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Rasmus Beckmann Clausewitz trifft Luhmann
Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen Herausgegeben von Thomas Jäger
Rasmus Beckmann
Clausewitz trifft Luhmann Eine systemtheoretische Interpretation von Clausewitz’ Handlungstheorie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch / Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17911-7
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen ............................................................................ 7 Vorwort................................................................................................................ 9 1 Einführung und Forschungsabsicht .......................................................... 11 2 Methodologie und Methode........................................................................ 23 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.7.1 2.7.2 2.8 2.9 2.9.1 2.9.2
Clausewitz’ Desiderate für eine Theorie der Kriegführung ............. 23 Clausewitz’ Wissenschaftstheorie ................................................... 28 Grundzüge des kriegstheoretischen Ansatzes von Clausewitz ........ 34 Clausewitz’ Theorie als Handlungstheorie – Parallelen zur Systemtheorie .................................................................................. 37 Zwecke und Mittel in der klassischen Handlungstheorie ................ 40 Zwecke und Mittel in der Systemtheorie ......................................... 45 Vertiefung der systemtheoretischen Zweck/Mittel-Theorie ............ 50 Variable Zwecke – und permanente Zwecke? Strategien zur Bewältigung eines Dilemmas...................................................... 50 Zweckprogrammierung............................................................... 56 Die handlungstheoretischen Begriffe von Clausewitz und ihre systemtheoretischen Pendants.......................................................... 63 Clausewitz über Methoden .............................................................. 71 Clausewitz’ Methode der historischen Kritik.............................. 72 Clausewitz’ Methode der Fallstudienanalyse.............................. 81
3 Gedankenexperiment – Die Theorie des Krieges von Clausewitz........... 87 3.1 3.2 3.3
Modell I: Der ‚Reagenzglaskrieg’ ................................................... 88 Modell II: Der ‚politische Krieg’..................................................... 91 Zusammenfassung des Gedankenexperiments............................... 102
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Inhaltsverzeichnis
4 Clausewitz trifft Luhmann ....................................................................... 105 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4
‚Modell strategischen Handelns’ nach Clausewitz aus Sicht der klassischen Handlungstheorie.................................................. 107 Präzisierung des ‚Modells strategischen Handelns’ durch Luhmanns Systemtheorie............................................................... 121 Systemtheoretische Entscheidungsprogramme: Zweck/Mittel-Schema vs. Routine............................................ 122 Wie funktioniert das Zweck/Mittel-Schema aus Sicht der Systemtheorie? .......................................................................... 132 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’ ................................................................. 136 Der ‚Reagenzglaskrieg’ aus systemtheoretischer Perspektive................................................................................ 139 Der ‚politische Krieg’ aus systemtheoretischer Perspektive ..... 147 Zwischenfazit................................................................................. 167
5 Typen von Interaktionssystemen ............................................................. 171 5.1 5.2 5.3
Der kleine Krieg ............................................................................ 175 Die Volksbewaffnung.................................................................... 185 Die Allianzkriegführung................................................................ 195
6 Anwendungsbeispiel: Die Strategie der NATO in Afghanistan ............ 205 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7
Vorgeschichte und Lage im Jahr 2010........................................... 205 Zwecke und Ziele der ISAF........................................................... 207 Zwecke, Ziele und Mittel der Aufständischen im Interaktionssystem Volksbewaffnung............................................ 208 Innere und äußere Rahmenbedingungen einer Volksbewaffnung in Afghanistan .................................................. 212 Zwecke, Ziele und Mittel der Couterinsurgency (COIN)-Strategie der NATO ......................................................... 217 Innere und äußere Rahmenbedingungen der COIN-Strategie der NATO ...................................................................................... 222 Optionen und Risiken .................................................................... 225
7 Schluss und Ausblick ................................................................................ 229 8 Literaturverzeichnis.................................................................................. 239
Verzeichnis der Abbildungen
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Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung 1:
Die handlungstheoretischen Begriffe bei Clausewitz und ihre Pendants in der Systemtheorie ............................ 69
Abbildung 2:
Zweck/Mittel-Schema der klassischen Handlungstheorie vs. Zweck/Ziel/Mittel-Schema von Clausewitz........ 109
Abbildung 3:
Grundmodell strategischen Handelns.............................. 111
Abbildung 4:
Der ‚Reagenzglaskrieg’ im Grundmodell strategischen Handelns.......................................................................... 114
Abbildung 5:
‚Modell strategischen Handelns’ (MSH)......................... 118
Abbildung 6:
Beziehungen zwischen taktischer und strategischer Handlungsebene .............................................................. 119
Abbildung 7:
Beziehungen zwischen taktischer, strategischer und außenpolitischer Handlungsebene ................................... 120
Abbildung 8:
Input/Output-Modell ....................................................... 125
Abbildung 9:
Input/Output-Modell mit Kausalauslegung des Handelns.......................................................................... 126
Abbildung 10:
Zweckprogramm (Zweck/Mittel-Schema) ...................... 128
Abbildung 11:
Konditionalprogramm (Routine) ..................................... 130
Abbildung 12:
Zweistufiges Entscheidungsverfahren............................. 141
Abbildung 13:
Zweigliedriges und zweistufiges Entscheidungsverfahren nach Clausewitz ....................... 148
Abbildung 14:
Interaktion und Kopplung................................................ 162
Abbildung 15:
Kriegstypen als Typen von Interaktionssystemen ........... 193
Abbildung 16:
Rüstungsausgaben und Bruttoinlandsprodukt 2007 von elf zentralasiatischen Staaten.................................... 215
Abbildung 17:
Rüstungsausgaben und Bruttoinlandsprodukt 2007 der größten Truppensteller der ISAF............................... 224
Vorwort
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Vorwort
Dass Carl von Clausewitz einen wichtigen Beitrag zur modernen Kriegstheorie geliefert hat, steht heute außer Frage. Dennoch wird kontrovers darüber diskutiert, ob seine Theorie auf strategische Fragen angewendet werden kann. Die Unentschiedenheit dieser Debatte liegt vor allem daran, dass das wissenschaftstheoretische Fundament seiner Kriegstheorie nicht immer deutlich genug verstanden und herausgearbeitet worden ist. Dies nimmt sich die vorliegende Analyse vor, die die Wissenschaftstheorie von Clausewitz und anschließend seine Kriegstheorie im Allgemeinen durch einen neuen Ansatz erhellen möchte. Hier kommt Niklas Luhmann ins Spiel. Seine soziologische Systemtheorie weist ausreichend tiefgehende Parallelen zu Clausewitz‘ Kriegstheorie auf, so dass sie gut geeignet ist, jene in einem kontrastreicheren Licht erscheinen zu lassen. Durch die systemtheoretische Interpretation tritt zutage, dass Clausewitz eine hoch differenzierte Entscheidungstheorie geschaffen hat, die bereits die moderne sozialwissenschaftliche Einsicht enthält, dass Entscheidungen in einen organisatorischen Kontext eingebettet sind, der in der Analyse zu berücksichtigen ist. Die zentralen Begriffe und Zusammenhänge bei Clausewitz werden im Zusammentreffen der Theorien definier- und operationalisierbar. In der theoretischen Analyse stellt sich dabei heraus, dass nicht nur Clausewitz‘ Ansatz von dem ‚Treffen’ der beiden Wissenschaftler profitiert, sondern dass sie vielmehr gegenseitig ihre Begriffe schärfen. Eine andere Kritik an Clausewitz lautet, dass er sich nicht – oder zu wenig – mit dem kriegstheoretischen Phänomen des ‚asymmetrischen Krieges’ beschäftigt habe. Dieser Kritik wird eine ausführliche Analyse von Clausewitz’ umfangreichen Schriften zu diesem Thema entgegengesetzt. Auch hier trägt die systemtheoretische Interpretation zur Präzisierung der Begriffe – und damit letztlich zum Erschließen der Theorie für heutige Probleme – bei. Zuletzt wird an einem empirischen Fallbeispiel gezeigt, wie der so aufbereitete Ansatz von Clausewitz eine systematische strategische Analyse anleiten kann. Der Streit um die Anwendbarkeit von Clausewitz wird also ‚gelöst’, indem Clausewitz‘ Kriegstheorie zu einem empirisch anwendbaren Analysedesign umgearbeitet wird. In diesem gehen jedoch keineswegs die zentralen Einsichten von Clausewitz in den allgemeinen Charakter des Krieges verloren: seine Unberechenbarkeit und Tendenz zur Eskalation, die ihn zu einem ungeeigneten
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Vorwort
Instrument machen, politische Zwecke präzise zu erreichen; die herausragende Bedeutung von psychischen Faktoren für die Kriegführung; die unsichere und unvollständige Informationslage in der Kriegssituation sowie – nicht zuletzt – die Einbettung jedes Krieges in einen gesellschaftlich-politischen Kontext. Bei der Arbeit an diesem Buch, das gleichzeitig meine Dissertation ist, haben mir viele Menschen mit Rat und Hilfe zur Seite gestanden. Besonderen Dank schulde ich folgenden Personen: Mein verehrter akademischer Lehrer und Doktorvater Prof. Dr. Thomas Jäger weckte meine Begeisterung für Carl von Clausewitz und hat mich stets wissenschaftlich wie persönlich inspiriert, unterstützt und gefördert. Ihm verdanke ich ungezählte, wertvolle Anregungen. Prof. Dr. Wolfgang Leidhold übernahm freundlicherweise das Zweitgutachten und gab mir wichtige Denkanstöße. Prof. Dr. Wilfried von Bredow las einen Teil des Manuskripts in einer früheren Fassung, und ihm verdanke ich manche wertvolle Anregung. Dr. Klaus Kuhnekath öffnete mir die Tür zur sozialwissenschaftlichen Systemtheorie. Oberst a. D. Roland Kaestner führte mit mir viele anregende Gespräche über das strategische Denken. Meine Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik der Universität zu Köln haben mich bei meiner Arbeit stets inspiriert und tatkräftig unterstützt. Ohne die Geduld meiner Verlobten Andrea und ohne ihren Beistand hätte ich das Buch nicht fertigstellen können. Das Gleiche gilt für meine Eltern. Für die Unzulänglichkeiten dieses Buches bin ich allein verantwortlich.
Geschrieben in der Clausewitz-Kaserne, Hamburg, im März 2010
1 Einführung und Forschungsabsicht
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1 Einführung und Forschungsabsicht
Die heutigen strategischen Herausforderungen in internationalen Beziehungen sind noch vielfältiger als in früheren Epochen. Sie reichen vom zwischenstaatlichen Krieg (z. B. Georgien und Russland 2008), über die so genannten ‚neuen Kriege’ (z. B. Afghanistan seit 2001), bis zu Fragen der nuklearen Abrüstung (z. B. Russland und die USA 2010). Sie umspannen so unterschiedliche Probleme wie Flüchtlingsströme (z. B. Afrika und Europa), Naturkatastrophen (z. B. Haiti 2010) und die weltweite Klimaerwärmung in deren jeweiliger strategischer Problematik, um nur einige Beispiele zu nennen. Dieses Buch nimmt als seinen Ausgangspunkt den Begriff der Strategie. Die Überlegungen zu diesem Thema reichen bis in die früheste Menschheitsgeschichte (Gat 2006) zurück, erreichten eine erste tiefe intellektuelle Durchdringung in der östlichen (Sun Tzu 1963) wie europäischen Antike (Hanson 2010; Heuser 2010a) und eine zweite in der Neuzeit (Paret 1986). Es ist zur sinnvollen Beschäftigung mit diesem Thema also nötig, irgendwo einen ‚Pflock’ in den intellektuellen ‚Boden zu schlagen’. Dies ist geschehen, indem die Schriften des preußischen Generals und Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz (1780-1831) in der vorliegenden Arbeit zum Ausgangspunkt aller Überlegungen gewählt wurden. Wieso gerade Clausewitz, wo doch die Zeit, in der er lebte, vom heutigen Standpunkt aus sehr fern, fremd und von den heutigen Verhältnissen verschieden zu sein scheint? Die Antwort hängt mit der wissenschaftlichen Herkunft des Verfassers zusammen, die im weitesten Sinne als sozialwissenschaftlich bezeichnet werden kann und im engeren Sinne als politikwissenschaftlich. Ein Sozialwissenschaftler findet sich in den Schriften von Clausewitz’ leicht zurecht. Dies hat vor allem methodische Gründe – ganz abgesehen von der exzellenten Sprache und klaren Logik, derer sich Clausewitz bedient. In methodischer Hinsicht ist Clausewitz – genau wie die modernen Sozialwissenschaften – an der Formulierung allgemeingültiger Aussagen interessiert: Wer sich aber nach dem Ausdruck eines großen Schriftstellers nicht über die Anekdote erhebt, die ganze Geschichte daraus zusammenbaut, überall mit dem Individuellsten, mit der Spitze des Ereignisses anfängt und nur so tief hinuntersteigt, als er eben Veranlassung findet, also niemals auf die tief im Grunde herrschenden allgemeinen Verhältnisse kommt, dessen Meinung wird auch niemals für mehr als
R. Beckmann, Clausewitz trifft Luhmann, DOI 10.1007/978-3-531-92730-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einführung und Forschungsabsicht
einen Fall Wert haben, und dem wird freilich, was die Philosophie für die Allgemeinheit der Fälle ausmacht, wie ein Traum erscheinen (Clausewitz 1980: 640, H. i. O.).
Die theoretische Herangehensweise an seinen Gegenstand, den Krieg, war auch nötig, da es der „Ehrgeiz“ des Autors war, „ein Buch zu schreiben, was nicht nach zwei oder drei Jahren vergessen wäre ...“ (Clausewitz 1980: 176-177), von dem sogar „eine Revolution in dieser Theorie ausgehen könnte“ (Clausewitz 1980: 181), wie er 1827 schrieb. Dies soll nun aber nicht heißen, dass Clausewitz ein ‚grauer’ Theoretiker war, dem der Zugang zum echten Leben seiner Zeit verschlossen war. Das Gegenteil ist der Fall. Clausewitz nahm regen Anteil sowohl am blühenden intellektuellen Leben seiner Zeit in Preußen, als auch an den weltgeschichtlichen Ereignissen seiner Epoche. Er wurde 1812 durch das Verfassen seiner berühmten „Bekenntnisdenkschrift“ (Clausewitz 1966b) zum Sprachrohr der preußischen Reformer, die zum Widerstand gegen die napoleonische Besetzung Preußens seit 1806 aufriefen. Aus Protest über die unterwürfige Politik Preußens verließ er die Armee und nahm im Jahr 1812 auf russischer Seite am Russlandfeldzug Napoleons teil. Schließlich war er im selben Jahr als Diplomat an den Verhandlungen zum Friedensschluss von Tauroggen zwischen Russland und Preußen beteiligt, der zur antifranzösischen Allianz führte und die Grundlage für die Befreiungskriege (1813-1814) bildete (Heuser 2005: 1-5; ausführlich zur Biografie vgl. Paret 1993). So schreibt Clausewitz schockiert, dass sein Vorgesetzter zu Beginn des Russlandfeldzuges, General Phull, „von der Welt der täglichen Erscheinungen nichts wußte“ (1999: 17). Als Phull in einer Lagebesprechung mit Zar Alexander, dessen enger Berater er war, trotzig darauf verwies, dass die verschlechterte Lage die „Folgen des Ungehorsams“ gegenüber seinen Befehlen gewesen seien und sich einer konstruktiven Diskussion entzog (Clausewitz 1999: 31-32), glaubte Clausewitz vor Peinlichkeit „zu vergehen“ (1999: 32). Die praktische Tatkraft Clausewitz’ spiegelt sich in seinen methodischen Erwägungen wider. Es „müssen in praktischen Künsten [wie der Kriegführung, R. B.] die theoretischen Blätter und Blumen nicht zu hoch getrieben, sondern der Erfahrung, ihrem eigentümlichen Boden, nahegehalten werden“, schreibt Clausewitz in der „Vorrede“ zu seinem 1832 erschienenen Hauptwerk „Vom Kriege“ (1980: 184) und lästert gleich danach scharfzüngig über die „Gemeinsprüche“ (1980: 185) von ‚Schmalspurwissenschaftlern’, wie man heute sagen würde. An anderer Stelle schreibt er: „Nicht was wir gedacht haben, halten wir für einen Verdienst um die Theorie, sondern wie wir es gedacht haben“ (Clausewitz 1999: 236, H. i. O.). Das ist ein wichtiges Zitat. Denn es fasst eine zentrale Tendenz in Clausewitz’ Gesamtwerk zusammen: die Suche nach einer geeigneten Methodik,
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um seinem Forschungsgegenstand, dem Krieg, gerecht zu werden. Das ‚Wie’ ist Clausewitz am Wichtigsten, denn er weiß: Es ist das ‚Wie’, das konkrete strategische Analysen ‚überlebt’, da diese notwendig zeitgebunden sind. Es ist insbesondere dieser Schwerpunkt, der Clausewitz auch heute noch interessant und relevant macht. Die Frage nach dem ‚Wie’, nach der richtigen Methodik der Analyse strategischer Fragen, ist heute eine ebenso dringende Frage für die Wissenschaft, wie zu Clausewitz’ Lebzeiten vor rund 200 Jahren. Doch wie beantwortet nun Clausewitz die ‚Wie-Frage’? Die Antwort lässt sich am besten durch ein Beispiel geben. Im letzten Buch1 „Vom Kriege“ analysiert Clausewitz das Unvermögen der europäischen internationalen Politik, die Dynamik der revolutionären, napoleonischen Kriegführung ab 1792 vorherzusehen (1980: 996-998). Dieses Unvermögen hatte dazu geführt, dass Napoleon einen großen Teil Europas unterwerfen konnte. Wieso hatte dies niemand gesehen? „Es war offenbar, daß sie [die europäische Kriegskunst, R. B.], durch die Gewohnheit in engere Kreise der Begriffe eingeschränkt, überfallen worden war durch Möglichkeiten, die außerhalb dieser Kreise, aber freilich nicht außerhalb der Natur der Dinge lagen“ (Clausewitz 1980: 996). Die napoleonische Kriegführung lag außerhalb ihrer Begriffe. Es ist diese „Schwierigkeit richtig zu sehen, welche eine der allergrößten Friktionen [= Faktoren, die Abweichungen zwischen Plan und Ausführung verursachen, R. B.] im Kriege ausmacht ...“ (Clausewitz 1980: 259). Deswegen ist die europäische Kriegskunst – und mit ihr – die politischen Führer so unterschiedlicher Staaten wie Preußen, Russland oder Spanien allesamt überrascht worden. Dies wirft zwei Fragen auf: Erstens, was haben die Vertreter der europäischen Kriegskunst und die Politiker Ende des 18. Jahrhunderts nicht gesehen? Zweitens, wie kann man die ‚Sehfähigkeit’ verbessern, um künftige, ähnlich gelagerte Fehler zu vermeiden? Die Antwort auf die erste Frage ist für Clausewitz klar: Es waren nicht – wie man meinen könnte – große Veränderungen der Taktik und Strategie der Kriegführung oder militärtechnische Neuerungen, die man im Auge hätte haben müssen (zumal es die auch gegeben hat): „Die ungeheuren Wirkungen der französischen Revolution nach außen sind aber offenbar viel weniger in neuen Mitteln und Ansichten der Kriegführung als in der ganz veränderten Staats- und Verwaltungskunst, in dem Charakter der Regierung, in dem Zustande des Volkes usw. zu suchen“ (Clausewitz 1980: 997). Nicht gesehen worden sind also die tiefgreifenden Änderungen der soziopolitischen Verhältnisse in Frankreich, die aus der französischen Revolution resultierten. Diese zu registrieren wäre übrigens, so fährt Clausewitz fort, nur vom „Standpunkt“ (1980: 992) der Politik aus möglich gewesen. Vom Stand1
Anmerkung zur Zitierweise: Clausewitz’ Werk „Vom Kriege“ (1980) ist in acht so genannte Bücher aufgeteilt, die wiederum aus unterschiedlich vielen Kapiteln bestehen.
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punkt des Militärs (d. h. der europäischen Kriegskunst) allein hingegen waren diese Veränderungen nicht sichtbar, gewissermaßen verdeckt (Clausewitz 1980: 997-998). Eine Teilantwort auf die zweite Frage nach der Verbesserung der ‚Sehfähigkeit’ ist damit gegeben: Um besser sehen zu können, muss man den richtigen Beobachtungsstandpunkt haben. Bei diesen beiden Fragen setzt Clausewitz’ Theorie an. Beides sind indessen klassisch sozialwissenschaftliche Fragenstellungen, sowohl die Frage nach dem Wandel der soziopolitischen Verhältnisse als auch die methodische Frage nach der richtigen Beobachtungsweise dieser Veränderungen. Clausewitz’ Theorie ist das Werk eines frühen Sozialwissenschaftlers, der übrigens nicht aus reiner Überzeugung Sozialwissenschaftler geworden ist, sondern notgedrungen: der Krieg gehört nun mal „in das Gebiet des gesellschaftlichen Lebens“ (Clausewitz 1980: 303). Folglich kann man nur aus dem Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse heraus zu einem richtigen Verständnis des Krieges gelangen. Der Krieg ist eine hochgradig soziale Angelegenheit. Umso verwunderlicher ist, dass er, wie jüngst festgestellt wurde, von den Sozialwissenschaften mehr oder weniger systematisch „verdrängt“ wurde, wie es in einem Buchtitel heißt (Joas/Knöbl 2008). Mit Ausnahme, so kann man jetzt hinzufügen, von: Clausewitz! Dies ist also der zweite ‚Pflock’, den der Verfasser in den ‚Boden’ der Forschungslandschaft ‚schlagen’ möchte, um sich seinem Forschungsinteresse, der Strategie, zu nähern. Clausewitz wird hier als Sozialwissenschaftler analysiert. Dadurch erhält der Strategiebegriff auch bereits eine erste Fundierung. Er gehört zunächst in den Krieg und da dieser als gesellschaftliches Phänomen verstanden wird, kann Strategie nur im Zusammenhang mit einem Verständnis der Gesellschaft begriffen werden. Es gibt keine losgelöste Betrachtung von Strategie. Sie ist immer eingebettet in das gesellschaftliche Umfeld, in dem strategisch gehandelt wird. Mit dem Begriff des Handelns ist bereits eine weitere Festlegung dieses Buches getätigt. Clausewitz’ Theorie ist eine, wie Ernst Vollrath treffend hervorgehoben hat, „mit dem Handeln befreundete Theorie“ – mithin eine Form der Handlungstheorie (Vollrath 1993). Dies ist auch nicht verwunderlich, ist doch der Begriff des „Handelns“ einer der wichtigsten, wenn nicht gar der wichtigste Begriff der Sozialtheorie (Weber 1972: 1). Die Behandlung von Clausewitz als Sozialwissenschaftler hat unterdessen eine lange Tradition (Klinger 2006; Vowinckel 1993; Münkler 1992; Kondylis 1988; Aron 1980). Gleichwohl bringt diese Behandlung den großen Vorteil mit sich, dass sich eine ‚Schneise’ in der über die letzten 150 Jahre stets zunehmenden Zahl der Clausewitz-Interpretationen bildet. Eine Forschung ist nur so gut, wie sie in die bisherige Forschungslandschaft eingebettet wird. Die vorliegende Forschung hat den Vorteil, sich auf eine mittlere Zahl von hervor-
1 Einführung und Forschungsabsicht
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ragenden Vorarbeiten stützen zu können, um sich von diesem Standpunkt aus eigenständig ‚vortasten’ zu können. Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Clausewitz-Interpretationen gibt es eine kleinere Gruppe von Forschungen, die Clausewitz in den Zusammenhang der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie stellen (Kaestner 2010, 2006; Beyerchen 2007, 1992; Pankoke/Marx 1993). Genau an dieser Stelle möchte die vorliegende Arbeit anschließen. Sie geht von der These aus, dass vom Standpunkt der Systemtheorie von Niklas Luhmann der beste Zugriff auf Clausewitz’ Theorie erfolgen kann. Und dass es wiederum von diesem Standpunkt aus am besten gelingt, Clausewitz für heutige strategische Fragen fruchtbar zu machen. Insofern möchte die vorliegende Arbeit einen konstruktiven Beitrag zur übergeordneten Debatte leisten, ob Clausewitz’ Werk zur Beantwortung heute drängender strategischer Fragen hilfreich sein kann.2 Diese Frage ist indessen immer wieder mit Bezug auf aktuelle Entwicklungen neu gestellt worden: Ist Clausewitz im Zeitalter der mechanisierten Massenkriegführung noch relevant (vgl. etwa Liddell Hart 1933)? Ist er im Atomzeitalter relevant (vgl. etwa Clausewitz-Gesellschaft 1980)? Und seit den 1960er Jahren bis heute: Ist Clausewitz zur Analyse des Guerillakrieges und verwandter Formen politischer Gewalt tauglich (vgl. etwa Daase/Schindler 2009)? Vor allem anderen zeigen diese Forschungsfragen eines, nämlich dass Clausewitz offensichtlich zu allen Zeiten ein sinnvoller (und möglicherweise provokativer) Ausgangspunkt für Debatten über Strategie und Krieg ist. Clausewitz soll in dieser Arbeit in eine Art fiktiven Dialog mit dem Sozialwissenschaftler Luhmann versetzt werden.3 Dies wirft gleich mehrere Fragen auf. Wieso eigentlich Systemtheorie? Wieso innerhalb dieses riesigen Forschungsfeldes ausgerechnet der umstrittene Bielefelder Soziologe? Die zweite Frage muss sogar noch um eine dritte ergänzt werden. Denn der Verfasser konzentriert sich weitgehend auf Forschungsergebnisse von Luhmann aus den 1970er Jahren4 (1975, 1973, 1972, 1964) – also vor seiner so genannten „autopoietischen Wende“ (vgl. Reese-Schäfer 2005: 43-44; Becker/Reinhardt-Becker 2001: 1617). Wieso soll hier also allen Ernstes auf die späteren Entwicklungen, ge2
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Kritisch sehen dies u. a. Meilinger 2007; Rid 2007; Creveld 2001; Kaldor 2000; Corn 1997; Keegan 1995. Den anhaltenden Wert von Clausewitz’ Ideen betonen hingegen u. a. Daase/Schindler 2009; Beckmann 2008a; Souchon 2007; Strachan/Herberg-Rothe 2007; Heuser 2005; Münkler 2003; Herberg-Rothe 2001; Gray 1999. Einen Überblick über die jüngste Debatte gibt Schwarz 2008. Die Idee, Denker unterschiedlicher Epochen (Carl von Clausewitz, 1780-1831; Niklas Luhmann, 1927-1998) nachträglich in ein virtuelles Gespräch zu bringen, hat eine lange Tradition (vgl. zum Beispiel Joly [1864] 1968). Für diesen Hinweis danke ich Thomas Jäger. Für die Idee, das frühe Werk von Luhmann „Zweckbegriff und Systemrationalität“ (1973) für die Präzisierung der Begriffe von Clausewitz zu nutzen, danke ich Klaus Kuhnekath.
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wissermaßen die Reifezeit, von Luhmanns Theorieentwicklung verzichtet werden? Hieße das nicht, auf Clausewitz übertragen, sich nur auf dessen frühe Schriften zu konzentrieren und auf den in der Clausewitz-Literatur vielbeschworenen intellektuellen Durchbruch gegen Mitte der 1820er Jahre (vgl. etwa Heuser 2005: 38-42; Kondylis 1988: 49-63; Aron 1980: 111-115) zu verzichten? Diese Fragen sind es würdig, der Reihe nach beantwortet zu werden. Wie es sich für einen guten Sozialwissenschaftler gehört, beginnt Clausewitz seine methodischen Überlegungen, die im zweiten Buch „Vom Kriege“ enthalten sind, mit einem Überblick der vorhandenen Forschung (1980: 279-283). In dieser will er sich verorten, eine Forschungslücke aufzeigen und sie schließlich füllen. Nach einer ziemlich vernichtenden Kritik der vorliegenden Kriegstheorie formuliert Clausewitz drei Forschungsdesiderate: eine gute Kriegstheorie müsse (1) psychologische Faktoren berücksichtigen, (2) Dynamiken des wechselseitigen Handelns berücksichtigen sowie (3) die Ungewissheit, unter der Akteure im Krieg handeln müssen, einkalkulieren. Clausewitz kommt zu dem (vor dem Hintergrund seines Ehrgeizes) verblüffenden Schluss, dass eine Kriegstheorie, die diese anspruchsvollen Erfordernisse erfüllen soll, zunächst ihre Ansprüche weit ‚zurückschrauben’ muss. Monokausale Gesetze des Krieges könne es gar nicht geben. Sie können „für die Kriegführung füglich entbehrt werden“ (Clausewitz 1980: 306); genauso kann sie hieraus abgeleitete Gesetze des Handelns (‚goldene Regeln’) „nicht gebrauchen“ (Clausewitz 1980: 307). Stellte man diese trotzdem auf, würde dies spätestens dann zum großen Problem, wenn irgendjemand in einem Krieg sein Handeln an diesen Gesetzen orientieren würde. Stattdessen legt Clausewitz ein für seine Zeit revolutionäres Konzept vor: die „Theorie als Betrachtung“ (1980: 290-292). Das ‚einzige’ was eine gute Theorie kann, ist die Entwicklung von analytischen Begriffen, die eine ‚Sezierung’ und anschließende systematische Ordnung des Forschungsgegenstandes erlaubt, um behutsam (multikausale!) Zusammenhänge freilegen zu können. In einem Wort, es ist eine Theorie, die das richtige Beobachten ermöglichen soll. Eine solche Theorie kann und muss (!) praktisch bleiben, also dem Praktiker bei der Entscheidungsfindung behilflich sein. Die Begriffe müssen die richtige „Vereinfachung des Wissens“ (Clausewitz 1980: 295) leisten, d. h. „das Wichtige von dem Unwichtigen sondern“ (Clausewitz 1980: 951), damit der Mensch handlungsfähig bleibt. Genau dies ist der Ausgangspunkt der modernen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie. Und es ist diese Parallele, die es erlaubt, wie die vorliegende Arbeit zeigen wird, Clausewitz Begriffe rückwirkend durch Hinzuziehung neuerer Forschungsergebnisse zu schärfen und zu präzisieren.5 Die Systemtheorie 5
Dem hier gewählten Blickwinkel auf Clausewitz’ Methode aus der Perspektive der modernen Sozialwissenschaften steht spiegelbildlich der historisch-genetische Ansatz gegenüber. Nach
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(Luhmann 1972) geht – wie Clausewitz – nicht von der einzelnen Handlung aus. Praktisch losgelöst von den Eigenschaften der handelnden Person oder Gruppe fragt dagegen die klassische Handlungstheorie, die auf die Einzelhandlung als Analyseeinheit bezogen ist, ob die Mittel eines Handelns geeignet sein konnten, die Zwecke dieses Handelns zu erfüllen. Wenn diese Frage bejaht werden kann, so wird die Rationalität des Handelns festgestellt. Die Systemtheorie hingegen stellt umgekehrt das Subjekt des Handelns in den Fokus des analytischen Interesses. Die Systemtheorie geht nicht von der einzelnen Handlung aus, sondern von einem System von Handlungen – kurz: einem Handlungssystem. Ein Handlungssystem kann beispielsweise durch eine Organisation gebildet werden, sagen wir: durch einen Feldherrn und seinen Stab. Diese Personengruppe muss ständig Entscheidungen über die nächsten Handlungen der von ihnen befehligten Soldaten treffen. Die Handlungen der Gruppe erhalten ihren Zusammenhang dadurch, dass sie im Rahmen eines bestimmten Sinnhorizontes erfolgen. Im hier gewählten Beispiel ist allen Beteiligten klar, dass sie nach Dienstbeginn im Sinnhorizont eines militärischen Einsatzes (oder einer Übung zu seinem solchen) handeln. (Beim Feierabendbier mag der Sinnhorizont derselben Gruppe von Menschen darin bestehen, eine Runde Skat zu spielen.) Die Systemtheorie geht von Handlungssystemen aus, die sich durch einen gemeinsamen Sinnhorizont von einer Umwelt abgrenzen. Die Umwelt eines Handlungssystems, beispielsweise ein Schlachtfeld, ist stets zu komplex, als dass ein Handlungssystem (Feldheer und Stab) je in der Lage wäre, es Punkt für Punkt in seiner ganzen Vielfalt in seinem Inneren zu reproduzieren. Selbst wenn man es könnte, würde hieraus keine Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit resultieren. Das Grundproblem aller sozialen Handlungssysteme ist daher die Reduktion der Komplexität der Umwelt. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Umwelt auf die wirklich relevanten Informationen reduziert wird, die sie enthält oder produziert. Auf deren Basis kann ein Handeln erfolgen, das dem System sein Weiterbestehen (der Wunsch dazu ist vorausgesetzt) ermöglicht. Systeme beobachten ihre Umwelt. Empirisches Hauptinteresse der Systemtheorie ist dann die Beobachtung der Beobachtung („Beobachtung zweiter Ordnung“) (Luhmann 2004: 141-166; Becker/Reinhardt-Becker 2001: 67-71). Die entsprechende Frage lautet: Mithilfe welcher Instrumente beobachtet ein gegebenes System seine Umwelt? Welches sind die begrifflichen Grundlagen seines Entscheidens, Handiesem Ansatz wäre zu erforschen, welche intellektuellen Einflüsse maßgeblich für die Entwicklung von Clausewitz’ Methode waren. Eine solche Untersuchung würde den hier gewählten Ansatz sinnvoll ergänzen und bereichern, ist jedoch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht zu leisten und muss daher künftiger Forschung vorbehalten bleiben. Beispielsweise wäre zu prüfen, inwiefern Clausewitz’ Methodik durch die aristotelische Strukturund Prozesstheorie (Leidhold 2005: 21) beeinflusst wurde – und sich durch diese wiederum erhellen ließe. Für diese Hinweise danke ich Wolfgang Leidhold.
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delns und – damit – Ausgreifens in die Umwelt? Der Feldherr und sein Stab müssen die hochkomplexe Umwelt des Schlachtfeldes etwa auf die zentralen Streitkräfte und Waffensysteme des Gegners reduzieren können. Exakt zum selben Schluss kommt Clausewitz: Dem Feldherrn (und seinem Stab) muss durch Anwendung der Theorie eine „[g]roße Vereinfachung des Wissens“ (Clausewitz 1980: 295) gelingen. Die begriffliche Nähe der „Theorie der Betrachtung“ und der „Theorie der Beobachtung“ ist alles andere als zufällig, sondern weist auf eine methodologische Parallele zwischen den beiden hin. Es wird „für die Theorie die Zahl der Gegenstände sehr vereinfacht und das für die Kriegführung erforderliche Wissen sehr beschränkt ...“ (Clausewitz 1980: 295296). So dürfe der Offiziersnachwuchs in der Ausbildung nicht mit Detailwissen ‚überfrachtet’ werden, weil dies die Fähigkeit, die großen Zusammenhänge zu sehen, vermindere (Clausewitz 1980: 296). Außerdem müsse sich die Detailfülle des Wissens „nach der Stelle“ des Handelnden in der Organisation richten (Clausewitz 1980: 297). Für niedrige Posten müsse das Wissen „auf geringere und beschränktere Gegenstände gerichtet ...“ sein, für hohe „auf größere und umfassendere ...“ (Clausewitz 1980: 297). Also auch innerhalb der Organisation der Kriegführung kommt es auf den Beobachtungsstandpunkt an, welcher Instrumente zur Reduktion von Komplexität man sich bedienen sollte. Clausewitz’ gesamtes Werk kann mit Fug und Recht gelesen werden als Versuch, Begriffe zu entwickeln, die für unterschiedliche (Teil-)Handlungssysteme für das richtige Maß der Reduktion von Komplexität sorgen sollen. Wieso nun gerade Luhmann? Und wieso die Beschränkung auf seine frühen Schriften? Luhmann war Schüler von Talcott Parsons. In seinen frühen Schriften überträgt er (sehr grob gesagt) die US-amerikanischen Forschungsergebnisse der systemtheoretischen Handlungstheorie in die deutsche Forschung. Er entkleidet die Parsons’sche Handlungstheorie jedoch von ihrem Normativismus. Denn, wie er richtig feststellt, gehört auch der Kriminelle bzw. die systematischen Handlungen etwa einer kriminellen Bande, die sich durch einen gemeinsamen Sinnhorizont (Gesetzesübertritt, um Beute zu machen) vom Rest der Gesellschaft abgrenzt, schließlich auch zum sozialen System der Gesellschaft (Luhmann 1975: 11-12). In seinen späteren Schriften ab Mitte der 1980er Jahre geht Luhmann über diesen Stand hinaus und entwickelt seine Theorie von den autopoietischen Sozialsystemen.6 Er übernimmt diesen Begriff aus der Mikrobiologie, genauer gesagt, aus der Zellbiologie. Die Zelle reproduziert sich in ihrem Inneren praktisch aus sich selbst. Aus der Umwelt werden nur diejenigen Elemente ‚herausgefiltert’ die für diese Selbstproduktion („Autopoiesis“) be6
Für einen Überblick der theoretischen Entwicklung vgl. Luhmann 2004; zur Kritik – insbesondere am späten Werk – Luhmanns unter logischen Gesichtspunkten vgl. Bühl 2000.
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nötigt werden (Luhmann 1987; Becker/Reinhardt-Becker 2001: 31-39; Baraldi/Corsi/Esposito 1997: 29-33). Die moderne Gesellschaft spaltet sich der Theorie zufolge in verschiedene Sozialsysteme auf, die je eine bestimmte Funktion für die Gesamtgesellschaft erfüllen (politisches System, Rechtssystem, Kunstsystem etc.). Diese Systeme sind nach der „autopoietischen Wende“ Luhmanns nicht mehr aus Handlungen zusammengesetzt, sondern aus Kommunikationen. Die autopoietischen Systeme ‚kapseln’ sich durch unterschiedliches Verarbeiten von Kommunikationen voneinander ab. Sie stehen zwar miteinander in kommunikativem Kontakt oder überlappen sich sogar. Dennoch wird die Kommunikation des einen Funktionssystems vom anderen Funktionssystem gemäß dessen spezifischer Art der Autopoiesis ‚interpretiert’. Die Systeme ‚sprechen’ notwendig ‚aneinander vorbei’. Dies bringt unüberwindliche Probleme für die Steuerung von Systemen mit sich, da diese jegliche Steuerungsversuche, wiederum nach ihren eigenen „Code“ interpretieren (Luhmann 2004, 1987; einführend: Becker/Reinhardt-Becker 2001; zur Kritik vgl. Mayntz/Scharpf 2005). Diese Theorie ist wichtig und auch schon auf Fragen der Kriegstheorie angewandt worden (Matuszek 2007; Schlichte 2007; Stetter 2007; Harste 2004; Hoeres 2004). Doch sie steht nicht mehr in Einklang mit Clausewitz’ Theorie. Denn für diesen ist die Handlung die Analyseeinheit des Krieges. Die ganze Theorie ist auf den Handlungsbegriff abgestimmt. Eine Präzisierung dieses Begriffs zum Handlungssystem ist sehr gewinnbringend, da diese Idee, wie eben demonstriert, bei Clausewitz schon angelegt ist. Eine Übertragung auf Kommunikation würde hingegen den Rahmen von Clausewitz’ Theorie deutlich sprengen und diesen ganz verlassen. Doch hier wird ein anderer Weg eingeschlagen: Clausewitz ist der Ausgangspunkt; seine Begriffe sollen präzisiert werden – nicht umgekehrt. Nun kann die Forschungsabsicht der vorliegenden Arbeit präzisiert werden: Sie besteht in der Herausarbeitung und Präzisierung der wichtigsten Begriffe von Clausewitz’ Kriegstheorie sowie der Methode ihres Gebrauchs. Für dieses Ziel wird die Theorie der Handlungssysteme (Luhmann) herangezogen. Übergeordneter Zweck ist die Entwicklung eines Analyserahmens, der Clausewitz’ Kriegstheorie für heutige strategische Fragen fruchtbar macht. Schließlich soll die empirische Ergiebigkeit dieses Analyserahmens an einem aktuellen Anwendungsbeispiel demonstriert werden.
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Diese Absicht wird in sechs Schritten durchgeführt.7 Im folgenden Kapitel (2) wird zunächst Clausewitz’ Wissenschaftstheorie dargelegt und analysiert. Diese befindet sich im zweiten Buch8 „Vom Kriege“ (Clausewitz: 1980). Auf dieser Grundlage werden die bereits angedeuteten Parallelen zwischen den Ansätzen von Clausewitz und Luhmann genauer herausgearbeitet. Dann werden die handlungstheoretischen Begriffe von Zweck und Mittel zunächst im Kontext der klassischen Handlungstheorie erläutert, um sie anschließend auf die Ebene der Systemtheorie zu übertragen. Es folgt eine Vertiefung der systemtheoretischen Zweck/Mittel-Theorie, in der Material gesammelt wird für die, in Kapitel (4) erfolgende, systemtheoretische Interpretation von Clausewitz’ Handlungstheorie. Anschließend werden die handlungstheoretischen Grundbegriffe von Clausewitz auf ihre systemtheoretischen Pendants bezogen. Das Kapitel schließt mit einer Analyse von Clausewitz’ Methoden der historischen Kritik und Fallstudienanalyse. In Kapitel (3) wird Clausewitz’ Theorie des Krieges analysiert. Sie besteht aus zwei dynamischen Modellen des Krieges, die im Kern das gewaltsame gegenseitige Handeln zweier Kriegsparteien unter bestimmten Rahmenbedingungen beschreiben. Im puristischen Grundmodell des ‚Reagenzglaskrieges’ (Bezeichnung des Verf.) zeigt sich die Eskalationsdynamik, Unvorhersehbarkeit und Schwierigkeit der Steuerung von Kriegen. Dieses Grundmodell wird im ‚politischen Krieg’ (Bezeichnung des Verf.) Schritt für Schritt um realistischere Grundannahmen ergänzt, die jeweils die Dynamik des Modells begrenzen. In diesem Kapitel werden auch die handlungstheoretischen Grundbegriffe von Clausewitz vorgestellt: Zweck, Ziel und Mittel des Handelns, Strategie und Taktik, Angriff und Verteidigung usf. Mit dem ‚Reagenzglaskrieg’ legt Clausewitz ein schlankes Modell des Krieges vor, welches stark von der historischen Vielgestaltigkeit des Krieges abstrahiert. Es ist – in den Worten Max Webers – „gegenüber der konkreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer ...“ (1972: 9, H. i. O.), bietet dafür jedoch die „gesteigerte Eindeutigkeit“ (1972: 10) eines begrifflich „reinen (‚Ideal’-)Typus“ (1972: 10, H. i. O.) des Krieges. Das Modell des ‚politischen Krieges’ enthält hingegen Variablen, deren Ausprägung in einem empirischen Krieg den Grad der Abweichung dieses Krieges von der maximalen Eskalationsdynamik des ‚Reagenzglaskrieges’ erklärt. Es entsteht eine Skala, die vom alle gesellschaftlichen Bereiche der Kriegsparteien umfassenden „Vernichtungskriege hinab bis zur bloßen be7 8
Anmerkung zur Sprache: Da die Ansätze von Clausewitz und Luhmann in dieser Form noch nicht kombiniert worden sind, bleibt die vorliegende Untersuchung sprachlich relativ eng an den Originaltexten. Der Bruch mit der Reihenfolge der Bücher in „Vom Kriege“ (Clausewitz 1980) ist beabsichtigt und soll die methodologischen Erkenntnisse von Clausewitz in den Vordergrund stellen.
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waffneten Beobachtung“ (Clausewitz 1980: 201) reicht. Auf ihr lassen sich empirische Kriege verorten.9 Eben durch diesen Aufbau seiner Theorie verhindert Clausewitz, dass man von einer unerwartet dynamischen Form des Krieges überrascht werden kann, wie oben geschildert. In Kapitel (4) werden diese Begriffe auf die Ebene der Systemtheorie ‚transponiert’. Eine Kriegspartei erscheint nun als organisiertes Handlungssystem, als Organisation, die in einer komplexen Umwelt, nämlich der Umwelt des Krieges, entscheiden und handeln muss. Alle Handlungen beziehen sich auf das Handeln eines Gegners, welches als „Gegenhandeln“ (Vollrath 1993) bezeichnet wird. Handlung und Gegenhandlung bilden ein so genanntes Interaktionssystem, welches, etwa durch das Auftauchen von Gefühlen der Feindschaft und des Hasses, ein gewisses ‚Eigenleben’ entwickeln und sich der Steuerung durch die Handelnden entziehen kann. Auch auf der Ebene der Systemtheorie erscheint Clausewitz’ Kriegsmodell des ‚Reagenzglaskrieges’ als Idealtyp, das des ‚politischen Krieges’ als erweitertes Modell. Aus beiden werden nun jedoch – unterschiedlich abstrakte – Entscheidungsprogramme, d. h. Strukturen von Entscheidungsprozessen, abgeleitet. Die Begriffe von Zweck, Ziel und Mittel erscheinen nun als Instrumente der organisierten Handlungssysteme (Kriegsparteien), um die hohe Komplexität der Umwelt im Kriege zu reduzieren und entscheidungsfähig zu werden. Durch die systemtheoretische Betrachtungsweise stellt sich heraus, dass das Zweck/Mittel-Schema eines von zwei denkbaren grundlegenden Typen von Entscheidungsverfahren darstellt. Das zweite Verfahren nennt sich Routinehandeln. Die systemtheoretische Analyse erhellt, dass das Routinehandeln auch in Clausewitz’ Theorie eine wichtige Rolle spielt, die nun expliziert werden kann. Welches der Verfahren das geeignete für Kriegsorganisationen ist, hängt ab von der Art des Interaktionssystems, das sich durch ihr Handeln und Gegenhandeln zwischen ihnen aufbaut. Daher werden in Kapitel (5) unterschiedliche Interaktionssysteme analysiert. Ausgehend von der Überlegung, dass heutige Kriege häufig zwischen internationalen Koalitionen auf der einen und nicht-staatlichen Guerillagruppen auf der anderen Seite geführt werden, werden Clausewitz’ Schriften zum kleinen Krieg, zur Volksbewaffnung sowie zur Allianzkriegführung ausführlich ausgewertet und systemtheoretisch analysiert. Dabei werden sie in ihren historischen Zusammenhang gestellt. Indem diese Kriegstypen als Interaktionssysteme analysiert werden, können die typischen Strukturen ihrer Kampfhandlungen (Gefechte) nach dem Grad der Interaktionskomplexität 9
Analog schreibt Weber: „In allen Fällen ... entfernt sie [die Soziologie, R. B.] sich von der Wirklichkeit und dient der Erkenntnis dieser in der Form: daß durch Angabe des Maßes der Annäherung einer historischen Erscheinung an einen oder mehrere dieser [idealtypischen, R. B.] Begriffe diese eingeordnet werden kann.“ (1972: 10, H. i. O.).
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(Unerwartbarkeit der Wechselwirkungen) und dem Grad der Kopplung (Wirkungszusammenhang der Gefechte) unterschieden und durchleuchtet werden. Diese Begriffe ermöglichen eine feinere, zweidimensionale Differenzierung von Kriegstypen gegenüber der eindimensionalen Skala der Theorie von Clausewitz. Dadurch kann die „erste, umfassendste aller strategischen Fragen ...“ besser beantwortet werden, nämlich dass man den Krieg, den man führt, „richtig erkenne ...“ (Clausewitz 1980: 212). Gewappnet mit diesem begrifflichen Apparat wird schließlich in Kapitel (6) gezeigt, dass Clausewitz’ Kriegstheorie im Verbund mit der Systemtheorie Licht in heutige strategische Fragestellungen bringen kann. Analysiert wird die aktuelle Strategie der NATO in Afghanistan. Im Mittelpunkt steht der im Jahr 2009 von den USA angestoßene Wandel hin zur neuen Counterinsurgency-Strategie (kurz: COIN-Strategie) der NATO. Ausgehend von einer Analyse des Interaktionssystems, das sich in Afghanistan zwischen den Kriegsparteien entfaltet hat, sowie der soziopolitischen Rahmenbedingungen, in die es eingebettet ist, werden mithilfe der hier entwickelten Begriffe die Strategien von NATO und Aufständischen in ihre einzelnen Komponenten ‚zerlegt’ und sinnvoll angeordnet. Mithilfe der Zweck/Ziel/Mittel-Analyse wird eine begründete Evaluation der NATO-Strategie und ihrer Erfolgsaussichten vorgenommen. Die Darstellung schließt mit einigen Empfehlungen, die aus der Analyse abgeleitet werden. Schließlich erfolgt in Kapitel (7) eine übergreifende Zusammenschau der durchgeführten Überlegungen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche theoretischen und methodischen Vorteile die systemtheoretische Analyse von Clausewitz’ Kriegstheorie mit sich bringt. Die NATO-Strategie in Afghanistan mag als ein Beispiel dafür gelten, wie wichtig es ist, dass Strategen nicht von Neuentwicklungen der Interaktionsform Krieg ‚überrollt’ werden – dass sie also nicht, wie schon so oft geschehen, von Ereignissen überrascht werden, die außerhalb ihres Begriffsvermögens liegen. Die systemtheoretische Analyse kann zumindest helfen, die „soziologische Optik“ (Luhmann 1973: 333) der Beobachtung der Beobachtung einzunehmen und kritisch zu prüfen, mit welchen Augen die NATO im Jahre 2010 die Umwelt ihrer diversen Auslandseinsätze eigentlich beobachtet – so dass auch die vorliegende Arbeit, mit der Frage nach dem ‚Wie’ der Analyse endet. Auch hier sollte zum Schluss nicht im Vordergrund stehen, „was wir gedacht haben ..., sondern wie wir es gedacht haben“ (Clausewitz 1999: 236, H. i. O.).
2.1 Clausewitz’ Desiderate für eine Theorie der Kriegführung
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2.1 Clausewitz’ Desiderate für eine Theorie der Kriegführung Clausewitz beginnt seine wissenschaftstheoretischen Ausführungen, die sich im zweiten Kapitel des zweiten Buches unter der Überschrift „Über die Theorie des Krieges“ (1980: 279-300) befinden, mit einer scharfen Kritik der Theoriebildung über das Phänomen Krieg vor seiner Zeit. Frühere Versuche strebten „eine positive Lehre“ (Clausewitz 1980: 281) der Kriegführung an. Sie versuchten, klare „Grundsätze, Regeln oder gar Systeme“ (Clausewitz 1980: 281) anzugeben. Die Methode war quantitativ: Nur die Elemente der Kriegführung wurden berücksichtigt, die „einer Berechnung unterworfen“ werden konnten (Clausewitz 1980: 281). Ein Beispiel sei die Theorie der „Überlegenheit der Zahl“: „Die Überlegenheit der Zahl war ein materieller Gegenstand, man wählte unter allen Faktoren im Produkt eines Sieges diesen heraus, weil man ihn durch Kombination von Zeit und Raum in eine mathematische Gesetzgebung bringen konnte“ (Clausewitz 1980: 281). Der in dieser Theorie postulierte Zusammenhang zwischen der unabhängigen Variable ‚Truppenzahl’ und der abhängigen Variable ‚Wirkung’ wurde durch eine ceteris paribus-Annahme stabilisiert: „Von allen übrigen Umständen glaubte man abstrahieren zu können, indem man sich dieselben auf beiden Seiten gleich und dadurch neutralisiert dachte“ (Clausewitz 1980: 281). Diese Methodik sei in Ordnung, wenn es darum ginge „diesen einen Faktor [Truppenstärke, R. B.] seinen Verhältnissen nach kennenzulernen“ (Clausewitz 1980: 281-282). Jedoch: „die Überlegenheit der Zahl für das einzige Gesetz zu halten und in der Formel: in gewisser Zeit auf gewissen Punkten eine Überlegenheit hinzubringen das ganze Geheimnis der Kriegskunst zu sehen, war eine gegen die Macht des wirklichen Lebens ganz unhaltbare Beschränkung“ (Clausewitz 1980: 282, H. i. O.). Clausewitz kritisiert im Folgenden noch weitere Theorien, die jeweils einen – mehr oder weniger zusammengesetzten – Faktor als erklärende Variable herausstellten, um so zu verbindlichen Gesetzmäßigkeiten der Kriegführung zu gelangen: die Theorie, die den „Unterhalt der Truppen“ als entscheidenden Faktor über Sieg und Niederlage abstrahierte sowie die „geometrischen“ Ansätze seiner Zeitgenossen von Bülow und Jomini (1980: 282283).
R. Beckmann, Clausewitz trifft Luhmann, DOI 10.1007/978-3-531-92730-5_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Clausewitz kritisiert dabei nicht den analytischen Wert dieser Ansätze, der wie gesagt darin bestehen kann, „einen Faktor seinen Verhältnissen nach kennenzulernen“ (1980: 281-282), sprich: mehr über die Wirkungen einer spezifischen Ursache herausfinden zu wollen (vgl. auch King/Keohane/Verba 1994: 120), jedoch seien die quantitativen Theorien „in dem synthetischen Teil aber, in ihren Vorschriften und Regeln ganz unbrauchbar“ (1980: 283) und daher „verwerflich“ (1980: 283). An dieser Stelle wird bereits Clausewitz’ Anspruch an seine eigene Theorie sehr deutlich: Sie soll in irgendeiner, noch zu bestimmenden Weise dem Handelnden im Krieg nützlich und brauchbar, also praktisch anwendbar sein. Clausewitz’ Kritik an den vorhandenen, quantitativen Ansätzen erstreckt sich auf drei Vorwürfe: Sie streben nach bestimmten Größen, während im Kriege alles unbestimmt ist und der Kalkül mit lauter veränderlichen Größen gemacht werden mußte [sic]. Sie richten die Betrachtung nur auf materielle Größen, während der ganze kriegerische Akt von geistigen Kräften und Wirkungen durchzogen ist. Sie betrachten nur die einseitige Tätigkeit, während der Krieg eine beständige Wechselwirkung der gegenseitigen ist (1980: 283).
Ihr größter Nachteil liege aber darin, dass sie „das Genie von der Regel aus[schließen]“ (Clausewitz 1980: 283). Gemeint sind ausgezeichnete und erfolgreiche Feldherren der Weltgeschichte – wie z. B. Napoleon oder Friedrich der Große – die, hätte man sie genötigt, nach diesen Ansätzen zu handeln, Clausewitz zufolge gescheitert wären. Denn ihre Außergewöhnlichkeit bestand eben darin, dass sie sich „über die Regel“ erhoben hätten (Clausewitz 1980: 283). Es sollte sich mit einer Kriegstheorie jedoch genau umgekehrt verhalten: „Was das Genie tut, muß gerade die schönste Regel sein, und die Theorie kann nichts Besseres tun, als zu zeigen, wie und warum es so ist“ (Clausewitz 1980: 284). Im Folgenden begründet Clausewitz seine Kritik genauer. Den größten Raum widmet er dabei der Bedeutsamkeit „geistiger Größen“ in der Kriegführung (Clausewitz 1980: 284-288), die in der Kriegstheorie bis dato ausgeblendet worden seien (Clausewitz 1980: 283). Denn „die kriegerische Tätigkeit [ist] nie gegen die bloße Materie gerichtet, sondern immer zugleich gegen die geistige Kraft, welche diese Materie belebt, und beide voneinander zu trennen ist ganz unmöglich“ (Clausewitz 1980: 284). Oder, an anderer Stelle, kürzer gesagt: „Kampf aber ist ein Abmessen der geistigen und körperlichen Kräfte vermittelst der letzteren“ (Clausewitz 1980: 269). Als erstes weist Clausewitz auf die Schwierigkeiten der ‚Messung’ geistiger Größen hin; denn sie sehe man „nur mit dem inneren Auge, und dieses ist in jedem Menschen anders und oft verschieden in verschiedenen Augenblicken“ (1980: 284). So verändere etwa der Mut, den man im Krieg brauche, die subjektive Urteilsfähigkeit des
2.1 Clausewitz’ Desiderate für eine Theorie der Kriegführung
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Menschen: „der Mut, das Gefühl der eigenen Kraft ... [ist] die Kristallinse, durch welche die Vorstellungen gehen, ehe sie den Verstand treffen“ (Clausewitz 1980: 285). Gleichwohl seien die geistigen Größen nicht rein subjektiv, sondern müssen „schon durch die bloße Erfahrung einen gewissen objektiven Wert bekommen“ (Clausewitz 1980: 285). Zum Beispiel führten die Taktiken „des Überfalls, des Seiten- und Rückenangriffs“ zu einer stärkeren psychischen Schwächung des Gegners, als die objektiven Zahlen (etwa der Gefallenen) ausdrücken könnten; man verhalte sich anders, nämlich gewagter, wenn man einen Gegner verfolge, als wenn man etwa selbst der Verfolgte sei; Urteile über Talent und Erfahrung des Gegners modifizierten das eigene Verhalten; schließlich tue jeder militärische Führer vor einem Einsatz „einen prüfenden Blick auf den Geist und die Stimmung seiner und der feindlichen Truppen“ (Clausewitz 1980: 285). Im Folgenden analysiert Clausewitz unterschiedliche geistige Größen separat: (a) Da Krieg in seinem Kern Kampf sei, der „ursprünglich die Äußerung feindseliger Gefühle“ sei (Clausewitz 1980: 285, H. i. O.), komme diesen Gefühlen selbst in jenen Kriegen früher oder später eine wichtige Rolle zu, die zunächst nur aus einer „feindselige[n] Absicht“ (Clausewitz 1980: 286, H. i. O.) heraus – also ohne große emotionale Involvierung – geführt würden. Der „Individualhass“ würde entweder durch den „Nationalhass“ ersetzt, oder die „Gewaltsamkeit, die jemand auf höhere Weisung an uns verübt, wird uns zur Vergeltung und Rache gegen ihn entflammen, früher noch, ehe wir es gegen die höhere Gewalt sein werden. Dies ist menschlich oder auch tierisch, wenn man will, aber es ist so“ (Clausewitz 1980: 286). Eine Theorie darf also keineswegs „den Kampf wie ein abstraktes Abmessen der Kräfte ohne allen Anteil des Gemüts ...“ behandeln; ansonsten entstünden folgenschwere „Irrtümer“ für die praktische Führung des Krieges (Clausewitz 1980: 286). (b) Die Bedeutung des Mutes in der Gefahr. Der Kampf im Krieg „gebiert das Element der Gefahr, in welchem sich alle kriegerischen Tätigkeiten wie der Vogel in der Luft und der Fisch im Wasser erhalten und bewegen müssen“ (Clausewitz 1980: 286). Die permanente Gefahr, welcher der Mensch im Krieg ausgesetzt sei, führe zu den Gefühlen der Furcht bzw. der Angst. Diesen Gefühlen müsse ein anderes Gefühl, nämlich der Mut, die Waage halten, damit Kriegführende handlungsfähig bleiben. Das Gefühl des Mutes muss jedoch als eine Variable behandelt werden, als „eine eigentümliche Größe“ (Clausewitz 1980: 287). Nicht nur sind Menschen unterschiedlich mutig veranlagt; unterschiedliche Situationen erzeugen darüber hinaus unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen und erfordern unterschiedlich viel Mut zu ihrer Bewältigung. Bereits die Antizipation der Gefahr modifiziert menschliches Verhalten und endlich wirkt die Gefahr „auch mittelbar durch die Verantwortlichkeit, die sie
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2 Methodologie und Methode
mit zehnfachem Gewicht auf dem Geist des Handelnden lasten läßt“ (Clausewitz 1980: 287). (c) Insbesondere Führungskräfte, die Zeit zum Nachdenken haben, sind weiteren Gefühlsregungen ausgesetzt: „Neid und Edelsinn, Hochmut und Bescheidenheit, Zorn und Rührung, alle können als wirksame Kräfte in dem großen Drama erscheinen“ (Clausewitz 1980: 288). (d) Unter der Überschrift „Eigentümlichkeit des Geistes“ weist Clausewitz schließlich auf die Bedeutung von unterschiedlichen menschlichen Persönlichkeitstypen hin: „Andere Dinge darf man erwarten von einem phantastischen, überspannten, unreifen Kopf als von einem kalten und kräftigen Verstande“ (1980: 288, vgl. auch die Ausführungen zum „kriegerischen Genius“, 231-252). Aus der Bedeutung der psychischen Faktoren in der Kriegführung zieht Clausewitz einen folgenschweren Schluss: „Aus der Mannigfaltigkeit der geistigen Individualität entspringt aber die Mannigfaltigkeit der Wege, die zum Ziel führen“ (1980: 288, H. i. O.). Da diese „Mannigfaltigkeit der geistigen Individualität“ mit der Höhe der Stelle zunehme, steige auch ihr Einfluss auf das Handeln dieser Stellen (Clausewitz 1980: 288). In anderen Worten: Selbst wenn das Ziel des Gegners bekannt ist, ist es aufgrund des Einflusses der genannten psychischen Faktoren äußerst schwierig einzuschätzen, welche Mittel er einsetzen wird. Man sei dabei zurückgeworfen auf die Methode der Wahrscheinlichkeitsberechnungen (Clausewitz 1980: 288). Die zweite „Hauptschwierigkeit“ (Clausewitz 1980: 285) einer Theorie der Kriegführung – neben der genannten Berücksichtigung der geistigen Größen – sei die so genannte „lebendige Reaktion“ (Clausewitz 1980: 288). Gemeint ist nicht nur die Schwierigkeit, die gegnerische Reaktion zu berechnen, da eben geistige Größen diese Berechnung erschweren. Gemeint ist hauptsächlich die Schwierigkeit, dass „die Wechselwirkung ihrer Natur nach aller Planmäßigkeit entgegenstrebt“ (Clausewitz 1980: 288). Und weiter: „Die Wirkung, welche irgendeine Maßregel auf den Gegner hervorbringt, ist das Individuellste, was es unter allen Datis des Handelns gibt“ (Clausewitz 1980: 288). Als sich Clausewitz an anderer Stelle fragt, ob die Kriegführung zur Wissenschaft oder zu den Künsten gezählt werden müsse, kommt er zu dem Schluss, dass sie – zusammen mit der Politik und der Wirtschaft – eine eigene Kategorie bilde. Mit dieser Aussage ordnet Clausewitz seinen Forschungsgegenstand in die Sozialwissenschaften ein. Deren wesentliches Merkmal sei eben die „lebendige Reaktion“: „Das Wesentliche des Unterschiedes besteht darin, daß der Krieg keine Tätigkeit des Willens ist, die sich gegen einen toten Stoff äußert wie die mechanischen Künste, oder gegen einen lebendigen, aber doch leidenden, sich hingebenden Gegenstand, wie der menschliche Geist und das menschliche Gefühl bei den idealen Künsten, sondern gegen einen lebendigen, reagierenden“ (Clausewitz
2.1 Clausewitz’ Desiderate für eine Theorie der Kriegführung
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1980: 303, H. i. O.). Die zweite Hauptschwierigkeit einer Theorie der Kriegführung besteht also im Eskalationspotenzial des Krieges, das in Abschnitt 3.1 (unten) näher beschrieben wird. Dieses erschwert eine genaue Berechnung der Wirkung des eigenen Mitteleinsatzes. Die dritte Hauptschwierigkeit einer Theorie der Kriegführung ist die „Ungewißheit aller Datis“ (Clausewitz 1980: 289, H. i. O.), das heißt die – selbst mit modernster Technologie nicht aufhebbare – unsichere und unvollständige Informationslage in der Kriegssituation. Diese entsteht, „weil alles Handeln gewissermaßen in einem bloßen Dämmerlicht verrichtet wird, was noch dazu nicht selten wie eine Nebel- oder Mondscheinbeleuchtung den Dingen einen übertriebenen Umfang, ein groteskes Ansehen gibt“ (Clausewitz 1980: 289). Mit seinem Bild des ‚Nebel des Krieges’ weist Clausewitz auf einen zweiten Aspekt dieser Problematik hin: Die unsichere Informationslage kann die Wahrnehmung selbst verändern. Nähere Ausführungen zur Problematik des ‚Nebels des Krieges’ finden sich im sechsten Kapitel des ersten Buches unter der Überschrift „Nachrichten im Kriege“ (Clausewitz 1980: 258-260). Dort geht Clausewitz auf die spezifischen Probleme des militärischen Nachrichtenwesens10 ein: „Ein großer Teil der Nachrichten, die man im Kriege bekommt, ist widersprechend, ein noch größerer ist falsch und bei weitem der größte einer ziemlichen Ungewißheit unterworfen“ (1980: 258). Auch an dieser Stelle werden die Schwierigkeiten der richtigen Wahrnehmung thematisiert: „Diese Schwierigkeit richtig zu sehen, welche eine der allergrößten Friktionen im Kriege ausmacht, läßt die Dinge ganz anders erscheinen, als man sie gedacht hat.“ Und weiter: „Der Eindruck der Sinne ist stärker als die Vorstellungen des überlegenden Kalküls ...“ (Clausewitz 1980: 259, H. i. O.; vgl. zum Begriff der „Friktion“ unten, S. 101 sowie S. 164-165). Mit den vorangegangenen Ausführungen ist die dritte Hauptschwierigkeit einer Theorie der Kriegführung bezeichnet: Eine solche Theorie muss von einer stark unvollständigen Informationslage ausgehen; außerdem von wahrnehmungsbedingten ‚Messfehlern’ und Fehlinterpretationen bei eigentlich zugänglichen Informationen; schließlich von einer weiteren – inneren – Wechselwirkung, nämlich der zwischen „Entwerfen und Ausführen“ (Clausewitz 1980: 260, H. i. O.), das heißt, den Schwierigkeiten eines Befehlshabers, wenn er seinen vorher gefassten Plan umsetzen möchte und nun mit neuen, zudem ungewissen, Informationen konfrontiert wird. Auch für die Schwierigkeit der „Ungewißheit aller Datis“ sieht Clausewitz nur eine Lösung: „Das Gesetz des Wahrscheinlichen muss ihn leiten“ (1980: 258). Die Hauptschwierigkeiten einer Theorie der Kriegführung liegen also gemäß Clausewitz in drei Merkmalen der Kriegführung begründet, die sich einer 10
Clausewitz definiert Nachrichten als „die ganze Kenntnis, welche man von dem Feinde und seinem Lande hat, also die Grundlage aller eigenen Ideen und Handlungen“ (1980: 258).
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theoretischen Erfassung besonders hartnäckig widersetzen: der Bedeutung psychischer Faktoren für das Handeln, der schwierigen Berechenbarkeit sozialer Interaktionsprozesse sowie der unsicheren Informationslage in der Kriegssituation. Clausewitz kommt in seiner Analyse zu dem Schluss, dass „eine positive Lehre ... unmöglich [ist]“ (1980: 289, H. i. O.). Wie er an anderer Stelle schreibt, meint er mit „positiver Lehre“ eine „Anweisung zum Handeln“ (Clausewitz 1980: 290, H. i. O.). Das Hauptproblem einer solchen Theoriebildung läge ihm zufolge in der potenziellen Einengung des Handelns und der Erstickung von Kreativität: „Der Handelnde würde sich in allen jenen Fällen, wo er auf sein Talent verwiesen ist, außer diesem Lehrgebäude und mit ihm im Widerspruch befinden, und es würde, wie vielseitig dasselbe auch aufgefaßt sein möchte, immer dieselbe Folge wieder eintreten, von der wir schon gesprochen haben: daß das Talent und Genie außer dem Gesetz handelt und die Theorie ein Gegensatz der Wirklichkeit wird“ (Clausewitz 1980: 289, H. i. O.). Diese Aussagen schließen wieder an die Kritik von Clausewitz an seinen theoretischen Vorläufern an. Diese waren auf der Suche nach kausalgesetzlichen Zusammenhängen zwischen wichtigen Faktoren der Kriegführung. Um diese identifizieren zu können, waren sie gezwungen, so weit von Kontextfaktoren zu abstrahieren, bis stabile Zusammenhänge zwischen Variablen erkennbar wurden. So groß das Verdienst dieser Ansätze aus wissenschaftlicher Sicht zu beurteilen ist, so gering ist nach Clausewitz ihr Potenzial, erfolgreiches Handeln im Kriege anzuleiten. Denn die aus ihnen abgeleiteten Anweisungen zum Handeln mussten falsch sein, abstrahierten sie doch fälschlicherweise von Faktoren, die die Kriegführung wesentlich beeinflussen. Sie enthalten somit ein zweifaches Risiko: Sie täuschen Sicherheit vor, wo keine zu erlangen ist, und geben zudem sachlich falsche Handlungsanweisungen. 2.2 Clausewitz’ Wissenschaftstheorie Doch wie kann vor dem Hintergrund des geschilderten Befunds, dass es sich bei der Kriegführung um einen hochkomplexen und dynamischen Prozess handelt, eine Theoriebildung aussehen? Eine Theoriebildung, die nicht nur in der Lage sein muss, die Komplexität aufzunehmen und zu verarbeiten, sondern auch noch gleichzeitig dem militärischen Befehlshaber eine Entscheidungshilfe bieten soll – in anderen Worten: eine Theorie, die (bei richtigem Gebrauch) zum Gewinnen von Kriegen beiträgt? Clausewitz’ Antwort ist hoch differenziert und braucht sich vor neueren sozialwissenschaftlichen, methodologischen Reflexionen nicht zu verstecken. Ihm zufolge bieten sich prinzipiell zwei Lösungswege an, die kombiniert genutzt
2.2 Clausewitz’ Wissenschaftstheorie
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werden sollten: Einerseits lässt sich Kriegführung in Bereiche unterschiedlich hoher Komplexität aufgliedern, denen entsprechend mit theoretischen Ansätzen unterschiedlichen Fassungsvermögens für Komplexität (Teiltheorien) zu begegnen ist. Andererseits müsse eine Theorie den Anspruch aufgeben, Anleitung zum Handeln sein; stattdessen könne sie mit dem Anspruch gebildet werden, eine systematische „Betrachtung“ ihres Forschungsgegenstandes zu ermöglichen (Clausewitz 1980: 290). Beide Antworten müssen einer kurzen Untersuchung unterzogen werden. Einteilung der Kriegführung in Teiltheorien. Clausewitz sieht hier wiederum zwei Möglichkeiten. Zum einen hätten Befehlshaber unterschiedlicher Stellen Probleme unterschiedlicher Komplexität zu lösen: „Nach unten hin wird der Mut persönlicher Aufopferung mehr in Anspruch genommen, aber für den Verstand und das Urteil sind die Schwierigkeiten unendlich viel geringer. Das Feld der Erscheinungen ist viel geschlossener, Zwecke und Mittel sind in der Zahl beschränkter, die Data bestimmter, meistens sogar in wirklichen Anschauungen enthalten“ (Clausewitz 1980: 290). Steigt man die Befehlskette hinauf, verhielte es sich umgekehrt: „Je weiter wir aber hinaufsteigen, um so mehr nehmen die Schwierigkeiten zu, bis sie im obersten Feldherrn ihren höchsten Grad erreichen, so daß bei ihm fast alles dem Genius überlassen bleiben muß“ (Clausewitz 1980: 290). Zum anderen könne man eine sachliche Einteilung des Forschungsgegenstandes in die Bereiche von Taktik und Strategie11 unternehmen, in denen ebenfalls Probleme ganz unterschiedlicher Komplexität gelöst werden müssten. Der für Clausewitz wesentliche Unterschied liegt in der unterschiedlichen Bedeutung geistiger Faktoren in Taktik und Strategie: Während es in der Taktik primär um materielle Wirkungen geht, liegt die Schwierigkeit der Strategie darin begründet, materielle Wirkungen in geistige Wirkungen umzuwandeln, sprich: dem Gegner den eigenen Willen aufzudringen. Noch einmal in Clausewitz’ Worten: Darum ist es leichter, die innere Ordnung, die Anlage und Führung eines Gefechts durch eine theoretische Gesetzgebung zu bestimmen als den Gebrauch desselben. Dort ringen die physischen Waffen miteinander, und wenn der Geist auch darin nicht fehlen kann, so muß doch der Materie ihr Recht gelassen werden. In der Wirkung der Gefechte aber, wo die materiellen Erfolge zu Motiven werden, hat man es nur mit der geistigen Natur zu tun. Mit einem Wort: die Taktik wird viel weniger Schwierigkeiten einer Theorie haben als die Strategie (1980: 290, H. i. O.).
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Taktik ist die „Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht ...“, beschreibt also das Handeln innerhalb der Gefechte; Strategie ist die „Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges“, beschreibt also die Koordination der Gefechte in Zeit und Raum (Clausewitz 1980: 271; vgl. ausführlich unten, Abschnitt 3.2).
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2 Methodologie und Methode
Die Theorie als „Betrachtung“. Clausewitz empfiehlt – neben der Bildung unterschiedlicher Theorien für Strategie und Taktik – einen völlig anderen wissenschaftstheoretischen Ansatz: Überall, wo eine Tätigkeit es größtenteils immer wieder mit denselben Dingen zu tun hat, mit denselben Zwecken und Mitteln, wenn auch mit kleinen Veränderungen und wenn auch in einer noch so großen Mannigfaltigkeit der Kombination, müssen diese Dinge ein Gegenstand vernünftiger Betrachtung werden können. Eine solche Betrachtung aber ist eben der wesentlichste Teil jeder Theorie und hat auf diesen Namen ganz eigentlich Anspruch. Sie ist eine analytische Untersuchung des Gegenstandes, führt zu einer genauen Bekanntschaft, und wenn sie auf die Erfahrung, also in unserem Fall auf die Kriegsgeschichte angewendet wird, zur Vertrautheit mit demselben. Je mehr sie diesen letzten Zweck erreicht, um so mehr geht sie aus der objektiven Gestalt eines Wissens in die subjektive eines Könnens über, und um so mehr wird sie sich also auch da wirksam zeigen, wo die Natur der Sache keine andere Entscheidung als die des Talents zuläßt; sie wird in ihm selbst wirksam werden (1980: 290).
In Clausewitz’ Wissenschaftstheorie geht es also nicht um die Entdeckung von Kausalgesetzen der Kriegführung.12 Eine solche Ausrichtung würde seinem Anspruch für die Praxis tauglich zu sein, zutiefst widersprechen. Es geht vielmehr darum, dem Praktiker ein analytisches Instrumentarium an die Hand zu geben, um – zum einen – seine Umwelt besser zu strukturieren und – zum anderen – Handlungsalternativen auf eine entscheidbare Zahl von Möglichkeiten zu reduzieren. Aus diesem Grund stehen die Begriffe Zweck und Mittel in seinen Ausführungen im Vordergrund. Letzten Endes muss der Befehlshaber jeden Ranges bei jeder Entscheidung überlegen, welche seiner Handlungsoptionen mit Wahrscheinlichkeit die beste ist: Untersucht die Theorie die Gegenstände, welche den Krieg ausmachen, unterscheidet sie schärfer, was auf den ersten Blick zusammenzufließen scheint, gibt sie die Eigenschaften der Mittel vollständig an, zeigt sie die wahrscheinlichen Wirkungen derselben, bestimmt sie klar die Natur der Zwecke, trägt sie überall das Licht einer verweilenden kritischen Betrachtung in das Feld des Krieges, so hat sie den Hauptgegenstand ihrer Aufgabe erfüllt. Sie wird dann demjenigen ein Führer, der sich mit dem Kriege aus Büchern vertraut machen will; sie hellt ihm überall den Weg auf, erleichtert seine Schritte, erzieht sein Urteil und bewahrt ihn vor Abwegen (Clausewitz 1980: 291).
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Vor allen Dingen Monokausalität soll ausgeschlossen werden. Für diesen Hinweis danke ich Helmut Ganser.
2.2 Clausewitz’ Wissenschaftstheorie
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Clausewitz’ Theorie soll ‚geronnene’ Erfahrung sein. Er benutzt das Bild eines „Sachverständigen“, der sich ein Leben lang mit einem spezifischen Gegenstand auseinandergesetzt hat. Damit ein Sachverständiger jedes Bereichs jedoch zu brauchbaren Gutachten gelangen kann, darf er nicht schematisch an seine Fälle herangehen, vielmehr benötigt er ein flexibles analytisches Instrumentarium, das ihm jedoch genug gedankliche Bewegungsfreiheit erlaubt, um seine Kreativität nicht im Keim zu ersticken: „Daß also nicht jeder von neuem aufzuräumen und sich durchzuarbeiten habe, sondern die Sache geordnet und gelichtet finde, dazu ist die Theorie vorhanden“ (Clausewitz 1980: 291). Die Theorie soll durch gut definierte Begriffe also zur Ordnung der Gedanken und Ideen beitragen; dadurch können Handlungsalternativen getrennt durchdacht werden. Handlungsanleitungen im eigentlichen Sinne kann die Theorie daher nicht bieten, vielmehr widerspräche das ihrem Wesen vollkommen. Gleichwohl schließt Clausewitz nicht aus, dass die Theorie grundsätzlich kausale Zusammenhänge aufdecken kann: „Bilden sich aus den Betrachtungen, welche die Theorie anstellt, von selbst Grundsätze und Regeln, schießt die Wahrheit von selbst in diese Kristallform zusammen, so wird die Theorie diesem Naturgesetz des Geistes nicht widerstreben, sie wird vielmehr, wo sich der Bogen in einem solchen Schlußstein endigt, diesen noch hervorheben“ (Clausewitz 1980: 291). Im Unterschied zu den herkömmlichen Ansätzen lehnt Clausewitz es jedoch ab, aus solchen Regelmäßigkeiten schlicht Handlungsanleitungen abzuleiten. Dies folgt aus der Erkenntnis der großen Komplexität des Gegenstandes, durch die es nie ausgeschlossen sein kann, dass die Theorie wichtige Faktoren unberücksichtigt gelassen hat: Aber sie tut dies [Regelmäßigkeiten anzeigen, R. B.] nur, um dem philosophischen Gesetz des Denkens zu genügen, um den Punkt deutlich zu machen, nach welchem die Linien alle hinlaufen, nicht um daraus eine algebraische Formel für das Schlachtfeld zu bilden; denn auch diese Grundsätze und Regeln sollen in dem denkenden Geiste mehr die Hauptlineamente seiner eingewohnten Bewegungen bestimmen als ihm in der Ausführung den Weg gleich Meßstangen bezeichnen (Clausewitz 1980: 291).
So kommt Clausewitz zu einem für seine Wissenschaftstheorie zentralen Schluss: Die Theorie müsse eine „[g]roße Vereinfachung des Wissens“ (1980: 295, H. i. O.) leisten. „Daß auf diese Weise für die Theorie die Zahl der Gegenstände sehr vereinfacht und das für die Kriegführung erforderliche Wissen sehr beschränkt wird, ist leicht einzusehen“ (Clausewitz 1980: 295-296). Denn die vielen theoretischen Kenntnisse und praktischen Fähigkeiten, welche zur Vorbereitung eines Krieges dienen, „drängen sich in wenige große Resultate zusammen ehe sie dazu kommen, im Kriege den endlichen Zweck ihrer Tätigkeit
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2 Methodologie und Methode
zu erreichen“ (Clausewitz 1980: 296). Und: „Nur diese ... hat derjenige kennenzulernen, welcher sie leiten will“ (Clausewitz 1980: 296). Was auf den ersten Blick einfach erscheint, ist auf den zweiten eine enorm hohe Anforderung an die Kriegstheorie. Denn ihr muss es gelingen, eine Begrenzung des zu berücksichtigenden Wissens vorzunehmen, ohne relevante Informationen auszuschließen; sie muss „das Wichtige von dem Unwichtigen sondern“ (Clausewitz 1980: 951). Und dies vor dem Hintergrund der von Clausewitz formulierten Kritik an älteren Ansätzen der Kriegstheorie, die sich ja eben durch eine starke Vereinfachung des Wissens (auf wenige Faktoren) auszeichnen sowie die von ihm geforderte Berücksichtigung diverser schwer messbarer (psychischer etc.) Faktoren bei der Zweckformulierung und beim Mitteleinsatz. Im Folgenden zieht Clausewitz weitere Schlüsse aus diesen Betrachtungen: Für die Ausbildung von Führungskräften empfiehlt er explizit, den Nachwuchs nicht mit Detailwissen zu überfrachten. Denn dies könne dazu führen, dass ein militärischer Befehlshaber die geforderte Fähigkeit verliert, sich auf bestimmte Bereiche des vorliegenden Wissens bzw. der vorliegenden Informationen zu konzentrieren – und damit seine Entscheidungsfähigkeit: „Es läßt sich ohne große Mühe beweisen, daß sie [die Detailkenntnis, R. B.] ihm schaden wird, weil der menschliche Geist durch die ihm mitgeteilten Kenntnisse und Ideenrichtungen erzogen wird. Nur das Große kann ihn großartig, das Kleine nur kleinlich machen, wenn er es nicht wie etwas ihm Fremdes ganz von sich stößt“ (Clausewitz 1980: 296, H. i. O.). Mit der Erfordernis der „Einfachheit des im Kriege erforderlichen Wissens“ (Clausewitz 1980: 296) glaubt Clausewitz auch das Geheimnis des militärischen Genies durchschaut und damit die Möglichkeit eröffnet zu haben, sich – durch eine spezifische Art des Denkens oder der Organisation – diesem anzunähern: „Es frägt sich also nur, welcher Art diese Vorstellungen [des Genies, R. B.] sein sollen, das glauben wir bestimmt zu haben, wenn wir sagen, daß sie für den Krieger auf die Dinge gerichtet sein sollen, mit denen er im Kriege unmittelbar zu tun hat“ (1980: 297). Clausewitz zieht aus der Theorie der „Einfachheit des im Kriege erforderlichen Wissens“ auch wichtige organisatorische Konsequenzen: „Das Wissen muß sich nach der Stelle richten“ (1980: 297, H. i. O.). Wiederum ist den Formulierungen von Clausewitz nichts entgegenzusetzen, daher folgt ein Direktzitat: „Innerhalb dieses Feldes der kriegerischen Tätigkeit selbst werden sie verschieden sein müssen nach dem Stand, den er einnimmt; auf geringere und beschränktere Gegenstände gerichtet, wenn er niedriger, auf größere und umfassendere, wenn er höher steht. Es gibt Feldherren, die an der Spitze eines Reiterregiments nicht geglänzt haben würden, und umgekehrt“ (1980: 297). Clausewitz spricht im Folgenden eine nötige Warnung aus: „Das Wissen im Kriege ist sehr einfach, aber nicht zugleich sehr leicht“ (1980: 297, H. i. O.).
2.2 Clausewitz’ Wissenschaftstheorie
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Obwohl das Wissen nur auf „so wenig Gegenstände gerichtet ...“ sein müsse und diese darüber hinaus nur „in ihren Endresultaten ...“ aufgefasst werden müssten, „wird das Können nicht zugleich sehr leicht“ (Clausewitz 1980: 297-298). Nicht nur sind die vielen ‚weichen’ Faktoren, die sich zwischen Mittel und Wirkung schieben können, zu berücksichtigten; „auch die eigentliche Tätigkeit des Verstandes ...“ – das heißt zum einen die Eingrenzung der Faktoren, auf die man sich zu konzentrieren hat und zum anderen die Berücksichtigung der Beziehungen zwischen diesen Faktoren für das eigene Handeln – gehört zu den „schwierigsten ..., die es für den menschlichen Geist gibt“ (Clausewitz 1980: 298). Und dies gilt umso mehr, je höher die Stelle in der Kommandokette. Zuletzt fragt sich Clausewitz mit Bezug auf den Feldherrn, „[w]ie das Wissen beschaffen sein muß“ (1980: 298, H. i. O.). Wieder stellt er gewissermaßen den Überblick über die Dinge in den Vordergrund: Der Feldherr müsse zwar kein „gelehrter“ Wissenschaftler sein, aber doch die wichtigsten Zusammenhänge der nationalen und internationalen Politik überblicken können (Clausewitz 1980: 298). Er müsse auch kein „feiner Menschenbeobachter“ sein, doch unbedingt insgesamt eine gute Menschenkenntnis aufweisen (Clausewitz 1980: 298). Schließlich müsse er kein Ingenieur oder Techniker sein, doch auch in diesem Bereich ebenfalls ein Grundverständnis und einen ‚guten Blick’ haben (Clausewitz 1980: 298). Diese Fähigkeiten ließen sich nicht studieren, sondern müssen – ein entsprechendes Talent vorausgesetzt – durch Erfahrung erworben bzw. geübt werden. Der Feldherr müsse mit ‚offenen Augen’ durch die Welt gehen, auch wissenschaftlich studieren, doch insbesondere die Fähigkeit haben, das relevante Wissen zu erkennen, d. h. – in einem schönen Bild ausgedrückt – aus den „Erscheinungen des Lebens nur den Geist zu ziehen ...“ verstehen, „wie die Biene den Honig aus der Blume ...“ (Clausewitz 1980: 298). Schließlich kommt Clausewitz zu einem letzten Punkt: dass das Wissen „nämlich ganz in den Geist übergehen und fast ganz aufhören muß, etwas Objektives zu sein“ (1980: 299). In vielen anderen Tätigkeiten, genüge es, das Wissen gewissermaßen extern verfügbar zu haben; in der Kriegführung jedoch, wo es um das Treffen von Entscheidungen in hoch komplexen und komplizierten Situationen ginge, müsse das Wissen ‚in Fleisch und Blut übergehen’: „Die geistige Reaktion, die ewig wechselnde Gestalt der Dinge macht, daß der Handelnde den ganzen Geistesapparat seines Wissens in sich tragen, dass er fähig sein muß, überall und mit jedem Pulsschlag die erforderlichen Entscheidungen aus sich selbst zu geben“ (Clausewitz 1980: 299). Kurz: „Das Wissen muss ein Können werden“ (Clausewitz 1980: 299, H. i. O.). Damit ist das wissenschaftstheoretische Fundament der Clausewitz’schen Kriegstheorie skizziert. Es ist hier noch einmal zu betonen, dass es Clausewitz darum geht, den, aus seiner Sicht „widersinnige[n]“ Widerspruch zwischen The-
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2 Methodologie und Methode
orie und Praxis aufzulösen. Keinesfalls dürfe sich die Theorie in der Abstraktion verlieren, sich „von dem gesunden Menschenverstand los[sagen]“ (Clausewitz 1980: 292). Damit ist sein Theorieverständnis wissenschaftstheoretisch zwischen dem normativen und dem empirisch-analytischen Ansatz der Sozialwissenschaften zu verorten. Denn Handlungsnormen darf die Theorie zwar entwickeln, muss jedoch immer gleichzeitig ihren eingeschränkten Anwendungsbereich markieren. Auch untersucht die Theorie durchaus kausalgesetzliche Zusammenhänge (wie die empirisch-analytischen Ansätze); doch hier geht es darum, diese Zusammenhänge als vorläufig zu betrachten und sie mit anderen Zusammenhängen zu vergleichen. Als nächstes gilt es, Clausewitz’ kriegstheoretischen Ansatz, der seiner wissenschaftstheoretischen Skizze folgt, – getrennt nach Taktik und Strategie – genauer zu untersuchen. 2.3 Grundzüge des kriegstheoretischen Ansatzes von Clausewitz „Die Theorie betrachtet also die Natur der Zwecke und Mittel. Zweck und Mittel in der Taktik“ (Clausewitz 1980: 292, H. i. O.). Die zentralen analytischen Begriffe von Clausewitz’ Kriegstheorie sind die des Zwecks und der Mittel. Sie unterscheiden sich inhaltlich in der Theorie der Taktik und der Theorie der Strategie. In der Taktik bestünden die „Mittel“ aus den „ausgebildete[n] Streitkräfte[n], welche den Kampf führen sollen. Der Zweck ist der Sieg [im Gefecht, R. B.]“ (Clausewitz 1980: 292). Doch macht Clausewitz deutlich, dass der „Sieg“ konkretisiert werden muss. Und hier befindet sich die entscheidende Schnittstelle zwischen Taktik und Strategie. Denn die Strategie entscheidet über den „Zweck“ jedes Gefechts, „der seine eigentliche Bedeutung ausmacht“ (Clausewitz 1980: 292, H. i. O.). Ob die Bedeutung eines Gefechts beispielsweise eine Schwächung der gegnerischen Streitkräfte oder lediglich die Einnahme einer gegnerischen Stellung ist, hat wesentlichen Einfluss „auf die Anlage und Führung desselben“ (Clausewitz 1980: 292). Damit hat die strategische Festlegung der Bedeutung jedes Gefechts Auswirkungen auf die Taktik: Die Taktik befasst sich mit ihrer konkreten Umsetzung. Dies impliziert bereits eine personelle und sachliche Aufgabenteilung. Denn der Befehlshaber, der für die Führung eines Gefechts verantwortlich ist, hat in der Umsetzung der strategischen Vorgaben gewisse Entscheidungsfreiheiten. Es fällt an dieser Stelle auf, dass Clausewitz die analytische Bedeutung seiner zentralen Begriffe von Zweck und Mitteln nicht genügend ausarbeitet; stattdessen definiert er sie inhaltlich. Damit ist ein Aspekt seiner Theorie bezeichnet,
2.3 Grundzüge des kriegstheoretischen Ansatzes von Clausewitz
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der weiter unten stärker problematisiert und mithilfe neuerer Ansätze angereichert werden muss. Im nächsten Schritt weist Clausewitz darauf hin, dass die gewünschte Wirkung des Streitkräfteeinsatzes in der Taktik von bestimmten „Umstände[n]“ abhängt (1980: 293). Zu diesen „Umständen“ zählt er drei Faktoren, nämlich die Beschaffenheit des Terrains; die Tageszeit, in der das Gefecht stattfindet sowie das Wetter (Clausewitz 1980: 293). Er kommt zu dem Schluss, dass von diesen drei Rahmenbedingungen insbesondere die Beschaffenheit des Terrains – also der Raum – berücksichtigt werden müsse (Clausewitz 1980: 293). Bereits zu seiner Zeit hatten Fortschritte in allen Bereichen der Technik zur relativen Unwichtigkeit der Licht- und Wetterverhältnisse geführt. Für die vorliegende Untersuchung ist wichtig festzuhalten, dass in der Taktik spezifische Zwecke und Mittel in Betracht kommen, deren Wirksamkeit durch bestimmte modifizierende Rahmenbedingungen beeinträchtigt werden kann. „Zwecke und Mittel in der Strategie“ (Clausewitz 1980: 293, H. i. O.). Auch in der Theorie der Strategie stehen die Begriffe von Zweck und Mittel – in ihrer analytischen Tragweite eigentümlich ungeklärt – im Zentrum. Im Gegensatz zur Taktik bestehen die Mittel der Strategie aus dem „Sieg, d. h. de[m] taktischen Erfolg“ (Clausewitz 1980: 293); die Zwecke liegen „in letzter Instanz ...“ in den „Gegenstände[n], welche unmittelbar zum Frieden13 führen sollen“ (Clausewitz 1980: 293). Die Strategie beinhaltet die zeitliche, räumliche und kräftemäßige Anordnung von Gefechten, wie Clausewitz an anderer Stelle hinzufügt (1980: 373). Darüber hinaus weist sie jedem Gefecht eine spezifische „Bedeutung“ zu, „setzt ihm einen besonderen Zweck“ (Clausewitz 1980: 294, H. i. O.). Dabei muss die Anordnung so erfolgen, dass die militärischen Wirkungen schließlich in der gewünschten politischen Wirkung, d. h. Nachkriegsordnung, zusammenfließen. Gemäß Clausewitz’ Theorie der Strategie bilden die untergeordneten Gefechtszwecke ihrerseits wieder Mittel zu weiteren Zwecken: Auch „jede höhere Einheit, welche sich in der Kombination der Gefechte durch die Richtung auf einen gemeinschaftlichen Zweck bilden möchte, ist als ein Mittel zu betrachten“ (1980: 294, H. i. O.). Als Beispiel für eine solche – „auf die Jahreszeit angewendete ...“ – Kombination nennt Clausewitz einen „Winterfeldzug“ (1980: 294). „Es bleiben also an Zwecken nur diejenigen Gegenstände übrig, die als unmittelbar zum Frieden führend gedacht sind“ (Clausewitz 1980: 294, H. i. O.). Analog zur Theorie der Taktik gibt es auch in der Theorie der Strategie „Umstände, welche die Anwendung der Mittel begleiten“ (Clausewitz 1980: 294, H. i. O.). Es sind dieselben wie in der Taktik, jedoch in größerem Maßstab: Ter13
Mit „Frieden“ ist – allgemeiner ausgedrückt – die Nachkriegsordnung gemeint. Für diesen Hinweis danke ich Thomas Jäger.
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2 Methodologie und Methode
rain, „aber zugleich erweitert zu Land und Volk des ganzen Kriegstheaters; die Tageszeit, aber auch zugleich die Jahreszeit; endlich das Wetter, und zwar durch ungewöhnliche Erscheinungen desselben, großer [sic] Frost usw.“ (Clausewitz 1980: 294). Zusammenfassend ist das Spezifische der Theorie der Strategie, dass sie mit der räumlichen, zeitlichen und kräftemäßigen Anordnung der Gefechte beschäftigt ist und jedem Gefecht einen Zweck gibt; außerdem, dass ihre Zwecke (Resultate bzw. Wirkungen von Gefechten) oder Kombinationen solcher Zwecke auf einem höheren analytischen Niveau wieder als Mittel zu betrachten sind; schließlich, dass sich die letzten Zwecke der Strategie unmittelbar auf die angestrebte Nachkriegsordnung beziehen. Doch welche Mittel und Zwecke sind in der Theorie der Strategie überhaupt denkbar? Clausewitz fragt sich, wie man „zu einer erschöpfenden Aufzählung dieser Gegenstände“ (1980: 294) gelangen könnte. Er empfiehlt, sich diesem Problem nicht theoretisch zu nähern, sondern Mittel und Zwecke der „Erfahrung“ bzw. der „Kriegsgeschichte“ zu entnehmen. Dies sieht er keineswegs als Einschränkung für die Theorie, „weil die Theorie in jedem Fall das, was sie von den Dingen aussagt, entweder aus der Kriegsgeschichte abstrahiert oder wenigstens mit ihr verglichen haben muss“ (Clausewitz 1980: 295). Dies hat den Vorteil, dass Clausewitz’ Theorie in die Gegenwart weitergedacht werden kann, auch insofern neue Zwecke und Mittel der Kriegführung hinzugekommen sind. Mit dem Abschnitt „Wie weit die Analyse der Mittel gehen muß“ (Clausewitz 1980: 295, H. i. O.) kommt Clausewitz zu einem zentralen Punkt seiner kriegstheoretischen Überlegungen. Seine Antwort auf diese Frage lautet: „Offenbar nur so weit, als die abgesonderten Eigenschaften beim Gebrauch in Betrachtung kommen“ (Clausewitz 1980: 295). Zum Beispiel seien in der Taktik die „Schußweite und Wirkung der verschiedenen Waffen ...“ relevant, nicht jedoch ihre „Konstruktion“ oder die chemische Zusammensetzung des Pulvers – „die fertige Waffe mit ihrer Wirkung ist das Gegebene“ (Clausewitz 1980: 295, H. d. V.). In der Strategie werden Karten genutzt, „ohne sich um trigonometrische Vermessungen zu bekümmern“ (Clausewitz 1980: 295). Außerdem müsse die strategische Theorie nicht untersuchen, „wie ein Land eingerichtet, ein Volk erzogen und regiert werden muß, um die besten kriegerischen Erfolge zu geben, sondern sie nimmt diese Dinge, wie sie in der europäischen Staatengesellschaft angetroffen werden, und macht darauf aufmerksam, wo sehr verschiedene Zustände einen merklichen Einfluss auf den Krieg haben“ (Clausewitz 1980: 295). In Übereinstimmung mit seiner Wissenschaftstheorie (vgl. oben, Abschnitt 2.2) empfiehlt Clausewitz also für die kriegstheoretische Theoriebildung, die Betrachtung auf bestimmte Gegenstände einzugrenzen. Derselbe Gedanke liegt seinen detaillierten, wissenschaftlichen Bemühungen zugrunde, die Begriffe von „Strategie“ und „Taktik“ voneinander abzugrenzen (Clausewitz 1980: 269-278).
2.4 Clausewitz’ Theorie als Handlungstheorie – Parallelen zur Systemtheorie
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Die Trennung dieser Bereiche ermöglicht eine Begrenzung der gleichzeitig zu beachtenden Zwecke, Mittel und Umstände. 2.4 Clausewitz’ Theorie als Handlungstheorie – Parallelen zur Systemtheorie Die prominente Stellung der Begriffe von „Zweck“ und „Mittel“ zeigen an, dass es sich bei Clausewitz’ Theorie um eine Form der Handlungstheorie handelt – sind doch diese Begriffe „in alter und fester Tradition auf das menschliche Handeln bezogen“ (Luhmann 1973: 7). Auch Weber zufolge ist „[j]ede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ... zunächst gebunden an die Kategorien ‚Zweck’ und ‚Mittel’“ (1904: 25).14 Der Zweckbegriff steht überdies „zunächst für die Rationalität des Vorgangs, der den Zweck trägt und verwirklicht“ (Luhmann 1973: 7, H. d. V.). Es gilt nun zu untersuchen, welche Art von Handlungstheorie „Vom Kriege“ (Clausewitz 1980) zugrunde liegt und welches Verständnis von Rationalität sie enthält. Handlungstheorien dienen – ganz allgemein ausgedrückt – der Analyse „menschliche[n] Verhalten[s] (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) ..., wenn und insofern als der [Handelnde, R. B.] oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden“ (Weber 1972: 1, H. i. O.). Gegenstand sozialwissenschaftlicher Handlungstheorien ist das so genannte soziale Handeln, „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 1972: 1, H. i. O.). Wie Luhmann nachweist, ist der Handlungsbegriff vieler moderner sozialwissenschaftlicher Handlungstheorien „ursprünglich von der Einzelhandlung her konzipiert ...“ (1973: 7, H. i. O.). Der „Zweck“ – definiert als „zu bewirkende Wirkung“ der Handlung – werde dadurch zu einem „Teil der Handlungsstruktur“ (Luhmann 1973: 10). Die Rationalität bleibe auf die Mittelwahl der Einzelhandlung bezogen (Luhmann 1973: 11). Grund dafür sei die tief im abendländischen Denken verankerte aristotelische Konzeption des Zwecks als „Wesen der Handlung“ und die daraus folgende Verschmolzenheit von Zweck und Handlung (Luhmann 1973: 9). Problematisch an dieser Konzeption sei, dass das „handelnde Subjekt“ (Luhmann 1973: 12) dadurch in der Handlungstheorie nicht mitgedacht werden könne, gewissermaßen ausgeblendet werde (Luhmann 1973: 13). Die sozialwissenschaftliche Handlungstheorie habe sich indessen insofern weiterentwickelt, dass der Zweck nunmehr als „subjektives Engage14
Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Klaus Kuhnekath.
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2 Methodologie und Methode
ment“ (Luhmann 1973: 12), als Ausdruck eines dahinter liegenden Willens verstanden werde (Luhmann 1973: 13). Das handelnde Subjekt erscheint zwar auf diese Weise verstärkt in der Handlungstheorie, kann jedoch aus der Warte ihrer klassischen Konzeption „nicht erfaßt und nicht entfaltet werden“ (Luhmann 1973: 12); es steht „jenseits der vom Zweck aus erforschbaren Rationalstruktur des Handelns“ (Luhmann 1973: 13). Luhmann stellt dieser Konzeption seinen eigenen systemtheoretischen Ansatz entgegen: Dieser Ansatz geht nicht mehr von der Einzelhandlung aus, sondern von Handlungssystemen, „die aus konkreten Handlungen eines oder mehrerer Menschen gebildet sind und sich durch Sinnbeziehungen zwischen diesen Handlungen von einer Umwelt abgrenzen“ (1973: 8, H. d. V.). Dabei sind Handlungssysteme ein Unterfall von Systemen. Unter einem System versteht Luhmann „jedes Wirklich-Seiende, das sich, teilweise auf Grund der eigenen Ordnung, teilweise auf Grund von Umweltbedingungen, in einer äußerst komplexen, veränderlichen, im ganzen nicht beherrschbaren Umwelt identisch hält“ (1973: 7). Dies hört sich weit komplizierter an, als es ist: Die Systemtheorie wählt schlicht eine besondere Perspektive auf menschliches Handeln bzw. das Handeln anderer sozialer Einheiten. Die Besonderheit besteht darin, dass durch das Begreifen der Akteure als Handlungssysteme, die in einer komplexen Umwelt handeln, der Fokus der Analyse auf die Strategien gerichtet werden kann, die die Akteure anwenden, um in der komplexen Umwelt handlungsfähig zu bleiben. Die Systemtheorie ermöglicht es, die Beziehungen zwischen einem System und seiner Umwelt systematisch zu problematisieren. Die Kernherausforderung jedes Systems besteht darin, die hohe äußere „Weltkomplexität“ (Luhmann 1973: 176) so zu bewältigen, dass „Erleben und Handeln“ (Luhmann 1973: 176) überhaupt möglich werden. Dies geschieht durch die – in der Definition enthaltene – Ziehung von Grenzen zwischen System und Umwelt: Indem sich ein System von seiner Umwelt abgrenzt, d. h. diejenigen Bereiche eingrenzt bzw. als relevant markiert, die für sein Überleben (im Sinne von der Erhaltung seiner Identität) bedeutsam sind, entstehen Bereiche unterschiedlicher Komplexität: „Im Vergleich zur Welt schließt ein System für sich selbst mehr Möglichkeiten aus, reduziert Komplexität und bildet dadurch eine höhere Ordnung mit weniger Möglichkeiten, an der sich das Erleben und Handeln besser orientieren kann“ (Luhmann 1973: 176). Kurz: es entsteht ein „Gefälle der Komplexität“ vom System zu seiner Umwelt (Luhmann 1973: 176). Der Zweck einer Handlung verliert in der Systemtheorie seine Stellung als Teil der Handlungsstruktur und erscheint als Instrument des Systems, um in einer komplexen und veränderlichen Umwelt zurechtzukommen. Die Zweckorientierung „erscheint dann als eine besondere Art der Systemrationalisierung neben anderen“ (Luhmann 1973: 11, H. d. V.). In anderen Worten: Rationalität
2.4 Clausewitz’ Theorie als Handlungstheorie – Parallelen zur Systemtheorie
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in der Systemtheorie „ist zu allererst Reduktion von Komplexität“ (Luhmann 1973: 14, H. d. V.). „Der Begriff des Rationalen wäre dann aus der einfachen, zweckgerichteten Handlungsrationalität umzudenken in eine komplexere, umfassende Systemrationalität“ (Luhmann 1973: 15, H. d. V.). Folglich untersucht die Systemtheorie der Handlung die „Funktion“ (Luhmann 1973: 16) von Zwecken als Mittel zur Reduktion von Komplexität. Dies hat diverse Vorteile, von denen hier zunächst nur zwei genannt seien: Konnte Rationalität im Rahmen der Konzeption der Einzelhandlung nur „rationale Wahl ... von Mitteln zu einem Zweck sein“ (Luhmann 1973: 11), so erlaubt das Konzept der Systemrationalität erstens die Untersuchung der Funktion von unterschiedlichen Zwecken – der Zweck wird zur Variable (Luhmann 1973: 11). Zweitens erscheint aus systemtheoretischer Sicht der Zweck nur als ein – wenn auch zentrales – Instrument unter mehreren, welches die Funktion der Reduktion von Komplexität erfüllt; möglich wird eine vergleichende Untersuchung mit anderen Instrumenten (Luhmann 1973: 11). Clausewitz schlägt im Rahmen seiner Kriegstheorie einen ähnlichen Weg ein. In seinen oben (vgl. Abschnitt 2.2) geschilderten Reflexionen über die Möglichkeit einer Theorie der Kriegführung kommt er zu dem zentralen Schluss, dass eine solche Theorie insbesondere die Funktion erfüllen müsse, die richtige „Vereinfachung des Wissens“ (1980: 295) zu ermöglichen; „sie soll die Verhältnisse der Dinge untereinander zeigen, das Wichtige von dem Unwichtigen sondern“ (1980: 951) – in Luhmanns Terminologie übertragen eine „Reduktion von Komplexität“ (1973: 14) des Wissens leisten. Clausewitz kritisiert an den älteren Ansätzen zu einer Theorie der Kriegführung, dass diese zu viele Größen ausschlössen, um noch sinnvolle Anleitung zum Handeln sein zu können. Diese Ansätze leisten zwar eine Reduktion von Komplexität des Wissens, jedoch führt diese über das Ziel hinaus. Eine sinnvolle Theorie der Kriegführung muss mehr Komplexität aufnehmen können, darf zumindest von den psychischen Faktoren, den Dynamiken der Wechselwirkung sowie dem ‚Nebel des Krieges’ nicht abstrahieren. Neben dem zentralen Gebrauch des Zweck/Mittel-Schemas entwickelt Clausewitz weitere Instrumente zur Reduktion von Komplexität: Die analytische Aufteilung der Kriegshandlung in Taktik und Strategie schafft unterscheidbare, geschlossene Bereiche unterschiedlich hoher Komplexität. Die scharfe begriffliche Trennung von Kriegsvorbereitung und Kriegführung entschlackt die Theorie der letzteren von einem enormen, hochkomplexen Wissenskorpus. Von allem diesem Wissen dürfe eine Theorie der Kriegführung absehen – und gewinne dadurch. Die Theorie der Strategie darf von vielen für die Taktik relevanten Variablen abstrahieren – und umgekehrt. Das Ausblenden der psychischen Faktoren, der Dynamik der Wechselwirkung sowie der inhärenten Informationsprobleme im Krieg stelle
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2 Methodologie und Methode
jedoch eine zu starke Reduktion des Wissens dar, so dass dieses keine solide Handlungsgrundlage in der Strategie mehr bildet. In gleicher Weise wie die Systemtheorie von Luhmann bezieht Clausewitz die Eigenschaften des Handelnden in seine Handlungstheorie ein. Er problematisiert die Wahrnehmungs- und Denkvorgänge des militärischen Genies (Clausewitz 1980: 231-252). Damit seine Theorie dem Genie gerecht werden könne, muss sie sich an dessen Denkvorgängen orientieren. Der Feldherr – als psychisches „Handlungssystem“ – muss die Probleme der inhärenten enormen Komplexität seiner Umwelt (des Krieges) in den Griff bekommen. So meint Clausewitz den erlernbaren Teil der Fähigkeiten des Genies „bestimmt zu haben“ (1980: 297), der nämlich darin bestehe, dass seine „Vorstellungen ... auf die Dinge gerichtet sein sollen, mit denen er im Kriege unmittelbar zu tun hat“ (1980: 297). Analog zur Systemtheorie erfüllen sämtliche theoretische Konzepte, die Clausewitz in seiner Kriegstheorie entwickelt, eine Funktion. Sie sollen der richtigen Reduktion von Komplexität für den Handelnden dienen, so dass dieser eine überschaubare Entscheidungsgrundlage erhält. Wie sehr Clausewitz’ Kriegstheorie sich der Systemtheorie nähert, wird deutlich in der These, dass bereits in der Ausbildung eines künftigen Befehlshabers, dieser nicht mit zu viel (reduzierbarem) Wissen überfrachtet werden dürfe, da er sonst die Fähigkeit verlöre, Wissen richtig zu reduzieren, um zu entscheiden (Clausewitz 1980: 296). Es wird also das komplexe Verhältnis zwischen Umwelt, System und Reduktionsleistung des Systems hier analysiert. Rationalität bzw. Rationalisierung besteht für Clausewitz also ebenfalls nicht ‚einfach’ in der rationalen Wahl von Mitteln zu einem Zweck. Rationalität liegt bei ihm in der Wahl des richtigen Modells der Umwelt, welches gerade genug Komplexität von dieser Umwelt zu absorbieren in der Lage ist, so dass diese auf ein überblickbares Maß reduziert wird – und das Handlungssystem seine Entscheidungsfähigkeit erhält. Dies erklärt, dass Clausewitz in seiner Theorie der Taktik bzw. der Strategie unterschiedliche Zwecke nicht nur zulässt, sondern fordert. Der hier eingeschlagene Weg, Clausewitz’ Konzepte mit denen der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie in Kontakt zu bringen, soll im Folgenden weiter gegangen werden. 2.5 Zwecke und Mittel in der klassischen Handlungstheorie Doch welche analytischen Vorteile ergeben sich, wenn Luhmann den Zweckbegriff aus der klassischen Handlungstheorie in seine Systemtheorie überträgt? Um diese Frage beantworten zu können, muss man zunächst noch einmal einen Schritt zurückgehen und sich die Bedeutung des Zweckbegriffs in der klassi-
2.5 Zwecke und Mittel in der klassischen Handlungstheorie
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schen Handlungstheorie (vgl. Weber 1904: 25-26) genauer vergegenwärtigen. Seit der Neuzeit gilt der Zweck als „Vorstellung einer wegen ihres Wertes geschätzten Wirkung des Handelns“ (Luhmann 1973: 18). Diese Abwendung von der älteren, teleologischen Auslegung des Handelns, in dem der Zweck noch als Wesen der Handlung erscheint, hat bedeutende analytische Vorteile. Zunächst einmal erlaubt das neuzeitliche Zweck/Mittel-Denken eine „differenziertere Betrachtung des Handelns: Zwecke und Mittel bzw. Entscheidung, Handlung und Wirkungen werden als verschiedenartige Stationen eines Geschehens sichtbar, die nicht mehr invariant und notwendig verbunden sind, sondern ihr eigenes Schicksal haben können“ (Luhmann 1973: 19-20). Diese Auslegung des Handelns hat zwei Aspekte, die getrennt analysiert werden können, jedoch faktisch zusammenhängen: Zum einen wird das Handeln kausal, „also als Differenz von Ursache und Wirkung“ ausgelegt (Luhmann 1973: 23). Zum anderen werden nur „bestimmte (aber nicht alle) Wirkungen des ursächlichen Handelns als ‚Zweck’, dieses selbst dagegen als ‚Mittel’ [ausgezeichnet]“ (Luhmann 1973: 23). Den ersten dieser beiden Aspekte bezeichnet Luhmann als „Kausalschema“; in ihm „wird die Welt als Unendlichkeit möglicher Beziehungen von Ursachen und Wirkungen definiert, die ‚an sich’ wertneutral sind, aber durch Bewertung eine Relevanzstruktur erhalten können“ (1973: 25). Den zweiten Aspekt nennt er „Wertdenken“. In diesem „wird eine regulative Ordnung von Gesichtspunkten des Vorziehens postuliert, die ‚an sich’ unabhängig von ihrer kausalen Verwirklichung ‚gilt’, die aber auf Wirkungen projiziert werden kann, indem sie Regeln enthält, die angeben, welche Wirkungen im Einzelfall zu bevorzugen sind (und auf welche demgemäß zu verzichten ist)“ (Luhmann 1973: 25). Diese beiden Aspekte des Handlungsgeschehens sind ineinander verzahnt, sie weisen „Interdependenz“ (Luhmann 1973: 25) auf und können – und sollen im Folgenden – jedoch getrennt analysiert werden. Im „reinen“ Kausalschema wird das Handeln schlicht ausgelegt als „Bewirken einer Wirkung“ (Luhmann 1973: 25). Das Kausalschema ist ein „Denkschema“, welches „die Existenz von Alternativen in zwei Richtungen postuliert: Es gibt immer andere Ursachen, die eine bestimmte Wirkung ebenfalls bewirken können; und es gibt immer andere Wirkungen, die eine bestimmte Ursache ebenfalls bewirken könnte – wenn nämlich Wirkung bzw. Ursache in einen anderen Kausalkontext hineinversetzt würden“ (Luhmann 1973: 26). Aus dieser Perspektive erscheint das klassische Kausaldenken, bei dem es um die Suche nach „invarianten Korrelationen zwischen je einer Ursache und je einer Wirkung“ (Luhmann 1973: 27) geht, in einem neuen Licht. Es stellt eine „Abstraktion [dar], die eine bestimmte Ordnungsfunktion erfüllt“ (Luhmann 1973: 26). Diese ist unerlässlich und sinnvoll „als Isolierung eines Einzelfaktors“ (Luhmann 1973: 27,
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H. i. O.).15 Sie darf jedoch nicht auf das Kausalschema des Handelns übertragen werden, das ansonsten seinen „eigentümlichen heuristischen Sinn ...“ verliert, nämlich seine „Eignung als Schema der Entdeckung von Alternativen“ (Luhmann 1973: 27). Für Luhmann stellen Kausalgesetze einen „äußersten Grenzfall ...“ dar, „in dem es weder auf Seiten der Ursachen noch auf Seiten der Wirkungen Austauschmöglichkeiten gibt und in dem die Orientierungsfunktion der Kausalbeziehung daher versagt“ (1973: 27). Für die „Handlungswissenschaften“ sei die „Funktion des Kausalschemas“ eine andere: „Sie liegt nicht in der Erkenntnis einer unabänderlichen Folge von Kausalfaktoren, die völlig uninteressant, weil unbeeinflußbar wäre; sondern gerade umgekehrt in der Erkenntnis einer bestimmt strukturierten Abänderungsfähigkeit solcher Ursache-Wirkung Beziehungen, die stets nur möglich, nie aber notwendig sind“ (Luhmann 1973: 27). Kurz: „Die Kausalauslegung des Handelns ist mithin ein heuristisches Denkschema“ (Luhmann 1973: 29, H. d. V.). Die Kausalauslegung des Handelns, ermöglicht, „das Geschehen [zu] zerlegen und es von innen heraus durch Variation einzelner Komponenten im Hinblick auf spezifische Konstanten [zu] modifizieren“ (Luhmann 1973: 28). Seine Selektionsleistung erfüllt dieses heuristische Denkschema also nur dann, wenn man in der Handlungsanalyse jeweils eine Seite – Ursache oder Wirkung – konstant hält, während man die andere variiert; ansonsten entstünde ein „unendliche[r] Regreß“ (Luhmann 1973: 30). So entsteht ein Schema der Entdeckung „funktional äquivalenter Möglichkeiten“ (Luhmann 1973: 29) – und zwar sowohl auf Seiten der Ursachen als auf Seiten der Wirkungen: „Die Kausalkategorie sieht also vor, daß alles geändert werden kann, aber nicht alles auf einmal“ (Luhmann 1973: 30). Doch das neuzeitliche Zweck/Mittel-Denken hat neben der Auffassung des Handelns als Kausalbeziehung noch einen zweiten, wichtigen Aspekt: es impliziert eine Wertentscheidung des Handelnden. Zwecke sind eben nicht nur zu bewirkende Wirkungen, sondern gleichzeitig aufgrund ihres Wertes geschätzte zu bewirkende Wirkungen. Auf das Handeln bezogen sind Werte zunächst einmal „Erwartungen, die aber in bestimmter Weise interpretiert, generalisiert und abstrahiert werden und dadurch in der Lage sind, den Handlungshorizont für rationale Problemlösungen zu strukturieren“ (Luhmann 1973: 36). Der Wertbegriff ist nur im Zusammenhang mit der neuzeitlichen Kausalauslegung des Handelns zu verstehen und bezieht sich auf „Wirkungen des Handelns, indem er spezifische Gesichtspunkte der Schätzung (praktisch also der Bevorzugung) solcher Wirkungen bezeichnet“ (Luhmann 1973: 36). Doch da jedes konkrete 15
Diese Einschätzung deckt sich mit der von Clausewitz: Auch für ihn besteht der Wert kausalwissenschaftlicher Ansätze darin, „einen Faktor seinen Verhältnissen nach kennenzulernen“ (1980: 282; vgl. auch oben, Abschnitt 2.1).
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Handeln mit einer „komplexen Wertsituation rechnen [muss], da es in seinen Folgen die verschiedenartigsten Werte und Unwerte berührt“ (Luhmann 1973: 36-37), genügt das Vorhandensein von Werten nicht, um rationale Entscheidungen treffen zu können. Benötigt werden zusätzliche „Entscheidungshilfen“, die „Informationen über die Entscheidungssituation verdichten und dadurch eine Entscheidung ermöglichen“ (Luhmann 1973: 37). Das Handeln kann entweder an einer festgelegten Wertordnung bzw. Werthierarchie ausgerichtet werden – oder sich eben des Zweck/Mittel-Schemas bedienen. Letzteres postuliert nicht nur eine Kausalbeziehung, eine Beziehung von Ursache und Wirkung, sondern beschreibt eine „Wertrelation unter den Wirkungen des Handelns“ (Luhmann 1973: 44, H. i. O.). Durch die Zwecksetzung wird eine bestimmte Wirkung oder ein Komplex von Wirkungen festgelegt, die das Handeln haben soll. Damit wird eine Wertaussage getroffen, nämlich diejenige, dass sämtliche andere Wirkungen, die nun nicht durch das Handeln erreicht werden können, außer Acht gelassen werden können bzw. nachrangig sind. Spiegelbildlich dient die Mittelanalyse dazu, diejenigen Ursachen zu ermitteln, die geeignet sind, die gewünschte Wirkung zu erzielen. Die Mittelanalyse problematisiert zwar durchaus die Nebenfolgen der jeweiligen Ursachen, doch – analog zur Zwecksetzung – werden diese Nebenfolgen für das konkrete Handeln als unerheblich betrachtet, insofern durch die Ursachen der gewünschte Effekt erreicht wird: ‚Der Zweck heiligt die Mittel’. Nur wenn mehrere Mittel zur Verfügung stehen, die gleichermaßen geeignet sind, den Zweck zu realisieren, können diese nach dem Wert ihrer Nebenwirkungen sortiert werden (Luhmann 1973: 199). Gleichwohl erfolgen in der konkreten Anwendung des Zweck/Mittel-Schemas stets die getrennten Schritte der Eignungsanalyse der Mittel sowie der Wertanalyse der Folgen der Mittel (Luhmann 1973: 199, Fn. 48). Stellen sich die Nebenfolgen aller möglichen Mittel als unerträglich heraus, so kann dies zur Korrektur der Zwecksetzung führen (Luhmann 1973: 45). Das Verfahren der Zwecksetzung und Zuordnung von Mitteln bedeutet „stets eine Verengung des Werthorizontes, eine partielle Neutralisierung der Wertimplikationen des Handelns ...“ (Luhmann 1973: 46). Das Zweck/MittelSchema ist also ein hoch flexibles „heuristisches Schema der Handlungsanalyse, das zur Entdeckung von Alternativen dient“ (Luhmann 1973: 49). Es dient zur Markierung eines bestimmten relevanten Bereichs der Handlungsstruktur, um entscheidungsfähig zu werden. Die neutralisierten Wertimplikationen werden nicht verneint, es geht vielmehr um eine vorübergehende „Ausklammerung“ (Luhmann 1973: 47) dieser Implikationen. Das Schema dient dazu, sie vorübergehend „abzudunkeln“ (Luhmann 1973: 48) – so dass eine überschaubare Entscheidungssituation entsteht. Während das Zweck/Mittel-Schema einen – wie sich unten (vgl. unten, Abschnitt 2.7.1) zeigen wird, zwar begrenzten – „elasti-
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schen Opportunismus“ (Luhmann 1973: 40) der Wertverwirklichung zulässt, der viele Vorteile verspricht, ist das funktional äquivalente Verfahren der Handlungsanalyse anhand einer feststehenden transitiven Wertordnung zu unflexibel (vgl. zu diesem Begriff unten, S. 136). Denn „Wertrangbeziehungen kann man ... nicht aus dem Kausalkontext der Wirklichkeit herauslösen, da Veränderungen der Wirklichkeit die Dringlichkeit der Bedürfnisse und damit die Dringlichkeitsordnung der Werte ändern“ (Luhmann 1973: 40). Genau dies geschieht jedoch, wenn sich das Handeln an einer feststehenden Wertordnung orientieren soll. Nach dieser Analyse ist nun eine vollständige Explikation des Zweckbegriffs möglich: Dieser hat eine ganz bestimmte Funktion; und zwar liegt diese in seiner „vermittelnden Doppelstellung im Kausalkontext und im Wertkontext“ (Luhmann 1973: 49-50, H. i. O.). Konkreter heißt dies in Luhmanns Worten: Ein begrenztes Feld vergleichbarer möglicher Ursachen formiert sich dadurch, daß es unter dem Gesichtspunkt einer durch Werte ausgezeichneten Wirkung (Zweck) zum Bereich funktional äquivalenter Mittel wird. Und die Komplexität der Wertordnung, die nie auf einmal ganz realisiert werden kann, wird dadurch aufgelöst, daß die Werte einzeln auf spezifische Wirkungen bezogen werden, die die Realisierung anderer wertvoller Wirkungen zwar im Augenblick, nicht aber für andere Zeitpunkte ausschließen. Die reduzierte Kausalstruktur ermöglicht eine opportunistische Wertverwirklichung im Nacheinander der Zeit (1973: 50).
Indem Luhmann dem neuzeitlichen Zweck/Mittel-Denken über das Handeln durch seine Analyse auf den Grund geht, wird erkennbar, dass sich dieses Denken problemlos in eine Systemtheorie des Handelns einfügen lässt – wenn eine solche Theorie nicht gar schon durch das Zweck/Mittel-Schema an sich impliziert ist. Denn: „Wenn das Handeln als Kausalvorgang ausgelegt wird, muß das Entscheiden begriffen werden als Reduktion einer Unendlichkeit von Möglichkeiten auf eine einzige Handlung bzw. Handlungsfolge“ (Luhmann 1973: 35). Zwecke können also begriffen werden als „Strategien der Reduktion von Komplexität und Veränderlichkeit“ (Luhmann 1973: 53), die Handlungssysteme ergreifen müssen, wollen sie in ihrer Umwelt überleben. Und: „Auf dieses Grundproblem der Reduktion von Komplexität und Veränderlichkeit beziehen sich letztlich alle Systemprobleme und alle Leistungen, die das System zu seiner Erhaltung benötigt“ (Luhmann 1973: 179).
2.6 Zwecke und Mittel in der Systemtheorie
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2.6 Zwecke und Mittel in der Systemtheorie Nachdem nunmehr der Zweckbegriff aus Sicht der klassischen Handlungstheorie geklärt ist, kann der Frage nachgegangen werden, welche besondere Funktionalität er aufweist „im Unterschied zu anderen Symbolen, Handlungen, Einrichtungen der Systemerhaltung“ (Luhmann 1973: 180). Mit anderen Worten: Im Folgenden werden die Vorteile herausgearbeitet, die man gewinnt, „transponiert“ (Luhmann 1973: 193) man den Zweckbegriff in die Systemtheorie. Luhmann unterscheidet fünf Grundstrategien, die soziale Systeme verfolgen können, um Umweltkomplexität zu reduzieren: (a) „Grundlegend vereinfacht sich das System seine Umweltlage dadurch, daß es die objektive Situation durch eine subjektive ersetzt, das heißt sein Handeln nicht unmittelbar durch die Wirklichkeit bestimmen läßt, sondern es nach seiner Vorstellung von der Wirklichkeit ausrichtet“ (1973: 182, H. i. O.). Ein soziales System muss also, um in einer komplexen und veränderlichen Umwelt bestehen zu können, seinen Blick künstlich verengen auf diejenigen Umweltbereiche, die es für relevant hält, damit es seine Ressourcen auf die so markierten Bereiche konzentrieren kann. Es geht also um eine Form der Orientierung. (b) Die zweite Grundstrategie sozialer Systeme besteht darin, über die eben beschriebene Subjektivierung ihrer Umwelt einen Konsens zu erreichen und zu institutionalisieren: „Die Systemumwelt lässt sich in gewissem Maße dadurch vereinfachen und immobilisieren, daß bestimmte Formen der Erlebnisverarbeitung (Wahrnehmungsgewohnheiten, Wirklichkeitsdeutungen, Werte) institutionalisiert werden“ (Luhmann 1973: 183, H. i. O.). (c) Drittens kann sich ein System der „Strategie der Umweltdifferenzierung“ (Luhmann 1973: 184, H. i. O.) bedienen: „Das System trifft mit Hilfe seiner Umweltvorstellung Unterscheidungen. Es bildet zu jeweils verschiedenen Umweltausschnitten je besondere Grenzen, stabilisiert an diesen Grenzen je besondere Beziehungen und gründet seine Autonomie und seine Fähigkeit zur Indifferenz gegenüber Umweltveränderungen auf diese Unterschiedlichkeit“ (Luhmann 1973: 184). Bildlich ausgedrückt parzelliert das System seine – für sich als relevant erklärte – Umwelt und kann für den Umgang mit den unterschiedlichen Parzellen unterschiedliche Instrumente und Methoden einsetzen. (d) Spiegelbildlich zur Umweltdifferenzierung kann ein System durch seine „Innendifferenzierung“ (Luhmann 1973: 185, H. i. O.) sein Grundproblem der Reduktion von Umweltkomplexität verringern, in dem es dieses gewissermaßen aus der Umwelt in seine Innenwelt verweist. Dabei kann das System entweder seine Struktur entsprechend anpassen („Systemdifferenzierung“, Luhmann 1973: 185) oder seinen Prozess („Prozessdifferenzierung“, Luhmann 1973: 185). Die Strategie der Innendifferenzierung hat bedeutende Vorteile: Indem Systemprobleme in Teilprobleme aufgespalten werden und diese Teilprobleme be-
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stimmten – mit einer gewissen Autonomie ausgestatteten – Systemteilen zugewiesen werden, können diese ihre Ressourcen auf das Teilproblem konzentrieren. Jedes Teil leistet eine gewisse Reduktionsleistung von der – in Prozess bzw. Struktur – nachgeordnete Teile ihrerseits profitieren können: „Die Einteilung eines Systems in Untersysteme (strukturelle Differenzierung) vereinfacht das Handeln im System an jeder Stelle und auf jeder Ebene der Betrachtung“ (Luhmann 1973: 270). Außerdem erhält das System auf diese Weise Flexibilität der Anpassung und eine gewisse Krisenfestigkeit, da Lernprozesse bzw. Störungen nicht notwendigerweise das Gesamtsystem betreffen müssen, sondern nur Einzelteile. Insgesamt werden Systeme durch die Strategie der Innendifferenzierung in die Lage versetzt, „externe, das heißt unbeherrschbare, in interne, also beherrschbare Komplexität umzuwandeln und so abzuarbeiten“ (Luhmann 1973: 186). Damit dies gelingt, muss die Komplexität des Systems auf die Komplexität seiner Umwelt „eingestellt“ sein (Luhmann 1973: 186). (e) Die fünfte Strategie stellt gewissermaßen das Gegenteil der beiden unter (c) und (d) genannten Differenzierungsstrategien dar: sie besteht „[i]m Ausmaß an Unbestimmtheit der Systemstruktur, das ein System sich leisten kann, ohne sein Selektionspotential zu verlieren ...“ (Luhmann 1973: 186, H. i. O.). Ein Maß an Unbestimmtheit seiner Struktur erlaubt einem System, „möglichst viel Umweltkomplexität und veränderlichkeit ohne Strukturänderung absorbieren zu können“ (Luhmann 1973: 186). Die hier nur knapp geschilderten Grundstrategien von sozialen Systemen zur Reduktion der Komplexität der Umwelt, in der sie bestehen müssen, sind zwar „funktional äquivalent“ (Luhmann 1973: 187) und können daher sinnvoll in Kombination miteinander verfolgt werden, gleichzeitig stehen sie jedoch in einem Spannungsverhältnis zueinander, da sie sich teilweise wechselseitig ausschließen. Und genau hier liegt der „Schlüssel zum Verständnis der Zweckfunktion“ (Luhmann 1973: 188) aus systemtheoretischer Perspektive: „Denn für die Zwecksetzung ist es bezeichnend, daß sie die Durchführung aller fünf Grundstrategien zugleich ermöglicht“ (Luhmann 1973: 188, H. d. V.). (1) Zunächst einmal sind Zwecke „subjektive Vorstellungen künftiger Wirkungen, und zwar subjektiv nicht nur als Erwartung eines faktischen Verlaufs, sondern auch als Wertschätzung, die über den lohnenden Einsatz systemeigener Kräfte bestimmt“ (Luhmann 1973: 188). (2) Zwecke können zweitens „institutionalisiert sein, also in der Umwelt Anerkennung und Unterstützung auch durch die nicht unmittelbar Betroffenen finden“ (Luhmann 1973: 188). (3) Drittens können Zwecke so definiert werden, dass sie „sich in eine Umweltdifferenzierung einfügen“ (Luhmann 1973: 188). Dann betreffen sie nur noch einen Ausschnitt der Umwelt „sei es den, der sie anerkennt und unterstützt, sei es einen anderen, dem sie als Wirkung aufoktroyiert werden“ (Luhmann 1973:
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188). (4) Viertens zeigt allein das Gewicht, das der Zweckbegriff in der klassischen Organisationslehre hat, dass er im höchsten Maße als „Prinzip der internen Differenzierung“ (Luhmann 1973: 188) dienen kann. (5) Schließlich sind Zwecke im „Ausmaß ihrer Bestimmtheit variabel, können in ihrer Detailliertheit von nicht unmittelbar anwendungsfähigen allgemeinen Glücksvorstellungen bis zu präzise abgesteckten empirischen Wirkungen schwanken“ (Luhmann 1973: 188). Zusammengefasst „haben Zwecke also eine mehrfach vermittelte Funktion für das Problem der Absorption von Komplexität und Veränderungen in der Systemumwelt. Sie dienen dieser Funktion auf verschiedene Weise und doch einheitlich“ (Luhmann 1973: 189). Luhmann bezeichnet Zwecke daher als „koordinierende Generalisierungen“ (1973: 189, H. i. O.). In der Darstellung der klassischen Handlungstheorie wurden zwei Aspekte des Zweck/Mittel-Denkens getrennt analysiert: die Kausalauslegung und die Wertsetzung. Was geschieht, wenn diese Aspekte – ebenfalls analytisch zunächst getrennt – in die Systemtheorie transponiert werden? Zunächst einmal stellt die Kausalauslegung aus Sicht der Systemtheorie eine Schematisierung der Wirklichkeit dar, eine Strategie, die Systeme einsetzen, um in ihrer Umwelt zurechtzukommen, „die auf ihre Funktion hin untersucht werden kann“ (Luhmann 1973: 194). Luhmann weist darauf hin, dass diese Konzeption „auf den ersten Blick schockieren ...“ mag, jedoch in Einklang steht mit David Humes Einsicht, „daß Kausalgesetze sich nicht auf Erfahrung gründen lassen“ (1973: 194). All dies hat eine schwerwiegende Konsequenz: „Systeme können nicht kausal aus ihrer Umwelt heraus erklärt werden“ (Luhmann 1973: 194). Einmal weil sie „auch über interne Ursachen verfügen ...“ und zum anderen, „weil sie die Ursachen, die ihre Systemprobleme lösen, selbst nach informationellen Gesichtspunkten auswählen“ (Luhmann 1973: 194, H. d. V.). Folglich: „Die Vorstellung einer Selektion von Ursachen hebt den Begriff der Ursache als Erklärungsprinzip auf“ (Luhmann 1973: 195). Des Weiteren impliziert die Kausalauslegung des eigenen Handelns von Systemen, dass auch die Umwelt als Kausalvorgang begriffen wird. Das Kausalschema hat die Funktion, die „Komplexität der Welt abzubilden“ (Luhmann 1973: 196, H. i. O.). „Sachliche Komplexität ...“ wird erfasst als „unendliche Vielzahl von Ursachen, die kreuz und quer zusammenwirken: jede für sich mit einem bestimmten Wirkungspotential, aber schwer zu berechnen in der Vielzahl möglicher Konstellationen des Zusammenwirkens“ (Luhmann 1973: 196, H. d. V.). „Veränderlichkeit ...“ erscheint dann als „laufendes Übergehen dieser Ursachen in Wirkungen, die ihrerseits wieder zu Ursachen werden“ (Luhmann 1973: 196, H. d. V.). Kurz: Es entsteht die Vorstellung „der Welt als Kausalgefüge“, die durch die Kausalkategorie einer Rationalisierung zugänglich wird (Luhmann 1973: 196).
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Luhmann weicht mit seiner Auffassung, dass die Kausalkategorie eine Systemfunktion zur Ordnung der Umwelt darstellt, von der traditionellen Auffassung ab – auch wenn sie dieser nicht direkt widerspricht, sie lediglich in anderes Licht rückt. Üblicherweise ist das Erkenntnisinteresse auf die Entdeckung von Kausalgesetzen gerichtet, die „invariante (oder doch mit angebbarer Wahrscheinlichkeit invariante) Relationen zwischen einzelnen Ursachen und einzelnen Wirkungen“ (Luhmann 1973: 197) postulieren. Aus systemtheoretischer Sicht muss bei Kausalgesetzen jedoch vorausgesetzt werden, dass „alle Komplexität auf beiden Seiten der Kausalbeziehung, also im Ursachenbereich und im Wirkungsbereich, schon reduziert ist“ (Luhmann 1973: 197, H. i. O.). Und: „Diese Voraussetzung wird üblicherweise durch die ‚ceteris paribus’-Klausel ausgedrückt“ (Luhmann 1973: 197). Luhmann kritisiert an dieser Auffassung, dass ein guter Teil der Fähigkeit der Kausalkategorie, Komplexität aufzunehmen, durch diese Vorgehensweise ‚verschenkt’ würde, denn es können „weder die Frage der Ursachen noch die Frage der Wirkungen als prinzipiell offen“ (1973: 197) behandelt werden. Durch die systemtheoretische Perspektive wird hingegen genau dies möglich: Die Kausalkategorie eignet sich dann auch dazu, aufzuklären, „was hinter dieser ‚ceteris paribus’-Klausel steckt ... und zwar unter dem Gesichtspunkt möglicher Äquivalenzverhältnisse zwischen mehreren Ursachen oder mehreren Wirkungen“ (Luhmann 1973: 197). Indem man entweder die Seite der Ursachen oder die Seite der Wirkungen vorübergehend als invariant erklärt, ist es möglich, die Kausalkategorie als Schema zur Entdeckung von funktional äquivalenten, alternativen Ursachen bzw. Wirkungen zu nutzen – die Vorteile für eine Theorie des Handelns liegen auf der Hand. Der Nachteil gegenüber der traditionellen Auffassung besteht darin, dass man „keine eindeutige Feststellung von Ursache-Wirkung-Beziehungen erwarten“ (Luhmann 1973: 198) kann, da die äquivalenten Möglichkeiten „eben in ihrer Potentialität als äquivalent gesehen werden“ (Luhmann 1973: 197-198). Aus Luhmanns Sicht ist dies aber für „Wissenschaften vom menschlichen Handeln weniger tragisch, als man zunächst denken könnte; denn auch eindeutige Vorhersagen sind normalerweise keine allein ausreichende Grundlage menschlichen Handelns“ (1973: 198).16
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Clausewitz kommt mit Bezug auf die Kriegführung zum gleichen, negativen Urteil über den Stellenwert von „Gesetzen“ – und zwar sowohl für die Erkenntnis- als auch die Handlungstheorie: „Der Begriff des Gesetzes in Beziehung auf das Erkennen kann für die Kriegführung füglich entbehrt werden, weil die zusammengesetzten Erscheinungen des Krieges nicht so regelmäßig, und die regelmäßigen nicht so zusammengesetzt sind, um mit diesem Begriff viel weiter zu reichen als mit der einfachen Wahrheit ... Den Begriff des Gesetzes in Beziehung auf das Handeln aber kann die Theorie der Kriegführung nicht gebrauchen, weil es in ihr bei dem Wechsel und der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen keine Bestimmung gibt, die allgemein genug wäre, um den Namen eines Gesetzes zu verdienen“ (1980: 306-307, H. d. V.).
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Doch die Funktion der Kausalauslegung des Handelns erschöpft sich nicht im bloßen „Abbilden von Komplexität ...“, sondern ermöglicht ebenfalls, „der Komplexität und Veränderlichkeit der Systemumwelt eine Fassung zu geben, in der sie reduziert werden können auf entscheidbare Strukturen“ (Luhmann 1973: 198). Und hier kommt der zweite Aspekt des Zweck/Mittel-Denkens über das Handeln ins Spiel: die Wertentscheidung durch Zwecksetzung. Durch sie werden „spezifische Wirkungen nach Maßgabe von Wertegesichtspunkten als erstrebenswert ausgezeichnet ... unter Neutralisierung anderer Wertaspekte der Folgen des Handelns“ (Luhmann 1973: 198). Zwecksetzung erfüllt damit zwei Funktionen: Erstens zeichnet sie „rein kausal einen Bereich von geeigneten Mitteln und von strategischen Hindernissen als systemrelevant aus“ (Luhmann 1973: 198). Zweitens ermöglicht sie dem System, „Folgen dieser Mittel, die außerhalb des Zweckes liegen, für unerheblich oder allenfalls für in Kauf zu nehmende Kosten zu halten, die das Handeln nicht hindern“ (Luhmann 1973: 198). Der Zweck heiligt also die Mittel. Und nur wenn sich funktional äquivalente Mittel anbieten, „können weitere Folgen als zusätzliche Kriterien, als Nebenbedingungen, die möglichst auch erfüllt werden sollten, herangezogen werden“ (Luhmann 1973: 199). Wie wir oben gesehen haben, müssen Handlungssysteme dafür sorgen, in einer komplexen Umwelt „sich identisch zu erhalten“, in anderen Worten: zu überleben. Und hier kommt der Zwecksetzung eine zentrale Funktion zu: Sie gibt dem „Grundproblem der Bestandserhaltung ... eine systemintern bestreitbare Fassung“ (Luhmann 1973: 190, H. d. V.), sie ermöglicht „eine Teilverlagerung der Bestandsproblematik von außen nach innen, also in die Sphäre eigener Disposition“ (Luhmann 1973: 190). Indem die Bestandsproblematik in eine Zwecksetzung übersetzt wird, können klare Wirkungen definiert werden, die erreicht werden müssen, um diese Problematik in den Griff zu bekommen. Die geschilderte Mittelanalyse erlaubt sodann die Auswahl geeigneter Mittel in „rationalen Entscheidungsverfahren“ (Luhmann 1973: 190). Außerdem eignet sich die Zwecksetzung zur Konsensbildung, als Erfolgskriterium und als Kriterium der Kontrolle. Kurz: „Die Orientierung an Zwecken verlagert demnach die Folgeprobleme der Systemerhaltung in einen angstfreien Bereich, der rationaler Kalkulation zugänglich ist, und verdeckt damit andere Aspekte des ursprünglichen Problems“ (Luhmann 1973: 191). Die Zwecksetzung engt also die vieldimensionale Bestandsproblematik künstlich auf einen überblickbaren Bereich von Wirkungen und Mitteln ein: „Das System gewinnt auf dem Bildschirm seiner Zwecke für das tägliche Verhalten ein stark vereinfachtes Umweltbild ...“ (Luhmann 1973: 192). In dieser Stärke der Zwecksetzung liegt gleichzeitig ihre Schwäche. Denn das System muss sich ständig vergegenwärtigen, dass die Zwecksetzung eine ‚hausgemachte’ Vereinfachung der Bestandsproblematik
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darstellt, die bestimmte Aspekte dieser künstlich ‚verdeckt’. In Krisenfällen muss ein System bereit sein, „die ursprünglichere Problematik zu reaktualisieren ...“ und gegebenenfalls „seine Zwecke zu modifizieren“ (Luhmann 1973: 192). 2.7 Vertiefung der systemtheoretischen Zweck/Mittel-Theorie Aus systemtheoretischer Perspektive ergibt sich ein zentrales Dilemma: In den Ausführungen über Zwecke und Mittel im klassischen Denken über das Handeln wurde herausgestellt, dass die Variabilität der Zwecksetzung es erlaubt, im Zeitverlauf ganz unterschiedliche Werte zu verwirklichen (vgl. oben, Abschnitt 2.5). Diesem Vorteil werden Grenzen gesetzt, da „die Verwendung des Zweckprinzips zur Erfüllung von Systemfunktionen dem Opportunismus Grenzen setzt“ (Luhmann 1973: 200). Denn: „Will ein System sich über Zwecke mit seiner Umwelt verständigen, will es seine interne, arbeitsteilende Organisation auf Zwecke stützen, will es zweckmäßiges Verhalten lernen, dann muß es seine Zwecke festhalten, ihnen eine gewisse Permanenz geben können“ (Luhmann 1973: 200). Um dieses zentrale Dilemma „von Opportunismus vs. Generalisierung“ (Luhmann 1973: 201) in den Griff zu bekommen, können mehrere externe und interne Strategien angewandt werden. Extern ist ein „der Zweckspezifikation entsprechendes Maß an Umweltdifferenzierung“ (Luhmann 1973: 201) festzulegen. Intern kann das bezeichnete Problem vor allem „durch Variation des Bestimmtheitsgrades der Zwecksetzung“, durch Inkaufnahme „widerspruchsvoller Zwecke“, schließlich durch Einsatz „funktionale[r] Äquivalente“ zur Zwecksetzung gemildert werden (Luhmann 1973: 201, H. d. V.). Diese Strategien werden im Folgenden beschrieben. 2.7.1 Variable Zwecke – und permanente Zwecke? Strategien zur Bewältigung eines Dilemmas Strategie I: Umweltdifferenzierung. Die grundlegende externe Strategie aller Handlungssysteme besteht darin, die richtige Balance zwischen der Spezifikation des eigenen Zwecks und dem Maß der gegebenen Umweltdifferenzierung zu finden. Dabei geht die Systemtheorie nicht davon aus, dass die Systeme ihre Umwelt konstruieren – wie manche konstruktivistischen Ansätze annehmen –, sondern die Differenzierung der Umwelt ist „faktisch vorgegebener Sachverhalt“ (Luhmann 1973: 201). Die Systemtheorie geht davon aus, „daß die Welt schon differenziert ist, daß sie Unterschiede, Diskontinuitäten, Systembildungen aufweist“ (Luhmann 1973: 202). Jedoch kann Umweltdifferenzierung auch eine
2.7 Vertiefung der systemtheoretischen Zweck/Mittel-Theorie
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rationalisierende Systemstrategie sein: „Ein System kann sich eine äußerst komplexe Umwelt dadurch vereinfachen, daß es verschiedene Umweltteile unterscheidet und je verschieden behandelt“ (Luhmann 1973: 202). Doch nur wenn die soziale Umwelt bereits ein gewisses Maß an faktischer Differenzierung erreicht hat, „können relativ zweckspezifische Handlungssysteme gebildet werden“ (Luhmann 1973: 202). Dies liegt daran, dass Handlungssysteme sich dann – gewissermaßen arbeitsteilig – auf ganz bestimmte Leistungen einstellen und konzentrieren können; Bedürfnisse, die sie dann nicht mehr selbst befriedigen können, werden ihnen von anderen Teilen der Umwelt zur Verfügung gestellt – und umgekehrt: „Der Zweck des Systems wird dann als Output, als Leistung an einen besonderen Teil der Umwelt präzisiert“ (Luhmann 1973: 202). Der von dieser Leistung profitierende „Umweltteil ...“ oder „andere Umweltsysteme ...“ werden es „in so genereller Form vergüten, daß das leistende System dadurch die Möglichkeit erhält, seine Systemprobleme zu lösen und sich am Leben zu erhalten“ (Luhmann 1973: 202). Kurz: Ein hoher Grad an Zweckspezifikation kann nur in hoch differenzierten sozialen Systemen erreicht werden, in denen sich die Teilsysteme wechselseitig so genannte „generalisierte Medien der Problemlösung“ (Luhmann 1973: 203) zur Verfügung stellen; dies setzt eine Institutionalisierung dieser Austauschprozesse voraus (vgl. dazu ausführlich Luhmann 1973: 203-211). Zusammenfassend besteht gemäß Strategie I die Lösung des Dilemmas vom Ideal der opportunistischen Wertverwirklichung durch Zwecke und dem Systemerfordernis der Generalisierung von Zwecken darin, den Grad der Spezialisierung einer Organisation (= Grad der Engführung des Zwecks) vom gegebenen Grad der Umweltdifferenzierung abhängig zu machen. Außerdem besteht die Lösung darin, die Umwelt in unterschiedliche Bereiche zu parzellieren, also Systemgrenzen gegenüber diesen Bereichen zu stabilisieren (Luhmann 1973: 264), denen gegenüber dann wiederum unterschiedlich spezifische Zwecke formuliert werden können, was zu Strategie II überleitet. Strategie II: Variation des Bestimmtheitsgrades der Zwecksetzung (Zweckvariable). Wie oben erläutert ist die Zwecksetzung aus Sicht der Systemtheorie gewissermaßen ein kreativer Akt, den ein System intern leisten muss, „ohne sich dabei an vorgegebenen Zwecken orientieren zu können“ (Luhmann 1973: 212). Der „Spielraum“ des Zwecksetzungsprozesses hat zwei Dimensionen: zum einen können sachlich verschiedene Zwecke gewählt werden, zum anderen – und darum geht es hier vor allem – gibt es die Möglichkeit der Wahl des „Grades an Bestimmtheit der Zweckformulierung“ (Luhmann 1973: 212, H. i. O.). Aus systemtheoretischer Sicht ist der Zweck eines Systems eine Variable, deren Ausprägung sich bewegen kann zwischen den Extremen einer „spezifische[n] Wirkung mit Indifferenz gegen andere Folgen des Handelns ...“ und „einer un-
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bestimmt gelassenen Wunschvorstellung, die gänzlich offen läßt, ob und welche Wege zum Ziel führen“ (Luhmann 1973: 212). Wichtig ist jedoch, dass die Zweckformulierung nur „innerhalb einer sachlichen Zweckrichtung ... in ihrer Allgemeinheit und Vieldeutigkeit“ (Luhmann 1973: 213, H. d. V.) variiert werden kann. Diese Variabilität der Zwecksetzung ermöglicht die oben ausführlich beschriebene Multifunktionalität der Zwecksetzung für Systeme: „Nur weil das Zweckprinzip in diesem Sinne elastisch ist, kann eine Zwecksetzung als ‚subjektiv’ erlebt werden, kann sie Umweltinstitutionen und Umweltdifferenzierungen angepaßt und zugleich intern hinreichend unbestimmt und doch instruktiv und differenzierbar formuliert werden“ (Luhmann 1973: 214). Diese teils widerspruchsvollen Anforderungen können auf einen Nenner gebracht werden, indem „das Zweckprinzip eine Skala von Möglichkeiten bietet, die es erlaubt, die Zweckvariable auf der Linie von bestimmt zu unbestimmt jeweils in dem Punkte zu fixieren, der in allen Beziehungen relativ günstige Resultate verspricht“ (Luhmann 1973: 214). Doch ist die Wahl nicht völlig frei: „Die sich anbietenden Möglichkeiten hängen entscheidend von der Umweltlage des Systems und der Verfügbarkeit generalisierter Medien der Problemlösung ab“ (Luhmann 1973: 214). Während z. B. ein Wirtschaftsunternehmen, bei dem „eine äußerst differenzierte Umwelt vorausgesetzt werden kann“ (Luhmann 1973: 214) mit sehr engen Zwecksetzungen (Produkt und Spezialmarkt) arbeiten kann (Luhmann 1973: 214-216) – wenn auch „intern ... eine solche Zweckformel als Rationalisierungsrundlage freilich nicht aus[reicht]“ (Luhmann 1973: 215) –, müssen die Zwecke einer „Staatsbürokratie“ stark im Ungewissen gelassen werden aufgrund der gesamtgesellschaftlichen „äußerst komplexen, widerspruchsreichen Wertsituation“ (Luhmann 1973: 216). Die Staatsbürokratie als Ganzes „kann sich mithin eine Folgenneutralisierung, also Zweckspezifikation, prinzipiell nicht leisten“ (Luhmann 1973: 216). Ein Staat kann also nicht allein durch Zweck/Mittel-Denken gesteuert werden: Die „notwendigen Entscheidungsrichtlinien ... werden ... innerhalb des politischen Systems im weiteren Sinne, nämlich im Vorfeld machtund meinungsbildender politischer Prozesse, aufgebaut“ (Luhmann 1973: 218). Es kann also zusammenfassend festgestellt werden, dass „die Bestimmtheit der Zweckformel zugleich Grundlage der Organisation des Handelns ist und daß die Organisierbarkeit abnimmt bzw. auf eine andere Grundlage gestellt werden muß, wenn die Organisationszwecke nicht deutlich und instruktiv genug fixiert werden können“ (Luhmann 1973: 225-226, H. d. V.). Diese „andere Grundlage“ besteht – sehr allgemein ausgedrückt – darin, der Umwelt ein bestimmtes Maß an Einfluss auf die systeminternen Entscheidungsprozesse zu gestatten (Luh-
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mann 1973: 219-220, 247; vgl. die „Konditionalprogrammierung“17, unten, bei Strategie IV). Strategie III: Absichtlich widerspruchsvolle Zwecke installieren. Diese Ausführungen lassen bereits erahnen, dass gerade aus systemtheoretischer Perspektive deutlich wird, dass sich das Handeln eben häufig nicht allein an Zwecken und Mitteln orientieren kann bzw. dass Zwecke allein keine ausreichenden Entscheidungsprämissen darstellen. Eine Möglichkeit dieser Problematik zu entkommen, die allerdings immer noch innerhalb des Rahmens des Zweck/MittelDenkens steht, ist die absichtliche Installation von widerspruchsvollen Zwecken. Diese Maßnahme dient dazu, die Wertneutralisierungen, die durch eindeutige Zwecke ja vorgenommen werden, durch widerspruchsvolle, andere Zwecke wieder teilweise zu neutralisieren – und damit Entscheidungen praktisch in die Sphäre anderer Entscheidungsmethoden abzuschieben. Strategie IV: Funktionale Äquivalente zur Zwecksetzung einsetzen. Doch die systemtheoretische Perspektive erschließt auch funktionale Äquivalente, die als Alternativen zum Zweck/Mittel-Schema genutzt werden können. Die erste Alternative ist beinahe noch eine Variation dieses Schemas, nämlich der Einsatz von so genannten abstrakten Zweckprogrammen: „Man kann ... von Zweck im Sinne eines zu bewirkenden konkreten Zustandes, aber auch im Sinne eines zeitpunktlosen abstrakten Entscheidungsprogramms sprechen“ (Luhmann 1973: 239). Zwecke werden zu „Typen wiederholbarer Ereignisse abstrahiert“ (Luhmann 1973: 239, H. d. V.) und, sobald ein System einen Zweck dieses Typs verfolgen möchte, spult sich ein Programm ab, dass vorgefasste Entscheidungsprämissen enthält, die einen Möglichkeitsraum definieren, innerhalb dessen sich die heuristische Funktion des Zweck/Mittel-Schemas zur Mittelfindung entfalten kann; einen vorgefassten Mitteleinsatz enthalten Zweckprogramme hingegen nicht. Indem ein System eine Vielzahl solcher Zweckprogramme bereithält, kann es seine Entscheidungstätigkeit entlasten. Das Vorhalten dieser Programme stellt zwar eine „Komplizierung der Systemstruktur“ dar, die jedoch das Entscheiden vereinfacht: „Komplexität [wird] aus dem Entscheidungsprozeß in die Systemstruktur verlagert und schon durch die Systemstruktur absorbiert“ (Luhmann 1973: 239). Genau umgekehrt können anstelle solcher Zweckprogramme auch ad hocVerfahren in das System eingearbeitet werden: Das System muss sich dann „auf problematische Einzelentscheidungen einstellen“ (Luhmann 1973: 240). Dies setzt voraus, dass ein System statt sachlicher Entscheidungsprämissen eine Offenheit und Verständigungsbereitschaft gegenüber seiner Mitgliederumwelt 17
Der Begriff der Programmierung bzw. des Programmierens meint die Herstellung von Entscheidungsprogrammen (vgl. ausführlicher unten, S. 56).
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(Handlungssysteme bestehen aus Handlungen, Mitglieder gehören daher auch zur Umwelt des Systems, R. B.) institutionalisiert (Luhmann 1973: 240-241). Das zweite funktionale Äquivalent zur „Zwecktechnik“ ist die so genannte „konditionale Technik“ (Luhmann 1973: 242, H. d. V.). Sie stellt das genaue Spiegelbild zum Zweck/Mittel-Schema dar: Legt ein System durch Zwecksetzung bestimmte gewünschte Wirkungen fest und abstrahiert dadurch von anderen, so werden in der „konditionale[n] Programmierung“ (Luhmann 1973: 242) bestimmte Handlungsursachen festgelegt, die, sobald diese in der Umwelt des Systems registriert werden, ein Handeln auslösen, „ohne Rücksicht auf die konkrete Konstellation, in der sie jeweils mit anderen Ursachen oder möglichen Ursachen auftreten“ (Luhmann 1973: 242). Hinter beiden Techniken steht die Vorstellung der „Komplexität des Kausalschemas ...“, die besagt, dass „jedes Handeln mehrere Wirkungen hat ...“ und analog „für jede Wirkung mehrere Ursachen zusammentreffen müssen“ (Luhmann 1973: 242, H. i. O.). Genau wie die Zwecktechnik erhält die Konditionaltechnik ihre herausragende Bedeutung für das Handlungssystem dadurch, dass sie eine seltene und gelungene Kombination der fünf Grundstrategien zur Reduktion von Komplexität und Veränderlichkeit der Umwelt gleichzeitig ermöglichen (vgl. oben, S. 45-46). (1) Die Festlegung von Handlungsauslösern stellt erstens eine subjektive Leistung des Systems dar, durch die Umweltkomplexität gewissermaßen internalisiert wird (Subjektivierung). (2) Solche Festlegungen müssen zweitens innerhalb des Systems im Sinne eines Konsenses institutionalisiert werden (Institutionalisierung). (3) Drittens muss ein System seine Umwelt parzellieren, um überhaupt Auslöser aus dem ‚Rauschen’ der Komplexität ‚heraushören’ zu können; dadurch werden „die Teile des Systems auf den Verkehr mit besonderen Umweltausschnitten spezialisiert und gegeneinander [abgedichtet], so daß das System rascher geeignete anlaßspezifische Reaktionen finden, lernen und umlernen kann, ohne jeweils in all seinen Teilen involviert zu sein und alles mit allem abstimmen zu müssen“ (Luhmann 1973: 245) (Umweltdifferenzierung). (4) Die Umweltdifferenzierung hat jedoch nur Sinn, „wenn das System intern komplex genug ist und über ein entsprechendes Reaktionspotential verfügt“ (Luhmann 1973: 245) (Innendifferenzierung). (5) Schließlich können die Handlungsauslöser – wie die Zwecke – in ihrem Bestimmtheitsgrad variiert werden, und zwar im einen Extrem durch „scharfe Abstraktion ...“, im anderen durch „ein unklares Verschwimmenlassen der ‚Tatbestände’, die ein Handeln auslösen sollen“ (Luhmann 1973: 245). Durch die Einführung der Konditionalprogrammierung als genaues Spiegelbild der Zweckprogrammierung wird die Stellung der letzteren als alleiniger Ausdruck der Systemrationalität aufgehoben. Aus diesem Grund führt Luhmann ein Modell ein, das alle funktionalen Äquivalente der Zweckprogrammierung
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und sie selber unter ein begriffliches ‚Dach’ bringt, das so genannte Input/Output-Modell (1973: 248): Als Ganzes ... beschrieben, hat das Input/Output-Modell die zunächst sehr einfache Form der Vorstellung eines Kommunikationsflusses, der durch Schwellen markiert ist, die der Innen/Außen-Differenz von Systemen entsprechen. Der Kommunikationsfluß bringt an einer oder mehreren Stellen Informationen von außen in das System, dort werden sie verarbeitet, kombiniert und umgestaltet, gefiltert und verdichtet, und verlassen dann an anderen Stellen als Kommunikationen oder Entscheidungen das System“ (1973: 249-250).
Kern des Input/Output-Modells ist die Annahme, dass dieses Modell mit einer Kausalauslegung der Welt und seines eigenen Handelns arbeitet, infolgedessen „seine Umweltbeziehungen nach dem Kausalschema differenziert, also unter dem Gesichtspunkt des Unterschiedes von Wirkungen und Ursachen voneinander trennt, sie getrennt, aber mit Beziehung aufeinander, stabilisiert und seine Systemgrenzen entsprechend spezialisiert“ (Luhmann 1973: 250). Ein System hat die Wahl, „Ursachen als Anlässe und Wirkungen als Zwecke seines Handelns zu wählen“ (Luhmann 1973: 250). Diese Wahlfreiheit kann so genutzt werden, dass Ursachen und Wirkungen „wechselseitig füreinander als Gesichtspunkte der Selektion fungieren“ (Luhmann 1973: 250). An dieser Stelle lohnt erneut ein längeres Zitat: Das System sucht seine Informationen im Hinblick auf das, was es für eine bestimmte Kommunikation braucht, oder wählt seine Kommunikationen im Hinblick auf das, was es als Informationen besitzt oder erhalten kann. Im Wechsel dieser Perspektiven kann es sich von unbestimmten zu bestimmten Situationen durchmanövrieren, Komplexität absorbieren. Es kann sich auf diese Weise von dem Dominieren bestimmter Grenzen, also bestimmter Umwelten, befreien, indem es einmal der einen Grenze, dann wieder der anderen Grenze die Bestimmung der Problemstellung, die Fixierung des Auswahlgesichtspunktes überläßt und sich die Freiheit nimmt, diese Orientierung zu wechseln (Luhmann 1973: 250-251).
Hat ein System eine homogene Umwelt (= ein Umweltpartner), so kann es Input und Output lediglich zeitlich in ein Nacheinander trennen. Erst in einer differenzierten Umwelt „kann ein System Sinn darin finden, Input und Output anders als rein zeitlich, nämlich im Sinne verschiedener [sachlicher, R. B.] Systemgrenzen, zu differenzieren und seine Organisation und Programmstruktur auf diese Differenz einzurichten“ (Luhmann 1973: 251, vgl. ausführlich 251-253). Nun lassen sich die Zwecksetzung samt ihrer funktionalen Äquivalente in den gemeinsamen begrifflichen Bezugsrahmen des Input/Output-Modells einordnen. Je nach Umweltlage werden unterschiedliche Methoden der Entscheidungsfindung zum
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Einsatz kommen: Erlaubt die Umwelt keine Steuerung des Systems durch spezifische Zwecke, so kommen vieldeutige Zwecke oder widerspruchsvolle Zwecke zum Einsatz (Luhmann 1973: 253), deren Mängel wiederum „interne[r] Einrichtungen der Entscheidungsfindung, Konfliktlösung und Verständigung im Einzelfall ...“ bedürfen, die „sozusagen die Absorption von Komplexität aus der Struktur in den Prozeß“ verlagern (Luhmann 1973: 254). Erfordert die Umwelt eine stärkere Einstellung des Systems auf auslösende Ursachen, so müssen verstärkt Konditionalprogramme eingesetzt werden, „welche die Einwirkungen der Umwelt auf das System an dieser Grenze [der Input-Grenze, R. B.] abfangen und in interne Entscheidungsrichtlinien verwandeln“ (Luhmann 1973: 254; für eine grafische Darstellung des Input/Output-Modells vgl. oben, Abschnitt 4.2.1). Analog zur begrifflichen Unterordnung von Zweck- und Konditionaltechnik unter das Input/Output-Modell, ordnet Luhmann die beiden Techniken dem Programmbegriff zu, sie erscheinen als „bestimmte Typen von Entscheidungsprogrammen ..., das heißt sie werden nicht mehr ausschließlich auf die Vorstellung richtigen Handelns bezogen, sondern auf die Vorstellung eines Kommunikationsflusses, welcher der Veränderung des Informationsgehaltes von Nachrichten dient und durch Systemgrenzen geordnet ist“ (1973: 254-255). Der Programmbegriff bietet sich deswegen an, da er – im Gegensatz zu den Begriffen von Wert, Zweck und Norm – nicht „zeitindifferent ...“ ist, „sondern gerade die Ordnung einer Zeitfolge von Nachrichten meint“ (Luhmann 1973: 255). Dies eröffnet die Möglichkeit, die „Zeit als Ordnungsfaktor einzusetzen“ (Luhmann 1973: 255) und so eine zusätzliche Möglichkeit der Reduktion von Komplexität zu erschließen. Luhmann zieht hier die Parallele zu Computerprogrammen, in denen das geringe Potenzial von Maschinen, sachliche Komplexität zu verarbeiten, dadurch ausgeglichen wird, dass Probleme in eine Vielzahl kleiner Probleme zerlegt werden, die im Nacheinander der Zeit durch die Rechengeschwindigkeit des Prozessors gelöst werden können (1973: 255-256). 2.7.2 Zweckprogrammierung Doch wie können die bislang entwickelten systemtheoretischen Begriffe und Erkenntnisse praktisch eingesetzt werden, um das Handeln eines Handlungssystems zu rationalisieren? Luhmann nennt diese praktische Tätigkeit „Zweckprogrammierung“ und meint damit, dass „Zwecke und Mittel programmatische Festlegungen von Entscheidungsprämissen sind, über die im System entschieden wird und die dann, wenn und solange sie gelten, Entscheidungsprozesse strukturieren“ (1973: 257-258, H. d. V.). Dahinter steht wiederum die Vorstellung, dass Systeme die Komplexität und Veränderlichkeit ihrer Umwelt reduzieren müssen
2.7 Vertiefung der systemtheoretischen Zweck/Mittel-Theorie
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– und dass sie selbst darüber entscheiden, mit welchen Instrumenten sie dies tun wollen. In diesem Fall tun sie es durch Einsatz eines Entscheidungsprogramms, in dessen Zentrum die Begriffe von Zweck und Mittel stehen. Dieses Programm stellt eine Organisationsstruktur des Systems dar, innerhalb derer ‚tagtäglich’ unterschiedliche Entscheidungen innerhalb bestimmter Grenzen getroffen werden können. Die Entscheidungstätigkeit innerhalb der Struktur wird Prozess genannt (Luhmann 1973: 266). Erstes grundlegendes Problem der Strukturbildung in Organisationen ist das so genannte „Dilemma von Funktion und Struktur“ (Luhmann 1973: 260-266). Es besagt, dass es unmöglich ist, die gewünschten Funktionen eines Systems vollkommen widerspruchsfrei in Organisationsstrukturen zu übersetzten. Dieses Dilemma hat sich oben bereits einmal in der Unmöglichkeit gezeigt, den Opportunismus der Wertverwirklichung, den das Zweck/Mittel-Schema prinzipiell ermöglicht, ohne weiteres harmonisch in Einklang zu bringen mit dem Systembedürfnis der relativen Stabilität (Generalisierung) von Zwecken. Es konnte gezeigt werden, dass dieses Dilemma durch geschickte Modifikationen der Struktur gemildert werden kann. Gelöst werden kann es jedoch durch reine Raffinesse des Strukturdesigns nicht. Stattdessen besteht die tatsächliche Lösung des Dilemmas darin, die Leistung der Reduktion von Komplexität auf Struktur und Prozess zu verteilen. Die Reduktionsleistung der Strukturen muss also ergänzt werden durch den alltäglichen Entscheidungsprozess im System (Luhmann 1973: 266). Für die Erstellung von Zweckprogrammen wird ein weiteres Dilemma von Funktion und Struktur virulent, nämlich die „Relativität von Zweck/MittelCharakterisierungen“ (Luhmann 1973: 266-284). Diese entsteht, wenn in einem Zweckprogramm nicht nur die Mittelsuche vorgesehen wird, sondern jedes der gefundenen Mittel in einer nächsten Entscheidungsstufe wieder als Zweck aufgefasst wird, zu dem erneut Mittel gesucht werden usf. Bei solchen ‚Ketten’ von Zwecken und Mitteln hängt es vom „Standpunkt“ (Clausewitz 1980: 992, H. d. V.) des Betrachters im System ab, ob ein Kausalfaktor nun ein Zweck oder ein Mittel ist.18 18
Vgl. dazu Clausewitz: „Insofern aber dieser [von der Strategie bestimmte Gefechts-]Zweck nicht der ist, welcher unmittelbar zum Frieden führen soll, also nur ein untergeordneter, ist er auch als Mittel zu betrachten, und wir können also als Mittel in der Strategie die Gefechtserfolge oder Siege in allen ihren verschiedenen Bedeutungen betrachten“ (1980: 294, Anm. d. Verf.). Oder an anderer Stelle mit Bezug auf die historische Analyse: „Man kann also die Wirkungen einer Ursache so lange verfolgen, als Erscheinungen noch des Beobachtens wert sind, und ebenso kann man ein Mittel nicht bloß für den nächsten Zweck prüfen, sondern auch diesen Zweck selbst als Mittel für den höheren, und so an der Kette der einander untergeordneten Zwecke hinaufsteigen, bis man auf einen trifft, der keiner Prüfung bedarf, weil seine Notwendigkeit nicht zweifelhaft ist“ (Clausewitz 1980: 316).
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Neben dieser offenkundigen Relativität, entsteht in Zweck/Mittel-Ketten ein weiteres Problem. Ein Zweck/Mittel-Kalkül enthält Wertaussagen über gewünschte Wirkungen und solche Nebenwirkungen, die ignoriert werden können. In längeren Zweck/Mittel-Ketten wächst die Zahl der durch einander entstehenden Wirkungen und Nebenwirkungen ins Unermessliche, so dass festgestellt werden muss, dass solche Ketten schlicht „keine integrierte Bewertung leisten können“ (Luhmann 1973: 268). Von einem höheren Standpunkt der Zweck/Mittel-Kette aus können also die auf den folgenden Stationen vorgenommenen Wertentscheidungen nicht mehr vollständig überblickt werden. Aus systemtheoretischer Sicht erwächst aus diesen gravierenden Dilemmata ein großer Vorteil für die Organisation. Denn die relative Autonomie der einzelnen Stationen in Zweck/Mittel-Ketten ist ein hervorragendes Mittel zur Reduktion von Umweltkomplexität (Luhmann 1973: 268-269). Die Stationen erscheinen dann als Untersysteme, die je für sich eine bestimmbare Reduktionsleistung erfüllen. Vom Standpunkt des Gesamtsystems aus kommt die Reduktion zustande, da es sich nicht laufend mit allen nachgeordneten Stellen beschäftigen muss, sondern die Leistungen dieser bis auf weiteres voraussetzen kann. Vom Standpunkt des Untersystems kommt die Reduktion zustande, da das Untersystem den Rest des Systems als Umwelt wahrnimmt – jedoch als eine Umwelt höherer Ordnung, in der bereits eine Menge von Komplexität reduziert ist. Von diesem Informationsstand kann das Untersystem ausgehen, sich praktisch ‚Scheuklappen’ anlegen und lediglich mit dem arbeiten, was vor ihm liegende Stationen bereits ‚mundgerecht’ für es reduziert haben (Luhmann 1973: 270272). Damit jedoch ein gewisses Maß an Koordination auf einen gemeinsamen Systemzweck hin erreicht werden kann, bedarf es einer systemweiten Zweck/Mittel-Ordnung – die eben durch die Zweckprogrammierung festgelegt wird. Aus der Vogelperspektive des Zweckprogrammierers stellt sich die Kette als eine Aneinanderreihung von Mitteln dar, die schließlich im Systemzweck, der endlich gewünschten Wirkung, münden.19 Die Untersysteme müssen diese Bewertung für sich umdeuten, um die notwendige Autonomie zu erreichen (Luhmann 1973: 273). Das kann auf zweierlei Arten geschehen: erstens durch die gebräuchliche Technik der „Zweck/Mittel-Verschiebung“ (Luhmann 1973: 273). Sie besagt schlicht, dass das Untersystem, das ihm zur Bearbeitung zugewiesene Problem als seinen Zweck umdeutet. Das ist notwendig, da ansonsten die heuristische Leistung des Zweck/Mittel-Schemas verloren ginge. Die zweite Möglichkeit besteht in der so genannten „Zweck/Mittel-Umkehrung“ (Luhmann 1973: 274). 19
Vgl. dazu Clausewitz: „Es bleiben also an Zwecken nur diejenigen Gegenstände übrig, die als unmittelbar zum Frieden [d. h. zur angestrebten Nachkriegsordnung, R. B.] führend gedacht sind“ (1980: 294, H. i. O.).
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Dieses seltener angewandte und tiefgreifendere Verfahren setzt eine „Zweck/Mittel-Verschiebung“ voraus, geht jedoch darüber hinaus, indem das Untersystem den Zweck des Gesamtsystems sich selbst als Mittel unterordnet. Durch beide Verfahren steigen die Schwierigkeiten der Koordination des Gesamtsystems auf einen Systemzweck hin, da die Autonomie der Untersysteme steigt. Hier kommt die Zweckprogrammierung ins Spiel, die das Zusammenspiel der Untersysteme auf den Systemzweck hin festlegen muss. Sie kann jedoch aus den genannten Gründen keine allgemeinverbindliche, starre Wertordnung festlegen, sondern lediglich die „Transformationsregeln für den Prozeß der Problemverkleinerung“ (Luhmann 1973: 284). Programmaufbau: Mehrstufigkeit (d. h. zusätzliche Selektionsregeln für die Mittelwahl). Nach diesen Vorüberlegungen ist es möglich, den Ablauf des Programmaufbaus zu skizzieren. In seiner einfachsten Form legt ein Zweckprogramm eine gewünschte Wirkung fest. Das Zweck/Mittel-Schema entfaltet dann für die im System Entscheidenden und Handelnden seine eigentümliche Funktion als Heuristik zur Entdeckung von funktional äquivalenten Mitteln zur Erreichung der durch den Zweck festgelegten Wirkung. Wie oben beschrieben, lässt sich das Feld der in Frage kommenden Mittel durch Variation des Grades der Bestimmtheit der Zwecksetzung vergrößern bzw. verkleinern. Besteht die Aussicht, dass im alltäglichen Entscheidungsprozess Situationen entstehen, bei denen – auf den Zweck bezogen – vollkommen gleichwertige Mittel ‚auf den Tisch’ kommen, so kann man zusätzliche Selektionsregeln aufstellen bzw. einprogrammieren. Es kann dann im Vorhinein abstrakt bestimmt werden, dass für diesen Fall so genannte „Nebenbestimmungen“ (Luhmann 1973: 286) eine zweite Gruppe wertvoller Wirkungen definieren. Die im Zweck enthaltenen Wirkungen müssen also unbedingt erreicht werden; kommen dafür mehrere Mittel in Betracht, so grenzen die Nebenbestimmungen die Bandbreite potenzieller Mittel weiter ein (Luhmann 1973: 286). Außer „Nebenbestimmungen“ können auch „Nebenbedingungen“ (Luhmann 1973: 287) für die Mittelwahl programmiert werden, die – analog zur Konditionalprogrammierung – bestimmte wenn/dannRegeln der Mittelwahl – jedoch im Rahmen der Zweckprogrammierung – aufstellen; diese Nebenbedingungen heben gewissermaßen die Freiheit der Mittelwahl für den spezifizierten Fall auf (Luhmann 1973: 290). Programmaufbau: Mehrgliedrigkeit. Wenn es um die Lösung komplexer Probleme geht, die nur innerhalb von – auch zahlenmäßig – großen Organisationen noch zu bewältigen sind, muss der Programmaufbau Mehrgliedrigkeit aufweisen. Gemeint ist das Design der bereits erwähnten Zweck/Mittel-Ketten zur arbeitsteiligen Problemlösung (Luhmann 1973: 292). Denn: „Zweckprogramme sind ihrem Inhalt nach zunächst und vor allem formulierte Probleme“ (Luhmann 1973: 260). Der Programmplaner überlegt sich – vom Systemzweck ausgehend –
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eine geschickte Aufteilung des Problems in Ketten von Zwecken und Mitteln, wobei die Mittel selbst wieder zu Unterzwecken gemacht werden, „sehr oft auch deren Mittel noch ermittelt und in Unterzwecke transformiert usw., bis Unterzwecke erreicht sind, die so gut strukturiert sind, daß sie dem Handelnden mit einem tragbaren Problemgepäck unmittelbar als Zweck überantwortet werden können“ (Luhmann 1973: 296). Mit anderen Worten steht am Ende der Kette eine Station, in der kein Entscheidungsprozess mehr einprogrammiert werden muss, sondern an der unmittelbar gehandelt wird. Der Programmplaner entwirft gewissermaßen die Aufspaltung des Entscheidungsprozesses in Stationen, die aus Untersystemen gebildet werden. Die Outputs der Untersysteme werden „in vorgestellter Kausalität aufeinander bezogen“ (Luhmann 1973: 302). Die Bildung von Untersystemen mit eigenen Zwecken ist notwendig, da sich nur so die heuristische Qualität des Zweck/Mittel-Schemas entfalten kann (Luhmann 1973: 293, 295). In den so genannten „Transformationsregeln“ werden „die Bedingungen festgelegt und als Entscheidungsprämissen verbindlich gemacht, unter denen es verantwortet werden kann, einem Untersystem Mittel als Zwecke zu übertragen“ (Luhmann 1973: 296). Ihre Formulierung stellt die größte Herausforderung für den Programmplaner dar: Er muss dafür sorgen, dass die notwendige Autonomie der Untersysteme nicht wesentliche Systeminteressen schädigt (Luhmann 1973: 296). Die Ansatzmöglichkeiten für diese Herausforderung liegen in der „Fixierung der Unterzwecke in ihren kausalen Komponenten“ (Luhmann 1973: 296) und in den geschilderten zusätzlichen Selektionsregeln für die Mittelwahl. Die Koordination der Leistungen der Untersysteme auf den Systemzweck hin erfolgt dabei durch Entscheidungsprämissen unterschiedlicher Reichweite – sie können sich auf einzelne Arbeitsplätze, Untersysteme, ganze Systemzweige oder das Gesamtsystem beziehen (Luhmann 1973: 297). Der Entscheidungsprozess muss dabei so programmiert werden, dass vom Zweck zum letzten Mittel hin die Einzwängungen der Wahlfreiheit der Untersysteme zunehmen (Luhmann 1973: 302). Programmaufbau: zeitliche Ordnung. Aus der Perspektive der Systemtheorie bieten sich einige interessante Möglichkeiten, den Faktor Zeit zu nutzen: Dem Entscheidungsprozess eine zeitliche Ordnung einzuprogrammieren, verspricht weitere Umweltkomplexität zu absorbieren. Denn: „Die Vertagung der Befriedigung [von Systembedürfnissen, R. B.] ermöglicht die Auflösung einiger ... widerspruchsvoller Handelnsanforderungen in ein Nacheinander“ (Luhmann 1973: 304). Zwei Aspekte dieser Thematik sind bei der Programmierung zu berücksichtigen: Zum einen erlaubt die Systemperspektive die Frage, wie viel Zeit das infrage stehende System überhaupt ‚hat’ (Luhmann 1973: 305). Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Umwelt, innerhalb derer das System
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entscheiden und agieren muss. Ist diese Umwelt hochdynamisch, so muss das System jeweils flexibel und kurzfristig reagieren können. Langfristige Planungen sind dann nicht möglich. Solche stellen sich hingegen als sinnvolles Instrument zur Reduktion von Komplexität dar, wenn das System in „zeitlich plastische[n] Umwelten“ existiert (Luhmann 1973: 307). Der zweite Aspekt, der ebenfalls durch die Systemperspektive überhaupt erst sichtbar wird, liegt in der Möglichkeit begründet, die Zeitabläufe im Systeminneren analytisch getrennt von der äußeren „Weltzeit“ (Luhmann 1973: 306) zu betrachten. Diese Betrachtung erlaubt, „die Zeitprobleme beim Hintereinander- und Nebeneinanderordnen von Mitteln nach der Innen/Außen-Differenz zu unterscheiden und in Rücksicht auf diesen Unterschied zu planen“ (Luhmann 1973: 306). Die eng aufeinander abgestimmte Zeitplanung von Systemprozessen birgt jedoch die Gefahr, durch neue Umweltabhängigkeiten die „Störungsanfälligkeit“ (Luhmann 1973: 310) von Systemen zu erhöhen. Denn: „Eine Störung, eine Terminverschiebung, potenziert ihren Effekt infolge der zahlreichen Terminabhängigkeiten“ (Luhmann 1973: 310). Schließlich kann programmierte Zeitplanung den ungewünschten Nebeneffekt der „Verzerrung der Präferenzen“ haben: Das ständige Entscheiden und Handeln nach Terminzwängen drängt dann gewissermaßen die sachliche Wertordnung in den Hintergrund (Luhmann 1973: 310). Programmaufbau: Operationalisierung. „Zwecke sind Probleme, die eine mehr oder weniger bestimmte Fassung als zu erstrebende Wirkung erhalten haben“ (Luhmann 1973: 311). Die gesamte Zweckprogrammierung kann verstanden werden als eine Transformation von permanenten – damit unlösbaren – Problemen, wie z. B. dem Bestandserhaltungsproblem von Systemen, in lösbare Probleme. Dabei werden die permanenten Probleme durch Transformation in Zwecke, Unterzwecke usf. immer mehr in Richtung lösbarer Probleme ‚verschoben’, sie werden also verkleinert; dies entspricht einer Reduktion von Komplexität (Luhmann 1973: 311-312). Am Ende dieses Prozesses muss die Operationalisierung von Zwecken stehen. Sie ist definiert als „empirische Definition, genauer: Definition durch Angabe des Verhaltens, das die Wahrnehmung des Gegenstandes vermittelt“ (Luhmann 1973: 314). Die Operationalisierung des Zwecks muss erstens die Schließung des Zeithorizontes der Planung beinhalten; dieser muss „auf einen Zeitpunkt oder Zeitraum festgelegt [werden], in dem die Wirkung eintreten soll“ (Luhmann 1973: 315). Zweitens „wird durch Fixierung auf wahrnehmbare Tatsachen auch der Sachhorizont, die Unendlichkeit der Verweisung auf andere Möglichkeiten, geschlossen“ (Luhmann 1973: 315). Die Operationalisierung muss dabei so präzise formuliert werden, dass sie intersubjektiv überzeugt. „Man kann die Operationalität in ihrem funktionalen Grundgedanken demnach als verbundene Reduktion von
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zeitlicher, sachlicher und sozialer Komplexität kennzeichnen“ (Luhmann 1973: 315, H. i. O.). Programmaufbau: Kontrolle. Wie in den anderen Bereichen auch, erhält der Kontrollbegriff in der Systemperspektive eine spezielle Wendung. Die Systemtheorie geht von einer komplexen und veränderlichen Umwelt aus, in der Systeme nur bestehen können, indem sie künstliche Vorrichtungen der ‚Sinnverdichtung’, der Reduktion von Komplexität, entwickeln. Durch diese ‚Brillen’ nehmen sie fortan die Umwelt geordnet – eben nie als Ganzes – wahr. Kontrolle bedeutet aus systemtheoretischer Sicht deswegen, dass man sich der Vorläufigkeit und Künstlichkeit der ‚Filter’, durch die die Umwelt wahrgenommen wird, bewusst bleibt. Kontrolle bedeutet, dass ständig auf allen Ebenen überprüft werden muss, ob das gesamte Instrumentarium zur Reduktion von Komplexität bezogen auf die Umwelt noch richtig arbeitet (Luhmann 1973: 322-323). Entsprechend müssen Kontrollen auf verschiedenen Ebenen der Reduktion von Komplexität durchgeführt werden. Erstens muss laufend im Auge behalten werden, ob der Systemzweck der Bestandserhaltungsproblematik gerecht wird. Dies lässt sich nur anhand von Krisen aufdecken, in die das System gerät (Luhmann 1973: 326-328). Es müssen also Mechanismen eingerichtet werden, die Krisen frühzeitig erkennen und dann mit weitgehenden Vollmachten Korrekturen des Systemzwecks vornehmen können. Die zweite Ebene der Kontrolle besteht in der Überprüfung der Leistung der Untersysteme. Diese kann nicht anhand der formulierten Zwecke erfolgen, sondern es müssen Indikatoren entwickelt werden, die geeignet sind die Aggregation von Wirkungen auf höheren Ebenen des Systemprozesses zu kontrollieren (Luhmann 1973: 328-330). Schließlich muss drittens die Operationalisierung der Zwecke kontrolliert werden; dies geschieht durch „einen Vergleich der Resultate mit den programmierten Erwartungen, den Unterzwecken“ (Luhmann 1973: 330) – und entspricht daher am ehesten der konventionellen Vorstellung von Kontrolle (Luhmann 1973: 330-333). Doch unterscheidet sich die Reaktion auf festgestellte Abweichungen: Aus Systemperspektive muss diese „in erster Linie der Prüfung des Programmes selbst“ (Luhmann 1973: 331) gelten. Zusammenfassend gilt es bei der Kontrolle von Systemen, die „soziologische Optik“ (Luhmann 1973: 333) stets beizubehalten – also sich der Künstlichkeit der eigenen Reduktionen bewusst zu bleiben und diese zu prüfen. Programmaufbau: formale Organisation. Schließlich weist Luhmann darauf hin, dass die formale Organisiertheit von sozialen Systemen erhebliche Vorteile für komplexe Zweckprogrammierungen aufweist. „Als formal organisiert sollen ... soziale Systeme bezeichnet werden, welche die Anerkennung bestimmter Verhaltenserwartungen zur Bedingung der Mitgliedschaft im System machen“ (Luhmann 1973: 339). Der Hauptvorteil formaler Organisation liegt
2.8 Die handlungstheoretischen Begriffe von Clausewitz und ihre systemtheoretischen Pendants
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darin, dass diese gewissermaßen als ‚Kitt’ dienen kann, die in der Zweckprogrammierung wesentlich angelegten Spannungen, Verwerfungen, Widersprüchlichkeiten und Dysfunktionalitäten auszugleichen: „Durch Organisation ist es möglich, eine Vielzahl von Zweckperspektiven nebeneinander und ineinandergeschachtelt zu verwenden, ohne die dabei vorausgesetzten Werturteile zu integrieren: Organisation stellt nämlich sicher, daß die in den verschiedenen Zweckperspektiven getroffenen Entscheidungen einander als Prämissen dienen, so daß die Reduktion von Komplexität auch dann gelingt, wenn keine gemeinsame, transitive Wertordnung generell festgehalten werden kann“ (Luhmann 1973: 340-341, H. i. O.). 2.8 Die handlungstheoretischen Begriffe von Clausewitz und ihre systemtheoretischen Pendants Zwecke aber sind heute nur noch eine unter vielen Strategien der Reduktion von Komplexität (Luhmann 1973: 349).
Luhmann ordnet die Zweck/Mittel-Analyse in seinen systemtheoretischen Rahmen ein. Damit erscheint sie als ein Instrument von sozialen Handlungssystemen, in komplexen Umwelten entscheidungs- und handlungsfähig zu bleiben – sie ist ein Instrument zur Reduktion von Komplexität. Diese Betrachtung hat die Frage nach anderen, funktional äquivalenten Instrumenten aufgeworfen. Ein solches ist das eben ausführlich behandelte abstrakte Zweckprogramm. Es geht über die einfache Zweck/Mittel-Analyse hinaus, indem es Entscheidungsabläufe definiert, mit deren Hilfe wiederkehrende Zwecke erreicht werden können. Sowohl die Zweck/Mittel-Analyse als auch Zweckprogramme definieren „Suchprozesse nach anderen Möglichkeiten der Zweckerfüllung, Alternativen, besseren Mitteln ...“ (Luhmann 1964: 10). Die Mittelwahl wird zwar durch den Grad der „Abstraktion der Zweckformel ...“ und „durch zusätzliche Vorschriften über zulässige und unzulässige Mittel eingeengt ...“, ist „stets ... begrenzt ...“, doch „innerhalb dieser Grenzen liegt ein Entscheidungsspielraum verschiedener Entscheidungsmöglichkeiten, die alle brauchbar: das heißt, durch das Programm gedeckt sind. Die Zweckprogrammierung hat den Sinn, diese begrenzte Beweglichkeit des Systems zu eröffnen“ (Luhmann 1964: 8, H. d. V.). Ganz anders verhält es sich mit den – ebenfalls bereits dargestellten – Konditionalprogrammen, die auch „Routinen“ genannt werden. „Sie regulieren einen Entscheidungsablauf unabhängig vom Zeitpunkt durch konditionale Formulierung“ (Luhmann 1964: 8-9) – eine „Beweglichkeit“ im Entscheidungsprozess wird somit ausgeschlossen. Hinter diesem Unterschied der Programmformen
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2 Methodologie und Methode
steht die systemtheoretische Vorstellung der Welt als Kausalprozess, in dem stets eine Vielzahl von Ursachen eine Vielzahl von Wirkungen zur Folge hat. Und während ein Zweckprogramm eine bestimmte Wirkung herausstellt, die ein soziales Handlungssystem in seiner Umwelt erreichen will, und dadurch andere Wirkungen gezielt „abdunkelt“, werden bei der Konditionalprogrammierung „bestimmte Ursachen unter Indifferenz gegen andere selektiv als Handlungsauslöser ausgezeichnet ...“ (Luhmann 1973: 242): Ein Polizist hat den Verkehr an einer Kreuzung zu regeln, jedesmal wenn sich eine vorher definierte kritische Situation ergibt, wann auch immer das geschieht, und ob es sich um Möbelwagen, Radfahrer oder Hochzeitskutschen handelt, um den Studienrat, der zur Schule fährt, oder um den Chauffeur des Regierungspräsidenten, der zur Tankstelle will ... Das Programm wird auf diese Weise umweltabhängig und doch invariant definiert. Es bleibt identisch und wird gleichmäßig gehandhabt, obwohl die informierende Umwelt nicht kontrolliert und beeinflusst werden kann, obwohl sie die auslösenden Informationen unregelmäßig und in unvorhersehbarer Weise streut ... [D]as System übersetzt Unregelmäßigkeit in Regelmäßigkeit (Luhmann 1964: 9).
Es gibt Übereinstimmungen zwischen den Programmformen: Auch ein Zweckprogramm „setzt Anlässe des Tätigwerdens in der Umwelt voraus, stellt aber das System in dieser Hinsicht relativ frei“ (Luhmann 1973: 102). Auch ein Konditionalprogramm führt „zu Entscheidungen, die in der Umwelt Wirkungen bewirken, stellt aber in dieser Hinsicht das System frei – was heißt, daß das System zu seiner Rechtfertigung nicht darauf angewiesen ist, daß spezifische Umweltwirkungen erzielt, spezifische Zustände geändert oder konstant gehalten werden; es genügt, daß normgemäß entschieden worden ist“ (Luhmann 1973: 102). Außerdem können die Programmformen miteinander kombiniert werden (Luhmann 1964: 11). Es können etwa Routinen als Mittel zum Zweck gewählt werden. Eine solche Kombination bringt erhebliche Vorteile mit sich, da sie die spezifischen Vorzüge beider Programmformen nutzen kann. Dennoch müssen sie – zumindest idealtypisch – zunächst getrennt gedacht werden, denn: Es hat keinen Sinn, in Routineprogrammen nach selbständigen Zwecken zu suchen, oder dem routinemäßig Entscheidenden eine Orientierung an ‚übergeordneten Zwecken’ zu empfehlen, wie es so oft geschieht. Das hieße ihn mit widerspruchsvollen Entscheidungskriterien ausrüsten. Wenn auf Antrag unter bestimmten Voraussetzungen eine Rente zu bewilligen ist, so wäre es unnütz und verwirrend, sich dabei zusätzlich noch einen Zweck vorzustellen. Wenn der Zweck wirklich in Funktion träte, das heißt: Suchprozesse nach anderen Möglichkeiten der Zweckerfüllung, Alternativen, besseren Mitteln auslöste, würde er das Routineprogramm durcheinander bringen. Der Entscheidende käme dann auf den Gedanken, den Unterhalt des Ren-
2.8 Die handlungstheoretischen Begriffe von Clausewitz und ihre systemtheoretischen Pendants
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tenbeziehers auf andere Weise, etwa durch seine Verwandten, durch Arbeitsvermittlung etc. sicherzustellen. Und wohin käme man, wenn ein Soldat, dem eine Wenn/Dann-Weisung erteilt ist, über Zwecke nachdächte (Luhmann 1964: 10).
Clausewitz kommt – ähnlich wie Luhmann – zu dem Schluss, dass es für den Handelnden im Krieg vor allen Dingen auf die richtige „Vereinfachung des Wissens“ ankommt (1980: 295). Auch er begibt sich auf die Suche nach Instrumenten, die dem Handelnden eine Entscheidung in der komplexen Umwelt der Kriegssituation vereinfachen. Auch er bleibt nicht beim Instrument der Zweck/Mittel-Analyse stehen, sondern reflektiert über funktional äquivalente Mittel, die geeignet sein können, Entscheidungen zu strukturieren bzw. erst zu ermöglichen. Dabei kommt er zu ähnlichen Ergebnissen wie Luhmann. Es zeigt sich, dass seine Konzepte des Grundsatzes und der Regel als Zweckprogramme interpretiert werden können, seine Konzepte der Vorschrift, der Anweisung und der Methode sich hingegen den – funktional äquivalenten – Routinen zuordnen lassen (vgl. Abbildung 1, unten, S. 69). Seine Reflexion über die Frage nach dem richtigen Mischungsverhältnis der Programmformen kreist um den zentralen Begriff des „Methodismus“ und kann im gleichnamigen Kapitel in „Vom Kriege“ nachgelesen werden (Clausewitz 1980: 305-311). Sie soll im Folgenden kurz reproduziert und kommentiert werden. Clausewitz untersucht fünf Begriffe, die für ihn „die logische Hierarchie ...“ bilden „durch welche ... die Welt des Handelns beherrscht wird“ (1980: 305): Gesetz. Clausewitz unterscheidet zwischen dem erkenntnis- und handlungstheoretischen Gebrauch des Begriffs: Als ein Gegenstand der Erkenntnis ist er definiert als „das Verhältnis der Dinge und ihrer Wirkungen zueinander; als Gegenstand des Willens ist es eine Bestimmung des Handelns und dann gleichbedeutend mit Gebot und Verbot“ (1980: 305, H. d. V.). In heutiger Terminologie würde man beim Gesetz als Gegenstand der Erkenntnis von einem Kausalgesetz sprechen. Aus einem solchen strengen, durch wissenschaftliche Methoden zu ermittelnden Zusammenhang von Ursache und Wirkung, den Clausewitz „positive Lehre“ (1980: 289, H. i. O.) nennt, ließe sich dann prinzipiell eine ebenso definitive und verbindliche „Anweisung zum Handeln“ (1980: 290, H. i. O.) ableiten. Für Luhmann sind Kausalgesetze ungeeignet, das Erleben, Entscheiden und Handeln von sozialen Handlungssystemen in einer komplexen Umwelt zu strukturieren und zu ermöglichen (vgl. oben, Abschnitt 2.5). Clausewitz kommt zu einem ganz ähnlichen Schluss, wobei er zwischen dem Nutzen des Gesetzesbegriffs für Erkenntnis und Handeln unterscheidet. Erkenntnistheoretisch kann der Begriff „für die Kriegführung füglich entbehrt werden, weil die zusammengesetzten Erscheinungen des Krieges nicht regelmäßig, und die regelmäßigen
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2 Methodologie und Methode
nicht so zusammengesetzt sind, um mit diesem Begriff viel weiter zu reichen, als mit der einfachen Wahrheit“ (Clausewitz 1980: 306-307). Clausewitz findet es „preziös und pedantisch“, simple, auf der Hand liegende Zusammenhänge einer abstrakten Gesetzesformel unterzuordnen (1980: 307). „Den Begriff des Gesetzes in Beziehung auf das Handeln aber kann die Theorie der Kriegführung nicht gebrauchen, weil es in ihr bei dem Wechsel und der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen keine Bestimmung gibt, die allgemein genug wäre, um den Namen eines Gesetzes zu verdienen“ (Clausewitz 1980: 307, H. d. V.). Hier ähneln sich die Diagnosen von System- und Kriegstheorie sehr stark: „Komplexität und [zeitliche, R. B.] Veränderlichkeit“ (Luhmann 1973: 179) der Umwelt lassen Kausalgesetze viel zu starr erscheinen, um Handeln und Entscheiden anleiten zu können; zu viel Umweltkomplexität würde als bereits reduziert erscheinen, die jedoch zu berücksichtigen ist, will man erfolgreich sein (Luhmann 1973: 197). Analog sind „Wechsel und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen“ (Clausewitz 1980: 307) für die Kriegstheorie schlicht zu groß, um allgemeine, Erfolg versprechende Handlungsgesetze aufstellen zu können; würde man es dennoch tun, läge man so falsch wie die von Clausewitz kritisierten monokausalen Ansätze seiner Vorgänger (vgl. oben, Abschnitt 2.1). Grundsatz. Wie das „Gesetz“ ist der „Grundsatz ... gleichfalls ein ... Gesetz für das Handeln, aber nicht in seiner formellen definitiven Bedeutung, sondern es ist nur der Geist und der Sinn des Gesetzes, um da, wo die Mannigfaltigkeit der wirklichen Welt sich nicht unter die definitive Form eines Gesetzes fassen läßt, dem Urteil mehr Freiheit in der Anwendung zu lassen“ (Clausewitz 1980: 305).20 Der Begriff des Grundsatzes spiegelt Clausewitz’ wissenschaftstheoretische Erkenntnis wider, dass zwar einfache, verbindliche Kausalgesetze der Kriegführung nicht zu erlangen sind, gleichwohl jedoch bestimmte Regelmäßigkeiten aus der theoretischen Betrachtung hervorgehen können (vgl. oben, Abschnitt 2.2). Doch dürfen diese eben nicht als „algebraische Formel für das Schlachtfeld“ (Clausewitz 1980: 291) missverstanden werden, sondern sie müssen stets kritisch hinterfragt werden, ob sie unter den gegebenen Rahmenbedingungen Gültigkeit haben könnten. Da das eigene Urteil selbst bestimmen muss, wann ein Grundsatz nicht anzuwenden ist, kann er lediglich „Anhalt oder Leitstern für den Handelnden sein“ (Clausewitz 1980: 305). Kurz: Clausewitz’ „Grundsätze“ entsprechen den abstrakten Zweckprogrammen der Systemtheorie! Denn sie enthalten zwar vorprogrammierte Mittel zum Zweck, doch müssen diese stets vor dem Hintergrund der „Mannigfaltigkeit der wirklichen Welt“ (Clausewitz 1980: 305) einer erneuten Zweck/Mittel-Analyse unterzogen werden. 20
Vgl. die „begrenzte Beweglichkeit des Systems“, die durch Zweckprogramme eröffnet werden soll (Luhmann 1964: 8).
2.8 Die handlungstheoretischen Begriffe von Clausewitz und ihre systemtheoretischen Pendants
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Grundsätze gehören für die Theorie der Kriegführung zu den „unentbehrliche[n] Begriffe[n], insoweit sie zu positiven Lehren führt, weil in diesen die Wahrheit nur in solchen Kristallisationsformen anschießen kann“ (Clausewitz 1980: 307, H. d. V.). Und dies gelingt vor allem im Bereich der Taktik: „Die Reiterei nicht ohne Not gegen Infanterie zu gebrauchen, die noch in Ordnung ist; die Schußwaffen nur zu brauchen, sobald sie anfangen, eine sichere Wirksamkeit zu haben; im Gefecht die Kräfte soviel als möglich für das Ende aufzusparen sind taktische Grundsätze“ (Clausewitz 1980: 307). Clausewitz teilt also die Umwelt des Handelnden im Krieg in Bereiche unterschiedlicher Komplexität ein. In der weniger komplexen Umwelt des taktischen Handelns werden Grundsätze „am häufigsten vorkommen“ (1980: 307), in der komplexeren Umwelt des strategischen Handelns hingegen weniger häufig (vgl. auch oben, Abschnitt 2.2). Doch auch in der Taktik dürfen Grundsätze nicht mit Gesetzen verwechselt werden, wie Clausewitz nicht müde wird zu betonen: „Alle diese Bestimmungen lassen sich nicht absolut auf jeden Fall anwenden, aber sie müssen dem Handelnden gegenwärtig sein, um den Nutzen der in ihnen enthaltenen Wahrheit nicht zu verlieren, da wo sie gelten kann“ (1980: 307). Regel. Der Begriff der Regel wir zum einen synonym mit Grundsatz verwendet (Clausewitz 1980: 306). Zum anderen kommt dem Begriff jedoch eine eigentümliche Bedeutung zu: Er wird für „Mittel gebraucht, eine tiefer liegende Wahrheit an einem einzelnen, näher liegenden Merkmal zu erkennen, um an dieses einzelne Merkmal das auf die ganze Wahrheit gehende Gesetz des Handelns zu knüpfen“ (Clausewitz 1980: 306). Die Bedeutung des Begriffs erschließt sich am besten anhand eines Beispiels: „Wenn man aus dem ungewöhnlichen Abkochen eines feindlichen Korps auf seinen Abmarsch schließt, wenn das absichtliche Freistellen der Truppen im Gefecht auf einen Scheinangriff deutet: so wird diese Art, die Wahrheit zu erkennen, eine Regel genannt“ (Clausewitz 1980: 307). Der Begriff Regel ist also in seiner zweiten Bedeutung definiert als Methode, vom beobachtbaren Mitteleinsatz des Feindes auf seine Zwecke zu schließen. Dies gelingt nur, wenn man die Rahmenbedingungen beachtet: nur das ungewöhnliche Abkochen und das merklich absichtliche Freistellen der Truppen lässt auf die entsprechenden Zwecke des Feindes schließen. Es handelt sich bei dieser Methode um die praktische Umsetzung der Methode der historischen Kritik (vgl. ausführlich unten, Abschnitt 2.9.1) Aus diesem Grund wird Regel hier zunächst nur in der ersten Bedeutung des Begriffes als synonym des Grundsatzes aufgefasst. Vorschriften und Anweisungen. Sie „sind eine solche Bestimmung des Handelns, durch welche eine Menge kleiner, den Weg näher bezeichnende Umstände mit berührt werden, die für allgemeine Gesetze zu zahlreich und unbedeutend
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2 Methodologie und Methode
sein würden“ (Clausewitz 1980: 306). Vorschriften und Anweisungen ähneln also strukturell auf das Handeln bezogenen Methoden, die anschließend beschrieben werden, indem sie klare Wenn-/Dann-Anweisungen enthalten. Es sind die sehr spezifischen taktischen „Formations-, Übungs- und Felddienstreglements ...“, die die Theorie der Kriegführung als „gegebene Verfahrungsarten“ übernimmt und einsetzt (Clausewitz 1980: 308). Methoden und Methodismus. Dem Begriff der Methode, den er synonym mit „Verfahrungsart“ (heute: Verfahrensart, R. B.) bezeichnet, widmet Clausewitz den größten Raum in seiner Reflexion. Es ist ein „unter mehreren möglichen ausgewähltes, immer wiederkehrendes Verfahren ...“; von Methodismus spricht man, „wenn statt allgemeiner Grundsätze oder individueller Vorschriften das Handeln durch Methoden bestimmt wird“ (Clausewitz 1980: 306). Die Fälle, auf die eine Methode angewandt wird, müssen „in ihren wesentlichen Stücken als gleich vorausgesetzt werden“ (Clausewitz 1980: 306). Die Methode muss daher so strukturiert sein, dass sie für eine möglichst große Zahl und Bandbreite von Fällen funktioniert. Das Handeln nach Methoden „ist also nicht auf bestimmte einzelne Prämissen, sondern auf die Durchschnittswahrscheinlichkeit der sich einander übertragenden Fälle gegründet und läuft darauf hinaus, eine Durchschnittswahrheit aufzustellen, deren beständige gleichförmige Anwendung bald etwas von der Natur einer mechanischen Fertigkeit bekommt, die zuletzt das Rechte fast ohne Bewußtsein tut“ (Clausewitz 1980: 306, H. i. O.). An anderer Stelle definiert Clausewitz Methoden als „eine allgemeine Ausführungsart vorkommender Aufgaben“ (1980: 308). Sie müssen in der Theorie der Kriegführung berücksichtigt werden, „insofern sie nur nicht für etwas anderes ausgegeben werden als sie sind, nicht für absolute und notwendige Konstruktionen des Handelns (Systeme), sondern für die besten der allgemeinen Formen, welche an die Stelle der individuellen Entscheidung als kürzere Wege gesetzt und zur Wahl gestellt werden können“ (Clausewitz 1980: 308). Clausewitz’ Begriff der Methode entspricht dem systemtheoretischen Begriff des Konditionalprogramms bzw. der Routine. Auch die Methode beginnt mit einem Handlungsauslöser, nämlich einer „vorkommenden Aufgabe“ (Clausewitz 1980: 308), also einer Standard-Herausforderung. Wird eine solche festgestellt, löst sie – unabhängig von der spezifischen Situation – einen standardisierten Handlungsablauf aus. Auch die Methode enthält klare Anweisungen für die Ausführung. Schließlich ist diese Ausführung gleichfalls wiederkehrend und muss entsprechend eingeübt werden, so dass sie letztlich fast automatisch erfolgt. Es handelt sich nicht um einen Suchprozess nach geeigneten Mitteln, der durch ein Zweckprogramm ausgelöst und gesteuert wird. Jedoch kann die gesamte Routine Teil eines Zweckprogramms sein. Der „Feldherr“ kann zweckorientiert handeln und, „unter mehreren möglichen ...
2.8 Die handlungstheoretischen Begriffe von Clausewitz und ihre systemtheoretischen Pendants
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Verfahren“ (Clausewitz 1980: 306), diejenige Methode auswählen, die am besten geeignet ist, die gewünschte Wirkung zu erzielen. „Bei dieser zweckprogrammierten Entscheidung erscheint dann das gesamte Routineprogramm ... als ein Mittel – und das heißt, als eine Handlungsgruppe, die im Variationsbereich eines bestimmten Zweckes auch anders geregelt werden könnte. Bei der Abwägung von äquivalenten Routineprogrammen hat es seinen guten Sinn, sich an bestimmten Zweckvorstellungen zu orientieren ...“ (Luhmann 1964: 11). Andererseits kann der Feldherr auch einfach den Befehl erteilen, dass bei Eintreten eines definierten Zustandes – etwa einer Aktion des Gegners – der untergeordnete Anführer eine bestimmte Handlung auszuführen hat – das ist dann eine Methode nach Clausewitz. Abbildung 1:
Die handlungstheoretischen Begriffe bei Clausewitz und ihre Pendants in der Systemtheorie
Clausewitz Gesetz Grundsatz Regel Vorschrift/Anweisung Methode/Methodismus
Luhmann Kausalgesetz Zweckprogramm Routine
Ähnlich wie Luhmann in seinem Artikel „Lob der Routine“ (1964), beginnt Clausewitz seine Ausführungen über die Methoden mit einem Lob der Methode. Ihre häufige Anwendung in der Kriegführung sei „höchst wesentlich und unvermeidlich ...“, da „vieles Handeln auf bloße Voraussetzungen oder in völliger Ungewißheit geschieht, weil der Feind verhindert, alle Umstände kennenzulernen, die auf unsere Anordnungen Einfluß haben, oder weil nicht Zeit dazu ist, so daß, wenn man diese Umstände auch wirklich kannte, es wegen der Weitläufigkeit und zu großen Zusammensetzungen schon unmöglich sein würde, alle Anordnungen danach abzumessen, daß also unsere Einrichtungen immer auf eine gewisse Zahl von Möglichkeiten zugeschnitten sein müssen“ (Clausewitz 1980: 308). Außerdem könne man oft die zahllosen Umstände eines individuellen Falles nicht überblicken, so dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, „als sich den einen [Fall] durch die anderen übertragen zu denken und nur auf das Allgemeine und Wahrscheinliche seine Anordnungen zu bauen“ (Clausewitz 1980: 308). Darüber hinaus sind Methoden unumgänglich, da „bei der nach unten hin in beschleunigter Progression zunehmenden Zahl der Führer der wahren Einsicht und dem ausgebildeten Urteil eines jeden um so weniger überlassen werden darf, je weiter das Handeln hinuntersteigt ...“ (Clausewitz 1980: 308-309). Der Methodismus „wird ihrem Urteil ein Anhalt und zugleich ein Hindernis für aus-
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2 Methodologie und Methode
schweifende, ganz verkehrte Ansichten ... sein“ (Clausewitz 1980: 309). Schließlich wird durch „die Übung seiner stets wiederkehrenden Formen Fertigkeit, Präzision und Sicherheit in der Führung der Truppen erreicht, welche die natürliche Friktion vermindert und die Maschine leichter gehen macht“ (Clausewitz 1980: 309; vgl. zum Begriff der „Friktion“ unten, S. 101 sowie S. 164-165). Ähnlich wie in der Systemtheorie sind Methoden bzw. Routinen für Clausewitz also Instrumente, die dazu dienen, in komplexen und veränderlichen Umgebungen handlungsfähig zu bleiben. Da diese Komplexität und Veränderlichkeit den Feldherrn schlicht überfordern würde, je individuelle Entscheidungen zu treffen, ist er auf Standard-Antworten angewiesen. Doch Clausewitz geht über die Funktion von Routinen für bürokratische Abläufe hinaus. Denn die Situation im Krieg ist weitaus dynamischer und unberechenbarer als diejenige, der sich Bürokratien in der Regel gegenüber sehen. Clausewitz kombiniert die ‚klassischen Funktionen’ von Routinen mit seiner Methode des Handelns nach Wahrscheinlichkeiten, die er für so wichtig für die besondere Situation der Kriegführung hält. Demnach sind Routinen „auf die wahrscheinlichsten Fälle berechnet“ (Clausewitz 1980: 306). Sie erhalten die empirische Erfahrung aus früheren Kriegen, aus denen hervorgeht, dass etwa ein Gegner in der Regel so oder anders auf eine bestimmte Maßnahme reagieren wird. Oder dass beispielsweise die Methode x, eine Brücke bei Nacht zu bauen, in der Regel funktioniert usf. Selbstverständlich müssen auch bürokratische Routinen auf möglichst viele Fälle passen. Doch ist die Kriegssituation von noch größerer Ungewissheit und – vor allem – von einem reagierenden Gegner geprägt, der alles tut, um den Erfolg seines Gegners zu durchkreuzen. Doch Clausewitz belässt es keineswegs bei einem reinen Lob der Methode. Ganz im Gegenteil betont er – wie auch bereits mit Bezug auf Grundsätze, Regeln und Anweisungen bzw. Vorschriften – das diese „mehr in der Taktik als in der Strategie zu Hause“ sein werden. Für die weniger komplexe Umwelt des taktischen Gefechts mögen Routinen „als unentbehrlich zu betrachten“ sein (Clausewitz 1980: 310), die Strategie hingegen verlangt den individuellen Umständen angepasste Entscheidungen: „Der Krieg in seinen höchsten Bestimmungen besteht nicht aus einer unendlichen Menge kleiner Ereignisse, die in ihren Verschiedenheiten sich übertragen, und die also durch eine bessere oder schlechtere Methode besser oder schlechter beherrscht würden, sondern aus einzelnen großen, entscheidenden, die individuell behandelt sein wollen“ (Clausewitz 1980: 309). Methoden können angemessen sein, sofern sie „aus der Theorie selbst geschöpft werden“ (Clausewitz 1980: 310); jedoch dürfen sie keineswegs unreflektiert – etwa von erfolgreichen Feldherren – übernommen werden. Clausewitz gibt hier das berühmte Beispiel der „schiefen Schlachtordnung“ von Friedrich dem Großen an, die unzählige Mal kopiert worden sei –
2.9 Clausewitz über Methoden
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oft unter Umständen, die dieser Methode unangemessenen waren. Die Theorie soll hingegen durch „eine lichte und verständige Kritik verhindern“, dass Methoden bleiben, „während die Umstände sich unvermerkt ändern“ (Clausewitz 1980: 311). Zusammengefasst sind Methoden für die Kriegführung unerlässlich, insbesondere für die Taktik. In der Strategie müssen sie jedoch mit größter Vorsicht genossen werden – insbesondere auf den höchsten Ebenen der Strategie, die es mit der größten Komplexität zu tun haben. Es würde „jede Methode, wodurch Kriegs- und Feldzugspläne bestimmt und wie von einer Maschine fertig geliefert würden, unbedingt verwerflich sein“ (Clausewitz 1980: 310). 2.9 Clausewitz über Methoden Clausewitz’ methodische Überlegungen befinden sich in den Kapiteln „Kritik“ (1980: 312-334) sowie „Über Beispiele“ (1980: 335-342) im zweiten Buch „Vom Kriege“. Dort gibt er detaillierte Anweisungen für die Durchführung der Analyse historischer Kriege. Doch wieso taucht dies als Abschluss seiner wissenschaftstheoretischen Überlegungen auf, wo er doch in diesen immer wieder die Notwendigkeit der praktischen Anwendbarkeit seiner Kriegstheorie in konkreten Kriegssituationen betont hat und letztlich für eine Entscheidungstheorie plädiert (vgl. oben, Abschnitt 2.2)? Es handelt sich hierbei nur um einen scheinbaren Widerspruch. Denn für Clausewitz spielt die Übung der Streitkräfte eine wichtige Rolle, wie er in seinen Schlussbemerkungen zum ersten Buch feststellt (1980: 265-266). Übung stellt einen wichtigen Ersatz für die „Kriegsgewohnheit des Heers“ (Clausewitz 1980: 265), die wiederum als einziges „milderndes Öl“ (Clausewitz 1980: 265) für die „allgemeine Friktion“ im Krieg zur Verfügung steht (Clausewitz 1980: 265; vgl. zum Begriff der „Friktion“ unten, S. 101 sowie S. 164-165). Analog zu den hier gemeinten praktischen militärischen Übungen, stellt für ihn die Analyse historischer Kriege mit sozialwissenschaftlichen Methoden eine wichtige Art von Übung für militärische und politische Entscheidungsträger dar: „[D]enn die prüfende Kritik ist ja nichts als die Überlegung, welche dem Handeln vorhergehen soll“ (Clausewitz 1980: 331). Die kritische, theoriebasierte Analyse vergangener Kriege schult also die Entscheidungsfähigkeit in echten Kriegssituationen und zählt damit zu den geistigen Mitteln, die „diese Reibung“ (Clausewitz 1980: 265, gemeint ist die „Friktion“) mildern. Sie bringt die Theorie „dem Leben nicht nur näher, sondern sie gewöhnt auch den Verstand mehr an diese Wahrheiten durch die beständige Wiederkehr ihrer Anwendungen“ (Clausewitz 1980: 312). Entscheidend im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist jedoch, dass Clausewitz ein vollständiges methodisches
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2 Methodologie und Methode
Instrumentarium liefert, welches – wie zu zeigen sein wird – geeignet ist, empirische Analysen anzuleiten. 2.9.1 Clausewitz’ Methode der historischen Kritik Daß die Kritik sich bei der Betrachtung der Mittel oft auf die Kriegsgeschichte berufen muß, ist natürlich, denn in der Kriegskunst ist die Erfahrung mehr wert als alle philosophische Wahrheit (Clausewitz 1980: 325).
Ausgangspunkt der Analysemethode, die im fünften Kapitel des zweiten Buches „Vom Kriege“ (Clausewitz 1980: 312-334) enthalten ist, ist der Begriff der Kritik, den Clausewitz definiert als „Anwendung der theoretischen Wahrheit auf wirkliche Ereignisse“ (1980: 312). Sie unterscheidet sich von der „einfachen Erzählung eines geschichtlichen Ereignisses“, in der schlicht Fakten hintereinander aufgereiht werden (Clausewitz 1980: 312). Die Kritik zerfällt in drei miteinander verbundene „Tätigkeiten des Verstandes“ (Clausewitz 1980: 312): Erstens „die geschichtliche Ausmittelung und Feststellung zweifelhafter Tatsachen“ (Clausewitz 1980: 312). Diese „eigentliche Geschichtsforschung“ kommt ohne Theorie aus (Clausewitz 1980: 312); sie liefert das Datenmaterial für die theoretisch fundierten Tätigkeiten, nämlich: zweitens die „kritische Forschung“, definiert als „die Ableitung der Wirkung aus den Ursachen“ (Clausewitz 1980: 312, H. i. O.) und drittens die „kritische Betrachtung“ (Clausewitz 1980: 314, H. d. V.) definiert als „die Prüfung der angewandten Mittel“ (Clausewitz 1980: 312). Letztere enthält „Lob und Tadel ...“ und dient der „Belehrung ...“ (Clausewitz 1980: 312-313), also der Sammlung von Erfahrungswissen, die im Eingangszitat zum vorliegenden Abschnitt gemeint ist. Clausewitz unterscheidet also die Erforschung allgemeiner Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung (kritische Forschung) von der Erforschung der Zusammenhänge zwischen Zweck und Mitteln des Handelns (kritische Betrachtung). Der Begriff der kritischen Forschung (im Folgenden der Verständlichkeit halber Ursachenforschung genannt, auch wenn es umgehrt Wirkungsforschung sein kann) ist breiter angelegt als der Begriff der kritischen Betrachtung (im Folgenden Handlungsanalyse genannt). Die Ursachenforschung umfasst auch alle Wirkungen des Handelns aller Akteure im Krieg, geht jedoch darüber hinaus und erlaubt zusätzlich, die – vom Handeln unabhängigen – Rahmenbedingungen der Kriegführung in den Blick zu nehmen; außerdem können Interaktionseffekte untersucht werden, die sich nicht schlüssig allein aus dem Mitteleinsatz der Akteure erklären ließen. Clausewitz eröffnet sich also durch das Konzept der Ursachenforschung die Möglichkeit einer Analyse über
2.9 Clausewitz über Methoden
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die Analyseebene des Akteurs („second image“, Waltz 2001) hinaus. Konkret fragt die Ursachenforschung beispielsweise: Welches sind die „Ursachen einer verlorenen Schlacht“ (Clausewitz 1980: 317)? Diese können eben auch in den Rahmenbedingungen liegen: das Wetter könnte eine wichtige Rolle gespielt haben, die Tageszeit, die geografischen Gegebenheiten des Schlachtfeldes oder eben auch die internationalen politischen Rahmenbedingungen, wie z. B. eine Veränderung der Allianzbeziehungen eines an der Schlacht beteiligten Akteurs; schließlich könnten in einer intensiv geführten Schlacht Interaktionseffekte zu Eskalationsspiralen führen. All diese Fragen können durch das Konzept der Ursachenforschung gestellt werden. Die Handlungsanalyse hingegen ist enger gefasst. Sie ist „die eigentliche Kritik, in welcher Lob und Tadel enthalten sind“ (Clausewitz 1980: 312). Sie fragt konkret „welches die eigentümlichen Wirkungen der angewendeten Mittel sind, und ob diese Wirkungen die Absicht des Handelnden waren“ (Clausewitz 1980: 314). Die Analyse erfolgt hier also zunächst auf der Analyseebene des Akteurs. Allerdings gehen Ursachenforschung und Handlungsanalyse „immer Hand in Hand“ (Clausewitz 1980: 317), so dass letztlich in der Handlungsanalyse die Frage gestellt werden muss, ob der Mitteleinsatz den Absichten des Handelnden entsprach und ob er den materiellen und politischen Rahmenbedingungen der Akteure angemessen war. Der übergeordnete Begriff, in dem die beiden Methoden zusammengeführt sind, ist die historische Kritik. Clausewitz entgeht keineswegs, dass beide Ansätze erhebliche methodische Schwierigkeiten mit sich bringen, sollen sie zu seinem Forschungsziel, den „unzweifelhaften Wahrheiten“ (1980: 313), führen, also – in heutiger Terminologie – zu intersubjektiv nachvollziehbaren und nachprüfbaren Aussagen über die Kriegsgeschichte. Zum einen ist die Datenlage häufig unvollständig (Clausewitz 1980: 313), zum anderen entsteht das Problem der – wie man heute sagen würde – „Multikausalität“ (George/Bennett 2005: 205-232, 233-262), d. h. der Schwierigkeit, „daß die Wirkungen im Kriege selten aus einer einfachen Ursache hervorgehen, sondern aus mehreren gemeinschaftlichen, und daß es also nicht genügt, mit unbefangenem, redlichem Willen die Reihe der Ereignisse bis zu ihrem Anfang hinaufzusteigen, sondern daß es dann noch darauf ankommt, einer jeden vorhandenen Ursache ihren Anteil zuzuweisen“ (Clausewitz 1980: 313). Clausewitz’ Lösungsvorschlag für diese Problematik ist hochmodern: Die Analyse muss sich nämlich notwendigerweise auf eine Theorie stützen. Mit „Theorie“ gemeint ist „das Feld der allgemeinen Wahrheit, die nicht bloß aus dem vorliegenden individuellen Falle hervorgeht“ (Clausewitz 1980: 314). Bezogen auf das beschriebene Multikausalitätsproblem kann der „Anteil“, den eine Ursache an einer Wirkung hat, nur durch Analyse der „Natur“ (Clausewitz 1980: 313) dieser Ursache, sprich durch eine theoretische Analyse dieser Ursache,
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2 Methodologie und Methode
geklärt werden. Gleiches gilt für die Handlungsanalyse: Auch die Frage, ob die Mittel ihren Zweck erfüllt haben, führt zu der weiteren Frage, „welches die eigentümlichen Wirkungen der angewendeten Mittel sind“ (Clausewitz 1980: 314). Und dies wiederum führt „zur Untersuchung ihrer Natur, d. h. wieder ins Feld der Theorie“ (Clausewitz 1980: 314). Würde ein Analytiker seine Analyse – sagen wir einer Schlacht – ganz ohne Theorie durchführen, so müsste er „die Untersuchung bis in die letzten Elemente“ (Clausewitz 1980: 314) fortsetzen; da dies jedoch zu den geschilderten methodischen Unwägbarkeiten führen wird, muss er letztlich an irgendeinem Punkt bei „willkürlichen Behauptungen“ (Clausewitz 1980: 314) stehenbleiben – und kann somit niemals Clausewitz’ Ideal einer belastbaren, intersubjektiv überprüfbaren Argumentation entsprechen: „Eine brauchbare Theorie ist also eine wesentliche Grundlage der Kritik ...“ (1980: 314). Nun ist ja im letzten Abschnitt gezeigt worden, dass Clausewitz regelrechte Gesetze der Kriegführung ablehnt. Dementsprechend fällt auch seine Anleitung für die konkrete empirische Analyse aus: Es kann dabei nicht darum gehen, einfach „den Fall unter das passende Gesetz zu stellen“ (Clausewitz 1980: 315). Sondern die Kritik stützt sich auf die „Resultate der analytischen Untersuchung in der Theorie“ (Clausewitz 1980: 315), nämlich die „Grundsätze, Regeln und Methoden“ (Clausewitz 1980: 315). Jedoch – und das ist der Kern – darf sie „die Kritik nie als Gesetze und Normen zum Maßstabe gebrauchen, sondern nur als das, was sie auch dem Handelnden sein sollen, als Anhalt für das Urteil“ (Clausewitz 1980: 315, H. i. O.). Es muss also „dem Urteil ... immer überlassen bleiben, ob sie angemessen sind oder nicht“ (Clausewitz 1980: 315). Clausewitz gibt ein Beispiel: Wenn es ein Grundsatz der Theorie ist, dass „ein geteilter Angriff die Wahrscheinlichkeit des Erfolges vermindert, so würde es ebenso unvernünftig sein, überall, wo ein geteilter Angriff und schlechter Erfolg zusammentrafen, ohne weitere Untersuchung, ob es sich wirklich so verhält, den letzten als die Folge des ersten zu betrachten, oder da, wo der geteilte Angriff einen guten Erfolg hatte, etwa daraus rückwärts auf die Unrichtigkeit jener theoretischen Behauptung zu schließen“ (1980: 315). Beides käme einer „geistlosen Anwendung der Theorie“ (Clausewitz 1980: 315) gleich. Wenn etwa ein Feldherr gegen diesen Grundsatz ‚verstößt’ und in der Absicht, seine Erfolgsaussichten zu steigern, einen geteilten Angriff befiehlt, so gilt es nicht, die „abweichende Anordnung zu verdammen ...“; vielmehr soll die Kritik „die Gründe der Abweichung untersuchen, und nur wenn diese unzureichend sind, hat sie ein Recht, sich auf die theoretische Feststellung zu berufen“ (Clausewitz 1980: 315). Zusammengefasst bilden theoretische Erkenntnisse für Clausewitz erst einen Ausgangspunkt für die empirische Analyse. Sie werfen bestimmte Fragen
2.9 Clausewitz über Methoden
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auf, die dann im Einzelfall beantwortet werden müssen. Ein theoretischer Grundsatz muss also stets kritisch von allen Seiten beleuchtet werden. Die kritische Analyse von Clausewitz spiegelt seine Handlungstheorie zum praktischen Einsatz wider. Auch der Handelnde im Krieg darf sich nicht blind auf Grundsätze verlassen. Er muss sich jedoch auf solche stützen, um dann auf ihrer Grundlage individuelle Entscheidungen treffen zu können. Es findet ein Vergleich statt zwischen dem aus der Theorie geschöpften Grundsatz und der vorgefundenen tatsächlichen Situation. Bei genügend hoher Übereinstimmung könnte der Grundsatz zutreffend sein. Wenn nun Ursache und Wirkung bzw. Mittel und Zweck „nahe beieinanderliegen ...“, wenn also eine kurze Kausalkette vorliegt, wie man heute sagen würde, „ist das Geschäft der kritischen Untersuchung und Prüfung nicht schwer ...“ (Clausewitz 1980: 316). Clausewitz gibt je ein Beispiel für beide Forschungsansätze (Ursachenforschung und Handlungsanalyse): Führt der Überfall auf eine Armee dazu, dass sie „zu keinem ordnungsmäßigen und verständigen Gebrauch ihrer Fakultäten kommt, so ist die Wirkung des Überfalls nicht zweifelhaft“ (1980: 316, H. d. V.). Wenn ein theoretischer Grundsatz besteht, dass „ein umfassender Angriff in der Schlacht zu größerem, aber weniger gesichertem Erfolg führt“ (Clausewitz 1980: 316) und wird das Mittel eingesetzt um die Größe des potenziellen Erfolgs zu steigern, so hat es seinen Zweck erfüllt. In beiden Fällen liegen Ursache und Wirkung bzw. Zweck und Mittel kausal „nahe beieinander“. Eine Erforschung solcher kurzer Kausalketten im Krieg ist nach Clausewitz in Ordnung, „sobald man von dem Zusammenhange mit dem Ganzen abstrahieren und die Dinge nur in diesem Verhältnis betrachten will“ (1980: 316). Doch würde eine Beschränkung auf diese Methode Clausewitz’ dialektischer Auffassung vom Krieg (Schmid 2011) widersprechen: „Es steht aber im Kriege, wie überhaupt in der Welt, alles im Zusammenhange, was einem Ganzen angehört, und folglich muss jede Ursache, wie klein sie auch sei, in ihren Wirkungen sich bis ans Ende des kriegerischen Aktes erstrecken und das Endresultat, um ein wie Geringes es auch sein möge, modifizieren. Ebenso muß jedes Mittel bis zu dem letzten Zweck hinaufreichen“ (1980: 316). Es ist nun also – aus Sicht der Ursachenforschung – möglich, „die Wirkungen einer Ursache so lange [zu] verfolgen, als Erscheinungen noch des Beobachtens wert sind ...“ (Clausewitz 1980: 316). Aus Sicht der Handlungsanalyse kann man – analog hierzu – „ein Mittel nicht bloß für den nächsten Zweck prüfen, sondern auch diesen Zweck selbst als Mittel für den höheren, und so an der Kette der einander untergeordneten Zwecke hinaufsteigen, bis man auf einen trifft, der keiner Prüfung bedarf, weil seine Notwendigkeit nicht zweifelhaft ist. In vielen Fällen, besonders wenn von großen entscheidenden Maßregeln die
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Rede ist, wird die Betrachtung bis zu dem letzten Zweck, bis zu dem, welcher unmittelbar den Frieden bereiten soll, hinaufreichen müssen“ (Clausewitz 1980: 316). Mit „Frieden“ meint Clausewitz die Aushandlung einer neuen politischen Ordnung zwischen den Kriegsparteien nach Einstellung der Kampfhandlungen. Ein Mittel, welches zur Erreichung des nächsten Zwecks in einer solchen Kette von Zwecken und Mitteln richtig gewählt war, kann auf einer höheren Ebene dieser Kette die Erreichung eines Zwecks verhindern: „Es ist klar, daß man in diesem Hinaufsteigen mit jeder neuen Station, die man einnimmt, einen neuen Standpunkt für das Urteil bekommt, so daß dasselbe Mittel, welches in dem nächsten Standpunkt als vorteilhaft erscheint, von einem höheren aus betrachtet verworfen werden muß“ (Clausewitz 1980: 317).21 Wieder zeigt sich, dass Clausewitz seine handlungstheoretischen Überlegungen in seine Methode der Kritik überträgt und auf diese Weise eine Einheit zwischen historischer Analyse und Handeln im Krieg herstellt. Bei der Analyse von Zweck/Mittel-Ketten gehen Ursachenforschung und Handlungsanalyse stets „Hand in Hand ...“, da die Ursachenforschung erst die Dinge herausstellt, „welche es verdienen, ein Gegenstand der Prüfung zu sein“ (Clausewitz 1980: 317). Doch die Erforschung sowohl von Ursache-Wirkungs-Ketten als auch von Zweck/Mittel-Ketten ist „mit bedeutenden Schwierigkeiten verbunden“ (Clausewitz 1980: 317). Wieder entsteht das Problem der Multikausalität – doch nun in potenzierter Form: Je weiter eine Ursache von einer Wirkung auf der Kausalkette entfernt liegt, „um so mehr andere Ursachen sind zugleich mit ins Auge zu fassen und für den Anteil, welchen sie an den Begebenheiten gehabt haben mögen, abzufinden und auszuscheiden, weil jede Erscheinung, je höher sie steht, durch um so viel mehr einzelne Kräfte und Umstände bedingt wird“ (Clausewitz 1980: 317).22 Clausewitz gibt ein Beispiel: „Wenn wir die Ursachen einer verlorenen Schlacht ausgemittelt haben, so haben wir freilich auch einen Teil der Ursachen der Folgen ausgemittelt, welche diese verlorene Schlacht für das Ganze hatte, aber nur einen Teil, denn es werden in das Endresultat nach den Umständen mehr oder weniger Wirkungen anderer Ursachen hineinströmen“ (1980: 317). Gleiches gilt für die Handlungsanalyse, also die Prüfung der Mittel nach ihrer Angemessenheit für den Zweck: „[D]enn je höher die Zwecke liegen, um so größer ist die Zahl der Mittel, welche zu ihrer Erreichung angewendet werden. Der letzte Zweck des Krieges wird von allen Armeen gleichzeitig verfolgt, und
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Vgl. Luhmanns Ausführungen über die Relativität von Zweck/Mittel-Charakterisierungen (1973: 266-284; oben, S. 57-59). Vgl. Luhmanns Ausführungen über das Problem der „Unabgestimmtheit der Bewertungen in Zweck/Mittel-Ketten“ (1973: 268; oben, S. 57-59).
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es ist also nötig, alles, was von diesem geschehen ist oder geschehen konnte, mit in die Betrachtung zu ziehen“ (Clausewitz 1980: 317). Es überrascht nun nicht mehr, dass Clausewitz ein zentrales Element seiner Theorie des Handelns im Kriege in seine militärgeschichtliche Forschungsmethode überträgt. Die geschilderten methodischen Schwierigkeiten der Analyse von Ursache-Wirkungs-Ketten bzw. Zweck/Mittel-Ketten zwingen den Analysten, „Voraussetzungen“ zu machen „über diejenigen Dinge, die sich nicht wirklich zugetragen haben, die aber wahrscheinlich waren und deshalb aus der Betrachtung schlechterdings nicht wegbleiben dürfen“ (Clausewitz 1980: 317, H. d. V.). Es gilt also, wo die Datenlage keine lückenlose Analyse erlaubt, die Methode der Wahrscheinlichkeitsüberlegung einzusetzen. Dies entspricht Clausewitz’ Empfehlung für den Handelnden im Krieg, notwendig auftretende Informationslücken durch das Anstellen von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen auszugleichen. Nach einem ausführlichen historischen Beispiel (Clausewitz 1980: 317-320) kommt Clausewitz zu dem Schluss, dass die Anwendung seiner Forschungsmethode „Talent“ erfordert, insbesondere das Talent, „Licht in den Zusammenhang der Dinge zu tragen und von den zahllosen Verknüpfungen der Begebenheiten die wesentlichen zu unterscheiden“ (1980: 321, H. d. V.). Auch vom Analysten verlangt er also die Fähigkeit zur richtigen Reduktion von Komplexität. Clausewitz weicht hier von einem Teil der neueren Methodenliteratur ab, die so genannte „Interkoderreliabilität“ verlangt, also eine Ausdifferenzierung der Methoden, die so weit geht, dass (nach einer Einarbeitung) praktisch jeder Wissenschaftler sie einsetzen können und zu ähnlichen Ergebnissen kommen müsste (vgl. z. B. Mayring 2005: 10). Die Tatsache, dass Clausewitz dies zurückweist, spiegelt seine gesamte Wissenschaftstheorie wider. Denn das Ideal der Interkoderreliabilität – so würde Clausewitz vermutlich argumentieren – kann nur in der von ihm zurückgewiesenen puren Kausalforschung (einigermaßen) erreicht werden. Doch die Notwendigkeit, dass ein Analyst der Militärgeschichte Talent und Erfahrung bringt, hat noch einen weiteren wichtigen Grund. Bezüglich der Handlungsanalyse verlangt Clausewitz nämlich den Einsatz der – heute so genannten – kontrafaktischen Methode (vgl. George/Bennett 2005: 167-170, 230-232; eine Anwendung findet sich bei Ruggie 1992: 585; vgl. auch Brown 2009). Sie ist „nicht bloß eine Prüfung der wirklich angewendeten Mittel, sondern aller möglichen, die also erst angegeben, d. h. erfunden werden müssen, und man kann ja überhaupt nie ein Mittel tadeln, wenn man nicht ein anderes als das bessere anzugeben weiß“ (Clausewitz 1980: 321). Hier sind die Grenzen des Konzepts der Interkoderreliabilität endgültig erreicht, wie Clausewitz darlegt: „Wie klein nun auch die Zahl der möglichen Kombinationen in den meisten Fällen sein mag, so
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ist doch nicht zu leugnen, daß das Aufstellen der nicht gebrauchten, keine bloße Analyse vorhandener Dinge, sondern eine selbsttätige Schöpfung ist, welche sich nicht vorschreiben läßt, sondern von der Fruchtbarkeit des Geistes abhängt“ (1980: 321). Die Anwendung der kontrafaktischen Methode bedarf also Kreativität, Intuition und Erfahrung des Analysten. Die kontrafaktische Methode von Clausewitz dient der Handlungsanalyse. Ihr Kern besteht zum einen aus der Idee der Innovation und zum anderen aus der des Vergleichs.23 Ausgangspunkt der Methode ist der Zweck, den ein Handelnder in der Kriegsgeschichte verfolgt haben dürfte und die Kenntnis der Mittel, die er tatsächlich eingesetzt hat. Die Kritik besteht nun darin, sich andere Mittel zu überlegen, die dem Handelnden zur Verfügung gestanden hätten, und zu versuchen, die Geschichte in Form eines Gedankenexperimentes (Brown 2009) noch einmal ablaufen zu lassen unter der Voraussetzung, dass sich nur der fragliche Mitteleinsatz geändert haben würde; alle anderen Bedingungen müssen gedanklich konstant gehalten werden (vgl. George/Bennett 2005: 167-170, 230232). Diese Methode fördert zum einen die Innovation. Clausewitz erklärt dies an einem Beispiel aus Napoleons Italienfeldzug von 1796-1797, nämlich der Belagerung von Mantua durch Napoleon (1796) (1980: 321-322, 325). Napoleon gab am 30. Juli 1796 diese Belagerung auf, „um dem vorrückenden [österreichischen Feldmarschall, R. B.] Wurmser entgegenzutreten und mit vereinter Kraft seine durch den Gardasee und den Mincio getrennten Kolonnen einzeln zu schlagen“ (Clausewitz 1980: 321). Dieser Schachzug sei Clausewitz zufolge von der zeitgenössischen Kritik ausnahmslos als genial gefeiert worden. Clausewitz kritisiert dies, indem er die kontrafaktische Überlegung anstellt, was geschehen wäre, hätte sich Napoleon des damals „hundert Jahre“ (1980: 322) alten Mittels des „Widerstand[es] gegen einen anrückenden Ersatz innerhalb einer Zirkumvallationslinie24“ (1980: 322) bedient, hätte er also die Belagerung Mantuas nicht aufgegeben. Clausewitz argumentiert, dass Wurmser aufgrund seiner Unterlegenheit „schwerlich auch nur einen Versuche zum Angriff ihrer Linien gemacht haben würde“ (1980: 322). Die kontrafaktische Methode erlaubt also, kritisch über bestimmte Übereinkünfte zwischen militärgeschichtlichen Forschern zu reflektieren. In das Blickfeld kommen Alternativen des Handelns, die mit dem tatsächlich eingesetzten Mittel „zu vergleichen“ (Clausewitz 1980: 322) sind.
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Vgl. Luhmanns Sicht auf das Zweck/Mittel-Schema als Heuristik zur Entdeckung neuer Mittel (1973: 27-33; oben, Abschnitt 2.5). Eine Zirkumvallationslinie ist eine „[z]usammenhängende Verschanzungslinie“ (Clausewitz 1980: 1193, Anm. 62).
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Die Methode des Vergleichs ist für die Anwendung der kontrafaktischen Methode von zentraler Bedeutung. Denn die „Angabe des vermeintlich besseren Verfahrens“ genügt nicht (Clausewitz 1980: 323). Stattdessen fordert Clausewitz einen „Beweis“: Dieser „ist überall nötig, wo der Vorzug des vorgeschlagenen Mittels nicht so evident ist, daß er keinen Zweifel zulässt, und er besteht darin, daß jedes der beiden Mittel seiner Eigentümlichkeit nach untersucht und mit dem Zweck verglichen werde. Hat man die Sache so auf einfache Wahrheiten zurückgeführt, so muß der Streit [um das potenziell beste Mittel, R. B.] endlich aufhören, oder er führt wenigstens zu neuen Resultaten [für die Theorie, R. B.] während bei der anderen Art das pro et contra sich immer rein verzehrt“ (1980: 323, H. i. O.). Auch die Methode des kontrafaktischen Vergleichs von Mitteleinsätzen führt somit zurück „in das Feld der Theorie ..., d. h. in das Feld der allgemeinen Wahrheit, die nicht bloß aus dem vorliegenden individuellen Falle hervorgeht“ (Clausewitz 1980: 314). Clausewitz demonstriert auch diesen Gedanken an einem Beispiel – diesmal der späten – napoleonischen Kriegführung (1980: 322-325). Im Februar 1814 hatte es Napoleon mit zwei Feinden zu tun, dem preußischen Generalfeldmarschall Blücher und dem österreichischen Feldmarschall Schwarzenberg. Als er zu diesem Zeitpunkt „von der Blücherschen Armee, nachdem er sie in den Gefechten von Etoges, Champaubert, Montmirail usw. besiegt hatte, abließ, um sich wieder gegen Schwarzenberg zu wenden, und dessen Korps bei Montereau und Mormant schlug, war jedermann voll Bewunderung, weil Bonaparte gerade in diesem Hin- und Herwerfen seiner Hauptmacht einen glänzenden Gebrauch von dem Fehler machte, welcher in dem getrennten Vorgehen der Verbündeten lag“ (Clausewitz 1980: 323). Wiederum innovativ („[n]iemand hat bis jetzt die Frage getan ...“, Clausewitz 1980: 323) stellt Clausewitz hier die kontrafaktisch Überlegung an, was geschehen wäre, hätte Napoleon „sich nicht von Blücher wieder gegen Schwarzenberg gewendet, sondern seine Stöße ferner gegen Blücher gerichtet und diesen bis an den Rhein verfolgt ...“ (1980: 323). An diesem Beispiel nun zeigt Clausewitz, wie er sich einen Beweis, also einen theoriegestützten kontrafaktischen Mittelvergleich vorstellt: Um zu „beweisen, daß das unablässige Verfolgen Blüchers besser gewesen wäre als das Umkehren gegen Schwarzenberg, so würden wir uns auf folgende einfache Wahrheiten stützen“ (1980: 324). Es folgen nun in Form einer durchnummerierten Aufzählung vier Argumente, die allesamt auf theoretischen Grundsätzen der Kriegführung basieren, die Clausewitz später im Werk entwickelt. Kurz gefasst sind dies: (1) Es ist besser die Kraft in eine Richtung, also gegen einen Gegner, wirken zu lassen, da dies zu weniger Zeitverlust führt und da der Gegner ja bereits moralisch geschwächt ist (Clausewitz 1980: 324). (2) Da Blücher der „Bedeutendere“ gewesen sei, habe in ihm der „Schwerpunkt“ der
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gegnerischen Allianz gelegen (Clausewitz 1980: 324). (3) Die Verluste, die Blücher bereits eingesteckt hatte, seien „einer Niederlage gleichzuachten ...“ und daher hätte Napoleon das erlangte „Übergewicht“ nutzen sollen (Clausewitz 1980: 324). (4) Die schwere Niederlage Blüchers hätte durch das „Prinzip des Schreckens ...“ (Clausewitz 1980: 324) für Schwarzenberg „sich so furchtbar ausgenommen, sich der Phantasie in einer solchen Riesengestalt gezeigt ...“, dass es diesen zum Rückzug bewogen hätte (Clausewitz 1980: 324).25 Mit seinen Methoden der Ursachenforschung bzw. Handlungsanalyse, d. h. der Analyse von Ursache-Wirkungs-Ketten bzw. Zweck/Mittel-Ketten, der Methode des kontrafaktischen Mittelvergleichs und schließlich der Methode der Wahrscheinlichkeitsüberlegung bietet Clausewitz ein vollständiges methodisches Instrumentarium zur Analyse historischer Kriege und – damit verbunden – Strategien an. Alle Methoden fügen sich in sein wissenschaftstheoretisches Fundament. Denn dieses besteht aus der Idee einer Handlungsanalyse, die einen wechselnden Kausalkontext berücksichtigen muss und beruht insgesamt auf der Grundidee einer Reduktion der Komplexität, einer Beschränkung auf das Wesentliche, durch eine grundsätzlich theoretische Herangehensweise. Die Handlungstheorie spiegelt sich in der Methode der Handlungsanalyse wider, die aus den Methoden der Analyse von Zweck/Mittel-Ketten und der Methode des kontrafaktischen Mittelvergleichs besteht. Auch zeigen die letztgenannten Methoden von Clausewitz deutlich die Kompatibilität seiner Begriffe von Zwecken und Mitteln mit denen der Systemtheorie. Insofern stellen gerade die methodischen Gedanken von Clausewitz die stabilste ‚Brücke’ zwischen den beiden Theorien her. Die Berücksichtigung des Kausalkontextes spiegelt sich in der methodischen Trennung zwischen Handlungsanalyse und Ursachenforschung. Letztere ermöglicht die systematische 25
Die im Kapitel „Kritik“ noch folgenden Gedanken von Clausewitz (1980: 325-334) sind für die vorliegende Arbeit nur am Rande relevant. Sehr verkürzt ausgedruckt sind es die Folgenden: Erstens behandelt Clausewitz die Frage, ob ein Analytiker trotz seines gegebenenfalls vorhandenen Informationsvorsprungs gegenüber dem historisch Handelnden sich eine Kritik erlauben darf. Dies bejaht Clausewitz mit dem Argument, dass zwischen Handelndem und Analytiker in aller Regel ja auch ein ‚Virtuositätsgefälle’ besteht, welches durch die bessere Informationslage des Analytikers ausgeglichen wird; diese bessere Informationslage ist im Übrigen kaum aus der Analyse auszublenden. Zweitens behandelt Clausewitz die Frage, ob man die Mitteleinsätze eines militärischen Genies (wie Napoleon) auch schlicht nach ihrem Erfolg bewerten dürfe, ohne die Gründe für den Erfolg genau zu kennen. Diese Frage bejaht er ebenfalls mit dem Argument, dass sich manche Zusammenhänge, die ein militärisches Genie gesehen haben mag, schlicht nicht analytisch aufdecken lassen. Schließlich behandelt er die Frage nach der angemessenen Sprache der Kritik. Im Kern müsse diese – vor allem wenn sie sich auf theoretische Erkenntnisse beruft – stets transparent sein, dürfe sich also nicht auf verschlossene theoretische Überlegungen berufen. Denn „die prüfende Kritik ist ja nichts als die Überlegung, welche dem Handeln vorhergehen soll“ (Clausewitz 1980: 331).
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Erforschung des Kausalkontextes. Alle Methoden von Clausewitz führen zurück in das Feld der Theorie. Aus diesem Grund können sie nur auf der Grundlage eines theoretischen Analysemodells des Krieges und der Strategie ihre Fruchtbarkeit entfalten. Ein solches Analysemodell wird in Kapitel 4 auf der Basis von Clausewitz Kriegs- und Strategietheorie entworfen. 2.9.2 Clausewitz’ Methode der Fallstudienanalyse Unstreitig gehören die der Kriegskunst zum Grunde liegenden Kenntnisse zu den Erfahrungswissenschaften; denn wenn sie auch größtenteils aus der Natur der Dinge [= der Theorie, R. B.] hervorgehen, so muß man doch diese Natur meistens selbst erst durch die Erfahrung kennenlernen; außerdem aber wird die Anwendung von so vielen Umständen modifiziert, daß die Wirkungen nie aus der bloßen Natur des Mittels vollständig erkannt werden können (Clausewitz 1980: 335).
In heutiger Terminologie würde man das im Folgenden analysierte sechste Kapitel des zweiten Buchs „Vom Kriege“ (Clausewitz 1980: 335-342) statt „Über Beispiele“ wohl mit „Typen und Auswahl von Fallstudien“ überschreiben. Es enthält Clausewitz’ Vorschläge zur Auswahl und Analyse empirischer Fälle und stellt insofern die logische Fortsetzung des eben behandelten Kapitels über „Kritik“ dar, in dem es ja um Analysemethoden im weiteren Sinne ging. Denn Clausewitz stellt im Kapitel „Über Beispiele“ genau da, wie er sich die Ursachenforschung und Handlungsanalyse am historischen empirischen Material konkret vorstellt. Ausgangspunkt auch dieses Kapitels sind Clausewitz’ Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Empirie. Wie aus dem Eingangszitat hervorgeht, gehört die Kriegswissenschaft für ihn – trotz der für sie zentralen Bedeutung von Theorie – zu den „Erfahrungswissenschaften“. Denn auch wenn man von theoretischen Überlegungen ausgeht, werden diese in der Wirklichkeit doch „von so vielen Umständen modifiziert, daß die Wirkungen nie aus der bloßen Natur des Mittel vollständig erkannt werden können“ (Clausewitz 1980: 335).26 Clausewitz erläutert dies an einem Beispiel. Man könne zwar mit den Möglichkeiten der Physik, Mathematik und Ballistik exakte Aussagen über die Wirkung einer Kanonenkugel machen – „aber wie viel Hundert [sic] Nebenumstände bestimmen diese Wirkung, die zum Teil nur durch die Erfahrung erkannt werden können“ (Clausewitz 1980: 336). Insbesondere die aus Clausewitz’ Sicht zentralen psy26
Vgl. Clausewitz’ Überlegungen zu Umständen, die Wirkungen von Mitteln modifizieren (oben, Abschnitt 2.3) mit dem Begriff des Kausalkontextes der klassischen Handlungstheorie (oben, Abschnitt 2.5) und dem Umweltbegriff der Systemtheorie (oben, Abschnitt 2.6).
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chischen Wirkungen der Kanonenkugel können nur durch die Erfahrung bestimmt werden. Denn diese Wirkung hängt stark von einer Reihe von Rahmenbedingungen ab. So sei die psychische Wirkung des Kanonenbeschusses zum Beispiel im Mittelalter sehr groß gewesen – und dies obwohl die objektive physische Wirkung aufgrund der technologischen Entwicklung noch verhältnismäßig gering war (Clausewitz 1980: 336). Hingegen zeige die Disziplin der erfahrenen Soldaten Napoleons, dass durch Ausbildung die „Standhaftigkeit“ von Streitkräften selbst „im stärksten und anhaltendsten Geschützfeuer“ gewährleistet bleiben könne (Clausewitz 1980: 336). Kurz: Theoretische Erkenntnisse müssen durch die Erfahrung überprüft werden – die Analyse historischer Fälle dient als Korrektiv für vereinfachende theoretische Grundsätze, Regeln etc. und birgt gleichzeitig das Potenzial der theoretischen Weiterentwicklung und Verfeinerung von Begriffen. Nun unterscheidet Clausewitz zwei Wege, wie ein bestimmtes taktisches oder strategisches Mittel „seinen Platz in der Theorie ein[nimmt]“ (1980: 336), wie also Theoriebildung vonstatten geht. Der erste Weg bestünde darin, dass ein Mittel sich im Krieg als erfolgreich erweist, häufig wiederholt wird, zunächst Mode wird und dann zum Rang einer theoretischen Einsicht aufsteigt. Die Theorie beruft sich dann lediglich auf die (positive) Erfahrung mit diesem Mittel. „Ganz anders ist es aber, wenn die Erfahrung gebraucht werden soll, um ein gebräuchliches Mittel zu verdrängen, ein zweifelhaftes festzustellen oder ein neues einzuführen; dann müssen einzelne Beispiele aus der Geschichte zum Beweise aufgestellt werden“ (Clausewitz 1980: 337) – und diese Beispiele müssen hohen methodischen Anforderungen genügen. Wie der vorige Abschnitt gezeigt hat, zieht Clausewitz den zweiten Weg der Theoriebildung vor. Aus seiner Sicht müssen – vor dem Hintergrund einer sich ständig im Wandel befindlichen Kriegführung – Analysemethoden entwickelt werden, die kritisches Hinterfragen, Innovation und Kreativität befördern. Clausewitz stellt vier „Gesichtspunkte“ für den Einsatz historischer Beispiele auf, die er wiederum in zwei Gruppen aufteilt: Die ersten beiden, die (1) „Erläuterung“ bzw. die (2) „Anwendung des Gedankens“, gehören zur Gruppe „des eigentlichen Beispiels“ (1980: 337, H. i. O.). Die beiden letzteren, die hier – behutsam der Terminologie von Clausewitz angepasst – sinnvoll als (3) Beleg und (4) Beweis bezeichnet werden, „gehören zum historischen Beweis“ (1980: 337). Clausewitz unterscheidet seine vier Gesichtspunkte nach der Funktion, die das historische Beispiel je erfüllen soll; daraus folgt dann eine je unterschiedliche Notwendigkeit der Tiefe der Analyse: (1) Erstens kann das Beispiel der Erläuterung eines Gedankens dienen. Es dient dann lediglich dazu, Missverständnisse zwischen Autor und Leser zu vermeiden. Es genügt in der Regel eine „flüchtige Erwähnung“ des historischen
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Beispiels (Clausewitz 1980: 337). Wenn auch ein historisches Beispiel vorzuziehen ist, so würde prinzipiell auch ein „erfundenes Beispiel“ für diesen Zweck genügen (Clausewitz 1980: 337). (2) Zweitens kann es als eine Anwendung eines Gedankens dienen. Es gibt dann Gelegenheit, „die Behandlung derjenigen kleineren Umstände zu zeigen, die bei dem allgemeinen Ausdruck des Gedankens nicht alle mit aufgefasst werden konnten; denn darin besteht ja der Unterschied zwischen Theorie und Erfahrung“ (Clausewitz 1980: 337). Diese Funktion „setzt eine umständlichere Darstellung des Falles voraus ...“ (Clausewitz 1980: 337), jedoch könnte auch hier notfalls ein erfundenes Beispiel herangezogen werden. (3) Drittens kann man ein historisches Beispiel heranziehen, wenn man seine theoretische Aussage belegen möchte (Beleg). „Dies ist in allen Fällen hinreichend, wo man bloß die Möglichkeit einer Erscheinung oder Wirkung dartun will“ (Clausewitz 1980: 337, H. i. O.). Hier reicht meistens die Angabe eines „unzweifelhaften Faktums“ (Clausewitz 1980: 338) aus. Dieser dritte Gesichtspunkt gehört – wie gesagt – bereits zur zweiten Gruppe der „historischen Beweise“. Heute würde man von Fallstudien sprechen. Der Beleg entspricht dabei der heute so genannten Plausibilitätsfallstudie („Plausibility Probe“, Eckstein 1975: 108-113). Sie dient dazu, die grundsätzliche Plausibilität einer theoretischen Aussage zu belegen. (4) Viertens kann ein historisches Beispiel verwendet werden, um daraus eine „Lehre“ (Clausewitz 1980: 337) zu ziehen bzw. eine „allgemeine Wahrheit“ (Clausewitz 1980: 338) aufzustellen, die in diesem Beispiel „ihren wahren Beweis findet“ (Clausewitz 1980: 337, H. d. V.). Zweck dieser Fallstudienmethode ist die Theoriebildung bzw. -entwicklung. Der Beweis bedarf einer „umständlichen Darstellung eines historischen Ereignisses ...“ bzw. die „Zusammenstellung mehrerer ...“ (Clausewitz 1980: 337). Ein historischer Fall, der zu diesem Zweck eingesetzt wird, muss „in allem, was Bezug auf die [theoretische, R. B.] Behauptung hat, genau und umständlich entwickelt, er muß gewissermaßen vor dem Auge des Lesers sorgfältig aufgebaut werden“ (Clausewitz 1980: 338). Das Wort „umständlich“ ist hier wörtlich zu nehmen und bedeutet dementsprechend: alle Umstände berücksichtigend. Dieses sorgfältige Entfalten des Falles vor den Augen des Lesers dient dazu, den empirischen Fall für die Kritik durch den Leser möglichst zu öffnen. In heutiger Terminologie spricht man von einer Einzelfallstudie („Configurative-Idiographic Study“, Eckstein 1975: 9699). Je weniger das geschilderte Ideal der Durchführung der Einzelfallstudie zu erreichen ist, „um so mehr wird es nötig, was dem einzelnen Fall an Beweiskraft abgeht, durch die Menge der Fälle zu ersetzen, weil man nämlich mit Recht voraussetzt, daß die näheren Umstände, die man nicht imstande gewesen ist,
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anzugeben, in einer gewissen Anzahl von Fällen ihren Wirkungen nach sich ausgeglichen haben werden“ (Clausewitz 1980: 338). In heutiger Terminologie spricht man von einer vergleichenden Fallstudie kleinerer bzw. mittlerer Fallzahl („Disciplined-Configurative Study“, Eckstein 1975: 99-104). Doch bereits die beiden Beispiele, die Clausewitz anschließend angibt, enthalten eine Kritik an der Methode der vergleichenden Fallstudie: Wenn man beweisen möchte, „daß die Reiterei besser hinter als neben dem Fußvolk steht, daß es bei nicht entscheidender Übermacht höchst gefährlich ist, den Gegner sowohl in einer Schlacht als auf dem Kriegstheater, also sowohl taktisch als strategisch mit getrennten Kolonnen weit zu umfassen ...“ (1980: 338), so reicht es in beiden Fällen nicht aus, einfach einige Beispiele anzugeben, in denen diese Grundsätze eingehalten wurden und der theoretisch erwartete Nutzen eintrat (oder umgekehrt), „sondern es muß durch eine genaue Verfolgung aller Umstände und der einzelnen Vorgänge dargetan werden, auf welche Weise jene Formen der Stellung und des Angriffs wesentlich zum schlechten Ausgang beigetragen haben. Dann wird sich auch ergeben, inwieweit jene Formen verwerflich sind, welches notwendig mitbestimmt werden muß, weil eine ganz allgemeine Verwerfung jedenfalls die Wahrheit verletzen würde“ (1980: 338, H. i. O.). Wenn die detaillierte Untersuchung des Falles nicht möglich ist, kann man „die fehlende Beweiskraft durch die Anzahl der Beispiele ergänzen ...“ (Clausewitz 1980: 338, H. d. V.) – doch dies ist nach Clausewitz „ein gefährlicher Ausweg ..., der häufig missbraucht wird“ (1980: 339). Häufig würden sich Analytiker damit zufrieden geben, „drei oder vier [Fälle, R. B.] bloß zu berühren ...“ und würden „dadurch den Schein eines starken Beweises“ erzeugen (Clausewitz 1980: 339, H. i. O.). Clausewitz weist darauf hin, dass es Gegenstände gibt, bei denen selbst eine mittlere Zahl von Fällen nicht beweiskräftig ist, „wenn sie sich nämlich häufig wiederholen, und es also ebenso leicht ist, ein Dutzend Fälle mit entgegengesetzem Ausgang dawider anzuführen“ (1980: 339). „Ein Ereignis, was nicht in allen seinen Teilen sorgfältig aufgebaut, sondern im Fluge berührt wird, ist wie ein aus zu großer Entfernung gesehener Gegenstand, an dem man die Lage seiner Teile nicht mehr unterscheiden kann, und der von allen Seiten ein gleiches Ansehen hat“ (Clausewitz 1980: 339). Ein weiterer Nachteil des bloßen Berührens von Fällen sei, dass der Leser häufig diese Fälle nicht gut genug kenne und für ihn „nichts übrig bleibt, als sich imponieren zu lassen oder ohne alle Überzeugung zu bleiben“ (Clausewitz 1980: 340). Bei Anerkennung aller Schwierigkeiten der Erstellung einer umfassenden Einzelfallstudie kommt Clausewitz in seiner Diskussion zum Ergebnis, dass, „wo es auf die Feststellung einer neuen oder einer zweifelhaften Meinung ankommt, ein einziges gründlich dargestelltes Ereignis belehrender ist als zehn bloß be-
2.9 Clausewitz über Methoden
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rührte“ (1980: 340). Denn noch schlimmer, als sich den Schein des Beweises zu geben, sei, dass der Analytiker durch oberflächliche Fallstudien „diese Ereignisse nie ordentlich kennengelernt hat, und daß von dieser leichtsinnigen, oberflächlichen Behandlung der Geschichte dann hundert falsche Ansichten und theoretische Projektmachereien entstehen, die nie zum Vorschein gekommen wären, wenn der Schriftsteller die Verpflichtung hätte, alles, was er Neues zu Markt bringt und aus der Geschichte beweisen will, aus dem genauen Zusammenhang der Dinge unzweifelhaft hervorgehen zu lassen“ (Clausewitz 1980: 340). Zum Schluss seines Kapitels stellt Clausewitz einige Überlegungen dazu an, aus welchen historischen Zeiträumen man seine Fallstudien entnehmen sollte. Er kommt zu dem Schluss, dass „die neueste Kriegsgeschichte immer das natürlichste Feld für die Wahl der Beispiele sein muß, insoweit sie nur hinreichend bekannt und bearbeitet ist“ (Clausewitz 1980: 341). Denn einerseits seien die Rahmenbedingungen früherer Fälle zu unterschiedlich und andererseits verschlechtere sich die Datenlage, je weiter man in die Vergangenheit zurückginge (Clausewitz 1980: 340-341). Clausewitz macht hier konkrete Angaben. Aus seiner historischen Perspektive27 seien „hauptsächlich die Kriege bis zu dem Österreichischen Erbfolgekriege“ (1740-1748) den zu seiner Zeit stattfindenden Kriegen ähnlich genug, „wenn sich auch sonst in den großen und kleinen Verhältnissen viel geändert hat ..., um viel Belehrung aus ihnen zu ziehen“ (1980: 341). Der Spanische Erbfolgekrieg (1701-1714), „wo das Feuergewehr noch nicht so ausgebildet und die Reiterei noch die Hauptwaffe war“, sei dazu hingegen schon deutlich weniger geeignet (Clausewitz 1980: 341). Wenn man noch weiter in der Kriegsgeschichte zurückginge, würde die Empirie zunehmend unbrauchbar: „Am unbrauchbarsten und dürftigsten muß die Geschichte der alten Völker sein“ (Clausewitz 1980: 341). Jedoch schränkt Clausewitz diese Aussage ein: Diese Unbrauchbarkeit „bezieht sich nur auf die Gegenstände, die von der Kenntnis der genaueren Umstände oder von denjenigen Dingen abhängen, in welchen sich die Kriegführung ändert“ (1980: 341). Als Beispiele für solche tiefgreifenden, allgemeinen Regelmäßigkeiten, die weniger von unterschiedlichen Rahmenbedingungen oder technologischen Weiterentwicklungen abhängen, nennt Clausewitz zum einen die „Überlegenheit eines guten Fußvolkes gegen die beste Reiterei“ (1980: 341), die man bereits anhand der „Schlachten der Schweizer gegen die Österreicher, Burgunder und Franzosen“ (1980: 341) belegen könne. Zum anderen nennt er die Abhängigkeit der Kriegführung „von dem Instrument, dessen man sich bedient“ (Clausewitz 1980: 341), also das Verhältnis von Politik und Militär. Die 27
Die Niederschrift des Werkes „Vom Kriege“ (Clausewitz 1980) erfolgte zwischen 1816 und 1830 (Hahlweg 1980a: 34).
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2 Methodologie und Methode
Zeit der Condottieri (gemeint sind die Söldnerheere der norditalienischen Stadtstaaten zur Zeit der Renaissance) zeige, wie die Eigentümlichkeit dieses Verhältnisses die allgemeine Art der Kriegführung bedinge (Clausewitz 1980: 341). Schließlich: „Die merkwürdige Art, wie Rom im zweiten Punischen Kriege Karthago bekämpfte durch einen Angriff in Spanien und Afrika, während Hannibal in Italien noch unbesiegt war, kann ein Gegenstand sehr lehrreicher Betrachtung sein, weil die allgemeinen Verhältnisse der Staaten und Heere, worauf die Wirksamkeit dieses indirekten Widerstandes beruhte, noch hinreichend bekannt sind“ (Clausewitz 1980: 342). Umgekehrt können jedoch weniger allgemeine Aussagen nicht durch historisch weit entfernte Fallstudien bewiesen werden: „Aber je weiter die Dinge in das Einzelne hinuntersteigen und sich von den allgemeinen Verhältnissen entfernen, um so weniger können wir die Muster und Erfahrungen in sehr entlegenen Zeiten aufsuchen, denn wir sind weder imstande, die entsprechenden Ereignisse gehörig zu würdigen, noch auf unsere ganz veränderten Mittel anzuwenden“ (Clausewitz 1980: 342). Während Clausewitz in seinem Kapitel über „Kritik“ ein vollständiges Instrumentarium zur Datenanalyse liefert (vgl. oben, Abschnitt 2.9.1), ergänzt er dieses im Kapitel „Über Beispiele“ um ein ebenso vollständiges Instrumentarium zur Datenerhebung (vgl. den vorliegenden Abschnitt). Diese Methoden werden in der vorliegenden Untersuchung angewendet: In Kapitel 6 wird anhand einer Einzelfallstudie ein – wenn auch sehr ausführlicher – Beleg (= Fallstudienmethode Typ (3)) der Plausibilität des theoretischen Analysemodells gegeben, das aus der systemtheoretischen Interpretation von Clausewitz’ Handlungstheorie resultieren wird (vgl. Kapitel 4 und 5). Die Einzelfallstudie behandelt den jüngsten Wandel der NATO-Strategie in Afghanistan. Im folgenden Kapitel wird jedoch zunächst Clausewitz’ Theorie des Krieges analysiert.
2.9 Clausewitz über Methoden
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3 Gedankenexperiment – Die Theorie des Krieges von Clausewitz
Clausewitz beginnt seine Theorie mit einer allgemeinen Definition des Krieges: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ (1980: 191-192).28 Demzufolge dient Krieg zunächst einmal dazu, einen Gegner dazu zu bringen etwas zu tun, was er eigentlich nicht tun wollte bzw. etwas zu unterlassen, was er eigentlich gern getan hätte. Das heißt also, Krieg ist, ganz allgemein ausgedrückt, ein Mittel zur Machtausübung.29 Die Machtausübung durch Krieg unterscheidet sich von anderen Formen der Machtausübung dadurch, dass im Krieg physische Gewalt gegen den Gegner ausgeübt wird, um ihn zur Erfüllung des eigenen Willens zu zwingen. Diese Explikation ordnet sich der von Weber (vgl. Fn. 29) unter, indem man die Gewalt als spezielle „Chance“ ansieht, „den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.“ Eine weitere Besonderheit ist, dass sich der Gegner im Krieg diese Gewalt nicht einfach gefallen lässt, sondern dass er sich mit Gewalt wehrt. Es entsteht ein Kampf, durch den die Gegner in eine besondere Form der sozialen Beziehung zueinander treten (Weber 1972: 20). Schließlich ist Krieg kein Kampf zwischen zwei Menschen, sondern ein Kampf zwischen Kollektiven. Da der Zweikampf jedoch sein Element ist und bleibt, schlägt Clausewitz vor, sich den Krieg als gigantischen Ringkampf vorzustellen (1980: 191-192). Nun führt Clausewitz wichtige Grundbegriffe des Krieges ein. Der Zweck des Krieges, expliziert als sein „ursprüngliches Motiv“ (Clausewitz 1980: 200), besteht – gemäß seiner Natur als Mittel zur Machtausübung – ganz allgemein darin, dem Gegner den eigenen Willen aufzudringen. Um diesen Zweck ganz allgemein und in allen denkbaren Fällen zu erreichen, bleibt nur ein Kriegsziel: Das Ziel ist die Wehrlosigkeit des Gegners; ist er zu keinem Widerstand mehr
28
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Das vorliegende Kapitel ist meiner früheren Veröffentlichung „Clausewitz, Terrorismus und die NATO-Antiterrorstrategie: Ein Modell strategischen Handelns“ (Beckmann 2008a) entnommen. Der entnommene Teil (Beckmann 2008a: 5-19) wurde für die vorliegende Untersuchung ergänzt und überarbeitet. Nach Weber bedeutet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (1972: 28).
R. Beckmann, Clausewitz trifft Luhmann, DOI 10.1007/978-3-531-92730-5_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Gedankenexperiment – Die Theorie des Krieges von Clausewitz
fähig, wird er jede Forderung erfüllen (Clausewitz 1980: 191-192). Das Mittel im Krieg ist die „physische Gewalt“ (Clausewitz 1980: 191). Es fällt auf, dass in dieser Definition über die Größe, Stärke, Bewaffnung und den Aufbau der Gegner keine Aussagen gemacht werden; ebenso erfährt der Leser nichts über die genauen Motive der Kämpfenden. Die Definition erfasst jedoch den Krieg in seiner Grundform: Er ist ein gewaltsamer Kampf zwischen Kollektiven zur Machtausübung. 3.1 Modell I: Der ‚Reagenzglaskrieg’ Wie würde ein Krieg aussehen, der nur aus diesen wenigen Elementen bestünde? Clausewitz beantwortet diese Frage, in dem er den Krieg in seiner Grundform in Gedanken in einer Art ‚Reagenzglas’ ablaufen lässt; man könnte auch sagen: Es ist das Modell eines Krieges (daher hier ‚Modell I’ genannt).30 Der Begriff des ‚Reagenzglaskrieges’ soll verdeutlichen, dass es sich bei diesem Modell um ein „Gedankenexperiment“ (Brown 2009) handelt, in welchem der Krieg unter extrem vereinfachten, gewissermaßen ‚Laborbedingungen’ gedacht wird. In diesem ‚Reagenzglas’ gibt es nur zwei Kriegsparteien, die als einheitliche Akteure (heute so genannte ‚black boxes’) modelliert werden, kein Vorher (in dem man etwas über den Gegner und seine Absichten lernen könnte) und kein Nachher (in dem man den Nachkriegszustand korrigieren könnte) des Krieges und auch keinen Raum, auf dem er sich ausdehnen könnte; die gesamte Handlung ist darüber hinaus auf einen kurzen Zeitraum zusammengedrängt. Beide Parteien verfolgen den Zweck, den Gegner zur generellen Erfüllung des eigenen Willens zu zwingen, d. h. zur Unterwerfung (Clausewitz 1980: 191192). Daraus folgt logisch, dass sie die eigene Unterwerfung verhindern möchten. Die Gegner beginnen den Kampf und üben gegenseitig Gewalt aus. Schnell wird klar, dass immer derjenige einen Vorteil bekommt, der die Gewalt schonungsloser einsetzt (Clausewitz 1980: 192). Da der Krieg in seinen Folgen endgültig ist, steigern sich die Kriegsparteien in die maximale Gewaltanwendung hinein (Clausewitz 1980: 192). Dabei spielen Emotionen eine wichtige Rolle. Clausewitz unterscheidet zwei Gruppen von Gefühlen, die menschliches Handeln ganz allgemein motivieren können: Feindschaft bzw. Hass und Furcht bzw. Schwäche (Kondylis 1988: 20). In der zeit- und raumlosen Situation des ‚Reagenzglaskrieges’ (Modell I) kommen nur die Gefühle der Feindschaft und des Hasses zur Geltung (Clausewitz 1980: 193-194). 30
Der ‚Reagenzglaskrieg’ heißt in Clausewitz’ Terminologie „idealer“ (1980: 211), „abstrakter“ (1980: 216), „absoluter“ (1980: 952) Krieg bzw. „bloßer Begriff“ (1980: 195) des Krieges.
3.1 Modell I: Der ‚Reagenzglaskrieg’
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Ähnliches geschieht mit den Zielen, die sich die Gegner vorsetzen. Eine dosierte Zielsetzung ist im ‚Reagenzglas’ sinnlos. Mit Blick auf die Endgültigkeit des Kriegsausgangs wird jede Partei die Kampfhandlungen erst dann einstellen, wenn sie vollkommen wehrlos ist. Da beide Parteien nichts über die Ziele des Gegners wissen, müssen sie unter diesen Umständen von dessen schlimmsten Absichten ausgehen – auch die Zielsetzung eskaliert zum maximalen Ziel, nämlich der Wehrlosigkeit des Gegners (Clausewitz 1980: 194-195). Dies hat Folgen für die Kraftaufwendung der Kriegsparteien. Jede Partei wird versuchen, den Gegner knapp in der Kraftanstrengung zu überbieten, um die eigenen Kräfte zu schonen. Dazu muss jedoch die gegnerische Kraftanstrengung bekannt sein. Sie setzt sich zusammen aus der „Stärke der Willenskraft“ des Gegners (heute würde man wohl sagen: Motivation) und aus seinen Fähigkeiten. Wiederum mit Blick auf die Endgültigkeit des Ergebnisses werden die Kriegsparteien ihre Kraftanstrengung jedoch so lange wechselseitig erhöhen, bis sie jeweils zur maximalen Anstrengung gelangt sind (Clausewitz 1980: 195). Der Krieg im ‚Reagenzglas’ endet also in einer Eskalationsspirale. Maximale Gewalt, Ziele und Mittel haben einen Vernichtungskrieg zur Folge. Der Krieg unter kontrollierten Bedingungen endet in der unkontrollierten Gewalteskalation. Der ‚Reagenzglaskrieg’ kann keine historische oder zukünftige Entsprechung in der Wirklichkeit haben. Dennoch stellt er die Tiefenstruktur (LéviStrauss 1992) des Krieges dar. Er identifiziert Tendenzen, die als Potenzial in jedem wirklichen Krieg vorhanden sind. Clausewitz warnt den Leser davor, zu glauben, dass die Gewalteskalation im Krieg durch die fortgeschrittene Zivilisation verhindert wird. Auch in Kriegen, die aus purer Interessenkalkulation geführt werden, werde allein durch die systematische Anwendung physischer Gewalt immer ein Gefühl der Feindschaft eine mehr oder weniger treibende Rolle spielen (Clausewitz 1980: 193). Außerdem solle der Leser nicht dem Irrtum unterliegen, die Gewalt sei heute vom Krieg wegzudenken, nur weil sie nicht mehr so offensichtlich ist und die Kriege nicht mehr so blutig seien. In den Kriegen der zivilisierten Völker sei die Gewalt lediglich transformiert, also verwandelt, worden und sie wird gewissermaßen auf höherem Niveau fortgesetzt – und zwar lediglich um eine höhere Wirksamkeit zu erreichen (Clausewitz 1980: 193-194). Dem ‚Reagenzglaskrieg’ kann man folglich einige wichtige Erkenntnisse über den Krieg im Allgemeinen entnehmen: Machtinstrument. Der Krieg ist ein Mittel zur Ausübung von Macht. Es geht in ihm entweder darum, ein Kollektiv dazu zu zwingen, etwas zu tun oder etwas zu unterlassen. Die angewandte Gewalt hat damit nur indirekten Wert. Man könnte auch auf sie verzichten, würde der Gegner kampflos das Verlangte tun oder unterlassen.
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3 Gedankenexperiment – Die Theorie des Krieges von Clausewitz
Zweck – Ziele – Mittel. Clausewitz unterscheidet den politischen Zweck und die militärischen Ziele des Krieges. Allein dadurch wird deutlich, dass militärische Ziele nie selbstständig gedacht werden dürfen, sondern nur in Beziehung auf übergeordnete politische Machtzwecke (Kondylis 1988: 38). Die Gewaltmittel müssen schließlich so eingesetzt werden, dass die gesteckten Kriegsziele möglichst erreicht werden. Kompaktheit. Im ‚Reagenzglas’ besteht der Krieg aus einer einzigen Kampfhandlung. Wie sich zeigen wird, ist dies in wirklichen Kriegen normalerweise nicht der Fall. Es ist jedoch ein Hinweis darauf, dass auch in Kriegen, die in mehrere Kampfhandlungen zerfallen, zum einen die Ergebnisse dieser Kampfhandlungen in Beziehung zueinander stehen und zum anderen letztendlich alles auf den Zweck des ganzen Krieges bezogen werden muss. Emotionen. Nicht ohne Grund lässt Clausewitz den Faktor Emotionen bereits im Modell I des Krieges auftauchen. Der Hass auf den Feind trägt in entscheidender Weise zur Eskalation der Gewalt im Krieg bei. Eskalation. Der Krieg im ‚Reagenzglas’ lässt bereits ahnen, dass der Krieg kein sehr präzises Instrument zur Erreichung von Machtzwecken sein kann. Viel zu sehr birgt seine Tiefenstruktur die Möglichkeit ungewollter Eskalation. Kriege haben also das Potenzial zum alles umfassenden Vernichtungskrieg zu werden.31 Ungewissheit. Ungewissheit ist eine der Triebkräfte der Eskalationsspirale: Die Kriegsparteien wissen nicht, welche Ziele sich der Gegner setzt und welche Mittel er anzuwenden bereit ist, und müssen aus diesem Grund selbst ihre Anstrengungen erhöhen. Nullsummenspiel. In der Spieltheorie werden Nullsummenspiele definiert als Spiele, in denen die Summe der Gewinne und Verluste (Auszahlungen) aller Spieler gleich null ist. Bei nur zwei Spielern (Zwei-Personen-Nullsummenspiel) ist folglich der Verlust des einen der Gewinn des anderen und umgekehrt (Morrow 1994: 74-75). Die abstrakte Situation des ‚Reagenzglaskrieges’ kann als Nullsummenspiel begriffen werden: Beide Parteien bezwecken, dem Gegner ihren Willen aufzuzwängen, und beide Parteien müssen in der isolierten Situation des ‚Reagenzglases’ den Gegner völlig wehrlos machen, um diesen Zweck sicher zu erreichen. Das militärische Kriegsziel der Wehrlosigkeit „vertritt den Zweck und verdrängt ihn gewissermaßen als etwas nicht zum Kriege selbst Gehöriges“ (Clausewitz 1980: 192). Die politische Forderung tritt in den Hintergrund und der Krieg wird zur rein militärischen Auseinandersetzung. Anders gewendet: Die politische Ebene verschmilzt mit der militärischen und die 31
Roland Kaestner weist darauf hin, dass Clausewitz’ Zeitgenosse Georg Heinrich von Berenhorst (1733-1814) zuerst das Problem herausgearbeitet hatte, dass Kriege ungeeignete Instrumente sind, politische Zwecke präzise zu erreichen (2010: 88).
3.2 Modell II: Der ‚politische Krieg’
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Auseinandersetzung erfolgt nur noch auf einer Ebene – nämlich der militärischen.32 Folglich ist – analog zum Nullsummenspiel – der Gewinn des einen automatisch der Verlust des anderen. Schattierungen bzw. die Möglichkeit, dass beide Kriegsparteien als Verlierer (oder Gewinner) aus dem Spiel hervorgehen, sind ausgeschlossen. 3.2 Modell II: Der ‚politische Krieg’ Doch was geschieht, wenn man den ‚Reagenzglaskrieg’ (Modell I) Schritt für Schritt um realistischere Voraussetzungen bzw. Annahmen erweitert? Genau so geht Clausewitz im Sinne eines zweiten Gedankenexperimentes (Brown 2009) vor. Es ist dabei wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Clausewitz nun zwar vom Krieg in der „Wirklichkeit“ (1980: 195) spricht, es sich aber vielmehr um ein erweitertes Modell des ‚Reagenzglaskrieges’ handelt, welches im Folgenden ‚Modell II’ bzw. ‚politischer Krieg’ genannt wird. Wie folgendes Zitat beweist, macht Modell II den ‚Reagenzglaskrieg’ keineswegs überflüssig: [W]ie [der Krieg] sich von seinem ursprünglich strengen Begriff [d. h. dem ‚Reagenzglaskrieg’, R. B.] in den Abweichungen der Wirklichkeit bald mehr, bald weniger entfernt, hin und her spielt, aber immer unter jenem strengen Begriff wie unter einem höchsten Gesetz steht – das ... müssen wir in unserer Vorstellung festhalten ... (Clausewitz 1980: 230, H. d. V.).
Es ist hilfreich, sich als empirische Entsprechung zum Modell II einen klassischen zwischenstaatlichen Krieg des 19. Jahrhunderts vorzustellen. Zunächst lockert Clausewitz die Annahme, dass der Krieg kein Vorher, keine (wirksame) Dauer und kein Nachher hat. In anderen Worten: Er führt den Faktor Zeit in sein Modell ein. Damit ändert sich praktisch alles. Vorher. Der Krieg entsteht nicht aus dem Nichts, sondern er geht aus einem bestimmten politischen Zustand hervor. Ganz praktisch bedeutet dies, dass die kriegführenden Parteien einander kennen und daher bestimmte Vorstellungen darüber haben, wieweit der jeweils andere gehen würde (Clausewitz 1980: 196197).
32
„Wäre [der Krieg] nun ein vollkommener, ungestörter [Akt, R. B.], eine absolute Äußerung der Gewalt, wie wir ihn uns aus seinem bloßen Begriff ableiten mussten, so würde er von dem Augenblicke an, wo er durch die Politik hervorgerufen ist, an ihre Stelle treten als etwas von ihr ganz Unabhängiges, sie verdrängen und nur seinen eigenen Gesetzen folgen, so wie eine Mine, die sich entladet, keiner anderen Richtung und Leitung mehr fähig ist, als die man ihr durch vorbereitende Einrichtungen gegeben“ (Clausewitz 1980: 209, H. d. V.).
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3 Gedankenexperiment – Die Theorie des Krieges von Clausewitz
Nun kommt die oben bereits angedeutete zweite Eigenschaft (neben Hass und Feindschaft) des Menschen hinzu: Er hat eine Tendenz zur Zaghaftigkeit, Schwäche und Furcht, außerdem sind seine Fähigkeiten zur Wahrnehmung sowie seine Möglichkeiten der Informationsverarbeitung (kognitive Fähigkeiten) beschränkt (Kondylis 1988: 20).33 Dass beide Parteien dies voneinander wissen, führt bereits eine Mäßigung ihres Handelns in den vorher so dynamischen Krieg ein. Das Bild vom Menschen als einem zwiespältigen Wesen, das durch Gefühle des Hasses und der Feindschaft angetrieben und durch Gefühle der Furcht, Schwäche, Zaghaftigkeit sowie seine begrenzte Fähigkeit zur Wahrnehmung und Informationsverarbeitung34 gebremst wird, spielt als anthropologische Grundannahme eine zentrale Rolle in der Kriegstheorie von Clausewitz (Kondylis 1988: 19-20). Dauer. Im ‚Reagenzglas’ bestand der Krieg eigentlich aus einem einzigen sich steigernden Schlagabtausch. Die Dimension Zeit war im Modell ausgeblendet, die Kampfhandlung also auf eine kurze Zeitspanne zusammengedrängt. In Wirklichkeit sei dies aus strukturellen Gründen nicht möglich. Selbst wenn man alle Soldaten und Waffen gleichzeitig zum Einsatz bringen würde, könnte man doch nicht das gesamte Staatsgebiet, das für Clausewitz Teil der Streitkräfte ist, und alle Fähigkeiten der Bündnispartner gleichzeitig wirken lassen. Die damit notwendig entstehenden Unterbrechungen der Kampfhandlungen ermöglichen die Einschätzung des Gegners und somit wieder die Entfaltung menschlicher Schwäche und Zaghaftigkeit (Clausewitz 1980: 197199). Der Faktor Raum wird also indirekt, als ein das Handeln hemmender Faktor, in Modell II eingeführt. Nachher. Ein wichtiger Faktor, der die völlige Eskalation im Modellkrieg I verursacht, ist das Fehlen einer Zukunft. In Wirklichkeit ist den Kriegsparteien durchaus bewusst, dass selbst eine vollkommene Niederlage durch künftige Veränderungen wieder aufgehoben werden könnte. Genau wie der Krieg aus einem politischen Zustand heraus entstanden ist, mündet er auch in einen solchen. Diese Aussicht verbindet sich in den Kriegsparteien mit der menschlichen Schwäche und führt eine weitere Mäßigung in das Modell II ein (Clausewitz 1980: 199). Zeitdimension. Der hauptsächliche und wesentliche Unterschied zwischen den Modellen I und II liegt somit in der Einführung der Zeitdimension in das 33
34
Clausewitz spricht vom „Mensch mit seiner unvollkommenen Organisation“ (1980: 197), vom „menschliche[n] Geist ... in seiner Scheu vor allzugroßen Anstrengungen“ (1980: 199), von der „Unvollkommenheit menschlicher Einsicht und Beurteilung“ (1980: 408), der „ganzen Inkonsequenz, Unklarheit und Verzagtheit des menschlichen Geistes“ (1980: 954) und von der „natürlichen Beschränktheit und Schwäche des Menschen“ (1980: 988). Hier handelt es sich um eine offensichtliche Überschneidung mit der Systemtheorie. Denn es ist eben die beschränkte Kapazität des Menschen zur Informationsverarbeitung, die eine gezielte Reduktion von Komplexität erfordert (vgl. oben, Abschnitt 2.4).
3.2 Modell II: Der ‚politische Krieg’
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Modell II. So fragt sich Clausewitz nach der Feststellung der Eskalationstendenzen des ‚Reagenzglaskrieges’: „Wird dies jemals in der Wirklichkeit auch so sein?“ (1980: 196). Seine Antwort darauf ist eindeutig: Es würde so sein, wenn: 1. der Krieg ein ganz isolierter Akt wäre, der urplötzlich entstünde und nicht mit dem früheren Staatsleben zusammenhinge, 2. wenn er aus einer einzigen oder einer Reihe gleichzeitiger Entscheidungen bestünde, 3. wenn er eine in sich vollendete Entscheidung enthielte und nicht der politische Zustand, welcher ihm folgen wird, durch den Kalkül schon auf ihn zurückwirkte (Clausewitz 1980: 196).
In anderen Worten würde der Krieg in der Wirklichkeit tatsächlich so sein wie der ‚Reagenzglaskrieg’, wenn es keine Vergangenheit gäbe, wenn er keine Dauer hätte und nicht in einen zukünftigen Zustand hineinführen würde – die Einführung der Zeitdimension ist nicht weniger als die Wasserscheide zwischen ‚Reagenzglaskrieg’ und ‚politischem Krieg’! Die anderen wichtigen Faktoren, die den Übergang zwischen den Modellen ebenfalls bedingen, wie individuelle menschliche Eigenschaften, die Einführung des Raums, die Akteurseigenschaften der kriegführenden Kollektive, Allianzbeziehungen und Eigenschaften des internationalen Systems erhalten bei Clausewitz durch die Zeitdimension ihre Relevanz im Modell. Damit nimmt Clausewitz eine Erkenntnis der heutigen Sozialforschung sehr früh vorweg: „Ein entscheidender Vorteil temporalanalytischer Zugangsweisen zu gesellschaftstheoretischen Fragestellungen besteht darin, dass Zeitstrukturen und -horizonte einen, wenn nicht den systematischen Verknüpfungspunkt für Akteurs- und Systemperspektiven darstellen“ (Rosa 2005: 24-25, H. i. O.). Denn auch Clausewitz gelingt durch die Einführung der Zeitdimension eine elegante Verknüpfung zwischen der puristischen Akteursperspektive des Modells I und systemischen – aber auch weiteren – Faktoren in Form des Modells II. Diese systematische Verknüpfung wird im Folgenden genauer erläutert. Allein indem man den ‚Reagenzglaskrieg’ in der Zeit (und indirekt auch im Raum) verortet, erfährt der Krieg eine entscheidende Verwandlung. Die Eskalationsdynamik des Krieges schwächt sich ab und menschliche Schwächen kommen zum Tragen. An die Stelle der ‚Maximalstrategien’ der Kriegsparteien tritt die Notwendigkeit, die Strategien des Gegners, d. h. seine Kriegszwecke, ziele und -mittel, einzuschätzen: „Wird das Äußerste nicht mehr gefürchtet und nicht mehr gesucht, so bleibt dem Urteil überlassen, statt seiner die Grenzen für die Anstrengung festzustellen, und dies kann nur aus den Daten, welche die Erscheinungen der wirklichen Welt darbieten, nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen geschehen“ (Clausewitz 1980: 199, H. i. O.).
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3 Gedankenexperiment – Die Theorie des Krieges von Clausewitz
Damit verliert der Krieg aus strukturellen Gründen seinen Charakter als Nullsummenspiel und damit seine Tendenz zur ungebremsten Steigerung. In der isolierten Situation des ‚Reagenzglaskrieges’ hatte das militärische Kriegsziel den politischen Zweck „gewissermaßen verschlungen“ (Clausewitz 1980: 200), die politische Ebene ging gewissermaßen in der militärischen auf. In der rein militärischen Auseinandersetzung war der Gewinn des einen der Verlust des anderen; diese konnte damit spieltheoretisch als Nullsummenspiel begriffen werden. Im Modell II entfalten sich diese Ebenen wieder zu zwei analytisch getrennten Handlungsebenen. Der politische Zweck wird zur zentralen, variablen Bestimmungsgröße für das Handeln der Kriegsparteien. Nun können beispielsweise Gewinne auf der militärischen Ebene durchaus Verluste auf der politischen Ebene nach sich ziehen oder umgekehrt. Damit ist der Verlust des einen nicht mehr zwangsläufig der Gewinn des anderen. Durch die Einführung einer weiteren Handlungsebene wird der Krieg des Modells II – spieltheoretisch gesprochen – zu einem wesentlich komplexeren Nicht-Nullsummenspiel (Morrow 1994: 75).35 ‚Politischer Krieg’. Der ‚Reagenzglaskrieg’ des Modells I wird zum ‚politischen Krieg’ des Modells II. Clausewitz legt jedoch einen speziellen Politikbegriff zugrunde: Politik meint bei ihm zweierlei. Zum einen das Handeln einer politischen Führungsperson oder Führungselite, ähnlich unserem heutigen Alltagsverständnis des Begriffs (subjektiver Politikbegriff). Zum anderen aber viel mehr: Politik ist für ihn gleich dem gesamten „gesellschaftlichen Verband“ 35
Für eine ähnliche Verwendung der Begriffe Nullsummenspiel bzw. Nicht-Nullsummenspiel vgl. die ausgezeichnete Analyse von Stahel (1996: 127-152). Er ordnet den beiden Begriffen zwei „Strategien des wirklichen Kriegs“ zu: nämlich die „Vernichtungsstrategie von Napoleon“ (Nullsummenspiel) bzw. die „Abnützungsstrategie von Friedrich dem Großen“ (NichtNullsummenspiel) (Stahel 1996: 140, H. d. V.). In der vorliegenden Untersuchung werden die Begriffe hingegen auf zwei theoretische Modelle des Krieges – den ‚Reagenzglaskrieg’ und den ‚politischen Krieg’ – bezogen. Dies hat zwei Konsequenzen: Erstens kann sich der empirische Krieg hier in seiner Austragung zwar einem Nullsummenspiel nähern, dessen Implikationen in der Realität jedoch nie ganz erreichen, so dass der politische Zweck in der Strategieformulierung immer zu berücksichtigen bleibt. Denn: „Ein solcher [Vernichtungs-]Krieg sieht ganz unpolitisch aus ... Aber offenbar fehlt das politische Prinzip hier ebensowenig als bei anderen Kriegen, nur fällt es mit dem Begriff der Gewalt und Vernichtung ganz zusammen und verschwindet unserem Auge“ (Clausewitz 1980: 1185, Fn. 16, Anm. d. Verf.). Zweitens: Indem der empirische Krieg in der vorliegenden Untersuchung losgelöst von beiden theoretischen Modellen betrachtet wird, eröffnet sich ein breites Spektrum unterschiedlicher Strategien – und findet eben keine Verengung auf nur zwei Strategien statt. Im Gegenteil kommt Clausewitz nach seiner Analyse der diversen anderen Variablen, die – neben dem politischen Zweck – die Form des Krieges beeinflussen, zu dem Schluss, dass die Komplexität des Umfelds und die resultierende Komplexität der Handlungsmöglichkeiten und -kombinationen so enorm ist, dass es eines strategischen „Genies“ bedarf, um zumindest eine gewisse Aussicht auf Erreichung des politischen Zwecks zu haben (1980: 251).
3.2 Modell II: Der ‚politische Krieg’
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(Clausewitz 1980: 990) (objektiver Politikbegriff).36 Der Staat wird als ein organisches Ganzes gesehen (Clausewitz 1980: 993). Die Streitkräfte sind Teil dieses Ganzen, das heißt, sie sind eingebettet in den „gesellschaftlichen Verband“ und können gar nicht losgelöst von ihm gedacht werden. Die Gesellschaft entspricht den „Wurzeln“, die den „Baum“ der Streitkräfte „ernährt“ (Clausewitz 1980: 595). Aus diesem Grund zählt Clausewitz auch das Territorium und die geografischen Bedingungen eines Staates zu den Streitkräften hinzu (1980: 602610). Staaten sind für ihn mehr oder weniger komplexe Organisationen, die wiederum in das internationale System eingebettet sind, welches den wichtigsten Teil der Politik bzw. des „politischen Verkehrs“ (Clausewitz 1980: 990) ausmacht (Kondylis 1988: 42). Führen zwei Staaten Krieg gegeneinander, geht es eigentlich um die Beeinflussung des gegnerischen Systems mit den Mitteln des eigenen unter den Bedingungen des internationalen Systems, in das beide Staaten wiederum eingebettet gedacht werden müssen (Kaestner 2006: 18-22). In anderen Worten: Clausewitz’ Politikbegriff schließt die Analyseebene des internationalen Systems ein. Wieder zeigt sich, dass die Einführung der Zeitdimension – in diesem Fall via Entfaltung der politischen Handlungsebene – die systematische Verknüpfung der Analyseebenen von Akteur und System ermöglicht. Das berühmte Diktum von Clausewitz, Krieg sei die Fortsetzung der Politik (1980: 210), kann nur richtig verstanden werden, wenn man sich die doppelte Bedeutung des Politikbegriffs vor Augen führt. Der Krieg entsteht aus den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen, zu denen auch die internationale Politik zählt (objektiver Politikbegriff). Das subjektive politische Handeln kann nur in dem durch die objektiven Faktoren vorgegebenen Möglichkeitsraum erfolgen, zumindest wenn es von Erfolg gekrönt sein soll. Durch die organische Verbindung von Gesellschaft und Politik löst sich die Grenze zwischen Kriegführung und Politik auf, aber nur insofern, als der Krieg ganz dem Politischen untergeordnet wird, einfach nur eine spezielle Äußerung des Politischen ist (Clausewitz 1980: 998). Unterschiedliche politische Zwecke. Im ‚Reagenzglaskrieg’ (Modell I) gab es nur einen Kriegszweck, nämlich den Gegner zur vollständigen Erfüllung des eigenen Willens zu zwingen. Im ‚politischen Krieg’ (Modell II) wird diese Annahme – wie geschildert – nun gelockert. Der (subjektive) politische Zweck ist nun variabel. Da Krieg für Clausewitz jedoch ein Machtinstrument ist, ist das Spektrum der politischen Zwecke einigermaßen überschaubar. Es reicht vom positiven Zweck der vollständigen Kontrolle über den Gegner in Abstufungen bis hin zum negativen Zweck der Zurückweisung des Machtanspruchs des 36
Die Differenzierung des Politikbegriffs von Clausewitz in einen subjektiven und einen objektiven Politikbegriff ist Kondylis (1988: 74-75) entnommen.
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3 Gedankenexperiment – Die Theorie des Krieges von Clausewitz
Gegners (Clausewitz 1980: 214-222). Da subjektive und objektive Politik eine Einheit bilden, werden subjektive politische Zwecke eines Akteurs stets im Rahmen der objektiven Politik formuliert und sind folglich gleichzeitig auf die subjektive Politik des Gegners sowie deren objektiven politischen Rahmen bezogen. Herrscht die Zweckrationalität bei beiden Kriegführenden vor, so ist der politische Zweck die wichtigste Variable, die die Form des Krieges bestimmt – vom „Vernichtungskriege hinab bis zur bloßen bewaffneten Beobachtung“ (Clausewitz 1980: 201). Der Zusammenhang zwischen politischem Zweck und Kriegsform ist jedoch keineswegs eine logische Implikation, das heißt, dass man nicht notwendig aus dem politischen Zweck der Parteien auf die Kriegsform schließen kann. Auch dies hat seinen Grund im politischen Charakter des Krieges und zwar politisch im Sinne des objektiven Politikbegriffs, der nun auch variabel ist. Herrschen beispielsweise starke Spannungen bzw. Bedrohungsgefühle zwischen den Mitgliedern der Kollektive kann auch ein kleiner politischer Zweck einen Vernichtungskrieg hervorrufen. Umgekehrt können große positive Zwecke auch zu wenig intensiven Kampfhandlungen führen (Clausewitz 1980: 200-201). Die Kriegsform ergibt sich also ebenfalls aus dem Zusammenwirken von objektiver und subjektiver Politik. Zweckrationalität. Aus diesen Gründen lässt sich, vor dem Hintergrund der von Natur aus zur Bequemlichkeit neigenden Menschen, die ständige maximale Anstrengung nicht mehr durchsetzen. Es entsteht auf beiden Seiten eine gewisse Zweckrationalität. Und zwar positiv, im Anstreben von enger gefassten Zielen, wie oben geschildert. Und auch negativ: Der unvollkommene Mensch ist nur bis zu einem gewissen Grad bereit, Schaden zu ertragen. Geht der Schaden über diesen Grad hinaus, wird der Mensch lieber den politischen Zweck aufgeben, also der Forderung des Gegners nachgeben, als weiter den Schaden zu ertragen (Kondylis 1988: 24-26). Die Zweckrationalität wird von Clausewitz nicht einfach angenommen, sondern ergibt sich aus dem politischen Charakter des Krieges, also daraus, dass er aus einem – wie auch immer organisierten – Kollektiv heraus entsteht und geführt wird. Sie ist damit variabel! In dem Maße wie sich der Krieg dem ‚Reagenzglaskrieg’ nähert, verliert die Zweckrationalität gegenüber den Gefühlen des Hasses und der Feindschaft wieder an Bedeutung. Strategie und Taktik. Im ‚Reagenzglaskrieg’ bestand der Krieg aus einer einzigen großen Kampfhandlung. Zum einen lag dies daran, dass die Zeit auf eine kurze Spanne zusammengedrängt war, also für die fortlaufende Handlung eine vernachlässigbare Rolle spielte. Zum anderen waren die Kriegsparteien als einheitliche Akteure (heute so genannte ‚black boxes’) modelliert. Im ‚politischen Krieg’ (Modell II) werden nun beide Annahmen gelockert: Die einheitlichen Akteure entfalten sich zu politischen Akteuren (objektiver Politik-
3.2 Modell II: Der ‚politische Krieg’
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begriff), also zu organisierten Kollektivakteuren, die Raum, d. h. Territorium, einnehmen. Die Dimension Zeit wird ebenfalls wieder verstärkt in den Krieg eingeführt und es kommt zur beschriebenen Entschleunigung des Krieges. Die Faktoren Organisation der beiden Parteien, Raum und Zeit zusammen genommen führen dazu, dass die Kampfhandlung in mehrere einzelne Teilkampfhandlungen zerfällt. Es entstehen Taktik und Strategie (Clausewitz 1980: 422, 1966b: 741; Kondylis 1988: 18). Taktik beschäftigt sich mit der Führung der Einzelkampfhandlungen, die man Gefechte nennt, und Strategie mit der Koordination der Gefechte zur Erreichung des endgültigen politischen Zwecks (Clausewitz 1980: 269-278, 1966b: 741-742). In der einzigen großen ‚Schlacht’ des ‚Reagenzglaskrieges’ war diese Unterscheidung noch nicht sinnvoll.37 Clausewitz leitet also auch die Begriffe von Strategie und Taktik aus dem politischen Charakter des Krieges ab. Wiederum entstehen variable Begriffe! Je nach zeitlicher Dichte der Kriegshandlung, Größe und Beschaffenheit des Raums, innerhalb dessen sie stattfindet, und der Organisation der beteiligten Akteure können Strategie und Taktik Unterschiedliches bedeuten. Gleiches gilt folglich auch für den Begriff des Gefechts. Stillstand. Clausewitz stellt an dieser Stelle des Gedankengangs fest, dass alle zusätzlichen Annahmen des Modells II gegenüber dem ‚Reagenzglaskrieg’ noch nicht notwendig Stillstände in den Kriegshandlungen erklären. Denn trotz aller organisatorischen Schwierigkeiten müsste doch immer diejenige Kriegspartei den Krieg gewinnen, die möglichst schnell und entschlossen handelt. Wäre dies so, müsste der Krieg wieder in einer Eskalationsspirale enden. Stattdessen sind in vielen Kriegen lange Phasen des Stillstands zwischen den Kampfhandlungen beobachtbar (Clausewitz 1980: 201-202). Wie ist dies möglich?
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Die monolithische Geschlossenheit der ‚Ringer’ in Modell I trug zur Intensität des Konfliktaustrags bei. Die Vielfalt unterschiedlicher Interessen und Motivationen innerhalb der Akteure in Modell II führt hingegen zu einer potentiellen Mäßigung der Gewaltanwendung (Clausewitz 1980: 960-961). Dennoch ist Clausewitz kein Vertreter der These vom demokratischen Frieden, die auf Kant zurückgeht und einen Zusammenhang zwischen demokratischem Herrschaftssystem und friedfertiger Außenpolitik postuliert (Kant 1965; eine Überblicksdarstellung neuerer Forschungen zu diesem Thema bietet Geis (2006)). Denn seines Erachtens hat die stärkere politische Einbeziehung der Öffentlichkeiten der europäischen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Kriegführung näher dem Modell I gerückt (Clausewitz 1980: 970-971); die Kriege wurden fortan „mit der ganzen Schwere der gegenseitigen Nationalkraft“ (Clausewitz 1980: 413) geführt. Die Intensität der Kriegführung hängt für Clausewitz nicht von der Staatsform ab, sondern vom Grad der Mobilisierung der Gesellschaft und der Schaffung eines (vermeintlichen) kollektiven Interesses – kurz: vom Grad der Angleichung eines Kollektivs an das Bild des monolithischen Ringers. Überdies weist Clausewitz auch die weitere liberale Hypothese, derzufolge Gewaltminderung „notwendige Folge des fortschreitenden Geistes“ sei als „Irrtum“ zurück (1980: 969).
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3 Gedankenexperiment – Die Theorie des Krieges von Clausewitz
Überlegenheit der Verteidigung. Clausewitz’ Antwort ist eine kriegstheoretische: der Stillstand erklärt sich dadurch, dass es zwei wesentlich unterschiedliche Formen des Kampfes (ergo des wechselseitigen Mitteleinsatzes) gibt, die Verteidigung (Defensive) und den Angriff (Offensive), die unterschiedlich stark sein müssen. Nur die objektive Überlegenheit der Verteidigung, kann eine objektive Erklärung dafür bieten, dass eine Kriegspartei das Abwarten gegenüber dem Handeln vorzieht. Subjektive Faktoren allein können den Stillstand hingegen nicht erklären, da beide Kriegsparteien ihrer Wirkung ausgesetzt sind (Clausewitz 1980: 204-206). Clausewitz definiert die Verteidigung durch vier Gesichtspunkte: (a) Der „Begriff“ der Verteidigung ist „[d]as Abwehren eines Stoßes“ (1980: 613); (b) ihr „Merkmal“ ist „[d]as Abwarten dieses Stoßes“ (1980: 613); (c) doch da „eine absolute Verteidigung dem Begriff des Krieges völlig widerspricht,38 weil bei ihr nur der eine Krieg führen würde, so kann auch im Kriege die Verteidigung nur relativ sein, und jenes Merkmal [das Abwarten, R. B.] muß also nur auf den Totalbegriff angewendet, nicht auf alle Teile von ihm angewendet werden“ (1980: 613). Clausewitz erläutert dies an einem Beispiel: „Man kann also in einem verteidigenden Feldzug angriffsweise schlagen, in einer verteidigenden Schlacht angriffsweise seine einzelnen Divisionen gebrauchen, endlich in der einfachen Aufstellung gegen den feindlichen Sturm schickt man ihm sogar noch die offensiven Kugeln entgegen“ (1980: 614). (d) Schließlich ist der „Zweck“ der Verteidigung das „Erhalten“ (Clausewitz 1980: 614, H. i. O.); Clausewitz nennt ihn den „negativen Zweck“ (1980: 615). Für Clausewitz sind die Begriffe von Angriff und Verteidigung nicht in jeder Hinsicht „wahre logische Gegensätze“ (1980: 869). Zwar ist (a) der Begriff des Angriffs der „Stoß“ (Clausewitz 1980: 871) und (b) damit sein Merkmal eben nicht das Abwarten, sondern die Initiative. Doch während „die Verteidigung ohne Rückstoß gar nicht gedacht werden kann ...“, ist es so (c) „aber nicht beim Angriff; der Stoß oder der Akt des Angriffs ist an sich ein vollständiger Begriff, die Verteidigung ist ihm an sich nicht nötig, aber Zeit und Raum, an welche er gebunden ist, führen ihm die Verteidigung als ein notwendiges Übel zu“ (Clausewitz 1980: 871, H. d. V.). (d) Schließlich ist – wiederum spiegelbildlich zur Verteidigung – der „Zweck“ des Angriffs die „Eroberung“ (Clausewitz 1980: 875); Clausewitz nennt ihn den „positiven Zweck“ (1980: 615).
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Denn es „entsteht der eigentliche Begriff des Krieges nicht mit dem Angriff, weil dieser nicht sowohl den Kampf als die Besitznahme zum absoluten Zweck hat, sondern er entsteht erst mit der Verteidigung, denn diese hat den Kampf zum unmittelbaren Zweck, weil Abwehren und Kämpfen offenbar eins ist“ (Clausewitz 1980: 644).
3.2 Modell II: Der ‚politische Krieg’
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Die Überlegenheit der Verteidigung ergibt sich für Clausewitz zunächst aus dem bescheideneren Zweck, den sie per definitionem verfolgt: „Erhalten ist leichter als gewinnen, schon daraus folgt, daß die Verteidigung bei vorausgesetzten gleichen Mitteln leichter sei als der Angriff“ (1980: 614). Clausewitz bleibt nicht bei dieser Behauptung stehen, sondern begründet sie weiter: „Worin liegt aber die größere Leichtigkeit des Erhaltens oder Bewahrens? Darin, daß alle Zeit, welche ungenutzt verstreicht, in die Waagschale des Verteidigers fällt. Er erntet, wo er nicht gesäet hat. Jedes Unterlassen des Angriffs aus falscher Ansicht, aus Furcht, aus Trägheit, kommt dem Verteidiger zugute“ (1980: 614, H. d. V.). Zwar kommt Clausewitz zu dem Schluss, dass die Verteidigung „die stärkere Form des Kriegführens“ ist (1980: 616, H. i. O.). Doch liegen die Grenzen dieser Überlegenheit der Verteidigung bereits in ihrem Begriff enthalten, wie Clausewitz an anderer Stelle am Beispiel des „reine[n] Widerstand[s]“ (1980: 220, H. i. O.) demonstriert: „Unstreitig ist diese negative Absicht in ihrem einzelnen Akt nicht so wirksam, wie eine in gleicher Richtung liegende positive sein würde, vorausgesetzt, daß sie gelinge; aber darin liegt eben der Unterschied, daß jene eher gelingt, also mehr Sicherheit gibt. Was ihr nun an Wirksamkeit im einzelnen Akt abgeht, muß sie durch die Zeit, also durch die Dauer des Kampfes, wieder einbringen“ (1980: 220, H. d. V.). Mit anderen Worten muss sich die Verteidigung ihre Vorteile teuer erkaufen: Die Verfolgung ihrer bescheideneren Zwecke ergibt eben auch nur bescheidenere Wirkungen und diese müssen ausgeglichen werden, entweder durch das „Zurückverlegen der Handlung in der Zeit und, insofern der Raum damit in Verbindung steht, auch im Raum, soweit es die Umstände gestatten“ (Clausewitz 1980: 229, H. i. O). Vorteilhaft an der Verteidigung ist die größere Sicherheit, also Erfolgsquote, die sie gibt. Das heißt jedoch konkret, dass der Verteidiger – zumindest temporär – enorme Verluste an Zeit und Raum in Kauf nehmen und – als Kollektiv – ertragen können muss. So heißt es an dieser Stelle dann – bezüglich einer Strategie, die stark auf Verteidigung setzt – auch weit weniger euphorisch: „Die einzige notwendige Wirkung, welche das Übergewicht des negativen Bestrebens hat, ist das Aufhalten der Entscheidung, so daß der Handelnde sich gewissermaßen in das Abwarten der entscheidenden Augenblicke hineinflüchtet“ (Clausewitz 1980: 229). Doch die Überlegenheit der Verteidigung ergibt sich nicht nur aus ihrem geringeren Anspruch und dem damit verbundenen Zeitgewinn. Sie entsteht außerdem durch das je unterschiedliche Verhältnis, welches Angriff und Verteidigung zu ihrem Gegenstück haben (vgl. oben die definitorischen Merkmale (c) und (d)). Denn die Verteidigung kann das ihr wesentlich zugehörige Element des Angriffs positiv für sich nutzen, ist sie doch ihrem Begriff nach „kein unmittelbares Schild, sondern ein Schild, gebildet durch geschickte Streiche“ (Clausewitz
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3 Gedankenexperiment – Die Theorie des Krieges von Clausewitz
1980: 614). Auch der Angriff ist „kein homogenes Ganzes, sondern mit der Verteidigung unaufhörlich vermengt“ (Clausewitz 1980: 871). Doch gehört ihm diese nicht wesentlich an und ist aus seiner Perspektive lediglich „als ein notwendiges Übel“ zu betrachten (Clausewitz 1980: 871). Aus Sicht des Angreifers, der ja per definitionem erobern möchte, also fortschreitend gedacht werden muss, entsteht dieses „notwendige Übel“ aus zwei Gründen: Erstens gibt es im Fortschreiten „Ruhepunkte“, in denen der „Zustand der Verteidigung von selbst [eintritt]“ (Clausewitz 1980: 871). Zweitens muss „der Raum, welchen die vorschreitende Streitmacht hinter sich läßt und den sie zu ihrem Bestehen notwendig braucht, nicht immer durch den Angriff an sich gedeckt, sondern muß besonders geschützt werden“ (Clausewitz 1980: 871). Während der Verteidiger die Verteidigung als „wirksame Vorbereitung zum Angriff“ (Clausewitz 1980: 871) nutzen kann, bedeutet sie für den Angreifer „bloßen Zeitverlust ...“, der seine „Wirkung vermindern muss“ (Clausewitz 1980: 872). Kurz: Was der Angreifer „von der Verteidigung mit sich herumschleppen muß, sind die schlimmsten Elemente derselben“ (Clausewitz 1980: 872). Es ist sogar so, „daß jene Überlegenheit der strategischen Verteidigung eben zum Teil darin ihren Grund hat, daß der Angriff selbst nicht ohne Beimischung von Verteidigung sein kann, und zwar von einer Verteidigung viel schwächerer Art“ (Clausewitz 1980: 872, H. i. O.). Ob Clausewitz’ Theorie der Überlegenheit der Verteidigung auch heute noch Gültigkeit hat, hängt im Großen und Ganzen von zwei Faktoren ab. Zum einen taucht die Überlegenheit der Verteidigung erst in Modell II auf. Unter den Bedingungen extremer Beschleunigung des Modells I verschwindet sie, da der wesentliche Vorteil der Verteidigung in ihrer Nutzung der Zeit liegt. Umgekehrt muss der „wesentliche Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung immer mehr verschwinden“, wenn alle Kriegsparteien nur geringfügige Zwecke verfolgen (Clausewitz 1980: 825). Zum anderen ist die Gültigkeit der Theorie davon abhängig, auf was sich die Begriffe „Erobern“ und „Erhalten“ in einer gegebenen historischen Epoche beziehen. Clausewitz geht von territorialer Eroberung bzw. Erhaltung aus. Es bleibt zu durchdenken, ob seine Logik sich z. B. auf den Cyberspace, den Weltraum oder andere Facetten von politischer Herrschaft als die Kontrolle eines Territoriums übertragen lässt. Subjektive Faktoren. Für Clausewitz unterscheidet sich der Krieg von allen anderen sozialen Prozessen dadurch, dass er im Medium der Gefahr, und zwar der Todesgefahr, geführt wird (Sofsky 2005). Bereits im ‚Reagenzglaskrieg’ wurde auf die Wirkung des subjektiven Faktors „Feindschaft“ auf die Kampfhandlung hingewiesen: Sie wirkte als eine Art ‚Brandbeschleuniger’ für die eskalierende Gewalt. Alle anderen subjektiven Faktoren wurden ausgeblendet. Im ‚politischen Krieg’ (Modell II) ändert sich dies: Um unter den Bedingungen der
3.2 Modell II: Der ‚politische Krieg’
101
Gefahr des Krieges bestehen zu können, müssen die Kriegführenden besondere Eigenschaften ausbilden. Vor allem aber eine: Mut (Clausewitz 1980: 207-209). Die Gefahr hat dabei verschiedene ‚Distanzen’, je nachdem wie nahe man den eigentlichen Kampfhandlungen kommt. Während die Gefahr mit zunehmender Entfernung vom Kampfgeschehen Handeln und Wahrnehmung des Einzelnen weniger beeinträchtigt, kann sie jedoch, in der indirekten Form der Last der Verantwortung für die Leben anderer, für die militärische Führung auch aus der Entfernung große Wirkung entfalten (Clausewitz 1980: 253-255). Aus diesem Grund fordert Clausewitz ganz unterschiedliche Eigenschaften für einfache Soldaten, Offiziere, Generäle und den Feldherrn (1980: 249). Eine gute Kampfmoral der Armee und eine hervorragende Führung können auch starke Unterlegenheit ausgleichen. Subjektive Faktoren spielen für Clausewitz eine enorm wichtige Rolle – und machen den Krieg noch unberechenbarer. Zufall. Erweitert man das Modell II nun noch um die Annahme der Rolle des Zufalls im Krieg wächst die Komplexität ins Unermessliche (Clausewitz 1980: 207). Friktion. Das Denken von Clausewitz ist – ähnlich anderen Denkern seiner Zeit – ohne Zweifel von Vorstellungen der experimentellen Physik beeinflusst. Zwar möchte er letztlich seine Disziplin der Kriegsforschung als eigenständiges Erkenntnisgebiet von diesen Vorstellungen emanzipieren. Doch bedient sich Clausewitz, der ein geübter Didaktiker war,39 mit Vorliebe Bilder aus der Physik, wie ja bereits durch die gesamte bisher dargelegte Methodik deutlich wurde. Der kriegstheoretisch zentrale Begriff der Friktion ist der Mechanik, einem Teilgebiet der Physik, entlehnt. Friktion bedeutet eigentlich Reibung. Wie Strategie und Taktik entsteht Friktion beim Übergang vom ‚Reagenzglaskrieg’ zum Modell II und zwar durch die Einführung der objektiven Politik. Die wachsende organisatorische Komplexität der Kriegsparteien, verbunden mit der Vorstellung, dass diese ein organisches Ganzes bilden, führt dazu, dass kleine Schwierigkeiten, die durch ‚Reibungen’ einzelner Teile entstehen, enorm große Wirkung auf den ganzen Apparat entfalten können (Clausewitz 1980: 261-264). Faktoren, die solche Friktionen auslösen können, sind die körperliche Anstrengung im Krieg (Clausewitz 1980: 256-257), die bereits geschilderte Gefahr (Clausewitz 1980: 253-255) und allgemeine Schwierigkeiten der Informationsgewinnung (Clausewitz 1980: 258-260). Der Gewinnung von Informationen im Krieg (bei Clausewitz „Nachrichten“ genannt, 1980: 258) stehen nicht nur rein technische Probleme entgegen. Auch die Tatsache, dass die Gegenseite an der Zurück39
So unterrichtete er zwischen 1810 und 1812 den preußischen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV. in Kriegstheorie. Außerdem hielt er zwischen 1810 und 1811 seine „Vorlesungen über den kleinen Krieg“ (Clausewitz 1966a) an der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin (vgl. Heuser 2005: 5), die unten (Abschnitt 5.1) analysiert werden.
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3 Gedankenexperiment – Die Theorie des Krieges von Clausewitz
haltung oder Verfälschung von Informationen interessiert ist, führt dazu, dass ständig Entscheidungen unter unsicheren Bedingungen getroffen werden müssen – und dies im Medium der Todesgefahr: für die eigene Person und mit steigendem Rang für eine wachsende Anzahl anvertrauter Personen. 3.3 Zusammenfassung des Gedankenexperiments Zusammenfassend macht Modell II die im ‚Reagenzglaskrieg’ identifizierten Begriffe und Tendenzen also nicht ungültig. Vielmehr wurde der ‚Reagenzglaskrieg’ Schritt für Schritt um weitere Annahmen ergänzt und jeweils analysiert, welche Folgen jede Ergänzung haben würde. Mit dem ‚Reagenzglaskrieg’ legt Clausewitz ein schlankes Modell des Krieges vor, welches stark von der historischen Vielgestaltigkeit des Krieges abstrahiert. Es ist – in den Worten Webers – „gegenüber der konkreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer ...“ (1972: 9, H. i. O.), bietet dafür jedoch die „gesteigerte Eindeutigkeit“ (1972: 10) eines begrifflich „reinen (‚Ideal’-)Typus“ (1972: 10, H. i. O.) des Krieges. Das Modell des ‚politischen Krieges’ enthält hingegen Variablen, deren Ausprägung in einem empirischen Krieg den Grad der Abweichung dieses Krieges von der maximalen Eskalationsdynamik des ‚Reagenzglaskrieges’ erklärt. Es entsteht eine Skala, die vom alle gesellschaftlichen Bereiche der Kriegsparteien umfassenden „Vernichtungskriege hinab bis zur bloßen bewaffneten Beobachtung“ (Clausewitz 1980: 201) reicht. Auf ihr lassen sich empirische Kriege verorten.40 Eben durch diesen Aufbau seiner Theorie verhindert Clausewitz, dass man von einer unerwartet dynamischen Form des Krieges überrascht werden kann. Dreifaltigkeit. Clausewitz selbst schließt seine Analyse dementsprechend auch nicht mit einer neuen Kriegsdefinition (Kondylis 1988: 27). Stattdessen fasst er unter dem Begriff der „Dreifaltigkeit“ die Ergebnisse der gesamten Analyse zusammen: Für die Gestalt eines Krieges spielen gemäß dieses Bildes drei variable Größen eine wichtige Rolle. Erstens der Grad der Feindschaft zwischen den Kriegsparteien; zweitens die objektiv und subjektiv bedingte Fähigkeit der Einschätzung des gegnerischen Handelns basierend auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Und schließlich drittens das Maß der Zweckrationalität der Handelnden (Clausewitz 1980: 212-213).
40
Analog schreibt Weber: „In allen Fällen ... entfernt sie [die Soziologie, R. B.] sich von der Wirklichkeit und dient der Erkenntnis dieser in der Form: daß durch Angabe des Maßes der Annäherung einer historischen Erscheinung an einen oder mehrere dieser [idealtypischen, R. B.] Begriffe diese eingeordnet werden kann.“ (1972: 10, H. i. O.).
3.3 Zusammenfassung des Gedankenexperiments
103
Alle drei identifizierten Größen finden sich auf allen von Clausewitz genannten Ebenen der Kriegsparteien (Politische Führung, Streitkräfte, öffentliche Meinung) wieder (1980: 213). Allerdings in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Bei der politischen Führung herrsche die Zweckrationalität stärker vor, bei den Streitkräften die Fähigkeit zur Kalkulation des gegnerischen Handelns; schließlich spiele in der öffentlichen Meinung das Maß der Feindschaft eine größere Rolle. Alle drei Größen sind jedoch auch auf allen anderen Ebenen der Kriegsparteien (Politik, Streitkräfte, öffentliche Meinung) von Bedeutung (Kondylis 1988: 27). Clausewitz erfasst die starke historische Wandelbarkeit von Kriegen im Bild des „Chamäleons“ (1980: 212). Die ‚Farbe’, die das ‚Chamäleon’ annimmt, hängt jedoch keineswegs nur von der Ausprägung der variablen Größen der „Dreifaltigkeit“ ab. Alle im ‚Reagenzglaskrieg’ und im Übergang zu Modell II entwickelten Begriffe, Variablen und Tendenzen müssen im Auge behalten werden, um eine zentrale strategische Aufgabe in Angriff zu nehmen: die Identifikation des Kriegstyps, mit dem man es zu tun hat.
3.3 Zusammenfassung des Gedankenexperiments
105
4 Clausewitz trifft Luhmann
Ziel dieses Kapitels ist die Entwicklung eines Analysemodells, in welchem Clausewitz’ Erkenntnisse über die Theorie des Krieges (vgl. oben, Kapitel 3), seine methodischen Einsichten (vgl. oben, Abschnitte 2.1 bis 2.3 und 2.8 bis 2.9) sowie Luhmanns Erkenntnisse über Entscheidungsprozesse in organisierten Sozialsystemen (vgl. oben, Abschnitte 2.4 bis 2.7) miteinander verbunden werden.41 Die Überführung von Clausewitz’ Kriegstheorie in ein Analysemodell, das den Anforderungen moderner sozialwissenschaftlicher Theoriebildung genügt, stellt bisher eine Forschungslücke dar. Doch ist die Konstruktion eines solchen Modells überhaupt sinnvoll und möglich? Diese Frage kann nur dann affirmativ beantwortet werden, wenn sich Clausewitz’ Theorie prinzipiell an die Methodik der modernen Sozialwissenschaften anschließen lässt (vgl. auch oben, Abschnitt 2.4). Hinweise dafür, dass dies möglich ist, ergeben sich zunächst aus dem Werk von Clausewitz selbst. So ordnet er den Krieg als Forschungsgegenstand grundsätzlich in das „Gebiet des gesellschaftlichen Lebens“ ein und rückt ihn methodisch in die Nähe von Ökonomie und Politik (Clausewitz 1980: 303). Einen zweiten Hinweis auf die sozialwissenschaftliche Methodik von Clausewitz liefert sein im vorigen Kapitel erörterter ‚doppelter Politikbegriff’, demzufolge Politik nicht nur das Handeln von Führungseliten umfasst, sondern Politik (dem aristotelischen Politikbegriff ähnlich) auch „in dem gesellschaftlichen Zustande, sowohl der Staaten in sich als unter sich“ (1980: 192) begründet ist (Kondylis 1988: 71-78). Die sozialwissenschaftliche Qualität von Clausewitz’ Werk ist dementsprechend auch in der Literatur häufig gewürdigt worden (Klinger 2006; Vowinckel 1993; Münkler 1992; Kondylis 1988; Aron 1980). Der Begriff des menschlichen Handelns steht im Zentrum des sozialwissenschaftlichen Forschungsinteresses (Weber 1972: 1). Dies praktisch vorwegnehmend gründet Clausewitz seine Theorie auf den Begriff des Handelns im Krieg. Folglich ist Clausewitz’ Theorie von sozialwissenschaftlicher Seite als Handlungstheorie eingestuft worden (Hetzler 1993; Kondylis 1988: 64-95). 41
Das vorliegende Kapitel ist meiner früheren Veröffentlichung „Clausewitz trifft Luhmann Überlegungen zur systemtheoretischen Interpretation von Clausewitz’ Handlungstheorie“ (Beckmann 2009) entnommen und wurde für die vorliegende Untersuchung ergänzt und überarbeitet.
R. Beckmann, Clausewitz trifft Luhmann, DOI 10.1007/978-3-531-92730-5_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Clausewitz trifft Luhmann
Vollrath geht sogar noch weiter und konstatiert, dass Clausewitz eine – über das Kriegshandeln hinaus geltende – allgemeine Handlungstheorie von großer Tiefenschärfe und Brillanz geschaffen habe, die modernere Ansätze sogar teilweise ausboote (1993: 63-66). Hans Wilhelm Hetzler und Vollrath entwickeln jedoch kein handlungstheoretisches Analysemodell. Gleichwohl werden ihre Forschungsergebnisse im Folgenden zum Aufbau eines solchen genutzt. Der handlungstheoretische Charakter von Clausewitz’ Kriegstheorie wird besonders deutlich durch die zentrale Stellung der Begriffe von Zweck und Mittel. So schreibt Weber in einer Abhandlung über die methodischen Fundamente der Sozialwissenschaften: „Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ‚Zweck’ und ‚Mittel’“ (1904: 25). Clausewitz’ Theorie lässt sich problemlos an die klassische Handlungstheorie (vgl. oben, Abschnitt 2.5) anschließen. Diese versteht den Zweck einer Handlung als die gewünschte Wirkung, die durch diese erzielt werden soll. Die Mittel hingegen stellen, als potenzielle Ursachen der gewünschten Wirkung, die Handlung bzw. Handlungsfolge selbst dar.42 Ebenfalls im Rahmen der Zweck/Mittel-Analyse thematisiert werden die Nebenfolgen des Handelns, die nicht durch die Zwecksetzung gedeckt werden (Weber 1904: 2526). Dass Clausewitz in den Kategorien von Wirkungen des Handelns im Krieg dachte, lässt sich an unzähligen Fundstellen seines Werks gut belegen.43 Dennoch würde eine Beschränkung des Analysemodells auf die klassische Handlungstheorie Clausewitz’ Theorie nicht gerecht werden. Verschiedene methodische Erkenntnisse von Clausewitz weisen über die klassische Handlungstheorie hinaus (vgl. oben, Abschnitte 2.2, 2.4 und 2.8). Erstens lehnt er den Nutzen von Kausalgesetzen (von Clausewitz „positive 42
43
Mit Mitteln sind üblicherweise die materiellen Mittel, also in diesem Fall z. B. Streitkräfte oder Waffen, gemeint. Aber solche Mittel sind nur ein (wenn auch wichtiges) Element im Verursachungsgefüge der gewünschten und/oder erreichten Wirkung, denn in dieses Gefüge gehören auch immaterielle Faktoren, wie etwa die Entschlossenheit beim Einsatz der materiellen Mittel. Clausewitz hat die Bedeutung immaterieller Faktoren für das Handeln erkannt (vgl. oben, Abschnitte 2.1 und 2.2) und in seine Handlungstheorie eingearbeitet (vgl. oben, Abschnitte 3.1 und 3.2). Diese Erkenntnis wird hier entsprechend sowohl in die klassische (vgl. unten, Abschnitt 4.1) als auch die systemtheoretische Interpretation (vgl. unten, Abschnitt 4.3) von Clausewitz’ Handlungstheorie einfließen (vgl. auch das systemtheoretische Konzept der Beitragsmotivation unten, S. 189-190). Für die Anregung zu diesem Hinweis danke ich Wilfried von Bredow. Vgl. z. B. Clausewitz 1980: 182, 200, 201, 209, 210, 215, 220, 222, 223, 226, 228, 229, 335336, 351-352, 460, 541, 771; Clausewitz 1966a: 245, 271, 337, 398, 407; schließlich im hinteren, militärstrategischen Teil von Clausewitz’ „Bekenntnisdenkschrift“ (1966b): 715, 716, 717, 722, 727, 740, 741. Vgl. darüber hinaus auch den zentralen Begriff der „Wechselwirkung“ des wechselseitigen Handelns im Krieg (Clausewitz 1980: 192-195, H. d. V.). Der Gedanke einer wirkungsorientierten Kriegführung spiegelt sich in der aktuellen Debatte um den so genannten „Effects Based Approach to Operations“ (EBAO) wider (vgl. Smith-Windsor 2008).
4.1 ‚Modell strategischen Handelns’ aus Sicht der klassischen Handlungstheorie
107
Lehre“ genannt, 1980: 289) für eine Handlungstheorie der Kriegführung ab (vgl. oben, Abschnitt 2.8). Diese Ablehnung ergibt sich schon aus seiner (höchst sozialwissenschaftlich gedachten) Feststellung des Interaktionscharakters des Krieges, in welchem man es mit einem lebendigen, intelligent reagierenden Gegner zu tun hat (Clausewitz 1980: 288-289); außerdem aus der Bedeutung „geistige[r] Kräfte und Wirkungen“ (Clausewitz 1980: 285-288) sowie der „Ungewißheit aller Datis“ (Clausewitz 1980: 289) in der Kriegssituation (vgl. oben, Abschnitt 2.1). Zweitens plädiert er für eine praktisch anwendbare Entscheidungstheorie, deren Nutzen lediglich in der „richtigen Vereinfachung des Wissens“ (Clausewitz 1980: 295) für den Handelnden liegen kann (vgl. oben, Abschnitte 2.2 und 2.4). Ob diese „Vereinfachung des Wissens“ durch das Zweck/Mittel-Schema (bei Clausewitz: das Zweck/Ziel/Mittel-Schema) geleistet werden kann oder ob Handlungsroutinen (Clausewitz benutzt für sie den Begriff Methodismus) eingesetzt werden müssen, hängt davon ab, ob es sich um strategische oder taktische Entscheidungen handelt (vgl. oben, Abschnitt 2.8). Dementsprechend werden drittens der Handelnde selbst und seine Position im Handlungskollektiv in der Theoriebildung thematisiert: Anderes Wissen muss in der Gefechtssituation verfügbar sein als in der strategischen Planung (vgl. oben, Abschnitt 2.2). Diese hochmodernen sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse von Clausewitz können nur im Analysemodell fruchtbar gemacht werden, wenn man, über die klassische Handlungstheorie hinausgehend, eine systemtheoretische Fundierung leistet. Die Nähe von Clausewitz’ Theorie zur sozialwissenschaftlichen Systemtheorie ist in der Literatur ebenfalls explizit oder implizit häufig gewürdigt worden (Kaestner 2010, 2006; Beyerchen 2007, 1992; Pankoke/Marx 1993). Doch ist auch in diesen Forschungen die Entwicklung eines expliziten Analysemodells zur Untersuchung strategischen Handelns unterblieben. Dieses Defizit soll im Folgenden in zwei Schritten behoben werden. Aufbauend auf Kapitel 3 wird im ersten Schritt (Abschnitt 4.1) das Analysemodell weitgehend auf Basis der klassischen Handlungstheorie sowie der Begriffe von Clausewitz selbst entwickelt. Im zweiten Schritt erfolgt sodann die systemtheoretische Fundierung (Abschnitt 4.2) sowie die aus ihr folgende Präzisierung dieser Begriffe und die Erweiterung des Modells (Abschnitt 4.3). 4.1 ‚Modell strategischen Handelns’ nach Clausewitz aus Sicht der klassischen Handlungstheorie 4.1 ‚Modell strategischen Handelns’ aus Sicht der klassischen Handlungstheorie
Eckpfeiler eines solchen Modells sind Clausewitz’ Begriffe von Zweck, Ziel und Mittel. Mit diesen Begriffen lässt sich zunächst fragen, welche politischen Zwe-
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4 Clausewitz trifft Luhmann
cke ein Akteur mit einem bestimmten Krieg verfolgte (Clausewitz 1980: 191192, 200-201, 209-210, 214-222, 960-974, 987-989, 990-998). Der klassischen Handlungstheorie zufolge definieren politische Zwecke die gewünschte Wirkung bzw. Folge des eigenen Handelns im Krieg und zwar – mit Clausewitz genauer gesagt – die politischen Folgen dieses Handelns. Ging es dem Akteur zum Beispiel um eine Erweiterung seines territorialen Herrschaftsgebiets? Ging es ihm um den Zugang zu bestimmten natürlichen Ressourcen? Oder wollte er die Innenpolitik eines anderen Staates in seinem Sinne beeinflussen? Umgekehrt könnte der Zweck eines Krieges in der Zurückweisung solcher Ansprüche durch einen anderen Akteur liegen. Clausewitz spricht in diesem Fall von einem „negativen“ politischen Zweck (1980: 217, 220-221). Legt man ein handlungstheoretisches Verständnis zugrunde, so definiert der politische Zweck eines Krieges eine bestimmte Wirkung auf die Politik eines anderen „gesellschaftlichen Verbandes“ (Clausewitz 1980: 990), die das eigene Handeln haben soll. Nach David Easton werden diejenigen sozialen Interaktionen einer Gesellschaft als politisch bezeichnet, durch die Wertzuweisungen („allocation of values“) für diese Gesellschaft – in den Sachbereichen Sicherheit, Wohlfahrt und Herrschaft (Czempiel 1996: 6) – vorgenommen werden, welche ein überwiegender Teil ihrer Mitglieder (aus Überzeugung, Tradition, Zwang oder welchem Grund auch immer) als verbindlich ansieht (1965: 48-57). Politische Zwecke definieren dann Richtung und Grad der gewünschten Beeinflussung dieser Wertzuweisungen. Ihr Gegenstand kann auch die Zurückweisung eines fremden Versuchs solcher Beeinflussung sein. Da Clausewitz’ Politikbegriff neben der subjektiven Politik als Führungshandeln immer gleichzeitig auch die Einbettung dieses Führungshandeln in einen gesellschaftlichen sowie einen internationalen Kontext bedeutet (‚doppelter Politikbegriff’, vgl. oben, S. 105), definiert der politische Zweck gleichzeitig Wirkungen auf diese Kontexte (objektive Politik). Das Kriegsziel beschreibt die militärische Zielsetzung eines Akteurs, d. h. – analog zum Zweckbegriff – die gewünschte Wirkung bzw. Folge des Handelns im militärischen Bereich (Clausewitz 1980: 194-195, 200-201, 214-222, 960974, 975-983, 984-986, 987-989, 999-1002, 1003-1008). Die Begriffe von Zweck und Ziel stehen bei Clausewitz in einem Kausalverhältnis. Man fragt, ob die Ziele, die ein Akteur in einem Krieg erreicht hat, dazu geeignet sind, zur Erreichung des politischen Zwecks zu führen (Clausewitz 1980: 191-192, 200201, 952).44 Analog zur Zwecksetzung kann auch die Zielsetzung danach unter44
Allerdings kann es auch Situationen geben, in denen „das kriegerische Ziel und der politische Zweck zusammen[fallen]“ (Clausewitz 1980: 211) bzw. der Zweck vom Ziel „verschlungen“ (Clausewitz 1980: 200) wird. Dies geschieht immer dann, wenn beide Parteien umfassende, einander ausschließende politische Zwecke mit dem Krieg verfolgen. Der Krieg nähert sich
4.1 ‚Modell strategischen Handelns’ aus Sicht der klassischen Handlungstheorie
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schieden werden, ob sie eine positive Wirkung auf den Gegner sein soll (offensives Ziel) oder ob die Wirkung darin bestehen soll, eine vom Gegner gewünschte positive Wirkung zu negieren, also: zurückzuweisen (defensives Ziel) (Clausewitz 1980: 220-221, 622-627, 999-1002, 1003-1008). Ein Ziel könnte beispielsweise darin bestehen, einen bestimmten Teil des Territoriums des Gegners einzunehmen und zu kontrollieren. Es könnte darin bestehen, eine Reihe von Ölförderanlagen an sich zu bringen. Oder darin, die Streitkräfte eines Gegners widerstandsunfähig zu machen. Alle diese Ziele können auch umgekehrt aus der Perspektive des Verteidigers als defensive Ziele gedacht werden, die dann jeweils das Verhindern der gegnerischen Zielerreichung zum Ziel haben. Die Erreichung dieser Ziele soll – zumindest in der Theorie – die Erreichung des politischen Zwecks nach sich ziehen. Der Gegner soll den Territorialverlust oder den Verlust des Ölfeldes politisch anerkennen. Die Kampfunfähigkeit seiner Streitkräfte soll dazu führen, dass er die politische Verantwortung an den Gegner überträgt. In der klassischen Handlungstheorie bestehen die analytischen Grundbegriffe aus Zweck und Mittel (Weber 1904: 25). Bei Clausewitz wird der Mittelbegriff aufgespaltet in die Unterbegriffe Ziel und Mittel. Dabei stehen diese Begriffe im gleichen Kausalverhältnis zueinander, wie die Begriffe von Zweck und Mittel (ausgedrückt durch die gebogenen Pfeile in der folgenden Abbildung). Das heißt, bei Clausewitz sollen die Mittel das Ziel verursachen – und das Ziel den Zweck: Abbildung 2:
Zweck/Mittel-Schema der klassischen Handlungstheorie vs. Zweck/Ziel/Mittel-Schema der Kriegstheorie von Clausewitz Zweck
Zweck
–
–
Mittel
Ziel
–
Mittel
Clausewitz führt den Begriff des Ziels erstens ein, um seine zentrale Erkenntnis des instrumentellen Charakters des Krieges (1980: 210) analytisch fruchtbar und dann seiner theoretischen bzw. „abstrakten Gestalt“ (Clausewitz 1980: 211) an, die extrem gewaltsam und von Eskalationstendenzen geprägt ist (Clausewitz 1980: 192-195; vgl. auch oben, Abschnitt 3.1).
110
4 Clausewitz trifft Luhmann
begrifflich sichtbar zu machen. Das Erreichen des militärischen Ziels (= militärische Wirkung des Handelns) ist gemäß dieser Einsicht wertlos, wenn es nicht selbst wiederum den politischen Zweck (= politische Wirkung des Handelns) verursacht (Clausewitz 1980: 210-212, 990-998). Die Fruchtbarkeit und Tiefenschärfe dieser Erkenntnis von Clausewitz lässt sich an zahllosen Beispielen aus der Kriegsgeschichte von der Antike bis zum heutigen Tag belegen. Man denke beispielsweise an die Schlacht von Cannae der Karthager gegen die Römer im Zweiten Punischen Krieg.45 Die angreifenden Karthager erreichten ihr militärisches Ziel, die Vernichtung der römischen Streitkräfte, vollkommen – ohne dass es ihnen jedoch gelungen wäre, diesen Sieg in den ultimativ erwünschten politischen Zweck ihres Handelns, die Machtübernahme in Rom, verwandeln zu können. Zweitens erlaubt die Spaltung des Mittelbegriffs eine feinere Handlungsanalyse: Es können getrennt – und doch aufeinander bezogen – die Mittel nach Ihrer Eignung zum militärischen Ziel sowie die militärischen Ziele nach ihrer Eignung zum politischen Zweck untersucht werden. Der Begriff der Mittel beschreibt folglich die Kriegshandlung selber. Bei Clausewitz besteht sie aus Gefechten, die so geschickt im Raum und in der Zeit verteilt (und gewonnen) werden müssen, dass sie gemeinsam zur Erreichung des militärischen Ziels führen (1980: 192-195, 222-230). Dabei muss zum einen stets analysiert werden, ob die Nebenfolgen des Mitteleinsatzes, die nicht durch das Ziel gedeckt werden, das Ziel überhaupt noch rechtfertigen. Zum anderen muss sichergestellt werden, dass die Nebenfolgen der Zielerreichung nicht die gewünschte politische Wirkung des Handelns konterkarieren.46 Wiederum unterscheidet Clausewitz nach derselben Logik wie schon beim Kriegsziel offensive von defensiven Mitteln, also Gefechte, die eine positive Wirkung auf den Feind erzielen sollen (offensives Gefecht), und Gefechte, die dazu dienen, eine positive Wirkung, die der Gegner beabsichtigt, zu negieren (defensives Gefecht) (1980: 436-438). Mittel können, um bei den bisherigen Beispielen zu bleiben, in der Entsendung einer oder mehrerer Armeen bestehen, die die gegnerischen Truppen in 45 46
Für die Idee zu diesem Beispiel danke ich Roland Kaestner. Der Begriff der „Nebenfolgen“ bzw. der „Nebenwirkungen“ des Handelns der klassischen Handlungstheorie (Weber 1904: 25-26) ist bei Clausewitz lediglich implizit vorhanden – und zwar erstens durch den Gedanken, dass das Ziel den Zweck nicht konterkarieren darf (der sich seinerseits aus dem instrumentellen Charakter des Krieges ergibt) (1980: 210-212, 990-1002); zweitens durch die Überlegung, dass sich idealtypisch Kraftaufwand und politischer Zweck die Waage halten (1980: 200-201, 217); drittens durch die These, dass der politische Zweck durch das militärische Mittel „oft ganz verändert ...“ (1980: 210) wird, d. h. die antizipierten Nebenfolgen des Mittels auf die Zwecksetzung zurückwirken können. Die Explikation dieser Gedanken durch den Begriff der Nebenfolgen bzw. der Nebenwirkungen trägt erheblich zur Erhellung und Präzisierung von Clausewitz’ Handlungstheorie bei.
4.1 ‚Modell strategischen Handelns’ aus Sicht der klassischen Handlungstheorie
111
einem bestimmten Gebiet schlagen und das Gebiet besetzen sollen. Auch können die Mittel so massiv gewählt werden, dass die gesamten gegnerischen Streitkräfte außer Gefecht gesetzt werden. Diese Beispiele können wiederum umgekehrt gedacht werden als defensive Mittel. Allerdings bleibt auch hier zu bedenken, dass ein glänzender Mitteleinsatz, der alle Ziele erreicht, nach Clausewitz erst dann zum Gewinn des Krieges geführt hat, wenn die gesteckten politischen Zwecke erreicht worden sind. Die Grundstruktur eines ‚Modells strategischen Handelns’ lässt sich demnach folgendermaßen grafisch darstellen: Abbildung 3:
Grundmodell strategischen Handelns
Politische(r) Zweck(e)
Militärische(s) Ziel(e)
Mittel
Clausewitz’ Begriffe von Zweck, Ziel und Mittel können einerseits zur Planung47 künftigen Kriegshandelns andererseits zur kritischen Analyse und Bewertung vergangenen Kriegshandelns eingesetzt werden.48 Zur Planung geht man in der 47
48
Oder aber zur politischen Beratung. Denn „wenn es darauf ankommt, nicht selbst zu handeln, sondern in einer Beratung andere zu überzeugen, dann kommt es auf klare Vorstellungen, auf das Nachweisen des inneren Zusammenhanges an“ (Clausewitz 1980: 182). Einführend zur politischen Beratung vgl. Wassermann 2007. Die Idee dieser doppelten Anwendungsmöglichkeit der Begriffe findet sich auch bei Clausewitz. Konkret ist sie in seiner Auffassung über die Funktion von Theorie enthalten (vgl. oben, Abschnitt 2.2). Theorie soll „demjenigen ein Führer [sein], der sich mit dem Kriege aus Büchern vertraut machen will“ (Clausewitz 1980: 291) – insbesondere durch die kritische Anwendung dieser Theorie auf empirisch-historische Sachverhalte (Clausewitz 1980: 312-334). Keinesfalls jedoch soll die Theorie den Praktiker direkt „auf das Schlachtfeld begleiten“ (Clausewitz 1980: 291). Vielmehr muss sich die Theorie durch ihre beständige empirische Anwendung (und letztlich durch Kriegserfahrung) „in ein wahres Können verwandeln“ (Clausewitz 1980: 299). Durch diesen Gedanken gelingt es, die Theorie „mit dem Handeln so zu befreunden, daß der widersinnige Unterschied zwischen Theorie und Praxis ganz verschwinde[t]“ (Clausewitz 1980: 292). Clausewitz löst den Unterschied zwischen Theorie und Empirie auf der einen Seite und Theorie und Praxis auf der anderen Seite somit auf. Ein aus der Theorie von Clausewitz abgeleitetes Analysemodell darf daher keinesfalls als strategisches ‚Kochrezept’, als „Methode, wodurch Kriegs- und Feldzugspläne bestimmt und wie von einer Maschine fertig geliefert würden ...“ (1980: 310) missverstanden werden. Es kann sich auf der einen Seite lediglich um ein flexibel und kreativ zu gebrauchendes Instrument zur Unterstützung der Planung handeln, das „Anhalt für das Urteil“ (Clausewitz 1980: 315) bieten soll. Gleiches gilt auf der anderen Seite für seinen Gebrauch als Instrument zur kritischen Analyse und Bewertung vergangenen Handelns: Auch in dieser rein wissenschaftlichen Anwendung kann nicht auf das Urteilsvermögen des Forschers verzichtet werden
112
4 Clausewitz trifft Luhmann
Grafik von links nach rechts vor: Zunächst legt man den politischen Zweck fest. Im zweiten Schritt fragt man, welche Kriegsziele geeignet sein müssten, um den politischen Zweck zu erreichen. Schließlich überlegt man im dritten Schritt, welche Mittel eingesetzt werden müssen, um das militärische Ziel zu verwirklichen. Die Nebenwirkungen des Ziels dürfen dabei nicht den Zweck konterkarieren, die der Mittel nicht das Ziel und den Zweck. Nutzt man das Modell zur kritischen Analyse und Bewertung vergangenen Kriegshandelns, so geht man in der Grafik von rechts nach links vor: Zunächst werden empirisch die im Raum und in der Zeit eingesetzten Mittel eines Akteurs festgestellt und erhoben. Von dort aus wird im zweiten Schritt versucht, auf die Kriegsziele des Akteurs zu schließen. Im dritten Schritt wird schließlich versucht, den politischen Zweck des Akteurs zu rekonstruieren. Sind die Ziele und Zwecke eines Akteurs empirisch belegbar, so kann darüber hinaus gefragt werden, ob die eingesetzten Mittel geeignet sein konnten, die gewünschten Ziele oder Zwecke zu realisieren. Schließlich kann untersucht werden, ob die Nebenwirkungen des Mitteleinsatzes die Ziel- bzw. Zwecksetzung noch rechtfertigten (vgl. auch oben, Abschnitt 2.9.1). Doch stehen die Begriffe von Zweck, Ziel und Mittel bei Clausewitz nicht allein da. Clausewitz stellt das Kriegshandeln von Akteuren in den Zusammenhang zweier unterschiedlicher Modelle des Krieges, die ich als ‚Reagenzglaskrieg’49 (oder ‚Modell I’) bzw. als ‚politischen Krieg’50 (oder ‚Modell II’) be-
49
50
(Clausewitz 1980: 315, 321) – eine „geistlose Anwendung der Theorie“ (Clausewitz 1980: 315) verbietet sich. Solchen falschen Vorstellungen soll durch die Entwicklung eines Analysemodells keinesfalls Vorschub geleistet werden. Vielmehr soll Clausewitz’ „Denkmethode“ (Hahlweg 1980a: 26, H. i. O.) dadurch expliziert werden. Mit dem theoretischen Modell des ‚Reagenzglaskrieges’ stellt Clausewitz den „reinen (‚Ideal’)Typus“ (Weber 1972: 10, H. i. O.) eines Krieges dar. In diesem stehen sich zwei Gegner gegenüber, die je den maximal denkbaren politischen Zweck der gegnerischen Unterwerfung verfolgen und dazu Gewalt einsetzen. Weitere Akteurseigenschaften sowie zeitliche und räumliche Rahmenbedingungen des Handelns werden ausgeblendet. Die resultierende absolute Ungewissheit über das Handeln des Gegners führt zur maximalen Gewaltanwendung, da beide das Schlimmste antizipieren müssen. Als ‚Katalysator’ dieses Prozesses wirkt die „Feindschaft der Gefühle“ (Clausewitz 1980: 193) zwischen den Parteien. Der ‚Reagenzglaskrieg’ ist ein schlankes Modell des Krieges, welches stark von der historischen Vielgestaltigkeit des Krieges abstrahiert, dafür jedoch die „gesteigerte Eindeutigkeit“ (Weber 1972: 10) eines idealtypischen Kriegsbegriffs bietet (vgl. Kondylis 1988: 16). Der Begriff des ‚Reagenzglaskrieges’ soll verdeutlichen, dass es sich bei diesem Modell um ein „Gedankenexperiment“ (Brown 2009) handelt, in welchem der Krieg unter extrem vereinfachten, gewissermaßen ‚Laborbedingungen’ gedacht wird (vgl. ausführlich oben, Abschnitt 3.1). Im Modell des ‚politischen Krieges’ wird der idealtypische ‚Reagenzglaskrieg’ im Sinne eines zweiten Gedankenexperimentes Schritt für Schritt um weitere Annahmen ergänzt: Zeit, Raum, Akteurseigenschaften, die Eigenschaften des internationalen Systems sowie – nicht zuletzt – die Einführung variabler politischer Zwecke führen zu einer „Ermäßigung“ (Clausewitz 1980: 199) des Krieges in Form einer Abschwächung der Eskalationsdynamik des ‚Reagenzglas-
4.1 ‚Modell strategischen Handelns’ aus Sicht der klassischen Handlungstheorie
113
zeichnet habe (Beckmann 2008a: 6-18; oben, Kapitel 3).51 Die Erkenntnis, dass das Kriegshandeln von den Rahmenbedingungen abhängt, innerhalb derer es stattfindet, stellt Clausewitz im Bild des „Chamäleon[s]“ (1980: 212) dar: je nach seiner Umwelt wandelt sich die ‚Farbe’ des ‚Chamäleons’. Entsprechend ändert sich der Zusammenhang von Zweck, Ziel und Mittel je nach dem Kontext innerhalb dessen gehandelt wird (Clausewitz 1980: 212). Vollrath spricht von den situationsabhängigen „Circumstantien“ des Handelns, die es zu berücksichtigen gelte (1993: 72-73), Clausewitz von unterschiedlichen „Umstände[n]“ des taktischen (1980: 293) und strategischen (1980: 294) Handelns. So puristisch der ‚Reagenzglaskrieg’ ansonsten auch modelliert sein mag, enthält er doch bereits eine entscheidende Komplizierung des Handlungskontexts gegenüber dem bisherigen Modell in Abbildung 3 (oben, S. 111) – es gibt einen Gegner, der ebenfalls Zwecke mit seinem Handeln verfolgt. Clausewitz setzt den Zweck im ‚Reagenzglaskrieg’ für beide Gegner invariant fest: Beide verfolgen den maximalen Zweck, „den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ (1980: 192).52 Unter den Rahmenbedingungen des ‚Reagenzglases’, in dem es weder Zeit noch Raum gibt, so dass die Situation von absoluter Ungewissheit über das Handeln des Gegners geprägt ist (man kennt ihn nicht, da es keine Vergangenheit gibt – und man kann nichts über ihn lernen, da die Handlung zeitlich dicht gedrängt abläuft), muss allein die Antizipation53 des gewaltsamen, die eigene Existenz gefährdenden „Gegenhandelns“ (Vollrath 1993: 64-66; vgl. Kondylis 1988: 94-95; vgl. Herberg-Rothe 2001: 160-174) des Gegners – als unbeabsichtigte Nebenfolge der eigenen Zweckverfolgung – zur Eskalation von Zielsetzung und Mitteleinsatz führen.
51
52 53
krieges’. Zur „Feindschaft der Gefühle“ (Clausewitz 1980: 193) zwischen den Kriegsparteien treten im ‚politischen Krieg’ die „menschlichen Schwächen“ (Clausewitz 1980: 407), deren wechselseitige Antizipation durch die Gegner gleichfalls ein moderierendes Moment in die Handlung einbringt. Während der ‚Reagenzglaskrieg’ abstrakt ist, enthält das Modell des ‚politischen Krieges’ Variablen, deren Ausprägung in empirischen Kriegen den Grad der Mäßigung der Eskalationsdynamik dieser Kriege im Verhältnis zum ‚Reagenzglaskrieg’ erklärt. Die Bezeichnung ‚politischer Krieg’ soll – analog zum ‚doppelten Politikbegriff’ von Clausewitz (vgl. oben, S. 105) – zwei Dinge zum Ausdruck bringen: erstens die Bedeutung des politischen Zwecks im Modell und zweitens die Einbettung des Krieges in sein gesellschaftliches und zwischengesellschaftliches Umfeld (vgl. ausführlich oben, Abschnitte 3.2 und 3.3). Der ‚Reagenzglaskrieg’ heißt in Clausewitz’ Terminologie „idealer“ (1980: 211), „abstrakter“ (1980: 216), „absoluter“ (1980: 952) Krieg bzw. „bloßer Begriff“ (1980: 195) des Krieges. Der ‚politische Krieg’ heißt bei ihm „wirklicher“ (1980: 952) Krieg bzw. Krieg als „politisches Instrument“ (1980: 210). Da Clausewitz Gewalt als spezielle „Chance“ ansieht, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1972: 28), stellt Kriegführung im Kern Machtausübung dar (vgl. Kondylis 1988: 28-48; oben, Kapitel 3). Für diese Idee danke ich Leonce Röth. Zum Begriff der Antizipation vgl. Vorländer 1997. Für diesen Literaturhinweis danke ich Klaus Kuhnekath.
114
4 Clausewitz trifft Luhmann
In den modernen Sozialwissenschaften sind solche Phänomene als „eigendynamische soziale Prozesse“ zum Thema geworden, die auch in anderen Bereichen menschlichen Handelns beobachtbar sind (Mayntz/Nedelmann 1987; Neidhardt 1981); dies gilt auch für Eskalationsdynamiken, die allein durch die wechselseitige Antizipation von Handeln entstehen (Mayntz/Nedelmann 1987: 657-658).54 Eigendynamische Prozesse zeichnen sich – wie der ‚Reagenzglaskrieg’ zeigt – durch äußerst begrenzte Steuerbarkeit aus. Die Situation des ‚Reagenzglaskrieges’ lässt sich handlungstheoretisch durch folgende Grafik abbilden: Abbildung 4: Politischer Zweck Erfüllung des eigenen Willens
Der ‚Reagenzglaskrieg’ im Grundmodell strategischen Handelns
Akteur A Militärisches Ziel Physische Wehrlosigkeit
Mittel Maximale Gewalt
Politischer Zweck Erfüllung des eigenen Willens
Akteur B Militärisches Ziel Physische Wehrlosigkeit
Mittel Maximale Gewalt
Die Folge der Eskalation der Zielsetzung hin zum maximal denkbaren militärischen Ziel der Wehrlosigkeit oder „Entwaffnung“ (Clausewitz 1980: 194) des Gegners bedeutet gemäß Clausewitz, dass der politische Zweck aus dem Entscheidungsprozess herausgedrängt wird: Ist die physische Wehrlosigkeit des Gegners das Ziel, so spielen politische Rücksichten (d. h. politische Nebenfolgen der Zielverfolgung) für das Handeln der Kriegsparteien keine Rolle mehr. Der politische Zweck der vollständigen Erfüllung des eigenen Willens rechtfertigt jedes Ziel, also auch das maximale der Wehrlosigkeit. Das Ziel der Wehrlosigkeit wiederum rechtfertigt für sich genommen jedes Mittel, so dass potenzielle Nebenfolgen des Mitteleinsatzes auf den politischen Zweck in der Kalkulation des Handelns keine Rolle mehr spielen: „so muß der, welcher sich dieser Gewalt rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes bedient, ein Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut“ (Clausewitz 1980: 192). Eben dies ändert sich, sobald Clausewitz im Übergang zum Modell des ‚politischen Krieges’ den Kontextfaktor Zeit in das Modell einführt, den politischen Zweck wieder zur variablen Größe des Handlungsgeschehens erklärt und die ‚black boxes’ (innenpolitischer Prozess wird ausgeblendet) des Modells I (= 54
Für diesen Hinweis danke ich Klaus Kuhnekath.
4.1 ‚Modell strategischen Handelns’ aus Sicht der klassischen Handlungstheorie
115
‚Reagenzglaskrieg’) zu politischen Akteuren entfaltet (vgl. ausführlich oben, Abschnitt 3.2). Nun wird der politische Zweck zum wichtigsten, die Eskalationstendenzen drosselnden Faktor im Kriegshandeln der Parteien. Denn wenn Akteur A beispielsweise ‚nur’ einen relativ geringen Teil des Territoriums von B fordert, so muss B auch nicht davon ausgehen, dass A zu diesem politischen Zweck die völlige Wehrlosigkeit seines Gegners B anstrebt. Umgekehrt muss A nicht davon ausgehen, dass B zur Verteidigung seines Territoriums seinerseits die völlige Wehrlosigkeit des Angreifers anstrebt. Dem liegt keine bloße Rationalitätsannahme zugrunde, sondern vielmehr die Annahme, dass der Gegner unter ähnlichen Restriktionen handelt, wie man selbst. Es ist das „Gegengewicht der eigenen inneren Verhältnisse ...“, das den Kriegführenden „wieder in einen Mittelweg zurückgeführt, in welchem er gewissermaßen nach dem direkten Grundsatz handelt, um diejenigen Kräfte aufzuwenden und sich im Kriege dasjenige Ziel zu stellen, welches zur Erreichung seines politischen Zweckes eben hinreicht“ (Clausewitz 1980: 961, H. d. V.; vgl. ausführlich oben, Abschnitt 3.2). Doch sind diesen relativ einfachen Kosten/Nutzen-Kalkulationen im politischen Krieg enge Grenzen gesetzt. Denn abgesehen vom Vorhandensein eines Gegners, der ebenfalls Zwecke verfolgt, besteht der Kontext innerhalb dessen A und B handeln aus „innenpolitischen Restriktionen“ (Oppermann/Höse 2007) und aus „internationalen Rahmenbedingungen“ (Jäger/Beckmann 2007).55 Zusammengenommen entsprechen sie „dem gesellschaftlichen Zustande, sowohl der Staaten in sich als unter sich ...“, aus dem „der Krieg hervor[geht] ...“, durch den er „bedingt, eingeengt, ermäßigt ...“ wird (Clausewitz 1980: 192). Sie erfassen somit den gesellschaftlichen Kontext des politischen Handelns, der in Clausewitz’ ‚doppeltem Politikbegriff’ enthalten ist (vgl. oben, S. 105). Handelt es sich um einen Staat, gehören zu den innenpolitischen bzw. internen Rahmenbedingungen die öffentliche Meinung, gesellschaftliche Akteure, der politische Prozess (z. B. politische Kultur, Institutionen und interbürokratische Abstimmungsprozesse), die den Streitkräften zur Verfügung stehenden Ressourcen (zu denen auch das Territorium zählt) sowie insbesondere das Verhältnis zwischen Streitkräften und Politik bzw. Streitkräften und Gesellschaft (vgl. Oppermann/Höse 2007; zum letzten Punkt vgl. Bredow 2008). Die internationalen bzw. externen Rahmenbedingungen sind für alle Akteure gleich, wenn sie auch – in Abhängigkeit von ihren internen Rahmenbedingungen – nicht in gleicher Weise von diesen betroffen sein müssen. Zu den externen Rahmenbedingungen zählen die Eigenschaften des internationalen 55
Zur Verbindung vom Modell des ‚politischen Krieges’ mit den Modellen der „innenpolitischen Restriktionen“ (Oppermann/Höse 2007) bzw. der „internationalen Rahmenbedingungen“ (Jäger/Beckmann 2007) von Außenpolitik vgl. Beckmann 2008a: 36-39.
116
4 Clausewitz trifft Luhmann
Systems wie globale und regionale Machtverteilung, Allianzen, die Interessen interessierter dritter Akteure, der Verregelungsgrad der internationalen Beziehungen sowie die Prozesse der Globalisierung und Transnationalisierung (Jäger/Beckmann 2007; speziell zur strategischen Bedeutung der Machtverteilung vgl. auch Beckmann 2008b). Um ein Beispiel für die Bedeutung externer Rahmenbedingungen zu nennen: Als Großbritannien und Frankreich 1956 in einer gemeinsamen militärischen Aktion die Renationalisierung des Suez-Kanals durch den ägyptischen Präsidenten Nasser rückgängig machen wollten, erzielten sie einen militärischen Erfolg; doch konnten sie ihren Zweck, die Renationalisierung des Kanals zu verhindern, nicht erreichen, da die USA ihnen die Rückendeckung im UNOSicherheitsrat verweigerten. Dies wiederum kann nur im Kontext des Ost-WestKonflikts verstanden werden. Die Sowjetunion hatte zuvor gedroht, Ägypten, welches sie als Teil der sowjetischen Einflusszone betrachtete, militärisch zu unterstützen. Den USA war die Stabilität der Beziehungen zur anderen Supermacht wichtiger als die Beziehungen zu den beiden NATO-Allianzpartnern. Die übergeordnete Struktur des Ost-West-Konflikts wirkte als externe Rahmenbedingung des Handelns Großbritanniens und Frankreichs und verhinderte somit ihre Zweckerfüllung. Durch diesen komplizierten Kontext kommen einerseits menschliche Schwächen wie Furcht, Unentschlossenheit und begrenzte kognitive Fähigkeiten bei allen handelnden Parteien zur Geltung. Dies führt dazu, dass alle Akteure von einer gewissen Begrenzung der gegnerischen Anstrengungen ausgehen können – und damit zu der eben beschriebenen Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mitteln (Clausewitz 1980: 197, 199, 409, 990-992). Andererseits können die internen und externen Rahmenbedingungen das Gegenteil bewirken und als Handlungsanreize wirken: Eine vollkommen aufgebrachte, hasserfüllte Öffentlichkeit kann Entscheidungsträger dazu bringen, viel mehr Kräfte einzusetzen, als der – sagen wir – relativ moderate politische Zweck des Krieges erwarten ließe (Clausewitz 1980: 200-201). Was die externen Rahmenbedingungen betrifft, kann beispielsweise ein ebenfalls relativ moderater politischer Zweck eine mächtige gegnerische Allianz auf den Plan rufen, die die Gelegenheit nutzt, um die internationale Ordnung in ihrem Sinne umzugestalten und plötzlich massiv zurückschlägt (vgl. ausführlich, oben Abschnitt 3.2). Schließlich führt die Einführung des Kontextfaktors Zeit in Modell II im Zusammenwirken mit dem Raum, den die Akteure einnehmen, dazu, dass die Handlung vom ‚Knall’ des ‚Modells I’ in verschiedene, in sich geschlossene Teilhandlungen zerfällt – die so genannten „Gefechte“. Es entstehen Taktik und Strategie (Clausewitz 1980: 270-271, 422-23, 1966b: 741-742). Taktik ist die „Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht ...“, beschreibt also das
4.1 ‚Modell strategischen Handelns’ aus Sicht der klassischen Handlungstheorie
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Handeln innerhalb der Gefechte, Strategie ist die „Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges“, beschreibt also die Koordination der Gefechte in Zeit und Raum (Clausewitz 1980: 271). „Die Strategie bestimmt den Punkt, auf welchem, die Zeit, in welcher, und die Streitkräfte, mit welchen gefochten werden soll“ (Clausewitz 1980: 373). So besteht erfolgreiches Handeln in der Taktik in der Erringung des „taktischen Sieges“, während es in der Strategie „keinen Sieg [gibt]“ (Clausewitz 1980: 622). Erfolgreiches Handeln in der Strategie kann lediglich in der „glückliche[n] Vorbereitung des taktischen Sieges ...“ oder in der richtigen militärischen bzw. politischen „Benutzung des erfochtenen Sieges“ (Clausewitz 1980: 622) bestehen (vgl. ausführlich oben, Abschnitt 3.2).56 Folgt man dieser Logik und verbindet sie mit Clausewitz’ Einsicht des instrumentellen Charakters des Krieges, so ist – denkt man in der Kategorie von staatlichen Akteuren – der gesamte Krieg und seine gesamte Strategie wiederum nur ein Mittel von Staaten unter anderen, mit deren Gesamtkoordination sich die Außenpolitik im Sinne einer „Grand Strategy“ (Liddell Hart 1991: 353-360; Luttwak 2003: 209-217) beschäftigt. Diese Gedanken lassen sich in der folgenden Abbildung 557 (Beckmann 2008a: 22) als ‚Modell strategischen Handelns’ (kurz: MSH) darstellen:
56
57
Auf den ersten Blick scheinen Clausewitz’ Begriffe von Taktik und Strategie für den heutigen Gebrauch zu eng definiert zu sein. Diese mögliche Kritik antizipierend schrieb Clausewitz bereits zwischen 1810 und 1811, dass er die Engführung des Strategiebegriffs auf „die Lehre von der Anwendung, dem Gebrauch des Gefechts ...“ für sinnvoll hält, da „wir glauben einer jeden kriegerischen Handlung liege ein mögliches Gefecht zum Grunde; wir schließen dieß daraus, daß man sich zu allen kriegerischen Handlungen der Streitkräfte bedient, was doch da unnöthig seyn würde, wo kein Gefecht möglich wäre. Wir glauben daher, das Gefecht sey für den Krieg ungefähr das, was das baare Geld für den großen Handel ist“ (1966a: 235-236, H. i. O.). Aus diesem kriegstheoretischen Gedanken zieht Clausewitz später den strategischen Schluss, dass umgekehrt „[m]ögliche Gefechte ... der Folgen [= Wirkungen, R. B.] wegen als wirkliche zu betrachten sind“ (1980: 351). Jede strategische Wirkung im Krieg lässt sich somit auf das Gefecht zurückführen, „sei es, daß es wirklich stattfinde, oder daß es bloß angeboten und nicht angenommen werde“ (Clausewitz 1980: 352, vgl. auch 224-225). Die Inspiration zur dreizeiligen Darstellung der Handlungsebenen Außenpolitik, Strategie und Taktik, jeweils unterteilt in Zweck, Ziele und Mittel, verdanke ich Thomas Jäger und Roland Kaestner; gemeinsam mit Thomas Jäger und Mischa Hansel habe ich sie fortentwickelt.
118
4 Clausewitz trifft Luhmann
Abbildung 5:
‚Modell strategischen Handelns’ (MSH)
Akteur A Zweck(e) Ziel(e)
Akteur B Zweck(e) Ziel(e)
Mittel
Außenpolitik (Grand Strategy)
Außenpolitik (Grand Strategy)
Strategie
Strategie
Taktik
Taktik
Mittel
In der Grafik zu sehen sind nun beide Akteure, deren Handeln von internen wie externen Rahmenbedingungen beeinflusst wird (kleine und große Ellipsen). Ihr Handeln gliedert sich nun in drei Handlungsebenen: Außenpolitik, Strategie und Taktik. Die Handlungsebenen sind in der Grafik als horizontal verlaufende Zeilen eingetragen, die übereinander angeordnet sind. Diese Darstellung macht Clausewitz’ Erkenntnis für das Analysemodell fruchtbar, dass der ‚politische Krieg’ in mehrere, in sich geschlossene Teilkampfhandlungen (Gefechte) zerfällt, innerhalb derer andere Bedingungen für das Handeln herrschen. In anderen Worten: Für das Handeln im Gefecht (die Taktik) müssen gesonderte Zwecke, Ziele und Mittel sinnvoll verbunden werden – und es herrschen gesonderte Rahmenbedingungen für dieses taktische Handeln. Dieser letzte Punkt ist in der Grafik nicht zu sehen. Um die Darstellung nicht zu überfrachten, werden durch die Ellipsen lediglich die Rahmenbedingungen der strategischen Handlungsebene wiedergegeben. Das Modell geht über Clausewitz hinaus (ohne jedoch seiner Logik zu widersprechen), indem es davon ausgeht, dass auch das Handeln auf den Ebenen der Taktik und der Außenpolitik sinnvoll analytisch aufgeteilt werden kann in die Stationen: politischer Zweck, militärisches Ziel und Mittel. Dadurch wird der Charakter des Krieges als Instrument der Politik ebenfalls auf die Ebenen der Taktik und der Außenpolitik übertragen. Die gesonderten Wirkungen des Handelns auf die Politik des Gegners (Zweck) und auf das Militär des Gegners (Ziel)
4.1 ‚Modell strategischen Handelns’ aus Sicht der klassischen Handlungstheorie
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werden dargestellt durch die gestrichelte, vertikale Linie, die diese unterschiedlichen Sphären der Handlungswirkung symbolisch voneinander trennt. Dieser Überlegung zufolge muss jedes taktische Gefecht einen Beitrag zum politischen Zweck des Gesamtkrieges leisten, der auf der Ebene der Strategie als strategischer politischer Zweck eingetragen ist. Der taktische politische Zweck stellt demnach eine Konkretisierung des übergeordneten strategischen politischen Zwecks – bezogen auf das Einzelgefecht – dar. Der strategische politische Zweck des Krieges stellt seinerseits eine Konkretisierung des politischen Zwecks auf der Ebene der Außenpolitik dar (vgl. Clausewitz 1980: 422-423, 992). Diese vertikale Konkretisierungsleistung wird in der Grafik durch den ‚Trichter’ in der linken Spalte dargestellt. Schließlich ist zu beachten, dass die Grafik durch die zweidimensionale Darstellung leicht irreführend sein kann. In Wirklichkeit gibt es nicht ein taktisches Handeln, das man unter den Gesichtspunkten von Zweck, Ziel und Mittel planen bzw. analysieren kann. Vielmehr gibt es so viele taktische Handlungen wie es Gefechte gibt: Abbildung 6:
Beziehungen zwischen taktischer und strategischer Handlungsebene58 Akteur A
Zweck(e) Ziel(e)
Akteur B Mittel
Zweck(e) Ziel(e)
Strategie
Strategie
Taktik
Taktik
Mittel
Taktik Taktik Taktik Taktik
Dasselbe gilt für die Ebene der Strategie. Jede außenpolitische Gesamtstrategie (‚Grand Strategy’) bedient sich einer Vielzahl von Strategien (Ressortstrategien) gleichzeitig, die jeweils als strategische Handlungen mit Zweck, Ziel und Mittel geplant bzw. analysiert werden können. Neben der Militärstrategie können dies beispielsweise eine diplomatische, ökonomische, kulturelle, ökologische oder 58
Was in der Grafik nur für Akteur A eingetragen ist, muss auch für Akteur B hinzugedacht werden, ebenso die fehlende Handlungsebene der ‚Grand Strategy’ sowie die Rahmenbedingungen des Handelns (Ellipsen).
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4 Clausewitz trifft Luhmann
eine entwicklungspolitische Strategie sein. Zwar ist bei der Erstellung der folgenden Abbildung 7 primär an staatliche Akteure gedacht worden, jedoch sind durchaus auch transnationale Akteure denkbar, die gleichzeitig diverse Strategien verfolgen, wie beispielsweise die Hamas in den Palästinensergebieten, die neben einer Militärstrategie auch eine Strategie der Wohlfahrtsangebote für die palästinensische Bevölkerung verfolgt: Abbildung 7:
Beziehungen zwischen taktischer, strategischer und außenpolitischer (‚Grand Strategy’) Handlungsebene59 Akteur A
Zweck(e) Ziel(e)
Akteur B Mittel
Zweck(e) Ziel(e)
AP (Grand Strategy)
AP (Grand Strategy)
Strat1 Strat2 Takt1
Strat1
Mittel
Takt1
Takt1 Takt1
Takt2 Takt2 Takt2
Neben der Verbindung der Ebenen über den politischen Zweck gibt es im MSH noch eine weitere Verbindung zwischen den Ebenen, die durch die horizontalen und diagonalen Pfeile symbolisiert wird. Die Pfeile stehen für den Ablauf des Entscheidungsprozesses. Auf der strategischen Ebene (mittlere Zeile) in Abbildung 5 (oben, S. 118) beginnt der Entscheidungsprozess mit dem von der Politik vorgegebenen Zweck. Anhand des Zwecks wird das Ziel bestimmt, anhand des Ziels die Mittel. Die einzelnen strategischen Mittel (beabsichtigte Gefechtswirkungen) werden dann ‚nach unten’ an separate taktische Entscheidungsprozesse übergeben (vgl. die abwärts weisenden Pfeile in Abbildung
59
Was in der Grafik nur für Akteur A eingetragen ist, muss auch für Akteur B hinzugedacht werden, ebenso die Rahmenbedingungen des Handelns (Ellipsen).
4.2 Präzisierung des ‚Modells strategischen Handelns’ durch Luhmanns Systemtheorie
121
6, oben, S. 119), wo sie jeweils als Zielvorgabe fungieren.60 Auf der Ebene der taktischen Entscheidungsprozesse zeigt wiederum jeweils der horizontale Pfeil vom Ziel zum Mittel an, dass anhand des Ziels die taktischen Mittel bestimmt werden. Auf der Ebene der außenpolitischen Gesamtstrategie (obere Zeile in Abbildung 5, oben, S. 114) beginnt der Entscheidungsprozess mit dem außenpolitischen Gesamtzweck des Akteurs. Ausgehend von diesem wird das außenpolitische Ziel bestimmt. Es besteht in der beabsichtigten kombinierten Wirkung aller Ressortstrategien. Aus dem Ziel werden die Mittel (beabsichtigte Wirkungen der einzelnen Ressortstrategien) bestimmt. Die abwärts weisenden Pfeile vom außenpolitischen Mittel zu den Zielen der Ressortstrategien (Abbildung 7, oben, S. 120) zeigen an, dass die einzelnen außenpolitischen Mittel nach dem bereits erläuterten Prinzip an unterschiedliche – diesmal strategische – Entscheidungsprozesse übergeben werden, die ihrerseits aus diesen – aus ihrer Sicht – Zielvorgaben die Mittel bestimmen usf. Die Zwecke werden hingegen nicht in gleicher Weise über die Ebenen ‚übertragen’, sondern stehen – wie eben geschildert – von oben nach unten in einem Verhältnis der Konkretisierung zueinander. 4.2 Präzisierung des ‚Modells strategischen Handelns’ durch Luhmanns Systemtheorie Clausewitz’ Kriegstheorie ist mit den Einsichten der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie – insbesondere in ihrer älteren Fassung (Luhmann 1975, 1973, 1972, 1964) – grundsätzlich kompatibel.61 Daher können diese Einsichten nun genutzt werden, um das Modell weiter zu präzisieren und auszubauen. 60 61
Diese von untergeordneten Subsystemen angewandte Technik des Umdeutens eines – von einem übergeordneten System aus gesehen – Mittels zum eigenen Zweck (hier: Ziel) wird in der Systemtheorie Zweck/Mittel-Verschiebung genannt (vgl. oben, S. 57-59). Die wissenschaftstheoretischen Parallelen zwischen den Ansätzen (vgl. hierzu ausführlicher oben, Abschnitt 2.4) bestehen erstens in der Auffassung, dass eine sinnvolle Handlungstheorie eine Entscheidungstheorie sein müsse, in der die praktische und theoretisch-empirische Funktion von Theorie miteinander verschmelzen. So spricht Clausewitz vom „widersinnige[n] Unterschied zwischen Theorie und Praxis“, der durch seine Theorieauffassung „verschwinde“ (1980: 292). Luhmann schreibt: „Das vermeintlich zwingende Schisma von empirischen und normativen Wissenschaften ... gehört denkgeschichtlich in die Epoche der Faktor-Theorien [= Theorien des 19. Jahrhunderts, die das Handeln kausal auf Einzelfaktoren wie z. B. ökonomische Bedingungen zurückführten, R. B.]“ (1973: 346). Eben in der Zurückweisung dieser „Faktor-Theorien“ liegt dann auch die zweite Parallele der Ansätze: „Eine positive Lehre [des Krieges, R. B.] ist unmöglich“ (Clausewitz 1980: 289) schreibt Clausewitz als Resümee der Analyse seines Forschungsgegenstandes. Luhmann
122
4 Clausewitz trifft Luhmann
4.2.1 Systemtheoretische Entscheidungsprogramme: Zweck/Mittel-Schema vs. Routine Zunächst einmal fällt auf, dass sich Clausewitz in den Modellen I und II, die sich auf den Krieg als Ganzes beziehen, zur Beschreibung bzw. Analyse des Kriegshandelns auf die Begriffe von Zweck, Ziel und Mittel beschränkt. Der prominent entwickelte Begriff des „Methodismus“62 (heute: Routinen) wird hier nicht gebraucht, obwohl Clausewitz seine Bedeutung für das Handeln im Krieg an anderer Stelle im selben Werk ausgiebig herausgestellt hat (vgl. 1980: 305-311; zum Begriff der „Routine“ vgl. insbesondere Luhmann 1964).63 Dies ist mit Clausewitz’ Ergebnis konsistent, dass der „Methodismus“ in der Strategie kaum zu verwenden ist (1980: 309-311). Doch nachdem hier – über Clausewitz hinausgehend – die Ebenen der Taktik und der Außenpolitik in das ‚Modell strategischen Handelns’ eingefügt worden sind, muss geklärt werden, in welchem Verhältnis das Zweck/Ziel/Mittel-Schema zum „Methodismus“ steht. Denn es kann der Literatur entnommen werden, dass Routinen heute auf der Handlungsebene der Außenpolitik sowie auf den Ebenen der Strategie und Taktik durchaus eine wichtige Rolle spielen können (Jäger/Oppermann 2006). Dies widerspricht Clausewitz im Kern nicht, denn er betont ja nur, dass strategisches Handeln sich nicht allein auf Routinen stützen darf. Ein zweites Desiderat des bis zu diesem Punkt entwickelten Modells besteht darin, zu klären, welchen Status Clausewitz’
62
63
weist die Bedeutung der herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Kausalforschung – oder: „positivistische[n] Wissenschaftslehre“ (1972: 128) – für eine Theorie des Handelns mit derselben Rigorosität zurück (vgl. 1972: 128-130, 1973: 27, 50-51, 157, 197-198; zur positivistischen Wissenschaftslehre vgl. einführend Prim/Tilmann 1979). Die dritte Parallele besteht schließlich in der Einsicht, dass die wichtigste Funktion einer solchen Entscheidungstheorie in der richtigen Reduktion einer komplexen Umwelt des Handelnden liegen muss, damit dieser eine Entscheidungsgrundlage erhält – und damit grundsätzlich in einem funktionalen Theorieverständnis (vgl. Luhmann 1973: 348-349, vgl. auch 166171). Clausewitz hat ein sehr ähnliches Theorieverständnis (vgl. 1980: 290-292) und kommt daher zum analogen Schluss, dass die Theorie eine „[g]roße Vereinfachung des Wissens“ (1980: 295) leisten müsse. Eine Methode ist ein „unter mehreren möglichen ausgewähltes, immer wiederkehrendes Verfahren“ (Clausewitz 1980: 306). Von Methodismus spricht man, „wenn statt allgemeiner Grundsätze oder individueller Vorschriften das Handeln durch Methoden bestimmt wird“ (Clausewitz 1980: 306). Die Fälle, auf die eine Methode angewandt wird, müssen „in ihren wesentlichen Stücken als gleich vorausgesetzt werden“ (Clausewitz 1980: 306). Vgl. ausführlich zu den Begriffen der Methode und des Methodismus oben, S. 68-71. Routinen sind für das Handeln auf der taktischen Ebene unerlässlich: „die häufige Anwendung der Methoden [= Routinen, R. B.] wird in der Kriegführung auch als höchst wesentlich und unvermeidlich erscheinen, wenn man bedenkt, wie vieles Handeln auf bloße Voraussetzungen oder in völliger Ungewißheit geschieht ...“ (Clausewitz 1980: 308). Vgl. hierzu ausführlich oben, S. 68-71.
4.2 Präzisierung des ‚Modells strategischen Handelns’ durch Luhmanns Systemtheorie
123
„Grundsätze“ des Handelns in diesem Modell haben sollen, die er bewusst in Abgrenzung zum „Methodismus“ einführt (1980: 291-292, 305-307; vgl. zu dieser Abgrenzung oben, S. 66-71). Aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie stellt das hier entwickelte Analysemodell das Modell eines organisierten Entscheidungsprozesses dar. Solche Entscheidungsprozesse lassen sich gemäß dieses Ansatzes ganz allgemein als Informationsverarbeitungsprozesse verstehen. Solcher Informationsverarbeitungsprozesse bedienen sich soziale Systeme. Soziale Systeme bilden stabile Einheiten, indem ihre Mitglieder den von ihnen ausgeführten Handlungen einen gemeinsamen „Sinn“ (Luhmann 1973: 176, H. i. O.) zugrunde legen. Einfacher ausgedrückt heißt dies, dass solche Systeme auf einer sozialen Übereinkunft über ein gemeinsames Bild der Welt basieren, welches eine gewisse Konsistenz der Handlungen ermöglicht, so dass man diese als systematisch bezeichnen kann (Luhmann 1973: 171-179).64 Soziale Systeme entstehen durch Handlungen von Menschen. Deren Eigenschaften werden jedoch theoretisch ausgeblendet, um den Fokus auf die Kommunikations- und Informationsverarbeitungsprozesse zu richten – um also eine intellektuelle Konzentration auf die Eigenschaften und Strukturen des Systems, das ihre gemeinsamen Handlungen bilden, zu ermöglichen. Sobald die Mitgliedschaft in einem sozialen System an die formale Akzeptanz bestimmter Verhaltenserwartungen gekoppelt wird, spricht man von organisierten Sozialsystemen (Luhmann 1973: 339). Der gemeinsame Sinn der Handlungen, der diese von einer komplexeren, weniger geordneten Umwelt abgrenzt, wird durch verschiedene ‚Sinn-Instrumente’ gestiftet. Eines dieser Instrumente ist ein gemeinsamer Zweck, nach dem sich alles Handeln richtet (Luhmann spricht folglich auch von „Zwecksinn“, 1973: 177), ein anderes sind gemeinsame Routinen (vgl. für eine ausführlichere Darstellung der Systemtheorie Luhmanns oben, Abschnitt 2.4). Damit unterscheidet sich der soziologische Systembegriff stark vom politikwissenschaftlichen Systembegriff des Neorealismus als Theorie internationaler Politik (Waltz 1979, 2001: 159-223). Während sich soziale Systeme durch gemeinsame Wahrnehmungs- und Handlungsplanungsmuster aktiv von einer außen liegenden Umwelt abgrenzen, stellen die Staaten im Neorealismus Teile eines übergeordneten internationalen politischen Systems dar. In der sozio64
Die Systemtheorie geht also nicht von der Einzelhandlung aus, sondern von Handlungssystemen, „die aus konkreten Handlungen eines oder mehrerer Menschen gebildet sind und sich durch Sinnbeziehungen zwischen diesen Handlungen von einer Umwelt abgrenzen“ (Luhmann 1973: 8). Dabei sind Handlungssysteme ein Unterfall von Systemen. Unter einem System versteht Luhmann „jedes Wirklich-Seiende, das sich, teilweise auf Grund der eigenen Ordnung, teilweise auf Grund von Umweltbedingungen, in einer äußerst komplexen, veränderlichen, im ganzen nicht beherrschbaren Umwelt identisch hält“ (1973: 7).
124
4 Clausewitz trifft Luhmann
logischen Systemtheorie wird gefragt, durch welche Instrumente soziale Systeme ihre komplexe Umwelt begreifen, wie sie in ihrem Inneren ein weniger komplexes Abbild ihrer Umwelt schaffen, um handlungsfähig zu werden – und so eine Innen/Außen-Differenz reproduzieren und stabilisieren. Der Neorealismus geht hingegen nicht von der System/Umwelt-Differenz aus, sondern fragt nach den spezifischen Eigenschaften des internationalen Systems, das die staatlichen Akteure durch ihr Handeln schaffen und welches gleichzeitig als Restriktion für ihr Handeln wirksam wird, wollen sie in diesem System ‚überleben’. Während sich die Schwierigkeiten des ‚Überlebens’ von Akteuren in der internationalen Politik im Neorealismus primär aus der Anarchie des internationalen Systems ergeben, liegt das Hauptproblem für internationale Akteure gemäß der soziologischen Systemtheorie in der angemessenen Reduktion einer veränderlichen, hochkomplexen Umwelt; wobei Komplexität einerseits Unübersichtlichkeit der Zusammenhänge65 und andererseits Ungewissheit im Sinne von Informationsmangel66 bedeutet (vgl. auch Luhmann 2004: 167-182). Überträgt man die Logik der soziologischen Systemtheorie auf Fragen internationaler Politik (vgl. auch Albert/Cederman/Wendt 2010; Stetter 2007; Albert/Hilkermeier 2003; Jervis 1997), wie hier beabsichtigt, so rückt demnach der politische Entscheidungsprozess in den Fokus der Analyse. Dieser Entscheidungsprozess bildet im Licht der Systemtheorie ein organisiertes Sozialsystem, dessen Strukturen zur Reduktion von Komplexität es zu analysieren gilt. Luhmann selbst regt die Übertragung seiner Theorie auf „Organisationen jeder Art“ (1973: 259) an. Im Rahmen der üblichen Klassifikation von Erklärungsfaktoren für Phänomene internationaler Politik ist die soziologische Systemtheorie in ihrer hier erfolgenden Anwendung auf der Analyseebene des Akteurs („second image“, Waltz 2001; vgl. auch Singer 1961) zu verorten,67 der Neorealismus hingegen auf der Analyseebene des Systems („third image“, Waltz 2001; vgl. auch Singer 1961). Dieser doppelte Systembegriff ist zwar begrifflich
65
66
67
Die ausführliche Definition lautet: „Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann“ (Luhmann 1987: 25). „Komplexität in diesem zweiten Sinne ist dann ein Maß für Unbestimmbarkeit oder für Mangel an Informationen. Komplexität ist, so gesehen, die Information, die dem System fehlt, um seine Umwelt (Umweltkomplexität) bzw. sich selbst (Systemkomplexität) vollständig erfassen und beschreiben zu können“ (Luhmann 1987: 50). Denn gemäß der zitierten Klassifikation sind auf der Analyseebene des Akteurs („second image“, Waltz 2001; vgl. auch Singer 1961) Erklärungsfaktoren für internationale Politik angesiedelt, die sich auf die innere Struktur des Herrschaftssystems der Staaten beziehen, wie z. B. der Regimetyp im Allgemeinen sowie innerbürokratische Verhandlungsprozesse oder eben Organisationsmerkmale des außenpolitischen Entscheidungsapparates im Besonderen.
4.2 Präzisierung des ‚Modells strategischen Handelns’ durch Luhmanns Systemtheorie
125
verwirrend, ermöglicht aber die Kombination beider Ansätze, wie unten gezeigt wird. Zunächst lässt sich ein Sozialsystem – wie gesagt – sehr abstrakt als ein Informationsverarbeitungsprozess bezeichnen: An bestimmten Schwellen, die den Außengrenzen von Systemen entsprechen (‚Input-Grenzen’, in der folgenden Grafik durch den dickeren senkrechten Strich, der mit ‚I’ überschrieben ist, symbolisiert), kommen komplexe Informationen als Input in das System hinein. Im Inneren werden sie verarbeitet, verdichtet, geordnet (Zickzacklinie in der folgenden Grafik) und verlassen an einer oder mehreren Außengrenzen (‚OutputGrenzen’, in der folgenden Grafik der dickere senkrechte Strich, der mit ‚O’ überschrieben ist) als Output in Form von Kommunikationen oder Entscheidungen das System. Diese Verarbeitung im Inneren entspricht einer Reduktion von Komplexität der Informationen (Luhmann 1973: 249-250, 258259; vgl. auch oben, S. 54-56). Dieses so genannte „Input/Output-Modell“ (Luhmann 1973: 248) eines Systems lässt sich folgendermaßen grafisch darstellen: Abbildung 8:
Input/Output-Modell I
Information
O Kommunikation / Entscheidung
Das Input/Output-Modell beruht auf der Annahme, dass Systeme ihre Umwelt in ihrem Inneren als Kausalgeschehen auslegen bzw. interpretieren (Luhmann 1973: 250). Die eingehenden Informationen werden im Inneren mithilfe der Input- bzw. Output-Grenzen nach Ursache und Wirkung (‚U’ bzw. ‚W’ in der folgenden Grafik) getrennt und als Kausalvorgang gedacht aufeinander bezogen. Dies gilt sowohl für die Wahrnehmung von Informationen als auch für das eigene Handeln. Ein System interpretiert das eigene Handeln als Kausalvorgang, wobei „es in gewissem Umfang die Möglichkeit hat, Ursachen als Anlässe und Wirkungen als Zwecke seines Handelns zu wählen“ (Luhmann 1973: 250). Auf der Basis dieses selbst geschaffenen, künstlichen Abbilds der Welt handelt das System. Die Kausalauslegung des Handelns impliziert eine „Asymmetrie der Kausalbeziehung“: „Man kann Ursachen im Hinblick auf eine Wirkung variieren, die sie zu erzeugen vermögen, und Wirkungen im Hinblick auf eine Ursache, nie aber Ursache und Wirkung zugleich als variabel behandeln, denn das würde
126
4 Clausewitz trifft Luhmann
einen unendlichen Regreß auslösen und die Thematik ins Unbestimmbare verflüchtigen ... Die Kausalkategorie sieht also vor, daß alles geändert werden kann, aber nicht alles auf einmal“ (Luhmann 1973: 30, H. i. O.). Kurz, „[d]ie Kausalauslegung des Handelns ist ... ein heuristisches Denkschema“ (Luhmann 1973: 29). Abbildung 9:
Input/Output-Modell mit Kausalauslegung des eigenen Handelns I
Information
U1
W1
U2
W2
U3
W3
O Kommunikation / Entscheidung
Indem das System sich wahlweise und abwechselnd stärker an seiner InputGrenze oder an seiner Output-Grenze orientieren kann (sprich: mal die Ursache, mal die Wirkung des Handelns konstant hält), reduziert es die Komplexität der eingehenden Informationen. Denn es kann entweder die Informationen, die es für eine Kommunikation oder Entscheidung (an der Output-Grenze) braucht, an seiner Input-Grenze aussuchen, oder es kann sein Output an den verfügbaren eingehenden Informationen (an der Input-Grenze) orientieren – und reduziert im Wechsel dieser Perspektiven schrittweise Komplexität. Dabei wird das System als „Subjekt“ (Luhmann 1973: 12) verstanden, das (innerhalb eines gewissen Spielraums) zwischen diesen Orientierungen frei wählen kann (Luhmann 1973: 250-251, vgl. auch 182-183). Doch wieso ist dieses komplizierte Verfahren der Entscheidungsfindung überhaupt vonnöten? Es ist notwendig, weil soziale Systeme – gemäß einer systemtheoretischen Grundannahme – in einer „äußerst komplexen, veränderlichen, im ganzen nicht beherrschbaren Umwelt ...“ (Luhmann 1973: 7) existieren und eben auch handeln müssen. Diese Sicht der Dinge spiegelt sich im systemtheoretischen Verständnis von Kausalität wider, nämlich der Annahme, dass „keine Ursache allein zur Bewirkung einer Wirkung ausreicht, so wie auch keine Ursache oder Ursachenvielheit nur eine einzige Wirkung hat“ (Luhmann 1973: 26, vgl. auch 1972: 128-130). In Abbildung 9 (oben) ist dies dadurch dargestellt, dass mehrere Ursachen (hier z. B. ‚U1’ bis ‚U3’) zu mehreren Wirkungen (hier z. B. ‚W1’ bis ‚W3’) führen. Das systemtheoretische Kausalitätsverständnis deckt sich mit dem von Clausewitz, der rund 150 Jahre früher gleichfalls zum Schluss kommt, „daß die Wirkungen im Kriege selten aus einer einfachen Ursache hervorgehen, sondern aus mehreren gemeinschaftlichen ...“ (1980: 313; vgl. auch oben, Abschnitt 2.9.1).
4.2 Präzisierung des ‚Modells strategischen Handelns’ durch Luhmanns Systemtheorie
127
Darüber hinaus kann ein und dieselbe Ursache wechselnde Wirkungen haben. Dies ist abhängig vom so genannten „Kausalkontext“ (Luhmann 1973: 26, H. d. V.), das heißt, von der „Gesamtkonstellation“ (Luhmann 1973: 27) der Variablen oder Faktoren mit denen die Ursache gemeinsam auftritt. Wechselt der Kausalkontext, so wechselt die Wirkung der Ursache. Selbstverständlich gilt dasselbe umgekehrt für eine Wirkung, die – gleichfalls in Abhängigkeit vom Kausalkontext – durch wechselnde Ursachen bedingt werden kann. Gemäß der Systemtheorie ist die Definition und Begrenzung des Kausalkontextes Ergebnis einer Selektion, die das System selbst leisten muss (Luhmann 1972: 128-130, 1973: 49). An zentraler Stelle seiner methodischen Ausführungen kommt Clausewitz zu einem ganz ähnlichen Ergebnis: „Die Anwendung [der Kenntnisse, die der Kriegskunst zugrunde liegen, R. B.] [wird] von so vielen Umständen modifiziert, daß die Wirkungen nie aus der bloßen Natur des Mittels vollständig erkannt werden können“ (1980: 335). Um die „Hundert [sic] Nebenumstände ...“, die „diese Wirkung genauer [bestimmen] ...“ erkennen zu können, sieht Clausewitz nur einen Weg – die „Erfahrung“ (1980: 336, H. i. O.). Hat man diese Erfahrung erlangt, so kennt man die relevanten Umstände, die ins Kalkül aufgenommen werden müssen. In die Sprache der Systemtheorie übersetzt bedeutet dies, dass man durch die Erfahrung in die Lage versetzt wird, den Kausalkontext des Handelns richtig zu definieren. Es lassen sich analog zu den beiden möglichen Orientierungen des Systems – entweder wird das Input oder das Output konstant gesetzt – zwei Grundtypen von Entscheidungsprogrammen zum Handeln von Systemen unterscheiden (Luhmann 1973: 254, vgl. auch 241-243). Der Begriff des Entscheidungsprogramms soll unterstreichen, dass es sich um Typen von Informationsverarbeitungsprozessen handelt, bei denen in einer bestimmten Zeitfolge eingehende Nachrichten bzw. Informationen nach bestimmten Gesichtspunkten selektiert, geordnet und verdichtet werden und als Entscheidungen das System verlassen; die Zeit kann insofern ebenfalls als Mittel zur Reduktion von Komplexität genutzt werden (Luhmann 1973: 254-255, vgl. auch 51-53; vgl. zur Bedeutung von Zeit im Entscheidungsprogramm oben, S. 60-61). Der Begriff der Entscheidung wird hier definiert als „Reduktion einer Unendlichkeit von Möglichkeiten auf eine einzige Handlung bzw. Handlungsfolge“ (Luhmann 1973: 35). Der erste Typ von Entscheidungsprogrammen ist das so genannte Zweckprogramm, das auch Zweck/Mittel-Schema genannt wird (Luhmann 1973: 43-54, 198-199, 257-342) und in Abbildung 1068 (unten, S. 128) dargestellt wird (vgl. ausführlicher oben, Abschnitte 2.6 und 2.7). Das Innere des mittleren, großen 68
Für wertvolle Anregungen zur Erstellung dieser und der folgenden Abbildung danke ich Thomas Jäger.
128
4 Clausewitz trifft Luhmann
Kastens in dieser Abbildung zeigt das vereinfachte Abbild der Welt, nach dem das System die eingehenden komplexen ‚Informationen’ (linker, kleiner Kasten) ordnet. Das Zweckprogramm basiert auf der Grundidee der Kausalauslegung des eigenen Handelns durch das System (vgl. Abbildung 9, oben, S. 126) und stellt lediglich einen spezifischen Untertypus dieser Grundidee dar (Luhmann 1973: 249). Beim Zweckprogramm orientiert sich das System primär an den Wirkungen bzw. Folgen seines Handelns. Es geht von der Festlegung einer gewünschten Wirkung des Handelns aus, die durch den Zweck (‚Z’ in der folgenden Abbildung) definiert wird. Abbildung 10: Zweckprogramm (Zweck/Mittel-Schema) R1 I Information
M1
d
c
N1
M2
Z
Mi
Nn
O Entscheidung über Mittel
Rk
Diese ‚abhängige Variable’ der eigenen Handlung wird (gedanklich und somit vorübergehend!) konstant gesetzt. In der nun asymmetrischen Kausalbeziehung werden sodann verschiedene Mittel, die Handlungsoptionen entsprechen (‚M1’ bis ‚Mi’69), gedanklich durchgespielt, die mehr oder weniger als Ursachen der gewünschten Wirkung in Frage kommen und die jeweils mehr oder weniger über die gewünschte Wirkung hinausgehende Nebenfolgen (‚N1’ bis ‚Nn’) zeitigen.70 Diese Nebenfolgen werden durch die Zwecksetzung gedanklich „neutralisiert“ (Luhmann 1973: 47-48), d. h. aufgehoben (symbolisiert durch das gestrichelte Kästchen, das die Nebenfolgen N1 bis Nn umgibt). Die Mittel werden funktional äquivalent (Luhmann 1973: 50) und vergleichbar (Luhmann 1973: 49), da sie alle – unabhängig von ihren unintendierten Nebenfolgen – die Funktion erfüllen, den Zweck zu erreichen. Das eigentümliche „Thema“ der 69 70
Die Indizes i, j, k, m, n, q und u bedeuten beliebige aber endliche Anzahlen. Das heißt – entgegen der Suggestion von Abbildung 10 – beginnt der Entscheidungsprozess mit der Zwecksetzung auf der rechten Seite der Grafik bei ‚c’. Dann folgt links in der Grafik bei ‚d’ das Durchspielen der Mittel. Das Innere des mittleren Rechtecks stellt demnach nicht den chronologischen Ablauf des Entscheidungsprozesses von links nach rechts dar, sondern das spezifische, reduzierte Abbild der Welt, das Systeme in Zweckprogrammen ihren Entscheidungen zugrunde legen.
4.2 Präzisierung des ‚Modells strategischen Handelns’ durch Luhmanns Systemtheorie
129
Zwecksetzung „ist nicht die Bewirkung jener [durch die Zwecksetzung, R. B.] ausgezeichneten Wirkungen, sondern das Verhältnis ihres Wertes zu den Werten der Nebenwirkungen ...“ (Luhmann 1973: 44). In anderen Worten: Der Zweck heiligt die Mittel! Nur wenn mehrere Mittel in Frage kommen, können diese nach der Schwere ihrer Nebenfolgen sortiert werden. Beim gedanklichen Durchspielen der Mittel ist stets der Kausalkontext – also die Gesamtkonstellation anderer Variablen bzw. Faktoren – innerhalb dessen die Mittel eingesetzt würden, zu berücksichtigen. Dieser Kausalkontext wird hier durch den Begriff der Rahmenbedingungen operationalisiert. Diese sind in der Grafik – durch eine gestrichelte Linie abgegrenzt – als ‚R1’ bis ‚Rk’ dargestellt. Clausewitz nennt diese Rahmenbedingungen „Umstände, welche die Anwendung der Mittel immer begleiten“ (1980: 293).71 Am Ende des Prozesses steht eine Entscheidung über die Disposition bestimmter Mittel. Der zweite Typ von Entscheidungsprogrammen ist das so genannte Konditionalprogramm, das – in einer gebräuchlicheren Terminologie – auch Routine genannt wird (vgl. Luhmann 1964, 1973: 88-106, 241-246) und in Abbildung 11 (unten, S. 130) dargestellt wird (vgl. ausführlicher oben, S. 54). Es funktioniert genau umgekehrt wie das Zweckprogramm: Das System legt Ursachen fest, die, werden sie in der Umwelt festgestellt, unabhängig vom Vorkommen anderer Ursachen (‚U1’ bis ‚Un’), die möglicherweise gleichzeitig auftreten, als Anlass (‚A’) eine oder mehrere bestimmte Handlungen (hier z. B. ‚H1’, ‚H2’, ‚H3’) auslösen. Die Routine ist als Norm, in der Form ‚Wenn/Dann’, formuliert. In Abbildung 11 (unten, S. 130) lautet diese Norm z. B.: Immer wenn A auftritt, dann werden die Handlungen ‚H1’, ‚H2’ und ‚H3’ ausgeführt – und zwar unabhängig davon, in welcher Konstellation anderer Faktoren (‚U1’ bis ‚Un’) A auftritt. Das Konditionalprogramm ist als Norm bzw. „Algorithmus fixiert“ (Luhmann 1973: 102) und damit – ganz im Gegensatz zum Zweckprogramm – weitgehend unabhängig davon, wer entscheidet. Während beim Zweckprogramm das System hinsichtlich der Mittelwahl relativ freigestellt ist, ist es beim Konditionalprogramm hinsichtlich der unintendierten Nebenwirkungen seines Handelns 71
Mit Bezug auf die Taktik erklärt Clausewitz den Begriff der „Umstände“ wie folgt: „Da es gewisse Umstände gibt, welche das Gefecht immerwährend begleiten und mehr oder weniger Einfluß darauf haben, so müssen diese bei der Anwendung der Streitkräfte mit in Betrachtung gezogen werden“ (1980: 293). Vgl. ferner Clausewitz’ Begriff des „Grundsatzes“, der „wo die Mannigfaltigkeit der wirklichen Welt sich nicht unter die definitive Form eines Gesetzes fassen läßt, dem Urteil mehr Freiheit in der Anwendung ...“ lassen muss (1980: 305, H. d. V.). Vgl. außerdem Clausewitz’ Kritik an der positivistischen Wissenschaftslehre (1980: 314-316), in der er herausarbeitet, dass bei der Anwendung von Grundsätzen stets die „individuellen Umstände ...“ (1980: 316) berücksichtigt werden müssen. Vgl. schließlich die Würdigung dieser Gedanken von Clausewitz bei Vollrath, der statt „Umständen“ den Begriff der situationsabhängigen „Circumstantien“ benutzt (1993: 72-73).
130
4 Clausewitz trifft Luhmann
(‚N1’ bis ‚Nk’) relativ freigestellt; die durchgezogene Linie in Abbildung 11 (unten) symbolisiert dies.72 Wichtiger als die Folgen des Handelns ist in diesem Entscheidungsmodus die Tatsache, dass normgemäß entschieden worden ist (Luhmann 1973: 102). Daraus folgt, dass – im Gegensatz zum Zweckprogramm – situationsspezifische Rahmenbedingungen beim Entscheiden nicht mitberücksichtigt werden müssen und daher auch nicht in der Abbildung eingetragen sind. Stattdessen muss die „Methode auf die wahrscheinlichsten Fälle“ (Clausewitz 1980: 306) berechnet sein. Denn genau dies ist die Aufgabe der Routine: Sie muss es ermöglichen, handlungsfähig zu werden, unabhängig davon „wie zahllos die kleinen Umstände sind, die einem individuellen Falle angehören ...“ (Clausewitz 1980: 308).73 Abbildung 11: Konditionalprogramm (Routine) N1 I Information
U1 A
c
d Norm = Wenn / Dann
Un
H1 H2 H3
O Entscheidung über Routinehandlung
Nk
Insbesondere der zweite Typ von Entscheidungsprogrammen, das Konditionalprogramm oder auch Routine genannt, ist in der Organisationstheorie (vgl. Simon 1997; March/Simon/Guetzkow 1993; Cyert/March 1992) bereits gut er72
73
Wie schon in Abbildung 10 (oben, S. 128) stellt das Innere des mittleren Rechtecks in Abbildung 11 (oben) nicht den chronologischen Ablauf des Entscheidungsprozesses von links nach rechts dar, sondern das spezifische, reduzierte Abbild der Welt, das Systeme in Konditionalprogrammen ihren Entscheidungen zugrunde legen. Der Entscheidungsprozess beginnt hier – diesmal jedoch der Suggestion von Abbildung 11 entsprechend – auf der linken Seite der Grafik mit der Identifikation eines Handlungsanlasses bei ‚c’. Dann folgt in der Mitte der Grafik bei ‚d’die Entscheidung gemäß einer vorhanden Wenn/Dann-Norm. Luhmann veranschaulicht dies wie folgt: „Ein Polizist hat den Verkehr an einer Kreuzung zu regeln, jedesmal wenn sich eine vorher definierte kritische Situation ergibt, wann auch immer das geschieht, und ob es sich um Möbelwagen, Radfahrer oder Hochzeitskutschen handelt, um den Studienrat, der zur Schule fährt, oder um den Chauffeur des Regierungspräsidenten, der zur Tankstelle will ... Das Programm wird auf diese Weise umweltabhängig und doch invariant definiert. Es bleibt identisch und wird gleichmäßig gehandhabt, obwohl die informierende Umwelt nicht kontrolliert und beeinflusst werden kann, obwohl sie die auslösenden Informationen unregelmäßig und in unvorhersehbarer Weise streut ... [D]as System übersetzt Unregelmäßigkeit in Regelmäßigkeit“ (1964: 9).
4.2 Präzisierung des ‚Modells strategischen Handelns’ durch Luhmanns Systemtheorie
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forscht und auch schon mit Erfolg auf außenpolitische Forschungsfragen angewandt worden (Jäger/Oppermann: 2006; Allison/Zelikow 1999). Neu an der systemtheoretischen Perspektive ist einerseits die relative „Autonomie der Selbstprogrammierung“74 (Luhmann 1973: 104, vgl. auch 105, 269-270), das heißt, die Tatsache, dass unterschiedliche Systeme in unterschiedlichen Umwelten (in Grenzen) selbst entscheiden können, in welchem Verhältnis sie ihre Entscheidungsprozesse auf das Zweck/Mittel-Schema bzw. auf Routinen aufbauen wollen sowie die Möglichkeit der Integration beider Entscheidungstypen in einen gemeinsamen theoretischen Rahmen. Dadurch entsteht ein neuartiger Rationalitätsbegriff. Denn im Rahmen der Systemtheorie besteht Rationalität nun nicht mehr allein in der angemessenen Mittelwahl, sondern in der Wahl des richtigen Mischungsverhältnisses von Zweckprogrammen und Konditionalprogrammen (Routinen) bzw. anderen Instrumenten zur Reduktion von Komplexität. Luhmann nennt diese neue Form der Rationalität Systemrationalität (1973: 7-17, 248-256; vgl. hierzu ausführlicher oben, Abschnitt 2.4). Neu ist andererseits der Fokus auf das Zweck/MittelSchema und seine Funktion selbst – ist dieses doch in den heutigen Wirtschaftswissenschaften vom vermeintlich überlegenen Postulat einer transitiven Wertordnung abgelöst worden (Luhmann 1973: 37, 42; vgl. zur transitiven Wertordnung unten, S. 136). Für das vorliegende Unterfangen ist diese Perspektive besonders gut geeignet, da Clausewitz bereits beide Formen von Entscheidungsprozessen in seiner Theorie des Handelns im Krieg verwendet. Analog zur modernen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie empfiehlt er unterschiedliche Mischungsverhältnisse dieser Entscheidungsverfahren: Routinen spielen für taktische Entscheidungen eine herausragende Rolle, das Zweck/Mittel-Schema empfiehlt er für Strategien (Clausewitz 1980: 307-311). Genau dies ist der Grund dafür, dass das Zweck/Mittel-Schema seine wichtigsten Ausführungen über strategisches Handeln (Clausewitz 1980: 191-230) dominiert und Routinen hier nicht mehr auftauchen. Auch er ist stets auf der Suche nach Instrumenten zur richtigen „Vereinfachung des Wissens“ (Clausewitz 1980: 295, vgl. auch 296-300). Der gesamte begriffliche Apparat seiner Kriegstheorie lässt sich mit Fug und Recht als Instrument interpretieren, das im Krieg handelnden Akteuren die Konzentration auf die wirklich relevanten Informationen ermöglicht.75 74 75
Der Begriff der Programmierung bzw. des Programmierens meint die Herstellung von Entscheidungsprogrammen (vgl. ausführlicher oben, S. 56). „Keine Tätigkeit des menschlichen Verstandes ist ohne einen gewissen Reichtum von Vorstellungen möglich, diese aber werden ihm, wenigstens dem größten Teil nach, nicht angeboren, sondern erworben und machen sein Wissen aus. Es frägt sich also nur, welcher Art diese Vorstellungen sein sollen, und das glauben wir bestimmt zu haben, wenn wir sagen, daß
132
4 Clausewitz trifft Luhmann
Clausewitz war auf der Suche nach einer völlig neuen Methodik des strategischen Denkens. Diese Methodik sollte vom konventionellen Denken in Kausalgesetzen Abschied nehmen und stattdessen Licht in den Entscheidungsprozess des militärischen „Genies“ (Clausewitz 1980: 283-284, 299-300) unter den Bedingungen des ‚Nebels des Krieges’76 (Clausewitz 1980: 289) bringen. Wie genau funktioniert der „Takt des Urteils“ des militärischen Genies (Clausewitz 1980: 369), der „unstreitig mehr oder weniger in einer dunkeln Vergleichung aller Größen und Verhältnisse, wodurch die entfernten und unwichtigen schneller beseitigt und die nächsten und wichtigsten schneller herausgefunden werden ...“ (Clausewitz 1980: 961) besteht und „das Rechte fast bewußtlos trifft“ (Clausewitz 1980: 401)? Die Methodik, die er gefunden hat, ist nicht nur mit der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie kompatibel. Die Systemtheorie kann – und soll hier – als die moderne Weiterentwicklung der Methodik von Clausewitz verstanden werden. Die Methodik steht ihrerseits unbestritten im Mittelpunkt von Clausewitz’ Denken: „Nicht was wir gedacht haben, halten wir für einen Verdienst um die Theorie, sondern wie wir es gedacht haben“ (1999: 236, H. i. O.). Aufgrund der zentralen Stellung des Zweck/Mittel-Schemas in Clausewitz’ Handlungstheorie, wird im Folgenden seine systemtheoretische Fassung zunächst genauer erläutert (Abschnitt 4.2.2). Anschließend wird dieses Schema in das ‚Modell strategischen Handelns’ (MSH) eingearbeitet und dieses somit deutlich präzisiert und erweitert (Abschnitt 4.3). 4.2.2 Wie funktioniert das Zweck/Mittel-Schema aus Sicht der Systemtheorie? Wie funktioniert das Zweck/Mittel-Schema (Zweckprogramm) als Methode des Entscheidens über das eigene Handeln in organisierten Sozialsystemen im Einzelnen (vgl. auch oben, Abschnitte 2.6 und 2.7)? Das Zweck/Mittel-Schema vereinigt in sich zwei hocheffektive Techniken zur Reduktion von hoher Umweltkomplexität auf ein entscheidbares Maß: das Kausalschema und eine spezifische Wertordnung des Handelns (Luhmann 1973: 24, 49-50). Durch das Kausalschema wird das eigene Handeln strategisch als Kausalvorgang schematisiert. Es wird im Planungsprozess vorstellbar als Verursachung
76
sie für den Krieger auf die Dinge gerichtet sein sollen, mit denen er im Kriege unmittelbar zu tun hat“ (Clausewitz 1980: 297). Das Originalzitat lautet: „Endlich ist die große Ungewißheit aller Datis im Kriege eine eigentümliche Schwierigkeit, weil alles Handeln gewissermaßen in einem bloßen Dämmerlicht verrichtet wird, was noch dazu nicht selten wie eine Nebel- oder Mondscheinbeleuchtung den Dingen einen übertriebenen Umfang, ein groteskes Ansehen gibt“ (Clausewitz 1980: 289).
4.2 Präzisierung des ‚Modells strategischen Handelns’ durch Luhmanns Systemtheorie
133
einer bestimmten Wirkung (vgl. Abbildung 9, oben, S. 126). Im Zweck/MittelSchema geht man – im Gegensatz zur Routine – von einer bestimmten Wirkung bzw. einem Bereich von Wirkungen des eigenen Handelns aus. Diese Wirkung bzw. dieser Bereich von Wirkungen wird durch die Zwecksetzung definiert (‚Z’ in Abbildung 10, oben, S. 128). Die Wirkung – oder anders ausgedrückt: die abhängige Variable – wird dadurch im Entscheidungsprozess konstant gesetzt, wodurch eine Asymmetrie zwischen abhängiger und unabhängiger Variable entsteht. Im Entscheidungsprozess werden sodann die Ursachen – oder anders ausgedrückt: die unabhängigen Variablen – durchdacht bzw. durchgespielt, die geeignet sein könnten, den gewünschten Zweck zu verwirklichen. Diese Ursachen werden als Mittel des Handelns bezeichnet und entsprechen Handlungsoptionen (‚M1’ bis ‚Mi’ in Abbildung 10, oben, S. 128). Der Prozess der Mittelfindung wird „Eignungsanalyse“ genannt, da die Mittel auf ihre Eignung geprüft werden, den gewünschten Zweck zu verursachen (Luhmann 1973: 199, H. d. V.). Durch die „strategische Schematisierung“ (Luhmann 1973: 32) des eigenen Handelns als Kausalvorgang und die Asymmetrisierung dieses Kausalvorgangs durch die Festlegung einer gewünschten Wirkung wird eine erste Reduktion von Komplexität geleistet (Luhmann 1973: 24-33, 193-198). Doch wie kann nun entschieden werden, welche Mittel letztlich tatsächlich zum Einsatz gebracht werden? Dies geschieht durch die zweite Funktion, die das Zweck/Mittel-Schema in sich vereinigt, nämlich eine regulative Wertordnung bezüglich der Folgen des Handelns. Neben der beschriebenen Eignungsanalyse von Mitteln, bei der gefragt wird, ob ein Mittel den gewünschten Zweck verursachen könnte, muss eine so genannte „Wertanalyse der Folgen“ des Handelns vorgenommen werden (Luhmann 1973: 199, H. d. V.). Denn jedes Mittel wird neben der gewünschten Wirkung bzw. des gewünschten Komplexes von Wirkungen unterwünschte Nebenfolgen bzw. Nebenwirkungen (‚N1’ bis ‚Nn’ in Abbildung 10, oben, S. 128) verursachen. Zu den Nebenfolgen eines Mittels zählen auch diejenigen Wirkungen, auf die verzichtet werden muss, eben weil ein anderes Mittel stattdessen nicht eingesetzt wird (Luhmann 1973: 44). Hier kommt die regulative Funktion der Zwecksetzung ins Spiel. Die Zwecksetzung entbindet den Entscheidenden nämlich von der Berücksichtigung aller Nebenfolgen des Handelns bzw. aufgegebenen Wirkungen des NichtHandelns. Die Zwecksetzung beinhaltet eine begrenzte „Neutralisierung“ (Luhmann 1973: 47, H. d. V.) der Nebenfolgen des eigenen Handelns (symbolisiert durch das gestrichelte Kästchen, das die Nebenfolgen ‚N1’ bis ‚Nn’ in Abbildung 10, oben, S. 128, umgibt, Luhmann 1973: 46-48). Der Zweck beinhaltet die Aussage, dass die Nebenwirkungen der eingesetzten Mittel für die
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4 Clausewitz trifft Luhmann
Erreichung des Zwecks in Kauf genommen werden können: Der Zweck heiligt die Mittel (Luhmann 1973: 43-50, 198-199). Wie weit dies geht, hängt von der genauen Formulierung einer Zwecksetzung ab: Als Zweckvariable lässt sie sich „im Ausmaß ihrer Bestimmtheit“ (Luhmann 1973: 188) variieren (vgl. auch oben, S. 51-53). Je enger und genauer (d. h. bestimmter) Zwecke formuliert sind (bis hin zu „präzise abgesteckten empirischen Wirkungen ...“, Luhmann 1973: 188), desto stärker ist ihre Neutralisierungsfunktion, d. h. desto größer wird die Toleranz gegenüber unintendierten Nebenwirkungen des Handelns. Gleichzeitig wird jedoch die Mittelfindung technisch umso schwieriger. Umgekehrt wird die Toleranz gegenüber unintendierten Nebenwirkungen schwächer je allgemeiner und weitläufiger (d. h. unbestimmter) Zwecke formuliert sind (bis hin zu „nicht unmittelbar anwendungsfähigen allgemeinen Glücksvorstellungen“, Luhmann 1973: 188, vgl. auch 211-214). In anderen Worten: Je umfassender der Komplex von gewünschten Wirkungen des Handelns ist, der durch die Zwecksetzung definiert wird, desto geringer wird die Toleranz gegenüber unintendierten Nebenfolgen des Handelns. Denn diese Nebenfolgen könnten das Eintreten der bezweckten Wirkung gefährden. Gleichzeitig wird es jedoch technisch einfacher Mittel zu finden, deren Wirkung in das breite Spektrum der gewünschten Zweckwirkung fällt. Ab einem gewissen, hohen Grad der Unbestimmtheit der Zwecksetzung (z. B. ‚Allgemeinwohl’), verliert sie ihre heuristische Funktion zur Mittelfindung jedoch gänzlich. Durch ihre Neutralisierung werden diese Nebenfolgen des Handelns selbstverständlich nicht aus der Welt geschafft, sondern für den Entscheidungsvorgang temporär ‚ausgeblendet’, als vorübergehend in Kauf zu nehmen markiert; dies korrespondiert mit der systemtheoretischen Vorstellung von der sinngesteuerten ‚sanften’ Methode der Reduktion von Komplexität (Luhmann 1973: 176-177). Darüber hinaus wird im Entscheidungsschritt der „Wertanalyse der Folgen“ (Luhmann 1973: 199) sehr genau analysiert, welche Nebenfolgen jedes Mittel, das die zuvor stattgefundene Eignungsanalyse zutage gebracht hat, genau hat. In der Regel werden diejenigen Mittel bevorzugt, die die geringsten Nebenwirkungen aufweisen werden. Dabei kann auch herauskommen, dass die erheblichen Nebenwirkungen jedes erdenklichen Mittels den Zweck nicht mehr rechtfertigen können, was zu einer Korrektur der Zwecksetzung selbst führen kann (Luhmann 1973: 44-45). Das Zweck/Mittel-Schema beinhaltet dadurch eine zweite Stufe der Reduktion von Komplexität. Hat die Kausalanalyse alle denkbaren Mittel zutrage gefördert, wird nun durch die Aussage, dass der Wert der Wirkung (innerhalb der genannten Grenzen) den Wert der Nebenwirkungen rechtfertigt, die endgültige Entscheidung ermöglicht. Die Wertordnung besteht
4.2 Präzisierung des ‚Modells strategischen Handelns’ durch Luhmanns Systemtheorie
135
also darin, dass der Wert der Zweckwirkung über den Wert der Nebenwirkungen gestellt wird (Luhmann 1973: 44). Kausalschema und Wertordnung zusammen genommen ermöglichen einen sinnvollen und strukturierten Vergleich der zur Verfügung stehenden Mittel. Denn die durch die Eignungsanalyse bestimmten Mittel sind funktional äquivalent, da sie – unabhängig von ihren unterschiedlichen, unintendierten Nebenfolgen – gleichermaßen den Zweck erfüllen können. Diese Mittel können sodann verglichen werden nach dem Maßstab der Nebenfolgen, die sie zeitigen werden. Stehen mehrere Mittel zur Verfügung, können sie nach den Werten ihrer Nebenwirkungen geordnet werden, und es kann auf dieser Basis eine Entscheidung getroffen werden (Luhmann 1973: 49-50).77 Das Zweck/Mittel-Schema kann – über Luhmann hinausgehend – durch den Begriff der Rahmenbedingung sinnvoll ergänzt werden, wie oben gezeigt wurde (vgl. oben, S. 127-129). Denn beim gedachten Inbezugsetzen von unabhängiger und abhängiger Variable des Handelns muss die Gesamtkonstellation der Variablen bzw. Faktoren berücksichtigt werden, die gleichzeitig mit einer oder mehreren potenziell geeigneten Ursache(n) (= Mittel(n)) auftreten. Diese Faktoren können sinnvoll als Rahmenbedingungen der Mittelanalyse operationalisiert werden (‚R1’ bis ‚Rk’ in Abbildung 10, oben, S. 128). Sie haben enorm wichtige Auswirkungen sowohl auf die Eignungsanalyse der Ursachen als auch auf die Wertanalyse der Folgen. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von „Kausalkontext“ (1973: 26), expliziert diesen Begriff jedoch nicht. Das Zweck/Mittel-Schema beinhaltet eine Kritik sowohl an der modernen sozialwissenschaftlichen Kausalforschung als auch an dem – v. a. in den Wirtschaftswissenschaften heute prominenten – Postulat einer transitiven Wertordnung des Handelns; genauer gesagt, eine Kritik am Wert ihrer Ergebnisse für eine Entscheidungstheorie. Die Kritik an der Kausalforschung besteht darin, dass diese auf der Suche nach invarianten Kausalbeziehungen ist. Ihr geht es nicht darum, einen Kausalfaktor konstant zu setzen, um den anderen zu variieren und eine Vergleichsmöglichkeit und Entscheidungsgrundlage des Handelns zu schaffen. Ihr geht es darum, Beziehungen zwischen unabhängiger und abhängiger Variable zu entdecken, die unabänderlich gegeben sind (Luhmann 1973: 27, vgl. auch 50-51, 157, 197-198).78 Überträgt man diese Denkweise auf das Handeln, so kommt man zu den von Clausewitz stark kritisierten ‚goldenen Regeln’ des Handelns, die dann formuliert werden, im Sinne von: Immer wenn man Zweck B 77 78
Vgl. die analog aufgebaute Methode des kontrafaktischen Vergleichs von Clausewitz, die zur historischen Kritik angewendet wird (1980: 321-325; vgl. auch oben, S. 77-80). Dies gilt zum Beispiel für die moderne Kriegsursachenforschung (vgl. z. B. Vasquez 2009). Selbstverständlich ist diese Methodik – auch Clausewitz zufolge – äußerst sinnvoll, wenn es darum geht, „einen Faktor seinen Verhältnissen nach kennenzulernen“ (1980: 281-282).
136
4 Clausewitz trifft Luhmann
erreichen will, dann muss man die Mittel A einsetzen (vgl. 1980: 309-311; oben, Abschnitte 2.1, 2.2, 2.4 und 2.8). Ebenfalls stellt das Zweck/Mittel-Schema eine Kritik an der wirtschaftswissenschaftlichen Annahme einer transitiven Wertordnung des Handelns dar (Luhmann 1973: 38-43). Diese geht davon aus, dass die Werte, die das Handeln berührt, in einem starren und hierarchischen Verhältnis der Über- und Unterordnung stehen, so dass man sagen kann: wenn A > B und B > C, dann sei auch A > C. Zum Beispiel werden dann alle Handlungen eines Unternehmens hierarchisch dem Wert der Profitmaximierung untergeordnet (Luhmann 1973: 37-38). Das Zweck/Mittel-Schema geht hingegen von einer viel flexibleren Wertordnung aus. Zwecke können im Laufe der Zeit geändert werden, so dass einmal A > B und ein andermal B > A ist (Luhmann 1973: 39-42). Dies ermöglicht eine wesentlich flexiblere, „opportunistische Wertverwirklichung im Nacheinander der Zeit“, hilft also, die Zeit als Mittel zur Reduktion von Komplexität nutzbar zu machen (Luhmann 1973: 50, vgl. auch 51-53). Auch diese Kritik ist mit der Theorie von Clausewitz vereinbar. Er betont die Wandelbarkeit von Zwecken, selbst innerhalb eines einzigen Krieges (Clausewitz 1980: 217-218). Er hebt hervor, dass zum Beispiel eine zunächst verteidigende und dann angreifende Disposition des Handelns zum Erfolg führen kann – und dass dies eben von den sich im Laufe der Zeit wandelnden Rahmenbedingungen im Krieg abhängt (Clausewitz 1980: 613-614, 983, 1003-1008, 1966b: 741-750). Auch für Clausewitz wäre das Postulat einer feststehenden Wertordnung des Handelns mehr als kontraproduktiv für sinnvolle Entscheidungsfindung in der komplexen Umwelt der Kriegführung. Luhmann stellt fest, dass sowohl die Kausalforschung als auch das Postulat einer transitiven Wertordnung von einer bereits von aller Komplexität bereinigten Umwelt ausgehen. Auf das Handeln übertragen sind beide auf der Suche nach der einzig optimalen Entscheidung, die sie in einer vollkommen berechenbaren Welt auch liefern könnten (Luhmann 1973: 50-51). Das Zweck/Mittel-Schema hingegen geht von einer komplexen Welt aus, die durch seine Anwendung reduziert werden kann, und sie nutzt den Intellekt des Entscheiders als – wenn auch unvollkommenes – Mittel zur Reduktion von Komplexität. 4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’ Aus Sicht der Systemtheorie handelt es sich beim ‚Modell strategischen Handelns’ (MSH) um das Modell eines organisierten Entscheidungsverfahrens.
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
137
Organisierte Sozialsysteme müssen, wollen sie erfolgreich handeln, Entscheidungsverfahren entwickeln, die der Umwelt, innerhalb derer die Systeme existieren, möglichst gut angepasst sind. Grundsätzlich können sie, wie eben gezeigt, festlegen, ob sie sich in ihren Entscheidungen stärker von Routinen oder stärker von Zweckprogrammen leiten lassen wollen. Über diese grundsätzliche Festlegung hinaus können Sozialsysteme ihre Entscheidungsverfahren in vielfältiger Weise verfeinern. So können differenziertere Zweckprogramme gleichzeitig als Prinzipien der organisatorischen Binnendifferenzierung gelten und sich in eine spezifische Umweltdifferenzierung einfügen. Außerdem erlauben sie eine gewisse Flexibilität der Systemstruktur, da Zwecke sich entlang der beiden Dimensionen ‚konkret’ bis ‚abstrakt’ und ‚bestimmt’ bis ‚unbestimmt’ variieren lassen (Luhmann 1973: 188).79 Alle drei Funktionen spielen im MSH eine wichtige Rolle. Die grundsätzliche Aussage des Modells ist erstens, dass die Umwelt von Kriegsparteien – zumindest auf der strategischen Ebene – das Entscheiden durch Zweckprogramme erfordert, ihr System also „die Problematik seiner Umweltbeziehungen primär durch Spezifikation der Wirkung des eigenen Handelns löst“ (Luhmann 1973: 249, H. d. V.). Diese verlangen den Entscheidern – im Gegensatz zu Routinen – viel Kreativität und spezifische persönliche Fähigkeiten ab, die Clausewitz in seinen Ausführungen über den „kriegerischen Genius“ präzisiert (Clausewitz 1980: 231-252).80 Sinn der Zweckprogrammierung ist es, eine „begrenzte Beweglichkeit des Systems zu eröffnen“ (Luhmann 1964: 8). Zweitens erfordert die komplexe Umwelt im Krieg mehrstufige und mehrgliedrige Zweckprogramme. Die Mehrstufigkeit eines Zweckprogramms bedeutet, dass es sich nicht um eine ‚einfache’ Zweck/Mittel-Kalkulation handelt, sondern dass zusätzliche Anforderungen an die Mittelwahl formuliert werden (Luhmann 1973: 284-292; vgl. ausführlicher oben, S. 59). Mehrgliedrige Zweck79
80
Dasselbe gilt indessen für Routinen: Auch sie können auf eine Umweltdifferenzierung abgestimmt werden und als Prinzip der organisatorischen Binnendifferenzierung gelten. Schließlich können die Tatbestände, die ein Handeln des Systems auslösen, ebenfalls unterschiedlich bestimmt bzw. unbestimmt formuliert werden (Luhmann 1973: 244-246; vgl. ausführlich oben, S. 54). Damit soll jedoch keineswegs gesagt werden, dass Routinen schlechte Instrumente zur Entscheidungsfindung sind. Ganz im Gegenteil schreibt auch Clausewitz: „[D]ie häufige Anwendung der Methoden [= Routinen, R. B.] wird in der Kriegführung auch als höchst wesentlich und unvermeidlich erscheinen, wenn man bedenkt, wie vieles Handeln auf bloße Voraussetzungen oder in völliger Ungewißheit geschieht ...“ (1980: 308). Vgl. zur Bedeutung von Routinen für außenpolitische Entscheidungsprozesse Jäger/Oppermann 2006. Für Luhmann sind Routinen und Zweckprogramme hinsichtlich ihrer Funktion der Reduktion von Komplexität schlicht „äquivalente Wege“: „Sie leisten Vergleichbares, unterscheiden sich in ihren Vorbedingungen und Konsequenzen und können sich daher wechselseitig ergänzen und entlasten“ (1973: 247).
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4 Clausewitz trifft Luhmann
programme stellen ein Organisationsprinzip dar: Die Entscheidungen werden von separaten Subsystemen (taktisches und strategisches Subsystem) in gesonderten, kausal aufeinander bezogenen Entscheidungsschritten getroffen. Das Output eines Subsystems in Form einer Entscheidung wird vom nachgeordneten Subsystem als Input aufgefasst und auf dieser Basis eine erneute Entscheidung getroffen, bis hin zur operationalen Letztentscheidung (Luhmann 1973: 292-303, vgl. auch 266-284; vgl. ausführlicher oben, S. 59-60; vgl. ausführlicher zur Operationalisierung oben, S. 61-62). Drittens enthält das Modell die Aussage, dass – bei aller Wandelbarkeit des Phänomens Krieg – es grundsätzlich Sinn macht, einen – wenn auch flexiblen – Rahmen für das Entscheidungsverfahren zu programmieren. Dennoch ist es möglich und u. U. notwendig, diesen Rahmen zu verändern.81 Viertens schließlich, lässt sich das MSH einerseits für die Entscheidung über ad hoc formulierte Zwecke verwenden (Luhmann 1973: 239-241). Andererseits können auch „Grundsätze“ (Clausewitz 1980: 305), die bereits Ideen für adäquate Mitteleinsätze für eine bestimmte – abstrakt festgelegte – Wirkung enthalten, als Elemente in den Entscheidungsprozess eingebaut werden. Sie entsprechen dem systemtheoretischen Begriff des abstrakten Zweckprogramms (Luhmann 1973: 238-239; vgl. dazu ausführlich oben, S. 66-67). Ein Beispiel für ein abstraktes Zweckprogramm wäre ein Entscheidungsprogramm für eine Standardwirkung im Krieg, wie beispielsweise die Einnahme einer Brücke. Dieses Programm ist insofern abstrakt, dass es von den spezifischen Eigenschaften einer realen Brücke abstrahiert und somit für unterschiedliche empirische Brückeneinnahmen zu gebrauchen ist. Ein solches Programm enthält ein vorgefasstes Repertoire an Mitteln (beispielsweise eine bestimmte Streitkräftezusammensetzung, Bewaffnung, Ausrüstung etc.), entbindet aber – im Gegensatz zur Routine, die eine „algebraische Formel für das Schlachtfeld“ (Clausewitz 1980: 291) darstellt – den Entscheider nicht von der eigenständigen Durchführung der Zweck/Mittel-Analyse unter Beachtung der spezifisch vorgefundenen Rahmenbedingungen; das vorgefasste Programm erleichtert die Analyse nur, macht sie jedoch keineswegs überflüssig.
81
Von der Tätigkeit des Programmierens (vgl. zu diesem Begriff oben, S. 56) abzugrenzen ist die Tätigkeit des Entscheidens innerhalb eines gegebenen Zweckprogramms (Luhmann 1973: 266). Strategisches Handeln erhält dadurch einen zweiseitigen Charakter: Es besteht einerseits in einer Programmierung des Entscheidungsverfahrens, die der Umwelt angemessenen ist, und andererseits im Entscheiden innerhalb und mithilfe dieses Entscheidungsverfahrens.
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
139
4.3.1 Der ‚Reagenzglaskrieg’ aus systemtheoretischer Perspektive Die Übertragung des systemtheoretischen Zweck/Mittel-Schemas auf das MSH lässt sich am einfachsten schrittweise anhand der beiden Kriegsmodelle ‚Reagenzglaskrieg’ und ‚politischer Krieg’ von Clausewitz erläutern. Grundsätzlich müssen aus Sicht der Systemtheorie jeweils zwei Aspekte dieser Kriegsmodelle unterschieden werden: Erstens handelt es sich bei ihnen nun jeweils um ein Umweltmodell der als System begriffenen Kriegsparteien. Dieses wird hier Kriegsbild genannt.82 Der Begriff Kriegsbild meint das vereinfachte Abbild der Umwelt, das Kriegsparteien (= Systeme) ihren Entscheidungen zugrunde legen. Es weist gegenüber der hochkomplexen Umwelt der Kriegssituation geringere Komplexität auf, muss jedoch andererseits hinreichend komplex sein. Der ‚Reagenzglaskrieg’ und der ‚politische Krieg’ sind systemtheoretisch gesehen Kriegsbilder. Sie lassen sich den beiden Aspekten des Komplexitätsbegriffs von Luhmann (vgl. Fn. 65 und 66, oben, S. 124) zuordnen. Der ‚Reagenzglaskrieg’ ist komplex im Sinne von gesteigertem Informationsmangel der Parteien. Der ‚politische Krieg’ ist hingegen komplex im Sinne der Unübersichtlichkeit der Zusammenhänge zwischen den Elementen, d. h. hier: den Handlungen. Zweitens erarbeitet Clausewitz die Implikationen dieser Kriegsbilder für Aufbau und Komplexität des Entscheidungsverfahrens. Für beide Kriegsbilder empfiehlt Clausewitz folglich unterschiedlich komplexe Zweckprogramme. Der ‚Reagenzglaskrieg’ stellt das auf die wesentlichen Elemente reduzierte, abstrakte ‚Grundbild’ des Krieges dar. An ihm erläutert Clausewitz entsprechend bereits alle tief liegenden, wesentlichen Elemente des Entscheidungsvorgangs. Es ist zu beachten, dass der ‚Reagenzglaskrieg’ ein abstrakter Idealtyp des Krieges ist (vgl. oben, Abschnitt 3.3). Das aus ihm abgeleitete Kriegsbild und der Entscheidungsprozess, der aus diesem folgt, sind daher ebenfalls abstrakt und haben keine historische oder zukünftige Entsprechung in der Wirklichkeit. Die „gesteigerte Eindeutigkeit“ (Weber 1972: 10) des Idealtyps bietet aber auch auf dieser Ebene analytische Vorteile, wie zu zeigen sein wird. Im ‚Reagenzglaskrieg’ besteht das Zweckprogramm der Kriegsparteien aus den Begriffen ‚politischer Zweck’, ‚militärisches Ziel’ und ‚Gewaltmittel’ (vgl. Abbildung 4, oben, S. 114). In diesem Zweckprogramm ist der politische Zweck der Handlung invariant festgelegt: Die gewünschte Wirkung des Handelns, die er definiert, besteht in der völligen politischen Unterwerfung des Gegners. Ziel und Mittel sind hingegen Variablen, über deren Ausprägung innerhalb des Entscheidungsprogramms zu entscheiden ist. Doch stehen im ‚Reagenzglas’ nur Gewaltmittel (und damit Ziele) zur Verfügung, die lediglich in ihrer Qualität 82
Für die Kritik an der Behandlung des Begriffs Kriegsbild in einer früheren Fassung des vorliegenden Textes danke ich Wilfried von Bredow.
140
4 Clausewitz trifft Luhmann
(Clausewitz 1980: 192-194) und Quantität (Clausewitz 1980: 195) variiert werden können. Die Differenzierung zwischen politischem Zweck und militärischem Ziel im Zweckprogramm spiegelt aus systemtheoretischer Sicht eine spezifische „Umweltdifferenzierung“ (Luhmann 1973: 184, H. i. O.) einer Kriegspartei wider. Durch Gewalteinsatz (Mittel) soll eine militärische Wirkung erzielt werden (Ziel). Durch diese militärische Wirkung wiederum soll der Gegner mit Macht (vgl. Fn. 52, oben, S. 113) zu einem Wechsel seiner Politik (Zweck) gezwungen werden83 (Clausewitz 1980: 960). „Sachlich“ verschiedene (Luhmann 1973: 212) Wirkungen des eigenen Handelns werden also zwei Umweltbereichen zugeschrieben, die in einem gedachten Kausalzusammenhang stehen: „Man fängt keinen Krieg an, oder man sollte vernünftigerweise keinen anfangen, ohne sich zu sagen, was man mit und was man in demselben erreichen will, das erstere ist der Zweck, das andere das Ziel“ (Clausewitz 1980: 952). Dass die Gewaltwirkung den Gegner zum Politikwechsel zwingt, ist indessen keineswegs selbstverständlich. Denn Politik und Militär (im Sinne von organisierter Gewaltanwendung) denken und handeln „nach ihren eigenen Gesetzen ...“ (Clausewitz 1980: 998). Die zentrale Schwierigkeit strategischen Handelns liegt demnach in der Übertragung einer Gewaltwirkung in eine politische Wirkung – von einer Sphäre des Handelns in eine andere, die nach anderen Gesetzen funktioniert. Analog zum systemtheoretischen Zweck/Mittel-Schema stehen Zweck und Ziel (!) in einem gedachten Kausalverhältnis; das Ziel – als militärische Gesamtwirkung – muss so gewählt werden, dass es den Zweck verursacht, der Gegner also erfolgreich zum Politikwechsel gezwungen wird. Clausewitz’ zentrale Erkenntnis, dass der Krieg ein „wahres politisches Instrument ..., eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln“ (1980: 210) sei, findet also bereits Eingang in das Entscheidungsprogramm im Grundbild des Krieges – und findet so eine entsprechend tiefe theoretische Verankerung. Im Kriegsbild des ‚Reagenzglaskrieges’ spielt sich die gesamte Kampfhandlung in einer einzigen ‚Schlacht’ ab, in der Zeit und Raum für das Handeln nahezu bedeutungslos sind (vgl. oben, Abschnitt 3.1). Das ‚Ziel’ ist die Gesamtwirkung, die in dieser ‚Schlacht’ erreicht werden soll, die ‚Mittel’ beschreiben das qualitative und quantitative Maß der Gewaltanwendung, welches als Ursache das Ziel und letztlich den Zweck erreichen soll. Das heißt, dass im Zweckprogramm nur die militärische Seite der Wirkung nochmals gesondert nach Ziel und Mittel differenziert wird – und einer entsprechend gesonderten Ziel-Mittel83
D. h. hier und im Folgenden: zu einer Veränderung der Wertverteilungen für seine Gesellschaft, die ein überwiegender Teil ihrer Mitglieder (aus welchem Grund auch immer) als verbindlich ansieht (vgl. oben, S. 108).
141
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
Analyse zugänglich wird. Aus der Perspektive des politischen Gesamtzwecks des Krieges stellt das Kriegsziel somit ein Mittel dar (vgl. auch Abbildung 2, oben, S. 109). Dies impliziert ein so genanntes zweistufiges Zweckprogramm84, das in Abbildung 12 (unten) dargestellt wird. In der ersten Entscheidungsstufe (linker, großer Kasten) muss auf der Grundlage der vorgegebenen politischen Wirkung des Handelns (= Zweck = ‚ZW’) aus dem Spektrum denkbarer Kriegsziele (‚ZI1’ bis ‚ZIi’) das Kriegsziel85 (‚ZI’) als potenzielle Ursache des Zwecks inhaltlich bestimmt werden. Das Kriegsziel entspricht gleichzeitig der gewünschten Gesamtwirkung aller militärischen Handlungen. Die Zielfindung funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie das in Abschnitt 4.2.2 erläuterte Zweck/MittelSchema (vgl. auch oben, S. 127-129). Sie besteht folglich aus den gesonderten Schritten der Eignungsanalyse der Ziele (‚ZI1’ bis ‚ZIi’) und der Wertanalyse der Folgen der Ziele, genauer ihrer unintendierten Nebenfolgen (‚N1’ bis ‚Nn’), die über die Zweckwirkung (‚ZW’) hinausgehen (vgl. Luhmann 1973: 199). Aus Gründen der Verständlichkeit wird für die erste Entscheidungsstufe ab jetzt die Bezeichnung Zweck/Ziel-Schema benutzt. Die Entscheidung über das Ziel ‚ZI’ ist das Output (mittlerer, kleiner Kasten) der ersten Entscheidungsstufe. Abbildung 12: Zweistufiges Entscheidungsverfahren nach Clausewitz – Zweck(ZW)/Ziel(ZI)-Analyse und Ziel(ZI)/Mittel(M)-Analyse mit Rahmenbedingungen R, neutralisierten Nebenfolgen N und Wahrscheinlichkeits(p)-Abhängigkeit zwischen Ziel und Zweck bzw. Mittel und Ziel86 R1
I Inform.
ZI2
Rk
86
N1
ZI1
ZIi
84 85
R1
ZW (p)-Abh. Nn
O
I ZI
N1
M1 M2 Mj
ZI (p)-Abh.
O M
Nq
Rk
Zum Begriff des „mehrstufigen Zweckprogramms“ vgl. Luhmann 1973: 284-292; oben S. 59. Es können auch mehrere Kriegsziele sein. Der Verständlichkeit halber wird hier der Singular verwendet. „Mehrstufige Programme sehen also vor, daß die Entscheidung schrittweise ausgearbeitet wird, wobei der erste Schritt getan werden muß, bevor der zweite beginnt und dieser nicht beginnen kann, bevor der erste nicht getan ist“ (Luhmann 1973: 289).
142
4 Clausewitz trifft Luhmann
In der zweiten Entscheidungsstufe (rechter, großer Kasten) stellt das Ziel (‚ZI’), als gewünschte militärische Wirkung des Handelns, den Ausgangspunkt der Mittelfindung dar. Aus dem Spektrum denkbarer Mittel (‚M1’ bis ‚Mj’) als potenzielle Ursachen des Kriegsziels (‚ZI’) werden in der Eignungsanalyse die geeigneten Gewaltmittel (‚M’) in Qualität und Quantität bestimmt. Sie müssen in der Wertanalyse der Folgen so gewählt werden, dass sie einerseits das Kriegsziel (‚ZI’) als „nähere[n] Zweck“ (Vollrath 1993: 76) erreichen, ihre Nebenfolgen (‚N1’ bis ‚Nq’) jedoch gleichzeitig unter keinen Umständen das Eintreten der gewünschten politischen Wirkung als ferneren Zweck (‚ZW’) konterkarieren, ist diese doch der ultimative Zweck des Handelns. Die Entscheidung (‚M’) über die Mittel ist das Output (rechter, kleiner Kasten) der zweiten Entscheidungsstufe. Zur besseren Verständlichkeit wird ab jetzt für die zweite Entscheidungsstufe die Bezeichnung Ziel/Mittel-Schema benutzt. Dadurch, dass die Mittel zwei Wirkungen (das militärische Ziel (‚ZI’) und den politischen Zweck (‚ZW’)), die in einem gedachten Kausalzusammenhang stehen, realisieren müssen, kommt es zu einer bewussten Aufhebung der Neutralisierungsfunktion der Zwecksetzung, d. h. ihrer Funktion, die Toleranz für unintendierte Nebenfolgen ‚N’ zu erhöhen.87 Es darf eben gemäß Clausewitz im Krieg nicht der militärische Zweck alle Mittel heiligen!88 Durch die systemtheoretische Auslegung wird einerseits Clausewitz’ Theorie des politischinstrumentellen Charakters des Krieges sehr deutlich und andererseits kann man eine Methode ableiten, wie diese Erkenntnis in ein Entscheidungsverfahren eingearbeitet werden kann. Bei der Zweck/Ziel-Analyse bzw. bei der Ziel/Mittel-Analyse muss überdies gefragt werden, welche Rahmenbedingungen (‚R1’ bis ‚Rk’) die gedachte Kausalbeziehung zwischen Ziel und Zweck bzw. zwischen Mittel und Ziel beeinflussen könnten. Für beide Entscheidungsstufen gelten indessen identische Rahmenbedingungen. Was relevante Rahmenbedingungen sein könnten, ergibt sich grundsätzlich allein aus dem Kriegsbild – in diesem Falle dem ‚Reagenzglaskrieg’. Denn dieses Kriegsbild entspricht der Vorstellung, die ein organisiertes Sozialsystem von seiner Umwelt hat. Daher können nur diejenigen eingehenden Informationen (‚Inform.’) verarbeitet werden, die das Modell greifbar macht. Faktoren, die hier nicht vorkommen, können folglich in der
87 88
Eben dies ist eine wichtige Funktion mehrstufiger Entscheidungsprogramme: Sie dienen dazu „den allzu rücksichtslosen Opportunismus des reinen Zweckhandelns abzuschwächen“ (Luhmann 1973: 290). Allerdings kommt es unter den besonderen Rahmenbedingungen des ‚Reagenzglaskrieges’ zur Aufhebung dieser Neutralisierungsfunktion des Zweckes, wie im Folgenden genauer erläutert wird.
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
143
Zweck/Ziel-Analyse bzw. der Ziel/Mittel-Analyse auch nicht berücksichtigt werden (vgl. Luhmann 1972: 128-130, 1973: 49). Im Folgenden wird der Entscheidungsprozess im Zweckprogramm, das aus dem Kriegsbild des ‚Reagenzglaskrieges’ folgt, durchgespielt: Die Rahmenbedingungen (‚R1’ bis ‚Rk’) sind hier überschaubar. Der wichtigste Faktor, der das Eintreten einer bestimmten Wirkung verhindern bzw. Nebenfolgen des eigenen Mitteleinsatzes verursachen könnte, ist das Gegenhandeln (Vollrath 1993: 64-66) eines intelligenten Gegners, der unter denselben Bedingungen des ‚Reagenzglases’ agiert. Wiederum wird bereits im ‚Reagenzglaskrieg’ die zentrale Rahmenbedingung des Handelns im Krieg herausgearbeitet – und entsprechend tief in der Theorie verankert: die Ungewissheit über das gewaltsame Gegenhandeln des Gegners (vgl. oben, Abschnitt 3.1). Aus systemtheoretischer Sicht stellt die Ungewissheit über den Zustand der Umwelt im Sinne von Informationsmangel einen der beiden zentralen Aspekte des Komplexitätsbegriffs dar (Luhmann 1987: 50; vgl. auch oben, Fn. 66, S. 124). Der politische Zweck (‚ZW’) besteht in der politischen Unterwerfung des Gegners, d. h. die gewünschte Wirkung des Handelns besteht darin, dass sich der Gegner unterwirft. Im Licht der Systemtheorie handelt es sich hierbei um einen besonders breit formulierten Zweck, der einen umfassenden Komplex von Wirkungen definiert, den das eigene Handeln erreichen soll. Hieraus müsste eine geringe Toleranz für unintendierte Nebenwirkungen des Handelns (und des Nicht-Handelns!) folgen (vgl. oben, S. 134). Da die Wirkung, die der Zweck hier festgelegt, eine Beeinflussung des Handelns des Gegners ist, können Nebenwirkungen nur unintendierte Handlungen, also Reaktionen, des Gegners sein. Stellt man sich beispielsweise die teilweise Wehrlosigkeit des Gegners als Kriegsziel (‚ZI’) vor, das diesen politischen Zweck verursachen soll (erste Entscheidungsstufe), so muss bedacht werden, dass eine solche begrenzte Zielsetzung die eigene Existenz gefährdende Nebenfolgen (‚N1’ bis ‚Nn’) zeitigen könnte. Denn im ‚Reagenzglas’ gibt es keine Zeit, eine einmal getroffene Entscheidung zu korrigieren, und keine Zukunft, in der man noch eine Veränderung des politischen Zustandes, der dem Krieg folgt, bewirken könnte (vgl. oben, Abschnitt 3.1). Übertrifft der Gegner die eigene Gewaltanwendung und siegt, kann dies nicht mehr geändert werden. Aus Sicht der Systemtheorie ist es die wechselseitige Antizipation des Gegenhandelns als unerwünschte Nebenwirkung des eigenen Handelns, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen des ‚Reagenzglaskrieges’ zur Eskalation der Zielsetzung bis hin zur Wehrlosigkeit führt: Die intendierte umfassende politische Wirkung auf den Gegner erfordert eine ebenso umfassende militärische Wirkung auf ihn als Ursache. Es ist diese Eskalation zum militärischen Maximalziel, die erklärt, was Clausewitz meint, wenn er bezüglich des ‚Reagenzglaskrieges’ schreibt: „[Das Ziel] vertritt den
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4 Clausewitz trifft Luhmann
Zweck und verdrängt ihn gewissermaßen als etwas nicht zum Kriege selbst Gehöriges“ (Clausewitz 1980: 192). Denn die Ziel/Mittel-Analyse (zweite Entscheidungsstufe) geht nun von dieser umfassenden militärischen Wirkung auf das Verhalten des Gegners aus: Er soll wehrlos werden. Aus dem breit formulierten Ziel müsste wiederum eine geringe Toleranz gegenüber unintendierten Nebenfolgen des Handelns, die nur in unerwünschten Reaktionen des Gegners bestehen können, folgen. Tatsächlich führt die Antizipation, dass der Gegner die eigene Gewaltanwendung überbieten könnte, wiederum zur Eskalation; diesmal zur Eskalation des Mittelseinsatzes hin zur „rücksichtslos[en]“ Gewaltanwendung (Clausewitz 1980: 192). Aus dem Spektrum der denkbaren Gewaltmittel ‚M1’ bis ‚Mj’ wird die quantitativ und qualitativ maximale Gewaltwendung als Mittel (‚M’) gewählt. Denn jede Unterlassung könnte die unerwünschte Nebenfolge der eigenen Wehrlosigkeit durch das Handeln des Gegners nach sich ziehen. Die Entscheidung über den Mitteleinsatz erfolgt allein nach Maßgabe des militärischen Ziels, das den Zweck in diesem Entscheidungsprozess „gewissermaßen verschlungen“ (Clausewitz 1980: 200) hat. Erst aus enger definierten Zwecken folgen enger definierte Ziele und insgesamt eine höhere Toleranz gegenüber unintendierten Nebenwirkungen des gegnerischen Handelns. Hieraus folgt wiederum ein insgesamt größerer Spielraum bei der Ziel- und Mittelwahl. Erst in dieser Situation wird das Ziel den Zweck wieder ‚ausspeien’, und er wird seine oben bereits angesprochene Funktion erfüllen, die aus der Zielsetzung folgende erhöhte Toleranz gegenüber unintendierten Nebenfolgen des Handelns wieder zu verringern. Das militärische Handeln wird durch den Zweck sensibel gemacht für seine unintendierten Nebenwirkungen in Bezug auf die politischen Wirkungen des Krieges, um die es ja letztlich geht. Die im Kriegsbild des ‚Reagenzglaskrieges’ enthaltene Annahme, dass der Faktor Zeit für das Handeln fast gegenstandslos wird, mag sehr unrealistisch erscheinen. Gleichwohl wird durch sie eine tiefliegende, strukturelle Eigenschaft des Handelns in internationalen (oder transnationalen) Beziehungen herausgestellt, eine letztlich nie ganz aufhebbare Ungewissheit über das Gegenhandeln des Gegners – verbunden mit der Gefahr, dass dieses Gegenhandeln die eigene Existenz gefährden könnte (Herz 1961: 130-137; Waltz 1979). Dadurch gelingt es Clausewitz, die Annahme über die Anarchie des Staatensystems, die analytisch auf der Ebene des Systems angesiedelt ist, auf der Akteursebene im Entscheidungsprozess zu operationalisieren. Die systemtheoretische Auslegung hilft lediglich, diese Tatsache deutlicher herauszustellen.89 89
Der ‚Reagenzglaskrieg’ ähnelt strukturell dem „Macht- und Sicherheitsdilemma“ (Herz 1961: 130-137). Die Figur des Macht- und Sicherheitsdilemmas erklärt wechselseitiges Aufrüsten aus
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
145
Was ist das Besondere an der Zweck/Ziel/Mittel-Analyse im ‚Reagenzglaskrieg’ gegenüber der Zweck/Mittel-Analyse, wie sie Luhmann darstellt? Die Besonderheit liegt darin, dass Akteur A in der Berechnung der Mittel zum Zweck, einen Gegner B einkalkulieren muss, der seinerseits versucht, die Zweckverwirklichung von A zu verhindern – und andersherum.90 In den Zweck/Ziel/Mittel-Analysen von A und B taucht das Gegenhandeln als Rahmenbedingung des Mitteleinsatzes auf. Denn die Wirkung eines potenziellen Mittels muss im Lichte der möglichen Reaktion des Gegners geprüft werden, die eben den Eintritt der gewünschten Wirkung durchkreuzen könnte. Vollrath konstatiert, dass Clausewitz durch die Einbeziehung des Gegenhandelns in seine Theorie einen Punkt trifft, der auch für die allgemeine Handlungstheorie von großer Bedeutung ist (1993: 63-66).91 Doch wie kann es gelingen, Vollraths Forderung, das „Moment des Gegenhandelns ...“ müsse in die „Vernunftstruktur [des Handelns] eingelagert werden ...“ (1993: 65/66), in eine Entscheidungstheorie einzuarbeiten? Wiederum gibt Clausewitz selbst die Antwort – und geht ein weiteres Mal über die Systemtheorie hinaus. Es gelingt durch sein Konzept des Handelns nach Wahrscheinlichkeitskalkülen (1980: 200) bzw. Wahrscheinlichkeitsgesetzen: „Aus dem Charakter, den Einrichtungen, dem Zustande, den Verhältnissen des Gegners wird jeder der beiden Teile nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen auf das Handeln des anderen schließen und danach das seinige bestimmen“ (1980: 199-200).92
90 91 92
der „anarchischen“ Struktur des internationalen Staatensystems. Der Begriff der „Anarchie“ meint das Fehlen einer zentralen Ordnungsinstanz, die in einem Raum, in dem Gewalt stets möglich ist, verbindlich für Sicherheit sorgen kann. Hieraus folgt die Notwendigkeit zur Selbsthilfe durch Anhäufung von Macht. Das Dilemma entsteht, da jeder Machtzuwachs eines Staates A automatisch die Sicherheit anderer Staaten verringert, die ihrerseits zur Gegenmachtbildung gezwungen werden, so dass A genauso unsicher dasteht wie zuvor und weitere Macht anhäufen muss usf. Die entstehende Dynamik verringert letztlich die Sicherheit aller Staaten (vgl. auch Waltz 1979). Deswegen sind Nebenwirkungen des eigenen Handelns v. a. Nebenwirkungen des eigenen Nicht-Handelns, d. h. ‚Unterlassungssünden’, gegenüber dem Gegner. In der politikwissenschaftlichen Spieltheorie ist die Thematik des „Gegenhandelns“ intensiv zum Thema geworden (vgl. einführend Morrow 1994). Für diesen Hinweis danke ich Kai Oppermann. Das Konzept des Handelns nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen bzw. Wahrscheinlichkeitskalkülen spielt eine zentrale Rolle im Hauptwerk von Clausewitz, sowohl in den theoretischen Teilen als auch in seinen historischen Fallstudien: vgl. Clausewitz 1980: 194-195, 199-201, 207-208, 213, 216-219, 227, 251, 288, 306, 315, 320, 366, 369, 393, 404, 406, 412, 483, 667, 785-786, 795-796, 815, 837-838, 840, 846, 943, 954-955, 959, 966, 975, 991, 993, 1028, 1034. So verwundert es auch nicht, dass das „Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls ...“ (Clausewitz 1980: 213) eine der drei im Krieg „herrschenden Tendenzen ...“ ist, die zusammen genommen die berühmte „wunderliche Dreifaltigkeit ...“ nach Clausewitz bilden; neben: „der ursprünglichen Gewaltsamkeit seines Elementes, dem Haß und der Feindschaft ...“ und der
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4 Clausewitz trifft Luhmann
Clausewitz schreibt dies zwar mit Bezug auf den ‚politischen Krieg’. Jedoch gilt die grundsätzliche Logik auch schon im ‚Reagenzglaskrieg’. Sie hat hier jedoch ganz andere Konsequenzen: Unter den speziellen Bedingungen des ‚Reagenzglaskrieges’ (große Ungewissheit) führt der Versuch, „eine erträgliche Wahrscheinlichkeit für die Widerstandskraft des Gegners ...“ zu erhalten, um danach die eigene Kraftanstrengung zu bemessen, zur „gegenseitige[n] Steigerung, die in der bloßen Vorstellung wieder das Bestreben zum Äußersten haben muß“ (Clausewitz 1980: 195) – sprich: zum maximal denkbaren Mitteleinsatz beider Seiten. Erst unter den Rahmenbedingungen des ‚politischen Krieges’ (geringere Ungewissheit) führt das Handeln nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen zu einer Dosierung der Kraftanstrengung der beteiligten Parteien und damit zu einer Mäßigung der Eskalationsdynamik des Krieges. In Abbildung 12 (oben, S. 141) erscheint das Wahrscheinlichkeitskalkül als Wahrscheinlichkeits-Abhängigkeit (‚(p)-Abh.’) unterhalb der Pfeile, die die gedachte Kausalität zwischen Zweck und Ziel bzw. Ziel und Mittel ausdrücken sollen. Gemeint ist, dass die Akteure in ihrer Zweck/Ziel- bzw. Ziel/MittelAnalyse stets fragen müssen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ziel seinen Zweck bzw. ein Mittel sein Ziel unter den vorgefundenen Rahmenbedingungen erreichen dürfte. Im konkreten Fall des ‚Reagenzglaskrieges’ ergibt diese Kalkulation, wie gesagt, dass nur das maximale Ziel der Wehrlosigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit den Zweck und nur der maximale Mitteleinsatz mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit das Ziel erreichen kann. Umgekehrt hat jedes geringere Ziel bzw. Mittel eine niedrige Wahrscheinlichkeit den Zweck bzw. das Ziel zu erreichen, jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Gegenhandeln des Gegners zur eigenen Niederlage führen wird. Der ‚Reagenzglaskrieg’ stellt ein puristisches Modell des Gegenhandelns dar. Die Zwecke sind invariant festgelegt, die Mittel können nur einer Art sein. Es gibt jedoch Rahmenbedingungen, die in der Zweck/Mittel-Analyse berücksichtigt werden müssen: erstens das wahrscheinliche bzw. antizipierte Gegenhandeln des Gegners und zweitens ein emotionaler Faktor, nämlich das so genannte „feindselige Gefühl“ oder „Hass“, der zwischen den Kriegsparteien entbrennt (Clausewitz 1980: 193-194). Der Hass bewirkt als weitere Rahmenbedingung eine zusätzliche Eskalation des Mitteleinsatzes von A und B: Antizipiert man einen hasserfüllten Gegner, so wird man glauben, noch mehr Mittel einsetzen zu müssen, um diesen zum gewünschten Einlenken zu zwingen. Außerdem wird man glauben, dass auch dieser bereit ist, in der Applizierung seiner Mittel weiter zu gehen, als in einer unemotionalen Situation. Auch hier „untergeordneten Natur eines politischen Werkzeugs ...“ (1980: 213; vgl. auch oben, Abschnitt 3.3). Ausführlich zum Begriff der „wunderlichen Dreifaltigkeit“ vgl. Herberg-Rothe 2009.
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147
gilt, dass Clausewitz den Faktor Emotionen93 im Krieg tief in seiner Theorie verankert, indem er ihn bereits in das Grundbild des Krieges einfügt. Damit ist es Clausewitz gelungen, bereits in diesem alle drei Desiderate für eine Theorie des Krieges einzuarbeiten, die er selbst fordert (1980: 285-289): die Berücksichtigung von Emotionen, von Ungewissheit und von Wechselwirkungen des Handelns im Krieg, die hier durch den Begriff des Gegenhandelns operationalisiert worden sind. Das aus dem ‚Reagenzglaskrieg’ abgeleitete Entscheidungsprogramm zeigt somit bereits die Schwierigkeiten und Risiken der Entscheidungsfindung in der Kriegssituation. Dennoch bleibt es notwendig abstrakt und führt stets zur Eskalation. Ein realistischeres und flexibleres Entscheidungsprogramm kann nur aus einem entsprechend höher differenzierten Kriegsbild abgeleitet werden. Diese Bedingung erfüllt das Kriegsbild des ‚politischen Krieges’. 4.3.2 Der ‚politische Krieg’ aus systemtheoretischer Perspektive Aus Sicht der Systemtheorie stellt der Übergang vom Modell des ‚Reagenzglaskrieges’ hin zum Modell des ‚politischen Krieges’ einen Übergang zu einem veränderten, nun weit komplexeren (i. S. v. unübersichtlicheren) Umweltmodell bzw. Kriegsbild dar, das die Kriegsparteien fortan den Entscheidungen über ihr Handeln zugrunde legen. Aus diesem folgt eine entsprechend komplexere Programmierung des Entscheidungsverfahrens, in der sich die höhere „Umweltdifferenzierung“ (Luhmann 1973: 184) widerspiegelt. Gleichwohl bleiben die grundsätzlichen Elemente dieses Verfahrens, die bereits im vorigen Abschnitt erläutert wurden, erhalten. Dies reflektiert Clausewitz’ Erkenntnis, dass das Grundbild des Krieges (d. h. der ‚Reagenzglaskrieg’) mit allen seinen Implikationen in jedem Krieg enthalten ist, wie stark es auch transformiert bzw. überlagert sein mag (1980: 230, 955; vgl. oben, Abschnitt 3.2). Im ‚politischen Krieg’ wird in erster Linie der Faktor Zeit wieder in das Kriegsbild eingeführt. Darüber hinaus werden die Kriegsparteien zu organisierten Akteuren mit entsprechenden Akteurseigenschaften entfaltet. Schließlich wird der Raum, in dem die Kampfhandlungen stattfinden wieder zur variablen Größe, die entsprechenden Einfluss hat. Gleichfalls zur variablen Größe wird nunmehr der politische Zweck des Krieges. Der Kampf, der bisher in einer einzigen ‚Schlacht’ zusammengedrängt war, zerfällt nun in mehrere in sich geschlossene Kampfhandlungen (Gefechte), denen man entsprechend analytisch 93
Die Frage nach der Bedeutung von Emotionen für Prozesse der internationalen Sicherheitspolitik wurde in den letzten Jahren wieder von der Forschung aufgegriffen (vgl. Crawford 2000). Für diesen Hinweis danke ich Kai Oppermann.
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4 Clausewitz trifft Luhmann
je eine Wirkung zuweisen kann, die wiederum aus einer politischen und militärischen Teilwirkung besteht (vgl. ausführlicher oben, Abschnitte 3.2 und 4.1). Aus dem Kriegsbild des ‚politischen Krieges’ folgt ein entsprechend komplexeres Entscheidungsverfahren, nämlich das bereits bekannte ‚Modell strategischen Handelns’ (= MSH, Abbildung 5, oben, S. 118), welches im Folgenden durch die Begriffe der Systemtheorie eine begriffliche Fundierung erhält und entsprechend präzisiert werden kann. Im Lichte der Systemtheorie erscheint das MSH als komplexes Zweckprogramm, das in Abbildung 13 dargestellt wird. Der Übersichtlichkeit halber ist die Ebene der Außenpolitik (‚Grand Strategy’) des MSH in dieser Darstellung ausgeblendet: Abbildung 13: Zweigliedriges und zweistufiges Entscheidungsverfahren nach Clausewitz – mit strategischem Subsystem (‚S’), das einem taktischen Subsystem (‚T’) eine taktische Zielsetzung ‚ZIT’ (bei ‚c’) und eine taktische Zwecksetzung ‚ZWT’ (bei ‚d’) vorgibt (durchgezogene Pfeile) und eine Rückmeldung (gestrichelter Pfeil) erhält RE
I
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(p)-Abh.
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Zunächst fällt auf, dass die Entscheidungslast hier auf zwei Entscheidungsebenen (Strategie und Taktik) verteilt wird, die in der Sprache der Systemtheorie Subsysteme (Luhmann spricht von „Untersystemen“, 1973: 270-271, 296) genannt werden. Diese vertikale Verfeinerung des Zweckprogramms spiegelt aus
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
149
systemtheoretischer Sicht die feinere Umweltdifferenzierung wider, die das Umweltmodell des ‚politischen Krieges’ den organisierten Sozialsystemen zur Verarbeitung ihrer Informationen bietet. Auf der Ebene der Strategie (obere Hälfte von Abbildung 13) wird wiederum das Zweck/Ziel-Schema angewandt: Ausgehend von der vorgegebenen, gewünschten politischen Wirkung auf den Gegner (strategischer Zweck = ‚ZWS’) wird aus dem Spektrum der denkbaren Ziele (hier beispielsweise ‚ZIM’, ‚ZID’, ‚ZIÖ’94) das strategische Kriegsziel (‚ZIS’) ausgewählt (erste Stufe des Entscheidungsverfahrens). Das strategische Kriegsziel ist nach wie vor als die Gesamtwirkung aller militärischen Handlungen im Krieg definiert. Von dieser gewünschten militärischen Gesamtwirkung des Krieges (‚ZIS’) ausgehend werden mithilfe der Ziel/Mittel-Analyse aus der Spannbreite möglicher Mittel (etwa ‚MM’, ‚MD’ oder ‚MÖ’) die geeigneten strategischen Mittel (‚MS’) bestimmt (zweite Stufe des Entscheidungsverfahrens). Das Feld der strategischen Mittel, die das Ziel verursachen können, wird nun jedoch hochkomplex (komplexer als Abbildung 5, oben, S. 118, suggeriert, vgl. hingegen Abbildung 6, oben, S. 119). Denn die Mittel sind die politischen und militärischen Wirkungen der Gefechte, die im Raum und in der Zeit verteilt werden und ggf. auch in ihren Wirkungen kausal aufeinander bezogen sein können. Sie können also entweder direkt zur Zielwirkung beitragen oder beispielsweise die Wirkung haben, ein anderes Gefecht vorzubereiten, welches dann seinerseits direkt zum Erreichen des Ziels beiträgt (Clausewitz 1980: 222-230, 293-294, 351-353, 422-423, 956-959). Damit kommt der zweite Aspekt des Komplexitätsbegriffs – neben der bereits erwähnten Ungewissheit im Sinne von Informationsmangel – zum Tragen: Man spricht ebenfalls von Komplexität, wenn eine Menge von Elementen zu einer Ordnung verknüpft werden sollen und die Verknüpfungsmöglichkeiten unübersichtlich werden (Luhmann 1987:25; vgl. auch oben, Fn. 65, S. 124). Die Gefechte sind in diesem Fall die Elemente des Handelns, die so geschickt in ihren Wirkungen miteinander verknüpft werden müssen, dass sie zur gewünschten Zielwirkung zusammenfließen. Hier kommt nun die komplexitätsreduzierende Funktion der Zwecksetzung ins Spiel: Im „Nacheinander der Zeit“ (Luhmann 1973: 50, vgl. auch 51-53), 94
Ziele und Mittel müssen im ‚politischen Krieg’ nicht mehr ausschließlich militärische sein, sondern können etwa diplomatische (‚ZID’ bzw. ‚MD’) oder ökonomische (‚ZIÖ’ bzw. ‚MÖ’) umfassen, wie unten (S. 156) genauer erläutert wird. Da die strategischen Mittel bei Clausewitz aus Gefechten bestehen, muss der Begriff des Gefechts zu diesem Zweck verallgemeinert werden. Dies ist aufgrund der systematischen Begriffsbildung von Clausewitz möglich. Die Begriffe des Gefechts, der Strategie und der Taktik lassen sich problemlos auch auf nichtmilitärische Handlungen übertragen, die in Teilhandlungen zerfallen, die sich hinsichtlich ihrer Wirkungen einigermaßen als Einheiten denken lassen. Der Klarheit der Darstellung halber wird im Folgenden jedoch überwiegend weiterhin nur von militärischen Mitteln die Rede sein.
150
4 Clausewitz trifft Luhmann
aber auch in der Tiefe des Raums verteilt, können unterschiedliche, auch widersprüchliche Zwecke durch Gefechte verwirklicht werden – ohne stets die gesamte Kette der der Nebenfolgen aller Entscheidungsstationen im Auge behalten zu müssen (vgl. oben, Fn. 22, S. 76).95 Außerdem kann die Planung im Zeitverlauf des Krieges veränderten Umständen – oder gar veränderten politischen Zwecken (Clausewitz 1980: 217-218) – angepasst werden. Da der politische Zweck (‚ZWS’) nunmehr zur variablen Größe erklärt worden ist und nun auch in einer enger definierten politischen Wirkung auf den Gegner (als seiner völligen Unterwerfung) bestehen kann, kann folglich auch die militärische Wirkung (‚ZIS’) enger definiert sein (als seine völlige Wehrlosigkeit). Im Licht der Systemtheorie folgt aus enger definierten Zwecksetzungen eine grundsätzlich erhöhte Toleranz gegenüber unintendierten Nebenfolgen des Handelns – und damit ein weit größerer Spielraum für die Mittelwahl. Hieraus folgt jedoch auch das Bedürfnis, die gestiegene Toleranz für unerwünschte Nebenwirkungen wieder ‚einzufangen’. Genau dies ist die Funktion der Zwecksetzung im Zweckprogramm des ‚politisches Krieges’. Der Zweck wird hier nicht mehr vom Ziel (‚ZIS’) „verschlungen“ (Clausewitz 1980: 200), sondern entfaltet seine Funktion, das militärische Kalkül dafür zu sensibilisieren, dass seine unintendierten Nebenwirkungen (‚N1’ bis ‚Nm’) nicht das Eintreten der intendierten politischen Wirkung verhindern dürfen (vgl. Luhmann 1973: 290; vgl. auch oben, S. 142-144). In anderen Worten: Die strategischen Mittel (etwa ‚MM’, ‚MD’ oder ‚MÖ’) müssen nun so gewählt werden, dass ihre unerwünschten Nebenfolgen (‚N1’ bis ‚Nm’) nicht das Eintreten des Zwecks (‚ZWS’) konterkarieren. Nachdem die Mittelfindung auf der strategischen Ebene bereits hoch kompliziert ist, muss die strategische Ebene von weiteren Anforderungen entlastet werden. Dies geschieht durch ein so genanntes „mehrgliedriges Zweckprogramm“ (vgl. Luhmann 1973: 292-303, H. d. V.): Die Gefechte werden von gesonderten taktischen Subsystemen (vgl. die untere Hälfte von Abbildung 13, oben, S. 148) behandelt. Jedes Subsystem verfügt über eigenes Personal (z. B. taktischer Kommandeur und sein Stab). Im mehrgliedrigen Zweckprogramm werden somit Entscheidungen arbeitsteilig im Rahmen eines „sozialen Kooperationssystems“ getroffen (Luhmann 1973: 293, H. i. O.). Damit gibt es (ent95
„Schon der letzte Zweck unserer Kriege, der politische, ist nicht immer ein ganz einfacher, und wäre er es auch, so ist die Handlung an eine solche Menge von Bedingungen und Rücksichten gebunden, daß der Zweck nicht mehr durch einen einzelnen großen Akt, sondern nur durch eine Menge größerer oder kleinerer, die zu einem Ganzen verbunden sind, erreicht werden kann. Jede dieser einzelnen Tätigkeiten ist also ein Teil eines Ganzen, hat folglich einen besonderen Zweck, durch welchen sie an dieses Ganze gebunden ist“ (Clausewitz 1980: 422-423). Das Gefecht wird durch die Zuweisung eines besonderen Zwecks somit einerseits „individualisiert“ und andererseits „mit dem großen Ganzen verbunden ...“ (Clausewitz 1980: 423).
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
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gegen der Suggestion der Abbildungen 5, oben, S. 118, und 13, oben, S. 148) de facto so viele taktische Ebenen wie es Gefechte gibt; sie können als dreidimensional vor- und hintereinander gelagert und durch Wirkungen miteinander verbunden gedacht werden (vgl. hingegen Abbildung 6, oben, S. 119, wo dies besser sichtbar wird). Die taktischen Subsysteme entlasten das strategische Subsystem in zweifacher Hinsicht von Komplexität: Erstens können sie vor Ort die taktischen Rahmenbedingungen96 (‚R1’ bis ‚Ru’) für die Gefechtshandlungen besser erfassen und einkalkulieren, verfügen also über eigene Informationen (‚Inform.T’ in Abbildung 13, oben, S. 148). Zweitens können sie sich ganz auf die Entscheidung über die taktischen Mittel (‚MT’), also die Mittel im Gefecht konzentrieren (vgl. Luhmann 1973: 292-303, 266-284): „Vom Standpunkt der Planung des Gesamtsystems aus gesehen kommt die Reduktion von Komplexität dadurch zustande, daß das System bzw. seine Leitung die Untersysteme als Leistungseinheiten behandeln kann, deren Innenabläufe sie nicht vollständig zu kennen bzw. mitzuplanen braucht“ (Luhmann 1973: 271).97 Umgekehrt profitieren die Subsysteme von ihrer Stellung im System, denn ihnen „ist eine Umwelt von verminderter Unsicherheit und Komplexität garantiert, und das befähigt sie, durch Erfüllung ihrer Unterzwecke die noch vorhandene Komplexität um einiges weiter zu verringern“ (Luhmann 1973: 272). Über die Subsysteme hinweg und durch das zweistufige Entscheidungsverfahren innerhalb jedes Subsystems gelingt schrittweise ein „Aufsplittern und Kleinarbeiten“ (Luhmann 1973: 256) des „Problems“ der Zweckerreichung, das letztlich in einer „Operationalisierung“ in Form eines taktischen Mitteleinsatz (‚MT’) seinen Abschluss findet (vgl. Luhmann 1973: 311-321). Ob dieser Mitteleinsatz letztlich zur Erreichung des übergeordneten politischen Zwecks beiträgt, muss durch ausgeklügelte Kontrollmechanismen innerhalb des Systems gewähr-
96
97
Taktische Rahmenbedingungen sind nach Clausewitz die „Örtlichkeit“, die „Tageszeit“ und das „Wetter“ (1980: 293). Clausewitz stuft den Einfluss von Tageszeit und Wetter schon zu seiner Zeit als gering ein, den Einfluss der „Örtlichkeit“ bzw. von „Gegend und Boden“ hingegen als entscheidend (1980: 293). Zur Taktik in der heutigen Kriegführung vgl. Biddle 2004. Es entsteht einem Subsystem damit ein möglicher, eigener Handlungsspielraum, den die übergeordnete Ebene nicht kontrollieren kann. Aus systemtheoretischer Perspektive entsteht dieser Effekt durch die Notwendigkeit der mehrgliedrigen Reduktion von Komplexität im hochkomplexen ‚politischen Krieg’: Ein übergeordnetes Subsystem muss dem untergeordneten Subsystem Handlungsspielraum einräumen, um die gewünschte Reduktionswirkung zu erhalten. Damit liefert die Systemtheorie eine alternative bzw. ergänzende Erklärung zum ‚Principal-Agent’-Ansatz. Diesem Ansatz zufolge erwächst untergeordneten Teilen einer Organisation dann ein gewisser Handlungsspielraum, wenn sie dem übergeordneten Teil bestimmte Ressourcen (insbesondere Informationen) voraushaben und diese nutzen können, um eine eigene Agenda des Handelns zu realisieren (vgl. Oppermann 2008: 77-83).
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4 Clausewitz trifft Luhmann
leistet werden (vgl. Luhmann 1973: 322-336; vgl. hierzu ausführlicher oben, S. 62). Eine Besonderheit des Zweckprogramms nach Clausewitz besteht darin, dass den taktischen Subsystemen nicht einfach nur vom übergeordneten strategischen Subsystem eine militärische Wirkung (= taktisches Ziel = ‚ZIT’ in Abbildung 13, oben, S. 148) für das jeweilige Gefecht, sondern darüber hinaus eine politische Wirkung des Gefechts (= taktischer Zweck = ‚ZWT’) vorgegeben wird (durchgezogene Pfeile bei ‚c’ bzw. ‚d’). Das taktische Gefechtsziel (‚ZIT’) ist der ‚Kernzweck’ (Luhmann 1973: 290) des Handelns im Gefecht (‚Was soll konkret erreicht werden?’) – der politische Gefechtszweck (‚ZWT’) definiert hingegen weitere Wirkungen, die unbedingt bei der Mittelwahl zu berücksichtigen sind (Luhmann 1973: 290).98 In anderen Worten: Die Nebenfolgen (‚N1’ bis ‚Nq’) des taktischen Mitteleinsatzes (‚MT’) dürfen das Eintreten des politischen Gefechtszwecks (‚ZWT’), d. h. des Beitrags dieses Gefechts zum politischen Gesamtzweck des Krieges (‚ZWS’), keinesfalls konterkarieren. Durch diese Art der Zweckprogrammierung gelingt es, die „eigentlichen Systemzwecke ...“ (das heißt hier: den politischen Zweck des Krieges) als „fixierte Anspruchsniveaus in die Nebenbedingungen unterzubringen ...“ (Luhmann 1973: 288). Dadurch wird die „Wertbasis“ des Zweckprogramms „erweitert und sein Opportunismus abgeschwächt ...“ (Luhmann 1973: 290): Im Gefecht heiligt das Gefechtsziel nicht alle Mittel! Die Tatsache, dass es einen politischen Zweck des Gefechts gibt, spiegelt Clausewitz’ Erkenntnis wider, dass das „politische Element“ zwar nicht „tief in die Einzelheiten des Krieges hinunter [dringt] ...“, jedoch: „desto entschiedener ist der Einfluß dieses Elementes bei dem Entwurf zum ganzen Kriege, zum Feldzuge und oft selbst zur Schlacht“ (1980: 992). Die Akteure der strategischen Ebene müssen also neben der rein militärischen Wirkung des Gefechts (durchgezogener Pfeil bei ‚c’), darüber entscheiden, inwiefern die Wirkung des Gefechts einen Beitrag zum politischen Zweck des Krieges leisten soll (durchgezogener Pfeil bei ‚d’). Das taktische Subsystem fasst die vorgegebenen Wirkungen (Mittel aus Sicht des strategischen Subsystems) als eigenen taktischen Zweck (Wirkung im politischen Bereich) und eigenes taktisches Ziel (Wirkung im militärischen Bereich) auf – und wird so in die Lage versetzt, das Zweck/Ziel-Schema bzw. das Ziel/Mittel-Schema für die eigene Entscheidungsfindung einzusetzen. Man nennt 98
Solche in der Systemtheorie so genannten „Nebenbestimmungen“, die „zusätzliche Anforderungen an Wirkungen“ (Luhmann 1973: 290) vorschreiben, können in der Zweckprogrammierung bedingt oder unbedingt definiert werden (Luhmann 1973: 287-290). Alternativ können „Nebenbedingungen“ festgelegt werden, die „zusätzliche Anforderungen an Ursachen“, also zusätzliche Selektionsregeln für die Mittelwahl enthalten (Luhmann 1973: 290-292); vgl. ausführlicher oben, S. 59.
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diese Technik in der Terminologie der Systemtheorie „Zweck/MittelVerschiebung“ (Luhmann 1973: 273, H. i. O.; vgl. dazu ausführlich, oben S. 5759).99 Das taktische Subsystem muss nun seinerseits das zweistufige Entscheidungsverfahren (Zweck/Ziel-Analyse dann Ziel/Mittel-Analyse) – diesmal für die Ebene des Gefechts – durchführen. Denn da dieses direkt im Feld vor Ort steht und daher über eigene, taktische Informationen verfügt (‚Inform.T’),100 vermag es zu überprüfen, ob die vorgegebenen taktischen Ziele (‚ZIT’) unter den Bedingungen der vorgefundenen taktischen Rahmenbedingungen (‚R1’ bis ‚Ru’), die gewünschte politische Wirkung (‚ZWT’) auch nach sich ziehen können bzw. welche unerwünschten Nebenwirkungen (‚N1’ bis ‚Nn’) über den Zweck hinaus auftreten könnten. Dies kann nach „Rückmeldung“ (Luhmann 1973: 280) zum strategischen Subsystem (symbolisiert durch den gestrichelten Pfeil in Abbildung 13, oben, S. 148) zu Anpassungen und Verfeinerungen der taktischen Zielsetzung oder sogar Zwecksetzung durch das übergeordnete, strategische Subsystem führen. In der zweiten Stufe des taktischen Entscheidungsverfahrens wird das Ziel/Mittel-Schema eingesetzt, um aus dem Spektrum denkbarer Mittel (‚M1’ bis ‚Mj’) die entsprechenden taktischen Mittel auszuwählen. Auch auf der taktischen 99
Dadurch wird eine weitere Funktion von ‚Zweckprogrammen’ sichtbar, die bei ihrer Erstellung zu berücksichtigen ist: „Sie formulieren und formalisieren die Bedingungen, unter denen es einem Untersystem gestattet werden kann, Mittel wie eigene Zwecke zu behandeln und dabei eine Indifferenz gegen Folgen zu entwickeln, die im Gesamtsystem doch belangvoll sein können“ (Luhmann 1973: 284). Dieser Gedanke spiegelt sich in der eben geschilderten Programmierung des politischen Gefechtszwecks als unbedingte Nebenbestimmung des Gefechtshandelns wider. Denn durch diese Maßnahme wird eine „Indifferenz“ (Luhmann 1973: 284) der taktischen Subsysteme für die politischen Folgen ihres Handelns eingeschränkt; vgl. dazu ausführlicher ‚Programmaufbau: Mehrgliedrigkeit’, oben, S. 59-60. Der Gedanke der Zweck/Mittel-Verschiebung findet sich auch bei Clausewitz: Die Strategie gibt „dem Gefecht eine besondere Bedeutung, setzt ihm einen besonderen Zweck. Insofern aber dieser Zweck nicht der ist, welcher unmittelbar zum Frieden führen soll, also nur ein untergeordneter, ist er auch als Mittel zu betrachten, und wir können also als Mittel in der Strategie die Gefechtserfolge oder Siege in allen ihren verschiedenen Bedeutungen betrachten“ (1980: 294, H. i. O.). Für die Analyse folgt hieraus umgekehrt: „Man kann ... ein Mittel nicht bloß für den nächsten Zweck prüfen, sondern auch diesen Zweck selbst als Mittel für den höheren, und so an der Kette der einander untergeordneten Zwecke hinaufsteigen, bis man auf einen trifft, der keiner Prüfung bedarf, weil seine Notwendigkeit nicht zweifelhaft ist ... Es ist klar, daß man in diesem Hinaufsteigen mit jeder neuen Station, die man einnimmt, einen neuen Standpunkt für das Urteil bekommt, so daß dasselbe Mittel, welches in dem nächsten Standpunkt als vorteilhaft erscheint, von einem höheren aus betrachtet verworfen werden muß“ (Clausewitz 1980: 316-317). 100 Aus demselben Grund muss auch „die Strategie mit ins Feld ziehen ..., um das Einzelne an Ort und Stelle anzuordnen und für das Ganze die Modifikationen zu treffen, die unaufhörlich erforderlich werden“ (Clausewitz 1980: 345).
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Ebene können die Faktoren Zeit und Raum in Verbindung mit dem Zweck/Ziel/Mittel-Schema zur Reduktion von Komplexität genutzt werden: Im Verlauf des Gefechts können nacheinander bzw. an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Wirkungen verfolgt und die Entscheidungen einer sich verändernden Lage angepasst werden (Luhmann 1973: 50, vgl. auch 51-53). Die systemtheoretische Technik der Verteilung der Entscheidungslast und schrittweisen Reduktion von Komplexität durch Einsatz von Subsystemen kann genutzt werden, um Clausewitz’ Modell noch um ein weiteres Subsystem zu ergänzen. Dies funktioniert innerhalb der Logik des Modells immer dann, wenn eine Handlung sich in Teilhandlungen aufteilen lässt, die bezüglich ihrer Wirkungen einigermaßen geschlossen sind. Fasst man die Außenpolitik oder ‚Grand Strategy’ (Liddell Hart 1991: 353-360; Luttwak 2003: 209-217) eines Staates als Menge von Strategien auf, die jeweils in einer konkreten Wirkung (strategisches Ziel) und einer politischen Wirkung (strategischer Zweck) gipfeln sollen, so kann man ein weiteres Subsystem oberhalb der strategischen Ebene ansiedeln (vgl. Abbildung 5, oben, S. 118). Dessen Zweck entspricht dann der außenpolitischen Gesamtwirkung, die ein Staat auf seine Umwelt ausüben möchte. Sein Ziel ist die kombinierte Wirkung aller außenpolitischen Substrategien (diplomatische, militärische, ökonomische, kulturelle, ökologische, entwicklungspolitische etc.) und seine Mittel sind die konkreten einzelnen Endwirkungen dieser Strategien im Raum und in der Zeit. Auch in diesem Subsystem werden Entscheidungen nach der Logik des Zweck/Ziel/Mittel-Schemas getroffen. Auch dieses Subsystem übergibt den unterschiedlichen strategischen Subsystemen, wie beispielsweise dem hier im Vordergrund stehenden militärischen Subsystem, eine Zweck- und eine Zielsetzung, die diese jeweils für sich noch einmal unter genauerer Kenntnis der eigenen Rahmenbedingungen überprüfen und gegebenenfalls Inkonsistenzen an die übergeordnete Ebene kommunizieren können (vgl. auch Abbildung 7, oben, S. 120). Doch zurück zum etwas weniger komplexen Modell, das nur aus der strategischen und taktischen Ebene besteht (Abbildung 13, oben, S. 148). Im Bild des ‚politischen Krieges’ denkt sich Clausewitz nicht nur den politischen Zweck, sondern auch die Ziele und Mittel im Zweckprogramm als variabel. Da diese Variablen auf das Gegenhandeln eines Gegners bezogen sind, dessen Zwecke, Ziele und Mittel ebenfalls variabel sind, führt Clausewitz eine Differenzierung der Begriffe ein: Politische Zwecke (‚ZWS’ oder ‚ZWT’) können demnach positiv oder negativ sein, Ziele (‚ZIS’ oder ‚ZIT’) und Mittel (‚MS’ oder ‚MT’) können
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
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offensiv (Angriffsziele bzw. -mittel) oder defensiv (Verteidigungsziele bzw. mittel) sein.101 Positive politische Zwecke definieren eine bestimmte Wirkung auf die Politik des Gegners; negative politische Zwecke bestehen ‚lediglich’ darin, eine Wirkung des Gegners auf die eigene Politik zu verhindern (Clausewitz 1980: 214-222).102 Eine analoge Bedeutung haben die Begriffe von Offensive (Angriff) und Defensive (Verteidigung) für die militärische Seite der Handlung (Clausewitz 1980: 220-221, 622-627, 999-1002, 1003-1008). Nach Clausewitz ist die Negation eines gegnerischen Zwecks bzw. die Verteidigung gegen eine gegnerische Offensive „leichter“ (1980: 614), hat also eine höhere Wahrscheinlichkeit des Erfolges – womit „die verteidigende Form des Kriegführens ... an sich stärker als die angreifende [ist]“ (1980: 615, H. i. O.; vgl. ausführlich, oben Abschnitt 3.2).103 Dies kann man systemtheoretisch begründen. Erstens sind die negativen bzw. defensiven Wirkungen enger und spezifischer definiert. Bei der Verteidigung beispielsweise einer Brücke ist weniger auf die Nebenfolgen des Handelns zu achten, als bei ihrer Einnahme, denn es genügt ja den Gegner ‚nur’ von seiner Absicht abzubringen (ihn gewissermaßen zu „ermüden“, vgl. Clausewitz 1980: 220-221), was weniger Koordination etc. der Mittel erfordert (vgl. Clausewitz 1966b: 715-716). Damit sind die Wirkungen der Negation bzw. Defensive aber auch insgesamt entsprechend weniger wertvoll. Dies ist die Kehrseite der Medaille: einfacher und sicherer, jedoch auch weniger wert hinsichtlich der Wirkung (Clausewitz 1980: 220). 101 Konsequenterweise beginnt der Krieg für Clausewitz per definitionem überhaupt erst mit der Verteidigung: „Wenn wir uns die Entstehung des Krieges philosophisch denken, so entsteht der eigentliche Begriff des Krieges nicht mit dem Angriff, weil dieser nicht sowohl den Kampf als die Besitznahme zum absoluten Zweck hat, sondern er entsteht erst mit der Verteidigung, denn diese hat den Kampf zum unmittelbaren Zweck, weil Abwehren und Kämpfen offenbar eins ist. Das Abwehren ist nur auf den Anfall gerichtet, setzt ihn also notwendig voraus, der Anfall aber nicht auf das Abwehren, sondern auf etwas anderes, nämlich die Besitznahme, setzt also das letztere nicht notwendig voraus“ (1980: 644). 102 Gemäß dem hier verwendeten Politikbegriff nach Easton (1965: 48-57) bestehen positive politische Zwecke in der Beeinflussung der Wertverteilung des Gegners, negative in einer Zurückweisung eines gegnerischen Versuchs, die eigene Werteverteilung zu beeinflussen (vgl. oben, S. 108). 103 Es ist jedoch zu beachten, dass dem ein spezifischer Begriff der Verteidigung zugrunde liegt, nämlich der einer aktiven Verteidigung (Clausewitz 1966b: 742): „Die verteidigende Form des Kriegführens ist also kein unmittelbares Schild, sondern ein Schild, gebildet durch geschickte Streiche“ (Clausewitz 1980: 614, vgl. auch 1003-1008). Eine bis zum Ende strategischverteidigende Disposition ist hingegen gefährlich und kann nur in einem wenig intensiven Krieg zum Erfolg führen (Clausewitz 1980: 1004). Zur Kritik des Postulats der Überlegenheit der Verteidigung von Clausewitz vgl. Schmid (2010). Die zentrale Bedeutung des Postulats für Clausewitz’ Theoriegebäude betont hingegen Sumida (2007).
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Im Lichte der Systemtheorie ergibt sich nun ein vollständiges Bild: Die extrem breit formulierten Zwecke im ‚Reagenzglaskrieg’ führen zu einer extrem geringen Toleranz gegenüber unintendierten Nebenfolgen des Handelns und zwingen die Parteien zum maximalen Mitteleinsatz (vgl. oben, S. 143-144). Im ‚politischen Krieg’ sind die Zwecke enger definiert, deswegen steigt auch die Toleranz gegenüber unintendierten Nebenfolgen des Handelns grundsätzlich; sie wird wieder eingefangen durch die Zwecksetzung, die das militärische Handeln sensibilisiert für die politische Dimension des Krieges (vgl. oben, S. 150). Negative bzw. defensive Zwecke bzw. Ziele beinhalten schließlich eine extrem eng definierte Wirkung mit entsprechend großer Toleranz für die unintendierten Nebenfolgen des Handelns. Hieraus folgt zwar die Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff, jedoch auch ihre inhärente Schwäche: die erzielbaren Wirkungen sind eben nur geringe Wirkungen. Zweitens stellt die negative bzw. verteidigende Handlungsdisposition einen Zeitgewinn dar (Clausewitz 1980: 614), da Verteidigung gemäß Clausewitz begriffen wird als das „Abwarten [eines] Stoßes“ (1980: 613). Zeit ist für Sozialsysteme indessen ein hohes Gut, da sie diese nutzen können, um unterschiedliche Wirkungen (Zwecke) in einem Zeitraum zu verwirklichen (vgl. Luhmann 1973: 51-53). Bei gleicher Ausgangslage (also keiner völligen Überraschung des Angegriffenen (vgl. Clausewitz 1980: 618, 623, vgl. auch 379-384)) hat der Verteidigende mehr Zeit, seine Wirkungen zu planen und kennt überdies ja bereits die Wirkung des gegnerischen Handelns, welches auf ihn gerichtet war (vgl. 614-617, 619, 623-624). Schließlich erkennt Clausewitz im Bild des ‚politischen Krieges’ auch die Bedeutung von nicht-militärischen Zielen und Mitteln an. Mittel können für ihn ebenfalls in nicht-militärischen Maßnahmen bestehen, „die eine unmittelbar politische Beziehung“ (Clausewitz 1980: 218-219) haben oder in solchen nichtmilitärischen Maßnahmen, die sich spezifische persönliche Eigenheiten des gegnerischen Führungspersonals (die so genannten „Argumente ad hominem“, Clausewitz 1980: 221-222) zunutze machen. Da das Zweck/Ziel-Schema und das Ziel/Mittel-Schema grundsätzlich von abstrakten Ursachen für gewünschte Wirkungen ausgehen, sind sie prinzipiell für die gesamte Bandbreite militärischer und nicht-militärischer strategischer und taktischer Mittel offen und stellen daher eine geeignete Operationalisierung der Erkenntnis von Clausewitz dar, dass „[d]ie Strategie ... die zu untersuchenden Mittel und Zwecke nur aus der Erfahrung entnimmt“ (1980: 294-295) – und diese damit dem historischen Wandel stets angepasst werden müssen! In Abbildung 13 (oben, S. 148) sind im Zweckprogramm zur Illustration dieses Gedankens beispielhaft militärische, diplomatische und ökonomische Mittel (‚MM’, ‚MD’, ‚MÖ’) und Ziele (‚ZIM’, ‚ZID’, ‚ZIÖ’) auf der Ebene der Strategie eingetragen.
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
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Im ‚politischen Krieg’ erhöht sich die Zahl der für die Zweck/Ziel-Analyse bzw. die Ziel/Mittel-Analyse relevanten Rahmenbedingungen erheblich. Die Rahmenbedingungen (‚R’) entsprechen aus systemtheoretischer Perspektive dem gesellschaftlichen und internationalen Kausalkontext der Zweck/Ziel/MittelAnalyse. Ob ein Mittel seinen Zweck zu verursachen vermag und welche Nebenfolgen sein Einsatz zeitigt, die über den Zweck hinausgehen, kann in der Zweck/Ziel-Analyse bzw. der Ziel/Mittel-Analyse nur durchdacht werden, wenn man zuvor die relevanten Rahmenbedingungen bestimmt. Dabei sind unterschiedliche Rahmenbedingungen relevant, je nachdem, auf welcher Handlungsebene (strategische Rahmenbedingungen (‚RE’ = externe und ‚RI’ = interne) vs. taktische Rahmenbedingungen (‚R1’ bis ‚RU’) in Abbildung 13, oben, S. 148) man sich befindet. Außerdem sind diese nicht statisch, sondern können sich im Verlauf des Krieges verändern. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Rahmenbedingungen selbst zu Mitteln des Handelns werden können und dass der Zweck des Handelns darin bestehen kann, die eigenen, gegnerischen oder gemeinsamen Rahmenbedingungen zu manipulieren.104 Um diese Komplexität einigermaßen handhabbar zu machen, wird hier auf das politikwissenschaftliche Modell „innenpolitischer Restriktionen“ (Oppermann/Höse 2007) und „internationaler Rahmenbedingungen“ (Jäger/Beckmann 2007) des außenpolitischen Handelns zurückgegriffen (vgl. oben, S. 115-116). Es bietet eine Systematik von Variablen, die den außenpolitischen Handlungsspielraum von Staaten beschränken können. Die inneren (oder: internen) Restriktionen ergeben sich aus dem innenpolitischen Kontext außenpolitischer Entscheidungen. Die äußeren (oder: externen) Rahmenbedingungen ergeben sich aus den Eigenschaften des internationalen Systems. Ebenfalls werden in diesem Modell Aussagen über die unterschiedliche Einflussstärke der einzelnen Faktoren gemacht.105 Überträgt man dieses Modell auf das MSH, so erscheinen die Variablen nicht mehr als Restriktionen des Handlungsspielraums von Staaten, sondern einheitlich als Rahmenbedingungen der strategischen Zweck/Ziel- bzw. Ziel/Mittel-Analyse. Außerdem sollen die inneren Rahmenbedingungen im MSH weiter gefasst werden. Hier sollen sie – allgemeiner – als Akteurseigenschaften betrachtet werden. Dies ermöglicht es, das MSH auch auf nicht-staatliche Akteu-
104 Für diesen Hinweis danke ich Thomas Jäger. 105 Auch Clausewitz denkt in Kategorien innen- und außenpolitischer Rahmenbedingungen des strategischen Handelns (vgl. etwa das folgende, längere Clausewitz-Zitat, S. 158). Das hier verwendete Modell hat jedoch den Vorteil, systematischer zu sein. Außerdem erlaubt es, Rahmenbedingungen in die Analyse einzubeziehen, die zu Clausewitz’ Zeiten noch nicht vorhanden waren (z. B. die Globalisierung im hier definierten Sinne).
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re und deren strategische Kalkulationen,106 auf Staaten, aber auch auf staatliche Militärallianzen anzuwenden (vgl. Beckmann 2008a: 31-50). Durch den Begriff der inneren Rahmenbedingungen bzw. Akteurseigenschaften lassen sich somit die Strategien und Taktiken ganz unterschiedlicher Akteure innerhalb eines integrierten Analysemodells untersuchen. Die Variablen, die dem Modell innerer Restriktionen und äußerer Rahmenbedingungen außenpolitischen Handelns entnommen werden, bieten somit eine Auflistung potenziell strategisch relevanter Faktoren. Sie entsprechen „dem gesellschaftlichen Zustande, sowohl der Staaten in sich als unter sich ...“, aus dem „der Krieg hervor[geht] ...“, durch den er „bedingt, eingeengt, ermäßigt ...“ wird (Clausewitz 1980: 192). Sie definieren den gesellschaftlichen und internationalen Kausalkontext strategischen Handelns und erfassen somit die zweite Seite des ‚doppelten Politikbegriffs’ von Clausewitz (vgl. oben, S. 105). Es muss jedoch von Fall zu Fall durchdacht werden, welche dieser Variablen als Rahmenbedingungen den Zusammenhang von Mittel und Zweck beeinflussen könnten. Dies wird vom strategischen Subsystem in seinen Kalkulationen – wie gesagt – vor der Anwendung des Zweck/Ziel/Mittel-Schemas geleistet. In der Anwendung des Zweck/Ziel/Mittel-Schemas müssen sowohl die eigenen inneren Rahmenbedingungen des Handelns als auch die inneren Rahmenbedingungen des Gegners beachtet werden (auf diesen soll ja ‚eingewirkt’ werden), schließlich die äußeren Rahmenbedingungen in ihrer unterschiedlichen Bedeutung für die beteiligten Akteure. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe wird durch das folgende Zitat besonders deutlich: Um also das Maß der Mittel kennenzulernen, welches wir für den Krieg aufzubieten haben, müssen wir den politischen Zweck desselben unsererseits und von seiten des Feindes bedenken; wir müssen die Kräfte und Verhältnisse des feindlichen Staates und des unserigen, wir müssen den Charakter seiner Regierung, seines Volkes, die Fähigkeiten beider, und alles das wieder von unserer Seite, wir müssen die politischen Verbindungen anderer Staaten und die Wirkungen, welche der Krieg darin hervorbringen kann, in Betrachtung ziehen. Daß das Abwägen dieser mannigfachen und mannigfach durcheinandergreifenden Gegenstände eine große Aufgabe, daß es ein wahrer Lichtblick des Genies ist, hierin schnell das Rechte herauszufinden, während es ganz unmöglich sein würde, durch eine bloße schulgerechte Überlegung der Mannigfaltigkeit Herr zu werden, ist leicht zu begreifen.
106 Die Fruchtbarkeit der Kriegstheorie von Clausewitz für die Analyse „asymmetrischer Konflikte“ (Mack 1975) ist seit den 1960er Jahren in der Forschung immer wieder gezeigt worden (vgl. u. a. Paret/Shy 1962; Hahlweg 1967, 1968, 1980b; Münkler 2001; Heuser 2005; Daase 2007; Beckmann 2008a; Freudenberg 2008; Daase/Schindler 2009).
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In diesem Sinne hat Bonaparte ganz richtig gesagt: es würde eine algebraische Aufgabe werden, vor der selbst ein Newton zurückschrecken könnte (Clausewitz 1980: 961).
Wie bereits weiter oben (vgl. S. 115-116) geschrieben, können innere Rahmenbedingungen (‚RI’ in Abbildung 13, oben, S. 148) sein: die öffentliche Meinung, die Interessen gesellschaftlicher Akteure, die Medien und die Eigenschaften des politischen Prozesses (z. B. politische Kultur, Institutionen und interbürokratische Abstimmungsprozesse), die den Streitkräften zur Verfügung stehenden Ressourcen (zu denen auch das Territorium zählt) sowie insbesondere das Verhältnis zwischen Streitkräften und Politik bzw. Streitkräften und Gesellschaft (vgl. Oppermann/Höse 2007; zum letzten Punkt vgl. Bredow 2008). Äußere Rahmenbedingungen (‚RE’ in Abbildung 13, oben, S. 148) können sein: die Anarchie des internationalen Systems, die wirtschaftliche und militärische Machtverteilung im globalen oder regionalen System, die Globalisierung, verstanden als diejenigen – vor allem technischen – Prozesse, die die Faktoren Raum und Zeit für soziales Handeln fast gegenstandslos werden lassen, die Transnationalisierung im Sinne der qualitativen und quantitativen Zunahme von grenzüberschreitenden, über eine gewisse Zeit stabilen Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren; schließlich zählen zu den äußeren Rahmenbedingungen militärische, zwischenstaatliche Allianzen sowie internationale Institutionen und das Völkerrecht (vgl. Jäger/Beckmann 2007; speziell zur strategischen Bedeutung der Machtverteilung vgl. auch Beckmann 2008b). Während die inneren Rahmenbedingungen sich von Akteur zu Akteur unterscheiden können, unterliegen die Kriegsparteien zwar gleichermaßen den äußeren Rahmenbedingungen – gleichwohl können sich jedoch die Auswirkungen dieser Rahmenbedingungen für ihr Handeln sehr stark unterscheiden. Clausewitz fügt noch eine weitere äußere Rahmenbedingung hinzu, die sich aus der spezifischen Beziehung zwischen Kriegsparteien ergibt: Diese Rahmenbedingung soll hier als Eskalationspotenzial von Kriegen bezeichnet werden. Eine zentrale kriegstheoretische Erkenntnis von Clausewitz besteht in seiner prinzipiellen Unterscheidung zwischen Kriegen der Ersten Art und Kriegen der Zweiten Art (1980: 179, 211-212, vgl. auch S. 1184-1185, Fn. 16). Die Bedeutung dieser Unterscheidung kann gar nicht überschätzt werden. So schreibt Clausewitz in seiner „Nachricht“ (1980: 179-183) gegen Ende seines Lebens, dass er große Teile von „Vom Kriege“ umarbeiten wolle: „Bei dieser Umarbeitung wird die doppelte Art des Krieges überall schärfer im Auge behalten werden, und dadurch werden alle Ideen einen schärferen Sinn, eine bestimmte Richtung, eine nähere Anwendung bekommen“ (1980: 179). Mit Kriegen der Ersten Art meint er Kriege, die sich ihrem Ablauf nach dem idealtypischen
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‚Reagenzglaskrieg’ (vgl. oben, Abschnitt 3.1) nähern, mit Kriegen der Zweiten Art solche, die sich sehr weit von ihm entfernen. Die Variablen, die diese Abweichung bestimmen, sind im Modell des ‚politischen Krieges’ (vgl. oben, Abschnitt 3.2) enthalten. Um zu allgemeinen Aussagen zu gelangen, werden im Folgenden Kriege der Ersten Art mit dem ‚Reagenzglaskrieg’ gleichgesetzt, die der Zweiten Art mit dem ‚politischen Krieg’. Da es sich jeweils um theoretische Modelle handelt, können diese dann als Kriegstypen bezeichnet werden. Doch wie können Aussagen über das unterschiedliche Eskalationspotenzial dieser Kriegstypen getroffen werden? Auch hier bietet es sich an, Begriffe der Systemtheorie zu entnehmen und diese zur Präzisierung der Begriffe von Clausewitz einzusetzen. Charles Perrow unterscheidet zwei Variablen der Systemstruktur anhand derer sich die Katastrophenanfälligkeit bzw. die Stabilität und Erholungsfähigkeit von Systemen wie Produktionsstätten, etwa Kernkraftwerken, bestimmen lässt: Interaktion (= Wechselwirkung) und Kopplung (1984: 72).107 Es ist hierbei vorauszusetzen, dass sich das System zu einer Menge abstrahieren lässt, so dass man von Elementen dieser Menge bzw. des Systems sprechen kann. Interaktionen zwischen diesen Elementen können entweder „linear“ (erwartbar) oder „komplex“108 (unerwartbar) sein (Perrow 1984: 78). Die Kopplung in einem System kann entweder eng oder lose sein. Der Begriff der Kopplung ist der Mechanik entnommen. Man spricht von einem eng gekoppelten System, wenn zwischen seinen Elementen wenig Spielraum oder Puffer besteht. Umgekehrt zeichnet sich ein lose gekoppeltes System durch Spielraum oder Puffer zwischen seinen Elementen aus (Perrow 1984: 89-90; vgl. auch Luhmann 2004: 170-171109). Die Interaktionen (Clausewitz: „Wechselwirkung“, 1980: 194) zwischen den Elementen eines Systems (hier: Handlungen) werden umso komplexer (= unerwartbarer),
107 Für die Kritik am theoretischen Zusammenhang der Begriffe des Eskalationspotenzials und der Friktion (s. u.) in einer früheren Fassung des vorliegenden Textes danke ich Kai Oppermann. Mischa Hansel danke ich für die Idee, die Theorie von Charles Perrow zur Lösung dieses Problems heranzuziehen. 108 Der Komplexitäts-Begriff von Perrow deckt sich damit mit einem der beiden Aspekte des Komplexitätsbegriffs von Luhmann, nämlich dem Informationsmangel (vgl. oben, Fn. 66, S. 124). 109 Luhmann verwendet anstelle der Begriffe der „engen“ bzw. „losen Kopplung“ auch die der „komplette[n] Interdependenz“ (2004: 170) bzw. „Interdependenzunterbrechung“ (2004: 171).
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(a) je enger der Raum ist, in dem sie stattfinden, (b) je größer die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Rückkopplungsschleifen (Perrow: „feedback-loops“, 1984: 86) bzw. eigendynamischen sozialen Prozessen110 ist sowie (c) je größer der allgemeine Informationsmangel innerhalb des Systems ist (Perrow 1984: 85-86). Die Kopplung der Elemente eines Systems ist umso enger (und damit das System starrer, weniger flexibel und insofern weniger stabil und erholungsfähig), (d) je größer die Bedeutung des Timings in einem System ist, (e) je weniger alternative Handlungssequenzen denkbar sowie (f) je weniger alternative Mittel vorhanden sind (Perrow 1984: 93-94). Die Begriffe der Interaktion und der Kopplung entstammen einer älteren Entwicklungsstufe der Systemtheorie (Luhmann 2004: 170). Sie sind jedoch sehr gut geeignet, den Gesamtkrieg als „System des Krieges“ (Clausewitz 1980: 474) zu beschreiben.111 War die bisher vorgestellte und verwendete Systemtheorie nach Luhmann auf der Analyseebene des Akteurs (Waltz 2001; vgl. auch Singer 1961) angesiedelt (vgl. oben, Fn. 67, S. 124), so kann Perrows Theorie genutzt werden, um eine systemtheoretische Perspektive auf die Beziehung zwischen den Akteuren – und damit auf die Analyseebene des Systems („third image“, Waltz 2001; vgl. auch Singer 1961) – zu erhalten. Da die beiden Variablen „Interaktion“ und „Kopplung“ nur zwei idealtypische Ausprägungen haben können, Perrow diese Variablen jedoch nicht dichotomisch, sondern ‚fließend’ konzipiert (1984: 78), entsteht eine VierfelderMatrix, in die unterschiedliche Systeme eingeordnet werden können (1984: 97). Der ‚Reagenzglaskrieg’ (‚RK’ in der folgenden Abbildung 14) stellt den kriegstheoretischen Idealtyp eines Systems dar, welches sich durch hohe Komplexität der Interaktionen (= Wechselwirkungen) und enge Kopplung zwischen seinen Handlungselementen auszeichnet. Er ist deshalb in der oberen rechten Ecke der Abbildung eingetragen:
110 Vgl. zu diesem Begriff oben, S. 114. 111 Vgl. Clausewitz’ historischen Abriss der Kriegsgeschichte, in dem die unterschiedliche Intensität des Krieges in verschiedenen historischen Epochen in Zusammenhang gebracht wird mit – in der Sprache der Systemtheorie ausgedrückt – Phasen wechselnd hoher bzw. geringer Interaktionskomplexität sowie enger bzw. loser Kopplung gesellschaftlicher Systeme und des internationalen Systems (1980: 962-973).
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Abbildung 14: Interaktion und Kopplung Interaktion unerwartbar (komplex)
erwartbar (linear)
lose
Kopplung
eng
x RK
x PK x KK
Er findet räumlich und zeitlich dicht gedrängt in einer einzigen explosiven Kampfhandlung statt. Das „System des Krieges“ besteht hier eigentlich nur aus einem einzigen Element. Dennoch sind die Interaktionen zwischen den Kriegsparteien hier hochkomplex (unerwartbar). Denn aus Sicht der Akteure ist die Situation von absoluter Ungewissheit über das Gegenhandeln des Gegners geprägt. Sie haben weder Zeit, etwas über das Maß der Gewaltbereitschaft der Gegenseite zu lernen, noch gibt es eine Zukunft, in der Versäumnisse nachgeholt werden könnten. Der Mangel an Informationen ist indessen ein Hauptkriterium für komplexe Systeme (c). Hinzu kommt die Rückkopplungsschleife, die durch das wechselseitige Steigern der Gewalt der Akteure unter Ungewissheit entsteht, die ihrerseits ein weiteres Hauptkriterium darstellt (b). Schließlich ist die räumliche Gedrängtheit des Systems typisch für komplexe Systeme: Die Kampfhandlung findet in einer einzigen ‚Schlacht’ statt (a). Die zeitliche Knappheit im ‚Reagenzglaskrieg’ für sich genommen stellt hingegen ein Hauptkriterium für die Enge der Kopplung eines Systems dar (d). Überdies kommen abweichende Handlungssequenzen (e) und andere Mittel als Gewalt nicht in Frage (f). Dies sind weitere Belege für die enge Kopplung von Systemen. Die Folge dieser räumlichen und zeitlichen Konzentration ist die geschilderte, heftige Eskalationstendenz des ‚Reagenzglaskrieges’. Beide Parteien werden zu maßlosem Mitteleinsatz getrieben. Dies deckt sich mit Perrows Ergebnissen. Ihnen zufolge zeichnen sich Systeme mit hoher Komplexität (= hoch
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
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unerwartbaren Interaktionen) und enger Kopplung (Perrow gibt das Beispiel eines Atomreaktors) durch ein hohes Katastrophenpotenzial aus (1984: 89). Gleichzeitig sind sie jedoch bezüglich ihres Outputs hocheffizient (Perrow 1984: 88). Dies spiegelt sich in Clausewitz’ Überlegung wider, dass der ‚Reagenzglaskrieg’ keine „Friktion“ (1980: 261-264) aufweist, also keine „Ermäßigung“ (1980: 199) der Gewalt, sondern lediglich ungebremste Steigerungen „zum äußersten“ (1980: 192). Im ‚politischen Krieg’ findet hingegen eine starke räumliche und zeitliche Entzerrung der Handlung statt, so dass man von einem System sprechen kann, das relativ zum ‚Reagenzglaskrieg’ einerseits eine geringere Komplexität (i. S. v. höherer Erwartbarkeit der Interaktionen bzw. Wechselwirkungen) aufweist und dessen Handlungselemente andererseits in einem Verhältnis der loseren Kopplung zueinander stehen.112 Das wird angezeigt durch die Position des ‚politischen Krieges’ (‚PK’) links und unterhalb vom ‚Reagenzglaskrieg’ in Abbildung 14 (oben, S. 162). Der Krieg zerfällt in mehrere geschlossene Teilkampfhandlungen, nämlich die Gefechte, die im Raum und in der Zeit verteilt sind (a). Das „System des Krieges“ (Clausewitz 1980: 474) besteht hier somit aus mehreren Elementen. Was die Erwartbarkeit der Interaktionen angeht, so nimmt aus Sicht der Kriegsparteien die Ungewissheit über das Gegenhandeln ab. Die Gegner können über die Dauer der Handlung lernen, wie weit der Gegner bereit ist, in seinem Mitteleinsatz zu gehen (c). Durch die Einführung der Defensive als stärkerer Form des Kampfes, entstehen überdies für den Schwächeren Anreize, eine Offensive des Gegners abzuwarten. Dadurch wird die Rückkopplungsschleife des Gegenhandelns in ihrer Intensität ermäßigt (b). Für sich genommen ist die längere Dauer der Handlung bereits ein Hinweis auf die nun losere Kopplung der Handlungselemente des Systems des ‚politischen Krieges’ (d). Hinzu kommen die gestiegene Spannweite möglicher Handlungssequenzen (Gefechte können ganz unterschiedlich im Raum und in der Zeit platziert werden) (e) sowie die höhere Zahl der im ‚politischen Krieg’ zur Verfügung stehenden Mittel (gegenüber nur einem, nämlich der Gewalt, im ‚Reagenzglaskrieg’) (f). Die Gefechte sind zwar in ihren Wirkungen weiterhin mehr oder weniger stark aufeinander bezogen. Jedoch ist die Kopplung gegenüber dem ‚Reagenzglaskrieg’ weniger eng. Das Eskalationspotenzial ist demnach insgesamt im ‚politischen Krieg’ geringer als im ‚Reagenzglaskrieg’. 112 Nach Luhmann sind soziale Organisationen (wie im Übrigen auch alle Organismen) stets nach dem Prinzip der losen Kopplung strukturiert (2004: 171). Dies stellt keinen Widerspruch zur vorliegenden Analyse dar, da es sich beim eng gekoppelten ‚Reagenzglaskrieg’ um ein abstraktes, idealtypisches Modell handelt, dem sich empirische Kriege lediglich nähern können.
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4 Clausewitz trifft Luhmann
Jedoch verliert der ‚politische Krieg’ gegenüber dem ‚Reagenzglaskrieg’ nicht gänzlich die Eigenschaft der Komplexität – diese wird lediglich geringer. Denn auch im ‚politischen Krieg’ hat man es mit einem „lebendigen, reagierenden“ (Clausewitz 1980: 303, H. i. O.) Gegner zu tun. Dies führt dazu, dass die Interaktionen im Wesentlichen schwer kalkulierbar bleiben (vgl. auch Clausewitz 1980: 288-289) – und eben dies ist das definitorische Merkmal von komplexen Systemen nach Perrow. Im ‚politischen Krieg’ treten so genannte „Friktion[en]“ (Clausewitz 1980: 261-264, H. d. V.) auf. Der Begriff der „Friktion“ bezeichnet das Phänomen, dass kleine Fehler in komplexen Organisationen sich aufgrund dieser Komplexität über die Organisationsstruktur fortpflanzen und verstärken können und – im Extremfall – zur völligen Lähmung der gesamten Organisation führen können (Clausewitz 1980: 261-264; Beyerchen 2007, 1992; Watts 2004). Dies stellt keinen Widerspruch zu Perrows Befund dar, dass sich lose gekoppelte Systeme durch besondere Stabilität und einen geringen Grad der Fehlerübertragung über die „Glieder“ (Clausewitz 1980: 191, H. i. O.) auszeichnen. Denn der ‚politische Krieg’ ist im oberen Teil des Feldes ‚lose, unerwartbar’ einzuordnen (vgl. Abbildung 14, oben, S. 162, unten rechts): Es müssen die Gefechte doch zeitlich und räumlich eng aufeinander abgestimmt werden.113 Damit weist der ‚politische Krieg’ noch eine verhältnismäßig enge Bindung zwischen seinen Elementen auf – Wirkungen übertragen sich also durchaus über die Elemente des Systems (in Luhmanns Terminologie: Es findet keine „Interdependenzunterbrechung“ (2004: 171) statt).114 Da Clausewitz überhaupt erst im Modell des ‚politischen Krieges’ Faktoren einführt, die die Dynamik der Interaktion bremsen (wie z. B. menschliche Schwäche), kann auch hier erst Friktion entstehen und sich fortpflanzen. Kurz: In beiden Modellen ist die Kopplung eng genug, dass Wirkungen sich prinzipiell „über alle Glieder [verteilen]“ (Clausewitz 1980: 277) können. Eine alternative 113 Perrow ordnet „Military Adventures“ ebenfalls im oberen Drittel der eng gekoppelten, komplexen Systeme an (1984: 97). 114 Die Enge der Kopplung kann indessen noch weiter abnehmen. Dies ist der Fall im kleinen Krieg, den Clausewitz definiert als den „Gebrauch kleiner Truppenabtheilungen [sic]“ (1966a: 231). Da diese Truppenabteilungen und ihre Gefechte eigenständiger sind und weniger Koordination bedürfen, hat der kleine Krieg nach Clausewitz einen „sonderbaren Charakter“ (1966a: 237-239), für ihn gelten also eigene Prinzipien (vgl. auch Beckmann 2008a: 32-33). Es lässt sich folglich ein dritter Typ des Krieges – Kriege der Dritten Art (zu diesem Begriff vgl. auch Holsti 1996: 19-40) – in die vorhandene Typologie einfügen, der sich durch noch losere Kopplung und noch geringere Interaktionskomplexität als der ‚politische Krieg’ auszeichnet (‚KK’ in Abbildung 14, oben, S. 162). Nach Perrow (1984: 91-92) geht damit zwar eine geringere Output-Effizienz, jedoch auch geringere Friktion und höhere Stabilität des Systems einher. Dieser Gedanke lässt sich für Analysen der Guerillakriegführung bzw. lose organisierter Terrornetzwerke fruchtbar machen (vgl. unten, Abschnitte 5.1 und 5.2).
4.3 Übertragung des Zweck/Mittel-Schemas auf das ‚Modell strategischen Handelns’
165
Erklärung für Friktion im ‚politischen Krieg’ liefert Perrows Ergebnis, dass niedrigere Komplexität eines Systems (= höherer Grad der Erwartbarkeit der Interaktionen) mit einer geringeren „Output-Effizienz“ erkauft werden muss (1984: 91-92). Der ‚politische Krieg’ weist einen geringeren Grad Komplexität auf als der ‚Reagenzglaskrieg’. Die damit einhergehende geringere „OutputEffizienz“ drückt sich demzufolge in Clausewitz’ Modell im Auftreten von Friktionen aus. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das idealtypische Modell des ‚Reagenzglaskrieges’ auch aus der Perspektive der Systemtheorie von Perrow bereits die zentralen Merkmale des Krieges vorwegnimmt – nämlich vor allem das Merkmal der geringeren Erwartbarkeit der gegenseitigen „Wechselwirkung“ (Clausewitz 1980: 194) aufgrund des feindlichen Gegenhandelns und das hieraus folgende Eskalationspotenzial des Krieges. Krieg bildet nach Clausewitz niemals ein kalkulierbares, „lineares System“ (Perrow 1984: 78), sondern ist stets von der Unerwartbarkeit der Interaktionen geprägt! Im ‚politischen Krieg’ kommen zwar Faktoren ins Spiel, die die Eskalation mäßigen. Trotz loserer Kopplung ist jedoch auch hier noch genug von der Dichte des ‚Reagenzglaskrieges’ übrig geblieben, dass eine Fortpflanzung von Fehlern über die ‚Glieder’ zur Lähmung von Teilen der Organisation führen kann. Zwar gibt es in der Realität weder den ‚Reagenzglaskrieg’ noch den ‚politischen Krieg’ in Reinform. Jedoch können die systemtheoretischen Konzepte der komplexen bzw. linearen Interaktion (Abbildung 14, oben, S. 162, horizontal gelesen) und der engen bzw. losen Kopplung (Abbildung 14, vertikal gelesen) genutzt werden, um einen Schätzwert für das Eskalationspotenzial eines Krieges zu erhalten. Dazu können tatsächliche Kriege auf einer Skala zwischen der Reinform eines Krieges der Ersten Art und der Reinform eines Krieges der Zweiten Art angeordnet werden. Dazu müssen v. a. die räumliche und zeitliche Gedrängtheit bzw. Entzerrtheit der Handlung analysiert werden. Je ähnlicher ein Krieg dem Modell des ‚Reagenzglaskrieges’ wird, desto stärker muss in der strategischen Anwendung des Zweck/Ziel/Mittel-Schemas von übermäßigen Reaktionen des Gegners und insgesamt von Eskalationstendenzen der Gewalt ausgegangen werden. Merkmale einer solchen Entwicklung können sein: räumliche Enge der Handlung (a), Rückkopplungsschleifen (b), Informationsmangel (c) (Hinweise auf komplexe Interaktionen in einem System); zeitliche Dichte der Handlung (d), vermeintliche oder tatsächliche Verengung der Handlungsoptionen auf eine oder wenige Handlungssequenz(en) (e) bzw. auf ein oder wenige Mittel (f) (Hinweise auf enge Kopplung in einem System). Beispielsweise können die genannten Prozesse der Globalisierung (vgl. oben, S. 159) zu einer starken Kompression des Zeit- und des Raumfaktors im Krieg führen (einhergehend mit einer gleich-
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4 Clausewitz trifft Luhmann
zeitigen Erhöhung der Komplexität der Interaktion und der Enge der Kopplung). Ein weiteres Beispiel wäre eine hoch ideologisierte staatlich verfasste Gesellschaft, in der keine Abschwächung der Gewalt durch gesellschaftliche Gegenströmungen zu erwarten ist. Darüber hinaus kann das Konzept auch zur Bestimmung variierender Bedingungen für Entscheidungsabläufe innerhalb eines Krieges genutzt werden. Denn Clausewitz weist sehr deutlich darauf hin, dass in Kriegen sich Perioden der „Spannung“ und Perioden der „Ruhe“ abwechseln (1980: 414-416). In der Sprache der Systemtheorie unterscheidet er durch diese Begriffe auch innerhalb von Kriegen Perioden höherer bzw. niedrigerer Komplexität von Interaktionen bzw. enger oder loser Kopplung. Entsprechend ist in Perioden der „Spannung“ mit heftigeren, weniger vorhersagbaren Reaktionen des Gegners zu rechnen als in Perioden der Ruhe (Clausewitz 1980: 415). Clausewitz gibt ein eindrückliches Beispiel, um diesen Gedanken zu erläutern: „In einem Landstrich, den uns der Feind überläßt, weil er ihn nicht verteidigen kann, dürfen wir uns ganz anders niederlassen, als wenn der Rückzug des Feindes bloß in der Absicht geschah, die Entscheidung unter besseren Umständen zu geben“ (1980: 415-416). Den Typen des Krieges der Ersten, Zweiten und Dritten Art (vgl. oben, Fn. 114, S. 164) lassen sich idealtypisch (!) drei Grundstrategien zuordnen: die Niederwerfungsstrategie, die begrenzte Angriffs- bzw. Verteidigungsstrategie und die Ermattungsstrategie.115 Im Licht der Systemtheorie erscheinen diese Grundstrategien als abstrakte Zweckprogramme. Denn sie enthalten ein vorgefasstes Repertoire von Zielen und Mitteln für einen abstrakt formulierten, also generalisierbaren Zweck. Im Unterschied zu Routinen gehen sie jedoch erstens von der gewünschten Wirkung des eigenen Handelns aus und erfordern zweitens eine Durchführung der Zweck/Ziel/Mittel-Analyse unter Berücksichtigung der empirisch vorgefundenen Rahmenbedingungen, bevor auf ihrer Grundlage entschieden werden kann (vgl. Luhmann 1973: 238-239; vgl. auch oben, S. 39-40). Die idealtypische Strategie in Kriegen der Ersten Art (‚Reagenzglaskrieg’) ist die so genannte Niederwerfungsstrategie. Der Zweck besteht in der völligen politischen Unterwerfung des Gegners, das übergeordnete Ziel ist die Wehrlosigkeit, die Mittel sind die Vernichtung der Streitkraft (= Zustand, in dem sie den Kampf nicht mehr fortsetzen kann), die Eroberung des Territoriums sowie die Bezwingung des gegnerischen Willens, so dass dieser einen Friedensvertrag unterzeichnet (Clausewitz 1980: 214-216, vgl. auch 975-983, 1009-1040). Die idealtypische Strategie in Kriegen der Zweiten Art (‚politischer Krieg’) ist die Strategie des begrenzten Angriffs- bzw. Verteidigungskrieges. Hier besteht das übergeordnete Ziel nicht in der Wehrlosigkeit des Gegners, sondern darin, 115 Zu den Begriffen der „Niederwerfungsstrategie“ und der „Ermattungsstrategie“ vgl. Delbrück 2000: 582-589; vgl. auch Stahel 1996: 135-141.
4.4 Zwischenfazit
167
diesem die Unwahrscheinlichkeit bzw. den zu hohen Preis seines Erfolges vor Augen zu führen (Clausewitz 1980: 216-218, vgl. auch 984-986, 999-1008). In der Sprache der Systemtheorie geht es darum, die Zweck/Ziel-Kalkulation des Gegners zu beeinflussen. Entweder soll dieser zum Schluss kommen, dass die Wahrscheinlichkeit (‚p’, vgl. Abbildung 13, oben, S. 148), dass sein Ziel den Zweck erreicht, zu gering ist. Oder dieser soll kalkulieren, dass diese Wahrscheinlichkeit zwar groß genug ist, aber die Kosten (im weitesten Sinne) der Mittel den Zweck nicht mehr rechtfertigen können – und dieser daher aufgegeben werden muss. Die Mittel lassen sich nun differenzieren nach diesen beiden Zielen. Folgende Mittel sind geeignet, dem Gegner die Unwahrscheinlichkeit seines Erfolges zu demonstrieren: die – diesmal dosierte – Vernichtung seiner Streitkräfte bzw. Eroberung seiner Provinzen und solche Maßnahmen, die eine „unmittelbare politische Beziehung“ haben, also nicht-militärische Mittel, die direkt die Erreichung des Zwecks bewirken (Clausewitz 1980: 218-219). Die ‚Preiserhöhung’ für den Gegner erreicht man hingegen durch: die Verminderung seiner Streitkräfte und seines Territoriums, die Invasion seines Territoriums (= Besatzung ohne Eroberungsabsicht, um Schaden anzurichten), Maßnahmen, die seinen Schaden vergrößern, und schließlich die „Ermüdung“ des Gegners, durch eine gezielte zeitliche Verlängerung des Krieges (Clausewitz 1980: 219-222). In der idealtypischen Strategie in Kriegen der Dritten Art emanzipiert sich das geschilderte Teilziel der ‚Preiserhöhung’ für den Gegner zum alleinigen Ziel der Handlung. In dieser so genannten Ermattungsstrategie wird v. a. das geschilderte Prinzip der Überlegenheit der Verteidigung genutzt, um den Gegner durch eine gezielte Verlängerung der Dauer der Handlung zur Aufgabe seines Zwecks zu bringen. Hier liegt dann auch die inhärente Grenze dieser Strategie. Sie kann nur negative Zwecke erreichen, d. h. den Gegner zur Aufgabe seines Zwecks bringen, positive Zwecke kann sie hingegen in ihrer Reinform nicht erbringen (Clausewitz 1980: 220-221). Dies ist der Grund, weswegen Mao in seinen strategischen Entwürfen eine Ermattungsstrategie nur als erste Phase des Krieges konzipiert, die dann von einer Strategie des zunächst begrenzten Angriffskrieges abgelöst wird (Heuser 2005: 176-178). 4.4 Zwischenfazit Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich im Zweckprogramm des ‚politischen Krieges’ der grundsätzliche Ablauf der Zweck/Ziel/MittelKalkulation nicht geändert hat. Doch dämpft die Einführung der Zeit deutlich die Ungewissheit der Akteure im ‚politischen Krieg’ gegenüber denen im ‚Reagenz-
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4 Clausewitz trifft Luhmann
glaskrieg’. Denn im Zeitverlauf können Kriegsakteure – abgesehen von ggf. vorhandenen Erfahrungen aus der Vergangenheit – Beobachtungen darüber machen, wie weit der Feind bereit ist, in seinem Mitteleinsatz zu gehen. Außerdem ist eine Planung für die Zukunft Grund genug, nicht alle Mittel auf einmal aufzubieten. Dies führt dazu, dass bei der strategischen Zweck/Ziel- bzw. Ziel/MittelKalkulation zur Bestimmung des eigenen Mitteleinsatzes im ‚politischen Krieg’ der künftige gegnerische Mitteleinsatz nach Wahrscheinlichkeiten geschätzt werden muss, um ihn möglichst in das eigene Kalkül mit einzubeziehen.116 Man kann bei dieser Schätzung das Spektrum der Mittel, die man von Gegner erwarten kann, eingrenzen, wenn man zuvor die Rahmenbedingungen seines Handelns bestimmt: „Aus dem Charakter, den Einrichtungen, dem Zustande, den Verhältnissen des Gegners wird jeder der beiden Teile nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen auf das Handeln des anderen schließen und danach das seinige bestimmen“ (Clausewitz: 199). Diese Notwendigkeit der Schätzung des Gegenhandelns – zusammen mit der Bedeutung psychischer Faktoren und der gesteigerten Ungewissheit in der Kriegssituation – ist auch ein wichtiger Grund dafür, warum Clausewitz für strategische Entscheidungen die flexibleren Zweckprogramme gegenüber Routinen vorzieht, denn: „Die Wirkung, welche irgendeine Maßregel auf den Gegner hervorbringt, ist das Individuellste, was es unter allen Datis des Handelns gibt“ (1980: 288). Im Gefecht sollte der gegnerische Mitteleinsatz dagegen leichter einzuschätzen sein, so dass man hier auch auf Routineentscheidungen zurückgreifen kann (Clausewitz 1980: 307-309). Der zweite wichtige Unterschied gegenüber dem ‚Reagenzglaskrieg’ besteht darin, dass durch das komplexere, mehrgliedrige und mehrstufige Zweckprogramm im Modell des ‚politischen Krieges’ Entscheidungen über das strategische und dann das taktische Subsystem in mehrere Entscheidungsschritte – die je aus Zweck/Ziel- bzw. Ziel/Mittel-Kalkulationen bestehen – zerlegt werden, so dass eine schrittweise Reduktion von Komplexität erfolgen kann, bis hin zur taktischen „Operationalisierung“ (Luhmann 1973: 314-316) bzw. Implementation des Handelns. Das ‚Modell strategischen Handelns’ kann einerseits zur Planung von Entscheidungen über ad hoc festgelegte politische Zwecke eingesetzt werden. Andererseits kann es um vorgefasste abstrakte Zweckprogramme ergänzt werden (vgl. ausführlicher oben, S. 53-54). Solche entwickelt Clausewitz im Kapitel „Zwecke und Mittel im Krieg“ (1980: 214-230) sowie – in Form von Kriegsplänen – in Buch VIII (4. bis 5. und 7. bis 9. Kapitel) „Vom Kriege“. Wie oben gezeigt 116 Aus diesem Gedanken von Clausewitz folgt die Relevanz der modernen Zukunftsforschung für strategische Fragen (vgl. Thiele 2009; Brust/Föhrenbach/Kaestner 2006).
4.4 Zwischenfazit
169
wurde, entwirft er für bestimmte Typen positiver wie negativer politischer Zwecke Optionen für Kriegsziele und Optionen für Mitteleinsätze. Es handelt sich hierbei – in der Sprache der Systemtheorie – um abstrakte Zweckprogramme. Es sind von der Realität abstrahierende, gewünschte Wirkungen des Handelns samt einem Bündel vorgefasster Mittel, aus denen Entscheider auswählen bzw. neue Mittel hinzudenken können. Im Gegensatz zu Routinen sind sie nicht in der Form von Automatismen des Handelns oder „algebraische[n] Formel[n] für das Schlachtfeld“ (Clausewitz 1980: 291) programmiert. Wollte man sie zur Behandlung aktueller strategischer Fragen einsetzen, so müsste stets das Zweck/Ziel- bzw. Ziel/Mittel-Schema unter Einbeziehung der zuvor identifizierten relevanten Rahmenbedingungen der heutigen Zeit durchgeführt werden. Das entwickelte Modell kann auch in seiner systemtheoretischen Auslegung sowohl für die Planung künftigen Handelns als auch für die wissenschaftliche Analyse vergangenen Handelns eingesetzt werden. Was die Analyse vergangenen Handelns angeht (vgl. ausführlich oben, Abschnitt 2.9), so liefert die systemtheoretische Interpretation die theoretische Fundierung dieser Methode: Es handelt sich um die rückwirkende Rekonstruktion und Kritik eines Entscheidungsprozesses, die vom empirisch beobachtbaren Mitteleinsatz und von den ebenfalls empirisch beobachtbaren Rahmenbedingungen ausgeht. Bei Analyse und Planung muss nun die „soziologische Optik“ (Luhmann 1973: 33) der Programmierung des Entscheidungsprozesses beachtet werden (vgl. hierzu ausführlicher ‚Programmaufbau: Kontrolle’, oben, S. 62). Für die Analyse bedeutet dies einen neuen Komplex von Fragestellungen. Es muss nun auch nach dem Kriegsbild gefragt werden, welches die Gegner ihrem Handeln zugrunde legen. Auf der Basis dieses Wissens kann nach der Art und Weise der Programmierung des Entscheidungsvorgangs gefragt werden. Überwiegen Routinen oder Zweckprogramme? Wie sind diese jeweils beschaffen? Konkret muss einerseits die Kommandostruktur bzw. Befehlskette und andererseits die organisatorische Struktur von Kriegsparteien unter diesen Gesichtspunkten empirisch analysiert werden.
5 Typen von Interaktionssystemen
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5 Typen von Interaktionssystemen
Zu den wichtigsten strategischen Herausforderungen zählen heute die so genannten „neuen Kriege“ (Münkler 2002; Kaldor 2000; zur Kritik an diesem Konzept vgl. Langewiesche 2009; Pradetto 2004). Es handelt sich dabei nicht um zwischenstaatliche Kriege, sondern um lang schwelende, häufig besonders brutal geführte, innerstaatliche Kriege, bei denen es oftmals um die Frage nach der Regierungsmacht bzw. der Gestaltung der sozialen Ordnung innerhalb eines Territoriums geht (Olson 1995). Sie finden – zumindest aus einer westlich geprägten Perspektive – an der Peripherie des heutigen Staatensystems, v. a. in Afrika, Asien und Lateinamerika statt. Diese räumliche Verteilung sowie die Tatsache, dass diese Konflikte die heute vorherrschende Kriegsform darstellen, hat die quantitative Kriegsursachenforschung nachgewiesen (vgl. HIIK 2009; AKUF 2008). Als ein aus westlicher Sicht besonders dringliches strategisches Problem wird – zumindest seit der jüngsten US-Intervention im Jahr 2001 – der Krieg in Afghanistan wahrgenommen. Ausgestattet mit einem Mandat der UNO versucht dort eine große internationale Koalition – seit dem August 2003 unter der Federführung der NATO – den afghanischen Staat zur Durchführung seiner hoheitlichen Funktionen zu befähigen. Auch dies ist typisch für die ‚neuen Kriege’: Häufig stehen den nicht-staatlichen Gewaltakteuren große internationale Koalitionen gegenüber (Langewiesche 2009; Olson 1995) – was die „Asymmetrie“ (vgl. Mack 1975) zwischen den Kriegsparteien noch steigert. Ein bedeutender Strang der aktuellen Kritik an der Theorie von Clausewitz setzt eben hier an: Da Clausewitz in den Kategorien des zwischenstaatlichen Krieges gedacht habe, seien seine theoretischen Ausführungen für die geschilderten heutigen Probleme im besten Fall irrelevant – im schlimmsten Fall sogar gefährlich irreführend (Creveld 2001). Die Ausführungen im vorliegenden Kapitel gehen von der gegenteiligen These aus, nämlich von der These, das jede Zeile im Hauptwerk „Vom Kriege“ von Clausewitz (1980) in einer bedeutenden Weise vom so genannten „asymmetrischen Konflikt“ (Mack 1975) inspiriert ist. Denn zu Clausewitz’ Lebzeiten hatte eine grundlegende „Revolution in Military Affairs“ (zum Begriff vgl. Hansel 2011) stattgefunden, die im Kern darin bestand, dass Prinzipien des asymmetrisch angelegten, damals so genannten „kleinen Krieges“ in die Führung des zwischenstaatlichen Krieges aufgenommen wurden (Rink 2006: 381). Diese These wird die nachfolgenden Untersuchungen
R. Beckmann, Clausewitz trifft Luhmann, DOI 10.1007/978-3-531-92730-5_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Typen von Interaktionssystemen
anleiten. Wie sich zeigen wird, werden sie von der bisher erarbeiteten sozialwissenschaftlichen Analyse von Clausewitz’ Theorie in größtem Maße profitieren. Auch zum Gegenhandeln einer Allianz oder Koalition, d. h. zur Allianzkriegführung, hat Clausewitz enorm viel zu sagen. Diesem Problemfeld wird sich die vorliegende Untersuchung in Abschnitt 5.3 zuwenden. Gemäß der systemtheoretischen Analyse problematisiert Clausewitz in seiner Kriegstheorie das Handeln von organisierten Sozialsystemen (= Handlungssystemen) in ihrer äußerst komplexen gesellschaftlichen wie internationalen Umwelt. Der Bezug auf organisierte Sozialsysteme öffnet die Theorie für die Analyse des Handelns ganz unterschiedlicher Akteure. Erfasst werden können so unterschiedliche Organisationen wie entwicklungs- oder sozialpolitische Nichtregierungsorganisationen, private Militärunternehmen, Guerillagruppen oder Terrornetzwerke, Staaten, internationale Institutionen oder Allianzen. Um in ihrer Umwelt handlungsfähig zu bleiben, müssen sich diese Organisationen verschiedener Instrumente zur Reduktion von Komplexität auf ein erträgliches Maß bedienen. Eines dieser Instrumente ist Clausewitz’ „Methode“ (heute: Routine), ein anderes das Zweckhandeln. Versucht eines der organisierten Sozialsysteme das Handeln eines anderen durch Einsatz von Gewalt zu beeinflussen und verteidigt sich dieses ebenfalls gewaltsam, so entsteht zwischen ihnen ein neues System mit besonderen Eigenschaften. Dieses „System des Krieges“ (Clausewitz 1980: 474) ist im vorigen Kapitel noch mit den an Clausewitz angelehnten Begriffen des Krieges der Ersten, Zweiten und Dritten Art beschrieben worden. Da in diesem Kapitel eine weitere Differenzierung des „Systems des Krieges“ (Clausewitz 1980: 474) angestrebt wird, soll hier nun ein weiterer Begriff der Systemtheorie Luhmanns eingeführt werden, nämlich der des „Interaktionssystems“ (1975, in Anlehnung an Goffman 1969). Er ist mit denen im letzten Kapitel eingeführten Begriffen von Perrow kompatibel und ist insofern präziser, dass er eine explizite Integration der Analyseebenen der Organisation (Kriegspartei) und des Krieges ermöglicht. Für Luhmann sind Interaktionssysteme ein Unterfall von „sozialen Systemen“. „Von sozialen Systemen kann man immer dann sprechen, wenn Handlungen mehrerer Personen sinnhaft aufeinander bezogen werden und dadurch in ihrem Zusammenhang abgrenzbar sind von einer nichtdazugehörigen Umwelt ... Soziale Systeme konstituieren sich durch Prozesse der Selbstselektion ...“ (Luhmann 1975: 9-10). Interaktionssysteme entstehen dadurch, dass „Anwesende sich wechselseitig wahrnehmen“ (Luhmann 1975: 10). Das Selektionsprinzip und gleichzeitig das Abgrenzungsprinzip definiert Luhmann als Anwesenheit (1975: 10). Wegen dieser einfachen Prinzipien der Systembildung zeichnen sich Interaktionssysteme durch rasche Bildung und Zerfall aus (Luhmann 1975: 1011). Dadurch unterscheiden sie sich von Organisationssystemen, „die die Mit-
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gliedschaft an bestimmte Bedingungen knüpfen“ (Luhmann 1975: 12) und noch mehr von Gesellschaftssystemen, der Menge „aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen“ (Luhmann 1975: 11). Der Begriff des Interaktionssystems eignet sich deswegen besonders gut für die vorliegende Arbeit, da er die Ebenen des wechselseitig bezogenen Handelns (‚Interaktion’) und der daraus entstehenden Systemstrukturen (‚System’) verbindet. Dies korrespondiert mit der hier gebrauchten Idee, dass Handlungssysteme handeln und durch ihr wechselseitig aufeinander bezogenes Handeln ein weiteres System mit neuen Eigenschaften (d. h. ein emergentes System, vgl. Becker/Reinhardt-Becker 2001: 26) entsteht. Interaktionssysteme im eigentlichen Sinne bilden sich im Krieg während der Kampfhandlungen. Es handelt sich um einen Spezialfall von Interaktionssystemen, nämlich um Gegenhandlungssysteme: die wechselseitige Bezogenheit von Handlung und Gegenhandlung zieht die Grenze des Systems zu seiner Umwelt. Die Einheit eines Gefechts entspricht der Einheit eines Interaktionssystems. Dies gilt auch dann, wenn Gefechte antizipativ, d. h. ohne Kampf, verloren gegeben werden, denn es ist die antizipierte Anwesenheit und Handlung des überlegenen Gegners, die handlungsleitend wird. Den ganzen Krieg als Interaktionssystem zu verstehen, ist bereits eine Ausdehnung des Begriffs. Doch nicht ohne Grund erscheint im Grundbegriff des Krieges (‚Reagenzglaskrieg’) bei Clausewitz der Krieg als einheitliche Kampfhandlung – als ein Interaktionssystem. Außerhalb dieses Begriffs liegende Faktoren, nämlich die soziopolitischen Rahmenbedingungen des Krieges, lassen die Kampfhandlung in mehrere Gefechte zerfallen (Clausewitz 1980: 192-193, 422). Somit ist es Aufgabe der Strategie, Interaktionssysteme so zu koordinieren, dass eine einheitliche Wirkung auf den Gegner entsteht. Obgleich auf der strategischen Ebene keine faktische Interaktion von Angesicht zu Angesicht stattfindet, liegt doch auch allen strategischen Handlungen die Vorstellung von individuellen Handlungen bzw. Gegenhandlungen zugrunde. Wie oben (S. 159) dargelegt, unterscheidet Clausewitz zwei Typen von Interaktionssystemen im Großen, nämlich Kriege der Ersten und Kriege der Zweiten Art, denen ich einen weiteren Begriff, Kriege der Dritten Art, hinzugefügt habe (vgl. Fn. 114, S. 164). Die Art des Interaktionssystems, das die Akteure durch ihr Handeln schaffen, stellt eine zentrale Rahmenbedingung des Handelns dar. Ebenso wichtig für das Handeln ist jedoch die Kenntnis der soziopolitischen Rahmenbedingungen, d. h. der eigenen und gegnerischen ökonomischen und sozialen Bedingungen sowie der regionalen und internationalen Machtverhältnisse. Das jeweilige Interaktionssystem kann nur im Zusammenhang der Kenntnis der soziopolitischen Rahmenbedingungen richtig verstanden werden – begrifflich sind diese Rahmenbedingungen dem Faktor ‚Art des Interaktions-
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5 Typen von Interaktionssystemen
systems’ hierarchisch übergeordnet. Nach der hier zugrunde gelegten Theorie hat eine künftige empirische Analyse zwei Analyseebenen: die Analyseebene der Organisation (samt ihrer soziopolitischen Rahmenbedingungen) und die des Interaktionssystems. Die Art des Interaktionssystems, das sich zwischen den Akteuren entfaltet, lässt sich durch Perrows Begriffspaare der Linearität (= Erwartbarkeit) bzw. Komplexität (= Unerwartbarkeit) der Interaktionen (= Wechselwirkungen) sowie der losen bzw. engen Kopplung beschreiben (vgl. oben, S. 159-166). Die Interaktionen (Clausewitz: „Wechselwirkung“, 1980: 194) zwischen den Elementen eines Systems (hier: Handlungen) werden umso komplexer (= unerwartbarer), (a) je enger der Raum ist, in dem sie stattfinden, (b) je größer die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Rückkopplungsschleifen (Perrow: „feedback-loops“, 1984: 86) bzw. eigendynamischen sozialen Prozessen117 ist sowie (c) je größer der allgemeine Informationsmangel innerhalb des Systems ist (Perrow 1984: 85-86). Die Kopplung der Elemente eines Systems ist umso enger (und damit das System starrer, weniger flexibel und insofern weniger stabil und erholungsfähig), (d) je größer die Bedeutung des Timings in einem System ist, (e) je weniger alternative Handlungssequenzen denkbar sowie (f) je weniger alternative Mittel vorhanden sind (Perrow 1984: 93-94). Kriege der Ersten Art sind hochkomplex und eng gekoppelt – dementsprechend weisen sie eine enorme Dynamik der wechselseitigen Handlungen bzw. ein enormes Eskalationspotenzial auf. Kriege der Zweiten Art sind weniger komplex und loser gekoppelt, so dass in ihnen das Eskalationspotenzial tendenziell abnimmt. Jedoch lassen sie auch Raum und Zeit für Faktoren, die die Eskalation begrenzen können (etwa menschliche Schwächen im weitesten Sinne). Dadurch dass sie immer noch relativ eng gekoppelt sind, entstehen Friktionen. Auf der Ebene des Interaktionssystems drücken sich diese im reduzierten Eskalationspotenzial aus, auf der Ebene der an der Interaktion beteiligten Handlungssysteme in einer Fehlerübertragung über die Glieder der Organisationen, die zu Störungen führen kann.
117 Vgl. zu diesem Begriff oben, S. 114.
5.1 Der kleine Krieg
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In idealtypischen Kriegen der Dritten Art nehmen die Interdependenzen (= Enge der Kopplung) zwischen den Gefechtshandlungen noch weiter ab; im selben Maße sinkt die Interaktionskomplexität. Doch auch diese Systeme überschreiten nicht die Schwelle zum linearen System, da durch das Gegenhandeln eines intelligenten Gegners stets ein bestimmtes Maß an Unerwartbarkeit der Wechselwirkungen im Interaktionssystem erhalten bleibt (vgl. oben, S. 159166). 5.1 Der kleine Krieg Gewappnet mit diesem begrifflichen Apparat, kann man nun eine sinnvolle Untersuchung der Begriffe des „kleinen Krieges“ bzw. der „Volksbewaffnung“ beginnen, die als „theoretische Anknüpfungspunkte bei Clausewitz zur Analyse von Strategien nicht-staatlicher Akteure“ (Beckmann 2008a) dienen können. Der so genannte „kleine Krieg“ tritt in Europa im 18. Jahrhundert in Erscheinung. Eine wichtige Rolle spielte er etwa im Österreichischen Erbfolgekrieg (17401748) in den Kämpfen zwischen Preußen und Österreich. Wie Martin Rink zeigt, wies dieser Krieg eine „doppelte Asymmetrie“ auf (2006: 375). Die erste Asymmetrie bestand zwischen dem relativ kleinen Königreich Preußen, welches dem vergleichsweise mächtigen Kaiserreich Österreich gegenüberstand. Die zweite Asymmetrie verlief gegenläufig. Die österreichischen Truppen bedienten sich der Mittel des kleinen Krieges. Dies bedeutete den systematischen Einsatz von für diesen Zweck spezialisierten kleinen Truppenabteilungen, die in der Peripherie der großen Armeen Beobachtungsoperationen sowie diverse Operationen zum „[H]arcelieren“ (d. h. „Beunruhigen, Stören, Ermüden“, Rink 2006: 369) des Feindes durchführten (Heuser 2010b: 141-149). Bei den Protagonisten dieses kleinen Krieges handelte es sich auf österreichischer Seite in der Regel um Husarenregimenter aus Osteuropa, die ‚von Haus aus’ die notwendigen Kampfeigenschaften dieser frühen ‚Spezialtruppen’ mit sich brachten, nämlich insbesondere Kreativität und Eigenständigkeit (daher spricht man im 18. Jahrhundert auch vom „Husarenkrieg“, Rink 2006: 363). Im Verlauf des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) übernahm Preußen die Technik des kleinen Krieges, so dass Friedrich am Ende des Krieges über sich selbst scherzte: „Ich habe den Krieg als General begonnen; beenden werde ich ihn als Parteigänger [= Anführer eines kleinen Truppenverbandes, R. B.]“ (zitiert nach Rink 2006: 377). Clausewitz behandelte dieses spezifische Mittel in allen Einzelheiten in seinen „Vorlesungen über den kleinen Krieg“, die er zwischen 1810 und 1811 an der preußischen Kriegsakademie in Berlin hielt. Sein Vorlesungsmanuskript ist vollständig überliefert (Clausewitz 1966a). In seiner Vorlesung behandelt
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5 Typen von Interaktionssystemen
Clausewitz, unter Zuhilfenahme einer großen Menge von Fachliteratur seiner Zeit, den kleinen Krieg als rein militärisch-taktisches Phänomen (Hahlweg 1980b: 351; Schmitt [1963] 1992: 49): „Man kann also sagen die Strategie des kleinen Krieges ist ein Gegenstand der Taktik“ (1966a: 237). In allen Einzelheiten beschreibt er die diversen Zwecke, die kleine Truppenabteilungen in der Peripherie der großen Armeen erfüllen können und die Mittel, die sie dazu einsetzen müssen: Vorpostendienst, Avantgarde, Defensiv-Posten, Patrouillen und Rekognoszierungen, Überfälle etc. Clausewitz definiert den kleinen Krieg in seinen Vorlesungen als „den Gebrauch kleiner Truppenabtheilungen im Felde. Gefechte von 20, 50, 100 oder 3, 400 Mann gehören, wenn sie nicht Theil eines größeren Gefechts sind, in den kleinen Krieg“ (1966a: 231, H. i. O.). Der so definierte Gegenstand weist „Eigenthümlichkeiten“ auf, „die allgemein sind, d. h. hier so viel als: die sich in den allermeisten Fällen wiederfinden“ (Clausewitz 1966a: 234). Kurz, Clausewitz entwickelt nicht mehr und nicht weniger als eine Theorie des kleinen Krieges i. S. d. Gebrauchs „kleiner Parteien“ (1966a: 230), die in den nachfolgend wiedergegebenen Eigentümlichkeiten enthalten ist: (1) Kleine Truppenabteilungen sind leicht logistisch zu unterhalten; (2) sie können sich leicht verbergen; (3) sie sind besonders beweglich; (4) sie können in der Regel nicht weiter untergliedert werden; (5) je kleiner sie sind, desto weniger sind sie zum Stellungskrieg geeignet; (6) bei ihren Gefechten ist in der Regel Verstärkung einzukalkulieren; (7) ihr Rückzug ist einfach; (8) ihr Einsatz unkomplizierter, ohne große Vorbereitungen; (9) ihre Gefechte können – neben den üblichen Offensiv- und Defensiv-Zwecken – auch reine Aufklärungszwecke haben (1966a: 234-235). Aus diesen theoretischen Überlegungen leitet Clausewitz bestimmte Eigenschaften ab, die die Protagonisten des kleinen Krieges aufweisen müssen, wollen sie erfolgreich sein. Sie müssen in der Lage sein, selbstständiger zu denken, als der normale Soldat, da sie während ihrer Operationen von der Kommunikation zum Befehlshaber abgeschnitten sind und – so würde man heute sagen – auftragstaktisch handeln müssen (Clausewitz spricht vom „Unternehmungs Geist [sic]“ des Husars und Jägers, 1966a: 237). Während in der Linie kämpfende Soldaten dazu trainiert werden müssen, ihren Fluchtinstinkt abzuschalten (Clausewitz 1966a: 238; vgl. hierzu ausführlich Grossmann 2009), sollen die „leichten Truppen“ (Clausewitz 1966a: 238) gleichermaßen von der „höchsten Kühnheit und Verwegenheit ...“ sein und eine „größere Scheu vor Gefahr“ als die Linientruppen aufweisen (Clausewitz 1966a: 237). In Clausewitz’ Worten: Es „respektirt der Husar und Jäger die Gefahr im gewöhnlichen Gefecht mehr als die geschlossenen Truppen dieß thun. Wo es nicht die dringende Nothwendigkeit fordert setzt sich jener derselben nicht aus, er weicht zurük und sucht Schutz, so
5.1 Der kleine Krieg
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oft er kann“ (1966a: 238). Flexibilität und die Eigenschaft, das eigene Handeln selbstständig wechselnden Rahmenbedingungen anzupassen, ist gefragt: „Die höchste Kühnheit und kluge Vorsicht müsse bei ihnen nach den Umständen abwechseln und ein jeder Einzelne muß dazu gleich geschikt seyn“ (Clausewitz 1966a: 238, H. d. V.). Kurz, es kommt beim Führen des kleinen Krieges „auf eine gewisse Kunstfertigkeit, also auf eine Entwicklung und Uebung der natuerlichen Anlagen an, während im großen Kriege mehr große wissenschaftliche und durchgeführte Ansichten herrschen“ (Clausewitz 1966a: 228). Daraus folgt, dass die Ausbildung der Protagonisten des kleinen Krieges ebenfalls mehr in einer Förderung der natürlichen menschlichen Fähigkeiten118 bestehen muss. Doch wieso fordert Clausewitz diese ganz spezifischen Eigenschaften von den Handelnden im kleinen Krieg? Aus systemtheoretischer Perspektive ist die Antwort klar: Das spezifische Interaktionssystem des kleinen Krieges erfordert diese Eigenschaften. Worin jedoch bestehen – systemtheoretisch gesprochen – die Besonderheiten dieses Systems? Um eine bessere Vorstellung von den konkreten Zwecken des kleinen Krieges zu bekommen, lohnt es sich, Werner Hahlwegs klassische Definition, die im Einklang mit der von Clausewitz steht, hier einzufügen: Kleiner Krieg, d. h. Kampf kleiner und kleinster, überall im Lande verteilter, in der Regel im Rücken feindlicher Streitkräfte operierender gemischter Einheiten mit dem Ziel, durch Überfälle, Hinterhalte Schaden und Verwirrung beim Gegner anzurichten, ihn ständige zu beunruhigen, auf die Dauer zu ermüden und zu zermürben, seinen Nachschub an Verpflegungsmitteln und Kriegsmaterial zu stören, kleine feindliche Abteilungen, Kuriere, einzelne Führungspersonen, Stabsquartiere ebenso wie Magazine, Depots zu vernichten, Straßen unpassierbar zu machen, Sabotageakte aller Art zu begehen ... (1967: 9).
Um das Interaktionssystem des kleinen Krieges zu charakterisieren, muss es nach den beiden Gesichtspunkten des Grades der Interaktionskomplexität sowie der Enge der Kopplung untersucht werden (für die Aufschlüsselung ihrer Merkmale (a) bis (c) bzw. (d) bis (f) vgl. oben, S. 174). Um dies tun zu können, ist es sinnvoll, sich zunächst einen idealtypischen kleinen Krieg vorzustellen, bei 118 Jüngere psychologische Forschungen haben gezeigt, dass den so genannten „Bauchentscheidungen“ bestimmte „Faustregeln“ zugrunde liegen, die sich ihrerseits die natürlich „evolvierten Fähigkeiten“ des Gehirns zunutze machen. Bei diesen Fähigkeiten handelt es sich um früh im Prozess der Evolution entstandene, überlebensnotwendige Gehirnfunktionen (z. B. die Fähigkeit einen fliegenden Gegenstand im Auge zu behalten) (vgl. Gigerenzer 2008). Es ist die Fähigkeit nach (nachweislich hocheffektiven) ‚Bauchgefühlen’ handeln zu können, die ihrerseits auf „natuerlichen Anlagen“ (Clausewitz 1966a: 228) beruhen, die Clausewitz beim „Husar und Jäger“ (1966a: 237) fördern würde.
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dem sich zwei Parteien dieses Mittels bedienen (wie in der letzten Phase des Siebenjährigen Krieges (1761-1763) geschehen, Rink 2006: 377). Die Interaktionskomplexität im kleinen Krieg ist vergleichsweise gering. Die räumliche Enge des ‚Reagenzglaskrieges’ findet hier ihren diametralen Gegensatz (a). Die Kampfhandlungen dehnen sich über einen großen Raum aus. Eine Konzentration der Kräfte in einem regelrechten Verteidigungsgefecht muss vermieden werden, da eben dies zum Verlust des kleinen Krieges (und damit zur Auflösung des Interaktionssystems119) führen würde (Clausewitz 1966a: 239). Eine Schwerpunktbildung wird vermieden, in dem die Kampfhandlungen möglichst weit in den Raum hinaus ausgedehnt werden (Clausewitz 1980: 229). Eigendynamische Prozesse entstehen im kleinen Krieg eher nicht (b). Die wechselseitige Steigerung der Gewaltausübung im ‚Reagenzglaskrieg’ ist im kleinen Krieg nicht zu beobachten. Dies liegt zum einen an der fehlenden räumlichen Gedrängtheit der Kampfhandlungen, die die leichten Truppen vermeiden. Vor allem jedoch – und dies greift bereits vor auf das Thema Kopplung – liegt es an den ‚kleinen’ Zwecken, die im kleinen Krieg verfolgt werden. Im kleinen Krieg werden mit den Gefechten entweder defensive (nach Clausewitz sind dies die kleinstmöglichen Zwecke, vgl. oben, S. 98-100 sowie S. 155-156) oder sehr begrenzte – also ebenfalls ‚kleine’ – offensive Zwecke verfolgt: Es kann höchstens darum gehen, den Gegner zu stören. Bei Clausewitz wird der kleine Krieg also nicht über die Asymmetrie im Sinne des Machtunterschiedes definiert: kleiner Krieg heißt Verfolgung ‚kleiner’ Zwecke – und damit: das Nutzen der Überlegenheit der Verteidigung (so auch Daase 2009, 2007). Um diese erreichen zu können, müssen die Protagonisten des kleinen Krieges jedoch auf Geheimhaltung bedacht sein. „Nichts ist so unmännlich wie die Schwatzhaftigkeit“ (Clausewitz 1966a: 397) schreibt Clausewitz in seinem Vorlesungsmanuskript und meint damit die Notwendigkeit der „Heimlichkeit“ (1966a: 397) von Operationen im kleinen Krieg. Hieraus folgt, dass das Interaktionssystem des kleinen Krieges von allgemeinem, wechselseitigem Informationsmangel geprägt ist (c). Es bleibt dadurch komplex und wird nicht zum linearen System (vgl. Abbildung 15, unten, S. 193: ‚KK’ steht für den kleinen Krieg). Was für Aussagen kann man über die Kopplung – also den Grad der Interdependenz zwischen den Gefechten – im Interaktionssystem des kleinen Krieges machen? Das Interaktionssystem im kleinen Krieg ist lose gekoppelt. Dies kann sogar als sein Hauptkennzeichen gewertet werden. Die Bedeutung des Timings der Gefechte ist gering (d). Sie müssen nicht ganz genau in einer zeitlichen Folge geplant werden, um insgesamt die gewünschte Wirkung zu erreichen (vgl. Clausewitz 1980: 957). Im Gegenteil erwächst ihre Wirksamkeit aus einem ge119 Der Wunsch, dies zu vermeiden, ist vorausgesetzt.
5.1 Der kleine Krieg
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wissen Mangel der zeitlichen Abstimmung. Außerdem sind die Handlungssequenzen (e) und Mittel (f) im kleinen Krieg außerordentlich breit gefächert. Im kleinen Krieg können unterschiedlichste Mittel genutzt und auch unkonventionelle Handlungssequenzen beschritten werden. Vielmehr noch: Die Kreativität und Wendigkeit in diesen Dingen ist Basis für die wirksame Führung des kleinen Krieges. Zum Tragen kommen unkonventionelle Mittel wie Verkleidungen oder Brandstiftung eines feindlichen Depots, „indem man eine in Branntwein getränkte Katze anzündete und hineinlaufen ließ“ (Rink 2006: 369).120 Doch was folgt aus diesen Befunden? Der kleine Krieg ist Kriegführung „geringerer Intensität“ (Rink 2006: 376; vgl. auch Creveld 2001). Aus systemtheoretischer Sicht besteht sein wichtigstes Merkmal in der allgemeinen Begrenztheit der durch die einzelnen Gefechte verfolgten Zwecke (= Wirkungen) und infolgedessen der allgemeinen Begrenztheit des möglichen übergeordneten Zwecks (= Gesamtwirkung). Es sind wahrhaft nur ‚Nadelstiche’, die dem Gegner zugefügt werden.121 Es ist dafür jedoch auch nur ein geringes Maß an „Regie“ (Rink 2006: 378) erforderlich, damit diese weit in der Zeit und im Raum verteilten Einzelaktionen eine Gesamtwirkung auf den Gegner haben.122 Aus Sicht der handelnden Organisationen bedeutet dies, dass die opportunistische Wertverwirklichung, die durch die Variabilität der Zwecksetzung ermöglicht wird, im kleinen Krieg besonders weit geht.123 Das übergeordnete Systemerfordernis im 120 Dies findet ein spätes Echo in den Terroristen vom 11. September 2001, die als Reisende ‚verkleidet’ waren, Teppichschneider als Waffen nutzten und vollgetankte zivile Linienflugzeuge zu ‚Raketen’ umfunktionierten. 121 Zur Wiederentdeckung der Kriegführung „geringer Intensität“ im 18. Jahrhundert fand eine gegenläufige Entwicklung statt. Das Spektrum der Intensität von Kriegführung wurde gleichzeitig nach oben erweitert in Gestalt der wachsenden Heeresstärken und insbesondere der napoleonischen „Niederwerfungsstrategie“ (vgl. zu diesem Begriff oben, S. 166-167; Rink 2006: 375-376). 122 Das folgende Zitat von Clausewitz bezieht sich zwar auf die Volksbewaffnung (siehe unten, Abschnitt 5.2). Kleiner Krieg und Volksbewaffnung gleichen sie jedoch strukturell darin, dass ihre (geringeren) Wirkungen weniger Koordination bedürfen: „Aber gerade in dieser Rüksicht ist es ein großer Vorteil unsrer jetzigen Lage, daß wir keines Oberbefehls bedürfen, und daß, wenn in den acht Festungen Leuthe von Entschlossenheit und Ehrgeiz den Befehl haben, die Wirkung des Ganzen sich von selbst macht, ohne daß die für jeden andern Kriege so nöthige Uebereinstimmung in den Maaßregeln und Prezission in der Ausführung der Befehle, worauf wir so wenig rechnen durften, erforderlich ist. Damit ist nicht gesagt, daß in den verschiedenen Provinzen nicht ein Oberbefehlshaber zu ernennen wäre, daß dieser nicht mit einer gewissen Einheit die Streitkräfte seiner Provinz anwenden könnte, sondern es folgt blos daß wenn selbst diese höhern Anforderungen der mili[tärischen] Organisation nicht erfüllt würden, doch nichts Entscheidendes dadurch in der Wirkung verlohren gehen würde, und daß also große Unglüksfälle auf keine Weise zu befürchten sind“ (Clausewitz 1966b: 715-716). 123 Diese opportunistische Wertverwirklichung ist die Stärke des Zweckhandelns. Damit ist gemeint, dass mithilfe von wechselnden Zwecken wechselnde Werte in unterschiedlichen Wert-
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5 Typen von Interaktionssystemen
kleinen Krieg, ausgedrückt durch den übergeordneten Zweck, kann nur in einer relativ eng definierten Wirkung bestehen, nämlich im Stören des Gegners. Das Erzielen dieser übergeordneten Wirkung bedarf relativ geringer Koordination der einzelnen Gefechtswirkungen. Auch sind nicht viele Nebenfolgen der einzelnen Gefechtswirkungen denkbar, die dem Erreichen der Wirkung ‚Stören’ des Feindes Abbruch tun könnten. Aus diesem Grund müssen die Gefechte im kleinen Krieg ebenfalls nur kleine Zwecke erreichen. Das ‚Brennglasprinzip’ des Handelns nach Zwecken, das die Reduktion von Komplexität ermöglicht, kann demnach äußerst konsequent durchgeführt werden. Die kleinen Truppenverbände werden in die Lage versetzt, unter minimaler Beachtung des Gesamtzwecks des Handelns, die vollen Möglichkeiten des Zweckhandelns auszuschöpfen. Viele Nebenfolgen des Handelns werden durch den eng definierten Gefechtszweck effektiv ausgeklammert (bei Luhmann: „neutralisiert“, 1973: 47). Aufgrund der relativen Autonomie der leichten Truppen treten Fehlerübertragungen innerhalb der Organisation (= Friktionen, vgl. ausführlich oben, S. 101 sowie 164-165) höchstens in geringem Maße auf. Dem lose gekoppelten Interaktionssystem entsprechen lose gekoppelte Organisationseinheiten des kleinen Krieges. Dies hat positive Folgen für die Stabilität der Gesamtorganisation. Der Nachteil solcher Strukturen besteht jedoch darin, dass die Mittel zur Erreichung kleiner Gefechtszwecke (= eng definierter Wirkungen) entsprechend technisch schwerer zu finden sind (vgl. Luhmann 1973: 285). Genau aus diesem Grund fordert Clausewitz für die Krieger, die sich in diesem Interaktionssystem bewegen, die geschilderten persönlichen Eigenschaften. Hochkreativ und eigenständig soll der Anführer des Trupps aus Husaren, Jägern oder Tirailleuren unter Berücksichtigung wechselnder taktischer Rahmenbedingungen die richtigen Mittel für seine kleinen offensiven, defensiven oder Aufklärungszwecke finden. Gegen ihn erscheinen die auf konventionelle Kriegführung trainierten Soldaten wie „Automaten“ (Clausewitz 1980: 802; vgl. auch Hahlweg 1967: 10). Die Forderung nach Kreativität der Akteure im kleinen Krieg spiegelt wider, dass diese nicht nach Routinen sondern nach dem Zweck/Mittel-Schema handeln. Die Nachteile des kleinen Krieges liegen auf der Hand. Es können mit ihm sowohl im taktischen Gefecht als auch in der strategischen Gesamtwirkung nur sehr begrenzte Zwecke verfolgt werden. Eine höhere Intensität der Kriegführung kann nur erreicht werden, wenn die Wirkungen gebündelt, die Zwecke also besser aufeinander abgestimmt, die Nebenfolgen genau kalkuliert werden. Genau dies ist der Grund dafür, die Variabilität der Zwecksetzung (und damit die konstellationen im Raum und in der Zeit durch das Handeln realisiert werden können (im Gegensatz zu einer fixen Wertordnung). Ergebnis ist eine große Flexibilität des Handelns (vgl. oben, S. 44).
5.1 Der kleine Krieg
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Möglichkeit der opportunistischen Wertverwirklichung) in anderen (etwa zivilen) Organisationen zugunsten permanenter Zwecksetzungen zu begrenzen. Es handelt sich hier um das in Abschnitt 2.7.1 analysierte Dilemma, welches durch den Wunsch nach variablen Zwecksetzungen auf der einen Seite und dem Systemerfordernis, diesen Zwecksetzungen eine gewisse Permanenz zu verleihen auf der anderen Seite, entsteht. Die notwendige Begrenztheit der strategischen Zwecke im kleinen Krieg erklärt auch, wieso Mao den kleinen Krieg stets nur als Übergangsform betrachtet hat. Um zentral gelenkt einen positiven und damit ‚größeren’ politischen Zweck zu erreichen – nämlich die politische Kontrolle über China – war der Übergang in den ‚politischen Krieg’, d. h. in die konventionelle Kriegführung mit großen Truppenverbänden in offenen, koordinierten Gefechten notwendig (Mao Tse-tung 1966).124 Wie Martin Rink zeigt, entfaltet der kleine Krieg besondere Wirkung in asymmetrischen Konstellationen; das heißt in Konstellationen, wo er gegen eine gegnerische Organisation geführt wird, die auf „Schlagkraft ... hin optimiert“ (2006: 375) worden ist, nämlich auf konventionelle Truppen. Deren erhöhte Schlagkraft wird durch eine Begrenzung der Variabilität der Zwecksetzungen, also eine insgesamt höhere Koordination der Einzelwirkungen, erreicht – und muss stets mit einem Verlust an Flexibilität erkauft werden.125 Denn in demselben Maße, wie die Variabilität der Zwecksetzung begrenzt wird, ist das System auf alternative Entscheidungsverfahren angewiesen – insbesondere auf Routinen (vgl. oben, Abschnitt 2.7.1). Die große „Flexibilität“ und Effektivität (denn Zweckhandeln ist auf die Wirkung, d. h. den Effekt des Handelns hin optimiert!) der kleinen Truppen macht der auf „Effizienz“ getrimmten konventionellen Truppe größte Schwierigkeiten (Rink 2006: 378, H. i. O.).126 Diese Asymmetrie war besonders stark im 18. Jahrhundert ausgeprägt. Die Entwicklung der Organisationsstruktur hinkte den wachsenden Heeresgrößen hinterher, so dass es zu einer „Überdifferenzierung“ der Organisationsstruktur kam, die aus Sicht der leichten Truppen ein ideales Einfallstor waren (Rink 2006: 378). Wieder gilt jedoch, dass 124 Für diesen Hinweis danke ich Thomas Jäger. 125 Die Guerillakrieger können im Gegensatz zum konventionellen Soldaten beispielsweise einfach die Marschrichtung ändern, andere Waffen verwenden oder sich verkleiden. 126 Effektivität ist definiert als „Beurteilungskriterium, mit dem sich beschreiben lässt, ob eine Maßnahme geeignet ist, ein vorgegebenes Ziel zu erreichen. Über die Art und Weise der Zielerreichung werden bei der Betrachtung unter Effizienz-Gesichtspunkten keine Aussagen getroffen“ (Gabler 2004: 782). Effizienz ist hingegen definiert als „Beurteilungskriterium, mit dem sich beschreiben lässt, ob eine Maßnahme geeignet ist, ein vorgegebenes Ziel in einer bestimmten Art und Weise (z. B. unter Wahrung der Wirtschaftlichkeit) zu erreichen“ (Gabler 2004: 783, H. d. V.).
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die Flexibilität durch geringere Wirkung erkauft wird, dass also die Organisation, die sich des kleinen Krieges bedient, nur höchst begrenzte Zwecke erreichen kann. Außerdem muss sie viel Zeit investieren und den Krieg in den Raum ausdehnen (Clausewitz 1980: 229), was eine stärkere Involvierung der Zivilbevölkerung in den Krieg und insgesamt große Belastungen für alle Beteiligten und Betroffenen mit sich bringt. Ein weiterer Nachteil der geringen Koordination im kleinen Krieg besteht darin, dass die Gefahr besteht, dass seine – auf Kreativität und Eigenständigkeit trainierten – Protagonisten zunehmend eigene Zwecke neben dem für den kleinen Krieg definierten Zweck verfolgen oder sogar abtrünnig werden können. Die Militärgeschichte ist voller Beispiele für solche Phänomene (vgl. Rink 2006: 379; Schmitt 1992: 83). All diese Nachteile zusammen genommen sind der Grund dafür, warum der kleine Krieg häufig auf die Peripherie der Hauptkampfhandlungen beschränkt wurde (Heuser 2010b: 145). Das heißt, die entscheidenden Zwecke wurden in den großen Gefechten verfolgt, im kleinen Krieg hingegen nur untergeordnete Nebenzwecke (wie Beobachtung und allgemeine Schwächung und Verunsicherung des Gegners). Die zunehmende intellektuelle Durchdringung des kleinen Krieges im Laufe des 18. Jahrhunderts führte das Bedürfnis herbei, seine Stärken mit denen der effizienteren konventionellen Kriegführung zu verbinden. Wie bereits erwähnt, hatte im Laufe des Siebenjährigen Krieges eine „Re-Symmetrisierung“ (Rink 2006: 375) stattgefunden, insofern dass sich auch die preußischen Truppen des Mittels des kleinen Krieges gegen Österreich bedienten. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden die Taktiken des kleinen Krieges nach und nach in die Doktrinen und Handbücher (vgl. Scharnhorst [1794] (1980)) der regulären Armeen „integriert“ (Rink 2006: 370, 380-381). Dies findet seinen Ausdruck zum einen in der Tatsache, dass Clausewitz 1807/1808 den kleinen Krieg an der preußischen Militärakademie im Rahmen der preußischen Offiziersausbildung lehrte. Zum anderen darin, dass der kleine Krieg in Clausewitz’ Hauptwerk „Vom Kriege“ (1980), welches ja vornehmlich den „großen Krieg“ behandelt (1980: 182), ganz selbstverständlich integriert ist: So finden sich Kapitel über „Avantgarde und Vorposten“ (1980: 532-540) und die „Wirkungsart vorgeschobener Korps“ (1980: 541-546) sowie unzählige Hinweise auf den kleinen Krieg über das ganze Werk verteilt. Doch mit der Integration des kleinen Krieges in die Führung des großen blieb ein zentrales Problem ungelöst: Wie konnten die Effizienz des großen und die Flexibilität des kleinen Krieges miteinander verbunden werden? Die Antwort auf diese Frage zeigt sich exemplarisch an der napoleonischen Kriegführung. Hier wurden Ideen, die in den Jahrzehnten zuvor in der Kleinkriegführung erprobt worden waren, auf die Führung des großen Krieges übertragen (Rink 2006: 381-382). Besonders augenfällig ist die Entwicklung des so
5.1 Der kleine Krieg
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genannten Divisionssystems in Frankreich. Diese moderne Organisationsform des Heeres ermöglichte, große Truppenmassen sehr rasch zu bewegen und so die von Napoleon gewünschte schlagartige Konzentration von großen Kräften auf einen bestimmten Punkt in Zeit und Raum zu erreichen (vgl. Howard 1981: 113117). Diese Organisation „erlaubte nun einer niedrigeren taktischen Ebene die selbstständige Gefechtsführung“ (Rink 2006: 381). Schließlich kann auch die – für die napoleonischen Heere lebenswichtige – Idee des „Lebens vom Lande“ als Anleihe aus der Kleinkriegführung interpretiert werden, die schon immer im höchsten Maße zur Versorgung und zur Erfüllung ihrer Zwecke auf die Zivilbevölkerung angewiesen war (Rink 2006: 381). Folge all dieser Entwicklungen war, dass um die Wende des 19. Jahrhunderts die Meinung verbreitet war, dass „alle Kriegführung ‚kleiner Krieg im großen’ sei“ (Rink 2006: 381). Doch müssen die so erreichten Vorteile stets auch durch bestimmte Nachteile erkauft werden, die Martin Rink auf den Punkt bringt: „Bei hocheffizienten, großen und komplexen Organisationen steigt der Aufwand an Koordination, also an Regie durch die militärische Führung. Entsprechend steigen die Transaktionskosten: allzu viele Steuerungsaktivitäten, Abstimmungsprozesse und Verfahrensregularien hemmen die Tat. Aktionen – hier durchaus auch in der damaligen Nebenbedeutung von Gefechten – werden voraussetzungsreicher. Gleichzeitig sinkt die Anpassungsfähigkeit an unvorhergesehene Lagen: Die Wahrscheinlichkeit von Friktionen erhöht sich“ (2006: 378). Mit einem Wort der Systemtheorie: Es steigt die Abhängigkeit von mehr oder weniger starren bzw. eingefahrenen Routinen. Das bloße Zweckhandeln, dessen sich die einfacher organisierten Truppen des kleinen Krieges bedienen können, genügt hier nicht mehr, die nötige Koordinationsfunktion zu erreichen. Routinen sind zwar hervorragend geeignet, eine blitzschnelle Wirkung zu erreichen, weil sie es ermöglichen von komplexen Rahmenbedingungen abzusehen und effiziente Serien von Handlungen anzuleiten. Gleichzeitig bergen sie jedoch stets die Gefahr, durch das kreative und wendige Zweckhandeln „unterlaufen“ (Rink 2006: 375, 387) zu werden, das stets den Rahmenbedingungen genau angepasst werden kann. Doch auch die Protagonisten des kleinen Krieges haben ihre ganz eigenen Probleme: „Umgekehrt forderte die Flexibilität der leichten Truppen ihren Preis: je kleiner die operierenden Verbände bzw. Detachements, desto häufiger bestand die Gefahr einer Vervielfachung eingesetzter Ressourcen, die man geschlossen effizienter hätte verwenden können. Vor allem war die Gefahr der Verselbstständigung ständig präsent“ (Rink 2006: 378). Das gesamte Werk „Vom Kriege“ von Clausewitz (1980) ‚atmet’ diese – wenn man so möchte – frühe ‚Revolution in Military Affairs’ in vollen Zügen. Ständig zeigt sich Clausewitz’ Begeisterung für die Kombination von Flexibilität und Effizienz, die Napoleon durch die organisatorische Umstellung der Armeen
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erreicht hatte. Besonders fasziniert ist Clausewitz von der Einfachheit und Pragmatik der Kriegführung, die sich von der unnötigen Gekünsteltheit früherer Zeiten gelöst hatte. So schreibt Clausewitz mit Bezug auf das Gefecht: Verlassen wir die schwachen Eindrücke abstrakter Begriffe und steigen ins wirkliche Leben hinab, so wird ein rascher, mutiger, entschlossener Gegner uns nicht Zeit zu weitaussehenden künstlichen Zusammensetzungen lassen, und gerade gegen einen solchen würden wir der Kunst am meisten bedürfen. Hiermit, scheint es uns, ist das Vorherrschen der einfachen und unmittelbaren Erfolge vor den zusammengesetzten schon gegeben (1980: 425, H. i. O.).
Es ist auch nicht verwunderlich, dass gerade Clausewitz, der sicherlich immer ein Mann seiner Zeit war, die neuesten taktischen und strategischen Entwicklungen in sein Hauptwerk einbezogen hat. Besonders deutlich wird Clausewitz’ Bezugnahme auf den geschilderten ‚kleinen Krieg im großen’ in seiner Diskussion seiner These der Überlegenheit der Verteidigung in der Taktik. Hier schildert er ausführlich, dass diese Überlegenheit immer nur relativ sei (vgl. Clausewitz 1980: 620-621). Denn immer wenn „eine gewisse Manier der Verteidigung sich selbst überlebt ...“ hatte (Clausewitz 1980: 620), also systemtheoretisch gesprochen: routiniert verteidigt wurde, und die „Manövrierfähigkeit“ (Clausewitz 1980: 620) des Angreifers größer wurde, war der Vorteil der Verteidigung solange dahin, bis wieder ein neues „System“ (Clausewitz 1980: 621) der Verteidigung entwickelt wurde. In der – aus Clausewitz’ Perspektive – aktuellsten Entwicklungsphase, nämlich den napoleonischen Kriegen, hat die Verteidigung „ihre Kräfte in großen Massen zusammengehalten, diese meistens unentwickelt, wo es anging, auch verdeckt aufgestellt, und sich also bloß in Bereitschaft gesetzt, den Maßregeln der Angreifenden zu begegnen, wenn diese sich näher entwickeln würden“ (1980: 621). Die Einfachheit und Ungekünsteltheit dieses Systems liegt auf der Hand – und sie nutzt die Vorteile der Verteidigung (v. a. den Zeitvorteil) ideal. Damit lässt sich die zu Anfang dieses Kapitels artikulierte These, dass jede Zeile des Werkes „Vom Kriege“ (Clausewitz 1980) in bestimmter Weise vom ‚asymmetrischen Konflikt’ beeinflusst ist, bestätigen und präzisieren: Sie trifft zu, weil in die Konzeption der großen Kriegführung um die Wende zum 19. Jahrhundert viele Erkenntnisse aus der Praxis der Kleinkriegführung eingegangen waren. Der Versuch, Flexibilität und Effizienz miteinander zu verbinden, zieht sich wie ein roter Faden durch die Entwicklung der Kriegführung bis zum heutigen Tage. Auch die jüngste „Revolution in Military Affairs“ (vgl. Hansel 2011) kann als Versuch interpretiert werden, diese gegenläufigen Erfordernisse miteinander zu vereinen. Hochflexible kleine Einheiten, die ständig über umfassende Lagebilder verfügen, können blitzschnell (z. B. durch An-
5.2 Die Volksbewaffnung
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forderung von Luftunterstützung mit Präzisionsbomben) massive Gewalt im Raum und in der Zeit konzentrieren (man vergleiche wieder die Lage in Afghanistan). 5.2 Die Volksbewaffnung Bisher ist der kleine Krieg hier unabhängig von seinen soziopolitischen Rahmenbedingungen behandelt worden. Dies entspricht der historischen Entwicklung seiner Konzeption seit dem 18. Jahrhundert: Er war in der Fachliteratur der Zeit insbesondere ein militärisch-taktisches Phänomen. Doch im 19. Jahrhundert kam eine neue Qualität hinzu: Der kleine Krieg wurde politisch (vgl. Heuser 2010b)! Nach Martin Rink ist „[d]as Aufkommen einer Dualität von militärisch-taktischer und politisch-propagandistischer Entwicklungsrichtung ... der Säkulartrend in der Konzeption des kleinen Krieges im 19. Jahrhundert“ (2006: 385). Historisch besonders deutlich wurde diese Tendenz einerseits an der Kleinkriegführung in den französischen Revolutionskriegen (1792-1813), personalisiert durch die so genannten ‚Tirailleurs’ (Heckenschützen), andererseits im spanischen Guerillakrieg (‚Guerilla’ bedeutet im Spanischen ‚kleiner Krieg’) gegen die Besatzungsarmeen Napoleons (1808-1814). In diesen Kriegen erhielt der kleine Krieg – trotz im Wesentlichen gleicher Taktik – einen neuen „Aspekt von Kommunikation und Propaganda“ (Rink 2006: 372). Die französischen Tirailleurs erschienen „als Verkörperung von Selbstständigkeit und revolutionärer Emphase“ (Rink 2006: 372), ähnliches gilt spiegelbildlich für die spanischen Guerilleros, die in der damaligen Publizistik als „Volksbefreier“ erschienen (Rink 2006: 373): „Nationaler Unabhängigkeitskrieg als Volkskrieg und gesellschaftspolitische Umstrukturierung durch die französische Revolution im Wechselverhältnis von revolutionärer actio und gegenrevolutionärer reactio führten die Volksmassen zum Guerillakrieg, wodurch dieser ... eine bisher nicht gekannte Effektivität ausgedehnt räumlich wie als Kampfesform erlangte“ (Hahlweg 1980b: 349, vgl. auch 1967: 11). Der kleine Krieg wurde als Guerillakrieg „politisiert“ (Rink 2006: 372), er wurde zum „Befreiungsvehikel“ (Rink 2006: 385). Die wichtigste Folge dieser Entwicklung ist, dass der bisher nur militärisch-taktische kleine Krieg im Guerillakrieg eine „politische und insofern auch strategische Dimension“ (Rink 2006: 372, H. d. V.) erhält. Auch diese Entwicklung spiegelt sich in den Schriften von Clausewitz wider. Er behandelt die bei ihm so genannte „Volksbewaffnung“, die dem heutigen Verständnis von Guerillakrieg ähnelt, in seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ (1980: 799-806). Folgerichtig spricht er von der Volksbewaffnung als einem „großen strategischen Verteidigungsmittel“ (Clausewitz 1980: 804; H. d. V.).
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Ebenso wie der kleine Krieg als militärisch-taktisches Phänomen, so ist auch die Volksbewaffnung in die Systematik von Clausewitz’ Hauptwerk eingearbeitet (Hahlweg 1967: 12). Während der kleine Krieg als taktisches Mittel behandelt wird, ist die Volksbewaffnung zwar ein strategisches Mittel, bleibt jedoch stets dem großen Krieg untergeordnet (Hahlweg 1967: 12-13). Bei Clausewitz ist der Begriff des ‚kleinen Krieges’ der Grundbegriff dieser Kampfform. Die ‚Volksbewaffnung’ ist hingegen ein davon abgeleiteter Begriff (im Kern argumentiert so auch Heuser 2010b). Die Idee der Emanzipation der Volksbewaffnung von den konventionellen Streitkräften, die das heutige Verständnis von Guerillakriegen prägt, berührt Clausewitz zwar in einer weiteren zentralen Schrift, nämlich seiner „Bekenntnisdenkschrift“ (1966b), in der er an einer Stelle darüber reflektiert, dass unter bestimmten Umständen die „Insurgenten Armee [= Volksbewaffnung, R. B.] die Hauptrolle ...“ (1966b: 733) im Krieg übernehmen könnte. Doch auch in dieser Schrift plädiert er letzten Endes für ein Zusammenspiel von Volksbewaffnung und konventionellen Streitkräften. Die „Bekenntnisdenkschrift“ kann als ‚Sprachrohr’ der Gedanken einer Gruppe von preußischen Reformern und Patrioten verstanden werden, die zwischen 1808 und 1813 den allgemeinen Volksaufstand gegen die napoleonische Besatzung planten (Rink 2006: 373). Dieses Dokument setzt – und hier bleibt Clausewitz seiner eigenen Methode treu – mit einer hervorragenden, ausführlichen strategischen Analyse der Lage Preußens ein (1966b). Darauf folgt ein detaillierter Plan für einen preußischen Guerillakrieg zur nationalen Befreiung. Was sind die zentralen Unterschiede zwischen der Volksbewaffnung und dem kleinen Krieg? Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Der Guerillakrieg wird in der Literatur als „totaler Volkskrieg oder totaler Widerstandskrieg“ (Hahlweg 1967: 6, H. i. O.) oder „Totalguerilla“ (Haffner 1980) bezeichnet, er steht „außerhalb jeder Hegung“ (Schmitt 1992: 17). Wie kann der kleine Krieg „Kriegführung niedriger Intensität“ sein, wohingegen der von ihm abgeleitete Begriff der Volksbewaffnung mit Begriffen bezeichnet wird, die eher an den hochintensiven ‚Reagenzglaskrieg’ erinnern? Auch auf diese Fragen liefert die systemtheoretische Perspektive plausible Antworten. Doch zunächst soll hier – wie bereits oben beim kleinen Krieg – Clausewitz’ Darstellung der Volksbewaffnung analysiert werden. Für ihn ist die Volksbewaffnung „als eine Folge des Durchbruches anzusehen ..., den das kriegerische Element in unserer Zeit durch seine alte künstliche Umwallung gemacht hat“ (Clausewitz 1980: 799). Auch für ihn ist sie somit nicht Kriegführung geringer Intensität – im Gegenteil. Gleichzeitig charakterisiert er die Volksbewaffnung in Abgrenzung von Napoleons Niederwerfungsstrategie (siehe hierzu oben, S. 166-167) in folgendem, zurecht berühmten Zitat:
5.2 Die Volksbewaffnung
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Daß ein so verteilter Widerstand [wie die Volksbewaffnung, R. B.] nicht zu der in Zeit und Raum konzentrierten Wirkung großer Schläge geeignet ist, geht aus der Natur der Sache hervor. Seine Wirkung richtet sich, wie in der physischen Natur der Verdampfungsprozeß, nach der Oberfläche. Je größer diese ist und der Kontakt, in welchem sie mit dem feindlichen Heere sich befindet, also je mehr dieses sich ausbreitet, um so größer ist die Wirkung der Volksbewaffnung. Sie zerstört wie eine still fortschwelende Glut die Grundfesten des feindlichen Heeres (Clausewitz 1980: 800).
Entscheidend ist also die Ausdehnung der Kampfhandlungen in den Raum. Soll diese Vorgehensweise erfolgreich sein, benötigt sie darüber hinaus „Zeit“ (Clausewitz 1980: 800) bis die „Glut“ der Volksbewaffnung zu einem „allgemeinen Brand“ wird, dessen „Flammen ... über das feindliche Heer zusammenschlagen und es nötigen, das Land vor eigenem gänzlichen Untergange zu räumen“ (Clausewitz 1980: 800). Aus diesem Zitat wird der bei Clausewitz grundsätzlich defensive Charakter der Volksbewaffnung deutlich: Sie ist Mittel zur nationalen Befreiung (Hahlweg 1967: 13). Nach einer knappen Analyse der damaligen Rahmenbedingungen kommt Clausewitz zum Schluss: „Will man also kein Phantom verfolgen, so muß man sich den Volkskrieg in Verbindung mit dem Kriege eines stehenden Heeres denken und beide durch einen das Ganze umfassenden Plan geeinigt“ (1980: 801). Der „Volkskrieg“ (= Volksbewaffnung) bedarf bei Clausewitz stets einer „Anlehnungsmacht“, will er von Erfolg gekrönt sein (Hahlweg 1967: 13-14). Darüber hinaus formuliert Clausewitz fünf Bedingungen für die Wirksamkeit des Volkskrieges: (1) der Krieg muss im Landesinneren geführt werden (1980: 801); (2) er darf nicht durch eine einzige „Katastrophe“ (1980: 801) entschieden werden; (3) er muss auf einem ausgedehnten Gebiet stattfinden (1980: 801); (4) der „Volkscharakter“ (1980: 801) muss zu diesem Mittel passen, ebenso die Sozialstruktur: Ob „arm oder reich ...“ ist zwar nicht entscheidend, jedoch ist „nicht zu verkennen, daß eine arme, anstrengende Arbeit und Entbehrungen gewöhnte Menschenklasse auch kriegerischer und kräftiger zu sein pflegt“ (1980: 801); (5) das Land muss „sehr durchschnitten und unzugänglich sein“ durch Gebirge, Wälder, Sümpfe oder die Form des Ackerbaus (1980: 801). Dem Volkskrieg entgegen kommt auch ein dünn besiedeltes Landes, einmal weil dies die Unterbringung der feindlichen Truppen erschwert und „vor allem es wiederholt sich im kleinen die Eigentümlichkeit, welche der Volkskrieg im großen hat, nämlich daß das widerstehende Prinzip überall und nirgends vorhanden ist“ (Clausewitz 1980: 801). Clausewitz’ folgende Darstellung der Strategie des Volkskrieges, die etwas Essayistisches hat (sie sei „mehr ein Herausfühlen der Wahrheit ... als eine objektive Zergliederung ...“, 1980: 805) zeigt zunächst, dass ein Volkskrieg äußerst
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schwierig zu führen ist und genau geplant und gesteuert sein will. Der erste strategische Grundsatz lautet, dass sich der Volkskrieg nie „gegen die feindliche Hauptmacht ...“ richten darf, sondern nur an ihren „Umgrenzungen nagen“ darf (Clausewitz 1980: 801-802). Der Volkskrieg richtet sich stets gegen die schwächsten Punkte des Feindes – nämlich gegen seine Flanken und Verbindungslinien. Ziel der Attacken der „bewaffnete[n] Bauern“ (Clausewitz 1980: 802) sind vornehmlich die „kleinen Abteilungen“ (Clausewitz 1980: 802) – d. h. diejenigen konventionellen Truppen des Feindes, die den kleinen Krieg führen! Der Vorteil den die Guerilleros gegenüber den militärischen leichten Truppen haben, ist ihre Unberechenbarkeit: Während Soldaten „aneinander halten und gewöhnlich der Nase nachlaufen ...“, werden die Bauern „auseinandergesprengt sich nach allen Seiten zerstreuen, ohne dazu eines künstlichen Planes zu bedürfen“ (Clausewitz 1980: 802). Die Stärke der Bauern liegt in ihrer Spontaneität, Kreativität und der Ungekünsteltheit ihrer Handlungsweisen. Geht es zum Beispiel um die Sabotage von Wegen, „so verhalten sich die Mittel, welche Vorposten oder Streifkorps des Heeres anwenden, zu denjenigen, welche eine aufgebrachte Bauernmasse herbeischafft, ungefähr wie die Bewegungen eines Automaten zu den Bewegungen eines Menschen“ (Clausewitz 1980: 802). Die Volksbewaffnung zwingt den Feind zum „Absenden vieler Haufen“ (Clausewitz 1980: 802), die ihrerseits relativ leichte Beute für die Bauern werden können. Solche Erfolgserlebnisse sind wichtig, um „das Feuer des Volkskrieges erst recht zu entzünden ...“ (Clausewitz 1980: 803), d. h. die ‚moralischen Kräfte’ (im Sinne des heutigen Wortes ‚Kampfmoral’) der Volksbewaffnung zu aktivieren. In einer berühmt gewordenen Formulierung fasst Clausewitz die Strategie bis hierhin zusammen: Nach unserer Vorstellung vom Volkskriege muß er wie ein nebel- und wolkenartiges Wesen sich nirgends zu einem widerstehenden Körper konkreszieren, sonst richtet der Feind eine angemessene Kraft auf diesen Kern, zerstört ihn und macht eine große Menge Gefangene; dann sinkt der Mut, alles glaubt, die Hauptfrage sei entschieden, ein weiteres Bemühen vergeblich, und die Waffen fallen dem Volke aus den Händen (1980: 803).
Dekonzentration der Kräfte ist also der Schlüssel zum Erfolg. Dennoch muss sich „dieser Nebel an gewissen Punkten zu dichteren Massen zusammenziehe[n] und drohende Wolken bilde[n], aus denen einmal ein kräftiger Blitzstrahl herausfahren kann“ (Clausewitz 1980: 803). Diese Punkte liegen wiederum an den äußersten Flanken des gegnerischen Heeres, die Konzentration erreicht man durch einen „geringen Zusatz“ regulärer Truppen (Clausewitz 1980: 803). Wie gesagt ist die Volksbewaffnung für Clausewitz ein Mittel, welches der Steuerung durch einen „Feldherrn“ bedarf (1980: 803). Diese Steuerung (bei Clausewitz:
5.2 Die Volksbewaffnung
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„willkürliche Gestaltung“, 1980: 803) gelingt, indem kleinere Truppenverbände des regulären Heeres die Volksbewaffnung unterstützen (1980: 803). Jedoch dürfen diese nicht zu stark sein, da einerseits die eigene reguläre Armee zu stark geschwächt würde, was Clausewitz zufolge die sichere Niederlage bedeuten würde, andererseits würde dies die „Energie“ aus der Volksbewaffnung herausnehmen, v. a. da die Bauern sich dann zu sehr auf die „stehenden Truppen verlassen“ würden (1980: 804). Schließlich betont Clausewitz einen Hauptgrundsatz der „Verhütung einer zu wirksamen Reaktion des Feindes gegen den Volkskrieg“ (1980: 804): Man dürfe es niemals zu einer „taktischen Verteidigung“, also einem regelrechten „Verteidigungsgefecht“ (1980: 804) kommen lassen. Denn um dieses erfolgreich zu führen, sind die Eigenschaften der konventionellen Truppen – nämlich Disziplin und Durchhaltevermögen – gefragt. Lässt man es dennoch darauf ankommen, verliert man nicht nur das Gefecht, sondern der ganze Volkskrieg droht zusammenzubrechen (Clausewitz 1980: 804-805). Denn die „moralischen Elemente“ (Clausewitz 1980: 800) sind hier nicht nur besonders entscheidend, sondern genauso leicht, wie sich die Begeisterung für den Kampf bei den Bauern ‚entflammen’ lässt, kann man diese Begeisterung auch durch eine entscheidende Niederlage „erdrücken“ (Clausewitz 1980: 804)! Zuletzt macht Clausewitz nochmals deutlich, dass er die Volksbewaffnung zwar als „großes strategisches Verteidigungsmittel“ (1980: 804) sieht, aber eben nur als Mittel im Rahmen eines „strategischen Verteidigungsplans“ (1980: 805). Konkret könne es der Vorbereitung einer entscheidenden Schlacht oder der Nachbereitung einer verlorenen Entscheidungsschlacht dienen. Im letzteren Sinne dient die Volksbewaffnung dazu, die Friedensverhandlungen nach der verlorenen Entscheidungsschlacht zu beeinflussen – also zu einer Art ‚nachdrücklichen’ Diplomatie (Clausewitz 1980: 805-806). Wenn jedoch in Clausewitz’ Volksbewaffnung vornehmlich leichte Truppen gegen leichte Truppen kämpfen, was macht die Überlegenheit der Bauern – über die bereits genannten Faktoren hinaus – aus? Aus Sicht der Systemtheorie gibt es auf diese Frage zwei Antworten. Zum einen entsteht ihre Überlegenheit aus den enger definierten Verteidigungszwecken, die sie verfolgen.127 Zum anderen weisen die Mitglieder der Organisation der Volksbewaffnung schlicht eine größere „Beitragsmotivation“ (Luhmann 1973: 128-143) auf. Die Systemtheorie erlaubt die getrennte Behandlung der Faktoren „Zweck“ einer Organisation und „Beitragsmotivation“ ihrer Mitglieder (Luhmann 1973: 142-143). Das heißt: Eine Organisation mit einem noch so großartigen Zweck, kann es versäumen, ihre Mitglieder zur Erreichung dieses Zwecks zu motivieren. 127 So dass die Zweckprogramme ihre Funktion der Reduktion von Komplexität voll entfalten können.
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Eine ähnliche „Trennung von Motivationsstruktur und Rationalstruktur“ (Luhmann 1973: 142) (also: zwischen Zweck und Motivation) führt auch Clausewitz in seiner Kriegsdefinition ein. Er unterscheidet zwischen dem „politischen Zweck“ des Krieges und der „Kraftanstrengung“ der beteiligten Parteien, die ihrerseits das Produkt aus den vorhandenen materiellen Fähigkeiten und dem „Willen“ ist (Clausewitz 1980: 195). Clausewitz’ Konzept des „Willens“ ist das systemtheoretische Äquivalent zur „Beitragsmotivation“ der Mitglieder einer sozialen Organisation. Auch bei ihm ist also eine Kriegspartei vorstellbar, die einen großartigen politischen Zweck verfolgt, modernste und bestens ausgerüstete Streitkräfte besitzt (= Fähigkeiten), jedoch mangels Willen der Mitglieder (Kämpfer) keine intensive Kriegführung erreicht – und damit, einen starken und motivierten Gegner vorausgesetzt, den Krieg verliert. Bei der Volksbewaffnung liegen die Dinge genau andersherum. Wie eben bereits ausführlich geschildert, ist die Volksbewaffnung nur in dem Maße erfolgreich, wie es gelingt, die bewaffneten Bauern von der guten Sache, von der Idee zu überzeugen! Kurz, sie politisch zu mobilisieren. Es muss eine solch starke Idee her, wie die nationale Befreiung von einem feindlichen Aggressor, um das ‚Feuer’ der Volksbewaffnung zu ‚entfachen’. Die „gesteigerte Intensität des politischen Engagements“ (Schmitt 1992: 26) des Partisanen (= des bewaffneten Volks) rührt daher, dass er um die Ausgestaltung der politischen Ordnung kämpft, nicht innerhalb ihrer (Schmitt 1992). Genau dies erklärt auch die Fragilität der Volksbewaffnung: Sie lebt von der Idee der Befreiung und zu starke materielle Verluste holen die Bauern wieder auf den ‚Boden der Tatsachen’ zurück.128 Demgegenüber stehen die ausgebildeten Soldaten, die in ihrer Ausbildung lernen, trotz Verlusten ‚weiterzufunktionieren’ – dies aber auch nur in Grenzen. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die volle Bedeutung des folgenden Zitats von Clausewitz: „Nun ist aber die kriegerische Tätigkeit nie gegen die bloße Materie gerichtet, sondern immer zugleich gegen die geistige Kraft, welche diese Materie belebt, und beide voneinander zu trennen ist ganz unmöglich“ (1980: 284). Der Geist, der die Materie belebt, kann eben eine starke politische Idee sein, für die es sich lohnt zu kämpfen – also einen Beitrag zum Organisationszweck zu leisten. Es geht hier um die berühmten ‚moralischen Faktoren’, die bei Clausewitz so entscheidend für Sieg oder Niederlage sind. 128 Es handelt sich jedoch um keinen einfachen Zusammenhang zwischen Verlusten der Bauern im Kampf und dem ‚Erlöschen’ der Volksbewaffnung. Denn dies setzt rationale Akteure voraus, die qua Kosten-Nutzen-Rechnung nicht mehr erkennen können, wie sie gewinnen sollen. In anderen Zusammenhängen, beispielsweise in religiösen oder auf andere Art ideologisierten Kriegen, können solche Momente die Kampfkraft sogar noch erhöhen, weil dann eine besondere ‚Prüfung’ kommuniziert werden kann. Niederlagen können somit auch dazu beitragen, die Kohäsion einer Gruppe und ihr Bewusstsein vom ‚Wir gegen Andere’ oder der Unterdrückung usw. zu erhöhen. Für diesen Hinweis danke ich Thomas Jäger.
5.2 Die Volksbewaffnung
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Mithilfe der systemtheoretischen Begriffe ist nun ein „strukturierter Vergleich“ (George/Bennett 2005) zwischen dem kleinen Krieg und der Volksbewaffnung möglich. Der wichtigste qualitative Unterschied zwischen den beiden Interaktionssystemen bzw. den Organisationen (= Handlungssystemen), deren Handlungen das Interaktionssystem bilden, liegt in der weit höheren Interaktionskomplexität des Systems Volksbewaffnung (für die Aufschlüsselung der Merkmale des Grades der Interaktionskomplexität (a) bis (c) sowie der Enge der Kopplung (d) bis (f) vgl. oben, S. 174). Die räumliche Gedrängtheit der Gefechte nimmt in der Volksbewaffnung gegenüber dem kleinen Krieg zwar noch ab (a). Soll sich das System nicht unverzüglich auflösen, so muss eine Schwerpunktbildung (z. B. ein Verteidigungsgefecht) in jedem Fall vermieden werden. Die Strategie der Ausdehnung der Kampfhandlungen in den Raum, erhält hier sogar eine weitere Tiefendimension – das „Raum-Gefüge“ wird ausgedehnt in den „Untergrund“, in dem die bewaffneten Bauern untertauchen, indem sie etwa tagsüber ihr Feld bestellen (Schmitt 1992: 71-74). Doch führt die Ausdehnung der Handlungen in diese besondere Dimension gleichzeitig zur Erhöhung des allgemeinen Informationsmangels im System (c) – man bedenke dabei, dass Interaktionskomplexität der Unerwartbarkeit der Wechselwirkungen entspricht. Am wichtigsten für die Erhöhung der Interaktionskomplexität des Systems Volksbewaffnung ist jedoch das verstärkte Auftreten von eigendynamischen Prozessen (b). Denn genau dies will Clausewitz mit den anschaulichen Bildern ausdrücken, mit denen er die Volksbewaffnung beschreibt: mit der ‚Glut’, die langsam ‚aufflammt’, um schließlich in einer wahren ‚Feuersbrunst’ zu ‚explodieren’. Die eigendynamischen Prozesse, die Clausewitz beschreibt, entstehen im ‚moralischen’ Bereich, d. h. im Bereich der Kampfmoral. Wenn ein überlegener „Haufen Bauern“ einen kleinen Trupp feindlicher Soldaten überfällt und besiegt, so steigert dies die allgemeine Moral, die ihrerseits zu „frecheren“ Aktionen motiviert (Clausewitz 1980: 803). Diese Prozesse führen zu einer Erhöhung der Motivation der Bauern, einen Beitrag – im Sinne der Vernichtung des Gegners – zu leisten. Den eigendynamischen Prozessen, die in der Volksbewaffnung auftreten, liegt also wiederum die politische Mobilisierung der Landbevölkerung zugrunde.129 129 Eigendynamische Prozesse entstehen auch durch das „feindselige Gefühl“, welches sich zwischen Kriegsparteien dynamisch entwickelt, wie Clausewitz im folgenden Zitat beschreibt: „Der Nationalhaß, an dem es auch bei unseren Kriegen selten fehlt, vertritt bei dem einzelnen gegen den einzelnen mehr oder weniger stark die individuelle Feindschaft. Wo aber auch dieser fehlt und anfangs keine Erbitterung war, entzündet sich das feindselige Gefühl an dem Kampfe selbst, denn eine Gewaltsamkeit, die jemand auf höhere Weisung an uns verübt, wird uns zur Vergeltung und Rache gegen ihn entflammen, früher noch, ehe wir es gegen die höhere Gewalt sein werden, die ihm gebietet, so zu handeln. Dies ist menschlich oder auch tierisch, wenn man will, aber es ist so. – Man ist in den Theorien sehr gewohnt, den Kampf wie ein abstraktes
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Einen feineren, gleichwohl wichtigen, Unterschied gibt es zwischen dem Maß der Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit der Zwecke in den beiden Kampfformen. Auf der strategischen Ebene ist der politische Zweck der Volksbewaffnung bei Clausewitz die strategische Landesverteidigung. Eine Grundbedingung für ihren Erfolg ist, dass sie „im Inneren des Langes geführt“ wird (Clausewitz 1980: 801). Ihre Protagonisten haben, wenn man so will, den „tellurischen Charakter“ (Schmitt 1992: 26-27), ihr Kampf ist an die Verteidigung des eigenen ‚Grund und Bodens’ gebunden. Es werden also sehr klar artikulierte, negative politische Zwecke verfolgt. Im Übrigen hält die politischdefensive Ausrichtung des Partisanen die Dynamik der Volksbewaffnung in Grenzen – der „wirkliche Feind ...“ des Partisanen wird nicht zum „absoluten Feind“ (Schmitt 1992: 94), zum „Unwert“ erklärt (Schmitt 1992: 95). Der den kleinen Krieg führende, staatliche Gegner verfolgt hingegen den positiven (und damit größeren, unbestimmteren) Zweck der politischen Kontrolle über das gegnerische Territorium. Das Ziel der Volksbewaffnung auf der strategischen Ebene ist die ‚Preiserhöhung’ für den Gegner. Ihm soll klargemacht werden, dass der Preis, dieses Land politisch zu kontrollieren, viel zu hoch sein wird, um noch lohnend zu sein. Systemtheoretisch gesprochen handelt es sich hierbei um ein sehr bestimmtes (im Sinne von: eng umrissenes) Ziel, gegenüber dem weit generelleren (im Sinne von: breit gestreuten), offensiven Ziel des Gegners, das in der Kapitulation der Insurgenten, d. h. der Aufständischen, besteht. Dem bestimmteren Ziel der ‚Preiserhöhung’ auf der strategischen Ebene entsprechen die bestimmteren Zwecke und Ziele der Gefechte der Bauern auf der taktischen Ebene. Sie sabotieren Wege, schneiden Verbindungslinien ab, stiften Unruhe etc. Alles äußerst bestimmte, eng definierte Zielsetzungen, durch die das Zweck/Mittel-Verfahren seine heuristische Funktion sehr gut erfüllen kann. Zusammengefasst stehen bestimmtere, kleinere Zwecke und Ziele der Volksbewaffnung auf strategischer und taktischer Ebene unbestimmteren, größeren des Gegners gegenüber. Die Kombination aus kleinen Zwecken, die hervorragend die heuristischen Vorteile des Zweckdenkens ausnutzen können, und der hohen Beitragsmotivation des bewaffneten Volkes ergeben die Gefährlichkeit der Volksbewaffnung für ihren Feind. Gleichzeitig stellt die Volksbewaffnung ein hochgradig lose gekoppeltes System dar. Mit der Ausdehnung in den Raum und der weiteren Ausdehnung in den Untergrund geht eine Ausdehnung der Handlungen in der Zeit einher. Die Interdependenz zwischen den Gefechten der Bauern ist noch geringer als im kleinen Krieg. Die Bedeutung des genauen Timings der Gefechte nimmt ab (e). Abmessen der Kräfte ohne allen Anteil des Gemüts zu betrachten, und das ist einer der tausend Irrtümer, die die Theorien ganz absichtlich begehen, weil sie die Folgen davon nicht einsehen“ (1980: 286).
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5.2 Die Volksbewaffnung
Die Variationsbreite von Handlungssequenzen (e) und Mitteln (f) nimmt in der Volksbewaffnung gegenüber dem kleinen Krieg hingegen nochmals zu. Die „Vorposten oder Streifkorps des Heeres“ (Clausewitz 1980: 802) richten sich nach ihren Handbüchern (oder etwa der Vorlesung von Clausewitz), so dass sie in Sachen Spontaneität und Kreativität im Vergleich zu den Bauern einem starren „Automaten“ gleichen (Clausewitz 1980: 802). Um hier noch ausreichende ‚Regie’ der Anstrengungen zu erreichen, schlägt Clausewitz eine genau bemessene ‚Beimischung’ von regulären Kräften zu den Bauerntrupps vor (1980: 803-804). Diese müssen dafür sorgen, dass bei aller Beweglichkeit in Sachen Mitteln und Handlungssequenzen nicht der Systemzweck der Landesbefreiung aus dem Auge verloren wird. Außerdem müssen sie die punktuelle Kräftekonzentration organisieren, die nötig ist, um gelegentliche ‚Blitzschläge’ aus dem ‚Nebel’ der Volksbewaffnung ‚herausfahren’ zu lassen. Aus den „auf Unterstützung berechneten Gefechten“ (Clausewitz 1966a: 234) des kleinen Krieges wird also die „Anlehnungsmacht“ (Hahlweg 1967: 13-14) der Volksbewaffnung, die – genau dosiert – die Volksbewaffnung punktuell unterstützt und somit subtil steuert. Es handelt sich um das waghalsige Steuern eines lose gekoppelten und gleichzeitig hochkomplexen, dynamischen Systems. Die Schwierigkeit der Aufgabe für den „Feldherrn“ der Anlehnungsmacht liegt auf der Hand. Ebenso die ständige Gefahr des Kontrollverlusts über das System. Die Abgrenzung zwischen kleinem Krieg und Volksbewaffnung lässt sich nun in die bereits vorhandene Grafik zur Beschreibung der Interaktionssysteme im Krieg eintragen: Abbildung 15: Kriegstypen als Typen von Interaktionssystemen Interaktion unerwartbar (komplex)
erwartbar (linear)
Kopplung
eng
x RK
lose
x AK
x PK x KK
x VB
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5 Typen von Interaktionssystemen
Die Kopplung des Systems Volksbewaffnung (‚VB’) ist, wie gesagt, noch loser als im kleinen Krieg (‚KK’). Die Interaktionskomplexität ist geringer als die des ‚Reagenzglaskrieges’ (‚RK’), da dieser das idealtypische Maximum darstellt. Doch sie ist vergleichsweise hoch. Aus systemtheoretischer Sicht handelt es sich bei der Volksbewaffnung um ein Interaktionssystem, welches hohe Flexibilität der Kopplung – und damit Stabilität gegenüber Umwelteinflüssen – mit der großen Dynamik und Unberechenbarkeit eines hochkomplexen Systems verbindet. Hieraus ergeben sich die historisch zu beobachtenden Schwierigkeiten der Steuerung solcher Systeme auf der einen und ihrer Bekämpfung auf der anderen Seite. Neben diesen Befunden ist jedoch stets zu beachten, dass die Funktionalität einer Volksbewaffnung inhärent von der Bestimmtheit, d. h. Begrenztheit, ihrer Zwecke abhängig ist! Darüber hinaus ist das System Volksbewaffnung in höchstem Maße von den soziopolitischen Rahmenbedingungen abhängig, innerhalb derer es besteht. Die „gesteigerte Intensität des politischen Engagements“ (Schmitt 1992: 26) ihrer Kämpfer ist nichts wert, wenn dem nicht eine ebenso politisch engagierte Bevölkerung zur Seite steht. Denn wie alle anderen Streitkräfte auch, sind die Kämpfer der Volksbewaffnung auf Nachschub von Waffen, Essen, Kleidung und sonstigem Material angewiesen. Diese Versorgung muss zum Großteil durch die Zivilbevölkerung erfolgen – zum anderen Teil durch die Anlehnungsmacht. Dies ist auch der Grund warum Clausewitz den „Volkscharakter“ (1980: 801) als eine seiner fünf Grundvoraussetzungen für die Erfolgsmöglichkeit einer Volksbewaffnung nennt. Die Grundstrukturen der Interaktionssysteme kleiner Krieg und Volksbewaffnung, die durch die Begriffe der Systemtheorie freigelegt worden sind, erlauben einige Überlegungen zur historischen Entwicklung der Volksbewaffnung nach Clausewitz’ Zeit. Durch den strategischen Charakter den die Volksbewaffnung bei Clausewitz bekommt, ist die weitere Emanzipation der Volksbewaffnung vom Beistand einer regulären Armee, die historisch teilweise zu beobachten ist, bereits begrifflich angelegt. Dennoch verschwindet die Bedeutung der Anlehnungsmacht nur scheinbar. In Wirklichkeit verwandelt sie sich im historischen Verlauf zum „interessierten Dritten“ (Schroers 1961); man denke an die so genannten ‚Stellvertreterkriege’ (z. B. in Afghanistan der 1980er Jahre) während des Ost-West-Konflikts, in denen Volkskriege stattfanden, deren Parteien je von einer Supermacht – mehr oder weniger geheim – unterstützt wurden. Die Volksbewaffnung wird im Laufe des 19. Jahrhundert zum Partisanenkampf (Rink 2006: 373) und taucht hochprominent in den Kriegen des 20. Jahrhunderts wieder auf. Eine Darstellung der Bedeutung des Partisanenkampfes im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie seine herausragende Bedeutung für die Dekolonisierungskriege ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts muss hier nicht erfolgen, da sie bereits in exzellenter Qualität vorliegt (Hahlweg 1967).
5.3 Die Allianzkriegführung
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Entscheidend ist jedoch, dass die Volksbewaffnung sich in ihren Strukturen letztlich nicht wirklich verändert. Von überragender Bedeutung bleibt stets das Verhältnis von politischer Mobilisierung, unabhängiger Zweckverfolgung durch kleine Einheiten und der Unterstützung der Volksbewaffnungen durch die Bevölkerung auf der einen Seite und durch mächtige interessierte Dritte aus dem internationalen System auf der anderen Seite. Die wesentlichen analytischen Implikationen fasst Hahlweg folgendermaßen konzise zusammen: In seinen militärisch-technischen Formen als solchen ist er [der kleine Krieg, R. B.] nichts Neues; er läßt sich auch von dort her im Lichte heutiger Bedingtheiten kaum seinem Wesen nach erklären. Wohl aber muß seine Entwicklung im Sinne verschiedener Typen und Wirkungsmöglichkeiten nach seinen Antriebskräften vornehmlich aus dem politischen, sozialen und ökonomischen Bereich beobachtet und beurteilt werden (1967: 49).
5.3 Die Allianzkriegführung In den heutigen ‚neuen Kriegen’ stehen den Volksbewaffnungen häufig große internationale Koalitionen gegenüber, wie das Beispiel Afghanistans seit etwa 2003 zeigt. Die Allianzkriegführung ist wie der kleine Krieg nicht wirklich etwas ‚Neues’. Auch zu diesem Thema hat Clausewitz maßgebliche Gedanken entwickelt, die bisher in der Forschung eher stiefmütterlich behandelt worden sind (eine Ausnahme ist Aron 1980). Es lohnt sich jedoch, auch diese Gedanken einmal hervorzuholen und sie im Lichte der Systemtheorie zu analysieren. Einige der unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten internationaler Allianzen im Kampf gegen heutige Volksbewaffnungen können so theoretisch durchleuchtet und besser verstanden werden. Aus Sicht der Systemtheorie ist die Allianzkriegführung ein bestimmter Typ von Interaktionssystem, dessen wesentliche Merkmale beschrieben werden können. Es entsteht durch das politischmilitärische Handeln von internationalen Allianzen. Die Allianzkriegführung (‚AK’ in Abbildung 15, oben, S. 193) steht zum ‚politischen Krieg’ im selben begrifflichen Verhältnis wie die Volksbewaffnung zum kleinen Krieg: die Allianzkriegführung ist der abgeleitete Begriff des Grundbegriffs ‚politischer Krieg’. Dennoch könnte man mit Fug und Recht sagen, die Allianzkriegführung ist der ‚politische Krieg’ per se. Wieso ist das so? Zur Beantwortung dieser Frage werden wiederum zunächst Clausewitz’ Schriften zu Rate gezogen, um sie anschließend auf die begriffliche Grundlage der Systemtheorie zu beziehen. Die Allianzkriegführung wird insbesondere im Hauptwerk „Vom Kriege“ (Clausewitz 1980) behandelt. Sie tritt zunächst als ein Faktor auf, der die dynamische Eskalation im ‚Reagenzglaskrieg’ ermäßigt: Das
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5 Typen von Interaktionssystemen
in der Regel (zu) späte Eingreifen der „Bundesgenossen“ in einen Krieg sei ein wichtiger Faktor, der die „vollkommene Vereinigung der Kräfte in der Zeit“ (Clausewitz 1980: 198) verhindert. Das späte Eingreifen der Bundesgenossen „zur Herstellung des verlorenen Gleichgewichts“ (Clausewitz 1980: 198) seinerseits erklärt Clausewitz durch die „Natur der Staatenverhältnisse“ (1980: 198). Einige Seiten später erscheint die Allianzkriegführung in Clausewitz’ strategischen Ausführungen über „Zweck und Mittel im Kriege“ (1980: 214230). Um das strategische Ziel zu erreichen, dem Gegner die Unwahrscheinlichkeit seines Erfolges vor Augen zu führen (Clausewitz 1980: 216), können Maßnahmen durchgeführt werden, „die eine unmittelbare politische Beziehung haben“ (Clausewitz 1980: 218). Zu ihnen gehören „Unternehmungen, die vorzugsweise geeignet sind, Bündnisse unseres Gegners zu trennen oder unwirksam zu machen, uns neue Bundesgenossen zu erwerben ...“ (Clausewitz 1980: 218). Dies zeigt zweierlei: Erstens werden Allianzen als ‚Schwachstellen’ dargestellt, zweitens kann ihre Manipulation der direkte Weg zur Erfüllung des politischen Zwecks sein, ohne militärische Kampfhandlungen. Die erste ausführlichere Behandlung des Themas Allianzkriegführung liefert Clausewitz in seinen Analysen unterschiedlicher strategischer Verteidigungsmittel. Hier wird sie in eine Reihe gestellt mit der Landwehr, den Festungen, dem Volk und der Volksbewaffnung. Die „Bundesgenossen“ sind demnach „die letzte Stütze des Verteidigers“ (Clausewitz 1980: 638). Hier unterscheidet Clausewitz zwischen den „gewöhnlichen, welche der Feind auch hat ...“ und denen „welche bei der Erhaltung eines Landes wesentlich beteiligt sind“ (1980: 638, H. i. O.). Um diesen Unterschied zu erklären, liefert Clausewitz seine Auffassung „eines politischen Gleichgewichts ...“, das „überall von selbst entstehen [wird], wo mehrere kultivierte Staaten in vielseitige Berührung treten“ (1980: 639) – ergo, eine vollständige Allianztheorie, die im folgenden Absatz konzise zusammengefasst wird: Wenn wir nämlich die Staatenrepublik des heutigen Europa im Auge haben, so finden wir, um nicht von einem systematisch geregelten Gleichgewicht der Macht und der Interessen zu reden, wie es nicht vorhanden und darum oft und mit Recht bestritten worden ist, doch unstreitig, daß sich die großen und kleinen Staats- und Volksinteressen auf die mannigfaltigste und veränderlichste Weise durchkreuzen. Jeder solche Kreuzpunkt bildet einen befestigenden Knoten, denn in ihm ist die Richtung des einen der Richtung des anderen das Gegengewicht; durch alle diese Knoten also wird offenbar ein mehr oder weniger großer Zusammenhang des Ganzen gebildet, und dieser Zusammenhang muß bei jeder Veränderung teilweise überwunden werden. Auf diese Weise dienen die Gesamtverhältnisse aller Staaten zueinander mehr das Ganze in seiner Gestalt zu erhalten, als Veränderungen darin
5.3 Die Allianzkriegführung
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hervorzubringen, d. h. es ist im allgemeinen jene Tendenz vorhanden (1980: 638639, H. i. O.).
Clausewitz differenziert im Folgenden weiter aus. Die „Tendenz der Gesamtinteressen zur Erhaltung des bestehenden Zustandes ...“ (Clausewitz 1980: 639) weist nämlich einen unterschiedlichen Grad der „Wirksamkeit“ aus. Diese „Wirksamkeit“ kann sich durch „Veränderungen in dem Verhältnis einzelner Staaten untereinander“ (Clausewitz 1980: 639) verändern. Sie kann befördert werden, in dem diese Staaten eine aktive Gleichgewichtspolitik betreiben (Clausewitz 1980: 639). Oder sie kann verringert werden, wenn ein oder mehrere Staaten gemeinschaftlich, sich anschicken den Status Quo zu verändern (Clausewitz 1980: 639).130 In diesem Fall handelt es sich um „Ausweichungen, überwiegende Tätigkeit einzelner Teile, wahre Krankheiten“, die aber vorkommen können (Clausewitz 1980: 639). Wenn in der Geschichte Staaten das Gleichgewicht zu ihrem Vorteil geändert haben oder sich gar zur Hegemonie aufgeschwungen haben, so ist dies gemäß Clausewitz kein Widerspruch zur Theorie, sondern erklärt sich dadurch, dass die Wirksamkeit der „Tendenz der Gesamtinteressen zur Erhaltung des Zustandes ... in dem Augenblick nicht groß genug gewesen ...“ war (1980: 640). Ob man sich auf die Tendenz des politischen Gleichgewichts verlassen kann, also auf den Beistand von Bundesgenossen, die wesentlich am Erhalt des Partners interessiert sind, hängt schließlich noch vom genauen Zustand des internationalen Gleichgewichtssystems ab. Wenn in diesem „Ruhe, d. i. Gleichgewicht“ vorhanden ist, so behält es seine konservative Tendenz und man kann sich auf die Bundesgenossen verlassen (Clausewitz 1980: 640). Ist das Gleichgewicht jedoch bereits „gestört ..., eine Spannung schon eingetreten ..., da kann die Tendenz des Gleichgewichts allerdings auch auf eine Veränderung gerichtet sein“ (Clausewitz 1980: 640). Spannungen bezögen sich aber niemals auf die Mehrheit der Staaten, sondern nur auf einen untergeordneten Teil des Systems. Wenn man nicht gerade der „einzelne Staat ...“ sei, der „sich gegen das Ganze schon in einer Spannung ...“ befindet, wird man „bei seiner Verteidigung mehr Interessen für als gegen sich haben ...“ (Clausewitz 1980: 640). Den künftigen Kritikern seiner Gleichgewichtstheorie schleudert Clausewitz die folgenden Sätze entgegen:
130 Die Unterscheidung zwischen „Status quo“-Mächten und „revolutionären“ – im Sinne von: revisionistischen – Mächten greift später Henry Kissinger wieder auf und vertieft sie. Er kommt zu dem Schluss, dass es stets „revolutionäre“ Mächte im internationalen System gibt (Kissinger 1980). Für diesen Hinweis danke ich Thomas Jäger.
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5 Typen von Interaktionssystemen
Wer über diese Betrachtungen wie über utopische Träume lacht, der tut es auf Kosten der philosophischen Wahrheit. Wenn diese uns die Verhältnisse erkennen läßt, in welchen die wesentlichen Elemente der Dinge zueinander stehen, so wäre es freilich unüberlegt, mit Übergehung aller zufälligen Einmischungen daraus Gesetze herleiten zu wollen, nach welchen jeder einzelne Fall geregelt werden könnte. Wer sich aber nach dem Ausdruck eines großen Schriftstellers nicht über die Anekdote erhebt, die ganze Geschichte daraus zusammenbaut, überall mit dem Individuellsten, mit der Spitze des Ereignisses anfängt und nur so tief hinuntersteigt, als er eben Veranlassung findet, also niemals auf die tief im Grunde herrschenden allgemeinen Verhältnisse kommt, dessen Meinung wird auch niemals für mehr als einen Fall Wert haben, und dem wird freilich, was die Philosophie für die Allgemeinheit der Fälle ausmacht, wie ein Traum erscheinen (1980: 640, H. i. O.).
Gäbe es das politische Gleichgewicht nicht, so müssten die Staaten im historischen Verlauf „notwendig in einem zusammenfließen“ (Clausewitz 1980: 640). Und „wenn der Schutz des Ganzen nicht immer zur Erhaltung jedes einzelnen hingereicht hat, so sind das Unregelmäßigkeiten in dem Leben dieses Ganzen, die aber dasselbe noch nicht zerstört haben, sondern von ihm überwältigt worden sind“ (Clausewitz 1980: 640-641).131 Anschließend beschäftigt sich Clausewitz etwas eingehender mit einer damals viel diskutierten – wenn man so will – Ausnahme seiner Theorie: der Teilung Polens, „ohne daß von einem der übrigen Staaten ein Schwert gezogen wurde“ (1980: 641). Wieso hatte die allgemeine Tendenz des Staatensystems diese Teilung nicht verhindert? Abgesehen davon, dass seine Theorie Ausnahmen zulasse (Clausewitz 1980: 641), ist Clausewitz’ Erklärung, dass es sich bei dem damaligen polnischen Staat um einen – in heutiger Terminologie – „schwachen Staat“ (Holsti 1995) gehandelt habe.132 Das „Staatsleben“ Polens sei „liederlich“ gewesen, „der Begriff eines selbständigen, nach außen abgeschlossenen Staates gar nicht mehr vorhanden“ (Clausewitz 131 Dieser Gedanke findet sich auch in den politischen Schriften von Friedrich von Gentz. Gentz definiert ein politisches Gleichgewicht wie folgt: „Das, was man gewöhnlich politisches Gleichgewicht (balance du pouvoir) nennt, ist diejenige Verfassung neben einander bestehender und mehr oder weniger mit einander verbundner Staaten, vermöge deren keiner unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte eines andern, ohne wirksamen Widerstand von irgend einer Seite, und folglich ohne Gefahr für sich selbst, beschädigen kann“ (1806: 1, H. i. O.). Auch für Gentz handelt es sich jedoch bei einem politischen Gleichgewicht nicht um einen statischen Mechanismus, sondern um ein flexibles System, welches eben auch Ausnahmen zulässt, ohne jedoch deswegen gleich seine generelle Funktion zu verlieren: „So wie aber auch die beste, von Menschen zu erfindende Staats-Verfassung ihrem Zwecke nie vollständig entspricht, und immer noch einzelnen Verletzungen, Bedrückungen und Ungerechtigkeiten Raum läßt: desselben gleichen ist die vollkommenste Völker-Verfassung nicht stark genug, um jedem Eingriffe eines mächtigern Staates in die Gerechtsame eines MinderMächtigen zuvor zu kommen“ (1806: 4). Für diesen Hinweis danke ich Thomas Jäger. 132 „Wir wollen damit weder verächtlich von dem Volk der Polen reden, noch die Teilung des Landes rechtfertigen, sondern nur die Sachen sehen, wie sie sind“ (Clausewitz 1980: 641).
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1980: 642), eine effektive Zentralgewalt also nicht gegeben. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so hätten die an sich interessierten regionalen Mächte Frankreich, Schweden und die Türkei „ganz anders zu seiner Erhaltung mitwirken können. Wenn aber die Erhaltung eines Staates bloß von außen besorgt werden soll, so ist das freilich zu viel verlangt“ (Clausewitz 1980: 642). Clausewitz fasst seine nunmehr modifizierten allianztheoretischen Überlegungen folgendermaßen zusammen: Wir kehren zu unserem Gegenstand zurück und glauben dargetan zu haben, daß ein Verteidiger im allgemeinen mehr auf äußeren Beistand rechnen darf als der Angreifende; er wird um so sicherer darauf rechnen dürfen, je bedeutender sein Dasein für alle übrigen, d. h. je gesunder und kräftiger sein politischer und kriegerischer Zustand ist (1980: 642).
Doch wie viel Beistand ist vom Bündnispartner zu erwarten? Diese Frage beantwortet Clausewitz in seiner zweiten ausführlichen Behandlung des Themas Allianzkriegführung im achten Buch „Vom Kriege“ (1980), das vom „Kriegsplan“ handelt, also vom strategischen Handeln. Dort nimmt Clausewitz eine etwas andere Perspektive auf dieses Thema ein, nämlich die Akteursperspektive. Es geht ihm im betreffenden Kapitel um den „Einfluss des politischen Zweckes auf das kriegerische Ziel“ (Clausewitz 1980: 967). Aus der Akteursperspektive ist Allianzkriegführung für Clausewitz stets hochgradig prekär: „Niemals wird man sehen, daß ein Staat, der in der Sache eines anderen auftritt, diese so ernsthaft nimmt wie seine eigene. Eine mäßige Hilfsarmee wird vorgesandt; ist sie nicht glücklich, so sieht man die Sache ziemlich als abgemacht an und sucht so wohlfeil als möglich herauszukommen“ (1980: 987).133 Das Problem ist, dass die Beistandsverpflichtung im Allianzvertrag nicht auf „Feindschaft“ oder „Interesse“ gegründet ist, sondern man sich „ohne Rücksicht auf den Gegenstand des Krieges und die Anstrengungen des Gegners im Voraus eine bestimmte, gewöhnlich sehr mäßige Kriegsmacht [zusagt]“ (Clausewitz 1980: 987, H. d. V.). Auch was die Wahrnehmung der eigenen Rolle angeht, so „betrachtet sich der Bundesgenosse mit dem Gegner nicht in einem eigentlichen Krieg ..., der notwendig mit einer Kriegserklärung anfangen und mit einem Friedensschluß 133 Vermutlich hat Clausewitz diesen Gedanken von Machiavelli übernommen, dessen Schriften Clausewitz nachweislich rezipiert und geschätzt hat, insbesondere diejenigen mit außenpolitischem Bezug (Heuser 2005: 8-9). So schreibt Machiavelli über „Hilfstruppen“: „Von Hilfstruppen, der zweiten Art unbrauchbarer Truppen, spricht man, wenn man eine andere Macht herbeiruft, damit sie dir mit ihren Streitkräften zu Hilfe kommt und dich verteidigt“ ([1532] 1955: 55). Etwas weiter unten wird Machiavelli noch deutlicher: „Wer also die Möglichkeit des Sieges verspielen will, der verwende Hilfstruppen; denn sie sind viel gefährlicher als Söldner“ ([1532] 1955: 56). Für diesen Hinweis danke ich Thomas Jäger.
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endigen müßte“ (Clausewitz 1980: 987). Schließlich überträgt ein Bündnispartner nicht seine Truppe regelrecht an den Kriegführenden, sondern „[g]ewöhnlich haben die Hilfstruppen ihren eigenen Feldherrn, der nur von seinem Hofe abhängt, und dem dieser ein Ziel steckt, wie es sich mit der Halbheit seiner Absicht am besten verträgt“ (Clausewitz 1980: 988). Doch selbst in Fällen, in denen Bündnispartner „wirklich Kriegführende gegen einen Dritten sind ...“, wird dieser nicht als Feind betrachtet, den es zu „vernichten“ gilt, sondern „die Sache wird oft wie ein Handelsgeschäft abgemacht; ein jeder legt nach Verhältnis der Gefahr, die er zu bestehen und der Vorteile, die er zu erwarten hat, eine Aktie von 30 bis 40.000 Mann ein und tut, als könne er nichts als diese dabei verlieren“ (Clausewitz 1980: 988). Entscheidend ist, dass dies nicht nur gilt, „wenn ein Staat dem anderen in einer Angelegenheit beispringt, die ihm ziemlich fremd ist, sondern selbst dann, wenn beide ein gemeinsames großes Interesse haben ...“ (Clausewitz 1980: 988). Selbst bei denjenigen Alliierten, welche bei der Erhaltung eines Landes wesentlich beteiligt sind“ (Clausewitz 1980: 638, H. i. O.), die ein hohes Eigeninteresse am Gleichgewicht des internationalen Systems haben, „kann es ohne diplomatischen Rückhalt nicht abgehen, und die Unterhandelnden pflegen sich nur zu einem geringen traktatenmäßigen Beistand zu verstehen, um das übrige ihrer kriegerischen Kräfte nach den besonderen Rücksichten zu gebrauchen, zu welchen die Politik etwa führen könnte“ (Clausewitz 1980: 988). Jeder Staat ist sich also selbst am nächsten und möchte für den Fall der existenziellen Verteidigung selbst über seine Kräfte disponieren können. Dies macht die Allianzkriegführung prekär! Doch auch hier definiert Clausewitz Ausnahmen. Die geschilderte „Art, den Bündniskrieg zu betrachten ...“ ändert sich wesentlich dort, „wo die äußerste Gefahr die Gemüter in die natürlichen Wege hineintrieb, wie gegen Bonparte, und wo schrankenlose Gewalt sie hineinzwang, wie mit Bonparte ...“ (Clausewitz 1980: 988, H. i. O.). Die Allianzkriegführung wird somit erstens in dem Maße effektiver, wie stark die Allianz einer existenziellen, äußeren Bedrohung ausgesetzt ist. Dieses Argument ist in den Internationalen Beziehungen vor einiger Zeit als so genannte „balance-of-threat“-Theorie wieder in die Debatte eingeführt und genauer ausgearbeitet worden (Walt 1987). Außerdem wird die Allianzkriegführung zweitens in dem Maße effektiver, in dem ein mächtiger Staat zwangsweise die Führung der Allianz übernimmt. Auch diese Hypothese ist – allerdings in modifizierter Weise – in der politikwissenschaftlichen Debatte enthalten: Allianzen steigern ihre Effektivität, wenn sie unter hegemonialer Führung stehen (Gilpin 1981). Allerdings beruht diese hegemoniale Führung auf Anerkennung des Führungsstaates und nicht auf bloßem Zwang (Triepel 1961). Wenn jedoch keine dieser Bedingungen gegeben ist, wird die Allianzkrieg-
5.3 Die Allianzkriegführung
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führung alles andere als intensiv: „[D]er Krieg schleppt sich ... wie ein siecher Körper kraftlos fort“ (Clausewitz 1980: 989). Wie stellen sich Clausewitz’ Überlegungen zur Allianzkriegführung aus einer systemtheoretischen Perspektive dar? Zunächst einmal erscheint eine Allianz als ein spezielles Handlungssystem. Die Elemente dieses Systems sind die interessengeleiteten Handlungen der Staaten. Zwar kann „nicht von einem systematisch geregelten Gleichgewicht der Macht und der Interessen ...“ (Clausewitz 1980: 638) die Rede sein, doch „die großen und kleinen Staats- und Volksinteressen [durchkreuzen sich] auf die mannigfaltigste und veränderlichste Weise“ (Clausewitz 1980: 639). Insofern weisen die Handlungen der Staaten bzw. Völker relativ enge Kopplung bzw. Interdependenz auf. Das Gleichgewicht gerät aus den Fugen, wenn ein Staat durch sein Handeln den Status Quo verändert, etwa sich einen anderen Staat einverleibt. Fühlen sich die anderen davon bedroht, treten sie als Verteidiger einem ‚Gegenhandlungsbündnis’ bei. Hieraus ergibt sich nach Clausewitz die Grundtendenz des Erhalts eines Status Quo im internationalen System, der jedoch durch das Handeln der Systemmitglieder geändert werden kann. Die relativ enge Kopplung im internationalen Handlungssystem findet ihre organisatorische Entsprechung in der Tatsache, dass dem Bündnispartner nur Truppen mit einem eigenen Feldherren zur Verfügung gestellt werden, der darauf zu achten hat, dass stets die eigenen Interessen im Auge behalten werden und der aufs engste mit dem eigenen ‚Hof’ in Verbindung steht. Die Interaktionskomplexität in diesem System ist durch die prinzipielle wechselseitige Ungewissheit über das Handeln der anderen zwar gegeben, wird jedoch durch die Gleichgewichtstendenz einigermaßen in Grenzen gehalten. Die idealtypisch begrenzte Bedrohung erklärt, warum auf der Akteursebene (also auf der Ebene der Handlungssysteme) bei Bündnispartnern nur von einer geringen Beitragsmotivation auszugehen ist. Diese drückt sich hier zunächst ganz konkret in Zahlen aus: Es werden nur relativ geringe Truppenstärken der Allianz zur Verfügung gestellt. Die geringe Beitragsmotivation führt außerdem zu geringer Kampfmoral dieser Truppen: „So geschieht es, daß die Wechselwirkung, das Überbieten, das Gewaltsame und Unaufhaltsame des Krieges sich in der Stagnation schwacher Motive verlieren, und daß beide Parteien sich in sehr verkleinerten Kreisen mit einer Art Sicherheit bewegen“ (Clausewitz 1980: 989). All dies bestätigt die These, dass es sich bei der Allianzkriegführung um den ‚politischen Krieg’ per se handelt. Er ist deswegen in Abbildung 15 (oben, S. 193) noch links vom kleinen Krieg (größere Erwartbarkeit der Interaktionen) und etwas oberhalb vom politischen Krieg (noch engere Kopplung) eingetragen. Stellt man sich einen idealtypischen Bündniskrieg als Krieg zwischen zwei Allianzen vor, so folgt die relative Erwartbarkeit der Wechselwirkungen (= relativ geringe Interaktionskomplexität) des entstehenden Interaktionssystems
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erstens aus der geringen Beitragsmotivation (zahlenmäßig und willensmäßig) der Kriegsparteien. Denn diese führt nicht zu unberechenbaren und schlecht steuerbaren eigendynamischen Prozessen (b) (für die Aufschlüsselung der Merkmale des Grades der Interaktionskomplexität (a) bis (c) sowie der Enge der Kopplung (d) bis (f) vgl. oben, S. 174). Die prinzipiell relativ hohe Erwartbarkeit der Interaktionen folgt zweitens aus der Komplexität der beteiligten Organisationen. Denn hier wird die staatliche Organisation noch von einer Allianzorganisation überwölbt. Um in dieser Situation noch einheitliche Wirkungen zu erzielen, sind die Allianzen im großen Maße auf Routinen angewiesen. Sie können sich nicht wie die Protagonisten des kleinen Krieges allein auf das kreative Zweckdenken verlassen. Dadurch verlöre die Wirkung ihrer Handlungen zu stark an Einheit, so dass die Allianzzwecke des Bündnisvertrages nicht erreicht werden könnten. Dies verkleinert den allgemeinen Informationsmangel im System (c). Die Zwecke können positiv oder negativ sein. Sie sind jedoch stets unbestimmter als der Zweck der nationalen Befreiung einer Volksbewaffnung. Insofern verlieren die Allianzzwecke vergleichsweise an heuristischer Funktionalität. Die verschiedenen Truppen der Allianzpartner haben keinen ‚griffigen’ Zweck, an dem sie leicht ihre Handlungen orientieren können. Stattdessen benötigen sie komplizierte Entscheidungsverfahren, die die Friktionsanfälligkeit erhöhen und die Flexibilität verringern. All dies rechtfertigt es, die Allianzkriegführung in Abbildung 15 (oben, S. 193) noch links vom kleinen Krieg (größere Erwartbarkeit der Interaktionen) anzuordnen, obwohl die Gefechte zwischen den Allianzen in der Regel nicht – wie im kleinen Krieg – tief in den Raum und in die Zeit ausgedehnt werden können (a). Die relativ enge Kopplung zwischen den Gefechtshandlungen im Bündniskrieg hat Gründe, die auf der Ebene der Organisation der Allianzen zu suchen sind. Die Rückbindung an den ‚Hof’ (die nationalen Interessen) und die gleichzeitige Bindung an das ‚Traktat’ (die Allianzinteressen) verhindert eine freie Verteilung der Kämpfe in der Zeit und im Raum. Das Koordinationserfordernis zwischen den verschiedenen alliierten Truppen erfordert ein genaues Timing (d). Aus denselben Gründen ist die Bandbreite gangbarer Handlungssequenzen (e) genauso beschränkt, wie es die Wahl der Mittel (f) ist. Die Allianzkriegführung ist in Abbildung 15 (oben, S. 193) noch oberhalb vom ‚politischen Krieg’ angeordnet, um zu zeigen, dass die Überwölbung der nationalen Organisation durch die Allianz die Bedeutung des Timings nochmals erhöht und die Wahlfreiheit der Mittel bzw. Handlungssequenzen entsprechend nochmals verringert. Da Clausewitz seine Kriegsdefinition an den politischen Zweck des Gewalteinsatzes bindet, ist auch der Bündniskrieg – trotz seiner „Halbheit“ und „Anomalie“ (1980: 988) – Krieg, auch wenn er nur noch in „bloßer Bedrohung des Gegners ...“ und in einem „Subsidium des Unterhandelns ...“ besteht (1980:
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989). Dennoch sind auch diese Interaktionssysteme nicht frei von einer RestUngewissheit über das Gegenhandeln des Gegners. Auch hier muss die „Kriegskunst“ auf der Hut bleiben, dass „das schwankende Gleichgewicht nicht plötzlich zu unserem Nachteil umschlage und der halbe Krieg sich in einen ganzen verwandle“ (Clausewitz 1980: 989). Dadurch bleiben auch Bündniskriege noch – wenn auch geringfügig – komplex (= unerwartbar) in ihren Interaktionen! Stellt man Clausewitz’ Theorien des kleinen Krieges, der Volksbewaffnung und der Allianzkriegführung in den Zusammenhang seiner allgemeinen Theorie des Krieges und verbindet diese mit der Systemtheorie des Handlungs- bzw. Interaktionssystems, so ergibt sich ein differenziertes und gleichwohl griffiges Bild der Kriegstypen. Diese können nicht nur einfach eindimensional in eine Skala eingeordnet werden von Kriegführung niedriger bis hoher Intensität, sondern sie werden genauer differenziert nach den beiden Dimensionen der Interaktionskomplexität und der Kopplung. Der Sinn dieser Differenzierung zeigt sich darin, dass nun eben auch das Gefahrenpotenzial von so genannten „Low Intensity Conflicts“ (Creveld 2001) beschrieben und vorausgesagt werden kann. Verbindet sich in diesen eine hohe Interaktionskomplexität mit einer losen Kopplung, so hat man es mit einem äußerst schwer beeinflussbaren System zu tun. Steht diesem System eine Allianz gegenüber, die auf den Bündniskrieg eingestellt ist, so entsteht nun ein differenziertes Bild der Asymmetrie zwischen diesen Parteien. Denn das Interaktionssystem Bündniskrieg zeichnet sich durch relative Erwartbarkeit der Wechselwirkungen und relativ eng gekoppelte Handlungen aus. In Abbildung 15 (oben, S. 193) wird dies deutlich: In dem Trapez, welches die vier Interaktionssysteme bilden, stehen sich Allianzkriegführung und die Volksbewaffnung diametral gegenüber. Die Schwierigkeiten der Kriegführung aus Sicht der Allianz, die sich aus dieser Konstellation ergeben, sollen im Folgenden an einem Beispiel einer strategischen Analyse mithilfe des hier entwickelten analytischen Instrumentariums skizziert werden. Dazu wird die Analysemethode der historischen Kritik von Clausewitz eingesetzt, die oben (oben, Abschnitt 2.9.1) ausführlich dargestellt wurde. Diese ist mit der systemtheoretischen Interpretation nicht nur kompatibel, sondern wird durch diese ergänzt und noch klarer herausgearbeitet. Gemäß Clausewitz’ Typologie der Fallstudienmethoden, handelt es sich beim folgenden Anwendungsbeispiel um einen – wenn auch sehr ausführlichen – Beleg der Plausibilität der hier entwickelten Theorie (vgl. dazu ausführlich oben, Abschnitt 2.9.1). Der Zweck dieses Anwendungsbeispiels besteht darin, die empirische Ergiebigkeit dieser Theorie zunächst einmal zu demonstrieren. Ein regelrechter „Beweis“ (Clausewitz 1980: 337) des Zutreffens aller Facetten der systemtheoretischen Interpretation von Clausewitz’ Handlungstheorie, die durch eine sehr tief greifende und ausführliche Fallstudie zu leisten ist, muss hingegen einer
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späteren Arbeit vorbehalten bleiben. Die Wahl des Beispiels folgt Clausewitz’ Empfehlung, dass „die neueste Kriegsgeschichte immer das natürlichste Feld für die Wahl der Beispiele sein muß, insoweit sie nur hinreichend bekannt und bearbeitet ist“ (1980: 341). Das letztere Kriterium ist zumindest teilweise erfüllt. Da der Einsatz der ISAF in Afghanistan seit 2003 andauert, ist mittlerweile eine beachtliche Zahl von größeren und kleineren Studien verfügbar, auf die die folgende Analyse aufbauen kann. Gemäß der heutigen sozialwissenschaftlichen Terminologie handelt sich beim folgenden Beleg um eine so genannte Theorieanwendung („theory application“, Van Evera 1997: 4). In Abgrenzung zur Methode des Theorietests („theory testing“, Van Evera 1997: 4) geht es bei der Theorieanwendung darum, mithilfe der zuvor dargelegten Theorie entweder historische Fragen bzw. „policy“Probleme (zur Abgrenzung des „policy“-Begriffs von den Begriffen „polity“ und „politics“ vgl. Birle/Wagner 2001) zu lösen oder eine Evaluierung vergangener, gegenwärtiger (oder für die Zukunft geplanter) Politik vorzunehmen (Van Evera 1997: 4). Im folgenden Anwendungsbeispiel werden beide Ziele verfolgt. Erstens wird es darum gehen, mithilfe der systemtheoretischen Interpretation von Clausewitz’ Handlungstheorie den heutigen Krieg in Afghanistan zu beschreiben und zu erklären. Unter anderem wird gefragt: Aus welchen Motiven geht der Krieg hervor? Welche Akteure sind an ihm beteiligt? Unter welchen Rahmenbedingungen findet er statt? Zweitens wird eine Evaluation der Strategie der NATO in Afghanistan sowie der gegenwärtig geplanten Änderungen an dieser Strategie vorgenommen. Die Kriterien dieser Evaluation ergeben sich wiederum aus der Theorie.
6.1 Vorgeschichte und Lage im Jahr 2010
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6 Anwendungsbeispiel: Die Strategie der NATO in Afghanistan
6.1 Vorgeschichte und Lage im Jahr 2010 Einen Tag nach den Terroranschlägen auf die USA vom 11. September 2001 wurde der Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages, dem Gründungsvertrag der NATO, ausgerufen. Dies geschah zum ersten Mal in der damals rund fünfzigjährigen Geschichte des Bündnisses. Wenige Wochen später griff eine von den USA angeführte Koalition von Staaten unter der Bezeichnung Operation Enduring Freedom (OEF) Afghanistan an. Zuvor hatte die TalibanRegierung die Auslieferung des Terroristenführers und mutmaßlichen Drahtziehers der Anschläge, Osama Bin Laden und seiner Gefolgsleute der Terrororganisation al-Qaida, verweigert. Der Angriff auf Afghanistan erfolgte, indem man eine Koalition aus regierungsfeindlichen Kräften (‚Nordallianz’) durch Spezialkräfte und die amerikanische Luftwaffe unterstützte. Die NATO selbst wurde zu diesem Zeitpunkt nicht involviert bzw. nur sehr peripher, indem sie bestimmte Überwachungsaufgaben in einigen NATO-Staaten übernahm. Die Nordallianz siegte nach wenigen Wochen; die Taliban wurden vertrieben und flüchteten, wie man heute weiß, zu einem großen Teil ins afghanischpakistanische Grenzgebiet, wo sie untertauchten (Jones 2009). Nach Ende der Kampfhandlungen wurde durch Beschluss der internationalen Bonner Konferenz Anfang Dezember 2001 in Afghanistan ein Regierungssystem eingerichtet, das an westlichen Vorbildern orientiert war. Eine Stammesversammlung (‚Loja Dschirga’) wählte anschließend Hamid Karsai, den Wunschkandidaten der USA, zum Präsidenten von Afghanistan. Bereits am 20. Dezember 2001 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Resolution (1386 (2001)), mit der eine internationale militärische Unterstützungsmission für die afghanische Regierung geschaffen wurde: „The Security Council ... [a]uthorizes, as envisaged in Annex 1 to the Bonn Agreement, the establishment for 6 months of an International Security Assistance Force ...” Diese Mission, kurz ISAF genannt, wurde in Afghanistan – zunächst nur in Kabul – stationiert.
R. Beckmann, Clausewitz trifft Luhmann, DOI 10.1007/978-3-531-92730-5_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Anwendungsbeispiel: Die Strategie der NATO in Afghanistan
Ein regelrechter Friedenszustand kehrte in Afghanistan nie ein. Bereits um die Jahreswende 2001/2002 begannen – zunächst vereinzelt – Terroranschläge auf afghanische Regierungsangehörige, die ISAF sowie staatliche und nichtsstaatliche Unterstützungsorganisationen, die in großer Zahl nach Afghanistan gekommen waren. Seth Jones zufolge, der die bisher beste und detailreichste Geschichte des Afghanistankrieges seit 2001 vorgelegt hat, verschlechterte sich die Lage zusehends. Spätestens 2003 sei vonseiten der ISAF-Staaten bemerkt worden, dass es in Afghanistan eine mehr oder minder organisierte militärisch operierende Aufstandsbewegung gibt (Jones 2009). Im August 2003 wurde das Kommando der ISAF an die NATO übergeben. Diese hatte im Rahmen ihres Transformationsprozesses seit Ende des Ost-West-Konflikts sich zunehmend auf Operationen außerhalb des traditionellen Bündnisgebiets eingestellt (Theiler 2003). Nach großen Spannungen im transatlantischen Bündnis aufgrund der Uneinigkeit der NATO-Staaten im Vorfeld des US-geführten Irakkriegs 2003, wurde der NATO-Einsatz in Afghanistan als Chance begriffen, die NATOAllianz aufzuwerten. Dies war dringend nötig, da die NATO die einzige traditionsreiche sicherheitspolitische Institution darstellt, die Politiker dies und jenseits des Atlantiks regelmäßig an einen Tisch bringt (Varwick 2008; Haftendorn 2005). Die Lage in Afghanistan hat sich aus Sicht des Westens in den letzten Jahren kontinuierlich verschlechtert. Die Zahl der von Aufständischen durchgeführten Anschläge auf ISAF-Truppen, afghanische Regierungsangehörige und zivile Ausländer ist gestiegen (Ehrhart/Kaestner 2008). Es ist den Aufständischen gelungen, die von ihnen militärisch und politisch kontrollierten Gebiete stetig auszudehnen. Die Provinzen Helmand und Kandahar im Süden sowie die Provinzen Paktia, Paktika und Khost im Osten des Landes stehen faktisch unter Kontrolle der Aufständischen. Landesweiten politischen Einfluss nehmen die Aufständischen durch eine Schattenregierung, die ‚Gouverneure’ in den meisten Provinzen eingesetzt hat und über politische Strukturen bis zur lokalen Ebene verfügt (McChrystal 2009: 2.7). Die soziopolitischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der afghanischen Gesellschaft haben sich indessen in den letzten Jahren nicht bedeutend gebessert. Die afghanische Zentralregierung steckt in einer Legitimitätskrise, die der internationalen Öffentlichkeit schlaglichtartig durch die Fälschung der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2009 vor Augen geführt wurde. So schrieb der damalige ISAF-Kommandeur General Stanley McChrystal134 in seiner Einschätzung der Lage in Afghanistan vor Dienstantritt im Sommer 2009 an seinen obersten Dienstherrn, den US-Verteidigungsminister Robert Gates: „Important 134 McChrystal wurde im Juli 2010 von General David Petraeus abgelöst.
6.2 Zwecke und Ziele der ISAF
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progress has been made, yet many indicators suggest the overall situation is deteriorating despite considerable effort by ISAF“ (2009: 2.1). Mit Bezug auf die Stimmung in der Zivilbevölkerung schreibt er einige Seiten zuvor: „Afghans are frustrated and weary after eight years without evidence of the progress they anticipated. Patience is understandably short, both in Afghanistan and in our own countries“ (McChrystal 2009: 1.4). 6.2 Zwecke und Ziele der ISAF Welchen offiziellen politischen Zweck135 verfolgt die von der NATO geführte ISAF in Afghanistan? Der politische Zweck der ISAF ergibt sich aus internationalen politischen Konferenzen über Afghanistan, in denen die ‚internationale Gemeinschaft’ diese Zwecke festlegt. So wurde auf der AfghanistanKonferenz in London Ende Januar 2010 beschlossen, dass die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan gemeinsam mit der ‚internationalen Gemeinschaft’ folgenden Zweck verfolgt: „helping Afghanistan emerge as a secure, prosperous, and democratic nation“ (London Conference 2010: § 1). Hinter dieser zunächst bescheiden anmutenden Formulierung steht der politische Zweck der Staatsbildung („nation building“, vgl. Dobbins et al. 2007) in Afghanistan. Die im Zweck enthaltene gewünschte politische Wirkung aller Handlungen soll konkret in einem funktionierenden demokratischen Staat Afghanistan bestehen sowie in Sicherheit und Wohlstand dieses Landes. Ein weiterer politischer Zweck besteht in der Stabilisierung der afghanischen Regierung: „The international community underlined its support for the Government of Afghanistan and its security, development and governance“ (London Conference 2010: § 1). Diese Regierung, wiederum unter Karsai als Präsident, leidet unter dem ‚Geburtsfehler’, dass sie 2009 durch Wahlbetrug, wie die internationalen Beobachter feststellten, entstanden ist. Welches sind die offiziell artikulierten militärischen Ziele der ISAF? Diese ergeben sich aus den Dokumenten der militärischen Behörden der NATO, konkret aus dem „Mission Statement“ der ISAF: „ISAF, in support of the Government of the Islamic Republic of Afghanistan, conducts operations in Afghanistan to reduce the capability and will of the insurgency, support the growth in capacity and capability of the Afghan National Security Forces (ANSF), and facilitate improvements in governance and socio-economic development, in order to provide a secure environment for sustainable stability that is observable to the population” (ISAF 2010a). ISAF soll mit seinen Operationen die afghanische Regie135 Im Folgenden werden jeweils die in den vorigen Kapiteln entwickelten analytischen Begriffe kursiv gedruckt, um dem Leser deren Anwendungsmöglichkeiten vor Augen zu führen.
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6 Anwendungsbeispiel: Die Strategie der NATO in Afghanistan
rung unterstützen. Gemeinsam sollen sie den Aufstand zurückdrängen, afghanische Sicherheitskräfte ausbilden, die Regierungsfähigkeit des Staates und die sozioökonomische Entwicklung seiner Gesellschaft verbessern, um der afghanischen Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität zu geben. Hier zeigt sich die enge Verbundenheit zwischen den vielfältigen Zielen und dem politischem Zweck von ISAF. Jedes der Ziele dient letztlich dazu, die Bevölkerung hinter der afghanischen Regierung zu vereinigen und diese so zu stabilisieren. Jedes Ziel muss – hinsichtlich der Nebenfolgen seiner Erreichung – am Erreichen des politischen Zwecks gemessen werden. 6.3 Zwecke, Ziele und Mittel der Aufständischen im Interaktionssystem Volksbewaffnung Doch mit welchem Gegenhandeln welchen Gegners hat es die NATO in Afghanistan eigentlich zu tun? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die NATO erst seit Dezember 2008 in ihren politischen Dokumenten bezüglich der Gegner der ISAF von „insurgents“, also Aufständischen, spricht: „We condemn the deliberate tactics and actions by insurgents in complete disregard for human life“ (NATO Foreign Ministers 2008: § 5). In der „Strategic Vision“ vom April desselben Jahres kommen die Begriffe „insurgents“ oder „insurgency“ hingegen noch nicht vor (NATO Heads of State and Government 2008). Dies spiegelt den von den USA eingeleiteten Wandel der Strategie der ISAF wider hin zur so genannten Counterinsurgency (kurz: COIN), d. h. Aufstandsbekämpfung. Personalisiert wurde der Strategiewandel durch die Ernennung des US-amerikanischen Generals Stanley McChrystal zum Kommandeur der ISAF im Juni 2009.136 Wer sind nun die Aufständischen und welche politischen Zwecke bzw. militärischen Ziele verfolgen sie? Was die „politischen Forderungen“, d. h. Zwecke, dieser Gruppen angeht, so gilt immer noch, was Clausewitz vor rund 200 Jahren mit Bezug auf den Krieg im Allgemeinen geschrieben hat: „allein sie liegen nicht immer so offen da“ (1980: 960). In dieser Situation hilft nur Clausewitz’ Methode, mit den verfügbaren Informationen nach Wahrscheinlichkeitsüberlegungen auf den Zweck der Aufständischen zu schließen. Bekannt ist, dass es sich bei den Aufständischen hinsichtlich ihrer Organisationsstrukturen um eine extrem heterogene Bewegung handelt, die als „Neo-Taliban“ bezeichnet werden, 136 Gleichzeitig erhielt er das Kommando über die US Forces Afghanistan, die auch die AntiterrorOperation Enduring Freedom in Afghanistan durchführen. Letztere – darüber hinaus weltweit laufende – Operation wird von US-Centcom (= US Central Command in den USA) geführt. McChrystal wurde im Juli 2010 von General David Petraeus abgelöst, der von 2007 bis 2008 die Aufstandsbekämpfung im Irak geleitet hatte.
6.3 Zwecke, Ziele und Mittel der Aufständischen im Interaktionssystem Volksbewaffnung
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um die Wandelbarkeit und Uneinheitlichkeit der Gruppen auszudrücken, aus denen sie besteht (Ehrhart/Kaestner 2008: 3). Die wichtigsten aufständischen Gruppen nennen sich, in der Reihenfolge ihrer Bedrohlichkeit für die ISAF, „Quetta Shura Taliban (QST), the Haqqani Network (HQN) and the Heb-e Islami Gulbuddin (HiG)“ (McChrystal 2009: 2.6). Gemäß dem McChrystal-Bericht verfolgen sie zwei Ziele („objectives“), die in der hier entwickelten Terminologie präziser als Zwecke bezeichnet werden können: (a) den positiven politischen Zweck der Kontrolle des afghanischen Volkes durch Übernahme der Regierungsmacht in Kabul und b) den negativen politischen Zweck, den Willen der Koalition zu brechen und diese aus Afghanistan zu vertreiben (2009: 2.6). Da es sich – vor allem bei der QST – um Nachfolger derjenigen Taliban handelt, die vor 2001 das Land beherrschten, ist davon auszugehen, dass sie ihr stark religiös und extrem konservativ geprägtes islamistisches Regime wieder aufrichten möchten. Andere Gruppen mögen andere, hierzu teilweise in Konkurrenz stehende politische Zwecke verfolgen. Wieder andere verfolgen ökonomische Zwecke – entweder Profite aus dem Drogenhandel bzw. Drogenschmuggel oder schlicht aus der lokalen Bereitstellung von Sicherheit durch einheimische bewaffnete Kräfte (McChrystal 2009: 2.8; Maaß 2009; Maaß 2010). Die stark unterschiedlichen Zwecke, die diese Gruppierungen verfolgen, vereinigen sich jedoch unter dem ‚Dach’ des übergeordneten negativen politischen Zwecks, die ISAF-Truppen aus Afghanistan zu vertreiben: „The first threat is the existence of organized and determined insurgent groups working to expel international forces, separate the Afghan people from GIRoA [Government of the Islamic Republic of Afghanistan, R. B.], and gain control of the population” (McChrystal 2009: 2.5). Es lässt sich hieraus schließen, dass ‚die’ Aufständischen das übergeordnete militärische Ziel der ‚Preiserhöhung’ für die ISAF im Sinne einer Ermattungsstrategie verfolgen (vgl. oben, S. 166-167). Sie wollen der ISAF also durch ihre Handlungen klarmachen, dass die politischen, ökonomischen, finanziellen und sonstigen Kosten (dazu gehört auch Zeit) für die ISAF so hoch werden, dass sie deren Zweck nicht mehr aufwiegen können: „the insurgents can also succeed more simply bei preventing GIRoA from achieving their goals before the international community becomes exhausted“ (McChrystal 2009: 2.5). Trifft diese Einschätzung zu, so handelt es sich auf der strategischen Ebene beinahe um die idealtypischen Zwecke und Ziele einer Volksbewaffnung (vgl. oben, Abschnitt 5.2). Denn der bestimmte, d. h. eng definierte, Zweck der Vertreibung der ISAF aus Afghanistan sowie das resultierende, ebenso eng definierte, militärische Ziel der ‚Preiserhöhung’ ermöglichen die lose Koordination der Einzelstrategien der konkurrierenden Gruppen. Zweck und Ziel
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erfüllen – aus Sicht der Aufständischen – in hervorragender Weise ihre Funktion als Heuristik zur Mittelfindung, d. h. zur Reduktion von Komplexität (vgl. oben, Abschnitt 4.3.2): „These groups coordinate activities loosely, often achieving significant unity of purpose and even some unity of effort, but they do not share a formal command-and-control structure. They also do not have a single overarching strategy or campaign plan. Each individual group, however, has a specific strategy, develops annual plans, and allocates resources accordingly” (McChrystal 2009: 2.5). Und man könnte hinzufügen: Aus Sicht der hier entwickelten Theorie benötigen sie – zumindest zur Erreichung ihrer übergeordneten Zwecke – auch keine „overarching strategy“. Welche Art des Interaktionssystems bildet sich in den Kampfhandlungen zwischen Aufständischen und ISAF? Für Clausewitz kann erst mit der Verteidigung überhaupt von einem Krieg gesprochen werden (1980: 644). Daraus folgt, dass der Verteidiger „auch die ersten Gesetze für den Krieg aufstell[t]“ (Clausewitz 1980: 644). An anderer Stelle schreibt Clausewitz im selben Sinne: „Der Krieg ist mehr für den Verteidiger als für den Eroberer da, denn der Einbruch hat erst die Verteidigung herbeigeführt und mit ihr erst den Krieg“ (1980: 634). Überträgt man diese Gedanken auf Afghanistan, so folgt, dass die Aufständischen als strategische Verteidiger gegen die ISAF ‚die ersten Gesetze für den Krieg aufstellen’, d. h. konkret: Sie haben den größeren Einfluss auf die Ausgestaltung des Interaktionssystems. Sie haben es strukturell leicht, der ISAF die von ihnen gewünschte Form der Kriegführung ‚aufzudrängen’ – und diese ist die Volksbewaffnung! Die Aufständischen verweigern den Angreifern häufig das taktische Verteidigungsgefecht, in welchem die Angreifer ihre spezifischen Stärken, nämlich ihre waffentechnische Effizienz, ausspielen könnten. Stattdessen ziehen sich die Aufständischen in den Raum zurück und dehnen die Kampfhandlungen in die Zeit aus. Sie verfolgen eine Strategie der Dekonzentration der Kräfte, während die regulären Streitkräfte – heute wie zu Clausewitz’ Zeiten – vor allem auf Kräftekonzentration ‚getrimmt’ sind.137 In Afghanistan bedeutet ‚Ausdehnung in den Raum’ zum einen den Rückzug in die schwer zugänglichen Berge der afghanisch-pakistanischen Grenzregion. Die Hochburgen der Aufständischen im Süden und Osten des Landes haben senkrecht zur Front verlaufende Rückzugs- und Verbindungslinien in die Gebirge in ihrem Rücken – ein unermesslicher Vorteil für eine strategische Defensive (Clausewitz 1980: 597-601). Zum anderen wird auch in diesem Volkskrieg der Rückzug in den erweiterten „Raum“ des „Untergrundes“ gesucht 137 Dies erklärt auch das bekannte Diktum: „[M]it Partisanen muß man als Partisan kämpfen“ (zitiert nach Schmitt 1992: 20). Denn da die Partisanen das große Gefecht verweigern, bleibt dem Angreifer nichts übrig, als sich dem Kampf in kleinen Gefechte zu stellen – oder abzuziehen.
6.3 Zwecke, Ziele und Mittel der Aufständischen im Interaktionssystem Volksbewaffnung
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(Schmitt 1992: 71-74). Konkret heißt dies, dass die Neo-Taliban schlicht in die Rolle von Zivilisten schlüpfen können. Dieser Rückzug in den ‚Untergrund’ wird vor dem Hintergrund der technischen Möglichkeiten der westlichen Truppen zur Aufklärung (man denke an Drohnen, Satelliten, die hochauflösende Bilder aufnehmen können etc.) besonders relevant. Aus Sicht der Neo-Taliban muss der Aufstand in Afghanistan ebenfalls „wie ein nebel- und wolkenartiges Wesen sich nirgends zu einem widerstehenden Körper konkreszieren ...“ (Clausewitz 1980: 803). Misslänge dies, wären auch heute die Folgen so fatal für die Volksbewaffnung wie zu Zeiten Clausewitz’: „[S]onst richtet der Feind eine angemessene Kraft auf diesen Kern, zerstört ihn und macht eine große Menge Gefangene; dann sinkt der Mut, alles glaubt, die Hauptfrage sei entschieden, ein weiteres Bemühen vergeblich, und die Waffen fallen dem Volke aus den Händen“ (1980: 803). Auch die taktischen Mittel der Aufständischen unterscheiden sich nur in ihrer technischen Raffinesse, in ihrer Struktur entsprechen sie den seit Jahrtausenden bewährten Mitteln des kleinen Krieges (vgl. oben, Abschnitt 5.1). Es ist der „Kampf kleiner und kleinster, überall im Lande verteilter, in der Regel im Rücken feindlicher Streitkräfte operierender gemischter Einheiten mit dem Ziel, durch Überfälle, Hinterhalte Schaden und Verwirrung beim Gegner anzurichten, ihn ständige zu beunruhigen, auf die Dauer zu ermüden und zu zermürben, seinen Nachschub an Verpflegungsmitteln und Kriegsmaterial zu stören, kleine feindliche Abteilungen, Kuriere, einzelne Führungspersonen, Stabsquartiere ebenso wie Magazine, Depots zu vernichten, Straßen unpassierbar zu machen, Sabotageakte aller Art zu begehen ...“ (Hahlweg 1967: 9). Eine wichtige Rolle aus Sicht der Aufständischen spielt heutzutage das Mittel der Sprengfallen (so genannte ‚improvised explosive devices’ (IEDs)), die kostengünstig und relativ einfach herzustellen sind (Wilson 2007). Diese werden eingesetzt, um Patrouillen der ISAF anzugreifen. Die psychische Wirkung dieser Angriffe ist besonders verheerend (McChrystal 2009: 2.7), was sich im vermehrten Auftreten vom so genannten post-traumatischen Belastungssyndrom (PTBS) bei Überlebenden solcher Anschläge ausdrückt (vgl. Robbe 2009: 55-57). Allein die Möglichkeit, dass solche hinterhältigen Anschläge erfolgen könnten, entfaltet bereits eine zermürbende Wirkung auf die ISAF-Truppen im Sinne der Senkung ihrer Kampfmoral, des Wachsens von Misstrauen im Umgang mit der Zivilbevölkerung etc. Hier gilt Clausewitz’ Diktum: „Mögliche Gefechte sind der Folgen wegen als wirkliche zu betrachten“ (1980: 351). Die Wirkung solcher Anschläge wird durch eine Veränderung der internationalen Rahmenbedingungen seit Ende des 20. Jahrhunderts noch verstärkt: die Globalisierung, hier verstanden als Möglichkeit, annähernd in Echtzeit global zu kommunizieren (Jäger/Beckmann 2007: 25-26). Videos von Anschlägen, Entführungen etc.
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können heutzutage über das Internet blitzschnell weltweit verbreitet werden. Dies führt zu einer Angleichung der taktischen und strategischen Ebenen, so dass taktische Mittel unter bestimmten Umständen eine strategische Wirkung entfalten können (Kilcullen 2006: 6). Es kann jedoch andererseits – etwa durch besondere Brutalität eines Anschlages – zu einer Unterhöhlung der Unterstützung der Zivilbevölkerung für die Aufständischen führen. Auch hier handelt es sich um den Fall, dass die Nebenfolgen eines Mittels seinen Zweck konterkarieren. 6.4 Innere und äußere Rahmenbedingungen einer Volksbewaffnung in Afghanistan Die Erfolgsaussichten für einen Aufstand hängen nach Clausewitz von den soziopolitischen und sonstigen Rahmenbedingungen ab, in die der Aufstand eingebettet ist. Clausewitz definiert fünf Bedingungen für einen erfolgreichen Aufstand. Wie stellen sich diese (vgl. oben, S. 187) in Afghanistan dar? (1) Der Krieg muss im Landesinneren geführt werden (Clausewitz 1980: 801): Dies trifft für Afghanistan zu. Zwar ziehen sich die Aufständischen häufig in das pakistanisch-afghanische Grenzgebiet zurück, doch zum einen ist dies nahes Ausland, zum anderen erstreckt sich das Gebiet des größten und einflussreichsten afghanischen Stammes, der Paschtunen, dem die meisten Taliban angehören (Maaß 2009: 1), von Ost nach West über diese Grenze hinweg. Für die Paschtunen ist diese Grenze somit bedeutungslos. Entscheidend für den Erfolg der Volksbewaffnung ist, dass sie auf einheimische Unterstützung und auf kurze Rückzugs- und Verbindungslinien zählen kann. (2) und (3) darf der Krieg nicht durch eine einzige „Katastrophe“ (Clausewitz 1980: 801) entschieden werden und muss auf einem ausgedehnten Gebiet stattfinden (Clausewitz 1980: 801): Eine entscheidende, für die Neo-Taliban katastrophale Schlacht, ist relativ einfach zu vermeiden, was eben mit dem riesigen Raum, in dem der Aufstand stattfindet, zu tun hat. (4) Es müssen „Volkscharakter“ (Clausewitz 1980: 801, H. d. V.) und Sozialstruktur einen Aufstand begünstigen (Clausewitz 1980: 801): Afghanistan gehört zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Im Human Development Indicators-Ranking des United Nations Development Programme (UNDP) liegt Afghanistan auf dem 181. ‚Platz’, nur noch gefolgt von Niger (UNDP 2009). Der Bildungsstand der Bevölkerung gehört ebenfalls zu den niedrigsten weltweit (für eine genauere Analyse der Sozialstruktur vgl. Ehrhart/Kaestner 2008: 4-6). Die Bevölkerung erlebt seit dem Einmarsch der Sowjetunion im Jahr 1979 bis zum heutigen Tag einen praktisch ununter-
6.4 Innere und äußere Rahmenbedingungen einer Volksbewaffnung in Afghanistan
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brochenen Kriegszustand von mehr als 30 (!) Jahren (Schetter 2007). Es handelt sich also – mit Clausewitz gesprochen – um eine „arme, an anstrengende Arbeit und Entbehrungen gewöhnte Menschenklasse ...“ (1980: 801). Entsprechend zeigt sich diese „auch kriegerischer und kräftiger ...“ (Clausewitz 1980: 801). Insofern es den Aufständischen gelingt, die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, kann sie durchaus auf die Kampfbereitschaft und Durchhaltefähigkeit der Bevölkerung zählen. Ob dies gelingt, hängt von den politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan ab, also vom Zustand der Regierung in Kabul und ihrem Wert für die Bevölkerung. Um diese kurz zu bewerten, sollen nur zwei Indikatoren angegeben werden. Das politische System Afghanistans gehört zu den dysfunktionalsten der Welt – es belegt auf dem wissenschaftlich renommierten „Failed States Index“ den siebten ‚Platz’ der 60 labilsten Regime der Welt (Failed States Index 2009). Was die Korruption von Regierung und Verwaltung angeht, so belegt Afghanistan im Index von Transparency International den vorletzten (179.) ‚Platz’; dahinter folgt nur noch Somalia (Transparency International 2010). (5) Schließlich gibt Clausewitz als Bedingung für den Erfolg eines Volkskrieges an, dass das Land „sehr durchschnitten und unzugänglich“ sein müsse (1980: 801). Hier dürfte Afghanistan durch seine allgemeine Kargheit und vielen schroffen Gebirgszüge beinahe ideale Voraussetzungen bieten. Hinzu kommt die dünne Besiedelung des Landes, die heute (wie zu Clausewitz’ Zeiten) dazu führt, dass „die Unterbringung der Truppen ... unendliche Schwierigkeiten [hat]“ (Clausewitz 1980: 801). Insgesamt bietet die heutige Situation in Afghanistan einen beinahe idealen Nährboden für die Aufständischen. Doch wie steht es um die „Beitragsmotivation“ (Luhmann 1973: 128-143; vgl. auch oben, S. 189-190) der militanten Gruppen? Im 19. Jahrhundert hatte die politische Mobilisierung der Aufständischen der Volksbewaffnung die entscheidende Dynamik und Gefährlichkeit verliehen. Es war der Kampf um die politische Ordnung, der den „bewaffnete[n] Bauern“ (Clausewitz 1980: 802) die notwendige Motivation gab (etwa in Spanien gegen die Truppen Napoleons 1808-1814). Eine wichtige Rolle spielte hierbei die ideologische Unterfütterung des Aufstandes. Dieser Faktor erfährt in Afghanistan und in anderen Kriegen seit Ende 1990er Jahre eine entscheidende Transformation. An die Stelle der politischen Motivation von Aufständischen tritt die religiös-fundamentalistische Motivation. Da es im Islam (zumindest bei seinen fundamentalistischen Interpreten) keine Trennung zwischen religiöser und politischer Ordnung gibt, ist der Kampf um die religiöse Ordnung gleichzeitig ein Kampf um die politische Ordnung! Die Taliban möchten einen islamischen Staat aufbauen, dessen Ordnung sich streng nach konservativen Auslegungen des Korans richten soll.
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6 Anwendungsbeispiel: Die Strategie der NATO in Afghanistan
Der Kampf für die religiös-politische Ordnung erhöht die Beitragsmotivation der Aufständischen, auch sie werden zu „von ihrer Sache zutiefst überzeugten Kämpfern“ (Hahlweg 1967: 5). Dies wird extrem gesteigert, wenn die Aufständischen religiöse Autoritäten in ihren Reihen haben, die den westlichen Feind – in den Worten Schmitts – zum „Unwert“ erklären (Schmitt 1992: 95). Dann wird ihre extrem hohe Beitragsmotivation, die aus der Idee des Kampfes um die legitime Ordnung in Afghanistan resultiert, zur rücksichtslosen Zerstörung des eigenen und feindlichen Lebens (etwa durch Selbstmordanschläge) militärisch eingesetzt. Allein die Bezeichnung ‚Ungläubige’ für Angehörige anderer Religionen schafft eine deutliche Distanz. Schließlich ist zur Charakterisierung des Aufstandes in Afghanistan die Frage der „Anlehnungsmacht“ (Hahlweg 1967: 13-14) zu diskutieren, ohne die kein Aufstand auskommt. Hierzu ist es nötig, die regionalen Macht- und Interessenkonstellationen knapp zu untersuchen. Wie aus den folgenden Machtmessungen hervorgeht, sind die entscheidenden ‚Spieler’ in der Region China, Russland, Saudi Arabien, Indien, der Iran und Pakistan (vgl. Abbildung 16, unten, S. 215). Gemessen an den hier verwendeten Indikatoren ‚Rüstungsausgaben’ sowie ‚Bruttoinlandsprodukt’ ist hingegen von weniger militärischem und wirtschaftlichem Einfluss der zentralasiatischen Staaten auszugehen (Messmethode und Diagrammtyp sind Jäger/Beckmann (2007: 21-22) entnommen). Zuerst einmal ist jedoch festzuhalten, dass im Jahr 2001 keine der regionalen Mächte in den von den USA geführten Krieg gegen die Taliban eingegriffen hat. Dies widerspricht scheinbar Clausewitz’ Allianztheorie, derzufolge der Verteidiger mit Beistand durch „Bundesgenossen“ (1980: 638) zu rechnen habe (vgl. oben, Abschnitt 5.3). Doch handelt es sich hier um den von Clausewitz definierten Ausnahmefall. Afghanistan war – ähnlich dem historischen Polen – ein schwacher Staat, eine „verteidigungslose Steppe“ (1980: 643), für die keiner der Anrainerstaaten „ein Schwert gezogen“ (1980: 641) hätte, gegen eine Allianz von Staaten, die von der größten Militärmacht angeführt wurde. Afghanistans geringe Macht zeigt sich auch noch 2007 in seinem geringen Bruttoinlandsprodukt sowie seinen kleinen (eigenen) Militärausgaben, die in der Region nur noch von Tadschikistan unterboten werden (vgl. die folgende Abbildung). Die Indikatoren dürften unter der Taliban-Herrschaft 2001 sogar noch geringere Werte aufgewiesen haben.
6.4 Innere und äußere Rahmenbedingungen einer Volksbewaffnung in Afghanistan
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Abbildung 16: Rüstungsausgaben (oben) und Bruttoinlandsprodukt (unten) im Jahr 2007 von elf zentralasiatischen Staaten in Milliarden USDollar138 57,86 China Usbekistan 0,05
Russland 33,82
Turkmenistan 0,18
Saudi Arabien 33,32
Tadschikistan 0,05
Indien 23,54
Afghanistan 0,18
Iran 6,49 Kasachstan 1,04
Pakistan 4,47 3.179,87 China
Usbekistan 19,72
Russland 1.069,89
Turkmenistan 11,09
Saudi Arabien 374,33
Tadschikistan 3,09
Indien 1.071,11
Afghanistan 9,80
Iran 251,49 Kasachstan 76,94
Pakistan 140,25
138 Oben: Rüstungsausgaben 2007, außer Tadschikistan (2004), Turkmenistan (1999), Usbekistan (2003), berechnet in festen Wechselkursen von 2005, Quelle: SIPRI (2010). Unten: GNI (Gross National Income), Atlas-Methode, zum gegenwärtigen Wechselkurs, Quelle: Weltbank (2010).
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Gleichwohl erhält der heutige Aufstand durchaus Unterstützung der regionalen Mächte. Denn ohne eine Anlehnungsmacht, die für Waffen, Ausbildung und sonstigen Nachschub sorgt, wäre auch der vom größten religiösen Eifer angetriebene Aufstand nicht zu führen. Wichtigste Anlehnungsmacht ist Pakistan (McChrystal 2009: 2.10). Dies ergibt sich aus strategischen Interessen Pakistans und kann nur im Lichte des andauernden Konflikts zwischen Indien und Pakistan um die Region Kaschmir richtig verstanden werden (vgl. Hippler 2008; Wagner 2005; McChrystal 2009: 2.11). Pakistan fürchtet zum einen eine enge Allianz zwischen Indien und einem erstarkten Afghanistan, zwei Staaten, welche Pakistan strategisch ‚in die Zange’ nehmen würden. Zum anderen fürchtet Pakistan, dass seine riesigen paschtunischen Gebiete an Afghanistan gehen könnten, sollte sich dort ein stabiler (und von Paschtunen regierter Staat) bilden.139 Vor dem Hintergrund der relativen wirtschaftlichen wie militärischen Übermacht Indiens (vgl. Abbildung 16, oben, S. 215) kann man Pakistans Haltung besser verstehen. Indien ist hingegen sicherlich an einem stabilen Afghanistan interessiert, um Pakistan politisch ‚einzukreisen’. Die Folge dieser Konstellation ist, dass Pakistan auf der diplomatischen Ebene die Bemühungen der ISAF durchaus unterstützt. Unter dieser Oberfläche wird jedoch ein klandestiner Krieg geführt, in dem der pakistanische Geheimdienst ISI die Taliban finanziell, militärisch und durch Ausbildung unterstützt. Dieselbe Strategie verfolgt der ISI im Zusammenhang mit dem Konflikt um Kaschmir in Indien, wo ebenfalls extremistische Widerstandsgruppen unterstützt werden, um die indische Zentralregierung zu schwächen. Die Paradoxie in den Beziehungen zwischen ISAF und Pakistan spiegelt sich im McChrystal-Bericht wider: „While the existence of safe havens in Pakistan does not guarantee ISAF failure, Afghanistan does require Pakistani cooperation and action against violent militancy, particularly against those groups active in Afghanistan“ (2009: 2.10). Solch komplexe Konfliktlagen sind auch dazu geeignet, als Austragungsfeld innerbürokratischer Machtrivalitäten zu dienen.140 Neben dieser wichtigsten Anlehnungsmacht spielen auch die regionalen Mächte China, Russland, Saudi-Arabien, Iran sowie die zentralasiatischen Staaten eine wichtige, gleichwohl im Einzelnen schwer durchschaubare Rolle im afghanischen Aufstand (vgl. McChrystal 2009: 2.10-2.11). Insbesondere die Rolle Chinas als regionaler Hauptmacht (vgl. Abbildung 16, oben, S. 215) für die künftige politische Entwicklung Afghanistans wird in der westlichen Öffentlichkeit sowie in der Wissenschaft noch zu wenig beachtet. Die ISAF steht einer Volksbewaffnung in beinahe idealtypischer Ausprägung gegenüber. Die Ideologie der nationalen Befreiung aus Clausewitz’ 139 Für diese Idee danke ich Roland Kaestner. 140 Für diese Hinweise danke ich Thomas Jäger.
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Zeiten wird hier ersetzt durch eine Mischung aus religiöser und ethnonationalistischer Ideologie. Die Aufständischen versuchen, die einheimische Bevölkerung Afghanistans in ihren Kampf (aktiv oder passiv) gegen die ‚Invasoren’ einzubinden. Dies geschieht (wie eh und je) teilweise durch Zwang, teilweise durch politische und religiöse Propaganda. Es ist somit davon auszugehen, dass die Protagonisten der Volksbewaffnung teils sehr gut ausgebildete irreguläre Kämpfer, teils Landbevölkerung, die indoktriniert und mit Waffen versorgt wird, sind. So gelangt der McChrystal-Bericht zu folgender Definition des Konflikts: „The conflict in Afghanistan can be viewed as a set of related insurgencies, each of which is a complex system with multiple actors and a vast set of interconnecting relationships among those actors. The most important implication of this view is that no element of the conflict can be viewed in isolation – a change anywhere will affect everything else” (2009: 2.3). Diese Definition kann nun noch in zweifacher Hinsicht präzisiert werden: Erstens handelt es sich bei diesem Interaktionssystem um ein System mit loser Kopplung, welches sich durch hohe Flexibilität und Stabilität auszeichnet. Seine besondere Gefährlichkeit erhält es jedoch durch die ebenfalls hohe Interaktionskomplexität, die aus der hohen Beitragsmotivation der Aufständischen resultiert. Die hohe Interaktionskomplexität grenzt die Volksbewaffnung vom ‚konventionellen’ kleinen Krieg ab. Obwohl die Aktionen nicht räumlich dicht gedrängt stattfinden, führen schwer voraussehbare und kontrollierbare eigendynamische Prozesse zwischen den Parteien sowie ein enormes Maß an Informationsmangel zu einem hoch dynamischen System mit komplexen, schwer durchschaubaren Wechselwirkungen. Der eben genannten Definition des McChrystal-Berichts zufolge wird die Komplexität des Aufstands in Afghanistan nochmals gesteigert durch die ineinander verzahnten Teilaufstände und die Tatsache, dass mächtige andere Akteure auf der ‚Flamme’ des Aufstands ihr ‚Süppchen kochen’: „There are no clear lines separating insurgent groups, criminal networks (including the narcotics networks), and corrupt GIRoA officials“ (McChrystal 2009: 2.9). 6.5 Zwecke, Ziele und Mittel der Couterinsurgency (COIN)-Strategie der NATO Gegenüber üblichen strategischen Analyseverfahren weist die auf Clausewitz beruhende, hier vorgelegte Methode auf die Bedeutung der Dimension des Gegenhandelns hin. Das heißt konkret, die Analyse kann nicht stehen bleiben bei der Durchleuchtung des Interaktionssystems sowie der Organisation des Aufstandes, sondern muss ebenso genau eingehen auf die Rahmenbedingungen und
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Organisation der den Aufstand bekämpfenden Organisation, nämlich der ISAF. Bei der ISAF handelt es sich um eine internationale Koalition von insgesamt über 40 Staaten, deren Kern die NATO-Mitglieder bilden. Sie verfolgt den von der ‚internationalen Gemeinschaft’ vorgegebenen positiven Zweck, die Zentralregierung in Afghanistan zu stabilisieren. Dazu bedient sie sich seit 2009 dem strategischen Mittel der „population-centred COIN“ (McChrystal 2009: 2.12). Dieses Mittel ist indessen nichts Neues. Werner Hahlweg hat es (neben vielen anderen Autoren) bereits in den 1960er Jahren knapp und treffend als „Ringen ... um die Volksmassen“ (1967: 46-47, H. i. O.) charakterisiert.141 Die USA können auf eine circa 100jährige Geschichte der Entwicklung unterschiedlicher COINDoktrinen zurückblicken (Hippler 2006). Für Clausewitz liegt der „Schwerpunkt“ einer Volksbewaffnung das „Zentrum der Kraft und Bewegung ..., von welchem das Ganze abhängt ...“ und auf welches „der gesammelte Stoß aller Kräfte gerichtet sein“ (1980: 976) muss „in der Person der Hauptführer und in der öffentlichen Meinung“ (1980: 976-977). Worin besteht genau die COIN-Strategie der ISAF in Afghanistan? Man kann sie im bereits mehrfach zitierten McChrystal-Bericht nachlesen. Im Folgenden sollen nur ihre Grundlinien skizziert und vor dem Hintergrund der vorgelegten Theorie analysiert werden. Die COIN-Strategie erfordert von den ISAFStreitkräften ein völliges Umdenken – der Kampf muss völlig umdefiniert werden („Redefining the Fight“, McChrystal 2009: 2.3). Diese Umdefinition muss auf Basis der Erkenntnis erfolgen, dass es sich um eine besondere Form des Krieges handelt – also um ein besonderes Interaktionssystem. Es handelt sich um Aufstandsbekämpfung, d. h. in Clausewitz’ Terminologie um das Gegenhandeln gegen eine Volksbewaffnung. Es ist nicht: „war in the conventional sense“ (McChrystal 2009: 2.3). Der Begriff „war of ideas and perceptions“ (McChrystal 2009: 2.3) trifft es McChrystal zufolge schon besser, jedoch ist zu beachten, dass Ideen und Wahrnehmungen stets eine reale Basis haben – und diese besteht in Handlungen: „However, perceptions are generally derived from actions and real conditions, for example by the provision or a lack of security, governance, and economic opportunity“ (2009: 2.3). Der allen Handlungen übergeordnete strategische Zweck der Aufstandsbekämpfung besteht fortan nicht mehr im Zerstören feindlicher Streitkräfte und 141 „Mit anderen Worten: Die spezifisch militärische Denkweise, der euphoristische Appell an die entscheidende Macht der Waffen erweisen sich offenbar im modernen Typus des Kleinen Krieges als veraltet. Ist der Kleine Krieg in erster Linie aus dem Zivilbereich entstanden, wird er aus ihm genährt, so kann er letzthin wiederum nur im Kontakt mit eben diesem zivilen Bereich, in Erkenntnis seines Wesens, seiner Eigenart wie seiner Struktur gemeistert werden. Also ist der Kleine Krieg erst dann von einer Partei gewonnen, wenn die Gegenseite einsieht, daß sie die Zivilbevölkerung nicht zum Bundesgenossen zu erhalten vermag“ (Hahlweg 1967: 4748).
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im Erobern von Territorien, sondern darin, die Unterstützung der afghanischen Bevölkerung zu gewinnen142 (McChrystal 2009: 1.1) – und zwar in erster Linie ihre Unterstützung für die afghanische Zentralregierung! Dem liegt die Idee zugrunde, dass es zwei prinzipielle Bedrohungen für die ISAF in Afghanistan gibt: zum einen der Aufstand selbst und zum anderen die Krise des Vertrauens der Bevölkerung in ihre afghanische Regierung, in die ISAF und in andere Vertreter der internationalen Gemeinschaft (McChrystal 2009: 2.5, 2.8-2.10). Im McChrystal-Bericht werden vier Pfeiler („pillars“) der Strategie definiert, die gemäß der hier entwickelten Terminologie strategischen Zielen entsprechen: (1) Eine enge partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen ISAF und afghanischen Sicherheitskräften im Sinne einer partiellen Integration (2009: 2.15-2.16). (2) Der zweite Pfeiler gehört in Clausewitz’ Kategorie der Maßnahmen, die „eine unmittelbare politische Beziehung“ (1980: 218-219) haben. Er besteht in der Förderung bedürfnisorientiertem und rechenschaftspflichtigem Regierens, auch auf subnationaler und kommunaler Ebene. Konkret heißt dies jedoch auch, Akteure zurückzudrängen, die die Regierung gefährden, wie Kriminelle, korrupte Behörden etc. (McChrystal 2009: 2.16-2.18). (3) Eine Fokussierung aller ISAF-Operationen auf die Umkehr der Dynamik des Aufstandes, um das ‚Heft des Handelns’ zurückzuerhalten (McChrystal 2009: 2.18-2.19). (4) Eine Konzentration aller Ressourcen der ISAF auf die Gebiete der größten Bedrohung für die Zivilbevölkerung (McChrystal 2009: 2.19-2.20). Auf der taktischen bzw. operativen Ebene wird nicht weniger gefordert als eine völlig neue Operationskultur („operational culture“, McChrystal 2009: 1.2). Diese zielt (a) auf enge Kontakte zur Zivilbevölkerung („connect with the people“): „I believe we must interact more closely with the population and focus on operations that bring stability, while shielding them from insurgent violence, corruption, and coercion” (McChrystal 2009: 1-2). Diese neue taktische (bzw. operative) Kultur ist eng verbunden mit dem eben genanten strategischen Ziel der engeren Integration von ISAF-Streitkräften und Afghanischen Sicherheits142 Dies deckt sich mit Clausewitz’ Einschätzung, dass der „Schwerpunkt“ (1980: 976) einer Volksbewaffnung in der „öffentlichen Meinung“ liegt (1980: 976-977). Der Fokus auf die „Person der Hauptführer“, die für Clausewitz ebenfalls zum Schwerpunkt der Volksbewaffnung zählen (1980: 976-977), hat McChrystal zufolge bei der ISAF jedoch von wichtigeren Analysen der afghanischen Gesellschaft abgelenkt: „A focus by ISAF intelligence on kinetic targeting [gezielte Tötung, R. B.] and a failure to bring together what is known about the political and social realm have hindered ISAF’s comprehension of the critical aspects of Afghan society“ (2009: 2.10). Die gezielte Tötung von ‚Hauptführern’, insbesondere durch Einsatz unbemannter Drohnen, ist indessen nach wie vor ein zentrales Mittel der parallel laufenden Anti-Terroroperation Enduring Freedom (OEF). Bei gezielten Tötungen werden häufig ungewollt unbeteiligte Personen getötet. Diese Nebenfolgen der Zweckerreichung der OEF drohen, die Zwecke der neuen ISAF-Strategie zu durchkreuzen, die Zivilbevölkerung auf die Seite der afghanischen Regierung zu ziehen.
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kräften. In anderen Worten: Die neue Taktik setzt diese Integration voraus. Hier handelt es sich also um die taktische Umsetzung des strategischen Ziels (1). Gefordert wird die Führung einer Form des kleinen Krieges. Denn bei den integrierten Einheiten handelt es sich stets um kleine Einheiten, etwa Patrouillen etc. Diese kleinen Einheiten verfolgen das taktische Ziel, die Aufständischen unschädlich zu machen und müssen bei der Wahl ihrer Mittel stets beachten, dass ihr taktischer Zweck ebenfalls erfüllt wird. Dieser besteht darin, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, die von der jeweiligen taktischen Maßnahme betroffen sein könnte, d. h. es ist ein klassisch politischer taktischer Zweck (McChrystal 2009: 2.12-2.14). Kurz, es handelt sich beinahe um den Idealtyp des von Clausewitz vorgelegten (und durch Luhmanns Begriffe erhellten) Entscheidungsprozesses des ‚politischen Krieges’ (vgl. oben, Abschnitt 4.3.2). Auch McChrystal definiert den Aufstand in Afghanistan als komplexes System mit schwer durchschaubaren Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Teilaufständen. Wichtig ist entsprechend, bei jeder Handlung möglichst das Gesamtsystem (also die übergeordneten strategischen Zwecke) im Auge zu behalten (McChrystal 2009: 2.3). (b) Zweitens muss eine Verbesserung der Einheitlichkeit von Anstrengung und Kommando erzielt werden. Dazu müssen die Organisationsstrukturen optimiert und angepasst werden. Konkret soll ein neues intermediäres Hauptquartier zur Operationsführung eingerichtet werden, um die untergeordneten Hauptquartiere besser zu koordinieren: „ISAF’s subordinate headquarters must stop fighting separate campaigns“ (McChrystal 2009: 2.14). Es handelt es sich um eine Neuauflage der oben (vgl. Abschnitt 5.2) geschilderten Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Eigentlich geht es um eine ‚Quadratur des Kreises’: Es sollen die Flexibilität und Effektivität des Zweckhandelns, die dem kleinen Krieg inhärent ist, mit der Effizienz des großen Krieges verbunden werden, der jedoch Routinehandeln erfordert, das naturgemäß mit einem Verlust an Flexibilität erkauft werden muss. Diesem Ideal kann man sich annähern, indem man das Verhältnis von Zweckhandeln und Routinehandeln optimiert. Genau dies schlägt McChrystal vor: „To be effective, commanders and their civilian partners must have authorities to use resources flexibly – and on their own initiative – as opportunities arise, while maintaining appropriate accountability measures. ISAF must strike the right balance between control and initiative, but err on the side of the initiative [d. h. im Zweifelsfall lieber mehr Initiative als Kontrolle, R. B.]” (McChrystal 2009: 2.13). Das strategische Ziel (2), die Funktionsfähigkeit der afghanischen Regierung zu steigern, kann jedoch durch militärische Maßnahmen höchstens flankiert werden. Entscheidend ist der diplomatische Druck – insbesondere der USA – auf die Regierung Karsai, die Korruption im politischen System zu bekämpfen und
6.5 Zwecke, Ziele und Mittel der Couterinsurgency (COIN)-Strategie der NATO
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insgesamt dafür zu sorgen, dass Regierungsleistungen aller Art bei der Bevölkerung auch ankommen. Diese diplomatischen Maßnahmen sind zu beobachten, man denke an den Afghanistan-Besuch des US-Präsidenten Barack Obama im April 2010. Nur wenn die Regierung ihre grundlegende politische Funktion erfüllt, die in der Verteilung von Werten für die Gesellschaft besteht (vgl. oben, S. 108), hat die ISAF Aussichten auf Erfolg. Der Begriff der Wertverteilung legt ein Dilemma der COIN-Strategie in Afghanistan offen: Afghanische Polizei und Armee sind lediglich die Organe, die von der Regierung mit der konkreten Wertverteilung im Sachbereich der Sicherheit an die Bevölkerung beauftragt sind. Der Aufbau von Sicherheitskräften ohne ein funktionierendes politisches System ist gefährlich, da stets die Verselbstständigung der Sicherheitskräfte droht. Dem strategischen Ziel (3), die Dynamik des Aufstandes umzukehren und die Oberhand zurückzugewinnen, liegen systemtheoretische Ideen zugrunde, die man freilegen kann. Es handelt sich hier nämlich um die Vorstellung von Clausewitz, dass eine Volksbewaffnung einer ‚Glut’ entspricht, die durch eigendynamische Prozesse (z. B.: Aufständische werden durch Erfolge motiviert) ‚angefacht’ werden kann, um schließlich ‚in Flammen aufzugehen’, die „über das feindliche Heer zusammenschlagen und es nötigen, das Land vor eigenem gänzlichen Untergange zu räumen“ (1980: 800). McChrystals Einschätzung zufolge stand dieses Ereignis Ende August 2009 kurz bevor und sollte in einer ersten strategischen Phase von 12 Monaten (Sommer 2009 bis Sommer 2010) durch einen starken Gegenimpuls „erstickt“ (Clausewitz 1980: 800) werden: „A failure to reverse the momentum [Schwung, Eigendynamik, R. B.] of the insurgency will not only preclude success in Afghanistan, it will result in a loss of public and political support outside Afghanistan“ (2009: 2.19). Dieser Gegenimpuls sollte erfolgen durch eine starke Erhöhung der Zusammenarbeit zwischen ISAF und Afghanischen Sicherheitskräften; durch Zusammenarbeit von ISAF, der ‚internationalen Gemeinschaft’ sowie der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) mit allen Ebenen der afghanischen Regierung, um eine verantwortungsvolle Regierungsführung dieser zu erreichen; schließlich sollten die Mitglieder der ‚internationalen Gemeinschaft’ die zivil-militärischen Kräfte, die in den kritischen Regionen stationiert sind, unterstützen (McChrystal 2009: 2.19). Konkret – und dies leitet zum strategischen Ziel (4), der Kräftekonzentration auf Gebiete der größten Bedrohung für die Afghanen, über – wurden im Frühjahr 2010 weitere 30.000 US-Soldaten in Afghanistan stationiert; die anderen ISAF-Staaten haben insgesamt weitere 10.000 Soldaten zugesagt. Die militärische Umsetzung des Ziels sollte im Mai 2010 in der bisher größten Offensive der ISAF in der Provinz Kandahar erfolgen. Taktisches Ziel war die
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6 Anwendungsbeispiel: Die Strategie der NATO in Afghanistan
Eroberung von Kandahar Stadt und anschließend das Halten dieser Gebiete. Im selben Zusammenhang ist eine vergleichsweise kleinere Offensive in den Nachbarprovinzen Helmand (Operation Muschtarak) zu verstehen, die im Februar des Jahres 2010 durchgeführt wurde. Die Wirkungen dieser Operationen blieben indessen hinter den Erwartungen zurück. 6.6 Innere und äußere Rahmenbedingungen der COIN-Strategie der NATO Die Idee, mit der ISAF eine COIN-Doktrin in Afghanistan zu verfolgen, geht sicherlich in die richtige Richtung. Jedoch ist es – hier genauso wie in jedem anderen Krieg – von größter Wichtigkeit, dass diese Doktrin nicht im Sinne einer Routine (Clausewitz: „Methode“, 1980: 306) eingesetzt wird. Nötig ist eine genaue Analyse der Rahmenbedingungen. Ob etwa die Idee der sprunghaften Kräftekonzentration, die bereits im Irakkrieg 2007 unter der Bezeichnung „surge“ umgesetzt wurde und im Nachhinein als Erfolgsgeschichte dargestellt wird, unter den doch sehr verschiedenen Rahmenbedingungen in Afghanistan ihre Zwecke erfüllt, bleibt dahingestellt. Hier sollte allenfalls Clausewitz’ Mahnung beherzigt werden, „daß eine solche, aus dem einzelnen Fall hervorgehende Manier sich selbst leicht überlebt, weil sie bleibt, während die Umstände sich unvermerkt ändern“ (1980: 311). Das Dilemma, vor dem die ISAF steht, besteht darin, dass sie in ihrer Organisationsstruktur und -kultur äußerst schlecht auf Aufstandsbekämpfung eingestellt ist: „ISAF is a conventional force that is poorly configured for COIN, inexperienced in local languages and culture, and struggling with challenges inherent to coalition warfare“ (McChrystal 2009: 1.2). Auf nationaler Ebene tauchen diese Probleme etwa im Gewand des unangemessenen Ausrüstungs- und Ausbildungsstand der deutschen Bundeswehreinheiten in Afghanistan auf (Robbe 2009: 16-19). Die nationalen Militäreinheiten, aus denen die ISAF zusammengesetzt wird, bestehen aus regulären Streitkräften, die nach Dienstvorschriften handeln müssen. Sie sind auf hierarchisch-militärische Effizienz trainiert. Dazu müssen sie beständig Routinehandlungen ausführen. Gemäß der COIN-Doktrin, die die ISAF nun verfolgt, müssen diese Streitkräfte fortan eine moderne Form des kleinen Krieges gegen die Aufständischen führen. Gegenüber den Aufständischen haben die ISAF-Truppen jedoch einen sehr großen Nachteil, der sich aus der Allianzkriegführung im Allgemeinen (vgl. oben, Abschnitt 5.3) und der Situation der NATO im Besonderen ergibt: Die Beitragsmotivation ist vergleichsweise geringer (Olson 1995: 15) (und unterscheidet sich noch einmal von ISAF-Nation zu ISAF-Nation). Sie lässt sich
6.6 Innere und äußere Rahmenbedingungen der COIN-Strategie der NATO
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bereits an den unterschiedlichen relativen Truppenbeiträgen abmessen (vgl. Abbildung 17, unten, S. 224). Die „challenges inherent to coalition warfare“ (McChrystal 2009: 1.2) werden in der NATO-Allianz durch die extremen Machtunterschiede verstärkt (vgl. Abbildung 17). Die USA sind bei weitem der mächtigste NATO-Staat und Führungsnation, jedoch nicht willens und in der Lage, die Kosten (im weitesten Sinne) des Afghanistankrieges allein zu tragen. Konfliktpotenzial bietet beispielsweise die Tatsache, dass Deutschland nur ein Zehntel der Truppen der USA zur ISAF entsendet, obwohl das deutsche Bruttoinlandsprodukt etwas mehr als ein Viertel des amerikanischen beträgt (vgl. Abbildung 17). Gleichzeitig leidet der Zusammenhalt der Allianz unter unterschiedlichen strategischen Interessen ihrer Mitglieder, die während des Ost-WestKonflikts durch die existenzielle Bedrohung durch die Sowjetunion nur überlagert waren (vgl. Waltz 2000). Wie schon Clausewitz bei der Diskussion der Allianzkriegführung beklagt, werden die Bündnisstreitkräfte nicht einfach einem zentralen Kommando (hier der ISAF) unterstellt, sondern haben einen eigenen ‚Feldherrn’, der von seinem ‚Hof’ abhängig ist und von dort Weisungen erhält (1980: 987-988). Dadurch entsteht damals wie heute eine parallele Kommandostruktur. In der Folge setzen die unterschiedlichen nationalen Kontingente die COIN-Doktrin jeweils nach ihren nationalen politischen Rahmenbedingungen und ihrer Organisationskultur unterschiedlich um. Vor allem die Frage nach dem richtigen ‚Mischungsverhältnis’ von zivilen und militärischen Maßnahmen wird jeweils verschieden beantwortet. Ob das von McChrystal geplante „intermediäre Hauptquartier“ (2009: 2.14) dieses Problem mindern kann, bleibt dahingestellt. Jedoch bedürfen die übergeordneten positiven politischen Zwecke, eben weil sie unbestimmter, d. h. weniger eng definiert sind, einer viel größeren Koordination der Einzelmaßnahmen, um in der gewünschten Gesamtwirkung zusammenfließen zu können, nämlich einen demokratischen, stabilen und wohlhabenden Staat Afghanistan zu schaffen. Ein weiteres Problem liegt im parallelen Ablauf der Antiterroroperation Enduring Freedom (OEF). Zwar ist General McChrystal zum einen gleichzeitig der Kommandant dieser Operation in Afghanistan und zum anderen ist der ISAF ein Teil der Kräfte von Enduring Freedom unterstellt worden. Die OEF verfolgt jedoch den Zweck, internationale Terroristen zu vernichten. Dazu werden waffentechnisch sehr komplizierte Mittel eingesetzt, wie unbemannte Drohnen mit Aufklärungs- und Zerstörungsfähigkeiten. Diese Einsatzformen widersprechen dem Zweck der COINMaßnahmen, die Bevölkerung auf die Seite der afghanischen Regierung zu ziehen, insbesondere dann, wenn bei gezielten Tötungen Unbeteiligte ums Leben kommen.
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6 Anwendungsbeispiel: Die Strategie der NATO in Afghanistan
Abbildung 17: Rüstungsausgaben (oben) und Bruttoinlandsprodukt (unten) im Jahr 2007 der größten Truppensteller der ISAF in Milliarden USDollar. In Klammern: Zahl der eingesetzten ISAF-Soldaten143 524,59 USA (78.430) Spanien (1.555) 14,28
Vereinigtes Königreich (9.500) 55,75
Australien (1.455) 14,90
Deutschland (4.590) 37,23
Türkei (1.740) 11,16
Frankreich (3.750) 53,40
Niederlande (380) 10,15
Italien (3.400) 32,99
Polen (2.630) 6,80
Kanada (2.830) 14,82
13.887,51 USA (78.430) Spanien (1.555) 1.314,60
Vereinigtes Königreich (9.500) 2.649,10
Australien (1.455) 751,52
Deutschland (4.590) 3.207,50
Türkei (1.740) 593,03
Frankreich (3.750) 2.466,76
Niederlande (380) 747,88 Polen (2.630) 376,27
Italien (3.400) 1.988,38 Kanada (2.830) 1.307,54
143 Oben: Rüstungsausgaben 2007, berechnet in festen Wechselkursen von 2005, Quelle: SIPRI (2010). Unten: GNI (Gross National Income), Atlas-Methode, zum gegenwärtigen Wechselkurs, Quelle: Weltbank (2010). In Klammern: Zahl der Soldaten der nationalen ISAFKontingente (Stand: 06.08.2010), Quelle: ISAF (2010b).
6.7 Optionen und Risiken
225
Die soziopolitischen und sonstigen Rahmenbedingungen sind der ISAF-Mission etwa im selben Maße abträglich wie sie dem Aufstand der ‚Neo-Taliban’ zuträglich sind. Die heutigen Kommunikationstechniken führen etwa dazu, dass es Aufständische durch geschickte Anschläge schaffen können, nationale Bevölkerungen weltweit so zu beeinflussen, dass ein partieller Abzug aus Afghanistan die Folge sein könnte. Es genügt den Aufständischen sogar, in den Gesellschaften der ISAF-Nationen eine Diskussion über Abzugstermine zu entfachen. Dies hat wiederum mit der „Halbheit [der] Absichten“ (Clausewitz 1980: 987) der Alliierten in Afghanistan zu tun. Die Tatsache, dass man dort überhaupt eingreift, hat weniger mit klar definierten – und damit auch kommunizierbaren – nationalen Interessen (bzw. Zwecken) zu tun, sondern mehr mit der „Globalisierung des Handlungsraums“ (Langewiesche: 2009: 295-297). Vertraut man jedoch den Erfahrungen von Clausewitz, so genügen schwer vermittelbare normative Zwecke nicht, um die notwendige politische Mobilisierung – mithin Beitragsmotivation – zu erreichen, die nötig ist, um anspruchsvolle internationale Zwecke verfolgen zu können. 6.7 Optionen und Risiken Aus Sicht des hier entwickelten Analyseinstrumentariums steht der ISAF-Einsatz in Afghanistan vor dem Problem einer dreifachen Asymmetrie. (1) Erstens steht dem ‚großen’ politischen Zweck der ISAF (= ‚nation-building’) der ‚geringere’ politische Zweck der Aufständischen gegenüber (= Abzug der ISAF). Die Zweck/Mittel-Analyse ergibt bereits in dieser Skizze das recht klare Ergebnis, dass die (auch noch so wohlgemeinte) COIN-Strategie der ISAF unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht das geeignete strategische Mittel zum strategischen Zweck des ‚nation-building’ sein kann. (2) Zweitens steht der relativ niedrigen Beitragsmotivation der ISAF-Truppen die hohe Beitragsmotivation religiöser Eiferer entgegen. (3) Drittens stehen schließlich den ISAFTruppen, die durch ihre Organisationsstruktur hinsichtlich ihres Zwecks auf Dienstvorschriften und andere Routinen angewiesen sind, Aufständische gegenüber, die das Zweck/Mittel-Schema praktisch ohne Rücksichten zur kreativen, stets den Rahmenbedingungen angepassten, Mittelfindung nutzen können. Der friktionsanfälligen komplexen Organisationsstruktur der ISAF steht die weniger auf Koordination angewiesen – und dadurch weniger friktionsanfällige – Organisationsstruktur der Aufständischen gegenüber. Als Resultat dieser Analyse kann der ISAF insbesondere ein Überdenken ihrer Strategie gemäß den hier entwickelten Begriffen und Methoden empfohlen werden. Erst auf dieser Basis sollte eine Konzentration auf die Feinheiten der
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6 Anwendungsbeispiel: Die Strategie der NATO in Afghanistan
taktischen Umsetzung erfolgen. Insbesondere die Wirkungen aller Handlungen der ISAF und der internationalen Diplomatie auf die Politik der afghanischen Regierung sollten im Auge behalten werden. Wie so häufig bemerkt worden ist, ist dem afghanischen Aufstand auf der taktischen Ebene kaum beizukommen. Denn letztlich können die Aufständischen ihre Zwecke auf den kleinstmöglichen Zweck des „reinen Widerstands“ (Clausewitz 1980: 220) begrenzen. Diesen können sie sogar erreichen, indem sie der Bevölkerung lediglich Beweise ihrer Existenz und militärischen Schlagkraft liefern – und solange durchhalten bis die ISAF abgezogen ist.144 Unter den Bedingungen der dreifachen Asymmetrie und den schlechten Aussichten für eine rasche soziale, ökonomische und politische Entwicklung Afghanistans sollten die politischen Zwecke der internationalen Gemeinschaft deutlich nach unten korrigiert werden (so auch Kaestner/Ehrhart 2008: 8). Eine Begrenzung des Gesamtzwecks des Afghanistan-Einsatzes auf die Bekämpfung al-Qaidas, wie dies die Regierung unter Obama seit 2009 durchzuführen versucht, geht indessen fehl. (Hier zeigt sich im Übrigen auch das nach wie vor ungeklärte strategische Verhältnis von ISAF und OEF.) Denn es genügt eine kursorische Zweck/Mittel-Analyse um festzustellen, dass ein transnationales Terrornetzwerk nicht in einem Land wirksam bekämpft werden kann. Für diesen Zweck bietet sich eine Geheimdienstkooperation als Mittel der Wahl an (Daun 2011). In die richtige Richtung weist hingegen eine Korrektur der militärischen Zielsetzung nach unten: Den Sieg über den Aufstand definiert der McChrystalBericht wie folgt: „a condition where the insurgency no longer threatens the viability of the state“ (2009: 2.2). Die internationale Gemeinschaft sollte sich auf enger gefasste politische Zwecke beschränken und nicht auf die Übertragung westlicher demokratischer Strukturen ‚Punkt für Punkt’ auf die afghanische Gesellschaft. Grundsätzlich könnte der amerikanische Präsident Abraham Lincoln ein historisches Vorbild sein, der eine frühzeitige Eskalation des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs dadurch verhinderte, dass er anfangs den bestimmten, d. h. eng definierten, Zweck des Erhalts der Union betonte, die Sklavereifrage hingegen zunächst nicht als strategischen Zweck des Krieges nannte (obwohl er die Sklaverei privat dezidiert ablehnte) (Schild 2011). Solche enger definierten Zwecke könnten in einer regionalen Begrenzung des Aufstandes im Sinne einer Eindämmungspolitik bestehen. Einem ‚Auseinanderbrechen’ des afghanischen Staates sollte entgegengewirkt werden. Die rückhaltlose Unterstützung der afghanischen Regierung sollte hingegen aufgegeben und durch eine Zusicherung der weiteren Entwicklung des Landes und der Region durch die internationale Gemeinschaft ersetzt werden. 144 Für diese Idee danke ich Roland Kaestner.
6.7 Optionen und Risiken
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Unbedingt beachtet werden sollten die Interessen der regionalen Mächte in der Nachbarschaft Afghanistans (vgl. Abbildung 16, oben, S. 215). Ohne sie, d. h. ohne die Beachtung der internationalen Politik in der Region, ist eine politische Lösung nicht denkbar, ohne die der Krieg nicht zu gewinnen ist. Hingewirkt werden sollte auf die vertragliche Zusicherung der Neutralität Afghanistans: Auf eine Allianz mit Indien ist auch in Zukunft zu verzichten. In diesem Zusammenhang sollte ebenfalls die Gültigkeit der afghanisch-pakistanischen Grenze bestätigt sowie ein unbefristeter beidseitiger Gewaltverzicht beschlossen und durch internationale Garantien abgesichert werden. Im Gegenzug könnte Pakistan den Transit afghanischer Waren durch pakistanisches Gebiet nach Indien wieder freigeben. Den nötigen Einfluss zur wirksamen Umsetzung solcher Maßnahmen haben langfristig gesehen nur die entscheidenden Regionalmächte China, Indien und Russland, die somit unbedingt stärker in den politischen Prozess einzubinden sind. Vor dem Hintergrund reduzierter politischer Zwecke und durch die geschilderte Veränderung der internationalen Rahmenbedingungen würden sich die Erfolgsaussichten der COIN-Strategie erhöhen. Die hier vorgelegte Analyse weist auf einige Maßnahmen hin, die im Rahmen dieser Strategie besonders wirksam sein könnten: Eckpfeiler der Strategie der Aufständischen ist die Beitragsmotivation ihrer Mitglieder, die vor allem aus der Religion (aber auch aus wirtschaftlichen Motiven) gespeist wird. An dieser Stelle könnten COINMaßnahmen ansetzen. Denkbar wäre die politische Unterstützung von islamischen Geistlichen, die der radikalen Auslegung des Islams widersprechen. Ökonomisch (und damit kriminell!) motivierter Gewalt ist ebenfalls schwer beizukommen. Hilfreich könnte der verstärkte Einsatz spezialisierter kriminalpolizeilicher Ermittler sein. Genauere Aufklärung der Organisationsstrukturen der Aufständischen und der mit ihnen verzahnten kriminellen Netzwerke könnte schließlich dazu genutzt werden, „Bündnisse unseres Gegners zu trennen oder unwirksam zu machen ...“ (Clausewitz 1980: 218). Ein Anwachsen der afghanischen Armee weit über die Zahl hinaus, die durch die afghanische Wirtschaft allein finanziert werden kann, ist nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus politischen Gründen abzulehnen. Denn ohne eine Wertverteilung durch das politische System, die vom Großteil der Bevölkerung als verbindlich empfunden wird, können die Behörden, die diese Wertverteilung idealtypisch nur administrativ umsetzen sollten, nicht richtig funktionieren. Insgesamt sollte der afghanischen Bevölkerung viel mehr Zeit für ihre Entwicklung gegeben werden. Von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der ISAF ist die Ehrlichkeit der Analyse. Ehrlichkeit meint hier nicht Interesse-losigkeit politischer Akteure, sondern die Offenlegung von Zweck und Mitteln. Dies führt zu zwei Fragen:
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6 Anwendungsbeispiel: Die Strategie der NATO in Afghanistan
Reichen erstens die verfügbaren Mittel aus, um den geplanten Zweck zu erfüllen? Falls dies nicht zutrifft: Welche Zwecke können überhaupt durch die verfügbaren Mittel erfüllt werden? Nur auf der Grundlage dieser Ehrlichkeit kann man mit einer ausreichenden Bereitschaft (Beitragsmotivation) der Bevölkerungen der ISAF-Staaten und ihrer Streitkräfte in Afghanistan rechnen, den Einsatz ausreichend zu unterstützen. Dies sollte auch auf die Gefahr hin geschehen, dass die Öffentlichkeiten nach der Konfrontation mit der Gesamtsituation in Afghanistan ihre Rückzugsforderungen verstärken. Denn ohne die gesellschaftlich fundierte politische Motivation zur Bereitstellung von finanziellen, militärischen und zeitlichen Ressourcen kann der ISAF nicht der nötige ‚Schwung’ verliehen werden, ihre – zuvor auf ein realistisches Maß beschränkten – politischen Zwecke zu erreichen.
7 Schluss und Ausblick
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7 Schluss und Ausblick
Clausewitz kamen gegen Ende der Abfassung seines Hauptwerks „Vom Kriege“ Zweifel am Wert seiner Kriegstheorie für die Analyse der unterschiedlichen historischen Formen des Krieges (Heuser 2005: 38-42). Seine Reflexionen über dieses Problem kann man im Abschnitt „Absoluter und wirklicher Krieg“ des achten Buches nachlesen (Clausewitz 1980: 952-955). Clausewitz hatte seine Theorie ursprünglich auf die hochintensive napoleonische Kriegführung gegründet und aus ihr seinen „idealen“ oder „absoluten“ Kriegsbegriff abgeleitet (Heuser 2005: 38). Seine Zweifel über dessen Tragfähigkeit resultierten aus seinem intensiven Studium der Kriegsgeschichte. Dieses hatte ergeben, dass reale Kriege sich häufig sehr weit von den idealtypischen Vorstellungen entfernten. Sie entbehrten „allen strengen Folgerungen“ (Clausewitz 1980: 954) des „Begriff des Krieges“ (Clausewitz 1980: 954). Sie waren, gemessen an seinen theoretischen Vorstellungen, „Halbdinge“ (Clausewitz 1980: 953), „Wesen ohne inneren Zusammenhang“ (Clausewitz 1980: 953). Häufig beruhte der tatsächliche Krieg „auf einem Spiel von Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, Glück und Unglück ..., in dem sich die strenge logische Folgerung oft ganz verliert ...“ (Clausewitz 1980: 954-955). Kurz: Clausewitz ging es so wie dem berühmten Ethnologen Clifford Geertz, der am Ende einer langen Forscherkarriere „das Entgleiten der Fakten“ (so sein Buchtitel) beklagte (Geertz 1997).145 Die Entscheidung, die Clausewitz treffen musste, war die Entscheidung zwischen Kohärenz und ‚Schlankheit’ seiner Theorie auf der einen Seite und ihrer Anwendbarkeit auf ein möglichst breites Spektrum empirischer Kriege auf der anderen Seite: Wenn wir uns zu dem ersteren entschließen, wird unsere Theorie sich überall dem Notwendigen mehr nähern, mehr eine klare, abgemachte Sache sein. Aber was sollen wir dann zu allen Kriegen sagen, welche seit Alexander und einigen Feldzügen der Römer bis auf Bonaparte geführt worden sind? Wir mußten sie in Bausch und Bogen verwerfen und konnten es doch vielleicht nicht, ohne uns unserer Anmaßung zu schämen. Was aber schlimm ist, wir mußten uns sagen, daß im nächsten Jahrzehnt vielleicht wieder ein Krieg der Art da sein wird, unserer Theorie zum Trotz,
145 Für diesen Hinweis danke ich Klaus Kuhnekath.
R. Beckmann, Clausewitz trifft Luhmann, DOI 10.1007/978-3-531-92730-5_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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7 Schluss und Ausblick
und daß diese Theorie mit einer starken Logik doch sehr ohnmächtig bleibt gegen die Gewalt der Umstände (1980: 954).
Würde er sich für die theoretische Kohärenz entscheiden, so stünde also zu befürchten, dass seine Theorie zu künftigen, weniger dynamischen Kriegen keine Aussagen machen könnte. Clausewitz entschied sich dafür, die Gültigkeit seiner Theorie auf alle Intensitätsgrade des Krieges auszudehnen. Dafür ‚opferte’ er einen Teil der ‚Schlankheit’ seiner Theorie. Das Ergebnis dieser Entscheidung findet sich im ersten Kapitel des ersten Buches „Vom Kriege“ (Clausewitz 1980: 191-213), welches die Grundlage für die vorliegende Analyse der Theorie von Clausewitz darstellte (vgl. Kapitel 3). Es ist diese Anwendbarkeit seiner Theorie auf unterschiedliche Kriege, die sie auch für heutige strategische Herausforderungen interessant macht. Der Zweck der vorliegenden Arbeit bestand darin, die allgemeingültigen Begriffe der Theorie von Clausewitz herauszuarbeiten und sie durch Heranziehung der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie von Luhmann rückwirkend zu schärfen. Dadurch sollte die Anwendbarkeit von Clausewitz’ Theorie auf heutige strategische Problemstellungen erhöht werden. Die wichtigsten theoretischen und methodischen Ergebnisse dieser Bemühungen sollen im Folgenden noch einmal umrissen werden. Zunächst konnte der Stellenwert der Kriegsmodelle von Clausewitz geklärt werden. Sie bilden eine Skala der Intensität von Kriegen. Der idealtypische ‚Reagenzglaskrieg’ markiert das obere Ende dieser Skala, der ‚politische Krieg’ enthält Variablen, deren Ausprägung in empirischen Kriegen die Mäßigung der Intensität dieser Kriege relativ zum ‚Reagenzglaskrieg’ erklären. Beide Kriegsmodelle weisen eine je unterschiedliche Form der Komplexität auf. Die Komplexität des ‚Reagenzglaskrieges’ resultiert aus der absoluten Ungewissheit über das militärische Gegenhandeln des Gegners. Die Komplexität des ‚politischen Krieges’ aus der Unübersichtlichkeit der Zusammenhänge zwischen der Vielzahl von Faktoren, die sich in das Kriegsgeschehen mischen. Beide Kriegsmodelle entstehen aus dem wechselseitigen Handeln von Kriegsparteien. Dieses Handeln lässt sich idealtypisch durch die variablen Begriffe politischer Zweck, militärisches Ziel und militärische Mittel beschreiben und analysieren. Die systemtheoretische Analyse erhellt, dass sich diese Begriffe nicht auf die Einzelhandlung beziehen, sondern auf Systeme von Handlungen, die sich durch einen gemeinsamen Sinnhorizont der Handlungen von einer Umwelt abgrenzen. Die Begriffe von Zweck, Ziel und Mittel dienen zur Strukturierung der Handlungen des Systems. Sie sind Instrumente, welche die Funktion der Reduktion von Komplexität für die Handlungssysteme erfüllen. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, sie mit anderen Instrumenten, welche dieselben Funktionen erfüllen können, zu vergleichen.
7 Schluss und Ausblick
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Im ‚Reagenzglaskrieg’ ist der politische Zweck der Handlungssysteme sehr unbestimmt (d. h. breit gestreut) formuliert: Er besteht in der politischen Unterwerfung des Gegners. Aufgrund seiner Unbestimmtheit verliert der Zweck seine Funktion, ein heuristisches Instrument zur Zielfindung für die Handlungssysteme bereitzustellen. Er wird durch ein ebenso unbestimmt formuliertes militärisches Ziel abgelöst. Es kommt zur Zweck/Ziel-Umkehrung (vgl. oben, S. 57-59): Die ursprünglich politische Wirkung, die der Krieg haben sollte, ist einer rein militärischen Wirkung gewichen. Da diese jedoch ebenfalls extrem breit gestreut definiert ist – sie besteht in der Wehrlosigkeit des Gegners – verliert auch das Ziel seine Fähigkeit, die Auswahl der Mittel zu steuern und zu begrenzen. Dadurch läuft die Folge von Handlung und Gegenhandlung des Gegners rein reaktiv ab: Gewalt wird mit einer höheren Dosis von Gewalt beantwortet. Es kommt zur zügellosen Eskalation des Krieges. Da im Modell die Zeit eine vernachlässigbare Rolle spielt, kann man sich den resultierenden Krieg als ‚Knall’ vorstellen. Im ‚politischen Krieg’ wird der Zweck zur – in der Terminologie der Systemtheorie – Zweckvariablen, die verschiedene Werte annehmen kann: Er wird auf einer Skala von bestimmt bis unbestimmt durch die Handlungssysteme gewählt. Kleinere politische Zwecke (etwa die politische Kontrolle über ein begrenztes Territorium des Gegners) entfalten ihre Funktion, die Zielwahl im System anzuleiten und zu begrenzen. Das resultierende genauer bestimmte Ziel kann seinerseits die Mittelwahl sinnvoll steuern. Durch weitere Annahmen wird im politischen Krieg die Komplexität der Umwelt gesteigert: Der Krieg zerfällt in Teilkampfhandlungen (Gefechte), die in der Zeit und in den Raum verteilt stattfinden, er wird eingebettet in soziopolitische Rahmenbedingungen. Die Folge ist die Drosselung der Intensität der Serie von Handlungen und Gegenhandlungen zwischen den Gegnern. Clausewitz ist es gelungen, das ganze Spektrum von denkbaren Kriegsintensitäten mit seiner Theorie ‚einzufangen’. Die Systemtheorie ermöglicht die Verallgemeinerung von Clausewitz’ Theorie. Zu seiner Zeit wie auch heute stehen Handlungssysteme (Organisationen) vor der Herausforderung, in einer komplexen Umwelt Entscheidungen über Handlungen zu treffen. Um dies tun zu können, müssen sie zunächst die Vielfalt der Informationen, die auf sie ‚einprasseln’ in einer sinnvollen Weise reduzieren. Dazu bedienen sie sich unterschiedlicher Instrumente. Dem Zweck/MittelSchema etwa liegt die Kausalauslegung des Handelns zugrunde. Das komplizierte eigene Handeln wird auf die Vorstellung zurückgeführt, beim feindlichen System bestimmte Wirkungen zu erzeugen. Das Zweck/Mittel-Schema geht von der gewünschten Wirkung (Zweck) aus, zu der – unter Berücksichtigung der inneren und äußeren Rahmenbedingungen des Handelns – die richtigen Mittel (Ursachen) ausgewählt werden (vgl. Abbildung 10, oben, S. 128). Spiegel-
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7 Schluss und Ausblick
bildlich können sich Handlungssysteme jedoch auch von vorher definierten Ursachen leiten lassen, die, werden sie in der Umwelt registriert, eine festgelegte Handlungsweise auslösen, die man Routine nennt (vgl. Abbildung 11, oben, S. 130). Die Systemtheorie macht klar, dass beides funktional äquivalente Instrumente von Handlungssystemen sind, die es diesen ermöglichen, Entscheidungen zu treffen. Die Reduktion von Komplexität erfolgt je auf unterschiedliche Weise. Die Zwecksetzung definiert eine gewünschte Wirkung des Handelns. Die Reduktion erfolgt, indem Mittel nur nach der Maßgabe der Erreichung dieser Wirkung ausgewählt werden. Nebenfolgen werden ‚wegreduziert’. Der Zweck erfüllt die Funktion eines ‚Brennglases’. Er kann in seinem Bestimmtheitsgrad variiert werden. Gemäß dem Bild des ‚Brennglases’ kann dieses unterschiedlich weit weg vom Objekt gehalten werden, so dass unterschiedliche weite Brennpunkte entstehen. Je bestimmter (enger) der Zweck definiert ist, desto besser erfüllt er seine Funktion, Nebenfolgen auszublenden. Gleichzeitig wird jedoch die Mittelfindung technisch umso schwieriger. Umgekehrt verliert eine unbestimmtere Zwecksetzung zunehmend die Fähigkeit, Nebenwirkungen auszublenden. Gleichzeitig wird jedoch die Mittelfindung technisch einfacher. Im Fall der Routine erfolgt die Reduktion von Komplexität für die Handlungssysteme umgekehrt. Aus der Fülle von Ursachen, die das System in seiner Umwelt registriert, wird eine spezifische Ursache als Handlungsanlass ‚herausreduziert’. Ganz egal in welchen Konstellationen von Ursachen der Anlass auftritt: Wird er registriert, so wird die vorher festgelegte Handlungsfolge ‚abgespult’, ganz gleich welche Nebenwirkungen dies mit sich bringt. Genau wie der Zweck kann auch der Handlungsanlass in seiner Bestimmtheit variiert werden: der Anlass kann äußerst spezifisch definiert werden oder für ein breiteres Spektrum von Ursachen programmiert sein. Je genereller er formuliert ist, desto größer wird die Klasse von Fällen, die den Automatismus des Handelns auslösen. Zwecke erfüllen somit ihre Reduktionsfunktion, indem sie Nebenwirkungen des Handelns ausblenden, Routinen indem sie Nebenursachen des Anlasses ausblenden. Clausewitz beschreibt in „Vom Kriege“ (1980) beide Formen des Entscheidens. Durch die systemtheoretische Analyse können diese nun erstmals richtig eingeordnet werden. Entscheidend ist, dass Handlungssysteme selbst wählen können, welche Entscheidungsverfahren sie nutzen möchten. Luhmann nennt dies „Autonomie der Selbstprogrammierung“ (1973: 104). Welche Mischung von Verfahren die richtige ist, hängt von der Umwelt ab, in der ein Handlungssystem existiert. Da die Umwelt der Handlungssysteme im ‚politischen Krieg’ in mehrere Teilkampfhandlungen zerfällt, muss ein komplexeres Entscheidungsverfahren
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eingesetzt werden. Dieses besteht zunächst einmal in einer komplexeren Organisation aus zwei Teilhandlungssystemen: dem taktischen und dem strategischen Teilhandlungssystem. Das taktische Teilhandlungssystem setzt bei Clausewitz idealtypisch das Zweck/Ziel/Mittel-Schema zur Reduktion von Komplexität im Gefecht ein. Clausewitz räumt jedoch ein, dass hier Routinen („Methoden“, 1980: 306) auch eine wichtige Rolle spielen. Das strategische Teilhandlungssystem koordiniert die Gefechtswirkungen des taktischen Systems, um eine militärische Gesamtwirkung zu erzielen. Clausewitz’ Diktum, dass der Krieg eine Fortsetzung der Politik sei, findet ebenfalls Eingang ins Entscheidungsverfahren. Jeder Mitteleinsatz muss zwei Wirkungsanforderungen erfüllen: das Ziel (Kernziel) und den politischen Zweck. Dies gilt für das einzelne Gefecht, das politische Teilzwecke erreichen muss, genauso wie für den ganzen Krieg, der einem politischen Zweck dient. In anderen Worten: alle Handlungen der Teilhandlungssysteme sollen eine übergeordnete Wirkung erzielen: den politischen Zweck! Clausewitz plädiert mit guten Gründen dafür, auf der strategischen Ebene ausschließlich das Zweck/Ziel/Mittel-Schema zu nutzen. Da Routinen jedoch äquivalente Funktionen erfüllen, sind auch sie prinzipiell auf der strategischen Ebene einsetzbar. Die Handlungen und Gegenhandlungen von Handlungssystemen bilden so genannte Interaktionssysteme. Wie alle Interaktionssysteme, gehört das Interaktionssystem des Krieges zu den sozialen Systemen. Allerdings stellt es einen ganz besonderen Typ eines Interaktionssystems dar. Dieser unterscheidet sich stark von anderen Interaktionssystemen, etwa einer Skatrunde. Der unumstrittene gemeinsame Sinnhorizont im System der Skatrunde, kodifiziert durch die Regeln des Skatspiels, führt zur Ausbildung von starken Erwartungshaltungen (oder „Erwartungserwartungen“ wie Luhmann sagt; zitiert bei Becker/ReinhardtBecker 2001: 55) über mögliche Handlungen im System. Dadurch wird Komplexität reduziert. Das idealtypische Interaktionssystem des Krieges ist völlig anders strukturiert. Sein Merkmal ist die Ungewissheit über das gegnerische Gegenhandeln. Es geht gerade um das Unterlaufen von Erwartungen. Die Überraschung „liegt mehr oder weniger allen Unternehmungen zum Grunde ...“ (Clausewitz 1980: 397; vgl. auch Gray 2005). Eigendynamische Prozesse erhöhen die Ungewissheit im System sogar noch. Das System reduziert weit weniger Komplexität, da viele Handlungen möglich sind. Je weiter sich jedoch ein Krieg von seinem Idealtyp entfernt, desto weniger wird das Interaktionssystem, das er bildet, die genannten Merkmale aufweisen – bis auch es einem „Kartenspiel“ ähnelt (Clausewitz 1980: 208), wenn auch nie gleicht! Wie bei jedem anderen Interaktionssystem spielen die Beziehungen zur Umwelt des Systems eine entscheidende Rolle. Der ganze Krieg kann – auf der strategischen Ebene – als ein Interaktionssystem begriffen werden. Seine Um-
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welt besteht aus den soziopolitischen Rahmenbedingungen, in die die Kampfhandlungen eingebettet sind. Zerfällt der Krieg in mehrere Teilkampfhandlungen (Gefechte), so können diese als Teilinteraktionssysteme begriffen werden. Ihre Umwelt ist das übergeordnete Interaktionssystem des Krieges. Die Strategie koordiniert die Teilinteraktionssysteme in Zeit und Raum. Sie muss folglich die Wechselwirkungen mit den übergeordneten soziopolitischen Rahmenbedingungen im Auge behalten. Das Handeln innerhalb der Teilinteraktionssysteme ist Gegenstand der Taktik. Die Einführung des Begriffs des Interaktionssystems impliziert zwei Analyseebenen: zum einen die Analyseebene des Handlungssystems (Organisation) und zum anderen die des Interaktionssystems (Krieg oder Gefecht). Das strategische Interaktionssystem weist gegenüber den taktischen Interaktionssystemen so genannte Emergenz auf. Emergenz liegt vor, wenn „das Ergebnis einer Synthese mehr ist, als die Summe ihrer Teile ...“ (Becker/ReinhardtBecker 2001: 26). Das strategische Interaktionssystem ist mehr als die Summe der taktischen Interaktionssysteme. Dies hängt insbesondere mit der komplexeren soziopolitischen Umwelt des strategischen Interaktionssystems zusammen. Der Begriff der Emergenz erhellt Clausewitz’ Erkenntnis, dass die Aufgabe des strategisch Handelnden, die Gefechte ‚bloß’ in der Zeit und im Raum anzuordnen, in Wirklichkeit äußerst komplex ist. Außerdem erklärt er das Phänomen, dass eine Kriegspartei die Mehrzahl der taktischen Gefechte verlieren und dennoch den strategischen Sieg davontragen kann. Der strategische Erfolg entsteht somit nicht durch das summieren erfolgreicher Gefechte. Dies ist historisch immer wieder zu beobachten gewesen. Man denke an die bereits angeführten Beispiele der Schlacht von Cannae sowie des Krieges im heutigen Afghanistan. Jede Stufe der ineinander verschachtelten Interaktionssysteme bedarf auf der Ebene der Organisation eines unterschiedlichen Modus der Reduktion von Komplexität. Dabei ist die Komplexität insgesamt so hoch, dass auf keiner Ebene das Zweck/Mittel-Schema allein genügt, um sie zu ‚einzufangen’ – stets wird das Zweck/Ziel/Mittel-Schema eingesetzt, um die komplexen Wechselwirkungen mit der politischen Ebene des Krieges zu erfassen. Jede Interaktionsebene wird von einem separaten Teilhandlungssystem bearbeitet. Dies erklärt auch Clausewitz’ in der Einführung zitierte Analyse, dass nur die europäische Außenpolitik in der Lage gewesen wäre, die neue Dynamik der napoleonischen Kriegführung Ende des 18. Jahrhunderts vorherzusehen. Denn nur vom „Standpunkt“ (Clausewitz 1980: 992) der Ebene des Teilhandlungssystems Politik sind die soziopolitischen Rahmenbedingungen voll überblickbar – untergeordnete Ebenen müssen diese hochkomplexen Faktoren teilweise ‚ausblenden’, um entscheidungs- und handlungsfähig zu werden.
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Strategische Interaktionssysteme lassen sich nach zwei Variablen differenzieren: erstens nach der Variablen der so genannten Interaktionskomplexität (= Unerwartbarkeit der Wechselwirkungen im System) und zweitens nach der Variablen, die den Grad der Kopplung (= Interdependenz bzw. wechselseitige Abhängigkeit) zwischen den Gefechten beschreibt. Der Grad der Interaktionskomplexität bestimmt die Dynamik eines Systems, der Grad der Kopplung seine Stabilität. Der Vorteil dieser Begriffe ist, dass Clausewitz’ Kriegsmodelle nun nach zwei Kriterien differenziert werden können (und nicht einfach nur etwa nach der Intensität der Kriegführung!). Der ‚Reagenzglaskrieg’ ist interaktionskomplex und eng gekoppelt; damit ist er hochdynamisch und unstabil. Der ‚politische Krieg’ ist hingegen weniger interaktionskomplex und loser gekoppelt; damit ist seine Dynamik geringer und seine Stabilität höher. Die Differenzierung nach zwei Kriterien erlaubt außerdem die Bildung weiterer Typen von Interaktionssystemen und deren sinnvolle Anordnung relativ zu den beiden Grundmodellen (vgl. Abbildung 15, oben, S. 193). Eine wichtige militärische Herausforderung besteht heute in den so genannten ‚neuen Kriegen’, in denen sich häufig internationale Staatenkoalitionen im Kampf mit Guerillagruppen befinden. Welche Aussagen lassen sich mit der hier vorgestellten Theorie über diese Kriege machen? Sie können als Volksbewaffnung begriffen werden. Das Interaktionssystem der Volksbewaffnung (heute: Guerillakrieg) kombiniert eine hohe Interaktionskomplexität mit einer losen Kopplung. Der Grund für die hohe Interaktionskomplexität ist die politische oder religiöse Motivation der Aufständischen, die – auf der taktischen Ebene – zu schwer berechenbaren Kampfhandlungen führt (man denke im Afghanistankrieg an Überfälle mit Sprengfallen) und auf der strategischen Ebene zu äußerst schwer kalkulieren Wechselwirkungen etwa mit der Motivation der Aufständischen selbst oder der Stimmung von beteiligten Öffentlichkeiten. Die lose Kopplung entsteht, weil die Guerilleros große Gefechte vermeiden. Versucht man ihnen solche aufzudrängen, ziehen sie sich zurück. Die Folge ist eine gefährliche Mischung aus einem hochdynamischen und sehr stabilen Interaktionssystem, in dem der Gegner schwer zu besiegen ist. Je breiter gestreut (unbestimmter) der politische Zweck einer Kriegspartei ist, desto mehr ist sie auf eine eng abgestimmte Koordination ihrer Gefechtswirkungen angewiesen. Das Handlungssystem muss entsprechend durch unbestimmtere Teilzwecke programmiert werden. Das resultierende hohe Koordinationserfordernis setzt der Variabilität der Teilzwecke (und der damit verbundenen Möglichkeit der opportunistischen Wertverwirklichung!) enge Grenzen. Das System ist darauf angewiesen, seinen Zwecken Permanenz zu verleihen (vgl. oben, Abschnitt 2.7.1). Zusätzlich muss das System Routine-
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abläufe nutzen, da nur diese die Koordination von hochkomplexen Handlungssystemen erlauben. Je enger definiert (bestimmter) der politische Zweck eines Krieges hingegen ist, desto geringer ist auch die Koordinationsanforderung an die Gefechtswirkungen. Besteht der politische Zweck im reinen Widerstand, so ist die Koordinationsanforderung am geringsten. Das Handlungssystem kann auf bestimmte Zwecksetzungen eingerichtet werden – und dadurch den Vorzug der opportunistischen Wertverwirklichung ideal nutzen, den die Variabilität der Zwecksetzung mit sich bringt. Das Systemerfordernis der Permanenz von Zwecken ist hier weniger gegeben (vgl. oben, Abschnitt 2.7.1). Dieses Faktum machen sich die Protagonisten des kleinen Krieges zunutze und unterlaufen damit die Absichten der konventionellen Streitkräfte, die für unbestimmtere Zwecke – und damit höhere Effizienz – ausgebildet sind. Die notwendigerweise geringeren Wirkungen, die sie erzielen, gleichen sie durch eine Strategie der Ausdehnung der Kampfhandlungen in den Raum und in die Zeit aus. Clausewitz’ Kriegstheorie geht in mehrerer Hinsicht über den moderneren systemtheoretischen Ansatz hinaus. Nur zwei Punkte sollen hier noch einmal hervorgehoben werden. Erstens führt Clausewitz die Methode der Wahrscheinlichkeitsüberlegung in die Zweck/Mittel-Analyse ein. Die Wahrscheinlichkeitstheorie ist die einzige mathematische Theorie, die sinnvoll auf strategische Fragen angewandt werden kann. Denn sie erlaubt dem Analysten, diejenigen Ereignisse, deren Wahrscheinlichkeit er bestimmen möchte, aus dem Kriegsgeschehen ‚herauszugreifen’, sofern er sie als Elemente oder Mengen abstrahieren kann, denn nur dafür sind Wahrscheinlichkeiten definiert. Zweitens impliziert Clausewitz’ Theorie eine Kritik an der Kausalauslegung des Handelns in der Systemtheorie, obgleich diese den richtigen Ausgangspunkt liefert. Denn Clausewitz’ Theorie erinnert daran, dass einem Erreichen von exakten Wirkungen auf komplexe dynamische Systeme äußerst enge Grenzen gesetzt sind und beugt so allzu naiven Vorstellungen der Planbarkeit von Kriegen vor. Die systemtheoretische Analyse bringt erhebliche methodische Vorzüge mit sich. Clausewitz’ Methode der historischen Kritik erscheint nun als Rekonstruktion vergangener Anwendungen des Zweck/Ziel/Mittel-Verfahrens. Dadurch können mithilfe der kontrafaktischen Methode alternative Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt bzw. eine Evaluation der tatsächlich gewählten (oder geplanten) Handlungen vor dem Hintergrund der Nebenfolgen durchgeführt werden. Die Analyse kann entweder vom tatsächlichen Entscheidungsoutput des Systems ausgehen (so genannte ‚bottom-up’-Analyse) oder aber umgekehrt von den artikulierten Zwecken (so genannte ‚top-down’-Analyse).146 In beiden Fällen 146 Für diese Idee danke ich Thomas Jäger.
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muss die Analyse durch eine sorgfältige Bestimmung der Rahmenbedingungen ergänzt werden. Die Analyse erhält indessen durch die systemtheoretische Perspektive eine zweite Ebene hinzu, die in der Systemtheorie Beobachtung der Beobachtung genannt wird (Becker/Reinhardt-Becker 2001: 67-71). Stets mitzuberücksichtigen sind die Instrumente, die die Handlungssysteme zur Reduktion von Komplexität einsetzen (vgl. ‚Programmaufbau: Kontrolle’, oben, S. 62). Wird auf einer gegebenen Entscheidungsebene nach Maßgabe von Zweckprogrammen oder von Routinen gehandelt? Wie bestimmt oder unbestimmt sind die Zwecke bzw. Handlungsanlässe definiert? In welche Teilhandlungssysteme zerfällt ein Entscheidungsprozess? Dies sind die Fragen nach der Systemrationalität eines Handlungssystems. In künftigen Forschungen könnte man das Verfahren der Beobachtung der Beobachtung in das Zentrum der Analyse stellen. Dann würde sich der Fokus des Forschungsinteresses richten auf militärische Organisationsstrukturen, Kommandoketten, konkret also etwa Handbücher und Dienstvorschriften und ähnliche Dokumente. Mit Bezug auf die NATO könnte man nach der Systemrationalität der NATO fragen. Wie man eine konkrete Analyse auf der Basis der hier entwickelten Theorie mit dem Fokus auf die Methode der historischen Kritik durchführen kann, wurde in Kapitel 6 am Beispiel der NATO-Strategie in Afghanistan vorgeführt. Die Analyse hat vor allem gezeigt, dass man Clausewitz’ Erkenntnis nicht genug loben kann, die gesellschaftlich-politischen Variablen in den Vordergrund zu stellen – obgleich er doch ein Buch über den Krieg geschrieben hat. Der ISAFEinsatz droht an Faktoren zu scheitern, die in der zivilen Umwelt des dort stattfindenden Krieges zu finden sind. Es ist vor allem der Mangel an einer Regierung in Kabul, die eine legitime (d. h. von der Bevölkerung als verbindlich empfundene) Wertverteilung in den Sachbereichen der Sicherheit, der Wohlfahrt und der Herrschaft für ihre Gesellschaft durchführen kann – kurz: die ihre politischen Aufgaben erfüllen kann. Stattdessen droht das Regime in Korruption zu versinken. Ohne eine funktionierende politische Organisation, die handlungsfähig ist, ist es indessen auch nicht sinnvoll, die Organe aufzubauen und mit großer Macht auszustatten, über die die Wertverteilung administrativ besorgt werden soll (also Militär und Polizei). Die soziopolitische Umwelt des heutigen Afghanistans bietet den Aufständischen, die in ihrer faktischen Macht weit unterlegen sind, die Chance, ihre Zwecke zu erreichen. Gegenmaßnahmen müssen hier ansetzen. Die theoretische Herangehensweise hat außerdem ans Licht gebracht, dass man mit ‚Patentrezepten’ dieser Lage nicht Herr werden kann – stattdessen ist eine Analyse erforderlich, die die soziopolitische Einbettung des Krieges in den Vordergrund stellt.
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Clausewitz hat seine Zweifel besiegt und sich für eine Verallgemeinerung seiner Theorie entschieden zugunsten breiterer Anwendungsmöglichkeiten. Dieser Weg ist hier weiter beschritten worden, indem Clausewitz’ Begriffe und Methoden durch Heranziehung der Systemtheorie nach Luhmann präzisiert, verallgemeinert und somit zur Lösung heutiger Problemstellungen verfügbar gemacht worden sind. In weiteren empirischen Anwendungen ist nachzuweisen, dass sich dieses begriffliche Instrumentarium auch zur Analyse anderer strategischer Problemstellungen eignet.
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