Nr. 337
Chaos über Atlantis Der Tod naht aus dem Korridor der Dimensionen von Hans Kneifel
Die Erde ist wieder einmal...
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Nr. 337
Chaos über Atlantis Der Tod naht aus dem Korridor der Dimensionen von Hans Kneifel
Die Erde ist wieder einmal davongekommen. Pthor, das Stück von Atlantis, dessen zum Angriff bereitstehende Horden Terra überfallen sollten, hat sich dank Atlans und Razamons Eingreifen wieder in die unbekannten Dimensionen zurückgezogen, aus denen der Kontinent des Schreckens urplötzlich materialisiert war. Atlan und Razamon, die die Bedrohung von Terra nahmen, gelang es allerdings nicht, Pthor vor dem neuen Start zu verlassen. Zusammen mit dem Kontinent und seinen seltsamen Bewohnern befinden sie sich auf einer ungesteuerten Reise ins Ungewisse. An eine Kursbestimmung von Pthor ist noch nicht zu denken, und so werden es Algonkin-Yatta und seine exotische Gefährtin, die beiden Reisenden durch Zeit und Raum, die seit langem nach Atlan suchen und die den Arkoniden, als er noch auf der Erde weilte, nur knapp verfehlten, es schwer haben, sich weiter an seine Fersen zu heften. Der Arkonide ist jedoch kein Mann, der in Tatenlosigkeit verharrt. Während Odins Söhne nach dem Tod der Herren der FESTUNG ihre Herrschaftsansprüche auf Pthor geltend machen, beginnt Atlan, nach dem verborgenen Steuermechanismus des »Dimensionsfahrstuhls« zu suchen. Und während der Arkonide und der Roboter Elkohr sich durch die mannigfaltigen Gefahren der Hades-Zone kämpfen, naht das Unheil aus dem Korridor der Dimensionen. Es bringt das CHAOS ÜBER ATLANTIS …
Chaos über Atlantis
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide sucht die »Seele von Pthor«. Elkohr und Kortmikel - Atlans Weggefährten. Pegallu - Herrscher der Verstoßenen. Urtyn - Ein Zyklop kämpft seinen letzten Kampf. Thalia, Razamon und Kolphyr - Atlans Freunde brechen auf.
1. Der Schock des phantastischen Bildes traf die drei Fremden voll. In einer großen Halle mit tief heruntergezogenen Deckenteilen befanden sich Hunderte schwarzer Würfel; riesige Maschinen oder Geräte, die in verwirrenden Gruppen zusammengestellt waren. Fetzen aus irgendwelchem Stoff hingen wie Girlanden zwischen den Umformern. Aus den freien Gassen zwischen den Geräteblöcken schoben sich gelbhäutige, fast nackte Gestalten hervor. Sie kamen einzeln oder in kleinen Gruppen. Keiner von ihnen sprach, jeder war mit blitzenden Sicheln, Schwertern oder Dolchen bewaffnet. Sie sammelten sich an beiden Seiten einer Sförmig gekrümmten Gasse zwischen den Würfeln. Ihre gelben Gesichter starrten alle in eine Richtung: dorthin, wo Atlan, Kortmikel und Elkohr aus dem Tunnel über eine flache Rampe kamen. »Das Rätsel der Fußspuren ist gelöst. Hier leben Dellos oder die Nachkommen von solchen Züchtungen«, sagte der silberschimmernde Roboter mit seiner hellen Stimme. »Waffen. Noch mehr Terror. Wir sterben«, schnatterte Kortmikel, das Vogelwesen, und erzeugte mit seinem hornigen Mund ein verdrossenes Knattern. »Der Eindruck von Grausamkeit und Düsternis, den uns das Mosaikbild vermittelt hat, bleibt bestehen«, murmelte Atlan und ballte die Fäuste. Hunderte der mittelgroßen, breit gebauten, aber dennoch unterernährt wirkenden Dellos hatten sich entlang des Mittelgangs versammelt. Sie warteten auf irgendein Ereignis. Mit elementarer Wucht setzte ein rhyth-
mischer Lärm ein. Er kam von der Decke und aus allen Ecken und bestand aus Trommelschlägen, aus Fanfarensignalen und dem klirrenden Scheppern zusammengeschlagener Bleche. Starkes Scheinwerferlicht durchschnitt das Halbdunkel und leuchtete eine breite Bahn zwischen der Rampe und dem Ende der Halle aus. Eine Batterie von unsichtbaren Tiefstrahlern richtete sich auch auf ein seltsames Bauwerk, das sich an strategisch bester Stelle, nämlich am höchsten Punkt dieser Maschinenhalle erhob. Es war ein Haus, aus Metallstücken, hölzernen Balken, Tauwerk und Platten in allen Farben, Formen und Größen zusammengesetzt. »Lärm! Widerlich!« schimpfte Kortmikel. Die Fächerfedern über seinen Ohren zitterten. Ein Auftritt bereitet sich vor! flüsterte der Logiksektor des Arkoniden. Das Haus war hoch und schmal. Es schien zu schwanken, war aber nach mehreren Seiten mit straff gespannten Tauen gesichert. Eine leichte Tür flog auf, auf einen winzigen Vorsprung trat ein schlanker Dello heraus und breitete die Arme aus. Von den Handgelenken bis weit über die Ellbogen zogen sich blitzende Stulpen, die in nadelfeine Spitzen ausliefen. »Der Oberdello! Geschickt inszeniert«, sagte Elkohr abfällig. »Die Riten und Schauspiele einer unterweltlichen Subzivilisation.« Etwa fünf Minuten lang hielt die dröhnende und krachende Musik an, dann knackten die unsichtbaren Lautsprecher. Eine Stimme in scharfem, zischendem Pthora begann zu sprechen. »Ich, Vater Pegallu, grüße euch. Ich bin der Herrscher dieses Reiches und heiße euch willkommen. Wir werden euch zu Ehren ein
4 Fest rüsten!« Das Mikrophon, das jener schlanke Dello trug, war vom Standort der drei Fremden aus nicht wahrzunehmen. Vermutlich hing es um seinen Hals. Jedenfalls war der Auftritt sehr dramatisch und wirkungsvoll. Aber offensichtlich war auch Elkohr der Ansicht, daß der Empfang keineswegs harmlos war. Hier schienen sich Gefahren abzuzeichnen, die noch nicht erkannt werden konnten. »Ausgerechnet Vater Pegallu nennt er sich!« sagte Atlan verblüfft. Nach dem ersten Satz des Herrschers ertönten wieder schrille Fanfarenstöße und Trommelwirbel von drohender Eindringlichkeit. Dann sprach Vater Pegallu weiter. »Mein Volk, das tief unter der Kruste Pthors lebt, ist teilweise vor Zeiten von den Pfisters gerettet worden. Auch finden sich viele von den Kelotten freigelassene Freunde hier. Wir alle stammen letzten Endes aus Aghmonth und haben uns hier getroffen, nachdem unzählige von uns bei den Versuchen, einen Weg hierher zu finden und dieses Reich zu gründen, umgekommen sind.« »Nicht verstehen. Angst und Furcht!« rief Kortmikel. Dann redete er leise auf den Roboter ein. Langsam gingen die drei Neuankömmlinge die Rampe abwärts. Sie waren von dieser Art Überraschung mehr als nur verblüfft. Schon der letzte Fund hatte ihre Vorstellungen und Gedanken in eine bestimmte Richtung gelenkt. Sie sahen ihre Befürchtungen bestätigt. Atlan flüsterte warnend: »Das Reich von Vater Pegallu ist nichts anderes als eine Gemeinschaft von Ausgestoßenen und Verunglückten.« »Ich sehe die Freundlichkeit dieses Herrschers nicht in hellem Licht«, sagte Elkohr rätselhaft. Atlan drehte sich um und warf einen Blick auf das zuckende, sich drehende Ding, das in der Mitte des Verbindungsgangs schwebte. Die schreckliche Musik aus unbegreiflichen Instrumenten hielt an. Sie unterstrich die Wirkung der Rede, die Vater Pegallu hielt. Jetzt wußten Atlan, Elkohr und
Hans Kneifel Kortmikel, woher die Fußspuren auf dem Boden des Ganges kamen. Zwar waren sie jetzt, nach der Ruhepause in diesem winzigen Kämmerchen, bei neuen Kräften, dennoch ahnten sie die Gefahren, die in dieser Szene verborgen waren. Die Klänge der Musik rissen ab, und diesmal sprach Vater Pegallu bereits von den Stufen seiner Behausung. »Wir freuen uns, Wesen von der Oberfläche begrüßen zu dürfen. Sie bringen stets Essen, Nachrichten und neue Ideen hierher. Kommt näher, meine Freunde. Wir werden euch nichts antun. Seid unbesorgt.« »Letzteres wohl kaum«, brummte Atlan und näherte sich den ersten der gelbhäutigen Dellos. Sie starrten ihn in seinem Goldenen Vlies mit großen Augen an. Elkohr hob einen Arm und rief laut: »Danke für die Begrüßung. Wir sind überrascht, euch zu finden, Vater!« »Das ist wohl jeder, der hierher kommt«, donnerte es aus den Lautsprechern. »Aber es sind nicht viele, die sich in mein Reich wagen.« Atlan musterte den ersten Mann, den er aus der Nähe sah, ganz genau. Die gelbe Haut sah ungesund und ungepflegt aus. Der Dello machte den Eindruck, als habe er sich seit unendlicher Zeit niemals sattessen dürfen. Aber der Fetzen Metall, der wie eine Sense geformt war, mit Griff und flammenförmigen Zacken an beiden Seiten der gekrümmten, spitz zulaufenden Schneide, war geschliffen und blitzte. »Warum Waffen? Wen bekämpfen?« schnatterte Kortmikel. Eine sehr interessante Frage, fand der Arkonide. Wozu brauchten die Dellos eine derartige Bewaffnung? Gegen wen kämpften sie? Oder war es nur Dekoration? Du wirst es schneller erfahren, als dir lieb ist, warf der Extrasinn ein. Vermutlich, wie meist, dachte Atlan. Das Geschehen erinnerte ihn an Theateraufführungen. Von der einen Seite kamen sie, von der anderen näherte sich hoheitsvoll Vater Pegallu, dessen Armschützer im Scheinwer-
Chaos über Atlantis ferlicht schimmerten. An beiden Seiten der Gasse standen die Untertanen und hoben salutierend ihre Waffen. Schweigend folgten Elkohr und Kortmikel dem Mann im Anzug der Vernichtung. Auf den oberen Flächen der Maschinen wuchsen binsenartige Pflanzen und Ranken, die an allen vier Seiten herunterhingen. Die Binsen trugen rote, zylindrische Früchte, an den Ranken hingen handtellergroße Beeren von stechend grüner Farbe, aus denen honigartiger Saft oder Harz tropfte. Und: an Schrauben, Verstrebungen und Vertiefungen waren Netze und Hängematten zwischen den Umformern gespannt. Von den Maschinen selbst ging eine dumpfe Wärme aus. »Ich verstehe!« sagte Atlan leise und lächelte in die stumpfen gelben Gesichter. »Sie leiden Not und sind um jede Abwechslung mehr als dankbar. Warum dann kein Jubel?« »Ich bin bereit, meine Waffen einzusetzen«, flüsterte der Roboter schräg hinter ihm. Der Herrscher und die Fremden waren sich bis etwa hundert Meter nähergekommen. Nicht ein einziger Dello bewegte sich auffällig. Zwischen beiden Parteien, die sich mit entsprechendem Mißtrauen betrachteten, breitete sich Leere aus. Atlan fand dies alles zu theatralisch, zu unecht, und gerade deswegen war er im höchsten Maß mißtrauisch. »Gut. Halte dich bereit«, erwiderte Atlan. Sie setzten Schritt vor Schritt. Die Dellos starrten sie an und rührten sich nicht. Die Waffen waren alle von derselben Länge, aber ihre Formen differierten. Der Abstand betrug jetzt nur noch neunzig Meter. Vater Pegallu hob beide Arme hoch und rief: »Und damit das Fest ein Erfolg wird, würdig unserer Gäste, werde ich versuchen, uns etwas zu verschaffen, das wir unbedingt brauchen. Aber … ich weiß nicht, ob ich den Ort wiederfinde.« Er blieb stehen. Atlan sah, daß er sich genau im Zentrum eines Kreises befand. Der Kreis wies einen
5 Durchmesser von weniger als fünfzehn Metern auf und bestand aus glänzenden Metallvierecken, die auf den grauen Boden geklebt oder genietet waren. Atlan musterte den Herrscher, der sich von seinen Untertanen nicht sehr unterschied. Er war größer, schlanker und schien besser genährt zu sein. Auf seiner Brust funkelte ein riesiges Amulett, in dessen Mitte eine gläserne Kugel angebracht war. Mehr erkannte der Arkonide nicht. Aber er sah, daß sich der Herrscher scharf konzentrierte und außerordentlich anstrengte. Dann deutete er mit beiden Händen in eine bestimmte Richtung. Er schloß die Augen und atmete schwer und keuchend. Seine Gestalt schien zu flimmern und sich in derselben Weise zu bewegen wie das schauerliche Bildwerk im Korridor. Dreißig Sekunden vergingen in atemloser Stille und steigender Spannung. Dann bildete sich ein fahler Nebel um diese Gestalt. Vater Pegallu begann zu zittern, der Schweiß strömte förmlich über seinen Körper. Zusammen mit dem grellen, senkrecht einfallenden Licht bekam die Gestalt etwas Mythisches. Die Finger krümmten sich, als ob sie einen unsichtbaren Gegenstand umklammern würden. Gebannt sahen nicht nur sämtliche Dellos, sondern auch die drei Fremden zu, die langsam näherkamen. Alles wurde deutlicher und schärfer. Die Fingerspitzen des Dellos verschwanden, wurden unsichtbar. Dann die Finger, das Handgelenk und ein Teil der Unterarme. Binnen weniger Sekunden waren die Arme bis zur Mitte der Oberarme nicht mehr sichtbar. »Dimensionsrüssel!« schnatterte Kortmikel leise. »Ich kennen.« Der Roboter aus Wolterhaven fragte kühl: »Was tut er?« »Er verschwindet«, flüsterte der Arkonide. Er war wirklich gebannt und erschrocken über das, was er sah. Er zweifelte nicht daran, daß er Zeuge eines erstaunlichen Vorgangs war. Vater Pegallu stand zitternd und schwit-
6 zend da, bis zu den Schultern im Nichts verschwunden. Dann, ganz plötzlich, ruckte seine gesamte Gestalt nach vorn, er spannte seine Muskeln. Seine Finger schienen »dort« etwas ergriffen zu haben, das sich wehrte. Er stemmte sich nach hinten, zog und zerrte und warf sich schließlich mit einer gewaltigen Anspannung nach hinten. Seine Arme erschienen wieder. Sie wurden in umgekehrter Reihenfolge wieder sichtbar. Zuerst die Ellenbogen, dann die Unterarme, schließlich die Hände. Sie hielten etwas umklammert, das wie die Läufe eines Tieres aussah. Noch einmal strengte sich Vater Pegallu an und stemmte sich gegen den erbitterten Widerstand dessen, das er dort ergriffen hatte. Dort? Wo? In einer anderen Dimension? Der letzte Ruck brachte die Entscheidung. Ein Tier kam durch die unsichtbare Öffnung. Es war offensichtlich so groß wie ein terranischer Hirsch. Das Fell war von dunkelbrauner, fast rötlicher Farbe. Die Hinterläufe wurden in diesen Saal hineingezogen, in dieses andere Kontinuum, dann kamen die Schenkel, der Hinterleib, der Körper, schließlich die zuckenden Vorderläufe und der Hals mit dem runden Kopf, den zwei korkenzieherartig gedrehte Hörner zierten. Das Tier schrie kreischend auf und begann sich zu verformen. »Das ist die … Erklärung!« keuchte der Arkonide auf. Plötzlich begriff er fast alles. Als zwei Dutzend Dellos mit ihren phantastischen Waffen vorstürmten, um Vater Pegallu zu helfen, geschahen merkwürdige Dinge. Das Tier veränderte sein Aussehen. Die braune Haut verschwand. Rohes Fleisch und Organe von bekanntem Aussehen erschienen an der Außenseite eines sich drehenden, wendenden Körpers. Knochen stießen durch das rosa Muskelfleisch. Der Körper stülpte sozusagen gleichzeitig an mehreren Stellen sein Inneres nach außen. Die scharfen, dreieckigen Hufe verschwanden in Därmen, die wie dicke Spiralen aussahen. Ein begeistertes Heulen erscholl, als sich
Hans Kneifel mindestens zwanzig Schwerter in den Körper bohrten. Vater Pegallu überschlug sich nach hinten, ohne die Läufe loszulassen, um die sich seine Finger gekrallt hatten. Eine kleine Gruppe Dellos war um ihn, tötete das Tier, das wahrscheinlich schon beim Eintreten in die andere Bezugsebene umgekommen war, und half Vater Pegallu wieder auf die Füße. »Hast du begriffen, was diese Darbietung zu bedeuten hatte?« fragte Atlan scharf. Er meinte Elkohr, denn er ahnte, daß Kortmikel mit dieser Praktik vertrauter war als jeder von ihnen. »Nicht ganz«, murmelte Elkohr mit deutlichem Erstaunen. »Vater Pegallu griff in den Bereich einer anderen Dimension hinein und holte daraus etwas Eßbares hervor. Ich bin absolut sicher, daß er es war, der auf ebensolche Weise die Fundgegenstände hierher brachte.« Atlan sprach von dem grauenerregenden Bildmosaik des Korridors und den verformten Funden, die sie auf dem Weg hierher gemacht hatten. Bisher waren sie erfolgreich vor Urtyn, dem letzten Zyklopen, geflohen – er hatte sie nicht verfolgt. Vielleicht aber gab es andere Verbindungsgänge, die ihm, nicht aber Elkohr bekannt waren. »Ich verstehe. Allerdings bin ich nicht dazu geeignet, derlei Überlegungen anzustellen. Aber … ich werde es Kortmikel übersetzen«, meinte Elkohr. Inzwischen tobte wieder die wilde Musik. Der Kreis um Vater Pegallu wurde dichter, und das Tier, durch die blitzenden Flammenschwerter in große Brocken zerlegt, löste sich förmlich auf. Elkohr sprach leise mit Kortmikel. Das Vogelwesen nickte schweigend immer wieder und gestikulierte mit seinen Ärmchen und Fingerchen. Dann, nachdem er seinerseits dem Roboter seine Mutmaßungen mitgeteilt hatte, sagte Elkohr übersetzend zu Atlan: »Auch Kortmikel ist deiner Ansicht. Vater Pegallu hat sicherlich die Fähigkeit, Verbindung zwischen den Dimensionen herbei-
Chaos über Atlantis zuführen. Kortmikel will, wenn es sich machen läßt, mit ihm sprechen, denn er sieht hier eine Möglichkeit, nach seiner Heimat zurückzukehren.« »Der Optimist!« meinte der Arkonide. Vater Pegallu löste sich aus dem Kreis seiner Untertanen und kam mit ausgebreiteten Armen auf die drei Fremden zu. Sein Amulett funkelte, die ausgeschliffenen Spitzen der Armschützer bewegten sich wie federnde Klingen. Vater Pegallu lachte breit, als er vor Kortmikel stehenblieb und in seinem merkwürdigen Pthora rief: »Willkommen!« Die Lautsprecher gaben jetzt seine Stimme, nicht mehr die Musik wider. Atlan musterte den Dello genau, aber sein erster Eindruck brauchte nicht mehr korrigiert zu werden. Ganz offensichtlich war auch dieser selbsternannte Dello-Herrscher ein Produkt aus Aghmonth, das den Anforderungen der FESTUNG nicht genügt hatte. Oder einer jener, die eigene Meinung und ein zu starkes Ichbewußtsein entwickelt und sich abgesetzt hatten. Dieser Dello schien ein wenig hinterhältig zu sein, sagte sich der Arkonide, aber er antwortete offen: »Wir danken dir, Vater Pegallu. Wir werden nur ganz kurz deine Gäste sein, denn wir sind auf dem Weg an ein anderes Ziel.« »Nichts davon!« wehrte der schlanke Dello ab. »Wir, die Ausgestoßenen, werden euch und uns ein Fest geben. Wir freuen uns, Neuigkeiten von oben zu hören.« »Wohin greifst du, wenn du die Dinge holst?« Elkohr deutete auf die Reste, die sich am Armschutz des Herrschers befanden. Es mochten Teile des Tieres gewesen sein und solche aus der Umgebung, in der dieses Wild gelebt hatte. »Ich weiß es selbst nicht genau. Aber es sind mehr oder weniger immer andere Welten. Ich warte, bis etwas vorbeitreibt, das sich zu ergreifen lohnt.« Vater Pegallu faßte den Robot und Atlan an den Oberarmen und zog sie mit sich in Richtung auf sein Haus. Kortmikel folgte
7 und wandte sich nach rechts und links. Die anderen Dellos hoben die Arme und die fürchterlichen Waffen, aber sie sprachen nicht. Unangefochten erreichten die Fremden den freien Platz vor dem Eingang dieses zusammengewürfelten Hauses. »Jene Fundstücke in der Spirale draußen … von dir aus anderen Welten geholt?« Das Lächeln des Dellos war voll echter Traurigkeit. »Ja. Es sollten Waffen sein. Aber sie alle veränderten sich beim Durchgang durch die Grenzen. Eigentlich bin ich Spezialmechaniker. Dafür wurde ich geschaffen.« Elkohr war interessiert. »Du solltest hier in der Unterwelt die Anlagen reparieren? Ist es so?« »Nein. Technische Geräte aller Art. Aber ich war nicht gut genug. Ich zerstörte alles, was ich mit meinen Händen anfaßte.« Er streifte Blattreste und andere, völlig unkenntlich gewordene Dinge von den metallenen Röhren. »Also kein Mechaniker. Und woher hast du diese seltsame Begabung, durch die Dimensionen zu greifen?« »Auch das weiß ich nicht!« Vater Pegallu, der nach Schweiß roch, winkte einigen seiner Untertanen. Sie brachten einfache Sessel herbei, die aus den geschälten Ranken der Pflanzen geflochten waren, die hier zwischen und auf den Maschinen wucherten. Die Fremden und der Herrscher setzten sich auf eine Art Terrasse, die sich neben der unsauberen Treppe erstreckte. Atlan, der an Vater Pegallus Kopf vorbeischaute, sah zu seinem Entsetzen einige Körperteile von Dellos an dicken Schnüren von den Maschinenwänden hängen wie andernorts Würste oder Schinken. Die Pthor-Version von Kannibalismus. Vermutlich zwingt Nahrungsmangel sie zu diesem Notbehelf, sagte der Logiksektor. »Das kann ich nicht glauben«, erwiderte Elkohr und übersetzte Kortmikel den Inhalt des Dialogs. Wieder winkte der Dello und vollführte mit seinen Fingern dabei seltsame Bewegungen.
8 »Alles, was ich anpackte, ging kaputt oder verdrehte sich. Ich habe wohl zwei ungeeignete Hände erhalten. Erst hier in der Unterwelt erkannte ich, daß ich damit in andere Welten und Räume vorstoßen konnte.« Kortmikel rief aufgeregt: »Vielleicht er mich geholt. Dimensionsrüssel gepackt?« Es stellte sich heraus, daß in diesem Fall Vater Pegallu völlig unschuldig war. Jetzt näherte sich ein recht gutgewachsenes Dellomädchen und bot einen gläsernen Krug und vier Gläser an. Sie waren einmal unverkennbar Teile von Maschinen oder Laboreinrichtungen gewesen. Pegallu packte den Krug und goß nacheinander die Gläser voll. Es war eine blaßrote, schäumende Flüssigkeit. Gift? dachte sich der Arkonide. Sein Extrasinn schaltete sich ein. Noch nicht jetzt, vermutlich aber später – er trinkt selbst mit! »Es ist eine Art Wein aus den Beeren, die ihr gesehen habt«, erläuterte der Herrscher mit seinem milden Gesichtsausdruck. »Und, um eure Frage ganz zu beantworten: Ich lade mitunter meinen Körper mit den fremden Energien auf. Dann vermag ich, Dinge mit größerer Kraft zu tun. Zum Beispiel …« Er deutete mit einem Finger auf den Stoß trockener Ranken, die von den anderen auf einem Haufen zusammengetragen wurden. Aus dem Finger zuckte knatternd ein langer Blitz und setzte ein dickes Stück in Flammen. Von allen Seiten erschollen begeisterte Rufe. »Eine Fähigkeit, die sicherlich dann und wann ihre Vorteile hat«, bekannte Elkohr. Kortmikel sprang auf, bedeckte seine Ohren und die heftig zitternden Antennenfedern mit den Klauen und schrie: »Terror! Feuer! Überall Gewalt.« Atlan packte in sein Gefieder und zog ihn wieder auf den Sessel nieder. »Kannst du dir und auch uns erklären, woher du diese eigenartigen Kräfte hast?« fragte der Arkonide. Der Dello schüttelte den Kopf und betrachtete sinnend sein Amulett.
Hans Kneifel »Nein. Absolut nicht. Aber sie haben mich zum wohltätigen und energischen Herrscher über diesen Haufen der Verdammten gemacht. Sie lieben mich alle. Ich lehrte sie viel und bringe ihnen immer wieder Essen. Nur nützliche Werkzeuge … sie verformen sich. Sie haben Schwerter daraus gemacht und anderes.« »Und du vermagst dies ununterbrochen zu tun?« war Elkohrs nächste Frage. Er wollte die Kräfte dieses potentiellen Gegners abschätzen. »Nicht ununterbrochen. Es erfordert viel Kraft. Es ist die Konzentration, die mich schwächt. In einigen Stunden kann ich es wieder versuchen.« »Verstehe.« Die etwa zweihundert Dellos, die Untertanen dieser unbegreiflichen Kreatur, häuften eine Menge Brennmaterial auf. Sie schleppten Sitzgelegenheiten herbei, die sie in einem mehrfach gestaffelten Kreis aufstellten. Dann setzte ein weiterer, etwas schwächerer Blitz aus Vater Pegallus Finger das zundertrockene Material in Brand. Die Scheinwerfer erloschen nacheinander, nur noch hinter einigen Maschinen brannten indirekte Leuchtkörper. Gespenstisch beleuchteten die Flammen des riesigen Feuers die Szene: die Stufen, das schiefe und baufällige Haus, die blitzenden Schneiden der vielen Waffen und die Schatten auf den Körpern und Gesichtern der Dellos. Aus den Lautsprechern kam wieder Musik. Auf einigen Schwertern steckten die Fleischbrocken aus dem Beutetier der anderen Dimension. Diese Gruppenführer saßen am innersten Ring des Feuers und hielten die Fleischstücke in die Glut hinein. Es begann nach Braten zu riechen. Wieder schenkte Vater Pegallu ein und hob seinen gläsernen Becher. »Berichtet uns etwas. Was tun die Herrscher der FESTUNG?« Mit harter Stimme erklärte Elkohr: »Die Zeit Ragnaröks kam näher, die vielen Gegner der FESTUNG erhoben sich, und jetzt ist die FESTUNG nach harten Kämpfen gestürmt worden. Die Herrscher
Chaos über Atlantis leben nicht mehr. Du wirst gemerkt haben, daß Pthor wieder auf der Reise ist.« Vater Pegallu ließ den Becher fallen. Ein Stöhnen der Überraschung kam aus der Kehle des Dellos. »Die FESTUNG beherrscht nicht mehr Pthor?« flüsterte er. »So ist es. Jetzt sind die Söhne Odins unter den Herrschern. Aber es wird weitere Änderungen geben. Wir sind hier, um einige davon herbeizuführen. Änderungen, die auch euer Leben beeinflussen können. Ihr braucht euch nicht länger als Ausgestoßene zu fühlen.« Schweigend blickte der Herrscher von einem zum anderen. Schließlich, nach langem Nachdenken, murmelte er unschlüssig: »Wir sind zu lange schon hier. Keiner von uns kann sich an ein Leben an der Oberfläche gewöhnen. Wir werden darüber lange beraten. Aber ich ahne bereits, wie unser Entschluß lauten wird.« Wieder schwieg er, dann schlug er sich auf die Schenkel und rief: »Das alles später! Jetzt ist ein Fest angesetzt, und ihr seid die Ehrengäste. Wir werden trinken, essen und tanzen. Hört, die Musik!« Vorsicht! Es wird ernst, flüsterte der Logiksektor warnend. »Sie sind alle in einer Art Netz gefangen«, flüsterte Elkohr und drehte wachsam den silbernen Schädel. »Sie sind introvertiert, sie bewohnen nur ihre kleine, heile Welt. Sonst wären sie schon längst ausgebrochen und hätten sich mehr Raum verschafft. Aber sie wagen es nicht, denn sonst wäre ihre erste Frage an uns gewesen: ›Was tut ihr hier?‹ Sie akzeptieren die Umstände und versuchen, in ihrem beschränkten Denken eingeschlossen, nicht einmal, den Zustand zu verändern. Ganz sicher werden sie versuchen, uns zu verzehren.« Atlan wisperte zurück: »Wieder einmal haben wir beide dieselbe Meinung. Du bist gegen Gifte immun, denke ich?« »Mit Sicherheit. Ich neutralisiere die
9 Speisen in einem Hohlraum meines Körpers. Aber wie steht es mit dir?« Atlan erinnerte sich an einige Versuche, ihn mit Gift töten zu wollen. Stets hatte der Zellschwingungsaktivator die Gifte neutralisieren und schnell abbauen können. Aber dies waren Gifte gewesen, die nicht von Atlantis stammten; möglicherweise veränderte dieser Brocken auf seiner Reise durch Zeit und Raum auch die Eigenschaften von derartigen Mitteln. Er hob die Schultern und gab leise zurück: »Ich werde vermutlich damit fertig. Sorgen macht mir nur Kortmikel. Er ist hungrig.« »Ich passe auf ihn auf«, versicherte Elkohr. Das »Fest« nahm seinen Fortgang. Aus den Lautsprechern kam andere Musik. Sie klang weicher und einschläfernder als die barbarischen Takte von vorhin. Die Dellos kamen aus ihren Winkeln hervor und setzten sich um das Feuer. Immer wieder wurden Becher und Gläser vollgeschenkt. Atlan trank kaum einen Schluck, stellte sein Glas neben seinen Fuß auf den Boden und goß hin und wieder große Teile des Inhalts um. Kortmikel hielt sich ebenfalls zurück, aber er schielte sehnsüchtig nach den Platten, die voller Fladen waren. Der Arkonide wagte einen Vorstoß und wandte sich an Vater Pegallu. »Ich denke, daß das Problem der Nahrungsmittelbeschaffung bei euch hier nur ungenügend gelöst ist. Warum brecht ihr nicht ein paar Tore zu anderen Räumen auf? Wir kennen einige Plätze, an denen ihr gute Nahrung finden werdet!« Pegallu schüttelte langsam den Kopf und rieb die Unterarme mit ihren metallischen Schutzhülsen verlegen gegeneinander. »Wir fühlen uns hier wohl – nach all dem, was wir damals an der Oberfläche durchmachen mußten. Mehr Raum, mehr Gefahren, mehr Wahrscheinlichkeit, von den Herren der FESTUNG entdeckt zu werden.« Kortmikel unterhielt sich mit Elkohr in seiner eigenen Sprache und schüttelte immer
10 wieder seinen Eulenkopf. Die Fleischstücke bekamen langsam eine leckere Kruste. Jemand kam und streute bräunliche Kräuter darüber, die in den Flammen aufleuchteten und einen harzigen Geruch verbreiteten. Der Roboter nahm einen Fladen von der dargebotenen Platte und begann zu essen. Kortmikel aß ebenfalls. Atlan hob, als das Mädchen mit der Platte an ihm vorbeikam, demonstrativ und ablehnend den Becher. Trotzdem rief Vater Pegallu dröhnend: »Eßt, meine Gäste. Wir haben die leckersten Dinge vorbereitet.« Von echter Vorbereitung war keine Spur gewesen. Nur die Fleischbrocken und das Feuer waren nicht schon zwischen den Umformerschränken vorhanden. Es war sicher, daß die Ausgestoßenen drei Opfer haben wollten. Lange, hungrige Blicke trafen Elkohr, Kortmikel und Atlan. Der Arkonide spürte, wie die Nervenanspannung von ihm Besitz ergriff. Wie würde Vater Pegallus Dellohorde vorgehen? Würde man sie sofort zerfleischen und in Stücke reißen? Das Feuer loderte noch einmal auf, dann sanken die Flammen zusammen. Das Fleisch aus der anderen Dimension roch verlockend und ließ Kortmikel und Atlan spüren, daß sie tatsächlich Hunger hatten. »In der Tat«, sagte Atlan. »Das Fleisch und die Fladen sehen lecker aus. Aber meine Zunge spürt einen fremden Geschmack.« Der Herrscher machte ein unbestimmte Handbewegung. »Natürlich sind unsere Möglichkeiten sehr eingeschränkt. Aber wir tun unser Bestes.« »Auch wir versuchen dies«, wandte Elkohr ein. »Und aus diesem Grund müssen wir versuchen, weiter vorzudringen. Dorthin, in diese Richtung.« Er deutete an dem phantastischen Bauwerk der herrscherlichen Residenz vorbei. »Nicht sofort. Bleibt hier, genießt das Fest!« drängte Vater Pegallu und hob die Hände. Mehrere Mädchen schlängelten sich durch die Menge der Dellos. Sie alle warteten unverkennbar auf ein Ereignis, das of-
Hans Kneifel fensichtlich bald eintreten sollte. »Noch bleiben wir!« versprach der Roboter. Atlan lehnte sich zurück und schloß die Augen. Der Extrasinn hatte ihn gewarnt – die Situation trieb einem Höhepunkt entgegen. Die Klangfülle aus den Lautsprechern umgarnten die Sinne. Die Kräuter, die in der Glut verbrannten und das Fleisch würzen sollten, erzeugten einen fahlen Rauch und einen betäubendem Geruch. Der Geschmack der Fladen war streng und fremd, aber nicht unangenehm. Wieder versuchte der Arkonide einen Schluck dieses merkwürdigen Weines. In seinem Magen begann das Betäubungsgift bereits zu wirken, aber es schien eine sehr kleine Dosis zu sein. Nichts mehr essen! Hör auf zu trinken! schrie warnend der Logiksektor. Atlan merkte, daß es ihm schlecht wurde. Ein gräßliches Gefühl stieg die Speiseröhre aufwärts, die Zunge brannte. Mit einem krächzenden Laut sprang Kortmikel auf. Das Vogelwesen schlug mit seinen Ärmchen um sich und strampelte mit den schwächlichen Füßen. Dann stolperte Kortmikel und fiel raschelnd auf den Rücken. Alle seine Federn sträubten sich und verliehen dem kleinen Wesen das Aussehen eines schwarzen Balles. »Mir wird übel. Ich sterbe!« röchelte der Roboter in falscher Dramatik. Dann kippte Elkohr zur Seite und schlug mit wild herumwirbelnden Armen einige Dellos zur Seite, ehe er zuckend liegenblieb. Jetzt handelte Atlan. Er krümmte seinen Körper, als die Magenschmerzen einen Moment nachließen. Dann sprang auch er auf, stieß einen gellenden Schrei aus und taumelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Seite. Rund um ihn schwoll das Murmeln der Dellos zu einem Chaos begeisterter Schreie an. Atlan sank in die Knie, blickte mit leeren Augen in die Runde und brach nieder. Er lag unmittelbar neben Elkohr und wartete darauf, was nun passieren würde. Der Zellschwingungsaktivator begann mit aller Kraft, das Gift zu
Chaos über Atlantis neutralisieren, trotzdem breitete sich in Atlans Glieder eine deutliche Schwäche aus. »Das war überzeugend«, flüsterte Elkohr durch den Lärm. »Wir versuchen, zu entkommen«, gab Atlan zurück. »Fast unmöglich.« Um das Feuer herum gab es Aufregung und eine deutlich ausbrechende Gier. Noch immer war Atlan nicht ganz sicher, ob auch Kortmikel und er zu den Opfern des Kannibalismus zählen sollten. Das Ganze schien ihm nicht wirklich derart gefährlich zu sein, wie es tatsächlich war. Aber sein Instinkt sagte ihm, daß er unrecht hatte. Kortmikel war wirklich bewußtlos. Atlan und Elkohr stellten sich besinnungslos und warteten. Um sie herum drängten sich die Dellos. Vater Pegallu gab Befehle und schob sich durch die hektische Menge. Man hob die drei »Bewußtlosen« auf und schleppte sie im Triumph die Stufen hinauf und legte sie im untersten Raum des Hauses nebeneinander auf den Boden. »Bringt die langen Messer! Holt die Spieße! Facht das Feuer an!« ertönte draußen die Stimme des Herrschers. Aber sie klang keineswegs begeistert. Es schien, als verabscheue der Dello, was er tat. Trotzdem änderte es nichts. Durch den Schleier der Schmerzen fühlte Atlan nun tatsächlich die würgende Furcht vor dem zugedachten Schicksal. »Flucht! Kennst du den Weg?« flüsterte er Elkohr zu. Die Tür, aus Binsengeflecht und dünnem Gespinst hergestellt, stand weit offen. Undeutlich erkannte Atlan, daß die Dellos in eine starke Erregung geraten waren. Sie rannten durcheinander, holten Geräte aus den verschiedenen Winkeln, schleppten trockene Strünke herbei und riesige Krüge aus rostigem Blech. Die fremdartige Musik veränderte sich abermals und wurde härter und hektischer. »Ich kenne ihn. Genau geradeaus, über eine Treppe, über Rampen. Mehrere Pforten,
11 die vermutlich nicht leicht zu öffnen sind.« Atlan registrierte, daß die Krämpfe in immer größeren Abständen auftraten. »Versuchen wir es jetzt«, flüsterte er drängend. »Die Zeit eilt.« »Wir müssen Kortmikel mit uns schleppen«, murmelte der Roboter. »Für mich keine wirkliche Last. Aber ich falle dadurch als Kämpfer aus.« »Wir müssen es riskieren.« Die große Menge der Dellos befand sich in der Nähe des Feuers und somit vor dem Bauwerk. Aber jeder Versuch war besser als das sichere Ende über dem Feuer. Atlan holte tief Luft und versuchte sich zu entspannen. Der Lärm draußen unterhalb der Stufen nahm zu, flackernder Schein des neu angefachten Feuers fiel ins Innere des Hauses. Der Roboter bewegte sich und sagte leise: »Du folgst mir, ja? Ich zeige dir den Weg und schleppe Kortmikel.« Atlan hob den Kopf und entdeckte an den Seitenwänden eine Sammlung der merkwürdigen Waffen dieser ausgestoßenen Dellos. Aufmerksam spähte Atlan durch den Eingang in die Richtung des Feuers. Pegallu stand dort, schrie Befehle, deutete hierhin und dorthin und schwenkte seine Arme. Zwischen den Stufen und dem Feuer hatte sich das Aussehen der Szene drastisch geändert. Schaudernd erkannten sie, daß dort alles für ihre Zerstückelung vorbereitet war. »Los!« Atlan und Elkohr sprangen auf. Mit einem Satz war Atlan an der linken Wand, riß zwei der sichelförmigen Schwerter aus den dünnen Befestigungen und sah aus dem Augenwinkel, wie sich der Robot mit spielerischer Leichtigkeit Kortmikels regungslosen Körper über die Schulter warf und losrannte. Dann krachte Elkohr durch die hintere Wand des Raumes, riß ein Loch und rannte geduckt hinaus. Atlan folgte ihm und hielt die funkelnden Waffen dicht an den Körper gepreßt. Der Boden der Umformerhalle hinter dem Bauwerk war dunkel, aber über die Wände und die Decke flackerte der Wider-
12 schein des Feuers. Noch immer war die Flucht nicht entdeckt. Während sie auf die erste, flache Rampe zurannten, warteten sie auf eine deutliche Reaktion der Dellos. »Schneller. Jeder Meter Vorsprung ist lebenswichtig!« flüsterte Elkohr und rannte immer schneller, obwohl die Rampe eine starke Steigung aufwies. Sie bewegten sich noch immer innerhalb des wuchtigen Schattens, den der »Palast« Pegallus warf. »Du hast recht«, gab Atlan zurück und ignorierte lautlos fluchend einen neuen Magenkrampf. Eine Minute verstrich quälend langsam. Ihre Flucht war noch immer nicht bemerkt worden! So schnell er konnte, lief Atlan schräg hinter Elkohr die Steigung hoch und blickte immer wieder nach links. Aus der neuen Perspektive sah er, daß die Dellos sich formierten und die ersten von ihnen unter Führung Pegallus die Stufen zum Gebäudeeingang hinaufkamen. Es würde nur noch Sekunden dauern, dann brach die Verfolgung an. »Achtung. Gleich wissen sie, daß wir fliehen«, rief der Arkonide leise. »Wir haben noch genau siebenhundert Meter Weg vor uns. Allerdings meist Stufen und …« gab der Robot zurück, aber die letzten Worte gingen in dem Lärm unter, der sich hinter ihnen erhob. In diesem Moment kamen Atlan und der silbernschimmernde Robotkörper aus dem Schatten hervor und erschienen deutlich sichtbar etwa fünfzehn Meter oberhalb der Szene. Inzwischen hatten sie die erste Rampe verlassen und kletterten auf einer Treppe in die entgegengesetzte Richtung. Vater Pegallu riß einem seiner Untergebenen ein Schwert aus der Hand und machte sich an die Verfolgung. »Bleibt stehen!« schrie er über die Lautsprecheranlage. Mehr als hundertfünfzig aufgeregt in der Luft herumgewirbelte Waffen zeigten deutlich, was die Dellos vorhatten. »Spare deinen Atem«, empfahl der Roboter und turnte mit nicht nachlassender Kraft
Hans Kneifel die Stufen hinauf. Atlan mußte stehenbleiben und lehnte sich über das Geländer. Kalter Schweiß sickerte aus den Poren. Ihm war grauenerregend übel, vor seinen Augen bewegten sich Kreise und Spiralen. Der Magen hatte sich in einen glühenden Ball verwandelt. Im Rhythmus seines Herzschlags sandte der Aktivator seine heilende und beruhigende Strahlung aus. Keuchend sog der Arkonide die abgestandene, nach Rauch und Gewürzen stinkende Luft ein und lief endlich weiter. Der Herrscher und etwa zwei Dutzend seiner Dellos hatten den Anfang der Rampe erreicht und kamen waffenschwingend und schreiend näher. Atlan blickte nach oben – dort wurden die Treppen anscheinend immer schmaler. Ein Vorteil für sie, falls man sie tatsächlich einholte. Etwa fünf Minuten lang änderte sich nicht allzu viel. Die Dellos, etwa hundertfünfzig mochten es sein, strömten in zwei breiten Schlangenformationen am Haus vorbei. Die Gruppen vereinigten sich am Fuß der untersten Rampe und drängten nach oben. Die erste Gruppe der Verfolger, zu der einzelne Ausgestoßene vordrangen, kam unbarmherzig näher. Wieder wechselte die Treppe ihre Richtung und führte weiter auf einen schmalen Platz. Elkohr hatte Kräfte, die Atlan nicht überraschten; er kannte einige davon aus eigener Erfahrung. Trotzdem war abzusehen, daß spätestens die erste Tür die Situation drastisch ändern konnte. Schwer atmend überwand der Arkonide eine Stufe nach der anderen. Der Anzug der Vernichtung wird dich schützen! Denke an die Böse Stimme Elkohrs! sagte der Logiksektor. »Wo ist diese verdammte Pforte?« schrie Atlan keuchend. Elkohr befand sich etwa hundert Stufen über ihm. »Wir haben sie bald erreicht!« Die unbeteiligte, kühle Knabenstimme dieses unbegreiflichen Maschinenwesens aus Wolterhaven reizte Atlan. Er unterdrückte auch diesen Impuls der wütenden
Chaos über Atlantis Verzweiflung und versuchte seinerseits, den Abstand zu seinem Kampfgenossen zu verringern. Zehn Stufen später stolperte er und schlug schwer auf. Die Waffen, die er umklammerte, klirrten laut und bogen sich halb durch. Von unten erscholl ein höhnisches und erwartungsvolles Geschrei. Fluchend richtete sich Atlan wieder auf, zog mit einer Hand die Kappe des Goldenen Vlieses wieder über den Kopf und stolperte mit schmerzenden Knien und Ellenbogen weiter. »Nur noch einige Stufen!« rief Elkohr anfeuernd. »Ich kann es nicht glauben«, gab der Arkonide zurück. Die Schreie und die Wutausbrüche der Dellos waren leiser geworden. Aber es gab ein neues Geräusch, ein dumpfes Brüllen. Atlan riskierte es, stehenzubleiben und zu versuchen, das Gewimmel in der Halle und zwischen den schwarzen Würfeln zu durchdringen. Nein! Das ist nicht faßbar! dachte er und rannte plötzlich mit neu erwachenden Kräften die nächsten vierzig Stufen aufwärts. »Elkohr! Wir haben Verstärkung bekommen!« schrie er. »Unsinn. Wer ist es?« »Der Zyklop. Urtyn, der Einäugige!« Atlan hatte deutlich den riesenhaften Körper des Zyklopen gesehen. Er stolperte eben die letzten Stufen auf der anderen Seite der Umformerhalle herunter und schrie. Auf rätselhafte Weise hatte er seinen Knüppel gefunden und schwang ihn drohend. Noch hatten ihn die Dellos nicht gesehen. Ihr Interesse konzentrierte sich auf die beiden winzigen Gestalten, die im Zickzack an der anderen Hallenwand hinaufturnten. Noch immer stürmte als erster Vater Pegallu hinter den Fremden her. Er schien rasend vor Wut und Enttäuschung zu sein. Jetzt schrien er und die kleine Gruppe, die ihm auf den Fersen folgte, nicht mehr; auch sie rangen nach Atem. »Tatsächlich! Er ist es«, rief der Robot. Atlan erreichte ihn gerade in dem Moment,
13 als Elkohr den Körper Kortmikels vorsichtig absetzte und an die Felswand lehnte. Dann wirbelte er herum und machte sich daran, den komplizierten Verschluß einer so gut wie unsichtbaren Tür zu öffnen. Atlan blieb stehen und drehte sich keuchend herum. Das Brennen in seinem Magen hatte aufgehört, aber die Schwäche in den Gelenken überfiel ihn jetzt mit doppelter Wucht. Die Verfolger waren nur noch drei Treppen unter ihnen. Du wirst so lange kämpfen müssen, wie Elkohr braucht! Atlan ging langsam und mit zitternden Knien einige Stufen hinunter und blieb stehen. In jeder Hand hatte er eines der furchtbaren, dünnen Schwerter. Er hoffte inbrünstig, daß er von dem Anzug der Vernichtung geschützt werden würde – so wie schon an anderen Stellen. Aber er konnte nicht sicher sein. Wieder brüllte Urtyn auf. Der Zyklop tappte verblüffend zielsicher durch die Halle. Dann erst sah Atlan den Pilotfisch, dieses schwebende Wesen, das den Zyklopen leitete. Es schwebte direkt vor seinem Kopf. Atlan glaubte, einige dehnbare Fäden zu sehen, die sich zwischen der Kreatur und Urtyns Schädel spannten, aber er war nicht sicher. Ein Dello prallte gegen Vater Pegallus Schulter, als der Herrscher zwanzig Stufen unterhalb Atlans stehenblieb und die Arme ausbreitete. »Ihr habt das Gastrecht verletzt. Dafür werdet ihr sterben und geröstet werden!« sagte Pegallu. »Wenn das die einzige Legitimation ist, die du brauchst – komm, hole dir, was du haben willst«, sagte Atlan ruhig. »Aber zuerst solltest du dich um unseren Freund kümmern. Er hat gerade einige deiner Untertanen an den Maschinen zerschmettert.« Das Auge des Zyklopen oder vielmehr die Stelle, an der es sich befunden hatte, war eine gräßliche Wunde. Und dennoch fanden die Pranken des Titanen und seine Keule ihre Ziele. Er hatte eben mit einem einzigen Schlag einen Dello durch die Luft gewirbelt
14 und gegen einen Maschinenwürfel geschmettert. Ein anderer wurde von der sausenden Keule getroffen und starb mit einem lauten Schrei. Vater Pegallu achtete nur auf Atlan. Er schrie wütend auf, schwang sein Schwert und stürzte die Stufen hoch. Atlan schaute blitzschnell über die Schulter. Noch immer hatte Elkohr Schwierigkeiten, das Portal zu öffnen. Vermutlich hatten einst dies auch die Dellos versucht. Aber sie besaßen nicht seine Informationen und nicht die Kräfte des Robots. Atlan führte einen waagrechten Hieb. Das Schwert fuhr mit einem leisen Heulen durch die Luft. Dann drangen gleichzeitig zwei andere Dellos und Pegallu auf ihn ein. Der Arkonide glitt schnell auf der Stufe hin und her und parierte die Hiebe. Klirrend und mit metallischem Rasseln schlugen die Schwerter gegeneinander. Aus ihren Zacken sprühten lange Funken. Vater Pegallu stolperte, trat schnell ein paar Stufen rückwärts und fing sich wieder. Sein Schwert hätte beinahe den Arm eines anderen Dellos durchgeschnitten. Atlan schlug zu, prellte ein Schwert aus der Hand eines Angreifers und warf den Mann mit einem wuchtigen Fußtritt die Treppe hinunter. Andere drangen auf ihn ein. Vor ihm blitzte eine Barriere aus funkelnden Schwertern auf. Immer wieder schlug er zu und wehrte die Angriffe ab. Der erste Schlag durchschnitt seine Verteidigung und traf ihn unweit des Stachels an der Schulter. Ein prasselnder Laut ertönte, das Schwert wurde in die Höhe zurückgeschleudert. Aber der Schmerz des Schlages durchzuckte den Arkoniden und lähmte ihn vorübergehend. Er versuchte schwach, den Arm zu bewegen und wich langsam zurück. Wenn du jetzt stolperst, bist du verloren! warnte der Logiksektor. Vater Pegallu schob sich wieder heran. Sein Schwert beschrieb Kreise und Haken. Er hob die linke Hand und deutete auf den Arkoniden. Atlan ahnte und fürchtete, was jetzt kommen würde. Aus dem Finger zuckte ein dünner, blendender Lichtstrahl. Im
Hans Kneifel letztmöglichen Augenblick hatte sich Atlan geduckt, zur Seite geworfen und das Schwert hochgerissen. Der Strahl traf auf das Metall, ein kristallweißes Funkenbündel sprühte nach allen Seiten. Als der Arkonide die Waffe wieder senkte und einen schnellen Ausfall in die Richtung des linken Arms Pegallus machte, sah er, daß ein zwei Finger großes Loch hineingeschmolzen war. Atlan schlug nach rechts und durchbohrte einen Dello. Der nächste Gegner, der sich zwischen ihn und den Herrscher schob, wurde plötzlich von einer unsichtbaren Kraft getroffen und meterweit die Treppe hinuntergeschleudert. Elkohrs Hammer! Nacheinander verschwanden die Dellos von der Treppe. Sie drangen vor, der unsichtbare Hammer schlug zu, schlug ihren Arm in die Höhe und das Schwert zur Seite oder an ihren Körper. Die Körper wurden waagrecht vom Boden gerissen, mehrere Meter mit äußerster Wucht zurückgeschleudert und durch die Luft gewirbelt. Irgendwo weiter unten krachten sie zu Boden, kollerten über die Stufen und blieben mit gebrochenen Gliedern liegen. Die Verteidigung war lautlos, aber die Opfer schrien und wimmerten. Das Klirren der Waffen auf dem Stein war eine schauerliche Untermalung. Nur bei Vater Pegallu wirkte diese Waffe nicht. Oder nicht deutlich erkennbar. Er stand binnen kurzer Zeit allein auf den Stufen und drang mit einem wilden, klirrenden Schlaghagel auf Atlan ein. Dort, wo die Spitze des zackigen Schwertes das Goldene Vlies berührte, breitete sich auf Atlans Haut und in seinen Muskeln eine schmerzende Schwäche aus. Aber diese goldene Rüstung wurde nicht einmal angekratzt. Atlan wehrte sich mit schwindenden Kräften und hoffte, daß der Angriff des brüllenden Zyklopen seine Lage erleichtern würde. Aber es war nur Elkohr, der ihm half. Als eine neue Schar sich über den zuckenden und schreienden Haufen gekämpft hatte, trieb der Robot sie mit dieser unheimlichen und lautlosen Waffe wieder zurück. Jetzt be-
Chaos über Atlantis deckte ein Berg von ineinander verkeilten Körpern die Treppe. Die Schwerter bohrten sich in die Dellos, wenn wieder ein Angreifer in diesen Haufen hineinkrachte. »Gib auf, Pegallu!« schrie Atlan zornig. Seine Magenschmerzen waren vergangen, oder er beachtete sie in der Anstrengung des Kampfes nicht. Aber er merkte, wie seine Kräfte rasend schnell verfielen. »Ich kriege euch alle. Und dann dreht ihr euch auf unseren Spießen über dem Feuer!« gab Pegallu zurück. Atlans Schwert krachte mit äußerster Wucht auf den linken Armschutz, zerfetzte einen Teil des Metalls und drang in die Haut ein. Wieder zuckte ein Strahl hervor und hämmerte gegen das Knie des Arkoniden. Atlan stand schwankend da und versuchte, sein Gleichgewicht wieder zu finden. Pegallus linker Arm hing blutend und handlungsunfähig am Körper herunter. Aber der rechte Arm, der die Waffe führte, schien auf einmal doppelte Kräfte zu besitzen. Lange Funken von purpurroter Farbe zuckten aus der Spitze. Die Schneide hüllte sich in ein grelles, weißes Licht und verschwand immer wieder für Sekundenbruchteile oder längere Zeit. Mit dieser flimmernden Waffe kämpfte der Dello gegen Atlan. Noch immer gelang es ihm, die Schläge zu parieren. Kurze Zeit sah es so aus, als habe Atlan sogar einen kleinen Vorteil. Er sprang drei Stufen hinauf und schrie: »Noch nicht fertig, Elkohr?« »Dauert nicht mehr lange!« Wieder durchzuckte stechender Schmerz Atlans Unterarm. Das Schwert seines Gegners glitt vom Goldenen Vlies ab. Die seltsame Kraft in den Armen des Dellos, die Kräfte aus anderen Dimensionen, waren furchtbar. Atlan schmetterte keuchend das flimmernde Schwert seines Gegners zur Seite und deutete blitzschnell in die Tiefe. Dort griffen die Dellos den Zyklopen an, aber sie richteten kaum etwas gegen ihn aus. Selbst ihre Schwerter erreichten ihn nicht; seine Keule beschrieb schnelle Kreise. »Atlan! Hierher!«
15 Der Schrei des Roboters war für Atlan eine Erlösung. Er fintierte mehrmals, schlug auf die Klinge und beim Rückschlag gegen den rechten Arm des Dellos, dann gelang es ihm, mit der Ferse die Brust Pegallus zu treffen. Während Atlan so schnell wie möglich halb rückwärts die Stufen hinaufsprang, überschlug sich der Herrscher und fiel gegen die Leiber der verwundeten und toten Dellos weit unter sich. Atlan blieb neben Elkohr stehen und stieß hervor: »Geschafft. Ich möchte niemals mehr mit ihm kämpfen …« In der scheinbar glatten Felswand hatte sich eine mindestens sechs Quadratmeter große Platte geöffnet. Mächtige stählerne Riegel und eine aufwendige Verschlußautomatik waren sichtbar. Elkohr bückte sich und hob Kortmikels Körper auf. Er warf einen langen Blick nach unten und sagte: »Sie werden den Zyklopen töten müssen. Schnell, Atlan – wir sind in Sicherheit.« Atlan folgte dem Roboter. Er interessierte sich nicht dafür, wie Elkohr dieses Portal hatte öffnen können. Hinter ihnen schloß sich die riesige Steinplatte mit einem dumpfen Krachen. Atlan lehnte sich gegen die Wand und zerrte die Kappe des Goldenen Vlieses von seinem schweißnassen Haar. Er war restlos erschöpft. Sein Atem ging rasselnd, eiskalte und kochendheiße Wellen zogen abwechselnd über seine Haut, sein Gesicht war fahlweiß und schweißüberströmt. Seine Knie schlotterten, und die Finger zitterten. Sein Magen begann wieder zu schmerzen. Leise und stockend sagte er: »Das war knapp, Elkohr. Haben wir es jetzt hinter uns?« Der Roboter ging langsam einen überraschend sauberen und hell erleuchteten Gang entlang. Kortmikel bewegte sich noch immer nicht. Das Gift hatte bei der geringen Masse seines Körpers eine verheerende Wirkung entfaltet. »Ja. Das Gebiet vor uns muß sicher sein, ohne größere Gefahren.« »Und hinter uns schlagen sich die Dellos
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Hans Kneifel
mit Urtyn.« »Nicht von Belang für uns.« Atlan wartete müde und lustlos, bis der Roboter das andere Ende des Ganges erreicht hatte, dann folgte er ihm. Gedankenlos stellte er fest, daß er noch immer das stark strapazierte Schwert mit sich schleppte. Zunächst wollte er es wegwerfen, dann zuckte er die Schultern und zog es hinter sich her. Als er Kortmikel und Elkohr erreichte, sah er, daß sich das Vogelwesen langsam zu bewegen begann. »Eines weiß ich jetzt mit Sicherheit«, murmelte er. »Ja?« »Der Weg zur Schaltstation ist wirklich eine Tortur.« Das mächtige Steintor schloß die Geräusche der Halle völlig von ihnen ab. Ein anderer Effekt trat auf: Er ließ auch ganz langsam, fast unmerklich, das Entsetzen und die Gefahren vergessen. Jedenfalls erging es Atlan nicht anders. Er starrte Elkohr von der Seite an und fragte leise: »Was jetzt? Dort entlang?« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf einen Durchgang. Ein rechteckiger Durchgang, aus den Felsen gebrannt oder geschnitten, wie die meisten anderen Höhlen, Korridore und Öffnungen hier in der Unterwelt von Atlantis. Dahinter schien es dunkel zu sein. »Richtig. Dort entlang. Wir sind dicht vor den Räumen, die wir suchen. Allerdings habe ich noch einige Informationen …« Er hob Kortmikel wieder auf und nickte ruhig, als er sah, wie sich das Vogelwesen rührte und keuchend zu atmen anfing. »… die auf eine Schleuse, ein Hindernis hinweisen, das unmittelbar vor der Schaltstation liegt. Aber auch diese Schleuse werden wir überwinden, Atlan.« »Sehr viel schlimmer kann es nicht kommen«, tröstete sich der Arkonide.
* Urtyn wütete inmitten eines dichten Krei-
ses von Ausgestoßenen. Er war blind, aber ein mehräugiger Dämon schien ihn zu lenken. Die Wut und die Schmerzen hatten den Zyklopen rasend gemacht, und er hatte nichts anderes im Sinn, als sich an den Fremden zu rächen. Aber die Fremden waren anscheinend verschwunden. Oder waren sie hier, in der Menge versteckt? Seine Gedanken waren ein wirres Muster eigenen Zorns und fremder Impulse. Er war müde und hungrig und erschöpft, aber von außen fluteten Haß und Wut in sein Inneres. Er sah mit den riesigen Augen seines einzigen Freundes, des Pilotfisches, der einen Meter über seinem Kopf schwebte. Er erledigte mit seinen ungestümen Kräften einen Gegner nach dem anderen. Die metallenen Waffen schnitten tiefe Kerben in seinen Zerstörer. Andere rissen lange Splitter aus dem Schaft und wurden verbogen, geknickt und zerbrochen, als sich diese riesenhafte Waffe bewegte. Dann erkannte Urtyn, daß sich in der Masse derer, die sich zwischen seinen Haß und die flüchtenden Fremden geschoben hatten, eine breite Gasse öffnete. Ein einzelner Gegner kam auf ihn zu und stellte sich zum Kampf. Der Dämon über ihm leitete und steuerte die Kräfte des Zyklopen. Der Gegner war nur ein Drittel so groß wie Urtyn selbst. Aber eine dunkle, drohende Aura strahlte von ihm aus. Etwas war fremd und ließ den Zyklopen erschauern. Durch den glühenden Haß hindurch machten sich erste Anzeichen von Angst bemerkbar. Er stieß mit dem Kolben des Zerstörers nach vorn, aber der Gegner sprang geschickt zur Seite und unterlief den Hieb. Dann zuckte sein Schwert aufwärts und riß den Unterarm des Zyklopen weit auf. Wilder Schmerz fuhr durch Urtyns Körper. Die Raserei kehrte schlagartig zurück, und er stürzte sich mit aller Kraft auf den Angreifer. Ein schneller, rücksichtsloser Kampf brach an. Beide Gegner schienen gewaltige Reser-
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ven an Kraft zu haben. Sie waren blitzschnell, griffen an, schlugen zu und wichen aus. Die kannibalischen Dellos zogen sich zurück und sahen schweigend zu, wie ihr Herrscher gegen den Zyklopen kämpfte. Ein solch riesiges Wesen hatten sie noch niemals gesehen. Wenn es tot wäre, würde es eine Menge Fleisch geben, das man der Ernährung der Kolonie der Ausgestoßenen zuführen konnte. Die Halle dröhnte und klirrte unter den Lauten der wirbelnden Waffen, das Keuchen der Kämpfer klang zischend. Über allem schwebte mit zuckenden schwarzen Schwingen der Pilotfisch des Zyklopen, sein böser Dämon. Der Kampf würde lange dauern …
2. Thalia schüttelte langsam den Kopf und sagte leise, aber bestimmt: »Ich habe mich erholt. Meine Kräfte sind wieder groß, und außerdem habe ich euch allen bewiesen, wie schnell und gut ich kämpfen kann, nicht wahr?« Sigurd schenkte ihr ein zerstreutes, aber wohlwollendes Lächeln. Heimdall und Balduur nickten düster. »Atlan ist verschleppt worden. Ich weiß, daß er lebt!« beharrte Thalia. Thalia hatte vor kurzem den bewußtlosen Riesenwolf Balduurs in die FESTUNG zurückgebracht. Entsetzt hatten Razamon und Kolphyr gehört, was ihrem Freund zugestoßen war. Noch jetzt hatten sie sich nicht wirklich gefangen, obwohl sie ruhiger waren. »Woher willst du das wissen, Schwester?« erkundigte sich Sigurd halblaut. Er war ebenfalls zufrieden, wenn auch nicht begeistert darüber gewesen, daß sich das Problem namens Atlan so leicht hatte lösen lassen. »Ich fühle es!« sagte sie hartnäckig. »Meinetwegen. Und was hast du vor?« fragte Balduur schleppend. »Ich werde Kolphyr und Razamon mit der
Windrose dorthin bringen, wo ich Atlan das letztemal lebend gesehen habe. Man hat ihn verschleppt, und wir kämpfen ihn frei. Er ist für Pthor unersetzlich!« »Für dich auf alle Fälle«, knurrte Heimdall finster. Im Innern der FESTUNG herrschte, wenigstens was die Söhne Odins betraf, keine gute Stimmung. So vieles war fremd, so vieles war schwierig zu lösen, und sie wurden noch immer mit ihrer neuen Würde nicht fertig. Je mehr Probleme sie lösten, je mehr Fragen sie sich und anderen beantworteten, desto mehr tauchten auf. Das Regieren über Pthor war alles andere als leicht oder einfach. Ununterbrochen mußten sie versuchen, die einzelnen Gruppen dieser Welt unter Kontrolle zu bringen. Und dabei mußten sie sich hüten, jene Fehler zu begehen, die die Herren der FESTUNG so verhaßt gemacht hatten. Sigurd holte tief Atem, richtete seinen Blick in unbestimmte Ferne und sagte: »Meinetwegen. Nimm deine Windrose und versuche, deinen Geliebten zu befreien. Für uns bedeutet es ein Problem weniger.« Thalia richtete sich auf. Sie blickte an ihrer Rüstung herunter. Noch immer schlotterten die Teile um ihren schlanken Körper. Noch nicht einmal dazu hatte sie Zeit gefunden, diesen Umstand zu ändern. »Eure Meinung?« fragte sie Balduur und Heimdall herausfordernd. »Einverstanden. Aber auf keinen Fall dürft ihr versuchen, in das tiefe Innere einzudringen. Jeder Handgriff kann eine unvorstellbare Katastrophe auslösen!« rief Heimdall. »Wir möchten das Reich, das wir eben gewonnen haben, nicht durch deinen Übereifer verlieren, Schwester.« Razamon warf ein: »Ich verstehe ein wenig von allerlei Techniken. Wir haben keineswegs vor, uns und euch umzubringen. Aber sicher ist es verständlich, wenn ich meinen einzigen wahren Freund auf Atlantis suche.« Ein wilder Tatendrang erfüllte ihn. Trotzdem blieb er skeptisch. Zwar kannte er einige Wirkungen des Goldenen Vlieses, aber er
18 mußte damit rechnen, daß Atlan tot oder verwundet war. Er wehrte sich gegen solche Gedanken, aber sie kamen immer wieder. Er würde an den Tod erst dann glauben können, wenn er die Leiche des Unsterblichen sah. Nicht eher. »Verständlich. Fahrt hinaus zu den Steppenseen und taucht nach ihm. Und nimm Kolphyr mit!« empfahl ihm Balduur. Sigurd schwieg. Er spürte die Feindschaft, die seine Brüder der Schwester entgegenbrachten. Er verstand diese Enttäuschung und teilte sie – mit Einschränkungen. Razamon und Thalia wechselten einen Blick voller Einverständnis. Der Atlanter kannte das Problem der jungen Frau … es war alles andere als einfach. Sie hatte sich in Atlan verliebt. Es schien der erste wirklich wichtige Mann in ihrem unvorstellbar langen Leben zu sein. Er, der nur an einen Teil seines Lebens deutliche Erinnerungen hatte, empfand dieses starke Gefühl mit ihr. Daß er, Razamon, und natürlich auch Kolphyr, den drei Brüdern außerordentlich lästig waren, verstand sich am Rand. Aber Thalia oder Honir, wie man sie oft noch immer nannte, mußte so und nicht anders handeln. Sie verzehrte sich in der Sorge um ihren Geliebten. Andererseits: War Atlan wirklich ihr Geliebter, oder handelte es sich nur um eine Schwärmerei? Razamon hob die Schultern; bei dem Gedanken, Atlan in den geheimnisvollen See zu folgen, schauderte es ihn. Da war der Gedanke, durch die Gänge und Treppen der FESTUNG nach unten vorzudringen, schon viel verlockender, auch wenn er eine Kette von Gefahren versprach. Razamon hatte sich aus den Vorräten neu eingekleidet. Die neue, saubere Kleidung und die Ruhepause hatten viel zu seinem augenblicklichen Wohlbefinden beigetragen. Und vor allem hatte er eine Waffe gefunden, die ihn begeisterte. Eine Strahlenwaffe mit langem Lauf, der hohe Zielgenauigkeit versprach. Er wandte sich an Thalia. »Gehen wir? Es wird vielleicht bald ganz
Hans Kneifel dunkel.« Thalia nahm die Vars-Kugel an sich und nickte entschlossen ihren Brüdern zu. »Ich weiß«, sagte sie leise, »daß ihr unentschlossen seid, meine Brüder. Einerseits könnt ihr nichts an der Tatsache ändern, daß auch mein Vater Odin war. Andererseits bin ich für euch ein Problem, weil Odin mich verabscheut. Und weil der Vater dies tut, verabscheut ihr mich auch. Ich gebe zu, daß es schwierig für euch sein muß. Trotzdem bin und bleibe ich ein Kind Odins. Und ich werde Atlan suchen und befreien. Wenn er noch lebt.« Sigurd dachte an Fongerreilson und schwieg. Er nickte seiner Schwester zu und sah, wie Razamon seine braune Felljacke zuknöpfte. Im breiten Gürtel steckte eine dieser Waffen, die aussah wie der Waggu eines Technos. »Fenrir bleibt hier!« sagte Balduur hart. »Er ist auch noch zu schwach«, sagte Razamon. »Für uns wäre er nur eine Behinderung. Und ich weiß von keinem Wolf, der schwimmen kann wie ein Fisch.« »Nützt das wenige Licht aus, um die Seen zu erreichen«, empfahl Heimdall und stützte sich auf seine wuchtige Waffe. »Keine Sorge. Ich weiß, was wir zu tun haben!« schloß Thalia und verließ an der Seite des Schwarzhaarigen den Raum. Donnernd fiel hinter ihr die metallbeschlagene Tür ins Schloß. Razamon lächelte kaum wahrnehmbar und fragte mit veränderter Stimme: »Es ist dir ernst, nicht wahr?« »Ja. Und ich bin ebenso wütend wie traurig, daß sich meine Brüder derartig merkwürdig verhalten.« »Auch sie können nicht über ihren Schatten springen. Du mußt zugeben, daß dieser Schatten ziemlich gewaltig ist.« Die mehr oder weniger lange Ruhe hatte nicht nur Thalia, sondern auch Kolphyr erfrischt und gestärkt. Die verschiedenen Gespräche mit den drei Brüdern lagen hinter ihnen. Razamon spürte noch den Geschmack von Kolphyrs Wein auf der Zunge. Welchen
Chaos über Atlantis Plan verfolgte Thalia? Warum war sie so sicher, daß Atlan noch lebte und es sich tatsächlich lohnte, ihn zu suchen? »Über große Schatten kann man gehen«, gab Thalia zurück. »Wo ist Kolphyr?« »Er rüstet sich aus. Komm, wir holen ihn.« Razamon bemerkte mit Erstaunen, daß eine ganz neue Art von Selbstsicherheit diese junge Frau erfüllte. Sie war entschlossen, ihr Vorhaben schnell durchzuführen. War es ihr geglückt, sich unter Atlans Einfluß von dem Einfluß ihrer Brüder und dem dunklen Schatten des Vaters loszureißen? Schweigend folgte Razamon ihr in die Richtung auf Kolphyrs Quartier. Zwanzig Schritte, bevor sie die Tür erreichten, öffnete sie sich, und Kolphyrs wuchtige Gestalt schob sich in den Korridor. »Ich wußte es doch! Ihr brecht auf«, dröhnte er. »Wir waren dabei, dich zu holen. Wie steht es mit den Vorräten?« Kolphyr, dessen eng anliegender Schleier glänzte, drehte ihnen kurz den Rücken zu. An breiten Riemen hingen verschiedene Beutel und Säcke. Razamon registrierte mit schweigender Zufriedenheit, daß auch zwei prall gefüllte Weinschläuche dabei waren. »Komm!« sagte er nur. »Wohin?« »Mit Thalia zusammen Atlan suchen. Jedenfalls scheint ihre Sicherheit, daß er lebt, geradezu gigantisch zu sein«, bemerkte der Atlanter in gutmütigem Spott. »Nicht gigantisch. Ich weiß es. Eine innere Stimme sagt es mir«, erwiderte Thalia. Sie verließen den Korridor und fanden ohne Schwierigkeiten den Weg in das parkähnliche Reich der Fallen rund um die Gebäude der FESTUNG. »Dort ist die Windrose. Ich habe sie stehengelassen, und niemand scheint sie angerührt zu haben«, murmelte Razamon und deutete durch das Zwielicht auf einen Baum mit mächtigen Zweigen und knorrigem Wurzelwerk. »Ich sehe es.«
19 Razamon nahm links Platz, die Tochter Odins setzte sich vor die Steuerung und wartete, bis sich Kolphyr neben sie gezwängt hatte. Dann bewegte sie die Hebel des großen Doppelrings und schaltete die Scheinwerfer an. Einige Augenblicke später kippte sie den Schalter wieder zurück; die breiten Lichtbalken erloschen. »Warum das?« knurrte Razamon. Sie lachte kurz. »Es paßt nicht in meine Überlegungen. Außerdem könnten meine lieben Brüder unseren Weg einfacher verfolgen.« Kolphyr meinte entgeistert: »Was hat sie vor, Razamon?« Razamon zuckte zusammen; er hatte eben mit ängstlicher Dankbarkeit registriert, daß weder sein Zeitklumpen seinem Bein Schmerzen zufügte, noch, daß er auch nur entfernt die Spuren eines dieser berserkerartigen Anfälle spürte. Er musterte die dunklen Büsche mit den streng riechenden großen Blüten und die Baumstämme, die ganz langsam vorbeiglitten, als sich die Windrose zu drehen begann. »Frage sie selbst! Offensichtlich nicht, Atlan bei den unergründlichen Seen zu suchen. Oder habe ich mich sehr geirrt, Thalia?« »Keineswegs. Ihr werdet es gleich erfahren.« Thalia steuerte die Windrose langsam und im Zickzack über die dunklen Wege des Parks. Die Stimmung trog; obwohl die Blüten rochen, die Zweige und Gräser sich weich bewegten und die Bäume sich in einem warmen Wind regten, wußten die drei Insassen der Windrose, daß der Park noch immer Fallen enthielt. Thalia steuerte einen großen Kreis und hielt an, als sich wieder die Flanke der FESTUNGS-Pyramide näherte. Der Antrieb wurde abgeschaltet. »Ich bin ganz sicher, daß wir kein Glück mit der Suche haben werden, wenn wir zu den eiskalten Seen hinausfahren«, sagte Thalia und blickte Razamon in die Augen. Der Atlanter strich das Haar aus der Stirn und wartete schweigend.
20 »Ich schlage vor, wir versuchen, ins Innere der FESTUNG einzudringen. Es wird dort zwar viel verschüttet sein, aber wir finden sicher einen Zugang.« »Wir suchen Atlan. Und Atlan sucht die Steuerzentrale«, sagte Kolphyr und lehnte sich an einen dicken Baumstamm. »Richtig. Wir dringen in die FESTUNG ein, suchen einen Weg in die Tiefe und werden Atlan finden. Ich bin sicher«, stieß die Tochter Odins hervor, »daß Atlan noch lebt.« »Ich wünschte, ich könnte deine Sicherheit teilen«, erklärte Razamon. »Aber … ich mache mit.« »Niemand hat geglaubt, daß du mit Fenrir und meinen Brüdern zusammen in der FESTUNG ruhig warten würdest. Wenn ich nur wüßte, wo wir zu suchen haben?« Kolphyr stieß ein kurzes Gelächter aus und brummte: »Erst einmal so tief hinunter wie es geht. Dann sehen wir weiter. Ich habe Fackeln und Lampen eingesteckt.« Nacheinander gingen sie auf einen aufgesprungenen Eingang zu und zwängten sich hindurch. Tiefes Dunkel empfing sie. Als sie möglichst leise eine lange Stahltreppe hinuntergestolpert waren, mehr tastend und stolpernd, zischte Razamon plötzlich: »Halt! Still!« Über ihnen waren Stimmen. Ein winselndes Geräusch ertönte, dann hörten sie wuchtige Schritte und das Klirren einer Rüstung oder anderer Metallteile. Die Laute kamen näher und wurden deutlicher und schärfer. Dann schienen die Brüder stehenzubleiben und zu beraten. Es war nicht zu verstehen, worüber sie sprachen. Aber ihre Erregung wuchs, schließlich heulte Fenrir auf. Wieder ertönten die Schritte und entfernten sich. Nach einer Minute murmelte Razamon: »Deine Brüder, Thalia. Kann es sein, daß sie uns suchen?« Thalia flüsterte durch die Dunkelheit: »Es ist möglich, aber unwahrscheinlich. Weiter! Je mehr wir uns nach unten entfernt haben, desto sicherer sind wir. Ich glaube
Hans Kneifel nicht, daß sie uns verfolgen.« »Aber ich glaube es fest«, widersprach Kolphyr. Wieder blitzten die Lampen auf. Thalia führte mit klappernder Rüstung die kleine Gruppe an. Ab und zu krachte die VarsKugel gegen ein Stück Metall oder die Wandung der Treppenanlage. Jedesmal zuckte Razamon zusammen, aber offensichtlich verfolgte sie wirklich niemand. Stufe um Stufe, Absatz um Absatz, tiefer und tiefer. Von allen Seiten schoben sich wuchtige Metallwände heran, dann tauchten die ersten Quadern auf, die dieses ehemalige Raumschiff stützten. Sie waren uralt, bemoost und an den Kanten abgeblättert. Stählerne Säulen unterbrachen sie. Die Treppen bestanden nach wenigen Metern Höhenunterschied auch aus Stein. Eine feuchte Kälte umfing die drei Eindringlinge. »Hier war seit Odins Geburt niemand mehr!« sagte Thalia in fast ehrfürchtigem Tonfall. Razamon und Kolphyr merkten, daß sie erregt und fremdartig berührt war. »Verständlich. Es ergab sich für niemanden die Notwendigkeit«, schränkte Razamon ein und bemerkte, daß der Geruch dieser Anlagen sogar Kolphyrs strengen Zimtgeruch übertönte. »Ich habe befürchtet, alles sei eingestürzt und zusammengebrochen«, meinte der Riese in dem grünlich schimmernden VelstSchleier. »Kommt sicher noch«, entgegnete Razamon lakonisch. Der Bera leuchtete mit seiner Lampe die Treppenstufen an. Gestochen scharf waren die verschiedenen Fußabdrücke zu erkennen. Der feuchte Staub, der hier mehr als einen Finger dick lag, war an diesen Stellen zusammengedrückt und ließ den richtigen Schluß zu, daß drei verschiedene Wesen hier die Treppen benutzt hatten. »Nicht zu ändern«, meinte Thalia und ging weiter. Riesige Trennwände aus Metall und Gestein tauchten auf. Razamon schätzte, daß sie sich gute hundertfünfzig Meter tief ins
Chaos über Atlantis Innere Pthors bewegt hatten. Er blieb stehen und strahlte die Quadern, den gewachsenen Felsen und die stählernen Verbindungen und Röhren an. Endlich entdeckte er eine Schalttafel, die als Endpunkt dicker, von Spinnweben und seltsamen Gewächsen verborgener Kabelstränge erschien. Er ging näher, wischte Staub und Flechten von den Beschriftungen und murmelte schließlich: »Ich glaube, ich kann es uns ein wenig bequemer machen.« Langsam kippte er einen wuchtigen Schalter. Zuerst geschah nichts, dann hörten sie klickende Geräusche aus allen Richtungen. Schließlich begannen Leuchteinheiten zu strahlen. Sie waren regellos verteilt und bestanden nur aus einem einzigen Typ, einer zylindrischen Platte, die ein kalkweißes Licht verströmte. Schlagartig sahen die schmalen und engen Kavernen anders aus. »Bisher haben wir weder den Schmutz gesehen noch das hohe Alter erkannt«, sagte Thalia schaudernd und schüttelte sich. »Jedenfalls gibt es hier keine einzige Spur. Atlan war vor uns nicht hier«, behauptete der fast zweieinhalb Meter hohe Koloß und schob sich weiter abwärts. Röhrenförmige Belüftungsanlagen, die einmal irgendwelche Teile des PyramidenRaumschiffs versorgt hatten, tauchten auf. Sie wirkten wie abgeschnittene Finger. Die Metalltreppe endete. Sie entließ die drei Freunde auf einer runden Plattform. Die Ebene, abgegrenzt durch ein Geländer aus mehreren röhrenförmigen Streben, war aus Metall. Es dröhnte leicht, als sie durch den hohen Staub in die Mitte gingen und stehenblieben. Die Treppe war nur ein schmaler Schacht; von allen Seiten schoben sich riesige Kugelbehälter heran. Sie wirkten wie Tanks. Razamon holte Luft und versuchte, einen Ausgang zu erkennen. »Ich habe ein schlechtes Gefühl«, sagte er nachdenklich. Seine Züge wirkten in dem harten Licht verschlossen und konzentriert. Er war mißtrauisch geworden. Etwas hatte sich verändert – was? »Ich habe wohl etwas gegessen, das mir
21 nicht bekommt«, sagte Thalia einige Zeit später und blickte Kolphyr und Razamon mit ihren ausdrucksvollen Augen starr an. »Übelkeit?« erkundigte sich der schuppenbedeckte Koloß und zog seinen riesigen Mund nach oben. Das Bündel der Sinnesorgane auf seinem Schädeldach bewegte sich aufgeregt. »Etwas anderes. Ein starkes Gefühl, das mich erfaßt hat. Ich denke an geheimnisvolle Angreifer, an lauernde Gefahren.« Razamon dachte praktisch und entgegnete laut: »Die Luft hier ist zweifellos schlecht und abgestanden. Die Klimaanlage läuft seit Jahrtausenden nicht mehr. Uns allen wird übel werden, vermutlich sehen wir auch ununterbrochen eingebildete Gefahren. Wir müssen einander helfen, wenn es zu schlimm wird. Je schneller wir diese Zone durchschreiten, desto besser für uns.« »Leicht gesagt!« rief Kolphyr mit schriller Stimme. Sie näherten sich an verschiedenen Stellen dem Rand der Plattform. Die Kugeltanks umgaben sie wie merkwürdige Tiefseetiere. Zwischen ihnen war kaum Platz zum Durchkommen, und es gab auch weder Verstrebungen noch sonst irgendwelche Hinweise, wie und wo sich der Weg nach unten fortsetzte. Anscheinend befanden sie sich in einer Sackgasse. Aber der einstige Zweck dieser schwebenden Plattform war nicht zu erkennen. Langsam ging Razamon entlang des Geländers und spähte in die Tiefe. Auch dort waren Tanks und Kugeln. Razamon fluchte unterdrückt und sprang die Treppe wieder aufwärts. Die Plattform wurde von eben denselben Beleuchtungskörpern angestrahlt, die es überall gab. Deren Licht schimmerte auch jenseits der etwa fünfzig Kugeln in dieser hallenförmigen Anlage. Dann, nach zwanzig Stufen, blieb er stehen und sagte wütend: »Glatt daran vorbeigerannt! Hierher, Freunde!« Er öffnete das Gitter, das die Treppe links abgrenzte. Dahinter befand sich der Anfang
22 eines Steges, der stufenlos in einer sich öffnenden Spirale nach unten führte. Kolphyr und Thalia stürmten heran und folgten ihm. Sie liefen rund fünfhundert Schritte auf der Spirale abwärts, ließen die Kugeltanks hinter sich und befanden sich dann auf einer Metallplatte, die in die Felsen hineinführte. Zunächst gab es noch sichtbare Quadern, dann verschoben sich die Linien, die Quadern ruhten nicht mehr exakt aufeinander, sondern bildeten, je weiter die Freunde vordrangen, immer mehr die Zeichen der Zerstörung. Nach dreißig Metern lag der erste halb zertrümmerte Stein auf dem Boden, ihm folgten kleinere und größere Anhäufungen von eckigen Steinen und unregelmäßigen Felsbrocken. »Jetzt kommen die ersten Schwierigkeiten«, meinte Thalia und wischte über ihr Gesicht. »Nicht für mich!« kicherte Kolphyr und stürzte nach vorn. Zuerst kletterte er trotz seines wuchtigen Körpers mit äußerster Geschicklichkeit über die Trümmer des eingestürzten Ganges. Hin und wieder hob er einen der schweren Brocken hoch und kippte ihn scheinbar mühelos zur Seite. In vorsichtigen Abständen folgten Thalia und Razamon. Vor ihnen leuchteten noch immer jene dicken weißen Scheiben. Abgerissene Kabel wanden sich durch die Trümmer. Staub wallte auf, wenn der Bera mit seinen gewaltigen Kräften riesige Brocken zur Seite räumte und ihnen den Weg freimachte. »Bist du sicher, daß wir den richtigen Weg eingeschlagen haben?« fragte Razamon und wunderte sich über die Tatsache, daß die einzelnen Teile des Raumschiffs auf diese erstaunliche Weise in den Felsen von Atlantis übergingen oder Teil dieser Steinmasse zu sein schien. »Es war der einzig mögliche Weg, nicht wahr?« gab Thalia mit großer Selbstsicherheit zurück. »Soweit wir es erkennen konnten, ja«, meinte Razamon. Sie kamen nur langsam voran. Einmal
Hans Kneifel war die Strecke frei, abgesehen von einzelnen Quadern oder Felstrümmern oder metallenen Platten, die geknickt und zusammengepreßt waren. Dann wieder befanden sich Massen aus Felsen, aus unbekanntem Plastikmaterial und aus feinem Sand wie Korken in dem schmalen, engen Korridor. Kolphyr arbeitete unermüdlich. Sie kämpften sich Meter um Meter durch den verstopften Stollen. Es war erstaunlich, daß die Beleuchtung hier noch funktionierte. Razamon lehnte sich an ein glattes Stück Wand und spähte durch den treibenden Staub nach vorn. Treibender Staub? Jetzt erst merkte er, daß die Schleier und Wolken des aufgewirbelten Staubes ihm entgegenschwebten. Es herrschte in diesem Korridor ein starker Zugwind, der ihn freiblies und Luft herbeiführte, die aus anderen Bezirken der Pyramide stammte. Weit vor Kolphyr, perspektivisch verändert und wie ein fernes Bild, erkannte Razamon den Kopf einer schwarzen, staubbedeckten Schlange. Sie kam näher; das Licht brach sich an ihren muskelstrotzenden Flanken. Weder Thalia noch er hörten einen Laut. Schlagartig ergriff eine starke, unüberwindliche Übelkeit den Atlanter. Er hob den Kopf und hustete, dann krümmte er sich nach vorn und merkte, daß die Angst ihn packte und schüttelte. »Dort vorn …«, keuchte er würgend. »Die Schlange … ich werde mit meiner Waffe …« Als er Thalia zur Seite schob und auf Kolphyr und den Berg aus Felsbrocken zuwankte, schlugen seine Schultern links und rechts abwechselnd gegen die Wände. Er schwankte, als sei er betrunken. Über seine Haut fuhren Fieberschauer. Das Ziel verschwamm vor seinen Augen. »Schlange?« schrillte Kolphyr. »Wo? Ich sehe nichts.« »Du Narr«, stöhnte Razamon auf. Sie waren verloren. Vier Reihen riesiger, im kalten Licht weißschimmernder Zähne näherten sich mit der Geschwindigkeit eines Truv-
Chaos über Atlantis mers. Sie befanden sich im Reich der Schlange, und sie verteidigte ihr Territorium gegen die Eindringlinge. »Sie greift an!« schrie Razamon. Die Schlange hatte ihren Kopf bis auf zwanzig Meter an den Geröllhaufen herangeschoben, den Kolphyr wegräumte. Thalia war plötzlich neben ihm und wimmerte auf. »Hinter uns sind die Algaretten!« Razamon fuhr herum. Im treibenden Staub sah er deutlich Hunderte, nein Tausende doppelt handgroße Tiere. Sie kamen wie eine Woge heran, purzelten in ihrer Gier übereinander und sahen aus wie verkleinerte Ausgaben einer Kreuzung zwischen Fenrir und Alligatoren. Razamons Hand fuhr zum Gürtel. Er zog die Waffe heraus, richtete sie in den Korridor und feuerte lange Glutstrahlen in die quirlende Masse der Tiere. Zwischen den Tieren detonierten Feuerkugeln. Überladungsblitze zuckten nach den Seiten und zerfetzten die Angreifer. Und … Plötzlich war der Korridor leer und nur von schwelendem Rauch erfüllt. »Nein! Das kann nicht …«, schrie Razamon auf. Er wirbelte herum. Thalia hatte die VarsKugel gepackt und schlug wie eine Besessene auf die Wand ein. Steinsplitter sirrten nach allen Seiten. Das Gesicht der jungen Frau war eine Maske des Schreckens und der Wut. Sie war schweißüberströmt und kämpfte wie ein Berserker. »Seid ihr wahnsinnig geworden?« schrie Kolphyr schrill. »Hört auf! Da ist absolut nichts!« Wieder blickte Razamon nach vorn und nach hinten. Dort, wo die Feuerschläge seiner Waffe aufgetroffen waren, war der Gang leer und ohne die geringsten Spuren der kleinen Tiere. Algaretten? Wo waren diese dunkelroten Ratten? Niemals dagewesen? Und auf der anderen Seite, an der grünlich strahlenden Gestalt des Riesen vorbei … auch dort gab es keinen Schlangenkopf mehr, keine Zähne, keine riesigen Facetten-
23 augen. Er wandte abermals den Kopf und fühlte, wie der Wahnsinn nach ihm griff. Er starrte die Stelle der Gangwand an, auf die eben wieder die Kugel einschlug wie ein Hammer. Nichts. Absolut nichts. »Thalia!« schrie er laut. Die Frau zuckte zusammen und starrte die Wand, dann ihn mit hohläugigem Blick an. »Was ist los?« Klirrend fiel die Vars-Kugel auf den Boden. Thalia war ebenso verwirrt wie Razamon. Der Bera fuhr fort, die Brocken wegzuräumen und bahnte ihnen eine Gasse durch den Gesteinshaufen. »Wir haben Halluzinationen! Wir sehen gefährliche Dinge und Angreifer, die es gar nicht gibt!« stieß Razamon hervor. »Aber hier – die Tentakel aus Stein, die nach dir griffen, Razamon!« Mit zitternden Fingern deutete Thalia auf die Felswand, die nur die vernichtenden Einschläge der gräßlichen Waffe, sonst aber nichts zeigte. Razamon fühlte keinerlei Übelkeit mehr. Aber er mußte sich eingestehen, daß dieser Schrecken ihn ernüchtert und ermattet hatte. »Vielleicht gibt es hier giftige Gase. Oder Strahlungen, die aus einer zerstörten Triebwerkskammer der Pyramide kommen mögen. Wir haben Dinge gesehen, die nicht existieren. Wir haben gekämpft. Nur gegen Schemen und Gespenster. Mir war schlecht.« »Ich habe nichts gesehen. Kommt endlich!« schrie Kolphyr. Er schleuderte einige Brocken zur Seite, sprang mit scheinbar plumpen Bewegungen von dem kleiner gewordenen Haufen herunter und blieb zwischen Thalia und Razamon stehen. Tatsächlich gab es jetzt keinerlei sichtbare Gefahren mehr. Aber sowohl Thalia als Razamon spürten deutliche Übelkeit. Razamon streckte die Hand aus und sagte fordernd: »Gib den Schlauch her, Kolphyr. Ein Schluck Wein sollte uns nicht schaden.« »Gern.« Das Wesen mit dem unbegreiflichen Me-
24 tabolismus nestelte einen kleinen Wassersack von dem Rückenriemen herunter und reichte ihn Razamon. Der Sack war mit starkem, dunklem Wein gefüllt. Razamon löste den Verschluß und ließ mehrere große Schlucke durch seine Kehle rinnen. Dann wischte er das Mundstück ab und reichte Thalia den Schlauch. »Es ist tatsächlich eine Erholung. Hilft kurzzeitig gegen die Gespenster der Pyramide. Trink, Tochter Odins.« Thalia nahm einen langen Schluck und reichte den Sack zurück an den Bera. »Gehen wir weiter. Ich glaube, wir haben erst ein kurzes Stück der Strecke hinter uns gebracht. Außerdem glaube ich, daß solche Zwischenfälle sich häufen werden.« Razamon nickte und sicherte die langläufige Waffe wieder. »Du magst recht haben. Danke, Gloophy!« »Kolphyr, du Dummer!« Sie grinsten sich kurz an und kletterten schweigend über den Gesteinshaufen. Die nächsten hundertfünfzig Schritte war der fast gerade Gang so gut wie leer. Einzelne herausgebrochene Quadern hielten sie nicht auf. Keiner von ihnen begriff das System, nach dem man hier irgendwann in grauer Vorzeit eine Verbindung zwischen Schiff und Gestein hergestellt hatte. Aber unverdrossen gingen sie durch die erleuchteten Bezirke unterhalb der FESTUNG weiter und kamen schließlich wieder in eine Zone, die weitestgehend aus Metall bestand. Sie wirkte tatsächlich wie der unglaublich verwinkelte Teil eines Raumschiffs. Überall zweigten von einem flachen, breiten Korridor Räume und Gänge, Rampen und Treppen ab. »Alles ist voll feuchtem Staub. Hier war Atlan nicht.« »Aber auch niemand anderer«, ergänzte Razamon den Hinweis der Frau. »Es gibt keine Spuren.« »Außer unseren. Wenn sie uns verfolgen, dann finden sie einen leicht zu gehenden Weg«, sagte der Bera verdrossen.
Hans Kneifel »Es hilft nichts.« Sie versuchten, den richtigen Weg herauszufinden. Sie nahmen immer die breitesten und geradesten Wege. Hin und wieder versuchten sie, einen der abzweigenden Räume zu betreten, aber keines der Schotte oder Portale ließ sich öffnen. Eine Stunde verging. Sie bewegten sich nach rechts und links, schritten zögernd über Rampen abwärts und drangen in ein Gebiet ein, das völlig dunkel war. Wieder suchte der Atlanter nach einem Schalter und fand ihn schließlich. Diesmal waren die noch funktionierenden Beleuchtungskörper von einem intensiven Rot. Die Farbe erfüllte die Gänge und Abteile mit dem düsteren Licht der Gefahr. Nichts rührte und bewegte sich in diesem Teil des Wracks. Überall lag dicker Staub. Ihre Spuren waren die einzigen, die es gab. »Ein endloses Labyrinth«, sagte Razamon brummend. »Wir haben inzwischen eine beträchtliche Strecke zurückgelegt.« »Vermutlich werden wir noch lange unterwegs sein«, erklärte Thalia. »Ich spüre es. Atlan befindet sich hier irgendwo.« »Wenn er hier ist, werden wir ihn finden!« meinte Kolphyr und legte den Arm um Razamons und Thalias Schultern. Er drückte zärtlich zu und brach ihnen beinahe die Gelenke. Wieder fanden sie eine rostige Metalltreppe und betraten die ersten Stufen. Das Metall knirschte und knisterte, als Kolphyr seinen Fuß darauf setzte. »Scheint gefährlich zu sein«, sagte er mit schriller Stimme. Er spannte seine wuchtigen Muskeln und stützte sich mit beiden Händen ab, als er die steile Treppe abwärts trampelte. Razamon und Thalia folgten ebenso schnell. Die Konstruktion zitterte und schwankte beängstigend. Kreischend rissen Nieten und Verbindungen auf. Rostwolken erhoben sich, als die ersten Stufen auseinanderbrachen und in polternden Teilen in die rötlich-schwarze Tiefe fielen. »Vorsicht!« rief Kolphyr aufgeregt.
Chaos über Atlantis Der obere Teil der Treppe riß sich los, kippte und schwankte und fiel dann wie eine Schranke um. Kolphyr reagierte ebenso schnell wie Razamon. Der Atlanter packte Thalia am Arm und riß sie in den Schutz einer Wand zurück. Aber das Gerüst schrammte funkensprühend an der Wand entlang. »Weg da!« Kolphyr hob beide Arme und fing die Metallmasse auf, drehte sich halb herum und schleuderte sie zur anderen Seite. Dröhnend fiel das Gerüst in mehreren Teilen auf die Basisfläche. »Offensichtlich nähern wir uns interessanten Teilen der Anlage«, sagte der wuchtige Fremde und schüttelte sich. »Alles in Ordnung mit euch?« »Ja.« Sie liefen, um dem Staub zu entkommen. Durch den braunroten Nebel leuchteten die stechenden roten Lampen. Der Metallboden federte trügerisch unter ihren Schritten. Die Übelkeit, die ihn schon einmal befallen hatte, kam wieder und nahm zu. Razamon taumelte und dachte wieder an lauernde Gefahren. Thalia fiel schwer gegen ihn, die VarsKugel schlug gegen sein Bein. »Du fühlst dich auch schlecht, Thalia?« keuchte er und heftete seinen Blick auf den breiten Rücken Kolphyrs. »Ja. Sie sind überall, die Geister der Pyramide. Sie werden uns umzingeln und anfallen. Mein Körper brennt wie im Feuer.« Stolpernd flüchteten sie aus dem Bereich der Trümmer und der Wolke aus Roststaub. Kolphyr sprang mit flinken Bewegungen durch das Halbdunkel. Rechts und links des Fluchtwegs krachten mit donnerndem Getöse große Portale auf und schlugen gegen die Platten. Die Lampen begannen zu zucken, das Licht flackerte. Razamon sah grelle, schwebende Augenpaare aus dem dahinterliegenden Dunkel auftauchen und näherkommen. Er riß die Waffe heraus und schrie: »Gloophy! Hilf der Frau!«
25 Aus den schweren Rahmen der aufgesprengten Tore kamen eckige Gestalten hervor. Sie bewegten sich lautlos auf schwarzen Pranken. Über den riesigen Insektenaugen, die hellgrün und schwefelfarben glühten, erschienen lange Fühler. Sie wippten und zielten nach den Eindringlingen. Von allen Seiten drangen die Bestien auf Thalia und Razamon ein. Der Atlanter sprang hinter Kolphyr her, wirbelte noch im Sprung herum und feuerte schnell hintereinander auf drei der rätselhaften Bestien. Als er schoß, zuckten lange Blitze aus den Fühlern der schwarzen Gestalten und badeten den Fluchtweg in gleißende Helligkeit. Aber dort, wo die Feuerstrahlen aus Razamons Waffe einschlugen, lösten sich die Gestalten in Nichts auf. Kolphyr drehte sich um, streckte einen Arm aus und riß Razamon zu sich heran. »Falsche Bilder! Niemand ist da. Ihr seht wieder Gespenster.« Er hob Thalia und Razamon hoch, nahm beide einfach unter den Arm und machte einige Schritte geradeaus. Als er den nächsten Absatz dieses Schiffsbereichs betrat, stöhnte Thalia auf und flüsterte: »Loslassen!« Behutsam stellte Kolphyr die beiden auf die Beine und hielt sie um die Hüften fest. »Ich habe nichts gesehen«, sagte er beschwichtigend. »Wieder die Halluzinationen. Ihr benehmt euch wie die Verrückten.« Razamon schüttelte wild seinen Kopf und schob die Waffe wieder zurück in den Gürtel. Er begann daran zu zweifeln, ob ihr Vorsatz noch immer sinnvoll war oder nicht. Dann wand er sich aus Kolphyrs Umklammerung und murmelte: »Keiner von uns ist verrückt. Aber diese Erscheinungen … sie sind außerordentlich wirksam.« »Sie sind teuflisch. Alles unterhalb des Bodens von Pthor ist teuflisch. Ragnarök hat keine Gespenster beseitigt.« Sie blieben stehen und schauten zurück. Die Rostwolke senkte sich langsam, an mehreren Stellen brannte und rauchte der Belag der Plattform. Die Türen waren, soweit zu
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Hans Kneifel
erkennen, verschlossen und niemals geöffnet worden. Mit überraschender Einsicht sagte der Bera plötzlich: »Wir sind erst am Anfang des Weges. Viele andere Gefahren warten auf uns. Hoffentlich lebt Atlan. Kommt, meine Freunde.«
3. Sigurd schüttelte schweigend den Kopf und betrachtete die seltsamen Gestalten, die vor ihm und seinen Brüdern im Halbkreis Aufstellung genommen hatten. Merkwürdige Formen, allerlei metallisch leuchtende Farben und der Eindruck von Gewalt, Kraft und Seelenlosigkeit vereinigten sich zu einem bizarren Bild. »Ich habe niemals Grund gehabt, an der Ergebenheit der Robotbürger von Wolterhaven zu zweifeln«, dröhnte Heimdalls dunkle Stimme durch den Saal. »Daran soll sich nichts ändern, Sohn Odins«, sprach einer der zwölf Robots. Sie waren vor wenigen Minuten hier eingetroffen; eine Delegation aus Wolterhaven, die den langen Weg bis zur FESTUNG anscheinend völlig wohlbehalten hinter sich gebracht hatte. »Ihr wollt uns dienen?« erkundigte sich Balduur und erinnerte sich an seine Zeit mit dem kleinen, flinken Deckenwiezel. »Das ist erklärtermaßen unser Zweck und somit auch unsere Absicht«, sagte eine andere metallische Stimme. Verständigten sich die zwölf einzelnen Roboter aller Größen, aller Formen und somit verschiedener Verwendungszwecke lautlos miteinander? Balduur beugte sich auf seinem prächtigen Sessel vor und fragte: »Was könnt ihr?« Wieder eine andere, summende Stimme erläuterte: »Jeder von uns besitzt einige grundsätzliche Fähigkeiten. Wir alle sind beweglich und verfügen über einige Systeme der sinnlichen Wahrnehmung. Aber darüber hinaus ist ein jeder von uns in mindestens einem Ge-
biet ein Spezialist.« Balduur betrachtete die Roboter aufmerksam. Große Linsen richteten sich erwartungsvoll auf ihn und seine Brüder. In einigen Teilen ihres Bewegungsmechanismus sahen die Maschinen menschlich aus, in anderen erinnerten sie an Teile von Tieren. Aber von den metallenen, kunststoffüberzogenen und schuppenbedeckten Körpern strahlten Kraft und Schnelligkeit aus, auch wenn sich diese Wesen jetzt kaum bewegten. Balduur verwarf den Gedanken, eine Demonstration einzelner Fähigkeiten zu verlangen. »Wir sind sicher, daß wir für euch einen guten Verwendungszweck finden werden«, sagte Balduur laut und blickte mißtrauisch den schweigenden Sigurd an. »Nicht nur einen Zweck! Mehrere!« rief Heimdall begeistert. Eines der Portale öffnete sich einen Spalt. Die Gestalt eines dienenden Dellos wurde sichtbar. »An welchen Zweck dachtet ihr?« fragte Sigurd skeptisch und lehnte sich zurück. Er entdeckte den wartenden Diener und winkte ihn heran. »Was gibt es?« »Gewisse Spuren sind im Garten der Fallen entdeckt worden, Sohn Odins!« erklärte der Dello und kam zögernd näher. Heimdall sprang auf und packte die Khylda mit beiden Fäusten. »Spuren?« schrie er aufgebracht. »Welche Spuren?« Der Dello schob sich unterwürfig zwischen den ausweichenden Robotern heran. »Einige von uns fanden die Windrose. Sie war im Gebüsch zwischen zwei Bäumen verborgen. Niemand war in der Nähe, auch Honir nicht.« Sigurd stand langsam auf und blickte seine Brüder verblüfft an. Dann begriff er. »Die Windrose war also verlassen. Was fandet ihr noch heraus?« »Die Spuren von drei Lebewesen. Sie führten zu einem aufgesprengten Tor der FESTUNGS-Pyramide. Wir haben die Spuren nicht weiter verfolgt, sondern sofort das
Chaos über Atlantis Geschehene gemeldet.« »Dies war klug und einsichtig von euch«, bemerkte Sigurd und deutete nacheinander auf die einzelnen Roboter. »Gibt es unter euch einen Spezialisten, der Spuren verfolgen kann?« Die zirpende Stimme eines der kleinsten Roboter sagte deutlich: »Spuren aller Art, unter fast jeder Bedingung.« Heimdall stöhnte auf und rief: »Thalia und ihre Freunde. Sie sind nicht zu den Seen gefahren, sondern umgekehrt und hier eingedrungen. Sie werden wichtige Dinge finden und aus Dummheit zerstören. Sie sind verrückt geworden – aber ich habe unserer Schwester niemals richtig getraut.« Sigurd winkte ab und sprach weiter. Ein listiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Wir sind in der glücklichen Lage, eure Bereitwilligkeit festzustellen. Wir haben eine Aufgabe für euch. Ihr sucht die drei Eindringlinge, verfolgt sie und haltet sie fest. Und wenn ihr sie habt, dann bringt ihr sie auf dem schnellsten Weg wieder hierher. Habt ihr verstanden?« Ein mehrstimmiges »Ja« war die Antwort. »Einverstanden, meine Brüder?« Heimdall und Balduur nickten. Sigurd wandte sich an den Dello. »Dein Name?« »Ich bin Josiit, Herr.« »Nun, Josiit, zeige diesen zwölf neuen Freunden den Weg, den Honir und Razamon und dieses Monstrum genommen haben. Und ihr, unsere Mitkämpfer aus Wolterhaven, fragt Josiit, wie die drei aussehen, die ihr suchen und zurückbringen sollt. Ihr könnt jetzt gehen, und wir sind sicher, daß ihr bald erfolgreich sein werdet.« Mit Staunen sahen die drei Söhne Odins, wie die Roboter schwebend, rollend und tappend dem Dello folgten und den Saal verließen. Eine metallene, bronzefarbene Hand mit neun verschieden langen Werkzeugfortsätzen schloß behutsam die große Tür. Sigurd drehte sich um und sagte: »Ich habe eigentlich nichts gegen Razamon und diesen Kolphyr. Sie haben uns viel
27 geholfen. Aber dieser Vorstoß ins Innere der Pyramide kann unermeßlichen Schaden anrichten. Keiner von ihnen weiß, was sie auslösen können.« »Das ist der Grund. Sie müssen schnell gefunden werden.« Balduur stützte seinen Kopf in beide Hände und stöhnte auf. »Was wird noch geschehen? Die furchtbaren Wunder nehmen kein Ende. Ragnarök zeugt immer neue Gefahren!« Sie blickten sich an und begannen zu ahnen, daß ihr Sieg über die Herren der FESTUNG nur der Anfang einer Entwicklung war, die selbst für die Söhne Odins zu groß und unüberschaubar war. Die Zukunft war ebenso düster wie das Licht draußen vor den Fenstern.
4. Als vor ihnen der Würfel auftauchte, der wie eine Kanzel aus der Felswand herausragte und von einem röhrenförmigen Stück Material getragen wurde, blieben sie wieder stehen. Sie hatten sich, soweit möglich, wieder erholt. Zwar taumelte Kortmikel immer noch ein wenig, aber Atlan und Elkohr stützten ihn mit Leichtigkeit. Elkohr brachte es auf merkwürdige Weise fertig, seiner hellen Knabenstimme eine Spur von Traurigkeit zu verleihen. »Das ist die letzte Schleuse, Atlan. Schon an der Farbe kannst du ersehen, daß wir uns im harmlosen Teil der Anlage befinden.« Der letzte Stollen hatte sie in eine Höhle entlassen. Sie wirkte wie ein natürlich entstandener Hohlraum tief in der felsigen Kruste von Atlantis, aber auch das Gegenteil konnte richtig sein. Rings um die Kanzel leuchtete indirekte Helligkeit. Das Material der Schleuse war kristallweiß, ebenso die schmale Rampe, die zu der Doppeltür hinaufführte. »Hoffentlich hast du recht, Elkohr«, meinte Atlan. »Was hält uns noch auf?« Vielleicht lagen die größten Gefahren tatsächlich schon hinter ihnen. Wenn die Infor-
28 mationen richtig waren, dann breiteten sich hinter der Schleuse nur die Einrichtungen einer Schaltzentrale aus, ohne verrückte Höhlenwesen, schreiende Zyklopen und kannibalische Dellos. »Nichts hält uns auf.« In der Mitte der Rampe angekommen, fragte der Arkonide seinen silberschimmernden Kampfgefährten: »Ich glaubte, in deiner Stimme Traurigkeit zu hören. Habe ich recht?« Elkohr zögerte nicht mit der Antwort. »Ich glaube zu wissen, daß unser Weg nicht mehr lange miteinander verlaufen wird. Mehr weiß ich nicht.« Die Tore, etwa vier Meter hoch und ebenso breit, waren bronzefarben, aber weder schmutzig noch oxydiert. Linien und Kurven befanden sich darin. Drei Schritte näher, und Atlan war sicher, daß es sich um eine Schrift handelte. Er vermochte sie nicht zu erkennen. Ein wenig ähnelten sie den Zeichen auf dem Parraxynth. Elkohr ging näher heran und ließ den Arm des Vogelwesens los. »Ich finde plötzlich Speicherimpulse. Warte … ich denke, ich kann den Text entziffern«, sagte er zu Atlans Verblüffung. Anscheinend wußte er selbst nicht, welche Informationen er wirklich besaß. Oder der Anblick hatte einen Schaltvorgang ausgelöst, der … Atlan unterbrach seine müßigen Überlegungen, als Elkohr langsam und stockend zu sprechen anfing. »Dies ist der Eingang zur innersten Seele von Pthor. Nur derjenige, der rein und geläutert ist, soll ihn durchschreiten. Wer die Pforte hinter sich läßt und zu den nicht geläuterten Wesen zählt, wird sein Leben verlieren. Nur der Tod ist die Sühne für diesen Frevel.« Atlan dachte über den Text der Übersetzung nach und fragte: »Du bist sicher, daß es das heißt, was du übersetzt hast?« »Ja. Ich bin sicher. Aber ich kann die Bedeutung nicht interpretieren. Es scheint aber so zu sein, daß nur bestimmte Wesen die Schleuse passieren dürfen.«
Hans Kneifel Das ist symbolisch zu verstehen. Nur der Antrieb und die Steuerung des Dimensionsfahrstuhls können damit gemeint sein, erklärte trocken der Extrasinn. »Wir gehören zu den Ausgewählten und Geläuterten«, meinte der Arkonide mit Bestimmtheit. »Ausgewählt hat uns unsere Absicht, und durch die überstandenen Gefahren sind wir zweifellos geläutert worden.« »Du magst recht haben.« Kortmikel schwieg, aber sein Körper zitterte schon wieder. Voller Spannung legten sie die letzten Schritte bis zu den mattschimmernden Metallplatten zurück. Die Schriftzeichen verschwammen vor Atlans Augen. Er hob den Arm und streckte die Hand im Fäustling des Goldenen Vlieses aus, um einige der Linien nachzufahren, aber die Torflügel wichen aus und schwangen lautlos nach innen. »Ich bin ganz sicher«, flüsterte Atlan gebannt. Er war wirklich absolut sicher, daß die Schrift symbolischen Charakter hatte. So wie der Bannfluch eines Pharaonengrabs den Archäologen nicht tötete, würde auch diese Warnung ihn nicht umbringen. »Furcht. Schrecken!« krächzte Kortmikel, offensichtlich am Ende seiner Beherrschung. Die Schleusenkammer war, wie erwartet, ebenfalls würfelförmig, mit einer Kantenlänge von etwa vier Metern. Nebeneinander gingen sie hinein, wichen den langsam zuschwingenden Toren aus und standen vor einer weißen Wand. Das Innere der Schleuse war in Licht getaucht, das aus Boden, Decke und den vier Wänden kam. »Wir sind durch die Pforte gegangen …«, sagte Elkohr leise und ehrfürchtig. Schlagartig verschwand die feste Fläche vor ihnen. Ein leuchtender Nebel hüllte sie ein. Keiner hatte gesehen, wie der Nebel entstand. Atlan machte einen Schritt vorwärts und fühlte sich wie blind. Der Boden wollte unter seinen Sohlen davonrutschen. Ihm war, als ob nasse, ölige Finger nach ihm griffen. Kortmikel links neben ihm stieß ein hysterisches Wimmern und Röcheln aus. Atlan merkte, daß die beiden anderen ebenfalls
Chaos über Atlantis bestrebt waren, dem leuchtenden, zuckenden Nebel zu entkommen und vorwärts gingen. Kalte Dinge berührten wieder Atlans Rücken, seine Brust, den Kopf und die Schenkel. Er merkte, wie die Panik in ihm wieder hochkam. Automatisch setzte er Fuß vor Fuß. »Elkohr?« fragte er lauernd. »Ich bin hier«, kam es aus der vermuteten Richtung. Der Nebel verschwand schlagartig. Sie hatten nebeneinander die Entfernung bis zur Wand zurückgelegt. Aber da war keine Wand mehr. Die Schleuse war offen, und das Bild, das vor ihrem inneren Auge geschwebt hatte, breitete sich vor ihnen aus. Eine gigantische Maschinenanlage. Ohne Elkohr und Kortmikel zu beachten, ging der Arkonide weiter. Jenseits der Schleuse begann eine ebene Fläche. Sie war hell und sauber. Alles war hell, funkelte und summte. Der totale Gegensatz zu allem anderen bisher. »Das ist es!« rief Atlan. Es gibt keinen Zweifel, meldete sich der Logiksektor. Hinter ihm kamen Elkohr und Kortmikel in die Halle, die, nachdem sich der Boden ein wenig nach unten senkte, amphitheatralisch anstieg und immer neue Wunder an Helligkeit, Sauberkeit und funktioneller Schönheit offenbarte. Atlan war hingerissen, und darüber hinaus strahlte dieser große Saal den friedlichen, ruhigen Eindruck einer ausgesprochen positiven Technik aus. Wie die Zentrale eines riesigen neuen Raumschiffs. Als hinter ihm ein helles, auffälliges Summen ertönte, löste sich Atlan aus der Starre seiner bewundernden Blicke und Überlegungen und drehte sich schnell herum. »Elkohr!« schrie er auf. »Was passiert … mit dir?« Der Roboter zerfiel. Es war ein gespenstischer Anblick, der Atlan mit eisigem Schrecken erfüllte. Langsam hob der kleine Roboter den rechten Arm, der von einem Netz haarfeiner Sprünge durchzogen war wie der gesamte Rest des zierlichen Kör-
29 pers. Atlans Gedanken vollführten einen wilden Tanz, aber er war wie gelähmt vor Angst und dem Gefühl, wieder einmal etwas zu erleben, das sein Verstehen überforderte. »Ich gehe«, konnte Elkohr noch flüstern. Die Sprünge wurden mehr und mehr, die Linien verbreiterten sich, aus der festen Form lösten sich kleine, kristallen wirkende Splitter und Teilchen und rieselten lautlos zu Boden. Es wurden immer mehr. Das Gerüst des Körpers löste sich auf, Elkohr fiel in sich zusammen wie ein Schemen aus feiner Asche oder leichtem Staub. Die Kristallklümpchen fielen federleicht zu Boden, verwandelten sich dort in winzige Tropfen und rollten, der Neigung des Bodens folgend, davon. Atlan stand gelähmt da und sah zu, wie Elkohr verging. Die Kügelchen zerteilten sich abermals und verschwanden oder verschmolzen mit der Luft oder dem Boden. Kortmikel preßte die dünnen Fingerchen vor seinen Schnabelmund. Seine Augen hatten sich geschlossen, er zitterte wie im Fieber und tappte auf Atlan zu, schwankte hin und her und ging haarscharf am Arkoniden vorbei, dem Zentrum der Maschinenhalle zu. Klirrend fiel das zerfetzte Schwert aus der Hand Atlans. Fasse dich! schrie der Extrasinn. Innerhalb von zwanzig Schritten wurde das schwarze Gefieder dunkelgrau, hellgrau und milchig, schließlich durchsichtig. Ein kalter Hauch fuhr durch die Halle und erfaßte Atlan. Zurück nach Dellop! War es tatsächlich ein echohafter, leise verwehender Schall? Oder bildete sich Atlan das alles nur ein? Kortmikel verschwand. Es wirkte so, als habe ihn eine unerklärliche Kraft wieder aus diesem Kontinuum herausgerissen und in andere Dimensionen entführt. Auch er löste sich ohne die winzigste Spur auf. Atlan zuckte zusammen. Er war allein. Kortmikels Verschwinden, spürte er, erschien ihm logisch und schmerzte kaum. Es
30 hinterließ nur eine bestimmte Menge von Verwunderung oder besser: Verblüffung. Aber um den kleinen silberfarbenen Roboter mit der ironischen Knabenstimme trauerte er irgendwie. Nicht deswegen, weil Elkohr über wirksame Kräfte der Verteidigung und über ein wohltuend großes Wissen verfügt hatte, sondern deswegen, weil er dem Bild eines Kampfgefährten entsprach. Dem besten Bild. Mit ihm hätte Atlan auch das Geheimnis dieser Halle überwunden. Als er sich gedankenlos bückte, um das Schwert aufzuheben, sah er bewußt die Maschen des Anzugs der Vernichtung. »Das ist es!« rief er leise. Vermutlich wäre er ebenso in eine andere Dimension geschleudert worden wie Kortmikel. Oder er hätte sich aufgelöst wie der Roboter. Ihn schützte das Goldene Vlies. Staunen und Verwirrung überfielen ihn abermals, als er weiterging, auf das Zentrum dieser herrlichen Anlage zu. Je mehr seine staunenden Augen sahen, desto sicherer wurde in ihm die Überzeugung, daß die Technik auf keinen Fall von den Herrschern in der FESTUNG erschaffen worden war, auch nicht damals, vor undenklich lang zurückliegenden Zeiten. Es war eine Art von Technik, die positiven Zwecken gedient haben mußte. Wem aber diente sie jetzt? Er schwang sich auf eine niedrige Rampe hinauf und betrachtete schweigend die Anordnung seltsamer Ausstülpungen und unregelmäßiger Vertiefungen. Alle Farben waren vorhanden. Flüssigkeiten stiegen und fielen in schalenförmigen Dingen, die von feinen Linien durchzogen waren. Es gab keine Schalter, Regler und Knöpfe, wie immer sie auch in einer anderen Technik aussehen mochten. Langsam ging er weiter. Er umrundete Geräte, die wie phantastische Skulpturen wirkten und aus dem Boden gewachsen zu sein schienen. Hier hörte er ein feines, silbernes Ticken, dort ein gehauchtes Summen, an anderer Stelle klang es im Innern einer Schaltbank wie winzige
Hans Kneifel Glocken. Diese Art der Technik strahlte einen – Atlan weigerte sich fast, den Gedanken zu beenden – bestimmten souveränen Humor aus, ein gewaltiges, spielerisch angewandtes Raffinement, das sich in schwellenden Formen und ununterbrochen spielenden und schimmernden Farben äußerte. Er setzte sich schließlich auf eine Kante und lehnte sich gegen den warmen Sockel eines nicht identifizierbaren Geräts. Jetzt fiel ihm auf, daß es hier nicht ein einziges Staubkörnchen gab. Die Sauberkeit überraschte ihn nicht mehr, denn sie paßte zu dem eigenartigen, aber schönen und beruhigenden Gesamteindruck. »Atlan«, sagte er und lauschte auf den Klang seiner Stimme, »es ist ziemlich sicher, daß du am gesuchten Ziel bist. Ebenso sicher scheint, daß du verhungert und verdurstet sein wirst, ehe du die ersten wirklich wichtigen Funktionen erkannt haben wirst. Die Mühe scheint umsonst gewesen zu sein.« Er grinste sarkastisch und begann zu ahnen, daß er verloren hatte. Wieder einmal. »Aber … ich gebe nicht auf!« schwor er sich laut. Er ließ das Schwert liegen und setzte seine Wanderung fort. Immer wieder versuchte er in der nächsten Stunde, irgendwelche Zusammenhänge oder eine bestimmte Systematik zu erkennen. Es gelang ihm nicht. Als er die obersten Ränge durchwanderte und immer neue, andere und fremdartigere Anordnungen sah, spürte er, daß er nicht allein war. Er blieb stehen und suchte mit den Augen die Halle ab. Es gab keinerlei Bewegungen, abgesehen von den Farben und den Formen, die er bereits kannte. Aber seine geschärften Sinne sagten ihm, daß es hier etwas gab, das versuchte, einen bestimmten Einfluß auf ihn auszuüben. Es war fremd, aber mächtig. Eine besondere Art von hypnotisierender Strahlung etwa. Oder der überlegene telepathische Verstand eines Wesens, das an ihn
Chaos über Atlantis dachte, seine Gedanken in Atlans Richtung abstrahlte. Eine Fremdintelligenz von beachtlicher Stärke. Er hob den Kopf und schloß die Augen. Du hast recht. Etwas ruft dich! sagte überzeugend der Logiksektor. »Also doch!« Der Hall seiner Stimme löste sich ebenso auf wie Kortmikel. Es kam keine Antwort auf akustischem Weg, aber der schweigende Ruf wurde stärker und fordernder. Konnte es sein, daß der Fremde ihn bemerkte? Zweifellos. Zeichnete ihn womöglich der Anzug der Vernichtung aus? War er einer der Reinen und Geläuterten? Wahrscheinlich. Er erinnerte sich wieder an den Wortlaut der Schrift an den Schleusentüren. Die Seele von Pthor. Hatte diese fremdartige Maschinerie dieses Bewußtsein entwickelt, vergleichbar den Ego-Reflexen eines riesigen Computers? Vorstellbar. Wenn er, so sagte er sich nach einer Weile, sich tatsächlich in der »Seele von Pthor« befand und bisher überlebt hatte, dann würden sie es zusammen schaffen. Die »Seele« würde ihm mitteilen, daß er als Berufener hier etwas tun konnte. Seine Skepsis sagte ihm, daß dieser Gedanke einigermaßen vermessen war, seine Erfahrung aber und die Hoffnung sagten ihm, daß die Wahrscheinlichkeit nicht gering war. Er setzte sich wieder und wartete auf einen ersten deutlichen Impuls, auf einen Hinweis oder eine Art Traum, in dem er Regieanweisungen erhalten würde. Er war müde und streckte sich auf dem federnden, weichen Boden der obersten Rampe aus. Er schlief nicht, aber er entspannte sich. Erfahrungsgemäß war dies der beste und einfachste Weg, fremde Dinge auf sich einwirken zu lassen. Natürlich schlief er ein. Es war ein flacher, unruhiger Schlaf, der nicht in die Tiefen der Bewußtlosigkeit hinuntertauchte,
31 sondern sich an der Oberfläche entlangbewegte. Ihm war, als befände er sich bewußt noch immer in der rätselvollen Welt dieser Schaltstation, aber sein Körper würde sich der ersehnten und lebensnotwendigen Ruhe hingeben. Etwas rief ihn. Etwas war da, das versuchte, einen Weg zu finden, um mit ihm zu sprechen, ihm etwas zu zeigen und zu offenbaren – etwas von größter Bedeutung. Er wartete geduldig und regungslos. Langsam verstrich die Zeit, und der Zellaktivator in seiner Brust beseitigte die schlimmsten Eindrücke von Durst, Schlafmangel und Hunger.
5. Razamons Haß wuchs, je länger er sich hier in der staubigen Unterwelt befand. Er haßte die Herren der FESTUNG, die alles verschuldet hatten. Sie waren schuld daran, daß er sich durch Dunkelheit, Halluzinationen und Übelkeit kämpfte. Er haßte die Pyramide mit ihren Tausenden Gängen, Ecken und Durchgängen. Er wußte, daß ihn nur die brennende Sorge um seinen Freund Atlan hierher geführt hatte. Selbst Kolphyr hatte das Zeitgefühl verloren. Wie lange sie wirklich schon ihren Weg in die Tiefe suchten, wußte keiner von ihnen. Es mochte ein halber Tag sein, vermutlich sogar mehr. Razamon hielt den Weinschlauch zwischen seinen Knien fest und strich sein Haar mit beiden Händen nach hinten. Ruß, Staub und Rost blieben an seinen Händen haften. Er nahm einen tiefen Schluck und stierte in das Licht der Fackel, die zwischen ihnen in einem Bodenspalt steckte. »Wieder eine andere Umgebung. Mir erscheint es wie ein Verteilersystem. Energie, Hitze oder hydraulische Prozesse.« »Du magst recht haben«, sagte Thalia. Die Flammen zuckten und prasselten. Ihr Schein zitterte auf Röhren aller denkbaren Durchmesser, auf rechteckigen Leitungssystemen und auf Kabel aller Stärken und
32 Querschnitte. Sie wanden sich ausnahmslos in senkrechter Anordnung. Sie kamen von oben und führten nach unten, oder umgekehrt. Jedenfalls bedeutete dies, daß sich die verschiedenen Leitungen in die Tiefe von Atlantis fortsetzten. Die drei Eindringlinge befanden sich jetzt auf der Plattform einer ehemaligen Reparaturanlage. Der lange, hydraulische Arm war voll ausgefahren und hatte das Vorderteil irgendwo auf dem Durchgangsweg abgesetzt. Zwei Sitze, eine Schaltapparatur und eine große Ersatzteilkiste befanden sich auf dem löffelförmigen Fortsatz. Kolphyr, der wie üblich nichts aß und trank, saß auf der Kiste. Der Deckel bog sich und knirschte bei jeder Bewegung. »Das heißt«, sagte er langsam, »daß wir noch immer nicht an der tiefsten Stelle angekommen sind. Aber zweifellos haben wir uns weit vorangearbeitet.« »So ist es.« Hinter ihnen lag ein Zickzackweg in drei Dimensionen. Abwärts, geradeaus, nach den Seiten und wieder aufwärts, an anderer Stelle. Rote Notbeleuchtung hatte mit stechend gelbem Licht abgewechselt und, jetzt, mit vollkommener Dunkelheit. Die Fackel blakte und schickte einen langen Rußfaden durch die fast unbewegte Luft. »Da war eben ein Geräusch«, meldete sich Thalia. Razamon bewunderte inzwischen den Mut und die Durchhaltekraft der Frau. »Wo?« Die winzige Zone aus Licht, von der knisternden Fackel erhellt, war nur ein winziger Fleck zwischen der Ansammlung der verschiedensten Leitungen. Von dort oben, woher das Geräusch gekommen war, würde man die Plattform wie einen einzelnen Stern erkennen. Razamon setzte den Weinschlauch ab, verschloß ihn und fragte ein zweitesmal. »Bist du sicher, Thalia?« Ein scharfes und nachhallendes Krachen erübrigte eine weitere Antwort. Razamon schirmte die Augen mit der Hand ab und
Hans Kneifel starrte hinauf. Er sah einen scharfen Lichtstrahl wie suchend umherhuschen, dann folgten wieder eine Reihe von verschiedenen Geräuschen. Unverkennbar schlug Metall gegen Stein. »Jemand ist hinter uns her. Das sind die Rüstungen und die Waffen deiner Brüder, Thalia!« stieß Kolphyr hervor. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er Razamon den Weinschlauch aus den Fingern und befestigte ihn wieder an den Riemen über seinem grünlichen Anzug. »Das kann ich nicht glauben«, flüsterte Thalia und schloß das Band ihres Helmes. »Aber es ist sicher. Jemand ist auf unseren Spuren.« »Zweifellos. Wir müssen weiter!« drängte Razamon. Er nahm die Fackel und wandte sich zum Gehen. Vor der kurzen Rast hatten sie bereits einen Teil des weiteren Weges erkundet. Er führte durch eine seltsame Anordnung von Kammern und Hohlräumen. Sie wirkten wie die Wabenbauten unbekannter Rieseninsekten und bestanden aus einer Mischung aus Metall und weichem Plastikmaterial. In langsamem Lauf folgten Thalia und Kolphyr dem Atlanter. Bis jetzt war es ein riskanter Vorstoß gewesen, nun wurde eine Flucht daraus. »Meine Brüder! Sie werden uns einholen und zurückbringen!« rief Thalia unterdrückt und warf sich um eine Ecke. »Es muß wichtig für sie sein, wenn sie ihre sogenannten Regierungsgeschäfte deswegen vernachlässigen«, gab Razamon zu und suchte verzweifelt nach einem Ausgang aus diesem verwinkelten Bereich. An den dumpfen Geruch und den Staub hatten sie sich bereits lange gewöhnt. »Sie haben eine wahnsinnige Angst davor, daß wir Atlan und die Schaltstation finden!« meinte Kolphyr, der hinter Thalia einherstapfte. Sie hatten vorübergehend vergessen, daß sich Atlantis auf unbekannte Weise durch die Dimensionen und die Zeit bewegte. Sie dachten auch nicht daran, daß dieser rasende
Chaos über Atlantis Flug nicht nur für fremde Welten, sondern noch mehr für Pthor selbst zur vernichtenden Gefahr werden konnte. Genauer gesagt existierte die Gefahr bereits seit dem Start des Fragments während der Stunde von Ragnarök. Die eigenen Probleme der drei Eindringlinge waren wichtiger und existierten jetzt; sie mußten versuchen, den Verfolgern zu entkommen. Thalia warf zufällig einen Blick nach oben und blieb stehen. Kolphyr, der um die nächste Ecke sprang, walzte sie beinahe nieder. »Razamon! Sieh in diese Richtung!« Sie hielten an und blickten dorthin, wohin die Finger der jungen Frau deuteten. Jene wabenartigen Gänge und Ecken hatten keine Decke. Ungehindert sahen sie über sich eine Menge stechender Lichtstrahlen. Große Scheinwerfer blinkten nach allen Richtungen. Zwischen den Röhren und Kabeln sanken erstaunliche Dinge aus der Finsternis. Razamon pfiff verblüfft durch die Zähne und knurrte: »Das sind einwandfrei nicht deine Brüder, Thalia.« Sie starrten erschrocken und verwirrt zwischen den Wänden nach oben. Eine unglaublich aussehende Kombination von Maschinenteilen schwebte langsam zwischen den Konstruktionsteilen nach unten. Die Verwirrung der Eindringlinge dauerte nur Sekunden, dann begriffen sie, daß es mindestens mehrere Roboter waren, die sich aneinander festklammerten. Die Scheinwerferstrahlen bildeten wahre Spinnwebmuster und rissen die Verstrebungen und Kabel aus der Schwärze. »Roboter. Aus Wolterhaven«, sagte Thalia. »Wir werden mit ihnen kämpfen müssen.« »Sinnlos. Unsere Waffen sind geradezu lächerlich gegen ihre Bewaffnung oder Ausrüstung, wenn ich diese Verfolgung richtig interpretiere.« »Haben sie uns schon entdeckt?« »Auf alle Fälle sind sie auf unserer Spur!« »Dann können wir nichts anderes tun als
33 noch schneller flüchten und uns verstecken«, erklärte Kolphyr. »Los, Freunde. Es geht ums Ganze. Ich denke, mit den Maschinen werden wir schon fertig.« »Optimist«, gab Razamon zurück, schwenkte die Fackel und rannte weiter. Wieder begann ein neuer Teil des irren Rennens. Hintereinander stolperten und liefen sie durch die engen Durchlässe der Waben. Hinter ihnen zuckte ein rubinroter Strahl aus der Dunkelheit herunter und schmolz einige der senkrechten Platten auseinander. Die zwölf Roboter aus Wolterhaven hatten ihr Ziel längst entdeckt. Nur drei von ihnen, zufälligerweise die größten, konnten fliegen. Sie hatten es bereits auf dem Weg hierher perfekt ausprobiert. An die Arme, Laufbeine und Sensorträger dieser drei hängten und krallten sich die anderen, die dafür die Suchscheinwerfer bedienten und die verschiedenen Systeme, mit denen sie die Spuren der Verfolgten erkannten. Ohne sonderliche Eile sanken die Roboter jetzt durch den freien Raum, wichen den Leitungen aus und zerschmolzen mit einem Hitzestrahl einen möglichen Ausweg aus der Anlage, deren logischen Aufbau sie augenblicklich erkannt und ausgerechnet hatten. Sie hatten einen Auftrag erhalten: klar und genau umrissen. Diesen Auftrag konnten sie ohne sonderliche Schwierigkeiten erfüllen. Genau dies würden sie tun. Und zwar in ganz kurzer Zeit. Aus einem der Roboter dieses Pulks löste sich ein zweiter Kampfstrahl. Diesmal war es nicht ein einziger, kurzer Feuerstoß, sondern eine präzise gesteuerte Linie, die entlang des Fluchtwegs der drei Verfolgten brannte. Rauch, Flammen und Gestank wirbelten entlang des wandernden Auftreffpunkts, zuckten um die Ecke, schnitten durch Wände und rasten mit einem infernalisch heulenden Geräusch weiter. Kurz bevor sich die Roboter trennten, erlosch der Strahl. Dann setzten die schweren Maschinen auf, schoben die hydraulischen Arme zurück
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und in entgegengesetzte Richtung, klappten sie hoch und ließen zu, daß sich die kleineren Roboter ablösten und davonschwebten. Summend, in verschiedenen Tonhöhen, machte sich ein Roboter nach dem anderen an die Verfolgung. Sie schwebten zunächst entlang der eingebrannten, noch immer heißen Spur, dann zeigten ihnen die Augen für die unsichtbare Strahlung warmer Lebewesen den weiteren Weg. Ein bösartiges Summen begleitete ihren Vorstoß in diesen neuen Abschnitt der Pyramide. Ihre Sensoren »sahen« die Flüchtenden nicht, wohl aber deren Spuren. Die Geschwindigkeit nahm zu. Einer der größeren Roboter analysierte die Lage und schickte wieder seinen Kampfstrahl aus, der eine Reihe von Trennwänden auseinanderschnitt, als wären sie aus dünnem Papier. Dort vorn waren die drei Flüchtenden. Sie rannten in panischer Eile über Treppen, Rampen und schräge Flächen abwärts. Immer wieder schoben sich massive Felswände und dünne Metallstrukturen zwischen die Robots und ihre Beute, so daß die Lähmstrahlen nicht einfach eingesetzt werden konnten. Die Dellos außerhalb der Pyramide hatte eine große Menge von Informationen geliefert. Nach diesen zu urteilen, schien die Verfolgung eine leichte Sache und ein geringfügiges Problem zu sein. Die Wirklichkeit war anders.
* Razamon lehnte an einer Felswand, hielt seine Waffe in der rechten Hand und zischte Kolphyr zu: »Warum setzt du nicht deine Antimateriewaffe ein?« Mit schrillem Flüstern gab der Bera zurück: »Die Schäden wären nicht abzusehen. Ich würde die gesamte Anlage in die Luft gehen lassen. Weißt du, ob wir uns in einem energetisch ungefährlichen Bereich befinden?« »Nein!« sagte Razamon und feuerte eini-
ge Schüsse auf den ersten Roboter ab, der jenseits einer Biegung auftauchte. Es war eine kugelförmige Konstruktion mit vielen Armen, die ihr das Aussehen eines Tiefseetiers verliehen. Auf der glatten Schale der Maschine detonierten die Blitze und schleuderten Funken und zuckende Helligkeit nach allen Seiten. Der Roboter wurde langsamer und summte wütend auf. Dann schob sich hinter ihm eine der schwereren Maschinen heran, richtete einen stachelartigen Projektor in die Richtung der Flüchtenden und feuerte. Eine Reihe von Wänden und ein Teil des Bodens lösten sich auf und fielen krachend gegeneinander, sackten durch und wirbelten hinunter in eine unbekannte, schwarze Tiefe. »Zurück!« Die Roboter teilten die Vorsicht Kolphyrs keineswegs. Sie gingen pragmatisch vor und schienen Schwierigkeiten zu haben, jetzt die Spuren weiter zu verfolgen. Sie waren bestrebt, die Sichtverbindung nicht abreißen zu lassen und zerstörten deswegen die Wände und die Decken. Wieder rannten die Flüchtenden weiter. Die Fackel war längst erloschen, und sie suchten sich den Weg im Licht der klobigen Scheinwerfer. Hinter ihnen donnerten und röhrten die zerstörenden Strahlen auf. Das Summen blieb und begleitete jeden ihrer Schritte. Der Gedanke, Atlan zu finden, geriet in den Hintergrund. Das Überleben und die Flucht waren dringender und wichtiger. Furcht packte sie, denn sie waren in einer Lage, der sie auf die Dauer nicht gewachsen sein würden. Wieder hielt Razamon an und hob seine Strahlenwaffe. Er wußte genau, daß der Versuch der Gegenwehr bestenfalls einen Aufschub bedeutete, keine Lösung. Das Licht der Scheinwerfer enthüllte einerseits einen Wirrwarr von dicken Kabeln, die sehr wichtig aussahen. Es war undenkbar, was mit dem Flug oder der Steuerung Pthors geschehen würde, wenn hier größere Zerstörungen stattfanden. Andererseits sah es so aus, als ob sie wenigstens einen Teil der Pyramide erreicht hät-
Chaos über Atlantis ten, der direkt auf der Kruste von Pthor aufsaß. Die Roboter kamen näher. Vor ihnen sank abermals eine scheinbar massive Barriere aus Metall nieder und löste sich in grellen Lichterscheinungen und einem höllischen Lärm auf. Razamon schoß auf den ersten sichtbaren Roboter und sah mit einiger Befriedigung, daß die Kette der Maschinen zum zweitenmal in eine ernsthafte Stockung geriet. Die Maschinen schienen unhörbar miteinander zu korrespondieren und sich die Lage auszurechnen. Thalia rief klagend: »Was ist los? Sollen wir aufgeben? Sie sind mächtiger als wir!« »Keineswegs«, gab Kolphyr zurück. »Ich habe noch immer die letzte Waffe. Ich muß nur ein Gebiet abwarten, das nicht entsprechend mit Zerstörung reagiert …« Er drückte sich ungeschickt aus. Er meinte, daß er sich nur in einer absolut ungefährlichen Zone zu einem ernsthaften Kampf stellen würde. »Nicht aufgeben. Es geht noch weiter. Wir kommen jetzt zwischen die Felswände. Hier sind wir besser dran als die Maschinen«, rief Razamon zurück und schoß abermals. Er sah, daß er einen Projektor mit einem einzigen Schuß bis zur Unkenntlichkeit zerschmolzen hatte. »Weiter! Schneller!« drängte er. Wieder rannten sie dem Licht der Scheinwerfer nach. Ihre Schritte waren in dem Lärmen und Tosen der Strahlschüsse unhörbar. Sie liefen durch einen breiten Korridor, der in den anscheinend massiven Fels geschnitten war. Weder Nischen noch Seitengänge unterbrachen die rauhen Steinwände. Razamons Sohlen waren lautlos, Thalias Rüstung klapperte und klirrte wie stets, und Kolphyrs breiter Rücken schützte sie wie das Gehäuse einer mächtigen Maschine. Sie rafften ihre letzten Kräfte zusammen und spurteten in größter Schnelligkeit durch den Korridor. Sie wußten, daß sie das perfekte Ziel abgaben, falls die gestoppten Roboter das hinter ihnen liegende Ende des Durchstichs er-
35 reichten. Etwa zweihundertfünfzig Meter weit liefen sie geradeaus. Dann hielten sie an, als wären sie gegen eine massive Mauer gerannt. Vor ihnen schalteten sich automatisch Hunderte von Lampen ein. Die Beleuchtungskörper ließen eine Art Saal erkennen, der sehr breit und sehr lang war, aber nur drei Meter hoch. Im Staub des Bodens erkannten sie unregelmäßige runde Löcher, die sich über die gesamte Fläche erstreckten. »Verdammt!« schrie Razamon. Er erkannte den Charakter der Falle. Hinter ihnen wurde das Summen lauter und drängender. Jede Sekunde würden die Verfolger auftauchen. »Bei Odin! Wir müssen uns wehren. Oder wir werden getötet und zurückgeschleppt!« stieß Thalia aus. »Hinter mir her!« schrie Kolphyr, der offensichtlich eine weitere Fluchtmöglichkeit erkannte. Er warf seinen breiten Körper nach vorn und rannte mit riesigen Schritten auf das erste Loch zu. Dort, am Rand, verharrte er eine halbe Sekunde lang, dann hob er einen Arm und sprang in das Loch hinein. Razamon und Thalia, die nebeneinander gleichzeitig den Rand der Öffnung erreichten, sahen ihn etwa vier Meter tiefer stehen und die Arme heben. Ohne zu zögern, sprangen sie hinterher. Er fing sie mit spielerischer Leichtigkeit auf und setzte sie neben sich ab. Sie blickten wild um sich und sahen, daß sie sich praktisch im gleichen Raum befanden: Die Ausdehnung und die Höhe schienen identisch zu sein. Das von oben hereinfallende Licht zeichnete große runde Kreise auf den staubigen Boden. »Die Roboter … der Boden zittert!« schrie Thalia auf. Durch weiter entfernte Öffnungen schnitten wieder donnernde und heulende Strahlen hindurch. Teile des Felsens knisterten und fielen in riesigen Brocken herunter. Die Flüchtenden drängten sich dicht an die
36 Wand und schoben sich so schnell wie möglich einer Öffnung in der Ecke dieser merkwürdigen Zwischendecke entgegen. Wieder zuckte, aus einer anderen Richtung, ein Bündel Glutstrahlen herunter und zerstörte Teile der oberen Decke. Die Erschütterungen nahmen zu. Direkt vor Kolphyrs Füßen erschien in dem Felsen ein Riß. Er verbreiterte sich und wurde länger. Das Gestein begann zu knistern und zu knirschen. Überall waren dichte Schwaden grauen Staubes. Durch die Schleier zuckten kreuz und quer die Strahlen. Riesige Scheinwerfer blinkten auf und erzeugten große runde Leuchterscheinungen. Der Boden bewegte sich jetzt so stark, daß die Flüchtenden schwankten und sich nur mühsam auf den Beinen halten konnten. Ein zweiter Riß setzte sich mit scharfen, reißenden Geräuschen durch das Bodenmaterial fort. Thalia schrie auf und klammerte sich an Kolphyrs Arm. »Der Felsen bricht unter unseren Füßen!« Kolphyr versuchte, sich auf der schwankenden Ebene zu bewegen, glitt aus und stolperte dem Loch entgegen. Dann ertönte ein knallendes Geräusch. Der Boden wurde ihnen unter den Füßen weggerissen. Kolphyr begriff augenblicklich, was vorgefallen war. Er streckte den Arm aus und ergriff Razamon am Gürtel. Als mit einem furchtbaren Getöse sich ein riesiges Stück der Ebene losriß und in der Mitte dieses Zwischengeschosses quer abbrach, kippte dieses Bruchstück langsam nach vorn. Hier, wo die Flüchtenden standen, schien das Material gelagert zu sein, denn es bildete sich innerhalb einer Sekunde eine Schrägfläche. Noch bevor sie unten aufschlug, spreizte Kolphyr seine stämmigen Beine und warf sich auf den Rücken. Er rutschte durch den Staub und über den Schmutz des Bodens, immer schneller werdend, nach unten. Durch die Staubwolken und den Hagel der losgerissenen Splitter und Brocken folgten summend und feuernd die zwölf Roboter.
Hans Kneifel Mit einem donnernden Schlag, der sie alle taub machte, brach die Platte abermals, krachte zu Boden und löste sich in mehrere Bruchstücke auf. Die Flüchtenden landeten in einer stauberfüllten Helligkeit und glaubten an Halluzinationen, als sie durch das Geschrei fremder Kehlen, durch den furchtbaren Lärm und die Geräusche der Maschinenverfolger Musik zu hören glaubten. Stark rhythmische, barbarische Klänge, die durch das Inferno schmetterten. Kolphyr ließ Thalia und Razamon los und schrie: »Um uns herum sind Dellos!« Die Staubwolken trieben hin und her und senkten sich. Während die Roboter mit drohendem Summen von oben herunterschwebten und die kleineren Konstruktionen über die zerbrochene Schrägfläche kamen, erkannten die Flüchtenden mehr und mehr Einzelheiten der Szene um sie herum. Sie waren in einer riesigen Halle gelandet, deren Decke heruntergebrochen war. Schwarze, würfelförmige Maschinen standen entlang der Wände. Scheinwerfer beleuchteten das Innere der Halle. Dort war, keine zwanzig Meter von Razamon entfernt, ein Kreis, der aus Dellokörpern gebildet war. Jetzt formierte er sich wieder, nachdem er durch den Zwischenfall zerrissen worden war. Innerhalb des Kreises kämpften zwei ungleiche Gegner. Einer war ein Dello, mit zwei langen, blattartigen Schwertern bewaffnet, der andere ein über sechs Meter großer Koloß mit der leeren, blutverkrusteten Höhle eines einzigen Auges in der Stirn. »Ein Zyklop!« schrie Thalia auf. Beide Gegner waren in den Kampf verbissen. Sie schienen die Umwelt völlig vergessen zu haben. Der blinde Zyklop schlug mit einer riesigen, zerfetzten Keule zu, und der Dello benutzte seine Schwerter. Eine unverständliche Kraft ging von dem viel kleineren Mann aus. Der Körper des Zyklopen war von Wunden übersät. Kolphyr sah sich um und suchte nach einer weiteren Möglichkeit, die Flucht fortzusetzen. Er drängte Razamon und Thalia in
Chaos über Atlantis den Sichtschutz zwischen die schwarzen Würfel. Von oben fiel ein Gesteinsbrocken herunter, krachte auf einen der Maschinenblöcke und zerbarst in tausend Bruchstücke. Die Roboter kümmerten sich nicht um die Flüchtenden. Unbeobachtet von den Dellos kauerten sich Razamon, Thalia und Kolphyr hinter einer Barriere aus zertrümmerten Gegenständen, Felsbrocken und in den Schatten eines der wuchtigen Würfel. Die Maschinen schwebten und liefen auf den Kreis zu, verteilten sich und schoben sich mühelos durch die Mauer aus Dellokörpern. Sie schienen vorübergehend die Verfolgung völlig vergessen zu haben, denn ihre Sensoren und Projektoren richteten sich auf den Zyklopen. Jetzt erkannte Razamon, daß eine Art schwarzer Fisch mit Flügeln über dem Kopf des Wesens schwebte. »Sie kämpfen gegen den Zyklopen!« flüsterte Razamon gebannt. Wieder zuckten gleichzeitig ein Dutzend Kampfstrahlen röhrend und peitschend aus den Projektoren der Roboter. Ein Glutstrahl vernichtete den schwebenden Fisch, die anderen zerrissen und verkohlten den Zyklopen. Schreiend starb das riesige Wesen. Noch während der Zyklop zusammenbrach, zuckten weitere Vernichtungsstrahlen auf und zerstörten seinen Körper zur Gänze. Der Dello warf seine Schwerter zu Boden und wankte aus dem Kreis heraus. Er wandte sich an den größten Roboter und schrie mit rauher, stockender Stimme: »Ich bin Vater Pegallu. Ich danke euch, daß ihr den furchtbarsten Gegner, den wir je hatten, besiegt habt. Wer hat euch geschickt?« Razamon schlug Thalia auf die Schulter, legte den Finger an die Lippen und deutete in den Hintergrund der Halle. Dort, jenseits eines merkwürdig provisorisch aussehenden Bauwerks, erkannten sie eine Treppenanlage. Thalia nickte und zog Kolphyr mit sich. Sie versuchten, so schnell wie möglich entlang der Hallenwand in der Deckung zu
37 kriechen. »Wir sind von den Söhnen Odins geschickt worden«, erklärten die Roboter. Die Musik, die bisher den Kampf untermalt hatte, hörte mit erschreckender Plötzlichkeit auf. Von allen Seiten strömten Dellos zusammen. »Wir haben drei Flüchtende bis hierher verfolgt. Aber in uns ist auch die Ausschaltung dieser Wesen programmiert. Deswegen haben wir dir geholfen, Pegallu.« »Welche Flüchtlinge?« wollte der schweißüberströmte und blutbespritzte Mann wissen. »Razamon, Thalia und Kolphyr.« Während die Gesuchten hinter der langen Reihe der Würfel dem Saallende entgegenhasteten, hörten sie die größten Teile der Unterhaltung. Sie wurden schneller, aber dann hörten sie zu ihrem Entsetzen: »Sie versuchen wieder zu fliehen. Wir holen sie und nehmen sie mit uns an die Oberfläche zurück, wie der Auftrag lautete.« Sechs Roboter schwärmten in blitzartiger Schnelligkeit aus und umzingelten Thalias Gruppe. Mit einigen kurzen Schüssen, die Krater in die Wände rissen, machten sie ihnen die Aussichtslosigkeit ihrer Lage deutlich. Kurze Zeit standen Thalia, Razamon und Kolphyr vor einem Halbkreis, der aus Robotern und Dellos gebildet war. Vater Pegallu stemmte die Arme in die Seiten und blickte auf die Gefangenen. »Sie sind in mein Reich eingedrungen. Ich beanspruche sie.« Mit unnachgiebiger Stimme widersprach einer der Roboter. »Wir haben von den neuen Herrschern über Pthor den Auftrag, sie in die FESTUNG zu bringen.« »Die alten Herrscher haben uns verfolgt und ausgestoßen. Wir anerkennen auch die neuen Fürsten von Pthor nicht.« Razamon und Thalia hofften auf eine Wende, die ihnen mehr Chancen geben würde. »Wir müssen auf unserer Forderung bestehen!« betonte ein anderer Roboter. Schweigen breitete sich aus. Unversöhn-
38 lich standen sich die Roboter und der Herrscher gegenüber. Die Dellos, es mochten Hunderte sein, schlossen einen dichten Kreis um die kleine Gruppe. Sie schienen wahnsinnig oder blind zu sein; Angriffsstrahlen, die in der Lage waren, die Decke zu zertrümmern, konnten ein Heer fäusteschwingender Dellos binnen Sekunden vernichten. Vater Pegallu sagte langsam: »Geht zurück zu den Söhnen Odins. Sagt ihnen, daß Vater Pegallu und seine Ausgestoßenen keinen Kampf wünschen. Aber die drei Gefangenen bleiben hier und werden nützlicher Verwendung zugeführt.« Wieder meldete sich ein anderer, kleiner Roboter und entgegnete unnachgiebig: »Ihr habt gesehen, wie mächtig unsere Waffen sind. Wollt ihr wegen der Gefangenen alle sterben?« »Wir wissen, wie wir unsere Forderungen durchsetzen können«, war die starrköpfige Antwort. Razamon überlegte, was er tun konnte. Eine unbestimmte Ahnung erfüllte ihn. Sein Haß auf Personen und Umstände war verflogen und hatte einer großen, niederdrückenden Müdigkeit Platz gemacht. Etwas würde in Kürze passieren, und es konnte nur gefährlich oder tödlich sein. Als sein Blick auf geschrumpfte und schwärzliche Gliedmaßen fiel, die an Lianen zwischen den Maschinen hingen, wußte er, welches Schicksal sie in der Halle der Ausgestoßenen erwartete. »Was nützt eine halsstarrig vorgebrachte Forderung, wenn sie mit Kampf, Tod und Auslöschung bezahlt wird?« fragte eine Maschine. Thalia spürte, daß sie dem Geheimnis sehr nahe war. Atlan mußte sich irgendwo in erreichbarer Nähe befinden. Mit den Dellos würden sie fertig werden können; Kolphyrs ungeheure Kräfte und Razamons Waffe … aber gegen die Robots waren sie wehrlos. Und wenn Kolphyr seine Antimateriewaffe anwendete, sprengte er diesen Saal mit all der darin zirkulierenden Energie auseinander. Noch zögerten die Roboter, aber schon in der nächsten Sekunde konnte die tödliche
Hans Kneifel Auseinandersetzung beginnen. Kolphyr stand schweigend da und wußte, daß ihm in ganz kurzer Zeit nur noch der letzte, unwiderrufliche Ausweg blieb. Vernichtung war das Stichwort. Der größte Roboter hob seinen Arm und sagte mit unüberhörbarer Schärfe: »Wir sind zu dem Entschluß gekommen, Vater Pegallu, deinem Wunsch nicht nachzugeben. Du hast zwischen Kampf und Nachgeben zu entscheiden.« Pegallu begann vor Wut zu zittern. Aber noch immer machte er keine Anstalten, den Kampf zu beginnen.
* Korridore durchschnitten das Gefüge der Dimensionen. Raum und Zeit und Entfernungen waren ineinander verzahnt wie die Vorstellung eines vierdimensionalen Weltraums. Das Nichts, erfüllt von Linien, Kurven und Spiralen. Sie waren nach einem Muster angeordnet, das niemand verstand und niemand kannte. Geleise durch Zeit und Raum, Linien durch eine besondere Art der Unendlichkeit. Viele Körper, gesteuert oder dem kosmischen Zufall unterworfen, rasten entlang dieser Linien. Sie wurden auf den Kurven entlanggeschleudert, die kein lebendes Wesen je gesehen und jemals errechnet hatte. Sie wichen auf den Kreuzungspunkten einander aus, indem sie beschleunigt wurden oder verlangsamten. Unter den vielen Objekten, die sich in diesem System kaum vorstellbarer Entfernungen und Zusammenhänge bewegten, war eine gigantische Wassermasse. Niemand sah sie, keiner kannte den Zweck dieser unvorstellbar großen Zusammenballung von Wasser, die durch den Dimensionskorridor fegte. Geschwindigkeiten, Ausdehnungen und Sinn blieben verborgen. Niemand erwartete sie, denn niemand wußte, daß sie durch den Korridor auf einen der wichtigsten und häu-
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figst angeflogenen Kreuzungspunkte mit kosmischer Geschwindigkeit zusteuerte. Es gab auch niemanden, der den Kreuzungspunkt kannte.
* Die Sekunden dehnten sich unerträglich, die Spannung unter allen Anwesenden erreichte einen schmerzenden Höhepunkt. Mit scharfem Summen glitten alle Roboter jeweils einen Meter nach vorn und schoben sich dadurch aus der dichtgedrängten Menge der Körper. Waffen klirrten, jemand reichte Vater Pegallu ein funkelndes Schwert. Kolphyr spannte seine Muskeln und berechnete seine nächsten Bewegungen. Er würde seine Freunde retten müssen. Vater Pegallu hob das Schwert. »Du wählst den Kampf?« fragte ein Roboter. »Ich behalte sie!« schrie Pegallu in höchster Wut und deutete mit der Spitze des Schwertes auf die Gefangenen. »Dann wählst du die Vernichtung«, rief hinter ihm der andere Robot. Von rechts kam der Zusatz: »Für dich und dein Volk.« Hundert Schwerter wurden hochgerissen und klirrten gegeneinander. Die Dellos schrien wie die Rasenden. Vater Pegallu wirbelte herum und schlug mit einem furchtbaren Hieb auf den Projektorarm des ihm am nächsten stehenden Robots. Sofort zuckten Vernichtungsstrahlen in verschiedene Richtungen. Glühende Tropfen und brennende Gasfontänen zischten nach allen Seiten. Kolphyr packte, während er zur Seite sprang, mit zielsicheren Bewegungen seine Freunde und rammte einen breiten Korridor in die Masse der Dellos. Das wilde Angriffsgeschrei der Dellos, das Klirren und Rasseln der Schwerter, die Geräusche der Strahlen und des auseinandergesprengten Felsens und die Warnrufe, von den Robotern ausgestoßen, vermischten sich zu einem entsetzlichen Geräuschorkan. Der Boden schien unter diesem wilden
Ansturm zu beben. Kolphyr drängte die Freunde in den Schutz eines schwarzen Maschinenwürfels und wirbelte wieder herum. »Der Fels! Die Höhle bricht ein!« schrie Thalia gellend. Eine schwere Erschütterung traf den Saal. Alles schwankte und zitterte. Roboter und Dellos wurden von den Beinen gerissen und fielen übereinander. Mit der Serie peitschender Knalle erloschen die Scheinwerfer. Maschinen wurden gegen die Felswand geschleudert. Blitzte zuckten kreuz und quer durch den Saal. Es war, als habe ein gigantischer, planetengroßer Hammer Pthor getroffen und auf dem Flug durch die Dimensionen förmlich in der Bewegung angehalten. Der letzte Scheinwerfer erlosch. Nur noch ein paar auftreffende Strahlen der Roboter erleuchteten die riesige schwarze Höhle, in die sich der Saal der Ausgestoßenen verwandelt hatte. Wieder griff Kolphyr nach den Armen seiner Freunde und zog sie mit sich. Sie tasteten sich zwischen Trümmern und über den schwankenden und aufbrechenden Boden vorwärts. Wohin? Sie waren einigermaßen sicher, daß sie sich in die Richtung auf die Treppenanlage fortbewegten. Rund um sie war das Chaos entfesselt. Eine Serie unbekannter Geräusche durchbrach das Geschrei. Es hagelte ununterbrochen kleine und große Trümmer von der Decke. Sie schlugen wie Geschosse ein und zerplatzten. Der Hohlraum, dieser gewaltige Saal voller Maschinen, schwankte noch immer. Aber die Felsmasse brach nicht auseinander. »Was ist passiert?« schrie Thalia in die Dunkelheit. Razamon brüllte hustend zurück: »Keine Ahnung. Es muß ganz Pthor erwischt haben!« Endlich hatte Kolphyr einen Scheinwerfer hervorgeholt. Keuchend und hustend blieben sie stehen, obwohl sie nicht wissen konnten, ob sie in der nächsten Sekunde von einem Trümmerstück erschlagen werden würden.
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Das Lärmen hielt unverändert an und betäubte sie. Wieder wurde der Boden erschüttert. Der Lichtstrahl zuckte ein paar Meter vor und löste sich in der Staubwolke auf. »Wo sind wir?« »Irgendwo in der Höhle. An ihren Rändern sind wir sicherer als sonstwo.« Ein grauenhaftes Geräusch brach los. Die gewaltige Deckenplatte begann zu rutschen und brach auseinander. Staub rutschte nach, Trümmer schlugen nach unten. Das Geschrei der getroffenen Dellos steigerte sich und wurde zu einem schrillen, gespenstischen Heulen. Die drei Verfolgten krochen weiter, blind und verzweifelt, von Schrecken erfüllt und gewärtig, den nächsten Moment nicht zu überleben. Irgend etwas war mit Atlantis geschehen. Der Flug durch Zeit und Raum führte ins Verderben.
6. Heimdall dachte an die Ruhe und Stille seines Wohnbezirks, draußen, weit entfernt in der Wüste. Wieder sehnte er sich danach zurück; der Aufenthalt der neuen Herrscher in der FESTUNG war viel mehr eine Qual als eine Demonstration der neuen Herrlichkeit. Aber er drängte alle seine Gedanken an die Vergangenheit zurück und ließ seinen Arm schwer auf die Lehne des Sessels fallen. »Seit Ragnarök, seit der Stunde des Sieges, kommen Delegationen aus allen Teilen Pthors und bieten uns ihre Dienste an. Mittlerweile bin ich voller Mißtrauen, was diese Ergebenheitsbesuche betrifft.« »Beruhige dich, Heimdall«, unterbrach Sigurd. »Das sind keine Berserker. Es sind Technos.« »Das weiß ich selbst!« Die große Delegation der Technos, die alle wichtigen Gruppen dieser Klasse umfaßte, war kurz nach dem Aufbruch der Roboter von Wolterhaven hier in der FESTUNG eingetroffen. Die Technos hatten sich ausdrücklich bereit erklärt, für die neuen Herrscher
unter anderen Vorzeichen dieselben Dienste zu leisten, wie es in der vergangenen Zeit für die Herrscher der Fall gewesen war. »Heimdall, Sohn Odins«, erklärte einer der vielen Delegationsleiter und verneigte sich respektvoll, »du hast keinen Grund, uns mit Mißtrauen zu begegnen. Wir begrüßen die neue Entwicklung, weil wir sicher sind, daß sie sich nicht auf Gewalt, Zwang und Panik gründen wird.« Heimdalls Finger klopften unruhig auf dem Material des Sessels. Er war so lange unruhig, wie die Jagd unterhalb der FESTUNG im Gang war. Sie mußten einen Weg finden, den Flug von Pthor zu steuern! »Schon gut«, sagte er. »Ich glaube euch. Ihr habt mein Vertrauen.« Ein Anführer der Technos trat vor und meinte: »Pthor ist wieder auf der Reise.« »Ja. Wir werden vom Wachen Auge gewarnt werden, wenn unvorhergesehene Dinge geschehen sollten. Die Anlagen funktionieren, und jene, die zerstört wurden, sind wieder in Ordnung gebracht worden.« Sigurd, Balduur und Heimdall saßen noch immer im Empfangssaal. Zwischen ihnen stand ein großer Tisch voller Speisen und Geschirr. Er war von den Dellos gebracht worden, nachdem die Roboter sich auf die Suche gemacht hatten. Sigurd spießte einen Brocken Käse auf, kaute und schluckte ihn hinunter. »Es kann sein, daß wir in kurzer Zeit alle verfügbaren Kräfte brauchen werden, ihr Technos«, sagte er. »Wir sind gern bereit, eine derartige Vereinbarung zu schließen. Wir leben durch die FESTUNG und für euch.« »Gut. Einverstanden. Und wie habt ihr …« Die Tischplatte wurde zur Seite geschleudert. Die Schalen, Becher und Körbe polterten und klirrten zu Boden. Die Technos wankten und fielen gegeneinander. Einige von ihnen brachen aufschreiend in die Knie. Die drei Söhne Odins sprangen mit klirrenden Rüstungen auf. Der Boden schob sich
Chaos über Atlantis hin und her, die Wände der Pyramide schwankten und dröhnten. Die Geräte, mit denen die FESTUNG mit dem Wachen Auge verbunden war, schrillten und heulten in der höchsten Alarmstufe. Die Portale des Saales bewegten sich donnernd in ihren Führungen. Ein riesiger, nicht eingeschalteter Bildschirm löste sich und zerbarst mit einem ohrenzerreißenden Geräusch. Die Dellos, die sich innerhalb des Saales befanden, schrien vor Angst und rissen bei dem Versuch, sich irgendwo festzuhalten, wertvolle Ausrüstungsteile von den Instrumentenpaneelen. »Die FESTUNG schwankt! Was ist geschehen?« brüllte Heimdall auf und wurde vom nächsten Stoß des gewaltigen Bebens wieder auf den Boden geschleudert. Das Klirren seiner Rüstung ging im allgemeinen Krachen unter. »Pthor ist kollidiert. Pthor ist kollidiert. Pthor …«, kam es aus einem Lautsprecher. Der Alarm des Wachen Auges kam zu spät. Voller Entsetzen dachten die Herrscher daran, daß es keine Möglichkeit gab, irgendwie einzugreifen. Balduur riß Heimdall mit einem mächtigen Ruck auf die Beine. »In der Pyramide sind wir sicher. Das Innere des Raumschiffs schützt uns alle.« Die Erschütterungen waren schrecklich. Das Schwanken und Zittern, die federnden Bewegungen erfaßten jeden Gegenstand und jedes Wesen. Eine Trennwand beulte sich aus und zerriß. Instrumente und Kabel brachen. Aus allen Bereichen des Schiffes kamen die lauten Alarmgeräusche. Auch Sigurd kam auf die Beine und stürzte mit schwankenden Schritten auf das Portal zu. »Bleibt hier!« donnerte er. Die Technos, die sich gefaßt hatten, flüchteten in wilder Panik an ihm vorbei, rempelten ihn an und stürzten blind davon. »Eine Kollision!« schrie Heimdall. Das Schwanken und Beben war so heftig, daß keiner von ihnen daran dachte, überhaupt etwas unternehmen zu wollen. Diese Kräfte waren zu groß für sie. Es gab nichts, das man ihnen entgegenstellen konnte. Ganz
41 Atlantis schien von diesem Beben erfaßt worden zu sein, denn es hörte nicht auf, setzte sich fort und vermittelte den Odinssöhnen den ersten, flüchtigen Eindruck, auf der Oberfläche eines schwankenden Moores zu stehen, dessen Oberfläche in einzelne Schollen aufriß. »Womit können wir zusammengestoßen sein?« Von der Decke fielen in großen Flecken isolierende Materialien herunter. Aus den Nähten und Verbindungen der Wände rieselte Staub. Aus unbekannten Öffnungen drang Rauch. Einige Beleuchtungskörper zerplatzten. »Das weiß ich nicht. Können wir denn nichts tun?« »Nein.« Die wenigen Dellos und der Rest der Technoabordnung rannten davon. Aus dem Innern der Pyramide erklangen seltsame Geräusche, als ob große Teile der Einrichtung und der Pyramide selbst zerstört würden. Sigurd hielt sich mit aller Kraft an einem dicken Hebel fest und keuchte: »Das muß das Ende sein.« Das Dröhnen und das entsetzliche Schwanken hörten nicht auf. Die Brüder klammerten sich aneinander fest und starrten einander ungläubig und erschreckt in die Augen. Sie wußten nicht, was geschehen war. Es gab für sie keine Möglichkeit der Abhilfe. Vielleicht überlebte Pthor … Vielleicht beruhigte sich dieses riesige Stück Land wieder. Mit ständig wachsender Angst und Sorge wartete Sigurd, Balduur und Heimdall, daß dieses Beben aufhören würde.
* Fluchend bemerkte Razamon, daß er seine Waffe irgendwann auf den letzten zweihundert Metern verloren hatte. Er richtete sich auf und hob schützend die Hand über seinen Kopf. »Es muß tatsächlich ein schweres Beben sein«, rief Thalia. Der Umhang ihrer Rü-
42 stung war schmutzig und zerfetzt; Kolphyrs Lampe bewegte sich suchend durch den fast undurchdringlichen Staub. Thalia preßte ihren Handschuh vor Mund und Nase und hustete. »Vor allem ein langes Beben. Ganz Atlantis hat es erwischt, scheint es mir«, gab der Bera zu. »Achtung.« Er schwang den Arm zur Seite und wischte einen übermannsgroßen Felssplitter nach hinten. Der riesige Steinbrocken war genau auf Thalias Rücken zu gekippt. »Atlan … er hat die Steuerung also nicht gefunden«, murmelte Razamon. Die sterbenden Dellos, vielleicht auch einige zerschmetterte Verfolger aus Wolterhaven, hatten sie weit hinter sich gelassen. Als sich die Staubwolken etwas lichteten, riß der Scheinwerfer wackelnde und sich auflösende Teile aus Holz und Geflecht aus der Finsternis. »Wir sind neben dem Bauwerk!« schrie Kolphyr triumphierend. »Und noch immer am Leben.« Die schräge Platte war zerbrochen und in vielen Teilen heruntergefallen. Nur genau über dem Bauwerk lag noch immer ein langes Stück, das mit einem Ende den Boden und mit dem anderen den ehemaligen Winkel zwischen Treppenwand und Dach berührte. Offensichtlich waren Spalten aufgebrochen oder verborgene Tore, denn deutlich war das Rauschen einer großen, schnell bewegten Wassermasse zu hören. Ein Fluß unter der Oberfläche? Ein auslaufender See? »Zu den Treppen! Immer geradeaus, Kolphyr!« rief Razamon würgend. Sie kletterten über Steinbrocken, traten auf die Körper toter Dellos und tasteten sich hinter dem Licht in Kolphyrs Hand mehr oder weniger geradeaus. Mehrere Stufen höher, dann mußten sie einem wahren Haufen toter Dellos ausweichen. Schließlich fanden sie heraus, daß der Aufgang einer breiten Treppe ebenfalls von einem Wall toter Dellos blockiert war. Es schien, als habe hier ein Teil des Kampfes zwischen Pegallu und dem Zyklopen gewü-
Hans Kneifel tet. »Wohin?« »Warten, bis das Beben nachläßt!« »Es scheint tatsächlich der sicherste Platz zu sein«, rief Razamon und versuchte, die schlimmsten Stöße mit den Knien abzufedern. Er war von einem Schrecken in den anderen gestürzt worden, aber die Furcht, die er jetzt empfand, ging viel tiefer. Keine noch so große persönliche Schnelligkeit, kein tollkühner Mut und nicht einmal die größte Vorsicht konnten ihn und die Freunde davor retten, hier erschlagen, ertränkt oder lebendig begraben zu werden.
* Dhervay, der Techno aus Zbohr, schluchzte und wimmerte haltlos. Seine Finger umklammerten im Krampf die bloßliegende Wurzel eines Baumes. Der Stamm federte hin und her und in alle Richtungen. Ununterbrochen prasselten riesige Nüsse oder andere Früchte mit sehr harten Schalen zu Boden, abgerissene Blätter und Aststücke schlugen auf die Schultern und in den Nacken des Mannes. Der Garten der FESTUNG hatte sich in ein Inferno verwandelt. »Nein! Ich will nicht sterben!« Sein Körper wurde hochgehoben und wieder auf den Boden geworfen. Aber seine Hände ließen nicht los. Das rauschende Tosen, mit dem sich Pthor bewegte, hatte entweder aufgehört oder war von den zahllosen anderen Geräuschen übertönt. Unter dem eintönig fahlen Himmel schwankten die kleineren Pyramiden nicht viel weniger als der Baum, der vielleicht umstürzen und Dhervay erschlagen würde. Die Büsche rauschten und schwankten wild. Tiere flüchteten kreischend und in offener Panik. Vögel rasten flatternd durch die Luft, stießen zusammen und fielen tot auf den Boden. Ein Dello taumelte einen Pfad entlang, der sich wie eine Schlange aufbäumte und den Diener in einen aufgerissenen Trichter schleuderte. Ein riesiger Was-
Chaos über Atlantis sertropfen, so groß wie eine Faust, schlug zwei Handbreit von Dhervays Kopf entfernt in das Gras. Das Leben war nicht besonders schlecht gewesen, bis die FESTUNG erobert worden war. Aber es war zu ertragen gewesen. Als der Dello in Zbohr erschien und die lange, wohlklingende Botschaft der Odinssöhne mitbrachte, hatten sie alle an zerschnittene Fesseln und größere Freiheiten gedacht. Die Delegation machte sich augenblicklich auf den Weg, um die Zusammenarbeit anzubieten. Mindestens dreißig Sekunden lang bebte Atlantis jetzt schon. Die Grashalme vor Dhervay bewegten sich wie hastige Wellen eines schäumenden Flusses. Ein Käfer krabbelte hilflos zwischen den Halmen hin und her und versinnbildlichte das Schicksal des Technos. »Fliehen? Aber wohin?« Er bewegte entsetzt den Kopf. Das Schwanken der kleineren Pyramiden schien noch stärker geworden zu sein. Überall das Poltern und Krachen herunterfallender Steine und brechenden Mauerwerks. Und dazu dieses infernalische Grollen und die Schwingungen, die direkt aus der Erde kamen. Wahrscheinlich wurde Atlantis auseinandergebrochen wie eine Scholle aus trockenem Lehm. Ein ferner Blitz zuckte auf. Der Donnerschlag ging in dem allgemeinen Lärmen unter. Dann rauschte ein furchtbarer Regenschauer über den FESTUNGS-Garten hinweg. Die Tropfen fielen so dicht, daß selbst das Grau des Himmels einer tiefen Schwärze wich. Riesige Tropfen hämmerten schmerzend auf den wehrlosen Körper und zerschlugen die Blätter über ihm. Ein Sturzbach rann den Stamm herunter und umspülte schon Sekunden später den Kopf des Technos. Dann, unvermittelt, hörte der peitschende Regen wieder auf. Das hohle Fauchen und Winseln eines weiteren, trockenen Sturmstoßes fegte durch den ausgedehnten Garten und trieb Staub, Sand, Blätter und
43 anderen Abfall vor sich her und schleuderte ihn in einer hochwirbelnden Spirale gegen die Flanke der großen Pyramide. Unverändert hielt das Beben an. Der Techno verlor jedes Zeitgefühl. Das Beben konnte eine Minute lang dauern, länger oder kürzer. Todesfurcht hatte jedes lebende Wesen auf Atlantis gepackt und schüttelte es im Rhythmus der Bebenstöße.
* Es ruft dich! Die Mitteilung des Extrasinns weckte Atlan. Er blieb regungslos liegen, hielt die Augen geschlossen und fühlte das silberne Gespinst des Goldenen-Vlies-Helms. Deutlich erkannte er, daß der Ruf stärker und deutlicher geworden war. Keine exakten Gedanken. Mehr eine weiche, aber intensive Beeinflussung in Form eines Dranges. Er begriff. Er sollte einem Wunsch nachgeben, einer deutlichen Aufforderung. Das Gefühl stellte sich ein, er solle aufstehen und den untersten Punkt der Steueranlage aufsuchen. Atlan öffnete die Augen, stand auf und fand die Anlage unverändert. Lichter brannten, Formen glühten, und Farben bewegten sich auf ebenso mysteriöse Weise wie vorher. Wann vorher? Es mochten einige Stunden vergangen sein. Er fühlte sich frisch und ausgeruht, aber das konnte nicht über das Gefühl von Hunger und Durst hinwegtäuschen. Es war jedoch noch auszuhalten. Auf halbem Weg blieb er stehen. Erst jetzt fielen ihm die länglichen Öffnungen an allen möglichen Stellen auf. Sie schienen Teile des Lufterneuerungssystems zu sein und vielleicht auch das Geheimnis dieser überraschenden Sauberkeit. Aber es wehte kein erkennbarer Lufthauch aus den Öffnungen, auch gab es keinen Sog. Er hob die Schultern und ging weiter. Als er im Zentrum der Steueranlage auf der untersten Ebene stand – hierher waren die Kügelchen gerollt, in die sich Elkohr aufgelöst hatte –,
44 schob ihn ein sanfter Zwang in die Richtung des länglichen Pultes mit den auffallenden Mulden in der ebenen Fläche. Er machte den vierten Schritt, als der Stoß ihn traf, von den Beinen riß und gegen die Sockel der Pulte schleuderte. In einer schnellen Reaktion rollte er den Körper zusammen und fiel relativ weich. Als er den Sturz abgefangen hatte und sich wieder aufrichten wollte, hörte er durch das Dröhnen und Poltern einer bebenartigen Erschütterung ein stechendes Pfeifen. Gleichzeitig kam direkt aus dem Schlitz neben ihm eine ölig wirkende, blauschwarz schimmernde Flüssigkeit. Unaufhörlich bebte der Boden und bewegte sich auf und ab. Hilflos wurde der Körper des Arkoniden herumgeschleudert. Das Pfeifen wurde stärker, und während er versuchte, sich irgendwo festzukrallen, mußte Atlan sehen, daß breite Ströme und Säulen dieses Öles nicht nur aus den Schlitzen in jedem Teil der Anlage kamen, sondern auch aus großen Öffnungen in der Decke schossen. Bemerkenswert. Eine Schutzeinrichtung. Wirkt schwingungsdämpfend und ist nicht klebrig. Sieh die Pulte! rief der Logiksektor. Atlan wurde von einer großen Welle mitgerissen, begann zu schwimmen und merkte mit Erleichterung, daß die Wirkungen des Bebens auf seinen Körper nachließen. Auch er wurde in das System des Vibrationsschutzes mit einbezogen. Binnen weniger Sekunden stand die Flüssigkeit etwa bis zur Hälfte des Raumes. »Tatsächlich verblüffend – aber was ist passiert?« Die fremde Stimme oder den behutsamen Zwang konnte er nicht mehr registrieren. Aber dafür schien sich die Kruste von Atlantis zu verformen. Ein gewaltiger Schlag oder viele kürzere, nicht minder energiereiche Schläge schienen den kleinen Kontinent zu treffen und in tektonische Schwingungen zu versetzen. Atlan glaubte, durch die dicken Felsen hindurch zu spüren, wie Höhlen einstürzten und Gänge verschüttet wurden.
Hans Kneifel Ein kalter Schrecken lähmte ihn vorübergehend. Er hörte zu schwimmen auf, lag ganz starr in dem rasend schnell hochsteigenden Öl. Die Decke kam näher, aber gleichzeitig auch die verschiedenen Öffnungen darin. Es war eingetreten, was er befürchtet hatte. Kollision. Atlantis-Pthor war auf dem Flug durch den Dimensionstunnel mit einer Masse zusammengestoßen, die vermutlich weitaus größer war als Pthor selbst. Aber bei diesen unvorstellbar rasenden Geschwindigkeiten war es an sich undenkbar. Wahrscheinlich war der fremde Körper viel kleiner gewesen, sonst wäre Pthor längst pulverisiert. Aber die noch immer anhaltende Bebenbewegung bewies, daß es vermutlich die Einschläge vieler kleiner Objekte waren. Atlan wußte, daß der Anzug der Vernichtung ihn abermals gerettet hatte. Er schwamm jetzt nur noch wenige Meter unterhalb des höchsten Punktes der Decke. Zwar dämpfte die gewaltige Ölmenge die Geräusche aus anderen Teilen der Halle, aber aus dem Loch, dem er entgegengetrieben wurde, erscholl das grauenhafte Ächzen und Knirschen, das Dröhnen und Poltern der geschundenen Felsmassen. Es war fast völlig dunkel geworden. Das Öl schluckte die Strahlen der vielen Lichtquellen. Atlan holte tief Luft, als der glattgeschliffene Rand des großen Loches näher kam. Ein Überlaufventil? warf der Logiksektor ein. Er war am Ziel gewesen. Eine Stunde früher, und er hätte Pthor steuern können. Dann wäre der Kontinent nicht mit diesem rätselhaften Etwas zusammengestoßen. Der Druck der Ölmasse packte ihn, wirbelte ihn herum und schob ihn, zusammen mit einigen hundert Tonnen dieser seltsamen Flüssigkeit, in die dunkle Öffnung. Atlan wurde völlig hilflos aufwärts gepreßt.
7.
Chaos über Atlantis Seit die Straße der Mächtigen wie eine gigantische Peitsche sich in die Luft geschwungen und vernichtend auf die FESTUNG niedergeschlagen hatte, zerstörten Unruhe, Einsamkeit und Zweifel das Leben Kröbels. Er kauerte in der Schatzkammer des Lettro und hielt nachdenklich ein ParraxynthBruchstück in beiden Händen. Seit Wochen hatte er keine andere einigermaßen sinnvolle Arbeit, als die Stücke zu putzen, bis die erhabenen Linien und Verzierungen glänzten. Das Geräusch, das an einen gewaltigen Wasserfall erinnerte, raubte ihm den letzten Rest der Beherrschung; nicht einmal dann, wenn er todmüde war, konnte er schlafen. Zweifellos war Pthor wieder zu einem neuen Ziel unterwegs. Soviel wußte er. Heimdall aber schien ihn vergessen zu haben. Wieder hob er die Bürste, tauchte sie ins Wasser und schüttete Reinigungsmittel über die kleinere Hälfte des Bruchstücks. Mit automatischen Bewegungen fing er an, zu scheuern und zu schrubben. Sicher hatten die Söhne des mächtigen Odin ihren Kampf gewonnen. Das Wasser war kalt geworden. Der skullmanente Magier tauchte die Hand in den Eimer und erhitzte das Wasser wieder auf die richtige Temperatur. »Aber was soll ich tun!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. Sein Geschrei hallte durch den großen Raum und bildete Echos. Aber niemand antwortete. Die Einsamkeit und die Ungewißheit, was nun mit Heimdall geschehen war, trieben ihn hin und her. Schon zwanzigmal hatte er daran gedacht, das Lettro zu verlassen und direkt in der FESTUNG nachzusehen, wie es mit Ragnaröks Erben aussah. Und dann hatte der Gedanke an die verbrecherischen Gordys ihn im letzten Augenblick abgeschreckt. Er war hier geblieben und hatte den unersetzlichen Schatz gehütet. Er kicherte in falscher Fröhlichkeit. »Aber angegriffen haben sie nicht mehr. Ich habe es ihnen gezeigt, wie, Kröbel?«
45 Er tauchte das Bruchstück in das heiße Wasser, wischte es sorgfältig mit einem Tuch ab und stand auf, um es wieder in das Gestell zu montieren. Es war eines der letzten Teile – die anderen waren bereits gesäubert und sahen funkelnd und ehrfurchtgebietend aus. Kröbel befestigte die letzte Sicherung, ließ sein Putzzeug stehen und verließ die Kammer. Er holte sich aus der völlig verwahrlosten Küche einen Becher Wein und kletterte dann auf das flache Dach des Haupttrakts hinauf. Schweigend stand er da und betrachtete den Himmel, der seit dem Start das matte, stumpfe Grau der Flugphase zeigte. »Trostlos«, murmelte er und nahm einen langen Schluck. Mäßig betrunken, sagte sich der Magier, ließ sich alles besser ertragen. »Ich glaube, ich schließe das Lettro wirklich ab und marschiere zur FESTUNG. Dieser Heimdall!« Zufällig, als eines der wenigen Wesen in dieser »Nacht«, blickte er auf den wichtigen Punkt des Himmels. Gleichzeitig mit dem betäubenden Schlag, der den Weinbecher gegen die Zähne schlug, den Wein über seine Kleidung verspritzte und Kröbel flach auf das Dach warf, spürte und sah er eine einmalige Erscheinung. Es war, als ob im letzten Sekundenbruchteil vor dem mächtigen Ruck ein riesengroßer, wie ein glatter Mond geformter Gegenstand sich auf Atlantis senkte. Ein anderes Grau, gerundet und riesengroß, durchstieß das Grau der fremden Dimensionen. Dann verschwand die Erscheinung – einerseits deswegen, weil eine neue Schwankung den skullmanenten Magier auf den Bauch rollte, andererseits, weil eine unermeßliche Staubwolke die betreffende Stelle verhüllte. Oder war es etwas anderes, das von einigen spontanen Blitzentladungen kulissenhaft ausgeleuchtet wurde. Kröbel hatte keine Zeit mehr, Gedanken auf diese Erscheinung zu verschwenden, denn er bemühte sich instinktiv, am Leben
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Hans Kneifel
zu bleiben. Die Mauern des Lettro wackelten und barsten an einigen Stellen. Das Dach bewegte sich. Klirrend wurden in den Räumen irgendwelche Gegenstände zerstört. Auch aus dem Hof stieg eine Staubwolke hoch. Ein breiter Spalt riß auf und schloß sich sofort wieder. Die Bohlen des Tores hämmerten gegeneinander und erzeugten Laute, wie eine riesengroße Trommel. Kröbel rollte über das Dach, schlug gegen das splitternde Geländer der hölzernen Leiteranlage und klammerte sich an der schwankenden Konstruktion fest. Er wimmerte und verfiel gänzlich in Panik. Eine ferne Erinnerung sagte ihm, daß Beben dieser Art niemals sehr lange dauern. Zehn, zwanzig Sekunden. Vielleicht etwas länger. Aber ihm kam die Dauer des aufund abschwellenden Schüttelns und Dröhnens unendlich lange vor. »Heimdall! Hilf mir!« schluchzte er und merkte, daß sein hilfloser Körper hin und hergeschleudert, gedreht und geprellt wurde. Die Wüste rund um das Lettro verwandelte sich in eine einzige riesige Staubwolke, die alles zudeckte und unsichtbar machte.
* Stormock handelte instinktiv. Der weiße Geier, der hungrig aufgestiegen war und noch immer hungrig flog, hörte und sah die Ereignisse fast gleichzeitig. Als er erkannte, daß sich sämtliche Bäume entlang des Flußufers bewegten, sagte ihm sein Instinkt, daß es etwas anderes sein mußte als nur ein einziger wilder Sturmstoß. Noch während er die Schwingen bewegte, um höher zu steigen, hörte er das Dröhnen und Donnern. Hoch über ihm zuckten Bündel von vielfach verzweigten Blitzen auf und schlugen in den Boden und ins Wasser des Flusses. Mit kräftigen Schlägen der großen weißen Schwingen schraubte sich Stormock über die ersten Staubwolken und kletterte weiter. Nicht nur die Bäume bewegten sich, sondern auch das Wasser des Flusses. Es bildete an
völlig unerwarteten Stellen riesige Wellen und schoß an anderen Stellen so weit empor, daß der Vogel auf dem weißen Kies des Flußbettes die zuckenden Leiber großer Fische sah. Auch der Boden bewegte sich. Mehr Staub stieg auf. Das Dröhnen und Poltern wurde unerträglich laut. Dann fühlte Stormock eine Art Bewegung. Als würde die Luft sich plötzlich abkühlen. Ein Stoß traf ihn und schleuderte ihn vorwärts. Aus dem Nichts erschien eine graublaue Kugel, größer als alles, was er bisher gesehen hatte. Sie fiel aus dem Himmel hinter ihm, zugleich mit vielen anderen, kleineren und größeren Kugeln. Stormock beobachtete mit seinen scharfen Geieraugen nur die erste Kugel. Sie beschrieb, dem Erdboden entgegenfallend, eine fast gerade Linie und verdeckte Teile des Gebiets unter ihm. Sie schlug in das leere Land ein und verlor ihre Form. Sie wurde flacher, zerriß in viele Arme, die nach vorn schossen und von der Masse der anderen Materie überholt und verschlungen wurden. Wasser? Die Kugel löste sich auf und bildete eine kreisrunde Welle, die sich mit rasender Geschwindigkeit in alle Richtungen ausbreitete. Dort, wo sie auftraf, gab es keinen Staub mehr. Noch immer flüchtete Stormock in die größere Sicherheit der Höhe, und er sah deutlich, was weiter geschah. Der Inhalt des riesigen Tropfens ergoß sich über Felsen, Wüstenstücke, durch ausgetrocknete Bachbette und über den Sand, entwurzelte mächtige Bäume und schleppte sie mit sich, schleuderte Felsbrocken in die Höhe und bildete überall Wellen, Gischtstreifen und Schaum. Wasser, wie im Fluß, wie im See. Der nächste Tropfen prallte in die Überschwemmung hinein, die sich nur langsam verlaufen hatte, und erzeugte eine neue Flutwelle. Der trockene Boden saugte das Wasser nicht auf. Gewaltige Mengen Wasser
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breiteten sich unter Stormock aus. Er begriff nichts. Er sah nur, daß überall dort, wo eben noch Land gewesen war, Wassermassen die Szene beherrschten. Jede Senke wurde zu einem See, und der nächste Tropfen aus der grauen Halbdunkelheit ließ die Seen ineinanderfließen. Dort unten … Viele Tiere würden sterben. Wenn sie nicht ertranken, dann brach ihnen die Gewalt des Wassers das Genick. Wenn er lange genug wartete, dann verteilte sich zweifellos das Wasser, und er würde sich tagelang den Bauch vollschlagen können. Er und seine Artgenossen. Das Wasser begann das Land zu bedecken und unsichtbar zu machen. Eine solche Menge Wasser hatte er noch niemals erlebt. Der Fluß war nicht mehr zu sehen. Nur die Gipfel der Bäume sahen aus der strudelnden Flut hervor. Stormock dachte an die vielen Höhlen, an die tief gelegenen Teile des Kontinents und an die Täler der Berge. Dann ließ er sich fallen, schlug einen neuen Kreis ein und suchte nach der ersten, lohnenden Beute dieser Stunde. Er fand sie schnell.
* Sie flogen auf, als das Donnern lauter wurde. Der Turm, auf dem sie gewartet hatten, schwankte bedenklich unter dem Ansturm immer neuer Riesenwellen. Das Gebiet um die Straße hatte sich in ein Meer verwandelt. Auf ihre rätselhafte Mitteilungsart verständigten sie sich miteinander. Kein Regen, Hugin. Es ist ein Beben, und das Wasser steigt noch immer. Woher kam es? Der andere Rabe flatterte ebenso schnell in die Höhe und sah, wie der Turm aus hölzernen Stangen kippte, auseinanderbrach und in den treibenden Fluten versank. Ich weiß es nicht. Wir müssen zu Honir
und den anderen. Sie sind in der FESTUNG und werden unsere Hilfe brauchen. Was war lauter? Das Gurgeln des Wassers oder das Rumpeln und Krachen der schwankenden Felsen und der wild bewegten Wüste? Sie brauchen Odins Hilfe. Hugin und Munin kannten jede Einzelheit der Landschaft. Sie flogen in die Richtung der FESTUNG. Aber die Landschaft veränderte sich mehr und mehr, je höher das Wasser stieg. Atlantis bebt ununterbrochen. Was ist geschehen? Weißt es du? Seite an Seite trugen ihre schwarzen Schwingen sie mit jedem Schlag etwas näher an die FESTUNG heran. Vielleicht ist das hier das wirkliche Ragnarök? Hugin und Munin ahnten, daß niemand wirklich wußte, welches Unheil sich hier ausbreitete und woher es kam. Sie wußten nur, daß Chaos und Tod über Atlantis gekommen waren. Wenn es überall so bebte und überall aus dem Nichts jenes Meer von Wasser auftauchte, dann war Atlantis verloren. Aber die beiden Raben hatten schon entsetzlichere Katastrophen gesehen. Und immer hatte Pthor-Atlantis überlebt. Jede Katastrophe hatte neue Entwicklungen hervorgebracht, und diesmal waren die Söhne Odins, die Söhne und die Tochter, die Herrscher in der wichtigsten Zitadelle dieses überfluteten Weltenkörpers. Ich bin sicher. Du denkst an Odin? Ja. Odin läßt nicht zu, daß der Kampf vergeblich war. Odin selbst, ja. Aber seine Söhne …? Hugin krächzte und wurde schneller. Schweigend folgte ihm der andere Rabe.
ENDE
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