Mitteldeutscher Verlag Halle.Leipzig 1990 ISBN 3-354-00709-5
Ivo Mansmann
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Mitteldeutscher Verlag Halle.Leipzig 1990 ISBN 3-354-00709-5
Ivo Mansmann
CLIPPERTON Schicksale auf einer vergessenen Insel TEIL I (Kapitel 1 bis 19) Bäche, Flüsse, Ströme bewegen sich ihrer Bestimmung zu. Nicht ein einziger fließt zurück zu seiner lieblichen Quelle. Der Starke, der Weise, der Tapfere, der Schöne - wo sind sie jetzt? Alle sind Teil der Erdscholle, und das, was Ihnen geschehen ist, wird auch uns geschehen und denen, die nach uns kommen. Ihr Leben ist vergangen wie der furchtbare Rauch, der aus dem Schlund des Popocatépetl aufsteigt, und nichts erinnert an ihr Dasein, als der Bericht des Geschichtsschreibers. Netzahualcoyotl (1400 - 1472) König von Texcoco 1
DAS LEUCHTFEUER 1 An einem wolkenlosen Tage im März des Jahres 1880, als die Sonne über Kuba einen besonders heißen Sommer ankündigte und das Wasser knapp wurde, schleppte sich Maria Alvarez, deren Mutter vor vierzig Jahren gegen ihren Willen aus Afrika herübergebracht worden war, aus den Zuckerrohrfeldern und verkroch sich in einem schattenspendenden Gehölz, um ihr drittes Kind zur Welt zu bringen. Es kümmerte sich keiner um sie, und sie rechnete nicht damit, daß ihr jemand beistehen würde. Sie trat das Gras um sich herum nieder und weinte vor Schmerzen. Sie kauerte sich in die flache Mulde, preßte die Frucht aus ihrem Leib, wickelte das kleine Geschöpf in ihre Schürze und taumelte in ihr Dorf zurück. So wurde Emilio Jeronimo Alvarez geboren. Trotz seiner klangvollen Vornamen wurde er, außer von seiner Familie, später nie anders gerufen als Alvarez. Er wuchs an der Nordküste in einem jener schrecklichen kleinen Dörfer westlich der Provinzstadt Caibarién auf, das aus ein paar lausig mit Brettern und Blechstücken zusammengeflickten Bohios, einer winzigen Kapelle, einer Cantina und einem etwas ansehnlicheren Gemeindehaus bestand. 2
Die meisten der Hütten mußten nach den Stürmen, die regelmäßig jedes Jahr mit verheerender Wucht über das Land hereinbrachen, immer wieder neu aufgebaut werden. Das Dorf war auf keiner Karte verzeichnet. Die Menschen, die dort lebten, besaßen nichts als die Kraft ihrer Hände und einen nicht leicht erklärbaren Willen, am Leben zu bleiben. Sie nannten die erbärmliche Siedlung Casas, was nichts anderes bedeutet als Hütten. In der Gegend von Casas wurde Zuckerrohr angebaut. Wer in den Plantagen keine Arbeit fand, setzte sich von Zeit zu Zeit in den Westen ab, um sich in La Habana als Dockarbeiter zu verdingen. Aber alle kamen bald wieder zurück, mit ein paar Pesos oder Dollars in der Tasche und der jedesmal wieder betrogenen Hoffnung, es werde nun alles besser werden. Alvarez hatte vier Schwestern. Zwei waren älter als er. Antonia, die älteste, hielt sie mit ihrem Fleiß am Leben. Die Mutter litt an häufigen Depressionen, die viel Traurigkeit über die Familie brachten. Sie weinte tagelang und saß mit verschwollenen Augen in einer Ecke des Bohios, faltete die Hände in ihrem Schoß, klagte heulend über das elende Schicksal, unter dem sie leben mußten und verfluchte den Vater grundlos und mit obszönem Geschrei, wenn er abends, von Straßenarbeiten gepeinigt und müde wie ein Hund, nach Hause kam. Wenn sie ihre unseligen Zeiten hatte, trug sie die Pesos, die abends noch auf dem Tisch lagen, hinüber zu Antaros Cantina und brachte Rum mit, der ihr Schluchzen für einen Tag unterbrach und sie zum Schweigen brachte. 3
Antonia aber schlich sich bereits aus dem Dorf, wenn noch kein Vogel sang, und alles noch in tiefem Schweigen lag. Sie mußte auf schmalen Pfaden in der Dunkelheit drei Stunden durch den schwülen Nachthauch der Pflanzungen gehen, bis zur Plantage von Don Alonso und kam immer gerade noch recht, wenn alle aufstanden und ihr Frühstück haben wollten. Den Tag über schuftete sie in der Küche, im Stall bei den Pferden und Schweinen, versorgte acht Kinder, fütterte die Kleinen und putzte ihnen den Hintern ab, stand im Waschhaus und verbrühte sich die Arme in der heißen Lauge. Wenn die Dämmerung anbrach und die Männer lärmend von den Feldern hereinkamen, servierte sie Rum und Bier, bis die Augen der Arbeiter glasig wurden und sie ihr an die Brüste und zwischen die Schenkel faßten. Sie wehrte sich kaum, weil sie wußte, daß dies nichts nützte. Dann trat sie den langen Heimweg an durch die Zikadengesänge der karibischen Nacht. Fünf Stunden Schlaf neben ihrer schnarchenden Mutter und alles begann von neuem, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Manuela, die zweite der Geschwister, half den Fischern am Strand. Sie kümmerte sich um die Netze, knüpfte mit Blasen an den Fingern und schwieligen Knöcheln Knoten um Knoten und versorgte die Fische, die man ihr in großen schwarzen Kübeln brachte. 4
Tausendmal hintereinander: Schnitt, Griff mit zwei Fingern, heraus mit den Därmen und mit Schwung in den Kübel. Ein Zug mit dem Messer hinter die Kiemen, Kopf in den Kübel und dasselbe mit dem Schwanz. Sie drückte die zerteilten Fischkörper in Salz, wendete sie, schichtete sie in Fässer. Eine Hand voll Salz drüber und Griff nach dem nächsten Fisch. So ging das, bis der Mond über den Häusern stand. Trotzdem kam sie meist vor Antonia nach Hause. Die beiden Kleinen, Juana und Verena, konnten noch nicht viel beitragen zum Unterhalt der Familie. Sie waren erst neun und elf Jahre alt. Alvarez liebte seine Schwestern. Er bewunderte Antonia und Manuela, wenn sie ihre Pesos auf den Tisch zählten, die der Vater ohne Dank in einen Leinensack packte. Aber Alvarez selbst konnte nicht helfen, er schaffte es einfach nicht. Er fand keine Arbeit, von seltenen Gelegenheiten abgesehen, die sich ihm boten, wenn Erntezeit war, und er geholt wurde, um Tabakblätter in Kisten zu packen, Zuckerrohr aufzuschichten oder Maiskolben abzurebeln. So vertrieb sich Alvarez die Zeit mit seiner Angel. Er saß am Steg und wartete darauf, daß irgendein Fisch anbiß, den er anstelle von blanken Münzen heimbringen konnte. Meist jedoch tändelte er herum, traf sich mit seiner Freundin Juanita und ihren Schwestern zu süßem Nichtstun und strolchte durchs Dorf oder lungerte am Strand herum. 5
Sein Leben wurde beherrscht von sehr einfachen Empfindungen. Er kostete die süße Frische einer kühlen Melone, indem er seine Zunge tief in das saftige, rosafarbene Fleisch drückte und dabei die Augen schloß, um jeder Ablenkung zu entgehen. Er ließ seine Hände über das warme, glatte Fell eines in der Sonne liegenden Hundes gleiten, bis sich ihm vor Behagen die Nackenhaare sträubten. Er empfand höchsten Genuß, wenn er am Strand einen großen weichen Haufen produzierte, während der warme Seewind zwischen seinen nackten Schenkeln hindurchstrich und ihm das Blut so unter die Hüften trieb, daß el undecimo dedo, sein elfter Finger, wie er ihn nannte, sich aufrichtete und aufs Meer hinaus zeigte. Er löste sich von aller Erdenschwere, wenn er in der späten Nachmittagssonne, umtost vom Schlagen der Brandung, am Strand kauerte, und seine Gedanken in der bunten Welt herumgeistern ließ, die zwischen Schlaf und Wachsein liegt. Er sog mit tiefen Atemzügen den Muschelduft des Windes ein, der vom Meer herüberwehte und ihn in einen beschwingten Rauschzustand versetzte, der seine Sinne der Welt entrückte. Es gab Tage, an denen er hinter einer Bretterwand den Mädchen auflauerte und auf Zehenspitzen zusah, wie die schmalen braunen Gestalten tropfend und im Sonnenlicht glänzend aus der Gischt heraus zu ihren Kleidern liefen. In solchen Augenblikken fühlte er sich als Teil des Meeres, ja, er versuchte, sich vorzustellen, wirklich das Meer 6
selbst zu sein, das wie ein großes Tier dalag, im Wind atmete und jeden Quadratzoll der samtigen Haut der Mädchen berühren konnte. Unter dem lichten Dach eines großen Busches, der Schutz bot vor der Sonne und doch den Blick in die Wolken offenließ, hockte er stundenlang mit den Mädchen herum. Im Geschrei der Seevögel erzählten sie sich fantastische Geschichten oder dösten vor sich hin, bis der Wind kühl wurde und sie nach Hause trieb. Unter diesem Busch wurden Geheimnisse flüsternd weitergegeben. Sie betatschten und beschnupperten ihre Körper und lachten dabei so laut, daß die Möwen am Strand aufflogen. An solch einem langen Nachmittag zog sich Juanita zurück und nahm über ihnen auf der Böschung so wenig Deckung, daß Alvarez blinzelnd verfolgen konnte, wie sie ihren Rock hob und in Hockstellung ging. Er lag im Sand und hatte die Beine lang ausgestreckt. Neben ihm kniete Conchita und beobachtete die Veränderung, die an ihm vorging. Unter seinem Gürtel glätteten sich die Falten, hob sich die Naht, bildeten sich Konturen aus, die Conchita erstaunt musterte. Alvarez streckte sich und gab Gegendruck, als Conchita ihre Hand vorsichtig tastend auf die Erhebung legte, und er sagte nichts, als sie ihn aus schmalen Augen angrinste und mit spitzen Fingern die Knöpfe öffnete und das kleine harte Ding unter dem staunenden Ay! von Juanita, die zurückgekommen war, herausspringen ließ. 7
Dann kauerten sie alle drei über ihm mit offenem Mund und runden Augen. Sie umspannten abwechselnd das im Rhythmus von Alvarez' Herzschlag hüpfende, kaffeebraune Objekt ihres Interesses. Sie taten das vorsichtig und mit vor Aufregung feuchten Händen. Sie staunten über dessen Beweglichkeit und spuckten, um sie zu steigern, obendrauf, bis dieses an der Spitze glänzte und spiegelte wie eine aus dem Öl gezogene Olive. Alvarez` Augen verschleierten sich. Dann bäumte er sich so auf, daß sein Körper nur noch von seinen Schultern und den Fersen gestützt wurde, und sein Rücken den Boden nicht mehr berührte. Er schob, in den Himmel starrend, seine Hände tief in den Sand, als sein elfter Finger unvermittelt zu ungeahnter Mächtigkeit aufschoß und den Händen der Mädchen entglitt. Sie erschraken und verschränkten ihre Arme ratlos hinter dem Rücken. Nachdem aber der Bann gebrochen war, schnappten sie Alvarez' Hose, trugen sie kichernd hinunter zum Strand, wuschen sie sorgfältig in der Brandung und hängten sie über einen Ast des Gebüsches, daß sie in der Sonne trocknen konnte. Dann entledigten sie sich selbst ihrer Kleider, die sie in hohem Bogen auf einen Haufen warfen, und schwammen lachend und lärmend mit Alvarez hinaus bis zum zweiten Korallenriff, wo die großen Brecher übereinanderstürzten.
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Aus diesem harmlosen Spiel entwickelte sich später ein Ritual, das sie begeistert pflegten, wann immer sie Lust dazu hatten. Eines Tages aber suchte ein Fischer des Dorfes am Strand nach einer abgetriebenen Boje. Der Mann erspähte die Mädchen gerade zu dem Zeitpunkt, als sie sich an Alvarez zu schaffen machten und beobachtete die Szene aus der Entfernung, bis sich Alvarez mit seinen Freundinnen ermattet in den Sand fallen ließ. Räuspernd trat er aus dem Buschwerk, mit rotem Kopf und scheinbar nach seiner Boje Ausschau haltend. Dann strich er pfeifend den Strand entlang, bis er den Blicken der Kinder entschwand. Alvarez' Mutter brüllte in der Hütte herum und schlug ihn an jenem Abend mit dem Feuerhaken. Es war ihm am nächsten Tag so elend, daß er nicht aus dem Haus konnte. Den Mädchen soll es ähnlich ergangen sein. Die durch die Prügel aufkeimende vage Erkenntnis, daß bei ihrem Ritual etwas nicht in Ordnung sein könnte, wurde durch Padre Ignacio, der in zweiwöchigem Abstand zu ihnen ins Dorf kam, eindrucksvoll bestätigt. Als dieser nämlich Alvarez an einem Freitag in der Sakristei der Kapelle von Casas, in der es immer nach verwelkten Blumen, alten Weibern, abgebrannten Kerzen und Weihrauch roch, die Beichte abnahm, rückte er nach einem von Alvarez sehr unklar formulierten Geständnis sein schwitzendes Gesicht ganz nahe an das Holzgitter,
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das den Sünder vom Beichtvater trennt und zischte mit fischigem Atem Frage um Frage durch das Gitter. Nie hatte Padre Ignacio so viele Fragen gestellt. Die Diebereien, Lügereien, Raufereien, Tierquälereien und Betrügereien, die Alvarez sonst zu bekennen hatte, waren vom Padre stets in stoischer Ruhe hingenommen worden. Er verpaßte ihm meist nur zehn Vaterunser und zehn Ave Maria oder, wenn es hochkam, den schmerzensreichen Rosenkranz, ohne viel nachzufragen. Nie war er dabei streng gewesen. An jenem Tag aber war es anders. "Wie oft wart ihr da unten am Strand?" fragte Padre Ignacio und hüstelte vor sich hin. "Ich weiß nicht" "Wie oft ungefähr?" "Alle paar Tage." "Und ihr habt immer dasselbe getan?" "Ja, immer fast dasselbe." "Was heißt fast? Was genau habt ihr da getrieben?" "Manchmal war es so, manchmal anders, aber es war immer sehr ähnlich." Alvarez sprach mit sehr leiser Stimme und versuchte, nach Worten ringend, zu erklären:
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"Es waren die Mädchen, mit den Fingern, sie wollten sehen. Sie haben ...." Der Padre schluckte. "Hast du die Mädchen angefaßt?" "Ja, manchmal." "Du weißt, was ich meine?" "Ich glaube schon." "Und sonst? Nichts weiter?" "Was hätte ich sonst noch tun sollen?" Alvarez war ratlos. "Du weißt, was die Esel machen. Hast du es so gemacht wie die Esel?" Alvarez wich erschrocken zurück und starrte den Padre an. "Mit den Mädchen?" Seine Gegenfrage war mit solcher Fassungslosigkeit gestellt, daß der Padre irritiert verstummte. Dann fing er wieder an: "Hat dir das Spaß gemacht?" "Was?" "Na ja das Ganze?"
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"Ja, ein bißchen schon." Padre Ignacio wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn und senkte seine Stimme um eine Oktave. "Du wirst das nie wieder tun, hörst du, nie wieder! Gott wird dich mit Elend und Siechtum schlagen. Dein Körper wird zusammenfallen und deine Augen werden trüb werden im Anblick der Sünde. Du wirst keine Gnade finden vor der Heiligen Jungfrau und ihrem eingeborenen Sohn und du wirst einen elenden Tod sterben." Der Padre steigerte sich mehr und mehr in apokalyptische Drohungen, so daß in Alvarez wirkliche Angst aufkeimte. Dieses Gefühl steigerte sich zur Panik, als ihm Padre Ignacio spukkend, mit tränenden Augen und in hektischem Wortschwall die Glut des Fegefeuers und die Schrecken der Hölle schilderte. Alvarez fühlte sich bereits umgeben von Flammen und sah sich einen Abgrund hinunterstürzen, der ihn in die Klauen des Teufels warf. Alvarez steigerte sich so in Horrorvisionen hinein, daß er wahrhaftig unter dem körperlichen Schmerz litt, den ihm die Zangen und Haken zufügten, mit denen ihm Haare, Nägel, Augen und schließlich vor allem das, was das Unglück heraufbeschworen hatte, herausgerissen wurden. Gefangen von den Bildern, die sich ihm aufdrängten, stöhnte er plötzlich in die Bußpredigt des Padre hinein aus seinem Innersten heraus so erbärmlich auf, daß der Beichtvater tiefe Reue vermutend seinen geistlichen Zuspruch abbrach. Mit leiser Stimme sprach er: "Deinde ego te 12
absolvo ..." und spendete den Segen, indem er mit den Händen vor Alvarez' Gesicht ein Kreuz bildete. Alvarez aber sah und hörte nichts mehr. Als sich der Vorhang des Beichtstuhls wieder hinter ihm schloß und er mit weichen Knien dem Weihrauchdunst der Sakristei entronnen war, hatte er vergessen, welche Buße ihm diesmal aufgegeben war. Er vergaß auch, sich mit dem die Seele reinigenden Weihwasser zu besprengen und stürzte ins Freie. Alvarez ging nie wieder zur Beichte, aber von dieser Stunde an fürchtete er Gott so, wie es der Padre gewollt hatte. Eines Tages kam Alvarez' Vater nicht von der Arbeit zurück. Alvarez war damals gerade fünfzehn Jahre alt. Seine Mutter und die Schwestern warteten ein ganzes Jahr, dann schickten sie Alvarez nach La Habana, um den Vater zu suchen. Sie gaben ihm zehn Pesos mit und versorgten ihn mit Hilfe der Nachbarn mit einem halbwegs brauchbaren Anzug. An einem Montag im Spätherbst brach Alvarez auf und erreichte La Habana nach elf Tagen, mühevollen und hungrigen Märschen und elenden Nächten auf rumpelnden Fuhrwerken. Mein Gott, was war das für eine Stadt! Strahlende Avenidas, marmorne Häuser, so groß und leuchtend wie Schlösser, und Menschen, deren Macht und Wichtigkeit er mühelos an ihren unnachsichtigen Blicken erkennen 13
konnte. Ein buntes Gewimmel von Geschäftsleuten, Müßiggängern, Ganoven, Indios, Mulatten, Mestizen, Spaniern und Gringos wogte um ihn zwischen schwarzglänzenden Kutschen und bimmelnden Straßenbahnen. Alvarez hatte keine Ahnung, wie er seinen Vater in diesem Gewirr suchen sollte. Er ging hinunter zum Hafen und stellte den Seeleuten, die dort in den Kneipen herumstanden, Fragen, die sie nicht beantworten konnten. Er wiederholte tausendmal den Namen Gustavo Alvarez und erreichte nichts anderes, als interesseloses Achselzucken. Was waren die lächerlichen zehn Pesos wert in dieser Stadt, die bevölkert war mit Menschen, die alle das Tausendfache besaßen? Er saß mutlos am Kai, guckte hinaus auf die vielen Schiffe und überlegte, wie er es anstellen sollte, auch nur eine Spur seines Vaters zu finden. Er schlief in einem Seemannsasyl, um Pesos zu sparen, die für ihn das Überleben bedeuteten. Er wurde bedrängt von Matrosen, die nachts, ohne daß er es verhindern konnte, unter seine Decke schlüpften und ihm versprachen, seinen Vater zu finden, während sie grob an ihm herumfingerten. Er aß nur das Nötigste. Brot, Bananen und manchmal eine warme Fischsuppe, und er sah seine Barschaft dahinschmelzen, ohne daß er bei seiner Suche auch nur einen winzigen Schritt vorankam. Schließlich half ihm der Zufall. 14
An einem regennassen Morgen traf er vor einer Bar, die gerade schloß, einen Mann, der offenbar die Nacht dort verbracht hatte, und dem er ohne jede Hoffnung auf eine brauchbare Antwort den Namen seines Vaters nannte. Der schaute ihn müde an und sagte: "Den alten Gustavo suchst du? Geh' mal da rein und frage Clementina. Das Miststück weiß, wo er steckt." Er ging hinein in die Bar und fand Clementina, die hinter der Bar stand und Gläser spülte. Sie führte ihn hinauf über knarrende Stufen und klopfte an eine Tür. Als niemand antwortete, drückte sie die Klinke nieder, und er sah seinen Vater in einem verschlampten Bett neben einer Frau liegen, die einen unordentlichen roten Haarschopf hatte und sich erschrocken die Hand vor den Mund hielt. Sein Vater schlief und drehte sich grunzend um, als ihn die Frau mit dem Ellenbogen anstieß, aber er wachte nicht auf. Alvarez rannte die steilen Stufen hinunter, ließ Clementina stehen und irrte noch zwei Tage durch La Habana, weil er nicht wußte, wie er seine Mission erfüllen sollte. Dann machte er sich mit leerem Herzen auf den mühsamen Weg nach Casas und schwor sich, nie irgendjemand zu sagen, daß er seinen Vater gefunden hatte. Zwei Wochen nachdem Alvarez aus La Habana zurückgekommen war, packte ihn plötzlich ein Schütteln, das ihn auf die Stelle bannte, wo er gerade stand. Er schaffte es nicht mehr, vom Strand zur Hütte zurückzugehen. In der stechenden Mittagshitze überfielen ihn Kälteschauer, die trotz ihres Eishauches perlenden Schweiß auf seine Stirn trieben. Schwindel warfen ihn nieder mit seismischer Gewalt, und seine fiebrigen Augen suchten einen Menschen, der ihm hätte helfen können; 15
aber sein Blick wurde getrübt von dichten gelben Wolken, die in ihm selbst entstanden und sich um ihn ausbreiteten und die Bäume und die Straße tanzen ließen wie Spiegelbilder auf der Oberfläche eines Sees. Er fiel auf den staubigen Weg, und die hilfesuchend ausgestreckten Hände sanken kraftlos zu Boden. Man fand ihn erst am Abend. Zwei Fischer trugen ihn nach Hause. Vier Tage später wußte man, daß er die Blattern hatte. Seine Mutter, Antonia, Manuela und die beiden Kleinen rafften zusammen, was ihnen wichtig erschien und stürzten mit lautem Wehklagen aus dem Haus. Sie überließen Alvarez seinem Schicksal. Über sein Gesicht und dann über die Handflächen und die Füße breiteten sich kleine rote Knötchen aus, wurden mehr und mehr, wuchsen auf zu kraterigen, nässenden Pusteln, verursachten in Alvarez eine grenzenlose Abscheu vor seinem Körper, den er schmerzgequält und schwach wie er war, kaum mehr dazu antreiben konnte, den Wasserkrug, der neben seinem Bett stand, an die Lippen zu heben. Der Kreis, den kein Mensch mehr betrat, weitete sich um das Bohio. Erst verschwanden die Morenas, dann die Garcías und schließlich die Bardillos, bis keine Hütte mehr bewohnt war zwischen dem Dorfplatz und dem Strand. Alvarez erbrach sich. Stundenlang erbrach er sich, bis zur völligen Erschöpfung. Sein Magen war leer, und so würgte er in nutzlosem, unaufhörlichem Krampf, bis er glaubte, seine Seele in winzigen schleimigen Portionen von sich zu geben, und er dachte dabei schaudernd an Padre Ignacios 16
Prophezeiungen. Er wollte seinen verabscheuten, armen Körper einfach liegenlassen und davonfliegen, hinauf in die freundlichen, kühlenden Wolken, aber es gelang ihm nicht. Dann schlief er bewegungslos stundenlang, bis der Schüttelfrost ihn wieder aus dem Frieden der Betäubung riß, und sich der grausame Kampf wiederholte. Schließlich deckten die Pusteln jeden noch freien Platz in seinem Gesicht, drängten sich aneinander, befielen seine Lippen und schossen auf in seinem Mund. Das Fieber füllte die Hütte mit Ungeheuern, vor denen er nicht fliehen konnte. Da waberten schillernde Schlangen über den Lehmboden. Sie wurden angegriffen von roten Vögeln mit Messerschnäbeln, die mit schrillem Pfeifen und angelegten Flügeln unaufhörlich wie böse Pfeile aus den grauen Blättern des Hüttendachs herunterstürzten. Er hörte die Schlangen ächzen, wenn sie getroffen wurden und er wurde geschüttelt vom Grausen vor dem wiehernden Triumphgeschrei, das die Vögel ausstießen, wenn sie sich wieder vom Boden erhoben und in den Dachbalken verschwanden. Er roch den fauligen Gestank der blutenden Schlangen und erbrach sich wieder in dämonischen Konvulsionen. Endlich hob sich das Dach. Es wurde hell, und es fielen die Wände. Der blaue Himmel senkte sich gnädig herab auf Alvarez und bedeckte die Schlangen und die Vögel, und legte sich schützend um ihn wie kühle Seide. Am sechsten Tag seines Leidens glaubte er, Juanita im Dunkel der Hütte zu erkennen. Es stand eine Schüssel Reis vor seinem Bett und der Wasserkrug war frisch gefüllt. Die Pusteln begannen einzufallen und zu trocknen. Aber es dauerte noch mehrere Wochen, bis sich die Krusten von 17
seiner Haut lösten und freigaben, was von seinem Gesicht übriggeblieben war. Von diesem Tag an mied er die Menschen und nahm nur noch solche Arbeiten an, die es ihm erlaubten, niemandem in die Augen zu sehen. Er ging weg von zu Hause und verdingte sich in einem Steinbruch bei Bajamo. Er trieb die unter seinen machtvollen Hammerschlägen singenden Keile in die Felsen, als ob er sich gegen einen Feind wenden wollte, und wenn die behauenen Quader wegzubringen waren, schob er die Karren und weigerte sich, mit den anderen vorn am Seil zu ziehen. Wenn es Essen gab, griff er wortlos seinen Napf, setzte sich abseits in den Schatten eines Baumes und führte Zwiegespräche mit den Zweigen über sich. Er vernachlässigte sich und begann zu stinken, bis die anderen von ihm abrückten, wenn er abends in die Baracke kam. Alvarez dachte zu dieser Zeit nur noch an sein Gesicht. Es war für ihn ein Gesicht, das er verloren hatte, das ihm nicht mehr gehörte. Zugegeben, er war durch das Kraterfeld von Narben fürchterlich entstellt. Man wußte nie genau, ob er ernst war oder lachte. Aber seine Stimme klang angenehm und seine Augen waren sanft und freundlich. Wenn er des Gestanks, den er verbreitete, überdrüssig, an Feiertagen über sich hinauswuchs, ganz allein die Waschkaue aufsuchte und sich dann zögernd zu den anderen setzte, hörte man ihm zu, wenn er zu erzählen begann, und wunderte sich über die Bestimmtheit seiner Gesten, mit denen er das Erzählte unterstrich, bis der Alkohol seine Hände fahrig machte und er sich wortlos wieder zurückzog. 18
Die Zeit im Steinbruch war nur eine kurze Episode. Er verschwand einfach eines Tages und schloß sich einem halbblinden Eseltreiber an, der seit Jahren ein Dorf in den Bergen oberhalb des Rio Cauto mit Reis und Tabak versorgte. Für den alten Mann war Alvarez ein Freund, weil er vorher nie einen Freund gehabt hatte. Sie sprachen kaum miteinander. Sie luden Reissäcke auf, luden Reissäcke ab und schliefen auf weit voneinander entfernten Maisstrohlagern in einem Schuppen, den man ihnen als Nachtlager zugewiesen hatte. Alvarez hatte, seit sie zusammen waren, stumm die Führung übernommen und zerrte den Esel, den sie Rosina nannten, über die steinigen Pfade die Hügel hinauf. Der Alte unterstützte ihn, indem er, hinterherstolpernd, mit einem Bündel dürrer Zweige oder einer Distel von Zeit zu Zeit den Esel schlug und fortwährend "arré, arré" rief. Später kam bei ihren anstrengenden Tagesreisen ab und zu ein Gespräch zustande. Manchmal redeten sie über den Regen, über Geld, das sie nicht hatten, oder über Frauen, denen sie sich in Wirklichkeit nicht zu nähern wagten. Wenn sie dann über Frauen redeten, leuchteten die Augen des Alten auf, und Alvarez vergaß sein Gesicht und erging sich in kühnen Abenteuern, die der Alte mit schnarrendem Gelächter quittierte. Alvarez erzählte dem Alten nicht nur Abenteuer, die er nie erlebt hatte, sondern in tolldreister Fantasie auch, welche wundervollen Pläne er für den kommenden Sonntag habe und wer alles auf ihn warte. Der Alte glaubte wider besseres Wissen jedes Wort und Alvarez sonnte sich in seinem Erfolg. Dann geschah etwas, was ihre Freundschaft jäh beendete.
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Es war im November, und in Pasillo bereitete man sich auf das Fest der Heiligen Katharina vor. Tagsüber hatte es fürchterlich geregnet, und sie hatten mit Rosina viel Zeit verloren. So beschlossen sie, den Weg zurück erst am nächsten Tag anzutreten und über Nacht in Pasillo zu bleiben. Während Alvarez, der sich wie immer früh zurückgezogen hatte, auf seinem Lager im Pferdestall hinter der Cantina schlief, schwang der Alte, benebelt von überreichen Rumrationen und ausgehalten von den jungen Männern von Pasillo, große Reden und prahlte mit den Taten seines Freundes: "Er sieht aus wie der Teufel, sagt ihr? Hombres! Die Mädchen mögen solche Teufel! Por Dios! Solche Teufel, wie er einer ist, mögen sie ganz besonders! Geht doch rüber und fragt ihn! Weckt ihn auf! Holt ihn her! Er wird euch selber sagen, was für einen Schwanz er hat!" Alles lachte. "Herrgott im Himmel", schrie der Alte und deutete verzweifelt in die Dunkelheit "er ist stark wie ein Bulle und schafft es viermal hintereinander - und einmal hat er es mit drei Chicas in La Habana gleichzeitig getrieben und alle drei haben gepiepst vor Freude und er mußte es nochmal machen, mit allen Dreien!" "Scheiße, ein Blindgänger ist er und ein armer Hund", sagte einer in der Runde und erhielt Beifall von allen Seiten.
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Am nächsten Tag wurden die beiden Eseltreiber zu ihrem Erstaunen zum Fest eingeladen und beschlossen, einen weiteren Tag zu bleiben. Als es Nacht wurde, sah man den Alten wieder bramarbasierend mit all den anderen auf dem Dorfplatz sitzen, aber Alvarez hockte in der Dunkelheit, angelehnt an eine Mauer neben Rosina und allein mit einer halben Flasche Rum, die ihm der Wirt der Cantina mit einem Augenzwinkern in die Hand gedrückt hatte. Dann kam Carmencita. Sie setzte sich neben Alvarez und fragte ihn, warum er nicht bei dem Alten sei. Alvarez schwieg. "Bist du immer so schweigsam?" Alvarez schwieg weiter. "Komm doch mit rüber zu den anderen", sagte Carmencita, aber Alvarez rührte sich nicht. "Yo te quiero, ich mag dich", lockte Carmencita und wiegte ihren schlanken Körper in unmißverständlicher Weise. "Sie werden gleich tanzen, hast du keine Lust?" Alvarez schüttelte den Kopf. "Komm doch!" bettelte sie. Alvarez zögerte. Erst als Carmencita aufstand und ihn an der Hand nahm, ging er mit. Sie ging mit ihm aber nicht 21
auf den Dorfplatz zu, sondern von den anderen weg, und sie tasteten sich durch die Dunkelheit so weit, bis sie die Leute auf dem Platz nicht mehr hören konnten. Sie kamen an eine Hütte, deren Türe offenstand. Carmencita ging zuerst hinein. Sie legte Alvarez die Arme um den Hals und fragte ihn, als er sich sträubte, ob er Angst habe. Alvarez schüttelte unwillig den Kopf. "Du hast Angst, nicht wahr?" "Wovor denn bloß, wovor soll ich Angst haben?" flüsterte Alvarez. Carmencita begann Alvarez sanft zu streicheln, und er ließ es verwundert mit sich geschehen. Es passierte genau das, was er sich mit dem Alten immer ausgemalt hatte. Er wurde mißtrauisch. Aber der Vanilleduft des Mädchens verdrängte die Vernunft. Er spürte ihre Hände auf dem sprungbereiten elften Finger und erlebte in Gedanken noch einmal das "Ritual". Er betastete mit schwindenden Sinnen ihre Brüste, während sie seinen Gürtel öffnete. Plötzlich stand er im Licht. Es drang aus hochgehaltenen Laternen durch alle Fenster in die Hütte und Carmencita lachte und schrie und klatschte vor Spaß in die Hände, während seine Beine, gefesselt von der heruntergelassenen Hose, am Boden festgewurzelt waren und der elfte Finger lächerlich in den Raum ragte und sich in hundert Schatten an den Wänden vervielfältigte.
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"Weiberheld, Schlappschwanz, Hosenpisser!" schrien sie im Chor. Brüllendes Gelächter rings um ihn herum, glotzende Gesichter in den Fenstern und überall Licht. Später, als sich Alvarez alles noch einmal überlegte, wurde ihm bewußt, daß es gerade das Licht war, das ihm plötzlich Mut gab, weniger die Wut darüber, daß ihn Carmencita hereingelegt und verraten hatte. Da war in ihm plötzlich nur noch der Wille, das Angefangene zu vollenden: Der Stoff barst mit Carmencitas Aufschrei und Alvarez schwenkte für eine Sekunde triumphierend in der linken Hand das farbige Bündel ihres Kleides und in der rechten weißes Leinen über dem Kopf. Er schleuderte Carmencita vor dem versammelten Dorf zu Boden, warf sich über sie und schob seine mächtigen Arme wie eine Zange unter ihren Arsch, daß sie vor Schreck und Angst verstummte und beide Fäuste in den Schoß krampfte, während ihre Knie paralysiert auseinanderkippten. Sie wand sich wie ein gefangener Hase, aber Alvarez schlug mit einer einzigen klatschenden Bewegung seiner linken Hand Carmencitas Fäuste zur Seite und führte den elften Finger mit der rechten wie ein Werkzeug zu seinem Ziel. Er trieb sich hinein in das Mädchen mit wütenden Stößen und zeigte allen, die da durch die Fenster glotzten, daß er kein armer Hund, sondern ein starker Mann war. Man sagte sogar später, er habe dabei gelacht. Dann löste er sich von dem wimmernden, sprachlosen Mädchen und stürzte aus der Hütte in die Dunkelheit. Die Leute von Pasillo vergaßen, gebannt und überwältigt von 23
der Einmaligkeit des unerwarteten Schauspiels, sich rechtzeitig in Bewegung zu setzen. Sie haben ihn daher nicht fangen können und haben ihn auch nie wieder gesehen. Erst zwei Jahre später tauchte Alvarez wieder auf. In einem Manganbergwerk, hoch oben in der Sierra Maestra. Seit man überall in der Welt, vor allem in den Walzwerken und in den Maschinenfabriken der Vereinigten Staaten, hochwertigen Stahl brauchte, suchte man nach Mangan in den kubanischen Bergen. Die Bergleute wühlten sich durch das Gestein in endlosen, dunklen Stollen und schafften das braune Erz hinunter nach Santiago. Man lud es auf häßliche, gigantische Erzfrachter und verschiffte es nach Norden. Alvarez arbeitete wie ein Besessener. Man sah ihn nicht nur bei seiner Schicht im Dunkel des Berges, sondern auch während der übrigen Zeit die Karren über die holprigen Geleise schieben, und wenn die anderen abends in den Baracken saßen und Lieder sangen, machte er sich entweder fertig für die Arbeit oder verschwand in seiner Koje in den Schlafbaracken. Er redete mit niemandem, außer, wenn er gefragt wurde. Er hatte weder Freunde noch Feinde. Jeden Freitag, wenn es Geld gab, steckte er seine Pesos in die Tasche und wanderte damit einen steilen Pfad hinauf, als ob er das Verdiente an einem geheimen Ort vergraben wollte. Aber er hatte nichts Derartiges im Sinn. Bis tief in die Nacht saß er irgendwo auf einem der noch sonnenwarmen Felsen, im Duft grünen Salbeis und 24
blühenden Rosmarins, starrte hinunter in die Ebene und auf das weit entfernte Meer und ließ die glatten Münzen immer und immer wieder tief in der Tasche durch seine Finger gleiten, und er redete vor sich hin, ohne sich selbst zuzuhören. Wenn er mit seiner Grubenlampe und der Hacke am Eingang des Hauptstollens erschien, wichen die anderen vor ihm zurück und ließen ihn vorangehen über die Geleise, vorbei am tropfenden Berg in die Dunkelheit bis zu den Stellen, wo sie die Vorschicht ablösten. Dann schlugen sie die Hacken in das brüchige Gestein, lösten die Manganitbrocken heraus und warfen sie in die Grubenkarren. Es war heiß und feucht in den finsteren Gängen, als ob sich die karibische Sonne den Tag über durch den Berg hindurchgefressen hätte. Wenn den anderen das Wasser ausgegangen war, griff Alvarez nach seiner Flasche und reichte sie herum, ohne ein Wort zu sagen oder Dank zu erwarten. Meistens erhielt er sie leer zurück, aber er sagte nichts, spuckte in die Hände und trieb weiter seine Hacke in die Erde. Er entwickelte sich zu einem in sich erstarrenden Gefühlsmonstrum und reagierte nicht mehr auf seelische Reize. Nicht einmal die Freude des Zahltags hinterließ Spuren in seinem Gesicht. Es sah ihn auch nie jemand zornig oder erregt, bis auf jenen denkwürdigen Tag, an dem ihm ein Kumpel mit Namen Milam die "Photographie" zeigte. Es gab keinen außer Alvarez im Lager, der die Photographie noch nicht gesehen hatte. Milam brachte sie eines Tages aus Santiago 25
mit und zeigte sie jedem in der Schlafbaracke. Sie saßen abends auf ihren Kojen und hoben ihre Lampen, um alles ins rechte Licht zu rücken. In Trauben saßen sie zusammen, griffen mit spitzen Fingern nach dem kleinen Stück Papier, um einen Blick auf die Kostbarkeit zu erhaschen. Aber sie vermieden es, aus welchem Grund auch immer, Alvarez einzuweihen. Das war auch nicht besonders schwierig, weil Alvarez entweder fest schlief oder erst so spät in die Schlafbaracke kam, daß die Lichter bereits gelöscht waren. An jenem Tag aber hatte Milam die Photographie mit in den Stollen genommen, und er arbeitete neben Alvarez im hintersten Winkel einer hallenförmigen Erweiterung des Bergwerks, in der die Grubenkarren rangiert wurden und die SantaLuciaGrotte hieß. Sie wechselten eine defekte Pumpe aus, die Wasser aus den tieferen Stollen förderte. Als sie die letzten Flanschen festgezogen hatten, holte Milam nicht nur ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, sondern auch die Photographie, und während er sich trotz aller Verbote eine Zigarette anzündete, schob er das Bild wie beiläufig in das Licht des Feuerzeugs und stieß Alvarez den Ellenbogen in die Seite. Alvarez blickte auf ein überirdisch schönes Mulattenmädchen mit schwellenden Apfelbrüsten, das nackt auf einem Schemel saß und lächelte. Es hatte die Beine gegrätscht, beide Hände auf die Knie gestützt und bot so obszönen Durchblick auf den schwarzen Pfirsich zwischen ihren Schenkeln.
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Da nahm Alvarez wortlos den Schraubenschlüssel, es war ein Vierzöller, den er neben sich abgelegt hatte, und schmetterte ihn Milam auf den Helm, daß der zusammensank und die Augen verdrehte. Milam ist nichts weiter geschehen. Er lag mit beeindruckendem Kopfverband zwei Tage in der Krankenbaracke und war dann wieder vor Ort. Die Photographie blieb danach verschwunden. Alvarez aber wurde lange und überaus geduldig von Leuten verhört, die mit dem Automobil aus Santiago heraufgekommen waren. Das heißt, sie versuchten ihn zu verhören. Aber Alvarez schwieg und brachte den Capitan mit seinem durch nichts begründeten Starrsinn an den Rand der Verzweiflung. Sie nahmen ihn schließlich mit und stellten ihn vor Gericht. Der alte Richter bohrte nicht weiter nach, sondern zeigte sich einsichtsvoll und verurteilte Alvarez kurz und bündig zu sechs Monaten Haft, die Alvarez klaglos absaß. Über das Tatmotiv ist man sich auch später nie ganz einig geworden. Während der Zeit der Untätigkeit lernte er in seiner Zelle Julio kennen. Julio stammte aus La Habana und war etliche Jahre älter als Alvarez. Er war einer von jenen Fanatikern, die ohne Aussicht auf Erfolg, Einfluß auf die kubanische Geschichte nehmen wollten. Er war ein Anhänger der Liberalen und hatte versucht, Waffen in den Süden zu schmuggeln, um Kuba aus der Abhängigkeit der Vereinigten Staaten zu führen. Beides ist ihm nicht gelungen. 27
Aber in einem hatte er Erfolg. Julio brachte Alvarez nicht nur dazu, ihm zuzuhören. Es gelang ihm auch, ihn für sich und seine Sache zu gewinnen. Er hatte Alvarez, während sie in einer kleinen Zelle zusammengepfercht waren, nie auf sein Gesicht angesprochen. Er hatte ihn von Anfang an als Leidensgenossen und Freund behandelt, und vor allem, weil er Politiker und Kämpfer war, nie auch nur den Wunsch verspürt, mit Alvarez über ein Thema zu reden, das nicht politisch gewesen wäre. Die beiden Männer saßen den ganzen Tag zusammen, sprachen über die Gewalttaten der Amerikaner, kauderwelschten über das PlattAmendment und seine Folgen und sinnierten über ein freies und unabhängiges Kuba. Sie schmiedeten kühne Pläne, Palma samt den Yanquis aus dem Land zu werfen und sahen sich in aufregenden Tagträumen unter dem frenetischen Beifall Hunderttausender im Triumphzug in La Habana einmarschieren. "Wenn wir die Amerikaner hinausgeworfen haben, schlägt unsere Stunde!" Das hörte Alvarez mindestens zehnmal am Tag und am Ende glaubte er es. Im Frühjahr 1906 Alvarez war damals 26 Jahre alt wurde er entlassen und schloß sich sofort den Liberalen an. Er hatte die Adresse eines wichtigen Mannes erhalten, der ihm weiterhalf und ihn nach La Habana mitnahm, wo Alvarez wie ein Held gegen die Amerikaner kämpfte, bis man ihn verriet und er in letzter Minute auf einem mexikanischen Frachtdampfer fliehen konnte, der ihn nach Veracruz brachte. 28
Damit war für Alvarez der kubanische Freiheitskampf ruhmlos und unfreiwillig zu Ende gegangen. Inzwischen hatte der Kriegsminister der Vereinigten Staaten und deren späterer Präsident, Taft, in Kuba die Herrschaft übernommen. Die Docks von Veracruz waren schrecklich und gut in Einem. Schrecklich waren sie, weil sie Alvarez wiederum zwangen, Seite an Seite mit Männern zu arbeiten, vor denen er sich fürchtete Es war ein Menschenschlag, der anders geartet war als die Bergleute, die er kannte. Sie waren lauter, aufdringlicher und unbarmherziger als seine Kameraden in den Manganstollen. Sie stellten Fragen, drangen in ihn und drängten sich ihm auf. Gut waren die Docks, weil die Arbeit dort viel besser bezahlt wurde, und weil die gute Bezahlung es Alvarez ermöglichte, ein luxuriöses Zimmer anzumieten, mit Gaslicht und einem breiten weißen Bett, bezogen mit nach Oleanderseife duftender Wäsche, die jede Woche gewechselt wurde. Aber sein Leben verlief monoton wie das Ticken einer Uhr. Noch im Dunkelblau der Nacht, bevor der Mond verblaßte, kamen die Waggons in kreischender Rangierfahrt und die Kräne entluden die Bananenfracht aus riesigen Netzen in den Bauch der Schiffe. Alvarez schob die Büschel ineinander, schleppte sie hinauf in die dunklen Winkel der Laderäume, verteilte sie und stapfte
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über Berge harter und grüner Früchte, schwitzend und fluchend, im Ölgestank zwischen aufglühenden Planken. Erst wenn die Sonne über die Bordwand hereinbrach und höher und höher stieg, und die Hitze den Schweiß in weiße Krusten verwandelte, erlahmten seine Bewegungen ein wenig. Die Netze aber kamen in stetem Rhythmus, senkten sich unbarmherzig herab, begruben ihn fast und verweigerten ihm jede auch noch so kurze Rast. Wenn dann endlich die Sirene zur Pause über ihre Köpfe hinweg heulte, war die Zeit zu knapp, hinaufzuklettern aus dem Hexenkessel des Laderaumes. Man blieb, wo man war, streckte sich aus, versuchte Atem zu holen und trank einen Schluck warmen Wassers, bis das Signal zum Weiterarbeiten kam. Die Abende waren ebenso eintönig. Nichts als Mezcal im Dunst dunkler Spelunken, nutzlose Betäubung, immer in der Furcht vor dem nächsten Tag. Alvarez bekam seine Pesos jeden Abend ausbezahlt. Harte silberne Pesos mit dem Bild des schlangenfressenden Adlers und einem verheißungsvollen Klang, wenn man sie auf den steinernen Tischplatten der Hafenkneipen springen ließ. Manchmal gab es auch Arbeit an Land. In den Lagerhäusern mußten Maschinenteile, Gewehre oder Zuckersäcke umgelagert werden. Kisten waren aufzureißen oder zu vernageln, Säcke mit Kaffee oder Reis waren zu stapeln. Solche Tage erschienen Alvarez wie ein Sonntag, und es gab trotzdem Geld, wie an jedem anderen Abend. 30
2 Am fünften August des Jahres 1906 ankerte im Hafen von Veracruz ein wundervolles Schiff. Es war ein französischer Schwergutfrachter, ein Zehntausendtonner, blendend weiß, mit fliegender Trikolore. Da am Sonntag kaum Leute zur Verfügung standen, fragte der Vorarbeiter Alvarez, ob er nicht Lust habe, mit Serros Mannschaft die Ladung zu löschen. Das Schiff habe Waffen und Munition für die Armee und darauf käme es besonders an empfindliches optisches Gerät an Bord, das sorgfältig behandelt werden müsse. Alvarez kannte sich gut aus mit Waffen und Munition, aber er hatte nicht die leiseste Vorstellung von optischem Gerät. Trotzdem war er gern bereit, mitzumachen, wenn er nur um die Bananen herumkam. Wie alles an der Liberté, war auch die Ladung perfekt: Kisten mit exakten Schablonenaufschriften, im Millimeterabstand verstaut. Die beiden Ladebäume arbeiteten präzise, er hatte nur wenig zu tun. Die Drahtseile wurden einfach mit schweren Karabinerhaken um die Kisten gelegt. Es war aber wichtig, die Haken so zu schließen, daß die Lasten beim Anheben der Fracht nicht verkanteten. Eine leichte und schöne Arbeit. Die Kisten mit den Gewehren und der Munition wurden achtern auf den Kai gesetzt und von zwei Posten bewacht, die bewaffnet waren. Fünf Kisten, die mit HenriLePauteParis bezeichnet waren, setzte der Kran getrennt von den anderen, etwa mittschiffs an Land. Dabei geschah ein kleines Unglück. Die letzte 31
Kiste verrutschte in den Seilen beim Aufsetzen und brach auseinander. Eine der Seitenwände neigte sich zur Seite, und man erblickte ein in der Sonne aufblinkendes Wunderwerk aus Glas und Messing. Es war die aus Hunderten von Kristallprismen bestehende, in glänzendes Metall eingefaßte Laterne eines Leuchtturmes. Sie war gut ein Meter hoch und hatte den Durchmesser eines Wagenrades. Alvarez stand fassungslos vor einer technischen Schöpfung von unglaublicher Schönheit. Es dauerte nicht lange, bis die Franzosen aufmarschierten und brüllten: "Seht zu, daß ihr die Kiste wieder in Ordnung bringt, aber paßt auf, daß ihr nicht noch mehr Schaden anrichtet! Das gibt es doch nicht, so eine Schlamperei! So eine gottverdammte Scheiße! Der Kranführer gehört erschossen! Habt ihr nicht gelernt, wie man mit sowas umgeht? Hat euch das keiner beigebracht, ihr Hottentotten? Sechstausend Meilen haben wir das Ding über den Atlantik geschippert und ihr haut es einfach auf den Boden! Ihr gottverdammten Idioten!" Alvarez verstand die Franzosen. Als es sich herausstellte, daß drei Stützen verbogen waren, die vor dem Weitertransport gerichtet werden mußten, erklärte sich Alvarez bereit, die Reparaturarbeiten mit Monsieur Michelon, dem Ingenieur, zu übernehmen. Alvarez hatte in den kubanischen Bergen gelernt, mit Werkzeug umzugehen. Er hämmerte behutsam und setzte die verkrümmten Stützen sanft, aber mit unbändiger Kraft 32
zurecht. Er hebelte und bog. Er stemmte sich gegen das widerspenstige Keilholz mit verkniffenem Mund und geschlossenen Augen. Er stöhnte und atmete pfeifend durch die Nase. Tastend glitten seine Finger über das verformte Metall. Seine Hände bewegten sich so geschickt, daß der Vorarbeiter ihn schließlich zu seinem größten Erstaunen fragte, ob er nicht die Betreuung der Fracht auf dem gefahrvollen Weg, quer durch Mexiko, übernehmen wolle. Die Kisten sollten mit der Eisenbahn über die Hauptstadt nach Manzanillo gebracht und von dort auf eine Insel im Pazifik verfrachtet werden. Man bot ihm mehr Geld an, als er in zwei Monaten im Hafen verdienen konnte. Mit leichtem Herzen stimmte Alvarez zu und saß bereits am nächsten Morgen auf einem offenen Güterwagen, neben fünf nach Harz duftenden Kisten aus Fichtenholz, versehen mit Tortillas, saftigen Zwiebeln und roten Chorizowürsten. Der Zug quälte sich hinauf auf das Hochland, die Mesa Central. Alvarez blickte mit aufgerissenen Augen hinüber zu den schneebedeckten Gipfeln. Erst fuhr der Zug durch das weite grüne Tal, das der Berg der Sterne, der Pico de Orizaba überschattet. In der Mittagshitze spürte Alvarez trotz der Entfernung des Schnees die Kühle da oben, obwohl er nie in seinem Leben Schnee gesehen hatte. Der blaue Schimmer des über den Gipfel gegossenen Eishutes wirkte unmittelbar ein auf seinen Körper, senkte seine Körpertemperatur und verlangsamte seinen Atem. Als der Zug immer höher hinaufklomm, wurde die Luft dünner, und das Land nahm einen gelblichbraunen Farbton an. Er duckte sich in den Waggon vor den massigen 33
Gipfeln der Berge, die den Zug zu erdrücken drohten. Er hatte so ungeheure Berge nie zuvor gesehen. Er erstarb in Ehrfurcht vor einem Naturschauspiel erschreckender Erhabenheit. Am Abend erreichten sie México. Am folgenden Morgen erst ging es weiter über Toluca und Morelia, bis der Zug in der Abenddämmerung Zamora erreichte. Wie anders war dieses Land. Wie wenig hatte es gemeinsam mit seiner Heimat. In Kuba war alles eng gedrängt. Das Land strebte vom Ozean aus ungestüm hinauf in die Berge. Die Hänge waren dunkelgrün, saftig und wasserreich. Jeder Quadratmeter wurde genutzt und bepflanzt. Unten in der Wärme Zuckerrohr, Kaffee und Tabak, dann in der mittleren Region Mais und oben, bevor der Fels zutage trat, zogen sich die Matten hin in einem warmen Olivgrün. Die mexikanische Mesa war dagegen unendlich weit, wüstengelb mit riesigen Kakteen von wunderlicher Form. Da reckten sich lange borstige Finger wie Orgelpfeifen in den Himmel, da wuchsen Sukkulenten kandelaberartig in die Höhe oder knollige Köpfe mit wundersamen Blüten in die Breite, blaugrüne Agavenbüschel säumten die Geleise wie die zurückgelassenen Kampfspieße einer geflohenen Armee. Opuntien bildeten mit ihren Stacheltellern undurchdringliche Hecken um einsame Gehöfte. In der öde erscheinenden Landschaft gruppierten sich kleine Dörfer mit blendend weiß oder himmelblau bemalten Häusern. Aber es gab auch Siedlungen, deren unscheinbare Hütten aus braunen Adobeziegeln sich in 34
flache Mulden drückten, als ob sie im Boden verschwinden wollten. Weiter im Norden wechselten sich finstere Schluchten ab mit fruchtbaren Äckern um freundliche Haziendas und grünen Wiesen, auf denen Pferde weideten. Die dünne Luft erfrischte Alvarez wie Quellwasser, obwohl die fast senkrecht stehende Sonne mit ungebrochener Kraft auf ihn herunterbrannte. Da war nichts zu spüren von der Tropenfeuchte, die Alvarez so müde gemacht hatte. Es war ihm, als ob der reine Atem der Mesa unmittelbar in seine Seele dränge und ihn befreite vom Alpdruck seiner Ängste. Alvarez jubelte. Er streckte sich räkelnd aus neben seinen Kisten. Er genoß süßes Nichtstun in dem erwachenden Bewußtsein, daß er nur für seine untätige Anwesenheit bezahlt wurde. In der Nacht rollte er sich in einen dicken schafwollenen Sarape, den er vor der Abfahrt in Veracruz für drei Pesos erstanden hatte. Eingeringelt wie ein Hund, embryonal verdichtet, ließ er seinen Körper schaukeln im tackernden Rhythmus des Zuges, blickte hinauf in den Himmel und verfolgte mit den verwunderten Augen eines Kindes die Veränderungen der Sternbilder, wenn der Zug in weiten Schleifen über die Hügel dampfte. Er empfand ganz widersinnig das Rütteln und Stoßen des Zuges als Ruhe. Eine Ruhe, die er nie vorher genossen hatte. Er war losgelöst von allen Pflichten, wurde dahingezogen durch eine Welt ohne Gefahren und ohne Menschen, die ihn belästigten. In Guadalajara wurde rangiert. Vier Stunden stand Alvarez' Waggon auf einem Nebengleis. Die Sonne stand auf im Osten und blutete in den von Zirruswolken 35
verschleierten Himmel. Dann gab es unsanftes Gerüttel, Stoßen der Puffer aneinander, Einreihen in einen neuen Zug, der nach Colima fahren sollte. Alvarez verschlief die Zeit. In Colima wurden die Kisten umgeladen. Alvarez stand dabei und gab zum erstenmal in seinem Leben Kommandos. Sie waren eigentlich nicht nötig, weil der Kranführer wußte, was er zu tun hatte. Aber diese Kommandos vermittelten Alvarez aus seiner neuen Verantwortung heraus die erschütternde Erkenntnis, Macht über seine Kisten zu haben. In seiner plötzlichen Euphorie übertrug Alvarez nun diese Macht einfach auf die Menschen, die mit seinen Kisten umgingen, und er stellte mit tiefer Befriedigung und ungläubigem Staunen fest, daß es funktionierte, daß diese Menschen auf ihn hörten. Sie machten nicht einmal Anstalten, an seiner Autorität zu zweifeln, die aus dem Nichts gekommen war und die ihm keiner übertragen hatte. "Han vuelto locos? Seid ihr verrückt geworden? Qué piensan? Was denkt ihr euch? Etwas weiter rechts!" schrie er. Die Adern an seinem Hals traten hervor und sein Herz pochte mit polternden Schlägen. "Langsam absetzen, lentamente, verdammt nochmal, habe ich gesagt! Die Kisten sind nicht so stabil wie ihr glaubt, os imbéciles! Ihr Schwachköpfe!" Er hatte sie Schwachköpfe genannt und keiner protestierte. Die Kisten schwenkten nach rechts und wurden sanft abgesetzt.
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Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte und unter fortwährendem Schreien der Bremsen hinunterkroch zum Stillen Ozean, sang Alvarez das lauteste und übermütigste Lied seines Lebens. Es war ungereimt und banal, aber für ihn bedeutete es die Erfüllung all seiner Wünsche: "Da fahren wir zusammen, fünf Kisten und ich. Eine Laterne von unbeschreiblicher Schönheit. Ich liebe sie und sie liebt mich und ich liebe die ganze Welt, die ganze große Welt." Spät am Abend des dritten Reisetages erreichte Alvarez mit seiner wertvollen Fracht erschöpft aber hellwach den Hafen von Manzanillo. Da lag die Demócrata, ein alter Seelenverkäufer der mexikanischen Kriegsmarine, und Alvarez achtete darauf, daß den Kisten nichts geschah. Er wußte, daß die Reise vorüber war. Es stellte sich wieder die Angst ein. Diese verfluchte Angst. Alvarez sah seine neugewonnene Macht, sein Ansehen, sein wichtiges Amt als Wächter einer kostbaren Fracht sich auflösen. Seine Macht, das wußte er, war beendet mit dem Abladen der Kisten, sie endete an Bord der Demócrata. Er stand mit einem abgrundtiefen Gefühl der Verlassenheit am Kai und blickte verloren auf den massiven Rumpf des Schiffes, als wiederum etwas ganz Unerwartetes geschah. Ein Offizier trat auf ihn zu und sprach ihn an: "Sind Sie die Begleitperson für die Fracht?" Alvarez zuckte
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zusammen. "Si, Señor!" "Ihr Auftrag ist mit der Verladung beendet, nicht wahr?" Alvarez achtete nicht auf den lauernden Ton in der Frage des Offiziers. "Ich denke ja, Señor ", sagte Alvarez und konnte seine Trauer nicht verbergen. "Gibt es Verpflichtungen, die sie zu einer sofortigen Rückkehr nach Veracruz veranlassen könnten?" "No, Señor", erwiderte Alvarez. "Darf ich das so verstehen, daß sie nicht unbedingt nach Veracruz zurückkehren müssen?" "Si, Señor", sagte Alvarez ehrlich, "es gibt keine Verpflichtungen." Der Offizier drehte sich um, entfernte sich langsam fünf Schritte und kam dann rasch zurück. "Es geht darum, auf Clipperton einen Leuchtturm zu errichten. Was würden Sie davon halten, uns dorthin zu begleiten und beim Bau des Leuchtturms behilflich zu sein?"
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Alvarez erschrak vor Freude. Er brauchte seine Kisten nicht zu verlassen. Er konnte bei ihnen bleiben. Alvarez nickte nur. "Könnten Sie sich, selbstverständlich bei guter Entlöhnung, bereit erklären, mit uns nach Clipperton zu kommen?" "Si, Señor", sagte Alvarez, "ich bin bereit." Er sagte das spontan, und er war so sehr bereit, daß er nicht einmal danach fragte, wie gut die Entlöhnung sei, die man ihm angeboten hatte. Er schaute drein, wie ein Boxer über seinem geschlagenen Gegner. Am nächsten Morgen lief Alvarez in tranceähnlichem Gemütszustand mit der Demócrata aus. Die ankerte nach wenigen Tagen vor Clipperton, und Alvarez war voller Ungeduld, seinen Leuchtturm zu bauen. 3 Obwohl der Südwestwind nicht sehr stark blies, schob er die stetig heranrollenden Wogen mit solcher Wucht auf das Riff, daß zunächst an eine Landung nicht zu denken war. Es entstanden quirlende und tobende Gischtberge da, wo die Korallen in einem zusammenhängenden Ring um die Insel ohne den geringsten Paß bis fast an die Oberfläche reichten. Der Kapitän und der Erste Offizier standen auf der Brücke und setzten die Ferngläser nicht mehr ab.
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"Immer dasselbe mit diesem verfluchten Atoll. Immer dasselbe!" sagte der Kapitän. "Das Meer kann noch so ruhig scheinen. Es wütet und wütet gegen das Riff und es läßt dich nicht durch. Wir werden abwarten müssen, bis das Wasser sich beruhigt." Erst am dritten Tag war es soweit. Die Wellen kamen jetzt von Norden. Die Dünung war zwar immer noch kräftig, aber die Schaumberge wurden niedriger und verloren ihre Bedrohlichkeit. Der Kapitän studierte wieder und wieder die Gezeitentabelle. Als die Flut am 16. August gegen Mittag ihren Höchststand erreicht hatte, ertönte die Bordsirene, und die Landungsboote wurden zu Wasser gelassen. Alvarez stand bebend an der Reling. Die fünf Kisten wurden vorsichtig an der Bordwand hinuntergehievt und Stück für Stück in die flachen Boote gesetzt. Dann ruderten jeweils acht Matrosen auf die Insel zu, manövrierten die Kisten unter ohrenbetäubendem Geschrei und mit erschrekkend asynchronem Ruderschlag unsicher und immer wieder zögernd durch die Brecher. Nach einer Viertelstunde erreichten sie unter dem Aufatmen der gesamten Mannschaft, während sich Alvarez an Bord der Demócrata bekreuzigte, das ruhige Wasser des Riffkanals. Dort wartete ein Haufen von etwa zwanzig Mann, um die Kisten mit hölzernen Hebekränen in kleine eiserne Karren auf Schmalspurgeleisen zu befördern. Die Boote kamen zurück und wurden wieder 40
beladen mit Zement, Bauholz, Brettern und schließlich mit hundertfünfzig Vorratskisten, die für die Menschen, die auf der Insel lebten, bestimmt waren. Alvarez schaute hinüber auf das gottverlassene Atoll. Hinter dem weißen Gischtsaum erstreckte sich ein ockerfarbener Landstreifen, aus dem, wie eine unpassende Theaterkulisse, ein einzelner, dunkler und steiler, etwa hundert Fuß hoher, schmaler Felsen aufragte. Ein Matrose sprach ihn an: "Siehst du den Felsen dort drüben?" Alvarez nickte. "Natürlich sehe ich den. Ist nicht zu übersehen, der Klotz." "Da oben werden wir das Ding montieren!" "Ein guter Platz! Bei wirklichem Seegang dürfte der allein über Wasser bleiben", sagte Alvarez. Der Matrose lachte und schüttelte den Kopf. "Es ist eigenartig", sagte er, " die Insel ist so flach wie eine Tortilla. Aber das Riff ebnet alle Wellen ein. Selbst bei Windstärke zwölf schwappt das Wasser nicht über." Alvarez war nicht davon überzeugt. Die Brandung war mörderisch.
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"Wir waren schon ein paarmal da", sagte der Matrose, "meistens war es schlimmer als jetzt, und bisher blieb die Gewalt des Meeres immer ganz zuverlässig an den Korallen hängen." Alvarez glaubte ihm kein Wort. Etwa zwei Kilometer westlich des Felsens, vor einem schütteren Palmenhain, hatte man einen großen Wellblechhangar errichtet, von dem aus Geleise für die eisernen Karren zum Landungssteg führten. Der breite hölzerne Steg erstreckte sich auf hunderten von dünnen Stelzen in die äußere Lagune, den Riffkanal. Und am Ende ragten dreibeinige Ladekräne aus dem Wasser, wo die Boote festmachten, aus denen die Zementsäcke gehievt wurden. Nördlich des Palmenhains standen ein paar Hütten. Schließlich holten sie Alvarez in eines der Boote. Was von Bord der Demócrata schon schlimm ausgesehen hatte, entpuppte sich jetzt als wahre Teufelsfahrt. "Alles voller Haie!", schrie der Skipper am Heck, "paßt bloß auf, daß keiner von Bord geht!" Sie ruderten durch schäumende, in das Boot schlagende Brecher, die sie quer treiben ließen. Sie schöpften Wasser und fluchten und sahen nur noch tobende Gischt über den Dollbord hereinstürzen. Die Riemen tasteten sich in wirrem Durcheinander durch das Chaos. Teils tauchten sie ins Wasser, teils ragten sie hoch in die Luft. Das Boot lag fest, wie ein hilfloser auf dem Rücken schwimmender 42
Käfer. Die Ruderschläge blieben wirkungslos, und das Boot wurde kraftlos auf und ab, hin und hergeworfen, bis es schließlich durch eine ungeheure Woge in den Riffkanal geschleudert wurde. Dort war das Wasser ruhig und sie erreichten ohne große Mühe die Landungsbrücke. Braungebrannte Gesellen in ausgebleichten Uniformen halfen ihnen an Land. "Das ist Alvarez", sagte der Skipper, "er kennt die Ladung und wird euch helfen, das Ding aufzubauen." Die Männer traten zurück und sahen Alvarez an. Der aber trat zwei Schritte vor und räusperte sich mehrmals. "Wo sind die Kisten?" Einer der Männer auf dem Landungssteg deutete hinüber zum Hangar. "Neue Schäden?" Alvarez stemmte seine Fäuste in die Hüften. "Herrgott nochmal, ist irgendetwas passiert?" schrie er, als niemand antwortete. "Nein", sagte der Soldat, "sie sind nur ein bißchen naß geworden." "Muy bien!" sagte Alvarez. Er wanderte wie ein Feldherr bei der Inspektion seiner Streitkräfte mit den Soldaten eine halbe Stunde auf dem rauhen Korallenschutt hinüber zum Felsen. Sie 43
umrundeten die große Felsenbucht, schwenkten dann nach links über eine schmale Landzunge, die die Soldaten Isthmus nannten und marschierten auf den Felsen zu. Jetzt sah Alvarez auch die Hütte. Es war eine große Hütte und daneben standen zwei kleinere ohne Fenster. Die große Hütte war komfortabler, als sie sich Alvarez vorgestellt hatte. Sie bestand aus festen Sperrholztafeln, die fugendicht an mächtige Fichtenbalken genagelt waren. Sauber eingelassene Schiebefenster, ein stählerner Wassertank, ein niedriges, aber bequemes Bett, ein gußeiserner Herd und ein Schrank aus dunklem Mahagoniholz mit vielen Schubfächern. Eine Petroleumlampe aus Messing hing von der Decke, und auf dem Tisch in der Mitte der Hütte stand eine besonders schöne Lampe mit silberglänzenden Beschlägen und einem funkelnden Kristallzylinder. "Du wirst allein hier wohnen", sagte einer der Soldaten zu Alvarez, "wir sind drüben im Lager untergebracht." Eine Stunde später kamen zwei Boote über die Lagune. Zwölf Mann brachten Alvarez die Kisten, luden sie in der Felsenbucht aus und transportierten sie in eine der fensterlosen Hütten. Diese Hütte war für die Ersatzteile des Leuchtfeuers, das Werkzeug und die Ölfässer erbaut worden. Die dritte Hütte war als Vorratshütte gedacht. Sie stand im Schatten von vier Palmen, die sich an den Felsen anlehnten. Halb verdeckt von den Palmen konnte man im Sand vergraben den Rumpf eines ausrangierten Kahns entdecken, der mit Regenwasser gefüllt war. Das Wasser tropfte aus schmalen Kupferrinnen, die unmittelbar aus 44
dem Gestein zu kommen schienen, und sammelte sich zwischen den rostigen Planken. Die erste Nacht auf Clipperton erschien Alvarez unwirklich wie ein Märchen. Er saß im Schein der Lampe mutterseelenallein am Tisch; über seine Hütte, seine eigene Hütte, strich ein warmer stetiger Wind, und durch das geöffnete Fenster hörte er den entfernten Atem des Meeres. Er fühlte sich in diesen Stunden Gott und der Heiligen Jungfrau sehr nah. Er dachte an seine Kisten. Sie waren geschützt vor Regen und Wind und in seiner Nähe, und morgen würde er, Emilio Jeronimo Alvarez, beginnen, seinen Leuchtturm zu bauen. Es war harte Arbeit. In flachen Pfannen mischten sie Korallensand und ausgesiebtes Gestein mit Zement, schütteten Regenwasser aus verbeulten Kübeln dazu und schleppten den angemachten grauen Brei eimerweise hinauf über hundert Stufen einer Holzleiter, die kreuz und quer über die natürlichen Auswaschungen und Vorsprünge des Felsens geführt war. Auf dem Gipfel hatte man schon vorher eine Holzverschalung angebracht: Einen unförmigen, aber gut verfugten Kasten von drei auf drei Meter, in den als natürliche Verankerung die spitzen Zacken des vulkanischen Urgesteins ragten, und der, damit der frische Beton nicht abfloß, nach unten mit sauber zurechtgesägten Brettern, die dem Felsen genau angepaßt waren, abgedichtet war.
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Eimer um Eimer wurde hineingegossen. Stück um Stück wurde Mattengeflecht aus Eisen hineingelegt. Am vierten Tag gingen sie daran, mit dünnem Mörtel die Oberfläche zu glätten, aus der, umhüllt von grauem Segeltuch, zwölf Metallbolzen mit gefettetem Gewinde ragten. Alvarez liebte diesen zerrissenen, schwarzen, nackten Felsen mit seinen feuchten Schluchten und Schrunden. Er liebte es, hinaufzusteigen und hinunterzuschauen auf die Lagune und die weißen Wirbelstürme durcheinanderstiebender Seevögel. Die Insel erschien ihm wie eine eben im Meer versinkende Schüssel, so schmal war der Rand, der die Lagune vom Riffkanal und dem tobenden Ozean trennte. Er hatte seine Freude daran, weit über das Meer zu blicken. Es machte ihm Spaß, den Betonbrei in den Kasten zu schütten. Er stampfte das nasse Zeug mit grauverschmierten Stiefeln, verteilte es in die Winkel des Kastens, hob und senkte die hölzernen Stempel, bis das Wasser aus dem Gestampfe herausquoll, kletterte mit seinem Kübel wieder hinunter, mischte Beton, ließ die Schaufel fliegen, schleppte Wasser und stieg wieder hinauf zur Spitze mit schweißnassem Gesicht und keuchendem Atem. Dann ließen sie den Beton drei Tage härten. Am vierten Tag stiegen sie hinauf und rissen in übermütiger Zerstörungswut das Holz von dem mühsam geschaffenen Klotz. Die Balken schossen splitternd und singend den Felsen hinunter. Schwirrend flogen die Bretter durch die Luft. Sie feierten eine Fiesta. Der Capitan hatte Tequila freigegeben, sie sangen zum Klang von fünf Gitarren vor Alvarez' Hütte und warteten 46
geduldig, bis das Gerät nach oben geschafft werden konnte. Zuerst brachten sie, an Seilen gesichert, den Sockel des Leuchtfeuers auf den Felsen. Er paßte exakt auf die Bolzen, und sie verschraubten ihn mit andächtiger Sorgfalt. Dann kam die Halterung der Laterne, das Gestell mit den vier dünnen Messingsäulen und der tonnenförmigen Blende. In diese Blende hinein mußte die Laterne gehoben werden. Alvarez gab schreiend Anweisungen, als sie das funkelnde Herzstück seines Leuchtturms den Felsen heraufzogen, als es zehn Mann über Winden und Flaschenzüge langsam und mit angehaltenem Atem in die Blende hineinsenkten. Alvarez bewegte zögernd den Drehmechanismus; die Spiegel wanderten ruhig und schwebten geräuschlos um die Achse. Da war nichts verkantet, nichts verbogen. Es stimmte alles. Schließlich setzten sie den kupfernen Hut mit dem Kamin auf, der den heißen Flammgasen als Abzug dienen sollte. Alvarez trat drei Schritte zurück und schluckte. Sein Leuchtturm war sehr schön geworden. Hoch über dem Meer krönte das Leuchtfeuer diesen schrundigen, vom Lauf der Zeiten angefressenen, schwarzen Felsen als ein weithin sichtbares Zeichen menschlichen Erfindungsgeistes, und dieses Zeichen war für Alvarez voller Harmonie mit einer für ihn neuen Welt. Am nächsten Tag hatten sie nur noch das Drahtseil mit dem schweren Gewicht für die Rotation der Laterne, das 47
Uhrwerk, über einen eisernen Galgen und ein Dutzend Rollen am Felsen herunterzuführen und die Halterungen zu verspannen. Als endlich der Abend kam, füllte Alvarez unter Anleitung von Monsieur Michelon und der gespannten Aufmerksamkeit der Soldaten Petroleum in den Tank, drehte den Docht aus seiner Versenkung, entzündete die Laterne und ließ das Eisengewicht durch Umlegen des Starthebels langsam den Felsen hinuntergleiten. Da wurde Alvarez von so unbeschreiblichem Stolz und einer so rasenden Freude überwältigt, daß sein ganzer Körper in Aufruhr geriet. Er verlor die Kontrolle über seine Hände, die zitterten, und seine Zähne schlugen aufeinander. Seine Stimme versagte und stürzte aus grellem Diskant in ein tonloses Hauchen, als er, so gut es ihm eben aus seiner Kinderzeit noch im Gedächtnis war, das Tedeum anstimmen wollte. Das kreiselnde Licht der Laterne zersplitterte im Schleier aufsteigender Tränen in einen Strauß funkelnder Sterne und strahlender Speere. Übermächtige Rührung legte sich würgend um seinen Hals, und er rang nach Atem, bis ihm einer der Soldaten eine Flasche in die emporgereckten Hände drückte und ihn so aus seiner Verzückung riß. Alvarez packte die Flasche dankbar, setzte sie an und zog die brennende Flüssigkeit in sich hinein. Als das mit Schlukken zu langsam ging, weitete er seinen Schlund zu einem Rohr und ließ den betäubenden Strom ohne Unterbrechung in sich hineinrinnen, schüttete ihn so gewalttätig in sich hinein, daß der Schnaps in der Flasche aufsprudelte und gluckernd Blasen warf. 48
Alvarez ging, am ganzen Körper bebend und schlotternd in die Knie und verwandelte sich, als er die leere Flasche mit beiden Händen gegen die Sterne hob, im Licht der Laterne in das schwarze Schattenbild eines balancierenden Seehunds. Dann polterte das Glas klirrend und in blinkende Scherben zerspringend den Felsen hinunter und Alvarez stürzte stumm hintenüber auf den noch feuchten Beton der Plattform. Da lag er dann bewegungslos mit rollenden Augen und sabberndem Mund, während sich der Ingenieur und die Soldaten sprachlos im Kreis um ihn versammelten. Von da ab legte das Leuchtfeuer seine blendenden Finger weit auf den Stillen Ozean und zeigte den Schiffen, die dort vorbeikommen sollten, wo Clipperton lag und wo Alvarez seine Pflicht tat. DIE REVOLUTION 4 Die Zuckerrohrfelder reichten weit hinüber nach San Gabriel und bis hinunter zur Grenze von Guerrero. Wenn die Luft klar war, konnte man über die Hügel bis zu den Feuerbergen sehen. Fernando Randón war Mayordomo von San Miguel und verwaltete die Hazienda für den Patron, der in der Hauptstadt lebte und den er höchstens zweimal im Jahr zu Gesicht bekam, wenn er von Puente de Ixtla, der Bahnstation, herübergeritten kam, um mit ihm die Bücher 49
durchzusehen. Fernando Randón war ein guter Verwalter. Deshalb war die Inspektion der Geschäftsbücher für den Patron nichts weiter als notwendige Routine. Es gab kein schöneres, gepflegteres und einträglicheres Gut weit und breit. Wenn man von Puente de Ixtla herüberkam, fielen einem schon von weitem die schneeweißen Türme auf, die die Front des Herrenhauses einrahmten. Wer durch das prunkvoll geschmiedete Gittertor trat, erblickte ein Bild vollendeter Schönheit: Einen halbrunden gepflasterten Platz, überschattet von alten Tejocotebäumen mit goldroten Früchten. Die Bäume umstanden einen Brunnen, der Tag und Nacht vor sich hinplätscherte. Umfriedungsmauern, deren kalkweiße Flächen immer wieder unterbrochen wurden von leuchtenden Sturzbächen violetter Bugainvilleen. Balkone, gekrönt von schwungvollen Bögen und gestützt von schlanken Pfeilern aus dunkelbraunem Holz. Der Haupteingang des Hauses wurde getragen von vier sich nach oben verjüngenden Säulen und hatte mächtige dunkle Türflügel. Er bildete den Fluchtpunkt der Szenerie. Um zum Haupteingang zu gelangen, mußte man am Brunnen vorbei einen leicht ansteigenden Weg zwischen bunten Dahlienbüschen zurücklegen, der zu fünf Marmorstufen führte, die einen durch ihre trapezförmige Anordnung in das Haus hineinzogen. Außerhalb der Umfriedungsmauer duckten sich verstreut die kleinen braunen, mit Maisstroh gedeckten Adobehäuser der Landarbeiter, der Peones. Wenn nun der Patron zu einer seiner seltenen Visiten angereist war und sein Pferd dem Stallknecht übergeben 50
hatte, schritt Randón in gemächlicher Würde die fünf Stufen hinunter und begrüßte ihn mit großer Liebenswürdigkeit, die fast den Anschein von Freundschaftlichkeit hatte. Dann gingen die beiden Männer, ohne viel miteinander zu reden, ins Haus, und es folgte in der Eingangshalle eine Zeremonie, die über die Jahre nie geändert wurde: Man brachte ein Tablett mit Gläsern, einer Flasche bernsteinfarbenen Tequilas, einer Schale mit frischen, grüngelben Limonenschnitzen und ein Tellerchen Salz. Der Patron streute ein wenig von dem Salz auf seinen Handrücken, nahm einen Limonenschnitz, quetschte ihn mit Daumen und Zeigefinger und tropfte den Saft in den Mund. Dann leckte er das Salz ab und leerte das erst Glas in kleinen Schlucken, während er Randón zublinzelte. Der machte ihm die Prozedur nach. Schließlich zogen sich die beiden in das Arbeitszimmer zurück, und das Tablett wurde ihnen nachgebracht. Die Geschäftsbücher lagen auf Randóns Schreibtisch, und es entspann sich eine nur scheinbar aufgeregte Diskussion um Einnahmen und Ausgaben, Zuckerrohrpreise, Lieferantenrechnungen, unvermeidbare soziale Aufwendungen und Kalkulationen, die den Laden der Hazienda betrafen, aus dem alle Peones ihren Lebensunterhalt bestreiten mußten, weil sie keine Möglichkeit hatten, irgendwo anders einzukaufen, und der deshalb für den Patron eine konkurrenzlose Einnahmequelle darstellte. In diesem Laden wurde großzügig angeschrieben, was für die allermeisten, oder sagen wir besser für alle, mit der Zeit zu einem Grad der Überschuldung führte, der eine 51
Kündigung und ein Weggehen illusorisch machte. Folglich war es für den Patron kein Thema, tüchtige Leute etwa durch gute Behandlung oder eine Erhöhung des kärglichen Lohnes an die Hazienda zu binden. Es ging bei dem Gespräch auch um Pferde und Schweine, die Futtermittelbeschaffung, den Unterhalt des Hauses und nicht zuletzt um Politik. An solchen Tagen floß der Tequila reichlich. Anfangs hielten sich die beiden streng an die Reihenfolge: Limonensaft, Salz, Tequila. Dann mit fortschreitender Zeit wurden Limonensaft und Salz der Einfachheit halber weggelassen. Man rief nach einer zweiten Flasche, und die Hausbediensteten erkannten an dem zunehmenden Lärm, der durch die dikken, lederbezogenen Türen des Arbeitszimmers drang, daß der geschäftliche Teil beendet war. Man hörte, wie der Patron Randón mit anschwellender Lautstärke für seine Tüchtigkeit und seinen Geschäftssinn lobte, und wie sich dann in diese Lobesreden mehr und mehr Wortstolperer und Denkpausen einschlichen, bis die Gespräche in Gemurmel übergingen und schließlich verstummten. Wenn der Patron dann am Abend erhaben und würdig, aber sichtbar schwankend, das Haus verließ, mußten ihn zwei besonders ausgewählte Peones zur Bahnstation zurückbegleiten, um unvorhergesehenen Zwischenfällen vorzubeugen, die sich ohne diesen Schutz zuvor bisweilen ereignet hatten.
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Am Tage nach solchen Abrechnungszeremonien wußte jeder, daß man Randón nicht ansprechen durfte. Man grüßte ihn freundlich aus gebührender Entfernung und ging ihm aus Wege, wo immer dies möglich war. Randóns erste Frau starb kurz nach der Hochzeit am Schwarzwasserfieber. Er hatte sie abgöttisch geliebt. Man erzählte, sie sei auf einer Reise nach Chilpancingo, als ein Wagenrad brach und sie nicht weiterkonnten, im Balsastal von einer Mücke gestochen worden. Kurz darauf sei sie krank geworden. Sie schrie und weinte, sie schlug um sich und überschwemmte ihr Bett mit kochendem Schweiß. Sie betete und fluchte und trank Wasser wie ein Pferd, das sie in schwarzen Sturzbächen wieder von sich gab. Das Fieber stieg höher und höher, ihr Jammern erstarb, und sie wurde bereits nach drei Tagen in ihrem Sonntagskleid hinübergetragen zu den weißgetünchten kleinen Häuschen mit den wasserblauen Steinkreuzen. San Miguel weinte und Randón versank in tränenloser Verzweiflung. Doch die Geschäfte mußten weitergehen. So heiratete Randón, kaum zwei Jahre später, Yasmina. Es gab zum ersten Mal, seit er San Miguel verwaltete, ernsthaften Ärger mit dem Patron, weil seine Auserwählte eine Otomi war. Der Patron meinte, es schicke sich für seinen spanischblütigen Mayordomo nicht, eine Indianerin zu ehelichen, und er verurteilte diese "schräge Verbindung", wie er es nannte. "Das schätze ich nicht. Wir sind Spanier und wollen es bleiben!" sagte er, aber Randón hörte nicht auf ihn. Der Patron war so böse, daß er im Herbst auf seine Visite verzichtete. 53
Als ihn Randón aber in México aufsuchte und ihm in langen, tequilageschwängerten Nachtgesprächen klarmachte, wie tüchtig Yasmina sei, und wieviel eine fähige Wirtschafterin dem Gut letztlich einbringe, betrachtete der die Mesalliance mehr unter ökonomischen Gesichtspunkten und gab nach. Er erschien sogar bei der Hochzeit und brachte Geschenke mit, die er Fernando Randón mit versöhnlichem Händedruck überreichte. Zwei Jahre später, im Spätherbst des Jahres 1895, kam Tirza zur Welt. Randón war aus dem Häuschen. Er wich nicht vom Wochenbett und vernachlässigte dabei sogar ein wenig die Wirtschaft. Er trug das kleine Bündel mit verklärtem Gesichtsausdruck und lächerlichem Vaterstolz im Haus herum. Er fuhr eigens nach Cuernavaca, um seiner kleinen Tochter das schönste Kinderbett zu kaufen, das er auftreiben konnte. Es hatte prunkvolle Pfosten, Gitterstäbe aus glänzendem Messing und das Ebenmaß eines griechischen Tempels. Er veranstaltete die aufwendigste Tauffeier, von der man im Staate Morelos je gehört hatte, lud Freunde ein, die er jahrelang nicht gesehen hatte, und er besoff sich in übermütiger Freude so, daß er zwei Tage nicht zu gebrauchen war und ihn Yasmina mit kummervoller Miene pflegen mußte, indem sie ihm jede halbe Stunde kalte Kompressen auf die Stirn drückte. Als Tirza fünf Jahre alt war, brachte er ihr persönlich Lesen und Schreiben bei, und er nahm sie mit auf seine 54
täglichen Inspektionsritte. Sie saß vor ihm im Sattel, und er legte liebevoll seinen Arm um sie. Als sie dann alt genug war, es zu begreifen, erzählte er ihr von Mexiko und seiner unruhigen Geschichte. Sie konnte nicht genug hören von seinen atemberaubenden Schilderungen der "Nacht der Trauer", in der die Azteken den Eroberer Hernan Cortez mitsamt seinem spanischen Heer aus der Hauptstadt Tenochtitlan hinausgeworfen und dabei ein entsetzliches Massaker angerichtet hatten: In dieser Nacht wurde den Azteken mit Schrecken bewußt, daß da kein Gott vor ihnen stand. Dabei waren sie sich ihrer Sache sicher gewesen. Die hochgewachsenen, weißhäutigen Männer mit den glänzenden Rüstungen und der überaus fremd klingenden Sprache waren ja seit Generationen erwartet worden. Vor langer Zeit war er nach Osten gezogen und von ihnen gegangen, der über alles geliebte Gott der gefiederten Schlange, den sie Quetzalcoatl nannten, und es wurde geweissagt, daß er in einem Jahr, das sie nach ihrem wohldurchdachten Kalender "Eins Schilfrohr" nannten, zurückkommen werde, um die Führung seines Volkes wieder zu übernehmen. Als nun in eben diesem Jahr Moctezuma, der Herr über alle Seelen Tenochtitlans, von der Landung der Spanier erfuhr, jubelte er: "Unser Fürst Quetzalcoatl ist wiedergekommen. Sein Wille war es, zurückzukehren, daß er komme, seinen Thron wieder einzunehmen; er, der nach Osten gegangen war, als er fortzog."
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Und er, der Gottkaiser verneigte sich und begrüßte Cortez in tiefer Ehrfurcht und sagte zu ihm: "Du bist in dein Land zurückgekommen, um dich auf deine Matte, deinen königlichen Thron zu setzen, der verwaist war und den ich eine Zeit für dich gehütet habe. Ich träume nicht, ich schrecke nicht aus dem Schlaf auf, ich sehe voll Freude in dein Antlitz. Viele Jahre habe ich ausgeschaut nach dem unbekannten Land, das dich uns gesandt hat aus grauen Wolken und finsterem Nebel, und jetzt ist es wahr geworden, daß du zurückgekehrt bist. Ruhe deinen Leib aus! Unser Herr ist angelangt in seinem Land." Wie wahr und welch ein Irrtum! Tirza erfuhr von ihrer Mutter alle Namen der alten Götter und kannte deren Bedeutung, nur wußte sie nie recht, wer nun Vorrang hatte, die Heilige Jungfrau und ihr Sohn, oder die angestammten Götter Mexikos. Sie schauderte vor den ehrfurchtgebietenden Traumgestalten ihrer in Stein gehauenen Abbilder: Huitzilopochtli, der Kolibri des Südens, der Sonnengott und Herr der Kriege, brachte den Frühling über Morelos; der finstere Tláloc schenkte dem Land mit seinen Regengüssen im Sommer Fruchtbarkeit. Der hohläugige Mictlántecutli wachte über die Friedhöfe und hütete das Geheimnis des Todes. Die schönste und liebste Göttin war für Tirza Xochiquetzal, die gefiederte Blume. Das Mädchen liebte sie, wie sie sie kannte, mit Blüten im Haar und einem Blumenstrauß in der Hand. Xochiquetzal war es ja, die mit ihrem Sohn Xochipilli, dem Prinzen der Blumen, für alles sorgte, was um sie herum blühte: Die wundervollen Prunkwinden, die Rosen, die weißen Engelstrompeten, die Bugainvilleen, die 56
Kakteenblüten, die in üppigen Formen und Farben aus den derben stacheligen Stämmen über Nacht hervorbrachen, die wächsernen Passionsblumen und die Allamanden, rosa, gelbe, orangefarbene Ringelblumen, die nachtfarbenen Cosmeen, die Mohnblüten mit ihren zarten purpurnen Kelchen, die Bouvardien, Lupinen, Zinnien, Dahlien und Malven, die die warmen Winkel der Gärten von Cuernavaca mit ihrer Pracht überschwemmten und ihren Duft über das Land verströmten. Tirza konnte deshalb nicht begreifen, daß die Götter sich in noch viel früheren Zeiten hoch oben in der Mesa niedergelassen hatten. Was waren das für Götter gewesen, die nicht wußten, wo Morelos liegt? Was haben sie da oben gemacht in Teotihuacan auf ihren gigantischen Steinpyramiden, über die der kalte Wind hinwegpfiff? Waren sie blind oder nachlässig? Nur ein kleines Stück Wegs hätten sie nach Süden gehen müssen, zwei oder drei Tagesreisen vielleicht, und sie wären an dem Ort angelangt, wo Xochipilli lächelnd seine Hand aufgehalten und ein grünes Nest geschaffen hatte, umrahmt von sanft ansteigenden Bergen, ein Ort, der so schön ist, daß man einen besseren Platz auf dieser Erde nicht finden kann. Ein Platz, wo die Farbe Grün alles beherrscht, ein mildes Graugrün, wo die Hügel an den Himmel grenzen und ein saftiges Türkis in den Tälern, wo die Flüsse rauschen. Das wäre der Ort der Götter gewesen, aber sie haben ihn nicht gefunden. Sie wären geschützt gewesen vor der Nachtkälte des Hochlandes, die Früchte wären ihnen in den Mund gewachsen, die Bäume hätten ihnen Schutz gegeben, und Blumen hätten ihnen geblüht das ganze Jahr.
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Als Tirza ein wenig älter wurde, erfuhr sie auch an langen Abenden, wenn es draußen still wurde und nur noch die Grillen sangen, wieviel Land die Amerikaner, die Gringos, die Yanquis, den Mexikanern im Norden gestohlen hatten, als Mexiko vor sechzig Jahren unter seinem nichtsnutzigen Präsidenten Santa Ana zu schwach und uneins war, um sich wirksam gegen die Übermacht aus dem Norden zu wehren. Ganz Kalifornien mit San Francisco und Los Angeles, Texas, Neu Mexico, Nevada, Utah das alles und noch mehr hatte ihnen gehört. Seither waren Tirza alle Menschen, die über den Rio Bravo kamen, verdächtig und sie haßte dieses Diebsgesindel. Sie liebte auch Benito Juárez, den Zapotekenführer, der die Franzosen aus dem Land geworfen hatte. Die Franzosen hatten viel Leid über ihr Land gebracht. Ein Jahrhundert lang hatten sie sich in die Geschichte Mexikos eingemischt, Truppen herübergeschickt und auf Tirzas Landsleute geschossen. Sie hatten Mexiko als ihr Eigentum betrachtet. Und da war noch die Geschichte von Porfirio Diaz, der fast fünfunddreißig Jahre Präsident gewesen war. Er war gefürchtet und geachtet und er verschaffte seinem Land nach außen hin großes Ansehen. Im Inneren aber regierte er mit unglaublicher Willkür und duldete es, daß ein Fünftel des Staatsgebietes den Indios, die es seit Jahrhunderten mit ihren Händen gepflegt und bebaut hatten, weggenommen und an einflußreiche Politiker und reiche Hacendados zu einem Spottpreis verhökert wurde. Da war keiner, der ihn daran hinderte. Als endlich Madero gegen den Tyrannen aufbegehrte und ihn zum Erstaunen der ganzen Welt stürzte, versprach er dem Volk, für die Rückgabe und gerechte Verteilung des Landes zu sorgen. Aber er war schwach, zu schwankend, 58
beeinflußbar und zögernd. Die Macht der Hacendados war stärker als sein guter Wille. Nichts geschah. Eine Flut untauglicher Gesetzentwürfe änderte nichts an der Lage, und der Zorn des Volkes stieg von Tag zu Tag. Das führte schließlich dazu, daß in Morelos die Bauern aufstanden und sich einen Führer suchten, der ihre Rechte vertreten sollte. Sie fanden Emiliano Zapata und forderten mit ihm und der Waffe in der Hand von den Mächtigen ihr Land zurück. Randón verstand den Zorn der Peones, aber er unterstützte sie nicht, weil das gegen die Interessen des Patrons gerichtet gewesen wäre. 5 Im Herbst des Jahres 1912 bahnte sich Unheil an. Man feierte in San Miguel, wie immer am ersten November, das Totenfest. Yasmina hatte wundervoll geformte Kuchen gebacken, die goldgelb glänzten und wie aus weichem Lindenholz geschnitzte Kunstwerke aussahen. Sie buk auch, wie jedes Jahr, das Pan de muerto, das Totenbrot, das mit seinen Knochensymbolen an die Vergänglichkeit erinnern sollte. In der Küche herrschte seit Tagen Hochbetrieb. Da wurden Mandeln zerstampft, Chilischoten zerrieben, Zimt, Sesam, Kreuzkümmel, Bananen, Butter und Schokolade gemischt, zerwalkt und schließlich zu sämigem Mole gerührt. Der zarte Duft der Mandeln wurde erhöht vom lieblichen Aroma des Zimts und von der herben Würze des Kümmels, er wurde gekreuzt mit der Süße und Bitterkeit der Schokolade, 59
angefeuert mit der Glut der Chilis und wieder gezähmt von der Sanftheit der Bananen und der Milde der Butter. Das war das Geheimnis des Mole. Es wurden Tomaten, Zwiebeln, grüne Chilis und zarte Korianderblätter für die Salsas, die Soßen, gehackt. Man hörte das Klatschen der Hände, wenn der duftende zähe Teig, die Masa, mit flachen Händen zu hauchdünnen Tortillas geklopft und geformt wurden, die auf dem fast glühenden Comal knusprig wurden und tausend kleine braune Blasen warfen. Der Atem des heißen Maisteiges zog durch die Räume. Dann wurde der obligatorische Pavo, der Truthahn, geschlachtet, kunstgerecht zerlegt, in eine große Pfanne geschichtet, gebraten und mit dem vorbereiteten Mole übergossen. Es war für alle der kulinarische Höhepunkt des Jahres. Man hatte Blumen gebracht und der Tisch war festlich geschmückt. Nach Einbruch der Nacht brannten überall Kerzen, und die Peones läuteten die Glocke im Türmchen über dem Portal. Diese Glocke ertönte immer wieder, die ganze Nacht. Man nannte dies den Totenruf. Fernando Randón hatte kleine Bilder seiner verstorbenen Eltern und seiner ersten Frau auf den Tisch gestellt, und Yasmina deckte für sie auf, als ob sie noch lebten. Spät am Abend besuchten sie die Gräber, legten einen großen Strauß goldener Zempasochitl neben das Kreuz und zündeten schwarze Kerzen an. Es waren auch viele Peones da, die in bunte Sarapes gehüllt, die Nacht an den Gräbern hockten, um mit ihren Toten zu sprechen. Man hatte den Toten Süßigkeiten, Gebäck, Platten mit heißen Tamales und Tacos, ja sogar Zigarren mitgebracht.Die 60
Peones waren fröhlich und intonierten in gleichförmigem Singsang leise Lieder unter einem friedlichen Sternenhimmel. Die Akkorde der Gitarren tränkten die Nacht mit Schwermut. Etwa eine Stunde vor Mitternacht hörte man Pferdegetrappel, und wenig später standen zwei verwegen aussehende Gestalten mit Gewehren in der Empfangshalle, die Randón zu sprechen wünschten. Sie trugen weiße Bauernkittel. Breite Sombreros warfen dunkle Schatten auf finstere Gesichter. Patronengürtel trugen sie wie gekreuzte Schärpen um den Leib. Randón hatte Tirza später erzählt, daß sie im Auftrag Zapatas gekommen seien, um unverschämt hohe Extrasteuern für die "Erneuerung des Landes" einzutreiben. Irgend etwas sei von den Rebellen in San Pablo Hidalgo beschlossen worden, was alle Hacendados zu wöchentlichen Zahlungen verpflichte. Als er ihnen klarmachte, daß er über diese Summen keinesfalls ohne Einwilligung des Patrons verfügen könne, gaben sie ihm eine Woche Bedenkzeit. Er solle diese Zeit gut nützen, um dem Patron den Ernst der Lage klarzumachen. Randón war ein eigensinniger Mensch. Er achtete Zapata. Er wußte auch, daß gegen die Übermacht der besitzlosen Indios, die geschlossen hinter ihrem Führer standen, niemand etwas ausrichten konnte. Er verstand die Ungeduld Zapatas, der seit drei Jahren vergeblich auf eine gerechte Verteilung des Landbesitzes durch Präsident Madero wartete, und der aufgebracht war über dessen Entschlußlosigkeit, gerade weil er den Sturz von Porfirio Diaz mit seinem Bauernheer unterstützt und überhaupt erst 61
ermöglicht hatte. Aber das alles hatte in Randóns Augen nichts mit San Miguel zu tun. Es gab hier nur eine einzige Aufgabe zu erfüllen, Gott, der Jungfrau Maria und dem Präsidenten, vor allem aber dem Patron zu dienen und in dessen Sinn das Gut zu führen. Sondersteuern lagen ihm daher so fern, daß er in der Tat nicht einmal daran dachte, dem Patron von dem Besuch der Zapatistas zu berichten. Er kannte ja dessen Einstellung. Zwei Wochen später teilte er einer weiteren Abordnung der Rebellen in barschem Ton mit, daß er Sondersteuern für San Miguel nur auf Anordnung des Präsidenten abführen werde. Mit Druck und Erpressung sei weder beim Patron noch bei ihm etwas zu erreichen. Sie sollten sich zum Teufel scheren und zusehen, wie sie ihre Kasse auf ehrliche Weise füllten. Auf diese Abfuhr hin geschah vorerst nichts. Randón wunderte sich nicht darüber und erklärte allen, die es wissen wollten, daß man den Bauern nur deutlich genug sagen müsse, wer Herr im Lande sei, dann würden sie das auch begreifen. Als Tirza kurz nach diesem Ereignis siebzehn Jahre alt wurde und nach Meinung ihres Vaters wirklich reiten gelernt hatte, schenkte er ihr ein Pferd. Es stand am Morgen im Hof und wieherte und schnaubte so laut, daß Tirza aufwachte, schlaftrunken aufstand und aus dem Fenster sah. Ohne daß Randón eine Andeutung gemacht hätte, wußte sie, daß es ihr Pferd war. Es war schwarz und hatte einen kleinen weißen Stern zwischen den Augen. Es scharrte mit seinen Hufen im Kies des Hauptwegs und 62
schaute herauf, als wollte es sagen: "Was ist nun, kommst du?" Tirza fiel ihrem Vater um den Hals."Wie heißt er, sag, wie heißt er? er ist wunderschön!" "Schau ihn dir an, schau dir seine Augen an, sieht er nicht aus wie ein Lausbub?" "Dann heißt er Rapaz", lachte Tirza und tanzte durch die Halle. Sie rannte hinaus und stand vor ihrem Geburtstagsgeschenk. Sie schwang sich auf den Rücken des Pferdes, galoppierte mit Rapaz hinaus auf die Felder, durch die Pueblos der Landarbeiter, durch die Gemüseplantagen, hinüber zu den Hügeln und hinauf, bis sie ihr Land weit unter sich sah. Sie jauchzte ihre Freude über die Ebene. Von da an verbrachten Rapaz und Tirza ihre Tage gemeinsam. Tirza hätte sogar im Pferdestall geschlafen, wenn es ihr Randón nicht verboten hätte. Schon bald lernte Tirza die Launen und Eigenarten ihres Freundes kennen. Sie wußte genau, wann er Durst oder Hunger hatte, sie ahnte, wenn ihm etwas nicht paßte. Er übersprang die tollsten Hindernisse und sie stimmte sich vorher durch sanften Schenkeldruck und geheime Zeichen mit ihm ab, so daß es keine Mißverständnisse mehr gab: "Schaffen wir das, Rapaz? Schau da vor uns, das Gatter! Müssen wir das aufmachen? Komm alter Junge! Ay! Adelante!" Rapaz verstellte die Ohren und sie wußte, er springt und fliegt mit ihr über das Gatter hinweg. Sie kletterte mit ihm in den Bergen herum, vorsichtig und behutsam, und badete mit ihm im klaren Wasser des 63
Baches. Sie fegte mit Rapaz über die Felder, schmiegte sich im Wind an seinen Hals, daß ihr flatterndes Haar zu seiner Mähne wurde. Sie verbrachte Stunden damit, sein Fell zu striegeln, bis es glänzte wie Seide. Sie führte ihn zur Schmiede und blieb bei ihm, bis er funkelnagelneue Eisen hatte. Sie liebte Rapaz sehr. Am 3. Januar färbte sich der Abendhimmel roter als sonst, und vom Norden her wehte ein heißer Wind, der Brandgeruch mit sich brachte. In dieser Nacht hatten die Indios die Zuckerrohrfelder von San Gabriel angezündet. Es hieß, Don Felipe, der Hacendado habe sich geweigert zu zahlen. Randón kümmerte sich nicht darum. Am Dreikönigstag, wiederum kurz nach Sonnenuntergang, brannte es im Süden. Diesmal standen die Felder von San Miguel in Flammen. Randón schäumte vor Wut, schnallte sich den Patronengurt um und brüllte zu den Stallungen hinüber, man solle ihm sein Pferd bringen. "Verfluchte Hunde! Gottverdammte Banditen!" tobte er und hieb dem Gaul die Sporen in die Flanken. Er kam nicht weit. Nur wenige hundert Meter vom Herrenhaus entfernt, traf er auf einen Trupp Rebellen, die auf die Hazienda zugaloppierten. Fernando Randón schoß den Anführer nieder und stürzte dann, von fünf Kugeln getroffen, selbst vom Pferd. Yasmina empfing die Banditen mit ihrer MauserPistole in der Hand aufrecht und furchtlos auf der Empore der Halle und schoß zwei nieder, bevor auch sie lautlos und mit zutiefst verwundertem Blick zusammenbrach.
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Tirza stand bewegungslos im Arbeitszimmer und beobachtete durch den dunklen Korridor die Vorgänge in der Halle. Sie konnte nicht begreifen, daß ihre Peones, von denen sie nichts anderes kannte als Respekt und Freundlichkeit, sich nun vor dem Haus zusammenrotteten, und, während ihre Mutter verblutete, in wirren Sprechchören mit den Rebellen "Viva Zapata!" und "Tierra y libertad!" plärrten. Sie tastete sich im Dunkeln an Vaters Schreibtisch, öffnete das oberste Schubfach und packte das Bündel Geldscheine, das sie in der Kassette fühlte, unter ihr Kleid. Dann suchte sie die Stelle der mittleren Schublade, wo Vaters Revolver lag die Schublade war leer. Vor dem Haus trafen inzwischen weitere Zapatistas ein, die gröhlend forderten, die Hazienda niederzubrennen. "Es ist unser Land, wir verwalten es jetzt selbst und auf unsere Weise! Anzünden! Anzünden!" Tirza erinnerte sich daran, daß der Vater ihr von seinem Schulfreund Ernesto Ruiz Pappas, der in der Hauptstadt wohnte, erzählt und eigentlich nur scherzhaft gemeint hatte: "Wenn ich dir einmal nicht mehr helfen kann er hilft dir." Ernesto Ruiz Pappas, war mit Fernando Randón in der Hauptstadt zur Schule gegangen. Randón mochte ihn, weil er ruhig und bedächtig war. Aber gerade aus diesem Grund war Ernesto immer wieder den Angriffen der Schreier und der Vorwitzigen ausgesetzt, die das Sagen hatten. Da verbündeten sich die beiden zu einer Allianz, einer Freundschaft, die mit den Jahren so tief ging, daß sie bei ihren schweigsamen Spaziergängen keine Worte 65
brauchten, um einander zu verstehen. Sie brachten es soweit, daß Randón sogar auf Fragen des Freundes antworten konnte, die dieser nicht gestellt oder genauer gesagt nicht ausgesprochen hatte. Ernesto Ruiz Pappas war dabei, als Tirza getauft wurde, und er lag mit Fernando Randón und einer halbleeren Flasche unter dem Tisch, als sich die anderen längst zurückgezogen hatten. Die beiden konnten kaum mehr sprechen, aber sie verstanden sich durch Gesten und redeten nur das Nötigste. An jenem Tag, als das feurige Licht des Morgens durch die Fenster brach, vertraute Randón seinem Freund das kleine Wesen an. "Wenn's mal sein sollte, weißt du, wenn was ist, weißt du, wenn irgendwas Blödes passiert du läßt sie nicht im Stich. Du verstehst, was ich meine?" "Bei der heiligen Jungfrau, unserer Mutter von Guadalupe, ich schwör's dir, altes Haus, ich schwör's dir!" antwortete Ernesto Ruiz Pappas. In Wirklichkeit glaubte keiner der beiden daran, daß etwas passieren könnte. Tirza hörte von draußen den Ruf: "Holt die Moneten, bevor ihr Feuer legt!" und fast gleichzeitig bemerkte sie, wie einer der Rebellen auf die offene Tür des Arbeitszimmers zuwankte. Er war offensichtlich betrunken. Tirza duckte sich hinter den Schreibtisch, aber schließlich stand der Bandit im Raum, die Fackel hoch über seinem Kopf und befahl ihr, aus ihrem Versteck zu 66
kommen. Er betrachtete sie lange, ohne etwas zu sagen. Dann schloß er die Tür hinter sich. Er brummelte vor sich hin: "Na, sowas! So ein süßes Mäuschen! Welche Freude an diesem Abend!" und er drängte Tirza mit schrecklicher Kraft vor sich her, umfaßte ihren Leib und küßte ihren Hals. Er preßte sie mit der ganzen Wucht seines schweren Körpers auf den Schreibtisch, während die Flammen der Fackel ihr Haar ansengten. Ihre Hände ertasteten den kalten Marmor einer Statuette, die ihr Vater vom Patron geschenkt bekommen hatte, griffen zu und schmetterten die Figur auf den Kopf des Indios, der unter wilden Zuckungen abrutschte und zusammengekrümmt und röchelnd am Boden liegenblieb. Die Fackel brannte neben seinem verzerrten Gesicht weiter, spiegelte sich zweifach in den brechenden Augen und verbreitete beißenden Qualm. Tirza schlich zum Fenster, öffnete es und glitt hinaus auf den Hof. Niemand kümmerte sich um sie. Sie huschte im Dunkel der Hauswand hinüber zu den Stallungen, kroch durch die Futterklappe und erreichte Rapaz, der unruhig in seiner Box stand. Sie sattelte ihn im Dunkeln so schnell, wie sie es noch nie gekonnt hatte, legte das Zaumzeug an, schob lautlos das Boxengitter auf und sprengte dann über die Strohballen hinaus durch das offene Stalltor, mitten hinein in die zurückweichende Meute vor dem Herrenhaus, daß die Funken stoben. Rapaz hatte begriffen. Er streckte sich, schlug die Hufe in den Boden, griff aus und rettete Tirza in die Dunkelheit.
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Als sie nach einer Viertelstunde zum erstenmal zurückblickte, sah sie Flammen lodern und wußte, daß sie nicht mehr nach San Miguel zurückkehren würde. Die Hazienda brannte bis auf die Grundmauern nieder und wurde nie wieder aufgebaut. Nach der Revolution im Jahre 1923 wurden deren Ländereien mit San Gabriel vereinigt, der Ruinenschutt wurde weggeschafft, und heute erinnert außer dem Friedhof und den alten Bäumen, die immer noch goldrote Früchte tragen, nichts mehr an jenen Platz, an dem Tirzas Leben begann. Der Ritt nach Cuernavaca wurde zur längsten Nacht ihres Lebens. In der Finsternis tastete sie sich über einsame Wege, durch Gräben und Hecken. Sie versuchte, sich an der Straße zu orientieren, aber sie wagte es nicht, sie zu benutzen. Aus Angst um Rapaz ritt sie sehr langsam, stieg ab, überprüfte Hindernisse, legte Pausen ein, erschöpft und mutlos, in lähmender Angst, sie würde entdeckt werden. Erst als der Morgen graute, kehrte ihr Mut zurück. Rapaz trug sie in jetzt sicherem Trab über die melancholische Hügellandschaft, vorbei an schwelenden Zuckerrohrfeldern, hinauf nach Cuernavaca. Gegen Mittag erreichte sie die Stadt. Hier war alles ruhig. Die Gärten atmeten den Duft ihrer Blüten und flimmerten in der Mittagshitze, als sie die Calle de Netzahualcoyotl hinaufritt und vor einem langgestreckten Gebäude mit schlanken Bogenfenstern den Laden eines Pferdehändlers fand. Sie nahm allen Mut zusammen und feilschte um Rapaz über eine Stunde, weil sie sich als Verräterin 68
vorgekommen wäre, wenn sie ihn billig hergegeben hätte, und weil das Feilschen den Abschied hinauszögerte. Dann steckte sie schluchzend die achtzig Pesos, die sie erkämpft hatte, zu Vaters Geld, während der Pferdehändler mit hilflosen Gesten des Trostes vor ihr stand und ihr übers Haar strich. Sie schlich hinauf zur Kirche, kniete vor dem Bild der heiligen Jungfrau, unfähig, um irgendetwas zu bitten oder zu klagen. Sie wollte nichts anderes, als schützendes Gemäuer um sich haben und zu einer Heiligen sprechen können, die sie in ihrem Elend verstehen mußte, weil sie selbst soviel Elend erlebt hatte. Tirza erreichte México am Abend mit dem einzigen Zug, der an jenem Tag von Cuernavaca in die Hauptstadt fuhr. Es war nicht schwer, Ernesto Ruiz Pappas zu finden. Er war einer der bekanntesten Rechtsanwälte der Stadt. 6 Vor langer Zeit beschloß man, auf der Plaza de la Constitution der Ciudad de México ein Denkmal zu errichten. Es wurde von großen Künstlern und berühmten Baumeistern geplant, entworfen und modelliert. Man zerbrach sich jahrelang den Kopf über die endgültige Gestalt und Ausführung und trotzdem begann man mit dem Bau, ohne genau zu wissen, was man eigentlich wollte. Als kurz darauf unter den Künstlern ein erbitterter Streit ausbrach, und obendrein das Geld ausging, was in ganz 69
Mexiko niemanden verwunderte, stand da ein schmuckloser, grauer Marmorsockel auf der Plaza, und bald wußte keiner mehr, ob dieser für eine Bronzestatue, ein Reiterstandbild, eine Siegessäule oder für überhaupt irgend etwas bestimmt gewesen war. Am Abend aber traf sich die Gesellschaft an diesem nutzlos gewordenen Sockel, dem Zócalo, im warmen Licht der untergehenden Sonne und machte ihn zum Ausgangspunkt vergnüglicher Streifzüge durch das quirlende Leben der nächtlichen Hauptstadt. Es dauerte nicht lange, bis das Wort Zócalo zum Namen für die Plaza der Stadt México wurde und das blieb auch so, nachdem der überflüssige graue Klotz längst wieder entfernt und einem von üppigen Blumenbeeten umflorten Musikpavillon gewichen war. Später verschwand auch das Musentempelchen. An seiner Stelle markierte ein hoher Mast mit der Fahne Mexikos den Mittelpunkt des Gevierts, den Mittelpunkt des ganzen großen Landes. Da Hauptstädte immer Vorbilder sind, ist es nicht verwunderlich, daß nach und nach auch die Marktplätze der Provinzstädte bis hinauf nach Coahuila und Chihuahua Zócalo genannt wurden. Aber der Zócalo von México ist größer und ehrfurchtgebietender als der aller anderen Städte, ja, er übertrifft in seiner majestätischen Weite und in seiner grandiosen Einfachheit und Würde so berühmte Plätze, wie den Petersplatz in Rom, den Trafalgar Square in London und die Place de la Concorde in Paris bei weitem. 70
Im Osten wird das riesige Quadrat von der Fassade des Nationalpalastes flankiert, dessen endlos lange Reihen kleiner Fenster an die Geschützpforten einer spanischen Galeone erinnern. Die Nordseite wird etwa da, wo vor der Conquista die steile, vom Opferblut überkrustete Zwillingspyramide des Sonnengottes Huitzilopochtli und des Regengottes Tláloc in den Himmel ragte, von der wuchtig barocken Kathedrale mit ihren beiden massigen Türmen und von dem Sagrário, dem Sakramentshäuschen eingenommen, das sich fast schutzsuchend an die Kathedrale anlehnt. In das rote, aus weichem Vulkanstein errichtete Gemäuer der beiden ineinander verschmolzenen Kirchen hat man schon vor vierhundert Jahren Trümmer der alten Aztekentempel eingefügt; sie sind also im gewissen Sinn, wenn auch nur als Baumaterial, dem Gottesdienst erhalten geblieben. Im Süden wird der Platz an den "Häusern des Cabildo", die das Domkapitel bewohnte, von azulejogeschmückten Kolonnaden beschattet. Im Westen schließlich grenzen die "Häuser des Cortez" mit dem Monte de Piedad, dem Leihhaus, und vielen bunten Läden unter farbenfrohen Markisen an das Einkaufs und Geschäftsviertel von México. Ganz in der Nähe des Zócalo wohnte Ernesto Ruiz Pappas. Sein Haus lag an der Westseite der Calle de Palma und war in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem liebevoll romantischen Verständnis der Mexikaner für die Belle Epoque erbaut worden. Es war ein kleiner Palacio, dessen Fassade, überschüttet mit schmückenden
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Stuckschnörkeln und gegliedert durch Marmorsimse und aufragende Halbsäulen, Wohlstand reflektierte. Ernesto Ruiz Pappas bewohnte mit seinem jüngeren Bruder und der Haushälterin Rosalía die zweite Etage des Hauses. Die Calle de Palma gehörte, wie die Calle de San Francisco, der Callejón de Espiritu Santo und die benachbarte Calle de Isabel la Catolica zu den nobelsten Straßen des Viertels. Ernestos Kanzlei lag, nicht weit vom Zácalo entfernt, am Correo Mayor. Jeden Morgen, gegen neun Uhr, verließ er im grauen Gehrock mit Samtaufschlägen, und standesgemäß bedeckt mit einem steifen schwarzen Hut, das Haus. Er arbeitete ohne Unterbrechung oft bis spät in die Nacht. Er verzichtete sogar auf die obligatorische Siesta zwischen elf und drei Uhr und begnügte sich zur Mittagszeit mit einem bescheidenen Imbiß, der aus ein oder zwei Tassen heißen Kaffees und lauwarmen Burritos oder Tostadas bestand, die er sich bringen ließ, und die er hastig hinter Aktenbergen verschlang. Er war einer jener vorbildlichen Anwälte, die nicht nur diejenigen Gesetze und Grundsatzurteile kannten, welche man ohnehin kennen mußte. Er wußte wie kein anderer auch um die viel wesentlicheren, rettenden Schlupflöcher der Rechtsprechung, durch die er, schlau und sprachgewandt wie er war, seine Mandanten bei den turbulenten Verhandlungen vor dem Corte immer wieder genau dann hindurchschleuste, wenn sich die Kontrahenten in Siegerpose schon sicher waren, alle Trümpfe in der Hand zu haben. Das geschah meist erst, 72
wenn seine Schützlinge die Hoffnung bereits hatten fahren lassen, wenn ihnen der Schweiß ausbrach, wenn sie die Hände mit krachenden Fingergelenken ineinanderkrampften und wenn sie, mit verlöschendem Blick zu ihm aufschauend, zermürbt und entmutigt mit den Füßen scharrten. Dann stand Ernesto Ruiz Pappas da wie ein Denkmal, verschränkte die Arme überlegen vor der Brust, verankerte die Daumen in der Knopfleiste seiner Weste, weil er, seiner Sache sicher, auf jede überflüssige Gestik verzichten konnte, und trug mit der provozierend verinnerlichten Stimme eines Franziskanerpriors vor: "Ich bitte jedoch im vorliegenden Fall zu bedenken ..." Die Richter beugten sich dann nervös über den Tisch und runzelten verwirrt die Brauen. Seine Gegner schnappten unter allen Anzeichen der Resignation nach Luft. Die Augen seiner Mandanten aber erstrahlten im Glanz aufkeimender Hoffnung, sie atmeten wieder und lösten befreit ihre Hände voneinander, als ob dort Ketten abgefallen wären. Er plazierte seine treffsicheren Tiefschläge so zielsicher, so überraschend, daß der Erfolg auch in aussichtslos erscheinenden Fällen nicht ausblieb. Dementsprechend fielen auch seine Honorarforderungen aus, aber man zahlte zerknirscht und prompt, wie bei der Einlösung eines Gelübdes. Trotz dieser beeindruckenden Eloquenz in beruflichen Dingen war Ernesto Ruiz Pappas ein in sich gekehrter Mensch. Er redete sonst wenig. Wenn er aber etwas sagte, war dies wohlüberlegt und unumstößlich. Sein Beruf war ihm heilig. Was in seinem Leben aber wirklich zählte, war die Kunst. "Das eine ist fürs Bankkonto", sagte er, "das andere fürs Herz." 73
Seine ganze Zuneigung galt der Musik. Er liebte Bach, Schumann und Chopin gleichermaßen. Er erweckte den Bechsteinflügel im Salon mit solcher Hingabe zum Leben, daß Rosalía, wenn spät abends seine Etüden und Impromptus durch die Wohnung perlten, erschüttert Flickzeug und Stopfei fallenließ und Tränen vergoß. Er versäumte kein Konzert, keinen Liederabend, kein Ballett und kein Operngastspiel. Er konnte stundenlang dasitzen und zu den imaginären Klängen eines veritablen Symphonieorchesters die Hände tanzen lassen wie Arturo Toscanini, während es in seinem Kopf sang und brauste und er mit entrücktem Blick, Ton für Ton, Akkord für Akkord, Takt für Takt, bis zum gewaltigen Finale, Mendelssohns Italienische Symphonie dirigierte. In diesen Augenblicken innerer Erleuchtung durfte ihn niemand stören. Er schleuderte seine Hände hinauf zu den Holzbläsern, weil ihr Einsatz zu spät oder zu aufdringlich kam, bremste mit der flachen Hand die Tempi der Bratschen, dämpfte, den Zeigefinger vor den gespitzten Lippen, während seine rechte Hand mit gespreizten Fingern beschwörend nach links flog, das dumpfe Zetern der Hörner zu einem schmelzenden Piano, stachelte dann alle, die da vor ihm saßen, mit emporgereckten Fäusten zum Fortissimo an und stampfte dabei den Celli und Kontrabässen mit den Füßen den Takt. Er summte selbstvergessen und glücklich vor sich hin und atmete Musik. Aber das war nicht alles. Er liebte auch die Malerei und hatte von seinem Londoner Gewährsmann bei Christie's so manches Bild zu Preisen ersteigern lassen, die seinem 74
Bruder die Blässe ins Gesicht trieben und ihn zu furchterregenden Zornausbrüchen hinrissen. Die Brüder verwalteten nämlich ihr Vermögen gemeinsam. Im Salon, wo das grelle Mittagslicht durch die Voilegardinen der Ostfenster nur hereintröpfeln konnte, hingen zwei Liebermanns, die in pastosem Farbauftrag heimelige Familienszenen darstellten, und eine in grünem und ockerfarbenem Pastell schwimmende Frühlingslandschaft von Cezanne. Im Eßzimmer tanzten, von Corot in zusammenflutenden Farben gemalt, drei Nymphen unter Olivenbäumen, und im Gästezimmer füllte ein monumentales Landschaftsgemälde des Mexikaners Caverdos eine ganze Wand mit dem schneebedeckten Abbild des Popocatépetl. Ernesto Ruiz Pappas hütete auch eine Mappe mit Holzschnitten von Rethel, die er aber nur guten Freunden zeigte. Als eines Abends Rosalía zögernd die Türe geöffnet hatte, weil er auf ihr Klopfen nicht reagierte, und sie, noch im Türrahmen stehend, verzweifelt mit den Händen fuchtelte, während Ernesto, die Partitur von Schumanns amoll Konzert auf den Knien, zum Fenster hinaus dirigierte, brauste er auf, wie ein Schachspieler, dem man die Figuren umgeworfen hat. Er fauchte Rosalía an, die den Frevel begangen hatte, sein Orchester zum Verstummen zu bringen: "Ich möchte nicht gestört werden! Verdammt, ich habe das schon tausendmal gesagt! Hab' ich es dir nicht schon tausendmal gesagt? Ich will nicht gestört werden, verdammt nochmal!" 75
Rosalía stand betreten aber gefaßt da. "So kommen sie doch!", flüsterte sie und hob erregt die Arme. "Es ist wichtig!" Ernesto gab auf. Im Flur stand ein hilfloses Mädchen, dem die Tränen über das Gesicht liefen. Es stand da, mit aufgelöstem Haar und einem Kleid, dessen wirkliche Farbe niemand mehr erkennen konnte. Die Kleine stand da, so mutlos und verlassen, so niedergeschlagen und verzweifelt, so regungslos in ihrer Trauer und zitternd vor Angst, daß Ernesto Ruiz Pappas vor Schreck erbleichte. Obwohl er sie lange nicht gesehen hatte, wußte er sofort, wer sie war. "Tirza! Was ist passiert?" "Sie sind tot! Es waren Zapatistas..Vater hat mir gesagt, ich solle zu dir ....", sagte Tirza kaum hörbar, dann schüttelte sie ein Weinkrampf und Rosalía weinte mit ihr. Schließlich weinten sie zu dritt, während Tirza, immer noch im Gang stehend, mit erstickter Stimme daherstammelte, was geschehen war. Als sie später im Salon beieinandersaßen, lösten sich Ernestos Gedanken, wanderten zurück in die Vergangenheit und ließen seinen Freund Fernando Randón wieder auferstehen.
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Da war er wieder, der heiße Nachmittag in der Schule, als er, Ernesto, am ersten Tag nach seiner Ankunft in México, heimwehkrank und verloren auf dem Schulhof stand. Nichts als Geschrei und fremde Gesichter um ihn herum. Niemand, der sich um ihn kümmerte. Er fürchtete sich vor dieser Meute, die da lärmte und schrie und Ball spielte. Da kam der Kleine mit den schwarzen Locken und dem freundlichen Gesicht auf ihn zu und legte ihm den Arm um die Schulter. "Du bist neu hier, nicht wahr?" "Ja", sagte er, "ich heiße Ernesto." "Ich bin Fernando Randón", sagte der Kleine, "komm, laß uns hinübergehen in den Park. Dort sind wir ungestört!" Ernesto begleitet ihn mit einem Gefühl der Erlösung, ging mit ihm die Treppenstufen hinunter, an der Wandelhalle vorbei, hinüber zum Park. Sie redeten zuerst nicht viel. Fernando sagte nur: "Ich weiß, wie dir zumute ist. Keine Angst! morgen hast du's überwunden!" Und Ernesto überließ sich Fernandos Führung. Aber dann, nach einer Weile, einem abtastenden Zögern, beschrieb Fernando die Klassenkameraden. Über jeden einzelnen wußte er etwas zu erzählen. Er sagte ihm, wem er vertrauen konnte und wen er meiden mußte. Fernando erzählte auch von den Lehrern, die ihn erwarteten:
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Da war Ziu, der weißhaarige alte Chemielehrer, der als Student in Europa war und noch Justus von Liebig gekannt hatte, und der hinter gurgelnden Glaskolben und wie Orgelpfeifen aufgereihten Reagenzgläsern, umnebelt von übelriechenden Schwaden von Schwefelwasserstoff, neben dem brodelnden Kipp'schen Apparat mit Tränen in den Augen die von ihm selbst übersetzten Verse aus Dantes Divina Comedia rezitierte. Der Mann, den sie alle liebten wie ihren eigenen Vater, weil keiner sie so verstand wie er. Er schilderte ihm Henno, den philosophischen, gutmütigen Französischlehrer, der ihnen augenzwinkernd weismachte, daß Gottes Barmherzigkeit und die mitteralterliche Sprachentwicklung aus dem unaussprechlichen Namen der Hafenstadt Bordelles das nach dunklem Rotwein duftende Wort Bordeaux gemacht habe. Er berichtete über Chorizo, der täglich hilflos vor der Klasse stand, sie mit europäischer Geschichte traktierte und allen Ernstes behauptete, daß das Haus SachsenCoburgGotha keinerlei Anrecht auf den englischen Königsthron habe. Dieses Recht stehe einzig und allein den Wittelsbachern zu. Nach einem ebenso bedauerlichen wie gravierenden Erbfolgeirrtums im achtzehnten Jahrhundert sei kein anderer als der deutsche Bayernprinz Rupprecht Englands rechtmäßiger König. Er warnte ihn vor Doña Graciosa, der eigenwilligen Zeichenlehrerin, die sich über alles Unwahrhaftige in der Kunst ereiferte und kein Bild duldete, das, von schwammigen, pubertären Emotionen verdorben, den 78
festen Boden ihres Schönheitsideals verließ. "Male nie etwas so, wie du es siehst", sagte Fernando, "sondern male es, wie du es empfindest sonst schüttet sie dir den Farbtopf ins Gesicht!" Sie sprachen stundenlang miteinander und genossen die Stille im Park. Von diesem Augenblick an liebte Ernesto diesen ruhigen unaufdringlichen Freund mit der gewinnenden Überzeugungskraft eines Jesuiten, der ihm so ähnlich war. Sie wanderten von da an jeden Nachmittag durch den Park und öffneten sich gegenseitig das Herz. Es gab nichts, was sie sich verheimlichten. Die von natürlicher Vorsicht errichteten Verteidigungsschranken ihrer Seelen waren zerbrochen. Sie kleideten die verschwiegensten, intimsten Geheimnisse ohne Scheu in ausgesprochene, hörbare Worte und plauderten sie ungehemmt und voller Vertrauen aus. Dabei ist Ausplaudern das falsche Wort. Sie teilten sie sich gegenseitig mit, weil jeder der beiden wußte, daß sie trotzdem Geheimnisse blieben, mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, daß um ihre Geheimnisse jetzt eben zwei wußten. Später, viel später, trennte das Leben diese Gemeinsamkeit. Sie sahen sich immer seltener. Schließlich verloren sie sich aus den Augen und es tat beiden leid, daß das so gekommen war. Dann fiel ihm jener Frühlingsabend in San Miguel ein. Er war immer noch verliebt in Yasmina und erinnerte sich mit Wehmut an ihr fröhliches Lachen. Oh nein, sie war keine dieser breitgesichtigen, kurzkörperigen, fleischigen Indioweiber gewesen, die in ausgetretenen Strohschuhen 79
daherlatschten. Sie war ein graziles Geschöpf schlank und wendig wie eine Schlange mit wunderschönen, leuchtenden Augen, und sie war voller verrückter Einfälle. Sie konnte tanzen wie keine andere, wenn unter den Tejocotebäumen die Gitarren erklangen und Fernando mit glänzendem Blick in die Hände klatschte. Sie bewegte sich anmutig wie ein Reh und sang mit kehliger Stimme die alten Lieder ihres Stammes. Sie löste lachend ihr Haar und ließ es fliegen im Abendwind, schob sich die goldroten Früchte in den Mund und zeigte ihre blitzenden Zähne, und sie vertrug einen Stiefel wie ein Mann. Sie setzte die Flasche an und schnalzte dabei mit den Fingern, daß es klang wie Castagnetten. Sie konnte gotteslästerlicher fluchen als ihre Stallknechte und dann, von einer Sekunde auf die andere, wieder sanft und leise sein, als ob nichts gewesen wäre. Als nach dem Frühlingsfest alle Gäste gegangen waren, flackerten die Lampions schläfrig wie der untergehende Mond über dem verlassenen Platz vor dem Haus. Er saß mit Yasmina und Fernando in übermütiger Stimmung auf dem Brunnenrand und sie schauten hinauf in die Nacht. Da ging Yasmina hinein ins Haus und kam nach wenigen Minuten zurück. In ihrer Armbeuge trug sie lässig Fernandos Doppelflinte. Sie stellte sich am Brunnen auf, schob Schrotpatronen hinein und ließ das Schloß krachen. Dann schnellte die Flinte hoch, und sie schoß und lud und schoß und lud und schoß. Die Lampions zerplatzten, einer nach dem anderen. Papierschnitzel, rauchende Dochte und Kerzentrümmer flogen durch die Luft. Jeder Schuß saß. Schließlich hockten sie alle drei in stockfinsterer Nacht vor den rieselnden Wassern des Brunnens und Fernando 80
brüllte vor Lachen. Die Glut von Yasminas Zigarre erleuchtete, immer nur für eine Sekunde, ihr Lächeln, das Ernesto nie mehr vergessen konnte. Er wußte, wie gefährlich und unausweichlich es war. Er fühlte auch, daß Yasmina wußte, wie es um ihn stand und daß sie trotz ihrer Liebe zu Fernando imstande war, ihm nachzugeben. Er überlegte damals sogar einen Augenblick, ob es nicht besser wäre, auf Fernandos Freundschaft zu pfeifen, so tief saß ihr Blick in seiner verwundeten Seele. Dann aber entschloß er sich, der Gefahr auszuweichen, ihr einfach aus dem Weg zu gehen. Wann immer er eingeladen wurde zu den herrlichen Festen in San Miguel, fiel ihm etwas ein, das er vorbringen konnte. Er hatte wichtige Termine, mußte verreisen, war krank oder unabkömmlich. So gingen die kostbaren Tage süßer Versuchung an ihm vorüber. Er verbrachte sie stumm vor sich hingrübelnd allein. Die Freundschaft der beiden Männer flaute ab, was unter den tragischen Umständen verständlich war. Fernando hat nie erfahren, warum. Und nun war sie zu ihm gekommen, diese kleine Tirza, Yasminas und Fernandos Tochter, die er bei ihrer Taufe auf dem Arm getragen hatte.Er war glücklich darüber, aber gleichzeitig betäubte ihn die Trauer um Yasmina und seinen Freund. Ernesto ging am Tag nach Tirzas Ankunft nicht in seine Kanzlei. Er begann, die Dinge schleifen zu lassen. Er wanderte mit ihr durch die Stadt und zeigte ihr teilnahmslos deren Schönheit. Er tröstete sie, so gut er 81
konnte, versuchte, sie abzulenken und lud sie ein ins Gambrinus, seinen geheiligten Tempel gastronomischer Freuden. Er ließ das teuerste Menü auffahren, das beiden nicht schmeckte. Er trank mehr, als ihm guttat und wurde daher plötzlich wieder überrascht von depressiven Erinnerungen, die ihm die Kehle zuschnürten. Dann saßen sie vor ihrem erkaltenden Kaffee, schwiegen und drucksten herum und bemühten sich, der Wirklichkeit zu entkommen. Am Sonntag fuhren sie hinaus zur Plaza de México und ließen sich treiben im fröhlichen Lärm der Charreada. Es duftete nach Pferden. Die Charros wirbelten in ihren goldbetreßten Kostümen, die mit der Haut verwachsen schienen, durch die staubige Arena und trugen Sombreros, die so groß waren wie Wagenräder. Veilchenblaue Organdykleider tollkühner Reiterinnen flatterten im Wind. Die Menschen sangen zu schmetternden Trompetenstößen. Tirza erhob sich über ihren Kummer. Bis, ja, bis das schwarze Pferd im Stechschritt in die Arena trabte. Bis es hochaufgerichtet, kraftstrotzend und versammelt mit wehender Mähne ansetzte zu sehnigen Galoppsprüngen. "Rapaz!" Tirza sprang auf. "Rapaz! Rapaz!" Es war natürlich nicht Rapaz. Tirza sank zurück in ihren Sitz und flüsterte leise immer wieder vor sich hin: "Rapaz, Rapaz." Dann führte sie Ernesto hinunter zum Ausgang.
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Es dauerte zwei ganze Wochen, bis Ernesto seinen Arbeitsrhythmus wiedergefunden hatte. Aber dann war es viel mehr als das: Er glühte auf im Feuer flackernder Rhetorik. Er kämpfte mit Verbissenheit, einer wilden Lust am Streit und mit der Stimme der Posaunen von Jericho, die seine Gegner im Gerichtssaal niederschmetterte. Seine Plädoyers erstrahlten in furchterregender Brillanz. Er schrie den Staatsanwalt nieder, handelte sich Ordnungsstrafen ein, verhörte störrische Zeugen unnachgiebig und rastlos, bis sie in Panik gerieten und endlich zusammenbrachen. Er gab nicht auf, bevor sie ihr eigenes Geständnis als Befreiung begrüßten. Er grub in langen Nächten Präzedenzfälle aus, auf die er sich unvermutet im Prozeß berief, und die seine Gegner so in die Enge trieben, daß sie kleinlaut verstummten. Er griff die Regierung, ja sogar den Präsidenten persönlich an und bestritt kühn die Rechtmäßigkeit von Gesetzen, er beantragte Verfügungen und ließ den Saal räumen, wenn sich das Volk voller Mitleid mit dem Schwächeren auf dessen Seite stellte und sich tobend gegen ihn erhob. Er trieb die Richter an den Rand der Verzweiflung, wenn er unablässig den kleinsten Details nachspürte und immer und immer wieder dieselben Zeugen aufrief, bis zu deren kühl geplanter Zermürbung. Er wuchs in seinem Zorn auf die Welt über sich selbst hinaus und kümmerte sich nicht mehr um die einfachsten Gebote der Fairneß. Die Zeitungen, besonders El Tiempo, berichteten über seine haltlosen Ausfälle, und seine Kanzlei konnte den Zulauf neuer Mandanten kaum bewältigen. 83
Aber auch der furchtbarste Zorn hält nicht ewig an. Er wurde mit der Zeit von den Wichtigkeiten und Unwichtigkeiten des Alltags und von wiedererwachender Vernunft verschüttet, und Ernesto fand zu sich selbst zurück. Die Spaziergänge, die Ernesto mit Tirza unternahm, wurden beiden erträglich. Sie begannen beide, Freude daran zu haben. Ernesto besuchte wieder Konzerte und nahm Tirza mit. Es war eine neue Welt für sie, voller Glanz und Schönheit. Sie hörte zum erstenmal Mozart. Dabei geschah etwas Merkwürdiges: die bezwingende Sanftheit dieser Musik, der rauschende Fluß der Harmonien, das Ineinanderschmelzen der Akkorde, das gedämpfte Singen der Oboen, das beschwörende Flüstern der Geigen, die reißende Klarheit der Trompeten überwältigten sie. Sie wußte nicht mehr, ob sie traurig war oder fröhlich. Sie packte Ernestos Hand und zitterte. Sie wurde gebeutelt von donnernden Stakkati und fortgeweht von weinenden Legati. Sie gab jeden Widerstand auf, aber nun war es nicht mehr die Trauer, oder sie brachte es zumindest nicht mehr mit Trauer in Verbindung, was sie bewegte, wie sie vorher nie etwas bewegt hatte. Sie sah plötzlich in silbernen Wolken, weit über dem Orchester, Quetzalcoatl mit lächelndem Gesicht Hiutzilopochtli die Hand reichen. Sah Xochiquetzal mit Xochipilli aufstehen aus einem Blumenstrauß von ungeheuren Ausmaßen und auf den silbernen Wolken tanzen und den Totengott Mictlántecutli in ihre Arme nehmen. Coatlicue, die Mutter der Erde, versammelte sie alle unter ihrem feuerroten Mantel und sang mit den Fagotti so schön, daß Quetzalcoatl vor ihr niederkniete. Schließlich senkten auch alle anderen Götter 84
ihr Haupt und verneigten sich vor ihr, sie bildeten einen Kreis und begannen Hand in Hand zu tanzen und zu springen. Sie verloren ihre Steingesichter, hoben ihre Masken, zeigten ihre magische Schönheit, drehten sich im Sonnenlicht und leuchteten schließlich aus sich selbst heraus im Sturm dieser Musik, die für Tirza alle Rätsel dieser Welt löste. Tirza begann, ihren Kummer zu vergessen. Plötzlich schmeckten die Menüs im Gambrinus. Tirza aß, nein sie fraß, sie schob in sich hinein, was die opulente Speisekarte zu bieten hatte: Sie bestellte Krebsschwänze in Dillsoße, dann Jakobsmuscheln á la Duchesse. Sie doppelte, tripelte die Vorspeisen, vertilgte nacheinander Kalbsnieren in Koreanderrahm, Rinderfilets á la Escoffier dann gegen jede Regel Seezungenröllchen Daumont, gedämpfte Auberginen, briesgefüllte Avocados, Früchtebouquets, schokoladeüberflutete Eisbomben, ganze Paletten bestückt mit Brie, Stilton, Roquefort, Stracchino, Gorgonzola und Chèvre. Sie führte sich auf, als habe man sie wochenlang darben lassen. Ernesto Ruiz Pappas war glücklich darüber und freute sich, einen Menschen um sich zu haben, der Yasmina so ähnlich war. 7 Am 9. Februar des Jahres 1913, einen Monat nach Tirzas Ankunft in der Stadt, begann am Zócalo eine kurze aber 85
schreckliche Episode der mexikanischen Revolution, die als Decena Tragica in die Geschichte einging und Tirzas Leben entscheidend verändern sollte. An jenem Sonntagmorgen erwachte León Mendoza in seiner Hütte am Rande des ChapúltepecParks viel früher als sonst. León war Hüter der AhuehueteZypressen, die, wie man sagt, schon älter als zweitausend Jahre sind und mit ihrem federfeinen Laub die "Straße der Dichter, Philosophen und Könige" beschatten, die sich durch das weite Grün um den Heuschreckenhügel zieht. Diese Aufgabe war zwar ehrenvoll, aber eben doch nur symbolisch. Wer könnte diesen fast versteinerten Giganten mit ihren zerfurchten, grauen Stammsäulen schon etwas anhaben? Aber man durfte ja nicht vergessen, daß schon die Aztekenkaiser Moctezuma und Cuauhtemoc, der Eroberer Hernan Cortez und der unglückliche Kaiser Maximilian mit ihrem Gefolge unter diesen Bäumen wandelten. Man glaubte also, man sei es der Geschichte schuldig, für die noch lebendigen Zeugen einer großen Vergangenheit verläßliche Hüter anzustellen. Vielleicht war es aber auch das unbewußte Erbe der aztekischen Vorfahren, die im theokratischen Tenochtitlan die Natur in Gestalt vieler Gottheiten durch Priester verehrten, die nun, nachdem nur noch ein einziger Gott 86
von Priestern vertreten wurde, durch verläßliche Beamte ersetzt werden mußten. Da, wie gesagt, die alten Bäume weder besonderer Aufmerksamkeit noch Pflege bedurften, beschränkten sich Leóns Pflichten darauf, die Wege sauberzuhalten und darauf zu achten, daß niemand Rosen oder Dahlien stahl. So saß er den ganzen langen Tag auf einer der vielen Bänke des alten Parks, blinzelte in die Sonne, die auf den weiten klaren Teichen tausend glitzernde Kringel formte, und sah dem Volk zu, das sich besonders an Sonntagen in diesem immergrünen Garten Méxicos vergnügte. Die Menschen lagerten in bunten Grüppchen auf dem Rasen und stopften mitgebrachte Tacos, gebratene Hühnchen, zitronensaftgetränkte, gesalzene Jícamas, saftstrotzende Piñas und Unmengen klebriger und bunter Süßigkeiten in sich hinein, als ob Nichtstun und Essen ein und dasselbe wäre. Wenn aber bei Anbruch der Nacht die letzten den Park verlassen hatten, schmerzten León Mendoza die Füße, und er fühlte sich so müde, daß er zu seiner armseligen Behausung mehr wankte als ging. Nach einem kargen Abendmahl, das aus nichts anderem bestand, als aus ein paar trockenen Tortillas, etwas Käse und Frijoles, den nahrhaften, dicken, schwarzen Bohnen, blies er die Öllampe aus, legte sich nieder und schlief, bis die Sterne verblaßten und ihn das erste ferne Pfeifen der Züge, das von der ColoniaStation zu ihm herüberwehte, aus seinen Träumen weckte. Aber in dieser Nacht wußte 87
León zunächst nicht, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Er zündete das Licht an, schlüpfte in seine tausendmal geflickten Hosen und öffnete das Fenster. Es war noch finstere Nacht, und ein kühler Wind rauschte durch die Eschen vor seiner Hütte. Er zog seine Wollmütze über, schob den Kopf durch die schmale Öffnung und lauschte. Er hörte nun deutlich die Geräusche, die von Tacubaya herüberdrangen. Er erkannte es sofort: Es waren Soldatenstiefel, hunderte von Soldatenstiefeln, deren strenger Marschtakt in den Straßen widerhallte. Wenn der Wind ein wenig drehte, wurde das Marschieren übertönt vom Rasseln eisenbeschlagener Räder und von dem harten Hufschlag der Kavallerietrupps, die stadteinwärts zogen. León Mendoza lauschte und dachte nach. Soldaten in der Nacht bedeuteten nichts Gutes. Tagsüber war man es gewöhnt, daß Einheiten aus den Außenbezirken oder von Tlalpan, wo die Kasernen lagen, zum Zócalo zogen, um die Wachtruppe im Nationalpalast abzulösen, aber nachts waren sie, seit Francisco Madero Präsident geworden war, nicht mehr marschiert. Als Madero den Diktator Porfirio Diaz stürzte, gab es zwar eine Zeitlang Unruhen, ja, man hörte manchmal sogar Schießereien in der Nacht, aber bald danach herrschte Ordnung, und man konnte wieder ruhig schlafen. León zögerte eine Weile, dann schloß er das Fenster und verriegelte es sorgfältig. Er schlüpfte in seine Schuhe, trat in die Nacht hinaus, schob den Holzbalken vor die Türe, begann zu laufen und hastete, so schnell das seine lahmen Beine und sein kurzer Atem zuließen, hinüber zum Schloßhügel. Er quälte sich ohne zu verschnaufen die steile Calzada del Cerro hinauf, bis er die 88
Wachen erreichte, die unbeweglich und schläfrig vor dem geschlossenen Eisentor des Schlosses standen. Keuchend und mit bebenden Händen deutete er hinunter auf die Stadt: "Hört Ihr nichts? Sie marschieren zum Zócalo!" Einer der vier Wachoffiziere trat ein paar Schritte vor und musterte den alten Mann. "Was sagst du da? Wer marschiert?" "Da unten in Tacubaya! Ich habe es deutlich gehört, Soldaten, Pferde, Lafetten!" León preßte beide Fäuste gegen seine schmerzende Brust und lehnte sich an die Mauer. "Tut doch was, bei der heiligen Jungfrau! Weckt den Präsidenten!" "Ich glaube, du träumst, Alter! Hier ist nichts zu hören, geh wieder heim und leg' dich schlafen!" sagte der Wachoffizier. In diesem Augenblick drehte der Wind wieder und trug den Lärm zwar gedämpft aber vernehmbar den Hügel herauf. Jetzt kam Bewegung in die Soldaten. Sie öffneten das Tor und schlugen Alarm, während León Mendoza in der Finsternis des frischen Februarmorgens langsam den Schloßhügel hinunterstieg und verwirrt und ein wenig verängstigt den kürzesten Weg zu seiner Behausung suchte. Was war geschehen? Bereits um zwei Uhr morgens war General Mondragón, der schon seit Wochen gegen den Präsidenten konspirierte, mit 80 Mann aus den Kasernen 89
von Tacubaya ausgerückt und nach Norden marschiert. Er vereinigte sich vor der Freiheitskaserne mit einer Kompanie der Gebirgsartillerie und einer Maschinengewehreinheit und erreichte kurz vor vier Uhr das SanDiegoGefängnis in Tlatelolco am nördlichen Stadtrand. Noch bevor die Wachmannschaften recht begriffen hatten, was vor sich ging, sprengten die Aufständischen die Gefängnistore, mähten die im Staub der Detonationen vor Entsetzen erstarrten Posten nieder und holten General Bernardo Reyes aus seiner Zelle, der bereits informiert war und in seiner Galauniform auf die Befreier wartete. Zur gleichen Zeit befreite Hauptmann Escota mit rebellierenden Einheiten der Kadettenanstalt von Tlalpan und einer Kompanie des zwanzigsten Bataillons General Félix Diaz, der im Staatsgefängnis bei der Lecumberristraße auf seine Aburteilung wartete. Diaz übernahm das Kommando über seine Befreier und vereinigte sich unter Umgehung des Zócalo mit den Truppen, die von Reyes und Mondragón geführt wurden, zum Sturm auf den Nationalpalast. Sie wußten nicht, daß sie dort von den Soldaten des Präsidenten bereits erwartet wurden. Federales, Regierungstruppen der Stadtgarnison hatten nach der segensreichen Warnung Leóns unter dem Kommando von General Lauro Villar die abtrünnigen Kadetten, die sich bereits im Nationalpalast verschanzt hatten, überrumpelt und festgenommen, und sie hatten in höchster Eile Barrikaden errichtet. Maschinengewehre wurden zum Hauptportal geschleppt. Vor dem Palast hatte man eine lückenlose Kette von Verteidigern gebildet, die 90
bäuchlings auf dem Pflaster lagen. 180 Mann des ersten Kavallerieregiments hatten unter den Kolonnaden im Süden des Platzes Stellung bezogen. Das alles geschah fast lautlos, während in der Kathedrale die Frühmesse zu Ende ging und die Glocken läuteten. Die Rebellen brachten ihre Geschütze in Stellung und eröffneten das Feuer. Aus den Portalen der Kirche stürzten, von den Nachkommenden gedrängt und geschoben, hunderte erschreckter und verängstigter Menschen. Eine chaotische Woge kriechender, übereinanderstürzender Leiber wälzte sich durch die Gittertore des Vorplatzes der Kathedrale mitten hinein in das Feuer der Rebellen. Frauen warfen sich über ihre Kinder und zerrten sie in stummer Verzweiflung an Armen und Beinen über die Verwundeten, die wimmernd auf dem Platz lagen. Herrenlose Droschken preschten, von rasenden Gäulen gezogen, ziellos über den Platz und schmetterten nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Männer vergaßen alle Gebote der Ritterlichkeit und stampften über die gestrauchelten Leiber hinweg, stießen die Alten und Schwachen zu Boden und flohen in panischem Entsetzen in raucherfüllte Gassen. Das Herz Méxicos bebte. Als General Reyes beim Sturm auf das Hauptportal vor aller Augen vom Pferd geschossen wurde und verblutete, zögerten die Aufständischen in ihrem Angriff. Die Federales, die Soldaten des Präsidenten, nutzten diese Sekunde und gingen zur Gegenattacke über. Sie feuerten mit einem Mal aus allen Rohren, Kavallerie sprengte im Schutz des Feuers aus dem MarianaTor hinaus auf den 91
Platz und jagte die verdutzten Angreifer in die westlichen Stadtteile. In den Wohnvierteln hinter dem Nationalpalast loderten Flammen, schwarzer Qualm verdunkelte den Himmel über México, und auf dem Zócalo lagen fünfhundert Menschen in ihrem Blut. Der Fehler, den General Villar, der im Nationalpalast schwer verwundet worden war, nun beging, war verhängnisvoll: Er ließ die Rebellen nicht verfolgen, weil er sie für endgültig geschlagen hielt und weil er weiteres Blutvergießen vermeiden wollte. Die Fehlentscheidung, die Präsident Madero zur gleichen Zeit traf, war aber noch gravierender: Obwohl man ihm hinterbracht hatte, daß General Huerta, der Mann, dem er rückhaltlos vertraute, mit den Aufständischen im Bunde war, und obwohl ihn sein Bruder Gustavo beschwor, auf der Hut zu sein, übergab er diesem Mann den Oberbefehl über seine Truppen. Villar war nämlich zu schwer verwundet, um weiter seinen Posten versehen zu können, und der Präsident wagte es nicht, Huerta als dienstältesten General zu übergehen. Mittlerweile hatten die Rebellen die kaum bewachte Ciudadela, das größte Waffenarsenal der Stadt, erreicht und im Handstreich genommen. Dort fielen ihnen hunderttausend Gewehre, hundert Maschinengewehre und sechsundzwanzig Millionen Patronen in die Hände. Die Ciudadela liegt etwa zwei Kilometer südwestlich des Nationalpalastes. Sie ist ein weiträumig angelegter massiver, quadratischer Festungskomplex mit geschützten Innenhöfen und ungeheuer starkem Mauerwerk.
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Der Präsident, der zu Pferd vom Schloß herunter über den weiten Paseo de la Reforma und die Calle de San Francisco zum Nationalpalast galoppiert war, befahl Huerta, die Ciudadela anzugreifen und die Besatzer auszuräuchern. Der aber führte den Befehl nur zum Schein aus. Er schmiedete den hinterhältigen Plan, die Kampfhandlungen hinauszuzögern, auf diese Weise seine eigenen Regierungstruppen zu schwächen und in dem zu erwartenden Inferno eines Bürgerkrieges schließlich Madero zu stürzen. Am 11. Februar 1913 erfolgte der erste von General Huerta befohlene Scheinangriff. Das 24. Kavalleriecorps rückte nichts ahnend auf die Ciudadela vor. Die Angreifer wurden auf den weiten Flächen des die Ciudadela umgebenden Parks wie die Kaninchen zusammengeschossen. Noch nie in der Kriegsgeschichte waren so viele Maschinengewehre gleichzeitig im Einsatz gewesen, und noch nie mußten Verteidiger so wenig um Munitionsnachschub besorgt sein, wie an jenem Morgen. Kindersoldaten, die in ihrem Leben niemals einen Feind gesehen hatten, die gar nicht wußten, was ein Feind ist, verkrochen sich schluchzend und schreiend hinter Pferdekadavern und Bäumen. Sie versuchten, sich mit bloßen Händen in den ausgetrockneten, steinharten Lehmboden zu graben oder liefen einfach weg. Aber die weitreichenden Geschosse der modernen HotchkissWaffen erreichten sie mühelos, bevor sie in den Schutz der Häuser gelangen konnten. Die versprochene Artillerieunterstützung war ausgeblieben. General Huerta hatte sie verraten.
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Leutnant Pedro Cardona sah den Angriff zusammenbrechen. Er galoppierte mit seinem bereits dezimierten Haufen auf das Nordportal der Ciudadela zu und schoß mit verzweifeltem Mut auf die verbarrikadierten Fensteröffnungen. Er schrie: "Vorwärts, adelante!" und "Por la Patria! Por México! Viva Madero!" bis ihm die Stimme versagte. Er sah seinen Freund Ignacio stürzen und beobachtete entsetzt, wie der mit rasch erlahmenden Bewegungen versuchte, sich von dem über ihm liegenden Leib seines Pferdes zu befreien, indem er sich in dessen Mähne krallte. Da traf ihn eine Garbe aus einem Maschinengewehr. Plötzlich erkannte Pedro Cardona, daß außer Juan, der nicht von seiner Seite gewichen war, niemand mehr da war, der ihn hätte unterstützen können. Er riß sein Pferd herum und galoppierte die Avenida Balderas hinunter. Juan folgte ihm. "Wir müssen zusammenbleiben! Zurück! Zurück!" schrie Pedro. Da bellten die Maschinengewehre und Kanonen hinter ihnen wieder los, und Pedro Cardona schwenkte nach rechts, um in die Wohnbezirke zu entkommen. Ein furchtbarer Keulenschlag warf ihn auf den Hals seines Pferdes, aber er blieb im Sattel. Juan schrie gellend hinter ihm: "Sie haben mich erwischt!" Pedro Cardona blickte zurück, aber er sah Juan nicht mehr. Nur durchhalten, raus hier, dachte er. Die Häuser um ihn schwankten, und die Straßen nahmen kein Ende. Sein Pferd galoppierte in wilder Flucht durch enge Gassen. 94
Seine Hände umkrampften den Lederknauf des Sattels, und ein singendes Brausen in seinem Kopf übertönte das Klingen der Hufe auf dem Pflaster. Dann wurde es still um ihn. 8 Das erste, was Pedro Cardona im Schatten einer Hauseinfahrt durch den grauen Schleier seines wiedererwachenden Bewußtseins sah, war ein mit üppigem Stuck verziertes Kreuzgewölbe über weißgetünchten Mauern und zwei sich gegenüberliegende mächtige Holztüren, von denen eine geöffnet war und den Blick auf ein geräumiges Treppenhaus mit großen Fenstern freigab. Die Einfahrt führte in einen hellen Patio voller roter Rosen. Er nahm das dumpfe Rollen der Geschütze wahr und das Stakkato ferner Gewehrsalven. Dann fühlte er den Druck kühler Pflastersteine in seinem Rücken und hätte gern seine Lage verändert, aber es gelang ihm nicht, sich zu bewegen. Der Geruch von Hundekot und feuchtem Staub erzeugte würgende Übelkeit. Da war auch der Schmerz in seinem Bein. Leise pochend erst, dann bohrend und brennend und sich lähmend über die Hüfte und den ganzen Körper ausbreitend. Er hörte sein Herz schlagen, und das Dröhnen in seinem Kopf wuchs wieder an zu mächtigen Paukenschlägen. Er versuchte, sich zu erinnern und wandte den Kopf zur Straße, um Juan und sein Pferd zu suchen, aber die Straße war leer. Er schloß vor Schmerz die Augen und verlor das Gefühl für Zeit und Wirklichkeit. Er hatte keine Angst mehr und überließ 95
seinen Körper einer aufsteigenden Müdigkeit, die ihn betäubte, bis er schließlich glaubte, es existiere nur noch sein Kopf. Dann war der Schmerz wieder da. Aber gleichzeitig mit der Qual, die von seinem Bein aufstieg, fühlte er die erfrischende Kühle eines feuchten Tuchs auf seiner Stirn und die beruhigende Wärme einer Hand, die sich um seine klammen Finger legte. Er öffnete die Augen. Neben ihm kniete ein junges Mädchen, das ihn sorgenvoll ansah. Sie hatte das Haar mit einer großen blauen Schleife nach hinten gebunden. Von dort aus fiel es als langer schwarzer Zopf, der von einer ebenfalls blauen Seidenrosette zusammengehalten wurde, wieder nach vorn über ihre Schulter und berührte fast sein Gesicht. Die vollen Lippen, die kakaobraune Haut und die weich geformte Nase verrieten ihre indianische Abstammung, aber das schmale Gesicht und die fein geschnittenen Augen waren unverkennbar spanisches Erbe. Während sie so kniete und seine Hand hielt, versank sie in der weißen Glocke ihres Kleides, die sich um sie bauschte und besudelt war mit gerinnendem Blut. "Gehört Ihr zu den Federales, oder seid Ihr ein Rebell? Mir ist es egal, ob Ihr ein Rebell seid." "Ich bin kein Rebell! Ich bin Leutnant Pedro Cardona vom 24. Corps." Es fiel ihm schwer zu sprechen. "Ich heiße Tirza", sagte das Mädchen.
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Cardona versuchte, sich aufzurichten, aber Tirza schob ihn sanft zurück und bettete seinen Kopf auf einen Schal, den sie zu einem kleinen Kissen gefaltet hatte. "Bleibt ruhig liegen! Ernesto und Antonio werden gleich hier sein. Wir haben nach Doktor Pelón geschickt. Es ist das Bein. Es blutet, aber hier kann Euch nichts geschehen. Sie schießen nur noch an der Ciudadela." "Wo ist Juan?" fragte Pedro. "Wer ist Juan? Ihr wart allein. Es war keiner bei Euch!" "Und mein Pferd?" "Es wird wohl inzwischen im Stall sein", sagte Tirza und lächelte. "Kümmern wir uns vor allem um Euch. Wie habt Ihr das bloß angestellt? Kommt Ihr von der Ciudadela?" "Wir wollten sie herausholen, die Halunken!" "Das könnt Ihr jetzt getrost den anderen überlassen." Tirza stand auf und deutete auf das Treppenhaus. "Da kommen die beiden. Sie bringen Euch hinauf." Zwei Männer kamen die Treppe herunter und traten durch die offene Tür. Sie brachten eine große, graue Wolldecke mit und breiteten sie schweigend neben Pedro Cardona aus. Der jüngere der beiden Männer beugte sich zu ihm herab und schlang einen Arm um seinen Nacken, während der ältere ihn zum Sitzen aufrichtete. Dann legten sie die 97
Decke um ihn und bildeten mit ihren Armen einen Sitz. Sie trugen ihn behutsam hinauf. "Das ist Ernesto", sagte Tirza und deutete auf den Älteren, "und das ist Tonio." Cardona hätte Ernesto wegen seines dunklen Vollbartes und seines wirren Haarschopfes für einen Künstler gehalten, aber dafür erschien er ihm zu ernst, zu nüchtern, zu finster. Ernesto sprach kein Wort. Aber Tonio zerfloß in Redseligkeit. Trotz der Anstrengung, die es die beiden kostete, Pedro Cardona die Treppe hinaufzuschleppen, plauderte er ununterbrochen vor sich hin, ohne eine Antwort zu erwarten: "Die haben Euch bös' erwischt, die treulosen Banditen. Sieht ja schlimm aus, das Bein. Man wird es ihnen schon zeigen. Die sitzen doch in der Mausefalle! Denen wird die Luft schon ausgehen! Mein Gott, was haben die angerichtet! Das ist keine Rebellion, das ist ein Verbrechen. Da haben wir nun den Präsidenten, den wir alle wollten. Und nun meinen ein paar verrückte, schießwütige Idioten, sie könnten's besser machen als er. Wetten, daß die verdammten Gringos wieder ihre Hand im Spiel haben? Aber Madero wird's ihnen zeigen. Er hat Verstärkung in Cuernavaca angefordert. General Angeles ist schon unterwegs. Diesmal wird's mit dem Einsperren nicht getan sein. Er hätte diese Banditengenerale gleich aufknüpfen sollen, dieser sanftmütige Träumer, dann wäre 98
das nicht passiert. Das hat er nun von seiner Nachgiebigkeit." Tonio verschluckte sich fast vor Zorn. Sie legten Pedro Cardona auf ein prunkvolles Bett mit einem roten Baldachin, das mit seinen kunstvollen Schnitzereien an einen Altar erinnerte. Pedro sah sich neugierig um. Die Nachmittagssonne warf ihre warmen Strahlen durch ein Rundbogenfenster auf ein monumentales Gemälde, das die ganze Wand gegenüber einnahm, und tauchte ein Pueblo, ein kleines Dorf mit winzigen weißen Häusern und Kandelaberkakteen vor dem Hintergrund des alles überragenden schneebedeckten Popocatépetl in ein bronzefarbenes Licht. In diesem Licht erschien Pedro Tirzas Gesicht unwirklich jung und schön. Ernesto begann schweigend und behutsam, Pedro Cardonas Uniform aufzuschneiden. Tirza brachte ein Glas Wasser und gab ihm zu trinken. Dann wusch sie sein Gesicht und seine Hände. Tonio stand am Fuß des Bettes und setzte seinen Monolog fort: "Das sieht wie ein Splitter aus. Eine Kugel macht kein so großes Loch. Bei einer Kugel wäre auch der Wundrand nicht so ausgefranst. Sei vorsichtig, Ernesto! Nicht, daß er den Brand bekommt! Wo nur Doktor Pelón bleibt? Er ist ein geschickter Arzt und kennt sich aus mit solchen Verletzungen. Letztes Jahr hat er sie zu Hunderten zusammengeflickt, als Orozco in Chihuahua rebelliert hat. Er hat mir erzählt, er habe damals vier Tage lang nicht geschlafen. Damals habe Huerta so fürchterlich und gnadenlos zugeschlagen, daß nur wenige Rebellen überlebten, und die seien so zugerichtet gewesen, daß den 99
Ärzten das Verbandszeug ausging und sie Leintücher und Windeln zerschneiden mußten. Mit so einem kleinen Loch wird Pelón allemal fertig." Doktor Pelón, der mit seiner schwarzen Tasche das Zimmer betrat, unterbrach Tonios Redefluß, schob Tirza freundlich und sanft zur Seite, legte die rechte Hand auf Cardonas Stirn und strich mit der linken, während er sich anstelle einer Begrüßung räusperte, über seinen weißen Knebelbart. Er war mit seiner Diagnose schnell bei der Hand: "Wir werden das Ding da herausholen müssen. Tirza, mach' bitte einen großen Topf Wasser heiß, bring' mir saubere Tücher und koch' die Spritzen und Instrumente aus. Aber in sprudelndem Wasser! Es muß wirklich zehn Minuten kochen!" Er gab ihr ein kleines Nickelgefäß, in dem schön parallel ausgerichtet zwei Spritzen und die Instrumente lagen. "Koch das alles, mitsamt dem Etui, ohne etwas herauszunehmen! Dann bringst du mir den ganzen Topf. Nichts anfassen!" Tirza verschwand in der Küche. Doktor Pelón holte sich einen Stuhl vom Schreibtisch und beugte sich über die Wunde. "Nicht so schlimm, wie es sein könnte. Der Splitter ging eben noch an der Femoralis vorbei. Hast Glück gehabt, mein Junge, hat dich ganz schön vom Pferd gehauen, wie?" Doktor Pelón legte Pedro tröstend die Hand auf die Stirn. Ernesto, der bis dahin schweigend am Fenster stand, trat 100
ans Bett und wandte sich an Pelón: "Mußt du schneiden?" Doktor Pelón nickte. Ernesto sah besorgt drein. "Hast du was gegen die Schmerzen, Ricardo? Ich meine was Kräftiges, ein dickeres Geschütz, daß er einschläft?" "Hältst du mich für einen Schinder?" Doktor Pelón packte zwei Ampullen aus und hielt sie gegen das Licht. "Das ist Barbital und das da Melubrin", sagte er, "ein neues Mittel aus Europa. Er wird nicht viel spüren." Dann sah er Pedro aufmunternd an. "Schluß mit den Heldentaten, jetzt wird geschlafen!" Die Wunde begann wieder heftig zu bluten, und Doktor Pelón legte einen Tampon auf. Pedro lag ruhig da. Schweißperlen auf der Stirn verrieten, daß er litt. Tirza brachte das Wasser und einen kleinen Topf mit den Instrumenten. Pelón machte sich an die Arbeit. Es dauerte nur eine halbe Stunde. "Gebt ihm viel zu trinken, wenn er aufwacht. Es ist wohl nur der Schock und der Blutverlust, der ihm so zusetzt. Seht zu, daß die Nacht über jemand bei ihm bleibt! Holt mich, wenn ihr mich braucht!" Pelón stand auf, wusch sich umständlich die Hände, packte seine Sachen wieder in die Tasche und verabschiedete sich kurz.
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"Ich werde die Truppe verständigen, daß die wissen, wo ihr Held steckt",sagte er und ging. Ernesto räusperte sich und wandte sich an Tirza: "So, das wär's fürs erste; wenn er diese Nacht hinter sich hat, lassen wir ihn abholen." Tirza sah ihn fragend an. "Du willst ihn ins Lazarett schaffen lassen?" "Was sonst? Sollen wir ihn hierbehalten?" Tirza holte tief Luft. "Zu all den anderen ins Lazarett? Ernesto, weißt du, wie es dort aussieht, jetzt nach all den Kämpfen? Weißt du, wieviel Halbtote dort herumliegen?" "Ich kann es mir vorstellen", sagte Ernesto. "Und in dieses Chaos willst du den armen Kerl bringen lassen, in einen Krankensaal mit fünfzig, mit hundert Betten? Wo wir soviel Platz haben und Zeit, ihn zu pflegen?" "Ich habe keine Zeit!" sagte Ernesto. "Aber Rosalía und ich, wir haben doch Zeit für ihn. Hast du schon mal was von Nächstenliebe gehört? Bringst du es wirklich fertig, einen Verwundeten aus deinem Haus zu schicken? Kennst du die Geschichte vom Samariter, du Unmensch?"
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"Werd' nicht sentimental, Tirza! Wer trägt denn die Verantwortung, wenn was passiert? Was ist denn, wenn er hier schlapp macht, oder den Brand kriegt, oder das Wundfieber?" "Dann holen wir Pelón, der ist besser als all die Quacksalber bei der Armee, und wenn der es nicht schafft, schafft's keiner." "Mit diesem Argument wirst du niemand überzeugen, wenn's schiefgeht!" Tirza drehte sich trotzig um und schwieg. Ernesto überlegte. Er war sich seiner Sache nicht sicher. Einerseits wollte er helfen und fürchtete die Verantwortung für den jungen Kerl überhaupt nicht. Andererseits aber hatte er Tirza bisher vor allem Unheil um sie herum abschirmen können, und er ahnte, daß dieser verwundete Leutnant ihm einen Strich durch die Rechnung machen könnte, wenn er sich nicht rechtzeitig vorsah. Er hatte Tirza genau beobachtet. Er wollte nicht, daß sie hineingezogen würde in den Aufruhr, weder so noch so. Er dachte an das Versprechen, das er Fernando gegeben hatte und auch ein bißchen an Yasmina, aber er wollte Tirza gegenüber nicht zu hart sein. "Sehen wir, wie es ihm morgen geht, dann besprechen wir alles noch einmal in Ruhe. Einverstanden?" Tirza nickte. Dann lächelte sie und gab Ernesto einen Kuß, der ihn sehr verwirrte und den er in seiner Verwirrung kopfschüttelnd mit dem Handrücken abwischte.
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Als der Abend anbrach, schossen sie wieder mit Kanonen aus dem Nationalpalast und nahmen die Ciudadela unter Feuer, während Ernesto am Flügel saß und die Appassionata spielte. Der Donner der Geschütze ließ die Stadt bis Mitternacht erbeben, Tirza bewachte den unruhigen Schlaf Pedros. Da lag er mit seinem jungenhaften Gesicht, hilflos und elend, und Tirza hätte zu gerne gewußt, wer er war. 9 Es war schon fast Mittag. Rosalía kämpfte sich die Stufen hinauf. Der beinahe berstende Korb aus gelben Strohmatten hing schwer an ihrer Seite. Sie drehte den Schlüssel im Schloß, öffnete die Wohnungstür, stellte den Korb ab und atmete schwer. Rosalía kam zurück von einer Kindstaufe in Naucalpán. Sie fühlte sich erschöpft von dem aufwendigen Fest und der umständlichen Reise und war erleichtert, wieder zu Hause zu sein. Sie wunderte sich sehr über den verschmutzten Uniformrock, der neben Ernestos Mantel am Garderobenständer hing. Rosalía versorgte Ernesto und Tonio schon seit dem Tod der Mutter vor fünfzehn Jahren. Keiner der beiden Brüder hatte je daran gedacht, zu heiraten. Es gab dafür auch keinen Grund, denn keine Frau der Welt hätte ihnen ein angenehmeres Leben bieten können als Rosalía. Sie imponierte nicht nur durch ihre unübertrefflichen Kochkünste, sondern was möglicherweise unmittelbar damit zusammenhing auch durch ihre Körperfülle. Sie war fast breiter als hoch, und fluchte jeden Tag zwischen keuchenden Atemstößen leise vor sich hin, wenn sie sich 104
mit ihrem vollgepackten Rebozo und überquellenden Einkaufskörben die Treppen heraufquälen mußte. In der Wohnung aber bewegte sie sich so behende und quirlig, und ihre Schritte trippelten so schnell von Zimmer zu Zimmer, daß man glauben konnte, sie rolle auf unsichtbaren Rädern. Sie trug nie etwas anderes als Huipils, diese weißen, kurzärmligen Kleider, die über Brust und Schulter ebenso wie am Rocksaum mit breiten Bändern unglaublich bunter Begonienblüten abgesetzt sind. Aber alle ihre Huipils waren viel zu kurz geraten, und Tonio hatte einmal boshaft bemerkt, sie habe absichtlich mit dem Stoff gespart, um den mit wundervollen Stickereien verzierten Unterrock, der fast eine Handbreit unter dem Kleid hervorstand, gebührend zur Geltung zu bringen. Rosalía war daraufhin zwei Tage beleidigt, aber sie änderte nichts an ihrer Tracht. Ernesto Ruiz Pappas meinte, das sei nichts anderes als eine Indiomarotte und man solle sie in Ruhe lassen. Wenn Rosalía ausging, schlang sie einen Schal, der so violett war, daß einem die Augen schmerzten und der farblich zu keinem einzigen ihrer Blumenmuster paßte, erst locker um die Schultern und dann mit einem Ende fest um ihren feisten Oberarm. Das Ganze erinnerte an die Tunica eines wohlhabenden römischen Bürgers und verlieh ihr Grazie und Würde. Sie war fast immer gut aufgelegt. Der strenge Knoten, mit dem sie ihr blauschwarzes Haar bändigte, nahm nichts von der Güte, die ihr breites braunes Gesicht ausstrahlte. Das iTüpfelchen ihrer Ausstattung aber bildeten Ohrringe, die als schwere, glänzende Kugeln an fingerlangen goldenen 105
Ketten die Ohrläppchen so in die Länge zogen, daß man deren Ausreißen befürchten mußte. Rosalía stammte aus Yucatan und behauptete, eine reinrassige Maya zu sein. Es gab keinen, der ihr das nicht glaubte. Wenn sie in der Küche stand und ihre sentimentalen Lieder von Liebe, Treue und Tod vor sich hinträllerte, war sie ganz in ihrem Element. Das Klatschen ihrer dicken Hände gehörte zu den wichtigen Geräuschen des Hauses, und es drang durch alle Türen, wenn sie mit zirkusreifer Fingerfertigkeit Tortillas formte, die dünn waren wie Papier und rund wie der Vollmond. Die Masa quoll in straffen goldgelben Würsten durch ihre kräftigen Finger und gewann unter dem stetigen Druck ihrer starken Hände in kürzester Zeit die nötige krümligzähe Konsistenz. Sie ließ das Messer mit rasender Geschwindigkeit über die Maisfladen sausen, wenn sie Chilaquiles zubereitete, und sie wickelte Tamales so gleichförmig und blitzschnell in Maisblätter ein, als ob es nichts wäre. Dabei weiß jeder, was für ein mühsames Geschäft das ist. Ihre grünen und roten Salsas, die feurigen Chilisoßen aus zerstampften Jalapeños, abgerundet mit Koriander, Petersilie, Salbei, Estragon und anderen frischen Kräutern schmeckten so vollkommen, daß nicht einmal die Köche des Gambrinus mit ihr wetteifern konnten. Und wenn sie Avocados entkernte, zerquetschte und mit Zitronensaft zu Guacamole rührte, entstand eine so himmlisch duftende, feste, grüne Creme, daß sie, vor allem wenn Ernesto Gäste geladen hatte, dafür regelmäßig allerhöchstes Lob erntete. Rosalía kannte auch die besten Stände auf dem Merced, dem Markt. Sie wußte, wo es die besten Piñas, die frischesten und saftigsten Orangen, die 106
kleinsten, grünsten und würzigsten Lemonen und die feurigsten Chilis gab. Sie stritt mit dem Metzger so laut, wenn er ihr alte und zähe Hühnchen oder zu frisches Rindfleisch andrehen wollte, daß die Leute zusammenliefen. Sie zog den Fisch ungeniert unter ihrer Nase durch und warf ihn angewidert auf den Ladentisch, wenn er wirklich nach Fisch roch. Sie war geizig wie Ebenezer Scrooge, wenn es um Ernestos Geld ging, und feilschte stundenlang um ein paar Centavos, indem sie sich immer wieder protestierend abwandte und mit finsteren Augen drohte, den Laden zu verlassen und nie wieder zu betreten, bis der Preis auf ein für sie annehmbares Niveau sank. Rosalía war auch eine gläubige Christin. Nach jedem 12. Dezember trug sie eine Woche lang blutige Bandagen, wenn sie zur Ehre der braunen Madonna von Guadalupe mit dem ganzen Gewicht ihres geplagten Körpers auf zerschundenen Knien über den weiten Platz vor der Basilika gerutscht war. Sie gab viel von ihrem mageren Lohn aus, um in allen möglichen Kirchen Kerzen zu stiften, Opferstöcke vollzustopfen oder Messen lesen zu lassen, wenn den Brüdern Unheil drohte. Trotzdem hatte sie die Verbindung mit den Göttern ihres Stammes nie ganz aufgegeben. Sie reihte diese mächtigen Wesen einer vergangenen Welt einfach in die Phalanx der Heiligen ein und rief sie heimlich um Hilfe an, wenn sie sie für zuständig hielt. Sie schuf sich so ihren eigenen, ganz auf sich selbst zugeschnittenen Himmel, der es ihr ohne Gewissensbisse gestattete, zweifelhafte Gebete bei ihrer wöchentlichen Beichte als läßliche Sünden zu verschweigen und leichten Herzens zu unterschlagen. Mit 107
dieser merkwürdigen Stellung ihrer Götter hingen wohl auch die Objekte ihrer "Apotheke" zusammen, die für Notfälle in einem schwarzen Regal ihres Zimmers aufgereiht bereitstanden. Durch Auflegen eines mit Weihwasser präparierten Gürteltierpanzers auf den bloßen Bauch behandelte Rosalía Leibschmerzen, eine Salbe aus zerstampften Schlangeneiern, gestreckt mit Coyotenschmalz und versetzt mit ein paar Tropfen Menstruationsblut vertrieb rheumatische Beschwerden aller Art. Krüppelige Strunke des Escamoneastrauchs, übelriechende Seifenwurzeln, stinkende Haufen getrockneten Traubenkrauts und faserige braune Späne von Copalchi oder Pambotanorinde ergaben,in der richtigen Menge mit viel kochendem Wasser aufgebrüht, aromatisch duftende Aufgüsse, die Rosalía zu Hause und bei den Kennern ihrer Weisheit im ganzen Viertel immer wieder gezielt und erfolgreich gegen Fieber, Müdigkeit, Bandwürmer, Kopfschmerzen, Durchfall und Liebeskummer einsetzte. Mit Ambrosiaöl brachte sie sogar Krebsgeschwüre zum Schrumpfen. Kleine knollige Saguaros oder Kakteen, die aussahen wie die zusammengewachsenen Ballen einer Hundepfote, mußten langsam gekaut und in die Backentaschen geschoben werden und spendeten tiefen Schlaf mit bunten Träumen. Papiertrockene Schlangenhäute zwischen die Zähne gelegt, taten neben einem unterstützenden Stoßgebet zur Heiligen Apollonia und zum großen Heiler Patécatl wahre Wunder bei Zahnschmerzen. Man konnte also auf einen Arzt durchaus verzichten, sofern Rosalía im Hause war und nicht gerade Blut floß.
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An jenem Morgen, als Rosalía von der Taufe zurückkehrte, fand sie Tirza in der Küche. "Sag mal, Mädchen, wem gehört der schmutzige Rock, der in der Garderobe hängt?" Tirza drehte sich lachend um. "Kannst du nicht wenigstens guten Tag sagen? Was ist das für eine Begrüßung?" Tirza gab Rosalía einen Kuß auf die Backe. "Schnappst wieder über vor Neugierde? Wie wars in Naucalpán?" Rosalía sah Tirza streng an. "Das ist keine Antwort auf meine Frage!" "Nun gut, der Rock gehört Pedro." "Pedro?" "Ja, Pedro Cardona. Er ist gestern verwundet worden bei den Kämpfen um die Ciudadela und liegt jetzt im Gästezimmer." Rosalía setzte sich erschöpft auf den Küchenhocker. Sie hörte sich unbewegt und in stoischer Ruhe die Geschichte an, die Tirza in allen schrecklichen Einzelheiten schilderte. Dann stand sie auf und murmelte
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mit gerunzelten Brauen: "Aus dem Haus schaffen will er den armen Kerl? Einfach so abschieben? Wo ist Ernesto?" "Er ist in der Kanzlei. Tonio ist wie immer im Kontor.", antwortete Tirza, goß Orangensaft in eine kleine Karaffe und holte ein Glas aus dem Schrank. "Ist der Saft für Pedro?", fragte Rosalía. "Für wen sonst? Komm mit, wir schauen, was er macht." Rosalía tippelte in nervöser Eile voran. Als Pedro erwachte, standen die beiden ungleichen Gestalten neben seinem Bett und beobachteten ihn aufmerksam. Er fühlte sich hundeelend. Sein Bein meldete sich wieder mit stechendem Schmerz, und das Melubrin, das ihm Doktor Pelón gespritzt hatte, hatte seinen Magen in bösen Aufruhr versetzt. "Keinen Saft bitte, nur ein Glas Wasser!" "Du brauchst ihn nicht zu trinken, wenn du nicht willst", sagte Rosalía. Sie hatte Pedro in einer Art mütterlicher Regung, ohne nachzudenken, geduzt. Sie bedauerte ihn, wie er dalag und sie mit seinem blassen, müden Gesicht ansah.
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"Das Beste ist, ich koch dir eine kräftige Suppe. Die kannst du essen, wann immer du Lust dazu hast, aber gegessen wird sie, damit wir dich wieder auf die Beine bringen!" Pedro nickte ergeben. "Ich bin Rosalía. Wissen deine Eltern, was geschehen ist?" Rosalía wandte sich an Tirza: "Habt ihr sie benachrichtigt?" Tirza schüttelte mit dem Kopf. "Nein, nein", sagte Pedro, "wartet noch, bis es mir besser geht, sie würden sich nur aufregen." "Und deine Einheit? Weiß die Bescheid?" Tirza antwortete für Pedro: "Pelón hat sie bereits benachrichtigt". "Dann schicken wir besser ein Telegramm", sagte Rosalía, "damit uns die Herren Militärs nicht zuvorkommen und irgendeinen Unsinn melden." "Daran habe ich nicht gedacht", sagte Pedro, "ich danke euch so sehr für eure Hilfe. Schickt das Telegramm an José Cardona, Calle de Villamar 7, Veracruz. Am besten depeschiert ihr: `Bin leicht verwundet und gut versorgt. Macht euch keine Gedanken. Liebe Grüße Pedro.'" 111
"Das ist nicht gut", erwiderte Tirza, "du solltest ihnen mitteilen, daß du bei uns bist, sonst glauben sie, du lägest im Lazarett." "Das ist doch in Ordnung! Es wird nicht lange gehen, bis man mich abholt!" "Keineswegs", sagte Tirza, "das kommt überhaupt nicht in Frage, du bleibst schön brav in diesem Bett liegen, bis du wieder laufen kannst!" Tirza erschrak. Sie hatte ganz selbstverständlich Rosalías "Du" übernommen und obendrein eine Entscheidung über Ernestos Kopf hinweg gefällt, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Um von dem ersten Fehler abzulenken und den zweiten abzuschwächen, sprach sie rasch weiter: "Die Lazarette sind völlig überfüllt, die hätten gar keinen Platz für dich." Pedro sah Tirza zweifelnd an. "Keinen Platz? Die müssen mich aufnehmen, ich bin Offizier!" Jetzt mischte sich Rosalía ein: "Platz hin, Platz her, Offizier hin, Offizier her! Du bleibst hier! Wir werden im Telegramm unsere Anschrift angeben! Keine weiteren Diskussionen!"
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Pedro gab auf. "Ihr seid so lieb zu mir, Gott mög's Euch danken, und dir, Tirza, möchte ich sagen, daß du ein tapferes Mädchen bist du hast gestern mehr für mich getan, als Doktor Pelón". Tirza begriff nicht so recht, was er damit meinte, aber Pedro hatte ihr "Du" erwidert und Rosalía hatte letztlich die Entscheidung getroffen, die sie nun auch vor Ernesto vertreten mußte. Tirza fühlte sich unendlich erleichtert. Auf Pedros Stirn standen wieder Schweißtropfen, und man konnte ihm ansehen, wie erschöpft er war. "Laßt mich bitte schlafen", sagte er, "ich fühle mich schrecklich müde." Ernesto hatte es schon im Morgengrauen aus dem Hause getrieben. Er machte sich Sorgen um seine Kanzlei. Die Lage der Stadt war gespannt und unübersichtlich. Die Aufständischen feuerten immer wieder aus der besetzten Ciudadela, und selbst in den Straßen der Außenbezirke wimmelte es von schwer bewaffneten Patrouillen der regierungstreuen Federales. Tonio arbeite im Kontor von Frutex Internacional, einem bedeutenden Exportunternehmen, das nicht nur Geschäfte mit Obst und Gemüse machte, sondern seine Hauptaufgabe darin sah, überseeische Länder, besonders Europa, mit Kaffee aus Guatemala und dem Südwesten zu beliefern. Es war ein durchaus einträgliches Geschäft und Tonio bezog ein weit über dem Durchschnitt liegendes Salär. 113
Am Nachmittag nahmen die Schießereien wieder zu. Die Calle de Palma lag genau in der Schußlinie zwischen dem Zócalo und der Ciudadela. Das Haus wurde durch Granaten, die in der Nachbarschaft detonierten, furchtbar erschüttert. Rosalía kniete im Salon vor dem von Kerzen erleuchteten Muttergottesbild und betete den Rosenkranz, während in der Kredenz die Gläser klirrten und der Gips von der Decke rieselte. Pedro schlief trotz des Lärms fest, bis Doktor Pelón ihn weckte, um den Verband zu wechseln. "Na, mein Junge, wie fühlen wir uns?" "Gut!" "Übertreibst du nicht?" "Na ja, ein bißchen weh tut es schon, aber die Müdigkeit macht mir mehr zu schaffen als der Schmerz, und mir ist dauernd übel." "Morgen sieht alles anders aus. Es ist der Blutverlust. Du solltest viel trinken. Die Wunde macht sich gut. Kopf hoch!" Am Abend saßen sie alle zusammen, Rosalía, Tirza, Ernesto und Tonio. Es gab heiße Diskussionen, und Ernesto unterbrach das Gespräch immer wieder, indem er sich bitter beschwerte, er sei nicht gefragt und überfahren worden.
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Am Ende kam aber nichts anderes heraus als Tirza erwartet hatte. Pedro Cardona konnte bei ihnen bleiben. In der Nacht schoß General Huerta aus dem Nationalpalast die halbe Weststadt zusammen. Es ging ihm nicht darum, die Ciudadela in die Luft zu jagen, was einfach gewesen wäre, wenn sie die Geschütze nur sauber eingerichtet hätten. Es gab aber aus unerfindlichen Gründen keine Rückmeldungen über die Treffer. So wurden die Koordinaten immer wieder geändert. Sie schossen zuerst weit über das Ziel hinaus und es brannte westlich der Avenida Bucareli, dann feuerten sie zu kurz und trieben die verängstigten Menschen an der Calle de Revillagigedo aus ihren zusammenstürzenden Häusern. Die Gas und Telegrafenleitungen wurden unterbrochen, Plünderer zogen durch die verschütteten Straßen. Es war das Inferno, das Huerta gewollt hatte. Die Ciudadela wurde nur einmal getroffen. Dann feuerten die Rebellen zurück. Detonationen erschütterten die ruhigen Wohnviertel um den Zócalo. Fassaden stürzten ein in der Avenida Moneda, aber am Nationalpalast, dem eigentlichen Ziel, gab es keine nennenswerten Schäden. Es tobte eine verrückte Schlacht, die in infamer Weise abgesprochen war, und keinen anderen Zweck hatte, als Angst und Schrecken zu erzeugen. Der Wunsch der Menschen nach Ruhe und Frieden sollte Huerta seinem Ziel näherbringen, das Ruder vollends in die Hand zu bekommen und selbst die Präsidentschaft zu übernehmen. Auch Häuser in der Calle de Palma wurden immer wieder getroffen, und der
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Widerschein der ausgebrochenen Feuer flackerte an den Wänden von Pedros Zimmer. Später berichteten angebliche Augenzeugen, daß General Mondragón in jener Nacht die Ciudadela verlassen habe. Ein Wagen habe ihn abgeholt und in die amerikanische Botschaft gebracht. Auch Huerta habe mehrmals bei dem USBotschafter vorgesprochen. Maderos Sturz wurde vorbereitet, ohne daß er, der Präsident, wahrhaben wollte, was um ihn herum vorging. Statt dessen saß er in Trance vor dem OuijaBrett oder legte TarotKarten, um sein Schicksal zu ergründen. Erst als der Tag graute, hörten die Schießereien auf. Man sammelte die Leichen ein, warf sie auf Handkarren und verbrannte sie im BulbuenaPark. Weil es so viele waren, schichtete man sie auf, überschüttete sie mit Kerosin und zündete sie an. Widerlicher Gestank erfüllte die Straßen. Wagen mit Rotkreuzflaggen irrten ziellos durch die Stadt. México versank in Agonie. Die Anhänger Mondragóns machten sich in der Weststadt breit und errichteten Maschinengewehrnester. Die Leute hatten nicht gelernt, mit den neuartigen Waffen umzugehen und feuerten wahllos und ungenau auf alles, was sich bewegte. Die Opfer des Massakers lagen mit den Toten, die auf natürliche Weise gestorben waren und nicht beerdigt werden konnten, im Rinnstein der Straßen, neben anwachsenden Müllhaufen. In der aufsteigenden Februarsonne wurden die Bäuche der Toten aufgetrieben zu unförmigen Bällen.
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Am Abend wurde Madero mitgeteilt, daß sich Félix Diaz in der Calle de Nápoles mit Huerta getroffen habe, und daß die beiden offenkundig miteinander fraternisierten. Aber der Präsident blieb noch immer entschlußlos er unternahm nichts. Er glaubte noch immer, seine Sterne stünden so günstig, wie es ihn sein verstorbener Großvater in der vorigen Nacht aus dem Jenseits hatte wissen lassen. 10 Die kleinste Glocke der Kathedrale ließ sich von den Unruhen, die über die Stadt hereingebrochen waren, nicht beeindrucken. Jeden Mittag bimmelte sie vom Turm und forderte alle frommen Christen auf, in Frieden den Angelus zu beten, was aber in jenen chaotischen Zeiten kaum einen etwas scherte. Pedro schlief noch halb, als die Glocke in sein Unterbewußtsein hinein läutete, während er leise vor sich hin sprach: "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft ...." Er versuchte, sich zu bekreuzigen, aber seine Hand wurde festgehalten. Er öffnete die Augen und erblickte den Liebreiz eines Engels. Dieser Engel vollendete leise das Gebet: "Gegrüßet seiest Du, Maria, Du bist voll der Gnaden, der Herr ist mit Dir." Tirza beugte sich so weit zu ihm herab, daß er den Duft ihres Haares spürte. Ihr Mund lächelte frisch und rosa wie eben gepflückte Himbeeren, und sie drückte seine Hand und flüsterte ihm ins Ohr: "Vom Beten ist noch keiner satt geworden! Es ist Mittagszeit, Señor! Amen!"
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Pedro Cardona begriff, daß die Offenbarungen der Liebe unmittelbar mit den Offenbarungen des Glaubens zusammenhängen. Da betrat Rosalía den Raum: "Na, ist der Patient aufgewacht? Was Lustiges geträumt?" Sie balancierte in einer Schüssel ein grüngelbes Gebräu, das dampfte und ätherischen Kräuterduft verströmte. "Was ist das?" fragte Tirza und hob die Nase. "Madre, sei nicht so neugierig! Du verstehst ja doch nichts davon. Es ist ein Extrakt aus der Hoja Santa, der heiligen Pflanze!" "Und das soll helfen? Das grüne Zeug?" Tirza sah Rosalía provozierend an. "Natürlich hilft das! Wir kennen die Kraft, die in diesen Blättern steckt, schon länger als die Spanier im Land sind." Rosalía wusch Pedros Wunde und schmollte: "Ich mag es nicht, wenn du dich lustig machst über meine Pflanzen. Ich weiß, wie du über sie denkst! Aber ich sage dir, sie sind wertvoller als Gold, denn Gold hat noch keinen geheilt! Manche Blätter, Samen und Wurzeln könnten uns töten. Aber wenn du weißt, wie man sie richtig anwendet, kannst du damit Schmerzen und Leiden lindern!" Tirza beschwichtigte Rosalía, indem sie aufstand und ihren Arm um sie legte. "Kein Mensch zweifelt an deinem 118
Wissen und an deiner Heilkunst, Rosalía. Nur, wenn man das Zeug so herumliegen sieht in deinen Regalen, vertrocknet und grau... und wenn man es riecht, man kann sich kaum vorstellen...." "Darauf kommt es nicht an! Was in ihnen steckt kann man weder sehen noch riechen!" Dann wandte sie sich an Pedro: "Es gibt in unserem Land ganz wundersame Drogen! Manche tragen Himmel und Hölle in sich, Segen und Fluch, Gesundheit und Krankheit! Hast du zum Beispiel schon mal vom schwarzen Ololiuqui gehört? Es ist ein Teufelszeug! Wenn du auch nur ein bißchen zuviel davon nimmst, zerreißt es dir schon deinen Verstand und du lebst plötzlich in zwei Welten zugleich und kannst sie nicht auseinanderhalten, weißt nicht mehr, wo du hingehörst! Die meisten, die zuviel Ololiuqui genommen hatten, haben das nicht ertragen. Sie haben sich aus dem Fenster gestürzt vor Angst und Schrecken, sind ins Wasser gegangen oder haben sich aufgehängt. Wenn du aber die richtige Menge der kleinen Körnchen nimmst, schärft es deinen Verstand, und du wirst ruhig und weise, daß dir niemand mehr etwas anhaben kann. Viele sagen, Ololiuqui sei das Geheimnis der Priester gewesen und habe sie in ihrer Weisheit weit über das Volk gestellt. Wenn du Ololiuqui aber nicht ißt, sondern nur auf die Haut bringst, also die Körner kochst und dich mit dem Sud einreibst, oder einen Umschlag damit machst, verschwindet auch die allerschlimmste Gicht. Ich habe schon Gichtkranke gesehen, die ihre knotigen Finger abspreizen mußten, weil sie starr wie Zweige geworden waren. Arme Teufel waren das, die 119
nicht mehr gehen konnten und den ganzen Tag jammerten vor Schmerzen in ihren Gelenken und in den Zehen. Mit Ololiuqui wurden sie alle in zwei Tagen gesund und konnten die Finger wieder bewegen, sie hatten keine Schmerzen mehr und hüpften herum, wie Kinder." Pedro hörte fasziniert zu. "Woher wißt Ihr das alles?" "Du kannst ruhig 'Du' zu mir sagen wie die anderen. Früher hat man über diese Dinge viel mehr geredet. Da hat man sie noch ernst genommen. Früher wußten alle, wozu die Pflanzen da sind. Meine Großmutter ist damals, als ich fünf Jahre alt war, mit mir durch die Gärten gegangen und hat sie mir alle gezeigt. Sie hat die Blattspitzen, Blüten und Dolden zwischen den Fingern zerrieben und hat mich die wundersamen Düfte, die sie damit freisetzte, erleben lassen. Sie sind mir bis heute in Erinnerung geblieben. Ich habe den Düften damals Farben gegeben. Cilantro zum Beispiel roch für mich violett, die frische Minze Toronjil hatte einen betörenden blauen Duft, Vanille roch goldgelb und Rosmarin grün. Es ist aber nicht so, wie du vielleicht denkst, daß ich die Farben nach Gutdünken verteilt hätte nein weißt du, ich sah die Farben wahrhaftig mit meinen Augen, wenn ich meine Nase der Hand meiner Großmutter näherte. Und so, wie es schöne und häßliche Farben gibt, gibt es die dazu passenden Gerüche. Copal konnte ich zum Beispiel nie ausstehen. Es riecht widerlich grauschwarz, und ich sehe diese triste grauschwarze Farbe noch heute vor mir, wenn sie irgendwo mit Copal räuchern in den Kirchen oder auf Friedhöfen. Es gibt aber geheimnisvolle Pflanzen, die noch stärker wirken als Ololiuqui, die nur die heiligen Curanderos oder 120
große Brujos kennen. Mein Wissen ist zu dürftig dafür. Es reicht noch nicht einmal so recht für den Alltag!" Rosalía war in einen Zustand zitternder Aufregung geraten. Sie erzählte atemlos von den wundersamen Drogen der Zapoteken, die am hellichten Tag himmlische Visionen herbeizaubern und sie sprach von dem merkwürdigen heiligen Pilz, den die Azteken die göttliche Pflanze, Teonanacatl, nannten, und mit dessen Hilfe es ihnen gelang, in vollständiger Entrückung, aber mit weit offenen und klaren Augen die schaurige Welt der Toten und der Götter zu sehen. Dann lief Rosalía in ihr Zimmer, brachte das Stück Peyotl, das wie eine Hundepfote aussah und zeigte es Pedro: "Diesen kleinen Kaktus haben alle gebraucht, wenn sie mit den Göttern redeten, die Huicholes, die Tarahumaras, die Comanches, die Yaquis und die Tamaulipecos. Diese kleine Knolle gibt dir die Kraft von fünf Männern, wenn du so erschöpft bist, daß du glaubst, nicht mehr aufstehen zu können. Als es in diesem Land noch kein Pferd und keinen Wagen gab, als alle Nachrichten von barfüßigen Sendboten im Laufschritt durch das große Reich getragen werden mußten, hatten die Läufer nichts weiter als ein wenig Peyotl und ein Beutelchen ChiaKerne zum Kauen bei sich. Damit konnten sie drei Tage laufen, ohne müde zu werden." Pedro wußte, daß Rosalía übertrieb, aber er bewunderte ihre Überzeugungskraft und ihr Wissen. Er mochte diese emsige dicke Frau, die das Herz auf dem rechten Fleck hatte.
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Im Erdgeschoß schlug eine Türe und Rosalía schreckte auf. "Mein Gott, das Essen! Ernesto muß gleich da sein!" Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und schwebte davon. Pedro fühlte sich viel besser, als am Tag zuvor. Auch sein Magen hatte sich beruhigt, und er machte sich mit Vergnügen über die Enchiladas her, die ihm Rosalía servierte. Tirza sah ihm schweigend zu. Sie genoß die Stille und betrachtete Pedro wie sie meinte zum ersten Mal ganz genau: Dunkle Augen unter buschigen Brauen blickten sie unsicher an. Eine schwarze Locke fiel ihm unordentlich und verklebt von trocknendem Schweiß in die Stirn. Sein Mund war sehr rot und bildete unter dem Schnurrbart einen auffälligen Farbfleck in seinem blassen Gesicht. Wenn er lächelte, wurden seine Lippen ganz schmal und um seine Augen spielten hundert lustige Fältchen. Er hatte ungemein zarte Hände, die eher zu einer Frau gepaßt hätten, und er bewegte sie auch wie eine Frau. Sein Blick war gescheit. Er gefiel Tirza. Tirza bemerkte nicht, daß auch Pedro sich mehr mit ihr, als mit seinen Enchiladas beschäftigte. Sie blieb den ganzen Nachmittag bei ihm. Er erzählte von seiner Heimatstadt Veracruz, dem großen Hafen, der als Pforte zum Atlantischen Ozean Mexikos Handelswege nach Nordamerika, Europa und Afrika öffnet, und er erzählte so lebendig, daß Tirza, die nie das Meer gesehen hatte, sie wirklich vor sich sah, die Hafenkais mit den 122
vielen Schiffen und den kleinen dunklen Kneipen, in denen sich Matrosen aus aller Welt trafen und umweht vom herben Duft frisch gesottener Barsche, Seehechte und feuerroter Krabben ihr Heimweh in Aquardiente ertränkten. Sie erlebte die verrückten heißen Karnevalsnächte, sah die tropischen Gärten und Kaffeeplantagen von Orizaba unter den steil ansteigenden Bergen vor sich liegen. Sie hörte den rauschenden Brunnen an der Plaza und die schmetternden Trompeten der Mariachis, die in lauen Nächten in ihren silberbeborteten schwarzen Kostümen die Menschen in den Straßencafés unterhielten. Pedros Vater war ein höhergestellter Beamter in der Verwaltung des Frachthafens. Die Cardonas besaßen ein kleines Haus am Rande der Stadt und sonnten sich in einem Wohlstand, der ihnen zwar nicht den Weg zur Oberschicht öffnete, aber ein sicheres, sorgenfreies Leben mit vielen Annehmlichkeiten bescherte. Pedro war nur ungern zu den Soldaten gegangen. Es gab lange, heiße Debatten, an denen auch seine Mutter, die Pedro unterstützte, und seine kleine Schwester Evita teilnahmen. Sein Vater hatte ihn nur mit Mühe davon überzeugt, daß ein vaterlandsliebender Mexikaner gerade in unruhigen Zeiten Opfer für sein Land bringen müsse. Er führte als leuchtendes Beispiel die sechs jungen Kadetten, die Niños Heroes, an, die sich vor über fünfzig Jahren, als die Amerikaner die Hauptstadt erobert hatten, in ihrer 123
Verzweiflung, eingehüllt in die Fahne ihres Landes, vom Turm des Castillos gestürzt hatten. Pedro konnte dieser Vorstellung von Heldentum nichts abgewinnen. So besuchte er nach seiner Rekrutenausbildung die Offiziersschule nur mit halbem Herzen. Aber dann lernte er Juan und Ignacio kennen. Sie streiften gemeinsam durch die Stadt, wenn sie Urlaub bis zum Wecken hatten. Sie tobten sich aus und genossen das Soldatendasein in unverbrüchlicher Freundschaft. So änderte Pedro seine Meinung und begann, die Reue über den Entschluß, Soldat zu werden, zu verdrängen. Sie wurden alle drei am selben Tag zum Leutnant befördert und nach México abkommandiert. Es hieß, es sei eine große Ehre, aber Pedro machte sich nichts aus dieser Auszeichnung. Seine Mutter und Evita weinten, als er mit ihnen in seiner schmucken, neuen Uniform auf dem Bahnhof stand. Seinen Vater aber rührte wohl nur der Stolz auf seinen Sohn, als er ihm, ebenfalls mit Tränen in den Augen, seinen Abschiedssegen gab. Auch Tirza erzählte Pedro von ihrem Leben in San Miguel. Sie vergaß dabei fast, daß das alles vorbei war und ließ in der Erinnerung alles so wiederauferstehen, daß Pedro meinte, dabeigewesen zu sein. Später, gegen Abend, fragte Tirza Pedro: "Was wirst du tun, wenn du wieder gesund bist? Bleibst du hier in der Stadt?" "Das hängt davon ab, was man mit meiner Einheit vorhat. Sollte es Huerta gelingen, Madero zu stürzen, wird man uns wohl weit hinaus in die Provinz verlegen. Wir sind für diese Rebellen unsichere Kandidaten, eben Maderistas. Die höheren Offiziere wird das sogar den Kopf kosten." 124
Tirza runzelte die Stirn. "Kannst du nicht einfach gehen? Deinen Abschied nehmen?" "Ach, das würde mir mein Vater nie verzeihen und es ginge auch nicht da hätten mir Mondragóns Kanonen schon das Bein abreißen müssen. Bei dem kleinen Kratzer werden sie mich in zwei Wochen wieder holen ....." Weißt du denn, für wen du kämpfst, wenn Madero gestürzt wird?" "Ich hoffe, ich brauche überhaupt nicht mehr zu kämpfen. Und den Eid habe ich auf die Verfassung, nicht auf einen bestimmten Präsidenten abgelegt." "Du meinst, es ist gleichgültig, wer Präsident ist? Glaubst du, es spielt keine Rolle, ob einer unter Bruch gerade der Verfassung, auf die du vereidigt worden bist, die Macht an sich reißt und dabei Tausende unschuldiger Menschen opfert? Die Sache mit deinem Bein, das war nicht Mondragón oder Diaz, die sind doch nur Marionetten. Das waren die verdammten Gringos und ihr teuflischer Helfershelfer Huerta! Also, ich könnte keinem Präsidenten dienen, der mir ein Loch ins Bein geschossen hat und den die Amerikaner unterstützen!" "Nun ja, du hast schon recht, aber ich habe keine Wahl. Es gab auf der ganzen Welt noch keinen Soldaten, der in solchen Fällen die Wahl hatte. Deshalb ist es auch nutzlos, über all das nachzudenken. Man wird mir Befehle geben, und ich werde sie ausführen müssen."
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"Jeden Befehl?" "Das ist eine Frage! Was soll das heißen: jeden Befehl? Es gibt natürlich Befehle, die ich nicht ausführen will, die ich gar nicht ausführen könnte, darüber brauchen wir nicht zu reden. Ich meinte militärische Befehle, ganz normale Befehle, die mein Handeln als Soldat fordern." Tirza sah ihn an und schwieg, dann sagte sie unvermittelt: "Wenn du alles machst, was sie von dir fordern, hast du keinen Mut. Dann bist du ein Feigling." Pedro hob die Augenbrauen, aber sie sprach fast ohne Unterbrechung weiter: "Mutig ist für mich ein Mann nur, wenn er tut, was recht ist, nicht, was man ihm befiehlt, und er ist für mich auch nur ein Mann, wenn er weiß, was recht ist und sich vom Geschrei der anderen nicht beeinflussen läßt. Mein Vater war ein Mann. Er hatte Mut. Er pfiff auf die Revolution. Er pfiff auf die Befehle und die Drohungen der Zapatistas..." "Und jetzt ist er tot", unterbrach sie Pedro "und du hast keine Heimat mehr, und deine Mutter mußte sterben, und dein Rapaz ist irgendwo in fremden Händen. Das ist das Resultat des Mutes, den du meinst." Tirza sah ihn mit schmalen Augen an und schwieg. Dann sagte sie leise: "Vielleicht hast du recht.... Irgendwo habe aber auch ich recht. Dios, wenn ich nur wüßte, wo der richtige Weg liegt, wenn ich es nur wüßte ..."
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"Tirza, ich glaube, es gibt da keinen Weg. Es hängt von deinen Entscheidungen im Augenblick ab jede Situation fordert, daß du dich entscheidest, und du mußt es tun, aus dir heraus, ohne daß du dich auf einen Weg verlassen kannst, den du dir vorher ausgedacht hast." Tirza nickte, aber sie sah sehr hilflos aus. Sie sagte flüsternd, so daß man es kaum hören konnte: "Bitte nimm es nicht ernst! Ich habe es nicht so gemeint! Ich möchte nicht, daß du etwas tust, was du nicht willst das mit dem Feigling war sehr dumm von mir." Pedro nahm versöhnend ihre Hand und sagte: "Weißt du, bei all den Entscheidungen, von denen ich vorher sprach, spielen nur Menschen eine Rolle, die dir etwas bedeuten. Für mich sind das meine Eltern, Evita, Juan, Ignacio." Pedro zögerte einen Augenblick und sah Tirza an. "Sie sind für mich die Schachfiguren, die mein Spiel bestimmen. Ich selbst bin dabei der schwache König, der immer nur ein einziges Feld weitergehen darf und im Grunde machtlos ist, wenn die Figuren um ihn herum falsch stehen, obwohl sich ja eigentlich das Spiel nur um ihn, den König, dreht." "Das würde aber bedeuten, daß andere für dich die Entscheidungen treffen..", sagte Tirza. "In den meisten Fällen ist das leider so... Nicht, daß sie dir genau vorschreiben, was du zu tun hast. So ist es nicht. Nein, sie sind einfach da, und du mußt ihr Dasein 127
berücksichtigen, mit einkalkulieren, und dann tust du das, was ihnen hilft, oder ihnen zumindest nicht schadet, was ihnen gefällt, oder sie zumindest nicht kränkt, verstehst du?" "Ja, ich glaube, ich weiß, was du meinst", sagte Tirza. 11 Neun Tage nach seiner Verwundung verließ Pedro mit Tirza zum erstenmal das Haus. Er schaffte es mühsam gerade bis zum Davidsbrunnen. Dort setzten sich beide auf den von der Sonne durchwärmten, braunen Vulkanstein des Brunnenrandes und spielten mit den Händen im kalten, klaren Wasser, das aus kleinen Schalen über den Sockel in das Becken rieselte und die blauweißen Azulejomuster am Grund in schwingende Bewegung versetzte. Über ihnen stand siegreich vor dem abgeschlagenen Haupt des Goliath der kleine bronzene David und schaute triumphierend auf die Straße hinunter. Eine Rast an diesem Platz zwischen Blumen und blühenden Bäumen wurde fortan zu einem festen Programmpunkt bei ihren täglichen Ausflügen, auch später, als eine Rast im eigentlichen Sinne für Pedro gar nicht mehr nötig war. Am Abend dieses Tages brachte Ernesto böse Nachrichten. Was alle bisher nur vermutet hatten, erwies sich als bittere Wahrheit: Huerta war ein Verräter. Präsident Madero war vom Kommandeur des 29. Bataillons, General Blanquet, unter Arrest gestellt worden. 128
Gustavo Madero, sein Bruder, war schon am Nachmittag an die Besatzer der Ciudadela ausgeliefert, brutal gefoltert und am Fuße des Morelosdenkmals auf schreckliche Weise ermordet worden. Huerta hatte bereits aller Welt, zuallererst aber dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, mitgeteilt, daß er die Macht übernommen habe und mit loyalen Streitkräften dafür sorgen werde, daß wieder Ruhe und Frieden in Mexiko einkehre. Noch am selben Abend ereignete sich dann ein denkwürdiges Schauspiel, das Tonio am Zócalo miterlebte und über das er Pedro mit Abscheu berichtete. General Huerta erschien betrunken auf dem Balkon des Nationalpalastes. Er war ein alter Haudegen und hatte sich vor allem durch Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit einen Namen gemacht. Man kannte ihn als unberechenbaren Trinker und als einen Ausbund von Verschlagenheit und Hinterhältigkeit. Er wirkte mit seinen kurzsichtigen Fischaugen und seinem quadratischen Indianergesicht grobschlächtig, und es hieß, er habe Mühe, seinen Namen zu schreiben. Es war offenbar, daß er von der Verwaltung nichts verstand und in der Revolution nur militärische Probleme sah, für deren Lösung niemand besser geeignet sein konnte, als er selbst. Dieser Mann nun erschien auf dem Balkon, sich mühsam aufrecht haltend. Er breitete unsicher und pathetisch die Arme aus und rief mit lallender Stimme: "Qué viva México!" Das war alles, was man deutlich von ihm verstand. Er rief sich dann schwer atmend und mühsam artikulierend zum Präsidenten aus, und zum Hohn läuteten alle Glocken von den Türmen der Kathedrale. Seine 129
Ansprache war nur kurz, dann mußte er, von seinem Adjudanten gestützt, zurückgeführt werden. Tonio konnte sich kaum fassen: "Stell' Dir vor, Pedro, dieser Mann will uns aus dem Desaster führen! Ein Saufbold und Verbrecher! Es wird Aufruhr und Terror geben! Wir werden Zeiten erleben, gegen die der Angriff auf den Nationalpalast ein Sonntagsspaziergang war. Man hat gestern schon das gesamte Wachbataillon ausgewechselt gegen Blanquets Truppen, die aus Toluca hergeschafft wurden. Du wirst sehen, Blanquet steckt mit dem Kerl unter einer Decke. Es ist mir nicht gelungen, zu erfahren, was aus deiner Einheit geworden ist. Man sagt, sie sei bereits nach Chihuahua gegen Pancho Villa in Bewegung gesetzt worden. Pancho soll öffentlich verkündet haben, er wolle sich dem Verräter widersetzen. Er soll fünftausend Mann um sich geschart haben. Aber das sind alles Gerüchte. Ich werde morgen sehen, ob ich etwas erfahren kann, was uns weiterhilft." "Weiß man schon, wie Zapata reagiert? Denken seine Leute wie Pancho Villa?" fragte Pedro. "Nein, man weiß noch nicht, was er vorhat. Die Telefon und Telegrafenlinien nach Morelos sind blockiert. Aber du kannst ziemlich sicher sein, daß er Huerta nicht unterstützt! Gebe Gott, daß Madero wirklich nur unter Arrest steht. Man ist von Huerta Gnade und Anstand gegenüber seinen Feinden nicht gewohnt. Bis jetzt hat jedenfalls keiner seiner Widersacher überlebt".
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Vier Tage später wurde Präsident Madero zusammen mit dem Vizepräsidenten Pino Suarez "auf der Flucht" wie man offiziell verlauten ließ, erschossen. Ein Aufschrei ging durch das Land. Mexiko weinte um Madero und lähmendes Entsetzen breitete sich aus. In der Stadt ging wieder alles drunter und drüber, und wieder zogen Räuber und Plündererbanden marodierend durch die Straßen. Auch Ernesto war in tiefer Sorge. Keiner glaubte mehr daran, daß das Land wieder in geordnete Zustände gebracht werden könne. Mit General Huerta an der Spitze erschien das allen ausgeschlossen. Am Morgen des folgenden Tages erschien ein Bote und überbrachte Pedro einen Brief. Er sollte sich binnen drei Tagen bei seiner Einheit melden. Die militärische Organisation der Federales schien offensichtlich noch gut intakt zu sein. Der Truppenarzt teilte tags darauf Pedro mit, daß er sich ab 15. März wieder als einsatzfähig zu betrachten habe. Er erhalte rechtzeitig weitere Befehle. Dann geschah, was Tonio vorausgesagt hatte: Huerta zog in panischer Angst vor einem Gegenputsch alle Regierungstruppen in der Hauptstadt zusammen. Zapatas Rebellen nutzten den günstigen Augenblick und rückten in Morelos kampflos hinter den abziehenden Federales nach Norden vor. Sie besetzten die aufgegebenen Haziendas, Pueblos und Städte, eroberten ohne Aufwand und Verluste Tlaltizapán, Yautepec, Tetecala und Tepoztlán. Hoch oben 131
im Norden scharte Pancho Villa, wie erwartet, in wenigen Tagen tausende zu allem entschlossene Bauern, Vagabunden, Gauner und Arbeitslose um sich, die nach Blut schrien und sich an Maderos Mörder rächen wollten. Doroteo Arrango, der sich Pancho Villa nannte, war der ungezügeltste, der wildeste und der unberechenbarste Gegner Huertas. Die Revolution hatte aus einem kleinen Viehdieb und Banditen, der sich in den Wüsten Sonoras und in den Bergen Chihuahuas herumtrieb, einen starken Mann und wilden Helden gemacht. Pancho war ein ungebildeter Bauernsohn, furchtlos und ohne Skrupel und dazu voller Sentimentalität und Launenhaftigkeit. Er konnte drei Tage ohne Schlaf im Sattel sitzen. Die Armen und Besitzlosen vertrauten ihm bedingungslos. Er witterte seine Chance, und es war ein Leichtes für ihn, seine Gesellen unter dem Vorwand, sich an Huerta zu rächen, für den bevorstehenden Kampf zu gewinnen, einen Kampf, der ihnen endlich eigenes Land, oder wenigstens soviel einbringen sollte, daß sie keinen Hunger mehr haben mußten. Der Dritte im Bunde gegen Huerta war der Gouverneur von Coahuila, Venustiano Carranza, ein Großgrundbesitzer alter Schule, der mit dem Schlachtruf "Gegen den Usurpator, für die Verfassung" zusammen mit General Alvaro Obregón den Angriff gegen den Verräter und selbsternannten Präsidenten vom Nordwesten her vorbereitete. Huertas Regierung war zwar bereits von England, Deutschland und weiteren damals weniger wichtigen Ländern anerkannt worden. Aber der neue Präsident der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, ein Moralist reinsten Wassers, hatte sehr schnell bemerkt, welchen 132
Fehler sein Vorgänger Taft gemacht hatte. So beschloß er, den Spieß wieder umzudrehen und sich auf die Seite der mexikanischen Rebellen zu stellen. Vor allem dieser Beschluß war es, der Huertas Stern sinken ließ, noch bevor er aufgegangen war. Aber mit diesem folgenschweren Entschluß der Einmischung stürzten die Vereinigten Staaten Mexiko in einen zermürbenden und blutigen Kampf, der noch viele Jahre dauern und für Tirzas und Pedros Leben entscheidend werden sollte. Am 26. Februar kamen zwei Briefe für Pedro an. Der eine stammte von seiner Mutter, die ihm berichtete, daß in Veracruz noch alles ruhig sei, daß es seinem Vater, der eine Gallenkolik überstanden hatte, wieder besser gehe und daß sie Juan beerdigt hätten. Sie bemühte sich sehr darum, ihre Sorge um ihn mit harmlosen Schilderungen täglichen Kleinkrams zu überdekken, aber aus einem Postskriptum seiner Schwester Evita, die mit ihrer winzigen Handschrift "Paß auf dich auf, Pedro. Wir lieben dich!!! Deine Evita" den rechten Rand der letzten Seite vollgeschrieben hatte, konnte er erkennen, daß sie zu Hause Angst um ihn hatten. Der zweite Brief trug das Siegel und den Absender der Kommandantur und forderte ihn auf, sich am 15. März 1913, um vier Uhr nachmittags am Westflügel des San LazaroBahnhofs einzufinden und sich dort bei der Einheit von Coronel Estevante zu melden. Die Abfahrt des Militärtransports nach Colima wurde auf fünf Uhr angesetzt. Jetzt waren die Würfel gefallen. Es blieben Tirza und Pedro noch knappe drei Wochen.
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Sie gingen jeden Tag die Calle de San Francisco und die Calle de Plateros hinunter zum AlamedaPark, der inmitten allen Schreckens eine Oase der Rosen geblieben war. Der AlamedaPark ist so alt wie die Stadt. Er erinnerte Pedro mit seinen wohlgepflegten Kieswegen, den mit wunderlichen Skulpturen und verspielten Springbrunnen geschmückten und von barocken Steinbalustraden umgebenen Ruheplätzen, dem Hemiciclo, einem bombastischen, für Benito Juarez errichteten Marmormonument und den in allen Farben leuchtenden Beeten an einen beschaulichen Friedhof ohne Gräber. Im Schatten der riesigen Eschen saßen sie nebeneinander, verträumt und traurig wie ein altes Ehepaar. "Ich mag diesen Park", sagte Tirza, "er duftet und atmet Frieden und Ruhe in diesem Hexenkessel." Pedro nickte, dann sagte er: "Ich liebe ihn auch, aber der Park lügt." "Was meinst du damit, er lügt?" "Ich will damit sagen, daß er uns hinter seiner beruhigenden Geometrie und seiner angenehmen Kühle die Wahrheit seiner Geschichte verbirgt." Tirza sah Pedro fragend an: "Die Wahrheit seiner Geschichte?" "Dieser Park war vor dreihundert Jahren der schrecklichste, furchtbarste und angsterfüllteste Platz des ganzen Landes. Da, vor uns, wo die Wege zusammenlaufen, stand das Podest, auf dem die Scheiterhaufen der Santa Hermandad errichtet wurden. Jeden Tag brachten die das Holz mit Kähnen über den TexcocoSee und schichteten es in peinlicher Ordnung vor dem Pfahl auf, an den die Opfer gebunden wurden und 134
denen man, wenn sie geständig waren, als besonderen Gnadenerweis zugestand, daß man sie mit der Garotte erdrosselte, bevor das Feuer entzündet wurde. Und die Feuer loderten und die Hexen und Ketzer wurden nicht weniger in dieser großen Stadt. Weißt du, Tirza, ich werde es nie begreifen, daß es damals Menschen gab, daß es heute immer noch Menschen gibt, die dir weismachen wollen, daß das im Namen Gottes geschehen mußte. Wenn die Dunkelheit hereinbricht über diesen Garten, meine ich, ich müßte die Opfer aus der Nacht heraus schreien und ihr Recht auf Leben und Liebe fordern hören." Tirza griff nach Pedros Hand. "Glaubst du, Pedro, daß es heute besser ist? Damals hat man geglaubt, Gott fordere Strafe für alle, die seiner Lehre nicht bedingungslos folgen. Heute bringt man die Menschen um, nur weil sie zufällig den falschen Uniformrock tragen, einen Begriff der Freiheit und Gerechtigkeit vertreten, der mit den Begriffen der Mörder nicht übereinstimmt. Es hat sich nichts geändert. Die Menschen sind gleich geblieben. Es ist die Lieblosigkeit, die Habgier, die Machtbesessenheit und der Verrat, die unsere Welt zerstören." Tirza lehnte sich an ihn und fürchtete sich. An einem fröhlichen, wolkenlosen Sonntag fuhren sie mit der Straßenbahn hinaus nach Xochimilco, den schwimmenden Gärten, die schon die Aztekenkaiser vor fünfhundert Jahren angelegt hatten. Sie mieteten sich ein Boot und ließen sich in dem Gewirr von Inseln und Kanälen durch das klare Wasser in ein Meer von Blumen treiben. 135
"Ich kann es nicht ertragen, daß du weggehst", sagte Tirza. "Ich habe keine Wahl", antwortete Pedro, wie immer, wenn ihm nichts einfiel. Sie schwiegen lange. "Kommst du wieder?" Pedro richtete sich auf und sah Tirza nachdenklich an. "Hast du daran gezweifelt?" "Ich weiß nicht". "Du weißt nicht?" "Nein!" "Dann verspreche ich es dir jetzt. Ich komme zurück!" In diesem Augenblick begann Tirza zu weinen. Sie schluchzte nicht, man hörte nichts. Pedro sah nur ihre Tränen und ihr verzweifeltes Gesicht. Er war hilflos, weil er wußte, warum sie weinte und weil er es nicht ändern konnte. Er saß vor ihr und schaute sie mit großen Augen an, während sie ihre Arme hängen ließ und auf den Boden starrte. Doch dann streckte sie sich plötzlich und warf ihre Arme um seinen Hals, bedeckte sein erstarrtes Gesicht, sein Haar, seine rauhe Uniform mit tränennassen Küssen und vergaß, daß sie ein Mädchen war, das die beste Erziehung von ganz Morelos genossen hatte.
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Am Tag vor Pedros Abreise lud Ernesto alle, auch Rosalía, ins Gambrinus ein. Trotz des traurigen Anlasses war man bester Stimmung. Es wurde ein französischer Abend, man servierte ein Chateaubriand Grand Vatel, das in Mexiko seinesgleichen suchte, und es gab eine Mousse au Chocolat, die man in Paris auch nicht süßer und zarter hätte machen können. Als sie beim Käse angelangt waren und man einen alten Chateau Lafitte einschenkte, wankte ein Mann aus dem Hinterzimmer, der das Lokal zum Erstarren und die Gespräche zum Verstummen brachte. Es war General Huerta. Er wurde rasch eingeholt von vier Leibwächtern, die ihn auf die Straße eskortierten und in sein Automobil schoben. Am Nebentisch sagte einer so laut, daß man es im ganzen Restaurant hören konnte: "Die einzigen Ausländer, die der anerkennt, sind Hennessy und Martell!" Atemlose Stille breitete sich aus. Das also war der Mann, der Mexiko retten wollte. Pedro schauderte. Für diesen Tyrannen sollte er in den Krieg ziehen, und er sollte gegen die furchtlosen Männer kämpfen, die nicht bereit waren, das Unrecht anzuerkennen, das seinem Land durch Huerta angetan worden war. Tirza stand im Gedränge der Soldaten verloren am Bahnsteig.Im Lärm abfahrender Züge und im Qualm der Lokomotiven schwor Pedro noch einmal, wiederzukommen. Tirza wiederum schwor Pedro, bei Ernesto und Tonio zu bleiben, bis er käme, sie zu holen, und sie versprach ihm in die Hand, daß sie ohne Schutz das Haus nie verlassen würde. 137
Als Pedro dann im überfüllten Militärzug saß und umgeben von fremden Gesichtern einer ungewissen Zukunft entgegenfuhr, lösten sich die Traumbilder auf, und er schlief im monotonen Geräusch der ratternden Räder hinein in eine lange dunkle Nacht. 12 Man hatte Pedro nach seiner Ankunft in Colima und einer schrecklichen, schlaflosen Nacht in feuchten Kasematten sofort weitergeschickt nach Manzanillo. Die kleine Schmalspurbahn quälte sich durch die kahlen Vorberge und rollte dann mit schauerlichem Pfeifen heißlaufender Bremsen rüttelnd und stoßend hinunter zur Küste, schlängelte sich über die schmale Nehrung und hielt schließlich in der winzigen und schäbig ausgestatteten kleinen Station unmittelbar am Hafen. Er wurde bei Mama Hernandez einquartiert. Sie war eine liebe alte Frau, deren Mann im vorigen Jahr gestorben war, und die sich nun darüber freute, einen Gesellschafter um sich zu haben, mit dem man hin und wieder plaudern und Kaffee trinken konnte. Manzanillo, eine alte Stadt minderer Bedeutung, mit finsteren Gassen und dunklen Winkeln, eingezwängt zwischen dem offenen Meer und der brackigen moskitosirrenden Lagune, erschien Pedro sterbenslangweilig und öde. Die ersten Wochen hatte seine Kompanie damit verbracht, die Befestigungen an der Mole zu verstärken und 138
Geschützstellungen auf den Anhöhen nördlich und südlich des Hafens zu errichten. Es gab dann hin und wieder kleinere Aufgaben, wie die Verladung von Munition auf die wenigen Schiffe, die Manzanillo anliefen oder Schanzarbeiten zur Sicherung der Nehrung. Insgesamt aber wurde es von Tag zu Tag geruhsamer, obwohl beunruhigende Nachrichten eintrafen, die besagten, daß Obregóns Angriff auf México bevorstehe und daß Carranza den Befehl ausgegeben habe, regierungstreue Federales nicht gefangen zu nehmen, sondern an Ort und Stelle zu erschießen. In Chihuahua sollten wüste Kämpfe mit Pancho Villas Division del Norte stattgefunden haben. Es hieß, auch er sei bereits im zügigen Vormarsch nach Süden. Manzanillo hätte für die Rebellen ein hervorragender Brückenkopf sein können, der den sicheren Transport von Truppen und Kriegsmaterial auf dem Seeweg ermöglicht hätte. Man mußte auf der Hut sein. Aber noch waren die nördlich gelegenen Häfen, Guaymas und Mazatlan, in der Hand der Federales. Es gab in Manzanillo eigentlich nur einen Treffpunkt, gleichermaßen für Offiziere und Mannschaften, der Zerstreuung bot und wo die neuesten Nachrichten aus México und von den Fronten des Bürgerkriegs ausgetauscht werden konnten. Man traf sich dort zum Kartenspielen oder einfach nur zum Beieinandersitzen, man trank und rauchte und kämpfte gemeinsam gegen die Langeweile.
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Salvadors Pulqueria war ein ehemaliges Pulverlager der Spanier, eine geräumige Kneipe mit rauchgeschwärzten Gewölben und blankgescheuerten Tischen. Es gab dort zwar schon lange keine Pulque mehr. Aber früher, das heißt vor dreißig Jahren, standen hier schon am frühen Morgen die Hafenarbeiter herum und schütteten den faden vergorenen Milchsaft der MagueyAgave in solchen Mengen sich hinein, daß sie nicht mehr gehen konnten und sich, wenn ihre Blasen zu platzen drohten, wie gelähmt und vornübergebeugt an dem hohen hölzernen Schanktisch festhielten und es dann mit angehaltenem Atem erleichtert in die dafür geschaffene Rinne vor ihre Füße plätschern ließen, die unter die Türe hindurch auf die Straße führte. Später wurde die Pulque knapp und teuer und das Geschäft lohnte sich nicht mehr. Salvador, der eigentlich gar nicht Salvador hieß, pachtete Jahre später das Gewölbe, richtete es her, kaufte neue Möbel und Lampen und machte eine Cantina daraus, die sich in der Stadt sehen lassen konnte. Der Name Salvadors Pulqueria gefiel ihm. So ließ er ihn bestehen und handelte sich damit auch einen neuen Namen ein. Bei Salvador wurde es zu später Stunde meist laut und fröhlich. Man fand Freunde und schuf sich Feinde. Die Soldaten betrachteten die alte Kneipe als ihr Zuhause. Pedro hatte bei Salvador schon bald nach seiner Ankunft Angel und León kennengelernt. Angel stammte aus einem kleinen Dorf in Jalisco und León war kurz nach ihm aus México abkommandiert worden. Angel, ein lustiger Geselle, hatte Pedro und León voraus, daß er in 140
Manzanillo als Sergeant Erster Klasse schon mehr als drei Monate Dienst tat und deshalb fast jeden kannte, der bei Salvador ein und ausging. Jedesmal, wenn ein unbekanntes Gesicht in der Tür erschien, gab er den beiden Neuankömmlingen hinter vorgehaltener Hand mit wenigen Worten eine treffende Beschreibung des Mannes, der hinter dem Gesicht steckte, so daß beide bereits wußten, wen sie vor sich hatten, wenn sie dessen Gruß erwiderten. Eines Abends betrat ziemlich spät ein hochgewachsener Hauptmann, der durch seinen Schnauzbart auffiel, das rauchige Lokal und sah sich suchend um. An jenem Abend waren ungewöhnlich viele Gäste gekommen. Bei Pedro und seinen Freunden waren aber noch zwei Plätze frei. Angel flüsterte: "Das ist der Robinson von Clipperton." Mehr konnte er nicht sagen, weil sich der Mann rasch auf sie zubewegte. "Guten Abend, meine Herren. Gestatten Sie mir, bei Ihnen Platz zu nehmen? Ich bleibe nicht lange und hoffe, Sie nicht zu stören." Angel versicherte ihm, daß er sehr willkommen sei und stellte sich und seine Kameraden vor. Der Hauptmann setzte sich. "Ich bin Capitan Arnaud. Eigentlich wollte ich mich hier mit Coronel Toledano treffen, aber er scheint noch nicht gekommen zu sein. Wenn ich nun schon in dieser Höhle bin, soll der Durst nicht zu kurz kommen." Er bestellte einen Mezcal, rieb sich die Hände und zündete eine Zigarre an. Wenn er nicht in der makellosen Uniform der Federales gesteckt hätte, Pedro hätte ihn für den Kapitän eines Passagierdampfers gehalten. Er schien einer von jenen besonderen Gesellen 141
zu sein, die nichts aus der Ruhe bringt. Sein Gesicht war tief gebräunt, die freundlichen grauen Augen waren stets in Bewegung. In seinem Schnauzbart sprossen die ersten grauen Haare. "Wie geht`s auf Ihrer Insel?" fragte Angel. Arnaud hob erstaunt den Kopf. "Sie kennen mich?" "Wer kennt Sie nicht, Capitan! Man sagt, Sie seien der Robinson von Clipperton." Arnaud lachte. "Recht haben Sie, junger Freund, man könnte mich so nennen, aber glauben sie mir, Clipperton ist kein schlechter Platz in diesen lausigen Zeiten! Salud, meine Herren!" Arnaud setzte sein Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. "Es gibt Ausländer, die nennen mich den Zerberus des Panamakanals, weil sie glauben, wir Mexikaner wollten die Insel als Bollwerk zur Kontrolle des neuen Seewegs ausbauen, aber das ist natürlich dummes Zeug. Uns geht es nur darum, zu verhindern, daß sich Gringos oder Franzosen oder sonstwer an die Insel heranmachen." Pedro unterbrach ihn neugierig: "Wieviel Mann sind auf Clipperton stationiert, Capitan?"
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"Wenn sie die Frauen dazurechnen, sind wir zur Zeit etwa vierzig und ein paar Leute der Pacific Phosphate Company." "Frauen?" "Oh ja, natürlich! Warum nicht? Würden Sie auf einer Insel, 700 Meilen entfernt von der Heimat, gern jahrein, jahraus ohne Ihre Frau, ohne Ihre Familie leben wollen? Wir halten die Stellung nun schon seit sieben langen Jahren. Da hat man uns Zugeständnisse gemacht." Arnaud wurde von Coronel Toledano unterbrochen, der an den Tisch kam und sich für die Verspätung entschuldigte. Arnaud stand auf, legte zwanzig Centavos auf den Tisch und verabschiedete sich: "Es tut mir leid, meine Herren, aber wir haben ein paar Dinge zu besprechen, die Sie nur langweilen würden. Ich hoffe, Sie demnächst wieder zu treffen. Es war nett, Sie kennenzulernen." Es erschien ganz natürlich, daß Angel als Experte nun die Unterhaltung über das begonnene Thema Clipperton weiterführte. Die Geschichte der merkwürdigen Inselgarnison machte seit Arnauds Ankunft ohnehin im Hafen die Runde und Angel zeigte sich bestens informiert. "Die Insel", begann Angel, "ist ein merkwürdiges Gebilde. Es ist das einzige Atoll des Stillen Ozeans, das einen völlig geschlossenen Korallengürtel aufweist. Es ist ein klägliches Eiland. Da findet man nichts von der Üppigkeit tropischer Vegetation, die man gemeinhin von Inseln dieser Art kennt, nichts Liebenswertes, nichts 143
Anziehendes. Da ist nur ein flacher Ring von Korallenschutt mit ganz vereinzelten Gruppen von Kokospalmen. Man kann die Insel bequem in zwei Stunden umrunden. Die innere Lagune ist merkwürdigerweise voller Süßwasser. Aber als trinkbar kann man das, glaube ich, nicht bezeichnen, was sich da, vom Monsunregen immer wieder überschichtet, angesammelt hat. Der Landstreifen erhebt sich nur ein paar Meter über das Meer. Lediglich im Süden ragt ein einsamer, schwarzer Felsen in den Himmel, auf dem vor sieben Jahren ein Leuchtfeuer errichtet wurde. Die Franzosen beanspruchen dieses Inselchen, weil sie behaupten, daß im Jahre 1711 zum ersten Mal ein Mensch, und zwar ein Franzmann, seinen Fuß auf die Insel setzte und sie für die französische Krone in Besitz nahm. Beweise dafür sind die Franzosen aber bisher schuldig geblieben. Über hundert Jahre später kam dann ein amerikanischer Kapitän mit seinem Schoner und verleibte die Insel dem Territorium der Vereinigten Staaten ein. Damals hatte Justus von Liebig gerade die Düngewirkung des Phosphats entdeckt. Man stieß auf die Guanovorkommen im Norden der Insel. Das brachte die Franzosen wieder auf den Plan. Ein gewiefter Geschäftsmann, Victor Le Coat de Kerveguen, kam mit der Amiral, landete auf der Insel, hißte die französische Flagge, segelte in Windeseile nach Honolulu und ließ Clipperton offiziell als französisches Territorium registrieren. Aber aus dem geplanten Phosphatabbau wurde nichts. Es wußte keiner, wie man es anstellen sollte, den Guano durch die Brandung über dem Korallengürtel auf Schiffe zu transportieren. Erst 1893 glaubte man, dieses Problem lösen zu können. Aber diesmal waren es 144
wieder die Amerikaner, die der Oceanic Phosphate Company ohne jede Rechtsgrundlage eine Abbaulizenz erteilten. Das führte die Franzosen mit dem Kreuzer DuguayTrouin wieder vor die Insel. Mit drohend auf das kleine Lager der Gringos gerichteten Kanonen sorgten sie rasch dafür, daß das Sternenbanner wieder der Trikolore Platz machte. Aber bei all diesen Überlegungen, wem Clipperton wirklich gehört, wurde vergessen, daß die Insel vor unserer, jawohl, vor unserer Küste liegt. Gut, es sind über tausend Kilometer bis dahin, aber geologisch ist es unser Land, eine natürliche Fortsetzung von Baja California und den RevillagigedoInseln, die ja auch zu Mexiko gehören. Es war also Zeit für uns, einzugreifen. Kaum war die DuguayTrouin verschwunden, kamen unsere Leute mit der Demócrata, holten die Trikolore wieder ein und hißten unsere Fahne. Die Regierung nahm Clipperton formell in Besitz und schickte Coronel Avilos mit einer Handvoll Soldaten hin. Später löste ihn dann Capitan Arnaud ab. Das war, glaube ich, im Jahr 1905. Die Genehmigung für den GuanoAbbau erhielt dann ein britisches Unternehmen, die Pacific Phosphate Company, die als technischen Leiter Gustav Schulz, einen Deutschen, mit seiner Familie auf die Insel beorderte. Seither leben sie dort. Es heißt, sie hätten sich ganz gut eingerichtet. Sie sollen sich ordentliche Häuser gebaut haben, bekommen regelmäßig alle vier Monate Nachschub aus Acapulco oder Manzanillo, und wachen dort über nichts anderes als Mexikos Flagge. Von Zeit zu Zeit kommt Arnaud hierher, holt Instruktionen ein, besucht seine Kinder, die seit einer Weile bei den Großeltern in Orizaba leben und kauft seiner Frau ein neues Kleid. Um 145
die Unruhen hier im Land braucht sich Capitan Arnaud nicht zu sorgen. Er kann warten, bis alles vorüber ist." Pedro hörte aufmerksam zu und fragte dann: "Was aber ist, wenn die Franzosen oder die Gringos Clipperton angreifen?" "Das ist nicht zu befürchten. Mit den Franzosen haben wir uns mittlerweile halbwegs geeinigt. Es gibt für uns nicht den geringsten Zweifel, daß Clipperton mexikanisch ist, weil es, wie gesagt, vor unserer Küste liegt und zu unserem Festlandsockel gehört. Also konnten wir der Bitte der Franzosen, die Sache formell einem internationalen Schiedsgericht vorzulegen, ohne Sorge nachkommen. Jetzt muß König Vittorio Emmanuele von Italien formell bestätigen, daß die Insel uns gehört. Die Amerikaner haben versprochen, sich derweil herauszuhalten. Du siehst, Pedro, einer der friedlichsten Orte der Welt!" Es wurde noch lange über Capitan Arnaud und seine Insel diskutiert. Erst gegen Mitternacht brachen die drei Freunde auf. Es gingen mehrere Wochen ins Land, bis Pedro Capitan Arnaud wieder traf. Pedro saß allein an einem der kleinen Seitentische bei Salvador. León hatte Dienst und Angel war durch eine wichtige Verabredung, wie er sagte, verhindert. Man hatte ihn am Nachmittag mit einem besonders hübschen Mädchen gesehen; an der Wichtigkeit des Vorhabens war daher kaum zu zweifeln. 146
Es war ein gewaltiger Gewitterregen niedergegangen, er brachte aber kaum Abkühlung. Jetzt rauschte der Regen in gleichmäßigem Strom vom Himmel, die Straße glänzte in mattem Licht, das aus den Fenstern drang, und es hing der dumpfe Geruch feuchter Uniformen im Raum. Unerwartet stand Capitan Arnaud neben Pedro. "Haben Sie noch Platz für mich, Teniente?" "Aber gern, Capitan. einen Mezcal?" Pedro entkorkte die Flasche und schob Capitan Arnaud ein leeres Glas hin. "Ich akzeptiere nur, wenn ich die nächsten übernehmen darf! Elendes Wetter draußen, ich glaube, die Regenzeit meldet sich." Arnaud suchte einen Haken für seinen Mantel und wischte sich mit dem Handrücken die Tropfen aus dem Gesicht. "Sie kommen aus dem Osten, nicht wahr?" "Veracruz. Ich war zuletzt in México. Diaz' Revolte hat mir eine dumme Blessur beschert." "Ihr erster Einsatz?" "Si, Capitan!" "Und Sie haben alles gut überstanden?" "Es war nur ein Splitter im Bein."
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"Und jetzt wollen Sie Manzanillo verteidigen?" "Noch gibt es niemanden, der angreift. Glauben Sie, daß Obregón durchbricht?" "Vorerst wohl nicht. Die Häfen im Norden haben die Yaquis nicht geschafft. Mazatlan und Guaymas sind zwar umzingelt, aber noch fest in unserer Hand. Man sagt allerdings, die Gringos schaffen heimlich Waffen über die Grenze. Wenn das stimmt, könnte es brenzlig werden." "Der amerikanische Präsident hat doch ein Embargo verhängt..." "Ich sagte Ihnen doch, die Gringos machen das heimlich!" "Sie meinen, das Embargo wird mit Wissen des Präsidenten unterlaufen?" "Ich meine gar nichts, aber es würde mich nicht wundern, wenn es so wäre... Wilsons Absichten sind ziemlich klar. Er haßt Huerta wie die Pest!" "Es gibt viele, die Huerta hassen." "Aber es ist besonders verhängnisvoll, wenn es der Präsident der Vereinigten Staaten tut." Arnaud leerte sein Glas. "Was glauben Sie, Teniente, geschieht, wenn die Waffen nicht mehr heimlich über die Grenze geschafft werden, 148
sondern offen, am hellichten Tag? Dios! Was glauben Sie, geschieht, wenn Pancho Villa plötzlich Maschinengewehre bekommt so viel er will, wenn Obregón ungeniert in die Arsenale der USArmy greifen kann und nicht einmal dafür zu bezahlen braucht? Glauben Sie wirklich, das würde Huerta überleben?" "Nun ja, Capitan, Huerta ist nicht ganz allein. Da sind die Engländer, die ihn unterstützen, und die Deutschen haben auch schon Schiffe geschickt, die bis unter das Deck vollgepfropft waren mit Waffen!" "Mag sein, aber Sie vergessen die Entfernung. Es ist ein Unterschied, ob ich das Zeug im Handkarren über die Grenze schaffen kann, oder ob ich wochenlang auf ein Schiff warten muß, das vielleicht nie ankommt." "Wir Federales sind doch weit in der Übermacht. Huerta hat mittlerweile eine Viertelmillion, eine riesige Viertelmillion unter Waffen, was wollen denn die paar Rebellen dagegen ausrichten?" "Diese Viertelmillion besteht zum größten Teil aus armen Schluckern, die Huerta in den Straßen aufgelesen und durch die Leva in die Armee gepreßt hat. Die Rebellen da oben im Norden sind zwar auch arme Schlucker, aber sie leben für eine Revolution, die sie für gerecht halten, und weil sie nichts, aber auch gar nichts zu verlieren haben, sind sie bereit, für diese Revolution und, wie sie meinen, für unser Land zu sterben. Diese Leute können nur gewinnen, und am Ende springt für sie sogar 149
ein eigenes Stück Land heraus, das ihnen wirklich gehört, das sie mit ihren Händen bebauen können, ohne die Ernte, wie bisher, abgeben zu müssen, wenn der Mais reif ist. Das ist der Unterschied, Teniente, da liegt die wirkliche Übermacht. Und noch bevor die auf unserer Seite mit ihrem dämlichen, arroganten Verstand das endlich begreifen, werden unsere Leute, unsere braven Federales, überlaufen zu den Rebellen. In Scharen werden sie überlaufen. Dann wird es sich zeigen, wer in der Übermacht ist." Arnaud schenkte die Gläser voll und fuhr fort: "Das Schlimmste an allem ist, daß ich mittlerweile nicht mehr davon überzeugt bin, daß ich auf der richtigen Seite stehe. Zugegeben, es betrifft mich persönlich wenig, weil es mir da draußen auf der Insel egal sein kann, ob der Präsident Madero, Carranza oder gar Pancho Villa heißt. Aber wenn ich an Huerta und unser Land denke, macht es mich krank, zusehen zu müssen und nichts tun zu können." Pedro sah ihn nachdenklich an. Was veranlaßte diesen Mann, sich so zu offenbaren? Er war kein Mensch, den ein paar Gläser Mezcal zum Schwätzer werden lassen, er war auch kein Revolutionär, der einen kleinen Leutnant auf seine Seite ziehen will. Pedro spürte ehrliche Überzeugung und ein Vertrauen ihm gegenüber, das ihn verwirrte, aber er fand den Grund für Capitan Arnauds Offenherzigkeit nicht. "Man hat mir gesagt, Sie haben Kinder, Capitan."
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"Einen Jungen, wir nennen ihn Ramoncito und die kleine Alicia. Vier und zwei Jahre alt sind sie. Sie sind zur Zeit bei meinen Eltern in Orizaba. Sie wurden auf Clipperton geboren." "Und Sie lassen sie hier, obwohl Sie wissen, was auf uns zukommen könnte? Glauben Sie, Orizaba wäre dann noch ein sicherer Ort?" "Wer hat gesagt, daß ich sie hier lasse?" "Haben Sie das bisher nicht getan?" "Ja, bisher. Aber wenn alles geregelt ist, werde ich sie mitnehmen." "Wenn was geregelt ist? Bitte, Capitan, entschuldigen Sie meine Neugier!" "Es ist ein menschliches Problem. Sehen Sie, Teniente, meine Eltern haben die Kleinen seit dem vorigen Jahr versorgt. Es ist nicht so einfach, ihnen die Kinder wegzunehmen. Ich muß sie erst überzeugen, daß es sein muß, daß ich sie hier nicht einfach auf Dauer zurücklassen will. Das braucht seine Zeit, verstehen Sie?" "Vollkommen. Bleiben Sie noch länger in Mexiko?" "Drei Monate vielleicht. Dann hoffe ich, die Hürden überwunden zu haben.Sie sind nicht verheiratet, Teniente?" 151
"Nein. Aber nach meiner Verwundung habe ich ein wundervolles Mädchen kennengelernt. Sie hat in Morelos die Eltern verloren und lebt jetzt bei Freunden in México. Sie war es, die mich gesundgepflegt hat." Dann fügte er rasch hinzu: "Und eine Indianerin, die mich mit Kräutern behandelte". "Ja, die Indios! Davon verstehen sie was!" sagte Arnaud, und fuhr fort: "Sie haben also ein ähnliches Problem nur keine Insel, nicht wahr?" "Sie sagen es, Capitan." Es entstand eine längere Pause. Dann sagte Capitan Arnaud leise: "Es sieht zwar nicht so aus, als ob sich demnächst hier schon viel ändern würde. Obregón und Pancho Villa sind aber für jede Überraschung gut. Glauben Sie mir, es ist allenfalls noch eine Frage von Monaten, bis sich Huertas Blatt wendet. Was dann geschieht, kann keiner vorhersagen. Aber eins ist sicher, dann ist nicht nur Manzanillo, dann ist auch die Hauptstadt verloren, dann gibt es ein Desaster, und es wird nicht nur für Sie selbst, sondern auch für Ihre Freundin gefährlich. Ich halte es für unsinnig, darauf zu warten!" "Was soll ich dagegen unternehmen?" fragte Pedro. Arnaud zündete sich nachdenklich eine Zigarre an. "Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Heiraten Sie das Mädchen und kommen Sie mit!" Arnaud legte Pedro seine Hand auf die Schultern und sah ihn aufmunternd an. 152
"Wie meinen Sie?" Arnaud wiederholte, indem er sein Glas hob: "Heiraten Sie das Mädchen und kommen Sie mit, habe ich gesagt." "Das wird nicht möglich sein." "Warum nicht? Liebt sie Sie nicht?" Pedro schüttelte den Kopf. "Das ist es nicht", sagte er, "sie lebt in México und ich bin hierher abkommandiert." "Würden Sie sich denn versetzen lassen?" "Ich denke, ja, wenn das möglich wäre, warum nicht? Langweiliger als hier kann's nicht werden!" Er lächelte ein wenig hilflos. "Dann werden wir die Sache gemeinsam angehen. Ich brauche einen tüchtigen Mann wie Sie. Ich mag Sie, Teniente, Sie sind mir sympathisch. Ich hätte Ihnen sonst den Vorschlag nicht gemacht. Und wenn ich ehrlich sein soll, Sie sehen nicht aus wie ein Held." Sie drückten sich die Hand, tranken, bis Salvador sie persönlich bat, nach Hause zu gehen, weil er schließen wollte und verabschiedeten sich herzlich. "Hasta luego! Auf bald!"
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13 Es kamen nur noch wenige Schiffe vom Norden, die Passagiere mitbrachten. Die kleinen Dampfer dienten nur dazu, von Manzanillo aus die Truppenteile im Norden, besonders diejenigen, welche in Mazatlan und Guaymas lagen, zu versorgen, und kehrten immer leer zurück. Einige Wochen, nachdem Obregóns Truppen auf ihrem Vormarsch nach Süden die Geleise der Eisenbahn westlich von Durango gesprengt und die Straßen unter ihre Kontrolle gebracht hatten, lag eines morgens ein Versorgungsschiff an der Mole, das aus Guaymas einen Haufen Verwundeter mitgebracht hatte. Unter diesen armen Kerlen, die nur zum Teil Uniform trugen, fiel ein übel aussehender Haudegen auf, dessen Kopf verbunden war, und den sie Sombrero nannten, weil er seinen Hut nur zum Schlafen ablegte. Aber auch dann trennte er sich nicht von seiner Kopfbedeckung, sondern bedeckte damit die Brust, solange er schlief. Sombrero war der einzige, der sich längere Zeit in Manzanillo herumtrieb. Die anderen wurden mit der Bahn weiter nach Osten transportiert. Er trug ein unglaublich abgewetztes und verdrecktes CharroKostüm, an dem nur noch die Reste der ledernen Säume hingen. Außerdem besaß er ein verbeultes amerikanisches Signalhorn, das er immer bei sich trug. Pedro traf mit Sombrero zum erstenmal in der Pulqueria zusammen, wo dieser unrasiert, mit Eidechsenaugen und einer Vogelnase an einem der kleinen Ecktische saß und, 154
ohne ein Wort zu sagen, in immer kürzer werdenden Abständen Glas um Glas hinter einen weit über seine Lippen hängenden Schnurrbart goß. Pedro saß ihm, ebenfalls schweigend, gegenüber. Sombrero musterte Pedro lange wortlos, dann hörte man von draußen ein Hornsignal, das melancholisch in den Gassen widerhallte. Sombrero spitzte die Ohren und hob seine Schultern. Sein Gesicht verfinsterte sich. Dann hieb er mit solcher Wucht auf den Tisch, daß die Gläser sprangen und das Gemurmel im Gastraum verstummte. "Es waren Teufel, die dort oben!" schrie Sombrero mit heiserer Stimme, und er deutet mit dem Zeigefinger auf die Wand neben sich, als könne er durch sie hindurchsehen. Pedro begriff, daß mit "dort oben" nichts anderes gemeint sein konnte als der Norden, und die Teufel waren wohl Obregóns Leute, die dort wüteten. Sombrero erwartete weder eine Antwort noch Fragen von Pedro, sondern fuhr, mit der ausgestreckten Hand noch immer nach Norden weisend, fort: "Die Leitung haben sie gesprengt, die Schweine!" Er senkte den Kopf und starrte Pedro an, als wolle er auf ihn losgehen, wie der Toro in der Arena. "Weißt du, sie haben nicht einfach angegriffen und geschossen oder Häuser angezündet oder sich auf die Weiber gestürzt! Sie haben die Wasserleitung" Sombrero holte tief Luft "die Wasserleitung haben sie gesprengt!" Sombrero machte eine Pause und schloß die Augen, bis sie zusammen unter seiner Stirn nur noch einen einzigen schmalen, schwarzen Strich bildeten. Wiederum ohne eine 155
Reaktion Pedros abzuwarten, drehte sich Sombrero um und schaute in die Runde, während er seinen Hut in den Nacken schob. "Habt ihr schon mal Durst gehabt, Amigos? He? Habt ihr schon mal solchen Durst gehabt, daß ihr nicht mehr schreien konntet, weil der Hals so trocken war wie Zeitungspapier, weil die Zunge keine Spucke mehr hergab und euch, beim Versuch zu schreien, die Lippen und Mundwinkel einrissen wie dürre Blätter?" Dann wandte er sich wieder an Pedro und hieb nochmals mit großer Wucht auf den Tisch. "Kannst du dir vorstellen, auf das Feld zu schauen und das Wasser gerade vor deinen Augen faßweise aus der gesprengten Leitung sprudeln und im Boden versickern zu sehen, während im ganzen Dorf verdurstende Kinder schreien und die Sonne über stinkenden Kadavern höher und höher steigt und den Tod in dich hineinbrennt? Sie haben geschossen, sobald sich irgendwas bewegt hat. In der Nacht hat einer von uns mit dem Muli und einem Faß versucht, an das Leck heranzukommen. Aber dort saßen sie in ihren Löchern, die Yaquis, und haben wie stinkende Coyoten gewartet. Als er ganz nahe war, haben die Yaquis dem Muli eine Handgranate zwischen die Beine gerollt, daß es mitsamt seinem Führer in die Luft flog. Wir waren nur fünfzig Mann da oben, aber es waren noch etwa zweihundert Frauen und Kinder im Dorf. Die Yaquis hatten uns umzingelt. Zum Meer hin lagen die Melonenfelder, alles grün, und Melonen, so dick wie Bäuche. Die bewachten sie besonders. Dann zogen sie sich unversehens hinter die Felder zurück. Mein Gott, wie nahe die Melonen jetzt 156
waren, Amigos! Wir redeten stundenlang darüber, wieviel Wasser eine große Melone enthält. Hombres! Wir lagen hinter den Mauern und fragten uns, warum sie sich zurückgezogen haben und warum sie uns nicht gleich fertigmachten und uns stattdessen elend vertrocknen ließen. Es wäre so viel einfacher gewesen. Wahrscheinlich haben sie mehr Soldaten im Dorf vermutet. Am Morgen darauf, als alle Brunnen leer waren, fingen die Soldaten an, ihre eigene Pisse zu saufen. Das hat sie verrückt gemacht und sie krochen unter den Augen der Yaquis im ersten Sonnenschein hinaus auf die Melonenfelder. Mierda! Es hatte keinen Sinn, sie zurückzuhalten, sie hätten es nicht mehr verstanden. Ich nahm ein weißes Laken und schwenkte es und lief hinaus auf die Indios zu. Ich brüllte hinüber zu den Löchern, in denen die Yaquis hockten: Aufhören! Feiglinge! Cobardes! Ihr beschissenen Cagones! Wir geben auf! Da schossen sie auf mich. Während ich stürzte, sah ich den kleinen Paco auf die Melonen zurobben. Er hatte sein Horn dabei! Ich konnte nichts mehr für Paco tun. Die Yaquis schoben ihre Springfields aus den Löchern und richteten sie auf die Melonen, die sich bewegten. Auf die schossen sie dann. Sie zielten auf die Blätter und Stengel vor den Melonen, oder einfach auf den Boden. So legten sich die Geschosse quer und schlugen singend und kreiselnd zuerst durch die Melone und zerfetzten dann das Gesicht dahinter, daß Blut und Melonenbrei eins wurden. Sie hatten die neuen 3006Patronen, und denen hatten sie die Spitze abgesägt. Die Leute aber krochen nicht zurück, verstehst du? Sie blieben da, blieben einfach liegen, wo sie waren, und sahen mit aufgerissenen Augen zu, wie ihre 157
Kameraden, einer nach dem anderen, die Zähne im Fruchtfleisch vergraben, starben, bis sie selbst daran glauben mußten. Verstehst du das? He! Als die Sonne unterging, lagen dort mehr als dreißig im Dreck, fast alles noch Kinder! In der Nacht erst kam ein Kommando aus Guaymas und durchbrach die Linien der Yaquis im Morgengrauen." Sombrero erzählte nun seine Geschichte. Er war kein Revolutionär, er war ein kleiner Gauner, der, soweit er sich zurückerinnern konnte, von Diebereien oder, wenn es nicht zu vermeiden war, von gelegentlicher Arbeit lebte. Als einer von Obregóns Leuten mit einer Horde verwilderter Rebellen durch Parregos kam, und, ohne nach dem Warum und Woher zu fragen, die Zellen des lausigen Gefängnisses öffnete, in dem er gerade wieder einmal saß, zog er mit seinen Befreiern nach Westen, ohne in Kämpfe mit den Federales verwickelt zu werden. Sie zogen durch Dörfer, die scheinbar nie einen Soldaten gesehen hatten. Hunderte schlossen sich ihnen an, Abenteurer, Soldaderas die unerschütterlichen Soldatenweiber, Revolverhelden und Kinder marschierten mit. Sie wußten überhaupt nicht, worum es ging, aber weil sie nichts besaßen, konnten sie auch nichts verlieren. Die meisten hatten den Namen Huerta nie gehört. Die Zukunft, was immer sie taten, konnte nur Gutes bringen, und wenn es nur das Ausbrechen aus einem langweiligen und dürftigen Leben war. Als sie dann den Zug angriffen, der schon seit dem frühen Morgen aus Torreón erwartet wurde, war aus dem Nichtsnutz Sombrero plötzlich ein Revolutionär geworden. Ein Stoßtrupp hatte auf dem kleinen Bahnhof von Torquenia erst den Wärter und zwei Soldaten 158
erschossen und dann die Telegrafenlinien in beiden Richtungen totgelegt, indem sie unter großem Geschrei die Masten sprengten. Dann rissen sie das Hauptgeleis auf. Als der Zug schließlich herandampfte und unter Keuchen zögernd stehenblieb, ergaben sich die Federales, die auf der Lokomotive mitfuhren und die, die im letzten Wagen eine Art Gefechtsstand eingerichtet hatten. Sie taten das zitternd und ohne einen Schuß abzugeben. Sie taten es in der blödsinnigen Hoffnung, dadurch Gnade zu finden. Sie wurden entwaffnet und vor den Wassertank gestellt, der an das Wärterhaus angebaut war. Da standen sie in ihren grauen Uniformen und mit ihren schiefen Käppis, Repräsentanten des verhaßten Huerta, Vertreter eines Regimes, das so oder so sein Ende finden mußte. Der Anführer ließ ein Maschinengewehr aufstellen. Zwei der Soldaten weinten still und bedeckten ihr Gesicht mit den Händen. Einer bekreuzigte sich. Einer, der jüngste, er war kaum 15 schiß vor versammelter Mannschaft in die Hose, daß die Brühe unten heraus und über die Schuhe lief. Dann stürzten sie schrecklich langsam übereinander und Paco blies sein Hornsignal, das mit den ersten fünf Tönen der Cucaracha begann und dann in atemberaubendem Stakkato hinaufstieg bis zum hohen A, während das Wasser aus den Einschußlöchern im Tank über die Toten spritzte. Paco war zwölf Jahre alt und selbsternannter erster Hornist des Haufens. Er war bereits dabei, als sie Sombrero befreiten. Er blies keine bestimmten Signale, er hatte solche nie gelernt, sondern er paßte die Melodien seines Horns den jeweiligen Situationen an. Wenn sie abends die Feuer löschten, setzte 159
er an und lockte die sanftesten, weichsten, zartesten Töne einfach aus dem Nichts heraus aus seinem Horn, ließ sie langsam anschwellen und dann übergehen in jubelnde, gebundene Triolen. Das war sein täglicher Gute NachtGruß, Pacos eigener Zapfenstreich. Morgens peitschten die Töne über die Schläfer hinweg mit dem Zungenschlag einer Amsel, in einem überraschenden Oktavenwechsel, so schnell und so rein, daß kein Stabshornist der Gringos hätte schöner blasen können. Aus bis heute nicht erklärlichen Gründen, schloß sich Paco Sombrero an. Pacos Eltern waren tot, er erinnerte sich kaum an sie, aber vielleicht war da ein Rest von Erinnerung an seinen Vater. Nichts, was ihm bewußt war, was ihn aber Sombreros Nähe suchen ließ. Sie marschierten nebeneinander her, der Große neben dem Kleinen, oder sie saßen Seite an Seite auf requirierten Pferdekarren. Sombrero erhöhte die tägliche Teigmenge, knetete mehr Masa als sonst und buk auf der Ölkanne, die sie mit sich schleppten, fortan sechs statt drei Tortillas. Auch bei seinen Raubzügen dachte Sombrero nun ein wenig weiter und schleppte mehr an, als er für sich alleine verbrauchen konnte. Als Pacos Sarape von Ratten zerfressen wurde, bedeckte ihn Sombrero mit seiner Decke. Dann besorgte er ihm einen wundervollen dicken neuen Sarape aus einem Haus am Wege, den er gern selbst behalten hätte. Paco wickelte sein Horn in den Sarape und schnürte beides mit einem Lederriemen zusammen, so daß er seine Habe bequem und sicher über der Schulter tragen konnte.Nach einer Weile besaß er auch einen Sombrero. Nicht so gewaltig und ehrfurchterregend wie der seines 160
Freundes, aber fast neu und mit einem Saum aus feinstem Leder. Eines Nachts lagen sie nebeneinander. Sombrero hatte die Arme unter den Nacken verschränkt und blickte hinauf in die Sterne, Paco lag warm eingepackt neben seinem Horn. "Sombrero?" Sombrero drehte sich um. "Was ist, wenn wir tot sind?" "Was soll die Frage, Paco, dann sind wir eben tot. Keiner weiß genau, was dann ist, auch die Padres nicht." "Und das mit dem Himmel und der Hölle, das stimmt nicht?" "Aber nein", brummte Sombrero, war sich aber seiner Sache nicht ganz sicher. "Das mit dem Himmel vielleicht schon, aber eine Hölle gibt es nicht." Sombrero wußte, daß diese Behauptung reiner Selbstzweck war. "Hast du sie umfallen sehen?" fragte Paco. "Wen?" "Die Soldaten vom Zug. Hast du gesehen, wie sie umgefallen sind?" "Natürlich habe ich das gesehen."
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"Hast du auch gesehen, wie sie dalagen und das Wasser über sie gelaufen ist? Ich glaube nicht, daß dann nichts ist, das wäre furchtbar. Dann hätte ich nicht zu blasen brauchen." Sombrero dachte noch eine ganze Weile nach, was Paco damit gemeint haben könnte. Es kam ein kühler Wind auf, und die Feuer waren ausgegangen. Sombrero fror und wickelte sich fester in seine Decke. "Du brauchst dich nicht zu fürchten", sagte Sombrero dann, "es wird so sein, wie wenn du einschläfst und träumst." Paco aber hörte ihn nicht mehr. Als Paco auf dem Weg nach Guaymas krank wurde, blieben die beiden zurück. Man hatte ihnen ein Pferd und einen Maulesel gelassen und zehn Dosen Fleisch, und sie verbrachten sechs Tage und sechs Nächte in einem Stall neben einem abgebrannten Haus, dessen Brunnen noch funktionierte. Paco schrie nachts und fieberte und klammerte seine schmalen Finger um das Horn, das neben ihm lag. Sombrero häufte Stroh auf und baute ein Lager, er buk Tortillas und versuchte mit seinen ungelenken Händen, Paco zu füttern, aber der trank nur Wasser und weinte oder erzählte unverständliches Zeug. Nach sechs Tagen wurden sie von einem Trupp Federales aufgegriffen. Paco wurde in Guaymas ins Lazarett gebracht.
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Das Lazarett lag an einem blinden Flußarm, dessen Wasser grün und faulig schliefen und den Verwesungsgeruch erstickter Fische über die Stadt trieben. Man hatte das Refektorium, die Kirche, die Bibliothek, das Geviert des Kreuzgangs und alle Zellen des alten Klosters mit Matratzen, oder einfach mit Stroh und Wolldecken gepflastert, aus denen der Rostgeruch versickernden Blutes aufstieg und sich mit den Weihrauchausdünstungen des Gemäuers und dem aus den notdürftig eingerichteten Operationsräumen quellenden Lysolgestank mischte. Paco lag elend in einer Ecke des Kreuzgangs unter dem Grabmal eines Abtes, der im siebzehnten Jahrhundert nach dreißigjährigem segensreichem Wirken in einer Weihnachtsnacht verschieden war. "MISERICORDIA DEI SALUS PECCATORUM" verkündete die verwitterte Inschrift der Grabstelle: Gottes Barmherzigkeit wird allen Sündern Heil bringen. Eine Schwester mit der Haut eines Lederapfels und den Augen eines Falken, die unter wehenden weißen Flügeln von Tagesanbruch bis tief in die Nacht zwischen den Halbtoten herumgeisterte und ihre Leiden zu lindern versuchte, hatte Sombrero den Spruch übersetzt. Sombrero wich nicht von Pacos Lagerstatt. Er beobachtete mit würgendem Grausen, wie Pacos Gesicht von Stunde zu Stunde durchscheinender wurde, wie sich das feine Geäder seiner Stirn in wasserblauen Zeichnungen mehr und mehr aus der vom Schweiß glänzenden wächsernen Haut heraushob, wie sein Atem verebbte und seine Lippen die Farbe der Sepia annahmen. Er schreckte zurück vor dem schrillen Klingeln der Ministranten, die mehrmals am Tag vor dem Priester mit den Sterbesakramenten und schwingendem Weihrauchgefäß einherschritten und dort 163
haltmachten, wo Gottes Hilfe im Diesseits nicht mehr zu erwarten war. Er, Sombrero, der bigotte Gauner, ertappte sich dabei, wie er betete: "Nicht hierher, du grausamer Gott, nicht hier; laß die Todesengel weitergehen!" Doch am dritten Tag schepperten sie mit ihren silbernen Glokken geradewegs auf Paco zu, der von alledem nichts mehr merkte. Der Priester machte es kurz, leierte die Sterbegebete herunter, salbte Paco das versteinerte Kindergesicht und segnete ihn. Sombrero aber bäumte sich auf: "Nicht ihn, Herrgott, nicht ihn!" schrie er. Dann riß er die Decke von Pacos Körper und begann, den steifen Leib vor den entsetzten Augen des Priesters mit einer so wütenden Kraft und Beharrlichkeit zu traktieren, daß ihm der Schweiß aus den Haaren tropfte. Er trieb Paco das stockende Blut aus den Beinen, dem Herzen zu. Er walkte Pacos Arme wie Tortillateig und pumpte die Lungen des Kindes voll mit der Glut seines Atems. Er flößte ihm heiße Kamille ein und schlug ihm mit der flachen Hand auf die eingefallene Brust, daß Paco aufstöhnte und die Haut rosa anlief. Er flüsterte vor sich hin: "Leben sollst du, leben sollst du, atmen sollst du, habe ich gesagt, atme! Verdammt nochmal, atmen sollst du!" Als Sombrero nach einer ganzen Nacht unaufhörlichen, selbstvergessenen Bemühens völlig entkräftet in sich zusammensank, breitete sich auf Pacos Gesicht Morgenröte aus und er lächelte zum erstenmal seit vier Tagen. Jetzt faßten auch die Ärzte Mut und bezogen Paco in den Kreis derjenigen ein, die es wert waren, mit den wenigen Medikamenten, die sie hatten, behandelt zu werden. Sie gaben ihm stärkende Injektionen und einen 164
süßen, braunen Saft, der nach Aloe und Honig duftete. Die Aggressionen der Nachtgebete Sombreros wandelten sich in freundliche aber noch vorsichtige Danksagungen, in die er zur Sicherheit aufmunternde Herausforderungen mischte: "Herrgott, danke!", murmelte er vor sich hin, "Ich danke dir, aber noch hast du`s nicht geschafft! Wenn du so allmächtig bist, wie man sagt, ist doch der Rest `ne Kleinigkeit. Nicht wahr? Du schaffst es doch? Oder hast du nicht die Macht dazu?" Als Paco schlief und sein auflebender Atem Sombreros Angst gedämpft hatte, verließ er ihn nach fünf Tagen und fünf durchwachten Nächten das erste Mal für längere Zeit. Er wusch sich, ordnete seine Kleider, bürstete seinen verstaubten Hut ab und machte sich auf in die Stadt. Er ließ sich auf dem Weg nur von seiner Nase leiten. Er war so ausgehöhlt, so zerschunden und müde, daß er den Geruch frisch gebratener Hühner schon fast vergessen hatte. Sein Magen war tot wie ein Stein. Trotzdem traf ihn der Duft, der aus einem Haus wehte, wie der Hieb einer Peitsche. Er blieb stehen und sog den Atem des Heils in sich hinein. Die Gasse war menschenleer und dunkel, und die Haustüre stand offen. Er schlich hinein in das finstere Haus, auf Zehenspitzen, und horchte. Da war nichts zu hören als ein leises Schmurgeln, das aus der Küche drang. Er drückte sich an die Wand und wartete. Als für ihn feststand, daß da niemand war, setzte er zum Sprung an, sprang mit fünf Riesenschritten an den Herd, riß die beiden feisten Hühner an den Schenkeln aus der Pfanne und wickelte sie in das Küchentuch, das auf dem Tisch lag.
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"Bist du zurück, Andrés?" tönte eine Frauenstimme die Treppe herunter. Da war aber Sombrero schon wieder auf der Straße und rannte wie ein ertappter Schwerverbrecher davon. Es dauerte genau eine Minute und zwanzig Sekunden, bis Sombrero im Schatten einer Mauer das erste Hühnchen verschlungen hatte. Dann lief er, gestärkt, dankbar und fröhlich, zurück zu Paco. Der brauchte dann eine Stunde und zwanzig Minuten, bis er die Hälfte seines Huhns gegessen hatte. Er klagte und jammerte, aber er aß. Paco aß wieder! "Du hast es geschafft, lieber Gott, du hast es geschafft!" betete Sombrero. Zwei Wochen nach der Schlacht von Santa Rosa hatte man Sombrero in die Uniform der Federales gesteckt. Vorausgegangen war ein heftiger Streit mit dem Cabo der Kleiderkammer, der Sombrero erst mit guten Worten, dann aber in schneidendem Kommandoton klarmachen wollte, daß er seinen Hut abzugeben habe. "Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder aufsetzen wollte, was ihm gerade in den Sinn kommt?" brüllte der Cabo und drückte Sombrero das schmucklose Ding in die Hand, das er künftig auf seinem Haupt zu tragen habe. "Nicht mit mir!" brüllte Sombrero zurück und warf das Käppi an die Wand. "Dieses Scheißding werde ich nicht aufsetzen, und wenn du der General wärst, das setze ich nicht auf!" Es wurde ein Leutnant hinzugerufen, der mehrfach, völlig nutzlos, das Wort "Befehl" gebrauchte, und Sombrero aus 166
stahlgrauen Augen anfunkelte. Sombrero saß drei Tage in einem finsteren Loch. Seine persönliche Kopfbedeckung hatte er aber nicht abgelegt. Schließlich sah auch der Coronel ein, daß da nichts zu machen war, daß auch härteste Strafen Sombreros ungeheuerliche Insubordination nicht beugen würden. So kam es, daß der störrische Spitzbub schließlich mit seinem gigantischen Hut die optische Gleichförmigkeit der ganzen Kompanie aus dem Lot brachte. Um dies nicht allzu augenfällig zu machen, erhielt er den strikten Befehl, sich beim Appell in der dritten Reihe aufzustellen, was er mit Vergnügen tat. Die zweite Schwierigkeit bestand darin, daß er sich standhaft weigerte, sich von Paco zu trennen. Er benötigte nur wenige Worte, um ein für allemal klarzumachen, daß er ohne Paco keinen Schritt seines Lebens mehr machen würde. "Er ist mein Sohn", log er unverfroren, "und er bleibt bei mir, bis ich verrecke!" Und fast so geschah es dann auch. Zu diesem Zeitpunkt, nach der furchtbaren Niederlage der Federales bei Santa Maria, begann sich die Ordnung der Truppe aufzulösen. Es gab eine ganze Anzahl von Zwangsrekrutierten, die ihre Weiber oder Konkubinen bei sich hatten und damit der Moral der Truppe eine furchtbare Schlappe zufügten. Es wurde in den Massenquartieren gesoffen und herumgevögelt wie in einem drittklassigen Bordell. Die Männer gewöhnten sich widerwillig an das Lustgeschrei, mit dem die Weiber die Unbeweibten in brünstigen Nächten zur Raserei brachten. Sie zogen sich nicht mehr zurück, wie anfangs, als diese schlimmste aller militärischen Disziplinlosigkeiten sich 167
breitzumachen begann. Sie liebten sich vor aller Augen, sogar am hellichten Tag, auf zerwühlten Betten oder unter den Büschen vor den Fenstern, gerade so, als wüßten sie, daß sie nur noch kurze Zeit zu leben hatten. Wenige Tage, bevor Guaymas von den Rebellen eingeschlossen wurde, zog Sombrero neben Paco mit seinem Haufen in das kleine Dorf im Süden, zwei Marschstunden entfernt, das mitten in einem Meer grüner Melonenfelder lag. Dort trennte ihn das Schicksal von Paco und Sombrero haderte, bis in den Grund seines Herzens verbittert, mit Gott. Sein Zorn über Gottes Ratschluß blieb bestehen bis zu seiner letzten Stunde, obwohl er wußte, daß Paco an nichts anderem als an seinem, Sombreros, Eigensinn gestorben war. 14 Als Pedro und Sombrero ihren ermüdenden Streit, wer das Ganze nun bezahle, beendet hatten, sammelte Salvador die Münzen ein, die sie wechselweise zu einem Haufen aufgetürmt hatten bis die Summe stimmte und brachte die Männer zur Tür. Sie zogen dann noch eine Weile durch die Stadt, so eng umschlungen, daß es den Anschein hatte, ein vierbeiniger Sombrero schwanke da daher. Sie hockten sich nieder auf die Stufen vor der Kirche und zählten laut mit, als die Uhr drei schlug. Schließlich begann Sombrero, die Sterne zu zählen. Es hatte ihn eine finstere Zählwut gepackt, die nicht enden wollte. ".... siebenundvierzig, achtundvierzig, alles herrliche Sterne, Pedro, neunundvierzig, es sind die Augen des Himmels, fünfzig, lauter kleine Augen, sie sehen uns an, einundfünfzig, es 168
sind vielleicht die Augen der Toten? Sie lächeln uns zu, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, oder es sind nur Löcher im Himmel, vierundfünfzig, und es ist der Glanz der Ewigkeit, der da durchschimmert, fünfundfünfzig, oder es sind die Tränen der Nachtengel.. wer weiß was die Sterne sind...." Erst bei vierhundertzweiundzwanzig hörte er auf und seufzte: "Man kann sie nicht alle zählen! Es sind die Tränen der Nachtengel." Er griff nach dem Horn, das er in einer Begonienschale abgelegt hatte, und setzte es an die Lippen, brachte aber keinen Ton heraus."Es ist Pacos Stern!", flüsterte er und zeigte mit dem Horn nach oben in den Nachthimmel. "Siehst du ihn?" "Ja", sagte Pedro, "ich sehe ihn." "Wir brauchen noch was zu trinken, man darf den Fluß nicht aufhalten, sonst tritt er über die Ufer!" sagte Sombrero. Pedro gab ihm recht: "Wir werden ihn nicht aufhalten, wir lassen uns von ihm überschwemmen, wir schwimmen auf ihm gemeinsam hinunter zum Meer." "Wunderbar!", sagte Sombrero, "Komm, wir gehen zu Mama Hernandez und lassen ihn fließen!" Sombrero stand auf und urinierte plätschernd auf die Stufen vor dem Kirchenportal. "Ich muß erst Platz machen", sagte er. Dann zogen sie weiter. Schließlich weckten sie mit ihrem Gepolter Mama Hernandez, die, eingehüllt in einen malvenfarbenen Morgenmantel und 169
umflort von den rosa Wolken ihrer Schlafhaube, in der Tür stand: "Por dios!" hauchte sie, "Sie sind betrunken!" Sombrero rülpste erschrocken und Pedro stand schwankend da und wand sich vor Verlegenheit. "Es ist nichts!",sagte er, "es ist nichts!" Mama Hernandez öffnete den Mund und bewegte ihn auch, aber sie sagte nichts weiter. Sie verschwand in der Küche. Der Kaffee, den sie zehn Minuten später brachte, war dick wie Honig und reinigte den Atem der Männer wie Seifenlauge. So hatten sie sich ihren Fluß nicht vorgestellt. Trotz des Kaffees bedurfte es aller Überredungskünste von Mama Hernandez, Sombrero zum Gehen zu überreden. "Sie sind eine schöne Frau, und ich bleibe bei Ihnen. Es muß jemand dasein, der Sie beschützt!" sagte Sombrero. "Ich brauche keinen Schutz, Señor. Bitte gehen sie jetzt!" Der letzte Rest seines Verstandes flüsterte ihm zu, daß das wohl das beste sei. So nahm er sein Horn, lallte: "Adios!!" und rumpelte die Treppe hinunter. Dann übermannte ihn wohl wieder das Hochgefühl jener Nacht, und in den engen Gassen brach sich hundertfach der splitternde Klang seines Horns, das er mittlerweile fast ebenso gut beherrschte, wie Paco es beherrscht hatte. Pedro setzte sich aufs Bett und dachte nach über seinen neuen Freund, der so verrückt war wie keiner, den er 170
kannte. Trotz der eruptiven Launenhaftigkeit haftete ihm etwas an, was Vertrauen und Achtung weckte, was Pedro gefangen nahm. Gleichwohl sah er die Wehrlosigkeit dieser barocken Seele. Er kannte keinen, bei dem Kraft und Schwäche so miteinander verschmolzen waren und gleichzeitig Respekt und Mitleid erheischten. Er war ein Kind mit der Ausstrahlung eines Generals. Pedro stand auf und ging zum Schreibtisch. Da lag ein Umschlag, den Mama Hernandez dort abgelegt hatte. Als er ihn in die Hand nahm, sah er, daß sich noch ein zweiter Brief unter dem ersten versteckt hatte. Der größere war von seiner Mutter, der kleinere von Tirza. Er öffnete den Brief seiner Mutter: Veracruz, den 9. Juli 1913 Mein lieber Pedro, Deinen langen Brief haben wir erhalten. Stell Dir vor, er war drei Wochen unterwegs. Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, und Vater war fast ein bißchen böse. Aber jetzt wissen wir, daß es Dir gut geht und daß Du dort, wo Du bist, vorerst wohl nichts zu befürchten hast. Capitan Moreno war am Sonntag mit seiner Frau bei uns zum Abendessen. Er hat uns erzählt, daß Obregón und Villa große Erfolge haben und so rasch nach Süden vorstoßen, daß sie wohl die Küste aussparen werden. Er meint, es lohne sich nicht für sie, sich damit aufzuhalten. Wenn Du in Manzanillo bleibst, bist Du in Sicherheit.
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Trotzdem haben wir alle Angst um Dich. Ich bete jeden Tag zur Heiligen Jungfrau, daß sie Dich beschützen möge. Aber es sind so viele unserer Kinder da draußen auf beiden Seiten. Ich weiß nicht, wie sie es anstellen soll, alle Gebete zu erhören. Vater meint, es sei nicht unsere Sache, Gottes Willen zu erkunden. So bleiben uns eben nur die Hoffnung und Gottvertrauen, und die sind so stark, mein Junge, daß ich keine Zweifel habe, daß alles gut ausgehen wird und Du bald wieder bei uns sein kannst. Wir freuen uns alle so sehr auf Deinen Urlaub. Schreib' uns rechtzeitig, damit wir alles gut vorbereiten können! Man bekommt nicht mehr alles, vor allem das Fleisch ist knapp geworden, und Du möchtest doch Dein geliebtes Beefsteak, wenn Du wieder zu Hause bist. Vater geht es nicht besonders gut. Er hat immer wieder Schmerzen an der Galle, vor allem nachts. Er darf überhaupt kein Fett mehr essen. Zuerst hat er über Doktor Gazzaros Vorschriften gelacht und sich die Butter besonders dick auf den Toast geschmiert, aber vor einer Woche ist ihm sehr schlecht geworden und er lief im Haus herum wie ein gefangener Tiger. Seither trinkt er Unmengen Melissentee und ernährt sich fast nur noch von Salat, den ich mit nichts anderem als mit ein paar Tropfen Zitronensaft würzen darf. Doktor Gazzaro glaubt, daß Vater Steine hat, aber er ist zuversichtlich, vorausgesetzt, daß Vater vernünftig ist. Evita spricht viel von Dir. Ich glaube, Du fehlst ihr sehr. Sie spart heimlich Geld, um Dir was Schönes zu kaufen, wenn Du wieder heimkommst. Ich habe ihr Erspartes
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neulich im Schmuckkästchen gefunden und ihr noch einen Peso dazugelegt. Tante Balbina hat mich gestern besucht. Sie grämt sich sehr, weil José bei Torreón in Stellung liegt und Pancho Villa geradewegs auf die Stadt zumarschiert. Sie hat schon seit Wochen nichts mehr von ihm gehört. Du kennst ja José. Wenn der schreiben kann, schreibt er. Aber vielleicht sind seine Briefe verlorengegangen. Ich habe ihr stundenlang gut zugeredet, aber sie war kaum zu trösten. Sie hat ja nur noch José, nach Onkel Luis' Tod im November. Beinahe hätte ich es vergessen: Evita ist zum ersten Mal verliebt! Sie hat uns nichts gesagt, aber sie ißt wie ein Vögelchen und steht jeden Morgen verträumt am Fenster, um zu sehen, ob er vorbeikommt. Du würdest sie nicht wiedererkennen. Sie schwebt durchs Haus wie ein kleiner Engel und reibt sich ihre Pickelchen auf der Stirn mit Kampferöl ein. Sie putzt seit letztem Montag ihre Schuhe selbst und schrubbt sich die Zähne mit Salz! Aber bitte, nichts verraten! Sie würde es mir kreuzübel nehmen, wenn sie wüßte, was ich über sie schreibe! Der Hund ist jetzt plötzlich sehr alt geworden. Er schafft es kaum mehr die Treppen hinauf. Wir haben sein Körbchen gestern nach unten gebracht und neben die Haustür gestellt, daß er es nicht mehr so schwer hat. Er hört auch fast nichts mehr. 173
Wenn Diablo im Garten ist, muß Vater pfeifen, daß man es bis zum Hafen hört, bevor er reagiert. Vielleicht sollten wir gnädig mit ihm sein und ihn erlösen. Vater sagt, das sei unsere verdammte Pflicht, aber Evita hat so geweint, daß wir noch warten wollen, bis es gar nicht mehr geht. Was meinst Du dazu? Ich habe Dir gestern ein Paket geschickt. Es ist nicht viel, nur ein Pfund Deiner Eisbonbons, ein bißchen Gebäck und frische Wäsche. Das, was man Euch da draußen zum Anziehen gibt, kann doch keiner tragen! Ich habe Dir auch eine Fotografie von uns allen beigelegt. Vielleicht ist es die letzte Aufnahme, die wir von Diablo machen konnten. Wir haben ihm für den Fotografen extra einen riesigen Kalbsknochen gekauft. Aber es war nur Staffage, er hat ihn überhaupt nicht angerührt. Jetzt können wir nur hoffen, daß das Paket ankommt! Morgen abend gehe ich mit Vater ins Theater. Sie geben Calderons "Dame Kobold". Es soll sehr lustig sein. Das Ensemble aus Monterrey spielt das Stück schon seit drei Wochen mit großem Erfolg. Hoffentlich steht Vater die zwei Stunden ohne Schmerzen durch. Aber wahrscheinlich tut ihm die Ablenkung gut, so daß er seine Galle vergißt. Vater meint übrigens, daß es in Europa Krieg geben könnte. Er traut der politischen Lage im Balkan nicht. Aber wichtiger für uns ist, daß wir wieder Frieden in unserem Land bekommen.
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So, lieber Junge, ich muß wieder an die Arbeit. Die Schlafzimmer sind noch nicht gemacht, und mein Theaterkleid hängt ungebügelt im Schrank. Wir denken jeden Tag an Dich und schließen Dich alle in unsere Gebete ein! Schreib' bald, wir warten sehnsüchtig auf jedes Lebenszeichen. Ich schließe Dich in meine Arme. Deine Mamita. Pedro hätte gern auch Tirzas Brief geöffnet, aber er tat es nicht. Er wollte warten, bis sein Kopf wieder frei war, frei vom Dunst des Aquardiente und freier von den vielen Gedanken an sein Zuhause, die ihn bewegten. Am nächsten Morgen brachte Mama Hernandez mit vorwurfsvollem Blick das Frühstück. Pedro stammelte eine unbeholfene Entschuldigung und versprach, daß er sich bessern werde. Er legte Tirzas Brief, noch immer ungeöffnet, neben die Kaffeekanne und frühstückte in aller Ruhe. Erst als Mama Hernandez abgeräumt hatte, zündete er sich eine Zigarre an und holte den Brieföffner vom Schreibtisch. México, den 12. Juli 1913 Mein geliebter Soldat,
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heute morgen stand ich schon um acht auf der Straße und wartete auf den Briefträger. Ich sah ihn vom Brunnen her die Straße heraufkommen und wußte, daß er einen Brief von Dir bringt. Lach' nicht, Pedro ich wußte es so sicher, als ob er ihn mir schon gegeben hätte. Ich sah ihm zu, wie er die Post in die Kästen warf, erst auf der rechten Straßenseite, dann links. Er ließ sich Päckchen quittieren, lieferte Recomendadas aus, kramte in seiner dicken Tasche es dauerte eine süße Ewigkeit, und ich wartete voller Zuversicht und Geduld. Als er bei der Nummer 27 ankam, winkte er mir zu aber er ließ sich nicht stören in seinem Programm. Im Blumenladen stand er fünf Minuten herum und plauderte mit Gregoria dann kam er endlich zu mir herüber und drückte ihn mir in die Hand. Ich habe ihn bestimmt hundertmal gelesen. Ich fand immer wieder etwas Neues geschriebene Worte können soviel sagen, wenn man sie nur richtig zu lesen versteht. Es ist schade, daß ich kein Bild von Dir habe. Wir hätten eins machen lassen sollen vor Deiner Abreise. Aber vielleicht ist es besser so. Es ist eigentlich viel schöner, wenn ich mir Dich vorstelle. Durch ein Bild würde Dein Gesicht vielleicht weniger wandelbar es würde mich vielleicht ablenken. So denke ich an Dich und sehe Dich lachen, wie damals, als Du im Bett lagst, dann wieder bist Du ernst oder nachdenklich, so wie auf dem Bahnsteig oder erschrocken, wie in Xochimilco. Oh ja, ich sehe Dich ganz genau vor mir, viel lebendiger als auf einem Bild. Verstehst Du das? Ich wußte schon damals, als Du mit mir durch die Straßen gehumpelt bist, daß das der Anfang eines langen Lebens für uns beide war. Ich war und bin meiner so sicher, daß 176
mich Deine Pläne und Fragen verzeih' mir nicht im mindestens überrascht haben. Ich brauche Dir darauf auch nicht zu antworten, weil Du die Antwort seit langem kennst. Ich gehe mit Dir, wohin Du gehen willst. Eine Insel muß für uns keine Insel sein. Ich habe Ernesto noch nichts davon gesagt, aber ich glaube, er ahnt schon, daß etwas auf ihn zukommt. Es wird eine lange und heftige Auseinandersetzung geben. Seit meinem zwölften Lebensjahr habe ich mir vorgestellt, wie es sein wird, wenn mein künftiger Mann, in Formalitäten erstickend, Vater um meine Hand bittet. Wenn er mit spitzem Bleistift die Zinserträge der Mitgift addiert. Wenn er mit fünfzig dunkelroten Rosen und ebenso rotem Kopf vor mir kniet und mich bittet, seine Frau zu werden. Wenn ich ihm vor den gnädigen Blicken der Eltern und unter dem Beifall aller wichtigen Persönlichkeiten des Staates Morelos den Verlobungskuß geben darf. Ich konnte mir nicht denken, daß es anders sein könnte. Und nun kommt ein Brief von Dir, der diesen wichtigen, großartigen, ersehnten, kleinen, alles bestimmenden Satz enthält, ohne jedes Beiwerk, ohne Blumen, ganz auf seine eigentliche Bedeutung zurückgedrängt, so daß er einem zutiefst bewußt wird: "Ich möchte, daß Du meine Frau wirst." Ja, geliebter Pedro, ich werde Deine Frau und ich gehe mit Dir auf diese Insel am Ende der Welt. Wir werden Kinder haben und ihnen zeigen, wie schön diese Welt ist. Ich 177
möchte, daß sie alle werden wie Du. Wir werden uns in der Kirche von San Francisco trauen lassen, und die Orgel wird spielen nur für uns beide. Und dann leben wir auf Deiner verrückten Insel und bauen uns ein Haus. Es wird der Palast unserer Liebe werden. Ich werde Dir Deine Beefsteaks braten (glaubst Du, wir bekommen dort welche?), Deine Hosen flicken und Dir den Rücken waschen. Ich werde Dir die Sorgen vertreiben und Dich pflegen, wenn Du krank bist. Meine Hände werden Deine sein, meine Gedanken sollen Deine Gedanken werden, Dein Schmerz soll auf mich übergehen, bis wir so alt sind, daß wir keinen Schmerz mehr fühlen. Ich werde mir die Zunge abbeißen, bevor ich ein böses Wort zu Dir sage, und ich werde nichts hören, wenn Dir ein böses Wort entschlüpft. Du wirst jetzt denken, daß gute Vorsätze noch keine Ehe ausmachen, aber das sind keine guten Vorsätze. Es ist die Wirklichkeit und die Wahrheit, und keine Macht der Welt wird sie ändern. Ich warte so sehr auf Dich! Wenn nur die Zeit bis Weihnachten nicht so schrecklich lang wäre! Ich zähle die Tage und die Stunden! Ich küsse und umarme Dich! Deine Tirza. Pedro saß lange erstarrt am Tisch. Mama Hernandez kam herein und fragte, ob er noch etwas wünsche. Da sprang Pedro auf und umarmte die erschrockene alte Frau und tanzte mit ihr durchs Zimmer, daß die Möbel ächzten. "Ich 178
werde heiraten, Mama Hernandez!" dröhnte es ihr ins Ohr, "ich werde heiraten!" Es war alles viel einfacher, als Pedro es sich gedacht hatte. Am 3. September wurde ihm seine Versetzung nach Clipperton zum 15. Januar 1914 mitgeteilt. Das Schiff sollte am 6. Januar auslaufen. Arnaud hatte Manzanillo schon am 15. August mit dem planmäßigen Versorgungsschiff und ein paar neurekrutierten Soldaten verlassen und seine Frau und die Kinder mitgenommen. Er hatte Pedro noch viel über die Insel erzählt und ihm eine umfangreiche Liste der Dinge, die er für sich und seine künftige Frau mitnehmen sollte, gemacht. "Sie müssen ein halbes Jahr vorausdenken!" hatte er ihm gesagt. "Wir haben dort keinen Laden, wo sie etwas kaufen könnten." Sombrero war seit einer Weile verschwunden. Pedro traf ihn am 7. August das letzte Mal bei Salvador. Pedro hatte ihm von seiner bevorstehenden Versetzung berichtet und Sombrero erschien ihm verwirrt und traurig. "Man hat nicht viele Freunde auf dieser Welt!" Das war alles, was er zu bemerken hatte. Dann hatte ihn wohl seine Unrast weitergetrieben. Vielleicht war er jetzt wieder auf der anderen Seite, bei Obregóns Konstitutionalisten. Die kleine Garnison von Manzanillo war in den letzten Monaten sehr geschrumpft, weil jeder Mann an der Front gebraucht wurde und Huerta wohl einsah, daß die Rebellen die Hafenstädte gar nicht einnehmen wollten. 179
Die Rebellen bewegten sich in einem wütenden Keil geradewegs auf die Hauptstadt zu und eroberten in unerbittlichem, zähem Kampf Stadt um Stadt, Dorf um Dorf. Pedro konnte sich aber ausrechnen, daß der Bürgerkrieg noch einige Monate dauerte, und daß ihm noch ausreichend Zeit bliebe, Tirza vor dem erwarteten Einmarsch der Rebellen aus der Hauptstadt zu holen. Ernesto Ruiz Pappas habe überrascht aber ruhig reagiert, schrieb ihm Tirza. "Wenn du mit ihm glücklich bist, kann es mir nur recht sein, daß er dich hier herausholt", habe er gesagt und eine Flasche Champagner geöffnet. Tirza meinte, er habe sich wie ein Vater benommen und sie habe so etwas wie resignierende, von Freundlichkeit überdeckte Eifersucht bei ihm festgestellt, wie man sie nur von Vätern kenne, die ihre Tochter an den Schwiegersohn verlieren. Dies habe sich so geäußert, daß er, wenn der Name Pedro fiel, in unübersehbare Schwermut versank, die er mit übertriebener Lustigkeit und Schäkerei überspielte. Man höre von ihm jetzt fast nur noch Klavierstücke in gedämpften Molltonarten. Er sei auch, seit sie ihm ihre Pläne offenbart habe, nicht mehr ins Konzert gegangen, obwohl man ihm Karten für ein Gastspiel des London Symphony Orchestra geschenkt habe. Paderewski habe Beethoven gespielt, und er sei nicht hingegangen. Er fühle sich nicht wohl, sagte er. Die Hochzeit solle am 6. Dezember gefeiert werden. Rosalía sei jetzt schon ein Nervenbündel. Ernesto habe vorgeschlagen, Rosalía zu entlasten und bei Gambrinus zu 180
feiern. Dies habe sie aber entrüstet abgelehnt."Wenn es sein muß, bewirte ich hundert Leute!" habe sie gemeint. Seit dieser Zeit studiere sie nichts anderes als Kochbücher und die Listen aller Weinhändler der Stadt. Ernesto habe sie beruhigt und ihr versichert, daß es bei höchstens fünfundzwanzig Gästen bleibe, Pedros Familie eingerechnet. Ernesto habe vor vier Wochen ein Telefon in die Wohnung legen lassen, und man habe alles abgesprochen mit Veracruz. Pedros Vater sei bestürzt gewesen, als er erfuhr, daß sein Sohn in der Hauptstadt heirate und im Urlaub nicht nach Hause komme. "Wenigstens sehen wir ihn dort, bevor er in See sticht!" habe er gebrummt. "Hoffentlich taugt meine Schwiegertochter was, damit er es gut hat, der Halunke!" Am Morgen des 4. Dezember traf Pedro in México ein. Es war einer jener durchsichtigen Tage, deren Licht die Farben miteinander multipliziert. Es war ein Tag, an dem die Stadt in einen Saphir eingebettet schien. Die Schatten wirkten wie Scherenschnitte. Tirza stand mit Ernesto auf dem Bahnsteig und stürzte, als die Türen des noch rollenden Zuges geöffnet wurden, die Stufen des Waggons hinauf, und schon schwebte hoch über dem hektischen Gewimmel und Geschrei auf dem Bahnhof von San Lazaro ein blaues Organdybündel in den Armen eines von der Reise erschöpften Offiziers der Republik. Sie gaben Pedros Gepäck einem Träger und gingen zu Fuß zur Calle de Palma. Tirza hatte sich tagelang zurechtgelegt, was sie Pedro sagen wollte, wenn 181
er vor ihr stünde. Sie formulierte die Sätze, lernte sie auswendig. Um auch jeden versteckten Sinn zu erkennen, schrieb sie sie nieder und korrigierte sie, nachdem sie sie eine Nacht unter dem Kopfkissen hatte garen lassen, schrieb sie wieder um und lernte sie aufs Neue auswendig. Es sollte eine perfekte Begrüßung werden, in dramatischen, wohlgesetzten Worten lauterster Liebe. Aber was am Ende dabei herauskam, war mehr als erbärmlich. "Du bist wieder da!" sagte sie leise und vergaß den Rest, vergaß alles Weitere, was sie so mühevoll vorbereitet hatte. Auch bei ihrem Gang durch die Stadt war nichts von alledem wiederzuerwecken. Pedro fiel ebenfalls nichts Gescheites ein. So schwiegen sie und hielten sich an der Hand. Im AlamedaPark blühten die Dahlien, wie an jenem Abend vor Pedros Abreise. Der süße Geruch gebrannter Erdnüsse lag in der Luft und die Brunnen plätscherten wie im tiefsten Frieden. Die Calle de San Francisco und die Calle de Plateros brausten in emsiger Geschäftigkeit. Das Geschäftsviertel war ein fröhlicher Garten bunter Kleider. Einige Schäden der schaurigen Ereignisse des Februar waren bereits behoben. Die Revolution hatte sich vorerst in die Weite des Landes zurückgezogen. Es lehnten aber überall Baugerüste an schwarzen Fassaden mit traurig blickenden Fensterhöhlen; Backsteinhaufen und Maurergerät blockierten die Gehsteige, schwere Lastwagen mit Kies und Sand drängten sich mit infernalischem Gehupe durch die Menge. Nahe dem Zócalo herrschte das Militär vor. Kavallerie patroullierte durch die Straßen und stampfende Marschkolonnen krochen wie graue Raupen über die weiten Avenidas. 182
Trotz alledem bot die Stadt ein Bild freundlicher Gelassenheit. Tonio und Rosalía standen aufgeregt im Treppenhaus und Tirza hatte ein rosenumkränztes, riesiges rotes Herz mit einer goldenen Inschrift über die Tür gehängt: "Bienvenido en casa!" Willkommen zu Hause! Pedro war so abgeschlagen und fühlte sich so schmutzig von der langen Nachtfahrt, daß er, noch vor einem Willkommenstrunk, baden wollte. Er wollte frisch sein und hatte sich auf ein warmes Bad gefreut. Rosalía holte Holz aus dem Keller und schürte den Badeofen. "Es dauert nur eine Viertelstunde", sagte sie. Rosalía füllte die Wanne fast bis zum Rand und bereitete das dampfende Wasser mit Duftsalzen auf. Pedro glitt hinein in eine Wolke von Zibet und Moschus und streckte sich aus in wohliger Wärme. Er fühlte sich befreit vom Joch einer zehnmonatigen Fron und schwelgte in dem Gefühl, zuhause zu sein. Er summte laut die Valentina vor sich hin und dachte an Sombrero, der ihm diesen Revolutionsschlager beigebracht hatte. "Wenn Huerta das hört, stellt er dich an die Wand!" Pedro erschrak, wie wenn man auf ihn geschossen hätte. Tirza stand hinter ihm, und es war zu spät, irgendetwas zu verdecken. Er hatte auch nichts, womit er das hätte tun können, außer einem Stück Seife, das ihm Tirza ganz selbstverständlich aus der Hand nahm, um mit langsamen und gründlichen Bewegungen seinen Rücken zu waschen. "Wenn jemand kommt!" sagte Pedro vorwurfsvoll.
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"Niemand wagt es, hier hereinzukommen!" erwiderte sie in stoischer Gelassenheit und umschlang zärtlich seinen Hals. Sie küßte seine Stirn und ließ die Seife ins Wasser gleiten. Sie umschäumte ihn mit sahnigen Wolken und überflutete ihn mit der schmeichelnden Glätte des Badeöls. Ihre sanften Hände sparten keinen Quadratzoll seiner verschwitzten Haut aus, reinigten sie unter Bergen quellenden Shampoos mit so erschöpfendem Bedacht, daß ihm Hören und Sehen verging. Sie spielte mit seinen Zehen, hob seine Beine aus dem Wasser und malte Herzen in den Schaum auf seinen Schenkeln. Sie krempelte die Ärmel ihres Kleides hoch und versenkte die Hände in den Tiefen der Wanne. "Die Wunde ist gut verheilt!", sagte Tirza, "Sie fühlt sich an wie dein Bauchnabel." Sie legte zärtlich ihre Lippen auf seinen Mund. "Ich habe es dir versprochen, ich wasche dir den Rücken", sagte sie, "und ich habe mir geschworen, keine Stunde damit zu warten!" Eine halbe Stunde später stieg Pedro mit klopfendem Herzen und erschöpft von dem überwältigenden Wohlgefühl praktizierter Liebe aus dem Wasser, während ihn Tirza abtrocknete, als sei sie schon zwanzig Jahre seine Frau. Dann brachte sie ihm frische Wäsche und sah ihm beim Anziehen zu. "Du mußt Hunger haben, beeil' dich! Wir essen gleich!" sagte sie. "Ich habe Hunger nach dir, nach sonst nichts", sagte Pedro mit der Stimme eines Bettlers. 184
"Ab heute wird weder dein Bauch noch dein Herz hungern!" antwortete Tirza. Sie lächelte ein wenig verschämt, weil sie wußte, was sie damit gesagt hatte und schlich aus dem Badezimmer, nachdem sie sich mit dem Ohr an der Tür vergewissert hatte, daß draußen niemand war, der sie entdecken konnte. Sie aßen drei Stunden lang. Pedro erzählte von Ramón Arnaud, Sombrero und Paco. Sie plauderten über Clipperton und beratschlagten, was man dort brauche, daß Tirza, fern jeder Zivilisation, auch alles habe, was ihr das Leben da draußen angenehm machen könnte. Rosalía saß auf einem Schemel im Hintergrund und stellte tausend Fragen, die Pedro geduldig beantwortete. Man besprach das Hochzeitsmenü und beschloß, daß Pedro in Uniform heiraten solle. Man diskutierte über die Tischordnung und wählte die Blumenarrangements aus, für die Ernesto Angebote aus Gregorias Blumengeschäft erhalten hatte. Tirzas Brautkleid blieb ihr Geheimnis. Außer Rosalía wußte niemand, was sie sich hatte einfallen lassen. Ernesto hatte ihr eine Schneiderin in der Calle de San Francisco genannt, die von ihm den Auftrag erhielt, für alles zu sorgen. Seitdem erschien Tirza dort zweimal in der Woche zur Anprobe und kam jedesmal mit verklärtem Blick zurück. Sie geriet in Verzückung, als die Fertigstellung in Sicht kam, und sie die wachsende Realität ihres Traumes an sich selbst im Spiegel begutachten konnte. Ernesto war jetzt sehr gefaßt und plante die Hochzeit wie eine Gerichtsverhandlung. "Es muß alles stimmen!" sagte 185
er. Er hatte die Chorknaben von San Francisco verpflichtet und eine beachtliche Spende für die Armen des Viertels hinterlegt. Er hatte für den Blumenschmuck fast soviel ausgegeben, wie er Rosalía fürs Festmenü zugestand. Er hatte, wie es sich gehört, eine weiße Kutsche bestellt, die um Punkt neun vor der Türe erwartet wurde. Er hatte fünfzig Einladungskarten für den Empfang verschickt und sein Konto um zweihundert Pesos erleichtert, die er in einer kleinen Kassette Tirza mitgeben wollte auf ihren weiten Weg. Er drang darauf, daß sie auch als verheiratete Frau ihre Unabhängigkeit in finanziellen Dingen nicht aufgeben dürfe. Was sie mit dem Geld auf Clipperton anfangen konnte, schien ihm zweitrangig zu sein. Ernesto hatte auch von Doktor Pelón eine Apotheke zusammenstellen lassen, die alles Wichtige für die in der Einsamkeit der Insel denkbaren Notfälle enthielt. Er hatte dafür gesorgt, daß, in wasserdichten Kisten verpackt, rechtzeitig Höschen und Leibchen, Nachthemden und Strümpfe, luftige Kleider, knöchellange Kostüme und Abendkleider, Blusen, Schürzen und Bademäntel, wasserdichte Regenumhänge und Sturmmützen, Flanelltücher und Putzlumpen, Bettwäsche und Wolldecken und ein Morgenmantel sowie ein Schuhsortiment, von der einfachen Sandale bis zur hochgeschnürten Stiefelette, geliefert wurden. Eine besonders gekennzeichnete Kiste enthielt die Einzelteile eines Kinderbettes mit Gummieinlage, sowie Babywäsche und Windeln für ein ganzes Jahr, neben einem Sonnenhut, einem Teddybär, einer roten Rassel aus Holz, Schnullern und einem gläsernen Nachttopf. Die Zusammenstellung der Kollektion hatte ihn fünf Arbeitstage gekostet, die ebenfalls mit etwa zweihundert Pesos zu Buche schlugen. 186
All dies wurde beim Mittagessen ausgiebig besprochen. Es fehlte nichts. Die Kisten waren als versicherte Eilfracht bereits unterwegs nach Manzanillo. Am späten Nachmittag trafen Pedros Eltern mit Evita ein. Es wurde ein turbulenter Nachmittag. Man stand herum, nippte an geeisten Margueritagläsern, aß Kuchen, trank Kaffee und plauderte. Evita klammerte sich an Pedro. Sie war ein hübsches Mädchen geworden. Pedros Mutter beschäftigte sich den ganzen Nachmittag mit Tirza. Als Tirza den Gästen die Gläser nachfüllte, flüsterte sie Pedro ins Ohr: "Die heilige Inquisition! Sie wollte wissen, ob ich kochen kann!" Pedros Vater trank Pfefferminztee, rauchte Zigarren und führte tiefschürfende Gespräche mit Ernesto und Tonio. Nichts ist so ermüdend wie ein Kaffeeklatsch, dachte Pedro. Wenn nur alles vorbei wäre! Als die Sonne unterging, lag Pedro bereits im Bett und schlief ein, noch bevor es dunkel wurde. Als der Mond aufging, wachte er wieder auf, weil Tirza unter seine Decke schlüpfte. Er sah ihr Nachthemd in einer Pfütze Mondlicht vor dem Bett liegen. "Du brauchst nie mehr hungern!" wisperte sie und küßte seine Brust. Ihr warmer Körper paßte sich seinem an, als ob er schon immer ein Teil seines Körpers gewesen wäre. Er vergaß die Luft, die er atmen mußte, vergaß die Schwerkraft, die ihm nichts mehr bedeutete, erstickte in der Betäubung ihres Zimtduftes, spürte das kochende Blut in einer unermeßlichen kosmischen Spirale im Zentrum der Milchstraße zusammenfließen, wurde geschüttelt von den 187
Kräften dieser Erde und emporgehoben zu den Sternen. Er wurde verbrannt vom Feuerhauch donnernder Vulkane und brach zusammen wie ein Hirsch nach dem Schuß mitten aufs Blatt. Ein Vakuum unendlichen Ausmaßes sog alle Kräfte aus seinem Körper. Tirza lächelte und sagte: "So wird es jeden Tag sein!" Die Hochzeit war ein Fest, das gleichzeitig Abschied bedeutete. Trotz aller Freude lag Wehmut auf allem. Auf der festlichen Messe, auf Tirzas Kleid, das sie zur Königin erhob, auf den Madrigalen des Knabenchors, auf dem perfekten Menü, den Tischreden, den Trompetenfanfaren der MariachiMusikanten, auf dem Blumenflor und auf der Hochzeitsnacht. Die Pandora, die Pedro und Tirza nach Clipperton brachte, verließ pünktlich am Dreikönigstag des Jahres 1914, gegen Mittag, den Hafen von Manzanillo. DIE INSEL 15 Die Pandora war ein altes Schiff, aber sie zeigte ihr Alter mit Würde und machte kein Hehl aus der vierzig lange Jahre im Küstendienst zwischen Guaymas und Salina Cruz ertragenen Mühsal. Sie lag breit wie eine Ente im Wasser und hing mittschiffs durch, als ob sie einer überschweren Last nachgeben müsse. Dennoch erschien sie nicht eigentlich unproportioniert. Die Bullaugen zogen wohlgeordnete Schnüre schwarzer 188
Perlen um ihren gewaltigen Bauch, und die Aufbauten staffelten sich, gut aufeinander abgestimmt und von der Brücke und dem hohen schwarzen Schornstein gekrönt, zu einer imposanten Pyramide. Früher war sie wohl ein ansehnlicher Passagierdampfer gewesen, doch als der Lack schließlich abbröckelte und die Holzverkleidung des Speisesaals Risse bekam, als die Rohrleitungen Öltränen zu weinen begannen, der Rost aus den Schweißnähten kroch und sich das Schmierfett auf den Planken in einen auch schärfster Lauge widerstehenden schwarzen Belag verwandelt hatte, da entfernte man mit den meisten Kabinen auch alles überflüssige Mahagoni, ersetzte die mit kunstvollen Goldarabesken verzierten Glastüren durch plumpe Stahlschotten, die in ihren Angeln schrien, riß die roten Sisalläufer heraus und nietete dafür ächzende Holzroste in die langen Gänge der Passagierdecks. Man nahm den Lampen die ohnehin erblindeten Kristallschirme und begnügte sich mit nackten Glühbirnen, deren Licht kalte Schatten auf die schwitzenden Wände warf. Im vorderen Teil des geräumigen Rumpfs, noch vor den Maschinen, ging man noch weiter. Man trennte zwei Decks heraus und schuf über dem Kielraum ein vierzig Fuß hohes Silo für das Phosphat, das die Pandora von Clipperton nach Manzanillo transportieren sollte. Um die gesamte Phosphatmenge, die man auf Clipperton in vier Monaten gewann, auf praktische Weise aufnehmen zu können, brauchte man geeignete Ladevorrichtungen. Deshalb mußte auch die Bordwand aufgeschnitten werden. Man zögerte nicht, das zu tun. 189
Als ein vier mal vier Meter messendes Loch in der Außenhaut des Schiffes klaffte, schob man eine Dampfmaschine von der Größe einer Droschke hinein, an der ein Förderband hing, das je nach Bedarf ein und ausgefahren werden konnte und das in ausgefahrenem Zustand mindestens dreißig Meter aus dem Rumpf der Pandora ragte. Als man das Maschinenungetüm zusammen mit dem zickzackförmig gefalteten Rohrgestell, an welchem die Transportwalzen des Förderbands montiert waren, in dem Loch versenkt hatte, wurde die Öffnung mit einer Stahltür verschlossen, die mittels einer Winde aufgeklappt werden konnte. Die Winde stand auf dem Oberdeck und hatte auf jeder Seite eine Kurbel, die von zwei Mann mit der Hand bedient werden mußten. Die Pandora war mit dieser praktischen und sinnvoll konstruierten Einrichtung in der Lage, in ganz kurzer Zeit ziemlich große Mengen Guano zu laden. Da bei jedem Transport in den Ecken und in den verborgenen Winkeln des Silos gewisse Mengen der stinkenden Fracht hängenblieben, drang ein muffiger Geruch, der an einen unausgemisteten Hühnerstall erinnerte, aus dem Silo herauf, kroch durch die Gänge und setzte sich in den Salons fest. Er mischte sich mit dem Kerosingestank der Dampfmaschine und dem erstickenden Qualm der Kohlefeuerung. Wenn nämlich die Heizer, von glühendem Schweiß übergossen, mit unförmigen Schaufeln noch unförmigere Anthrazitbrocken nachfeuerten, pufften jedesmal schwarze Wolken aus den im Seegang pendelnden Feuerklappen und verteilten sich im ganzen Rumpf, denn es dachte kein Mensch mehr 190
daran, die Türen der Niedergänge zu schließen. Der Schornstein, den einstmals stolz die blauen Albatrosse der Reederei zierten, warf in schwarzen Schneestürmen flockigen Ruß über das Deck, den Wind und Regen über die Reling, das Schanzkleid, die Lüfterköpfe und die wenigen übriggebliebenen Rettungsboote verteilten. Wenn die Maschinen schwermütig zu mahlen begannen und die blanken Pleuelstangen zögernd aufstanden und sich wieder senkten und dabei mit lautem Knacken in den Lagern schlugen, bebte die Pandora wie ein krankes Tier. Nach dem Umbau hatte sie sich in einen merkwürdigen Zwitter verwandelt. Nun war sie kein Passagierschiff mehr, aber es war aus ihr auch kein rechtes Frachtschiff geworden. Es gab noch nicht einmal einen Ladekran. Es gab, außer dem eingesetzten Ladeschott, eigentlich überhaupt nichts, was an einen Frachter erinnerte. Da rosteten nur zwei schmächtige Davits an der Steuerbordseite vor sich hin, mit denen man vor Jahren das große Gepäck der Passagiere an Bord geholt hatte. Alles, was die Pandora außer dem Phosphat zu befördern hatte, mußte mühselig die Niedergänge hinunter in das Dunkel der hallenden Hohlräume geschleppt werden, die für die übliche Fracht geschaffen worden waren. Dort, wo sich einst in beeindruckender Eleganz die Kabinen der Ersten Klasse aneinanderreihten, wo in Pandoras maritimer Jugend die Stewards in frisch gebügelten dunkelblauen Uniformen durch die Gänge eilten und vom Eiswasser beschlagene Champagnerkübel balancierten, stapelten sich jetzt unordentlich Fässer und 191
Kisten, Drahtrollen, Säcke, Pakete, Stoffballen und Werkzeug. Nur die fünf Luxuskabinen des Promenadendecks hatte man erhalten; aber auch dort war der Glanz besserer Tage trauriger Verwahrlosung erlegen. Man hatte den Speisesaal durch eine in totem Grau gestrichene Wand in zwei Hälften geteilt. Die eine diente als Stauraum und war vollgepfropft mit Gerümpel. Die andere Hälfte ließ jedoch noch ahnen, daß die Pandora einst ein liebenswertes Schiff gewesen war. Die glänzenden kastanienroten Tische, die zwar abgewetzten, aber immer noch eleganten Brokatsessel, die ockerfarben angelaufenen Messingleuchter, die verschlissenen Portieren, die barock geschweifte Pantry unter den silbergerahmten Aquarellen, auf denen die schönsten Schiffe der PentinoReederei unter eisgrünem Himmel den winterlichen Atlantik durchpflügten: das alles beugte sich müde der Vergänglichkeit und schämte sich verlorener Pracht. Es gab keinen Platz, den das Schiff nicht mit seinen schrecklichen Geräuschen erreichte. Es war einerlei, wo man stand, ganz unten im schummrigen Licht des BDecks oder im Sonnenlicht der Promenade: die Geräusche bohrten sich erbarmungslos in einen hinein. Das stampfende Poltern im Wellental ging, wenn sich der Bug hob und den nächsten Wasserberg spaltete, über in ein furchterregendes Blasen und Rauschen. Wenn der schwere Leib der Pandora sich dann wieder senkte, ertönte ein Dröhnen und Seufzen, das einem in die Abgründe der
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Seele drang. Was da erklang, war das vorweggenommene Requiem eines vom Tod gezeichneten Schiffs. Wenn die Pandora nicht zwischen Clipperton und Manzanillo unterwegs war, beförderte sie entlang der Küste grobe Fracht und nahm bisweilen sogar Passagiere mit. Es wäre lang an der Zeit gewesen, sie von der Fron der großen Fahrt zu befreien. Nachdem aber die Vorgängerin der Pandora abgewrackt war, konnte man für die dreimal im Jahr angesetzten Fahrten nach Clipperton keinen annehmbaren Ersatz finden. Die Pandora hatte genug Stauraum für das Phosphat, sie lag scheinbar immer noch sicher im Wasser, und der Schiffseigner, Señor Pentino, erklärte sie wider besseres Wissen für noch vollkommen hochseetüchtig. Kapitän Severino Sanchez y Paz sah aus, als gehöre er zum Inventar des Schiffs. Auch er hatte bessere Tage erlebt, doch das war lange her. Man erinnerte sich aber daran, daß Severino Sanchez y Paz einstmals auf der Velázquez, einem grandiosen Schiff, dem schönsten Liner der PentinoReederei, gefahren war, und man wußte, daß er als Kapitän einen guten Namen hatte. Severino Sanchez y Paz war ein Laban der Meere, ein Hüne von Gestalt und ein Meister der Navigation. Er fürchtete sich weder vor den Stürmen des Stillen Ozeans, noch vor seiner bisweilen meuternden Mannschaft. Vor Jahren ertönte seine Stimme noch mit der Gewalt einer Tuba, und diese Stimme erschütterte Herz und Gedärme, 193
wenn er auf der Brücke Kommandos gab. Es wagte damals keiner, ihm länger als drei Sekunden in die Augen zu sehen. Nach seinem Unfall aber war er wortkarg geworden, obwohl die Kugeln, die ihn getroffen hatten, kein Teil seines Stimmorgans in Mitleidenschaft gezogen hatten. Er gab seine Befehle meist stumm und mit barschen Handzeichen, die aber jeder verstand, den es anging. Er war auch der einzige, der die Sterbegeräusche seines Schiffs nicht wahrnehmen wollte. Er erinnerte sich mit Wehmut an die festlichen Diners unter bunter Flaggengala und leuchtenden Lichterschnüren, die auf der Reise nach Lima die Nacht zum Tag machten. Er hatte ihn nicht vergessen, diesen sonderbaren, ergreifenden Stolz, der ihm in wohligem Schmerz fast die Brust sprengte, wenn sich alle Blicke auf ihn richteten, wenn ihm bewußt wurde, daß er nur noch mit den Fingern zu schnalzen brauchte. Er hätte sie alle, die sich da um ihn scharten und LadyCurzonSuppe löffelten, die Roten, die Blonden, die Braunen und die Schwarzen, mit einer einzigen Bewegung des kleinen Fingers hinaufkommandieren können in seine Kajüte. Sie wären ihm gefolgt wie die Lämmer, wann immer er wollte. In seinen alten Tagen weigerte sich aber sein Hirn, die wundervollen Erinnerungen an den Gipfel seiner Manneskraft wieder ins Bewußtsein zurückzurufen, weil diese durch die dann ebenfalls vor seinen Augen auftauchenden Ereignisse der letzten Nacht auf der 194
Velázquez unversehens in apokalyptische Schrekkensbilder verkehrt wurden. Es schien ihm dann so, als ob diese eine Nacht vor Lima alles Schöne ausgelöscht hätte, das in seinem Gedächtnis bis dahin aufgezeichnet war. In seinen Träumen kam nur das Böse wieder zum Vorschein. Dann schrie er im Schlaf und quälte sich schweißüberströmt in den Kissen herum, während sich das geplagte Unterbewußtsein mit dem Menetekel beschäftigte, das in den Engrammen seines Zwischenhirns herumtobte und ihn bis zum Morgengrauen nicht mehr verließ. Er hatte die lang vergangenen Episoden, die er anzüglich "Stichproben" nannte, geliebt und sich wenig um die strenge Dienstvorschrift geschert, wenn er lüstern spürte, wie es um seine Leisten zu brodeln begann und wie ihn der Übermut und das Übermaß an Androsteron, das seine Adern verbrannte, in Fieberlaune versetzten. Neben einer durchaus nicht immer angenehmen priapischen Versteinerung seines Gliedes, war übermäßiger Speichelfluß ein untrügliches Zeichen dafür. Er mußte zwanzigmal in der Minute schlucken, und kleine Schweißperlen quollen zwischen seinen geschlossenen Fingern hervor. Er fühlte machtlos, wie sein ganzes Denken im Unterleib zusammenlief, der sich dafür anschickte, ihm die Hose zu sprengen. War das ein aufwühlendes Gefühl heißer Spannung, wenn er die schlaffsäckigen Monokelcaballeros neben ihren aufgeplusterten Gattinen mit witzigen Bemerkungen und zuweilen bewußt frivolen Gesprächen oder zweideutigen Anspielungen fesselte und dabei durch die Tarnung seiner 195
gesenkten Wimpern beobachtete, wie die Augen der aufmerksam lauschenden Señoras jenen erkennbar auffordernden Glanz bekamen, der Fragen und Antworten überflüssig macht! Oh ja, er kannte sich aus mit der Moral. Er hatte sechsundzwanzig Jahre Zeit gehabt, sie am lebenden Objekt zu studieren, und dabei erst erstaunt, dann erleichtert, schließlich triumphierend festgestellt, daß es sie nicht gab. Oh nein, es gab sie nicht, die nicht verführbare Frau! Für Sanchez kam es daher nur darauf an, herauszufinden, wo die schwachen Kettenglieder waren. Dann wußte er auch, wo er seine Zange ansetzen mußte. Wie erhebend hatte alles angefangen, als es an jenem schwärzesten Tag seines Seemannslebens wieder einmal an der Zeit war. Er hatte sie schon drei Tage im Visier. Sie hatte genau die Statur, die ihn rasend machte. Drei Nächte lag er schlaflos in seinem Bett und stellte sich vor, wie ihre Hüllen fielen. Erst die bis auf den Boden reichende Glocke schwarzen Brokats, dann die unter den Knien mit Rüschenbändern und Schleifchen gebundenen Hosen. Er sah in unruhigem Halbschlaf ihre Schenkel aus dem dunklen Verlies ans Licht drängen und versank in konvulsive Schwermut, wenn er in Gedanken so weit war, daß ihre Brüste aus der Enge des Fischbeinkäfigs quollen, wenn er ihren schimmernden Leib wie ein gekochtes Ei mit schälenden Fingern aus der Enge des Korsetts befreite, und wenn sich dieser weiße Leib dann wie eine Lilie im Morgenlicht öffnete und, süßen Duft verströmend, sich fest um ihn schloß.
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An jenem Tag überstiegen die Leiden seiner Träume die Grenzen des Erträglichen, und er schritt mit getrübtem Verstand zur Tat. Erst versicherte er sich, daß der Gemahl am Spieltisch festsaß. Um kein Risiko einzugehen, setzte er sich sogar eine Weile dazu und ermunterte sein Opfer, oder besser das Opfer seines Opfers, einen Packen großer Scheine in Jetons umzuwechseln. Er kannte die Faszination des Roulettespiels, wußte um die Betäubung, die von der im Kessel klackernden Kugel und von den monotonen, unbeteiligt erscheinenden Ansagen des Croupiers ausging. Er stützte sich auf eine sichere Strategie, die er in langen Berufsjahren auf See mit filigraner Perfektion ausgestattet hatte. In schwierigen Fällen setzte er sein Spezialsystem ein, mit dem er notfalls auch den größten Langweiler und Geizhals dazu bringen konnte, die Brieftasche zu öffnen und bis zum Morgengrauen am Tableau auszuharren. Sein System war nicht auf hohe Gewinne ausgelegt, aber er war stolz auf die durchschlagende Überzeugungskraft, die von dessen simplen und dennoch wohldurchdachten Regeln ausging. Wenn er ehrlich war, mußte sich Severino Sanchez y Paz freilich eingestehen, daß der Spielplan nicht auf seinem Mist gewachsen, sondern, abgesehen von einigen ganz unwesentlichen Abweichungen, einem Schweizer mit Namen Jacques Herzog zu verdanken war, der sie im Cheval, einer vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift für das Glücksspiel, veröffentlicht hatte. Es handelte sich um eines jener sicheren Sonntagsspiele, die nicht viel 197
einbringen, aber dafür auch über eine lange Zeit die Höhe der Einsätze und damit das notwendige Spielkapital im Rahmen halten. Vielleicht lag gerade darin der besondere Reiz des Spiels. Sanchez hatte jedenfalls die Erfahrung gemacht, daß das Spiel den, der einmal angebissen hatte, sicher bei der Stange hielt. "Sehen Sie, Señor", sagte er mit wissendem Blick auf das Tableau, "es ist ganz einfach. Sie gehen auf einfache Chancen, nur auf einfache Chancen, am besten auf Rouge oder Noir, und fangen mit einem einzigen kleinen Peso an. Es ist egal, welche Farbe sie wählen. Nehmen wir daher einfach an, Sie entscheiden sich für Rot. Dann setzen Sie den einen Peso auf Rot und warten ab. Haben Sie gewonnen, ist es gut. Sie kassieren einen Peso und fangen wieder mit einem einzigen Peso an. Lassen Sie sich durch nichts beirren! Bleiben Sie bei Ihrer Farbe! Lassen Sie sich um Himmels willen nicht hinreißen zu größeren Einsätzen oder zu einem Chancenwechsel! Planloses Spiel führt zu sicherem Verlust! Glauben Sie mir das! Also wenn Sie dann das erste Mal verlieren, verdoppeln Sie den Einsatz und notieren alle weiteren Verluste und Gewinne. Der Clou des Systems liegt darin, daß Sie, wenn Sie es so machen, wie ich es Ihnen sage, mit jedem Gewinn zwei Verluste tilgen. Usted no me cree? Wie? Sie glauben mir nicht? Bitte, Señor, Sie können es sich selbst ausrechnen, daß Sie auf diese Weise gewinnen müssen. Wichtig ist nur, daß Sie, um den Überblick nicht zu verlieren, daran festhalten, immer nur eine Farbe zu 198
spielen! Abgesehen von der Null liegt nämlich Ihre Chance dann im übelsten Fall bei Fiftyfifty! Also Tenga cuidado! Passen Sie auf, passen sie genau auf, das geht ganz einfach: Sie notieren sich jeden Gewinn und jeden Verlust und rechnen die Gewinne gegen die Verluste auf, indem sie die saldierten Spiele durchstreichen. Sie addieren dabei immer den ersten und den letzten Verlust Ihrer Liste, oder Sie verdoppeln den Verlust, der als letzter übrigbleibt. Diese Summe setzen Sie auf Rot. Wenn Sie den ersten Peso verloren haben, setzten Sie also zwei. Verlieren Sie diese zwei, setzen Sie drei. Geht es wieder schief, setzen Sie vier, dann fünf. Nehmen wir an, jetzt kommt Rot. Sie gewinnen fünf Pesos. Diesen Gewinn rechnen Sie gegen den ersten verlorenen Peso und die zuletzt verlorenen vier auf. Bleiben zwei und drei, also insgesamt fünf verlorene Pesos übrig. Jetzt setzen Sie die Summe, also fünf Pesos. Gewinnen Sie, sind Sie bereits aus dem Schneider. Verlieren Sie, setzen Sie sieben Pesos. Kommt dann unglücklicherweise wieder Schwarz, setzen Sie neun Pesos. Wenn jetzt Rot kommt, haben Sie mit den gewonnenen neun Pesos den Siebener und den Zweierverlust wettgemacht. Sie setzen also jetzt acht Pesos. Es kommt Rot. Sie sind wieder auf Null und haben mit drei Gewinnen sechs Verluste ausgeglichen! Rechnen Sie nach! Haya la prueba! So tricksen Sie die Kugel aus, Señor! Sie können ohne einen Peso zu verlieren zweimal falsch setzen und brauchen dafür nur ein einziges Mal zu gewinnen! Einfältige Hasardeure, die 199
die Logik des Spiels nicht begriffen haben, meinen, es ginge einfacher und schneller, wenn sie nur ihren Einsatz jedesmal verdoppeln. Dann aber müßten sie, wenn nur achtmal hintereinander Schwarz kommt, zweihundertsechsundfünfzig Pesos auf den Tisch blättern, und beim neunten Mal wären sie über dem Limit und aus dem Spiel. Das geht schneller, als Sie denken! So wichtig wie die Wahrscheinlichkeit ist beim Roulette das Limit! No olvide usted eso! Vergessen Sie das nicht! Mit meinem System können Sie dem Limit ein Schnippchen schlagen. Auch die Zero überspielen Sie so ohne Probleme. Sie können setzen, so lange Sie wollen!" Severino Sanchez y Paz wußte genau, daß sein System eben genau an diesem Limit scheitern mußte. Aber er wußte auch, daß das nur ein oder zweimal im Monat, und dann nur nach vielen Stunden aufregenden Spiels, geschehen konnte. Er durfte daher ganz sicher sein, den Spieler am Tisch zu halten, wenn der erst einmal damit begonnen hatte, zu setzen. Nach Severino Sanchez' Einführungsvortrag wurde dann eifrig notiert, aufgerechnet, gestrichen, gezählt, gesetzt. Sanchez konnte sich darauf verlassen, daß er seinen Fisch an der Angel hatte. Kaum war die erste Attacke der Schlacht gewonnen, suchte er Doña Dolores im Teesalon auf und plauderte mit ihr über die Schönheit Limas. Er gab sich leutselig und amüsant, sagte ihr, welch sympathische Person sie sei und wie wenig Menschen ihres Schlages es auf einem Schiff wie der Velázquez gäbe. 200
Dann sah er plötzlich auf die Uhr, gab sich eilig und erwähnte im Aufstehen beiläufig, daß er auf dem Weg zur Brücke sei und eigentlich nur schnell noch ein Glas Tee zu sich nehmen wollte. Er konnte sicher sein, daß dieser Einleitung die Frage folgte, ob man die Kommandozentrale des Schiffs nicht einmal besichtigen könne. "Ich tu's nicht gern! Esto no lo hayo yo con mucho gusto!" zierte sich Sanchez. "Es ist gegen die Vorschrift. Aber es fällt mir schwer, bei Ihnen, hochverehrte Doña Dolores, die Vorschriften einzuhalten." Das meinte er wörtlicher, als es sich Doña Dolores zu diesem Zeitpunkt vorstellen konnte. Er führte sie hinauf und spähte mit ihr in die Nacht. Er schob den Rudergänger zur Seite und sie durfte mit zarten Händen das große Holzrad anfassen und er zeigte ihr, wie man das Schiff durch die Meere führt, indem er sich ihr näherte, bis ihm der Ambraduft ihres Parfums den Atem nahm und er ihren warmen Körper durch den Brokat des Kleides und die grobe Hülle seiner Uniform spürte, während er sich mit zärtlichen Fingern zwischen den gedrechselten Speichen Übereinstimmung ertastete. Er kannte dieses versteckte Zittern, wußte zu genau um dieses unbeholfene Seufzen: "Ach wie wunderbar so ein riesiges Schiff und es gehorcht mir ganz allein!" Es gab keine, die nicht dieses oder etwas ähnlich Einfältiges zu ihm gesagt hätte. Er konnte der Ausstrahlung seiner Allmacht vertrauen. Noch zehn Minuten, dachte er, dann öffnet sich die Auster. Er trug der Ordonnanz auf, für Getränke zu sorgen, alles weitere 201
ergab sich von selbst. Es war ein mexikanisches Schiff, und seine Offiziere waren Mexikaner. Folglich kümmerte sich keiner um so geringfügige Verstöße gegen die Ordnung. So mußte es denn zu jenem Unfall kommen, der das Leben des Severino Sanchez y Paz von einem Tag auf den anderen so sehr veränderte. Der Coronel aus Tampico hatte einen entscheidenden Fehler gemacht, mit dem Sanchez im Vertrauen auf Herzogs unfehlbares System nicht gerechnet hatte. Dieser verdammte Coronel verlor, kaum daß er ihn am Spieltisch sich selbst überlassen hatte, die Beherrschung. Er durchbrach die Regeln seines Spiels und hatte schon nach zwei Stunden so viel Geld auf dem Spieltisch gelassen, daß er außer seiner gesamten Barschaft auch noch die Besinnung verlor. Er brüllte auf, warf auf dem Weg zum Ausgang den Bakkarattisch um und zerschmetterte volle wie leere Flaschen, die er wahllos von den Tischen griff, an den korinthischen Eisensäulen des Spielsaals. Als der erste Zorn durch eine sich plötzlich einstellende Atemnot gedämpft wurde, suchte er, überwältigt von rasendem Weltschmerz, Trost bei seiner Frau. Ein Steward, dem Sanchez am Tag zuvor mitgeteilt hatte, daß er wegen eines ganz unbedeutenden Diebstahls die Velázquez sofort nach deren Ankunft in Lima verlassen müsse, sagte dem Caballero, wo er sein Weib finden könne.
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Es gab einen Heidenspektakel, als der hochdekorierte Offizier die Tür der Kapitänskajüte mit solcher Gewalt eintrat, daß der Rahmen mitsamt den Mahagonitrümmern der Türfüllung durch den Raum flog. Indem er fortwährend "Hurenpack! Chusma de putas! Hurenpack!" schrie, feuerte er die sechsschüssige .44er Rogers & Spencer leer. Sanchez fühlte sich vom Blitz getroffen. Der Schlag eines Dampfhammers auf seine rechte Brust schleuderte ihn mit einer Wucht in die Höhe, der nichts entgegenzusetzen war, und ließ ihn, wie es schien, eine Sekunde lang hoch über Doña Dolores' in vornehmer Blässe ausgebreitetem Körper schweben. Dann packte ihn eine unsichtbare Faust und schmetterte ihn gnadenlos zu Boden. Sanchez' Blick verengte sich im Fallen, und er verfolgte erstaunt, wie auch Doña Dolores aus den Kissen gesprengt wurde und dabei einen Salto schlug, während ein Strahl hellroten Blutes, sauber eingerahmt von ihren weißen Zähnen, aus dem weit geöffneten Mund schoß. Als Doña Dolores über ihn stürzte, fühlte er die klebrige Nacktheit ihrer Schenkel auf seinem Gesicht, während es um ihn immer noch krachte, als seien alle Ungewitter der Hölle losgebrochen. Bevor sein Blick zu einem Punkt schrumpfte, staunte er, daß ihm die Lust in dieser Sekunde des Schreckens nicht verging, sondern, daß sie im Gegenteil zu einem wollüstig schmerzenden Gipfel der Sinnlichkeit aufstieg, der, zumindest was die hormonal gesteuerten Funktionen seines Körpers anging, alles in den Schatten stellte, was er bisher erfahren hatte. 203
Dann traf der zweite Schuß, der singend vom Waschtisch abprallte, sein Gesäß. Der Querschläger durchpflügte beide Bakken von rechts nach links, und der damit verbundene wütende Schmerz versenkte jede weitere Empfindung, jede Erinnerung an den Vorfall, für vierundzwanzig Stunden ins Dunkel absoluter Nacht. Vier lange Jahre lag er, von immer wiederkehrenden Schmerzen und Schreckensvisionen gequält, grimmig in einer Hängematte herum, weil man ihm kein Schiff mehr anvertrauen wollte. Dann erhielt der neunundfünfzigjährige Severino Sanchez y Paz unerwartet doch noch das Kommando auf der Pandora. "Dort gibt es wahrhaftig nichts, was Sie dazu verführen könnte, irgendetwas anzustellen!" sagte ihm Señor Raul Pentino, als er ihm die Papiere in die Hand drückte. Und als Sanchez sich mit freudig pochendem Herzen abwandte und die Tür schon fast wieder geschlossen hatte, hörte er Pentinos gedämpfte Stimme hinter sich herbellen: "Die Vogelscheiße wird Ihnen die Flausen schon aus dem Kopf treiben!" Tirza sah Kapitän Sanchez zum ersten Mal am Abend des Tages ihrer Einschiffung in Manzanillo. Wenn man davon absieht, Schönheit als einen absoluten Begriff zu sehen, hatten Pedro und Tirza die schönste Kabine erhalten, die das Schiff zu bieten hatte. Außer ihnen und zwei Soldaten gab es keine Passagiere an Bord. Die Kabine war außergewöhnlich geräumig und hatte an der
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Steuerbordseite zwei große Fenster, durch die die Abendsonne schien. Als Tirza das Reisegepäck in den Wandschränken verstaute, saß Pedro in einem der Ledersessel, rauchte eine Zigarre und beobachtete Tirza aufmerksam. Sie war, bei Gott, ein wundervolles Geschöpf. Selbst bei diesen banalen Verrichtungen bewegte sie sich mit der Anmut einer Primaballerina. Ihr Gesicht leuchtete wie damals, als er an jenem Februartag vor fast einem Jahr hilflos im Bett lag und alle auf Doktor Pelón warteten. Er erinnerte sich an die warmen Farben des Gemäldes mit den verschneiten Bergen und den kleinen Häusern und dachte an den wohligen Schrecken, der ihn durchfuhr, als er zum ersten Mal ihre Hand berührte. Tirza bemerkte, daß Pedro sie beobachtete. Sie legte ein Hemd in den Schrank und wandte sich zu ihm um: "Es ist ein schönes Gefühl, unterwegs zu sein, findest du nicht auch? Endlich ist es so weit! Während der Vorbereitungen und der langen Bahnfahrt war ich so mit dem Nächstliegenden beschäftigt, daß ich das eigentliche Ziel beinahe aus den Augen verloren hätte. Auch als wir an Bord gingen, habe ich mich mehr mit dem grauenhaften Äußeren dieses Schiffs befaßt als mit dem Zweck unserer Reise. Jetzt, wo das alles hinter uns liegt, taucht plötzlich in Gedanken diese Insel vor mir auf. Ich sehe den weißen Strand vor mir und die Palmen. Ich träume davon, neben dir zu liegen und dem Raunen der Brandung zu lauschen. Es kommt mir plötzlich alles so selbstverständlich vor.
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Das Bild erscheint mir so vertraut, als wäre ich schon 'mal dagewesen. Geht es dir auch so?" Tirza wartete auf Pedros Antwort, aber der sagte nichts und blies statt dessen den Rauch seiner Zigarre an die Kabinendecke. "Warum bist du so schweigsam? Findest du es nicht wunderbar, daß wir es geschafft haben? Daß nichts dazwischenkam? Stell' dir vor, Pedro, in zwei Tagen richten wir uns das Haus ein! Unser eigenes Haus in einem Land, das fast nur uns gehört, auf unserer Insel!" "Hmm, na ja", sagte Pedro. "Was meinst du mit: naja?" "Naja, warten wir ab, was auf uns zukommt. Noch sind wir nicht da." "Was soll schon sein? Kein Huerta, kein Pancho Villa, kein Carranza, kein Sonstwer kann dir noch etwas tun. Du bist in Sicherheit und ich bin bei dir!" "Nichts anderes wollte ich! Was glaubst du, warum ich dich aus México herausgeholt habe? Es gibt für mich nichts Wichtigeres als dich! Es ist mir gleich, wohin sie uns bringen. Wenn du bei mir bist, könnte es meinetwegen auch die Hölle sein." Er stand auf und nahm sie in die Arme. Sie war weich und warm, und er spürte, wie ihre Wärme auf ihn überging. 206
Seine Hände tasteten sich über ihren Rücken, glitten hinunter und schoben sich unter ihr Kleid, streichelten sie, umrundeten die Schenkel, schoben sich zwischen ihre Körper, vereinigten sich mit ihren tastenden Händen und beseitigten gemeinsam, was noch zwischen ihnen lag. Sie führte ihn, und er ließ sich führen. Sie kam ihm entgegen und er war ihr dankbar dafür. Das Schiff, die Insel, die Revolution, nichts hatte mehr Bedeutung. Er dachte an nichts anderes als an sie und er sah sie mit geschlossenen Augen schöner, als er sie je zuvor gesehen hatte. Er löste sich auf und zerfloß in ihr. Tirza antwortete mit einem kaum hörbaren kleinen Schrei und hielt ihn fest als fürchte sie, es könne etwas verlorengehen. Sie standen lang da und rührten sich nicht vom Fleck. Sie standen da, erschreckt von ihrer eigenen Zärtlichkeit und der Heftigkeit des Sturms, der über sie hinweggegangen war. Als er die Augen öffnete, sah er, daß sie wirklich so schön war. Daß ihn seine Vision nicht betrogen hatte. Draußen war es dunkel geworden. Pedro schloß die Vorhänge und knipste die Tischlampe an. Eine Viertelstunde später klopfte es energisch an die Kabinentür. Pedro rief "Adelante!" als die Tür auch schon aufflog und ein bärtiger Koloss in blauer Uniform den Türrahmen ausfüllte und sich laut räusperte. "Ich bin Capitan Sanchez und begrüße Sie an Bord!" Tirza griff erschrocken nach Pedros Hand. Während Sanchez sprach, schüttelte sich die Pandora, und man hörte ein bedrohliches Zischen aus ihrem Unterleib. Gleichzeitig quoll ein Schwall ranzigen Dampfes durch 207
die Tür und ein heißer Luftzug, der an die Ausdünstungen der Armenküche von San Pablo erinnerte, drang in den Raum. Sanchez wartete nicht ab, bis sein Gruß erwidert wurde: "Es ist Essenszeit! Wollen Sie nichts essen? Haben Sie keinen Hunger? Es gibt arroz guisado! Eine Reisspezialität des Kochs!" Er sagte das so überzeugend, als ob er zu einem Galadiner mit Gänseleber und Langusten eingeladen hätte. Pedro öffnete den Mund: "Señor, wir...", aber Sanchez ließ ihn nicht ausreden, sondern machte eine weit ausholende, beherrschende Handbewegung: "Sie brauchen sich nicht vorzustellen! Ich weiß, wer Sie sind! Ich habe Sie in der Passagierliste gefunden! Haha, haha, mühsam herausgesucht habe ich Sie, haha!" "Ich glaube nicht, daß wir hungrig sind", sagte Tirza schnell, um Sanchez irgendwie zu unterbrechen. "Ach was, dann trinken wir eben einen! No se ponga usted asi! Zieren Sie sich nicht so! Kommen Sie mit mir, aber passen Sie auf, daß Sie nicht stolpern! Der Boden ist ziemlich uneben." Severino Sanchez y Paz wandte sich um und bückte sich tief, um dem Türrahmen auszuweichen. Dann blickte er zurück und übertönte, so gut er konnte, das infernalische Zischen aus dem Maschinenraum: "Soobrepresión! Üüübeeerdruck!" schrie er erklärend, "Soobrepresión! Es ist das Ventiiil!"
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Sie setzten sich im Speisesaal an einen Tisch der Fensterreihe und schwiegen. Dann fragte Sanchez: "Was möchten Sie trinken? Heute sind Sie meine Gäste!" "Was haben Sie anzubieten?" fragte Pedro. "Rum", sagte der Kapitän. "Was noch?" "Rum", wiederholte Sanchez. "Nichts als Rum?" "Rum und Wasser! Kaffee gibt's zum Frühstück und Tee nachmittags. Sie können aber auch Tee zum Frühstück haben... wie ein Inglés, haha, genau wie ein Inglés." "Dann nehme ich ein Glas Wasser", sagte Tirza mit ratlosem Gesicht. Pedro reckte sich und stützte den Kopf auf beide Fäuste. "Lassen Sie mir in Gottes Namen einen doppelten Rum bringen, sofern das die Bestände Ihrer Bar nicht über Gebühr in Anspruch nimmt! Der wird mir die Sache erleichtern! Por dios! Du lieber Gott, auf welches Schiff sind wir geraten! Sowas habe ich noch nicht erlebt!" Sanchez runzelte die Stirn. "Nehmen Sie's, wie's kommt! Wir sind kein Luxusdampfer." Er sagte das beinahe so, als ob er selbst 209
das Schiff wäre. Dann fuhr er fort: "Es ist nicht das erste Mal, daß es mit dem Proviant nicht stimmt. Wenn man uns nichts liefert, können wir auch nichts anbieten. Tan simple es esto! So einfach ist das. Regen Sie sich nicht auf! Für Sie sind es nur zwei Tage, aber ich muß auf diesem Kasten bleiben, bis ich auf ihm Wurzeln schlage. Ich kann es mir auch nicht aussuchen. Ich muß hier aushalten, bis mich die Malaria oder sonstwas ausmustert. Sie werden die zwei kurzen Tage verkraften!" Sanchez kratzte sich hinterm Ohr und fuhr fort: "Ich kann es nicht ändern, es ist ein verdammt alter Kübel, dieses Schiff. Aber ich mag die gute Pandora. Sie ist mir sowas wie eine Heimat geworden. Lassen sie sich von ihrem Äußeren nicht täuschen. Jedes Schiff hat seine Seele, und die Seele der Pandora ist sanft und gutmütig, wenn man sie anständig behandelt. Sie wird uns nicht im Stich lassen. Machen Sie das Beste aus dieser Reise! Ich werde mein Bestes dazutun." Pedro hob den Kopf: "Hören Sie, Señor Sanchez, ich will Ihnen etwas sagen! Wenn ich diesen verdammten Kahn verlassen könnte, ich würde es noch in dieser Minute tun! Ich würde zurückrudern, wenn das möglich wäre! Ich würde nach Manzanillo schwimmen, wenn ich es könnte!" "Sagen Sie sowas nicht laut", sagte Sanchez, "die Pandora versteht nicht viel Spaß! Sie tun ihr weh! Beleidigen Sie mein Schiff nicht!"
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In diesem Augenblick drang wieder das dumpfe Zischen aus dem Bauch der Pandora, und man spürte ein Zittern, das sich auf den Lüster über ihnen übertrug, der nervöse Lichtreflexe auf das Tischtuch sprenkelte. "Sehen Sie", sagte Sanchez, "habe ich es Ihnen nicht gesagt? Sie nimmt es Ihnen übel!" Der Steward brachte eine Flasche Wasser und zwei große Gläser Rum. "Darf ich aufdecken, Señor Capitan?" "Tun Sie das!" erwiderte Sanchez. Der Steward breitete eine weiße Decke über den Tisch und deckte Porzellan und Besteck auf. Dann ging er wieder und holte einen Leuchter mit drei brennenden Kerzen. Tirza saß nachdenklich und schweigend da und schenkte sich ein Glas Wasser ein, aber sie trank nicht. Sie rückte ihren Sessel ein wenig näher zu Pedro und zog den Schal fester um die Schultern. Sie fror, aber es war nicht kalt. Sie fühlte sich einsam, obwohl Pedro neben ihr saß. Sie dachte zurück an Ernestos Haus, sehnte sich nach seinem Klavierspiel und nach Rosalías warmen Händen. Sie raffte sich innerlich auf und beschwor ihren Mut. Auf der Insel wird alles anders, dachte sie. Dann kam das Essen. Noch bevor der Steward ihren Tisch erreichte, verbreitete sich wieder dieser ekelerregende 211
Geruch, der sie schon in der Kabine geschüttelt hatte. Der Steward versenkte den Schöpflöffel in der Schüssel und klatschte ein graues Gemenge von Reis und schwarzen Bohnen auf die Teller, das durchsetzt war mit farblosen, glasigen Fleischbrocken, Tomatenschalen und kaum zerteilten roten Chilis. Jetzt wurde der Gestank so penetrant, daß er die Geruchsnerven betäubte und sich dadurch selbst neutralisierte. Er verwandelte sich in eine nichtssagende Erinnerung an die fade Witterung von feuchtem Staub und vergorener Milch. Tirza und Pedro saßen in stummem Protest vor ihrem Teller und rührten sich nicht. Sanchez aber schob Löffel um Löffel in seinen schmatzenden Mund, nahm eine zweite und dritte Portion und war mit seinem Diner so beschäftigt, daß er außer gelegentlichen Rülpsern keinen Laut mehr von sich gab. 16 In der Nacht kam ein schlimmer Wind auf. Die Pandora wälzte sich in ihrem nassen Bett, rollte von einer Seite zur anderen und rumorte dabei, als wolle sie aus den Fugen brechen. Tirza wachte auf und machte Licht. Sie fühlte, wie sich ihr Körper hob und wie er dann wieder versank, wie er, ohne daß sich an ihrer Umgebung irgendetwas sichtbar veränderte, seinen Schwerpunkt zuerst in den Himmel und dann wieder in den Schoß der Erde verlagerte. Es war ihr, als ob sie für alle Zeiten in die Tiefe gezogen würde. Dann aber hob eine unendlich weiche, unergründbare Kraft ihren Körper wieder an, und der Kopf weigerte sich, diese Bewegung mitzumachen. Auch ihre Beine blieben 212
zunächst in der Tiefe zurück, wurden dann aber unvermutet hoch über ihren Kopf geschoben. Die Wände der Kabine, der Tisch, die Sessel, die Bilder an den Wänden, die Vorhänge und die Kabinendecke rührten sich nicht von der Stelle und wurden von dieser schrecklichen Bewegung, die ihr Innerstes umwälzte, nicht erfaßt. Sie fühlte sich elend wie nie zuvor. Es entstand eine dumpfe Angst in ihr, die ihren Magen und ihren Kopf gegeneinander kämpfen ließ, bis der Magen schließlich die Schlacht verlor und sie aus dem Bett warf und sich umstülpte und einen Strahl grünen Wassers ausspie, das auf dem Linoleumboden zu einer schaumigen Lache auseinanderfloß, die erst unter das Bett und dann zurück zum Tisch rann und wieder unter das Bett und zurück zum Tisch schwappte und auf diese Weise die sonst unsichtbare Bewegung des Schiffs anzeigte. Tirza saß vornübergebeugt auf dem Bettrand, drückte die Fäuste in ihren verspannten Bauch und stöhnte. Sie hatte nur noch den einen Wunsch, diesem schaurigen Gefängnis zu entfliehen und irgendwo draußen an der frischen Luft den würgenden Krämpfen, die sie beutelten, nachzugeben, bis ihr Innerstes vollständig ausgeleert wäre und es nichts mehr zu kotzen gäbe. Sie warf einen hilfesuchenden Blick auf Pedro, aber der schlief ruhig und rührte sich nicht. Tirza griff nach dem Handtuch am Waschbecken und wollte die Lache aufwischen, die am Boden hin und her schlingerte, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, das zu tun. Sie konnte sich noch nicht einmal dazu aufraffen, Pedro zuliebe ein Fenster zu öffnen. Sie tastete sich zur Tür. Würgend und 213
schwitzend taumelte sie im Nachthemd den Gang entlang, stützte sich mit flachen Händen an der Wand des Niedergangs ab, nahm mit kraftlosen Tritten die wenigen Stufen, die zum Promenadendeck führten, und stand dann, wie es ihr schien, stundenlang an der Reling und stöhnte den Mond an, der von Zeit zu Zeit hinter den schwarzen Wolken hervorbrach. Sie fühlte sich so elend, daß sie ins Meer gesprungen wäre, wenn sie nicht fest daran geglaubt hätte, daß diese schreckliche Übelkeit nur von ihrem Magen ausgehe und sie das Übel nur auszuspucken habe, um sich wieder besser zu fühlen. Aber dieser Glaube trog. Nach jedem Anfall, der ihr die Galle in den Mund trieb und ihr Zwerchfell zu zerreißen drohte, ließen die Krämpfe zwar für eine Minute nach, doch dann setzte sich eine heiße Flut in den Eingeweiden fest, hob den Magen wieder an und drehte ihn um. Sie konnte sich nicht vorstellen, je verlassener gewesen zu sein. Sie empfand es daher ungemein tröstend, als sich ein Arm um ihre Schulter legte. Sie hörte die beruhigenden Worte eines Mannes, dessen Stimme sie kannte: "Es ist eine Nacht wie Samt und Seide, und Sie führen sich auf, als wären alle Stürme der Welt über uns hereingebrochen!" Kapitän Sanchez stand hinter ihr. "Oh Gott, Señor Sanchez, mir ist so schlecht, ich könnte sterben!" flüsterte Tirza und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
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"Das ist nichts Besonderes", sagte Sanchez, "Landratten erwischt es meistens schon am ersten Tag! Denken Sie an die Erde, den festen Boden eines Ackers! An einen Felsen! Lösen Sie sich von der Bewegung des Schiffs und verkrampfen Sie sich nicht, heften Sie Ihren Blick auf den Horizont, dann geht es Ihnen gleich besser." "Ich sterbe", erwiderte Tirza unbeeindruckt. "Oh nein", sagte Sanchez, "Sie sterben nicht. Usted no morirá! Sie erleben eine kleine Unpäßlichkeit, wie Hunderttausende vor Ihnen. Beschäftigen Sie sich weniger mit sich selbst und entspannen Sie sich, dann hört das von ganz alleine auf!" Sanchez legte seine großen warmen Hände auf Tirzas Schultern und drehte sie mit sanfter Gewalt um, daß er ihr ins Gesicht sehen konnte. Sie fühlte dabei, wie seine Hände zitterten. Er blickte im Dunkel über sie hinweg und streichelte ihr Haar. "Nada grave! Halb so schlimm!" sagte er. Dann spürte sie plötzlich, wie Sanchez' Hand abrutschte und ihre Brust streifte. Sie erschrak, weil sie sofort wußte, daß diese Berührung nicht unbeabsichtigt war. "Bitte nicht!" sagte Tirza zunächst freundlich und bittend, weil sie erkannte, daß sie jetzt nicht die Kraft hatte, sich zu wehren. Sanchez reagierte nicht.
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Sie hatte gehofft, es könne doch versehentlich geschehen sein, durch eine ungeschickte Bewegung auf dem schwankenden Deck. Aber dann hätte sich Sanchez entschuldigen müssen. Statt dessen fühlte sie seine andere Hand auf ihrem Schenkel. Sie versuchte, diese unerwartete und unangenehme Berührung wieder loszuwerden. Sie bog sich wie ein Zweig im Sturm. Aber Sanchez hatte sie fest im Griff. "Lassen Sie mich sofort los!" schrie Tirza dann, aber Sanchez war nach Jahren der Schwäche und Invalidität plötzlich genesen und unerwartet wiederum den Anflutungen seiner Keimdrüsen erlegen. Er hatte wieder alle Anstandsregeln der christlichen Seefahrt vergessen. Er drückte Tirza mit seinem massiven Leib gegen die Reling und vertraute auf seine Kraft und die Gunst der Stunde. "Du lieber Gott, Mädchen, mach kein solches Geschrei! Ich tu dir ja nichts!" keuchte Sanchez, aber seine suchenden Hände bewiesen das Gegenteil. Tirza spuckte ihn in ihrer Verzweiflung an, worauf er seine Arme wie einen Schraubstock um sie schlang. Dann veränderte sich seine Stimme. Sie klang jetzt kalt und befehlend: "Komm her und stell' dich nicht so an!" "Ich schreie, bis das ganze Schiff zusammenläuft!" fauchte Tirza, und sie wußte dabei, daß es mit dem ganzen Schiff nicht viel auf sich hatte, aber sie hörte nur sein nervöses
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Lachen, das sich im Heulen des zum Sturm angewachsenen Windes verlor. Tirza bäumte sich auf wie damals, als der Indio sie in San Miguel hingeworfen hatte. Es war keine Zeit, sich zu überlegen, wie sie den Angriff des Riesen abwehren konnte. Sie dachte daran, daß Pedro keine zwanzig Schritte entfernt schlief und daß sie trotzdem jetzt ohne seine Hilfe war. Sie verabscheute diese Gestalt, die da vor ihr stand und sie gegen die Schiffsreling preßte. Tirza handelte dann ohne Überlegung und hob ihr Bein mit aller Kraft und keilte das Knie zwischen seine Schenkel. Sie nahm die unmittelbare Wirkung staunend und erleichtert wahr: Sanchez warf die Arme hoch und sah dabei aus wie ein auffliegender Geier, wie ein angeschossener Zopilote. Er ließ die Arme wieder fallen, sackte lautlos zusammen und fiel hintenüber. Er rollte sich am Boden dreimal um sich selbst und schrie, nachdem er wieder atmen konnte, wie ein Ochse im Schlachthaus. Er igelte sich ein und schnappte ein paarmal nach Luft, dann streckte er sich wieder und trommelte mit den Fäusten auf das Deck. Er versuchte aufzustehen und drückte dabei beide Ellenbogen in den Unterleib, während seine Unterarme und die Hände mit gespreizten Fingern von seinem Körper abstanden und ihn nicht mehr stützen konnten, so daß er sofort wieder das Gleichgewicht verlor und mit der Stirn auf das Deck aufschlug. Er ächzte stoßweise, seine Beine schlegelten, und die Stiefel scharrten in panischen Halbkreisen über die Planken. 217
Schließlich lag da ein regloses Bündel, das keinen Laut mehr von sich gab. Tirza erbrach sich wieder, kümmerte sich nicht mehr um den hinter ihr liegenden Kapitän und vergaß, warum sie überhaupt auf diesem Schiff war. Ein Soldat, der plötzlich vor ihr stand und sich ihr trotz der verworrenen Lage ordentlich vorstellte, während sie würgend über der Reling hing, brachte, soweit das überhaupt noch möglich war, die Dinge wieder ins Lot. "Mein Name ist Andrés Nava", sagte er, "kann ich Ihnen helfen? Ich habe Sie schreien hören." Tirza drehte sich um, wies wortlos auf den am Boden liegenden Sanchez und erklärte mit drei Worten, was vorgefallen war. Der Soldat packte Sanchez am Rockaufschlag und schleifte ihn über das Deck bis zum Niedergang des Promenadendecks und gab ihm einen Tritt, daß er über die vier Stufen hinunterrollte und am Fuß der Treppe liegenblieb. Dann kam Andrés Nava zurück und führte Tirza behutsam an dem mit geschlossenen Augen daliegenden Kapitän vorbei, zurück zu ihrer Kabine. Sie verkroch sich in ihrem Bett und weinte, bis sie, immer noch trocken vor sich hin würgend, vor Erschöpfung einschlief. Im Einschlafen beschloß sie, Pedro von dem Vorfall nichts zu berichten. Sie beschloß aber auch, ihre Kabine nicht mehr zu verlassen, bis sie am Ziel angekommen wären.
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Als die Sonne aufgegangen war und die Pandora den Kurs ein wenig änderte, drangen die draußen reflektierten Sonnenstrahlen in die Kabine und wanderten unruhig über die weißen Wände. Sie erwachte. "Geht es dir wieder besser?" fragte Pedro, der an ihrem Bett saß. Sie versuchte angestrengt, ihre Gedanken zu ordnen. "Ich weiß nicht... Ich fühle mich müde und schwach, und ich glaube, ich kann mich überhaupt nicht mehr übergeben, so leer ist mein Bauch!" Dann bemerkte Tirza, daß Pedro die Kabine gesäubert hatte. Durch das geöffnete Fenster strich ein frischer, ungemein wohltuender Wind. "Du solltest versuchen, etwas zu essen oder wenigstens eine Tasse Tee zu trinken!" "Oh, laß mich bitte schlafen! No quiero nada más. Ich mag jetzt gar nichts! Es käme mir sofort wieder hoch! Bitte Pedro, laß mich einfach in Ruhe. Sei mir bitte nicht böse! Laß mich schlafen und allein sein!" "Meinetwegen", erwiderte Pedro, "du mußt selbst wissen, was dir guttut. Es wäre aber bestimmt besser, wenn wir beide an Deck einen kleinen Spaziergang machten. Du brauchst jetzt ein bißchen Bewegung. Die Seekrankheit besiegt man nicht mit Passivität. Versuche vor allem, dich nicht dauernd mit dir selbst zu beschäftigen. Du tust mir schrecklich leid, und ich kann dir nachfühlen, wie elend dir ist. Aber ich fürchte, ich kann dir so nicht viel helfen. Na, wie wär's mit einem kleinen Spaziergang?" 219
Tirza antwortete nur mit einem kaum hörbaren Stöhnen. "Na ja, vielleicht ist es wirklich besser, ich lasse dich allein, bis du das Schlimmste überwunden hast. Der Seegang hat nachgelassen. Der Wind hat fast aufgehört. Sei tapfer! Bis heute Mittag hast du's geschafft!" Tirza erinnerte sich an Sanchez' Worte und schämte sich, obwohl sie sich keiner Schuld bewußt war. Pedro saß noch eine Weile an ihrem Bett und schwieg. Er hielt ihre kalte Hand und wunderte sich ein wenig darüber, daß Tirza seinem Blick auswich. Aber er schob das auf ihren jämmerlichen Zustand und dachte nicht weiter darüber nach. Als Tirza sich mit geschlossenen Augen von ihm abwandte, ging er hinauf in den Speisesaal. Dort saßen nur die beiden Soldaten und frühstückten. Sie sprangen beide gleichzeitig auf, als Pedro eintrat, und grüßten militärisch. Er winkte ab, stellte sich vor und setzte sich dann an ihren Tisch. "Sie reisen auch Erster Klasse?" fragte er. Die beiden Soldaten lachten pflichtschuldigst. Dann sagte der jüngere der beiden: "Versuchen Sie den Kaffee lieber nicht, Teniente, sie würden in Ihrem Leben keinen mehr trinken! Er schmeckt wie verbrannter Mais!" " Sabe a mierda de perro! Wie Hundescheiße schmeckt er, mit Verlaub!" korrigierte der ältere. "Na ja, so schlimm wird's nicht sein!" sagte Pedro, bestellte aber sicherheitshalber eine Kanne Tee. 220
"Ist es Ihre erste Überfahrt?" fragte Pedro den älteren. "Nein, meine dritte", sagte Andrés Nava und rührte in seinem Kaffee herum. "Ich bin krank geworden. Man hat mich zurückgeschickt für drei Monate. Gott sei Dank war es kein Wechselfieber, wie man zuerst vermutete. Meine Frau ist mit den Kindern auf der Insel geblieben. Sie wird sich freuen, wenn ich wieder zurück bin." Andrés Nava hatte kaum noch Haare auf dem Kopf, obwohl er nicht älter als vierzig Jahre war. Sein Gesicht war rot und glatt wie ein Apfel, und seine Augen leuchteten in einem hellen Blau so auffällig, daß man beständig den Eindruck hatte, er lächle. Andrés Nava fragte nicht nach Tirzas Befinden. Er verschwieg den nächtlichen Zwischenfall. Es konnte ja durchaus sein, daß die junge Frau mit ihrem Mann noch gar nicht darüber gesprochen hatte, daß sie vielleicht nie darüber sprechen wollte. "Sie haben Kinder?" fragte Pedro. "Ja, zwei Töchter. Rosalía ist elf. Sie ist ein noch recht zartes Kind. Wir nennen sie Rosita. Laura ist sechs. Ich habe mich schon oft gefragt, ob es richtig war, sie dorthinaus mitzunehmen." "Glauben Sie mir, ich bin überzeugt, daß Clipperton, zumindest für die nächste Zeit ein idealer Platz für Kinder ist. Woher kommen Sie, Nava?" "Wir haben ein kleines Haus in der Nähe von Zacatecas." 221
"Zacatecas? Aus Zacatecas kommen Sie? Dann freuen Sie sich um so mehr, daß sie aus der Schußlinie sind mit Ihrer Familie. Pancho Villas Division del Norte marschiert nach Süden, und Zacatecas wird ihm im Weg sein. Er wird die Stadt nehmen müssen, weil er eine Festung dieser Größe in seinem Rücken nicht brauchen kann. Sie wissen, wie Pancho mit den Federales und ihren Freunden umgeht? Zacatecas ist eine unserer wichtigen Bastionen. Da müßten nach meiner Schätzung mindestens zehntausend Federales liegen." "Sie haben recht, Teniente", erwiderte Nava, "vor zwei Monaten waren es noch elftausend Mann. Es ist verdammt schwer, in diesen unruhigen Zeiten Entscheidungen zu treffen." "Ich glaube, sie haben es ganz richtig gemacht. Sie haben sich nichts vorzuwerfen", sagte Pedro und wandte sich dann an den jüngeren der beiden Männer. Er schätzte ihn auf Fünfundzwanzig: "Waren Sie auch schon drüben?" "Ja, zwei Jahre" "Sie waren auch krank?" "Nein, ich durfte zum erstenmal nach Hause. Ich hatte vierzehn Tage Urlaub und mußte dann für den Rest der Zeit in Colima Dienst tun. Bei einem Pionierbataillon." "Na, wie ist es so auf Clipperton?" 222
Eusebio Gerovia hörte auf, in seinen Huevos Rancheros herumzustochern und ließ die Gabel in den unordentlich auf dem Teller zerstreuten Rühreiern stecken. "Wollen Sie wirklich wissen, wie es dort ist?" fragte er mit ernstem Gesicht, lehnte sich zurück in seinen Sessel, streckte die langen Beine unter dem Tisch aus und fuhr mit beiden Händen durch die wirren, braunen Locken. "Wollen Sie es wirklich wissen, Teniente?" "Si, Señor!" antwortete Pedro Cardona, "natürlich will ich es wissen!" "Ich könnte es Ihnen mit zwei Worten sagen: langweilig und traurig! Aber damit können Sie wenig anfangen. Es entspräche auch nicht der vollen Wahrheit. Clipperton ist genau das, was Sie sich beim Lesen des Katechismus als kleiner Junge unter der Hölle vorgestellt haben! Ich nehme an, Teniente, Sie haben den Katechismus ebenso sorgfältig lesen müssen wie ich. Sie glauben nicht, wie einen diese Einöde verändert. Die ersten Monate erträgt man es noch. Dann fangen die Augen an, nach Hügeln zu suchen. Der Blick sträubt sich dagegen, in der Unendlichkeit zu versinken, wann immer man aufblickt. Es macht einen schwindelig, wenn die Augen nirgendwo rasten können. Dann kommt die ganz unbegründete, aber täglich wachsende Angst, dieser schwimmende Suppenteller könnte plötzlich untergehen. Man liegt auf der Pritsche und hört das Meer dröhnen in der Nacht, und dann sieht man mit wachen Augen, wie diese Schüssel einfach verschwindet und alle, die da auf ihrem Rand wie die 223
Ameisen im Vogelmist herumkriechen, mitsamt den armseligen Hütten und dem vollgeschissenen Felsen hinunterreißt auf den Grund des Ozeans. Und dann sieht man, wie sich das Meer über dem kreisrunden Loch wieder schließt und wie die Vögel in alle Himmelsrichtungen auseinanderstieben und einen neuen Rastplatz suchen, weil es dort, wo sie ihre Nester hatten, kein Land mehr gibt. Man macht sich die ganze Zeit Gedanken, was geschehen könnte, wenn man ernsthaft krank würde. Wir haben noch nicht mal einen Arzt im Lager. Statt dessen verpaßt uns Arturo Malonardo, ein wildgewordener Brujo, nach Gutdünken fürchterliche Tees und Klistiere. Vier Leute sind schon zurückgeschickt worden, weil Sie übergeschnappt sind und mitten in der Nacht Schreikrämpfe bekamen und nicht zu schreien aufhörten, bis die Sonne aufging. An den Gestank gewöhnen Sie sich bald. Aber sie werden sehen, wie sie die ersten Tage darunter leiden. Wer es nicht erlebt hat, ahnt nicht, wie Vogelscheiße stinkt! Doch Gott meint es gnädig mit uns und verstopft uns in seiner Güte nach zwei Tagen die Nase; dann riechen Sie nichts mehr. Dann schmecken Sie aber auch nichts mehr. Das heißt, Sie schmecken und riechen nur noch das Allergröbste. Das Aroma einer Zitrone riechen sie vielleicht noch oder den muffigen Mief des gekochten Dörrfleischs. Aber den zarten Duft einer Kokosnuß nehmen Sie nicht mehr wahr. Sie können höchstens versuchen, sich an diesen herrlichen Duft zu erinnern, wenn sie frische Kokosmilch trinken. Doch das alles ist nicht das Schlimmste. Am allermeisten geht einem auf die Nerven, daß man jeden Tag dieselben Gesichter sieht und nie weglaufen kann. Man ist nie wirklich allein. Die Wände der Hütten sind dünn, als ob 224
sie nicht da wären. Sie können kein Gespräch führen, das andere nicht mithören. Gut, man könnte das Lager verlassen oder an den Strand gehen. Aber dabei werden Sie von allen gesehen. Was zuhause ganz normal ist, daß sich zwei oder drei Menschen absondern von der Gemeinschaft, um ungestört miteinander zu reden, wird auf der Insel mit Argwohn und Eifersucht verfolgt. Man will wissen, was da geredet wird, so als ob man eine Verschwörung befürchte. Man stellt unsinnige Fragen. Sie werden mit den verrücktesten Aggressionen konfrontiert. Man unterstellt Ihnen, Sie seien schwul, oder Sie planten einen Aufstand. Es weiß jeder, daß das nicht so ist, aber man läßt Sie nicht in Ruhe. Es liegt einfach an der Einsamkeit und an der Gewißheit, nicht fliehen zu können. Diejenigen, die keine Frauen haben, beneiden die Verheirateten und machen obszöne Witze, die alles, aber auch alles in den Dreck ziehen. Jede sichtbare Zärtlichkeit führt zu anzüglichen oder gehässigen Bemerkungen. Und die Verheirateten reißen so lange zotige Witze und Possen über die Junggesellen, bis die, von Entbehrungen geplagt, überreizt zuschlagen, daß die Knochen krachen! Machen Sie sich auf etwas gefaßt mit Ihrer hübschen Frau, Teniente! Wollen Sie noch mehr wissen?" Pedro Cardona schüttelte nachdenklich mit dem Kopf. Eusebio Gerovia nahm seine Gabel wieder auf und aß ein paar Bissen. Dann legte er die Gabel wieder hin und sagte: "Ein Elendsfraß ist das. Fast noch schlimmer als im Lager! Ich möchte wissen, wie es einer fertigbringt, ein paar Rühreier, die außer ein bißchen Chili, Grünzeug und Käse keine Zutaten benötigen, so zu verhunzen, daß man nicht einmal mehr erraten kann, was man ißt!" 225
"Klingt nicht sehr verlockend", sagte Pedro Cardona und dachte dabei vor allem an Tirza. Er zweifelte plötzlich an Capitan Arnauds Aufrichtigkeit. Aber dann beruhigte er sich selbst und sagte sich, daß Eusebio Gerovia wohl besonders sensibel sei und alles übertreibe. Sein vergeistigt erscheinender Gesichtsausdruck ließ tatsächlich auf eine besonders feinfühlige Gemütsstruktur schließen. Doch dann bestätigte Andrés Nava das, was Eusebio Gerovia gesagt hatte: "Genauso ist es, Teniente, verdammt nochmal! Exacto! Ganz genau so ist es!" Am Mittag hatte sich der Wind gelegt. Die Sonne stand jetzt fast senkrecht am Himmel. Tirza weigerte sich trotz der Hitze, die Kabine zu verlassen. Nachmittags brachte ihr Pedro Zwieback und schwarzen Tee, aber sie wollte weder essen noch trinken. "Wie lange geht es noch, Pedro?" fragte sie, "wann kommen wir an?" "Morgen um diese Zeit hast du wieder festen Boden unter den Füßen! Wenn du daran denkst, wird dir das helfen." Abends traf sich Pedro wieder mit Andrés Nava und Eusebio Gerovia im Speisesaal. Als der Steward den Speisesaal für zehn Minuten verlassen hatte, weil er dem Kapitän das Essen auf die Brücke bringen mußte, stöberte Andrés Nava hinter der Pantry herum. Er zog die Schubladen auf und steckte seine Nase in die Schränke. Dann entdeckte er, daß in einem Schrank sechs Flaschen 226
Rotwein und zwei Flaschen Whisky lagen. Er pfiff laut durch die Zähne. "Kommt mal her! Seht mal, was ich da gefunden habe!" Pedro und Eusebio Gerovia begutachteten den Fund wohlwollend. Nava griff nach dem Korkenzieher, der auf der Pantry lag. "Trinken wir Rotwein oder Whisky?" "Rotwein!" sagten Pedro und Eusebio Gerovia gleichzeitig. "Was ist es denn für einer?" fragte Pedro. Nava hielt ihm die Flasche mit dem rosafarbenen Etikett vors Gesicht: "Es ist ein Vaumorillon 1911! Sehen Sie sich das an, Teniente! Es ist nicht zu glauben! Die haben Burgunder vor uns versteckt! Diese lausigen Geizhälse! Na, denen zeigen wir's!" Andrés Nava griff drei Flaschen aus dem Schrank, nahm sie mit und stellte sie unter ihren Tisch. Die vierte Flasche öffnete er. Er holte Gläser aus der Vitrine und schenkte gerade in dem Augenblick reihum ein, als der Steward sich mit einem Tablett durch die Pendeltüre drückte. "Wer hat Ihnen gestattet, sich selbst zu bedienen?" fragte er fassungslos und blieb mit dem Tablett vor der Brust stehen. "Wer hat Ihnen das erlaubt?"
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Andrés Nava blickte ihn unbewegt an und erwiderte trocken: "Der Käpt'n! Wir sind gestern Nacht dicke Freunde geworden, und er hat mich gebeten, mich auf seinem Schiff ganz zu Hause zu fühlen und mir keinerlei Beschränkungen aufzuerlegen." Der Steward blickte ihn ungläubig an. " Der Kapitän? Der Señor Capitan soll Ihnen erlaubt haben, sich selbst zu bedienen?" fragte er gedehnt, "das glauben Sie ja selbst nicht!" "Wenn Sie's nicht glauben, müssen Sie sich nochmal auf die Brücke bemühen und ihn fragen!" "Das werde ich tun!" murmelte der Steward. Dann hob er seine Stimme selbstbewußt und wiederholte laut: "Und ob ich das tun werde!" Er stellte das Tablett auf die Pantry und verschwand rückwärts durch die Pendeltüre, ohne den Blick von ihnen zu wenden. "Was soll das?" fragte Pedro belustigt, "gleich kommt er mit dem Käpt'n zurück, und es gibt Ärger!" "Wetten, daß er ohne Käpt'n zurückkommt und daß es keinen Ärger gibt?" sagte Andrés Nava und grinste. Er sollte recht behalten. Der Steward war schon nach zwei 228
Minuten wieder da und sagte mit gespielter Gleichgültigkeit: "Es ist in Ordnung. Es wäre mir und dem Kapitän aber recht, wenn Sie sich dazu entschließen könnten, es nicht zu übertreiben. Es sollte noch eine Flasche für ihn übrigbleiben!" Das war natürlich nicht so gemeint, wie es der Steward sagte. "Wir werden sehen, ob sich das machen läßt", antwortete Nava übermütig, und Pedro wunderte sich über den unerwarteten Verlauf der Handlung. "Hat der Käpt'n das wirklich gesagt?" fragte er dann Nava kopfschüttelnd und leise. "Hat er wirklich gesagt, daß wir uns bedienen können?" "Wir haben uns dabei sogar umarmt!" lachte Nava, und trank den ersten Schluck, den er langsam über die Zunge in die Kehle rollte, und er legte dabei den Kopf weit in den Nacken, als ob er gurgeln wollte. "Madre! Das ist ein Wein! Caballeros, probieren Sie!" Gerovia griff in seine Tasche und zog Spielkarten heraus. "Es gibt nichts Besseres gegen Ärger und Langeweile als ein anständiges Spielchen", sagte Andrés Nava. Eusebio begann zu mischen, ließ Pedro abheben und teilte aus. Eusebio gewann das erste Spiel mit einem Zehnertris. Sie kramten Geld aus ihren Taschen und begannen den 229
Jackpot zu füllen. Es ging nicht um allzu hohe Summen, aber es machte Spaß. Sie pokerten die halbe Nacht. Sie beäugten sich wie die Falken. Sie froren ihre Gesichter ein und verschleierten dramatisch ihren Blick. Sie sprachen mit leiser Stimme und vermieden Höhen und Tiefen und redeten, ohne die Worte zu akzentuieren, weil das die Karten hätte verraten können. Sie spreizten die Karten vor ihren Gesichtern und schnippten lässig mit den Fingern der freien Hand, bevor sie sie, wenn sie passen mußten, gleichgültig zu einem Bündel zusammenschoben, dessen Wert nur sie selbst kannten. Sie warfen die Münzen auf den Tisch, als gehörten sie ihnen nicht. Sie strichen das Geld aus dem Jackpot ein, mit unbewegter Miene. Sie mischten und gaben aus und sortierten das Blatt mit halbgeschlossenen Augen. Sie gewannen und verloren und versteckten ihre Freude ebenso wie ihren Zorn hinter Wachsgesichtern. Eusebio Gerovia machte gegen ein Uhr den Abschluß mit einem Königspoker gegen das Full House Pedros und milderte dadurch seine angewachsenen Spielschulden, die sich zu diesem Zeitpunkt auf acht Pesos und vierzig Centavos beliefen, auf einen Peso zehn. Nava hatte gewonnen. Auf dem Tisch standen sechs leere Burgunderflaschen. Sie hatten Severo Sanchez y Paz nicht einen Tropfen übriggelassen. "Poker ist das Beste, was uns die Gringos ins Land gebracht haben! Es ist das einzige, was ich von den Gringos akzeptiere", sagte Nava, bevor er sich verabschiedete, und als er schon an der Pendeltür war, drehte er sich nochmal um und ergänzte: "Trotzdem kann ich sie auf den Tod nicht leiden!"
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Als Pedro in die Kabine zurückkam, schlief Tirza fest, und er bemerkte, daß sie den Zwieback aufgegessen hatte. Pedro zog sich aus und legte sich nackt aufs Bett, ohne sich zuzudecken. Er suchte mit dem rechten Fuß Kontakt mit dem Fußboden. Heiland, dachte er, ich muß Anker werfen! Die Kabinendecke näherte sich ihm und entfernte sich dann wieder mit einer widerlichen Drehkippbewegung, und der Schrank neigte sich zu ihm herunter, während die Zierleisten unter einem imaginären Vergrößerungsglas alle Parallelität verloren. Gleichzeitig veränderte sein Bett den Anstellwinkel wie eine Jolle am Wind. Er ließ das Licht brennen zur besseren Orientierung und schloß nur ein Auge. So schlief er gegen zwei Uhr ein. Sanchez ließ sich den ganzen nächsten Tag nicht sehen. Das Meer lag spiegelglatt da, und kein Wölkchen trübte den blauen Himmel. Tirza hatte sich erholt und wieder Mut gefaßt. Sie hatte schon um elf Uhr alles gepackt, obwohl von der Insel noch nichts zu sehen war. Die Pandora rauschte friedlich und mit bewundernswerter Kraft durch das schwarze Wasser. Tümmler umtanzten das Schiff und Schwärme von Möwen und Fregattvögeln kreisten über ihnen, die ankündigten, daß sie bald am Ziel sein würden. Das Schiff hatte mit einem Mal seine Bedrohlichkeit verloren. Es war Pedro in der unerwarteten Stille sogar plötzlich so, als ob das wacklige Wrack sie beschützen wollte, als ob es seine verlotterten Planken mütterlich um sie legen wollte. Es war ihm, als ob die Pandora vor dem Ziel wieder Leben in sich fühlte. Die furchterregenden Geräusche hatten sich zu einem zarten Flüstern gesenkt. Das beängstigende Zusammenspiel 231
unangenehmer Gerüche und die Zeichen nahen Verfalls wandelten sich zu einer harmlosen Kulisse. Das war es wohl, was Sanchez meinte, als er am ersten Tag erklärte, die Pandora habe eine gutmütige Seele. Es war nicht der Kapitän, sondern der Erste Offizier, der gegen ein Uhr an die Kabinentüre klopfte und verkündete. "Wir sind gleich da! Machen Sie sich bitte fertig, Señor! Wir haben nur wenig Zeit und wollen sie nützen, solange wir Hochwasser haben und die Brandung schläft! Der Kapitän möchte Sie in spätestens zwei Stunden an Land haben." "Wo ist er? Wo ist Sanchez?" fragte Pedro durch die verschlossene Tür. "Der Capitan läßt sich entschuldigen. Er hat auf der Brücke zu tun." Tirza atmete auf. Jetzt wußte sie, daß sie ihn nicht mehr sehen würde. Ja, sie war Sanchez unendlich dankbar, daß er sich nicht zeigte. Eine Viertelstunde später standen Tirza und Pedro an Deck und starrten genau so fassungslos auf die Szenerie, die sich ihnen darbot, wie das acht Jahre vor ihnen Emilio Jeronimo Alvarez getan hatte. Sie kletterten das Fallreep hinunter, bestiegen ein Boot und schlossen die Augen. Sie ließen mit sich geschehen, was jetzt geschehen mußte. Sie beteten, als die Brecher sie durchnäßten. Sie begriffen nicht, woher das Wasser, das vom Schiff aus so friedlich erschien, plötzlich seine Kraft nahm. Über dem ersten Riff wurde das Boot zweimal um 232
seine vertikale Achse gedreht; der Bug bohrte sich tief unter einen Wellenberg, als das Boot nach einer unfreiwilligen Wende wieder auf die offene See hinaustreiben wollte. Der morsche Kahn schlug fast voll. Die Matrosen schöpften, was sie konnten, während das Boot immer noch im Strudel herumgeschleudert wurde. Um sie herum erhob sich im Kreis ein Gebirge schäumenden Wassers, das wunderbarerweise nicht über sie stürzte. Sie lagen fest im Auge des rasenden Malstroms, wurden geschüttelt und umhergewirbelt über den tödlichen Klippen des Riffs, während unter ihnen die Haie warteten. Dann schossen sie von einer wilden Kraft gepackt über das Wasser, daß es am Bug aufrauschte und die Wanten ächzten. Hinter ihnen erhob sich eine grüne Welle haushoch und fiel wieder zusammen, indem sie einen Wasserfall weißer Gischt auf sie herunterspie. Das Boot bäumte sich auf, wirbelte noch einmal herum und glitt wie über eine unsichtbare Schwelle in das ruhige Wasser des Riffkanals. Tirza nahm es kaum wahr, daß sie das Riff plötzlich hinter sich gelassen hatten. Die Matrosen tauchten die Riemen ein. Der Skipper begann ruhig zu zählen:" uno dos, uno dos, uno dos, uno dos,.." Das Boot war wieder unter Kontrolle. Fünf Minuten später hatte Tirza wieder festen Boden unter ihren Füßen. Sie fiel Pedro um den Hals und flüsterte: "Wir haben es geschafft, Pedro! Wir sind zu Hause!" 17 Der Weg über die knarrenden Bohlen des Landungsstegs erschien Tirza unendlich weit. Sie ging neben den schmalen Geleisen her, die zu einer Verladerampe führten 233
und die halbe Breite des Stegs einnahmen. Sie fühlte sich müde und schwach und schaute, zunächst innerlich unbeteiligt, auf die karge Andeutung festen Bodens, die da vor ihr auf dem Wasser zu schwimmen schien. Es war eigentlich nur eine Farbunterbrechung des Meeres am Horizont. Hinter ihr, rechts, links, überall Blau in den von Grün bis Violett reichenden Schattierungen des Spektrums. Dann vor ihr plötzlich diese verblaßte Tortilla im Wasser, deren Tönung von Ocker bis Rosa reichte. Es sah in der Tat so aus, als habe das Meer für ein paar Grade der Kompaßrose lediglich seine Farbe gewechselt. Wenn da nicht der schüttere Palmenhain gewesen wäre, der an einen vertrocknenden und auseinanderfallenden Blumenstrauß erinnerte, Tirza hätte an der Existenz dieses Landstreifens gezweifelt und ihn für eine flüchtige Fata Morgana der See gehalten. Was die Wirklichkeit ihr darbot, war eine ernüchternde Kulisse, die nichts mit den Bildern ihrer Träume gemein hatte. Sie wandte den Blick aus der erhöhten Position des Stegs nach Osten und er blieb an dem schwarzen Felsen hängen, der sich in weiter, kaum zu schätzender Entfernung jenseits des Ufersaums steil und nackt aus der Lagune erhob. In seinem kurzen Mittagsschatten entdeckte sie drei winzige Hütten. Aus einer der Hütten stieg eine Rauchsäule senkrecht in den Himmel, die vom Wind verwirbelt und schließlich dort aufgelöst wurde, wo sie über den Felsen hinauswuchs. Auf dem Gipfel des bizarren Monolithen sah sie den turmartigen Aufbau eines 234
Leuchtfeuers, an dessen spiegelnden Glasprismen das Sonnenlicht in einen Schwarm irrlichternder Funken zersprang, die über die Lagune tanzten und sich auf dem Wasser vervielfältigten und Tirza trotz der Entfernung des Felsens blendeten. Tirza wandte sich um und schaute nach Norden und erblickte nördlich des Palmenhains die Siedlung: Um einen Fahnenmast, der höher war als die höchste der Kokospalmen, drückten sich etwa zehn Holzhäuser in den Sand. Zwei der Häuser waren wesentlich größer als die anderen. Eins davon schien eine Unterkunft zu sein. Das zweite bestand aus zwei aneinandergebauten Hütten und einem weiteren Anbau ohne Fenster. Aus dem Dach der nördlichen Zwillingshütte ragten drei Schornsteine. Davor entdeckte Tirza eine Wasserstelle mit einer Pumpe. Dort war offensichtlich die Küche. Die Dächer waren tief über die Wände heruntergezogen und mit Drahtseilen und armdicken eisernen Heringen im Sand verankert. Davor, am Riffkanal und nordwestlich des Landungsstegs, hatte man einen Hangar errichtet, der umgeben war von verrottetem Werkzeug und den verstreuten Einzelteilen eines zerbrochenen Dampfbaggers. Die Stirnseite des Hangars ragte in den Riffkanal hinein und wurde seitlich von massiven Pfählen gestützt, die schräg aus dem Wasser ragten. Das Portal des Hangars war zur Lagune hin halb geöffnet, und man konnte im Halbdunkel der großen Halle das Heck einer Schute, eines flachen eisernen Lastkahnes, erkennen, der wohl dazu diente, das Phosphat durch den Riffkanal zu befördern. Im Kahn standen zwei Männer in ölverschmierten Overalls und beschäftigten sich mit der Maschine. Am Strand lagen neben einem Haufen leerer Kerosinfässer zwei durchlöcherte Dingis kieloben auf 235
morschen Balken. Vor dem Hangar, in tieferem Wasser, dümpelte eine rostige Boje von enormer Größe. Weiter im Norden quollen mächtige braune Erdhaufen aus dem Korallenschutt, die in lange, parallel angelegte Wälle übergingen, die wiederum durch tiefe Gräben voneinander getrennt wurden. Vor den braunen Phosphathügeln stand ein Zug mit sechs Kipploren ohne Zugmaschine auf schmalen Geleisen. Die Geleise teilten sich am Hangar in drei Schienenstränge auf, von denen einer zum Landungssteg und einer nach Südosten führte, wo er, etwa in Höhe des Palmenhains, an einem Prellbock endete. Das also war die Insel, auf die sie sich so sehr gefreut hatte. Kurz bevor sie das Ende des Stegs erreicht hatten, kam Ihnen Capitan Arnaud entgegen. Er hatte seinen kleinen Sohn an der Hand, der die Ankömmlinge neugierig musterte. Capitan Arnaud küßte Tirza freundlich die Hand und umarmte dann Pedro. "Bienvenido en casa! Willkommen daheim!" sagte er. "Es tut mir so leid, daß wir Sie mit dem Ruderboot abholen mußten. Die Schute streikt. Die Einspritzpumpe macht uns schon eine ganze Weile Probleme. Wir sehen uns gleich! Ich kümmere mich nur noch schnell um die Vorräte und um die Phosphatverladung! Agustin wird Sie zu Ihrem Haus begleiten". Arnaud gab dem Soldaten, der gerade an ihnen vorbeigehen wollte, einen Wink. Pedro schritt neben Tirza her. Er trug die Reisetasche, schaute kaum um sich, hielt den Blick fest auf die Siedlung fixiert und sagte zunächst kein Wort. 236
"Es sieht schrecklich aus, Pedro!" flüsterte Tirza, als sie durch den Palmenhain gingen. Neben ihnen schleppten drei Soldaten den Rest des Gepäcks. "Mein Gott, ja, es sieht schrecklich aus!" bestätigte Pedro. Dann überfiel sie der Geruch. Es war der erdig saure Geruch, den Tirza vom Kirchturm von Puente de Ixtla her kannte, wo die Falken ihre Nester hatten und wo die Tauben die Balken und das Mauerwerk mit kalkigem Kot bespritzten; nur, hier war er so infernalisch, daß er die Nasenflügel auseinandertrieb, sich in den Kopf bohrte und den Magen umdrehte. Der Gestank nahm beinahe sichtbare Gestalt an, legte sich wie kondensierender Dampf auf ihre Körper, so daß Pedro ausspuckte, als ob er verhindern wollte, daß sich das, was er da einatmen mußte, in seinem Mund festsetzte. Tirza krümmte sich und erbrach sich wieder, noch bevor sie den Palmenhain wieder verlassen hatten. "Das gibt sich!" meinte ein Soldat. "Das riechen Sie nur zwei Tage!" Tirza glaubte das, weil sie in dieser Minute auch für den kleinsten Trost empfänglich war. Aber jetzt war der Geruch stechend und unbarmherzig da, wie der Atem des Leibhaftigen, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß er je verschwinden würde. Sie beugte sich würgend unter ihm und begann zu laufen, aber sie konnte dem Geruch nicht entfliehen. Im Gegenteil, je weiter sie an das Lager herankamen, desto schlimmer wurde es. Im südlichsten der Phosphatgräben wälzten sich vier schwarzgefleckte 237
Schweine. Jetzt gesellten sich noch der süßliche Geruch des Schweinemists und die Blähungen faulender Abfälle dazu, und Tirza erblickte den Haufen aus Knochen, leeren Dosen und Flaschen, kaum einen Steinwurf entfernt von der ersten Hütte, unter deren Dach ein Soldat unter einer Wolke summender Fliegen in der Hängematte schlief. Die Müllkippe erweckte den Eindruck, als ob sich ein Heer von Ratten darüber hergemacht hätte, weil die Abfälle wild verstreut dalagen und nichts mehr an ihnen war, was von Rattenzähnen noch hätte abgelöst und zerkleinert werden können. Der Soldat, der neben ihnen herging, bemerkte Tirzas Verwunderung und sagte: "Das waren die Krabben! Sauber abgenagt, nicht wahr? Hüten Sie sich vor den Krabben! Die fressen Sie auf, wenn Sie nicht aufpassen!" Tirza sah ihn fragend an: "Die Krabben?" "Oh, ja, sie hocken überall unter den Steinen, besonders am Rand der Lagune. Die Krabben haben die älteren Rechte, sie waren lange vor uns da! Es ist ihre Insel! Es sind Millionen! Sobald die Sonne untergeht, erwachen sie zum Leben. Sie fließen wie rote Farbe über das Land, und es gibt nichts Weiches, was ihnen widersteht. Sie stürzen sich zuerst auf den Müll. Und das ist gut so, denn dann haben wir wenigstens die erste Stunde Ruhe vor ihnen. Dann aber, wenn sie alles abgenagt und kahlgefressen haben, löst sich der rote Haufen über dem Abfall wieder auf und wuselt auseinander, und die Biester beginnen das Lager abzusuchen. Dann ist es Zeit, daß Sie die Türe schließen. Die roten Teufel hängen sich sonst in den Stoff Ihrer Kleider, fressen Ihre Schuhe auf. Sie suchen nach vom Tisch gefallenen Dörrfleischresten, sie zwicken ihnen die Zehen blutig, wenn Sie unvorsichtig genug sind, 238
abends barfuß zu gehen. Sie werden es schon sehen, Sie lernen es bald, mit diesen Bestien umzugehen!" Tirza sah angestrengt zu Boden, um die Bestien irgendwo zu entdecken. Aber sie erblickte im Schatten der ersten Hütte nur einen einzigen ganz harmlosen orangeroten Taschenkrebs, so groß wie eine Kinderhand, dessen urzeitliche Stielaugen verwundert in die Gegend starrten, während er sich mit drohend aufgerichteten und klappenden Scheren in schwankendem Seitwärtsgang eiligst in ein Schattenloch unter den Fußboden der Hütte verdrückte. Der Soldat lachte und spuckte seinen Priem in die Gegend, wo die Krabbe verschwunden war. Kaum hatte der Klumpen den Boden berührt und seinen süßen Hickorygeruch verbreitet, stürzten mit einem plötzlich einsetzenden, raschelnden Geräusch Hunderte der Tiere aus ihren dunklen Verstecken, wälzten sich über den Priem, kümmerten sich nicht um das grelle Sonnenlicht, das sie verabscheuten, zappelten wie tollwütige Spinnen übereinander und absorbierten das ausgelutschte Stück Kentuckytabak in Sekunden. Dann verschwanden sie so schnell, wie sie gekommen waren. "Sehen Sie, wie gierig sie sind?" sagte der Soldat und grinste. Tirza war zu müde, um so entsetzt zu sein, wie sie es eigentlich hätte sein müssen. Es lag wohl auch an ihrer Müdigkeit, daß ihr zunächst das Geschrei nicht besonders auffiel, das sie umgab.
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Über dem dumpfen Tosen der Brandung, das vom Riff her wie ferner Donner zu ihnen drang, schwirrte ein metallisches Geschrei, ein Zetern und Pfeifen, ein Flöten und Krächzen in allen Lagen der Tonleiter. Die Vögel flatterten über ihren Köpfen, so nah, daß Tirza den Luftzug ihrer Schwingen spürte und fürchtete, sie könnten sich in ihrem Haar verfangen. Die blaugesichtigen Tölpel watschelten erschreckt vor ihnen her oder hockten, keine Armlänge entfernt, auf ihren steinigen Nestern zwischen Unmengen zersprungener Kokosnußschalen am Boden, plusterten sich auf und sahen sie feindselig an. Es war Tirza, als ob die Fregattvögel und Albatrosse, die da hoch über den Palmen ihre Kreise zogen, die Nachricht ihrer Ankunft im Chor über die Insel schrien. Der Soldat ging nun vor Tirza und Pedro her. Er brachte sie durch die schmale Dorfstraße, die in planlosen Windungen zwischen den Hütten hindurchführte. Ziemlich am Ende dieser Straße, im Norden einer Bucht, die der Soldat Zangenbucht nannte, und die von zwei weit hinausragenden flachen Halbinseln und einer sich im Norden anschließenden kleineren Insel gebildet wurde, stand das Haus, das Tirza und Pedro als Unterkunft zugedacht war. Das Wasser der vom Meer isolierten Lagune lag in seiner Korallenpfanne wie geschmolzenes Zinn und kräuselte sich grau im Wind. Nur wenn man genau hinsah, konnte man das gegenüberliegende Ufer erkennen, das einem auf dem Wasser liegenden grauen Zwirnsfaden glich, über dem die im Dunst versinkende Silhouette von vier einsam 240
stehenden winzigen Palmen schwebte. Auf dem Tisch vor dem Haus stand eine Flasche mit Gläsern, und daneben raschelte in einer Alabastervase ein Strauß trockener Palmblätter im Wind. Der erste Raum, die kleine Stube, war hell und sauber. Drei braune Ledersessel standen um einen niedrigen Tisch. Ein rotgelber Wollteppich leuchtete im Sonnenlicht, das durch die Schiebefenster drang, und reflektierte Farbe an die glatten Wände aus Kiefernholz. Eine hölzerne Stehlampe mit einem ausladenden dottergelben Seidenschirm und weißen Fransen, ein Regal mit einem Dutzend Bücher, ein Schreibtisch mit allen notwendigen Schreibutensilien, eine Wanduhr mit Emailzifferblatt, die beruhigend vor sich hintickte: das alles nahm den ersten Eindrücken, die Tirza überfallen hatten, ein wenig den Schrekken. Die Fenster wurden eingerahmt von ebenfalls dottergelben Vorhängen, und zwischen den beiden Türen, die in weitere Räume führten, hingen Kupferstiche, die den Hafen von Veracruz und das Castillo de México darstellten. Arnaud hatte sich etwas einfallen lassen und sich wirklich Mühe gegeben, Tirza und Pedro ein angenehmes Heim einzurichten. Hinter dem Wohnzimmer, auf der Ostseite, lag das Schlafzimmer, das von einem breiten Bett beinahe ausgefüllt wurde. Tirza fragte sich, wie man dieses monströse Exemplar spanischen Kolonialstils in die kleine Hütte gebracht hatte. Es sah fast so aus, als hätte man das Haus um das Bett herum gebaut. Aber dann entdeckte sie, daß es aus Einzelstücken bestand, die mit Messinghaken und eisernen Scharnieren miteinander verbunden waren. Kopf und Fußende ragten auf wie dunkelbraunes Chorgestühl, 241
geschmückt mit Engelsköpfen und Rosenranken. Die Bettwäsche leuchtete in bläulichem Weiß und verströmte den Geruch von Kernseife. Auf beiden Nachttischen standen Öllampen. Unter den Nachttischen versteckten sich schamhaft irdene Nachttöpfe mit geschwungenen Henkeln. Ein schwerer Kleiderschrank, ein geschliffener Garderobenspiegel und eine Kommode mit acht Schubladen vervollständigten die Einrichtung des Schlafzimmers. Die Küche, die man durch die zweite Türe des Wohnzimmers erreichen konnte, war ebenfalls ordentlich eingerichtet. Da stand ein gemauerter Herd in der Ecke, neben dem ein Stapel zerkleinerten Schwemmholzes aufgeschichtet lag. An einem Balken über dem Herd hatte man ein Pfannenholz befestigt, in dessen Aussparungen vier vom Ruß geschwärzte Pfannen hingen. Daneben blinkten an weit aus der Wand ragenden Haken fünf Kupfertöpfe unterschiedlicher Größe. Aus dem Tellerbord leuchtete weißes Geschirr, und vor dem kleinen Westfenster, das dem unendlichen Blick über das Lager und das offene Meer einen begreifbaren Rahmen gab, stand ein mit blauen Azulejos gekachelter Teetisch mit zwei Stühlen. Tirza atmete auf. Das war das Haus, das sie sich vorgestellt hatte. Aber auch in diesen freundlichen Räumen stank es so sehr nach Vogelmist, daß sie, obwohl sie jetzt Hunger hatte, nicht ans Essen denken wollte. Die Soldaten brachten das Gepäck und stellten es im Wohnzimmer neben der Haustüre ab. Pedro schaffte zuerst die Kisten mit den Kleidern ins Schlafzimmer und öffnete 242
sie mit einem Stemmeisen und einem Hammer, die er in der Werkzeuglade unter dem Schreibtisch fand. Tirza wischte die Schrankfächer und Schubladen der Kommode aus und begann, die auf dem Bett ausgebreiteten Wäschestücke und Kleider einzuräumen. Pedro ging hinaus und hörte von der Rifflagune her das Tackern eines Dieselmotors. Sie hatten die Schute offenbar wieder klar und begannen drüben am Hangar mit der Verladung des Phosphats. Jetzt hörte er auch das Rattern der Kipploren auf dem Geleis, das über den Steg zur Verladerampe führte. Er umrundete die Hütte. Sie lag ganz nahe am Wasser. Windenartige Schlinggewächse machten den Versuch, sich aus dem Schatten des Hüttendachs heraus über den Korallensand auszubreiten. Aber sie verkümmerten, sobald die Triebe einige Meter Länge erreicht hatten. Diese Winden schienen die einzigen Pflanzen zu sein, die die Krabben nicht mochten. Sonst wäre es ihnen wohl nicht gelungen auch nur ein einziges Blatt zu treiben. Oberhalb der Zangenbucht, an der breitesten Stelle des Landrings, erstreckte sich, kaum hundert Meter vom Ufer entfernt, eine Kette kleiner Inseln. Diese schienen außer dem schmalen Eiland vor dem Lager die einzigen Inseln der Lagune zu sein. Wohl wegen ihrer geschützten Lage wurden sie von den Vögeln als begehrte Brutplätze umkämpft. Pedro wußte von Arnaud, daß die Gringos sie sehr zutreffend Egg Islands, Eierinseln, genannt hatten. Pedro schaute über die niedrige nördliche Landzunge hinaus auf das Gebiet, wo die kleine Garnison für die Pacific Phosphate Company tätig war. In den wenigen Jahren ihrer Aktivität hatte die Pacific Phosphate 243
Company dem flachen Grund schlimme Wunden zugefügt. Bis weit hinauf nach Norden zogen sich die Gräben, die ihre Arbeiter ausgehoben hatten. Der in Jahrtausenden aufgeschichtete Vogelmist war aus seinem Bett geworfen worden und wartete jetzt, in unförmigen Haufen aufgetürmt, auf den Abtransport. Etwas weiter westlich standen die anderen Häuser der Siedlung. Vor den Hütten der Nachbarschaft spielten Kinder. Vom Süden her, aus der Richtung des Palmenhains, näherte sich ein Trupp Soldaten dem Lager. Es wehte ein warmer Wind vom offenen Meer her, der die Fahne hoch oben am Fahnenmast knattern ließ. Wenig später erschien Capitan Arnaud. "Es tut mir leid, daß ich Sie nicht zu Ihrem Heim begleiten konnte!" sagte er zu Pedro. "Capitan Sanchez will morgen in aller Frühe wieder auslaufen. Er will vierzig Tonnen Phosphat mitnehmen. Ich mußte mich außerdem um die Vorräte kümmern und mit dem Vormann die Liste der notwendigen Bestellungen durchgehen. Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit!" Pedro schenkte ein. Arnaud erhob sein Glas: "Auf viele glückliche Jahre!" sagte er und wandte sich an Tirza: "Sie werden sehen, es gibt kaum etwas, worauf Sie hier verzichten müßten!"
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Tirza sagte eine Weile nichts, dann fragte sie: "Wo ist das Bad?" Das erschien ihr offenbar zunächst am wichtigsten. Ramón Arnaud sah Tirza überrascht an. "Das Bad?" Er griff sich in den Bart. "Das Bad?" wiederholte er. Dann holte er Luft und sah zum Fenster hinaus. "Señora Cardona, wir haben hier kein Bad. Das reine Süßwasser ist viel zu kostbar. Wir sammeln es in Zisternen und brauchen es für die Zubereitung der Mahlzeiten und zum Trinken. Wenn Sie baden wollen, müssen Sie das in der Lagune tun. Das Wasser ist kaum salzig, weil das Meer nur langsam durch den Korallengürtel dringt und sich der Regen in dem flachen See wie in einer Schüssel sammelt, Es ist auch sehr warm weil die Sonne ihre ganze Kraft in diese Schüssel schickt. Wir benützen das weiche Lagunenwasser auch, um unsere Wäsche zu waschen." Tirza begriff. Sie war mittlerweile Überraschungen gewöhnt. Sie hatte auch gar nicht erwartet, daß irgendwo auf dieser Insel warmes Badewasser aus dem Wasserhahn floß. Was sie vielmehr mit ihrer Frage meinte, war etwas ganz anderes. "Und die Toilette?" fragte sie nun direkt. "Wo ist die Toilette?" "Wir haben dafür ein kleines Haus am Riffkanal", erwiderte Arnaud etwas verwirrt. Er zeigte dabei durchs Fenster.
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"Sehen Sie die niedrige Hütte rechts vom Hangar?" Tirza sah durchs Fenster und nickte. "Dort wird alles von der Flut mitgenommen. Es ist unmöglich, jede Hütte mit einer eigenen Toilette auszustatten. Wir können hier keine Senkgruben einrichten, ohne uns selbst zu verseuchen. Der Boden ist durchlässig wie ein Sieb. Es würde alles in die Lagune sickern, vor allem wenn es regnet. Sie werden mich verstehen, sobald Sie das erste Tropengewitter erlebt haben. Da kommt das Meer von oben her über Sie. Da wird alles was nicht verankert ist zum Treibgut, und es wird in ungeheuren Strömen in die Lagune geschwemmt. Da wissen Sie nicht mehr, was Sie einatmen, Wasser oder Luft! Senkgruben würden dabei überschwemmt, und wir hätten die ganze Jauche in der Lagune. Verstehen Sie das?" Tirza verstand annähernd, was er meinte. Sie schätzte den Hin und Rückweg zum Häuschen am Hangar auf gut zehn Minuten. Sie sagte nichts weiter, aber sie fragte sich, warum sie die Abfälle nicht auch dem Meer übergaben, bevor sich die Krabben darüber hermachen konnten. Wahrscheinlich diente der Haufen, wie der Soldat gesagt hatte, nur dazu, die Krabben abzulenken, wenn sie aus ihren Löchern kamen. Die beiden Männer setzten sich an den Tisch. Arnaud lehnte sich zurück und wandte sich an Pedro. "Ich bin so froh, Teniente, daß Sie mir hier helfen. Es gibt so manche Schwierigkeit. Wissen Sie, so weit weg von der Heimat entwickeln sich eigene Gesetzmäßigkeiten, die es 246
einem wahrlich nicht leicht machen, den Überblick zu behalten. Da ist es gut, einen verläßlichen Freund zu haben. Ich habe Sie in Manzanillo als verläßlichen Freund kennengelernt und, nehmen Sie es mir bitte nicht übel, ich habe mich erkundigt. Man hat mir Ihre Besonnenheit und Ihre Zielstrebigkeit bestätigt. Sie müssen mir helfen, diesen Sauhaufen hier unter Kontrolle zu halten. Das ist nicht so schlimm, wie es zunächst scheint, weil die Leute keine Wahl haben. Die sitzen hier fest und jeder weiß das. Hier gibt es kein Entkommen. Aber es kommt doch bisweilen so etwas wie ein anarchistischer Gedanke auf, und die Mannschaft glaubt, man sei hier außerhalb der Reichweite der Gesetze. Die Leute versuchen dann zu rebellieren. Es ist nie wirklich ernst. Es ging bisher vor allem um die Zuteilungen, die Fleischrationen oder um Schnaps. Es gab aber auch schon offene Rebellion. Das heißt, einzelne psychisch nicht stabile Männer haben mich unter Druck setzen wollen. Ich habe sie dann einen oder zwei Tage eingesperrt, und die Dinge waren wieder im Lot. Es ist bestimmt gut, wenn alle wissen, daß zwei da sind, die auf sie aufpassen. Man darf auch nicht vergessen, daß man ja zwischendurch auch mal schlafen muß! Wir haben übrigens ein sehr bewährtes Arrestlokal, eine kleine Hütte ohne übertriebenen Komfort. Sie ist nicht besonders gesichert, aber bis jetzt ist mir noch keiner abgehauen." Er machte eine kleine Pause. "Das wäre auch nicht sehr sinnvoll. Sie verstehen?" Pedro sah Arnaud erstaunt an. "Warum haben Sie mir von diesen Schwierigkeiten nichts erzählt, als wir in Manzanillo miteinander sprachen? 247
Finden Sie es fair, mich erst jetzt mit den Problemen zu konfrontieren? Ich bin der Letzte, der sich vor Schwierigkeiten drückt, aber ich hätte es gern gewußt, bevor ich mich entschieden habe!" "Ach, Teniente, als Soldat muß man immer auf Überraschungen gefaßt sein. Sie kennen Disziplinschwierigkeiten so gut wie ich. Man darf das nicht überbewerten. Ich wußte, daß das, was Sie hier erwartet, durchaus im Rahmen unserer militärischen Aufgaben liegt. Es gab keinen Grund für mich, Ihnen unbegründete Sorgen zu machen, weil ich wußte, daß Sie das hier ohnehin meistern werden." "Wie konnten Sie denn bisher die Insel für Monate verlassen, wenn Sie keinen verläßlichen Stellvertreter hatten?" "Ich hatte einen, Teniente! Ich hatte sogar einen sehr zuverlässigen Mann. Er mußte vor einem Jahr zurückgebracht werden, weil er krank geworden war. Es war irgendetwas mit dem Blut. Nichts Ansteckendes. Er wurde jeden Tag müder und schwächer. Na ja, ich bin froh, daß Sie da sind." Arnaud hob sein Glas und sah Pedro in die Augen, und Pedro schwieg. Dann schenkte sich Pedro das Glas wieder voll und trank es aus. Und er schenkte es sich ein drittes Mal voll. Schließlich stand er auf und ging aus der Hütte, schaute über das ruhige Wasser der Lagune und sagte sich: ein Arschloch bist du, daß du dich hast überreden lassen. Das gottverdammteste Arschloch der Welt! Er spuckte 248
wütend auf eine der roten Krabben zwischen seinen Füßen. Dann knöpfte er seine Hose auf und urinierte voller Zorn auf das Tier. Er ließ es auf den speckigen roten Panzer plätschern, daß der Krebs erschreckt die Scheren anlegte und unter einen Stein floh. Er kehrte zurück in die Hütte und trank mit Ramón Arnaud die Flasche leer, während Tirza mit einer so bedächtigen Sorgfalt Hemden, Strümpfe und Unterhosen in die Schränke und Schubladen schichtete, daß man meinen konnte, sie hätten eben eine Suite im Ritz bezogen. Nachdem sie die zunächst benötigten Kisten ganz ausgepackt hatte, was beinahe zwei Stunden dauerte, zerspänte sie ein paar Stücke des Schwemmholzes mit einem Messer. Sie spießte die eisernen Topfringe auf den Schürhaken und schob sie zur Seite. Sie schichtete die Späne von oben her über die zerknüllte Zeitung, drehte aus einem Stück Papier einen Fidibus und feuerte den Herd an. Die ersten Flammen züngelten lautlos aus dem kreisrunden Loch, und weißer Rauch stieg an die niedrige Decke. Tirza setzte die Ringe zurück. Man hörte ein seufzendes Geräusch im Ofenrohr, und das Feuer knisterte auf und fauchte seine Hitze durch den Kamin in den Himmel. Tirza ging in der hereinbrechenden Dämmerung zum Wasserbehälter vor der Hütte, über dem wie ein umgekehrter Regenschirm ein kupferner Trichter zum Einsammeln des Regenwassers hing. Das Wasser roch nach Vogelmist. Die Vögel mieden zwar das Lager, aber es war nicht zu vermeiden, daß der eine oder andere beim Überfliegen der Häuser etwas fallen ließ. Bis jetzt hatte auch noch keiner eine brauchbare Vorrichtung erfunden, 249
die für Regenwasser durchlässig gewesen wäre und gleichzeitig Vogelmist von den Zisternen abgehalten hätte. Ein wirksames Filtersystem mit Korallensand gab es nur an der Zisterne der Küche. Andererseits störten die kleinen Mengen Mist im Wasser nicht, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte. Tirza brühte Kaffee auf und brachte ihn den beiden Männern. Sie fand sich ziemlich rasch zurecht in ihrem Haushalt. Als sich Tirza gerade zu Pedro setzen wollte, geschah etwas Unerwartetes. Draußen war außer dem entfernten Dröhnen der Brandung nichts mehr zu hören. Das Geschrei der Vögel war in der Dunkelheit eingeschlafen. Die Öllampen brannten flackernd in der kleinen Hütte und erleuchteten mit ihrem lebendigen Licht eine winzige Oase heimeliger Sicherheit. Es ging nur noch das nächtliche Raunen des Meeres um die Insel. Da plötzlich, als Pedro seine Tasse an die Lippen heben wollte, drang ein gläsernes Trompetensignal aus der Nacht durch die dünnen Wände der Hütte. Das wäre nichts Besonderes gewesen, wenn es sich um ein Signal gehandelt hätte, das jedermann kannte. Was aber da erklang, war die eigenwillige, den fünf Naturtönen eines Signalhorns angepaßte Interpretation der Valentina, die Pedro zum erstenmal gehört hatte, als Sombrero die Nachtruhe von Manzanillo störte. Pedro war so erstaunt, daß er seine Tasse zurückstellte und aufsprang. 250
"Wer ist das? Wer bläst da die Valentina?" fragte er Arnaud. Der sah Pedro an, als habe er den Verstand verloren. "Nehmen Sie das so ernst, Teniente? Seien Sie nicht kindisch! Wir sind hier nicht im Palacio Nacional! Die Leute haben keine Ahnung, woher diese Melodie stammt!" "Darum geht es mir nicht!" erwiderte Pedro mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Sollen sie doch da draußen singen oder blasen, was sie wollen! Ich will wissen, wer das ist, der da draußen die Valentina bläst!" "Es ist Francisco", erwiderte Arnaud etwas ratlos, "er macht das jeden Abend um diese Zeit!" "Wer ist Francisco?" insistierte Pedro. "Ein kleiner Junge! Der Sohn von Irra. Arturo Irra ist einer der tüchtigsten Leute meiner Mannschaft", antwortete Arnaud. Das war Pedro nicht genug. "Sie entschuldigen mich einen Augenblick, Capitan!" Ramón Arnaud zuckte die Schultern: "Bitte, Teniente!" Pedro verließ die Hütte. Ramón Arnaud sah kopfschüttelnd die Tür ins Schloß fallen. Die Valentina war verklungen, aber danach folgten die bekannten Takte der Cucaracha und die Triolen aus dem Zapfenstreich, die Sombrero damals von Paco übernommen hatte.
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Pedro stolperte im Dunkeln zwischen den Häusern herum und ging den Klängen des Horns nach. Er fand zu seiner Enttäuschung vor einer der erbärmlichsten Hütten des Lagers wirklich nur einen kleinen Jungen, der allenfalls zehn Jahre alt war. Der Kleine hielt im aufblitzenden Licht des Leuchtfeuers, das nach Einbruch der Dunkelheit alle zehn Sekunden eine Keule blendender Helligkeit von der Spitze des Felsens auf das Lager schleuderte, das Horn gegen den Himmel gerichtet und blies selbstvergessen vor sich hin. Pedro setzte sich neben ihn auf die oberste Stufe der Holztreppe. Der Kleine legte das Horn auf die Treppe und fragte "Bist du neu hier?" "Ich bin heute mit dem Schiff gekommen", antwortete Pedro. "Verstehst du was davon?" fragte der Junge und wies mit dem Zeigefinger auf sein Horn. "Ich denke schon", sagte Pedro, "ich selbst bringe zwar keinen Ton aus so einem Ding heraus, aber ich hatte einen Freund, der blies wie ein Posaunenengel!" Francisco hob das Horn wieder auf und schmetterte das Angriffssignal der Gringos so wild in die Luft, daß jeder, der im Lager bereits schlief, aufwachen mußte. Er sah Pedro dabei aus den Augenwinkeln an und überzeugte sich davon, daß er ihm auch mit der nötigen Aufmerksamkeit zuhörte.
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"Das ist gut, nicht wahr?" fragte er lauernd. "Es ist verdammt gut!" antwortete Pedro, "das könnte ich nie!" Francisco schaute Pedro befriedigt und doch mißtrauisch an. "Ach was! Das kann jeder lernen! Man muß nur üben und die Töne aushalten!" Pedro verstand nicht. "Was heißt das, die Töne aushalten?" Francisco warf den Kopf in den Nacken. "Du weißt nicht, was das ist, Töne aushalten, und du willst was vom Hornblasen verstehen? Also, paß' auf! Du mußt dich ganz ruhig hinsetzen und die Lippen weichmachen. So weich wie eine Pferdeschnauze mußt du sie machen!" Franzisco schob seine Lippen nach vorne, so als wolle er Pedro einen Kuß geben. "Dann machst du sie feucht mit Spucke. Nicht naß, nur feucht! Sie dürfen nicht naß sein, sonst furzt es." Francisco demonstrierte, was er meinte, indem er die Lippen glänzend naß machte und dann in sein Horn blies und einen schnarrenden Ton mit sausenden Nebengeräuschen erzeugte. "Hast du gehört, wie es gefurzt hat?" fragte er und nickte dabei, weil er voraussetzte, daß Pedro ihn verstanden hatte. 253
"So, und jetzt zeige ich dir, wie es richtig gemacht wird." Er ließ die Zunge um die Lippen kreisen und tupfte den Mund vorsichtig mit dem Ärmel ab. "So! Jetzt mußt du ganz unten anfangen, beim tiefen C. Dann bläst du das tiefe C so lange, bis dir die Luft ausgeht. Dabei mußt du ganz leise blasen! So leise, daß man den Ton eben noch hören kann! Hör' zu, das geht so!" Francisco nahm das Horn, machte die Lippen weich und feucht und hauchte einen kaum hörbaren, endlos langen, samtenen, tiefen Ton in das schwingende Instrument. Er setzte ab und holte Luft. "Hast du es gehört? So, und jetzt gehst du eins höher zum G und hältst das wieder so lange aus, bis du glaubst, du müßtest ersticken. Dabei darf der Ton nicht schwanken. Nicht einmal zittern darf er! Dann geht's hinauf zum hohen C, dann zum E, zum G .." Tiiiiiiiiiiiiii, blies Francisco, daß sich Pedro am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aber er beherrschte sich, um den Jungen nicht zu kränken. Francisco sagte: "Das machst du jeden Tag einmal, wenn die Sonne aufgeht und einmal, wenn sie untergeht. Dann ist der Rest ein Kinderspiel!" Francisco blies noch einmal das hohe G und schloß dann in wehmütiger Klarheit eine traurige Melodie an, die langsam über der Lagune verhallte.
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"Du bist ein großer Hornist, Francisco! Ich finde, du machst das wunderbar!" Francisco rubbelte das Mundstück an seinen Haaren und drehte das Horn um, um die Spucke herauslaufen zu lassen. Dann sah er Pedro in die Augen und sagte: "Ich weiß, daß es gut ist. Die Tölpel und die Fregattvögel und sogar die Schweine hören mir zu, wenn ich loslege!" "Das glaube ich! Wo hast du das denn um Himmels willen so perfekt gelernt?", fragte Pedro. "Wo hast du das Horn her? Wer hat dir das beigebracht?" "Das war Sombrero", antwortete Francisco. Pedro sah den Kleinen ungläubig an, dessen lebendiges Jungengesicht in den Blitzen des Leuchtfeuers immer wieder zur Maske erstarrte. "Sombrero war das? Du hast ihn also gekannt?" "Kennst du ihn auch?" fragte Francisco zurück. "Oh, ja, ich habe ihn kennengelernt, als er noch in Manzanillo lebte und nach Einbruch der Dunkelheit die halbe Stadt in den Wahnsinn trieb mit seinem Horn." "Mit dem da?" hakte Francisco nach und streckte Pedro das Horn hin. "Nein, mit seinem eigenen. Er hatte es von einem kleinen Jungen, der Paco hieß."
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"Dann ist es also doch das da! Das war mal Pacos Horn!" rief Francisco aus und schmetterte wie zur Bestätigung dreimal hintereinander das hohe C in die Luft. Pedro stand ganz langsam auf. "Wo ist Sombrero?" fragte er und gab sich Mühe, beherrscht zu bleiben. "Drin, in der Hütte! Ich glaube, er schläft." Francisco wies mit dem Daumen zur Hüttentür. Pedro riß die Tür auf. In der kaum erleuchteten Hütte stand ein Tisch mit vier Stühlen unter einer blakenden Petroleumlampe. Auf einem Feldbett an der Wand ragten zwei hellbraune Stiefel weit über das Fußende hinaus. Das Gesicht, die Brust, ja, alles oberhalb der Stiefel war von einem Strohut bedeckt. Nur über dessen obere Krempe sproß ein wildes Büschel schwarzer Haare auf ein graues Kissen. Der Hut hob und senkte sich mit den ruhigen Atemzügen eines Mannes, dessen linker Arm entspannt aus dem Hut heraushing und dessen Hand halb geöffnet auf dem Holzboden ruhte, als erwarte sie Trinkgeld. "Hola, alter Verbrecher!" Pedros Stimme überschlug sich. "Hola! despierta! He, wach auf!" Der Mann unter dem Hut streckte sich und ballte die Hand, die am Boden lag, zu einer Faust und schob mit dieser Faust langsam den Hut von seinem Gesicht und von seiner Brust, bis der Hut nur noch die Stiefel verdeckte. Dann gähnte er. Er öffnete das linke Auge und winkelte das rechte Knie an, so daß der Hut auf den Boden rutschte. 256
Er hob den bloßen, zottig behaarten Oberkörper und stützte dessen Gewicht stöhnend auf die Ellenbogen. Er reckte ganz langsam den Hals, wandte sein verschlafenes Gesicht der Hüttentüre zu und sank dann mühsam ausatmend wieder zurück auf die Matratze. "Por dios! Du bist es wahrhaftig! Ein halbes Jahr habe ich auf dich gewartet!" murmelte er und fuhr sich mit dem Unterarm mehrmals über die Augen, als wolle er Zweifel wegwischen. Dann dauerte es eine Weile, bis er das, was er selbst gesagt hatte, begriff. Er setzte sich auf, hob behutsam den Sombrero vom Boden. Er blies den Staub von der Krempe, setzte den Hut auf und rückte ihn auf seinem Kopf zurecht. Dann schlug er im Aufspringen die beschlagenen Absätze seiner Stiefel in die Dielen des Fußbodens, daß das Holz splitterte und die Hütte bebte. "Himmelherrgottnochmal! Du bist es wirklich! Du bist endlich da! Ich habe schon geglaubt, du kommst nicht mehr!" Sombreros Stimme dröhnte mit der Kraft eines ausgeschlafenen Helden durch die vibrierenden Wände und die weit offene Türe über das Lager. Pedro erstarrte vom Donner gerührt. Sombrero senkte Kopf und Stimme und sagte leise: "Verzeih mir, ich bin seit gestern krank!" "Deshalb also warst du nicht am Steg, als die Pandora anlegte?" Pedro kannte Sombreros von Zeit zu Zeit auftretende Unpäßlichkeiten, die meist mit einem unbedeutenden Schluck Mezcal begannen. Sombrero nickte betreten.
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Dann lagen sie sich in den Armen wie Brüder, während Francisco noch einmal die Valentina über den Palmenhain schmetterte. 18 Über den blauen Himmel zogen lockere Herden freundlicher, weißer Haufenwolken ostwärts, und ein frischer angenehmer Wind, der aber kaum Kühle mit sich brachte, strich über das Lager. Ramón Arnaud hatte Tirza und Pedro zum Frühstück eingeladen. Der Weg von ihrer Hütte hinüber zum Haus der Arnauds war nicht weit. Er führte etwa hundert Meter die Dorfstraße hinunter bis fast zum Palmenhain. Dort, wo der Fahnenmast stand und wo sich die Straße zu einer Art Versammlungsplatz verbreiterte, zweigte ein schmaler Pfad ab, der wieder hinüber zur Lagune führte. Etwas abseits von den anderen Hütten, ebenfalls nahe am Wasser, bewohnten die Arnauds mit dem Kindermädchen Altagracia ein geräumiges, stabiles Haus, das wie die übrigen Hütten auf einem gemauerten Fundament stand. Die Front war aber in stabiler Fachwerkbauweise errichtet, und man konnte bis hinauf zum Dach die ineinandergefügten unbehauenen Balken sehen, die als sichtbare Säulen und tragende Elemente im Fundament ruhten. Die Zwischenräume hatte man mit Mauerwerk ausgefüllt. Dieses Mauerwerk bestand aus grobem Korallenschutt, der von feinerem Mörtel zusammengehalten wurde. Die Seitenwände des Hauses waren, wie bei den anderen Hütten, aus hellen Holztafeln zusammengefügt, die auf Balken genagelt waren. Trotz 258
des starken Mauerwerks war auch das Haus der Arnauds an den vier Ecken und darüber hinaus je zweimal an den Seiten mit Stahlseilen im Boden verankert. Diese Verankerung erschien Pedro höchst überflüssig, weil er sich nicht denken konnte, daß ein Dach von solcher Massivität durch irgend eine Macht dieser Welt erschüttert oder von seinem Platz bewegt werden könnte. Señora Alicia Arnaud stand mit ihrem Mann vor dem Haus. Sie hatte Lydia, ihr jüngstes Kind, auf dem Arm. Alicia, ihre zweite Tochter, die sie um Verwechslungen zu vermeiden Chica nannten und die etwa drei Jahre alt war, versteckte sich hinter dem Rock der Mutter und beobachtete aus sicherer Dekkung die Fremdlinge, die den schmalen Pfad herunterkamen und zwei nervös gackernde Hühner vor sich her trieben. Der fünfjährige Ramón, den sie schon am Landungssteg gesehen hatten, lief Tirza und Pedro ohne Scheu entgegen und rief: "Hola, Señora Cardona! Hola, Señor Teniente!" Etwas abseits stand das Kindermädchen mit vor der Brust verschränkten Armen. Altagracia Quiroz war etwa so alt wie Tirza. Ihre Eltern stammten aus Oaxaca und waren nach Westen an die Küste gezogen, als ihnen Porfirio Diaz' Schergen das Land weggenommen hatte und man sie zwingen wollte, für zwanzig Centavos am Tag in der Zuckerfabrik zu arbeiten. Sie gehörte, wie der erste aus dem Volk kommende Präsident Mexikos, Benito Juárez, zum Indianerstamm der Zapoteken und war stolz darauf. Sie verbarg ihre indianische Abstammung nicht und zeigte ihre indogenen Stammesmerkmale, die olivbraune Haut, die weit auseinanderstehenden Augen mit den langen Wimpern und das blauschwarze Haar, das sie im Nacken zu einem 259
Knoten zusammengebunden hatte, mit Grazie und Selbstbewußtsein. Für eine Indianerin war Altagracia ungewöhnlich groß. Alicia Arnaud hatte Altagracia vor fünf Jahren in Manzanillo aus ihrer siebenköpfigen Familie herausgeholt und nach Clipperton mitgenommen. Damals hatten die Quiroz' nicht mehr zu essen als je eine halbe Tortilla für die Kinder und eine ganze für die Erwachsenen. Alicia Arnaud vergaß nicht, was sich vor dem finsteren Haus in der Altstadt abgespielt hatte, als Altagracia, das Bündel mit ihren wenigen Habseligkeiten über der Schulter tragend, das Haustor hinter sich geschlossen hatte und in der engen Gasse ohne zurückzublicken in die Kutsche eingestiegen war. Das Tor wurde, kaum daß es ins Schloß gefallen war, wieder aufgerissen, und ein grauhaariger Mann stürzte sich auf den Wagen. Er warf sich auf die Knie, umfaßte die Speichen der Hinterräder mit beiden Händen und heulte dabei wie ein geschlagener Hund. Er heulte sein Elend in bruchstückhaften, unverständlichen Sätzen in den Himmel und ließ die Speichen nicht einmal los, als die Pferde, durch den Lärm und die hastigen Bewegungen irritiert, anzogen, obwohl der Kutscher mit seiner ganzen Kraft in den Zügeln hing, um sie zurückzuhalten. Der Mann wurde aufgehoben und wieder zu Boden gedrückt. Er lies das Rad aber nicht los. Drei, viermal wurde er im Staub um sich selbst gedreht, als ob er an die Speichen gebunden gewesen wäre. Als der Wagen wieder zum Stehen kam, hing er noch einen Augenblick am Rad, dann erst lösten sich seine Hände, und er fiel, von einem Weinkrampf geschüttelt, in sich zusammen, blieb auf dem Pflaster liegen, hob den Kopf 260
nur ein wenig und sah mit verständnislosem Blick seine Tochter davonfahren. "Heilige Muttergottes! Mein Vater!" rief Altagracia. Sie verbarg erst ihr Gesicht in den Händen und warf sich dann an Alicia Arnauds Brust und schluchzte: "Halten Sie mich fest! Wenn ich jetzt zu ihm gehe, stirbt er!" Altagracia Quiroz, die damals vierzehn Jahre alt war, glaubte, ihre Seele werde in Stücke gerissen, als der Abstand zu dem weinenden Mann größer wurde und die Kutsche rasselnd in die Calle de Juárez einbog. Alicia Arnaud hatte mit Altagracia nie mehr über die Szene gesprochen. Ja, die Erinnerung daran war in Alicia Arnauds Gedächtnis so stark eingegraben, daß sie es aus Rücksichtnahme überhaupt vermied, Altagracias Vater in Gesprächen zu erwähnen. Nach einer herzlichen Begrüßung wurden Tirza und Pedro ins Haus gebeten. Die Räume waren nicht nur geschmackvoll eingerichtet, sondern auch mit erstaunlich wertvollem Mobiliar ausgestattet. Alicia Arnaud zeigte ihnen, während Altagracia den Tisch deckte, die Küche, das Arbeitszimmer ihres Mannes, die Kinderzimmer und die Vorratskammer. Es fiel Pedro auf, daß das Haus vorwiegend im europäischen Stil eingerichtet war. Im Wohnzimmer standen zierliche veilchenblaue LouisPhilippeSessel um einen mit hübschen Einlegearbeiten geschmückten Nußbaumtisch. An der Wand hingen zwei ovale Portraits aus der Biedermeierzeit, die ein Paar darstellten. Die Frau lächelte unter dem Schutenhütchen hervor, und der unter einem großen schwarzen Dreispitz streng dreinblickende Mann hatte 261
eine so lächerliche Ähnlichkeit mit Capitan Arnaud, daß Pedro Mühe hatte, ernst zu bleiben, als ihm der erklärte, die Bilder stellten seine Großeltern dar. Der Boden des Salons war mit Teppichen ausgelegt, und auf einer dunklen Anrichte stand eine Schale mit frischen Früchten. In Ramón Arnauds Arbeitszimmer fiel Pedro ein klassizistischer Schreibsekretär auf, dessen durch eine Reihe verschiedener Ablagefächer streng gegliederte Front von zwei geschnitzten Säulen begrenzt wurde. Dem Sekretär gegenüber stand ein wuchtiger, dunkelgebeizter Schrank mit zwei schmalen Glasfenstern. Pedro erblickte durch die Glasscheiben eine Phalanx von Gewehrläufen. Es war der Waffenschrank. In diesem Haus fehlte es offenbar an nichts. Der Tisch war überraschend reichlich gedeckt, weil die Pandora außer reifen Ananasfrüchten, Melonen, Pampelmusen, Orangen, Granatäpfeln, Papayas und Avocados auch noch saftig gekochten Schinken, sechs verschiedene Wurstsorten, ein reichliches Käsesortiment, pasteurisierte Milch, gesalzene Butter und frische Eier mitgebracht hatte. Die Arnauds ließen sich die seltenen Besuche des Phosphatschiffs gern etwas kosten. "Wir freuen uns ja so sehr, daß wir wieder einmal frische Eier haben", sagte Alicia Arnaud zu Tirza. "Von unseren Hühnern ist nämlich nichts zu erwarten. Die legen höchstens einmal im Jahr ein Ei. Das schmeckt aber so sehr nach Tran, daß es keiner essen will! Danach sind ihre strapazierten Körper so erschöpft, daß sie einen Tag lang mit gespreizten Flügeln im Sand liegen und sich schließlich für das nächste Ei ein Jahr Zeit lassen müssen, 262
um überhaupt wieder zu Kräften zu kommen. Wir hätten diese flatternden Nichtsnutze längst geschlachtet und weichgekocht, sofern sie sich überhaupt noch weichkochen lassen, wenn sie uns nicht so schrecklich leid täten und wenn uns ihr Gegackere nicht ein bißchen an zu Hause erinnern würde!" Die Ankunft des Versorgungsschiffes war auch für die übrigen Bewohner der Insel immer ein besonderes Fest. Es gab vor allem wieder einmal Zeitungen, die über die Geschehnisse in der Welt berichteten. Alicia Arnaud studierte dann nicht nur die Reportagen, sondern las vor allem die Anzeigen Zeile für Zeile, Wort für Wort. Sie hatte es über die Jahre gelernt, durch geschickte Interpretation des Gelesenen ein recht genaues und zuverlässiges Bild bestimmter Vorgänge in ihrem Land, wie etwa der immer rascher voranschreitenden Geldentwertung, zu gewinnen. Sie zog durchaus zutreffende Schlüsse aus ganz nebensächlich erscheinenden gesellschaftlichen Mitteilungen, erfuhr, wer wen geheiratet hatte und wer gestorben war, und prophezeite aus dem, was der Text nicht unmittelbar hergab, kühn, wer etwa im nächsten Quartal wen heiraten oder wer ein wichtiges Amt übernehmen würde. Sie konnte allerdings erst nach der nächsten Ankunft des Versorgungsschiffs überprüfen, ob sie mit ihrer Vorausschau richtig gelegen hatte. Dies machte dann die Lektüre so spannend wie die Überprüfung der Losnummern der staatlichen Lotterie. Die Zeitungen waren aber nicht das Wichtigste. Bedeutender waren für Alicia Arnaud die Briefe ihres 263
Vaters, der in Salina Cruz lebte. Sie öffnete die schweren versiegelten Umschläge mit Herzklopfen. Sie verschlang die Berichte über ihre Mutter und ihren Bruder und atmete auf, wenn sie bereits nach den ersten Zeilen erkennen konnte, daß nichts Schlimmes geschehen war. Diese Erkenntnis löste in ihr eine befreiende Freude aus, die sie erst richtig auf die Post einstimmte. Sie begann den Brief noch einmal von vorn, und ihre Augen tasteten sich von Wort zu Wort. Sie vergaß, daß es nur ein Brief war, der da vor ihr lag. Sie sah ihren Vater mit seiner Deckelpfeife im Sessel sitzen und hörte ihn deutlich und laut erzählen. Sie sprach mit ihrer Mutter, stand neben ihr und sah zu, wie sie Vaters Hemden bügelte, roch den sauberen Seifenduft, der aus dem Leinenstoff aufstieg, ging mit ihr durch den Rosengarten am Strand und wachte enttäuscht auf, wenn sie am Ende war und die Geräusche der Insel wieder hörte. Dann machte sie sich über die Briefe der Freundinnen und Freunde her, die sich in langen Schauergeschichten über den Klatsch der Gesellschaft ausließen, der hier außer der Befriedigung oberflächlichster Neugier keinerlei Bedeutung hatte und vielleicht gerade deshalb besonders reizvoll war. Das Frühstück am Morgen des 10. Januar 1914 bot Alicia Arnaud seit langem die erste Gelegenheit, über das, was zu Hause geschehen war oder gerade geschah, nicht nur Mutmaßungen anzustellen. Diesmal hatte sie lebende Zeugen vor sich, die sie nach Belieben ausfragen konnte. Sie hatte sich tausend Fragen zurecht gelegt, obwohl sie ja selbst erst vor einem halben Jahr in Mexiko gewesen war und darum eigentlich einen geringeren Informationsbedarf 264
hatte als sonst. Sie freute sich auf dieses Frühstück und auch auf die anschließend geplante Wanderung um die Insel. Sie freute sich auf die Belebung ihres armseligen Gesellschaftslebens, wenn man das, was sich auf Clipperton abspielte, überhaupt Gesellschaftsleben nennen konnte, und sie war neugierig, Tirza und ihren Mann kennenzulernen. Sie hatte schon am Vorabend knuspriges Weißbrot gebacken, das sie seit sie verheiratet war, ihrem Mann zuliebe nach Art der französischen Baguettes genau so formte, wie er es aus seiner Heimat kannte: lang und dünn wie kornfarbene Schlangen. Capitan Ramón Arnauds Familie stammte aus dem Elsaß, genauer gesagt aus Schlettstadt, und er war erst als vierzehnjähriger Junge nach Mexiko gekommen. Sein Vater war Experte für die Verarbeitung von Baumwolle und Prokurist der Textilfabrik Schickele und Labatroux gewesen. Als die Umsätze nach dem DeutschFranzösischen Krieg stagnierten und das Elsaß aus einem vernachlässigten französischen GrenzDépartement zu einer wirtschaftlich ebenso unbedeutenden Grenzprovinz des Deutschen Reiches geworden war, begannen die Arnauds, verzweifelt über das, was da über sie hereingebrochen war, Politik und Geschichte sich selbst zu überlassen. Sie weigerten sich ebenso, den deutschen Kaiser als ihren Herrn anzuerkennen, wie sie sich zuvor geweigert hatten, in Paris die Hauptstadt ihres Landes zu sehen. Sie beschränkten die Reichweite ihrer politischen Ambitionen freiwillig und genügsam auf das Nächstliegende und sahen allenfalls in Straßburg so etwas wie den politischen Pol ihres Lebenskreises. Sie ließen die wechselnden Einflüsse aus dem Osten und Westen nach 265
Gutdünken auf sich wirken, nahmen das auf, was ihnen erfreulich und annehmbar erschien, und lehnten alles ab, was ihnen aufgezwungen wurde. Die Erfüllung ihrer großen und kleinen Wünsche war losgelöst von der jeweiligen Regierung und den damit verbundenen Zufälligkeiten nationaler Zugehörigkeit. Das war wohl der Grund, warum Ramón Arnaud Zeit seines Lebens nie etwas anfangen konnte mit so unbestimmten Begriffen wie Nationalstolz oder Vaterländische Gesinnung oder gar mit den damit verbundenen Gefühlen. Er war von Kindheit an frei von all den kleinlichen chauvinistischen Vorurteilen und hatte, um sich nicht selbst im Wege zu stehen, sein Herz einfach dreigeteilt. Er liebte die deutsche Literatur und gleichermaßen den sinnlichen Klang der französischen Sprache, aber er sprach als Kind fast nur den weich dahinfließenden alemannischen Singsang seiner Heimat. Er bewunderte die deutsche Tüchtigkeit und zeigte gleichzeitig jedem, der das erkennen konnte, eine tiefgehende Schwäche für die unbeschwerte Freude am Leben und die damit zusammenhängende sympathische Schlamperei der Franzosen, obwohl er, was die Ordnung seines eigenen Lebens anging, sich selbst gegenüber sehr streng war. Nie hatte er aber jenseits des Rheins die selbstvergessene Inbrunst beobachten können, die die Franzosen, stammten sie nun aus der Normandie oder der Provence, bei der Einnahme ihrer Mahlzeiten der Welt entrückt. Natürlich schmeckte es den Deutschen auch. Daran war nicht zu zweifeln, wenn man sie essen sah. Aber wenn sie ihr Brot brachen oder das Glas an die Lippen setzten, dann taten sie das mit derselben Gründlichkeit und Besonnenheit, mit der sie eine Maschine bedienten. Sie saßen da, kerzengerade, die 266
Serviette in den geschlossenen Kragen gesteckt und sorgfältig über die Krawatte gelegt, führten das Messer wie ein Skalpell und pickten die Erbsen einzeln mit der Gabel auf. Diesseits des Rheins aber, wo man dem Coq au Riesling mit den Fingern ungleich sinnlicher zu Leibe rücken konnte als mit Messer und Gabel, glich der Tisch nach jedem Menü, ja, überhaupt nach jeder Mahlzeit, einem Schlachtfeld, auf dem verschütteter Wein vergossenes Blut ersetzte und wo die Baguettes, zerfleddert, zerkrümelt und in Stücke gerissen, Soßenflecke und Bouillonlachen bedeckten. Es war ein friedliches Schlachtfeld, das die Franzosen genüßlich rülpsend und zufrieden lächelnd räumten. In Deutschland dagegen verließ man den Tisch mit dem angestrengten Gesichtsausdruck der Pflichterfüllung in so makellosem Zustand, wie man ihn angetroffen hatte und legte Messer und Gabel in ZehnnachzweiStellung sauber und parallel auf den Teller als Zeichen guter Erziehung und vollendeten Ordnungssinns. Zwischen diesen Polen lag seine Heimat, das Elsaß, dessen Bewohner es seit Karl dem Kühnen und spätestens seit Ludwig dem Vierzehnten gelernt hatten, sich die wenigen Rosinen aus dem mürben Teig zu picken, der mal vom Westen, mal vom Osten über ihnen ausgewalkt wurde. Sie waren emsig wie die Deutschen, freuten sich am Essen und Trinken wie die Franzosen, nannten ihre Kinder Hans und Mathilde und meldeten deren Geburt glückstrahlend in der "Mairerie". Sie holten ihre französischen Baguettes, die sie mit deutschen Markstücken bezahlten, in der Boulangerie. Das waren die äußeren Umstände, unter denen Ramón Arnaud lebte, als 267
der erste Anflug eines Schnurrbarts seine Oberlippe beschattete, der sich später zu einem Gebüsch auswuchs. Dann kam er nach Mexiko. Das fremde, merkwürdige Land hinter dem Meer, das er vom ersten Tag an liebte, veranlaßte ihn, in seinem Herzen weiteren Platz zu schaffen. Er erkannte und verstand die nationalen Eigenarten dieses stolzen Volkes sehr bald. Ja, er hatte zu seinem eigenen Erstaunen auf einmal das Gefühl, dazuzugehören, obwohl kein Tropfen spanischen oder gar indianischen Bluts in seinen Adern floß. Er entwickelte ein tiefes Verständnis für die zerrissene und schwere Geschichte, die die Mexikaner hatten erdulden müssen. Vielleicht tat er das gerade deswegen, weil er unangenehme Parallelitäten zu der Geschichte seiner Heimat entdeckte, die ihn mit gerechtem Zorn und einer daraus abgeleiteten Sympathie für die Betroffenen erfüllten. Schließlich wurde er zu einem Mexikaner mit deutscher Pflichtauffassung, Elsässer Muttersprache und französischer Abstammung. Diese in ihm verwirklichte Übernationalität äußerte sich sehr vielfältig. Er las deutsche Bücher und verehrte Napoleon und Benito Juárez. Durchgebratenes Fleisch verabscheute er, und er zog einen milden Rotwein jedem anderen Getränk vor. Seine Lieblingssoße enthielt so viel Knoblauch, daß man nach dem Essen glauben konnte, die in seiner Lunge vereinigten Ausdünstungen des Maghrebs brächen aus ihm hervor. Er war ein durchaus ernster Mensch aber er empfand immer diebisches Vergnügen an den unvorhersehbaren Ausbrüchen mexikanischen Temperaments, welche die Nichtigkeiten des täglichen Lebens so reizvoll machten wie ein aufregendes 268
Theaterstück. Die Grundzüge der spanischen Sprache hatte er schon früh von seinem Vater gelernt, der Spanien und alles Spanische liebte. Diese Liebe hatte, neben den unausweichlichen wirtschaftlichen Zwängen, seinen Vater wohl hauptsächlich dazu bewegt, Europa den Rücken zu kehren und in Orizaba sein Glück zu suchen. Es fiel dem kleinen Ramón daher nicht besonders schwer, das Stakkato der mexikanischen Umgangssprache anzunehmen. Er sprach sie melodisch, ohne das verweichlichte Gelispel des Kastilischen, aber er sprach sie, solange er lebte, mit jenem unverwechselbaren alemannischen Einschlag, der Uneingeweihte an einen Sprachfehler glauben ließ. Die Mahlzeiten, die er anfangs erschrocken von sich schob, wobei er zum großen Spaß seiner Gastgeber flammende Lohe ausspie, mußten für ihn schließlich so feurig zubereitet werden, daß er seinerseits die ausgekochtesten Chilifanatiker schon nach dem ersten Bissen zum Spucken und Fluchen brachte, wenn sie an seinem Tisch saßen und Alicias Enchiladas mit der von ihm bevorzugten Salsa de los machos, einer wahrhaft teuflischen Soßenkreation, zwischen die Zähne schoben. Sein schwellender Backenbart und die gezwirbelten Enden seines Schnurrbarts waren einem Ölportrait des deutschen Kaisers Wilhelm I. nachempfunden. Ramón Arnaud hatte außerdem von seinem Onkel einen prunkvollen Helm der Bayrischen Chevaulegers geerbt, den er, zum Spaß der Kinder, an manchen Sonntagen trug, und dessen schwarzer Glanz unter dem wuchtigen, wolligen Raupenkamm, betont von golden strahlenden Kopfbändern und gesäumt von dem Schimmer der blanken Schuppenkette, lange über Ramón Arnauds Tod
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hinaus in seinem ältesten Sohn den unauslöschlichen Eindruck grenzenloser Autorität hinterließ. Alicia Arnaud war eine außergewöhnlich schöne und elegante Frau. Sie war etwa acht Jahre älter als Tirza, wirkte aber nicht älter als dreiundzwanzig. Dreieinhalb Jahre später jedoch, als die Schrecken der Insel über ihre gequälte Seele und ihren geschundenen Körper hinweggegangen waren, wurde sie vom Zweiten Offizier der Yorktown, Lieutenant Kerr, als alternde Frau beschrieben: "She is only twenty nine, but looks fourty... ", formulierte er in seinem Bericht. Sie hatte das dunkelbraune Haar zu kleinen Zöpfen geflochten, die sie kunstvoll zu einer Krone aufsteckte. Ihre Kleidung war stets nach der neuesten Mode, und man sah sie auch in der Einöde Clippertons nie ohne Schmuck, als wollte sie sich selbst beweisen, daß ihr die gesellschaftliche Isolation nichts anhaben könne, die sie zweifellos in Wirklichkeit sehr bedrückte. Sie brachte viel Zeit damit zu, ihre Garderobe, die Uniformen ihres Mannes und die Kleider, Schürzchen und Stricksachen der Kinder in Ordnung zu halten. Altagracia war ihr eine unersetzliche Stütze und gehörte mittlerweile zur Familie. Die Kinder liebten Altagracia fast wie ihre eigene Mutter. Als an jenem Morgen die Sonne höher stieg, füllte der Duft frisch gebrühten Kaffees das Haus. Der Tisch hätte auf dem Festland nicht reichlicher gedeckt sein können. Man aß und plauderte und bereitete sich in Gedanken und in einer Art Frage und Antwortspiel auf die bevorstehende 270
Inselumrundung vor, die Tirza und Pedro einen geographischen Überblick über die Insel und eine Vorstellung ihrer Größe oder besser ihrer Winzigkeit geben sollte. Als die Männer bereits Zigarren anzündeten, bat Tirza Alicia Arnaud zum Abschluß des Frühstücks um ein Glas Milch, das ihr sofort eingeschenkt wurde. "Das werden Sie erst in vier Monaten wieder bekommen, wenn wir das Glück haben, daß die Pandora Milch mitbringt!" sagte Alicia Arnaud. "Trinken Sie sie mit Genuß! Milch haben wir hier sonst nicht!" Tirza stellte erschrocken das Glas zurück auf den Tisch. "Oh nein, um Himmels Willen! So habe ich es nicht gemeint!" sagte Alicia Arnaud schnell. "Trinken Sie ruhig! Wir haben genug für die nächsten beiden Tage. Sie wird schnell sauer und ist dann nicht mehr viel wert! Milch war hier schon immer eine besondere Kostbarkeit!" Dann erzählte Alicia Arnaud eine Geschichte, die sich auf der Insel ereignet hatte und die verdeutlichte, was sie Tirza sagen wollte: "Die Arbeiter der Oceanic Phosphate Company, die vor der Jahrhundertwende drüben, auf der anderen Seite der Lagune lebten, waren versessen auf frische Milch. Sie hatten sich daher eine Ziege mitbringen lassen. Sie versuchten, nachdem sie das arme, in verständlicher Todesangst plärrende Tier lebend durch die Brandung bugsiert hatten, es mit Trester zu ernähren, der in Manzanillo billig zu haben war und den das Schiff alle vier Monate in ausrangierten Tequilafässern mitbringen 271
sollte. Aber die Geiß war schon tot, als der erste Nachschub eintraf. Zuerst fraß die Ziege keinen Bissen; erst als der Hunger sein Recht forderte, nahm sie das vergorene Zeug widerwillig an. Sie spürte, daß Trester nicht das Richtige für sie war. Aber dann kam sie plötzlich auf den Geschmack und wurde süchtig. Man mußte ihr die Rationen kürzen. Daraufhin schrumpfte ihr Euter auf die faltige Größe eines leeren Tabaksbeutels. Sie gab keine Milch mehr, stand den ganzen Tag breitbeinig und schwankend am Strand, blökte und meckerte aufs Meer hinaus, starrte quadratäugig in den Sand und griff jeden blindwütig an, der sich ihr ohne Tresterkübel näherte. Das arme Vieh verfiel zusehends. Die Rippen traten hervor. Ihr ausgemergelter Brustkorb glich einem Waschbrett, und die Augen versanken immer tiefer im Schädel. Dann kam der Tag, als die Ziege die Annahme des Tresters verweigerte. Zu guter Letzt begann sie, wie ein Werftarbeiter im Delirium, Seewasser zu saufen. Zwei Tage später fand man im ersten Morgenlicht das mit roten Krabben angefüllte Skelett im seichten Wasser der Rifflagune, das sich mit dem hereinströmenden Hochwasser im Takt des Wellenschlags den Strand hinaufschob. Die Leute bestätigten immer wieder, es habe schaurig ausgesehen: als ob da am Strand eine atmende rote Ziege gelegen hätte. Die Leute von der Oceanic Phosphate Company hatten aber auch sonst kein Glück mit der Landwirtschaft. Was immer sie unternahmen, um ihren mageren und eintönigen Speisezettel aufzubessern, mißlang ihnen und führte auf die eine oder andere, meist jedoch ganz unerwartete Weise 272
zur Katastrophe. Bemerkenswert ist vor allem eine Geschichte, die sich nur kurze Zeit später zutrug: Da waren die Leute auf den Gedanken gekommen, Gemüse zu ziehen. An sich eine bestechende Idee, wenn man bedenkt, daß Clipperton ein wunderbares Klima, mehr als ausreichend Regen und einen unerschöpfliche Vorrat an Dünger hat... Was lag da näher, als einen Garten anzulegen! Sie planten die Anlage ein Vierteljahr. Sie orderten zweihundert Kisten Komposterde! Stellen Sie sich vor, zweihundert Kisten Erde! Das war, por dios, fast eine Schiffsladung! Sie ließen sich die Erde liefern und hundert Meter Maschendraht und achtzig Gartenpfähle! Dieses ganze Zeug balancierten sie dann, als das Schiff kam, im Phosphatkahn unter Lebensgefahr durch die Brandung. Sie arbeiteten eine Woche wie die Besessenen. Sie planierten den vorgesehenen Landstreifen und befreiten ihn vom groben Geröll. Sie pflügten den Boden mit zurechtgebogenen Eisenrohren, um den Untergrund zu lockern und um eine feste Verbindung mit der Komposterde zu schaffen. Sie vertrieben die Krabben, indem sie aus den heißen Läufen ihrer Hahnflinten in ehrlicher Empörung darüber, daß ihnen die Biester die Erde wegfraßen, pfundweise Schrote der Marke "Vogeldunst" verschossen. Sie stellten Nachtwachen ab, die mit Fackeln um das halb angelegte Feld tanzten wie die Derwische und dabei schrien, als ginge es um ihr Leben. Sie schlugen die Pfähle in den harten Boden, nachdem sie sie sorgfältig angespitzt und im Feuer gehärtet und imprägniert hatten. Zwischen den Zaunpfählen zogen sie dann einen halbmetertiefen Graben, in den sie das untere Viertel des Maschendrahts versenkten. Sie füllten den Graben mit grobem Gestein 273
und stampften alles fest, daß auch ja keines der Tiere eine Chance hätte, sich drunterher zu graben. Schließlich nagelten sie den Draht fest und brachten am oberen Ende der Pfosten Ausleger an, damit sich der Draht dort als zusätzliche Erschwernis gegen das Überklettern nach außen wölbte. Im Inneren des Gevierts wurde die Komposterde mit Phosphat gemischt, dessen Menge sie vorher berechnet hatten. Allein die Sämereien hatten ein Vermögen gekostet! Die Samentüten steckten wie Karteikarten in einer Zigarrenkiste und waren alle säuberlich beschriftet. Bei jeder Tüte lag ein Zettel, zum Teil mit lateinischem Namen, auf dem genau verzeichnet war, was die Pflanze, die aus dem Samenkorn entstehen sollte, liebte oder verabscheute. Da waren alle Angaben über den Zeitpunkt der Aussaat, die Bewässerung und Düngung und darüber, ob man die jungen Pflänzchen der Tropensonne überlassen konnte oder ob man sie beschatten mußte, sorgfältig aufgezeichnet. In kleinen Töpfen aus Ton hatten sie Gurken, Melonen, Tomaten, Tomatillos, Auberginen, Bohnen und Erbsen und vor allem Chilis herangezogen. Bei den Chilis nahmen sie es ganz genau, weil ihnen die am meisten fehlten. Sie säten nicht nur eine Sorte aus, was ja bei den schwierigen Verhältnissen hier erst mal genügt hätte. Nein, eine ganze Chilisymphonie mußte es sein! Die dicken, süßen, auberginefarbenen Poblanos, die schmalen, teuflischen, grünen Serranos, die fast noch schlimmeren, eiförmigen Jalapeños, die keilförmigen, dunklen Mulatos, die bleistiftdünnen, feuerroten Japones, die großen, tomatenfarbenen Guajillos, die runden, braunen Chipotles, die großen, milden, saftigen Anchos, die langen Pasillas und die zarten, gelben, pfefferscharfen Gueros. Für jede 274
Sorte hatten sie innerhalb des Zauns ein kleines Feld abgegrenzt. Die Keimlinge wurden hoch über den Krabben auf dem flachen Dach des Hangars sorgfältig gehütet, bis sie mindestens sechs grüne Blätter hatten und groß genug waren, um ausgesetzt zu werden. Die Leute warteten einen milden Regen ab und zogen dann in feierlicher Prozession zum Garten. Die Pflänzchen wurden nach wilden Diskussionen und unter strikter Einhaltung des genau festgelegten Plans, auf den sie sich mühsam geeinigt hatten, aus ihren Tontöpfchen geschält und auf dem Beet verteilt. Dann wurde jeder nicht genutzte Quadratzoll zum Kräuterbeet erklärt. Sie träumten vom Duft des Korianders, des Estragons, des Salbeis, des Ysops, der Melisse, des Basilikums und der Petersilie, als sie in der lockeren Erdmischung knieten und auf wunden Knien flache Rillen zogen. Sie nahmen die Saat zwischen ihre ungelenken Finger und versenkten die Kommas und Pünktchen, die winzigen Staubkörnchen und Kügelchen in den vorbereiteten Humus. Diese groben Phosphatarbeiter lagen fast am Boden. Sie bewegten ihre unförmigen Guanofinger gefühlvoll wie Künstler bei der Gestaltung einer Lehmplastik. Sie ebneten die Rillen mit streichelnden Händen wieder ein und drückten die Erde liebevoll fest. Man hatte den Eindruck, da spiele da eine Horde Kinder im Sand. Dann wurde das ganze Areal gegossen. Dazu brauchten sie einen Vormittag. Sie wollten die Sämlinge eigenhändig gießen und nicht auf den nächsten Regenguß warten, obwohl sich der prompt gegen Abend einstellte. Als alles erledigt war, saßen sie die halbe Nacht am Garten und tranken und ließen die Saiten ihrer Gitarren schwirren. Sie badeten in den Klängen ihrer Lieder, angefeuert von Mezcal und einer 275
überschwenglichen Vorfreude auf mindestens drei Ernten im Jahr, und sie tanzten, beflügelt von lebhaften Vorahnungen gärtnerischen Erfolgs, bis zum körperlichen Zusammenbruch. Sie sahen Tische vor sich, die sich unter der Last der Gemüseberge bogen. Sie hatten die grünsten Gemüsevisionen, die duftendsten Chili und Bohnenträume und schwebten inmitten einer nicht endenden Fata morgana wuchernden Korianders. In der zweiten Nachthälfte, als alle glücklich, aber benebelt zu Bett gegangen waren, geschah es dann. Die Armee der Krabben stand auf aus den Löchern des Lagunenstrandes und rückte vor zum Maschendraht. Dort formte sie ihre Schlachtordnung, die, anders als es sich die Männer vorstellten, nicht horizontal, sondern vertikal ausgerichtet war. Sie schoben sich übereinander und formten einen gigantischen Keil, eine lebende Rampe. Die nachdrängenden Krebse krochen über die ersten Reihen und so ging es fort. Der Wall am Zaun wuchs steil ansteigend in die Höhe, bedrohlich wie die letzte Sanddüne vor einer Oase. Der Wall wuchs und wuchs. Die untersten Tiere wurden erstickt und zerdrückt, aber das scherte die übrigen wenig. Um drei Uhr morgens fielen die ersten Krabben über den Zaun in den Garten aus einer Höhe von drei Fuß. Als die Arbeiter am nächsten Morgen zum Gießen kamen, sahen sie dort, wo sie den Garten vermuteten, nichts anderes als einen roten Quader, dessen Seitenwände sich wie schwellende Polster auswärts wölbten. Der Garten war bis obenhin angefüllt mit Krabben. Sie brüllten vor Zorn und schaufelten die erstickten Viecher aus ihrem Heiligtum. Unter den entsetzlichsten Flüchen, die man sich vorstellen kann, 276
flogen von ihren wütend geschwungenen Schaufeln feuerrote Krabbenfontänen in die Landschaft, und schließlich suchten sie am Grund des Krabbenteiches mit zitternden Händen nach ihren Chilisämlingen. Aber es war nichts übriggeblieben. Kein Blättchen war übriggeblieben. Nicht einmal ein Krümelchen Erde! Die menschliche Natur aber ist hartnäckig. Niederlagen fordern heraus, gerade wenn sich, wie es bei diesen unglücklichen Botanikern der Fall war, der Erfolg so überaus hartnäckig verweigert. Sie wollten dem Schicksal, oder wie immer man das Unausweichliche nennnen will, zeigen, daß es eben für sie nichts Unausweichliches gibt. Die enttäuschten Gärtner rafften sich nach einem Augenblick verblüffter Ratlosigkeit auf und schritten zu neuen Taten. Sie rissen die Pfosten mitsamt dem Maschendraht heraus und bauten daraus ein Podest. Es entstand der erste Pfahlbaugarten, der je beschrieben wurde. Die Pfähle wurden in einem Abstand von einem Meter in die Erde gerammt. Der Maschendraht wurde dann, nachdem jeder einzelne Pfahl am oberen Ende mit einer umgestülpten leeren Ölkanne gegen den Feind von unten gesichert worden war, über das Geviert von neun auf neun Meter gebreitet und mit Schotter belegt. Vier Monate mußten sie warten, bis sie neue Erde bestellen konnten. Nach einem weiteren Vierteljahr kam eine Schiffsladung lehmiger Gartenerde, die sie in Eimern über eine Leiter nach oben schafften und auf dem Schotter ausbreiteten. Diesmal hätten sie es, bei Gott, beinahe geschafft. Die Krabben kamen zwar nachts und bildeten unter dem Gerüst und zwischen den Pfählen einen 277
sehnsüchtig aufgewölbten, aber diesmal hilflosen, roten Haufen. Es fehlten ihnen die Stütze des Maschendrahtes und die daran ausgerichtete Strategie. Die Krabben gaben nach drei vergeblichen Nächten auf und zogen sich zurück in ihre Felsenlöcher. Dann kam der fürchterliche Gewittersturm des dreißigsten August 1899. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, bis die vom Himmel stürzenden Wassermassen und der heulende Sturm die letzten Erdkrümel und die letzten Salbeistöckchen und Chilistauden hinuntergeschwemmt hatten auf den Boden, wo die Krabben warteten. Es ist, wie Sie sehen, nicht sehr sinnvoll, auf dieser Insel Landwirtschaft zu betreiben!" Alle hatten gebannt zugehört, auch Ramón Arnaud, der die Geschichte schon ein dutzendmal gehört hatte. Alicia Arnaud konnte fesselnd erzählen, und man glaubte ihr, was sie sagte. 19 Gegen elf Uhr zog Ramón Arnaud feste Halbschuhe an, und Alicia Arnaud packte Orangen und Tortillas in eine Ledertasche, die man über die Schulter hängen konnte. "Wir werden etwa drei Stunden unterwegs sein, wenn wir uns viel Zeit lassen und eine ausgiebige Ruhepause einplanen", sagte Ramón Arnaud zu Pedro. "Wir gehen nach Norden und wandern im Uhrzeigersinn um die Insel. Dann haben wir die Sonne im Rücken, wenn es am heißesten ist."
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Die beiden Männer gingen voran, Tirza und Alicia Arnaud folgten ihnen. Hinter den letzten Hütten erreichten sie bereits das Grabungsgebiet der Pacific Phosphate Company. Ramón Arnaud zeigte mit der Hand auf die Phosphathügel. "Unsere Leute arbeiten dort täglich von sechs Uhr morgens bis elf. Señor Schulz sagt ihnen, was zu tun ist. In der heißen Zeit zwischen elf und drei stehen die Maschinen still. Die zweite Schicht endet gegen sechs. An Samstagen dürfen sie aber schon nach der ersten Schicht gehen. Deshalb ist heute niemand zu sehen." Ramón Arnaud sah auf seine Uhr. "Wir nehmen es mit der Arbeitszeit nicht zu genau", sagte er. Um eine Durchquerung des unwegsamen Grabungsgeländes zu vermeiden, hielten sie sich nahe an der Lagune und wanderten am Ufer entlang nach Norden. Dort hatte sich aus den grünen Winden, die Pedro schon im Schatten des Hausdachs aufgefallen waren, ein schmaler grüner Ufersaum gebildet. Die Winden wurden auch hier von den Krabben verschont. Die Tiere mochten oder vertrugen sie offensichtlich nicht. Die Pflanzen schoben ihre dicken Strünke zum Wasser hin, breiteten ihre fleischigen Blätter aus und hingen als krautige Vorhänge über die Uferböschung des Sees. Die Wasseroberfläche war an dieser Stelle bedeckt mit abgestorbenen, braunen Windenstengeln, die, ineinander verflochten als übel riechende schwimmende Insel langsam nach Osten trieben. "Geißfußwinden!" sagte Ramón Arnaud. "Man sieht es ihnen nicht an, aber es sind Verwandte der Süßkartoffel. Ipomoea pescaprae ist der botanische Name. Snodgrass 279
hat sie in seinen Berichten genau beschrieben, und auch er hat sich gewundert, warum die Krabben, die doch sonst vor keiner Schuhsole haltmachen, diese fetten Blätter und Stengel ungeschoren lassen. Die Winden gedeihen nur an wenigen Stellen der Insel. Sie mögen es feucht, und der Untergrund darf nicht zu steinig sein. Die Schweine fressen die Winden auch nicht. Vielleicht sind sie bitter oder giftig." "Wer ist Snodgrass?" fragte Pedro. Arnaud hakte sich freundschaftlich bei Pedro ein und erzählte, während sie weitergingen: "Doktor Snodgrass war einer jener verrückten jungen Naturwissenschaftler von der Stanford Universität, die die Insel schon vor der Jahrhundertwende, ich glaube, es war 1898, untersucht haben. Er war mit seinem Kollegen Heller so viel ich weiß, war der auch Geologe oder Biologe ein paar Monate hier auf Clipperton und riß mit ihm und John Arundel, der dann später die Pacific Islands Company leitete, die wenigen Pflanzen aus, die er in dieser Wüste finden konnte. Sie gruben Löcher in den Boden oder hämmerten am Felsen herum. Abends saßen sie um einen Tisch vor dem Zelt und kämpften mit den Krabben. Man erzählte sich später, als ich Coronel Avilos ablöste und zum ersten Mal auf die Insel kam, daß die jungen Leute im Licht ihrer Acetylenlampen nächtelang Phosphatproben sortierten und Berichte verfaßten, die sie dann mitnahmen und an das Nationalmuseum oder an das Hydrographische Amt der Vereinigten Staaten schickten. Sie beobachteten das Wetter und maßen die Temperatur. Jeden Tag machten sie sich an den merkwürdigen Trichtergestellen zu schaffen, mit denen sie die Regentropfen einfingen und in gradierte 280
gläserne Meßzylinder leiteten, und sie schrieben die Meßergebnisse in lange Listen. Sie füllten das, was sie gesammelt, gefangen, ausgegraben oder irgendwo abgeschabt oder aus dem Wasser gefischt hatten, in kleine Gläschen, die sie sauber mit Tusche beschrifteten, verpackten sie in Zellwolle und legten sie vorsichtig in Kisten. Sie versenkten winzige Krebschen, Fischchen, Vogeleier und Vogelembryos, Mollusken, Spinnen, Erdwürmer, Wassernymphen und Fliegenlarven in Formalin und konservierten das alles für die kommenden Jahrhunderte. Wer weiß, ob ihre Untersuchungen je irgend etwas Wissenswertes zutage gebracht haben oder noch zutage bringen. Immerhin soll eine Eidechsenart, die es nur drüben am Felsen gibt und die Arundel damals beschrieben hat, nach ihm benannt sein. Sie sehen, wie verrückt die Naturforscher sind. Also, ich würde mich dagegen verwahren, daß eine Eidechse so heißt wie ich. Oder wollten sie, daß eine Eidechse Cardona heißt? Was würde Ihre Frau sagen, wenn eine Eidechse Cardona hieße?" "Eidechsen sind hübsche Tiere! Was sollte sie also dagegen haben? Die Insel scheint für die Wissenschaftler ziemlich interessant zu sein, nicht wahr?" "Das stimmt. Es waren nämlich auch danach immer mal wieder kauzige Leute von der Stanford Universität hier. Wenn man es aber genau betrachtet, ging es auch damals in Wirklichkeit mehr ums Geld als um die Erkenntnis der Natur. Die Wissenschaftler wurden meist von geschäftstüchtigen Gesellschaften geschickt und vor allem bezahlt und sollten eigentlich nur Proben des Bodens mit 281
nach Hause bringen, die man in den Vereinigten Staaten auf ihren Phosphatgehalt untersuchen wollte. Oder sie sollten sie mit eigens zu diesem Zweck zusammengestellten Taschenlaboratorien an Ort und Stelle untersuchen. Sie hatten ihr Lager auf der anderen Seite der Lagune, etwa gegenüber unserem Lager aufgeschlagen. Die Arbeit, die man ihnen aufgetragen hatte, war schnell erledigt. Die paar Bodenproben waren bald eingesammelt und analysiert." "Und dann gingen sie an die Geißfußwinden und die Eidechsen?" "Ja, die Leute hatten, bis sie wieder abgeholt wurden, mehr Zeit als genug für ihre eigenen Forschungen. Es ging dann nur noch um ihre Neugier an den Pflanzen, den Tieren, am Sand und den Mineralien ganz allgemein. Die Franzosen haben die Ecke da drüben bei den vier Palmen Pointe Verte, grünes Kap, und zur Erinnerung an die jungen Wissenschaftler das Terrain dahinter Camp des Naturalistes genannt." "Und Schulz? Wer ist Señor Schulz?" fragte Pedro. "Schulz ist Deutscher. Er sagt, er sei Kaufmann, Mineraloge und Prospektor. Er kommt aus der Gegend von Hamburg und wurde von der Pacific Phosphate Company als Agent und Geschäftsführer eingestellt." "Was sagen Sie? Die Engländer haben für diese Aufgabe ausgerechnet einen Deutschen engagiert?" fragte Pedro erstaunt. 282
"Sie haben recht, es ist schon merkwürdig, daß man das einem Deutschen übertragen hat. Aber ich denke, ich kenne den Grund. Ich glaube nämlich, die Engländer haben erkannt, daß die Deutschen auf technischem Gebiet mittlerweile mehr können als sie selbst. Das würden sie zwar nie offen zugeben, aber glauben Sie mir, es ist so. Es ist ja noch nicht lange her, daß sie die Deutschen durch ein eigens für oder vielmehr gegen sie verabschiedetes Gesetz gezwungen haben, alle industriellen Waren mit dem Aufdruck Made in Germany zu versehen, damit jeder Engländer die minderwertige ausländische Qualität sofort erkennen konnte. Und was geschah? Alle Welt nicht nur die Engländer stürzte sich auf die deutschen Maschinen, auf die Scheren und Messer aus Solingen, auf BayerMedikamente, LeitzMikroskope, ZeissFerngläser und auf die Jagdwaffen aus Suhl. Was glauben Sie, warum die mexikanische Armee mit MauserGewehren schießt? Woher stammt Siemens? Woher Röntgen? Wer hat das Salvarsan erfunden? Wo lehrte Bunsen? Und ist etwa der Dieselmotor eine englische Erfindung? Die Warnung hatte sich ins Gegenteil verkehrt und war plötzlich zur Garantieerklärung bester Wertarbeit eines durchaus tüchtigen Volkes geworden. Schließlich holten sich die Engländer widerwillig deutsche Fachleute auf ihre Insel, aus lauter Angst, den Anschluß zu verpassen. Vielleicht ist das der Grund, warum Schulz hier ist. Er wohnt mit seiner Frau und seiner Tochter im nördlichsten Haus des Lagers. Von dort aus kann er die Arbeiten am besten überwachen." "Sie sollten ihn mir vorstellen!"
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" Sie werden ihn bald kennenlernen. Sie können ihn kaum übersehen. Er ist der einzige Mensch auf der Insel, der einen Tropenhelm trägt. Ein gutmütiger Sonderling. Manchmal wirkt er in der Tat ein bischen skurril, aber er versteht sein Handwerk. Die Pacific Phosphate Company, die ihren Sitz in London hat, versorgt uns aufgrund eines Vertrags mit der mexikanischen Regierung sehr zuverlässig mit allem, was wir brauchen. Das ist sozusagen ein Teil der Gegenleistung für unsere Arbeit und die Schürfrechte. Den anderen größeren Teil kassiert das Handelsministerium. Im Auftrag der Pacific Phosphate Company kommt die Pandora alle drei bis vier Monate hier vorbei und holt das braune Zeug ab, das am Hangar bereitliegt. Gleichzeitig bringt sie unseren Nachschub und die Post und nimmt unsere Bestellungen mit nach Manzanillo. Pasqual Vargas führt die Listen über die Lebensmittel und die Ersatzteile, die wir brauchen." Die vier Wanderer schwenkten jetzt nach Nordosten. Der Landstreifen war da sehr flach, und der Grund war knöcheltief bedeckt mit Vogelexkrementen. Ramón Arnaud schob den frischen Mist mit dem Stiefel zur Seite und stieß auf die braunen, mineralisierten Ablagerungen, auf deren Gewinnung es die Pacific Phosphate Company abgesehen hatte. "Sehen Sie, hier! Es ist genug davon da! Das ist das Zeug, auf das nicht nur die Engländer so scharf sind!" sagte Ramón Arnaud zu Pedro. Dann zeigte er nach Westen. "Hier ist die breiteste Stelle des Landgürtels. Von der Lagune zum Riffkanal sind es hier gut vierhundert Meter. Tirza, die jetzt neben Pedro ging, meinte, vierhundert Meter seien nicht besonders viel, und fragte dann, wo denn die schmalste Stelle sei. 284
"Dort drüben hinter den Eierinseln", erwiderte Ramón Arnaud. "Dort ist der Streifen so schmal, daß das Meer bei schweren Stürmen in die Lagune schwappt und das Wasser für ein paar Tage brackig macht. Dabei wird der Korallensand saubergewaschen und leuchtet in einem einzigartig schönen und zarten Rosa. Das Land hebt sich bei Flut kaum einen Meter über den Meeresspiegel, und wenn Sie kräftige Arme haben, schaffen Sie es, einen Stein von der Lagune in den Riffkanal zu werfen. Es sind kaum vierzig Meter! Wir werden in einer halben Stunde da sein, dann können sie es selbst sehen." Auf den Eierinseln drängten sich die Enten, Tölpel, Seeschwalben und Fregattvögel in unvorstellbarer Enge. Über den winzigen Landtupfen in der Lagune kreisten schwirrende weiße Wolken von Vögeln, die nach einem Landeplatz ausspähten und immer wieder im Sturzflug hinunterstoben und dabei ein Geschrei vollführten, als ob man eben auf sie geschossen hätte. An der Riffseite stürmte eine Rotte von etwa zwölf schwarzgefleckten Schweinen auf die Phosphathügel zu. Die Tiere rannten auf ihren kurzen Beinen flink und mit erstaunlich wendigen Bewegungen ihrer sonst so plump erscheinenden Körper, und sie hasteten dabei fortwährend durcheinander, daß es kaum möglich war, sie genau zu zählen. Pedro beobachtete sie, bis sie weit hinten in einem Graben verschwanden. "Wo kommen denn diese Viecher eigentlich her? Ich wollte Sie schon vorhin fragen. Die sind mir bereits gestern bei unserer Ankunft aufgefallen. Was machen denn Schweine auf dieser Insel?" fragte er Ramón Arnaud. 285
Der brummelte: "Diese stinkenden Biester! Überall schnüffeln sie herum! Alles, was die Krabben nicht erreichen, fressen sie oder machen es kaputt. Es sind die Nachfahren der schiffbrüchigen Schweine, die uns die Kinkora beschert hat." "Schiffbrüchige Schweine?" "Ja, anfangs waren es gerade sieben oder acht, die sich retten konnten, als die Kinkora strandete. Wir werden in einer Stunde am Wrack dieses unglücklichen Schiffs vorbeikommen. Zuerst wurden sie ganz ordentlich in Schweinekoben gehalten. Man fütterte sie mit den dürftigen Abfällen der täglichen Mahlzeiten und dann, als man sah, daß die Abfälle nicht reichten, mit Schiffszwieback und Pökelfleisch, weil nichts anderes da war. Schon bald danach kamen die Arbeiter auf die Schnapsidee, die Schweine laufen zu lassen." "Ich dachte, die Schweine wären ihnen willkommen gewesen als Speck und Fleischlieferanten!" "Das waren sie in der Tat! Das sollten sie auch bleiben! Trotzdem ließen sie sie laufen. Aber ich sagte Ihnen ja, es war eine Schnapsidee! Das kam so: Sie hatten ihnen eines Nachmittags nur so zum Spaß Krabben vorgeworfen, um zu sehen, was passiert. Die Leute waren mehr als verblüfft, als die Schweine die Krabben ohne viel Federlesens mit Stumpf und Stiel vertilgten. 'Warum sollten wir sie weiter füttern? Warum sollten wir ihnen denn von unserem guten Fleisch abgeben? Sollen sie sich doch ihr Futter selbst suchen! Sollen sie doch die 286
Krebsteufel auffressen und uns von den Plagegeistern befreien! Sie können uns ja hier nicht weglaufen!' riefen die Arbeiter damals, als sie die Schweinekoben auseinanderrissen, die Bretter auf einen Haufen warfen und die grunzende Meute in alle vier Winde jagten. Sie wollten die Tiere später, je nach Bedarf, abschießen und, wie es geplant war, ihrem eigentlichen Zweck zuführen. Da hatten sie zu alledem noch den Spaß und die Abwechslung der Jagd. Außerdem waren sie davon überzeugt, daß Schweine, die sich ordentlich bewegten, besser schmecken und ein zarteres `Wildbret` abgeben als Tiere, die in engen Schweinekoben gehalten werden. Eine wunderbare, eine bestechende Idee! Zwei Fliegen mit einer Klappe! Fette Schweine und keine Krabbenplage mehr und das ohne jede Mühe und ohne den geringsten Aufwand. Aber man hatte dabei ein paar ganz wichtige Dinge nicht bedacht. Die Schweine merkten schnell, was Freiheit bedeutet, und sie hielten gebührenden Abstand von allen Zweibeinern, die sich ihnen auf dem verdammten Präsentierteller dieser flachen Insel nähern wollten. Erst nach geraumer Zeit ist es dem besten Schützen der Oceanic Phosphate Company, der sich zwei Tage in den Schluchten des Felsens versteckt hatte, aus dem Hinterhalt heraus gelungen, ein Schwein zu schießen. Es war wahrscheinlich das einzige Schwein, das hier je erlegt wurde. Er feuerte aus einem HawkenPerkussionsgewehr vom Kaliber .45 einen fünfzig Gramm schweren Bleibatzen auf das überraschte Tier. Der Rückstoß der überreichlich bemessenen Schwarzpulverladung warf den in eine Rauchwolke gehüllten Schützen um und brach ihm das Schlüsselbein. Aber er hatte getroffen und der armen Sau aus einer 287
Entfernung von vierhundert Fuß den Magen und den halben Darm aus dem Leib geschossen. Das Vieh schleifte seine blutigen Verdauungsorgane unter herzzerreißendem Quieken wie ein nasses Seil zwei Meilen hinter sich her. Die bedauernswerte Kreatur überschlug sich in der Nähe des Palmenhains schließlich aus vollem Lauf und bohrte in rasender Agonie den Rüssel bis zu den Augen in den Sand. Als die atemlosen Jäger das Tier erreichten, verendete es mit einem fragenden Blick aus vorwurfsvollen blauen Augen und mit einem erschreckend menschlichen Seufzer. Die Männer zeigten wenig Gefühl, weideten das Tier an Ort und Stelle aus und banden ihm die Läufe zusammen. Sie schoben ein Rundholz durch den klaffenden Bauch und trugen die ersehnte Beute triumphierend auf ihren Schultern in das Lager. Dann kam die Enttäuschung. Das Schwein hatte wie man es von ihm erwartete ausschließlich Krabben gefressen. Es hatte monatelang ausschließlich diese roten Biester geknackt und mit seinen Artgenossen dafür gesorgt, daß die Zahl der Krebse in der Tat gewaltig abnahm. Die Krebse aber rächten sich auf ihre Art, indem sie die Schweine ungenießbar machten. Die Koteletts schmeckten ob gesotten oder gebraten so grauenhaft nach Tran und verdorbenem Fisch, daß keiner sie anrührte. Man ließ nichts unversucht, besann sich längst vergessener Konservierungskünste, legte das Fleisch wochenlang in Salzbrühe, marinierte es mit Öl, Essig, Chili, Knoblauch, Pfeffer und sogar mit dem eingekochten Sud der Geißfußwinden und räucherte es in eigens dafür gezimmerten Räucherkammern. Nichts half. Die Fleischstücke, die sie der Salzlake entnahmen oder frisch 288
geräuchert vom Haken hoben, entglitten glitschig und glasig ihren Händen und schmeckten nicht mehr nach Schwein, sondern nach Seife, Fisch und Tran. Ja, der tranige Geschmack wurde sogar durch die Salzprozedur noch verstärkt, weil die Lake nur den angenehmen Geschmack aus dem Fleisch zog, bis nichts mehr da war, was mit dem Tran konkurrieren konnte. Die Arbeiter gaben den Kampf enttäuscht und hungrig auf und ließen von da an die Schweine am Leben und kümmerten sich nicht mehr um sie." "Und jetzt haben sie sich so stark vermehrt?" fragte Pedro. "Das kann man wohl sagen! Umgeben von unerschöpflichen Nahrungsquellen, vermehrten sie sich sozusagen nach Herzenslust. Sie kennen doch die segensreiche Wirkung der lebenden Auster, Teniente. Wissen Sie, wieviel Ludwig der Vierzehnte von Frankreich täglich verspeiste, nur um es seinem Maitressenstall ordentlich geben zu können? Es war eine Wagenladung! So eine verborgene Kraft muß auch in den Krabben stecken. Die Schweinebiester gerieten nämlich nach kurzer Zeit in eine durch das Krabbenfutter angeheizte Brünstigkeit beängstigenden Ausmaßes, welche den Arterhaltungstrieb der Eber weit über das sinnvolle Maß und über deren Vermögen anstachelte und sie in Ausübung ihrer eingebildeten Pflicht bis zur skeletthaften Magerkeit auszehrte, während dieselbe Brunst in groteskem Gegensatz dazu die Muttersauen über schwellendem Gesäuge zu wahren Speckbergen auseinandertrieb." Ramón Arnaud versicherte sich, daß die Frauen ausreichenden Abstand hatten, und sagte dann leise zu Pedro: "Ich sage Ihnen, Teniente, wenn wir so ficken 289
würden wie diese gefleckten Ungeheuer, wir wären nach zwei Tagen tot!" Er wollte diesen Gedanken noch weiter ausführen, wurde aber unterbrochen, als die Schweine unvermittelt zurückkamen und, kaum fünfzig Schritte entfernt, mit wuffenden und grunzenden Lauten an ihnen vorbeistoben, eine stinkende Wolke hinter sich her zogen und die Erde erschütterten wie eine Büffelherde, bis sie im Norden im rosa Nebel des aufgewirbelten Staubs verschwanden. Inzwischen war die Sonne von dichten Wolken verdeckt. Der Wind frischte noch mehr auf und nahm den Vogel und Schweinegestank mit sich hinaus aufs Meer. Sie hatten die Eierinseln hinter sich gelassen und wandten sich in einem ziemlich engen Bogen nach Südosten. Hier war der Landstreifen tatsächlich ungewöhnlich schmal und wirkte wie ein Werder in der Mündung eines großen Flusses. Anstelle des groben Korallenschutts und der Steinbrocken, die am breiten Nordweststrand der Insel überall herumlagen, bedeckte jetzt feinster rosafarbener Sand den Boden. Er war ganz gleichmäßig geriffelt und wies deutliche Schwemmspuren auf, die anzeigten, daß hier Wasser über die Insel geflossen war. Pedro ging hinunter zur Lagune und hob einen Stein auf. Er nahm ein paar Schritte Anlauf und warf den Stein dann hinauf in den Himmel, und der Stein flog über den schmalen Landgürtel und landete klatschend draußen in der Rifflagune. Alicia Arnaud erklärte, daß genau an dieser Stelle noch vor hundert Jahren ein Durchlaß durch das Riff bestanden habe und daß der zweite Durchlaß auf der anderen Seite hinter dem Felsen gewesen sei. Ein englischer Kapitän 290
namens Edwin Belcher hatte um 1840 eine Karte für die britische Admiralität gezeichnet, die an den genannten Stellen breite offene Durchfahrten zeigte. Aber bereits zwanzig Jahre später waren die Durchlässe zugeschwemmt, wie man den Forschungsberichten jener Zeit entnehmen kann. Die Austern und Seefische starben in der nun vom Meer isolierten Lagune ab, weil der Regen einen Binnensee daraus gemacht hatte, dessen Süßwasser die Tiere nicht vertrugen. Eine halbe Stunde später erreichte die flache Landzunge von Pointe Verte, die nur wenig in die Lagune ragte, aber dadurch auffiel, daß sie ganz von Geißfußwinden bewachsen war. Das war wohl der Grund, warum die Franzosen diese Stelle "grünes Kap" genannt hatten. Nach einer weiteren Viertelstunde näherten sie sich dem Camp des Naturalistes. Sie beschlossen, nachdem sie die Hälfte des Wegs um die Insel zurückgelegt hatten, eine kleine Verschnaufpause einzulegen. Sie setzten sich unter die vier Palmen, die das Camp des Naturalistes markierten, und schauten über die Lagune auf ihr kleines Dorf, das nun in einer Entfernung von etwas mehr als drei Kilometern vor der Kulisse des Palmenhains fast malerisch aussah, weil man keine Einzelheiten mehr erkennen konnte. Tirza schälte für die ganze Gruppe Orangen, und Alicia Arnaud teilte Tortillas aus. Das Ganze wirkte wie ein gemütliches Sonntagspicknick im ChapultepecPark. Hinter ihrem Rastplatz lagen die Reste der Hütten des alten Lagers. Es war nicht allzuviel übriggeblieben, denn man hatte vor neun Jahren alles Brauchbare auf die andere 291
Seite der Insel hinübergeschafft und als Baumaterial für die neue Siedlung am Palmenhain verwendet. Die Fundamente und ein paar Mauern sowie einige Wellblechstücke, die nach dem Abriß den Stürmen widerstanden hatten, erinnerten jedoch noch an die Oceanic Phosphate Company und an Arundels Pacific Islands Company, die ursprünglich hier ihr Lager aufgeschlagen hatten. Damals hatte man geglaubt, daß dies der günstigste Platz für die Guanogewinnung sei. Aber dann stellte sich schnell heraus, daß die reichsten Lager genau gegenüber lagen und daß sich der Platz obendrein wegen der Untiefen des Riffs, der Windverhältnisse und der Brandung auch für die Verschiffung des Phosphats nicht besonders eignete. Man mußte überdies jede Schaufel des im Norden gewonnenen Phosphats auf flachen, offenen Lastkähnen quer durch die Lagune schaffen und alles wieder ausladen, bevor man das Phosphat über das Riff endlich zum Schiff bringen konnte. Es ist daher kein Wunder, daß man das Lager bei der erstbesten Gelegenheit auf die andere Seite verlegt hat. Draußen über dem Riff erhoben sich die Spanten, der Bug und der schwarze Vordersteven eines Wracks. Wenn die Brecher sich schäumend und platschend durch die Lücken der zerstörten Aufbauten zwängten und auf der Leeseite strudelnd und brausend in die Rifflagune stürzten, sah es jedesmal so aus, als ob das zerstörte Schiff wieder auferstehen wollte, als ob es mit letzter Anstrengung versuchte, sich selbst wieder flott zu machen, um wieder hinaus zu können in die freien Wasser des Stillen Ozeans, weg von den felsigen Krallen, die es gefangenhielten. Aber immer dann, wenn das Meer Atem holte, erkannte 292
man, wie tief sich das stahlharte Gestein des Riffs in den verwundeten Schiffsrumpf hineingeschnitten hatte, wie unentrinnbar verkeilt der Kiel in den Korallen saß, wie aussichtslos die Bemühungen des zerfallenden Kahns waren, die Freiheit wiederzugewinnen. "Sehen Sie, da liegt sie, die Kinkora", sagte Alicia Arnaud. "Sie liegt da seit fast zwanzig Jahren!" Während sie weitergingen, hörte sich Tirza die verrückte Geschichte dieses Schiffs an: Es war mit Eichenholz und den besagten hundert Zuchtschweinen beladen, als es vor den RevillagigedoInseln in einen wütenden Sturm geriet. Die Kinkora legte sich quer, und die durcheinanderwirbelnden Stämme zerschmetterten die Ruderanlage und die Schweinekäfige und schlugen mittschiffs ein ziemliches Leck in den Rumpf, das man nicht mehr flicken konnte. Die Kinkora nahm Wasser auf, und ein großer Teil der Schweine ersoff sofort oder wurde erschlagen. Das Schiff trieb gelähmt und mit zunehmender Schlagseite fünf Tage nach Südwesten und suchte sich dann das einzige Riff, das man im Umkreis von zweitausend Meilen finden kann. Am ersten Mai des Jahres 1897 sahen die Leute der amerikanischen Oceanic Phosphate Company den Havaristen auf die Insel zutreiben, und sie standen wie angewurzelt am Strand, ohne irgendetwas tun zu können. Sie hielten sich die Ohren zu, um das entsetzliche Geschrei nicht mit anhören zu müssen, das der stählerne Schiffsrumpf ausstieß, als er über die Felsen des Riffs geschoben wurde. Trotzdem hörten sie die Todesschreie der Schweine und die gellenden Hilferufe der Menschen, die in der Schiffsreling 293
hingen und nicht recht begreifen wollten, was ihnen da passiert war. In seinem Inseltagebuch hat Mr. Hening, der damals für die Company verantwortlich war, das Ereignis mit zwei mageren Sätzen aufgezeichnet. Er verlor kein Wort darüber, daß er mit seinen Leuten drei lange nasse Stunden sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um die Mannschaft der Kinkora zu bergen. Es ist wahrhaftig ein Wunder, daß damals keiner im Meer blieb. Sieben oder acht Schweine retteten sich schwimmend durch die Brandung, erreichten mit allen Anzeichen eines schweren Nervenschocks das Ufer und konnten allesamt eingefangen werden, bevor sie sich ihrer Freiheit bewußt wurden. Mr. Hening hatte damals knapp notiert: "Heute strandete bei schwerem Seegang steuerlos und mit Schlagseite das unter britischer Flagge fahrende Schiff Kinkora aus Belfast gegen fünf Uhr. Alle Seelen gerettet." Aus den Aufzeichnungen des Kapitäns der Kinkora, er hieß Murtrie, weiß man aber etwas mehr. Die zwanzig Mann Besatzung der Kinkora waren natürlich für die wenigen Leute der Oceanic Phosphate Company eine unannehmbare Belastung. Sie wußten, daß die Vorräte auf die Dauer nicht für alle ausreichen konnten. In den folgenden Tagen bargen sie gemeinsam, was von dem zerstörten Schiff noch zu bergen war. Es wurden einige noch fest verschlossene Fässer Pökelfleisch an Land geschwemmt. Außerdem gelang es der Mannschaft, fünfzig Dosen Schweineschmalz, zweihundert Dosen Ölsardinen und mehrere Bootsladungen Kartoffeln aus dem Laderaum zu bergen. Drei Tage nach dem Unglück, als sich die See beruhigt hatte, schafften sie alles aus dem Wrack an Land, was sich an Baumaterial und Werkzeug 294
noch gebrauchen ließ, und bauten sich eine recht komfortable Unterkunft, weil Henings Leute nicht bereit waren, in den sowieso schon engen Baracken noch weiter zusammenzurücken. Es dauerte aber nicht lange, bis ein erheblicher Teil der Mannschaft der Kinkora schwermütig wurde. Es war das ClippertonSyndrom: Die Männer fühlten sich gefangen. Sie bildeten sich, anders als auf einem frei beweglichen Schiff, plötzlich ein, sich in der Weite des Ozeans aufzulösen oder mitsamt diesem Aberwitz von Insel unterzugehen; und sie entwickelten, sich gegenseitig ansteckend und aufstachelnd, eine panische Angst vor dem Wasser, das sie umgab, und gleichzeitig hatten sie das Gefühl, von engen Mauern erdrückt zu werden. Dieses Gefühl wurde von Tag zu Tag stärker und lähmte schließlich jede vernünftige Überlegung. Die Männer, die das gewiß nicht einfache Leben an Bord eines britischen Frachters gewöhnt waren, wurden durch die unerwarteten Umstände völlig verwandelt und saßen mit Tränen in den Augen am Strand herum und weigerten sich, die kargen Mahlzeiten zu sich zu nehmen, die ihnen der Schiffskoch auf einem Feuer im Freien zubereitete. Es stellte sich bei den Leuten eine Art Rastlosigkeit ein, die jeden klaren Gedanken verdrängte. Es war eine pulsierende Rastlosigkeit, die sie nicht schlafen ließ und die sie schon vor Tagesanbruch an den Strand hetzte, wo sie im feuchten Sand sinnlose, kilometerlange Märsche im Eilschritt unternahmen. Sie kamen im Licht der aufgehenden Sonne erschöpft und mit flackernden Augen zurück und begannen wirre Reden zu führen. Schließlich steckten sie auch Henings Leute an. Das war wohl der schlimmste Tag für Hening, an dem er erkannte, daß seine eigenen Leute begannen, mit den 295
Fremden verrückt zu spielen. Es gab nicht den leisesten Grund zur Panik. Trotzdem begannen auch die Arbeiter der Oceanic Phosphate Company plötzlich zu toben. Sie bekamen das ClippertonSyndrom und verweigerten das Essen. Aber nicht nur das: Sie verweigerten auch die Arbeit. Es ging alles drunter und drüber. Nach zwei Tagen bestiegen fünf Mann der Kinkora ein Rettungsboot, um nach Mexiko zu rudern. "Stellen Sie sich vor", rief Alicia Arnaud aus und zeigte mit den ausgestreckten Händen nach Osten, "sie ruderten mit einem Rettungsboot hinaus aufs Meer und da war keiner, der sie zurückhielt!" "Haben sie es geschafft?" fragte Tirza, "haben sie Mexiko erreicht?" "Natürlich nicht! Man hat nie mehr etwas von ihnen gesehen oder gehört. Und das Tragische daran ist, daß schon vier Tage später ein amerikanischer Trawler, die Twilight, vor dem Riff ankerte. Murtries Leute drehten jetzt völlig durch. Sie hüpften wie tobsüchtige Frösche am Strand herum, stapelten Schwemmholz auf und entzündeten ein Feuer, obwohl kein Zweifel daran bestehen konnte, daß man sie längst gesichtet hatte. Sie schrien sich die Lungen aus dem Leib und schwenkten ihre Hemden und weiße Unterhosen. Der Kapitän des kleinen Schiffs kämpfte sich mit vier Matrosen, dem Bootsmaat und dem Steuermann durch die Brandung und kam in der Nähe des Felsens an Land. Murtries Leute jubelten. Doch dann erklärte man Murtrie, daß eine Übernahme der Schiffbrüchigen nur möglich sei, wenn man sie auf kürzestem Weg nach Mexiko bringen könne. Für eine längere Reise reichten die Vorräte an Bord nicht. 296
Ein Umweg über Mexiko hinwiederum koste der Reederei eine Stange Geld. Die Unkosten beliefen sich auf mindestens fünftausend amerikanische Dollar, und die müßten von den Passagieren aufgebracht werden. Ohne eine schriftliche persönliche Bürgschaft des Kapitäns zugunsten der Reederei sei überhaupt nichts zu machen." "Unglaublich! Geld zu verlangen, in einer so furchtbaren Situation!" Tirza war empört. Alicia Arnaud fuhr fort: "Der sprachlose Murtrie traute seinen Ohren auch nicht. Er schnappte nach Luft. Er protestierte und verwies energisch auf die einschlägigen Vorschriften des internationalen Seerechts. Als er merkte, daß er so nichts erreichte, appellierte er mit ergreifenden, aber völlig nutzlosen Worten an die Menschlichkeit des Kapitäns und ließ sich dazu hinreißen, Gott zu seinem Zeugen anzurufen, daß er die Seele des Kapitäns und das ganze gottverdammte Schiff persönlich der Hand des Teufel überantworten werde, wenn er sie nicht mitnähme. Der Kapitän der Twilight blieb unbeeindruckt. Als er sich vergewissert hatte, daß Murtrie weder in der Lage noch willens war, die Summe von fünftausend Dollar für die Rettung zu bezahlen oder eine entsprechende Bürgschaft zu leisten, ruderte er, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, ja, ohne noch einmal zur Insel zurückzublicken, zurück zu seinem Schiff und stach noch am selben Abend wieder in See, während die Leute der Kinkora bebend vor Zorn am Strand standen und wütende Verwünschungen in die Brandung heulten." "Wie kamen sie dann wieder nach Hause?" fragte Tirza. 297
"Sie brauchten gar nicht so lange zu warten. Jedenfalls kam ihnen die folgende Zeit nicht mehr lang vor. Denn zwei Tage später borgten sich Murtries Leute Schaufeln von der Oceanic Phosphate Company und zogen gemeinsam hinüber auf die andere Seite der Insel zum Palmenhain. Dort gruben sie wie die Besessenen vier Wochen lang Löcher in den Korallenschutt. Sie hatten ihre Neurose plötzlich vergessen. Sie spannten Vermessungsschnüre und legten kreuz und quer Gräben an, die teilweise so tief waren wie ein ordentliches Grab. Sie zeichneten die Ergebnisse ihrer Grabungen in Karten ein, die sie abends mit heißen Köpfen studierten. Sie stritten erbittert bis tief in die Nacht um den weiteren Verlauf ihrer Gräben. Noch bevor die Sonne aufging, standen sie wieder in ihren Löchern und machten da weiter, wo sie am Tag zuvor nach Anbruch der Dunkelheit aufgehört hatten. Aller Trübsinn und alle Ängste schienen verflogen zu sein. Als sie den gesamten Palmenhain in eine Kraterlandschaft verwandelt und durch den Lärm, den sie verursachten, die dort nistenden Tölpel und Seeschwalben vertrieben hatten, verlagerten sie das Gebiet ihrer Maulwurfsaktivitäten plötzlich an den Felsen. Sie gruben um ihn herum wieder tiefe Löcher, unterminierten ihn am Fuß der Steilwände und verwandelten die finsteren Schluchten in ein Bergwerk. Sie vertrieben auch dort die Vögel mit hölzernen Klappern und breiteten das, was von den Persennings der Kinkora übriggeblieben war, als luftiges Dach über ihren Köpfen aus, um sich vor der sengenden Sonne zu schützen und gleichzeitig dem steten Regen von Vogelmist zu entgehen, der ihre Schultern und Haare jeden Tag aufs neue mit einer kalkweißen Schicht bedeckt hatte. Sie arbeiteten weitere zwei Wochen, ohne 298
sich Pausen zu gönnen, und wurden dann von der Camus, die zufällig an der Insel vorbeikam, ohne viel Aufsehen und ohne eine Rettungsprämie bezahlen zu müssen, nach San Francisco gebracht. Sie verließen die Insel so schnell, daß sie sich nicht einmal die Zeit nahmen, die Pickel und Schaufeln zurückzugeben, die sie sich ausgeliehen hatten. Sie ließen sie einfach in den Löchern am Felsen liegen. Das Merkwürdigste an der Geschichte ist aber, daß Henings Leute inzwischen fast alle so krank und so elend waren, daß der Kapitän der Camus sich verpflichtet fühlte, auch sie mit an Bord zu nehmen. Ja, er beschwor sie, mitzukommen. Aber die hatten Angst davor, von der Oceanic Phosphate Company das in acht Monaten hart erarbeitete Lohngeld gestrichen zu bekommen, wenn sie vor Vertragsablauf nach Hause kämen. Es waren arme Teufel, die genau wußten, daß ihre Familien verhungerten, wenn sie das vertraglich vereinbarte Geld nicht nach Hause brachten. So weigerten sie sich, an Bord zu gehen, und blieben in ihrem beklagenswerten Zustand auf der Insel zurück. Sie wurden aber bald danach von dem von der Oceanic Phosphate Company nach Clipperton beorderten amerikanischen Schiff Navarro abgeholt und nach San Diego gebracht, wo fünf von ihnen noch am Ankunftstag, dem 14. August 1897, in Irrenanstalten eingeliefert wurden. Man sollte also das ClippertonSyndrom nicht unterschätzen!" "Das klingt ja schauerlich" sagte Tirza, aber sie wollte noch mehr wissen: "Und was haben die da ausgegraben oder ausgraben wollen?"
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"Die Leute der Kinkora? Ja, was wollten die da ausgraben? Es klingt wie ein schlechter Scherz! Den Piratenschatz des John Clipperton haben sie gesucht!" erwiderte Alicia Arnaud und lachte dabei. "Dieser Schlaukopf von Murtrie hat sofort erkannt, daß die Leute dabei waren, ihm und sich selbst zur Gefahr zu werden, wenn er ihnen nicht eine sinnvolle Beschäftigung verschaffen würde. So erfand er die auch heute noch nicht ganz tote Legende von dem ungeheuren Schatz, den John Clipperton im Jahr 1704 hier versteckt haben soll. John Clipperton war zwar seinerzeit in der Gegend, nachdem er seinem Piratenkommandanten William Dampier im Hafen von Guayaquil bei Nacht und Nebel eine mit Zucker und Alkohol beladene Galeone mit zwanzig Kanonen gestohlen hatte und über den Pazifik davongesegelt war. Er gilt als der Entdecker der Insel, aber er hat sie in Wirklichkeit wohl nie betreten und konnte daher auch keinen Schatz verstecken, selbst wenn er einen besessen hätte. Er ist damals vielmehr so schnell wie möglich an der Insel vorbeigesegelt, um Dampier zu entkommen, den er fürchtete wie den Leibhaftigen und den er bis in den rettenden Hafen von Manila unmittelbar hinter sich glaubte. Immerhin trägt die Insel auf den offiziellen Seekarten der britischen Admiralität seit dem Jahr 1730 seinen Namen. Nur die Spanier und die Mexikaner halten an ihrem eigenen Namen, Isla de la Pasión, fest, der davon herrührt, daß Clipperton an einem Karfreitag des Jahres 1711 vom Kommandanten der französischen Fregatte Découverte unter dem Namen Ile de Passion als Neuentdeckung in das Journal de Navigation seines Schiffes eingetragen worden war. Auch er hatte seinerzeit Clipperton nicht betreten." 300
Alicia Arnaud sah zum inzwischen schwarzen Himmel auf. "Ich glaube, wir sollten uns wieder auf den Weg machen. Es wird gleich regnen." Sie schüttelte den Sand aus ihrem Kleid. Die Männer standen etwas abseits bei den Ruinen des alten Lagers und sahen mit dem Fernglas zum Felsen hinüber. "Was sind das für Hütten?" fragte Pedro. "Da neben dem Felsen? Da haust der Wärter des Leuchtfeuers. Er heißt Emilio Alvarez und stammt aus Kuba. Wir werden in einer halben Stunde bei ihm Station machen. Er ist wie Schulz ein Sonderling und wir sehen ihn kaum im Lager", erwiderte Ramón Arnaud, während sie sich nach Süden wandten und auf den Felsen zu gingen. "Leidet dieser Alvarez etwa auch unter dem Clippertonsyndrom?" fragte Pedro im Scherz. Ramón Arnaud antwortete nicht sofort. Es sah aus, als ob er nachdenke. "Nein", sagte er dann, "bei dem ist es etwas anderes." Er ließ sich aber nicht weiter darüber aus.
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TEIL II (Kapitel 20 bis 39) 20 Vom Nordwesten aus gesehen ragte der Felsblock schmal und spitz wie ein Pfahl in den Himmel. Aber als die vier Wanderer bei ihrer Umrundung der Lagune nach Süden schwenkten und auf den Zacken zugingen, bot er sich wie das Langschiff einer Kathedrale breit und wuchtig dar und erschien als ein wahrhaft monumentaler Abschluß des Isthmus, einer etwa dreihundert Meter langen, schmalen Landzunge, die sich in die Lagune hineinschob. Der Kontrast zwischen der unendlichen Ebene des Meeres, deren optische Vollkommenheit durch den flachen Ring der Insel kaum gestört wurde, und der drohenden, schwarzen Vertikale des aus dieser Ebene hervorbrechenden Trachytklotzes nahm Tirza so gefangen, daß sie stehenblieb und Pedro um das Fernglas bat. Sie hob das Glas an die Augen und erschrak, als ihr der Felsen in zehnfacher Vergrößerung entgegensprang. Er türmte sich plötzlich düster und in unwirklicher Räumlichkeit zum Greifen nah über ihr auf. Jetzt sah sie auch die drei Hütten im Schatten der Nordostseite und den einsamen Mann. Der Mann stand da, winzig, dem Wind ausgeliefert, schwankend und verlassen wie ein Halm am Wege. Sie erkannte an seinen angewinkelten Armen, daß auch er mit dem Fernglas zu ihnen herüberschaute. Tirza gab Pedro das Glas mit einem vagen Gefühl des Unbehagens zurück, das sie aus schlimmen Träumen kannte oder das sie auch bisweilen überfiel, wenn sie ein fremdes Haus betrat. Ramón Arnaud erklärte ihnen, während sie weitergingen, was es mit dem Felsen auf sich hatte: 302
"Die Insel, die so flach vor uns liegt, ist in Wirklichkeit der Gipfel eines vulkanischen Unterwassergebirges. Der Felsen ist nichts anderes als die Spitze eines vom Grund des Ozeans dreitausend Meter hoch aufragenden Berges, der hier vor Jahrmillionen glühende Lava in die kochende See spuckte. Als sich sein Schlot wieder geschlossen hatte und die Lava erkaltet war, siedelten sich im warmen, hellen Wasser um diesen Gipfel herum Korallen an. Die vereinigten sich in Jahrtausenden zu einem Ringwall. Dann hoben die Urkräfte der Erde den Grund des Stillen Ozeans mitsamt dem Berg so weit an, daß der Gipfel gerade eben aus dem Wasser ragte. Die Korallen wichen in tiefere Gewässer aus, vergrößerten den Wall und schufen mit ihren Kalkpanzern das Riff. In der Rifflagune und im Herzen des wachsenden Atolls starben sie mit der Zeit ab, weil ihnen der Sauerstoff der Brandung fehlte oder das Wasser dort zu wenig tief war. Was von ihnen übrigblieb, sind scharfe Kalksteinrippen in der Lagune und das Geröll und der verwitterte Sand, aus denen die Insel besteht. Der eigentliche Krater des ehemaligen Vulkans war wohl dort drüben am Großen Riff, wo das Wasser dunkelblau, ja fast schwarz erscheint. Es hat noch keiner ausgelotet, wie tief die Lagune am Puits sans Fond wirklich ist. Puits sans Fond, Schacht ohne Grund, ja, so haben die Franzosen diesen Höllenschlund genannt. Um den versunkenen Krater herum steigen die steilen Wände des Großen Riffs bis fast zur Wasseroberfläche an. Manchmal, bei besonders niedrigem Wasserstand, tauchen die felsigen Barrieren sogar auf, aber sie fallen dann in karstigen Schründen wieder hinunter in unergründbare Tiefen. Dort unten ist der Berg noch lebendig. Er speit zwar kein Feuer mehr, aber er bläst aus seinen Schluchten 303
schweflige Gase in die Lagune, die mit dem Wasser über dem Bodenschlamm eine ätzende Säure bilden. Die ist, Gott sei Dank, schwerer als Wasser und bleibt am Grund liegen. Man merkt also nichts von dem teuflischen Atem des Vulkans, wenn nur die Lagune nicht aufgewühlt wird. Wenn aber die Sommerstürme das angesammelte Regenwasser aufpeitschen, riecht man den beißenden Schwefelgestank tagelang, und es gibt niemanden auf der Insel, der dann keine Atemnot bekommt oder nicht von nächtlichem Husten gequält wird. Wenn die Säure in öligen Blasen vom Grund aufsteigt, stirbt alles, was sich in der Lagune angesiedelt hat. Pflanzen und Tiere gehen zugrunde, aber die Säure gibt sich mit dem Tod der Lebewesen nicht zufrieden. Er ist ihr offenbar nicht endgültig genug. Sie arbeitet an den Kadavern weiter und bleicht sie so lange aus, bis sie ihnen nach dem Leben auch noch alle Farbe genommen hat. Die Kadaver haben dann mit einem Mal überhaupt keine Farbe mehr. Lachen Sie nicht, Teniente, das gibt es wirklich! Nichts verkörpert das Wesen des Todes augenfälliger als dieser schreckliche Verlust der Farbe. Die Kadaver sind dann weder braun noch gelb noch erdfarben. Sie sind aber auch nicht etwa weiß. Nein, sie schimmern blaß wie erstarrendes Wachs. An lebenden Wesen wird man diese Art der Farblosigkeit nicht finden. Da kommt immer etwas von der Natur des Blutes durch. Es gibt da, glaube ich, nur eine Ausnahme: Die Wassermonstren von Xochimilco; die nackte Haut dieser bleichen, blinden Urmolche, die die Azteken Axolótl nannten. Sie erscheint schon im Leben tot. Sie hat auch diese merkwürdige Farblosigkeit dünner Milch.
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Nach ein paar Tagen verschwinden die giftigen Säureschwaden über dem Wasser. Dann kommt der Aasgeruch. Die erstickten Algen treiben in verfilzten, strahligen Wolken ans Ufer. Fische hängen mit prallen Bäuchen, von Pilzparasiten zerfressen, an der Oberfläche. Die Lagune stinkt furchtbar, wenn das geschieht." Die vier schwenkten jetzt nach Westen, direkt auf den Felsen zu. Der Wind trieb mittlerweile die niedrigen schwarzen Wolken in wütenden Wirbeln vor sich her über die Lagune. "Wir sollten uns beeilen!" sagte Ramón Arnaud. "Wir sollten Alvarez' Hütte erreichen, bevor die Hölle losbricht!" Dann wandte er sich wieder an Pedro und versuchte, fast schreiend, das Fauchen der Windböen zu übertönen: "Das Wetter ist hier nie vorhersehbar. Es ändert sich von einer Minute zur anderen. Um diese Jahreszeit haben wir zwar meist blauen Himmel, aber sonst, das heißt außer von Februar bis April, regnet es mindestens einmal am Tag. Am allermeisten regnet es im Oktober und November. Manchmal sind es nur ein paar Spritzer, aber manchmal stürzen die Wassermassen aus berstenden Wolken auch plötzlich wie Steine auf uns herab und begraben uns in der Finsternis rauschender Fluten, daß wir glauben, auf den Grund des Meeres gespült zu werden. Vom schönsten Sonnenschein bis zum Unwetter, bei dem Sie die Hand nicht mehr vor den Augen sehen können, vergehen oft nur Augenblicke. Sie müssen also immer darauf gefaßt sein, durchnäßt zu werden, wenn Sie sich weiter als eine Viertelstunde vom nächsten Dach entfernen. Die Unwetter gehen allerdings meist ebenso schnell wieder vorüber, wie sie entstanden sind. Sie können dann zusehen, wie die Wolken in weiten, erst 305
schwarzen, dann grauen Spiralen aufsteigen, deren Ränder sich in silbern glänzende Vogelschwingen verwandeln, die noch eine Weile um die aufflammende Sonne flattern, bis ihre Schatten im Blau des Himmels zerfließen, als ob es sie nie gegeben hätte. Sie erleben dann die wenigen wirklich schönen Augenblicke des Jahres auf diesem gottverlassenen Stück Land. Die Luft ist blank und frisch wie das Wasser einer Quelle. Der Vogelgestank verflüchtigt sich mit einem Mal, wird auf wunderbare Weise ganz vom Algenduft des Meeres verdrängt. Die Vögel hören für eine Weile auf zu schreien, als ob sie diese wenigen Sekunden vollkommenen Wohlbefindens schweigend genießen wollten. Das Meer hält überrascht den Atem an. Die Insel liegt schlafend da, im Feuerstrahl der aus der Finsternis hervorbrechenden Sonne. Von der Spitze des Felsens aus erscheint die regennasse Insel wie ein aus den Fluten auftauchender goldener Ring. Sie sieht dann in der Tat so aus, als bestünde sie aus frisch geputztem Messing. Als ich zwölf Jahre alt war, mußte ich ein deutsches Gedicht auswendig lernen, das ich bis heute nicht vergessen habe." "Ein deutsches Gedicht?" fragte Pedro verwundert. Ramón Arnaud erwiderte: "Habe ich Ihnen nicht erzählt, daß ich im Elsaß aufwuchs? Wir mußten damals viele deutsche Gedichte auswendig lernen, weil man uns Kindern als Folge der verlorenen Schlacht von Sedan und der Schmach unseres gefangenen Kaisers die französische Sprache gründlich und endgültig austreiben wollte. Nichts konnte dafür geeigneter sein als das Auswendiglernen deutscher Gedichte"
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"Und worum geht es da?" "Das Gedicht erzählt von einem Ring, den ein vom Glück verwöhnter König den Göttern opferte, indem er ihn ins Meer warf. Aber dieser Ring tauchte auf wunderbare Weise wieder auf. Es wurde ein Fisch gefangen. In dessen Bauch fand der König den Ring wieder, und er begriff, daß die Götter sein Opfer verschmäht hatten. Er begriff, daß er sterben mußte. Immer, wenn die Insel im Sonnenlicht aufleuchtet und aussieht, als habe sie das Meer eben geboren, wenn sie mir in ihrem Glanz ganz unwirklich schön erscheint, wie ein Geschenk, für mich ganz allein, kommt mir dieses Gedicht in den Sinn!" Ramón Arnaud schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: "Ich weiß nicht, ob es die außergewöhnliche Geographie der Insel ist, die mir diese Erinnerung aufzwingt, oder ob es eine versteckte Angst ist, die die Einsamkeit hier draußen aussät und die mir einflüstert: 'Sieh zu, daß du hier wegkommst!' Das Gefühl ist lächerlich, aber es ist da. Dabei bin ich mir durchaus im Klaren darüber, daß das alles ganz unbegründete Sorgen sind. Es gibt hier nichts zu fürchten. Ich kann mir aber nicht helfen, es ist wie eine Melodie, die man nicht los wird und die immer gerade dann in den Ohren herumspukt, wenn man an etwas ganz anderes denken will." Pedro unterbrach ihn: "Wovor sollten sie sich auch fürchten? Haben nicht gerade Sie, Capitan, mir immer wieder klarzumachen versucht, daß es keinen sichereren Platz auf dieser Erde gibt, solange sich unsere Landsleute auf dem Kontinent die Köpfe einschlagen? Sie hätten besser ein Gedicht zitiert, das Sie davor warnt, nach 307
Mexiko zurückzukehren! Ein solches Gedicht erschiene mir hundertmal plausibler!" "Ich weiß, es ist albern. Hören wir auf damit. Es ist schon läppisch genug, daß ich mich mein Leben lang mit der dämlichen Frage beschäftigt habe, auf die ich bis heute keine Antwort fand: Was ist dem König geschehen, nachdem der Gast ihn verlassen hatte? Was hatte der König angestellt, daß ihn die Götter nicht mehr mochten? Warum hat er sterben müssen und wodurch? Man erfährt es nicht. Gedichte sind nicht immer Lebensweisheiten." Sie wanderten eine Zeit lang schweigend nebeneinander her. Dann nahm Arnaud den Gedanken wieder auf: "Ich würde gerne wissen, woran es liegt, daß einem Gereimtes so lange im Kopf bleibt. Liegt es daran, daß im Gedicht die Sprache zur Melodie wird, weil ihre zufälligen Lautfolgen plötzlich ein abstraktes Eigenleben wie Musik führen, das ihnen von Natur aus gar nicht zugedacht ist? Liegt es daran, daß diese zufälligen Lautfolgen im Reim so stark werden, daß der Dichter ihnen oft sogar die Handlung unterordnet und sie benützt wie der Maler seine Farben? Es ist seltsam. Als Sie mich vorhin nach einem Gedicht fragten, das uns vor der Rückkehr nach Mexiko warnen könnte, als ich wieder über den König nachdachte und sein dunkles Schicksal, war es mit einem Schlag wieder da. Es war mit allem Drum und Dran wieder da. Ausgelöst durch Ihre Frage und ein einziges Wort. Ich roch im Bruchteil einer Sekunde den sauren Schweißgeruch des Klassenzimmers, sah Polyphem wie einen Geist vor mir über dem Meer schweben, als habe ihn eine heimliche Laterna magica dort hin projiziert. Ich hörte gespenstisch das Hallen des Kindergeschreis in den 308
Kreuzgewölben und den langen Korridoren des alten Schulhauses und schmeckte das Bohnerwachs auf der Zunge. Es war mit einem Schlag wieder da, das alte Reiterlied! Es hat mir damals sehr imponiert. Ich fand es in höchstem Maß heroisch! Polyphem - wir nannten ihn so, weil er bei Metz ein Auge verloren hatte, dessen Höhle man später mit einem Glasauge von ganz unnatürlicher Grünschattierung füllte, so daß er es beständig hinter einer schwarzen Klappe verbarg. Ja, Polyphem war ein arbeitsloser, von der Gicht geplagter Veteran des Siebzigerkriegs. Er kam aus dem Schwarzwald über den Rhein und war mit seinen fünfundfünfzig Jahren eben noch gut genug, uns Lesen und Schreiben beizubringen und uns die Segnungen ewigen Deutschtums einzubleuen. Das Reiterlied war sein Lieblingsgedicht, und er brachte es uns mit heldenhaftem Pathos bei. Er hat sogar eine schneidige Melodie dafür geschrieben und fünfundzwanzig Notenblätter vollgekritzelt, damit wir es vom Blatt singen konnten, um im Chor die preußischen Tugenden zu loben. Oh ja, ich höre es. Ich sehe uns alle vor mir, wie wir, die meisten im Stimmbruch, dieses Lied herunterleiern und, den Kopf im Nacken, die Strophen dreistimmig in die Gewölbe des kalten Klassenzimmers krächzen, während Polyphem mit dem Lineal den Takt auf die zerschnitzten Bänke klopft und mit einäugigem, aber stolzem Lächeln durch die Bankreihen schreitet. Es ist so kalt im Winter, daß wir unsere Mützen aufbehalten dürfen. Mit unseren heiseren Jungenstimmen steigt auch der gefrorene Atem zur Decke auf und hinterläßt einen Zuckerrand von Eiskristallen an unserem Mützenschild. Hören Sie zu!" Ramón Arnaud sang die beiden ersten Strophen des Gedichts, ohne zu stocken, und er sang sie 309
mit kräftiger Baßstimme in deutscher Sprache gegen den Wind. Er sang sie so, wie er es als Kind gelernt hatte, und seine Augen glänzten dabei: "Die bange Nacht ist nun herum, wir reiten still, wir reiten stumm und reiten ins Verderben. Wie weht so scharf der Morgenwind! Frau Wirtin, noch ein Glas geschwind, vorm Sterben, ja vorm Ste-her-ben. Du junges Gras, was stehst' so grün? Mußt bald wie lauter Röslein blühn; mein Blut soll dich ja färben. Den ersten Schluck, ans Schwert die Hand, den trink ich, für das Vaterland, zu sterben, ja zu ste-her-ben." Er übersetzte Pedro die Zeilen nicht. Der hatte nur den Klang der Strophen in sich aufgenommen und wollte sie auch nicht übersetzt haben, sondern fragte nur: "Heißt sterben morir?" "Ja", antwortete Ramón Arnaud. Als sie zum Isthmus abbogen, um hinaus zum Felsen und zu Alvarez' Hütte zu gelangen, fielen die ersten Tropfen. Dann begann es heftig zu regnen, und der Wind pfiff über die Felsenbucht, die früher einmal einen der beiden offenen Zugänge zum Meer gebildet hatte, und er trieb heulend fliegende Wasserfahnen vor sich her. Vor dem Felsen lagen zwei Boote im Wasser, die am Bug und am Heck an dicken Pfählen vertäut waren, über die Alvarez zum Schutz vor der Witterung leere Ölkannen gestülpt hatte. Die Boote tanzten im Wasser und zerrten an ihren Tauen. Wie es Ramón Arnaud zuvor geschildert hatte, durchnäßte sie der flach über die Insel fegende Tropenregen in wenigen Sekunden, aber die unfreiwillige Dusche war angenehm warm, und das frische Süßwasser tat gut auf der Haut. Emilio Alvarez stand in der 310
Hüttentüre. Er sah ruhig zu, wie sie gegen den Wind und den Regen kämpften und nickte wortlos, als ihn Ramón Arnaud mit Tirza und Pedro bekanntmachte. Alvarez ging in den hinteren Teil der Hütte und brachte Handtücher, reichte sie herum und machte sich dann am Herd zu schaffen. Er hatte in Erwartung seiner Gäste Kaffee aufgebrüht. Alvarez stellte vier Tassen und einen Blechbecher auf den Tisch und holte die Zuckerdose von einem Brett an der Wand, auf dem eine Menge Kram herumstand. Dann goß er den schwarzen Kaffee in die Tassen und in den Becher und schob die weiß emailierte Dose auffordernd nickend zur Mitte des Tischs. Er hatte noch immer kein Wort gesprochen. Tirza erinnerte sich an San Miguel. Immer wenn die Peones kamen und etwas von ihrem Vater wollten, benahmen sie sich so wie dieser pockennarbige, vom Wetter gegerbte, schwarzhäutige Mensch, der da vor ihr stand. Sie erinnerte sich deutlich daran, wie die Peones, in leicht gebückter Haltung vor ihrem Vater die Sombreros vor der Brust knautschten und zu Boden sahen und sich so lange räusperten, bis ihr Vater etwas sagte. Aber auch dann antworteten sie nicht immer gleich. Meist mußte er mühsam aus ihnen herausgraben, was sie wollten. Er tat dies, indem er immer wieder Fragen stellte und aus ihren knappen Antworten mehr erriet als erfuhr, was sie zu ihm getrieben hatte. Dieser Leuchtturmwärter, der da vor ihr stand, hatte keinen Sombrero, hinter dem er seine Hände verstecken konnte, aber er erschien ebenso verzagt wie die Indios von San Miguel. Er schob seine Hände verlegen ineinander, räusperte sich ebenso unentschlossen und sah dabei mit gesenktem Kopf auf den Tisch. Er stand da, als ob er Ramón Arnaud eine Bitte vortragen wollte, aber er sagte 311
nichts. Als sich Alvarez gesetzt hatte, sprach ihn Ramón Arnaud an: "Na, brennt die alte Lampe noch, Emilio?" "Si, el faro, ja, das Licht, die Laterne, oh ja, doch, Señor Capitan, sie brennt noch", kam es leise zurück. Frage und Antwort waren sinnlos, weil man das Licht jede Nacht sehen konnte. Ja, es gab auf der ganzen Insel nichts, das man mit solcher Intensität sah, wie Alvarez' Leuchtfeuer nach Einbruch der Dunkelheit. Dann konzentrierte sich sozusagen die Existenz der Insel auf einen einzigen kleinen Punkt: die Spitze von Alvarez' Felsen, die blitzende Pfeile hinaus aufs Meer schickte. Alvarez streckte die Hand vor und schob Tirza, ohne sie anzusehen, die Zuckerdose hin: "Zucker, Señora? Por favor! Bitte!" Tirza schüttelte den Kopf. Alvarez nahm die Dose, schob sie weiter zu Alicia Arnaud und neigte dabei in merkwürdiger Manier mit geschlossenen Augen den Kopf gegen seine linke Schulter. Er sah dabei aus wie ein in sein Spiel versunkener Geiger ohne Instrument. Als er bemerkte, daß Alicia Arnaud weder von der Zuckerdose noch von ihm selbst Notiz nahm, zog er die Hand langsam wieder zurück, ließ die Dose in der Mitte des Tischs stehen und schob dann beide Hände, die er vorher wie zum Gebet gefaltet hatte, zwischen die Knie, während er, nach vorn gebeugt, auf der Bank hin und herrutschte. Dann sah er flüchtig zu Ramón Arnaud auf und machte den Versuch, das Gespräch über sein Leuchtfeuer fortzuführen: "Man muß sie sauberhalten, die Laterne, sonst erblindet sie! Es ist das Seewasser. Ich öle den Spiegel jeden Tag. Dann poliere ich ihn mit Werg, bis man vom Öl nichts mehr sieht. Es ist viel Arbeit, sie blank zu halten. Auch das Uhrwerk macht viel Arbeit!" Dann 312
öffnete er unvermittelt seine Hände und zeigte sie herum und grinste dabei verschämt. Über beide Handflächen lief eine tiefe, schnurgerade, schwarz verkrustete Wunde, wie ein Säbelhieb. Alicia Arnaud wich zurück. "Was, por dios, hast du denn da gemacht?" fragte sie. "Das Seil!" antwortete Alvarez, und sein einfältiges Grinsen stand in eigentümlichem Gegensatz zu dem Schmerz, den die Wunden suggerierten. "Es war das Seil! Ich habe es geschmiert, oben am Felsen, und ich wollte es langsam durch den Fettlappen laufen lassen." "Und ein Seil hat dir so die Hände zerschnitten? Du willst doch nicht sagen, daß du dich an einem Seil so verletzt hast!" "Doch, doch, Señora! Es war das Seil. Das Holz ist mir unter den Beinen weggesprungen, und das Gewicht ist den Felsen hinuntergesaust und hat das Seil mitgerissen. Wssst hat es gemacht .. Wssst .. und das Seil hat dabei den Lappen durchgeschnitten, bevor ich es loslassen konnte. Sie werden es mir nicht glauben, Señora, wenn ich es Ihnen sage: der Lappen fing ganz von selber zu brennen an!" Alvarez ballte seine lädierten Hände wieder zur Faust und legte sie in den Schoß. Es entstand wieder eine Gesprächspause. "Du kannst von Glück sagen, daß die Wunde nicht eitert! Das hätte schlimm werden können!" sagte Alicia Arnaud und wandte sich, ohne sich weiter um Alvarez zu kümmern, an ihren Mann: "Der Kaffee ist gut. Kaffeekochen kann er jedenfalls." 313
Es war Tirza zunächst nicht möglich, zu ergründen, ob das nun als Kompliment oder als Demütigung gedacht war. Aber als sie sah, wie Alvarez zuckte, wußte sie, daß er es als Demütigung aufgefaßt hatte. Da ihn Alicia Arnaud gut kannte, hatte sie dann wohl auch eine Demütigung beabsichtigt. Tirza wunderte sich ohnehin über den herablassenden Ton in Alicia Arnauds Stimme und darüber, daß sie Alvarez duzte wie einen Diener, aber Ramón Arnaud tat das auch. Es mußte also einen Grund dafür geben. Aber welchen? Schließlich hatte Alvarez doch einen verantwortungsvollen Posten. Die Unterhaltung verstummte. Man hörte nur den Wind, der in den Abspannseilen von Alvarez' Hütte sang und über das Dach polterte, das Trommeln des Regens an die dünnen Wände und das Klingeln der Löffel in den Kaffeetassen. Nach einer Weile fragte Alvarez: "Ist Petroleum geliefert worden, Señor Capitan?" Als er nicht sofort Antwort erhielt, fragte er nochmal: "Hat Sanchez Petroleum mitgebracht?" "Ja, acht Fässer", antwortete Ramón Arnaud. "Du kannst sie abholen. Ich lasse sie an die Anlegestelle schaffen. Es sind acht Fässer, also vierhundert Liter. Das sollte eine Weile reichen!" "Oh, ja, das reicht, Señor Capitan. Es sind noch zwei Fässer da!" "Brauchen Sie so viel Öl?" fragte Tirza. "Brennt denn das Leuchtfeuer jede Nacht? Zünden Sie es jeden Abend an?"
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"Aber ja! Natürlich tue ich das, Señora, jeden Abend! Sie müssen wissen, das Riff ist gefährlich! Ich habe den Leuchtturm gebaut -" Alvarez stockte, warf einen kaum wahrnehmbaren Blick auf Alicia Arnaud und verbesserte dann: "man hat ihn gebaut, um dem Versorgungsschiff den Weg zu zeigen, und natürlich, um auch all die anderen Schiffe vor dem Riff zu warnen. Ja, ja! Vor allem, um zu warnen! Wenn es dunkel ist. Ach nein, es braucht gar nicht dunkel zu sein. Es genügt schon, wenn es nur ein ganz kleines bißchen dunstig ist! Dann, Señora, ja, dann erkennen die Leute da draußen die Insel erst, wenn sie die Brandung hören, ...und dann ist es zu spät. Haben Sie die traurigen Reste der Schiffe, die hier gestrandet sind, nicht gesehen? Haben Sie sie nicht gesehen die elenden Trümmer, wie sie im Riff hängen und auseinanderfallen? Haben Sie die Wracks nicht gesehen? Die Kinkora stirbt noch heute auf dem Riff! Nein, sie wünscht sich, endlich sterben zu dürfen, aber das Meer nimmt sie noch nicht an." Alvarez schwieg plötzlich, als er merkte, daß ihn alle vier ansahen. Er nahm verwirrt einen Schluck heißen Kaffees, stellte den Becher wieder auf den Tisch und legte seine Hände um das Blech. Als er merkte, daß der Becher zu heiß war, stellte er ihn rasch zurück und klemmte die Hände wieder zwischen die Schenkel. Dann sprach er leise weiter: "Sie sind alle vor der Errichtung des Lichts gestrandet. Die meisten einfach darum, weil sie die Insel zu spät bemerkt haben. Da war gar kein Sturm nötig! Nur zwei davon sind in einem Sturm auf das Riff getrieben worden, obwohl der Ausguck im Mastkorb die Insel, weiß Gott, rechtzeitig ausgemacht hatte. Aber sie hatten nicht die geringste Chance zu entkommen. Die Insel zieht sie alle an! Die Insel hat auch sie angezogen und nicht mehr 315
losgelassen. Zu dritt hingen sie am Ruder und zerrten und zogen, bis ihnen die Schultergelenke aus den Pfannen sprangen. Sie konnten doch nichts machen! Der Wind hat sie ins Riff getrieben! Es ist meine Pflicht, das Licht anzuzünden,- jeden Tag das Licht anzuzünden. Man weiß ja nie vorher, ob nicht einer hier vorbei will und sich auf das Licht verläßt. Als es noch kein Leuchtfeuer gab, achteten sie alle auf die Gefahr! Aber heute verläßt sich jeder nur noch auf mich. Sie verlassen sich alle darauf, daß ich das Licht anzünde! Alle verlassen sich darauf! Alle!" "Wieviel Schiffe kommen denn hier vorbei?" fragte Tirza. Alvarez starrte sie an, als hätte er ihre Frage nicht verstanden. Dann beugte er sich über den Tisch, bis sich sein Gesicht ihren erschreckten Augen auf eine Elle genähert hatte, und flüsterte: "Wieviel Schiffe hier vorbeikommen? Warum fragen Sie das?" Tirza wich verstört zurück. Alvarez wartete nicht auf ihre Antwort: "Aber das ist doch ganz unwichtig, Señora! Es ist doch ganz unwichtig, wie viele es sind. Es kommt doch nicht auf die Zahl an! Es kommt doch nur darauf an, daß jeder das Licht sehen kann.... Es kommt nicht darauf an ,daß man es wirklich sieht, es kommt darauf an, daß man es sehen kann! Sie kommen vorbei! Glauben Sie mir das, Señora! Sie kommen vorbei! Wenn ich nachts das Nebelhorn höre, weiß ich, daß man irgendwo da draußen das Licht gesehen hat." "Gut, und wie oft haben Sie es gehört, das Nebelhorn?" "Mindestens fünfmal!" sagte Alvarez und sah zu Ramón Arnaud hinüber, als ob er dessen Bestätigung erwarte; 316
aber der zündete sich eine Zigarre an und kümmerte sich nicht um Alvarez. "Nicht wahr, Señor Capitan, es waren mindestens fünf!" Ramón Arnaud reagierte nicht. Dann murmelte er noch leiser als zuvor und so undeutlich, daß man ihn kaum mehr verstehen konnte: "Es waren mindestens fünf Schiffe, Señora! Eins davon habe ich sogar mit eigenen Augen gesehen, in der Morgendämmerung, bevor ich das Licht löschte. Es fuhr vorbei, und seine Lichter glitzerten hell hinter der Nacht her!" Man konnte nicht sehen, daß Alvarez errötete, als er das sagte, weil seine Haut zu dunkel war. Nur Ramón Arnaud und seine Frau wußten, daß er log und daß in acht Jahren ein einziger verirrter Dampfer weit draußen unterm Horizont am hellichten Tage nach Westen gefahren war, so daß sie nur den Rauch sehen konnten, und daß auch keine Aussicht bestand, außer der Pandora je ein Schiff zu Gesicht zu bekommen, weil Clipperton fünfhundert Meilen von der Schiffahrtsroute nach Japan entfernt war. Die Schiffe, auf die Alvarez angespielt hatte, waren wirklich auf das Riff gelaufen, weil der Ausguck die Insel zu spät ausmachte, aber das war vor zwanzig Jahren gewesen, als Clipperton noch im Blickfeld der Kaufleute und Naturwissenschaftler stand, und sich ungenügend ausgerüstete Schiffe aller Art um die Insel herumtrieben. Nach dem Abkommen mit den Franzosen war das alles grundlegend anders geworden. Jetzt lag Clipperton wieder so einsam und abseits im Pazifischen Ozean wie vor zweihundert Jahren. Clipperton war eine Sache zweier Nationen, also der Franzosen und der Mexikaner. Alle anderen hatten nicht das geringste Interesse daran, wegen 317
eines so kleinen Inselchens, dessen Guanovorkommen ohnehin nicht viel wert waren, in einen internationalen Konflikt verwickelt zu werden. So konnte man allenfalls abgetriebene Walfänger oder verirrte Fischkutter in dieser Gegend erwarten. Die aber mieden die Insel, weil sie deren Gefährlichkeit kannten und wußten, daß es dort weder Wasser noch Nahrung gab, und daß eine Landung so gut wie unmöglich war. Es war Alvarez' Glück, daß die Pacific Phosphate Company, aus welchen Gründen auch immer, trotz alledem darauf bestand, daß das Leuchtfeuer regelmäßig gewartet und täglich in Betrieb genommen wurde. Alvarez liebte dieses Gebilde längst nicht mehr und erinnerte sich mit Verwunderung an die Gefühle, die ihn vor acht Jahren überfallen hatten, als er die Laterne aus der zerbrochenen Kiste blinken sah. Aber er war mit den Jahren so mit seinem Leuchtturm verwachsen, daß er sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. Manchmal haßte er sich selbst, weil er diesen Gefühlen nachgegeben hatte. Es war ja, das wußte er ganz genau, nicht eigentlich die Laterne gewesen, die ihn eingefangen hatte, die nun ein leuchtendes Gefängnis um ihn herum gebaut hatte. Es war seine gottverdammte Blödheit gewesen. "Was kann der Käse dafür, wenn sich die Maus in der Falle fängt?" Das sagte er immer wieder, wenn er die vielen Stufen zu seinem Licht hinaufkletterte. Warum hatte ihn nichts gewarnt, als ihn vor acht Jahren sein überlaufendes Herz so sehr täuschte? Warum fühlte er sich so verraten, obwohl er doch ganz genau wußte, daß weder damals noch heute irgendjemand etwas Böses von ihm wollte. Warum nur mußte er auf dieser Insel bleiben, obwohl er wußte, daß ihn vermutlich kein Mensch daran hinderte, seine Siebensachen zu packen und mit der 318
Pandora für immer zu verschwinden? Niemand würde ihn vermissen. Sie würden einen Soldaten abstellen, der seine Aufgabe von einem Tag auf den anderen übernähme. Sollte er also einfach gehen? Er hatte in all den Jahren nichts von dem ausgegeben, was er verdient hatte. Sein Geld lag auf der Bank in Acapulco, wo sein Guthaben jeden Monat um einen kleinen Betrag anwuchs und wo ihm obendrein vierteljährlich ansehnliche Zinsen gutgeschrieben wurden. Er war reich, aber konnte mit seinem Reichtum nichts anfangen, wegen eines Leuchtturms für den er sich verantwortlich fühlte und der ihn nicht mehr losließ. Sollte er gehen? Er hatte sich dies acht lange Jahre bei jeder Ankunft des Versorgungsschiffes, also mindestens vierundzwanzigmal, schwankend und gemartert von dämonischer Versuchung gefragt, und vierundzwanzigmal hatte ihm das Meer zugeflüstert: "Diesmal haust du ab!", sobald das Schiff am Horizont erschien, aber es war auch immer derselbe Satz, den er dann am nächsten Tag vor sich hin flüsterte, den er, hoch oben auf seinem Felsen kauernd, in hundert aneinanderhängenden Bandwurmsätzen immer wieder vor sich hin murmelte: 'Es geht nicht. Die Laterne braucht dich! Es geht nicht, die Laterne braucht dich! Es geht nicht, die Laterne braucht dich. Es geht nicht.....' Und er stützte sein Kinn auf die Fäuste und nagte seine Lippen wund, während die Pandora unter dem dreimaligen Aufstöhnen des Nebelhorns die Anker lichtete und nach Norden dampfte und kleiner und kleiner wurde, bis sie mit dem Horizont verschmolz.
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Am nächsten Tag wurde Pedro vierundzwanzig Jahre alt. Die Sonne stieg aus dem Meer und brannte schon in den frühen Morgenstunden mit durchdringender Kraft von einem wolkenlosen Himmel. Es war fast windstill, und die Lagune schien an jenem Sonntag aus grauem Glas zu sein. Auch die Dünung, die sonst mit Donnerschlägen über das Riff brauste, schwappte lautlos über den Schelf, und die Fische sprangen voller Übermut über sanfte Wellen und lockten Myriaden von Vögeln hinaus, die gemeinsam in wilden Wolken, quäkend, schreiend und pfeifend hinunterstießen und sich die im Morgenlicht glänzenden Leckerbissen im Flug erschnappten. Pedro schlief noch, als Tirza aufwachte. Sie stand leise auf, ging barfüßig durch die Stube in die Küche, schob die vorbereiteten Späne in den Ofen, zündete sie an und schichtete dann dickere, trockene Schwemmholzstücke über das aufflammende Feuer. Dann setzte sie einen Topf Wasser für den Kaffee auf und schlich zurück ins Schlafzimmer. Pedro hatte sich noch nicht gerührt. Sie schlüpfte lautlos wieder unter ihre Decke und überlegte sich, wie sie ihn begrüßen sollte, wenn er aufwachte. Sie hatte in México eine dieser modernen Armbanduhren erstanden. Die Uhr hatte einen Sekundenzeiger, den man anhalten und wieder laufen lassen konnte, und ein Gehäuse aus vierzehnkarätigem Gold. Das Geschenk lag, in veilchenfarbenem Papier verpackt, auf ihrem Nachttisch. Sie nahm sich vor, es Pedro sofort in die Hand zu drücken, wenn er aufwachte. Tirza gehörte zu den seltenen Menschen, denen Beschenktwerden nichts bedeutet, die aber, wenn es darum geht, anderen eine Freude zu machen, vor Aufregung und Ungeduld jedes 320
Zeremoniell und jede Förmlichkeit vergessen. Als sie noch in San Miguel lebte, stand sie an Namenstagen und Geburtstagen immer wieder mit leeren Händen da, weil sie ihre Geschenke lange vor der Zeit weitergegeben hatte. Es war ihr unmöglich zu warten. Diesmal hatte sie es jedoch geschafft. Sie war stolz auf sich, weil sie es fertiggebracht hatte, die Uhr unter ihren Sachen versteckt zu halten, obwohl sie auf der Pandora in schier unüberwindliche Versuchung geraten war, nachdem Pedro auf so charmante Weise seine Beherrschung verloren hatte. Als sie seine Umarmung noch spürte, als ihr Herz noch klopfte, da wollte sie schon weitergeben, was sie, zermartert von Zweifeln, in jenem teuren Juweliergeschäft am Paseo de la Reforma aus einem unübersehbaren Angebot ausgewählt hatte. Sie tat es diesmal nicht. Aber gerade weil sie es so lange ausgehalten hatte, wollte sie jetzt keine Zeit mehr verlieren. Sie hielt das Päckchen in den Händen, um es mit ihren Glückwünschen noch im Bett an den Mann bringen zu können, und überlegte, wie sie Pedro am besten wecken könnte. Da kam ihr Pedro zuvor. Er warf plötzlich die Decke ab und schnellte wie ein Schachtelmännchen in die Höhe. Bevor sie irgend etwas sagen konnte, fühlte sie sich von seinen Armen und Beinen gefesselt, und seine Lippen verschlossen ihren Mund. Er gratuliert sich selbst, der Kerl gratuliert sich selbst, dachte sie und versank unter seinem Gewicht in den Kissen. Oh nein, sie hatte gegen diese merkwürdige Gratulationskur nicht das Geringste einzuwenden. Der zärtliche Überfall setzte vielmehr in ihrem Gemüt und ebenso in ihrem Körper augenblicklich und unerwartet Kräfte frei, deren vollständige Erweckung bisher immer eine gewisse Vorbereitung erfordert hatte. Das was sich sonst in genüßlichen Minuten aufbaute, was 321
sich unter seinen zarten Berührungen nur langsam einstellte, brach diesmal über sie herein wie ein Sommergewitter. Er überraschte Tirza diesmal durch schiere Unverschämtheit, durch einen plötzlichen Sprung aus der Horizontale in die Horizontale, durch sein nacktes, liebesbereites Auftauchen aus dem Schlaf, fordernd, mit sparrigem Bugspriet und nach Mann riechend. Sie spürte ihn hart und ungeduldig in sich eindringen und sie umfing ihn mit dem wahnsinnigen Wunsch, er möge ihren Körper zersprengen. "Ich wünsche dir alles Liebe zum Geburtstag", flüsterte sie, als er sich wieder gesammelt hatte und wie ein toter Frosch über ihr hing. Das Päckchen hatte sie nicht losgelassen. Pedro reagierte nicht. "Mi cordial felicitación! Herzlichen Glückwunsch!" sagte sie noch einmal, und diesmal laut. Sie beobachtete ihn von der Seite und schob ihm das Päckchen in die linke Hand. Pedro blieb so liegen, wie er lag. Er drehte den Kopf seitwärts, weil er sich für zu erschöpft hielt, ihn zu heben, und riß das Papier über Tirzas Kopf langsam in kleine Fetzen, ohne dabei die Augen zu öffnen, bis er die Uhr von ihrer Umhüllung befreit hatte und er das glatte Metall in der Hand spürte. Jetzt kam wieder Leben in ihn: "Ist das Gold? Die ist wunderbar! Die ist fantastisch! Nein, sowas! Tirza ich liebe dich!" Er zog die Uhr sofort an - immer noch mit seiner ganzen Schwere auf ihr liegend. Und ehe sie sich's versah, spürte sie ihn wieder, zog ihn in sich hinein, löste sich in Liebe auf an diesem hellen Morgen, genoß seine streichelnden Hände und hörte die Uhr ticken, die sie diesmal genau zur rechten Zeit überreicht hatte.
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Der Tag begann so schön, daß Tirza die Insel zum ersten Mal mit jenem Minimum an Akzeptanz betrachtete, das man einer Wahlheimat schuldet. Es war beileibe keine Liebe, und es sollte nie Liebe werden, was sie für dieses Stück kargen Landes empfand. Aber es war doch so etwas wie versöhnliches Wohlwollen. Sie saßen noch beim Frühstück, als Francisco sein Geburtstagsständchen von der Lagune herauf schmetterte. Er hatte absichtlich eine gewisse Distanz zu Pedros Hütte gewahrt, weil er wußte, wie laut er blies, wenn es darauf ankam. Es klang ungemein fröhlich. Die fließenden Oktavensprünge erinnerten Tirza an die Posthornserenade, deren Thema Francisco weißgottwoher zusammengeklaubt und durch zwei zusätzliche Quintenvarianten in eine konzertreifere Form gebracht hatte. Er schmetterte seinen Gruß über das Lager mit der Virtuosität eines Xaviero Jimenes, der seit zwanzig Jahren im Innenhof des Palacio Nacional für den Präsidenten die Geburtstagsfanfare blies. Francisco stürmte in die Hütte, schwenkte das Horn über seinem Kopf und rief: "Muchas felicidades!" Er schüttelte Pedro die Hände und zeigte strahlend seine weißen Zähne. Etwas später erschien auch Sombrero in übermütiger Laune. Er brachte Tequila mit und bestand darauf, daß Pedro ein Wasserglas voll in sich hineinschüttete. "Wir machen ein Fest!" sagte er mit vieldeutigem Lächeln. "Wer macht ein Fest?" Pedro sah Sombrero fragend an.
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"Todos nosotros! Wir alle! Der Capitan, Doña Alicia, Altagracia, Nava, Irra, Malonardo, Gerovia, Vargas, Bantista, Rodriguez, Cepeda......Es kommen alle." "Wann?" "Heute abend natürlich! Por dios, hast du es noch immer nicht begriffen? Wir machen ein Fest für dich, amigo! Wir wollen mit euch feiern!" Er sagte "euch" und sah dabei verunsichert zu Tirza hinüber, die am Herd Holz nachschürte. Tirza lächelte ihm zu. Dann sagte Sombrero: "Wir machen ein Feuer und wollen tanzen. Heute abend. Nava hat Bretter ausgelegt und Bänke zum Strand hinübergeschafft. Malonardo und ich bringen die Gitarren mit. Der Capitan hat einen Schinken spendiert. Den hat Sanchez mitgebracht. Wir wollen ihn am Feuer braten." "Klingt nicht schlecht", sagte Pedro. "Muy bien, amigo! Wir feiern ein Fest!" brüllte Sombrero laut, als sei Pedro schwerhörig, und er hieb ihm mit der flachen Hand auf die Schulter, daß man danach den Eindruck hatte, Pedro sei kleiner geworden. Nach Sombrero erschien Ramón Arnaud mit einer Flasche Champagner, den sie, warm wie er war, tranken. Das heißt sie tranken zu dritt das, was nach der Detonation, die mit dem Wegfliegen des Korkens erfolgte, und der Fontäne, die an der Decke abprallte und den ganzen Raum bespritzte und klebrig machte, noch übrigblieb. "Champagner sollte man kühl trinken!" sagte Pedro trocken. 324
"Eis sollte man haben!" erwiderte Arnaud. Dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. Weil Sonntag war, lag das Gelände der Pacific Phosphate Company verlassen da. Der Nordweststrand der Lagune unterhalb der Eierinseln war einladend einsam, und Tirza machte Pedro den Vorschlag, vor dem Essen einen Badeplatz zu suchen und in der Lagune zu schwimmen. Sie gingen am Lagunenstrand entlang über die Zangenbucht hinaus und kamen nach einer Viertelstunde an eine grün überwachsene kleine Halbinsel. Ein Phosphathügel schützte das Ufer vor dem Wind. Sie zogen sich aus und Tirza genoß die Sonne, die fast senkrecht über ihr stand und heiß auf ihre nackte Haut brannte. Sie mochte diese trockene Hitze. Sie stieg ins Wasser und wunderte sich nach Ramón Arnauds Schilderungen, wie sauber es war. Es roch angenehm nach Erde und war handwarm. Sie schöpfte das klare Wasser mit der hohlen Hand von der Oberfläche und nahm vorsichtig einen kleinen Schluck in den Mund, bereit, ihn sofort wieder auszuspucken. Aber das war nicht nötig. "Es schmeckt ein wenig fad und ein ganz kleines bißchen salzig, aber eigentlich nicht schlecht", rief sie hinter Pedro her, der schon ins Wasser gesprungen war und mit kräftigen Zügen hinausschwamm. Da war nichts zu spüren von ätzender Säure. Tirza wunderte sich auch, daß das Wasser nicht nach Vogelmist stank. Sie erklärte es sich damit, daß es am Vortag stark geregnet hatte. Sie hatte gelernt, daß sauberes Wasser leichter ist als verschmutztes und viel leichter als das Salzwasser des Meeres. Es war daher wohl reines Regenwasser, das sie kostete. 325
"Es soll ein hervorragendes Abführmittel sein!" rief Pedro lachend, legte sich auf den Rücken und strampelte mit den Beinen wie ein kleiner Junge. "Sombrero hat das gesagt. Sieh dich vor! Trink nicht zuviel!" Tirza drehte die hohle Hand um und ließ den Rest des Wassers zurückplätschern. Dann holte sie Luft, formte mit ihren Händen einen Trichter vor dem Mund und rief, so laut das ging, ohne daß ihre Stimme sich überschlug: "Hör' zu, du alter Bock! Mir hat Alicia Arnaud gesagt, das Baden in diesem Giftwasser mache Männer impotent!" "Was schreist du da durch die Gegend?" rief Pedro zurück, kehrte, ohne die Antwort abzuwarten, um und schwamm wieder auf Tirza zu. "Impotente, --iimpooteentee -- habe ich gesagt! Sooo wird er werden!" plärrte Tirza und markierte mit Daumen und Zeigefinger der hoch erhobenen rechten Hand eine Distanz von nicht ganz einem Zoll. "So!..." Sie beschrieb um die drohende Gefahr zu kennzeichnen - mit dem ganzen Arm hektische Halbkreise über dem Wasser, ohne den Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger zu ändern. Dann fiel ihr eine Steigerung ihrer Beleidigung ein, und sie schrie - und diesmal überschlug sich ihre Stimme: "und so dünn wie ein Regenwurm! Una lombriz de tierra! Ein Reegeenwuurm!" Die Distanz ihrer Finger, mit der sie Pedro die zu erwartende Katastrophe signalisierte, schrumpfte auf Null. Jetzt hatte Pedro verstanden, worum es ging, und brüllte mit gleicher Lautstärke zurück: "He, das Gift mußt du erst 326
erfinden, das das schafft!" Pedro tauchte fast eine Minute lang, schoß dann prustend ganz nahe bei Tirza wieder aus dem flachen Wasser und stand auf, und Tirza sah, daß das mit dem Regenwurm - zumindest diesmal - nicht stimmte. Er stand vor ihr und der Wurm, aus der Schale stützender Hände drohend aufgerichtet, demonstrierte, wie falsch das war, was sie über das Wasser gebrüllt hatte. Tirza hielt sich mit beiden Händen die Augen zu und hörte nur noch Pedros provozierende Stimme: "Ist das ein Regenwurm? He? Sieh her! Ist das ein Regenwurm, frage ich dich?" Tirza sah zwischen den Fingern hindurch zu ihm hinüber: "Cochinillo!" Pedro antwortete mit ein paar äußerst obszönen Bewegungen. Tirza schüttelte sich vor Lachen. "Hör' auf mit dem Blödsinn! Ich hätte dich nie geheiratet, wenn ich das gewußt hätte." Dann lachten sie beide und ließen sich wieder ins Wasser fallen. Tirza genoß ihren Körper. Es war nicht genau das, was sie empfand, wenn sie mit Pedro im Bett lag. Aber es war ähnlich. Sie streckte sich in aufregendem Wohlbehagen, als das lauwarme Wasser in weichen Wirbeln ihre Haut umströmte. Es war in der Tat fast so, als ob sie gestreichelt würde. Sie schwammen weit hinaus. Sie wußten, daß die Lagune ungefährlich war. Es gab in diesem Binnengewässer weder Haie noch die widerlichen, gefräßigen, meterlangen, fetten Muränen mit ihren tausend Zähnen, die in der Rifflagune lebten, nachts sogar das Wasser verließen, und ein ganzes Stück über den Korallensand kriechen konnten, wenn sie dort Beute witterten; sie mieden aus nicht bekannten Gründen die 327
Lagune. Die Lagune war ganz und gar harmlos, wenn sie nicht durch Stürme aufgewühlt war und man nicht zu tief untertauchte. Drüben an der Pointe Verte, hatte Francisco erzählt, verteilten aber manchmal kleine Krebschen sehr unangenehme Bisse, die einen Tag lang wie Mückenstiche juckten. Die gab es aber offenbar hier nicht. Von der Lagune aus bot sich die Insel noch ungewöhnlicher dar als sonst. Das lag wohl an dem außergewöhnlichen Blickwinkel von der Wasseroberfläche her. Es erschien beiden, als ob sie auf dem ruhigen offenen Meer schwämmen und als ob der Horizont ringsum mit einem Rötelstift nachgezogen worden wäre. Die Regelmäßigkeit dieser überaus dünnen Linie wurde nur an ganz wenigen Stellen, nämlich durch den Palmenhain im Westen, die braunen Phosphathaufen im Norden, die wenigen Palmen an der Pointe Verte und schließlich durch den Felsen im Südosten gestört. "Wie ein Bannkreis gegen die Meerhexen!" rief Tirza Pedro zu, der vor ihr schwamm. Sie fühlte sich merkwürdig geborgen in der größten Badewanne der Welt, wie sie die Lagune nannte. Nach einer halben Stunde stiegen sie wieder aus dem Wasser, breiteten ein Tuch über die Geißfußwinden und ließen sich, eng nebeneinander liegend, in der Sonne trocknen. Durch den Leinenstoff des Tuches drang der an Kiefernharz erinnernde aromatische Duft der Blätter. Der Gestank des Vogelmists, der Tirza am ersten Tag beinahe betäubt hatte, war fast verschwunden. Sie nahm den jetzt nur noch ein wenig säuerlich erscheinenden Geruch zwar
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noch wahr, aber er belästigte sie nicht mehr. Agustin hat recht gehabt, dachte sie, man gewöhnt sich an alles. Gegen halb zwei waren sie wieder zu Hause. Tirza öffnete eine Dose Rindfleisch und spürte zum ersten Mal, was es bedeutet, kein frisches Fleisch, ja, überhaupt keine frischen Lebensmittel kaufen zu können. Die ersten beiden Tage, das überaus üppige Frühstück bei den Arnauds, die frischen Früchte, die sie auf ihrem Inselrundgang genossen hatten, das alles täuschte für den Anfang über ihre isolierte Situation hinweg. Jetzt gab es nichts Frisches mehr. Die Milch und die Brote, der Käse, die Butter, die Wurst, der Schinken, sofern er nicht streng geräuchert war, das alles verdarb in dem heißen, dampfenden Klima des zehnten Breitengrads innerhalb von zwei Tagen, selbst wenn man mit Wasser oder wenigstens feuchten Tüchern für die bestmögliche Kühlung sorgte. Ab heute, das wußte Tirza ebenso wie Pedro, war der Küchenzettel auf das beschränkt, was die Leute auf der Insel seit nunmehr bald zwanzig Jahren zur Verfügung hatten: Dörrfleisch, hin und wieder Dosen mit Rind- oder Schweinefleisch, Schiffszwieback, Olivenöl, Ölsardinen und Thunfisch, ebenfalls in Dosen. Kartoffeln, Reis, Frijoles, Weizenmehl, das sie in großen, verschlossenen Blechkübeln lagerten, getrocknete Aprikosen und Äpfel, Rosinen und Zitronen. Ramón Arnaud hatte Tirza empfohlen, sie solle jede Woche in ihrem Haushalt mindestens drei Zitronen verwenden. Das verhindere das lästige Zahnfleischbluten. Man habe schon einige Phosphatarbeiter heimschicken müssen, bevor man um die Jahrhundertwende die 329
`Zitronenregel` aufgestellt habe. Er erklärte ihr, Zitronen seien schon seit zweihundert Jahren das Mittel der Wahl gegen Skorbut. Alle Schiffe nahmen Zitronen, Orangen, Lemonen und auch sonstiges Grünzeug und Obst, das allerdings schneller verdarb als Zitrusfrüchte, mit hinaus auf die Meere, weil man die Erfahrung gemacht hatte, daß allein durch frische Früchte und durch nicht konserviertes Gemüse die "Rate" - das ist das Zahlenverhältnis der angeheuerten zu der rückkehrenden Mannschaft entscheidend gedrückt werden konnte. Kein Mensch wisse genau, warum Obst und Grünzeug, besonders Zitronen, den Ausbruch dieser fürchterlichen Krankheit verhindere. Zitronen enthalten kaum Zucker, kein Fett, kein Eiweiß, nur ein bißchen Zitronensäure, also nichts Brauchbares, und trotzdem seien sie so wirksam gegen Skorbut wie Zapote-Samen gegen die Fallsucht. Wenn man jedoch das Obst trockne, verflüchtige sich diese Kraft. Arnaud meinte, es sei irgend ein heilsames Gas, ein geheimnisvolles Fluidum, das durch die Fruchtsäuren festgehalten werde, solange man es nicht durch Kochen oder Trocknen verscheuche. Die Pacific Phosphate Company habe der Versorgungsfirma Anweisung gegeben, bei jeder Fahrt zehn Sack Zitronen zu laden und abzuliefern, um weiteren Ausfällen durch skorbutähnliche Krankheiten vorzubeugen. "Zehn Sack Zitronen sind immer noch billiger als der Verlust nur eines einzigen Mannes", hatte Joaquin Girdova Martínez verkündet, der in México im Auftrag der Pacific Phosphate Company für die Versorgung der Insel verantwortlich war. Es wurde das kargste, aber vielleicht das mit dem höchsten Maß an Liebe zubereitete Geburtstagsessen, an das sich 330
Pedro in seinem Leben erinnern konnte. Tirza hatte alles getan, um aus dem Wenigen, das ihr zur Verfügung stand, das Beste herauszuholen. Sie hatte ein Pfund Zwiebeln kleingeschnitten und in Olivenöl gedünstet. Dazu hatte sie das Fleisch gegeben und die blubbernde Masse mit getrockneten Chilischoten gewürzt. Sie gab Wasser zu dem aufgeschlossenen Maismehl, knetete einen zähen Teig und buk auf der heißen Herdplatte Tortillas wie zuhause auf dem Comal. "Nicht übel für den Anfang", sagte Pedro, der ihr über die Schulter sah, als ihm der Duft der frischen Fladen in die Nase stieg. Und er aß vier gehäufte Teller, was Tirza angesichts seiner Leistungen in den ersten Stunden dieses erfreulichen Sonntags nicht verwunderte. Am Nachmittag kam Andres Nava mit seinen Töchtern vorbei und wünschte Pedro für sein neues Lebensjahr und Tirza für die kommende gemeinsame Zeit auf Clipperton alles Gute. Rosita war ein hübsches, spirriges Kind in jenem kaum bestimmbaren Alter, wo die Brüste die Größe und Form von Mandelplätzchen haben. Sie stakste hochbeinig hinter ihrem Vater her wie ein Pferdchen. Sie zeigte ein entzückendes Lachen aus blinkenden Kirschaugen. Tirza konnte sich nicht erinnern, je ein Mädchen mit einem so lebhaften, fröhlichen Gesicht gesehen zu haben. Ihre Hüften waren noch kantig wie ein Möbelstück, und ihre dünnen Beinchen streckten sich ohne besonderen Schwung, X- förmig nach außen gestellt, geradewegs in den Boden. 331
Ihre Schwester Laura war sechs Jahre alt. Sie war das Gegenteil: ein ganz und gar rundliches Kind mit kaffeebraunen Bäckchen und einer zwischen diesen Bäckchen fast verschwindenden Stupsnase. Ihre Mutter hatte ihr das schwarze Haar zu einem dicken Zopf geflochten, der wie eine Krone auf dem Kopf lag und die Ohren halb verdeckte. Laura war ein sehr scheues Kind. Sie sah beständig auf den Boden und verhakte dabei die Finger ineinander, als ob sie sie abbrechen wollte. Sie lehnte sich, während Andres Nava mit Tirza und Pedro sprach, an ihren Vater. Sie stand hinter ihm und streichelte von Zeit zu Zeit mit zwei drei flüchtigen, heimlichen Berührungen ihrer Fingerspitzen seine Hände. Rosita stellte sich mit einem kaum wahrnehmbaren Knicks vor und sprang dann wieder hinaus, um sich mit einem kleinen Hund zu beschäftigen, der die Straße heruntergelaufen kam und schwanzwedelnd stehenblieb, als er Rosita aus der Hütte kommen sah. Andrés Nava wischte mit seinem Taschentuch über die von Schweißperlen übersäte Glatze und setzte sich auf den Stuhl, den ihm Pedro hingeschoben hatte. Er räusperte sich und sagte: "Vergessen Sie um Gottes Willen das, was Eusebio Gerovia Ihnen erzählt hat! Es stimmt ja schon, daß es hier hart zugeht - und wir sind Clipperton im Grunde alle leid. Aber, was Eusebio im Ärger so dahinsagte, sollte Ihnen das Leben nicht schwer machen. Er nimmt sich seine Geschwätzigkeit selbst übel." "Wissen Sie, Nava, ich habe es mir zur Regel gemacht, den Dingen selbst auf den Grund zu gehen. Bis jetzt stellt sich mir die Insel ganz erträglich dar. Ich möchte sogar 332
sagen, sie hat durchaus auch ihre guten Seiten. Und was die schlechten angeht, werde ich mich rechtzeitig darauf einstellen. Kümmern Sie sich nicht um mich, ich bin alt genug, für mich selbst zu sorgen." Nava schüttelte den Kopf. "Sie sind noch sehr jung, Teniente, sehr jung! Und es täte mir verdammt leid, wenn es anders käme, als Sie sagten." Tirza ging in die Küche. Pedro schenkte zwei Gläser ein, und Andrés Nava plauderte noch mit ihm und nahm Laura auf den Schoß, bis Rosita hereinkam und ihn daran erinnerte, daß er zuhause erwartet wurde, weil das Dach repariert werden mußte. Als der Abend hereinbrach und die Sonne nacheinander alle Farben des Regenbogens durchlief und lautlos ins Meer stürzte, brannte am Palmenhain ein Feuer über dem ein Schinken brutzelte, mit dem man ein Regiment satt bekommen hätte. Sie kamen im Dämmerlicht unter dem wütenden Geschrei der Seevögel, die sich schon in ihre Nester zurückgezogen hatten, zusammen, ließen die Gitarren bereits auf dem Weg durch den Palmenhain klingen und sangen herzerweichende Lieder auf die Liebe, die Freundschaft und den Tod, der für einen Mexikaner nicht mehr bedeutet als das erste unerwartete Gewitter zum Ende der Trockenzeit. Tirza trug ein Kleid, das dem Anlaß würdig erschien. Es war ein weich fallendes Abendkleid, auf dessen morgenblauem Grund scharlachrote Rosen leuchteten. Als sie aus dem Dunkel des Palmenschattens in den Feuerkreis trat, verstummten alle und sahen sie an. Die Männer stimmten ein fröhliches 333
Lied an, das von den Heldentaten eines Caballeros kündete. "Ninguna vida sin amor.." Kein Leben ohne Liebe.., klang es hinaus auf das Meer, dessen Wellenschlag den Takt diktierte. Die Stimmen vereinten sich mit den Gitarren in warmen Harmonien, und Sombrero griff in die Saiten und sang wie König David. Dann hob er Arturo Malonardos Gitarre auf, die auf dem Boden lag. Er hielt jetzt in jeder Hand eine Gitarre. Er hielt sie locker unter dem Wirbelbrett mit angehobenen Armen und ließ beide Instrumente schwingen wie Glocken. Sie schwangen hin und her und hin und her, und er balancierte die schwingenden Instrumente und griff, ohne den Griff zu lockern, plötzlich von oben her mit Kraft in die Saiten, daß diese in vollen Quarten und Septimen zu dröhnen begannen. Er ließ seine Finger in den Saiten springen, und die Akkorde schwollen an, und er ging über zu fröhlichen Terz- und Quintakkorden, und wenn sie die Augen schlossen, hörten sie alle das Geläut der Kathedrale von México. "Oyen ustedes las campanas? Hört ihr die Glocken?" sang Sombrero und tanzte in übermütiger Freude um das Feuer als lebendiger Glockenstuhl und ließ dabei unter der riesigen Krempe seines Hutes die Gitarren schwingen und die Glocken läuten, die tiefen Töne ganz langsam und die kleineren Glocken schnell, in nervösem Gebimmel, und er sang dazu mit vibrierender Stimme eine Hymne zu Ehren der Jungfrau Maria, und die Tränen rannen ihm über die vom Feuer geröteten Backen. Dann kauerte man drei Stunden um das Feuer, tanzte, aß und trank. Pedro saß neben Tirza auf dem Boden und legte stolz seinen Arm um ihre Schulter. Tirza schmiegte sich 334
an ihn und sah in die züngelnden Flammen. Nach einer Weile griff Pedro in die Tasche und holte einen kleinen silbernen Gegenstand heraus, den er auf die flache Hand legte und im Schein des Feuers langsam in Tirzas Blickfeld schob. Tirza stutzte und griff neugierig nach dem kleinen runden Ding und sah, daß es ein Medaillon war. Es war verschlossen mit einem Deckel, auf den ein kunstvolles Rosenmotiv ziseliert war. "Mach es bitte auf!" bat Tirza Pedro. Er nahm Tirza das Medaillon wieder aus der Hand und zeigte ihr ein kleines silbernes Knöpfchen am oberen Rand zwischen den Ösen für die Kette. Er drückte darauf und der Deckel sprang auf. "Unser Hochzeitsbild!" Tirza raffte ihr Kleid zusammen, das um sie herum den sandigen Boden bedeckte, und stand auch schon in der Mitte des Kreises. Sie schwenkte das geöffnete Medaillon: "Schaut her!" rief sie in die Runde und unterbrach die Gitarrenspieler. "Schaut alle her, er hat mir ein Medaillon mit unserem Hochzeitsbild geschenkt!" Sie zeigte den winzigen silbernen Gegenstand herum, und alle bestaunten das Bild, weil sie als Braut so hübsch ausgesehen hatte. "Wo hast du das her? Wir hatten doch nach der Hochzeit keine Zeit.... Wer hat das gemacht?" fragte sie Pedro. "Das war kein großes Kunststück. Es war Luis Aragon. Er kennt Leute in Taxco, die haben das Bild auf Porzellan kopiert und in den hübschen Rahmen eingepaßt. Er hat es rechtzeitig mitgebracht nach Manzanillo, und er hat es mir gegeben, bevor wir an Bord gingen. Eigentlich wollte ich es aufheben bis zum 11. Februar. Aber ich denke, dies ist 335
ein so wunderschöner Tag gewesen, daß du es schon heute bekommen sollst." "Wie bist du nur auf diese Idee gekommmen?" "Ich fand dein Gesicht so hübsch getroffen auf dem Bild und habe mir überlegt, was man daraus machen könnte. Luis brachte mich schließlich auf die Idee. Er hat seiner Frau schon letztes Jahr ein Medaillon geschenkt und konnte mir auch sagen, wo man die anfertigen lassen kann. Er mußte zu seiner Familie nach Iguala und hat für mich den Umweg nach Taxco gemacht. Du siehst, es war keine Hexerei." "Für mich ist alles, was mit der Liebe zusammenhängt, eine Hexerei. Es macht mich hungrig und durstig und zufrieden und eifersüchtig und froh und wütend und traurig und .." "Und und und.." unterbrach sie Pedro. "Ich liebe dich!" flüsterte ihm Tirza ins Ohr und fiel ihm vor versammelter Mannschaft um den Hals. Pedro flüsterte zurück: "Versprichst du mir, daß du immer an mich denkst? Daß du nie einen anderen Mann ansiehst? Das du ganz allein mir gehörst?" "Ich vergesse dich nie, und ich liebe dich, so lange ich lebe, und es gibt keinen Mann, an den ich denken könnte, weil ich dich habe."
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"Komm, wir gehen hinunter zum Strand!" "Allein?" "Natürlich allein!" Tirza entfaltete das kleine silberne Kettchen und legte sich das Medaillon um den Hals. Sie stand auf und nahm Pedro bei der Hand. Sie gingen über den knirschenden Schutt hinunter zum Wasser, vorbei an den rostigen Überresten eines gestrandeten Schiffs. Hinter ihnen erhob sich vielstimmig die Melodie von der Rosa amarilla, der goldenen Rose der Treue, und Tirza summte leise mit. Dann plötzlich blieb sie stehen und begann zu singen. In vollendeter Reinheit klang ihre Stimme hinaus aufs Meer. Die Stimme erhob sich weit über den Chor hinter ihnen und brachte schließlich alle zum verstummen, die da um das Feuer herumstanden. Sie hörten Tirza zu, und auch Pedro vergaß zu atmen. Nur die Gitarren schwangen noch verhalten mit. Nicht zu laut, um ja nichts zu zerstören, begleiteten sie Tirzas Gesang, bis das Meer wieder Oberhand gewann und das leise Echo, das aus dem Palmenhain herüberwehte, vollends mit seinem Rauschen zudeckte. Tirza wandte sich um und ging mit ihm in die Nacht. Als sie den Schein des Feuers aus den Augen verloren hatten und nur noch das Meer zu hören war, legten sie sich in den feuchten Sand und liebten sich, während die hellen Pfeile des Leuchtfeuers über sie hinwegflackerten.
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22 Der Tagesrhythmus hatte sich eingespielt. Pedro und Tirza hatten sich an all das gewöhnt, was ihnen zu Anfang bemerkenswert und aufregend erschienen war. Arnaud hatte für Pedro einen ziemlich legeren Dienstplan erstellt, nach dem sie ihr Leben gut einrichten konnten. Es ging hauptsächlich um die Organisation ihres täglichen Lebens. Pedro führte meist die Aufsicht bei den vielfältigen Reparatur- und Wartungsarbeiten an den Maschinen und bei der Verlegung der Bahngeleise. Militärischer Dienst war klein geschrieben. Arnaud hatte Pedro erzählt, daß Coronel Avilos, der vor ihm auf Clipperton das Kommando hatte, darauf bestanden habe, daß die Männer zwei Stunden am Tag exerzierten. "Stellen sie sich vor, Teniente, eine kleine Handvoll Soldaten und zwei Offiziere auf diesem komischen Inselchen voller Vogelmist- und dann exerzieren - womöglich noch unter wehender Flagge! Es kommt doch kein Mensch hierher, der bereit wäre, uns die Parade abzunehmen. Glauben Sie im Ernst, daß es hier darauf ankommt, ob einer links herum oder rechts herum marschiert, wenn er von vornherein weiß, daß er so oder so nach zwei Stunden wieder am selben Fleck steht? Glauben Sie, Sie finden hier bei irgendeinem auch nur einen Funken Verständnis für zwanzigmal Hinlegen und Aufaufmarschmarsch? Hier, wo jeder weiß, daß wir nichts weiter sind als eine lächerliche martialische Drohgebärde, die kein Schwein ernst nimmt, wenn es darauf ankommt! Wozu also die Rackerei? Gut, man könnte daran denken, daß Exerzieren eben eine Art Körperertüchtigung ist und der Manneszucht dient. Aber, 338
ich frage Sie, Teniente, glauben Sie, daß es den Leuten nützt - ich meine gesundheitlich nützt - und darauf kommt es mir hier draußen ausschließlich an, wenn wir sie bei fünfunddreißig Grad in Uniform und mit dem Gewehr auf der Schulter in der prallen Sonne über das Geröll hetzen? Ich habe mir gedacht, wir machen das anders und stellen uns sinnvolle Aufgaben. Es gibt ja hier genug zu tun. An Arbeiten, die erledigt werden müssen, mangelt es ja nicht. Es ist doch hundertmal sinnvoller, die Phosphatarbeiten voranzutreiben und sie vor allem gut zu planen, als hier irgendwelche schwachsinnigen militärischen Spielchen zu treiben." Pedro fand dies vernünftig, wenn auch ungewöhnlich. Er war anders erzogen worden, Ramón Arnaud hatte aber den Vorsprung jahrelanger Erfahrung. Schon am Montag der ersten Woche ging Ramón Arnaud mit Pedro zu Gustav Schulz, um alles Nötige mit ihm zu besprechen. Schulz war ein merkwürdiger Mensch. Pedro war unsicher, weil ihn Ramón Arnaud nicht genügend auf das Zusammentreffen mit Schulz vorbereitet hatte, und weil das, was er schon in der ersten halben Stunde ihres Besuchs erlebte, ziemlich aus dem Rahmen fiel. Schulz war schlicht nicht ganz richtig im Kopf, und Pedro konnte nicht verstehen, warum sich der Capitan offensichtlich nichts daraus machte und die Sache überhaupt nicht ernst nahm. Schulz hatte immerhin die Verantwortung für die organisatorische und wirtschaftliche Seite des gesamten Phosphatprojekts. Und der Capitan war für die ganze Insel, also auch für den 339
übergeschnappten Schulz zuständig. Zunächst ließ sich das Gespräch ganz gut an, obwohl Pedro anfangs Mühe hatte, Schulz' Äußerungen zu folgen. Man sprach über die Einteilung der Arbeitszeit, die Phosphatausbeuten in der Nordostecke der Insel und über Verpflegungsprobleme. Doch plötzlich geschah etwas Merkwürdiges: Schulz stand nach zehn Minuten auf, um sich die Hände zu waschen. Das wäre bei der unbarmherzigen Hitze, die bei Tag und Nacht auf die Hütten drückte und die den Schweiß aus allen Poren trieb, eigentlich nichts Besonderes gewesen. Eigentümlich aber war, daß sich Schulz die Hände ohne Wasser wusch und offenbar gar nicht daran dachte, sich Wasser zu beschaffen. Es wäre die einfachste Sache der Welt gewesen, einen Mann mit einem Eimer zur Lagune zu schicken. Pedro dachte zuerst, er habe nicht richtig hingesehen. Aber dann wurde ihm klar, daß wirklich kein Wasser da war, und vor allem, daß Schulz überhaupt nicht merkte, daß er sich ohne Wasser wusch. Er hatte in einer Ecke der Stube einen eisernen Dreifuß mit einer Waschüssel aus Aluminium aufgestellt. Daneben standen auf einem Tischchen eine Wasserkaraffe aus Glas und eine Seifenschale. Schulz entschuldigte sich also mitten im Gespräch sehr höflich, ging hinüber zu dem Waschgestell, nahm die Karaffe und neigte sie, ohne sie wirklich anzuheben, mit einer Hand so, daß eigentlich Wasser über die andere Hand hätte fließen müssen. Aber es floß kein Wasser, weil die Karaffe leer war. Dann machte er dasselbe nochmal mit der anderen Hand, rieb das trockene Stück Seife zwischen den Händen und spülte dann auf dieselbe umständliche Weise zweimal nach, worauf er die Hände 340
übertrieben sorgfältig mit einem roten Handtuch abtrocknete, das ebenfalls an seinem Waschaltar hing. Er kam dann wie nach einer ganz selbstverständlichen Verrichtung zurück, setzte sich an den Tisch und sagte jedesmal: "Wo waren wir noch stehengeblieben, Sennjohres? Sie entschuldigen, aber es muß sein." Er sprach nicht nur Señores merkwürdig aus, sondern auch sein übriges Spanisch klang gekünstelt und gespreizt. Er sprach ein verwaschenes R, das tief aus seinem Hals kam, und die überbetonten Vokale hauchte er, als ob er hinter jedem A oder O oder E noch schnell ausatmen wollte, bevor er weitersprach. Aber das mochte daran liegen, daß er Ausländer war. Er erklärte auch nicht, warum das sein mußte, was er da in Viertelstundenabständen an seiner Waschschüssel tat. Als sich Pedro aus seiner Verblüffung löste und etwas sagen wollte, um dem Spuk ein Ende zu machen, gab ihm Ramón Arnaud ein Zeichen mit der Hand, und er sagte nichts. Später erklärte Ramón Arnaud ihm, daß es wohl möglich sei, daß Schulz "einen Sparren" habe, das sei aber erst seit einem halben Jahr so, und Schulz sei ganz und gar harmlos. Arnaud ahnte allerdings damals noch nicht, wie es in Wirklichkeit um Schulz stand und was noch kommen sollte. Schulz war fünfundvierzig Jahre alt und hatte einen Kranz ganz kurzer, rotblonder Haare, die man aber nur sah, wenn er seinen Tropenhelm abnahm, und das kam nicht oft vor. 341
Er hatte ledern aussehende, von vielen kleinen, blauen Äderchen durchzogene Hängebacken, die ihm das Aussehen einer Schildkröte gaben, und eine ebenfalls von oberflächlichen Blutgefäßen blau durchsetzte, fleischige und breite Nase, die durch zwei bis hinunter zum Kinn reichende tiefe Falten scharf von den Backen abgesetzt war. Seine Augen waren schmal und wäßrig und von einem sehr hellen Grau. Sein Mund war fast lippenlos, und das Wenige, was man von den Lippen sah, war bläulich und stets naß, so daß der schmale Mundrand unnatürlich spiegelte. Auffallend an ihm war auch die Art, wie er sich bewegte: Man kann sagen, daß bei ihm keine Bewegung seines Körpers in die andere überging. Gleichgültig, ob er den Kopf, die Beine oder die Arme oder auch nur einen Finger rührte, es sah immer aus, als ob er aus einer tiefen Starre erwachte, die sich nur für den kurzen Augenblick dieser einen einzigen Bewegung löste und dann wieder gefror. So wirkte an ihm alles abgehackt und unzusammenhängend wie die Bewegungen einer Schildkröte bei Kälte. Das Gleiche galt in gewissem Sinn auch für seine Gedanken. Man kann aber nicht sagen, daß diese von vornherein wirr gewesen wären, zumindest war das im Januar des Jahres 1914 noch nicht der Fall. Aber es fiel doch auf, daß er kaum einen Satz zu Ende führte. Das machte das Zuhören lästig, störte aber das Verständnis dessen, was er sagte, nicht besonders, weil Schulz zum Glück seine Sätze immer erst dann abbrach, wenn man sich den Rest bereits denken konnte. So ging trotz vieler Lücken im Grunde nichts verloren, was für das Sinnverständnis erforderlich war. 342
"Wir sollten die Gräben weiter nach Westen... Es gibt dort viel mehr .. aber natürlich wissen zu wenig über den qualitativen... auch die Analysen.. alles noch nicht ganz geklärt.." Selbst Pedro, der ja noch keine Übung im Umgang mit Schulz hatte, verstand, daß Schulz die Phosphatgräben weiter nach Westen vortreiben wollte, weil dort offensichtlich die Guanoschicht recht dick war, obwohl von diesem Gebiet noch keine genauen Analysen vorlagen. Während dieser mühsamen Unterhaltungen saß Señora Schulz starr und ohne sichtbare Reaktion auf das, was um sie herum geschah, auf einem Hocker am hinteren Fenster und sah hinaus auf die braunen Erdhaufen, die bis an Schulz' Hütte heranreichten und so hoch waren, daß nur wenig Licht durch das kleine Schiebefenster in den rückwärtigen Teil des Raumes fiel. Sie war jünger als Gustav Schulz, hatte aber schon graue Haare, die zu einem zerzausten Dutt zusammengesteckt waren. Ihre Haut war zart und durchsichtig und schimmerte wächsern. Wenn sie Pedro mit ihren violetten Schattenaugen ansah, fühlte er sich ohne ersichtlichen Grund unbehaglich und versuchte ihrem Blick zu entkommen. Dann aber blieb sein Blick an den beiden Adern hängen, die über den Augen auf der Stirn pochten, dabei im Rhythmus ihres schnellen Pulses die Farbe änderten und abwechselnd blau und rosa durch die wächserne Haut schienen. Das irritierte ihn so, daß er Mühe hatte, den Gedankengang nicht zu verlieren. 343
Man sah Señora Schulz kaum außerhalb ihrer Hütte; sie ging täglich nur einmal hinaus, und zwar früh am Morgen, um das kleine Häuschen neben dem Hangar aufzusuchen, oder ab und zu noch ein zweites Mal, später am Vormittag, um Wasser aus der Zisterne zu holen. Eusebio Gerovia hatte zu Pedro, etwa vier Wochen bevor sie Gustav Schulz abholten, gesagt: "Sie ist ein armes Mäuschen, das irgendwann einmal ohne Klagen stirbt. Wenn wir sie noch ein Jahr hierbehalten, geht sie uns zugrunde wie eine Seeanemone am Strand." Ganz anders geartet war ihre Tochter Maria. Sie war vierzehn Jahre alt und so neugierig, lebhaft und, wenn man von ihrem ungeheuren Eigensinn absieht, unkompliziert, daß man sich fragen mußte, ob die beiden Schulz wirklich für ihre Entstehung verantwortlich waren. Sie war gretchenhaft blond, hatte aber wie die Mexikaner, mit denen sie seit acht Jahren lebte, eine schokoladenbraune Haut. Das kornfarbene Haar bildete einen irritierend hübschen Kontrast zu dem von der Sonne gebackenen Braun ihres Körpers. Maria war deshalb so sonnenverbrannt, weil sie nicht einfach nur unempfindlich gegen die Hitze war, sondern weil sie ohne ein Übermaß an Sonne nicht leben konnte. Es war nicht nur für Marias Eltern schwer, diese Art der Sonnensucht zu begreifen. Diese stellte seinerzeit ein ganz unbekanntes Phänomen dar, über das selbst die auf allen Gebieten der modernen Medizin einschlägige medizinische Fachzeitschrift Lancet erst in jüngerer Zeit berichtet. 344
Wann immer die Sonne vom Himmel brannte, konnte man sicher sein, daß Maria in aller Unschuld irgendwo in der Lagune oder draußen am Riffkanal im Wasser herumtollte, und man konnte ebenso sicher sein, daß kein Fleckchen ihres schwarzgebrannten Körpers durch irgendwelche Kleidungsstücke vor den alles versengenden Strahlen geschützt war. Jeder andere Europäer wäre nach kurzer Zeit unweigerlich einem Sonnenstich oder Hitzschlag erlegen. Nicht so Maria. Die Benutzung eines Hutes war ihr ebenso fremd wie alle anderen Mittel, die sie vor Schaden hätten bewahren können. Sie folgte nicht einmal den leisen, aber inständigen Bitten ihrer Mutter, die Haut wenigstens Schweineschmalz einzureiben, um sie vor dem Austrocknen und Verkohlen zu bewahren. "Du wirst mit zwanzig aussehen wie ein Leguan!" mahnte auch ihr Vater und verbot ihr in strengem Ton, sich am Strand nackt auszuziehen, egal, ob das am Riffkanal oder an der Lagune sei. "Du bist weder ein Affe noch ein Schwein, also zieh dir gefälligst was an! So wie du da 'rumspringst, bist du eine Beleidigung für jeden anständigen Menschen, der dich anschauen muß!" "Es braucht ja keiner hinzusehen, wenn es ihm nicht paßt!" erwiderte sie patzig und in kindlicher Verkennung des Problems und scherte sich nicht um die durchaus wohlwollenden Ratschläge ihrer Erzeuger. Sie war ganz offensichtlich noch nicht alt genug zu begreifen, was sie 345
mit ihrer Unbekümmertheit bei den Soldaten anrichtete. Jedenfalls kam es immer wieder vor, daß irgendwer Maria belauerte, ohne daß sie selbst es bemerken wollte, wenn sie aus ihren Kleidern schlüpfte, in kindlicher Naivität in der Lagune oder im Riffkanal herumplanschte und ihre beiden langen Zöpfe mit unglaublicher Geschwindigkeit im Kreis herumwirbelte, um das Wasser herauszuschleudern. Sie bildete ein stetes Ärgernis. Da ihre Mutter ständig im Hause blieb und ihr Vater den ganzen Tag verwirrt in den Phosphatgräben herumstieg, fehlte es natürlich auch an der nötigen Aufsicht. Dies änderte sich leider erst, als es zu spät war. Es war an einem besonders schwülen Tag im Februar, als Ramón Arnaud eingreifen mußte und Schulz in barschem Ton deutlich machte, daß es, verdammt nochmal, seine Aufgabe sei, wenigstens innerhalb der Familie für Ordnung zu sorgen. Ramón Arnaud hatte, als er die Portale des Hangars schließen wollte, Pablo Najera dabei erwischt, wie er, in seinen heruntergelassenen Hosen stehend, durch die Querspalten der undichten Holzverschalung auf das lächerlich winzige weizenfarbige Flaumfederchen starrte, das, wie das Kreuz auf einer Zielscheibe, den Mittelpunkt von Marias Körper markierte, während sie sich, splitternackt wie immer, im Wasser vor dem Landungssteg herumtrieb und Zöpfe schleuderte. Das wäre allein schon schlimm genug gewesen. Seine besondere moralische Tragweite erhielt der Fall aber dadurch, daß der Mann, während er den Saum seines 346
Hemds zwischen den Zähnen hielt, mit beiden Händen wie ein Rasender masturbierte. Er wurde drei Tage eingesperrt und dann vor versammelter Mannschaft ermahnt, was schlimmer war als das Eingesperrtsein, obwohl die Gründe für seine Strafe der Allgemeinheit beim Fahnenappell nur in vagen Andeutungen genannt wurden. Es dauerte nicht lange, bis die Soldaten herausbekamen, was genau Pablo Najera getan hatte. Wahrscheinlich hat er es in seiner Todesangst und Verzweiflung selbst erzählt, als sie ihn zwischen zwei Palmstämmen wie eine Hängematte knapp über dem Boden an Händen und Füßen aufhängten und ein Brett als Laufsteg auf seinen Bauch legten. Wahrscheinlich hat er es erzählt, noch bevor es dunkel wurde und die Krabben aus den Löchern kamen und das Brett hinaufkrabbelten. Als Pedro, zu spät, erkannte, was Pablos Tat für Folgen hatte, wurde ihm klar, was Eusebio Gerovia ihm auf dem Schiff hatte sagen wollen, als er ihn warnte, er müsse sich auf etwas gefaßt machen. Sie zerrten Pablo im Grabungsgelände hinter einen Phosphathaufen und zogen ihn aus. Dann schiß irgendeiner, der gerade mußte, einen Haufen in Pablos Hosen und er mußte sie mit dem stinkenden Paket wieder anziehen und sie schlugen mit Schwemmholzprügeln auf das Paket, damit sich alles besser verteile. Sie grölten hinter ihm her, wenn er, fast ohnmächtig vor Scham und 347
Ekel, breitbeinig zur Lagune torkelte, um sich und seine Kleider zu reinigen. Er stand stundenlang kotzend im Wasser und wusch sich selbst, sein Hemd, seine Hosen mit Korallensand. Sie ließen ihm keine Ruhe. Ja, es schien so, als ob sie durch sein Unglück, seine Hoffnungslosigkeit und sein Elend noch mehr angestachelt würden, als ob sie der Jammer, der in seinem Gesicht stand, nichts anginge. Sie sahen in seinem Verhalten nichts anderes als eine Provokation. Sie rissen ihn nachts aus dem Schlaf, indem sie ihm einen Eimer Krabben unter die Bettdecke kippten. Er bekam einen Heulkrampf, der bis zum Morgen anhielt, so daß sie selbst nicht mehr schlafen konnten. Dann kam der Höhepunkt, die gotteslästerliche Klimax: Er schrie wahrhaftig zur Jungfrau Maria. Er, der in aller Heimlichkeit eine Jungfrau entehrt hatte, wagte es, die Heilige Jungfrau anzurufen. Sie lauerten ihm dafür am nächsten Morgen auf, als er das Häuschen am Hangar verließ, und rissen ihm wieder die Kleider vom Leib und pinselten ihn von oben bis unten mit bronzefarbenem Bootslack ein, daß er aussah wie ein in Panik geratenes Denkmal. In der folgenden Nacht schrie er nach seiner Mutter, die man mit dem besten Willen mit der Sache nicht in Verbindung bringen konnte. Aber auch das rührte keinen.
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Schulz sah das alles mit an, ohne davon Notiz zu nehmen. Nicht, daß er etwa duldete, was da geschah. Nein, er nahm es überhaupt nicht wahr, denn als ihn Ramón Arnaud, nachdem Pablo sich beschwert hatte, fragte, was gewesen sei, konnte sich Schulz an nichts erinnern: "Ganz recht...Richtig! ..Najera?..... Phosphathosen? ... Wir graben nach Westen..", sagte er und deutete mit der Hand auf die Schmalspurbahn, die gerade zum Hangar geschoben wurde. Da begriff selbst Ramón Arnaud, daß Schulz verrückt geworden war. An diesem Tag hörte man außerdem kurz nach Sonnenuntergang einen Schuß aus dem Palmenhain. Zehn Minuten später zog ein Kommando von vier Mann Pablo Najera mitsamt seinem Mausergewehr unter einem wabernden Haufen roter Krabben hervor und brachte seine Reste im Hangar vor den gefräßigen Tieren in Sicherheit. Ramón Arnaud nahm am Tag darauf alle Gewehre in seinen Gewahrsam und sperrte sie im Waffenschrank ein. Bisher hatte man sich auf Clipperton keine Gedanken machen müssen, wo man am besten die Toten beerdigen könnte. Es gab keinen Friedhof, man hatte keinen gebraucht, und es hatte sich bisher auch keiner die Mühe gemacht, die Anlage eines Friedhofs zu planen. Eins war jedoch gewiss: aus hygienischen Gründen durfte in der Nähe des Lagers keiner beerdigt werden. Arnaud hatte bei der geringen Ausdehnung der Insel große Zweifel, ob es überhaupt einen Platz gäbe, der für Bestattungen brauchbar sei. Er plädierte dafür, zunächst Pablo Najera, aber auch alle etwa noch folgenden Toten, mit der Schute
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hinaus in die Brandung zu fahren und sie dort ins Meer zu werfen. Pedro äußerte Bedenken: "Sie haben natürlich hier die Befehlsgewalt, Capitan, und ich werde genau das tun, was Sie befehlen. Najera war Junggeselle. Gut, den könnten wir notfalls in die Brandung schaffen, ohne daß da jemand protestiert. Wir können aber nicht ausschließen, daß uns noch weitere Leute sterben. Wir müssen damit rechnen, daß auch einmal ein Mitglied einer Familie stirbt, ein Kind, ein Vater, eine Mutter.. Sagen Sie ehrlich, Capitan, können Sie sich eine Witwe oder eine Mutter vorstellen, die ihren Mann oder ihr Kind zu Grabe tragen muß und gleichzeitig weiß, daß sie den Toten nie mehr besuchen kann? Die weiß, daß sie beim Totenfest am Strand herumirren wird, ohne einen festen Platz zu haben, wo sie ihre Gaben ablegen kann. Die keine Ahnung hat, an welcher Stelle sie ihre Gebete sprechen soll, wo sie dem Toten erzählen soll, was sie bedrückt und worüber sie sich gefreut hat? Glauben sie im Ernst, eine Frau würde sich auf sowas wie eine Seebestattung einlassen? Sie würde Ihnen die Augen auskratzen, da können Sie ihr tausendmal erklären, was Hygiene und was ein Befehl ist! Im übrigen ist es gar nicht sicher, daß die Brandung eine hygienische Lösung ist. Wissen Sie, wieviel Zeug hier täglich angeschwemmt wird? Wieviel Holz, Flaschen, Haikadaver? Warum sollte da nicht auch ein Mensch wieder zurückgespült werden? Dann hätten wir den Fall, daß die gestern feierlich bestattete Leiche plötzlich am Strand liegt, oder vielmehr das, was die Haie und Krabben davon übriggelassen haben. Gut, wir könnten die Leichen mit Steinen beschwert in Segeltuch einwickeln, aber auch das erscheint mir nicht sicher. Die 350
Wasserbewegung in der Dünung ist stark. Sie ist unvorstellbar stark. Das Wasser tobt da unten. Die Korallen sind ebenso scharf wie die Zähne der Haie. Was glauben sie, wie lange es dauern würde, bis die Umhüllung zerschnitten und zerrissen wäre? Allein die Vorstellung, daß die Leichen von den Haien zerstückelt und gefressen würden, ist grauenhaft. Ich bin dafür, daß wir uns eine brauchbare Art der Beerdigung mit einem Kreuz und einem anständigen Grabhügel überlegen. Verbrennen kommt ja sowieso nicht in Frage, obwohl es die einfachste und die sauberste Lösung wäre. Da macht keiner mit. Wir könnten nicht mal Najera verbrennen, obwohl der ein Selbstmörder ist und ihn offensichtlich keiner mochte. Die zwar geringen, aber immer noch vorhandenen Chancen, die ewige Seligkeit zu erlangen, will ihm aber bestimmt niemand nehmen." Ramón Arnaud überlegte, dann sagte er: "Hat Hand und Fuß, was Sie sagen, Teniente! Kommen Sie!" Die beiden machten sich auf, einen Platz für den Friedhof zu suchen. Sie gingen nach Südosten auf den Felsen zu, den sie nach einer halben Stunde erreichten. Auf der ganzen Strecke, die hinter ihnen lag, hätte man keine Begräbnisstätte anlegen können, da dort die Überhöhung gegenüber dem Meeresspiegel im Gezeitenmittel nicht viel mehr als zwei Meter betrug und außerdem der Landstreifen auf diesem Stück so schmal war, daß man eine Verseuchung der Lagune befürchten mußte.
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"Ich glaube, wir finden hier überhaupt keine Stelle für unseren Toten. Wir werden auf ganz Clipperton keine Stelle finden", sagte Ramón Arnaud. "Dann gehen wir eben so weit weg vom Lager, wie wir können, und legen den Friedhof ganz im Osten an", erwiderte Pedro, "da gibt es kaum Phosphat, und der Friedhof wäre immerhin mindestens drei Kilometer von unseren Häusern entfernt." "Sehen wir uns die Stelle mal an!" Nach einer weiteren Viertelstunde erreichten sie gegenüber dem Lager einen Platz, der relativ sandig und tiefgründig war. Arnaud nahm den Spaten und begann zu graben. Erst nach einem Meter stieß er auf festere Kalksteinschichten, die er mit dem Spaten nicht durchdringen konnte. Aber da das Gestein nicht fest zusammmenhing, waren beide davon überzeugt, daß man mit einer Spitzhacke nochmal mindestens fünfzig Zentimeter tiefer käme. Das müßte reichen, meinten sie, wenn man einen ordentlichen Grabhügel aufschichtete. Einen Tag nach seinem Tod wurde mit der Beerdigung von Pablo Najera der Friedhof von Clipperton eingeweiht. Sie schmückten einen der alten Kähne, die früher dazu dienten, das Phosphat über die Lagune zu befördern, mit Palmblättern. In dieses grüne Bett legten sie den in weißes Segeltuch eingewickelten Pablo und ruderten ihn langsam über die Lagune. Die restlichen Einwohner der Insel, ohne Familie Schulz, die Kinder und zwei Mütter, die auf die Kleinen aufpassen mußten, also insgesamt etwa 352
fünfunddreißig Leute, wanderten, Ave Maria betend und Kyrie eleison leiernd, in einem großen Bogen um die Lagune. Vier Mann hoben abwechselnd das Grab aus und schaufelten es wieder zu und verbanden mit einer Schnur die Bretter zu einem Kreuz, auf das sie mit schwarzem Teer und mit ungelenken Fingern Pablo Najeras vollen Namen und, weil sie nicht wußten, wann er geboren war, nur sein Todesdatum pinselten.
23 An einem Sonntag im Februar hämmerte Francisco kurz nach Sonnenaufgang mit beiden Fäusten gegen Ramón Arnauds Haustüre. "Schnell, kommen Sie, Señor, kommen Sie schnell!" Es dauerte eine Weile, bis Francisco Schritte und Ramón Arnauds brummige Stimme hörte: "So früh am Morgen? Aber was ist denn los?" Ramón Arnaud öffnete die Tür, knöpfte sein Hemd zu und wischte sich mit einem Handtuch den Rasierschaum aus dem Gesicht. "Señor Schulz! Es ist Señor Schulz!" keuchte der Junge. In diesem Augenblick sah Ramón Arnaud auch Agustin Rodriguez den schmalen Weg herunterlaufen. Agustin tat sich beim Laufen schwer, weil er kurzbeinig und 353
korpulent war. Sein Bauch bewegte sich stets im Gegentakt zu den Beinen und geriet dabei in hinderliche Schwingungen, was Agustin durch ausgreifende Pendelbewegungen seiner Arme ausgleichen mußte. Agustin machte sich ebenfalls durch Geschrei bemerkbar, lange bevor er Ramón Arnaud erreicht hatte. Das war unvorschriftsmäßig, weil eine Meldung, unabhängig von deren Inhalt, in aufrecht stehender Körperhaltung und mit angelegten Armen zu erfolgen hatte. "Was ist los, verdammt nochmal, Rodriguez?" "Schulz ist übergeschnappt, Capitan. Er prügelt seine Frau!" "Schlimm?" "Ja, Capitan, schlimm." "Und Maria?" "Ist weggelaufen!" "Wohin?" "Richtung Felsen!" "Du holst mir sofort Maria zurück! Ich möchte nicht, daß sie zu Alvarez läuft. Ich kümmere mich um Schulz" "Si, Capitan!"
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"Wenn Malonardo in seiner Hütte ist, nimmst du ihn mit!" "Si, Capitan!" Ramón Arnaud zog Rock und Koppel an, was er sonst nie tat, und machte sich auf den Weg. Als er an Schulz' Hütte kam, hörte er keinen Laut aus dem Inneren. Eine beunruhigende Stille ging von der Hütte aus, und der Rauch stieg, da es windstill war, senkrecht in den Himmel. Es roch angenehm nach verbranntem Holz. Als niemand auf sein Klopfen antwortete, öffnete Arnaud die Tür. Erleichtert stellte er fest, daß Señora Schulz noch lebte. Sie saß, noch blasser als sonst, auf ihrem Schemel. Ein dünnes Rinnsal dunkelroten Blutes sickerte aus ihrer Nase über ihr weißes Gesicht und ihre Bluse auf den Schoß und von da auf den Boden und verschwand dort in einer Bretterritze. Sie sah Ramón Arnaud geistesabwesend an und hob kurz die Arme, wie jemand, den man in einer fremden, unverständlichen Sprache anspricht. Dann begann sie stumm zu weinen. Sie sah aus wie eine weinende Puppe. Sie rührte sich dabei nicht, sie zuckte nicht einmal mit den Schultern, und es schien, als habe sie aufgehört zu atmen. Und während sie so saß, zu einer Pantomime der Trauer erstarrt, quollen die Tränen aus ihren Augenwinkeln und sammelten sich unter den Wimpern zu wasserklaren Tropfen. Die rollten dann, wenn sie zu groß wurden, abwechselnd links und rechts über ihr Gesicht. Das einzige, was sich außerdem an ihr sichtbar bewegte, und 355
verriet, daß sie noch lebte, waren die blaurosa Adern auf ihrer Stirn, die anzeigten, daß ihr Herz sehr schnell klopfte. "Was ist um Himmels Willen geschehen, Señora, was hat er Ihnen getan?" Señora Schulz hob noch einmal die Arme und erinnerte dabei an einen lahmen Vogel. Sie machte den Mund auf und formte die Lippen so, als ob sie O sagen wollte, aber Ramón Arnaud hörte nicht den leisesten Laut. Sie glitt lautlos und sanft vom Stuhl und lag dann auf dem Boden und lächelte mit geschlossenen Augen. Ramón Arnaud nahm sie auf die Arme wie ein schlafendes Kind, stieß mit dem Fuß die Tür zur Schlafkammer auf, legte sie auf ihr Bett und öffnete den Kragen ihrer Bluse. Ihr Puls ging rasch, aber stark und regelmäßig. Ramón Arnaud holte ein Glas Wasser und ein feuchtes Tuch aus der Küche und wusch ihr das Gesicht. Dann versuchte er, ihr Wasser einzuflößen, aber es gelang ihm nicht, weil sie nicht schlucken wollte. So stellte er das Glas auf dem Nachttisch ab, öffnete das Fenster und ging zurück in die Stube. Da saß Schulz am Tisch. Er hatte den Tropenhelm aufgesetzt und sonst nichts an als die Unterhose. Er stierte schweigend vor sich hin. Ramón Arnaud hatte ihn zwar gesehen, als er in die Hütte trat, aber er hatte ihn nicht wahrgenommen. Schulz sah ihn mit müdem und traurigem Blick an und sagte dann leise:
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"Alles Renitenz voller Phosphatungeheuer ....nur Krebse....Pest im Haus und wenig Wasser .. Mutter ... obendrein .. lassen Sie sie, lassen Sie sie doch... sie hat es doch selbst ...wer hilft uns hier heraus?" Ramón Arnaud sah Schulz an und begriff, daß aus dem harmlosen Spinner von einem Tag auf den anderen ein unberechenbarer Irrer geworden war. Schulz spuckte, während er teilnahmslos auf den Boden sah, von Zeit zu Zeit kurz und trocken vor sich hin, wie das Leute tun, die Kürbiskerne kauen und die Spelzen loswerden wollen, oder Köche, die sehen wollen ob das Fett in der Pfanne heiß ist. Ramón Arnaud reichte Gustav Schulz die Hand, und der stand bereitwillig auf und ließ sich aus der Hütte führen. Arnaud nahm ihn mit und sperrte ihn in die Arresthütte beim Hangar, obwohl er wußte, daß das nicht die richtige Behandlung für den kranken Mann war. Es konnte ihm auch keiner raten, wie er es hätte besser machen können, wie es weitergehen sollte. Man konnte Schulz unmöglich wieder nach Hause lassen, solange er eine so drohende Gefahr für seine Familie war. Wer wußte denn, ob das nicht noch viel schlimmer würde? War es auszuschließen, daß Schulz plötzlich auch den anderen gegenüber gewalttätig wurde? Was wäre, wenn man ihn wieder freiließe? Hier mußte Arnaud auf Nummer sicher gehen. Man wußte ja auch gar nicht, was Schulz so verändert hatte. Er war doch vor noch kurzer Zeit ein umgänglicher und vernünftiger Mensch gewesen, der nicht 357
dazu fähig gewesen wäre, irgendeinem seiner Arbeiter, geschweige denn einem Mitglied seiner Familie etwas anzutun. Sein Leiden hatte sich innerhalb des letzten Jahres sozusagen schleichend entwickelt. Auffällig wurde es vor etwa sechs Monaten, aber man hielt sein Verhalten damals noch für schlichte Wunderlichkeit, für eine Marotte, die keinen sonderlich störte. Pedro vertrat nach dieser unerwartet dramatischen Entwicklung die Ansicht, es handle sich um eine Gehirngeschwulst. Es sei bekannt, daß solche Geschwülste schnell wüchsen. Wenn die Geschwulst nun größer werde, drücke sie das Gehirn im Schädel zusammen, und dann funktioniere es nicht mehr, weil das Blut nicht mehr richtig fließen könne. Die so Erkrankten würden zunächst vergeßlich, und dann, mit steigendem Druck des Hirnwassers, stellten sich Lähmungen ein. Diese Lähmungen befielen oft das Sprachzentrum, so daß die Leute nicht mehr fähig seien, ordentliche Sätze zu formulieren - und das sei doch bei Schulz ganz besonders auffällig. Andrés Nava hingegen behauptete steif und fest, das sei Veranlagung. Man sehe es den Menschen an, die so eine Veranlagung hätten, und zwar lange bevor sie Sprachstörungen bekämen. Er habe schon immer den Eindruck gehabt, Schulz habe ein Loch im Eimer. Arturo Malonardo wurde ausgelacht, als er sagte: "Leute, ich glaube, der hat irgendwas gefressen..."
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"Und was soll er gefressen haben, was ihn so umhaut?" fragte Agustin Rodriguez. "Ich weiß es nicht, aber ich sage euch, der hat was gefressen!" Arturo Malonardo war der Älteste der Runde, als sie das Problem Schulz diskutierten. Er war weit jenseits der Fünfzig, hatte bereits graue Haare und einen reichen Erfahrungsschatz, was Probleme anging, die nicht ohne weiteres mit dem Verstand gelöst werden können. In seinen Adern floß wahrscheinlich reines Indioblut. Er wurde geholt, wenn einer Fieber bekam oder wenn ein gequetschter Finger zu eitern anfing. Er besaß eine kleine, grüne Kiste. In der bewahrte er Medikamente aller Art auf: Tropfen, Tabletten, Tinkturen, Pastillen und Puder, aber auch Tees, Wurzeln und geheimnisvolle Salben. Die ganze Kiste war voller Gläser und Fläschchen. Eigentlich war er auch für eine Diagnose im Falle Schulz durchaus zuständig, aber seine Theorie schien so abwegig, daß man ihm in diesem besonderen Fall die Kompetenz rundweg absprach. Aber Arturo blieb hartnäckig: "Ihr könnt mir sagen, was ihr wollt! Ich bin sicher, daß Schulz was gefressen hat." Helfen konnte er Schulz gleichwohl nicht. Schulz heulte, brüllte, wimmerte und winselte zwei Wochen in seinem Gefängnis. Er wütete herum und bekam Schüttelfröste und Froschaugen und hatte Schaum vor dem Mund. Es sah alles so aus, als ob Andrés Nava 359
mit seiner Theorie recht hätte. So furchtbar zu Tage tretende körperliche und geistige Ausfallserscheinungen waren nur mit einer bösen Geschwulst, einem Tumor, zu erklären, der die vitalen Lebensfunktionen Amok laufen ließ. Dann wurde es mit einem Mal, ja eigentlich über Nacht, besser. Schulz empfing Ramón Arnaud am Morgen mit klarem Kopf, sprach plötzlich wieder in verständlichen, sinnvollen Sätzen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich von Stunde zu Stunde. Seine Haut straffte sich wieder, und er verlor sein schildkrötenhaftes Aussehen. Er hatte Verständnis dafür, daß man ihn isoliert hatte, und bat Ramón Arnaud auf den Knien, ihn wieder zu seiner Frau und zu seiner Tochter zu lassen. Ramón Arnaud saß dabei und beobachtete ihn, als ihn die beiden besuchten, und konnte nichts Ungewöhnliches oder Bedrohliches mehr feststellen. Schulz behandelte seine Frau und seine Tochter liebevoll und sprach mit ihnen ernst und konzentriert. Er hörte sich die Vorwürfe, die man ihm machte, ruhig an und bereute, was er getan hatte, obgleich er dabei den Eindruck erweckte, als seien ihm seine Gewalttätigkeiten gar nicht bewußt, als wisse er nicht, worüber die beiden mit ihm sprachen. Nachdem sich sein Befinden so drastisch gebessert hatte, kam Ramón Arnaud zu dem naheliegenden Schluß, es handle sich um einen einmaligen Fall plötzlicher Geistesverwirrung, wie er auf der Insel ja schon verschiedene Male - sogar bei wesentlich Robusteren als 360
Schulz - aufgetreten war. Er beschloß, Schulz in seine Hütte zurückkehren zu lassen. Ende Februar war Schulz wieder zu Hause. Wenige Tage später verfinsterte sich der Himmel. Die Wolken stauten sich auf zu furchterregend hohen schwarzen Walzen, die mit beängstigender Geschwindigkeit vom Südwesten her über die Insel rollten. Der Wind heulte in den Abspannungen der Hütten und rüttelte an den dünnen Wänden. Am hellichten Vormittag brach eine gespenstische Finsternis herein, und Pedro beobachtete mit dem Fernglas, wie sich Emilio Alvarez im Dämmerlicht wie eine Spinne zur Spitze des Felsens hinaufhangelte. Kurz darauf kreiselte das Licht, und es entstand nun vollends der Eindruck anbrechender Nacht, weil jeder das Leuchtfeuer in Gedanken nur mit der Nacht in Verbindung brachte. Regenschauer unglaublicher Intensität platschten auf die Insel. Die Lagune erhob sich aufgeschreckt aus ihrem stillen Bett und warf so hohe Wogen auf, daß die in der Zangenbucht verankerten Transportkähne mit weit hörbarem, dumpfem Dröhnen aneinanderschlugen, obwohl sie mit straffen Trossen an dicken Pfosten verankert waren. Schließlich strömte der Regen so dicht aus den Wolken, daß das Leuchtfeuer hinter einer blinden Wand aus Wasser verschwand. Er prasselte auf die Dächer, daß man Mühe hatte, sich zu verständigen, und die Hütten flatterten im Sturm wie Zelte. Man konnte zusehen, wie sich die Balken und die Wandtafeln unter den Püffen der Böen gegeneinander 361
verschoben, und man hörte trotz des Lärms, den das Heulen des Sturms verursachte, wie sie dabei ächzten und stöhnten, als wollten sie alle Nägel und Schrauben loswerden, die sie aneinanderfesselten. "Por dios, das ist die Hölle!" sagte Tirza, und sie sah aus, als sei sie dabei, wieder seekrank zu werden. "Jetzt verstehe ich, warum sie die Hütten mit Drahtseilen abgespannt haben!" übertönte Pedro eine Sturmbö, die die Hütte in schnarrende Schwingungen versetzte. Wasser drang durch die Bretterritzen des Fußbodens. Tirza rollte in panischer Hast die Teppiche zusammen und warf die Rollen auf das Bett in der Schlafkammer. Durch den Kamin rannen Rinnsale in den Herd, und es tropfte schwarz aus dem Schürloch. Die Schiebefenster klirrten unter dem Aufprall der Windstöße und rüttelten in den Zargen. Dann wurde es unversehends wieder hell. Das ganze hatte nicht länger als eine Stunde gedauert. Die Sonne brach durch, zwischen zerrissenen Wolkenfetzen, die nach Norden flohen. Sie sandte Strahlenpfeile durch den Dunst auf die von weißen Schaumkronen bedeckte Lagune und ließ das schwarze Wasser aufblitzen, wo sie die Lagune berührten. Die Wolken lösten sich ganz auf, der Dunst klärte sich und die Sonne leuchtete in einem widernatürlich grellen Licht aus einem ebenso widernatürlich tintenblauen Himmel. Aber der Sturm wütete noch immer mit ungeheurer Kraft.
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Tirza verließ mit Pedro die Hütte und ging mit ihm zum Palmenhain und weiter zum Strand. Im Lager hatte es keine Schäden gegeben. Die Hütten standen noch fest auf ihren Fundamenten. Alle kamen sie heraus aus den finsteren kleinen Räumen und standen staunend in der Sonne herum und stemmten sich mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen die Sturmböen und ließen sich den frischen Seewind um die Nase wehen. Als Tirza vom Palmenhain zum Meer hinuntersah, stockte ihr der Atem. Dort bot sich ein Schauspiel elementarer Gewalt: Draußen, wo der Schelf der Insel abbrach und die Korallenbank in den Tiefen des Stillen Ozeans versank, stand eine Wassermauer von den Dimensionen eines Gebirges. Dort draußen rollten Wogen an, die so hoch waren, daß sie die Insel mitsamt den Palmen und sogar dem Felsen mühelos verschluckt hätten, wenn da nicht das Riff gewesen wäre. Das Riff stemmte sich ihnen seit Urzeiten entgegen und nahm ihnen die Kraft. Diese unsichtbare, unter Wasser aufragende Mauer bewahrte die Insel vor dem sicheren Untergang. Die Wogen rollten heran, schaumgekrönt und langsam, aber unaufhaltsam in ihrer gigantischen Masse. Sie schoben sich hinauf auf das plötzliche Hindernis, wälzten sich ineinander, wuchsen empor in den einzigen Freiraum, den sie noch hatten, den Himmel. Dann stürzten sie in grünen Sturzfluten über sich hinaus, bildeten schäumende Wasserfälle, die sich aufrauschend in das flachere Wasser ergossen und dort donnernd versprudelten. Tirza fühlte den Zorn des Meeres über das Hindernis, das sich ihm da im Verborgenen in den Weg stellte, und es wurde ihr mit 363
Schrecken bewußt, wie sehr ihre Sicherheit, ja, ihr Leben, von diesen kleinen Wassertierchen abhing, die da in den Strudeln des tobenden Ozeans lebten und seit Jahrmillionen an ihrer Mauer arbeiteten, die das Meer sicherer von der Insel fernhielt, als die aufwendigsten Betonbefestigungen es je vermocht hätten. Pedro sah das Schiff zuerst. "Tirza, ich werde verrückt, da draußen hält ein Schiff auf uns zu!" Er hob das Fernglas an die Augen. "Ist es die Pandora?" fragte Tirza. "Nein, es ist ein Segler. Möchte wissen, was der hier zu suchen hat. Sieht aus wie ein Schoner. Er hat Schlagseite und zerfetzte Segel." "Siehst du die Flagge?" "Nein. Oder doch, ja, da flattert noch der Rest einer Flagge am Mast, aber kaum mehr zu erkennen. Es könnte die amerikanische sein." "Erkennst du auch den Namen?" "Nein, ist noch viel zu weit." "Laß uns die anderen alarmieren! Vielleicht müssen wir helfen!"
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"Was sollen wir da helfen? Die dürfen auf keinen Fall näher kommen, so lange es so stürmt und solange die Brandung so stark ist! Wenn die in das Riff getrieben werden, gibt es nichts mehr zu helfen! Und wenn sie an der Insel vorbeitreiben, werden wir wohl kaum hinter ihnen her fahren. Oder willst du mit dem Boot zu ihnen hinaus?" "Egal, was die tun oder nicht tun, wir müssen es dem Capitan melden." Pedro drückte Tirza das Fernglas in die Hand. "Also gut, ich lauf schnell rüber. Beobachte mal, was die machen! Ich sage dem Capitan Bescheid." Tirza sah angestrengt hinaus. Das Schiff trieb rasch näher, und Tirza konnte nun abschätzen, daß es, wenn es seinen Kurs nicht änderte, irgendwo zwischen dem Felsen und dem Palmenhain stranden mußte. Das Schiff hatte kaum Segel gesetzt. Tirza sah nur einen zerrissenen, flatternden Außenklüver und das gereffte Großsegel. Alvarez hatte das Schiff offenbar schon lange vor ihnen ausgemacht, denn er hatte sein Licht trotz des Sonnenscheins nicht gelöscht. Es erschien ganz und gar unverständlich, warum die da draußen geradewegs auf die Insel zuhielten. Sie mußten doch das Licht sehen! Sie mußten doch wissen, was sie am Riff erwartete! Sie konnten doch die Insel nicht übersehen haben! Sie hatten doch jetzt noch die Möglichkeit, um die tödliche Falle herumzufahren. Sie waren noch weit genug entfernt. Ein paar Grad nach Süden, und sie wären aus dem 365
Gefahrenbereich, dachte Tirza, aber das Schiff hielt seinen verhängnisvollen Kurs bei. Wie die Kinkora, dachte Tirza. Genau wie die Kinkora! Sie erinnerte sich an Alvarez' Äußerung: "Das Riff zieht sie alle an!" Das hatte er doch gesagt, als sie in seiner Hütte saßen. Pedro kam mit Ramón Arnaud zurück, der ein Perspektiv mitbrachte. Auch die anderen versammelten sich am Strand und gingen langsam nach Südosten, weil man jetzt deutlich sehen konnte, daß das Schiff unmittelbar hinter dem Palmenhain auf das Riff getrieben würde, wenn nicht noch ein Wunder geschah. "Es ist die Nokomis", rief Ramón Arnaud laut, "eine amerikanische Schonerbrigg! Es sind Leute an Bord. Eine Frau..ein Kind..nein, zwei Kinder..Die Mannschaft.. Ich zähle drei, nein, jetzt sind es fünf Mann.. Da, am Bug, ein sechster..Er versucht, irgendwas am Klüver zu machen.. Er greift nach einem Tampen und zerrt daran..Die anderen unternehmen nichts..haben Schwimmwesten an..Vielleicht sind noch welche unter Deck..Da ist kein Mensch am Ruder.. Was machen die bloß?.. Gott sei ihren Seelen gnädig!" Gegen drei Uhr nachmittags hörte Tirza das furchtbare Geräusch, das sie sich damals versucht hatte vorzustellen, als ihr Alicia Arnaud die Geschichte vom Schiffbruch der Kinkora erzählte. Aber was sie jetzt hörte, überstieg bei weitem das, was sie schon in ihrer Fantasie hatte erschauern lassen. Das Schiff brüllte wahrhaftig auf, als 366
spüre es den Schmerz, den ihm das Riff zufügte. Es folgte ein Knirschen und Splittern, ein Schmettern, Holz gegen Holz, ein dumpfes Knarren und Schwirren, und dann verdeckte das Donnern der Brandung alle weiteren Geräusche, die dadurch entstanden, daß die Masten über Bord gingen und der Bug mit dem Klüverbaum wegbrach. "Sie sind noch an Bord! Der Kahn hängt fest im Riff. Er ist nicht gekentert.." schrie Ramón Arnaud. "Rodriguez, Irra, Nava, Cardona! Die Schute klarmachen!" "Die Schute? Jetzt? Capitan! Das ist Wahnsinn, Capitan, reiner Wahnsinn!" "Wenn Sie nicht sofort die Schute klarmachen, sperre ich Sie ein, Cardona. Das ist ein Befehl! Haben Sie verstanden?" "Si, Capitan!" Die vier hasteten hinüber zum Hangar und fierten die Schute ins Wasser. Das Unternehmen war zum Scheitern verurteilt, das wußte Pedro. Der Kahn war offen und zu nichts anderem konstruiert, als dazu, bei ruhigem Wetter das Phosphat zur Pandora zu befördern. Mit der Persennning konnten sie bei diesem Sturm die Schute nicht abdecken. Die Plane hatte nur zehn schwache Lederriemen für die Befestigung unterhalb des Dollbords. Je zwei an Bug und Heck und drei auf jeder Seite. Die wurden durch seitliche Augen gezogen. Die befestigte Persenning hing außen über die Bordwand. Sie hatte nur eine kleine Aussparung für das Ruder und das 367
Motorgehäuse im Heck. Damit das Wasser ablaufen konnte, wurde die Persenning über eine eiserne Stange gelegt, die, etwas höher als das Motorgehäuse, längs der Kiellinie angebracht war. Die Konstruktion war aber nur für normale Windverhältnisse gedacht, um das Spritzwasser vom Phosphat abzuhalten. Für einen Sturm wie diesen waren die Befestigungen viel zu schwach. Die Persenning wäre sofort losgerissen und weggefegt worden. Wenn das Phosphat auf die Pandora verladen wurde, was immer ein Abenteuer war, mußte die Schute mit geschlossener Persenning durch die Brandung bugsiert und in geringem Abstand von der Pandora vor deren Verladeluke verankert werden. Wenn die Luke geöffnet war, schob sich das Gestell des Förderbandes unter grellem Kreischen heraus. Am Ende der Anlage war ein großer kastenförmiger Schwimmer montiert. Dieser Schwimmer hielt die gesamte Konstruktion auf dem Wasser. Der Schwimmer wies ringsum große eiserne Ringe auf, an denen die Schute bequem festmachen konnte. Das Förderband ragte, wenn die Schute richtig angelegt hatte, in deren Bugraum hinein. Zuerst schaufelte man das Phosphat aus dem vorderen Laderaum der Schute auf das Förderband, dann wurde, nach dem Fortschritt der Arbeiten, der Schwimmerkasten immer weiter nach hinten gerückt, bis die Schute entladen war. So verliefen die Manöver seit Jahren, und das Verfahren hatte sich gut bewährt. Was Capitan Arnaud aber jetzt wollte: hinausfahren in die Hölle mit der offenen Schute, war Irrsinn, denn jede Welle, die über den schutzlosen Kahn hereinbrach, mußte dessen schweren
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Eisenrumpf mit Wasser füllen. Ein einziger ordentlicher Brecher, und sie sanken auf den Grund wie eine Axt. Die Männer sprangen in die Schute, und Rodriguez, der sich mit dem Motor auskannte, riß die Klappe auf und holte die Kurbel heraus. Er zündete die Lötlampe und schraubte die Asbestisolierung vom Glühkopf. Dann fauchte die Flamme auf den Stahl. Als der Glühkopf rundum rot strahlte, öffnete Irra den Treibstoffhahn und steckte die Kurbel in das Schwungrad, während Rodriguez die Flamme weiter auf den Glühkpf richtete. Dann warf sich Irra mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf die Kurbel, und das Schwungrad bewegte sich um seine Achse. Wuff-wuff-ta-wuff sagte der Motor zweimal und begann gleichmäßig und sehr langsam in zögerndem Sekundentakt zu tackern, während aus dem Auspuff am Heck schwarze Rauchkringel schossen. Dann drehte sich das Rad schneller, und der Sekundentakt verkürzte sich mehr und mehr. Rodriguez verschloß den Glühkopf wieder und löschte die Lötlampe. Die Schute vibrierte stark, und der Stuartmotor nagelte gleichmäßig vor sich hin. Zunächst lief alles gut. Im Riffkanal nahe der Insel war das Wasser ziemlich ruhig, und sie kamen gut voran. Dann wurde die See zunehmend rauher. Pedro stellte Nava und Irra zum Lenzen ab. Rodriguez saß an der Pinne und bediente den Motor. Sie fuhren genau gegen den Wind und gegen die kurzen Wellen des Riffkanals. Das war günstig, weil sie dadurch weniger abtrieben. Der Wind blies jetzt noch stärker, und der Himmel hatte sich wieder bewölkt. Die Silhouette der Nokomis wuchs vor ihnen aus 369
der Brandung, und sie waren überrascht, wie schnell sie näher kamen. Sie hörten die Leute schreien. Es waren dünne, hilflose Stimmchen, ohnmächtige, zarte, hingehauchte Untermalungen eines Naturkonzerts von Posaunentönen und Paukenschlägen. Aussichtslos! dachte Pedro. Aber dann sah er etwas, das ihn Hoffnung schöpfen ließ. Die Nokomis hatte sich ganz quergelegt, weil sie offenbar schon mit der ersten Woge weit auf den Schelf getragen worden war. Die Aufbauten ragten hoch aus dem Wasser; die Nokomis war über die turbulenteste Zone der kochenden Brandung hinaus geschoben worden. Zwar kam jeder einzelne Brecher wie die auf einen Punkt versammelte Sintflut über das Deck, aber doch nicht stark genug, um den schützenden Raum hinter dem Kartenhäuschen ganz zu überfluten. Dort hatten sie sich alle, dicht zusammenstehend, angeleint. Pedro zählte nach: Es waren neun Personen. Auf der Leeseite müßte es jetzt möglich sein, an das Schiff heranzukommen, dachte er. Er wußte nur nicht, wie er es verhindern konnte, daß die Brecher, die die Nokomis überspülten, unmittelbar darauf auch in sein Boot schlugen. "Wir müssen den Bug unter das Kartenhäuschen schieben!" schrie er, "und wir müssen aufpassen, daß der Kahn nicht quertreibt, wenn wir die Leute an Bord holen!"
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Ja, so müßte es gehen. Hinter dem Kartenhäuschen kam nur wenig Wasser über, und wenn sie es so anstellen konnten, daß der Kahn mit seiner Breitseite möglichst wenig Wasser aufnahm, wenn sie vor allem schnell machten, müßte es möglich sein, das mit dem Bug aufgenommene Wasser durch fleißiges Lenzen wieder loszuwerden. Pedro sah, daß einer der Männer hinter dem Kartenhäuschen eine Strickleiter herunterließ. Derselbe Mann hatte sich das kleinere der beiden Kinder vor die Brust gebunden. Er winkte hektisch und rief ihnen etwas zu, aber seine Rufe gingen im Donner der Brandung unter. Dann ging alles unglaublich schnell. Zuerst kam der Mann mit dem Kind vor der Brust. Er kletterte die Strickleiter herunter wie ein Zirkusartist. Die Schute lag erstaunlich ruhig im Wasser, und Rodriguez ließ den Motor laufen und stellte die Schute mit der Pinne immer wieder gerade. Er verhinderte so jeden Versuch des schwerfälligen Kahns, auszubrechen und sich längsseits zu legen. Es kam zwar eine Menge Wasser über, aber die Leute mit den Eimern schafften es. Dann hangelte sich, wesentlich langsamer, aber trotzdem für die schwierigen Verhältnisse geschickt, und vor allem ohne zu zögern, ein etwa zehnjähriger Junge die Leiter herunter. Er war an einem zusätzlichen Seil gesichert, das die Frau, die alles ängstlich verfolgte, durch ihre Hände laufen ließ. Die Frau war dann als nächste an der Reihe. Auch sie wurde durch zwei Matrosen von oben durch das Seil gesichert. Sie brachte den Sextanten und einen Seesack mit. Beides hatte sie sich auf den Rücken gebunden. Sie griff mutig und kraftvoll in die Sprossen der vom Sturm hin und her 371
gerissenen Leiter. Innerhalb von weiteren drei Minuten hatte Pedro den Rest der Mannschaft an Bord genommen, und sie legten wieder ab. Nun kam der schwierigste Teil des Manövers, weil Rodriguez die Schute jetzt um hundertachtzig Grad wenden mußte. Dabei mußte er sie, wenn auch nur für kurze Zeit, quer vor den Wind legen, und die Wellen konnten ungehindert über den Dollbord schlagen. Daher setzte Rodriguez den Kahn erst einmal zwanzig Meter geradeaus zurück. Dann gab er Vollgas und wendete fast auf der Stelle so schnell, daß die Steuerbordseite weit aus dem Wasser kam. Nun schöpften auch die Schiffbrüchigen. Es wurde kein Wort des Dankes gewechselt. Es gab keine Fragen, kein Gebet. Es gab für alle nur ein Ziel, so rasch wie möglich diesem Inferno und der Gefahr zu entrinnen. Gegen fünf Uhr wurde die Schute von Arnauds Leuten festgemacht, und die Schiffbrüchigen der Nokomis betraten dankbar lächelnd wieder festen Boden. Zur selben Zeit wurde hundert Meter südlich das Beiboot der Nokomis angetrieben und von ein paar Mann an den Strand gezogen. "Todas las almas salvadas! Alle Seelen gerettet!" rief Pedro Tirza zu, die zu ihm herüberlief und sich ihm an die Brust warf. "Das darfst du mir nie mehr antun!" sagte sie mit Tränen in den Augen, "versprich mir das, Pedro, daß du nie mehr so etwas Verrücktes tust!" "Ich verspreche es dir!" sagte 372
Pedro und legte tröstend seine Arme um das zitternde Mädchen.
24 Captain Frank Barner fühlte sich nicht besonders wohl auf dem Samtsessel in Ramón Arnauds guter Stube. Er vermißte seine Pfeife, die er an Bord der Nokomis hatte zurücklassen müssen, und er vermißte auch seine bequemen Hosen, die zum Trocknen draußen auf der Leine flatterten. An ihrer Statt hatte man ihm die Uniformhose eines Soldado Primiero gegeben, die zwar trocken, aber seiner langen Gestalt keineswegs angepaßt war, so daß sie um die Hüften kniff und weit oberhalb der Schuhe endete. Ein weiterer Grund, warum er sich nicht besonders wohl fühlte, war, daß es ihm so große Mühe machte, sich zu verständigen. Was immer er unter Zuhilfenahme seiner großen Hände sagte, er war sich nie sicher, ob Ramón Arnaud auch begriffen hatte, was er meinte. Er saß da mit einem ziemlich ratlosen Gesicht und sprach mit großen Pausen, die er dazu benutzte, sein spanisches Vokabular für die Zusammenstellung des nächsten Satzes abzufragen. "Somos pescadores..atún.. pescadores atún ... mi nombre es Frank, Frank Barner es mi nombre..timón rendido.. tormenta.. San Diego.." 373
Immerhin verstand Ramón Arnaud so viel, daß er sich die Geschichte nach einer halben Stunde zusammenreimen konnte: Die Nokomis war von San Diego aus in die Gewässer südlich von Clipperton zum Thunfischfang ausgelaufen. Dort war Frank Barner mit seiner Crew eine Woche lang ziemlich erfolglos in einer Flaute gelegen. Als dann endlich Wind aufkam und sie immer noch nichts fingen, beschlossen sie, es weiter im Norden zu versuchen. Dabei gerieten sie in den Sturm. Als das Ruder brach und sie in den Wind schossen, zerfetzte ihnen das Unwetter die Segel, noch bevor sie sie einholen konnten. Von da ab lenzten sie hiflos vor dem Sturm her, und schließlich endete die Nokomis auf dem Riff. Ramón Arnaud hatte eine Seekarte auf dem Tisch ausgebreitet, so daß ihm Frank Barner den Kurs mit dem Zeigefinger klarmachen konnte. Nun war Ramón Arnaud an der Reihe, sich dem Kapitän der Nokomis verständlich zu machen. Da er kein Englisch konnte, formte er mit verschiedenen Wörtern so lange einfache spanische Sätze etwa gleicher Bedeutung, wobei er wie Frank Barner seine Hände zu Hilfe nahm, bis der ihm durch Kopfnicken bestätigte, daß er glaube verstanden zu haben. Die Unterhaltung gestaltete sich auf diese Weise sehr anstrengend, aber nachdem sie eine Kanne Kaffee miteinander geleert hatten, waren beide über das Wesentliche unterrichtet. Captain Barner hatte zunächst befriedigt zur Kenntnis genommen, daß auf Clipperton genügend Voräte lagerten. 374
Sie sollten ausreichen, um bis zum Eintreffen der Pandora, die Anfang Mai erwartet wurde, alle Mann ernähren zu können, und zwar ohne daß man sich einschränken müßte. Ramón Arnaud hatte vom Schreibtisch einen Kalender geholt und machte seinem Gesprächspartner tatsächliche oder vermutete Zeitabläufe dadurch verständlich, daß er die Tage, Wochen und Monate mit den Fingern überstrich, bis er an dem gewünschten Tag ankam. Auf dieses Datum tippte er dann mehrmals mit dem Zeigefinger, bis Frank Barner ihm durch Kopfnicken signalisierte, daß er verstanden habe. Die Pandora werde also in etwa acht Wochen eintreffen und könne dann die Besatzung der Nokomis nach Manzanillo mitnehmen. Von dort aus könnten sie die Heimreise antreten. Die Nokomis mußten sie aufgeben, daran bestand kein Zweifel. Das Schiff war zerstört und lag so fest auf dem Riff, daß es nicht wieder flott gemacht werden konnte; darüber waren sich Ramón Arnaud und Frank Barner einig, und sie demonstrierten diese Einigkeit, indem Ramón Arnaud den Namen des Schiffes aussprach und dabei mehrmals mit den Unterarmen ein Kreuz bildete, worauf Frank Barner, der verstanden hatte, traurig nickte. Es gab auch kaum Probleme mit der Unterbringung. Ramón Arnaud holte einen Plan des Lagers und zeigte mit dem Bleistift auf eine Hütte: "Su familia!" Barner nickte und ließ sich den Bleistift geben. Dann notierte er auf einem Zettel: 375
Frank Barner, 31 años; Alice Barner, 28 años; Antony Barner, 10 años; Jack Barner, 3 años. "Mi familia", sagte er und gab den Bleistift zurück. Ramón Arnaud zeigte jetzt auf eine zweite Hütte. "Para los otros", sagte er. Barner nickte, ließ sich den Stift wieder geben und schrieb auf den Zettel: Lester Winston, 40 años; Arthur Portsmith, 33 años; Daniel Shorum, 28 años; Peter Effing, 21 años; Alexander Sounderson, 16 años. "Los otros!" sagte er. "Muy bien!" erwiderte Ramón Arnaud und lachte über die kuriose und doch so wirksame Art der Verständigung. Danach ging Ramón Arnaud mit Frank Barner zu den vorgesehenen Quartieren. Das erste Quartier war die Hütte, die Tirza bei der Ankunft auf der Insel für ein Mannschaftsquartier gehalten hatte. Sie war ursprünglich in der Tat für acht Mann vorgesehen gewesen. Man hatte sie gebaut und mit vier Etagenbetten ausgestattet. Als die Hütte fertig war, stellte sich heraus, daß die meisten Soldaten ihre Familien mitbringen würden. Es gab überhaupt nur sechs Alleinstehende. Man konnte die Hütte also nicht mit acht Mann belegen. Als man die sechs Soldaten, die Junggesellen waren, zusammen in das Massenquartier legen wollte, gab es geharnischte Proteste. Man sehe es nicht ein, daß die Verheirateten wesentlich besser und freundlicher untergebracht seien. Der Dienst hier draußen sei schließlich für alle gleich hart. Die sechs 376
Junggesellen seien bereit, drei kleinere Hütten zu bauen, die sie jeweils zu zweit bewohnen wollten. Es sei eine Zumutung, auf einer Insel wie Clipperton sechs Mann in ein so großes unfreundliches Massenquartier zu sperren. Ramón Arnaud argumentierte zwar zunächst damit, daß kein Soldat der mexikanischen Armee Anspruch auf ein Zweierquartier habe, egal wo das sei. Aber da sie auf der Insel genügend Baumaterial hatten, gab er dann doch nach und ließ die sechs Leute ihre Häuser selber bauen. Er dachte dabei vor allem an die Agressionen, die sich unter diesen ungünstigen Verhältnissen aufbauen mußten. Das wollte er vermeiden. So kam es, daß die große Hütte leerstand, als die Nokomis strandete. "Su casa!" sagte Ramón Arnaud, als sie die Türe öffneten. Frank Barner warf einen Blick hinein und lächelte dankbar. "Bonito!" sagte er. Die Unterkunft für die anderen fünf Schiffbrüchigen war die kaum benutzte Krankenstation. Es gab da zwar nur vier Betten, aber Arnaud ließ eins davon gegen ein Etagenbett aus der großen Hütte austauschen, so daß alle Platz hatten. Die Krankenstation war auf ausdrückliche Anweisung der Pacific Phosphate Company eingerichtet, aber seither nur ein einziges Mal benutzt worden. Das war damals als man glaubte, daß einer der Männer die Schwindsucht habe. Der Mann hatte zwei Monate lang gehustet und dann, drei Wochen bevor die Pandora kam, Blut gespuckt. Diese drei Wochen hatte ihn Ramón
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Arnaud in der Krankenbaracke isoliert, wie das in den Vorschriften stand: "¡En caso de enfermedad de origen unclaro, hay que aislar inmediamente el enfermo! Bei unklaren Krankheitsursachen ist der Kranke unverzüglich zu isolieren." Ohne Arzt und ohne Labor war an sich jede Krankheitsursache unklar. Um nun aber nicht alle Kranken isolieren zu müssen, die vorübergehend an Fieberanfällen, Hautausschlag, Durchfall, und, verursacht von der einseitigen Ernährung, vor allem an heftigen, aber unspezifischen Bauchschmerzen litten, überließ man die Diagnose Arturo Malonardo, der sich damit weniger schwertat als mancher Arzt. Arturo Malonardo war sich jedenfalls seiner Sache meist so sicher, daß nach der ungeklärten Schwindsucht niemand mehr die Krankenbaracke aufsuchen mußte. Es war für alle immer sehr eindrucksvoll, wenn Arturo Malonardo sich zu einem Kranken ans Bett setzte, der leidend in den Kissen lag. Er krempelte die Ärmel hoch, so als bereite er sich für schwerste körperliche Arbeit vor, nahm einen Löffel umgekehrt in die Hand und schob seinem Opfer den Stiel so tief in den Rachen, daß es sich würgend aufbäumte. Er ließ sich dabei von einem Helfer die Lampe halten. Malonardo machte ein bedeutendes Gesicht und kniff die Augen zusammen:
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"Ahh sagen!" Der Kranke sagte "Ahhhhh", würgte und warf einen Blick auf Malonardos Geiergesicht, als erwarte er sein Todesurteil. "Hemd hoch!" sagte Malonardo und schlug die Bettdecke zurück. Dann drückte er beide Fäuste unter das Zwerchfell und sah den Kranken lauernd an. "Tuts weh?" Die Antwort erübrigte sich, weil das, was er da tat, auch dem Gesündesten weh tun mußte. Der Kranke nickte ergeben. "Es ist die Sucht!" sagte Malonardo und gab ihm eine ziemlich große Tablette, die er schon vor seiner Diagnose in die Hemdtasche gesteckt hatte. "Ist das ansteckend?" fragte der Kranke leise. "Die Sucht ist nie ansteckend!" bekam er zur Antwort. Er wurde also nicht in die Krankenhütte verlegt. Wenn Frauen oder Kinder krank wurden, war er etwas zurückhaltender. Bei Kindern drückte er nur sanft mit drei Fingern auf dem Brustbein herum und schob dem kleinen Patienten den Löffel vorsichtig und nur halb so weit in den Mund. Bei Frauen unterließ er die Leibesvisitation ganz und fühlte dafür drei Minuten lang den Puls. Damals, als Enrique Troncoso Blut spuckte, nahm sich Malonardo für die Untersuchung ziemlich viel Zeit. Er ließ den schweißnassen Enrique fünfmal husten und sechsmal tief durchatmen. Dann machte er ein 379
bedenkliches Gesicht und sagte zu Ramón Arnaud, der hinter ihm stand: "Es ist nicht die Sucht, Capitan. Es ist keinesfalls die Sucht!" "Dann ist es ansteckend?" "Ja, Capitan, ich glaube, es ist ansteckend. Es könnte Tuberkulose sein." Der vermutlich Schwindsüchtige lag also ganze drei Wochen in der Krankenbaracke, bis man ihn mit der Pandora nach Manzanillo und von da nach Colima ins Lazarett bringen konnte. Ob es wirklich Tuberkulose war, erfuhr man nicht. Ein Jahr später wurde Ramón Arnaud mitgeteilt, daß der Mann wieder gesund sei. Man habe ihn aber nach Norden versetzt und werde mit dem nächsten Schiff Ersatz für ihn schicken. Das war nun genau zu der Zeit, als Ramón Arnaud in Manzanillo war. Als Sombrero über einen zuverlässigen Gewährsmann erfuhr, daß da ein Posten auf Clipperton frei sei, bewarb er sich mit Unterstützung eben jenes Gewährsmanns darum und konnte sich zusammen mit Ramón Arnaud auf der Pandora einschiffen, um seinen Dienst auf der Insel anzutreten. Sein Vorgänger kämpfte mittlerweile in Sonora gegen Obregóns Nordwestarmee.
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Als es dunkel wurde, hatten die Schiffbrüchigen der Nokomis ihre Quartiere bezogen. Alvarez hatte seine Laterne den ganzen Nachmittag leuchten lassen. Trotz des noch immer sehr starken Windes stand er mit flatterndem Mantel auf der Spitze seines Felsens und suchte mit dem Glas den Horizont ab. Offenbar erwartete er noch mehr Havaristen. Sein Licht flackerte über den noch immer sturmbewegten Palmenhain, und Francisco blies zum Untergang des schönen Segelschiffs eine traurige Melodie in den Wind. Alicia Arnaud kümmerte sich persönlich darum, daß die Betten bezogen wurden, und übernahm - als Geste der Gastfreundschaft - die Zubereitung der ersten Abendmahlzeit selbst. Sonst wäre dies Pasqual Vargas' Aufgabe gewesen, dem die Küche unterstand. Sie stellte sich mit Altagracia an ihren Herd, füllte einen großen Topf mit eingeweichtem Dörrfleisch, streute eine Hand voll Gewürze darüber und übergoß es mit Wasser. Altagracia kochte dazu eine entsprechende Menge Reis. Pascual Vargas holte das Essen ab und brachte es hinüber zur Gemeinschaftshütte, die an die Küche und das Vorratslager angebaut war. In der Gemeinschaftshütte befand sich auch der Speiseraum mit drei langen Tischen und einem Geschirrschrank. An jedem Tisch konnten auf rundum laufenden Bänken etwa zwölf Personen sitzen. Die Leute von der Nokomis bekamen ihr Dörrfleisch mit Reis als erste serviert. Ramón Arnauds Leute nahmen etwas später an den beiden anderen Tischen Platz und erhielten Frijoles mit Chili. 381
Ramón Arnaud selbst aß mit seiner Familie nie im Speiseraum. Ebensowenig konnten sich die Cepedas, die Navas und die Irras an die Massenabfütterung gewöhnen. Auch Tirza kochte lieber selbst. Die übrigen aber suchten mittags gegen zwölf und abends kurz nach Sonnenuntergang die schmucklose Kantine auf und brauchten sich daher zuhause nicht mit dem Kochen zu plagen. Zum Frühstück gab es nur Kaffee; Brot oder Tortillas mußte man mitbringen. Die Küche war sehr praktisch eingerichtet. Neben einem großen, aus Korallenschutt gemauerten Herd stand noch ein Benzinkocher mit vier Brennstellen. Der wurde allerdings fast nie gebraucht, weil immer genügend Schwemmholz für den großen Herd zur Verfügung stand. Clipperton liegt genau zwischen den ziemlich starken Strömungen des Nordäquatorialstroms und denen seines Gegenstroms im Süden. Es wird also zwischen den beiden Strömungen auf der Insel sehr viel schwimmender Abfall und eben auch viel Holz vom Festland abgelagert. Da kamen Äste, ja ganze Bäume angeschwommen und wurden in der Brandung zu Kleinholz zerhackt, das sich dann am Strand ansammelte. Zweimal in der Woche trennte das Holzkommando brennbares von nicht brennbarem Treibgut und schaffte es in kleine auf Stelzen stehende Schuppen oberhalb des Strands, wo es zum Trocknen aufgestapelt wurde. Die Hütten schützten das Brennmaterial vor dem Regen. Die Wände, deren Bretter dachziegelartig übereinander an die Seitenpfosten genagelt 382
waren, ließen kein Regenwasser eindringen, aber der Wind konnte unbehindert hindurchstreichen. So trocknete das Holz in einer Woche vollkommen und konnte auf breiträdrigen Schubkarren zu den Wohnhütten und zur Küche gebracht werden. Der Benzinherd, der fürchterlich stank, war sehr umständlich zu bedienen, weil man vor dem Anzünden und auch während des Betriebs mit einer unter dem Herd angebrachten, Pumpe mit dem Fuß dauernd Luft in einen kugelförmigen, grauen Tank pumpen mußte. Die Luft fauchte mit zwei Atmosphären Überdruck aus diesem Tank in einen Vergaser, der die vier Brennstellen speiste. Wenn man die Pumpe nicht rechtzeitig alle fünfzehn Minuten betätigte, fiel der Druck ab, und es ertönte erst ein kurzer, warnender Pfiff, dann schlug die Flammme mit scharfem Knall zurück, ließ den Vergaserdeckel und die Abdeckungen der Brennstellen wegfliegen und löschte alle vier Flammen gleichzeitig aus. Es ist daher kein Wunder, daß Pascual Vargas diesen Herd nur in Gang setzte, wenn es einmal kein Brennholz gab oder wenn dieses so naß war, daß der beißende Rauch des nassen Treibholzes lästiger war als der Umgang mit dem Benzinherd. "Das ist die dämlichste und beschissenste Konstruktion eines Herdes, die es auf der Welt gibt!" fluchte er mit eingezogenem Kopf und pumpte mit dem rechten Fuß was das Zeug hielt. Technisch hervorragend war hingegen die Wasserversorgung gelöst. Da die Gemeinschaftshütte zusammen mit der Küche und dem Lagerraum ein ziemlich großes Dach hatte, wurde das Regenwasser in 383
kupfernen Rinnen gesammelt und in ein Rohr zusammengeführt. Dieses mündeten in einen verzinkten Kasten, der durch mehrere grobe Siebe in unterschiedliche Vorreinigungskammern unterteilt war. Das Wasser sickerte dann in ein fünfzölliges Rohr, das senkrecht in einem mit Korallensand gefüllten und in den Boden eingelassenen Fass steckte, so daß sich dieses Faß, wenn es regnete, vom Boden her langsam mit Wasser füllte. Der geschlossene Überlauf führte in eine ebenfalls in den Boden eingegrabene, geschlossene Zisterne mit einem Fassungsvermögen von zweitausend Litern. Die Zisterne war früher einmal ein Teil des Wasserversorgungssystems eines Schiffs gewesen und bestand aus einem kubischen Tank aus blankem Kupfer. Aus dieser Zisterne wurde das am Tag benötigte Wasser mit einer Handpumpe in einen zweihundert Liter fassenden emailierten Stahltank gepumpt, der unter dem Dachfirst oberhalb der Küche angebracht war. Von dort aus floß es, je nach Bedarf, durch eine Wasserleitung mit einem reibungslos funktionierenden Wasserhahn zur Zapfstelle und zum Spülbecken. Vor der Gemeinschaftshütte stand außerdem ein Pumpbrunnen, der das Wasser unmittelbar aus dem Bodenreservoir lieferte. Das durch den Korallensand gefilterte und durch das Kupfer frisch gehaltene Wasser war so weich, daß man beim Händewaschen die Seife kaum von den Händen spülen konnte. Es stank, gut gefiltert, nicht nach Vogelmist und schmeckte zwar etwas abgestanden, war aber kühl und sauber. Das Filter wurde einmal im Jahr gewechselt, was für zwei Leute eine Angelegenheit von einer halben Stunde war.
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Der dritte und möglicherweise wichtigste Raum des Komplexes war das Vorratslager. Es war mit der Küche durch eine Schiebetür verbunden, hatte aber auch eine mit zwei Vorhängeschlössern gesicherte Außentür, durch die man auf den Versammlungsplatz beim Fahnenmast gelangte. Die Pandora brachte immer etwa zwei- bis dreihundert handliche Pakete, die leicht transportiert werden konnten. Diese Pakete waren aber nie systematisch gepackt, sondern enthielten die Vorräte so, daß sie das vorgegebene Volumen möglichst vollständig ausfüllten. Es war also durchaus möglich, daß ein und dasselbe Paket Kernseife und Zitronen oder Dörrfleisch, Kerzen und Schuhfett enthielt. Es war Pascual Vargas' Aufgabe, dieses Chaos zu entwirren, die Vorräte übersichtlich in die Regale zu packen und die Bestände und den Verbrauch anhand täglich geführter Listen zu kontrollieren. Alles was dem Vorratslager entnommen wurde, jedes Paket Schiffszwieback, jedes Stück Dörrfleisch, jede Schmalzdose, jedes Päckchen Tabak, jede Flasche Aguardiente mußte in einer Strichliste als verbraucht gekennzeichnet werden. Ramón Arnaud kam mindestens einmal im Monat zu Pascual Vargas und überzeugte sich durch Stichproben davon, daß die Listen ordentlich geführt waren. Als die Nokomis gestrandet war, begutachtete Ramón Arnaud mit Vargas zusammen die Bestände.
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"Also,ich denke, wir haben keine Schwierigkeiten, die neun Leutchen mitzuversorgen", sagte der Capitan und warf noch einmal einen Blick auf das gut gefüllte Lager. "Das Dumme ist nur, daß wir Martínez den unvorhergesehenen Mehrverbrauch erst im Mai melden können, wenn Sanchez wiederkommt. Das heißt, die Pandora wird uns erst im September das Lager wieder füllen. Wir werden also bis dahin den vorgeschriebenen Notvorrat verbrauchen. Das ist nicht weiter schlimm, und wir müssen uns deswegen nicht einschränken. Wir sollten nur der Ordnung halber in den Listen vermerken, daß wir einen Notfall haben und neun Leute mehr verköstigen müssen." "Ist schon geschehen", erwiderte Vargas und zeigte Ramón Arnaud eine Notiz, die er zu den Listen im Vorratslager legte. Alle Versuche, aus dem Wrack der Nokomis noch Gebrauchsgegenstände, Werkzeug oder Lebensmittel zu retten, waren vergeblich. Die Brandung hatte über Nacht ganze Arbeit geleistet. Das Schiff war über seine volle Länge geborsten, und das Wasser tobte zwischen den sich auflösenden Aufbauten. Es wurde auch nur wenig Brauchbares am Strand angeschwemmt. Drei Tage später bargen die Matrosen der Nokomis lediglich die Reste zweier Segel, die an Masttrümmern hingen und im Riffkanal trieben. Die Mannschaft der Nokomis machte durchaus nicht den erlösten Eindruck, den man nach der geglückten 386
Rettungsaktion hätte erwarten können. Sie waren auch nicht bedrückt wie Murtries Mannschaft der Kinkora. Nein, es sah ganz so aus, als ob sie, in einer Art trotzigem Zorn über das, was ihnen geschehen war, es einfach ablehnten, den Schicksalsschlag hinzunehmen. Sie saßen mit finsteren Gesichtern beisammen und ballten die Fäuste. "Acht Wochen, hat er gesagt!" Arthur Portsmith schloß die Augen halb und hob seinen Löffel wie einen Taktstock. "Acht Wochen sollen wir hier auf diesem Eiland vegetieren? Anders kann man doch das Leben hier nicht nennen! Was um Himmels Willen sollen wir hier denn machen? Acht Wochen in der Sonne sitzen? Vogelscheiße umgraben? Angeln?" Portsmith schüttelte den Kopf. "Ohne mich!" sagte er. "Und was", fragte Peter Effing, "willst du bitte tun? Ich nehme an, du ruderst hinaus, gehst wieder zurück an Bord der Nokomis, und segelst heim nach San Diego! Nicht wahr, das ist es doch, was du willst?" "Arschloch! Ich will hier weg und habe keine Lust, mir deine Scheißquatscherei anzuhören!" "Na, dann hau doch ab, du Träumer! Pack doch deinen Koffer und hau ab, wenn du kannst!" Art Portsmith sah Peter Effing böse an und sagte dann: "Du wirst schon sehen, was ich mache!" Aber er machte natürlich nichts. 387
Sie beschlossen vielmehr noch am selben Tag, beim Phosphatabbau mitzumachen, um etwas Vernünftiges zu tun zu haben. Der Steuermann der Nokomis, Lester Winston, der große blonde Normanne mit den blauen Augen und dem aufbrausenden Temperament, schaufelte drei Tonnen Phosphat am Tag in die Verladekarren. Er schob vier beladene Loren ganz allein hinüber zum Hangar. Peter Effing war mit einundzwanzig Jahren der zweitjüngste Mann der Nokomis. Er reichte Les höchstens bis an die Schulter und war auch nicht größer als Alexander Sounderson, der Moses. Er grub mit Arthur Portsmith in der Nordwestecke Phosphatproben aus und füllte sie in Säcke, die Schulz mit der Pandora nach Manzanillo schicken wollte. Alex Sounderson, der zwar schon sechzehn war, aber eher wie vierzehn wirkte, bepinselte zusammen mit Daniel Shorum, der mit achtundzwanzig Jahren schon sechs Kinder hatte, die Schute mit rasch trocknender Mennige und überstrich die getrockneten roten Flächen dann mit schwarzer Farbe. Captain Barner diskutierte viel mit Ramón Arnaud und Pedro. Es schien, als wolle er nicht begreifen, daß er sein Schiff verloren hatte. Er wirkte zerstreut und unruhig. Er stand auch oft am Strand herum und sah zu, wie die Brandung Stück um Stück aus dem verwundeten Körper der Nokomis herausriß und die Trümmer in die Rifflagune schwemmmte. Seine Frau kümmerte sich um die Kinder, 388
nahm sie an der Hand und spazierte mit ihnen hinüber zur Bucht vor den Eierinseln. Dort setzten sie sich in den Sand und sahen den Vögeln zu. Der kleine Jack sammelte Eier und zerdrückte sie zwischen den Fingern oder zerquetschte sie auf einem Stein, wenn seine Mutter nicht hinsah. Schulz bekam Ende April wieder Anfälle. Er schrie in den Phosphatgräben herum, ohne daß irgend einer verstand, was er sagen wollte: "Eins herum, das andere auch..Phosphatgeister.. drehen.. drehen ..drehen.. wo bleiben sie nur.. Halt! Halt! Es geschieht.. voran!" Ramón Arnaud beobachtete ihn mit zunehmender Sorge, aber er beschloß, vorerst noch nicht einzugreifen. Am achtzehnten Mai unternahm Schulz den Versuch, sich die Hand abzuhacken. Er lief mit einem Beil hinunter zum Hangar und schrie: "Große Sonne! Es ist soweit.. ich tu's.. du wirst es sehen ..Es ist das heilige Opfer für den Großinquisitor! Geht.. geht... geht fort! So helft uns doch!" Pedro kam gerade noch zurecht. Schulz hatte die linke Hand schon auf dem Holzblock zurechtgelegt und holte mit dem Beil in der rechten weit aus. Pedro hielt ihm die Hand hinter dem Rücken fest. Da sperrte Ramón Arnaud Schulz wieder in die Arresthütte. Die Pandora war bereits zwei Wochen überfällig. Als die Pandora eine Woche später noch immer nicht in Sicht kam, begannen die Matrosen der Nokomis, das gestrandete Beiboot auszurüsten. Sie setzten einen Mast 389
und flickten aus den Segelresten ihres Schiffs ein Gaffelsegel zusammen. Es sagte keiner etwas, weil man diese Aktivitäten, wie alles, was vorher war, für eine Scheinbeschäftigung hielt, die zu nichts anderem dienen konnte, als die Zeit bis zur Ankunft der Pandora totzuschlagen. DAS DESASTER 25 Die Pandora lag im Hafen von Salina Cruz und hatte außer zweihundert Hühnern, zwanzig Ballen Zigarrentabak, achtzig Sack Kaffee, einem Motorrad der Marke Clyno und dem Araberhengst Demosthenes auch drei Passagiere an Bord. Das Schiff hatte zwei Wochen festgelegen, weil dessen gebrechliche Kessel wegen eines klemmenden Ventils auf der Fahrt zwischen Juchitan und Salina Cruz beinahe geborsten wären. Kapitän Severino Sanchez y Paz wollte es nicht riskieren, ohne Reparatur wieder auszulaufen. Es dauerte eine Woche, bis das Ersatzteil von der Größe eines Fingerhuts beschafft werden konnte, und es dauerte eine weitere Woche, bis man den Schaden endlich behoben hatte. Die Hühner und der Kaffee waren für Puerto Angel bestimmt. Der Rest der Ladung und die Passagiere sollten nach Acapulco gebracht werden. Dort lagerten auch bereits seit drei Wochen zweihundert Pakete, die Sanchez an Bord nehmen sollte, um sich damit unverzüglich auf den Weg nach Clipperton zu machen.
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Die drei Passagiere hatten die Reise gemeinsam gebucht. Eine Kabine war für Señor Gabriel Nuñez Estela, einen Plantagenbesitzer aus Texquisistlan, die zweite für dessen Nichten Julieta und Josefina bestimmt. Don Gabriel war ein Caballero der alten Schule, der sich bereitwillig anerboten hatte, seine Nichten auf dem gefahrvollen Weg nach Acapulco zu begleiten, wo ihre Mutter, Doña Isidora, Don Gabriels Schwester, lebte. Er war in unauffälligem Taubenblau gekleidet, trug ein seidenes, zum Hemd passendes Halstuch und besah sich die Welt mit interessierten, nervösen Blicken durch ein Lorgnon mit halbmondförmigen Gläsern. Seine Nichten waren dreiundzwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt, gut gewachsen und allen schönen Dingen des Lebens zugetan; sie waren jedoch nicht verheiratet, was in ihrem Alter als ungewöhnlich gelten mußte. Beide waren vorzügliche Reiterinnen, rauchten schwarze Zigarren, tranken bevorzugt einen hochprozentigen guatemaltekischen Anisschnaps und waren das ganze Jahr über umschwärmt von meist jüngeren Verehrern, die, unerfahren wie sie waren, die Vollkommenheit der Señoritas auf allen möglichen Gebieten durch Flüsterpropaganda verbreiteten, so daß sie immer wieder dem von ihnen selbst herbeigelockten Heer unverbrauchter Konkurrenz unterliegen und siegreichen Nachfolgern weichen mußten. Die Señoritas scherten sich beide herzlich wenig um Konventionen. Sie genossen das Leben gemeinsam, empfingen ihre Freunde gemeinsam, sorgten dadurch 391
gemeinsam für böswillige Gerüchte und dementierten diese gemeinsam mit entwaffnendem Lächeln. Don Gabriel und seine Nichten gehörten zu jener Sorte Menschen, die am allerwenigsten auf ein Schiff wie die Pandora paßten. Don Gabriel legte Wert auf jenes bestimmte Maß an Bequemlichkeit, das jeder Bescheidene als Luxus bezeichnen würde. Die Einkünfte aus seinen Kaffeeplantagen und einer florierenden Schokoladenfabrik erlaubten es ihm, sich keine Beschränkungen aufzuerlegen. Er hatte sich diesem Monstrum von einem Schiff nur anvertraut, weil er dessen unglaublichen Zustand erst gewahr wurde, als er bereits auf der Gangway stand, und weil zum fraglichen Zeitpunkt kein anderes Schiff nach Acapulco fuhr. Der Weg über Land bot überdies noch viel weniger Komfort und war wegen der Aufstände ziemlich unsicher. Die Pandora verließ den Hafen von Salina Cruz zwei Stunden nach Sonnenaufgang. Unter das übliche Getöse der Maschine mischte sich diesmal das Gegacker und Geschrei von zweihundert Leghornhennen und das Gewieher eines von den unbekannten Geräuschen wildgewordenen Hengstes. Während Don Gabriel seine durch die Mißstände an Bord hervorgerufene schlechte Laune im Salon mit Mezcal seiner Hausmarke bekämpfte, den er sich für die Reise hatte an Bord bringen lassen, lagen die beiden Señoritas, von seidenen Sonnenschirmen beschattet, in den Liegestühlen, zogen Schuhe und Strümpfe aus, ließen die Sonne auf ihre Knie und zwischen die Zehen scheinen und vertrieben sich den Tag mit Nichtstun.
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Der Aufenthalt im Hafen von Puerto Angel war nur kurz. Die Hühner und der mit ihrer Anwesenheit verbundene Lärm wurden in einen großen Schuppen an der Mole verbannt. Der Kaffee wurde auf Lastwagen geladen und wegtransportiert. Es dauerte aber doch einige Stunden, bis die Pandora wieder in freien Wassern war und auf Acapulco zuhalten konnte, das man am nächsten Morgen zu erreichen hoffte. In der Abendkühle nach Sonnenuntergang standen die Señoritas an der Reling und sahen mit randgefüllten Anisgläsern in zarten Händen zu, wie sich das grüne Wasser des Golfs von Tehuantepec langsam grau, dann nachtblau und schließlich schwarz verfärbte. Capitan Severino Sanchez y Paz hatte die beiden auf der ereignislosen Strecke zwischen Salina Cruz und Puerto Angel von der Brücke aus schon mit dem Fernglas ins Visier genommen. Das überaus reizvolle Bild, das sich ihm so, scheinbar auf Armeslänge, bot, war eine willkommene Abwechslung, bescherte ihm andererseits aber wieder eine seiner gefürchteten Dauererektionen, die ihn bei der Ausübung seiner nautischen Pflichten an jenem Tag erheblich behinderte. Als man sich schließlich im Salon traf und das Essen aufgetragen wurde, hatte Don Gabriel bereits die erste Flasche seiner Hausmarke geleert und die zweite geöffnet. Eine halbe Stunde später wurde er von zwei kräftigen Matrosen zu Bett gebracht. Sanchez setzte sich zu den Señoritas und erzählte von der Seefahrt. Die Señoritas wiederum erzählten ihm freimütig von ihrem Leben, was ihn zu Recht aufhorchen und 393
Hoffnung schöpfen ließ. Die Señoritas merkten, worauf es hinauslaufen sollte, gaben sich gegenseitig durch verborgene Handzeichen ihr Einverständnis und ermunterten ihn unverhohlen und ohne falsche Scham, weil sie an diesem langweiligen Abend ohnehin nichts anderes unternehmen konnten; außerdem übte der Kapitän eines Schiffes, und sei dieses noch so schäbig, auf sie den delikaten Reiz des noch Unerforschten aus. Sanchez erschrak über die unerwarteten seelischen und körperlichen Freuden, die er plötzlich greifbar nahe vor sich sah, so sehr, daß er ein drittes und letztes Mal seine Pflichten vergaß. Er stürmte hinauf auf die Brücke, übergab, wiederum gegen die allereinfachsten Vorschriften, einem jungen Matrosen das Ruder: "Immer schön Kurs halten, immer geradeaus!" und verschwand. Mit zitternden Händen und klopfendem Herzen öffnete er die Kabinentür der Mädchen. Die Señoritas erwarteten ihn in seidenen Nachtgewändern erlesener Transparenz. Sanchez sank mit den duftenden Engeln in die Kissen und vergaß die Widerwärtigkeiten der Welt.
Es war ein dramatisches und seiner Person angemessenes Finale: Gegen zwei Uhr nachts lief die Pandora unter vollem Dampf mit zwanzig Knoten auf das Riff vor der Punta Maldonado, das schon vielen zum Verhängnis 394
geworden war, die sich ihm umsichtiger genähert hatten als Severino Sanchez y Paz. Er starb mit dem Bild weiblicher Schönheit vor Augen, das sich ihm noch bevor die Lichter verlöschten in seiner ganzen Tröstlichkeit offenbarte, als das schwarze Wasser in die geborstene Kabine stürzte. Er, der große Sanchez, lag, von beiden Seiten umschmeichelt, zwischen zwei rosigen Mädchen. Er erhob sich und erlebte in Regenbogenfarben die Auferstehung der Velázquez. Er salutierte vor der endlosen Reihe köstlicher Eroberungen, die ihm das Leben versüßt hatten. Sie winkten ihm in paradiesischer Nacktheit zu. Er ging mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen zusammen mit seinem Schiff unter, wie es einem rechten Kapitän ziemt. 26 Der Wind stand um diese Jahreszeit nicht ungünstig für das Unternehmen. Die Idee stammte von Lester Winston. Das heißt, es war eigentlich keine Idee, sondern die einzig logische Schlußfolgerung aus den verhängnisvollen Umständen, die die Leute der Nokomis auf der Insel gefangenhielten. Dieser logische Schluß bot doch immerhin eine vage Möglichkeit, der schrecklichen Insel zu entrinnen. Er war so logisch, daß er an sich jedem hätte bewußt sein müssen. Aber auch wenn er insgeheim jedem bewußt war: es hatte außer Lester Winston keiner den Mut, ihn offen auszusprechen.
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"Wir machen das Boot in aller Ruhe fertig. Sollte die Pandora bis zum 1.Juni nicht eingetroffen sein, dann wird sie nie mehr hier eintreffen, dann segeln wir los!" Das war der Satz gewesen, den Lester Winston am Abend des fünfzehnten Mai so ruhig aussprach als handle es sich um die Ankündigung eines Regentags. Die anderen drei, die mit ihm am Tisch saßen, nickten. Arthur Portsmith sagte: "Er hat völlig recht. Wir hauen hier ab!" Daniel Shorum pflichtete ihm bei: "Wenn ich noch länger hier 'rumsitzen muß, werde ich trübsinnig und bin für den Rest meines Lebens zu nichts mehr zu gebrauchen." Nur Peter Effing, der jüngste der drei Männer, war zurückhaltend: "Das ist leicht so dahergesagt", meinte er, "es sind siebenhundert oder achthundert Meilen über den offenen Pazifik - auf dem kürzesten Weg wohlgemerkt und die müssen mit diesem Scherz von Wasserfahrzeug erst mal zurückgelegt sein!" Am Abend des 1. Juni saßen sie wieder zusammen am Tisch. Die Entscheidung war gefallen, nachdem das Boot ohne Hast und mit aller Sorgfalt seetüchtig gemacht worden war. Die Vorräte, die sie brauchten, standen bereit. "Also, Jungs, morgen früh nach Sonnenaufgang geht es los!" sagte Lester Winston, der als das älteste Besatzungsmitglied und als Steuermann der Nokomis das Kommando übernommen hatte. Nach längerem Schweigen sagte Daniel Shorum: "Wenn wir günstigen Wind haben, ich meine, wenn wir davon 396
ausgehen, ganz glatt durchzukommen, wie lange glaubst du, Les, brauchen wir bis Acapulco?" "Unterstellen wir mal, daß wir konstanten Nordwestwind haben, dann müßten wir mindestens drei Knoten machen; das sind am Tag etwa siebzig Meilen. Das heißt, wenn wir nicht kreuzen müssen und nicht in eine Flaute geraten, müßten wir es in spätestens zwei Wochen geschafft haben, wahrscheinlich sind wir in acht bis zehn Tagen da. Ja, Leute, in zwei Wochen müßten wir es schaffen, irgendwo an der Küste Mexikos zu landen." "Und wenn nicht?" fragte Peter Effing, "wenn wir keinen konstanten Wind haben und kreuzen müssen und in eine Flaute geraten? Was dann?" "Wenn wir damit rechnen wollen, daß alles schiefläuft, brauchen wir erst gar nicht loszufahren!" antwortete Les Winston wütend und fuhr fort: "Ein Risiko ist immer dabei, das wißt ihr! Ich habe mit Captain Arnaud gesprochen. Er versicherte mir, daß der Wind um diese Jahreszeit sehr verläßlich mit mindestens sechs Knoten aus Nordwesten komme. Aber selbst, wenn wir dieses Jahr Nordwind hätten, also wenn der Wind während unserer Fahrt immerzu aus Norden käme, brauchten wir nicht zu kreuzen, ja, wir müßten noch nicht einmal besonders hart am Wind segeln. Wir könnten die ganze Strecke raumschot zurücklegen. Wir haben bereits Juni! Flauten im Juni hat der Captain bisher in all den Jahren nicht erlebt. Und wir auch nicht. Oder könnt ihr euch daran erinnern, daß wir um diese Zeit irgendwo zwischen San Diego und Galapagos mal in eine Flaute geraten wären, 397
die länger als einen Tag angehalten hätte? Wegen des Winds mache ich mir keine Sorgen. Da müßte alles glatt gehen. Wichtig ist nur, daß wir genügend Wasser mitnehmen und die Persenning so dicht machen, daß auch bei schwerer See kein Wasser überkommt." "Wieviel Trinkwasser werden wir brauchen?" fragte Daniel Shorum. "Ich rechne pro Tag und Person zwei Liter. Das macht pro Mann für zehn Tage zwanzig Liter und für uns vier insgesamt achtzig Liter. Es wird wahrscheinlich unterwegs eine Menge regnen. Wir können dann mit der Persenning zusätzlich Regenwasser sammeln. Um ganz sicher zu gehen, werden wir drei Fünfzigliterfässer, also einhundertfünfzig Liter Wasser mitnehmen und von Anfang an so sparsam damit umgehen, als ob wir die doppelte Strecke zu bewältigen hätten." "Und was ist, wenn uns etwas Ähnliches passiert wie mit der Nokomis? Was ist, wenn wir wieder in einen Sturm geraten?" fragte Peter Effing und sah Lester Winston besorgt an. "Das wird nicht passieren. Aber wenn du jetzt schon die Hosen voll hast, kannst du ruhig hierbleiben und Lagunenwasser saufen. Wir schaffen es auch zu dritt. Ich glaube, unser kleiner Moses hat weniger Schiß als du!" "Der Moses? Der kommt auf keinen Fall mit! Alex bleibt hier beim Captain! Das war ausgemacht!" sagte Art Portsmith. 398
"Natürlich bleibt der hier. Ich wollte Peter nur sagen, daß Alex mit seinen sechzehn Jahren weniger Angst hat als er!" Peter Effing gab nicht auf. "Das hat doch mit Angst nicht das Geringste zu tun! Du darfst Vorsicht nicht für Angst halten! Man kann doch so ein Unternehmen nicht starten, ohne alles genau überlegt zu haben. Wenn wir das Riff erst einmal hinter uns haben, ist es zu spät für Überlegungen!" "Gut", sagte Lester Winston, "ich sehe ein, daß alles geplant werden muß. Und das haben wir ja nach Möglichkeit getan. Aber es gibt natürlich Gefahren, die nicht vorhersehbar sind, Unheil, gegen das kein Kraut gewachsen ist. Das sind die schlimmen Risiken. Und zu diesen Risiken gehört eben, verdammt nochmal, auch ein Tornado. Wenn wir in einen Tornado geraten, ist es eben aus! Ende, término, basta, finito, aus! Dann müssen wir eben einpacken. Dann haben wir verspielt. Kapiert, Peter? Gegen Katastrophen können wir uns nicht wappnen. Wir können nur eins tun: beten, daß wir nicht in einen Sturm hineingeraten!" Jetzt wurde Peter Effing wütend: "Wir können also weder einen Tornado, noch eine Totalflaute, noch einen Gewittersturm, noch einen Sonnenstich, noch ein Seebeben, noch den totalen Irrsinn ausschließen, der uns vielleicht nach vier oder fünf Tagen packt und uns handlungsunfähig macht! Und kannst du 399
mir sagen, warum wir dann überhaupt da hinaus wollen? Wir wissen ganz genau, daß in den nächsten Tagen die Pandora ankommt. Sie ist bereits seit mehr als drei Wochen überfällig. Sie kann also jede Stunde hier eintreffen. Sie wird uns an Bord nehmen und uns nach Manzanillo bringen. Dabei werden wir in weißen Betten schlafen. Ich frage dich also, lieber Lester, was dieser irrsinnige Plan soll, - diese größte Scheiße in der Geschichte der Seefahrt!" "Lieber Peter, ich möchte dich in aller Freundlichkeit darauf aufmerksam machen, daß kaum mehr Vorräte da sind. Wir haben den netten Leuten hier eine Menge weggefressen, und ich gedenke nicht, so lange weiterzufressen, bis nichts mehr da ist. Kapierst du das jetzt endlich? Sind wir Seeleute oder Memmen und Parasiten? Wer sagt dir denn, daß die Pandora in den nächsten Tagen kommt? Wer sagt dir das? Diesen mexikanischen Pott hat vielleicht der Blitz getroffen. Vielleicht liegt die Pandora gelähmt auf dem Trockendock. Vielleicht sind die Kessel explodiert? Was weiß denn ich, was mit dem Kahn los ist? Er sollte längst da sein und kommt nicht. In Mexiko kommt nie das, was kommen soll. Meistens kommt in Mexiko überhaupt nichts! Mexiko ist vielleicht das einzige Land der Welt, wo die Dinge grundsätzlich anders laufen, als man erwartet. Außer der Furzerei auf die beschissenen Bohnen läuft nichts nach Plan in diesem Scheißland! Aber wehe, du verläßt dich auf das Gegenteil des Erwarteten, dann wird genau das geschehen, was geschehen sollte. In diesem Land bringt dich nicht mal der Zufall aus der Bredouille. Vielleicht sitzt der Kapitän seit drei Wochen 400
besoffen in einer Hafenkneipe und sieht weiße Mäuse? Vielleicht ist die Pandora längst als Truppentransporter requiriert und auf dem Weg nach Mazatlan mit tausend Federales!" Dann deutete er mit der ausgestreckten Hand nach oben: "Siehst du die Flagge dort? Siehst du sie? Ist das vielleicht unser Banner? GRÜN-WEISS-ROT. Es ist nicht unsere Fahne! Wir sind in Mexiko, Peter, hast du das noch immer nicht kapiert? Das hier ist nicht Kalifornien! Und wenn wir nicht aufpassen, werden wir von dem verdammten spanischen Adler genau so aufgefressen, wie die arme Schlange! Ich will nach Hause und nicht warten, bis sich Madam Pandora entschließt, endlich hier aufzukreuzen! Ich habe die Schnauze voll, und Art und Dan haben sie auch voll! Himmelarschnochmal, begreifst du das jetzt endlich?" Es entstand eine unangenehme Stille. Die vier Männer taxierten sich gegenseitig, und Peter Effing sagte schließlich kleinlaut: "So war's doch nicht gemeint, Lester, natürlich bleibe ich bei euch. Ich lasse euch doch nicht im Stich!" Les Winston lächelte, daß sein Mund fast von Ohr zu Ohr reichte, und schlug Peter in einem Anfall aufwallender Freundschaft mit solcher Wucht auf die Schulter, daß der sich auf die Zunge biß und leise vor sich hin fluchte. Dann sagte Les: "Na also, hab's doch gewußt! Auf Peter ist Verlaß. Nun kann's losgehen!"
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In der Morgendämmerung des 2. Juni 1914 packte Arthur Portsmith zusammen mit Daniel Shorum vierzig Pfund Schiffszwieback in leere Mehlkanister. Sie verschlossen die Dosen fest mit dem Schraubdeckel und schoben sie unter das Vordeck. Dann verstauten sie, ebenfalls im Bug, neben dem Werkzeug und dem Log, drei Ölfässer voll Trinkwasser. Peter Effing hatte die Fässer mit Pottasche gereinigt und eine Woche in der Lagune gespült, bevor sie das Wasser einfüllten. Aber der Erdölgeschmack war noch immer nicht ganz verschwunden. Da sie keine anderen Behältnisse hatten, die als Wassertanks brauchbar gewesen wären, mußten sie die geringe Geschmacksbeeinträchtigung eben hinnehmen. Weitere Mehlkanister mit getrockneten Äpfeln, Rosinen und zwanzig Dosen Rindfleisch verstauten sie im Heck des Boots. Alle Kanister wurden mit Tauen, die sie durch den Henkel zogen, am Boden festgelegt, so daß sie sich auch im Sturm nicht losreißen konnten. Um die Wasserfässer hatten sie Lederriemen geschnallt, durch die ein Seil gezogen wurde. Sie holten die Persenning aus dem Hangar und breiteten sie über das Boot. Dann prüften sie alle Bensel am Segeltuch auf Festigkeit und zogen die Schrauben der Klampen nach. Schließlich rollten sie die Abdeckung zusammen und schoben sie unter die Vorderducht. In einen großen Wachstuchsack packten sie Verbandszeug, ein Säckchen mit Tabletten gegen Durchfall, Tropfen gegen Verstopfung und gegen Schmerzen, Wundsalbe, Zinksalbe gegen Sonnenbrand, eine Flasche mit Olivenöl, ein Beil, Messer, Gabeln, zwei Becher, Dosenöffner, vier Decken, Kautabak, eine Sturmfackel, Feuerzeuge, 402
Seekarten, einen Zirkel, zwei Kompasse und den Sextanten der Nokomis. Schließlich prüften sie eine Stunde lang den verstärkten Mast und die Betakelung, indem sie ein langes Seil um die Mastspitze schlangen und zu viert ein wildes Tauziehen nach allen Richtungen veranstalteten. Lester Winston und Peter Effing schleppten Gaffel- und Großbaum mit den Segeln aus dem Hangar. Inzwischen versammelte sich das halbe Lager am Landungssteg. Auch Captain Barner und Ramón Arnaud kamen zum Boot, um sich von den vier Abenteurern zu verabschieden. Beide hatten vergeblich versucht, Lester Winston das Vorhaben auszureden. Aber der ließ sich auf keine Diskussionen ein. Auch die Geschichte der Kinkora machte keinen Eindruck auf ihn. "Das waren doch Stümper! Goddamned idiots! I wanna go home! Ich will nach Hause! Thats it! And we're gonna make it! Wir schaffen das!" sagte Les und sah dabei so zuversichtlich aus, daß man an seinen Erfolg glauben mußte. Dann holte er nochmal weit aus: "Kennt ihr die Geschichte der Bounty? Ja? Wißt ihr, was Captain Bligh gemacht hat? Wißt Ihr's? Nein? Als Fletcher Christian meuterte und Bligh von seinem Schiff jagte, ist dieser Mann viertausend Seemeilen in einer Nußschale über den Stillen Ozean gesegelt, viertausend Seemeilen obwohl Tofoa nur ein paar hundert Meilen entfernt war. Und wißt ihr, warum er so weit segelte? Warum er nicht auf dem kürzesten Weg Tofoa ansteuerte? Nein? Ich werd's euch sagen: weil er die Admiralität hinter den Meuterern herhetzen wollte. Er wußte, daß in Tofoa kein 403
Vertreter der Krone war. Also segelte er dorthin, wo die strafende Gerechtigkeit saß! Ordnung und Gerechtigkeit waren ihm wichtiger als sein Leben. Und er erreichte den Hafen von Batavia in einem Boot, nicht größer als dieses hier, und mit fünfzehn Mann, mit fünfzehn Mann Besatzung! Und dann jagte er hinter den Meuterern her! Na, seht ihr! Das war noch ein Seemann, das war noch ein Kapitän! Der fürchtete das Meer nicht! Und wißt ihr, was er später wurde? Nein? Admiral wurde er! Admiral der königlichen Marine!" Es klang alles sehr überzeugend, und schließlich war Les ja ein hervorragender Steuermann und hatte sechsundzwanzig Jahre Pazifikerfahrung auf dem Buckel. Waghalsig war es schon, was die vier da vorhatten, aber sie waren gut gerüstet und wußten genau, was ihnen bevorstand. Sie hatten durchaus eine Chance durchzukommen. Gegen neun Uhr ruderten sie los, auf die Brandung zu. Die Leute am Strand knieten nieder und murmelten ergriffen das Glaubensbekenntnis und leiteten damit das erste Gesätz des glorreichen Rosenkranzes ein. Die Persenning konnten die Männer noch nicht anbringen. Sie hätten das Boot sonst nicht über den Schelf manövrieren können. Sie mußten also in Kauf nehmen, für kurze Zeit viel Wasser aufzunehmen. Aber das konnte ja wieder aus dem Boot geschöpft werden, wenn die Brecher der Brandung hinter ihnen lagen. Glücklicherweise war die See an jenem freundlichen Dienstagmorgen sehr ruhig. 404
Es war ein guter Auftakt. Sie fühlten die Hand Gottes über sich. Als sie das Riff erreichten, schlugen zwei Brecher hart gegen den Bug und brachten auch allerhand Wasser mit sich. Aber mit zwanzig kräftigen Ruderschlägen waren sie über das Riff hinaus gelangt, ohne ein einziges Mal vom Kurs abgekommen zu sein. "Segel setzen!" rief Lester Winston mit fester Stimme und "Kurs West!" Sie hißten die Fock und dann das Großsegel mit der Gaffel. Es lief alles ab wie tausendmal geprobt. Eine Viertelstunde später, als sie von Clipperton nur noch den Felsen sahen, rief Winston: "Klar zur Wende!" und die kleine Mannschaft wendete das Boot nach Nordosten auf das mexikanische Festland zu. Der Wind stand steif in den Segeln; er kam von Westen, und kein Wölkchen trübte den Himmel. Das Boot rauschte mit raumem Wind nach Ostnordost, und sie hatten alle das Gefühl, jetzt nur kurz die Augen schließen zu müssen, um schon nach einem Augenblick der Besinnung vor sich das Festland auftauchen zu sehen. Es war alles so einfach gewesen, es war alles so vollkommen nach Plan verlaufen. Was sollte da noch schiefgehen? "Schnapp dir mal das Log!" sagte Les Winston zu Dan Shorum, der vorn im Bug saß und die Fock bediente. Dan kramte das Brett mit der Leine aus der Dunkelheit des Vordecks. Er holte seine Uhr aus der Brusttasche des Hemds und warf das Brett über Bord. Es wurde rasch 405
abgetrieben. Dan ließ die Schnur durch seine Finger gleiten und bewegte leise zählend die Lippen. "Vier Knoten!" rief er nach einer Weile und wickelte die Schnur wieder auf. "Na, was habe ich euch gesagt! Wir machen mehr Fahrt als ich dachte! In einer Woche sind wir in Acapulco!" Peter Effing schöpfte eifrig das Wasser aus dem Boot, das sie noch eine Weile an die Brandung des Riffs erinnern sollte. Dan Shorum kroch zum Bug, untersuchte die Vertäuung der Wassertanks und der Kanister und zog den Sack mit dem Sextanten heraus. Das Instrument war unbeschädigt. Alles war trocken geblieben. Dan schob dann die vier Riemen unter die Duchten und befestigte sie mit acht Lederlaschen an der Bordwand, daß sie nicht mehr im Wege waren. Die vier richteten sich entspannt und in aller Ruhe ein. "Wie machen wir's mit dem Schlafen, Les?" fragte Peter Effing. "Ganz einfach. Zwei Mann sind immer auf Wache. Einer bleibt an der Pinne, der andere an der Fock. Die übrigen können sich die Persenning ausrollen und sich unter die Duchten legen. Es wird nicht sehr bequem und ziemlich hart sein, aber man kann sich wenigstens ausstrecken." Am Abend schlief der Wind ein. Es wehte die ganze Nacht kein Lüftchen.
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"Himmelnochmal, ich möchte wissen, was das zu bedeuten hat!" brüllte Les. "Auf der Insel hat es uns fast weggeweht, und kaum verlassen wir sie, da schläft der Wind ein." Die erste Nacht machten sie es noch so, wie Les es vorgeschlagen hatte. Er selbst blieb an der Pinne sitzen, und Peter hielt die schlappe Vorschot in der rechten Hand. Den ganzen nächsten Tag dümpelten sie in der Flaute herum. Das Boot bewegte sich träge, als schwämme es in Honig. Die Sonne brannte ihnen beinahe das Hirn aus dem Kopf, obwohl Sie alle die hohen Käppis der mexikanischen Armee trugen, die ihnen Ramón Arnaud mitgegeben hatte. Die Käppis hatten einen kleinen Schirm, der hielt aber die Sonne nicht vom Gesicht ab. Sie kramten das Olivenöl und die Zinksalbe aus dem Sack und rieben sich die Haut ein. Trotzdem hatte Dan Shorum am Abend Blasen um die Mundwinkel herum und unter den Augen. "Ich habe Kopfschmerzen!" jammerte er. Auch in der kommenden Nacht war es windstill. Sie holten die Segel ein und schliefen gemeinsam auf der Persenning. Als Les am nächsten Morgen das Besteck herausholte und die Sonne und den Horizont anvisierte, und Art in den Tabellen nachsah, erkannten sie, daß sie weit nach Süden abgetrieben, aber kaum vorwärts gekommen waren. Clipperton lag jetzt vierzig Seemeilen nordwestlich ihrer Position. "Wenn das so weitergeht, sind wir schneller in Chile als in Mexiko!" sagte Peter Effing. 407
Am Nachmittag kam leichter Wind auf. Der wehte aber aus Nordosten. Dann war wieder eine ganze Nacht nichts mehr. Inzwischen hatten sie alle Blasen im Gesicht und auf den Armen, da, wo die Sonne auf die Haut schien. Dan wollte nichts mehr essen. "Du mußt dich dazu zwingen, Dan!" Les Winston schob ihm einen Löffel Corned Beef hin. "Nur einen Löffel, Dan, daß der Magen etwas zu tun bekommt!" Aber Dan lehnte ab. Auch Peter Effing lag seit dem Vormittag apathisch auf der Persenning. Sie hatten mehr Wasser gebraucht, als Les berechnet hatte. Aber es war immer noch genügend da. Gegen Abend pfiff plötzlich ein steifer Wind aus Nordost, und sie mußten eine Nacht im Dunklen kreuzen. Jede halbe Stunde ließ Les Winston ein Wendemanöver durchführen. Morgens drehte der Wind wieder und wehte nun aus Südwesten. Gleichzeitig zogen rasch Wolken auf. Jetzt kamen sie mit raumem Wind wieder gut voran. Das Großsegel wölbte sich straff wie ein Wassersack über dem weit ausgefierten Baum, und die Fock blies sich auf wie ein Spinnacker. "Na also!" jubelte Les Winston. "Wir holen alles wieder auf, was wir verloren haben!"
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Als es dunkel geworden war, brach der Sturm über sie herein. Sie schöpften die ganze Nacht und mußten die Segel reffen, um sie nicht zu verlieren. "Wenn es uns die Segel zerreißt, ist alles aus!" wimmerte Peter Effing. Es stürmte auch den ganzen folgenden Tag, und sie sahen auch die nächsten drei Tage keinen Sonnenstrahl und konnten ihre Position nicht bestimmen. Da sie aber immer vor dem Wind her gesegelt waren, der konstant aus West oder Südwest blies, hatten sie keine Bedenken mehr. Sie mußten ihrem Ziel ein ganzes Stück näher gekommen sein. Die Sonne brach durch, und der Wind, der jetzt wieder aus Nordnordwest kam, wurde von Stunde zu Stunde schwächer. Gegen Mittag schlief er ganz ein. Les ließ die Segel nicht einholen. Die Dünung aber war noch ziemlich stark, so daß das Schiffchen stark krängte und das Großsegel fortwährend zwischen Steuerbord und Backbord hin und herpendelte und der Baum über ihre Köpfe strich, daß sie sie einziehen mußten. "Holen wir sie doch ein, die beschissenen Segel! Sie sind lästig und nützen uns jetzt überhaupt nichts", sagte Dan. "Nein! Wir nützen auch den Wind aus, den wir nicht spüren!" sagte Les; doch das überzeugte die anderen nicht sehr. Alle vier vom Olivenöl glänzenden und von der Zinksalbe verschmierten Gesichter waren jetzt übersät mit platzenden Blasen, aus denen Lymphflüssigkeit und 409
wäßriges Blut über die ölige Haut perlten. Dan Shorums Lippen waren aufgesprungen und bluteten. Auf Art Portsmiths Nase bildete sich schwarzer Schorf. Die Augen waren entzündet und sonderten in den Winkeln Eiter ab. Das Weiße um den Augapfel hatte bei allen die Farbe rohen Fleisches. Am achten Morgen war es Dan Shorum, der als erster die Augen nicht mehr öffnen konnte. Les und Peter wuschen sie mit einem Leinenlappen und Seewasser aus. Sie waren vom Eiter verklebt. Dan hing teilnahmslos herum und trank Unmengen Wasser. Sie machten eine Positionsbestimmung und stellten mit Schrecken fest, daß sie jetzt viel zu weit nördlich waren. Sie mußten in eine Strömung geraten sein, die sie nicht kannten. Es waren immer noch über vierhundert Meilen bis zur Küste Mexikos. "Ab jetzt gibt es nur noch einen Liter Wasser pro Tag!" sagte Les, "wieviel haben wir noch, Peter?" "Noch etwa achtzig Liter", sagte Peter Effing. Und nach einer Weile ganz leise: "Das ist weniger, als wir berechnet haben! Viel weniger!". Als sie das angebrochene Wasserfaß am nächsten Morgen aus dem Schatten des Vordecks holten, war es leer. Das Beil, auf dem es lag, hatte in der Dünung eine ganze Nacht lang Zeit gehabt, das dünne Blech durchzuscheuern. Es war nur ein kleines Loch, aber es saß an der tiefsten Stelle, und der Schraubverschluß war nicht luftdicht. 410
"Noch fünfzig Liter!" sagte Peter Effing und warf das Faß mit einem Fluch über Bord. In der Nacht darauf regnete es stark. Sie rollten die Persenning aus und sammelten das Wasser in eine der leeren Kannen. Fünf Liter Wasser brachten sie auf diese Weise zusammen. Dan Shorum wurde sehr krank. Er lag am Boden und schüttelte sich. Sein Gesicht schwoll auf, und seine Haut blutete unter den Augen; die waren zugeschwollen und verklebt, und er sagte nichts mehr, wenn ihn Les etwas fragte. Les aber sah immer noch aus wie eine nordische Gottheit. Wie Thor persönlich sah er aus mit den hellen Haaren und dem ausgebleichten Bart. Sein Gesicht war dunkelbraun und übersät mit Schrunden und blutigen Schwären. Auch er hatte jetzt verklebte Augen. Aber er verlor den Mut nicht und saß immer noch kraftstrotzend an der Pinne. Noch dreihundert Meilen bis Mexiko. "Wir haben den halben Weg geschafft, Kinder, wir haben den halben Weg hinter uns!" rief Les und steckte den Sextanten wieder in den sicheren Wachstuchsack. Es kam keine Freude auf. Das letzte halbleere Wasserfaß gluckerte im Bug herum-- und sie hatten noch den halben Weg vor sich! Als ob die Heiligen der Seefahrt plötzlich Erbarmen gezeigt hätten, bedeckte sich der Himmel so, daß der Tag hell war, aber die Sonne nicht mehr brannte. Der Wind 411
kam von achtern und schob sie mit viereinhalb Knoten durch das ruhige Wasser. Sie machten drei Tage lang ohne die geringste Störung volle Fahrt. Trotzdem zeigten jetzt auch Art und Peter Krankheitssymptome, die Les nicht übersehen konnte und die ihm sagten, daß sie nicht mehr viel Zeit hatten: Schüttelfröste, verklebte Augen und quälender Durst und schließlich eigentümliche Wahnvorstellungen, meist um die Mittagszeit. Arts Gesichtsausdruck hatte sich völlig verändert. Er blickte geistesabwesend und verstört um sich und verkrampfte seine zitternden Hände ineinander. Dann stellte er sich unvermittelt neben dem Mast auf und begann zu singen. Er sang ohne Höhen und Tiefen, etwa so wie tibetanische Mönche beten, und er verjagte Vögel, die es nicht gab. Peter Effings Visionen waren dagegen halbwegs realitätsbezogen. Er kniete im Boot und verneigte sich vor der durch die Wolken scheinenden Sonne. "Ich sehe Dein Licht! Herr, sieh unser Leid! Erbarme Dich unser!" Dan aber lag in völliger Apathie am Boden. Es war kein Koma, weil er von Zeit zu Zeit Les mit den Händen unverständliche Zeichen gab. Aber er konnte nicht weit vom Koma weg sein, weil er auf Fragen nicht mehr reagierte. Les saß mit vereiterten Augen an der Pinne. Er weigerte sich zu schlafen, und es schien wirklich so als ob er keinen Schlaf mehr benötigte. Jeder Meter, den sie zurücklegten, gab ihm mehr Kraft, als sein Körper physisch verlieren konnte.
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Noch hundert Meilen bis Mexiko. Das Wasser war zu Ende, aber es regnete eine ganze Nacht, und Les konnte die leere Kanne noch einmal mit zehn Liter Wasser auffüllen. Dan Shorum lag da wie tot. Art und Peter reagierten am Morgen nicht mehr auf Anrufe. Sie tranken nur noch Wasser, wenn Les ihnen den Becher an die Lippen setzte. Sie sprachen nicht mehr und er konnte ihnen auch nicht mehr helfen. Am 15. Juni 1914 gegen vier Uhr nachmittags, als die Sonne bei gutem Westwind wieder mit all ihrer Kraft vom Himmel schien, verlor auch Lester Winston vor Pie de la Cuesta, fünfunddreißig Meilen westlich von Acapulco, das Bewußtsein. Am 16. Juni 1914 reinigten die vier Männer der San Cristóbal das Deck von dem Blut und den Eingeweiden der Fische, die sie in der Nacht gefangen und schon im Morgengrauen in flachen Kisten unter Deck geschafft und mit Eis bedeckt hatten. Sie schwemmten all das schmierige, glitzernde Zeug mit frischem Seewasser über das Deck und schwappten es hinunter in die schäumenden Wellen, während die San Cristóbal mit geblähten Segeln Acapulco zustrebte. Die Sonne ging auf über den im Schatten der schwindenden Nacht noch schlafenden Bergen. Ein feiner Dunst lag über dem Meer, der Morgenwind duftete nach Muscheln und Algen. Romero Fonseca trank eine Tasse heißen Tees im Ruderhäuschen des kleinen Fischkutters und rechnete sich zufrieden aus, daß sie in spätestens zwei Stunden in Acapulco sein würden.
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Der Fang der Nacht war nicht schlecht. Viel Makrelen und Rotbarsche diesmal, wenig Blaufische und Pfeilhechte. Aber bis zum Mittag würde er fünfunddreißig Pesos eingestrichen haben auf dem Fischmarkt, soviel war klar. Felipe sah das kleine Boot zuerst. "He, Romero, sieh mal, der da draußen, der rührt sich nicht!" "Die werden noch pennen!" "Quatsch, sieh dir den Kahn doch mal an! Das ist ein Beiboot mit 'ner Art Notbesegelung!" "Na und?" "He, gib mir mal das Glas rüber!" Felipe stand in der offenen Tür des Ruderhäuschens und ließ sich von Romero, der das Boot keines Blickes würdigte, das Glas herüberreichen. Er nahm es vor die Augen und stellte es scharf. "Mensch, Romero, da hängt einer über der Pinne!" "Hab ich dir nicht gesagt, daß die noch schlafen?" "Nein, Romero, sieh doch selbst, da stimmt was nicht! Der hängt ganz schief da, und die Segelstellung ist bei diesem Wind ganz unsinnig. Schau dir bloß an wie die Fock killt! Da drüben rührt sich doch keiner mehr!" 414
Felipe griff nach dem großen Trichter, als sie näher gekommen waren: "Hóla, hóla! Wer seid ihr?" Es rührte sich nichts. Da erkannten die vier Fischer, die jetzt alle zu dem Beiboot hinüberstarrten, daß etwas Schreckliches geschehen sein mußte. Sie gingen längsseits und packten die vier bewußtlosen Männer in ihr Schiff und nahmen das Boot in Schlepp. Sie brauchten sechs Stunden bis sie endlich kurz nach dem Zwölfuhrläuten um die Piedra del elefante herum wendeten und in den Hafen von Acapulco einliefen. Es gab einen ziemlichen Auflauf, als die Polizei und ein Krankenwagen gleichzeitig am Pier vorfuhren. Die Männer mit den weißen Kitteln eilten an Bord. Da ließen sie alle ringsum ihr vorher so wichtiges Geschäft liegen, denn in dem langweiligen Fischerstädtchen Acapulco gab es aufregende Neuigkeiten nur höchst selten. Die Männer wurden in das Hospital von San Clemente gebracht. Lester Winston war der erste, der wieder zu sich kam. Das war am Morgen des 17. Juni 1914 gegen acht Uhr. Schwester Athanasia war gerade dabei, die Wunden seiner Hände mit Borwasser zu reinigen, als sie ihn leise stöhnen hörte: "Clipperton.. devil's island... get them out. For heaven's sake get them out..." Schwester Athanasia fertigte sofort eine phonetische Niederschrift des Gehörten an, klingelte nach dem Stationsarzt und eilte, als der mit einem Assistenten ins Zimmer stürzte, hinauf zur Schwester Oberin. 415
Seit man die vier Männer eingeliefert hatte, versuchte man anhand der im Boot gefundenen Gegenstände zu klären, woher sie gekommen waren, und was dazu geführt hatte, daß sie das Festland nicht mehr erreichen konnten. Man hatte Seekarten gefunden, die ein riesiges Gebiet abdeckten, das von Baja California bis Guatemala reichte und sogar die weit draußen liegende Insel Clipperton und die Germainbank umfaßte. Man konnte aus der Art und Menge der nicht verbrauchten Vorräte und aus den beiden merkwürdigen Wasserkanistern ohne weiteres darauf schließen, daß die Männer mit diesem zusammengestückelten Boot keinen Ausflug unternommen hatten und, etwa auf einer Sonntagstour, auf das offene Meer abgetrieben waren. Man hatte noch am Tag der Rettung herausgefunden, daß es sich um Besatzungsmitglieder des amerikanischen Seglers Nokomis handelte, weil das Beiboot mit "Nokomis San Diego" beschriftet war. Bereits am 16. Juni wurde ein Telegramm nach San Diego aufgegeben. Die Antwort kam schon am nächsten Tag. Die Nokomis, so erfuhr man, sei weit draußen auf dem Albatross-Plateau, wahrscheinlich nördlich der Germainbank, auf Thunfischfang unterwegs gewesen und werde schon seit vier Wochen zurückerwartet. Mit dieser Nachricht wurde auch die Passagierliste übermittelt. Es sei ganz und gar unwahrscheinlich, daß sich das Schiff in den Küstengewässern von Mexiko aufgehalten habe. Aber wo hatten die Vier dann die mexikanischen Soldatenkäppis her, und warum hatten sie Konserven 416
dabei, die sofort als Truppenverpflegung der föderalen Armee identifiziert werden konnten? Es war wohl so, daß die Nokomis irgendwo Schiffbruch erlitten hatte. Aber wo konnte das geschehen sein? Hatte sie sich vor dem Unglück in Baja California oder auf Socorro aufgehalten? Wenn ja, was hatten sie dort zu suchen? Was war mit dem Rest der Besatzung, mit der Frau des Kapitäns, den Kindern und dem Schiffsjungen geschehen, die nicht zu der Besatzung des Bootes gehört hatten? Waren sie kurz vor ihrer Entdeckung durch die San Cristóbal irgendwo am Festland gewesen, hatten sie die Vermißten irgendwo abgesetzt? Nein, das war unwahrscheinlich in ihrem Zustand, der nach Ansicht der Ärzte schon mindestens fünf Tage ziemlich kritisch war. Es paßte alles nicht zusammen, weil man Clipperton in die Überlegungen nicht mit einschloß. Clipperton war für das kleine Boot viel zu weit entfernt. Aber jetzt, als Les Winston so leise, daß man es nur mit Mühe verstehen konnte, immer wieder "Clipperton" vor sich hin flüsterte und dann mit noch immer geschlossenen Augen stockend zu erzählen begann, kam langsam Licht in die undurchsichtige Affäre. Es wußte kein Mensch, daß so weit weg vom Festland Soldaten stationiert waren. Von einer Garnison da draußen hatte man im Krankenhaus noch nie etwas gehört. Man erfuhr, daß die Menschen auf Clipperton ungeduldig auf das Eintreffen der Pandora warteten, daß die Vorräte zur Neige gingen, weil Capitan Arnaud über viele Wochen die Leute von der Nokomis 417
miternährt hatte. Man erfuhr von der tragischen Geisteskrankheit des Gustav Schulz und von den Ängsten, die sein unruhiger Geist auslöste und man erfuhr vom Tod des Soldaten Najera. Noch bevor Arthur Portsmith, Daniel Shorum und Peter Effing wieder sprechen konnten, jagten sich die Telegramme. Der für die Pacific Phosphate Company zuständige britische Vizekonsul wurde eingeschaltet. Der setzte sich mit Joaquin Girdova Martínez, dem mexikanischen Beauftragten der Pacific Phosphate Company in Verbindung. Von diesem erfuhr er, daß die Pandora verlorengegangen sei und daß man dabei sei, ein Ersatzschiff zu requirieren. Das könne jedoch noch ein bis zwei Monate dauern. Man sei nicht in Eile, weil auf der Insel genügend Vorräte lagerten. Der Konsul wußte, was in Mexiko die unbestimmte Angabe "zwei oder drei Monate" bedeutete. Er wußte auch zu gut, was es heißt, wenn ein Mexikaner sagt, eine Sache habe keine Eile. Der Vizekonsul informierte Washington und kabelte, daß noch fünf amerikanische Staatsbürger auf der Insel seien und daß zweihundert für Clipperton bestimmte Pakete bereits vor Wochen aus México über Chilpancingo und Iguala unversehrt und vollständig durch die Gebiete von Zapatas Rebellen zum Hafen von Acapulco transportiert worden seien, die so rasch wie möglich zur Insel gebracht werden müßten, um die Versorgung der Leute sicherzustellen. Er informierte auch Martínez über die Krankheit des Gustav Schulz und schlug vor, Schulz, seine Frau und seine Tochter von der Insel zu holen. 418
Bereits am Freitag, dem 19. Juni, wurde dem britischen Vizekonsul aus Washington mitgeteilt, daß das pazifische Flottenkommando der US-Navy dem Kommandanten der vor Guatemala operierenden USS Cleveland durch Funkspruch den Befehl übermittelt habe, unverzüglich Acapulco anzulaufen. Das Schiff werde dort am 22. Juni eintreffen. Den drei Schiffbrüchigen ging es nicht so schlecht, wie es am Tag der Rettung den Anschein hatte. Die Ärzte hatten keine Angst um ihr Leben. Sorgen bereitete jedoch deren seelisches Befinden. Längst in Sicherheit, lagen sie mit angstgeweiteten Augen in ihren Kissen. Peter Effing versuchte unablässig, aus dem Bett zu springen, so daß man ihn an Händen und Füßen fesseln mußte. Sie starrten unruhig und schlaflos an die Decke und verlangten, daß die Fenster geschlossen würden, weil sie sich einbildeten, der Sommerwind, der durch die Platanen strich, sei das entfernte Rauschen der Brandung. Schließlich gab man ihnen Veronal und versenkte sie in einen achtundvierzig Stunden dauernden tiefen Schlaf. Am frühen Morgen des 22. Juni ankerte die USS Cleveland im Hafen von Acapulco. Commander Williams holte alle notwendigen Instruktionen ein und ließ die am Kai lagernden Pakete und Ölfässer an Bord bringen. In der Abenddämmerung desselben Tages dampfte das große graue Kriegsschiff an der Isla la Roqueta vorbei, wieder hinaus aufs offene Meer und nahm Kurs auf Clipperton.
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27 Gustav Schulz erwachte mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge. Seine Lippen waren trocken wie Pergament und schmerzten um die eingerissenen Mundwinkel. Das schweißnasse Hemd klebte auf seiner Haut und er litt an Atemnot. Er sah hinauf zu der niedrigen Decke des schäbigen Gefängnisses, in das ihn Capitan Arnaud gesperrt hatte. Müde und mit erstarrtem Gesicht betrachtete er die schmalen, rauhen Holztafeln zwischen den Balken. Die Decke lastete auf ihm. Sie erdrückte ihn und nahm ihm die Luft. Wenn er stehen wollte, mußte er in der Tat seinen Körper vornüberbeugen, um nicht mit dem Kopf anzustoßen. Es gab nur zwei Fenster in dem winzigen quadratischen Raum, die vergitterten Schießscharten glichen. Die Stäbe waren so eng gestellt, daß er kaum seine Hand hindurchstecken konnte. Das eine Fenster eröffnete dem Blick einen schmalen grünen Sektor des Palmenhains, durch das andere sah Schulz, wenn er in der Mitte des Raumes stand und in die Knie ging, ein winziges, blaues Quadrat, ausgestanzt aus der Oberfläche des Meeres. Er wälzte sich herum und griff nach dem Becher, der vor seinem Bett stand. Mit dem Ärmel wischte er über sein Gesicht und trank einen Schluck Wasser. Er sah nicht hinüber zu ihr, denn er wußte, daß sie noch genauso in ihrem Schaukelstuhl saß, wie am Abend zuvor, als die Sonne unterging, und er sich hinlegte. Er schob die Beine vor, setzte sich auf und stützte die Ellenbogen auf die Knie. Er verdeckte mit beiden Händen sein Gesicht und musterte sie für einen kurzen Augenblick durch die 420
Finger. Seine Stimme klang verwaschen und gedämpft, als er, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, zu ihr sagte: "Du hast wieder nicht geschlafen, Mutter! Nicht wahr? Du hast schon wieder nicht geschlafen! Man sieht es an deinen Augen. Du hättest schlafen sollen! Warum sitzt du hier die ganze Nacht herum? Warum legst du dich nicht hin? Warum willst du nicht schlafen? Wir hätten beide Platz auf der Pritsche, schmal wie du bist. Es wird wieder ein heißer Tag werden, Mutter. Die Hitze wird uns noch umbringen." Schulz hob den Kopf ein wenig, nahm jetzt die Hände vom Gesicht und blickte sie scharf an. Sie saß in der dunklen Ecke zwischen den Fenstern. Schulz räusperte sich. "Mein Gott und wie du wieder eingepackt bist.....! Nimm doch wenigstens das Tuch von den Schultern!" Seine Mutter saß klein und zerbrechlich im Schaukelstuhl und bewegte sich unablässig vor und zurück. Sie trug ihr graues Wollkleid, darüber die schwarze Strickjacke und um die Schultern das blaue Tuch. Sie sah ihn über die Brille freundlich an und sagte mit jener weichen Stimme, die auch die bösesten Kinderträume verscheuchte und im namenlosen Schrecken lähmender Nachtmahre und explodierender Alpträume Trost spendete: "Es ist schon gut so, Gustav. Ich brauche die Wärme. Kümmere dich nicht um mich!" "Wie hältst du das nur aus in deinem Wollzeug! Ich würde das nicht aushalten - bei dieser Hitze", sagte Schulz. 421
Er öffnete die Knöpfe seines nassen Hemds, zog es ungeduldig über den Kopf und warf es auf den Boden. Er streckte den Oberkörper und betrachtete die auf seiner Brust blühende Rose. Ein japanischer Seemann hatte sie ihm, als er zweiundzwanzig war, in Pastellfarben, rot, blau und grün, auf die Brust tätowiert. Gustav Schulz ließ die Arme hängen und drückte das Kinn an die Brust, um die Rose besser sehen zu können. Sie war nicht groß und blühte fröhlich über dem vierten Rippenbogen. Wenn er atmete, sah es aus, als wiege sie sich im Wind. Gustav Schulz sog die Luft ein, die heiß in der Hütte stand, und spürte den Duft der Rose. In der Tat, es duftete plötzlich um ihn wie vor vierzig Jahren in dem kleinen Garten, der schattig war und voller Erdbeeren. Er beobachtete die Rose aufmerksam. Sie war größer geworden. Sie reckte sich und begann, sich seiner Haut zu entwinden. Sie verließ anschwellend die Ebene, in der sie dreißig Jahre gefangen war. So wie sie bis heute geschlummert hatte, platt und leblos, schlummerten die Gänseblümchen, Aurikeln und Brunellen noch heute, die er in einem gefalteten Löschblatt zwischen die Seiten von Dehios Kunstgeschichte gebettet und auf diese traurige Weise unsterblich gemacht hatte. Die Rose sträubte sich nach so vielen geduldigen Jahren plötzlich gegen das Gefängnis seiner Haut. Sie sprengte ihre Ketten und platzte mit einem Male aus seiner Brust heraus; sie entfaltete die Blätter und öffnete den Blütenkelch. Er hatte dieses Ereignis seit Jahren erwartet, aber jetzt, in dieser elenden Minute entwürdigender Gefangenschaft, war nichts Besonderes mehr daran. Er ließ sich zurückfallen auf die Pritsche und bewunderte sie, die jetzt aufrecht aus seiner Brust ragte und dastand wie in einer Vase auf einem 422
Grabhügel. Er streichelte ihre Blätter ehrfürchtig und betastete die Dornen. Dann warf er plötzlich den Kopf herum und sagte: "Sieh, Mutter, ich schenke sie dir!" Noch während er sprach, faßte er die Rose mit zwei Fingern und pflückte sie mit einer einzigen, schnellen, behutsamen Drehbewegung, aus den Fingerspitzen heraus. Er stand auf und trug sie in gebückter Haltung und mit winzigen Schritten, so als ob er ein übervolles Glas tragen müßte, hinüber zum Schaukelstuhl. Die Mutter sah ihn ernst an und nahm die Rose in beide Hände. So wie die Virgo Immaculata die Lilie zwischen den gefalteten Händen hielt, am Seitenaltar der Sankt Josephskirche, so hielt jetzt seine Mutter die Rose vor ihrem faltigen Gesicht. Die Immaculata war unglaublich zart und schmal. Sie war von engelhafter Schönheit, sah mit dem Blick der Morgensonne von ihrem goldenen Podest herab und trug die Lilie so, wie ein Kaiser sein Zepter trägt. Wann immer er zum Beginn der Frühmesse, umbauscht vom stärkeknisternden, spitzenbesetzten Chorröckchen und geschmückt mit dem leuchtend roten Kragen, auf den Stufen des Altars kniete und zwischen den schimmernden Kerzen ihren Blick suchte, empfand er höchstes Glück. Er blieb im Confiteor stecken, vergaß den Text, den er schon tausendmal aufgesagt hatte und murmelte leise unverständliches Zeug, läppische Wortkonstruktionen ohne jeden Sinn, um seinen plötzlichen Gedächtnisschwund vor dem Monsignore zu verstecken. Er hatte es nie gewagt zu beichten, daß er den ersten 423
Schmerz heißester und ehrlichster Liebe ausgerechnet beim Anblick der Immaculata verspürt hatte. Er erschrak als es ihn zum ersten Mal überkam, während er beim Stufengebet verstohlen zu ihr hinüberblinzelte und bemerkte, daß sie seine Blicke erwiderte. Im Leiden unerfüllter Zuneigung sprach er laut und hoffnungslos vor sich hin: "Quare me repulisti et quare tristis incedo dum affligit me inimicus." "Du blutest", sagte seine Mutter. Sie griff unter ihre Schürze und holte das Taschentuch heraus, als ob es sich um Nasenbluten handelte. Es roch nach ihrer Spucke. Das Taschentuch roch nach ihrer Spucke wie es immer gerochen hatte. "Du wirst dich nie ändern!" sagte Schulz. Seine Mutter war in ihrem Sauberkeitswahn emsig wie ein hungriger Vogel. Der kleinste Dreck in seinem Gesicht: Ruß, Lehm, Tinte. Der kleinste Spritzer - sie konnte es nicht ertragen. Sie griff nach dem Tuch, spuckte darauf und wickelte es um ihren dürren, sperrigen Zeigefinger. Dann pickte und rieb und rubbelte sie in seinem Gesicht herum. Es roch so, wie wenn er auf den heißen Herd spuckte und die Spucke sich aufblähte und zischend zu einem winzigen, braunen Krümel verging. Sie hielt das Taschentuch in der Hand und sah ihn scharf an mit ihrem Amselgesicht. "Du blutest!" sagte sie noch einmal. 424
"Wo?" fragte er. "Siehst du es nicht? Die Quelle! Da!" sagte die Mutter, zeigte auf seine Brust und wisperte: "Aber es ist nicht dein Blut. Es gehört der Windsonne des Ostens. Es ist das Blut Tonatiuhs." Dort wo Gustav Schulz die Rose gepflückt hatte, klaffte ein tiefes rundes Loch in der Brust, auf dessen Grund er sein Herz schlagen sah. Es lag in seinem rosafarbenen, feuchten, warmen Bett und krampfte in raschen Schlägen. Seine Mutter machte Anstalten, das Loch mit dem Taschentuch zu verstopfen, aber er ließ es nicht zu und wehrte sie heftig mit den Armen ab, denn es war ja kein Loch, sondern das Tor zur Ewigkeit und das verstopft man nicht mit einem Taschentuch. Er blickte tief in das Loch hinein. Sein Herz bewegte sich wie eine rote Kröte und gab bei jedem Schlag ein grollendes Poltern von sich. Und mit jedem Poltern quoll ein Schwall Blut aus dem Loch, rann über die Brust und plätscherte hinunter auf den Boden. "Du mußt es wissen: Es ist das letzte Opfer des Hohepriesters!" sagte die Mutter geheimnisvoll und hob warnend den Zeigefinger. Schulz kümmerte sich nicht darum. Er sah entrückt zu, wie das Blut den Boden überflutete und an den Wände hinaufkroch. Ja, es kroch, es hatte ein Ziel - wie alles Lebendige. Schulz fühlte sich erlöst und frei. "Ich bin Quetzalcoatls Tempel", flüsterte er ergriffen. Dann preßte er sein Gesicht an das vergitterte Geviert des Fensters und sah entgeistert zu, wie sein Blut das blaue Wasser des Meeres verdrängte und, soweit er sehen 425
konnte, den Ozean mit Purpur überzog. Ein purpurnes Meer voller wunderlicher, schrecklicher Schönheit leuchtete unter Quetzalcoatls Sonne. Und mitten in dem purpurnen Meer lag ein riesengroßes, graues Schiff. "Sie holen uns ab, Mutter." sagte er. "Es ist so weit! Sie sind wiedergekommen, uns abzuholen." Seine Mutter nickte und stand auf. Der leere Schaukelstuhl wippte hinter ihr. Er zog rasch sein Hemd wieder an, setzte seinen Tropenhelm auf und schnallte den Gürtel ein Loch enger. Sie steckte das Taschentuch mit einem Achselzucken ein, zog das blaue Tuch fester um ihre Schultern, als ob es sie fröre und nahm Gustav bei der Hand, wie sie es immer tat, wenn sie bei Frau Timkens Milch holen gingen. Sie öffnete die Türe und trat mit ihm hinaus in den Morgen, der sich in den ersten Sonnenstrahlen räkelte. Eine frische Brise wehte vom Meer her die Elbe herauf und brachte den Duft frisch geschnittenen Grases mit sich. Silbriger Nebel floß über die Wiesen. Er horchte auf das entfernte Tuten der Schlepper und auf das Trillern der Lerchen hoch oben am Himmel. Hinter grauen Buchen ratterte der Elfuhrzug. "Wir müssen uns beeilen", sagte sie, "Vater mag es nicht, wenn man ihn warten läßt." Die Kette rasselte aus dem Bug der Cleveland und der Anker versank im Korallengebirge des Riffs. Dreimal dröhnte das Nebelhorn. Captain George Williams stand, 426
mit einer eben aufgebrühten Tasse Kaffee in der Hand auf der Brücke und wandte sich wach und frisch rasiert an seinen Ersten Offizier: "Ein schöner Morgen, Brookes! Sehen wir zu, daß wir den Proviant dieser Leute an Land bekommen, solange die Dünung schläft" "Aye, aye Sir", erwiderte Brookes. Ein Haufen Bluejackets wieselte über das Deck. Sechs Ölfässer und zweihundert Pakete. Von der Brücke aus konnte man glauben, Ameisen schleppten ihre Brut zum Achterdeck. Das Davit wurde klargemacht und die Pakete wurden auf eine Palette gepackt. An Land wurden die Tore des Hangars aufgestoßen. Wenig später tackerte die Schute durch das ruhige Wasser des Riffkanals und hielt auf die Cleveland zu. Es war Agustin Rodriguez, der die Schute steuerte, Pedro Cardona saß, von der Persenning halb verdeckt auf einer Kiste hinter dem Motorgehäuse. Die Brandung rollte an diesem Morgen sanft und wohlwollend. Das Meer verhielt sich so ruhig, daß man es sogar ohne den Schutz der Persenning hätte wagen können, über das Riff zu fahren. Gegen neun Uhr lag die Schute längsseits und Pedro kletterte mit Rodriguez und Vincente Bantista das Fallreep hinauf. Captain Williams begrüßte sie an Bord. Er sprach fließend spanisch. Das Kommando in diesem Teil der Welt hatte er weder seiner Tapferkeit noch seiner Tropentauglichkeit, sondern einzig und allein seinen für einen Yankee ungewöhnlich guten spanischen Sprachkenntnissen zu verdanken. Pedro schüttelte Captain Williams die Hand. 427
"Es kommt nicht oft vor, daß sich ein Schiff in diese verlassenste Gegend der Weltmeere verirrt, Capitan. Was hat Sie hierhergetrieben? Ich hoffe, Sie wollen auf unserem sandigen Territorium kein Wasser fassen!" "Oh nein, Teniente Cardona, Wasser haben wir genug. Wir könnten Ihnen gern ein paar tausend Liter mexikanischen Quellwassers abgeben - vor drei Tagen frisch gebunkert - wenn Sie Wasser brauchten! Nein, wir wollen etwas ganz anderes. Wir kommen sozusagen als Weihnachtsmann. Wir haben Ihre Verpflegung für das nächste Vierteljahr an Bord." "Sie? Sie haben Verpflegung für uns? Ein amerikanischer Kreuzer? Was ist los mit der Pandora?" "Die Pandora gibt es nicht mehr, sie ist vor der Punta Maldonado gesunken." "Jesus! Wie ist das passiert? Ist sie in einen Sturm geraten?" "Nein, es war zwar Nacht, als es geschah, aber schönstes Wetter. Es war das Riff. Wahrscheinlich ein Navigationsfehler. Sanchez hat es nicht überlebt." "Oh Gott, ich ahnte, daß es mit Sanchez irgendwann einmal böse endet.... Und Sie bringen uns jetzt Nachschub? Hat Sie Martínez geschickt?" Williams nickte. "Da wird sich Capitan Arnaud freuen. Wir fürchteten schon, Sie wollten Clipperton erobern, als wir sie mit 428
Ihren Kanonen aufkreuzen sahen! Aber sagen Sie, Captain, ein Schiff der US-Navy wird als Nachschubdampfer der mexikanischen Armee mißbraucht? Wie ist das zu erklären?" Williams lachte: "Wegen Ihrer Vorräte allein hätte man mich wohl kaum hierher beordert. Der eigentliche Grund meines Auftrags ist ein anderer: Wir wollen unsere Leute holen. Ich hoffe, Sie haben sie gut behandelt. Sagen Sie, Teniente, wie geht es Mister Barner und seiner Familie?" Pedro verschlug es die Sprache. Es dauerte drei lange Atemzüge, bis er fragte: "Woher wissen Sie?" "Na, woher wohl? Die vier Abenteurer, die da mit dieser Nußschale übers Meer kamen, haben es uns in Acapulco berichtet." Pedro sah ihn zweifelnd an. "Les und seine Leute? Die leben?" "Ja, Señor Cardona, sie leben. Alle vier! Ein kleiner, erholsamer Aufenthalt im Krankenhaus....nun sind Sie alle wieder auf dem Damm. Lester Winston ist wahrhaftig ein tüchtiger Mann, solche Leute wie ihn könnten wir brauchen bei der Navy!"
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"Herrgott, sie leben", murmelte Pedro und sah dem Kapitän noch immer ungläubig in die Augen. "Verdammt, wer hätte das gedacht! Sie haben's geschafft, es ist nicht zu glauben, sie haben es wirklich geschafft!" "Dann hat Les doch recht behalten!" bestätigte jetzt auch Agustin Rodriguez, und Vincente Bantista nickte wortlos und ergriffen. Die Verladung der Fässer und Pakete dauerte weniger als eine Stunde. Pascual Vargas schoß, lange bevor die vollbeladene Schute anlegte, aufgeregt zwischen Küche und Vorratslager hin und her und machte lange Listen. Als alles vom Landungssteg mit den Karren heraufgebracht war, stapelte er die Vorräte in den Regalen, sortierte Büchsen und hängte Bündel von Dörrfleisch mit langen, eisenbewehrten Stangen unter die Decke. Posten um Posten hakte er ab. Dann nahm er eine der Listen und ging noch einmal hinunter zum Hangar. Die Schute war bereits wieder aus dem Wasser gefiert. "He, Rodriguez, habt ihr irgendwelche Pakete vergessen?" "Nein, es ist alles verladen worden!" "Ist bestimmt nichts mehr an Bord der Cleveland?" fragte Vargas noch einmal, um sich zu vergewissern. "Verdammt nochmal, nein! Frag den Teniente, wir haben alles mitgebracht!"
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"Dann haben sie diesmal Seife und Zigarren vergessen. Und keine Milch und kein Gemüse diesmal, nicht mal Zitronen! Die Hornochsen, die dämlichen!" sagte Pasqual Vargas ärgerlich, wandte sich um und warf die Hangartüre hinter sich ins Schloß. Pedro hatte Meldung bei Ramón Arnaud gemacht. Der war ebenso erstaunt über das, was er hörte, wie die drei auf der Cleveland. "Dann ist es also doch möglich! Man kann von hier aus mit einem kleinen Segelboot Mexiko erreichen. Es geht also doch, es geht also doch..", sagte Arnaud ein ums andere Mal und schüttelte den Kopf. "Das hätte ich nie geglaubt. In so einem winzigen Boot..!" Pedro unterbrach ihn: "Captain Williams möchte Sie unbedingt sprechen, Capitan!" "Natürlich, Teniente, Rodriguez soll mich in einer Stunde zu ihm hinausbringen! Wann will er wieder in See stechen?" "Morgen früh bei Tagesanbruch" "Kommen Sie, Cardona, wir gehen rüber zu den Barners. Die haben keine Ahnung, daß das Auftauchen der Cleveland etwas mit Les und seinen Leuten zu tun hat. Barner war vorhin bei mir. Er war ganz verzweifelt. Ich weiß nicht ob ich ihn richtig verstanden habe, aber es klang so, als wollte er sagen :`Wenn sie nur noch ein kleines Weilchen gewartet hätten! Nur noch ein ganz kleines Weilchen! Dieses Schiff da draußen hätte sie sicher nach Hause gebracht... bis vor die Haustür nach San
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Diego!' Er wird es nicht glauben, daß sie heil angekommen sind!" Sie verließen das Haus und gingen hinüber zu den Barners. "Verdammt, wenn ich nur besser Englisch könnte!" sagte Arnaud, als er über die Schwelle von Barners Hütte trat. In den Gesprächen mit Barner war er noch immer vollkommen hilflos. Es wurde ein äußerst mühsames Gespräch, ein Zweikampf der englischen mit der spanischen Sprache: "Lester, Peter, Arthur and Daniel.. todos..all.. vivo..." "They live?" "Si, yes, todos.. all together vivo..living." "They are all o.k.?" "Si, mucho okeeh.. no problems.. only a wile in hospital.." "May we leave...aah...partir?" "Si, partir.. todos." Das Ganze hörte sich sehr merkwürdig an. Aber schließlich stellte Ramón Arnaud erleichtert fest, daß ihn Barner halbwegs verstanden hatte. Barner sprach dann sehr rasch mit seiner Frau. Arnaud verstand kein Wort. An ihrer Miene konnte er aber erkennen, daß sie die Botschaft überglücklich aufnahm. Sie begann, ohne weiter zuzuhören, die wenigen Sachen, 432
die in der Hütte verstreut herumlagen, in großer Hast in eine Tasche zu packen. Arnaud wollte ihr klarmachen, daß es mit dem Aufbruch keine Eile habe, aber dann beschloß er zu schweigen, denn es war ihm zu lästig, ihr den komplizierten Sachverhalt zu erkären, daß sie erst am nächsten Morgen die Insel verlassen sollten. Am frühen Nachmittag bestieg Ramón Arnaud die Schute und fuhr mit Agustin Rodriguez zur Cleveland hinaus. Das Schiff erschien in der grellen Sonne als ein massiger, grauer Klotz, der unbeweglich vor dem Schelf lag. Die Kanonen der Backbordseite waren drohend auf die Insel gerichtet. Erst als Ramón Arnaud näher kam, sah er, daß die Geschützrohre allesamt mit Segeltuch verkleidet waren. Captain Williams begrüßte Ramón Arnaud herzlich und führte ihn sofort in seine Kajüte. Dort blieben die beiden Männer volle drei Stunden und Ramón Arnaud führte ein folgenschweres Gespräch, während Agustin sich die Zeit mit ein paar kühlen Bieren in der Mannschaftsmesse vertrieb. Williams bestellte Kaffee bei der Ordonnanz und begann dann mit ruhiger Stimme: "Capitan, ich habe nicht nur den Auftrag, meine Landsleute in Sicherheit zu bringen. Ich habe auch den Auftrag von Señor Martínez, Sie darum zu ersuchen, Señor Schulz mit seiner Familie an Bord nehmen zu dürfen. Wir haben erfahren, daß er sehr krank ist und dringend ärztlicher Hilfe bedarf."
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"Aber natürlich nehmen Sie ihn mit, Captain, natürlich! Ich bin froh, daß sich endlich jemand um ihn kümmern kann. Auch mit seiner Frau steht es nicht zum besten. Sie brauchen beide Hilfe." "Gut, lassen Sie sie an Bord bringen, bevor es dunkel wird! Wir wollen morgen in aller Frühe auslaufen." George Williams schenkte Ramón Arnaud Kaffee ein und fuhr mit sehr ernster Miene fort: "Comandante, ich möchte noch weiter gehen mit meinen Vorschlägen. Bitte fassen Sie das nicht falsch auf. Ich halte es für erforderlich, daß auch Sie und all Ihre Leute mit mir kommen. Dasselbe gilt für den Leuchtturmwärter Ramirez." "Er heißt Alvarez", unterbrach ihn Arnaud. "Also, Alvarez, auch gut. Mir wäre es am liebsten, wenn hier überhaupt keiner zurückbliebe." Arnaud reagierte ärgerlich: "Capitan, ich habe einen Befehl. Wie kommen Sie dazu, mich zum Verlassen meines Postens aufzufordern! Sie sind Soldat wie ich, Sie sollten wissen, was das bedeutet, was sie mir da vorgeschlagen haben. Hat man Ihnen in Washington aufgetragen, dafür zu sorgen, daß Clipperton..." Williams zog die Brauen hoch und fiel ihm ins Wort: "Ich bitte Sie Capitan! Das ist ja...." Arnaud machte eine unwillige Handbewegung und schnitt seinerseits Williams das Wort ab: "Da gibt es keine Diskussionen. Ich 434
diskutiere nicht mit einem amerikanischen Offizier über meinen militärischen Auftrag! Wechseln wir das Thema!" "Nun gut, wenn sie durchaus wollen. Es gibt noch ein anderes Thema. Aber ein Thema ist so gut wie das andere. Keins ist erfreulich. Ich werde Ihnen berichten, was in Ihrem Land geschehen ist, was in Mexiko los ist. Vielleicht stimmt Sie das um. Sie sind offensichtlich nicht darüber unterrichtet - na ja, Sie können ja auch gar nicht unterrichtet sein -, wie es in Mexiko aussieht." "Wie darf ich das verstehen?" "Nun,`aussehen' ist vielleicht das falsche Wort. Es ist eine zu unterkühlte Aussage, gemessen an den Leiden, die Ihr Land derzeit erdulden muß. Es gibt kein Wort, das das angemessen beschreibt. Vielleicht hätte ich sagen sollen:`wie ihr Land in Trostlosigkeit und Elend versinkt'. Ja, Ihr schönes Land versinkt im Blut, stirbt im Chaos. Ich möchte Sie nicht kränken, aber ich muß Ihnen sagen, daß Ihr Präsident jedes Gefühl für politische Realitäten und, was noch viel bedauerlicher ist, auch jedes Ehrgefühl verloren hat." "Captain Williams, ich muß Sie bitten..!" "Sagen Sie jetzt nichts, Capitan, lassen Sie mich ausreden und hören Sie mir zu.. Ich werde dann, wenn ich ihnen alles Nötige gesagt habe, notfalls zwei Stunden schweigen und ebenso geduldig Ihnen zuhören, wenn Sie das wollen. Ich verspreche Ihnen, daß ich dabei nicht empfindlich sein werde. Also weiter: Präsident Huerta hat vor einiger Zeit 435
angeordnet, die Besatzung eines amerikanischen Kriegsschiffs gefangenzunehmen, die in Tampico versehentlich ohne Genehmigung Ihrer Regierung an Land gegangen war. Dies wurde von meinem Land zu Recht als aggressiver Akt gesehen. Weiterhin hat Huerta, entgegen unseren ausdrücklichen Anweisungen, mit den Deutschen Geschäfte gemacht und die Ypiranga mit Waffen für zwei Millionen Dollar in den Hafen von Veracruz beordert. Er hat sich trotz unserer Aufforderung geweigert, die deutschen Waffenlieferungen zurückzuweisen und er hat es - um das Maß voll zu machen - abgelehnt, sich in gehöriger Weise bei uns zu entschuldigen. Wir sahen uns daraufhin gezwungen, den Hafen von Veracruz zu sichern." "Was heißt das, den Hafen von Veracruz sichern?" "Wir haben ihn besetzt." "Das haben Sie getan? Die Vereinigten Staaten haben Mexiko angegriffen? Das haben Sie gewagt? Es ist also jetzt das zweite Mal, daß Ihr Land mein Land angegriffen hat!" "Nein, Sir, Ihr Präsident hat sich uns widersetzt, als wir auf die Einhaltung zwischenstaatlicher Verträge und die auch für Mexiko geltenden Bestimmungen des internationalen Handelsrechts drangen. Wir hatten keine andere Wahl, ihn von seinem Unrecht zu überzeugen. Wir mußten Schlimmeres verhüten. Wir mußten zum Beispiel verhindern, daß die Ypiranga in Veracruz gelöscht wird.
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Und wir taten das ausschließlich, um Ihrem Land zu helfen!" Arnaud schwieg und sah Captain Williams feindselig an. "Und was für mein Land gut ist, wer bestimmt das? Ihr Präsident? Ihr Senat? Ihre Generäle? Haben Sie uns gefragt, was wir für gut halten? Es ist nichts anderes als eine Invasion, was sie da veranstaltet haben. Es wird Ihnen nicht gelingen, dies zu beschönigen! Und bilden Sie sich ja nicht ein, daß ich - nur auf Ihre merkwürdigen Hiobsbotschaften hin - meinen Posten verlassen werde, daß ich mein Land verrate..und ausgerechnet jetzt auf einem amerikanischen Schiff nach Mexiko zurückkehre!" "Vergessen Sie doch jetzt diese dumme Geschichte! Vergessen Sie Veracruz und denken Sie an Ihre Kinder und an Ihre Frau.." "Ich brauche Ihren Rat nicht, ich weiß selbst, was ich zu tun habe!" "Begreifen Sie doch endlich, Capitan, es geht hier ums Ganze, es geht um Ihr Leben! In Mexiko wird in Kürze keiner mehr wissen, wer in der Hauptstadt regiert. Huerta wird zuerst gegen Obregón und Carranza verlieren. Dann aber wird vielleicht Obregón gegen Carranza kämpfen, oder Zapata gegen Obregón und Carranza gegen Pancho Villa. In einem aber werden sie sich alle einig sein, in ihrem Zorn auf Huerta und seine Leute. Wie dem auch sei: México wird fallen. Huerta wird erschossen oder aufgehängt oder zumindest außer Landes gejagt werden. 437
Denken Sie daran, Sie sind ein Offizier dieses Huerta! Ich muß Sie warnen: Capitan Arnaud, Sie sitzen auf dem falschen Pferd!" "Was soll das heißen, ich sitze auf dem falschen Pferd? Ich lasse mich nicht einschüchtern. Ich bin Soldat und tue meine Pflicht, nichts weiter. Sie glauben doch nicht, daß die Armee des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Mexiko, wie immer dieser Präsident heißen mag, als Institution, ich wiederhole: als nationale Institution, in Ungnade fallen kann?" "Capitan, ich glaube noch viel mehr! Diese Armee wird nicht nur in Ungnade fallen, sondern von unzähligen Hinrichtungskommandos der Revolution so dezimiert werden, daß man kaum mehr Federales zu Gesicht bekommen wird, wenn der Spuk vorbei ist." "Unsinn! Aber bitte, wenn das so wäre, dann wären wir doch hier genau am richtigen Platz! Oder denken Sie, die Rebellen werden ein Schiff besteigen und eine dreitägige Reise unternehmen, nur, um uns vor den Leuchtturmfelsen zu stellen und zu erschießen?" "Nein, Sir, das glaube ich nicht. In Ihrem Fall bietet sich ein wesentlich unkomplizierterer und unverfänglicherer Weg. Man wird sich einfach nicht mehr um Sie kümmern. Man wird Sie schlicht da, wo sie jetzt sind, sich selbst überlassen. Dann sparen sich Villas Leute die Mühe der Seereise und obendrein die Kugeln... und sie müssen sich die Hände nicht schmutzig machen."
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"Wenn auch das so wäre wie Sie sagen, wäre es einerlei, was wir Federales tun. Der Tod durch die Revolution wäre uns gewiß." "Nein, Sie haben durchaus eine Chance! Die Revolution erwartet, daß Sie sich auf ihre Seite schlagen und mithelfen, Huerta aus dem Land zu jagen. Die Revolution hat so viele Opfer gefordert, daß die neuen Herren mit Amnestien nicht zimperlich sein werden, vorausgesetzt, Sie wissen rechtzeitig, was Sie zu tun haben!" "So, Captain Williams, nun reicht es! Hören Sie gut zu, Captain Williams, ich sage es Ihnen zum letzten Mal: ich bin ein Soldat der föderalen mexikanischen Armee und ich unterstehe noch immer dem Kommando des Präsidenten. Auf ihn habe ich meinen Eid abgelegt. Niemand auf der Welt wird mich zum Verrat am Präsidenten und an meinem Vaterland bewegen können. Auch Sie nicht, dem ich lautere Motive unterstellen will, solange ich nicht genau weiß, was Sie persönlich wirklich im Schilde führen, Captain Williams!" "Also gut, Capitan Arnaud, dann lassen Sie mich noch deutlicher werden! Ich weiß, daß Sie eine junge Frau haben und drei unmündige Kinder. Ich weiß weiter, daß es auf der Insel noch mehr Familien mit Frauen und kleinen Kindern gibt. Ich erwarte von Ihnen jetzt, daß Sie als verantwortungsvoller Mensch und als Offizier Ihr persönliches Schicksal vergessen und sich um die Frauen und Kinder kümmern. Ich erwarte von Ihnen sogar, um das ganz ungeschminkt zu sagen, daß Sie Ihren eigenen Tod, ja sogar Ihre durchaus mögliche Hinrichtung in Kauf 439
nehmen. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie sich noch heute dazu entschließen, die Ihnen anvertrauten Personen an Bord der Cleveland in Sicherheit zu bringen, weil diese zu schwach sind, sich selbst zu retten. Haben Sie mich jetzt verstanden?" "Nein, überhaupt nicht. Und es ist mir ganz gleichgültig, was der Kapitän eines amerikanischen Kriegsschiffes von mir erwartet. Für mich zählt einzig, was ich meinem Vaterland schuldig bin. Im übrigen sehe ich für meine Leute keine Gefahr. Wir haben Vorräte für mehr als vier Monate und in drei Monaten wird man uns weitere Vorräte schicken, wie man das acht lange Jahre mit absoluter Zuverlässigkeit getan hat. In diesen acht Jahren gab es zwei erzwungene Machtwechsel in der Hauptstadt, ohne daß das den geringsten Einfluß auf unser Leben und unsere Versorgung hatte. Es gibt für mich nicht den leisesten Grund, heute an dieser Zuverlässigkeit zu zweifeln. Außer Schulz und seiner Frau ist keiner ernsthaft krank auf der Insel. Wir fühlen uns alle leidlich wohl. Ich kann Ihren Weltuntergangsprognosen nicht folgen, Señor Capitan!" Captain Williams lehnte sich zurück, zog den Tabaksbeutel aus der Brusttasche und stopfte die Pfeife neu. Sein fleischiges, rotes Gesicht glänzte. Es war übersät von Schweißperlen. Er zündete die Pfeife an und stopfte mit einem silbernen Pistill bedächtig nach. Es sah fast so aus, als ob er mit dieser umständlichen Handlung Zeit zu weiterem Nachdenken gewinnen wollte. Ramón Arnaud unterbrach das Schweigen: 440
"Wenn wir schon dabei sind, sagen Sie, Captain, haben Sie genauere Informationen über das Geschehen an der Front? Wie sieht es aus?" "Schlecht für Sie, Señor Arnaud, sehr schlecht! Wir rechnen mit der Einnahme von México durch Zapata, Obregón, Carranza oder Villa, wahrscheinlich Obregón oder Pancho Villa." "Und wann soll das passieren?" "In ein paar Tagen, längstens in vier Wochen!" "Was Sie nicht sagen! In spätestens vier Wochen wird also entweder der traurige Möchtegernhacendado aus Morelos oder der ziegenbärtige Ranchero aus Coahuila oder sein kleiner Gernegroß Obregón, dieser miese, unbedeutende Verräter aus dem Westen oder gar Pancho, der arschgesichtige Pferdedieb und Mädchenschänder in die Hauptstadt einmarschieren! Vielleicht tun sich in letzter Minute auch alle vier zusammen, vielleicht marschiert das saubere Quartett gemeinsam ein? Wie? Ist das nicht wieder ein Wunschtraum Ihrer Washingtoner Freunde?" "Nein, Sir, es ist die militärische Lage, nüchtern wie sie die ganze Welt sieht! Obregón hat die föderale Armee aus Guadalajara gejagt und Lucio Blancos Kavallerieregimenter haben die Flüchtenden bei El Castillo zusammengehauen. Und nun der aktuellste Funkspruch: Vor zwei Tagen ist Zacatecas gefallen. Pancho Villa hat von zwölftausend Federales neuntausend
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niedergemacht!" Ramón Arnaud erbleichte. "Neuntausend, sagten sie?" "Ja, neuntausend! Villa hätte sie gefangennehmen können. Er hat es aber vorgezogen, seinen Feind zu vernichten. Von zwölftausend haben nur etwa dreitausend überlebt. Der Weg nach México steht Pancho Villa offen. Es gibt niemanden mehr, der sich seiner Division del Norte noch widersetzten könnte! Huertas Gegner lassen sich durch nichts mehr aufhalten. Wenn ihnen eine weniger bedeutende Stadt im Weg liegt, lassen sie sie einfach links liegen, marschieren um das Hindernis herum, kappen Telefon-, Strom-, und Wasserleitungen und hungern den Feind mit einer Handvoll zurückbleibender Aufpasser aus. Meist ist die Speerspitze schon viele Meilen weiter im Süden, wenn die Belagerten die Aussichtslosigkeit erkennen und weiße Fahnen schwenken. Diese Rebellen haben einen ganz unbegreiflichen Kampfesmut. Sie lassen sich um nichts in der Welt von ihrem Weg in die Hauptstadt abbringen. Stellen Sie sich vor, vor drei Monaten wollten die Rebellen in Sonora sechshundert Mann Infanterie, ein paar Tonnen Kohle, Kanonen, Munition und vierzig Pferde mit der Eisenbahn in Pancho Villas Hauptquartier schaffen. Da war ihnen eine kleine Stadt im Weg, ich glaube sie hieß Empalma oder so ähnlich. Die Geleise führten in die Stadt hinein und am anderen Ende wieder heraus. In der Stadt aber hatten sich die mit Munition wohl versorgten Federales verschanzt und schossen aus allen Löchern. Der Zug mit seiner Handvoll Bewacher stand vor einer unüberwindlichen Festung. Die Reise schien zu Ende.
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Da kam ihnen die rettende Idee! Sie rissen hinter dem Zug einen halben Kilometer Schienen ab, planierten das Land vor dem Zug und schafften das Baumaterial und die Schienen auf die neue Trasse. Sie legten die Schienen nur da, wo sie gebraucht wurden und rissen sie wieder von den Schwellen, wenn der Zug über sie hinweggefahren war. Sie überquerten Bäche, durchstachen flache Hügel und fraßen sich durch die Landschaft wie ein böser Lindwurm. Sie bauten Meter um Meter eine neue Bahnlinie durch die Felder vor der Stadt. Sie bewegten sich im Bogen um die Stadt herum. Wenn der Zug ein Stück gefahren war, rissen sie die Schienen hinter dem letzten Wagen wieder heraus aus dem Boden und montierten sie vor die Räder der Lokomotive. Während der Arbeiten schleppten hundert Mann Wasser, Pferdefutter und Schafe oder Schweine heran, die sie auf Raubzügen in weitem Umkreis requirierten. Sie wurden aus der Stadt beschossen und nachts attackiert, aber sie wehrten die Angreifer ab und fuhren unbeirrt weiter. Jeden Tag legten sie einen Kilometer zurück. Nach zwei Wochen erreichten sie die Eisenbahnstrecke im Süden wieder und vier Stunden später konnte Pancho Villa seinen Nachschub ohne Verluste in Empfang nehmen. Ein Zug ohne Geleise! Das ist der Genius der Revolution! So geht das Capitan Arnaud! Das ist doch etwas ganz anderes, als die Trübseligkeit der föderalen Armee! Glauben Sie mir, Ihr nächstes Versorgungsschiff wird bereits von Huertas Nachfolgern auf die Reise geschickt werden müssen. Die Pandora liegt auf dem Grund des Meeres. Ein Ersatzschiff ist, so viel ich weiß, noch nicht gefunden. Sie können sich auf nichts mehr verlassen! Ich verstehe nicht, daß Sie sich so zieren. Hier nützen Sie Ihrem Vaterland überhaupt 443
nichts. Es mag sie kränken, wenn ich Ihnen das so unverblümt sage. Sie werden weder von Huerta gebraucht - der hat jetzt ganz andere Sorgen - noch wird irgend einer der Herren, die nach Huerta kommen, von Ihrem Inselposten auch nur Notiz nehmen. Ihre Garnison ist bereits seit acht Jahren ein gottverdammter Anachronismus, nichts weiter." Arnaud schwieg und lief vor Zorn rot an. Dann erwiderte er mit belegter Stimme: "Es würde Ihnen natürlich gut in den Kram passen, wenn wir gingen. Wir gehen und Sie kommen, und die Welt würde sich über Ramón Arnaud, den Hasenfuß in Uniform, totlachen, der aus lauter Angst und Heimweh seinen Posten verlassen hat. Nein, Sir, ich durchschaue Sie! Sie sind nicht unser Freund! Amerika war noch nie unser Freund! Ihr mächtiges Land wird nie Mexikos Freund werden! Wenn Sie etwas von uns brauchen, holen Sie es sich. So einfach ist das. So haben Sie es immer gemacht und so werden Sie es in hundert Jahren noch machen! Wie seinerzeit in Texas und Kalifornien! Sie behandeln uns so herzlos und ungeniert wie sie die Menschen behandelt haben, die den größten Teil Ihres eigenen Landes noch vor fünfzig Jahren allein bewohnten. Weil Sie aber insgeheim sehr genau wissen, daß das schreiendes Unrecht ist, plappern Sie in der Welt herum, Sie hätten das, was Sie sich genommen haben, gekauft oder getauscht oder vielleicht sogar geschenkt bekommen. Und wenn das alles nicht verfängt, reden Sie davon, daß Sie die Interessen Ihres Landes wahrnehmen und verteidigen müßten. Sie legen mit scheinheiligem Lächeln die Hand aufs Herz und singen Ihre Flagge an und
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denken dabei an nichts anderes, als wie sie uns blöde Spanier übers Ohr hauen können. Was haben Sie denn mit den Kubanern gemacht? Sir? Ich frage Sie, was haben Sie mit den Kubanern gemacht? Was hatte Taft in Kuba verloren? Sie beschweren sich über unseren Präsidenten Huerta und hatten selbst einen Präsidenten, der nichts anderes kannte, als rücksichtslose Machtpolitik. Wie kamen die Vereinigten Staaten dazu, den Kubanern die Bestimmung über ihr eigenes Land abzusprechen? Und jetzt sitzen Sie vor mir und erzählen mir in einem Atemzug, daß sie Veracruz eingenommen haben - um unserem Land zu helfen - haha, daß ich nicht lache!- und daß ich mit meinen Soldaten doch, bitteschön, die Insel verlassen soll, um Frauen und Kinder vor einer Gefahr zu retten, die es gar nicht gibt. Wer soll denn Ihrer Regierung noch trauen? Wer soll denn Ihre Äußerungen noch ernst nehmen? Erst unterstützen Sie Madero gegen Porfirio Diaz. Als Ihnen das nicht mehr in den Kram paßte, stellten Sie sich gegen Madero hinter Huerta und jetzt hintergehen Sie Huerta, indem Sie seinen einzigen noch zugänglichen Versorgungshafen besetzen und blockieren. Gleichzeitig versorgen Sie seine Todfeinde mit Waffen! Wenn uns die Deutschen Waffen schicken, ist das ein Verbrechen, das den Angriff auf unser Land rechtfertigt. Und wenn ihr Präsident dasselbe mit den Rebellen tut, ist das die gerechteste und selbstverständlichste Sache der Welt und dient nichts anderem, als der Wiederherstellung des Friedens in der Welt. Sie haben kein Konzept, Captain Williams.. und was noch weitaus schlimmer ist: Ihr Präsident und seine Politiker sind unter dem Deckmantel christlicher Moral 445
zutiefst unmoralisch! Bleiben Sie mir vom Leib mit Ihrem vorgespiegelten Edelmut, Ihrem unehrlichen Sendungsbewußtsein und Ihren Lügen." "Capitan Arnaud, wo bleibt Ihr Verstand? Man hat mir gesagt, Sie seien ein Mann, der Realitäten richtig einzuschätzen weiß. Und wer sitzt da vor mir? Ein Mann, der sich von Emotionen hinreißen läßt wie ein Schuljunge; der sich so sehr von seinen Gefühlen leiten läßt, daß auch das letzte Fünkchen Verstand auf der Strecke bleibt. Sie glauben also im Ernst, wir Amerikaner seien scharf auf Clipperton? Schauen Sie sich dieses miese Inselchen doch an! Sperren Sie ihre mißtrauischen, verschlafenen Augen auf, Sie Träumer! Die paar Tonnen Guano interessieren niemanden in den Vereinigten Staaten. Ich sage es nochmal: niemanden! Dieses Geschäft können Sie vergessen. Spätestens seit man auf Nauru die großen Guanovorkommen entdeckt hat, können Sie hier beruhigt den Laden schließen. Vierzig Dollar kostet die Tonne Vogelmist mittlerweile auf dem Weltmarkt! Und strategisch ist Clipperton ebenfalls keinen Pfifferling wert. Der Panamakanal ist - vertraglich wohlgemerkt - fest in unserer Hand, da brauchen wir keinen Vorposten und schon gar nicht dieses erbärmliche Inselchen! Clipperton hat ja nicht einmal einen Hafen! Was also sollen wir mit diesem Fliegendreck auf dem Stillen Ozean anfangen? Ich kann es Ihnen sagen: garnichts. Aber nehmen wir mal an, es wäre so. Nehmen wir mal an, die Vereinigten Staaten würden sich wirklich für Ihr Inselchen interessieren. Gut, Sie haben recht, dann würden wir es uns, wie sie das ganz richtig bemerkt haben, einfach holen. Kein Hahn würde danach krähen. Politik kennt keine Moral! Und noch 446
weniger kennt Stärke Moral! Das gilt nicht nur für uns Amerikaner, sondern für alle Staaten dieser Welt, den Vatikan nicht ausgenommen." Williams machte eine ausholende Geste mit der Hand und zeigte auf die Schiffsgeschütze der Cleveland. "Was, Señor Arnaud, wollen Sie der Breitseite eines einzigen kleinen Kreuzers entgegensetzen? Wie wollten Sie die Insel verteidigen, wenn wir das in die Tat umsetzten, was Sie uns ungerechterweise unterstellen? Was, im Ernst, könnten Sie denn gegen uns ausrichten?" "Nichts", sagte Arnaud mit eisigem Gesicht. Die beiden Kontrahenten kämpften miteinander bis zur Erschöpfung. Capitan Arnaud ließ sich nicht erweichen. Als er in der Hitze des späten Nachmittags mit der Schute zurückgebracht wurde, stand sein Entschluß fest: Keine Macht der Welt konnte ihn dazu bewegen, Verrat zu üben und den Gringos die Insel zu überlassen. Aber er war sich auch darüber im klaren, daß er sich hatte provozieren lassen; daß er mit Nachdruck einen Standpunkt vertreten hatte, der schon seit Jahren nicht mehr sein Standpunkt war. Aber hätte er einem Amerikaner, einem Gringo, hätte er ausgerechnet Williams sagen sollen, daß auch er im Grunde seines Herzens Huerta haßte? Er war wütend auf die Selbstherrlichkeit, die die Amerikaner an den Tag legten. Und wenn er sich anders verhalten hätte,......er hätte, verdammt nochmal, vor diesem Gringo das Gesicht verloren. Fürchtete er sich vor der Zukunft? Glaubte er 447
das, was ihm Williams prophezeit hatte? Er glaubte es nicht. Und Angst kannte er nicht. Er, Ramón Arnaud, kannte keine Angst. Eine Stunde bevor die Sonne unterging, wurde Frau Schulz mit Maria in die Schute gesetzt. Die Barners und der Schiffsjunge Alexander Sounderson hatten bereits auf der Ducht im Bug Platz genommen. Als Letzten führten sie Gustav Schulz zum Boot. Er sang leise vor sich hin und hielt dabei die Hände vors Gesicht. Erst als er in die Schute stieg, streckte er die linke Hand aus, als ob er jemanden führen wollte. Er sprach ins Leere und sah dabei keinen an: "Ach, bitte, macht doch ein bißchen Platz für meine Mutter!" Das war das Letzte, was Ramón Arnaud von ihm hörte, als er bis zu den Knien im Wasser stand und mithalf, die Schute in tieferes Wasser zu bugsieren, In den frühen Morgenstunden des 26. Juni 1914, bevor es noch richtig hell wurde, lichtete die Cleveland die Anker. Zwei Tage später wurde in der bosnischen Stadt Sarajevo der österreichische Thronfolger ermordet. Man verurteilte das Attentat wie jedes andere in der Geschichte der Mächtigen. Damals ahnte man noch nicht, welche Folgen es haben würde. Und erst recht ahnte keiner, daß auch Clipperton, ein so unbedeutender und abgelegener Fleck auf dem Globus, letztlich durch dieses Ereignis in die finstersten Tage seiner Geschichte getrieben wurde.. 28
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Am 15. Juli 1915, nach der verheerenden Niederlage seiner Truppen bei Orendáin-La Venta und dem vielleicht noch demoralisierenderen Gemetzel bei El Castillo, gab Victoriano Huerta auf und legte sein Amt als Präsident der Vereinigten Staaten von Mexiko nieder. Er übergab die Amtsgeschäfte Francisco Carbajal, einem Statisten der mexikanischen Geschichte. Während General Huerta sich panisch damit beschäftigte, sein Leben und das während seiner Amtszeit angehäufte Vermögen in Sicherheit zu bringen, sollte Carbajal die schwierigen Verhandlungen führen, mit dem Ziel, die nun nicht mehr vermeidbare Übergabe der Macht an die Konstitutionalisten Venustiano Carranzas zu regeln. Es war vorherzusehen, daß dieses harte Geschäft Carbajal überforderte. Er betraute denn auch bereits kurz nach seiner Amtsübernahme den erfolgreichen General und Rechtsanwalt Eduardo Iturbide mit der Ausarbeitung der Verträge, und der wiederum legte die mehr als diffizile Arbeit in die Hand seines Freundes Ernesto Ruiz Pappas, der für seine juristischen Winkelzüge und brillianten Formulierungen über die Grenzen Mexikos hinaus bekannt geworden war. Zu jener Zeit sah man den letzten kommandierenden General der föderalen Armee, José Refugio Velasco, häufig in dem schönen Haus an der Calle de Palma ein und ausgehen. Die Männer saßen im Salon, umnebelt von Zigarrenrauch und Kaffeedunst, in der hellen Flut des neu eingerichteten elektrischen Lichts und bemühten sich darum, den 449
Rebellen einen für beide Seiten annehmbaren Frieden vorzuschlagen. Es mußte auf jeden Fall verhindert werden, daß México weiteren Schaden nahm. Es durfte nicht wieder geschehen, daß in der Stadt Machtkämpfe unter den rivalisierenden Gruppen ausbrachen. Ganz besondere Sorgen bereitete ihnen Emiliano Zapatas Bauernheer, das bereits dabei war, in die südlichen Stadtteile einzudringen. Zapata, das wußte man, war kein Mann der Kompromisse. Man bewundert noch heute Velascos Schlauheit. Es gelang ihm nämlich, Obregón zu überreden, die Federales in Xochítepec nicht zu entwaffnen, sondern sie nun unter sein, Obregóns, Kommando zu stellen. Er befahl ihnen, Seite an Seite mit den Konstitutionalisten weiterhin die Stellung gegen Zapata zu halten. Alvaro Obregón war ein kluger Mann. Er fürchtete, ja, er wußte, daß sowohl Pancho Villas Horden, an deren Stiefeln noch das Blut von Zacatecas klebte, als auch die frustrierten Bauern aus Morelos kaum diszipliniert werden konnten. Da kam ihm Velascos Vorschlag, die starke Mauer der Federales im Süden der Stadt vorerst bestehen zu belassen, nicht ungelegen, obwohl er dies auf keinen Fall zugeben durfte. Er entschied sich widerwillig und ausschließlich aus strategischen Gründen dafür, mit dem erklärten Todfeind zusammenzuarbeiten, aber nur so lange, bis er selbst sein Ziel erreicht hätte. Die Rechnung ging auf, seine Strategie setzte Zapata matt. Er handelte sich mit diesem Schachzug aber etwas ein, das er weder in seiner ganzen Tragweite übersehen, noch gewollt hatte: Zapatas ewige Feindschaft .
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Pancho Villa hielt er mit einem recht schäbigen Trick bei Zacatecas fest: Er überredete Carranza, unter irgendwelchen Vorwänden die Eisenbahnzüge zu stoppen, die Pancho Villa Nachschub und vor allem Kohlen für seine Lokomotiven bringen sollten. Pancho Villa tobte. Er sah das Ziel seines Lebens, die Hauptstadt, lockend und greifbar nahe vor sich liegen. Er hatte alle Hürden genommen, die entscheidenden Schlachten glorreich für die Revolution entschieden, und nun fehlten ihm, dem Helden von Guadalajara und Zacatecas, ein paar Tonnen Kohlen, um seine Siege in einen grandiosen Triumph zu verwandeln. Die Züge standen mit kalten Kesseln in den Bahnhöfen herum, umlungert von unlustigen, verärgerten Soldaten, die sich in ihrem Schatten ausstreckten und Karten spielten. Es dauerte einige Tage, bis das Grundgerüst des Vertrages ausgehandelt, und der von beiden Parteien akzeptierte Wortlaut der Übergabe festgelegt war. Man hatte sich dann aber doch schneller geeinigt als man anfangs angenommen hatte. Schließlich wurde das dünne Papier, das als Contrato de Teoloyucan in die Geschichte einging, unter einem schattenspendenden Staßenbaum auf dem Kotflügel eines Lieferwagens in aller Eile unterzeichnet. Für die Konstitutionalisten Carranzas unterschrieben die Generale Alvaro Obregón und Lucio Blanco. Gustavo Salas setzte seine Unterschrift für die föderale Armee unter das Dokument.
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Am 13. August 1914 hatte die Armada Nacional formell aufgehört zu existieren. Am 15. August marschierten Alvaro Obregóns Truppen allein in México ein. Es war totenstill, als die erste Vorhut der Eroberer den Paseo de la Reforma herunterritt. Man hörte nichts als das verhaltene Klingen der Hufe auf dem Pflaster. Die Leute blieben in den Häusern und hielten die Läden fest geschlossen. Es kamen Obregóns Yaqui-Indianer mit ihren Trommeln, deren dumpfes Rollen in eindringlichem Takt ankündigte, daß etwas Großes geschah. Es war keine begeisterte Marschmusik, die da von toten Fassaden widerhallte, es war gespenstisches Trommelrasseln der nun unübersehbar langen Marschkolonne der Indios, deren Abteilungen miteinander finstere Zwiegespräche der Macht führten. Es grummelte von weit hinten wie das Rollen eines fernen Gewitters, dann setzte als Antwort hell das schwirrende Lärmen derjenigen Reihen ein, die das Hémiciclo schon erreicht hatten und nun durch die Calle de San Francisco und die Calle de Plateros marschierten. Wieder kam von weither fragendes, finsteres Grollen, das mit einem übermütigen Stakkato scheppernder Trommelwirbel von der Spitze des Zuges her beantwortet wurde. Die Trommeln verbreiteten Zorn und stolzen Triumph und verkündeten drohend den Sieg der Revolution. Die Menschen zitterten. Schließlich aber siegte das Gefühl der Befreiung über die Angst vor dem Ungewissen. Huerta hatte alle Macht verloren. Ja, das war es, es gab ihn nicht mehr! Er war für immer verschwunden! 452
Bis zu dieser Stunde wußte man nicht, ob er nicht zurückkehren würde. Jetzt konnte man dessen sicher sein. Die Trommeln der Yaquis vertrieben alle Zweifel. Die Menschen kamen zögernd aus den Häusern und zogen dann Schulter an Schulter in buntem Strom zum Zócalo. Der Refrain der Cucaracha, Pancho Villas Siegesfanfare, brandete auf in wogendem Chor. Eine tausendstimmige Symphonie der Freiheit, die, umrankt von den silbernen Klängen der Gitarren, den Paseo de la Reforma, die Avenida Juárez, die Calle de San Francisco und schließlich den Zócalo mit Jubel erfüllte. Wieder läuteten alle Glocken der Kathedrale und Alvaro Obregón verkündete vom Balkon des Nationalpalastes den Sieg der Revolution. Obregón hatte das Kriegsrecht über die Stadt verhängt, den Alkoholausschank verboten, jede Art von Kundgebungen untersagt und strenge Strafen für Disziplinlosigkeiten angedroht. Das alles hatte gewissermaßen eine paralysierende Wirkung. Es blieb bemerkenswert ruhig in der Stadt. Kurz zuvor, etwa fünf Wochen nachdem die Cleveland ihre zivilen Passagiere in Acapulco abgeliefert hatte, war England in den Ersten Weltkrieg eingetreten. Zu dieser Zeit erhielten zwei der drei männlichen Angestellten der Pacific Phosphate Company den Gestellungsbefehl. Außerdem bekam Direktor Morison ein Schreiben des mexikanischen Secretario der Finanzen, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß ausländische Gesellschaften, also auch die Pacific Phosphate Company, rückwirkend zum
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15. August eine zwanzigprozentige Umsatzabgabe für den Wiederaufbau des Landes zu leisten hätten. Da die Rendite aus dem Phosphatgeschäft ohnehin an der Grenze der Wirtschaftlichkeit angelangt war, und man keine Möglichkeiten sah, den Betrieb auf gewinnbringende Weise weiterzuführen, ganz zu schweigen von der durch den Krieg verursachten Verknappung des Personals, beschloß der Vorstand der Gesellschaft in der Nacht zum 11. September, die Pacific Phosphate Company aufzulösen und die Geschicke der Insel Clipperton wieder in die Hände der mexikanischen Regierung zu legen. Direktor Morison, ein überaus korrekter britischer Gentleman, teilte dem mexikanischen Ministerium für Arbeit und öffentliche Aufgaben denn auch sofort per Eildepesche mit, daß die Gesellschaft durch einseitige Erklärung des Lizenznehmers vertragsgemäß und entschädigungslos wieder in den Besitz und die uneingeschränkte Verfügungsgewalt der Vereinigten Staaten von Mexiko übergehe. Morison erhielt keine Bestätigung des Telegramms. Er fühlte sich daher genötigt, das Ganze noch einmal durch eingeschriebenen Brief aktenkundig zu machen. Das Schreiben hatte folgenden Inhalt: An das Ministerium für Arbeit und öffentliche Aufgaben der 454
Vereinigten Staaten von Mexiko Abteilung Landwirtschaftliche Exporte und Lizenzen Ciudad de México, Distrito Federal. London, den 14. September 1914 Auflösung des Vertragsverhältnisses über die Nutzung der Phosphatvorkommen der Insel Clipperton. Ihr Zeichen: Contr.XVI/ dep.27- 1544. Unsere Akte: Cl. 0412/05 Sehr geehrte Herren, wir beziehen uns auf den am 12. April 1905 zwischen der Pacific Phosphate Company und der Regierung Ihres Landes geschlossenen Vertrag, der die Nutzung der auf der Insel Clipperton vorhandenen Phosphatvorkommen zum Gegenstand hat. Gemäß Paragraph 6 dieses Vertrages ist es vorgesehen, daß die Pacific Phosphate Company (als Lizenznehmer) bei Vorliegen wichtiger Gründe (Krieg, kriegerische Handlungen, Aufruhr und Acts of God), die Rechte aus dem Vertrag jederzeit, jedoch unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von zwei Wochen an die mexikanische Regierung zurückgeben kann. Dies ist unter Berufung auf den Kriegsausbruch in Europa bereits durch Depesche vom 12. September 1914 geschehen und soll durch dieses Schreiben bestätigt werden.
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Nach Paragraph 9a des Vertrags geht im Falle einer einseitigen Kündigung aus wichtigem Grund das gesamte Sach- und Grundvermögen der Pacific Phosphate Company, soweit sich die Sachen oder Grundstücke auf dem Gebiete der Vereinigten Staaten von Mexiko oder auf dem Gebiete der Insel Clipperton befinden, unwiderruflich und entschädigungslos in das Eigentum der Vereinigten Staaten von Mexiko über. Als wesentliches Sach- und Grundvermögen sind derzeit nur die auf Clipperton lagernden Vorräte an bereits gefördertem Phosphat, die für den Abbau bereitgestellten Maschinen, die von der Gesellschaft errichteten Unterkünfte nebst Einrichtung, sowie Wasserfahrzeuge, Schienenfahrzeuge, Geleisanlagen, Geräteschuppen und das auf dem Inselfelsen errichtete Leuchtfeuer vorhanden. Eine detaillierte Liste des übrigen Inventars ist wegen dessen geringen Wertes, der fünfhundert Pesos nicht übersteigen dürfte, nicht erstellt worden, kann aber vertragsgemäß auf Anforderung innerhalb einer Frist von drei Monaten nachgereicht werden. Nach Paragraph 9b des Vertrags tritt die mexikanische Regierung mit dem Wirksamwerden der Kündigung des Vertrags in alle Rechte und Pflichten der Pacific Phosphate Company ein und wird insbesondere dafür Sorge tragen, daß die Versorgung der auf der Insel Clipperton stationierten Angehörigen der mexikanischen Armee, sowie der Angestellten und/oder Beauftragten der Pacific Phosphate Company, mit Gütern des täglichen Bedarfs (als da sind: Lebensmittel, Kleidung, Arzneien), ohne Unterbrechung und in dem bis zur Kündigung 456
gepflogenen Umfang aufrecht erhalten wird. Eine Aufstellung der dreimal jährlich zu erbringenden Leistungen der Gesellschaft, sowie eine Liste der zum Zeitpunkt der Vertragsauflösung auf Clipperton stationierten Armeeangehörigen mit deren Familienmitgliedern ist diesem Schreiben beigefügt (Anlagen I und II). Nach Kenntnis des Direktoriums der Pacific Phosphate Company befinden sich außer den obengenannten Personen und dem von der Gesellschaft in Dienst genommenen Aufseher des Leuchtfeuers, Emilio Alvarez, der nach Kenntnis der Gesellschaft, nicht britischer, sondern mexikanischer Staatsangehöriger ist, keine Personen mehr auf Clipperton. Die auf der beiliegenden Liste unter Buchstabe B gesondert vermerkten Personen nichtmexikanischer Nationalität sind bereits am 26. Juni 1914 durch den amerikanischen Kreuzer USS Cleveland nach Acapulco gebracht und repatriiert worden. Mit demselben Schiff sind durch die Gesellschaft Vorräte (gemäß Anlage III) für etwa vier Monate nach Clipperton gebracht worden, so daß die Versorgung der dort befindlichen Personen bis einschließlich Oktober 1914 gesichert erscheint. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Mexiko ist somit verpflichtet, entweder unverzüglich die Räumung der Insel zu veranlassen, oder die Versorgung ihrer Armeeangehörigen ab dem 1. Oktober 1914 in vollem Umfang zu übernehmen. Es soll noch erwähnt werden, daß unserer durch den Commander der USS Cleveland, George Williams, Señor Ramón Arnaud persönlich überbrachten Aufforderung, die Insel vorzeitig vollkommen zu räumen, unter Berufung auf 457
seinen Fahneneid, seine Loyalität gegenüber dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Mexiko, Victoriano Huerta, und seine Treue gegenüber dem mexikanischen Volk, nicht gefolgt wurde. Wir akzeptierten diese Erklärung nicht nur deshalb, weil der obengenannte Vertrag eine Aufforderung zur Evakuierung durch unsere Gesellschaft nicht vorsieht, sondern weil wir darin eine besonders aufrichtige Haltung erkennen müssen, die keinen Widerspruch duldet. Wir lehnen allerdings die Übernahme etwaiger, auf weitere Veranlassung der mexikanischen Regierung entstehender Kosten, die durch den Vertrag nicht vollumfänglich gedeckt sind und insoweit nicht zu Lasten der Gesellschaft gehen dürfen, bereits heute vorsorglich ab. Unsere Gesellschaft, bzw. deren Rechtsnachfolger nach britischem Recht, verpflichtet sich gemäß Paragraph 13b, Absatz 2, des Vertrags, es zu unterlassen, Clipperton weiterhin anzulaufen. Sie verpflichtet sich außerdem, die Bergung der bereits gewonnenen und auf Clipperton zur Verschiffung bereitliegenden Phosphatmengen zu unterlassen und Dritte nicht mit der Bergung des Phosphats zu beauftragen. Mit vorzüglicher Hochachtung. Benjamin F. Morison Director. Das in jedem Punkt deutliche und in lauterstem Amtsenglisch abgefaßte Schreiben kam trotz der zu jener 458
Zeit in Mexiko herrschenden Unordnung im Postwesen am 10. Oktober 1914 an. Antonio Figueroa, ein kleiner Ministerialbeamter, der sich hauptsächlich mit der Abwicklung der für die Ausfuhr junger Stiere nach Ecuador benötigten Formalitäten zu befassen hatte, war es gelungen, sich über den unvorstellbar langen Zeitraum von zwanzig Jahren an seinem Schreibtisch festzuhalten, obwohl um ihn herum die Tornados der Aufstände tobten, die vor seinen entsetzten Augen nicht nur einen Präsidenten nach dem anderen aus dem Palacio Nacional, sondern auch so manchen Kollegen und Freund aus den Amtsstuben gefegt hatten. Sein ganz und gar unauffälliges Wesen hatte wohl hauptsächlich dazu beigetragen, daß man ihn nicht beachtete. Er hütete sich vor politischen Äußerungen und hatte nie einer Partei angehört; auch hatte er nie eine Uniform getragen. Das lag an einer in der Jugend durchgemachten syphilitischen Erkrankung, die dank mörderischer Dosen Salvarsan inzwischen zwar ausgeheilt war, jedoch seinen Bewegungsapparat noch immer stark in Mitleidenschaft zog. Er war auch im Amt nie aufgefallen und immer erst dann befördert worden, wenn es einem seiner Vorgesetzten auffiel, daß seine Personalakte Staub angesetzt hatte. Er saß an seinem Schreibtisch, öffnete völlig geräuschlos Briefe und achtete darauf, daß seine Feder bei deren Beantwortung nicht kratzte. Ebenso geräuschlos kümmerte er sich um seine Stiere, deren Papiere er ohne den üblichen Lärm mit mindestens sieben verschieden großen und farblich streng unterschiedenen Stempeln versah. 459
Seine leise und unaufdringliche Stimme entsprach im übrigen seinem Äußeren. Er trug dünne graue Jackets mit Ärmelschützern, schwarze Gamaschen und Nadelstreifenhemden mit schmalem Stehkragen. Sein Haar war grau und schütter. Um die aufscheinende Glatze zu verstecken, ließ er die wenigen Haare, die im Kranz um seinen Kopf wuchsen, überlang wachsen und legte sie in fettigen, silbernen Striemen von Ohr zu Ohr. Selbst wenn er niesen mußte oder sich schneuzte, geschah das trotz heftigster Bewegungen seines dürren Körpers so lautlos, daß ihn die wenigen Besucher, die ihn in seinem Amtszimmer aufsuchten, dabei anstarrten wie einen Pantomimen oder einen Zauberkünstler, dem ein verblüffender Trick gelungen war. An jenem 10. Oktober öffnete Antonio Figueroa den an seine Abteilung gerichteten Brief und versah ihn, ohne ihn näher in Augenschein zu nehmen, mit dem großen roten Eingangsstempel. Dann stutzte er. "Ist das Englisch, Esteban?" Er hielt den Brief in die Höhe und zeigte ihn seinem Gegenüber. Esteban unterbrach seine Arbeit, erhob sich, soweit das für die Entgegennahme des Briefs nötig war, streckte seine Arme über beide Schreibtische und nahm Antonio Figueroa den Brief ab. Dann studierte er ihn mit angestrengtem Gesichtsausdruck. Nach einer Weile sagte er: "Könnte auch Deutsch sein...... oder Schwedisch!" Figueroa kramte im Papierkorb herum und suchte den Umschlag. Als er ihn gefunden hatte, sagte er: "Englisch! 460
Ist in London aufgegeben. Aber sag mal, steht das nicht auch vor dem Datum im Briefkopf?" "Ah ja, hast recht", erwiderte Esteban," da steht's! Also klar: Englisch! Und hinten dran hängen drei Listen." Figueroa stand auf, ließ sich von Esteban den Brief wieder zurückreichen und nahm ihn samt den Listen an sich. Er verließ das stickige Zimmer und stieg langsam die Treppen zum vierten Stock hinauf. Er betrat den Raum 488 des Ostflügels und zeigte den Brief Señor Gaballa, der vor sieben Jahren mit einer Delegation bei König Edward in England gewesen war. Eine stark vergrößerte Fotografie, die an diesen Besuch erinnerte, hing über Gaballas Schreibtisch und zeigte ihn mit etwa fünfunddreißig weiteren Personen. Er stand in der letzten Reihe und lugte mit schiefem Hals hinter dem steifen Hut seines Vordermanns hervor. In der ersten Reihe dominierte der König in Admiralsuniform. Gaballa erkärte jedem, der das Bild noch nicht gesehen hatte, wer der Admiral in der ersten Reihe war und wo man ihn selbst suchen mußte, denn sein Zeigefinger hatte auf beiden Gesichtern über die Jahre Fettflecken hinterlassen, die so nachgedunkelt waren, daß sie den Ernst seiner Person und die Würde des Königs bis zur Unkenntlichkeit verschleierten. Gaballa war so etwas wie ein Oberinspektor und wartete sehnsüchtig auf seine Pensionierung. Er nahm den Brief in die Hand, warf einen kurzen Blick darauf und sagte: "Es ist ein Vertrag."
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"Und was steht drin?" fragte Figueroa. Gaballa nahm seine Brille ab, putzte sie und setzte sie wieder auf. Dann vertiefte er sich in den Text. "Da geht's um eine englische Gesellschaft. Die hat einen unter Diaz geschlossenen Vertrag mit unserer Regierung aufgelöst." "Aufgelöst?" "Ja aufgelöst. Es steht im Betreff. Die Leute sind repatriiert worden. Hinten dran hängt eine Liste mit den Namen der Personen." "Dann ist die Sache erledigt?" "Ich meine, ja. Ist erledigt." Dann nahm Gaballa einen blauen Kopierstift, beleckte zweimal dessen Spitze und schrieb, nachdem er vorher viermal mit der Hand in der Luft Schwung geholt hatte, mit großen Schmuckbuchstaben an den rechten Rand des Briefs: LIQUIDADO. Figueroa nahm den Brief wieder an sich. Im Gang begegnete er Guillermo Jimenez. Der begrüßte Figueroa, als ob er ihn Jahre nicht gesehen hätte: "Was machst denn du hier oben? Hast du Ärger mit den Stieren? Wie gehts der Familie, was macht deine reizende Tochter?" Figueroa signalisierte mit dem Blick, daß er mit den Stieren keinen Ärger habe, und daß auch sonst alles in 462
Ordnung sei. Dann zeigte er beiläufig Guillermo das Schreiben und bemerkte dazu: "Englischer Vertrag. Aufgelöst." Guillermo Jimenez sah sich das Papier nicht sehr interessiert an. Figueroa wußte auch nicht, ob Guillermo überhaupt englisch verstand, aber er verfolgte die Bewegung seiner Augen und sah überrascht, daß er das Schriftstück offenbar zügig lesen konnte. Guillermo Jimenez besah sich auch kurz die mit einer Heftklammer am Brief befestigten Listen und gab ihm das Ganze mit einer einzigen knappen Bemerkung zurück : "Huertistas! Gottverdammte Hurensöhne!" "Hurensöhne? Warum? Was meinst du damit?" "Federales! Verräter! Mexikanische Hurensöhne!" Guillermo Jimenez schnippte mit dem Zeigefinger auf die Liste II, die Figueroa, vor ihm stehend, studierte. "Das sind in der Tat keine Engländer, das sind tatsächlich Mexikaner", sagte Figueroa und machte eine unsichere Handbewegung. "Vergiß das! Das ist nicht mehr von Bedeutung. Gott sei Dank nicht!" antwortete Guillermo Jimenez. Nach diesem Gespräch ging Figueroa in sein Amtsszimmer zurück und schrieb unter Gaballas 463
Bemerkung mit schwarzer Tinte an den Rand des Briefs: Huertistas! und drückte obendrein auf den freien Platz neben der Anschrift den tiefvioletten ovalen Stempel: arreglado - erledigt. Mit all den wichtigen Eintragungen und Stempeln sah der Brief nun so aus, als hätte man ihn sorgfältig bearbeitet. Figueroa sagte befriedigt zu Esteban, der alte Spesenabrechnungen sortierte: "Englisch ist doch verdammt wichtig, findest du nicht? Es ist schon gut, wenn man Englisch kann. Ohne Englisch wären wir ganz schön aufgeschmissen, nicht wahr?" Dann legte er das Schreiben auf den Stapel der zu archivierenden Dokumente. 29 Tirza saß mit Alicia Arnaud am Tisch vor dem "Großen Haus", wie das Haus des Capitans allgemein genannt wurde. Sie war vertieft in ihre Arbeit und achtete kaum auf den Lärm, der von der Lagune herauf drang, wo vier Mann unter Pedros Kommando mit dröhnenden Hammerschlägen einen der eisernen Lastkähne reparierten. Tirza hielt ein schmales Küchenmesser wie einen Federhalter in der rechten Hand und bearbeitete damit ein glattgehobeltes Brett. Es war durch tiefe Rillen bereits in 464
vierzehn etwa gleichgroße Felder eingeteilt, und nun war sie dabei, in jedes der Felder kleine Kerben einzuschneiden. Im ersten Feld waren es dreißig, im zweiten einunddreißig, im dritten noch einmal einunddreißig; dann kam ein Feld mit achtundzwanzig Kerben. Sie hob den Kopf und fragte: "Soll ich die Sonntage dicker machen?" "Ach laß nur", erwiderte Alicia Arnaud, "es kommt nicht darauf an. Was sind hier schon Sonntage? Uns läuten keine Glocken!" "Haben wir denn richtig Buch geführt?" fragte Tirza, "wissen wir genau, daß heute Samstag ist?" "Natürlich, heute ist Samstag der 31.Oktober!" "Vier Monate", sagte sie dann, "vier lange Monate. Wir haben uns alle davor gefürchtet, aber wir wollten es nicht glauben. Als dann der September vergangen war, haben wir alle gewußt, daß das, was Captain Williams sagte, die Wahrheit war, aber keiner wagte es, diese Wahrheit auszusprechen. Vier Monate ist es her, daß wir die Cleveland wegfahren sahen. Vor vier Monaten haben sie den armen Schulz weggebracht." "Ach, Schulz! Mit dem brauchst du kein Mitleid zu haben. Er hat es bei weitem besser als wir, und er ist auch ganz sicher wieder gesund. Er sitzt jetzt zu Hause in seinem kühlen Deutschland, und für ihn ist diese schreckliche Insel weit weg, so weit, daß ihn nicht einmal die Erinnerung beunruhigen kann. Es war nur die Insel, die ihn krank gemacht hat. Ich wette, daß er seine Dämonen 465
schon an Bord der Cleveland abgeschüttelt hat. Es ist die Insel, die uns alle verrückt macht. Sie greift nach uns und verschlingt uns langsam und unbarmherzig wie eine Schlange. Schau sie dir nur vom Felsen herunter an! Sieht sie nicht aus wie eine große Schlange, die auf dem Meer liegt? Tirza, ich sage dir, wenn nicht bald etwas geschieht, bleibt Schulz kein Einzelfall. Dann werden wir hier allesamt krank. Dieses Warten! Dieses schreckliche Warten! Dieses untätige Herumsitzen, das eigentlich kein Warten, sondern eher ein bloßes Ausharren ist." "Es gibt nichts mehr, auf das wir warten könnten.." sagte Tirza leise, ohne aufzublicken. Doch dann hob sie plötzlich den Kopf und fragte: "Alicia, warum hat er ihn eigentlich verbrannt?" "Den Kalender?" "Ja, den Kalender. Warum hat er ihn verbrannt?" "Er hat es mir nicht gesagt. Er saß an seinem Schreibtisch und starrte ihn an. Er saß da, eine Stunde oder noch länger, und starrte auf den Kalender. Er blätterte vor und zurück und sagte immer wieder: `September, September, September.' Unvermittelt stand er auf, kam in die Küche und schob erst mich beiseite, dann drängte er Altagracia vom Herd und zog den Topf vom Feuer. Er warf ihn einfach in die Flammen mit all seinen Eintragungen und Vormerkungen und er sah ruhig zu, wie die Flammen das Papier verschlangen. Sein Gesicht war von der Glut gerötet. Er wirkte ganz erlöst, als er sich umdrehte und er schaute mich ernst und mit abwesenden Augen an. Dann 466
murmelte er so etwas wie: `Ist die Zeit verbrannt, braucht niemand mehr zu warten!'" "Das hat er gesagt? Er verbrennt Papier und meint die Zeit? Er hat Angst, nicht wahr? Alicia, ich sage dir, er fürchtet sich. Und ich will ehrlich sein: mir ist auch angst, wenn ich an morgen denke. Aber ich lasse die Angst nicht in mein Herz. Ich will weiterleben und wieder nach Hause. Die Tage, die vor uns liegen, kommen mit und ohne Kalender. Ich möchte die Orientierung nicht verlieren. Ich will jeder Stunde ins Auge sehen und jedem Tag der noch kommt. Die Sonne kann man nicht verbrennen und die Nacht kann man nicht verschwinden lassen. Es ist nutzlos, Kalender zu verbrennen. Bis September hatte Ramón die Augen geschlossen und - so wie wir alle - getan, als ob Capitan Williams nichts gesagt hätte, als ob es die Pandora noch gäbe, als ob er an Huertas Sieg glaubte! Dann kam die Angst und wohl auch die Einsicht. Aber jetzt helfen uns keine Szenen, es nützt uns nichts, wenn wir Kalender verbrennen, jetzt müssen wir feste Schuhe anziehen und durch eine Wüste wandern, deren Grenzen wir nicht kennen. Es hilft uns nicht, wenn wir uns falsche Hoffnungen machen. Sicher wird man uns irgendwann hier finden, aber das kann noch lange dauern. Wir dürfen jetzt nicht nur auf Gott vertrauen und auf Rettung warten. Wir müssen uns selbst retten, indem wir unsere Lebensgrundlagen sichern." Tirza schob das Brett über den Tisch: "Sieh her, Alicia, ich schnitze gerade die Tage des Juni 1915....Schau dir die vielen Kerben an, die noch vor dem Juni liegen! Das sind alles Tage, über die wir nichts wissen. Tage, die wir auch 467
dann überstehen müssen, wenn kein Schiff kommt. Was wird im Juni sein, Alicia? Noch haben wir zu essen, aber wie lange noch? Noch drei Wochen? Vier? Was werden wir tun, wenn der Vorratsraum leer ist? Wir sollten uns jetzt darüber Gedanken machen und uns darauf vorbereiten, soweit das möglich ist. Und wir sollten uns davor hüten, in Panik zu geraten ... Meinst du nicht, Alicia?" Alicia Arnaud sah über die Lagune hinweg, so als habe sie gar nicht gehört, was Tirza gesagt hatte und antwortete erst nach einer Weile: "Es wird ein Schiff kommen. Ich weiß es. Ich glaube fest daran. Es muß ja nicht das Versorgungsschiff sein! Es genügt irgendein Schiff! Irgendein kleines Schiff, ein Walfänger, ein Fischtrawler, der hier vorbeikommt. Wir haben noch Öl. Alvarez hat nichts anderes zu tun, als Ausschau zu halten, und beim Auftauchen des ersten Schattens einer Rauchfahne das Leuchtfeuer anzuzünden, um auf uns aufmerksam zu machen. Weißt du noch, Tirza, wie er sich angestellt hat, als ihm Ramón befahl die Laterne zu löschen? Als Ramón persönlich die Laterne auffüllte und dann Alvarez die letzten Fässer Öl wegnahm, sie in den Schuppen rollte und die Tür verschloß? Hast du den Zorn in seinen Augen gesehen, als ihm Ramón befahl, den ganzen Tag da oben zu hocken? Bei jedem Wetter da oben auf dem Felsen Wache zu halten? `Ich bin Zivilist, Sie haben mir nichts zu befehlen!', hat er geschrien. Ramón hat ihm ins Gesicht gelacht und gesagt:`Wenn du nicht spurst, setzte ich dich auf halbe Ration, du schwarzer Gnom!' Weißt du noch, wie er gezittert hat, als ihm 468
Ramón klarmachte, daß er seine Laterne nachts nicht mehr anzünden darf? `Acht Jahre hat sie gebrannt! Jede Nacht hat sie gebrannt! Capitan! Bei der heiligen Jungfrau, Capitan! Sie beschwören ein Unglück herauf, wenn sie sie löschen!' Ich habe selbst gehört, wie seine Stimme bebte. Weißt du noch, wie er vor uns geflohen und auf seinen Felsen hinaufgezappelt ist? Man konnte ihn noch schreien hören, als es längst dunkel war. Und als nach acht Jahren das erste Mal absolute Finsternis über die Insel hereinbrach, hat er in die schwarze Nacht hineingezetert und gejammert, als würde er geprügelt, als habe man ihn seiner Seele beraubt." "Ach laß den armen Mann, Alicia. Er hat doch nichts anderes als den Leuchtturm ! Versteh'doch, Ramón hat ihm mit dem Öl auch sein Licht weggenommen. Ohne Öl ist für ihn der Felsen und sein großartiges Bauwerk wertlos. Ohne Öl ist er selbst unnütz geworden. Das konnte er nicht ertragen. Dieses Ding aus Kupfer und Glas steht ihm doch näher als jeder Mensch. Das mit den Ölfässern muß für ihn so gewesen sein, wie wenn man einer Mutter die Milch für ihr Kind wegnimmt. Da hat er dir Beherrschung verloren. Er ist aber doch im Grunde harmlos. Ich fürchte, daß all die klugen Vorkehrungen ohnehin für die Katz sind. Man hätte ihm das Öl ruhig lassen können. Wenn ein Schiff Clipperton anläuft findet es uns mit und ohne Leuchtfeuer. Aber es wird so schnell kein Schiff kommen!" "Die Nokomis ist auch plötzlich dagewesen. Und es hatte sie keiner erwartet!"
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"Ja und dann zerbrach sie am Riff! Und wieviel Schiffe waren es sonst noch in den acht Jahren, die du schon hier bist, Alicia? Wieviele waren es, die vorbeikamen, und wieviele Matrosen kamen an Land und erkundigten sich nach eurem Wohlergehen?" Alicia Arnaud antwortete nicht. Nach langer Stille wechselte Tirza das Thema: "Wo stellen wir den Kalender auf?" "Natürlich bei dir", antwortete Alicia Arnaud, "du wirst den Kalender führen, also stellen wir ihn auch bei euch in der Hütte auf." "Sagtest du nicht gestern, ich solle ihn am Fahnenmast festmachen, daß ihn jeder sehen kann?" "Nein, ich glaube, das war keine gute Idee. Das ist mir zu unsicher. Wenn er verloren geht, verlieren die Tage ihren Namen. Das wäre schlimm." Am Abend war der Kalender fertig. Er war fast ein Kunstwerk geworden, und die Tage und Wochen reihten sich in absoluter Regelmäßigkeit und Symmetrie aneinander. Die Kerben reichten bis zum Sylvestertag des Jahres 1915. Ramón Arnaud kam vom Hangar herüber und erkannte sofort, was Tirza da gemacht hatte. Er erkannte vor allem, welch unübersehbaren Zeitraum sie mit ihren Strichen in dem weichen Holz markiert hatte. Er verstand die Bedeutung dieser Striche: Das Machwerk richtete sich 470
gegen ihn! Mit diesem Stück Holz versuchte Tirza, ihm seine Fehler vorzuhalten. Sein Kalender hätte, wenn er ihn nicht verbrannt hätte, gerade noch drei Monate gereicht. Da nahm dieses Mädchen ein Brett und ein Messer und zeigte ihm, was sie von ihm und von der Lage hielt, in die er, Ramón Arnaud, sie alle gebracht hatte. Sie zeigte ihm, daß sie seinen Kalender nicht brauchte und daß sie nicht an eine rasche Rettung glaubte, ja sie zeigte ihm noch mehr: Sie zeigte ihm, daß sie trotzdem nicht bereit war aufzugeben. Sie mußte wissen, daß sie nicht lange überleben konnten, wenn keine Rettung kam. Wenn sie aber kam, brauchten sie den Kalender nicht mehr. Wenn Tirza an eine Rettung glaubte, war das, was sie da tat sinnlos. Wenn nicht, brauchten sie erst recht keinen Kalender, es sei denn zur Bestimmung des Todestags. Wozu also über vierhundert Tage in das Holz schnitzen? Das konnte nur einen Sinn haben: Sie wollte ihm seine Fehler vorhalten, wollte ihm die Tage vorführen, die sie noch hätten leben können..... und seine Frau sah dabei zu. Ramón schauderte, als er auf die Kerben sah, aber er beschloß, nichts zu sagen. Dann streckte er seine Hand aus und zeigte hinüber zum Landesteg: "Sie fangen nichts!" sagte er. "Die Lagune ist voller Fische, man sieht sie überall, sie springen aus dem Wasser und glänzen in der Sonne, aber sie lassen sich nicht fangen!" "Das liegt an den Ködern. Brot ist nichts für Fische. Ihr solltet andere Köder ausprobieren! Versucht's doch mal
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mit Dörrfleisch, oder nehmt Krabbenfleisch!" meinte Alicia. "Das bringt nichts. Wir haben schon alles ausprobiert. Das hat nichts mit den Ködern zu tun. Wirf ein Stück Schiffszwieback hinein und du wirst sehen, wie sie sich aus allen Richtungen draufstürzen. Ich sage dir, sie fressen alles. Es darf nur nicht an einem Haken hängen. Wir haben gefummelt wie die Verrückten, um die Haken zurechtzufeilen. Drei Ölkannen mußten dran glauben; wir haben die Henkel abgezwickt, krumm gebogen und spitz gefeilt. Und die Haken sind gut geworden und verdammt spitz, spitzer als deine Nähnadeln. Sie haben sogar Widerhaken, aber die Fische machen einen Bogen um sie, als ob ihnen einer erzählt hätte, was wir mit ihnen vorhaben! Wahrscheinlich ist es die dicke Schnur. Die sehen die Fische in dem klaren Wasser. Sie wissen genau, daß zu einem Stück Schifsszwieback keine Schnur gehört.. Ja, das wird es sein, sie fürchten sich vor der dicken Schnur. Nicht einmal die Muränen kommen aus ihren Löchern, wenn sie die Schnur sehen." Dann setzte er kleinlaut hinzu: "..und wir haben keine dünnere... Warum nur haben wir kein anständiges Angelzeug auf dieser verrückten Insel. Warum, verdammt nochmal, hat noch keiner daran gedacht, daß man hier auch Fische fangen könnte!" Ramón Arnaud hatte sich in den letzten Wochen sehr verändert. Aus einem selbstbewußten Offizier der mexikanischen Armee war ein verzagter und weinerlicher Mann geworden, der es verlernt hatte, Befehle zu geben. Spätestens Ende September hatte er begriffen, daß er einen 472
schweren Fehler gemacht hatte. Am Hangar lagen zwanzig Tonnen Phosphat, die niemand haben wollte. Und jetzt, als die Arbeiten eingestellt waren, weil Ramón Arnaud die Sinnlosigkeit weiterer Bemühungen klar geworden war, hatte er viel Zeit, darüber nachzudenken, was dieser Fehler für ihn, seine Familie und all die anderen, die ihm vertrauten, bedeutete. Was es bedeutete, wenn wirklich das eintrat, was er befürchtete. War es möglich, daß man sie einfach vergaß? Konnte es sein, daß man ihnen nur deswegen nichts mehr schickte, weil er, Ramón Arnaud, gebunden an seinen Eid, nach treuer Dienstzeit unter Präsident Madero, von dem Usurpator und Verbrecher Huerta in dieses elende Exil geschickt worden war? Er war sich keiner Schuld bewußt. Er konnte nichts daran ändern. Was konnte er dafür, daß Madero gestürzt wurde? Hatte er etwas dazu beigetragen? Hatte er irgend eine Schuld an Maderos Tod? Er war doch kein Huertista. Man konnte ihn doch nicht für etwas bestrafen, das andere angerichtet haben. Er war doch für sein Vaterland, für Mexiko, ins Exil gegangen. Exil ist Exil! Wenn man hier draußen leben muß, ist es doch gleichgültig, wer einen dahin geschickt hat. Nein! Captain Williams konnte nicht recht gehabt haben! Ramón Arnaud hatte Freunde zu Hause! Und diese Freunde ließen ihn nicht im Stich, auch wenn sie heute mit den Rebellen kämpfen mußten. Bei den Gringos, ja, bei denen wäre so etwas vielleicht möglich! Ein Amerikaner wäre vielleicht dazu im Stande, seine Kameraden einfach zu vergessen, nicht aber ein mexikanischer Offizier! Und die Kinder! Vielleicht mögen die Gringos Kinder nicht. Wer weiß? Aber jedenfalls gibt es keinen Mexikaner, der keine Kinder mag. Por dios, es gibt auf der ganzen Welt nicht einen einzigen lausigen 473
Mexikaner, der es fertigbrächte, Kinder verhungern zu lassen. Das hätte selbst Huerta nicht getan. Das brächte nicht mal dieser Hurensohn von Pancho Villa fertig. Ach ja, natürlich sind bei den hinterhältigen Angriffen dieses blutrünstigen Teufels Kinder draufgegangen. Tausende vielleicht... Ja, wahrscheinlich waren es zehntausende. Und Frauen......Aber das geschah nicht absichtlich. Das wollte niemand. Das war ein zwar grausamer, aber unvermeidbarer Begleitumstand der Schlachten, die für die Revolution geschlagen werden mußten. Das, was Williams prophezeite, wäre hingegen etwas ganz anderes. Das wäre eiskalter, herzloser Verrat, das wäre die Inkarnation der Niedertracht. Das wäre viel schlimmer als tausend Morde mit Pistole oder Messer oder Gift. Oh nein! Sie werden kommen und uns holen. Sie müssen uns holen! Sie wissen doch von Captain Williams, daß wir noch hier sind! Er muß es ihnen doch gesagt haben! Martínez weiß es doch auch! Sie wissen es doch alle! Heilige Jungfrau, laß mich nicht in eine so entsetzliche Schuld fallen! Laß mich nicht schuldig werden an all den Kindern und an den Frauen. Laß mich nicht schuldig werden an den Männern, die mir anvertraut sind! Madrecita von Guadalupe! Verlaß uns nicht! Während Ramón Arnaud weiter nachdachte, während sein Gehirn sich in quälenden Selbstzweifeln aufrieb, hatte er sich mit totem Gesichtsausdruck wortlos abgewandt und ging hinüber zu Pasqual Vargas' Vorratshütte und blieb vor der Tür stehen. Pasqual stand auf einer Bockleiter und schnitt ein Bündel Dörrfleisch von der Decke.
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"Capitan, es wird nicht mehr lange reichen! Wir müssen strenger rationieren!" "Wann wird das Fleisch zu Ende sein?" "Nicht nur das Fleisch, Capitan, es ist nicht nur das Fleisch! Selbst wenn wir von jetzt an hungern, reichen unsere Vorräte allenfalls noch vier Wochen! Ich habe noch zwei Kanister Mehl und die Dosen, die da hinten liegen. Neben der Tür, rechts von Ihnen, liegen noch zwei Sack Zwieback und ein Sack Bohnen. Wenn wir das aufgegessen haben, ist Schluß." Ramón Arnaud scharrte mit der Stiefelspitze im Sand und sagte ruhig: "Na gut, dann müssen wir uns eben was einfallen lassen. Es gibt ja genug zu essen auf der Insel, Fische, Krabben, Muscheln, Vögel, Schweine, Eier.....Wir werden unseren Speiseplan eben ein wenig umstellen müssen, Vargas! Wir werden eben jagen und fischen müssen!" "Bis jetzt hat noch keiner einen Fisch gefangen, Capitan. Und bis heute hat auch noch keiner versucht, einen dieser Vögel zu braten und aufzuessen! Haben sie schon mal versucht, einem Tölpel das Ei wegzunehmen? Alvarez will mal eins gegessen haben, aus Neugierde. Er hat gesagt, er werde nie mehr ein Ei essen, nie mehr - egal welcher Vogel es gelegt habe, kein Hühnerei, kein Entenei, nichts mehr! Und die Schweine, die müssen wir erst mal kriegen. Einen Tölpel zu fangen, ist keine Kunst. Aber diese Ungeheuer? Die sind bei Gott viel flinker als die Tölpel. Die rennen weg so schnell sie können auf ihren kurzen 475
Beinen, sobald sie etwas sehen, was einem Gewehr gleicht. Das kommt davon, daß man immer wieder - nur so zum Spaß - auf sie geschossen hat. Wenn es stimmt, was man sagt, sind sie ungenießbar. Sie sollen unerträglich nach faulem Fisch schmecken. Wenn wir die fangen und essen müßten! Gebe Gott, daß es nicht so weit kommt! Und die Krabben...... Es ist egal, ob wir sie kochen oder braten. Die paar Fäserchen trockenen Fleisches unter dem dicken Panzer schmecken so ekelhaft nach Tran, daß Sie lieber verhungern, Capitan! Ich weiß auch das von Alvarez, er hat es ausprobiert. Zwei Stunden hat er sie in Salzwasser gekocht. Dann hat er sie mit dem Hammer zerschlagen und das Fleisch aus den Scheren gequetscht. Er hat sich sofort übergeben. Es muß widerlich gewesen sein." Am nächsten Tag schnitzte Tirza eine kleine Querrille über die erste Markierung ihres Kalenders, so daß sich ein winziges Kreuz, bildete, das den ersten November anzeigte. Es war der Tag des Totenfestes und der Todestag ihrer Eltern. Tirza erinnerte sich noch an alle Einzelheiten der Schreckensnacht von San Miguel. Sicher hätte sie das Datum vergessen, wenn sie nicht auf die Idee mit dem Kalender gekommen wäre. Sie hatte nach dem Besuch der Cleveland kaum mehr an das Datum gedacht. Als sie das kleine Kreuz einschnitzte, fiel ihr aber jene Nacht wieder ein und sie erinnerte sich mit Wehmut an die vielen Kerzen. Sie hörte die Stimme ihres Vaters und spürte die tröstliche Anwesenheit ihrer Mutter. Dann brach die Angst über sie herein und sie hatte wieder den Brandgeruch der schwelenden Felder in der Nase. Sie sah die Flammen und die Rebellen, die die Menschen getötet hatten, die sie über 476
alles liebte. Auch die anderen gedachten ihrer Toten und als es Abend wurde, gingen sie gemeinsam hinüber auf die andere Seite der Lagune, um die Gräber zu besuchen. Auf dem Friedhof gab es mittlerweile außer Pablo Najeras Grab das noch frische, viel kleinere Grab von Laura Nava, die in der ersten Oktoberwoche krank geworden war. Arturo Malonardo hatte sich lange verzweifelt um sie bemüht. Aber das kleine, pausbackige Wesen verfiel ihm nach sieben Tagen unter den Händen. Zum Schluß war Laura nur noch ein faltiges, graues Bündel, das nicht einmal mehr die Kraft hatte zu husten. Wenn sich ihr wehrloser Körper schüttelte und versuchte, das Wasser, das sich in den Lungen angesammelt hatte, mit hastigen, stoßweisen Atemzügen loszuwerden, hörte man nur ein entferntes, ziehendes Rasseln, tief in ihrer Brust. Einige behaupteten, Lauras Krankheit hänge mit dem Fehlen der Zitronen zusammen. Zu ähnlich waren die Symptome dem, was man von Seefahrergeschichten her kannte. Arturo Malonardo winkte ab. Und doch sah man, daß ihr Mund voller Blut war, wenn sie ihn ein wenig öffnete, um ihrem Vater etwas zuzuflüstern. `Skorbut! Das ist Skorbut!' raunte Arturo Irra Andrés Nava zu, nachdem er Laura gesehen hatte. Ihm mußte man glauben. Vor Irra hatten sie alle große Achtung. Um Lauras Kniegelenke und Ellenbogen hatten sich schwarze Schatten gebildet und ihre welke Haut war rissig und rauh geworden. Der dunkle Haarkranz hatte allen Glanz verloren und schien mit einer feinen Schicht Staub bedeckt. Als sie starb, suchte ihre Hand die Hand des Vaters und Laura vergewisserte sich, indem sie ihn mit 477
den Fingerspitzen streichelte, daß sie nicht alleine war. Als sie die Hand ihres Vaters spürte, lächelte sie ihn dankbar an bis Andrés Nava erkannte, daß ihr Lächeln nur noch Maske war. Nach Lauras Tod ordnete Ramón Arnaud an, daß sämtliche reifen Kokosnüsse, die der Palmenhain hergab unter den Kindern aufgeteilt werden müßten. Aber es stellte sich heraus, daß man in einer Woche nicht mehr als eine einzige Nuß ernten konnte. Es stellte sich weiter heraus, daß diese eine Nuß immer wieder gestohlen wurde, sobald sie sich reif vom hohen Stamm gelöst hatte und zu Boden geplumpst war. Das änderte sich auch nicht, als der Capitan Wachen am Palmenhain postierte. Was immer also in den Kokosnüssen und Zitronen steckte, das den Skorbut verhinderte, es half auf Clipperton wenig, denn es gab keine Zitronen und viel zu wenig Kokosnüsse. Sie saßen in der Nacht an den Gräbern wie zu Hause auf den Friedhöfen ihrer Dörfer. Anstelle vieler Kerzen brannte eine einzige Öllampe zwischen den so ungleichen Grabhügeln. Es gab keine Blumen und keine Geschenke für die Toten. Als spärlichen Schmuck hatten die Frauen einige Palmwedel auf den nackten Sand gelegt und Geißfußwinden um die Kreuze geschlungen. Als es ganz dunkel geworden war, kam auch Alvarez von seinem Felsen herüber, kauerte sich etwas abseits auf den Boden und wickelte sich fest in seinen Sarape. Sombrero saß an Lauras Grab und spielte ein Lied auf der Gitarre. Die besänftigende Ruhe, die von den Gräbern ausging, ließ sie bis in die Morgenstunden ausharren. Erst 478
als es in der Frühdämmerung zu regnen anfing, standen sie auf und gingen schweigend zurück ins Lager. 30 Tirza hatte am Morgen die fünfunddreißigste Kerbe in ihren Kalender geschnitzt. Gegen elf Uhr kamen alle zusammen, um im Speiseraum neben der Küche zu beraten, wie es weitergehen sollte. Es kamen alle, auch die Kinder. Eine Woche zuvor war Leticia Vargas im Alter von sechs Jahren gestorben. Es war dasselbe unheimliche Bild wie bei Laura. Auch ihr kleiner Bruder Luis lag jetzt im Bett und konnte nicht mehr auf den Beinen stehen, weil sich seine Kniegelenke nicht mehr bewegen wollten und immer mehr anschwollen. Wenn er den Mund öffnete und sich über die Schmerzen in seinen Gliedern beklagte, sah man, daß sich seine weißen Zähnchen rosa verfärbt hatten. Er leckte mit der Zungenspitze das Blut ab und spuckte es aus. Es wußten jetzt alle, daß es Skorbut war. Man hatte auch mit Schrecken erkannt, daß sich diese unheimliche Krankheit als erstes über die Kinder hermachte. Es waren aber nicht nur Kinder, die zu dieser Zeit an Skorbut erkrankt waren. Auch der sensible Eusebio Gerovia wurde eines Tages von plötzlichen Anfällen unüberwindlicher Müdigkeit überfallen, so daß er am hellichten Tage mehrmals im Stehen einschlief und umfiel wie ein schief abgestellter Maissack. Seine Knie knickten beim Gehen ein. Er sah mitleiderregend aus, wenn er sich, um Luft zu holen und mit der Anstrengung fertig zu werden, auf dem Weg vom Hangar zu seiner Hütte alle paar Schritte niederkniete und mit den Händen abstützte. Bei ihm konnte man auch den mit der Krankheit einhergehenden 479
Auszehrungsprozeß in allen dramatischen Phasen beobachten. Die Haut die sich sonst glänzend und rosig über gesunden Fettpolstern spannte, hatte keine Zeit, so schnell zu schrumpfen, wie sein Bauch an Masse verlor. Erst verschwand der Glanz, dann faltete sie sich und wurde weißlich und runzlig, wie die Haut auf abgestandener warmer Milch. Auch an den Armen und Beinen ließ sie sich plötzlich so leicht abheben wie das Nackenfell eines jungen Hundes. Er konnte nicht mehr aufstehen und das Sprechen fiel ihm schwer. Sein Mund verwandelte sich in ein stinkendes Loch und seine Lippen schwollen an und rissen auf. Man gab für sein Leben keinen Pfifferling mehr. An jenem Morgen, kurz nach elf, betrat Ramón Arnaud mit Pascual Vargas den vollbesetzten Speiseraum. Pascual trug einen Korb und stellte ihn auf den Tisch unter das Kruzifix. Über den Korb hatte er ein weißes Tuch gebreitet. Ramón Arnaud stellte sich hinter dem Tisch auf, legte beide Hände auf den Korb und begann mit klarer, ruhiger Stimme eine Art Ansprache: "Aus noch nicht erkennbaren Gründen ist das Versorgungsschiff diesmal nicht gekommen und seit mehr als zwei Monaten überfällig. Wir wissen nicht, wann das Schiff kommt, können jedoch davon ausgehen, daß Umstände, die mit dem Aufstand in unserem Lande zusammenhängen, die Pacific Phosphate Company an der pünktlichen Erfüllung ihrer vertraglichen Verpflichtungen nur vorübergehend gehindert haben, und daß die Verantwortlichen alles tun werden, um uns rechtzeitig mit allem zu versorgen, was wir brauchen. Über kurz oder 480
lang wird ein Schiff kommen und unsere leeren Vorratskammern wieder auffüllen. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir gewissermaßen im Krieg sind und keinen Anspruch auf eine Versorgung wie im Frieden haben. Es ist uns zuzumuten, daß wir für eine absehbare und begrenzte Zeit einmal den Riemen enger schnallen und uns mit dem begnügen, was die Insel für uns bereithält. Dazu ist es aber auch notwendig, daß wir die organisatorischen Notwendigkeiten dieser Situation - ich sage bewußt nicht Notsituation, weil eine Notsituation noch nicht eingetreten ist - miteinander besprechen. Es ist weiter nötig, daß wir gemeinsames Handeln beschließen, um es erst gar nicht zur Notsituation kommen zu lassen, auch dann nicht, wenn das Versorgungsschiff wider Erwarten nicht innerhalb der nächsten zwei bis drei Wochen eintrifft. Es gibt keinen Grund, in Panik zu geraten. Wir dürfen nicht vergessen, daß auch bei der Pandora immer wieder Verspätungen vorkamen und daß solche Verspätungen einkalkuliert sind. Aus diesem Grund haben wir einen Notvorrat, der allerdings diesmal durch den Schiffbruch der Nokomis teilweise aufgebraucht wurde. Pascual Vargas hat alle noch vorhandenen Vorräte in diesen Korb gepackt." Arnaud hob das Tuch ab und kippte den Korb so weit, daß alle seinen Inhalt sehen konnten. "Leute, das ist alles, was wir noch haben. Ab heute muß jeder für sich selbst sorgen. Aber das heißt, wie ich schon andeutete, nicht, daß jeder machen kann, was er will. Wir werden uns darum bemühen, das Beschaffen von Nahrung - so gut das geht - gemeinsam zu meistern. Damit uns das gelingt, teilen wir die Aufgaben auf. Einer von uns wird mit einer kleinen Gruppe ihm zugeteilter Leute für die Nahrung aus dem Meer sorgen, ein anderer übernimmt 481
die Jagd auf Vögel und beschafft Eier. Ein Dritter wird den Abschuß der Schweine in Angriff nehmen. Die besondere Situation hat mich davon überzeugt, daß es besser ist, wenn wir die notwendigen Beschlüsse gemeinsam fassen. Es soll jeder das Gefühl haben, für den anderen mitverantwortlich zu sein und sein Bestes geben zu müssen. Ich möchte daher, daß die Verantwortlichen heute demokratisch von uns allen gewählt werden, ohne Rücksicht auf deren militärischen Rang, und daß wir uns alle verpflichten, den Anordnungen der so Gewählten Folge zu leisten." Ein Raunen ging durch den Raum. Capitan Arnaud hatte soeben an militärischen Grundfesten gerüttelt. Er hatte etwas Aberwitziges, Verrücktes vorgeschlagen. Er hatte seine Befehlsbefugnis auf Leute übertragen, die nicht von ihm bestimmt werden sollten. Er gab keine Befehle mehr, sondern ließ abstimmen. So etwas hatte es in all den Jahren nicht gegeben. So etwas hatte es in der ganzen mexikanischen Armee noch nicht gegeben! Ramón Arnaud spürte die Unsicherheit seiner Leute, ging aber nicht darauf ein, sondern sprach rasch weiter: "Das hat alles seine guten Gründe, denn bei der Fischerei zum Beispiel werden wir noch viel lernen müssen. Wir haben von der Fischerei keine Ahnung. Wir wissen noch nicht mal, welche Fische unserem Magen zuträglich sind und welche nicht. Bis heute ist außer dreier magerer Makrelen nichts gefangen worden. Wir müssen die Fangmethoden verbessern, müssen Fantasie und Erfindungsreichtum entwickeln. Wir werden geeignete Angeln, Reusen und Fangnetze konstruieren, wir werden die Korallen nach Muscheln absuchen und im seichten Wasser und am 482
Strand den Muränen auflauern. Nur so werden wir so viel aus dem Meer holen, daß wir satt werden. Bei der Jagd auf Vögel müssen wir sehr behutsam vorgehen, um sie nicht zu vergrämen. Solange sie so vertraut sind wie jetzt, solange sie nicht fortfliegen, wenn wir an ihre Nester herankommen, ist die Jagd einfach. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, daß die Vögel bis heute nur gute Erfahrungen mit uns gemacht haben. Wenn sie erst spitzkriegen, daß wir hinter ihnen her sind, werden sie auffliegen, bevor wir auf Schußweite herangekommen sind. Deswegen muß die Vogeljagd von einem geschickten und dafür besonders geeigneten Mann geleitet werden. Wenn wir alle gleichzeitig, womöglich mit krachenden Gewehren, hinter ihnen her sind, wird es bald vorbei sein mit der Jagd. Ich könnte mir vorstellen, daß wir die Vögel am besten in der Nacht fangen, dann sehen sie nichts und merken kaum, was ihnen geschieht. Bei der Jagd auf die Schweine ist das ähnlich. Sie wissen schon lange, daß von uns nichts Gutes kommt. Sie halten schon jetzt respektvollen Abstand. Wenn wir die kriegen wollen, müssen wir Treibjagden veranstalten oder Verstecke bauen, in denen wir ihnen auflauern können. Wenn jeder einzelne von uns seine Erfahrungen an die Verantwortlichen weitergibt, wird es denen leichter fallen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ein weiterer wichtiger Mann wird der sein, der die Verteilung und Ernte der Kokosnüsse übernimmt. Wir werden ab jetzt nicht mehr nur die Nüsse einsammeln, die herunterfallen, sondern die Ernte organisieren. Wir werden 483
sie nicht mehr planlos herunterschießen - dabei werden zu viele unreife erwischt oder reife zerschossen -, sondern hinaufsteigen und den Reifungsprozeß überwachen. Die reifsten Nüsse werden gepflückt und an die Kinder verteilt. Wer Kokosnüsse stiehlt oder auch nur auf einer Palme erwischt wird, wird erschossen. Wir wissen alle, daß die Kinder die Kokosnüsse brauchen. Zwei tote Kinder müssen genug sein." Ramón Arnaud gab keine Erklärung dafür, warum die Erwachsenen die Kokosnüsse weniger notwendig brauchten, als die Kinder. Er hob die Stimme ein wenig an, und wer genau hinhörte, merkte, daß sie zitterte. "Wir werden jetzt die verbliebenen Vorräte unter uns aufteilen", fuhr Arnaud fort. Er hob den Korb wieder ein wenig an und zeigte auf etwa zwanzig Päckchen Zwieback, einen halbgefüllten Zehnpfundsack Mehl und etwa acht Pfund Trockenfleisch. "Das ist alles, was wir noch haben!" sagte er. Er zählte seine Leute, so als wüßte er nicht, wieviele es sind, und begann dann zögernd den Zwieback und das Dörrfleisch zu verteilen. Zum Schluß gab er Pascual Vargas den Auftrag, mit dem Mehlrest Brote zu backen und sie am nächsten Morgen an die Leute auszugeben. Nach der Verteilung, die ruhig und ohne Diskussionen verlief, stellte sich Arnaud wieder hinter den Tisch: "Wir müssen nun die Vorleute wählen, und zwar fangen wir mit dem Obmann für die Schweinejagd an. Wer hat einen Vorschlag?"
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"Ich schlage vor, wir entscheiden uns für den besten Schützen unter uns: Carlos Monroy!" rief Pedro Cardona. Sombrero, der ganz hinten am Fenster saß, erschrak, weil er seinen bürgerlichen Namen seit Jahren nicht mehr gehört hatte. "Es kommt nicht darauf an, Teniente, daß einer gut schießen kann, er muß die Jagd planen und leiten können", warf Andrés Nava ein. "Carlos kann beides, er schießt gut und hat gute Ideen", sagte Ramón Arnaud, "Sombrero hat im September das große Wettschießen gewonnen. Er hatte sieben Ringe mehr, als du, Nava. Er hat die Ausbeutung des Nordostfeldes vorgeschlagen und dort Schulz vertreten. Er ist ein ausgezeichneter Schütze und wird uns sicher bald beweisen, daß er auch ein pfiffiger Jäger ist. Carlos Monroy ist kein schlechter Vorschlag!" "Ich könnte das auch gut übernehmen mit den Schweinen", rief Alvarez dazwischen und stand dabei auf. "Warum können wir das nicht zu zweit machen? Zwei Leute können mehr als einer." Arnaud winkte ärgerlich ab und bedeutete ihm, sich wieder hinzusetzen: "Das macht nur einer, ein einziger Verantwortlicher mit seinen Leuten! Du hast bereits eine wichtige Aufgabe! Du bleibst auf deinem Felsen und schaust nach den Schiffen!"
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Alvarez brummelte etwas, das keiner verstand und nahm polternd wieder Platz. Es entstand ein leises Gemurmel, das Arnaud nach einer Weile ungeduldig unterbrach: "Hört auf mit dem Privatgeschwätz! Wer was zu sagen hat, soll's laut tun. Also, wer ist nun für Sombrero?" Die Hände gingen hoch. "Bist du einverstanden, Carlos?" Sombreros Hutkrempe wippte dreimal heftig und signalisierte Zustimmung. "Sehr schön, daß wir uns so schnell einig wurden! Jetzt bitte ich um Vorschläge für den Fischereiobmann." "Esteban Gadea!" rief einer, "der hat die drei Makrelen gefangen." Alles lachte. "Warum nicht? Von ihm stammt immerhin die Idee, Ölfaßgriffe zu Angelhaken umzufunktionieren. Er ist einer der jüngsten, aber von uns älteren hat ja auch keiner mehr Erfahrung mit der Fischerei. Wer von den Lachern ist dagegen? Wer möchte nicht, daß Esteban Gadea die Fischerei übernimmt?" Niemand meldete sich.
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"Gut, Esteban, du kümmerst dich um die Fischerei! Einverstanden?" Esteban nickte ergeben. Dann wählten sie nach einer längeren Diskussion über die Vogeljagd Florencio Cepeda zum Vormann für diese am wenigsten heikel erscheinende Aufgabe und bestimmten schließlich durch Handaufheben Ramón Arnaud dazu, die Kokosnüsse richtig zu verteilen. Bei diesem letzten Punkt gab es Auseinandersetzungen, die über eine halbe Stunde dauerten. "Warum sind die Nüsse nur für die Kinder?" rief Alvarez in gereiztem Ton dazwischen. "Das ist ganz einfach", erwiderte Arnaud mit fester Stimme, "die Kinder wachsen noch und brauchen sie am meisten. Ihre Körper haben noch nicht die Widerstandskraft von uns Erwachsenen. Wir müssen zusehen, daß wir die Zeit bis das nächste Schiff kommt, alle miteinander überstehen. Die Kinder würden uns ohne die Nüsse wegsterben - wie wir das auf traurige Weise an Laura und Leticia erfahren mußten. Das darf nicht wieder geschehen. Wir Erwachsenen überstehen den Skorbut besser. Es ist schon lange bekannt, daß in Früchten und im Grünzeug irgendetwas steckt, was den Skorbut bekämpft. Das ist der einzige Grund, warum uns Martínez regelmäßig Zitronen schickte. Ich bin mir sicher, daß auch die Kokosnüsse diesen Stoff enthalten. Vielleicht ist es ein Gift, das die Skorbutbazillen tötet, ich weiß es nicht. Aber wir Erwachsenen - so viel ist sicher - kommen gegen den Skorbut besser an als die Kinder. Wir können die Kinder nur am Leben erhalten, wenn wir es so machen, wie ich es 487
vorgeschlagen habe. Ich würde es nicht mehr wagen, in den Spiegel zu sehen, wenn noch mehr Kinder sterben müßten!" Alvarez stand wieder auf. Diesmal klang seine Stimme erregt und böse: "Jetzt spielen Sie sich plötzlich auf, Capitan, aber damals im Juni, als man uns allen anbot, mit der Cleveland nach Hause zu fahren, als man uns in Sicherheit bringen wollte, da haben sie den Vorschlag, ohne uns überhaupt zu fragen, abgelehnt und haben kein bißchen an die Kinder gedacht. Sie haben es einfach darauf ankommen lassen. Damals war von demokratischer Abstimmung nicht die Rede und jetzt spielen Sie sich plötzlich auf als der Herr über Leben und Tod und verteilen Freilose für das Leben an die Kinder. Wenn Sie selbst, Capitan, das Amt im Palmenhain übernehmen, haben Sie es ja einfach, Nußdiebe an Ort und Stelle zu erschießen. Das ist doch viel einfacher, als wenn man die erst zu ihnen schleppen müßte. Nicht wahr? Aber sie haben es ja auch einfacher als wir alle, an die Nüsse heranzukommen, ist es nicht so, Capitan?" Alvarez schaute lauernd in die Runde und fragte, ohne Ramón Arnaud Zeit zu lassen, etwas zu erwidern: "Wer ist gegen den Vorschlag des Capitans? Wer ist dafür, daß alle Kokosnüsse bekommen? Wer ist dafür, daß sie gerecht und gleichmäßig verteilt werden?" Die meisten hielten vor Überraschung und Schreck die Luft an oder sahen betreten zu Boden. So hatte Alvarez noch keiner erlebt. Er war offensichtlich übergeschnappt. Keiner konnte sich erinnern, daß irgendjemand so mit dem Capitan geredet hätte. 488
"Er meint es nicht so. Ich denke, der einzige der für dieses Amt in Frage kommt, ist unser Capitan", sagte Andrés Nava, um der Situation ein wenig die Peinlichkeit zu nehmen. "Dann ist die Diskussion beendet?" fragte Arnaud mit schneidender Stimme und sah mit versteinertem Gesicht in die Runde. "Es ist mir ganz egal, was hier diskutiert wird", warf Alvarez trotzig ein, " niemand hat hier das Recht für mich zu sprechen. Ich werde mir das besorgen, was ich brauche. Da könnt Ihr beschließen was ihr wollt. Ich bin kein Soldat. Mir hat niemand etwas zu befehlen. Schulz ist nicht mehr da, Capitan. Er allein war zuständig für mich. Aber Sie haben mir nichts zu sagen! Und sollte irgendeiner wagen, auf mich zu schießen: ich bin ein guter Schütze und ein schneller Schütze und habe in La Habana alle Hundsfotte erledigt, die mir an den Kragen wollten." Arnaud lief rot an, riß mit einer schnellen Bewegung sein Pistolenholster auf und ging langsam um den Tisch herum auf Alvarez zu, der keinen Schritt zurückwich: "Ich werde dir zeigen, wer für dich zuständig ist! Ich will dir etwas sagen, du kleiner, pockennarbiger Zivilist", zischte er. "Höre gut zu! Ich will dir dieses Eine sagen, und ich rate dir, gut zuzuhören: Ich werde dir persönlich das Genick brechen, wenn ich irgendwann, irgendwo auch nur das kleinste Krümelchen Kokosnuß zwischen deinen Zähnen sehe."
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Ramón Arnaud zog mit einer raschen Bewegung die Pistole aus dem Holster und hielt Alvarez den Lauf der Waffe an die Stirn. "Laß es dir gesagt sein: Ich werde dir das Maul aufreißen, du feiger Coyote, wann immer ich dich kauen sehe, und dir das Gehirn aus dem Kopf blasen, wenn ich sehe, daß das, was du frißt eine Kokosnuß ist. Hast du mich verstanden, du Kröte?" Alvarez wich zurück, starrte ihn haßerfüllt an, setzte sein Wollkäppi auf, drehte sich wortlos um und verließ den Raum. Ramón Arnauds Rechnung ging nicht auf. Eine Woche später starb der kleine Bernardo Cepeda, zwei Tage nach seinem fünften Geburtstag. Eine Woche danach, drei Tage vor Weihnachten, folgte ihm Eusebio Gerovia. Es war unheimlich anzusehen, wie schnell der Skorbut seinen Körper zerstörte. Das einzige, was alle über Skorbut wußten, war, daß einem nach einiger Zeit die Zähne ausfallen und daß das Zahnfleisch zu bluten anfängt. Keiner hatte sich vorher mit dieser furchtbaren Krankheit beschäftigen müssen. Die meisten hielten den Skorbut für etwas Unangenehmes, eine lästige Beeinträchtigung des Wohlbefindens wie Mundfäule, Wanzen oder Krätze, aber kaum einer vermutete hinter dem Wort Skorbut eine todbringende Krankheit. Jetzt plötzlich sahen sie an Eusebio und den Kindern, was Skorbut wirklich ist, und die berechtigte Angst davor, ebenso krank zu werden und auf so elende Art zu sterben, 490
lähmte die Leute, wie die Angst vor der Pest die Menschen vor zweihundert Jahren gelähmt hatte. Damals wälzte sich die Menge schreiend zu den Pestsäulen und in die Kirchen, flehte Gott um Hilfe an und fand in den Kirchen den Trost gemeinsamer Not. Hier aber gab es noch nicht einmal eine Kirche. Eusebio hatte, bevor er starb, seine Zähne der Reihe nach ausgespuckt. Aber das war es nicht allein. An den Armen und Beinen bildeten sich unter seiner Haut blutgefüllte Säcke, die nach einiger Zeit aufplatzten und ihren Inhalt in sein Bett ergossen. Die Haut löste sich in großen Lappen vom Fleisch. Schließlich lagen seine Gelenke bloß und gelbliches Gewebewasser sickerte über Waden und Unterarme. Eusebio sah aus und roch, als sei er schon gestorben. Obwohl er noch lebte, konnte man den Zerfall seines Körpers, dieses Fortschreiten der Verwesung bei lebendigem Leib, von Stunde zu Stunde, gegen das Ende zu sogar von Minute zu Minute in allen Phasen beobachten. Sein Körper war in steter, fließender Bewegung. Er löste sich auf, zerschmolz, zerfloß buchstäblich vor seinen entsetzten Freunden. Man hatte, als er endlich die Augen schloß, sogar den Eindruck, als wäre dieser abstoßende Auflösungsprozeß selbst dem Tod zuwider gewesen. Der Friede der Erlösung auf Eusebios zerstörtem Gesicht erweckte den irrtümlichen Eindruck, als bedaure der Tod den schrecklichen Zerfall wie einen schlechten Scherz und versuche jetzt, nachdem alles zu spät war, ihn wieder aufzuhalten.
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Diejenigen, die noch keine Krankheitssymptome an sich bemerkten, versuchten von Weihnachten an, sich durch immer emsigere Aktivitäten von der ihr Leben bedrohenden Gefahr abzulenken. Um diese Zeit sprach niemand mehr von dem Schiff, das da noch kommen sollte. Manche hatten sich in das unvermeidliche Schicksal gefügt und warteten mit geschlossenen Augen auf das Ende. Es wurde immer deutlicher, daß niemand das Desaster überstehen würde, wenn sie nicht an vernünftige Nahrung herankämen. Sie konnten Fisch und Seevögel essen soviel sie wollten, es half nichts, sie brauchten Zitronen. Gesprochen wurde darüber aber nicht mehr. Kokosnüsse und Zitronen, die allerunscheinbarsten und billigsten Früchte, die man auch auf dem allerkleinsten mexikanischen Gemüsemarkt frisch und saftig im Überfluß findet, wurden, umgeben von der Aura ewigen Lebens, plötzlich zu unerreichbaren Schätzen. Das unklare Wissen um die Kraft, die in Kräutern und Früchten steckt, erzeugte einen unstillbaren Heißhunger nach allem, was grün war. Alle Versuche, die wenigen Stengel des wilden Tabaks, die unscheinbaren Leguminosenpflänzchen, die moosgrünen oder silbergrauen Flechten, die harten Stengel und Blätter des Heliotrops, die an den Überhängen oder in den den Krabben nicht zugänglichen Nischen des Felsens wuchsen, den Seetang, der bisweilen im Norden angeschwemmt wurde, auf ihre Tauglichkeit im Kampf gegen den Skorbut zu untersuchen, schlugen fehl und endeten in Bauchkrämpfen und spritzenden Durchfällen.
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Esteban Gadea war keine schlechte Wahl gewesen. Er brachte seit Weihnachten mit tröstlicher Regelmäßigkeit täglich vier oder fünf große Fische heim. Er wurde von Agustin Rodriguez' elfjährigem Sohn Gabriel und Alfredo Silva unterstützt. Als erstes hatte er aus dem Darm größerer Korallenbarsche haardünne und brauchbare Vorfächer für seine Angeln entwickelt. Er reinigte den Darm sorgfältig mit Meerwasser, schnitt das etwa fünfzig Zentimeter lange Mittelstück heraus, knüpfte an einem Ende einen Knoten und befestigte dieses Ende mit kleinen Nägeln an einem Balken. Dann hängte er jeweils ein Magazin voller Patronen an das andere Ende und ließ den Darm, der durch das Gewicht der Patronen stark gedehnt wurde, einige Tage im Schatten trocknen. Er bewegte den Darm alle paar Stunden, indem er dem Magazin einen kräftigen Drall gab. Das verfestigte und verzwirnte die häutigen Stränge des Darmgewebes und machte sie obendrein geschmeidig. Wenn der Darm ganz trocken war, verknotete er ihn um den Haken. Der Haken hing nun an einem kaum mehr sichtbaren aber äußerst widerstandsfähigen Vorfach. "Es ist kaum zu glauben", sagte er zu Alfredo Silva, und hob mit dem verdrillten Darm einen schweren Stein auf, "es ist unglaublich was der Darm dieser Barsche aushält!" Die Fische bissen mit einem Mal an, und die Vorfächer rissen selbst dann nicht, wenn ein dreipfündiger Papageienfisch an der Angel zappelte.
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Anfangs wateten die Fischer hinaus, so weit das ging. Dann aber trat der kleine Gabriel auf einen Steinfisch und sie mußten die Stacheln der Rückenflosse aus seinem Fuß ziehen. Zwei Stunden später brach er zusammen, wurde bleich wie Wachs und verlor das Bewußtsein. Nach zwei Tagen wachte er wieder auf, konnte aber das verletzte Bein nicht mehr bewegen. Es dauerte noch eine Woche, bis Gabriel wieder laufen konnte. Aus Angst vor den Steinfischen hatten sie es wieder aufgeben, nach Muscheln zu suchen. Sie machten auch schlechte Erfahrungen, als sie einen Rotfeuerfisch herausgezogen hatten. Esteban packte ihn am Bauch, unterhalb der riesigen Rückenflosse, die sich in feurig roten und orangefarbenen Stacheln aus dem Fisch spreizte, um ihm den Prügel auf den Kopf zu hauen, da stieß er einen Schrei aus und warf den Fisch in hohem Bogen zurück ins Wasser. Estebans Arm schwoll an wie ein Elefantenfuß und er erbrach sich. Dann kam ein böses Fieber, das ihn die Nacht über in seinem Bett herumschüttelte. Am nächsten Tag schwoll der Arm wieder ab. Was ihn jedoch noch ein paar Tage an die giftigen Rückenstacheln des Fisches erinnerte, war eine Art lähmender Schläfrigkeit und immer wiederkehrendes Nasenbluten. Von da ab ließen sie auch die Rotfeuerfische in Ruhe, obwohl sie sehr gut schmeckten. Keiner hatte die Gefährlichkeit der Steinfische und der Rotfeuerfische gekannt und sie wußten nicht, welche Gefahren im Wasser sonst noch auf sie lauerten. Seither fischten sie nur noch vom Boot aus oder setzten sich unter einen großen Sonnenschirm auf den Landungssteg.
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Nachts streifte Esteban allein am Strand entlang und lauerte den Muränen auf, von denen er wußte, daß sie manchmal das Wasser verließen und am Uferstreifen Eidechsen jagten. Die Muränen waren besonders fett und schwer. Man mußte sie nur sofort mit einem kräftigen Schlag erledigen, weil sie auch außerhalb des Wassers, im Korallensand des Ufers unheimlich schnell waren. Sie bewegten sich nicht in den schlängelnden, bedächtigen Windungen der Kobras, wie man das aufgrund ihrer Schlangengestalt erwartete, nein, sie schossen wie ein toller Hund geradewegs auf einen zu und konnten dabei sogar ein gutes Stück in die Höhe springen. Wenn es Esteban nicht besser gewußt hätte, er hätte einen Eid geschworen, sie hätten zehn kräftige Beine. Sie bissen mit ihren scharfen Zähnen fürchterlich zu und schlugen tiefe Wunden, die Fieber erzeugten und nicht heilen wollten. Man mußte auch sehr leise sein und beim Pirschen darauf achten, daß man keines dieser aalartigen Monstren übersah und versehentlich darauf trat. Das war schwierig, weil das Gewimmel der Krabben nachts den gesamten Uferstreifen in Bewegung setzte und weil es fast bei jedem Schritt ein knackendes Geräusch gab, wenn man auf eine Krabbe trat und deren Panzer sprengte. Sicherheitshalber trug Esteban bei seinen Pirschgängen daher Stiefel, die bis zu den Knien reichten. Trotz allen Eifers erwischte er in einem Monat nicht mehr als zwei obendrein ziemlich mickrige Muränenexemplare. Dafür wurde er sechsmal angegriffen. Die Muränen schmeckten gekocht trotz ihres furchterregenden Aussehens nicht schlecht und bereicherten den Küchenzettel. Esteban
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Gadea und Pascual Vargas sagten aber keinem, was da aufgetischt wurde. Es gibt Fisch, hieß es, nichts weiter. Auch Florencio Cepeda war bei seinen Vogelexpeditionen erfolgreich. Er hatte sich auf die lautlose Jagd mit Netzen spezialisiert. "Wenn wir mit den Gewehren losballern, werden wir bald keinen Vogel mehr auf der Insel sehen!" sagte er seiner kleinen Mannschaft, die außer ihm selbst aus Gabriels älterem Bruder Juan Pablo und Vincente Bantista, einem stämmigen, mürrischen Junggesellen von vierundzwanzig Jahren, bestand. Die drei marschierten immer nach Einbruch der Dunkelheit los, schlichen sich an die am Boden in ihren Nestern schlafenden Tölpel heran, warfen ein aus festem Garn grobmaschig geknüpftes Netz über das Nest und drehten den überraschten Vögeln den Kragen um, noch bevor die einen Krächzer von sich geben konnten. Nur selten gab es dabei ein unvorhergesehenes Geräusch, das die anderen Vögel hätte alarmieren können. Sie brachten meist acht bis zehn Tölpel in Pascual Vargas' Küche und begannen noch vor Tagesanbruch, sie zu rupfen und auszunehmen. Wenn die Tölpel ihres Federschmucks beraubt und über dem Benzinherd ordentlich gesengt waren, sahen sie aus wie Gänse. Aber sie schmeckten nicht wie Gänse. Ihr Fleisch war zäh und tranig. Erst als der Hunger keine Wahl mehr ließ, lernte man es, zu vergessen, wie widerwärtig die Vögel schmeckten.
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Merkwürdig ist, daß die Kinder diesen absonderlichen Braten von Anfang an ohne Widerstand annahmen. Sie gaben dem neuen Gericht sofort einen Namen, nannten es Bobo, und störten sich überhaupt nicht an dem ekelhaften Gestank der kaum zu zerkauenden, sehnigen Brocken, die man ihnen auf den Teller legte. Nach einiger Zeit mochten sie alle nichts anderes mehr, sie verschmähten Estebans Fische und auch die Eier, die Florencio anfangs von seinen nächtlichen Raubzügen mitbrachte. Das Einsammeln der Eier wurde bald wieder aufgegeben. Alvarez hatte recht gehabt. Sie waren auch in der Not nicht genießbar. Sie schmeckten wie ein Gemisch von Kernseife und Lebertran. Auch die Krabben ließen sich nicht verwerten. Ihre mageren roten Körper bestanden fast nur aus Schalen. Die wenigen faserigen Muskeln, die man aus den Beinchen und Scheren zupfen konnten, schmeckten übel und machten nicht satt. Tirza wußte, daß man Geißfußwinden nicht ungekocht essen durfte, aber sie wollte doch ausprobieren, ob sie sich, gut abgegekocht, nicht als Gemüse eigneten. Sie gewann Alicia Arnaud und Julieta Cepeda für das Experiment. Sie pflückten hinter der Hütte eine kleine Menge der saftigen grünen Stengel und kochten sie ab. Als Tirza das Wasser abgegossen hatte, lag wirklich ein spinatähnliches Gemüse im Sieb, das angenehm nach frischem Holz duftete. Es schmeckte, gesalzen und mit rotem Pfeffer gewürzt, noch nicht einmal schlecht. Es war mild und hatte lediglich den leicht säuerlichen Nachgeschmack der Tamarinden. Sie aßen jede zwei, drei kleine Löffel und plauderten befriedigt noch eine Stunde, 497
ohne daß sie irgendeine Unverträglichkeit feststellten. Dann aber beantwortete ihr Körper das Experiment ganz plötzlich und in heftigster Weise. Keine der Damen schaffte den Weg zum Häuschen am Hangar. Sie stürzten hinter Tirzas Haus, hockten sich wie Hühner auf der Stange nebeneinander an den Ufersaum, stöhnten laut, bäumten sich auf unter kolikartigen Schmerzen und beförderten mit stierem, landeinwärts gerichtetem Blick das unbekömmliche Gemüse in dünnem Strahl ins Wasser der Lagune. Sombrero ging die Schweinejagd mit großer Begeisterung an. Er ließ sich aus der Waffenkammer zehn MauserKarabiner und zweihundert Schuß Munition geben. "Sie wollen doch keinen Krieg gegen die Schweine anfangen?" fragte der Capitan besorgt. "Capitan, Wir müssen sehen, welche drei Gewehre am besten schießen!" antwortete Sombrero. Dann machten er sich mit den beiden von ihm auserwählten Jägern, nämlich Pedro Cardona und Arturo Irra, auf den Weg zu den Phosphatgräben. Jeder trug drei Gewehre, nur Arturo Irra trug auf jeder Schulter zwei und in einer Patronentasche, die er um seinen Hals gehängt hatte, die gesamte Munition. Sombrero stellte vor einem Phosphathaufen eine flache Holzkiste auf die Schmalseite und nagelte ein weißes Blatt Papier, das er aus einem Notizblock herausgerissen hatte, auf den Kistenboden. In die Mitte des Papiers zeichnete er mit einem Stück Holzkohle ein schwarzes Kreuz; an den oberen Rand 498
schrieb er: "1 Cardona". Sie schritten einhundertzwanzig Schritt nach Norden ab, bis sie die Geleise und eine dort abgestellte Kipplore erreicht hatten. Sombrero nahm die beiden Säcke von der Schulter und ging über die Geleise bis zu einer flachen Senke, die mit feinerem Sand gefüllt war. Er zog sein Hemd aus, kniete nieder, hielt den einen Sack mit einer Hand auf und schaufelte mit der anderen Sand hinein, bis der Sack halb gefüllt war. Schließlich schleifte er die beiden Säcke hinter sich her und kam über die Geleise zurück. Er breitete die Säcke nebeneinander auf dem Stahlrahmen der Lore aus und drückte unter sägenden Bewegungen mit dem ausgestreckten Arm eine tiefe Furche in das Sackleinen und den darin verpackten Sand, so daß man im Liegen bequem das Gewehr auflegen konnte. Sombrero legte sich als erster hin, drückte das Gewehr in die Furche und schob es so zurecht, daß man einerseits zwischen den Säcken den Abzug erreichen konnte, daß aber andererseits das Gewehr festlag wie in einem Schraubstock. "Ja, so geht es", sagte er befriedigt. "Pedro schießt zuerst. Jeder macht drei Schuß aus jedem Gewehr, das sind neunzig Schuß in der ersten Serie." Pedro stellte die Kimme auf 100 ein, legte sich in den Sand und repetierte. Dann kniff er das linke Auge zu und schoß. Hinter der Kiste sah man den Sand aufspritzen, aber man konnte nicht erkennen, wo der Schuß saß. Die Entfernung war zu groß. Pedro schoß noch zweimal, dann ließen sie das Gewehr in der Furche liegen und wanderten hinüber zum Ziel. Zwei Schüsse saßen knapp nebeneinander auf dem Papier, etwa eine Handbreit vom 499
Kreuz, in der rechten oberen Ecke. Der dritte saß knapp außerhalb im Holz des Kistenbodens. "Schießt rechts hoch!" sagte Sombrero, wechselte die Scheibe und klebte das Papier mit den Einschüssen mit Spucke auf den Schaft.. Auf das neue Papier schrieb er oben in die Ecke: "1 Irra". Arturo Irra schoß nicht schlecht. Seine Schüsse lagen noch dichter beisammen, alle im oberen linken Quadranten. "Diese deutschen Gewehre schießen gut", sagte Arturo, "das da ist jedenfalls sehr brauchbar für die Schweine!" "Werden sehen", sagte Sombrero skeptisch, während er seinen Hut zur Seite legte, die Zunge halb herausstreckte, das linke Auge zukniff und aus einer konzentrierten, bewegungslosen Starre heraus, die seinen ganzen Körper ergriff, abdrückte. Gegen elf Uhr waren sie bei "9 Cardona" angelangt und hatten einen Stapel von 80 zerschossenen Zielscheiben, die der Auswertung harrten. Gegen Mittag waren die Schießübungen vorerst beendet. Sombrero sah ein, daß sie auf weitere "Serien" verzichten konnten. Sie schleppten die mit Kohlestrichen markierten Gewehre mit den zugehörigen Zielscheiben in Sombreros Hütte, hockten sich um den Tisch und verglichen die Treffer.
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Es gab keinen Zweifel, die Gewehre 1, 7 und 8 fielen deutlich aus dem Rahmen. "Es kommt nicht darauf an", sagte Sombrero, "daß die Schüsse genau in der Mitte auf dem Kreuz liegen. Viel wichtiger ist es, daß sie irgendwo auf der Scheibe alle möglichst nah beieinander sind. Wir suchen uns also die drei besten Scheiben aus. Das sind die, wo die Schüsse am wenigsten streuen. Jetzt kommt das Wichtigste: Wir müssen das Visier verstellen, daß alle drei Gewehre auf den Punkt schießen. Sie müssen auf hundertzwanzig Schritt genau auf dem Kreuz liegen. Wir werden die kleine Schraube an der Mündung lösen und das Korn mit dem Holzhammer sanft in die Richtung klopfen, wo die Schüsse liegen. Wenn es nach links schießt, klopfen wir das Korn auch nach links und wenn es nach rechts schießt, klopfen wir das Korn nach rechts." "Und wie willst du wissen, wann du genug geklopft hast?" fragte Pedro. "Das ist ganz einfach! Wir ziehen das Schloß ab und legen das Gewehr wieder in die Furche. Wenn du dann durch den Lauf siehst, erkennst du den dunklen Ring des Patronenlagers und den hellen Punkt der Mündung. Du mußt so durch den Lauf sehen, daß der helle Punkt genau in der Mitte des dunklen Rings sitzt und daß du obendrein noch den Stock erkennen kannst, den wir hundert Meter entfernt lotrecht in den Sand stecken. Dann darfst du das Gewehr nicht mehr berühren. Du schaust vorsichtig über das Visier. Wenn das Visier auch auf den Stock zeigt, natürlich viel tiefer als der Lauf, dann liegen wir richtig. 501
Wir schrauben dann das Korn wieder fest und machen nochmal einen Probeschuß. Zum Schluß stellen wir mit zwei drei Schüssen den Schieber der Kimme so ein, daß die Schüsse auch in der Höhe richtig liegen." "Du weißt 'ne ganze Menge, Sombrero", sagte Arturo Irra mit Hochachtung in der Stimme. Sie gaben also sieben Gewehre zurück, gingen mit den drei auserwählten Waffen ein zweites Mal zu ihrem Schießplatz und hängten "1 Cardona" an einen Pfahl, den sie in einhundertzwanzig Schritt Entfernung in den Sand gerammt hatten. Sombrero zog das Schloß ab und versenkte das Gewehr in der Sandfurche. Er schob es sauber zurecht, legte sich auf den Bauch und sah angestrengt durch den Lauf. "Jetzt liegt es richtig!" Er kroch ein wenig zurück, daß er durch den Lauf sehen konnte, und visierte. "Ein ganzes Stück zu weit rechts!" seufzte er. Er nahm den Hammer und klopfte sacht gegen das Korn. Dann legte er sich wieder auf den Boden und spähte erst durch den Lauf und dann über Kimme und Korn. "Noch ein ganz kleines bißchen!" flüsterte er, beugte sich nach vorn und machte drei zarte Hammerschläge. Wieder lag er im Sand und guckte durch den gezogenen Lauf.
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"Nummer eins hätten wir!" sagte er befriedigt und stand auf. Die drei Probeschüsse saßen zu hoch, aber senkrecht über dem Zielkreuz. Pedro verschob den Schieber der Kimme um einen halben Strich und schoß noch einmal. "Noch einen halben Strich!" sagte er stolz. Schließlich lagen die abschließenden Schüße alle drei so sauber im Zentrum, daß man sie auf einem Fünfzigcentavostück hätte unterbringen können. Am Abend verriet Sombrero seine Strategie: "Paßt auf! Wir machen es folgendermaßen: Morgen abend vor dem Dunkelwerden treiben wir mit allen Leuten, die wir auftreiben können, die Schweine auf beiden Seiten der Insel hinauf zum Felsen. Sie werden sich in den Schluchten des Felsens verkriechen. Auf dem Isthmus machen wir dann ein Feuer, damit sie sich nicht herauswagen und über Nacht im Versteck bleiben. Am nächsten Morgen werden wir auf der Landenge - die ist ja nicht breiter als fünfzig Meter - in gleichen Abständen Stellung beziehen. Einer steht links an der Lagune, der andere an der Felsenbucht, einer genau in der Mitte. Dann sollen die anderen hinter dem Felsen ordentlich Krach machen und Feuer anzünden. Das wird die Schweineviecher aus den Löchern treiben. Die Biester haben keine Wahl. Sie müssen über den Isthmus, wenn die anderen von hinten kommen. Wenn sie die engste Stelle erreichen, schießen wir sie ab. Aber nicht mehr als zwei! Keinesfalls mehr als zwei! Sonst verdirbt das Fleisch, bevor wir es aufgegessen haben." "Wir machen Wurst!" jubelte Arturo Irra. 503
"Wir machen eine zehn Meter lange Wurst! Und Schinken wird es geben!" bestätigte Pedro euphorisch. Am nächsten Abend schlich eine schweigsame Prozession hinüber zu den Phosphatgräben, wo sie die Schweine ausgemacht hatten. Es waren etwa zwölf Stück, die sich in einem der tieferen Löcher suhlten. Die Prozession teilte sich auf in einen nördlichen und einen südlichen Zug. Die Schweine wurden schleichend und von geduckten Jägern und Treibern in die Zange genommen, so daß Sombrero schon erwog, die ganze Angelegenheit an Ort und Stelle zu erledigen und die Schweine kurzerhand bereits in ihrem Loch unter Feuer zu nehmen. Eine kapitale Muttersau mit vier Ferkeln machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Als das wachsame Schwein die Jäger aus der Dämmerung kriechen sah, blaffte es zweimal tief und blies dann so drohend, daß sogar Sombrero, der mit Pedro die Spitze der nördlichen Zange bildete, erschrak und vergaß das Gewehr hochzunehmen. Die übrigen Schweine rumpelten quiekend aus dem Loch und formierten sich zu einem keilförmigen Fluchtgeschwader, das von der Muttersau angeführt wurde und in überstürzter Eile in Richtung Eierinseln verschwand. Die Ferkel wuselten verloren hinterdrein. Jetzt wurden Fackeln entzündet und der Zug der Jäger teilte sich wieder. Die eine Hälfte zog schweigend nach Süden. Die andere rannte, Fackeln schwingend und mit Gebrüll und Geschrei hinter den Sauen her. Franciscos
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Horn hallte weit über die Lagune und vermittelte den Eindruck einer veritablen Parforcejagd. Eine halbe Stunde später riegelte die südliche Gruppe die breite Stelle südlich des Felsens ab, so daß die Schweine, wenn sie vom nördlichen Zug auf den Isthmus zugetrieben würden, nicht den Weg über das Südostufer nehmen und so dem Felsen ausweichen konnten. Als die Sperrkette formiert war, gaben sie mit kreisenden Fackeln Signale nach Norden, die etwa vom Camp des Naturalistes her hektisch erwidert wurden. Der nördliche Zug, der dort gewartet hatte, bis der südliche in Stellung war, setzte sich wieder in Bewegung. Man hörte die Schweine schon von Weitem. Etwa in Höhe des Friedhofs eräugten sie die Fackeln am Felsen und erkannten die Gefahr. Sie versuchten erst umzukehren und nach Norden auszuweichen. Man sah nichts, hörte sie aber nervös blasen, mal von der Lagune her, dann wieder aus der Richtung des Riffkanals, und zwischendurch erschütterten ihre Füße trappelnd den kiesigen Untergrund, so daß man selbst auf die große Entfernung spürte, wie sie zwischen den ungewohnten Fronten hin und her hetzten. Dann plötzlich dröhnte es auf Pedro zu, wie eine Herde wildgewordener Mustangs, und die Schweine bogen, jetzt im Fackelschein deutlich erkennbar, mit panischem Geschrei nach Westen ab und rasten über den rettenden Isthmus hin zu den schützenden Schluchten des Felsens. In die wilde Jagd hinein, die bis dahin perfekt nach Plan verlief, krachte ein Schuß von Alvarez' Hütte her, die die 505
Schweine wohl eben passierten. Der ganze Pulk schwenkte wie ein erschrockener Vogelschwarm wieder nach Osten und stob zurück über den Isthmus und unvermittelt auf Sombrero zu, der vor Wut schreiend auf dem Kies herumhüpfte: "Warum schießt du, warum hast du bloß geschossen, du blöde Sau?" schrie er hinüber zu Alvarez, der jetzt im Licht einer Fackel vor der Hütte erkennbar wurde. "Himmelarschnochmal, warum schießt du jetzt? Warum ausgerechnet jetzt? Kannst du uns, verflucht nochmal, sagen, warum du diesen dämlichen Schuß abgegeben hast?" Da kamen die Sauen an. Sombrero fuhr herum und schrie "Zusammenrücken! Zusammenrücken! Alle herkommen! Schnell!" Aber es war bei Gott zu spät. Die Sauen überrannten die ganze Mannschaft. Es ging zu wie im Schlachthof von Tlatelolco. Noch nie hatte man auf der Insel die Schweine so erbärmlich quieken, so entsetzt schreien hören, und noch nie war ein solches Höllengewitter von übergeschnappten Muttersauen über irgend eine Jagdgesellschaft dieser Welt hinweggefegt. Die Sauen verschwanden im Westen in der Nacht. Pedro und Sombrero standen auf und klopften den nassen Sand von den Hosen. Sombrero brachte seinen Hut wieder in Position und Francisco blies "Jagd vorbei". "So eine gottverdammte Scheiße! Dieser Alvarez ist ein Arschloch von Gottes Gnaden! Heilige Muttergottes, ist das ein Idiot!" sagte Sombrero leise zu Pedro, als sie wieder in Richtung Camp marschierten.
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31 Alle Versuche, der Schweine habhaft zu werden, schlugen fehl. Es wurde nicht ein einziges erlegt. Sombrero gab sich alle Mühe: er pirschte sich in der Dämmerung des Palmenhains an sie heran, er lag im Vogelmist in den Schluchten des Felsens, er grub tiefe Löcher an der Pointe Verte und lauerte ihnen auf. Er beschmierte sein Gesicht mit Ruß, tarnte sich mit dürren Palmblättern, steckte sich die raschelnden, gelben Wedel in den Gürtel und begrünte seinen Hut mit Geißfußwinden, alles in der vergeblichen Hoffnung, sich dadurch dem scharfen Blick der Schweine zu entziehen. Ganze Nächte brachte er in den staubigen Löchern zu und kämpfte verbissen und leise fluchend mit den Krabben. Er klaubte sie vom Rand seines Hutes, pflückte sie mit zwei Fingern von den Schultern, trat sie mit dem Stiefelabsatz in den Sand oder schleuderte sie hinunter ins Wasser der Lagune. Dabei versuchte er, so gut das ging, die Deckung zu halten und sich nicht zu verraten. Aber die Schweine eräugten ihn auch dann noch, wenn er in der Dunkelheit die Hand nicht mehr vor den Augen erkennen konnte, und schauten ihm aus sicherer Entfernung zu, wie er seine Löcher grub oder sich schüttelte, um die lästigen Krebse loszuwerden. Dann verzogen sich die Schweine gelangweilt auf die Westseite. Es gab keinen Platz auf der Insel, wo Sombrero sich vor ihnen verstecken konnte. Wenn sie sich in den Schluchten des Felsens suhlten, hockte immer einer der ganz alten Eber davor und spähte nach Sombrero aus. Die Schweine 507
liebten den Felsen, weil es sonst keinen Platz gab, wo sie sich vor dem Wind und der Sonne schützen konnten. Die Eber besaßen ein fast übersinnliches Wahrnehmungsvermögen. Sie hatten neben dem Empfindungsspektrum, das gewöhnliche Schweine haben, einen sechsten, siebten und achten Sinn und witterten, hörten und erspähten ihn schon, wenn er seine Behausung noch gar nicht verlassen hatte und nur mit dem Gedanken spielte, auf die Jagd zu gehen. Sobald Sombrero die Tür seiner Hütte hinter sich schloß, sobald er sich nur irgendwo aus weiter Ferne blicken ließ, hörte man vom Felsen her ein aufgeregtes Grunzen, ein warnendes Blasen, und die Schweine, die tief im Schatten des Felsens gedöst hatten, schreckten blaffend hoch, krochen blinzelnd und quiekend aus den Spalten, bildeten hinter dem Eber einen keilförmigen Zug und zogen mit ihm gemächlich in weitem Abstand vor Sombrero her. Sie richteten es immer so ein, daß sie zwischen sich und Sombrero die Lagune hatten. Es war Sombrero ganz und gar unmöglich, es war überhaupt nicht daran zu denken, auf Schußentfernung an sie heran zu kommen. Alvarez wäre der einzige gewesen, der sie vielleicht von seiner Hütte aus hätte erlegen können, weil die Schweine seine Anwesenheit für selbstverständlich hielten und ihn auf weniger als einen Steinwurf herankommen ließen, wenn er die Hütte verließ. Aber Alvarez weigerte sich strikt, noch einmal auf sie zu feuern. "Glaubst du, ich laß' mich für dumm verkaufen?" schrie er durch die hohlen Hände über den Isthmus, als ihn Sombrero, ebenfalls laut schreiend und mit den Fäusten drohend, aufforderte, das Gewehr in Anschlag zu nehmen. Alvarez schrie in 508
gleicher Lautstärke zurück: "Erst laßt ihr mich nicht mitmachen, dann kommt ihr mir dumm und unverschämt! Ich werde nicht schießen, und wenn sie mir die Hütte einrennen, laß dir das gesagt sein! Ich hänge nicht mal das Gewehr von der Wand, wenn sie aus dem Felsen kommen, du Arschloch!" Und die Schweine kamen aus dem Felsen und trotteten seelenruhig an Alvarez vorbei, der seinen Kopf aus dem Fenster streckte und dabei grinste. Man kann es Alvarez eigentlich nicht verdenken, daß er den Jägern keinen Gefallen mehr tun wollte, denn Sombrero war am Morgen nach der Katastrophe allein zu Alvarez' Hütte gegangen und hatte ihn mit noch schlimmeren, noch unflätigeren, noch beleidigenderen Vorwürfen als am Abend zuvor bedacht. Alvarez sagte nichts weiter als: "Am besten schießt du dich selbst in den Arsch, und wenn dir das schwerfällt, werde ich das gerne für dich erledigen!" Alvarez warf die Tür hinter sich zu und ließ Sombrero draußen stehen. So kam es, daß nur die Vogeljäger und die Fischer etwas für Pascual Vargas' Kochtöpfe brachten. Im Januar waren die letzten Krümel Zwieback und der letzte Löffel Frijoles aufgegessen. Die Vögel spürten trotz der Vorsicht der Jäger, was da vor sich ging, und ließen sie nachts nicht mehr so leicht an ihre Nester heran.
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Florencio Cepeda behauptete, die Vögel hätten Nachtwachen aufgestellt, und man stimmte ihm zu, denn immer, wenn er mit seinen Mannen ausrückte, hallte ein langer, heiserer Warnschrei über die Lagune, der scheinbar aus allen Richtungen kam und sich schauerlich anhörte. Der Schrei schwoll an, und es klang so, als orgelte ein einziger riesiger Nachtvogel von hoch oben herunter seinen Warnruf über das Land und das Wasser. In Wirklichkeit war es eine Staffette von vorwurfsvollen Pfiffen und Krächzlauten, die tausendstimmig von Nest zu Nest am Boden weitergegeben wurde und sich als kreischende Schallwolke in die Lüfte erhob. Für die Vogeljäger bedeutete das, daß sie es nicht weiter zu versuchen brauchten. Da half weder sture Hartnäckigkeit noch sanfte Geduld. Sie stolperten in der Dunkelheit über leere Nester und wurden von allen Seiten geschlagen von klatschendem Gefieder und getroffen von harten Schnabelhieben. Sie brachten immer weniger Vögel heim. Pascual Vargas war verzweifelt. Er saß am frühen Morgen an seinem Benzinherd, pumpte Luft in den Tank und starrte den heimkehrenden Jägern mit trübem Blick entgegen, wenn sie die Küchentüre aufstießen und achselzuckend ohne Beute über die Schwelle stolperten. "Por dios! Ihr habt wieder nichts! Was soll ich bloß kochen? Wie soll das weitergehen?" Wenn man die später geschriebenen Berichte mit der nötigen Aufmerksamkeit liest, kann man erkennen, daß der Tag, an dem Esteban Gadea starb, etwa der Zeitpunkt 510
war, wo der große Hunger begann. Bis zu diesem Tag hatte immer noch so etwas wie Hoffnung bestanden, obwohl das niemand laut sagte. An diesem Tag, im Februar - Tirza hatte die hundertfünfte Kerbe in ihren Kalender geschnitzt - brachte Esteban Gadea seine letzten Fische in Pascuals Küche. Esteban streckte Pascual drei Klippbarsche hin und sah ihn aus blutunterlaufenen Augen an: "Ich glaube es ist soweit. Ich kann nicht mehr", sagte er und ließ die Fische fallen. Er kniete langsam nieder und neigte seinen Kopf, als wolle er beten, dann legte er sich vor den Herd neben die Fische, begann am ganzen Leib zu zittern und rollte sich ein wie eine Assel. So starb er ganz ruhig, noch bevor Pascual Vargas sich zu irgendwelchen Hilfsmaßnahmen entschließen konnte. Danach hatten die Leute auf der Insel nicht mehr die innere Kraft, sich um Vögel oder Fische zu kümmern. Sie waren drauf und dran, sich aufzugeben. Die letzte wirkliche Kraftanstrengung, die sie ihren ausgemergelten Körpern noch zumuten konnten oder wollten, war, die Leichen über die Lagune zum Friedhof zu schaffen und dort unter die Erde zu bringen. Es gab keine Zeremonien mehr und es weinte auch keiner mehr, wie damals bei Laura und Leticia. Sie gruben in aller Hast flache Rinnen, legten die Toten hinein und häuften gerade so viel Korallenschutt über sie, daß man nichts mehr von ihnen sah, und daß die Krabben sich nicht über die Toten hermachen konnten. Gleichwohl gaben die Krabben nicht auf. Es lag um die Gräber herum ein schwerer Dunst, der bei Ostwind bis zum Lager getragen wurde. Der Leichengeruch zog ganze Pilgerzüge von Krabben an, 511
besonders an Tagen, wo die Sonne nicht schien. Wenn man vom Felsen auf den Friedhof herunterschaute, sah das Feld um die Gräber aus, als habe man dort ein Faß roter Farbe verschüttet. Die Krebse hockten dicht an dicht auf den flachen Hügeln und markierten einen Fleck von dreißig Metern im Geviert mit ihren roten Panzern. Die Gräber wirkten wie auf der Flucht angelegt, aber jedes Grab bekam ein anständiges Holzkreuz, gekennzeichnet mit dem Namen und den Lebensdaten des Toten, soweit sie bekannt waren. In ihrer Not verlegten sich die Hungernden darauf, wieder Eier zu essen, die mühelos einzusammeln waren. Der Geschmackssinn funktionierte ohnehin nicht mehr und gaukelte ihnen vor, sie hätten den frischen Dotter eben gelegter Hühnereier auf der Zunge. Die Krankheit schlug jetzt erbarmungslos zu. Im März waren vor allem die Erwachsenen an der Reihe. Ramón Arnaud hatte mit seiner Prognose nicht recht gehabt. Die Erwachsenen brauchten die Kokosnüsse ebenso wie die Kinder. Und weil ihnen Arnaud keine Kokosnüsse geben konnte, starben sie. Es war ein unbarmherziger, lautloser Tod, der durch das Lager schlich. Die meisten starben nachts im Schlaf und mußten am Morgen wie Gipsfiguren aus dem Bett gehoben werden. Sie hielten die Arme verschränkt und steif unter dem Nacken verkeilt oder schützend vor dem Gesicht und die Beine standen sperrig und unnatürlich ab, so wie sie die Sterbenden im letzten Erschrecken, haltsuchend vor dem sich öffnenden Abgrund angewinkelt oder gespreizt hatten. Man legte sie dann zugedeckt zwei Tage in den 512
Hangar, organisierte das Begräbnis und wartete, bis sich die Starre wieder löste. Wenn man die Beine, notfalls mit Gewalt, wieder nebeneinander ausstrecken konnte, und die Arme aus ihrer verqueren Stellung in eine brauchbare Haltung zurückkehrten, rollte man die Toten wie Tamales in alte Decken oder Segeltuchreste ein und Andrés Nava verfrachtete sie in einen der Eisenkähne am Westufer der Lagune und ruderte sie hinüber zum Friedhof. "Jetzt weiß ich, warum die Griechen das Reich der Toten nicht finden konnten. Hier und nirgendwo anders ist es, und vor uns liegt der Acheron mit seinen schwarzen Wassern, und Andrés Nava ist der Fährmann Charon", sagte Alicia Arnaud, als das Boot vor ihrem Fenster, mit der eingepackten Julieta Cepeda an Bord, ablegte und unter Andrés' sanften Ruderschlägen im fahlen Licht eines schieferfarbenen Morgenhimmels langsam nach Osten glitt. Manche aber starben auch am Tag und bei vollem Bewußtsein: Vincente Bantista zum Beispiel fürchtete sich so sehr vor dem Sterben, daß er es trotz seines jämmerlichen Zustandes nicht mehr wagte, sich ins Bett zu legen, solange die Sonne nicht untergegangen war. Er hing fest an dem törichten Glauben, der Tod könne ihn nur holen, wenn er im Bett läge, und müsse ihn verschonen, solange er sich wenigstens tagsüber aufrecht hielte. Er dämpfte seine Angst mit der aberwitzigen Vorstellung, der Tod sei ritterlich und honoriere diesen Glauben.
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Doch dann spürte er, wie ihm plötzlich die Luft aus der Brust gepreßt wurde. Er fühlte in den letzten Sekunden den Griff des Würgers um den Hals und hatte keine Zeit mehr zu schreien. Er stand aufrecht da und sah mit bestürzten, weit geöffneten Augen, wie sich der weiße Tod aus dem flackernden Strahlenkranz der Sonne löste; wie er in mächtigen Schritten herunterstieg und mit sieggewohnten Händen zupackte. Er sackte vor seiner Hütte zusammen, wo er gerade stand. Als das geschah, wurde der Tote sofort ausgestreckt und in Decken gewickelt, damit man sich die mühsame Prozedur des Geraderichtens ersparte. Müdigkeit senkte sich auf die kleinen Häuser. Keiner der noch Lebenden hatte mehr den Willen, Holz zu sammeln, Feuer zu machen oder Wasser zu holen. Die Leute waren auch zu entkräftet, um den Weg zum Häuschen am Hangar noch zu schaffen. Sie wankten ein paar Schritte aus ihrer Behausung und machten ihr Geschäft vor der Haustüre. Es kam soweit, daß der Gestank der menschlichen Exkremente den Vogelgestank übertraf. Es wurde keine Wäsche mehr gewaschen und die Kleider der Kinder wurden nicht mehr geflickt. Alvarez hatte seinen Posten auf dem Felsen verlassen, obwohl er und alle anderen wußten, wie wichtig es gewesen wäre, daß einer den Horizont beobachtete. Aber als der große Hunger mit seinen Schmerzen einsetzte, tröstete die Natur die Menschen damit, daß sie ihnen den Verstand vernebelte, so daß sie nicht mehr nachdenken mußten. Man spürte zwar, daß kaum mehr Hoffnung 514
bestand, aber man scherte sich nicht darum. Man hatte Hunger, aber vergaß gleichzeitig, daß man ihn einst mit Nahrung hatte stillen können. Es kehrte eine betäubende Ruhe ein. Man sah gleichgültig zu, wie die Laterne auf dem Felsen erblindete. Auch Ramón Arnaud kümmerte sich nicht mehr um seine Pflichten. Er geisterte bei Tag und Nacht ruhelos und mit müdem Blick durch das Lager, schwankte zwischen den verlassenen Häusern herum und verschloß die Türen, die im Wind schlugen. Er sprach kaum mehr mit seiner Frau und schrieb wirre Notizen in sein Tagebuch, das er im Waffenschrank verschlossen hielt. Er zeichnete utopische Fluchtpläne auf Packpapier und entwarf den Text ellenlanger Telegramme an die mexikanische Regierung, die er ebenfalls alle im Waffenschrank stapelte. Er ließ sich von Pascual Vargas leere Flaschen geben und steckte Zettel hinein, die mit Bleistift hingekritzelte Hilferufe enthielten. Er drückte den Korken ein und tauchte den Hals der Flasche in flüssiges Wachs. Er packte immer zehn Flaschen in einen Tornister, schleppte sie hinauf zur Nordküste hinter den Eierinseln und vergrub sie in einer Sandkuhle, um auf günstige Strömungsverhältnisse zu warten. Das Wasser mußte nach Norden oder Nordosten fließen. Dann, glaubte er, könnten seine Nachrichten die Küste von Mexiko nicht verfehlen. Sie würden durch die Halbinsel Baja California wie von einem Trichter im Golf eingefangen, bildete er sich ein. Er war seiner Sache sicher, so als ob er persönlich einen Brief zum Zug nach México gebracht hätte. Zweimal am Tag prüfte er die Strömung mit Schwemmholz, das er vom 515
Landungssteg aus weit hinaus in den Riffkanal schleuderte. Es geschah in einem Monat höchstens drei, vier mal, daß das Holz langsam nach Norden abtriftete. Dann hastete er sofort hinauf zu seinem Depot und warf alle Flaschen ins Wasser. Er kniete nieder und betete zwanzig Vaterunser und ebensoviele Avemaria und schlich dann zurück zum Lager, während er sich vorstellte, wie seine Nachricht von spielenden Kindern am Strand von Mexiko gefunden und zur Polizeistation gebracht wurde. Er hörte die aufregenden Diskussionen in den Amtsstuben und die Befehle des Jefe über den Telegrafen tickern. Er sah das Schiff auslaufen - ein herrliches weißes Schiff - das geradewegs Kurs nahm auf Clipperton, um sie alle heimzuholen. Als Vargas keine Flaschen mehr hatte, machte er sich auf und suchte erst den Müllplatz und dann die ganze Insel ab. Er umrundete die Insel und suchte nach angetriebenen Flaschen. Dabei geschah es im April, daß er im Osten, hinter dem Felsen, also auf der entgegengesetzten Seite, vier seiner eigenen Botschaften wiederfand, die er einen Monat zuvor abgeschickt hatte. Trotzdem gab Ramón Arnaud nicht auf. Er suchte weiter nach Behältnissen für seine Hilferufe. Er nahm sich systematisch die leeren Hütten vor und suchte in Schränken und Besenkammern und unter den Betten nach schwimmenden Behältern für seine Zettel. Es war ihm dabei so, als ob sich irgendwo auf der Insel der Schlüssel für die Rettung verberge. Aber immer dann, wenn er keine Flaschen fand und die alltäglichen Gegenstände, die er in den Schubladen herumliegen sah, in den Händen hielt, 516
wenn er all die nichtigen Hinterlassenschaften, die Löffel, Messerklingen, Spiegelscherben, Bleistifte, Patronenhülsen, Haarbürsten und Kerzenstummel anstarrte, begriff er, daß es nichts mehr zu finden gab. Er begriff es und suchte trotzdem weiter. Er fand den Schlüssel zu ihrer Rettung nicht. Was er jedoch in einem versteckten Winkel hinter Schulz' Kleiderschrank fand, war ein etwa zwei Pfund schweres Leinensäckchen, das schwarze Samenkörner enthielt. Auf dem weißen Leinen entzifferte er mühsam die kaum mehr lesbare Tuscheaufschrift: Semilla de la Virgen. Er nahm das Säckchen an sich und zeigte es Alicia und Pedro, dann legte er es zunächst in ein Seitenfach des Sekretärs. Er konnte sich nicht vorstellen, wofür die Samen gut sein könnten. Es erschien ihm nicht sehr wahrscheinlich, daß Schulz Blumen, Kräuter oder Gemüse züchten wollte. Schulz hatte die Aussichtslosigkeit solcher Versuche gekannt, er selbst hatte ihm die Geschichte des Inselgartens erzählt. Schulz hätte in einem solchen Fall das Säckchen auch wohl kaum versteckt. Daran, daß der kleine Verschlag hinter dem Kleiderschrank ein Versteck war, gab es keine Zweifel, denn der Platz war weder besonders trocken noch besonders kühl. Er war nichts anderes als ein gutes Versteck. Ramón Arnaud hatte das Säckchen schon halb vergessen, als Arturo Malonardo zwei Wochen später zu ihm kam, um nach Chica zu sehen, die die ersten Anzeichen der Krankheit zeigte. Als Arturo seine Kiste öffnete und Ramóns Blick auf all die Döschen, Gläschen und Tütchen fiel, erinnerte er sich wieder. Er holte die Semilla de 517
Virgen aus dem Sekretär und zeigte sie Arturo. Der öffnete das Säckchen und holte drei Körner heraus. Er roch daran, zwirbelte sie zwischen den Fingern und steckte sie in den Mund. Er zerkaute sie und prüfte sie mit der Zungenspitze, dann spuckte er die Spelzen mit demselben trockenen Geräusch aus, das Ramón Arnaud bei Gustav Schulz so oft gehört hatte. Arturo sah den Capitan entsetzt an und sagte: "Ich habe es gewußt. Ich habe es immer gesagt. Er hat es gefressen das Zeug! Capitan, er hat es gefressen. Das ist Ololiuqui! Wir nennen es zuhause Bado nero. Weiß der Teufel, wo er das hergehabt hat!" Ramón Arnaud nahm das Säckchen und sperrte es weg in den Waffenschrank. Seit Januar wußte Ramón Arnaud, daß seine Frau ein Kind bekam. Die Nachricht verursachte ihm Alpträume. Er war nicht nur schuld daran, daß die Lebenden um ihn herum zugrunde gingen. Damit nicht genug: er war in dieser aussichtslosen Lage so gewissenlos, ein Kind zu zeugen. Er hatte Leben gezeugt, ein Kind das schon zum Tod verurteilt war, bevor es den ersten Atemzug tat. Er hatte gewußt, was das für Alicia bedeuten mußte. Es gab keine Milch. Wo sollte Alicias Brust die Kraft hernehmen, Milch für das kleine Wesen zu erzeugen? Alicia hatte erschreckend viel Gewicht verloren, weil sie alles, was sie an Eßbarem ergattern konnte, den Kindern in den Mund stopfte. Als sie Lydia nicht mehr stillen konnte, mußte das Baby umgestellt werden auf einen Brei von Wasser und zerriebenem Tölpelfleisch. Das war möglich, weil Lydia zu dieser Zeit schon fast zwei Jahre alt war. Alicia 518
erschien so ausgetrocknet, daß es ihre Brust wohl nicht einmal fertigbrächte, das für die Milch nötige Wasser aus ihrem Körper zu ziehen. Wie, um Himmels Willen, sollte sie also das Baby ernähren? Es ist merkwürdig, daß man in Ramón Arnauds Aufzeichnungen, die ansonsten mit nichts hinter dem Berg hielten, keine Selbstvorwürfe fand. Nicht eine einzige Bemerkung bezog sich auf die Verzweiflung, die mit der bevorstehenden Geburt seines vierten Kindes zusammenhingen. Auch seine Frau gab später keine Auskunft über diese schwarze Phase seines Lebens. Nur gegenüber Tirza hatte er einmal geäußert: "Ich verdiene es nicht mehr zu leben, weil ich mit dem Leben derer, die ich am meisten liebe, so fahrlässig umgegangen bin." Es wird wohl so gewesen sein, daß Ramón Arnaud seine Frau durch die Mitteilung seiner düsteren Ängste nicht entmutigen wollte. Er hatte das Gefühl, sie halte das alles nicht mehr aus. Sie aber wußte, daß er weit gefährdeter war als sie selbst, daß seine Gemütsverfassung für ihn und alle anderen eine schreckliche Bedrohung darstellte. Sombrero kämpfte seinen eigenen Kampf gegen den Tod. Als er beim Ausspucken zum ersten Male sah, daß er im Mund blutete, sagte er beherrscht: "Riesenscheiße!" und schob mit dem Stiefel Sand über das rote Signal. Eine ganze Woche sah er einfach nicht mehr hin, wenn er ausspuckte. Dann aber spürte er im Mund den Eisengeschmack des Blutes und bekam Schmerzen in den Gelenken. Er merkte auch, daß ihm bei der geringsten 519
Anstrengung der Schweiß ausbrach, und daß in der Nacht leuchtende Würmer in seinen Augen herumkrochen. Er wußte es, aber er glaubte es nicht. Um sich selbst zu beweisen, daß er noch nicht an der Reihe sei, ging er noch einmal um die ganze Insel herum und fiel dann völlig erschöpft und fiebernd auf seine Pritsche. Am nächsten Morgen stand er wieder auf und klopfte den noch schlaftrunkenen Francisco aus seiner Hütte. Man sah die beiden auf der Westseite zum Felsen hinübergehen. Eine halbe Stunde später stand Sombrero auf dessen Spitze und spürte, daß es zu Ende ging. Auch Francisco spürte es. Um Sombrero aufzumuntern, setzte Francisco das Horn an und blies ein übermütiges Signal hinunter zu Alvarez Hütte. Alvarez schob den Kopf aus dem Fenster und schrie irgendetwas herauf. Der Wind wehte aus Süden und strich pfeifend um die Laterne, daher verstanden die beiden nicht, was Alvarez wollte. Sombrero stieg über die letzten zwei Sprossen ganz hinauf und ging um die Laterne herum zu der Ostseite der Plattform, wo Alvarez' Hütte stand. Dann holte er Luft und brüllte mit einer Stimme, die Francisco erschauern ließ, hinunter: "Hörst du mich, Alvarez? Hörst du mich, du kleiner kubanischer Nigger? Ich muß dir was sagen! Du brauchst nicht so dumm zu glotzen. Du wirst mich nicht verrecken sehen! Da kannst du deinen Schädel aus dem Fenster hängen bis er abfällt! Ich sterbe nicht! Hoheee, hohooo......Mir geht es gut, ich bin gesund wie ein Albatros. Hoheee! Hast du mich gehört 520
du Scharfschütze? Ich werde dir den Gefallen nicht tun, ich werde nicht sterben!" Sombrero wischte sich mit dem Handrücken den Speichel ab, den ihm der Wind ins Gesicht getrieben hatte. Er hob die Arme hoch über den Kopf und brüllte noch lauter als zuvor: "Du bist lange vor mir dran, das sage ich dir! Ich werde dich selbst da drüben.." - Sombrero streckte beide Arme in Richtung Friedhof aus - "eingraben. Du wirst mich nicht eingraben! Hast du gehört? Du nicht! Ich, Carlos Monroy, werde dich Lampenputzer persönlich verscharren! Hast du das kapiert, du pockennarbiger, schwarzer Affe?" Francisco saß auf dem kleinen Absatz oberhalb der letzten Stufe der Holzleiter und hielt sich erschrocken die Ohren zu. Es ging ihm dabei weder um den Lärm, den Sombrero vollführte, noch um das, was er den Felsen hinunterbrüllte. Er spürte, daß etwas Bedrohliches in der Luft lag. Er spürte mit seinen zehn Jahren, daß in Sombrero etwas Furchtbares vorging. Er hörte etwas in der Stimme seines großen Freundes, das ihm solche Angst machte, daß er sich die Ohren verstopfte und mit geschlossenen Augen laut vor sich hin summte. Als Sombrero das sah, kam er bebend vor Zorn zur Leiter herüber: "Hast du gehört, was ich dem Kerl da unten gesagt habe?" schrie er mit unverminderter Lautstärke vom Podest herunter. Francisco duckte sich und schüttelte heftig den Kopf. "Nein? Du hast es nicht gehört? Dann will ich es dir nochmal sagen: Ich werde nicht verrecken!" Francisco zuckte zusammen.
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"Hast du es jetzt gehört? Ich denke gar nicht daran, jetzt schon abzukratzen! Ich werde nicht verrecken!" Francisco begann zu weinen, und Sombrero stieg vom Podest herunter und setzte sich neben ihn. Er legte ihm in ganz und gar unbeholfener, aber ungemein tröstlicher Zärtlichkeit die Arme um die Schulter. Als es mit Sombrero ernst wurde, tobte und heulte er in seiner Hütte herum. Er hatte jetzt erkannt, daß er sich nur noch in einem kleinen Aktionskreis, der allenfalls bis zum Riffkanal reichte, bewegen konnte. All seine Kräfte hatten ihn verlassen. Aber er führte noch immer große Reden. Er sah dem Tod bis zuletzt frech ins Gesicht und beschimpfte ihn, wie einen feigen Dieb. Pedro saß an seinem Bett, und Francisco holte frisches Wasser aus der Zisterne und wusch ihm das Gesicht. Francisco brachte ihm auch heimlich seine Kokosnußrationen, aber Sombrero lehnte entrüstet ab: "Tu das Zeug weg! Ich mag keine Kokosnüsse!" Mitte Mai rüstete sich der Skorbut zur letzten Schlacht gegen seinen hartnäckigsten Widersacher. Der war schwer angeschlagen, aber er gab noch immer nicht auf. Er versuchte noch einmal, in Arturo Malonardo einen Verbündeten gegen den Tod zu finden. "Tu' was, alter Freund", sagte er, "tu' was und hilf mir. Pack deine Schätze aus! Irgendetwas wirst du doch finden in deiner Kiste." Arturo Malonardo der selbst auch schon krank war, fühlte sich bei Sombrero ebenso hilflos wie bei all den anderen. 522
Er brachte ihm aber in einer Schüssel einen roten Sud, den er ihm einflößte. Dieser Sud tat seine Wirkung. Sombrero blühte noch einmal auf. Er stand auf und verließ die Hütte. Er ging zuerst hinüber zum Palmenhain und dann hinaus auf den Landungssteg. Er nahm Francisco das Horn aus der Hand und blies die Valentina. Es klang kraftvoll und unerschrocken. Dann wandte er sich um und gab Francisco das Horn zurück. Als er sich auf dem Rückweg dem Palmenhain näherte, beobachtete Francisco, wie sich Sombreros Gesicht veränderte. Wenn Francisco das Wort dafür gekannt hätte, er hätte wohl von Verklärung gesprochen. Sombrero streckte sich plötzlich und ging aufrecht und langsam auf die Palmen zu. Francisco wich nicht von seiner Seite. Er hörte genau zu, wie Sombrero ins Leere redete: "Ich wußte, daß du nicht einfach weggegangen bist. Ich wußte es! Schön dich wiederzusehen, Paco! Ich freue mich, daß du wieder da bist. Sieh her, ich habe dein Horn für dich aufgehoben!" Sombrero stutzte und blieb stehen. Es sah aus, als ob er jemandem zuhöre. Dann ging er langsam weiter und fuhr fort: "Ja, natürlich begleite ich dich. Ich muß noch Schuhe anziehen. Warte hier auf mich, ich bin gleich zurück! Nur schnell die Schuhe.." Er ging in seine Hütte und sprach mit niemandem mehr. Er zog seine Stiefel an und bürstete den Hut. Am 19. Mai starb Sombrero mit einem angsteinflößenden Lächeln auf den Lippen im Schatten der Palmen. 32
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Anfang Juni 1915 hatten sich auf Antonio Figueroas Schreibtisch einige Briefe angesammelt, die in der Zeit zwischen Weihnachten und Ostern von verschiedenen Absendern an verschiedene Empfänger geschickt und endlich an das Ministerium für Arbeit und öffentliche Angelegenheiten weitergeleitet worden waren. Der erste Brief, der Antonio Figueroa an die Pacific Phosphate Company erinnerte, trug den Absender eines gewissen Alejandro Rovira und war am vierten Februar in Salina Cruz zur Post gegeben worden. Er war ursprünglich an Felipe Najera, Secretario im Kriegs- und Marineministerium, gerichtet gewesen, dann aber von Dienststelle zu Dienststelle gewandert. Der Brief blieb unbeantwortet, bis die Anfrage eines Señor José Cardona aus Veracruz eintraf, die sich ebenfalls mit Clipperton befaßte. Als Antonio Figueroa diesen Brief überflogen hatte, der ursprünglich an General Joaquin Amaro adressiert war, fiel ihm der erste wieder ein, und er kramte ihn aus dem Stapel unerledigter Vorgänge heraus. Er las: Excelencia, hochzuverehrender Señor Secretario! Große Sorge um meine Tochter, Alicia Rovira de Arnaud y Vignon, veranlaßt mich, Eure Excellenz um Beistand zu bemühen. Möglicherweise beruht das Ausbleiben aller Nachrichten auf nichts anderem, als auf den unser Land so sehr erschütternden Unruhen, die, für jeden begreiflich, 524
gewisse Unregelmäßigkeiten im Postwesen mit sich bringen mußten. Mein Verständnis für die außerordentlich schwierige Lage, in der sich sowohl die Verwaltung als auch die Armee in diesen schicksalhaften Zeiten befinden, ist der Grund, warum ich zunächst davon absah, offizielle Dienststellen und Eure Excellenz zu bemühen. Meine Tochter Alicia ist verheiratet mit Capitan Ramón Arnaud von der 7.Infanteriebrigade in Colima und lebt mit ihrem Gatten und ihren drei kleinen Kindern auf Clipperton, einer Insel, welche hierzulande unter dem Namen Isla de la Pasión besser bekannt ist. Capitan Ramón Arnaud hat dort das Kommando über eine kleine Garnison, der etwa fünfunddreißig Soldaten mit ihren Familien angehören. Das seit dem Jahre 1905 mit durchaus verläßlicher Regelmäßigkeit zwischen Mexiko und der Insel verkehrende Versorgungsschiff beförderte bislang neben den für die Garnison bestimmten Vorräten und dem auf der Insel gewonnenen Guano auch die Post. Ich rechne, Excelencia, mit Ihrer Nachsicht für den Umstand, daß sowohl meine Gattin als auch ich selbst zutiefst beunruhigt sind, da wir seit mehr als einem halben Jahr nicht die leiseste Nachricht von unserer Tochter empfangen haben. Dies beunruhigt uns umso mehr, als, wie bereits erwähnt, in all den zurückliegenden Jahren die Post durchaus 525
zuverlässig und mit höchster Regelmäßigkeit in viermonatigen Abständen befördert wurde und, ohne Ausnahme, hier wie dort den Empfänger erreichte. Sie werden, Excelencia, meine Sorge verstehen, da es über die betroffenen Kreise hinaus bekannt ist, daß besagte Insel in äußerster Einsamkeit liegt, und es außer dem Versorgungsschiff keine Verbindung zwischen den auf dem Festland zurückgelassenen Angehörigen und den Bewohnern dieses verlassenen Platzes gibt. Auch wenn ich von großer Zuversicht geleitet bin und davon ausgehe, daß, wie ich bereits andeutete, alles seine Aufklärung und sein gutes Ende finden wird, daß mithin alles nur auf den mit den unruhigen Zeiten einhergehenden Schwierigkeiten und Verzögerungen beruhen dürfte, möchte ich mich als sorgender Vater doch nicht eines Versäumnisses schuldig machen und ersuche Eure Excellenz mit geziemender Höflichkeit, Erkundigungen über das Wohlbefinden und den Verbleib der auf Clipperton stationierten Einheit einzuholen, die mir ohne jeden Zweifel bestätigen werden, daß sowohl meine Tochter, als auch ihr Gatte und meine drei Enkelkinder wohlbehalten und gesund sind. Ich fühle mich Ihnen, Excellenz, in alter Freundschaft tief verbunden und begrüße Sie mit dem Ausdruck allerhöchster Ehrerbietung. Alejandro Rovira.
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"Weißt du, wo die Akte ist, Esteban?" fragte Antonio Figueroa ohne aufzusehen. "Welche Akte?" "Du weißt schon, die Sache mit dem aufgelösten Vertrag." "Die Engländer?" "Ja, die Engländer." "Warum? Was ist damit?" "Da will jemand wissen, was mit den Leuten los ist." "Mit welchen Leuten?" "Na, denen auf der Insel!" "Ist da noch wer? Da stand doch damals in dem Brief, die seien repatriiert worden. Erinnerst du dich an die Liste?" "Klar erinnere ich mich, die sind alle abgeholt worden. Da beklagt sich ein Vater, daß er von seiner Tochter keine Post mehr bekommt. Ich frage dich, wie er Post bekommen soll, wenn auf der Insel kein Mensch mehr ist? " sagte Figueroa, und fuhr nach einer kleinen Pause fort: "Ich sollte mir trotzdem den Brief nochmal ansehen. Der Secretario fragt danach. Weißt du wo sie ist, die Akte?" "Sie wird bei den anderen sein. Im grauen Schrank, oben links!" 527
Figueroa ging die Akte holen. Nach einer halben Stunde kam er zurück, hatte die Akte unter den Arm geklemmt und kaute an einem Burrito. Er wischte die Finger an einem Löschblatt ab, das auf seinem Schreibtisch lag, und blies den Staub vom Aktendeckel. Dann blätterte er langsam bis er den Brief fand. Er nahm ihn heraus. "Da ist er! Ich bin gleich zurück!" sagte er zu Esteban und ging hinauf zu Señor Gaballa. "Wären Sie so freundlich, Señor Gaballa, den Brief nochmal anzusehen? Sie können doch englisch!" "Warum? Was ist damit?" "Der Secretario vom Kriegsministerium will wissen, was mit den Leuten ist." "Den Leuten auf der Insel? Die sind doch zurückgebracht worden." "Ja, ich dachte auch. Schauen Sie sich's nochmal an?" Señor Gaballa lehnte sich aufseufzend zurück und vertiefte sich in das Schreiben. "Da!" sagte er dann, beugte sich weit über den Schreibtisch und zeigte auf den unteren Teil des Blattes: "Da steht es: repatriated. Repatriated heißt repatriado, nach Hause geschickt." Er blätterte um und zeigte auf die 528
Liste: "Da sind sie. Alle der Reihe nach schön ordentlich untereinander gesetzt." Señor Gaballa gab den Brief zurück. Antonio Figueroa bedankte sich. Fünf Minuten später, er kaute noch an den Resten des Burritos, griff Figueroa nach dem Federhalter und öffnete das Tintenfaß, um an den Secretario zu berichten, daß man die Garnison von Clipperton aufgelöst habe - liquidado - und daß die Leute repatriiert worden seien - repatriado. Insofern sei die Sache erledigt arreglado. Über den weiteren Verbleib sei nichts bekannt. Er schrieb auch die Liste für den Secretario ab und heftete sie an seine Antwort. Der Secretario schrieb daraufhin persönlich einen äußerst höflichen und mitfühlenden Brief an Señor Alejandro Rovira, in welchem er ihm zusicherte, er werde alles in seiner Macht Stehende tun, um den Verbleib der Familie Arnaud ausfindig zu machen. Er könne nur bestätigen, daß sich der Name seiner Tochter und der all ihrer Familienangehörigen auf der Liste der im Juni 1914 nach Mexiko verbrachten Personen befinde. Einen weniger höflichen, aber inhaltlich sehr ähnlichen Brief erhielt Mitte Juni Señor José Cardona in Veracruz. Das von Antonio Figueroa stammende Schreiben bewirkte bei Pedros Vater eine zwei Wochen dauernde Serie heftigster Koliken, die ihn an den Rand des Grabes brachte. Bei Señora Cardona bewirkte der Brief den Beginn einer nervenzerrüttenden chronischen
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Schlaflosigkeit, an der sie bis an ihr Lebensende leiden sollte. Die Antwort, die Antonio Figueroa mühsam an José Cardona formuliert hatte, diente später noch mehrmals als praktische Vorlage für eine Reihe weiterer Briefe, die alle dazu bestimmt waren, die Sorgen aufgeregter Mütter, Väter, Tanten, Schwiegereltern, Schwäger, Vettern und Cousinen zu zerstreuen, die sich teils schüchtern, teils zornig nach dem Verbleib ihrer Lieben erkundigten. Wer Mexiko kennt, weiß, daß es in diesem Land nicht einfach ist, von den Behörden irgendwelche, zumal schriftliche Auskünfte zu erhalten, weil deren Beamten, behindert durch einen angeborene Unterentwicklung des Ordnungssinns und gehetzt durch die viel zu knapp bemessene tägliche Arbeitszeit, meist hoffnungslos überlastet sind. So waren die meisten Bittsteller, obwohl sie keine befriedigende Antwort erhielten, überrascht und sogar angenehm berührt, daß man sich herabgelassen hatte, ihrer Anfrage überhaupt Beachtung zu schenken. Eine solche an seine persönlichen Verhältnisse angepaßte Kopie des besagten Briefes erreichte auch Ernesto Ruiz Pappas in seiner Kanzlei am Correo Mayor. "Das ist das dümmste, nichtssagendste Gewäsch, das ich seit Huertas Regierungserklärung gelesen habe", schimpfte Ernesto wütend, als er nach Hause kam und Tonio im Salon antraf.
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"Selbst Napoleons Soldaten", wütete er, "bekamen ordentliche Post, als sie mitten im Winter vor Moskau standen! Das gibt es doch nicht, daß ein Soldat, ja, eine ganze Kompanie verschwindet! Die können die Garnison ja meinetwegen aufgelöst haben, gut, aber wo haben sie die Leute hingebracht? Mexiko ist groß, aber so groß ist es nicht, daß eine Kompanie Soldaten einfach verlorengehen kann. Tonio, das können wir so nicht hinnehmen! Wir müssen der Sache nachgehen." Als Ernesto am nächsten Tag unangemeldet im Ministerium erschien und überraschend in Antonio Figueroas Büro trat, war der Brief der Pacific Phosphate Company verschwunden. Sie suchten erst zu dritt, dann zu fünft einen halben Tag. Sie blätterten all die gebündelten Akten durch, die in den letzten Tagen über Figueroas Schreibtisch gegangen waren. Sie durchwühlten den grauen Schrank und durchstöberten die großen Blechbehälter, in die auf jedem Stockwerk die Papierkörbe entleert wurden, bevor man den Abfall hinunter in den Hof brachte. Sie räumten Schubladen und Schränke aus und beförderten mit dem Besen allen möglichen Unrat unter den Aktenkästen hervor, der Brief aber blieb unauffindbar. Immerhin konnte Señor Gaballa in fließender spanischer Übersetzung wörtlich wiedergeben, was in der Mitteilung der Pacific Phosphate Company gestanden hatte. Besondere Betonung legte er mit dem Ausdruck ratlosen Bedauerns auf die Worte liquidado und repatriado.
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Ernesto Ruiz Pappas sah ein, daß er so nicht weiter kam. Er bemühte einflußreiche Freunde, flehte sie an, ihm zu helfen. Er mußte rasch herausfinden, was geschehen war, aber es war alles umsonst. Das Kriegs- und Marineministerium und das Ministerium für Arbeit und öffentliche Angelegenheiten hatten sich auf eine Lesart geeinigt und bedauerten sehr, nichts tun zu können. Nach dem Abendessen sagte Tonio zu Ernesto: "Hältst du es für ausgeschlossen, daß die noch auf Clipperton sind? Nicht auszudenken, was wäre, wenn man sie gar nicht zurückgebracht hätte!" Ernesto sah ihn verstört an. "Du meinst.....?" "Ja, stell dir vor, die wären noch da.." "Das wäre über ein halbes Jahr! Ohne Versorgung, ohne Lebensmittel? Ich glaube, jetzt geht die Fantasie mit dir durch. Das ist ausgeschlossen! " "Es könnte doch sein.." "Aber der Brief und die Liste! Glaubst du, das ist alles erfunden?" Tonio unterbrach Ernesto erregt: "Den Brief haben die Engländer geschrieben. Weißt denn du, was wirklich drinstand? Hast du ihn gelesen? Hast du die Liste gesehen? Vielleicht war's einfach eine Liste der Inselbewohner?" Ernesto schüttelte den Kopf: 532
"Was hätte so eine Liste in dem Brief zu suchen? Das ergibt keinen Sinn. Das Ministerium weiß doch ohnehin, wer auf der Insel ist. Das brauchen ihnen die Briten wahrhaftig nicht schriftlich mitzuteilen!" "Hast du den Brief in der Hand gehabt, Ernesto? Weißt du, was da über die Liste gesagt wurde?" "Nein, ich habe ihn nicht in der Hand gehabt. Er ist verschwunden. Aber der Beamte, dieser Gaballa, hat mir wörtlich berichtet, was drin stand. Da sind Mißverständnisse kaum möglich." "Weiß Gott, was der da übersetzt hat! Das Englisch der Mexikaner ist mindestens so schlimm, wie das Spanisch der Russen!" "Na ja, Tonio, liquidado ist liquidado, da gibt's doch nichts dran zu rütteln, oder?" "Meinst du? Darauf würde ich mich nicht versteifen! Manchmal werden Worte aus dem Zusammenhang gerissen. Oft genügt schon ein einziges falsches oder fehlendes Wort, um den Sinn eines Satzes vollkommen zu verdrehen! Vielleicht ging es nur um den Ausgleich von Vermögenswerten. Da sagt man doch auch liquidado! Oder es ging darum, daß zwar der Vertrag aufgelöst werden sollte, nicht jedoch die Garnison. Das wäre doch alles möglich! Wer weiß! Ich schlage vor, wir besorgen uns ein Schiff und fahren hin! Wir sehen selbst nach! Das ist die einfachste Sache der Welt. Ja, Ernesto, Wir haben gar keine Wahl. Wir müssen selbst nachsehen." 533
Ernesto sah Tonio entgeistert an: "Die einfachste Sache der Welt? Wir besorgen uns ein Schiff? Fahren hin? Wie stellst du dir das vor? Du hast Ideen! Glaube mir, Tonio, ich würde es ohne nachzudenken tun, wenn es sinnvoll und überhaupt möglich wäre. Aber ich halte es nicht für sinnvoll, weil niemand mehr auf der Insel ist, und es ist unmöglich, weil wir kein Schiff haben. Tirza und Pedro sind inzwischen todsicher wieder in Mexiko. Die haben uns längst geschrieben. Es ist doch nichts Besonderes, daß ein Brief verlorengeht! Das erscheint mir viel natürlicher, naheliegender, als ein Übersetzungsfehler. Die Post ist eben nicht mehr das, was sie mal war! Ich bekam letzte Woche sechs Briefe, die drei Monate unterwegs gewesen waren. Einer hatte von Monterrey nach México sogar vier Monate gebraucht. Wir sollten jetzt gelassen bleiben und vor allem vernünftig reagieren. Aufregung und Hektik helfen uns nicht weiter." "Wir müssen es einfach versuchen!" unterbrach ihn Tonio. "Wenn ich mir von deiner Idee auch nur den geringsten Erfolg verspräche, Tonio, ich würde nicht zögern! Zunächst müssen wir aber davon ausgehen, daß wir keine Möglichkeit haben, kurzfristig ein Schiff aufzutreiben. Es gibt keine Schiffe in unseren Häfen, die sich für das Unternehmen eignen und nicht bereits von den Konstitutionalisten requiriert worden sind. Sie werden alle dringend für den Güterverkehr zwischen den Pazifikhäfen gebraucht. Und sowas wie ein Fischkutter kommt nicht in Frage. Clipperton liegt schließlich nicht im Küstenbereich 534
und der Pazifik hat seine Tücken. Mexikanische Häfen können wir uns für dieses Vorhaben aus dem Kopf schlagen. Wenn überhaupt, müßten wir das von San Diego oder San Francisco aus mit einem amerikanischen Schiff versuchen. Aber ich bin ganz sicher: noch bevor wir ein solches Schiff gefunden haben, tauchen Tirza und Pedro hier auf und erklären uns für verrückt. Die sind doch keine Kinder mehr. Die sind doch mittlerweile erwachsen. Alle beide." Rosalía betrat den Salon und brachte Kaffee. Tonio beachtete sie nicht und erwiderte wütend: "Deine Überlegungen in Ehren! Bevor wir das Risiko eingehen, daß das Mädchen da draußen hockt und womöglich verhungert, müssen wir es doch versuchen, nicht wahr? Wenigstens versuchen müssen wir es! Wir können doch jetzt nicht hier herumsitzen und Wahrsager spielen!" "Es wird eine Menge Geld kosten!" warf Ernesto ein. "Ach ja? Geld wird das kosten? Was für ein Argument! Sonst bist du doch damit nicht so kleinlich. Wenn du Bilder kaufst, ist das jedenfalls kein Thema!" Rosalía stellte den Kaffee ab und schenkte ein. Sie zitterte, und versuchte vergeblich, sich zu beherrschen. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und sagte mit belegter Stimme: "Ich habe gehört, worum es geht. Wenn ihr mir das Mädchen nicht zurückholt, verlasse ich das Haus! Für immer!" Ernesto fuhr auf: "Rosalía, wenn es einen sinnvollen und vor allem realisierbaren Weg gibt, werden wir ihn gehen. Das verspreche ich dir. Wir 535
zerbrechen uns schon eine ganze Weile den Kopf, was wir in dieser verworrenen Lage tun könnten. Es ist nicht so einfach, da hinauszufahren. Wir brauchen ein geeignetes Schiff und Geld. Das ist ein riesiges Problem, das zuerst gelöst werden muß. Es nützt der Sache wenig, wenn du uns drohst." Rosalía verließ ohne noch etwas zu sagen das Zimmer, kam aber schon nach wenigen Augenblicken wieder und legte elf Goldmünzen auf den Tisch: "Hundertzehn Pesos! Das ist alles, was ich habe!" sagte sie mehr zu Tonio als zu Ernesto und unterdrückte dabei die Tränen. Tonio faßte sich an die Stirn: "Rosalía opfert ihr Vermögen! Was sagst du dazu, Ernesto? Jetzt hast du Geld, Bruderherz! Wir holen Tirza und Pedro heim. Rosalía, du kannst auf uns zählen!" Ernestos Gesicht verfinsterte sich. "Aber es geht doch nicht ums Geld! Das wißt Ihr doch beide! Das ist unfair - in dieser Situation! So könnt Ihr mir nicht kommen! Ich habe keine Lust mehr, eure unsachlichen Argumente zu schlucken! Nimm um Himmels Willen dein Geld zurück, Rosalía! Ich werde mit den Gringos reden. Vielleicht haben sie Erbarmen!" Zwei Tage später trat Ernesto Ruiz Pappas mit achthundert Goldpesos im Koffer die große Reise in den Norden an und überquerte vierundzwanzig Stunden später den Rio Bravo in Richtung San Diego.
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Er quartierte sich in einem kleinen Hotel in der Nähe des Hafens ein und verhandelte eine Woche lang mit einer ziemlich zwielichtigen Agentur. Die Verhandlungen gestalteten sich mühselig und die Forderungen für eine zweiwöchige Expedition überstiegen seine Erwartungen bei weitem: Zweihundert Pesos für das Schiff, hundert für den Kapitän, zehn für jede beförderte Person, zahlbar im Voraus. Weil natürlich keiner wußte, ob überhaupt noch Menschen auf der Insel lebten, weil, sofern die Garnison noch existierte, es ganz unbestimmt war, um wieviele Personen es sich handelte, und weil keiner sagen konnte, ob diese Personen überhaupt zurückgebracht werden wollten, sollte Ernesto auch die für zehn Personen fällige Summe von hundert Pesos als anzurechnende, aber nicht rückzahlbare Pauschale bereits im voraus nach Unterzeichnung des Vertrags entrichten. Insgesamt waren also schon vor Antritt der Reise, lange bevor deren Erfolg feststand oder wenigstens absehbar war, vierhundert Pesos in bar fällig. Ernesto überlegte lange. Es gab aber kein Angebot, auf das er hätte ausweichen können. So stimmte er mit flauen Gefühlen im Magen zu. Als man sich auf die gegenseitigen Pflichten und Rechte geeinigt hatte, als die Reisebedingungen und das Finanzielle feststanden und der Vertrag unterschrieben war, hing das Unternehmen nur noch an dessen Genehmigung durch die amerikanische Regierung. Wegen des Zwischenfalls von Tampico und Veracruz hatte der Präsident angeordnet, daß Schiffe unter amerikanischer Flagge mexikanische Gewässer nur mit Genehmigung des State Department befahren durften. Obwohl die nationale Zugehörigkeit der Insel Clipperton noch ungeklärt war, 537
ging man davon aus, daß dort vorläufig mexikanisches Hoheitsgebiet zu respektieren sei. Die Vereinigten Staaten hatten sich ja mit Mexiko unter eben dieser Prämisse über die Errichtung einer Garnison auf der Insel geeinigt. Man teilte sowohl Ernesto Ruiz Pappas als auch der Agentur und dem Reeder am gleichen Tage mit, daß die geplante Reise derzeit nicht erwünscht sei. Auch unter humanitären Gesichtspunkten käme eine Genehmigung nicht in Betracht, da die USS- Cleveland im Juni 1914 alle repatriierungswilligen Bewohner der Insel, auch Nichtamerikaner, kostenlos nach Acapulco und San Diego gebracht habe. Für eine weitere Evakuierungsaktion bestehe weder Bedarf noch Anlaß. Das ließ nun wieder darauf schließen, daß die Insel in der Tat vollständig evakuiert worden war. Verblüffend erschien Ernesto, daß das, was die Amerikaner da von sich gaben, zumindest teilweise mit dem übereinstimmte, was er von den mexikanischen Behörden in Erfahrung gebracht hatte. Es fiel ihm aber dabei auf, daß beide Länder sich merkwürdig verwaschen ausdrückten. Am Tag darauf packte Ernesto Ruiz Pappas zehn Zwanzigpesomünzen in einen Lederbeutel und begab sich nach Einbruch der Dunkelheit an Bord der Stella Maris, die ziemlich am Ende des Pier II lag. Captain Dorian Webster, ein kleiner, verschlagen wirkender Mann mit Katzenaugen, Doppelkinn und Sommersprossen im Gesicht, war allein an Bord und führte Ernesto hinkend hinauf zu seiner Kajüte. Die
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Männer setzten sich an den kleinen runden Tisch, und Webster goß erst sich, dann Ernesto einen Whiskey ein. "Blöde Sache, das mit der Genehmigung!" sagte Webster. "Ja, tragisch. Wir müssen etwas unternehmen. Es geht mir um die Leute da draußen, um sonst nichts", erwiderte Ernesto. "Verstehe, verstehe sehr gut. Ohne Genehmigung geht leider nichts! Nichts zu machen!" "Da bin ich mir nicht ganz sicher." "Was wollen Sie unternehmen? Wollen Sie klagen? Ein Prozeß gegen die Regierung dauert Jahre, und obendrein verlieren Sie ihn!" "Was geschieht, wenn wir trotzdem fahren?" "Gegen die ausdrücklichen Anordnungen des State Department? Ist das Ihr Ernst?" "Ja, wenn es nicht anders geht, gegen die Anordnung", sagte Ernesto. Webster grinste und bildete mit den leicht gespreizten Fingern seiner Hände ein Gitter vor dem Gesicht. Ernesto sah ihn forschend an und stellte das Ledersäckchen mit den Pesos vor Webster auf den Tisch. Webster ließ die Hände vom Gesicht sinken und griff danach.
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"Langsam!", rief Ernesto aus, "schön langsam!" "Wieviel ist das?" "Zweihundert!" "Dollars?" "Nein, Pesos!" "Gold?" "Ja, Gold." "Viel Geld!" "Verdammt viel Geld!" sagte Ernesto. Webster atmete schwer. "Jetzt sieht die Sache anders aus! Nicht wahr, Captain?" "Sie bringen mich in Teufels Küche!" "Wollen Sie's, oder wollen Sie's nicht?" "Wissen Sie, was es bedeutet, wenn sie uns schnappen?" Ernesto nahm, wie vorher Webster, die Hände vors Gesicht und bildete mit den Fingern ein Gitter.
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"Ganz recht, das bedeutet es", sagte Webster, aber jetzt grinste er nicht mehr. "Sie müssen wissen, ob Ihnen das die Reise wert ist!" sagte Ernesto. "Oh, Sir, darum geht es nicht! Sorgen Sie sich nicht um mich! Ich kann mich gut darauf einrichten, für dieses hübsche Beutelchen eine Weile hinter Gittern zu sitzen. Es wäre ja nicht das erste Mal. Ich verdiene mein Geld dann eben sitzend. Aber Sie sitzen genauso lang wie ich, wegen Landfriedensbruchs, Verstoßes gegen das Seerecht und Widerstands gegen den Staat - ohne Geld! Sie kommen nicht nach Clipperton und verlieren obendrein die vierhundert Pesos, die sie mir vor der Abreise auszuhändigen haben. Denn, das dürfen sie nicht vergessen: Ich übernehme keinerlei Garantie - und das Geld ist vor Antritt der Reise fällig - unabhängig vom späteren Erfolg. Es wird nichts zurückgezahlt! So steht's im Vertrag! Dazu kommen dann noch Gerichts- und Anwaltskosten. Oder wollen Sie, wenn Sie Ihr Geld los sind, Armenrecht beantragen und sich einen Pflichtverteidiger zuweisen lassen? Und überlegen Sie sich, wieviel Geld Sie verlieren, falls Sie ein halbes Jahr nichts verdienen können. Ein ganz schönes Risiko, das Sie da eingehen!" "Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß uns die Coast Guard schnappt?" "Ich weiß nicht. Man kann es nicht sagen. Oft sind sie einfach da. Tauchen aus dem Nichts auf. Stehen plötzlich 541
an Deck. Dann sieht man sie wieder wochenlang überhaupt nicht." "Also nicht kalkulierbar?" "Richtig! Nicht kalkulierbar!" "Wagen wir's trotzdem?" "Meinetwegen!" Webster griff nach dem Beutel und schüttelte ihn, daß die Goldstücke klingelten. Ernesto stand auf. "Wann stechen wir in See?" "Morgen abend, unmittelbar nach Anbruch der Dunkelheit. Wir müssen weit draußen sein, wenn es wieder Tag wird." "Haben Sie alles, Captain, was wir brauchen?" "Alles da, Seekarten, Wasser, Lebensmittel, Medikamente. In dieser Hinsicht gibt es keine Probleme. Bringen Sie aber auf jeden Fall das übrige Geld mit, Señor! Vierhundert Pesos! Ohne Geld läuft die Maschine nicht. Die Reederei hat mich nach San Francisco beordert. Wir werden also morgen abend offiziell nach San Francisco auslaufen. Wenn die Hafenbehörden bei der Reederei rückfragen, werden sie meine Angaben bestätigt finden.
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Wir werden Maschinenschaden haben und folglich ein paar Tage später in San Francisco eintreffen. Wer will uns nachweisen, daß wir zwischendurch der Insel Clipperton einen Besuch abgestattet haben?" Sie verließen am nächsten Tag gegen zehn Uhr abends mit fünf Mann Besatzung den Hafen von San Diego und wurden zwei Stunden später von einem Boot der US-Coast Guard aufgebracht. Webster, der insgesamt sechshundert Pesos eingesteckt hatte, behauptete, Ernesto Ruiz Pappas habe versucht, ihn zu bestechen. Dies sei ihm nicht gelungen. Er, Dorian Webster, sei dann von Ernesto Ruiz Pappas mit vorgehaltener Waffe gezwungen worden, den Hafen zu verlassen und die Insel Clipperton anzusteuern. Dieser Sachverhalt wurde von Antony Blair, dem Steuermann, bezeugt, der zum Beweis die geladene Remington vom Kaliber.38 auf den Kartentisch legte. Ernesto Ruiz Pappas habe die Waffe angeblich beim Auftauchen der Beamten eilig hinter dem Tableau für die Positionslampen versteckt. Als sie Ernestos Reisetasche durchsuchten, fanden sie hundertsechzig Pesos in einem Ledersäckchen. Webster behauptete, das sei genau die Summe, die ihm Ernesto Ruiz Pappas für die Reise nach Clipperton angeboten habe, bevor er den Revolver zückte. Er habe natürlich abgelehnt. Er, Webster, lasse sich auch für viel Geld nicht auf krumme Touren ein. Und in der Tat fand man in Websters Kabine insgesamt nur sechsundsechzig Dollar und zweiundsiebzig Cents, deren Herkunft er zweifelsfrei nachweisen konnte.
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Ernesto Ruiz Pappas saß bis zum 3. März 1917 im Gefängnis von San Diego und versuchte ohne Erfolg, seine Unschuld zu beweisen. Er mußte dreihundertdreißig Dollar an seine Anwälte und einhundertfünfundvierzig an das Gericht bezahlen. Weder sein Bruder Tonio, noch seine Freunde konnten ihm helfen. Das Gericht erkannte jedoch an, daß der Tat durchaus moralische Motive zugrundelagen. Dies wirkte sich mindernd auf das Strafmaß aus. Tonio Ruiz Pappas wurde am 6.Juli 1915 eingezogen und fiel bereits am 10. August bei Aguascalientes. Pancho Villa mit seiner Division del Norte hatte sich gegen die Konstitutionalisten Carranzas und seinen alten Rivalen Alvaro Obregón erhoben. Der Bürgerkrieg war noch nicht zu Ende. Rosalía flüchtete sich weinend ins Gebet. 33 Die Nacht war dunkel und mondlos. Ramón Arnaud hielt das geladene Gewehr in der rechten Hand und lauschte auf das Schlagen der Brandung und das Rascheln der Palmen im Wind. Er saß erhöht auf einem Brett zwischen zwei eisernen Böcken und lehnte sich an den rauhen Stamm einer Palme. Um den Krabben keinen Angriffspunkt zu bieten, hatte er die Beine angezogen. Die Haltung war unbequem, aber Ramón Arnaud nahm es gleichgültig hin. Aus der Finsternis stiegen die Bilder der Vergangenheit. Die Jahre schrumpften zu kurzen Augenblicken, die, wie der rasche Bilderwechsel einer Laterna magica, Höhepunkte und Tiefen seines Lebens aus der Nacht ans Licht zerrten und ihn erschreckten. Da tanzten sie, die 544
längst vergangenen Figuren, zwischen den nur geahnten Palmenstämmen zum eintönigen Takt des Meeres. Er sah zu und ließ sich im schläfrigen Ozean der Zeit treiben, ohne seine Position bestimmen zu können. War es gestern? War es heute? Waren sie überhaupt jemals so, wie er sie sah? Hatten sie je gelebt oder trieb er erst auf sie zu? Das Rauschen des Meeres wandelte sich, wurde heller, freundlicher. Da erkannte er es wieder: Es war nicht das Meer, nein, es war das friedvolle Rauschen der Fichten. Es waren die Fichten der Vogesen. Frühmorgens, lange vor Tag, packten sie im heimeligen Licht der Petroleumlampe den Rucksack: die Jagdgläser, das Messer, die Munition und das Gewehr, Brot, Speck, Äpfel. Es roch nach Leder und feuchtem Loden. Der Vater steckte ein flaches silbernes Fläschchen in die Brusttasche und setzte den Hut auf. Hoch oben am Tännchel lag die Hütte, in der sie jedes Jahr die heißesten Augustwochen verbrachten. Eine Stunde marschierten sie lautlos hintereinander her durch den noch schlafenden Wald bis zur Kanzel. Sie saßen Seite an Seite auf der schmalen, harten Bank im Geäst der Eiche, ohne ein Wort zu wechseln. Es waren Stunden großer Vertrautheit. Die Schreckgestalten der Dämmerung wandelten sich in schlichte Bilder des Waldes, in bemoostes Holz, verwachsene Bäume oder hingeduckte Felsen. Der Tag erwachte und die ersten zagenden Vogelstimmen begrüßten das Licht. Das Feuer des Osthimmels vertrieb die Nebelschleier. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß sein Vater je etwas geschossen hätte, wenn er, Ramón, dabei war. Sie hüllten sich im Licht der aufgehenden Sonne fröstelnd in ihre Lodenumhänge und bewunderten schweigend den Morgen über den noch schlafenden Bergen. Nie hatte er sich 545
seinem Vater so nahe gefühlt wie an diesen kostbaren Jagdtagen im Sommer, wenn in der Blattzeit an den taufeuchten Waldhängen die Böcke trieben, wenn ihr heiseres Gebell und das Fiepen der Rehgeißen über die Lichtungen hallte, das sein Vater mit einem singenden Buchenblatt zwischen den Lippen beantwortete. Er hörte das Rätschen der Eichelhäher und das hohle Gurren der Tauben. Die Bienen summten um die Tannenwipfel, Meisen tschirpten und Grünfinken schlugen. Die Wärme des beginnenden Tags brachte Harz- und Honigduft aus dem Tal herauf. Sein Vater nahm das Glas nur selten von den Augen. Aber das Gewehr blieb an einem Ast hängen, der in die Kanzel hineinragte. "Du bist mir ein Jäger! Warum hast du den Rehbock laufen lassen? Es war ein guter Bock! Warum hast du nicht geschossen?" Der Vater wich aus, zuckte mit den Schultern und sagte später, als sie am Tisch vor der Hütte saßen, Weißkäse aßen und dampfenden Kaffee tranken: "Ach laß mal, Ramón! Ich bin kein Chasseur. Ich tauge nicht zur Jagd. Ich bin nur gern im Wald!" Dabei wußte Ramón, daß sein Vater ein ausgezeichneter Schütze war. Er sah zu ihm hinüber in der Finsternis und erkannte, daß er weggegangen war. Er saß nicht mehr auf der Kanzel. Aber Barbara saß an seiner Stelle und lächelte ihn an. Sie lächelte so wie gestern, als sie vor der Schule auf ihn wartete. Dann sah er, daß sie weinte. Sie lächelte und weinte. Warum gehst du? Warum? So weit weg! Ich werde dich nicht mehr wiedersehen. Der Zug ruckte an und weißer Dampf drückte sich für eine Sekunde zwischen ihre Gestalt und seinen ratlosen Blick. Zuerst verschwanden ihre grünen Augen, dann ihre blonden Zöpfe. Am längsten sah er ihren roten Rock, der zu einem roten Punkt, einem Pünktchen 546
wurde, bevor er sich vor der schwindenden Ziegelkulisse des Bahnhofs ganz auflöste. Das Gesicht rückte von der anderen Seite wieder heran. Es war nicht mehr Barbara. Es war Alicia. Alicia Rovira. Sie lachte und streckte ihm die Hände entgegen: Ich wußte, daß du kommst. Auf dich habe ich ein kleines Leben gewartet. Ich hätte noch hundert Jahre gewartet, weil ich wußte daß du kommst. Sie griff nach seinen Händen und tröstete ihn. Du darfst dich nicht fürchten, die Dunkelheit ist bald vorbei. Wir werden wieder Licht sehen und die Finsternis hinter uns lassen. Vor ihm lag Pablo Najera unter einem Berg roter Krabben. Daneben lag das Gewehr. Er bückte sich, um das Gewehr aufzunehmen, da schoben sich Hände aus dem roten Gewimmel und winkten ihm. Pablo Najeras Hände winkten ihm, so als ob er noch lebte, und als ob ihm die Krabben nichts anhaben könnten. Das Meer war wieder da. Das Rauschen wandelte sich, wurde wieder bedrohlich und düster. Das blaue Licht des Morgens brach kalt hinter dem Felsen hervor, und Ramón Arnaud versuchte, sich zu orientieren und sich darüber klarzuwerden, ob es nicht an der Zeit wäre, den Posten zu verlassen. Jetzt erwartete er eigentlich niemanden mehr. Die Gedanken verließen ihn, machten sich selbständig, schwebten über seinem Kopf und wiederholten und verloren sich wie ein Echo in den Bergen. Wozu sitze ich hier? Wer hat mich hierhergebracht? Auf wen wartete ich? Oder wartet jemand auf mich? Lauert jemand auf mich? Es war sinnlos zu warten! Es würde keiner wagen, für eine Kokosnuß sein Leben aufs Spiel zu setzen.
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Er richtete sich auf, schob lautlos mit dem Stiefel die Krabben beiseite, rutschte von seinem Gerüst und schulterte das Gewehr. Da sah er die Gestalt sich langsam aus der Dunkelheit des Palmenhains lösen und zum Strand hinuntergehen. Sie ging nicht schnell und trug einen Beutel oder ein gefaltetes Tuch mit Nüssen auf dem Rücken. Ramón Arnaud nahm das Gewehr wieder von der Schulter, entsicherte es, repetierte und nahm die langsam verschwindende Gestalt ins Visier. Da kam ihm der Gedanke, daß Alvarez ihn womöglich bei seinem Diebstahl gar nicht bemerkt hatte. Daß er ihn in der Dunkelheit des Hains so wenig entdeckt hatte, wie er selbst Alvarez. Ja, der Dieb hatte keine Ahnung, daß er beobachtet worden war. Ramón Arnaud sicherte das Gewehr wieder und ging schwindelig vor Müdigkeit ins Lager zurück. Er warf sich, ohne die Stiefel auszuziehen, aufs Bett und schlief ein. Eine Stunde später machte er sich wieder auf den Weg und klopfte gegen zehn Uhr an Alvarez' Hüttentüre. "Du hast Nüsse gestohlen!" "Ich? Wie kommen Sie darauf, Capitan!" "Du warst heute Morgen im Palmenhain und hast Nüsse gestohlen!", wiederholte Ramón Arnaud unbeirrt.
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"Aber, Capitan, wenn ich es Ihnen versichere! Ich gebe zu, daß es nicht gut war, was ich bei der Versammlung sagte. Aber das heißt doch nicht, daß ich das, was ich im ersten Zorn sagte, auch wirklich tue! Sehen Sie sich um! Durchsuchen Sie meine Hütte! Ich habe keine Nüsse!" Alvarez hüpfte in der Hütte herum, riß die Schranktüren und Schubladen auf, schlug die Decke seines Betts zurück. "Sehen Sie, Capitan, keine Nüsse! Nicht eine einzige Nuß!" "Ich sage es nochmal: du hast Nüsse geklaut und du kennst die Strafe." Ramón Arnaud nahm die Pistole aus dem Holster, richtete deren Lauf auf Alvarez: "Die Nüsse sind für die Kinder! Habe ich dir das gesagt oder nicht?" Alvarez hob die Hände, duckte sich und wich zurück. "Ja, Capitan, ich weiß, aber ich schwöre Ihnen, ich habe nichts gestohlen!" Ramón Arnaud ging an Alvarez' noch geöffneten Schrank, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er holte einen Becher heraus und füllte ihn aus dem Krug, der neben dem Herd stand, zur Hälfte mit Wasser. Dann rührte er fünf Löffel Salz in das Wasser und stellte den Becher auf den Tisch. "Trink!" sagte er. "Das soll ich trinken? Warum soll ich das trinken? Capitan? Was soll das?"
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"Trink!" sagte Ramón Arnaud und setzte sich ihm gegenüber. "Capitan!" "Trink!" Alvarez zögerte noch immer. "Du sollst trinken. Ich sage es dir zum letzten Mal!" Alvarez hob den Becher an die Lippen und schüttelte sich. "Ich kann nicht! Es geht nicht, Capitan!" ächzte Alvarez und spuckte den ersten Schluck wieder aus. "Trink!" Ramón Arnaud zielte auf Alvarez' Kopf. "Heilige Jungfrau, was haben Sie vor, Capitan?" "Du sollst trinken!" "Ich kann es nicht!" Ramón Arnaud krümmte ganz langsam den Zeigefinger, den er um den Abzug seiner Pistole gelegt hatte. Alvarez schloß die Augen und schüttete den Inhalt des Bechers hinunter. Er war grau geworden im Gesicht und sah Ramón Arnaud flehend und entgeistert an. Der beugte sich drohend über den Tisch ohne den Lauf der Pistole zu senken.
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"Wenn du aufstehst, schieße ich dich über den Haufen!" sagte er ruhig. "Mir ist schlecht!" wimmerte Alvarez, "haben sie doch Erbarmen, Capitan, mir ist so schlecht! Lassen Sie mich ins Freie!" "Du bleibst hier sitzen, bis ich dir erlaube, aufzustehen! Wenn du deinen Arsch auch nur einen Zentimeter anhebst, bist du tot!" Alvarez wurde grün im Gesicht, blaue Schatten entstanden unter den Augen, und er sank in sich zusammen. "Erbarmen Sie sich doch, Capitan, was habe ich Ihnen denn getan?" "Sitzenbleiben!" sagte Ramón Arnaud. Alvarez spie die Salzbrühe und die zerkauten Reste einer Kokosnuß auf den Tisch und brach schlotternd zusammen. Ramón Arnaud stand auf, steckte die Pistole zurück und verließ die Hütte. Im Gehen sagte er: "Das war das letzte Mal, daß ich dir irgendwas durchgehen ließ. Das nächste Mal bist du fällig!" Ramón Arnaud ging zurück zum Lager. Er sah die hitzeflirrende graue Fläche vor sich und suchte seinen Weg durch das Korallengeröll. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Alvarez, und er überlegte, ob seine Anordnung damals richtig gewesen war. Oder hatte Alvarez recht, wenn er sagte, daß es ihm, Ramón Arnaud, nicht zukomme, sich als Herr über Leben und Tod aufzuspielen? Es war nicht ganz von der Hand zu weisen, 551
daß er im Unrecht war. Wie kam er dazu, Kranken die rettenden Nüsse zu verweigern? Aber war es auf Schiffen nicht auch so: Kinder und Frauen zuerst? Alvarez war ein rücksichtsloser Dieb. Er hätte seine Strafe verdient gehabt. Er hätte ihn erschießen sollen! Wieviele werden noch sterben müssen? dachte Ramón Arnaud. Wieviele müssen noch gehen, bis die eine Nuß in der Woche ausreicht? Oder andersherum: Wieviele Menschen hält diese eine Nuß am Leben? Drei? Zehn? Fünfzehn? Was hat es für einen Sinn, dachte er weiter, wenn zum Schluß nur die Kinder am Leben bleiben, die deshalb verhungern müssen, weil keiner mehr da ist, der ihnen Nüsse pflückt und Fleisch besorgt. Er dachte an Pascual Vargas' Tod. Pascual war am selben Tag gestorben wie seine Frau. Beide litten unter schlimmen Schmerzen und Arturo Malonardo konnte nicht mehr helfen, weil er selbst auch schon krank war. Die beiden Vargas lagen sich in den Armen als sie starben. Sie umschlangen sich, und es sah nicht aus als ob sie weggehen wollten. Es sah eher aus, als ob sie sich nach langer Zeit, nach einer weiten Reise, begrüßten. Acht Tage später verließ auch Arturo Malonardo schlafend die schreckliche Insel. Wenig später starb Margarita Irra, und Arturo Irra haderte vier Nächte lang mit Gott und fragte ihn, warum er ihn mit Antonio und Francisco alleingelassen habe. "Du kannst mir gestohlen bleiben, mit deiner Seligkeit!" schrie er in die Nacht. Mit Alvarez waren sie jetzt noch zu fünft. Vier Soldaten und ein verrückter Leuchtturmwärter. Sonst war kein Mann mehr am Leben. Nur noch Frauen und Kinder. Wie lange mußten sie dieses Martyrium noch ertragen? Was hatten sie verbrochen? Warum ging das Schicksal so unbarmherzig mit ihnen um? Hatte Arturo Irra mit seinem 552
gotteslästerlichen Aufschrei nicht recht gehabt? Gab es da oben einen gnädigen Gott? Und wenn es ihn gab, warum sah er sie dann nicht? Er mußte sie doch sehen! Sie verkrochen sich nicht irgendwo in den Menschenmassen der Städte, im Schatten der Eichenwälder, unter Dächern und hinter Mauern. Sie versteckten sich nicht im Gewimmel der Märkte und Kirchen. Nein, sie starben übersichtlich und einsam unter freiem Himmel. Ein winziges Häuflein armer Menschen auf dem grausamsten Präsentierteller der Welt. Im Anblick der Sonne starben sie dahin. ER mußte sie sehen. ER mußte es doch sehen, wie sie mitten im Ozean unter seinen Augen zusammenbrachen und verreckten, einer nach dem anderen. ER konnte doch nicht da oben sitzen und untätig bleiben! Und was ist mit der Heiligen Jungfrau? IHM könnte man manches nachsehen, denn Gott ist ein Mann. Ein Macho. Männer sind stark. Männer können, ja, dürfen, müssen grausam sein. Gott war schon immer grausam. Schon tausende von Jahren war er ein Ausbund der Grausamkeit. Man braucht nur die Heilige Schrift zu lesen. Für Gott ist es alltäglich, dem Tod bei seinem unbarmherzigen Handwerk zuzusehen. ER hat uns den Tod ja schließlich geschickt. Aber Frauen? Was ist mit der Heiligen Jungfrau? Warum tat sie nichts für die Kinder? Hat sie nicht selbst eins großgezogen? Hat sie nicht geweint, als ER starb? Sie kannte doch die Schrecken des Todes! Sie war ein Mensch und kannte das Leid, sie konnte sich nicht einfach hinter der Göttlichkeit ihres Wesens verstecken. Warum half sie Ihnen nicht? Warum hatte die Jungfrau sie so im Stich gelassen? Unser Mütterchen von Guadalupe, warum tust du das?
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Er war bereit, alle Schuld und jede Strafe auf sich zu nehmen. Er war schuld an dem großen Unglück. Er ganz allein. Seht ihr nicht wer schuld ist? Begreift ihr das nicht da oben? Straft mich wie ihr wollt, aber rettet die Unschuldigen! Soll ich mich in die Brandung stürzen? Mich erschießen? Wäre das ein Opfer, das ihr annehmen würdet? Ramón Arnaud nestelte an der Pistolentasche und merkte, daß seine Hände zitterten. Er hob die Waffe an die Schläfe, lauschte in das Nichts und vernahm keinen Laut, kein Wort, keinen Trost. "Soll ich abdrücken? Ist es das, was ihr wollt?" schrie er hinaus in das brausende Wasser. Er hörte hinein in das Donnern der Brandung und er glaubte, wenn er die Augen schloß und die Luft anhielt, das eine oder andere Wort zu verstehen, aber die Worte, die er hörte, ergaben keinen Sinn. "Sagt doch was!" schrie er bittend hinaus zum Riff. "Um Himmels Willen, sagt mir, was ich tun soll!" Aber Ramón Arnaud erhielt keine Antwort. Er wandte sich um und sah hinüber zur Lagune. Sie lag da wie ein schlafender See von schwarzem Blei. Nichts rührte sich. Das gegenüberliegende Ufer bewegte sich als zitternder Strich in der aufsteigenden Hitze. Die Sonne stand hinter ihm über dem Felsen und brannte auf seinen Nacken. Die Vögel flogen niedrig und lautlos. Nicht einmal der Wind brachte Leben. Die Luft stand schwül und stickig. Nur die Brandung tobte. Ramón Arnaud ging 554
zum Wasser und schaute wieder hinaus auf das Riff. Die Brandung kommt! Das Meer greift nach uns! Es kommt herein, die Korallen werden es nicht mehr aufhalten können. Die Brandung ist grausam. Aber dort draußen ist Leben! Ja, die Fische hatten alles, was sie brauchten. Sie litten keine Not in ihrem Element. Da unten im Wasser war es kühl und schön. Die vernichtenden grünen Berge die über das Riff stürzten, bildeten die Grenze zum Reich des Todes. Sein Reich. Ramón Arnauds Reich. Er lief am Strand entlang zum Palmenhain. Er setzte sich unter eine Palme und lauschte auf das Meer, das sie gefangenhielt. Da hörte er die Antwort. Ramón Arnaud sprang auf. Da war sie, die Antwort. SEINE Stimme. Erst ganz leise, aber dann deutlich und klar: "Rettet euch! Ramón, rette deine Leute!" Er hielt sich die Ohren zu, aber die klare Stimme verstummte nicht, sie dröhnte mit schaurigem Echo in seinem Kopf: "Rette deine Leute!" Ramón stand auf und schrie hinaus zum Riff: "Ich rette sie! Sage mir, was ich tun muß!" Da sah er das Wunder. Gerade vor sich, über dem Riff: Ein großes, weißes Schiff mit goldener Flagge. Es hielt auf die Insel zu. Ramón Arnaud schrie sich die Lunge aus dem Leib, während er zurück ins Lager hastete: "Cardona, Irra, Rodriguez! Schnell! Ein Schiff! Sofort hinunter zum Hangar!" 555
Die Männer stürzten aus ihren Hütten, ohne Hemd, ohne Schuhe, ohne Mütze. "Wo, Capitan, wo?" "Es kommt von Westen! Schnell, wir nehmen das Boot!" "Die Schute?" "Nein, das Beiboot! Mit der Schute geht's zu lang!" "Capitan, das ist unmöglich. Das ist sinnlos! Wir müssen uns hier bemerkbar machen, hier auf der Insel! Lassen Sie uns die Hütten anzünden! Das werden sie viel eher sehen, als ein kleines Ruderboot!" rief Pedro Cardona atemlos. "Wer hat hier Befehle zu geben?" brüllte Arnaud zurück. "Capitan" ,schrie jetzt auch Arturo Irra, "nehmen Sie Vernunft an! Es ist absoluter Wahnsinn, unser Leben mit dem Boot zu riskieren! Ich habe Kinder!" Seine Stimme klang beschwörend. "Ich auch!" brüllte Ramón Arnaud zurück, "ich habe eine Frau und Kinder! Macht das Boot fertig! Das ist ein Befehl!" "Lassen Sie uns doch wenigstens die Schute klarmachen!" "Hier wird gemacht, was ich anordne!"
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Jetzt tat Ramón Arnaud etwas Ungeheuerliches. Er zückte die Pistole: "Wer meutert, wird erschossen!" Da wußten sie, daß etwas Schlimmes mit ihm geschehen war. Sie hatten im Laufschritt das Boot erreicht und sprangen fast gleichzeitig hinein. Arturo Irra schob sie ein Stück hinaus und schwang sich dann vom Heck her auf die Acherducht. "Es ist reiner Irrsinn, Capitan, mit diesem lausigen Boot über das Riff zu fahren!" rief nun auch Agustin Rodriguez vom Bug her. "Haltet Kurs!" brüllte Arnaud und stand auf. "Wo ist denn das Schiff? Wo haben Sie's gesehen, Capitan?" "Da ist es!" schrie Ramón Arnaud und wies mit beiden Armen hinaus aufs Meer. Die drei wandten sich um und sahen nichts. "Da ist kein Schiff, Capitan!" "Habe ich euch gefragt? Haltet Kurs! Ihr sollt rudern!" Am Strand hatten sie sich alle versammelt: Alicia Arnaud mit den Kindern, Tirza, Altagracia Quiroz, Alejandra Rodriguez, Ines Malonardo mit Micaela, Elsa Nava mit Rosita, Francisco und sein kleiner Bruder Antonio. Die ersten Brecher schlugen ins Boot. Die vier Männer versuchten, die Wasserberge mit dem Bug zu durchbrechen. 557
"Das ist Wahnsinn, Capitan! Das geht nicht gut!" schrie Pedro. Aber Ramón Arnaud war in Verzückung erstarrt, den verengten Blick auf den Horizont gerichtet. "Vorwärts!" schrie er, dann gab Pedro Cardona den einzig richtigen Befehl: "Umkehren! Wendet das Boot!" Agustin und Arturo nahmen sofort die Riemen hoch. Ramón Arnaud warf den Kopf herum und machte einen Satz auf Pedro zu. "Du meuterst? Pedro Cardona, du meuterst?" Das Boot schwankte wild und legte sich quer. Es war in eine kreisförmige Strömung geraten, die es schnell hinaustrieb, in das Riff hinein. "Umkehren!" schrie Pedro nochmal, ohne sich um Ramón Arnaud zu kümmern. Der heulte wie ein Wolf und hatte offensichtlich den Verstand verloren. Der Capitan stürzte sich blind auf Pedro. Er wehrte ihn mit den Ellbogen ab. Ramón Arnaud schoß, aber er traf niemand. Er gebärdete sich rasend und deutete mit wilden Handbewegungen hinaus auf das Riff: "Dorthin! Das ist die Richtung! Da hinaus müssen wir, da ist die Rettung! Sieht das denn niemand?" Arturo Irra ließ plötzlich die Riemen fallen und stürzte sich auf den Capitan, um ihm die Waffe aus der Hand zu winden. Der zweite Schuß bellte über das Riff, aber wieder wurde niemand getroffen. "Seid Ihr alle übergeschnappt? Wir ersaufen!" Pedros Stimme überschlug sich. Er fuchtelte mit den Armen und deutete hinaus zu den Schaumbergen, die sprudelnd und sich überschlagend auf sie zurollten. Da stürzte Ramón 558
Arnaud. Er stürzte erst auf die Ducht und ging dann rückwärts über Bord. Er tauchte sofort wieder auf, packte zu und krallte sich am Dollbord fest. Die drei versuchten, ihm zu helfen und wälzten sich alle im selben Augenblick hinüber auf die Steuerbordseite. Da kenterte das Boot. Noch eine Weile hörte Pedro Cardona das Krachen der splitternden Riemen und das Bersten des Holzes auf dem Riff, dann spürte er rasende Schmerzen im Rücken und verlor das Bewußtsein. Die hilflosen Menschen am Strand erstarrten, als sie zusehen mußten, wie sich das Boot in der Brandung auflöste. Das war das Ende. Das wußten alle. Dort, wo das Boot gekentert war, färbte sich das Meer rot. Sie sahen keine Haie, aber sie wußten, daß sie da waren. Das Meer hatte von einer Sekunde auf die andere vier Männer verschlungen. Es gab keine Soldaten mehr. Die Frauen waren auf der Insel allein geblieben. Sie hatten nur noch Gott, die Kinder und Alvarez, der die Schüsse gehört hatte und eine halbe Stunde später eilig von seinem Felsen herüberkam, um zu sehen, was vorgefallen war. 34 Alvarez saß im Dunkel des Hangars auf einer Kiste und schaute mit dem Fernglas durch das offene Portal auf das Riff hinaus. Die Brandung reflektierte die Mittagssonne so grell, daß ihn die Augen schmerzten. Er bewegte sich nicht und hielt den Blick fest auf die Stelle gerichtet, wo er glaubte, daß das Boot untergegangen sei, und wo er meinte, schwimmende Trümmer entdeckt zu haben. Wohltuende Ruhe breitete sich in ihm aus. Sie waren nicht 559
mehr da! Keiner von ihnen war mehr da! Er stellte es sich genau vor, wie das Meer sie verschlungen hatte. Die Tiefe hatte sie in Besitz genommen und nicht mehr losgelassen. Sie hatten das Meer nicht ernst genommen, wollten es bezwingen; da packte es zu. Im Dämmerschatten des Hangars schien die Helligkeit des Riffs greifbar nah zu sein. Die Wogen türmten sich so jäh auf, daß sich Alvarez an seinem sicheren Platz bedroht fühlte. Er empfand, er genoß jede Phase des Dramas, das sich vor dem Hintergrund der tosenden Wasser in seiner Gedankenwelt schrecklicher abspielte als in Wirklichkeit. Er sah sie ausgespuckt werden von dem kleinen Boot, sah ihre zappelnden Körper. Er spürte die brutale Umarmung der vernichtenden Wasserberge, fühlte sich selbst versinken in den Strudeln des Riffs. Er sah die Haie, die unbeweglichen, kleinen, blinden Augen, den stahlblauen Rumpf, den Rachen voller Elfenbeinsäbel und sah die tödlichen Reißzähne des Riffs, die alles zerstückelten, was nachgiebiger war als Stein. Er stöhnte auf und weidete seine Augen im Schrecken der See. In seinem Hirn tobte ein schmerzender, wollüstiger Krieg der Gedanken. Das Gute, das Trauer befahl, kämpfte gegen das böse Schöne, das sie alle in der Tiefe versenkte und ihn entzückte. Es war ihm wie in jenen Träumen, deren Schrecken Todesängste erzeugten und deren Freuden rasend machen konnten, obwohl sein Verstand ihm sagte, daß nur Hirngespinste über seinem Schlaf lagen. Er hatte sie oft, diese Träume, die ihn wissen ließen, daß er mächtiger war als das Schicksal. Er konnte nach Belieben eingreifen in das Geschehen. Er konnte tun, was immer er wollte. Er konnte fliegen oder auf dem Grund des Meeres wandern. Er konnte durchs Feuer gehen oder Steine zerquetschen, 560
Mauern durchschreiten oder Bäume entwurzeln. Er gab Befehle und herrschte, ohne sich selbst oder irgendjemandem sonst darüber Rechenschaft abgeben zu müssen, was er tat. Er konnte straflos stehlen, ja, sogar töten konnte er, ohne daß ihm jemand etwas anhaben konnte. Im wachen Zustand war er aber meist unzufrieden mit sich selbst, weil er das unbehagliche Gefühl nicht los wurde, die Allmacht der Träume nicht bis ins letzte ausgekostet zu haben. Es war immer etwas Unfaßbares da, das ihn daran hinderte, seine Macht so vollkommen auszuspielen, wie er es sich wünschte, wenn er bei hellem Verstand war. Jetzt aber, an diesem freundlichen Nachmittag, war er zufrieden, weil er erkannte, daß Ramón Arnaud und die anderen nie wiederkehren konnten. Es war niemand mehr da, der sich ihm in den Weg stellen konnte. Er erinnerte sich an das wunderbare Gefühl, das ihn beschlich, als ihm die Laterne anvertraut wurde, als er seine Kisten auf der großen Reise begleitete. Ein ähnliches Gefühl überkam ihn jetzt, als er begriff, daß da draußen am Riff niemand mehr am Leben war. Erst nach einer Stunde stand er auf und ging, am Landungssteg vorbei, zu Alicia und Tirza hinüber, die mit versteinertem Gesicht am Strand standen und den Blick nicht abwandten von der Stelle, wo noch vor kurzem der rote Fleck zu sehen war. Alvarez hatte auf die Nachricht von dem Unglück ohne sichtbare Erregung reagiert. Auch jetzt gab er sich ganz unbeteiligt: "Es ist nichts mehr zu sehen. Sie sind alle umgekommen!" sagte er. Alicia Arnaud tat so, als ob sie ihn nicht verstanden hätte und sagte: "Die sind von der Strömung abgetrieben 561
worden und weiter im Süden an Land geschwommen. Bestimmt sind sie verletzt und brauchen unsere Hilfe. Wir müssen uns beeilen!" Alvarez schüttelte den Kopf: "Das ist zwecklos und unnütz, was ihr da vorhabt. Aus dem Riff kommt keiner lebend heraus. Wir hätten sie ja auch schwimmen sehen müssen!" Alvarez machte am Nachmittag einen Rundgang durch das Lager, besichtigte die noch bewohnten und die leeren Häuser und durchsuchte sowohl die Vorratshütte als auch Arturo Malonardos Apotheke. Er erklärte Alicia Arnaud ruhig und bestimmt, daß er das Kommando auf der Insel übernommen habe: "Ich komme morgen wieder und gebe euch die nötigen Anweisungen!" sagte er im Gehen. Alicia nickte, weil ihr nicht bewußt war, was das bedeutete. Sie hatte gar nicht hingehört, weil sie Alvarez mit allem, was er sagte, nicht für voll nahm. Die Frauen suchten die ganze Nacht den Strand mit Fackeln ab. Alvarez beteiligte sich nicht an der Suche. Sie gingen in weiten Abständen erst hinunter zur Felsenbucht, wandten sich dann wieder nach Norden, liefen im Zickzack den Strand auf und ab und leuchteten unter jeden Vorsprung der Uferböschung, in jede Auswaschung des Gesteins, hinter jeden größeren Felsblock. Sie suchten auch an Stellen, die weit oberhalb des Riffkanals lagen, weil sie, am letzten Fäserchen verzweifelter Hoffnung hängend, sich wirklich einbildeten, die Männer hätten sich verletzt dorthin geschleppt. Sie zogen mit ihren Fackeln weiter hinauf und riefen klagend ihre Namen, bis sie da, 562
wo die Küstenlinie nach Norden schwenkt, die Phosphatgräben erreichten und enttäuscht umkehrten. Dann gingen sie denselben Weg wieder zurück. Die Suche blieb ergebnislos. Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, wurden unterhalb des Palmenhains die Reste der Achterducht und der vordere Teil des Bootskiels angeschwemmt. Am Tag nach dem Unglück wollte Alicia Arnaud, die jede Phase des Geschehens mit angesehen hatte, plötzlich nichts mehr von der Sache wissen. Sie ordnete die Schreckensbilder um, strich das Gesehene und Gehörte aus ihrem Gedächtnis und begann, ihre eigene Geschichte zu erzählen, die es ihr leichter machte, das Unabänderliche zu ertragen. Sie hörte auf zu weinen und faselte von einem Schiff: "Es war ein weißes Schiff, ein schönes Schiff mit zwei Schornsteinen. Ich sah es genau. Es war unbeflaggt und größer als die Pandora. Sie werden kommen und uns holen." Sie hatte vergessen, daß sie selbst sich an der Suche beteiligt hatte, sie erinnerte sich nicht mehr an das gekenterte Boot und wußte auch später rein gar nichts mehr von dem sich ausbreitenden roten Fleck und den zersplitterten Trümmern, die das Meer ans Land geworfen hatte. Sie erinnerte sich aber, die Männer gesehen zu haben, wie sie das Boot hinausschoben und ablegten, und konnte sich nicht vorstellen, daß Ramón sein Ziel etwa nicht erreicht haben könnte. Die Kinder übernahmen bereitwillig diese verharmloste Version des Dramas. Es war zu schwer für sie, sich das Unabänderliche, den 563
Kampf und den Tod der Väter, so in Erinnerung zu rufen, wie es sich wirklich vor ihren Augen ereignet hatte. Tirza stürzte in eine Art Gedankenstarre, so daß es noch Tage dauerte, bis ihr Verstand wieder erwachte, und sie begriff, was geschehen war; bis ihre Vernunft erfaßte, wie sinnlos der Rettungsversuch gewesen war, und was der Tod der Männer für sie alle bedeutete. Trotz des lähmenden Schmerzes, den sie empfand, behielt sie nach außen hin einen überraschend kühlen Kopf und reagierte, geleitet von unbewußten inneren Befehlen, als einzige der Frauen planvoll. Sie war es, die, als es Nacht wurde, zur Vorratshütte ging und Fackeln zum Hangar hinunterschaffte. Sie übernahm in der Nacht die Führung und hinderte sie daran, daß sie in Angst und Panik erstarrten. Sie erweckte sie wieder zum Leben, als sie vom Schrecken zu einem unfähigen, stummen Haufen zusammengetrieben wurden und sich hilfesuchend aneinanderklammerten. Unter Tirzas Anweisungen verteilten sie sich über den Strand und suchten gezielt und systematisch nach den Männern. Sie kümmerte sich auch um den bis in den Grund seiner Seele verstörten Francisco und seinen kleinen Bruder Antonio. Die beiden Kinder saßen auch noch am nächsten Tag bebend und unfähig, irgend ein Wort über die Lippen zu bringen, am Wasser und sahen gebannt hinaus auf die Stelle, wo die Männer verschwunden waren. Tirza führte sie ins Haus, brachte sie zu Bett und blieb bei ihnen, bis sie, ohne ihre Hand loszulassen, vor Erschöpfung einschliefen. Der kleine Ramoncito wimmerte nach seinem Vater und Chica klammerte sich an ihren großen Bruder, während 564
Alicia Arnaud geistesabwesend, mit Lydia auf dem Arm am Strand umherirrte. Ines Malonardo war nach dem Unfall schreiend in ihrer Hütte verschwunden und hatte sich eingeschlossen. Micaela folgte wie ein verlassenes Fohlen, mit angstgeweiteten Augen, entsetzt und ratlos der Mutter und hockte sich stumm vor die versperrte Tür. Alejandra Rodriguez kniete im Sand, bekreuzigte sich und betete laut. Elsa Nava klagte eintönig vor sich hin und wiederholte immer dieselben Worte: "..der du ans Kreuz geschlagen wurdest, erbarme dich unser!" Die kleine Rosita kauerte neben ihr im Sand und weinte. Wie er es angekündigt hatte, kam Alvarez am nächsten Mittag vom Felsen herüber und wiederholte vor Tirza und Ines seine Erklärung, wonach er das Kommando auf der Insel übernommen habe. Er stand aufrecht vor den beiden Frauen, sein Blick blieb kalt und ungerührt. "Das Geschrei nützt gar nichts! Das könnt ihr euch sparen! Ihr werdet euch jetzt zusammenreißen und das tun, was ich euch sage!" verkündete er. "Das würde dir so passen!" heulte ihm Altagracia verzweifelt ins Gesicht, "du bist nicht der Capitan und wirst es nie werden!" "Sieh zu, daß du in deiner Hütte verschwindest, bevor ich die Geduld verliere!" erwiderte Alvarez ohne besondere Erregung.
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"Ich möchte, daß ihr mir jetzt gut zuhört! Ich hasse es, etwas zweimal sagen zu müssen. Es gibt ein paar wichtige Dinge, die ihr euch merken solltet. Es ist außer mir niemand mehr da, der euch beschützen könnte. Wir können hier nicht überleben, wenn jeder tut, was er will. Ich werde euch sagen, was zu tun ist, und ihr werdet gehorchen. Ich werde mich um das Essen kümmern und ich werde die Nüsse verteilen. Dafür werdet ihr genau das tun, was ich sage. Wer aus der Reihe tanzt, wird bestraft." "Ist das alles, was du uns zu sagen hast?" fragte Alicia Arnaud. "Ja, das ist alles. Vorerst ist das alles", erwiderte Alvarez. Er ging mit Alicia ins Große Haus und verlangte den Schlüssel zum Waffenschrank: "Geben Sie die Schlüssel heraus, Señora!" sagte er. "Bist du verrückt geworden, Alvarez? Bist du von allen guten Geistern verlassen?" Alicia sah ihn mit wütenden Blicken an. "Habe ich es nicht eben gesagt?" erwiderte Alvarez mit ruhiger Stimme, "ich gebe meine Befehle nur einmal! Das gilt auch für Sie, Señora!" "Mein Mann wird dich erschießen!" "Ihr Mann? Ihr Mann kommt nicht wieder! Hier schießt außer mir niemand mehr!"
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Er ging, ohne weitere Antworten abzuwarten, an den Schreibsekretär und durchwühlte die Schubladen. Alicia sah ihm entgeistert zu. Er machte ernst! Sie war so erschrocken, daß sie sich setzen mußte. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, was er tat. Er fand den Schlüssel sofort, öffnete die beiden Schlösser, zählte alle Waffen im Schrank und nahm vier Gewehre heraus. Er trug sie in aller Ruhe hinüber zum Boot, mit dem Andrés Nava sonst die Toten zum Friedhof gerudert hatten. Er legte die Gewehre in den Bugraum und kam pfeifend zurück. Alvarez holte die nächsten vier Gewehre. Dann kam er noch sechsmal und räumte den Gewehrschrank völlig aus. Er ging wieder zum Schreibtisch und nahm das Saffianholster mit Ramón Arnauds Luger und den kleinen Trommelrevolver an sich. Er fragte Alicia, ob es noch weitere Waffen gäbe und wo die Munition sei. "Das ist alles! Die M98 hat mein Mann bei sich." Alicia sagte ihm nicht, wo die Munition lag. Er durchstöberte daraufhin ohne jede Scheu alle Räume, auch das Schlafzimmer. Er schlug die Decken zurück und riß die Matratzen heraus. Er fand die Munitionskiste neben dem Schrank. Er trug sie, ohne Alicia Arnaud eines weiteren Blickes zu würdigen, zum Boot hinaus. Zum Schluß nahm er die Aufzeichnungen des Capitans, den Degen, sechs Kisten Zigarren, das Tagebuch und das Säckchen Semilla de la Virgen an sich und ruderte zu seiner Hütte zurück. Er ließ sich an diesem Tag im Lager nicht mehr sehen. 567
Am Morgen danach wurde Pedros Leiche angeschwemmt. Alicia Arnaud und Altagracia Quiroz zogen ihn aus dem Wasser, ehe sich die Krabben über ihn hermachen konnten. Er war furchtbar zugerichtet; sie erkannten ihn aber an seiner Armbanduhr. Die beiden Frauen packten ihn in eine Decke, bevor Tirza mit Elsa Nava und Alejandra Rodriguez aus dem Lager zum Strand kam. "Es ist Pedro", sagte Altagracia weinend und nahm Tirza in die Arme. "Wir müssen ihn hinüberbringen!" Altagracia deutete über die Lagune zum Friedhof. Tirza schob Altagracia zur Seite und kniete nieder. Sie griff nach der grauen Decke, um sie auseinanderzuschlagen. Altagracia packte Tirza an der Schulter und sagte hastig: "Tirza, tu's nicht!" Aber Tirza ließ sich nicht aufhalten. Sie schälte Pedros Gesicht aus dem Bündel. Ihre Augen weigerten sich, das Bild aufzunehmen. Sie erkannten nicht an, was sie sahen. Tirza blickte ihm in die blinden Augen ohne zu begreifen, was sie sah. Statt dessen erweckte sie ihn aus der Erinnerung zum Leben. Sie sah ihn lächeln, so wie er noch am Tag zuvor gelächelt hatte, und schloß die Augen. "Er bleibt hier bei mir!" sagte sie. "Ihr werdet ihn nicht dort hinüberbringen!" "Meinethalben, jetzt kommt es nicht mehr darauf an!" sagte Alicia und nickte, "beerdigen wir ihn hier." Als Tirza Pedro wieder zudecken wollte, spürte sie unter der Decke die Uhr. Aus einer unbedachten Regung heraus griff sie nach dem Armband und wollte es lösen, doch
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dann zog sie ihre Hände zurück, schlug die breiten Zipfel der Decke übereinander und richtete sich auf. Die vier Frauen holten Schaufeln aus dem Hangar und gingen hinauf bis zum Scheitel des Landstreifens, wo das Land zur Lagune hin wieder abfällt. Es dauerte drei Stunden, bis sie das Grab geschaufelt hatten. Der Korallensand war sehr dicht an dieser Stelle. Tirza schob eine Schubkarre zum Strand und stellte sie neben Pedro ab. Sie hoben ihn zu dritt hinein. Tirza mußte sich anstrengen, die Schubkarre nicht umzuwerfen, weil der Boden sehr uneben war und der Weg bergauf führte. Sie stieg hinunter in die Grube und Alicia und Elsa legten einen Stein vor das Rad und hoben die Schubkarre an, bis Pedro langsam über den vorderen Rand in Tirzas Arme rutschte. Tirza legte ihn zurecht, stieg wieder heraus und schaufelte Sand über das Bündel. Tirza holte noch am selben Tag das schwere eiserne Kreuz, das über dem Portal des Hangars angebracht und in Manzanillo sogar geweiht worden war, und schleppte es hinüber zum Grab. Sie grub noch einmal ein Loch und setzte das Kreuz hinein. Sie verkeilte es mit Steinbrocken und stampfte es fest. Dann lag sie fünf Stunden auf der Erde und weinte. Noch waren die Frauen nicht in der Lage, über die veränderte Lage zu sprechen. Sie hatten Alvarez' Verhalten über sich ergehen lassen, ohne ernsthaft zu fragen, was es bedeuten sollte. Es war vordergründig stummer Protest, flammender Zorn über die Mißachtung 569
der Toten, die sie zur Auflehnung gegen diesen Mann anstachelte. Im Hintergrund aber lauerte eine unbewußte Furcht, die sie sich gegenseitig nicht zu bekennen wagten. Die Sorge um die Kinder half ihnen ein wenig, die Angst zu verdrängen. Sie hatten Hunger und brauchten etwas zu essen. "Wir müssen wieder Fische fangen und Vögel jagen! Auf Alvarez dürfen wir uns nicht verlassen." sagte Tirza. Drei Tage nach dem Unglück kam Alvarez in Malonardos Haus und legte Ines drei Tölpel auf den Tisch. "Seht ihr!" sagte er, als ob er eine Bestätigung seiner Tüchtigkeit erwartete. "Mach sie fertig! Koch eine Suppe! Es haben alle Hunger!" Ines beschlich ein beklemmendes Gefühl, als sie sein Gesicht sah. Sie machte sich sofort an die Arbeit. Micaela kam herein und grüßte freundlich, als sie Alvarez erblickte. "Mach Feuer!" sagte Alvarez zu dem Mädchen. Er verließ die Hütte, ging hinüber zum Großen Haus und trat ohne anzuklopfen ein. "Ihr braucht keine Vögel fangen! Ich werde euch mit Fleisch versorgen!" sagte er zu Alicia. "Das können wir selbst, dazu brauchen wir dich nicht!" "Ihr werdet euch um die Kinder kümmern, ich schaffe das Essen her!" entgegnete er.
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"Ich sagte dir schon, wir brauchen dich nicht! Kümmere du dich um deinen eigenen Kram und bringe uns sofort die Gewehre zurück!" "Die Gewehre?" "Ja, die Gewehre, die du aus dem Schrank genommen hast! Du kannst eins für dich behalten und auch die nötige Munition. Aber die anderen Gewehre und die Munitionskiste bringst du sofort zurück!" "Die bewahrt der Capitan auf, so steht's in der Vorschrift!" "Du bist nicht der Capitan!" "Ich bin sein Nachfolger, wer denn sonst? Etwa Sie Señora?" Es fiel Alicia auf, daß er sie trotz seines unglaublichen Benehmens noch immer in der Höflichkeitsform anredete. "Noch ist mein Mann nicht tot! Du bist kein Soldat, Alvarez. Du hast hier nichts zu befehlen!" "Seid etwa ihr Weiber Soldaten? Ich bin euer Comandante. Hütet euch davor, mir dumm zu kommen! Kommt mir bloß nicht dumm! Ich warne euch! Ihr werdet alle tun, was ich sage!" Alicia ging in den Schlafraum und ließ Alvarez stehen. Der blieb noch einen Augenblick in der Stube. Es sah so aus, als überlege er, ob er die Diskussion weiterführen
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solle. Aber dann warf er die Haustüre ins Schloß und ging wieder die Straße hinunter zu Malonardos Haus. Die Vögel waren gerupft und ausgenommen. Micaela hatte Feuer angemacht und einen Kessel Wasser aufgesetzt. Jetzt fegte sie die Federn zusammen und stopfte sie mit den Händen in einen Eimer. Alvarez setzte sich an den Tisch und sah ihr bei der Arbeit zu. "Sie ist geschickt!" sagte Alvarez zu Ines Malonardo, "sie hat eine gute Hand, man sieht es!" "Sie ist noch ein Kind und muß es erst lernen!" "Was sie hier können muß, braucht sie nicht zu lernen!" erwiderte Alvarez. Micaela war im Gegensatz zu ihrer rundlichen Mutter ein sehr zierliches Mädchen. Unter ihren glatten, schwarzen Stirnfransen schaute ein Paar freundlicher, lebendiger Augen hervor. Als alles noch in Ordnung war, hörte man ihr Lachen durch das ganze Lager. Sie hüpfte mehr, als daß sie ging und spielte hübsche Lieder auf der Gitarre. Sie war naiv und arglos und ging nie ohne Abendgebet schlafen. Sie konnte leidlich kochen und war in der Tat sehr fleißig und für ihr Alter außerordentlich geschickt. Micaela legte die Vögel in das kochende Wasser und streute Salz darüber. Sie sah Alvarez dabei kurz an, lächelte unsicher, und drückte die über den Rand ragenden 572
Vogelbeine mit einem Rührlöffel in den Topf bis der Deckel sich schließen ließ. "Es gibt eine gute Suppe", sagte sie, "mit viel Fleisch!" "Es macht Spaß", sagte Alvarez, "dir beim Kochen zuzusehen. Meine Töpfe haben schon Rost angesetzt." "Da mußt du sie putzen!" erwiderte Ines mit schnippischem Unterton. "Warum ich? Dafür gibts doch euch Weiber!" "Na, dann sag deinem Weib, es soll sie putzen", sagte Ines. Alvarez sah sie mit schmalen Augen an und schwieg eine Minute. Dann deutete er zum Herd und sagte: "Wir machen es anders. Sie kommt mit mir! Sie wird meine Töpfe putzen!" Micaela ließ den Rührlöffel fallen. "Er spinnt", sagte Ines beschwichtigend zu Micaela, "reg dich nicht auf!" "Ich zeige dir schon, wer spinnt! Micaela kommt mit mir, ich brauche sie!" "Bist du verrückt?" Ines war aufgesprungen und stellte sich vor Alvarez, der keine Miene verzog. 573
"Ich brauche jemand, der sich um mich kümmert!" sagte er. "Such dir dafür, wen du willst, aber nicht meine Tochter! Ines ist gerade dreizehn!" "Na und? Sauber machen kann man auch mit dreizehn!" "Du bist bald zehn Jahre hier und hast bisher niemand gebraucht. Mach deinen Dreck selber weg!" "Man wird alt!" erwiderte Alvarez. "Du wirst es nicht überleben, du wirst nicht alt werden, wenn du versuchst, mir Micaela wegzunehmen!" "Hab' dich nicht so! Dein Geschrei ist ganz überflüssig. Wenn ich dir sage, ich nehme Micaela mit, dann tue ich das. Da kannst du machen, was du willst! Und wenn du noch so zeterst, ich nehme sie mit! Vor dir fürchte ich mich noch lange nicht!" "Totschlagen werde ich dich!" "Das haben schon viele versucht!" "Du bist ein Schwein, Alvarez!" "Wen schert's, daß ich ein Schwein bin?" "Ich töte dich, du dreckiger Coyote, wenn du sie anrührst!"
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"Du langweilst mich, Ines! Geh' wieder an deine Arbeit!" Als Ines Malonardo erkannte, daß Alvarez die Drohung wahrmachen würde, verlegte sie sich aufs Bitten: "Komm, Alvarez, sei bitte vernünftig! Das kleine Ding hat so viel Schlimmes erlebt. Laß sie in Ruhe! Wenn du willst, komme ich jeden Tag zu dir und mache die Hütte sauber. Wir wollen uns doch nicht streiten! Vergiß, was ich gesagt habe. Jedes Problem läßt sich lösen. Sie ist noch zu klein, um gerade jetzt aus dem Haus geholt zu werden. Verstehst du mich? Ich mach das alles besser als sie." "Schluß mit dem Gewäsch! Ich brauche dich nicht! Sie kommt mit! Basta!" Die Tölpel hatten schon drei Stunden gekocht und waren immer noch zäh wie Holz. Erst gegen Abend ließen sich die Flügel aus dem Gelenk ziehen. Alvarez aß seelenruhig. Er hatte Micaela mit von ihm zugeteilten Portionen zu den anderen Hütten geschickt. "Es soll keiner hungern in meinem Reich!" sagte er. Als Micaela mit dem leeren Topf zurückkam meinte er beiläufig: "Pack jetzt deine Sachen zusammen, wir brechen in einer halben Stunde auf!" Da wurde Ines Malonardo von wildem Schrecken ergriffen. Sie lief hinüber zu Alicia, die mit Tirza vor dem Großen Haus saß. "Er nimmt Micaela mit!" schrie sie atemlos schon von weitem.
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"Das wird er nicht tun!" rief Alicia Arnaud zurück und kam ihr entgegen. Tirza rannte die Straße hinauf in ihr Haus und riß die Schranktür auf. Pedros Revolver fehlte ebenso wie die vier Päckchen .38er Munition. Er war hier, er hat auch Pedros Waffen an sich genommen, dachte sie. Er ist wahnsinnig geworden. Alvarez parierte alle Angriffe und Vorwürfe mit Schweigen. Er ließ sich auf keine Diskussionen ein und beendete den sich anbahnenden Aufstand der Frauen, indem er die Luger auf den Tisch legte. Alvarez nahm Micaela vor Einbruch der Dunkelheit mit. Sie hatte sich geweigert, ihre Sachen zu packen. Sie hatte nichts bei sich, außer den Kleidern, die sie auf dem Leibe trug. Ines Malonardo heulte verzweifelt und schlich bis zu Pedros Grab hinter den beiden her. Dann, als es finster wurde, kehrte sie um und verkroch sich zitternd in ihrem Bett. Alvarez stieß die Tür seiner Hütte auf und sagte zu Micaela: "Das ist jetzt dein Haus." Das Mädchen trat ein. Alvarez entzündete die Öllampe und stellte sie auf den Tisch. "Setz dich!" sagte Alvarez. Micaela gehorchte stumm. Alvarez zog die Schuhe aus und stellte sie unter den Herd. Dann zog er das Hemd über den Kopf und hängte es an einen Haken an der Wand. Er stellte Micaela einen Teller mit kaltem Tölpelfleisch vor die Nase: "Iß! Du hast sicher Hunger." Micaela schob den 576
Teller von sich und sagte kaum hörbar: "Ich kann nichts essen!" "Es war ein unruhiger Tag für dich", entgegnete Alvarez, " du solltest vernünftig sein! Ein paar Bissen wirst du doch essen können!" Er nahm den Löffel und schob ihn unter einen Fleischbrocken. "Da!" sagte er und schwenkte den Löffel vor ihrem Gesicht. "Iß!" Micaela hob beide Arme und schüttelte sich. "Laß mich, ich esse nichts!" "Gut, dann fällt das Essen aus. Gehn wir schlafen! Morgen ist auch noch ein Tag. Wer heute hungert, wird morgen zweimal essen." Micaela nickte, weil sie glaubte, der Schlaf befreie sie von Alvarez' Nähe. Alvarez zog die Hosen aus und kroch ins Bett. "Laß die Lampe brennen!" sagte er. "Wo kann ich schlafen?" fragte Micaela. "Hier!" Alvarez klopfte mit der flachen Hand auf sein Kissen. "Nein!" "Dann schlaf auf dem Boden!" sagte er unwirsch und drehte sich um.
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Micaela begann zu weinen und verkroch sich unter dem Tisch. Alvarez hörte sich ihr Gejammere eine Weile an, dann stand er plötzlich wieder auf, packte sie an den Füßen und zerrte sie unter dem Tisch hervor. Er schleppte sie wie einen Sack über den rauhen Bretterboden bis vor sein Bett. Er kniete über ihr und riß ihr das Kleid vom Leib. Micaela verbrannte vor Scham, als er sich auf sie stürzte. Als Alvarez im Morgendämmern erwachte, stand Micaela vor ihm und hielt die Spitze des Vogelmessers auf seine Brust gerichtet. Sie sah ihn kummervoll, aber entschlossen an. Alvarez lachte laut und wollte ihr das Messer abnehmen, da stieß das zarte Mädchen plötzlich zu wie eine Schlange und rammte ihm das Messer an der abwehrenden rechten Hand vorbei tief in den Oberarm. Er schrie auf, packte sie am Hals und drückte so lange zu, bis sie die blutige Klinge fallen ließ. Alvarez fluchte, ließ Micaela liegen, wickelte sein Unterhemd um den Arm und legte sich wieder hin. Als er später aufwachte und sah, daß das nackte Mädchen Totenflecke und trübe Augen bekam, rollte er Micaela in eine Decke und schaffte sie nach Einbruch der Dunkelheit hinüber zum Felsen. Alvarez wußte, daß Micaelas Tod für ihn die Brücken zur Welt abgebrochen hatte. Er würde vor ein Gericht gestellt werden, sobald er wieder mexikanischen Boden beträte. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, dies zu verhindern: Sie mußten alle auf der Insel bleiben. Er mußte verhindern, daß sie gefunden und nach Mexiko gebracht würden. Er mußte verhindern, daß sich die Frauen 578
bemerkbar machen konnten, wenn ein Schiff in Sicht käme. Als allererstes mußte er das Öl verbrennen, das der Capitan in der Lagerhütte eingeschlossen hatte. Niemand sollte in der Lage sein, die Laterne auf dem Felsen anzuzünden. Niemand sollte ihn verraten können, falls ein Schiff auftauchte. Es durfte keine Zeugen geben. Es ist ebenso unverständlich wie bemerkenswert, daß Alvarez erst viel später auf den Gedanken kam, sie alle zu töten, obwohl dieser Gedanke nahelag. Am späten Abend flammte der Felsen auf. Alvarez hatte die Ölfässer aus der Lagerhütte zum "Hohen Riß", eine tiefe, enge Schlucht, die den schwarzen Klotz im Osten teilte, gerollt und die Spundlöcher geöffnet. Auf die Fässer hatte er das Mädchen gelegt. Er kippte ein Faß um und warf ein brennendes Scheit Holz in das auslaufende Öl. Langsam fraßen sich die Flammen über den getränkten Sand zu den anderen Fässern, krochen hinauf zu den Spundlöchern und sprengten mit Getöse die Deckel ab. Das Öl verspritzte, begann zu sieden und flammte um Micaela auf zu einem Fanal, das über den Felsen hinaus lohte und eine gewaltige schwarze Rauchwolke in den Himmel schickte. "Das muß das Öl sein! Mein Gott, was tut er jetzt?" fragte Tirza, "warum verbrennt er das Öl?" "Es muß etwas geschehen sein!" erwiderte Alicia Arnaud. Durch das Fernglas sah man Alvarez' winzigen Schatten 579
vor den Flammen hin und herhüpfen. Von Micaela war nichts zu sehen. "Er ist verrückt geworden! Wir müssen uns vorsehen!" sagte Tirza. "Was willst du tun?" fragte Alicia. "Ich gehe hinüber und sehe nach, was er vorhat", erwiderte Tirza. "Er ist unberechenbar! Bleibe besser hier im Camp. Du kannst gegen ihn nichts ausrichten. Er hat alle Waffen und ist stark, wie ein Löwe!" Tirza sagte ruhig: "Wenn wir nichts tun, wird er vollends den Verstand verlieren. Es ist wichtig, daß wir ihm zeigen, daß wir ihn nicht fürchten!" "Laß uns zusammen gehen!" schlug Alejandra vor. "Ja, sie hat recht, ich gehe auch mit!" stimmte Altagracia zu. "Nein, das mache ich besser allein!" entgegnete Tirza. Die Flammen schlugen noch immer hinauf bis zur Spitze des Felsens, als Tirza um die Felsenbucht herum auf den Isthmus zuging. Alvarez stand schweißgebadet und mit einem blutigen Verband um den Arm vor dem fauchenden Feuer und sah Tirza nicht kommen. Er erschrak, als er ihre Stimme hörte. "Was tust du da, Alvarez?" 580
"Verschwinde! Das geht dich nichts an!" "Was soll das Feuer? Warum verbrennst du unser Öl?" Tirza hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, als sie in den Flammen Micaelas schwarzen Körper liegen sah. "Du hast sie umgebracht, du Satan!" Ihre Stimme überschlug sich. Sie erkannte die Gefahr sofort, in der sie schwebte. Alvarez aber hatte für einen kurzen Moment seine Selbstsicherheit verloren und jammerte: "Sie ist vom Felsen gestürzt! Sie wollte die Lampe reinigen!" "Du hast sie umgebracht, du Monstrum! Wir werden dich töten! Gott ist mein Zeuge! Wir werden dich töten!" kreischte Tirza und verschwand rückwärts gehend in der Dunkelheit ohne Alvarez aus den Augen zu lassen. 35 Zweihundertelf kleine Kreuze auf Tirzas Kalendertafel zeigten den 30. Mai 1915 an. Nach Pedros Tod hatte Tirza allen Mut verloren und die Tafel hinter den Schrank geschoben. Sie glaubte nicht mehr an die Tage, die da vorgezeichnet auf sie warteten. Sie verschanzte sich hinter mechanischer Betriebsamkeit, sah aber in all den hektischen Handlungen keinen Sinn mehr bis zu jener Sekunde, wo sie Micaela auf den Ölfässern liegen sah. In diesem Augenblick kehrte mit der Wut über ihre Ohnmacht auch ihr Lebenswille zurück. Sie holte das Brett wieder hervor und zog mit dem Messer eine tiefe und lange Kerbe über vier Tage hinweg.
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Alvarez war nicht mehr ins Lager gekommen. Er blieb offenbar den ganzen Tag in seiner Hütte, denn Tirza konnte ihn auch mit dem Fernglas nicht entdecken. Ines Malonardo hatte sich wieder in ihr Bett verkrochen. Sie war zu nichts mehr zu gebrauchen, obwohl sie noch garnicht wußte, was mit Micaela geschehen war. Tirza hatte nicht den Mut, es ihr zu sagen, weil sie fürchtete, daß Ines in ihrem elenden Gemütszustand die Nachricht nicht überlebte. Aber Ines erfuhr es am Tag darauf unmittelbar von Alvarez, als der mit dem Gewehr über der einen Schulter, vier Tölpeln, die er an den Füßen mit einem Riemen zusammengebunden hatte, über der anderen und mit der geladenen Luger am Gürtel ins Lager kam und ohne sich aufzuhalten in Malonardos Hütte ging. Er warf die Tölpel auf den Tisch und sagte zu Ines: "Es tut mir leid, was mit Micaela passiert ist." Ines sprang aus dem Bett und warf sich vor Alvarez auf den Boden. Sie umschlang seine Beine und sah ihn bittend an: "Du läßt sie wieder nach Hause? Ja? Du siehst ein, daß sie noch zu klein ist? Ich tue alles für dich, Alvarez, wenn du sie wieder laufen läßt!" Alvarez versuchte sich aus der lästigen Umklammerung der Frau zu befreien, aber sie ließ ihn nicht los. Als sie spürte, daß er sie abschütteln wollte, dachte sie, er habe es sich anders überlegt. Sie hielt ihn daher um so hartnäckiger umschlungen und drohte: "Ich lasse dich erst
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wieder los, wenn du mir versprichst, daß du Micaela nach Hause läßt!" Alvarez versuchte sich zu bücken, um sich mit den Händen aus Ines' Griff zu befreien, aber das Gewehr hinderte ihn daran. So blieb er aufrecht stehen und sagte: "Micaela ist tot." Das Weitere ereignete sich so spontan und unerwartet, daß Alvarez schon wenige Sekunden später keinerlei Erinnerung mehr daran hatte, was im einzelnen geschehen war. Er wunderte sich nur über den wütenden Schmerz in seiner Schulter, beobachtete wie ein unbeteiligter Zuschauer aus weiter Entfernung, daß Ines am Boden lag, und schüttete sich den Wasserkrug über den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Sie hatte plötzlich ihre Arme aus der Umklammerung gelöst. Sie schnellte hoch und funkelte ihn an. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich im Bruchteil einer Sekunde zu einer Fratze ohnmächtigen Zornes gewandelt. Alvarez sah erschreckt zu, wie die Haut ihres gutmütigen, breiten Indiogesichts erst rot aufflammte und dann zu Asche erlosch. Alvarez hatte tausend Fragen erwartet. Ines stellte nicht eine einzige Frage. Er war gut vorbereitet und wollte ihr in allen Einzelheiten berichten, wie Micaela den Felsen hinaufgeklettert war und dann von der Plattform stürzte, aber er kam nicht dazu, seine Lügen loszuwerden. Der Haß und die Verachtung in Ines' Augen ließen ihn verstummen. Ines ging, ohne Alvarez aus den Augen zu lassen, zwei Schritte rückwärts und packte das Beil, das im Hackklotz neben dem Herd steckte. Sie ließ es in 583
blitzschnellen Kreisbewegungen um den Kopf fliegen. Es blieb ihm keine Zeit zur Abwehr. Die betäubende Wucht des Schlags und der scharfe Schmerz in seiner Schulter warfen ihn um. Er fühlte das heiße Blut unter dem Hemd. Er sah aus der demütigenden Perspektive des Fußbodens eine weitere vernichtende Kreisbewegung des Beils um den Kopf der hoch über ihm stehenden, rasenden Frau und konnte es nicht verhindern, daß die Schneide ein zweites Mal auf ihn heruntersauste. Ines schrie dabei wie eine Irrsinnige. Ihr Gesicht bestand nur noch aus brennenden Augen. Das Beil spaltete unmittelbar neben seinem linken Ohr mit dumpfem Krachen das Dielenbrett, und Ines hörte nicht auf zu schreien, schrie in einem fort weiter, versuchte bebend, das tief ins Holz gedrungene, eingeklemmte Eisen wieder aus der Bohle herauszureißen, um ein drittes Mal zuschlagen zu können. Sie schrie unaufhörlich mit einer verzweifelten, aus tiefstem Herzen klagenden, schrecklich hohen Stimme, bis Alvarez, immer noch am Boden liegend, drei Schuß aus der Luger abfeuerte. Dann war vollkommene Stille im Raum. Alvarez stand mühsam auf, schleppte sich zur Waschschüssel, nahm den Krug und leerte ihn sich über den Kopf. Er blutete wie ein geköpfter Hahn. Als er die Türe öffnete und aus der bedrückenden Finsternis der Hütte in das Licht auf dem Platz hinauswankte, standen die Frauen da. Tirza schrie ihn an: "Was hast du mit Ines gemacht?" "Sie wollte mich erschlagen!"
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"Ich frage nicht, was sie wollte! Was hast du mit ihr gemacht?" "Seht doch selbst nach!" stöhnte Alvarez und verließ das Lager in Richtung Palmenhain. An der ersten Palme blieb er stehen und erbrach sich. Dann schleppte er sich weiter den Lagunenstrand entlang nach Süden. Nach diesem Ereignis blieb Alvarez über zwei Wochen in seiner Hütte. Tirza betete, daß er verrecken möge. Sie betete darum aus tiefstem Herzen und hoffte mit den anderen Frauen, daß ihn der Wundstarrkrampf oder der Skorbut oder beides dahinraffen möge. Sie stand stundenlang unter den Palmen und beobachtete mit dem Fernglas die kleinen Hütten im Schatten des Felsens hinter der Lagune. Sie konnte nicht die geringste Bewegung entdecken. Es stieg kein Rauch auf und sie sah ihn kein Wasser holen. Entweder er ist tot, oder er holt es nachts, dachte sie. Sie fand es nicht heraus, wo er sich versteckte, wie er seinen widerlichen Körper verbarg. Er mußte tot sein. Die Wunde hatte ihn aufgezehrt. Sie war schon so weit, daß sie hinübergehen wollte auf die andere Seite, um sich zu überzeugen, daß er wirklich tot war. Da bekam sie ihn wieder zu Gesicht. Am zweihundertneunundzwanzigsten Tag nach Tirzas Kalender, der dem 17. Juni 1915 entsprach, war er wieder im Lager. Er ging geradewegs zu Alicia Arnaud, ohne die anderen Frauen anzusehen. "Ich brauche Hilfe, ich bin krank!" sagte er in flehendem Ton. Er sah wirklich elend aus, aber es hatte niemand Mitleid mit ihm. Alicia Arnaud sagte: "Von uns hilft dir keine!" 585
Alvarez streifte das Hemd von der Schulter: "Sehen Sie nur, Señora! Glauben Sie es mir jetzt?" "Ines hätte deinen verdammten Schädel treffen sollen, dann wäre uns dein Geheul erspart geblieben!" "Sie wollte mich erschlagen! Mit dem Beil! Ich mußte mich wehren! Können Sie das nicht verstehen, Señora? Bergreifen Sie es doch endlich, Sie wollte mich töten!" "Sie wollte dich töten? Hätte sie es nur getan! Wo waren die Vierzehn Nothelfer, als sie es versuchte? Drei Schuß auf die harmloseste Kuh, die hier im Lager herumlief! Was hast du mit Micaela gemacht? Hast du geglaubt, Ines nähme das hin? Glaube mir, Alvarez, jetzt hast du verspielt! Jetzt hast du uns alle gegen dich. Wenn du noch nie Todfeinde gehabt gehabt hast, jetzt hast du sie, das versichere ich dir! Wir geben nicht auf, bis wir dich loshaben! Wir sehen mit Vergnügen zu, wir werden singen, wenn du krepierst! Ich bete jeden Tag einen Rosenkranz, daß dich der Teufel hole!" Alvarez zuckte zusammen und sah erbärmlich aus. "Ihr haßt mich, weil ich schwarz bin!" "Nein, Alvarez, wir hassen dich, weil du ein hinterhältiger Hund bist! Du bist ein Kindermörder, ein abstoßendes Scheusal, ein Ekel. Ein Schwein. Zum Kotzen bist du!" Alvarez' Miene verfinsterte sich. Er duckte sich und richtete sich sofort wieder auf. Seine Augen gerieten in flatternde Bewegung. 586
"Halt endlich die Schnauze!" brüllte er. "Ich brauche eure Achtung nicht!" Er richtete sich noch höher auf und steigerte die Lautstärke seines Geschreis: "Ihr werdet mich noch kennenlernen! Ihr werdet schon sehen! Ich werde euch zeigen, wer ich bin!" Am zweiten Juli holte das Schicksal zum nächsten Schlag aus: Der Tag begann anders als sonst. Die Schweine flohen kurz nach Sonnenaufgang unter panischem Geschrei in die Schluchten des Felsens. Die großen Vögel: die Tölpel, Fregattvögel und Albatrosse, schraubten sich gemeinsam in einer riesigen Spirale hinauf in die heraneilenden Wolkenschleier. Die kleineren Vögel: die Wasserrallen, die Spieß-, Krick-, Tafel-, Pfeif- und Reiherenten, die Bleßhühner, Regenpfeifer, Wanderschnepfen, Silbermöwen und Noddies schwirrten in kleinen angstflatternden Schwärmen über die Lagune und stoben dann unter metallischem Gezeter in alle Himmelsrichtungen auseinander. Gegen Mittag hatte sich der Himmel ganz mit einer blaugrauen Schicht überzogen. Der Wind war völlig eingeschlafen. Kein Lüftchen rührte sich. Über dem Lager lastete erstickende Schwüle. "Es liegt etwas in der Luft", sagte Tirza zu Alicia. "Es ist schrecklich heiß und der Gestank ist unerträglich", bestätigte Alicia, "das liegt daran, daß kein Wind geht." "Es wird regnen!"
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"Die Vögel sind aufs Meer hinausgeflogen. Sie haben ihre Nester verlassen!" "Merkwürdig, das haben sie noch nie gemacht", sagte Alicia und sah aufgeregt aus dem Fenster. Eine Stunde später trieb eine unheilbringende Wand aus schwarzen Wolkentürmen von Osten auf die Insel zu. Aus der absoluten Windstille heraus fegten einzelne Böen über die Lagune und verfingen sich aufrauschend in den Kokospalmen. Dann konnte man am Himmel beobachten, wie die Wolken ihre Drift änderten und langsam zu einem weiten Kreisel zusammenflossen, aus dessen Zentrum ein heller, spitzer Wolkenzapfen auf das Meer herabhing. Die Kreisbewegung beschleunigte sich und der Zapfen senkte sich. Zur selben Zeit drehte der Wind, kam jetzt aus südlicher Richtung, blies stetig vom Palmenhain zwischen den Hütten hindurch und wirbelte eine Menge Staub vor sich her. Das Holz der Hüttenwände ächzte unter dem Aufprall der Windstöße. Gegen zwei Uhr nachmittags begann es heftig zu regnen. Tirza blieb bei Alicia im Großen Haus. Ramoncito spielte mit Chica. Francisco und Antonio schnitzten Soldaten aus Treibholz. Lydia saß auf Alicias Schoß. Um halb drei platschte so viel Wasser vom Himmel, daß man den Fahnenmast nicht mehr sehen konnte. Die Lagune war hinter einem dichten Regenvorhang verschwunden und die Schauer prasselten so heftig auf das Dach, daß man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Der Wind nahm stetig zu; er drückte gegen die klirrenden 588
Scheiben, schob sich unter die Dachsparren, rüttelte an der Außentür und brachte die Deckenbalken zum Knarren und Ächzen. "Es wird furchtbar!" sagte Alicia. "Ja, es sieht schlimm aus!" erwiderte Altagracia, die am Tisch saß und ein Messer schärfte. Um drei Uhr hatte der Wind erneut umgeschlagen und kam jetzt vom Meer herauf aus Südwesten. Wenn der Regen für einige Sekunden nachließ, konnte man bis zu den Palmen hinübersehen. Sie lagen fast am Boden, wurden gezaust, geschüttelt, gebeugt und verdreht; es sah aus, als wolle sie der Sturm mitsamt den Wurzeln aus dem Boden reißen. "Mein Gott, die Palmen!" stöhnte Alicia auf. "Sieh nur, Tirza, sie werden allesamt abbrechen. Die Nüsse, Tirza, die Nüsse! Warum nimmt er uns auch noch die Nüsse!" Die Spannseile des großen Hauses begannen zu singen und zu schwirren und der Sturm polterte mit Donnerschlägen auf das Dach. Die Wände bebten, zwei Bilder hüpften aus den Haken und zerbrachen am Boden. Dann mußten sie alle mit ansehen, wie Vincente Bantistas unbewohnte Hütte auseinandergerissen wurde. Sie wurde einfach auseinandergerissen. Es begann damit, daß die westlichen Verankerungen nachgaben und aus dem Boden sprangen. Der Sturm drückte sofort die Wände ein, und das nun nicht mehr unterstützte Dach wurde angehoben und zerrte und flatterte hoch in der Luft an den Spannseilen der Leeseite wie ein gigantischer Drachen. 589
Als auch dort die Heringe gegen die Abspannrichtung aus dem Boden schossen, flog das Dach wie ein Blatt Papier hinauf in die Wolken und verschwand in den grauen Regenschleiern über der Lagune. Die Trümmer der zerschmetterten Wände folgten mit den Resten des Inventars. Eine Minute später sah man dort, wo Vincentes Hütte gestanden hatte, nur noch die Fundamente, den Herd und den gemauerten Kamin, der wie ein mahnender Finger grotesk in den Himmel ragte. Als nächstes wurde Pasqual Vargas' Haus verwüstet. Die Trümmer schossen durch die Luft und rissen den Fahnenmast mit. "Wir können hier nicht bleiben!" schrie Tirza gegen das Brüllen des Sturmes. "Wo sollen wir hin?" Alicia sah sie mit angstgeweiteten Augen an. "Wie sollen wir uns in Sicherheit bringen?" jammerte Altgracia. "Dahinunter!" schrie Tirza und zeigte auf die Dielen des Fußbodens. Tirza sprang auf und holte die Axt und den Schürhaken vom Herd. Sie hieb die Schneide der Axt in die Fugen und fand eine Diele, die sich ein wenig bewegen ließ. Tirza und Altagracia schoben den Schrank beiseite. Alicia brachte das Stahlrohr, an dem früher das Dörrfleisch gehangen hatte, aus dem Vorratsraum. Tirza erweiterte mit der Axt die Fuge im Boden, schob das Rohr unter das dicke Brett und warf ihr ganzes Gewicht darauf. Die Bohle 590
gab langsam nach. Alicia schob Bretter aus dem Bettkasten unter, damit die angehobene Bohle nicht zurückfallen konnte. Fünf Minuten später packten sie zu dritt an, rissen die Bohle von den Balken und konnten der Reihe nach in ihren dunklen Unterschlupf kriechen. Tirza schlüpfte als erste hinein. Alicia reichte ihr die Kinder hinunter. Ramoncito und Altagracia bildeten die Nachhut. Bevor Alicia Arnaud mit ihrem dicken Bauch mühsam als letzte durch den schmalen Spalt kroch und die Bohle von unten in ihre alte Lage zurückschob, hatte sie noch eine Ledertasche aus dem Schreibsekretär und ein Paket Kerzen und Streichhölzer in das Loch geworfen. Sie mußten sich im Sitzen bücken, um nicht an die Balken des Fußbodens anzustoßen. Selbst hier, in den geschützten Hohlräumen des Fundaments, brachte der durch die Ritzen pfeifende Sturm die Kerzen zum Flackern. Das Heulen des Tornados nahm weiter zu. Als Tirza ihre Kerze hochhob und umherleuchtete, sahen sie, wohin sie sich verkrochen hatten. Sie waren umgeben von Tausenden von Krabben, die sich in die Winkel des engen Raums zurückgezogen hatten und nun die drohend aufgerichteten Scheren gegen die Eindringlinge richteten. Die Frauen nahmen die Kinder in die Mitte und schlangen die Arme um sie. Der Tornado begann nun, auch das Große Haus zu zerlegen. Ein schwirrender Peitschenknall, und gleich darauf noch einer, kündigten die Katastrophe an. Alle Halteseile der Westseite waren gerissen. Über den Köpfen der Eingeschlossenen brach die Hölle los. Erst riß der Sturm das Dach mitsamt dem Firstbalken aus der Verankerung und warf es in die Lagune. Dann brachen die 591
Wände ein und polterten in den Innenraum. Die Dielen bogen sich durch und der Mörtel bröckelte aus dem Fundament. Staub rieselte durch die Fugen. Der gemauerte First stürzte ein, und die Fachwerkbalken schoben sich wie Rammböcke von oben gegen den Dielenboden. Der vordere Teil ihres Unterschlupfs gab nach. Gleichzeitig kam das Wasser von oben. In braunen Rinnsalen sickerte es durch die Fugen der Bretter und durchnäßte die Kleider. Der Sturm nahm noch immer an Kraft zu. "Hoffentlich", wimmerte Altagracia, "konnten sich Alejandra, Elsa und Rosita retten! Ich glaube nicht, daß auch nur ein Haus stehen bleibt! Sie werden alle weggerissen!" "Wir wollen beten!" sagte Alicia mit erstickter Stimme und faltete die Hände. In diesem Augenblick senkte sich ein weiterer Teil der Bohlen mit Getöse und der Boden wurde durch die Schuttmassen des Giebels in den Hohlraum gedrückt. "Zurück an die rückwärtige Mauer!" schrie Tirza und schleppte Lydia und Chica mit sich, während sie nach hinten kroch. Die anderen folgten. Sie hörten draußen Holz splittern und fühlten die schwere Erschütterung der Fundamente, als umherfliegende Trümmer das zerstörte Große Haus trafen. Alicia umfaßte tastend ihren Leib. "Ich habe Schmerzen!" sagte sie zu Tirza.
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"Um Himmels Willen, ist es soweit? Jetzt?" Tirza sah sie entsetzt an. "Nein, ich glaube nicht! Es sind erst die Vorboten", erwiderte Alicia. Der Sturm dauerte bis zum Abend fort. Nach dem Anbruch der Dämmerung ließ die Kraft des Windes aber für kurze Zeit ein wenig nach. Als die Frauen im letzten Licht des Tages die Bohle zur Seite drückten und mit den Kindern aus dem Loch krochen, war das Große Haus verschwunden. Es war einfach nicht mehr da. Ein Haufen Schutt und zersplitterte Bretter. Reste des zerstörten Mobiliars und, wie bei Vincentes Hütte, der gemauerte Herd waren die einzigen Zeugen dafür, daß an dieser Stelle ein Haus gestanden hatte. Sie blickten um sich und erschraken zu Tode. Das ganze Lager war zerstört. Nur der Hangar und die Gemeinschaftshütte mit der Küche und dem Vorrats- und Speiseraum standen noch halbwegs unversehrt. Elsa Navas Haus war ebenfalls eingestürzt. Tirza rannte mit Alicia hinüber, um nach Elsa und Rosita zu sehen. Als sie die Reste der Hütte erreichten, hörten sie ein leises Wimmern. Sie versuchten vergeblich, die schweren Holzwände, die fest ineinander verkeilt waren, auseinanderzuziehen. Tirza lief zurück und holte das Rohr, mit dem sie im Großen Haus die Diele angehoben hatten. Es gelang ihnen, eine Holztafel zu bewegen und sie mit 593
einem Balken abzustützen. Sie zerrten die noch atmende Rosita heraus und die tote Elsa, der ein Balken den Schädel eingeschlagen hatte. Sie brachten Rosita hinüber in die Gemeinschaftshütte und legten sie im Speiseraum auf einen Tisch. Sie hatte die Augen geschlossen und war bleich wie Wachs. Es ging ihr schlecht, aber sie war wenigstens aus den Trümmern gerettet und im Trockenen. Altagracia blieb bei ihr. Alicia und Tirza holten Fackeln aus dem Vorratsraum und liefen hinüber zu Alejandra Rodriguez' Haus. Hier schienen die Zerstörungen nicht ganz so schlimm zu sein. Das Haus war aus seiner Verankerung gerissen worden, die Wände hatten aber zusammengehalten. Die Hütte sah aus wie eine in der Faust zerquetschte Streichholzschachtel, stand aber noch aufrecht da. Die Frauen sprengten mit einem Balken, den sie als Hebel benutzten, die verklemmte Türe und sahen, daß die Decke der Stube eingestürzt war. Sie riefen laut Alejandras Namen, aber sie bekamen keine Antwort. Sie pflügten sich durch das Brettergewirr wie die Besessenen, weil sie immer noch hofften, Alejandra lebend unter den Trümmern zu finden. Als sie ihre Hand freigelegt hatten und keinen Puls mehr spürten, gaben sie auf und zogen sich verstört und mutlos in den Schutz der Gemeinschaftshütte zurück. Sie kauerten die ganze Nacht auf dem Boden und den Bänken und hörten Rosita jammern. Das Mädchen war noch nicht zu sich gekommen. Tirza versuchte, ihr Wasser einzuflößen, aber Rosita trank keinen Tropfen. Tirza suchte auch Rositas mageren Körper nach Wunden ab, konnte aber, außer ein paar harmloser Abschürfungen am
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Rücken, nichts entdecken. Die Knochen der Arme und Beine schienen nicht gebrochen zu sein. Da saßen sie inmitten schrecklichster Zerstörung im flackernden Kerzenlicht. Sie glaubten alle noch an einen bösen Traum, den ihnen der Hunger bescherte und hofften, am Morgen in ihren Betten zu erwachen und eben nur noch Hunger zu haben. Ein verzagtes Häuflein von neun Menschen war übriggeblieben. Drei Frauen und sechs Kinder waren der erschütternde Rest einer vierzig Mann starken Garnison, die auf eine kleine Insel geschickt worden war, um Mexikos Fahne zu verteidigen. Als der Morgen graute, setzten bei Alicia die Wehen ein. Sie hatte sich in eine nasse Decke gewickelt und lag schlotternd vor Erschöpfung auf dem Boden. Der Sturm heulte wieder um das Haus, seine erste Kraft hatte er aber weitgehend verloren. Tirza versuchte, den Herd in der Küche anzufeuern, aber das Holz war zu feucht. Sie öffnete den Hahn zum Kerosintank und pumpte Luft in die graue Kugel. In einer Schublade fand sie ein Feuerzeug. Blaue Flammen schossen aus den hundert kleinen Düsen auf, die im Kreis um die Brennstelle angeordnet waren. Tirza stellte auch fest, daß die Wasserleitung noch funktionierte. Sie drehte den Hahn auf und sah erleichtert zu, wie das klare, saubere Wasser in den schwarzen Eisentopf plätscherte. Sie trug den Topf hinüber zum Herd und setzte ihn auf die fauchenden, blauen Flammen. Dann entzündete sie auch die anderen drei Brennstellen und füllte den Kerosintank aus einem der flachen Kanister 595
nach, die in dem besonderen, gemauerten Teil des Vorratsraums lagerten. Es war noch genügend Kerosin vorhanden. Sie füllte drei weitere Töpfe mit Wasser und brachte sie zum Herd. Dann pumpte sie wieder Luft in den Druckbehälter und stellte befriedigt fest, daß das Fauchen der Flammen anschwoll und die blauen Zungen des Feuers über den Rand der Töpfe hinaus leckten. Die Kinder kauerten eng aneinandergeschmiegt auf dem Boden. Altagracia saß auf einer Bank am hinteren Tisch und hielt die kleine Lydia im Arm. Tirza ging hinaus in den Sturm und kämpfte sich durch bis zu den Trümmern der Krankenstation, die zuletzt Captain Barner mit seiner Familie bewohnt hatte. Sie erinnerte sich an einen Stoß Decken, den sie im unteren Etagenbett gesehen hatte, als sie damals die Hütte reinigten. Sie versuchte, sich zu orientieren. Das Etagenbett hatte an der westlichen Außenwand gestanden. Als der Sturm seinen Höhepunkt erreicht hatte und die Hütten zusammenbrachen, kam er von Westen. Die westliche Wand mußte also über das Bett gestürzt sein. Tirza arbeitete sich vom Eingang her, der an der Ostseite gelegen war, vor. Sie räumte Trümmer weg, zog Bretter und Balken aus dem Gewirr, schuf einen Hohlraum, durch den sie sich kriechend fortbewegen konnte. Immer wieder robbte sie zurück, um zerschmetterte Stühle und Teile der eisernen Bettgestelle nach draußen zu schaffen. Es hatte zu regnen aufgehört. Sie fand die zu ihrem Erstaunen noch trockenen Decken und zerrte sie aus dem Trümmerhaufen. Dann eilte sie zurück zu den anderen.
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Alicia lag da und fror, obwohl ihr der Schweiß auf der Stirn stand. Sie hechelte vor sich hin und sah mit müdem Blick hinüber zur Wand, wo das Kreuz hing. Tirza brühte Tee auf und goß ihn in eine Tasse. Sie flößte ihn Alicia löffelweise ein. "Durchhalten, Alicia, wir schaffen das!" sagte sie. Altagracia saß auf der Bank und betete. "Wir dürfen nicht aufgeben!" sagte Tirza. "Die Kinder brauchen uns." Dabei sah sie hinunter auf ihren Bauch, der kaum weniger rund und fest war als der, den Alicia mit beiden Armen umspannt hielt. Gegen Mittag hörte der Sturm ganz auf. Die Sonne brach durch und brannte sofort mit einer Intensität vom Himmel, daß man glauben konnte, es habe nie geregnet. Tirza ging mit Altagracia noch einmal zur Krankenstation. Sie arbeiteten zwei Stunden, um auch die Matratzen zu bergen. Die trockenen Matratzen schafften sie in den Speiseraum, die nassen legten sie vor ihrem Unterschlupf auf Balken in die Sonne zum Trocknen. Sie bereiteten Alicia in der Ecke des Raumes ein weiches Lager und legten sie auf saubere, trockene Laken. Tirza schob die Tische zusammen und baute eine Art Sichtschutz um Alicia herum. Tirza und Altagracia zogen ihr den Rock aus und wuschen sie mit warmem Wasser. Sie wußten beide nicht genau, was bei einer Geburt zu tun sei. Auch Alicia selbst konnte ihnen nicht viel helfen, obwohl sie drei Niederkünfte gut und gesund überstanden hatte. Sie wußte nur, daß heißes Wasser eine wichtige Rolle spielte. Damals war sie aber in 597
der Obhut von Leuten gewesen, die das alles genau kannten. Sie hatte sich immer nur dem Schmerz und der Vorfreude auf das Kind hingegeben und sich weder um den Zustand des Muttermunds noch um das Abnabeln oder die Nachgeburt gekümmert. Das alles wurde ihr von eifrigen Helfern abgenommen. So kam es, daß an jenem Samstag, dem 245. Tag in Tirzas Kalender, niemand so recht wußte, was genau zu tun sei. Nachmittags gegen drei platzte die Fruchtblase. Eine nach Cilantro riechende, grünliche Woge überschwemmte das Lager. Tirza holte frisches Bettzeug. Dann stellte sie erschrocken fest, daß sich Alicias Beckenboden weit vorgewölbt hatte, so als drücke eine gewaltige Faust von innen gegen das weiche Hindernis; dann klaffte Alicias Scham auseinander und ein Büschelchen feiner, schwarzer Haare zeigte sich. "Es ist da! Es geht los!" schrie Altagracia verwirrt. Francisco wich zu dieser Zeit keinen Schritt von Rositas Lager. Das Mädchen lag noch immer bewegungslos da. Ramoncito kümmerte sich um seine Schwestern und Antonio. "Es ist der Kopf", flüsterte Tirza, "wir können von Glück sagen, daß es der Kopf ist: das Kind liegt richtig." Langsam schob sich ein kleines, verzerrtes Gesicht aus dem beengenden Spalt, die Scham schwoll weiter an, dehnte sich erschreckend, gab nach und sah in jeder Sekunde aus, als werde sie vom Umfang der beengten Stirn zerrissen. Es ging quälend langsam voran und doch viel zu schnell. Die zarte Öffnung hatte keine Zeit, sich 598
auf die drängende Gewalt einzustellen. Die angespannten Muskeln sperrten sich gegen den Druck, quetschten das Blut aus den Adern und ließen das gesunde Rosa der Haut lebensfeindlich erblassen. Einem heftigen Schmerz, der Alicias Körper erschütterte, unter dem sich ihr erschlaffender Bauch aufbäumte, folgte die jähe Auflösung des Krampfes. Alicias Kreuz spannte sich in einer letzten Anstrengung, sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Tirza umspannte helfend ihre Knie. Der Kopf war da. Nach dem Kopf schlüpfte das wie zum Gruß vorgestreckte Ärmchen mit der Schulter aus der Scheide. Das zweite, eng angelegte Ärmchen rutschte nach. Die Brust, der Bauch folgten, sanft und glatt; die Schenkelchen, die Knie, die Füßchen.... Sekundensache. Tirza stützte das kleine Wesen und hob es hoch. Es war ganz sauber und stumm wie ein Fisch. Sie hatte sich immer vorgestellt, Neugeborene seien über und über mit Blut beschmiert und schrien mit dem ersten Lichtschimmer, den sie sehen. Dieses Kind war sauber und samtig trocken und sagte keinen Pieps. Man konnte meinen, es lächle. "Es ist ein Junge!" sagte Tirza ergriffen. "Ihr müßt ihn abnabeln!" sagte Alicia mit matter Stimme. 36 Rosita kam langsam zu sich. Sie konnte sich an nichts erinnern und fragte nach ihrer Mutter, aber Tirza sagte ihr noch nicht, was geschehen war.
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Alicia schlief schon seit drei Stunden fest. "Er soll Angel heißen!" hatte sie ihnen zugeflüstert, bevor ihr vor Erschöpfung die Augen zufielen. Tirza baute aus Brettern und dem schmalen Kopfteil einer Matratze ein Kinderbett zusammen. Sie packte Angel hinein, aber er wollte nicht schlafen. Er saugte an seinen rosigen Fäusten und sah aus tiefblauen Augen aufmerksam in Tirzas Gesicht. Altagracia stand am Herd, kochte Tee und briet in einer Pfanne Möweneier. Francisco war pausenlos unterwegs und schleppte alles noch Brauchbare aus den Ruinen an. Er brachte vor allem Decken, Matratzen und Werkzeug. In einen Sack, den er hinter sich herschleifte, packte er Kerzen, Hanfseile und Schnüre, Netze, Messer, Nägel, Bilder, alles, was ihm brauchbar erschien. Er sammelte alle Kleider, Tücher, Decken, Kissen und Schuhe ein, die er finden konnte. Er schleppte auch Tirzas Kalender und die Truhe an, in der sie ihr Geld und den Schmuck aufbewahrte. Er kämpfte gegen die Müdigkeit und wühlte sich wie ein Maulwurf durch die Ruinen. Der kleine Kerl hatte eine große Hacke und eine Schaufel geschultert und zog damit von Haus zu Haus. Er grub sich durch den Schutt und schaufelte Mörtel und Gesteinsbrocken ins Freie. Er hackte Löcher in eingeklemmte oder verschüttete Möbelstücke und holte mit seinen dünnen Armen alles, was er greifen konnte aus den schier unergründlichen Hohlräumen ans Tageslicht. Er besorgte sich aus dem Hangar einen Schubkarren, den er als Transportmittel einsetzte. Vor der Gemeinschaftshütte breitete er seine Schätze wieder aus, sortierte sie und räumte sie dann ins Innere des Hauses. Dann schob er den Schubkarren mit der Hacke und der Schaufel zu Alejandra 600
Rodriguez' Haus. Am späteren Nachmittag war es ihm gelungen, Alejandras Körper freizulegen. Er hatte um die tote Frau allen Schutt weggeschafft und die über ihr liegenden geborstenen Wände des Hauses mit Steinen abgestützt. Er holte Altagracia zu Hilfe, und sie zogen Alejandra gemeinsam aus den Trümmern. Altagracia grub an Ort und Stelle ein Loch, in das sie Alejandra rutschen ließen. Francisco hatte sie an den Händen gepackt, konnte aber das schwere Gewicht nicht halten, so daß sie ihm aus den Händen und mit dem Kopf voran in das Loch glitt. Sie winkelten mit aller Kraft Alejandras Beine an und wuchteten einen Stein auf ihre Knie, weil sich die Unterschenkel aus dem Kniegelenk heraus von selbst immer wieder streckten und dann über den Rand des Loches hinauswuchsen. Francisco schaufelte das Loch wieder zu und trat den Korallensand fest. Als es dunkel wurde, stand Alvarez in der Tür der Gemeinschaftshütte. Es hatte ihn keiner gehört, als er kam, und alle erschraken. Alicia versuchte gerade, Angel die Brust zu geben. Sie wußte, daß sie noch keine Milch hatte, aber sie dachte, das Saugen des Kindes würde das Einschießen der Milch anregen. Alvarez sah kurz hinüber zu Alicia, er reagierte aber nicht im mindesten auf die neue Situation. Es schien, als stelle er lediglich fest, wer nach dem Sturm noch übriggeblieben war. Altagracia saß am Tisch und sortierte die Kleider, die Francisco gebracht hatte. Alvarez war, wie immer seit Ramón Arnauds Tod, bewaffnet. Über der Schulter trug er das Gewehr und im Gürtel steckte die Luger, mit der er Ines Malonardo erschossen hatte. Wortlos winkte er Altagracia zu sich. Altagracia stand zögernd auf und ging zur Türe. Er sagte 601
so leise, daß es die anderen nicht hören konnten: "Pack' deine Sachen!" "Wozu soll ich meine Sachen packen?" fragte Altagracia, obwohl sie genau wußte, was er wollte. "Du kommst mit mir!" "Ich will nicht!" sagte Altagracia laut. "Es ist mir egal, was du willst! Niemand fragt dich danach", erwiderte Alvarez. Altagracia rührte sich nicht vom Fleck. "Pack deine Sachen!" wiederholte er, ohne den leisen Ton seiner Stimme zu verändern. "Ich habe nichts mehr zu packen. Es ist alles im Großen Haus verlorengegangen." "Nimm dir mit, was du von dem Zeug dort brauchen kannst!" Alvarez deutete auf den Kleiderberg auf dem Tisch. "Dann komm' und beeil' dich! Ich warte nicht gern." "Ich brauche nichts davon und ich gehe nicht mit dir!" Altagracias Stimme klang trotzig. Die Kinder drängten sich ängstlich und verschüchtert in die Ecke neben dem Geschirrschrank. Tirza beobachtete die Szene, ohne sich einzumischen und sah Alvarez mit haßerfülltem Blick an. Alicia lag da und schwieg ebenfalls.
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"Ich komme nicht mit!" wiederholte Altagracia mit versteinertem Blick. "Schluß jetzt mit dem Gewäsch!" schrie Alvarez, packte Altagracia am Handgelenk und zerrte sie über die Schwelle. Man hörte, wie Altagracias protestierende Stimme leiser wurde, dann hatten die Geräusche des Windes wieder ganz die Oberhand. Bevor Alvarez mit Altagracia den Palmenhain erreichte, bog er bei den Geleisen zum Strand hinunter ab und zerrte sie zum Hangar. Er stieß die angelehnte Tür des Schuppens auf und schrie hysterisch: "Geh hinein!" Altagracia wußte, was das bedeutete; sie wußte auch, was sie zu erwarten hatte, wenn sie ihm nicht gehorchte. Es war ihr klar, daß sie sich Alvarez nicht widersetzen durfte. Sie tat daher etwas, das Alvarez nicht erwartete, das ihr möglicherweise das Leben rettete. Sie stellte sich mit sicherem Instinkt für die ihr verbliebenen Möglichkeiten auf die neue Situation ein und sagte mit ruhiger Stimme: "Wenn du ficken willst, brauchst du kein solches Geschrei zu machen!" Alvarez war verdutzt wie jemand, der sich gegen eine Tür wirft und merkt, daß sie nicht verschlossen ist. Dann faßte er sich und sagt etwas freundlicher: "Umso besser! Zieh den Rock aus!" "Hier?" "Warum nicht? Ein Platz ist so gut wie der andere!" 603
"Dieser elende Schuppen! Der Petroleumgestank macht mich krank! Laß uns zu dir gehen! Das ist besser." Alvarez überlegte einen Augenblick und sagte dann: "Muy bien, gehen wir!" Er lockerte den Griff um ihr Handgelenk und ließ Altagracia, als sie den Palmenhain erreichten, ganz los. Sie ging schweigend hinter ihm her. Die Nacht war hereingebrochen und der Himmel hatte aufgeklart. Über im Mondlicht leuchtenden, weißen Wolkenhaufen funkelten die Sterne. Der Felsen reckte sich schwarz und unheimlich aus der Lagune, als die beiden den Ufersaum verließen und über den Isthmus auf Alvarez' Hütte zugingen. Alvarez öffnete die Tür, trat als erster ein und drehte den Docht der Öllampe heraus. Er zündete die Lampe an und bot Altagracia einen Stuhl an. "Du bleibst jetzt bei mir. Ich brauche dich hier." erklärte Alvarez und setzte sich ihr gegenüber. Er lauerte auf ihre Antwort, aber Altagracia war klug genug, nichts zu sagen. "Paßt dir das nicht?" fragte Alvarez irritiert. "Habe ich das gesagt? Habe ich gesagt, daß mir etwas nicht paßt?" Alvarez schwieg und kaute auf seiner Unterlippe. Altagracia bemerkte Unsicherheit in seinem Blick. "Du hast es gesagt!"
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"Das war vor den anderen!" "Es ist dir also recht?" "Es wäre schöner gewesen, wenn du mich gefragt hättest." Alvarez sah sie zutiefst verwundert an. "Du bist also einverstanden?" fragte er und fuhr ohne zu zögern fort: "Es war wegen der anderen, nicht wahr? Du hast dich gesträubt wegen Alicia. Du wolltest es ihnen nicht sagen!" Altagracia schwieg. Dann erhob sich Alvarez unvermittelt und kam auf die andere Seite des Tisches zu ihr. Sie sah, daß sein Glied erigiert war. Die stramme Wurst hatte sich unter dem Drillich bis zum Gürtel vorgeschoben. Altagracia hatte sich auf dem langen Weg vom Lager zu Alvarez' Hütte genau überlegt, wie sie vorgehen mußte, um sich nicht zu gefährden. Sie mußte vor allem vermeiden, ihn zu reizen. Sie mußte ihn ins Leere laufen lassen. Jetzt würde es sich zeigen, was ihr Plan wert war. Sie wandte sich ihm zu und legte ihre rechte Hand ganz selbstverständlich auf die Erhebung. "Juckt's dich? Kannst du es nicht erwarten?" fragte sie. Jetzt war seine Verwirrung vollkommen. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit ihrer widerstandslosen Kapitulation. Noch weniger rechnete er mit Aktivitäten von ihrer Seite oder gar Zärtlichkeit. Die Zärtlichkeit war es denn auch, die seinen Aggressionstrieb vorläufig in wollüstiges Leiden verwandelte. Er hatte eine solche Situation noch nie erlebt. Oder doch? Ja, natürlich, die Hütte in Pasillo! Das Licht! Carmencita. Er sah das Desaster genau vor sich. Das Bild der Szene in der 605
dunklen Hütte störte ihn, lenkte ihn ab von dem, was er wollte. Da war Lüge im Spiel und Verrat. Er verdrängte die Gedanken an das unerfreuliche Ereignis. Juanita kam ihm in den Sinn. Das war erfreulich und er hörte die Möwen schreien am Strand von Casas. Das war noch etwas anderes, das war wahres Glück gewesen. Reinstes, ehrliches Glück. Er spürte, wie sich Altagracias Hand unter den Stoff schob. Er fühlte ihren warmen Griff auf der feuchten Haut, spürte, wie das Blut einschoß, wie sich der Bauch spannte und die Muskeln um seine Schenkel zusammenfuhren. Er hörte Padre Ignacios fette Stimme und roch den abgestandenen Geruch nach alten Weibern und abgebrannten Kerzen in der kleinen Kapelle. Er schloß die Augen und spürte die heiße Woge. Er versuchte in letzter Sekunde Altagracia zu entkommen. Aber es war zu spät. "Mierda!" sagte Alvarez. "Reg dich nicht auf", sagte Altagracia, "was macht das schon!" Er sagte nochmal: "Mierda!" warf seinen Kittel in die Ecke und stieg er aus seinen Hosen. Er beugte sich sichtlich verstört über die Lampe, hob den Glaszylinder an und blies das Licht aus. Altagracia hörte sein Bett ächzen, als sich Alvarez hineinfallen ließ. Sie stand nach einem Avemaria im Dunkeln leise auf, legte sich zu ihm und schlief fest bis zum nächsten Morgen. Als das Geschrei der Vögel im ersten Morgenlicht über die Lagune schwirrte, wachte Alvarez auf und blieb eine 606
Minute ruhig auf dem Rücken liegen. Altagracia lag in ihren Kleidern so neben ihm, wie sie sich am Abend hingelegt hatte. Sie ahnte, daß sie am Ende war. Länger konnte sie es nicht hinauszögern. Sie wußte, daß der Trick nicht noch einmal verfangen würde, wagte aber noch einen weiteren Versuch. Sie überwand sich und tastete sich unter der Decke vor. Alvarez' Glied war hart wie Schwemmholz und heiß. Sein Atem beschleunigte sich. Es kam, wie es kommen mußte. Die müde Starre seines Körpers löste sich. Er drückte ihre Hand beiseite, schlug die Decke zurück, richtete sich auf, kniete plötzlich breitbeinig über ihr. Seine Hand schob den Saum ihres Kleides hinauf bis zur Hüfte. Er glotzte auf ihre dunkle, unbehaarte Indiohaut und machte dabei ein Gesicht, als leide er Schmerzen. Sein schwerer Körper schob sich über sie, sein fauliger Atem schlug ihr entgegen und der bedrohlich aufgerichtete "elfte Finger" senkte sich zum Angriff und stieß zu. Altagracia gab nach und schloß die Augen. Das war der Beginn eines sieben Monate dauernden Alptraums, der Altagracia beinahe in den Selbstmord trieb. Alvarez, der in den ersten Tagen ihres Zusammenseins, wenn er nicht gerade im Zustand höchster Erregung war, noch eine gewisse Rücksicht übte, wurde nach der ersten Woche von Tag zu Tag brutaler und unbarmherziger. Dazu kam, daß sein Körper nicht die geringste Schwäche zeigte. Er schien über einen geheimen, unerschöpflichen Kräftevorrat zu verfügen. Wann immer, wo immer, wie immer es ihm in den Sinn kam, Altagracia mußte sich fügen: er überfiel sie beim Holzhacken, am Herd, während des Essens, beim Rupfen der Vögel, im ersten Schlaf oder 607
früh morgens, lange vor Tag. Ja, sogar bei der Verrichtung ihrer Notdurft lauerte er ihr auf. Er warf sie auf den Rücken oder sprang sie von hinten an wie ein Hund. Er trieb es mit ihr von unten und oben, machte keine Unterschiede mehr in der Auswahl der Körperöffnungen, feierte das zerstörerische Richtfest seines elften Fingers, ohne zu ermüden. Er überschwemmte sie mit den klebrigen Fluten nicht endenwollender Lustkrämpfe. Er schrie dabei wie ein Bergschaf im Oktober und entwickelte eine bacchantische Kraft, der nichts entgegenzusetzen war. Um sich selbst die Angriffe zu erleichtern, verbot er ihr schließlich jede Bekleidung in der Hütte. "Jetzt glaube ich wirklich, daß du nicht mehr alle Eier in der Pfanne hast!" sagte Altagracia, "aber bitte, wenn du es so willst!" Sie zog das Kleid über den Kopf und stellte sich provozierend vor ihn hin. "Ist es so besser?" Alvarez drehte sich wütend um und verließ die Hütte. Altagracia hatte die Technik des Schwächeren schnell gelernt und war jetzt nur noch darauf aus, den Schaden kleinzuhalten. Sie kam ihm entgegen, wenn er soweit war, um die ekelhafte Prozedur abzukürzen. Sie lernte es, ihn zur Raserei zu bringen, ohne selbst dabei das Geringste zu empfinden. Sie sah zum Fenster hinaus oder blickte in die Wolken und dachte an den blauen Himmel oder an das weite Meer, wenn er in sie eindrang. Sie setzte alles daran, die Angelegenheit so glatt, unbeteiligt und rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Sie schob ihm scheinbar 608
bereitwillig die Hüften hin. Sie bemühte sich, mit ihren Händen zu ergründen, wie er es haben wollte, und wo seine schwachen Stellen lagen. Sie benahm sich wie eine perfekte Geliebte; dabei erzeugte Alvarez' Gegenwart in ihr nichts als Abscheu. Sie raunte ihm, ohne recht zu wissen, was sie sagte, Worte ins Ohr, die sie sonst kaum zu denken wagte, weil sie glaubte, er sei dann schneller fertig. Das hatte aber nur zur Folge, daß er das nächste Mal noch fordernder wurde und in einen Zustand gefährlicher Überreizung geriet. Wenn das geschah, konnte sie ihn mit den Mitteln ihrer simplen Strategie nicht mehr steuern. Er packte sie dann am Hals, fuchtelte mit dem Messer herum oder schrie sinnloses Zeug durch die Hütte und schoß Löcher mit der Luger ins Dach, so daß sie in Todesangst erstarrte. Zwanzig lange Jahre hatte Alvarez auf eine Frau gewartet, ohne genau zu wissen, worauf er wartete. Zwanzig Jahre lang war sein Sperma in den Eingeweiden herumgeschwappt, war von den Adern aufgesogen und in nutzlosem Kreislauf durch den Körper getrieben oder in sehnsuchtsvollen Nächten als unnützer Ballast ausgestoßen worden. Seit zwanzig Jahren kannte Alvarez nichts anderes, als die einsame Zärtlichkeit seiner hohlen Hand. Zwanzig Jahre träumte er von den unbeschwerten Bildern seiner Kindertage am Strand von Casas. Er sah Juanita zum Prachtweib heranwachsen und in traumhaften Visionen über sich kommen, sah sie, hinter berstenden Puddingbrüsten, zwischen fleischigen Zangenschenkeln zum alles verschlingenden Überschlitz werden, wenn er schwer atmend auf seiner Pritsche lag und sich das weißliche Zeug über den Bauch spritzte, das so 609
merkwürdig nach Ölseife roch. Ist es ein Wunder, daß Altagracias wirklich vorhandener, schöner, brauner Körper ihn in den Wahnsinn trieb? Dabei benahm sich Alvarez zu dieser Zeit noch ganz erträglich. Zumindest hatte er damals noch nicht mit dem Prügeln angefangen. Das kam erst später, als der Reiz des Neuen schwand und Alvarez die Grenzen seiner Macht spürte. Alicia Arnaud erholte sich schnell von Angels Geburt. Schon am nächsten Tag war sie wieder auf den Beinen und kümmerte sich um Angel. Sie legte ihm eine saubere Nabelbinde an und beobachtete mit wachsender Nervosität ihre schlaffe Brust, von deren ordentlicher Funktion Angels Leben abhing. Am zweiten Tag nach der Geburt perlten die ersten Tropfen fettgelber Vormilch aus den aufschwellenden Warzen. Der Strom des Lebens begann zu fließen. Tirza ging mit Francisco und Ramoncito zur Nußernte in den Palmenhain. Der Sturm hatte die Palmen übel zerzaust, aber die meisten Nüsse waren nicht heruntergerissen worden. Als der Tornado über der Insel wütete, legten sich die Palmen zwar fast auf den Boden aber sie schützten die Nüsse auf diese Weise vor den Sturmböen. Die Stämme waren so biegsam, so geschmeidig, daß nicht ein einziger brach. Jetzt kletterte Francisco alle drei Tage mit einem kurzen Seil, das er um den Stamm schlang und an dessen Enden er sich festhielt, hoch hinauf. Er wußte über den Reifungsprozeß gut Bescheid und wußte auch immer genau, welche Palme er erklimmen mußte, um an eine reife Nuß zu heranzukommen. Ramoncito saß im Sand und sah mit 610
großen Augen zu, wie Francisco barfuß die Stämme hinauflief. Es gab mindestens eine Nuß in der Woche. Jetzt im Juli waren es sogar manchmal zwei oder drei, die reif wurden. Sie holten auch die wenigen reifen Nüsse an der Pointe Verde und am Camp des Naturalistes. Francisco hatte das wichtige Amt des Nußöffners übernommen. Zuerst schlug er mit einem gezielten Hieb der Machete den weichen Fasermantel ab, etwa so wie man ein Ei köpft. Dann drückte er einen dicken Nagel in die weiche Keimöffnung der glasharten grünen Schale und ließ die duftende, wässrige Milch in einen Becher sickern. Die Kokosmilch wurde unter den Kindern aufgeteilt. Wenn die Nuß leer war, legte er sie in die flache linke Hand und klopfte mit dem Hammer sanft und gefühlvoll so lange auf der Schale herum, bis der dumpfe Klang der Schläge anzeigte, daß sich das Fruchtfleisch gelöst hatte. Ein einziger kräftiger Schlag ließ die Nuß dann aufspringen. Er hob das süße, weiße Fleisch heraus und in brach es andächtig in etwa gleichgroße Stücke. Tirza legte die Anteile fest. Alvarez' und Altagracias Portionen wurden in ein Schüsselchen gelegt und in der Küche aufbewahrt. Alvarez kam jeden Tag vom Felsen herüber. Er brachte jetzt wieder Vögel, die er im Osten der Insel fing, und verhielt sich ziemlich friedlich. Altagracia brachte er nie mit, aber Tirza konnte durch das Fernglas beobachten, wenn sie zum Wasserholen ging und wußte daher, daß ihr nicht das gleiche passiert war wie Micaela. Die Frauen vermieden jede Konfrontation mit Alvarez. Sie taten es der Kinder wegen. Alvarez wiederum war sich sicher, daß 611
seine Einschüchterungsversuche geglückt waren, und daß es weiteren Drucks nicht bedurfte. Er war dazu übergegangen, Alicia Arnaud wie die anderen zu duzen. Er machte den Unterschied nicht mehr, mit dem er Alicia bis dahin eine eindeutige Vorrangstellung eingeräumt hatte. Aber Tirza spürte, daß da zwischen ihm und Alicia noch ein Wall heimlicher Verehrung, eine Mauer der Achtung stand, die er nicht ohne weiters überwinden konnte. Zu Tirza sagte er: "Dich hol' ich auch noch! Du bist als nächste dran! Dir fick' ich Blasen an die Pflaume!" Derselbe Vorsatz klang vergleichsweise harmlos, wenn er mit Alicia sprach: "Wenn dein Kind größer ist, mußt du mir helfen kommen. Ich möchte gern, daß du zu mir kommst!" Rosita klagte noch über Kopfschmerzen. Sie war nach Ines' Tod nicht mehr das quirlige, kleine Mädchen. Sie bewegte sich langsam und müde. Sie ließ die Schultern und die Arme hängen. Die fröhliche Neugier in ihren Augen war stumpfer Trauer und ruhelosem Argwohn gewichen. Sie saß fast den ganzen Tag an der Lagune und schaute verständnislos auf die Trümmer des Hauses, in dem sie aufgewachsen war. Sie sprach mit niemandem mehr, das heißt, sie beschränkte sich auf die unumgänglich notwendigen Mitteilungen. Sie kümmerte sich nicht um die Kleinen und beteiligte sich nicht an den Arbeiten im Haus. Tirzas Tochter Guadalupe kam Mitte August zur Welt. Es war am 289. Tag in Tirzas Kalender. Ob das der 16. August war, ist nicht sicher, weil das hölzerne Kalendersystem zu diesem Zeitpunkt wohl bereits 612
Notierungsfehler aufwies. Die Geburt war wie bei Alicia unproblematisch verlaufen und Tirza hatte vom ersten Tag an so viel Milch, daß sie auch Angel anlegen konnte, wenn Guadalupe genug hatte. Alicia hatte nämlich Schwierigkeiten, Angel satt zu bekommen. Er schlief oft hungrig ein und machte dann mitten in der Nacht, wenn er aufwachte und nach Milch brüllte, einen höllischen Lärm. Etwa einen Monat nach Guadalupes Geburt wurde Tirza und Alicia die absolute Hoffnungslosigkeit ihres Inseldaseins und die tödliche Gefahr, die von Alvarez ausging, offenbar. Er hatte ihnen nämlich erklärt, warum er sich vor der Gerechtigkeit nicht fürchte, wenn er gerettet würde: "Es wird niemand erfahren, was hier geschehen ist", sagte er damals beiläufig. "Du bildest dir ein, wir werden schweigen?" fragte Alicia. "Ich werde euch zum Schweigen bringen!" "Wir werden dem Richter sagen, was du getan hast. Jede Einzelheit werden wir ihm berichten", sagte Tirza. "Keine von euch wird etwas sagen!" "Du kannst uns nicht daran hindern!" sagte Tirza. "Hört zu, ihr Zeugen, hört gut zu!" sagte er jetzt mit merkwürdig belegter Stimme, "es wird der Tag kommen, wo wir eine Rauchfahne entdecken werden, wo das Schiff über den Horizont heraufkommt, das mich mitnimmt nach
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Mexiko. In Acapulco liegt ein Haufen Geld auf der Bank, das mir gehört. Ich werde leben wie ein Hacendado." "Und du glaubst, das Schiff wird uns hier zurücklassen?" warf Alicia ein. "Ja, es wird euch hier zurücklassen. Ich weiß, daß es euch alle hier zurücklassen wird!" Tirza schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn: "Du bist doch verrückt! Du spinnst doch! Du glaubst im Ernst, daß sie dich verkommenes Subjekt an Bord nehmen und uns hier verhungern lassen?" "Ja, das glaube ich. Nein, das weiß ich! Sie werden nämlich nur mich hier finden!" "Wir werden uns schon bemerkbar machen! Da kannst du dich drauf verlassen!" sagte Tirza. "Das werdet ihr nicht können, weil ich euch alle töten werde, und zwar bevor sie an Land kommen und mich holen!" Die atemlose Stille wortlosen Entsetzens breitete sich aus. Alicia begann zu weinen. Tirza faßte sich als erste: "Was, glaubst du, werden sie sagen, wenn sie uns da liegen sehen, drei Frauen und acht Kinder? Wie willst du ihnen das erklären? Mit Skorbut?" "Sie werden euch nicht zu Gesicht bekommen. Nicht die Spur von euch werden sie zu Gesicht bekommen!" 614
"Wie willst du das anstellen?" "Ich werde euch in die Gemeinschaftshütte packen. Dann zünde ich den Schuppen an. Er wird lichterloh brennen, wenn sie hier landen. Ich werde ihnen erzählen, daß ich schon zwei Jahre allein hier lebe. Ich werde sie um Hilfe anflehen und ihnen sagen, daß der Skorbut alle geholt hat. Glaubt ihr, die durchsuchen das Lager? Nein, nichts werden sie unternehmen, was mir schaden könnte! Sie werden mich fragen, warum ich das Haus angezündet habe und ich werde ihnen sagen, daß ich es getan habe, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Das werden sie glauben. Sie haben nicht den geringsten Grund, Verdacht zu schöpfen! Sie werden diese schreckliche Insel so schnell wie möglich wieder verlassen. Sie werden nicht warten, bis das Feuer niedergebrannt ist, um dann in der Asche nach Knochen zu suchen. Mit euch wird meine Erinnerung an euch verbrennen. Ich werde ein neuer Mensch sein!" Das alles hatte ihnen Alvarez gesagt. Er hatte es mit einer so unglaublichen Selbstverständlichkeit dahergesagt, daß an der Ernsthaftigkeit seiner wahnsinnigen Pläne nicht zu zweifeln war. "Wir müssen ihm zuvorkommen! Wir müssen ihn töten!" sagte Tirza, kaum daß er die Tür hinter sich geschlossen hatte. "Ja, wir bringen ihn um!" bestätigte Alicia Arnaud. 37 Alvarez wußte genau, was er getan hatte. Er hatte es ihnen gesagt. Bis dahin waren die Frauen ziemlich arglos und 615
gutgläubig. Jetzt waren sie es nicht mehr. Nicht einmal Tirza, die stärkste und resoluteste unter ihnen, hätte ihm den eiskalten Ausrottungsplan, den Mord an an den Kindern zugetraut. Er hatte zwar schon getötet. Er hatte brutal getötet. Micaelas Tod war aber zumindest aus seiner Sicht etwas ganz anderes; auch die Sache mit Ines war kein Mord gewesen. Das waren Unfälle, für die er nichts konnte. Da war nichts geplant. Das war eben geschehen, weil er mit der Situation nicht zurecht kam, weil sie sich so dumm angestellt hatten und er deswegen Fehler machte. Der Mordplan, mit dem er sich den Frauen offenbart hatte, ging über alles andere hinaus: er war nicht nur ein Einschüchterungsversuch, er war ein Todesurteil ohne bestimmtes Hinrichtungsdatum. Das hatten sie sofort begriffen. Er hatte in ihren Gesichtern gelesen, daß sie ihm glaubten. Sein Plan war perfekt, er war zwingend. Es gab kein andere Möglichkeit für ihn, der Strafe zu entgehen. Sie würden ihn vor Gericht stellen in Chilpancingo - und aufhängen. Sie würden ihn anhören, aber nicht verstehen. Die Richter waren nicht dabei, als es geschah. Sie haben nicht gesehen, daß man ein Messer gegen ihn richtete, daß man ihn mit dem Beil erschlagen wollte. Niemand hat das gesehen. Man hatte ihn in die Einsamkeit verbannt und zehn Jahre sich selbst überlassen. Sollte er doch sehen, wie er mit der Einsamkeit und seinem Plagegeist von Schwanz zurecht käme. Was wußten sie denn von seinen Qualen? Sie hatten keine Ahnung, wie weh Einsamkeit tut, wie es in ihm brodelte und schmerzte, wenn er allein auf seiner Pritsche lag. Wozu waren denn die Frauen da? Wozu hatten sie denn den Schlitz zwischen den Beinen? 616
Hatte er nicht das Recht, sich in dieser Verlassenheit eine Frau zu nehmen? Was war denn schon dabei? Ist ein harmloser Fick ein Grund, mit dem Messer oder dem Beil auf einen loszugehen? Er hatte sie nicht geschlagen, hatte sie nicht gequält, hatte ihnen Essen gebracht und war bereit gewesen, sie zu beschützen. War es nicht selbstverständlich, daß sie ihm dafür das gaben, was er zum Leben brauchte? Warum machten sie bloß soviel Geschrei um das Bißchen Möse? Ist Ficken nicht genau so wichtig wie Essen und Trinken? Sie hatten ihn mit ihrem Getue zum Totschläger gemacht. Er wollte niemandem etwas tun. Sie hatten ihn dazu gezwungen und schoben ihm jetzt alle Schuld in die Schuhe. Aber jetzt war es mit seinem guten Willen vorbei. Jetzt würde er ihnen zeigen, wer Herr der Insel ist. Er war der König und sie waren ihm tributpflichtig. Er wußte, sie hielten ihn für dämlich und hinterhältig. Aber das war er nicht. Er war nicht dämlich. Er wußte, was er wollte. Angst ist ein sicheres Mittel, gefügig zu machen, wenn man sie lange genug wirken läßt. Plötzliche Angst, Angst die aus dem Unerwarteten entsteht, gibt Kraft, stärkt den Lebenswillen, nährt die Fantasie, hilft einem, sich selbst zu helfen. Aber dauernde Angst, die aus dem Nebel schleichender Ungewißheit und Bedrohung kriecht, versetzt den Menschen auf die niedrigste Stufe tierischen Daseins. Die Angst schaltet die Vernunft aus, zerstört die Logik der Gedankenabläufe, lähmt die wichtigsten Lebensfunktionen und die Widerstandskraft und fördert nichts als die Verdauung. Sie ist der eigentliche Auslöser des Fluchttriebs, der sich, anders als etwa beim Wolf, darin äußert, daß der Mensch der Bedrohung auszuweichen versucht, anstatt ihr entgegenzutreten und sie zu beseitigen. Sie werden weder 617
den Mut noch die Kraft haben, mich zu beseitigen, dachte Alvarez. Sie werden alles tun, was ich will, nur um mich umzustimmen, nur um zu überleben, ich werde mir Tirza und Alicia holen. Sie werden beide mir gehören! Aber das wußte er auch: die geringste Blöße würde sein Tod sein. Er mußte jetzt vorsichtig, mußte sehr auf der Hut sein. Ende Februar 1916 brachte Alvarez Altagracia ins Lager zurück. Er hatte genug von ihr. Er kam eines morgens in das Lager, betrat den Speiseraum und legte drei Möwen und zwei Tölpel auf den Tisch. "Ich bringe euch was zum Essen!" sagte er. Dann bat er Alicia, ihm seine Kokosnußration zu geben. Während er die faserigen Stücke zerkaute, sagte er beiläufig: "Ich fahre mit dem Boot zu den Eierinseln. Ich hole uns Nachschub." Er wandte sich an Tirza, die gerade Guadalupes Windeln wechselte: "Du kannst dein Kind mitnehmen, es stört mich nicht." "Wohin mitnehmen?" "Du kommst mit zu mir. Habe ich dir das nicht angekündigt?" "Es ist mir scheißegal, was du gesagt hast, ich bleibe mit meinem Kind, da, wo ich jetzt bin!" "Gut, dann geht eben eine andere mit! Die Reihenfolge ist mir egal. Wer jetzt nicht will, kommt später dran!" Er drehte sich um und verließ die Hütte. Er ging hinunter zur Lagune, bestieg das Boot und ruderte am Ufer entlang nach Norden. Am späten Nachmittag stand er wieder vor 618
ihnen. Er war zornig, weil er nichts gefangen hatte. "Hast du es dir überlegt?" fragte er Tirza. "Da gibt es nichts zu überlegen. Wenn du mich zwingst..." Sie sah ihn voller Haß an und setzte die Spitze des Messers, das sie in der Hand hielt, an ihren Hals. "Mich kriegst du nicht, du Hundsfott!" Alvarez sah sie mit hinterhältigem Lächeln an und sagte: "Es geht auch ohne euch! Ihr wollt es ja nicht anders!" Dann verließ er die Hütte wieder. Die Frauen waren so aufgebracht, daß sie ihn nicht weiter beobachteten. Sie ließen ihn ziehen, ohne aus dem Fenster zu sehen. Sie diskutierten zum hundertsten Mal, wie sie es anstellen könnten, das Scheusal loszuwerden. "Ihr dürft nicht vergessen, er hat die Luger. Er weiß, was wir vorhaben. Es geht nur, wenn wir ihn überraschen", sagte Tirza. Alicia nickte. Altagracia meinte dazu: "Er ist ein Feigling. Er wird sofort schießen, wenn wir ihn angreifen! Wenn wir ihn erledigen wollen, muß das sehr schnell gehen." "He, Tirza, warum gehst du nicht einfach mit ihm und erstichst ihn nachts im Bett?" fragte Alicia. Altagracia schüttelte heftig den Kopf und antwortete für Tirza: "Er sperrt alles weg. Die Messer, die Schere, alles, was in Frage käme, sperrt er weg." "Nimm ein Messer mit und verstecke es!" sagte Alicia. "Ich gehe nicht zu diesem Schwein!" antwortete Tirza.
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Alicia sah aus dem Fenster und sprang auf: "Er hat Rosita!" Alvarez hatte das Mädchen an der Hand und entfernte sich mit ihm auf den Palmenhain zu. "Er nimmt Rosita mit!" Tirza stürzte aus der Hütte. Sie lief hinter Alvarez her und schrie, heiser vor Zorn: "Laß das Kind hier. Du bist wahnsinnig! Laß das Kind bei uns, ich komme mit dir!" Alvarez drehte sich um und rief aus sicherer Entfernung: "Ich habe es mir anders überlegt. Du bist später dran. Kümmere du dich um dein Kind!" Als Tirza weiter auf ihn zurannte, blieb er stehen und schrie sie an: "Wenn du nicht zurückgehst, gibt's Zunder!" Er zog die Luger aus dem Gürtel. Tirza rannte unbeeindruckt weiter und keuchte: "Laß das Kind bei uns!" Dann schoß Alvarez dreimal, traf aber nicht. Wahrscheinlich wollte er nicht treffen. Tirza gab sich geschlagen. An diesem Tag stellte sie fest, daß sie plötzlich Angst davor hatte, daß das rettende Schiff wirklich käme. Das Ziel all ihrer Hoffnungen hatte sich mit einem Male in eine Vision des Schreckens verwandelt. Rosita begriff nicht, was mit ihr geschah. Sie ließ es geschehen, weil sie instinktiv ihre Lage richtig einschätzte und erkannte, daß Widerstand tödlich wäre. Für sie waren Alvarez' Exzesse sinnlose, schmerzhafte Übungen, die Abscheu und Brechreiz erzeugten und durchgestanden werden mußten wie Bauchschmerzen oder die monatlichen Blutungen. Alvarez war wütend, weil sich Rosita so dumm anstellte. Anders als Altagracia blieb Rosita scheinbar von allem was er tat unbeeindruckt. Sie reagierte weder auf seine Wünsche, noch war sie willens, "es zu lernen..", wie Alvarez es forderte. Wenn er an 620
seinen Hosen herumnestelte, erkannte sie das - wie ein gut dressierter Hund - als Kommando und reagierte spontan, aber gleichgültig und teilnahmslos, indem sie sich auf sein Bett legte, das Kleid gerade soweit anhob, wie es unbedingt sein mußte, die Knie anzog und die Augen schloß, bis das lästige Geschaukel vorüber war. Dann stand sie auf, schob einen Lappen zwischen die Beine und setzte das fort, was sie eben hatte unterbrechen müssen, nahm den Besen wieder auf, kehrte den Schmutz aus der Hütte, wusch Alvarez' Hemden oder rupfte eine Möwe fertig. Sie beklagte sich nicht, zeigte weder Trauer noch Ekel. Sie kümmerte sich um seine tägliche Befriedigung wie um eine lästige Haushaltspflicht. Das spürte Alvarez und es regte ihn sehr auf. Er wurde von Tag zu Tag mürrischer und unausstehlicher. Schließlich begann er, Rosita zu schlagen. Er glaubte, mit Prügeln das erreichen zu können, was ihm Rosita nicht geben konnte. Er wollte nur etwas nachhelfen, um der langweiligen Routine seiner täglichen Gelüste Leben einzuhauchen. Dann stellte er fest, daß die Prügelei selbst es war, die ihn so erregte, daß er Rosita gar nicht mehr zu berühren brauchte, daß er beim Anblick ihres zerschlagenen Körpers und ihrer Tränen zu orgiastischen Höhepunkten aufstieg, die durch die ihm bisher bekannten Reize nie zu erreichen waren. Er trieb sie mit einem Riemen in der Hütte herum, klatschte das nasse Leder auf ihren wunden Rücken und johlte dabei in brünstigem Rausch. So öffneten sich ihr die Tore der Hölle. Ihre Qualen endeten erst, als sie totkrank wurde und Alvarez' nichts mehr nutzte. Er legte sie in das Boot und ruderte über die Lagune zum Lager. "Sie ist krank", sagte er zu Tirza, "helft mir, sie in ihr Bett zu tragen!" Tirza kam mit zum Boot. Sie packten Rosita auf ein Brett und 621
trugen sie in die Hütte. Rosita war schlimm zugerichtet. Die Frauen sahen es, sagten aber nichts. Alvarez fuhr wieder hinüber zu den Eierinseln, um auf Vogeljagd zu gehen. Als das Boot abgelegt hatte, und die Frauen sicher waren, daß er sie nicht mehr hören konnte, beratschlagten sie wieder, wie sie Alvarez erledigen könnten. Tirza war fest entschlossen, ihn zu töten. Noch heute wollte sie ein Ende machen mit ihm. "Er geht immer denselben Weg", sagte sie,"er ist noch nie einen anderen Weg gegangen. Er läuft hinunter bis fast zum Hangar, dann benutzt er den schmalen Pfad durch den Palmenhain. Ich werde dort auf ihn warten. Ich werde mich hinter einer Palme verstecken und ihn mit dem Messer von hinten erstechen, wenn er kommt. Er wird keine Zeit haben, die Luger zu ziehen." "Er wird dich entdecken und erschießen! Er wird ahnen, daß du ihm auflauerst, wenn er dich nicht antrifft, wenn er von den Eierinseln zurückkommt. Du mußt aufpassen. Er hat ein blödes Gesicht, aber er ist nicht blöd!" sagte Altagracia. "Laß mich nur machen! Wenn wir nichts unternehmen, bringt er uns alle um." Als Alvarez zurückkam fragte er sofort nach Tirza. "Sie sammelt Eier", antwortete Altagracia spontan. "Wo? Ich habe sie nirgends gesehen."
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"Sie ist das Westufer der Lagune hinuntergegangen. Sie müßte bald zurück sein", beruhigte ihn Alicia. Er schien beruhigt zu sein. Er legte einen Tölpel neben dem Herd ab und band einem zweiten die Füße zusammen und hängte ihn an einer Schnur über die Schulter. "Ich werde Tirza mitnehmen. Sie wird nicht zurückkommen", sagte er, während er sich fertigmachte. "Ich gehe ihr nach. Den Lagunenstrand ist sie hinuntergegangen, hast du gesagt?" Alicia nickte. Alvarez ging zur Lagune und dann nach Süden. Als er den Palmenhain hinter sich gelassen hatte und Tirza nirgends erblickte, ging er wieder zurück und benutzte dabei seinen gewohnten Weg. Es war ein kleiner Windstoß, der Tirza verriet. Er wehte den Zipfel ihres Kleides eine Handbreit über den Palmenstamm hinaus. Gerade so viel, daß Alvarez die Gefahr erkannte. Er lief ruhig weiter. Als er den Palmenstamm, hinter dem Tirza stand, neben sich hatte, machte er einen entschlossenen Schritt nach links und packte zu. Das Messer fiel in den Sand. Alvarez würgte Tirza, bis sie blau anlief. Dann ließ er sie los und schlug sie vier fünfmal ins Gesicht. Blut schoß aus ihrer Nase. Er warf sie zu Boden und zog die Luger aus dem Gürtel. "Jetzt bist du fällig!" sagte er. Sie schützte das Gesicht mit den Armen. Sie spürte das Gewicht seines Körpers über sich und wußte, daß sie verspielt hatte. Als er seine Hosen wieder hochgezogen hatte, trieb Alvarez Tirza vor sich her. Sie betraten gemeinsam den Speiseraum. "Es wird ab heute alles anders!" sagte Alvarez zu Alicia. "Es wird keine Tür mehr 623
abgeschlossen. Alle Schränke sind offenzuhalten. Ich werde euch Tag und Nacht kontrollieren. Wenn ich die Tür verschlossen finde, setzt es was!" Dann packte er Altagracia an der Hand und nahm sie mit." "Mein Gott, Jetzt ist das arme Mädchen wieder dran!" jammerte Alicia. Tirza sagte: "Mich hat das Schwein auch erwischt! Ich könnte speien vor Ekel!" Sie füllte Wasser in eine Schüssel, hockte sich drüber und wusch sich eine halbe Stunde lang. In der folgenden Zeit änderte er seine Taktik. Er war nicht mehr greifbar. Er hatte wohl erkannt, daß von Tirza die größte Gefahr ausging. Altagracia war nicht fähig, ihn zu töten. Das war ihm klar. Ebensowenig fürchtete er sich vor Alicia. Eigentlich wollte er Alicia in seine Hütte holen, aber da war irgendetwas, das ihn davon abhielt. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen, es mit Alicia Arnaud zu treiben. Es schauderte ihn bei dem Gedanken, und doch ging von dieser Vorstellung ein Berg von Wollust aus. Er wollte und konnte nicht. Wenn er Alicia beobachtete, ohne daß sie ihn sah. Wenn er ihr zusah, wie sie sich bewegte, wenn er im Palmenhain stand und durch das Fernglas sah, wenn sie vor dem Haus Holz hackte, dann überkam es ihn und er schob seine Hand in die Tasche und fummelte. Aber es mit ihr zu treiben, das war zuviel. Er ärgerte sich über sein Unvermögen und versuchte sich selbst zu überzeugen, daß da kein Unterschied sei, zwischen den Weibern, die ja alle für ihn da waren. Alicia war nichts anderes als Tirza und Altagracia. Alles das gleiche, sagte er vor sich hin. Möse ist Möse. Aber wenn er es ausführen wollte, wenn er den Mund aufmachen wollte, um ihr zu 624
sagen, daß sie jetzt mit ihm kommen müsse, war alles aus. Er brachte den Befehl nicht über die Lippen. Das war der Grund, warum er sich wieder für Altagracia entschieden hatte. Tirza war ihm zu gefährlich, wenigstens im Augenblick. Und Rosita war dämlich und krank. Alvarez tauchte nun auch nachts auf. Er veränderte laufend seine Gewohnheiten. Oder besser: er hatte keine Gewohnheiten mehr. Mal kam er über den Ostteil der Insel, mal strich er am Lagunenufer entlang. Dann kam er wieder mit dem Boot. Mal erschien er früh morgens, mal nach Einbruch der Nacht. Man wußte, daß er kam, aber niemand wußte wann und woher. Er tauchte stets unvermutet auf. Niemand konnte sich mehr auf ihn einstellen. Er schlich durch die Hütte im Lager und kontrollierte die Betten. Er hatte immer eine Waffe, die Luger oder ein Messer, bei sich. Er vermied es am Tage, sich unter die Frauen zu mischen. Er richtete es immer so ein, daß nur eine einzige Person in seiner unmittelbaren Nähe war. Sie hätten ein Gewehr gebraucht, um ihn zu erledigen. Auch Altagracia wurde kontrolliert. Alvarez verschloß die Tür seiner Hütte und die Schränke. Selbst wenn Altagracia den Versuch, ihn zu töten, gewagt hätte, er wäre ihr nicht geglückt, weil sie kein Instrument hatte, mit dem sie die Tat hätte ausführen können. Altagracia blieb eineinhalb Jahre bei ihm. Zwischendurch überfiel er Tirza am Strand oder nahm sie in der Hütte im Lager. Er fand auch wieder Spaß an Rosita, nachdem ihre Verletzungen abgeheilt waren und sie wieder zu Kräften gekommen war. Er benahm sich wie ein geiler Hund. Er hatte nicht einmal mehr Scheu vor den Kindern. Er hatte 625
den letzten Rest seines Schamgefühls und allen Anstand verloren. Nur an Alicia wagte er sich nicht heran. Er war der Teufel persönlich und verbreitete den Gestank der Hölle um sich. Tirza führte den Kalender weiter, ohne sich Gedanken um die verstrichene Zeit zu machen. Das ist wohl der Grund, warum ihr später ein Jahr fehlte. Sie war fest davon überzeugt, es sei das Jahr 1916. Dabei hätte sie es leicht feststellen können, wenn sie die Monate gezählt hätte. Es war an einem Montag im Juli 1917, als Alvarez abends ankündigte, daß er Tirza nun endgültig zu sich holen werde. "Das nächste Jahr verbringst du mit mir! Ich bringe morgen Altagracia zurück und nehme dich mit", hatte er verkündet. Er war davon überzeugt, daß Tirzas Widerstandswille nun gebrochen sei. Tirza sagte, als sie abends mit Alicia in der dunklen Hütte saß: "Es ist genug. Morgen früh werde ich ihn töten oder selbst sterben!" Die Sonne ging auf und schüttete ihre Glut über die Insel. Tirza stand auf und weckte Alicia."Wir müssen gehen!", sagte sie leise, um die Kinder nicht zu wecken. "Wir müssen bei ihm sein, bevor er sich auf den Weg macht!" Sie schlossen leise die Türe hinter sich. Die Hitze war schon am frühen Morgen lähmend. Es ging fast kein Wind und der Felsen spiegelte sich in der flimmernden Hitze, die sich auf dem Sand des schmalen Landrings ausbreitete. "Wie machen wir es?" fragte Alicia. "Das ist ganz egal. Wir schlagen ihn tot oder erstechen ihn. Wir töten ihn einfach. Ich habe keine Lust, mir zu 626
überlegen wie wir es machen. Ich weiß nur, daß ich es diesmal tue." "Hast du ein Messer unter dem Rock?" "Nein." "Warum nicht? Wäre es nicht besser, du hättest eins mitgenommen?" "Nein, es könnte sein, daß er uns untersucht. Wir schaffen es nur, wenn er nichts Böses erwartet." Als sie vor seine Hütte kamen, saß er an einem Feuer und röstete einen Vogel. "Was wollt ihr hier? Was habt ihr hier zu suchen?" fragte Alvarez unwillig. Altagracia kam aus der Hütte und grüßte sie überrascht. Tirza sagte schnell: "Du sagtest, ich soll zu dir kommen!" "Ich hätte dich geholt. Habe ich dir nicht gesagt, daß ich dich hole? Wo hast du dein Kind? Warum bringst du dein Kind nicht mit?" "Guadalupe hat Fieber. Alicia sorgt für sie, bis sie gesund ist." "Na gut, umso besser. Was will Alicia hier?" "Sie hat mich begleitet. Es ist ein langer Weg!" "Kannst du das Stückchen Weg nicht alleine gehen?" "Doch, aber es ist schöner, wenn man Begleitung hat." 627
"Ich wollte euch Tölpel bringen. Ihr braucht heute keine Eier sammeln. Ich habe genug Fleisch für euch", sagte er und legte ein paar Scheite Holz in die Flammen. Er schien nicht den geringsten Verdacht zu schöpfen. Er hatte aber die Luger im Gürtel stecken. Die Lüge von Guadalupes Fieber war gefährlich. Er hätte wissen müssen, daß Tirza ihr krankes Kind nicht allein lassen würde. Alvarez drehte sich um und rief Altagracia. Sie kam aus der Tür und sah ihn fragend an. "Du kannst gehen!" sagte Alvarez. "Ich gehe mit Alicia zurück!" "Wenn ich dir sage, du gehst, dann gehst du!" "Na gut, aber das eilt doch nicht!" "Du sollst verschwinden, habe ich gesagt!" Altagracia sah hilflos drein und setzte sich in Bewegung. Tirza schaute ihr nach, als sie, um die Felsenbucht herum, noch immer zögernd allein zum Lager ging. Tirza überlegte, warum er Altagracia fortgejagt hatte. Hatte er etwas vor? Dann kam ihr der Gedanke, daß ihm die gleichzeitige Anwesenheit aller drei Gegner vielleicht zu gefährlich war. Fürchtete er ein Komplott, das er jetzt durchkreuzen wollte? "Wollt ihr was mitessen?" fragte er, jetzt merkwürdig freundlich. Er riß einen Schenkel aus dem Vogel und streckte ihn Tirza hin. Er lächelte sogar dabei.
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"Ich möchte nichts essen. Hast du einen Becher Wasser für mich?" "Hol dir's aus der Hütte." Als Tirza auf die offene Tür zuging, sah sie das Beil liegen. Es lag auf einem Haufen frisch zerkleinerten Holzes im Schatten des Daches. Sie ging in die Hütte, schenkte sich einen Becher Wasser ein und trank. Sie überlegte: Würde sie es mit dem Beil bis zum Feuer schaffen? Würde er es sehen, wenn sie sich nach dem Beil bückte? Sie mußte es versuchen. Eine bessere Gelegenheit würde sich nicht mehr bieten. Als sie vor die Hütte trat, drehte Alvarez ihr den Rücken zu. Er redete laut mit Alicia und hatte sich vom Feuer abgewandt. Tirza bückte sich und packte das Beil. Sie hielt es fest in der linken Hand und verbarg es hinter ihrem Rücken. Sie ging langsam zum Feuer zurück. Als sie fast am Feuer war, drehte sich Alvarez um, er musterte sie mißtrauisch, aber die hinter dem Rücken verborgene Hand fiel ihm nicht auf. Er beugte sich über den Vogel am Spieß und machte sich daran, mit dem Messer ein Stück aus der Keule zu schneiden. Tirza stellte sich hinter ihn und schlug zu. Er fiel sofort vornüber und blieb für ein paar Sekunden benommen. Er rührte sich wieder und röchelte. Seine Augen blickten in verschiedene Richtungen, eins nach oben, das andre nach unten, versuchten aber Tirza zu fixieren. Tirza zögerte, als er ihr ins Gesicht sah. "Schlag zu!" schrie Alicia, "mein Gott, schlag ihn tot! Schlag ihn um Gottes Willen tot!" Tirza hob das Beil ein zweites Mal. Alvarez stützte sich aufstöhnend auf die Ellenbogen und 629
robbte langsam auf Tirza zu. Er schleifte die Beine nach und blutete aus Mund und Nase. Alicia hörte es krachen. Es war ein dumpfes, splitterndes Krachen, wie wenn ein gefüllter Tontopf am Boden zerschellt. Als sie die Augen öffnete, sah sie die Schneide des Beils aus Alvarez' Schädel ragen. Das stumpfe Ende war in seinen Kopf versenkt. Tirzas Hand war bespritzt mit Blut. Sie packte das Beil und warf es hinüber zur Hütte. Sie wischte sich die Hand am Kleid ab. "Er ist hin", sagte sie leise. "Er wird niemandem mehr etwas tun." "Sollen wir ihn vergraben?" fragte Alicia. "Nein, wir lassen ihn liegen. Ich rühre dieses Schwein nicht mehr an!" erwiderte Tirza. Als sie den Isthmus hinter sich hatten und zum Lager zurückliefen, sah Alicia das Schiff. Sie blieb stehen und begann zu lachen. Sie lachte laut und schrill und warf sich auf den Boden. "Jetzt ist es so weit! Jetzt sind wir dran! Da kommt ein Schiff, Tirza! Jetzt sind wir auch verrückt geworden." "Nein, es ist wirklich ein Schiff! Ich sehe es auch." "Was sollen wir tun?" "Wir müsen uns bemerkbar machen! Komm schnell!" Sie liefen so schnell sie konnten zurück und holten ein Hemd und ein Bettlaken aus Alvarez' Hütte. Sie schwenkten die weißen Fahnen und rannten am Strand auf und ab. "Sie werden uns retten!" rief Alicia dabei, "sie werden uns retten!" Da ertönte das Signal über die
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Brandung. Es war ein in tiefer, wunderbarer Orgelton. Man hatte sie gesehen. 38 "Geben Sie mir mal das H.O.Chart No. 1680 'rüber!" hatte Captain Perrill vor vier Tagen, am Abend des 14. Juli 1917, auf der Brücke des amerikanischen Kanonenbootes USS-Yorktown zu Lieutenant Kerr gesagt. Die Yorktown kreuzte nach einer zweitägigen Patrouillenfahrt um die Tres-Marias-Inseln, südlich von Socorro vor der Mexikanischen Küste. "Das Gebiet um die Clipperton Insel? Was sollen wir denn da?" fragte Lieutenant Kerr. "Wir müssen uns entscheiden, Kerr. Entweder, wir beenden die Aktion, oder wir sehen uns auch noch dieses Inselchen an." "Glauben Sie, Sir, die Krauts hätten sich ausgerechnet da versteckt?" "Nein, Kerr! Ich glaube nicht einmal, daß die Deutschen sich überhaupt im Pazifik herumtreiben. Aber wenn man uns schon darum bittet, nach ihnen Ausschau zu halten, dann wollen wir das auch tun - und zwar gründlich. Fullam zeigt sich von seiner ganz unangenehmen Seite, wenn wir es uns zu leicht machen. Er haßt nichts mehr, als schlampig ausgeführte Befehle."
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"Clipperton hat keinen Hafen, Sir. Was sollten die Deutschen also dort wollen?" "Ich weiß es nicht. Wir haben nur lückenhafte Informationen. Sie könnten eine Radiostation errichtet haben." Perrill hatte die Karte aufgerollt und sie über den Kartentisch gebreitet. "Sehen Sie, Kerr!" Er klopfte mit dem Lineal auf einen Punkt in der Weite des Pazifiks. "Da ist ein Leuchtfeuer eingezeichnet. Ich möchte gerne wissen, ob es in letzter Zeit in Betrieb war." "Was soll ein Leuchtturm dort draußen?" "Man hat ihn wegen des Riffs errichtet." "Wegen des Riffs, Sir? Wer kreuzte denn in dieser Einöde herum?" "Mexikaner. Die haben da früher eine Garnison unterhalten." "Wann war das, Sir?" "Vor einigen Jahren, bis zum Ausbruch des Kriegs, wenn es stimmt, was man mir erzählt hat." "Ist heute noch jemand auf der Insel, Sir?" "Nein, die Mexikaner haben ihren Posten damals aufgegeben." 632
"Und sonst?" "Offiziell, keine Menschenseele." "Wie sollte das Leuchtfeuer dann jetzt in Betrieb sein, Sir?" "Es wäre doch möglich, daß sich nach den Mexikanern jemand dort eingenistet hat - inoffiziell." "Sie meinen, die Deutschen, Sir?" "Nicht auszuschließen. Clipperton ist so wahrscheinlich und unwahrscheinlich wie Socorro." "Dann werden wir also Clipperton anlaufen, Sir?" "Ja, Kerr, ich denke, das müssen wir. Lassen Sie vom Funker Details über die Insel einholen!" "Aye, aye, Sir!" Vier Tage war die Yorktown unterwegs gewesen. Jetzt meldete der Ausguck Land in Sicht. Von der Brücke herab war noch nichts auszumachen. Nach einer Viertelstunde tauchte jedoch aus dem bewegten Meer ein feiner, graugelber Streifen Land auf, dessen südliches Ende durch einen schwarzen Felsen markiert wurde, der steil wie eine Burg aufragte. Langsam schob sich die Yorktown an das Inselchen heran. Captain Perrill stand neben O'Neill, dem Steuermann, auf der Brücke und sah mit dem Glas hinüber. 633
"Wir dürfen keinesfalls zu nah 'ran, O'Neill!" "Wir haben noch gut zweihundert Faden unter dem Kiel, Sir!" "Das kann sich schnell ändern! Wir sind noch fünf Meilen östlich des Riffs." Es war zehn Uhr morgens. Captain Perrill beschloß, die Insel in möglichst geringem, aber sicherem Abstand gegen den Uhrzeigersinn zu umrunden. O'Neill warf das Ruder herum und die Yorktown schwenkte mit äußerst langsamer Fahrt in weitem Bogen nach Norden. Gegen zehn Uhr dreißig entdeckte Perrill an der Westseite, nördlich eines kleinen Palmenhains, aus einer Entfernung von zwei Meilen die Reste einer Siedlung. Er richtete das Glas auf die Ruinen, konnte aber niemanden entdecken. "Wissen Sie, was das ist, Kerr?" "Ich sehe nichts, Sir!" "Nehmen Sie das Glas!" Lieutenant Kerr hob das Glas an die Augen. "Eine verlassene Siedlung, Sir!" "Sieht aus wie nach einem Angriff!" "Ja, schlimm, Sir!" "Sehen Sie jemand?"
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"Nein, Sir! Ich kann niemand entdecken." Die Yorktown setzte ihre Fahrt nach Süden fort und näherte sich dem Felsen. "Das Leuchtfeuer, Sir!" sagte Kerr. Und unmittelbar darauf schrie er auf: "Leute! Da sind Leute, Sir! Zwei! Dort am Felsen!" Perrill richtete sein Glas auf den Felsen. "Jesus, Kerr, das sind keine Leute, das sind zwei Weiber!" Gleichzeitig kam Dr.Ross, der Schiffsarzt, auf die Brücke gestürzt und rief dem Captain zu: "Sir, in der zerstörten Siedlung sind Menschen!" "Wieviele?" "Drei, wahrscheinlich Kinder!" "Kinder? Uns bleibt heute nichts erspart!" Perrill schwenkte mit dem Glas hinüber zur Siedlung. "Kerr, haben Sie klären können, was mit Clipperton los ist?" "Yes, Sir!" "Ist die Insel bewohnt, Kerr?" "Nein, Sir, die Insel ist unbewohnt." "Wo kommen dann die Leute her?" 635
"Ich weiß es nicht, Sir! Es ist nichts bekannt." "Machen Sie ein Boot klar, Kerr! Ich möchte wissen, was da vor sich geht! Sie werden das Lunch vorziehen und gegen ein Uhr ablegen. Nehmen Sie sich vier Mann. Dr. Ross begleitet Sie, falls die da drüben einen Arzt brauchen. Vielleicht kann uns auch sein Spanisch von Nutzen sein." "Die Brandung ist viel zu stark, Sir!" "Wir werden es auf der Leeseite im Nordosten versuchen. Dort war es ziemlich ruhig." "Aye aye, Sir!" Als sie im Südosten der Insel den Felsen passierten, sahen sie die beiden Frauen mit weißen Tüchern hektische Zeichen geben; sie rannten hin und her und winkten. "Es sieht fast so aus, als brauchten sie Hilfe. Wie kommen die wohl auf diese gottverdammte Insel? Geben Sie ihnen ein Signal, O'Neill!" sagte Perrill. Der Steuermann zog an der Schnur und die Dampfpfeife heulte einen langgezogenen Orgelton über das Riff. Die Frauen reagierten sofort mit noch wilderen Sprüngen. Sie rannten hektisch am Strand auf und ab. Die Yorktown erreichte gegen elf Uhr ruhigeres Wasser an der Leeseite der Insel.
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Lieutenant Kerr drängte Dr.Ross zum Aufbruch. Die beiden Männer saßen allein in der Offiziersmesse. Es gab eine Sonderration Spiegeleier mit Speck, weil das allgemeine Lunch noch nicht fertig war. "Wir sollten uns beeilen! Wer weiß was uns da drüben erwartet! Ich möchte nicht unbedingt auf der Insel übernachten!" sagte Kerr im Aufstehen, während Dr. Ross sich eine Zigarette anzündete. Die vier Bluejackets hatten das Boot bereits abgefiert und standen am Fallreep bereit. Dr.Ross schleppte seine Tasche zum Deck hinauf. Zehn Minuten später ruderten die vier Matrosen mit gleichmäßigen Ruderschlägen auf das Riff zu. Captain Perrill beobachtete jede Phase des Manövers mit dem Glas. "Das schaffen sie nicht!" rief er hinüber zu O'Neill. "Sehen Sie, was die da machen!" O'Neill kam sofort zu Perrill und sah hinüber zu den Brechern über dem Riff. "Das ist die falsche Stelle!" bestätigte O'Neill, "da geht es nicht. Das Wasser ist viel zu flach! Sehen Sie, Sir, wie die Brecher aufsteigen. Sie werden zerschmettert, wenn sie nicht umkehren! Die können das nicht sehen, vom Boot aus!" "Schießen Sie, O'Neill, schießen Sie, schnell!"
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O'Neill riß die Leuchtpistole aus dem Kasten und schob im Laufen die erste Patrone hinein. Vom Brückendeck aus feuerte er drei rote Leuchtpatronen ab, die hoch aufstiegen und eine weiße Rauchspur hinter sich her zogen. Perrill beobachtete, wie die Männer im Boot auf das verabredete Signal hin sofort die Riemen einzogen. Dann tauchten sie die Riemen der Backbordseite wieder ein und der Bug schwenkte herum. Die Frauen am Strand, die vom Felsen zu der vermutlichen Landestelle gelaufen waren, bewegten sich nicht mehr. Sie standen starr da wie Vogelscheuchen. Eine Viertelstunde später kam der durchnäßte Lieutenant Kerr wieder an Deck. Perrill stand am Fallreep und reichte ihm die Hand. "So geht das nicht, Kerr! Wir haben uns hier die schlimmste Stelle ausgesucht. Wir probieren es dreihundert Meter weiter nördlich." "Okay, Sir!" sagte Kerr sichtlich beeindruckt. Die Yorktown machte wieder langsame Fahrt. "Sehen Sie die einsame Palme dort drüben? Auf die sollten Sie zuhalten! Die Brandung ist viel schwächer an dieser Stelle." "Aye, aye, Sir!" Der Captain hatte recht gehabt. Das Boot tanzte nur ein wenig auf und ab, als sie über das Riff ruderten. Die sechs Männer erreichten die Insel ohne Schaden, etwas östlich der Pointe Verte.
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Während sie noch durch den Riffkanal ruderten, sahen sie die Frauen wieder. Sie waren die ganze Strecke hinter der Yorktown hergelaufen. Sie winkten wie zuvor am Felsen mit den weißen Tüchern. Als die Männer anlegten und das Boot an Land zogen, liefen die beiden Frauen weg, blieben aber schon nach wenigen Metern wieder stehen und sahen sich argwöhnisch um. Es war weniger ihr verwahrloster Zustand, als dieser schreckliche Ausdruck unverhüllter Angst und offenen Mißtrauens in ihren Gesichtern, der Kerr irritierte. Dabei war offenkundig, daß die Frauen, die nur spanisch sprachen, dringend Hilfe brauchten und suchten. Was war auf dieser Insel geschehen, das diese Frauen zu ängstlichen Wilden hatte werden lassen? Das lange Kleid der älteren Frau, das eigentlich nur noch aus zusammengeflickten Lumpen bestand, mußte einmal elegant gewesen sein. Kerr sah in der Gestalt, die dieses abgerissene Kleid trug, trotz aller Armseligkeit noch einen Anflug von Stolz und Unbeugsamkeit. Die Augen flatterten vor Angst, aber sie richteten sich gleichzeitig trostsuchend und voller Wißbegier auf den jungen Marineoffizier. Kerr schloß daraus, daß er es nicht mit ungebildeten Leuten zu tun hatte. Die ältere Frau war trotz der sonnenverbrannten Haut als Weiße zu erkennen. Die jüngere hatte das blauschwarze Haar einer Indianerin. Im Gegensatz dazu stand ihr zwar dunkles, aber fein geschnittenes Gesicht, das auf spanisches Blut schließen ließ. Beide Frauen machten einen nervösen, erschöpften und ausgehungerten Eindruck. Dr.Ross winkte sie freundlich lächelnd heran. Sie folgten ihm nur zögernd, 639
stets bereit das Weite zu suchen. Er sprach zuerst mit der älteren Frau, die Kerr auf vierzig Jahre schätzte, und er erfuhr, daß sie ohne Versorgung seit drei Jahren mit ihren Kindern auf der Insel lebten. "Wo sind die Kinder?" fragte Dr. Ross. "Dort, auf der anderen Seite. Im Lager!" erwiderte die jüngere der beiden Frauen. "Dann habe ich doch recht gehabt! Ich habe sie vom Schiff aus gesehen", sagte Dr.Ross. Die ältere fragte besorgt, warum sie gekommen seien und wollte wissen, was sie mit ihnen vorhätten. Dr.Ross versuchte wortreich zu erklären, daß er Arzt sei und ihnen helfen wolle. Es werde ihnen nichts geschehen. Erst da erhellten sich ihre Gesichter. Das Vertrauen kehrte zurück. "Sie bringen uns nach Mexiko?" fragte die jüngere. "Das hängt vom Captain ab", erwiderte Kerr, "das kann nur er entscheiden. Wir sind im Einsatz und dürfen keine Zivilisten an Bord nehmen; aber wir werden dafür sorgen, daß ein ziviles Schiff Sie übernimmt! Der Captain wird noch heute einen Funkspruch absetzten." "Wenn Sie uns nicht mitnehmen, töten wir uns und die Kinder", sagte die ältere Frau und begann zu weinen. Dr.Ross erschrak über diese schreckliche Drohung und tröstete sie. Er begriff nicht, was sie damit sagen wollte. Es gab keinen Grund, jemanden zu töten. Er ahnte, daß 640
hier schiere Verzweiflung im Spiel war. "Kommen Sie, wir haben nicht viel Zeit. Lassen Sie uns aufbrechen und die Kinder und Ihre Sachen holen! Wir nehmen Sie erst mal mit an Bord. Alles weitere wird sich dort ergeben." Dr. Ross wandte sich an Lieutenant Kerr und übersetzte. Kerr gab seine Zustimmung indem er nickte. Dr. Ross ging mit den beiden Frauen nach Norden in Richtung auf ein paar von Vogelschwärmen umflatterter Inselchen in der Lagune. Das war der kürzere Weg zum gegenüberliegenden Lager. Lieutenant Kerr ging nach Süden, um gemäß seinem eigentlichen Auftrag den Leuchtturm zu inspizieren. Auf halbem Weg stieß er auf einen Friedhof. Da waren etwa dreißig Gräber aufgeschüttet. Die meisten Holzkreuze waren herausgerissen und lagen auf dem Korallenschutt herum. Im südlichen Teil hatten Sturzseen vom Riffkanal her einige Gräber eingeebnet. Die Gebeine waren teils vom Treibsand verschüttet, teils bleichten sie in der Sonne. Nahe dem Felsen stand eine windschiefe Hütte. Unmittelbar daneben, an der Lagune, lagen die versandeten Trümmer einer weiteren Hütte herum. Lieutenant Kerr ging über die schmale Landenge auf den Felsen zu, der aus dieser Sicht unmittelbar aus der Lagune aufzuragen schien. Er entdeckte eine Gruppe schwarzgefleckter Schweine, die im Schatten des Felsens lagen und in die Schluchten flohen, als Kerr auf sie zu marschierte. Er ließ die Hütte zunächst rechts liegen, bis er zum Fuß einer Leiter kam, die offenbar zum Leuchtfeuer hinaufführte. Die Vögel umflatterten ihn mit wildem Geschrei, als Kerr die Leiter hinaufstieg. Sie stürzten 641
immer wieder auf den Eindringling herunter, hackten mit ihren Schnäbeln auf ihn ein und versuchten, ihn mit wütenden Flügelschlägen am Aufsteigen zu hindern. Kerr erkannte sofort, daß das Leuchtfeuer seit langer Zeit nicht mehr in Betrieb war. Das Geländer der Plattform war zerbrochen. Glassplitter der äußeren Glasblende lagen herum. Der Öltank war leer. Im Laternenfuß stand eine Wasserpfütze. Kerr sah hinunter auf die Insel. Er konnte sich nicht vorstellen, daß man hier leben konnte. Die Lagune erschien tot und feindlich. Das Wasser war grau und leblos und die Luft war geschwängert von einem durchdringenden und ekelhaften Geruch nach Hühnerstall und verwesenden Algen. Der schmale Landstreifen zeigte außer den wenigen Palmen kein Grün. Er schien nur aus unfruchtbarem Sand zu bestehen. Kerr kletterte unter dem erneuten Protest der Vögel die Leiter wieder hinunter, wollte den Felsen umrunden. Er mußte aber umkehren, weil der Felsen im Süden, gegenüber einer kleinen Felsklippe, die aus der Felsenbucht ragte, senkrecht ins Wasser der Bucht abfiel. Vor der Hütte, auf der Nordostseite, schwelte ein verglimmendes Feuer. Neben dem Feuer lag etwas Rotes, das sich bewegte. Als Kerr näherkam, stellte er fest, daß es hunderte der roten Krabben waren, von denen er auf dem Weg schon einzelne Exemplare entdeckt hatte. Die Krabben krochen von allen Seiten auf die rauchende Feuerstelle zu und schoben sich auf eine kleine Erhebung 642
vor der halbgeöffneten Hüttentüre. Kerr wischte mit dem Stiefel einige Krabben von der Erhebung und sah für eine Sekunde einen schwarzen Ledergürtel an einer braunen Hose. Er nahm ein Brett, das da lag und legte wie mit einer Schaufel das Objekt, über dem sich die Krabben auftürmten und das sie so magisch anzuziehen schien, frei. Kerr erblickte einen Haufen blutiger Knochen in zerfetzten Kleidern. Er stöhnte auf, wandte sich um und erbrach sich. Dann lief er ohne anzuhalten das Westufer hinauf zum Palmenhain. Dr. Ross war mit den Matrosen und den Frauen nach Norden gegangen. Die Frauen waren so erschöpft, daß sie für den nur zwei Meilen messenden Weg fast eine Stunde brauchten. Die ältere hatte sich als Señora Arnaud vorgestellt. Sie litt unter auffälliger Nervosität, gab sich äußerst schreckhaft und verstört, hatte große Schwierigkeiten, ganze und logisch zusammenhängende Sätze zu formulieren. Ihr Blick war trotzdem warm und hilfesuchend. Im Blick der jüngeren der beiden aber lag nackter Argwohn. Sie wirkte überlegter und gefaßter als Señora Arnaud. Die Frauen sprachen nicht viel. Dr. Ross erfuhr über ihr Schicksal nur das Wichtigste. Sie sagten ihm, daß sie erst die Kinder und dann sich selbst getötet hätten, wenn das Boot nicht gelandet wäre. Sie hatten verfolgt, wie Kerr beidrehte und waren davon überzeugt, daß die Männer es nicht schafften. Die ältere sah ihn mit noch immer schreckgeweiteten Augen an: "Wir dachten, Sie ließen uns im Stich. Wir wollten hinaus ins Wasser. Wir wollten nicht mehr leben." Dr.Ross begriff, daß in ihr das Bißchen über die Jahre geretteter Hoffnung zerbrochen und panischer Angst gewichen war. 643
Das Lager war, wie von der Yorktown aus erkennbar, in schaurigem Zustand. Die Kinder, sieben an der Zahl, wohl keines älter als zehn, starrten vor Dreck und steckten in Hosen, die aus rauhen Segelresten zusammengeflickt worden waren. Sie waren fast alle rachitisch. Sie versteckten sich hinter den Hütten, als sie die fremden, blau gekleideten Männer auf das Lager zukommen sahen. Eine dritte etwa fünfundzwanzigjährige Frau, offensichtlich ebenfalls eine Indianerin, hütete die Kinder zusammen mit einem halbwüchsigen, abgemagerten Indiomädchen. Die Frau, die sich als Tirza vorgestellt hatte, hob ein kleines Mädchen, es mochte zwei Jahre alt sein, aus dem Staub und zeigte es mit unbewegtem Gesichtsausdruck Dr.Ross. "Meine Tochter!" sagte sie. Es fiel Dr.Ross auf, daß das Kind besser genährt war, als die anderen. Es wirkte, wenn man von den Dreckkrusten absah, hinter denen es sich versteckte, kräftig und gesund wie jedes unter normalen Umständen aufgezogene Kind. Die Frau sah Dr.Ross' erstaunten Blick und sagte verschämt: "Es ist die Milch. Sie werden es nicht glauben, Señor, aber ich habe immer noch Milch." Die Matrosen hatten begonnen, die armselige Habe der Leute in Schubkarren zu laden. Es war erstaunlich, was diese Menschen mitnehmen wollten. Die Wertvorstellungen hatten sich in den Jahren der Einsamkeit und Entbehrungen offensichtlich gewandelt. Señora Arnaud brachte ein kleines Stück weißer Seife, das sie nicht auf der Insel zurücklassen wollte. Sie bestand auch darauf, die beiden Hühner, die sich vor Schwäche kaum mehr auf den Beinen halten konnten, mitzunehmen. "Sie haben all die Jahre mit uns gelitten, wir lassen sie 644
nicht allein zurück!" sagte sie. Sie luden Kleidungsstücke in die Karren, die nicht einmal im ärmsten Viertel einer armen Stadt als Almosen angenommen worden wären. Die Blusen und Kleider waren ausgefranst, ausgeblichen und fadenscheinig. Sie waren völlig aus der Mode und starrten, wie alles andere, vor Dreck. Dr.Ross wollte sie nicht mit auf das Schiff nehmen, weil er sicher war, daß das Zeug verlaust war. Die Frauen blieben aber hartnäckig bei ihrer Forderung, alles einzuladen. Sie brachten primitiv angefertigte Küchengeräte, aus Segeltuch angefertigte Mokassins, geschnitzte Kochlöffel, zwei über und über mit eingeschnitzten Kerben versehene Bretter, die sie als Kalender bezeichneten. Dr.Ross fragte sie, welche Datum der Kalender denn anzeige. Die Frau, die sich als Tirza Cardona vorgestellt hatte, sagte, es sei der sechzehnte Juli. Sie lag nur zwei Tage zurück, glaubte aber es sei das Jahr 1916. Señora Arnaud übergab Dr.Ross ein ziemliches Bündel großer Banknoten in einer abgewetzten Ledertasche. Sie bat ihn, das Geld in Verwahrung zu nehmen. Dr.Ross wagte nicht, ihr zu sagen, daß die Scheine längst wertlos geworden waren. Francisco, ein von der Sonne schwarzgebrannter Indianerjunge schleppte ein arg zerbeultes Signalhorn mit sich herum und deckte die ausgefransten Reste eines riesigen Sombreros über den bereits vollgeladenen ersten Schubkarren. Dr.Ross war fest entschlossen, den angesammelten Müll auf der Insel zurückzulassen, aber er hielt es für besser, die Sachen zur Beruhigung der Besitzer erst einmal mit zum Boot zu nehmen. Er konnte sich allerdings noch nicht vorstellen,was er mit den Hühnern machen sollte.
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Gegen vier Uhr nachmittags sah Captain Perrill vom nördlichen Teil der Insel eine merkwürdige Karawane unter der Führung seiner Offiziere auf das Boot zustreben. Zwei Bluejackets schoben Schubkarren. Dahinter beobachtete er den mühsamen Gang der rachitischen Kinder, die sich über den rauhen Korallenschutt kämpften. Jede der Frauen trug ein Baby. Perrill traute seinen Augen nicht, als er zusah, wie die merkwürdigen Inselbewohner ohne Ausnahme in das Boot verladen wurden, wie sie durch die Brandung ruderten und sich dem Schiff näherten. Die ganze Mannschaft stand an der Reling und sah dem seltsamen Schauspiel zu. Die Kinder brüllten in panischer Angst, als ihre Mütter als erste das Boot verließen und das Fallreep hochkletterten. Sie glaubten, sie würden allein zurückgelassen und beruhigten sich erst, als sie von den Matrosen an Bord gebracht wurden. Weder Dr.Ross noch Lieutenant Kerr hatten es schließlich übers Herz gebracht. Sie hatten nicht nur die Hühner, sondern auch das Stückchen Seife und all den anderen Kram verladen, an dem das Herz dieser Leute hing. Es gab große Probleme mit den Hühnern, weil sie sich wie wahnsinnig gebärdeten, als sie merkten, daß die Fahrt übers Wasser ging. Einer der Matrosen band ihnen die Flügel zusammen. Sie lagen zuckend unter der Vorderducht und krächzten und piepten zum Steinerweichen. Dann geschah das Unglück: Als das erste Huhn schon gerettet war und von den Fesseln befreit auf Deck herumhumpelte, fiel das zweite ins Wasser und ertrank. 646
Die Kinder weinten um den zerrupften Vogel, der drei Jahre durchgehalten hatte und in der letzten Sekunde seiner Rettung ein Opfer der eigenen Panik geworden war. Am Sonntag, dem 22.Jui 1917, betraten die Überlebenden des Clipperton-Desasters im Hafen von Salina Cruz wieder mexikanischen Boden. Alicia Arnaud wurde mit den Kindern von Señor Rovira, ihrem Vater, abgeholt. Altagracia Quiroz, Rosita Nava und Francisco und Antonio Irra wurden ebenfalls von ihm aufgenommen. Tirza nahm Guadalupe auf den Arm und machte sich auf den Weg in die Hauptstadt. Gerüchten zufolge soll sie Ernesto Ruiz Pappas geheiratet haben und später nach Cuernavaca gezogen sein. EPILOG 39 Viele Jahre später, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, hatte ein erfindungsreiches Team amerikanischer Konstrukteure der Consolidated Aircraft Corporation ein neues Flugboot gebaut. Die Maschinen vom Typ Catalina 532 sahen mit ihren weitausladenden Schwingen nicht nur elegant aus, sondern ermöglichten auch den damals unübertroffenen Aktionsradius von über tausend nautischen Meilen. Gordon Taylor, ein Fliegerhauptmann und Verbindungsoffizier der australischen Luftwaffe, ärgerte sich schon seit langem über die miserablen Kurierdienste, die die Zusammenarbeit mit der US-Airforce fast unerträglich erschwerten. Kurz gesagt, es haperte mit der Verständigung der beiden Eckpfeiler im pazifischen Krieg 647
gegen Japan, und wenn es darum ging, wichtige Dokumente aus dem Pentagon zu bekommen, oder solche rasch von Sydney dorthin zu schaffen, gab es ständig Verzögerungen, die strategische Entscheidungen zum rechten Zeitpunkt fast unmöglich machten. Captain Taylor kam nun auf die Idee, eine Art Luftbrücke zwischen Nordamerika und Australien einzurichten und für dieses Unternehmen Catalina-Flugboote einzusetzen. Er verbiß sich in diesen Gedanken, saß nächtelang am Meßtisch und rechnete und zirkelte. Es gab viele Skeptiker im Pentagon, die sein Vorhaben ablehnten. Aber schließlich stimmte man Taylor zu. Sein Weg sollte über die kleine Insel Clipperton, die Marquesas und Bora Bora nach Australien führen. Zunächst aber mußten auf den Zwischenstationen Treibstofflager eingerichtet werden. Im September des Jahres 1944 war es dann soweit. Die Frigate Bird schwamm vollgetankt und mit sechs Spezialtanks im Rumpf in der Lagune von Coyuca. Taylor hatte, wie gesagt, vier Mann Besatzung dabei, alles zuverlässige, gute Freunde aus seinem Geschwader. Im Morgengrauen schleuderte die Frigate Bird mit aufdröhnenden Motoren eine ungeheure Wasserfahne über den See, hob wie eine vollgefressene Ente ab und wandte ihre silbrige Schnauze über der Bucht von Acapulco nach Westen. Taylor hatte den Treibstoffverbrauch unter allen nur möglichen Wetterbedingungen und Windverhältnissen berechnet. Die Frigate Bird konnte genug Sprit befördern, um auch dann heil wieder zurückzukommen, wenn auf Clipperton eine Landung unmöglich war, oder wenn sie 648
sich verflogen und die Insel nicht fanden. Es kam nur darauf an, im Notfall rechtzeitig umzukehren. Der Wind stand günstig und der Pazifik lag sanft und glatt unter ihnen wie ein blauer Spiegel. Zarte Schaumkronen hin und wieder, und ein Himmel, klar von Horizont zu Horizont. Gordon Taylor vertraute auf den Felsen. Das war die Orientierungsmarke, die er nicht übersehen durfte. Er war ein sicherer Navigator und war daher nicht besonders überrascht, als er die schwarze Zacke des Inselfelsens, die aussah wie das eingeschwärzte Segel eines Schoners, und den weißblauen Brandungsring, nur wenig ab vom Kurs, steuerbords entdeckte. "Wir sind da, Leute! Wir wassern in fünf Minuten!" rief Taylor fröhlich und senkte die Schnauze der Frigate Bird. Er suchte sich im Anflug innerhalb der Lagune die längstmögliche Strecke gegen den Wind von Ost nach West aus und überflog in nur wenigen Metern Höhe das Camp des Naturalistes. Dann setzte er die Frigate Bird auf das Wasser des stillen Sees. Der schwere Rumpf warf aufsprühende Gischt zur Seite und das Flugboot pflügte, langsamer werdend durch das graue Wasser. Taylor stellte in einer flachen Bucht, die als Zangenbucht in der Karte verzeichnet war, die Motoren ab. Die Männer vertäuten die Benzintanks in der Lagune und warteten die Motoren. Sie unternahmen Erkundungstouren zum Felsen und stiegen hinauf zum Leuchtturm. Die Holzleitern waren zerbrochen, aber Alvarez' Laterne stand noch da. Die Hütten waren alle verschwunden. Taylor beschrieb nur ein paar von Geißfußwinden überwucherte Balken, modernde Fensterkreuze, zerbeulte 649
Wellblechfetzten und verwitterte Bretter, bedeckt von feinem grauem Korallensand. Vor dem Palmenhain entdeckte er die Reste eines Hangars und draußen im Riffkanal schwamm eine riesige rostige Boje. Taylor schrieb in sein Tagebuch: "Welch seltsames Abenteuer muß es für Alicia Arnaud, die junge Frau von Captain Ramón Arnaud, der die Garnison kommandierte, gewesen sein, die Sicherheit und die angenehme Formalität ihres Lebens in der mexikanischen Gesellschaft aufzugeben. Den Glanz der Uniformen in strahlenden Ballsälen, die anregenden Flirts attraktiver, wichtiger Männer und alles, was damit zusammenhängt. Warum hat sie dies alles eingetauscht gegen einen flachen Korallengürtel, weit draußen im Pazifik, der ihr nichts anderes bieten konnte, als einen schütteren Palmenhain und einen kahlen Felsen? Was hatte das alles für eine Bedeutung für sie und den Mann, den sie zweifellos liebte, weit weg vom Glanz ihres Heimatlandes? Vielleicht lebt Señora Arnaud heute irgendwo in Mexiko. Sollte sie diesen Bericht je lesen, bitte ich sie um Nachsicht für meine Neugier und meine Beschäftigung mit Dingen, die ihr heilige Erinnerung sein müssen. Nachdem wir zu Abend gegessen und uns noch eine Weile über die Erlebnisse des Tages unterhalten hatten, wanderte ich hinüber zum Strand unterhalb des Palmenhains. Als ich über die Stelle ging, wo wir die Überreste der Siedlung gefunden hatten, sah ich etwas im Gras liegen und hob es auf. Es war ein kleiner flacher Metallgegenstand, den ich im Licht der Taschenlampe als Medaillon erkannte. Es gelang mir, den Deckel zu öffnen, und ich erblickte die Miniatur eines Mannes und eines jungen Mädchens, das mich aus einem intelligenten und schönen Gesicht mit lebendigen Augen ansah. Ich wurde 650
von einem eigentümlichen Gefühl der Verlegenheit erfaßt, weil ich mich in etwas einmischte, das mich nichts anging. Ich schloß das Medaillon, hielt es in der Hand und wußte nicht, was weiter damit geschehen sollte. Ich lehnte mich an die Reste eines Wracks unterhalb der Palmen und sah hinaus auf das Meer. Die Einsamkeit war vollkommen. Es existierte nichts als die Insel und das Meer. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als wären andere Leute um mich. Ich stand da, außerhalb meiner materiellen Existenz, und schaute auf eine Szene, an der ich keinerlei Anteil hatte. Vor meinen Augen erblickte ich ein Feuer auf der Korallenbank bei den Palmen, dessen Schein die Blätter der Kokospalmen erleuchtete. Um das Feuer war eine Menschengruppe versammelt. Sie lagen und saßen da und sangen ein seltsames Lied zur Begleitung zweier Männer, die mit ihren Gitarren am Feuer standen. Ich konnte das Lied sehr deutlich hören. Dann lösten sich ein junges Mädchen und ein junger Mann aus dem Kreis und kamen auf mich zu. Sanftes Mondlicht fiel auf das Abendkleid des Mädchens. Sie gingen langsam hinunter zum Strand. Sie sah zu ihm auf und drehte sich um. Dann begann sie zu singen. Zuerst sang sie verhalten und leise, doch dann erhob sich ihre Stimme weit über den Chor am Feuer in vollkommener Übereinstimmung mit der Nacht und dem ruhigen Atem des Ozeans. Ich stand da wie versteinert und beachtete nichts als diese wunderschöne Stimme. Dann versank die Glut des Feuers unversehens in der Nacht und die Klänge zerrannen im Rauschen der Brandung. Ich blickte hinauf zum Palmenhain und konnte es nicht glauben, daß ich allein war wie zuvor. Ich hielt das Medaillon, warm und glatt, noch immer in der Hand. Ich ging zurück zu der Stelle, wo ich es gefunden hatte. Ich 651
grub mit der Hand eine flache Mulde und legte es hinein. Dann bedeckte ich es mit Sand und ließ es liegen, wo es war. Ich paddelte hinaus zur Frigate Bird und kroch in meine Koje. Es gelang mir nicht, sie zu vergessen, die wunderbare Stimme des Mädchens am Palmenhain."
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