichend für gesellschaftliche Anerkennung. Und wie dem auch sei, hat er vielleicht nicht die richte Art von Kleidung.“ „Wir sollen um drei Uhr essen“, sagte sie, „genau so wie Mutter es immer am Thanksgiving‐Tag hatte. Wenn du nicht willst, dass ich Roger Poole frage, werde ich es nicht. Aber ich denke, du bist ein fürchterlicher Snob, Barry.“ Seine Augen funkelten vor Zorn. „Was habe ich jetzt getan, um es zu verdienen?“, fragte ihr Bruder. „Du hast ihn nicht höflich behandelt“, sagte Mary. „In gewissem Sinn ist er ein Gast in unserem Haus und du bist nicht oben in seinen Zimmer gewesen, seit er kam ‐ und er ist ein Gentleman.“ „Wie weißt du das?“ „Weil ich es weiß.“ 59
„Doch unlängst hast du angedeutet, dass Delilah Jeliffe keine Dame sei, nicht in deinem Sinn des Wortes ‐ und ich konnte den Unterschied nicht sehen, weil ich ein Mann bin. Ich lasse dich deine Meinung von Delilah Jeliffe haben, wenn du mir meine über Roger Poole haben lässt.“ So schloss Mary einen Kompromiss, indem sie Roger für den Abend unten hatte. „Wir werden nur eine Familiengesellschaft zum Abendessen sein“, sagte sie. „Aber später werden wir einige andere am frühen Abend haben. Wir wollen, dass jeder vorbereitet kommt, um eine Geschichte zu erzählen oder ein Gedicht vorzutragen oder zu singen oder zu spielen ‐ zuerst in der Dunkelheit und dann bei den Kerzen.“ Sein Stolz drängte ihn abzulehnen ‐ das Angebot der Gastfreundschaft von dem Mädchen verächtlich zurückzuweisen, die einmal vergessen hatte, dass er in dem Haus war! Aber als sie dort auf der Türschwelle der Turmzimmer stand, schien ihn ihr Lächeln anzuziehen, ihre Stimme ihn zu rufen, und er war jung ‐ und verzweifelt einsam. Daher, als er sich sorgfältig am Thanksgiving‐Nachmittag anzog, hatte er ein heiteres Gefühl. Für eine Nacht würde er sich gehen lassen. Er würde er selbst sein. Niemand sollte ihn brüskieren. Brüskierung kam von Unsicherheit ‐ er, der über ihnen stand, muss sie nicht sehen. Als er schließlich den Salon betrat, war er nicht beleuchtet außer der flackernden Flamme eines Feuers aus Eichenholzscheiten. Den Gästen, die sich kranzförmig zwischen den Schatten versammelten, wurde jeweils eine nicht angezündete Kerze gegeben. Roger fand einen Platz in einem großen Stuhl neben dem Klavier und saß dort allein, interessiert und neugierig. Und bald machte Pittiwitz, die sich zur Feuerstelle stahl, unter seiner Hand einen Buckel und er fasste hinunter und hob sie auf seine Knie, wo sie sich 60
sphinxartig streckte, wobei ihre bernsteinfarbenen Augen in der Dämmerung leuchteten. Als der letzte Gast sich setzte, stand Barry vor ihnen und gab den Schüssel zu der Situation. „Jeder soll eine Kerze mit einem Kunststück anzünden“, erklärte er. „Ihr kennt die Idee. Ihr alle habt Salontricks und ihr sollt sie vorführen.“ Es gab keine unmittelbaren Freiwilligen, daher stürzte sich Barry auf Leila. „Du beginnst“, sagte er und zog sie in den Kreis des Feuerlichts. Sie sah sehr kindlich und süß aus, als sie dort mit ihrer nicht angezündeten Kerze stand und ein Schlaflied sang. Mary Ballard spielte leise ihre Begleitung, wobei sie so nahe bei Roger in seiner dunklen Ecke saß, dass die Falten ihres Samtkleids seinen Fuß streiften. Und als das Lied zu Ende war, führte Leila ein Streichholz zu ihrer Kerze und stellte sich auf Zehenspitzen, um sie auf die Ecke des Kaminsimses zu stellen, wo sie tapfer flimmerte. General Dick und Mr. Jeliffe kamen als Nächstes. Feierlich legten sie zwei Kissen auf den Kaminvorleger, feierlich knieten sie sich darauf, wobei sie einander ansahen. Dann spielten sie konzentriert und gewissenhaft das alte Spiel „Erbsenbrei heiß, Erbenbrei kalt“. Die dicken Hände des Generals trafen auf Mr. Jeliffes dünne abwechselnd und gleichzeitig. Nicht einen Fehler machten sie und als sie außer Atem fertig waren, fand der General es schwer aufzustehen, und er musste von Porter wie ein plumper Federpolster hochgehoben werden. Und nun waren die Kerzen drei! Dann tanzten Barry und Delilah einen Tanz, den sie zusammen geübt hatten. Er hatte nur eine Andeutung von Wildheit und nur eine Andeutung von Erfahrenheit, und Delilah in ihrem Kleid aus saphirblauem Chiffon, mit seinem auffallenden Kittel aus einem 61
silbernen Netz, schien in dem nebelartigen Licht wie ein seltsamer Vogel der Nacht. Und nun waren die Kerzen fünf! Als Nächstes ging Leila zum Klavier und Porter und Mary führten ein Menuett auf. Sie hatten es in der Tanzschule gelernt und es war Jahre her, seit sie es getanzt hatten. Aber sie machten es sehr gut; Porters etwas steife Haltung stimmte mit ihrer Vornehmheit überein, und Mary, die ihrem grünen Samtkleid eine kleine Juliakappe aus Spitze und einen Spitzenfächer hinzugefügt hatte, zeigte die strahlende, fast jungenhafte Schönheit, die Roger an dem Abend der Hochzeit verzaubert hatte. Sein Puls pochte, als er ihr zusah. Sie waren ein gut zusammen‐ passendes Paar, dieser junge Millionär und das hübsche Mädchen. Und wie ihre ordentlichen Schritte durch den Tanz gingen, so würde es ihr ordentliches Leben, wenn sie heirateten, bis zum Ende fortsetzen. Aber was könnte Porter Bigelow Mary Ballard von den Dingen, die die Sterne berühren, beibringen? Und nun waren die Kerzen sieben! Und der Geist des Karnevals war auf der Gesellschaft. Lied folgte um Lied und Geschichte um Geschichte – bis schließlich das Zimmer in einem goldenen Nebel zu schwimmen schien. Und durch diesen Nebel sah Mary Roger Poole! Er lehnte sich ein wenig nach vor und da war an ihm das Aussehen eines Mannes, der wartete. Sie sprach ungestüm. „Mr. Poole“, sagte sie, „bitte ‐“ Da war keine Spur von Unbeholfenheit, nicht ein Hinweis auf Befangenheit in seiner Art, als er ihr antwortete.
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„Darf ich hier sitzen?“, fragte er. „Sie sehen, meine Miezekatze hält mich fest, und da ich Ihnen über eine Katze erzähle, gibt sie den Hauch der heimatlichen Farbe.“ Und dann begann er, wobei seine rechte Hand auf Kopf der grauen Katze ruhte, seine linke auf seinem Knie. Er benutzte keine Geste, doch als er fortfuhr, wurde das Zimmer still mit der Stille eines gefesselten Publikums. Hier war keine stolpernde Rhetorik, sondern eine kontrollierte und perfekte Methode, unterstützt von einer Stimme, die hochstieg und sang und pochte und erregte – die Stimme entweder eines großen Redners oder eines großartigen Schauspielers. Die Geschichte, die er erzählte, war von Whittington und seiner Katze. Aber es war nicht der alte Kinderreim. Er trug sie vor, wie sie von einem jüngeren Dichter Englands geschrieben ist. Da es ihm an Zeit mangelte, umriss er das Thema, rundete es hier und dort mit einem Vers ab – und es schien Mary, dass, als er sprach, alle Glocken von London dröhnten! „,Flos Mercatorum’, stöhnte die Glocke von All Hallowes, ‚Da war er ein Waise, oh, ein kleiner Bursche allein!’ ‚Dann sangen wir alle’, hallte glücklich St. Saviour wider, ‚Riefen ihn und köderte ihn und machten ihn unser Eigen.’“
Und nun sahen sie den kleinen Burschen, wie er sich zur großen Stadt stahl, sahen all die Farbe und das Glühen, als er in seinem Entzücken eintrat, sahen seine Begegnung mit Alice im grünen Kleid, sahen ihn kalt und hungrig, matt und wundgelaufen, sahen ihn ohnmächtig werden auf einer Türstufe. „,Alice’, brüllte eine Stimme, und dann, oh wie ein lilienhafter Engel, Der von der erhellten Tür lehnt, ein hübsches Gesicht ohne Angst, Das sich über den Roten‐Rosenweg lehnt, oh, sich aus dem Paradies lehnt, Ermattete die plötzliche Herrlichkeit seiner Maid im grünen Kleid!“
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Inder er nun eine leichtere Note berührte, lachte seine Stimme durch die lieblichen Zeilen; von dem Schiff, das über die Welt hinaussegeln sollte; darüber, wie jeder Mann von solch kleinem Reichtum einsetzte, wie er besaß; „denn in jenen Tagen teilten Kaufmann‐Abenteurer mit ihren Lehrlingen die glückliche Gelegenheit jedes neuen Wagnisses.“ Aber Whittington hatte nichts zu geben. „Nicht einen Groschen“, sagt er zur süßen Alice. „Ich steckte meinen letzten Groschen auf eine Katze!“ „,Ja, aber wir brauchen eine Katze’, Sagte der Kapitän. Daher, als das gestrichene Schiff Durch einen goldenen Sonnenaufgang die Themse hinuntersegelte, Winkte ein grauer Schwanz auf dem nebeligen Heck, Und Whittington hatte seine Wagnisse auf den Meeren!“
Die klingenden Worte brachten stürmischen Beifall. Pittiwitz setzte sich erschrocken auf und blinzelte. Die Leute beugten sich zueinander und fragten: „Wer ist dieser Roger Poole?“ Leise sagte Barry jungenhaft: „Mensch!“ Er mochte sich noch immer über Marys Mieter wundern, er würde nie wieder auf ihn herabsehen. Und Delilah Jeliffe, die neben Barry saß, murmelte: „Ich habe diese Stimme vorher gehört – aber wo?“ Wieder dröhnten die Glocken, als die Geschichte weiterging zu dem Glück, das zu dem Lehrlingsburschen kam – der Preis für seine Katze in der Berberei wurde von einem König bezahlt, dessen Haus reich an Edelsteinen war, aber schlimm von Ratten und Mäusen geplagt war. Dann Whittingtons Angebot seines Reichtums an Alice, ihre Ablehnung und so – zum Ende. „,Ich weiß einen Weg’, sagte die Glocke von St. Martin’s. ‚Sag ihn und sei schnell’, lachten die Lehrlinge darunter! ‚Whittington soll sie heiraten, sie heiraten, sie heiraten! Geläut für eine Hochzeit’, sagte die große Glocke von Bow.“
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Roger hörte da auf und mit Pittiwitz in seinen Armen stand er auf, um seine Kerze anzuzünden. Um ihn herum sagten die Leute Dinge, aber ihre Worte schienen zu ihm durch eine schlagende Dunkelheit zu dringen. Da war nur ein Gesicht – Marys, und sie lehnte sich zu ihm oder über ihn? „Es ist wundervoll“, sagte sie. „Es ist ein großartiges Gedicht.“ „Ich meine das nicht – es ist die Art, wie Sie es vortrugen.“ Äußerlich ruhig trug er seine Kerze und stelle sie auf ihren Platz. Dann kam er zurück zu Mary – Mary mit den leuchten Augen. Das war seine Nacht! „Es gefiel Ihnen also?“ Für einen Augenblick sprach sie nicht, dann sagte sie wieder: „Es war wundervoll.“ Es waren nun andere Leute um sie herum und Roger begegnete ihnen mit der Leichtigkeit eines Mannes von Welt. Sogar Barry musste zugeben, dass seine Manieren tadellos waren, und seine Kleidung. Was sein Aussehen anging, er war nicht mit Marys rotbraunem Apollo zu vergleichen – man kann einen königlichen Hirschen und einen Löwen mit lohfarbener Mähne nicht vergleichen! Während des Rests des Programms saß Roger thronend an Marys Seite und hörte zu. Er beobachtete die Kerzen, eine zunehmende Reihe von spitzen Lichtern. Er ging hinunter zum Abendessen und saß wieder neben Mary – und wusste jetzt, was er aß. Er saß Porters heiße Augen auf ihn. Er wusste, dass er morgen seine Ehren abgeben und sein musste, wie er zuvor gewesen war. Jedoch „wer weiß, ob die Welt heute Nacht vielleicht zu Ende geht“, sagte er sich verzweifelt. So spielte er mit dem Schicksal und das Schicksal, das den Spieß umdrehte, brachte ihn endlich zu Delilah Jeliffe, als die Gäste „auf Wiedersehen“ sagten.
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„Irgendwo habe ich Ihre Stimme gehört“, sagte sie mit dem Aufschlag ihrer Wimpern. „Es ist nicht die Art, die man wahrscheinlich vergisst.“ „Doch haben Sie es vergessen“, parierte er. „Ich werde mich erinnern“, sagte sie. „Ich will mich erinnern – und ich werde sie wieder hören wollen.“ Er schüttelte seinen Kopf. „Es war mein – Schwanengesang ‐“ „Warum?“ Er zuckte die Achseln. „Man ist nicht immer in Laune ‐“ Und nun war sie es, die den Kopf schüttelte. „Es ist bei Ihnen keine Laune, es ist Ihr Leben.“ Sie hatte ihn dort, daher führte er die Unterhaltung leichthin zu einem anderen Thema. „Ich hatte nicht gedacht, Whittington vorzutragen, bis ich Pittiwitz sah.“ „Und Marys grünes Kleid?“ Wieder parierte er. „Es war dunkel. Ich konnte die Farbe ihres Kleides nicht sehen.“ „Aber ‚Liebe’ hat Augen.“ Die Worte waren leicht und sie meinte sie leicht. Und sie ging lachend davon. Aber Roger lachte nicht. Und als Mary kam, um nach ihm zu sehen, war er fort. Und oben, sein Abend des Glanzes entledigt, sagte er sich, dass er ein Narr gewesen war! Die Welt würde heute Nacht nicht Enden. Er musste die bestimmte Länge seiner Tage leben, all die trostlosen Jahre hindurch.
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Kapitel VI In dem Mary Weihnachten in die Turmzimmer bringt; und in dem Roger ein Privileg zurückweist, um das Porter bittet.
A
m Heiligen Abend brachten Mary und Susan Jenks Roger einen kleinen Baum hinauf. Es war nur ein Tannenzweig, aber er war fröhlich mit Lametta und würzig mit dem Wohlgeruch des Waldes, und obenauf war ein winziger Wachsengel. Vergebens hatten Mary und Barry und sogar Tante Isabelle Roger gedrängt, sich unten ihrer Lustbarkeit anzuschließen. Tante Frances, die ihre Reise ins Ausland bis Januar verschoben hatte, kam; und abgesehen von Leila und General Dick und Porter Bigelow sollte es eine strikte Familienangelegenheit sein. Aber Roger hatte abgelehnt. „Ich bin nicht einer von Ihnen“, hatte er zu Mary gesagt. „Ich bin eine Biene, kein Schmetterling, und ich hätte mich nicht am Thanksgiving‐Abend zu Ihnen gesellen dürfen. Wenn Sie alleine sind, wenn ich darf, werde ich hinunterkommen – aber bitte – nicht bei Ihren Gästen.“ Er hatte sich jedoch ihnen nicht oft hinzugesellt und er hatte nie wieder die Stimmung gezeigt, die ihn in Besitz genommen hatte, als seine Stimme sie damals bezaubert hatte. Von nun an begannen sie, als die Tage vergingen, ihn als einen ruhige, unabhängigen Mann kennenzulernen, dessen Augen hin und wieder brannten, wenn ein Thema angeschnitten wurde, das ihn bewegte, aber der zum größten Teil zumindest eine äußere Ruhe zeigte. Sie begannen ihn auch zu mögen und auf ihn zu vertrauen. Sogar Tante Isabelle ging um Rat zu ihm. Er hatte eine so aufmerksame Art, 67
und wenn er sprach, gab er seine Meinung mit einer Miene der tröstenden Autorität von sich. Aber immer mied er Porter Bigelow, er mied Leila und am meisten von allen mied er Delilah Jeliffe, obwohl diese beharrliche junge Person in die Turmzimmer eingedrungen wäre, wenn Mary sie nicht weggescheucht hätte. „Er ist sehr beschäftigt, Lilah“, sagte sie, „und wenn er es nicht ist, kommt er hier herunter.“ „Gehst du nie hinauf?“ Delilahs Ton war neugierig. „Nein“, sagte Mary. „Warum sollte ich?“ Delilah zuckte die Achseln. „Wenn ein Mann“, sagte sie, „mich so angesehen hätte, wie er dich am Thanksgiving‐Abend angesehen hat, wäre ich, gelinde gesagt – interessiert ‐“ Marys Kopf wurde hoch gehalten. „Ich mag Roger Poole“, sagte sie, „und er ist ein Gentleman. Aber ich denke nicht über den Blick in seinen Augen nach.“ Doch dachte sie trotzdem darüber nach, denn einen solchen Samen säte der Delilah‐Typ von Frau. Sie dachte an ihn, aber nur mit ein wenig Verwunderung – denn Mary war bis jetzt unschuldig – Porters leidenschaftliches Flehen, die Magie von Roger Pooles Stimme – dies hatte das Herz nicht berührt, das noch wartete. „Da Mohammed nicht zu dem Berg kommt“, bemerkte Mary zu ihrem Mieter, als Susan sich ihrer Last entledigte, „muss der Berg zu Mohammed kommen. Und hier ist ein Stück Mistelzweig für Ihre Tür, und eine Stechpalme für Ihr Fenster.“ Er nahm den Kranz von ihr. „Sie sind wie der Weihnachtsgeist in Ihrem grünen Kleid.“ „Das?“ Sie trug das grüne Samtkleid – mit einem tiefen Spitzenkragen. „Oh, ich habe das seit Ewigkeiten ‐“ Sie brach ab, um 68
wehmütig zu sagen: „Es scheint, als ob sie herunterkommen sollten – als ob sie hier oben einsam wären.“ Susan Jenks, die den Mistelzweig über die Tür hängte, war außer Hörweite. „Ich bin einsam“, sagte Roger, „aber jetzt mit meinem kleinen Baum werde ich alles, außer Ihrer Freundlichkeit, vergessen.“ „Lieben Sie Weihnachten nicht?“, fragte ihn Mary. „Es ist eine so freundliche Zeit, mit allen, die an alle anderen denken. Ich musste viel suchen, bevor ich den Wachsengel fand. Ich brauchte einen so kleinen – aber ich will immer einen auf meinem Baum. Als ich ein Kind war, erzählte mir Mutter, dass der Engel eine Friedensbotschaft und guten Willen zu unserem Haus bringt.“ „Wenn der kleine Engel mir Ihren guten Willen bringt, werde ich fühlen, dass er seine Mission erfüllt hat.“ „Oh, aber Sie haben ihn“, sagte sie fröhlich. „Wir sind alle so froh, dass Sie hier sind. Sogar Barry, und Barry hasste die Vorstellung zuerst, einen Mieter zu haben. Aber er mag Sie.“ „Und ich mag Barry“, sagte er. „Er ist die personifizierte Jugend.“ „Er ist ein Lieber“, stimmte sie zu. Dann kam ein Schatten in ihre Augen. „Aber er ist ein solcher Junge, und – und er ist verwöhnt. Jeder ist zu gut zu ihm. Mutter war es – und Vater, obwohl Vater versuchte, es nicht zu sein. Und Leila ist es, und Constance – und Tante Isabelle entschuldigt ihn, und sogar Susan Jenks.“ Susan Jenks, die alle Kränze aufgehängt hatte, war gegangen und war nicht dort, um diese Erwähnung ihrer Unzulänglichkeiten zu hören. „Ich verstehe – und Sie?“, lächelte er. Sie machte einen langen Atemzug. „Ich versuche große Schwester zu spielen – und manchmal habe ich Angst, dass ich mehr wie ein großer Bruder bin – ich habe die Geduld nicht.“ 69
Sein aufmerksames Gesicht lud zu weiterem Vertrauen ein. Es war das Gesicht eines Mannes, der vielen Vertrautheiten zugehört hatte, und instinktiv fühlte sie, dass anderen von ihm geholfen worden waren. „Sie verstehen, ich will, dass Barry die Zulassungsprüfung besteht. Alle Männer unserer Familie sind Anwälte gewesen. Aber Barry will nicht studieren und er hat eine Stelle im Patentamt angenommen. Er vergeudet die besten Jahre als Beamter.“ Dann erinnerte sie sich und bat: „Vergeben Sie mir ‐“ „Es gibt nichts zu vergeben“, sagte er. „Ich vermute, ich vergeude meine Jahre als Beamter im Finanzministerium – aber da ist dieser Unterschied, das Leben Ihres Bruders liegt vor ihm – meines liegt hinter mir. Seine Ambitionen sollen noch erfüllt werden. Ich habe keine – Ambitionen.“ „Sie meinen das nicht – Sie können es nicht meinen?“ „Warum nicht?“ „Weil Sie ein Mann sind! Oh, ich hätte der Mann unserer Familie sein sollen – und Barry und Constance hätten die Mädchen sein sollen.“ Ihre Augen funkelten. „Sie denken also, wie ich sie unlängst auf der Treppe sagen hörte, dass die Welt uns gehört; doch wir Männer lassen sie still stehen.“ Ihr Kopf fuhr hoch. „Ja. Vielleicht muss man kämpfen für das, was man kriegt. Aber ich sterbe lieber kämpfend als erstickt.“ Er lachte ein gutes jungenhaftes Lachen. „Weiß Barry, dass Sie so fühlen?“ „Ich befürchte“, sagte sie reuevoll, „dass ich es ihn fühlen lasse, manchmal. Und er weiß nicht, dass es so ist, weil ich mir so viele Sorgen mache. Das ist, weil ich will, dass er wie – Vater ist.“ 70
Er lächelte in ihre nebeligen Augen. „Vielleicht, wenn Sie nicht so streitbar wären – in Ihren Methoden ‐“ „Oh, das ist das Problem mit Barry. Jeder ist zu gut zu ihm. Und wenn ich versuche, dem entgegenzuwirken, sagt Barry, dass ich nörgle. Aber er versteht nicht.“ Ihre Stimme brach, und durch eine feinsinnige Ahnung war er sich bewusst, dass ihre Bürde schwerer war, als sie gewillt war zuzugeben. Sie stand auf und streckte ihre Hand entgegen. „Vielen Dank – dass Sie mich mit Ihnen haben reden lassen.“ Er nahm ihre Hand und stand und blickte auf sie herab. „Werden Sie sich daran immer erinnern – wenn Sie etwas ausreden müssen – dass das Turmzimmer – wartet?“ Und nun waren Schritte, die auf der Treppe tanzten, und Barry wirbelte mit der kleinen hübschen Leila herein. „Mary“, sagte er, „wir sind bereit, den Baum anzuzünden und Tante Frances hat Anfälle, weil du nicht unten bist. Du weißt, sie hat immer Anfälle, wenn Dinge verzögert werden. Poole, Sie sind ein selbstsüchtiger Einsiedler, um hier mit einem eigenen Baum oben zu bleiben.“ Roger, der vorwärtsgeschritten war, um mit Leila zu sprechen, schüttelte seinen Kopf. „Ich verdiene nicht, eingeladen zu werden. Und ihr seid alle zu gut zu mir.“ „Oh, sind wir aber nicht“, sprach Leila auf ihre hübsche kindliche Art; „wir hätten Sie sehr gerne unten. Jeder ist einfach verrückt nach Ihnen, Mr. Poole.“ Sie schrien dabei. „Leila“, fragte Barry, „bist du nach ihm verrückt? Sage es mir jetzt und überwinde die Qual.“ 71
Leila, die sich auf ihren rosaroten Schuhspitzen neigte, krähte fast vor Entzücken bei dieser Frotzelei. „Ich sagte alle ‐“ Barry kam näher, wo sie in der Tür stand. „Leila Dick“, verkündete er, „du bist unter dem Mistelzweig und du kannst nicht entkommen, und ich werde dich küssen. Es ist mein uraltes und Erbrecht – nicht wahr, Poole? Es ist mein uraltes und Erbrecht“, wiederholte er und nun beugte er sich über sie. „Barry“, protestierte Mary, „benimm dich.“ Aber es war Leila, die ihn aufhielt. Ihre kleinen Hände hielten ihn ab, ihr Gesicht war weiß. „Barry“, flüsterte sie. „Barry – bitte ‐“ Er ließ seine Hände sinken. „Du verflixtes Baby“, sagte er, sein Lachen war fort. „Du bist wie eine kleine süße Heilige in einem Altarschrein!“ Dann mit einem weiteren plötzlichen Stimmungswechsel wirbelte er mit ihr davon, so schnell wie er gekommen war, und Mary, die folgte, blieb auf der Türschwelle stehen, um zu Roger zu sagen: „Wir werden morgen alle fort sein. Wir essen bei General Dick zu Abend. Aber ich gehe am Morgen zur Kirche – den Sechs‐Uhr‐ Gottesdienst. Es ist hübsch bei dem Schnee und den Sternen. Es werden nur Barry und ich sein. Wollen Sie nicht mitkommen?“ Er zögerte. Dann: „Nein“, sagte er, „nein“, und dass sie ihn nicht für undankbar hielt, fügte er hinzu: „Ich gehe nie in die Kirche.“ Sie kam zurück zu ihm und stand beim Feuer. „Glauben Sie nicht daran?“ Sie war eindeutig um ihn besorgt. „Glauben Sie nicht an die Engel und die Hirten und die Heiligen drei Könige und das Kind in der Grippe.“ „Nein“, sagte er lustlos, „ich glaube es nicht.“ 72
„Oh“, es war fast ein Schrei, „was bedeutet dann Weihnachten für Sie? Was kann es jemandem bedeuten, der nicht an das Kind und an den Stern im Osten glaubt?“ „Es bedeutet dies, Mary Ballard“, sagte er impulsiv, „dass aus meinem ganzen Unglauben – ich an Sie glaube – an Ihre Freundlichkeit. Und das ist mein Stern, der gerade jetzt in der Dunkelheit leuchtet.“ Sie wäre weniger als eine Frau gewesen, wäre sie nicht durch eine solche Anerkennung erregt. Daher errötete sie schüchtern. „Ich bin froh“, sagte sie und lächelte zu ihm hoch. Aber als sie nach unten ging, verblasste das Lächeln. Es war, als ob der Schatten des Turmzimmers auf ihr war. Als ob die Einsamkeit und Traurigkeit von Roger Poole ihre geworden wären. Als ob seine Bürde ihren anderen Bürden hinzugefügt worden wäre. Tante Frances, königlicher als je in ihrem Gold‐ und Amethystbrokat, führte den Vorsitz über die berghohen Haufen weißer Schachteln, hinter denen der nicht angezündete Baum seine Äste ausbreitete. „Mein Kind“, sagte sie tadelnd, als Mary eintrat, „ich frage mich, ob du je für irgendetwas pünktlich bist.“ Und Porter flüsterte in Marys Ohr, als er sie zum Klavier führte: „Ist das eine fröhliche Weihnacht oder eine Contrary‐Mary‐Weihnacht? Du siehst aus, als ob du das Gewicht der Welt auf deinen Schultern trägst.“ Sie schüttelte ihren Kopf. Tränen waren der Oberfläche sehr nah. Er sah sie und war eifersüchtig unglücklich. Was hatte sie von den Turmzimmern in diese Stimmung gebracht? Und nun drehte Barry die Lichter aus und in der Dunkelheit schlug Mary die ersten Akkorde an und begann zu singen: „Stille Nacht ‐“
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Als ihre Stimme durch die Stille klang, leuchteten kleine Sterne auf dem Baum, bis alles in leuchtender Herrlichkeit war. Oben hörte Roger Mary singen. Er ging zu seinem Fenster und zog die Vorhänge zurück. Draußen war die Welt in Schnee eingehüllt. Die Lichter von den unteren Fenstern schienen auf den Springbrunnen und zeigten den kleinen Bronzejungen in einem umwickelnden Laken aus Weiß. Aber es war nicht der kleine Bronzejunge, den Roger Poole sah. Es war ein anderer Junge – er selbst – der in einer halbdunklen Kirche in einer Großstadt sang, und seine Seele war in den Worten. Und als er sich hinkniete, um zu beten, schien es ihm, dass die ganze Welt betete. Er war in Ehrerbietung gebadet. In seiner jungenhaften Seele gab es keine Andeutung auf Unglauben – keinen Zweifel an das göttliche Mysterium. Er sah sich wieder in der Kirche. Und nun war er es, der zu den Leuten von den Hirten und dem Stern sprach. Und er wusste, dass er sie dazu brachte zu glauben. dass er ihnen die Zuversicht brachte, die seine eigene Seele in Besitz nahm – und wieder waren Kerzen auf dem Altar, und wieder sang er, und die Chorknaben sangen, und das Lied war das eine, das Mary Ballard sang – Er sah sich wieder in einer Kirche. Aber dieses Mal gab es keinen Gesang. Es gab keine Kerzen, kein Licht außer solchem, das schwach durch die Bleiglasscheiben drang. Er war allein im Halbdunkel und er stand auf der Kanzel und blickte auf die leeren Kirchenbänke. Dann ging das Licht hinter den Fenstern aus und er kniete in der Dunkelheit; aber nicht, um zu beten. Sein Kopf war in seinen Armen verborgen. Seit damals hatte er niemals eine Träne vergossen, und er war niemals zur Kirche gegangen. Auf Marys Lied folgten Weihnachtslieder, in die die anderen Stimmen mit einfielen – Porters und Barrys und Leilas; General Dicks 74
gehauchter Tenor, Tante Isabelles zitternde Stimme, Tante Frances dominanter Ton – mit Susan Jenks und dem farbigen Dienstmädchen, das ihr bei solchen Anlässen half, die den Mund wie zwei wohlklingende Amseln in der Halle aufmachten. Dann spielte General Dick den Weihnachtsmann, indem er die Pakete mit gelungenen kleinen Ansprachen übergab. Constance hatte einen großen Karton aus London geschickt. Da war Flitter von Grace Clendenning in Paris, während Tante Frances offensichtlich die Fifth Avenue überfallen und ihre Schätze fortgeschafft hatte. „Es sieht wie ein französisches Geschäft aus“, sagte Leila, glücklich in ihren eigenen Geschenken von Handschuhen und Seidenstrümpfen und Schuhschnallen und Perlen und die krönende Glückseligkeit eines kleinen Perlenherzens von Barry. Porters Geschenk an Mary war ein reizender Ring mit Diamanten im Rosettenschliff und Smaragden. Tante Frances, die herumschwebte, rief bei seiner Schönheit aus: „Ist es eine echte Antiquität?“ Er gab zu, dass es so war, aber gab keine weitere Erklärung. Später jedoch erzählte er Mary: „Es war von meiner Großmutter. Sie gehörte zu einer alten französischen Familie. Mein Großvater lernte sie kennen, als er im diplomatischen Dienst war. Er war Ire und von ihm habe ich mein Haar.“ „Es ist ein hübsches Ding. Aber – Porter – es darf mich an nichts binden. Ich will frei sein.“ „Du bist frei. Erinnerst du dich, als du ein Kind warst und ich dir einen Penny‐Ring aus meinem Popcorn‐Beutel gab? Du dachtest nicht, dass dich der Ring an etwas bände, nicht wahr? Also, das ist nur ein anderes Penny‐Preispaket.“ 75
Also trug sie ihn an ihrer Hand und als er „Gute Nacht“, sagte, hob er die Hand und küsste sie. „Mein liebes Mädchen, mögen dies die fröhlichsten Weihnachten je sein!“ Und nun flossen die Tränen über. Sie waren alleine in der unteren Halle und dort war niemand, der es sah. „Oh, Porter“, jammerte sie, „ich vermisse Constance schrecklich – es ist nicht Weihnachten – ohne sie. Es kam ganz plötzlich über mich – als ich versuchte zu denken, dass ich glücklich bin.“ „Arme kleine Contrary Mary – wenn du mich nur für dich sorgen ließest.“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Ich wollte nicht – albern sein, Porter.“ „Du bist nicht albern.“ Dann nach einem Schweigen: „Wirst du morgen zum Frühgottesdienst gehen?“ „Ja.“ „Darf ich mitgehen?“ „Natürlich. Barry geht auch.“ „Du meinst, dass du mich nicht mit dir alleine gehen lässt.“ „Ich meine nichts dieser Art. Barry geht immer. Er tat es früher, um Mutter eine Freude zu machen, und nun tut er es – als Erinnerung.“ „Ich bin so eifersüchtig auf meine Augenblicke alleine mit dir. Warum kann Leila heute Nacht nicht bei dir bleiben, dann werden vier von uns sein, und ich kann dich für mich haben. Ich kann den Wagen bringen, wenn es dir lieber ist.“ „Nein, ich gehe gerne zu Fuß. Es ist so hübsch und feierlich.“ „Frage ja Leila.“ 76
Sie versprach es und er ging davon, da er bei einer Tanzveranstaltung vorbeischauen musste, die eine der Freundinnen seiner Mutter abhielt; und Mary, die zurückkehrte, um sich den anderen anzuschließen, dachte ein wenig wehmütig über die Tatsache nach, dass Porter Bigelow auf ein Privileg so begierig sein sollte, das Roger Poole gerade abgelehnt hatte.
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Kapitel VII In dem Tante Frances von Ehe als eine feste Institution spricht und von lodernden Argumenten getroffen wird; und in dem eine merkwürdige Stimme auf der Treppe singt
T
ante Frances blieb bis nach dem Neuen Jahr. Aber bevor sie ging, horchte sie Tante Isabelle aus. „Hat Mary etwas zu dir über Porter Bigelow gesagt?“
„Über Porter?“ „Ja“, sagte sie ungeduldig, „darüber, ihn zu heiraten. Jeder kann sehen, dass er schrecklich in sie verliebt ist, Isabelle.“ „Ich denke nicht, dass Mary irgendjemanden heiraten will. Sie ist ein unabhängiges kleines Geschöpf. Sie hätte der Junge sein sollen, Frances.“ „Ich wünsche beim Himmel, sie wäre es“, Tante Frances’ Ton war fieberhaft. „Ich kann keine Zukunft für Barry sehen, wenn er nicht Leila heiratet. Wenn er nicht so verantwortungslos wäre, könnte ich etwas für ihn tun. Aber Barry ist ein solches Trugbild.“ Tante Isabelle fuhr mit ihrer Flickarbeit fort und Tante Frances stürzte sich wieder auf sie. „Und es ist nicht nur, dass er unverantwortlich ist. Er ist – Bemerktest du es am Weihnachtstag, Isabelle – dass nach dem Essen er nicht er selbst war?“ Tante Isabelle hatte es bemerkt. Und es war nicht das erste Mal. Ihre schnellen Augen hatten Dinge gesehen, die Mary für verborgen 78
gehalten hatte. Sie hatte nicht Ohren gebraucht, um das Geheimnis zu erkennen, das vor ihr in diesem Haus verheimlicht wurde. Doch ihr Sinn für Loyalität versiegelte ihre Lippen. Sie würde Frances nichts erzählen. Es waren liebe Kinder. „Er ist nur ein Junge, Frances“, sagte sie abwehrend, „und es tut mir leid, dass General Dick ihm die Versuchung in den Weg legte.“ „Gib dem General nicht die Schuld. Wenn Barry schwach ist, kann ihn niemand stark machen, außer er selbst. Ich wünsche, er hätte etwas von Porter Bigelows Beständigkeit. Mary will Porter nicht ansehen und er ist sehr verliebt in sie.“ „Vielleicht wird sie es mit der Zeit.“ „Mary ist wie ihr Vater“, sagte Tante Frances knapp. „John Ballard hätte reich sein können, als er starb, wenn er nicht ein solcher Träumer gewesen wäre. Mary nennt sich praktisch – aber ihr Kopf ist voller Mondschein.“ Tante Frances brachte diese Anklage mit einer unangenehmen Erinnerung an eine Unterhaltung mit Mary am Tag zuvor hervor. Sie waren einkaufen gewesen und hatten zusammen in einer beliebten Teestube zu Mittag gegessen. Es war, während sie in ihrer abgeschiedenen Ecke saßen, dass Tante Frances auf einem Umweg das Thema, das sie quälte, anschnitt. „Ich bin froh, dass Constance so glücklich ist, Mary.“ „Sie sollte es sein“, erwiderte Mary; „es sind ihre Flitterwochen.“ „Wenn du ihrem Beispiel folgen und Porter Bigelow heiraten würdest, wäre ich beruhigt.“ „Aber ich will Porter nicht heiraten, Tante Frances. Ich will niemanden heiraten.“
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Tante Frances hob ihre goldene Lorgnette. „Wenn du nicht heiratest“, fragte sie, „wie gedenkst du zu leben?“ „Ich verstehe nicht.“ „Ich meine, wer wird deine Rechnungen für den Rest deines Lebens bezahlen? Barry verdient nicht genug Geld, um dich zu unterstützen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du gerne von Gordon Richardson abhängig sein möchtest. Und das Haus verliert schnell seinen Weg. Die Nachbarschaft ist nicht, was sie war, als dein Vater es kaufte, und du kannst keine Zimmer vermieten, wenn niemand herauskommen will, um zu wohnen. Und was dann? Es ist der Platz einer Frau zu heiraten, wenn sie einem Mann begegnet, der für sie sorgen kann – und du wirst finden, dass du Porter Bigelows nicht von jedem Busch pflücken kannst – nicht in Washington.“ So sprach Weltliche Weisheit und nahm sich kein Blatt vor den Mund, und zurück kam Jugend und Romantik leidenschaftlich. „Tante Frances, eine Frau hat kein Recht zu heiraten, nur weil sie denkt, es ist ihre beste Chance. Sie hat kein Recht, einen Mann fühlen zu lassen, dass er sie gewonnen hat, wenn sie nur klein und gemein und geldgierig ist.“ „Das klingt in Ordnung“, sagte die entrüstete Dame gegenüber, „aber wie ich vorher sagte, wenn du nicht heiratest – was wirst du tun?“ Mit dieser kalten Frage konfrontiert begegnete Mary ihr trotzig. „Wenn das Schlimmste kommt, kann ich arbeiten. Andere Frauen arbeiten.“ „Du hast nicht die Ausbildung oder die Erfahrung“, sagte ihr Tante Frances kalt; „sei nicht albern, Mary. Du könntest deine Schuhbänder nicht verdienen.“
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Und nachdem sie alles gesagt hatten, was es zu sagen gaben, aßen die beiden ihren Salat mit vermindertem Appetit und fuhren in steifem Schweigen in einem Taxi nach Hause. Tante Frances’ Gedanken wanderten zurück zu Tante Isabelle und orteten sie als Sündenbock. „Sie ist wie du, Isabelle“, sagte sie, „nur mit dem Unterschied zwischen den Idealen von vor zwanzig Jahren und heute. Keine von euch hat eine Ahnung von der Welt als einen wirklichen Platz – ihr macht Romantik zur Regel eures Lebens – und ich möchte wissen, was du davon hast, oder was sie haben wird.“ „Ich habe keine Angst um Mary.“ Es war ein trotziger Ton in Tante Isabelles Stimme, der Tante Frances erstaunte. „Sie wird die Dinge in Ordnung bringen. Sie hat, was ich nie hatte, Frances. Sie hat Stärke und Mut.“ Es war diese Unterhaltung mit Tante Frances, die Mary in den Wochen, die folgten, veranlassten, sich stundenlang über einen gelben Block zu beugen, auf dem sie seltsame Hieroglyphen machte. Und es war durch diese Hieroglyphen, dass sie in eine neue Phase ihrer Freundschaft mit Roger Poole eintrat. Er war eines Morgens zur Arbeit gegangen, verhärmt nach einer schlaflosen Nacht. Als er sich dem Finanzministerium näherte, schien das Gebäude vor ihm wie ein Gefängnis drohend sichtbar zu werden. Was nach allem waren diese Tausende, die sich jeden Morgen auf den Weg zu dem großen Bienenstock von Onkel Sam begaben, außer Sklaven, die an eine Beschäftigung gekettet waren, die abtötend war? Er schleuderte die Frage später der kleinen Stenotypistin entgegen, die neben ihm saß. „Miss Terry“, fragte er, „wie lange sind sie schon hier?“ 81
Sie blickte strahlend zu ihm hoch. Sie war klein und dünn, mit etwas Grau in ihrem Haar. Aber sie war gut gepflegt und nett gekleidet in ihrer männischen Seidenhemdbluse und ihrem grauen geschneiderten Rock. „Zwanzig Jahre“, sagte sie und tat ein Gummiband um ihr Notizheft. „Und immer an diesem Schreibtisch?“ „Oh du meine Güte, nein. Ich fing mit neunhundert an, und nun bekomme ich zwölfhundert.“ „Aber immer in diesem Zimmer?“ Sie nickte. „Ja. Und es ist sehr nett. Die meisten Leute sind so lange wie ich hier, und einige von ihnen etwas länger. Da ist Major Orr zum Beispiel, er ist seit kurz nach dem Krieg hier.“ „Fühlen Sie sich jemals, ob sie eine Strafe abbüßen?“ Sie lachte. Sie war nicht durch eine lebhafte Vorstellungskraft beunruhigt. „Es ist wirklich nicht schlecht für eine Frau. Es gibt nicht viele Stellen mit so kurzen Stunden und so guter Bezahlung.“ Für eine Frau? Aber für einen Mann? Er drehte sich zurück zu seinem Schreibtisch. Was würde er nach zwanzig Jahren sein? Er wachte jeden Morgen mit der Tagesroutine vor ihm auf – wissend, dass nicht einmal in acht Stunden es eine Frage nach seiner Denkweise geben würde, nicht einmal würde es den Nervenkitzel von echter Erfüllung geben. Zu Mittag, als er Miss Terry Vogelfutter auf das breite Fensterbrett für die Spatzen streuen sah, verglich er es mit der Abwechslung eines Gefangenen in seiner Zelle. Und wenn er zu Mittag mit einer Gruppe Kollegen in einem billigen Restaurant gegenüber aß, fragte er sich, wenn sie zurückgingen, warum ihnen der Gleichschritt erspart blieb. In dieser Stimmung verließ er um halb fünf das Büro, und als er an dem Platz, wo er gewöhnlich billig aß, vorbeiging, betrat er ein 82
luxuriöses Hotel im oberen Stadtteil. Dort las er die Zeitungen bis halb sieben; dann aß er in einer Grillstube zu Abend, was ungezwungene Kleidung erlaubte. Als er später herauskam, traf er Barry, der hereinkam, Arm in Arm mit zwei strahlenden jungen Männern seiner Art und Klasse. Musketiere der Moderne, sie fanden ihre Abenteuer auf den Straßen der Stadt, in Cafés und Kabaretts, statt auf dem Feld und im Wald und auf dem Schlachtfeld. Barry, mit einer Blume in seinem Knopfloch, begrüßte Roger laut. „Hier ist Whittington“, sagte er. „Ihr solltet sein Gedicht hören, Kameraden, über eine kleine Katze. Er hatte uns unlängst am Abend alle hypnotisiert.“ Roger blickte ihn scharf an. Seine übertriebene Art, die Lockerheit seiner Formulierung, das Rot auf seinen Wangen waren ein merkwürdiger Kontrast zu seiner üblichen offenen, sauberen Jungenhaftigkeit. „Kommen Sie schon, Poole“, drängte Barry, „wir fahren in Jerrys Wagen hinaus zum Country Club, und Sie können es uns dort draußen vortragen – über Whittington und die kleine Katze.“ Roger lehnte ab und Barry war schnell beleidigt. „Oh, gut, wenn Sie nicht wollen, müssen Sie nicht“, sagte er; „vier sind eine Menge, jedenfalls – kommt schon, Kameraden.“ Roger, vage beunruhigt, beobachtete ihn, bis er in der Menge verloren war, dann seufzte er und wandte seine Schritte heimwärts. Als Roger zu seinem Turm hinaufstieg, schien das Haus merkwürdig still zu sein. Pittiwitz schlief neben dem Topf mit den rosaroten Hyazinthen. Sie setzte sich auf, gähnte und hieß ihn mit einem kleinen einschmeichelnden Ton willkommen. Als er sich in seinem großen Stuhl niedergelassen hatte, kam sie und kuschelte sich in den Winkel seines Arms und schlief wieder ein. 83
Vertieft in seinem Lesen wurde er eine Stunde später durch ein Klopfen an der Tür aufgejagt. Er öffnete sie, um Mary auf der Türschwelle vorzufinden. „Darf ich hereinkommen?“, fragte sie und sie schien atemlos. „Es ist Susans freier Abend und Tante Isabelle ist mit einigen alten Freundinnen in der Oper. Barry sollte hier bei mir sein, aber er ist nicht gekommen. Und ich saß im Speisezimmer – und wartete“, sie zitterte, „bis ich es nicht mehr ertragen konnte.“ Sie versuchte zu lachen, aber er sah, dass sie sehr blass war. „Bitte denken Sie nicht, dass ich ein Feigling bin“, bettelte sie. „Ich bin das nie gewesen. Aber ich schien plötzlich eine Art nervöse Panik zu haben, und ich dachte, dass sie vielleicht nichts dagegen hätten, wenn ich bei Ihnen sitze – bis Barry kommt ‐“ „Ich bin froh, dass er nicht gekommen ist, wenn es mir einen Abend mit Ihnen gibt.“ Er zog einen Stuhl zum Feuer. Sie hatten von vielen Dingen geredet, als sie plötzlich fragte: „Mr. Poole, ich frage mich, ob Sie mir etwas über die Prüfungen für Stenotypistinnen im Ministerien sagen können – sind sie sehr streng?“ „Nicht sehr. Natürlich verlangen sie Geschwindigkeit und Genauigkeit.“ Sie seufzte. „Ich bin genau genug, aber ich frage mich, ob ich Geschwindigkeit erlangen kann.“ Er starrte. „Sie ‐?“ Sie nickte. „Ich habe es niemandem gegenüber erwähnt. Die Familie von einem ist manchmal so hinderlich – sie würden alle Einwände erheben – außer Tante Isabelle, aber ich will auf Arbeit vorbereitet sein, falls ich je meinen Lebensunterhalt verdienen muss.“
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„Mögen Sie es nie brauchen“, sagte er inbrünstig, wobei Visionen von der kleinen Miss Terry und ihrer maschinell gefertigten Persönlichkeit erhoben. Was hatte dieses Mädchen mit dem blonden Haar und den leuchtenden Augen mit dem leeren Leben zwischen Bürowänden zu tun? „Mögen Sie es nie brauchen“, wiederholte er. „Der Platz einer Frau ist in dem Heim – es ist der Platz eines Mannes, gegen die Welt zu kämpfen.“ „Aber wenn da kein Mann ist, um die Schlachten einer Frau zu schlagen?“ „Es wird immer einen geben, der Ihre schlägt.“ „Sie meinen, dass ich – heiraten kann? Aber was, wenn ich keinen Wert darauf lege zu heiraten, bloß um versorgt zu sein?“ „Da würden natürlich die anderen Dinge sein“, sagte er ernst. „Was, zum Beispiel?“ „Liebe.“ „Sie meinen die ‚Ehre‐und‐gehorche‐Sache’? Aber ich will das nicht, wenn ich heirate. Ich will einen Mann, der zu mir sagt: ‚Komm schlagen wir zusammen die Schlacht. Wenn es eine Niederlage ist, werden wir zusammen untergehen. Wenn es ein Sieg ist, werden wir gewinnen.’“ Dies war für ihn eine merkwürdige Sprache, doch war etwas daran, was ihn begeisterte. Doch beharrte er dogmatisch: „Es gibt genug Männer auf der Welt, um für Frauen zu sorgen, und die Frauen sollten sie lassen.“ „Nein, sollten sie nicht. Angenommen, ich würde nicht heiraten. Muss ich Barry für mich sorgen lassen, oder Constance – und so weitermachen wie Tante Isabelle, das Brot der Abhängigkeit essen?“ 85
„Aber Sie? Na, man muss Sie nur ansehen, um zu wissen, dass es ein glückliches Leben miteinander bis ans Ende Ihrer Romanze sein wird.“ „Das ist, was sie bei Tante Isabelle dachten. Aber sie verlor ihren Liebsten und sie konnte nicht wieder lieben. Und wenn sie eine interessante Beschäftigung gehabt hätte, wäre ihr so viel Demütigung, so viel Herzeleid erspart geblieben.“ Sie erzählte ihm die Geschichte mit ihrem berührenden Pathos. „Und denken Sie“, endete sie, „gleich hier in unserem Garten bei dem Brunnen sah sie ihn zum letzten Mal.“ Abgekühlt durch den geisterhaften Atem der toten Romanze saßen sie für eine Weile schweigend, dann sagte Mary: „Also, darum versuche ich, etwas zu lernen – das wird einen gewinnenden Wert haben. Ich kann singen und ein wenig spielen, aber nicht genug, um Geld zu verdienen.“ Sie seufzte und er machte sich daran, ihr zu helfen. „Die schnellste Art“, sagte er, „Geschwindigkeit zu erlangen, ist jemanden zu haben, der Ihnen vorliest.“ „Tante Isabelle tut es manchmal, aber es ermüdet sie.“ „Lassen Sie es mich tun. Ich würde nie ermüden.“ „Oh, würde es Ihnen nichts ausmachen? Könnten wir jetzt ein wenig üben?“ Und so begann es – die Freundschaft, in der er ihr diente und das Dienen liebte. Er las langsam, wobei er gerne, wenn er seine Augen hob, die schlanke weiße Gestalt auf dem großen Stuhl sah, das Feuerlicht auf dem vertieften Gesicht. So glitt die Zeit dahin, bis mit einem Schrecken Mary aufblickte. „Ich verstehe nicht, was Barry aufhält.“ 86
Dann erzählte ihr Roger, was er ihr ungern erzählten wollte. „Ich sah ihn in der Stadt. Ich denke, er war unterwegs zum Country Club. Er hatte mit einigen Freunden zu Abend gegessen.“ „Männliche Freunde?“ „Ja. Er nannte einen von ihnen Jerry.“ Er sah die Farbe in ihr Gesicht steigen. „Ich hasse Jerry Tuckerman, und Barry versprach Constance, er würde diese Jungen zufrieden lassen.“ Ihre Stimme hatte einen scharfen Ton darin, aber er sah, dass sie mit einer packenden Furcht kämpfte. Dies also war die Bürde, die sie trug? Und was für ein tapferes kleines Ding sie war, der Welt mit erhobenem Haupt entgegen‐ zutreten. „Möchten Sie, dass ich den Country Club anrufe – Ich könnte vielleicht Ihren Bruder an die Leitung bekommen.“ „Oh; wenn Sie es würden.“ Aber ihm wurde die Mühe erspart. Denn während sie von ihm sprachen, kam Barry und Mary ging hinunter zu ihm. Ein wenig später waren stolpernde Schritte auf der Treppe und eine Stimme sang – ein merkwürdiges Lied, in dem jede Strophe mit einem Schrei endete. Roger, der hinaus auf den dunklen oberen Flur trat, blickte hinunter über das Geländer. Mary, eine schlanke, schwindende Gestalt, kam mit ihrem Bruder die untere Treppenflucht hinauf. Barry hatte seinen Arm um sie, aber ihr Gesicht war von ihm abgewandt und ihr Kopf gesenkt. Dann, wobei er noch immer hinunterschaute, sah Roger sie diese stolpernden Schritte zu der Türschwelle des Zimmers des Jungen führen. Die Tür öffnete und schloss sich, und sie war allein, aber von 87
dort drinnen kamen noch immer die schreienden Worte dieses merkwürdigen Lieds. Mary stand für einen Augenblick mit ihren Händen in die Seiten gestemmt auf, dann drehte sie sich um und legte ihr Gesicht gegen die geschlossene Tür, ihre Augen von ihrem erhobenen Arm verborgen.
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Kapitel VIII In dem Klein‐Hübsch‐Leila ein Bild an einem unerwarteten Platz sieht; und in dem Vollkommener Glaube triumphierend über das Telefon spricht.
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as auch immer Delilah Jeliffe mangelte, es war nicht Originalität. Die Wohnung, die sie für ihren Winter in Washington wählte, war wie andere Wohnungen, wenn sie hineinging, aber die Veränderungen, die sie machte – die Dinge, die sie hinzufügte und die Dinge, die sie wegnahm, stempelten sie sofort mit ihrer eigenen Individualität. Der Pfauenwandschirm vor dem Kamin, die Kissen von Saphir und Smaragd und altem Gold auf der Couch, vom Kaminsims jeder Ziergegenstand leergefegt, außer einem siebenarmigen Kerzenleuchter; das schuf den ersten Eindruck. Dann ging das Auge zu einem antiken Tisch, auf dem eine Kristallkugel, getragen von drei Bronzeaffen, das Glühen des Feuerlichts und Kerzenlichts und die satten Farben in sich zu sammeln schien. Am anderen Ende des Tisches war eine tiefe Schüssel, immer mit kleinen safranfarbenen Rosen gefüllt. In diesem Zimmer saß eines Morgens spät in der Fastenzeit Leila Dick und sah so fehl am Platz aus, wie ein englisches Gänseblümchen in einem tropischen Dschungel. Leila mochte die zugezogenen Vorhänge und das Halbdunkel nicht. Draußen schien die Sonne herrlich und der Himmel hatte ein tiefes und hübsches Blau. Sie war froh, als Lilah sie kommen ließ. 89
„Sie sollen gleich in ihr Zimmer kommen“, verkündete das Dienstmädchen. „Himmel, Kind“, sagte die Delilah‐Schönheit, die ihr Haar kämmte, „ich versprach nicht, mit den Vögeln auf zu sein.“ „Die Vögel waren vor langem auf.“ Leila setzte sich auf ein altes englisches Zweiersofa. „Wir sollen zu Mittag essen, bevor wir nach Fort Myer fahren, und es ist jetzt fast eins.“ Lilah gähnte: „Wirklich?“ und fuhr fort, ihr Haar mit der Miene einer, die Stunden vor sich hat, zu kämmen. Sie trug ein flamingorotes Seidennegligee, das zu ihrer Umgebung passte, denn dieses Zimmer war flammend, wie die anderen dezent waren. Doch die Wirkung war nicht die einer derben Farbe; es war eher die einer Farbe, die absichtlich intensiviert wurde, um einen Kontrast hervorzurufen. Delilahs Schlafzimmer war Mittag unter einer glühendheißen Sonne, das Wohnzimmer war Mitternacht unter den Sternen. Mit ihrem schwarzen Haar endlich zu einem wundervollen Knoten gedreht, begutachtete Delilah ihr Gesicht nachdenklich im Spiegel, und als sie beschlossen hatte, dass sie keine weitere Hilfe aus dem kleinen Tiegel auf dem Frisiertisch brauchte, wandte sie sich ihrer Freundin zu. „Was soll ich anziehen, Leila?“ „Wenn ich es dir sagte“, war die ruhige Antwort, „würdest du es nicht tragen.“ Delilah lachte. „Nein, würde ich nicht. Ich muss mir einfache solche Dinge selbst ausdenken. Aber ich meine, was für eine Art von Kleidung – in Schale oder Autosachen?“ „Porter wird uns in seinem Wagen ausführen. Du wirst deinen schweren Mantel und darunter etwas Gutaussehendes für das Mittagessen, weißt du, brauchen.“ „Fährt Mary Ballard mit?“ 90
„Natürlich. Wir würden Porters Wagen nicht bekommen, wenn sie nicht wäre.“ „Mary war nicht mit uns an dem Tag mit, als wir mit ihm Tee im Park tranken.“ „Nein, aber sie wurde gefragt. Porter lässt sie nie aus.“ „Sind sie verlobt?“ „Nein, Mary will nicht.“ „Sie wird nie eine bessere Chance bekommen“, überlegte Delilah. „Sie ist nicht hübsch und sie ist ziemlich altmodisch.“ Leila brauste auf: „Sie ist schön ‐“ „Für dich, Süße, weil du sie liebst. Aber der Durchschnittsmann würde Mary Ballard nicht schön nennen.“ „Es ist mir egal – der nicht Durchschnittliche würde es. Und Mary Ballard würde keinen gewöhnlichen Mann ansehen.“ „Kein Mann ist gewöhnlich, wenn er verliebt ist.“ „Oh, bei dir“, Leilas Ton war höhnisch, „ist Liebe einfach ein Spiel.“ Lilah stand auf, durchquerte das Zimmer mit flinken Schritten und küsste sie. „Lass mich dein Gefieder nicht zerzausen, Jenny Wren“, sagte sie; „ich bin heute Morgen ein kreischender Pfau.“ „Was ist los?“ „Ich bin nicht der vollkommene Erfolg, der ich plante zu sein. Oh, ich kann es verstehen. Ich bin seit drei Monaten hier und die Leute starren mich an, aber sie besuchen mich nicht – nicht diejenigen, die ich will. Und es ist, weil ich zu – betont bin. In New York muss man betont sein, um überhaupt etwas zu sein. Sonst ist man in der Menge verloren. Darum ist die Fifth Avenue voll von Leuten in erschreckender Kleidung. In der Horde wird man nicht einfach wegen eines hübschen Gesichts 91
ausgesondert – es gibt zu viele hübsche Gesichter; also ist es die Frau, die einen hohen Ton der Auffälligkeit anschlägt, um die Aufmerksamkeit anzuziehen. Aber ihr seid wie eine Herde von gurrenden Tauben, ihr Washingtoner Mädchen. Ihr seid so natürlich und offen und unbeeinflusst wie – ein Schwarm von Rebhühnern. Ich glaube, ich bin heute Morgen fast eifersüchtig auf deine Mary Ballard.“ „Nicht wegen Porter?“ „Nicht wegen irgendeines Mannes. Aber da sind Dinge an ihr, die ich nicht erfassen kann. Ich habe das Geld und die Kleidung und die Individualität. Aber da ist eine Einfachheit an ihr, eine Direktheit, die von Jahren der Verbindung mit Dingen kommt, die ich nicht gehabt habe. Bevor ich hierher kam, dachte ich, dass Geld alles sein könnte. Aber ich kann es nicht. Mary Ballard könnte nicht alles andere sein. Und ich – ich kann alles von einer Sirene bis zu einer Soubrette sein, aber ich kann keine Dame sein – nicht die Art, die du bist – und Mary Ballard.“ Als sie dies sagte, setzte sich das tropische Geschöpf in Flamingorot neben die gurrende Taube und fuhr fort: „Du hattest gerade jetzt recht, als du sagtest, dass der nicht durchschnittliche Mann Mary Ballard lieben würde. Porter Bigelow liebt sie, und er übertrifft alle anderen Männer, denen ich begegnet bin. Und er würde mich nie lieben. Er wird mit mir lachen und mit mir scherzen, und wenn er nicht in Mary verliebt wäre, würde er mit mir flirten – aber ich bin nicht seine Art – und er weiß es.“ Sie seufzte und zuckte die Achseln. „Es gibt natürlich andere Fische im Meer und Porter Bigelow ist Marys. Aber ich gebe dir mein Wort, Leila Dick, dass, wenn ich seinen gesegneten roten Kopf über den anderen aufragen sehe – wie ein löwenherziger Richard, kann ich sonst niemanden sehen.“ Zum ersten Mal, seit sie sie kannte, wurde Leila zu der anderen durch ein Gefühl des mitfühlenden Verständnisses gezogen. 92
„Bist du in ihn verliebt, Lilah?“, fragte sie schüchtern. Lilah stand auf und streckte ihre Hände über ihren Kopf. „Wer weiß? Verliebt sein und zu lieben – vielleicht sind es verschiedene Dinge, Süße.“ Mit dieser rätselhaften Bemerkung begab sie sich in ihren Umkleideraum, wo in langen Reihen ihre hübschen Kleider hingen. Leila, alleine gelassen, hob eine Zeitschrift auf dem Tisch neben sich auf, blätterte sie durch und legte sie hin; hob anmutig ein Bonbon aus einer großen Schachtel heraus und aß es; hob eine Fotografie auf – „Mausi“, sagte Lilah, als sie mehrere Minuten später zurückkam, „was macht dich so still? Hast du ein Buch gefunden?“ Nein, Leila hatte kein Buch gefunden, und die Fotografie war zurück, wo sie sie zuerst entdeckt hatte, mit dem Gesicht nach unten unter der Schachtel mit Pralinen. Und sie stand nun beim Fenster, ihren Schleier fest über ihren knappen kleinen Hut gezogen, sodass man nicht die Unruhe in ihren verräterischen Augen lesen mochte. Das Gänseblümchen ermattete nun, als ob es von der glühendheißen Sonne verdorrt wurde. Aber Delilah sah nichts von der Veränderung. Sie trug einen safranfarbenen Mantel, der zu den Rosen im anderen Zimmer passte, und ihr Leopardenfell mit einem kleinen Hut aus dem gleichen Pelz. Als sie sich schließlich in dem langen Spiegel begutachtete, schleuderte sie die etwas sarkastische Bemerkung heraus: „Wenn ich nach unten komme und Mary Ballard ansehe, werde ich mich wie ein Beardsley‐Plakat neben einer Helleu‐Radierung fühlen. Nach dem Mittagessen führte Porter Tante Isabelle und Barry und die drei Mädchen nach Fort Myer. Der General und Mr. Jeliffe kamen ihnen im Exerziersaal entgegen, und als sie eintraten, kam zu ihnen der frische Wohlgeruch der braunen Rinde. 93
Als die anderen zu ihren Plätzen strömten, hielt Barry Leila zurück. „Wir werden am Ende sitzen“, sagte er. „Ich will mit dir reden.“ Durch ihren Schleicher tadelten ihn ihre Augen. „Nein“, sagte sie, „nein.“ Er sah erstaunt auf sie herab. Niemals zuvor hatte Klein‐Hübsch‐ Leila das Angebot seiner geschätzten Gesellschaft abgelehnt. „Du sitzt neben – Delilah“, sagte sie nervös. „Sie ist wirklich dein Gast.“ „Sie ist Porters Gast“, erklärte er. „Ich verstehe nicht, warum du sie mir übergeben willst.“ Dann, als sie bestrebt war, an ihm vorbeizugehen, erwischte er ihren Arm. „Was ist los?“, fragte er. „Nichts“, sagte sie matt. „Nichts ‐“, sagte er höhnisch. „Ich kann dich wie ein Buch lesen. Was ist passiert?“ Aber sie schüttelte bloß ihren Kopf und setzte sich, und dann ertönte das Horn und die Kapelle begann zu spielen, und herein kam die Kavallerie – eine galante Kompanie, durch die sonnenerleuchtete Tür, und stürmte in einer donnernden Reihe zu dem Paradestand – um in einem perfekten und plötzlichen Salut stehen zu bleiben. Das Exerzieren folgte, mit Männern, die ohne Sattel ritten, mit Männern, die zu viert nebeneinander ritten, mit Männern, die in Pyramiden ritten, mit Männern, die Saltos auf ihren abgerichteten und intelligenten Rössern schlugen. Ein Mann rutschte aus, fiel von seinem Pferd und lag in der braunen Rinde, während die anderen Pferde über ihn gingen, ohne dass ihn ein Huf berührte, sodass er unverletzt aufstand und wieder seinen Platz in der Reihe einnahm. 94
Leila verbarg ihre Augen in ihrem Muff. „Es gefällt mir nicht“, sagte sie. „Es hat mir nie gefallen. Und was, wenn dieser Mann getötet worden wäre?“ „Sie werden nicht getötet“, sagte Barry leichthin. „Das Krankenhaus ist voll von denen, die verletzt werden, aber es ist gut für sie; es bringt ihnen bei, gelassen und kompetent zu sein, wenn echte Gefahr kommt.“ Und nun kam die Artillerie, die durch den sonnenerleuchteten Eingang strömte, die schweren Wägen ein Federgewicht zu den starken, galoppierenden Pferden. Atemlos sah Leila ihren Manövern zu, als sie auf Flächen rollten und kreisten und kreuzten, die unmöglich klein zu sein schienen – Pferde, die stürzten, Kanonenwägen, die ratterten, Staub, der flog – schneller, schneller – Wieder schloss sie ihre Augen. Aber Mary Ballard mit erröteten Wangen, tanzenden Augen, wandte sich an Porter: „Liebst du es nicht?“, fragte sie. „Ich liebe dich ‐“ sagte er dreist. „Mary, du und ich wurden im falschen Zeitalter geboren. Wir gehören zu den Tagen von König Artos. Dann hätte ich ein Kettenhemd tragen und deine Burg stürmen können, und ich hätte mich nicht darum gekümmert, wenn du Missachtung von dem obersten Türmchen heruntergeschleudert hättest. Ich hätte gewusst, dass du schließlich gezwungen wärest, die Zugbrücke herunterzulassen; und ich hätte den Burggraben überquert und dich gefangen genommen, und du wärest von meiner Kraft und Tapferkeit beeindruckt gewesen ‐“ „Nein, würde ich nicht“, sagte Mary schnell. „Warte, bis ich fertig bin“, sagte Porter gelassen. „Ich würde dich in einen Turm sperren und jede Nacht würde ich kommen und unter deinem Fenster singen, und schließlich müsstest du eine rote Rose auf mich herabwerfen.“ 95
Sie lachten jetzt zusammen, und Delilah auf der anderen Seite von Porter fragte: „Was ist der Witz?“ „Das ist keiner“, sagte Porter; „es ist todernst – für mich, wenn nicht für Mary.“ Und nun war ein Pferd unten; es gab ein schnelles Hornsignal, Stille. Wie ein Uhrenwerk hatte alles aufgehört. Die Leute fragten sich: „Ist jemand verletzt?“ Barry blickte hinunter auf Leila. Dann beugte er sich zu ihrem Vater: „Ich werde dieses Kind nach draußen bringen“, sagte er; „sie ist so weiß wie ein Laken. Es gefällt ihr nicht. Wir werden euch alle später treffen.“ Leilas Farbe kam im Sonnenschein und in der Luft zurück und sie bestand darauf, dass Barry zurück zum Saal gehen sollte. „Ich will nicht, dass du es verpasst“, sagte sie, „nur, weil ich albern bin. Ich kann in Porters Wagen bleiben und warten.“ „Ich will es nicht sehen – es ist eine alte Geschichte für mich.“ Also gingen sie weiter Richtung Arlington und traten schließlich durch das Tor, das in diese wundervolle Stadt der Nordstaaten‐Toten der Nation führte, die einst das Heim der Südstaaten‐Gastfreundschaft war. In einer geschützten Ecke setzten sie sich und Barry lächelte Klein‐ Hübsch‐Leila an. „Bist du jetzt in Ordnung, Kindchen?“ „Ja“, aber sie lächelte nicht.
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„Was habe ich getan?“ 97
Er beugte sich hinunter und blickte durch ihren Schleier. „Nimm ihn ab und lass mich in deine Augen schauen.“ Mit zitternden Händen nahm sie ein oder zwei Nadeln heraus und ließ ihn fallen. „Du hast geweint.“ „Oh, Barry“, die Worte waren ein Schrei – der Schrei eines kleinen verwundeten Vogels. Er hörte zu lächeln auf. „Verflixt, was ist los?“ „Ich kann es dir nicht sagen.“ „Du musst.“ „Nein.“ Ein niedrig wachsender Magnolienbaum verbarg sie vor dem Rest der Welt; er legte gebieterische Hände auf ihre Schultern und drehte ihr Gesicht zu sich – ihr kleines unglückliches Gesicht. „Nun sage es mir.“ Sie riss sich frei. „Nicht, Barry.“ Er wurde plötzlich rot und einfühlsam. „Ich weiß, ich bin nicht viel von einem Kerl.“ Sie antwortete mit einer Würde, die ihre gewöhnliche Kindlichkeit überstieg: „Barry, wenn ein Mann will, dass eine Frau an ihn glaubt, muss er sich dessen würdig erweisen.“ „Also“, sagte er trotzig, „was habe ich getan?“ „Weißt du es nicht?“ „Nein.“
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„Dann werde ich es dir sagen. Ja, ich werde es dir sagen“, mit plötzlichem Mut. „Ich war heute Morgen bei Delilah und ich sah dein Bild und was du darauf geschrieben hast ‐“ Er starrte sie mit einem Gefühl der aufsteigenden Erleichterung an. Es war nur das, was er über – Lilah erklären musste. Ein Lächeln tanzte in seinen Augen. „Also?“ „Ich weiß, dass du gerne – Spiele spielst – aber ich dachte nicht, dass du so weit gehen würdest ‐“ „Wie weit?“ „Oh, du weißt es.“ „Weiß ich nicht.“ „Barry!“ „Ich weiß es nicht. Ich wünsche, du würdest mir sagen, was du meinst, Leila.“ „Werde ich.“ Ihre Augen waren jetzt nicht tadelnd, sie funkelten. Sie hatte sich erhoben und mit ihren Händen in ihrem Muff und ihrem Schleier, der um ihre erröteten Wangen wehte, brachte sie ihre Anschuldigung hervor. „Du hast auf das Bild ‚An das einzige Mädchen – für immer’ geschrieben. Ist das die Art, wie du von Delilah denkst, Barry?“ „Nein. Es ist die Art, wie ich von dir denke. Und wie kam das Bild in Delilahs Besitz? Ich schickte es dir.“ „Mir?“ „Ja, ich brachte es gestern zu dir hinüber und ließ es bei einem der Dienstmädchen – ein neues. Ich hatte vor hineinzugehen und es dir zu geben, aber als sie sagte, du hättest Besucher, übergab ich ihr das Päckchen ‐“ 99
„Und ich dachte – oh, Barry, was sonst könnte ich denken?“ Sie war so klein und hübsch in ihrer zärtlichen Zerknirschung, dass er den Verstand in den Wind schlug. „Du sollst nur eines denken“, sagte er leidenschaftlich, „dass ich dich liebe – nicht jemand anderen, nicht jemals jemand anderen. Ich habe nicht gewagt, es vorher in Worte zu fassen. Ich habe nicht gewagt, dich zu bitten, mich zu heiraten, weil ich dir noch nichts zu bieten habe. Aber ich dachte, dass du – es wüsstest ‐“ Ihre kleine Hand streckte sich ihm entgegen. „Oh, Barry“, flüsterte sie, „fühlst du wirklich so für mich?“ „Ja. Mehr, als ich gesagt habe. Mehr, als ich je sagen kann.“ Er zog sie neben sich hinunter auf die Bank. „Unsere Welt wird nicht wollen, dass wir heiraten, Leila; sie werden sagen, dass ich ein solcher Junge bin. Aber du wirst an mich glauben, Liebste?“ „Immer, Barry.“ „Und du liebst mich?“ „Oh, du weißt es.“ „Ja, ich weiß es“, sagte er mit bewegter Stimme, als er ihre Hände hob und sie küsste. „Ich weiß es – Gott sei Dank.“ Nach dem Exerzieren führte Porter die ganze Gesellschaft zurück zu Delilah zum Tee. Und als ihre Gäste gegangen waren und die schwarzhaarige Schönheit zu ihrem flamingoroten Zimmer ging, um sich für das Abendessen umzuziehen, fand sie einen Zettel auf ihrem Nadelkissen. „Ich habe Barrys Bild genommen, weil er es mir zugedachte; es war ein Irrtum, dass du es bekommen hast. Er ließ es bei dem neuen Mädchen an einem Tag, als du in unserem Haus warst, und sie gab es 100
dir statt mir – sie verwechselte unsere Namen, so wie die Mädchen ihn in der Schule verwechselten. Und ich weiß, dass du nichts dagegen hast, wenn ich es nehme, denn bei dir ist es nur ein Spiel, verliebt zu spielen – in Barry. Aber es ist mein Leben, wie du an jenem Tag im Park sagtest. Und heute sagte mir Barry, dass es auch sein Leben ist. Und ich bin sehr glücklich. Aber das ist unser Geheimnis, und bitte, lass es dein Geheimnis sein, bis wir es den Rest der Welt wissen lassen ‐“ Delilah, als sie das kindliche Gekritzel las, lächelte und schüttelte ihren Kopf. Dann ging sie zum Telefon und rief Leila an. „Süße“, sagte sie, „ich werde auf deiner Hochzeit tanzen. Nur liebe ihn nicht zu sehr – der Mann ist es nicht wert.“ Dann kam triumphierend vom anderen Ende der Leitung die Stimme von Vollkommenem Glauben – „Oh, Barry ist es wert. Ich kenne ihn mein ganzes Leben, Lilah, und ich habe nie einen einzigen Zweifel gehabt.“
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Kapitel IX In dem Roger sich aufmacht in den Dienst einer Jungfrau in Nöten und in dem er Drachen entlang des Weges begegnet.
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n den Wochen, die dem Ausflug nach Fort Myer folgten, fand Mary eine erstaunliche Veränderung an ihrem Bruder. Zum ersten Mal in seinem Leben schien er die Dinge ernst zu nehmen. Er blieb nachts zu Hause und studierte. Er gab Jerry Tuckerman und die anderen strahlenden Musketiere auf. Sie wusste den Grund für die Veränderung nicht, aber es brachte ihr Hoffnung und Glück. Barry sah Leila oft, da bislang niemand außer Delilah Jeliffe von dem Band zwischen ihnen wusste. „Ich sollte es Dad sagen“, sagte Leila schüchtern; „er wäre sehr glücklich. Es ist, was er immer gewollt hat, Barry.“ „Ich muss mich zuerst als Mann erweisen“, sagte ihr Barry. „Ich habe etwas von meinem Möglichkeiten verschwendet, aber nun, da ich dich habe, wofür ich arbeite, fühle ich mich so stark wie ein Löwe.“ Sie waren allein in der Bibliothek des Generals. „Es ist, weil du mir vertraust, Liebes“, fuhr Barry fort, „dass ich stark bin.“ Sie ließ ihre kleine Hand in seine gleiten. „Barry – es scheint so eigenartig zu denken, dass ich je – deine Frau sein werde.“ „Du musstest es sein. Es war von Anfang an bestimmt.“ „Wirklich, Barry?“ „Ja.“ „Und es wird es bis zum Ende sein. Oh, ich werde dich immer lieben, sehr, sehr ‐“ 102
Sie war idyllisch ihre kleine Liebesaffäre – ihre große Liebesaffäre, wenn man nach ihrem Maßstab maß. Sie war zärtlich, süß, und weil sie ihr Geheimnis war, weil es kein Wort des Zweifels oder des Misstrauens von jenen gab, die älter und weiser waren, brachten sie ihr alle Schönheit der Jugend und höchste Hoffnung. So kam der Frühling und der Frühsommer und Barry bestand triumphierend seine Prüfungen und kam eines Abends nach Hause und erzählte Mary, dass er Leila Dick heiraten würde. Als er es ihr erzählte, flehten seine blauen Augen sie an, und da sie ihn liebte und es hasste, ihn zu verletzen, hielt Mary den Ausdruck ihrer Furcht zurück und küsste ihn und weinte ein wenig an seiner Schulter, und Barry tätschelte ihre Wange und sagte unbeholfen: „Ich weiß, dass du denkst, ich bin ihrer nicht würdig, Mary. Aber sie wird einen Mann aus mir machen.“ Hinterher alleine fragte sich Mary, ob sie klug gewesen war einzuwilligen – doch sicher, sicher, die Liebe war stark genug, um einen Mann zu dem Ideal einer Frau hochzuheben – und Leila war ein solcher – Schatz. Sie stellte an diesem Abend Roger Poole die Frage. In diesen warmen Tagen waren sie und Roger fast unbewusst in enge Vertrautheit geglitten. Er las ist eine Stunde nach dem Abendessen vor, wenn sie keine anderen Verpflichtungen hatte, und oft saßen sie im alten Garten, sie mit ihrem Notizheft auf dem Arm der Steinbank – er am anderen Ende der Bank, unter einem Rosenbusch mit hundert Blättern. Manchmal war Tante Isabelle bei ihnen mit ihrer Handarbeit, manchmal waren sie allein; aber immer, wenn die Stunde vorüber war, schloss er sein Buch und stieg zu seinem Turm hinauf, damit er denen nicht begegnete, die später kamen. Es gab viele Nächte, in denen er so Porter Bigelow entkam – Nächte, wenn im Mondlicht er das Murmeln von Stimmen, vermischt mit dem Plätschern des Springbrunnens, hörte; und es gab andere Nächte, wenn fröhliche Gruppen auf dem 103
Rasen zu der Musik, die von Mary gleich innerhalb des offenen Fensters gespielt wurde, tanzten. Doch dankte er den Göttern für die Rolle, die sie ihm erlaubte, in ihrem Leben zu spielen. Er lebte für diese eine Stunde von vierundzwanzig Stunden. Er wagte nicht zu denken, was für ein Tag es sein würde, wenn er dieser kostbaren sechzig Minuten beraubt wäre. Hin und wieder, wenn sie ganz sicher gewesen war, dass niemand kommen würde, war er bei ihr im Mondlicht geblieben und der kleine Bronzejunge hatte ihn vom Springbrunnen angelächelt, und es hatte den Wohlgeruch der Rosen gegeben, und Mary Ballard in Weiß auf der Steinbank neben ihm schenkte ihm ihr freundliches, mädchenhaftes Vertrauen; sie besprach Probleme der vornehmen Armut, die entzückenden Hartnäckigkeiten von Susan Jenks, die Dominanz von Tante Frances. Sie gab ihm auch ihre Meinungen – diese erschreckenden unerprobten Meinungen, die ständig mir seinen Vorurteilen kämpften. Und jetzt heute Abend – sein Rat. „Denken Sie, die Liebe kann die Natur eines Mannes verändern? Einen schwachen Mann stark machen, meine ich?“ Er legte sein Buch hin. „Sie fragen das, als ob ich es wirklich beantworten könnte.“ „Ich denke, Sie können es. Sie scheinen sich immer in die Lage einer anderen Person versetzen zu können, und es – hilft.“ „Danke. Und in wessen Lage soll ich mich jetzt versetzen?“ „Die des Mädchens“, sagte sie prompt. Er überdachte es. „Ich würde sagen, dass der Mann vor der Heirat auf die Probe gestellt werden sollte. „Sie meinen, dass sie warten sollte, bis sie sicher ist, dass er sich geändert hat?“ 104
„Ja.“ „Oh, ich fühle auf diese Weise. Aber was, wenn das Mädchen an ihn glaubt? Nicht träumt, dass er schwach ist – ihm absolut, blind vertraut? Sollte jemand versuchen, ihr die Augen zu öffnen?“ „Manchmal ist es eine Torheit, klug zu sein. Vielleicht wird er für sie immer stark sein.“ „Was ist dann die Antwort?“ „Nur diese. Dass der Mann selbst den Test machen sollte. Er sollte warten, bis er weiß, dass er ihrer würdig ist.“ Sie machte eine kleine Geste der Hoffnungslosigkeit, wobei sie nur ihre Hände hob und sie herabfallen ließ; dann sprach sie mit einem Ansturm der Gefühle. „Mr. Poole – es sind Barry und Leila. Sollte ich sie heiraten lassen?“ Er lächelte über ihre Zuversicht an ihre Fähigkeit, das Schicksal jener um sie herum zu beherrschen. „Ich denke, dass Sie nichts damit zu tun haben werden. Er ist volljährig und Sie sind nur seine Schwester. Sie könnten das Aufgebot nicht verbieten, wissen Sie?“ „Aber ich könnte ihn überzeugen ‐“ „Wovon?“, sagte er ernst. „Dass Sie ihn für einen Jungen halten? Vielleicht würde es darauf abzielen, seine Kräfte zu schwächen.“ „Dann muss ich meine Hände in den Schoß legen?“ „Ja. Wie die Dinge jetzt sind – würde ich warten.“ Er erklärte nicht, sie fragte nicht, worauf sie warten sollte. Es war, als ob sie beide erkannten, dass die Prüfung kommen würde, und dass sie rechtzeitig kommen würde. Und sie kam. 105
Es war, während Leila auf einem Ausflug an die Küste von Maine mit ihrem Vater war. Der Juli schwand dahin und schon war eine Augustschwüle in der Luft. Jene, die zurück in der Stadt blieben, waren die Arbeiter – jeder, der fortgehen konnte, war fort. Mary, mit der Betreuung ihres Hauses in ihren Händen, lehnte Tante Frances Einladung für einen Monat am Meer ab, und Tante Isabelle lehnte ab, sie zu verlassen. „Es gefällt mir hier besser, sogar bei der Hitze“, sagte sie zu ihrer Nichte, „als um Bar Harbour mit Frances und Grace herumzulaufen.“ Barry schrieb umfangreiche Briefe an Leila und erhielt wiederum ihr liebes kindliches Gekritzel. Aber die Anspannung ihrer Abwesenheit begann sich ihm zu verraten. Er begann den Zug zu den alten Vergnügungen und Ablenkungen zu fühlen. Dann eines Tages erschien Jerry Tuckerman auf der Bildfläche. Am nächsten Abend fuhren er und Barry und die andren strahlenden Musketiere bei Mondlicht hinüber nach Baltimore. Barry kam am nächsten Tag nicht nach Hause, noch am nächsten, noch am übernächsten. Mary wurde weiß und nervös und fabrizierte Ausreden, die Tante Isabelle nicht betrogen. Keine der müden blassen Frauen sprach zu der anderen über ihre Nachtwachen. Keine von ihnen sprach über die Angst, die sie verzehrte. Dann eines Abends, nachdem eine Nachricht aus dem Amt gekommen war, die nach einer Erklärung von Barrys Abwesenheit verlangte; nachdem sie beim Country Club angerufen hatte; nachdem sie Jerry Tuckerman angerufen und eine ausweichende Antwort bekommen hatte; nachdem sie alle anderen Ressourcen erschöpft hatte, stieg Mary die Stufen zu den Turmzimmern hoch. Und dort, steif und gerade in einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, mit ihrer trockenen Kehle, wobei ihr Puls pochte, legte sie den Fall vor Roger Poole. „Es gibt niemanden sonst, mit dem ich darüber sprechen kann. Aber Barry ist seit fast einer Woche vom Amt und von zu Hause fort – und 106
niemand weiß, wo er ist. Und es ist nicht das erste Mal. Es begann, bevor Vater starb, und es brach beinahe sein Herz. Sie verstehen, er hatte einen Bruder – dessen Leben wurde deswegen ruiniert. Und Constance und ich haben alles getan. Es sind Monate, wo alles in Ordnung ist. Und dann ist er eine Woche fort. Und danach ist er schrecklich deprimiert und ich habe Angst.“ Sie zitterte, obwohl die Nacht heiß war. Roger wagte nicht, sein Mitgefühl auszusprechen. Dies war nicht der Augenblick. Daher sagte er einfach: „Ich werde ihn finden, und wenn ich ihn finde“, fuhr er fort, „ist es am besten, ihn nicht sofort zurückzubringen. Ich habe mit solchen Fällen vorher zu tun gehabt. Wir werden für ein paar Tage aufs Land gehen und zurückkommen, wenn er völlig – er selbst ist.“ „Oh, können Sie die Zeit erübrigen?“ „Ich habe keinen Urlaub genommen und daher sind mir noch dreißig Tage gutgeschrieben. Und ich brauche einen Ausflug.“ Er bereitete sich sofort darauf vor, zu gehen, und als er eine kleine Tasche gepackt hatte, kam er herunter in den Garten. Es war Mondlicht und der Wohlgeruch und das Plätschern des Spring‐ brunnens. Roger war von dem Gedanken seiner Suche erregt. Es war, als ob er sich einen Schwur auferlegt hätte, der ihn um dieser süßen Dame willen vorwärts sandte. Als Mary ihm entgegenkam, wünschte er, dass er um die Rose, die sie trug, als seine Belohnung bitten könnte. Aber er darf nicht bitten. Sie gab ihm ihre Freundschaft, ihr Vertrauen, und das waren sehr kostbare Dinge. Er darf niemals mehr verlangen – und daher darf er nicht um eine Rose bitten. Und nun stand er direkt unter ihr auf den Terrassenstufen und blickte hoch zu ihr, mit seinem Herzen in seinen Augen. „Ich werde ihn finden“, sagte er, „machen Sie sich keine Sorgen.“ 107
Sie streckte ihre Hand aus und berührte seine Schulter mit ihrer Hand. „Wie gut Sie sind“, sagte sie wehmütig, „all diese Mühe für uns auf sich zu nehmen. Ich fühle, dass ich Sie es nicht tun lassen sollte – und doch – wir sind so hilflos, Tante Isabelle und ich.“ Da war jetzt nichts von dem Jungen an ihr. Sie war eine klammernde abhängige Frau. Und die Berührung ihrer Hand auf seiner Schulter war das Schwert der Königin, das Ritterschaft verlieh. Was kümmerte er sich jetzt um eine Rose? So verließ er sie, wobei er dort im Mondlicht stand, und als er den Fuß des Hügels erreichte, drehte er sich um und blickte zurück, und sie stand noch immer über ihm, und als sie sah, wie er sich umdrehte, winkte sie mit ihrer Hand. In den alten Tagen kämpften Ritter mit Drachen und schnitten ihre Köpfe ab, nur um zu finden, dass andere Köpfe gewachsen waren, um jene zu ersetzen, die zerstört worden waren. Und es waren solche Drachen des Zweifels und der Verzweiflung, die Roger in den Tagen, nachdem er Barry gefunden hatte, bekämpfte. Der Junge hatte sich in einem kleinen Hotel in dem Außenbezirk von Baltimore versteckt. Indem er dem einen und anderen Hinweis gefolgt war, war Roger auf ihn getroffen. Es hatte keine Erklärungen gegeben. Barry hatte scheinbar seine Rettung als eine selbstverständliche Sache angenommen und war froh über jemanden, in dessen Ohren er mit der Litanei seiner Verzweiflung gießen konnte. „Es hat keinen Sinn, Poole. Ich habe gekämpft und gekämpft. Vater half mir. Und ich versprach es Con. Und ich dachte, dass meine Liebe zu Leila mich stark machen würde. Aber es hat keinen Sinn, es zu versuchen. Ich werde besiegt. Es ist im Blut. Ich hatte einen Onkel, der sich zu Tode trank. Und vorher gab es einen Großvater.“ Sie waren zwei Tage lang zusammen gewesen. Barry hatte Rogers Plan zu einem Ausflug auf das Land zugestimmt, und nun waren sie 108
unter den Bäumen an den Ufern eines der kleinen brackigen Flüsse, die in den Chesapeake flossen. Sie hatten am frühen Morgen ein wenig gefischt, dann hatten sie ihr Boot eingeholt, denn Barry wurde der Zerstreuung überdrüssig. Er wollte über sich selbst reden. „Es hat keinen Sinn“, sagte er wieder; „es ist im Blut.“ Roger war gegen einen Baum gestützt, sein Hut war abgenommen, sein dunkles Haar von seinem feinen dünnen Gesicht zurückgeweht. „Unser Leben“, sagte er, „ist unser eigenes. Nicht, was unsere Vorfahren machen.“ „Ich glaube es nicht“, sagte Barry rundheraus. „Ich habe einen guten Kampf gefochten, niemand kann sagen, dass ich es nicht habe. Und ich habe verloren. Danach, denken Sie, dass Mary mich Leila heiraten lassen wird? Denken Sie, dass der General mich sie heiraten lassen wird?“ „Wollen Sie sich selbst sie heiraten lassen?“ Barrys Gesicht flammte. „Dann denken Sie, dass ich nicht würdig bin?“ „Es ist, was Sie denken, Ballard, nicht, was ich denke.“ Barry zog eine Handvoll Gras heraus und warf sie weg, zog noch eine heraus und warf sie weg. Dann sagte er hartnäckig: „Ich werde sie heiraten, Poole; niemand soll sie mir wegnehmen.“ „Und Sie nennen das Liebe?“ „Ja. Ich kann nicht ohne sie leben.“ Roger, mit seinen Augen auf dem dunklen Wasser, das an den Ufern vorbeiglitt, und seine Schatten von der Dunkelheit der dicken Äste, die sich darüber beugten, nahm, sagte ruhig: „Liebe ist mir immer etwas größer als das vorgekommen – es ist mir vorgekommen, als ob Liebe – 109
große Liebe zuerst das Wohlergehen des geliebten Menschen in Betracht zieht.“ Es war eine lange Stille, aus der Barry stürmisch sagte: „Es wird ihr das Herz brechen, wenn etwas zwischen uns kommt. Ich sage das nicht, weil ich ein arroganter Esel bin. Aber sie ist ein so beständiges kleines Ding.“ Roger nickte. „Das ist umso mehr ein Grund, warum sie sich jetzt herausziehen müssen, Ballard.“ „Aber ich habe es versucht.“ „Ich kannte einen Mann, der es versuchte – und gewann.“ „Wie?“, fragte er begierig. „Ich traf ihn in den Föhrenwäldern des Südens. Ich war dort unten, um mich von einer Katastrophe zu erholen, die mein Leben verändert hatte. Dieser Mann hatte eine kleine Hütte neben meiner. Keiner von uns hatte viel Geld. Wir lebten wortwörtlich im Freien. Wir kochten über dem Feuer vor unseren Türen. Wir jagten und fischten. Hin und wieder gingen wir zur Stadt um unsere Vorräte, aber die meisten unserer Dinge bekamen wir von den Scheuermännern, die von den Hügeln herunterfuhren. Mein Nachbar war verheiratet. Er hatte eine Frau und drei Kinder. Aber er war alleine gekommen. Und er sagte mir grimmig, dass er nie zurückgehen würde, bis er als ein Mann zurückginge. „Ging er zurück?“ „Ja. Er siegte. Er sah seine Schwäche nicht bloß als eine moralische Krankheit an, sondern als eine körperliche. Und sie sollte wie jede andere Krankheit durch die Entfernung der Ursache geheilt werden. Der erste Schritt war, von alten Verbindungen wegzugehen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, daher war er dorthin gekommen, wo er nicht versucht wurde. Seine Beschäftigung in der Stadt war geistig gewesen, hier war sie großteils körperlich. Er hackte Holz, er 110
durchwanderte den Wald, er peitschte die Ströme auf. Und nach und nach baute er ein Selbst auf, das des Widerstandes fähig war. Als er zurückging, war er ein anderer Mann, verändert durch sein anderes Leben. Und er hat seinen Teufel ausgetrieben.“ Der Junge war sichtlich beeindruckt. „Sein Weg ist vielleicht nicht Ihr Weg“, folgerte Roger, „aber die Tatsache, dass er eine siegreiche Schlacht schlug, sollte Ihnen Hoffnung geben.“ Am nächsten Tag fuhren sie zurück. Mary kam ihnen entgegen, als ob nichts geschehen wäre. Den Korb mit Fischen, den sie gebracht hatten, um von Susan Jensk gekocht zu werden, lieferte ein nicht peinliches Thema der Unterhaltung. Dann ging Barry zu seinem Zimmer und Mary war mit Roger allein. Sie hatte einen Brief von ihm erhalten, und eine Nachricht per Telefon; so war ihre Angst beruhigt worden. Und sie war sehr dankbar – so dankbar, dass ihre Stimme zitterte, als sie ihm ihre Hand entgegenhielt. „Wie soll ich Ihnen je danken?“, sagte sie. Er nahm ihre Hände in seine und stand und blickte auf sie hinunter. Er sprach nicht sofort, doch in diesen flüchtigen Augenblicken hatte Mary ein merkwürdiges Gefühle einer gestellten und beantworteten Frage. Es war, als ob er sie um etwas bitte, das sie nicht bereit zu geben war – als ob er aus ihr einen unterbewussten Zugang ziehe, sie durch eine Macht überredete, die unwiderstehlich war, sich ihm zu offenbaren. Und als sie diese Dinge dachte, sah er einen neuen Blick in ihren Augen und ihr Atem wurde schneller. Er ließ ihre Hände fallen. 111
„Danken Sie mir nicht“, sagte er. „Bitten Sie mich wieder, etwas für Sie zu tun. Das soll meine Belohnung sein.“
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Kapitel X In dem eine scharlachrote Blume im Garten blüht; und in dem ein Licht später im Turm flackert
I
m September kamen alle zurück in die Stadt, Porter Bigelow unter dem Rest. Er rief sofort Mary an: „Ich komme hinauf.“
Sie strahlte. „Constance und Gordon trafen am Montag ein, und ich will dich zum Abendessen dabei haben. Leila wird hier sein, und der General und Tante Frances und Grace aus New York.“ Sein Knurren kam zurück zu ihr. „Und das bedeutet, dass ich nicht eine Minute mit dir alleine haben werde.“ „Oh, Porter – bitte. Es gibt so viele andere Mädchen auf der Welt – und du hast den ganzen Sommer gehabt, um eine zu finden.“ „Der Sommer ist eine heulende Wildnis gewesen. Aber Mutter hat mich in den Ferienorten auf Herz und Nieren geprüft. Mary, ich habe eine solche Menge neuer Tänze gelernt, um sie dir beizubringen.“ „Bring sie Grace bei.“ Er stöhnte. „Du weißt, was ich über Grace Clendenning denke.“ „Porter, sie ist schön. Sie trägt kleine schwarze Kleider mit weißen Krägen und Manschetten und sieht vollkommen anbetungswürdig aus. Heute Abend wird sie ein schwarzes Tüllkleid und eine eigenartige auffallende Tüllkopfbedeckung tragen, und mit ihrem roten Haar – du wirst deine Augen nicht von ihr nehmen können.“ „Ich habe selbst genug rotes Haar“, informierte sie Porter, „ohne Grace anschauen zu müssen.“ 113
„Ich werde dich beim Abendessen ihr gegenüber setzen. Komm und siehe und werde erobert.“ Roger Poole wurde auch zu dem Heimkehrabendessen eingeladen. Mary hatte dieses Mal niemanden um Rat gefragt. Neulich waren Roger und Barry viel zusammen gewesen, und es war ihre Freundschaft, die Mary ausnutzte, als Constance irgendwie besorgt an dem Tag, der dem Abendessen voranging, gefragt hatte, ob sie es für klug hielte, den einsamen Bewohner in den Turmzimmern mit einzubeziehen. „Er ist wirklich nett, Constance. Und er ist für Barry eine große Hilfe gewesen.“ Es war das erste Mal, dass sie von ihrem Bruder sprachen. Und nun kamen Constances Worte mit einiger Mühe. „Was ist mit Barry, Mary?“ „Er ist mehr von einem Mann, Con. Und er versucht es hart um Leilas willen.“ „Gordon denkt, dass sie sich wirklich nicht verloben sollten.“ Die Schwestern waren in Marys Zimmer und Mary schrieb an ihrem Schreibtisch die Speiseliste für Susan Jenks. Sie blickte auf und legte ihre Füllfeder hin. „Dann hast du es Gordon erzählt?“ „Ja. Und er sagt, dass Barry weggehen sollte.“ „Wohin?“ „Weit genug, um Leila eine Chance zu geben, darüber hinwegzukommen.“ „Denkst du, sie würde je darüber hinwegkommen, Con?“ „Gordon denkt es.“ Marys Kopf ging hoch. „Ich frage nicht, was Gordon denkt. Was denkst du?“ 114
„Ich denke wie Gordon.“ Dann, als Mary eine kleine ungeduldige Geste machte, fügte sie hinzu: „Gordon ist sehr klug. Zuerst schien es mir, dass er streng in seinem Urteil über Barry sei. Aber er weiß so viel von Männern – und er sagt, dass hier in der Stadt, unter seinen alten Verbindungen – Barry nie anders sein wird. Und es ist Leila gegenüber nicht fair.“ Mary wusste, dass es Leila gegenüber nicht fair war. Sie hatte es immer gewusst. Doch war sie halsstarrig aufgebracht über die Tatsache, dass Gordon Richardson sozusagen der Lenker von Barrys Schicksal sein sollte. „Oh, es ist alles ein solches Durcheinander, Con“, sagte sie und schob die Frage beiseite. „Wir wollen jetzt nicht darüber reden. Es gibt so viel anderes zu sagen – und es ist nett, dich zurück zu haben, Liebste – und du bist so hübsch.“ Constance war auf Marys Couch zusammengekuschelt und ruhte sich nach ihrer Reise aus. „Ich bin so glücklich, Mary. Keine Frau weiß etwas darüber, bis sie es für sich selbst gehabt hat. Die Kraft eines Mannes ist so wundervoll – und Gordons Sorge um mich – oh, Mary, wenn es nur noch einen Mann auf dieser Welt wie Gordon für dich gäbe, wäre ich vollkommen zufrieden.“ Es war ein inbrünstiges sanftes Echo von Tante Frances Forderung an sie, und Mary, die ihre rasende Eifersucht auf den Mann unter‐ drückte, der ihre Schwester gestohlen hatte, fragte etwas wehmütig: „Kannst du eine Minute über mich reden und vergessen, dass du einen Ehemann hast?“ „Ich muss Gordon nicht vergessen“, war die gelassene Antwort. „Ich kann ihn in meinem Unterbewusstsein bewahren.“ Mary hob ihre Feder auf und unterstrich „Suppe“; dann: „Constance, Liebling“, sagte sie, „würdest du dich schrecklich fühlen, wenn ich zur Arbeit ginge?“ 115
„Was für eine Arbeit, Mary?“ „In einem der Ministerien – als Stenotypistin.“ „Aber du weißt nichts darüber.“ „Ja, tue ich, ich habe, seit du weggingst, gelernt.“ „Aber warum, Mary?“ „Weil – oh, kannst du es nicht verstehen, Constance? Ich kann mir bei Barry für zukünftige Unterstützung nicht sicher sein. Und ich will nicht mit Tante Frances gehen. Und dieses Haus frisst einfach das Wenige auf, das Vater uns hinterließ. Als du geheiratet hast, dachte ich, dass die Vermietung der Turmzimmer die Dinge in Gang halten würden, aber sie tut es nicht. Und ich will das Haus nicht verkaufen. Ich liebe jeden alten Stock und Stein davon. Und auf jeden Fall, muss ich sitzen und meine Hände für den Rest meines Lebens in den Schoß legen, weil ich eine Frau bin?“ „Aber Mary, Liebes, du wirst heiraten – da ist Porter.“ „Constance, ich könnte auf diese Weise nicht an Heirat denken – als eine Chance, dass man versorgt wird. Oh, Con, ich will warten – auf die Liebe.“ „Liebste, natürlich. Aber du kannst bei uns wohnen. Gordon würde nie zustimmen, dass du arbeitest – er denkt, es ist schrecklich für eine Frau, gegen die Welt kämpfen zu müssen.“ Mary schüttelte ihren Kopf. „Nein, es wäre dir gegenüber nicht gerecht. Es ist nie gerecht für einen Außenseiter, in das Glück eines Heims einzudringen. Falls euer Duett je ein Trio werden sollte, muss es nicht mit meiner großen taktlosen Stimme sein, dir nur einen Misston machen könnte, sondern eine kleine piepsende.“ Sie blickte auf, um Constances schüchternen, befangenen Blick zu begegnen. 116
Mary flog zu ihr und kniete neben der Couch. „Liebling, Liebling?“ Und nun war die Liste vergessen und Susan Jenks, die darum heraufkam, bildete zu diesem zitternden Geheimnis eine Gesellschaft und das Schicksal des Abendessens wurde bedroht, bis Mary, die zurück in die Realität kam, ihre Schwester küsste und zu ihrem Schreibtisch ging und sich streng an die fünf folgenden Gänge des Familienessens hielt, das den Gaumen jener frisch aus Paris und London und von Burgen am Meer erfreuen und das bis zum Äußersten Susans kulinarische Fähigkeit prüfen sollte. Beim Essen am nächsten Abend blickte Gordon Richardson oft und aufmerksam zu Roger Poole, und als unter der Wärme des Septembermondes die Männer hinaus in den Garten trieben, um zu rauchen, sagte er: „Ich habe Sie gerade erkannt.“ Roger nickte. „Ich dachte, dass Sie sich erinnern würden. Sie waren einer der jüngeren Burschen in St. Martin’s – Sie haben sich nicht sehr verändert, aber ich konnte nicht sicher sein.“ Gordon zögerte. „Ich dachte, ich hörte von jemandem, dass sie in die Kirche eingetreten wären.“ „Ich hatte eine Kirche im Süden – drei Jahre lang.“ Gordon versuchte, die Neugierde aus seiner Stimme zu halten. „Und Sie gaben sie auf?“ „Ja, ich gab sie auf.“ Das war alles. Nicht ein Wort der Erklärung, auf die, wie er wusste, Gordon wartete. Nichts außer der nackten Aussage: „Ich gab sie auf.“ Sie redeten danach ein wenig von St. Martin’s, von ihren jungenhaften Erfahrungen. Aber Roger war sich bewusst, dass Gordon ihn abwog und sich fragte: „Warum gab er sie auf?“
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Die beiden Männer saßen auf der Steinbank, wo Roger so oft mit Mary gesessen hatte. Der Garten zeigte die ersten Anzeichen der jahreszeitlichen Zerstörung. Verblassendes Laub und raschelnde Kletterpflanzen hatten das Grün und den wohlriechenden Wuchs des Sommers ersetzt. Da waren zwar Dahlien und Chrysanthemen und Kosmee. Aber die Herrlichkeit des Gartens war fort. Dann kam Mary in den Garten! Sie war in einen dünnen seidenen, scharlachroten Umhang eingehüllt, der Constance gehörte. Als sie durch das breite Lichtband ging, das von den Straßenlaternen gemacht wurde, hatte Roger eine plötzliche Erinnerung an das flammenartige Blühen eines gewissen schlanken Strauchs im Frühling. Es war die erste der Blumen, die blühte, und Mary hatte einen Strauß für die Vase auf seinem Tisch im Turmwohnzimmer gepflückt. „Constance sucht dich, Gordon“, sagte Mary, als sie näher kam; „jemand hat angerufen wegen des Datums für das Abendessen, und sie kann ohne dich nicht entscheiden.“ Sie setzte sich auf die Steinbank und Roger, der bei ihrem Nahen aufgestanden war, stand unter dem hundertblättrigen Busch, von dem alle Rosen fort waren. „Wissen Sie“, sagte er ohne Warnung oder Vorrede, „dass es mir schien, dass, als sie in den Garten kamen, er wieder blühte.“ Niemals zuvor hatte er so gesprochen. Und er sagte es wieder: „Als Sie kamen, war es, als ob der Garten blühte.“ Er setzte sich neben sie. „Wird jemand Sie sofort einfordern? Denn falls nicht, habe ich etwas, das ich Ihnen erzählen will.“ „Niemand wird mich einfordern. Zumindest hoffe ich, dass es niemand wird. Grace Clendenning erzählte Porter über die Kunst der Frau, sich zu kleiden. Sie nimmt Kleidung so ernst, wissen Sie. Und Porter ist unwillkürlich interessiert. Und Barry und Leila sind auf den 118
Terrassenstufen und schauen den Mond über dem Fluss an, und Tante Frances und Tante Isabelle und General Dick sind im Haus wegen der Nachtluft, also ist da niemand im Garten, außer Ihnen und mir.“ „Nur Sie – und – ich ‐“, sagte er und hielt inne. Sie war durch seine Art eindeutig verwirrt. Aber sie wartete, ihre Arme in ihrem roten Umhang eingehüllt. Endlich sagte er: „Ihr Schwager und ich gingen zusammen zur Schule.“ „Gordon?“ „Ja. St. Martin’s. Er war jünger als ich und wir waren nicht viel zusammen. Aber ich kannte ihn. Und nachdem er darüber gerätselt hatte, erkannte er mich.“ „Wie interessant.“ „Und er fragte etwas über mich, was ich Ihnen nie erzählt habe; was ich Ihnen jetzt erzählen will.“ Er fand es schwer zu erzählen, mit ihren Augen auf ihn, hell wie die Sterne. „Ihr Schwager sagte, dass er gehört hätte, dass ich in die Kirche gegangen wäre – dass ich eine Gemeinde gehabt hätte. Und was er gehört hatte, stimmte. Bis vor fünf Jahren war ich Pfarrer einer Kirche im Süden.“ „Sie?“ Das war alles. Nur ein kleiner gehauchter ungläubiger Ton. „Ja. Ich wollte es Ihnen erzählen, bevor er die Gelegenheit haben würde, und zu denken, dass ich etwas vor ihnen geheim gehalten habe, was ich Ihnen hätte erzählen sollen. Aber ich bin nicht sicher, sogar jetzt, dass es erzählt werden sollte. „Aber am Heiligen Abend sagten Sie, dass Sie nicht glauben ‐“ 119
„Tue ich nicht.“ „Und war das der Grund, dass Sie sie aufgaben?“ „Nein. Es ist eine lange Geschichte. Und es ist keine angenehme. Ja, es scheint, dass ich sie erzählen muss.“ Der Wind war aufgekommen und wehte einen Dunstschleier von dem Springbrunnen. Die toten Blätter raschelten. Mary zitterte. „Oh, Ihnen ist kalt“, sagte Roger, „und ich halte Sie auf.“ „Nein“, sagte sie mechanisch. „Mir ist nicht kalt. Ich habe meinen Umhang. Bitte, fahren Sie fort.“ Aber er sollte dann seine Geschichte nicht erzählen, denn ein starker Lichtstrahl erhellte die Straße und eine große Limousine blieb am Fuß der Terrassenstufen stehen. Sie hörten Delilah Jeliffes hohes Lachen; dann Porters Stimme im Garten: „Mary, bist du dort?“ „Ja.“ „Grace Clendenning und ihre Mutter gehen, und Delilah und Mr. Jeliffe sind herausgefahren, um dir ihren neuen Wagen zu zeigen.“ Es war tiefe Missbilligung in seiner Stimme. Mary erhob sich widerwillig, als er sich zu ihnen gesellte. „Oh, Porter, muss ich Delilahs Geplapper für den Rest des Abends zuhören?“ „Du hast mich dem von Grace zuhören lassen. Das ist meine Strafe.“ „Ich will nicht bestraft werden. Und ich bin sehr müde, Porter.“ Das war ein neues Wort in Marys Vokabular, und Porter reagierte sofort auf die Bitte. „Wir werden Delilah bald loswerden, und dann werden Gordon und Constance mit uns auf eine Runde um den Speedway fahren. Das wird dich aufrichten, kleine Dame.“ 120
Roger stand still beim Brunnen. Durch den Dunstschleier schien der kleine Bronzejunge boshaft zu lächeln. Während all dieser Jahre, in denen er auf dem Delfin geritten war, hatte er Männer und Frauen unter den hundertblättrigen Busch kommen und gehen sehen. Und er hatte sie alle angelächelt, und nach ihrer Stimmung hatten sie sein Lächeln interpretiert. Rogers Stimmung in diesem Augenblick war eine der unfähigen Rebellion auf Porters Gehabe des Eigentümerrechts, und es war mit diesem intensivierten Gehabe, dass, als Mary wieder zitterte, Porter ihren Umhang über ihre Schultern zog, die Schlaufe über dem großen Knopf mit fachmännischen Fingern festmachte und sorglos sagte: „Kommen Sie mit uns, Poole?“ „Nein. Nicht jetzt.“ Über dem Kopf des kleinen Bronzejungen begegnete gleicher Blick gleichem Blick, da in dem Mondlicht die Männer einander begutachteten. „Dann sprach Mary. „Mr. Poole, es tut mir leid, den Rest der Geschichte nicht zu hören.“ „Sie werden sie ein anderes Mal hören.“ Sie zögerte und blickte zu ihm hoch. Es war, als ob sie sprechen wollte, aber konnte nicht mit Porter dort, der zuhörte. Daher lächelte sie mit Augen und Lippen. Nur ein Lichtstrahl, aber er wärmte sein Herz. Doch als sie mit Porter davonging und wieder durch das breite Lichtband der Straßenlaterne ging, das aus ihrem scharlachroten Umhang eine flammende Blume machte, blickte er ihr wehmütig nach und fragte sich, ob, wenn sie gehört hatte, was er zu erzählen hatte, sie ihn je wieder so anlächeln würde. 121
Delilah, frisch von einem triumphalen Sommer, war inmitten einer lachenden Gruppe auf der Veranda. Als Mary heraufkam, sagte sie: „Und wir haben ein liebes altes Heim in Georgetown genommen. Keine Glanz und Funkeln mehr. Alles soll zur Stumpfheit eines japanischen Drucks gedämpft werden – Blassgrau und Blassblau und ein Tupfer Schwarz. Dieses Kleid gibt den Grundton.“ Sie war in grauem Taft, mit einem Gürtel aus sanftem alten Blau und einer Kette aus schwarzen Perlen. Keine Farbe war auf ihren Wangen – da waren nur die Schwärze ihres Haars und das Weiß ihrer feinen Haut. „Es ist großartig“, sagte Barry. Delilah nickte. „Ja. Ich habe mehrere Jahre gebraucht, um einige Dinge herauszufinden.“ Sie blickte Grace an und lächelte. „Ich brauchte nicht deine Jahre, nicht wahr?“ Grace lächelte zurück. Die beiden Frauen waren so weit auseinander wie die Pole. Grace stellte den alten Knickerbockerstock dar, Lilah eine spätere Veredelung. Grace studierte Kleider, weil es ihr Freude macht, Mode zu einer feinen Kunst zu machen. Delilah studierte, um zu beeindrucken. Aber jede sah in der anderen eine Ähnlichkeit des Geschmacks und der Stimmung, und das Lächeln, das sie austauschten, war das des Verstehens. Tante Frances stimmte Delilah nicht zu. Sie sagte zu Grace, als sie nach Hause gingen: „Meine Liebe, sie wohnen auf der West Side – in einem großen Haus auf dem Drive. Meine Besucherliste hört östlich vom Park auf.“ Grace zuckte die Achseln. „Mutter“, sagte sie, „ich lernte eine Sache in Paris – dass die einzigen Leute, die es zu kennen lohnt, die interessanten Leute sind, und ob sie auf dem Drive oder in Dakota 122
leben, ist mir egal. Und wir sind ein fürchterlicher Haufen Fossilien in unserem Kreis.“ Mrs. Clendenning wechselte das Thema. „Ich verstehe nicht, warum General Dick Leila erlaubt, so viel bei Miss Jeliffe zu sein.“ „Sie waren zusammen in der Schule, und der General und Mr. Jeliffe sind alte Freunde.“ Ihre Mutter zuckte die Achseln. „Also, ich hoffe, dass, wenn wir hier für den Winter bleiben, dass sie uns nicht aufgezwungen werden. Washington ist eine solche Stadt von Kletterpflanzen, Grace.“ Grace ließ dort das Thema fallen. Sie hatte Diskretion gelernt. Sie und ihre Mutter betrachteten das Leben von verschiedenen Blickwinkeln. Zu versuchen, diese Unterschiede unter einen Hut zu bringen, würde Zank und Auseinandersetzung bedeuten, hatte es immer bedeutet, und in diesen späteren Jahren hatte Grace ihren Kurs in Richtung Ruhe gesteuert. Sie hatte sich geweigert, von den Stürmen der Vorurteile ihrer Mutter herumgeweht zu werden. Inmitten der Konventionalität ihrer eigenen gesellschaftlichen Ausbildung hatte sie es geschafft, ungehindert zu sein. Darin war sie mehr wie Mary als die anderen ihrer Generation. Und sie liebte Mary und wollte sie glücklich sehen. „Mutter“, fragte sie abrupt, „wer ist dieser Roger Poole?“ Mrs. Clendenning erzählte ihr, dass er ein Mieter in den Turmzimmern war – ein Beamter des Finanzministeriums – ein bloßer Niemand. Grace forderte die letzte Behauptung heraus. „Er ist ein brillanter Mann“, sagte sie. „Ich saß beim Essen neben ihm. Da ist irgendwo ein Geheimnis. Er hat ein Gehabe der Autorität, die Ungezwungenheit eines Mannes von Welt.“ „Er ist in Mary verliebt“, sagte Mrs. Clendenning, „und er sollte nicht in dem Haus sein.“ 123
„Aber Mary ist nicht in ihn verliebt – noch nicht.“ „Wie weißt du das?“ In der Dunkelheit lächelte Grace. Wie wusste sie es? Na, die verliebte Mary würde von einer Lampe innen erhellt werden! Es würde in ihren Wangen brennen, blitzen in ihren Augen.“ „Nein, Mary ist nicht verliebt“, sagte sie. „Sie sollte Porter Bigelow heiraten.“ „Sie sollte Porter nicht heiraten. Mary sollte einen Mann heiraten, der alles, was sie zu geben hat, nutzen würde. Porter würde es nicht nutzen.“ „Was meinst du nun damit?“, sagte Mrs. Clendenning ungeduldig. „Rede keinen Unsinn, Grace.“ „Mary Ballard“, analysierte Grace langsam. „ist eine von den Frauen, die, wenn sie in einer anderen Generation geboren worden wäre, gegangen wäre, um den Löwen um des Ideals willen vorzusingen; sie hätte eine Armee angeführt oder Kanonen hinter Barrikaden geladen. Sie hat Mut und Stärke und das Bedürfnis, aus einer großen Sache in ihrem Leben ihr Bestes hervorzubringen. Und Porter braucht diese Art von Frau nicht. Er will es nicht. Er will anbeten. Zu ihren Füßen knien und zu ihr aufschauen. Er würde nichts von ihr verlangen. Er würde sie mit Zärtlichkeit ersticken. Und sie will nicht erstickt werden. Sie will ihren Kopf erheben und den schlagenden Winden entgegentreten.“ Mrs. Clendenning, hilflos vor diesem Ausbruch der Beredsamkeit seitens ihrer gewöhnlich zurückhaltenden Tochter, fragte mit scharfer Zunge: „Wie um alles auf der Welt weißt du, was Porter will und Mary braucht?“ „Vielleicht“, sagte Grace langsam, „ist es, weil ich ein wenig wie Mary bin. Aber ich bin älter und ich habe gelernt zu nehmen, was die 124
Welt gibt. Nicht, was ich will. Aber Mary wird nie mit Kompromissen zufrieden sein, und sie wird immer mit erhobenem Haupt durchs Leben gehen.“ Marys Haupt war in diesem Augenblick erhoben, da mit flammenden Wangen und leuchtenden Augen sie für ihre Gäste die Gastgeberin spielte, während in ihrem Unterbewusstsein Fragen über Roger Poole hämmerten. Befreit von der etwas hinderlichen Gegenwart von Mrs. Clendenning ließ sich Delilah gehen, und sie bezog sogar von dem ernsten Gordon Richardson den Tribut des Lachens. „Es war ein Künstler, den ich Marblehead traf“, sagte sie, „der mir den Weg zeigte. Er sagte mir, dass ich ein Klecks gegen das Meer und den Himmel sei, mit meinem Purpurrot und Grün und Rot und Gelb. Ich werde euch seine Skizzen von mir zeigen, wie ich sein sollte. Sie öffneten meine Augen; und ich werde euch auch meinen Künstler zeigen. Er kommt herunter, um zu sehen, ob ich Idee aufgenommen habe.“ Und nun ging sie die Stufen hinunter. „Vater wird wütend sein, wenn ich ihn länger warten lasse. Er ist verrückt nach dem Wagen, und wenn er fährt, ist es eine regelrechte Tam O’Shanter‐Aufführung. Ich werde keinen von euch bitten, seinen Hals bei ihm zu riskieren, aber wenn du und der General gewillt seid, es zu versuchen, Leila, werden wir euch nach Hause bringen.“ „Ich habe nicht in fünfzig Schlachten gekämpft, um jetzt die weiße Feder zu zeigen“, sagte der General und Leila zirpte: „Sehr gerne“, und bald fuhren sie mit Barry in ergebener Teilnahme davon. Mary, die auf der Veranda auf Porter wartete, der nach seinem eigenen Wagen telefonierte, der sie um den Speedway fahren sollte, blickte begierig zum Brunnen. Der Mond war unter eine Wolke gegangen, und während sie den Schimmer des Wassers einfing, 125
verbarg der hundertblättrige Busch die Bank. War Roger Poole dort? Alleine?“ Sie hörte Porters Stimme hinter sich. „Mary“, sagte er, „ich habe einen schweren Umhang gebracht. Und der Wagen wird in einer Minute hier sein.“ Tante Isabelle hatte ihm den grünen Umhang mit dem Pelz gegeben. Sie schlüpfte schweigend hinein und er drehte den Kragen um ihren Hals um. „Ich habe nicht vor, dass du zitterst, wie du es in diesem dünnen roten Ding getan hast“, sagte er. Sie entzog sich. Es war gut von ihm, sich um sie zu kümmern, aber sie wollte seine Fürsorge nicht. Sie wollte diesen Ton nicht, dieses Gehabe des Besitzes. Sie gehörte nicht Porter. Sie gehörte sich selbst. Und niemandem sonst. Sie war frei. Mit der schnellen stolzen Bewegung, die für sie charakteristisch war, hob sie ihren Kopf. Ihre Augen gingen über Porter, über die Veranda zu den Turmzimmern, wo ein Licht plötzlich flackerte. Roger Poole war nicht im Garten; er war nach oben gegangen, ohne „Gute Nacht“ zu sagen.
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Kapitel XI In dem Roger einen Brief schreibt und in dem eine Rose auf den Seiten eines Buchs blüht. In den Turmzimmern, Mitternacht –
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s ist am besten, es zu schreiben. Was ich Ihnen im Garten gesagt hätte, wäre bestenfalls stockend gewesen. Wie könnte alles mit Ihren klaren Augen auf mir sprechen – die ganze elende Geschichte dieser Jahre, die am besten begraben werden, aber deren Geister heute Nacht wieder auferstanden sind? Wenn in diesen Monaten – dieses Jahr, in denen ich in diesen Zimmern gewohnt habe, ich etwas verborgen zu haben schien, was Sie jetzt wissen werden, war es nicht, weil ich mich vor Ihnen als etwas mehr als ich bin darstellen wollte. Nicht, dass ich zu täuschen versuchte. Es war einfach, dass der Gedanke des alten Lebens einen wogenden Sinn der Hilflosigkeit brachte, der Hilflosigkeit, der Rebellion gegen das Schicksal. Da ich es hinter mich gebracht habe, habe ich nicht den Wunsch, darüber zu reden – darüber nachzudenken – es in all seiner getrübten Tragödie zu haben, hochgehalten vor Ihren ernsten, leuchtenden Augen. Denn Sie haben nie solche Dinge gekannt, wie ich sie Ihnen zu erzählen habe, Mary Ballard. Es hat Sorge in Ihrem Leben gegeben, und ich habe neulich gesehen, wie sie wegen denen leiden, die Sie lieben. Aber bis jetzt haben Sie kein Ideal abgesetzt. Sie haben diesen tapferen jungen Kopf von Ihnen nicht gebeugt. Sie haben nie Ihren Rücken Dingen zugewandt, die gewesen sein mochten. Wie ich meinen zugewandt habe. Ich wünsche manchmal, dass Sie mich vor den Geschehnissen der Dinge, die ich Ihnen erzählen werde, 127
gekannt hätten. Aber ich wünsche mehr als alles, dass ich Sie gekannt hätte. Bis ich hierher kam, träumte ich nie, dass es eine solche Frau wie Sie gäbe. Ich hatte an Frauen zuerst gedacht, wie ein ritterlicher Junge denkt, später wie ein enttäuschter Mann. Aber von einer Frau wie ein junger und feuriger Soldat, der darauf brennt, die Siegesschlachten der Welt zu kämpfen – von einer solchen Frau hatte ich niemals geträumt. Aber dieses Jahr hat es mich gelehrt. Ich habe gesehen, wie Sie die Dinge wegstießen, die die meisten Frauen bezaubert hätten, ich habe Sie Reichtum wegstoßen sehen und Liebe um der bloßen Liebe willen. Ich habe Sie gewillt zur Arbeit gesehen, damit sie ungetrübt das Ideal aufrechterhalten können, das Sie sich für Ihre Fraulichkeit gesetzt hatten. Liebend und der Liebe würdig sind Sie nicht gewillt gewesen zu erhalten, außer Sie konnten geben, geben aus der Fülle Ihrer großzügigen Natur. Und aus dieser Großzügigkeit haben Sie mir Ihre Freundschaft gegeben. Und nun; da ich die Dinge schreibe, die Ihre klaren Augen lesen sollen, frage ich mich, ob diese Freundschaft entzogen wird. Werden Sie, wenn Sie von meiner verlorenen Schlacht hören, etwas an mir finden, das würdig ist – wird etwas aus dem Ruin ihrer Gedanken von mir gerettet werden? Also, hier ist es und Sie sollen urteilen: Ich werde die ersten Jahre überspringen, außer um zu sagen, dass mein Vater einer der New Yorker Pooles war, der nach Süden nach dem Bürgerkrieg zog. Meine Mutter war aus Richmond. Wir waren wohlhabende Leute mit einer unangreifbaren gesellschaftlichen Position. Meine Mutter, gütig und reizend, ist kaum mehr als eine Erinnerung; sie starb, als ich ein Kind war. Mein Vater heiratete wieder und starb, als ich auf dem College war. Da waren drei Kinder durch seine zweite Ehe, und als die Vermögensmasse festgelegt wurde, fiel mir nur eine bescheidene Summe zu. 128
Ich war ein einsamer kleiner Junge gewesen – auf dem College war ich ein verträumter, idealistischer Kerl mit der rettenden Gnade einer Liebe zur Athletik. Ihr Schwager wird Ihnen etwas von meinen Erfolgen in unserer Schulmannschaft erzählen. Das war mein Leben – der Tag im Freien, die Nächte zwischen meinen Büchern. Als die Zeit verging, bekam ich Preise in der Redekunst – es gab einen gewissen Anfang, als die Schule für mich schwärmte, und ich wurde auf den Schultern meiner Kameraden getragen. Für mich schienen die Kirche und die Rechtswissenschaft offen zu sein. Hätte ich in einer anderen Umgebung gelebt, hätte es auch die Bühne gegeben. Aber ich sah nur zwei Ventile für meine Talente, die Kirche, gegen die sich mein Geschmack auflehnte, und die Rechtswissenschaft, die der Beruf meines Vaters gewesen war. Schließlich wählte ich die Kirche. Mir gefiel der Gedanke meiner gelehrten Zukunft – von der Macht, die meine Stimme haben mochte, um das Publikum zu beeinflussen und zu bewegen. Ich lege alles nieder, meinen jungenhaften Optimismus, Arroganz – wie auch immer Sie es nennen mögen. Doch bin ich davon überzeugt und mein Erfolg von ein paar Jahren bewiesen es, dass, hätte nichts meine Zukunft beeinträchtigt, ich einen Eindruck auf immer weitere Kreise gemacht hätte Aber etwas kam dazwischen. In meinen letzten Jahren auf dem Seminar wohnte ich in einem Haus, wo ich täglich die Tochter der Hauswirtin traf. Sie war ein kleines Ding mit gelbem Haar und einer kindischen Art. Wenn ich zurückblicke, kann ich nicht sagen, dass ich mich je zu ihr hingezogen fühlte. Aber sie war für so lange ein Teil meines Lebens, dass nach und nach zwischen uns eine Art Kameradschaft entstand. Nicht Freundschaft in dem Sinn, die ich bei Ihnen verstanden habe; da war nichts an spiritueller oder geistiger Seelenverwandtschaft. Aber ich spielte den großen Bruder. 129
Ich führte sie zu kleinen Tanzveranstalten und zu anderen College‐ Angelegenheiten. Ich bereite sowohl ihr als auch ihrer Mutter solche kleinen Freuden, wie es für einen Mann möglich ist, zwei ziemlich einsamen Frauen zu bereiten. Es gab andere Studenten in dem Haus und ich war mir nicht bewusst, dass ich mehr als der Rest von ihnen tat. Dann kam der Tag, als das gelbhaarige Mädchen – soll ich sie Kathy nennen? – zu einem Festzug in einer benachbarten Stadt gehen wollte. Er sollte zwei Tage dauern und es sollte eine Nachtparade geben und Festzugswägen und einen Karneval. Viele der Studenten gingen und es war geplant, dass Kathy und ich einen Morgenzug am ersten Tag nehmen sollten, damit wir nichts verpassen mochten. Kathys Mutter würde in einem Nachmittagszug kommen und sie würden die Nacht in einem gewissen ruhigen Hotel verbringen, während ich mit einem Haufen Kameraden in ein anderes gehen sollte. Also, als dieser Nachmittagszug ankam, war die Mutter nicht darin. Auch kam sie nicht. Ohne einen Gedanken der Zwanglosigkeit verschaffte ich für Kathy ein Zimmer an dem Platz, wo sie und ihre Mutter abgestiegen wären. Dann verließ ich sie und ging zu dem anderen Hotel, um mich meinen Klassenkameraden anzuschließen. Aber karnevalverrückt, sie kamen überhaupt nicht und fuhren mit einem Expresszug zurück, der durch die Stadt am frühen Morgen fuhr. Als Kathy und ich zu Mittag nach Hause kamen, fanden wir ihre Mutter weiß und hysterisch. Sie wollte auf keine Erklärungen hören. Sie sagte mir, dass ich Kathy die Nacht zuvor zurückbringen hätte sollen – dass sie ihren Zug versäumt und so ihre Verabredung mit uns verpasst hätte. Und sie sagte mir, dass ich in Ehren gezwungen war, Kathy zu heiraten. Wie ich schreibe, scheint es ein solches Melodrama zu sein. Aber es war damals sehr ernst. Ich habe nie gewagt, die Motive der Mutter zu analysieren. Aber nach meinen jungenhaften Augen war ihre Sorge um 130
den Ruf ihrer Tochter aufrichtig und ich nahm die Verantwortung an, die sie mir auferlegte. Also, ich heiratete sie. Und sie legte ihre schlanken Arme um meinen Hals und weinte und dankte mir. Sie war sehr süß und sie war meine – Frau – und als mir eine Kirchengemeinde gegeben wurde und sie meinen Leuten vorgestellt hatte, liebten sie sie für die weiße Sanftheit, die Reinheit zu sein schien, und die geduldige Liebenswürdigkeit, die Güte zu sein schien. Ich habe mir selbst darin Vorwürfe zu machen – dass ich sie nicht liebte. All diese Jahre habe ich es gewusst. Aber dass ich ausgesprochen unschuldig war, wusste ich nicht. Erst in den letzten paar Monaten habe ich es erfahren. Vielleicht vermisste sie, was ich ihr hätte geben sollen. Gott weiß. Und nur er weiß, ob, wenn ich sie verehrt, sie angebetet hätte, die Dinge anders gewesen wären. Ich war sehr beschäftigt. Sie war nicht stark. Sie war viel sich selbst überlassen. Die Leute erwarteten keine großen Bemühungen ihrerseits – es war genug, dass sie wie eine Heilige aussehen sollte – dass sie sich so vollkommen an die kirchliche Atmosphäre anlehnen sollte. Und nun kommt der merkwürdige, fast unglaubliche Teil. Eines Morgens, als wir zwei Jahre verheiratet gewesen waren, verließ ich das Haus, um zu dem Büro von einem meiner besten Freunde in der Gemeinde zu gehen – ein Arzt, der in unserer Nähe wohnte, der nicht verheiratet war und der für meine Frau hin und wieder Rezepte verschrieben hatte. Als ich hinausging, bat mich Kathy, ihm eine Zeitschrift zurückzugeben, die sie mir reichte. Sie war eingewickelt und mit einer Schnur zusammengebunden. Ich musste im Büro des Arztes warten und ich wickelte die Zeitschrift aus und löste die Schnur und zwischen den Blättern fand ich eine Nachricht an – meinen Freund. 131
Warum tun Leute solche Dinge? Sie hätte anrufen können, was sie zu sagen hatte; sie hätte es schreiben und es durch die Post schicken können. Aber sie wählte diesen Weg und ließ mich zu dem anderen Mann die Botschaft über ihre Liebe zu ihm bringen. Denn das war, was auf dem Zettel stand. Es gab keinen Zweifel und ich ging aus dem Büro und ging nach Hause. In anderen Zeiten mit anderen Manieren hätte ich ihn umgebracht. Wenn ich sie geliebt hätte, hätte ich es; ich kann es nicht sagen. Aber ich ging nach Hause. Sie schien froh zu sein, dass ich es wusste. Und sie bat, dass ich mich von ihr scheiden und sie ihn heiraten lasse. Liebe klare Augen, die das lesen, was denkt ihr von mir? Von dieser Geschichte? Und was dachte ich? Ich, der geträumt und studiert und gepredigt hatte und nie – gelebt hatte? Ich, der das Verkommene hasste? Ich, der von mir so hoch gedacht hatte? Wie ich sie heiratete, so ließ ich mich von ihr scheiden. Und da ich ihren Namen und meinen nicht beschmutzt haben wollte, trennte ich mich von ihr und sie gewann ihre Verteidigung aufgrund Verlassens. Wissen Sie, was das in meinem Leben bedeutete? Es bedeutete, dass ich meine Kirche aufgeben musste. Es bedeutete, dass ich bereit sein musste, die Dinge zu ertragen, die vielleicht von mir gesagt werden. Auch wenn die Wahrheit bekannt geworden wäre, hätte es wenig Unterschied gegeben, außer in dem Mitgefühl, das mir als verletzte Partei gewährt worden wäre. Und ich wollte kein Mitleid von einem Menschen. Und so ging ich voran, des Rechts beraubt, meine Stimme zu erheben und zu predigen – des Rechts beraubt, zu den Tausenden zu sprechen, die meine Kirche gepackt hatte. Und nun – was für eine Bedeutung hatten für mich die Kerzen auf dem Altar, was für eine Bedeutung die Stimmen im Chor? Ich hatte auch gesungen in dem 132
Licht der heiligen Kerzen, aber es wurde bestimmt, dass meine Stimme für immer still sein muss. Ich schlug meine Schlacht eines Nachts in der Dunkelheit meiner Kirche. Ich betete um Licht und ich sah keines. Oh, klare Augen, warum wird Licht einem Mann gegeben, dessen Weg verborgen ist? Ich ging vorwärts von dieser Kirche, überzeugt, dass alles eine Täuschung war. Dass die Lichter nichts bedeuteten; dass die Musik weniger bedeutete, und dass das, was ich gepredigt hatte, einen poetischen Trugschluss bedeutete. Einige der Leute meiner Kirche glauben noch an mich. Andere, falls Sie ihnen begegnen sollten, würden sagen, dass ich ein Heiliger war, und dass ich ein Sünder war. Also, wenn meine Sünde Schwäche war, gebe ich es zu. Ich hätte sie vielleicht nie heiraten sollen; aber sie geheiratet zu haben, hätte ich sie gegen ihren Willen halten können? Sie heiratete ihn. Und ein Jahr danach starb sie. Sie war ein zartes Ding und ich habe nichts Schroffes von ihr zu sagen. In einem gewissen Sinn war sie ein Opfer, zuerst von dem Ehrgeiz ihrer Mutter, als Nächstes aus Mangel an meiner Liebe und zuletzt seines Strebens. Vielleicht hätte ich Ihnen das nicht erzählen sollen. Außer meinem Bischof, der um die Wahrheit bat und dem ich sie sagte und dessen Güte und Freundlichkeit niemals vergessene Dinge sind – außer ihm sind Sie die Einzige, der ich es je gesagt habe; die Einzige, der ich es je sagen werde. Aber ich werde Ihnen dies sagen, und Gloria, es zu erzählen. Dass, wenn ich ein Leben der Ehre und dem Erfolg anzubieten hätte, würde ich es Ihnen jetzt anbieten. Dass, wenn ich Ihnen als träumender Junge begegnet wäre, hätte ich versucht, meine Träume Ihren anzupassen. Sie sagen vielleicht, dass mit dem Tod meine Frau sich die Dinge geändert haben. Dass ich doch einen Ort zu predigen, zu lehren, zum Publikum zu sprechen und es zu beeinflussen, finden könnte. 133
Aber jeder Neueintritt in die Welt bedeutet, die alte Geschichte – die Frage – die geflüsterte Bemerkung ans Tageslicht zu bringen. Ich denke nicht, dass ich ein Feigling bin. Aber ich kann fragenden Augen und flüsternden Lippen nicht gegenübertreten. Daher bin ich für meine ganze Zukunft zu Mittelmäßigkeit hingegeben. Und was hat Mittelmäßigkeit mit Ihnen zu tun, die Sie nie „Ihren Rücken zugedreht haben, sondern mit dem Gesicht vorwärts marschierten“? Und daher gehe ich fort. Nicht so schnell, dass es Äußerungen gibt. Aber schnell genug, um Sie von zukünftiger Peinlichkeit meinetwegen zu erleichtern. Ich weiß nicht, ob sie das beantworten werden. Aber ich weiß, dass, was auch immer Ihr Urteil ist, ob ich noch die Gnade Ihrer Freundschaft habe oder sie für immer verliere, ich froh bin, dieses eine Jahr in den Turmzimmern gelebt zu haben. Ich bin froh, die eine Frau kennengelernt zu haben, die mir meine jungenhaften Träume von allen Frauen zurückgegeben hat. Und jetzt eine letzte Zeile. Falls sie je die kommenden Jahre mich brauchen sollten, stehe ich zu Ihren Diensten. Ich werde nichts für zu schwer erachten, was sie mich bitten. Ich bin mir wunderlich bewusst, dass in mitten all dieser Dunkelheit und Tragödie mein Angebot das der Maus an den Löwen ist. Aber da kam ein Tag, als die Maus ihre Schulden bezahlte. Bitten Sie mich, meine zu bezahlen und ich werde kommen – vom Ende der Welt. Dies war der Brief, den Mary am nächsten Morgen auf ihrem Schreibtisch in dem kleinen Büro fand, in das Roger an dem Abend der Hochzeit geführt worden war. Sie erkannte die feste Handschrift und 134
fand, wie sie zitterte, als sie den quadratischen weißen Umschlag berührte. Aber sie legte den Brief zur Seite, bis sie Susan ihre Befehle gegeben hatte, bis sie andere Befehle über das Telefon gegeben hatte, bis sie den Heizer und den Fleischerjungen befragt hatte und gewisse Schecks ausgestellt und verschickt hatte. Dann nahm sie den Brief mit sich zu ihrem eigenen Zimmer, versperrte die Tür und las ihn. Constance, die ein wenig später anklopfte, wurde hereingelassen und fand ihre Schwester angezogen und bereit für die Straße. „Ich habe ein Dutzend Verpflichtungen“, sagte Mary. Sie zog ihre Handschuhe an und lächelte. Sie war vielleicht ein wenig blass, aber dass die Mary von heute anders als die Mary von gestern war, war an äußeren Anzeichen nicht zu sehen. „Ich gehe zuerst zur Schneiderin, um mich darum zu kümmern, das hübsche Kleid, das du mir für Delilahs Teetanz kauftest, anzupassen; dann treffe ich dich bei Mrs. Careys Mittagessen. Und danach wird unsere Fahrt mit Porter und die private Ansicht im Corcoran sein, dann zweimal Tee und später das Abendessen bei Mrs. Bigelow. Ich befürchte, es wird ziemlich anstrengend für dich sein, Constance.“ „Ich werde nicht versuchen, den Tee einzunehmen. Ich werde nach Hause kommen und mich hinlegen, bevor ich mich für das Abendessen umziehen muss.“ Als sie ihre Programme für den Tag durchführte, war sich Mary bewusst, dass sie es gut tat. Sie machte gewissenhafte Pläne mit der Schneiderin, sie gab sich heiter bei dem leichten Geplauder des Mittagessens; während der Fahrt verglich sie Porters ausgelassene Stimmung mit ihrer eigenen, sie betrachtete die Bilder und machte intelligente Bemerkungen. 135
Nach der Ansicht fuhr Constance in Porters Wagen nach Hause und Mary wurde in einem Haus am Dupont Circle zurückgelassen. Porters Augen hatten gebettelt, dass sie ihn mit ihr mitkommen ließe, aber sie hatte sich geweigert, seinem Blick zu begegnen und hatte ihn weggeschickt. Als sie durch den Schimmer der goldenen Zimmer ging, verbeugte sie sich und lächelte die Leute an, die sie kannte, sie scherzte mit Jerry Tuckerman, der darauf bestand, sich um sie zu bemühen und ihr ein Eis zu besorgen. Und dann, sobald sie es mit Anstand konnte, ging sie weg und kam hinaus ins Freie, wobei sie einen langen Atemzug machte, wie eine, die eingesperrt gewesen war und einen Ausbruch in die Freiheit machte. Sie ging nicht zum anderen Tee. Den ganzen Tag hatte sie wie in einem Traum gelebt, indem sie das tat, was von ihr verlangt wurde, und tat es gut. Aber von jetzt bis zu der Zeit, zu der sie nach Hause gehen und sich zum Abendessen umziehen musste, gab sie sich Gedanken an Roger Poole hin. Sie bog die Connecticut Avenue hinunter und indem sie leicht und schnell ging, kam sie endlich zur alten Kirche, wo sie ihr ganzes Leben lang angebetet hatte. Zu dieser Stunde gab es keinen Gottesdienst und sie kniete für einen Augenblick, dann setzte sie sich in ihrer Kirchenbank zurück, froh über das Gefühl der absoluten Immunität vor Unterbrechung. Und als sie dort in der Stille saß, ragte ein Satz aus seinem Brief heraus. Dies war für Mary die größte Tragödie – sein Verlust des Mutes, sein Verlust des Glaubens – seine Akzeptanz an eine passive Zukunft. Entschlossen hatte sie alle schaudernde Pein besiegt, die über sie gefegt war, als sie von dieser schäbigen Ehe und ihrer Folge gelesen hatte. Entschlossen hatte sie sich über die Schwäche erhoben, die sie zu überschwemmen drohte, als ihr die ganze unerwartete Geschichte 136
präsentiert wurde; entschlossen hatte sie gegen ein Mitleid angekämpft, das sie zu überwältigen drohte. Entschlossen hatte sie sich mit klaren Augen der Schlussfolgerung gegenübergestellt; das Leben war zu viel für ihn gewesen und er hatte sich dem Schicksal ergeben. Zu sagen, dass sein Brief in seiner persönlichen Beziehung zu ihr sie nicht gepackt hatte, würde die Herzlichkeit ihrer Freundschaft für ihn unterschätzen; wenn da mehr als Freundschaft wäre, würde sie es nicht zugeben. Es hatte einen Augenblick gegeben, als erschüttert und durch die pochenden Worte aufgerührt, sie den Brief hingelegt und sich mit Herzklopfen gefragt hatte: „Ist die Liebe endlich zu mir gekommen?“ Aber sie hatte es nicht beantwortet. Sie wusste, dass sie es nie beantworten würde, bis Roger Poole eine Bedeutung im Leben fand, die bis jetzt vor ihm verborgen war. Aber wie konnte sie am besten helfen, diese Bedeutung zu finden? Unscharf fühlte sie, dass es durch sie sein sollte, dass er sie finden würde. Und er ging davon. Und bevor er ging, musste sie für ihn einen kleinen Leuchtturm der Hoffnung anzünden. Es war nun dunkel in der Kirche, außer der Kerze auf dem Altar. Sie kniete sich wieder hin und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Sie hatte den einfachen Glauben eines Kindes, und als ein Kind hatte sie sich in dieselbe Kirchenbank gekniet und hatte zuversichtlich um die Dinge gebeten, die sie wünschte, und sie hatte geglaubt, dass ihre Gebete erhört werden würden. Es war spät, als sie die Kirche verließ. Und sie war spät dran, nach Hause zu kommen. Alle tieferen Teile des Hauses waren erleuchtet, aber da war kein Licht in den Turmzimmern. Roger, der in der Stadt zu Abend aß, würde nicht kommen, bis sie unterwegs zu Mrs. Bigelow waren. 137
Als sie durch den Garten ging, sah sie auf einem Busch in der Nähe des Springbrunnens eine rote Rose blühen. Sie bückte sich und pflückte sie, und indem sie in der Dämmerung den Pfad hinunterflitzte, ging sie durch die Tür, die zur Turmtreppe führte. Und als eine Stunde später Roger Poole in das ruhige Haus kam, müde und abgespannt von der Anspannung eines Tages, in dem er versucht hatte, seinen Brief mit Marys Augen zu lesen, fand er sein Zimmer dunkel, außer dem Flackern des Feuers. Indem er sich durch die Dunkelheit tastete, zog er schließlich die Kette der elektrischen Lampe auf seinem Tisch. Das Licht zog sofort einen Goldkreis auf der dunklen matten Eiche. Und innerhalb dieses Kreises sah er die Antwort auf seinen Brief. Weit offen und beleuchtet lag John Ballards alte Bibel. Und über die Seiten, frisch und wohlriechend wie die Freundschaft, die sie ihm geschenkt hatte, war die späte Rose, die sie im Garten gepflückt hatte.
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Kapitel XII In der Mary und Roger ihre Stunde haben; und in der ein Teetrinken in dem endet, was eine Tragödie gewesen wäre.
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ür Mary, besessen und beeinflusst von dem Brief, den sie von Roger erhalten hatte, schien es eine merkwürdige Sache zu sein, dass der Rest der Welt ruhig und unbewusst vorwärts
ging.
Der Brief war am Samstag zu ihr gekommen. Am Sonntagmorgen ging jeder zur Kirche. Jeder speiste hinterher unmodern um zwei Uhr zu Mittag und später fuhren alle hinaus zum Park. Das heißt, alle außer Mary! Sie lehnte aufgrund anderer Dinge, die zu tun seien, ab. „Es werden sowieso fünf von euch mit Tante Frances und Grace sein“, sagte sie, „und ich werde Tee für euch haben, wenn ihr zurückkommt.“ So waren Constance und Gordon und Tante Isabelle fortgegangen, und mit Barry bei Leila war Mary endlich alleine. Allein in dem Haus mit Roger Poole! Ihre kleinen Pläne waren alle gemacht und sie machte sich sofort an die Arbeit, sie auszuführen. Es war ein fader Nachmittag und der altmodische Salon mit seinem verlöschenden Feuer und seinem blassen Teppich, seinen abgenutzten Polstermöbeln und fahlen Spiegeln sah trostlos aus. Mary hatte Susan Jenks das Feuer neu machen lassen. Dann zog sie einen tiefen Polstersessel herauf und einen leichteren aus Mahagoni, 139
der zu dem niedrigen Teetisch passte, der links vom Kamin war. Sie stellte einen Gobelinwandschirm auf, sodass er diese Ecke von dem Rest des Zimmers und von der Tür abtrennte. Gordon hatte die Nacht zuvor eine große Schachtel mit Blumen gebracht, und da waren Lilien darunter. Mary stellte die Lilien auf den Tisch in ein Gefäß aus graugrünem Ton. Dann ging sie nach oben und wechselte das Straßenkostüm, das sie zur Kirche getragen hatte, in das alte grüne Samtkleid. Als sie herunterkam, knisterte das Feuer und der Duft der Lilien machte den abgeschirmten Raum süß – Susan hatte auf den kleinen Tisch ein rot lackiertes Tablett und einen alten Silberkessel gestellt. Susan hatte auch die Nachricht, die Mary ihr gegeben hatte, zu den Turmzimmern gebracht. Bis Roger herunterkam, gestalte sie alles um. Sie fühlte sich wie ein kleines Mädchen, das Haushaltsführung spielt. Ein neues Gefühl schien in ihr erwacht zu sein, ein Gefühl, das sie lebendig gegenüber der Behaglichkeit und des Komforts und der Abgeschiedenheit dieser abgetrennten Ecke machte. Sie fand sich versuchen, alles durch Roger Pooles Augen zu sehen. Als er endlich um die Ecke des Wandschirms kam, lächelte sie und gab ihm ihre Hand. „Das soll unsere Stunde zusammen sein. Ich musste für sie planen. Fühlten Sie je, dass die Welt so voller Menschen ist, dass es keinen Winkel gibt, in dem man allein sein kann?“ Als er sich auf den großen Stuhl setzte und das Licht auf sein Gesicht schien, sah sie, wie müde er aussah, als ob die Tage und Nächte, seit sie ihn gesehen hatte, Tage und Nächte der Wache gewesen wären. Sie fühlte ein wogendes Gefühl der Anteilnahme, das sie zittern ließ, wie sie gezittert hatte, als sie seinen Brief berührt hatte, als er auf 140
ihrem Schreibtisch gelegen war, aber als sie sprach, war ihre Stimme beständig. „Ich werde Ihnen eine Tasse Tee machen – dann können wir reden. Er sah ihr zu, als sie ihn machte, ihre geschickten Hände schmucklos, außer dem einen reizenden Ring, dem Weiß ihrer Haut durch ihr grünes Kleid hervorgehoben, dem Weiß ihrer Seele durch die Lilien symbolisiert. Er lehnte sich nach vor und sprach plötzlich. „Mary Ballard“, sagte er, „falls ich je das Paradies erreiche, werde ich beten, dass es so sein mag, mit dem golden Licht und dem Wohlgeruch, und Sie sollen inmitten davon sein.“ Er lehnte sich nach vor und sprach plötzlich. „Mary Ballard“, sagte er, „falls ich je das Paradies erreiche, werde ich beten, dass es so sein möge, mit dem goldenen Licht und dem Duft und Sie inmitten davon.“ Ernst blickte sie ihn über die Lilien an. „Dann glauben Sie an das Paradies?“ „Ich möchte gerne denken, dass ich in einem gesegneten zukünftigen Zustand auf Sie in einem Garten mit Lilien treffen werde.“ „Vielleicht werden Sie es.“ Sie lächelte, aber ihre Hand zitterte. Sie fühlte sich schüchtern, fast sprachlos. Sie machte ihm einen Tee und gab ihm eine Tasse; dann sprach sie von gewöhnlichen Dingen und der kleine Kessel kochte und blubberte und sang, als ob es keine Sorge oder Traurigkeit auf der ganzen weiten Welt gäbe. Sie kam schließlich zaghaft zu der Sache, die sie zu sagen hatte. „Ich weiß nicht ganz, wie ich wegen Ihres Briefes anfangen soll. Sie verstehen, als ich ihn las, war es für mich zuerst nicht leicht, geradlinig zu denken. Ich hatte von Ihnen nicht gedacht, einen solchen Hintergrund des Lebens zu haben. Irgendwie waren die Umrisse, die 141
ich ausgefüllt hatte – anders. Ich bin nicht ganz sicher, was ich gedacht hatte – nur was es nichts wie dieses gewesen.“ „Ich weiß. Sie konnten sich nicht eine solche Vergangenheit vorgestellt haben.“ „Oh, es nicht Ihre Vergangenheit, die so schwer auf meinem Herzen lastet; es ist Ihre Zukunft.“ Ihre Augen waren voller Tränen. Sie hatte nicht vorgehabt, es auf diese Weise zu sagen. Aber es war gekommen – ihre Stimme brach bei den letzten Worten. Er sprach nicht sofort und dann sagte er: „Ich habe kein Recht, Sie mit meiner Zukunft zu beunruhigen.“ „Aber ich will beunruhigt werden.“ „Ich werde Sie nicht lassen. Ich werde das nicht von Ihrer Freundschaft verlangen. Letzte Nacht, als ich zurück zu meinen Zimmern kam, fand ich eine blühende Rose auf den Seiten eines Buches. Sie schien mir zu sagen, dass ich Ihre Freundschaft nicht verloren hatte; und Sie haben mir diese Stunde gegeben. Das ist das ganze Recht, das ich habe, Ihre Großzügigkeit zu verlangen.“ Sie rückte das Gefäß mit den Lilien beiseite, sodass nichts zwischen ihnen sein mochte. „Wenn ich Ihre Freundin bin, muss ich Ihnen helfen“, sagte sie, „oder was würde meine Freundschaft wert sein?“ „Es gibt keine Hilfe“, sagte er eilig, „nicht in dem Sinn, wie ich denke, dass Sie es meinen. Meine Vergangenheit hat meine Zukunft gebildet. Ich kann mich nicht wieder in den Kampf werfen. Ich weiß, dass ich ein Feigling genannt worden bin, meinem Leben nicht entgegenzutreten. Aber ich könnte Armeen gegenübertreten, wenn es etwas Greifbares wäre. Ich könnte mit einem Schwert oder einem Gewehr oder mit meinen Fäusten kämpfen, wenn es einen sichtbaren Widersacher gäbe. Aber Geflüster – man kann es nicht töten; und schließlich tötet es einen.“ 142
„Ich will nicht, dass Sie kämpfen“, sagte sie und nun war hinter der Weiße ihrer Haut ein Strahlen. „Ich will nicht, dass Sie kämpfen. Ich will, dass Sie Ihre Botschaft übermitteln.“ „Was für eine Botschaft?“ „Die Botschaft, die jeder Mann, der auf der Kanzel steht, für die Welt haben muss, sonst hat er kein Recht, dort zu stehen.“ „Sie denken also, dass ich keine Botschaft hatte?“ „Ich denke“, und nun streckte sie ihm ihre Hand über den Tisch entgegen, als ob sie die Worte mildern wollte, „ich denke, dass, wenn Sie sich dazu berufen gefühlt hätten, das eine zu tun, dass Sie nichts davon ins Wanken gebracht hätte – da sind Leute nicht in den Kirchen, die nie zur Kirche gehen, die wollen, was Sie zu geben haben – da sind die Landstraßen und Hecken. Oh, sicher, nicht alle Leute, die es wert sind, dass ihnen gepredigt wird, sind diejenigen in den Kirchenbänken.“ Sie schleuderte ihm die Herausforderung direkt entgegen. Und er schleuderte sie ihr zurück: „Wenn ich eine solche Frau wie Sie in meinem Leben gehabt hätte –“ „Oh, nicht, nicht.“ Das Strahlen erlosch. „Was hat irgendeine Frau damit zu tun? Es sind Sie – Sie selbst, der die Prüfung bestehen muss.“ Nach den klingenden Worten war Totenstille. Roger saß nach vor gelehnt, seine Augen nicht auf ihr, sondern auf dem Feuer. In seinem weißen Gesicht gab es keinen Hinweis der Schwäche; da war eher Stolz, Eigensinn, die Rauheit des starren Vorsatzes. „Ich habe Angst“, sagte er schließlich, „dass ich die Prüfung nicht bestanden habe.“ Ihre klaren Augen begegneten seinen direkt. „Dann treten sie ihr jetzt gegenüber.“ 143
Für einen Augenblick brauste er auf: „Ich weiß jetzt, was Sie über mich denken, dass ich ein Mann bin, der sich gedrückt hat.“ „Sie wissen, dass ich das nicht denke.“ Er gab auf. „Ich weiß es nicht. Und ich brauche Ihre Hilfe.“ Erschüttert durch ihre Emotion wurden sie sich bewusst, dass dies tatsächlich ihre Stunde war. Sie erzählte ihm alles, was sie geträumt hatte, dass er tun mochte. Ihre Farbe kam und ging, als sie das Bild seiner Zukunft zeichnete. Einiges von dem Rat, den sie gab, war mädchenhaft, undurchführbar, aber durch alles verlief der Faden ihres Glaubens an ihn. Sie fühlte, dass sie die Lösung hatte. Dass durch Dienst er Gott finden würde. Es war eine wundervolle Stunde für Roger Poole. Eine Stunde, die wie ein Stern in seiner Erinnerung scheinen sollte. Marys Verstand hatte eine Größe an Vision, die Fähigkeit, sich über die geringeren Dinge zu erheben, um die größeren zu erreichen, die superfeminin zu sein schienen. Es war erst hinterher, als er nochmals überdache, was sie gesagt hatten, dass er sich bewusst wurde, dass sie den Nachdruck auf das gelegt hatte, was er tun sollte. Nicht einmal hatte sie darüber gesprochen, was er getan hatte – nicht einmal hatte sie von seiner Frau gesprochen. „Sie dürfen sich nicht vergraben. Sie müssen einen Weg finden, zuerst eine Gruppe und dann eine andere zu erreichen. Und nach einiger Zeit werden Sie beginnen zu fühlen, dass Sie der Welt gegenübertreten können.“ Er zuckte zusammen. Als sie es in Worte fasste, begann er sich zu sehen, wie andere ihn gesehen haben müssen. Und der Rückblick war kein angenehmer. In einem Sinn war diese Stunde mit Mary Ballard in dem abgeschirmten Raum beim Feuer die Stunde von Roger Pooles spirituellem Erwachen. Er erkannte zum ersten Mal, dass er die 144
Bedeutung der Kerzen auf dem Altar vermisst hatte, die Stimmen im Chor; er hatte die Erkenntnis vermisst, die man im Dienst der Menschheit verbringen muss. „Ich muss es überdenken“, sagte er. „Sie dürfen von mir auf einmal nicht alles erwarten.“ „Ich werde alles erwarten.“ Als sie sprach und lächelte, und es schien ihm, dass sein altes Gewand der Frucht von ihm glitt – als ob er in der glänzenden Rüstung des Vertrauens an ihn gekleidet wäre. Sie hatten danach wenig Zeit zu reden, denn es dauerte nicht lange, bevor Sie den Ton einer Hupe hörten. Roger stand sofort auf. „Ich muss gehen, bevor sie kommen“, sagte er. Aber sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Nein“, sagte sie, „Sie sollen niemals wieder vor der Welt davonlaufen. Stellen Sie den Wandschirm beiseite, bitte – und bleiben Sie.“ Porter, der unterwegs abgeholt worden war, kam mit den anderen herein, um diese glühende Ecke und die beiden zusammen zu erblicken. Mit seinem roten flammenden Haarkamm näherte er sich den beiden. „Jemand sagte ‚Tee’. Darf ich welchen haben, Mary?“ „Wenn der Kessel kocht.“ Sie war aufgestanden und hielt ihm ihre Hand entgegen. Als die beiden Männer sich die Hand schüttelten, war sich Porter der feinen Veränderung an Roger bewusst. Was war über den Mann gekommen – hatte er es gewagt, gegenüber Mary zärtlich zu werden? 145
Und Mary? Er blickte sie an. Sie füllte ruhig ihr Teeei. Sie hatte die Lampe unter ihrem Kessel angezündet und die blaue Flamme schien sie noch weiter zurück zwischen den Schatten ihrer Ecke zu werfen. Grace Clendenning und Tante Frances waren mit dem Rest zum Tee zurückgekommen. Graces Kopf mit Porters gaben der Szene den Höhepunkt. Barry hatte ihnen den Spitznamen „rotköpfige Spechte“ gegeben und der Name schien gerechtfertigt. Während sich Porter jedoch Grace widmete, war er sich jeden Augenblick von Mary genau bewusst. Warum hatte sie für Roger Poole ihren Nachmittag aufgegeben? Er hatte gefragt, ob er kommen könnte, und sie hatte „nach vier“ gesagt, und nun war es nach vier und die Stunde, die sie ihm nicht geben wollte, war diesem Mieter in den Turmzimmern gegeben worden. Es ist vorher gesagt worden, dass Porter kein Snob war, aber für ihn war Marys Haltung der Freundlichkeit zu diesem Mann, der keiner von ihnen war, eine Angelegenheit der wachsenden Verärgerung. Was war da an diesem großen dünnen Kerl mit den müden Augen, um eine Frau anzuziehen? Porter war nicht eingebildet, aber er wusste, dass er einen gewissen Wert besaß. Von welchem Wert in den Augen der Welt war Roger Poole – ein Regierungsangestellter ohne Ehrgeiz, gutaussehend in seiner dunklen Art, aber blass und von einer düsteren Miene umgeben?“ Aber heute Abend war es, als ob die Düsterkeit aufgehoben war. Heute Abend leuchtete Roger, wie er an dem Abend der Thanksgiving‐ Party geleuchtet hatte – er schien plötzlich jung und prächtig – der Ebenbürtige von ihnen allen. Es kam natürlich, dass, als sie ihren Tee tranken, ihn jemand bat zu rezitieren. „Bitte“ – es war Mary, die bettelte. 146
Porter fing eifersüchtig den Blick ab, der zwischen ihnen blitzte, aber konnte nicht daraus klug werden. „Das Whittington ist zu lange“, behauptete Roger, „und ich habe Pittiwitz nicht als Inspiration – aber hier ist ein anderes.“ Sich vorwärts lehnend, mit seinen Augen auf das Feuer gerichtet, trug er es vor. Es war das Gedicht eines Mannes. Es war das Englisch der herzlichen Zeiten von Ben Jonson und Kit Marlowe – und jede schwingende Zeile klang wahr. „Was wirst du sagen, wenn die Welt stirbt? Was, wenn die letzte wilde Mitternacht fällt, Dunkel, zu dunkel für die Fledermaus zu fliegen, Rund um die Ruinen der alten St. Paul’s? Was wird das letzte der Lichter sein, das zugrunde geht? Was außer dem kleinen roten Ring, den wir kannten, Der die Hände und Herzen erleuchtet, Die ein Feuer unterhalten, ein Feuer, und ein oder zwei Freunde!“ CHOR: „Auf jetzt, antworte mir, sage mir wahr. Was wird der letzte der Sterne sein, der zugrunde geht? ‐‐ Das Feuer, das ein oder zwei Freunden leuchtete.“
Als der letzte tapfere Vers zu Ende war, sagte Gordon Richardson: „Beim Zeug, wie es mir wieder einfällt – Sie rezitierten früher Poes ‚Glocke’ in der Schule. Roger lachte. „Ja. Ich glaube, ich ließ sie gegen Ende dröhnen.“ „Sie ließen mich beben und zittern in meinen Schuhen.“ Tante Frances’ Stimme unterbrach frisch: „Was meinst du, Gordon; warst du mit Mr. Poole in der Schule?“ „Ja, St. Martin’s, Tante Frances.“ 147
Der Name hatte eine magische Auswirkung auf Mrs. Clendenning; die Jungen von St. Martin’s waren von den Auserwählten. „Poole?“, sagte sie. „Sind Sie einer von den New Yorker Pooles?“ Roger nickte. „Ja. Mit einer Südstaatenveredelung – meine Mutter war eine Carew.“ Er war nun froh, es zu erzählen. Lasst sie den Anhaltspunkten folgen, die sie wollten. Er war bereit für sie. Von nun an war nichts zu verbergen. „Ich fahre nächste Woche hinunter“, fuhr er fort, „um für einige Zeit bei einer Cousine meiner Mutter zu wohnen – Miss Patty Carew. Sie wohnt noch in dem alten Herrenhaus, das meinem Großvater gehörte – sie hatte nur Armut und das alte Haus als Erbe, aber es ist noch immer ein reizender Ort.“ Tante Frances war nun auf den New Yorker Zweig seines Stammbaumes versessen. „War Ihr Großvater Angus Poole?“ „Ja.“ Grace war sich auf boshafte Weise dem Gemütszustand ihrer Mutter bewusst. Niemand konnte es sich leisten, einen Nachkommen von Angus Poole zu ignorieren. Sicher hatte eine zweite Generation das Vermögen, das er hinterlassen hatte, verschwendet, aber sein Name war noch immer einer, um damit zu bezaubern. „Ich träumte nie ‐“, sagte Tante Frances. „Natürlich“, sagte Roger und es war ein Zwinkern in seinen Augen. „Ich befürchte, ich bin kein Pluspunkt für meinen hartköpfigen Finanzier von einem Großvater.“ Es schien Mary, dass sie ihn zum ersten Mal so sah, wie er vielleicht gewesen war, bevor seine Probleme ihn trafen. Und sie wurde zu dem 148
Gedanken vorwärts gedrängt, was er jetzt sein könnte. Ihr wurde warm und sie wurde rosig in ihrem Entzücken, dass er sich ihren Leuten so zeigen sollte. Sie blickte auf, um Porters anschuldigende Augen auf sie gerichtet zu sehen; und in dem Griff einer plötzlichen Befangenheit gab sie sich wieder ihrem Teemachen hin. „Sicher wollen einige von euch noch eine Tasse?“ Es entwickelte sich, dass Tante Frances wollte, und dass das Wasser kalt war, und dass die kleine Lampe leer an Alkohol war. Mary füllte sie, und da ihre Hand vor innerer Aufregung zitterte, ließ sie den Alkohol auf das Tablett und auf das Kesselgestell überfließen. Sie bat um ein Streichholz und Gordon gab ihr eines. Dann wusste niemand, wie es geschah! Die Flammen schienen in einem blauen Laken zu den Spitzenrüschen von Marys Kleid hochzufegen. Sie sprangen zu ihrem Gesicht. Constance schrie. Dann erreichte sie Roger und sie war in seinen Armen, ihr Gesicht gegen die Dicke seiner Jacke gedrückt, während seine Hände nach ihren Rüschen fassten. Es war in einem Augenblick vorbei. Die Flammen waren aus. Sehr sanft löste er seine Arme. Sie lag an seiner Schulter weiß und still. Ihr Gesicht war unberührt, aber über ihren Hals, den der tiefe Kragen freiliegend gelassen hatte, war ein glühendrotes Zeichen. Und eine kleine Locke ihres Haares war auf einer Seite angesengt, ihre Rüschen waren kaputt. Er setzte sie auf einen Stuhl und sie versammelten sich um sie herum – eine beflissene Gruppe. Porter kniete neben ihr. „Mary, Mary“, sagte er ständig und sie lächelte schwach, als seine Stimme „Contrary Mary“ herausplatzte. Gordon hatte den Tisch vor Zerstörung gerettet. Aber die Flamme hatte die Lilien erwischt, sie knusprig gebacken und schwarz gelassen. 149
Constance war durch den Schock erschüttert und Tante Frances fragte fortwährend wild: „Wie ist das passiert?“ „Ich schüttete den Alkohol aus, als ich sie füllte“, sagte Mary. „Es war eine dumme Sache, es zu tun – wenn ich eines meiner dünneren Kleider angehabt hätte ‐“ Sie schauderte und hielt inne. „Ich werde dir morgen eine elektrische Ausrüstung schicken“, verkündete Porte. „Spiele mit diesem Ding nicht wieder herum, Mary.“ Roger stand hinter ihrem Stuhl, mit seinen Armen verschränkt und sagte nichts. Es gab wirklich nichts für ihn zu sagen, aber es gab viele Dinge zu denken. Er hatte dieses liebe Gesicht vor Flammen oder Makel bewahrt, die lieben Augen waren an seiner Schulter verborgen – seine Finger brannten, als er nach ihren brennenden Rüschen gefasst hatte. Porter Bigelow mag sie nun in Besitz nehmen, er mag ihr seine elektrische Ausstattung geben, er mag sie mit ihrem Vornamen nennen, aber es war nicht Porter gewesen, der sie vor den Flammen gerettet hatte; es war nicht Porter, der sie in seinen Armen gehalten hatte.
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Kapitel XIII In dem die ganze Welt im Argen liegt und in dem das Leben wie ein großes Abenteuer angesehen wird.
E
s war beschlossen worden, dass zumindest für einige Zeit Gordon und Constance bei Mary wohnen sollten. Im Frühling würden sie wieder zurück nach London fahren. Grace Clendenning und Tante Frances waren schon für den Winter in ihrem Hotel. Das junge Paar würde das Arbeitszimmer und das angrenzende Zimmer belegen, und Mary sollte ein zusätzliches Dienstmädchen aufnehmen, um Susan Jenks zu helfen. In all ihrem Planen hatte Mary ein Gefühl der Verbreitung von Gordon Richardson. Mit männlicher Zuversicht an seine Fähigkeit nahm er nicht nur die Probleme seiner Frau in die Hand, sondern auch Marys. Mary war gezwungen, es zuzulassen, sogar während sie sich auflehnte, dass seine Urteile gewöhnlich klug waren. Doch, fragte sie sich, was für ein Recht hat ein Außenstehender, in Angelegenheiten zu bestimmen, die sie selbst und Barry betrafen? Und was für ein Recht hatte er, ihr Verpflegung für Constance anzubieten? Constance, die ihr ein und alles war? Aber als sie empört ihre Einwände Gordon gegenüber formuliert hatte, hatte er gelacht. „Du bist wie alle Frauen, Mary“, hatte er gesagt, „und natürlich schätzte ich deine Anschauungsweise und deine Gastfreundschaft. Aber wenn du denkst, dass ich meine Frau hier wohnen lasse und deinen Problemen und Ausgaben hinzufüge, ohne entsprechende Entschädigung zu geben, irrst du dich sehr. Wenn du uns nicht bezahlen lassen willst, werden wir nicht bleiben, und das ist alles.“ 151
Hier war männliche Festigkeit gegen das, was Mary überkochen lässt. Immerhin war Constance Gordons Ehefrau und er konnte sie fortbringen. „Natürlich“, sagte sie und gab steif nach, „musst du tun, was du für am besten hältst.“ „Werde ich“, sagte er leichthin, „und ich werde dir jetzt einen Scheck ausstellen und du kannst ihn haben, um unmittelbare Forderungen an deine Kasse zu begleichen. Ich werde viel fort sein und ich will, dass Constance bei dir und Tante Isabelle ist. Es ist für mich ein Gefallen, Mary, sie hier zu haben. Du darfst es nicht zu meine Verpflichtungen hinzufügen, indem du mich zu schwer in deiner Schuld fühlen lässt.“ Er lächelte, als er es sagte und Gordon hatte ein nettes Lächeln. Und bald fand Mary sich selbst zurücklächeln. „Gordon“, sagte sie in einer halben Entschuldigung, „Porter nennt mich Contrary Mary. Vielleicht bin ich es – aber du verstehst, Constance war meine Schwester, bevor sie deine Frau wurde.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte sie an. „Und du hast zwanzig Jahre mehr von ihr gehabt als ich – aber so Gott will, Mary, werde ich zwanzig schöne Jahre vor mir haben, um sie mit ihr zu teilen – ich hoffe, es mögen dreimal zwanzig sein.“ Seine Stimmte zitterte und in dem Augenblick fühlte sich Mary ihm näher wie nie zuvor. „Oh, Gordon“, sagte sie, „ich bin ein entsetzliches kleines Ding. Ich bin eifersüchtig gewesen, weil du mir Constance weggenommen hast. Aber nun bin ich froh, dass du sie genommen hast, und ich hoffe, ich werde leben, um auf eurer goldenen Hochzeit zu tanzen.“ Und dann ganz unerwartet fand sie sich schluchzen und Gordon tätschelte sie auf ihrem Rücken in der Art eines großen Bruders und sagte, dass er ihr nicht ein bisschen einen Vorwurf mache und dass, falls jemand 152
Constance ihm wegnehmen wolle, sie es nur über seine Leiche tun müssten. Dann schrieb er den Scheck aus und Mary nahm ihn, und in der Kenntnis seiner Freizügigkeit fühlte sie die Erleichterung von gewissen finanziellen Lasten. Bevor Gordon sie zögernd verließ, bezog er sich ernst auf ein anderes Thema. „Und es wird für dich besser sein, Constance hier zu haben, wenn Barry fortgeht.“ „Barry?“, sagte sie atemlos. „Ja. Denkst du nicht, dass er gehen sollte, Mary?“ „Nein“, sagte sie halsstarrig; „wohin könnte er gehen?“ „Irgendwohin, fort von Leila. Er darf dieses Kind nicht heiraten. Noch nicht – nicht, bis er sich als ein Mann erwiesen hat.“ Der Schlag traf sie schwer. Doch ihr Gerechtigkeitssinn sagte ihr, dass sie recht hatte. „Ich kann nicht darüber reden“, sagte sie unsicher; „Barry ist alles, was ich noch übrig habe.“ Er stand auf. „Armes kleines Mädchen. Wir müssen sehen, wie wir es ausführen können. Aber wir müssen es ausführen. Es darf nicht dahintreiben.“ Alleine gelassen saß Mary an ihrem Schreibtisch und blickte der Zukunft entgegen. Mit Roger fort und Barry, der geht – Und die Turmzimmer leer! Sie zitterte. Vor ihr erstreckten sich die Dunkelheit und die Stürme eines langen Winters. Sogar Constances Kommen würde es für sie 153
nicht ausgleichen. Und doch vor einem Jahr schien Constance alles zu sein. Sie durchquerte den Flur zum Speisezimmer und blickte aus dem Fenster hinaus. Der Garten war tot. Der Springbrunnen hatte aufgehört zu spielen. Aber der kleine Bronzejunge schleuderte seinen fröhlichen Trotz Wind und Wetter entgegen. Pittiwitz, die ihr folgte, murrte eine miauende Klage. Mary hob sie hoch; seit Rogers Fortgang hatte sich die graue Katze von der Leere der oberen Zimmer ferngehalten. Mit dem kleinen schnurrenden Geschöpf fest an sich gedrückt überdachte sie ihre Sorgen – die Welt lag im Argen. Sogar Porter erwies sich als schwierig. Seit dem Sonntag, als Roger sie vor dem Feuer gerettet hatte, hatte Porter ein besitzendes Gehabe angenommen. Er beanspruchte sie zu allen Zeiten; sie hatte ein Gefühl, in einem Spinnennetz gefangen zu sein, das aus Freundlichkeit und Rücksichtnahme und zärtlicher Fürsorge gewebt war, aber trotzdem ein Netz, das sie fest und gegen ihren Willen hielt. Wunderlich kam es ihr in den Sinn, dass die vier Männer in ihrem Leben sich in Zweiergruppen feindlich gesinnt waren: Gordon und Porter standen geordnet auf der Seite der logischen Einstellungen; Barry und Roger auf der Seite der unlogischen Sympathien. Gordon hatte ihr auf eine ziemlich feinsinnige Weise seine Missbilligung von Roger übermittelt. Es war nur in einer beiläufigen Phrase, wie etwa „Armer Poole“ oder „wenn seine ganze Geschichte bekannt wäre.“ Aber Mary begriff, dass von dem Standpunkt ihres Schwagers ein Mann, der versagt hatte, das Versprechen seiner Jugend zu erfüllen, als gesellschaftlich heruntergekommen entlassen wurde. Was Barry angeht – die Situation in Bezug auf ihn war akut geworden. Sein erstes Verschwinden nach Constances Kommen hatte darin resultiert, dass Gordon die Verantwortung der Suche nach ihm auf sich nahm. Er hatte Barry in einer kleinen Stadt am oberen 154
Potomac gefunden, angeblich auf einem Anglerausflug, und wieder bestand eine Notwendigkeit, gegen Drachen zu kämpfen. Aber Gordon kämpfte nicht mit den gleichen Waffen wie Roger Poole. Seine Argumente durchtrieben, scharf, aber gefühllos. Und das Ergebnis war eine angespannte Beziehung zwischen ihm und Barry. Der Junge hatte sich missverstanden gefühlt. Gordon war zu Gericht gesessen. Constance hatte tränenreich Gordon zugestimmt und Mary, zwischen ihrem Gefühl der Richtigkeit Gordons und ihrer eigenen Verteidigung von Barry, war bis zur Belastungsgrenze gespannt. Sie wandte sich vom Fenster ab und ging langsam nach oben. Im Arbeitszimmer nähten Constance und Tante Isabelle. Endlich war Tante Isabelle sie selbst geworden. Sie verbrachte ihre Tage damit, feine Stiche in unendlich winzige Gewänder zu machen. Es war an ihr beständig das Parfüm von Duftpuder, mit dem sie den feinen Batist und die Spitze parfümierte, die gewisse Körbe und Korbwiegen verherrlichten. Wenn sie nicht nähte, strickte sie – kleine Seidensocken für den Fuß eines Cupidos, kleine warme Mützen in Puppengröße; kleine gebauschte Wolldecken auf großen Holznadeln. Das Arbeitszimmer hatte das Aussehen einer Laube angenommen. Hier saß Constance thronend – und in ihrer Liebenswürdigkeit erinnerte sie Mary immer mehr an ihre Mutter. Hier war immer die Süße der Blumen, mit denen Gordon seine Frau versorgte; hier war auch eine Atmosphäre der Ruhe, die auf ein höchstes Ereignis wartete. Mary, die mit Pittiwitz in ihren Armen eintrat, versuchte, die Sorgen auf der Schwelle fortzuschleudern. Sie durfte nicht bei dieser Symphonie verstimmt sein. Sie lächelte und setzte sich neben Constance. „So hübsche kleine Dinger“, sagte sie; „was kann ich tun?“ Es schien, dass eine Diskussion in Bezug auf die Angemessenheit der Stickerei gegen feine Abnäher.
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Mary ließ sich nieder. „Lasst mich es haben“, sagte sie; „ich werde ein paar Abnäher einsetzen und eine kleine Stickerei machen – ich werde froh sein, meine Finger beschäftigt zu haben.“ „Du bist immer mit anderen Dingen so beschäftigt“, beklagte sich Constance freundlich. „Ich sehe nicht halb genug von dir.“ „Du hast Gordon“, bemerkte Mary. „Du sagst das, als ob es wirklich einen Unterschied mache.“ „Tut es“, murmelte Mary. Dann, damit sie Constances feine Seele nicht beunruhigte, fügte sie tapfer hinzu: „Aber Gordon ist ein Lieber. Und du bist ein glückliches Mädchen.“ „Ich weiß es“, war Constance selbstzufrieden. „Und ich wusste, dass du es anerkennen würdest, wenn du mehr von Gordon gesehen hast.“ Mary fühlte ein steigendes Gefühl der Rebellion. Sie war nicht in Stimmung, einen Katalog von Gordons Tugenden zu hören. Aber sie lächelte tapfer. „Ich werde zugeben, dass er perfekt ist“, sagte sie; „wir werden darüber nicht streiten, Con, Liebes.“ Aber zu sich sagte sie: „Oh, ich würde es hassen, einen perfekten Mann zu heiraten“ Den ganzen Morgen saß sie dort, ihre Nadel emsig, und nach und nach wurde sie durch den Frieden des angenehmen Raumes beruhigt. Die Welt schien heller, ihre Probleme schwanden. Bevor das Mittagessen angekündigt wurde, kamen Tante Frances und Grace. Sie brachten Geschenke, wundervolle kleine Dinge, die von den Nonnen von Frankreich gemacht wurden – hauchdünn, exquisit, mit blassen Bändern gebunden. „Wir gehen von hier zu Leila“, informierte sie Tante Frances; „wir bestellten eine hübsche Ausstattungsgarderobe und sie kamen damit.“ 156
Ausstattungsgarderobe? Leilas? Marys Nadel stach für einen Augenblick in die Luft. „Sie haben den Tag noch nicht festgelegt, weißt du, Tante Frances; es wird eine lange Verlobung.“ „Ich glaube nicht an lange Verlobungen“, Tante Frances’ Ton war endgültig; „sie sind nicht klug. Barry sollte sich niederlassen.“ Niemand antwortete. Es gab nichts zu sagen, aber Mary war durch den grimmigen Humor von allem bedrückt. Hier war Tante Frances, die Gewand für die Braut trug, während Gordon plante, den Bräutigam zu stehlen. Sie stand auf. „Ihr bleibt lieber zum Essen“, sagte sie; „es ist Heißer‐ Rouladen‐Tag, und ihr kennt ihre Rouladen.“ Tante Frances schälte ihre langen Handschuhe herunter. „Ich hoffte, dass du uns fragen würdest, wir haben die Hotelkost so satt.“ Grace lachte. „Mutter ist vom alten New York“, sagte sie, „und sie mag lieber heiße Rouladen und Koteletts aus ihrer eigenen Küche, als Kaviar und Trüffel aus den Händel eines Hotelküchenchefs – trotz all unseres Weltenbummelns hat sie nicht die Gepflogenheit von Mahlzeiten mit dem Pöbel angenommen.“ Grace ging mit Mary hinunter und die beiden Mädchen fanden Susan Jenks mit den Rouladen in ihren Pfannen. „Es gibt reichlich davon“, sagte sie zu Mary, „und wenn die Kroketten ausgehen, könnt ihr euch mit Rouladen anfüllen. „Susan“, sagte Grace, „wenn Mary heiratet, wirst du kommen und für mich den Haushalt führen?“ Susan lächelte. „Miss Mary wird nicht heiraten.“ „Warum nicht?“ 157
„Sie ist nicht diese Art. Sie ist die Art, die einen Mann ansieht und über ihn nachdenkt, und dann winkt sie ihn fort und hält ihren Kopf hoch und sagt: ‚Es tut mir leid, aber Sie genügen nicht.“ Die beiden Mädchen lachten. „Wie hast du diese Vorstellung von mir, Susan?“, fragte Mary. „Indem ich Sie studierte“, sagte Susan. „Ich kenne Sie nicht Ihr ganzes Leben lang umsonst.“ „Nun, Miss Constance“, fuhr sie fort, als sie das Backrohr öffnete und hineinguckte. „Miss Constance ist ganz anderes. Fast jeder nette Mann wollte sie kriegen. Und es war ein Glück, dass Mr. Gordon der Erste war.“ „Und was ist mit mir?“, war Graces Frage. „Gehen Sie weg“, sagte Susan, „Sie wissen es selbst, Miss Grace. Sie werfen Ihre Augen jedem zu, aber geben Ihr Herz niemandem.“ „Und so werden Mary und ich alte Jungfern – oh, Susan.“ „Man nennt sie nicht mehr alte Jungfern“, sagte Susan, „und es sind keine alten Jungfern, nicht in der Art, wie sie es früher waren. Eine alte Jungfer ist eine Frau, die kein Vertrauen zu dem Leben hat, außer zu dem Mann, den sie nicht haben kann, und ihr seid die Art, die kein Vertrauen zu den Männern hat, die euch wollen.“ Sie verließen sie lachend, und als sie das Speisezimmer erreichten, setzten sie sich auf den Fensterplatz; wo Mary auf den toten Garten und den Bronzejungen hinausgeblickt hatte. „Und jetzt“, sagte Grace, „erzähle mir über Roger Poole.“ „Da ist nicht viel zu erzählen. Er hat seine Position im Finanzministerium aufgegeben, und er ist für eine Weile zu seiner Cousine nach Hause gefahren. Er wird versuchen, für die Zeitschriften zu schreiben; er denkt, dass Geschichten von dieser Gegend genommen werden.“ 158
„Er ist in dich verliebt, Mary. Aber du bist nicht in ihn verliebt – und du darfst es nicht.“ „Natürlich nicht. Ich werde nicht heiraten, Grace.“ Grace drückte sie ein wenig. „Du weißt nicht, was du tun wirst, Liebling; keine Frau weiß es. Aber ich will noch nicht, dass du dich in jemanden verliebst. Ziehe mit mir für eine Weile durchs Leben. Ich bringe dich nächsten Sommer nach Paris und zeige dir meine Welt.“ „Ich könnte nicht, außer ich könnte für mich selbst bezahlen.“ „Oh, Mary, was lässt dich gegen jeden kämpfen, der etwas für dich tut?“ „Porter sagt, es ist meine Widersprüchlichkeit – aber ich kann nicht einfach meine Hände aufhalten und Dinge in sie fallen lassen.“ „Ich weiß – und darum wirst du Porter Bigelow nicht heiraten.“ Mary blitzte ihr einen erstaunten und dankbaren Blick zu. „Grace“, sagte sie feierlich, „du bist die erste Person, die scheinbar verstanden hat.“ „Und ich verstehe“, sagte Grace, „weil für mich das Leben ein großes Abenteuer ist. Alles, was passiert, ist ein Risiko auf der Landstraße – und doch habe ich keinen Mann gefunden, der die Straße mit mir bereisen wird; sie alle wollen ein Tor öffnen und mich einsperren und sagen: ‚Bleib hier.’“ Marys Auge leuchteten. „Ich fühle das auch.“ Grace küsste sie. „Du würdest lachen, Mary, wenn ich den Traum erzählte, der am Ende meiner Reise ist.“ „Ich werde nicht lachen – erzähle es mir.“ Da war eine satte Farbe in Graces Wangen. In ihrem modischen Kleid in Schwarz, das sie bevorzugte und das heute Morgen aus feinem Serge warb, mit einem Pelz am Saum und Handgelenk besetzt und mit 159
einem kleinen schwarzen Samthut gekrönt, der die Lebhaftigkeit ihres herrlichen Haars umrahmte, sah sie wie die Frau von Welt aus, sodass ihre Worte Stärke durch die Gewalt des Kontrastes erlangten. „Niemand würde es glauben“, leitete sie ein, „aber, Mary Ballard, eines Tages, wenn ich es satt habe, durch das Leben zu tanzen, wenn ich der Abenteuer auf der Straße müde bin, werde ich ein Heim für kleine Kinder bauen und meine Tage mit ihnen verbringen.“ So träumten die beiden Mädchen und sahen Visionen der Zukunft. Sie sangen und schwangen sich auf und küssten sich und vertrauten sich an. „Was auch kommt, das Leben soll nie gewöhnlich sein“, erklärte Mary, und als die Glocke läutete und sie zum Tisch ging, fühlte sie, dass jetzt sie nichts erschrecken konnte – die harten Dinge würden nur ein Teil einer glorreichen Pilgerfahrt sein. Susans heiße Rouladen wurden als perfekt verkündet und Susan, die sich dessen gleichmütig bewusst war, verbannte das zweite Dienstmädchen in die Küche und bediente selbst am Tisch. Hier waren fünf Frauen von einer Sippe. Sie verstand sie alle, sie liebte sie alle. Sie ließ sogar Tante Frances ihr Recht. „Sie alle halten ihren Kopf hoch“, hatte sie bei einer Gelegenheit Roger Poole anvertraut, „und Miss Frances hält ihren so hoch, dass sie fast den Rücken biegt, aber sie weiß, wie man die Leute behandelt, die für sie arbeiten, und sie ist immer mächtig gut zu mir gewesen.“ Marys begeisterte Stimmung dauerte lange, nachdem die Gäste fortgegangen waren, an. Sie fand sich singen, als sie die Treppe an jenem Abend zu ihrem Zimmer hinaufstieg. Und es war mit dieser Laune, dass sie Roger Poole schrieb. Ihr Brief, in der vollen Flut ihrer neuen Emotion verfasst, war wie Wein für seine durstige Seele. Er begann und endete formell, aber jede 160
Zeile pochte vor Hoffnung und Mut, und indem er auf den Ton, den die angeschlagen hatte, reagierte, schreib er ihr zurück.
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Kapitel XIV In dem Mary aus den Turmzimmern schreibt und in dem Roger unter den Föhren antwortet Die Turmzimmer. Sehr geehrter Mr. Poole:
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ch habe Ihre Zimmer als meine genommen und das ist mein erster Abend darin. Pittiwitz ist unter der Lampe zusammengerollt. Sie vermisst Sie und ich auch. Sogar jetzt scheint es, als ob Ihre Bücher auf dem Tisch sein sollten; und dass ich mit Ihnen reden, statt Ihnen schreiben sollte. Mir gefiel Ihr Brief. Er schien mir zu sagen, dass Sie hoffnungsvoll und zu Hause wären. Sie müssen mir über das Haus und über Ihre Cousine Patty erzählen – über alles in Ihrem Leben – und Sie müssen mir Ihre erste Geschichte senden. Hier ist alles das Gleiche. Constance wird bis zum Frühling bei mir bleiben, und wir werden ein ruhiges Thanksgiving und ruhige Weihnachten nur mit der Familie und Leila und dem General haben. Porter Bigelow fährt nach Palm Beach, um bei seiner Mutter zu sein. Ich weiß nicht, warum wir ihn immer als einen der Familie hinzurechnen, außer dass er nie auf eine Einladung wartet, und natürlich sind wir froh, ihn zu haben. Mutter und Vater hatten Mitleid für ihn; er war immer eine Art „Armer‐kleiner‐reicher‐Junge“, dessen Geld ihn aus vielen guten Zeiten ausließen, die Familien haben, die nicht auf eine so formelle Weise leben, wie Mr. und Mrs. Bigelow es zu genießen scheinen. Sobald Constance abreist, werde ich arbeiten gehen. Ich habe es niemandem gesagt, denn als ich es andeutete, war Constance 162
schrecklich verärgert und bat mich, bei ihr und Gordon zu leben. Grace will, dass ich mit ihr nach Paris gehe; Barry und Leila haben behauptet, dass ich bei ihnen ein Zuhause haben kann. Aber ich will kein Zuhause bei irgendjemandem, ich will mein eigenes Leben führen, wie ich Ihnen gesagt habe. Ich muss meine Flügel ausprobieren. Ich glaube nicht, dass Ihnen die Vorstellung ganz gefällt, dass ich arbeiten gehe. Niemandem gefällt sie, nicht einmal Grace Clendenning, obwohl Grace mich besser als sonst jemand zu verstehen scheint. Grace und ich haben heute über das Leben als ein großes Abenteuer gesprochen. Und es scheint mir, dass wir die richtige Vorstellung haben. So viele Leute gehen durchs Leben als etwas, das erduldet werden muss, aber ich will Dinge geschehen lassen, oder eher, wenn große Dinge nicht geschehen, will ich in den kleinen Dingen etwas sehen, das interessant ist. Ich glaube nicht, dass irgendein Leben gewöhnlich sein muss. Es ist nur die Art, wie wir es betrachten. Ich schreibe diese Worte ab, die ich in einem Ihrer Bücher las; vielleicht haben Sie sie gesehen, aber auf jeden Fall wird es Ihnen besser als ich sagen, was ich meine. Aber das Leben ist ein großes Abenteuer und die Schlimmste aller Ängste ist die Angst zu leben. Es gibt viele Arten von Erfolg, viele Arten des Triumphs. Aber es gibt keinen anderen Erfolg, der sich auf irgendeine Weise dem nähert, der den meisten der vielen Männer und Frauen offen ist, die die richtige Idee haben. Das sind die Männer und die Frauen, die sehen, dass es die vertrauten und häuslichen Dinge sind, die am meisten zählen. Es sind die Frauen und Männer, die den Mut haben, nach dem Glück zu streben, das nur mit Arbeit und Mühe und Selbstaufopferung kommt, und nur zu denen, deren Freude am Leben teilweise aus der Kraft der Arbeit und dem Pflichtbewusstsein entspringt. Sind diese Worte nicht wie ein starker Wind, der vom Meer weht? Ich liebe sie einfach. Und ich weiß, dass Sie es werden. Ich bin so froh, 163
dass ich mit Ihnen über solche Dinge reden kann. Jeder muss einen Freund haben, der verstehen kann – und das ist die feine Sache unserer Freundschaft – dass wir beide Dinge zu überwältigen haben und dass unsere Briefe Berichte unseres Fortschritts sein können. Natürlich sind die Dinge, die ich überwältigen muss, kleine zimperliche Frauendinge– aber sie sind groß für mich, weil ich mich von Familientraditionen löse. Alle Frauen, die unser Haushalt hat, sind dem geraden und schmalen Pfad der konventionellen Lebensweise gefolgt. Sogar Grace tut es, obwohl sie innerlich rebelliert – aber Tante Frances hält sie daran fest. Einmal versuchte Grace eine Künstlerin zu sein und sie arbeitete hart in Paris, bis Tante Frances herabstürzte und sie davontrug – Grace spricht noch immer von der Zeit in Paris als ihr Jahr außerhalb des Gefängnisses. Sie sehen, sie arbeitete hart und begegnete Leuten, die auch arbeiteten, und es interessierte sie. Sie hatte eine Atelierwohnung und wurde ordentlich von einer kleinen Witwe begleitet, die mit ihr ging und ihre Zimmer teilte. Aber Tante Frances platzte plötzlich eines Tages herein und fand eine Bohemegesellschaft vor. Da war nichts Unrechtes daran, sagt Grace, aber Sie kennen Tante Frances! Sie hat nie aufgehört, über die Clique zu reden, die sie dort traf. Sie hasste die Studenten in ihren Samtjacken und die Frauen mit ihren armseligen seltsamen Kleidern. Und Grace liebte sie. Aber sie hat die Idee aufgegeben, je wieder dort zu leben. Sie sagt, man kann ein Ding nicht zweimal tun und dasselbe haben. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Grace von außen leichtfertig scheinen mag, aber dass sie darunter anders ist. Sie hat fortgeschrittene Ideen über Frauen angenommen, und sie sagt, dass ich sie auf natürliche Weise habe und dass sie so etwas in Washington nicht erwartete, wo jeder zu denken aufhört, was jemand anderer sagen wird. Aber ich bin an dem Punkt nicht angekommen, wo ich wirklich an Wahlrecht und solchen Dingen interessiert bin. Grace sagt, dass ich beginnen muss, über mein eigenes Leben hinaus zu blicken, und vielleicht, wenn ich einige meiner eigenen Probleme gelöst kriege, 164
werde ich es. Und dann werde ich die Probleme der Mädchen in den Fabriken und der Mädchen in den Wäschereien und den Mädchen in den großen Geschäften aufnehmen, so wie Grace es tut. Sie sagt, dass sie vielleicht selbst wie eine Leibeigene lebt, aber sie möchte anderen Frauen helfen, frei zu sein. Und nun muss ich über Delilah Jeliffe reden. Sie hatte eine Hauseinweihungsparty letzte Woche. Das alte Haus in Georgetown ist ein Traum. Delilah hat kein überflüssiges oder prachtvolles Ding darin. Alles ist à la alte Familie. Einige der Dinge sind sogar schäbig. Sie hat die Flamingofarben beseitigt und ihre Affen mit der Kristallkugel und dem Pfauenwandschirm. Sie hat kleine Hocker in ihrem Wohnzimmer mit verblassten Abdeckungen aus Leinwand, und sie hat Muster und rissige Porträts und das Porzellan passt nicht ganz zusammen. Da ist kein Anzeichen des „neuen Reichtums“ in dem Haus. Sie hat farbige Diener und trägt keine Ringe und ihre Kleider sind weiße Rüschendinger, die sie wie eine von diesen sittsamen großmütterlichen jungen Personen der frühen Sechziger aussehen lassen. Ihr kleiner Künstler ist ein reizender Blonder, der ihr nicht bis zur Schulter geht, und Delilah hängt an jedem Wort, das er sagt. Für den Augenblick stellt er alle anderen Männer auf ihrem Horizont in den Schatten. Er machte Skizzen von der Art, wie jedes Zimmer in dem Haus aussehen sollte. Und was das Ergebnis von Jahren formellen angenehmen Lebens zu sein scheint, ist in Wirklichkeit das Ergebnis von Monaten des Jagens und harter Arbeit, die er und Delilah eingesetzt haben. Er bestimmt auch die Blumen, die sie tragen soll und jene, die nächsten Sommer in ihrem Garten blühen sollen. Sie hat eine Vorliebe für Heliotrop und in der Nacht der Hauseinweihungsparty trug sie einen Strauß davon, mit ein paar rosaroten Rosenknospen. Wirklich, in ihrer neuen Rolle ist Delilah großartig. Und die Leute beginnen sie zu bemerken und sie zu besuchen. Sogar in dieser kurzen Zeit ist sie in einige sehr gute Häuser eingeladen worden. Sie hat eine 165
neue Art mit ihren Augen und senkt ihre Wimpern darüber und ist sehr still und hübsch. Erinnern Sie sich an ihr Leopardenfell letztes Jahr? Also, jetzt trägt sie Englischleder ‐ einen eigenartige capeartigen Umhang , und einen kleinen Hut mit einer mattblauen Feder, und sie drapiert einen schwarzen Spitzenschleier über den Hut und sieht wie eine Herzogin aus. Grace Clendenning sagt, dass Delilah und ihr Künstler einen Triumph erlangen werden, wenn sie so weitermachen. Sie versuchen nicht, die Gesellschaft zu stürmen, sie versuchen sie zu umwerben, und daraus bekommt der Künstler die Schirmherrschaft der Leute, die er durch Delilah kennenlernt. Vielleicht wird es enden, dass Delilah ihn heiratet. Aber Grace sagt nein. Sie sagt, dass Delilah die Leute einfach trocken quetscht, wie so viele Orangen, und wenn sie hat, was sie will, wirft sie sie beiseite. Doch Grace und Delilah kommen miteinander sehr gut zurecht. Grace hat immer eine Kleiderstudie gemacht, weil es der einzige Weg ist, in dem sie ein Ventil für ihren künstlerischen Geschmack finden kann. Und sie interessiert sich für Delilahs Methoden. Sie sagt, dass sie meisterlich sind. Aber ich vergesse, Ihnen zu erzählen, was Delilah von Ihnen sagte. Es war an dem Abend der Hauseinweihungsparty. Sie fragte nach Ihnen, und als ich sagte, dass Sie in den Süden gegangen sind, um Atmosphäre für ihre Geschichten, die Sie schreiben, zu bekommen, sagte sie: „Weißt du, es fiel mir gestern ein, während ich in der Kirche war, wo ich ihn gesehen hatte. Es war derselbe Text und das war, was es zurückbrachte. Er predigte, meine Liebe. Ich erinnere mich, dass ich der vordersten Kirchenbank saß und zu ihm aufsah und dachte, dass ich nie eine solche Stimme gehört hatte, und nun sage mir, warum er es aufgegeben hat und warum er sich im Süden vergräbt?“ 166
Zuerst wusste ich nicht, was ich sagen sollte, und dann hielt ich es für am besten, die Wahrheit zu sagen. Also sah ich sie direkt an und sagte: „Er hatte eine äußerst unglückliche Ehe und gab sein Lebenswerk auf. Aber nun ist seine Frau tot und eines Tages predigt er vielleicht wieder.“ Hatte ich unrecht, das zu sagen? Ich hoffe, dass Sie predigen werden; irgendwann, fühle ich, werden Sie es. Und irgendwie, während die Leute nie die Einzelheiten Ihrer Geschichte wissen müssen, werden sie die Umrisse wissen müssen. Es schien mir, dass die leichteste Art war, es zu sagen und es überstanden zu haben. Natürlich hatte Gordon einige Fragen gestellt und ich habe erzählt, von dem ich dachte, dass es erzählt werden sollte. Ich hoffe, dass Sie nicht fühlen, dass ich unklug gewesen bin. Ich hielt es für am besten, offen und ehrlich zu sein, und dann würde es nichts zu verbergen geben. Und darf ich Ihnen ein kleines bisschen von Barry erzählen? Sie wollen, dass er fortgeht ‐ zurück nach England mit Gordon und Constance. Sie verstehen, Gordon betrachtet es ohne Gefühlsregung. Gordons Empfinden hört bei Constance auf. Er denkt, dass Gordon Leila einfach aufgeben, fortgehen und nicht zurückkommen soll, bis er einen klaren Bericht zeigen kann. Natürlich weiß ich, dass Gordon recht hat. Aber ich kann es nicht ertragen ‐ darum konnte ich den Dingen nicht mit dem ganzen Mut entgegentreten, von dem ich dachte, dass ich es könnte. Aber seit meinem Gespräch mit Grace werde ich es anders betrachten. Ich werde versuchen zu fühlen, dass es am besten ist, dass Barry geht, und dass er galant davonreiten und mit erschallenden Trompeten und wehenden Fahnen zurückkommen muss. Und das ist die Art, wie Sie eines Tages zu Ihrem Recht kommen. ‐ Ich denke gerne darüber nach. Ich denke gerne an Sieg und Eroberung, statt Niederlage und Versagen. Irgendwie über eine Sache nachzudenken, scheint es zu bringen, denken Sie nicht? 167
Oh, aber das ist ein so langer Brief und er ist so klatschhaft und zusammengestoppelt. Aber das ist die Art, wie wir früher redeten, und es schien Ihnen zu gefallen. Und nun werde ich „Gute Nacht“ sagen. Pittiwitz wachte vor einem Augenblick auf und ging quer über dieses Blatt, und der Klecks ist, wo sie auf ein Wort stieg. Also, das ist ihre Botschaft. Aber meine Botschaft ist Psalm 27:14. Sie können es in Vaters Bibel nachschlagen ‐ ich bin so froh, dass Sie sie mitgenommen haben. Aber vielleicht müssen sie Verse nicht nachschlagen; Sie können Sie wahrscheinlich auswendig. Nicht wahr? Mit freundlichen Grüßen MARY BALLARD Unter den Föhren. Meine gute kleine Freundin: Ich werde nicht versuchen zu sagen, was Ihr Brief für mich bedeutete. Es war das Lied der Drossel im Frühling, die kühle Brise in der Wüste, Sonnenlicht nach Sturm ‐ es war alles, das für Befriedigung nach einer Zeit des Unbehagens oder der Unzufriedenheit steht. Doch, außer dass ich die Turmzimmer vermisse, und auch das große Glück vermisse, in Verfolgung unserer Freundschaft aus nächster Nähe, solle ich hier weder aus Unbehagen noch aus Mangel an Zufriedenheit keinen Grund haben ‐ wenn ich die Welt etwas öde fühle, ist es nicht wegen dem, was ich gefunden habe, sondern wegen dem, was ich mit mir mitgebracht habe. Ich denke gerne an Sie in den Turmzimmern. Sie gehörten immer dorthin und ich fühlte mich wie ein Eindringling, als ich kam und entdeckte, dass alle ihre rosigen Habseligkeiten nach unten übersiedelt worden waren und meine seriösen und steifen Dinge an deren Stelle 168
waren. Es ist eigenartig, nicht wahr, der Unterschied in der Atmosphäre, die von einem Mann und von einer Frau gemacht wird. Ein Mann wagt nicht, sich mit blassen und hübschen Farben und zarten und zierlichen Dingen zu umgeben, damit er nicht Weichling genannt wird ‐ vielleicht nehmen Männer daher Frauen in ihr Leben, damit sie die Dinge haben mögen, nach denen sie sich sehnen, ohne dass ihre Männlichkeit in Frage gestellt wird. Doch die Atmosphäre, die Ihnen am beste zu passen scheint, ist nicht bloß eine des rosigen Aussehens und der Anmut; es ist eher die des Sonnenscheins und die freie Natur. Wenn Sie mit mir reden oder mir schreiben, habe ich das Gefühl, von ihrem Enthusiasmus davongefegt zu werden ‐ ich scheine auf starken Schwingen zu fliegen ‐ das Zitat, das Sie machten, ist die Äußerung von jemand anderem, aber Sie suchten es untrüglich aus und reichten es an mich weiter, und so in einem gewissen Sinn machten Sie es zu Ihrem. Ich werde es abschreiben und erläutern und es aufbewahren, wo ich es die ganze Zeit sehen kann. Ich finde, dass ich nicht so schnell wie Sie in Richtung meiner Zukunft reise. Ich habe mich viele Jahre eingesperrt. Ich bin so sicher gewesen, dass der ganze Wein des Lebens verschüttet war, dass der Pfad vor mir trübselig war, dass ich mich überhaupt nicht mit erschallenden Trompeten, mit wehenden Fahnen und dem Rest davon sehen kann. Vielleicht werde ich es eines Tages ‐ und zumindest werde ich es versuchen, und beim Versuchen wird etwas gewonnen. Eines Tages vielleicht werde ich die obere Luft erreichen, wo Sie sich emporschwingen ‐ vielleicht werde ich „wie ein Adler aufsteigen“. Ihre Nachricht ‐! Liebes Kind ‐ wissen Sie, wie süß Sie sind? Ich kenne nicht alle Verse ‐ aber diesen einen kenne ich. Doch hatte ich ihn vergessen und Sie brachten ihn mir mit all seiner starken Zusicherung zurück. Ihre Entscheidung, dass es am besten war zu erzählen, was es zu erzählen gibt, nichts verborgen zu lassen, ist eine, die ich schon vor 169
langem hätte machen sollen. Erst neulich habe ich erkannt, dass Verheimlichung tausend Schrecken mit sich bringt. Man lebt in Angst und das fürchtet, das unausweichlich kommen mag. Doch denke ich nicht, dass ich zu sehr getadelt werden muss. Ich wurde geschlagen und durch das Wissen über meinen Sturz verletzt. Ich wollte nur in ein Loch kriechen und vergessen werden. Sogar jetzt finde ich mich langsam entfalten. Ich habe so lange im Dunkeln gelebt, und das Licht scheint meine Augen zu blenden. Es ist seltsam, dass ich mich an Delilah Jeliffe erinnert haben sollte, aber nicht seltsam, dass sie sich an mich erinnern sollte; denn ich stand alleine auf der Kanzel, aber sie war eine in einer Menge. Seit Ihrem Brief habe ich zurückgedacht und ich kann sie sehen, wie sie saß und in der vordersten Kirchenbank las, groß und ziemlich fein mit ihrem schwarzen Haar und ihren kühnen Augen. Ich denke, dass vielleicht die Sache, die mich an sie erinnerte, der fliehende Gedanke war, dass ihr Typ gewöhnlich für das Material an Frauen stand, und ich fragte mich, ob in ihrem Fall Äußeres so trügerisch war, wie es an meiner Frau war ‐ mit ihren Augen einer Heiligen und ihrer verdrehten moralischen Ansicht. Vielleicht hatte ich intuitiv recht und dass unter Delilah Jeliffes Äußerem es eine gewisse Feinheit gibt, und dass diese komischen Modetorheiten und Dekorationen bloß in gewisser Weise ihr Streben nach dem Ausdruck ihres wahren Selbst sind. Was Sie mir von Ihrem Gespräch mit Ihrer Cousine Grace erzählen, interessiert mich sehr. Ich glaube, dass sie weiblicher ist, als sie gewillt ist zuzugeben. Doch sollte sie heiraten. Jede Frau sollte heiraten, außer Ihnen ‐ die meine Freundin sein wird! Da guckt mein Egoismus hervor ‐ aber ich werde es stehen lassen. Nein, mir gefällt nicht die Idee, dass Sie arbeiten müssen. Ich will nicht, dass Sie ihre Schwingen probieren. Ich will, dass Sie sicher in Ihrem Nest oben im Turm sitzen und mir Briefe schreiben! 170
Arbeit, Büroschinderei sind Dinge, die die Farbe aus den Wangen einer Frau und die Kraft aus ihrem Körper entzieht. Sie wird zu einer Maschine und Sie sind ein Vogel, um zu fliegen und sich auf den nächsten Ast zu setzen und zu singen! Aber nun werden Sie etwas von meinem Leben wissen wollen, und von dem Haus und von Cousine Patty. Das Haus hat an den Jahren der Armut seit dem Krieg gelitten. Doch hat es etwas von der Würde einer uralten Ruine an sich. Es ist ein großes Fachwerkgebäude mit den Kolonialsäulen, die zu einer Periode seines Baus gehören. Viele der Zimmer sind geschlossen. Meine eigene Suite ist im ersten Stock ‐ die von Cousine Patty gegenüber und an ihre Zimmer grenzen jene einer alten Tante, die Pensionärin ist. Da ist wenig von dem alten Mahagoni, das einst die Zimmer stattlich machte, und wenig von dem alten Silber, um den Tisch zu schmücken. Cousine Pattys Armut ist glücklich mit allgemeinem Hausverstand kombiniert. Sie hat den vollen Wert ihrer Antiquitäten gekannt und hat gutes Essen der Familientradition vorgezogen. Doch da sind die alten Porträts und in ihrem Wohnzimmer ein paar erlesene Stücke. Hier haben wir einen offenen Kamin und hier sitzen wir nachts. Cousine Patty ist klein, ziemlich weiß und dünn und sie ist fünfundfünfzig. Ich sage Ihnen ihr Alter, weil es viele Dinge erklärt, die Sie sonst verwirren würden. Sie wurde kurz vor dem Krieg geboren. Sie kannte den Luxus der Sklaventage nicht. Sie hat ihr ganzes Leben gedreht und gewendet und gespart. Sie hat mit allen Problemen gekämpft, die den Süden beim Wiederaufbau heimsuchten, und sie ist aus allem herausgekommen, süß und schlau, und mit einem Standpunkt über Frauen, der mich erstaunt und der uns eine Chance gibt für viele lebhafte Auseinandersetzungen. Ihr schwarzes Haar ist von Grau unberührt, sie trägt es gescheitelt in einem dicken Knoten hoch auf ihrem Kopf. Ihre Kleider sind unausweichlich aus schwarzer Seide, gut geschnitten und gut gemacht. Sie macht sie selbst und bekommt ihre Muster aus New York! Können Sie sie jetzt sehen? 171
Unsere Auseinandersetzungen sind gewöhnlich über Frauen und ihrer Stellung heute in der Welt. Sie wissen, dass ich konservativ bin und mich sehr an alten Ideale, alte Weisen, an den Glauben vornehmerer Zeiten klammere ‐ aber Cousine Patty ist in diesem rückständigen Nest der Zivilisation mir weit vorausgegangen. Sie glaubt, dass die Hoffnung des Südens in seinen Frauen liegt. „Sie lesen mehr als Männer“, sagt sie, „und sie haben auf die neuen gesellschaftlichen Ideale schneller reagiert.“ Aber über unsere Auseinandersetzungen mehr in einem anderen Brief ‐ dies wird jedoch dazu dienen, Ihnen einige der erstaunlichen geistigen Prozesse dieser kleinen von der Außenwelt abgeschiedenen Cousine von mir vorzustellen. Denn in einem gewissen Sinn ist sie von der Außenwelt abgeschieden. Es war einmal, als die Baumwolle König war und Sklavenarbeit alle Dinge möglich machte, dass hier Wohlstand herrschte, aber nun ist das Land verarmt. Daher ist Cousine Patty nicht auf das Land angewiesen. Sie las in einer ihrer Zeitschriften von einer Frau, die ein Vermögen an Hochzeitstorten gemacht hatte. Sie beschloss, dass das, was eine Frau tun konnte, von einer anderen getan werden könnte. Seither macht und verkauft sie Hochzeitstorten, und während sie kein Vermögen gemacht hat, hat sie einen Lebensunterhalt verdient. Sie begann, indem sie Freunde um Aufträge bat; sie bekommt nun von nah und fern Aufträge. Also gibt es den ganzen Tag einen guten Duft vom Backen im Haus und das Geräusch vom Schlagen der Eier. Und jeden Tag müssen kleine Schachteln gefüllt werden. Werden Sie lächeln, wenn ich Ihnen sage, dass ich das Füllen der kleinen Schachteln mag? Und da wir von Nächten reden, ich beschäftige mich mit dieser Aufgabe, während Cousine Patty Dinge mit schmalen weißen Bändern und Stückchen künstlicher Orangenblüten Dinge tut, sodass die Pakete, die hinausgehen, schön und so gut wie möglich brautmäßig aussehen. 172
Es ist merkwürdig, wenn man daran denkt, dass ich zu Ihrem Haus an einem Hochzeitsabend kam, und hier lebe ich in einer beständigen Atmosphäre von Hochzeitswonne. Am Vormittag schreibe ich. Am Nachmittag tue ich andere Dinge. Das Wetter ist nicht kalt ‐ es ist trocken und sonnig ‐ windstill. Ich mache lange Spaziergänge über die Hügel und weit weg. Einiges davon ist ödes Land, wo die Buchsbäume gefällt oder wo ein Gebiet niedergebrannt worden ist, aber man trifft hin und wieder auf Wäldchen mit schimmernden und glänzenden jungen Bäumen ‐ gibt es irgendwelche Bäume, die so schön wie junge Föhren mit dem Sonnenschein darauf sind? Es ist selten, ein Wäldchen mit alten Föhren zu finden, doch gibt es ein oder zwei Anwesen, wo seit Jahren keine Bäume umgeschnitten oder abgebrannt worden sind, und unter diesen hohen alten singenden Monarchen sitze ich auf braunen Nadeln und schreibe und schreibe ‐ zu welchem Ende weiß ich nicht. Ich habe Ihnen nicht eine fertige Geschichte zu zeigen, jedoch den Anfang von vielen. Die Feder ist nicht mein Medium. Meine Gedanken scheinen zu vertrocknen, wenn ich versuche, sie zu Papier zu bringen. Ich rede, dass ich äußerst beredsam werde. Oh, kleine Freundin, soll ich je wieder die Welt zuhören lassen? Ich werde Ihnen bald von denen erzählen, die hier unten zugehört haben – ein solches Publikum – und in einem solchen Amphitheater! Meine Spaziergänge bringen mich weit hinaus. Die Straßen sind sandig und ich folge ihnen nicht immer, da ich eher die Dünen vorziehe, die mich so sehr an die am Meer erinnern. Dieser Boden war einmal das Ozeanbett – ich habe immer das Gefühl, dass gleich hinter den niedrigen Hügeln ich das Blau flüchtig zu sehen bekomme. Hin und wieder begegne ich einem Farbigen der alten Schule mit seinem fröhlichen Gruß; hin und wieder auf der Landstraße segelt ein Schonerwagen vorbei. Diese Wägen geben einem das Gefühl, zurück in 173
den Pioniertagen zu sein – erinnern Sie sich an das Pike’s Peak‐Bild beim Kapitol mit allen zur untergehenden Sonne zugewandten begierigen Gesichtern? Hin und wieder treffe ich auf eine Jagdgesellschaft von einem der großen Hotels, die in dieser gesunden Gegend zahlreich werden, aber diese Leute mit ihrer Sportkleidung und ihrer Erfahrenheit scheinen zwischen den Föhren immer fehl am Platz zu sein. Und nun, da Sie mir vom Leben als eine Reise auf der Landstraße geschrieben haben, werde ich Ihnen von meinem ersten Abenteuer erzählen. Es gibt einen Schonermann, der von den Sandhügeln unterwegs zum nächsten Erholungsort mit seinen Hühnern und Eiern kommt. Es ist eine Dreitagesreise und er lagert nachts draußen, wobei er in seinem Wagen schläft und sein Feuer im Freien macht. Eines Tages kam er an mir vorbei, als ich müde am Wegesrand saß, und bot an, mich nach Hause mitzunehmen. Ich nahm an und fuhr neben ihm. Und so begann eine Bekanntschaft, die mich interessiert und ihm offensichtlich Freude macht. Er ist groß und locker zusammengesetzt, dieser Ritter der Sandstraße, aber mit der Ungezwungenheit, die zu seiner Art zu gehören scheint. Es ist gutes Blut in diesen Sandhügelleuten, und es zeigt einen Mangel an Befangenheit, was einen fühlen lässt, dass sie einem Prinzen oder Kaiser ohne Verlegenheit gegenübertreten würden. Doch da ist nichts an Dreistigkeit, nichts an Unverschämtheit. Es ist eine Salonart, die trotz der Generationen der Ungebildetheit und Degeneration bewahrt wurde. Er ist kein unschönes Objekt. Gibt man ihm einen gefiederten Hut, einen Wams und eine Hose, und er würde so aussehen und seine Manieren würden zu ihm passen. Gibt man ihm gutes Englisch, würde seine Stimme ihn nie für das, was er ist, verraten. Denn eine weitere Sache, die diese Leute sich bewahrt haben, ist eine Sanftheit der 174
Stimme und ein Tonfall, der eher elisabethanisch als amerikanisch des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Da ich begonnen habe, ihn ziemlich gut zu kennen, haschte ich nach einer Einladung, sein Heim zu besuchen. Ich wollte sehen, wo dieser vornehme Hinterwäldler die Tage verbringt, die nicht auf der Straße gelebt wurden. Ich trug eine Decke mit mir und schlief die erste Nacht unter dem offenen Himmel. Haben Sie je eine südlichen Himmel gesehen, wenn er mit Sternen übersät ist? Falls nicht, liegt noch etwas vor Ihnen. Da ist keine Weiße oder Kälte an diesen Sternen, sie sind reines Gold und warm vor Licht. Mein Schonermann schlief in seinem Wagen, mit einer alten Steppdecke zugedeckt. Seine Maultiere waren in der Nähe festgebunden, der Hund rollte sich neben seinem Herrn ein, wobei jeder vom anderen die Wärme bekam. Wir kochten Abendessen und Frühstück über den Kohlen – Huhn grillte für unser Abendmahl, Speck und Eier für den Morgen. Wir gaben dem Hund die Knochen und die Krusten. Ich nahm Brot mit, denn Cousine Patty warnte mich, dass ich mich nicht auf meinen Junker wegen Essen verlassen darf. Kochen unter diesen Leuten ist eine verlorene Kunst. Cousine Patty glaubt, dass die Regenerierung der armen Weißen des Südens durch die Frau vollendet wird. „Wenn sie kochen lernen“, sagt sie, „werden die Männer keinen Whisky brauchen. Wenn der Whisky fort ist, werden sie das Gesetz respektieren.“ Eine Meile vorher erreichten wir das Ende unserer Reise, uns kamen die Kinder von meinem Schoner‐Junker entgegen – zwei Jungen, zwei Mädchen und ein Baby in den Armen des ältesten Mädchens. Sie alle hatten die freundliche Ruhe und Gelassenheit des Vaters – aber sie waren ungepflegte kleine Geschöpfe, ungekämmt, ungewaschen, in Kleidung mit traurigen Farben. Das ist der 175
Unterschied zwischen dem Neger und dem Weißen dieser Gegend. Der Neger ist fröhlich, liebenswürdig, er singt, er tanzt und er trägt alle Farben des Regenbogens. Eine alte schwarze Frau, die meine Wäsche nach Hause trug, trug am anderen Tag einen purpurroten Unterrock mit einem scharlachroten Rock darüber, einen alten grünen Pullover und über ihren Kopf gebunden einen rosaroten Wollschal. Gegen den neutralen Hintergrund des Sandhügels war sie eine Wonne für das Auge. Die Weißen andererseits scheinen wie kleine Tiere, die die Farbe der Landschaft angenommen haben, damit sie verborgen sein mögen. Aber um zurück zu meinen traurigen Kindern zu gehen. Es schien mir, dass ich an ihnen den Süden mit neuen Augen sah, vielleicht, weil ich lange genug fort gewesen bin, um die richtige Perspektive zu erlangen. Und mein Leben, verstehen Sie, ist in den südlichen Städten geführt worden, wo einen selten das Primitive berührt. Die älteren Jungen sind vielleicht zehn und zwölf, blauäugig und flachsblond. Ich sah wenige Anzeichen der Zuneigung oder Intelligenz. Sie küssten ihren Vater nicht, als er kam, mit Ausnahme von dem kleinen Mädchen, das zu ihm rannte und umarmt wurde; die anderen schienen eine Art beginnenden Stoizismus auszuüben, als ob sie zu alt, zu abgeklärt zur Bekundung wären. Die Mutter, als wir eintraten, war wie die Kinder. Keiner von ihnen hat die Initiative oder die Energie des Mannes. Sie sind durch die unveränderlichen Bedingungen ihrer Umgebung kleinlaut; sein einziges Abenteuer der Woche hält ihn wachsam und am Leben. Es ist ein ödes Land, verkohlte Föhren stehen hoch aus dem weißen Sand. Es könnte schön gemacht werden, wenn sie für jeden Baum, den sie um Kiefernöl anzapfen, einen neuen pflanzen würden. Aber sie wissen nicht genug, um Dinge schön zu machen. Der Moses diese Gemeinschaft wird ein Mann sein, der neue Methoden der Landwirtschaft, neue Feldfrüchte für diese Erde finden wird, der den Leuten zeigen wird, wie man lebt. 176
Und nun komme ich zu einer merkwürdigen märchenartigen Erfahrung – eine Erfahrung mit den Kindern, die immer unter diesen verkohlten Föhren gelebt haben. Den ganzen Abend, als ich redete, waren ihre Augen auf mir, wie die Augen kleiner wilder Geschöpfe des Waldes – ein leerer Blick, der zu fragen schien. Den nächsten Tag, als ich spazieren ging, gingen sie mit mir und ein Stück des Weges trug ich das Baby, um die Arme des großen Mädchens ausruhen zu lassen, das immer belastet ist. Es war am Nachmittag, dass wir zu einem kleinen Wald mit jungen Föhren trieben, das eine Stückchen reines Grün gegen das Weiß und Grau und Schwarz dieser Landschaft war. Der Himmel war saphirblau mit ein oder zwei Bussarden gegen das Blau. Hier mit einem Kreis von Bäumen, der uns umgab, saßen die Kinder mit mir. Sie waren keine gesprächige Gruppe und ich wurde von einem Gefühl der Unmöglichkeit, ihnen auf einem gemeinsamen Boden der Konversation zu begegnen, überwältigt. Aber sie schienen etwas zu erwarten – sie waren wie eine Schar kleiner hungriger Vögel, die warteten, gefüttert zu werden – und was denken Sie, gab ich ihnen? Raten Sie. Aber ich weiß, dass Sie falsch geraten haben. Ich rezitierte „Flos Mercatorum“, mein Whittington‐Gedicht! Es wurde aus einem Impuls heraus getan, um zu finden, ob etwas in ihnen wäre, das auf solchen Reim und Verzückung an Worten reagierte. Ich gab es auf meine beste Weise, wobei ich in der Mitte des Kreises stand. Ich erwartete keinen Applaus. Aber ich bekam mehr als einen Applaus. Ich werde nicht versuchen, den Blick zu beschreiben, der in die Augen des ältesten Jungen kam – dem Nächsten, was ich zu sagen kommen ist, ist, dass es der Blick eines Kindes war, das aus einem tiefen Schlaf erwachte und mit weiten Augen auf eine neue Welt blickte. 177
Er kam direkt auf mich zu. „Woher – haben – Sie – die Wörter?“, fragte er auf eine atemlose Weise. „Ein Mann schrieb sie – ein Mann namens Noyes.“ „Sind sie wahr?“ „Ja.“ „Sagen Sie sie wieder.“ Es war keine Bitte. Es war ein Befehl. Und ich sagte sie und sah das Erwachen einer Seele. Oh, es gibt Leute, die nicht glauben werden, dass es so getan werden kann – in einem Augenblick. Aber dieser Junge war bereit. Er hatte geträumt und bis dahin hatte niemand je die Träume für ihn in Worte gefasst. Er kann nicht lesen, hat wahrscheinlich nie ein Märchen gehört – das Sagen‐ und Märchengut dieser Gegend ist eher grauenhaft und geisterhaft als lieblich und poetisch. Vielleicht fünf, sechs Generationen zurück ist vielleicht ein Vorfahre dieses Burschen in die Stadt London getrieben, vielleicht sangen ihm die Glocken zu und unterbewusst wurde dieses Sandhügelkind durch die ererbte Erinnerung erleuchtet. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein haben Glocken geläutet und er hat nicht genug gewusst, um sie Glocken zu nennen. Wie dem auch immer sein mag, meine Verse offenbarten ihm einen neuen Himmel und eine neue Erde. Ohne etwas zu wissen, ist er für alles bereit. Vielleicht gibt es andere wie ihn. Cousine Patty sagt, dass da Mädchen sind. Sie besteht darauf, dass die Mädchen Kochbücher, keine Poesie, brauchen, aber ich bin nicht sicher. Ich werde wieder zu den Föhren gehen und diesen Jungen zuerst unterrichten, indem ich ihm Dinge erzähle, dann werde ich Bücher 178
nehmen. Ich bin seit Jahren an nichts interessiert gewesen wie an diesem Jungen. Also, werden Sie an mich denken, als schwach die Vision sehend? Ihre Augen sind klarer als meine. Sie können weiter sehen; und was Sie sehen, werden Sie mir sagen? Und nun zu Barry. Ich weiß, wie hart es ist, dass er Sie verlässt, und dass unter all Ihrem Gerede von erschallenden Trompeten und wehenden Fahnen, der Schmerz und das Herzeleid sind. Ich kann nicht verstehen, warum solche Dinge zu Ihnen kommen sollten. Der Rest von uns verdient wahrscheinlich, was er bekommt. Aber Sie – ich möchte von Ihnen immer wie in einem Garten denken – Sie haben die Macht, Dinge blühen zu lassen. Sie haben sogar den trockenen Staub meines eigene toten Lebens belebt, sodass nun darin ein kleiner Fleck mit Stiefmütterchen von meinen Gedanken an Sie ist, und da ist Rosmarin zur Erinnerung und dort ist das kleine Beet meines Interesses an diesem Jungen – was für Samen pflanzten Sie dafür? Es regnet hier heute Nacht. Ich frage mich, ob der Regen auf die Fenster der Turmzimmer schlägt und ob sie es gemütlich darin haben, mit Pittiwitz, die schnurrt, und dem Feuer, das knistert, und ich frage mich, ob während dieses Regens Sie einen Gedanken an mich schicken. Vielleicht sollte ich es nicht verlangen. Aber ich bitte um einen weiteren Brief. Was der letzte für mich war, habe ich Ihnen gesagt. Ich werde in der Hoffnung auf den nächsten leben. Hochachtungsvoll und immer dankbar ROGER POOLE
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Kapitel XV In dem Barry und Leila über die Hügel und weit weg gehen und in dem ein Märzmond Flitterwochen wird
D
ie Neuigkeit, dass Barry fortgehen muss, war für Leilas kindliche Träume und unmittelbarem Glück ein Schlag gewesen. Sie wusste, dass Barry erbittert war, dass er gegen die Pläne rebellierte, die für ihn gemacht wurden, aber sie wusste nicht, dass Gordon dem General frei und offen den Grund für diese Verzögerung an den Hochzeitsorganisationen gesagt hatte. Der General hatte gemäß seinem alten Kodex protestiert, dass „ein Mann wie ein Gentleman trinken könnte“, dass Barrys gutes Blut es sagen würde. „Er muss sich die Hörner abstoßen – und jeder Junge muss seine Affäre haben.“ Gordon hatte ungeduldig zugehört, wie einer abgenutzten Philosophie. „Die Geschäftswelt nimmt es nicht in Kauf, dass sich ein Mann die Hörner abstößt, General“, hatte er gesagt. „Das neue Spiel ist nicht wie das alte – der gesellige Lebensgeist ist nicht unter den Geschäftsmännern beliebt. Und das ist nicht das Schlimmste daran, bei Barrys Temperament besteht die Gefahr eines Zusammenbruchs, moralisch und körperlich. Wenn es nicht das wäre, könnte er in Ihr Büro kommen und Jura ausüben, wie Sie vorschlagen. Aber er muss von Washington fort. Er muss von alten Verbindungen fort, und Sie werden mir verzeihen, wenn ich es sage, er muss von Leila fortkommen. Sie liebt ihn und hat Mitleid für ihn, auch wenn wir von ihr die Kenntnis über seine Fehler ferngehalten haben. Sie denkt, dass wir alle gegen ihn sind und ihr Mitgefühl schwächt ihn. Es war das Gleiche bei seiner Mutter, erzählt mir Constance. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Junge etwas anderes als perfekt sein könnte, und 180
John Ballard war nicht stark genug, ihrem Einfluss entgegenzuwirken. Mary war die Einzige, und nun, da es zu einer tatsächlichen Krise gekommen war, macht mir sogar Mary Vorwürfe, dass ich tue, was ich für am besten für Barry halte. Ich will ihn auf die andere Seite hinüberbringen, ihn von all denen, die ihn hindern, wegholen und ihn zu Ihnen stärker und mehr von einem Mann zurückzubringen.“ Der General schüttelte seinen Kopf. „Vielleicht“, sagte er, „aber ich kann es nicht ertragen, an den hängenden Kopf meiner kleinen Leila zu denken.“ „Sie hätten sich nie verloben sollen“, sagte Gordon, „aber es wird die Angelegenheiten nicht besser machen, die Dinge fortfahren zu lassen. Wenn Leila Barry nicht heiratet, wird sie die Last nicht tragen müssen, die er ihr sicher bringt. Sie wäre lieber unglücklich bei Ihnen, der sich um sie kümmert, als an ihn gebunden und unglücklich.“ „Aber ich bin ein alter Mann und sie ist ein solches Kind. Das Leben ist für mich so kurz und für sie so lang.“ „Wir müssen tun, was für den Augenblick am besten erscheint, und die Zukunft sich um sich selbst kümmern lassen. Barry ist nur ein Junge. Sie sind keiner von beiden bereit für die Ehe – ein paar Jahre zu warten wird ihnen nicht wehtun.“ Es war auf diese Art, dass Gordon mit Barry redete. „Es wird dir nicht wehtun zu warten.“ „Worauf warten?“, brauste Barry auf; „bis Leila ihr Herz erschöpft? Bis du ihr beibringst, dass ich nicht geeignet bin? Bis jemand anderer daherkommt und sie stiehlt, während ich fort bin?“ „Ist das die Meinung, die du von ihrer Loyalität hast?“ „Nein“, sagte Barry heiser, „sie ist so treu wie Gold. Aber ich kann den Sinn davon nicht sehen, Gordon. Wenn ich Leila heirate, wird sie einen Mann aus mir machen.“ 181
„Sie hat dich während dieser letzten Monate nicht verändert“, behauptete Gordon erbarmungslos, „und du darfst das Risiko nicht eingehen, sie unglücklich zu machen. Es ist ein bloßer geschäftlicher Vorschlag, den ich vor dich lege, Barry. Du musst eine Frau erhalten können, bevor du heiratest, und Washington ist nicht der Ort für dich, um zu beginnen. In einem Geschäft wie unserem muss ein Mann ganz auf der Höhe sein. Du vergeudest hier deine Zeit und du hast die Angewohnheit der Geselligkeit, was nur eine Angewohnheit ist, aber sie wächst und wird damit enden, deine Kräfte zu lähmen. Ein Mann, der immer bereit ist, bei der Menge zu sein, ist nicht der Mann, der für die Arbeit bereit ist, und er ist nicht der Mann, der gewöhnlich bei seinem Job ist. Ich nehme das nicht von einem moralischen oder spirituellen Ideal, sondern von dem kaufmännischen. Der Mann, der hinausgelangt, ist nicht der eine mit einem verwirrten Verstand; er ist derjenige mit klarem Verstand. Das Geschäft heute ist ein zu scharfes Spiel für jemanden zu spielen, der nicht gewillt ist, die ganze Zeit dran zu sein.“ So begegnete dem Jungen an jeder Biegung praktischer Hausverstand. Und er wurde schließlich gezwungen, Gordons Plan für ihn um der Braut willen zuzustimmen. Aber er war wütend zu Mary gegangen. „Wird er unser Leben bestimmen?“ „Er tut es zu deinem Besten, Barry.“ „Warum kann ich nicht in den Süden zu Roger Poole gehen, wenn ich fortgehen muss? Er erzählte mir von einem Mann, der bei ihm im Wald wohnte.“ „Das wäre einfach vorübergehend und es würde die Angelegenheiten verzögern. Gordons Idee ist, dass du auf diese Weise im Geschäft ausgebildet wirst. Wenn du in den Sünden gingest, wärest du ohne lohnende Beschäftigung.“ „Verdient Poole dort nicht seinen Lebensunterhalt?“ „Tut er noch nicht. Er versucht Geschichten zu schreiben.“ 182
„Korrespondierst du mit ihm, Mary?“ Da sie ihm seine Fragerei übelnahm, zwang sie sich, ruhig zu sagen: „Wir schreiben hin und wieder.“ „Was hält Porter davon?“ „Porter hat nichts damit zu tun.“ „Hat er auch. Du weißt, dass du ihn heiraten wirst, Mary.“ „Werde ich nicht. Ich habe nicht die geringste Idee, Porter zu heiraten. „Warum lässt du ihn dann bei dir herumhängen?“ „Barry“, brauste sie auf. „Ich lasse ihn nicht herumhängen. Er kommt, wie er immer kommt – um uns alle zu besuchen.“ „Denkst du für einen Augenblick, dass er kommen würde, wenn du nicht wärest? Er sehnt sich nicht nach meiner Gesellschaft oder Tante Isabells oder Susan Jenks.“ Barry war froh, jemand anderem für etwas die Schuld zu geben – er war von sich selbst als das schwärzeste Schaf in der Hürde bewusst, aber die, die andere Sünden hatten, sie hören zu lassen. Er riss sich fort von hier – hinaus aus dem Haus. Und tagelang kam er nicht nach Hause. Sie hielten den Grund seiner Abwesenheit von Leila und so weit sie konnten von Constance fern. Aber Mary wurde beinahe wild vor Sorge und sie fand in Gordon eine Kraft und Zuflucht, an die sie sich lehnte. Als Barry zurückkam, bot er ihren Plänen keine weiteren Einwände. Doch konnten sie sehen, dass er seinem Exil zustimmte, nur weil er kein Argument hatte, mit dem er ihnen begegnete. Er weigerte sich bis zum letzte Augenblick, vom Patentamt zurückzutreten, als ob er auf eine Begnadigung von dem Urteil, das seine Familie verkündet hatte, 183
hoffte. Er war launisch, gereizt, ein anderer Junge als der, der mit Leila am Hochzeitsabend von Constance herumgehüpft war. Sogar Leila sah die Veränderung: „Barry, Liebster“, sagte sie eines Abends, als sie neben ihm in der Bibliothek ihres Vaters saß. „Barry ‐ ist es, weil du es hasst, mich zu verlassen?“ Er wandte sich ihr fast grimmig zu. „Wenn ich einen eigenen Penny hätte, Leila, würde ich dich hochheben und wir würden zusammen ans Ende der Welt gehen.“ Und sie antwortete atemlos: „Es wäre himmlisch, Barry.“ Er spielte mit der Versuchung. „Wenn wir verheiratet wären, könnte dich niemand mir wegnehmen.“ „Niemand wird mich je wegnehmen.“ „Ich weiß. Aber sie könnten versuchen, dich dazu zu bringen, mich aufzugeben.“ „Warum sollten sie?“ „Sie werden sagen, dass ich es nicht wert bin ‐ dass ich ein armer Idiot bin, der für seine Frau keinen Lebensunterhalt verdienen kann.“ „Oh, Barry“, flüsterte sie, „wie kann jemand solche Dinge sagen?“ Sie kniete auf einem kleinen Schemel neben ihm und ihr braunes Haar lockte sich übermütig über ihre rosaroten Wangen. „Oh, Barry“, sagte sie wieder, „warum nicht ‐ warum nicht jetzt heiraten und ihnen zeigen, dass wir von dem leben können, was du verdienst, und dann musst du nicht fortgehen.“ Er griff nach dieser Hoffnung. „Aber Schatz, du wärest ‐ arm.“ „Ich hätte dich.“ „Ich könnte dich nicht in unser altes Haus nehmen. Es gehört Mary. Vater wusste, dass Constance heiraten würde, daher versuchte er, Mary zu versorgen, bis sie heiratet; danach wird der Besitz zwischen 184
den beiden Mädchen aufgeteilt. Er fühlte, dass ich ein Mann war, und er gab das Geld, das er für mich hatte, für meine Bildung aus.“ „Ich will nicht in Marys Haus wohnen. Wir könnten bei Dad leben.“ „Nein“, sagte er scharf. Barry war verletzt gewesen, als der General so gänzlich Gordon zuzustimmen schien. Er hatte das Angebot einer Stelle im Büro des Generals erwartet, und es war nicht gekommen. „Wenn wir heiraten, Liebling“, sagte er, „müssen wir auf eigenen Beinen stehen. Ich will von niemandem abhängig sein.“ „Wir könnten eine kleine Wohnung haben“, ihre Augen leuchteten, „und Dad würde sie für uns einrichten, und Susan Jenks könnte mir beibringen zu kochen, und sie könnte mir deine Lieblingssachen sagen, und wir würden sie haben, und es würde wie ein Märchenbuch sein. Barry, bitte.“ Er dachte auch, es würde wie ein Märchenbuch sein. Andere Leute hatten solche Dinge getan und waren glücklich gewesen. Und sobald er das Oberhaupt seines eigenen Haushalts war, würde er ihnen zeigen, dass er ein Mann ist. Doch versuchte er, sie abzubringen. „Ich darf nicht. Es wäre nicht richtig.“ Aber als die Tage vergingen und die Zeit vor seiner Abreise kurz wurde, begann er sich zu fragen: „Warum nicht?“ Und es war so, mit Romantik in der Führung, mit Liebe, die sie drängte, und mit Unwissenheit und Unschuld und Ungestüm Hand in Hand, dass schließlich in der Verrücktheit eines gewissen Märzmondes Leila und Barry davonrannten. Leila hatte eine Freundin in Rockville ‐ eine alte Schulfreundin, die sie oft besuchte. Barry kante Montgomery County von einem Ende zum anderen. Er hatte in seinen Strömen gefischt und gejagt, er war über die Straße mit dem Wagen gefahren, er hatte in seinen 185
Landhäusern getanzt und gegessen, er hatte in den Country Clubs Golf gespielt, er hatte in seinen Gasthäusern geschlafen und in seinen Kirchen gebetet. Also war es Montgomery County und seine Hauptstadt, dass sie nach Gretna Green suchten, und eines Nacht küsste Leila ihren Vater wehmütig und sagte ihm, dass sie Elizabeth Dean besuchen fahre. „Nur für Samstag, Dad. Ich fahre Freitagabend und komme rechtzeitig zum Abendessen am Samstag zurück.“ „Warum nicht mit dem Wagen hinausfahren?“ „Der Zug wird einfacher sein. Und ich werde dich anrufen, wenn ich dorthin komme.“ Sie ließ es mit dem Telefonieren darauf ankommen ‐ denn hätte er sie angerufen, hätte er gefunden, dass sie Rockville am Freitagabend nicht erreichte, auch wurde sie von Elizabeth Dean vor Samstag zum Mittagessen nicht erwartet. Es war daher ein Abend und eine Nacht und der Morgen des nächsten Tages, an dem Klein‐Hübsch‐Leila den Weg entlang tanzte, und Barry tanzte auch, bis der Mond rund und golden über der Schwärze der fernen Hügel aufging. Einmal kamen sie zu einem Strom, der wie Silber war, und einmal fuhren sie durch einen geisterhaften Obstgarten mit knospenden Ästen, und einmal kamen sie zu einem Farmhaus, wo ein Hund sie anbellte, und der Hund und der Obstgarten und die knospenden Bäume und der Strom schienen alle zu sagen: „Ihr lauft davon ‐ ihr lauft davon.“ Und nun gingen sie eine Meile und da war noch eine andere. „Aber was ist eine Meile?“, sagte Barry und Klein‐Hübsch‐Leila lachte. 186
Sie trug ein blassgelbes Kleid mit einem dicken warmen Mantel derselben modischen Farbe. Ihr Hut war sittsam unter ihrem kleinen Kinn mit schwarzen Samtbändern gebunden. Sie war wie eine Primel des Frühlings ‐ und Barry küsste sie. „Darf ich es Dad sagen, wenn wir morgen Abend nach Hause kommen?“, fragte sie. „Wir werden bis Sonntag warten. Erster April. Leila. Wir werden es ihm sagen und er wird denken, dass es ein Scherz ist. Und wenn er sieht, wie glücklich wir sind, wird er wissen, dass wir recht haben.“ So wie Kinder weigerten sie sich, den Gedanken der Zukunft die Freude der Gegenwart stören zu lassen. Einmal ruhten sie sich auf einem umgefallenen Baumstamm in einem kleinen Wäldchen aus. Der Wind hatte nachgelassen und die Luft war warm mit der stillen Wärme eines südlichen Frühlings. Zwischen den Bäumen konnten sie ein weißes Straßenband sehen, das sich zu einer schattigen Kirche wand. „Das Haus des Pfarrers ist neben der Kirche“, sagte Barry zu ihr, „in einer halben Stunden von nun an wirst du mein sein, Leila. Und niemand kann dich mir wegnehmen.“ In dem Wunder dieses Gedankens waren sie für einige Zeit still: „Wir seltsam es scheine mag, verheiratet zu sein, Barry.“ „Es scheint mir das Natürlichste auf der Welt zu sein. Aber es wird jene geben, die sagen werden, dass ich dich nicht hätte lassen sollen.“ „Ich lasse mich selbst. Du warst es nicht. Willst du, dass mein Herz bricht, wenn du gehst, Barry?“ Für einen Augenblick hielt er sie in seinen Armen, dann küsste er sie sanft und ließ sie los. Wenn sie diesen Weg zurückkommen, würde sie seine Frau sein. 187
Der alte Pfarrer stellte wenige Fragen. Er glaubte an die Jugend und Liebe; die Gesetze des Bundesstaates waren nachsichtig. Daher erklärte er mit den Mitgliedern seiner Familie als Zeugen zur rechten Zeit, dass dieser Mann und diese Frau eins waren, und wieder gingen sie hinaus in das Mondlicht. Und nun gab es eine andere kleine Reise einen Hügel hinauf und einen anderen hinunter zu einem idyllischen Wirtshaus ‐ fast leer an Gästen in dieser frühen Saison. Eine tüchtige kleine Wirtin und ein alter Farbiger führten sie zu der Suite, um die Barry angerufen hatte. Die kleine Wirtin lächelte Leila an und zeigte die weißen Rosen, die Barry für ihr Zimmer hatte senden lassen, und der alte Farbige zündete alle Kerzen an. Das war ein Abendessen auf dem Tisch in ihrem Wohnzimmer angerichtet, mit kaltem Brathuhn und heißen Brötchen, einer Flasche leichten Wein und einem runden Kuchen mit weißer Glasur. Leila schnitt den Kuchen an. „Zu denken, dass ich eine Hochzeitstorte haben sollte“, sagte sie zu Barry. Also machten sie ein Fest daraus, aber Barry öffnete nicht die Flasche Wein, bis ihr Abendessen zu Ende war. Dann schenkte er zwei Gläser ein. „Auf dich“, flüsterte er und lächelte seine Braut an. Dann, bevor seine Lippen es berühren konnten, stellte er das Glas hastig hin, sodass es gegen die Flasche schlug und zerbrach, und der Wein befleckte das weiße Tuch. Leila, die erschrocken aufblickte, begegnete einem seltsamen Blick. „Barry“, flüsterte sie. „Barry, lieber Junge.“ Er stand auf und blies die Kerzen aus. „Lass es mich dir erzählen ‐ im Dunkeln“, sagte er. „Du musst es wissen, Leila.“ 188
Und im Mondlicht erzählte er ihr, warum sie gewollt hatten, dass er fortginge. „Es ist, weil ich gegen Teufel ankämpfen muss.“ Zuerst verstand sie nicht. Aber er brachte sie dazu zu verstehen. Sie war ein so kleines Ding in ihrem gelben Kleid, so klein und jung, um mit einer solchen Sache umzugehen. Aber in dem Augenblick wurde das Kind eine Frau. Sie beugte sich über ihn. „Mein Mann“, sagte sie, „nichts kann uns jetzt je trennen, Barry.“ So lehrte sie die Liebe, was sie sagen sollte, und so konfrontierte sie ihn. Am nächsten Morgen holte Elizabeth Dean Leila Dick am Bahnhof ab. Dass sie in Wirklichkeit Leila Ballard abholte, war natürlich eine Sache, vor der sie keine Ahnung hatte. Aber Leila war sich äußerst ihres neuen Zustandes bewusst. Es schien ihr, dass die Autohupe es herausschrie, dass die Vögel es sangen, dass die Kühe es muhten, dass die Hunde es bellten: „Leila Ballard, Leila Ballard, Leila Ballard, Frau von Barry – du bist nicht Leila Dick, du bist es nicht, du bist es nicht, du bist es nicht.“ „Ich kannte dich nie so still“, sagte Elizabeth neugierig. „Was ist los?“ Leila brachte sich mit Mühe zurück. „Ich höre gerne zu“, sagte sie, „aber ich bin gewöhnlich eine solcher Plaudertasche, dass die Leute es nicht glauben.“
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Irgendwie schaffte sie es, durch diesen Tag zu kommen. Irgendwie schaffte sie es, die Leute zu begrüßen und zu treffen, die zu dem Mittagessen eingeladen waren, das zu ihren Ehren gegeben wurde. Aber während sie körperlich bei ihnen war, im Geist war sie bei Barry. Barry war ihr Ehemann – ihr Ehemann, der sie liebte und sie in seinem Leben brauchte. Sein Bekenntnis der Nacht zuvor hatte mit sich keinen abtötenden Sinn der Hoffnungslosigkeit gebracht. Für sie war jede Zukunft mit Barry rosafarben. Aber es hatte ihre Haltung ihm gegenüber daran verändert, dass sie ihn nicht länger als einen starken jungen Gott anbetete, der alleine stehen konnte und den sie wegen seiner Herablassung, seine Augen auf sie zu werfen, anbeten musste. Er brauchte sie! Er brauchte die kleine Leila Dick! Und der Gedanke gab ihrer Ehe eine tiefere Bedeutung als die der bloßen jungendlichen Wonne. Er hatte sie an diesem Morgen widerwillig in den Zug gesetzt und hatte versprochen, sie in dem Augenblick anzurufen, in dem sie die Stadt erreichte. So war ihre Reise nach Washington im Abendzug eine Stunde der Erwartung. Für jene, die mit ihr fuhren, schien sie eine sehr hübsche und unabhängige junge Person zu sein, die eine vollkommen anständige und übliche Reise mit dem Fünf‐Uhr‐Express machte – in ihren Gedanken war sie von dem Rest durch die Tatsache ihrer transzendenten Romanze ausgestiegen. 190
Ihr Vater traf sie am Bahnhof und setzte sie in ein Taxi. Den ganzen Weg nach Hause saß sie mit ihrer Hand in seiner. „Hattest du eine gute Zeit?“, fragte er. „Himmlisch, Dad.“ Sie aßen zusammen zu Abend und sie redete von ihrem Tag, wobei sie wünschte, dass nichts von ihm fernzuhalten wäre, dass sie es ihm jetzt zuflüstern könnte. Sie hatte keine Furcht vor seiner Missbilligung. Dad liebte sie. Kein Anruf war von Barry gekommen. Sie beendete das Abendessen und wanderte ruhelos von Zimmer zu Zimmer. Als es neun Uhr schlug, schlich sie sich in die Bibliothek des Generals und fand ihn in seinem großen Stuhl lesen und rauchen. Sie saß auf einem kleinen Schemel neben ihm und legte ihren Kopf an seine Knie. Bald glitt seine Hand von seinem Buch und berührte ihre Locken. Und dann saßen beide und schauten in das Feuer. „Wenn deine Mutter gelebt hätte, mein Liebling“, sagte der alte Mann, „hätte sie Dinge leichter für sie gemacht.“ „Wegen Barrys Fortgehen?“ „Ja.“ „Es scheint albern für ihn zu sein zu gehen, Dad. Sicherlich gibt es hier etwas für ihn zu tun.“ „Gordon denkt, dass die Reise seine Männlichkeit herausbringen wird, ihn weniger von einem Jungen macht.“ 191
„Ich denke nicht, dass Gordon Barry versteht.“ „Und du schon, Baby? Ich befürchte, du verwöhnst ihn.“ „Niemand könnte Barry verwöhnen.“ „Liebe ihn nicht zu sehr.“ „Als ob ich könnte.“ „Ich bin nicht sicher“, sagte der alte Mann verschmitzt, „dass du es tust. Und kein Mann ist es wert. Die meisten von uns sind egoistische Schweine – wir nehmen alles, was wir kriegen können – und was wir geben, ist gewöhnlich weniger als wir wiederum erbitten. Aber nun lächelte sie in das Feuer. „Du gabst Mutter alles, was du zu geben hattest, Dad, und du machtest sie sehr glücklich.“ Als Barry kam, fand er sie in den Armen ihres Vaters gekuschelt. Über ihren Kopf lächelte der General seinen Jungen an, der sie eines Tages von ihm nehmen würde. Aber Barry lächelte nicht. Er begrüßte den General, und als Leila zu ihm kam, zitternd befangen, begegnete er nicht ihren Augen, aber er nahm ihre Hand fest in seine, während er mit ihrem Vater sprach. „Es wird Ihnen nichts ausmachen, General, wenn ich Leila in das andere Zimmer führe. Ich habe ihr eine Menge Dinge zu sagen.“ „Natürlich nicht. Ich war einmal selbst verliebt, Barry.“ Sie gingen in das andere Zimmer. Es war ein langer und formeller Salon mit Kristallkronleuchtern und rosafarbenen Polstermöbeln und vergoldeten Spiegelrahmen. Es war von der Mutter des Generals 192
eingerichtet worden, und seine kleine Frau hatte es geliebt und es unverändert gelassen. Es war nun trübe erleuchtet und Leila in ihrem weißen kleinen Abendkleid und Barry groß und schlank in seinem Abendanzug wurden nebelig von den langen Spiegeln reflektiert. Barry nahm sie in seine Arme und küsste sie. „Meine Frau, meine Frau“, sagte er immer wieder, „meine Frau.“ Zuerst gab sie freudig nach und begegnete seiner Wonne mit ihrer eigenen. Aber gegenwärtig wurde sie sich einer Wildheit in seiner Art bewusst, ein gebrochener Ton in seinem Flüstern. Also befreite sie sich und trat ein kleines Stück von ihm zurück und fragte schnell atmend: „Barry, was ist geschehen?“ „Alles. Seit ich dich heute Morgen verließ, habe ich meinen Platz verloren. Ich fand den Umschlag heute Morgen auf meinem Schreibtisch – der mir von meiner Entlassung berichtet. Sie sagten, dass ich zu oft ohne ausreichende Entschuldigung fort war, und daher haben sie mich entlassen. Und du siehst, dass das, was Gordon sagte, stimmte. Ich kann für eine Frau keinen Lebensunterhalt verdienen. Nun, da ich dich habe, kann ich mich nicht um dich kümmern – da ist nicht viel von einem Kerl, den du geheiratet hast, Leila.“ Oh, das kleine weiße Gesicht mit den glänzenden Augen! Dann aus der Stille kam ihr Schrei, triumphierend wie die Melodie eines Vogels. „Aber ich bin jetzt deine Frau und nichts kann uns trennen, Barry.“ 193
Er fing ihre Hand in seiner auf. „Liebste, Liebste – siehst du nicht, dass ich ihnen nie von unserer Heirat erzählen kann, bis ich ihnen zeigen kann ‐“ „Ihnen was zeigen, Barry?“ „Dass ich mich um dich kümmern kann.“ „Meinst du, dass ich es nicht einmal Dad sagen darf, Barry?“ „Du darfst es niemandem sagen, nicht, bis ich zurückkomme.“ Jeder Blutstropfen war aus ihrem Gesicht gewichen. „Bis du zurückkommst? Gehst du fort?“ „Ich versprach Gordon heute, dass ich es würde.“ Sie wankte ein wenig und er fing sie auf. „Ich musste es versprechen, Leila. Verstehst du nicht? Ich habe keinen Penny und ich kann ihnen gegenüber nicht zugeben, dass ich dich geheiratet habe, dass all deine Süße und Hochschätzung mir gehört. Ich wollte es der Welt zurufen. Aber ich habe keinen Penny und ich bin stolz und ich werde Gordon nicht denken lassen, dass ich ein – Narr gewesen bin.“ „Aber Dad würde uns helfen.“ „Denkst du, dass ich ihn anbettle, mir zu geben, was er nicht angeboten hat, Leila? Ich muss ihnen zeigen, dass ich kein Junge bin.“ Sie mühte sich ab, um sich aus ihrer merkwürdigen Benommenheit herauszuhelfen, die sie ergriff. „Wenn ich es nur Dad sagen könnte.“ „Sicher kann es unser eigenes süßes Geheimnis sein, Liebste.“ 194
Sie legte ihre Wange an seinen Arm in einer sprachlosen Geste der Unterwerfung und ihre kleine bloße linke Hand kroch hoch und ruhte wie ein weißes Rosenblatt auf der Schwärze seiner Jacke. Er legte seine eigene auf sie. „Arme kleine Hand ohne Ehering“, sagte er. Und nun schien sie die Benommenheit zu umhüllen, zu brechen – „Pst, Leila, Liebes.“ Aber sie konnte nicht still sein. Genau an diesem Morgen hatte sie den Ehering über ein schmales blaues Band gesteckt und Barry hatte es um ihren Hals gebunden. Morgen, hatte er versprochen, sollte sie ihn für die ganze Welt zu sehen tragen. Aber sie sollte ihn nicht tragen. Er muss versteckt werden, wie sie ihn den ganzen Tag über ihrem Herzen getragen hatte. „Leila, du machst es schwer für mich.“ Es war der egoistische Schrei eines Mannes, aber als sie ihn hörte, schob sie ihre eigenen Probleme beiseite. Er brauche sie und ihr König konnte ihr kein unrecht tun. So machte sie sich daran, ihn zu trösten. In dem Monat, der ihnen übrig blieb, würden sie das Beste aus ihrem Glück machen. Dann könnte sie vielleicht Dad dazu bringen, sie im Sommer hinüberzubringen und er sollte ihr London und alle hübschen Plätze zeigen, und da würden die Briefe sein; sie würde alles schreiben ‐ und er muss schreiben.
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„Du kleine Heilige, sagte er, als er sie verließ, „du bist zu gut für mich, aber alles, was am besten in mir ist, gehört dir ‐ meine Kostbare.“ Sie ging mit ihm zur Tür und sagte tapfer „gute Nacht“. Dann schloss sie die Tür und zitterte. Als sie endlich durch den Flur zur Bibliothek ging, schien sie gegen eine Barriere gestoßen zu werden, sodass ihr Weg langsam war. Auf der Türschwelle dieses Zimmers blieb sie stehen. „Dad“, sagte sie scharf. „Mein Liebling.“ Er sprang gerade rechtzeitig hoch und fing sie auf. Sie lag an seinem Herzen weiß und still. Die Anspannung der letzten zwei Tage waren zu groß für sie gewesen und die Klein‐Hübsch‐Leila war ohnmächtig geworden.
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Kapitel XVI In dem ein langer Name einem schönen Baby zuteil wird und in dem ein Brief in einem langen Kuvert Mary Freiheit bringt
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ie Taufe von Constances Baby brachte eine Gruppe weiblicher Persönlichkeiten zusammen, die für jemanden, der Vorstellungskraft besitzt, für die bösen und guten Feen der alten Geschichtenbücher hätten stehen können. Die kleine Mary‐Constance Ballard Richardson, trotz der Würde ihres mit einem Bindestrich versehenen Namens, war ein winziger Krümel. Eingewickelt in feinem Leinen zeigte sie dem vorurteilsfreien Auge keine Anzeichen großer Schönheit. Mit einer runzeligen roten Haut, einer komischen runden Nase, einem zahnlosen Mund war sie wie jedes andere normale Baby ihres Alters, aber für ihre Familie und Freunde war sie ein seltenes und unübertroffenes Objekt. Sogar Tante Frances unterlag ihrem Charme. „Ich muss sagen“, bemerkte sie zu Delilah Jeliffe, als sie sich über die Korbwiege beugten, „dass sie für ihr Alter bemerkenswert ist.“ Delilah zuckte die Achel: „Ich bin von ihnen nicht angetan. Sie sind so rot und sich windend.“ Leila protestierte heftig. „Delilah, sie ist wunderschön ‐ so kleine perfekte Hände.“ „Vogelkrallen!“ Mary nahm den Tonfall auf. „Ihre Haut ist wie ein Rosenblatt.“ 197
Und Grace: „Ihre Haare werden golden werden, wie die ihrer Mutter.“ „Haare?“ Delilahs Ton war ungläubig. „Sie hat keine.“ Tante Frances drehte fachmännisch den kleinen Krümel auf seinen Rücken. „Wie nennt man das?“, fragte sie empört. Über der Fettfalte des Babyhalses stand eine kleine fedrige Entenschwanzlocke hervor ‐ hell wie ein Sonnenstrahl. „Wie nennt man das?“, kam der Chor der Verehrer. Delilah gab leisem, spöttischem Lachen nach. „Das ist kein Haar“, sagte sie; „es ist nur ein Muster von gelber Seide.“ Porter, der heraufkam, wurde zu einer Wiederholung dieser Bemerkung eingeladen. „Danken wir den Göttern, dass es nicht rot ist“, war die leidenschaftliche Antwort. Graces Hände gingen hoch zu ihrem eigenen hübschen Haar. „Oh“, tadelte sie ihn. Porter entschuldigte sich. „Ich dachte an meinen Karottenkopf. Deines ihr prächtig.“ „Künstler malen es“, stimmte Grace nachdenklich zu, „und es passt gut zu der richtigen Kleidung.“ Delilah blickte von einem zum anderen. 198
„Ihr zwei würdet ein schönes Paar Heilige auf einem Farbglasfenster abgeben“, sagte sie nachdenklich, mit einem Lilienkranz und Heiligenschein auf euren Hinterköpfen.“ „Die meisten Frauen sind bereit für Heiligenscheine“, sagte Porter, „und Flügel, aber ich kann mich nicht sehen, einen Lilienkranz zu balancieren.“ „Ich auch nicht“, lachte Grace perlend, „du machst besser Stockrosen daraus, Delilah ‐ kennst du den alten Reim ‚A beau never goes Where the hollyhock blows?‘“ 2
„Dir hat es nie an Männern in deinem Leben gemangelt“, sagte Delilah scharfsinnig zu ihr, „aber mit diesem Haar wirst du keine der bequem verheirateten Art sein ‐ es wird entweder eine große Leidenschaft oder eine Karriere für dich sein. Wenn du deinen Romeo nicht findest, wirst du Mutter Oberin in einem Kloster, die Leiterin eines Diakonissenheims oder eine Krankenschwester auf einem Schlachtfeld.“ Graces Augen funkelten. „Oh, weise Delilah, du bist nicht so weit weg von meinen Träumen getrieben. Woher hast du deine Weisheit?“ „Ich lerne Dinge von Colin Quale. Wir studieren zusammen Typen. Es macht mir großen Spaß, aber er ist vollkommen ernst.“
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Ein Kavalier niemals geht, wo die Stockrose weht
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Colin Quale war Delilahs Künstler. „Warum hast du ihn nicht mitgebracht?“, fragte Constance. „Weil er nicht in diese Familiengruppe gehört; und ich hatte jedenfalls etwas für ihn zu tun. Er macht eine Skizze von dem Kleid, das ich zur Gartenparty im Weißen Haus tragen werde. Es wird ihn für den Nachmittag beschäftigt halten.“ „Delilah“, Leila blickte von ihrer Anbetung von Mary‐Constance auf, „ich glaube nicht, dass du an Leuten etwas siehst, außer die Art, wie sie aussehen.“ „Tue ich nicht, Schätzchen. Für mich seid ihr eine Art Familienkunstgalerie. Ich hänge euch in meiner Fantasie auf und ihr gebt eine ziemlich nette kleine Sammlung ab.“ Barry, der hereinkam, fing ihre Worte mit etwas seiner alten Lebhaftigkeit auf. „Das Baby gehört zu der holländischen Schule ‐ mit dieser Nase.“ Es gab einen Protestchor. „Sie sieht wie du aus“, sagte ihm Delilah. „Außer der Nase ist sie eine Ballard. Da ist nichts von ihrem Vater in ihr, außer ihre schönen Begabung.“ Sie blitzte einen herausfordernden Blick auf Gordon. Er versteifte sich. Solche Frauen wie Delilah Jeliffe mochten ihren Platz in dem ewigen System der Weiblichkeit haben, aber er bezweifelte es. „Sie ist sogar darin eine Ballard“, sagte er förmlich; „es ist Constance, deren Begabung über aller Kritik hinaus ist, nicht meine.“ 200
„Und nun, da du Constance fortgebracht hast, wirst du Barry fortbringen“, tadelte ihn Delilah. Leila ließ die Hand des Babys sinken. „Ja“, Gordon diskutierte das Thema mit offensichtlichem Widerwillen, „er fährt mit mir hinüber, um das Geschäft zu lernen ‐ er hat vielleicht nie eine bessere Gelegenheit.“ Das Licht ging in Barrys Augen aus. Er verließ die kleine Gruppe, wanderte zum Fenster und stand und blickte hinaus. „Mary wird als Nächstes gehen“, prophezeite Delilah. „Mit Constance und Barry auf der anderen Seite wird sie nicht fernbleiben können.“ Mary schüttelte ihren Kopf. „Was würden Tante Isabelle und Susan Jenks und Pittiwitz ohne mich tun?“ „Was würde ich ohne dich tun?“, fragte Porter kühn. „Setzte ihr nicht solche Ideen in den Kopf, Delilah; sie ist wie sie ist fern genug.“ Aber Mary hörte nicht zu. Barry war aus dem Zimmer geschlichen und bald folgte sie ihm. Leila hatte ihn gehen sehen und hatte ihm sehnsüchtig nachgeblickt, aber neulich hatte sie den Anschein, in ihren öffentlichen Bekundungen schüchtern zu sein; es war, als ob sie fühlte, wenn sie unter dem Blick der anderen war, sie durch ein Zeichen oder einen Blick ihr Geheimnis verraten könnte. Mary fand Barry unten in dem kleinen Büro, seinen Kopf in seinen Händen.
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„Lieber Junge“, sagte sie und berührte sein helles Haar mit zögernden Fingern. Er fasste hinauf und erwischte ihre Hand. „Mary“, sagte er gebrochen, „was hat es für einen Sinn? Ich begann falsch ‐ und ich vermute, ich werde bis zum Ende falsch weitermachen.“ Und nun sprach sie mit Ernst, beide Hände auf seinen Schultern. „Oh, Barry, Junge ‐ wenn du kämpfst, kämpfe mit all deinen Waffen. Und lasse dich nicht die falschen Gedanken weiter in die falsche Sache formen. Wenn du denkst, dass du versagen wirst, wirst du versagen. Aber wenn du von dir als siegend, triumphierend denkst ‐ wenn du von dir als zu Leila siegreich zurückkommend denkst, na, dann wirst du so kommen; du wirst stark und strahlend sein, ein Mann unter Männern, Barry.“ Es war dieser überzeugende Optimismus von Mary Ballard, der schwächeren Naturen ein Gefühl des tatsächlichen Zustandebringens brachte. Mary „Du kannst es“ sagen zu hören, war an seine eigene Stärke zu glauben. Zum ersten Mal in einem Leben fühlte es Barry. Bis dahin hatte Mary eher den Anschein gehabt, sich Sorgen zu machen, wenn es zu Verhaltensregeln kam ‐ ziemlich unvernünftig in ihren Forderungen an ihn. Aber nun wurde er auf den Schwingen ihres Glaubens an ihn hochgehoben. „Denkst du, dass ich es kann?“ Ein Licht war in seine müden Augen gesprungen.
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„Ich weiß, dass du es kannst, lieber Junge“, sie beugte sich hinunter und küsste ihn. „Du wirst dich um Leila kümmern“, bat er und dann sehr leise, „ich befürchte, ich machte ein fürchterliches Durcheinander, Mary.“ „Du darfst daran nicht denken ‐ denke nur, Barry, an den einen Tag, wenn du zurückkommst! Wie alle Hochzeitsglocken läuten werden!“ Aber er dachte an eine Hochzeit, wo es keine Glocken gegeben hatte. Er dachte an Klein‐Hübsch‐Leila in ihrem gelben Kleid in der Nacht des verrückten Märzmondes. „Du wirst dich um sie kümmern“, sagte er und Mary versprach es. Und nun traf der Bischof ein, und gewisse alte Freunde der Familie. Als Barry und Mary nach oben gingen, begegneten sie Susan mit der Post. Es gab einen langen Brief für Mary, den sie mit Begierde aufriss, darauf blickte und ihn in ihren Gürtel steckte, dann auf beflügelten Füßen davonging. Porter, der sie anblickte, als sie hereinkam, war von dem Glanz ihres Aussehens beeindruckt. Wie hübsch sie mit dieser Röte auf ihren Wangen und mit ihren süßen glänzenden Augen war! Mit gebührlicher Formalität und mit der richtigen Anzahl von Paten und Patinnen wurde die kleine Mary‐Constance Ballard Richardson offiziell getauft. Während der Zeremonie saß Leila an der Seite ihres Vaters, ihre Hand in seiner. In diesen Tagen klammerte sich das Kind an den starken alten Soldaten. Als sie in der Nacht zu Bewusstsein gekommen 203
war, in der sie auf der Schwelle der Bibliothek ohnmächtig wurde, hatte er gefragt: „Mein Liebling, was ist los?“ Und sie hatte geschrien: „Oh, Dad, Dad“, und hatte in seinen Armen geweint. Aber sie hatte ihm nicht gesagt, dass sie Barrys Frau war. Es war, weil Barry fortging, hatte sie zugegeben; es schien, als ob ihr Herz brechen würde. Der General besprach die Situation mit Mary. „Wie wird sie es durchstehen, wenn er wirklich fort ist?“ „Es wird besser sein, wenn die Trennung vorüber ist und sie sich zu anderen Dingen niederlässt.“ Doch an diesem Tag nach der Taufe fragte sich Mary, ob das, was sie gesagt hatte, stimmte. Was würde das Leben für Leila enthalten, wenn Barry fort war? Ihr eigenes Leben ohne Roger Poole war leer. Widerwillig war sie gezwungen, es zuzugeben. Constance, das Baby, Porter, das waren die Schatten, Roger war die Substanz. Die Briefe, die zwischen ihnen hin und her gegangen waren, hatten ihr Tiefen in ihm gezeigt, die bis dahin unentdeckt geblieben waren. Wenn sie Porter Bigelow mit ihm verglich, erkannte sie, dass Porter niemals die Dinge sagen konnte, die Roger sagte; er konnte sie nicht einmal denken. Und während in den Augen der Welt Roger ein besiegter Mann war, und Porter ein erfolgreicher, gab es doch zu denken, dass Porters Eigenschaften eher negativ als positiv waren. Mit all seinen Möglichkeiten engte er sein Leben im Streben nach Vergnügen und 204
seiner Liebe zu ihr ein. Roger war der Verantwortung seinen Mitmenschen gegenüber durch Rückzug ausgewichen; Porter wich durch Gleichgültigkeit aus. So fand sie sich, wie viele andere Frauen sich gefunden hatten, indem sie die Schlacht des wenigen Glücklichen schlug. Roger wollte sie, doch erzwang er keinen Anspruch, Porter wollte sie und meinte, sie zu haben. Er hatte neulich seine Ungeduld in dem Restaurant gezeigt. Er hatte immer mehr ihre Zeit übergebührlich in Anspruch genommen ‐ mehr und mehr gefordert. Er war abgehalten worden, die Dinge zu sagen, die sie nicht wollte, dass er sagte, nur durch die Tatsache, dass sie nicht zuhören würde. Sie wusste, dass er Dinge erwartete, die nie sein könnten ‐ und dass durch ihr Schweigen sie seinen Erwartungen Zustimmung gab. Doch fand sie sich selbst, wie sie fürchtete, das endgültige Wort zu sagen, das ihn von ihr fortschickte. Die Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau hat diese brennende Eigenschaft ‐ sie hat keine Zusicherung der Dauerhaftigkeit. Denn wenn einer heiratet, muss der andere den Verlust erleiden; wenn einer liebt, muss der andere das weglegen, das vielleicht eine geschätzte Verbindung geworden war. Als ihren Freund schätzte Mary Porter sehr. Sie kannte ihn ihr ganzes Leben. Doch war sie sich bewusst, dass sie alles nahm und nichts zurückgab; und sicherlich hatte Porter das Recht, ein Leben mit etwas mehr als das zu verlangen. Sie seufzte und als sie zu ihrem Schreibtisch ging, nahm sie den Brief heraus, den sie mit der Morgenpost erhalten hatte. 205
Sie wusste, dass in dem Augenblick, wenn sie den Inhalt des Briefes verkündete, es ein dramatischer sein würde. Auch wenn sie es ruhig täte, würde er die Wirkung einer Bombe haben, die inmitten eines friedlichen Kreises geworfen wurde. Sie hatte eine Vorstellung, dass es am besten wäre, es Porter zuerst zu sagen. Er sollte zum Abendessen zurückkommen, daher zog sie sich an und ging früh hinunter. Er fand sie im Garten. Es gab jetzt Doppelreihen mit Hyazinthen, mit Tulpen, die dazwischen hochkamen, und hinter dem Springbrunnen war ein amethystfarbener Himmel, wo der junge Mond schien. Sie stand auf, um ihn zu begrüßen, ihre Hände voll mit wohlriechenden Blüten. Er hielt ihre Hand hoch. „Wie glücklich du aussiehst, Mary.“ „Ich bin glücklich.“ „Weil ich hier bin? Wenn du das nur einmal wahrheitsgemäß sagen könntest.“ „Es ist immer gut, dich zu haben.“ „Aber du wirst nicht lügen und sagen, dass du glücklicher bist wegen meines Kommens? Oh, Contrary Mary!“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Wenn ich nette Dinge zu dir sagte, würdest du mich missverstehen.“ „Vielleicht. Aber warum dieser strahlende Glanz?“ „Gute Nachrichten.“ „Von wem?“ 206
„Einem Mann.“ „Was für einem Mann?“, mit steigender Eifersucht. „Einer, der mir die Sache gegeben hat, die ich will.“ Er war eindeutig verwirrt. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Ein Brief kam heute Morgen ‐ ein hübscher Brief in einem langen Kuvert.“ Sie nahm ein Papier aus einer Zeitschrift, die auf der Steinbank neben ihr lag. „Lies das“, sagte sie. Er las und sein Gesicht wurde vollkommen weiß, sodass es sich kreiden unter seinem roten Haar zeigte. „Mary“, sagte er, „was hast du dafür getan? Du weißt, dass ich dich nicht lassen werde.“ „Du hast nichts mit mir zu tun“ „Aber ich habe es. Es ist lächerlich. Du weißt nicht, was du tust. Du bist nie an einem Büroschreibtisch gebunden gewesen ‐ du hast nie mit der Welt gekämpft und dich abgemüht. „Auch du nicht, Porter.“ „Also, wenn ich es nicht habe, ist es meine Schuld?“, fragte er. „Ich wurde mit diesem Mühlstein von Geld um meinen Hals geboren, und 207
„Du weißt nicht, was du tust.“
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einem roten Kopf. Dad schickte mich zur Schule und aufs College und er verhalf mir zu Geschäften. Es war für mich nichts übrig zu tun, außer mich geradeaus zu halten, und ich habe das für dich getan.“ „Ich weiß“, sagte sie sehr süß, als sie sich zu ihm lehnte, „aber, Porter, manchmal in letzter Zeit habe ich mich gefragt, ob das alles ist, was uns erwartet.“ „Alles? Was meinst du?“ „Wird von uns nicht erwartet, etwas für andere zu tun?“ „Was für andere?“ Sie wollte ihm über Roger Poole und dem Jungen in den Föhren erzählen. Ihre Augen glühten. Aber ihre Lippen waren still. „Was für andere, Mary?“ „Die Leute, die nicht so glücklich sind wie wir.“ „Was für Leute?“ Mary war etwas vage. „Die Leute, die uns brauchen ‐ um zu helfen.“ „Heirate mich und du kannst die gute Fee sein ‐ und Wohltätigkeit verteilen.“ „Es ist nicht genau Wohltätigkeit.“ Sie hatte wieder die Vision von Roger Poole und dem Jungen. „Die Leute wollen nicht nur unser Geld ‐ sie wollen, dass wir verstehen.“ Er folgte ihr nicht. „Zu denken, dass du hinaus in die Welt gehen willst ‐ um zu arbeiten. Sage mir, warum du es tust.“ 209
„Weil ich ein Ventil für meine Energien brauche ‐ das Mädchen von begrenztem Einkommen heutzutage ist so untauglich wie eine Qualle, wenn sie keine Beschäftigung hat.“ „Du könntest nie eine Qualle sein, Mary, hör zu, hör zu. Ich brauche dich, Liebes. Ich habe ein Jahr still gehalten ‐ Mary!“ „Porter, ich kann nicht.“ Und nun stellte er eine Frage, die in seiner Brust geschwelt hatte. „Gibt es einen anderen?“ Gab es einen? Ihre Gedanken sprangen sofort zu Roger. Was bedeutete er für sie? Was könnte er je bedeuten? Er hatte selbst gesagt, dass er nichts erwarten könnte. Vielleicht hatte er gemeint, dass sie nichts erwarten darf. „Mary, ist es ‐ Roger Poole?“ Ihre Augen kamen herauf, um seinen zu begegnen; sie waren wie Sterne. „Porter, ich weiß es nicht.“ Er nahm den Schlag schweigend. Die Schatten waren nun auf ihnen. In der ganzen Schönheit der Maidämmerung grinste der kleine Bronzeknabe die Liebe und das Leben an. „Hat er dich gefragt, Mary?“ „Nein. Ich bin nicht sicher, dass er mich heiraten will ‐ ich bin nicht sicher, dass ich ihn heiraten will ‐ ich weiß nur, dass er anders ist.“ Es sah Mary ähnlich, es so offen zu sagen. 210
„Kein Mann könnte dich kennen, ohne dich heiraten zu wollen. Aber was hat er dir zu bieten ‐ oh, es ist absurd.“ Sie stand ihm feurig gegenüber. „Es ist nicht absurd, Porter. Was hat irgendein Mann einer Frau zu bieten außer seiner Liebe? Oh, ich kenne euch Männer ‐ ihr denkt, weil ihr Geld habt ‐ aber wenn ‐ wenn ihr beide mich liebtet, würdet ihr vor mir stehen, aufgrund eurer Vorzüge als Mann ‐ es würde für mich sonst nichts außer dem geben.“ „Ich weiß. Und ich bin gewillt, aufgrund meiner Vorzüge zu stehen.“ Das Temperament, das zu Porters rotem Kopf gehörte, erklärte sich selbst. „Ich bin gewillt, aufgrund meiner Vorzüge zu stehen. Ich biete dir eine Vergangenheit an, die sauer ist ‐ eine Zukunft der Ergebenheit. Es ist etwas wert, Mary ‐ in den kommenden Jahren, wenn du mehr von Männern weißt, wirst du verstehen, dass es etwas wert it.“ „Ich weiß“, sagte sie, ihre Hand auf seiner, „es ist eine ganze Menge wert. Aber ich will niemanden heiraten.“ Es war der alte ständig wiederholte Schrei. „Ich will das Leben führen, das ich für eine kleine Weile geplant habe ‐ dann, wenn die Liebe mich beansprucht, muss es Liebe sein ‐ nicht bloß ein bequemes Erlangen eines Heimes für mich, entlang den Reihen des geringsten Widerstands. Ich will arbeiten und verdienen und wissen, dass ich es kann. Wenn ich dich heiraten sollte, wäre es nur, weil ich keinen anderen Weg aus den Schwierigkeiten sehen könnte, und du würdest mich auf diese Weise nicht wollen, Porter.“ Er wollte sie. Aber er erkannte die Sinnlosigkeit, sie zu wollen. Für eine kleine Weile zumindest muss er sie sich durchsetzen lassen. Tatsächlich würde sie sich durchsetzen, ob er sie ließ oder nicht. Aber Roger Poole sollte sie nicht haben. Er sollte es nicht. Alles, was primitiv 211
in Porter war, erhob sich, um die Ansprüche zu besiegen, die sie für seinen Rivalen geltend machte. „Ich wusste, es würde Probleme geben, als du die Turmzimmer vermietetest“, sagte er schließlich schwer; „ein solcher Mann sagt immer dem romantischen Gefühl eines Mädchens zu.“ Die Turmzimmer! Mary sah Roger, wie er in ihnen zum ersten Mal inmitten aller Verwirrung von Constances Flucht aus dem heimatlichen Nest stand. Jener Abend, in der er ihr bloß als eine Person vorgekommen war, die die Miete zahlen würde ‐ doch das Geld, das sie von ihm erhalten hatte, war der kleinste Teil gewesen. Sie trieb davon auf der Flut ihrer Träume und Porter spürte stark das Gefühl ihrer äußersten Distanz zu ihm. „Mary“, sagte er nervös, „Mary, oh meine kleine Contrary Mary ‐ du wirst nicht aus meinem Leben gleiten. Sage, dass du es nicht wirst.“ „Ich entgleite dir nicht“, sagte sie, „nicht mehr, als ich meinem eigenen Selbst entgleite. Ich verstehe es nicht, Porter. Ich weiß nur, dass das, was du Widerspenstigkeit nennst, eine Macht in mir ist, die ich nicht kontrollieren kann. Ich wünsche, dass ich die Dinge tun könnte, die du willst, dass ich tue, ich wünsche, ich könnte sein, was Gordon und Constance und Barry und sogar Tante Frances wollen ‐ aber da ist etwas, was mich immer weiterträgt und zu sagen scheint: ‚Es gibt mehr als dies auf der Welt für dich‘ ‐ und mit diesem Ruf in meinem Ohr muss ich folgen.“ Er erhob sich und sein Kopf war hoch. „Mein ganzes Leben habe ich nur ein Ding gewollt, das mir verweigert worden ist ‐ und das eine Ding bist du. Und kein anderer Mann soll dich mir nehmen. Ich vermute, ich 212
muss mir eine andere Zeit der Geduld. Aber ich kann warten, weil am Ende ich bekommen werde, was ich will ‐ merke dir das, Mary.“ Sei dir nicht zu sicher, Porter.“ „Ich bin so sicher“, wobei er die Hand hob, die mit dem schweren Ring beschwert war, „ich bin so sicher, dass ich eine Wette mit dem Glück mache, dass der Tag kommen wird, wenn dieser Ring unser Verlobungsring sein soll. Ich werde dir andere schenken, Mary, aber dieser soll der eine sein, der dich an mich binden soll.“ Sie riss ihre Hand weg. „Du sprichst, als ob du sicher wärest“, sagte sie. „Bin ich. Ich werde dich ein Weilchen arbeiten und tun lassen, was du willst, wenn du musst. Aber am Ende werde ich dich heiraten, Mary.“ Beim Abendessen verkündete Mary den Inhalt ihres Briefes in dem langen Kuvert. „Ich habe meine Ernennung als Stenotypistin im Finanzministerium erhalten, und ich soll mich am zwanzigsten zum Dienst melden.“ Es war Tante Frances, die sich zuerst von dem Schock erholte. „Also, wenn du mein Kind wärest ‐“ Grace, mit kleinen Lichtpunkten in ihren Augen, sprach schön: „Wenn Mary dein Kind wäre, wäre sie so pflichtbewusst wie ich, Mutter. Aber du siehst, sie ist nicht dein Kind.“ Tante Frances schnaubte ‐ „Pflichtbewusst.“ Gordon schaute finster. „Es ist eine widerwärtige Torheit.“ 213
Mary brauste auf. „Das ist dein Standpunkt, Gordon. Du beurteilst mich nach Constance. Aber Constance ist immer weiblich und süß gewesen ‐ und ich bin nie weder besonders weiblich, noch besonders süß gewesen.“ Barry setzte ihre Verteidigung fort. „Ich denke, Mary weiß, wie sie sich um sich selbst kümmert, Gordon.“ „Keine Frau weiß, wie sie sich um sich selbst kümmert“, war Gordon halsstarrig, „wenn es zu dem Kampf mit ökonomischen Bedingungen kommt. Ich würde es hassen zu denken, dass Constance versucht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.“ „Gordon, mein Lieber“, flehte Constances Stimme, „ich könnte es nicht ‐ aber Mary kann ‐ nur hasse ich es, sie es tun zu sehen.“ „Ich nicht“, sagte Grace kräftig. „Ich beneide sie.“ Tante Frances richtete einen strengen Blick auf ihre Tochter. „Ermutige sie nicht in ihrer Torheit, Grace“, sagte sie, „jede von euch sollte heiraten und sich mit einem netten Mann niederlassen.“ „Aber was für einen Mann, Mutter?“ Grace, die sich nach vor lehnte, stellte die Frage mit einer gereizte zweifelnden Miene. „Da sind ein halbes Dutzend, die warten.“ „Nette Jungs! Aber ein Mann. Finde mir einen, Mutter, und ich werde ihn heiraten.“ „Das Problem mit dir und Mary“, informierte sie Porter, „ist, dass ihr keinen Mann wollt. Ihr wollt einen Helden.“ 214
Grace nickte. „Mit einem Helm und einer Feder und der auf einem Ross reitet ‐ das ist mein Traum ‐ aber Mutter weigert sich, mich in Arkadien wandern zu lassen, wo solche Ritter zu finden sind.“ „Ich denke“, bemerkte Constance glücklich, „dass sie hin und wieder im Alltagsleben gefunden werden, nur du und Mary werdet sie nicht erkennen.“ Von der anderen Seite lächelte sie ihr Mann an. „Sie denkt, dass ich einer bin“, sagte er und sein feines junges Gesicht wurde von matter Farbe überzogen. „Sie denkt, dass ich einer bin. Ich hoffe, dass keiner ihr je die Augen öffnet.“ Unter dem Tisch glitt Leilas kleine Hand in Barrys große. Sie konnte der Welt nicht verkünden, dass sie ihren Ritter gefunden hatte und ihn liebte. Tante Frances, sehr steif und gerade in ihrem tiefschwarzen Abendkleid, fuhr fort: „Ich wünsche, es wäre möglich, Mädchen eine Dosis Hausverstand zu geben, wie man ihnen Hustensirup gibt.“ „Mutter!“ Aber Tante Frances, zu Ross auf ihrem Kummer, ritt es durch den Salatgang. Sie hatte gewollt, dass Grace heiratet ‐ ihre Schönheit und ihre Familie hätte sie zu einer ausgezeichneten Partie berechtigt. Aber Grace war noch immer ledig und behauptete sich gegen alle Argumente ihrer Mutter, indem sie in dieser einen Sache ihr Recht zur unabhängigen Handlung aufrechterhielt.
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Isabelle, die ihre Ohren spitzte, um zu hören, worum es ging, fragte Mary spät in dieser Nacht. „Was verärgerte Frances beim Abendessen?“ Mary erzählte es ihr. „Denkst du, dass ich unrecht habe, Tante Isabelle?“, fragte sie. Die liebenswürdige Dame seufzte: „Wenn du fühlst, dass es richtig ist, muss es für dich richtig sein. Aber du versucht, ganz Kopf zu sein, liebes Kind. Und da ist dein Herz, mit dem zu rechnen ist.“ Mary wurde rot. „Ich weiß. Aber ich will nicht, dass mein Herz spricht ‐ noch nicht.“ Tante Isabelle tätschelte ihre Hand. „Ich denke, es hat gesprochen“, sagte sie leise. Mary klammerte sich an sie. „Wie wusstest du es?“ „Wir, die wir dumpfe Ohren haben, haben oft klare Augen ‐ es ist eine Entschädigung für uns, Mary.“
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Kapitel XVII In dem ein Künstler findet, wonach er sein ganzes Lebens gesucht hat, und in dem er von einer kleinen Heiligen in Rot spricht
E
s mochte zufällig sein, dass Delilah Jeliffe, die in der Elektrischen durch eine breite Prachtstraße an dem Nachmittag, der der Taufe von Constances Baby folgte, fuhr, Porter Bigelow traf und ihn einlud, mit ihr nach Hause auf eine Tasse Tee zu gehen. Es gab gewisse Dinge, die Delilah von Porter wollte. Vielleicht wollte sie mehr, als sie je kriegen würde. Aber heute hatte sie sich in den Kopf gesetzt, herauszufinden, ob er mit ihr zur Gartenparty im Weißen Haus gehen würde. Colin Quale war klein und blond. Wegen seiner Begabung hatte seine Anwesenheit ihren Auftritten und Abgängen Vornehmheit hinzugefügt. Aber bei dem bevorstehenden festlichen Anlass wusste sie, dass sie mehr als das Prestige eines Genies brauchte ‐ unter der Gruppe von berühmten Gästen, die kommen würden, würde der erste Eindruck viel bedeuten. Porters fast steife Stattlichkeit würde zu dem Kleid passen, das sie tragen sollte. Seine gesellschaftliche Stellung war unerschütterlich; er hatte Wohlstand und Jugend und Charme. Er würde mit anderen Worten einen vollkommen korrekten Hintergrund für das Bild abgeben, das sie vorhatte, von sich zu machen. Das alte Haus in Georgetown, zu dem sie schließlich kamen, war zwischen gewissen blühenden Sträuchern und Büschen zurückgesetzt. Eine Reihe Tulpen flammte auf jeder Seite des Weges. Kleine und feste Zedern zeigten mit ihren spiralförmigen Wipfeln zu dem Frühlingshimmel. 217
In der Tür, als sie die Stufen hinaufstiegen, erschien Colin Quale. „Kommen Sie herein“, sagte er, „kommen Sie sofort herein. Ich will, dass Sie sehen, was ich für Sie gemacht habe.“ Er sprach direkt zu Delilah. Es war zweifelhaft, ob er Porter sah. Er war allem gegenüber blind, außer der Tatsache, dass sein Talent für Delilah Jeliffe ein Kostüm entworfen hatte, das ihr und ihm Ruhm bringen würde. Sie folgten ihm durch die breite Eingangshalle zu der hinteren Veranda, auf der er seine Staffelei aufgestellt hatte. Dort, wo ein blühender Mandelstrauch seine Äste gegen einen Hintergrund von Grün schleuderte, hatte er seine Idee ausgearbeitet. Eine Wasserfarbenskizze auf der Staffelei zeigte ein Mädchen in Weiß ‐ ein Mädchen, das eine Königin oder ein Kaiserin hätte sein können. Ihr Kleid nahm an der vorherrschenden Mode teil, aber nicht sklavisch. Es gab Unterscheidungen daran, und Farbe hier und dort, die Colin erklärte. „Es muss von reinem Weiß sein, mit vielen fließenden Volants und mit mattem Rosa darunter, wie die Mandelblüte. Und da muss ein bisschen himmlisches Blau in dem Hut sein, und ein Knoten Grün an dem Gürtel ‐ und einen zurückgeworfenen Schleier ‐ sehen Sie? ‐ dort wird es Himmel und Feld und Blumen und eine weiße Wolke geben ‐ alle zarten Farben und Blüten ‐“ Noch immer erklärend wurde er schließlich veranlasst, das Bild zu verlassen und Tee zu trinken. Während Delilah einschenkte, beobachtete Porter die beiden interessiert und von Begeisterung 218
abgelenkt, das von ihm etwas albern für einen Mann erschien, der echte Dinge in der Welt der Kunst konnte. Doch sah er, dass Delilah den kleinen Mann sehr ernst nahm, dass sie an seinen Worten des Rates hing und dass sie seinen Anforderungen an sie gehorsam war. „Sie wird ihn eines Tages heiraten“, sagte er sich und Delilah schien seinen Gedanken zu erahnen, denn als Colin endlich zurück an seine Skizze geeilt war, ließ sie sich auf ihrem niedrigen Stuhl nieder und erzählte Porter von ihrer ersten Begegnung. „Ich werde von Anfang an beginnen“, sagte sie; „es ist fast zu komisch, um wahr zu sein, und es hätte wahrscheinlich niemanden außer mir und Colin zustoßen können. Es war letzten Sommer, als ich an der Nordküste war. Vater und ich wohnten in einem großen Hotel, aber ich war verrückt danach, mit der Cottage‐Kolonie bekannt zu werden. Aber irgendwie schien ich es nicht gut zu machen ‐ du verstehst, das war in meinen groben Tagen, als ich ein kubistisches Bild statt ein Daguerreotyp sein wollte. Ich war gerne erschreckend und dachte, um Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, ich Freunde anziehen musste ‐ aber ich fand, dass ich sie nicht anzog. Eines Abends im August gab es in einem der Hotels eine große Tanzveranstaltung und ich wollte ein Kleid, das alle anderen übertreffen sollte ‐ der Ball wurde zu Ehren der örtlichen Seemannslieder gegeben, und die ganze Cottage‐Kolonie würde teilnehmen. Ich schickte einen Auftrag für ein Kleid an meine Schneiderin und sie schickte eine merkwürdige und wundervolle 219
Kreation hinaus. Es war eine bedeutende Angelegenheit ‐ du kennst die Art ‐ mit einem Mieder aus einer Gagatschnur und einem Hauch von Spitze ‐ mit einem Tüllkasack und einem Rock aus Goldbrokat, der so eng um meine Füße war, dass er den Effekt von türkischen Hosen hatte. Für meinen Kopf schickte sie einen Streifen aus goldenem Gaze, das um mein Haar herumgewickelt werden sollte, in einer Art von Nonnenhaube, sodass nur ein kleiner Knoten auf der Rückseite sich zeigte und vorne praktisch keiner. Es war der letzte Modeschrei. Er ließ mich wie einen Traum aus Tausendundeiner Nacht erscheinen, und es gefiel mir.“ Sie lachte und Porter lachte unwillkürlich mit ihr. „Ich trug es zur Tanzveranstaltung und es war dort, dass ich Colin Quale kennenlernte. Ich wünsche, ich könnte dich die Szene sehen lassen ‐ der große Ballsaal und alle anderen Frauen, die mit anstarrten, als ich hereinkam ‐ und die Männer, die lächelten. Ich war in meinem Element. Ich dachte in jenen Tagen, dass der Test der Anziehungskraft war, die Augen der Menge auf sich zu ziehen. Heute weiß ich, dass es heißt, die Augen der Auserwählten auf sich zu ziehen, und es ist Colin, der mir das beigebracht hat. Ich hatte mit einem Dutzend anderer Männer getanzt, als er zu mir kam, um mich aufzufordern. Ich erinnerte mich kaum, dass ich ihm einen Tanz versprochen hatte. Als er mir vorgestellt wurde, war ich mir nur eines blassen kleinen Mannes mit Brille und nervösen Händen bewusst, der mich eher zu unverwandt anstarrte. Wir tanzten schweigend mehrere Minuten und er tanzte göttlich. 220
Er hörte plötzlich auf. ‚Gehen wir von hier hinaus‘, sagte er. ‚Ich will mit Ihnen reden.‘ Ich blicke ihn erstaunt an. ‚Aber ich will tanzen.‘ ‚Sie können immer tanzen‘, sagte er ruhig, ‚aber Sie können nicht immer mit mir reden.‘ Da war nichts an seiner Art, um die Einleitungen eines Flirts anzuzeigen. Er war vollkommen ernst und er dachte offensichtlich, dass er mir ein Vorrecht anbot. Neugierde ließ mich ihm folgen und er führte den Weg den Saal hinunter zu einem abgeschiedenen Empfangszimmer an, wo ein langer Spiegel, ein kleiner Tisch und ein großer altmodischer Rosenstrauß in einer Schale waren. Unterwegs kamen wir an einer Reihe von Stühlen vorbei, wo jemand einen Umhang und Schal gelassen hatte. Colin schnappte nach dem Schal ‐ es war ein langer weißer aus weißem Chiffon. Am nächsten Tag gab ich ihn ihm zurück und er fand den Eigentümer. Ich bin nicht sicher, was für eine Erklärung er für seinen Diebstahl abgab, aber es wurde zweifellos der Überspanntheit des Genies zugeschrieben. Also, wie ich sagte, als wir das kleine Zimmer erreichten, zog er einen Stuhl zu mir, sodass ich direkt vor dem Spiegel saß. Ich erinnere mich, dass ich mich selbstgefällig betrachtete. Für meine irregeführten Augen konnte mein Aussehen nicht verbessert werden. Mein Kopf, eingewickelt in seiner goldenen Nonnenhaube, schien der endgültigen perfekten Anstrich zu geben.“
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Sie lachte wieder bei der Erinnerung und Porter fand sich enorm amüsiert. Sie hatte eine so gelassene Art, ihre geistigen Vorgänge nach außen zu drehen und sie hochzuhalten, dass andere sie sahen. „Als ich dort saß und verstohlen Blicke auf mich warf, wurde ich mir bewusst, dass mein kleiner Mann mich studierte. Andere Männer hatten mich angesehen, aber niemals mit einem so kalten, berechnenden Blick ‐ und als er zu mir sprach, sprang ich beinahe aus meinen Schuhen ‐ seine Stimme war forsch, durchdringend. ‚Nehmen Sie es ab‘, sagte er und berührte die Gaze, die um meinen Kopf gebunden war. Ich keuchte. Dann richtete ich mich in einem Versuch der Hochnäsigkeit auf. Aber er war kein bisschen beeindruckt. ‚Ich vermute, dass Sie wissen, dass ich ein Künstler bin, Miss Jeliffe‘, sagte er, ‚und von dem Augenblick, in dem Sie in den Saal kamen, habe ich kein bisschen Frieden gehabt. Sie verderben Ihren Typ ‐ und es beeinträchtigt mich, wie es ein Farbdruck oder ein grobes Bleistiftporträt würde, oder irgendeine andere schreckliche Sache.‘ Weißt du, wie es sich anfühlt, eine ‚schreckliche Sache‘ von einem solchen Mann genannt zu werden? Also, es ließ mich einfach zusammenschrumpfen und jagte mir Schauer den Rücken hinunter. ‚Aber warum?‘, stammelte ich. ‚Frauen wie Sie‘, sagte er, ‚gehören zu dem stattlichen, aristokratischen Typ. Sie können eine grande dame oder eine Herzogin sein ‐ und Sie machen aus sich ‐ was? Eine Soubrette mit Ihrem 222
Tangorock und Ihren Riemenschuhen und Ihrer hässlichen Kopfbedeckung ‐ nehmen Sie sie ab.‘ ‚Aber ich kann sie nicht abnehmen‘, sagte ich fast tränenreich; ‚mein Haar darunter ist ‐ entsetzlich.‘ ‚Es macht an Ihrem Haar darunter keinen Unterschied ‐ es kann nicht schlimmer als das sein‘, brüllte er. ‚Ich will Ihre Farbe sehen ‐ nehmen Sie sie ab.‘ Und ich nahm sie ab. Mein Haar war vollkommen flach und als ich einen flüchtigen Blick in dem Spiegel darauf warf, wollte ich lachen, kreischen. Aber Colin Quale war so ernst wie eine Eule. ‚Ah‘, sagte er, ‚ich wusste, dass Sie eine Menge davon haben!‘ Er hob den Schal auf, den er geborgt hatte, und warf ihn über meine Schultern. Er gab mir mit seinen Fingern einen Klaps auf die Stirn und zog ein paar Haare herunter und scheitelte sie. Er zog einen kleinen Tisch vor mich und steckte den Rosenstrauß in meine Arme. ‚Nun schauen Sie sich an‘, befahl er. Ich schaute und schaute wieder. Ich hatte nie geträumt, dass ich so sein könnte. Der Schal und der Tisch verbargen jedes Stück von diesem Pariser Kleid und zeigten nur ein bisschen Weiß von meinem Hals. Mein einfaches gescheiteltes Haar und die Rosen ‐ ich sah“, und nun errötete Delilah ein wenig, „ich sah aus, wie ich immer hatte aussehen wollen ‐ wie die hübschen Damen auf den alten englischen Porträts. ‚Gefällt es Ihnen?‘, fragte Colin.
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Er erkannte an meinen Augen, dass es mir gefiel, und zum ersten Mal, seit ich ihm begegnete, lachte er. ‚Mein ganzes Leben‘, sagte er, ‚habe ich nach genau einer solchen Frau wie Sie gesucht. Eine Frau zu verändern ‐ zu entwickeln. Wir müssen Freunde sein, Miss Jeliffe. Sie müssen mich wissen lassen, wo ich Sie wiedersehen kann.‘ Also, ich tanzte in dieser Nacht nicht mehr. Ich wickelte den Schal um meinen Kopf und ging zurück zu meinem Hotel. Colin Quale ging mit mir. Den ganzen Weg redete er über die Heiligkeit der Schönheit. Er öffnete mir die Augen. Ich begann zu sehen, dass Lieblichkeit eher angedeutet als betont werden sollte. Und ich habe dir das erzählt, weil ich will, dass du Colin verstehst. Er ist nicht in mich verliebt. Ich stelle mir eher vor, dass zu Hause in Amesbury oder Newburyport, oder was auch immer für eine Stadt es ist, aus der er stammt, dort jemand ist, die er zu heiraten finden wird. Für ihn bin ich eine Statue, um geformt zu werden. Ich bin Ton, Marmor, eine Farbtube, eine Leinwand, bereit für seinen Pinsel. Es war dasselbe mit diesem alten Haus. Er wollte eine Umgebung für mich und er konnte nicht ruhen, bis er sie fand. Er hat nicht nur meine Atmosphäre verändert, er hat meine Art verändert ‐ ich hatte vor, meine moralischen Grundsätze zu sagen ‐ er bringt mir Porträts von Romney‐Damen und Gainsborough‐Damen ‐ bis ich eindeutig in einem Meer der Stattlichkeit schwimme. Und was ich gerade jetzt über Manieren und Moral sagte, ist wahr. Eine Frau lebt gemäß den Kleidern, die sie trägt. Wenn man denkt, dass diese Veränderung auf der Oberfläche ist, ist es nicht. Ich könnte mit einem Gainsborough‐Hut keinen Slang reden, und wenn ich ihn trage, rede ich nicht Slang; und eine perfekte Dame in einem Englischledermantel 224
muss die dazu passende Moral haben; daher kann ich in meinem kleinen Mantel nicht lügen.“ Sie mit gesenkten Wimpern zu sehen, wie sie es sagte, war das Komischste auf der Welt und Porter schrie. Dann waren ihre Wimpern für einen Augenblick gehoben und die alte Delilah guckte heraus, verschmitzt, koboldhaft. „Er will, dass ich meinen Namen ändere. Nein, missverstehe mich nicht ‐ nicht meinen Familiennamen. Aber den Vornamen. Er sagt, dass Delilah nach der Abenteurerin schmeckt. Ich denke nicht, dass er sich in der biblischen Geschichte ganz sicher ist, aber er bekommt seine Eindrücke von der großen Oper ‐ und er weiß, dass die Delilah aus der Samson‐Geschichte nicht nett war ‐ nicht im damenhaften Sinn. Mein mittlerer Name ist Anne. Er gefällt ihm besser.“ „Lady Anne? Du wirst so in dem Gartenpartykleid aussehen, dass er für dich entwirft.“ Und nun hat sie die Frage erreicht, auf die sie hingearbeitet hatte. „Wirst du gehen?“ Er schüttelte seinen Kopf. „Ich bezweifle es. Es ist kein festlicher Anlass, bei dem man vermisst wird. Und die Ballards werden nicht dort sein. Mary fährt mit Constance für ein paar Tage vor der Überfahrt nach New York. Ich werde mich ihnen an dem letzten Tag anschließen.“ „Und du willst nicht ohne Mary zu der Gartenparty gehen?“ Er fand sich plötzlich bewegt, zu ihr frei heraus zu sprechen. 225
„Sie würde nicht gehen, wenn sie hier wäre ‐ nicht mit mir.“ „Contrary Mary?“, sprach sie die Worte schleppend und gab ihnen eine prickelnde Andeutung. „Es ist nicht Widerspenstigkeit. Ihre Unabhängigkeit ist charakteristisch. Sie wird mich nicht Dinge tun lassen, weil sie sie selbst tun will. Aber eines Tages wird sie mich sie tun lassen.“ Er sagte es grimmig und Delilah blitzte ihm einen Blick zu und sagte dann vorsichtig: „Es wäre schade, wenn sie an Roger Poole Gefallen finden sollte.“ „Sie wird es nicht.“ „Man kann es nicht sagen ‐ Mitleid führt zu sanfterem Gefühl, weißt du.“ „Warum sollte sie ihn bemitleiden?“ „Da ist seine Vergangenheit.“ „Seine Vergangenheit? Roger Pooles? Was weißt du darüber, Delilah?“ Als er sich nach vor lehnte, um die begierige Frage zu stellen, wusste er, dass bei allen Spielregeln er nicht mit jemandem über Mary sprechen sollte. Aber er sagte sich hitzig, dass es zu Marys Bestem war. Falls Dinge verborgen worden waren, sollten sie enthüllt werden ‐ je eher, umso besser. Delilah gab ihm dramatisch die Einzelheiten. „Dann ist seine Frau tot?“ 226
„Ja. Aber davor ließ ihn der Skandal seine Kirche verlieren. Niemand schien davon alles zu wissen, denke ich. Mary gab mir nur die Umrisse.“ „Und sie weiß es?“ „Ja. Roger erzählte es ihr.“ „Die Chancen bestehen, dass es ‐ eine andere Seite gibt.“ Er wusste, dass es eine kleine Sache zu sagen war. Er hätte es zu niemandem außer Delilah gesagt. Sie würde ihn nicht für unbedeutend halten. Für sie würden alle Dinge fair für einen Liebenden sein. Bevor er an diesem Nachmittag ging, hatte er versprochen, mit Delilah zur Gartenparty im Weißen Haus zu gehen. Eine Woche später schwebte in das Sichtfeld der Berühmtheiten und den Leuten der Gesellschaft, die auf dem weiten Rasen des Amtssitzes des Präsidenten versammelt waren, eine hübsche Dame in matten Rosa‐Weiß mit einem Hauch himmlischen Blaus in ihrem breiten Hut, von dem ein Schleier wehte, der ihre gesenkten Augen halb verbarg. Die Leute begannen sich sofort zu fragen: „Wer ist sie?“ Als entdeckt wurde, dass der Name Jeliffe und dass sie keine berühmte Persönlichkeit war, spielte es keine große Rolle. Es war an ihr eine Atmosphäre der Vornehmheit ‐ eine gewisse ruhige Atmosphäre des Zurückziehens von der allgemeinen Herde, die nichts von dem Hochmut in sich hatte, aber die sie abzusondern schien. 227
Porter, der in ihrem Kielwasser folgte, als sie über das Grün fegte, dachte an das Mädchen im Leopardenfell, deren unkonventionelle Art ihn geschockt hatte. Sicherlich wurde in dieser Frau ein Sinn von ihr selbst als der Mittelpunkt des Bildes entwickelt, der fast unheimlich war. Er fand sich, wie er Marys Einfachheit und Mangel an Affektiertheit gegenüberstellte. Marys Anwesenheit heute hier hätte für ein paar Leute viel bedeutet, die sie kannten und liebten; es hätte nichts der Menge bedeutet, die Delilah Jeliffe anstarrte. Colin Quale war dort, um den vollen Triumph der Verwandlung zu genießen. Er trieb sich in kurzer Entfernung von Delilah herum und betete sie für die Genialität an, die seiner begegnete und zu ihr passte. „Ich werde sie darin malen“, sagte er zu Porter. „Es wird mein Meisterstück werden. Und wenn Sie sie an dem Abend, als ich sie kennenlernte, hätten sehen können ‐“ „Sie erzählte es mir.“ Porter lächelte. „Es war wie eines der alten Meister, verschmiert von einem Anfänger, oder wie ein Raum, getüncht über seltene Schnitzarbeiten ‐ alles war verborgen, was gezeigt hätte werden sollen, und alles wurde gezeigt, was verborgen hätte werden sollen. Es war monströs. Es gibt wenige Frauen“, fuhr er fort, „die ich umwandeln könnte, wie ich sie umwandelte. Sie haben nicht die vielseitige Verwendbarkeit ‐ das Temperament. Es gab eine, die ich hätte umwandeln können. Aber ich durfte es nicht. Sie war klein und blond und die Frau eines Geistlichen; sie sah wie eine Heilige aus ‐ und sie hätte einfache Dinge aus klarem Grün oder Rot oder Blau tragen sollen. Aber sie trug 228
Schwarz. Ich habe mich manchmal gefragt, ob sie eine solche Heilige war, wie sie aussah. Es gab hinterher eine Scheidung, glaube ich, und einen anderen Mann. Und sie starb.“ Porter, der müßig zuhörte, kam zurück. „Was für ein Typ war sie?“ „Fra Angelico ‐ zur Perfektion. Ich hätte sie gerne eingekleidet.“ „Sagten Sie ihr je, dass Sie es tun wollten?“ „Ja. Und sie hörte zu. Es war da, dass ich meinen Eindruck gewann, dass sie keine Heilige war. An einem Abend gab es eine kleine Unterhaltung in dem Pfarrhaus und ich setzte mich durch. Ich machte aus ihr einen Engel in einem roten Kleid mit einer goldenen Leier ‐ und ich malte sie hinterher. Sie kam zu meinem Studio, aber ich bin nicht sicher, dass es Poole gefiel.“ „Poole?“ Porter war gespannt. „Ihr Ehemann. Er konnte sie nicht glücklich machen.“ „War sie diejenige, die schuld war?“ Colin zuckte die Achseln. „Es gibt immer zwei Geschichten. Wie ich gesagt habe, sie sah wie eine Heilige aus.“ „Ich möchte gerne das Bild sehen.“ Porter versuchte, leichthin zu sprechen. „Darf ich irgendwann hinaufkommen in Ihre Wohnung?“ Colins Gesicht strahlte. „Ich ziehe in eine neue Unterkunft. Ich werde Ihre Meinung brauchen ‐ rufen Sie mich an, bevor Sie kommen.“ 229
Es war Colin, der mit Delilah in Porters Wagen nach Hause fuhr. Porter brachte wichtige Geschäfte vor und fuhr eine Stunde um den Speedway, sein Gehirn war durcheinander. Dann wusste es Mary ‐ Mary wusste es ‐ und es machte in ihren Gedanken zu Roger Poole keinen Unterschied!
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Kapitel XVIII In dem Mary von der Arbeitswelt schreibt und in dem Roger von dem Träumen eines Jungen schreibt In den Turmzimmern ‐ Juni.
I
ch arbeite seit einer Woche im Büro und es ist die härteste Woche meines Lebens gewesen. Aber bitte denken Sie nicht, dass ich Bedauern empfinde ‐ es ist nur, dass die Welt draußen so hübsch gewesen ist, und dass ich eingeschlossen gewesen bin. Ich beginne zu verstehen, dass die Frau in dem Heim eine Freiheit hat, die sie nicht ausreichend schätzt. Sie kann am Morgen in die Stadt laufen oder am Nachmittag hinausschleichen oder etwas auf morgen verschieben, was heute getan werden sollte. Aber Männer können nicht hinauslaufen oder davonschleichen oder verschieben ‐ egal, ob die Sonne scheint oder die Vögel singen oder der Wind ruft oder die offene Straße zu Abenteuer führt. Doch gibt es Entschädigungen und ich versuche, sie zu sehen. Ich versuche, nach meinen Theorien zu leben. Und ich werde durch den Gedanken unterstützt, dass ich endlich ein Lohnempfänger bin ‐ unabhängig von jemandem ‐ fähig, mein eigenes Brot und meine eigene Butter zu kaufen, selbst wenn jede männliche Hilfe versagen sollte! Tante Isabelle ist eine Liebe, und auch Susan Jenks. Und das ist eine andere Sache, um darüber nachzudenken. Was wird der Lohn verdienende Teil der Welt tun, wenn keine Haushälterinnen sind? Wenn Tante Isabelle uns Susan nicht wären, würde keiner da sein, der mit Kissen für meinen müden Rücken und mit kalten Sachen für mich 231
an heißen Tagen zu trinken und mit heißen Sachen an kühlen Tagen zu trinken hinter mir hergeht. Ich beginne schwach den männlichen Standpunkt zu erkennen. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich eine Frau genau dafür wollen ‐ um meine Pantoffeln vor dem Feuer zu wärmen, wie sie es in den altmodischen Geschichten tun, mein Essen dampfend heiß halten und die Falten meiner Stirn zu glätten. Darum bin ich nicht sicher, dass ich eine gemütliche Ehefrau abgeben würde. Ich kann mich nicht ganz sehen, Pantoffeln zu wärmen. Aber ich kann Constance sie wärmen sehen, oder Leila ‐ aber Grace und ich ‐ Sie sehen nach allem, es gibt Hausfrauen und die andere Art, und ich denke, dass ich die andere Art bin. Dies, werden Sie verstehen ist eine Philosophie, begründet auf der weiten Erfahrung einer Woche in der Arbeitswelt ‐ ich werde Sie später von weiteren Abwandlungen meiner Theorien wissen lassen. Also, das Haus scheint mit nur uns dreien und Pittiwitz leer zu sein. Ich vermisse Constance über alle Worte und das schöne Baby. Constance wollte sie nach mir nennen, aber Gordon bestand darauf, dass sie nach Constance benannt werden sollte, also schlossen sie einen Kompromiss auf Mary‐Constance, ein so langer Name für ein so kleines Ding. Wir fuhren alle nach New York, um sie zu verabschieden. Mit „alle“ meine ich unser Volk ‐ Tante Frances und Grace, Leila und der General ‐ oh, die arme kleine Leila ‐ Delilah und Colin Quale, Tante Isabelle und ich, Susan Jenks mit dem Baby bis zur letzten Minute in ihren Armen ‐ und Porter Bigelow. 232
Bei dem Schiff brach Leila zusammen. Ich hätte nie glauben können, dass unsere heitere kleine Leila etwas so schwer genommen hätte ‐ und es war mitleiderregend, Barry zu sehen. Aber ich kann darüber nicht reden ‐ ich kann nicht daran denken. Porter war lieb zu Leila. Er behandelte sie, als ob sie seine eigene kleine Schwester wäre, und es war lieb. Er nahm sie direkt vom General weg, als das Schiff das Hafenbecken verließ. „Kopf hoch, kleines Mädchen“, sagte er; „er wird zurück sein, bevor du es weißt.“ Er trug sie wortwörtlich zu einem Taxi und setzte sie hinein, und dann begann ein solcher Tag. Wir taten alle die entzückenden Dinge, die man in New York an einem Sommertag tun kann, beginnend mit Frühstück in einem reizenden Gasthaus auf Long Island und endend mit einem Dachgarten am Abend. Und diese Nacht war Leila so müde, dass sie in einer Minute einschlief, wie ein Kind, und vergaß, sich zu grämen. Seit wir zurück nach Washington kamen, hat Porter es aufrechterhalten, Leila Barry nicht mehr als möglich vermissen zu lassen und den großen Bruder zur Perfektion zu spielen. Es ist eigenartig, wie wir Leute falsch einschätzen. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass Porter zu jemandem so süß und zärtlich sein könnte hätte ich es nicht geglaubt. Aber vielleicht bringt Leila diese Seite bei ihm heraus. Nun bin ich unabhängig und aggressiv und ich mache Porter wütend, und die meiste Zeit streiten wir. Wie ich sagte, das Haus scheint leer ‐ aber ich bin jetzt nicht viel darin. Wenn ich nicht meine Arbeit hätte, denke ich, wäre ich verrückt 233
geworden. Darum werden Männer nicht albern und hysterisch und trübsinnig wie Frauen ‐ sie werden von der täglichen Arbeit bewahrt. Ich muss einfach meine Probleme vergessen, während ich meine Notizen auf der Schreibmaschine übertrage. Natürlich wissen Sie, wie das Leben in den Ressorts ist, ohne dass ich es Ihnen erzähle. Aber für mich ist es nicht eintönig oder maschinenartig. Ich bin fürchterlich an den Leuten interessiert. Natürlich ist meine unmittelbare Arbeit bei dem netten alten Chef. Ich bin froh, dass er alt und grauhaarig ist. Es lässt mich behaglich und beaufsichtigt fühlen. Wissen Sie, ich glaube, dass der Grund, warum die meisten Mädchen es hassen, arbeiten zu gehen, wegen dem Verlust des Schutzes ist. Sehen Sie, wir Hausmädchen sind immer in der Obhut von jemandem. Ich bin mehr als üblich unabhängig gewesen, aber es hat immer jemanden gegeben, um im Hintergrund Privatbesitz zu spielen. Als ich ein winziger Knirps war, war da mein Kindermädchen. Später im Kindergarten wurde ich in einem Bus mit allen anderen Kindern und einer netten Lehrerin, um zu sehen, dass wir sicher ankamen, nach Hause geschickt. Dann waren da Mutter und Vater und Barry und Constance, einige von ihnen wo ich auch ging ‐ und schließlich Tante Isabelle. Aber in dem Büro bin ich nicht Mary Ballard, Tochter des Hauses. Ich bin Mary Ballard, unabhängige Lohnempfängerin ‐ Stenotypistin mit tausend im Jahr. Da ist niemand, um zwischen mir und den Leuten zu stehen, die ich kennenlerne. Niemand, der sagt: „Hier ist meine Tochter, eine Frau der Vornehmheit und guter Manieren; hinter ihr stehe ich bereit, um Sie für alles verantwortlich zu halten, was Sie tun mögen, um Sie zu beleidigen.“ In der geldverdienenden Welt muss eine Frau für das stehen, was sie ist ‐ und sie muss Schritt halten. 234
Daher finde ich in dem Büro, dass ich andere Manieren haben muss, als jene bei mir zu Hause. Ich kann Männern nicht so offen und frei begegnen. Ich kann mit ihnen nicht lachen und mit ihnen reden, wie ich es bei einer Tasse Tee an meinem eigenen kleinen Tisch tun würde. Wenn Sie und ich uns zum Beispiel in dem Büro begegnet wären, hätte ich eine Barriere der Förmlichkeit zwischen uns errichtet und ich hätte „Guten Morgen“ gesagt, wenn ich Ihnen begegnete, und „Gute Nacht“, wenn ich Sie verließ, und wir hätten Monate gebraucht, um so viel über einander zu wissen, wie Sie und ich nach einer Woche in demselben Haus wussten. Ich vermute, wenn ich jahrelang hier lebe, dass ich auf meinen grauhaarigen Chef als eine Art offiziellen Großvater schauen werde, und meine Kollegen werden Brüder und Schwester durch Adoption sein, aber das wird Zeit brauchen. Ich frage mich, ob ich „jahrelang“ arbeiten werde? Ich bin nicht sicher, dass es mir gefallen würde. Und da haben Sie die Frau davon. Ein Mann weiß, dass seine Plackerei für das Leben ist, außer er wird reich und verlegt sich auf Golf. Aber eine Frau sieht niemals nach vorne und sagt: „Diese Sache muss ich tun, bis ich sterbe.“ Sie hat immer einen Sinn für eine mögliche Freigabe. Ich bin überhaupt nicht sicher, dass ich eine logische Person bin. In einem Atemzug erzähle ich Ihnen, dass mir meine Arbeit gefällt, und im nächsten sagte ich, dass ich mich nicht darum kümmere, es mein ganzes Leben lang zu tun. Aber zumindest gibt es das dafür, dass gerade jetzt es eine himmlische Ablenkung von den Sorgen ist, die sonst schwer gewogen hätten.
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Was machten Sie bezüglich der Mittagessen? Meine sind bis jetzt ein ungelöstes Problem. Ich mag mein Mittagessen nett auf meinem eigenen Mahagonitisch aufgetragen, mit den kleinen bogenverzierten Leinendeckchen, die wir immer benutzten. Und ich will meinen eigenen Tee und mein Butterbrot mit Marmelade und Susans kleine heißen Verzierungen. Aber hier erwartet man, dass ich mit dem Rest hinauseile und unmögliche Suppen und Eintöpfe und Sandwiches in einem Restaurant gegenüber zu mir nehme. Die einzige Alternative ist, mein Essen in einer Box mitzubringen und es auf meinem Schreibtisch zu essen. Und dann verliere ich den Atemzug frischer Luft, den ich mehr als Nahrung brauche. Oh, diese Junitage! Sind sie bei Ihnen heiß? Hier sind sie himmlisch. Wenn die Fenster offen sind, weht die süße warme Luft vom Fluss herauf und über das Grundstück des Weißen Hauses, und wir bekommen eine Duftwolke von Rosen aus dem Garten hinter dem Haus des Präsidenten; und wenn ich am Abend nach Hause komme, begegnet mir der Duft der Rosen in unserem eigenen Garten, lange, bevor ich das Haus sehen kann. Wir haben wundervolle Rosen dieses Jahr und der hundertblättrige Busch hinter der Bank bei dem Springbrunnen ist wie eine Rosenwolke. Ich machte unlängst eine Krone von ihnen und setzte sie dem kleinen Bronzeknaben auf den Kopf, und ich machte ein Bild, das ich Ihnen sende. Irgendwie war mir der Junge von dem Springbrunnen immer lebendig und eine menschliche Eigenschaft an sich habend, wie ein Faun oder eine Dryade, vorgekommen. Gestern Abend saß ich sehr lange in dem Garten und ich dachte daran, was Sie mir in jener Nacht sagten, als Sie mir über Ihr Leben erzählten. Erinnern Sie sich, was Sie sagten ‐ dass, als ich hereinkam, es 236
Ihnen vorkäme, dass der Garten blühte? Also, ich stieß unlängst auf einen Band von Ruskin, den mir Vater gab und um den ich mich nie gekümmert hatte zu lesen ‐ aber nun scheint er ganz wundervoll. „Du hast es sagen gehört, dass Blumen nur im Garten von jemandem, der sie liebt, richtig gedeihen. Ich weiß, dass du möchtest, dass dies wahr ist. Du würdest es für einen erfreulichen Zauber halten, wenn du deine Blumen durch einen freundlichen Blick von dir zu einer helleren Blüte erglühen lassen könntest; wenn du den Taufall auf ihnen in der Trockenzeit einladen und zum Südwind sagen könntest: ‚Komm, du Südwind und atme auf meinen Garten, dass die Gewürze davon vorwärtsfliegen.‘ Dies würdest du für eine großartige Sache halten. Und hältst du es nicht für eine großartigere Sache, alles, was du für hübschere Blumen als das tun kannst, Blumen, die Augen wie deine und Gedanken wie deine haben und wie deine leben; die eins gerettet, du für immer rettest? Wirst du nicht zwischen ihnen hinuntergehen ‐ weit zwischen den Moorländern und den Felsen ‐ weit in die Dunkelheit der schrecklichen Straßen; diese schwachen Blümchen liegen mit all ihren frischen abgerissenen Blättern und ihren abgebrochenen Stängeln ‐ wirst du nie zu ihnen hinuntergehen, sie nicht in ihren wohlduftenden Beeten in Ordnung bringen, noch sie in ihrem Schaudern vor dem grimmigen Wind schützen?“ Da ist eine Menge mehr davon ‐ aber vielleicht wissen Sie es. Ich denke, ich habe immer nette kleine Kirchensachen und wohltätige Dinge getan, aber ich habe vielleicht nicht so sehr an meine Mitmenschen gedacht, wie ich hätte sollen. Wir kommen hier in Washington langsam zu den Dingen. Wir sind konservativ und wir 237
haben keine großen industriellen Probleme, keine Streiks und Gewerkschaften und dergleichen. Grace sagt, dass es hier reichlich zu reformieren gibt, aber die Verkommenheit klebt nicht direkt vor den Augen wie in einigen der schrecklichen Miethäuser in den Großstädten. Daher vergessen wir ‐ und ich habe vergessen. Bis Ihr Brief über diesen Jungen in den Föhren kam. Alles, was Sie mir über ihn erzählen, ist wie ein Märchen. Ich kann meine Augen schließen und euch beide in diesem Kreis der jungen Föhren sehen. Ich kann Ihre Stimme in der Stille erklingen hören. Sie erzählen mir nicht von sich, aber ich weiß dies, dass Sie an diesem Jungen ein Publikum gefunden haben ‐ und er tut Dinge für Sie, während Sie sie für ihn tun. Sie leben noch einmal, nicht wahr? Und die kleinen traurigen Kinder. Ich war so froh, das Buch mit den fröhlichen Bildern auszusuchen. Waren die Aschenputtel‐Illustrationen nicht lieb? Mit allen Kleidern so rosarot, wie sie sein konnten, und das Gras so grün und der Himmel so blau. Und die gelben Frösche in „Der Frosch, der freien gehen wollte“ und die Walter Crane‐Illustrationen für das kleine Gesangsbuch. Sie müssen Sie „Oh, was haben Sie zum Abendessen, Mrs. Bond?“ singen lassen, und „Orangen und Zitronen“ und „Lavendel ist blau, diddel‐diddel.“ Wissen Sie, was Tante Isabelle für die kleinen Mädchen macht? Sie ist so interessiert. So rosige kleine Schürzen aus rosa und weiß kariertem Gingham ‐ mit breiten Bändern, um hinten zu binden. Und mein Beitrag sind rosarote Haarbänder. Nun wird Ihr Garten nicht blühen? 238
Sie müssen mir erzählen, wie ihre kleinen Gartenbeete gedeihen. Sicher war das eine Inspiration. Ich erzählte unlängst Porter davon und er sagte: „Um Himmels willen, wer hörte je davon, mit Gärten in der Erziehung unwissender Kinder zu beginnen?“ Aber Sie und ich beginnen und enden mit Gärten, nicht wahr? Waren die Samenkörner in Ordnung und kamen die Knollen hoch? Tante Isabelle weinte fast bei Ihrer Beschreibung von der Freude der kleinen Gesichter, als die Krokusse, die sie gepflanzt hatten, auftauchten. Ich bin begierig, mehr von ihnen und von Ihnen zu hören. Oh ja, und von Cousine Patty. Ich liebe sie einfach. Es gibt so viel mehr zu sagen, aber ich darf nicht. Ich muss zu Bett gehen und frisch für meine Arbeit am Morgen zu sein. Hochachtungsvoll, MARY BALLARD Zwischen den Föhren Ich werde zuerst bei dem Schluss Ihres Briefes beginnen müssen und zum Anfang vorarbeiten, denn ist von meinen traurigen Kindern, über die ich sprechen muss, und was Ihr Brief mir bedeutet hat. Die traurigen Kinder sind nicht länger traurig. Gegen die Sandhügel sind sie wie Rosenblättern, die vom Wind angeblasen werden. Ihre rosaroten Schürzen hinten mit großen Schleifen gebunden und die 239
rosaroten Bänder haben sie verwandelt, sodass sie, außer ihre leeren Augen, jedes andere Mädchen auf der Welt sein könnten. Ich habe ihnen mehrere hübsche Lieder beigebracht; Sie hätten ihre piepsenden Stimmen hören sollen ‐ und mit ihren Bilderbüchern und ihren Gärten sind sie so beschäftigt und tatsächlich glücklich. Ihre Mutter ist eindeutig durch die Veränderung ihrer jungen Leute erfreut. Niemals in ihrem Leben hatte sie ein Land, außer diesem einen, mit verkohlten Föhren und Sand gesehen. Ich finde sie über das Aschenputtelbuch gebeugt, indem es ihr gefällt und ihr die kleinen Gärten der Kinder gefallen. „Wir hatten nie einen Blumengarten“, vertraute sie mir an. „Jim hat keine Zeit gehabt und ich habe keine Zeit gehabt, und ich habe nie irgendwie Glück gehabt.“ Aber der Junge bedeutet mir noch immer am meisten. Und Sie haben den Grund gefunden. Es ist nicht, was ich für ihn tue, es ist, was er für mich tut. Wenn Sie seine Augen sehen könnten! Es sind jetzt Jungenaugen, nicht die von einem kleinen wilden Tier. Er beginnt, die einfachen Bücher zu lesen, die Sie schickten. Wir begannen mit „Mutter Gans“ und ich gab ihm zuerst „Der König von Frankreich und vierzigtausend Männer.“ Das „Orangen und Zitronen“‐Lied trug die Dick Whittington‐Atmosphäre weiter, die ihm in meinem Gedicht gefiel, mit seinen Glocken von Old Bailey und Shoreditch. Er wird sein London kennen, bevor ich mit ihm fertig bin. Aber wir haben sogar eine tiefere Note angeschlagen. Eines Sonntags wurde ich bewegt, die alte Bibel Ihres Vaters mit hinaus zu nehmen. Da ist eine Rose zwischen ihren Blättern, aufbewahrt als 240
Talisman gegen die blauen Teufel, die mich manchmal in ihren Griff bekommen. Also, ich nahm die alte Bibel hinaus zu unserem kleinen Amphitheater in den Föhren und las, was denken Sie? Nicht die Geschichten des Alten Testaments. Ich las die Seligpreisungen und mein Junge hörte zu, und als ich fertig war, fragte er: „Was ist gesegnet? Und wer sagte das?“ Ich erzählte es ihm und brachte mir in der Erzählung die Vision von mir als Junge zurück. Oh, wie weit bin ich von den Träumen dieses Jungen davongetrieben! Und wenn Sie nicht gewesen wären, wäre ich nie umgekehrt. Und nun lernen der Junge in den Föhren und der Junge, der ich war, zusammen Schritt für Schritt. Ich versuche, die Jahre dazwischen zu vergessen. Ich versuche, das Leben aufzunehmen, wo es vorher umgestoßen wurde. Ich kann noch nicht ganz die Dinge als Mann ergreifen, denn wenn ich es versuche, fühle ich die Bitterkeit eines Mannes. Aber der Junge glaubt und ich habe den Mann in mir weggeschlossen, bis der Junge erwachsen wird. Klingt das fantastisch? Wem sonst würde ich es wagen, so etwas zu schreiben, außer Ihnen? Aber Sie werden verstehen. Ich fühle, dass ich mich nicht entschuldigen muss. Kommen wir jetzt zu Ihnen und Ihrer Arbeit. Ich kann keinen Optimismus bringen, ich vermute, ich sollte sagen, dass es gut ist. Aber da ist in mir zu viel von dem primitiven Mann dafür. Wenn sich ein Mann um eine Frau sorgt, will er sie unausweichlich beschützen. Aber was würden Sie? Soll ein Mann die Dinge, die er hegen würde, vom Wind rütteln lassen?
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Ich mag nicht an Sie in einem Büro denken, mit all Ihren hübschen im Zaum gehaltenen Fraueninstinkten, um der strengen Formalität eines solchen Lebens zu begegnen. Ich mag nicht denken, dass irgendein Chef, wie väterlich auch immer, Ihnen nicht nur Briefe diktieren, sondern auch Verhaltensregeln vorschreiben sollte. Ich denke nicht gerne an Sie, von einer Menschenmenge zur Mittagszeit angerempelt zu werden. Ich denke nicht gerne an die grauen Steinmauern, die sie einschließen. Ich will nicht, dass Ihre Flügel für einen solchen Käfig gestutzt werden. Und da ist dies, muss ich sagen, dass nicht alle Männer Ehefrauen brauchen, um ihre Pantoffeln zu wärmen oder ihre Mahlzeiten dampfend heiß zu servieren, oder sogar die Falten zu glätten, obwohl ich zugebe, dass ein Anreiz an diesem Letzteren ist. Einige von uns brauchen Ehefrauen zur Inspiration, zur spirituellen und mentalen Erbauung, für das Wort der Aufmunterung, wenn unsere Herzen müde sind ‐ für die Stärke, die an unsere Stärke glaubt, man denkt nicht genau an Julia als Pantoffeln aufwärmend oder an Rosalind oder an Porcia, doch solchen Frauen mangelte es nie für einen Augenblick an ihren Liebhabern. Meine Cousine Patty sagt, dass Arbeit Ihnen gut tun wird und wir haben große Auseinandersetzungen. Ich habe ihr von Ihnen erzählt, nicht alles, weil es einige Dinge gibt, die heilig sind. Aber ich habe ihr erzählt, dass das Leben, seit ich sie kenne, eine neue Bedeutung angenommen hat. Sie sonnt sich in Ihrer Unabhängigkeit und will Sie kennenlernen. Eines Tages, es steht geschrieben, bin ich sicher, dass ihr beide euch treffen werdet. Ich einigen Dingen seid ihr euch sehr ähnlich ‐ in 242
anderen ausgesprochen unterschiedlich, mit den Unterschieden, die durch Erbe und Umgebung gemacht sind. Meine kleine Cousine Patty ist die Zusammensetzung von drei Generationen. Inmitten ihrer Süßigkeiten und Gewürze ist sie so häuslich wie ihre Großmutter, aber ihr Sinn fegt dahin zu der Zukunft der Frau auf eine Weise, die mich keuchen lässt. Politik ist der Atem ihres Lebens. Sie kommt aus einer langen Linie von Staatsmännern und da sie keinen Vater oder Bruder oder Ehemann hat, um die Familientraditionen der Demokratie aufrechtzuerhalten, hält sie sie selbst aufrecht. Sie ist gerade jetzt äußerst an die Parteiernennungen interessiert. Eine Spaltung unter den Republikanern gibt ihr Hoffnung auf die Wahl des demokratischen Kandidaten. Sie ist ein so feminines kleines Geschöpf mit ihrer sanften Stimme und anziehenden Art, mit ihrer großen Schürze, die sie einhüllt, und lockigen schwarzen Haarsträhnen, die über ihre kleinen Ohren fallen, dass die Kontraste in ihrem Leben fast komisch sind. An unseren Abenden über den kleinen weißen Schachteln vermischen wir Fragen von Staatsrecht und freiem Handel mit unseren Brautdekorationen, und es kommt mir vor, dass ich nie wieder zu einer Hochzeit ohne einer Vision von meiner kleinen Cousine Patty zwischen ihren Orangenblüten gehen werde, die das Recht auf die Tagespolitik festlegt. Die Negerfrage in Cousine Pattys Sinn ist die der Südstaatler der besseren Klasse. Es sind nicht diese Nachkommen von alten Familien, die die Neger hassen. Solche Leute wollen natürlich nicht Gleichheit, aber sie wollen faire Behandlung für die schwächere Rasse. Finden Sie mir einen weißen Mann, der mit wütendem Vorurteil gegen die 243
Schwarzen wettert, und ich werde Ihnen einen zeigen, dessen Großvater nicht zu den Pflanzern, sondern zu der Cracker‐Klasse oder den Nordstaatenpfropfen auf südlichem Strunk gehörte. Sogar in Sklavenzeiten gab es zwischen dem schwarzen Mann und was er „arme weiße Bevölkerung“ nannte, Groll und er setzt sich noch immer fort. Das Bild des kleinen Bronzeknaben mit seiner Rosenkrone liegt auf meinem Schreibtisch. Ich möchte sehr gerne mit Ihnen auf der Bank unter dem hundertblättrigen Busch sitzen. Was für Dinge ich Ihnen zu sagen hätte! Dinge, die ich nicht zu schreiben wage, da Sie mich nie wieder schreiben lassen. Sie tragen das Beste von allem zusammen. Dass Sie mein kleines Gespräch über Gärten nehmen sollten und dem, was Ruskin gesagt hat, anpassen, ist eine köstliche Tat. Sie sprechen von dieser Nacht in dem Garten. Erinnern Sie sich, dass Sie einen scharlachroten Umhang aus dünner Seide trugen? Ich konnte an nichts denken, als Sie zu mir kamen, außer an prächtige Blumen von fast übernatürlicher Blüte. Um Sie herum starb der Garten. Aber Sie waren Leben ‐ Leben, wie es erneut von einer Welt entspringt, die tot ist. Ich weiß, wie leer das alte Haus Ihnen vorkommt, ohne Barry, ohne Constance, ohne das schöne Baby, das ich nie gesehen habe. Für mich kann es nie ohne Sie darin leer scheinen. Ist das Sagen solcher Dinge verboten? Bitte, glauben Sie, dass ich nicht vorhabe, sie Ihnen aufzuzwingen, aber ich schreibe, wie ich denke. Mit dieser Post schickt Cousine Patty eine Schachtel ihres berühmten Kuchens für Sie und Tante Isabelle. Da ist genug für eine Armee, so werde ich an Sie denken, wie Sie Tee im Garten verteilen, 244
mit Ihren Freunden bei Ihnen ‐ glückliche Freunde ‐ und mit dem kleinen Bronzeknaben, der zuschaut und lacht. An Mary von dem Garten geht dann der Brief mit allen guten Wünschen. ROGER POOLE
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Kapitel XIX In dem Porter einen bösen Samen pflanz, der wächst und gedeiht, und in dem sich Geister erheben und Mary konfrontieren
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ie gesagt worden ist, war Porter Bigelow kein Snob und er war ein Gentleman. Aber sogar ein Gentleman kann, wenn durch Urempfindungen zum Schwanken gebracht, überzeugt sein, dass hohe Motive herrschen, sogar während Taten von zweifelhafter Ehre ausgeführt werden. Es war so, dass Porter sich selbst bewies, dass sein Interesse an Roger Pooles Vergangenheit ausschließlich das des Beschützers und Freunds von Mary Ballard war. Mary darf sich nicht wegwerfen. Mary muss gegen die Tragödie der Ehe mit einem Mann behütet werden, der es nicht wert war. Und wer könnte dies besser als er tun? In Ausübung seiner Schutzpolitik begab er sich an einem Nachmittag im Juli zu Colins Studio. „Ich wohne in der Stadt“, sagte ihm Colin, „wegen Miss Jeliffe. Ihr Vater wird von der langen Sitzungsperiode zurückgehalten. Ich male noch ein Bild von ihr und richte diese Zimmer in der Zwischenzeit ein ‐ wie gefallen sie Ihnen?“ In seiner Einrichtung hatte sich Colin von konventioneller Tradition losgemacht. Hier hingen keine Teppichvorleger von Balkons, keine schweren Stoffe und Rüstungen. Es war einfach ein kühler kleiner Platz mit einem großen Fenster, das einen der Parks überblickte. Seine Wände waren grau gefärbt und es gab ein paar bequeme Rattanstühle mit weißen Leinenkissen. Ein Porträt von Delilah beherrschte das 246
Zimmer. Er hatte sie in dem Kostüm gemalt, dass sie zur Gartenparty getragen hatte. ‐ in aller Herrlichkeit des kühlen Grüns und matten Rosas und himmlischen Blaus. Porter, der das Porträt begutachtete, sagte langsam: „Sie sagten, dass Sie andere Frauen gemalt hatten?“ Ja ‐ aber keine so zufriedenstellend wie Miss Jeliffe.“ „Da war die kleine Heilige ‐ in Rot.“ „Sie erinnern sich daran? Es ist nur eine kleine Leinwand.“ „Sie sagten, Sie würde es mir zeigen.“ Colin, der in einem zweiten Raum herumstöberte, rief zurück: „Ich habe es gefunden, und hier ist noch eines, von einer Frau die in eine Botticelli‐Darstellung passte. Sie war der lange hagere Typ.“ Porter war an Botticelli‐Frauen nicht interessiert, auch nicht an Colin Experimente. Er wollte Roger Pooles Frau sehen, daher schenkte er Colins enthusiastischen Kommentaren über die erste Leinwand, die er zeigte, kaum Beachtung. „Sie hat das lange Gesicht. Sehen Sie? Und den dünnen langen Körper. Aber ich konnte sie zu keinem Erfolg machen. Das ist die Freude von Delilah Jeliffe. Sie hat das Temperament einer Schauspielerin und lebt einfach in ihrer Rolle. Aber diese Frau konnte es nicht. Und Hummeressen und hübsche hager Damen sind nicht gleichbedeutend ‐ daher gab ich sie auf.“ Aber Porter griff nach der anderen Skizze. 247
Damit in seiner Hand begutachtete er das kleine Geschöpf mit dem Engelsgesicht. In ihrem Kleid aus reinem Rot mit dem Hauch von Gold in dem Heiligenschein und einer Leier in ihrer Hand schien sie durch göttliches Feuer erleuchtet, ansprechend über alle Maßen. „Ich denke, es muss die Schuld des Mannes gewesen sein, falls die Ehe mit einer solchen Frau ein Fehlschlag war“, wagte er zu sagen. Colin zuckte die Achseln. „Wer kann es sagen?“, sagte er. „Es gab Augenblicke, wo sie keine Heilige zu sein schien.“ „Was meinen Sie?“ Porters Stimme war fast gereizt. „Es ist schwer zu sagen“, überlegte der kleine Künstler ‐ „hin und wieder ein Blick, ein Wort ‐ schien sie zu verraten.“ „Sie haben es vielleicht missverstanden.“ „Vielleicht. Aber Männer, die Frauen kennen, missverstehen selten ‐ diese Art.“ „Hörten Sie je Roger Poole predigen?“, fragte Porter abrupt. „Mehrere Male. Er verspracht, ein großer Mann zu werden. Es war schade.“ „Und Sie sagen, dass sie wieder heiratete.“ „Ja und starb kurz danach.“ Das Thema endete dort und Porter ging davon mit der Vision von Rogers Frau im Sinn und was das Bild der kleinen Heiligen in Rot für Mary Ballard bedeuten würde, wenn sie es sehen könnte. 248
Der Gedanke, der wie ein böser Same sich eingenistet hatte, wuchs und gedieh. In letzter Zeit hatte er Mary verhältnismäßig wenig gesehen. Er war nicht sicher, ob sie absichtlich vorhatte, ihn zu meiden oder ob ihre Arbeit sie wirklich in Anspruch nahm. Dass sie an Roger Poole schrieb, wusste er. Sie versuchte nicht, die Tatsache zu verbergen, sondern sprach offen von Rogers Leben in den Föhren. Die Flammen seiner eifersüchtigen Gedanken brannten hoch und heiß. Er weigerte sich, mit seinem Vater und seiner Mutter zur Nordküste zu fahren, indem er es vorzog, in der Hitze Washingtons zu bleiben und zu verschmachten, wo er Mary nahe sein konnte. Er wurde ruhelos und blass, ihm gar nicht ähnlich. Und er fand in Leila eine Vertraute und Freundin, denn der General, wie Mr. Jeliffe, wurde von dem späten Kongress in der Stadt abgehalten. Klein‐Hübsch‐Leila war nun Klein‐Einsam‐Leila. Doch nach ihrem Zusammenbruch bei dem Schiff hatte sie ihren Mut gezeigt. Sie hatte kindische Dinge beiseite geschoben und entwickelte sich zu einer standfesten kleinen Frau, die sich damit beschäftigte, ihren Vater glücklich zu machen. Sie wachte über ihn und wartete auf ihn. Und er, der sie liebte, wunderte sich über ihre unerwartete Stärke, nicht wissend, dass sie zu sich selbst sagte: „Ich bin eine Ehefrau ‐ kein Kind. Und ich darf es für Vater nicht schwerer machen ‐ ich darf es für keinen schwer machen. Und wenn Barry zurückkommt, werde ich besser geeignet sein, sein Leben zu teilen, wenn ich gelernt habe, tapfer zu sein.“ Sie schrieb Barry so fröhliche Briefe und einer davon schickte ihn zu Gordon. 249
„Es wäre besser gewesen, wenn ich sie mitgebracht hätte“, sagte er, als er Auszüge las; „sie ist ein kleines Ding, Gordon, aber sie ist ein Wunder. Und sie ist die Stütze, an die ich mich lehne.“ „Bald wirst du die Stütze sein“, erwiderte Gordon, „und das ist, was ein Ehemann sein sollte, Barry, wie du herausfinden wirst, wenn du verheiratet bist.“ Wenn! ‐ Wenn Gordon nur gewusst hätte, wie Barry von Leila träumte ‐ in ihrem gelben Kleid, an seiner Seite zur Kirche auf dem Hügel stapfend ‐ im Mondlicht tanzend, eine Primel, die auf ihrem Stängel schwankt. Wie bedingungslos ihr Glaube zu ihm gewesen war! Und er muss sich dieses Glaubens als würdig erweisen. Und er bewies es durch Beständigkeit, die Gordon erstaunte, und durch einen Fleiß, der fast unnatürlich war, und er schrieb an Leila: „Ich werde es ihnen zeigen, liebes Herz, und dann werden sie mich dich haben lassen.“ Es war in der Nacht, nachdem Leila diesen Brief erhielt, dass Porter kam, um sie auf eine Fahrt mitzunehmen. „Bitte Mary, mit uns zu fahren“, sagte er; „sie wird mit mir alleine nicht fahren.“ Leilas Blick war mitfühlend. „Sagte sie, dass sie es nicht würde?“ „Ich fragte sie. Und sie sagte, sie wäre müde. Als ob eine Fahrt sie nicht ausruhen würde“, sagte er hitzig. „Würde es. Lass mich es bei ihr versuchen, Porter.“
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Leilas Stimme am Telefon war schmeichelnd. „Ich will fahren, Mary, Liebes, und Dad ist im Kapitol beschäftigt und ‐“ „Aber ich sagte, dass ich nicht würde.“ „Porter wird es nicht kümmern, er kriegt dich einfach so. Er steht jetzt neben mir und hört zu. Und er sagt, dass du Tante Isabella fragen und mit ihr auf dem Rücksitz sitzen sollst, falls du kleinlich sein willst.“ „Leila“, protestierte Porter, „ich sagte nichts dieser Art.“ Sie fuhr rücksichtslos fort. „Also, wenn er es nicht sagte, meinte er es. Und wir beide wollen dich fürchterlich.“ Leila, die den Hörer auflegte, schüttelte ihren Kopf zu Porter. „Du weißt nicht, wie du mit Mary umgehst. Wenn du wochenlang fort von ihr bleibst ‐ und nicht versucht, sie zu sehen ‐ wird sie sich fragen, wo du bist.“ „Nein, würde sie nicht.“ Porters Tone war mit Weh beladen. „Sie wäre einfach froh und sie würde in ihren Turmzimmern sitzen und Briefe an Roger Poole schreiben und vergessen, dass ich auf der Erde bin.“ Es war jetzt draußen ‐ all seine flammende Eifersucht. Leila starrte ihn an. „Oh, Porter“, fragte sie atemlos, „denkst du wirklich, dass Roger ihr etwas bedeutet?“ „Ich weiß es.“ „Hat sie es dir gesagt?“
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„Nicht ‐ genau. Aber sie hat es nicht geleugnet. Und er soll sie nicht haben. Sie gehört mir, Leila.“ Leila seufzte. „Oh, warum sollten Liebesaffären immer falsch laufen?“ „Meine soll richtig laufen“, versicherte ihr Porter grimmig. „Ich werde in diesem Kampf nicht aufgeben, Leila.“ Als sie Mary und Tante Isabella aufnahmen, bestand Mary darauf, dass Leila ihren Platz neben Porter behalten sollte. „Ich bin todmüde, sagte sie, „und ich will nicht reden.“ Und nun führte sie Porter, der strategisch auf Colin Quales Studio abzielte. sie überallhin, außer in die Richtung seines Angriffsziels. Aber endlich nach einer langen Fahrt durchquerten sie den Park, der Colins Wohnung gegenüberlag. „Habt ihr Delilahs Porträt gesehen?“, fragte Porter beiläufig. Sie hatten es nicht und er wusste es. „Falls Colin zu Hause ist, warum nicht stehen bleiben?“ Sie stimmten zu und fanden Delilah und ihren Vater dort. Die Nacht war sehr heiß, das Zimmer war schwach beleuchtet durch eine hängende silberne Lampe in einem Alkoven. Zwischen den Schatten erhob sich Delilah. „Colin ruft den Klub um Limonade und Sachen an“, sagte sie; „er wird in einer Minute zurück sein.“ „Wir kamen, um dein Bild zu sehen“, informierte sie Mary. „Er malt mich wieder“, sagte Delilah, „im Mondlicht, so.“ 252
Sie setzte sich in das breite Fenster, sodass der Rücken von ihr der silberne Dunstschleier der herrlichen Nacht war. Ihr Kleid aus feinem Weiß war unverändert. Colin, der hereinkam, stellte sein Tablett hastig hin und veränderte die Pose ihres Kopfes. „Es wird schwer sein, genau die Wirkung zu erlangen, die ich will“, sagte er ihr. „Es darf kein hartes Schwarz und Weiß sein, sondern leuchtend.“ „Ich will, dass sie das andere Bild sehen“, sagte Porter. Colin drehte die Lichter auf. „Ich werde es nie besser als dieses machen“, sagte er. „Gefällt es dir, Mary?“, fragte Delilah. „Es ist das Gartenpartykleid.“ „Ich liebe es“, sagte Mary. „Es ist nicht bloß das Kleid, Delilah. Du bist es. Es ist so fröhlich ‐ als ob du viel vom Leben erwartetest.“ „Tue ich“, sagte Delilah. „Ich erwarte alles.“ „Und Sie werden es kriegen“, behauptete Colin. „Sie werden nicht auf jemanden warten, dass er es Ihnen reicht; sie werden einfach die Hand ausstrecken und es nehmen.“ Porters Augen waren suchend. „Schauen Sie her, Quale“, sagte er schließlich, „macht es Ihnen etwas aus, uns die anderen sehen zu lassen? ‐ Diese Botticelli‐Frau und den Fra Angelico ‐ sie zeigen Ihre Vielseitigkeit.“ Colin zögerte. „Sie sind neben dem da roh.“
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Aber Porter bestand darauf. „Sie sind reizend. Bringen Sie es her, Quale.“ So kamen sie heraus ‐ das Bild der hageren Dame mit dem langen Gesicht und das Bild der kleinen Heiligen in Rot. Es war das Mädchen in Rot, dem sie die meiste Aufmerksamkeit schenkten. „Wie hübsch sie ist“, sagte Mary, „und wie süß.“ Aber Delilah, die genau beobachtete, stimmte ihr nicht zu. „Ich bin nicht sicher. Einige Frauen sehen so aus, die kleine Teufel sind. Sie haben mir das vorher nicht gezeigt, Colin. Wer war sie?“ Colin wich aus. „Jemand, die ich vor langer Zeit kannte.“ Porter wurde innerlich durch den Gedanken erschüttert, dass der kleine blonde Künstler sich als Gentleman erwies. Er würde der Welt nicht bekanntgeben, was er Porter im Vertrauen erzählt hatte. Porters Instinkte jedoch waren schlicht und einfach primitiv. Er wollte es zu den Hausdächern schreien: „Das ist das Bild von Roger Pooles Frau. Schaut sie an und seht, wie süß sie ist. Und dann entscheidet, ob sie ihr eigenes Unglück machte. Aber er schrie nicht. Er blieb still und beobachtete Mary. Sie betrachtete noch immer aufmerksam das Bild. „Ich verstehe nicht, wie du sagen kannst, dass sie etwas anderes als süß sein könnte. Ich denke, es ist das Gesicht eines wahrheitsliebenden Kindes.“
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Porters Herz hüpfte. Die Zeit würde kommen, wenn er ihr sagen würde, dass das Bild des kleinen vertrauensvollen Kindes das Bild von Roger Pooles Frau war. Und dann ‐ Colin hatte nun wieder die Lichter abgedreht. Sie saßen nun zwischen den Schatten und tranken kühle Sachen und aßen wunderbare kleine Kuchenstücke, die eine Spezialität des Konditors um die Ecke waren. „In einer Woche werden wir alle von hier fort sein“, sagte Delilah. „Ich frage mich, warum wir so töricht sind. Wenn nicht die Tatsache wäre, dass wir die Gewohnheit haben, hätten wir es genauso gemütlich zu Hause.“ „Ich werde zu Hause sein“, sagte Mary. „Ich bin noch nicht auf einen Urlaub berechtigt.“ „Hasst du es nicht?“, fragte Delilah offen. Mary zögerte. „Nein. Ich kann nicht sagen, dass ich es wirklich hasse ‐ aber es gab mir ein ganz wundervolles Gefühl, meine erste Lohntüte zu öffnen.“ „Frauen sind verrückt geworden“, sagte Porter. „Sie wenden sich absichtlich von weiblichen Dingen ab, um Maschinen aus sich zu machen.“ Delilah, die für Mary eintrat, fragte: „Dreht Mary weiblichen Dingen mehr als ich den Rücken zu? Ich mache ein Geschäft daraus, die Gesellschaft einzunehmen ‐ Mary hat einfach eine Stellung, bis die Romantik in ihr Leben tritt.“ 255
Colin unterbrach sie. „Ich wünsche, Sie würden Ihren Verstand des zwanzigsten Jahrhunderts auf ihre viktorianischen Kleider richten“, sagte er, „und nach ihnen leben ‐ in Ihrer Sprache.“ Delilah lachte. „Also, ich sagte die Wahrheit, wenn ich es auch nicht elegant tat. Wir arbeiten beide für Dinge, die wir wollen. Mary will Romantik und ich will gesellschaftliche Anerkennung.“ Leila seufzte. „Es ist nicht immer alles, was wir wollen, das wir kriegen, nicht wahr?“, fragte sie und Porter antwortete entschlossen. „Ist es nicht. Das Leben wirft uns gewöhnlich Ziegelbrocken statt Blumensträuße zu.“ Colin stimmte nicht zu. „Das Leben gibt uns manchmal mehr als wir verdienen. Es hat mir dieses Bild von Miss Jeliffe gegeben. Und ich betrachte das als eine großes Stück Glück.“ „Sie sind ein netter Junge, Colin“, sagte Delilah zu ihm, „und ich mag Sie ‐ und ich mag Ihre Philosophie. Ich denke, das Leben gibt mir so viel wie ich verdiene.“ Die anderen waren still. Das Leben gab Leila oder Porter oder Mary in dem Augenblick nicht die Dinge, die sie wollten. Porters Forderungen an das Schicksal waren eindeutig. Er wollte Mary. Leila wollte Barry. Mary wusste nicht, was sie wollte, sie wusste nur, dass sie unzufrieden war. Porter brachte zuerst Leila nach Hause, dann fuhr er Mary und Tante Isabelle zurück durch den Park zu dem alten Haus auf dem Hügel. „Ich komme hinein“, sagte er, als er Mary aus dem Wagen half. 256
„Aber es ist so spät, Porter.“ „Ich bin viele Male so spät hier gewesen. Ich will nicht nach Hause geschickt werden, Mary, nicht heute Nacht.“ Tante Isabelle, müde und schläfrig, ging sofort nach oben. Mary saß auf der Veranda mit Porter. Unter ihnen lag die Stadt in dem weißen Mondlicht. Für eine Weile waren sie still, dann sagte Porter plötzlich: „Mary, da ist etwas, was ich dir erzählen will. Du denkst vielleicht, dass ich an deinen Angelegenheiten interessiert bin, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich kann nicht sehen, wie du Dinge tust, die dich unglücklich machen werden.“ „Ich bin nicht unglücklich. Was meinst du, Porter?“ „Du wirst es ‐ wenn du so weitermachst. Mary ‐ ich brachte dich absichtlich heute Abend zu Colin, sodass du das Bild von der kleinen Heiligen in Rot sehen konntest, das Fra Angelico „Ja.“ „Du weißt, was du über sie sagtest ‐ dass sie ein so vertrauensvolles, kindliches Gesicht habe?“ „Ja.“ „Das war das Bild von Roger Pooles Frau, Mary.“ Sie saß still in ihrem Kleid wie eine Marmorstatue. Schließlich fragte sie: „Wie weißt du das?“
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„Quale erzählte es mir. Ich denke, er hatte nicht gehört dass Poole hier lebte und dass wir ihn kannten. Daher ließ er den Namen sorglos fallen.“ „Also?“ Er wandte sich ihr feurig zu. „Ich weiß, was du mit diesem Ton meinst, Mary. Aber du bist ungerecht. Du denkst, ich habe mich eingemischt. Aber ich habe es nicht. Es ist nur das. Wenn Poole das Herz einer Frau brechen konnte, kann er das Herz einer anderen brechen ‐ und er soll nicht deines brechen.“ „Wer erzählte dir, dass er ihr Herz brach?“ „Du hast das Bild gesehen. Könnte eine Frau mit einem solchen Gesicht etwas tun, das böse genug ist, um das Leben eines Mannes zu zerstören? Ich kann es nicht glauben, Mary. Es gibt immer zwei Seiten einer Frage.“ Sie antwortete nicht sofort. Dann sagte sie: „Wie wusstest du über ‐ Roger Bescheid?“ „Delilah erzählte es mir ‐ er konnte nicht erwarten, es geheim zu halten.“ „Er erwartete es nicht; und er hatte viel zu ertragen.“ „Dann hat er es dir erzählt und er hat mit Beredsamkeit gefleht? Aber dieses Kindergesicht auf dem Bild fleht mich an.“ Es flehte. Indem sich Mary daran erinnerte, wurde sie von den ersten Zweifeln bestürmt. Es war ein solches Kindergesicht mit Augen einer Heiligen. 258
Porters Stimme setzte fort. „Ein Mann kann immer einen Fall für sich machen. Und du hast nur sein Wort für das, was er tat. Oh, ich vermute, du wirst denken, dass ich ein Schuft bin, so zu reden. Aber ich kann nicht sehen, wie du treibst, auf eine Gefahr zutreibst, die dein Leben zerstören mag.“ „Warum sollte ich mein Leben zerstören?“ „Weil Poole, was auch immer der Grund ist ‐ mir stark genug scheint, sein und dein Schicksal zu formen. War es stark von ihm loszulassen, als er es tat, nur weil diese Frau an ihm scheiterte? War es stark für ihn, sich hier zu verstecken ‐ wie ‐ wie ein Verbrecher? Ein starker Mann würde der Welt gegenübertreten. Er hätte versucht, sich aus seinem Wrack zu erheben. Seine Handlungen durch bezaubernde Schwäche. Ich könnte es ertragen, wenn du mich nicht heiratest, Mary. Aber ich kann es nicht ertragen, dich zu sehen, wie du einen Mann heiratest, der deiner nicht wert ist. Dich unglücklich zu sehen wäre eine Qual für mich.“ In seiner Ernsthaftigkeit hatte er einen echten Ton angeschlagen, und sie erkannte ihn. „Ich weiß“, sagte sie unsicher. „Ich glaube, dass du denkst, dass du meine Schlacht schlägst, statt deine eigene. Aber ich denke nicht, dass Roger Poole lügen würde.“ „Nicht bewusst. Aber er würde den falschen Eindruck hervorrufen ‐ wir können nie unsere eigenen Fehler sehen ‐ und er würde ihr natürlich die Schuld geben. Aber der Mann, der eine Frau unglücklich gemacht hat, würde eine andere unglücklich machen, Mary.“ Mary war erschüttert. 259
„Bitte, drücke es nicht so unvermeidlich aus. Roger hat was auch immer keinen Anspruch auf mich.“ „Wirklich? Oh, Mary, hat er nicht?“ Da war Hoffnung in seiner Stimme und sie schrak davor zurück.“ „Nein“, sagte sie sanft, „er ist nur ‐ ein Freund. Bis jetzt kann ich nichts Böses von ihm glauben. Aber ich liebe ihn nicht. Ich liebe niemanden ‐ ich will keinen Mann in meinem Leben.“ Sie dachte, dass sie es meinte. Sie dachte es, sogar während ihr Herz in Verteidigung des Mannes, den er verleumdet hatte, aufschrie. „Wie kann einer die Wahrheit von einer solchen Sache wissen?“, fuhr sie unsicher fort. „Man kann nur an die eines Freundes glauben.“ „Mary“, begierig, „du kennst Poole erst seit ein paar Monaten. Du kennst mich schon immer. Ich kann dir wie jeder Zuneigung geben. Warum nicht diese ganze Widerspenstigkeit aufgeben ‐ und zu mir kommen?“ „Warum nicht?“, fragte sie sich. Roger Poole war obskur. Mehr als das, es würde immer Leute wie Porter geben, die seine Vergangenheit in Frage stellten. „Es ist das Flüstern, das tötet“, hatte Roger gesagt. Sie stand auf und ging zum Ende der Veranda. Porter folgte ihr und sie stand und blickte hinunter in den Garten. In was für einem Aufruhr der Sommerblüte ‐ und der Wohlgeruch strömte zu ihnen hinauf. Der Garten! Und sie selbst eine Blume! Es waren solche Dinge, die Roger Poole sagen konnte und die Porter niemals sagen könnte. Und er konnte sie nicht sagen, weil er sie nicht denken konnte. Die Dinge, 260
die Porter dachte, waren gewöhnlich, die Dinge, die Roger dachte, waren wundervoll. Wenn sie Porter Bigelow heiratete, würde sie immer mit ihren Füßen fest auf dem Boden gehen. Wenn sie Roger Poole heiratete, würden sie zusammen in der oberen Luft fliegen. „Mary“, beharrte Porter, „liebes Mädchen.“ Sie hielt ihre Hand hoch. „Ich will nicht zuhören“, sagte sie fast leidenschaftlich; „stelle dir keine Dinge an mir vor, Porter. Ich habe meine Arbeit ‐ und meine Freiheit ‐ ich werde sie für niemanden aufgeben.“ Wenn sie die Worte mit etwas weniger als ihrer früheren Zuversicht sagte, war er sich dessen nicht bewusst. Wie konnte er wissen, dass sie ein letztes verzweifeltes Gefecht machte? Als sie ihn schließlich fortschickte, ging er mit einer deprimierten Miene, die sie berührte. „Ich habe riskiert, für einen Schuft gehalten zu werden“, sagte er, „aber ich musste es tun.“ „Ich weiß. Ich mache dir keine Vorwürfe, lieber Junge.“ Sie gab ihm ihre Hand darauf und er ging fort und sie wurde im Mondlicht alleine gelassen. Und als der letzte Widerhall seines schnurrenden Wagens in der Stille verklang, ging sie hinunter und setzte sich in den Garten auf die Bank neben den hundertblättrigen Busch. Tante Isabelles Licht brannte noch und bald würde sie hinaufgehen und „Gute Nacht“ sagen, aber für den Augenblick musste sie alleine sein. Alleine, um den Zweifeln 261
entgegenzutreten, die ihr gegenüberstanden. Angenommen, oh, angenommen, dass die Dinge, die Roger ihr über seine Ehe erzählt hatte, verdreht worden waren, um seine Geschichte plausibel klingen zu lassen? Angenommen, die kleine Ehefrau hatte gelitten, war von ihm durch Kälte, durch Grausamkeit davongetrieben worden? Man kannte nie die wahren inneren Geschichten solcher häuslicher Tragödien. Da war Leila zum Beispiel, die nichts von Barrys Fehler wusste, und Barry hatte es ihr nicht erzählt. Könnten nicht andere Männer Fehler haben, die sie nicht zu erzählen wagten? Die Welt war voll mit solchen Tragödien. Als Mary endlich die Turmzimmer erreichte, zog sie sich im Dunkeln aus. Sie sagte ihr Gebet laut in der Dunkelheit, wie es ihre kindliche Gewohnheit gewesen war. Und dies war, was sie sagte: „Oh, Herr, ich will an Roger glauben. Lass mich glauben ‐ lass mich nicht zweifeln ‐ lass mich glauben.“ Als sie endlich schlief, war es, um zu träumen und zu wachen und wieder zu träumen. Und wachend oder träumend kamen aus den Schatten geisterhafte Kreaturen, die flüsterten: „Seine kleine Frau war eine Heilige ‐ wie konnte sie ihn unglücklich machen?“ Und wieder: „Er ist vielleicht grausam gewesen, wie weißt du, dass er nicht grausam war?“ Und wieder: „Wenn du seine Frau wärest, würdest du immer an diese andere Frau denken ‐ denken ‐ denken ‐ denken.“
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Kapitel XX In dem Mary dem Winter ihrer Unzufriedenheit gegenübersteht und in de Delilah Dinge in einer Kristallkugel sieht
D
er Sommer verging eintönig heiß, schleppend feucht. Und es war in diesen heißen und feuchten Tagen, dass Mary die Schufterei ihrer neuen Beschäftigten spürte. Sie begann, den Eintritt auf dem Platz dicht bei dem Büroraum zu fürchten, mit seinen kahlen Schreibtische und seine unveränderlichen Insassen. Sie schwankte ruhelos durch die Stunden der Einschränkung und entkam dankbar am Ende des langen Tages. Sie sehnte sich nach einem Luftzug vom Meer, nach den Tiefen eines Waldes, nach den grünen Feldern, die irgendwo hinter dem blaugrauen Nebelschleier sein müssen, der sich über der schimmernden Stadt niedergelassen hatte. Sie begann, die Auswirkungen ihrer ungewohnten Schufterei zu zeigen. Sie wurde blass und dünn. Tante Isabella war besorgt. Die zwei Frauen saßen viel bei dem Springbrunnen. Mary hatte Tante Isabelle gebeten, fort zu einem kühleren Ort zu fahren. Aber die liebenswürdige Dame hatte abgelehnt. „Das ist Zuhause für mich, meine Liebe“, hatte sie gesagt, „und mir macht die Hitze nichts aus. Und es gibt kein Glück für mich in großen Hotels.“ „Es würde für mich überall Glück geben, wo ich einen Hauch von Kühle kriegen könnte“, sagte Mary ruhelos. „Ich kann kaum die Herbsttage erwarten.“ 263
Doch als die kühleren Tage kamen, war da die Trübseligkeit des Regens und der seufzenden Winde. Und nun war es November und Roger Poole war ein Jahr fort gewesen. Der Garten war tot und Mary war froh. Tote Gärten schienen besser in ihre Stimmung zu passen, als jene, die blühten. Entschlossen machte sie sich daran, fröhlich zu sein; bewusst sagte sie sich, dass sie nach den Theorien leben musste, die sie bekundet hatte, streng zog sie sich zur Rechenschaft, dass sie nicht in der Freiheit frohlockte, nach der sie sich sehnte. Beständig führte ihr Verstand mit ihrem Herzen Krieg und ihr Herz gewann; und sie stand der Wahrheit gegenüber, dass alle Jahreszeiten ohne Roger Poole trübselig sein würden. Ihren Briefen an ihn hatte es neulich an der Spontanität gemangelt, die sie zuerst charakterisierte. Sie wusste es und versuchte, den alten Sinn der Leichtigkeit und Vertraut wiederzuerlangen. Aber die Zweifel, die Porter geplant hatte, hatte Frucht getragen. Immer trieb zwischen ihr und Roger die Vision der kleinen Heiligen in Rot. Es war unvermeidlich, dass sich Rogers Briefe ändern sollten. Er hörte auf, ihr die Seite zu zeige, die er für eine Zeit überraschenderweise offenbart hatte. Ihre Korrespondenz wurde oberflächlich ‐ mit Unterbrechungen. „Es ist meine eigene Schuld“, sagte sich Mary, doch das Wissen machte die Dinge nicht leichter. Und nun begann der Winter ihrer Unzufriedenheit. Wenn ihr jemand in ihren Tagen der lebhaften Überheblichkeit gesagt hätte, dass sie je müde zu Bett gehen und hoffnungslos aufwachen würde, 264
hätte sie die Vorstellung verhöhnt; doch die Tatsache blieb, dass die Frucht ihrer Unabhängigkeit Äpfel vom Toten Meer waren. Es war ein Brief von Barry, der sie wieder aufmunterte und ihr Leben noch einmal zu einer Militärmusik marschieren ließ. „Ich habe die Arbeit gefunden, für die ich geeignet bin“, schrieb er; „du weißt nicht, wie gut es scheint. So viele Jahre ging ich zurück zu meinem Schreibtisch wie ein Junge, der zur Schule getrieben wird. Aber jetzt ‐ na, arbeite ich nach Stunden für die schiere Liebe davon ‐ und weil es mich näher zu Leila bringt.“ Dies von Barry, dem Trödler! Und sie, die gepredigt hatte, wimmerte über Hitze und Kälte, über lange Stunden und harte Arbeit ‐ als ob diese Dinge eine Rolle spielten! Nanu, das Leben war ein großes Abenteuer und sie hatte es vergessen! Und nun begann sie, sich umzuschauen ‐ um einige Strahlen zu finden, falls sie konnte, um ihre Arbeitswelt zu erleuchten. Sie fand es in der Freundlichkeit und Gesellschaft ihrer Bürokameraden ‐ gute Kameraden waren sie ‐ die die Schlacht der Schinderei Schulter an Schulter kämpften, das Glück auf der Straße teilten, einigen, die es brauchten, Aufmunterung gaben, und einigen von ihnen mehr, als sie verlangten, gaben. Als Mary in ihr Leben wuchs, wuchs sie etwas von ihrer alten Clique weg. Und wenn manchmal ihr galanter Kampf nutzlos schien ‐ wenn sie manchmal den Ruf ihres Herzens nicht stillen konnte, war es, weil sie eine Frau war, gemacht, um geliebt zu werden, geeignet für feinere 265
Dinge und wahrere Dinge, als kabbalistische Zeichen auf einen Schreibblock zu schreiben und sie später auf der Schreibmaschine zu übertragen. Leila hatte sich geweigert, aus Marys Leben zu fallen. Sie kam, wann immer sie konnte, um einen Teil des Weges mit ihrer Freundin nach Hause zu gehen, und die beiden Mädchen bestiegen einen Wagen und fuhren zum Rand der Stadt, wobei sie es vorzogen, entlang der Grenzlinien der Soldatenheime oder durch den Wald zu der formellen Promenade durch die Stadtstraße zu gehen. Es war während dieser kleinen Abenteuer, dass sich Mary gewissen Zurückhaltungen in dem jungen Mädchen bewusst wurde. Sie war sehr vertraut, doch die Offenheit der alten Tage war fort. Einmal sprach Mary davon. „Du bist in einer Minute erwachsen geworden, Leila“, sagte sie. „Du bist eine so ruhige kleine Maus.“ Leila seufzte. „Es gibt so viel darüber nachzudenken.“ Sie beobachtend beschloss Mary. „Es ist schwerer für sie als für Barry. Er hat seine Arbeit. Aber sie wartet nur und sehnt sich nach ihm.“ Beim Warten und sich Sehnen wurde Klein‐Hübsch‐Leila mausartiger als je zuvor. Und schließlich sprach Mary mit dem General. „Sie braucht eine Veränderung.“ Er nickte. „Ich weiß es. Ich denke daran, sie im Frühling hinüberzubringen.“ „Wie hübsch. Haben Sie es ihr gesagt?“ 266
„Nein ‐ ich dachte, es wäre eine große Überraschung.“ „Sagen Sie es ihr jetzt, lieber General. Sie muss sich freuen.“ So sprach der General, der beinahe den ganzen Winter von seinem Rheumatismus im Haus gehalten worden war, von gewissen Bädern in Deutschland. „Ich dachte, ich würde hinüberfahren und sie probieren“, informierte er seine kleine Tochter an dem Tag nach seinem Gespräch mit Mary, „und du könntest anhalten und bei Barry vorbeischauen.“ „Barry!“ Sie stürmte auf ihn zu. „Dad, Dad, meinst du es?“ „Ja.“ Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und weinte vor Glück. „Dad, ich habe ihn so vermisst.“ Mit der ihr entgegengehaltenen Hoffnung begann Klein‐Hübsch‐ Leila zu strahlen. Einmal mehr tanzten ihre Füße den Flur entlang und die Musik ihrer Stimme trillerte vogelgleich in den großen Zimmern. Delilah, die es mit ihrem Künstler besprach, sagte: „Leila lässt mich an Romantik mit einem großen R glauben. Aber ich könnte so nicht lieben.“ Colin lächelte. „Sie würden wie eine Löwin lieben. Ich habe Sie äußerlich gebändigt, aber drinnen sind Sie noch immer primitiv.“ „Ich frage mich ‐“, überlegte Delilah. „Der Mann für Sie“, wandte sich Colin plötzlich an sie, „ist Porter Bigelow. Natürlich nehme ich es von dem Standpunkt des Künstlers. 267
Sie sind wie füreinander geschaffen ‐ ein Paar junge Götter ‐ sein roter Kopf übertrifft einfach Ihren schwarzen ‐ Es war so auf der Gartenparty; und man konnte es sehen.“ Delilah lachte. „Seine Augen sind nicht für mich. Bei ihm ist es May Ballard. Wenn ich in ihn verliebt wäre, würde ich Mary hassen. Aber ich tue es nicht; ich liebe sie. Und sie ist in Roger Poole verliebt.“ Colin blickte von den Entwürfen auf, aus denen er und Delilah ihre Frühlingsgarderobe aussuchten. „Poole? Ich kannte seine Frau“, sagte er abrupt; „es war ihr Bild, das ich Ihnen unlängst abends zeigte ‐ die kleine Heilige in der Fra Angelico‐Pose ‐ es kam mir erst hinterher, dass er derselbe Poole sein könnte, von dem ich Sie hatte sprechen hören.“ Delilah fegte durch das Zimmer und drehte die Leinwand nach außen. „Roger Pooles Frau“, sagte sie, „von allen Dingen!“ Dann stand sie und starrte schweigend. „Sie erzählten uns nicht, wer sie war.“ „Nein“, er wog geistig Porters Haltung in der Angelegenheit ab, „niemand wusste es außer Bigelow.“ „Und er zeigte dies Mary?“ Sie blickten einander an und lachten. „Vielleicht ist in der Liebe alles erlaubt“, murmelte Delilah schließlich, „aber ich hätte es von ihm nicht geglaubt.“ Als sie das Bild zur Wand drehte, beschloss Delilah: „Mary Ballard ist hundert solcher Frauen wert.“
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„Eine Frau wie Sie ist hundert von ihnen wert“, behauptete Colin bedächtig. Delilah errötete leicht. Colin Quale gab ihr etwas, das ihr kein anderer Mann gegeben hatte. Und es gefiel ihr. „Wissen Sie, was Sie mir tun?“, sagte sie, als sie sich zum Fenster setzte. „Sie lassen mich denken, dass ich wie die Bilder bin, die Sie malen.“ „Sind Sie“, war die ruhige Antwort; „es ist nur eine Art, unter die Oberfläche zu gelangen.“ Es war eine Pause, während der seine Finger und Augen mit den glänzenden Entwürfen beschäftigt waren ‐ dann sagte Delilah: „Wenn Leila und ihr Vater im Mai nach Deutschland fahren, werde ich Dad dazu bringen, auch zu fahren. Ich denke nicht, dass Sie sich darum kümmern, sich uns anzuschließen? Sie werden zu diesem Mädchen in Amesbury oder Newburyport, oder was auch immer es ist, zurückkehren wollen.“ „Was für ein Mädchen?“ „Das eine, das Sie heiraten werden.“ „Es gibt kein Mädchen“, sagte Colin ruhig, „in Amesbury oder Newburyport; hat es nie gegeben und wird es nie geben.“ Als er näher kam, hielt er ein Muster von sanftem Blassgelb an ihre Wange. „Leila Dick trägt das oft, aber es ist nicht für Sie.“ Er trat zurück und blickte sie nachdenklich an.
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„Colin“, protestierte sie, „wenn Sie mich so ansehen, fühle ich mich wie ein Holzmodell.“ Er lächelte: „Das bedeuten Sie mittlerweile“, sagte er; „ich will nicht an Sie als Frau denken.“ „Warum nicht?“, fragte Delilah wagemutig. „Weil es, gelinde gesagt, störend ist.“ Er beschäftigte sich mit den Entwürfen und schüttelte darüber seinen Kopf. „Keines davon wird für das Diner des Sekretärs gehen. Sie müssen Spitze mit vielen Volants haben, eingefangen in der neuen Mode. Und ich will Ihr Haar anders. Nehmen Sie es herunter. Sie war nun an ihn gewöhnt und bald fiel es in all seiner strahlenden schwarzen Schönheit herab; und als er die Strähnen teilte, war es wie ein lebendiges Ding unter seinen Händen. Er krönte ihren Kopf mit den Zöpfen in einer Art altmodischen Krönchen. Und so angeordnet wurde die alte Mode eine neue Mode und Delilah war wie eine Königin. „Sehen Sie ‐ mit der Spitze und Ihrem Perlenschmuck. Da ist nichts Erschreckendes; aber niemand wird wie Sie sein.“ Und es war keine wie sie. Und wegen des Kleides, das Colin geplant hatte, und wegen der Art, die er ihr beigebracht, ihr Haar zu frisieren, fügte Delilah ihrem Gefolge von Bewunderern an dem Abend des Diners des Sekretärs einen berühmten adeligen Gentleman hinzu, der nach einer Ehefrau suchte, um seine Ahnenhallen zu schmücken ‐ und 270
der mächtig durch die Tatsache beeindruckt war, dass Delilah für diesen Teil perfekt aussah. Er machte ihr in drei Wochen einen Antrag und war seiner Fähigkeit so sicher, zu kriegen, was er wollte, dass er von ihrer Antwort sprachlos war. „Vielleicht werde ich mich entscheiden. Ich werde Ihnen Ihre Antwort geben, wenn ich im Frühling hinüberkomme.“ „Aber ich will jetzt meine Antwort.“ „Es tut mir leid. Aber ich kann nicht.“ Als sie Colin von ihrer abrupten Abweisung des aus der Fassung gebrachten Gentleman erzählte, fragte sie beinahe wehmütig: „Warum konnte ich nicht sofort ‚ja‘ sagen? Es ist das, was ich immer gewollt habe.“ „Haben Sie es wirklich gewollt?“ „Natürlich.“ „Nicht natürlich. Sie wollen andere Dinge mehr.“ „Was zum Beispiel.“ „Ich denke, Sie wissen es.“ Sie wusste es nicht und sie machte einen schnellen Atemzug. Dann lachte sie.
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„Sie versuchen, mir beizubringen, meine Empfindungen zu verstehen, Colin, wie Sie mir beigebracht haben, meine Kleider zu verstehen.“ „Sie sind eine begabte Schülerin.“ Der Tee kam gerade da und sie schenkte ihm ein, wobei sie ihm hinterher seine Zukunft in seiner Teetasse vorhersagt. „Sind Sie abergläubisch?“, fragte sie ihn, nachdem sie eine Zukunft des konventionellen Glücks und Erfolgs erfunden hatte. „Nicht genug, um zu glauben, was Sie mir erzählt haben.“ Er flatterte mit seinen Wimpern und lächelte. „Das Leben wird mir bringen, was ich will, weil ich es kommen lasse.“ „Oh, Sie denken das?“ „Ja. Alle Dinge sind für uns möglich, die glauben, dass sie möglich sind.“ „Vielleicht für einen Mann. Aber ‐ für eine Frau. Da ist Leila zum Beispiel. Ich befürchte ‐“ „Sie dürfen nicht. Das Leben wird richtig für sie kommen.“ „Wie wissen Sie es?“ „Es kommt für uns alle richtig, auf die eine oder andere Weise. Sie werden es finden. Sie haben Angst um Ihren kleinen Freund wegen Ballard ‐ er ist ziemlich lebenslustig, äh?“ „Ja. Mehr, denke ich, als sie versteht. Aber jeder weiß, dass sie ihn dafür wegschickten. Und ich kann keinen Ausweg sehen. Wenn er sie 272
heiratet, wird er ihr Herz brechen; wenn er sie nicht heiratet, wird er es brechen ‐ und da haben Sie es.“ „Sie dürfen diese ‚Wenns‘ nicht so setzen. Es wird einen Ausweg geben.“ Sie stand auf und ging zu einem Tisch, zu einem kleinen Schrank, den sie aufsperrte. „Sie wollten mir meine Kristallkugel nicht als Beweis lassen“, sagte sie, „weil sie nicht mit dem Rest meiner neuen Einrichtungen passt ‐ aber sie sagt Dinge.“ „Was für Dinge?“ „Ich werde es Ihnen zeigen.“ Sie stellte sie zwischen ihnen auf den Tisch. „Legen Sie Ihre Hand auf jede Seite davon.“ Er ergriff sie mit seinen beweglichen Fingern. „Erfinden Sie nicht ‐“, warnte er. Sie begann langsam zu sprechen und sie war noch dabei, als Porters Wagen an der Tür vorfuhr und mit Mary und Leila hereinkam. „Ich las diese beiden unterwegs nach Hause auf“, erklärte Porter; „es schüttet in Strömen und ich bin in meinem offenen Wagen. Und daher, liebenswürdige Dame, liebe Dame, werden Sie uns Tee geben?“ Colin und Delilah jeweils ein wenig blass, schnell atmend, erhoben sich, um ihre Gäste zu begrüßen.
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„Sie sagt mir die Zukunft vorher“, informierte sie Colin, während Delilah Befehle für mehr heißes Wasser und Tassen gab. „Es ist ein seltsames Geschäft.“ Porter spottete. „Ein Schwindel, falls es je eines war.“ Colin überlegte. „Vielleicht. Aber sie hat die Miene einer Seherin, wenn sie alles sagt ‐ und sie hat mich für ein Meisterstück ‐ und Heirat ausersehen.“ Leila, die bei dem Tisch stand, berührte die Kristallkugel mit zweifelnden Fingern. „Siehst du wirklich Dinge, Delilah?“ „Setz dich, ich werde es beweisen.“ Leila zuckte zurück. „Oh, nein.“ Aber Porter beharrte. „Sein kein Spielverderber, Leila.“ Also setzte sie sich auf den Stuhl, den Colin belegt hatte, wobei ihre Locken halb ihre erwartungsvollen Augen verbargen. Und nun schaute Delilah, wobei sie sich über die Kugel beugte. Es war langes Schweigen. Dann schien Delilah sich zu schütteln, wie jemand, der eine Trance abschüttelt. Sie schob die Kugel mit einer plötzlichen Geste von sich weg. „Da ist nichts“, sagte sie mit unterdrückter Stimme; „da ist wirklich nicht zu erzählen, Leila.“ „Ich wusste, dass du einen Rückzieher machst bei uns allen hier, die zuhören“, triumphierte Porter. Aber Colin sah mehr als das. 274
„Ich denke, wir wollen unseren Tee“, sagte er, während er heiß ist“, und er reichte Delilah die Tassen und beschäftigte sich damit, ihr bei dem Zucker und der Zitrone zu helfen und die kleinen Kuchenstücke zu reichen, und die ganze Zeit redete er auf seine angenehme, halb zynische, halb ernste Art, bis ihre Gedanken zu anderen Dingen getragen wurden. Als sie endlich fort waren, kam er schnell zurück zu ihr. „Was war es?“, fragte er. „Was sahen Sie in der Kugel?“ Sie zitterte. „Es war Barry. Oh, Colin, ich glaube nicht wirklich daran vielleicht war es nur meine Einbildung, weil ich mir über Leila Sorgen mache, aber ich sah Barry, wie er mich mit einem so weißen merkwürdigen Gesicht aus der Dunkelheit ansah.“
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Kapitel XXI In dem eine kleine Dame in Schwarz nach Washington kommt, um die Vereidigung eines Gentleman und Gelehrten zu bezeugen
E
s war im Februar, dass Roger etwas formell schrieb, um zu fragen, ob seine Cousine Patty ein Zimmer in Marys großem Haus während der bevorstehenden Amtseinführung haben
könnte.
„Sie ist höchst glücklich über den demokratischen Sieg, aber trotz ihrer fortschrittlichen Ideen ist sie ein schüchternes kleines Ding und sie hat keine Kenntnis von Großstädten. Ich fühle, dass viele Schwierigkeiten vermieden würden, wenn Sie sie aufnehmen könnten. Ich will auch, dass Sie sie kennenlernen. Ich hatte zuerst gedacht, dass ich vielleicht mit ihr komme. Aber ich denke nicht. Ich werde hier gebraucht.“ Er sagte nicht, warum er gebraucht wurde. Er sagte wenig von sich und seiner Arbeit. Und Mary wunderte sich. Hatte seine Begeisterung nachgelassen? Wurde er trotzdem durch Impuls zum Wanken gebracht, leicht entmutigt? Hatte Porter recht und war Rogers Versagen im Leben nicht infolge äußerer Mächte, sondern durch Schwäche in ihm selbst? Sie schrieb ihm, dass sie froh wäre, Cousine Patty bei sich zu haben, und es war am ersten März, dass Cousine Patty kam. Einmal in vier Jahren nimmt die Hauptstadt ein höchstes Feiertagsaussehen an. In anderen Jahren gibt es vielleicht Paraden, in anderen Jahren gibt es vielleicht Festzüge ‐ es ist tatsächlich eine 276
Alltagsangelegenheit, die Avenue rauf und runter ist der Taktschlag von Musik und das Trampeln von vielen Füßen zu hören. Es gibt Beerdigungen großer Männer mit Kanonenwägen, die mit der Flagge drapiert sind, und mit der Marine‐Kapelle, die den „Todesmarsch“ spielt. Es gibt fröhliche Reiteraufzüge, die von Fort Myer hereinstürmen, um eine Berühmtheit zu eskortieren; es gibt bemitleidenswerte Reihen von Schwarzen, prachtvoll mit der Flagge einer gewissen Gesellschaft, die ihren toten Mitgliedern den Tribut einer Auffälligkeit gibt, die sie nie im Leben gekannt haben. Es gibt Zirkusparaden und Wahlparaden, Minstrelparaden und Paraden der Jungen von den Highschools ‐ die ganze Zurschaustellung des Militärs und bunten Gemisches, durch die Männer ihre Bedeutung und Waren anzeigen. Aber die Amtseinführung ist ein großes und großartiges Bestreben. Alle Arbeit hört dafür auf; der ganze Verkehr bleibt dafür stehen; alle Polizisten in der Stadt patrouillieren sie; die Hälfte der Kriminal‐ beamten im Land wird eingeführt, um sie zu beschützen. Alle möglichen Leute sehen sie von den Zuschauertribünen im Wohnviertel; alle von der Unterwelt starren darauf von der Südseite der Straße in der Innenstadt. Vollgestopfte Züge bringen die Leute. Und die Leute werden in Hotels und Pensionen und in Häuser gedrängt, wo Türschwellen zu keiner anderen Zeit von zahlenden Gästen übertreten werden. Zu der Amtseinführung von 1913 wurde noch ein interessantes Element hinzugefügt ‐ die Parade der Frauen an dem Tag, der dem Präsidentenwechsel voranging. Von jetzt an wurden das Rot und Weiß und Blau der früheren Dekorationen belebt durch das Gelb und Weiß und Purpurrot der Wahlfarben. 277
Cousine Patty trug einen kleinen gelben Bandknoten, als Porter sie am Bahnhof abholte. Porter war nicht geneigt, eine Cousine von Roger Poole mit offenen Armen willkommen zu heißen. Aber er kannte seine Pflicht Mary gegenüber. Er hatte seinen Wagen angeboten und hatte darauf bestanden, dass Mary Gebrauch davon machen sollte. „Um Himmels willen, mach mich nicht ausgesprochen elend, indem du ablehnst, mich etwas für dich tun zu lassen, Mary“, hatte er gesagt, als sie protestiert hatte. „Es ist das einzige Vergnügen, das ich habe.“ Cousine Patty, trotz Porters vorgefasster Vorurteile, machte sofort einen Platz für sich. Sie gab ihm ihre kleine Tasche und mit einem Seufzer einer so unendlichen Erleichterung, ihre Augen wie die eines vertrauensvollen Kindes, dass er lachte und sich zu ihr hinunterbeugte. „Mary Ballard ist draußen in meinem Wagen. Ich wollte nicht, dass sie in diese Menge geht.“ Cousine Patty schauderte. „Menge! Ich habe nie so etwas wie ‐ die Leute gesehen. Ich wusste nicht, dass es so viele auf der Welt gibt. Sie sehen, ich bin nie weit weg von zu Hause gewesen. Und sie strömten ständig von allen Bahnhöfen ein und als ich hier ankam und auf den Stufen des Pullman stand und die Massen in alle Richtungen strömen sah, fühlte ich mich matt ‐ aber der Schaffner zeigte den Weg an, den ich gehen musste, und dann sah ich Sie ‐ hübscher Kopf.“ Sie sagte es so aufrichtig, dass Porter lachte. „Miss Carew“, sagte er, „ich glaube, Sie meinen es.“ 278
„Meinen was?“ „Dass er ein hübscher Kopf ist.“ „Ist er.“ Die dunklen Augen leuchteten. „Sie waren so groß, dass ich Sie über den Leuten sehen konnte, und Roger hatte beschrieben, wie Sie aussehen würden. Mary Ballard hatte gesagt, dass Sie sicher hier sind, um mich abzuholen, und jetzt ‐ oh, bin ich wirklich in Washington!“ Wenn sie gesagt hätte: „Ich bin wirklich im Paradies“, hätte es nicht mehr höchste Glückseligkeit ausdrücken können. „Ich erwartete nie, hier zu sein“, fuhr Cousine Patty fort zu erklären, als sie die Bahnhofshalle durchquerten, und Porter führte sie durch die Menge. „Ich erwartete es nie. Und nun hat Rogers schöne Mary Ballard versprochen, mir alles zu zeigen.“ Rogers schöne Mary Ballard, in der Tat! „Miss Ballard“, sagte er steif, „nimmt sich eine Woche von ihrer Arbeit frei. Und sie wird sie der Besichtigungstour mit Ihnen widmen.“ „Ja, Roger sagte es mir. Ist das Mary, die aus diesem großen Wagen lächelt? Oh, Mary Ballard, ich wusste, dass Sie genauso sind.“ Also, niemand konnte Cousine Patty widerstehen. Da war das gewisse Etwas in ihrer reizenden Stimme, in ihrer lebhaften Persönlichkeit, die sie von anderen wohlerzogenen Frauen mittleren Alters von ihrem Typ hervorhob. Porter machte einen weiten Bogen, um das Kapitol und die Bibliothek von oben bis unten zu betrachten; dann flog er die Avenue 279
hinauf, die nun von Tribünen entstellt war, von denen die Leute die Parade ansahen. Aber Cousine Pattys Augen gingen hinter die Tribüne zu der hohen geraden Säule des Monuments in der Ferne, und als sie am Weißen Haus vorbeifuhren, setzte sie sich einfach zurück auf ihrem Platz und seufzte. „Zu denken, dass nach all diesen Jahren dort ein Gentleman und Gelehrter lebt.“ „Dort sind andere Gelehrte ‐ und Gentlemen gewesen“, erinnerte sie Mary. „Natürlich, meine Liebe. Aber das ist anders. Sie sehen, in unserem Teil des Landes ist ein Republikaner einfach ein ‐ Republikaner. Und ein Demokrat ist ein ‐ Gentleman.“ Marys Augen tanzten. „Cousine Patty“, sagte sie, „darf ich Sie Cousine Patty nennen? Was werden Sie tun, wenn Frauen wählen? Werden die Frauen, die Republikaner sind, Damen sein?“ „Oh, jetzt lachen Sie über mich“, sagte Cousine Patty hilflos. Mary gab Cousine Patty die Suite neben Tante Isabelle, und die beiden liebenswürdigen Damen lächelten und küssten sich nach der Weise ihrer Zeit und wurden sofort Freundinnen. Als Cousine Patty ihre Tasche ausgepackt hatte und alle ihre netten kleinen Habseligkeiten weggelegt hatte, trippelte sie über die Türschwelle zwischen den beiden Zimmern, um mit Tante Isabelle zu reden. 280
„Mary sagte, dass wir heute Abend mit Mr. Bigelow ins Theater gehen sollten. Sie müssen mir bitte sagen, was ich anziehen soll. Sie verstehen, ich bin so lange von der Welt weg gewesen.“ „Aber Sie sind mehr davon als ich“, erinnerte sie Tante Isabelle. Cousine Patty in ihrem hübschen Morgenrock setzte sich bequem in einen Schaukelstuhl, um es zu besprechen. „Was meinen Sie?“ „Mary hat mir erzählt, wie weit Ihre Gedanken mir vorausgeflogen sind. Sie nehmen alle neuen Fragen auf und Sie sind eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Ich habe sie beneidet, seit ich über die Hochzeitstorte hörte.“ „Es ist ein gutes Geschäft“, sagte Cousine Patty, „und ich kann es zu Hause tun. Ich hätte nicht hinaus in die Welt gehen können, um meinen Kampf um den Lebensunterhalt zu machen. Ich kann Männern theoretisch trotzen, aber ich bin wirklich südstaatlerisch und feminin ‐ wenn Sie wissen, was ich meine“, lachte sie glücklich. „Natürlich lasse ich es sie nie wissen, nicht einmal Roger.“ Und nun kam Mary herein, liebreizend in ihrem weißen kleinen Abendkleid. „Oh“, klage sie sie an, „ihr seid nicht fertig.“ Cousine Patty stand auf. „Ich wollte wissen, was ich anziehen soll, und wir haben eine Stunde geredet und haben kein Wort darüber gesagt.“ „Bemühen Sie sich nicht“, sagte Mary; „es werden nur vier von uns sein.“ 281
„Aber ich will mich bemühen. Roger half mir, meine Sachen zu planen. Er erinnerte sich an jedes einzelne Kleid, das Sie trugen, während er hier war.“ „Wirklich?“ Der Blick, den Roger geliebt hatte, kroch in Marys klare Augen. „Wirklich, Cousine Patty?“ „Ja. Er zeichnete eine Skizze ihres Samtumhangs mit dem Pelz, und ich machte meinen wie ihn, nur tat ich Rüschen anstelle des Pelzes dran.“ Sie stapfte in ihr Zimmer und brachte ihn zurück zu Marys Begutachtung. „Ist er in Ordnung?“, fragte sie bange, als sie ihn überstreifte und ihren Hals vor Tante Isabelles langem Spiegel reckte, um den Schwung der Falten zu sehen. „Er ist perfekt, und zu denken, dass er sich erinnern sollte.“ Cousine Patty warf ihr einen schnellen Blick zu. „Das ist nicht alles, woran er sich erinnert“, sagte sie kurz und bündig. Es entwickelte sich, als sie hinunter zum Abendessen gingen, dass Roger eine Schachtel Blumen für sie bestellt hatte ‐ violette Veilchen für Tante Isabelle und Cousine Patty, weiße Veilchen für Mary. „Wie hübsch“, sagte Mary und beugte sich über die Schachtel mit dem lieblichen Duft. „Ich bin vollkommen sicher, dass mir niemand zuvor weiße Veilchen schickte.“ Es gab andere Blumen ‐ Orchideen von Porter. „Und jetzt ‐ welche werden Sie tragen?“, fragte Cousine Patty munter, eine Unterströmung der Beklemmung in ihrem Ton.
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Mary trug die Veilchen und Porter schaute während des Theaterstücks finster drein. „Also, meine Orchideen waren nicht gut genug“, sagte er, als sie neben ihm unterwegs zum Hotel saß, wo sie zu Abend essen sollten. „Sie waren hübsch, Porter.“ „Aber die gefielen die Veilchen besser? Wer schickte sie, Mary?“ „Frage nicht in diesem Ton?“ „Du willst es mir nicht sagen.“ „Es ist nicht das ‐ es ist deine Art.“ Sie brach ab, um flehentlich zu sagen: „Streiten wir nicht darüber. Lass mich für heute Abend vergessen, dass es Zwietracht auf der Welt gibt ‐ Arbeit ‐ Sorge. Lass mich Contrary Mary sein ‐ glücklich, sorgenfrei, bis alles wieder am Morgen beginnt.“ Sehr leise sagte sie es und es waren Tränen in ihrer Stimme. Er blickte erstaunt auf sie hinunter. „Ist das die Art, wie das Leben für dich aussieht ‐ du armes kleines Ding?“ „Ja, und wenn du verstimmt bist, machst du es schwerer.“ So setzte sie ihn in der Art der Frauen ins Unrecht und die Frage Veilchen gegen Orchidee wurde ad acta gelegt. In Kürze bestellte Porter in dem großen roten Speisesaal Dinge für Cousine Pattys Genuss, von denen sie nie gehört hatte. Ihr Vergnügen über die Neuheit von allem war erfrischend. Sie kostete und aß und blickte sich so offen wie ein glückliches Kind um, doch niemals verlor 283
sie ihre Miene der aufrichtigen Würde, die sie von dem glühenden, protzigen Typ der Weiblichkeit abhob, der im Überfluss an solchen Orten vorhanden ist. Das große Schauspiel der überfüllten Räume machte einen tiefen Eindruck auf Cousine Patty. Für sie war das keine Ansammlung von Leuten, die zu viel aßen und zu viel tranken und die der Nacht die Stunden nahmen, die dem Schlaf gegeben werden sollten. Für sie war es ‐ Märchenland; alle Frauen waren hübsch, alle Männer waren Berühmtheiten ‐ und das Gold der Lichter, das Rosarote der Azaleen, die überall in Töpfen waren, das Murmeln von Stimmen, die süße Beharrlichkeit der Musik auf dem Balkon, das Lachen überall ‐ das waren magische Dinge, die jeden Augenblick verschwinden und sie zwischen den Schachteln von Hochzeitstorten lassen könnten, nachdem die Uhr zwölf schlug. Aber es verschwand nicht und sie fuhr glücklich und zu müde, um zu reden, nach Hause. Beim Frühstück am nächsten Morgen verkündete Mary ihr Programm für den Tag. „Delilah hat angerufen, dass sie will, dass wir mit ihr im Kapitol zu Mittag essen. Ihr Vater ist im Kongress, Cousine Patty, und sie werden uns alles zeigen, was sehenswert ist. Dann machen wir eine Fahrt und haben irgendwo Tee und der General und Leila haben uns zum Abendessen eingeladen. Werden Sie zu müde sein?“ „Müde?“ Cousine Pattys Lachen trillerte wie das Lied eines Vogels. „Ich fühle, als ob ich beflügelt wäre.“ 284
Cousine Patty stapfte die Stufen des historischen Kapitols mit Ehrfurcht hinauf. Für sie waren diese Hallen der Gesetzgebung zum Gedenken an Henry Clay und Daniel Webster heilig. Jeder Kongressabgeordnete war eine Persönlichkeit ‐ und so mancher einfache Mann, zerrissen zwischen seinem Wunsch, dem Wähler zu dienen, und seiner Notwendigkeit, die großen Interessen seines Staates zu besänftigen, wäre durch den Glauben dieser kleinen Südstaaten‐Dame in seine Integrität berührt. „Ein Mann könnte hier nicht durchgehen, bei den Statuen großer Männer, die ihn konfrontieren, und den Bildern anderer großer Männer, die auf ihn herabblicken, und den Schatten jener, die vor ihm gegangen sind, die die Schatten jagen und von den Galerien flüstern, ohne zu fühlen, dass er von ihrem Einfluss hochgehoben wurde“, flüsterte sie Mary zu, als sie von der Mitgliedsgalerie hinunter auf die interesselosen Gentlemen blickte, die sich auf ihren Sitzen rekelten und mit leeren Gesichtern einem von ihrer Zahl zuhörten, der gegen die Zeit sprach. Colin Quale, der mit ihnen aß, war von ihr entzückt. „Sie ist ein Beispiel von dem, was ich versucht habe, Ihnen zu zeigen“, sagte er zu Delilah. „Sie ist so wohlerzogen, dass es ihr absolut an Befangenheit mangelt, und sie ist so aufgeschlossen, dass man ihre Gedanken nicht mit Skandalen dieser ungehörigen Welt schmutzig machen kann. Sie ist der Typ, würdig Ihrer Studie.“ „Colin“, fragte Delilah mit einem komischen leichten Lächeln, „ist das eine ‚zurück zur Oma‘ Bewegung, die Sie für mich planen?“
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Der blasse kleine Mann klimperte mit seinen blonden Wimpern, aber sein Gesicht war ernst. „Nein“, sagte er, „aber ich will, dass Sie auf dem Laufenden bleiben. Es wird eine Reaktion von dieser Herrschaft des Bizarren geben. Wir sind lang genug zu Harems und Odalisken für unseren Stil und unsere Weisen gegangen, und bald werden wir das Blühen der altmodischen Schönheit sehen.“ „Und denken Sie, dass die alten Weisen und die Moral kommen wird?“ Er zuckte die Achseln. „Wer weiß? Wir können es nur hoffen.“ Es war zu Colin, dass Cousine Patty vertraulich von ihrer Bewunderung Delilahs sprach. „Sie ist schön“, sagte sie. „Mary sagt, dass Sie ihre Kleider entwerfen. Ich dachte nie, dass ein Mann solche Dinge tun könnte, bis Roger ein solches Interesse nahm.“ „Männer von heute nehmen ein Interesse daran“, sagte Colin. „Frauenbekleidung ist ein Kunstzweig. Er ist eine der besten Kräfte, die eines Mannes wert sind, weil es der Schönheit der Welt hinzufügt.“ „Das ist der komische Teil davon“, wagte Cousine Patty zu sagen; „Frauen nehmen Männerarbeit auf und Männer nehmen Frauenarbeit auf ‐ es ist alles auf den Kopf gestellt.“ Der kleine Künstler überlegte. „Vielleicht werden sie einander am Ende besser verstehen.“ „Denken Sie, dass sie es werden?“
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„Ja. Die Frau, die die Arbeit eines Mannes macht, lernt zu wissen, was Kämpfen bedeutet. Der Mann, der eine Studie der weiblichen Dinge macht, beginnt auf das zurückzusehen, was bloße Frivolität und Liebe der Bewunderung schien, ein Wunsch nach Harmonie und Schönheit und Selbstausdruck. Eines Tages werden Frauen zurück zur Einfachheit und zu dem Heim kommen, weil sie von Männern Dinge gelernt und den Männern Dinge beigebracht haben werden, und durch gegenseitiges Verständnis wird jeder das Beste wählen. Cousine Patty wurde durch den Gedanken inspiriert. „Ich hörte nie jemanden zuvor, es so auszudrücken.“ „Vielleicht nicht ‐ aber ich habe viel von der Welt gesehen ‐ und von den Männern ‐ und von den Frauen.“ „Doch alle Frauen sind nicht gleich.“ „Nein.“ Seine Augen fegten über den Tisch. „Sie drei ‐ Miss Ballard, Miss Jeliffe ‐ wie weit auseinander ‐ doch Sie sind alle Frauen ‐ alle, darf ich sagen, erweckte Frauen ‐ die sich weigern, dem geraden und schmalen Pfad des alten Ideals zu folgen. Ist es nicht so?“ „Ja. Ich bin im Geschäft ‐ keine unserer Frauen ist je im Geschäft gewesen. Mary will für ein Zuhause nicht heiraten ‐ doch alle ihrer Frauen haben bewusst oder unbewusst für ein Zuhause geheiratet. Und Miss Jeliffe kenne ich nicht gut genug, um zu urteilen. Aber ich denke, sie wird für sich den Weg bahnen.“ Seine Augen ruhten auf Delilah. „Sie hat einen Weg gebahnt“, sagte er langsam; „sie ist eine äußerst bemerkenswerte Frau.“ Delilah, die aufblickte, fing seinen Blick auf und lächelte. 287
„Sind sie ineinander verliebt?“, fragte Cousine Patty Mary an diesem Abend. Mary lachte. „Delilah ist ein Irrlicht; wer weiß?“ Mit ihren vollen Tagen gab es wenig Zeit für Vertrautheit oder vertrauliche Gespräche zwischen Mary und Cousine Patty. Und da Mary keine Fragen über Roger stellte und da Cousine Patty gewisse Zurückhaltungen in seiner Richtung zu haben schien, waren es nur magere Informationen, die herauströpfelten; und damit war Mary gezwungen, zufrieden zu sein. Grace marschierte in der Wahlparade und sie applaudierten ihr von ihren Sitzen auf der Finanzministeriumstribüne zu. Tante Frances, die bei ihnen saß, war mit Empörung erfüllt. „Zu denken, dass meine Tochter ‐“ Cousine Patty warf den Fehdehandschuh hin: „Warum nicht Ihre Tochter, Mrs. Clendenning?“ „Weil die Frauen unserer Familie immer anders gewesen sind.“ „Auch die Frauen meiner Familie“, sagte sie ruhig, „aber das ist kein Grund, warum wir erwarten sollten, still zu stehen. Keine der Frauen meiner Familie machte Hochzeitstorten für den Lebensunterhalt. Aber das ist kein Grund, warum ich verhungern sollte, nicht wahr?“ Tante Frances wich dem Argument aus. „Aber marschieren ‐ auf der Straße.“ „Das ist ihre Art, sich auszudrücken. Männer marschieren ‐ und sind von Anfang an marschiert. Manchmal bedeutet ihr Marschieren nichts 288
und manchmal schon. Und ich bin geneigt“, sagte Cousine Patty mit einem nachdrücklichen Nicken ihres Kopfes, „zu denken, dass dieses Marschieren eine große Menge bedeutet.“ Immer weiter kamen sie, diese Frauen, die für eine Sache marschierten, Kopf erhoben, Augen glänzend. Es hatte etwas auf der anderen Seite der Linie zu tragen gegeben, wo die Menge sich zu ihnen gedrängt hatte, und dort hatte es keinen ausreichenden Polizeischutz gegeben, aber sie waren zum Martyrium bereit, falls notwendig, würden es vielleicht einige von ihnen willkommen heißen. Aber Grace war keine Fanatikerin. Sie traf sie hinterher und erzählte freudig von ihrer Erfahrung. „Du hättest bei mir sein müssen, Mary“, sagte sie. Porter erhob sich in seinem Zorn. „Was hat euch Frauen verhext?“, fragte er. „Glaubt ihr alle daran?“ Und nun machte Leila den Mund auf: „Ich will nicht marschieren. Ich will nicht die Dinge tun, die Männer tun. Ich will ein nettes kleines Haus haben und kochen und nähen und mich um jemanden kümmern. Sie alle lachten. Aber Porter betrachtete Leila zufrieden. „Barry ist ein glücklicher Kerl“, sagte er. „Oh, Porter“, tadelte ihn Mary, als er ihr von dem hohen Sitzplatz auf der Tribüne herunter half. „Also, er ist es. Leila könnte ihr nettes kleines Haus nicht besser als du führen, Mary. Aber die Sache ist, dass sie es für Barry führen will. 289
Und du ‐ du willst auf der Straße marschieren ‐ und über die Liebe lachen.“ Sie betrachtete ihn kalt. „Das zeigt nur, wie sehr du mich verstehst“, sagte sie und wandte ihm ihren Rücken zu und nahm eine Einladung an, im Wagen der Jeliffes nach Hause zu fahren. Am Tag der Amtseinführung hatte dieselbe Gruppe auf der Tribüne gegenüber der einen vor dem Weißen Haus, von der der Präsident die Truppen inspizierte, gesetzt. Und es war der Präsident, auf den Cousine Patty ihre Aufmerksamkeit richtete. Sicher klopften ihre kleinen Füße im Takt zur Musik und sie errötete und glühte, als die Soldaten vorbeifegten und die Pferde tanzten und die Leute jubelten. Aber über allen Dingen hinaus war der Anblick des Mannes, der in ihren Augen die Wiedererrichtung des Südens darstellte ‐ der Mann, der ihn zurück zu dem alten Stand in den Angelegenheiten der Nationen bringen sollte. „Ich hätte mir nicht“, betonte sie, als sie an diesem Abend mit Mary darüber sprach, „etwas so Befriedigenderes als sein Lächeln vorstellen können. Ich werde immer an ihn denken, wie er auf diese ruhige Weise die Leute angelächelt hatte.“ Die beiden Frauen waren in Cousine Pattys Zimmer. Sie waren zu aufgeregt, um zu schlafen, denn die Ereignisse des Tages waren anregend gewesen. Cousine Patty hatte vorgeschlagen, dass Mary in etwas Bequemes schlüpfen und zurückkommen und sich unterhalten sollte. Und Mary war in einem fließenden blauen Kleid mit ihrem blonden Haar in glänzenden Zöpfen gekommen. Sie waren zum ersten Mal seit Cousine Pattys Ankunft alleine zusammen. Es war ein 290
Augenblick, auf den Mary begierig gewartet hatte, doch jetzt, da er zu ihr gekommen war, wusste sie kaum, wo sie beginnen sollte. Aber als sie sprach, war es mit einem impulsiven Ausstrecken ihrer Hände zu der älteren Frau. „Cousine Patty, erzählen Sie mir über Roger Poole.‘“ Cousine Patty zögerte, dann stellte sie eine Frage fast scharf: „Meine Liebe, warum vernachlässigten Sie ihn?“ Die Farbe strömte in Marys Gesicht. „Ihn vernachlässigen?“, stockte sie. „Ja. Als er das erste Mal zu mir kam, waren da Ihre Briefe. Er las Stücke davon laut vor und ich konnte Inspiration für ihn darin sehen. Dann hörte er auf, sie mir vorzulesen und sie schienen Schwere mit sich zu bringen ‐ ich kann Ihnen nicht sagen, wie unglücklich er war, bis er begann, dass seine Arbeit sein Leben erfüllte. Macht es Ihnen etwas aus, mir zu sagen, was die Veränderung in Ihnen veranlasste, meine Liebe?“ Mary starrte ins Feuer, das Blut noch immer in ihrem Gesicht. „Cousine Patty, kannten Sie seine Frau?“ „Ja. Ist es wegen ihr, Mary?“ „Ja. Nachdem Roger fortging, sah ich ihr Bild. Colin hatte es gemalt. Und, Cousine Patty, es schien das Gesicht einer solchen ‐ Heiligen.“ „Doch Roger erzählte Ihnen seine Geschichte?“ „Ja.“ 291
„Und Sie glaubten ihm nicht?“ „Oh, ich weiß nicht, was ich glauben soll.“ „Ich verstehe“, aber Cousine Pattys Art war zurückhaltend. Mary glitt hinunter zu dem Hocker zu Cousine Pattys Füßen und brachte ihre klaren Augen in die Höhe der der kleinen Dame. „Liebe Cousine Patty“, flehte sie, „wenn Sie nur wüssten, wie ich Roger Poole glauben will.“ Cousine Patty schmolz. „Meine Liebe“, sagte sie entschieden. „Ich werde Ihnen alles erzählen.“ Und nun sprach Frauenherz zu Frauenherz. „Ich besuchte sie in dem ersten Jahr ihrer Ehe. Ich wollte seine Frau lieben, und zuerst erschien sie reizend. Aber ich war keine Woche dort, bevor ich mich über sie wunderte. Sie war aus anderem Holz als Roger gemacht. In der Vertrautheit dieses Heims entdeckte ich, dass sie keine ‐ Dame ‐ war, nicht in unserem netten altmodischen Sinn des Benehmens und der guten Moral. Sie sagte Dinge, die Sie und ich nicht sagen könnten, und sie tat Dinge. Ich fühlte die Katastrophe in der Luft, lange, bevor sie kam. Aber ich konnte Roger nicht warnen. Ich musste es ihn einfach herausfinden lassen. Ich war nicht dort, als der Schlag fiel; aber ich werde Ihnen dies sagen, dass Roger vielleicht ein quichottischer Idiot in den Augen der Welt gewesen ist, aber wenn er versagt hatte, war es, weil er ein Träumer und ein Idealist war, kein Feigling und Drückeberger.“ Ihre Augen funkelten. „Oh, wenn Sie hören könnten, was die Leute von ihm sagten, Mary.“ Mary konnte sich vorstellen, was sie gesagt hatten. 292
„Oh, Cousine Patty, Cousine Patty“, rief sie. „Denken Sie, dass er mir je vergeben wird? Ich habe solche Leute zu mir reden lassen, und ich habe zugehört!“
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Kapitel XXII In dem der Garten zu blühen beginnt und in dem Roger träumt
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ärz, der dem Norden scharfe Winde und graue Tage bringt, bringt dem Sandhügelland seine Jahreszeit der größten Schönheit.
Direkt hinauf von der nicht viel versprechenden Erde entspringt das Grün ‐ die Föhren knospen und blühen, überall gibt es das zarte Flechtwerk des blassen Laubs, da ist das Weiß des Hartriegels, das Rosarot der Pfirsich‐ und Apfelblüten und wieder das Weiß der Kirschbäume und des Brautbusches. Es gibt amethystfarbene Anblicke und smaragdgrüne Anblicke und Anblicke von Rosen und Safran ‐ die Kardinalvögel brennen mit einer roten Flamme in den Magnolien, die Spottdrosseln singen im Mondlicht. Es war durch die erwachende Welt, dass Roger an einem Sonntag fuhr, um seinen Leuten zu predigen. Er nannte es nicht Predigen. Bis jetzt gab ihm seine Demut keinen bedeutenden Namen. Er ging einfach in die Sandhügel und redete zu denen, die begierig zuhörte. Beginnend mit dem Jungen fand er, dass diese durstige Seelen an jeder Quelle tranken. Die Jungen hörten atemlos seinen Geschichten der Ritterlichkeit zu, die Männer seinen Geschichten über das, was andere Männer geleistet hatten, die Frauen wurde mit Geschichten von dem erreicht, was ihre Kinder sein könnten, und die Kinder erhoben sich zu seinem Köder von Märchenbüchern und bunten Bildern. 294
Schrittweise war er über die Geschichten der Ritterlichkeit und den Leistungen der Männer hinausgegangen. Schrittweise hatte er sie hinaufgebracht. Andere Männer hatten ihnen gepredigt, aber ihre Predigt war nicht mit Lektionen des Lebens verbunden gewesen. Andere hatten „Bereuet“ gerufen, aber keiner von ihnen hatte auf Tatsache Nachdruck gelegt, dass Reue ein Beweis durch das Leben, das folgte, war. Aber Roger stand zwischen ihnen, sein junges Gesicht ernst, seine wundervolle Stimme überzeugend, und erzählte ihnen, was es bedeutete, gerettet zu werden. Indem er zuerst Hoffnung in ihre Herzen pflanzte, führte er sie zu dem Christ‐Ideal. Das beste Menschsein, sagte er, war gottgleich; man muss Reinheit, Energie, Bildung, Entwicklung haben. Diejenigen, die zuhörten, begannen zu sehen, dass es eine spirituelle, ebenso praktische Sache war, ihre Häuser in Ordnung zu bringen, zu pflanzen und das Land zu bestellen und die Erde ertragreich zu machen. Sie sahen in der Zukunft eine Gemeinschaft, die geordnet und gesetzestreu war, sie sahen ihre Kinder aus der Knechtschaft der Unwissenheit in die Freiheit des Wissens gebracht. Und sie sahen mehr als das ‐ sie sahen die Vision, zuerst schwach, aber mit stets zunehmender Klarheit. Es war eine wundervolle Aufgabe, die Roger vor sich gesetzt hatte, und er stürzte sich in die Arbeit mit flammender Energie. Er mietete einen Buggy und ein kleines dickes Pferd und verbrachte einige seiner Nächte unterwegs in den Häusern seiner Freunde entlang des Weges; andere Nächte ‐ und diese waren die, die ihm am besten gefielen ‐ schlief er unter den Föhren. Mit John Ballards alter Bibel unter seinem 295
Arm und seinem Gebetsbuch in seiner Tasche ging er jede Woche vorwärts und fand immer eine Versammlung, die bereit war und wartete. Über die Strecken dieses unfruchtbaren Landes kamen sie, um ihn zu hören, fuhren in ihren Schonerwägen zu dem Hafen der Hoffnung, die er ihnen brachte. Als er von seiner Kanzel gepredigt hatte, hatte er zu Männern und Frauen von Kultur gepredigt, und er hatte viel von seiner Zeit verbracht, einer Phrase Schliff zu verleihen oder einen Satz abzurunden. Aber nun verbrachte er seine Zeit mit der Suche nach klaren Worten, die seine Botschaft tragen würden. Denn Mary hatte gesagt, dass jeder Mann, der predigte, eine Botschaft haben muss. Mary! Wie weit war sie vor ihm zurückgewichen. Wenn er jetzt an sie dachte, war es mit einem Gefühl des überwältigenden Verlustes. Sie hatte es gewählt, sich von ihm zurückzuziehen. In jedem Brief hatte er Zeichen davon gesehen ‐ und er konnte nicht protestieren. Kein Mann in seiner Position konnte zu einer Frau sagen: „Ich werde dich nicht gehen lassen.“ Er hatte ihr nichts zu bieten, außer sein Leben in den Föhren, ein Leben, das einer solchen Frau nicht viel bedeuten konnte. Aber es bedeute ihm selbst viel. Nach und nach hatte er zu sehen begonnen, dass die Liebe allein niemals zu ihm gebracht werden konnte, die seine Arbeit brachte. Er hatte ein Gefühl der Freiheit, wie einer haben muss, dessen Fesseln abgestreift worden waren. Er begann jetzt zu wissen, was Mary gemeint hatte, als sie gesagt hatte: 296
„Ich fühle, als ob ich durch die Welt auf starken Schwingen flöge.“ Er fühlte auch, als ob er flöge, und da seine Schwingen ihn immer höher trugen, jenseits aller Höhen, zu denen er bis jetzt hochgestiegen war. Er schlief in dieser Nacht in einem der seltenen alten Föhrenhaine. Er machte ein Sofa aus den braunen Nadeln und warf eine Decke darüber. Die Luft war weich und schwer vom Harzduft. Als er dort in der Stille lag, erstreckten sich die Föhren über ihm wie ein Bogen einer großen Kathedrale. Sein Text kam zu ihm: „Komm du Südwind und wehe auf meinen Garten.“ Es war ein einfaches Volk, zu dem er am folgenden Tag reden würde, aber diese Dinge konnten sie verstehen ‐ die Winde des Himmels und die Sterne und die kleinen Füchse, die die Trauben verderben konnten. Als er aufwachte, sang eine Spottdrossel. Er war besessen von seiner Predigt, hochgehoben, schlafen gegangen. Er erwachte mit einem Gefühl der Einsamkeit ‐ einer großen Sehnsucht nach menschlicher Hilfe und Verständnis ‐ eine Sehnsucht, noch einmal in Mary Ballards klare Augen zu blicken und Kraft aus der Quelle zu ziehen, die ihn einst inspiriert hatten. John Ballards Bibel lag auf der Decke neben ihm. Er öffnete sie und die Blätter fielen auseinander, wo eine Rose einst gepresst worden war. Die Rose war jetzt tot und war sorgfältig weggelegt worden, damit sie nicht verloren ginge. Aber der Abdruck war noch da, wie die Erinnerung an Marys offene Freundlichkeit noch in seinem Sinn war. Es dauerte lange, bevor er das Buch schloss. Aber schließlich seufzte er und stand von seinem Sofa auf. Es war unausweichlich, dieses Auseinandertreiben. Das Schicksal würde für Mary eine glänzende 297
Zukunft halten. Was ihn angeht, er muss mit seiner Arbeit alleine weitermachen. Doch erkannte er sogar in diesem Augenblick der Selbstverleugnung, dass es eine wundervolle Sache war, dass er endlich alleine weitermachen konnte. Vor einem Jahr hatte er die ganze Kraft Marys gebraucht, ihn zu seiner Bemühung anzuspornen, ihren ganzen Glauben an ihn. Nun mit seinem Herzen, das noch immer nach ihr aufschrie, sie brauchte, konnte er noch immer alleine weitermachen! Er machte einen langen Atemzug und blickte hinauf durch die singenden Baumwipfel zu dem Stück Himmel oben. Er stand lange Zeit dort still und blickte hinauf in den leuchtenden Himmel. Um zehn Uhr, als er den Kreis der jungen Föhren betrat, war seine Versammlung bereit für ihn und saß auf den rauen Plätzen, die die Männer modelliert hatten, wobei ihre begierigen Gesichter ihn willkommen hießen, ihre Augen leuchteten. Die Kinder, die er unterrichtet hatte, führten in dem Gesang der einfachen alten Hymnen, und Roger las ein Gebet. Dann redete er. Er hielt nichts von der Poesie seines Themas zurück; und sie erhoben sich zu seiner Beredsamkeit. Und als Licht die Augen eines Mannes mit Tränen einer Frau zu füllen begann, wusste Roger, dass das Werk der Seele gut begonnen war. Hinterher ging er unter ihnen und wurde einer von ihnen in Freundlichkeit und Sympathie, aber unterschied und weihte sich der Weisheit, die ihn zu ihrem Führer machte. 298
Unter einer Gruppe von Männern sprach er von Politik. „Da ist der neue Präsident“, sagte er; „es ist eine große Woche in Washington gewesen. Seine Regierung sollte große Dinge für euch Leute hier unten bedeuten.“ So erweckte er ihr Interesse; so führte er sie dazu, Fragen zu stellen; so zog er sie in begierige Auseinandersetzungen; so weckte er ihren Verstand zu Aktivität; so erweckte er ihre trägen Seelen. Aber er fand sein heftigstes Entzücken in den Gärten der Kinder. Es waren jetzt so hübsche kleine Gärten ‐ mit Veilchen, die an ihren Grenzen blühten, mit Narzissen und Osterglocken und Hyazinthen. Jede Blüte sprach zu ihm von Mary. Nicht für einen Augenblick hatte sie ihr Interesse an den Gären der Kinder verloren, obwohl sie, schien es, aufgehört hatte, an seinen anderen Angelegenheiten Interesse zu haben. Bevor er ging, mussten die Kinder ihre Märchen haben. Aber heute Abend würde er ihnen nicht Cinderella oder Rotkäppchen erzählen. Der Tag schien etwas mehr als das zu verlangen, daher erzählte er ihnen die Geschichte der neunundneunzig und von dem Schaf, das verlorenging. Er machte viel aus der Geschichte von dem Schaf, indem er diesen Kindern zeigte, die wenig von Hirten und wenig von Bergen sie wussten, ein Bild, das sie atemlos machte. Denn vielleicht in der Vergangenheit hatten die Vorfahren dieser Sandhügelleute Schafe auf den Hügeln Schottlands gehütet. Dann sang er das Lied und so gut erzählte er die Geschichte und so gut sang er das Lied, das sie mit ihm über das Schaf, das gefunden 299
wurde, frohlockten ‐ denn er hatte es zu einem kleinen Lamm gemacht ‐ hilflos und blökend und das seine Mutter so sehr brauchte. Das Lied, auf den Schwingen des Windes getragen, erreichte die Ohren eines Mannes mit einem abgezehrten Gesicht, der in den Schatten der Föhren latschte. Später sprach er mit Roger Poole. „Ich vermute, ich bin dieses verlorene Schaf“, sagte er nüchtern, „und niemand geht hinaus, um mich zu finden.“ „Finden Sie sich selbst“, sagte Roger. Der Mann starrte. „Finden Sie sich selbst“, sagte Roger; „schauen Sie diese kleinen Gärten dort drüben an, die die Kinder gemacht haben. Können Sie ihnen gleichkommen?“ „Ich denke, ich habe etwas anderes zu tun, außer Gärten zu machen“, sagte der Mann schleppend. „Was haben Sie zu tun, das besser ist?“, fragte Roger. Der Mann zögerte und Roger bestand auf seine Meinung. „Blumen für die Kinder ‐ Feldfrüchte für die Männer ‐ ich wette, Sie haben eine Menge Land und wissen nicht, was Sie damit tun sollen. Versuchen wir, die Dinge wachsen zu lassen.“ „Wir? Sie meinen, Sie und ich, Pfarrer?“
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„Ja. Und während wir pflanzen und säen, werden wir über den Zustand Ihrer Seele reden.“ Roger streckte seine Hand dem mageren und hageren Sünder entgegen. Und der magere und hagere Sünder nahm sie, wobei etwas begann, hinten in seinem Augen zu glühen. „Ich vermute, ich werde bei ihrem Plan der Erlösung nicht vorankommen“, bemerkte er schlau, „aber irgendwie habe ich ein Gefühl, dass ich durch diese Tage des Anbaus komme, ohne dass Sie etwas in mich pflanzen, das wachsen wird.“ So begegnete Roger Männern, Frauen und Kindern, indem er von seiner Einsamkeit zu ihren Bedürfnissen die Hand ausstreckte und viel gab und mehr erhielt. Es war am Dienstagmorgen, dass er endlich zurück zu dem Haus kam, das wegen der Abwesenheit von Cousine Patty leer zu sein schien. Die kleine Dame war noch in Washington, von wo sie eilige Nachrichten geschrieben hatte, wobei sie mehr versprach, wenn der Ansturm vorüber war. Am Tor traf er den Landbriefträger, der ihm die Briefe gab. Da war einer obenauf von Mary Ballard. Roger riss ihn auf und las ihn, als er zu dem Haus ging. Er enthielt nur eine gekritzelte Zeile ‐ aber er ließ seinen Puls pochen.
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„LIEBER ROGER POOLE, ich will wieder befreundet sein. Solche Freunde, wie wir in den Turmzimmern waren. Ich weiß, dass ich es nicht verdiene ‐ aber ‐ bitte. MARY BALLARD.“ Es schien ihm, als er ihn zu Ende las, dass die Welt sang, nicht nur die Spottdrosseln in den Magnolien, sondern der ganze unvergleichliche Chor des Universums. Es schien eine erstaunliche Sache zu sein, dass sie ihm so geschrieben haben sollte. Er hatte sich so auf die Tatsache der wiederholten Enttäuschung, des wiederholten Versagens eingestellt, dass er es schwer zu glauben fand, dass solches Glück ihm gehören könnte. Doch hatte sie es geschrieben; dass sie seine Freundin sein wollte. Zuerst flogen seine Gedanken nicht über Freundschaft hinaus. Aber als er sich auf die Verandastufen setzte, um es zu überdenken, begann er zum ersten Mal, seit er sie kannte, von einem Leben zu träumen, in dem sie mehr für ihn als eine Freundin sein sollte. Und warum nicht? Warum sollte er nicht träumen? Mary war nicht wie andere Frauen. Sie blickte auf und über die kleinen Dinge hinaus. Könnte nicht ein Mann ihr das bieten, was feiner als Gold war, größer als materieller Erfolg? Könnte ihr nicht ein Mann ein Leben bieten, das mit Leben und Liebe zu tun hatte ‐ könnte er nicht mit ihr diese Gelegenheit teilen, um diesen Garten in den Sandhügeln blühen zu lassen? Und nun, während die Spottdrosseln verrückt sangen, sah Roger Poole Mary ‐ hier neben ihm auf der Veranda an einem solchen Morgen, mit dem Flieder, von dem parfümierte malvenfarbene und 302
weiße Federn wehten, mit den Vögeln die in Blau und Scharlachrot und Gold von Pinie zur Magnolie und von Magnolie zurück zur Pinie flitzten ‐ mit dem wolkenlosen Himmel, die Luft frisch und süß. Er sah sie, wie sie vielleicht mit ihm bequem zu den Sandhügeln in einem Schonerwagen fuhr, der für diesen Gebrauch gemacht wurde, ausgestattet mit gewissem Luxus an Polstern und Decken. Er sah sie mit sich in tiefen stillen Hainen, wobei sie endlich zu diesem Kreis von jungen Föhren kamen, wo er predigte, seinen Leuten begegnete, seine Arbeit mit seiner Liebenswürdigkeit ergänzte. Er sah ‐ oh, Traum der Träume ‐ er sah eine kleine weiße Kirche zwischen den Sandhügeln, eine kleine Kirche mit einer Glocke, eine solche Glocke, wie der Junge sie nicht gehört hatte, bevor Whittington sie alle für ihn läutete. Später vielleicht könnte es ein Pfarrhaus in der Nähe der Kirche geben, ein Pfarrhaus mit einem Garten ‐ und Mary in dem Garten. Daher saß er müde nach seiner Reise mit nicht sehenden Augen, brauchte Ruhe, brauchte Essen, doch fühlte er keine Erschöpfung, da seine Seele über Zeit und Raum zu dem Ziel des Glücks sprang. Er wurde durch das Erscheinen von Tante Chloe, der Köchin, geweckt. „Ich habe gerade nach Ihnen gesucht, Mr. Roger“, sagte sie. „Ein Telegramm ist gestern gekommen, und ich habe nicht gewusst, was ich damit tun soll.“ Sie reichte es ihm und beobachtete ihn besorgt, als er es öffnete. Es war von Cousine Patty.
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„Mary hat traurige Nachrichten von Barry erhalten. Wir brauchen dich. Kannst du kommen?“
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Kapitel XXIII In dem Klein‐Hübsch‐Leila sich auf den Monat Mai freut und in dem Barry in eine Stadt mit engen Straßen fährt
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s war, als Klein‐Hübsch‐Leila gewisse Kleider für ihre Reise ins Ausland aussuchte, dass sie Delilah fast ihr Geheimnis verraten hätte.
„Ich will ein Gelbes“, hatte sie bemerkt, „mit einem Primelhut, wie ich ihn trug, als Barry und ich ‐“ Sie hielt inne und wurde heftig rot. „Als du und Barry was?“, fragte Delilah. Leila, die zu sagen begonnen hatte: „Als Barry und ich davonrannten, um zu heiraten“, stolperte über ein Ersatzwort: „Also, ich trug ein gelbes Kleid ‐ als ‐ als ‐“ „Nicht, als er einen Antrag machte, Schätzchen. Das war der Tag im Fort Myer. Ich wusste es in der Minute, als ich herauskam und dein Gesicht sah; und dann diese telefonische Nachricht über das Bild. Warst du wirklich eifersüchtig, als du es auf meinem Tisch fandest?“ „Schrecklich“, keuchte Leila noch einmal frei. Das Thema des Primelkleides war sicher ad acta gelegt. „Du hättest es nicht sein müssen. Die ganze Welt wusste, dass Barry dir gehörte.“ „Und er gehört jetzt mir“, lachte Leila; „und ich soll ihn sehen, im Mai.“ 305
In den Tagen, die folgten, war sie eine sehr beschäftigte kleine Leila. Auf jedem hübschen Kleid, das sie machte oder kaufte, stickte sie mit reiner Seide einen Primelkranz. Es war ihr eigenes kostbares Geheimnis, diese Annahme ihrer Brautfarbe. Andere Bräute mochten in Weiß heiraten, aber sie war anders gewesen ‐ ihr Kleid hatte die Farbe des großen goldenen Mondes gehabt, der ihren Weg erleuchtet hatte. Was für eine Hochzeitsreise es gewesen war ‐ und wie sie und Barry in den kommenden Jahren darüber lachen würden! Denn die Tragödie, die so schwer gewogen hatte, begann nun wie eine glückliche Komödie zu erscheinen. In ein paar Wochen würde sie Barry sehen, in ein paar Wochen würde die ganze Welt wissen, dass sie seine Frau war! So packte sie ihre wohlriechenden Schachteln ‐ so stickte und sang und träumte sie. Barry hatte geschrieben, dass er es „gut machte“, und dass, wenn sie kam, er es Gordon sagen würde. Und der General sollte weiter nach Deutschland fahren und er und Leila würden ihre Hochzeitsreise haben. „Du musst entscheiden, wohin wir fahren“, hatte er gesagt und Leila hatte fröhlich geplant. „Dad und ich fuhren einmal in Schottland mit dem Wagen und wir blieben in einer kleinen Stadt zum Tee stehen. Eine so seltsame kleine Geschichtenbuchstadt, Barry, mit komischen Häusern und mit den so engen Straßen, dass die Leute sich aus ihren Fenstern lehnten und über unsere Köpfe hinweg klatschten, und ich bin sicher, dass sich einander die Hände hätte schütteln können. Da war nicht einmal Platz 306
für unseren Wagen, um zu wenden, und wir mussten weiterfahren, bis wir zum Rand der Stadt kamen, und dort war das liebste Gasthaus. Wir hielten an und blieben diese Nacht ‐ und die Wäsche roch nach Lavendel und da war ein süßes Dickerchen von einer Wirtin und altmodische Blumen in einem gepflegten kleinen Garten ‐ und alle Hügel dahinter und ein See. Fahren wir dorthin, Barry; es wird schön sein.“ Sie planten auch, hinterher in London in möblierten Zimmern zu wohnen. Der Gedanke an möblierte Zimmer ließ Leila erschauern. Sie stöberte ihren dicken kleinen Band von Martin Chuzzlewit auf und weidete sich verzückt an Ruth Pinch und ihrer Beefsteak‐Pastete. Sie fügte zwei oder drei bezaubernde Schürzen dem Inhalt der wohlriechenden Schachteln hinzu. Sie kaufte sogar ein Kochbuch, und es war mit einem Seufzer, dass sie das Kochbuch weglegte, als Barry schrieb, dass in solchen Zimmern, wie er aussuchen würde, die Hauswirtin ihre Mahlzeiten im Wohnzimmer servieren würde. Und dieser Plan würde Leila mehr Zeit geben, um die Sehenswürdigkeiten von London zu sehen! Aber was kümmerte sich Klein‐Hübsch‐Leila darum, Sehenswürdigkeiten zu sehen? Jeder konnte Sehenswürdigkeiten sehen ‐ jedes trübselige und vertrocknete Fossil und jede griesgrämige und schlecht gelaunte alte Jungfer ‐ der Tower und Westminster Abbey waren für jene, die nichts Besseres zu tun hatten. Was sie betraf, war ihr Horizont gerade jetzt von Primelkränzen und wohlriechenden Schachteln eingeschränkt, und die Versprechungen, Barry im Mai zu sehen! 307
Aber das Schicksal, das seltsame Dinge für uns alle auf Lager hat, hatte dies für die kleine Leila auf Lager, dass sie Barry im Mai nicht sehen sollte, und der Grund, dass sie ihn nicht sehen sollte, war Jerry Tuckerman. Als Jerry Mary eines Tages früh im Februar auf der Straße traf, sagte er: „Ich werde diese Woche hinüber nach London fahren. Soll ich Barry von deine besten Wünsche übermitteln?“ Marys Augen waren seinen direkt begegnet. „Sei sicher, dass du deine besten übermittelst, Jerry“, hatte sie gesagt. Er lachte trotzig. „Barry ist in Ordnung ‐ aber du musst ihm ein wenig Freiheit geben, Mary.“ Als er sie verlassen hatte, war Mary langsam weitergegangen, ihr Herz füllte sich mit bösen Vorahnungen. Barry war nicht wie Jerry. Jerry, grobschlächtig, an Temperament mangelnd, würde wahrscheinlich sicher bis zum mittleren Alter kommen ‐ er würde nie gerufen werden, die Zeche zu bezahlen, so wie Barry es für das Tanzen zu der Melodie der Torheiten der Jugend würde. Sie schrieb Gordon und warnte ihn. „Halte Barry beschäftigt“, sagte sie. „Jerry sagte mir, dass er beabsichtigte, ‚die Zeit seines jungen Lebens zu haben‘ ‐ und er wird wollen, dass Barry sie teilt.“ Gordon lächelte über den Brief. „Arme Mary“, sagte er zu Constance; „sie hat Barry so lange auf ihren Schultern getragen und sie kann nicht erkennen, dass er endlich lernt, auf sich alleine gestellt zu sein.“
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Aber Constance lächelte nicht. „Wir konnten Jerry Tuckerman nie ertragen; er brachte Barry immer dazu, Dinge zu tun.“ „Niemand kann mich dazu bringen, Dinge zu tun, wenn ich sie nicht tun will“, sagte Gordon behaglich und selbstgefällig, „und Barry muss lernen, dass er nicht die Schuld auf irgendjemandes Schultern legen kann, außer auf seine.“ Constance seufzte. Sie teilte nicht ganz Gordons Sinn der Sicherheit. Barry war anders. Er war ein Lieber und versuchte es so hart; aber Jerry hatte immer Macht gehabt, ihn zum Wanken zu bringen, einen finsteren unerklärlichen Einfluss. Jerry, als er eintraf, hing mehrere Tage bei Barry herum, versuchte ihn wie der Bösewicht in dem Theaterstück. Aber Barry weigerte sich, versucht zu werden. Er war beschäftigt ‐ und er hatte gerade einen Brief von Leila bekommen. „Ich kann einfach nicht in der Stadt mit dir herumrennen, Tuckerman“, erklärte er. „Einen Job in einem Büro wie dieses zu haben, ist nicht wie ein Regierungsjob.“ „Also lassen sie dich schwer schuften?“ Jerry grinste, als er es sagte, und Barry wurde rot. „Es gefällt mir, Tuckerman, da ist etwas vorne und Gordon hat mich für eine Beförderung ausersehen.“ Aber was bedeutete eine Beförderung für Jerrys Millionen? Und Barry war gute Gesellschaft und auf jeden Fall ‐ oh, er konnte nicht sehen, dass Ballard es so gut machte.
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„Fahre mit mir nächste Woche nach Schottland“, beharrte er; „nimm dir eine Woche frei und ich werde eine fröhliche Partie aufgabeln. Es ist ein bisschen früh, aber wir werden in den großen Städten anhalten.“ Barry schüttelte seinen Kopf. „Leila und der General kommen im Mai herüber ‐ sie will diese Fahrt machen ‐ und auf jeden Fall kann ich nicht fort.“ „Oh gut, warte und mache deine nette kleine Fahrt mit Leila“, sagte Jerry gutmütig genug, „aber binde dich nicht zu früh an den Schürzenzipfel einer Frau. Ballard ‐ warte, bis du dich ausgetobt hast.“ Aber Barry wollte sich nicht austoben. Er träumte auch. An halben Feiertagen und Sonntagen jagte er in der Nachbarschaft herum, wo Zimmer zu mieten waren. Und als er eines Tages zufällig auf eine sonnige Suite stieß, wo ein Topf mit Primeln im Fenster blühte, verweilte er und schaute. „Wenn sie in einem Monat von jetzt an leer sind, werde ich sie nehmen“, sagte er. „Einen Guinea als Anzahlung und ich werde sie für Sie aufheben“, war die lächelnde Antwort der freundlichen Hauswirtin. So bezahlte Barry errötend den Guinea und begann, kleine Dinge zu kaufen, um die Zimmer schön zu machen ‐ einen Bambuskorb für Blumen ‐ ein Sheffield‐Tablett ‐ eine idyllische Teedose ‐ einen antiken Fußschemel für Leilas kleine Füße.
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Doch gab es Augenblicke inmitten seiner Hochstimmung, wenn ein Angstschauder ihn berührte, und es war in einer dieser Stimmungen, dass er seiner kleinen Braut aus seinem Herzen schrieb. „Manchmal, wenn ich an dich denke, Schatz, erkenne ich, wie wenig in mir ist, das das, was du mir gibst, verdient. Wenn deine Briefe kommen, lese ich sie und denke und denke über sie nach. Und das, was ich denke, ist: Werde ich mein ganzes Leben nach deinen Erwartungen leben können? Erwarte nicht zu viel, liebes Herz. Ich frage mich, ob ich feiger bin, dem Leben gegenüberzutreten, als andere Männer. Hin und wieder scheinen sich die Dinge vor mir aufzutürmen ‐ große Schatten, die meinen Weg blockieren ‐ und ich bekomme Angst, dass ich sie nicht aus deinem Pfad und meinen stoßen kann. Und wenn ich sie nicht stoßen sollte, was dann? Würden sie dich verschlingen und sollte ich schuld sein?“ Mary fand Leila, sich über diesen Brief wundern. „Es klingt nicht nach Barry“, sagte sie mit einer leicht verängstigten Stimme. „Darf ich ihn dir vorlesen, Mary?“ Mary hatte zum Tee auf ihrem Weg vom Büro nach Hause vorbeigeschaut. Aber der Tee wartete. „Barry ist gewöhnlich so ‐ hoffnungsvoll“, sagte Leila, als sie fertig war; „irgendwie kann ich nicht umhin, mir Sorgen zumachen.“ Mary war beunruhigt. Sie kannte diese Stimmungen. Barry hatte sie, wenn er gegen „blaue Teufel“ kämpfe. Sie hatte Angst ‐ heimgesucht durch den Gedanken an Jerry. Sie versuchte fröhlich zu sprechen. „Du wirst bald hinüberfahren“, sagte sie, „und dann wird die ganze Welt heiter für ihn sein.“ 311
Leila zögerte. „Ich wünsche“, stockte sie, „dass ich jetzt bei ihm sein könnte, um ihm zu helfen ‐ zu kämpfen.“ Mary warf ihr einen erschrockenen Blick zu. Ihre Augen begegneten sich. „Leila“, sagte Mary mit einem leichten Keuchen, „wer sagte es dir?“ „Barry“ ‐ der Tee war vergessen ‐ „bevor ‐ bevor er fortging.“ Die Vision war von diesem Augenblick auf ihr, als er zu ihren Füßen in ihrer Hochzeitsnacht gekniet hatte. Holprig sprach sie von der Schwäche ihres Geliebten. „Ich habe dich fragen wollen, Mary, und als dieser Brief kam, musste ich einfach fragen. Wenn du denkst, es wäre besser ‐ wenn wir geheiratet hätten, wenn ich für ihn ein Heim machen könnte.“ „Es wäre für dich nicht besser.“ „Ich will nicht an mich denken“, sagte Leila leidenschaftlich; „jeder denkt an mich. Es ist Barry, an den ich denken will, Mary.“ Mary tätschelte die errötete Wange. „Barry ist ein glücklicher Junge“, sagte sie. Dann mit einem Zögern: „Leila, als du es wusstest, machte es einen Unterschied?“ „Unterschied?“ „In deinem Gefühl für Barry?“ Und nun waren die Kinderaugen Frauenaugen. „Ja“, sagte sie, „es machte einen Unterschied. Aber der Unterschied war dies ‐ dass ich ihn mehr liebte. Ich weiß nicht, ob ich es erklären kann, sodass du 312
verstehen wirst, Mary. Aber dann bist du nicht wie ich. Du bist immer so wundervoll, wie Barry. Aber du siehst, ich bin nie wundervoll gewesen. Ich bin immer ein kleines albernes Ding, hübsch genug für die Leute zu mögen, und kindlich genug für jeden zu verhätscheln, und weil ich hübsch und klein und kindlich war, schien niemand zu denken, dass ich jemand anderer sein könnte. Und für lange Zeit träumte ich nicht, dass Barry in mich verliebt war. Ich wusste nur, dass ich ihn gern hatte. Aber es war die Art zu mögen, die wiederum nicht viel erwartete. Und als Barry sagte, dass ich die einzige Frau auf der Welt für ihn sei ‐ hatte ich das Gefühl, dass es ein angenehmer Traum sei und dass eines Tages ich aufwachen und finden würde, dass er sich irrte und dass er stattdessen eine Prinzessin, statt ein kleines Gänsemädchen gewählt haben sollte. Aber als ich wusste, dass Barry kämpfen musste, änderte sich alles. Ich wusste, dass ich wirklich helfen konnte. Mehr als die Prinzessin vielleicht, weil, du siehst, sie sich vielleicht nicht darum gekümmert hätte, sich Mühe zu geben‐ und sie hätte ihn vielleicht nicht genug geliebt, um hinwegzusehen.“ „Du gesegnetes Kind“, sagte Mary mit einem Kloß in ihrer Stimme, „du darfst nicht so bescheiden sein ‐ es ist genug, um jeden Mann zu verwöhnen.“ „Nicht Barry“, sagte Leila; „er liebt mich, weil ich so liebe.“ Oh, Weisheit des kleinen Herzens. Es mochte Männer geben, die um der Eroberung willen lieben konnten; es mochte Männer geben, die Kälte mit Leidenschaft begegnen konnten, und Zuneigung mit Gleichgültigkeit. Barry war keiner von diesen. Das heilige Feuer, das in dem Herzen seiner süßen Geliebten brannte, hatte die Flamme in
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seinem eigenen entzündet. Es war Leilas Liebe ebenso wie Leila, die er wollte. Und sie wusste und hütete das Wissen. Es war, als Mary ging, dass sie mit gezwungener Leichtigkeit sagte: „Du wirst bald fahren, und was für einen Sommer ihr zusammen haben werdet.“ Es lag auf Leilas Lippen zu schreien: „Aber ich will, dass unser Leben jetzt zusammen beginnt. Was ist ein Sommer in dem ganzen Leben der Liebe?“ Aber sie äußerte ihren Schrei nicht. Sie küsste Mary und lächelte wehmütig und ging zurück in den düsteren Raum, um von Barry zu träumen ‐ Barry, ihr junger Ehemann, mit dem sie in ihrem kleinen gelben Kleid über die Hügel und weit weg gegangen war. Und während sie träumte, flog Barry in Jerry Tuckermans Wagen über andere Hügel und weiter weg von Leila, als er je in seinem Leben gewesen war. Es war, wie Mary befürchtet hatte. Barrys Stärke in seinem ersten Widerstand von Jerrys hartnäckigen Forderungen hatte ihn übertrieben selbstbewusst gemacht, sodass, als Jerry am Ende des Monats zurückgekehrt war und seine Forderung gestellt hatte, Barry sich bereit erklärt hatte, mit ihm zu Mittag zu essen. Beim Mittagessen trafen sie Jerrys Clique und Barry trank nur ein Glas des goldenen funkelnden Zeugs. Aber das eine Glas war genug, um sein Blut anzuheizen ‐ genug, um den Aspekt der Welt zu verändern ‐ genug, um ihn rücksichtslos, 314
ausgelassen zu machen ‐ genug, um ihn zustimmen zu lassen, sich sofort Jerrys Gruppe an einer Autotour nach Schottland anzuschließen. In diesem Augenblick trat die Arbeitswelt zurück, die Welt, von der Leila der Mittelpunkt war, wich zurück ‐ das Leben, das mit möblierten Zimmern und Primeln und Sheffield‐Tabletts zu tun hatte, war matt und verschwommen in seinem geistigen Vorstellungsvermögen. Aber dieses Leben, das mit Lachen und sorgenfreier Fröhlichkeit und Nachlässigkeit zu tun hatte, dies war das Leben für einen Mann, der ein Mann war. Jerry sagte: „Es werden wir drei und der Chauffeur sein ‐ und wir werden Dinge in Körben und Dinge in Schachteln und Dinge in Flaschen mitnehmen.“ Barry lachte. Es war kein lautes Lachen, nur ein leichtes jungenhaftes Kichern, und als er sich erhob und stand, mit seiner Hand, die auf dem Tisch ruhte, waren viele Augen auf ihn gerichtet. Er war ein gutaussehender junger Amerikaner, der seinen schönen blonden Kopf hochhielt. „Ihr dürft nicht erwarten“, sagte er noch immer mit diesem leichten Lachen, „dass ich irgendwelche Flaschen mitbringe. Das einzige Ding, das ich habe, ist eine Teedose. Ehrlich ‐ eine Teedose und ein Sheffield‐Tablett.“ Dann, als ihn einige Erinnerungen angriffen, stockte er: „Und einen kleinen dummen Fußschemel.“ „Setz dich“, sagte Jerry. Es war etwas eigenartig Flehendes an dieser fröhlichen jungen Gestalt mit den leuchtenden Augen. Unwillkürlich fühlte sich Jerry unbehaglich. „Setz dich“, sagte er. 315
Also setzte sich Barry und lachte über nichts und redete über nichts und fand alles sehr bezaubernd. Er packte seine Tasche und ließ eine Nachricht für Gordon zurück, und als er schließlich mit den anderen in den Wagen stieg, war er bereit, mit ihnen zu schreien, dass es ein langer Weg war, der keine Abzweigung hatte, und diese Arbeit war eine fade Sache und würde es immer sein. Und so wurde die Fahrt, die Leila für sich und ihren jungen Ehemann geplant hatte, eine wilde Fahrt, in der diese jungen Ritter der Straße fantastische Abenteuer mit leeren Erinnerungen und mit beruhigtem Gewissen verfolgten. Tagelang fuhren sie, wobei sie an verschiedenen Gasthäusern entlang des Weges anhielten, die seriösen Leute der Dörfer mit ihrem Gelächter bis spät in die Nacht erschreckten, wobei sie einer Stunde Freundschaft schlossen und sie mit Tränen verließen, um sie bei der ersten Ecke zu vergessen. Geschrieben wie eine alte Romanze scheinen solche Dinge vom goldenen Zeitalter zu sein, in dem Licht von Barrys und Leilas Zukunft war sie eine unaussprechliche Tragödie. Und nun fuhr der Wagen hinauf und hinauf, um wieder zu einer Strandstrecke herunterzukommen, mit den Bergen, die schwarz an einem Horizont emporragten, das Meer ein Saphirband gegen ein anderes. Und so, wobei das Schicksal sie immer näher zog, kamen sie endlich zu der kleinen Stadt, die Leila in ihrem Brief beschrieben hatte. 316
Als sie hineinfuhren, sprach jemand den Namen und Barry hatte eine schmerzende Erinnerung. Wer hatte von engen Straßen gesprochen, über die Leute klatschten ‐ und sich die Hände schüttelten? ‐ wer hatte gesprochen, Tee in einem kleinen Laden zu trinken? Er stellte seinen Gefährten die Frage: „Wer nannte dies eine Geschichtenbuchstadt?“ Sie lachten ihn aus. „Du träumtest es.“ Beständig begann sein Verstand zu arbeiten. Er fummelte in seiner Tasche herum und fand Leilas Brief. Als er ihn durchsuchte, entdeckte er den Namen des kleinen Ortes. „Ich träumte es nicht“, verkündete er triumphierend, „meine Frau erzählte es mir.“ „Wach auf“, sagte Jerry, „und danke Gott, dass du ledig bist.“ Aber Barry stand schwankend. „Meine kleine Frau erzählte es mir ‐ Leila!“ Mit einem plötzlichen Schrei taumelte er nach vor. Sein Arm streifte den Arm des Fahrers neben sich. Der Wagen machte eine plötzliche Kehre. Die Straßen waren eng ‐ so eng, dass man sich darüber beinahe die Hand schütteln konnte! Und es gab einen Zusammenstoß! Jerry wurde nicht verletzt, auch die anderen Abenteurer nicht. Der Chauffeur war sprachlos. Aber Barry war an den Steinstufen von einem 317
der komischen kleinen Häuser zusammengekrümmt und lag dort mit Leilas Brief ganz rot unter ihm. Es waren Porter und Mary, die es Leila erzählten. Der General hatte sie gebeten, es zu tun. „Ich kann nicht“, hatte er mitleidig gesagt. „Ich bin Kanonen gegenübergestanden, aber ich kann dem Schmerz in den Augen meines Lieblings nicht gegenübertreten.“ Also waren Marys Arme um ihr, als sie der Kind‐Ehefrau zuflüsterte, dass Barry tot war. Porter hatte zuerst etwas von einem Unfall gestammelt ‐ dass die Ärzte Angst hatten. Leila hatte von einem zum anderen zitternd geblickt. „Ich muss zu ihm fahren“, hatte sie geschrien. „Ihr seht, ich bin seine Frau. Ich habe ein Recht zu fahren.“ „Seine Frau!“ Von allen Dingen hatten sie dies nicht erwartet. „Ja, wir sind ein Jahr verheiratet ‐ wir rannten davon.“ „Wann, Liebes?“ Letzten März ‐ nach Rockville ‐ und ‐ und wir wollten es allen am nächsten Tag erzählen ‐ und dann verlor Barry seine Stelle ‐ und wir konnten nicht.“ Oh, arme kleine Witwe, armes kleines Kind! Mary zog sich fest an sich. „Leila, Leila“, flüsterte sie, „liebe kleine Schwester, liebes kleines Mädchen, wir müssen einander lieben und trösten.“ 318
Und dann wusste es Leila. Aber sie erzählten ihr nicht, wie es geschah. Die Einzelheiten der letzten Fahrt muss die Frau, die ihn liebte, niemals wissen. Barry sollte für sie immer der Held sein.
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Kapitel XXIV In dem Roger wieder zu den Turmzimmern kommt und in dem ein Duell auf moderne Weise ausgetragen wird
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s war Cousine Patty, die vorschlug, nach Roger senden zu lassen. „Er kann sich um mich kümmern, Mary. Wenn du mich nicht nach Hause gehen lässt, will ich nicht, dass die den Gedanken von mir hast, dich zu belasten.“ „Du könntest keine Bürde sein. Und ich weiß nicht, was Tante Isabelle und ich ohne dich hätten tun sollen.“ Sie begann schwach zu weinen und Cousine Patty, die sie tröstete, sagte in ihrem Herzen: „Es gibt niemanden außer Roger, der die richtigen Dinge zu ihr sagen kann.“ Bis jetzt hatte niemand die richtigen Dinge gesagt. Es schien Mary, dass sie eine Wunde trug, die zu tief war, um zu heilen. Gordon hatte die Wahrheit so gut wie möglich gemildert, aber er konnte sie nicht vor ihr verbergen. Sie wusste, dass Barry, ihr Junge Barry, besiegt aus der Welt gegangen war. Es war Roger, der ihr half. Er kam das erste Mal zu ihr, als sie alleine im Garten bei dem Springbrunnen saß. Es war ein schwüler Frühlingstag und schwere Wolken hingen tief am Horizont. Dünn und zerbrechlich in ihrem schwarzen Kleid stand sie auf, um ihm entgegenzugehen, der Geist des Mädchens, das einst wie eine Blüte in ihrem scharlachroten Umhang geblüht hatte. 320
Roger nahm ihre Hände in seine. „Sie armes kleines Kind“, sagte er; „Sie armes kleines Kind.“ Sie weinte nicht. Sie blickte einfach bleich zu ihm auf. „Oh, es war nicht fair, auf diese Art zu gehen. Er versuchte es so hart. Er versuchte es so hart.“ „Ich weiß. Und es war ein großer Kampf, den er aufstellte, Sie müssen sich daran erinnern.“ „Aber zu versagen ‐ am Schluss.“ „Sie dürfen nicht daran denken. Irgendwie kann ich Barry noch immer kämpfen sehen und gewinnen. Einer von einer glorreichen Gesellschaft.“ „Eine glorreiche Gesellschaft ‐ Barry?“ „Ja. Warum nicht? Wir werden nach dem Kampf beurteilt, den wir machen, nicht nach unserem Sieg.“ Sie machte einen langen Atemzug. „Allen anderen hat es leid getan. Niemand sonst konnte es scheinbar verstehen.“ „Vielleicht verstehe ich“, sagte er, „weil ich weiß, was es heißt zu kämpfen ‐ und zu versagen.“ „Aber Sie gewinnen jetzt.“ Sie Farbe strömte in ihre blassen Wange. „Cousin Patty erzählte es mir.“ „Ja. Sie zeigten mir den Weg ‐ ich habe versucht, ihm zu folgen.“
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„Oh, wie ignorant ich war“, rief sie ungestüm, „als ich zu Ihnen vom Leben redete. Ich dachte, ich wüsste alles.“ „Sie wusste genug, um mir zu helfen. Wenn ich ihnen jetzt ein wenig helfen kann, wird es nur ein fairer Austausch sein.“ Es half ihr, ihn einfach dort zu haben. „Sie sprachen von Barrys Kampf und Sieg. Denken Sie, dass einer weiterkämpft?“ „Warum nicht? Es würde nur gerecht erscheinen, dass er siegen sollte. Es gibt Männer, die nicht versucht werden, deren Rechtschaffenheit negativ ist. Charakter wird durch Widerstand gegen das Böse gebildet, nicht durch Mangel an Wissen davon. Und die Urteile der Männer sind nicht jene, die in dem endgültigen Urteilsspruch zählen.“ Er sagte mehr als das, indem er die Fesseln ihrer Verzweiflung brach. Andere hatten Barry bedauert. Roger verteidigte ihn. Sie begann von ihrem Bruder zu denken, nicht wie ihre Fantasie sich ihn vorstellte, in die äußerste Dunkelheit geschleudert, sondern mit erhobenen Haupt ‐ seinen hübschen blonden Kopf, ein glänzendes Schwert in seiner Hand, wobei er gegen die Mächte des Bösen kämpfte ‐ stolperte, fiel, sich wieder erhob. Er sah, wie sie sich entspannte, als sie zuhörte, und seine Liebe zu ihr lehrte ihn, was er sagen sollte. Und als sie redeten, bemerkten ihre Augen die Veränderung an ihm. Dies war nicht der Roger Poole der Turmzimmer. Dies war der Roger Poole, der sich gefunden hatte. Sie konnte es an seiner Art sehen ‐ sie konnte es in seiner Stimme hören, es leuchtete aus seinen Augen. Hier 322
war ein Mann, der nichts fürchtete, nicht einmal das Flüstern, das einst Macht gehabt hatte zu verletzen. Die Wolken fegten auf sie zu und verbargen das Blau; der Wind wirbelte die toten Blätter von den Pfaden und rüttelte die knospenden Äste des hundertblättrigen Busches ‐ berührte ihn mit seinem ersten Hinweis auf zartes Grün. Der Dunstnebel von dem Springbrunnen war wie ein Schleier, der das spöttische Gesicht des Bronzeknaben versteckte. Aber Mary und Roger hatten keine Augen für diese Warnungen; jeder hungerte nach dem anderen und dieses Treffen gab Mary endlich ein Gefühl des erneuten Lebens. Sie sprach von ihrer Zukunft. „Constance und Gordon wollen, dass ich zu ihnen komme. Aber ich hasse es, meine Arbeit aufzugeben. Ich will nicht unzufrieden sein. Doch befürchte ich hier die Einsamkeit. Dachten Sie je, dass ich ein solcher Feigling sei?“ „Sie sind kein Feigling ‐ Sie sind eine Frau ‐ und wollen die Dinge, die Ihnen gehören.“ Sie saß sehr still. „Ich frage mich ‐ was sind die Dinge, die einer Frau gehören?“ „Liebe ‐ ein Heim ‐ Glück.“ „Und Sie denken, dass ich diese Dinge will?“ „Ich weiß es.“ „Wie wissen Sie es?“ 323
„Weil Sie versucht haben zu arbeiten ‐ und es ist misslungen. Sie haben Unabhängigkeit versucht ‐ und es ist misslungen. Sie haben Freiheit versucht und haben sie als Knechtschaft gefunden.“ Er war wieder in dem Griff des Traumes, den er geträumt hatte, als er mit Marys Brief in seiner Hand auf Cousine Pattys Veranda gesessen war. Wenn sie zu ihm kommen würde, gäbe es keine Einsamkeit mehr. Seine Liebe sollte ihr Leben erfüllen, und da würde auch die Liebe seiner Leute sein. Sie sollte Herzen gewinnen, während er Seelen gewann. Wenn sie nur genug Interesse hätte zu kommen. Es war die Furcht, dass sie kein Interesse hätte, was ihn plötzlich packte. Sicherlich war dies nicht der Augenblick, ihr seine Forderungen aufzuzwingen ‐ wenn Sorge so schwer auf ihrem Herzen lag. So blind und grausam in seiner Blindheit hielt er die Worte zurück, die sich auf seine Lippen erhoben. „Eines Tages wird das Leben die Dinge bringen, die Ihnen gehören“, sagte er schließlich. „Ich bitte Gott, dass es sie Ihnen eines Tages bringen möge.“ Eine Reihe von Brownings kam ihr in den Sinn und erklang wie ein Totengeläut ‐ „Eines Tages bedeutet kein Tag.“ Sie zitterte und stand auf. „Wir müssen hineingehen; da ist Regen in den Wolken und Wind.“ Er stand auch auf und blickte auf sie herab. Ihre Augen kamen zu seinen hinauf, ihre klaren Augen nun von Schmerz überschattet. Was er in einem anderen Augenblick zu ihr gesagt haben mochte, hätte beiden viel Überdruss und Herzeleid erspart. Aber er sollte es nicht 324
sagen, denn der Sturm stand ihnen bevor und trieb sie vor sich her, indem er Türen zuschlug, Fensterläden in dem großen Haus zuknallte, als sie hinkamen ‐ ein Miniaturzyklon in seinem raschen Niedergang. Und als ob er auf den Schwingen des Sturms hereingeritten wäre, kam Porter Bigelow, seine rote Mähne wehte zurück aus seinem Gesicht wie eine Flamme, sein langer Mantel flatterte. Er blieb ganz plötzlich bei dem Anblick von Roger stehen. „Hallo, Poole“, sagte er, „wann kamen Sie an?“ „Heute Morgen.“ Sie gaben sich die Hand, aber da war kein Anzeichen des Willkommens in Porters Gesicht. „Ziemlich steifer Sturm“, bemerkte er, als die drei bei dem Salonfenster standen und hinausblickten. Der Regen kam in Strömen ‐ die Blitze leuchteten ‐ der Donner dröhnte. „Es war das erste Gewitter der Jahreszeit“, sagte Mary. „Es wird die Welt aufwecken.“ „Im Süden“, sagte Roger, „ist die Welt wach. Sie sollten unsere Gärten sehen.“ „Ich wünsche, ich könnte es; Cousine Patty bat mich zu kommen.“ „Werden Sie?“, fragte er begierig. „Da ist meine Arbeit.“ 325
„Nehmen Sie Urlaub und lassen Sie mich Ihnen die Föhren zeigen.“ Porter fiel ungeduldig, fast unverschämt, ein. „Mary braucht Gesellschaft, keine Föhren. Ich denke, ich sollte zu Constance fahren. Leila und der General werden im Mai hinüberfahren, wie sie planten, und die Jeliffes ‐“ „Da ist mehr als ein Monat vor dem Mai ‐ de sie bei uns verbringen könnte. Porter starrte. Dies war ein neuer Roger, ein beharrlicher, fordernder Roger. Er sprach kalt. „Constance braucht Mary sofort. Ich denke nicht, dass wir etwas sagen sollten, um sie davon abzubringen. Tante Isabelle und ich können sie hinüberbringen.“ Und nun ging Mary Kopf hoch. „Ich habe mich nicht entschlossen, Porter.“ Sie kämpfte um Freiheit. „Aber Constance braucht dich, Mary ‐ und du brauchst sie.“ „Oh nein“, sagte Mary gebrochen, „Constance braucht mich nicht. Sie hat Gordon und das Baby. Niemand braucht mich ‐ jetzt.“ Roger sah das schnelle Blut in Porters Gesicht strömen. Er fühlte sich in seinem eigenen in Flammen. Und nur für einen flüchtigen Augenblick begegneten sich über dem gebeugten Kopf des Mädchens die herausfordernden Augen der beiden Männer. Tante Frances, die mit Grace am Nachmittag herüberkam, ging in einem höchsten Zustand der Entrüstung nach Hause. 326
„Warum Patty Carew und Roger Pool von Mary auf diese Weise Besitz ergreifen sollten“, sagte sie beim Abendessen zu ihrer Tochter, „geht über meinen Verstand. Sie gehören nicht dorthin, und es wäre besser gewesen, zu einer solchen Zeit zu gehen.“ „Mary bat Cousine Patty zu bleiben“, sagte Grace, „und war Roger Poole angeht, er hat Mary einfach verändert. Sie ist bis heute wie ein Steinbildnis gewesen.“ „Ich sehe keinen Unterschied“, sagte Tante Frances. „Was meinst du, Grace?“ „Oh, ihre Augen und die Farbe in ihren Wangen und die Art, wie sie ihr Haar frisiert.“ „Die Art, wie sie ihr Haar frisiert?“ Tante Frances legte die Gabel hin und starrte. „Ja. Seit die schreckliche Nachricht kam, hat Mary an allem das Interesse verloren. Sie betete Barry an und sie wird nie darüber hinwegkommen ‐ nicht ganz. Ich vermisse die alte Mary.“ Grace hielt inne, um ihre Stimme zu festigen. „Aber als ich mit ihr zu ihrem Zimmer hinaufging, um mit ihr zu reden, während sie sich zum Essen umzog, steckte sie ihr Haar in der hübschen jungenhaft Art hoch, wie sie es früher trug, und es war alles für Roger Poole.“ „Warum nicht für Porter?“ „Weil sie sich nicht darum gekümmert hat, wie sie aussah, und Porter ist jeden Tag dort gewesen. Er ist zu oft dort gewesen.“
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„Denkst du, Roger wird versuchen, sie dazu zu bringen, ihn zu heiraten?“ „Wer weiß? Er ist restlos in sie verliebt, aber er sieht sie zu selten, für das Leben, das er führt. Das ist das Problem mit Männern. Sie haben Angst, dass sie die richtige Frau nicht glücklich machen können, daher fragen sie die falsche. Nun, wenn wir Frauen den Heiratsantrag machen könnten ‐“ „Grace!“ „Schau mich nicht auf diese schockierte Art an, Mutter. Ich bringe nur zum Ausdruck, was jede Frau weiß ‐ dass die Männer, die sie fragen, nicht diejenigen sind, die sie ausgesucht hätte, wenn sie die Wahl gehabt hätte. Und Mary wird warten und ermüden, und Roger wird verehren und zögern, und in der Zwischenzeit wird Porter verlangen und verlangen und verlangen ‐ und am Ende wird er wahrscheinlich bekommen, was er will.“ Tante Frances strahlt. „Ich hoffe es.“ „Aber Mary wird unglücklich sein.“ „Dann wird sie sehr dumm sein.“ Grace seufzte. „Keine Frau ist dumm, die das Beste will. Mutter, ich würde sehr gerne einen Mann mit einer Mission heiraten ‐ ich möchte zu den Südseeinseln gehen und die Eingeborenen unterrichten, oder ins dunkelste Afrika ‐ oder nach China oder Indien, irgendwohin, weit fort von einem Leben, in dem es nichts außer Bridge und Einkaufen und tödliche Langeweile gibt.“ 328
Sie war jetzt ernst und ihre Mutter sah es. „Ich verstehe nicht, dass du so etwas sagen kannst“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Ich verstehe nicht, wie du reden kannst, zu solchen Orten zu gehen ‐ fort von mir.“ Grace unterbrach das klagende Jammern. „Natürlich habe ich keine Vorstellung zu gehen“, sagte sie, „aber ein solches Leben seine eigenen Abenteuer verschaffen; ich würde sie nicht erfinden müssen.“ Es war mit dem Wunsch, das Leben mehr als es war zu machen, dass Grace Roger am nächsten Tag fragte: „Gibt es hier in der Stadt eine Arbeit wie Ihre für den Jungen ‐ Sie sehen, Mary hat mir über ihn erzählt.“ Er lächelte. „Überall gibt es Jungen und Mädchen, nicht erweckt ‐ wenn nur die Leute sie suchen würden, und mit Ihren Sprachkenntnissen könnten Sie große Dinge bei den kleinen Ausländern bewirken ‐ einen Haufen von Ihnen zu guten Bürgern machen, zum Beispiel. „Wie?“ „Erreichen Sie sie zuerst durch Bilder und Musik ‐ dann durch ihren Patriotismus. Lassen Sie sie nicht Politik und Plündern auf den Straßen lernen; lassen Sie sie ihren Platz in diesem Land von Ihnen finden, und lassen Sie sie von Ihnen von dem Gott unserer Väter hören.“ Grace fühlte seinen Magnetismus. „Ich wünsche, Sie könnten durch die Straßen von New York gehen und solche Dinge sagen.“ 329
Er schüttelte seinen Kopf. „Ich werde nicht in die Großstadt kommen. Mein Platz ist gefunden und ich werde dort bleiben; aber ich habe Grund zu glauben, dass es noch eine Stimme zu sprechen gibt, auf die die Welt hören wird.“ „Bald?“ „Alles zeigt auf ein Erwachen. Die Leute beginnen zu sagen: ‚Erzähl uns‘, wo vor ein paar Jahren sie sagten: ‚Es gibt nichts zu erzählen.‘“ „Ich verstehe ‐ es wird wundervoll sein, wenn es kommt ‐ ich werde versuchen, meinen kleinen Anteil zu tun und bereit sein, und wenn Mary zurückkommt, soll sie mir helfen.“ Seine Augen gingen dorthin, wo Mary zwischen Porter und Tante Frances saß. „Sie kommt vielleicht nie zurück.“ „Sie muss dazu gebracht werden zu kommen.“ „Wer könnte sie dazu bringen?“ „Der Mann, den sie liebt.“ Sie blitzte einen funkelnden Blick auf ihn und stand auf. „Komm, Mutter“, sagte sie, „es ist Zeit zu gehen.“ Dann, als sie Roger ihre Hand gab, lächelte sie. „Mattes Herz“, murmelte sie, „wissen Sie nicht, dass ein Mann wie Sie, wenn er es versucht, die Welt erobern kann?“ Sie verließ Roger mit seinem wie verrückt schlagenden Puls. Was meinte sie? Dachte sie, dass ‐ Mary ‐? Er ging hinauf zu den 330
Turmzimmern, um sich für das Abendessen anzukleiden, mit seinem Verstand in einem Wirbel. Die Fenster waren offen und warme Luft wehte herein. Als er hinaussah, konnte er in der Ferne den glänzenden Fluss sehen ‐ wie ein Silberband, und die weiße Säule des Monuments, das den Himmel zu berühren schien. Aber er sah mehr als das; er sah seine Zukunft und Marys; wieder träumte er seinen Traum. Wenn er für einen Augenblick gehofft hatte, alleine diese Nacht mit der Dame seines Herzens zu sein, war er zur Enttäuschung verdammt worden, denn Leila und ihr Vater kamen zum Abendessen. Leila war sehr still und süß in ihrem Witwenschwarz, der General grübelte über sie nach. Und wieder hatte Roger das Gefühl, dass in diesem Haus der Sorge es keinen Platz für Zärtlichkeiten gab. Auf die Freude, die ihm gehören könnte ‐ muss er warten; auch wenn er beim Warten müde wurde. Und es war, während er wartete, dass er eines Tages mit Porter Bigelow zu Mittag aß. Die Einladung hatte ihn überrascht und er hatte sich vage beunruhigt und bedrückt durch den Gedanken gefühlt, dass es von früher ein noch nicht enthülltes Motiv geben könnte. Aber es hatte nichts zu tun gegeben außer anzunehmen, und um ein Uhr war er im Universitätsklub. Einige Zeit sprachen sie von belanglosen Dingen, dann sagte Porter schlicht: „Ich werde nicht auf den Busch klopfen, Poole. Ich habe Sie hergebeten, um über Mary Ballard zu reden.“ „Ja?“ „Sie sind in sie verliebt?“ „Ja ‐ aber ich stelle Ihr Recht in Frage, den Inquisitor zu spielen.“ 331
„Wieder stelle ich Ihr Recht in Frage.“
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„Ich habe kein Recht, außer meinem Interesse an Mary. Aber ich behaupte, dass mein Interesse die Inquisition rechtfertigt. „Vielleicht.“ „Sie wolle Sie heiraten?“ Roger wechselte die Position und lehnte sich vorwärts, wobei er Porters stürmischen Augen direkt begegnete. „Wieder stelle ich Ihr Recht in Frage, Bigelow.“ „Es ist jetzt keine Frage über Recht, Poole, und Sie wissen es. Sie sind in sie verliebt, ich bin in sie verliebt. Wir beide wollen sie. In vergangenen Tagen klärten Männer solche Dinge mit Schwertern und Pistolen. Sie und ich sind zivilisiert und modern; aber es muss trotzdem geklärt werden.“ „Miss Ballard wird es klären müssen ‐ nicht Sie oder ich.“ „Sie kann es nicht klären. Mary ist eine Träumerin. Sie nehmen Sie mit Ihrer Fantasie ein ‐ mit Ihrem Gerede von Ihrer Arbeit ‐ und Ihren Leuten und den kleinen Gärten und das alles. Und sie sieht es, wie Sie wollen, dass sie es sieht, nicht wie es wirklich ist. Aber ich kenne die tödliche Langeweile, die Furchtbarkeit. Na, Mann, ich verbrachte einen Winter dort unten in einem der Ferienorte, und hin und wieder fuhren wir durch das Land. Es war eine Wüste, sage ich Ihnen, Poole, eine Wüste; es ist kein Platz für eine Frau.“ „Sie sahen nichts außer den verkohlten Föhren und den Sand. Ich könnte Ihnen andere Dinge zeigen.“ „Was zum Beispiel?“ 333
„Ich könnte Ihnen ein erwecktes Volk zeigen. Ich könnte Ihnen eine Gemeinschaft zeigen, die die Fesseln der Müßigkeit und Unwissenheit abwirft. Ich könnte Ihnen Männer zeigen, die einst an alten Traditionen gebunden waren und mit Begierde den neuen Idealen begegnen. Es gibt nichts Wundervolleres auf der Welt, als ein solches Erwachen, Bigelow. Aber man muss die Vision haben, es zu ergreifen. Es sind die Träumer, Gott sei Dank, die über heute hinaus auf morgen sehen. Ich habe keinen Reichtum oder eine Position Mary anzubieten, aber ich kann ihr die Welt anbieten, die sie braucht. Und wenn ich sie kenne, wie ich es glaube, wird sie sich mehr für die Welt als für Sie interessieren.“ Er erhob seine Stimme nicht, aber Porter fühlte die Macht seiner zurückgehaltenen Beredsamkeit, wie er wusste, dass Mary sie fühlen würde, wenn sie an sie gerichtet werden würde. „Zuerst vielleicht. Aber wenn es dazu käme, ein Heim zu bauen, würde immer das Stigma Ihrer Vergangenheit sein, und sie ist ein stolzes kleines Ding, Poole.“ Roger zuckte zusammen. „Meine Vergangenheit ist begraben. Es ist meine Zukunft, von der wir sprechen müssen.“ „Sie können Ihre Vergangenheit begraben. Sie haben nicht einmal eine Kanzel, um von dort zu predigen.“ Roger schob seinen Stuhl zurück. „Ich bin versucht zu wünschen“, seine Stimme war grimmig, „dass wir nicht so ganz zivilisiert wären, nicht ganz so modern. Pistolen und Schwerter würden als eine leichtere Art als diese erscheinen.“ 334
„Ich kämpfe um Mary. Sie müssen Sie gehen lassen. Keiner ihrer Freunde will es ‐ Gordon würde nie zustimmen.“ Es schien Roger, dass alles Geflüster, das ihn in den Tagen vor langer Zeit angegriffen hatte, zurück auf ihn in einer tosenden Klangwelle stürmte. Er stand auf, weiß und zitternd. „Nennen Sie es Sieg, wenn ein Mann dem anderen das Herz durchbohrt? Also, wenn es Ihr Sieg ist, Bigelow ‐ sind Sie dazu willkommen.“
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Kapitel XXV In dem Mary dem alten Leben Lebewohl sagt und in dem sie Glück auf der hohen See findet
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ontrary Mary war nicht länger Contrary Mary. Da Roger fort war und Cousine Patty mit sich genommen hatte ‐ fort, ohne ein Wort zu ihr, auf das sie gewartet hatte, hatte sie sich Gordons Plänen für sie unterworfen, und Tante Frances‘ und Porters Ausführung davon. Nur Grace zeigte sie Anzeichen ihrer alten Rebellion. Dachtest du je, dass ich geschlagen werden sollte, Grace?“, sagte sie mitleiderregend. „Ist das die Art bei allen Frauen? Strecken wir die Hand für so viel aus und nehmen dann, was wir kriegen können?“ Grace überlegte. „Dinge binden uns nieder, aber wir müssen nicht gebunden bleiben ‐ und ich beginne, einen Ausweg für mich zu sehen, Mary.“ Sie erzählte von ihrem Gespräch mit Roger und ihrem eigenen energischen Wunsch zu helfen; aber sie erzählte nicht, was sie ihm zum Schluss gesagt hatte. Da war etwas hier, was sie nicht verstehen konnte. Mary weigerte sich beharrlich, über ihn zu reden. Sogar jetzt schob sie das Thema beiseite. „Ich will mich nicht abmühen“, sagte sie, „nicht einmal um der anderen willen. Ich will mich tausend Jahre ausruhen ‐ und für die nächsten tausend schlafen.“ 336
Und dies von Mary, der schwungvollen, lebhaften Mary, mit ihrer fast jungenhaften Stärke und Energie. Das große Haus sollte geschlossen werden. Tante Isabelle würde mit Mary gehen. Susan Jenks und Pittiwitz würden sich im Küchenflügel ansiedeln, mit einer Freundin von Susan, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Mary, die am letzten Tag durch die Turmzimmer wanderte, dachte an den Abend, als Roger das erste Mal zu ihnen gekommen war. Und nun würde er nie wieder kommen. Sie hatte seine abrupte Abreise nicht verstehen können. Doch hatte es nichts zu bedauern gegeben ‐ er war unendlich freundlich, mitfühlend, stark, hilfreich gewesen. Falls sie etwas von seiner Art vermisste, die an dem Tag seiner Ankunft da gewesen war, sagte sie sich, dass sie vielleicht nicht da gewesen war, dass ihre eigene Freude, ihn zu sehen, sie hatte einbilden lassen, Freude in seiner Haltung ihr gegenüber ebenso zu sehen. Cousine Patty hatte über sie geweint, sie geküsst und protestiert, dass sie es nicht ertragen könnte zu gehen. „Aber Roger hält es für am besten, meine Liebe. Er wird zu Hause gebraucht.“ Es schien plausibel, dass er gebraucht werden könnte, doch in Marys Unterbewusstsein war ein Zweifel. Was hatte ihn weggeschickt? Sie wurde von dem Gefühl heimgesucht, dass ein unheilvoller Einfluss sie getrennt hatte.
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Als bemitleidenswerte Gestalt in Schwarz machte sie die Tour durch die leeren Zimmer mit Pittiwitz, die traurig an ihren Fersen miaute. Die kleine Katze, mit dem Instinkt ihrer Art, fühlte die Atmosphäre der Veränderung. Alte Teppiche, auf denen sie sich gewälzt hatte, waren aufgerollt und stanken nach Mottenkugeln. Das kleine weiße Bett, auf dem sie unrechtmäßig ein Nickerchen gemacht hatte, war bis auf die Matratze abgezogen. Die Kissen, auf denen sie sich zusammengerollt hatte, waren fortgepackt ‐ das Feuer war aus ‐ die Feuerstelle leer. Susan Jenks, die heraufkam, fand Mary mit der kleinen Katze auf ihrem Schoß. „Oh, Schätzchen, weinen Sie nicht so.“ „Oh, Susan, Susan, es wird nie wieder dasselbe sein, niemals dasselbe.“ Und nun wieder blühten die Rosen im Garten auf dem hundertblättrigen Busch, wieder sang der Springbrunnen und der kleine Bronzeknabe lachte durch einen Nebelschleier ‐ aber da waren keine fröhlichen Stimmen im Garten, keine Liebenden auf dem Steinplatz. Susan Jenks hielt die Pfade gepflegt und goss die Blumen und Pittiwitz jagte Schmetterlinge oder streckte sich in der Sonne, faul zufrieden, nach und nach jene vergessend, die einige Zeit ihre Welt gebildet hatten. Aber Mary auf der hohen See konnte nicht vergessen, was sie zurückgelassen hatte. Es war nicht Susan Jenks, es war nicht Pittiwitz, es war nicht der Garten, der sie zurückrief, obwohl diese ihren Anteil an ihrem Bedauern hatten ‐ es war das alte Leben, das Leben, das ihrer Kindheit und ihrer Mädchenzeit gehört hatte, das Leben, das mit ihrer 338
Mutter und ihrem Vater und Constance geführt worden war ‐ und Barry. Als sie lustlos auf ihrem Liegestuhl lag, konnte sie nichts in ihrer Zukunft sehen, das zu dem Glück der Vergangenheit passen würde. Die Tage, die sie in dem alten Haus lebte, waren nie die Tage von großem Wohlstand gewesen; ihr Vater war tatsächlich oft mit Sorge niedergedrückt worden ‐ es hatte Zeiten schwerer Ängste gegeben, aber es hatte zwischen ihn allen das Band tiefer Zuneigung gegeben, eine gegenseitige Abhängigkeit. In Gordons Heim würde es Glanz weit über alles hinaus, was sie gekannt hatte, geben, es würde Leichtigkeit und Luxus geben, und diese würden mit ihr frei und bereitwillig geteilt werden, doch für eine Natur wie Mary Ballards bedeuteten solche Dinge wenig. Die wahren Dinge im Leben für sie waren Liebe und Leistung; alles andere schien abgedroschen und überflüssig. Natürlich würden da Constance und das Baby sein. Von der Hoffnung, sie wiederzusehen, lebte sie. Doch in einem Sinn standen Gordon und das Baby zwischen ihr und Constance ‐ sie vereinnahmten ihre Schwester, stellten sie zufrieden, sodass Marys Liebe nur ein Tropfen war, der einem vollen Becher hinzugefügt wurde. Es war, während sie über die Zukunft nachdachte, dass Mary bewegt wurde, Roger Poole zu schreiben. Das bloße Zupapierbringen ihrer Gedanken würde ihre Einsamkeit lindern. Sie würde sagen, was sie fühlte, offen, frei, und wenn die kleinen Briefe fertig waren, musste sie, falls sich ihre Laune änderte, nicht absenden.
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Also begann sie zu kritzeln, wobei sie jeden Tag die Gedanken niederschrieb, die nach Ausdruck schrien. Porter beklagte sich, dass sie nun immer schrieb. „Ich schreibe lieber, als ich rede“, sagte Mary müde; und schließlich ließ er die Angelegenheit fallen. Inmitten der See. LIEBER FREUND VON MIR: Sie baten mich zu schreiben und Sie werden denken, dass ich mehr als mein Versprechen gehalten habe, wenn Sie dieses Tagebuch unserer Tage auf See bekommen. Aber es ist mir vorgekommen, dass sie alles vielleicht genießen, genau, als ob Sie bei uns wären, statt unten zwischen Ihren Sandhügeln mit Ihren traurigen Kindern (sind sie wirklich jetzt traurig?) und Cousine Pattys Hochzeitstorten. Das ist eine rechte Gesellschaft von uns. Leila und ihr Vater und die Jeliffes und Colin hielten sich an ihren ursprünglichen Plan im Mai, und wir beschlossen, es wäre am besten, zur selben Zeit hinüberfahren, also sind da Tante Frances und Grace und Tante Isabelle und Porter ‐ und ich ‐ zehn von uns. Wenn Sie und Cousine Patty hier wären, würden Sie ein Dutzend abrunden. Ich wünsche, Sie wären hier. Wie Cousine Patty es genießen würde ‐ mit ihrer liebenswürdigen Begeisterung und ihrem Interesse an allem. Lassen Sie sie von mir grüßen. Ich werde ihr schreiben, wenn ich London erreiche, denn ich weiß, dass sie im Geist mit uns reisen wird; sie sagte, sie würde diesen Sommer von ferne in England leben und ich soll ihr helfen, indem ich ihr Bilder schicke, und Sie müssen ihr sagen, welche Bücher sie lesen soll. 340
Zu denken, dass ich unterwegs nach London zu Ihrem Dick Whittington bin! Ich nenne ihn Ihren, weil sie ihn mich zum ersten Mal wirklich sehen ließen. „Da war er, eine Waise, oh, ein kleiner Bursche allein.“ Und ich soll alle Glocken hören und die Dinge sehen, nach denen ich mich immer gesehnt habe, sie zu sehen! Doch ‐ und ich habe dies keinem außer Ihnen, Roger Poole, erzählt ‐ bringt der Gedanke nicht ein kleines bisschen Freude ‐ es ist nicht London, das ich wollte, oder England. Ich will meinen Garten und mein altes großes Haus und die Dinge, wie sie früher waren. Aber ich segle schnell davon weg ‐ das alte Leben in das neue! Bis dahin haben wir schönes Wetter gehabt. Es ist immer am besten, zuerst vom Wetter zu sprechen, nicht wahr? ‐ Sodass wir unseren Verstand frei von anderen Dingen haben. Es ist überhaupt nicht rau gewesen; sogar Leila, die kein guter Seemann ist, hat auf Deck bleiben können, und die Leute sind so sehr an ihr interessiert. Sie scheint ein solches Kind für ihr Witwenschwarz. Oh, was für Kinder sie waren, mein Junge Barry und seine kleine Frau, und doch waren sie auch Mann und Frau. Leila hat mir einige seiner Briefe sehen lassen; er zeigte ihr eine Seite, die er mir nie offenbarte, aber ich bin nicht eifersüchtig. Ich bin nur froh, dass für sie mein Junge Barry ein Mann wurde. Aber ich werde versuchen, die Traurigkeit aus meinem Gekritzel an Sie herauszulassen, nur hin und wieder kriecht sie herein, und Sie müssen ihr vergeben, denn Sie sehen, es nicht leicht zu denken, dass wir alle hier sind, die ihn liebten, und er, der so gerne bei uns war, ist 341
irgendwo ‐ oh, wo ist er, Roger Poole, in dieser weiten Unendlichkeit, die sich jenseits des Meeres, jenseits des Himmels in die Ewigkeit erstreckt? Den ganzen Tag bin ich auf meinem Liegestuhl gelegen und habe die Welt vorbeigehen lassen. Es ist klar und kühl und die See erhebt sich wie eine Saphirwand. Letzte Nacht schienen wir durch ein Goldfeld zu pflügen. Die Welt ist wirklich ein hübscher Ort, die große Außenwelt, aber es ist nicht die Außenwelt, die unser Glück macht, es ist die Welt in uns, und wenn das Herz müde ist ‐ Aber nun muss ich von jemand anderem außer mir selbst reden. Soll ich ihnen von Delilah erzählen? Sie zieht viel Aufmerksamkeit auf sich mit ihr anmutigen Art und ihren wundervollen Kleidern. Alle Leute sind verrückt nach ihr. Sie denken, dass sie Engländerin ist, und schließlich Herzogin. Colin ist so erfreut wie der Kasperl über den Erfolg, den er für sie gemacht hat, und er steht einfach auf der Seite und beobachtet sie und flattert mit seinen blassen Wimpern und lächelt. Gestern Abend tanzte sie einige der neuen Tänze und ihr Tango ist so stattlich wie ein Menuett. Sie und Porter tanzten zusammen ‐ und jeder blieb stehen, um sie anzusehen. Der Klatsch macht die Runde, dass sie verlobt sind. Oh, ich wünsche, sie wären es ‐ ich wünsche, sie wären es! Es wäre gut für ihn, seiner Ebenbürtigen zu begegnen. Delilah könnte sich behaupten; sie würde ihn nicht beharren und schaffen lassen, bis sie eindeutig hypnotisiert war, wie ich. Delilah hat eine so königliche Art, ihre Welt zu beherrschen. Alle Männer an Bord gehen ihr nach. Aber sie lässt die meisten von ihnen sie von der Ferne verehren. Was die Frauen betrifft, sie wählt das Beste instinktiv und das Eis, das um das Herz der Durchschnittsbriten 342
gefroren zu sein scheint, schmilzt vor ihrem Charme, sodass sie schon mit den richtigen Leuten Bridge spielt und mit dem inneren Kreis Tee trinkt. Sogar dabei scheint sie eine Miene der Ferne anzunehmen, was sie unterscheidet ‐ und es ist diese Miene, sagt Grace, die siegt. Wenn die Leute nicht Porters Namen mit Delilahs verbinden, verbinden sie ihn mit Graces. Sie sollten unsere „rothaarigen Spechte“ sehen, wie der arme Barry sie früher nannte. Wenn sie promenieren, trägt Grace einen schwarzen Hut, der ihr ganzes herrliches Haar zeigt, und Porters Kappe kann seine Krone der Herrlichkeit nicht verbergen. Zuerst dachten die Leute, sie wären Bruder und Schwester, aber da es bekannt ist, dass sie es nicht sind, kann ich sehen, dass jeder verwirrt ist. Es ist alles wie ein Theaterstück, das vor mir vorbeizieht. Es gibt reizende Engländer ‐ reizende Amerikaner und einige, die nicht reizend sind. Oh, warum versuchen wir nicht, die in solcher Einfachheit begannen, einfache Leute zu bleiben? Es scheint mir manchmal einfach, als ob alle an Bord versuchten anzugeben. Die Reichen versuchen, ihr Geld zur Schau zu stellen, und die Intellektuellen ihren Verstand. Gibt es wirklich einen echten Unterschied zwischen den Neureichen und den Neukultivierten, Roger Poole? Eine erzählt über ihre drei Autos und die andere erzählt über ihre drei akademischen Grade. Es ist alles ermüdend. Die Welt ist ein Platz, um Dinge zu haben und Dinge zu wissen, aber wenn das Haben und das Wissen sie so wichtig macht, dass man darüber die ganze Zeit reden muss, stimmt da etwas nicht. Das ist der Charme von Grace. Sie hat Geld und Position ‐ und ich habe Ihnen erzählt, wie sie einfach alle Ehren auf dem College 343
davontrug; sie malt wundervoll und ihre Meinungen sind es wert, gehört zu werden. Aber sie wirft einem nicht ihr Wissen zu. Sie ist an Menschen interessiert und legt Bücher dorthin, wohin sie gehören. Sie ist wirklich die Einzige, die ich ohne Bedenken willkommen heiße, außer dem Schatz Tante Isabelle. Die anderen, wenn sie kommen, um mit mir zu reden, sind entweder zu traurig oder zu energisch. Klingt das nicht alles, als ob ich ein selbstsüchtiges kleines Schwein wäre? Also, eines Tages werde ich sie alle genießen ‐ aber jetzt ‐ weint mein Herz ‐ und Leila mit ihrem kleinen weißen Gesicht schmerzt. Mrs. Barry Ballard! Werde ich mich je daran gewöhnen, sie genannt zu hören? Es scheint sie von der kleinen Leila Dick abzuheben, sodass, wenn ich Leute mit ihr sprechen höre, ich immer erschrocken und überrascht bin. Und nun ‐ was machen Sie? Pflanzen Sie noch immer kleine Gärten und reden mit Ihrem Jungen ‐ reden mit Ihren traurigen Leuten? Cousine Patty hat mir von Ihrem Brief an Ihren Bischof erzählt, der so freundlich während Ihres Problems war, und von seiner Antwort ‐ und von Ihrer Hoffnung, dass Sie eines Tages vielleicht eine kleine Kirche in den Sandhügeln haben und predigen statt zu lehren. Sicher würde das alle Träume wahr werden lassen, alle unsere Träume, denn ich habe auch geträumt ‐ dass dies kommen möge. Manchmal, wenn ich hier liege, schließe ich meine Augen und ich scheine Sie in diesem Kreis junger Föhren zu sehen, und ich gebe vor, dass ich zuhöre; dass Sie Dinge zu mir sagen, wie Sie sie zu den armen Leuten in den Föhren sagen ‐ und hin und wieder kann ich mich dazu bringen zu glauben, dass Sie wirklich gesprochen haben, dass Ihre Stimme über die Meilen gereicht hat. Und so habe ich Ihre kleinen 344
Predigten ganz für mich ‐ hier draußen auf See, mit der ganzen blauen Entfernung zwischen uns ‐ aber ich höre zu, höre zu ‐ trotzdem. Im Nebel. Aus dem Sonnenschein von gestern kamen heute die schweren Nebel. Das Meer gleitet unter uns in silberner Dünung. Jeder ist bis zum Kinn eingehüllt und Porter hat gerade aufgehört, mich zu fragen, ob ich etwas Heißes heraufgeschickt haben will. Ich sagte ihm „nein“ und schickte ihn weiter zu Leila. Ich mag diese stille Welt und die grauen Geister um das Deck herum. Delilah ist gerade in einem schönen rauchfarbenen Kostüm vorbeigesegelt ‐ mit ihrem unausweichlichen Heliotropknoten ‐ eine Phantomdame wie ein hübscher Traum. Erzählte ich Ihnen, dass ein sehr angesehener und adeliger Gentleman Delilah heiraten will und dass er jetzt auf ihre Antwort wartet? Porter denkt, dass sie „ja“ sagen wird. Aber Leila und ich nicht. Wir sind sicher, dass sie ihr Schicksal in Colin finden wird. Er beherrscht sie; er taucht unter die Oberfläche und bringt die wahre Delilah herauf, nicht die kühle, berechnende Delilah, die wir einst kannten, sondern die liebenswürdige, anmutige Dame, die sie jetzt ist. Es ist, als ob er eine neue Seele in die weltliche Hülle gesetzt hätte, die einst Delilah war. Aber es gibt nie ein Zeichen zwischen ihnen, außer guter Kameradschaft. Grace sagt, dass Colin der modernen Politik des wachsamen Wartens folgt ‐ aber ich bin nicht sicher. Ich glaube, sie werden beide plötzlich zu dem, was sie fühlen, aufwachen, und dann wird es ganz wundervoll sein, sie zu sehen. 345
Porter glaubt nicht an den Aufwachprozess. Er sagt, dass Liebe ein Wachstum ist. Dass die Leute einander jahrelang kennen müssen, sodass jeder die Fehler und Tugenden des anderen verstehen kann. Aber für mich scheint es, dass Liebe eine Flamme ist, die alles in einem Augenblick erleuchtet. Porter kam, während ich das schrieb ‐ und ließ mich mit ihm auf und ab, auf und ab gehen. Er befürchtete, dass ich frösteln könnte. Natürlich meint er freundlich zu sein, aber ich will nicht, dass er mir sagt, dass ich „mir Mühe geben“ muss ‐ es gibt mir eine Art von Mrs. Dombey‐Gefühl. Ich frage mich nicht, dass sie sich einfach zusammenrollte und starb, um die Probleme des Lebens loszuwerden. Ich wusste, während ich mit Porter spazieren ging, dass sich die Leute fragten, wer ich sei ‐ in meinem langen schwarzen Mantel mit meinem Haar, das herumgeweht wurde. Ich glaube, dass sie meinen Namen nicht sentimentalerweise mit dem Ritter von Auburn Crest in Verbindung bringen. Neben Grace und Delilah sehe ich wie ein Landmädchen aus. Aber es ist mir egal ‐ mein dicker Mantel ist bequem und mein kleiner weicher Hut bleibt auf meinem Kopf, was alles ist, was ich brauche, nicht wahr? Aber während ich das schreibe, frage ich mich, wo das Mädchen ist, das früher gerne hübsche Kleider mochte. Erinnern Sie sich an das Kleid, das ich zu Constances Hochzeit trug? Ich dachte heute daran ‐ und an Leila, die auf der Treppe in ihrem einen rosaroten Schuh. Oh, wie fern diese Tage erscheinen ‐ und wie stark ich mich fühlte ‐ und wie bereit ich war, der Welt entgegenzutreten, und nun will ich nur in eine Ecke kriechen und den anderen Leuten zusehen, wie sie leben.
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Leila ich viel tapferer als ich. Sie macht jeden Morgen mit ihrem Vater einen kleinen Spaziergang und einen weiteren Spaziergang jeden Nachmittag mit Porter ‐ und sie redet immer mit einsamen Leuten und kranken Leuten; und die ganze Zeit trägt sie ein kleines mattes leuchtendes Lächeln, wie das eines Engels. Doch war ich früher ganz verächtlich zu Leila, sogar, während ich sie liebte. Ich dachte, sie wäre so süß und schwach weiblich; doch steuert sie ihr kleines Schiff durch stürmisches Wasser, während ich mein Ruder und meine Kompass verloren habe, und alle anderen Dinge, die eine Seemann in einer Zeit des Sturms braucht. Vor dem Sturm. Der Nebel hängt noch über uns und wir scheinen auf der Oberfläche eines toten Meeres zu reiten. Gestern Nacht gab es keinen Mond und heute ist Tante Frances nicht erschienen. Sogar Delilah scheint sich durch die Stille deprimiert zu fühlen ‐ nicht ein Geräusch außer dem Takt der Motoren und dem heiseren Hupen der Nebelhörner. Dieses Papier ist feucht, während ich darauf schreibe und lässt die Tinte klecksen, aber ich werde ihn nicht neu schreiben, weil die Kleckse Sie mich hier sitzen sehen lassen, mit Tropfen Feuchtigkeit, die sich an meinen Mantel und an meinen kleinen Hut klammern und mein Haar auf eine Art kräuseln, wie es nie bei trockenem Wetter tut. Ich frage mich, wenn Sie hier wären, ob sie wie ein Geist, wie alle anderen, scheinen würden. Nichts ist real, außer meinen Gedanken von den Dingen, die früher waren. Ich kann nicht glauben, dass ich unterwegs nach London bin und dass ich bei Constance wohnen werde und mit Tante Frances und Grace auf Besichtigungstour gehe und 347
meine Pläne für das ‐ Große Abenteuer aufgebe. Tante Isabelle saß heute Morgen neben mir und wir redeten darüber. Sie wird bei Tante Frances und Grace wohnen und wir werden einander jeden zweiten Tag sehen. Ich könnte nicht ganz zurechtkommen, wäre nicht Tante Isabelle ‐ sie ist eine solche Mutterperson und sie lässt mich nicht, wie der Rest von ihnen es tut, fühlen, dass ich tapfer und mutig sein muss. Sie tätschelt nur meine Hand und sagt: „Es wird gut werden, Mary Liebes ‐ es wird gut werden“, und bald beginne ich zu fühle, dass es das ist; sie hat eine solche Art, die mühseligen Dinge dieser Welt zu ignorieren und einfach zum nächsten zu schauen. Sie sagte mir einmal, dass der Himmel für sie zu allererst ein Ort mit schönen Geräuschen bedeuten würde ‐ und zweitens würde er Freiheit bedeuten. Sie sehen, sie ist immer von Tante Frances beherrscht worden, armes Ding. Erinnern Sie sich, wie ich früher über Freiheit redete? Aber nun soll ich ein Vogel in einem Käfig sein. Es wird natürlich ein goldener Käfig sein. Sogar Grace sagt, dass Constances Heim reizend ist ‐ großartige hübsche Räume und massive Möbel; und wenn wir beginnen, wieder in die Gesellschaft zu gehen, soll ich vielen vornehmen Leuten vorgestellt und vielleicht eingeführt werden Und ich soll vergessen, dass ich je in einem schmutzigen Regierungsbüro arbeitete ‐ tatsächlich soll ich vergessen, dass ich überhaupt arbeitete. Und ich soll alle meine Träume vergessen. Ich soll mich von der Mary Ballard, die Dinge tun wollte, zur Mary Ballard verändern, die will, dass sie für sie getan werden. Vielleicht, wenn Sie mich wiedersehen, werde ich nett und klammernd und so süß weiblich sein, wie Sie mich früher wollten ‐ Roger Poole. 348
Die Nebel haben sich aufgeklärt und da ist eine Wolke am Horizont ‐ ich kann die Leute sagen hören, dass es einen Sturm bedeutet. Soll ich Angst haben, frage ich mich? Erinnern Sie sich an den Sturm, der an jenem Tag im Garten kam und uns hineintrieb? Ich frage mich, ob wir je wieder zusammen in dem lieben alten Garten sein werden? Nach dem Sturm. Letzte Nacht weckte uns der Sturm. Es war ein schrecklicher Sturm mit brausendem Wind und die aufgepeitschte See zu einem Wasserstrudel. Aber ich hatte keine Angst, obwohl alle wach waren, und da war ein Gefühl, dass etwas geschehen könnte. Ich bat Porter, mich auf das Deck zu bringen, aber er sagte, dass es niemand dürfe, und so rollte wir uns auf Stühlen und Sofas zusammen und warteten, dass entweder der Sturm aufhörte oder das Schiff sank. Falls Sie je in einem Sturm auf See gewesen sind, kennen Sie das Gefühl ‐ dass die nächste Minute Ruhe und Sicherheit oder Schrecken und Tod bringen mag. Porter hatte eine Decke um mich gelegt und ich liege dort und schaue die anderen an, wobei ich mich frage, ob, falls ein Unfall passierte, Delilah anmutig dem Tod entgegenblickt, wie sie allem anderen entgegenblickt. Leila war sehr weiß und zittrig und klammerte sich an ihren Vater; es ist zu solchen Zeiten, dass sie ein solches Kind zu sein scheint. Tante Frances war hektisch und machte jedem Vorwürfe, vom Kapitän bis zu Tante Isabelle ‐ als ob sie die widerstreitenden Elemente 349
beherrschen könnten. Sicher ist es ein Fall der „herrschenden Leidenschaft“. Aber während ich diese Dinge schreibe, schiebe ich die Geschichte darüber, was nach dem Sturm geschah, immer wieder auf ‐ nicht, weil ich fürchte, sie zu erzählen, sondern weil ich nicht genau weiß, wie ich sie erzählen soll. Sie beinhaltet so intime Dinge ‐ doch macht es alle Dinge klar, es macht alles so schön klar, Roger Poole. Es war, nachdem der Wind sich ein bisschen beruhigte, dass ich Porter mich hinauf auf das Deck bringen ließ. Der Mond flog durch die zerklüfteten Wolken und das Wasser war ein wildes Dahinstürmen von Schwarz und Weiß. Es war alles ganz gespenstisch und fantastisch und ich zitterte. Und dann sagte Porter: „Mary, wir sollten lieber hinuntergehen.“ Und ich sagte: „Es war nicht Furcht, die mich zittern ließ, Porter. Es war nur der Gedanke, dass zu leben schlimmer ist, als zu sterben.“ Er ließ meinen Arm fallen und blickte auf mich herab. „Mary“, sagte er, „was ist los mit dir?“ „Ich weiß es nicht“, sagte ich. „Es ist nur, dass mein Mut fort ist ‐ ich kann den Dingen nicht gegenübertreten.“ „Warum nicht?“ „Ich weiß es nicht ‐ Ich habe meinen Griff verloren, Porter.“ Und dann stellte er eine Frage. „Ist es wegen Barry, Mary?“ „Etwas davon.“ 350
„Und der Rest.“ „Ich kann es dir nicht sagen.“ Wir gingen lange Zeit danach spazieren und ich hielt mich die ganze Zeit an seinem Arm fest ‐ denn es war nicht leicht bei diesem Seegang ‐ als er plötzlich seine Hand über meine legte. „Mary“, sagte er, „ich muss es dir sagen. Ich kann es nicht zurückhalten und mich ehrlich fühlen. Ich weiß nicht, ob du Roger Poole in deinem Leben willst ‐ Ich weiß nicht, ob du dich dafür interessierst. Aber ich will, dass du glücklich wirst. Und ich war es, der ihn von dir fortschickte.“ Und jetzt, Roger Poole, was kann ich sagen? Was kann irgendeine Frau sagen? Ich weiß nur dies, dass, während ich das schreibe, die Sonne über dem blauen Meer scheint und dass die Welt ‐ anders ist. Da sind noch Dinge in meinem Herzen, die schmerzen ‐ aber da sind auch Dinge, die es singen lassen! MARY Als Mary Ballard am Morgen nach dem Sturm an Deck kam, starrte jeder. Wo war das Mädchen von gestern ‐ das zerbrechliche weiße Mädchen, das so lustlos auf seinem Stuhl Trübsal geblasen und auf kleinen Stücken Papier gekritzelt hatte? Hier war eine hübsche junge Schönheit mit erhobenem Haupt, eine klares hellen Leuchten in ihren grauen Augen ‐ eine matte Röte auf ihren Wangen. Colin Quale, der ihr begegnete, klimperte mit seinen Wimpern und lächelte: „Ist dies, was der Sturm Ihnen antat?“ 351
„Was?“ „Das und das.“ Er berührte seine Wangen und seine Augen. „Heute, wenn ich Sie malte, würde ich rosa auf meine Palette tun müssen ‐ gestern hätte ich nur schwarz und weiß gebraucht.“ Mary lächelte zurück. „Interpretieren Sie Dinge immer durch das Medium Ihres Pinsels?“ „Warum nicht? Das Leben ist einfach das ‐ ein wenig Farbe mehr oder weniger, und es hängt alles von der Hand des Künstlers ab.“ „Was für eine wundervolle Palette er hat!“ Ihre Augen streiften das Meer und den Himmel. „Heute Morgen ist die Welt ganz golden und blau.“ „Und gestern war sie grau.“ Mary warf ihm einen Blick zu. Seine Stimme hatte sich verändert. Delilah kam auf sie zu. „Da ist Material, mit dem ich gerne arbeite“, sagte er, „da ist etwas mehr als Farbe oder Leinwand ‐ lebendige, atmende Schönheit.“ „Er sagt Dinge über dich“, sagte Mary, als sich Delilah ihnen anschloss. Delilah, die schwach errötete, senkte ihre Augen. „Ich habe Angst vor ihm, Mary?“, sagte sie. Colin lachte. „Sie haben vor niemandem Angst.“ „Ja, habe ich. Sie analysieren meine mentalen Prozesse auf eine so unheimliche Weise. Sie lesen mich immer wie ein Buch.“ 352
„Ein äußerst interessantes Buch“, Colins Wimpern bebten, „mit hübschen Illustrationen.“ Sie lachten und fegten davon in einem flotten Gang, gefolgt von neugierigen Augen. Falls für andere Marys Glanz ein Wunder der wiederkehrenden Gesundheit erschien, für Porter Bigelow war es kein Wunder. Nichts hätte vollständiger das Geläut seiner Hoffnungen ertönen können, als dieser Glanz. Ihre Haltung ihm gegenüber war tadellos. Sie war tatsächlich freundlicher, als sie in den Tagen gewesen war, als er versucht hatte, ihr seine Ansprüche aufzuzwingen. Sie schien zu versuchen, durch ihre Freundlichkeit etwas gutzumachen, das sie ihm entzogen hatte, und er wusste, dass nichts je wieder gutmachen konnte. So geschah es, dass er immer weniger seiner Zeit mit ihr verbrachte, und immer mehr mit Leila ‐ Leila, die getröstet werden musste und die ihn mit solcher süßen und klammernden Abhängigkeit willkommen hieß ‐ Leila, die an seinem Rat hing, Leila, die seinen Schmerz erahnte, strebte mit ihrem süßen Mitgefühl danach, ihm zu helfen. So kamen sie rechtzeitig nach London. Und als Leila und ihr Vater zu den deutschen Bädern abreisten, fuhr Porter mit ihnen. Es war, als er „Auf Wiedersehen“ zu Mary sagte, dass seine Stimme brach. „Liebe Contrary Mary“, sagte er, „der alte Name passt noch immer zu dir. Du konntest nie und du würdest nie, und jetzt wirst du nie.“ 353
Es folgten für Mary ruhige Tage mit Constance und dem schönen Baby, Tage, in denen die Schwestern durch die Bande des gegenseitigen Kummers verknüpft waren. Die kleine Mary‐Constance war ein wundervoller Trost für sie beide; unbewusst der Traurigkeit gurgelte sie und krähte und strahlte und gewann sie aus sorgenvollen Gedanke durch ihre Schmeicheleien und machte sich selbst zum Mittelpunkt der Dinge, sodass schließlich ihre ganze kleine Welt um sie herum sich zu drehen schien. Und immer in diesen ruhigen Tagen schaute Mary nach einem Brief aus Übersee, und endlich kam er in einem blauen Umschlag. Er traf eines Morgens ein, als sie mit Constance und Gordon beim Frühstück war. Ihr mit anderen Briefen übergeben, ließ sie ihn ungeöffnet und legte ihn neben ihren Teller. Gordon beendete sein Frühstück, küsste seine Frau und ging fort. Constance, die ihre Post durchsah, las Mary Stückchen der Nachrichten vor. Mary wiederum las Stückchen der Nachrichten Constance vor. Aber der blaue Umschlag neben ihrem Teller blieb unberührt, bis sie, als sie den Blick ihrer Schwester einfing, errötete. „Constance“, sagte sie, „er ist von Roger Poole.“ „Oh, Mary, und war das, warum Porter fortging?“ „Ja.“ Es kam beinahe trotzig.
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Für einen Augenblick zögerte die junge Matrone, dann streckte sie ihre Arme aus. „Liebstes Mädchen“, sagte sie, „wir wollen, dass du glücklich bist.“ Mary mit leuchtenden Augen kam direkt in diese liebevolle Umarmung. „Ich werde glücklich sein“, sagte sie fast atemlos, „und vielleicht wird meine Art, glücklich zu sein, nicht deine sein, Con, Liebling. Aber was macht es für einen Unterschied, solange wir beide glücklich sind?“ Der Brief, endlich im Schutz des eigenen Zimmers gelesen, war nicht lang. Zwischen den Föhren. Sogar jetzt kann ich nicht ganz glauben, dass Ihr Brief wahr ist ‐ ich habe ihn gelesen und wieder gelesen ‐ immer wieder, wobei ich darin jedes Mal neue Bedeutungen, neue Hoffnung las. Und heute Nacht liegt er auf meinem Schreibtisch, ein kostbares Dokument, das mich versucht, Dinge zu sagen, die vielleicht nicht gesagt werden sollten ‐ mich versuchen, um das zu flehen, was ich vielleicht nicht erbitten sollte. Liebe Frau ‐ was habe ich dir zu bieten? Nur ein Heim hier unten zwischen Sandhügeln ‐ eine kleine Kirche, die bald im Kreis der jungen Föhren stehen wird, ein Arbeitsleben in einem kleinen Pfarrhauses in der Nähe der kleinen Kirche ‐ denn deine Träume und meine sollen wahr werden und die kleine Kirche wird innerhalb eines Jahres gebaut. 355
Doch habe ich einen Garten. Einen Seelengarten. Wirst du in ihn kommen? Und ihn blühen lassen, wie du mein Leben zum Blühen gebracht hast? Alles, was ich bin, zu dem hast du mich gemacht. Als ich meinen Glauben an mich selbst verlor, leuchtete es in deinen Augen. Als ich deinen tapferen jungen Mut sah, kam mein Mut zu mir. Du warst es, die mir sagte, dass ich eine Botschaft zu überbringen hätte. Und ich überbringe die Botschaft ‐ und irgendwie kann ich nicht fühlen, dass es eine kleine Sache zu bieten ist, wenn ich dich bitte, daran teilzuhaben, an meiner Arbeit. Andere Männer können dir ein Schloss bieten ‐ andere Männer können dir ein leichtes Leben bieten. Ich kann dir ein Leben bringen, in dem wir einander und der Welt geben. Ich kann dir Liebe geben, die der eines Mannes gleicht. Ich kann dir eine Zukunft geben, die dich die Vergangenheit vergessen lässt. Nicht jeder Frau würde ich wagen anzubieten, was ich zu geben habe ‐ aber du bist anders von anderen Frauen. Von dem Abend an, als du mir das erste Mal begegnetest, offen mit deinem tapferen jungen Haupt erhoben und deinen leuchtenden Augen, habe ich gewusst, dass du anders als der Rest warst ‐ eine Frau, tapferer und stärker, eine Frau, die mehr vom Leben als Weiblichkeit verlangte. Und jetzt wirst du mit mir Schulter an Schulter kämpfen? Und gewinnen? Irgendwie fühle ich, dass du „Ja“ sagen wirst. Ist das die richtige Haltung für einen Liebenden? Aber sicher kann ich ein kleines Stück in dein Herz sehen? Dein Brief ließ es mich sehen. 356
Falls ich zu optimistisch scheine, vergib mir. Aber ich weiß, was ich für mich will. Ich weiß, was ich für dich will. Ich bin der Roger Poole der Turmzimmer, besiegt und gebrochen. Ich bin Roger Poole des Gartens, der triumphierend im Takt mit dem Universum marschiert. Während ich schreibe, habe ich eine Vision von einem kleinen Haus, nicht weit weg von der kleinen Kirche in dem Kreis der jungen Föhren ‐ ein Haus mit Obstgärten, die alles Rosarot dahinter im April zusammenraffen, und mit Veilchen an den Grenzen des Weges im Januar und mit Rosen vom Mai bis Dezember. Und ich kann dich in diesem kleinen Haus sehen. Ich werde dich darin sehen, bis du etwas sagst, das diese Vision zerstört. Aber du wirst sie nicht zerstören. Sicherlich wirst du eines Tages die Spottdrosseln im Mondlicht sehen ‐ wie ich sie heute Nacht alleine höre. Ich brauche dich, ich will dich und ich hoffe, dass es kein selbstsüchtiger Schrei ist. Denn dein Brief hat mir gesagt, dass du auch ‐ was willst? Ist es Liebe, Mary Liebes, und Leben? ROGER
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Kapitel XXVI In dem ein fremdes Fahrzeug in einem Meer aus smaragdgrünem Licht ankert und in dem Spottdrosseln im Mondlicht singen
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urch ein Land mit weißem Sand und verkohlten Bäumen verlaufen harte Lehmstraßen. Als Autos aus den Großstädten und Kurorten begannen, die Föhren zu überlaufen, wurde gefunden, dass die alten Wagenpfade unzulänglich waren; von jetzt an folgten Experimente, die in orangefarbenen Straßenkreuzungen resultierten, durch die wüstengleiche Ausdehnung. Es war an einem Tag im April, dass über die Straße, die hinauf zu einem Hügel führte, der schneeweiße Baldachin eines der merkwürdigen Landfahrzeuge dieser Gegend segelte ‐ ein Schonerwagen, gezogen von zwei fetten Maultieren, die in einem gemächlichen, aber beständigen Schritt gingen, scheinbar ohne Führung einer Hand. Doch unter der Abdeckung wurde eine leitende Macht gezeigt, als die Maultiere plötzlich von der heißen Straße zu einem Wagenpfad unter dem Schutz der Föhren bogen. Er war dick mit braunen Nadeln bestreut, und die scharfen Hufe der kleinen Tiere machten kein Geräusch. Immer tiefer gingen sie hinein in den Wald, bis das schwingende Fahrzeug und seine schwerfälligen Rösser in einem Meer von smaragdgrünem Licht zu schwimmen schienen.
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Immer weiter trotzende Wellen aus goldener Düsterkeit, wo das Sonnenlicht durchdrang, um endlich an einem stillen Platz zu ankern, wo die großen Bäume oben sangen. Dann tauchte unter dem Baldachin ein Mann in Khakihosen auf. Er nahm seinen Hut ab und stand für einen Augenblick und blickte hinauf zu den großen Bäumen, dann rief er leise: „Mary.“ Sie kam zu dem hinteren Teil des Wagens und er hob sie herunter. „Das ist meine Kathedrale“, sagte er; „es ist der Platz der größten Föhren.“ Sie lehnte sich an ihn und sah hoch. Sein Arm war um sie. Sie trug eine dünne Seidenbluse und einen weißen Rock. Ihr weiches Haar wurde gegen seine Wange geweht. „Roger“, sagte sie, „gab es je solche Flitterwochen?“ „Gab es je eine solche Frau ‐ eine solche Ehefrau?“ Danach waren sie still. Es bestand keine Notwendigkeit für Worte. Aber bald breitete er für sie eine Decke aus und machte ihr Feuer, und sie aßen zu Mittag. Die Maultiere fraßen gemütlich im Schatten und ruhten sich während der langen heißen Stunden des Nachmittags aus. Dann segelte das merkwürdige Fahrzeug wieder weiter. Immer weiter über Meilen von orangefarbener Straße, hin und wieder vorbei an einem Obstgarten, die das Rosarot ihrer Pfirsichbäume gegen den graubraunen Hintergrund des Sandes zur Schau stellten; sie fuhren wieder zwischen den Strömungen von Hartriegel, der wie Schnee unter den schräge Sonnenstrahlen schien ‐ sie segelten immer weiter, bis die 359
Sonne unterging. Dann kam das schattige Zwielicht mit den Sternen, das heraus in die warme Abenddämmerung kam ‐ dann das Mondlicht ‐ und die singenden Spottdrosseln.
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