JOHANNES ARNOLD
Capitano tedesco
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-70. Tausend Die Tatsachenreih...
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JOHANNES ARNOLD
Capitano tedesco
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1968 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Karl Fischer Lektor: Rolf Dieter Burgdorff Vorauskorrektor: Elfriede Seil Hersteller: Lydia Herkt Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Walter Fischer, 1945
Ein Obergefreiter malt Er klopft an, kurz und leise. Drinnen wird es kaum zu hören gewesen sein. Er wartet auch nicht, bis er hineingerufen wird, öffnet die Tür, viel zu schwungvoll, steht im Zimmer. Die Vorhänge sind zugezogen, damit das Sonnenlicht nicht blendet. Der Raum ist angenehm kühl. Ein Ventilator surrt eintönig. Da trifft ihn schon der verwunderte Blick Oberleutnant Zettlers. Er weiß, bleibt sein Hackenzusammenschlagen aus, so mißbilligt das Zettler. Er strafft sich, wenigstens damit einen Gruß andeutend. Sie gelten sowieso als eine komische Truppe; sie seien mehr ein Landschaftsgestaltungsbüro als eine militärische Einheit, sagt man von ihnen. Die khakifarbenen Uniformen und die Rangabzeichen seien Staffage, kaum Notwendigkeit. Der Obergefreite Walter Fischer hält die Karten, in die er künftige Stellungen und taktische Zeichen eingetragen hat, lässig in der Hand, als wären sie in dieser Stunde unwichtig geworden. Er lächelt und denkt, daß es ein wunderschönes Gefühl sein müßte, die Krakelei hinzuwerfen und Zettler zu sagen: Ich mache nicht mehr mit. Er wischt die Gedanken zur Seite. So weit ist es noch nicht. Der Oberleutnant sagt in seiner ironischen Art, hinter der viel Böswilligkeit steckt: „Ich kann mir auch eine andere Beschäftigung denken, als zu sitzen und Striche
zu pinseln. Nehmen Sie an, wir könnten tun und lassen, was wir wollten. Da wäre ich draußen, nicht jetzt am zeitigen Nachmittag, ein wenig später, wenn die Sonne nicht mehr so sticht. Dieses idyllische Torri mit dem See vor der Tür, mit seinen Weinbergen, der Romantik und den Mädchen ist mehr für Spaziergänge geschaffen als ..." „Stimmt", antwortet der Obergefreite. Zettler kneift die Augen zusammen. Sieht er die Widerspenstigkeit? Spürt er die heimliche Freude, die den Obergefreiten allen Respekt vergessen läßt? „Ich kann mir gut vorstellen, daß sich Obergefreite, die zu lange keinen Schuß gehört haben, an der Front Benehmen und Disziplin angewöhnen können." Walter Fischer lächelt, nickt. „Zeigen Sie her!" Der Obergefreite rührt sich nicht an der Tür. Zettler steht auf. Es sind genau sieben Schritte, die er von seinem Schreibtisch bis zur Tür gehen muß. Sieben Schritte, sieben Sekunden, in denen es für den Obergefreiten noch die Möglichkeit gibt, sich eine Ausrede auszudenken für das, was er sich vorgenommen hat. Zettler ist für solch eine Siegesbotschaft, die er überbringen will, noch nicht reif. Außerdem weiß er bestimml schon, was geschehen ist, aber es ihm direkl ins Gesicht zu sagen wäre einen Anraunzer wert. Nicht kneifen, denkt Walter Fischer, sich jetzt nur nicht unterkriegen lassen. Irgendwann muß er mir bestätigen, daß der Krieg zu Ende geht - nicht so, wie er sich das Ende vorgestellt hat, mit einer Siegesparade unterm Brandenburger Tor. Jetzt steht der Oberleutnant dicht vor ihm. Zettler hat
gepflegte Hände. Er soll wundervoll Klavier spielen können, Tschaikowski und Schumann. Das will nichts besagen, denn er spielt nur, wenn er Freunde als Zuhörer hat oder allein ist. Ob Zettler in der Kartenstelle des Stabes der 14. Armee Freunde hat, weiß niemand. Er wird nicht geliebt, nicht gehaßt. Er ist der gesichtsloseste unter den Offizieren. Seitdem sie in Torri del Benaco Quartier bezogen haben, ist vieles hektischer geworden. Mühsam geknüpfte Bekanntschaften reißen über Nacht ab, neue sind schwer zu schließen. Mißtrauen macht sich breit. Die Ungewißheit über den Fortgang des Krieges zerrt an den Nerven. Dabei leben sie relativ ruhig. Sizilien ist weit, und es muß sich erst herausstellen, ob die Briten und Amerikaner die Insel erobern können. Am 10. Juli sind sie gelandet, vor zwei Wochen. Als Zettler Fischers zweiten Uniformknopf faßt und an ihm zu drehen beginnt, nach links und nach rechts, und so lange drehen wird, bis er ihn in der Hand hält, sagt Fischer: „Es ist der fünfundzwanzigste Juli des Jahres neunzehnhundertdreiundvierzig." Zettler hebt den Kopf. Seine Augen verdunkeln sich. Er läßt den Knopf los, weiß nicht, was er mit seinen Händen anfangen soll. „Mussolini wurde gestürzt und verhaftet!" „Ich weiß", antwortet Zettler. „Das ist der Anfang vom Ende des Krieges." „Des italienischen!" „Wie geht es weiter, Herr Oberleutnant?" „Sie können sofort in den Kursker Bogen, Obergefreiter. Die Russen schlagen die größte Panzerschlacht des Krieges. Ich denke, wir haben keine große
Chance - diesmal nicht. Wenn Sie nach Kursk möchten ... Ich bin bereit, Sie abzukommandieren, obwohl Sie mein bester Zeichner sind. Vielleicht retten Sie mit Ihren blöden Wahrheiten die Schlacht." Der Obergefreite schweigt. „Also nicht. Was dann? Nur wegen dieses Mussolini spielen Sie verrückt?" „Die Leute, Herr Oberleutnant, tun, als wäre ein Volksfest zu feiern. Auf den Straßen ist ein Betrieb wie bei uns zu Hause auf den Dörfern, wenn Kirmes gefeiert wird. Manche sind seit der Nacht unterwegs. Sie jubeln über den Sturz Mussolinis, und niemand verwehrt es ihnen. Das finde ich seltsam." „Scheißkerle!" sagt Zettler. Er dreht sich, geht zu seinem Schreibtisch zurück. Er nimmt einen Bleistift und klopft einen Takt. Es ist nicht herauszufinden, welches Lied er im Kopf hat. Es klingt wie die Hymne des faschistischen Italiens, ein wenig zu langsam. zerrend. Dabei spürt man schließlich, daß er gar nicht an das Lied denkt. Er brütet etwas aus. Plötzlich wendet er sich nach dem Obergefreiten um. Seine Augen sind groß. Er hat seinen Gedanken zu Ende gesponnen. „Sie malen gern?" Zettler wartet keine Antwort ab, spricht weiter: „Sie möchten später nur noch malen. Malen Sie Mussolini, Obergefreiter. Nach dem Krieg ist Ihnen der Ruhm dafür sicher. Überlebensgroß müssen Sie malen. Wir sind für das Große, bisher Unerreichte, für das Überdimensionale. Malen Sie ihn. Blick in Blick mit dem Führer." „Ich dachte, Herr Oberleutnant, Sie könnten mir sagen, was aus Italien wird, wenn Mussolini nicht mehr da ist."
„Nicht solche römischen Mädchen dürfen Sie malen. Was ich von Ihnen gesehen habe, ist gut, es gefällt mir, aber..." „Sie ist keine Römerin. Sie wohnt in Torri del Benaco." „Niemand kennt das Mädchen." „Alle kennen es. Das Mädchen verkauft Fische." Zettler macht eine Handbewegung, die das Gespräch beendet. Der Obergefreite weiß, es gibt kein Wort mehr zu sagen. Er irrte, als er dachte, an Zettler wäre am leichtesten eine Reaktion zu erkennen. Es ist sicher: Walter Fischer muß sich entscheiden. Bis er das getan hat, wird er erst einmal weiter Bilder malen, Wein trinken mit den Fischern, mit ihnen reden, ihr Vertrauen gewinnen. Ehrlichkeit gegen Ehrlichkeit. Auch hat er das Leben in den Zelten satt. Zwar ist der Sommer warm, aber Zeltwände haben Ohren, und die Zettlers sind überall. Er möchte nicht mehr die Kartographen, die Kopierer und die Drucker beaufsichtigen, wenn sie die Karten herstellen. Er will nicht mehr ständig in Sorge leben, damit ja keine Karte verlorengeht. Walter Fischer denkt an die Karten, in die er künftige Operationen eingezeichnet hat und die jetzt auf Zettlers Schreibtisch liegen. Farbige Striche bedeuten in kurzer Zeit die Zerstörung von Städten und Dörfern, Not, Elend und Tod für viele Menschen. Wie viele solcher Karten hat er schon gezeichnet und gesehen? Er hatte sie nicht gezählt, aber er konnte sich erinnern. In den Karten spiegelten sich die Ziele der Welteroberungspläne der deutschen und italienischen Faschisten wider. Er wußte von den Bestrebungen der deutschen und italienischen Imperialisten, sich
strategische Positionen auf dem Balkan und im Mittelmeer zu sichern, Kolonien in Nordafrika zu erobern. Das Scheitern dieser Pläne hatte er miterlebt. Die endgültige Niederlage der italienisch-deutschen Truppen im Mai 1943 in Nordafrika war eine unmittelbare Folge des Sieges der Roten Armee in der Stalingrader Schlacht gewesen. Während jetzt von der Roten Armee die Hauptkräfte der faschistischen Wehrmacht bei Kursk zerschlagen werden, landen die Engländer und Amerikaner in Sizilien. Für Walter Fischer gibt es keinen Zweifel, daß der Feldzug in Italien bald zu ihren Gunsten entschieden sein wird, denn die Mehrzahl der deutschen Truppen ist an der Ostfront gebunden. Er muß sich entscheiden, wie lange er noch auf Karten taktische Zeichen einsetzen will, von denen er weiß, was sie bedeuten. Er muß sich entscheiden, was er gegen diesen Krieg tun kann. Er geht hinaus, langsam und nachlässig, wie er zu Zettler ins Zimmer gekommen ist, aber die Tür schließt er leise. Der Tag gehört ihm. Er trifft auf der Straße ein paar Leute, die die Ereignisse der vergangenen Nacht gleichgültig aufgenommen haben. Er sieht ihnen ins Gesicht, entdeckt keine Furcht, keine Schadenfreude, keine Freundschaft, keine Feindschaft. Die Gleichgültigkeit, die sich nach dem Freudentaumel des Vormittags ausgebreitet hat, zeigt die Spannung an, in der die Italiener leben. Die Fischer haben ihre Boote heute im kleinen Hafen von Torri del Benaco liegen. Auch das ist ungewohnt, denn ihr Verdienst ist gering, und sie sind darauf angewiesen, jeden Tag im Gardasee zu fischen. Bis zu
dieser Stunde sind sie noch nicht mit dem Fischreichtum fertig geworden. Ein Glück - sie haben eine Zukunft. Wenig später hat sich Walter Fischer einen knorrigen, von Sonne, Regen und Wind gegerbten Alten ausgesucht, der ein interessantes Modell abgibt. Er kauft Wein, stellt die Karaffe auf den Tisch, schenkt ein. Der alte Mann trinkt bedächtig. Walter Fischer malt. Strich fügt sich zu Strich. Es wird ein gutes Bild, trotz der Eile, mit der er arbeitet. Er kann sich nicht erklären, warum er so schnell zeichnet. Er hat doch Zeit, und wenn das Bild nicht fertig wird, macht das nichts. Niemand wartet darauf. Er kann es morgen zu Ende malen oder halbfertig verschenken. „Wie heißt du?" „Alberto." Sie schweigen. Des Alten Gesicht liegt zur Hälfte im Schatten der mächtigen Hutkrempe. Das gibt einen eigenartigen Kontrast. Neugierige kommen und sehen ihm über die Schulter. Sie reden leise miteinander. Sein Italienisch ist schwach. Er versteht nicht einen Bruchteil ihrer Gespräche. Sicher begutachten sie seine Arbeit. Ein paar deutsche Soldaten sind dazugekommen, die ihn aufmuntern, dem Alten eine Riesennase zu geben. Er ist eine Abwechslung im eintönigen Leben des Fischerdorfes, sogar heute, an so einem bedeutungsvollen Tag. Da sagt er laut, damit es alle hören können, die um ihn herumstehen: „Ich sollte Mussolini malen, hat Oberleutnant Zettler gesagt." „Warum gerade den?" fragt einer der Soldaten.
„Wegen des glatten Gesichts." „Malst du lieber Runzeln?" „Auge in Auge mit Hitler sollte ich ihn malen. überlebensgroß, weil wir für das Große und Gigantische sind." Sein Modell kratzt sich den Schädel und fragt sehr langsam, sehr deutlich, damit der Maler die fremde Sprache verstehen kann: „Warum malen Sie mich an Stelle Mussolinis?" Walter Fischer zögert einen Augenblick mit der Antwort. Er könnte die Wahrheit sagen. Der Alte würde ihn verstehen, die anderen Italiener auch, vielleicht auch einige der deutschen Soldaten. Aber irgend etwas hält ihn zurück. Er spürt eine winzige Unsicherheit, die er so schnell nicht aus seinem Kopf bringen kann. Er sagt: „Der würde mit mir keinen Wein trinken" und fängt an zu lachen. Da lachen sie alle. Es ist wie eine Erlösung. Erst jetzt spürt Walter Fischer die Spannung, die über seinem Bild lag. Sie hat sich schon in den letzten Tagen ausgebreitet, ist aus den Bergen heruntergestiegen, hat sich über Torri del Benaco gelegt, über den See und jetzt auch über sein Bild. Klettert sie wieder hinauf in die Berge? Von dort sind die Gerüchte gekommen, Partisanen hätten sich verschanzt und machten das Land unsicher. Die Dörfer jedoch, in denen sie herrschten, wären sicherer als die mit deutscher Einquartierung. Er sieht einen Augenblick lang auf. Dunst hängt über dem See, aber die Berge sind trotzdem noch zu sehen. Er wandert in Gedanken über die Alpenkette hinweg,
immer weiter nordwärts. Er hat Stadtbilder vor Augen, darunter ist eins, das vom Qualm aus ungezählten Fabrikschornsteinen fast nicht erkennbar ist. Er ist lange nicht zu Hause gewesen. Trotzdem kann er sich an jede Straße, an die schmalen Gassen in dieser Stadt erinnern und an die sanften Hügel, die die Talschüssel, in der das Häusermeer liegt, umschließen. Da ist das Haus mit der knarrenden Tür und den ausgetretenen Sandsteinstufen ... Nein, es ist sinnlos, daran zu denken. Nach Hause kann er nicht. Er macht noch ein paar Striche. Der Fischer ist ihm gelungen. Er steht auf und legt das Blatt auf den Tisch neben die Weinkaraffe. Während die Neugierigen seine Arbeit loben und tadeln, geht er ein paar Schritte zur Seite. Sieh an, auch der Pfarrer ist gekommen. „Haben Sie ein Zimmer für mich? Ich möchte 'raus aus den Zelten, in denen wir wohnen. Ich brauche dringend ein Zimmer." „Ja", antwortet der Pfarrer zu seiner Überraschung, „ein Zimmer können Sie haben, ein bescheidenes. Ich freue mich, wenn Sie das Zimmer beziehen. Ich schätze die deutschen Soldaten." „Wo ist es?" Der Pfarrer nennt sein Haus. Walter Fischer ist überrascht, denn das Pfarrhaus liegt günstig. Zettler hat keinen Grund, ihm das neue Quartier zu verweigern. Er wird dem Oberleutnant sagen: Ich wohne direkt über den Druckmaschinen. Ich kann aus meinem Zimmer die ganze Nacht auf sie hinuntersehen. Wenn es notwendig ist, könnte ich sofort zur Stelle sein. Zettler wird zustimmen. Er muß.
„Ich komme in einer Stunde", sagt Walter Fischer. Der Pfarrer macht eine Verbeugung, aber die sieht Fischer schon nicht mehr. Da ist noch ein Gesicht unter den Neugierigen, schmal und hübsch und interessant. Er sieht die Augen, groß und scheinbar über den Gardasee hinwegsehend in eine unendliche Ferne, in der verborgen liegen muß, wonach sich das Mädchen sehnt. Er sagt: „Morgen male ich Sie!" Sie neigt den Kopf ein wenig, halb Ablehnung, halb Zustimmung. Als sie sich dreht und die Straße hinaufschreitet nicht langsamer und nicht schneller, als sie auch an einem anderen Tag gehen würde, weiß er, daß über das Bild, das er von ihr malen wird, ein Weg aus Toni del Benaco führt. Ein Blinder sieht Der Pfarrer schätzt die deutschen Soldaten doch nicht so, wie er gesagt hat. Das spürt Walter Fischer nach wenigen Tagen. „Ich möchte Ihre Sprache lernen, Don Begini." „Es wird mir eine Freude sein, einen deutschen Soldaten Italienisch zu lehren. Vielleicht können Sie es einmal gebrauchen." Jetzt hat Walter Fischer eine Aufgabe, die er sich selbst gestellt hat. Es macht ihm Spaß, und er denkt, daß er die Sprache mit Leichtigkeit in ein paar Monaten beherrschen könnte. Und gebrauchen kann er sie bestimmt. Schon jetzt ist spürbar, daß die Italiener nicht gern mit einem Deutschen ins Gespräch kommen
wollen, der kein Wort ihrer Landessprache versteht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann Italien unter dem Druck der Niederlagen und dem Kampf der Volksmassen endgültig aus dem faschistischen Block ausbricht. Er wünscht, es möge lieber heute als morgen geschehen. Vielleicht hat er dann eine Chance für seine Flucht. Schon einmal suchte er sie, 1941 an der Ostfront. Nichts gelang damals. Er mußte zurück. Über Smolensk, Warschau und Dresden kam er mit sieben erfrorenen Zehen in einem Lazarett an. Oft steigt der Obergefreite auf die Hügel vor dem Fischerdorf. Er hat das Mädchen mit dem schmalen Gesicht schon einige Male gemalt, probiert es immer wieder, redet dabei mit ihm über die Leute aus Torri und den blauen Himmel und den blauen See. Stets sitzt der Vater, blind seit vielen Jahren, neben ihnen, den Kopf fast immer ein wenig zurückgeneigt, als wollte er sehen, was am Himmel geschrieben steht, hört zu und schweigt. Am Himmel erscheinen öfter Flugzeuge, amerikanische und englische, selten ein deutsches, italienische schon gar nicht. Es sind Vorkehrungen getroffen worden, das Hauptquartier Kesselrings für die Flugzeuge unsichtbar zu machen. Das ist nicht schwierig gewesen, denn unter den dichtbelaubten Büschen und Hecken sind die Wagen der Druckerei sowieso nicht zu entdecken. Auf den Straßen bewegen sich größere Fahrzeugkolonnen nur noch im Schutz der Dunkelheit. Auf Torri ist noch keine Bombe gefallen. So fühlen sich die hier stationierten Soldaten und Offiziere sicher und freuen sich, in diesem Krieg ein verhältnismäßig ruhiges Leben zu fristen.
Da sagt Walter Fischer unvermittelt zu Marlisa und zu dem Blinden: „Die Ruhe trügt! Wir sitzen auf einem Pulverfaß. Die Lunte ist schon angezündet worden." Der Blinde senkt den Kopf, legt ihn schulterwärts, horcht, ob noch ein Wort kommt. Der Obergefreite schweigt. Die drei Sätze sind ihm vorläufig genug. Jetzt müssen die anderen etwas sagen, dafür oder dagegen. Es ist nicht mehr weit bis zur Dämmerung. Aus der Malerei wird heute nichts mehr. Er legt Kreide und Bleistift zur Seite. Marlisa sitzt trotzdem anmutig und ernst, als wollte sie ihm auch in der Dunkelheit die Freude machen, zu malen, immer nur zu malen, Mädchengesichter, Fischerköpfe, Landschaften, damit er an nichts anderes zu denken braucht. Landschaften vor allem soll er malen, sie sich einprägen, weil sie eines Tages auf wunderbare Art und Weise mit seinem Leben verbunden sein werden. Er sagt: „Wäre ich damals mit meinem Fahrrad nicht in einen Nagel gefahren und deswegen zu spät zum vereinbarten Treffpunkt gekommen, so hätten mich die Faschisten verhaftet wie meine Genossen." Marlisa setzt sich aufrechter. Der Blinde hebt den Kopf und lauscht. Da erzählt der Obergefreite die Geschichte seiner illegalen Arbeit, spricht leidenschaftslos, so als berichtete er von einer alltäglichen Begebenheit. Es scheint, als redete er nur für sich, als könnte es niemand außer ihn interessieren, was sich vor zehn Jahren zugetragen hat. Er macht sich nicht zum Helden, der er nicht war und nicht geworden ist, aber seine Ehrlichkeit ist aus jedem Wort zu hören, und er wünscht, daß sie wenigstens das hören.
„Hätten sie in der Wohnung gewartet, in der sie meine Genossen erwischten, so wäre ich ihnen eine Stunde später in die Arme gelaufen." Sie sitzen und schweigen, schauen auf den See hinunter, der wie eine Riesenscheibe unbeweglich vor ihnen liegt, daß man glauben könnte, er wäre begehbar. Marlisa tritt ins Haus, kommt mit einer Karaffe voll Wein zurück. Sie trinken ohne Trinksprüche, schmecken den Wein, den sie lieber aus einem freudigen Anlaß trinken möchten. Der Blinde sagt bedächtig: „Was Sie da sagen, ist gefährlich für Sie und uns." „Dieser Krieg ist gefährlich", antwortet Walter Fischer. „Nicht für Sie." „In dieser Minute nicht. Das wird sich ändern, in der kommenden Stunde, morgen, vielleicht erst in den nächsten Tagen und Wochen. Torri del Benaco bleibt nicht so friedlich, wie es an diesem Abend ist. Der Krieg wird jetzt entschieden, auch für Sie und mich." Der Alte stöhnt. Sieht er die Ereignisse der kommenden Wochen? Fast scheint es so; denn er schließt die Augen und macht eine nicht deutbare Handbewegung. Der Blinde hat eine Vision. Aus dem Himmel fällt der Tod mit orgelndem Dröhnen, stürzt auch auf das Backsteinhaus, in das er und Marlisa geflüchtet sind, seitdem sie in Mailand verfolgt wurden. Der Krieg wird sie auch hier aufspüren. Der Deutsche hat es gesagt. Aber er hat auch von einer Entscheidung gesprochen. Das Gespräch läßt den Blinden hoffen, daß etwas geschehen kann, damit seine Vision nicht Wirklichkeit wird. Der Blinde schweigt. Er spricht nicht von seiner Hoffnung.
Das Gespräch ist zu Ende. Der Obergefreite ist verstimmt, weil der Alte ihn nicht versteht oder nicht verstehen will. Der Blinde könnte ihm einen Hinweis geben, einen Tip, wer ihm helfen kann, wenn der Tag seiner Flucht gekommen ist. „Gehen wir noch ein Stück?" fragt Marlisa. Sie ist schon aufgestanden und ein paar Schritte vom Haus weggegangen. Der Alte winkt einen Gruß, den Walter Fischer erwidert. Wüßte er nicht, daß Marlisas Vater tatsächlich ständig in der Nacht lebt, so hielte er dessen Gehabe für Schauspielerei. Ein hoher, runder Mond wirft weißes Licht auf den Gardasee. Die Oliven stehen schwarzschattig, ganz fern sind die Berge als blaue Silhouetten erkennbar. Er sieht alles so, als malte er ein Bild, nimmt die Farben in sich auf, prägt sich Details ein und denkt an eine große Arbeit, die er dereinst beginnen und vollenden wird. Er weiß jetzt nur, daß es ein Bild gegen den imperialistischen Krieg werden muß. Der Betrachter soll sehen, welche Gefahr dieser Landschaft und den Menschen, die hier leben, droht. Es wird ein Riesenbild werden, denkt er, überdimensional, weil nur gigantische Ausmaße die kommenden Generationen mahnen können. Marlisa hängt sich an seinen Arm. Er hört das erstemal ein leises Lachen von ihr, ist erstaunt, möchte ihr im selben Augenblick etwas Heiteres sagen, damit ihr Lachen nicht verlöscht. Ihm fällt nichts ein. Er ist in Gedanken noch bei seiner Darstellung des Krieges in der friedlichen Landschaft. „Mein Vater denkt, du bist Kommunist." Bei allem, was ihn mit Marlisa und dem Blinden
verbindet, das wagt er nicht sofort zu bestätigen. „Don Begini denkt das auch." „Vielleicht stimmt's?" „Setzen wir uns." Jetzt muß er erklären, erzählen, aus längst vergangenen Jahren, vom Aufbäumen der Genossen gegen die Faschisten, von der Arbeitslosigkeit, der Not, vom Sozialismus in kommenden Tagen, der Menschen zu Menschen machen wird, auch ihn und Marlisa. Ein Mann kommt den Strand entlang. Hoch wächst Oberleutnant Zettler auf. Der Obergefreite erhebt sich widerwillig, grüßt. Er steht im Mondlicht, Zettlers Gesicht ist im Schatten. „Ah, Fischer", sagt er. Er antwortet nicht. „Wenn Sie zufällig einmal nicht dienstfrei haben, kommen Sie zu mir", sagt Zettler. Eine Spur schärfer, keinen Widerspruch duldend, befiehlt er: „Sieben Uhr dreißig melden Sie sich!" Zettler geht weiter, nicht einen Schritt schneller und nicht langsamer, als er gekommen ist. Der Abend ist lang. Die Grillen zirpen laut in den Weinbergen. Bis morgen ist eine unendliche Zeit. Die ersten Fische sind morgen gefangen, ehe es sieben Uhr dreißig ist. „Komm, ich bringe dich nach Hause." Der Abend ist so verdorben, wie es die Tage schon gewesen sind. Die Stunden, die er mit dem Blinden und mit Marlisa verbracht hat, haben ihn nicht darüber hinwegtäuschen können. Er ist nahe daran, etwas Unbesonnenes zu tun. Er denkt sich aus, was geschieht, wenn er in dieser Nacht nicht in sein Quartier zum Pfarrer zurückkehrt und morgen früh vermißt wird,
nicht wiederkommt. Er hört Don Begini sagen: Ich habe es gewußt, er ist ein Kommunist. Und Zettler: Den Aufsässigen hätte ich früher vor ein Kriegsgericht bringen sollen. Er rechnet sich seinen Vorsprung aus, den er eventuell gewinnen kann, wenn er die Nacht nutzt, aber er kann sich nicht entscheiden, ob er nach Süden oder nach Norden gehen soll. Er möchte nach Hause - nach Hause kann er nicht. „So ein verpfuschtes Leben", sagt er laut. Als Marlisa und er zurückkommen, sitzt der Blinde nicht mehr vor dem Haus. Wenigstens diese Begegnung bleibt ihm erspart. An Don Beginis Tür wird er sich vorbeischleichen, um ihn nicht zu treffen. Für lange Gespräche über die Besonderheiten der italienischen Sprache ist er nicht aufgelegt. Er wird sich in sein Bett werfen, wird eine traumlose Nacht haben oder eine unruhige. Er wird noch nicht aus Torri del Benaco fliehen. Morgen früh meldet er sich bei Zettler ... Der Obergefreite sieht sich das Backsteinhaus eine Minute lang an. Es ist nicht für die Ewigkeit gemacht. Im Mondlicht sieht man die Risse im Mauerwerk und die schadhaften Stellen am Dach. Das Haus wäre kein gutes Versteck. Nein, bei Marlisa kann er sich nicht verbergen. Sie hätten ihn in einer Stunde. Er muß weit weg von Torri, wenn er einmal geht. Der Gedanke frißt sich in ihm fest und ist von diesem Tag an nicht mehr aus ihm herauszubringen. Seine Flucht, das weiß er mit Sicherheit, darf nicht in ein Versteck führen. Wenn schon Flucht, dann nach vorn. Die Front gegen den Faschismus ist überall.
Unverhoffter Besuch Zettler ist sehr höflich an diesem Morgen. Er macht eine einladende Handbewegung, als sich der Obergefreite meldet, vorschriftsmäßig diesmal, Hände an der Hosennaht, mit blödsinnigem, aber lautem Hackenzusammenschlagen: „Obergefreiter Fischer, wie befohlen..." „Sie können's doch. Obergefreiter, wenn Sie wollen. Das freut mich. Sie wollen oft nicht. Das mißfällt mir. Mir mißfällt es immer, wenn Soldaten nicht wollen oder Schlappschwänze sind. Halbe Zivilisten, halbe Soldaten, unbrauchbare Kerle sind mir zuwider." Er schüttelt sich angeekelt. „So etwas mißfällt mir arg. Sie werden das in Zukunft bedenken." Derartig lange Reden hat der Obergefreite selten von Zettler gehört. Er schluckt sie und amüsiert sich heimlich über Zettlers Ernsthaftigkeit, weil er ganz andere Gedanken hat, als der Oberleutnant vermutet. Aber da muß er schon wieder zuhören, darf kein Wort versäumen - irgendwo ist die Falle aufgestellt -, denn der Oberleutnant, während er im Zimmer umhergeht, erzählt ihm eine Geschichte, sehr vordergründig auf ihn, Walter Fischer, bezogen. „Es war einmal ein gar nicht berühmter Maler. Der Maler wollte berühmt werden. Dafür hätte er alles hingegeben. Es verschlug ihn in ein sonniges Land. Das Land zu sehen war immer sein Traum gewesen. Ein kleines Fischerdorf an einem großen See, in dem sich der blaue Himmel spiegelte und nachts der weiße, runde Mond, war des Malers Heimat fern von der Heimat geworden. Er wurde zum Zwecke der
Erhaltung der nationalen Ehre und der Beteiligung am nationalen Kampf an diesen See, in dieses Fischerdorf beordert. Er trug ein Ehrenkleid, damit jeder sehen konnte, woher er gekommen war und wohin er ziehen würde: fort von diesem kleinen See, über die grünen Meere. Der Maler war nicht fehlerfrei - welcher Mensch ist das? Er sah nur den See, Oliven, Palmen, malte nicht seine Kameraden im Ehrenkleid, sondern zerfurchte Fischergesichter und, zugegeben, hübsche Mädchenköpfe. - Sie malen Judenköpfe, Fischer!" Der Obergefreite versuchte zu lächeln. Er spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. Sein Herz schlug heftig. Er fürchtete, der Oberleutnant könnte es hören und sich darüber freuen. Er möchte Zettler ohrfeigen, um damit Marlisa in Schutz zu nehmen. Er wußte nicht mehr, ob er zusammengezuckt war, und wenn, ob es Zettler gesehen hatte. Nein, bestimmt nicht, denn der ging durchs Zimmer, immer im Kreis um den Schreibtisch, einmal weit von der Tür entfernt, einmal bedrohlich nahe. „Ich weiß nicht, daß sie Jüdin ist." „Sie wissen nicht? - Sie malen Judenköpfe und sind zu feige, es zuzugeben." „Herr Oberleutnant.. ." „Lassen Sie mich meine Geschichte zu Ende erzählen. Wir haben heute Zeit für Geschichten. Der Maler wird noch berühmt Die Gefängniszelle, in die er kommt wird nach seinem Tode zum Museum. Um es vorweg zu sagen: Der Maler ist drin verfault, bei lebendigem Leib verfault Es ist nämlich ein kaltes, finsteres Loch, in dem er steckt feucht - nicht vom Wasser des blauen Sees, sondern vom stinkenden Grundwasser. Er saß ein
paar Jahre in diesem Loch ein. Er bekam Wasser und Brot. Aus Verzweiflung ritzte er ein Bild in den Putz der massiven, undurchdringlichen Wände, das Porträt der Jüdin. Das ist in tausend Jahren, wenn das Reich immer noch in Blüte steht, noch zu sehen. Die es sich anschauen, sagen: So also sahen Juden aus. Gut, daß wir nicht mehr mit ihnen leben müssen, sondern sie nur noch auf diesem häßlichen Wandbild betrachten können, wie sie ausgesehen haben. — So enden Sie, Fischer!" Plötzlich denkt der Obergefreite: Ich brauche nur einmal zu schießen. Zettler ist nahe genug. Ich kann ihn nicht verfehlen. Der Schuß wird nicht zu hören sein. In einer Stunde bin ich über alle Berge. Das Gefängnisbild wird nicht gemalt. Er sieht Zettler auf sich zukommen, hört schon, wie der Posten gerufen wird, sieht sich seine Pistole abgeben und müde zwischen den Posten, die eben noch seine Kameraden gewesen sind, zur Arrestzelle trotten. Da sagt Zettler: „Meiden Sie das Judenpack!" „Jawoll!" Damit ist dieser nicht zufrieden. Was will er denn noch? Soll er losgehen und Marlisa und den blinden Vater vorführen, sagen: Hier haben Sie die Juden, Herr Oberleutnant. Es ist bestimmt noch Platz in einem Lager. Das wird er nicht tun. Niemals, da kann Zettler machen, was er will. Er sagt: „Ich bin auch mit Major Giorgio Bianchi befreundet. Der Major ist kein Jude. Er ist oft mit Mussolini zusammengewesen. Darf auch das nicht sein?" „Der Mussolini, dieser Scheißkerl, läßt sich verhaften!"
„Unser Führer, Herr Oberleutnant, das kann ich nicht glauben, wird nicht mit einem Scheißkerl..." „Schweigen Sie!" Er strafft sich, macht eine Kehrtwendung, vorschriftsmäßig, und geht hinaus. Er weiß; daß ihr Gespräch noch nicht zu Ende ist. Er geht den schmalen Weg vor Zettlers Haus entlang. Er wartet darauf, daß er zurückgerufen wird. Nichts. Er geht an den Wagen vorbei, in denen die Kartendruckerei untergebracht ist, hinaus aus dem Buschwerk des Gartens, wo die Zelte für die Mannschaften stehen. Der Obergefreite erreicht die Dorf Straße, findet wie im Traum den Weg zu seinem Zimmer, grüßt mechanisch Don Begini, der eine tiefe Verbeugung vor ihm macht. In diesem Augenblick fallen ihm mühelos ein paar italienische Vokabeln ein, die er heute hat lernen wollen. Er lacht unecht vor sich hin, steigt die Stufen hinauf zu seinem Zimmer. Endlich kann er die Tür hinter sich schließen. Er wird ein paar Stunden nicht an Zettler denken, nicht an die Gegenwart und die Zukunft. Sein Zimmer ist nicht leer. Eine Frau sitzt neben seinem Bett, Marlisa zum Verwechseln ähnlich. Walter Fischer wischt sich über die Augen. Die Frau ist wirklich da. Ihn narrt kein Trugbild. Er macht sich nichts vor. Nach den anstrengenden Minuten, die er überwach bei Zettler verbracht hat, ist er wieder ganz ruhig, nur ein wenig zu müde, sich Gedanken zu machen. „Was wollen Sie?" fragt er, hakt sein Koppelschloß auf, legt das Koppel mit der Pistolentasche auf sein Bett. „Wer sind Sie? Können Sie nicht reden? Wer hat Ihnen den Schlüssel gegeben und erlaubt. ..?"
„Viele Fragen", antwortet die Frau. Er sieht sie eine Weile an. Nein, er kennt sie nicht. Er kann sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben. Sie ist bestimmt nie im Backsteinhaus gewesen. Sie kann sich dort nicht verborgen gehalten haben. Er ist so oft bei Marlisa zu Gast gewesen, geduldet vom blinden Vater, nicht sehr gewünscht von ihm, aber er hat kein Wort gehört, daß er nicht wiederkommen darf. Aber ist da nicht einmal die bestimmte Aufforderung des Blinden gewesen, sich auf die Bank vor dem Haus zu setzen, die einem Verbot, ins Haus zu gehen, gleichgekommen ist? Diese Frau muß zu dem Blinden und zu Marlisa gehören, denn solch eine Ähnlichkeit kann es zwischen Fremden nicht geben. Er sagt: „Sie sind Marlisas Schwester." Er sieht ihr unbeherrschtes, heftiges Augenlidschlagen. Sie macht eine winzige Handbewegung, als wollte sie seinen Satz abwehren. Er ist zufrieden mit ihrer Antwort. Er schätzt die Frau, die sich so geheimnisvoll gibt und sich so leicht verrät, ein paar Augenblicke lang ab. Er wird herausfinden, was sie von ihm will. Ein Schatten fällt über sein Gesicht. Soll sie ihm vielleicht mitteilen, dag er nicht mehr zu Marlisa darf? „Reden Sie, oder..." „Was oder?" fragt sie zurück und macht ein erstauntes Gesicht, das er schon bei Marlisa gesehen hat. „Ich bin müde", sagt er. „Früh am Morgen? Ich glaube Ihnen nicht, das glaube ich Ihnen nicht." „Was glauben Sie?" „Sie sind kein Faschist. Sie sagen, der Krieg wäre gefährlich. Er wird gefährlicher, wenn er noch lange
dauert. Sie sind Kommunist? Auch das ist gefährlich. Sie haben in Deutschland illegal gegen die Faschisten gearbeitet. Sie waren arbeitslos - viele Jahre lang. Ihnen erfroren in der Winterschlacht vor Moskau sieben Zehen, aber Sie hatten Glück dabei. Die Zehen wurden Ihnen erhalten. Der Winter rettete Ihnen das Leben. Oberleutnant Zettler beginnt Sie zu durchschauen. Auch das ist gefährlich." „Woher wissen Sie?" fragt Walter Fischer. Darauf antwortet sie nicht. Er überlegt jetzt angestrengt, woher sie ihre Kenntnisse hat. Er findet seine eigenen Worte in ihren Sätzen. Er hört sich reden. Das kann sie nur von Marlisa haben. Nein, dann wäre die Rede anders ausgefallen, zarter, mit weniger Bestimmtheit. Vom Blinden hat sie alles erfahren. Mit dem hat er lange und oft genug gestritten über Vergangenheit und Gegenwart und wie er sich die Zukunft seines Landes und die Italiens vorstellt. Mit ihm hat er über Marx geredet und über Lenin und über die Widerstandsbewegung in Deutschland. Warum hat ihr das der Blinde erzählt? Wer ist diese Pfau wirklich? Weshalb erinnert sie ihn an seine Vergangenheit? Er geht zum Bett, nimmt das Koppel wieder auf. Sie lächelt, schüttelt leicht den Kopf, legt die Hand auf die Pistolentasche. „Ich bin mehr für Verständigung." „Verständigung?" „Was wollten Sie mit der Pistole? Haben Sie Angst? Angst vor Partisanen?" „Partisanen wären nicht schlimm für mich." „Was ist schlimm?" „Faschisten." Sie schüttelt wieder den Kopf. „Ich gehöre nicht zu den
Faschisten." Er möchte gern ein Wort mehr von ihr wissen. Sie spürt es, sagt: „Meine Mutter haben sie nach Vosoli, das liegt unten bei Carpi, verschleppt." Er winkt ab, fragt: „Was wollen Sie? Kommen Sie zur Sache. Ich habe nicht viel Zeit." „Sie sind kein Nazi. Wie stellen Sie sich das weiter vor, kein Faschist zu sein und unter Faschisten zu leben, nichts zu tun, nur abzuwarten? Wortgefechte mit Oberleutnant Zettler genügen nicht." „Ich werde sehen", antwortet er ausweichend. „Wollen Sie uns helfen? Mein Vater sagt, der Maler sieht aus, als würde er es tun." „Ihr Vater ist blind." „Er sieht einen Menschen durch die Sprache." „Was verlangen Sie?" „Nachrichten, brauchbare Nachrichten über Truppenbewegungen, Informationen über Verteidigungslinien der Faschisten und Standorte schwerer Waffen. Uns interessiert auch, was im Stab geredet wird." „Kommen Sie wieder?" „Ja - vielleicht komme ich. Ich werde wieder in Ihrem Zimmer sitzen und auf Sie warten und gehen. ohne Aufsehen. Sie werden durch meinen Besuch keine Schwierigkeiten haben." „Sie sind schon lange weg von Torri del Benaco?" „Nicht so neugierig!" Er möchte noch ein Wort zu ihr sagen, auch gern wissen, wer sie geschickt hat. Da ist sie schon aus dem Zimmer gegangen, ohne Gruß, nicht einmal nach ihm umgesehen hat sie sich. Er hört sie vor dem Haus mit Don Begini reden, kann aber nicht verstehen, was sie miteinander sprechen. Bestimmt Harmlosigkeiten, oder
weiß Don Begini mehr über Marlisas Schwester? Er wird ihn fragen - nein, er wird ihn nicht zur Rede stellen. Alles soll bleiben, wie es bisher gewesen ist. Er wird sich ihren Besuch nicht anmerken lassen. Jetzt ist er froh, daß sie gegangen ist. Er sieht in den Spiegel, verbirgt seine Freude nicht, ihr begegnet zu sein. Er stellt sich vor, daß er eines Tages, wenn es soweit ist, vor ihren Augen ein Gewehr nimmt, vielleicht nur eine Pistole. Er wird gegen die kämpfen, die seine Feinde sind. Waffen für die Freiheit Den Sturz Mussolinis hatten einflußreiche Kreise des italienischen Monopolkapitals, des Klerus, der Generalität und des Königshauses beschlossen, um einer antifaschistischen Volksrevolution zuvorzukommen. Die neugebildete Regierung unter Marschall Badoglio führte seit Anfang August 1943 geheime Verhandlungen mit dem alliierten Oberkommando über die Einstellung der Kampfhandlungen und das Ausscheiden Italiens aus dem faschistischen Block. Das Abkommen über den Waffenstillstand und über die Kapitulation der italienischen Streitkräfte wurde am 3. September unterzeichnet, aber erst am 8. September veröffentlicht. In dieser Zeit wurden britische Truppen über die Straße von Messina auf das italienische Festland in den Raum von Reggio in Kalabrien übergesetzt. Die anglo-amerikanischen Streitkräfte erreichten am 8. September die Linie Catanzaro Nicastro.
Nach Bekanntgabe der Kapitulation flohen der König und die Regierung Badoglio aus Rom nach Süditalien und stellten sich unter den Schutz der angloamerikanischen Truppen. Mit ihnen flüchtete fast das gesamte Oberkommando der Armee, ohne irgendwelche Befehle und Instruktionen zu hinterlassen. Die deutschen Faschisten nutzten diese Lage aus. Es gelang ihnen bald, die italienischen Einheiten zu neutralisieren und ihren unorganisierten Widerstand zu brechen. Nach der Entwaffnung der italienischen Armee besetzten deutsche Truppen Nord- und Mittelitalien sowie einen großen Teil Süditaliens. Antifaschistische Politiker aller Richtungen, die vorher im „Komitee der Opposition" zusammengearbeitet hatten, bildeten in Rom unter dem Vorsitz von Bonomi das „Zentrale Komitee der nationalen Befreiung" (CLN), um die fehlende Regierung zu ersetzen. Schon in den ersten Tagen der deutschen Besetzung Italiens entstanden unter der Führung der Kommunistischen Partei in den Städten Widerstandsgruppen der „Gruppi di Azione Patriottica" (GAP), die durch kühne Unternehmungen die deutschen Faschisten in Unruhe hielten. Einen Monat später .beschloß die Kommunistische Partei Italiens, die „Sturmbrigaden Garibaldi" zu bilden. Sie standen unter dem Befehl von Luigi Longo und Pietro Secchia. Damit trat der Kampf der italienischen Patrioten zur Befreiung Italiens, unterstützt von großen Teilen der Bevölkerung, in ein neues Stadium ein. Marlisas Schwester war überraschend gekommen und hatte gesagt: „Wir brauchen Waffen!"
Walter Fischer kratzte sich den Kopf und machte ein bedenkliches Gesicht. Ihre Forderung ließ keinen Widerspruch zu. Er vertröstete die Schwester, es müsse sich eine Gelegenheit bieten, die abzuwarten wäre. Sie hatte ihm geantwortet, er solle Don Begini in zwei bis drei Tagen den Zeitpunkt mitteilen. Don Begini also auch, denkt er und sieht den Kirchenmann, den biederen, ständig händefaltenden Prediger, plötzlich in einem anderen Licht. Das hätte er hinter dem demütigen Gesicht nicht vermutet. Plötzlich weiß er auch, daß sie schon längst mit ihm rechnen, daß sie prüfen wollen, ob er bereit ist, ihren Kampf zu unterstützen. Seine Begegnung mit Marlisa, das Zimmer im Hause Don Beginis waren keine Zufälle. Am nächsten Morgen verliest Zettler monoton die Diensteinteilung, aber bei der Kommandierung des UvD für die Nacht vom Donnerstag zum Freitag hebt er die Stimme. „Donnerstag, zweiundzwanzig Uhr, UvD - Obergefreiter Fischer." Dann liest er weiter, gleichmäßig, ermüdend. Der Obergefreite flucht vor sich hin. Am Donnerstag hat er Dienst in der Kartenstelle. Es gibt eine Menge Arbeit. Jeden Tag fallen neue Karten an. Die Front ist ständig in Bewegung. Jetzt verdirbt ihm Zettler die Nacht. Er möchte sich wieder einmal ausschlafen. In den letzten Nächten hat er über den Auftrag von Marlisas Schwester nachgedacht. Das bescheidene Waffenlager in Torri del Benaco ist in einem einstöckigen Haus untergebracht, unbewacht, weil es mitten im Bereich der Kartenstelle liegt und kaum ungesehen erreicht werden kann. Im oberen Stockwerk
wohnt außerdem Feldwebel Großmann, der ständig betrunkene, deshalb aber nicht ungefährliche Berliner Friseur, den es nicht in seinen Laden zurückzieht. Wie gelangt man in die verschlossene Waffenkammer? Der Fluch bleibt auf seinen Lippen hängen. Er schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Als UvD hat er die einmalige Gelegenheit, ein paar Gewehre verschwinden zu lassen . . . Don Begini nimmt den Zeitpunkt schweigend entgegen, tut, als wüßte er mit dem Datum nichts anzufangen. Als sich der Donnerstag zu Ende neigt, macht Walter Fischer seine Runde durch Torri del Benaco. Die Posten am Eingang und am Ausgang des Dorfes dösen in der immer noch warmen Nacht, schrecken kaum zusammen, wenn er plötzlich zu ihnen tritt. Dann macht er sich auf den Weg zum Waffenlager des Stabes, das er als UvD kontrollieren muß. Es ist zehn Minuten vor ein Uhr. Die Wachordnung besagt: Außen- und Innenschloß sind zu überprüfen. Er wird prüfen, so sorgfältig, wie es vor ihm noch kein UvD getan hat. Es ist mehr eine Formsache als eine Notwendigkeit, denn bisher hat niemand ein Interesse gezeigt einzubrechen. Während er durch die Weinberge geht, hört er den leisen Wind, der im Herbstlaub raschelt. Walter Fischer überdenkt noch einmal jeden Handgriff, den er tun muß. Er überlegt, was sie gebrauchen können. Auf der letzten Wegstrecke beschäftigt ihn, was nach dieser Nacht geschieht. Der Diebstahl wird ein paar Tage verborgen bleiben, vielleicht sogar Wochen, denn bei den Kontrollen zählt niemand die Gewehre, weil sie noch nicht gebraucht werden.
Er ist hundert Meter vom Waffenlager entfernt. Hinter einer Wegbiegung glaubt er einen Schatten gesehen, in der Nähe leise Schritte gehört zu haben. Der Obergefreite öffnet die Pistolentasche, aber er nimmt die Waffe nicht heraus. Die Nacht ist gespenstisch, die Spannung kaum zu ertragen. Immer öfter glaubt er Schatten von Menschen zu sehen, aber es sind nur die Zweige der Olivenbäume, die sich im Wind bewegen. An den Zelten ist Stille. Die Mannschaften der Druckerei schlafen. Er ist angekommen, schließt die äußere Tür auf, geräuschvoll, ohne jede Vorsicht. Wenn jemand in der Nähe ist, soll er hören, daß der UvD seinen Aufgaben gewissenhaft nachkommt und die Schlösser der Tür des Waffenlagers überprüft. Er sieht hinauf nach der Feldwebelwohnung. Auch dort Stille. Bestimmt ist der Friseur besoffen. Sollte Großmann doch etwas merken ... Da sagt hinter ihm Marlisas Schwester: „Sie kommen sieben Minuten zu spät."
Er möchte sie anschreien, unterdrückt dann aber einen Fluch, versucht das Gesicht der Schwester zu erkennen. Es ist zu dunkel. Er schweigt viel zu lange. Sekunden später ist er von einem Dutzend verwegen aussehender Männer umringt. Sie stecken in abgetragenen italienischen Uniformen, in Bauernkitteln. Sie haben Mützen auf und Kappen, einer einen verbeulten Schlapphut. Aber Einzelheiten ihrer Gesicher kann er nicht erkennen. Einer schlägt ihm auf die Schulter. So etwas hat er schon lange nicht erlebt. Wortlos dreht er sich, öffnet die zweite Tür, winkt. Die
Waffen sind mit Planen abgedeckt. Die Italiener arbeiten rasch und geräuschlos. Sie schleppen zwei Maschinengewehre, ein Dutzend Gewehre und vier Kisten Munition aus dem Warfenlager. Sie stecken sich die Lederriemen, die sie als Koppel tragen, voll Handgranaten. Es wird kein Wort gesprochen, aber an den Bewegungen der Partisanen ist erkennbar, daß sie von großer Freude erfüllt sind. Marlisas Schwester und Walter Fischer stehen dicht nebeneinander. Er fragt sie flüsternd: „Wie heißen Sie?" „Was tut ein Name zur Sache?" „Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun habe. Mit Fremden hole ich nicht gern Waffen. Ich muß wissen, für wen sie sind. Also reden Sie." „Sie hätten früher fragen sollen." „Wie - heißen - Sie?" „Nennen Sie mich Giulietta." Einer der Männer tritt zu ihnen, sagt: „Danke, Kamerad!" und verschwindet, ohne eine Antwort abzuwarten, in der Dunkelheit. Eine Minute später folgt ihm Marlisas Schwester. Heißt sie Giulietta? Es ist unwahrscheinlich, aber wenn sie so genannt werden will, wird er es tun. Walter Fischer schlägt die Türen des Hauses zu. Er wird Giulietta nicht wiedersehen. Der Lärm, den er macht, ist weithin hörbar. Vielleicht wacht Großmann auf, vielleicht hört er wenigstens im Unterbewußtsein das Türenschlagen und wird sich morgen besinnen können, wenn er daran erinnert wird. Feldwebel Großmann könnte bestätigen, daß der UvD das Lager kontrolliert und alles in bester Ordnung vorgefunden hat.
Zehn Minuten später taucht Walter Fischer unvermittelt in der Wachstube auf. Er murrt vor sich hin, es wäre ein Unsinn, Posten aufzustellen im friedlichen Torri del Benaco und ein kompletter Irrsinn, einen UvD nachts durch die Straßen zur Postenkontrolle zu jagen. Der schläfrige Soldat, der am Tisch sitzt, hört den Groll aus seiner Rede, von der nur die Hälfte verständlich ist, stimmt ihm zu, weil Zustimmen immer das Einfachste ist, und freut sich heimlich, daß auch ein UvD keine Nachtruhe hat. Der Obergefreite schreibt ins Wachbuch: „Keine besonderen Vorkommnisse. Die Uhrzeit: 1.30 Uhr." Eine halbe Stunde bleibt er sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Jetzt ist er tatsächlich zum Umfallen müde. Er zwingt sich, die Augen offenzuhalten. Es gelingt nicht. Da steht er auf und geht hinaus vor die Tür. Die Flucht Walter Fischer hat vierzehn Tage Arrest im Militärgefängnis Verona abgesessen, wegen Aufsässigkeit gegenüber Vorgesetzten. Den Diebstahl der Waffen haben sie ihm nicht nachweisen können. Am 25. Mai 1944 kehrt er zu seiner Einheit nach Torri del Benaco zurück. Nichts hat sich geändert. Der See ist frühjahrsblau, am Himmel schwimmen weiße Wolken nach dem Norden über die Alpen hinweg. Die Fischer sind von ihrer Morgenfahrt zurück und haben den Fang verkauft. Zettler, bei dem sich Walter Fischer zurückmeldet, begrüßt ihn aufgekratzt: „Na, Obergefreiter, Sie sehen
prächtig aus. Die Erholung hat Ihnen gutgetan. Ich denke, jetzt sind Sie reif für die Front. Wir brauchen im Süden jeden Mann." In diesem Augenblick haßt Fischer den Oberleutnant. Das Gefühl ist seltsam und völlig neu für ihn. Bisher hat er immer gedacht, auch aus Zettler wäre noch ein Mensch zu machen, sobald er in eine andere Umwelt käme. Walter Fischer reckt sich, sagt laut und forsch, so wie es Zettler noch nie von diesem malenden Obergefreiten gehört hat, an dessen Arbeit zwar nichts auszusetzen ist, der aber in seinem Leben kein vernünftiger Soldat wird: „Ich melde mich freiwillig an die Front! Ich bitte um meine Abkommandierung!" Zettler runzelt die Stirn, nickt gegen seine Gewohnheit völlig unmilitärisch. Er macht eine kurze Handbewegung. Fischer ist entlassen. Im Zimmer bei Don Begini packt er seine Sachen. Der Rucksack steht griffbereit. Er steigt noch einmal hinauf in die Weinberge, in das vertraute Haus zu Marlisa und ihrem blinden Vater. Er sagt: „Teilen Sie Ihrer Tochter Giulietta mit, ich möchte sie sprechen." Der Blinde antwortet: „Ich habe keine Tochter neben Marlisa. Ich weiß nicht, was Sie wollen." Walter Fischer läßt sich nicht beirren. „Es kann sein, daß ich morgen an die Front abkommandiert werde. Ich muß sie dringend sprechen." Er wartet keine Antwort ab, geht zurück nach Torri del Benaco. Marlisa hat er nicht gesehen. Ist sie nicht zu Hause gewesen? Er hätte fragen können. Versteckt sie sich vor ihm, jetzt, da er sie gern bei sich gehabt hätte?
Walter Fischer sitzt einen Tag lang in seinem Zimmer. Für den Dienst in der Kartenstelle ist er nicht mehr eingeteilt. Nichts ereignet sich. Er wartet von einer Minute zur anderen, daß sein Marschbefehl kommt. Die Minuten verrinnen sinnlos, werden vergeudet. Hat es sich Zettler anders überlegt? Er findet keinen Ausweg aus dieser niederdrückenden Stimmung, in die er durch die Ungewißheit geraten ist. Was soll er anfangen, wenn Giulietta nicht kommt? Sich durchschlagen, denkt er, sich durchschlagen. Freunde sind nah, wenn man Freunde sucht. Sein Entschluß steht fest: An die Front geht er nicht, aber er braucht den Marschbefehl. Irgendwo in den Bergen wird er auf Partisanen stoßen, denen muß er begreiflich machen, daß er zu ihnen gehört. Es klopft zaghaft. „Herein!" Er liegt auf dem Bett, steht nicht auf, als Don Begini hereinkommt. „Auf dem Zentralbahnhof in Mailand ist eine kleine Bar. In ihr sitzt um die Mittagszeit ein Mädchen und liest Zeitung. Das Mädchen sprechen Sie an." „Was antwortet sie?" „Sie reden, niemand sonst." „Und wenn ich nicht nach Mailand komme?" „Sie werden durch Mailand kommen, wenn Sie an die Front müssen." Walter Fischer bleibt auf dem Bett liegen, sieht Don Begini hinausgehen, döst, wartet. Er geht auch später nicht aus dem Zimmer. Er ist froh, daß er sich den Abschied von Marlisa ersparen kann. Bestimmt würde es Tränen geben. Auch den blinden Vater will er nicht
noch einmal sehen, der in ständiger Angst um seine Töchter lebt und nicht weiß, ob seine Frau das Lager in Vosoli überstehen wird. Mit ihm würde er sich nur streiten, auch in diesen letzten gemeinsamen Stunden, daß jeder etwas tun kann, um den Krieg wenigstens eine Stunde früher zu beenden. Der Alte weiß es auch ohne ihn. Selbst kann er keine zehn Schritte aus dem Haus ins fremde Gelände gehen, aber eine seiner Töchter hat er bei den Partisanen, billigt es, obwohl er Tag und Nacht ständig um sie bangt. Erst am späten Abend kommt sein Marschbefehl. Er hat ein Ziel, glaubt nicht richtig gelesen zu haben: Frontleitstelle Mailand. Er zögert keine halbe Stunde, geht los, marschiert hinaus aus Torri del Benaco. Hinter ihm bleiben die Fischer zurück, die Landschaft, die er liebt, das Hotel, in dem die Offiziere des Stabes wohnen. Er kommt an die Wache, grüßt lässig, spaziert an den Posten vorbei auf die Landstraße. Den erstbesten Lastwagen hält er an, besteigt ihn und fährt mit bis nach Brescia. Er kommt anderntags viel zu zeitig in Mailand an. Bis zur Mittagsstunde ist noch viel Zeit. So lange kann er nicht auf dem Bahnhof bleiben. Vor der nächsten Streife der Feldgendarmerie, die ihn nach Papieren fragt, baut er sich auf: „Frontleitstelle Mailand! Wissen Sie den Weg?" Er hat eine Hand schon am Taschenknopf, um nach seinem Marschbefehl zu fingern, den der Streifenführer gleich verlangen wird. Aber der winkt ab, wird leutselig, erklärt lange und umständlich. • In der Frontleitstelle ist ein Durcheinander, daß es unmöglich scheint, sich zurechtzufinden. Die Neu-
ankömmlinge werden herausgefischt. Man will sie schnell an die Front schaffen, er spürt es sofort. Sie sitzen in einem miserabel eingerichteten Raum und warten. Dreißig Mann sollen zusammenkommen, dann beginnt die Reise quer durchs Partisanengebiet in Richtung Turin. Er ist der sechsundzwanzigste. Er muß aufpassen. Bis zur vereinbarten Zeit bleibt ihm noch eine Dreiviertelstunde. Er steht plötzlich auf, nimmt seinen Rucksack und geht zur Tür. „He, wohin, Kamerad?" „Die Stadt besehen. Ich war in meinem Leben noch nie in Mailand. Werde ich später gefragt, so möchte ich erzählen können, wie's hier aussieht." „Was hast du davon? In ein paar Wochen schlagen's die Amerikaner aus der Luft zusammen - wie unser Hamburg. Da findest du später keine Straße wieder." „Den Dom nicht", antwortet Walter Fischer. „Hast du ihn gesehen? Gotisch, in weißem Marmor, kreuzförmige Basilika, fünfschiffiges Langhaus, fünf-schiffig! Und die Klosterkirche Santa Maria della Grazie möchte ich sehen mit dem ,Abendmahl' von Leonardo da Vinci im Refektorium. Vielleicht bleibt noch Zeit für die Galerie im Palazzo di Brera." „Der spinnt. Mensch, die Amerikaner schmeißen's sowieso kaputt." „Wir werden sehen." „Laß deinen Rucksack da, du brauchst ihn nicht für einen Spaziergang." „Damit ihr aus ihm mausen könnt wie die Raben?" Sagt's, geht aus der Tür, hinaus auf die Straße, taucht im Menschengewühl unter. Er betritt genau 12 Uhr die Bar im Zentralbahnhof von Mailand. Außer ihm ist
kein Soldat hier. Der Raum ist so winzig, daß man ihn mit einem Blick übersehen kann. Ein Mädchen sitzt zeitunglesend an einem der kleinen runden Tische. Er setzt sich zu ihr, bestellt einen Kaffee, trinkt hastig. Das Mädchen legt die Zeitung aus der Hand, sieht ihn an. Sie lächelt ihm zu. Er reagiert nicht. So ein Wahnsinn, denkt er, woher soll sie wissen, daß ich der Richtige bin, wie kann ich auch nur ahnen, ob sie nicht nur zufällig die Zeitung gelesen hat, auf einen ganz anderen wartet oder auf gar keinen. „Gehen Sie zehn Schritte hinter mir", sagt das Mädchen. „Kommen Sie!" Er bezahlt und verläßt nach ihr die Bar. Sie geht aus dem Bahnhof. Es wird eine endlose Wanderung. Walter Fischer weiß nicht mehr, ob sie im Süden oder Norden der Millionenstadt sind. Sie passieren winklige Gassen und breite Straßen. Viele deutsche Soldaten sind in der Stadt. Er fällt nicht auf in seiner Uniform und mit dem Rucksack. Sie wechseln ein paarmal die Straßenseite, kommen in weniger belebte Straßen. Plötzlich bleibt sie stehen, winkt ihn heran. „Hier sind keine Deutschen. Wir können nebeneinander gehen. Sollte eine Streife kommen, so verschwinden Sie in das nächstbeste Haus." Das klingt nicht tröstlich. Entweder, es sind keine deutschen Soldaten in diesem Stadtteil, oder es sind welche da. Er ist sich der Gefahr bewußt, in der er ist, wenn sie einer Feldgendarmeriestreife begegnen. Da gibt es für ihn keine Ausrede mehr... Sie werden ihm nicht glauben, daß er sich die älteste Kirche Mailands, San Lorenzo, anschauen wollte. Er kann auch nicht
behaupten, er hätte sich verlaufen. Am Vormittag, auf dem Bahnhof, da hatte er neben seinem Soldbuch noch den Marschbefehl in der Tasche. Treffen sie auf eine Streife, so hilft keine Frechheit mehr - es wäre das Ende seiner Flucht, die noch nicht einmal richtig begonnen hat. Wenn . . . Immer wieder dieses Wenn. Er versucht, nicht mehr daran zu denken. Es gelingt ihm nicht. Das Mädchen geht schweigsam neben ihm her, wechselt immer noch die Richtungen. Jetzt kommen sie schon das zweitemal durch dieselbe Straße. Sie führt ihn in ein Haus, vorbei an einer mißtrauisch blickenden Portiersfrau, hinauf in den fünften Stock, schließt eine Wohnungstür auf, läßt ihn eintreten. Auf den Möbeln liegt Staub. Hier ist schon seit Tagen niemand gewesen. Er sieht sich um. Sie läßt ihn gewähren. Das Gefühl der Geborgenheit will sich bei ihm nicht einstellen. Am liebsten wäre er wieder hinunter auf die Straße gegangen. Da konnte er der Gefahr wenigstens ins Auge sehen. Die Wände erdrücken ihn, wenig Licht fällt durch die Fenster. Nach einer Weile sagt sie: „Hier wohnte ein Architekt. Er ist nicht zu Hause. Sie sind sicher, wenn . . ." Schon wieder dieses Wenn. „Wo ist der Architekt?" „Ich weiß es nicht." Walter Fischer geht zum Fenster, aber da zieht sie ihn energisch zurück. „Sie verlassen die Wohnung niemals allein! Sie gehen nicht ans Fenster! Sie machen keinen Lärm! Es darf niemand wissen, daß die Wohnung wieder bewohnt ist. Sie sind hier völlig sicher, wenn Sie sich ruhig verhalten."
„Wie lange soll ich bleiben?" „Ein paar Tage, zwei oder drei, vierzehn oder noch länger. So genau kann man das nicht sagen. Im Schrank hängen Anzüge und ein Mantel. Suchen Sie sich aus, was Sie brauchen und was ihnen paßt. Die Uniform ziehen Sie aus. Sie brauchen Sie nicht mehr. Hier ist Ihre Kennkarte. Prägen Sie sich Ihren neuen Namen ein. Das Geburtsdatum stimmt mit Ihrem überein." Nach einer Stunde beginnt er sich zu langweilen. Er hätte gern gesehen, was auf der Straße los ist. Er darf nicht zum Fenster. Wenn die Amerikaner die Stadt wirklich in Trümmer legen, wird er in der Wohnung sein, im fünften Stock eines Hauses, das einen riesigen Schuttberg abgibt. Er darf nicht in den Luftschutzkeller. Ein Radio müßte er haben, da wäre wenigstens Musik zu hören. Er darf keinen Lärm machen. Er wagt nicht, in der Wohnung herumzugehen. Weil er befürchtet, seine Schritte könnten gehört werden. Er hat gegessen und beginnt lustlos, einen vertrockneten Blumentopf abzumalen. Die folgenden Tage vergehen überraschend schnell. Er verliert jeden Zeitbegriff. Sicher ist, daß er am 27. Mai 1944 in Mailand angekommen ist. Ob vier oder sechs Tage vergangen sind, kann er nicht genau sagen. Manchmal wird er täglich abgeholt, oft sogar zweimal am Tage. Er macht Aussagen vor einem Stab der „Gruppi di Azione Patriottica". Er erklärt seine Arbeit in der Kartenstelle und drängt bei jeder Gelegenheit, endlich aus Mailand fortgebracht zu werden, damit er ein Gewehr in die Hand bekommt, um zu kämpfen. „Zum Herumsitzen und um Protokolle füllen zu helfen,
habe ich die Flucht nicht auf mich genommen!" Die Genossen sind geduldig, vertrösten ihn von einem Tag zum anderen. An einem jener langen Abende klingelt das Telefon. Das ist ungewohnt. Die Genossen rufen nie bei ihm an. Mit einer schnellen Handbewegung nimmt er den Hörer ab und weiß in diesem Augenblick, daß er einen Fehler macht. „Sind Sie allein?" „Ja." „Es ist niemand bei Ihnen?" „Wer spricht denn?" fragt Walter Fischer. „Warten Sie eine halbe Stunde. Wir kommen gleich." Ein Knacken ist noch in der Leitung. Stille. Aus. Der Fehler ist gemacht, die unterbrochene Verbindung nicht wiederherzustellen, um wenigstens zu erfahren, wer ihn angerufen hat. Sekundenlang sitzt er neben dem Telefonapparat und möchte ihn in Stücke schlagen. Das würde nichts bessern. Er springt auf, sucht seinen Rucksack, stopft ihn hastig mit seinen wenigen Habseligkeiten voll. Er nimmt sich noch die Zeit, die Wohnung abzuschließen, und steigt hinunter in den Keller. Er gräbt seine Uniform unter altem Gerumpel aus, zieht sich um - die Mütze fehlt. Als er sie endlich findet, ist sie so verdreckt, daß er sie nicht mehr gebrauchen kann. Walter Fischer schleudert sie in eine Ecke, hebt sie wieder auf. Besser eine dreckige Mütze als gar keine. Er geht ohne Vorsicht an der Portiersfrau vorbei, hinaus auf die Straße. Niemand ist in der Dunkelheit zu sehen. Er hat kein Ziel. Soll er sich nach rechts oder nach links wenden? Instinktiv sucht er die Richtung, die auf
dem kürzesten Weg aus der Stadt führt. Die Straßen sind zu dieser Abendstunde erschreckend still. Er begegnet nur selten einem Menschen. Er wünscht, es möchte keinen Fliegeralarm geben, damit er auf der Straße bleiben kann - denn die Stunden werden jetzt gezählt und die Meter, die er zwischen sich und Mailand bringt Der Name eines Ortes hat sich ihm eingeprägt, in den Gesprächen beim Stab der „Gruppi di Azione Patriottica" in Mailand oft genannt: Rolo. Aber auf den Namen des Mannes, der in Rolo die Verbindung zwischen der Partisanengruppe und dem Stab hält, kommt er nicht. Ein Tierarzt. Wie viele Tierärzte gibt es in Rolo? Wo liegt Rolo? Niemand ist in Mailand, der ihm in dieser Stunde den Weg zeigen kann. Er marschiert und marschiert und erreicht im Morgengrauen die Peripherie der Millionenstadt, von der er nichts als den Bahnhof und eine verlassene Architektenwohnung gesehen hat. Er umgeht einen Posten, der die Straße an einem Schlagbaum bewacht, legt sich außer Sichtweite in den Straßengraben und wartet auf einen Wagen, der ihn südwärts mitnimmt. Im Süden müssen Partisanen sein. Im Notfall ist dort auch die Front. Ob Rolo im Süden liegt, kann er nicht sagen. Ende der Irrfahrt Walter Fischer ist seit fast einer Woche unterwegs. Er hat nur unvollständige und einander widersprechende Nachrichten gehört. Einmal von einem FlakHauptmann, der ihn ein Stück in Richtung Mantua
mitgenommen hat. „Der Gegner ist im Raum Cassino durchgebrochen." Einmal von Bauern, die ihm Wasser und Wein verweigern. Er schreit sie an, weil sie nicht sehen, daß er nicht so ein Deutscher ist. Sie machen kein Hehl daraus, wie sehr sie die Deutschen hassen. Auf sein Geschrei hin schütteln sie nur stumm ihre Köpfe. Als er gehen will, sagen sie zu ihm: „Amerikanische und englische Truppen haben Rom besetzt." Auf der Landstraße hält ein Kradmelder an, ruft: „Bist du wahnsinnig, so allein auf der Straße zu marschieren? Hier wimmelt es von Partisanen bei Tag und Nacht. In der Normandie sind die Amerikaner gelandet. Der Atlantikwall ist Scheiße." „Du bist auch wahnsinnig", antwortet er, „denn du fährst auch allein. Du solltest einen mitnehmen, der dir den Rücken deckt." „Wohin?" „Nach Rolo." Der Kradmelder verzieht das Gesicht. „Rolo?" fragt er. „Da trauen sich die Kameraden vom Stützpunkt nicht auf die Straße. Du hast noch rund fünfzig Kilometer. Geh zu Fuß. Die Straße ist sicherer als Rolo." „Ein Stück könnten wir zusammen fahren." Der Kradmelder nimmt ihn nicht mit. Nach zwei Tagen marschiert Walter Fischer in Rolo ein. Die Ruhe, die ihn empfängt, täuscht nur Frieden vor. Für ihn ist der Punkt erreicht, an dem ihm kein Quentchen Kraft mehr geblieben ist. Er hat das Herumziehen satt, ist müde und durstig. In solch einer Stimmung ist er noch nie gewesen, aber angesichts der tristen Straße des Ortes, den er sich viel größer
vorgestellt, hat er wenig Hoffnung. Er geht langsam durch die einzige Straße von Rolo. Vor den Haustüren stehen Männer und Frauen und sehen ihm nach. Er kann nichts aus ihren Blicken lesen. Es ist ihm auch gleichgültig, was sie denken. Die Tür zu einem Cafe steht offen. Italiener lehnen an der Theke.- Sie schauen ihn verwundert an, als er eintritt. Er bestellt Kaffee, trinkt, bezahlt einen viel zu hohen Preis, läßt seinen Rucksack stehen, sagt, er würde ihn später holen oder überhaupt nicht. Eine Stunde lang sucht er in Rolo den Tierarzt. Niemand gibt ihm Auskunft. Er findet ihn nicht, kehrt zurück in das Cafe. Da sitzt sie am Tisch, mit Marlisa zu verwechseln, lächelt ihm entgegen, freut sich über sein erstauntes Gesicht. „Ziehen Sie sich um. So können Sie nicht auf die Straße. Die deutschen Faschisten greifen Sie auf oder die Genossen der Abteilung Rolo." Eine halbe Stunde später geht ein Mann mit Guilietta durch Rolo, den hier noch nie jemand gesehen hat. Am Ende der Straße trennen sie sich. Er findet leicht den Weg zum Tierarzt, wird in einem geräumigen Zimmer erwartet. Vier Männer sitzen dort. „Endlich, Genosse Fischer. Wir dachten schon ..." Sie schütteln einander die Hände. Niemand will seine Erlebnisse wissen, niemand macht ihm Vorhaltungen, daß er Mailand so schnell verlassen hat, vielleicht unbegründet, vielleicht auch gerade noch zur rechten Zeit. Er erfährt nicht, daß die Wohnung des Architekten nicht mehr als Unterschlupf benutzt wird, fragt nicht danach. Es wäre ihm auch gleichgültig, denn
Mailand liegt hinter ihm, vor ihm die Front. Der Kampf gegen einen gut ausgerüsteten Gegner, in dem sie siegen werden, beginnt nun auch für ihn. Capitano tedesco Einmal sagt er beim Erklären deutscher Waffen, die sie beim letzten Gefecht gegen eine Lastwagenkolonne erbeutet haben: „Wir sehen aus wie eine Räuberbande. Nicht zwei von uns haben den gleichen Hut auf, nicht zwei die gleichen Hosen an. Wenn ich euch jetzt malen würde, glaubte mir später niemand das Bild." Sie sehen ihn aus großen Augen an, ein wenig verwundert, daß er so etwas sagen kann. Sie blicken an sich hinunter. Es stimmt, ihre Hosen wurden ein dutzendmal zerrissen und wieder gestopft, von ungelenken Bauernhänden, mit großen Stichen. Immer mit blauem Garn, weil sie davon gerade genug haben. „Die Deutschen tragen schöne Uniformen, besitzen gute Waffen und verlieren den Krieg trotzdem", sagt der Kommandeur. „Das liegt an der Sache. Die richtige Sache ist immer die sieghafte. Die deutschen Faschisten sind ausgezogen, um Länder zu erobern. Das mußte schiefgehen." „Tedesco", sagt der Kommandeur, „keine Philosophie. Es gibt Arbeit für dich." „Her damit, vor Arbeit bin ich noch nie ausgerissen." „Wir verpassen dir eine Uniform, weil dir die Räuberkleidung nicht gefällt. Komm mit!" Sie gehen ins Wohnhaus des weiträumigen Bauerngehöfts, das abseits der Straßen und Wege liegt und
noch nie von einem deutschen Soldaten betreten worden ist. Sie haben es sich vor einigen Wochen als Stützpunkt der Partisanenabteilung ausgewählt, weil es relativ sicher vor Überfällen der faschistischen Truppen ist. Im Wohnhaus liegen für Walter Fischer bereit: Wehrmachtshosen, ein Uniformrock mit den Schulterstücken eines Hauptmanns; eine Mütze, die nicht zur Uniform paßt, aber eben eine deutsche Mütze, legt der Kommandeur noch dazu. „Das ziehst du an." „Und dann?" „Einer unserer Genossen muß aus dem Krankenhaus Carpi befreit werden. Es hat ihn erwischt, Oberschenkel, nicht lebensgefährlich. Die Faschisten wollen ihn gesundpflegen und dann erschießen. Das Krankenhaus ist jetzt ein deutsches Lazarett." „Was soll die Uniform. Stürmen wir das Gebäude und räuchern die Bande aus." „Nein." Walter Fischer zieht die Uniform an. Sie paßt nicht gut. Es ist eine schlechte Maskerade, die er vollführen wird. Ein paar der Partisanen lachen, als sie ihn erblicken, und er bekommt seinen Namen: Capitano tedesco. Auch der Kommandeur nennt ihn sofort so, sagt: „Capitano tedesco, du triffst an der Weggabelung nach Carpi und Migliarino unsere Kämpfer in einem Sanitätswagen. Unser Genosse, den ihr befreit, liegt im zweiten Obergeschoß des Lazaretts in Carpi. Sobald ihr eintrefft, zerschneiden die Reinigungsfrauen die Telefonleitungen. Ihr könnt in Ruhe arbeiten. Schwieriger wird es mit den Posten vor dem Eingang werden. Sie dürfen nichts merken."
„Ihr hättet es mir ein paar Tage früher sagen können." „Brauchst du Bedenkzeit?" „Nein, aber überlegt sein muß so eine Geschichte." „Wir haben überlegt." Da schweigt er, setzt sich eine Stunde später auf ein Fahrrad und fährt los. Die Weggabelung, an der er den Sanitätswagen treffen soll, ist leicht zu finden. Er legt sich an der Kreuzung in den Straßengraben. Kaum zehn Minuten vergehen, bis ein Sanitätswagen kommt. Der Wagen hält, die Tür wird geöffnet. Ein echter deutscher Feldwebel steigt aus. Capitano tedesco reißt die Pistole aus der Tasche . . . „Mensch, bist du verrückt!" schreit der Feldwebel. Walter Fischer stutzt, schießt nicht. Eine Minute darauf sitzt er im Wagen und sagt: „Deine Feldwebeluniform ist wenigstens vollständig, aber vor mir, dem falschen Hauptmann, wird kein Posten strammstehen." „Wir werden sehen", antwortet der Feldwebel. „Woher hast du das: ,Wir werden sehen'? Es ist meine Redensart." 'Sie lachen. Der Feldwebel fährt gut. Capitano tedesco sieht durch das kleine Fenster ins Wageninnere. Unter einer der Tragen liegen zwei Partisanen. Als sie vor dem Lazarett in Carpi ankommen, sagt er: „Laß mich reden, mir ist da eine Idee gekommen. Mit Gewalt ist hier nichts zu gewinnen." Der Wagen hält. Er bleibt ruhig sitzen. Der Feldwebel steigt aus, öffnet ihm die Tür. Er steigt langsam aus, geht die vier Stufen hinauf, bleibt vor dem Posten stehen und fragt: „Wer ist der Mann, der hier an unseren Verwundeten herumschnippelt?" „Zu Befehl!" sagt der Posten mit viel zu kindlicher
Stimme. Er ruft einen Soldaten der Wache, den Läufer vom Dienst. Kehrtwendung, exakt wie auf dem Kasernenhof. Walter Fischer folgt dem Soldaten, der ihn durch Gänge führt, treppauf bis vor die Tür des Arztes. Weit hinter ihm sind die Schritte des Feldwebels zu hören. „Warten Sie hier", sagt Capitano tedesco. Er reißt die Tür auf. Drinnen springt der Arzt hinter seinem Schreibtisch auf. Hinter Walter Fischer fällt die Tür krachend ins Schloß. Er weiß, daß der Soldat und der Feldwebel jetzt draußen stehen. Sein Rückweg ist gedeckt, wenn etwas nicht klappen sollte, aber was hier zu erledigen ist, muß er allein tun. „Wo liegt der Mann, der erschossen werden soll, wenn er gesund ist?" Der Arzt wird merklich ruhiger, antwortet: „Im zweiten Obergeschoß. Ich dachte schon... Ihr Benehmen, Herr Hauptmann ..." „Schweigen Sie!" Er wundert sich, daß er so eine Kommandostimme hat. „Ich habe den Auftrag, das Schwein abzuholen! Gesundpflegen und dann erschießen? So ein Unsinn. Der Mann wird sofort erschossen!" „Aber nicht in unserem Lazarett, das dulde ich nicht", sagt der Arzt. „Kommen Sie mit! Führen Sie mich!" Vor der Tür lehnen der Feldwebel und der Soldat an der weißgestrichenen Wand. Beide rauchen. Er hat keine Zeit zu überlegen, ob der Feldwebel nicht zu weit geht. Besser wäre, er hätte die Hand an der Pistole statt an der Zigarette. Der Genosse, den sie befreien sollen, liegt allein in
einem Zimmer. Als er den deutschen Hauptmann sieht, glaubt er, sie kämen ihn holen, um ihn zu erschießen, bevor sein Bein ausgeheilt ist. Walter Fischer brüllt: „Stehen Sie auf, Sie Schwein!" Der Arzt sagt leise: „Der Mann kann nicht stehen und nicht die Treppen hinuntersteigen." „Beschaffen Sie Träger! Stehen Sie nicht herum! Ich habe meine Zeit nicht gestohlen!" Eine Trage wird gebracht. Zwei italienische Pfleger legen den Partisan darauf und tragen ihn hinunter in das Krankenauto. Der Capitano tedesco folgt ihnen sehr langsam. Er schaut sich unauffällig um im Krankenhaus. Da er die Reinigungsfrauen nicht entdecken kann, zweifelt er, ob die Telefonleitungen wirklich zerstört worden sind. Wenn das nicht geschehen ist, fassen die Faschisten das Auto spätestens an der Stadtgrenze. Der Arzt folgt ihm, sagt: „Ich brauche eine Bescheinigung. Etwas Schriftliches muß ich haben." „Ihr Krankenhaus ist ein Schweinestall!" schreit Walter Fischer und weiß in dieser Minute, daß er zu weit gegangen ist. Das wird ihm der Doktor nicht mehr abkaufen. Jetzt wird er ahnen, daß die unvollkommene Hauptmannsuniform nicht Nachlässigkeit ist, sondern eine Fälschung. „Bestätigen Sie mir wenigstens . . ." „Kennen Sie Garibaldi?" „Natürlich", antwortet der Arzt verwundert, „einer von diesen italienischen Nationalhelden. Achtzehnhundertsiebzig/einundsiebzig hat er auf der Seite der Franzosen gegen uns gekämpft..." „Stimmt, aber achtzehnhundertachtundvierzig war er
der Führer der Revolution in der Römischen Republik und organisierte Freiwilligenverbände. Er führte zwölf Jahre später den ,Zug der Tausend' an, eroberte Sizilien und Neapel. Schwach in Geschichte, Doktor! Wir führen sein Vermächtnis fort. Bestellen Sie Ihrer vorgesetzten Dienststelle, Capitano tedesco habe im Auftrag der ,Gruppi di Azione Patriottica' einen italienischen Helden aus Ihrem Lazarett befreit." „Etwas Schriftliches bitte." „Von mir nicht!" Der Posten vor dem Eingang grüßt, als Walter Fischer das Sanitätsauto besteigt. Er dankt nicht. Blödheit soll man nicht grüßen. „Mensch, gib Gas. Hier stinkt's mächtig. Ich möchte 'raus aus Carpi." Der Feldwebel jagt das Sanitätsauto durch die Straßen der Stadt, als gelte es, einem Kranken das Leben zu retten - und so ist es ja wohl auch. Zwei Stunden lang fahren sie kreuz und quer über Feldwege und Nebenstraßen, ehe sie in den Stützpunkt der Partisaneneinheit zurückkehren. Mit großem Jubel werden sie empfangen. Immer wieder müssen sie erzählen, wie sie die Befreiung angestellt haben. „Capitano tedesco!" ist in aller Munde. Immer wieder: „Der deutsche Hauptmann!" Der Titel ist ihm nicht lieb, er wird sich nicht an ihn gewöhnen können. Aber als er nach ein paar Wochen erfährt, daß seine Geschichte auch in anderen Partisaneneinheiten die Runde macht, wahrscheinlich ausgeschmückt, ist er sicher, daß er den Namen nicht mehr verlieren wird, und findet sich mit ihm ab.
Widerstand ist zwecklos Ein paar Wochen lang bekommt er keinen größeren Auftrag. Er verhört hin und wieder gefangene deutsche Soldaten, erfährt von ihnen keine Neuigkeiten. In seiner freien Zeit sieht er den Bauern zu, die in ihren befreiten Dörfern der Alltagsarbeit nachgehen, hört sich den Singsang der Frauen an, die mit lustigen Liedern auf die Felder ziehen. Er hat das ruhigste Leben, das er sich denken kann, aber er drängt und drängt, um Aufgaben zu bekommen, schwierige, die er lösen will. Er hat ein Bild gemalt von der eigenartigen Landschaft der Poebene. Ein paar Frauen sind darauf zu sehen, wie sie die Bewässerungsgräben entlang zur Arbeit gehen. Der Kommandeur hat ihm das Bild weggenommen. Walter Fischer empörte sich, erklärt, gibt es auf. Der Kommandeur sagt: „Male nach dem Sieg. Die Bewässerungsgräben sind unsere Verteidigungsstellungen." Ein paar Tage reden sie nicht miteinander. Manchmal vergißt Walter Fischer, daß sie illegal operieren. Der Kommandeur versöhnt ihn. „Warte ab, du wirst noch gebraucht. Wir schicken dich nicht leichtsinnig los, Capitano tedesco." Noch weiß Walter Fischer nicht, daß die „Gruppi di Azione Patriottica" beschlossen haben, dem Stützpunkt Rolo einen schweren Schlag zu versetzen. Das Munitionslager des faschistischen Stützpunkts soll gesprengt werden. Die Befehle der „Gruppi di Azione Patriottica" lassen die Möglichkeit offen, aus dem Lager vor der
Sprengung Munition für den eigenen Bedarf zu holen. Das will überlegt sein, denn solch ein Unternehmen kann hohe Verluste kosten, wenn es mißlingt. Eine Stunde lang sitzt Walter Fischer mit dem Kommandeur zusammen. Sie planen eine riskante Geschichte. Sie sagen: „Ohne Risiko kein Erfolg!" Das Unternehmen „Munitionslager Rolo" wird für die kommende Nacht, 24 Uhr, festgesetzt. Walter Fischer steckt schon zwei Stunden vor Mitternacht in der Uniform eines deutschen Soldaten. Diesmal will er mit gespielter Dummheit einen Erfolg suchen. Ein Hauptmann ist bei ihrem Plan nicht notwendig. Noch einmal sieht er sich auf der Karte die Lage des Munitionsdepots an. Es ist in drei Erdbunkern untergebracht, die von weitem aussehen wie Kartoffelmieten. Ein hoher Drahtzaun umgibt das Gelände, ein eisernes Tor versperrt die Zufahrt. Es gibt nur einen Posten am Tor, aber sicher ist, daß das Wachkommando Tag und Nacht in einem Bunker sitzt, der dem Tor am nächsten liegt. Walter Fischer kratzt sich den Kopf, meint: „Los geht's. Wir werden sehen." Ungesehen erreicht Walter Fischer die schmale Fahrtstraße am jenseitigen Ende des Ortes Rolo, die zum Munitionslager führt. Es ist still. Der Mond, sichelbreit, wirft kaum Licht. Jetzt läßt Walter Fischer alle Vorsicht außer acht, geht mit großen Schritten auf das Eisentor zu. Da wird er schon angerufen: „Parole!" „Ich hab' mich verlaufen, Kamerad. Sag mir den Weg nach Rolo." „Parole!" ruft der Posten.
Ein Gewehrschloß knackt. Walter Fischer hört zwei Schritte des Postens, denkt: Er ist ein Stück zur Seite getreten, um besseres Schußfeld zu haben. Wenn mir jetzt nichts einfällt oder wenn sich der Posten auf nichts einläßt, geht der Feuerzauber los. „Mensch, woher soll ich die Parole wissen. Ich. bin zwei Tage unterwegs. Ich we.iß nicht mehr, wohin." Der Posten rührt sich nicht. „Mach doch auf, und zeig mir den Weg", bittet Walter Fischer noch einmal. Das Tor ist verriegelt. Er hört den Posten ächzen. Dann schlüpft er durch den schmalen Spalt, sagt aufatmend: „Ein Glück, daß ich dich getroffen habe." Er behält eine Hand in der Hosentasche. Seine Handflächen sind schweißnaß. „Du bist ein seltsamer Vogel. Nachts in dieser Gegend. Es ist ein Wunder, daß dich die Partisanen nicht abgeknallt haben." „Warum sollten sie, wenn ich ihnen nichts tue?" „Hier stinkt's", sagt der Posten. „Komm 'rein, ich muß dich zum Wachhabenden bringen." Walter Fischer nimmt die Pistole aus der Tasche und drückt sie dem Posten in den Rücken. „Keinen Laut, sonst knallt's", zischt er ihm ins Ohr. Das Tor quietscht laut in den Angeln. In den nächsten Sekunden wird entschieden, ob sie das Munitionslager ohne einen Schuß in die Hände bekommen. Die Genossen führen den Posten ab. Andere Partisanen stehen schon am Bunker der Wachmannschaft. Walter Fischer stößt die Tür auf, schreit: „Widerstand ist zwecklos! Wer sich rührt, wird erschossen!" Die sechs Soldaten sind so erschrocken, daß sie sich
nicht bewegen. Nur der Wachhabende, am Tisch sitzend, steht auf und hebt die Arme über den Kopf. Die Soldaten sind in Sekundenschnelle entwaffnet. Der Kommandeur gibt leise Befehle. Munitionskisten werden aus dem Bunker getragen. Walter Fischer wundert sich, warum sie so viele Kisten schleppen: Gewehrmunition, Magazine für Maschinenpistolen, Granatwerfermunition. Alles tragen sie in Windeseile aus dem Bunker. Viel zu viel, um es transportieren zu können. Er hat in diesem Bunker nichts mehr zu tun. Auch braucht er ein paar Atemzüge frische Luft. „Zittert nicht, euch geschieht nichts", sagt er zu den Soldaten. „Ihr bekommt Arrest, weil ihr eure Waffen aus der Hand gegeben habt. Seid froh, vielleicht ist der Krieg zu Ende, ehe ihr wieder auf Wache ziehen müßt." Vor der Tür traut er seinen Augen nicht. Pferdewagen steht hinter Pferdewagen. Die Tiere scharren mit den Hufen, selten ist ein Schnauben zu hören. Der Kommandeur tritt zu ihm, sagt erklärend: „Mit uns ist das Volk." Seine weite Armbewegung schließt die Bauern mit ihren Pferdewagen ein und die Ortschaft Rolo, weist in das Land hinaus, nach dem Norden hinauf und nach dem Süden hinunter. Eine halbe Stunde später ist alles zu Ende. Zündschnüre sind gelegt, ein Streichholz flammt, die Lunte zischt. Die waffenlosen Wachposten des Munitionsdepots laufen querfeldein. Eine halbe Minute später schießt eine Feuersäule in den nachtschwarzen Himmel. Kein Pferdewagen ist mehr zu sehen, keine Partisanen.
Im Mai 1945 delegiert die Kommunistische Partei Italiens den Kämpfer Walter Fischer, genannt Capitano tedesco, aus einer Einheit der „Gruppi di Azione Patriottica" auf die Kunsthochschule in Mailand. Ein Jahr später erwirbt er, mit vierunddreißig Jahren, das Diplom. Er kehrt heim in das Land, für dessen Freiheit er seit dem Jahre 1929 in der Kommunistischen Partei Deutschlands gekämpft hat.