200 Jahre bevor Kelson in Gwynedd König wurde, lebte Camber von Culdi, ein ehrenwerter Mann und Edler, der zum Schutzhe...
52 downloads
727 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
200 Jahre bevor Kelson in Gwynedd König wurde, lebte Camber von Culdi, ein ehrenwerter Mann und Edler, der zum Schutzheiligen der Deryni-Magie werden sollte. 80 Jahre schon dauerte zu der Zeit die schreckliche Deryni-Herrschaft, nachdem das Geschlecht der Haldane gestürzt und vermeintlich restlos ausgerottet wurde. Immer unverträglicher wird das Regiment der heruntergekommenen Zauberkönige, die ihre magischen Fähigkeiten nur dazu benutzen, um das Volk zu unterdrücken und durch ihre Gedankenschnüffler aushorchen zu lassen. Doch oft bedarf es nicht einmal eines Vorwands, zu Dutzenden läßt König Imre in seinem rassischen Hochmut Bauern aufknüpfen, Männer, Frauen und Kinder, nur um seine Macht über Menschen zu demonstrieren und sich an ihrer Angst zu weiden. Da tut sich Camber von Culdi mit ein paar Getreuen und einigen Kämpfern des streitbaren Michaelitenordens zusammen, um dieser Schmach ein Ende zu bereiten, denn der Haß des Volkes droht sich gegen die gesamte Rasse der Deryni zu richten. Durch Zufall stößt Thuryn Rhys, ein Deryni-Magier und Vertrauter Cambers, auf eine Spur: Das alte Königsgeschlecht der Haldane ist womöglich nicht völlig ausgerottet. Wenn sie den legitimen Thronfolger fänden, hätte ihr Aufstand größere Aussicht auf Erfolg. Dies ist der erste Band des »Frühen« Deryni-Zyklus. Die Trilogie des »Späten« Deryni-Zyklus mit den Bänden »Das Geschlecht der Magier« (HEYNE-BUCH Nr. 3576), »Die Zauberfürsten« (HEYNE-BUCH Nr. 3598) und »Ein Deryni-König« (HEYNE-BUCH Nr. 3620) ist bereits erschienen. »Sankt Camber« (HEYNE-BUCH Nr. 3720), der zweite Band des »Frühen« Zyklus, ist in Vorbereitung.
KATHERINE KURTZ
CAMBER VON CULDI Erster Band des Frühen Deryni-Zyklus Fantasy
Ebook by »Menolly«
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN ISBN 3-453-30582-5
INHALT Prolog: Komm nun, schreibe es vor ihnen auf eine Tafel und lege es schriftlich fest; es sei für spätere Zeiten zum ewigen Zeugnis. Jesaja 30, 8
S. 9
1: Ein starkes Volk ist eines Königs Ruhm, doch schwache Bürgerschaft des Fürsten Untergang. Sprüche 14, 28
S. 17
2: ... er muß doch zur Schar seiner Ahnen gehen... Psalm 49, 20
S. 31
3: Doch auch dem Arzt gewähre Zutritt, er soll nicht weichen, denn auch er ist nötig. Jesus Sirach 38, 12
S. 46
4: Hör gern auf Rat und nimm Erziehung an, damit du weise seiest in der Zukunft! Sprüche 19, 20
S. 73
5: Der König bewohnte damals das Winterhaus, da es der neunte Monat war... Jeremia 36, 22
S. 93
6: O würde doch zu Wasser mein Haupt und mein Auge zu einem Tränenquell, daß ich beweinte bei Tag und Nacht die Erschlagenen... Jeremia 8, 23
S. 118
7: Des Arztes Kunst erhöht sein Haupt, und auch vor Fürsten darf er stehen. Jesus Sirach 38, 3
S. 136
8: Die Wut ist grimmig, übergroß der Zorn, doch wer kann vor der Eifersucht bestehen? Sprüche 27, 4
S. 158
9: Mag er auch noch so freundlich reden, trau ihm nicht; denn sieben Greuel sind in seinem Herzen. Sprüche 26, 25
S. 185
10: Ein Gauner ist der Wein, ein Lärmer ist der Rauschtrank, und keiner, der von ihnen taumelt, ist ein Weiser. Sprüche 20, 1
S. 200
Psalm 112, 6
S. 231
11: In ewigem Andenken bleibt der Gerechte.
INHALT 12: Denn nur mit Überlegung kannst du siegreich kämpfen, und Rettung kommt durch zahlreiche Berater. Sprüche 24, 6
S. 258
Jesaja 59, 3
S. 278
14: Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen. Psalm Salomos 72, 4
S. 293
13: Denn eure Hände sind besudelt mit Blut...
15: »Ich lasse mein Haus im Stich, ich verstoße mein Erbe...« Jeremia 12, 7
S. 311
Prediger 4, 8
S. 337
17: ... vielmehr soll er sich eine Jungfrau aus seinem Volke zum Weib nehmen. 3. Mose 21, 14
S. 361
16: Da steht einer allein, ohne einen zweiten, hat weder Sohn noch Bruder. Doch all seine Mühe ist kein Ende, und sein Auge wird nicht satt am Reichtum.
18: Der Herr sprach zu mir: »Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.« Psalm 2, 7
S. 382
19: Und legten ihn gefangen, bis ihnen klare Antwort wurde durch den Mund des Herrn. 3. Mose 24, 12
S. 407
20: »Höre uns, Herr! Ein Gottesfürst bist du in unserer Mitte.« 1. Mose 23, 6
S. 440
Prediger 4, 14
S. 455
21: Denn aus dem Kerker ist er auf den Thron gekommen und war doch arm geboren, als jener noch König war.
Und dies sind die Namen der Elf Königreiche, Viel besungen von alters her: Howicce und Llannedd und der wilde Connait; Das gebirgige Meara, Land jenseits des Flusses; Und Kheldour, vom Wind gezaust; Des Ostens beschauliches Markeningen; Tolan und Torenth und das sagenreiche Mooryn; Verschollenes Caeriesse, versunken im Meer; Und das hochstrebsame Gwynedd, der HaldaneKönige Reich. Der Elf Königreiche Preisgesang Herrn Llewellyns, Hofsänger des Großkönigs von Mooryn
PROLOG Komm nun, schreibe es ihnen auf eine Tafel und lege es schriftlich fest; es sei für spätere Zeiten zum ewigen Zeugnis! Jesaja 30,8 Sankt Camber. Camber von Culdi. Derynigraf von altem Adel. Begnadeter Gelehrter und Rechtskundiger. Patron der Derynimagie. Defensor Hominum. Camber. Zur Zeit der Herrschaft König Kelsons I. war er bereits seit zweihundert Jahren eine wahre Sagengestalt, nacheinander geachtet, heiliggesprochen und schließlich gefürchtet. Wer aber war der Mann Camber von Culdi? Was war er für ein Mann, ehe er zum Heiligen aufstieg – und dann zum Dämon herabsank? War er, wie spätere Legenden beharrlich behaupten, der alleinige Betreiber aller mit dem DeryniInterregnum einhergegangenen Greueltaten und Schrecken? Die Apotheose der Verkörperung des Bösen? Oder gab es andere Seiten an diesem Mann, der schon zu Lebzeiten einen legendären Ruf erlangte, den man nach seinem Tode zum Heiligen erhob, dessen Name dann vielen Geschlechtern nur als Fluchwort erhalten blieb? Wer war Camber von Culdi? Die spärlichen derynischen Quellen, die zur Zeit
Kelsons noch vorhanden waren, berichten der Nachwelt, daß Camber MacRorie mehr als jeder andere dafür Verantwortung trug, als es im 9. Jahrhundert gelang, die Herrschaft der Festil-Dynastie zu brechen; daß er und seine Kinder es waren, die während jener von Wirren gezeichneten Zeit entdeckten, daß bisweilen die gewaltigen derynischen Kräfte und Fähigkeiten sich gewissen auserwählten Menschen übertragen ließen. Im Jahre 904 bestieg das Geschlecht der Haldane wieder den Thron Gwynedds, und für über ein Jahrzehnt lebten Menschen und Deryni in vergleichsweiser Eintracht. Kaum ein Jahr nach seinem Tod wurde Camber für sein kühnes Wirken heiliggesprochen. Das ist eine bewiesene Tatsache. Für Menschen und Deryni gleichermaßen war er fortan Sankt Camber, Patron der Derynimagie und Defensor Hominum – Beschützer der Menschheit. Eine Zeitlang konnte das dankbare Volk gar nicht genug höchste Töne finden, um den Mann zu preisen, der es vom verhaßten festilischen Joch befreit hatte. Im Jahrzehnt nach seinem Hinscheiden benannte man nach ihm Kirchen und Klosterschulen. In allen Elf Königreichen lehrte man in derynischen Lehrstätten die von Camber und dem Heiler Rhys Thuryn vervollkommneten geistigen Hilfsmittel. Seine Familie und seine Gefolgsleute unterstützten auch weiterhin den wieder an die Macht erhobenen Haldane-König und halfen bei der Festigung seiner Herrschaft, und schließlich gründeten sie den Camberischen Rat, welcher in bestimmter Gestalt noch zur Zeit König Kelsons bestand. Doch die menschliche Dankbarkeit ist wählerisch und von kurzer Dauer, und noch launischer sind in
ihrer Dankbarkeit Könige. Über die Vermächtnisse der Deryniherrschaft ließ sich schwer hinwegsehen, zumal noch immer viele Deryni Stellungen einnahmen, die ihnen Macht und Einfluß verliehen. Es wirkte wie ein Verrat an jenen Menschen, die unter festilischer Gewalt so gelitten hatten, die Ungerechtigkeiten zu übersehen, welche während der vergangenen mehr als achtzig Jahre geschahen. Das verbitterte Volk vergaß alsbald, daß von den mächtigen Händen der Deryni nicht nur die Sklaverei, sondern auch die Erlösung gekommen war; und infolgedessen entstand ein Aufwallen derynifeindlichen Fühlens, das schließlich – mit dem Tod König Cinhils im Jahre 917 – in eine Welle der Deryniverfolgung mündete, die volle zwei Drittel der derynischen Bevölkerung Gwynedds auslöschte. Tausende starben durch das Schwert, im Feuer, am Strang – Opfer roher Vergeltungswut für Übeltaten, welche unter den Festils wirklich geschehen waren oder an die man lediglich glaubte. Die wenigen Überlebenden unterlagen dem Zwang des Verbergens und der Heimlichkeit, mußten in der Fremde ein unsicheres Dasein der Furcht auf sich nehmen, ihr einst so stolzes Erbe und ihre gewaltigen Kräfte verleugnen. Nur ein paar Glückliche fanden in Ehren Zuflucht, ohne ihre Persönlichkeit aufgeben zu müssen, und selbst sie waren zu einer Art von Halbleben in starker Beengtheit verurteilt, angewiesen auf den dürftigen und manchmal nachlässigen Schutz der wenigen menschlichen Adeligen, die noch wußten, wie es sich wirklich verhalten hatte. Sogar so spät danach wie im Jahr des gwyneddisch-torenthischen Krieges von 1121 war Derynitum weder eine leichte, noch eine leicht eingestehbare
Bürde. Es bedarf keiner näheren Erläuterung, daß Cambers Heiligkeit mit dem Beginn der Verfolgungen als eines der ersten Dinge verlustig ging; 917 sprach das Konzil zu Ramos – womit es einer an die Bischöfe gerichteten Forderung Alroys nachgab, König Chinhills Sohn und Erben – Camber die Heiligkeit ab und verbot selbst die Erwähnung seines Namens. Die Streitbare Kirche, dazu gedrängt von Frömmlerbewegungen wie etwa den Willimiten, verhängte über den Gebrauch jeglicher Magie, gleichgültig zu welchem Zweck, den Kirchenbann; erklärte Derynimagie zu einer der abscheulichsten Ketzereien; schloß jedermann derynischer Herkunft von aller und jeder Tätigkeit in der kirchlichen Hierarchie aus. Im weltlichen Bereich verbot man den Deryni jegliches Eigentum, ausgenommen unter allerstrengster Überwachung; man verweigerte ihnen das Recht öffentlicher Ämter und Titel; ohne die Zustimmung ihres Lehnsherrn durften sie weder Ehen schließen noch Kinder haben. Die Unterdrückungsmaßnahmen, welche man den Deryni im Lauf eines Jahrzehnts antat und auferlegte, blieben nahezu zwei Jahrhunderte lang in unveränderter Gültigkeit bestehen. Doch selbst gestürzte Heilige waren einst Menschen – oder, wie im Falle Cambers, Deryni. Schriften können verschwinden oder vernichtet werden, mündliche Überlieferungen verwirren sich durch ihre ungenaue Wiederholung, und mit den Jahren ergibt sich ein Gestrüpp aus Tatsachen, Erdichtungen und reinen Lügen, das mehr als ein Leben auszufüllen vermöchte. Und dennoch gibt es natürlich eine Wahrheit über Camber von Culdi; und eine Persön-
lichkeit ist mehr und zugleich weniger als die vielen Legenden, die sich um sie ranken. Cambers Welt war in mancherlei Beziehung ein weniger feines und vornehmes Land als zur Zeit Kelson Haldanes und Alaric Morgans; aber es war ein Musterfall für die Einheit der Gegensätze – und vielleicht auch der Widersprüche. Es war ein Land, das den alten Heidengöttern und ihren geheimnisvollen Brauchtümern um zwei Jahrhunderte näher stand, und doch galten die ehrfurchterregenden Kräfte der Deryni mehr als Wissenschaft denn als Magie, anders als es später der Fall war, unter der Herrschaft Kelsons. Es war eine Zeit, da einige wenige begnadete Deryni es lernten, die meisten Verletzungen des Körpers zu heilen, die Ursachen der Krankheiten ergründeten – Wissen, das in den finsteren Zeiten nach den Verfolgungen für viele, viele Jahre verloren blieb; da in der Mehrzahl der Elf Königreiche auf kirchlicher Ebene ein Verbindungsnetz aus Portae Itineris in Betrieb war, obschon diese Einrichtungen zur Schaffung und zum Unterhalt einen bedeutenden Aufwand an Zeit, Kräften und Derynifähigkeiten beanspruchten; da Gedankensehen unter vielen Deryni als offen ausübbare Gewohnheit galt. Ein Jahrhundert war seit Pargan Howiccan verstrichen, dem großen Derynidichter, der das Herz des bekannten Erdkreises mit seinen Götter- und Heldensagen entflammte; nur ein halbes Jahrhundert seit dem Tode Herrn Llewellyns, des größten Barden und Troubadours, den die Welt jemals vernommen hatte. Burgen, Schlösser und Kirchen entstanden in bislang ungekannter Pracht, und dabei bediente man sich Bauweisen, die man erst spät unter Kelsons Herrschaft wiederentdeckte. Kirchliche
Lehrstätten blühten an Domschulen und einem halben Dutzend höchst gedeihlicher Hochschulen; die Bildung kam sowohl Klerikern wie auch Laien zugute. Und doch war diese Zeit zugleich die Epoche der zwielichtigen derynischen Festil-Dynastie; nur wußte damals noch niemand, daß sie einmal als solche betrachtet werden sollte. In diese Welt war siebenundfünfzig Jahre zuvor Herr Camber MacRorie als dritter Sohn des sechsten Grafen von Culdi getreten, um selber siebter Graf von Culdi zu werden. Wie die Überlieferung berichtet, war er zwar ein hervorragender Gelehrter und Rechtskundiger, ein in Liebe ergebener Ehemann und Vater – welch letzteres die Erzählungen seltener erwähnen –, und getreuer Untertan zweier festilischer Könige – aber nicht des derzeitig neugekrönten Königs Imre. Denn Camber hatte gesehen, welchen Gang die Entwicklung unter König Blaine genommen hatte, des jungen Königs Vater, und er erkannte, daß er dem König, der aus Imre werden mußte, nicht dienen konnte. Camber zog sich auf seine Burg zu Tor Caerrorie zurück, nahe der Hauptstadt Valoret, um sich dort in aller Ruhe seinen Studien zu widmen, wieder vertraute Gemeinsamkeit mit seinen Kindern und Enkeln zu pflegen und im übrigen den weiteren Verlauf dessen abzuwarten, das sich unterm neuen Herrscher abzuzeichnen begann. So war er voller Mißbilligung, aber keineswegs überrascht, als der hochmütige junge Imre kurz nach seiner Thronbesteigung seinen ersten großen Abgabenbeschluß erließ. Wir, Imre, Sohn des Blaine, Sohn des Hauses Festil,
durch Gottes Gnade König von Gwynedd sowie Herr von Meara und Mooryn, befehlen allen männlichen Untertanen Unseres Reiches, die das Alter Don vierzehn Jahren erreicht haben, nicht später als zur Hochsommerzeit in Unsere Königliche Schatzkammer zu Valoret den sechsten Teil all ihres Eigentums und Landbesitzes in Geldeswert einzuliefern, so daß Wir dieselben Gelder zum Bau Unserer neuen Hauptstadt zu Nyford verwenden können. Niemand ist ausgenommen von dieser Abgabe, es sei denn auf ausdrückliches Gewähr der Krone. Ferner verkünden Wir, daß ein jeglich Mannsbild, welchselbiges ein Mindestmaß an Geldeswert, das bestimmt wird durch Unsere Schatzkämmerlichen Beiräte, nachweislich zu entrichten nicht imstande sich befindet, der folgenden Wahl vorgestellt ist: sich mit allen Anverwandten und etwaigem Gesinde für eine Zeitspanne, die nicht länger andauern soll denn ein Jahr, der Krone zu Frondiensten zu verfügen, welche anbeträchtlich des Mangels an Silber ausgleichshalber zum Aufbau Unserer Stadt Nyford nutzreiche Verwendung finden sollen. Jegliche Verweigerung, sei es denn in Vorenthaltung der Münzabgabe oder durch Unterlassen des Frondienstes, erfährt strenge Bestrafung, indem all des Weigerers Vermögen der Krone anheimfällt und derselbe für eine Frist in den Kerker einzuschließen ist, deren Dauer ein diesbezwecklich eigens gegründetes Gericht dazu eigens ernannter Königlicher Beiräte festlegt, und eine Verweigerung der beschriebenen Art kann in solchermaßen auffaßbaren Fällen als Verrat gelten, worauf zur Strafe der Tod steht. Diesem Sinne gemäß ernennen Wir zu Königlichen Beiräten der Krone Unsere im folgenden erwähnten, Unserer Liebe und Unseres Vertrauens versicherten
Diener: Herrn Jowerth Leslie; Seine Ehrenwerte Gnaden, den Grafen von Grand-Tullie; Herrn Coel Howell; Herrn Torcuill de la Marche... Urkundsrollen, 2 Imre I. Die Ländereien der MacRories waren ausgedehnt und reich, und Camber war dazu in der Lage, für sich und seine Schutzbefohlenen die Abgabe zu entrichten; aber vielen blieb dies Glück versagt. Auch blieb die Große Abgabe – unter welcher Bezeichnung der Erlaß später unrühmliche Bekanntheit erlangte – nicht Imres einziges überstürztes Narrenwerk. Die Beunruhigung, welche bis dahin im wesentlichen bloß ansatzweise und unterschwellig geschwelt hatte, verwandelte sich nun in spürbare Unruhe. Halb aufrührerische Femebünde entfalteten ein Wirken, das sich hauptsächlich gegen Imres Eintreiber richtete, aber die auch Deryni bestraften, die ihren Rang und ihre Macht dazu mißbrauchten, um unrechtmäßige Vergünstigungen zu genießen. Unterdessen saß Camber sicher in seinem Herrenhaus zu Caerrorie und beobachtete das Geschehen ringsum, noch nicht in Versuchung geraten, offenen Widerstand zu erwägen, aber bereits des Anwachsens derynifeindlicher Stimmung gewahr. Camber MacRorie. Siebenter Graf von Culdi. Begnadeter Gelehrter und Rechtskundiger. Würdenträger des Königlichen Hofes im Ruhestand. Bisweilen Ausüber derynischer Magie. Im Jahre 903 befand er sich noch nicht im Stande der Heiligkeit.
1 Ein starkes Volk ist eines Königs Ruhm, doch schwache Bürgerschaft des Fürsten Untergang. Sprüche 14,28 Obwohl es erst Spätseptember war, umheulte ein winteriger Wind die Zinnen Tor Caerrories und rüttelte daran, schüttelte gar die trüben Butzenscheiben in den schmalen Fenstern und brachte das in Rot und Himmelblau ausgeführte Banner der MacRories auf des Burgfrieds Höhe zum Knattern, bis es zuletzt in Fetzen hing. Im Innern des Burgsaals saß in der Nähe des Kamins, worin ein Feuer knisterte, des Grafen von Culdi einzige Tochter über die Abrechnungen der Pächter gebeugt, wider die Kälte der weiten, stillen Halle in eine mit Pelz besetzte Robe gehüllt; zu ihren Füßen schlief ein scheckiger Wolfshund. An der Mauer in ihrem Rücken flackerten Fackeln, obschon der Nachmittag noch nicht einmal zur Hälfte verstrichen war, und verräucherten die Steinwände mit Ruß. Rauch vermengte sich mit dem Duft von Hammelkeulen, die in der nahen Küche brieten, und wo sie saß und arbeitete, warf ein Binsenlicht gelblichen Schein über die lange Tafel. Als sie schließlich die letzte Eintragung mit ihrem Namenskürzel versah und die Feder niederlegte, geschah dasselbe mit einer gewissen Erleichterung. Umphred, ihres Vaters Gutsverwalter, vernahm ihren Seufzer und trat mit einer
Verneigung heran, um die Rollen an sich zu nehmen. »Das beschließt die Abrechnung fürs letzte Jahresviertel, Herrin. Habt Ihr alles für ordnungsgemäß befunden?« Evaine MacRorie, seit ihrer Mutter Tod vor sieben Jahren Herrin auf Tor Caerrorie, schenkte Umphred die Gunst eines sanftmütigen Lächelns. Der Wolfshund hob seinen wuchtigen Kopf, um den Gutsverwalter anzuschauen, dann schlief er weiter. »Ihr wißt sehr wohl, daß es nicht anders sein könnte«, entgegnete Evaine mit fortgesetztem Lächeln. Freundlich berührte sie des Alten Hand, während er die Rollen in ihre Behältnisse schob und sich unter den Arm lud. »Wolltet Ihr wohl einen Knappen anweisen, er möge ein Pferd satteln und sich bei mir einfinden?« fügte sie hinzu. »Ich habe an Cathan einen Brief, der nach Valoret zu bringen ist.« Als Umphred sich erneut verneigte und zum Gehen wandte, strich sich Evaine eine Strähne flachsblonden Haares aus der Stirn; dann begann sie einen Tintenfleck an ihrem Daumen zu reiben, den Blick auf den Brief gerichtet, der vor ihr auf der Tafel lag. Sie überlegte, was Cathan wohl sagen mochte, sobald ihn der Brief erreicht hatte. Und sie fragte sich auch, wie Joram, ihr anderer Bruder, sich verhalten werde, wenn er die Neuigkeit erfuhr. Wie Cathan den Brief aufnahm, ließ sich eigentlich unschwer voraussehen. Erschrocken mußte er sein, bestürzt und zuletzt erzürnt; doch dann würde das zweifache Band der Freundschaft zu seinem König und des Pflichtgefühls gegenüber seines Vaters Untertanen ihn dazu veranlassen, um des Königs Vergebung anzuhalten, zu erwirken, daß der milde Sonnenschein von Herrschergnaden die Gewitterwolken
königlichen Grolls vertrieb. Die MacRories selbst waren nicht verwickelt in das, was geschehen war, doch hatte der Vorfall sich immerhin auf Cambers ererbten Ländereien zugetragen. Evaine fragte sich daher überdies, ob sich Imre wohl gegenwärtig in einer seiner Anwandlungen äußerster Übellaunigkeit befinden mochte. Joram dagegen stak nicht dergestalt in den Banden der Pflicht, die zur Umsicht mahnten, wie sein älterer Bruder. Als verschworener Priester im Streitbaren Orden des Heiligen Michaels war Joram ohne weiteres dazu imstande, in eine der schwülstigen, großsprecherischen Schimpfreden auszubrechen, für welchselbige die Michaeliten in angemessenem Umfang berühmt waren, wenn er die Kunde vernahm; doch nicht die Möglichkeit eines Ausbruchs von Jorams ausdrucksreicher und spitzfindiger Redekunst war's, was Evaine den Grund zur Besorgnis lieferte, sondern vielmehr die Tatsache daß des Heiligen Michaels Priester eine starke Neigung besaßen, den Donnerwettern aus ihren Kehlen, falls die Besonnenheit nicht die Oberhand gewann, wahre Blitzschläge an Taten folgen zu lassen. Die Michaeliten waren nicht allein ein Orden des Gebets und der Gelehrsamkeit, sondern auch des Schwertes. Mehr als einmal hatte ihr Eingreifen in weltliche Angelegenheiten Ereignisse ausgelöst, die ihre umgänglicheren Brüder am liebsten zu vergessen pflegten. Sie besänftigte ihr Gemüt mit dem Gedanken daran, daß Joram die Neuigkeit erst in zwei Tagen erfahren sollte, wenn er am Michaelstag daheim weilte; dann erhob sie sich, reckte die Gliedmaßen und angelte mit einem von warmem Strumpf umhüllten Zeh nach einem beim Grübeln entglittenen Pantoffel, wo-
bei sie mit scharfem Wort den im Saal verbliebenen Hund davon fernhalten mußte. Vielleicht war die verdrießliche Sache bis zum Michaelstag beigelegt; daran allerdings zweifelte Evaine. Was immer dabei herauskommen mochte, am Michaelstag dieses Jahres würden die MacRories ein wenig mißlicher gestimmt sein als gewöhnlich. Natürlich kam Joram heim, und er sollte ihren geliebten Rhys mitbringen; doch Cathan, seine Gemahlin und Söhne mußten am Hof in Valoret bleiben. Der junge König war anspruchsvoll, und er beanspruchte in besonders hohem Maße die Zeit und Aufmerksamkeit jener, die – wie Cathan – in seiner Gunst standen. Evaine erinnerte sich all der langen Monde, welche ihr Vater am Hofe hatte zubringen müssen, als er dem alten König diente. Ein Knappe kam und sank vor ihr auf ein Knie, und sie erklärte ihm kurzgefaßt seinen Auftrag, bevor sie ihm das Schreiben aushändigte, welches er zu ihrem Bruder befördern sollte. Dann rückte sie die Robe enger um ihre Schultern und durchquerte die mit Binsenmatten ausgelegte Halle, um die schmale Wendeltreppe zu ersteigen, die hinauf in ihres Vaters Studierzimmer führte. Sie und Camber hatten sich der Aufgabe gewidmet, die klassischen Sagen des derynischen Dichters Pargan Howiccan zu übersetzen, und ein Versprechen Cambers lautete, an diesem Nachmittag eine ganz besonders schwierige Stelle mit ihr durchzusprechen. Von neuem empfand sie Verwunderung angesichts der staunenswerten Vielseitigkeit des Mannes, der ihr Vater war, und zärtliche Erinnerungen begleiteten sie die Wendeltreppe hinauf. Cambers Erfolge im weltlichen Wirkungskreis
hatte eigentlich niemand vorausgesehen oder erwartet, und sie waren auch nicht von langer Hand angestrebt worden. In seiner Jugend hatte er sich auf die Laufbahn eines Klerikers vorbereitet und an der neuen Hochschule in Grecotha eindrucksvolle akademische Ehrungen unter einigen der größten Denker des Jahrhunderts erlangt. Seinem Aufstieg innerhalb der Kirche wären keine Grenzen gesetzt gewesen. Doch dazu kam es nicht, denn als die Pest seine beiden älteren Brüder dahinraffte und somit ihn zum Erben des Namens und der Ländereien der MacRories machte – zu einer Zeit, da er noch nicht seine endgültigen Gelübde geleistet hatte –, da entzog ihn sein Vater mit rücksichtsloser Rauheit dem Frommendasein und stieß ihn ins weltliche Leben; und da stellte er fest, daß ihm letzteres durchaus gefiel. Die weitere Entfaltung seiner Fähigkeiten als gelehrter Laie und überdies eines Grafen Sohn verschaffte ihm an allen Lehrstätten einen ausgezeichneten Ruf und allerhöchstes Ansehen, bevor des alten Königs Vater, Festil III., ihn erstmals an den Hof nach Valoret rief. Der Herrscher trachtete danach, seines Reiches weiseste Männer zu seinen Beratern zu ernennen, und in dieser Hinsicht gab es nur wenige, die sich mit Camber zu messen vermochten. Das nächste Vierteljahrhundert verbrachte er hauptsächlich im Dienste des Königs. Doch das war nun schon Vergangenheit. Vor drei Jahren hatte sich Camber, inzwischen weit über fünfzig Jahre alt, mit dem Tode König Blaines auf sein geliebtes Caerrorie zurückgezogen, Geburtsort seiner selbst und seiner fünf Kinder. Dort war jedoch nicht der Stammsitz der Grafen von Culdi; diese Ehre war unwiderruflich der großen, zur Festung ausgebauten
Turmburg Cor Culdi an der Grenze nach Kierney gegeben, welchselbige Camber noch immer mehrmals im Jahr aufsuchte, um Hof und Gericht zu halten. Hier aber, nahe der Hauptstadt und in der lebhaften Gesellschaft seiner Kinder, verfügte er über die Ungezwungenheit und Freiheit, derer er bedurfte, um sich wieder den hochgelehrten Studien und Forschungen zu widmen, von denen er vor vielen Jahren im Interesse des Königlichen Hofes hatte Abstand nehmen müssen – diesmal allerdings mit der Unterstützung einer liebreizenden, scharfsinnigen und unersättlich wissensdurstigen Tochter, deren Geistestiefe er erst kürzlich entdeckt hatte. Danach befragt, hätte er entschieden in Abrede gestellt, daß er eines seiner Kinder den anderen vorziehe, denn er liebte sie alle mit glutheißer Inbrunst; doch ohne Frage nahm Evaine in seinem Leben und seinem Herzen einen besonderen Platz ein – Evaine, jüngstes seiner lebenden Kinder und das letzte Kind daheim. Evaine nahm diese Eigenheit ihres Vaters so gelassen zur Kenntnis wie alle seine anderen Eigenarten, ohne bewußt auf ihre Ergründung zu verzichten – und zugleich, ohne nach einer solchen Ergründung zu verlangen. Sie erreichte ihres Vaters Tür und klopfte gedämpft, bevor sie den Riegel beiseite schob und eintrat. Camber saß hinter einem aus Holz geschnitzten Jagdtisch, auf dessen mit Leder bezogener Platte Pergamentrollen, von Tinte befleckte Federkiele und andere Hilfsmittel des Gelehrtengeistes verstreut lagen. In seiner Gegenwart befand sich ihr Vetter, James Drummond, und der beiden Gespräch verstummte, als sie ins Gemach trat. Vetter James schaute unmiß-
verständlich verärgert drein, obschon er seinen Verdruß zu verhehlen suchte. Cambers Miene war gleichmütig. »Um Vergebung, Vater. Ich wußte nicht, daß James bei dir weilt. Ich kann später wiederkommen.« »Das muß nicht sein, mein Kind.« Camber erhob sich, stützte beide Hände locker auf die Tischplatte. »James wollte soeben gehen. Stimmt's, James?« James, ein zerzaustes, dunkleres Abbild des silberblonden Mannes hinterm Tisch, ruckte aus Ärger mit dem Daumen an seinem Gürtel und strengte sich an, um den finsteren Ausdruck seiner Miene zu verscheuchen. »Sehr wohl, Herr, doch bin ich, offen gesprochen, bislang nicht zufrieden mit Euren Darlegungen. Gerne würde ich morgen wiederkehren und weiterhin mit Euch darüber Zwiesprache halten, falls Ihr dagegen keine Einwendungen erhebt.« »Selbstverständlich habe ich nicht im allerentferntesten etwas dagegen, James«, erwiderte ohne Zaudern der Ältere. »Jederzeit bringe ich dazu die Bereitschaft auf, wohlbegründeten Meinungen zu lauschen, die sich von meinen Auffassungen unterscheiden. Wenn's Euch möglich ist, bleibt bis zum Michaelstag bei uns. Cathan kann leider nicht unter uns weilen, aber Joram und Rhys haben ihr Kommen angesagt. Ihr seid uns ein überaus lieber Gast.« Von Cambers Entgegnung gleichsam entwaffnet, erstattete James gemurmelt seinen Dank und nuschelte etwas von dringlichen Erledigungen, dann vollführte er eine eckige Verbeugung und ging hinaus. Die Brauen gehoben, wandte sich Evaine ihrem Vater zu, lehnte sich an die Tür. »Grundgütiger! Worum handelte es sich denn? Oder sollte ich mir die
Frage lieber verkneifen?« Camber trat zu dem kleinen Kamin – ein seltenes, außergewöhnliches Zeugnis des Wohllebens in einem so kleinen Raum –, schob zwei Lehnstühle heran und winkte ihr, sie möge Platz nehmen. »Eine bedeutungslose Meinungsverschiedenheit, sonst nichts. Da sein Vater nun tot ist, erwartet James naturgemäß von mir eine gewisse Anleitung. Aber leider hat er diesmal nicht die Antwort erhalten, die er hören wollte.« Er riß an einem Klingelzug, dann beschäftigte er sich damit, das Feuer zu schüren, bis ein Diener in Gesindetracht kam und eine Stärkung brachte. Verwundert sah Evaine zu, wie ihr Vater dem Diener schon an der Tür das Auftragbrett abnahm und ihn sofort wieder wegschickte. Als sie zwischen ihren Händen einen Becher mit Glühwein hielt, richtete sie den Blick auf ihren Vater. Trotz des Feuers und der Gobelins an den Wänden war es kühl in der kleinen Kammer. »Du bist heute nachmittag so schweigsam, Vater. Warum? Hat James dir von dem Mord erzählt, den jemand in der Nacht im Dorf beging?« Für einen flüchtigen Moment erstarrte Camber, doch entspannte seine Haltung sich augenblicklich wieder. »Du weißt darum?« Sie zog es vor, sich behutsam auszudrücken. »Wenn gleichsam unterm eigenen Fenster ein Deryni den Tod findet, erfährt man freilich davon. Es heißt, des Königs Mannen hätten fünfzig Dörfler als Geiseln genommen, und der König gedenke, sollte man den Mörder nicht ergreifen, die Festilische Faustregel anzuwenden.« Camber trank einen langen Zug vom Wein und starrte ins Feuer. »Es ist ein barbarischer Brauch, ei-
nem ganzen Dorf die Schuld am Tod eines Mannes aufzubürden, und war der Mann auch ein Deryni.« »Gewiß, doch hat sich dieser Brauch in den alten Zeiten vielleicht als vonnöten und nützlich erwiesen«, sann laut Evaine. »Wie sollte sonst ein an Zahl so geringes Herrenvolk seine Gewalt über die Unterworfenen sichern und festigen können? Aber außerdem weißt du selbst, wie unbeliebt Herr Rannulf war, sogar unter unseresgleichen. Ach, ich entsinne mich noch daran, daß Cathan ihn eines Tages buchstäblich mit Handgreiflichkeit von Caerrorie treiben mußte, als du noch am Hofe weiltest. Wenn der sanftmütige Cathan zu solcher Tat imstande ist, vermag ich mir vorzustellen, wie bäurisch der Mann gewesen sein dürfte.« »Dann kannst du dir sicherlich auch ausrechnen, wieviel restliches Volk verbliebe, wollten wir jeden bäurischen Klob in Gwynedd hinrichten.« Camber lächelte verzerrt. »Wie du über Rannulf als Person auch denken magst, den Tod hatte er nicht verdient – und schon gar nicht denjenigen, der ihn ereilte.« Einen Moment lang schwieg er. »Ich nehme an, da du von dem Vorfall weißt, daß dir auch die Einzelheiten der Mordtat bekannt sind?« »Ich weiß nur, daß es der allergreulichste Anblick war.« »Und nicht das Werk unserer Bauern, obgleich des Königs Beauftragte darauf beharren«, ergänzte Camber. Er erhob sich und legte seine Arme aufs Kaminsims; sein Daumen rieb über die Maserung des Holzschmucks am Becher in seiner Hand. »Man hat Rannulf gehängt, gestreckt und zuletzt gevierteilt, Evaine, und zwar auf die sachkundigste Weise, die ich
jemals gesehen habe. Die Bauern im Dorf sind zu solcher Kunstfertigkeit nicht fähig. Außerdem haben des Königs Gedankenseher bereits sämtliche Geiseln befragt und dabei nichts in Erfahrung bringen können. Einige Dörfler glauben – sie glauben es, bitte ich zu beachten –, die Willimiten seien des Verbrechens Urheber. Aber niemand weiß es gewiß oder vermag irgendwelche Namen zu nennen.« Evaine schnob spöttisch. »Die Willimiten! Ja, freilich, vermutlich könnte Rannulf den Willimiten zum Opfer gefallen sein! Man erzählt sich, daß in der vergangenen Woche in einem seiner Dörfer, von hier nur wenige Meilen entfernt, ein Kind mißhandelt worden ist. Hast du davon vernommen?« »Möchtest du damit andeuten, der Verantwortliche dafür könnte Rannulf gewesen sein?« Evaine hob, den Blick unverwandt auf ihn geheftet, eine Braue. »Jedenfalls ist das der Glaube der dortigen Dorfbewohner. Und es ist wohlbekannt, daß Rannulf auf seiner Burg in Markeningen einen Lustknaben aushielt. Im letzten Jahr wäre er ums Haar exkommuniziert worden, hätte er nicht noch rechtzeitig seinen Bischof mit umfangreichen Schenkungen günstig gestimmt. Es wäre denkbar, daß die Willimiten entschieden haben, die Zeit sei reif, um derlei Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Sankt Willim ist nun einmal, wie du weißt, durch Deryni zum Märtyrer geworden.« »Es ist schwerlich erforderlich, mich der Historia zu erinnern, meine Tochter.« Camber lächelte. »Du hast wieder Zwiegespräche mit Joram geführt, nicht wahr?« »Darf ich mich nicht mit dem eigenen Bruder un-
terhalten?« »Oh, plustere nicht dein Gefieder, mein Kind.« Camber lachte leise. »Ich wünsche mir nicht nachsagen zu lassen, ich hätte Unmut zwischen Bruder und Schwester gestiftet. Doch sei so gefällig und bleibe besonnen im Umgang mit Joram. Er ist noch jung und neigt bisweilen ein wenig zur Heftigkeit. Wenn er und seine Michaeliten sich nicht vorsehen, dann dürfte der junge Imre ihnen das Genick vermittelst eines Ketzergerichtes brechen, mögen sie Deryni sein oder nicht.« »Ich weiß um Jorams Schwächen, Vater – geradeso, wie ich deine kenne.« Schüchtern sah sie ihn verstohlen an und bemerkte seine nachsichtige Miene; daraufhin lächelte sie und stand auf, um die Gelegenheit froh, auf ein anderes Thema hinlenken zu können. »Ist's dir recht, nun zu übersetzen, Vater? Ich habe die beiden nächsten Gesänge bereits vorbereitet.« »So, hast du's?« entgegnete er. »Nun gut, bring die Handschrift her.« Mit einem Laut der Freude begab sich Evaine zum Tisch und begann unter den Rollen zu suchen. Sie fand die Niederschrift, wonach sie trachtete, doch ehe sie sich umwenden konnte, erregte ein kleiner, hell goldgelber Stein ihre Aufmerksamkeit, der neben einem Tintenfaß ruhte Sie nahm ihn in die Hand. »Was ist das?« »Was?« »Dieser sonderbare goldgelbe Stein. Ist das ein Edelstein?« Camber lächelte und schüttelte sein Haupt. »Kein richtiger Edelstein. Das Bergvolk in Kierney nennt
ihn einen Shiral. Man findet ihn so im Fluß, schon so rund und glatt. Bring ihn herüber, und ich werde dir erläutern, was es mit ihm an Besonderem auf sich hat.« Evaine kehrte zurück zu ihrem Lehnstuhl und setzte sich, legte die fast vergessene Rolle über ihren Schoß, während sie den Stein an den Lichtschein des Kaminfeuers hielt. Er glomm auf leicht durchscheinige Weise; sein Glanz wirkte seltsam unwiderstehlich. Wortlos reichte sie ihn ihrem Vater, als Camber seinen Weinbecher zur Seite stellte. »So, gib acht«, sprach er weiter, indem er, den Stein in der Faust, eine weiträumige Geste vollführte. »Du kennst die Formel, welche Rhys benutzt, um vor der Heilung sein Wahrnehmungsvermögen auszuweiten – jene, die er dich und Joram als Unterstützungsmaßnahme zur Meditation lehrte?« Für einen Augenblick sah sie vor sich Rhys' Antlitz und errötete. »Natürlich.« »Ja, und während meines letzten Aufenthalts in Culdi fand ich diesen Stein. Es begab sich, daß ich ihn zufällig in meiner Hand hatte, als ich mein Abendgebet sprach, und da... nun, sieh her. Am einfachsten ist's, wenn ich's dir vorführe.« Indem er den Stein sanft zwischen den Fingerkuppen beider Hände hielt, atmete Camber zunächst ein, dann aus; seine Lider verengten sich ein wenig, als er in die unterste Stufe einer Deryni-Trance überging. Seine Atemzüge verlangsamten sich, jede Spannung wich aus seinem mannhaft schönen Antlitz – und dann begann der Stein schwach zu leuchten. Cambers Augen blickten plötzlich wieder in der vorherigen, vertrauten Klarheit drein, doch er befand sich noch in der Trance, als er seine Hände Evaine entgegenstreckte, in denen
noch der Stein glühte. Evaines Lippen rundeten sich zu einem stummen O. »Wie bewirkst du das?« erkundigte sie sich mit leiser Stimme. »Darin bin ich mir selbst nicht recht sicher.« Camber blinzelte und beendete die Trance; prompt erlosch das Licht im Innern des Steins. Für die Dauer eines Herzschlags hielt er ihn zwischen seinen Handflächen, dann hob er ihn mit einem Nicken Evaine entgegen. »Versuch's selber.« »Na gut.« Evaine nahm den Stein in eine Hand, senkte die andere Hand auf ihn und senkte das Haupt, um im Geiste die Worte zu sagen, die Rhys' Trance herbeiführten. Einige Augenblicke lang blieb der Stein unverändert, während sie auf geistiger Ebene in seine verschiedenen Schichten vordrang; dann aber erhellte er sich erneut. Nach einem kurzen Weilchen kehrte Evaine mit einem gedämpften Seufzer in die diesseitige Welt zurück; sie betrachtete den Stein näher, derweil darin sein Licht erlosch. »Absonderlich. Sobald man begriffen hat, worum es geht, kostet es so gut wie gar keine Anstrengung. Doch wozu ist es gut?« Camber zuckte die Achseln. »Bis jetzt habe ich noch keinerlei nützliche Verwendung dafür zu ersinnen vermocht. Das heißt, außer der, damit bei Töchtern Eindruck zu schinden. Wenn du ihn haben möchtest, kannst du ihn dir nehmen.« »Darf ich's, ernstlich?« »Freilich. Doch wähne nicht, er hülfe dir beim Arbeiten am Werk Pargan Howiccans. Zwei Gesänge, fürwahr! Solltest du in einem Durchgang zwei Seiten schaffen, wäre ich wahrhaft überrascht. Erfreut, aber
überrascht.« »Gedenkt Ihr mich herauszufordern, teurer Herr Vater?« Evaine lächelte vergnügt, entrollte das Pergament und beugte sich vor, um ihrem Vater näher zu sein. »Vierter Gesang. Worin beschrieben stehen der Lleassi Hochmut und Greuel sowie Johanans Bittanrufung. ›Und in jenen Tagen war den Herren der Finsteren Marken Macht gegeben in ungebührlichem Maße, und ihre Gewalt umspannte den Erdkreis. Da sprach der Deryni Herr Johanan zum Hohepriester der Großmächtigen Götter und sagte zu ihm: Sendet mich aus, Herr, auf daß ich die Lleassi vertilge vom Antlitz der Erde. Denn Ihr habt ihre Frevel erblickt, und ungeheuer sind ihre Sünden. Und die Augen Makurias' des Ruhmreichen ruhten mit Wohlwollen auf Herrn Johanan, und er legte Seine Hände aufs Haupt Seines rechtgläubigen Dieners und spendete ihm den Segen des Herrn der Heerscharen. Da sammelte Herr Johanan um sich die Heerscharen seiner Lehensmannen und belagerte die Herren der Finsteren Marken. Und groß war ihre Stärke...‹«
2 ... er muß doch zur Schar seiner Ahnen gehen... Psalm 49,20 Derweilen er durch die Menge und die morgendlichen Dunstschwaden eilte, erspähte Rhys Thuryn voraus das Heim des alten Wollzeughändlers; des Hauses mit Stroh gedecktes Obergeschoß hob sich schroff von den eindrucksvolleren Bauten aus Stein und Ziegeln ab. Trotz der frühen Morgenstunde war die Walkergasse schon belebt von Lärm und regem Treiben, verschlafene Krämer öffneten ihre Läden und Marktstände, Händler luden von den Rücken mißmutiger Lasttiere kostbare Seide, prunkvollen Brokat und wertvolle Samtstoffe, Straßenhändler streiften umher und priesen mit rauhen Stimmen ihre Waren. Auch Bettler und Gassenjungen wimmelten durch die schmale Gasse – zweifellos ebenso Diebe und Beutelschneider, sagte sich bekümmert Rhys – aber sie alle machten, wenn er vorüberschritt, um den grünen Mantel eines Heilers einen weiten Bogen, einige kratzten sich gar aus lauter Hochachtung am Schädel. Wirklich war es ein wenig ungewöhnlich, überlegte Rhys, heutzutage in dieser Gasse einen Deryni – der überdies ein Heiler war – zu erblicken. Doch auch wenn die Menschen in der Walkergasse sich dazu verstiegen hätten, ihm nicht den Weg freizugeben, Rhys wäre heute früh am Erreichen seines Bestimmungsortes nicht zu hindern gewesen. Der alte
Daniel Draper hatte sich unter Rhys' allerersten Kranken befunden, welche er behandelte, und schon davor war er ein geschätzter Freund. Und die Walkergasse war früher kein Tummelplatz von Krämerseelen und Diebsgesindel gewesen. Seit dem Anbeginn der gegenwärtigen Königsherrschaft hatte allerorts Verfall eingesetzt. Rhys drückte sich an ein Fachwerkhaus und hielt an diesem vergleichsweise sicheren Standort Ausschau nach vorn, um sich zurechtzufinden; dann hob er den Saum seines Mantels, um dessen Beschmutzung durch einen Kothaufen zu vermeiden, und trat zurück in die Gosse. Daniels Tür war bereits die nächste, und Gifford, Rhys Diener, pochte gegen besagte Tür schon mit dem Stab, seines Meisters Arzttasche an einem kräftigen Lederriemen um die Schulter geschlungen. Als er Gifford eingeholt hatte, hob Rhys den Arm, um sich die Tasche anzueignen, doch dann ließ er seine Hand sinken. Weder Medizinen noch besondere Heilkräfte, wie Männer gleich Rhys sie aufboten, konnten dem alten Daniel Draper nun noch helfen. Wenn ein Mensch das Alter von dreiundachtzig Jahren erlangt hatte – und das war Daniel, zumindest seinem eigenen Wort zufolge, wahrhaftig gelungen –, dann durfte selbst ein Deryniheiler nicht mehr erhoffen, als das Hinscheiden der Seele in die andere Welt erleichtern zu können. Und Daniel lag schon seit geraumer Frist im Sterben. Rhys Gedanken weilten bei Daniel, während er und Gifford darauf harrten, daß man ihnen die Tür aufmache. Der Alte hatte in Rhys' Jugend eine bedeutende Rolle gespielt – als wahrer Hort eines Schatzes an Geschichten aus den Jahren unmittelbar nach dem Wechsel des Kö-
nigshauses. Daniel behauptete, er könne sich noch an die ersten Jahre Festil I. erinnern, der den letzten Haldane-König gestürzt hatte. Und zudem hatte Daniel unter der Herrschaft dreier weiterer festilischer Monarchen gelebt. Den fünften Festil jedoch sollte er nicht überdauern: der jetzige Herrscher der neuen Dynastie war ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren, König seit seines Vaters Tod drei Jahre zuvor und im Zustand glänzender Gesundheit. Nein, der Alte konnte nie und nimmer einen sechsten Festil auf dem Throne Gwynedds erleben. Eine der Mägde ließ sie ein und brach in Tränen aus, als sie Rhys erkannte, ehe sie zur Seite trat. Im Laden befanden sich einige weitere Bedienstete, zum Teil halbherzig darum bemüht, ihre gewohnten Aufgaben zu verrichten; doch alle hielten in ihrem Tun inne, als der Heiler unter ihnen erschien. Rhys versuchte, einen der Ermutigung dienlichen Eindruck zu erwecken, während er über den Fußboden aus festgestampfter Erde schritt und die Treppe zu den Stuben erklomm, aber er spürte, daß der Erfolg ausblieb. Er hastete die Treppe empor, indem er jeweils drei Stufen zugleich nahm, doch war er am oberen Treppenabsatz nur ein wenig außer Atem. In einer Geste der Ruhelosigkeit strich er mit einer Hand durch sein unordentliches rotes Haar. Es erübrigte sich, Rhys zur Stube des Meisters zu weisen; schon oft war er darin gewesen. Behutsam schob er die Tür einwärts und sah den Raum im Düstern, da man die Fenster mit den Vorhängen verdunkelt hatte; die Luft war stickig von Weihrauch und dem Geruch nahen Todes. Ein Rhys unbekannter Priester besprengte die Bettstatt mit Weihwasser und murmelte Gebete, und im ersten
Moment befürchtete Rhys, er sei zu spät gekommen. Er wartete an der Tür, bis der Priester sein Gebet beendete, dann trat er näher an des Bettes Fußende. »Ich bin Rhys Thuryn, Pater«, sprach er; sein grüner Mantel verwies auf den Grund seiner Anwesenheit. »Ist er...?« Der Priester schüttelte sein Haupt. »Noch nicht, Herr. Er ist mit den letzten Tröstungen der Kirche versehen und im Zustand der Gnade, aber er hat beständig nach Euch gefragt. Leider dürfte er – bei aller gebührlichen Hochachtung, Herr – auch bei Euren Heilkünsten verloren sein.« »Dessen bin ich mir bewußt, Pater.« Rhys deutete in einer Weise, die gleichzeitig Verständnis erheischte, zur Tür. »Wolltet Ihr uns wohl für ein paar Augenblicke allein lassen? Es war stets sein Wunsch, vorm Ende ein Weilchen mit mir zu verbringen.« »Sehr wohl, Herr.« Während der Geistliche die Tür von außen schloß, trat Rhys an des Bettes linke Seite und senkte seinen Blick ins Antlitz des Sterbenden. Die grauen Augen starrten empor an die Stubendecke – Rhys vermochte nicht sofort zu erkennen, ob sie noch etwas sahen oder nicht –, und des Mannes Atem ging äußerst schwach. Rhys schob die Vorhänge beiseite und ließ Licht und Luft herein, dann ergriff er das knorrige Handgelenk und ertastete den Pulsschlag. Vorsichtig beugte er sich hinab ans Ohr des Alten. »Ich bin's, Daniel – hier ist Rhys. Kannst du mich hören? Ich bin so eilends gekommen, wie es möglich war.« Die Lider zuckten, die Lippen regten sich, und dann drehte sich das graue Haupt langsam dem jungen Deryni zu. Der Greis hob matt eine dürre Hand, und Rhys nahm sie
mit einem Lächeln. »Verspürst du Schmerzen? Kann ich irgend etwas für dich tun?« »Nicht so ungeduldig«, flüsterte der Greis. »Noch bin ich zum Sterben nicht bereit. Diese übereifrigen Priester...!« Seine Stimme besaß mehr Kraft, als Rhys erwartet hatte. Gerührt drückte er die alte, knochige Hand. »Willst du damit zum Ausdruck bringen, daß du alle deine Bediensteten und Lehrbuben soviel Tränen um gar nichts vergießen ließest?« Der Alte stieß ein leises, sprödes Lachen aus und schüttelte das Haupt. »Nein, diesmal ist's ernst. Der Engel des Todes hat sich mir genaht. Bisweilen höre ich das Rauschen seiner Schwingen. Doch ich möchte dir etwas anvertrauen, bevor ich abtrete. Ich kann dies Wissen nicht mit meinem Tod untergehen lassen, und du... du bedeutest mir besonders viel, Rhys. Du könntest fast der Sohn sein, den ich verlor... oder mein Enkel.« Er schwieg einen Augenblick lang. »Wo er jetzt wohl sein mag?« »Dein Enkel? Ich wußte nicht, daß du einen solchen hast.« »Es durfte nicht sein, denn ratsam war's, daß man ihn, so wie seinen Vater, tot glaubte. Außerdem weilt er im Schoß der Kirche, wenn er noch lebt. Dort nahm man ihn auf, als er neunzehn war, gleich nach seines Vaters Tod. In jenem Jahr, so mußt du wissen, wütete die Pest. Aber damals warst du ja erst ein Bub, falls überhaupt schon auf der Welt. Wahrscheinlich kannst du dich an nichts erinnern.« Rhys lachte unterdrückt. »Was wähnst du, wie alt ich sei, alter Freund?« »Alt genug, um so vernünftig zu sein und nichts
auf die Reden eines siechen Greises zu geben.« Daniel lächelte. »Aber du wirst mir zuhören, nicht wahr, Rhys? Denn es ist wahrhaft wichtig.« »Du weißt, daß ich's werde.« Der Alte entäußerte einen schweren Seufzer und ließ seinen Blick versonnen durch die Kammer wandern. »Wer bin ich?« fragte er plötzlich mit kaum vernehmlicher Stimme. Zum Zeichen der Mißbilligung hob Rhys eine Braue und runzelte die Stirn. »Oho, wie das? Du wirst doch nach allen diesen Jahren keine Posse des Altersschwachsinns aufführen wollen? Und wenn du auch ein streitsüchtiger, rechthaberischer alter Gauner bist, so habe ich dich dennoch sehr lieb.« Daniel schloß die Augen und lächelte, dann richtete er seinen Blick von neuem an die Stubendecke. »Rhys, was geschah mit den Haldanes, nachdem der Deryni Festil den Umsturz vollzog, der sie vom Throne warf? Hast du dir jemals diese Frage gestellt?« »Eigentlich nicht«, antwortete Rhys. »Wie man mich lehrte, sind Ifor und seine gesamte Familie im Verlauf der Thronnahme hingerichtet worden.« »Das ist nicht die ganze Wahrheit. Es überlebte jemand, einer der jüngeren Prinzen – zu der Zeit war er nur drei oder vier Jahre alt. Ein Diener brachte ihn heimlich aus der Königsburg und zog ihn als eigenes Pflegekind auf. Aber niemals durfte er seine wahre Herkunft vergessen. Sein Pflegevater gab sich der Hoffnung hin, der enterbte Prinz werde eines Tages dem Hause Festil den unrechtmäßig in Besitz genommenen Thron wieder entreißen und Gwynedd von neuem unter Menschenherrschaft stellen – aber
natürlich tat er das nie. Und auch nicht des Prinzen Sohn. Dieser Prinz, falls er noch lebt, dürfte mittlerweile sehr alt sein.« »Falls er...« Rhys begann gedankenverloren des Alten Wort zu wiederholen, verstummte dann jedoch mitten im Satz, als er urplötzlich zu ahnen begann, wie des Greises nächste Rede lauten mochte. Daniel hustete und atmete tief ein. »Nur zu, sprich deine Frage aus. Ich weiß, du wirst mir keinen Glauben schenken, aber es ist wahr. In jener Zeit kannte man mich als den Prinzen Aidan, und hätten die Dinge den gewohnten Lauf ihrer Ordnung genommen, wäre ich, da vor mir drei andere ein Thronrecht besaßen, mit der Lehensherrschaft im Namen meines Königlichen Bruders über eine Baronie oder eine Grafschaft abgefunden worden. Doch infolge der Hinmetzelung aller meiner Verwandten geriet ich zum alleinigen Erben der Haldanes.« Für einen kurzen Moment schwieg er. »Niemals gedieh mir eine Gelegenheit dazu, die Wiedererringung meines Thrones auch nur zu versuchen. Auch meinem Sohn nicht... er starb zu jung, und die Zeit war noch nicht reif. Aber mein Enkel...« »Nun halte einmal für ein Weilchen ein, Daniel!« Rhys' Brauen waren aus Unglauben zusammengerutscht. »Du sagst zu mir, du seist in Wahrheit Prinz Aidan, der rechtmäßige Haldane-Erbe und daß dein Enkel noch lebe?« »Sein vom Königshause angetaufter Name lautet Cinhil«, murmelte Daniel. »Prinz Cinhil Donal Ifor Haldane. Er muß... oh, ungefähr vierzig müßte er nunmehr sein, ich entsinne mich nicht so genau. Zwanzig Jahre sind verstrichen, seit ich ihn zuletzt
sah. Er trat ein in einen Orden frommer Besinnung, abgekehrt von der schnöden Welt. Dort ist er sicher, und das Wissen um seine wahre Person ist verborgen in seinen frühesten Erinnerungen. Damals vermeinte ich, so sei es besser.« Seine Stimme sank herab und verstummte; voller Verwunderung blinzelte Rhys ihn an, während sein Magen sich mit absonderlichen krampfartigen Wallungen der Erregung betätigte. »Warum erzählst du mir das?« erkundigte sich nach einem ausgedehnten Weilchen des Schweigens leise Rhys. »Weil ich dir vertraue.« »Aber ich... Daniel, ich bin ein Deryni, ein Angehöriger des Herrenvolkes. Das kannst du doch nicht vergessen haben. Was wähnst du, wie lange deines Enkels Leben noch währte, hegte jemand nur einen diesbezüglichen Verdacht? Außerdem sagst du mit eigenem Munde, daß seitdem zwanzig Jahre verstrichen sind. Er kann bereits tot sein.« Daniel versuchte, mit den Achseln zu zucken, doch die Bewegung verursachte einen Hustenanfall, der seinen alten, ausgemergelten Körper durchschüttelte. Rhys half ihm dabei, sich aufzusetzen, bemühte sich darum, dem Greis Linderung zu verschaffen; sobald die magische Formel, derer er sich zu diesem Zweck bediente, ihre Wirkung getan hatte, bettete er ihn wieder aufs Kissen. Daniel schluckte geräuschvoll und vollführte mit einer gleichsam durchscheinigen, vielfach geäderten Hand eine fahrige Geste. »Mag sein, daß du recht hast. Vielleicht bin ich der letzte Haldane auf dieser Erde, und alle die Jahre meiner Hoffnung waren eitel. Ist's so, dann richtet mein Schwatzen keinen Schaden an. Doch bin ich nicht der
letzte Haldane...« Aus innerer Ungewißheit verstummte er erneut, und Rhys schüttelte das Haupt. »Zu vieles daran ist nur unsicheres Gedankenspiel, Daniel. Was weiß denn ich? Deine Worte könnten ohne weiteres die bedeutungslosen, wirren Wahnreden eines Greises auf dem Sterbebett sein. Und außerdem – was vermöchte denn ich zu tun?« Daniel hob seinen Blick in Rhys' Antlitz, gealterte graue Augen maßen sich mit einem jungen goldbraunen Augenpaar. »Bin ich ein wirrköpfiger Greis, Rhys? Ich glaube, daß du's besser weißt. Ja, du bist ein Deryni. Deinesgleichen vermag in eines Menschen Seele Einblick zu nehmen. So sieh denn in meine Seele und erkenne die Wahrheit. Ich habe keine Furcht.« »Ich... ich bin nicht darin geübt, den menschlichen Geist in solcher Weise anzutasten.« Rhys zauderte, den Blick gesenkt. »Rede nicht töricht. Ich habe die heilsame Berührung deiner Kräfte schon oft gespürt. Wenn du nicht das Alter heilen kannst, ist's doch nicht deine Schuld. Doch du kannst in meinen Geist vordringen, Rhys. Du kannst darin erkennen, daß ich die Wahrheit spreche.« Rhys blickte hinter sich zur geschlossenen Tür, dann wieder die ruhige Gestalt Daniel Drapers an – der vielleicht niemand anderes war als Prinz Aidan Haldane. Er betrachtete des Alten Hand, die noch in die seinige verklammert war, und fühlte nochmals den Puls; langsam hob er den Blick wieder in des Greises Antlitz. »Du bist sehr schwach. So kurz vor deinem letzten Schnaufer sollte ich deine Seele unbehelligt lassen. Dein Priester gehört nun an dein Bett,
nicht ich.« »Aber ich bin fertig mit dem Priester, und überdies ist für ihn gar nicht bestimmt, was ich zu dir rede«, widersprach gedämpft Daniel. »Ich bitte dich, Rhys, erweise einem Sterbenden eine letzte Gunst.« »Die Anstrengung könnte dich umbringen«, beharrte Rhys in seinem Widerstreben. »Dann werde ich eben tot sein. Ich liege ja ohnehin im Sterben. Die Wahrheit ist wichtiger als ein paar Augenblicke oder auch einige Stunden des Erdendaseins mehr. Spute dich, Rhys. Meine Zeit ist karg bemessen.« Rhys seufzte und nahm neben dem Alten auf seiner Bettstatt Kante Platz. Über des Greises Hand hinweg, die er zwischen beiden eigenen Händen hielt, versenkte er seinen Blick in die gelassenen grauen Augen und zwang sie zum Schließen. Die welken Lider zuckten und sanken gehorsam herab, während Rhys seine Sinne schärfte und ausdehnte, um schließlich in Daniels Bewußtsein vorzudringen. Er tauchte in einen grauen Strudel ein, den zeitweilig verwaschene Fetzen von Geräuschen und Farben erfüllten – es wirkte fast so, als bahne er sich einen Weg durch Nebelschwaden, die ihm entgegenwallten. Doch dies waren die düsteren Nebel des nahen Todes, die bereits Teile von des Alten Geist umnachteten. Die Bilder gaukelten ohne wahrnehmbare Anordnung vorüber. Er mußte tiefer vorstoßen, wollte er nicht auch den eigenen Verstand davon trüben lassen. Da. Das flüchtige Geistesbildnis eines jungen Mannes – irgendwoher wußte er, es handelte sich um Daniels Sohn – mit einem kleinen Kind auf dem Arm. War das Kind Cinhil? Dann derselbe Mann, nur älter, aus-
gestreckt auf einer mit Kerzen gesäumten Totenbahre, das Antlitz gezeichnet von der Pest. Auf der Schwelle standen furchtsam ein junger Mann mit dunklem Haar und ein alter, grauhaariger Mann, hergetrieben von ihrer Liebe zum Dahingerafften, doch durch ihre Furcht in Abstand gehalten. Der Jüngere besaß das glänzende, schwarze Haar und die grauen Augen der Haldanes. Plötzlich verschwand dieser Anblick. Wieder Düsternis – dichtes, grauschwarzes Wallen, gleichsam zähflüssig, nahezu undurchdringlich. Aber dann etwas anderes: ein Gefühl höchster innerer Anspannung, das inmitten von Schatten entstand, eine besinnungslose Furcht, Lärm – der Lärm eines Gemetzels. Er war ein kleiner Knabe, der sich schluchzend unter eine zertrümmerte Treppe kauerte, Menschen liefen brüllend vorüber, Feuer leckte an den Zinnen der Burg, loderte auf den Strohdächern der außerhalb gelegenen Bauten. Fremde Krieger ergriffen zwei ältere Knaben, seine Brüder, und zerrten sie in den von Blutlachen und Hingemetzelten bedeckten Burghof, erschlugen sie mit Schwertern, hieben und stachen zu, hoben immer wieder die Klingen, die von Blut troffen, zerstückten sie. Ein Schwesterchen zerschmetterten sie auf des Hofes Pflaster, ein zweites warfen sie in die Höhe und spießten es auf eines Kriegers Speer, und der Krieger lachte. Dann der wutentbrannte Schrei seines Vaters, als er, der hünenhafte König mit den grauen Augen, in blutgetränkter Nachtgewandung, mit nichts gewappnet als einer blanken Klinge, sich einen Weg zu seiner bedrängten Königin zu erkämpfen suchte. Ein Pfeilhagel ging auf den König nieder und fällte ihn wie ein in die Enge getriebenes Wild – die
Schlächter fürchteten sich davor, in die Reichweite seiner Klinge zu gelangen. Und die Schreie seiner Mutter, als die Krieger ihre Beine festhielten, ihr den Leib aufschnitten und das lebendige Kind aus dem Leibe rissen... Rhys keuchte und zog sich zurück, die Erinnerungsbilder länger zu ertragen außerstande. Sprachlos und wie gelähmt von dem, was er geschaut hatte, widmete er seine Aufmerksamkeit seinen Händen und sah mit Bestürzung, daß sie zitterten. Er zwang sie zur Ruhe, verpflichtete sein beschleunigtes Herz erneut zu regelmäßigem Schlage, atmete tief ein, entkrampfte sich, während er sich wieder auf die gewohnte Ordnung der gegenwärtigen Welt einstellte. Behutsam rieb er des Alten Hände, um ihn zurück ins Bewußtsein zu holen. Kaum beiläufig bemerkte er die Tränen in seinen Augen. »Daniel?« flüsterte er. »Daniel? Prinz Aidan?« Matt öffneten sich die grauen Augen, und die Greisenlippen teilten sich. »Du hast es also gesehen.« Langsam und sehr bedächtig nickte Rhys; seine goldbraunen Augen waren in Erstaunen geweitet und spiegelten noch einen Rest des soeben empfundenen Entsetzens wider. »Dann weißt du nun, daß ich die Wahrheit spreche«, sagte Daniel. »Willst du dieser Wahrheit Hüter sein, bis die Zeit reif ist und der Tag anbricht, da wieder ein Haldane den Thron besteigen kann?« »Heute sitzt auf dem Thron ein Deryni-König, Daniel. Mutest du mir zu, daß ich an ihm Verrat begehe, um jemanden deines Geschlechts auf den Thron zu heben?« »Schaue und bete, Rhys. Und dann stelle dir die Frage, ob der Mann auf dem Thron des goldenen
Stirnreifs würdig ist. Frage dich, ob dies die Art von Herrschaft ist, die du deinen Kindern und Kindeskindern wünschst. Dann triff deine Entscheidung. Und wenn's soweit ist, wenn du die Entscheidung gefällt hast, und zwar jene, zu welcher du nach meiner Auffassung einfach gelangen mußt, dann ziehe meinen Enkel zumindest in Betracht. Sobald ich dahingeschieden bin, Rhys, weißt du allein noch um ihn.« »Du predigst Verrat, alter Freund«, murmelte Rhys und senkte den Blick, als er sich dessen entsann, was er zuvor in des Alten Erinnerung gesehen hatte. »Aber falls es jemals soweit kommt, will ich... werde ich abwägen, was du mir nahegelegt hast.« »Gott spende dir überreichlich Seinen Segen, mein Sohn.« Der Greis lächelte. Er hob eine Hand und wischte mit dem Daumen eine Träne von Rhys' Wange. »Und ich, der stets alle Deryni verfluchen zu müssen glaubte...« Er verstummte, und für einen Moment verzerrte Schmerz sein Antlitz. »Um meinen Hals wirst du an einer Schnur eine Silbermünze finden. Ich bin nicht des Lesens kundig, doch hat man mir gesagt, die Münze sei in der Abtei geprägt worden, wo mein Enkel Cinhil seine Gelübde ablegte. Sein Mönchsname lautet... lautet...« Der Alte rang um Atem, und Rhys mußte sich vorbeugen, um seine nächsten Worte verstehen zu können. »Sprich weiter, Daniel. Wie ist sein Name?« »Er lautet... sein Name ist... Benedict... Benedictus. Er... ist... ein Haldane... und... König.« Rhys neigte sein Haupt und schloß in Trauer die Augen, während er gewohnheitsmäßig nach dem Puls tastete, doch insgeheim dessen gewiß, daß er diesmal keinen Pulsschlag spüren werde. Er kniete nieder und verharrte
so für eine beträchtliche Weile; schließlich schüttelte er sein Haupt und ließ des Greises Hand seinen Fingern entgleiten. Er faltete die runzligen Hände auf der nun reglosen Brust, schloß die nunmehr stumpfen Augen und bekreuzigte sich, bevor er sich umwandte. Er hatte fast die Tür erreicht, da erinnerte er sich der Münze und machte hastig kehrt, um sie vom Hals des Toten zu entfernen. Doch obschon Rhys die ins Silber geprägten Wörter entziffern konnte, besagten sie ihm ganz und gar nichts. Plötzlich wurde er sich mit einem Gefühl der Entmutigung dessen bewußt, daß Daniel ihm lediglich den Mönchsnamen seines Enkels verraten hatte – Benedictus –, aber nicht den Namen, den er einst als weltlicher Gemeiner trug. Sollte ihm jemals daran gelegen sein, diesen Mann ausfindig zu machen, so müßte ihm das außerordentlich schwerfallen. In Gedanken bekümmert und sorgenvoll, steckte er die Münze in die Börse an seinem Leibgurt und trat erneut zur Tür. Dort verharrte er für einen Augenblick, um sich zu sammeln, eine standesgemäße Haltung einzunehmen, den Bediensteten und dem Priester, welche auf ihn warteten, Fassung zu zeigen. Er schenkte dem Verstorbenen einen letzten Blick, dann öffnete er die Tür. »Ist es vorüber, Herr?« fragte der Geistliche. Rhys nickte. »Das Ende war leicht. Er hatte kaum zu leiden.« Der Priester verneigte sich und begab sich in die Stube, um die letzten Gebete zu sprechen, derweil die Bediensteten an der Schwelle langsam auf die Knie sanken; einige von ihnen weinten leise. Während die Worte des Gebets gemurmelt durch die Räume drangen, stieg Rhys, plötzlich unerklärlich matt, die Treppe hinunter, wo Gifford wartete. Gif-
ford stand bei seines Meisters Wiederkehr auf, Rhys' Arzttasche an die Brust gedrückt. »Ist's vorbei, Meister?« Rhys nickte, dann winkte er, Gifford möge die Haustür öffnen und vorangehen. Ja, es ist vorbei, dachte er bei sich, als sie wieder auf die Straße traten. Oder ist dies erst der Anfang?
3 Doch auch dem Arzt gewähre Zutritt, er soll nicht weichen, denn auch er ist nötig. Jesus Sirach 38,12 Am nächsten Morgen, als Rhys Thuryn vor der Abtei Sankt Liam sein Tier zügelte, regnete es unablässig. Er war fast die ganze Nacht geritten, um die Abtei zu erreichen, ohne Diener, ohne jede Begleitung, weil die Silbermünze, die Daniel ihm vermacht hatte, ihm keinen Schlaf gönnte. Er sprang vom Roß und führte es unter die Umdachung, welche des Klosters Hofmauer umgab, wo er wartete, bis ein junger Novize kam und sich des Tieres annahm. Sein Lederumhang war nahezu gänzlich durchnäßt, seine Beinkleider aus Pelz waren bespritzt mit Schlamm. Regen troff von seiner Haube und aus seinem Haar, als er in den Schutz der Klosterarkaden trat und Umschau hielt. Natürlich war er schon oft in Sankt Liam gewesen; vor Jahren hatten hier Joram und er ihre Studien betrieben, bevor er seine Befähigung zum Heiler entdeckte. An diesen Ort besaß er frohgemute Erinnerungen an sorgenfreiere Tage. Doch nicht bloß Wehmut war der Anlaß seines heutigen Besuchs. Denn unter allen Männern, denen Rhys gewißlich vertrauen konnte, gab es nur einen, der möglicherweise um die Herkunft der abgegriffenen Silbermünze wußte, welchselbige sich in der Börse an seiner Hüfte befand.
Nämlich Joram MacRorie, Rhys' Kindheits- und Jugendgefährte und wahrscheinlich sein engster Freund, der gegenwärtig an der hiesigen Klosterschule als Magister wirkte. Sollte sich Rhys' jüngst erworbenes Wissen als wahrheitsgemäß erweisen, war der Mönch namens Benedict in jenem Rhys unbekannten Kloster wirklich der Haldane-Erbe, dann war Joram außerdem derjenige, der zu raten vermochte, wie sich selbiges Wissen am besten zum größten Nutzen aller Beteiligten verwenden ließ. Rhys stieß einen Seufzer aus, nahm sich die durchtränkte Haube vom Haupt und strebte unterm Dach des Säulenganges zum Ordenskapitel, pflügte seine behandschuhten Finger durch sein nasses, zerzaustes Haar. Um diese Zeit hielt sich Joram jedoch höchstwahrscheinlich nicht im Kapitel auf. Das Morgengebet mußte schon seit Stunden vorüber sein, erheblich eher abgeschlossen, als die Mehrzahl aller Leute sich von der Bettstatt erhob. Allerdings lagen die Schulstuben und Unterkünfte der Schulmeister jenseits des Korridors am Ende dieses Säulenganges. Vermochte er Joram nicht selber aufzuspüren, so war doch eine gute Aussicht gegeben, daß er dort jemanden antraf, der ihm seinen Aufenthalt mitteilen konnte. Er trat zur Seite, als eine Zweierreihe von Schulbuben unter Führung ihres Magisters vorüberstampfte; in ihrer blauen Schultracht mit dem Wappen Sankt Liams auf dem Brustteil wirkten sie ernst und feierlich. Danach betrat er durch den Korridor des Kapitels Hauptsaal, von dem aus man die Schulräume erreichte. Auf des Saales anderer Seite bemerkte er einen ihm bekannten Geistlichen und näherte sich ihm mit achtungsvoller Verbeugung. »Guten Morgen, Pater Dominik. Wißt
Ihr vielleicht, wo ich Pater MacRorie zu finden vermöchte?« Der alte Priester spähte ihn kurzsichtig an; helle Freude verbreitete sich über sein Antlitz, als er den Ankömmling erkannte. »Ach, das ist doch der junge Rhys Thuryn, oder nicht? Ihr wart vor einigen Jahren mein Schüler, nicht wahr?« Rhys lächelte und verbeugte sich erneut. »Es schmeichelt mir, daß Ihr Euch nach so langer Frist noch meiner entsinnt, Pater.« Des Alten gerötete Augen hatten ihren Blick auf das Gildenzeichen der Heiler gerichtet, welches Rhys' Gewand schmückte, und diesmal verneigte er sich. »Wie könnte ich Euch wohl vergessen haben, Herr? Schon so früh in jenen Tagen war Eure weihevolle Bestimmung mir offenkundig.« Er schaute um sich, als müsse er sich unvermutet erst wieder zurechtfinden, dann wandte er sich mit einem Lächeln von neuem an Rhys. »Ihr sucht Pater Joram, habe ich recht? Ich entsinne mich daran, daß er heute morgen in der Bücherei lesen wollte. Doch Ihr tatet gut daran, in den Morgenstunden zu kommen, denn soviel ich weiß, beabsichtigt er im Laufe des Tages heimwärts zu reiten, um dort den Michaelstag zu verbringen.« »Ja, das weiß ich. In diesem Jahr hat man mich eingeladen, den Michaelstag im Hause der MacRories zu verleben, und da kam's mir in den Sinn, ihn um ein paar Stunden eher von hier fortzulocken, so daß er nicht allein reiten muß.« »Nun, so laßt Euch von mir nicht die Zeit stehlen, junger Freund. Gott mit Euch.« »Habt Dank, Pater.« Rhys schlug die Richtung ein, woher er gekommen war, durch den Korridor, um
das Kapitel, dann erklomm er die breite Treppe zur Bibliothek Pater Dominiks Hinweis stellte sich als wahrheitsgetreu heraus; er fand Joram in der dritten Lesenische, in die er lugte. Joram hatte die Füße ausgestreckt und die Handschrift in seinem Schoß so zurechtgelegt, daß darauf möglichst viel vom Licht fiel, das von oben durch ein vom Regen verwaschenes Fenster drang. Als Rhys vor ihn trat, blickte er mit einem Lächeln der Freude auf und setzte sich auf die Kante des Pultes. »Rhys, mein Bruder! Wahrlich, du siehst ja aus wie die sprichwörtliche nasse Ratte! Was treibt dich in diesem Wetter an diesen Ort? Wir hätten uns morgen in meines Vaters Haus getroffen.« Rhys gab zunächst keine Antwort, sondern schwieg und griff in seine Börse, um die Silbermünze herauszuklauben; nach einem flüchtigen Blick darauf legte er sie in Jorams entgegengestreckte Hand. »Hast du schon einmal eine solche Münze gesehen?« fragte Rhys. Joram senkte sein Haupt und betrachtete besagte Münze für eine ausgedehnte Weile ganz aus der Nähe. Pater Joram MacRorie war von hagerer, kraftvoller Gestalt, hatte das blonde Haar seines Vaters und die unnachahmlich entwickelte Fähigkeit, jederzeit in tadelloser Gewandung und zur Gänze makellos dazustehen, ob er nun mit dem Erzbischof das Hochamt feierte oder nach erfolgreicher Jagd, die einen vollen Nachmittag gewährt haben mochte, ein erlegtes Wild ausweidete. Gegenwärtig war er in den schlichten Priesterrock und den mit einer Kapuze ausgestatteten Wappenrock seines Ordens gekleidet; die Kapuze hing ihm im Nacken, so daß sein Haupt unbedeckt
war und die mönchische Tonsur seines Blondhaares sichtbar. Seine Füße, an denen er Sandalen trug, blieben auf die Kante des Lesepultes gestützt. Die schlanken Finger bewegten sich nicht im mindesten, derweil er die Münze ausgiebig begutachtete. Die spürbare Selbstsicherheit dieses Mannes war durchaus nicht unangemessen. Im Alter von zwanzig Jahren durch Valorets Erzbischof persönlich zum Priester geweiht, hatte der junge Joram MacRorie bereits bei Beginn seiner Laufbahn als Geistlicher alle Anzeichen dafür aufgewiesen, daß ihm innerhalb der Kirche keine Stellung, kein Rang unerreichbar sein konnte. Als jüngerer Sohn eines Hauses, das zur Kirche außergewöhnlich wohlgepflegte Beziehungen unterhielt, wäre das nicht ungewöhnlich gewesen, hätte er als Gelehrter weniger getaugt und nicht soviel scharfsinnige Menschenkenntnis besessen. In jeglicher Hinsicht war er seines Vaters Sohn. Die Tatsache, daß er wahrscheinlich jede der Ehrungen und Würdigungen, welche die Zukunft ihm noch bescheren mochte, wahrhaft verdiente, sprach zur Genüge für diesen Mann, war eine ausgesprochene Erfreulichkeit in einer Welt, zu deren Eigenheiten Vetternwirtschaft und unablässiges Ringen um Ämter, Einfluß und Macht gehörten. Wirklich war es selbst im kirchlichen Leben schwierig, anders als vornehmlich staatsmännisch zu denken, vor allem, wenn man sich in den höheren Kreisen der derynischen Oberschicht bewegte. Im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts hatten die Einrichtungen des Glaubens den nicht unbedingt beneidenswerten Ruf erlangt, Stätten der Verdorbenheit zu sein, und die Schuld daran maß man mittelbar oder unmittelbar der derynischen
Herrschaft zu. Jorams Orden der Michaeliten allerdings galt als geistig und geistlich gesund und den eigenen Regeln getreuer, denn man es im Durchschnitt aus anderen derartigen Gemeinschaften kannte. Doch zugleich waren die Michaeliten eine streitbare Bruderschaft, und ihre Ordensritter hatten mehr als einmal in Auseinandersetzungen eingegriffen, die auszutragen rechtens weltlichen Händen vorbehalten geblieben sein sollte. Dies war der Kirche Gwynedds widersprüchlicher Zustand. Auch Joram selbst war es nicht gelungen, sich den Verstrickungen, welche das staatsmännische Handeln immerzu allerorts auslöste, völlig zu entziehen, allen seinen Beteuerungen und gutwilligen Vorsätzen zum Trotze. Wann immer am Königshof eine Krisis drohte, suchten seine Ordensbrüder ihn auf und befragten ihn um seine Meinung, so daß er nicht sonderlich häufig zu vergessen die Gelegenheit erhielt, daß sein Vater, Camber MacRorie, einst in hohem Amt im Dienste der Krone stand. Schließlich war es kein allzu großes Geheimnis – wenigstens unter jenen, die mit der allgemeinen Lage näher vertraut waren –, aus welchen Gründen sich Camber vom Hofe zurückzog. Wiewohl die der Allgemeinheit zugedachte Erklärung davon gesprochen hatte, Camber wolle sich vom Hofe verabschieden, solange er noch jung genug sei, »um sich in Wohlbefinden seiner Gelehrtentätigkeit zu widmen«, wußte man doch weithin, daß Camber das Verhalten des jungen Prinzen Imre niemals billigte, während noch desselben Vater lebte, und noch weniger Billigung dafür aufbrachte, als der junge Mann zum König aufstieg. Camber MacRorie war kein Mann, der einer Krone zu dienen vermoch-
te, für deren Träger er keine Achtung empfand. Die Verhältnisse gestalteten sich noch heikler durch die Tatsache, daß Jorams älterer Bruder Cathan Imres Freund war und auf des neuen Königs Verlangen die vom eigenen Vater aufgegebene Stellung eingenommen hatte. Dennoch bestand keine Feindschaft zwischen Vater und Sohn; Camber war sich sehr wohl dessen bewußt, daß ein jüngerer, innerhalb seiner Grundsätze beweglicherer Mann vielleicht besser dazu befähigt war, des Königs Vorschnelligkeit und Keckheit mit Vernunft beizukommen. An Cathans Fähigkeiten und Urteilskraft hegte Camber keinerlei Zweifel. Doch hatte Cathans am Hofe begonnenes Wirken für Joram das Dasein mißlicher gemacht, denn als Priester mußte er beständig seinen natürlichen Drang zum Aufbegehren aus Weltklugheit, von seinem Vater in vollem Umfang ererbt, zu bezähmen versuchen. Joram und Rhys hatten diese verzwickte Lage schon mehr als einmal bei einem Glase fiannischen Weines disputiert, während draußen der Sturm durch die Winternächte Gwynedds heulte. Was ihn selber anbetraf, so hatte Rhys stets der Überzeugung angehangen, ein Arzt solle unparteiisch bleiben, ebenso wie der Priester, trotz aller Versuchungen, die dazu verleiten konnten, sich ins Getümmel der Staatsmänner zu mengen. Erst jetzt war diese Haltung so stark erschüttert worden wie niemals zuvor, und durch nichts anderes als eines Sterbenden letzte Worte und eine Silbermünze, die nun in eines Geistlichen schmalen Fingern glänzte. »Woher hast du die Münze?« fragte Joram. Seine Frage verriet keinen irgendwie gearteten Verdacht; vielleicht lediglich eine gewisse nachdenkliche Neugier.
»Lassen wir das vorerst beiseite«, antwortete Rhys. »Was ist's für ein Stück?« »Das ist eine Widumsmünze. Früher gab man sie bisweilen als Andenken dem nächsten Verwandten eines Ordenspostulanten. So etwas war bei vielen der alten, ausschließlich geistlichen Ordensgemeinschaften üblich. Heute werden solche Münzen nicht länger geprägt.« »Kannst du feststellen, woher sie stammt?« Rhys versuchte, aus seiner Stimme die Ungeduld zu verdrängen. »Ich meine, aus welchem Kloster?« »Hmm. Ich habe eine Ahnung, aber ich male mir aus, daß du eine genauere Auskunft wünschst. Komm, wir schauen nach.« Wortlos schloß Rhys sich Joram an, der ihn in den großen Lesesaal der Bibliothek führte, vorüber an Reihen von Brüdern, die mit gebeugten Häuptern vergilbte, hauchdünne Pergamente lasen, an Schreibern, die mit feinfühliger, sicherer Hand von Schriften in schönen, kunstvollen Buchstaben Abschriften anfertigten. Hinter einem Lesepult saß auf einem hohen Stuhl ein steinalter Mönch und hütete eine Tür aus blankgeputztem Eichenholz, die ein schwerer Balken verriegelte. Joram murmelte leise zu dem Mönch, vollführte endlich eine Verbeugung, hob dann den Balken von der Tür und tat sie auf. Er entnahm einem Ständer bei des Mönches Pult ein Binsenlicht und winkte Rhys, daß er ihm in den Nachbarraum folgen möge. Dabei handelte es sich um eine kleine, düstere Kammer, worin ein offenes Gestell voller Pergamentrollen sich ans andere reihte, doch waren auch einige gebundene Bücher vorhanden. Diese Bände waren dick, gewichtig und wuchtig, sie wirkten zerfleddert, da man sie
einstmals aus zurechtgeschnittenen Schriftrollen gebunden hatte, und sie waren am Gestell mit Ketten befestigt, deren Länge gerade bis zu einem nahen, recht schmalen Stehpult reichte. Joram übergab das Binsenlicht Rhys und begann, dieweil letzterer das Licht in die Höhe hielt, in den schweren Bänden zu kramen, zog dann ein verstaubtes Buch heraus und betrachtete den Einband. Er stieß ein Brummen aus und stellte es an seinen Platz zurück, tat vorm Gestell ein paar Schritte und nahm ein anderes Buch zur Hand. Dasselbe schlug er auf und begann darin zu blättern, seine Hand geöffnet, um von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Münze zu werfen, während Rhys ihm über die Schulter spähte. »Hmm. Das dachte ich mir. Sie ist zu Sankt Jarlath geprägt worden, dem Stammhaus des Ordo Verbi Dei. Das ist ein Büßerorden, der seinen Sitz in Barwicke hat, ganz in der Nähe. Sankt Jarlath war im sechsten Jahrhundert Bischof in Meara – außerdem Abt, wenn ich mich nicht irre.« Rhys senkte seinen Blick und schwieg einen Moment lang. »Barwicke, das sei hier in der Nähe, sagtest du«, wandte er sich endlich erneut an Joram »Wie weit ist's dorthin?« »Oh, es erfordert einen Ritt von ein paar Stunden. Warum hegst du so hohes Interesse an Sankt Jarlath?« »Ich...« Rhys unterbrach sich und begann seine Rede sodann vorsichtiger von neuem. »Gestern starb ein alter Mann, Joram, einer meiner Kranken. Sein Enkel ist möglicherweise vor zwanzig Jahren dort der Bruderschaft beigetreten. Es ist wichtig, daß ich ihn finde.« »Um diesem Mönch mitzuteilen, daß sein Großvater gestorben ist?«
»Ja.« Joram schob den Band zurück ins Gestell, ehe er sich umdrehte und Rhys verwundert musterte. »Und was dann?« fragte Joram mit leiser Stimme. »Rhys, was du sprichst, klingt nicht nach Vernunft. Wenn der Mann vor zwanzig Jahren zu Sankt Jarlath ins Kloster ging, kann er doch schon das Zeitliche gesegnet haben. Und sollte er noch leben, so wäre er doch ein der Welt gänzlich abgeschlossener Mönch. Du könntest nicht einmal mit ihm reden. Und selbst andernfalls ließe sich ja von ihm nichts anderes erhoffen als ein Gebet für seines verstorbenen Anverwandten Seele, und derlei Gebete dürfte er, wenn er irgendeine Art von Mönch ist, in den vergangenen Jahren ohnehin täglich gesprochen haben, ungeachtet dessen, ob sein Großvater tot war oder lebte. Hat ihm der Verschiedene denn ein Erbe oder so etwas hinterlassen?« »In gewisser Weise, ja«, entgegnete gedämpft Rhys. Er nahm Joram die Münze aus der Hand und betrachtete sie, allem Anschein nach in Zerstreutheit; doch er mied den Blick des Geistlichen. Joram runzelte die Stirne und verschränkte die Arme auf seiner Brust. »Was heißt das, ›in gewisser Weise‹? Falls der Verstorbene ihm etwas vererbt hat, gehört's jetzt dem Orden. Du weißt, daß Mönche kein persönliches Eigentum besitzen dürfen.« Widerwillig lächelte Rhys. »Kein solches Erbe ist's, mein Freund. Dies ist nichts für Mönche.« »Wirst du mir wohl den Gefallen erweisen und mit diesen zusammenhanglosen Redereien aufhören, um zur Sache zu kommen? Du kennst die Art und Weise von Mönchsorden, weißt um ihr Gemeineigentum. Und du weißt, welche Mühe es kostete, den Mann
nach zwanzig Jahren ausfindig zu machen. Wer ist dieser Mönch?« Rhys schwieg zunächst für einen Moment, dann befeuchtete er sich unruhig die Lippen. »Alles, was du gesagt hast, ist wahr – oder wäre wahr, hätten wir's mit gewöhnlichen Umständen zu tun«, erläuterte er leise, indem er aufblickte. »Aber dieser Mann ist kein gewöhnlicher Mönch, Joram. Wir müssen ihn finden. Gott helfe uns, und ihm auch, aber wir müssen's! Sein Vater ist schon lange tot, und nun ist auch sein Großvater dahingewelkt. Derselbe Großvater behauptete von sich, er sei Aidan Haldane, der letzte lebende Sohn König Ifors. Dieser Büßermönch mag sehr wohl der rechtmäßige Haldane-König von Gwynedd sein!« Jorams Unterkiefer sackte herab; ungläubig starrte er den Heiler an. »Der rechtmäßige Erbe der Haldanes?« Als Rhys mit aufmerksamer Miene nickte, tastete Joram blindlings nach der Sitzbank, die er irgendwo in seinem Rücken wußte, und ließ sich darauf nieder. »Rhys, begreifst du, was du da sprichst?« Voller Unbehagen wand sich Rhys. »Ich gebe mir Mühe, meine Gedanken von der Bedeutung fernzuhalten, welche ein solcher Sachverhalt für das gegenwärtige Herrscherhaus hätte, sollte es das sein, worauf du hindeutest. Wollen wir nicht vorerst einmal dabei bleiben, daß wir einen Mönch suchen, dessen Großvater just verstarb? Außerdem wissen wir nichts von ihm, er kann ja selbst längst tot sein.« »Und wenn er's nicht ist?« hielt Joram ihm mit unterdrückter Stimme entgegen. »Rhys, gewißlich mag's sein, daß du ungern daran denken möchtest, aber ich bin mir darin unsicher, ob du dir eine solche Leicht-
mütigkeit leisten kannst. Wenn wahr ist, was du da erzählst...« Rhys tat einen Seufzer der Schicksalsergebenheit und setzte sich neben den Priester auf die Bank. »Mir ist klar, was du einwendest«, sprach er gedämpft nach langem Schweigen. »Aber das Trugbild eigener Unschuld flößt mir oberflächliche Ruhe ein. Gott weiß, Joram, ich bin kein Staatsmann, aber ich...« Er senkte sein Haupt. »Ich hatte einen Freund«, sprach er dann weiter. »In seiner letzten Stunde reichte ich ihm meine Hand und spendete ihm Trost und Stärkung, und er schenkte mir von seinem Eigentum das kostbarste: das Wissen um seines einzigen Enkels wahre Abstammung. Er verwies mich auf ein altes, vornehmes Erbe sowie den Keim von etwas, das sich davon unterscheidet, wie wir die Welt kennen. Und er sprach zu mir: ›Stelle dir die Frage, ob der Mann auf dem Thron des goldenen Stirnreifs würdig ist.‹ Und er sprach zudem, Joram: ›Frage dich, ob dies die Art von Herrschaft ist, die du deinen Kindern und Kindeskindern wünschst. Dann triff deine Entscheidung.‹« »Und hast du dich entschieden?« Rhys schüttelte sein Haupt. »Noch nicht. Ich bezweifle, daß ich, daß du, daß irgendein Mann allein eine dergestalte Entscheidung von solcher Tragweite fällen kann.« Versonnen blickte er auf. »Aber ich habe erwogen, was der alte Daniel mir anvertraute, Joram, und nun bin ich davon überzeugt... nun, daß wir seinen Enkel ausfindig machen müssen.« »Um ihm zu vermelden, daß sein Großvater tot ist?« fragte Joram. Rhys widmete seinem Freund hastig einen ver-
stohlenen Blick, insgeheim besorgt, er könne in des anderen Miene eine Andeutung von Spott entdecken. Doch er sah nichts dergleichen – nur den Anflug eines rücksichtsvoll nachsichtigen Lächelns um Jorams Mund. »Ich danke dir dafür, daß du weißt, wann's besser ist, jemanden nicht zu bedrängen«, versetzte er schlicht zur Antwort, während seine Lippen sich unwillkürlich ebenfalls zu einem schwachen Lächeln verzogen. »Leider bin ich mit derlei Angelegenheiten nicht so vertraut wie ihr Michaeliten es seid. Womöglich braucht's noch ein Weilchen, bis ich mich daran gewöhnt habe.« Joram lachte leise, als er sich erhob und seine Hand auf des Gefährten Schulter legte. »Du findest dich bereits ganz gut zurecht«, sprach er und nahm wieder das Binsenlicht. »Vorerst jedoch wollen wir uns diesem Mönch widmen, den's aufzuspüren gilt, und der ohne Zweifel für seines verblichenen Großvaters Seelenheil beten möchte.« Kaum eine halbe Stunde später hatten Rhys und Joram bereits St. Liam verlassen und preschten nachgerade über Stock und Stein durch die Regenschleier zu dem winzigen Dorf namens Barwicke, dem Sitz des Klosters St. Jarlath. Sobald Joram sich erst einmal die volle, weitreichende Bedeutung von Rhys' Neuigkeit vergegenwärtigt hatte, handelte er rasch und stellte sicher, daß sie beide frische Pferde zur Verfügung und die Erlaubnis zum sofortigen Aufbruch erhielten. Während Joram in seiner Zelle Reitkleidung anlegte, unterrichtete ihn Rhys von weiteren Einzelheiten des gestrigen Ereignisses; der Geistliche hüllte sich in geschmeidiges, mit Pelz besetztes Reitleder, Stiefel und
Umhang. Dann bestiegen sie zwei der Abtei gehörige Rösser von feurigem Blute und sprengten wie Dämonen über den Abteihof davon. Als sie nach Barwicke gelangten, waren beide Männer halb erfroren und bis auf die Haut durchnäßt. Unterdessen war es auch schon reichlich dunkel. »Wo liegt das Kloster?« rief in Krächzlauten Rhys, als sie ihre Tiere unter einem Baum am Rande des Dorfplatzes zügelten. Joram strich sich vom Regen versilberte Strähnen aus der Stirne und drehte sich im Sattel, richtete sich in den Steigbügeln auf, um besser Ausschau halten zu können. »Dort entlang, glaube ich.« Er winkte mit einer Hand in nassem Handschuh nordwärts. »Ich hoffe nur, sie lassen uns so spät noch ein. Vielleicht müssen wir ihnen zuvor übers Maul fahren. Komm.« Mit einem Seufzer kauerte sich Rhys noch tiefer in den Sattel und folgte dem Geistlichen, wobei er ohne Erfolg zu verhindern versuchte, daß ihm der Regen in den Kragen rann. Er begann schon anzuzweifeln, daß sie jemals wieder trocken und im Warmen sein würden, daß die ganze Angelegenheit diese Unbilden wert sei, da sah er plötzlich voraus in den Regenschwaden die Klostermauern aufragen. Heilfroh um des Rittes Ende brachte er sein Roß vor des Klosters Tor zum Stillstand und hustete unterdrückt, während Joram einen Arm aufwärts streckte und an der Torglocke riß, so daß ein vernehmliches, dringliches Läuten erscholl. Als sich auch nach einer Weile nichts auf sein Läuten rührte, zerrte Joram erneut mit aller Heftigkeit am Glockenstrang, dann sprang er vom Roß und donnerte zusätzlich eine Faust ans Tor. Bevor er diese Maßnahmen noch einmal wiederholen mußte, öffnete sich im Tor ein schmaler Laden, in
dessen Spalt sich eine Miene von verärgertem Ausdruck zeigte. »Schon recht, schon recht, reißt nicht das Bauwerk nieder«, rief der Torhüter und spähte verdrossen in den Regen. »Warum geht ihr nicht ins Dorf? Dort gibt's Unterschlupf für die Nacht.« »Ich wünsche mit eurem Pater Superior zu sprechen«, erteilte Joram ruhig Antwort. »Und während du dich der Erfüllung meines Wunsches widmest, gebührt meinem Begleiter und mir wider den Regen ein christliches Dach.« Jorams wohlgesetzte Erwiderung brachte den Mann für einen Moment außer Fassung, doch dann schüttelte er sein Haupt. »Um Vergebung, Herr. Nach Anbruch der Dunkelheit öffnen wir die Tore nicht. Strolche und Diebe bevölkern, wie Ihr wißt, die Nacht. Außerdem könnt Ihr den ehrwürdigen Vater heute abend ohnehin nicht sprechen. Er mußte sich mit einer schweren Erkältungskrankheit niederlegen. Kommt morgen wieder.« »Guter Mann, mein Name ist Pater Joram MacRorie vom Orden des Heiligen Michael. Mein Begleiter ist Herr Rhys Thuryn. Wir wären nimmer den weiten Weg durch dies Wetter geritten, hätten wir nicht gewichtige Ursache. Wirst du nun das Tor auftun, oder müssen wir morgen deinen Oberen von deiner Dreistigkeit berichten?« Während Joram sprach, waren des Mannes Augen zusehends immer weiter geworden, und nun neigte er plötzlich überstürzt das Haupt und schloß den Laden. Als er einige Augenblicke später das Tor öffnete, verbeugte er sich noch mehrmals, offenkundig höchst beunruhigt. Ein Laienbruder in grober, brauner Kutte mit Kapuze nahm
sich der Rösser an, und ein anderer Mönch in dunklem Grau nickte zum Gruß und gab ein Zeichen, daß sie ihm folgen möchten. Kein Wort fiel, derweil sie mit dem schweigsamen Mönch einen Korridor entlangstrebten. Unterwegs begegneten sie mehreren anderen Mönchen, aber diese schienen sie nicht einmal zu bemerken. Der Graue geleitete sie in einen kleinen Raum, worin am Boden Binsen und Kräuter von süßlichem Duft verstreut lagen und in einem steinernen Kamin ein gemäßigtes Feuer brannte. Der Mann, der sie hergeleitet hatte, deutete auf einen Stapel trockener Decken und gab zu verstehen, sie sollten sich vorm Feuer wärmen; sodann entschwand er durch eine wuchtige, mit Schnitzereien verzierte Tür, die sich leise hinter ihm schloß. Unverzüglich entledigte sich Joram seiner durchtränkten Reithaube und streifte die nassen Handschuhe ab; den triefnassen Umhang breitete er zum Trocknen auf den Binsen aus. »Man wird uns alsbald trockene Gewänder bringen«, sprach er, indem er seine Beinkleider aufschnürte und abschüttelte, um sich dann ans Ablegen des Gewandes zu machen. »Unterdessen ziehen wir lieber dies nasse Zeug aus, bevor wir uns den Tod holen.« Rhys' Antwort bestand lediglich aus einem Niesen, ehe er Jorams Beispiel nacheiferte. Er wickelte sich von Kopf bis Fuß in eine der kratzigen Decken, welche die Abtei hier bereithielt, bis er eines Käfers Puppe in ihrem Kokon ähnelte, und kauerte sich ans Feuer, wo er zitterte und sein feuchtes Haupthaar in der Wärme zu dampfen anfing. Joram dagegen wirkte auf seine eigentümliche Weise unbehelligt, sah Zoll für Zoll nicht anders als eines Edelmannes Sohn aus, der er auch in seinem gegenwärtig durchnäßten
Zustand war. Ganz wie gewohnt, dachte Rhys und kam zur Auffassung, daß er Joram höchstwahrscheinlich niemals anders erblicken werde als gleichsam unanfechtbar. Da öffnete sich leise die Tür, und die beiden Freunde erhoben sich, als zwei Männer eintraten. Einer davon war offensichtlich der hiesige Abt, da auf seiner Brust und an seiner Hand Silber glitzerte und seine Gewandung aus burgundischem Tuch gefertigt war. Seine Kapuze hing ihm im Nacken, daher war sein geschorener Schädel unbedeckt; er hielt sich ein Stück gräulichen Linnens unter die Nase und schnaufte ständig vernehmlich. Der Mönch, welchselbiger die beiden Freunde in dies Gemach geführt hatte, trat mit dem Abt ein und brachte auf seinen Armen ein Paar grauer Roben aus Wolle. Sofort eilte Joram dem Abt entgegen, die Decke um sich geschlungen wie einen Prunkmantel, verbeugte sich und küßte des Abtes Ring. »Wir sagen Euch unseren heißen Dank für die Gunst, uns empfangen zu haben, ehrwürdiger Vater. Ich bin Pater MacRorie, und dies ist der Heiler Herr Rhys Thuryn.« Rhys tat eine Verbeugung und küßte ebenfalls den Ring. »Unseres Dankes Tiefe für Eure Gastfreundschaft ist schier unauslotbar.« Höflich neigte der Abt sein Haupt. »Fühlt Euch wie daheim, Pater, und nehmt, ich bitte Euch, diese trokkenen Kleidungsstücke, die Bruder Egbert gebracht hat. Ich bin Gregor von Arden, Abt zu Sankt Jarlath.« Er verstummte und nieste, hob das Tuch erneut an die Nase und schnob hinein, während Bruder Egbert den beiden Besuchern in die Roben half. Sobald die beiden Männer anständig und warm eingehüllt waren und der Mönch sich entfernt hatte, trat Abt Gre-
gor näher zum Kamin und streckte seine knochigen Finger ans Feuer. »Man hat mir vermeldet, daß Ihr vom Orden des Heiligen Michael seid, Pater«, wandte er sich sodann mit heiserer Stimme an Joram. »Wie kann ich Euch zu Diensten sein?« Joram lächelte auf gleichsam entwaffnende Weise und zupfte ein letztes Mal am Leibgurt seiner Robe. »Wir möchten die Aufzeichnungen der vergangenen Jahre bezüglich der Postulanten dieses Ordens einsehen, Vater Abt.« »Ach, dies ist eine von hoher Stelle angeordnete Untersuchung oder dergleichen, Pater?« »O nein, es handelt sich um ein Anliegen rein persönlicher Natur. Eine Gewissenssache, Vater Abt.« »Ah, ich verstehe.« Der Abt zuckte die Achseln, offenkundig erleichtert. »Nun, gewißlich läßt sich alles zu Eurer Zufriedenheit regeln. Doch solltet Ihr nach irgendeinem bestimmten Postulanten suchen, dürfte Euch doch wohl bewußt sein, daß er nach allerhöchster Wahrscheinlichkeit längst sein Gelübde geleistet hat und Euch nicht empfangen kann.« Rhys widmete seinem Freund einen Seitenblick, bevor er sich räusperte. »Verzeiht mir, ehrwürdiger Vater, aber vielleicht hat Pater Joram sich nicht deutlich genug ausgedrückt. Er trägt dies Ersuchen in meinem Namen vor. Der Großvater des Mannes, den wir suchen, befand sich bis zu seinem jüngst eingetretenen Tode in meiner Behandlung, und auf dem Sterbebette bat er mich, seinen Enkel ausfindig zu machen und selbigen vom Ableben seines Großvaters zu unterrichten. Zweifellos wollt Ihr einem Sterbenden nicht den letzten Wunsch verweigern, wenn er damit lediglich danach trachtet, daß sein gesegneter
Enkel für seine Seele beten möge.« Der Abt hob eine Braue und hob in ungewissem Schuldgefühl die Schultern. »Nun, ich nehme an, sein Superior kann ihm die Kunde ausrichten. Sicherlich ist ein Mann dazu berechtigt, um seinen Großvater zu klagen, hat er auch dem Rest der Welt abgeschworen. Wie lautet des Gesuchten Name? Vielleicht vermag ich Euch seinen Verbleib zufällig zu sagen.« »Benedict, so heißt er nunmehr«, antwortete Joram. »Davor... ach, aber es war seines Großvaters Wille, daß die wahre Persönlichkeit seines Enkels nicht enthüllt werde, ehrwürdiger Vater. Dürften wir wohl jetzt die Aufzeichnungen sehen?« »Jetzt, Pater?« Der Abt musterte Joram mit gelinder Befremdung. »Könnt Ihr nicht warten bis zum Morgen?« »Des Gesuchten Großvater empfand das allerdringlichste Bedürfnis nach Fürsprache vor Gottes Thron, Ehrwürden«, log Joram, »so daß wir ihm unser feierliches Wort gaben, seinen Enkel so schnell wie überhaupt nur möglich aufzuspüren. Überdies wünschen wir den Alltag Eures Hauses so wenig wie möglich zu stören. Wenn einer der Brüder uns die Archive zeigen und mit Licht versorgen könnte, wären wir vollauf zufrieden und überaus dankbar.« »Ich kann das natürlich verstehen.« Der Abt hob von neuem die Schultern und neigte das Haupt; sein Benehmen bezeugte allerdings deutlich, daß er ganz und gar nichts verstand. »Nun wohl, Bruder Egbert wird Euch die diesbezüglichen Aufzeichnungen zeigen und auch sonst in jeder abhelflichen Weise unterstützen. Vielleicht werdet Ihr Euch aber wenigstens zur Morgenandacht zu uns gesellen und dann mit
uns das Brot brechen?« »Das wird uns eine große Ehre sein.« Joram verbeugte sich. »Seid unseres Dankes versichert, ehrwürdiger Vater.« Mit einem letzten, deutlich von Unglauben gekennzeichneten Blick betupfte der Abt erneut seine gerötete Nase und verließ die beiden Freunde; er entfernte sich auf des Korridors einer Seite, derweil Bruder Egbert die Gäste in die andere Richtung führte. Vor einer wuchtigen Eichentür entzündete Bruder Egbert Binsenlichter und schloß selbige Tür sodann mit einem großen, eisernen Schlüssel auf. In einer hinteren Ecke der Bibliothek deutete Egbert auf ein Wandgestell voller säuberlich gerollter Pergamente – die Einweihungsaufzeichnungen des Ordo Verbi Dei –, dann verbeugte er sich wortlos und ging hinaus. Als das Geräusch der Tür seinen Abgang mitteilte, stellte Joram ein Binsenlicht auf das Lesepult und ergriff wahllos eine Rolle. Er breitete sie auf dem Pult aus und las die Hinweisbeschriftung. »Decimus Blainus... zehntes Jahr der Herrschaft von König Blaine. Das ist nicht lange genug her. Dieser Daniel sagte, sein Enkel sei vor zwanzig Jahren Mitglied im Orden geworden?« Rhys nickte. »Mehr als zwanzig, deutete er an, doch glaube ich, es dürfte ratsam sein, um fünf oder zehn Jahre sowohl mehr wie auch weniger durchzuschauen. Daniel sagte zwar, damals sei der Jüngling neunzehn gewesen, da er sein Gelübde ablegte, und er müsse nun etwa vierzig sein, aber derzeitig war Daniel nach eigener Berechnung achtunddreißig. Seine Angaben könnten ein wenig verworren sein.« »Nun denn! Zwanzig Jahre – das wäre 883, kurz vorm Ende der Herrschaft von Festil III. Rückwärts
gehen wir bis Rolle... äh, 22 Festil III., aufwärts bis... hmm... Rolle 3 Blaine, das müßte reichen. Das sind zehn Jahre davor und fünf danach. Zu dumm, daß wir nicht seinen weltlichen Namen wissen – nicht einmal Draper kann uns helfen, denn in kirchlichen Unterlagen werden die Familiennamen Gemeiner gewöhnlich nicht vermerkt. Aber innerhalb einer Zeitspanne von fünfzehn Jahren können ja nicht allzu viele Männer den Namen Benedict angenommen haben. Sieh nach, ob du hier irgendwo Schreibzeug findest, während ich die Nachforschungen beginne.« Jorams Zuversicht erwies sich jedoch als unbegründet. Etwas später, als Rhys mit einigen Bogen Pergament, einem Federkiel und Tinte wiederkehrte, hatte der Geistliche wahrhaftig bereits vier Benedicts entdeckt. »Und das allein bis 25 Festilus III.«, klagte Joram, als Rhys das Schreibzeug abstellte und ihm über die Schulter blickte. »Schau her, 22 Festilus III.: ›Rolf, Sohn des Carrolan, ward eingeweiht in den Ordo Verbi Dei unter Annahme des Namens Benedictus und entsagte der schnöden Welt hinter den Mauern der Priorei Sankt Piran.‹ 23 Festilus III.: ›Abel, des Goldschmiedes John Sohn, ward zu Mariä Lichtmeß eingeweiht in den Ordo Verbi Dei unter Annahme des Namens Benedictus und entsandt ins Kloster Sankt Illtyd.‹ 25 Festilus III.: ›Henrikus, des Grafen von Legain jüngster Sohn...‹ Ach, ich glaube, zumindest diesen können wir weglassen. Er hatte nicht den richtigen Vater. 25 Festilus III.: ›Josephus, Sohn des Händlers Meister Galliardi... Annahme des Namens Benedictus... entsandt nach Sankt Ultan.‹ Und jetzt sind's noch elf Jahre!« Rhys seufzte und setzte sich ans Pult, tauchte den Federkiel in die Tinte. »Nun, dann laß uns lieber ohne
Umschweife beginnen. Viele dieser frühen Benedicts werden mittlerweile verstorben sein. Auch er kann inzwischen das Zeitliche gesegnet haben. Schau du die Verzeichnisse durch, ich schreibe alle auf, die du findest.« »Einverstanden.« Joram seufzte ebenfalls. »Wenn du die drei vorhin genannten aufgeschrieben hast, hier sehe ich noch einen in 26 Festilus III. Ich würde wetten, die Nacht wird lang.« Drei Stunden später hatten sie eine Aufstellung von sechzehn Namen angefertigt; davon strichen sie sogleich drei, da sie erkennbar aus Adelshäusern stammten. Unglücklicherweise wußten sie nicht den vollen Vatersnamen, und die Aufzeichnungen enthielten keinerlei Hinweise auf Großeltern. Daraufhin blieben ihnen noch dreizehn Namen. Die Einsichtnahme in andere Dokumente ermöglichte es ihnen, aus Gründen ungeeigneten Alters die Anzahl auf zehn zu vermindern. Als nächstes mußten sie die Sterbeverzeichnisse nach diesen zehn Benedicts durchsehen und ermitteln, welche davon überhaupt noch lebten. Die ostwärtigen Fenster der Bibliothek waren bereits grau vom Heraufziehen der Morgendämmerung, da schoben sie endlich die letzte Urkundsrolle wieder ins staubige Wandgestell und lehnten sich erschöpft zurück. »Fünf leben noch und sind im rechten Alter«, murmelte Joram, reckte die Arme hoch übers Haupt und erlaubte sich ein schauderhaftes Gähnen. »Wir taten wahrlich wohl daran, als wir darauf beharrten, sofort ans Werk zu gehen. Vermagst du dir vorzustellen, wie am Tage die ganze Abtei uns im Rücken stünde, schier außer sich vor
Neugier, zu ergründen, wonach wir trachten?« Rhys legte den Federkiel beiseite und schlackerte mit den steifen Fingern, dann nahm er die Liste zur Hand. Aus Mangel an Schlaf lasteten die Lider bleischwer über seinen Augen, aber er hatte nun hier eine Liste von Personen vorliegen, die in Frage kamen. 26 F. III. Andrew, James' Sohn, Alter 45 – Priorei St. Piran 28 F. III. Nicholas, Roystons Sohn, Alter 43 – Abtei St. Foillan 31 F. III. John, Daniels Sohn, Alter 42 – Priorei St. Piran 32 F. III. Robert, Peters Sohn, Alter 39 – Priorei St. Ultan 2 BL. Matthew, Carlus' Sohn, Alter 46 – Kloster St. Illtyd Er las die Aufstellung ein weiteres Mal durch und überreichte sie dann Joram. »Na, und was jetzt? Die Hälfte dieser Häuser kenne ich gar nicht. Wo liegen Sankt Ultan und Sankt Foillan?« Joram unterzog die Liste ebenso einer Musterung, dann faltete er sie und verbarg sie unter seiner Robe. »Sankt Ultan liegt drunten in Mooryn, unweit der Küste. Sankt Foillan ist im Lendourischen Hochland, etwa drei Tagesritte südöstlich von hier. Aber ich glaube, wir sollten's zuerst in Sankt Piran versuchen. Die Priorei liegt nur einen Tagesritt weit im Norden, und dort befinden sich gleich zwei der Fraglichen. Und außerdem – obwohl das fast zu einfach ist, um darauf zu hoffen – trägt der zweite dortige Mann einen Namen, der sich im Hause Haldane sehr leicht vorstellen läßt, nämlich dieser John, Daniels Sohn.
John ist nicht weit von Ifor, welchselbiger unseres Gesuchten Urgroßvater gewesen sein muß, der letzte Haldane-König. Und natürlich lautete deines verstorbenen Freundes Name Daniel. Er kann den gleichen Namen seinem Sohn gegeben haben.« »Und wenn keiner der Benedicts zu Sankt Piran der Gesuchte ist, was dann?« »Na, dann versuchen wir's in Sankt Foillan und Sankt Ultan, und auch zu Sankt Illtyd, wenn's denn sein muß – obschon ich nicht eben große Lust verspüre, mich in Nyford zu tummeln, während dort wie besessen Bauten im Gange sind. Ich hoffe, deine Reitmuskeln sind besser als meine geübt.« Er rieb sich das Gesäß und grinste wohlgelaunt, und Rhys lachte gedämpft. Nachdem er die restlichen Pergamentbogen geordnet hatte, von ihm dazu benutzt worden, um während des Nachforschens Arbeitsvermerke zu machen, wollte Rhys sie zusammenrollen, doch Joram streckte seinen Arm aus, nahm die Bogen und hielt sie nacheinander an des Binsenlichtes Flamme, beobachtete aufmerksam, wie sich jedes Stück zu Asche verwandelte. Rhys sagte nichts, derweil diese Maßnahme stattfand, aber als sie sich schließlich erhoben, heftete er seinen Blick auf Joram. »Soeben hast du mit diesen Pergamenten auch mein letztes Überbleibsel innerer Arglosigkeit verbrannt«, erklärte er mit leiser Stimme. »Vorerst können wir uns noch immer einreden, es wäre ja nur unser Interesse, Bruder Benedict zu finden. Solange niemand dahinter irgend etwas anderes vermutet, können wir uns in Sicherheit wiegen. Aber wenn wir ihn gefunden haben, was wird dann? Was machte man denn mit einem enterbten Thronerben, wenn
nicht ihm den Thron wiederverschaffen, indem man den gegenwärtigen Monarchen stürzt?« Joram bemächtigte sich der beiden Binsenlichter, derweil Rhys sprach, und nun wandte er sich dem Freund zu, das Antlitz vom gelben Flackern der Flämmchen gespenstisch erhellt. »Ja, es handelt sich um Hochverrat, das muß uns gänzlich klar sein. Es ist schon Verrat, nur nach ihm zu suchen, ganz gleich, ob wir ihm zum Thron zu verhelfen beabsichtigen oder nicht. Andererseits kann die ganze Sache in aller Kürze ausgestanden sein. Vielleicht gelangen wir zur Auffassung, daß dieser Bruder Benedict, sollten wir ihn finden, eine völlig unbrauchbare Person für die Krone ist, was man ja nach zwanzig Jahren der Weltferne nicht ausschließen kann, so daß wir ihm Imre gerne vorziehen.« »Gütiger Gott, diese Möglichkeit ist mir noch gar nicht in den Sinn gekommen.« »Auch wieder eine Frage des Blickwinkels.« Joram lächelte. »Und nun denk nur einmal weiter: selbst wenn er die Bereitschaft hegen sollte, seine Schwüre zu widerrufen und sein Geburtsrecht zu beanspruchen – wessen wir durchaus nicht sicher sein können –, ist das ja erst der Anfang. Ein Mann kann freilich zum König geboren werden, aber wenn man ihn nicht dennoch lehrt, ein König zu sein, so möchte er sich wohl sehr das Leben versauern Selbst wir Michaeliten, wie unnachgiebig wir auch Imre und seine Schrullen geißeln, haben bislang keinen Aufruhr wider ihn gepredigt.« Er senkte den Blick in der Binsenlichter Schein, seine Lippen zusammengepreßt zu einem schmalen Strichschatten. »Gewiß, es ist nicht so, daß wir's niemals erwogen hätten«, fügte er seinen
vorherigen Äußerungen hinzu. »Als Imre die Abgabe für den Bau seiner neuen Hauptstadt zu Nyford verkündete, kam es in unseren Reihen fast zum offenen Widerstand. Ein Ritterorden wie die Michaeliten – nun, du kennst unseren Ruf. Aber einen gekrönten König zu stürzen, ist ein ernstes Unterfangen, wenn man auch guten Grund besitzt. Gott sei Dank begriffen das auch die Hitzköpfe in unserer Mitte.« Stumm starrte Rhys für die Dauer mehrerer Herzschläge Joram an, dann wandte er seinen Blick ab. »Die Michaeliten... sie legten großen Wert auf die Kenntnisse, die wir heute nacht erlangt haben, oder nicht?« »Ich vermute, ja«, murmelte Joram, »wenn sie davon wüßten.« Rhys blickte auf. »Und du hast die Absicht, sie ihnen weiterzugeben?« »Ich glaube nicht, daß eine derartige Entscheidung mir allein vorbehalten ist, oder?« entgegnete Joram. »Vielleicht setzt sich vorerst die angeborene Umsichtigkeit meiner Sippe durch, oder ich handle gegenwärtig unbewußt eingedenk dessen, auf welch schmalem Grat mein Orden in diesen Zeiten wandelt. Ohne Zweifel jedoch wird jedes Beginnen, das wir in die Wege leiten, falls wir Cinhil finden und ihn für geeignet befinden, eine Vielzahl anderer Leute einbeziehen. Als erstem aber würde ich, solltest du keine Einwände erheben, meinem Vater davon erzählen.« »Camber?« vergewisserte sich leise Rhys. »Einverstanden. Wenn er etwa der Meinung sein sollte, daß eine Restauration der einzige Ausweg ist, dann wäre mir ganz erheblich wohler zumute.« »Dann komm nun.« Joram gähnte. »Am besten se-
hen wir zu, daß uns noch soviel Schlaf wie möglich zugute kommt, ehe man in diesem Haus alles zur Morgenandacht emporscheucht.«
4 Höre gern auf Rat und nimm Erziehung an, damit du weise seiest in der Zukunft! Sprüche 19,20 Während des Restes der Nacht war ihnen wenig Schlaf vergönnt, doch im Lichte der Kenntnisse, die sie gewonnen hatten, beklagte keiner von beiden diesen Mangel. Kaum hatten sie sich, unsicher auf den Füßen, in die Gastkammer zurückgezogen und am Feuer in Decken gehüllt, da war's auch schon alsbald an der Zeit, sich zur Morgenandacht zu erheben. Weit früher, als sie's in dieser Zeit erschlaffter kirchlicher Zucht erhofft hatten, kam einer der Laienbrüder der Abtei und stand hartnäckig auf der Schwelle Wache, bis beide Männer, wie ermattet sie auch sein mochten, sich auf den Beinen befanden und ihre noch feuchte Kleidung anlegten. Rhys empfand das Benehmen des Bruders ein wenig sonderlich und äußerte dies Empfinden auch, sobald sie allein waren, um sich vollends anzukleiden. Aber Joram lachte nur und rief seinem Freund in Erinnerung, daß sie sich doch in einem Kloster aufhielten. Der Bruder hatte sie offenbar als gewöhnliche Reisende betrachtet, zum Schutz vor der Nacht im Kloster untergeschlüpft. Nach des Bruders Auffassung konnte es selbigen Reisenden nur von Nutzen sein, hielt man sie dazu an, zum Ausgleich für die gebotene Unterkunft ihre
zweifellos angegrauten Seelen wieder näher zu Gott zu erheben. Rhys mußte sich der Vernunft dieses Gedankenganges beugen – ein warmer, trockener Platz zum Schlafe war sicherlich die Teilnahme an einer Morgenandacht wert –, neigte doch sein Hirn, anders als bei Joram, so sehr in der Frühe dazu, seinen Dienstantritt noch aufzuschieben, zumal nach wenig oder keinem Schlaf. Daher folgte er Joram mit gewissem Widerwillen in die Klosterkirche, wo er sich unbeholfen in eine Stimmung der Andacht zu versetzen suchte, die er zu einer Stunde einfach nicht zu fühlen vermochte, die nach seiner Ansicht noch so tief in der Nacht lag, daß sie ihm unheilig dünkte. Der halbe Vormittag war bereits verstrichen, ehe sie das Kloster verlassen konnten. Nach dem Gebet bestand der Abt darauf, ans nächtliche Fasten ein ausgiebiges Frühstück anzuschließen, und er stellte allerlei Fragen, was sich zur Zeit in der Hauptstadt abspiele. Als sie sich endlich verabschiedeten, ritten sie hinaus unter einen gleichsam bleiernen Himmel, der die Sonne verbarg und weiteren Regen verhieß. Die Pferde waren munter und voller Bewegungsdrang, und ihre Hufe schlugen Funken aus den Pflastersteinen des vom Wind durchfegten Klosterhofs. Doch binnen kurzem verwandelte sich der Hufschlag in Platschen und Klatschen, als sie die schlammige Landstraße erreichten; schon begann von neuem Regen die kalte, klare Luft zu verschleiern. Bevor sie nur zwei Meilen zurückgelegt hatten, waren die beiden Männer erneut bis auf die Haut durchnäßt. Der Regen hielt bis weit in den Nachmittag hinein an, hatte sich jedoch mittlerweile zu einem verdrießlichen Nieseln abgeschwächt, als sie in die Ausläufer der
MacRorie-Ländereien kamen. Auf der letzten Hügelkuppe, ehe der Weg abwärts durchs Dorf führte, zog Cambers Herrensitz ihre Blicke an, die auf der jenseitigen Höhe gelegene Burg Tor Caerrorie, deren grünlich-graue Schrägdächer vom jüngsten Dauerregen schimmerten. Die beiden Männer verweilten für einen Moment auf dem Hügel und sahen einander in verschwörerischer Weise an, wobei sich in Jorams priesterliches Auge ein schalkhafter Glanz stahl. Dann sprengten sie mit lautem Gelächter hinunter und hinein ins Dorf, jauchzten wie zwei Schulbuben, während sie durch die Pfützen der Dorfstraße preschten. Sie wären schnurstracks, indem sie Hühner, Hunde und Kinder auseinanderjagten, durchs Dorf galoppiert, hätten sie nicht plötzlich einen Waffenknecht der MacRories erspäht, der mit zwei Pferden vor der kleinen Dorfkirche wartete. Das eine Pferd erregte so gut wie kein Interesse, denn es war weder von besonderem Blute noch irgendwie bemerkenswert aufgeputzt; beim anderen Tier jedoch handelte es sich um eine kleine Fuchsstute, die beide Männer auf den ersten Blick erkannten. Als sie ihre Reittiere zügelten, starrte der Waffenknecht herüber, dann winkte er lebhaft, während Freude seine Miene erhellte. »Pater Joram!« Joram grinste breit, als er aus dem Sattel sprang und den Mann herzlich umarmte. »Bartel, altes Roß, wie ergeht's dir so? Ist das nicht meiner Schwester Pferdchen, das ich hier sehe?« »Doch, Pater, und Ihr wißt's«, entgegnete der Mann und lachte. »Die gnädige Herrin lehrt gerade die Dorfknaben den Katechismus. In Kürze wird sie damit fertig sein. Wünscht Ihr mit mir auszuharren und
sie zurück auf die Burg zu geleiten?« »Erkühne dich nicht, mir davon abraten zu wollen«, erwiderte Joram und kehrte sich nach Rhys um, der sich auf gemessenere Weise vom Pferd geschwungen hatte. »Rhys, du entsinnst dich noch an Bartel, nicht wahr?« »Freilich«, bestätigte Rhys und drückte dem Älteren die Hand. »Wie geht es hier zu, Bartel?« Bartel verbeugte sich, erfreut über die entgegengebrachte Freundlichkeit; doch dann versteifte sich ein wenig seine Haltung, und er senkte voller Unbehagen den Blick. »Ich... ah... Ihr könnt noch keine Kunde von der Mordtat haben, andernfalls würdet Ihr so nicht fragen, Herr.« »Mordtat?« Rhys sah Joram an, und der Priester legte eine Hand auf des gealterten Kriegers Schulter. »Was hat sich zugetragen, Bartel? Wen hat man erschlagen?« Einen Moment lang kaute Bartel auf seiner Unterlippe, dann hob er wachsam den Blick in Jorams Augen. »Einen Deryni, Pater, vor wenigen Tagen hier im Dorf. Er war keiner von solcher Trefflichkeit, daß von uns jemand ein Tränlein um ihn vergösse... Ihr kanntet den Schelm, den Herrn Rannulf...« »Einen Deryni!« stieß unterdrückt Joram hervor. »Ja, und der König gedenkt ernstlich die alte Festilische Faustregel anzuwenden. Fünfzig Geiseln ließ er ergreifen, und an jedem Tage sollen zwei hängen, bis der Mörder gefunden ist oder alle Geiseln im Tode vereint sind, denn die Gedankenseher des Königs vermögen den Schuldigen nicht zu erfahren. Morgen müssen die ersten Geiseln sterben.« Rhys zischte zwischen den Zähnen. »Das erklärt
mir einiges. Es dünkte mich nicht bedeutsam, doch ich wunderte mich gestern, so viele Kuriere unterwegs von und nach Valoret zu sehen. Auf meinem Wege nach Sankt Liam muß ich dreien oder vieren begegnet sein.« »Gibt es denn gar keine Hinweise auf den wahrhaftigen Übeltäter, Bartel?« brummte Joram. »Noch nicht, Pater. Jedenfalls nicht auf einen bestimmten Zeitgenossen. Manche glauben, die Willimiten seien's gewesen, aber auch dafür finden sich keine Beweise. Herr Camber hat in den vergangenen zwei Tagen eigene Männer ausgeschickt, auch Gedankenseher darunter, um die Leute zu befragen, doch mit gleichem Mißerfolg. Und da gegenwärtig im Lande ein solcher Mißmut wegen der Abgabe herrscht, sich außerdem nun dies ereignet hat, sorgt es ihn, man könne auch einen anderen Deryni bedrohen. Deshalb befahl er mir, heute mit der jungen Herrin zu reiten. Er befürchtete, ihr möge etwas zustoßen.« »Bartel, ich wertschätze deine getreuen Dienste, aber du bist und bleibst ein Schwarzmaler«, ertönte in diesem Augenblick hinter den Männern eine helle, wohlklingende Stimme. Sie wandten sich um und sahen Evaine in einem Mantel die Kirchentreppe herabeilen; ihr helles Haar wehte aus der Kapuze. »Vater weiß, daß ich selbst auf mich achtgeben kann«, fuhr sie in ihrer Rede fort. »Und wer sollte denn mir ein Leid zufügen wollen? Ich habe nichts getan, was den Willimiten, sollten sie's wirklich sein, auf denen die Schuld lastet, zum Verdruß gereichen möchte. Und zweifelsfrei habe ich nichts von diesen guten Leuten zu befürchten.« Mit einem Nicken ihres Hauptes wies
sie aufs Dorf und lächelte, während sie zur Begrüßung einen Arm um ihres Bruders Hüfte schlang und Rhys in die Augen sah. Rhys ergriff ihre Hand und küßte dieselbe, derweil er die Aufwallung von Gefühlen zu bezähmen versuchte, welche dies Wiedersehen mit Evaine in seinem Innern verursachte, und es bereitete ihm eine überaus freudenvolle Überraschung, als sie auch um ihn einen Arm legte, ihn näherzog und ihn zart auf die Wange küßte. Auch Bartel verspürte die ganze Zauberhaftigkeit, die Evaine, wenn sie's nur wollte, zu verbreiten mochte, und es schien ihm geradezu die Sprache verschlagen zu haben. »Nun wohl, liebe Schwester«, sprach leise und mit Nachsicht Joram, »und dennoch, verlaß dich nicht auf deine eigne liebliche Mildherzigkeit, indem du sie der weiten Welt beimißt. Ist's wahr, daß unser Vater dich in Gefahr wähnt?« »Natürlich nicht.« Sie schnitt eine Grimasse und stützte ihre Stirne spielerisch an die seinige. »Unsere Getreuen sorgen sich um meine Sicherheit, so wie Bartel. Doch schwebe ich wirklich und wahrhaftig in keinerlei Gefahr, das glaube mir getrost.« »Ei nun, mich drängt's, wie auch immer es sich verhalten mag, mehr über diesen Vorfall zu vernehmen«, sprach Joram. Er löste sich aus seiner Schwester Umarmung und gab Bartel einen Wink, daß er ihre Stute bringe. »Da du dein Wirken hier beendet hast, laß uns zur Burg reiten. Rhys, entreiße ihr deinen Blick! Ich möchte hören, was sich tatsächlich begeben hat.« »So, und mehr vermag bislang niemand zu sagen«,
beschloß am Abend, als sie alle am Feuer saßen, Camber seinen Bericht. »Die alte Witfrau Claret fand Rannulfs Leichnam in der Morgendämmerung, und es drohte sie schier der Verstand zu fliehen, da er auf ihrem Lande lag. Oder, wie ich wohl richtigstellen muß, es war nur ein Teil des Leichnams, nämlich das Haupt und ein Viertel des Leibes. Der Rest... nun, noch mehrere andere Familien des Dorfes machten an jenem Morgen gleichartig gräßliche Funde. Gleich in aller Morgenfrühe meldete mir der Dorfbüttel die Entdeckung.« Rhys und Joram nickten verständnisvoll, während Camber ihre Gläser auffüllte, und stellten sich die Aufregung und das Treiben vor, welche ein derartiges Ereignis auslösen mußte, für ein beträchtliches Weilchen fiel kein einziges Wort. Eine Stunde zuvor war der letzte Diener weggeschickt worden, und nur die drei Männer und Evaine saßen noch im Burgsaal am Kamin. Rhys, der neben Evaine Platz genommen hatte, trank gedankenverloren vom Glühwein. Schließlich lenkte er seinen Blick hinüber zu Joram und sah den Ordensgeistlichen fast unmerklich nikken. Daraufhin zerstreute er seine letzten Zweifel und wandte sich an Camber. »Herr Camber, da ist etwas, davon Joram und ich glauben, daß Ihr's wissen solltet. Es kann von Bedeutung für das sein, worüber wir soeben sprachen, oder auch nicht.« Irgend etwas im Klang seiner Stimme verlieh seiner Rede mehr Gewicht als das bloße Wort, und aller Anwesenden Augen richteten sich auf Rhys. Der junge Mann neigte sein Haupt und suchte nach dem rechten Anfang, dankbar für die Hand, welche Evaine sanft auf die seine senkte. Besonders eindringlich fühlte er Cam-
bers Blick auf sich ruhen. »Alle hier Versammelten wissen, daß ich ein Heiler bin, und daß mein Gewerbe, meine Berufung mich mit vielerlei Leuten zusammenbringt.« Er räusperte sich, unruhig aus Verlegenheit, und trank, ehe er zu sprechen fortfuhr, einen Schluck Wein. »Zwei Tage ist's nun her, daß unter meinen Händen ein Greis verstarb. Er war kein bedeutender Mann... jedenfalls dem äußeren Schein nach nicht. Aber was er mir auf seinem Sterbebett erzählte, hat mich seither fortwährend zu gründlicher Gewissenserforschung veranlaßt.« Er hob den Blick seiner goldbraunen Augen und erwiderte gleichmäßig Cambers Blick. »Herr, er behauptete, Prinz Aidan Haldane zu sein, ein jüngerer Sohn des letzten Haldane-Königs.« Darauf sprach niemand ein Wort; man tauschte nur vorsichtige Blicke aus. Camber schaute in seines Sohnes Antlitz, um in dessen Augen zu erkennen, daß Rhys die Wahrheit sagte. Wortlos gab er sodann Rhys ein Zeichen, daß er weiterreden möge. Erneut senkte Rhys seinen Blick. »Dann tat ich etwas, dessen ich mich gewöhnlich selten befleißige«, erklärte er bedächtig. »Auf des Alten Forderung – nein, fast auf seinen Befehl hin, kann man sagen – tastete ich mich tief in sein Bewußtsein vor, um den Wahrheitsgehalt seiner Behauptung nachzuprüfen, und ich ersah: es handelte sich in der Tat um die Wahrheit. Er war Prinz Aidan. Und was noch größeres Gewicht besitzt, er hatte einen rechtmäßigen Sohn, und selbiger Sohn besaß wiederum auch einen Sohn. Der Sohn ist seit langem tot – vor zwanzig Jahren schon raffte ihn die Pest dahin. Aber wir haben Grund zur Annahme, daß der Enkel noch
lebt.« Er hob von neuem den Blick unmittelbar in Cambers Augen. »Dieser Enkel wäre somit Prinz Cinhil Donal Ifor Haldane, rechtmäßiger Erbe des Thrones von Gwynedd.« Für die Dauer eines Dutzends Herzschläge herrschte Stille im Saal, welche schließlich Evaine mit einem unterdrückten Seufzer der Anspannung beendete; ihre blauen Augen waren geweitet aus allerhöchstem Staunen über diese bedeutungsschwere Kunde. Und dann wandte aller Aufmerksamkeit sich Camber zu. Noch hatte der Deryniadlige kein Wort verlauten lassen; er überlegte noch und erwog, las die Gedanken in Rhys' Augen. Endlich aber brach er den allgemeinen Bann und ließ seinen Blick über die restlichen Anwesenden schweifen. Während er das tat, unterwarf sich jeder seiner wachsamen Musterung, voller Hochachtung, aber ohne Furcht. Selbst der ansonsten aufsässig gesonnene Joram schwieg angesichts dieser Begutachtung durch seinen Vater. »Ihr habt gesagt, Rhys«, sprach Camber schließlich den jungen Heiler an, »Ihr besäßet zur Annahme Grund, daß dieser Enkel noch lebt. Habt Ihr auch Kenntnis von seinem Aufenthalt?« Rhys schüttelte das Haupt. »Nicht genau, Herr. Aber wir vermochten die Möglichkeiten bereits auf fünf Orte einzuschränken. Seht, er ist Mönch der frommen Bruderschaft Ordo Verbi Dei – jedenfalls wurde er's vor zwanzig Jahren, als er seine Gelübde ablegte. Das war der letzte Anlaß, da sein Großvater von ihm hörte. Auch wissen wir nicht Cinhils weltlichen Namen, nur den geistlichen, welchselbigen er anläßlich seiner Mönchsweihe annahm: Benedictus. Ähnliches gilt für seinen Vater, in dessen Falle wir le-
diglich von seinem Königsnamen Kenntnis haben: Alroy. Im genannten Orden sind gegenwärtig fünf Mönche namens Benedictus Mitglieder, die im rechten Alter stehen. Wenn er noch lebt, muß einer davon Prinz Cinhil sein.« »Ich verstehe.« Camber ließ einen Seufzer vernehmen und sank in seinem Lehnstuhl zurück, stellte das Weinglas behutsam aufs Kaminsims. »So, dieser Cinhil, oder Benedictus, wie er sich heute nennt, ist ein Büßermönch, so, aha! Einmal unterstellt, wir fänden ihn, was sollten wir dann mit ihm anfangen?« Diesmal war's an Joram, Antwort zu erteilen. »Eben darin sind wir uns nicht sicher, Vater. Wir glauben, daß wir aufzudecken vermöchten, welcher von diesen fünfen der Gesuchte ist, ohne bereits verhängnisvollen Argwohn zu erwecken. Wir haben sogar schon darüber beraten, welche Vorbereitungen vonnöten wären, um ihn aus seinem Kloster zu schmuggeln, käme es denn soweit. Freilich müßten wir erst einmal seine Anlagen beurteilen.« Er zuckte die Achseln. »Alles andere bliebe abzuwarten.« »Wohl gesprochen, Joram.« Camber nickte. »Unsere Gelehrtheit hat dich glänzend dazu befähigt, von Verrat zu reden, ohne ihn zu erwähnen und ohne daß sein Zungenschlag holpert. Doch was ist's, das ihr von mir erwartet? Soll ich eure Nachforschungen unterstützen, euren Verrat begünstigen? Ich zog mich zurück von Imres Hof, weil ich ihn ob seiner Eigenschaften als Mann nicht schätzen kann. Und ihr kennt meine Meinung bezüglich der Gesetze, die er seit seiner Krönung erlassen hat. Doch niemals habe ich seinen Sturz befürwortet. Sollte ich mich denn auf ein solches Wagnis für einen Mann einlassen, dem ich
noch nie begegnet bin – dem keiner von uns jemals begegnet ist? Selbst ihr Michaeliten würdet keine solche Keckheit aufbringen, möchte ich behaupten. Hast du deinen Generalvikar davon unterrichtet?« Joram wand sich mißbehaglich an seinem Platz und sah Rhys an, während er seine Finger ineinander verschlang. »Nein, teurer Vater, das habe ich nicht. Und ich... wir verlangen beileibe keine derartige Einlassung zu einem dermaßen verfrühten Zeitpunkt. Aber gewißlich hegst du doch Verständnis dafür, daß uns daran liegt, zumindest Nachforschungen anzustellen, mehr über diesen Haldane-Erben herauszufinden. Dann erst... nun, du bist unter uns derjenige, welcher am allerbesten zu beurteilen vermag, ob die gegenwärtige Art und Weise der Herrschaft gerecht ist oder nicht. Wir hofften auf deinen stets weisen Rat, um zu beschließen, was als nächstes getan werden muß.« »Meinen Rat?« fragte leise Camber. »Nicht den deiner Michaeliten?« »Vater, ich weiß, daß du kein Gefallen an...« »Mein Gefallen oder Mißfallen hat nichts damit zu schaffen, Sohn«, unterbrach Camber. »Ich will dich keineswegs dazu drängen, zwischen deiner Familie und deinem Orden zu entscheiden. Vielmehr wäre ich der erste, wenn dies Unterfangen den Verlauf nimmt, welchselbigen ihr ihm offenbar geben wollt, der vorzuschlagen geneigt ist, daß ihr euch ihrer Unterstützung vergewissert. Eine Restauration braucht unbedingt entschlossene Fürkämpfer, und die Michaeliten zählen zu den hervorragendsten Meistern des Waffenhandwerks. Ohne sie wäre kein Erfolg denkbar, und sollte dieser Cinhil auch ein Halbgott
sein – was er, will er, will mich bescheidenst dünken, nicht ist.« Nachdenklich nickte Joram, durch seines Vaters unvermutete Würdigung der Michaeliten, wie angebracht sie auch sein mochte, außerordentlich verblüfft. »Doch verbleiben wir vorerst bei eurem gesuchten Haldane. Angenommen, er ist ein Schwachsinniger? Oder nehmen wir einmal an, er will gar nicht König werden? Und letzteres ist, wenn er nur einen Funken von Verstand besitzt, höchst wahrscheinlich. Oder denken wir uns einmal, er nimmt seine Gelübde ernster als den Zufall seiner Geburt? Stellen wir uns ruhig einmal vor, er weiß, wer er ist, wünscht aber von seinem königlichen Erbe nichts zu wissen? Habt ihr überhaupt schon daran gedacht, daß er womöglich aus eben diesem Grund in einen Orden eintrat, nämlich um sich für immer von der Versuchung abzuschließen, das eigene Unheil heraufzubeschwören? Ich muß euch wohl kaum daran erinnern, daß die Kirche den Freitod mißbilligt.« »Du unterstellst einen Fehlschlag«, sagte Joram; seine Stimme verriet Unmut. »Nein, ich fordere euch nur auf, alle denkbaren Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Denn dies ist kein Spiel und keine schöngeistige Betrachtung. Sobald ihr euch des weiteren damit befaßt, ist euer Leben in Gefahr... und nicht ihr allein werdet davon betroffen sein.« Joram widmete Rhys einen flehentlichen Blick, und der Heiler beugte sich in seinem Lehnstuhl vor. »Das meiste von dem, Herr« sprach nun Rhys, »was Ihr uns soeben zu bedenken gegeben habt ist von uns bereits in unseren Überlegungen berücksichtigt worden, glaubt mir. Aber um unserer eigenen Gewissensruhe
willen müssen wir zumindest ein Gespräch mit dem Manne führen. Ist er jener, der er den Worten seines Großvaters zufolge sein müßte, und besitzt er auch nur die geringste Eignung, dann erst wollen wir das Endgültige entscheiden. Doch ist schließlich dieser Zeitpunkt gekommen, bedürfen wir Eures Beistands.« Er senkte den Blick auf seine Füße, als er weiterredete. »Wir können Cinhil finden, wir können seine Seele ausloten, wir vermögen ihn genauer kennenzulernen und gründlicher zu durchschauen, als nahezu jeder andere es fertigbrächte. Aber wir sind nicht davon überzeugt daß wir die Befähigung besitzen – auf jeden Fall bezweifle ich, daß ich sie habe –, um die letzte Beurteilung vorzunehmen, die abschließende Feststellung, ob dieser Mann König sein sollte oder nicht. Natürlich werden wir ihm nichts außer dem Ableben seines Großvaters mitteilen, solange wir nicht dessen sicher sind, daß er nicht aufheult und zu seinem Abt läuft. Wir möchten lediglich Euer Einverständnis damit, daß wir unsere Ermittlungen bis zu diesem Punkte vorantreiben. Wollt Ihr uns dazu Euren Segen geben, Herr Camber?« »Sähet Ihr denn von dem Vorhaben ab, verweigerte ich ihn?« entgegnete Camber. Beide Männer sahen Camber lange und fest an; dann schüttelten sie gleichzeitig ihre Häupter, ohne daß einer beim anderen rückzufragen gehabt hätte. Camber richtete seinen Blick von Rhys auf Joram, von ihm auf Evaine. Seiner Tochter Antlitz gab keinen Hinweis, welche Meinung sie in dieser Sache vertrat. »Nun, herzliebe Tochter, es will wohl so scheinen, als wollten dein Bruder und Herr Rhys aus diesem Abenteuer eine Familienangelegenheit machen«,
sagte er in leichtmütigem Tonfall zu ihr. »Ist's dies, warum du mich gestern in ein Streitgespräch verwikkelt hast, oder war's reiner Zufall? Wie tief bist du bereits in diesen Irrwitz verstrickt?« »Wahrhaftig, nichts davon war mir bis zum heutigen Abend bekannt«, erwiderte nachdrücklich Evaine; dann begriff sie, daß ihr Vater sie narrte – und warum er's tat. »Aber ich bin froh über das Gespräch«, setzte sie hinzu, »weil ich glaube, daß Rhys und Joram nunmehr einige höchst bemerkenswerte Ansichten vorgetragen haben.« »Nun denn!« Camber lächelte. »Ich will des Satans Advokat spielen, und du wirst die Verteidigung übernehmen. Also, was hältst du von unserem möglichen König Gwynedds?« »Ich glaube, dazu kannst du von mir keine Meinungsäußerung erwarten, Vater, weil ich dem Manne noch nie begegnet bin. Ich hege jedoch ebenfalls die Überzeugung, daß Rhys und Joram ihre Nachforschungen fortsetzen müssen, um zu entdecken, ob dieser Benedict nun Cinhil Haldane ist.« »Warum?« »Darauf fällt die Antwort freilich schwer«, gestand Evaine ihm zu. »Es dreht sich jedoch, meine ich, nicht so sehr darum, daß dieser Mann Anspruch auf den Thron hat, sondern jeder Haldane.« »Du würdest den gegenwärtigen König stürzen?« Evaine verdrängte ein Lächeln von ihren Lippen. »Oho, komm, komm, Väterchen, wir alle kennen die wahren Gründe deiner Abwendung von Imres Hof. Ich glaube, wir sind uns darin einig, daß es kaum ein irgendwie erfreulicher Zustand ist, einen solchen Mann auf dem Thron zu haben, sieht man einmal da-
von ab, daß es bisher keine rechte Wahl gab. Aber sollte es möglich sein, daß sich ein rechtmäßiger Erbe findet, ein würdiger Nachfolger, daß die Aussicht entsteht, ein altes, edles Herrschergeschlecht, das weise und erfolgreich mehrere Jahrhunderte lang über Gwynedd gebot, wieder an die Macht zu erheben... Immerhin geschah's nicht aufgrund mißlungenen Waltens, daß man die Haldanes stürzte, wie kräftig auch unsere von Deryni geschriebenen Geschichtsbücher den Streich rechtfertigen mögen. Für meine Begriffe haben die Festils in ihrer Machtgier der Krone auf unverzeihliche Weise die Treue gebrochen. Sollte sich nun ein geeigneter Anwärter mit rechtmäßigem Anspruch zeigen, so verdient er in Betracht gezogen zu werden.« Camber hatte seiner Tochter Rede mit verhaltenem Lächeln gelauscht, seine Hände gefaltet, deren Zeigefinger unablässig an seine vorgeschobene Unterlippe tippten. Als sie verstummte, lachte er mit hohlem Klang auf und lenkte seinen Blick wieder hinüber zu Rhys und Joram. »Da seht ihr, was geschieht, wenn man einer Tochter Bildung zukommen läßt! Die eigenen Lehren kehren zurück wie Schreckgespenster. Joram, dulde niemals, daß deine Töchter sich der Gelehrsamkeit befleißigen.« »Ich bezweifle, daß ich in diese Versuchung geraten werde.« Joram lächelte breit. »Ja, vermutlich hast du recht. Aber Ihr, Rhys, merkt Euch für alle Fälle meine Worte.« Rhys konnte sich nicht eines verstohlenen Seitenblicks auf Evaine enthalten. »Ich nehme an, Herr, daß meine Gemahlin dabei auch ein Wörtchen mitzureden gedenkt, wenn's soweit ist.«
»Hmm, das könnte wohl sein. Evaine, antworte mir auf diese Frage: Wenn dieser Benedict wirklich Cinhil Haldane ist, wirst du dann vorschlagen, einen weltfremden, ungebildeten...« Kühn räusperte sich Joram. »Vergebung, Vater, aber es ist aller Anlaß zur Annahme vorhanden, daß er eine ausgezeichnete Bildung genossen hat. Der Ordo Verbi Dei legt großen Wert auf umfassende, gründliche Kenntnisse seiner Mitglieder.« Camber hob ergeben eine Hand. »Gewiß. Aber er ist nicht zur Königswürde ausgebildet, und das macht einen gewaltigen Unterschied aus. Nein, keine nochmalige Unterbrechung. Evaine, würdest du das Ansinnen unterbreiten, einen solchen Mann auf den Thron Gwynedds zu setzen?« »Hat denn eine königliche Erziehung sich günstig auf Imre ausgewirkt?« hielt sie ihm darauf entgegen. »Und da wir seinen Werdegang und seine bisherigen Taten kennen, läßt sich daran nicht ablesen, was für eine Sorte von König er uns weiterhin sein wird? Andererseits mag doch Cinhil alle Voraussetzungen mitbringen, um ein guter König zu werden. Und ist's so, spielt dann nicht das Wissen, dessen er als König bedarf, eine mindere Rolle? Man kann ihn lehren, stimmt's? Und vermöchte er einen besseren Lehrer zu finden als dich, der du unter zwei Königen gedient hast und klug genug warst, dem dritten den Rücken zu kehren, als du ersahst, daß du ihm nicht dienen konntest?« »Touché!« rief Camber, betonte beide Silben und schlug sich belustigt eine Hand auf den Schenkel, daß es klatschte. »Rhys, habe ich Euch nicht immer versichert, sie sei ein Ausbund an scharfgeistiger Schluß-
folgerungskraft? Und nun hat sie mich mit meinen eigenen Einwänden umgarnt. Aber vermutlich muß ich mir selbst die Schuld zuschreiben. So sage mir, Tochter, verstehe ich dich recht, daß du einem Staatsstreich zugeneigt wärst, wenn dieser Cinhil sich dessen als würdig erweist, Herrscher zu sein?« »Haben wir denn eigentlich eine Wahl?« versetzte darauf Evaine. »Wäre es auch so, wir vermöchten nichts ohne deinen Rat und deine Hilfe zu beginnen.« »Wir?« Er lächelte matt. »Nun gut. Aber ich stelle Bedingungen.« »Das ist begreiflich und annehmbar«, sprach Joram. »In diesem Falle mache ich euch, Joram und Rhys, folgendes zur Auflage: sollten wir diesen HaldaneErben aufspüren, sollte er kein Schwachsinniger oder ein noch elendigeres Geschöpf sein, sollte er seine Einwilligung erteilen, daß wir uns mit ihm befassen, und sollten wir ihn als der Krone würdiger denn jenen Mann beurteilen, der gegenwärtig auf dem Thron Gwynedds sitzt – erst dann werden wir vielleicht über Mittel und Wege nachzusinnen anfangen, um einen Herrscherwechsel herbeizuführen. Ich möchte euer Wort darauf, daß ich ständig über alle Fortschritte unterrichtet werde. Außerdem behaltet im Augenmerk, daß Jorams Bruder Cathan sich unter der unablässigen Aufmerksamkeit des Königs befindet und durch unser Treiben in ernstliche Gefahr geraten könnte. Ihr dürft nichts unternehmen, das hinaus über unauffällige Ermittlungen geht, es sei denn, wir alle gelangen zur Auffassung, daß ein weiterreichendes Handeln zum besten Gwynedds erforderlich ist.« Joram und Rhys tauschten Blicke aus; dann wandte sich Joram von neuem an seinen Vater. »Deine Be-
dingungen, werter Vater, sind mehr als wohlbesonnen. Und unter uns sind wir bereits übereingekommen, daß es am besten ist, Cathan erfährt von alldem vorerst nichts. Wenn du keine Einwände hast, gedenken wir noch im Laufe dieser Woche zur Priorei Sankt Piran zu reiten. Dort leben zwei der Fraglichen, und vielleicht können wir binnen kurzer Frist einen davon oder gar beide von der Liste streichen.« »Aber ihr werdet noch nichts enthüllen?« vergewisserte sich Camber. »Nein, verehrter Vater. Wir werden dem Gesuchten nur die Nachricht überbringen, daß sein Großvater gestorben ist und in sein Gebet eingeschlossen zu werden wünschte. Findet dies Vorgehen deine Zustimmung?« »Ich erhebe keine Einwände. Wann kämet ihr zurück?« »Binnen drei Tagen, wenn alles ohne Umstände abläuft. Jede Strecke erfordert einen Tagesritt, und...« Draußen im Hof erscholl lautes Kläffen und Bellen, dann hörte man jemanden dumpf ans Burgtor pochen. Nach kurzer Zeit öffnete ein Diener das Portal zur Halle, begleitet von einem anderen Mann, um dessen Beine ausgelassen die Wolfshunde strichen. »Mein Herr, der junge Jamie Drummond wünscht Euch zu sprechen«, meldete der Diener, während er dem Ankömmling mit ausgestrecktem Arm den Zugang verwehrte. »Tretet ein, Jamie«, rief Camber, »und nehmt bei uns am Kamin Platz.« Er erhob sich und winkte den Ankömmling heran. »Trinkt ein Glas Wein mit uns! Ich wähnte schon, Ihr hättet Euer Versprechen vergessen, mit uns am Michaelstag anzustoßen.«
»Wie könnte ich ein solch ehrenvolles Anerbieten vergessen?!« entgegnete Drummond, strebte herüber und kniete auf höfische Weise nieder, um Cambers Hand zu küssen. Die Hunde blieben an seinen Fersen. »Eine dringliche Sache verzögerte mein Kommen. Ich bringe Euch Kunde aus der Hauptstadt, von Eurem Sohn.« Er holte einen versiegelten Brief hervor und händigte ihn dem Älteren aus, dann zog er sich mit einem Fuß einen Stuhl näher ans Feuer und nickte den anderen zum Gruße zu. »Es ist womöglich empfehlenswert, Ihr lest das Schreiben sofort, Herr«, fügte er hinzu, als er bemerkte, daß Camber ihn in neugieriger Erwartung musterte. »Cathan entsandte mich in großer Hast.« Ohne länger zu zögern, brach nun Camber das Siegel und las eilig das überbrachte Sendschreiben. Sein Antlitz war ernst und spiegelte Grimm wider, als er das Pergament Joram reichte. »Cathan hat die für den Morgen vorgesehene Hinrichtung der beiden ersten Geiseln nicht abzuwenden vermocht«, sagte er und schnippte mit den Fingern, um die Hunde zum Niederlegen zu veranlassen. »Er will Imre weiterhin auf Aussetzung drängen, aber er hegt nur geringe Hoffnung. Coel Howell, der Blutsverwandte von Cathans Gemahlin, fordert zudringlich Vergeltungsmaßnahmen wider die Willimiten, weil er davon überzeugt ist, daß es sich beim Mord an Rannulf um den Bestandteil einer willimitischen Verschwörung handelt. Er mag nichts von Aufschub hören, er gedenkt dem König selbst entsprechende Erwägungen auszureden.« »Vater«, sprach ihn leise Evaine an, »kannst nicht du bei Imre für die Bauern eintreten?«
Müde schüttelte Camber sein Haupt »Nein, Kind. Wenn selbst Cathan, den der König schätzt, ihm nicht diese Gunst zu entlocken vermag, welche Aussicht hätte da ich, der Imre die Schulter zeigte, als er die Krone nahm? Nein, wenn jemand die Bauern noch retten kann, so ist's Cathan.« Er ließ seinen Blick durch die Runde schweifen, dann überkreuzte er bedächtig die Arme auf der Brust und starrte hinab auf die Spitze des Pantoffels, die unterm Saum seiner Robe hervorlugte »Doch leider, leider ist dies keine gänzlich unerwartete Nachricht. Cathan wünscht uns im übrigen einen frohen Michaelstag und trinkt auf unser Wohl. Ich glaube, es gebührt ihm, daß wir auf das seine trinken.« Das gesprochen, ergriff er mit langsamer Bewegung sein Kelchglas und hob es empor, nickte versonnen, als seine Kinder und Gäste aufstanden und desgleichen taten. Sie tranken stumm auf Cathan; und das Schweigen hielt für ein beträchtliches Weilchen an, bevor man das Gespräch erneut aufnahm und sich diesmal unverfänglicheren Angelegenheiten widmete.
5 Der König bewohnte damals das Winterhaus, da es der neunte Monat war... Jeremia 36,22 Am Hofe zu Valoret dagegen waren weder Unverfänglichkeit noch Ernstmut verbreitet, und erst recht nicht am Abend des Michaelstages. Während des Tages hatte der junge König Imre widerwillig seiner Pflicht vorm Volke genügt, der Messe beigewohnt, feierlich Hof abgehalten und sich, wie's um diese Jahreszeit der Brauch vorschrieb, am Laternentor gezeigt. Der Abend jedoch gehörte Imre, seinen Höflingen und Freunden. Nach Sonnenuntergang gab es am Hofe zu Valoret nicht länger Pflichten. Im Anschluß ans Festmahl hatte der König sich zurückgezogen, um zum bevorstehenden Ergötzen und Tanzen eine noch prunkvollere Gewandung anzulegen. Schon stimmten die Königlichen Musikanten ihre Schalmeien, Fiedeln und Trommeln, und von ihrer Empore trillerten die Töne schwungvoller Weisen und strammer Pavanen. Stolz wie Pfauhähne schlenderten Imres Günstlinge durch die Festhalle, aus der man mittlerweile die Speisereste entfernt hatte, damit sie dem Herrscher erneut zur weiteren Belustigung diene, tauschten Klatsch aus, plauderten und harrten der Wiederkehr ihres lebensfrohen jungen Lehnsherrn. Inmitten all dieser Vergnüglichkeit wirkte der störri-
sche Cathan in zweifacher Weise fehl am Platze. Cathan MacRorie war am Hofe wohlbekannt. Als Sohn des berühmten Grafen von Culdi und künftiger Erbe aller Güter und Adelstitel der MacRories war Cathan Ratsherr in Imres Kronrat und überdies Königlich-Schatzkämmerlicher Beirat im Sondergericht zur Aburteilung von Abgabenfrevlern. Außerdem war er, wie einst sein Vater ein naher Freund des vorherigen Königs war, ein mit hohem Vertrauen beehrter Freund König Imres. Heute, wie er da mit einem von Imres jungen Würdenträgern an der linken Seite der Festhalle stand, glaubten viele deutlicher denn je zuvor seinen Vater Camber in ihm wiederzuerkennen, obwohl die bekannten Zuge der Stattlichkeit bei des großen Mannes ältestem Sohn ein wenig abweichend ausgeprägt waren; er war nicht so hochgewachsen wie Camber, hinsichtlich des Haars, der Augen und der Haut etwas dunkler als sein ruhmvoller Erzeuger, aber dennoch unverkennbar ein MacRorie. Und Cathan war's, den nun viele als die Stimme der Vernunft betrachteten, welchselbige noch darauf hoffen konnte, sich Zugang ins eigensinnige Haupt des jungen Königs zu verschaffen. Selbst die derynische Oberschicht des Reiches billigte Imres vielfältige Übertreibungen und seine gelegentlichen Anwandlungen grausamer Laune nicht immer. Daß es Cathan allein bisweilen gelungen war, des Königs Zorn zu dämpfen, war am Hofe eine Quelle ständigen Staunens. Ob ihm dabei auch heute abend Erfolg beschieden sein sollte, blieb abzuwarten. Cathan schaute hinüber zum hohen Portal, durch welches Imre in Kürze eintreten mußte, dann lieh er sein Ohr erneut seinem Gesprächspartner, Guaire
d'Arliss. Derselbe war bei Hofe einer von Cathans engsten Freunden und Adjutor des berüchtigten Grafen Maldred, dem die Hinrichtung der fünfzig Geiseln aufgetragen war, zu beginnen mit dem morgigen Tage. Gegenwärtig zählte Guaire an seinen Fingern die zahlreichen Vorzüge auf, die sein Dienstherr Maldred im Vergleich mit seinem zuvorigen Meister, dem Grafen Santare, besitzen sollte. Der letztgenannte Edelmann starrte durch die Halle zu ihnen herüber; offenbar murmelte er dem jüngeren Hofbeamten an seiner Seite boshafte Bemerkungen zu. Coell Howell hatte sich bislang nicht eingestellt, und Cathan war ganz entschieden froh darum. Sein salbungsvoller Schwager würde zweifelllos, traf er erst ein, im Bunde mit Maldred und Santare stehen. »Und trotz seiner Strenge und Härte«, ließ Guaire verlauten, »weiß Maldred treue Dienste gerecht zu entlohnen. Bei ihm kann ein Mann seine Ehre wahren. Tanadas! Ich ergötze mich mit einem süßen Mägdelein nicht minder lieb als jeder andere Mann – aber mit einem Mägdelein, merke auf! Dünkt dich das zuviel verlangt?« Cathan schüttelte knapp sein Haupt und unterdrückte ein Lächeln. »Nein, aber anscheinend ist Santare anderer Ansicht, andernfalls hätte er dich wohl nicht aus seinen Diensten gejagt. Doch es ist ja Maldred, dem heute abend mein Nachdenken gilt. Glaubst du, daß er in dieser Sache des Königs Haltung unterstützt?« »Maldred unterstützt den König in jeder seiner Haltungen.« Guaire schnitt eine düstere Miene. »Ich glaube nicht, daß deine Aussichten gut sind, Cathan.« »Die Geiseln sind's, die schlechte Aussichten ha-
ben. Und es verhält sich ja nicht so, daß sie wahrhaftig etwas angerichtet hätten! Ihnen stößt nur das Unglück zu, im falschen Dorf wohnhaft zu sein. Die Gedankenseher wissen, es sind Unschuldige.« Verächtlich schnob Guaire. »Mich brauchst du nicht zu überzeugen. Ich stehe auf deiner Seite. Aber du kennst die Antwort auf deinen Einwand so gut wie ich – wahrscheinlich besser. Was schert sich ein Deryni-König ums Leben einiger Dutzend Bauern, wenn man einen anderen Deryni ermordet hat? Zumal, wenn die Bauern Menschen sind, aber der Deryni zum Adel zählte.« »Er war ein schändlicher Lumpenhund, Guaire, und du weißt's!« »Gewiß, das war er. Dennoch war er ein Deryni und Edelmann, und sein Mörder ist bis jetzt weder erkannt noch gefunden. Imre hält sich lediglich an die von seinem Großvater festgelegte Faustregel. Fürs Leben eines Deryni fünfzig menschliche Geiseln. Was Imre betrifft, so dünkt ihn das mehr oder weniger gerecht bemessen. Einstmals, in der Zeit nach dem Machtantritt, war dies der Preis, den der Sieg abverlangte. Heute... nun, allem Anschein zufolge hegt Imre die Auffassung, daß dieser Preis auch heute noch zu entrichten ist, will er das Errungene für seine Abkömmlinge bewahren.« Guaire kicherte; seine Augen glitzerten lüstern. »So muß man jedenfalls annehmen. Doch verliefe alles nach seinem Sinn, so hätte er wohl schwerlich jemals Abkömmlinge.« Cathan heftete einen scharfen Blick auf Guaire und wollte bereits nach der tieferen Bedeutung dieser letzten Äußerung forschen, da hoben die Herolde ihre Trompeten und bliesen zur Vorankündigung einen
Tusch. Am jenseitigen Ende des Saales bahnte eine Zweierreihe von Leibwächtern in braunen und goldfarbenen Waffenröcken einen Weg durch des weiten Raumes Mitte und bezog Aufstellung hinter dem Zwillingsthron. Dann erhoben die Herolde die Trompeten ein zweites Mal und schmetterten klangvolle Töne in die Festhalle, derweil sich des Portals Flügel teilten und den Blick auf den König freigaben: Imre von Festil, durch Gottes Gnade König von Gwynedd sowie Herr von Meara und Morryn. An seiner Seite stand seine Schwester Ariella, um sechs Jahre älter als er und noch unvermählt. Beide verharrten auf der Schwelle, bis der Trompetenstoß verhallt war, um ihrem Erscheinen genügend Möglichkeit zur Wirkung einzuräumen; über ihren Häuptern, wie man es bei festlichen oder feierlichen Anlassen von DeryniAdligen erwartete, schwebten in herrlichem Glanz zwei Lichtkränze. Dann schritten sie nach einem Nikken des Grußes durch den Saal langsam hinüber zum Zwillingsthron auf der Festhalle anderer Seite, und im Vorüberschreiten des königlichen Paares verbeugten sich die Höflinge und ihre Damen, wie Korn sich im Winde neigt. Was auch ihre übrigen Schwächen sein mochten, niemand konnte diesen zwei Sprößlingen des derynischen Geschlechts nachsagen, sie verstünden sich nicht auf einen eindrucksvollen Auftritt. Imre selbst war ein junger Mann von bemerkenswerter Erscheinung, wiewohl er von kleinem Wuchs war und noch vergleichsweise jünglingshaft. Die meisten Männer in der Halle überragten ihn um eine halbe Hauptlänge, aber er besaß eine ebenmäßige Gestalt, und auf dem Haupt trug er, während er mit seiner Schwester die Festhalle durchquerte, eine
hohe Krone aus Goldfiligran, besetzt mit Rubinen, derartig gefertigt, daß sie seiner Körpergröße unmerklich ein paar Zoll hinzufügten; sie schimmerte im Schein seines Lichtkranzes. Sein Haupthaar war von dunklem Nußbraun und auf Schulterlänge gestutzt; es umrahmte lebhafte braune Augen, die in seinem angenehmen, aber etwas ungediegenen Antlitz leicht hervortraten. Ein kurzes, hautenges Gewand aus braunem Samt zeichnete jede Wölbung seines jungen, sehnigen Körpers nach, ergänzte mit Betonung ein Paar wohlgewachsener Beine in braunen Beinkleidern aus Seide; an seinen Füßen sah man lederne Tanzschuhe. Ein Umhang in den Farben des Goldes und des Bernsteins, verziert mit Fellen des Rotfuchses, glitt hinter ihm über den Fußboden, als er die beiden Stufen zur Estrade erstieg, und an seinen schlanken Fingern, der Kehle und den Ohren funkelten helle Edelsteine. Am Arm begleitete ihn seine Schwester Ariella, welchselbige ihm Zoll um Zoll das weibliche Gegenstück abgab, ihn jedoch an Schönheit und auch augenfälliger Prachtentfaltung übertraf. Gewandet in dunkelbraunen, mit Gold gemusterten Samt, ließ sie die Makellosigkeit ihrer Gestalt vom Hals bis zu den Füßen, die in Tanzschühchen staken, durch feinsinnigen Faltenwurf und ausgeklügelte Farbzusammenstellung unterstreichen, ausgenommen da, wo ihr Ausschnitt, indem er den Wölbungen ihres Busens schmeichelte, sich zu einem schwungvollen V vertiefte. In der wabrigen Kluft zwischen den Rundungen ruhte zittrig ein lohgelbes Juwel. Eine Fülle nußbrauner Locken war ihr unbeachtet, ihrem Krönchen und dem Schleier entfleucht, über die Schulter gefal-
len. Ihren regen, haselnußfarbenen Augen entging nichts, während sie und ihr königlicher Bruder auf der Estrade ihre Plätze auf dem Zwillingsthron einnahmen. Mit einem Lächeln lehnte sie sich zurück, um sich in des ganzen Hofes Bewunderung zu sonnen, dann streckte sie eine Hand aus und berührte Imres Arm mit einer Gebärde, die Cathan als irgendwie beunruhigend empfand. »Meine edlen Freunde...« Imre war's, der sprach, und seine jugendliche, auf mannhafte Art hohe Stimme erreichte auch die entferntesten Winkel der rauchigen, von Fackelschein erleuchteten Halle. »Meine Schwester und ich heißen Euch willkommen und hoffen, daß Ihr Euch lang und gern an diese Festlichkeit des heutigen Michaelstages erinnern werdet. Doch Ihr seid nicht hier, um Reden Eures Königs zu lauschen, sondern vielmehr, um Euch in seinem Umkreis zu belustigen. Daher sind wir nun entschlossen, Euch Eurem Vergnügen zu überlassen – ja, wir befehlen Euch, Euch in Vergnügungen zu ergehen.« Gedämpft ertönte höfliches Gelächter. »Mein Herr Musikmeister!« Er erhob sich und hielt seiner Schwester eine Hand hin; Ariella stand auf und legte ihre Hand in die seine. »Wir werden den Bren Tigan eröffnen.« Beifälliges Murmeln war vernehmlich, als das königliche Paar von der Estrade stieg und sich im Mittelpunkt der geräumten Saalmitte aufstellte, zuerst sich voreinander und dann vor den Gästen verneigte, während die Musikanten die Einleitungstakte spielten. Dann, als die Klänge der alten derynischen Weise durch den Festsaal schollen, schwangen sich Imre und seine Schwester geschmeidig in die ersten Runden des von alters her überlieferten Tanzes, zu-
nächst das alleinige Paar auf dem Tanzboden. Erst nach Vollendung der anfänglichen Durchgänge begannen andere Paare es ihm gleichzutun. Cathan sah dem Treiben der Tänzer für eine Weile mißmutig zu, dann ließ er sich von einem Diener einen Becher voller Wein reichen und verwickelte sich in eine wechselseitige Begrüßung mit einem anderen von des Königs Höflingen. Als er seine Aufmerksamkeit wieder dem Tanzboden zuwandte, war Guaire aus seiner Nähe verschwunden, um mit einer Dame zu tanzen, in die er schon den ganzen Abend lang vergafft war, und Imre war nirgendwo zu erblicken. Cathan trank Wein, während die Musikanten zu einer Folge von Gavotten überleiteten, und begab sich langsam beiseite in eine einigermaßen ruhige Ecke, von wo aus er das Geschehen unbehelligt beobachten konnte – so nahm er jedenfalls an. Er lehnte an einer der mächtigen Hauptstützsäulen des Saalbaus und genoß den Wein, um vielleicht sein Gewissen ein wenig damit zu betäuben, da verspürte er an seiner Schulter eine leise Berührung. Er drehte das Haupt und sah neben sich die Prinzessin Ariella stehen, im Antlitz ein sprödes Lächeln, in der Hand einen gefüllten Pokal. Überstürzt riß er sich zusammen und vollführte eine hastige Verbeugung. »Eure Hoheit beehren mich«, murmelte er, »mit Eurer lieblichen Gegenwart...!« Ariella lächelte herzlich und streckte ihm eine Hand entgegen, damit er sie küsse. Mit ihrem Krönchen, das nun auf ihrem verlassenen Thronsitz ruhte, hatte sie sich auch des Lichtkranzes entledigt. Doch ihr nußbraunes Haar schimmerte ohnehin aus eigenem Glanz. Ariella von Festil bedurfte keiner deryni-
schen Magie, um zauberhaft zu sein. »Warum so mürrisch, Cathan?« erkundigte sie sich mit seidenweicher Stimme, indem sie seine Hand einen Augenblick länger hielt, als es zum Vollzug des Handkusses vonnöten gewesen wäre. »Ich vermeinte, Euch beim Tanze zu begegnen, und statt dessen finde ich Euch hier im Schatten in düsterer Unmut brüten. Wo ist Eure entzückende Dame? Doch nicht krank, wie ich hoffe?« Ihr Blick tanzte spöttisch über ihren zum Lächeln verzogenen Lippen, und Cathans Blick schweifte nahezu willenlos abwärts in die Kluft ihres Busens. Mißbehaglich schluckte er, sich wohl dessen bewußt, wohin diese Plauderei führen mochte, gab er nicht acht. Es verlangte ihn nicht übermäßig danach, um der eingekerkerten Bauern willen zu Imres Schwester in die Bettstatt zu krauchen; doch falls sich kein anderes Mittel anbot, war er durchaus dazu bereit. »Meine Gemahlin läßt Ihr tiefstes Bedauern ausrichten, Eure Hoheit«, gab er vorsichtig zur Antwort. »Seit unseres zweiten Sohnes Geburt hat sie ihre Eltern nicht wiedergesehen, und nun ist sie endlich von neuem gereist, um sie in Carbury zu besuchen. Vermutlich befände ich mich ebenfalls dort, stünde nicht die gegenwärtige Krisis dem zuwider.« »Krisis?« wiederholte in gespieltem Mangel an Geist Ariella. »Einer Krisis bin ich mir ja nicht im mindesten bewußt.« Cathan spürte aufgrund ihrer Maske der Einfalt in wachsendem Maße Ärger; er senkte den Blick, um seine insgeheimen Empfindungen zu verhehlen. »Eure Hoheit haben doch sicherlich von den fünfzig Geiseln vernommen, die bei Caerrorie genommen wur-
den. Euer königlicher Bruder gedenkt sie dem Tode zu überantworten.« »Geiseln? O ja, ich entsinne mich. Jene, die man wegen des Mordes an Herrn Rannulf nahm. Aber inwiefern betrifft diese Sache Euch?« Cathan blinzelte unruhig, zu glauben außerstande, daß es um ihr Wissen so schlecht bestellt sei; dann begriff er, daß sie ihn zum Narren hielt. »Eure Hoheit können nicht vergessen haben, daß Caerrorie meines Vaters Besitztum ist«, antwortete er in kühlem Tone. »Die Geiseln sind meines Vaters Pachtbauern – und die meinigen. Ich muß einen Weg finden, um für sie Schonung zu erwirken.« Ariella hob eine Braue und berührte wohlgelaunt seinen Arm. »Nun, dann geht hin und fangt den Mörder, Cathan. Ihr kennt das Gesetz. Nehmen diese Dorfleute nicht Vernunft an und benennen den Schurken, so hat das Dorf die Folgen zu tragen. In diesem Falle, eingedenk dessen, daß Rannulf sowohl ein Deryni wie auch ein Edelmann war, erachte ich fünfzig Menschenleben als keine irgendwie unangemessene Vergeltung, oder wie ist Eure Meinung?« Cathan starrte auf den Boden, während er das Verlangen niederrang, den Stiel seines Kelchbechers bis zur Unkenntlichkeit zu verbiegen. »Zu meiner allertiefsten Betrübnis muß ich Eurer Hoheit widersprechen. Die Dörfler sind von Gedankensehern befragt worden. Seine Gnaden weiß, daß sie an Rannulfs Tod unschuldig sind. Wir hegen beinahe mit Gewißheit die Überzeugung, daß man die Täter unter den Willimiten suchen muß.« »Dann bringt uns Willimiten.« Die Prinzessin schenkte ihm ein liebreizendes Lächeln. »Sicherlich
erwartet Ihr nicht, daß mein Bruder die Geiseln freigibt, ohne irgend jemandes habhaft zu sein. Gesetz ist Gesetz.« »Jawohl, Gesetz ist Gesetz«, bekräftigte Imres helle, klare Stimme, als er neben seine Schwester trat und seinen Arm unter den ihren schob. »Maldred, mich wähnt, Ihr sagtet, er hätte diese Torheit aufgegeben, den Bauern Milde verschaffen zu wollen.« Maldred, ein großer, rotgesichtiger Mann mit einem Ansatz zum Schmerbauch, verneigte sich eilfertig. »In der Tat, Sire, gab er mir dazu Veranlassung, diesen Eindruck zu gewinnen.« Imre schnob; dann wandte er sich erneut an Cathan. »Warum, mein Freund, bist du so verstockt? Es verhält sich ja nicht so, daß es Deryni wären, es sind doch lediglich Menschen und überdies Bauern. Du läutest die Sturmglocken um einer Handvoll Mäuse willen.« »Sire, ich beschwöre Euch«, sprach Cathan den König mit dumpfer Mahnerstimme an. »Vollzieht Ihr diese Rache, so wird ihr Gewicht auf Eurem Gewissen lasten. Wollt Ihr nicht Abstand nehmen, dann auferlegt dem Dorf eine Buße in barer Münze. Mein Vater wird sie begleichen. Aber laßt Euren Zorn nicht auf schuldlose Menschen niederfahren, ich flehe Euch an. Euch ist's bekannt, die Bauern von Caerrorie haben Herrn Rannulf nicht ermordet. Ich bitte Euch, Sire!« »Was denn! Sonderbarer Schwärmer!« rief Imre und drehte sich in ein wenig ratloser Belustigung nach seinem Anhang um, wozu sich immer mehr Höflinge gesellten, doch war es offenkundig, daß er Unmut zu verspüren begann. »Cathan, nicht viel
fehlt, daß du mich für einen Tyrannen ausgibst«, fügte er mit beherrschter Stimme hinzu. »Du weißt sehr wohl, daß ich derlei Redensarten nicht schätze.« »Ich bitte Euch, Sire«, wiederholte Cathan, indem er auf ein Knie niedersank und flehentlich eine geöffnete Hand zum König emporstreckte, »seid gnädig! Um unserer Freundschaft willen, zeigt Barmherzigkeit! Wollt Ihr denn dulden, daß man Unschuldigen das Leben raubt?!« »Ach, geh doch, erhebe dich, Cathan! Ariella, warum plagt er mich so?« Ariella machte Anstalten, ihre Schultern zu zucken, doch dann musterte sie Cathan, derweil er sich aufrichtete, mit großer Aufmerksamkeit, und ihre Lippen bogen sich zu einem seltsamen Lächeln. »Mir kommt ein Einfall, Bruder. Warum gewährt Ihr ihm nicht, was sein Begehr ist? Schenkt ihm eines jener Leben, die ihn so kostbar dünken. Im Namen Eurer Freundschaft mit ihm, bedenkt's Euch.« Cathans Haupt ruckte herum, und er starrte sie entsetzt an, während ringsum plötzlich Stille herrschte. Imre betrachtete sie mit dem Blick eines Kauzes; danach sah er wieder unbehaglich Cathan an. Sein Ärger hatte sich in Unsicherheit verwandelt. »Ein Leben?« Ariella nickte. »Wenn Cathan wirklich Euer Freund ist, mein lieber königlicher Bruder, könnt Ihr's ihm schwerlich verweigern. Neunundvierzig Bauern sind auch genug für das Leben Herrn Rannulfs. Immerhin war er ein greulicher Liederling.« »Ein Leben...«, wiederholte Imre und ließ die zwei Wörter auf seiner Zunge zergehen, während er unter seiner unerheblichen Andeutung eines Aufkeimens
von Schnurrbart seine Lippen benetzte. Er sah Maldred und Santare an, die Höflinge, die erwartungsvoll zuschauten, erkannte das immer deutlichere Grauen in Cathans Miene, als derselbe ersah, daß der König den Vorschlag ernstlich erwog; dann verschränkte Imre mit verschlagenem Lächeln die Arme auf der Brust. »Das wäre etwas ganz Neuartiges.« »Und wahrhaft huldvoll«, säuselte Ariella, indem sie sich an seinen Arm hing und voller Bewunderung zu ihm aufblickte. Imre widmete ihr einen Seitenblick, sein Mund verzog sich zu einem Ausdruck von Selbstgefälligkeit; daraufhin heftete er seinen Blick von neuem auf Cathan. Die königlichen Lippen teilten sich. »Nun gut. Sei's drum. Ein Leben. Es sei gewährt.« Er wandte sich an Maldred und nickte demselben zu. »Maldred, geleitet Herrn Cathan in den Kerker und laßt ihn eine Geisel auswählen.« »Jawohl, Sire.« »Und nicht durchs Los oder dergleichen, Herr Maldred«, ergänzte Ariella und lächelte lieblich, als Cathan sie bestürzt anblickte. »Seine Majestät hat Herrn Cathan die Gewalt über Leben und Tod verliehen, und sei's nur bezüglich einer Person. Wenn er ein Leben von diesen fünfzig zu erretten beabsichtigt, mag er getrost die erlesene Qual der Wahl kennenlernen.« Maldred verbeugte sich, während Cathan sich ruhelos auf der Stelle wand und endlich in höchstem Unglauben erneut Imre ansprechen wollte. »Wünscht Ihr noch etwas zu sagen, Herr Cathan?« fuhr Ariella dazwischen, ehe er ein Wort hervorzubringen vermochte. »Eure Hoheit, ich...«
»Bevor Ihr Euch äußert, laßt mich Euch in Erinnerung rufen, daß Seine Gnaden die gewährte Gunst jederzeit widerrufen kann«, warnte ihn Ariella, deren haselnußbraune Augen nun blitzten. »Seine Majestät kann auf der Hinrichtung aller fünfzig Geiseln bestehen, das muß Euch klar sein... oder von noch mehr, wenn Ihr darauf beharrt, uns länger mit dieser Bauernposse zu belästigen. Also, habt Ihr nun noch etwas zu sagen?« Mühsam schluckte Cathan und neigte das Haupt. »Nein, Eure Hoheit. Ich... Sire, ich danke Euch.« Er vollführte eine Verbeugung. »Wenn Eure Hoheiten mich nun entschuldigen, werde ich... Seiner Majestät Befehl ausführen.« »Natürlich seid Ihr zu diesem ehrenhaften Zwecke entschuldigt«, näselte Ariella. »Aber, Herr Cathan...« Er verharrte, kehrte sich ihr jedoch nicht zu. »Ihr werdet allerdings morgen früh mit uns zur Jagd ausreiten, nicht wahr?« fragte sie. »Ihr habt's versprochen.« Mit flehentlicher Miene wandte sich Cathan um. »Gewiß, Eure Hoheit, ich habe es versprochen. Doch würdet Ihr mein Ersuchen erhören, mich von meinem Wort zu entbinden und von der Teilnahme...« »Unfug. Wenn Ihr zurückbleibt, grübelt Ihr ja doch bloß wegen dieser Bauerntölpel herum und werdet noch langweiliger, als Ihr's Euch bereits in den vergangenen Tagen gestattet habt. Imre, befehlt Ihm, seine Zusage zu halten, Ihr wißt, es wird nur gut für ihn sein.« Imre musterte seine Schwester, dann Cathan. »Sie hat recht, dessen laß dich versichert sein. In jüngster Zeit warst du wirklich eine Ausgeburt von Trübsal.« Er legte in freundschaftlicher Geste eine Hand auf
Cathans Schulter. »Komm, Cathan. Du darfst dergleichen Kram nicht so ernst nehmen. Eine Woche Kurzweil auf dem Land, in der frischen Luft von Wald und Flur, wird dir diese Flausen aus dem Haupt wehen.« Cathan kannte die Tonlagen von Imres Stimme genau und war zu klug, um weiterhin Einwände zu erheben – zumal in Ariellas Gegenwart. Mit einem Seufzer der Ergebenheit nickte er auf des Königs Worte, verbeugte sich nochmals und machte kehrt, um Maldred hinaus zum Saal zu folgen. Wichtigeres beschäftigte ihn als königliche Jagdausflüge. Unerwartet hatte er eine Art von Sieg errungen – doch einen wahrhaft düsteren Sieg. Aus fünfzig Gefangenen mußte er einen auserwählen, dem man das Leben geschenkt hatte. Das Leben für einen; den Tod für neunundvierzig. Ihn schauderte es im Bewußtsein der Macht, die in seinen Händen lag. Ums Viertel einer Stunde später stand er mit Maldred vor einer wuchtigen Pforte und sah in benommener Gemütsverfassung zu, wie ein Wächter die eisernen Riegel anhob und zum Kreischen der rostigen Angeln Einlaß verschaffte: Maldred tat eine Verbeugung und wies mit einer trägen Geste seiner Hand auf den offenen Zugang. »Sobald Ihr Eure Entscheidung gefällt habt, kommt und ruft mich«, sprach Maldred und verzichtete auf die Mühe, sein Gähnen zu verbergen. »Ich erwarte Euch hier an der Tür. Kerker pflegen mich zu bedrücken.« Cathan nickte, da er seiner Stimme noch nicht wieder einen ruhigen Klang zutraute, und trat an Maldred vorbei über die Schwelle auf den dahinter be-
findlichen Treppenabsatz. An der Mauer zur Linken loderte in einem Becken eine Fackel, und vor ihm führte eine lange Treppe hinab in dichte Finsternis. Er beschirmte seine Augen mit einer Hand und ergriff mit der anderen die Fackel, dann begann er die Treppe hinunterzusteigen. Die Fackel verbreitete rußigen Rauch, der ihm in der Nase juckte und seine Augen mit Tränen erfüllte. Acht Stufen. Danach eine Biegung. Ein schmaleres Stück Treppe von abermals acht Stufen. Dann stand er drunten. Voraus erstreckte sich ein gewölbter Gang bis in einen entfernten, düster beleuchteten Hintergrund, und an des Ganges einer Seite erkannte er roh geschmiedete Gitterstäbe aus Eisen. Jenseits der Gitter befand sich eine Reihe miteinander verbundener Zellen, worin jeweils acht oder zehn menschliche Gestalten im Stroh, auf Wärme bedacht, zusammengekauert lagen. Als Cathan den Gang entlangschritt, regten sich einige dieser Gestalten, und für ein kurzes Weilchen vernahm man aus der Eingekerkerten Mitte gespenstisches Tuscheln. »Das ist Herr Cathan!« – »Herr Cathan!« Etliche rafften sich empor und kamen ans Gitter geschlurft, um ihn anzustarren. Ein Schrecken packte ihn, als er bemerkte, daß unter ihnen mindestens fünf Weiber waren, ferner mehrere junge Burschen, die kaum das Kindesalter überschritten hatten. »Herr Cathan?« Dies war einer vertrauten Stimme Klang vom Ende des Gitterwerks; als er an diese Stelle trat, sah er den alten Stallknecht Edulf voller Verblüffung die Eisenstäbe umklammern. Edulf war in Cathans Jugend einer seiner ersten Reitlehrer gewesen, der Hüter von seines Vaters Ställen, solange er sich zurückentsinnen konnte. Cathans Blickfeld verschwamm, und er
senkte sein Haupt; er wußte, diesmal war die Ursache nicht der Fackel Rauch. »Herr Cathan?« sprach die wohlvertraute Stimme ihn von neuem an. »Ja, Edulf«, gab er zur Antwort. »Ich bin's, Cathan.« Er hob seinen Blick zu dem Alten, ließ seine Augen flüchtig die übrigen Geiseln mustern; doch stellte er fest, daß er ihren Blicken nicht standzuhalten vermochte, und so schaute er abwärts auf ihre Füße. »Ich komme vom König«, sprach er schließlich. Es kostete ihn alle Mühe, zu verhindern, daß seine Stimme aus Kummer erstickte, aber es gelang ihm, sie in der Gewalt zu behalten. »Ich... ich habe von jener Stunde an, da ich von eurem Schicksal erfuhr, eure Freilassung zu erwirken versucht, doch nun bringe ich euch leider keine gute Kunde. Die... Hinrichtungen werden morgen, wie vorgesehen, beginnen – mit einer Ausnahme.« Er atmete tief ein und zwang sich zum Aufschauen, zur Marter, ihren Blicken zu begegnen. »Ich kann nur einen von euch retten. Nur einen.« Schweigen herrschte, während die Unglücklichen seine Nachricht allmählich begriffen; dann erst ertönten einige Seufzer, und eines der Weiber schluchzte unterdrückt. Der alte Edulf scharrte mit den Füßen im Stroh, sah die Leidensgefährten an; danach mit betroffener Miene wieder Cathan. »Ihr... Ihr könnt nur einen retten, Herr?« Bekümmert nickte Cathan. »Das ist Imres ›Geschenk‹ zum Michaelstag. Einen darf ich auswählen, der soll leben. Alle anderen sind des Todes. Ich... ich weiß nicht, wie ich diese Wahl treffen soll.« Unter den Gefangenen entstand ein Gemurmel, dem sich gleich darauf eine Totenstille anschloß, während
welchselbiger aller Augen auf Cathan ruhten. Angesichts der trostlosen Erkenntnis, daß nur einer von ihnen mit dem Leben davonkommen sollte, daß die Entscheidung in dieses Mannes Gewalt lag, den viele in ihrer Mitte von Kindesbeinen an kannten, wandten sie sich unwillkürlich ihm zu, ein jeder in blindem Vertrauen, er werde derjenige sein, dem Cathan die Rettung bringe. Das Wissen, daß alle neunundvierzig anderen sterben mußten, verdrängte jeder einzelne in seiner Seele Abgründe, wie einen Übelstand, den es zu verschweigen galt. Die MacRories hatten sie in der Vergangenheit stets vor Unheil bewahrt. Sicherlich war dies hier nur ein schauriger Scherz? Doch zugleich vermochten sie sich nicht vorzustellen, daß ausgerechnet Herr Cathan einer so grausamen Scharade Vollzieher sein sollte. Stumm beobachteten sie, wie Cathan sich abwandte, die Fackel in eine leere Halterung an der Mauer stieß und sein Antlitz in den Händen verbarg. Cathans Erschütterung stand der Fassungslosigkeit der Eingekerkerten nicht nach. Wie sollte er seine Entscheidung fällen? Wie konnte er sich zum Richter über Tod und Leben aufschwingen, zumal Menschenleben aus dem eigenen Volke auf dem Spiele standen, darunter getreue Untertanen, mit denen er selber einst aufwuchs? Die Vernunft verlangte nun eine kühle, genaue, gefühllose Einschätzung der Geiseln, damit das Leben jener zufiel, die für die Zukunft die besten Aussichten besaß und von der man künftig die besten Leistungen erwarten konnte. Doch waren Weiber dabei und Jünglinge, die kaum mehr waren als Knaben. Seine Ritterlichkeit wollte seine Gunst den Schwachen und Hilflosen zuneigen. Wie konnte er sich da entschließen und ein
reines Gewissen erhoffen? Er hob das Haupt und nahm einen tiefen Atemzug, hielt den Atem einen Moment lang an und ließ ihn dann langsam entweichen; unterdessen sagte er in Gedanken die derynische Formel auf, die zur Verdrängung von Müdigkeit diente. Für eine so ernste, schwerwiegende Entscheidung bedurfte er eines klaren Kopfes. Ein weiterer, tiefer Atemzug, und er spürte, wie sich sein Pulsschlag beruhigte, der schale Geschmack in seinem Munde wich. Er straffte seine Schultern und kehrte sich langsam von neuem seinen Untertanen zu. Edulf stand hoffnungsvoll an den Gitterstäben, hinter ihm warteten zwei ältere Männer, und zu ihrer Rechten ein junges Weib und zwei Knaben. Einen der letzteren erkannte er als einen Hirtenbuben des Dorfes, und er nahm an, daß der andere Knabe sein Bruder war, die Maid wahrscheinlich eine Schwester oder Kusine. Die zwei Männer hinter Edulf waren ihm unbekannt. »Edulf?« fragte er mit leiser Stimme. »Ja, Herr?« Des Alten Stimme klang aus Gram leise und gepreßt. »Mit welch tiefer Trauer es mich auch erfüllen mag, nur einer aus dieser guten Leute Zahl wird heute abend mit mir diesen Kerker verlassen dürfen.« Er schluckte, um seine Gefaßtheit zu bewahren. »Und da ich keine Gelegenheit habe, die anderen wiederzusehen, würdest du mir wohl diese Leute vorstellen? Ich bin davon überzeugt, daß du sie alle kennst.« Der Alte blinzelte. »Ja, Herr, gewiß. Ihr meint... Ihr möchtet eines jeden Namen hören, Herr?« Cathan nickte. Edulf scharrte nochmals voller Unbehagen mit den Füßen auf der Stelle, dann drehte er sich halb nach den beiden anderen Männern um. »Wohlan,
Herr, wenn's das ist, was Ihr wünscht... Dies sind die Gebrüder Sellar, Wat und Tim.« Cathan neigte zum Gruße das Haupt, und die beiden Brüder zupften aus Verlegenheit an Strähnen ihres Haupthaars. »Hier seht Ihr Mary Weaver und ihren Bruder Will, und das ist ein Vetter, Tom...« Auf diese Weise setzte sich die Bekanntmachung fort, und oft entsann sich Cathan eines Namens, erkannte er ein Antlitz, oder ihm fiel ein, daß er von diesem oder jenem Namen in Verbindung mit besonderer Geschicklichkeit seines Trägers in seinem Handwerk oder Gewerbe vernommen hatte, oder im Zusammenhang mit bemerkenswerter Verläßlichkeit, oder auch mit Schelmentum. Er sah ein junges Paar, dessen Vermählung, so erinnerte er sich, erst vor etwa einem Jahr Joram vollzogen hatte, und nun war der Leib des jungen Weibes geschwollen von einer Frucht; es schmiegte sich in den Arm des Gatten, auf Schutz bedacht, der sich dort schwerlich noch finden ließ. Einen anderen, älteren Mann sah er wieder, den er stets inmitten einer Schar fröhlicher Kinder erblickt hatte, deren Lachen man weithin vernahm – Kinder, die fortan, verhinderte es nicht Cathan, keinen Vater haben sollten. Er erkannte einen Jüngling, den Evaine als einen ihrer klügsten Schüler in der Dorfschule bezeichnet hatte; er war nun vielleicht dreizehn Jahre alt und Lehrjunge eines Zimmermanns. Einen anderen Burschen erkannte er, den Sohn des Dorfbüttels; Camber hatte sich bereits mit dem Einfall getragen, ihn zur Ausbildung zum Kanzlisten nach St. Liam zu schicken, so flink war des Bürschleins Geist, obschon er noch nicht älter war als elf Jahre. Und weiter ging die Aufzählung der Namen, deren jeder für eine in ihrer Weise einzigartige
menschliche Seele stand, wovon jede das Recht besaß, ihr irdisches Dasein in aller Fülle ausschöpfen zu dürfen; und doch waren nun alle, ausgenommen eine, zum Tode verurteilt – und an ihm lag's, diese eine zu bestimmen. Als die letzte Geisel ihm vorgestellt worden war, ließ Cathan seinen Blick noch einmal über der Gefangenen Gesamtheit wandern, ihn kurz auf Edulf, der Schwangeren und ihrem Gatten sowie dem Zimmererlehrling verweilen. Dann wandte er sich ab und neigte sein Haupt. Schließlich erstieg er eilig die steinernen Stufen der Treppe, nahm jeweils zwei zugleich. In der Pforte befand sich in Augenhöhe ein vergittertes Fensterchen mit einer Klappe, die er öffnete, sobald er droben den Treppenabsatz erreichte. »Habt Ihr Euch entschlossen, Herr Cathan?« erklang Maldreds gefühlskalte Stimme. Cathan stützte einen Unterarm gegen die Tür und musterte den undeutlichen Umriß von Maldreds Haupt, der sich jenseits des Gitters abzeichnete. »Ihr habt da unten eine Schwangere, Herr Maldred.« »So ist's«, erwiderte die Stimme von draußen. »Wollt Ihr das Weib oder sein Kind?« »Das Weib oder...?« Cathan unterbrach sich inmitten des Satzes. »Ihr meint, wenn ich die Mutter wähle, darf nur sie leben? Nicht auch das Kind?« »Ein Leben ist Euch geschenkt, sagte Seine Majestät, nicht zwei, Herr Cathan«, gab die grausame Stimme zur Antwort. »Und Ihr solltet Euch wohl lieber alsbald entscheiden, ehe Seine Majestät es sich anders überlegt. In aller Kürze dürften überdies die Wachen kommen, um das erste Paar Geiseln zur Hinrichtung zu holen.« In aller Kürze! Cathan rang um Selbstbeherrschung,
starrte Maldreds Gestalt an, dann den Boden zu seinen Füßen. »Dann müßte man aufgrund selbiger Erwägung, sollte das Weib niederkommen, bevor es zur Hinrichtung geführt wird, eine zweite Geisel freigeben, nicht wahr? Denn ein lebendes Kind erhöhte ja ihre Zahl wieder auf fünfzig statt der neunundvierzig. Seine Majestät müßte außer jener, die heute ich auslese, eine weitere Geisel freilassen, habe ich recht?« Vorm Gitter ertönte ein beifälliges Lachen. »Das ist's, was ich an Euch bewundere, Herr Cathan. Immer um einen Gedanken voraus. Tatsächlich nehme ich an, daß der König noch eine Geisel freizugeben geneigt sein könnte, sollte der von Euch beschriebene Fall eintreten. Doch geht diese meine Annahme freilich von der Voraussetzung aus, daß das Weib lange genug verschont bleibt und nicht vor der Niederkunft dem Henker anheimfällt.« Cathan schaute die Treppe hinunter, die Zähne in seine Unterlippe verbissen. Endlich trat er von der Pforte zurück. »Nun denn, wohlan, ich bin bereit zur Wahl! Tretet ein, Herr Maldred, und seid mein Zeuge.« Die Pforte wurde aufgetan, und Maldred kam mit zwei Wächtern in den Kerker, um Cathan über die finstere Treppe abwärts zu folgen, während zwei andere Wächter an der Pforte Aufstellung bezogen. Drunten maß Maldred das Häuflein der Unglückseligen mit geringschätzigem Blick. »Nun, Herr Cathan? Wer soll's sein? Ich mag nicht um Eurer Schrulle willen die Nacht lang hier schmachten.« Cathan gab einem Wächter ein Zeichen, daß er die Vergitterung öffnen möge; als das getan war, trat er
hinein in seiner Untertanen Mitte. Bei seinem Erscheinen fielen einige von ihnen auf die Knie, und eines der Weiber begann leise zu schluchzen. Im Vorübergehen strich er der Unglücklichen übers Haupt; doch sie war nur die erste der Geiseln, welche er anfaßte, während er unter ihnen umherschritt, dort eine Hand nahm, da ein Antlitz berührte, insgeheim seine Derynisinne voll entfaltet, tief eingetaucht in die Gefühle und Empfindungen, die unsichtbar den Kerker erfüllten, um jene Geisel zu erkennen, der das Leben am ehesten gebührt. Da! Er hatte ihn gespürt, jenen Funken, nach dem er forschte! Nun galt es, seinen Sitz zu entdecken, und selbiger mußte zur Rechten sein, bei den drei jungen... Er hörte, wie man droben am Treppenabsatz die Pforte öffnete, und erstarrte mitten in seiner Bewegung. »Sie kommen, um die ersten zwei zur Hinrichtung zu holen«, bemerkte hinter ihm Maldred. »Es ist allerhöchste Zeit, daß Ihr Eure Entscheidung fällt.« Er konnte Stiefel die Treppe herabstampfen hören, die wohlbemessenen Schritte von Waffenknechten, die sich zur Erfüllung ihrer Pflicht anschickten, wie düster sie auch sein mochte, und lenkte zum letzten Mal seinen unsicheren, unsteten Blick über die rund um ihn Versammelten. Einige der Jünglinge – mehr noch Knaben – suchten Schluchzlaute zu unterdrücken, und zwei Weiber weinten unverhohlen. Als die Waffenknechte die Treppe verließen, tat Cathan zwei rasche Schritte durchs Stroh und streckte seine Hand aus. »Komm mit mir, Revan«, sprach er, derweil sein Geist ein wenig zurückzuckte, als der Jüngling in tiefster Verwunderung zu ihm aufschaute. Der Erwählte war der Zimmererlehrling, der leicht hinkte; in seiner
Seele hatte Cathan die Gedanken ersehen, die ihn als der Heilsbringung wert und würdig auszeichneten. »Ich, Herr?« Des Jünglings Augen waren geweitet, voller Ehrfurcht und Schrecken, und er stand starr, dazu außerstande, seine Hand in die Cathans zu legen. Die Schritte näherten sich der Zelle, die Gittertür schwang auf; drei Waffenknechte traten ein und kamen herüber. »Nimm meine Hand, Revan«, befahl Cathan und bohrte seinen Blick in des Jünglings Augen. »Komm mit mir von diesem Ort des Todes und lebe.« Die Waffenknechte ergriffen eine Frau und führten sie aus der Zelle, und sie klagte in gedämpften Lauten, als man ihre Handgelenke in Ketten schloß. Der Jüngling hob langsam seine Hand, als die Männer die Zelle erneut betraten, und sie rührte an Cathans Faust in eben jenem Moment, da die Bewaffneten ihn pakken wollten. Die Männer zauderten für einen Moment, dann legten sie statt dessen die Ketten an Revans jungen Leidensgenossen, des Dorfbüttels Sohn, der aufheulte, schrie und um sich trat, als man ihn hinausschleppte. Beim Klang seiner Schreie sank Revan, der haltlos bebte, zu Cathans Füßen auf die Knie, noch an der Hand des jungen Edelmannes. Maldred betrachtete den Anblick mit Belustigung und Widerwillen. »Nun, wenn dies Eure Wahl ist«, sprach der Graf schließlich, »so mag er mit Euch ziehen.« Er winkte treppauf, wo gerade die Waffenknechte mit den beiden dem Tode geweihten Geiseln entschwanden. Als Maldred sich ihnen angeschlossen hatte, in seiner Faust die Fackel, hob Cathan den Jüngling auf die Füße und drückte ihn für einen Moment an sich, ließ des Jünglings Tränen desselben Be-
drückung erleichtern; dann strich er ihm mit der Hand über den Schopf, träufelte in sein Gemüt Ruhe und Fassungskraft. Nach einem Weilchen verstummte das Schluchzen, und Revan vermochte wieder aus eigenen Kräften zu stehen. Mit einem matten Seufzer schlang Cathan um des Jünglings Schultern einen Arm und geleitete ihn aus der Zelle. Als ein Wächter die Gittertür erneut verschlossen hatte, wandte sich Cathan ein letztes Mal um und musterte die restlichen Geiseln voller Mitgefühl. »Gute Nacht, meine Freunde«, sprach er mit gefaßter Stimme zu ihnen. »Ich wage nicht darauf zu hoffen, daß ich euch noch in dieser Welt wiedersehe.« Er senkte seinen Blick. »Ich will zum Himmel flehen, daß euch in der anderen Welt Gerechtigkeit widerfahren möge. Meine Gebete werden beim Scheiden mit euch ziehen.« Als er sich zum Gehen wandte, raschelte es leise in den Zellen, und da sah er alle auf ihren Knien. »Gott sei mit Euch, junger Herr«, rief gedämpft Edulf. »Hütet uns den jungen Burschen gut«, rief ihm ein anderer Mann zu. »Wir danken euch.«
6 O würde doch zu Wasser mein Haupt und mein Auge zu einem Tränenquell, daß ich beweinte bei Tag und Nacht die Erschlagenen... Jeremia 8,23 Später konnte sich Cathan nicht darauf besinnen, wann oder wie er den Kerker verließ. Irgendwie gelangte er wohlbehalten mit dem Jüngling heim, sorgte dafür, daß die Diener ihn speisten und zu Bette brachten. Wohl erinnerte er sich der Stunde, die es beanspruchte, seinem Vater eine Nachricht über sein heutiges Versagen zu schreiben (denn als ein Versagen bewertete er's); sobald er das Sendschreiben unterzeichnet und versiegelt hatte, schwang sich ein Bote ohne Verzug aufs Pferd, um es dem Empfänger zu überbringen. Vom Rest jener Nacht aber war ihm späterhin im Gedächtnis nichts greifbar; ganz und gar nichts von dem Moment an, da er sein Haupt auf dem Schreibpult in seine Arme grub, in der Absicht, nur für ein flüchtiges Weilchen seinen Augen Erholung zu gönnen, bis zu jenem Moment, da ihn urplötzlich eine Hand an der Schulter wachrüttelte und er die Stimme seines Kämmerers vernahm, Meister Wulphers, der ihm in gleichmütigem Tone mitteilte, es sei bereits hell und sein Bad bereitet. Seine verkrampften, versteiften Gliedmaßen schmerzten, während er sich in sein Gemach führen ließ, wo man ihn
badete und in frische Gewänder hüllte; er zuckte mehrmals schreckhaft zusammen, derweil ein Diener ihn barbierte. Das morgendliche Bier jedoch, welches ihm Wulpher brachte, vermochte er nicht zu genießen. Der bloße Gedanke daran erregte in seiner Magengrube Übelkeit. Nachdem er Wulpher alle erforderlichen Anweisungen für seine Abwesenheit, die bedingt war durch seine Teilnahme an des Königshauses Jagdausflug, erteilt hatte, schaute er noch einmal bei Revan hinein, der noch in festem Schlummer lag; danach erst begab er sich widerwillig hinab in den Schloßhof, wo sein Knappe Crinan mit den Rössern harrte. Eine halbe Stunde später, das Haupt durch den Ritt geläutert – wenngleich nicht das Herz –, bahnte er sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menschenmenge, die sich im Vorhof der Königlichen Kapelle drängte. In seinem Vorwärtsstreben schaute Cathan weder nach links noch nach rechts, unter der Pelzkapuze seines Umhangs geduckt, in der Hoffnung, irgendwelchen Gesprächen über den vergangenen Abend ausweichen zu können. Doch es sollte ihm an diesem Morgen keine Schonung beschieden sein. Der Streit nahte sich in Gestalt seines Schwagers Coel Howell; derselbige lag in der Richtung, die Cathan unweigerlich nehmen mußte, auf der Lauer. Anscheinend beobachtete Coel sie, seit Cathan und Crinan in den Hof ritten. Des Älteren schmale Lippen verzerrten sich nun, da er seinem Schwager zum Gruße zunickte, zu einem gezwungenen, selbstgerechten Lächeln. »Guten Morgen.« Er trat näher, so daß Cathan keine Möglichkeit verblieb, ihm auf ehrbare Weise aus dem Wege zu gehen. »Hast du in der
letzten Nacht gut geruht, mein lieber Bruder? Du siehst ein wenig müde aus.« Insgeheim verspürte Cathan eine Aufwallung des Abscheus, doch gelang es ihm, dem Anschein nach völlig gelassen zu bleiben. »Recht gut, sei bedankt für die Nachfrage. Und du?« »Im allgemeinen schlafe ich ohne Schwierigkeiten«, nölte Coel durch die Nase, während er wie ein Falke nach irgendwelchen Anzeichen von Schwäche oder Reue Ausschau hielt. »Aber ich habe ja schließlich auch keinerlei Anlässe zur Ruhelosigkeit.« Müßig spielte er mit seiner Reitpeitsche und spähte empor zur verwaschenen Sonne; dann beliebte er seine Aufmerksamkeit wieder Cathan zu schenken. »Ich vernahm«, lautete seine nächste Äußerung, »du habest einen neuen Pagen.« »Einen neuen Pagen?« »Ja, einen aus unserer Untertanen Mitte.« Cathan fühlte seine Kinnmuskeln sich verspannen, während er sich in Gedanken fragte, wie der Mann davon erfahren haben mochte. Maldred mußte es, nachdem er mit ihm den Kerker verlassen hatte, dem gesamten Hof erzählt haben. »Da hast du wahr vernommen«, gab er also zur Antwort. »In jedem Jahr pflege ich mehrere zur Ausbildung nach Tal Traeth zu schicken. Warum fragst du?« Coel zuckte die Achseln. »Aus keinem besonderen Grund. Wahrscheinlich empfand ich bloß Neugier. Vermutlich hast du dir ja schon gedacht, daß du gestern abend, im Anschluß an Maldreds Rückkehr, der Gegenstand heiteren Schwatzes warst?« »Welch eine Beglückung, daß ich an Seiner Majestät Hof selbst in meiner Abwesenheit ein wenig zur
Belustigung beitragen konnte«, entgegnete Cathan in so leichtmütigem Tone, wie er's fertigbrachte. »Und nun wäre ich dankbar, wolltest du mich entschuldigen, da ich noch einiges zu erledigen habe, und gleiches gilt zweifelsfrei für dich.« Er wollte Coel zur Seite schieben und den Weg zur Kapelle fortsetzen, doch Coel legte eine behandschuhte Hand auf seine Schulter und hielt ihn erneut auf. »Seine Majestät ist heute morgen in außergewöhnlich guter Laune, Cathan«, sprach er mit auffälliger Betonung. »Der König hat mich aufgefordert, heute während der Jagd an seiner Seite zu reiten.« »Ist dir daran gelegen, daß ich dir meinen Glückwunsch ausspreche?« »Das überlasse ich dir. Solltest du's dir allerdings einfallen lassen, irgend etwas anzustellen oder zu reden, das ihn verdrießt, so daß er gereist und mißgestimmt wird, wie's ihm bisweilen gefällt, so möchte ich darin wohl alles andere als eine Freundlichkeit sehen. Wahrlich, ich wäre darüber, Verwandter oder nicht, ungemein verärgert.« »Was mich betrifft, so brauchst du dich darum nicht zu sorgen«, versicherte Cathan ungerührt. »Ich hege nicht die Absicht, das Wort an den König zu richten, es sei denn, Seine Gnaden beharrt darauf. Und nun gib mir den Weg frei, da ich noch vor der Messe für mich allein zu beten wünsche. Heute mußten unschuldige Landleute sterben.« »Unschuldig?« wiederholte Coel und ließ befremdet eine Braue aufwärts rutschen, als sich Cathan an ihm vorüberzwängte. »Fürwahr, Cathan, ich bin verblüfft! Nie hätte ich gedacht, daß irgendein Gemeiner dazu geeignet sein könnte, sich entgegen seinem
Schlage als unschuldig zu erweisen. Aber ihr MacRories seid ja seit jeher eine sonderliche Sippschaft gewesen.« Als die Messe vorbei war und Cathan das Sakrament empfangen hatte, gelang es ihm, sein Roß zu erreichen und aufzusitzen, ohne daß es zu einem weiteren Wortwechsel kam. Verständnisvoll und weitsichtig hatte Crinan ihnen einen Platz fast am Ende der Reiterkolonne verschafft, welche die Jagdgesellschaft beim Aufbruch bildete, außerhalb der Nähe aller, mit denen zu reden sein Herr verpflichtet sein mochte. Ein Moment der Peinlichkeit ergab sich aber noch, als mit einigen ihrer Damen Prinzessin Ariella vorüberritt und ihm leichtherzig von den Kuppen ihrer mit Handschuhen umhüllten Finger eine Kußhand zuwarf; doch verhielt sie nicht, und Cathan war über alle Maßen froh darum. Er war sich nicht dessen sicher, ob er sich in ihrer Gegenwart länger hätte beherrschen können. Und Crinans Vorsorge erwies sich noch in anderer Beziehung als nutzreich; denn als sie ein wenig später zum Stadttor hinausritten, die Weidmänner sich ihre Jagdhörner fester um die Schultern schlangen und die Hunderudel auf den Weg prügelten, sah man ein Stückchen oberhalb der Zinnen am Galgen zwei Leichname baumeln, wovon einer, nach seiner Größe geschlußfolgert, fast noch einem Kind gehören mußte. Und da verwuschen Tränen Cathans Blickfeld, und für lange Zeit ritt er in verbissenem Schweigen dahin, das Haupt gesenkt, eine Faust an seinen Busen gepreßt, worin es pochte und schmerzte. Er versuchte, jeglichen Gedanken an die Herkunft dieser Opfer zu verdrängen, und erst
recht an die jener, welche diesen beiden im Laufe der nächsten vierundzwanzig Tage noch folgen sollten. Doch wie nachdrücklich er sich auch bemühte, er war dazu außerstande, das Schuldgefühl, das er empfand, zu verscheuchen, den Kummer, der wie ein Geschwür an seinem Herzen fraß, an seinem Gemüt nagte. Er hätte sie alle retten können, befand er bei sich immer wieder, wäre er härter gewesen, mit mehr Nachdruck aufgetreten. Bestimmt hätte er dann alle zu retten vermocht! Er fand keinen Trost; und sollte noch lange keinen finden. Auch der Oktober begann sich seinem Ende zuzuneigen, und zugleich nahmen die Hinrichtungen der Geiseln ihr Ende. Imre verfuhr nach seinem angekündigten Willen und ließ den Henker sein Werk verrichten; im übrigen jedoch sah er von weiteren Verfolgungen wider das Dorf ab, dessen Bewohner nicht die Mörder seines Vasallen Rannulf zu benennen vermocht hatten. Die Bauern beklagten ihre Toten; doch wenigstens mußten nicht noch mehr Menschen sterben. Von den Verwandten der Hingerichteten abgesehen, war's vielleicht Cathan, der am schwersten unter der Tragödie litt – Cathan, der sich fünfundzwanzig Tage lang im Bewußtsein erhob, daß auch mit diesem Sonnenaufgang zwei seiner Untertanen sterben mußten, und den dies Wissen an jedem neuen Morgen erneut mit Grauen und Verzweiflung erfüllte; denn jeder dieser Menschen, so war ihm klar, dürfte weiter sich des Lebens freuen, hätte Cathan ihn statt des Jünglings Revan auserwählt. Dennoch blieb er ir-
gendwie bei gesundem Verstand und heilem Gemüt; möglicherweise infolge der besonderen Hartnäckigkeit, durch die sich das Geschlecht der Deryni schon immer ausgezeichnet hatte. Während der aufgezwungenen Jagd- und Waldeslust mit dem König und dessen Hofstaat gab er sich alle Mühe – und mit Erfolg –, um den Groll, welchen er Imres Starrsinn entgegenbrachte, zu verbergen; der König glich so wenig jenem Imre, den er in vergangenen Zeiten kannte! Der Jagdausflug währte nicht eine Woche, auch nicht zwei, sondern zuletzt gar drei Wochen. Und zum Zeitpunkt, da die königliche Jagdgesellschaft nach Valoret zurückkehrte, hatte Cathan seine liebe Not, um seinen Zorn und seine Enttäuschung darüber, daß er Imre nicht zum Einstellen der Hinrichtungen hatte bewegen können, zu verheimlichen. Andererseits war Imre ähnlich ergrimmt infolge Cathans halsstarriger Mißbilligung, und er begann ihn bei Hofe zu sticheln und mit Verachtung zu behandeln. Cathan zog es vor, davon Abstand zu nehmen, in der Hauptstadt zu verweilen, so lange der König ihm grollte und ihn mit Ungehörigkeiten behäufte, und suchte mit dem Jüngling Revan zu St. Liam seines Bruders Joram Zuflucht und Trost. Dort lebte er für die Dauer der Hinrichtungen in völliger Zurückgezogenheit, und mit jedem Sonnenaufgang sank sein Gemüt in tiefere Trübnis. Am Ende verschloß er sich immer häufiger in die Kammer, welche ihm zugewiesen worden war, sprach wenig, aß kaum, vermochte nicht einmal Revan eines Blickes zu würdigen, dessen Leben er mit jenen anderen erkauft hatte. Als er dann am letzten Tag die Nachricht von
der allerletzten Hinrichtung erhielt – und zwar des zuvor schwangeren Weibes, dessen Kind in der vorherigen Woche, am Tage, da man den Gemahl und Vater hängte, tot zur Welt gekommen war –, konnte Cathan seinen Gram nicht länger in Banden der Mäßigung bezähmen. Joram schickte einen Eilboten heimwärts, und sowohl Camber wie auch Rhys fanden sich so schnell wie überhaupt nur möglich zu St. Liam ein; es bedurfte vieler Stunden der Aussprache, des Gebets und sanftmütigen Zuredens, ehe Cathan sich von seinem Zustand allertiefster Verzweiflung erholte. Und unterdessen mußte Rhys mehr denn einmal seine Heilkünste einsetzen, ehe der alte Cathan sich wieder zu zeigen begann. Eine Woche darauf, am Abend vor Allerseelen, befand sich Cathan für die ganze lange, einsame Nacht allein zum Vigiliengebet in der kalten Klosterkirche. Niemals wieder hörte man ihn den vorangegangenen Mond erwähnen, noch sprach er darüber, was während seines trostlosen Nachtgebets seinen Verstand und sein Gemüt beschäftigt haben mußte. Doch nach der Messe des folgenden Morgens brachen er, Camber, Joram und Rhys endlich nach Hause auf, zum Sitz der MacRories zu Caerrorie. Die Heimkehr verlief sehr still. Verständlicherweise verstrich geraume Zeit, bevor Rhys und Joram wieder ihre Suche nach dem Haldane-Erben aufnehmen konnten. Sie hatten's, während die Hinrichtungen anhielten, für richtig erachtet, daß ihr Platz an der Seite Cambers und seiner Leute sei; und Cathans Zusammenbruch beanspruchte weitere Zeit. Erst in der ersten Novemberwoche, am St.-Illtyds-Tag, fanden sie die Gelegenheit, sich auf die Rösser zu schwingen und die Landstraße
nach St. Piran zu nehmen. Auf den letzten Meilen waren sie voller hoher Erwartungen. Erster Schnee bedeckte das Erdreich. Er war in der Nacht gefallen, derweil sie noch schliefen, und überzog das Land wie eine flauschige weiße Decke, blendete das Auge und ließ den Horizont mit dem öde trüben, verwaschenen Himmel verschmelzen. Die dunstige Luft durchfror sie bis aufs Gebein, und die Rösser tänzelten und hüpften in der neuartigen Frische; Reif hing in den Schnurrbarthaaren ihrer Mäuler und veranlaßte sie zu ärgerlichem Schnauben. Die zwei Reiter saßen aufrecht im Sattel und hielten nach vorn über die Landstraße Ausschau nach Erdlöchern und anderen Tücken des Weges; offensichtlich waren sie heute morgen die ersten Reisenden auf dieser Strecke. Der Rösser Hufe zerstieben den noch jungfräulichen Schnee in einer Art von Bugwelle aus feiner, fedriger Gischt. »Sind wir bald dort?« fragte endlich Rhys, nachdem sie etwa eine Stunde lang in nahezu gänzlichem Schweigen der Landstraße Verlauf verfolgt hatten. Joram blies in seine Hand und hielt sie zum Wärmen ans Antlitz, obwohl sie in einem Handschuh stak. »Das Ziel liegt nahe vor uns. Drüben zur Linken siehst du bereits einige der äußeren Bauten. Wir hätten's noch gestern abend schaffen können, doch wären wir reichlich spät eingetroffen. Unsere Aussichten, das zu erreichen, wonach wir trachten, sind wesentlich besser, wenn wir uns zu einer ziemlichen Stunde blicken lassen.« Sie ritten zur Kuppe einer Anhöhe empor und zügelten droben die Rösser, um über ein weiteres Tal auszuschauen. Hier lag der Schnee weniger hoch,
und die zum Kloster gehörigen Bauwerke waren im ganzen Tal verstreut. Am jenseitigen Ende des Tales sah man die Priorei von einer flachen Vorhöhe aufragen; auf der Kirchturmspitze glitzerte ein vergoldetes Kreuz. Dazwischen lagen die säuberlich angelegten Felder in frühmorgendlicher Geruhsamkeit ausgebreitet; eine dünne Schneeschicht bedeckte die aufgetürmten Heuhaufen, die Schuppen und Ställe. Zur Rechten sahen die Ankömmlinge Klosterbrüder in dicken braunen Kutten und Wappenschurzen ihre Kühe nach der morgendlichen Melke auf die Weiden treiben. Vom Dach des Refektoriums, das Bestandteil der eigentlichen Klostergebäude war und baulich mit ihnen verbunden, stieg gekräuselt eine dünne Rauchsäule in die Höhe. »Das müssen etliche hundert Akker Land sein«, bemerkte Rhys, während sie den Weg zum Tor der Priorei fortsetzten. »Ich wähnte, der Ordo Verbi Dei sei recht klein.« Joram nickte. »Einige jüngere Söhne einer Nebenlinie des Königshauses sind einst in diesem Orden in den geistlichen Stand getreten... des gegenwärtigen Königshauses, will ich sagen. Ich glaube, die Landschenkungen an den Orden stammen bereits aus der Zeit Festils I.« Der Empfang, den man ihnen zuteil werden ließ, unterschied sich merklich von jenem, den sie fanden, als sie das letzte Mal gemeinsam durch ein Klostertor ritten. Der Pförtner, ein Laie in grauer Tracht, verbeugte sich aus der Hüfte und riß sich, als sie vorüberritten, die Kappe vom Haupt, hielt sie vor seine Brust. Kaum hatten sie ihre Rösser zum Stehen gebracht, da ergriffen schon zwei Novizen in schwarzen Roben die Zügel. Als die beiden Männer aus den
Sätteln stiegen, verbeugten die Novizen sich ehrerbietig, obschon sie das Michaelitenwappen auf Jorams Umhang mit gewisser Bestürzung betrachteten. Ein in Grau gehüllter Laienbruder eilte ihnen über den Klosterhof entgegen; beunruhigt verneigte er sich zuerst vor seinem Glaubensbruder, dann vorm grünen Mantel des Heilers. »Guten Morgen, Pater, guten Morgen, Herr. Gottes Segen sei mit Euch. Mein Name ist Bruder Cieran. Wie darf ich Euch zu Diensten sein?« Höflich erwiderte Joram des Mannes Verneigung, doch bewahrte er eine gleichgültige, leicht hochmütige Haltung. »Guten Morgen, Bruder. Ich bin Herr Joram MacRorie vom Orden des Heiligen Michael. Dies ist der Heiler Herr Rhys Thuryn. Wir möchten mit dem Prior sprechen.« »Gewiß, edle Herren.« Der Mann verneigte sich nochmals. »Folgt mir, ich bitte Euch, dann werde ich den Hochwürdigsten Herrn darum ersuchen, sich mit Euch zum Gespräch zusammenzusetzen.« Als der Mann sich umwandte, warf Joram kurz Rhys einen Seitenblick zu, um ihn zu ermutigen, dann schloß er sich Bruder Cieran an. Selbiger führte sie über den Hof und durch einen langen Wandelgang, dann seitlich durch einen von Schnee fleckigen Klostergarten und in einen großen Empfangssaal. Dort blieben sie, um zu warten, allein zurück, umgeben von vier getäfelten Wänden und inmitten einer Sammlung frommer Bildnisse – doch gab es kein Gestühl und keine Bänke –, bis am anderen Saalende ein älterer Mann in weißer Gewandung eintrat. Er hatte reinweißes Haupthaar und braune Augen, die mit recht kindlichem Ausdruck verwundert in die Welt schauten,
und trug an einer Zopfkordel ein schlichtes Kreuz aus Silber um den Hals. »Ich bin Pater Stephen, Prior zu Sankt Piran«, sprach er, indem er in knapp bemessener Weise das Haupt neigte. »Wie kann ich Euch, Pater, und Euch, mein Herr, zu Diensten sein?« Nicht lange, und Bruder Cieran geleitete die beiden Besucher in einen kleinen, stickigen Raum, worin an der Wand gegenüber der Tür eine hölzerne Bank stand. Ungefähr in Hüfthöhe gab's in selbiger Wand eine viereckige Öffnung, kaum so groß wie eine Spanne, ausgefüllt von einem Gitter aus Binsengeflecht oder Lederflechtwerk – genau konnte Joram in der Düsternis nicht erkennen, worum es sich handelte. Bruder Cieran wies auf die Sitzbank, damit sie dort Platz nähmen, verbeugte sich, ging hinaus und schloß von draußen leise die Tür. Durch ein Dachfensterchen drangen ein wenig Luft und Helligkeit in die Kammer, doch im übrigen war es darin ungemein düster. Jenseits des Gitterwerks konnte man hellere Lichtverhältnisse wahrnehmen, doch war des Lichtes Quelle anscheinend nur die offene Tür eines ähnlich beschaffenen Raumes auf der Mauer anderer Seite. Eine Gestalt verdunkelte einen Moment lang den Lichteinfall, als sie den anderen Raum betrat, dann wurde auch drüben die Tür geschlossen. Joram und Rhys hörten nebenan jemanden geräuschvoll und schwerfällig atmen; derjenige kam ans Gitter und setzte sich. Ein kurzes Schweigen schloß sich an; niemand sprach ein Wort. Endlich nahm Joram, indem er sich einen Ruck gab, links vom Gitter Platz, während er Rhys winkte, sich ihm gegenüber hinzuset-
zen. »Bruder Benedict?« Der Angesprochene räusperte sich. »Ich bin Bruder Benedict. Vergebt mir. Ich bin des Redens längst entwöhnt.« »Das verstehen wir, Bruder«, antwortete Joram, sah Rhys an und sammelte insgeheim noch einmal allen seinen Mut, bevor er weitersprach. »Bruder Benedict, die Angelegenheit, in welcher wir kommen, ist äußerst heikler Natur. Ich bin Priester des Heiligen Michael, und mein Begleiter ist ein Heiler. Kürzlich hatten wir zu tun mit einem Sterbenden, der uns anvertraute, er habe in diesem Orden einen Enkel, den man Benedict rufe. Möchte es wohl sein, daß du dieser Mann bist?« Sie vernahmen von der anderen Seite einen Keuchlaut; dann ertönte von neuem die unbeholfene Stimme, diesmal jedoch leiser. »Was war sein Name, Pater?« »Weh, Bruder Benedict, wir hätten seinen Namen – ach! – soviel lieber von dir gehört«, entgegnete Joram. »Doch ich darf dir verraten, er war seßhaft in Valoret.« Darauf erscholl gedämpft ein Seufzer, und der Mönch räusperte sich erneut. »Gepriesen sei Gott, mein Großvater ist wohnhaft in Rengarth, und er war's dort immer schon. Er ist ein armer Flickschuster und hat in der Hauptstadt nichts zu schaffen, was ich mir vorstellen könnte. Er heißt Dunstan.« Dunstan. Nicht Aidan, auch nicht Daniel. Dieser Mann war nicht der gesuchte Benedict. Joram seufzte und schaute hinüber zu Rhys, der müde seine Stirn in seine Hand gestützt hatte. »Dunstan«, wiederholte Joram. »Nein, das war nicht jenes Sterbenden Name, an
dessen Lagerstatt wir verweilten. Vielleicht ist der andere Bruder Benedict der Mann, den wir suchen. Wolltest du wohl so freundlich sein und ihn zu uns senden, Bruder?« »Natürlich, Pater.« »Und möge dein Großvater Dunstan noch viele Jahre glücklich verleben.« »Ich danke Euch, Pater.« Man vernahm die Geräusche, welche entstanden, als der Mönch sich erhob, sah das Licht von der Tür, als er sie öffnete; dann herrschte auf des Gitterwerks anderer Seite wieder Stille. Joram musterte Rhys; letzterer hob nun das Haupt. Er wirkte stark mitgenommen. »Was ist dir?« fragte leise Joram und lächelte. »Fühlst du dich so mächtig belastet?« Rhys seufzte, dann schüttelte er sein Haupt, in seine Unterlippe Zähne gegraben. »Ich glaube, für ein Intrigen gewidmetes Leben bin ich nicht geschaffen, Joram. Ehe dies begann, war ich ein Heiler mit schlichtem Sinn. Ich bewegte mich offen und in hohen Kreisen. Diese Heimlichkeiten...« Auf der anderen Seite schwand wiederum die Helligkeit, als jemand durch die Tür kam; Rhys verstummte hastig. Wer's auch war, der drüben eintrat, er hinkte merklich, zog einen Fuß hinterher. Noch bevor er das Mauerloch erreichte, packte ihn ein Hustenanfall und schüttelte ihn grausam durch; und als der Husten endlich nachließ, schien's dem Manne regelrecht eine Anstrengung zu bereiten, bloß auf die Sitzbank zu sacken. Rhys tastete behutsam mit seinen Sinnen hinüber, um des Mönches Gesundheitszustand zu ermitteln, doch fast augenblicklich zog er seine geisti-
gen Fühler zurück. Falls dieser Benedict der Gesuchte war, so mußte ihr Suchen rasch ein Ende nehmen; denn im Finden wären sie gleichfalls seines alsbaldigen Verlustes gewiß: des Mannes Lungen waren von langer Krankheit nahezu zur Gänze zerfressen. Beschwerlich schluckte Rhys, dann gab er Joram ein Zeichen, daß er erneut beginnen möge. »Ich wünsche einen guten Morgen, Bruder Benedict«, sprach Joram in leichtmütigem Tone. »Wir danken dir für dein Erscheinen.« »Ich bemühe mich um Fügsamkeit«, murmelte der Mann. »Wenig nutzte es, sich so spät noch zu beklagen. Könnte ich fliegen... doch gleichwohl, ich narre sie dennoch. Da ist mehr als ein Weg, um diese Mauern zu brechen.« Joram schenkte Rhys einen wachsamen Blick. »Du wärst lieber fort, Bruder Benedict?« Wieder hustete der Mönch. »Das zählt nicht länger soviel. Wären vor zwanzig Jahren meine Widersacher weniger grausam gewesen... Aber es gibt schlimmere Arten des Eingesperrtseins. Wie kann ich behilflich sein, meine Söhne? Euer Interesse gilt sicherlich nicht meines Herzens Hader.« Jorams Blick ruhte unverändert auf Rhys, und er war sich dessen sicher, daß dem Heiler nun ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen wie ihm. Was war diesem Mann zwanzig Jahre zuvor widerfahren? Es war durchaus klar, was der Mönch andeutete; mehr als einmal hatten bedenkenlose Mächtige ihre Feinde wider Willen in klösterliche Abgeschiedenheit gezwungen. Und vor zwanzig Jahren... Doch sollte dies der Benedict sein, auf den sie's abgesehen hatten, so war er ein Todkranker... »Ah, Bruder Benedict, ich
bin Priester im Orden des Heiligen Michael, und mein Begleiter hier ist ein Heiler. Vor kurzer Frist standen wir am Sterbebette eines Mannes, der womöglich niemand anderes war als dein Großvater.« Von der anderen Seite vernahm man einen scharfen Atemzug, und der Mönch erlitt, dadurch ausgelöst, einen weiteren Hustenanfall. Nachdem das Husten verklungen war, blieb es für ein beachtliches Weilchen ganz still. »Möge er«, stieß da plötzlich der Mönch hervor, »in der Hölle schmoren!« »Um Vergebung?« stammelte Rhys. »Möge er in der Hölle schmoren, der elendige Schuft! Er und seine schandbaren Spießgesellen waren's ja, die mich hier festsetzten, die meine Jugend stahlen, meine Träume...« »Halte ein, Bruder Benedict«, unterbrach ihn Joram, »gemach, gemach! Wie lautete sein Name?« »Sein Name?« wiederholte der Mönch. »Sein Name war mir verhaßt, obschon es der Name war, den auch mein gesegneter Vater trug. Er lautete James.« James. Nicht Daniel. Gott sei gedankt, dachte Joram, daß dieser verbitterte Mann nicht der Prinz ist, den wir suchen! Diese Tatsache bedingte zwar, daß sie drei weitere Benedicts ihrer Prüfung unterziehen mußten, aber wenigstens währte noch die Hoffnung. Behend erhob er sich und winkte Rhys, desgleichen zu tun, davon überzeugt, daß es den anderen nicht minder als ihn zum Aufbruch drängte, nachdem nun auch diese Möglichkeit sich als falsch herausgestellt hatte. Er äußerte ein Räuspern, um die Aufmerksamkeit des Mannes hinterm Gitter wieder auf sich zu lenken. »Wir danken dir für deine Mühewaltung, Bruder Be-
nedict. Offenbar handelte es sich bei jenem Verstorbenen jedoch nicht um deinen Großvater. Ich... ich vermag dir nicht mit gutem Gewissen die Vergeltung zu vergönnen, nach der du trachtest, doch will ich darum beten, daß dein Scheiden schnell und barmherzig geschehen möge.« Der Mann räusperte sich von neuem auf röchlige Weise, und seine Stimme, als er erneut sprach, klang beinahe demütig. »Ihr... Ihr werdet doch dem Pater Prior nichts weitersagen, nicht wahr, Pater? Ich... Vergebt mir. Vielleicht ist dies der Grund, warum wir so selten Besucher empfangen dürfen, warum man die Abgeschlossenheit so gestrenge durchsetzt. Ich glaubte meinen Haß besiegt, doch nun, da sich mir der Tod naht... Verzeiht mir!« »Natürlich«, gab Joram zur Antwort. Sie nahmen von dem Mönch Abschied, und kurze Zeit später betraten sie wieder den Klosterhof, wo sie die Novizen anwiesen, die Rösser zu holen. Mit den Tieren kam auch Bruder Cieran in den Hof, der sie zuvor willkommen geheißen hatte; wohlgefällig strich er mit einer Hand über den Hals von des Heilers Roß, als Rhys selbiges bestieg. »Ein prachtvolles Tier, mein Herr. Bevor ich hier mein Zuhause fand, waren auch mir solche Tiere zu eigen.« Er zuckte die Achseln. »Aber das ist Vergangenheit. Ich hoffe, Ihr seid nicht allzu enttäuscht. Wie ich vermute, habt Ihr den Mann nicht gefunden, den Ihr sucht?« Rhys schüttelte sein Haupt. »Jener Benedict, mit dem wir zuletzt sprachen... war er in jüngster Zeit in eines Heilkundigen Obhut?« Cieran ließ einen Stoßseufzer vernehmen. »Leider
nicht, edler Herr. Er wünscht's nicht.« »Ihm bleibt nur noch eine kurze Frist«, sprach Rhys. »Weiß er um ihre Kürze?« »Ich glaube, ja, und er grämt sich darum nicht«, erteilte Cieran Auskunft. »Er war schon ein verbitterter Mann, als ich ihn erstmals sah, und das ist inzwischen zehn oder mehr Jahre her. Aber ich bin der Auffassung, er hat das Recht auf seine eigene Art von Frieden. Wir alle haben diese Mauern aus verschiedenen Gründen betreten.« »Auch gegen den eigenen Willen?« fragte in ausdruckslosem Tonfall Joram. »Oh, hat er das behauptet? Ach, zu unser aller Bedauern hat sich in den letzten Jahren sein Verstand ein wenig abgenutzt. Schon mehrfach äußerte er so eine Bemerkung, aber dergleichen kann natürlich nimmer wahr sein. Hier ist niemand, der's nicht sein möchte.« »Natürlich nicht«, erwiderte Joram, ohne seiner Stimme auch nur die allerleiseste Spur von Spott einfließen zu lassen. »Sei bedankt, Bruder Cieran. Gott erhalte dich.« »Und auch Euch, Ihr Herren«, antwortete Cieran und hob zum Segen eine Hand. Er sah den beiden Männern versonnen nach, während sie zum Klostertor hinaus und zurück zur Landstraße ritten. In der Ferne braute sich ein neues Unwetter zusammen und zog herauf.
7 Des Arztes Kunst erhöht sein Haupt, und auch vor Fürsten darf er stehen. Jesus Sirach 38,3 Tage verstrichen, bevor man die Nachforschungen von neuem aufnahm; und dann war's nicht Joram, der an Rhys Thuryns Seite ritt, sondern Camber in Person, allerdings verkleidet als Gabrielit. Joram hatte sie begleiten wollen und seinen Vater um Aufschub gebeten, bis er von seinen Pflichten zu St. Liam auf Zeit entbunden worden sei. Doch man durfte nicht warten, und Camber gedachte Joram nicht durch unerlaubtes Fernbleiben vom Orden irgendeinen Verdacht erregen zu lassen. Unvermutet begann nämlich die Zeit sie zu drängen, da neue Ungeheuerlichkeiten des ungestümen jungen Königs die Erfordernis erhöhten, zu handeln. Nach den ersten Schneefällen zu Nyford, wo sich Imres neue Hauptstadt im Aufbau befand, waren mehr als einhundert Leibeigene und Fronarbeiter in der Kälte erfroren, weil Imre es unterließ, ihnen ausreichende Winterkleidung und winterfeste Behausungen zur Verfügung zu stellen. Weitere zweiunddreißig gingen zugrunde, als infolge mangelhafter Abstützung ein Erdwall ins Rutschen geriet. In Rhemuth, der alten gwyneddischen Hauptstadt, verfielen ein halbes hundert Landleute der Leibeigenschaft, weil sie die Abgabe nicht entrichtet und sich auch nicht zum Frondienst gemeldet hatten, und aus der gleichen Verursachung mußten ein halbes Dut-
zend geringerer Edler den Gang zum Galgen antreten. Zu Marywell in des Reiches Norden liefen Kriegsleute des Königs Amok und verheerten binnen einer Nacht fast die gesamte Ortschaft, ohne bestraft zu werden, obschon der Erzbischof von Valoret selber Imre bestürmte, er solle die Unschuldigen rächen, die dort das Leben verloren hatten. Camber stand dicht vor einem Zornesausbruch, als die Neuigkeiten von Imres Treiben sich immer ärger steigerten, denn eine so mutwillige Gleichgültigkeit eines Königs gegenüber dem Wohlergehen seiner Untertanen war völlig unverzeihlich. Bevor eine Woche verstrich, waren er und der ruhelose Rhys Thuryn unterwegs ins Lendourische Hochland, zur Abtei St. Foillan. Fast drei Tage lang ritten sie über eine Landstraße, worauf sie mit jedem Tag weniger anderen Reisenden begegnet waren, ehe sie inmitten eines Schneegestöbers des Weges letzte Strecke zurücklegen konnten. Allein ritten sie zwischen den weiten Terrassenfeldern der Abtei dahin; die einzigen Zeichen von Leben in der froststarren Landschaft waren die gekräuselten Rauchfähnlein aus den klösterlichen Küchen. Die großen Kornspeicher waren wider die Winterstürme fest verrammelt, die letzten Ernteerträge eine Woche zuvor eingeholt worden. Auch die gewaltigen Herden von Milchvieh, welche in milderen Jahreszeiten die Berghänge bevölkerten, waren nun nirgendwo zu erblicken. Während die beiden Reiter vor den Klostermauern darauf harrten, daß man ihnen Einlaß gewähre, kauerten sie sich in ihrer mit Pelz besetzten Kleidung gegen den eisigen Wind zusammen, der wie mit Nadelspitzen stach. Auch ihre Rösser trugen Decken und
Hauben wider das Wetter. »Wer begehrt Zutritt durchs Tor von Sankt Foillan?« rief aus einem sehr hohen Fenster des Torbaus eine greisenhafte Stimme. Der Wind drohte jegliches Wort zu verwehen, und Camber trieb sein Roß um ein paar Schritte näher an den Wall. »Wir erbitten, daß ihr das Tor zwei durchgefrorenen Reisenden auftut«, rief Camber hinauf. »Ich komme vom Erzbischof. Ich bin Bruder Kyriell, und dies ist Herr Rhys Thuryn. Wir sind hierher einen langen Weg geritten.« »Du bist ein Mönch?« Ein Kapuzenhaupt lugte aus dem Fenster, starrte anscheinend auf sie herab; doch die Miene ließ sich in den Schatten nicht erkennen. »Ja, vom Orden des Heiligen Gabriel. Herr Rhys ist ein Heiler. Wolltet ihr uns wohl einlassen? Wir haben mit eurem Abt zu verhandeln.« Keine Antwort ertönte, doch die Gestalt verschwand, das Fenster schloß sich, und kurz darauf öffnete jemand im großen Haupttor eine Pforte. Camber stieg vom Roß und führte es hindurch, gefolgt von Rhys, und ein Mönch warf hinter ihnen die Pforte zu, ehe er sich ihrer Tiere annahm. Ein anderer Mönch vollführte wortlos eine Verbeugung und winkte, daß sie ihm über den weiträumigen, mit Schnee bedeckten Hof der Abtei folgen möchten. Der Klosterkirche steinerne Türme und Mauern ragten grau und bedrohlich aus der verschneiten Umgebung empor, aber sie war ihrerseits ganz und gar überschattet und zur Geringfügigkeit herabgewürdigt vom kahlen Felsenantlitz des benachbarten Berges, der die nördliche und östliche Begrenzung der Abtei abgab. Der Steilhang war beständig vom Wind heimgesucht und deshalb völlig schneefrei. Nahe der klösterlichen Kirche war in den
Berghang eine Art von Nachahmung einer Hauswand gehauen, die ein großes, kräftig gezimmertes Tor aufwies. Bevor Camber, Rhys und ihr Begleiter durch eine Pforte der Abtei traten, sahen sie noch, wie man die Rösser durch selbiges Tor führte. D a müssen Ställe im Schoß des Berges sein, sann Camber. Dorthin verschwinden wohl im Winter auch des Klosters Herden. Ein knappes Weilchen später saßen Camber und Rhys in des Abtes Sprechzimmer vor einem Feuer, das laut bollerte, auf einer Bank, jeder mit einem Humpen heißen Apfelweines in der Hand. Der Abt hatte sich noch nicht eingestellt, aber ihr Begleiter kramte im Gemach umher, ordnete alles ein wenig und entzündete an Leuchtern die Kerzen. Camber warf Rhys einen verstohlenen Seitenblick zu, wie um ihn zu ermahnen, daß er die Augen offenhalten solle, dann löste er die Spange seines mit Pelz gesäumten Umhangs und ließ ihn von den Schultern gleiten. Rhys' Gliedmaßen begannen sich allmählich ebenfalls wieder zu erwärmen, und als er sich erhob, um ein Stückchen vom Feuer abzurücken, öffnete sich eine Tür, und der Abt trat ein. Unverzüglich stand auch Camber auf und setzte seinen Humpen ab. »Einen guten Tag wünsche ich, Vater Abt«, sprach er und schickte sich an, des Klerikers Ring zu küssen. »Ich bin Bruder Kyriell und stehe im Dienste Seiner Gnaden des Erzbischofs. Dies ist mein ehrenwerter Kollege, Herr Rhys, ein Heiler.« Rhys schob seinen Humpen zur Seite und kam hinzu, um ebenso des Abtes Ring zu küssen. Sobald diese Pflichten vollzogen waren, hob der Abt jedoch eine knochige Hand und schüttelte sein Haupt. »Bruder Kyriell, mein Herr, verweile nicht länger bei Zeremo-
nien. Weit seid Ihr geritten durch dies feindselige Wetter, und wie mir Bruder Jubal nahebrachte, seid Ihr nicht durch einen Zufall hier. Wie kann ich Euch behilflich sein?« Er winkte dem Mönch, daß er seinen Lehnstuhl ans Feuer schieben möge, dann gab er den beiden Gästen zu verstehen, daß sie sich wieder setzen dürften, und nahm selber bei ihnen Platz. Nachdem der Abt sich behaglich zurechtgesetzt hatte und auch einen Humpen voller warmen Apfelweins in der Hand hielt, faltete Camber vor sich die Hände und ließ ein Räuspern vernehmen. »Vater Abt, eine in nicht unerheblichem Maße heikle Angelegenheit ist's, die uns herführt, um so heikler angesichts Eurer huldvollen Gastfreundschaft.« Er betrachtete seinen Humpen. »Doch leider sind wir gekommen, um mit einem Eurer Klosterbrüder zu sprechen, und zwar aus wichtigem Grunde.« Der Abt musterte sie beide über den Rand seines Humpens hinweg, dann wärmte er sich die Hände an dessen Seiten. »Letzteres darf man wohl meinen«, erwiderte er schließlich, derweil sein Blick die vom Schneesturm zerzausten Besucher einer aufmerksamen Musterung unterzog. »Aber darf man die Frage stellen, warum? Meine Einwilligung zu diesem Ansinnen erfordert eine schwere Abweichung von unseren Ordensregeln. Sollte ich so etwas für Euch oder um Seiner Gnaden des Erzbischofs willen hinnehmen, so wüßte ich schon recht gern, mit welcher Begründung.« Camber neigte, um seine Zustimmung anzuzeigen, das Haupt. »Einige Monde zuvor verstarb in gesegnet hohem Alter ein Mann. Er befand sich in Herrn Rhys'
Obhut, und auf dem Sterbebette bat er ihn, seinen Enkel von seinem Verscheiden in Kenntnis zu setzen. Unglücklicherweise vermochte er uns nur zu verraten, daß sein Enkel in Eurem Orden Mönch sei und den Namen Benedictus angenommen habe. Herr Rhys richtete an mich die Bitte, ihm dabei zu helfen, denselben Mönch zu finden, und unsere Suche hat uns nun nach Sankt Foillan gebracht.« »Ich verstehe.« Der Abt versenkte den Blick in seinen Apfelwein. »Sein Großvater... war er ein bedeutender Mann?« »Nur für mich... und für seinen Enkel«, antwortete Rhys. »Er befand sich am Ende in stärkster Erregung über sein verflogenes Erdendasein und ergab sich in große Hoffnung, daß sein Enkel zu seinem Heil die leidenschaftlichsten Gebete gen Himmel senden möge. Ich legte in seiner letzten Stunde das Versprechen ab, seinen Enkel ausfindig zu machen – und ich glaube, das ist mir nunmehr gelungen. Dürfen wir mit ihm sprechen, Vater Abt?« »Das ist eine höchst ungewöhnliche...«, begann der Abt. »Wir begreifen Eure schwierige Lage, Vater Abt«, sagte Camber. »Aber sicherlich kann daraus kein Schaden entstehen. Der todgeweihte Greis hatte das Empfinden, vielerlei Dinge vorm Himmlischen Throne rechtfertigen zu müssen, und hegte die Überzeugung, daß seines Enkels fromme Fürbitte, erführe nur sein Enkel von seiner Seelenpein, ihm den Pfad in den Himmel in wesentlichem Umfang zu ebnen vermöchte. Ich habe in dieser Sache mit Seiner Exzellenz gesprochen, dem Erzbischof, und obwohl es ja beileibe nicht üblich ist, in die Verwaltung und Befugnisse
der ihm unterstellten Besitztümer einzugreifen, äußerte Seine Gnaden zu mir doch die gütige Auffassung, daß wider eine so vernünftig begründete Lokkerung Eurer Ordensregeln keine Bedenken bestünden. Das Gespräch beanspruchte ohnehin nur ein kurzes Weilchen.« »Hmmm«, brummte der Abt. Ihm ließ sich offenkundig anmerken, daß die Erwähnung des Erzbischofs auf seine Entscheidung großen Einfluß ausübte, ebenso jedoch, daß er gegen diese Einflußnahme einen grundsätzlichen Widerwillen verspürte. »Wie war doch«, fragte er mürrisch, »gleich wieder des Enkels Name?« »Wir kennen ihn nur als Bruder Benedictus, Vater Abt.« Der Abt erhob sich und begann das Gemach abzuschreiten, die Hände in den Ärmeln seines weißen Gewandes gefaltet. Sein hageres Antlitz spiegelte deutlich seinen Mißmut wider. »Ihr versetzt mich in eine unerfreuliche Lage, Bruder. Ihr müßt bedenken, daß Bruder Benedict das Gelübde des Schweigens abgelegt hat. Binnen mehr als zwölf Jahren hat er lediglich im Rahmen seiner gottgeweihten Aufgaben und mit mir als seinem Beichtvater gesprochen. Seine göttliche Berufung gilt als Gewißheit. Er ist ein höchst frommer, gesegneter Mann. Ich weiß nicht zu sagen, ob er jemanden von der Außenwelt sehen möchte.« Camber trat in des Abtes Weg, und der Kleriker verharrte. »Ich bin Mönch, Vater Abt, und Herr Rhys ist ein Heiler, der ebenfalls einer göttlichen Berufung folgt. Obwohl wir in der schnöden Welt leben und wirken, betrachten wir unsere Berufung als nicht weniger gewiß und heilig denn im Falle eines Büßer-
mönches, wenn auch in anderer Weise. Sollte Euer Bruder Benedict ein so aufrechter und frommer Mann sein, wie Ihr ihn darstellt, so dürfte die Liebe zu seinem Großvater ihn gewogen machen, vor uns zu treten. Doch laßt uns eine derartige Entscheidung nicht an seiner Statt fällen Bruder Benedict selbst ist's, der hierüber entscheiden muß.« Der Abt forschte eindringlich in Cambers Antlitz, obschon sich selber nicht so recht darüber im klaren, wonach; dann heftete er seinen Blick auf Rhys. »Und Ihr, mein Herr – teilt Ihr Bruder Kyriells Einschätzung unseres Bruders Benedict, den Ihr noch nie gesehen habt? Erachtet Ihr Euch als würdig genug, um mit einem so auserlesenen Manne zu sprechen?« Rhys neigte das Haupt, an seines Bewußtseins Rand von Schuld um der Scharade willen geplagt, die sie spielten, dann hob er seinen Blick in des Abtes Augen. Sie trieben kein falsches Spiel. Alles, was sie bislang gesagt hatten, war die Wahrheit; wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Wofür sollte er beschämt sein? »Wer unter uns ist wahrhaftig irgendeiner Gnade würdig, Vater Abt?« entgegnete er mit leiser Stimme. »Sprechen wir nicht in der Liturgie: ›Domini, non sum dignus‹ – ›Herr, ich bin nicht würdig‹? Doch schon mit dem nächsten Atemzug fügen wir hinzu: ›Sprich nur ein Wort, und ich bin gesund.‹ Als Heiler spüre ich täglich die Heilkräfte mich durchströmen, die ich als ein Geschenk Gottes erkenne. Wenn Bruder Benedict uns empfangen sollte, werde ich weiterhin versuchen, mich auf meine Art dieser Gunst als würdig zu erweisen.« Der Abt lächelte matt und verneigte sich. »Touché, mein Herr. Eure Ausbildung zum Heiler hat Eure
Kenntnisse der Theologie nicht überschattet.« Seine Miene nahm wieder einen ernsten Ausdruck an. »Nun wohl, ich werde Bruder Benedict fragen, ob er Euch zu sehen wünscht. Versprechen kann ich nichts, aber ich will ihn fragen.« Mit dieser Zusicherung verließ der Abt bedächtig das Gemach. Ungefähr ums Viertel einer Stunde später wies man Camber und Rhys, nachdem man sie durch den Saal und den Klostergarten der Abtei geführt hatte, in eine kleine, mit Holz getäfelte Kammer, worin eine der Wände ein Kupfergitter aufwies. Warm genug war der Raum, da er an ein Nebengemach des großen Saales der Abtei grenzte, doch war's darin recht düster. Unterhalb des Gitterfensters stand an der Wand ein gepolsterter Kniestuhl, gerade zur Genüge breit für zwei Personen. Gemächlich trat Camber in der Räumlichkeit Mitte, während man von draußen die Tür hinter ihnen schloß, und schaute sich darin äußerst sorgsam um. Rhys betrachtete argwöhnisch das Gitterwerk. »Anscheinend ist er einverstanden«, bemerkte leise der Heiler. »Ja, so hat's den Anschein«, versetzte zur Antwort Camber. »Nun laß uns den Herrgott anflehen, daß er der Gesuchte ist.« Er trat näher zu Rhys und legte eine Hand auf des Heilers Arm, derweil seine Stimme zu einem kaum wahrnehmbaren Wispern herabsank. »Haltet Euch jetzt nahebei, mein Freund. Ich habe sonderliche Vorahnungen, und ich weiß nicht, ob ich allzu froh darum bin.« Rhys nickte zur Zustimmung, sich darüber im klaren, daß die Nähe, welche Camber meinte, sich nicht in räumlichen Maßen ausdrücken ließ; er kniete sich an das Gitter, da erregte auch schon von der anderen
Seite ein Rascheln seine Aufmerksamkeit. Unverzüglich ließ sich neben ihm Camber nieder und legte ihm erneut sacht eine Hand auf den Arm, während er ihm zugleich das Zeichen zum Sprechen gab. »Bruder Benedict?« fragte leise Rhys. Das Rascheln verstummte, und Rhys spürte jenseits des Gitters des Mönches Antlitz, fühlte einen kurzen Atemstoß, der rein war und frisch. Etwas zu sehen war jedoch unmöglich. »Bruder Benedict?« wiederholte Rhys in noch immer unterdrückter Lautstärke. Auf der anderen Seite ertönte ein gedämpfter Laut; nicht ganz ein Husten. »Ich bin Bruder Benedict«, sprach eine leise Stimme. »Wie kann ich Euch zu Diensten sein?« Heiler und Schein-Mönch wechselten gespannte Blicke; jeder von ihnen war sich der inneren Unruhe des anderen bewußt. Camber beugte sich dichter ans Gitter. »Wir ersuchen um Vergebung für unsere Zudringlichkeit, Bruder Benedict, doch sind wir großer Hoffnung, du mögest der Mann sein, den wir suchen. Mein Name lautet Bruder Kyriell. Mein Begleiter hier ist Herr Rhys Thuryn, ein Heiler. Wir glauben, daß er in seiner Sterbestunde deinem Großvater zur Seite stand.« Ein Keuchen der Überraschung erscholl. »Meinem Großvater? Süßer Jesus und alle Heiligen, ich wähnte ihn schon tot seit zehn oder fünfzehn Jahren!« »Tot?« meinte Camber. »Leider kann ich deine Worte nicht recht begreifen. Wie war denn deines Großvaters Name?« »Sein Name? Ach, er hieß Daniel. Vor etwa zehn Jahren suchte ich ihn zu erreichen, bevor ich die feierlichen Ordensschwüre leistete. Doch als ich keiner-
lei Nachricht erhielt, nahm ich an... Aber du sagtest, Bruder... um Vergebung, du sagtest, Herr Rhys habe ihm in seiner Sterbestunde beigestanden. Dann ist er jetzt... wirklich tot.« »Das ist er, ja, leider«, antwortete ausdruckslos Camber. »Er...« Für einen Moment versagte ihm die Stimme, so überwältigt fühlte er sich durch die wachsende Erkenntnis, daß dieser Mann mit aller Wahrscheinlichkeit der gesuchte Haldane-Erbe war, und Rhys' Griff um seinen Arm glich, als auch der Heiler sich näher ans Gitter beugte, dem Klammerdruck eines Schraubstockes. »Bruder Benedict, dies ist Rhys Thuryn, den du nun vernimmst. Deines Großvaters Name lautete Daniel, erteiltest du uns vorhin Auskunft. Was aber war sein Nachname? Bist du der Mann, den ich suche, so habe ich von ihm eine Nachricht für dich, doch muß ich unzweifelhaft sicher sein. Erzähle mir, an was von deinem Großvater du dich noch erinnerst.« Stille ergab sich. Auf des Gitters anderer Seite herrschte vollständiges Schweigen. »Sein voller Name«, kam dann mit ruhiger Stimme die Erwiderung, »lautete Daniel Draper, und als ich von ihm ging, um dem Orden beizutreten, übte er das Gewerbe eines Wollzeughändlers aus. Im Jahre zuvor war mein Vater, der Royston hieß, an der Pest verstorben...« Bei der Erwähnung des Namens erblickte Rhys vorm geistigen Augen eben jenes Bildnis, das er schon in Daniels Bewußtsein gesehen hatte: Royston, der Vater, lag zum Begräbnis aufgebahrt, und der schon alte Daniel und der Jüngling Cinhil betrachteten den Toten voller Furcht. Plötzlich wußte er, wie der Mann auf des Gitters anderer Seite aussah, nun in mittleren
Jahren: das Haar glanzvoll schwarz, mit den Jahren an den Schläfen silbrig geworden; klare, graue Haldane-Augen, die ernsten Sinnes und weise aus dem hageren, mannhaft schönen Antlitz schauten; schlanke Hände, wegen vieler Jahre des Gebets sanft, aber zu allem fähig, was dieses Mannes Wille ihnen zumuten mochte... Er teilte das geistige Bild mit Camber und nahm wahr, daß der Ältere unter desselben Eindringlichkeit gleichsam zusammenfuhr. Doch im selbigen Moment erfühlte er eine andere Wahrnehmung, die ihren Ursprung bei Camber hatte: die Erkenntnis, daß Cinhil – nein, Benedict, denn das war vorerst sicherer – nicht allein war auf geistiger Ebene! Diese Wahrnehmung emanierte keinerlei Einsicht von Bosheit; wahrscheinlich hatte Benedict selbst sich einen Zeugen erbeten. Und wirklich, es war der Abt in Person, der im benachbarten Gemach lautlos neben der Tür verweilte. Von nun an mußten sie in ihren Reden zum entdeckten Haldane-Erben äußerst vorsichtig sein. Und wie sollten sie über ihn mehr herausfinden können, ohne Verdacht zu erregen? »... doch ach! – was schwatze ich hier auf so höchst unziemliche Weise«, hörte er Benedict sagen. »Man verzeihe mir, ist doch mein Herz so übervoll der Freude über diese Kunde, daß mein geliebter Großvater noch so viele lange Jahre lebte, darob bin ich unvermutet ganz wirre geworden! Ich bitte Euch, Herr, sagt mir, waren seine letzten Jahre gesegnet? Starb er einen weihevollen Tod?« »Er war ein gutherziger Mann«, erwiderte mit sanftmütiger Stimme Rhys, während er, seinen Blick auf Camber gerichtet, eine Braue hob, um nachzuforschen, welche Frage er als nächste stellen solle. »Mir
fiel die Ehre zu, ihn in meiner Betreuung von jenem Tage an zu wissen, da ich die Heilkunst auszuüben anfing. Auf seinem Sterbebette bat er mich dringlich darum, dich aufzusuchen, seinen Enkel, und dich zu bestürmen, daß du für sein Heil beten mögest.« »Ach, diese arme, wohlgesonnene Seele«, seufzte gepreßt der Mönch. »Um Vergebung, aber ich möchte sofort dringlichst ein Stoßgebet zu ihren Gunsten gen Himmel senden!« Von drüben vernahm man das Rascheln von Bewegungen, und Rhys sah Camber an. Was nun? Sie verständigten sich auf geistiger Ebene. Da bin ich unsicher. Wir müssen mehr erfahren, dürfen aber keinesfalls des Abtes Argwohn wecken. Das dürfte nicht leicht sein. Er... Mir kommt ein Einfall, unterbrach ihn Cambers Gedankenfluß. Rhys, könnt Ihr bewirken, daß er plötzlich erkrankt? Was?! Na, begreift doch, was ich meine! Benutzt Eure Heilkraft, um einen Krankheitszustand vorzutäuschen. Sorgt dafür, daß ihm die Sinne schwinden oder dergleichen. Das könnte uns die Gelegenheit bieten, sein innerstes Wesen gründlich zu erforschen. Ich bezweifle, daß es hier einen Heiler der Abtei gibt. Aber... aber meine Fähigkeiten zum Schaden statt zur Heilung zu verwenden...! Nicht zum Schaden. Auf lange Sicht doch zum Guten. Es würden ja keine Beeinträchtigungen zurückbleiben, sei's denn, Ihr wolltet es in böswilliger Weise anders. Rhys, wir müssen uns seinem Innern nahen! Wir müssen ermitteln, ob er das gewaltige Wagnis wert ist, das es wäre, ihn von hier fortzubringen!
»Ich erflehe nochmals Nachsicht«, drang des Haldanes Stimme in ihr Bewußtsein vor. »Einen Moment lang war ich überwältigt, und da...« Handelt, wie ich Euch riet! drängte Camber. Er ist bestürzt und voller Verwirrung. Ihr könnt nun mit Leichtigkeit seine Besinnung mittels einer Betäubungsformel rauben. Vorwärts! »... sicher, daß Ihr mir vergeben werdet. Was war's, das Ihr mir von meinem Großvater ausrichten wolltet?« Camber entäußerte ein Räuspern und widmete Rhys ein Nicken. »Es erhebt sich die Frage, Bruder Benedict«, begann selbiger Heiler von neuem zum Mönch zu sprechen, »ob du von irgend etwas Kenntnis besitzt, das Ursache von deines Großvaters Scheu vorm nahen Jenseits sein möchte? Daniel erachtete sich selbst als schrecklich versündigt. Zwar nahm ich mit seinem Beichtvater Rücksprache, der mich dessen versicherte, er habe ihm in hinlänglichem Umfang Absolution erteilt, aber...« Rhys sammelte alle seine Kräfte und füllte sein Bewußtsein mit Ruhe aus, während er sich Cambers Worte noch einmal unhörbar durch den Kopf gehen ließ; dann versetzte er sich im mindestens erforderlichen Maße, gedachte er auf einen anderen Körper einzuwirken, in Trance. Er schloß die Augen und versiegelte seinen Geist wider alle Einflüsse der äußeren, dinglichen Umwelt, und gleichzeitig sprach er im geistigen Bereich jene Worte, die ihm uneingeschränkte Gewalt über seine Heilkräfte verliehen. In seinen Fingerspitzen, seinen Lippen, hinter den Augen verspürte er den Kitzel des erweiterten Wahrnehmungsvermögens; er fühlte des Mönches Benedict Gegenwart auf des Kupfergitters
anderer Seite, wo er aufmerksam, obschon Rhys kein einziges Wörtchen vernahm, der Rede Cambers lauschte. Behutsam hob er seine Rechte ans Kupfer, woraus das Gitter bestand, legte seine Fingerkuppen an das Metall, das warm war unter der Berührung. Er öffnete seine Lider, die sich dicht hinterm Gitter befanden, zu Schlitzen, und erkannte nebenan den Umriß von Benedicts Haupt, die Haut des Antlitzes, welches jenes ans Gitter drückte, um Cambers Worte zu vernehmen, die Rhys nicht hörte. Der Heiler ballte seine Kräfte zum Zwecke des Sprunges über den geringen Abstand hinweg, welcher ihn vom Mann auf der anderen Seite trennte, er streckte seine aufs Gitter gelegte Hand, von des anderen Haupt nur durch ein wenig Kupfer abgesondert. Dann überwanden seine Sinne den ungeheuren Abgrund zwischen dem einen und dem anderen Geist, glitten unbemerkt in des Mannes Bewußtsein, das sich so aufmerksam Worten widmete, bloßen Worten, während die wahre Bedeutung all dieses Geschehens seinen Verstand umschlich. Schon war Rhys tief in des Mönches Seele vorgedrungen, tastete mit Vorsicht nach den rechten Stellen, fühlte unermüdlich und unbemerkt nach dem Auslösungspunkt, wo er über dies Bewußtsein zeitweiliges Vergessen bringen konnte. Und er fand ihn. Er festigte seine geistige Heilgewalt um den Sitz der Bewußtheit und begann Druck auszuüben, spürte des Mannes im Anwachsen begriffene Benommenheit, sah das Flirren verzerrter Wahrnehmung, als Cambers Worten plötzlich scheinbar der Sinn ermangelte. Dann sackte der solchermaßen Überwältigte gegen die Mauer, sank besinnungslos hinab auf den Fußboden, und ein anderer Mann, der Verblüffung und
Furcht emanierte, stürzte an seine Seite. Rhys ließ nochmals seine geistige Gewalt einwirken, um zu vergewissern, daß die Bewußtlosigkeit für ein ausreichend langes Weilchen anhalten werde, dann zog er sich ruckartig zurück. Er stellte fest, daß er durchtränkt war von eigenem Schweiß, seine Linke fest Cambers Arm umklammert hielt und der Ältere ihn voller Hochachtung und auch mit leichtem Unbehagen anstarrte. Er gab Cambers Arm frei und befleißigte sich mit zittriger Stimme wieder des gesprochenen Wortes, um sich mit ihm zu verständigen. »Was ist geschehen?« »Ihm ist die Besinnung geschwunden«, erteilte leise Camber Auskunft, während ein schwaches Lächeln seine Lippen umspielte. »Bruder Benedict?« rief er laut. »Bruder Benedict, bist du wohlauf?« »Er ist in eine Ohnmacht versunken«, erscholl von drüben des Abtes Stimme. »Ich glaube, ihm ist unwohl geworden. Bruder Paul, Bruder Phineas, herbei und zu Hilfe!« Das Geräusch geschwinder Füße. »Benedict, sprich! Phineas, sende zum Krankenwärter! Der Schrecken hat ihn hingestreckt. Benedict, bist du wohlbehalten?« Rhys versuchte, durch das Gitter zu spähen, wogegen Camber weiterhin still kniete, das Haupt beim Lauschen seitwärts geneigt. Bietet Beistand an, riet er lautlos. Rhys drückte das Antlitz ans Gitter. »Vater Abt, kann ich irgend etwas tun, um zu helfen? Ich bin's, Rhys Thuryn.« Auch diesmal erhielten sie keine Antwort. Man vernahm den Lärm weiterer Füße, leises Stimmengemurmel; dann meldete sich eine andere Stimme zu Wort. »Ist mir unverständlich, Vater Abt, warum er
nicht zur Besinnung kommt. Wäre dies nur ein Schwächeanfall, er müßte schon wieder wach sein.« »Zu viele Aderlässe, wenn ihr mich fragt«, meinte eine Stimme. »Stets habe ich ihm zu bedenken gegeben, daß zwei binnen eines Mondes zuviel seien.« »Vielleicht ist's keine Ohnmacht«, mengte sich ein dritter Mönch drein. »Womöglich ist's die Pest!« »Unfug! Willst du das ganze Kloster in Aufruhr und Schrecken stürzen?« Das war des Abtes Stimme. »Herr Rhys, seid Ihr noch dort?« Rhys sah Camber an, und der Graf nickte in hoffnungsvoller Erwartung. »Ja, Vater Abt. Ich habe gehört, was geschah. Kann ich irgendwie Beistand leisten?« »Das vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen, mein Herr. Anscheinend hat Bruder Benedict das Bewußtsein verloren, doch unser Krankenwärter kann's ihm nicht zurückbringen. Besäßet Ihr wohl die Bereitschaft, Euch um ihn zu kümmern?« »Aber ich bitte Euch, Vater Abt, es ist mir die allerhöchste Ehre, in diesem Falle jede nur erdenkliche Unterstützung zu geben!« Camber verdrehte die Augen und erstickte ein Lachen; Rhys warf ihm einen Blick der Beunruhigung zu. »Ich fühle mich ein bißchen schuldig an seinem Zusammenbruch«, ergänzte er in aller Hast. »Ich erwartete doch nicht, daß die Nachricht vom Hinscheiden seines Großvaters ihn in solchem Maße erschüttern könne.« »Euch trifft kein Vorwurf, mein Herr. Bruder Phineas, geleite Herrn Rhys herein. Ihr anderen, helft mir, Bruder Benedict in seine Zelle zu bringen.« Derweilen sich im Nachbarraum die Geräusche allmählich entfernten und mit der Zeit verstummten,
richtete sich Camber mit steifen Gliedmaßen auf und äußerte einen beschwerlichen Seufzer. »Wie lange?« fragte er geflüstert. »Vielleicht einer Stunde Viertel.« Rhys stemmte sich empor vom Kniestuhl, während er noch einmal durchs Gitter zu spähen versuchte. »Ein schwieriges Ding war's, ihm das Bewußtsein zu nehmen. Doch nun müßte ich dazu imstande sein, gründlich dieses Mannes Wesen zu erforschen, bevor ich ihn wieder auf die Beine stelle. Dies dürfte unsere einzige Gelegenheit bleiben.« »Zumindest dürfte es uns diesmal gelingen, einen Einblick ins Innere seiner Natur zu erhalten«, stimmte ihm Camber zu. »Wenn wir...« Er unterbrach sich und hustete, bevor jemand die Tür aufriß, und als Bruder Phineas das Haupt in die Kammer steckte, glättete er harmlos seine Kutte. »Herr Rhys?« »Darf mich Bruder Kyriell begleiten? Wir haben schon oft miteinander zum Wohle Kranker gewirkt.« »Oh, ich...« »Bitte, mein Bruder, ich bin selber Mönch«, rief ihm Camber in Erinnerung. »Komm, wir dürfen keine Zeit vergeudet verrinnen lassen.« Am Abend desselben Tages saßen Camber und Rhys sich an einem kleinen Tisch in ihrer Stube in einem abgelegenen Gasthaus gegenüber, zwischen sich eine entzündete Kerze, zu beiden Seiten die Hände in lokkerer Berührung. Nach ihrer Ankunft hatten sie drunten in der allgemeinen Gaststube hastig ein Mahl verzehrt und sich unterdessen wieder von ihrem erneuten Ritt durch die Winterlandschaft erwärmt, da-
nach jedoch sogleich ihr Gemach aufgesucht. Die vergangene halbe Stunde hatten sie in tiefer Trance verbracht, in welchselbigem Zustand Rhys die wenigen Einsichten, zu denen er durch seine kurze Erkundung von Cinhils Seele gelangt war, an Camber weitergab; die gewonnenen Eindrücke ließen sich vom einen zum anderen Geist leichter übermitteln als durchs gesprochene Wort. Cinhil. Nun konnten sie den Namen freimütig gebrauchen. Camber war von beiden der erste, welcher sich wieder regte, und er lehnte sich im Stuhl zurück und seufzte, als er die Verbindung abbrach; er schüttelte seine Finger, um den Blutumlauf zu beleben. Rhys' Lider zuckten, dann tat er einen tiefen Atemzug, danach noch einen und auch einen dritten, um die Nachwirkungen der Trance aus seinem Bewußtsein zu vertreiben. Camber unterdrückte ein Gähnen, indessen er ihnen erwärmtes Bier einschenkte. »Naturgemäß war Eure Einblicknahme recht oberflächlich, Freund Rhys, wie's sich halt unter den Umständen nicht ändern ließ. Doch dessen ungeachtet muß ich zugestehen, daß ich mich beeindruckt fühle.« Rhys rieb sich die Augen und zwang sie, ihren Blick auf den Älteren zu richten, wie es sich ziemte. »Ja, so ist's. Er besitzt einen fürwahr erleuchteten Geist, doch selbstverständlich kaum entwickelt. Aber...« Er stieß müde einen schweren Seufzer der Enttäuschung aus. »Verdammnis, warum muß er eine wahrhaftige Berufung zur Priesterschaft haben? Das verzwickt die Lage ungemein.« »Dieser Mann muß vor sich selbst wahrhaftig sein, andernfalls wäre er kein wahrhaftiger Haldane.« Camber lächelte. »Cinhil ist Priester, weil er dazu die
Berufung verspürt, und er ist ein guter Priester. Unter den ihm vorgegebenen Verhältnissen konnte er in keinem anderen Stande gedeihen.« »Das möchte wohl Joram begreifen«, sagte Rhys gereizt, »mir dagegen ist's unmöglich. Doch sei's drum, die Frage, die sich uns stellt, lautet ja: Wird er seine Berufung um einer Krone willen opfern? Es besteht wohl darüber Klarheit, will ich meinen, daß er – zumal, läßt man ihm die gehörigen Lehren zukommen – die Befähigung zum Herrscher hat. Aber wird er zum Herrschen den Willen aufbringen? Was wird für ihn an erster Stelle stehen? Die Pflicht, welche ihm seine Gelübde auferlegen, oder die Verpflichtung, die von seiner hohen Abstammung herrührt? Er wird vor einer, ach!, in ungeheuerlichem Maße schweren Wahl stehen. Und da fällt mir ein, dürfen wir ihm denn überhaupt die Wahl belassen?« »Seine Schwüre zu vergessen und eine Krone zu tragen?« Camber seufzte. »Ein Weib zu nehmen, Erben zu zeugen, die Macht eines Herrschergeschlechts von neuem zu festigen... Taten, die für die meisten Männer eine freudenvolle Aufgabenstellung wären. Für Cinhil allerdings wird's nie und nimmer so sein. Er ist für alle Zeit Priester, will's mich leider, leider dünken. Und gelingt's uns auch, ihm die Entscheidung aufzunötigen, seine Mönchskutte abzustreifen, wieder durch die Welt zu wandeln, eine Gemahlin zu nehmen, die Krone seiner Ahnen zu tragen – und das müssen wir, das ist mir nunmehr klar –, ich vermute, er wird niemals wieder ein wirklich glücklicher Mann sein. Ja, wir dürfen ihm, solange die Gefahr besteht, daß er sich weigert, die Wahl in Wahrheit gar nicht überlassen. Cinhil Haldane muß König werden.«
»Ja...« Rhys stützte sich mit den Ellbogen auf die Tischplatte und legte das Haupt zwischen die Hände, offenbar in bedrückter Stimmung. Camber schwieg für ein merkliches Weilchen. »Ihr seid«, wandte er sich letztendlich erneut an den Heiler, »davon nicht zur Gänze überzeugt, habe ich recht?« Matt nickte Rhys. »Wir wissen so wenig von ihm, Herr Graf. Was soll werden, erliegen wir einem Irrtum?« »Das ist wiederum meine Angelegenheit, dafür Sorge zu tragen, daß er sich bewährt.« Gedämpft lachte Camber. »Ihr und Joram seid dagegen diejenigen, welche als Kreuzritter wider die Tyrannis in den Streit ziehen müssen, den bösen König verderben und dem wahren Thronerben die Krone erringen.« Seiner Müdigkeit zum Trotze lächelte Rhys, doch als er den Blick erneut zu Camber hob, drückte seine Miene wieder Ernst aus. »Ich weiß es wohl. Und natürlich, Ihr habt recht. Cinhils Anlagen sind bei weitem zu günstig und stark, als daß man vom Versuch einer Restauration Abstand nehmen könnte. Doch der Preis...« »Er wird hoch sein für alle Beteiligten.« Camber nickte. »Die hingerichteten Bauern werden durchaus nicht die letzten Toten in diesem Widerstreit bleiben. Und was Cinhil angeht... selbst wenn wir ihn von Sankt Foillan rausholen können, stehen wir unverändert vor der Schwierigkeit, ihn davon zu überzeugen, daß er, nur er allein, dem Umsturz den Erfolg zu gewährleisten vermag. Ich zaudere, mir bloß darüber Gedanken zu machen, welchen Preis diese Einsicht dem innersten Wesen des Mannes abfordern muß.«
Rhys wußte darauf, während er sich zur Nachtruhe vorbereitete, zur Zustimmung nur zu nicken. Doch an diesem Abend kam der Schlaf schwer, all der Zerschlagenheit des Leibes und der geistigen Ermattung zum Trotze, welchselbige die Anstrengungen des Tages verursacht hatten. Lange nachdem Cambers Atemzüge ihm bezeugten, daß der Graf schlief, lag Rhys noch wach und starrte empor an des Mietzimmers Decke, lauschte auf den nächtlichen Lärm aus des Hauses Gaststube, den Winterwind, der draußen um die Läden fegte. Beständig gedachte er jener innersten Bestandteile von Cinhils Geist, die er nicht zu erreichen vermocht hatte, die hinter starken Abschirmungen verborgen lagen, wie er sie bei einem Menschen eigentlich nicht vorzufinden erwartete; und die er aus Sorge um eine etwaige Entdeckung nicht anzutasten gewagt hatte. Er fragte sich, ob und wieviel Cinhil von seiner wahren Herkunft wissen mochte. Und er stellte sich auch die Frage, ob es Cinhil bereits jemals eingefallen sein mochte, daß man ihn eines Tages auffordern könne, sein Haldane-Erbe anzutreten und sich der Krone Gwynedds zu bemächtigen.
8 Die Wut ist grimmig, übergroß der Zorn, doch wer kann vor der Eifersucht bestehen? Sprüche 27,4 Im Gestechhof der Königlichen Waffenkammer zu Valoret hieb Imre von Festil unter der scharfäugigen Obacht eines Waffenmeisters mit stumpfer Klinge auf eine Lederpuppe ein. Von des Hofes Rand aus sahen ungefähr zwei Dutzend seiner Gefolgsleute zu und riefen bisweilen Worte des Zuspruchs und der Ratgebung. Alle übrigen Waffenübungen waren allerdings eingestellt worden, als der König den Hof betrat. In Anbetracht der Launenhaftigkeit, welcher Imres Gunst und Neigung unterlagen, mochten nur wenige Männer in bezug auf ihre Absichten die Gefahr eines Mißverständnisses eingehen. Imre fühlte sich nämlich durch blanken Stahl in seiner Gegenwart in übertriebenem Ausmaß beunruhigt, selbst wenn selbiger sich in den Fäusten von Männern befand, die allgemein bekannt waren als Königstreue. Nur wenigen Männern gestattete er diese Mannesfreiheit – Armagh und Selkirk, seinen obersten Waffenmeistern, und einer Handvoll anderer. Gegen den König eine Klinge zu erheben, konnte nämlich der König jederzeit als Hochverrat auffassen, war er nur übelwillig genug, es zu wollen – und sah auch der des Verrats Beschuldigte darin tausendmal nichts als eine Waffenübung.
Jederzeit gingen Übungsgegner des Königs das Wagnis ein, sich des Königs Leibwächter auf den Hals zu holen, von welchselbigen auch diesmal zwei mit auf peinliche Weise hochgespieltem Gleichmut am Tor zum Gestechhof herumlungerten, unweigerlich in des Königs Rufweite. Solche Nebensächlichkeiten verliehen Imres Waffenübungen stets eine gewisse Gezwungenheit. Zu dieser Mißlichkeit trug auch Imres teilweise mangelhafte Eignung zum Kriegshandwerk nicht wenig bei. Sein schmächtiger Wuchs und die lasche Erziehung, die ihm zuteil geworden war, hatten ihn beileibe nicht dazu vorgebildet, um aus ihm einen Schwertkämpfer zu machen, und überdies zählte diese Fertigkeit auch nicht so recht zu Imres Begabungen. Seine Waffenmeister beurteilten ihn als lediglich umgangsfähig mit Kriegsschwert und Schild, doch hatten sie's schon vor geraumer Zeit aus Verzweiflung aufgegeben, ihm mit einem Mindestmaß an Sicherheit die Handhabung eines Bidenhänders oder einer Lanze beizubringen. Doch bedeutete selbiger Sachverhalt keineswegs zwangsläufig, daß man den König in seiner Geschicklichkeit unterschätzen durfte. Sein anscheinmäßiger Grad des Fechtvermögens verleitete sehr oft zur Selbsttäuschung. Mehr als ein Übungsgegner hatte einen Fehler begangen und Imres Klinge einen plötzlichen Streich von verhängnisvoller Art ermöglicht. Obschon sich seine Leibwächter stets in Reichweite aufhielten, war es klar – zumindest jenen, die zur Genüge Bescheid wußten –, daß der König nicht unbedingt anderer Männer Stahl bedurfte, um sich etwaiger Meuchler zu erwehren. Wahrhaftig war Imres bevorzugte Waffe keineswegs das ehrbare Schwert, sondern vielmehr der feinge-
spürigere Dolch. In dessen gefahrvoller Anwendung, so mußten selbst seine Lehrmeister eingestehen, gab's nur wenige, die dem König sich überlegen nennen durften. Armagh, derselbe Waffenmeister, der gegenwärtig Imres Schwertführung wider die schon erwähnte Lederpuppe beobachtete, die sich nicht zu erwehren vermochte, besaß an seinem Unterarm eine lange, aufgetriebene Narbe; unveräußerliche Mahnung an jenen Augenblick, da er sich in der Waffenübung mit dem König eine Nachlässigkeit erlaubte. Imre wandte der Lederpuppe den Rücken zu, nachdem er daran seine Übungen beendet hatte, und grüßte mit dem Schwert den zuständigen Lehrmeister; darauf strebte er in des Gestechhofs Mitte und befestigte seine gelockerte Armschiene. Meister Selkirk, der sich mittlerweile an des Übungsplatzes Umgrenzung gewappnet hatte, faßte dies als sein Zeichen zum Einsatz auf und betrat das Feld, in ansehnlicher Weise durch dickes Leder, Kettenhemd und einen wuchtigen Topfhelm geschützt. Er beugte vorm König das Knie und hob ihm das Schwert, dessen Klinge stumpf war, mit dem Griff aufwärts entgegen, wie's der Brauch gebot, trachtete jemand, und geschah's ausschließlich zu spielerischem Zwecke, nach einem Waffengang mit der Krone. Imre lachte gedämpft unter seinem Helm und rührte mit der eigenen Klinge, um sein Einverständnis zu bekunden, leicht an Selkirks Helm, dann grüßte er seine Gefolgsleute, als sie ihm ein unregelmäßiges Händeklatschen zukommen ließen, mit einem Wirbeln des Schwertes. Gleich darauf umkreisten er und Selkirk sich in höchster Wachsamkeit und Anspannung, und jeder suchte den besten Ersthieb anzubringen. Als
Selkirk und der König ihren Schlagabtausch begannen, nahmen die Gefolgsleute ihre leise Unterhaltung von neuem auf. Unter den Vertrauten Imres, die an diesem Morgen auf den König warteten, befand sich auch Cathan MacRorie. Seit vielen Wochen war dies sein erstes Erscheinen im inneren Kreise des Hofes. Obwohl er nach seiner Rückkehr im Anschluß ans Ende der Hinrichtungen pflichtgemäß stets am Hof gegenwärtig gewesen war, hatte der König nicht geruht, ihn in seine königliche Nähe zu rufen. Vielmehr hatte sich Imre bis zum Vortage mit übertriebener Offensichtlichkeit der lächerlichsten Umwege befleißigt, um einer Begegnung mit seinem vormaligen Günstling auszuweichen. Heute jedoch war alles wieder anders. Wie üblich nahm Cathan in der Königskapelle an des Hofes Morgenandacht teil, durchaus in der Erwartung, auch am heutigen Tage wieder mit des Königs Verachtung gestraft zu werden, ganz so wie in den drei vergangenen Wochen. Doch als der König von seinem Beichtvater kam, eilte er geradewegs hinüber zu Cathan und umarmte ihn mit allerstärkster Herzlichkeit, erklärte seinen Kummer darüber, seinen Freund für so viele Wochen verunglimpft zu haben. Er hätte begriffen, so äußerte Imre, daß Cathans Einstellung bezüglich der hingerichteten Geiseln allein dem Pflichtgefühl gegenüber seinem Vater entsprungen wäre, keineswegs aber einer Trotzhaltung wider den König und Freund. Und er, Imre, habe falsch daran getan, seinen guten und getreuen Cathan dafür von seiner königlichen Gegenwart auszuschließen, weil er gehandelt hatte, wie ein anständiger Sohn seines Vaters es müsse. Ob Cathan ihm jemals verzeihen könne? Cathan konnte es. In-
folge des offenen Versöhnungsauftritts des Königs höchst bestürzt, peinlich berührt, jedoch auch geschmeichelt, beteuerte Cathan seine entschiedenste Bereitschaft, die Freundschaft zum König zu erneuern; denn trotz Imres Mängel war Cathan ihm ergeben. Die Aufforderung, Imre auf den Gestechhof zu begleiten, empfand er als deutlichen Beweis für des Königs Verzeihung. Daher stand nun Cathan am Ehrenplatz neben dem Königlichen Knappen und hielt in seinen Händen des Königs Krug und Schweißtuch. Er lächelte und nickte beifällig, als Imre erfolgreich einen besonders anspruchsvollen Angriff gegen Selkirk bewältigte und herüberschaute. Hinter ihm spendeten Jamie Drummond und Guaire d'Arliss höflich Beifall; ihre Mienen verrieten nichts von ihren Befürchtungen, welche die Ereignisse des heutigen Morgens in ihnen ausgelöst hatten. Cathan war in seiner höchsten Freude bereits dazu übergegangen, die grimmigen Blicke, die man ihm von des Übungsgevierts anderer Seite zuwarf, gänzlich zu mißachten. Mehrheitlich stammten diese Blicke von Coel Howell, der in dumpfem Mißmut bei Maldred und Santare stand, den beiden Feldherren der Krone. Coel war's, der im Laufe der vergangenen Wochen beim König Cathans Stelle eingenommen hatte, und nun, sollte Cathan die königliche Gunst zurückgewinnen, wieder verdrängt zu werden befürchten mußte. Nach einem Weilchen rief Coel, während Imre und Selkirk noch fochten, seinen Knappen und begann sich mit Panzerhandschuhen, einer schulterweiten Helmbrünne und einem Helm zu rüsten. Er äußerte eine in der Entfernung nicht verständliche Bemerkung, die seine Begleiter, indem sie Cathan ansahen, zu einem
unterdrückten Gelächter der Gehässigkeit veranlaßte. Die beiden Kampfer auf dem Feld ließen in ihren Anstrengungen langsam nach, als Coel sich ihnen mit Schwert und Tratsche nahte, und stellten den Waffengang schließlich ein. »Sire«, sprach er Imre an, »ich gedenke Meister Selkirks Geschicklichkeit beileibe nicht in Zweifel zu ziehen, aber ich habe den Eindruck, er ist heute etwas müde und vermag Euch nicht den Schwung und die Herausforderung zu bieten, wonach Ihr begehrt. Zwar bin ich für Eure Hoheit schwerlich ein Gegner, doch wäre es mir eine Ehre, Euer Gnaden zu lebhafterer Waffenübung zu verhelfen.« »Wohlan, Freund Coel.« Der König lächelte breit und entließ Selkirk mit einem Wink des Schwertes. »Kommt und haltet, was Ihr versprecht!« Coel vollführte die gebräuchliche Verbeugung, womit man um den Waffengang zu ersuchen pflegte, und schon fingen die beiden Männer zu fechten an. Cathans Mund verhärtete seinen Ausdruck, während er zuschaute; er war sich darüber im unklaren, was er von seines Schwagers Vorgehen halten sollte. Coel war um mehr als zehn Jahre älter als der König und besaß ein beträchtlich höheres Körpergewicht als Imre; eine Tatsache, die ihn gegenüber dem kleinwüchsigen, leichtgewichtigen König in einen entschiedenen Vorteil versetzte. Imre war als Schwertkämpfer behend und schnell; daran gab es keinen Zweifel. Und seine Fertigkeit war auf feste Grundlagen gebaut; die besten Schwertkämpfer des Reiches waren zur einen oder anderen Zeit seine Lehrmeister gewesen. Überdies hatte Cathan ihn noch nie in besserer Verfassung und Leistungsfähigkeit denn heute gesehen. Aber es ließ
sich nicht im entferntesten daran rütteln, daß Coel der bessere Fechter war, wenngleich er seine Fähigkeiten selten zu einem öffentlichen Schauspiel gebrauchte. Dennoch verzögerte er nun seine Schläge, wann immer er's unauffällig zu tun vermochte. Cathans Lippen preßten sich zu einem schmalen, festen Strang zusammen, als er Coels Treiben begriff. Es handelte sich um ein rechtes Schelmenstück, wie man's von Coel erwarten durfte. Indem er seine Schnelligkeit in ganz geringem Maße herabsetzte, absichtlich Vorstöße mißverstand, vorsätzlich auf Finten hereinfiel, konnte er Imre überlegen wirken lassen, des Königs Eitelkeit schmeicheln, die so sehr nach Verherrlichung schmachtete. Cathan beobachtete, wie Imre auf dem zertrampelten Untergrund ausglitt, sich im letzten Moment fing und zurücktrat, um sich mit dem geschienten Waffenarm den Helm zurechtzurücken; dann trat er von neuem an. Beim neuerlichen Schlagabtausch ersah Cathan, daß Coel mit seinem Übungsgegner spielte, ihn in Gegenrichtung lenkte; daraufhin schien die Sonne Coel in die Augen, so daß seine Streiche fortan noch unsicherer fielen. Cathan runzelte die Stirn, denn er vermochte nicht den weiterreichenden Plan hinter der Absicht, welche Coel nach allem Anschein verfolgte, zu erkennen. Doch in der Tat war Coels Verhalten Bestandteil und Teilstück eines höheren Planes. Eine scheinbar zufällig leicht rechtslastige Abwehr ließ einen Blitz aus Sonnenlicht auf Coels Helm niederfahren – nicht dagegen Imres –, herabgespiegelt aus einem Fenster mit Bleiverglasung in des Herrschers Rücken. Angesichts der blendenden Helle tat Coel einen Fehltritt und schwankte, ließ für einen
Augenblick den Schild sinken, und prompt nutzte Imre diese Blöße sofort zum Vorteil. Seine stumpfe Klinge sauste in Schulterhöhe in wuchtigem Streich an die Seite von Coels Helm und erzeugte einen Klirrlaut, der weithin über den ganzen Gestechhof hallte. Coel taumelte unter dem Hieb. Er spielte das Spiel unverdrossen bis zum entsprechenden Ende – denn beim Gebrauch entsprechend scharfer Waffen wäre er nun mausetot gewesen – und torkelte ein bißchen länger als nötig, ließ sein Schwert seiner Faust entfallen und sich dann selbst geräuschvoll und mit aufwendigem Gebärdenreichtum der Länge nach auf den Grund hinstürzen. Imres Höflinge klatschten wohlerzogen in die Hände, als der König den Helm vom Haupte nahm und Coel eine Hand entgegenstreckte, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. »Wohl gestritten!« Der König lachte und hielt hilfreich des Älteren Handgelenk umklammert, während sich Coel aufraffte. »Ich könnte beschwören, daß Ihr mich ums Haar in die Enge gedrängt hättet. Welch ein Pech, daß Euch der Sonnenschein so glücklos blendete!« »O nein, die Ursache meiner Niederlage war Eure Waffenfertigkeit, Sire«, widersprach Coel und lächelte, als er die Tratsche seinem herbeigeeilten Knappen reichte. »Ich habe heute recht gut gekämpft, aber Ihr werdet ein immer gewaltigerer Widerstreiter! Der Beste siegte – das war's.« Er nahm sich den Helm ab, entledigte sich der Armschienen und übergab die Gegenstände einem diensteifrigen Pagen. Imre lächelte in hocherfreuter Selbstgefälligkeit und hob eine Hand, um Cathan herbeizuwinken. Während Cathan der Aufforderung nachkam, zwang er sich mit größ-
ter Selbstbeherrschung zur Mißachtung des von unverschämter Frechheit gekennzeichneten Blickes, den ihm hinter des Königs Rücken Coel widmete. Imre ließ sich das Schweißtuch reichen und betupfte sich das von Staub und Schweiß schmutzige Antlitz. Dann ergriff er den Krug, während er das Tuch zum Gebrauch an Coel weitergab, und trank damit Cathan zu. »Auf deinen hervorragenden Schwager«, rief er, warf das Haupt in den Nacken und trank mit sichtlichem Durst. Danach händigte er auch den Krug mit dem darin verbliebenen Rest Coel aus, worauf selbiger ihn mit mutwilliger Genüßlichkeit leerte. Dann wandte der König sich zum Gehen, einen Arm ausgestreckt, um Coel mit sich fortzuführen. Er sah nicht den Ausdruck von Coels Miene, als Coel den leeren Krug Cathan aufdrängte und ihm das befleckte Schweißtuch über den Arm warf; auch vernahm er nicht das Lachen von Coels Freunden, als sich Cathans Antlitz aufgrund dieser schmählichen Beleidigung dunkelrot verfärbte. Cathan verharrte reglos, bis die beiden Männer sich außer Sicht befanden, dann stopfte er das Schweißtuch mit einer Geste der Gekränktheit und des Abscheus in den Krug, gab letzteren Imres Pagen und stapfte in entgegengesetzter Richtung davon, um seinen verletzten Stolz in aller Ruhe wieder zu stärken. Anscheinend hatte Coel bei Imre einen nachhaltigeren Einfluß gewonnen, als er's sich im Traume gedacht hätte. Und offenbar hatte der König ihm auch noch nicht völlig verziehen. Später verweilte Imre im Königlichen Bad träge im mehrere Fuß tief in des Bades Fußboden eingelasse-
nen, von Dampfschwaden umwallten Becken. Das Wasser war duftig mit milden Kräutern und Spezereien angereichert, und der Dampf, der von der Wasseroberfläche emporstieg, wälzte sich droben in wolkig gemächlichen Wirbeln durch die kühlere Luft. Imre lag rücklings im Wasser, das Haupt auf den Beckenrand gestützt, die Augen geschlossen; der Rest seiner Gestalt befand sich gänzlich unterhalb des Wasserspiegels. Coel hatte sein Rüstzeug abgelegt und sich nachlässigen Waschungen unterzogen, ehe er die fürs Bad zuständigen Diener hinausschickte; nun kam er mit einem frischen Badetuch, das er aus einem Schrank an des Raumes anderem Ende geholt hatte, und kauerte sich beim König, der im Wasser döste, auf die Fersen. Seine Miene bezeugte keine Gemütsregung, doch seine Stimme verriet innere Anspannung. »Fühlt Ihr Euch wohl, Sire?« Imre öffnete widerwillig ein Auge und spähte zu Coel auf. »Was gibt's? Ihr seid so ruhelos wie eine Henne, die ihre Küken vermißt. Was soll's bedeuten?« Coel schob einen Schemel näher ans Becken, setzte sich und legte das für Imre bestimmte Badetuch über seinen Schoß. »Sire es mag dies nichts sein, das mich angeht – und seid Ihr dieser Meinung, so braucht Ihr's nur zu sagen, und ich werde darüber kein Wort mehr äußern –, aber ich überlege, ob Ihr, wie's den Anschein hat, Cathan wieder in Euer Vertrauen zu nehmen gedenkt.« »Ihr seid der Ansicht, ich sollte es nicht tun?« Coel hob eine vornehm geschwungene Braue. »Nun, ich sollte vielleicht nicht so von meinem eigenen Verwandten sprechen, aber ich bin nicht länger
uneingeschränkt von seiner Verläßlichkeit überzeugt, Sire. Seit er im vergangenen Monde wiederkam, nach dem Abschluß der Hinrichtungen, hat er sich verändert. Er ist übellaunig geworden, auch ein wenig verschlossen. Und dann ist da dies Gerede über ihn und Rannulf.« »Was für ein Gerede?« lautete des Königs gelangweilt geäußerte Frage. »Na, daß er womöglich mehr über den Mord an Rannulf weiß, als er verlauten läßt... daß er weiß, wer die Tat beging.« »Was?« Imre schwang sich mit einem Ruck kerzengerade aus dem Wasser empor; dann besann er sich und kauerte sich unterhalb des Beckenrandes ins warme Wasser. »Wer hat Euch so etwas erzählt? Das ist ja lachhaft!« Coels Antlitz nahm einen Ausdruck der Kränkung an. »Ist's das, Sire? Cathan hat Rannulf niemals ausstehen können. Er mißbilligte seine Lebensweise und seine Art des Umgangs mit den Landleuten seines Lehens. Soviel ich weiß, trieb er Rannulf sogar einmal nachgerade gewaltsam von seines Vaters Stammburg, noch unter Eures Herrn Vaters Herrschaftszeit, Gott habe ihn selig, während Graf Camber in der Hauptstadt weilte.« Mit ungeduldiger, gereizter Miene schob Imre seine Unterlippe nach vorn. »Das bedeutet ja beileibe nicht, daß er Rannulf auch ermordet hat.« »Ich habe auch keineswegs behauptet, es sei sein Werk gewesen, Sire«, versicherte Coel den König eilig seiner Zustimmung. »Ich sagte lediglich, daß es darüber Gerede gibt, er wisse, wer's tat, daß er möglicherweise den wahrhaftigen Mörder in Schutz hält.
Wir sind uns einigermaßen darin sicher, Sire, daß die wirklichen Schandtäter die Willimiten waren, seid dessen eingedenk.« »Dann sollte Cathan Umgang mit Willimiten pflegen? Er kennt sie und weiß, wer sie sind?« Coel zuckte die Achseln. »Darauf vermag ich keine Auskunft zu erteilen, Sire. Ich habe nur wiederholt, was ich da und dort vernahm. Doch täte ich, wäre ich an Eurer Stelle, meine insgeheimen Gedanken für mich behalten, es sei denn, Ihr wäret von Cathans Unschuld in dieser Sache restlos und vollständig überzeugt. Ihr wißt, welche Haltung Cathans Vater zu Euch einnimmt. Und sein Bruder Joram ist Geistlicher im Orden des Heiligen Michael, und denselben Orden kann man nicht als Euch freundschaftlich gesonnen betrachten. Und sollten diese Kräfte sich miteinander verbünden, um zu Eurem Schaden und Verderben zu wirken...« In unheilvoller Einflüsterung ließ er seine Stimme verklingen, und Imres Lider verengten sich. Coel konnte eindeutig erkennen, daß sich Imres Gedankengänge in die von ihm erwünschte Richtung entwickelten, daß der König den Köder geschluckt hatte. Urplötzlich setzte sich Imre im Becken auf und erhob sich aus dem Wasser. »Merkt Euch wohl, ich glaube nichts von alledem, was Ihr da sprecht«, äußerte der König zu Coel, indem er sich ins Badetuch hüllte und aus dem Becken stieg, »aber man kann gar nicht genügend Vorsicht walten lassen. Schickt meine Kämmerer herein und bringt Graf Maldred in mein Arbeitszimmer. Sollte tatsächlich eine Schurkerei im Ausbrüten begriffen sein, so will ich's frühzeitig wissen, und zwar ohne
Cathans Argwohn zu erregen. Und nun sputet Euch, es friert Euren Herrn und König, muß er hier dergestalt ausharren!« Es geschah später am Nachmittage desselben Tages, daß Joram und Rhys zu Valoret eintrafen und unverzüglich Cathans nahe gelegenes Herrenhaus Tal Traeth aufsuchten. Da Camber und Rhys anläßlich ihres Besuchs in St. Foillan die Gewißheit erlangt hatten, daß dort Prinz Cinhil lebte, waren Camber, Joram, Rhys und Evaine im Ablauf der beiden vergangenen Wochen vollauf damit beschäftigt gewesen, über die günstigsten Mittel und Wege des Herangehens an diesen schwierigen Sachverhalt, die besten Möglichkeiten des Handelns in der gegebenen Lage zu beraten, erste Pläne zu schmieden. Bei einer überaus spannungsvollen Zusammenkunft mit Jorams Generalvikar Cullen waren die Michaeliten mit aller Umsicht in die Erwägungen eingeweiht worden; Camber und Cullen legten bereits der Michaeliten Rolle im Gesamtvorgehen fest. Damit war's Joram und Rhys zugefallen, zu prüfen, wie Cathans Lage war, und zu entscheiden, wieviel man ihm anvertrauen durfte, falls überhaupt ein Sterbenswörtchen, bevor man zur Tat schritt; letzteres sollte in der Woche vorm Weihnachtsfest geschehen. Sollte Cathan trotz der im Monde zuvor erlittenen Schrecken und Erschütterungen noch in seinem Denken und Handeln zuverlässig sein, dann konnte er ihnen möglicherweise höchst nützliche Hilfe erweisen. Ergaben sich daran jedoch Zweifel, so mußten sie ihr Vorhaben schlichtweg ohne sein Wissen und seine Mitwirkung vorantreiben und sich darauf verlassen, daß die
Umstände ihn in Sicherheit zu bringen erlaubten, sobald sich Cinhil bereit erklärt hatte, den Griff nach der Krone zu tun, die ihm zustand. Bis auf weiteres war ihre größte Stärke die Überraschung, lag ihr ganzer Vorteil darin, von ihren Absichten nicht ein einziges Wort an die königlichen Ohren dringen zu lassen. Fehler waren nicht statthaft, denn eine zweite Gelegenheit würde sich nie und nimmer einstellen. Falls Cinhil ohne viel Aufhebens den Tod fand, gab es keinen weiteren Haldane-Erben. Im Bogengang hieß sie Wulpher willkommen, der Kämmerer, und setzte sie davon in Kenntnis, daß Herr Cathan sich sogleich zu ihnen in den Sonnensaal gesellen werde. Der Novembertag war recht frisch, weshalb es im Sonnensaal reichlich kühl war; doch auf dem Dach darunter ruhte warmer Sonnenschein. Wirklich fand sich Cathan ein kurzes Weilchen später ein, kaum daß sie die ledernen Reitmäntel von den Schultern gestreift hatten. Sie wandten sich ihm zu und lächelten ihm entgegen, als Cathan die Dachterrasse betrat. Wie schon beim letzten Male, da sie ihn sahen, als er einen Mond zuvor wieder Caerrorie verließ, war Cathan bleich und wirkte verhärmt, obwohl seine Wangen rote Flecken wie von kürzlicher Erregung aufwiesen. In einer Hand trug er eines Kindes Spielball, und während er näher kam, fiel plötzlich sein Blick darauf; er hob auf eine Weise die Schultern, die Nachsicht erbat. »Ich habe mit den Kindern im Garten gespielt«, erklärte er mißbehaglich. »Leider habe ich sie für geraume Zeit stark vernachlässigen müssen.« »Es ist gut, daß du einen so milden Tag zu ihren Gunsten zu nutzen verstehst.« Joram lächelte. »Und
wie befinden sich meine zwei Bengel von Neffen?« »Wohl ergeht's ihnen.« Unwillkürlich erwiderte Cathan der Ankömmlinge Lächeln, dann warf er den Ball in eine Ecke und winkte den beiden Männern, daß sie sich niederlassen möchten. Er zog einen Holzstuhl näher zur Bank, worauf sie unterdessen Platz nahmen, und setzte sich rittlings darauf. »Revan verbringt allerdings auch viel Zeit mit ihnen«, fügte er hinzu, und der Schatten von Schmerz glitt über sein Antlitz. »Er vermag mit jungen Knäblein gut umzuspringen.« Während er seinen Blick auf den Fußboden senkte, wechselten Joram und Rhys Blicke der Besorgnis. »Wäre es nicht klüger, du schicktest Revan heim zu Vater?« erkundigte sich Joram mit leiser Stimme. »Da dich anscheinend sein Anblick jedesmal an jene Qual erinnert, schon jeder Gedanke...« »Nein«, entgegnete Cathan leise, aber mit fester Stimme. »Revan bleibt in meiner Obhut. Er verkörpert für mich das einzige Gute, das nach jenen furchtbaren Wochen verblieb, und das ist's, woran ich erinnert werden muß... daß sich aus meinen Bemühungen auch etwas Gutes ergab. Andernfalls, so glaube ich, müßte ich meinen Verstand verlieren.« »Aber...« »Ich wünsche darüber kein Streitgespräch!« Er vollführte auf dem Stuhl eine Drehung und kehrte ihnen den Rücken zu. Sie sahen ihn um Beherrschung ringen, dann drehte er sich langsam wieder ihnen zu, wich jedoch ihren Blicken aus. »Aber ihr seid zweifelsohne auch nicht hier, um mit mir über so etwas zu sprechen. Was bringt euch so kurz vor der Weihnachtszeit nach Valoret? Ich hatte nicht erwartet, daß
ich euch wiedersähe, bevor ich zum Fest auf Caerrorie weile.« »Oh, ich hatte hier im Namen des Ordens einen Auftrag zu erledigen«, log Joram glattzüngig, »und da kam mir der Gedanke, doch flugs, gleichsam im Vorübergehen, unseren künftigen Schwager zu besuchen.« Er wies auf Rhys. »Und zusammen beschlossen wir, einmal zu sehen, wie's mit dir steht. Wie ist's bei Hofe?« Cathan blickte auf, einen Moment lang sichtlich von Entsetzen geschüttelt, dann richtete er seine Aufmerksamkeit krampfhaft auf seine zwischen den Knien gefalteten Hände. »Gespannte Lage, Unvorhersehbarkeiten, zum Verzweifeln, brüchige Verhältnisse.« »Wenn du's vorziehst, darüber zu schweigen...« »Nein, ich glaube sogar, es ist besser, ich rede davon. Bis zum heutigen Tage war's eigentlich recht gleich... ich meine, gleichmäßig verdrießlich. Imre beliebte mich zu mißachten, er benahm sich ganz so, als gäbe es mich nicht. Aber heute in der Frühe, nach seiner Beichte, kam er noch vorm Gottesdienst zu mir und umarmte mich wie einen Bruder. Er versicherte, er sei zur Auffassung gelangt, mir unrecht getan zu haben, es wäre ja meine Sohnespflicht gewesen, für die Dörfler zu bitten. Da glaubte ich, er hätte mir verziehen. Er lud mich sogar ein, ich möge seinen Waffenübungen im Gestechhof zuschauen.« »War's das denn nicht, wonach du verlangtest, seine Verzeihung?« Cathan stieß einen Seufzer aus. »Ich weiß es nicht. Ich vermute, ja. Aber sobald wir im Gestechhof waren, wandte sich alles wieder zum Üblen. Coel
drängte sich Imre auf, wie er's stets beginnt, und ließ Imre in einem Waffengang obsiegen... und ihr wißt selbst, was für ein schlechter Schwertfechter Imre ist, vergleicht man ihn mit Coel. Aber es gelang Coel wahrhaftig, eine ehrliche Niederlage vorzutäuschen... oder wenigstens schaffte er es, Imre davon zu überzeugen. Und als Imre den Hof verließ, nahm er Coel mit ins Bad, nicht mich. Und Coel ließ mich mit Imres leerem Krug und beschmutztem Schweißtuch stehen, so daß sich hinter meinem Rücken der Hof ins Fäustchen lachte.« »Ist das nicht allzu offenkundig, selbst für Coels Begriffe?« meinte Rhys nach kurzer Stille. Cathan hob in einer Gebärde der Ratlosigkeit eine Hand, dann sank er wieder auf seinem Stuhl zusammen. »Was soll ich tun, Rhys? Allmählich glaube ich, daß er mich regelrecht haßt. Sein Verhalten geht weit über gewöhnliche Eifersucht hinaus. Wir waren niemals Freunde, Gott weiß es, auch nicht, bevor ich seine Schwester Elinor zur Gemahlin nahm, aber in jüngster Zeit...« Erneut seufzte er. »Ich gemahne mich beständig daran, daß er auch gute Eigenschaften besitzen muß, da er doch Elinors Bruder ist. Aber wenn sie ihm etwas bedeutet – und bisweilen neige ich gar dazu, auch das anzuzweifeln –, so erstreckt seine Zuneigung sich keinesfalls auf den Rest unserer Familie. Er ist ungeheuer ehrgeizig, Joram. Er will Herrschaft ausüben. Und da er nicht Herrscher sein kann, möchte er wenigstens die Macht sein, die hinterm Thron steht. Wißt ihr, daß er sogar Elinors Halbschwester an den Hof gebracht hat? Ich wäre durchaus nicht überrascht, sollte er versuchen, sie an Imre zu verkuppeln.«
»Wäre das möglich?« fragte Joram. »Wer weiß? Sie ist schön, fürwahr, und hat einflußreiche Verwandte, gute Beziehungen zu etlichen Fürstenhöfen! Imre dürfte wahrscheinlich niemals bemerken, wie sehr sie Hörige ihres Bruders ist.« Cathan lächelte verzerrt. »Doch andererseits hat Prinzessin Ariella bereits von dem Moment an, da erstmals ihr Blick auf sie fiel, Melissa Howell verabscheut. Sie sieht in ihr eine zu bedrohliche Nebenbuhlerin. Sicherlich besitzt sie darüber Klarheit, daß Imre sich eines Tages vermählen muß – und sei's nur im Hinblick auf die Fortpflanzung des Herrschergeschlechtes –, doch bis dahin will sie es sein, die auf ihn Einfluß nimmt. Und dieser Umstand könnte, überlege ich's mir recht, dazu beigetragen haben, Imre wider mich einzunehmen. Ich... äh... habe mich für Ihrer Hoheit Gunst nicht sonderlich empfänglich gezeigt.« »Ich habe vom Hofe diesbezügliches Geschwätz vernommen.« Rhys lächelte boshaft. »Eine ungemein rachsüchtige Dame. Das kommt davon, daß du ein glücklich vermählter Gatte bist!« »Und da wir davon sprechen, wie geht's Elinor?« erkundigte sich Joram. »Ich wollte schwören, daß deine Elinor – nach unserer Schwester, versteht sich – die liebreizendste Dame des ganzen Reiches ist, in einem Maße entzückend, daß selbst ein Mann wie ich, möchte ich sagen, darob seine Gelübde vergessen könnte! Ist sie wohlauf?« Trotz seiner Bedrücktheit über dies Lob erfreut, brachte Cathan ein Lächeln zustande. »Freilich, es geht ihr durchaus wohl, wenngleich sie's keineswegs verdient hätte, unter den düsteren Stimmungen mit-
zuleiden, die mich in jüngerer Zeit befallen. Ich wollte, ich vermöchte dies... dies Gefühl heraufziehenden Unheils abschütteln, aber... Verdammnis, Joram, was soll ich tun? Diese unablässige Anspannung, diese Unentschiedenheit... es zerreißt mich schier!« »Ich weiß«, antwortete Joram und seufzte. Er blickte über die Stadt aus, die bis zum Horizont ausgebreitet lag, das Haupt leicht geneigt, da er einer stummen Frage Rhys' lauschte. Als er weitersprach, klang seine Stimme sehr leise. »Cathan, erinnerst du dich noch daran, wie wir während deiner Erkrankung über Imre sprachen?« »Ja.« »Wie empfindest du angesichts der heutigen Lage, nach den vergangenen Monden, nach dem heutigen Tag?« »Ich...« Cathan senkte seinen Blick, und die Worte kamen langsam und widerwillig über seine Lippen, jedes Wort entrang er der Tiefe seines Busens, während seine Stimme den Nachhall erfahrenen Schmerzes bezeugte. Anscheinmäßig entging es ihm, als Rhys' Hand allmählich nach seinem Handgelenk strebte – um seinen Pulsschlag zu prüfen, sollte Cathan fragen, doch in Wahrheit unterzog Rhys seine Gesamtverfassung einer Untersuchung, sowohl in leiblicher wie auch in geistiger Hinsicht. Falls Cathan es allerdings doch bemerkte, so zeigte er's nicht. Er sprach kaum lauter als im Flüsterton. »Ich... weiß es selbst nicht länger zu sagen. Zuvor war nimmer ein Zweifel möglich. Ich liebte ihn wie einen Bruder, so wie ich euch liebe. Wir standen einander sehr nahe. Als er tat... was er in des verflossenen Mondes Lauf tat, brachte es mich beinahe um, Joram... zu sehen,
was er jenen Menschen zufügte, was er zugleich damit uns beiden antat. Aber man wendet sich von seinem Bruder nicht ab, weil er einen Fehler beging, oder...? Auch wenn's ein Fehler mit schrecklichen Folgen ist.« Trotzig schaute er zu ihnen auf, musterte erst den einen, dann den anderen. »Ich liebe ihn noch immer, Joram. Gott helfe mir, aber so ist's! Die vergangenen Ereignisse ändern daran nichts, nicht einmal die Demütigung, die mir heute zuteil wurde. Ich... ich muß nun eben lernen, mich in der neuen Lage zurechtzufinden.« Erneut seufzte Joram, und der Laut verriet Rhys genug über Jorams Urteil; er nahm seine Hand fort. Von Cathan durften sie keinen Beistand erwarten. Rhys erhob sich ebenfalls, als Joram aufstand. »Ich fühle mit dir, Cathan«, sagte Joram leise und drückte zur Bekräftigung seines Mitgefühls seines Bruders Schulter. »Doch zumindest, so habe ich den Eindruck, vergegenwärtigst du dir die Lage mit hinreichender Nüchternheit. Ich kann's mir daher wohl ersparen, dich vor des Königs Launen zu warnen.« Cathan nickte, und Joram tat desgleichen. »Um so besser. Ach, ich wünsche mir, wir könnten länger verweilen, doch ich habe noch zuviel zu erledigen, bevor ich zurück nach Sankt Liam muß. Sei auf der Hut.« Cathan erhob sich vom Stuhl, sichtlich geplagt von plötzlicher Entfremdung und Vereinzelung. »Wann werde ich euch wiedersehen?« »Zum Weihnachtsfest, vermute ich. Ich meine, Imre wird dich doch wohl heimwärts entlassen, oder?« »Ich nehme es an, sobald er den Adventshof eingeleitet hat. Er sieht es lieber, wenn bei den Feierlichkeiten alle anwesend sind, danach jedoch habe ich
zum Bleiben keine besondere Veranlassung. Auf jeden Fall aber werden Elinor und die Buben daheim sein.« Er schüttelte die dargebotenen Hände, sie verabschiedeten sich voneinander, und schließlich hob er müde eine Hand zum Abschiedsgruß, als die beiden Männer, urplötzlich Fremden gleich, zurück in den Sonnensaal und zum Ausgang strebten. Für lange Zeit saß er allein auf der Dachterrasse, bis der kühlere Wind des Abends, der sich hurtig nahte, ihn daran gemahnte, daß es dringlich angebracht war, sich ins Haus zu begeben. Die beiden Männer, welche zu Tal Traeth die Treppe hinabstiegen, nachdem sie Cathan verlassen hatten, erlangten über ihre nächste Maßnahme Einigkeit, noch ehe sie durchs Tor des Hofes auf den Vorplatz traten. Sie hatten bereits mit Camber die Möglichkeit erwogen, daß Cathan zu ihrer Unterstützung außerstande sein könne, so daß die nun erfahrene Bestätigung ihrer Befürchtung das weitere Vorgehen nicht hinauszögerte. Sobald sie dafür gesorgt hatten, daß sie sich zur Dämmerstunde in Rhys' Haus wiedertreffen konnten, sprangen sie auf ihre Rösser und ritten auf ihre getrennten Wege. Sie bemerkten nicht die Waffenknechte, welche sie von des Vorplatzes anderer Seite aus beobachteten, und sie merkten auch nicht, daß man sie verfolgte, indem sich jedem ein einzelner Reiter anschloß. Der Mann, dem die Verfolgung Jorams zufiel, hatte einen nur kurzen Ritt, denn der Geistliche suchte lediglich die recht nahe gelegene Pfarrkirche St. Johannes auf, nicht weitab von der Walkergasse und dem
Haus eines kürzlich verschiedenen Wollzeughändlers – letzteres allerdings konnte der Krieger unmöglich ahnen. Er sah den Priester dort absteigen und ins Pfarrhaus gehen; eine Stunde später verließ er selbiges wieder mit lebhafteren Schritten als beim Betreten. Bei dieser Gelegenheit sah Joram den Bewaffneten, wie er an einer Schnalle des Zaumzeugs nestelte und die Pferdehufe besah, aber er brachte den Reiter mit nichts und niemandem in Zusammenhang; er hatte den Mann auf dem Vorplatz von Cathans Wohnsitz nicht bemerkt. Es fiel ihm auch diesmal nicht auf, daß jemand ihm in unaufdringlichem Abstand folgte, und zwar bis vor Rhys' Haus. Er rechnete ganz einfach nicht damit, daß einer von ihnen schon so bald unter Überwachung stehen könne. Für den anderen Mann gestaltete sich seine Aufgabe etwas schwieriger. Es gelang ihm, den Heiler ohne Mühe bis zur Königsburg zu verfolgen; dort sah er ihn das Königliche Archiv betreten. Doch im weiteren konnte er von seinem eilig verschafften Beobachtungsplatz vor einem Fenster nicht erspähen, was den Heiler so an den dicken Büchern interessierte, die er, als der Wart den Raum verlassen hatte, aus den Gestellen hob. Der Waffenknecht merkte sich die Stellen, woher Rhys die Bände holte, und nachdem Rhys sie dorthin zurückgeschoben und sich entfernt hatte, begab er sich selber hinein, suchte besagte Wälzer heraus und blätterte sie durch, derweil ein anderer Waffenknecht Rhys' Verfolgung vom Königlichen Archiv aus aufnahm. Aber die Bücher waren sehr alt, und des Kriegsmannes beschränkte Bildung befähigte ihn nicht dazu, sie zu lesen. Mit aus Verdruß zusammengedrückten Brauen beförderte er die Bände wieder an
ihre Plätze und machte sich auf, um seinem Herrn zu berichten. Sein Herr wartete bereits in der Gesellschaft seines Spießgesellen, der den Geistlichen überwacht hatte. Der Priester sei zur St.-Johannes-Kirche im Weberviertel geritten, gab der andere Mann Bescheid, wo er das Pfarrhaus betreten und nach einem Weilchen wieder verlassen habe. Daraufhin habe man ihm zum Haus eines gewissen Herrn Rhys Thuryn folgen können, einem Heiler. Nein, er besaß keine Vorstellung, was des Geistlichen Begehr zu St. Johannes gewesen sein möge. Er sei allein mit der Beschattung befaßt gewesen, deshalb habe er nicht zum Zwecke der Nachforschung zu säumen gewagt, um nicht den Anschluß zu verlieren. Danach erzählte der zweite Mann, was er beobachtet hatte, und er konnte seiner Darstellung die aufschlußreiche Entdeckung hinzufügen, daß es sich beim Gegenstand seiner Verfolgung um denselben Rhys Thuryn gehandelt hatte, zu dessen Haus sein Gefährte dem Priester gefolgt war; danach hatte er nämlich im Königlichen Archiv den Wart gefragt. Ja, er könne die Bände zeigen, in welche der junge Edle geblickt habe. Nein, er wisse nicht, was der Mann gesucht haben könne. Zwei andere Männer beobachteten gegenwärtig das Haus, worin die beiden sich nun aufhielten. Ob der gnädige Herr jene zwei Beobachter auch zu sprechen wünsche? Der gnädige Herr verspürte diesen Wunsch nicht. Nachdem er die Erkenntnisse, die seine Spitzel für ihn erbrachten, allseitig erwogen und einige anschließende Überlegungen angestellt hatte, gab er einem der Männer mit einem Wink zu verstehen, daß er ihm den Umhang bringen solle. Diese Nachrichten gefie-
len ihm gar nicht übel. Er vermochte sich nicht vorzustellen, was Rhys Thuryn und Joram MacRorie miteinander ausheckten; doch zweifelsfrei wirkte es befremdlich, und es mochte sich recht wohl in das fügen, was er selber bereits plante. Er nahm seine Reithandschuhe und begann sie anzuziehen. »Bors, ich wünsche, daß du nochmals nach St. Johannes reitest und in Erfahrung bringst, was der Geistliche dort wollte. Deiner Beschreibung zufolge und aufgrund der Tatsache, daß er in Rhys Thuryns Haus einkehrte, muß er Herr Cathans Bruder sein, Pater Joram – ein Michaelit, möchte ich anmerken, also sieh dich vor.« »Jawohl, Herr. Ich kümmere mich ohne Verzug darum.« »Das solltest du tun. Es dürfte höchst interessant sein, zu wissen, ob Pater Joram auch dort irgendwelche Urkunden eingesehen hat. – Falk?« Der zweite Waffenknecht, welcher soeben seinem Herrn den Umhang um die Schulter legte, neigte das Haupt, während er die Spange schloß. »Ja, Herr?« »Du kommst mit mir und zeigst mir die Bücher, welche Thuryn aus den Gestellen nahm. Ich möchte doch zu gerne herausfinden, wonach er trachtete.« In einem anderen Viertel der Stadt breiteten Rhys und Joram, ohne zu wähnen, daß man ihr nachmittägliches Treiben zur selben Zeit abwog und hinterfragte, die Ergebnisse ihres Tuns in Rhys' Gemach auf einem kleinen Tisch aus; der Raum war gegen feindselige Zudringlichkeiten abgeschirmt, die hohen Fenster verdunkelt worden. Rhys entrollte den von ihm gemachten Fund, das Bildnis eines Mannes mit einer Krone auf dem Haupt, im Rücken einen Wandtep-
pich mit einem Wappen darauf. Der Mann war von schlanker Gestalt und dunklem Schlage, sein Haupthaar war schwarz, Bart und Schnurrbart wiesen infolge des mittleren Alters silbrige Strähnen auf, die grauen Augen blickten klar geradeaus, wenngleich nicht dazu imstande, das Schicksal vorauszusehen, während er für das in Arbeit befindliche Bildnis stillesaß, das ihn ein paar Jahre später ereilen sollte. Das Wappenschild auf dem Wandbehang zeigte das königliche Wappen der Haldanes von Gwynedd: Auf Rot ein zur Wehr emporgereckter Löwe. Der Name am unteren Rand des Bildes lautete: Iforus Rex Gwyneddis. »Dieses Geschlechtes Blut ist wahrlich voller Kraft«, flüsterte Rhys, derweil er die Abbildung näher ans Licht schob und sie mit wachsamem Blick beifällig betrachtete. »Camber wird hocherfreut sein. Man denke sich Cinhil mit Schnurrbart und Bart, lasse seine Tonsur auswachsen, nehme ihm die Mönchskutte... und es könnte derselbe Mann sein. Erstaunlich, daß die Ähnlichkeit noch nie jemandem aufgefallen ist.« »Nicht allzu erstaunlich«, widersprach Joram. »Wer würde denn eine Verbindung sehen? Jedermann glaubt, daß bei der Machtergreifung alle Haldanes den Tod gefunden hätten, und die Mehrzahl aller, die sich noch aus eigenem Erleben an Ifors Aussehen erinnern könnten, ist seit langem tot. Und außerdem, wer sieht sich schon eine Mönchskutte und eine Tonsur genauer an, wer hätte dazu einen Grund?« »Du hast recht. Daran habe ich nicht gedacht.« »Du bist eben kein Priester.« Joram lächelte breit. »Hast du noch andere Abbildungen gefunden?«
»Ein paar. Ich habe die entwendet, wovon die Wahrscheinlichkeit am geringsten ist, daß man sie vermißt. Und welcher Erfolg war dir beschieden?« »Recht anständig.« Joram holte aus seinem Priesterrock Pergament und faltete es zu zwei verschiedenen Bogen auseinander. Er glättete den ersten davon auf der Tischplatte. »Hier ist's, dritte Eintragung am 28. Dezember Anno Domini 843 unter Taufen, Verzeichnis 5 Festilus II. ›Am Festtag der Unschuldigen Kindlein ward getauft Royston John, Sohn von Daniel dem Tuchhändler und seinem Weibe Avis.‹ Damit ist unseres Prinzen Vater also rechtmäßig geboren. Und nun hier...« Er breitete den anderen Bogen aus. »Unter Taufen steht im Verzeichnis 10 Festilus III am 27. April Anno Domini 860: ›Pater Edward taufte Nicholas Gabriel, Sohn des Tuchhändlers Royston und desselben Weibes Nellwyn, das im Kindbett verstarb.‹ Und damit ist unseres Prinzen Abstammung gerechtmäßig, seine Herkunft lückenlos nachprüfbar, und wir sind im Besitz schriftlicher Zeugnisse, um sie meinem Vater und dem Generalvikar vorzulegen. Ich hätte gerne auch die Eintragungen über die Eheschließungen beider Elternteile mitgehen lassen, aber eine muß in einer anderen Pfarrei stattgefunden haben – zumindest konnte ich zu Sankt Johannes nichts ermitteln –, und der Vermerk über die andere Vermählung erstreckte sich leider über zwei Seiten. Aber diese Beweise hier genügen. Und ich bezweifle, daß irgendwer diese Seiten vermissen wird, es sei denn, jemand sucht ausgerechnet nach einer bestimmten Eintragung auf den entfernten Blättern.« »Dies dürfte zur Zufriedenheit gereichen, ja.« Rhys nickte, unterdrückte ein Gähnen, derweil er die bei-
den Seiten flüchtig musterte, und reichte sie dann zurück an Joram. »Ich habe übrigens Gifford beauftragt, uns sofort nach den Laudes zu wecken, so daß wir im ersten Morgenschimmer aufbrechen können. Frans wird uns die Rösser satteln und bereitstellen.« Joram nickte mit dem befriedigten Lächeln eines Mannes, der sein Werk wohlgetan weiß, reckte sich ausgiebig und voller Behagen, faltete endlich die zwei Bogen wieder zusammen und schob sie zu dem eingerollten Bildnis in die Arzttasche, welche Rhys ihm offenhielt. Falls nicht das allerärgste Verhängnis über sie hereinbrach, waren die Dokumente darin sicher aufbewahrt, denn die Tasche eines Heilers galt als nahezu so unantastbar wie die Person eines Priesters und stand ebenso im Rufe, den Schutz unbegreiflicher Mächte zu genießen. Joram ließ seine Hände durch die Runde schweifen, um die Kuben des Meisterbanntrutzes zum Erlöschen zu bringen, und Rhys beugte sich vor, um die Kerze auf dem Tischlein auszublasen. Sie konnten nicht wissen, daß ihr Aufenthaltsort unter Beobachtung stand, und sie ahnten auch nicht, daß man sie am kommenden Morgen verfolgen sollte, sobald sie zu Valoret hinausritten.
9 Mag er auch noch so freundlich reden, trau ihm nicht; denn sieben Greuel sind in seinem Herzen. Sprüche 26,25 Getreu ihrer Absicht befanden sich Joram und Rhys unter den ersten Reisenden, die Valoret verließen, als die Wachen am Morgen die Stadttore öffneten. Hier lag auf dem Untergrund noch kein Schnee. Valoret, im Tiefland zu Füßen der Lendourischen Bergkette gelegen, bekam des Winters Härte gewöhnlich zuletzt zu spüren. Doch hatte während der Nacht ein schwerer Frost die Landschaft versilbert, des vorherigen Tages Wärme mit Vorboten kälteren Wetters verscheucht. Aufgrund dieser Umstände sowie der überreichlichen Mengen von Regen, die in den letzten Wochen fielen, war die Landstraße in verschlammtem, glitschigem Zustand, stellenweise sogar überschwemmt. Verborgene Löcher und Steine bildeten für die Rösser eine ständige Gefahr, und einmal, nach einem ganz besonders bedrohlichen Straucheln, mußte Rhys gar absteigen, um seines Rosses Beine auf Verletzungen zu untersuchen. Das Tier hatte für ein Weilchen einen Fuß geschont. Es geschah nach dieser Unterbrechung, als er und Joram den Ritt fortzusetzen gedachten, daß Joram erstmals die drei Männer bemerkte, die ihnen folgten. Freilich waren sie sich schon seit Stunden dessen be-
wußt, daß hinter ihnen andere Reisende die Landstraße benutzten. Das war nicht ungewöhnlich, weil es sich dabei um die wichtigste Verbindung zu den Lendourischen Bergen handelte. Die Männer trugen Wappenröcke; wahrscheinlich standen sie in den Diensten eines der hiesigen Freiherren. Zunächst konnte man in ihrer Gegenwart nichts als einen Zufall sehen, und jeglicher Argwohn mochte sehr wohl einem gewissen Maß an Verfolgungswahn entspringen, zu dem wohl ein jeder geneigt hätte, der so verfängliche Beweisstücke im Gepäck verborgen mitführte wie unsere beiden Verschwörer. Als die drei Reiter aber verlangsamten, derweil Rhys sein Tier ansah, fand Jorams Mißtrauen Nahrung. Es konnte niemand einen harmlosen Grund haben, ihnen zu folgen; aus welchem Anlaß man sie auch überwachte, diese drei Männer, denen selbige Aufgabe oblag, waren für ihr Vorhaben eine Gefahr. Als die Verfolger ihnen, während sie verweilten, am nahesten waren, hatte Joram auf sie guten Ausblick, und einer der Männer kam ihm irgendwie bekannt vor. Sobald der Priester sich darauf besann, woher dieser Eindruck rührte, stieß er einen gedämpften Fluch aus und lenkte sein Roß mit einem aus Mißmut zu heftigen Ruck an den Zügeln neben Rhys' Tier. »Wir werden verfolgt«, teilte er seinem Begleiter mit leiser Stimme mit. »Einer der Kerls stand gestern vor Sankt Johannes, als ich ging. Wahrscheinlich hat er uns schon vor Cathans Wohnsitz aufgelauert.« »Bei Cathan?« Rhys zwang sich zum Geradeausblicken, indem er das Verlangen niederrang, sich über die Schulter umzuschauen. »Mein Gott, glaubst du, daß man auch mich überwacht hat? Wenn nun
entdeckt worden ist, daß wir die Blätter herausgerissen haben?« Joram schüttelte das Haupt. »Daran glaube ich nicht. Und sollte es doch so sein, dann können sie noch nicht den Grund wissen. So scharfsinnig ist Imre nicht.« »Unterschätze ihn nicht«, mahnte voller Zweifel Rhys. Er atmete einige Male tief ein, um sich zu beruhigen, und schluckte mit plötzlich trockener Kehle. Joram lächelte verhalten. »Bewahre ruhig Blut, Rhys. Wollte man uns ergreifen, hätte man's in der Nacht in deinem Haus tun können, oder heute morgen, als wir aufbrachen, oder auch jetzt, da wir hier säumen und diese Reiter aufholen lassen.« »Aber warum mögen sie uns wohl folgen?« Joram zuckte die Achseln. »Um herauszufinden, wohin wir reiten, möchte ich meinen. Womöglich läßt Imre nunmehr jeden überwachen, der mit Cathan Umgang pflegt. Oder er läßt in dieser Woche wieder einmal die Michaeliten bespitzeln, und so hat's sich ergeben, daß jemand auf unserer Fährte ist. Allerdings müssen wir wohl davon ausgehen, daß man auch jemanden nach Sankt Johannes geschickt hat, um dort Fragen zu stellen. Ich überlege mir...« »Was denn?« »Ich frage mich, ob wir diese Tagediebe in die Zange nehmen sollen, ihnen offenbaren, daß wir um ihr Tun wissen, und sie zur Rede stellen.« Er betrachtete Rhys von der Seite und erkannte des Heilers wachsendes Unbehagen. »Oder wir könnten sie abzuhängen versuchen.« »Und ihnen auf solche Weise bestätigen, daß wir
etwas zu verheimlichen haben?« entgegnete Rhys fast ohne nachzusinnen. »Harmlose Leute besitzen gewöhnlich keine Veranlassung zur Annahme, daß jemand ihrer Spur folgt.« Joram lachte laut auf »Hervorragend! Du lernst geschwind dazu.« Er blickte über die Schulter, doch hatten ihre Verfolger sich hinter eine Biegung der Landstraße außer Sicht verzogen. Auf geistiger Ebene stieß Rhys gleichsam einen Seufzer der Erleichterung aus. »Dann werden wir also jetzt gar nichts unternehmen?« »Nur weiter und nach Caerrorie reiten, wie vorgesehen«, lautete Jorams Antwort. Er ließ sein Roß die Sporen fühlen und trieb es zum genannten Zwecke an, lachte erneut, als hinter ihnen der Schlick emporspritzte. »Und wenn diese Burschen die Weihnachtszeit damit zubringen möchten, herumzuhocken und Caerrorie anzugaffen, so sei's ihnen unbenommen. Aber wenn ich mich nicht arg irre, werden sie's im Schnee aushalten müssen.« Er sah zum Himmel auf. »Ich wollte wetten, einer von den dreien kehrt um, sobald wir ankommen, um Imre Nachricht zu geben.« Joram täuschte sich mit seiner letzteren Vermutung nicht sonderlich; allerdings war's Coel Howell, nicht Imre, dem der Mann Bericht erstattete. Zur Mittagsstunde des darauffolgenden Tages trat der Mann wieder in Valoret ein und vermeldete, Joram und Rhys gedächten anscheinend einige Zeit lang auf Caerrorie zu verweilen. Eine Befragung der Bauern im angrenzenden Dorf hatte enthüllt, daß es die Gewohnheit der MacRories war, den Großteil der Weih-
nachtszeit auf der Burg zu verleben, obschon man von Pater Joram stets erwarten durfte, daß seine Pflichten ihn zwischendurch gelegentlich nach St. Liam riefen. Man rechnete binnen einer Woche mit der Ankunft auch Herrn Cathans und dessen Familie. Coel nahm diese Nachrichten mit versonnenem Interesse auf und speicherte sie in seinen Scheuern des Wissens, welches er über die MacRories und ihre Freunde sammelte. Noch hatte er nicht mit Gewißheit ermitteln können, welchem Treiben Joram und Rhys nachgingen. In seinem Bestreben, seinen Nebenbuhler Cathan zu verderben, hatte er niemals zu hoffen gewagt, daß desselben eigener Blutsverwandter unfreiwillig zu seinem Verhängnis beitragen könne; und auch jetzt war das noch keineswegs sicher. Doch es stand fest, daß Joram MacRorie aus dem Taufverzeichnis zu St. Johannes mehrere Bogen entwendet hatte; möglicherweise gar vier oder fünf, obwohl die Möglichkeit in Betracht gezogen werden mußte, daß ein paar schon gefehlt hatten, ehe Joram kam. Der Pfarrer von St. Johannes hatte sich noch daran zu erinnern vermocht, welche Bände Pater Joram einzusehen wünschte, und sich – für eine gewisse Zuwendung – äußerst hilfsbereit gezeigt, als man ihm antrug, beim Anstellen von Nachforschungen mitzuwirken, die einer Wiederzusammenstellung der fehlenden Eintragungen dienlich sein sollten. Coel hatte inzwischen mit dieser verzwickten Aufgabe mehrere Schreiber betraut. Des weiteren hegte er den Verdacht, daß auch in jenen Bänden Blätter fehlten, welche im Königlichen Archiv Rhys Thuryn zur Hand nahm, und einige andere seiner Leute waren bereits dabei, diesen Verdacht nachzuprüfen. Bis jetzt aller-
dings konnte Coel keinen rechten Zusammenhang dieses Treibens mit Cathan sehen; doch das bedeutete nicht, daß es keinen gab, und ebensowenig, daß sich nicht der Anschein erzeugen ließ, es bestünde ein Zusammenhang. Coel dankte dem Boten für den Bericht, erteilte Befehl, die Beobachtung von Caerrorie fortzusetzen, entließ den Mann und widmete sich sodann wieder seinen unmittelbareren Absichten. Heute abend wollte er, wenn alles wohl ablief, die Räder in Bewegung setzen, die seinen Nebenbuhler ein für allemal zermalmen sollten. Zu diesem Zwecke waren die Erkenntnisse über Joram und Rhys beileibe nicht erforderlich, doch eigneten sie sich auf jeden Fall dazu, am folgenden Morgen Öl ins Feuer zu gießen. Er würde rechtzeitig genug sehen, wie sich Imre verhielt. Daran konnte er in weitgehendem Umfang ablesen, wie er im weiteren zu handeln hatte... Am frühen Abend sah man Coel mit dem Grafen Maldred, dessen Männer seine Ermittlungen unterstützten, bei einem gehörigen Maß guten dunklen Bieres sitzen. Die Schänke, wo sie eingekehrt waren, lag unweit von Cathans Wohnsitz Tal Traeth, und diese Tatsache hatte auch zum Vorwand gereicht, unter dem Coel den Grafen bat, sich am Abend an diesen Ort zu ihm zu gesellen – nämlich, wie er behauptete, um zunächst darüber zu beraten, was bis dahin an Handlungen Cathans beobachtet worden sei, und endlich die Gegend selber in Augenschein zu nehmen. Eine Stunde lang erzählten sich Coel und Maldred sonderliche Schwänke aus ihren früheren Zeiten. Maldred kannte sogar noch Geschichten, die ihm sein Großvater erzählt hatte, der ungefähr achtzig Jahre zuvor an der Seite des ersten Festil-Königs
focht. Als dann die Stadtwache die zweite Abendstunde ausrief, trank Coel mit einem herzhaften Zuge sein restliches Bier, patschte eine Handfläche gedämpft auf die Tafel und schob seinen Stuhl zurück. »Wir sollten uns nun wohl zum Brennpunkt unseres Interesses begeben, mein Herr«, erklärte er dem Grafen, derweil er sich erhob und seinen Schwertgurt zurechtrückte. »Mein Kundschafter meldete mir, daß gestern kurz nach dem Abendläuten ein Mann kam. Falls er sich heute wieder einfindet, dürfte es nicht von Nachteil sein, an Ort und Stelle zu weilen.« Maldred brummte, schlürfte aus seinem Krug ebenfalls das restliche Bier, wischte sich mit dem Ärmel den Mund und stand schwerfällig auf. Bei einem Mann von Maldreds Wuchs und Körperbau wäre es jedoch töricht gewesen, ihn für trunken zu halten oder lediglich für angesäuselt. Ein altes Schlachtroß wie der Graf hätte das Trinken längst aufgegeben, wäre er nicht schon durchs Saufen wider allzu rasche Trunkenheit gefeit gewesen. Nichtsdestotrotz mutmaßte Coel zu Recht, daß das Bier Maldreds Sinnen ein wenig die Schärfe genommen hatte; und genau darauf legte Coel Wert, auf mehr nicht. Er verscheuchte ein Lächeln der Selbstzufriedenheit von seinen Lippen und ging voraus zum Ausgang der Schänke. Draußen war es dunkel und kalt – wahrscheinlich würde es noch vor Mitternacht schneien –, und die Reitknechte, die bei den Pferden warteten, standen um eine in den Erdboden gerammte Fackel gedrängt, umhüllt von ihren winterlich dicken Umhängen. Sie nahmen eine ehrerbietige Haltung ein, als Maldred zu ihnen trat und ihnen mit gedämpfter Stimme einige Anweisungen erteilte, dann ent-
schwanden sie ins Schwarz jenseits des hellen Lichtkreises, den der Fackelschein erzeugte. Maldred eignete sich die Fackel an und kehrte zurück zu Coel; sein Verhalten war gleichmütig. »Ich habe Karl und Joseph zu Euren Männern auf die andere Seite geschickt. Was für einen Weg schlagen wir beide von hier aus ein?« »Hier entlang«, entgegnete Coel und führte den Grafen in eine dunkle, schmale Seitenstraße. Coels Schatten eilte ihm, während er ausschritt, knapp voraus, und dichtauf hallten Maldreds Schritte. Nach ein paar Abzweigungen bogen sie in eine noch dunklere, wahrhaft finstere Gasse ein; der Schein anderer Fakkeln am jenseitigen Ende, ein paar hundert Ellen entfernt, glich dem Leuchtfeuer eines Hafens, der Sicherheit und Schutz verhieß. Mit angespannten Sinnen zwang sich Coel zu lebhafterem Ausschreiten, zuversichtlicherer Art, und Maldred blieb arglos an seinen Fersen; wer wollte denn zwei bewaffnete Edelmänner überfallen? Doch da ertönte ganz leise das Scharren eines Stiefels auf griesigen Pflastersteinen, und es war soweit! Als die Fackel Maldreds Fingern entfiel, wirbelte Coel herum, sein Umhang verbarg den Dolch, den er nun in der Faust bereithielt, die Klinge gegen den Unterarm gedrückt. Maldred ließ keinen Schrei erschallen – er vermochte es nicht. Der Meuchelmörder war nur als finsterer Schatten in seinem Rücken sichtbar. Das Beben starker Arme bezeugte ein kurzes Ringen, wahrend Maldred wie ein Rasender vergeblich nach der feinen Schnur tastete, die in seinen Hals schnitt. Aber Maldreds lautloser Kampf war aussichtslos und alsbald beendet. Wenige Augenblicke
später ließ der Meuchler des Grafen leblose Gestalt aufs Pflaster sinken und verknotete die Schnur, welche gänzlich verschwunden war in einem dünnen, blutigen Einschnitt rund um des Opfers Hals. Coel langte mit seiner freien Hand an den Leibgurt und entfernte von dort eine kleine, aber gewichtige Börse, die er zu Boden warf, daß es verheißungsvoll klimperte, während er zu der hingefallenen Fackel trat. »Spute dich«, flüsterte er, indem er sein Schwert zog und es ohne ein Geräusch neben die Fackel legte. »Nimm deinen Lohn und hebe dich hinfort, mir steht nicht die ganze Nacht zur Verfügung.« Rasch und lautlos huschte der Meuchelmörder herbei und beugte sich über die Börse, um sie aufzuheben, und er sah nicht den Dolch, den Coels Faust sogleich hob und in sein Herz bohrte. Als der Schurke ohne einen Laut zusammenbrach und das Pflaster maß, sprang Coel vor, riß die Börse wieder an sich und zerrte statt dessen aus seinem Gewand ein Stück Pergament, am oberen Ende verkohlt, am unteren versehen mit einem Hängesiegel. Selbiges Pergament legte er beim toten Mörder in die Nähe der Fackel. Dann zog er des Mörders Dolch und setzte die Klinge an seinen Oberschenkel, faßte sich innerlich und stieß sie entschlossen in sein linkes Bein. Er schrie, sobald er den Schmerz verspürte. Es gereichte den Stadtwächtern zur Ehre, daß sie nicht lange brauchten, um am Ort der Meucheltat einzutreffen. Doch es war bei weitem zu spät, um den hochberühmten Grafen Maldred noch lebendig von des Würgers Schnur zu befreien oder vom Täter irgendwelche Aussagen zu erzwingen. Sie fanden Herrn Coel halb besinnungslos inmitten einer riesigen Lache eigenen Blutes liegen,
während er die Glimmglut an den Rändern eines Stückes Pergament zu ersticken suchte, das unterzeichnet war und besiegelt von einem Manne mit überaus bekanntem Namen. Herr Coel vermochte den Wächtern, indessen sie seiner Wunde Blutstrom stillten, noch zu erzählen, wie er und Maldred in der finsteren Gasse heimtückisch hinterrücks überfallen worden seien, daß der Meuchelmörder, ehe ihn selber das verwirkte Leben floh, das Pergament zu verbrennen versucht habe. Coel ermahnte die Stadtwächter eindringlich, zu niemandem etwas von Maldreds Ermordung oder vom Pergament verlauten zu lassen, bevor er in der Morgenfrühe den König unterrichten könne. Danach schwanden ihm die Sinne. Die Stadtwächter, dieweil sie wohlerfahrene Mannen waren, gehorchten fraglos seinen Befehlen und beförderten ihn in aller Eile in seine Arbeitsräume auf der Königsburg, wo sein Knappe seine Wunde behandelte und verband. Es sei keine schwere Verletzung, versicherte er ihnen – nicht einmal so schwer, daß man einen Heilkundigen bemühen müsse –, doch habe der edle Herr viel Blut verloren und werde deshalb, um seine Kräfte zu schonen, ungefähr eine Woche lang wohl am Stock gehen. Der Knappe erteilte schließlich Anweisung, man möge die beiden Leichname in einer nahen Abtei aufbahren, dann verhieß er den Stadtwächtern, sein Herr werde am Morgen, sobald er erwache, alle weiteren Befehle geben, und scheuchte die Männer aus seines Herrn Gemach. Als er die Gewißheit besaß, daß er darin allein war, schlug Coel die Augen auf, ließ seinen Blick voller Triumph durch den Raum wandern, schloß die Augen wieder und schlief unverzüglich ein.
Am nächsten Morgen war's noch sehr früh, als sich Coel, gestützt auf einen Stab und eines Dieners Arm, auf dem Weg zu den Königlichen Gemächern befand. Düster, aber vornehm war er gekleidet in grauen, mit Pelz besetztem Samt, und sein Bein trug unterm wollenen Beinkleid einen dicken Verband. Mit ihm ging einer der Stadtwächter, welche in der vergangenen Nacht unfreiwillig an seinem scheinbaren Mißgeschick mitwirkten, und hielt ruhelos das Stück Pergament umklammert, das Coel angeblich aus der Fackel Flamme gerettet hatte. Am Eingang zu den Königlichen Gemächern rief eine Schildwache sie an, doch erweckte Coels Auftreten sofort den Eindruck, daß es sich von selbst verbot, ihn warten zu lassen. »Ich muß mit seiner Gnaden sprechen«, erklärte Coel der Wache. »Seine Majestät liegt noch im Bette, Herr, und solltet Ihr gütigst meinen Rat beherzigen, empfiehlt's sich schwerlich, den König zu stören.« »Das Urteil darüber obliegt mir«, entgegnete ungerührt Coel, streckte den Arm an der Wache vorbei und öffnete, indem er gelangweilt seufzte, die Tür. Von Verwirrung befallen, trat die Schildwache beiseite, wagte Coel nicht aufzuhalten, und letzterer trat in Begleitung des Stadtwächters ein. Imres Schlafgemach lag hinter einer anderen Tür am jenseitigen Ende des Vorraumes, und ein Leibkämmerer des Königs eilte ihm voraus, um ihn anzukündigen, während Coel über des Fußbodens blitzblanke Täfelung humpelte. »Sire, Herr Coel ist hier, um Euch zu sprechen.« »Was?« Aus dem Innern des Schlafgemachs drangen das Rascheln von Bettzeug und gedämpfte Laute
des Mißmuts, unverständliches Murmeln des Unwillens. »Coel?« vernahm man dann erneut des Königs Stimme. »Was treibt er um eine so greulich frühe Stunde hier?« Coel trat auf des Schlafgemaches Schwelle und wandte sich ehrfürchtig an die geschlossenen Vorhänge des Königlichen Bettes. »Tausendfach erflehe ich Eure Vergebung, Sire, doch meine Zudringlichkeit ist schier unvermeidlich.« Er hinkte hinein, begleitet vom hohlen Klang seines Stabes auf den rautenförmigen Fliesen. Urplötzlich schob sich des Königs Haupt durch einen Spalt der Bettvorhänge; sein braunes Haar war zerzaust. »Alle Teufel, Coel, was hat das zu bedeuten?« Als Imres Blick den Stab, das Hinken, den Verband um Coels Oberschenkel erfaßte, dann zum Stadtwächter emporruckte, der an der Schwelle harrte, verbeugte sich Coel aus der Hüfte tief hinab und breitete in einer Geste, die um Nachsicht bat, seine Arme aus. »Leider ist mir im Laufe der Nacht ein Unheil zugestoßen, Sire, doch zum Glück kam ich mit einer leichten Verletzung davon. Die Wunde sieht ärger aus, als sie's in Wirklichkeit ist.« »Was ist denn geschehen?« Imre schrie fast. Er riß seines Bettes Vorhänge beiseite und machte Anstalten, der Bettstatt zu entsteigen, aber als er bemerkte, wie kalt es war, nahm er von diesem Vorhaben Abstand und raffte statt dessen die Bettdecken um sich zusammen. »Bei Gott, Coel, steht doch nicht da herum und haltet ein Schock Maulaffen feil, bringt einen Stuhl und berichtet, was sich zugetragen hat! Ihr müßt Euer Bein schonen.« Coel tat wie geheißen, nahm mit steifem Knie und
schmerzbekümmerter Miene Platz, lehnte den Stab neben seine Hüfte. »Ein feiger Meuchelmörder machte sich an uns heran, Sire«, vermeldete er und ließ in seine Stimme eine Spur von Gram einfließen. »Graf Maldred, so muß ich Euch zu meinem tiefsten Bedauern sagen, ist tot.« »Maldred tot!« Imre duckte sich unter dem Bettzeug und umhüllte sich fester damit, durch diese Kunde gänzlich außer Fassung gebracht. »Wie das?!« »Erdrosselt«, gab Coel mit leiser Stimme Auskunft. »Wir durchquerten eine Gasse, und dort überfiel ihn der Schuft hinterrücks, tat sein schmähliches Meuchelwerk, ehe ich mich nur umzuwenden vermochte. Ich zog mein Schwert, aber dieser Elendige war flink – hurtig wie der Satan in Gestalt eines Eichhörnchens! Sein Dolch stak in meinem Bein, als ich kaum die Klinge blank hatte. Als er dann meine Börse rauben wollte, gab ich ihm meinen Dolch zu schmecken. Diese Kost konnte er leider nicht verdauen.« »Leider...?!« Imre war zugleich erfreut und entsetzt. »Ei, Coel, bedenkt, er trachtete ja zuvor Euch nach dem Leben!« Coel senkte den Blick. »Gewiß, Sire. Doch nun können wir niemals zur Gänze dessen sicher sein, wer ihn für diesen Anschlag gedungen hat.« »Was?« Imre kauerte sich an die Bettkante und beugte sich erregt näher zu Coel, so daß ihm sein langes Haar über die Augen fiel. Mit ungeduldiger Geste strich er's sich aus dem Blickfeld hinter die Ohren, während er mit der anderen Hand die Decken um seinen Leib zurechtzerrte. »Ihr meint, Ihr glaubt, es handelte sich um einen gedungenen Meuchler? Habt Ihr einen Verdacht, wer ihm den Auftrag gab?«
»Unglücklicherweise, ja«, erwiderte Coel mit bedrückter Gedämpftheit. Er winkte dem Stadtwächter, der näher trat und sich verbeugte, den Blick untertänig abgewandt hielt. Imre starrte ihn an, dann wieder Coel, nunmehr von einer Ahnung heimgesucht, daß er mehr Unerfreuliches vernehmen sollte, als er's sich in der Nacht hätte träumen lassen. »Wachmann, berichte Seiner Majestät, was du mit eigenen Augen gesehen hast.« Der Mann schluckte und nickte. »Sehr wohl, Herr, wie's Euer Gnaden beliebt. Nun, ich war mit einem Gefährten, der wie ich zur Wachstube im südwestlichen Wachbezirk der Stadt gehört, gestern abend gerade auf einem Rundgang, und es war kurz vorm Abendläuten, da vernahmen wir aus jener Gasse diesen Schrei. So schnell uns die Beine trugen, rannten wir dorthin, woher er kam, und da fanden wir Seine Gnaden verwundet in eigenem Blute liegen und dabei zwei Leichname. Seine Gnaden suchte dies Pergament vor den Flammen der Fackel zu bewahren.« Der Mann hielt das erwähnte Schriftstück hoch, und Coel nahm es und streckte es Imre entgegen. Der König wollte zuerst danach greifen, doch dann ließ er seine Hand sinken und setzte sich aufrecht; sein Antlitz spiegelte eine gewisse unselige Vorahnung wider. Coel schluckte. »Eure Hoheit dürften bei näherer Betrachtung alles andere als Vergnügen empfinden, doch muß der Wahrheit die Ehre widerfahren. Ich selbst vermag mich gar nicht recht an das zu erinnern, was dieser wackere Wachmann soeben geschildert hat.« »Was ist das?« forschte Imre von neuem nach; seine Stimme zeugte von Ungeduld und gelinder Gereizt-
heit. Coel gab dem Stadtwächter einen Wink, daß er sich entfernen möge, und rückte seinen Stuhl näher ans Königliche Prunkbett. »Anscheinend bemühte sich der hinterhältige Meuchler, dies Beweisstück zu vernichten, derweil ihn bereits der Tod dem Höllenpfuhl überantwortete, damit es nicht in Eure Hände falle. Daraus kann ich nur schlußfolgern, daß er jenen zu decken versuchte, der ihn zu seiner Tat anstiftete. Ums Haar wäre ihm auch das gelungen.« »Was glaubt Ihr, wer's war?« erkundigte sich Imre mit geweiteten Augen. »Meine Antwort wird Euch mißbehagen, Sire.« »Verfluchter Kerl, Coel, mir ist's bereits mißbehaglich genug zumute!« brüllte Imre und rammte neben sich die Faust ins Bettzeug. »Wer war's?« Coel hielt das Pergament so, daß Imre es lesen konnte. »Cathan MacRorie«, entgegnete er mit leiser Stimme. Es war unmöglich, sich in der Unterschrift oder im Siegel zu irren.
10 Ein Gauner ist der Wein, ein Lärmer ist der Rauschtrank, und keiner, der von ihnen taumelt, ist ein Weiser. Sprüche 20,1 »Cathan!« flüsterte Imre, sobald sich sein gestockter Atem wieder regte. »Aber das ist ausgeschlossen! Hier muß ein Irrtum vorliegen! Nie und nimmer täte er...« Bedächtig nickte Coel und schloß sinnig die Augen, als vermöchte er's selber kaum zu glauben. »Ich verstehe Euch vollauf, Sire. Nun begreift Ihr sicherlich mein Zaudern, Euch Aufschluß zu geben. Im Lichte der Gerüchte, welche Cathan und die Willimiten betreffen... fürwahr, der offenkundige Zusammenhang belastet ihn ungemein schwer.« »Zusammenhang...?« wiederholte betroffen Imre, streckte sich rücklings auf den Kissen aus und starrte für einen langen Moment empor an des Prunkbettes Baldachin. »Was... was seht Ihr da für eine Verbindung?« Verlegen räusperte sich Coel. »Nun, Herr Maldred war's ja, der in Eurem Namen die Verantwortung für die Hinrichtung von Cathans Dörflern trug. Wenn Cathan wirklich ein unheiliges Bündnis mit den Willimiten eingegangen ist, wie man sich erzählt, dann wäre Herr Maldred doch mit höchster Wahrscheinlichkeit das nächste Opfer eines ihrer Anschläge ge-
wesen.« »Aber Maldred handelte doch auf meinen Befehl«, bemerkte Imre schlichtmütig. »Ich hatte die Hinrichtungen befohlen. Falls Cathan für seine Dörfler nach Vergeltung trachtete, hätte er doch mich... O mein Gott!« Urplötzlich verstummte er, als er begriff, was er beinahe ausgesprochen hätte, dann hob er voller Entsetzen eine verkrampft geballte Faust an den Mund, kehrte das Antlitz zur Wand. So verharrte er für ein beträchtliches Weilchen; Coel hätte nur zu gerne gewußt, was er dachte, doch bei aller Dreistheit wagte er's nicht, den königlichen Verstand anzutasten. Schließlich wandte Imre sein Antlitz wieder aufwärts, musterte den Baldachin aus Augen, die trocken waren und kalt. Als er von neuem sprach, geschah es mit vollständig ausdrucksloser Stimme. »Bringt meine Robe.« Coel wagte nicht zu säumen, tat vielmehr augenblicklich wie geheißen und hielt für Imre die pelzbesetzte Robe, bis der König mit gewohnheitsmäßigen Bewegungen das Bett verließ, sie sich um die bloßen Schultern warf und die Kordel um seine Hüften verknotete. Der König strebte zum Kamin und starrte dort lange ins Feuer, dessen Schein rötlich auf seinem wirren Schopf schimmerte. Dann wandte er sein Antlitz schließlich um ein weniges Coel zu. Der ältere Mann hatte sich nicht von seinem Platz beim Himmelbett gerührt. »Sollte Cathan diese Schandtat angestiftet haben, wird er seine gerechte Strafe erleiden. Habt Ihr mich verstanden?« Coel nickte, da er kein Wort zu sagen wagte. »Doch es werden keinerlei offene Maßnahmen gegen ihn ergriffen. Habt Ihr auch das verstanden?« Aufmerksam musterte Coel den König, während er
zu ergründen versuchte, auf welchen Erwägungen diese Entscheidung beruhte. »Keine, Sire?« »Keine«, bekräftigte Imre. Er richtete seinen Blick zurück ins Kaminfeuer. »Wenn Cathan der Verbrechen schuldig ist, welche Ihr eben angedeutet habt, dann ist er unzweifelhaft ein Verräter, und ihn soll eines Verräters Schicksal ereilen. Aber ich wünsche keine öffentliche Gerichtsverhandlung gegen ihn, ist das klar? Cathan MacRorie wird sein Haupt niemals auf des Henkers Richtblock legen!« »Aber wie soll dann...?« »Das ist nicht Eure Sache«, fuhr der König Coel an. »Dieser Angelegenheit widme ich mich höchstselber. Wo ist dies verruchte Pergament?« Coel betrachtete das Schriftstück in seiner Hand, dann brachte er es Imre. Ohne ein Wimpernzucken der königlichen Augen nährte Imre damit die Flammen, und am Ende blieb davon nichts übrig als Asche. Mit einem verkohlten Span zerstocherte er selbige Asche zu grauem Pulver und warf dann auch den Span ins Feuer. »Dahin ist dieser Fetzen«, murmelte der König, als die Flammen von neuem emporloderten. »Wer weiß noch darum?« »Nur der Wachmann und sein Gefährte, Sire. Anscheinend war ich trotz meines Schreckens und der Verwundung so umsichtig, ihnen noch an Ort und Stelle Schweigen zu befehlen.« »Vorzüglich. Ihr werdet ihnen das Gedächtnis von dieser Erinnerung reinigen. Wendet alle erforderlichen Mittel an, doch schont nach Möglichkeit ihr Leben. Es war nicht ihre Schuld, daß sie erblickten, was sie lieber nie gesehen hätten.« »Ich werde Eure Befehle persönlich ausführen, Si-
re«, erwiderte Coel mit einer knappen Verbeugung und darüber froh, daß Imre nicht seine Miene sehen konnte. »Und Ihr habt zu niemandem diese Dinge zu erwähnen.« »Meine Lippen sind versiegelt, Sire.« »Ihr könnt gehen.« »Sehr wohl, Eure Hoheit.« Mit diesem gemurmelten Wort verbeugte sich Coel und wandte sich zum Gehen. »Eines noch, Coel«, fügte des Königs Stimme seinen vorherigen Äußerungen hinzu, als Coel fast die Tür erreicht hatte. »Mein Lehnsherr?« »Ich wünsche, daß Ihr zu Cathan einen Boten sendet, der ihm bestellt, er solle sich heute abend vorm Festmahl hier in meinen Gemächern einfinden.« Coel drehte sich so hastig um, wie's ihm sein verletztes Bein gestattete. »Hier, Sire?« »Ihr habt meinen Befehl vernommen«, knirschte mühsam beherrscht Imre. »Nun geht!« Als Coel über die Schwelle getreten war und die Tür von außen schloß, hörte er von drinnen verhaltenes Schluchzen. Die Aufforderung wurde Cathan übermittelt. Er erwies dem Willen seines Herrschers den geziemenden Gehorsam und erschien um die genannte Zeit auf der Königsburg, gekleidet in eine angemessene Gewandung, eine Robe und einen schneeweißen Umhang. Draußen war's schon dunkel, und seit des Nachmittages Mitte hatte es unaufhörlich geschneit. Während Cathans Blick an den kahlen Mauern des Bergfrieds
emporschweifte, wünschte er sich sehnlich an einen anderen Ort – irgendeinen, wäre er bloß nicht hier. Er konnte sich das Gefühl nicht erklären; nie zuvor hatte er auf dem Wege zu Imre so etwas empfunden. Als man ihm die Pforte auftat und er aus seiner Sänfte sprang, verdrängte er das Gefühl mit Entschiedenheit. Ein Kämmerer niedrigen Ranges gewährte ihm Zutritt, nahm ihm ohne Feierlichkeiten den Umhang und die Haube ab und rief einen jungen Knaben heran, der eine Fackel trug. Der Page erleuchtete ihm den Weg durch eine Reihe enger Gänge und gewölbter Kammern, führte ihn schließlich die steile Wendeltreppe zu den Königlichen Gemächern hinauf. Des Knaben Klopfen lockte einen von Imres in Weiß gekleideten Knappen herbei, und dieser Jüngling verbeugte sich mit der vorgeschriebenen Hochachtung, bevor er Cathan in einen schmucklosen Empfangsraum geleitet. Niemand erläuterte ihm, was des Königs Begehr sein mochte. Sobald Cathan allein war, sah er sich gedankenschwer in dem Raum um. Hier hatte er sich schon oft aufgehalten, aber immer zur Sommerszeit, jedesmal zu einem jener Essen in kleinem Rahmen und vertrauten Kreise, wie Imre sie so schätzte – mit seinen engsten Freunden und Beratern sowie vielleicht ein paar Musikanten oder Barden. Nie zuvor jedoch war Cathan hier allein gewesen, niemals im Winter. Die ganze Räumlichkeit – sowohl der Fußboden wie auch die Wände und die Decke waren in weißem Marmor und Alabaster ausgeführt – war kalt und zugig, der Glut, die in der Feuerstelle brannte, zum Trotze, und ihm schien's, es sei darin wesentlich düsterer, als er sie in Erinnerung hatte, obgleich an den Wänden in Leuchtern Kerzen flak-
kerten. Er nahm an, daß dieser Eindruck von des Raumes ungewohnter Leere herrührte. Er näherte sich der Feuerstelle, als eine Tür in sein Blickfeld geriet, die um eine Spaltbreite offenstand, und aus dem jenseitigen Raum drang der Glanz helleren Lichtes. Von diesem Lichtschein angezogen, schlenderte Cathan hinüber und spähte durch den Türspalt. Nebenan befand sich eine winzige Votivkapelle, kaum größer als eine Besenkammer, ebenfalls rundum mit weißem Marmor versehen und von zahlreichen Kerzen in prachtvoller Helle ausgeleuchtet. Selbst das Kniekissen vorm kleinen Altar war in blassen, silbrigen Damast eingeschlagen. Die Örtlichkeit erinnerte Cathan an nichts stärker denn an eine Grabkammer. Aber wie kam er nur auf einen derartigen Gedanken? wunderte er sich selber, als er wider die Kälte die Arme auf der Brust verschränkte. Im Sommer hatte diese Räumlichkeit stets eine angenehme Zuflucht vor der Nachmittagshitze geboten, prächtig farbenfroh von Blumen und erhellt von Binsenlichtern, die Luft durchzog der Duft süßer Kräuter und von Rosmarin. Wie anders sollte es denn nun im Winter hier sein als kalt und kahl, zumal wenn des Hauses Herr... Nein, zu so einfachen Gedankengebilden gedachte er zur Schonung seines Gemütes nicht zu greifen. Er wußte, was den Empfangsraum so verödete, was auf seine Seele des Winters Gewicht legte. Imre würde sogleich kommen – warum hätte er ihn andernfalls hergerufen? Aber niemals wieder konnte es so sein wie früher, vor dem Mord an einem verderbten, liederlichen Deryni, woran um eines halben Hunderts Menschenleben willen ihre Freundschaft scheiterte Schicke dich drein, Cathan: die Welt war nicht länger
wie zuvor. Im Augenblick dieser Einsicht neigte er sein Haupt und sandte stumm ein Stoßgebet gen Himmel, dann bekreuzigte er sich und machte kehrt, um sich wieder der Feuerstelle zu nähern; da überraschte ihn Imres Anblick, der an der Zugangstür stand, gegen sie gelehnt, die Hände hinterm Rücken. Cathan verharrte und starrte den König an. Er hatte ihn nicht eintreten hören. »So finster gestimmt«, sprach Imre, »und so kurz vorm vorweihnachtlichen Hofe?« Er durchmaß langsam den Abstand, der sie trennte. Vom Kinn bis zu den Zehenspitzen war er in ein weites Gewand aus eisweißem Samt gekleidet, am Saum, den Ärmelenden und am Kragen mit Längen von Eisfuchsfell besetzt. Ein Gürtel aus mit Edelsteinen verzierten Silberplatten legte das Gewand um seine Hüften in tiefe Falten, die sich, während er ging, kaum regten. Um seinen Hals hing eine schwere silberne Kette und baumelte ihm nahezu bis in Nabelhöhe herab. Sein Haupt war unbedeckt, das nußbraune Haar fiel ihm schimmrig und locker auf die Schultern. Sein Antlitz war gleichmütig, aber wachsam, während er Cathan musterte. Cathan ließ sich auf die Knie sinken und küßte des Königs hingestreckte Hand. »Um Vergebung, Sire Ich war mir im ungewissen hinsichtlich des Empfangs, den ich erwarten mußte.« »Besitzt du denn einen Grund zur Furcht?« fragte Imre, verbarg die Hände wieder auf dem Rücken und trat zur Tür der Votivkapelle. Cathan blinzelte und erhob sich, blieb um ein paar Schritte hinterm König stehen, aus Ratlosigkeit unbeholfen. »Solch ein Grund ist mir unbekannt, Sire.
Sollte ich Euch in irgendeiner Weise, deren ich mir nicht bewußt bin, verdrossen haben, so sagt's mir, darum ersuche ich Euch inständigst, so daß ich vor Euch Abbitte tun kann. Sicherlich kennt mich der König als gutwilligen, getreuen Diener der Krone. Einst erwies er mir die Ehre, mich seinen Freund zu heißen.« Imre senkte, als er das vernahm, seinen Blick auf den Marmorboden, dann stützte er seine Arme nach beiden Seiten an den Türrahmen der Votivkapelle und stieß einen Seufzer aus. Im Rücken trug er im Plattengürtel in einer Scheide einen Dolch aus ziseliertem Silber; unter den weiten, mit Pelz gesäumten Ärmeln war selbiger vorher unsichtbar gewesen. Er drehte sich, als er antwortete nicht um. »Ja, das bist du, Cathan«, bestätigte er in ruhigem Tonfall. »Sei nachsichtig mit mir, wenn ich heute ein schlechter Tischgenosse bin, doch habe ich heute von eines anderen Freundes Tod erfahren.« Cathan unterdrückte die Anwandlung, einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. Vielleicht war er doch nicht der Urheber von Imres Mißmut. »Ich bin betrübt, Sire.« »Möchtest du gar nicht wissen, um wen es sich handelte?« fragte Imre und wandte sich halb Cathan zu, um zu schauen, wie er die Mitteilung aufnahm. »Es war Graf Maldred.« Aus Verblüffung bildeten Cathans Lippen ein lautloses Rund. »Ein gedungener Mörder meuchelte ihn dahin«, ergänzte Imre und bemerkte, wie Cathans Miene unvermittelt Bestürzung ausdrückte. »Er hat ihn hinterrücks erdrosselt. Als ich hereinkam, hatte ich nahezu den Eindruck, du würdest für ihn beten... aber natürlich wußtest du
noch nicht davon.« »Nein, ich...« Cathan kehrte sein Antlitz zur Seite und rang um Fassung, während er spürte, daß Imres Blick auf ihm ruhte sein Verhalten genau beobachtete. Maldred tot! Dahingerafft von einem gedungenen Meuchelmörder! Aber das konnte nicht alles sein. Imre war voller Spannung, hegte irgendeine Erwartung. Aber welcher Art? Erwartete er von ihm Bekundungen der Trauer? Doch Cathan wagte nicht zu lügen. Niemals, nie im Laufe etlicher Jahre, hatte er Imre belogen. »Wenn Ihr um ihn trauert« meinte er vorsichtig, »so will ich ihn beklagen.« »Also beklagst du ihn, weil ich ihn betrauere... aber nicht, weil Maldred tot ist.« Imre lachte bitterlich. »Nun, mich dünkt, das ist nur zu klar. Ich weiß, daß du für ihn keine Zuneigung empfandest. Er hängte ja deine Bauern. Nach deiner Auffassung hat er wohl dieses Geschick verdient.« »Ich...« Verwirrt starrte Cathan nieder auf den Fußboden, da er zunächst nicht begriff, welchen Verlauf das Gespräch nahm; und dann fürchtete er plötzlich, es sehr wohl zu verstehen. »Sire, wenn Ihr anzudeuten beliebt, ich hätte Graf Maldred jemals ein solches Ende gewünscht, so bitte ich Euch eindringlichst, eine solche Vermutung aus Euren Gedanken zu verbannen. Vielleicht hat Maldred Eure Befehle mit mehr Eifer als vonnöten ausgeführt.« Als er weitersprach, geschah es nahezu im Flüsterton. »Ja, ich bin sogar davon überzeugt, daß er das tat. Aber ich kann's ihm nicht zum Vorwurf erheben, daß er seine Pflicht erfüllte.« »Aber mir machst du's zum Vorwurf, nicht wahr?« fuhr Imre auf, wirbelte herum und starrte Cathan in
die Augen. »Ich befahl die Hinrichtung, Cathan. Ich bin der König, und das Gesetz ist das Gesetz. Willst du dich erkühnen, mich zu rügen, weil ich nach dem Gesetz handle?« »Sire, nie habe ich gesagt...« »Natürlich hast du's nie gesagt!« schrie Imre. »Selbst du hättest dich niemals erdreistet, in solchem Maße auf unsere Freundschaft zu setzen. Doch gedacht hast du's, stimmt's? Ach, Cathan, von allen hätte ich namentlich von dir bessere Dienste erwartet!« Voller Unglauben schüttelte Cathan sein Haupt, sich nicht länger dessen sicher, daß er den Gedankengängen von Imres Verstand zu folgen vermochte; oder dessen, daß aus ihm überhaupt noch Verstand sprach. »Niemals habe ich Euch persönlich daraus einen Vorwurf gemacht, Sire. Ich schwöre es Euch! Wenn in meinem Herzen Bitternis war, so wider Euer Amt, Eure Krone, nicht den Mann, der sie tragen und sich manchmal unter ihrer Last beugen muß.« Als er seinen Blick hob und den Imres erwiderte, standen Tränen in seinen Augen. Imre sah sie und wich seinem Blick aus, schaute in die Votivkapelle, seine Arme verkrampft auf der Brust verschränkt. »Du hast mir niemals, weder in Gedanken noch in Taten, eine Schuld am Tode jener Bauern angerechnet?« Cathan fiel auf beide Knie und hob flehentlich seine Arme. »So wahr Gott mein Zeuge ist, Imre, das schwöre ich Euch«, versicherte er mit leiser, gepreßter Stimme. Seiner Beteuerung schloß sich ein ausgedehntes Schweigen an, während dessen sie nur ihre Atemzü-
ge vernahmen; dann streckte Imre langsam eine Hand zur Tür der Kapelle aus und schloß sie. Für ein ganzes Weilchen verharrte er, Cathan den Rücken zugewandt, seine Hände locker auf den Türknauf gelegt; endlich drehte er sich um und lehnte sich an die Tür. »Nun, dann haben vielleicht die Willimiten Maldred ermordet«, meinte er in gelassenem Tone. »Sie sollen ja auch Rannulf getötet haben, sagt man, wie du womöglich weißt. Steh auf, steh auf!« Cathan gehorchte und verblieb verlegen vorm König, der sich allem Anschein zufolge inzwischen beruhigt hatte, aber noch immer seinem Blick auswich. Ihm war, wie man ihm ebenso ansah, nicht minder unbehaglich zumute als Cathan, und letzterer hatte das Gefühl, er müsse etwas sagen – irgend etwas –, doch er fand keine Worte. Stumm sah er zu, wie Imre müßig zu einem der Kerzenhalter trat und zu der Kerze Flämmchen aufblickte, seinen Finger an ein Rinnsal aus heißem Wachs rührte. Was sollte er sagen? Was konnte Imre sagen? »Bezüglich des Mordes an Rannulf sind noch andere Gerüchte im Umlauf, Cathan. Wußtest du auch das?« »Andere... Gerüchte, Sire?« meinte Cathan und schluckte beschwerlich. »Solche, die damit dich in Zusammenhang bringen möchten.« »Mich?« »Ja«, bestätigte Imre. »Lachhaft, nicht wahr?« Seine Lippen lächelten, als er sich umdrehte, aber seine Augen waren kalt wie Feuerstein. »Sie behaupten, der Grund deines Mißmuts über die Hinrichtungen sei gewesen, daß du die Geiseln hättest retten können,
aber den Mörder, da du ein Freund der Willimiten bist, decken mußtest. Das klingt natürlich nur scheinbar einleuchtend, aber es stimmt doch, daß du und Rannulf mehr als einmal heftige Meinungsverschiedenheiten hattet, oder?« »Sire, er war ein schlechter, grausamer Mann«, entgegnete Cathan trotzig. »Deryni oder nicht, ich duldete ihn nicht auf meinem Land, und gleiches gilt für meinen Vater. Jedermann war das wohlbekannt. Niemals habe ich seinen Mörder gedeckt – doch kann ich auch nicht mit gutem Gewissen behaupten, daß ich aufgrund der Kunde von seinem Tode Bedauern verspürte.« »Nicht einmal, da du erfuhrst, daß er den Tod eines gemeinen Verräters starb? Er war ein Edelmann, Cathan, ein Edelmann.« »Seine Mörder hegten offenbar die Auffassung«, sprach Cathan in geheimnisträchtiger Weise, »daß er's dennoch so verdiente.« Imre straffte sich auf diese Entgegnung mit einem Ruck, wandte sein Haupt ab und schloß schmerzlich berührt die Augen; Cathan konnte es nicht sehen. »Edle Verräter sterben durch des Henkers Axt oder Richtschwert, nicht durch den Strang oder den Dolch, sie verfallen nicht den gräßlichen Martern, wie Rannulf sie erleiden mußte.« »Adel ist nicht zwangsläufig durch die Geburt zugeeignet, Sire«, sprach leise Cathan. »Mangelt's einem Manne daran, so können alle Lorbeeren, Diademe und Kronen der Welt ihm keinen verleihen.« »Nein«, pflichtete Imre ihm kaum vernehmlich zu. »Und andererseits kann die niedrigste Art des Todes Adel nicht nehmen.« Er blickte hinab auf seine Hän-
de, drehte sie benommen vor sich hin und her, als sähe er sie nicht richtig, dann zwang er seinem Antlitz eine sanftmütigere Miene auf. »Doch wir schweifen ab«, sprach er unvermittelt, machte kehrt und näherte sich langsam Cathan, eine Hand ausgestreckt, »und unterdessen rückt die Stunde heran, da der Hof sich zum Festmahl versammelt. Komm, mein Freund. Wir müssen den Eindruck von Frohsinn erwecken, mögen wir in unseren Herzen auch trauern.« Er streckte den Arm aus, als beabsichtige er Cathan an seinen Busen zu drücken, und seine Lippen lächelten, gleichwohl ihm bereits das Herz im Leibe springen wollte. Doch als sein Arm Cathans Schulter umschlang und Cathan erleichtert lächelte, huschte Imres andere Hand zum Griff des Dolches, den er im Rücken trug. Eine geschwinde Verlagerung des Gewichtes, ein Zucken des Handgelenkes, und es war vollbracht, der Dolch bohrte sich aufwärts zwischen Cathans Rippen, zertrennte in einem tödlichen Stoß Adern und Nerven und traf das lebendige Herz. Cathan starb, als er in Imres Armen zusammensackte, und sein mannhaft schönes Antlitz spiegelte Staunen und Arglosigkeit, eines Kindes Unschuld wider. Imre sank langsam nieder, als er sah, was er da getan hatte, den toten Cathan in seinen Armen; gedankenlos und stumm barg er den geliebten Freund an der Brust, und Cathans Blut befleckte seine Gewandung, die auffällige Robe in Schneeweiß und Silber. Unverändert traf ums Viertel einer Stunde später Coel Howell das Paar an, nachdem mehrmaliges Nachfragen bei Imres Knappen lediglich enthüllt hatten, daß der König noch mit Herrn Cathan allein sei und
keinerlei Störungen wünsche. Zuerst fand sich Coel damit ab, obschon er ruhelos mit seines Stockes Knauf spielte, während die Zeit verstrich. Als er das Warten schließlich nicht länger zu ertragen vermochte, humpelte er zur Tür und pochte; klopfte nochmals und lauter. Eine ganze Zeit lang regte sich nichts, und endlich öffnete er die Tür um einen Spalt und spähte hinein; er erstrarrte in höchstem Schrekken, dann schlich er sich über die Schwelle, schloß drinnen die Tür und verriegelte sie, derweil ihm in der Kehle der Atem stockte. Imre kauerte reglos, den Rücken zur Tür gekehrt, über einer stillen, in Weiß gewandeten Gestalt; neben ihm hatte eine große Lache von dunklem Blut den Marmorboden besudelt. Der König tat keine Bewegung, als Coel sich zaudrig näherte, und einen Moment lang fragte sich Coel, ob all dies Blut allein von Cathan stammen könne. »Sire? Eure Hoheit, seid Ihr unversehrt?« Noch immer blieb Imre bewegungslos, doch erkannte Coel nun, daß er atmete. Der König hielt Cathans leblosen Leib schlaff in seinen Armen, Imres lohbrauner Schopf war tief herabgesunken, Cathans dunkles Haar war nach vorn gefallen und verbarg sein Antlitz. An Imres Händen klebte Blut, und ebenso an einem Dolch aus ziseliertem Silber, der neben seinem Knie lag. Behutsam kniete Coel bei dem Paar nieder, zuckte zaghaft, als er sein verbundenes Bein beugte. »Eure Hoheit, seid Ihr verletzt? Was ist geschehen?« Beim Klang der Stimme fuhr Imre zusammen, blickte jedoch nicht auf. »Ich habe ihn getötet, Coel, ich mußte es tun«, flüsterte er, so leise, daß Coel die ersten Worte nicht verstand. »Was Ihr sagtet, war die Wahrheit. Er hat mich belogen, aber... aber... O Gott,
was soll ich nur tun? Ich habe ihn umgebracht!« Er hob sein von Tränen zerfurchtes Antlitz und starrte Coel aus einer Miene tiefsten Elends an; seine Augen waren geschwollen und rot vom Weinen. Dann senkte er seinen Blick wieder auf Cathan und ließ ihn langsam aus seiner Umarmung gleiten, den Leichnam auf seinen Schoß rutschen. Cathans Antlitz zeugte auch im Tode von nichts als Verblüffung, die Augen waren halb offen und starr. Imre erschauderte, als er sie sah, doch als Coel einen Arm ausstreckte, um sie zu schließen, schlug Imre ihm auf die Hand und drückte des Toten Lider eigenhändig zu. Danach bettete er den Leichnam auf den Fußboden, während er erschüttert unablässig sein Haupt schüttelte, als stünde er dicht vorm Ausbruch eines neuen Tränenstromes, und er schluchzte gedämpft. Coel schluckte unruhig und wischte sich die feuchten Handflächen an den Beinkleidern ab, sich dringlich dessen bewußt, daß er Abhilfe schaffen mußte, ehe Imre vollends zusammenbrach. So etwas hatte er nicht erwartet. Er hatte deutlich genug begriffen, was Imre am Morgen meinte – daß Cathan nicht durch des Henkers Axt oder überhaupt bei irgendeiner öffentlichen Hinrichtung sterben werde –, doch wäre er nie auf den Gedanken verfallen, Imre könne höchstpersönlich zur Tat schreiten. Herbeiführung eines Unfalls, oder auch ein Hinterhalt – aber niemals hätte er damit gerechnet, die königlichen Hände von Blut besudelt zu sehen. Aber er durfte nun nicht wanken. Imre glaubte jetzt selbst, daß Cathan ihn hintergangen habe, und in eben diesem Glauben mußte er auch verbleiben, wenn Cathans Tod Coel von irgendeinem Nutzen sein sollte. Jetzt, da Imre noch schwach und verwirrt
war, mußte er die Saat aussäen, die ihn darin bestärkte. Außerdem bestand die Möglichkeit, daß er, falls nämlich die Nachforschungen bezüglich Joram MacRories und Rhys Thuryns brauchbare Ergebnisse erbrachten, bald jeglicher Beweisführung enthoben war. »Kommt, Sire«, sprach er den König mit sanftmütiger Stimme an. »Hier vermögt Ihr nichts zu tun. Die Vergangenheit ist vorüber. Ihr tatet, was Ihr tun mußtet.« Imre zog mehrmals lautstark die Nase und schüttelte wiederum sein Haupt. »Er hat mich angelogen, Coel«, wisperte er. »Ich schenkte ihm Vertrauen und Liebe, und er dankte mir mit Untreue.« »Und doch habt Ihr nunmehr Eure Liebe zu ihm durch Eure Gnade bekräftigt, Sire. Nicht jeder König wollte einem Verräter einen solch huldreichen Tod vergönnen.« »Als Verräter mag er nicht unbedingt gelten«, widersprach leise der König. »Nein, eines Freundes Treulosigkeit war's, die ich ihm hier entlohnte. Darum durfte er nicht unter die Axt.« »Dann war's nur gut für ihn, auf diese Weise zu sterben, wie ihn der Tod ereilte, Sire, bevor anderes, das ihn belastete, ans Licht der Sonnen geraten wäre«, murmelte Coel, pflanzte so die neue Saat und hoffte, daß sie gedeihe. Ein kurzes Schweigen herrschte, dann blickte Imre in dumpfem Schmerz zu Coel hoch. »Was?« »Verzeiht mir, Sire. Es gibt Hinweise darauf, daß er womöglich in eine Angelegenheit größeren Maßstabs verwickelt gewesen ist. Doch ich flehe Euch an, befaßt Euch jetzt nicht damit. Der Mann ist tot.« »Was anderes?« beharrte dagegen Imre. »Ich will's
wissen.« »Ich weiß selber noch nicht genau Bescheid«, antwortete Coel und täuschte Zaudern vor. »Etwas, in das seine Sippe verstrickt ist, vor allem sein Bruder Joram, ferner ein Heiler namens Rhys Thuryn, überdies wahrscheinlich auch sein Vater. Bislang verfüge ich über keine handfesten Beweise, ich habe nur diesen Verdacht Doch ich erachte es als erforderlich, auf diese Leute waches Augenmerk zu richten. Soll ich dafür Sorge tragen?« Der König blinzelte und schluckte schwer, seine Augen waren glasig aus Gram; dann nickte er einmal knapp. Er hob einen Arm, als wolle er sich mit dem Ärmel übers Antlitz wischen, aber Blut war ebenso an seiner Hand wie an des Ärmels Pelzsaum, und ein großer Blutfleck verdunkelte seine Brust, wo er Cathan, als selbiger starb, an sich gepreßt hatte. Er hielt bestürzt inne, als sähe er das Blut zum ersten Mal, dann sah er aus Augen zu Coel empor, die plötzlich Furcht widerspiegelten, als sei er ein im Wald verirrtes Knäblein. »Mein Gott, er ist tot! Was wird sein Vater sagen?« »Was zählt das?« entgegnete Coel mit eherner Stimme. »So Euer Wille nichts anderes bestimmt, ist Camber MacRorie wie jeder andere im Reich Euer Untertan. Ihr braucht Eure Handlungen vor ihm nicht zu rechtfertigen. Außerdem steht er ja selbst unter Verdacht.« »Aber...« »Was die Welt draußen betrifft, brach Cathan MacRorie vom einen zum anderen Augenblick zusammen und starb, als er vor der Einleitungsfestlichkeit zum Weihnachtshofe mit seinem König sprach«,
erklärte in ernstem Tone Coel, seinen Blick fest und eindringlich in Imres Augen gerichtet. »Ihr seid der König. Wer will Euch Lügen strafen?« »Aber die Wunde...« »Wenn Ihr ihr Vorhandensein mißachtet, dann gibt es keine«, versicherte ihm entschlossen Coel. »Kommt, Sire.« Er hob eine Hand. »Der Hof wartet, Ihr müßt die Gewandung wechseln. Derweil Ihr Euch dem widmet, werde ich veranlassen, daß man den Leichnam nach Caerrorie befördert.« Noch benommen, aber bereits überredet, senkte Imre seinen Blick ein letztes Mal auf Cathans stille Gestalt und berührte zum Abschied des toten Freundes Schulter. Daraufhin entäußerte er einen überaus beschwerlichen Seufzer und raffte sich auf. Doch er übersah die Hand, welche ihm Coel anbot, und er mied auch des Älteren Blick. Und als Coel den König seinen Kammerdienern überließ, die ihn waschen und umkleiden sollten, war der Edelmann sowohl gedankenschwer wie auch voller Unbehagen. Coels Worte, als er seine Befehle verfaßte, gerieten gekünstelt und waren achtsam gewählt. Eine halbe Stunde später pochte Coel, gewappnet mit den Befehlen, die er niedergeschrieben hatte, an die Tür von Imres inneren Gemächern und öffnete sie, ohne darauf zu warten, daß ihm die Diener Einlaß gewährten. Aus dem benachbarten Raum ertönte das Klirren von Glas, das zerschellte, dann kam von dort mit rotem Antlitz ein Knappe, der einen dunkelroten Spritzer von seiner weißen Hoftracht zu tupfen versuchte. Fast im selben Augenblick hörte man Imre nach neuem Wein rufen. Dem Klang seiner Stimme
zufolge hatte er bereits mehr als eine vernünftige Menge getrunken. »Mein Lehnsherr«, rief Coel und trat mit einiger Vorsicht ins Schlafgemach, »die Zeit drängt.« Mit dem Klappern von Holzringen rutschte einer Ankleidenische Vorhang zur Seite und gab den Blick auf Imre frei, der sich mit einer von Juwelen glitzrigen Hand, wogegen die andere Faust einen silbernen Pokal hielt, an den Vorhangstoff klammerte, das Antlitz gerötet, die Augen wild. Sein Haupthaar war unordentlich. Er trug ein kostbares Gewand aus scharlachrotem Samt, ein wenig unsittsam kurz und am Brustteil, am Kragen und den Ärmeln reichlich verziert mit Kügelchen aus Golddraht. Hinter ihm schnitten zwei Kammerdiener, gekleidet in weißen Samt mit Pelzbesatz, so wie vorher Imre selbst, Mienen allerstärksten Unbehagens; der eine hielt unruhig Imres Krone zwischen behandschuhten Fingern, der andere hatte in den Händen einen Kamm aus Elfenbein. Dahinter, im nächstliegenden Raum, konnte Coel den Wirrwarr erspähen, der zuvor Imres Kleiderkammer war, wahllos umgeworfene Truhen mit etlichen nun verstreuten Kleidungsstücken, und in der Mitte lag am Fußboden ein Haufen aus weißem Samt, der besudelt war mit tiefroten Flecken. Es bedurfte nur geringer Vorstellungskraft, um sich die königliche Ungnade und ihr Wüten auszumalen, sobald Imre mit den Dienern allein war und seinen ansonsten leeren Magen mit einer gehörigen Menge starken Weines angefüllt hatte. Der Kammerdiener mit dem Kamm regte sich unwohl und machte Anstalten, sein Werkzeug zu seines Herrn Haupt zu heben, aber dann sah er davon ab und heftete seinen
Blick achtsam auf Coel. »Seine Hoheit belieben heute abend Scharlachrot zu tragen, Herr«, erklärte er; sein Tonfall bezeugte deutlich seine Mißbilligung von Imres Eigenwillen und die Hoffnung, der ältere Edelmann werde ihm darin beipflichten. »Ganz wie Seine Majestät wünschen«, sprach jedoch Coel. Er vollführte eine knappe Verbeugung und schob das Pergament, das er mitgebracht hatte, unter sein Gewand. »Sire, Eure Erscheinung wird dem gesamten Hofe den Atem verschlagen. Doch wäre ich, so Ihr's erlaubt, ungemein froh, dürfte ich Euch bei der Vollendung des Ankleidens behilflich sein, so daß diese zwei feinen Kerls ihren übrigen Pflichten nachzugehen vermögen.« Imre blickte ihn scharf an, schwankte leicht auf den Beinen und stieß ein abgehacktes, haltloses Kichern aus. »Freilich, mein lieber Mann. Wirf diese Tölpel hinaus.« Er riß den Kamm an sich und unternahm einen nachdrücklichen Versuch, damit seinen Schopf zu bändigen, und in der Heftigkeit seines Unternehmens schüttete er fast Wein auf das noch saubere Gewand; dann verhielt er fügsam, als Coel ihm den Pokal entwand und seitwärts auf einem Tisch abstellte. Coel schob die beiden Diener zur Tür der Kleiderkammer, wies auf das von Blut beschmutzte Gewand und wisperte ihnen die Anweisung zu, es zu verbrennen, dann schloß er die Tür hinter den beiden und eilte zurück an Imres Seite, der sich damit belustigte, sein Haupthaar noch ärger zu zerzausen. Mit einem Lächeln verbeugte sich Coel, nahm Imre flink den Kamm ab und begann die langen, nußbraunen Locken zu entschlingen. Sobald er damit fertig war, wandte er sich ab und ergriff die Krone, welche die
Kammerdiener zurückgelassen hatten, und er lenkte seine Aufmerksamkeit gerade noch rechtzeitig wieder auf Imre, um zu verhindern, daß der König seinen Pokal erneut leertrank. Zu seinem Glück befand sich der Herrscher noch in verträglichem Zustand, so daß er sich nicht widersetzte, als Coel ihm das Trinkgefäß wegnahm. Doch der König hatte weiß Gott für ein Weilchen genug getrunken. Ob Imre später den Festsaal noch aus eigener Kraft verlassen konnte, war allein seine Sache; mußte man ihn hinaustragen, wäre es nicht das erste Mal. Aber Coel hatte nun um jeden Preis dafür zu sorgen, daß Imre erst einmal in die Halle gelangte, oder die Prinzessin Ariella würde noch ungnädiger sein, als es aufgrund der bisherigen Verspätung ohnehin zu erwarten stand. Coel beförderte den Pokal aus des Königs Reichweite und hoffte, Imre werde keinen Streit anzetteln. Betrunken konnte Imre ein äußerst heikler Jungmanne sein. Aber Imre begehrte nicht auf; er ließ sich hinstellen und die Krone aufs Haupt drücken, und er blieb auch stille stehen, als Coel ihm den kurzen, mit Hermelin gesäumten Umhang über eine Schulter legte, dessen Pelzbesatz sich lebhaft vom Blutrot des Gewandes, seiner Beinkleider und des Schuhwerks abhob. Erst als sie bereits zum Ausgang strebten, besann sich Coel auf das Schriftstück unter seinem Gewand. Ruckartig drehte er den König wieder um und führte ihn zu einem Schreibpult, während er das Pergament herauszog. »Eines nur bleibt noch zu erledigen, Sire«, erklärte er und breitete das Pergament aus, »dann begeben wir uns in den Festsaal, wo Ihr Euch weiter am Weine laben könnt.« Als er den Federkiel ins Tintenfaß tauchte und ihn
Imre reichte, nahmen des Königs Augen plötzlich einen Ausdruck von Kälte an, Achaten gleich, und Coel erkannte, daß die Trunkenheit zu großem Teil eine Maske war, wenn nicht gar zur Gänze. »Die Befehle in bezug auf Camber?« fragte Imre und sprach jede Silbe mit großer Sorgfalt aus. Coel nickte, urplötzlich insgeheim von höchster Unsicherheit erfüllt, obgleich sich davon keine Spur auf seinem Antlitz abzeichnete. Imre musterte ihn für einen langen Moment, dann bemächtigte er sich mit schroffer Geste des Federkiels und kritzelte an des Pergamentes Rand seinen Namen. Halb gespannt und halb verwundert sah Coel zu, wie Imre den Federkiel in sein Behältnis rammte und dabei die Spitze verdarb, sich dann ohne Verzug abwandte. Imre hatte die Befehle nicht gelesen, des Schriftstückes Inhalt nicht einmal oberflächlich zur Kenntnis genommen. »Wünscht Ihr sie nicht zu lesen, Sire?« »Nein.« Imre trat um ein paar Schritte beiseite und neigte sein Haupt, und Coel betrachtete den Bogen, die Tinte, welche bereits trocknete, die mit eigener Hand geschriebenen Worte – diesmal verweilte sein Blick endlich darauf mit Unbefangenheit –, dann entschied er sich für das Wagnis einer weiteren Nachfrage. »Ihr wißt, Sire, ich hätte alles mögliche schreiben können. Es möchte für sie alle das Todesurteil sein.« »Für so etwas brächtet nicht einmal Ihr die Keckheit auf«, antwortete leise Imre, ohne ihn anzusehen. »Ich habe unterzeichnet, und die meisten Männer empfänden das als einen Beweis des Vertrauens. Wollt Ihr Eures Königs Beurteilungsvermögen in Frage stellen?«
Coel verhehlte ein Lächeln, nahm das Pergament, betrachtete die nunmehr trockene Unterschrift und knickte es schließlich in scharfen Falten zusammen. »Selbstverständlich nicht, Sire. Beliebt Ihr zu besiegeln, oder soll ich's für Euch tun?« »Das Siegel ist an seinem Platz in der Kassette«, gab Imre gedämpft zur Antwort. »Einst war das sein Vorrecht. Nun, dank seiner hinterlistigen Ermordung, genießt Ihr's.« »Seines bedauerlichen Ablebens, Sire«, berichtigte ihn Coel in ähnlich umgänglichem Tonfall, jedoch mit verstärkter Zuversicht. »Unglücklich...« Er schwieg zum Zwecke der Betonung einen Augenblick lang, während er der Kassette das Siegel entnahm. »... aber notwendig.« »Notwendig«, wiederholte in gepreßtem Wispern Imre. Er hörte nicht, wie das Wachs zischte und brodelte, aufs gefaltete Pergament troff und den Abdruck des Königlichen Siegels erhielt. Und kurz darauf strebten die beiden Männer den Korridor zum Festsaal hinunter – Imre hatte in der Hand wieder seinen Pokal, den ihm nochmals zu verweigern sich Coel nicht erkühnt hatte – während die Befehle unterwegs zu ihren Empfängern waren, die Cathans Leichnam heim zu Camber befördern sollten. An jenem Abend verlief die Festlichkeit erheblich verdrießlicher als Coel infolge Imres anfänglichem Rauschzustand schon befürchtet hatte. Ariella, erwartungsgemäß über ihres Bruders Unpünktlichkeit verärgert, hatte eine zumutbare Zeitspanne lang abgewartet, derweil die Gäste ruhelos durch die große Halle wimmelten, dann jedoch begab sie sich unter
die Festgesellschaft und ließ Platz nehmen; zwar wagte selbst sie's nicht, das Fest ohne Imre zu beginnen, doch floß bereits reichlich der Wein, die Musikanten spielten, und die Gäste ergingen sich anläßlich der Eröffnung des Weihnachtshofes Imres von Festil in Plaudereien und Gesprächen, die nicht minder glanzvoll und pomphaft waren als ihr Prunk und Gepränge. An der herrschaftlichen Tafel, neben ihres Bruders leerem Platz, lachte und trank Ariella und schäkerte mit den vornehmen Fürsten und Edlen in ihrem Umkreis, und ihre lebensfrohe Schönheit leuchtete in ihrer Hülle aus Samt, Satin und schneeweißem Pelz. Diamanten funkelten an ihrer Kehle, ihren Handgelenken und an ihres Gewandes Saum; weitere bebten verführerisch an ihrer Stirn unter der seidigen Fellhaube, die ihr Haar bedeckte und ihr Antlitz umrahmte wie eine sonderliche Winterblume. Die gesamte Festgesellschaft war heute in Beachtung von Imres Wunsch, daß diese Hofveranstaltung ihrem winterlichen Zeitpunkt entsprechen möge, in Weiß gekleidet, und so erlebten die Höflinge und Adeligen eine Überraschung, als ihr Monarch sich plötzlich auf der Schwelle zur Festhalle von Kopf bis Fuß in Scharlachrot einfand, ausgenommen seines Umhanges Pelzbesatz. Aus seinem lautstarken Auftreten und dem Pokal in seiner Hand ließ sich mit Leichtigkeit schlußfolgern, was die Königliche Hoheit aufgehalten hatte; das meinten jedenfalls die Versammelten. Ohne am Eingang lange genug zu verweilen, um Zeremonien Zeit einzuräumen, bahnte sich Imre einen Weg durch die Halle, und Coel humpelte verlegen an seiner Seite mit ihm. Die verblüfften Gäste
kippten Bänke und Stühle um, indem sie überstürzt aufsprangen und sich, als der König vorüberstapfte, tief verbeugten, aber hätten sie sich nicht gerührt, für Imre wäre es kein Unterschied gewesen. Ariella, besser an ihres Bruders Eigenheiten gewohnt, wenn er getrunken hatte, nahm einen Becher voller Wein, als er die Estrade erreichte und an seinen Platz torkelte, und reichte ihn ihm mit einem vollendeten Hofknicks. »Ihr seid betrunken, königlicher Bruder, und kommt spät«, flüsterte sie sotto voce, als er den Becher entgegennahm und sofort bis auf den Grund leerte. »Um alles in der Welt, wo seid Ihr gewesen?« »In der Hölle, gnädiges Fräulein, in der Hölle.« Imre ließ ein Rülpsen erschallen, winkte in die Runde, daß man sich wieder setzen möge, und befahl den Musikanten zu spielen. Während die Musik und die Unterhaltungen von neuem anfingen, suchte Coel seinen Platz in der Nähe der Königlichen Tafel auf und beobachtete hochinteressiert, wie Imre einen zweiten Becher leerte, Ariellas weitere Versuche, ihn zu befragen, gänzlich mißachtete, seinen Becher von einem Pagen nachfüllen ließ und erneut den Wein hinabstürzte. Die Diener hatten noch nicht einmal des Festmahles ersten Gang auftragen können, da erhob sich der König plötzlich mit unsicherer Schwerfälligkeit auf die Füße, das Antlitz vom Wein puterrot, den Becher in zittriger Hand. »Was lacht hier alles und belustigt sich am eignen Frohsinn?« brüllte er. Rasch ergab sich im Saal Stille, und die Musikanten unterbrachen ihr Spiel mit ein paar Mißtönen. »Was ist das für eine Heiterkeit?« schrie der König, dessen Stimme aus Entrüstung heiser klang, derweil seine Augen gefährlich glitzerten.
»Ihr, Selkirk! Antwortet! Warum diese Lustbarkeit an diesem Abend, ausgerechnet heute abend?« Der Waffenmeister, der seinen Platz mit einer Anzahl von Gefährten weiter drunten inmitten der Halle hatte, stand hastig auf und vollführte eine Verbeugung, das Antlitz so weiß wie das Gewand, welches er trug. »Mit Eurer gütigsten Erlaubnis, Eure Hoheit, doch Ihr selbst habt diese Festlichkeit angeordnet.« »Ich?« Imre schwieg, um einen langen Zug aus seinem Becher zu trinken. »Ich habe sie angeordnet«, wiederholte er ungläubig, als habe er niemals zuvor eine so lachhafte Behauptung vernommen. »Verruchter Kerl, Selkirk, wißt Ihr nicht, daß heute ein Mann den Tod fand?« Er schleuderte seinen Becher nach dem Waffenmeister, der sich duckte, und das Wurfgeschoß verfehlte nur knapp eines Pagen Haupt, dann fegte er einen Arm in ganzer Länge vor sich über die Tafel und warf silberne Kannen und Platten hinab auf den Fußboden, wo sie klirrten. »Hölle und Verdammnis, hinaus! Alles hinaus, hinaus!« Er ergriff einen Krug, diesmal aus Glas, und schmetterte ihn mit einer Verwünschung auf den Boden, dann schwankte er rückwärts und warf seinen Lehnstuhl um, als er sich anschickte, aus der Festhalle zu wanken. Seine Schwester, durch sein Verhalten wie versteinert und darüber erbost, murmelte dem Küchenmeister zu, er solle die Räumung des Saales bewerkstelligen, dann eilte sie Imre hinterdrein. Eine Schildwache mit geweiteten Augen wies ihr das Gemach, wohin der König entschwunden war, aber alles Zureden und Flehen Ariellas vermochte ihn nicht herauszulocken. Schließlich rauschte Ariella, nunmehr selbst
tief ergrimmt, zurück in die Halle, um sich übellaunig dessen zu vergewissern, daß man ihren Befehlen nachkam, bevor sie sich zum Schlafe in ihre Gemächer entfernte. Nach einem Weilchen schlief auch Imre, auf dem Antlitz am Boden des Gemachs ausgestreckt, worin er Zuflucht gesucht hatte, neben seinem Haupt den Teppich von einem Becher Wein besudelt. Doch nicht viele Stunden verstrichen, ehe ein dumpfes Schuldgefühl und eine pralle Blase ihn weckten, und er wendete viel Umsicht auf, als er, noch sturzbetrunken, in des Gemachs benachbarte Kleiderkammer torkelte, um dort seinen Harn abzulassen. Vom Wein kreiselte in seinem Schädel alles, und er füllte mit unsteten Händen den Becher auf, ehe er sich zur Tür wagte und den Riegel hob. Draußen waren die Fackeln in ihren Wandhaltern nahezu niedergebrannt, und in den Korridoren herrschte Ruhe. Eine vereinzelte Schildwache nahm ruckartig eine achtungsvolle Haltung an und grüßte den König mit der vorgeschriebenen Forschheit, während selbiger sich den schmalen Gang entlangtastete, mit seiner freien Hand von der Mauer abstützte. Aus der Richtung, woher er gekommen war, konnte Imre gedämpft die Geräusche aus dem Festsaal hören, wo die Diener der unterbrochenen Festlichkeit traurige Überreste wegräumten, und da fiel ihm urplötzlich wieder der Grund seiner Trunkenheit ein. Im selben Augenblick befiel ihn ein Schüttelkrampf, und es kostete ihn die allergrößte Mühe, den Becher an seine Lippen zu heben und daraus zu trinken. Danach erklomm er die Wendeltreppe zu seinen Gemächern, verweilte in halber Höhe zu kurzer Rast und Stärkung; sodann
machte er kehrt und stieg die Treppe hinunter, schlurfte auf unsicheren Beinen durch einen anderen Gang zu einer anderen Wendeltreppe. Er wollte zu Ariella. Sie würde für ihn Verständnis hegen – wenngleich er sich daran zu erinnern glaubte, daß sie ihn vorhin, bevor er einschlief, durch die Tür angeschrien hatte. Sie würde wissen, was getan werden mußte. Sie war's, die stets seinen Kummer besänftigt hatte, als er ein Kind war, sie hatte ihn immer zum Schutze wider die Schrecken der finsteren Nacht in ihre Arme geschlossen; sie würde auch jetzt Worte zu seinem Trost finden. Ihn nicht im Stich lassen, wie's Cathan und all die anderen getan hatten. Nach kurzer Frist stand er wirklich vorm Eingang zu ihren Gemächern, ein wenig zaudrig, schwankte auf den Füßen und starrte in die Tiefe seines fast wiederum geleerten Bechers. Endlich gab er sich einen Ruck, trank den Rest und hämmerte wie mit Donnerschlägen an die Tür. »Ariella?« rief er, doch beim ersten Mal versagte seine Stimme. »Ariella? Ariella, öffne die Tür! Bitte...!« »Wer... wer ist dort?« ertönte von der Türe anderer Seite eine zittrige Stimme, offenbar einer Zofe gehörig. »Ich wünsche Ariella zu sprechen. Ich bin's, Imre.« Ein Keuchlaut erscholl, dann aus größerer Entfernung eine unverständliche Anweisung, die Tür tat sich ihm auf, und eine Zofe machte einen umständlichen Hofknicks. Ohne sie zu beachten stolperte Imre einwärts und taumelte zur Tür des Schlafgemaches Darinnen entzündete eine andere Zofe soeben Kerzen, und Imre bemerkte, als er eintrat, die schemenhafte Gestalt seiner Schwester, die über ihr Nachtgewand eine Robe zog, gerade ihrem geräumigen, mit Vorhängen
versehenen Himmelbett entstiegen. Das Aufflackern der Kerzen blendete widerwärtig seine Augen, und er vermochte sie nicht deutlich zu erkennen. »Mein Becher ist leer, Ariella«, beklagte er sich mit leiser Stimme und drehte ihn abwärts und schüttelte ihn, um zu beweisen, daß er die Wahrheit sprach. Aus den Schatten drang mit zur Ermutigung geeigneter Ruhe die Stimme seiner Schwester. »Maris, schenke Seiner Hoheit Wein ein. Dann laßt uns allein.« Das Mädchen bei den Kerzen kam herüber, vollführte einen raschen Hofknicks und füllte seinen Becher. Als die Zofe sich jedoch hinwegbeeilen wollte, packte er ihren Ärmel und hielt sie zurück, während er gierig den Becher leertrank, um ihn ihr erneut hinzustrecken. Die Zofe sah ihre Herrin an, füllte den Becher nochmals, stellte die bauchige Flasche auf einem Tisch ab und ging mit der anderen Maid hinaus. Imre setzte den Becher von neuem an die Lippen, doch plötzlich verdunkelte etwas den Kerzenschein, und er blickte auf. Zwischen ihm und den Kerzen stand seine Schwester; ihr rötliches Haar fiel herab auf ihre Schultern. Er vermochte ihr Antlitz nicht zu erkennen, aber der Kerzenflämmchen Schein schien ihr Haupthaar mit Feuerzungen zu umlodern. »Ariella?« sprach er mit schwacher Stimme ihren Namen. Eine schlanke, weiße Hand streckte sich ihm entgegen, senkte sich auf seine Faust, die den Becher umklammerte. »Seid Ihr nicht auch der Auffassung, königlicher Bruder, daß Ihr für heute zur Genüge getrunken habt?« »Niemals ließe sich genug trinken, um dies fortzuspülen«, murmelte er und wollte den Becher erneut
heben; als sie seine Hand nicht freigab, runzelte er die Stirn. »Du begreifst nicht, worum's geht, Ariella. Er ist tot. Ich habe ihn umgebracht.« Die Finger auf seiner Hand regten sich nicht im mindesten. »Wer ist tot, Bruder Imre? Wen habt Ihr getötet?« Auf diese Fragen zuckte seine Hand krampfartig, sein Griff um den Becher lockerte sich, und das Gefäß wäre ihm entfallen, hätte sie's nicht aufgefangen. Ein Schluchzen würgte ihn in der Kehle und schüttelte seinen ganzen Leib, während er sein Antlitz in den Händen vergrub. »Cathan. Ich habe Cathan getötet. Er war ein Verräter, und ich mußte es tun, aber... O Gott, Ariella, ich habe ihn getötet. Und... und ich... liebte ihn.« Ariella schloß für einen kurzen Moment die Augen, indem sie des ernstmütigen, entschlossenen derynischen Edelmannes gedachte, dessen wahren Wert sie und Imre nie auszuloten vermocht hatten, dann hob sie langsam Imres Becher an die Lippen und trank tief in spöttischem Zutrunk des Glückwunsches. Sie ließ den leeren Becher an ihrer Seite auf den Teppich plumpsen und nahm ihren Bruder in die Arme, so wie früher, da sie beide noch nichts anderes waren als Kinder. »Ihr werdet's verwinden, Imre«, versicherte sie mit leiser Stimme, während er sich an ihre Schultern hing und Tränen in seinen Augen schimmerten. »Ihr seid der König und müßt tun, was Ihr zu tun habt. Aber Ihr seid auch ein Mann, und als Mann dürft Ihr einen Freund beweinen.« Da er dies vernahm, überwältigte der Gram Imre vollends, und er sank, indem er laut und bitterlich schluchzte, nieder auf seine Knie, verbarg sein Antlitz
an seiner Schwester Hüften. So verblieb er für eine beträchtliche Weile und schluchzte auf die allerherzzerreißendste Weise. Sie streichelte sein Haupthaar, rieb seine Schultern, um deren Verkrampfung zu lösen, und koste seinen Scheitel mit ihren Lippen. Nach einiger Zeit linderte sich sein Ausbruch von Kummer und wich immer mehr einem Prickeln, das alle Teile seines Körpers durchdrang... und ebenso des ihren. Und als er sein von Tränen überströmtes Antlitz hob und die Leidenschaft in ihren Augen erkannte, da war er sich plötzlich der weichen Verlockung ihres Leibes bewußt, den seine Arme umklammert hielten. Mit der Benommenheit einer unvermuteten Erkenntnis begriff er, daß sie beide seit langem auf diesen Augenblick geharrt hatten. Als er sich aufraffte, suchte ihr Mund den seinen, nicht minder gierig als sein Verlangen heiß. Er spürte, daß sie sich fest an ihn drückte, als sie einander umschlangen, ihre köstliche Sanftheit, während seine Lippen an ihrem Hals hinabglitten, er sein Antlitz an ihre makellosen Brüste preßte. Dann zog es, trieb es sie miteinander in die düsteren Schlupfwinkel des riesigen verhangenen Bettes, das Blut wummerte ihm durchs Haupt, und er verlor sich im Drängen nach süßem Vergessen.
11 In ewigem Andenken bleibt der Gerechte. Psalm 112,6 Eine bedrückte, stille Versammlung war's, welche am nächsten Tag des Königs Mannen begrüßte, die Cathan MacRorie heimbeförderten. Der Zug aus Valoret traf kurz vor der Mittagsstunde in leichtem Schneegestöber ein, brachte Cathans Leichnam in einer Sänfte zwischen zwei Rössern, die schwarze Dekken und schwarze Federbüsche trugen, und der Leichnam selbst ruhte unter einem schwarzen, vom Frost bereiften Tuch. Des Königs Reiter, zwei Dutzend waren's, hatten ihre Lanzen umgekehrt in die Steigbügel gestützt. Beiderseits der Totenbahre schwangen je ein Paar Mönche Weihrauchkessel und sangen Gebete für des Verschiedenen Seele. Hinter der Eskorte folgten in einer zweiten Sänfte des Toten Witwe und Kinder, am Schluß auf einem Pferd bei Wulpher der junge Revan sowie eine Handvoll getreuer Bediensteter von Tal Traeth. Keinen davon täuschte des Herrschers hohler Pomp zu Ehren des Toten, denn alle hatten den Leichnam blutig gesehen, ehe man ihn wusch, ankleidete und für die kurze Heimreise aufbahrte. Sie erkannten des Königs Heuchelei und durchschauten sie, doch ihr ganzes Ausmaß hätten sie sich nicht einmal in ihren ärgsten Träumen vorzustellen vermocht. Die Nachricht von Cathans Tod war aus der
Hauptstadt so flugs eingetroffen, wie's gewöhnlich nur schlechte Unglückskunde kann, und hatte Tor Caerrorie noch in den Nachtstunden erreicht. Der Mann, der sie überbrachte, war Crinan, Cathans ergebener Knappe. Er weilte auf Tal Traeth, als die Waffenknechte seinen Herrn tot ins Haus trugen; schier umnachtet aus Gram, stand er willenlos dabei, als des Königs Hauptmann barsche Befehle für die Herrichtung des Toten gab; dann hatte tiefer Stolz ihn erfüllt, als der alte Kämmerer Wulpher den Krieger zur Seite scheuchte und seinem hingemordeten jungen Herrn selber diesen letzten Dienst erwies. Zunächst hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, an seines Herrn Seite zu verbleiben, und der Einsicht ins Erfordernis, den Rest der Familie von dem schrecklichen Ereignis zu unterrichten und sie zu warnen, bewahrte Crinan für eine Zeitlang Ruhe, bis des Königs Reiter sich in des Herrenhauses Saal für die Nacht gelagert hatten, da sie dem Leichnam am folgenden Morgen das Geleit nach Caerrorie geben sollten. Danach erst, angetrieben von der Furcht, der König könne sich ohne Verzug wider alle MacRories wenden, verließ er seine Totenwache und sprang in eines Rosses Sattel, um nach Caerrorie zu sprengen. Drei Stunden später preschte er über den Weg zum Vorwerk der Burg auf das Haupttor zu. Der Lärm des Hufschlags störte die nächtliche Stille der Burg und veranlaßte die Hunde zum Anschlagen, und alsbald befand sich der Haushalt vollzählig auf den Beinen, zitterte im kalten, düster beleuchteten Burgsaal. Zuerst vermochte Crinan gar nicht zu berichten; nach dem langen, atemlosen Ritt durch Kälte und Schnee war er bei seiner Ankunft zu erschöpft. Aber er war
sich dessen sicher, daß Camber um den Grund seines Kommens wußte, ehe er ihn aussprach, auf diese unbegreifliche Weise, die anscheinend keinem anderen zu eigen war als den Deryni. Camber lauschte seinen Worten, als er schließlich seine Kunde vortrug, mit unbewegtem Schweigen und wandte sein Antlitz lediglich für einen Augenblick ab, bevor er sich mit ausdrucksloser Stimme an Bartel wandte und ihm den Auftrag erteilte, nach St. Liam zu reiten und Joram zu benachrichtigen. Rhys Thuryn befand sich auf der Burg und hatte in Cambers Bibliothek selbst so spät in der Nacht noch über Urkunden gebrütet, und er begab sich, als er von drunten die Unruhe vernahm, ebenfalls in den Burgsaal, wo er die schreckliche Neuigkeit voller Entsetzen erfuhr und Evaine, die bittere Tränen weinte, ratlos zum Troste in seine Arme schloß. Sobald er mit gedämpfter Stimme den Dienern einige weitere Anweisungen für die morgige Trauer gegeben hatte, bat Camber alle Anwesenden, sich wieder in ihre Gemächer zurückzuziehen und nach Möglichkeit noch ein wenig zu ruhen. Doch in jener Nacht fand man auf Caerrorie nicht wieder Schlaf. Am darauffolgenden Morgen versammelte sich Cambers Haushalt unter einem kalten, saphirblauen Himmel vor Caerrories Dorfkirche, um darin für Cathan MacRories Seele zu beten und seines Leichnames Heimkehr zu erwarten. Joram traf kurz vorm Anbruch der Morgendämmerung ein, der junge James Drummond um eine Stunde später. Evaine und Rhys knieten beisammen an Cambers Seite, zugleich mit Crinan, Bartel und einem Dutzend der vertrautesten Diener, während Joram für den Toten die Gebete
sprach. Unterdessen strömten draußen die Dorfbewohner zusammen, und Camber gestattete so vielen den Zutritt in die Kirche, wie darin Platz fanden; der Rest kniete still im Kirchhof. Als endlich die Meldung sich herumsprach, daß der Zug sich nahe, gingen die außerhalb der Kirche befindlichen Dörfler hin und säumten stumm die Dorfstraße, und ein jeder vollführte eine tiefe Verbeugung, als das Gefährt mit dem Toten vorüberrollte. Des Königs Hauptmann verstimmte dies Zeichen der Ergebenheit sichtlich, denn er wähnte es dem Herrscher vorbehalten, doch wagte er dagegen nichts zu unternehmen. Denn auf den Stufen der Kirche erwartete ein stolzer, grimmiger Mann seinen tot heimgekehrten Sohn – ein hochgeborener derynischer Edelmann, der unbeschreibliche Vergeltung üben konnte, sollte er's vorziehen, auf Rücksichtnahme zu verzichten. Der Hauptmann war selbst ein Deryni und im Gebrauch seiner Fähigkeiten nicht ungeschickt, aber ihm lag beileibe nicht an einem Kräftemessen mit Camber und Culdi. Indem er lautlos ein Stoßgebet himmelwärts sandte, daß der Graf von Culdi sich dem königlichen Willen nicht widersetzen werde, befahl der Hauptmann seinen Reisigen, abzusitzen und ruhig zu bleiben. Doch des Hauptmannes Sorge war unbegründet. Er hätte wissen sollen, daß Camber sich nicht hemmungslos irgendwelcher Gewalttaten befleißigte, auch nicht in tiefstem Gram. Camber stand aufrecht und still – totenstill, als habe ihn selber das Leben geflohen –, als der Zug anhielt, und sein Blick musterte kühl die Bewaffneten, während Joram, Rhys und die zwei Getreuen Crinan und Bartel die Totenbahre aus der Sänfte hoben und in die
Kirche trugen. Er umarmte Elinor und seine Enkel, ehe er sie ebenfalls ins Gotteshaus wies, wartete sodann, bis Wulpher, Revan sowie die übrigen Bediensteten aus Cathans Haus das Kirchenportal erreichten und unter heißen Tränen vor ihm auf die Knie sanken, und er richtete sie allesamt auf, einen um den anderen, und sandte sie, indem er mit leiser Stimme sanftmütig zu ihnen redete, auch ins Innere der Kirche. Danach schloß er sich ihnen in betonter Bedächtigkeit an und schloß der Kirche Portal von innen, so daß er damit auch den hartgesottensten unter des Königs Kriegern verdeutlichte, daß sie nicht willkommen waren in dieser Stunde der Trauer. Der Hauptmann war klug genug, um davon Abstand zu nehmen, Camber zum Aussprechen dieser Tatsache herauszufordern; statt dessen ließ er seine Männer durch seinen Unterführer wissen, sie dürften's sich gemütlich machen. Drinnen begann Joram MacRorie das Requiem für seinen erschlagenen Bruder. Nach Beendigung der Messe blieb Camber noch für lange Zeit neben seines Sohnes Leichnam knien und befaßte sich in Gedanken mit dem Schritt, den er als nächstes tun müßte. Das Begräbnis konnte erst am Abend stattfinden, da die Grabstätte noch nicht vorbereitet war, und so hatten die meisten Dörfler sich hinaus in den Kirchhof begeben, als die Messe endigte, und nur Mitglieder der Familie und des Haushaltes waren zu stummer Totenwache zurückgeblieben. Draußen harrten jedoch unverändert die Bewaffneten aus, und deswegen verspürte Camber Erstaunen; er wunderte sich, warum sie nicht nach Valoret umkehrten, fragte sich, welche Befehle sie außer dem, den Leichnam Cathans heimwärts zu geleiten,
erhalten haben mochten. Obgleich der Hauptmann diesbezüglich kein Wort zu ihm geäußert hatte – in der Tat war ihm ja von Camber selbst dazu gar keine Gelegenheit eingeräumt worden –, erwog der Graf die Möglichkeit, daß ihr Auftrag weiterreichender Art sein könnte, als sich bisher enthüllt hatte (Oder entsprang dieser Verdacht lediglich seinem eigenen schlechten Gewissen?) Was sollte werden, wenn diese Männer im Besitz von Arrestbefehlen für die gesamte Familie waren und nur auf das Ende der Begräbnisfeier warteten, die für den Abend vorgesehen war, ehe sie zur Vollstreckung schritten? Es mußte irgendeinen Grund für den Mord an Cathan gegeben haben. Konnte es denn sein, daß Imre irgendwie, gleichsam zugetragen durch den Wind, von ihrer Suche nach Prinz Cinhil erfahren hatte? Er ließ seinen Blick über jene schweifen, die nun noch in seinem Umkreis weilten; an seiner Seite Rhys; Evaine tröstete die gramgebeugte Elinor; James Drummond, der schwermütig allein weit rechts im Kirchenschiff kniete; die Bediensteten von Cambers eigenem und Cathans Haus. Die Kinder hatte Bartel vor einem Weilchen zurück auf die Burg gebracht; es war nicht erforderlich, daß sie den ganzen Nachmittag traurig und eingeschüchtert in der Kirche verbrachten. Es mochte sich als schwierig erweisen, was Camber nun beabsichtigte, aber es mußte getan werden. Mit einem leisen Seufzer bekreuzigte sich Camber und stand auf, schüttelte jedoch sein Haupt, als Rhys aufschaute und Anstalten machte, als wolle er sich ihm anschließen. Allein begab er sich in den Hintergrund der Kirche und verharrte bei einem der jungen Pagen, die dort noch knieten; er sprach eine Zeitlang
ruhig und leise zu ihm, und der Knabe nickte bisweilen nachdrücklich. Dann zauste Camber ihm zugeneigt den Schopf, und als er sich umwandte, zeigte sein Antlitz ein schwaches Lächeln; erneut schritt er durch den Mittelgang. Unmittelbar bevor Camber wieder seinen Platz an Rhys' Seite erreichte, sah sich der Page mit gleichmütiger Miene um, erhob sich und entschwand unauffällig durch eine Seitenpforte. Was mag denn das zu bedeuten haben? überlegte Rhys und wollte sich schon mit eben derselben Frage an Camber wenden, als der Graf sich von neuem an seine Seite kniete, doch der stolze Deryni schüttelte sogleich wieder unerbittlich sein Haupt und legte einen Finger an seine Lippen, ehe er erneut das Kinn auf die Brust senkte, wie zu inständigem Gebet. Verwundert betrachtete Rhys ihn, während Camber eine Hand ausstreckte und den Zipfel des Bahrtuchs ergriff, das Cathans Leichnam verhüllte, um den mit Seide gesäumten Samt an die Lippen zu drücken. Es handelte sich nicht um jenes Leichentuch, so wußte Rhys, das Imre mitgeschickt hatte; selbiges war unverzüglich entfernt worden, sobald sich der Tote im Innern der Kirche befand und man alle Türen geschlossen hatte, und nun war es ersetzt durch ein Leichentuch mit dem Wappen der MacRories darauf, welches seine Schwester Evaine noch in den Stunden vorm Anbruch der Morgendämmerung mit Cathans Abstammungsmerkmalen versehen, einer liebevoll ausgeführten Stickerei. Voll des tiefen Mitgefühls sah Rhys zu, wie Camber den Samt sinken ließ; er teilte des Älteren Trauer in einem Maße, wie es nur wenige vermochten. Als er in unwillkürlicher Geste der Hilfsbereitschaft eine Hand auf Cambers Arm legte,
blickte der Graf auf, und seine grauen Augen spiegelten Weisheit und Ernst von erhabener Fülle wider. »Mein guter Rhys, der Ihr mir lieb und wert seid wie ein Sohn«, sprach mit leiser Stimme der Graf, »wollt Ihr mit mir kommen und mir Beistand leisten?« Rhys nickte, stumm aus mangelhaftem Vertrauen in seine Stimme, und Camber lächelte flüchtig, drückte kurz Rhys' Hand, als sie sich gemeinsam erhoben. Geräuschlos begaben sie sich hinter das Altargeländer und durchquerten das Sanktuarium, woraufhin sie die Sakristei betraten, in die sich Joram nach der Messe zurückgezogen hatte. Joram kniete in einem Betstuhl, seiner Meßgewänder bis auf die schwarze Trauerstola überm Priesterrock ledig, das Antlitz in den Armen verborgen. Er hob das Haupt, als sein Vater und Rhys in die Sakristei kamen, und wischte sich mit dem Ärmel hastig die Augen. Sein helles Haar war zerrauft, und er glättete es mit einer unbewußten, fahrigen Bewegung. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« »Nichts weiteres außer dem, was uns alle bekümmert«, entgegnete in sanftem Tone Camber. Er schloß hinter sich die Tür und lehnte sich dagegen, sperrte mit einer beiläufigen Handbewegung jede Störung aus. »Wir müssen uns besprechen, Joram«, ergänzte er dann sein vorheriges Wort. »Vor der Kirche lungern noch Imres Mannen, und allem Anschein zufolge hegen sie nicht die Absicht, bald aus unserem Wirkungsbereich zu verschwinden. Hat Cathan gewußt, mit welchen Angelegenheiten wir uns befassen?« »Nein. Wir entschieden, ihn nicht in Kenntnis zu setzen.« Joram nahm die Stola von den Schultern,
küßte sie und verharrte einen Moment lang, ehe er sie in die Truhe tat, die den Ornat enthielt. »Mein Gott, du nimmst doch nicht etwa an, Imre könne Verdacht geschöpft haben? Er kann unmöglich etwas argwöhnen! Es gibt keinen Weg und kein Mittel, wodurch er etwas erfahren haben konnte.« Camber wölbte eine Braue aufwärts. »Vor zwei Tagen hat man dich und auch Rhys zu Valoret verfolgt, oder nicht? Es ist offenkundig, daß er irgend etwas argwöhnt, obschon ich dir insofern beipflichte, als es höchst unwahrscheinlich sein dürfte, daß er binnen so kurzer Zeit bereits zur Gänze Bescheid weiß. Aber anscheinend hielt er Cathan für in irgendeine Verräterei verwickelt. Sonst wäre, was geschehen ist, niemals geschehen.« Er betrachtete den Fußboden. »Aus welchem Grund auch immer, auf jeden Fall hat Imre uns scharf ins Auge gefaßt. Ich bin unsicher, ob wir der Begutachtung durch seinen mißtrauischen Blick standzuhalten vermögen.« Bedächtig setzte sich Joram auf den Rand der Truhe. »Du bist der Meinung, wir sollten unsere Bemühungen aufgeben?« »Gütiger Himmel, nein! Ich möchte dich ganz im Gegenteil darum ersuchen, ohne Verzug mit Rhys nach Sankt Foillan zu reiten, heute, sofort! Holen wir Cinhil nicht ohne weiteres Säumen heraus, bekommen wir möglicherweise nie wieder dazu die Gelegenheit.« »Sofort?« Mit einem Ruck wandte sich Joram an Rhys. »Bist du eingeweiht?« Rhys schüttelte das Haupt, ebenso überrascht wie Joram. »Herr Graf, ich möchte durchaus keinen Eindruck ungenügender Achtung erwecken, aber was
begründet Eure Auffassung, jetzt bestünde dazu eine Gelegenheit? Ihr habt selbst gesagt, daß draußen noch Imres Waffenknechte warten. Wir können nicht einmal die Porta Itineris in der Burg benutzen. Und noch drei Wochen sind's, ehe man in Dhassa mit uns rechnet.« Dhassa war die heilige Freistadt in den Lendourischen Bergen – ein Ort, wo Imres Macht sie nicht erreichen konnte. »So wird wohl oder übel ein Ritt vonnöten sein«, sagte Camber. »Aus dieser Sakristei führt ein unterirdischer Geheimgang nach draußen. Joram kennt ihn. Ich habe bereits einen Pagen damit beauftragt, Pferde und andere notwendige Dinge bereitzustellen. Er wartet in einer Stunde am nördlichen Waldrand.« »Offenbar hast du deinen Einfall schon wohl durchdacht«, bemerkte nachdenklich Joram. »Doch wenn wir nun fortreiten, wie gedenkst du dann unsere Abwesenheit zu erklären?« »Ich gedenke sie gar nicht zu erklären«, erwiderte Camber und verschränkte seine Arme auf der Brust, den Blick unverändert auf den Fußboden geheftet. »Was die Waffenknechte angeht, so werdet ihr nach wie vor in unserer Mitte weilen.« »Wir werden... aber...« Unsicher verstummte Rhys und sah Joram an, der bei seines Vaters Antwort gleichsam versteinert war und sich nun schroff erhob. »Joram«, fragte Rhys leise, »was bedeutet das?« Joram achtete nicht auf Rhys und richtete seinen Blick eindringlich auf seinen Vater. »Herr Vater, solltet Ihr etwa im Sinne haben, was ich...« »Hör mich an«, unterbrach ihn Camber. Er sprach gedämpft, aber plötzlich knisterte seine Stimme von Befehlsgewohnheit. Rhys, der Camber selbst hatte
fragen wollen, wovon er redete, schloß bestürzt den Mund. Auch Joram schwieg, obwohl ihn unvermittelt eine feindselige Stimmung gepackt hatte, und Rhys spürte, wie stark zwischen den beiden Männern plötzliche Spannung herrschte. Bescheiden wich er um einen Schritt zurück, weil ihm nicht daran lag, am Zusammenprall dieser zwei willensstarken Persönlichkeiten teilzuhaben, der nun anscheinend unweigerlich bevorstand. »Vater...«, begann Joram nochmals. »Nein. Hör mich an. Ich begreife deinen Widerwillen. Doch glaube mir, daß ich alle sittlichen Seiten meiner Eingebung bereits ausgiebig und sorgsam erwogen habe. Es steht außer Zweifel, es ist eine Falschheit, aber manchmal gibt's Anlässe, da so etwas sich nicht vermeiden läßt.« »Es läßt sich vermeiden! Vater, ich glaube...« »Du glaubst?!« fuhr Camber auf. »Also weißt du nicht, ob es untugendhaft ist.« Sein Blick streifte Rhys, und als er weitersprach, geschah es mit wieder gedämpfter Stimme, in beherrschtem Tonfall, gelenkt von kühlem Denkerverstande. »Joram, gäbe es irgendeinen anderen Weg, du weißt, ich schlüge ihn ein. Und falls du mir eine andere Möglichkeit aufzeigen kannst, die nicht mehr Leben gefährdet als meine Art des Vorgehens, so will ich deinen Vorschlag freudig vorziehen. Aber wenn es noch eine Hoffnung geben soll, daß wir unseren Haldane eines Tages auf dem Thron sehen, dann müssen wir jetzt handeln. Draußen sind Imres Krieger. Irgendwer hegt irgendeinen Verdacht, sonst wären sie nicht noch hier, sonst wäre Cathan nicht tot. Mag Cathan auch jeglicher Verschwörung unschuldig gewesen sein, wir sind's ja
beileibe nicht. Wir sind bereits zu weit gegangen, um nun die Hände in den Schoß legen zu dürfen.« Joram hatte in verkrampfter Haltung gestanden, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, während er den Ausführungen seines Vaters lauschte und seine Augen trotzig funkelten; nun jedoch kehrte er sein Antlitz ab, seine Schultern erschlafften. Rhys, völlig in Unkenntnis dessen, was des Streites Gegenstand war, spürte nur, daß Joram unterlegen war und Camber obsiegt hatte. Wortlos wandte er sich Camber zu, beobachtete den Älteren, als er langsam an seines Sohnes Seite trat, ihn jedoch nicht berührte. »Ich bedaure diese Notwendigkeit, Joram, und ich verstehe dich, glaube mir. Du weißt, niemals zwänge ich dich zu einer solchen Maßnahme, wäre sie nicht vollständig unvermeidlich. Ach, ich will zugeben, daß ich in deinem und Rhys' Trachten anfänglich nur die gluthaft flüchtige Begeisterung der Jugend sah! Die Einwände, welche ich während zweier Monde vortrug, besitzen unterm Gesichtspunkt der Vernunft noch immer ihre Gültigkeit. Doch das war, bevor ich Cinhil begegnete, und bevor Cathan durch jenen Mann meuchlerischen Tod fand, der sich zu Valoret auf dem Thron spreizt. Wir haben keine andere Wahl, wir müssen unsere Absicht weitertreiben.« Ein langes Schweigen ergab sich, eine Stille von mehreren Herzschlägen Dauer, während welcher sich niemand regte. Dann neigte Joram das Haupt. »Concedo«, murmelte er. Mit einem unterdrückten Seufzer der Erleichterung wandte Camber seine Aufmerksamkeit erneut Rhys zu, aber ehe er etwas sagen konnte, griff Joram ein und legte eine Hand auf seines Vaters Arm, um ihn zurückzuhalten. »Rhys, hast du
überhaupt irgend etwas davon verstanden«, fragte der Priester, »was wir hier ausgefochten haben?« »Nun, um ehrlich zu sein, nichts. Ich vermeine zu ersehen, daß du irgendeinen Vorschlag mißbilligst, weil du ihn als... wenig ritterlich erachtest, aber ich...« Seine Stimme sank matt herab und verstummte; Camber seufzte nochmals und rieb sich mit müder Hand die Lider. »Rhys, wir sprachen über eine Gestaltwandlung. Wißt Ihr, was das ist?« Aus Erstaunen rundeten sich Rhys' Lippen, und er blinzelte. »Nun, natürlich, ich habe einiges darüber gelesen, aber ich wähnte stets, es handele sich ausschließlich um Gedankenspielerei. Und alle Werke, die darauf verweisen, bezeichnen sie als...« »Als teuflisches Zauberkunststück«, vollendete in nachsichtigem Tone Camber, indem er aussprach, was Rhys kaum zu hauchen gewagt hatte, so sehr war er von furchtsamem Staunen ergriffen. Der Graf räusperte sich, während er nach den geeigneten Worten suchte. »Eigentlich muß diese Verrichtung als ein Schattenland des Geistes gelten, vielleicht ein wenig trüber als der lichte Tag, denn es ist tatsächlich ein Werk der Falschheit, ein Betrug, und des Truges bedient man sich zumeist zum selbstsüchtigen Eigennutz. Doch man mag mich scheinheilig schimpfen, ich beharre auf der Ansicht, daß dies einer der beispielhaften Fälle ist, da der Zweck die Mittel rechtfertigt. Selbst die allergestrengsten Sittenlehrer erachten es im allgemeinen als gerechtfertigte Selbstschutzmaßnahme, wenn sich Unschuldige einer ihnen ungerechterweise zugemuteten Bedrängnis durch List entziehen.«
Joram ließ eine Braue aufwärtsrutschen, als er das vernahm, und verschränkte die Arme auf der Brust. »Mich dünkt, diese Beweisführung kann unser Streitgespräch vorerst beenden, obwohl man ernstlich in Zweifel stellen muß, daß wir als Unschuldige gelten können.« »Aber das weiß Imre ja noch nicht... er hegt bloß einen diesbezüglichen Verdacht.« Mißbehaglich räusperte sich Rhys, vom Gefühl geplagt, etwas Entscheidendes zu vermissen. »Darf man erfahren, Herr Graf, was denn Euer Einfall vorsieht?« »Ah, um Vergebung, ich nahm an, das hättet Ihr schon durchschaut. Ich will Eure und Jorams Gestalt zwei Dienern verleihen, deren Abwesenheit nicht auffallen dürfte. Für Euch, Rhys, habe ich Crinan vorgesehen, und für dich Joram, Meister Wulpher, den Kämmerer. Beide sind seit ihrer frühen Kindheit getreue Bedienstete unserer Familie, und ich weiß, daß man ihnen bedingungsloses Vertrauen schenken kann. Außerdem sind sie nach so vielen Jahren in unseren Diensten mittlerweile in gewissem Umfang an Magie gewöhnt.« »An diese Art von Magie sind sie nicht gewöhnt«, entgegnete verdrossen Joram. »Und noch etwas ist zu berücksichtigen. Ich sollte ja heute abend die geistliche Leitung der Begräbnisfeier übernehmen. Wulpher ist kein Priester.« »Nein, aber er ist ein wohlbelesener, gottesfürchtiger Mann, der Cathan tiefe Liebe entgegenbrachte, und wir können ihn mit den Kenntnissen versehen, derer es bedarf, um diese Hürde zu überwinden. Mir ist's klar, du selbst tätest lieber deinem Bruder diesen letzten Dienst erweisen, doch es ist nun einmal wich-
tiger, daß du und Rhys im Interesse unserer höheren Sache reitet. Du hast ja heute bereits die bedeutsamere Messe gelesen. Überdies gibt's hier noch mehr Priester.« »Aber...« »Ich weiß, mein Sohn«, unterbrach ihn Camber mit sanfter Stimme. Und mit einem neuerlichen Seufzer legte er jedem der beiden jüngeren Männer eine Hand auf die Schulter. »Rhys, wolltet Ihr wohl nachschauen, wo Ihr Crinan und Wulpher findet und sie herbringen? Verratet ihnen nicht, was ich von ihnen will, sie sollen ohne Fragen mit Euch kommen. Aber gewährt uns eine kurze Frist, so daß Joram und ich uns aussprechen können, ja?« »Gewiß, Herr Graf.« Rhys vermochte nur mit Mühe zu antworten. Noch ganz benommen von dem, was hier an seine Ohren gedrungen war, und sich dessen bewußt, wie gewaltig es selbst Joram aus der Ruhe gebracht hatte – auch wenn man nur nach seinen äußeren Anzeichen der Verunsicherung urteilte –, schlüpfte Rhys aus der Sakristei; draußen stützte er seine Stirn an die Tür, die Hand noch auf der Klinke. Er atmete mehrmals tief ein, um seinen beschleunigten Herzschlag zu mäßigen, aber sein Verstand weigerte sich, dem Gegenstand der Gestaltwandlung näherzutreten, erschüttert von uralten Ängsten, die in seine Seele vorzudringen und sie zu peinigen suchten, bis er nach einem Weilchen eine seiner besonders ausgeklügelten magischen Formeln zur Geistesbesänftigung anwandte und seine Gedanken zur Ordnung rief. Er fühlte, wie sich in seinem Gemüt Ruhe ausbreitete wie eine sanfte, laue Welle. Danach erst vermochte er sich den verbotenen Überlegungen mit
einem Mindestmaß an Vernunft zu widmen. Gestaltwandlung... Er entsann sich einer kurzgefaßten Erwähnung in einem alten Werk der Beschwörungskunst, welche das Verfahren betraf, wie ein Zauberer die Erscheinung einer Person einer anderen auferlegen könne. Das Buch hatte Pentagramme dargestellt und mit Blut gezogene Kreise geschildert, auch Aufschluß erteilt, wie sich aus dem Zauberwerk böse Einflüsse fernhalten ließen, aber es fanden sich darin keinerlei Einzelheiten, wie es sich tatsächlich vollbringen ließ. Ein anderes Buch – Rhys war nun endlich wieder dazu imstande, sein Gedächtnis zu durchforschen, als sei es ein geschriebenes Verzeichnis, dem er entnehmen konnte, was er gerade an Kenntnissen brauchte – hatte Tieropfer und Unterstützung durch Dämonen erwähnt. Er sah sich gehalten, dergleichen ohne weiteres als Irreführung zu verwerfen. Eine wiederum andere Schrift bestand darauf, die Gestaltwandlung sei eine Unmöglichkeit – doch im Lichte dessen, was vorhin Camber geäußert hatte, war diese Auffassung offenbar falsch. Während er in seinem Gedächtnis derartige Nachforschungen anstellte, gelangte Rhys allmählich zu der Einsicht, daß er nicht eine einzige verläßliche Tatsache über die Gestaltwandlung wußte. Er schlußfolgerte, daß er heute wahrscheinlich weit mehr darüber erfahren sollte, als davon zu wissen er überhaupt Lust verspürte. Mit einem Seufzen hob er sein Haupt und kehrte zurück in die Kirche. Seine Überlegungen hatten genug Zeit beansprucht, um die Annahme zu begründen, daß es Camber und Joram inzwischen gelungen sein mußte, ihre letzten Meinungsverschiedenheiten
auszuräumen. Es war leicht, die beiden Bediensteten ausfindig zu machen, und es gelang ihm ebenso, sie zur Tür der Sakristei zu bringen, bevor sie allzu viele Fragen stellen konnten. Er verharrte nur, um leise anzuklopfen, dann wies er die zwei Männer dringlich hinein. In der Sakristei leuchtete nunmehr eine Vielzahl von Kerzen; mehrere Dutzend davon waren rundum aufgereiht und erzeugten mit ihrem Glanz alle erdenklichen Schattierungen von Düsternis – oder eine schemenhafte Vorahnung dessen, was nun geschehen sollte. In einem Winkel der Räumlichkeit stand Camber reglos vorm Weihaltar; der Kerzenschein verlieh seinem Haar einen rotgoldenen Schimmer. Joram wandte den Ankömmlingen den Rücken zu, mit beiden Händen auf den Deckel der Truhe gestützt. Seine Schultern strafften sich, als er vernahm, wie sich die Tür öffnete, doch sonst rührte auch er sich nicht. Als sich die Tür wieder schloß und von neuem die Kuben eines Meisterbanntrutzes der Schwelle Hut übernahmen, kehrte sich Camber dem Eingang zu und trat den Männern entgegen, um die Diener zu begrüßen. »Ich danke euch für euer Kommen, meine Freunde«, sprach er zu ihnen und reichte ihnen nacheinander die Rechte. Crinan nahm Cambers Hand unruhig und mit gesenktem Blick doch als Wulpher sie ergriff, sank er zugleich auf die Knie und küßte seines Herrn Hand, Tränen in den Augen. »Vergebt mir daß ich Euch den jungen Herrn als Toten heimbringe, Herr«, krächzte der alte Getreue mit aus Gram heiserer, erstickter Stimme. »Ich hatte Euch mein Wort gegeben, mich an Eurer Stelle seiner anzunehmen, und ich...« »Dich trifft keine Schuld, alter Freund«, versicherte
ihm Camber und richtete den Alten behutsam auf. »Ich weiß, wie sehr du meinen Sohn liebtest. Deine ergebenen Dienste sollen nicht unbelohnt bleiben.« Wulpher vermochte kein Wort mehr herauszupressen, aber er nickte würdevoll. Auch Crinan schluckte beschwerlich und neigte sein Haupt. »Doch ich habe euch nicht zu mir gerufen, damit wir uns weiterhin im gemeinsamen Kummer erschöpfen«, sprach Camber weiter, indem er Rhys ansah und ihm ein Zeichen mit den Augen gab, daß er zu Joram gehen möge, »sondern vielmehr, um an euch die Frage zu richten, ob ihr dazu die Bereitschaft aufbrächtet, ein großes Wagnis auf euch zu nehmen, eine glorreiche letzte Ehrentbietung für euren hingemordeten Herrn. Ich kann euch nicht vorhersagen, was es ist, worum ich euch ersuche, aber es wäre ein letztmaliger Dienst, eine wahrhaftige Großtat der Treue. Wollt ihr diese Tat für ihn begehen?« Während die beiden Diener nickten, die Augen ehrfurchtsvoll geweitet, trat Rhys lautlos beiseite und berührte Jorams Arm. Der Geistliche nickte und drehte sich um. Seine Miene war ruhig, bezeugte Fassung, sein Haar glänzte im Kerzenschein silbrig hell. Er richtete seinen Blick, so wie Rhys und die zwei Diener, auf seinen Vater. »Nun denn«, sprach leichthin Camber. »Es ist vonnöten, aus Gründen, die ich euch nicht nennen kann, daß Pater Joram und Herr Rhys unverzüglich fortreiten, noch vorm Begräbnis heute abend und ohne bemerkt zu werden. Das allein wirft kaum Hindernisse auf. Pferde und Vorräte stellt man soeben bereit. Allerdings wird man am Abend während der Beisetzung ihre Anwesenheit erwarten, und auch im restlichen Verlauf des Nachmittags, also zuvor, dürfte man damit
rechnen, sie gelegentlich da und dort zu erblicken. Des Königs Reiter sollen keinen Anlaß zum Argwohn haben. Eure Hilfe wird uns die Zeit geben, deren es bedarf.« Die beiden Bediensteten sahen einander an, danach wieder Camber. Crinan benetzte sich in tiefer Nachdenklichkeit die Lippen. »Ihr braucht Leute, die der beiden genannten Herren Rollen spielen, Herr?« »Ja.« Crinan schaute Joram und Rhys an, dann Wulpher, sah an sich selbst hinab, richtete seinen Blick erneut auf Camber. »Ich ersuche um Nachsicht, Herr, aber ich bezweifle, daß wir beide Pater Joram und Herrn Rhys sonderlich ähneln. Nun ja, ich möchte wohl im Stockfinstern als Herr Rhys gelten können, aber...« Auch Wulpher hatte nun endlich seine Zunge wieder zu lösen vermocht und konnte seine Einwände nicht länger verschweigen. »So ist's, Herr. Wir sehen ganz und gar nicht so aus wie die jungen Herren.« »Wenn ihr's nur erlaubt, so kann ich dafür sorgen, daß ihr wie sie ausseht«, erwiderte Camber. Sein Tonfall bewirkte, daß die beiden Männer plötzlich wie versteinert standen, auf einmal von einer Ahnung ereilt, wovon Camber sprach. Wulpher schluckte schwer, und als er den Mund erneut auftat, klang seine Stimme recht zaghaft. »Durch... Magie, Herr?« Camber nickte, und auch Crinan schluckte mühselig. »Ist das nicht... gefährlich, Herr?« »Nicht für euch. Ein wenig für mich, für Pater Joram und Herrn Rhys. Ihr werdet euch, sobald eure Aufgabe durchgeführt ist, an nichts mehr erinnern.
Schon heute nacht, wenn das Haus zur Ruhe gegangen ist, werde ich euch eure eigene Gestalt zurückgeben.« Crinan hüstelte unruhig, während er seine Fragestellung auszudrücken versuchte. »Und wenn... äh... irgend etwas... mißlingt, Gebieter?« »Mit der Magie?« »Nein, ich meine, zum Beispiel, des Königs Männer erkennen uns?« Erleichtert lächelte Camber. »Niemand wird euch erkennen, nicht einmal meine Tochter, es sei denn, ich verriete ihr's. Was die gesamte äußerliche Erscheinung, Stimme und Art des Bewegens betrifft, so werdet ihr anscheinmäßig Joram und Rhys sein. Aber ich möchte mich hier lieber nicht in Einzelheiten ergehen, die euch womöglich überflüssigerweise Furcht einflößen könnten. Vertraut meinem Wort, daß ich euch nicht zu Schaden kommen lasse, daß ich zu tun vermag, was ich verspreche. Seid ihr auf dieser Grundlage mit meinem Ansinnen einverstanden?« Seiner Erläuterung folgte ein ausgedehntes Schweigen, derweil die beiden Männer nachdachten, und schließlich kniete Wulpher nieder und neigte mit einem Schluchzen sein Haupt. »Ich bin Euer Diener, mein Gebieter, und Herr Cathans Diener, ich bin's, seit ich Euch vor vielen Jahren die Treue schwor. Wenn ich dem jungen Herrn mit Eurer Hilfe diesen letzten Dienst erweisen kann, so will ich's aus ganzem Herzen tun.« »Sei bedankt, Wulpher«, sprach Camber mit leiser Stimme klopfte dem alten Getreuen auf die Schulter und wandte sich an Crinan. »Und du, Crinan? Ich wünsche dich zu keiner übereilten Entscheidung zu
nötigen, doch haben wir wenig Zeit.« Crinan neigte das Haupt. »Dies... Unternehmen, zu welchem die jungen Herren aufbrechen... sie reiten doch nicht, um den König zu erschlagen?« »Sie reiten nicht, um Vergeltung zu üben, Crinan. Ihr Weg führt weder nach Valoret noch zu Imre.« »Nun gut, Herr, dann halte auch ich zu Euch. Was haben wir zu tun?« Mit mattem Lächeln drückte Camber ihm die Hand, dann gab er Wulpher ein Zeichen, daß er sich erheben möge. »Wulpher, warte mit Joram vor der Tür. Rhys, Euch bitte ich, mit Crinan die Kleider zu tauschen.« Während die vier Männer sich anschickten, Cambers Wünschen nachzukommen, kehrte der Deryni zurück zum Weihealtar und nahm eine Kerze, starrte lange in ihr Flämmchen, um sich innerlich zu sammeln und auf das magische Werk vorzubereiten, welches er zu verrichten gedachte. Als seine innere Bereitschaft hergestellt war, wandte er sich um und begutachtete die Lage in der Sakristei. Rhys half Crinan beim Schließen der Spange seines Heilermantels; der Heiler dagegen trug nunmehr die schlichte Reitkleidung von Cathans einstigem Knappen. »Das Grün der Heiler kleidet dich, Crinan«, bemerkte Camber, derweil er gemächlich vor Crinan trat, um des Mannes Gemüt etwas aufzumuntern. Crinan schluckte umständlich, dann straffte er seine Schultern und richtete sich ein wenig höher auf, als Camber ihm die Kerze aushändigte. Man stellte vier weitere Kerzen am Boden auf, wo sie ein Viereck mit einer Seitenlänge von fünf Fuß bildeten, in das Camber den Knappen zu treten hieß. Eine weitere Kerze erhielt Rhys in die Hand, doch brannte diese Kerze
nicht. Dann traten die beiden Deryni, der Heiler und der Weise, zu Crinan ins Viereck, Rhys an Crinans Seite, der Graf den zweien gegenüber. Bedächtig senkte Camber seine Hand auf Crinans Faust, welche die Kerze umklammerte. Crinan zuckte zusammen. »Sei ohne Furcht«, sprach Camber, und seine Stimme genügte bereits, um den Angesprochenen zu beruhigen. »Du brauchst nur in die Flamme zu blicken. Laß deine Gedanken nach Belieben wandern. Entspanne dich und schau in die Flamme, deren Glut deinen Geist von allem abschirmt, was sich außerhalb dieser Mauern befindet. Ich lasse dich nicht allein. In meiner Obhut bist du behütet.« Der Knappe tat wie geheißen, zu widerstehen außerstande, und starrte in die Flamme, während Cambers Stimme herabsank und verstummte. Einige Augenblicke später schwankte Crinan leicht, sein Haupt senkte sich ein wenig brustwärts. Unvermittelt verstärkte Camber seinen Griff um des Mannes Hand und erweiterte zugleich seine Gewalt über den anderen Geist. Wie zum Schlafe schlossen sich Crinans Augen. »Gut so«, flüsterte Camber, gab des Knappen Hand frei und sah hinüber zu Rhys. »Nun steh still, während ich uns einschließe...« Er wies auf die Kerzen des Vierecks, und ringsum flackerte ein Kreis silbernen Lichts auf. »... so daß wir beginnen können.« Er senkte den Blick und murmelte etwas, das Rhys nicht verstehen konnte, bevor er mit einem kaum wahrnehmbaren Hauch Crinans Kerze ausblies. »Amen.« Daraufhin hob er seine Linke, die Finger leicht gespreizt, neben Rhys' Kerze. Er heftete seinen ruhigen, ernsten Blick in Rhys' Augen. »Verbindet Hand und
Geist mit mir, mein Freund, und entflammt Eure Kerze, sobald wir eins sind.« Mit feierlichem Nicken legte Rhys seine Fingerkuppen an Cambers Fingerspitzen, glättete die Wogen seines Geistes, um dem anderen den Zutritt zu erleichtern. Er ließ die Lider sinken, um die äußere Welt nachdrücklich auszuschließen, und dann spürte er Cambers Handfläche sich kraftvoll gegen die seinige drücken. In vollkommener Gefaßtheit und uneingeschränkter Beherrschung seiner Kräfte befahl er Feuer an den Docht der Kerze in seiner anderen Hand, und er empfand den stillen, nahezu melodienhaften Widerhall, der entstand, als seine Gedanken sich mit denen des Meisters verknüpften. Dann sah er plötzlich durch Cambers Augen, sah die Kerze in seiner eigenen Linken brennen, die Handfläche der Rechten an des Grafen Handfläche ruhen. Er beobachtete, wie sich Cambers andere Hand langsam hob und Crinans Stirn berührte. Der Meister schloß die Augen, und danach herrschten nur noch kristallklare Stille und Frieden, bestand ein Einssein, das alles durchdrang, erzeugt und erhalten durch den geistigen Strang, woran sie gemeinsam zogen. Cambers Stimme glich dem Wispern von Blattwerk, das in sommerlichem Wind raschelt, dem kein gewöhnlicher Sterblicher befehlen kann; und Rhys wußte, es würde geschehen, was Camber geschehen lassen wollte. »Bewahrt das Licht vor Eurem geistigen Auge«, sprach der Meister zu ihm. »Es ist das Wesen Eurer äußeren Gestalt auf dieser Erde. Nun laßt es sich ausweiten und diesen Mann umlodern, der hier steht. Seine Erscheinung soll Eure sein, bis es nicht länger erforderlich ist, Euch so ähnlich, wie man's nur zu sa-
gen vermag.« Und derweil er solches redete, fühlte Rhys plötzlich eine große Mattigkeit seine Gliedmaßen durchströmen, einen Entzug von Kraft, die auf seiner Haut kribbelte und sich in der Hand zusammenballte, welche die Kerze hielt, deren Flamme sogleich spürbar danach gierte, den Abstand zu Crinans Hand zu überbrücken. Niemand sah die Nebel, welche sich ringsum wanden, niemand sah die Flamme von der einen zur anderen Hand springen. Doch urplötzlich erkannte Rhys, daß die Tat vollbracht war, das magische Werk vollendet. Er taumelte, als das geistige Band sich auflöste, und als er hinschaute, war seine Kerze erloschen, wogegen jene in Crinans Händen lichterloh brannte. Und als sein Blick aufwärts schweifte, verschlug es ihm schier den Atem, als er sein eigenes Antlitz sah. In höchster Verblüffung sanken seine Arme an die Seiten herab, seine Kerze fiel unbeachtet auf den Fußboden. »Mein Gott!« Mehr vermochte Rhys im Flüstertone nicht hervorzustoßen. Camber lächelte zerstreut und seufzte, die silbrigen Augen nun verschleiert, gezeichnet von Erschöpfung. »Und keine Dämonen oder andere Übel, welche ich zu entdecken vermocht hätte«, merkte er in gelinder Belustigung an. »Joram dürfte darüber erfreut sein.« Er ließ seine ausgestreckten Hände rundum schweifen und murmelte Worte; der silberne Kreis verschwand. Dann beugte er sich vor, löschte die Kerze in Crinans Hand und berührte sachte des Knappen Stirn. Rhys war zu nichts außer dabeizustehen und zuzuschauen imstande, stumm aus Staunen, als Crinans Lider flatterten und er sodann ruckartig die Augen aufriß. »Crinan, merke auf. Sieh mich an.«
Crinan gehorchte; sein Antlitz – oder vielmehr Rhys' Antlitz – bezeugte Verwirrung. »Ist es... gelungen?« Er stockte, als er bemerkte, daß er nicht mit der gewohnten, eigenen Stimme sprach. Mit einem Lächeln, das dem Knappen zur Ermutigung gedacht war, nahm Camber ihn am Arm und führte ihn zur Truhe, worin man den Ornat aufbewahrte. Dort hielt er ihm einen kleinen Spiegel entgegen. Crinan ließ ein Keuchen vernehmen und strich sich mit einer Hand übers Antlitz; und doch war selbst diese Gebärde gekennzeichnet durch Rhys' Eigentümlichkeiten. Fast zu glauben unfähig, was sich vor seinen Augen abspielte, schüttelte Rhys sein Haupt, und Camber legte erneut eine Hand auf Crinans Schulter, um ihm Zuversicht zu verleihen. »Crinan, ich bitte dich, nun deine Rolle zu übernehmen und mit Herrn Rhys hinauszugehen. Sobald du dich sicher genug fühlst, begibst du dich als Rhys zurück in die Kirche und verweilst dort in aller Andacht. Ich werde mich in Kürze zu dir gesellen. Sollte jemand das Wort an dich richten, was ich jedoch bezweifle, dann verhalte dich so, wie sich nach deiner Auffassung Herr Rhys benehmen müßte. Wenn die Notwendigkeit entsteht, wirst du Ratschluß finden.« »Ich will tun, was erforderlich ist, Herr.« Die Stimme war lebhaft, standesbewußt – und Rhys' Stimme. Noch immer schüttelte Rhys das Haupt, als er die Tür öffnete und seinen Doppelgänger aus der Sakristei ließ. Joram und Wulpher harrten gleich vor der Tür, doch befand sich Wulpher infolge Jorams Einwirkung bereits in einem leichten Trance-Zustand, und der Kämmerer bemerkte nicht, daß Rhys in zwei-
facher Ausfertigung heraustrat. Joram dagegen sah es und erstarrte vor Erstaunen, als der erste Rhys, der des echten Rhys' Kleidung trug, ein letztes Mal nickte, an ihnen vorüberschritt und an der Tür zur Kirche stehenblieb, eine Hand am Türknauf; der zweite Rhys verharrte beim Eingang zur Sakristei dicht an der Mauer. Joram betrachtete diesen zweiten Rhys genauer und begriff daraufhin, daß dieser Mann der echte Rhys sein mußte. Rhys schüttelte das Haupt und legte einen Finger auf die Lippen, als sein Doppelgänger die Verbindungstür öffnete und das Kirchenschiff betrat. Rhys selbst war aufgrund des vorherigen Erlebnisses nach wie vor ein wenig benommen, obwohl er an allen Teilen der Durchführung mitgewirkt hatte. Stumm sah er zu, wie Joram und der von oberflächlicher Trance umnebelte Wulpher hinter der Tür in die Sakristei entschwanden, aber er widmete seine Überlegungen nicht dem, was nun in besagter Räumlichkeit geschehen sollte. Er verspürte jedoch wegen des vorhin vollbrachten Werkes keinerlei Gewissensbisse; sie hatten kein Übel getan. Und doch haftete dieser magischen Verrichtung insgeheim irgendwie etwas von beunruhigendem Ruche an, und mochte es lediglich wegen des Erschreckens sein, der damit einherging, seinem Zwilling zu begegnen, während man wußte, daß man das Licht der Welt allein erblickt hatte. Statt dessen trat er ans Guckloch in der Verbindungstür zur Kirche, und als er hindurchspähte, konnte er erkennen, wie sich sein Doppelgänger an Cathans Bahre niederkniete, er sah, wie Evaine voller Mitgefühl seine Hand drückte, ehe sie sich von neuem ihrer stummen Andacht widmete. Er beobachtete
seinen Doppelgänger noch, als eine Weile später die Tür zur Sakristei aufschwang und Camber und Joram herauskamen. Jeder der beiden Männer schenkte ihm nur einen flüchtigen Blick, derweil sie an ihm vorbeistrebten, um das Kirchenschiff zu betreten; gemeinsam knieten sie sich neben den anderen Rhys. Ein zweiter Joram wartete unterdessen auf der Schwelle zur Sakristei, und als Rhys sich umkehrte und ihn musterte, winkte er den Heiler heran. »Ich möchte über diese Angelegenheit lieber nicht sprechen, bis wir diesen Ort verlassen haben, wenn's dir recht ist«, murmelte Joram und trat beiseite, um Rhys Einlaß zu gewähren. »Komm, der Geheimgang steht offen.« Eine Stunde später befanden sie sich auf dem Weg nach St. Foillan.
12 Denn nur mit Überlegung kannst du siegreich kämpfen, und Rettung kommt durch zahlreiche Berater. Sprüche 24,6 Am Abend nahm das Begräbnis wie vorgesehen seinen trauervollen Verlauf. Man sprach die frommen Worte, warf Erdkrumen auf den Schrein, und der alte Pater Jonas segnete die Grabstätte, der Gemeindepriester, und ebenso taten's Wulpher in Jorams Gestalt sowie die zwei Mönche, welche sich mit den Bewaffneten aus Valoret eingestellt hatten. Als man das Grab zuschüttete, hatte sanfter Schneefall eingesetzt, und der Schnee verlieh den Umrissen von Erdreich und Steinen, im ruhelosen Fackelschein aufgehäuft, und den im Frost erstarrten Grasnarben einen etwas weniger schroffen, nicht ganz so grimmiggrausigen Anblick. Klar und in einsamer Erhabenheit schollen die letzten Psalmen durch die kristallisch harsche Luft. Der Weihrauch wirbelte umher und brachte ein kleines Kind zum Niesen. Am Ende geleiteten die Dorfbewohner ihren geliebten Herrn und seine Familie zurück zur Burg – denn Camber hatte seinen Sohn auf dem Dorffriedhof beisetzen lassen, inmitten der Menschen, welche der Tote geliebt hatte, nicht in der Gruft unterm Burgfried. Der Zug schleppte sich in geisterhaftem Schweigen dahin, um so mehr gedämpft durch den Schnee, der herabtrieb,
dessen Flocken im Fackelschein glitzerten, die Fakkeln zum Funkensprühen und Knattern veranlaßten. Nur das eherne Klirren von der Krieger Panzerhemden begleitete die langsame Prozession in unerschütterlichem Gleichklang. Von derlei Geräuschen abgesehen, beherrschte beklommenes Schweigen den Rückweg zur Burg, gegründet auf einen Widerwillen dagegen, vom Unbeschreiblichen, Unfaßlichen zu sprechen. Des Königs Waffenknechte befleißigten sich durchgängig einer tadellosen Verständnisfülle. Außer dem Befehl, Camber und seine Familie unter Obacht zu halten, war ihnen die Anweisung zuteil geworden, die Trauer der MacRories so wenig wie überhaupt möglich zu stören. Und daher folgten sie am Ende des Zuges, nachdem ihr Hauptmann von Camber selbst die Erlaubnis zum Übernachten im Burghof erbeten und auch erhalten hatte. Auf der Burg wünschte Camber seinen ungebetenen Gästen eine gute Nacht und zog sich zurück in seine Gemächer. Crinan und Wulpher begaben sich in Rhys' und Jorams Gestalt in deren Räumlichkeiten, bis der Graf beschließen mochte, daß es an der Zeit sei, die Gestaltwandlungen rückgängig zu machen. Schließlich betrat Evaine des Grafen Arbeitszimmer, und Vater und Tochter verständigten sich auf eine Weise, die zu diesem Zweck nur zwei Deryni benutzen konnten. Das getan, suchten sie einen Winkel des Zimmers auf, der – zumindest fürs geübte Auge – von geheimnisvollen Kräften geradezu schillerte. Camber wandte eine magische Formel an, und im Handumdrehen weilten die beiden Deryni nicht länger auf Caerrorie. »Wo sind wir?« flüsterte Evaine, derweil ihre Au-
gen sich auf die fast vollständige Finsternis einstellten, und sie drängte sich ein wenig enger an ihren Vater. Ringsum umgaben sie auf Armlänge mit schönem Holz getäfelte Wände, die aus gleichermaßen hartem Stein wie der Boden unter ihren Füßen bestanden. Die Mauern verströmten schwachen Glanz – die Ausstrahlungen arkanischer Trutzkomponenten, die in diesem Fall jedoch dazu dienten, derynische Geisteskräfte einzuschließen, nicht dem Zweck, dieselben abzuwehren. Camber tastete sich mit seinen verfügbaren geistigen Gewalten vorsichtig an die Mauern heran, um ihre Trutzfestigkeit zu erproben; als er die ungeheure Stärke des magischen Bannes ersah, seufzte er und trat auf geistiger Ebene den Rückzug an, derweil er mit seinem darum geschlungenen Arm seiner Tochter Schultern drückte. »Es wird sich alsbald jemand einfinden, der uns den weiteren Weg weist«, sprach er mit gedämpfter Stimme. »Wir sind in der Komturei der Michaeliten zu Cheltham.« »Wird der Generalvikar uns empfangen?« »Vermutlich, ja, doch zweifle ich an, daß es ihn erfreuen wird, uns zu sehen – zumal, wenn er die Kunde vernimmt, die wir bringen.« Auch Evaine erkundete mit ihren geistigen Hilfsmitteln rundum die Wände der Kammer – allmählich fiel darin das Atmen schwer – und mußte ebenfalls zugestehen, daß diese Räumlichkeit zu den sichersten zählte, die sie kannte. Selbst ohne Trutzkomponenten hätte diese Portalkammer der hiesigen Porta Itineris jedem gewaltsamen Durchbruchversuch widerstanden, denn auch ein Deryni vermochte nie und nimmer durch soviel Stein und Mauerwerk auf die Riegel
einzuwirken, welche die steinerne Pforte der Kammer verschlossen hielten. Einem Ankömmling, dem man keinen Zugang gewährte, blieben nur zwei Möglichkeiten: entweder auszuharren und langsam zu erstikken – denn es gab keinerlei Luftzufuhr – oder den Ort auf jenem Wege zu verlassen, den er eingeschlagen hatte, um ihn zu erreichen. Doch auch diese Wahl konnte zunichte werden, begriff Evaine, sollte jemand gezwungen gewesen sein, hinter sich die benutzte Porta Itineris zu zerstören. Ihr Blick musterte die getäfelten Wände. Falls jemand, der keinen Zutritt erhielt, keinen Ort zur Rückkehr hatte und auch keine andere Porta Itineris kannte, dann war ihm hier in dieser Kammer der Tod gewiß. Die Wände wirkten immer bedrückender, die Luft war bereits arg stickig, als sie das Knirschen von Stein vernahmen und eine Erschütterung spürten, welche daher rührten, daß man außerhalb der Kammer die Pforte aufschloß. Dann schwang die wuchtige steinerne Pforte zurück und gab den Blick frei auf kalten Stahl – Schwerter in den Fäusten von gesichtslosen Männern in mitternachtsblauen Mänteln, deren Aussehen das düstere Lodern von Fackeln unkenntlich machte. Evaine hob eine Hand, um ihre Augen vor der plötzlichen Helligkeit zu schützen, während sie die schemenhaften Gestalten auf der Schwelle zu betrachten versuchte. Camber stand reglos und schloß lediglich seine Augen, um sie sich dem unvermittelten Lichtschein behutsam anpassen zu lassen, doch bewegte er nicht seine Hände. Für kurze Zeit herrschte Schweigen. »Es ist Herr Camber«, stellte dann eine Stimme leise fest. Die Schwerter sanken herab, die Fackeln wichen um ein Stückchen zurück in den Hintergrund.
Camber schlug die Augen wieder auf, als der Helligkeitsschein nachließ, und trat vor, eine Hand an Evaines Ellbogen. Vor der Porta Itineris wartete ein hünenhafter Mann mit erzgrauem Haar, gekleidet in eine blaue Soutane. Drei Ritter des Michaelitenordens in den ihnen eigenen blauen Mänteln schoben ihre Schwerter in die Scheiden und traten mit den Fackeln beiseite. Ihr Oberhaupt, Alister Cullen, verbeugte sich steif, als er Camber sah und erkannte; noch immer betrachtete er den Lauf der Ereignisse, welcher Camber MacRorie von einem Berater des Königs zum Verbündeten des Ordens verwandelt hatte, mit gewisser Obacht, wieviel Liebe und Vertrauen er auch dem Sohn dieses großen Mannes entgegenbringen mochte, seinem Ritter Joram. Camber erwiderte die Verbeugung, insgeheim selber ein wenig mißbehaglich, und wies auf Evaine. »Meine Tochter Evaine«, stellte er sie vor, »von welchselbiger ich schon zu Euch gesprochen habe.« Cullen nickte ihr zu, und Evaine vollführte einen andeutungsweisen Hofknicks; dann widmete Cullen seine Aufmerksamkeit wieder Camber, und seine Augen glitzerten wie Eisschollen hoch im Nordmeer, die buschigen Brauen waren auf seiner Stirn fast zusammengerückt. »Wir haben in dieser Nacht durchaus nicht mit Eurem Erscheinen gerechnet, Herr Camber. Ist irgend etwas außer der Regel verlaufen?« »Leider zwingen uns gewisse neue Umstände zur Änderung unseres Planes«, antwortete Camber. »Kann ich unbedenklich sprechen?« Er deutete auf die drei Michaeliten und hob eine Braue. Cullens Mundwinkel verhärteten sich streng. »Ich vermag für ihre Zuverlässigkeit einzustehen. Worum
geht's?« »Binnen vier Tagen, falls alles gelingt, werden Joram und Rhys mit dem Prinzen an der Zufluchtsstätte sein.« »Binnen vier Tagen?!« rief Cullen, unvermittelt außer Fassung gebracht. »Aber wir hatten doch vereinbart... der Zeitpunkt sollte die Woche vor Weihnachten sein!« »Ich weiß. Doch wir müssen uns zwangsweise irgendwie auf die neue Lage einrichten. Mein Sohn Cathan ist tot. Vor wenigen Stunden haben wir ihn zu Grabe getragen.« Im ersten Schrecken sank Cullens Unterkiefer herab, dann jedoch schloß er die Lider, schüttelte sein würdevolles Haupt und bekreuzigte sich mit einer Hand, die plötzlich um ein Jahrhundert älter wirkte als noch drei Herzschläge zuvor. Die drei Michaeliten in seinem Rücken schlugen ebenfalls das Kreuzzeichen und neigten ihre Häupter. Man sah Cullen die Erschütterung deutlich an, als er aufblickte. Sichtlich hätte er den hervorragenden Edlen, der vor ihm stand, zu gerne in seine Arme geschlossen und den angestauten Gram eines so aufrechten Vaters mit dem brüderlichen, mannhaften Trost eines Ordensritters zu lindern versucht; aber seine Fäuste verblieben matt an seinen Seiten. Er fühlte sich noch nicht dazu imstande. Noch verbot ihm der Stolz ein solches Handeln. Durch Joram wußte er seit langem von Cambers Vorbehalten gegen seinen Orden, und es war noch zu früh für ihn, um dem Grafen bereits uneingeschränktes Vertrauen schenken zu können. So verklammerte er nur unbeholfen seine Hände ineinander und suchte nach geeigneten Worten, seufzte im
Bewußtsein der Ungenügendheit dessen, das er gegenwärtig sagen konnte. »Seid meines aufrichtigen Mitgefühls versichert«, sprach er schließlich in gedämpftem Tone. »Joram hat stets liebevoll von seinem älteren Bruder gesprochen, und durch seine Erzählungen hatte ich immer den Eindruck, ihn selbst zu kennen, obschon wir uns nie begegneten. Wie kam er zu Tode?« »Genau wissen wir's selber nicht«, erteilte Camber Auskunft. Evaine biß sich auf die Lippe und klammerte sich fester an ihres Vaters Arm, blinzelte Tränennässe aus ihren Augen. »Des Königs Männer, die ihn uns heim nach Caerrorie brachten, berichteten uns, er sei am gestrigen Abend vor der Festlichkeit zur Einleitung des Weihnachtshofes in Imres Gegenwart schlichtweg urplötzlich zusammengebrochen und auf der Stelle gestorben. In der Tat jedoch hatte er in der Brust eine Stichwunde... von einem Schwert oder Dolch. Der Stich muß ihn augenblicklich getötet haben.« Ein angespanntes Schweigen der Bedrückung ergab sich. »Was sagten die Männer«, fragte dann Cullen, »wer das getan habe?« »Wenn sie's wissen, so verraten sie's nicht«, lautete Cambers Antwort. »Doch nehme ich an, daß Imre wider uns irgendeinen Verdacht hegt, da andernfalls seine Krieger nicht noch in meinem Burghof lagerten und sinnlos säumten. Morgen früh muß ich ihnen irgendeinen Vorwand darlegen, weshalb Joram und Rhys schon vor Anbruch der Dämmerung fortgeritten seien, sei's zum Zwecke frommer Besinnung oder irgendwelcher Erledigung, wir werden's sehen. Niemand hat irgendwem verboten, die Burg zu verlas-
sen, daher hoffe ich, daß sich darauf keine Schwierigkeiten ergeben. In Wirklichkeit aber sind die beiden noch am Nachmittag nach Sankt Foillan aufgebrochen. Des Königs Männer wissen davon aber nicht. Mit ein wenig Glück dürften sie die Abtei am übernächsten Abend erreichen.« Cullens geschwinder Verstand überschlug die Schätzung, erkannte die Auslassung in Cambers Worten; er heftete seinen Blick fest auf den Grafen. »Ihr sagt, die Männer des Königs wissen darum nicht?« »Ich... ah... habe ihre Abwesenheit verhehlt, indem ich an zwei Dienern Gestaltwandlungen vollzog«, erwiderte schweren Herzens Camber. »Sobald ich wieder auf der Burg bin, werde ich diese Maßnahme rückgängig machen.« Cullens Miene verdüsterte sich, als die Rede auf dies magische Werk kam, obschon er in gewisser Hinsicht eine derartige Enthüllung erwartet hatte. Nichtsdestotrotz zuckte nun unwillkürlich seine Hand, als könne er nicht ganz das Verlangen verdrängen – wenngleich er wußte, daß so etwas abergläubischer Unfug gewesen wäre –, sich vorsichtshalber mit einem magischen Schutz zu versehen. »Obzwar ich Eure Tat nicht billigen kann«, erklärte er voller Zurückhaltung, »ersehe ich ihre Notwendigkeit. Aber wir wollen diese Sache vorerst außer acht lassen. Angesichts der eingetretenen Entwicklung haben wir nun eigene Vorbereitungen zu treffen. Wie viele Personen gedenkt Ihr an den Zufluchtsort zu bringen?« »Wir werden insgesamt zehn Häupter sein. Acht Angehörige unserer Familie und zwei Diener – jene
beiden, die ich den Gestaltwandlungen unterzog. Sollte Imre herausfinden, was heute geschehen ist, so stünden die beiden, ließen wir sie zurück, in höchster Gefahr.« »Das verstehe ich.« Cullen nickte. »Wann ist mit Eurer Ankunft zu rechnen?« »Wir wollen versuchen, wenigstens noch für die vier Tage auszuharren, deren Joram und Rhys bedürfen, um Cinhil in Sicherheit zu bringen. Wenn Imre nicht zuvor gegen uns vorgeht, dürften sich keine Hindernisse ergeben. Wenn doch... nun, dann stecken wir in Schwierigkeiten. Sollten wir die Flucht durch unsere Porta Itineris antreten müssen – und ich wüßte, falls man unser Treiben entdeckt, keinen anderen Ausweg –, besteht die Gefahr, daß Imre von seinen Kriegern jede bekannte Porta im Königreich umstellen läßt, um uns in seine Gewalt zu bekommen. Unternimmt er diesen weitgehenden Schritt, so kann man gerechtfertigterweise bezweifeln, daß es Joram und den anderen gelingt, sich der Gefangennahme zu entziehen. Wohl oder übel müssen wir also unser Bestes tun, um noch diese vier Tage lang durchzuhalten.« Nachdenklich nickte Cullen. »Wahrscheinlich können wir wenn's denn sein muß, unseren entscheidenden Handlungszeitraum auf drei Tage einschränken. Imre kann schwerlich so schnell alle Portae abriegeln, selbst wenn er früh genug auf diesen Gedanken verfiele. Vielleicht messen wir ihm mehr Klugheit bei als er besitzt. Und er vermag keinesfalls herauszufinden, daß unser Zufluchtsstätte zu Dhassa liegt. Wir gehen damit ein gewisses Wagnis ein, aber womöglich versichern wir uns dadurch der einzigen Aussicht auf
Erfolg.« Camber unterdrückte ein Lächeln der Bewunderung für den messerscharfen Verstand dieses Mannes. »Wie weit sind Eure Vorbereitungen gediehen? Wann können Eure Leute in Bereitschaft sein?« Cullen wandte sich den drei Männern hinter ihm zu und faltete die Hände auf dem Rücken. »Du hast unsere Unterhaltung vernommen, Jebedias«, sprach er den größten der drei Ritter an. »Wir reden, kurz gesagt, über einen uns aufgezwungenen Zeitverlust von drei Wochen. Kannst du den Orden innerhalb von drei Tagen zusammenrufen?« Herr Jebedias von Alcara, Großmeister der Ritterschar des Michaelitenordens, trat mit der unbefangenen Selbstsicherheit eines erprobten Kriegsmannes vor. »Eine sorgfältige Abstimmung dürfte unvermeidbar sein, um durch den wesentlich häufigeren Gebrauch von Portae keinen Verdacht zu erregen, Pater. Aber ich glaube, ja, es läßt sich bewerkstelligen.« »Für wie viele Männer?« erkundigte sich Camber. »Zweihundert Ritter, mein Herr, zur Zeit mit Vorbedacht an sicheren Orten übers Reich verstreut, bis wir ihrer bedürfen.« Er lächelte. »Eures eigenen Sohnes Waffenfertigkeit mag Euch einen Begriff von ihrer Tüchtigkeit und ihrem Streitertum geben.« Camber erwiderte das Lächeln, und Cullen nickte. »Nathan?« Der zweite Mann, dessen Kinn eine schmale weiße Narbe auszeichnete, trat ebenfalls vor und machte eine Verbeugung. »Die Versorgung mit Vorräten kann im Laufe nur eines Tages geschehen, Pater Generalvikar. Das Kornschiff ist heute nachmittag angekom-
men. Bis zum morgigen Abend können wir die Ladung gelöscht und in unsere geheimen Vorratsspeicher befördert haben. Alles andere ist schon vorbereitet worden.« »Und die Waffenlosen?« fragte Cullen den dritten Mann. Jasper Miller legte eine Hand auf das Ordenswappen an seinem Mantel und vollführte eine Verbeugung »Drei Tage noch, und nicht einmal der König selbst wird in diesem Land einen einzigen Untertanen vom Michaelitenorden aufspüren können. Der Orden des Heiligen Michael wird vom Erdkreis verschwunden sein, bis der wahre König wiederkehrt.« »Ihr wagt viel für einen unerfahrenen Prinzen, mein Herr«, bemerkte leise Camber, sehr verwundert über das Maß von Vertrauen, welches der Mann aufbrachte. »Besser der unerfahrene Prinz eines einst hochedlen Hauses auf dem Thron, als der emporgestiegene Abkömmling von Königsmördern, der gegenwärtig darauf sitzt. Die Haldanes waren Freunde unseres Ordens und des gwyneddischen Volkes.« »Gebe Gott, daß sie's bleiben«, sprach Camber. »Und betet daß dieser Haldane wirklich kommt. Zwei Tage müssen noch verstreichen, bis Joram und Rhys bloß zur Abtei gelangen, und noch länger wird's dauern, ehe wir sein Antlitz in unserer Mitte erblikken. Angenommen jedoch, er bringt gar nicht dazu die Bereitschaft auf, sich seiner Krone zu bemächtigen?« »Er wird uns nicht im Stich lassen«, sagte Cullen. »Er darf es nicht. Unterdessen verwenden wir allerdings besser alle unsere Kräfte darauf, ihm die denk-
bar sicherste Zuflucht zu bieten. Und auf Caerrorie... gibt's irgendeine Möglichkeit, um Euch das dortige Wirken zu erleichtern?« Camber schüttelte sein Haupt. »Morgen beginnen wir damit, nach und nach die wenigen Dinge herzubefördern, die wir benötigen. Dabei wird mir Evaine Hilfe genug sein.« Er legte eine Hand auf seiner Tochter Schulter; Evaine hatte der Unterredung ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt. »Nun gut«, meinte Cullen. In einer Geste, die deutlich Versonnenheit bezeugte, rieb er sich das Kinn, dann sah er mit leicht schlichtmütigem Gesichtsausdruck erneut Camber an, eine Miene, welche in seinem grimmigen, rauhen Antlitz zweifach unangebracht wirkte. »Ah... da Ihr wißt, wie ich von den dunkleren Seiten unserer Befähigungen denke, werdet Ihr mich nun möglicherweise für wirrköpfig halten, aber ich möchte Euch den Vorschlag unterbreiten, die an Euren zwei Dienern durchgeführten Gestaltwandlungen noch für ein paar Tage beizubehalten... nachdem Ihr Euch nun schon dieses Mittels bedient habt.« Seine Miene zeugte von gelindem Unbehagen. »Dadurch könnte man unnötigem Verdacht entgehen und vielleicht ein wenig mehr Zeit gewinnen.« Camber wölbte eine Braue aufwärts und lächelte ganz wider Willen. »Daran habe ich noch nicht gedacht, und hätte ich's, vielleicht wäre ich diesbezüglich stumm geblieben, aber gewiß, es ist möglich, vorausgesetzt natürlich, daß Crinan und Wulpher ihr Einverständnis erteilen... und eigentlich sehe ich keine Veranlassung, warum sie ihre Zustimmung verweigern sollten.«
Cullens Mißbehagen war eindeutig gestiegen, und er räusperte sich voller Verlegenheit. »Ja, gut... äh... ausgezeichnet. Das wird unser gemeinsames Vorgehen ein wenig erleichtern. Befinden sich unter des Königs Kriegern, die auf Eurer Burg weilen, auch... äh... Deryni?« »Ihr Hauptmann ist ein Deryni. Mag sein, daß darunter noch mehr sind. Allerdings habe ich bislang nur mit ihm gesprochen.« »Hmmm, na schön. Ich nehme an, ich brauche Euch nicht zur äußersten Vorsicht zu gemahnen.« Camber verdrängte die Lust nach einem neuerlichen Lächeln – er hatte das Gefühl, daß das Eis zwischen ihm und dem harschen alten Generalvikar zu brechen anfing und er den Mann von Herzen zu schätzen lernen konnte – und streckte seine Rechte aus. »Wir kehren jetzt wohl lieber um, bevor man uns vermißt. Wollt Ihr uns die Gunst erweisen, für uns zu beten, Pater?« Unwillkürlich ergriff Cullen die dargebotene Hand Cambers, durch das Ansinnen völlig überrascht, und drückte sie zum Abschied. »Wenn das Euer aufrichtiger Wunsch ist, mein Herr«, entgegnete er, als er ersah, wie weit die Freundschaftlichkeit zwischen ihnen bereits gediehen war, »soll es geschehen. Doch um Ehrlichkeit walten zu lassen, ich hätte niemals erwartet, eine solche Bitte von Euren Lippen zu vernehmen.« »Wegen unserer früheren Meinungsverschiedenheiten? Ich glaube, vielleicht haben wir einander in schwerwiegendem Umfang mißverstanden. Gott behüte Euch, Pater.« Und als Camber sich, begleitet von seiner Tochter,
zurück über die Schwelle der Kammer in deren Inneres begab, hörte er noch Cullens gemurmeltes Abschiedswort. »Und auch Euch, mein Sohn.« Dann befanden sie sich wieder in seinem Studierzimmer auf Caerrorie, und die jungverwitwete Elinor stürzte ihm entgegen und warf sich in seine Arme. »Gott sei Dank, daß du zurück bist«, flüsterte sie und preßte sich an ihn, auf Schutz und Trost bedacht. »Des Königs Hauptmann wünscht dich zu sprechen. Ich halte ihn schon seit einem ganzen Weilchen hin.« »Hat er erwähnt, was er von mir will?« fragte Camber, trat aus der Porta Itineris und streifte seine obersten Kleidungsstücke ab. »Es schneit stärker. Er möchte seine Männer im Burgsaal unterbringen. Ich habe entschieden den Eindruck, daß er länger zu bleiben beabsichtigt als bloß über Nacht.« »Das ist ja prächtig«, sagte Camber, doch verriet sein Tonfall, daß er diese Aussicht beileibe nicht für prächtig hielt. »Wo finde ich den Hauptmann?« Kurze Zeit später betrat er den Saal der Burg, wo der Hauptmann seiner harrte; er hatte eine abendliche Robe angelegt und sein Bewußtsein von seinem vorangegangenen Tun gesäubert (immerhin war ja auch dieser Mann ein Deryni). Der Hauptmann schritt vorm Kamin auf und nieder, so daß unter seinen Stiefeln die ausgestreuten Binsen knisterten, denen des Feuers Hitze süßliche Düfte entlockte, und behelligte auf diese Weise stetig in ihrer Ruhe die Hundemeute, welchselbige sich zum Schlaf um den Kamin geschart hatte. Mehrere seiner Begleiter standen schweigsam am anderen Ende der Halle beisammen, umwickelt von langen, weiten Umhängen. Camber überschaute
alles auf den ersten Blick, als er hurtig die Treppe hinabstieg, und strebte hinüber zum Kamin. Die Hunde hoben bei seinem Erscheinen ihre Köpfe, aber er befahl ihnen mit einem strengen Wink seiner Hand Zurückhaltung. »Ich bedaure es, daß Ihr warten mußtet, Hauptmann«, sprach er denselben in gleichmütigem Tonfall an, indem er wider die kühle Zugluft die Robe enger um seine Schultern rückte. »Es ist nun einmal meine Gewohnheit mich vor der Nachtruhe zur Meditation zurückzuziehen, vor allem natürlich in Zeiten der Bedrückung. Anscheinend habe ich meinen Töchtern zu nachdrücklich eingeschärft, keinerlei Störung zuzulassen.« »Seid dessen gewiß, Herr Graf, daß ich volles Verständnis hege.« Der Hauptmann verbeugte sich. »Ich möchte lediglich die Frage an Euch richten, ob ich meine Männer für die Nacht in den Saal bringen darf. Der Schneefall ist stärker geworden. Ich glaube, es steht ein Unwetter bevor.« »Ich bin selbstverständlich einverstanden, Herr Hauptmann doch hoffe ich, daß Ihr die Euch dargebrachte Gastfreundschaft nicht übers erträgliche Maß ausdehnt«, gab Camber mit leiser Stimme zur Antwort. »Leider verfüge ich hier nicht über die Mittel, um eine Schar auszuhalten, die wohl als Besatzung einer Festung hinreichen möchte.« »Herr Graf, bei einem Dutzend Männer kann doch schwerlich die Rede von...«, erhob der Hauptmann Einspruch. »Nein, aber in Anbetracht der hiesigen Verhältnisse ist ihre zahlenmäßige Stärke ansehnlich genug. Und Ihr solltet Euch lieber zur Dauer Eures Aufenthalts äußern, welche ich angesprochen habe. Wie lange ge-
denkt Ihr nun eigentlich zu bleiben?« Peinlich berührt senkte der Hauptmann den Blick. »Es bekümmert mich, Euch Verdruß zu bereiten, Euer Gnaden. Mir mißfällt es nicht minder, zu dieser Zeit hier weilen zu müssen, als es Euch mißbehagt, mich und meine Begleitung hier erdulden zu müssen. Aber ich habe den Befehl, hier zu bleiben, bis eine gegenteilige Weisung eintrifft. Ihr kennt die Bedeutung, welche für einen Kriegsmann Befehle haben, Herr, wenngleich Ihr selbst niemals einer gewesen seid, und ich bin dessen sicher, daß Ihr vollauf versteht...« »Eure Befehle, die Ihr erhalten habt, verstehe ich sehr wohl, mein Herr. Nach fünfundzwanzig Jahren bei Hofe sind mir die Gepflogenheiten der Kriegsleute durchaus noch nicht in Vergessenheit geraten. Was ich allerdings nicht verstehe, sind die Gründe für selbige Befehle. Stehe ich mit meinem Haushalt unter Arrest?« »Natürlich nicht«, erwiderte verlegen der Hauptmann. »Uns ist der Auftrag erteilt worden, Eures Sohnes Leichnam in allen Ehren heimzugeleiten, und wir haben Euch, dessen darf ich Euch versichern, ein gleiches Maß an Ehrerbietung entgegenzubringen, bis festgestellt ist, was mit Eurem Sohn wirklich geschah.« »Dann gebt Ihr also zu, daß er nicht einfach niedergestürzt und verstorben ist, anders als zu berichten Euch Eure Weisungen ursprünglich veranlaßten?« »Ich... ahem... es ist mir nicht gestattet, darüber Gespräche zu führen, Herr. Habt Nachsicht.« Seine Stimme sank mit allen Anzeichen ärgsten Unbehagens herab und verklang. Camber lächelte, indem er matt einen Mundwinkel emporzucken ließ.
»Das habe ich ohnehin angenommen. Euch ist daraus kein Vorwurf zu machen. Nun denn, in Gottes Namen, laßt Eure Männer hier im Saale sich lagern. Ich schicke den Saalwart, auf daß er das Feuer schüre.« Während der Mann sich zum Danke tief verbeugte, machte Camber kehrt und durchquerte den Saal; im Vorbeigehen nickte er höflich den Kriegern zu, die an des Saales anderem Ende standen. Einer davon, der ein wenig abseits harrte, vollführte eine betont achtungsvolle Verbeugung; er wirkte auf Camber entfernt vertraut. Nachdem Camber dem Saalwart Bescheid wegen des Feuers erteilt hatte, verhielt er versonnen im Schatten an der Halle Seite und musterte des Kriegsmannes Rücken. Fast unverzüglich drehte sich der Mann um und spähte in Cambers Richtung, dann widmete er seinen Gefährten einen verstohlenen Blick und schlenderte herüber. Camber wich tiefer in die Schatten zurück, huschte in eine Nische, die sich vom Rest des Saales aus nicht einsehen ließ, und wartete. Gleich darauf gesellte sich der Mann zu ihm. »Kenne ich Euch, mein Herr?« erkundigte sich Camber, während er in des jungen Kriegers Antlitz forschte. »Guaire d'Arliss, Herr Camber«, sprach leise der junge Mann und ließ sich auf ein Knie sinken. »Euer Sohn und ich waren bei Hofe Freunde. Wahrscheinlich erinnert Ihr Euch jedoch nicht an mich.« »Doch, ich erinnere mich durchaus«, antwortete Camber, ergriff Guaires Hand und richtete ihn auf. »Cathan hat oft und mit Zuneigung von Euch gesprochen. Aber...« Er lenkte seinen Blick zum Saal. »Was bringt Euch mit diesen untergeordneten Bärenhäu-
tern hierher? Ich wähnte, Ihr wäret Vertrauter von einem der beiden Kriegsherren des Königs?« »Ich war's, und zwar des Grafen Maldred.« Guaire nickte. »Doch ist er jetzt tot, vor drei Tagen ermordet durch eines Meuchlers Hand. Das ist eine der Nachrichten, zu deren Überbringung an Euch ich mich dieser Eskorte angeschlossen habe. Es gibt gewisse...« Er unterbrach seine Rede, als Camber an ihm vorbei und hinweg über seine Schulter schaute, einen Finger auf die Lippen gelegt. Camber führte ihn in einen kleinen Lagerraum, welcher an die Küche grenzte und sie dem Lärm entzog, der nun anschwoll, da die Bewaffneten in den Saal strömten und sich dort zu lagern begannen. »Seid Ihr ein Der...?« fragte leise Camber. »Nein, ich sehe, daß Ihr keiner von uns seid.« Eindringlich packte der Graf Guaire bei den Schultern. »Junger Freund, wir dürfen's nicht wagen, viel Zeit zu verwenden. Seid Ihr jemals auf geistiger Ebene mit Cathan in Verbindung getreten? Standet Ihr ihm so nahe?« Stumm nickte Guaire, die braunen Augen geweitet. »Besitzt Ihr dazu die Bereitschaft, dies geistige Band auch mit mir zu teilen Guaire?« fragte Camber des weiteren. »Ich richtete diese Frage nicht an Euch, bestünde nicht die Notwendigkeit.« Als Guaire zum zweiten Male nickte, legte Camber seine Hände an die Seiten von Guaires Haupt und schloß die Augen. Seine Daumen ruhten sachte an des jungen Mannes Schläfen. »So laßt es hier und jetzt geschehen. Erschließt mir Euren Geist ohne Zaudern. In Cathans Namen bitte ich Euch darum.« Atemlose Stille entstand, ein längerer Zeitraum völliger Ruhe, dann öffnete Camber seine Lider und drückte den jungen Krieger in kraftvoller Umarmung
an sich, starrte blicklos über dessen Schulter, während er bereits abwägte, was er nun erfahren hatte. Danach trat er auf Armeslänge zurück und blickte in Guaires Augen, einen Sohn hatte er verloren, aber einen würdigen Freund gefunden, wenngleich nur ein Menschenkind, wie er sich teurer und edelmütiger vielleicht nimmermehr finden ließ. Und er wußte nun auch, daß getan werden mußte, was zu tun er bereits begonnen hatte. Noch gab es dafür keinen Beweis, daß der König eigenhändig getötet hatte; doch gab es in Guaires Gedankenwelt so gut wie keinen Zweifel daran, daß Imre in irgendeiner Weise für Cathans Tod die Verantwortung trug – und auch daran nicht, daß Cathans eigener Verwandter Coel Howell bei den merkwürdigen Begebenheiten zu Valoret auf gewichtige Weise die Hand im Spiele gehabt hatte. Camber lächelte und drückte zu Guaires Ermutigung dessen Schultern, dann spähte er aus dem Lagerraum, um nachzuschauen, ob sie sich ungefährdet entfernen konnten. »Am besten kehrt Ihr nun in den Burgsaal zurück. Ich warte, bis Ihr außer Sicht seid.« »Sehr wohl, Herr. Ich gebe Euch Bescheid, wenn weitere Befehle eintreffen. Man soll Euch nicht überrumpeln.« »Gott segne Euch, mein Sohn«, entgegnete leise Camber, als der junge Mann auf den Korridor schlich und aus seinem Blickfeld entschwand. Camber wartete eine Zeitlang und sammelte unterdessen seine Fassung, um von neuem unauffällig den Saal durchqueren zu können, durch nichts irgendeinen Hinweis darauf zu liefern, daß er soeben hochwichtige Kenntnisse erlangt hatte. Dann verließ er die winzige Vorratskammer und ging erneut durch den Saal, nickte
im Dahinschreiten den Männern zerstreut zu, die sich bei seinem Kommen erhoben, ihn zum Teil mit zackigen, teils mit höflichen Bekundungen der Achtung grüßten. Wiederum regten sich die Hunde, als er am Kamin vorüberkam, aber er wies sie mit einer herrischen Geste zur Ruhe. Guaire sah er nicht im Saal, aber als er sich dem Fuß der Treppe näherte, verbeugte sich in der Nahe ein blutjunger Waffenknecht. »Seid dafür bedankt, daß Ihr uns ins Haus gelassen habt, Gebieter«, sprach der Jungmanne zu ihm, indem er an seiner Stirnlocke zupfte. »Dies ist eine Nacht, unter deren freiem Himmel sich weder Mensch noch Tier wohl fühlen mag.« Camber hob, derartig aufs Wetter angesprochen, den Blick zu den hohen Fenstern und sah sie unterm Andrang des Sturmes zittern; er nickte zur Bestätigung, als er an dem Mann vorbei die Treppe betrat. Während er sie hinauf zu seinen Gemächern stieg, dachte er an seinen Sohn und den künftigen Schwiegersohn, welche durch dieses Sturmwetter auf der Landstraße zu einer fernen Abtei ritten; und an seinen anderen Sohn, den er niemals wiedersehen sollte, außer womöglich im Traume, der ruhte, wo er des Sturmes Gewalt entzogen war, in der immer winterlicheren Kälte eines verfrühten Grabes. In dieser Nacht schlief er erst sehr spät ein.
13 Denn eure Hände sind besudelt mit Blut... Jesaja 59,3 Die beiden darauffolgenden Tage verliefen zum größten Teil in ungemütlicher Zurückgezogenheit, in Erwartung weiterer königlicher Maßnahmen, die jedoch ausblieben. Da sie keine gegenteiligen Befehle erhielten, harrten des Königs Männer aus, und obwohl sie die Trauer der MacRories so wenig wie machbar zu stören versuchten, zwang der Umstand, daß das Wetter sich immer schlechter gestaltete, sie zum hauptsächlichen Aufenthalt im Burgsaal. Unter Berücksichtigung der Verhältnisse und der allgemeinen Lage war Camber ein überaus großmütiger Gastgeber, und er scheute keinen Aufwand, um seinen doch immerhin unerwünschten Gästen das notgedrungene Verweilen zumindest hinsichtlich aller leiblichen Bedürfnisse so angenehm wie möglich zu machen, aber indem die Tage vergingen, nahmen zwangsläufig die Spannungen zu. Am zweiten Tag unterhielt er sich nochmals mit Guaire, als er das Warten schon fast als unerträglich empfand, aber ihre Zusammenkunft war kurz und wäre ums Haar durch den Hauptmann entdeckt worden. Außerdem vermochte der junge Edelmann dem noch nichts hinzuzufügen, was Camber bereits von ihm wußte. Irgendwelche offenkundige Anzeichen der Vertraulichkeit hätten nur Argwohn erregt, wo bislang noch
kein Verdacht bestand. Auch alle übrigen Bewohner Caerrories waren mit aller Sorgsamkeit darauf bedacht, keinerlei Mißtrauen zu erwecken. Unter den Bediensteten trug sich nichts zu, das nicht in vollem Einklang mit den Beschäftigungen und Aufgaben eines Haushaltes gestanden hätte, dem das Schicksal jüngst den Ältesten geraubt hatte. Das Leben ging weiter, aber auf gedämpftere Weise. Die in stetigem Anwachsen begriffene innere Anspannung jener, die da aufs weitere warteten, äußerte sich in der Gegenwart von des Königs Mannen nicht. Droben jedoch, in den herrschaftlichen Gemächern, wohin die Königlichen keinen Zutritt besaßen, traf man in nahezu fieberhafter Eile alle erforderlichen Vorbereitungen. Camber und Evaine brachten etliche Stunden damit zu, jene wenigen Dinge zusammenzutragen und fortzubefördern, welche ihnen für die Dauer des Exils, das ihnen bevorstand, unverzichtbar vorkamen, sowie damit, die anderen – James Drummond, allgemein gutmütig ›Jamie‹ gerufen, und Elinor – in die Art und Weise ihres Rückzugs einzuweihen, wenngleich auch nicht in dessen genaue Veranlassung. Wulpher/Joram und Crinan/Rhys blieben in ihren Räumen, ausgenommen zu den Mahlzeiten und Abendandachten, vollständig Gebeten für ihren verschiedenen Bruder und der frommen Besinnung gewidmet, wie Camber dem Hauptmann erläuterte. In Wahrheit allerdings verbrachten die beiden ihre Zeit vornehmlich in traumloser Trance, hervorgerufen durch derynische Geisteskräfte, sowohl zum Zwecke, sie aus dem Umkreis der Königstreuen fernzuhalten und die Gefahr einer unvermittelten Entlarvung zu verringern, wie auch zu ihrer Schonung. Cambers
Gestaltwandlungen hatten ursprünglich nicht so lange fortwähren sollen, und daher war's nötig, ihre Magie in regelmäßigen Abständen zu erneuern. Und andernorts trafen andere ihre Vorbereitungen und spielten, um sich die Zeit des Wartens zu verkürzen, ihre verschiedenartigen Spiele. Am Zufluchtsort lagerten die Brüder vom Orden des Heiligen Michael die letzten Mengen an Vorräten für den langen Winter des Exils ein, verteilten die waffenlosen Brüder an Verstecken im ganzen Reich, sorgten für die sichere Unterbringung der Ritter des Ordens. Vier michaelitische Ritter richteten zu Dhassa einen Wachtposten ein, um zu gewährleisten, daß drei überaus wichtige Reitersmänner ohne Zwischenfälle in Sicherheit gelangen konnten. Zu Valoret las ein ruheloser derynischer Verschwörer, der unwissentlich für beide Seiten eines verzweifelten Ringens wirkte, immer wieder fünf dem Inhalt nach wiederhergestellte Seiten aus einem Taufverzeichnis und sandte seinen Kundschafter ins Land, um mehr über jene drei Namen in Erfahrung zu bringen, die allein in einem Zusammenhang standen: Angehörige einer Familie namens Draper – Daniel, Royston und Nicholas. Und so verstrich die Zeit... Aber wiewohl die Tage für die MacRories, die Michaeliten und einen verlotterten derynischen Edlen unerfreulich verliefen, ihre Mißlichkeiten waren nichts im Vergleich zum Elend ihres Königs und Lehensherrn Imre. Der Jammer wütete in den Turmzimmern der Königlichen Gemächer wie ein unerbetenes, unaustreibbares Gespenst, das die Räume mit
Heulen und Zähneknirschen erfüllte, im Burgfried des Hauses Festil Gedanken der Rachsucht wälzte. Den Tag von Cathans Beisetzung verlebte der König, die Sinne nicht länger durch die Barmherzigkeit zu vielen Weines in einem grauen Pfuhl von Stumpfheit getaucht, schweißdurchtränkt und im Fieberwahn; allein die zarten Hilfeleistungen seiner Schwester milderten ein wenig die Glut in seinem Hirn. Von den Nachwirkungen fehlgeleiteter Empfindungen ebenso wie durch die Folgen in jüngster Zeit überreichlich genossener Rauschgetränke mit harzigem Ekel gestraft, dazu außerstande, genug Kraft aufzubieten, um seinen Schmerz mit Würde zu tragen, zu stolz um von jemandem den Beistand zu erbitten, daß er ihm das Übel lindere, welches ihn bedrückte wie ein Joch, brütete er in den sonnenlosen Räumlichkeiten vor sich hin und erduldete seine Leiden in immer greulicherer Laune, welchselbige ihn dazu verführte, die Diener in Furcht und Schrecken zu versetzen, bis sie's nicht länger wagen mochten, sich nur vor der äußeren Schwelle zu seinen Gemächern blicken zu lassen. Nur Ariella verstand ihn allem Anschein nach, so wie sie immer für ihn Verständnis besessen hatte von seinen frühesten Kindertagen an. Und doch quälte ihn selbst das: die unklare Erinnerung an ihren Leib dicht an seinem; ihre gemeinsame hitzige Leidenschaft; ein Rumoren seines Gewissens, das ihn zum Abscheu und zur Selbstverurteilung drängte, während ein anderer, fleischlicherer Teil seines Ichs noch immer von neuem nach ihr verlangte. Am Ende erlag er der Versuchung; doch auch das spendete angesichts der schweren Wunde in seiner Seele wenig Trost. Zwei volle Tage verbarg er sich in lasterhafter
Abgeschiedenheit in seiner Schwester Gemächer, sah während dieser Zeitspanne niemanden außer ihr, aß wenig, schlief noch weniger, erging sich in wahnwitzigen Ausbrüchen weinerlicher Wut wider das Schicksal, gegen Maldred und Rannulf, weil sie sich hatten umbringen lassen, gegen Cathan für seinen Verrat wider Coel, weil er ihm davon vermeldet und ihn zum Handeln gezwungen hatte, und gar wider Gott, der anscheinend aus irgendeinem Grunde dazu entschlossen war, Imres Welt in Trümmer zu legen. Es geschah in voller Kenntnis desselben ungnädigen königlichen Selbstmitleids, als sich Coel Howell am Nachmittag des zweiten Tages den Königlichen Gemächern zu nahen erkühnte; im Wissen um des Königs Gemütsverfassung, aber gewappnet mit einer Handvoll nagelneuer Pergamentrollen, welche er soeben erst von seinen Schreibern erhalten hatte. Man gewährte ihm Eintritt in Ariellas Empfangsraum, wo der König, gehüllt in mit Pelz gesäumte Gewänder, vor einem Feuer saß, das laut röhrte. Imre war mitgenommen und ruhelos – man brauchte nur das Beben seiner Hände zu sehen, um dessen sicher sein zu können –, aber sein geistiges Vermögen war noch unbeeinträchtigt, und er lauschte Coels Ausführungen mit hoher Aufmerksamkeit. Ariella saß auf einem Polsterstuhl an seiner Seite, ihre Hand ruhte ungezwungen auf seiner Schulter, ihren wachsamen Augen entging nicht die unbedeutendste Kleinigkeit. Als Coel seinen Vortrag beendet hatte, unterzog Imre die Rollen einer oberflächlichen Begutachtung, dann reichte er sie seiner Schwester. »Geburtsvermerke eines Vaters und seines Sohnes«, sprach er und runzelte die Stirne. »Warum hat man daran Interesse,
und wieso gerade zu diesem Zeitpunkt?« Coel schnitt eine düstere, mit Unheil geschwängerte Miene. »Ich weiß es nicht, Sire. Der Vater, Royston, ist tot seit mehr denn zwanzig Jahren. Aber sein Vater, dieser Daniel, starb erst vor wenigen Monden. Der Heiler Rhys Thuryn war sein Arzt. Und daher ergibt sich für mich die Frage, warum er und MacRorie diese Aufzeichnungen entwendeten. Man kann lediglich annehmen, daß sie's aufgrund irgendwelcher Mitteilungen taten, die der Greis auf seinem Totenbette machte.« »Was ist mit dem Sohn, diesem Nicholas?« fragte Imre. »Lebt er noch?« »Das ist unbekannt, Sire. Wenn er noch lebt, geht er nicht dem Gewerbe seiner Väter nach, jedenfalls nicht in dieser Stadt. Es sieht so aus, als sei er kurz nach seines Vaters Tod verschwunden. Möglicherweise hat auch ihn die Pest dahingerafft.« Ariella hüstelte betroffen und wandte sich an Coel. »Dieser Daniel Draper, der kürzlich starb – wer und was war er denn?« »Ein Wollzeughändler, Eure Hoheit. Offenbar war ihm in seinem Gewerbe ein recht anständiger Erfolg beschieden, er bezahlte stets alle seine Schulden, und sein Eigentum sowie die Wollhandlung mit allen ihren Beständen hat er seinem Gesellen vermacht, einem gewissen Jason Brown. Das läßt die Schlußfolgerung zu, daß er seinen Enkel enterbt hat oder selbiger tot ist. Darüber hinaus weiß anscheinend niemand sonderlich viel von ihm. Immerhin war er ja mehr als achtzig Jahre alt. Die Mehrzahl seiner Zeitgenossen ist längst tot.« »Seine Zeitgenossen«, wiederholte Imre. »Da fragt
man sich...« »Um Vergebung, Sire?« »Seine Zeitgenossen...«, murmelte Imre erneut in tiefer Nachdenklichkeit. »Wenn er wahrlich so alt war, wie Ihr behauptet, lebte er wahrscheinlich schon zur Zeit meines Urgroßvaters. Möglich, daß er während der Thronnahme schon lebte.« »Seht Ihr diesbezüglich einen Zusammenhang?« »Die Wahrscheinlichkeit ist gering. Und dennoch...« Imre legte sein Haupt zur Seite und stand auf, begann langsam und bedächtig im Gemach hin und her zu schreiten. Ariella beobachtete ihn verwundert aus unverhohlen besitzgieriger Miene. Coel überlegte, was Imre im Sinn haben möge. »Zur Zeit der Thronnahme am Leben«, murmelte Imre weiter, indem er seine Gedankengänge laut aussprach. »Und Thuryn und MacRorie haben die Aufzeichnungen über Geburt von Sohn und Enkel beiseite geschafft. Coel was schlußfolgert Ihr daraus? Ich meine, aus dem Diebstahl dieser urkundlichen Eintragungen?« »Daß sie... die Abstammung eines rechtmäßigen Nachkommen festzustellen versuchen?« gab Coel wagemutig zur Antwort. »Richtig.« Imre nickte, nahm vom Tisch einen Schreibstift und fuchtelte damit, um seine Darlegungen zu bekräftigen. »Aber für wen? Für eine Familie von Wollhändlern? Da stimmt doch etwas nicht. Wir übersehen irgend etwas. Aber was mag's nur sein?« »Wie verhält es sich eigentlich mit jenen Büchern, Imre?« meinte nach längerem Schweigen Ariella, deren Gedanken nun offensichtlich in die gleichen Bahnen gelenkt waren wie bei ihrem Bruder. »Coel, habt Ihr nicht berichtet, Thuryn hätte im Königlichen Ar-
chiv gewisse Bände eingesehen?« »Jawohl, Hoheit.« »Ja, richtig.« Imre unterbrach sein Auf- und Niederwandern. »Was waren das für Bände, Coel? Aus welcher Zeit?« Coel, der ahnte, in welche Richtung die königlichen Gedankengänge verliefen, schaute in seinen Aufzeichnungen nach, dann hob er den Blick in unübersehbarer Verblüffung. »Aus der Zeit der Thronnahme, Sire.« »Und warum«, flüsterte Imre in die Runde, »könnte Thuryn an derartigen Bänden Interesse verspüren, während sein Spießgeselle Urkunden stiehlt, welche die rechtmäßige Abstammung eines bestimmten Mannes beweisen, der vielleicht noch lebt, wenn nicht beide sich der Hoffnung hingeben, sie vermöchten zur Vergangenheit eine Brücke zu schlagen?« Er wirbelte herum und richtete den Stift auf Coel wie eine Waffe. »Aber was für eine Art von Brücke? Wer war dieser geheimnisvolle Daniel Draper, bevor er sich als Wollzeughändler zu betätigen begann?« »Ich... ich weiß es nicht«, stammelte Coel, dessen Unsicherheit seine Zunge lähmte. »Doch kann man's sich denken, worum es hier geht«, erklärte Ariella, deren Stimme unvermittelt so scharf klang wie eine Klinge. »Man schmiedet hochverräterische Pläne wider Euch, mein königlicher Bruder Imre. Man trachtet danach, ein Band zur Vergangenheit zu knüpfen, mit den alten Herren, vielleicht gar mit dem Geschlecht der Haldanes selbst! Es dürfte von allerhöchstem Interesse sein, schnellstens herauszufinden, ob womöglich in jenen Büchern,
worin Thuryn nachschlug, auch Blätter fehlen, und wenn ja, ob dieselben des Reiches einstige Herrscher betreffen...« Sie lächelte und entblößte dabei ihre Zähne gleich einer Raubkatze. »Sollte dergleichen entdeckt werden, so kann das als sicherer Beweis für eine Verschwörung der MacRories gelten.« Coel, von Ariellas Verstandesklarheit wie vom Donner gerührt, verbeugte sich tief, derweil seine Gedanken in aller Hast durcheinanderstrudelten, um sämtliche unausgesprochenen Zusammenhänge zu erfassen. Erwiesen sich Ariellas Mutmaßungen als richtig, so war Cathan MacRorie zweifellos tatsächlich in eine Verräterei seines Bruders verstrickt gewesen, und seine – Coels – Stellung festigte sich dadurch ganz erheblich. Als er sich straffte, erlaubte er sich ein schwaches Lächeln. »Selbstverständlich werde ich diese von Euch angedeutete Möglichkeit ohne Säumen einer Untersuchung unterziehen, Eure Hoheit. Ich darf darauf aufmerksam machen, daß sich die MacRories ohnehin bereits an Herrn Cambers Wohnsitz Caerrorie unter Beobachtung befinden, wo die gesamte Sippe anläßlich von Herrn Cathans Begräbnis – Gott sei seiner armen Seele gnädig! – zusammengekommen ist. Wünscht Ihr, daß man den Heiler Thuryn und Herrn Joram MacRorie zum Zwecke des Verhörs herbringt?« Ariella nickte, offensichtlich von dieser Anregung äußerst angetan. »Ein ausgezeichneter Einfall. Imre?« Doch Imre hatte sich unterdessen abseits begeben, in jenem Moment, als Cathans Name Erwähnung fand, und starrte nun in verkrampfter Haltung zum Fenster hinaus; sein nußbraunes Haupthaar zeichnete sich dunkel gegen das Schneetreiben ab, und er ballte
an seinen Seiten die Hände zu Fäusten. Ariella, die erkannte, daß er in seinen vorherigen Zustand der Niedergeschlagenheit versunken war, begann sich ihm zu nahen, um ihm erneut Trost zu spenden; aber ehe sie ihn erreichte, fuhr er plötzlich mit beträchtlicher Heftigkeit herum und stierte sie und Coel wilden Blickes an. »Verhaftet sie allesamt«, sprach er mit gepreßter Stimme. »Thuryn sowie die Herren Joram und Camber?« vergewisserte sich nicht wenig überrascht Coel. »Alle, sagte ich, Coel«, bestätigte der König, dessen Augen in nahezu aberwitzigem Glanze funkelten. »Ihr hattet recht, was Cathan betraf.« Beschwerlich schluckte Imre. »Und ohne Zweifel habt Ihr auch recht, was den Rest angeht. Heute abend will ich alle MacRories in Ketten sehen, verstanden? Alle! Nicht einem von ihnen kann man Vertrauen schenken!« Des Königs Haftbefehl gelangte kurz nach der Abendmahlzeit auf Caerrorie an, als sämtliche Angehörige von Cambers Familie sich in seinem Studierzimmer zusammengefunden hatten, angeblich zum Abendgebet. Guaire d'Arliss würfelte derzeitig mit dem Hauptmann und zwei weiteren Unterführern, und als der eingetroffene Bote des Königs zu ihnen geeilt kam, ahnte er bereits, wie der neue Befehl lautete. Er unterdrückte die Anwandlung, über die Schulter hinüber zur Treppe zu schielen, die hinauf zu des Grafen Gemächer führte, und bemühte sich, äußerlich den Eindruck angemessen gepflegter Langeweile beizubehalten, dessen er sich hier befleißigte, derweil der Hauptmann das Siegel brach und das Sendschreiben las. Er hatte bereits entschieden, was
er in diesem Fall tun mußte, und deshalb war er auf des Hauptmanns nächste Worte vollauf vorbereitet. »Es ist ein Haftbefehl für den gesamten Haushalt«, gab der Hauptmann bekannt, »und wir erhalten Befehl, alle MacRories zum Verhör nach Valoret zu befördern.« Er bückte sich und hob sein Schwert und das dazugehörige Wehrgehenk aus den Binsen auf. »Feldweibel, du siehst mir zu, daß hier im Saal kein Unfug geschieht. Ihr da, kommt alle mit mir.« Er schlang sich sein Wehrgehenk über die Schulter, winkte Guaire heran und wartete, während seine Männer sich ihrer Waffen bemächtigten. Dann ergriff er das Schreiben und strebte zur Treppe. Falls es ihm auffiel, daß Guaire sich sputete, um sie vor ihm zu betreten, so schwieg er dazu. Infolgedessen kam Guaire als erster vor Cambers Tür. Die übrigen Männer blieben um einige Schritte zurück, alle bis auf zwei hinter des Korridors Biegung verborgen; auf ein Zeichen des Hauptmanns pochte Guaire mit seinen behandschuhten Fingerknöcheln an die wuchtige Eichentür. »Herr Graf?« Einen Moment lang waren die einzigen Geräusche, welche man vernahm, das Atmen der Männer im engen Treppenhaus und einige gedämpfte, aber aufschlußreiche Klirrlaute von Metall an Stein, dann öffnete jemand die Tür. Auf der Schwelle stand Camber und versperrte mit seiner Gestalt den Blick ins Innere des Zimmers. Sein Blick besagte, als er Guaire streifte, nichts Besonderes, und er richtete seine Augen sogleich auf den Hauptmann, der zwei Schritte weit hinter Guaire stand. Allerdings begriff Guaire sehr wohl, daß des Grafen Blick durchaus folgerichtig zuerst ihm gegolten hatte. »Kann ich Euch irgendwie
behilflich sein, Hauptmann?« Cambers Fragestellung war ein Musterbeispiel tadelloser Höflichkeit, und der Hauptmann räusperte sich in spürbarer Verlegenheit, bevor er ihm den vorhin erhaltenen Befehl hinstreckte. »Mir liegt ein Arrestbefehl vor, Herr Graf. Er betrifft Euch und Eure Familie, insbesondere Euren Sohn Joram und den Heiler namens Rhys Thuryn. Der Befehl ist ausgestellt im Namen Seiner Majestät, König Imre von Festil.« Für die Dauer eines übersprungenen Herzschlags schien sich niemand zu regen oder bloß zu atmen; endlich hob Camber bedächtig eine Hand und nahm das Pergament entgegen. Guaire wähnte verstohlene Bewegungen in Cambers Rücken wahrzunehmen, doch war er sich darin unsicher. Der Hauptmann dagegen, dessen Derynisinne weitaus schärfer waren als Guaires Wahrnehmungsvermögen, bemerkte sie offenbar mit Eindeutigkeit, denn er trat um einen Schritt vor und legte eine Faust an den Griff seines Schwertes. Camber las noch das Schreiben. »Es besteht nicht die allerentfernteste Veranlassung zum Zweifel an dieser Weisung, Herr Graf«, erklärte der Hauptmann, als Camber die letzte Zeile des Sendschreibens las und dann das Königssiegel betrachtete. »Ich muß Euch dringlichst ersuchen, nun zur Seite zu treten und die Tür freizugeben. Wir möchten ungern Gewalt anwenden, aber freilich müßten wir's tun, im Falle Ihr uns keine andere Wahl gestattet.« »Ja, Hauptmann«, sagte Camber, in seiner Stimme, so fand Guaire, einen Anflug von Kümmernis, »da bin ich ganz sicher, daß Ihr das müßt.« Als der Graf die Tür weiter aufschwang, trat plötz-
lich James Drummond an seine Seite; seine Miene war sehr ernst, und im ersten Augenblick vermeinte Guaire, die Leute im Zimmer wollten sich nun doch gefangengeben. Dann aber bemerkte er, daß Drummond seinen Waffenarm hinter der Tür verbarg und sich im Zimmer, in Cambers und Drummonds Rükken, weniger Personen aufhielten als es hätten sein müssen. Doch ehe auch der Hauptmann alle diese Umstände erkannte, sprang Drummond urplötzlich an Camber vorbei nach vorn und warf den Hauptmann gegen die Klingen seiner Bewaffneten, und im gleichen Moment entwich Camber eilends ins Zimmer und führte Pater Joram und Herrn Rhys dringlich in eine Ecke desselben – und in dieser Ecke verschwanden sie im Handumdrehen alle drei! Danach verteidigten Guaire und James gemeinsam mit blanken Klingen die Schwelle, hielten den Hauptmann und seine Männer im schmalen Korridor in Armeslänge auf Abstand, während hinter ihnen grelle Leuchterscheinungen bezeugten, daß sich rätselhafte Begebenheiten zutrugen, an deren näherer Kenntnis Guaire durchaus kein sonderliches Interesse hegte. Er wehrte einen Schwertstich ab und schlug nach des Angreifers Handgelenk, woraufhin selbiger mit fast abgetrennter Faust und unter lautem Gebrüll die Treppe hinab zwischen seine Gefährten polterte. James überrumpelte einen anderen Bedränger und rammte ihm die Klinge durch den Schenkel, schleuderte den Verwundeten rückwärts, so daß er bloß um Haaresbreite dem Geschick entging, auf die Waffe eines Mitstreiters gespießt zu werden. Guaire blickte sich über die Schulter um und sah die Lady Evaine in eben jenem Winkel des Gemachs gleichsam aus dem
Nichts auftauchen, wo zuvor Camber und die beiden anderen Männer verschwunden, doch im nächsten Augenblick mußte er von neuem um sein Leben fechten, sah sich dem gemeinsamen Ansturm zweier seiner vormaligen Gefährten ausgesetzt, denen es gelungen war, sich an James Drummond vorüberzudrängen, der sich bereits mit einem neuen Gegner zu befassen hatte, und die ihn nun zu zweit angingen. Sobald er sich dieser Bedrängnis entwunden hatte, wagte er einen erneuten Blick ins Zimmer zu werfen, und diesmal sah er in jener Ecke Camber wiedererscheinen; der Graf geleitete die Lady Elinor und ihren jüngeren Sohn sowie Lady Evaine in den geheimnisvollen Winkel. Dann waren die beiden Damen und das Kind auf einmal fort, und nur Camber stand noch im Zimmer; und der Graf stürzte vorwärts und rief Guaire zu, er solle achtgeben. Ein scharfer Schmerz in seiner Seite lenkte Guaires Aufmerksamkeit zurück ins Treppenhaus – doch zu spät, um des Hauptmanns Klinge noch ausweichen zu können. Er spürte warme Nässe auf den Rippen seiner verletzten Seite, als der Hauptmann um einen Schritt zurückwich und Guaire auf dem Schwert Blut sah, wovon er wußte, es war sein eigenes. Sofort aber ereilte den Hauptmann bittere Vergeltung, die Guaire als süße Rache empfand, und sie traf ihn durch James Drummonds Schwert. Der Mann taumelte rückwärts, während aus seiner zertrennten Halsschlagader ein Blutstrom sprudelte, und in seiner Kehle erstickte mit einem Gurgeln ein Schrei. Das Strafgericht vermochte nicht die Verwundung ungeschehen machen, welche Guaire erlitten hatte, doch als der junge Edelmann zusammenzubrechen drohte, stützten ihn auf einmal die starken Ar-
me Cambers und schleppten ihn zu jener Ecke des Arbeitszimmers, wo sich erst vorhin so ungemein sonderliche Dinge ereignet hatten. James schlug die Tür zu und eilte sich, um Anschluß zu bekommen; als die Tür unterm Anrennen unversehrter, ausgeruhter Widersacher von der Treppe nachzugeben begann, verschwamm Guaires Wahrnehmungsfeld langsam zu einer wohligen Welt aus grauen Farbtönen. Unmittelbar bevor er das Bewußtsein verlor, erlebte er eine schwindelartige, ruckartige Empfindung, als stürze er unversehens in einen Abgrund, und bemerkte ein Aufblitzen greller, purer Kraftentfaltung unbegreiflicher Natur, welches die Finsternis, die ihn zu umhüllen anfing, beinahe vertrieb, und in diesem Augenblick wäre er zu beschwören bereit gewesen, daß Cambers Gestalt leuchtete.
14 Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen. Psalm Salomos 72,4 In einem anderen Landstrich des Reiches sank an jenem Abend die Dunkelheit früh herab. Der Wind schob ein neues Sturmgewitter durch die Pässe der Bergketten talwärts, verwandelte das Zwielicht in eine weiß verschleierte Leere, derweil sich zwei Reiter den festen Mauern der Abtei St. Foillan näherten. An diesem Tag ihres Rittes waren sie niemandem begegnet. Nach Beginn der Vorweihnachtszeit traf man nur noch sehr wenige Reisende auf der Landstraße an, und es war bereits mehr Schnee gefallen, als man gewöhnlich in dieser Jahreszeit erwartete. Auch ohne den Sturm, der heranzog, wäre der Weg beschwernisreich zur Genüge gewesen. Angesichts dessen, daß sich die Schneewehen mit jeder Stunde höher emportürmten, hätte den meisten selbst der hartgesottensten Fuhrknechte eine Fortsetzung des Weges unmöglich gedünkt, so daß es ihnen lieber gewesen wäre, damit bis zum Frühjahr zu warten. Dies war freilich ein Umstand, auf welchen Joram und Rhys setzten, da sie zu Recht annahmen, daß, auch wenn Imre inzwischen ihre Absicht entdeckt hatte, die Kunde von ihrer Flucht nie und nimmer vor ihnen zu St. Foillan eintreffen konnte, vielleicht nicht einmal,
bevor das frühjährliche Tauwetter begann. Doch diese Einsicht erleichterte ihnen keineswegs das Gemüt in bezug auf ihre unmittelbar nächste Aufgabe. Irgendwie mußten sie ungesehen in die Abtei eindringen, Prinz Cinhil finden und ihn ungeschoren hinausbringen. Obwohl sie ihre gemeinsamen Kenntnisse der Örtlichkeit im Laufe der zwei vergangenen Tage wenigstens ein dutzendmal mit einer nur Deryni möglichen Gründlichkeit aufgearbeitet hatten, so ließ sich doch nicht voraussagen, welche menschlichen Eigentümlichkeiten unwissentlich ihre glanzvollsten Pläne zuschanden machen konnten. Seit einigen Stunden war's bereits dunkel, als sie ihre Rösser im Schatten des Walles der Abtei zügelten. Der Mond war hinter eine dichte Wolkenbank entschwunden und würde dort wahrscheinlich für ein geraumes Weilchen bleiben. Rhys schlang seinen Umhang aus Fell enger um seine Schultern – das Kleidungsstück war weiß, um ihn zwischen den Schneewehen zu tarnen – dann drehte er sich im Sattel und zog ihr zusätzliches, drittes Pferd an seines Tieres Flanke. Sämtliche Rösser waren mit Decken und Kopfbedeckungen in weißer Farbe versehen, sowohl zum Schutze wider die unfreundlichen Elemente wie auch zur Tarnung, und in den trüben Lichtverhältnissen des Winterabends vermochte er Joram, der nur ein paar Fuß weit entfernt auf seinem Reittier saß, kaum erkennen. Joram schwang sich aus dem Sattel und band das Tier am Stumpf eines von herbstlichen Unwettern niedergeschmetterten Bäumchens fest, dann kam er herüber und legte eine Hand an Rhys' Zaumzeug. »Bis jetzt sind die Umstände günstig«, erklärte er mit gedämpfter Stimme. »Um
diese Jahreszeit wagt man wegen der Schneeüberhänge die Glocken der Abtei nicht zu läuten, aber es muß kurz vor der Komplet sein. Denk daran, kein Wort mehr, bis wir wieder außerhalb sind. Es ist nun einmal so, daß sich Schall in der Luft weithin verbreitet.« Und das war nicht die einzige Art der Verständigung, worauf zu verzichten sie übereingekommen waren, sann Rhys, als er abstieg und aus den Satteltaschen des dritten Tiers einen weiteren Pelzumhang und wollene Beinkleider holte. Auch ihre derynische Fähigkeit des Gedankensprechens durften sie, falls überhaupt, nur ausnahmsweise anwenden. Der Ordo Verbi Dei war kein Deryni-Orden, doch mochte er als Mitglieder ein paar vereinzelte Deryni haben. Und falls einer davon gerade in tiefe Meditation versunken wäre und eine achtlose Äußerung auffinge... Die Wahrscheinlichkeit war gering, aber die Möglichkeit war nicht auszuschließen. Und es ging um zuviel in diesem Ringen, um eine Gefahr hinnehmen zu dürfen, welche sich meiden ließ. Rhys trat dicht an die Mauer und sah zu, wie Joram ein geflochtenes Seil mit einem dreifachen, mit Leder umnähten Haken an einem Ende zum Vorschein brachte. Der Priester mußte ein Weilchen dafür aufwenden, das Seil zu ordnen, bis dessen Schlingen zu seiner Zufriedenheit hingen. Dann erst entfernte er sich behutsam um mehrere Schritte von der Mauer und richtete seinen Blick aufwärts. Rhys spähte in die Richtung, woher sie gekommen waren, und es erleichterte ihn, daß er die Pferde nicht sehen konnte. Der Schneefall hatte sich verstärkt, Flocken blieben massenweise in Jorams Pelzkapuze hängen, glitzerten. Nach einer fachmän-
nischen Abschätzung der Mauer schwang der Geistliche den von Leder umhüllten Dreifachhaken überm Kopf, schleuderte ihn am Seil hinauf und über des Walles Höhe hinaus. Ein dumpfes Klirren ertönte, als er auf der anderen Seite ein paar Fuß unterhalb der Mauerkrone ans Mauerwerk prallte, und Joram eilte unverzüglich zurück in den Schatten des Walls; die beiden Männer standen reglos und lauschten, hoben nur ganz allmählich die Häupter, während sie sich davon überzeugten, daß das leise Geräusch kein Aufsehen erregt hatte. Vorsichtig begann Joram am Seil zu ziehen; und da stieß er einen unterdrückten Fluch aus, als der Haken, weil er keinen Halt gefunden hatte, von der Mauer herab und ihm beinahe aufs Haupt fiel. Dreimal mußte der Versuch wiederholt werden, ehe der Haken sich endlich irgendwo festbiß. Danach jedoch erklommen und überwanden sie die Mauer ungemein geschwind. An der Innenseite des Walles verlief ein schmaler Laufsteg, und einige Schritte weiter zur Linken führten von unberührtem Schnee bedeckte Stufen hinab auf den Untergrund. Nur wenig später befanden die beiden Männer sich innerhalb der Mauern und verbargen sich in den Schatten zweier Nebengebäude; ihr zur Flucht unentbehrliches Seil hatten sie fest am Wall verankert und im Dunkel einer Mauerritze versteckt. Während der folgenden halben Stunde durchquerten sie den südlichen Apfelgarten, stahlen sich über eine kleine Brücke und vorbei an den Werkstätten der Laienbrüder sowie der Kellermeisterei, schlichen unter den dunklen Fenstern von der Klosterhalle großem Saal dahin, durch der Abtei Hof und zuletzt durch ein letztes Stück offenen
Gartengeländes; zum Schluß kauerten sie im Dunkel von des Hauptgebäudes äußerer überdachter Vorhalle und lauschten, ob sich von drinnen noch irgendwelche Betriebsamkeit vernehmen ließe. Von hier aus folgte der ungefährlichere Teil des Weges zu ihrem Schützling, vorausgesetzt allerdings, St. Foillan war nach den gewohnten, herkömmlichen klösterlichen Bauplänen angelegt. Durch das Mittelschiff und über die Seitentreppe mußten sie die Unterkünfte der Mönche und damit auch die winzige Zelle erreichen, worin Rhys den Prinzen zum letzten Male gesehen hatte. (Der Heiler verzichtete bewußt darauf, sich auch bloß ansatzweise auszumalen, was werden solle, falls sie durch der Abtei Hauptbau nicht zu Cinhil vorzudringen vermochten. Sollten sie den Weg durch die Klosterhalle und den Hof nehmen müssen, eben denselben, welchen Rhys und Camber anläßlich ihres ersten Besuchs bei Cinhil nahmen... nein, soweit wollte er vorerst gar nicht zu denken wagen!) Eine plötzliche Anwandlung panikartiger Furcht packte Rhys, die schreckliche Vorstellung, er sei nur ein Kind, das ein überaus gefahrvolles Spiel Erwachsener spiele, doch er unterdrückte diese hinderliche Regung; statt dessen widmete er sich dem Ablegen und Einrollen seines Pelzumhangs, welchen sie mit jenem Jorams und dem dritten, für Cinhil bestimmten Umhang in der Vorhalle finsterstem Winkel versteckten. Er harrte voller innerer Beunruhigung an Jorams Ellbogen, während der Ordensgeistliche aus seinem Stiefelschaft einen Dolch zog und die dünne Klinge zwischen Tür und Türrahmen schob; etwas später ertönte zu ihrer gemeinsamen Befriedigung drinnen ein leises Klicken des Riegels.
Joram lächelte grimmig, so daß seine Zähne im Dunkeln schimmerten, steckte den Dolch zurück in die Scheide und öffnete die Tür um einen Spalt, spähte für ein ausgedehntes Weilchen ins düstere Innere. »Alles still und ruhig«, flüsterte er letztendlich und sah seinen Begleiter an. Er hauchte die Mitteilung mehr denn er sie sprach, und nachdem er die Tür weit genug aufgeschoben hatte, so daß sie beide über die Schwelle einwärts zu huschen vermochten, winkte er Rhys in die Schatten auf des Mittelschiffs rechter Seite. Ein Moment verstrich, gerade lang genug, so daß er die Tür wieder verriegeln konnte, dann kniete Joram mit Rhys hinter einer Säule, aus deren Deckung sie die langgestreckte Räumlichkeit des Hauptschiffs beobachteten, ihre Augen anstrengten, welche die von bloß wenigen Kerzen aufgehellte Düsternis nur mit Mühe durchdrangen. Sie ließen sich reichlich Zeit, spähten zwischen die vielfältigen Reihen von Säulen, in die Seitenkapellen sowie zwischen da und dort in den Seitenschiffen unter den Lichtgaden aufgestellte Grabstandbilder. Flüchtig fand eine Einzugspforte ihre Aufmerksamkeit, dann hefteten sie ihre wachsamen Blicke auf die Treppe zu der Laienbrüder Unterkünfte, welche sich zur Rechten ins Dunkel emporwand. Die Pforte bot keinen Grund zur Beunruhigung, denn ihre Benutzung erfolgte ausschließlich des Tages; ganz anders aber verhielt es sich mit der Treppe. Sollte irgendein eifersüchtig auf Andachtsübungen zusätzlicher Art bedachter Laienbruder die Treppe unbemerkt herabgeschlichen kommen, bevor sie die verhältnismäßige Sicherheit des südwärtigen Querschiffs erreichten, war ihre Entdeckung gewiß. Sie mußten am
Hauptaltar vorbei, dessen ziemlich freies Umfeld und wenngleich auch geringe Anzahl entzündeter Kerzen sie etwaigen Beobachtern preisgab, und in den Seitenkapellen mochten sich Mönche aufhalten, deren Einstellung zu nächtlichen Eindringlingen nicht anders denn feindselig sein konnte. Und hatten sie diesen gefährlichen Abschnitt überwunden, blieb noch die andere Treppe, welche zu den Unterkünften der Mönche führte, also auch zu Cinhils Zelle. Besser war's, auch diesen Fährnissen nicht zu viele Gedanken zu widmen. Joram legte einen Finger auf die Lippen und begab sich lautlos zum Fuß der Treppe zu den Unterkünften der Laienbrüder, wo er hinauf in die Dunkelheit spähte, mit seinen derynischen Sinnen nach irgendwelchen Anzeichen von Bewegung tastete. Er nahm nichts dergleichen wahr, nur das leise Widerhallen von Schnarchlauten. So kurz nach dem Komplet gönnten die meisten Brüder sich offenbar das begrenzte Maß an Schlaf, das die Ordensregeln ihnen gewährten. Von nun bis zur Frühmette, die erst lange nach Mitternacht stattfand, war's für die gesamte Abtei die ruhigste Zeit. Mit einem Nicken gab der Geistliche Rhys zu verstehen, daß er sich ihm anschließen könne, bevor er still den Weg durchs Seitenschiff fortsetzte; er blieb dabei dicht an der Wand, nutzte den Schutz jedes geeigneten Schattens. Voraus befand sich zur Seite des Hauptaltares die erste Seitenkapelle. Die Kapellchen auf der linken Seite waren leer; das vermochten sie nun zu erkennen. Die Gewölbe waren schwach aufgehellt von Präsenzlichtlein und vom Schein der Kerzen, welche in Reihen den Hochaltar säumten. Hinterm Altar schimmerte im
Kerzenlicht düster das kupferne Gatter des Lettners, zum größten Teil im Schatten gelegen. Dahinter erstreckte sich des Kirchenschiffes Rest, wo es weitere Seitenkapellen gab, und der Chor befand sich zwischen den Querschiffen. Die Treppe, welche sie suchten, war im südlichen Querschiff, unmittelbar am Westgemäuer. Bislang hatte sich nichts gerührt, aber es wäre einfältig gewesen, nun einfach darauf zu vertrauen, daß es so bliebe; sie mußten sichergehen, daß sie niemandem in die Arme liefen. Sie erreichten die Seitenwand der ersten Kapelle zur Rechten und Joram lugte mit äußerster Vorsicht um die Ecke und hinein. Sie war leer. Sie wiederholten ihr umsichtiges Vorgehen beim zweiten Kapellchen. Es lag ebenfalls verlassen. Bis jetzt schien sich ihr Glück bewähren zu wollen. Sie schlichen an der zweiten Kapelle vorüber und so nahe vor dem Lettner, wie sie es wagten, um in den jenseitigen Teil des Kirchenschiffs und die nordwärtigen Kapellen zu spähen, bevor sie sich ins Offene trauten und Zutritt durch den Lettner verschafften. Doch auch das restliche Kirchenschiff war allem Anschein zufolge menschenleer, und ebenso rührte sich nichts im dunklen Chor. Falls sich jemand im Klosterteil der Kirche befand, konnten sie nur hoffen, daß derjenige, wer immer es sein mochte, irgendwo in der Apsis blieb, weitab vom Querschiff und der Treppe, wohin Rhys und Joram strebten. Keinem von beiden lag auch nur im entferntesten daran, eine Kirche zu entweihen, indem sie darin jemandem Gewalt antun mußten und dennoch, genauso wußten beide Männer, obwohl sie sich niemals darüber verständigt hatten, daß sie, wollte es sich als notwendig erweisen, sogar töten
würden, um durchzusetzen, daß Cinhil ungehindert aus St. Foillan verschwand. Niedergekauert lauschten sie ein Weilchen lang; danach erst waren sie davon überzeugt, daß völlige Ruhe herrschte. Dann ging Joram hinter den Altar zum Lettner und legte eine Hand auf die Klinke des Gittertors; unhörbar fluchte er, als das Tor widerstand und er begriff, es war abgeschlossen. Er warf Rhys einen Blick angespannten Verdrusses zu; Rhys spähte zurück in die Richtung, woher sie zuvor kamen. Joram kniete nieder, legte seine Hand ans Schloß und ertastete es mit seinen derynischen Sinnen. Einige Augenblicke später, welche lediglich endlos lange zu währen schienen, bewegte sich unter Jorams Hand die Klinke. Aber bevor er das Gittertor auftun konnte – er fragte sich, ob es wohl quietschen oder knarren werde –, bemerkte er im Augenwinkel Rhys eindringlich heftiges Handzeichen und drückte sich unverzüglich an des Altars Rückseite. Nun vernahm auch er das Schlapp-schlapp von Sandalen, deren Träger das Mittelschiff heraufgelatscht kam. Der Mann war allein, wofür Joram der Vorsehung aus ganzem Herzen dankbar war, aber wenn er seinen Weg in der gegenwärtigen Richtung fortsetzte, mußte er bald in die Höhe von Rhys' Versteck gelangen. Joram sandte ein stummes Stoßgebet himmelwärts, daß der Mann eine der vorderen Kapellen betreten möge; es mußte eine der ersten Kapellen sein, denn andernfalls ließ sich Rhys' Entdeckung nicht vermeiden. Später war sich Joram nach wie vor darüber im unklaren, ob er oder Rhys irgendeinen Einfluß darauf ausgeübt hatten, was der ahnungslose Laienbruder entschied; doch aus welchem Anstoß oder Grund es auch geschah, auf jedweden Fall ver-
harrte der Mönch nur kurz, um sich vorm Hochaltar zu verneigen, und entfernte sich lautstark in die erste Kapelle zur Rechten, welche genau neben jener lag, worin sich Rhys verbarg. Nach einem Weilchen, als aus der bezeichneten Kapelle keine weiteren Geräusche ertönt waren, schlich Joram an die linke Seite des Altars und schaute vorsichtig um die Ecke. Er vermochte die Kapelle, in der sich der Mönch aufhalten mußte, nicht einzusehen – doch war das nur gut so, weil es hieß, daß andererseits der Mönch auch ihn nicht sehen konnte. Rhys hatte sich lautlos an die den beiden Kapellchen gemeinsame Trennwand begeben und schielte mit äußerster Obacht in die Nachbarkapelle, als Joram seinen Blick nach drüben richtete. Einen Moment darauf zog sich Rhys von der Ecke zurück und schaute Joram an, nickte ihm bedächtig zu. Falls der Mönch nun noch irgendeinen Argwohn entwickelte, war Rhys zumindest dazu in der Lage, ihn zum Schweigen zu bringen, ehe er einen Aufruhr zu entfesseln vermochte. Mit einem tiefen Atemzug, um sein Gemüt zu festigen, kehrte Joram zurück zum Lettner und drückte die Klinke nieder. Das Gittertor verursachte kein Geräusch, als er es so weit öffnete, daß er hindurchschlüpfen konnte. Insgeheim dankte er Gott für der Mönche Fleiß und Tüchtigkeit; die Angeln waren sorgsam geschmiert und bewegten sich völlig geräuschlos. Ohne weitere Schwierigkeiten gelangten die beiden Männer in den Schutz der ersten jenseitigen Kapelle; das Gittertor des Lettners hinterließen sie geschlossen, aber unverriegelt, als sie den Gebäudeteil der Klosterbrüder betraten. Wie versteinert hielten sie in den Schatten inne, als aus der Richtung jener Kapelle, die der Mönch aufge-
sucht hatte, ein Geräusch erscholl; reglos beobachteten sie, wie er vor den Hochaltar schlurfte und sich erneut verbeugte, dann in eine andere Kapelle auf der Seite gegenüber entschwand, als sie schon glaubten, er wolle für längere Zeit andächtig vorm Altar verharren. In nahezu froher Erleichterung widmeten Joram und Rhys ihre Aufmerksamkeit wieder den nächsten Aufgaben. Sie wagten nicht daran zu denken, wo der Mann sein mochte, wenn sie auf dem Rückweg waren, oder daran, daß es dann vielleicht mehr waren als lediglich ein Mönch. Sie befanden sich nun innerhalb des Klosterbereichs, und sollte man sie hier ertappen, mußten sie mit zweimal so hartem Strafgericht rechnen. Jenseits der großen Einzugspforte – nachts von innen verriegelt –, durch welche die Klosterbrüder am Tage vom Klostergarten in die Kirche gelangten, kamen sie vor ein weiteres kupfernes Gitter. Joram wollte schon umkehren und den Weg durch den Chor fortzusetzen versuchen, da legte Rhys seine Hand an die Gittertür und spürte sie nachgeben. Mit einem kurzen, kaum hörbaren Zuruf machte er Joram aufmerksam, schwang die Tür auf und trat hindurch. Hastig kam Joram zurück und folgte ihm hinter die Gittertür; die beiden Männer duckten sich am Fuße der Treppe. Rhys' Schulter drückte hart an Jorams Schulter, während sie über die Treppe empor in die Finsternis starrten. Rhys' Lippen erzeugten stumm das Wort: ›Jetzt?‹ Zur Antwort nickte Joram entschlossen und tat einen tiefen Atemzug; dann begannen sie die Treppe achtsam zu ersteigen. Am Treppenabsatz stand eine Tür offen, wohinter eine andere, schmalere Treppe weiter aufwärts führte. Einige Augenblicke
lang lauschten sie aber außer der Geräuschentwicklung Schlafender vernahmen sie lediglich das Knarren des Bauwerks selbst, auf dessen Bleidächern beträchtliche Schneemassen lagerten. Nun mußten sie Cinhil finden und mit ihm unbehelligt entkommen. Auf dem Treppenabsatz brannte ein einzelnes Vigilienlichtlein, welches das langgestreckte Dormitorium allerdings so gut wie gar nicht aufzuhellen vermochte. Indem er angestrengt voraus in die Düsternis spähte, geleitete Rhys, der ja schon einmal hier verweilt hatte, Joram an den vorderen der verhangenen Schlafnischen vorüber, rechts vorbei an den in der Mitte aufgestellten Truhen und Gestellen: Cinhils Zelle war die fünfte vom anderen Ende aus – Rhys hatte sie sich deutlich gemerkt –, und als er am Vorhang verharrte, der die Zelle vom Gang abteilte, nahm Joram aus dem nächstbesten Gestell zwei weiße Gewänder, wie sie die Professen trugen. Verstohlen betraten sie die Zelle; ihre Herzen hämmerten heftig, während sie warteten, bis Joram eine winzige Sphäre von Leuchtglut geschaffen hatte. In deren kärglichem Schein glitt Rhys lautlos an der schmalen Pritsche Kopfende und beugte sich mit äußerster Behutsamkeit vor, um sich dessen zu vergewissern, daß dieser Schläfer jener Mann war, den sie suchten. Sobald dies feststand, zogen sie die beiden weißen Gewänder über ihre Bekleidung, und Joram lenkte die lichte Sphäre näher, so daß Rhys in gebeugter Haltung seinen Blick in ihres Schutzbefohlenen Antlitz senken konnte. Ungemein vorsichtig ertastete er mit seinen derynischen Sinnen Cinhils Geist, in der Hoffnung, daß es ihm gelänge, den Mann vom Schlaf in eine tiefere Besinnungslosigkeit versetzen zu können,
ohne ihn aufzuwecken. Doch entweder war die geistige Berührung nicht sanft genug oder Cinhils Schlaf weniger tief als angenommen; mit einem Ruck riß Cinhil die Augen auf, und sofort war er hellwach. Und als er zwei Gestalten über sich gebeugt sah, erhellt vom geisterhaften Schein, den Jorams Sphäre verbreitete, war seine unwillkürliche Empfindung ganz natürlicherweise höchstes Erschrecken. Rhys preßte bei des Mönches erster Regung eine Hand auf seinen Mund, so daß Cinhil nicht aufzuschreien vermochte; doch sogleich versuchte sich der Mönch seinem Zugriff zu entwinden, während er unter der dünnen Decke wild mit den Beinen trat. Joram warf sich über Cinhils Körper, um ihn niederzudrücken, indem er sich auf seine Arme und Beine stemmte, derweil Rhys die Gewalt über des Mönches Geist zu erzwingen versuchte, aber anscheinend konnte der Heiler nicht durchdringen. Es war, als hätten sich die geistigen Wälle, die er schon einmal festgestellt hatte, angesichts des Überfalls zur zweifachen Stärke verdickt, um Rhys daran zu hindern, das Bewußtsein, welches hinter selbigen Wällen wohnte, auch nur im allergelindesten anzutasten. Sofort sahen sie ein, daß sich Cinhil auf diese Weise nicht fortbekommen ließ. Falls sie ihn nicht innerhalb der nächsten paar Augenblicke zur Ruhe bringen konnten, mußte sein Widerstand alle die Klosterbrüder ringsherum aus dem Schlummer aufscheuchen. Dies war endgültig der Zeitpunkt für nachdrückliche Maßnahmen. Ohne sich mit weiteren Versuchen anderer Art aufzuhalten, packte Rhys des Prinzen Kehle mit seiner freien Hand und preßte ihm die Halsschlagader ab. Er ließ nicht locker, auch nicht, als Cinhils Körper sich ein letztes
Mal aufbäumte, ehe er unter Rhys' und Jorams Fäusten erschlaffte. Als Rhys mit seinen derynischen Geisteskräften erneut nachfühlte, traf er noch immer auf die Abschirmung von Cinhils Gedächtnis und Verstand; doch wenigstens der Mittelpunkt seines Bewußtseins war nunmehr überwunden. Nachdem er sich seiner Beherrschung desselben vergewissert hatte, so wie beim vorherigen Besuch, richtete er sich vorsichtig auf und gestattete sich einen stark unterdrückten Seufzer der Erleichterung. Joram warf ruhelos einen Blick hinter den Vorhang auf den Gang, als er sich straffte. Draußen hatte sich kein Geräusch vernehmen lassen, es gab kein Anzeichen dafür, daß jemandem ihr kurzes Handgemenge mit Cinhil aufgefallen war; nichtsdestoweniger warteten sie zur Sicherheit für ein längeres Weilchen, bevor sie sich wieder regten. Letztendlich bückte sich Rhys, hob den besinnungslosen Cinhil auf die Beine und schob unter dessen Arm eine Schulter. Sorgenvoll hielt er sich zum Antritt des Rückweges bereit, während Joram das Licht verschwinden ließ und von neuem durch den Vorhang hinauslugte. Wie durch ein Wunder hörte man im gesamten Dormitorium unverändert nichts denn Geschnarche. Sie schlichen, Cinhil in ihrer Mitte, den Weg zurück, woher sie gekommen waren, blieben dicht an den Truhen und Gestellen, bis sie wieder das Vigilienlicht erreichten. Soeben betraten sie den Treppenabsatz, da verharrte Joram wie angewurzelt und lauschte, dann winkte er Rhys zu, er möge mit ihrem bewußtlosen Begleiter auf die Wendeltreppe entschwinden, welche noch höher führte hinauf in den Turm. Derweil Rhys der Aufforderung nachkam,
vernahm auch er das leise, dumpfe Klatschen von mit Sandalen bekleideten Füßen, welche sich drunten der Treppe nahten. Die ganze Zeit hindurch mußten Mönche in der Ostseite der Kirche gewesen sein! Sie wagten kaum zu atmen, während sie die Wendeltreppe bis hinter ihre erste Windung erstiegen, wo sie sich bewegungslos niederkauerten und die Mönche die untere Treppe erklimmen ließen. Eine Unterhaltung war nicht zu vernehmen, und sie hatten auch keine erwartet, und gleich darauf verklangen die Schritte im Dormitorium. Eine gewisse Frist lang harrten sie noch aus, für den Fall, daß die Mönche gekommen waren, um die Ablösung für irgendeine Nachtwache zu wecken, doch fortan rührte sich weder im Dormitorium noch unten irgend etwas. Schließlich sammelten sie ihren Mut und begaben sich mit ihrem besinnungslosen Schützling die Treppe hinab, durchquerten das Gittertor; außer Atem lehnten sie sich, um wachsam zu lauschen, an die geschlossene Einzugspforte. An die nachfolgende halbe Stunde entsannen diese beiden Männer, die allein sie bei vollem Bewußtsein erlebten, sich später nur verschwommen. Es gelang ihnen, den Lettner erneut zu durchqueren – diesmal in die andere Richtung –, ohne gesehen zu werden, und die Deckung der letzten Seitenkapelle zu erreichen. Doch dann hätte das Erscheinen eines weiteren Laienbruders von der westwärtigen Treppe beinahe alle ihre Pläne zunichte gemacht. Joram hörte ihn kommen, lange bevor er ins Blickfeld trat, denn der Mann hustete und nieste ununterbrochen, während er die Treppe herabstieg. Aber sie hatten keine Möglichkeit zum Verstecken. In aller Hast lehnten sie den
bewußtlosen Cinhil auf einen Betstuhl, und Rhys kniete sich neben ihn, um seine schlaffe Gestalt zu stützen, wogegen sich Joram in den hintersten Winkel zurückzog. Doch das genügte nicht, um den alten Bruder, der durchs Mittelschiff dahinschlurfte, aus ihrer Nähe fernzuhalten. Ein Blick auf das Paar, welches er in der Seitenkapelle knien sah, reichte hin, um ihn davon zu überzeugen, daß irgend etwas nicht stimmte. Die beiden dort trugen die weißen Gewänder der Professen, nicht das Grau der Laienbrüder. Freilich war's nicht ungehörig, daß Klosterbrüder in der Kirchenseite der Laien beteten, zumal im Winter, wenn sich schwerlich ein Außenseiter auf den Besitztümern der Abtei blicken ließ. Aber der Laienbruder, welcher dem leutseligen, schwatzhaften Menschenschlage angehörte, war neugierig und wünschte zu wissen, wer diese zwei Mönche waren und warum sie sich hier aufhielten, in einem Bereich der Kirche, den als seine Kapelle zu betrachten er sich angewöhnt hatte. Und wenn er die Gründe erfahren wollte, mußte er sie natürlich fragen. Ihm blieb jedoch bloß genug Zeit, um in äußerster Verblüffung den grimmigen, rothaarigen Fremdling anzustarren, der unter seiner Kapuze zu ihm aufblickte, und Bruder Benedictus, der anscheinend schlief. Dann stand urplötzlich ein dritter Bruder hinter ihm und packte ihn an den Schultern – ein hochgewachsener, goldblonder Mann mit eindringlichen Augen, deren Blick sich in die seinigen bohrte und ihm ein Schwindelgefühl bereitete. Als er auf die Knie niedersank, sich der Umwelt nicht länger bewußt, schwand aus seinem Gedächtnis die Erinnerung an den gesamten Vorfall. Er würde rechtzeitig vor der Morgenmette erwachen,
wenn die restlichen Mönche sich im Kirchenschiff sammelten, lahm und steif infolge der Stunden, während welcher er in der kalten Seitenkapelle gekniet hatte, zu erklären außerstande, welche Art von unaufschiebbarem seelischem Bedürfnis ihn dazu trieb, diese Nacht im Gebet zu verbringen... Zum Zeitpunkt, da sich der Abt erhob, um sich andächtig ins Brevier zu vertiefen, seilten Joram und Rhys ihre kostbare Last über die Außenmauer ab, streiften ihre Umhänge aus Pelz wieder über, hüllten auch ihren Schützling in den mitgebrachten Umhang gleicher Fertigung und banden ihn für den langen Ritt an Händen und Füßen auf sein Pferd. Der Schneefall war stärker geworden und löschte bereits alle Spuren ihrer kühnen Unternehmung aus. Sie ritten mit dem Sturmwind im Rücken, Cinhils Pferd zwischen den eigenen Tieren. So beabsichtigten sie bis zum Abend des morgigen Tages mit nur unabdingbar nötigen Unterbrechungen zu reiten, um schnellstmöglich in den Schutz der Freistadt Dhassa zu gelangen. Dort konnten sie sich hinter die Tore des Dhassaer Bischofs flüchten, mittlerweile wahrscheinlich die einzigen Tore, die ihnen noch nicht auf die eine oder andere Weise verschlossen waren; morgen nacht, ungefähr um diese Zeit, konnten sie sich außerhalb aller Gefahr an Cambers Zufluchtsort befinden. Vorerst jedoch mußten sie reiten und sich darum bemühen, die bittere Kälte als einen Umstand zu betrachten, der sie nichts anging, wollten sie Dhassa überhaupt lebendig und als freie Männer erreichen. Sollte sich während der drei Tage, welche inzwischen seit Cathans Beisetzung verstrichen waren, wider sie
gewaltiges Aufheulen und Gezeter erhoben haben, was durchaus schon sein konnte, dann galt es, ein zweifaches Maß an Vorsicht walten zu lassen. Ihre Gefangennahme wäre nun für ihre junge, noch schwächliche Sache der sichere Untergang.
15 »Ich lasse mein Haus im Stich, ich verstoße mein Erbe...« Jeremia 12,7 Wie es sich ergab, gerieten sie auf dem Wege nach Dhassa in keine ernstliche Gefahr, weil sich im Winter in Gwynedd neue Kunde nur langsam verbreitet. Unterwegs lernten Rhys und Joram ihren Gefangenen recht gut kennen. Die ersten Stunden des Rittes, für das Gelingen ihrer Flucht von entscheidender Bedeutung, legten sie in der Dunkelheit Schutz zurück, derweil der Sturm allmählich nachließ und der Mondschein, welcher gelegentlich durchs Schneetreiben drang, langsam dem Grau der Morgendämmerung wich. Der Schnee bedeckte alles mit einer pulvrigen Schicht, einem weißen Mantel, der sämtliche Geräusche dämpfte und ihre Spuren verhüllte; doch ebenso entzog er ihrer Sicht Erdlöcher und darunter begrabene Äste und Wurzeln – bedrohliche Verhältnisse für die Rösser, welche bei jedem Knacken eines mit Schnee beschwerten Zweiges scheuten und bockten. Ihr besinnungsloser Begleiter, zwischen seinen beiden Entführern mit Händen und Füßen aufs Pferd gebunden, hatte einen alles andere als leichten Ritt. Sie waren einige Zeit lang dahingeritten, wechselweise im Trott und lebhaftem Trab, ohne ein Wort zu sprechen, wobei sie dann und wann, wenn sie's für möglich erachteten, in den Satteln am Rande des Schlafes gedöst hatten, da spürte Rhys erstmals, daß
jemand ihn beobachtete. Er war, während die Pferde ausschritten, von neuem halb eingenickt, in undeutlichen Gedankengängen damit befaßt, was sie tun und sagen würden, sobald sie vor Dhassas Tore kamen, und als er bemerkte, daß zwei graue Augen ihn musterten, wenngleich mit leicht benommenem Blick, durchfuhr ihn im ersten Moment ein Ruck. Er lächelte ihrem Schützling in aufmunternder Weise zu und reinigte gleichzeitig den eigenen Verstand von den Gespinsten der Todmüdigkeit, doch erfolgte nichts auf sein Lächeln; der Mönch setzte die Musterung mit seinem etwas verschleierten Blick fort, in den sich allerdings allmählich ein Funke von Begreifen stahl. Rhys hob angesichts dessen eine Braue und schaute hinüber zu Joram, der zusammengesunken im Sattel schnarchte und mit der Bewegung seines Reittiers schwankte. Obwohl er wußte, daß Joram seinen Schlaf gebrauchen konnte – fast sechsunddreißig Stunden lang waren sie nun um regelmäßigen Schlaf gekommen –, erachtete er's als wichtiger, daß sie sich unverzüglich verständigten. Aufgrund Cinhils Miene vermutete er, daß sich der Mönch an ihn erinnerte. »Joram«, sprach er den Gefährten an, »unser Begleiter weilt nun bei uns.« Sofort hob Joram sein Haupt und war augenblicklich so wach und klar, wie anscheinend nur er's fertigbrachte, und ihr Schutzbefohlener drehte sich ihm zu und blinzelte. »Warum habt ihr mich aus Sankt Foillan verschleppt?« fragte er, ohne Joram die Gelegenheit zu irgendwelchen Höflichkeiten einzuräumen. »Wer seid ihr?« Der Ordensgeistliche musterte des Mönches von der Pelzkapuze überschattetes Antlitz für einen Mo-
ment, den er benötigte, um sich eine geeignete Antwort zurechtzulegen; schließlich entschied er sich für die Wahrheit. »Mein Name lautet Joram MacRorie. Ich bin Priester des Michaelitenordens. Und der Grund, warum wir Euch aus Sankt Foillan fortgeholt haben, dürfte zur Gänze klar sein, Herr – oder soll ich sagen, Eure Hoheit?« Der Mann fuhr auf, als sei er geschlagen worden, und seine Augen spiegelten im ersten Schrecken sein Entsetzen nur zu deutlich wider, ehe er es zu verhehlen vermochte, und sowohl Joram wie auch Rhys hörten ihn im Flüsterton »O nein...!« hervorstoßen, als Cinhil das Haupt senkte und sein Antlitz abzuwenden versuchte. Die beiden wechselten einen bedeutungsvollen Blick; dann wies Joram nach vorn, wo ein kleiner Kiefernhain einen gewissen Schutz vorm Wind bot. Die Pferde bedurften ohnehin wieder einmal der Rast, und zweifellos war's besser, auf festem Untergrund zu sagen, was zu bereden war, von Angesicht zu Angesicht, so daß über ihre Absichten keine Mißverständnisse aufkommen konnten. Die Rösser schnoben und prusteten erfreut, als ihre Reiter sie unter den vom Schnee schwer belasteten Bäumen zügelten, und Joram warf die Zügel von Cinhils Reittier mit einem Seufzen über den Sattelknauf des eigenen Tiers, ehe er absprang. Er begab sich an Cinhils rechte Seite und entknotete den Strick, der des Mannes Fuß am Steigbügel befestigte; danach wiederholte er diese Maßnahme an des Pferdes jenseitiger Flanke. Rhys schwang sein rechtes Bein über seines Tiers Hals hinweg und hakte das Knie um den Sattelknauf; er versuchte, seine verkrampfte Muskulatur ein wenig zu lockern. Sie hatten bereits abgesprochen, daß einer
von ihnen stets im Sattel bleiben sollte, solange auch Cinhil sich auf einem Pferderücken befand, denn sie gedachten jeglichen unüberlegten Fluchtversuch zu vereiteln. »Steigt ab und regt Euch ein bißchen, Sire«, empfahl Joram und befreite Cinhils Hände vom Sattelknauf, nicht jedoch von ihren eigentlichen Fesseln. »Ihr dürftet vor Kälte und Bewegungsmangel ja gleichsam zu Eis erstarrt sein. Ich muß Euch für die schroffe Behandlung um Vergebung bitten, doch wir befürchteten, Ihr würdet uns nicht aus freiem Willen begleiten.« Cinhil wandte das Antlitz ab und verweigerte die angebotene Hilfestellung. »Nenne mich nicht Sire«, entgegnete er mit schwacher Stimme. »Ich bin niemandes Monarch, und ich werde es schwerlich jemals sein. Ihr müßt mich mit einem anderen Mann verwechselt haben. Ich bin ein gemeiner Büßermönch und liege mit niemandem im Hader.« Bedächtig schüttelte Joram sein Haupt, da er begriff, was der Mann für einen Versuch unternahm, und zugleich wußte, daß er ihm derlei nicht erlauben durfte. Er widmete Rhys einen Blick der Schicksalsergebenheit und ersah, daß auch der Heiler verstand. »Ihr seid Nicholas Gabriel Draper, in der Kirche Schoß als Bruder Benedictus bekannt«, sprach Joram. »Euren Vater rief man Royston, Euren Großvater Daniel. Aber beide besaßen noch andere Namen, und andere Namen tragt auch Ihr, Herr.« »Nein, andere Namen sind mir nicht zu eigen.« »Eures Vaters anderer Name lautete Alroy, ein uralter Königsname, und Euer Großvater war in den Jahren vorm Thronraub bekannt als Prinz Aidan
Haldane«, fuhr Joram unerbittlich vorzutragen fort. »Und Ihr – Ihr seid Prinz Cinhil Donal Ifor Haldane, letzter Abkömmling aus Eures Großvaters königlichem Geschlecht. Die Zeit ist reif, um Euer Geburtsrecht zu beanspruchen, Eure Hoheit. Die Zeit ist angebrochen, da Ihr den Thron von Gwynedd besteigen sollt.« »Nein«, knirschte ihr Schützling, »rede nicht so etwas daher. Ich will dergleichen nicht anhören. Diese Namen sind Vergangenheit, und es ist am besten, man vergißt sie. Ich bin lediglich Benedict, ein Mönch, ein Priester. Ich besitze in dieser Welt kein andersgeartetes Geburtsrecht.« Joram schenkte Rhys einen Blick voller Mißbehagen, darum bemüht, nicht seine Abneigung dagegen zu zeigen, was er tun mußte. Auf dem langen Ritt nach St. Foillan hatten sie ihr Vorgehen und alle möglicherweise erforderlichen Maßnahmen sorgfältig geplant, sich auch für alle denkbaren Arten von Einwänden gewichtige Entgegnungen zurechtgelegt. Aber sie hatten nicht mit einer solchen Sanftmut dieses Mannes gerechnet, nicht mit so kindlichem Kummer infolge der Beendigung des Daseins, das er bislang geführt hatte. Joram festigte insgeheim sein Gemüt für die nächsten Worte, welche er sprechen mußte, aber es war Cinhil selbst, der das Schweigen brach, indem er sein Haupt hob, um aus blicklosen Augen zwischen des Pferdes Ohren hindurchzustarren, dagegen abgeneigt, die beiden anderen Männer bloß anzusehen. »Ich bitte euch bringt mich zurück nach Sankt Foillan.« »Das dürfen wir nicht, Herr«, erwiderte Joram. »Dann laßt mich allein ziehen. Ihr braucht mich nicht hinzubringen. Ich werde niemandem verraten,
was ihr getan habt.« »Wir dürfen es nicht, Herr«, bekräftigte Joram. »Von dieser Angelegenheit sind mehr als nur unsere Leben betroffen... und manche haben ein Ende gefunden.« »Ein Ende? Du meinst, es sind um meinetwillen Menschen umgekommen?« Joram nickte, ohne sich dabei zur Erwiderung von des Mönches Blick imstande zu fühlen, und letzterer richtete seinen starren Blick in die winterlich kahlen Wälder, als schaue er eine halb vergessen gewesene Erscheinung, die ganz zu vergessen er sich stets bemüht hatte. »Wohin bringt ihr mich?« fragte er schließlich nach. »Zu Freunden.« »Ich habe außerhalb der Mauern unserer Abtei keine Freunde. Es können keine Freunde sein, die mich meinem friedlichen Dasein entreißen wollen.« »Ein Dasein wird beendet, ein anderes begonnen, Herr«, sprach Joram, faßte mit einer Hand des Pferdes Zügel und hob in erneuerter Selbstsicherheit seinen Blick. »Ihr seid für andere Dinge geboren als Klosterzellen und endlose Gebete, wie behaglich Ihr dies Leben in den vergangenen Jahren auch gefunden haben mögt. Erst jetzt beginnt Ihr Eurer wahrhaftigen Bestimmung zu folgen.« »Nein! Dies ist's, wofür ich geboren bin!« Er schlug sich mit seinen gebundenen Händen an die weiß umhüllte Brust und heftete seinen Blick mit flehentlichem Ausdruck auf Rhys. »Ihr, Heiler... mein Herr, die Geschichte, welche Euch mein Großvater erzählte... sie war nichts als ein Hirngespinst. Ich bin nicht, was er zu gern in mir gesehen hätte. Ich bestehe nicht aus dem Stoff, woraus Prinzen gemacht sind.« »Ihr seid ein Haldane, Herr.«
»Nein! Die Haldanes sind allesamt tot! Ich war ein Draper, bevor ich meine Gelübde tat... und mein Vater war ein Draper. Ich kenne keine anderen Namen.« Joram seufzte und sah Rhys an, indem er ein wenig die Schultern hob. »Ich glaube, es ist vorerst sinnlos, die Unterhaltung fortzusetzen, oder wie denkst du darüber? Er ist müde, und ihm steckt noch der Schrecken in den Gliedern. Vielleicht läßt sich später...« »Die Wahrheit kann sich nicht ändern«, unterbrach ihn Cinhil. »Gewiß, aber die Wahrheit mag anders beschaffen sein, als Ihr sie gegenwärtig wahrnehmt, Herr. Ihr seid viele Jahre lang von der Welt abgeschieden gewesen. Warum wollt Ihr Euch nicht Euer endgültiges Urteil aufheben, bis Ihr wieder näher mit den Verhältnissen auf dem Erdenrund vertraut seid?« »Es ist eine Welt, der ich entsagt habe. Du, der du ein Priester zu sein behauptest, solltest dafür Verständnis haben.« »Ich verstehe diese Haltung nur zu gut.« Joram seufzte. »Aber sie kann nicht unsere gegenwärtigen Absichten beeinflussen. Wenn Ihr Euer Wort gebt, daß Ihr nicht zu entweichen versucht, will ich Euch mit Freuden die Fesseln abnehmen. Ihr fühltet Euch wohler, würdet Ihr absteigen und ein paar Schritte tun.« Cinhil starrte Joram lange an, als wäge er ab, was der Ordensritter gesagt hatte, dann senkte er seinen Blick. »Ich werde keinen Widerstand leisten.« »Gebt Ihr darauf Euer Wort?« »Ich gebe mein Wort«, flüsterte der Gefangene. Joram nickte, langte hinauf und durchschnitt die Strik-
ke, welche Cinhils Handgelenke banden. Doch als Joram ihm eine Hand hinhielt, um ihm vom Roß zu helfen, verzog Cinhil die Lippen und stieß die Hand beiseite. Er stieg an des Reittiers anderer Flanke ab. Nur einige Schritte weit torkelte er, bevor er im Schnee auf die Knie sank. Als der Mann sein Haupt senkte und ein bitterliches Schluchzen unterdrückte, machte Joram eine düstere Miene und schaute hinüber zu Rhys; dann rückte er den Umhang auf seinen Schultern zurecht und verschränkte die Arme. Beide waren sich mit unerfreulicher Deutlichkeit dessen bewußt, daß ihr Ritt nach Dhassa sich langwieriger gestalten mochte, als sie's ohnehin befürchtet hatten. Und in der Tat verlief der Rest des Rittes, wenngleich sich kein weiterer Zwischenfall ergab, in nahezu vollständigem Schweigen. Einmal unterbrachen sie zur Mittagszeit den Weg, um bei einer kleinen Herberge die Pferde zu wechseln; Rhys gab acht auf den Prinzen, während Joram die zum Pferdewechsel erforderlichen Verhandlungen erledigte. Aber Cinhil enthielt sich während des gesamten Zeitraums jeglichen Wortes und leistete keinerlei Widerstand. Am Abend selbigen Tages trennte sie bloß noch ein Ritt von einer Stunde vom Bestimmungsort. Entlang der Landstraße, deren Verlauf sie folgten, wand sich ein schmales Flüßlein mit geschwinder Strömung dahin, an den Ufern vom Schnee verkrustet aber noch nicht zugefroren, wie es erst im tiefsten Winter zu erwarten stand. Sowohl bei den Tieren wie auch den Männern zeigten sich Anzeichen von Erschöpfung. Besonders sorgte sich Rhys um den Prinzen, denn Cinhil war an die Härten des Reitens ganz und gar
nicht gewöhnt. Als sie vor einigen Stunden zuletzt gerastet hatten, schrie er infolge der Schmerzen, die seine verkrampften Muskeln ihm bereiteten, beinahe auf; nur der Stolz hatte es ihm untersagt, das selbstauferlegte Schweigen zu brechen. Sobald sie den Ritt fortsetzen wollten, hatten sie beide eingreifen müssen, um ihm wieder aufs Reittier zu helfen, und fast wäre er, statt in den Sattel zu gelangen, in Ohnmacht gefallen. Nun war Cinhil während der vergangenen halben Stunde immer bleicher geworden, und Rhys sah ein, daß sie erneut eine Rast einlegen mußten, da er andernfalls womöglich zusammenbrach. Außerdem verspürte er mit wachsender Dringlichkeit ein Gefühl der Beunruhigung über die äußerst heikle Ungewißheit, was Cinhil wohl anstellen mochte, wenn sie in die Stadt einritten und unterwegs waren zum Bischofspalast. Falls er auf jener letzten Strecke Schwierigkeiten machte, seine Umgänglichkeit, derer er sich den ganzen Tag lang befleißigt hatte, nur zur Vorbereitung einer Klage in vieler Leute Ohren diente... Rhys wagte es gar nicht, sich die Folgen dieser Möglichkeit vorzustellen. Auch hatte Rhys es im Laufe der etlichen Stunden des schweigsamen Rittes nicht vermocht, ihres königlichen Gefangenen Gedankenwelt näher zu erkunden. Cinhils Geist erregte den Eindruck, von einer glatten, festen Mauer umgeben zu sein – einem Hindernis, das zu durchdringen sich Rhys zutraute, wenn er ausgeruht war sowie die erforderliche Zeit hatte, die nötigen Vorbereitungen treffen konnte, das anzutasten er jedoch vorerst nicht einmal versuchen durfte, wollte er nicht Cinhils Wachsamkeit gegenüber den verborgenen Kräften der beiden Deryni, die ihn gefangenhielten, noch be-
trächtlich erhöhen. Zweifellos, sie mußten gegen Cinhil eine gewisse Listigkeit walten lassen – zumindest, bis sie sich unter ihren Verbündeten in Sicherheit befanden, wo alle seine Einwände zwecklos bleiben mußten. Was Rhys nun ersann, würde dem Prinzen auch die Qual in seinen gepeinigten Beinen und Muskeln lindern, bis sich wirksamere, gründlichere Mittel dagegen zur Anwendung bringen ließen. Ganz als spüre er Rhys' immer stärkeres Unbehagen – falls er nicht gar die genaue Ursache desselben oder die beabsichtigte Abhilfe erahnte –, straffte sich Joram in den Steigbügeln, reckte die Gliedmaßen und gähnte. Dann wies er an die Seite der Landstraße, wo eine kleine Landzunge Zugang zum Wasser gewährte, das rasch dahinströmte. Er sprang aus dem Sattel und trat an die Flanke von des Prinzen Roß, um ihm beim Absteigen zu helfen; sobald das getan war, stützte er Cinhil, der stark humpelte, und geleitete ihn zu einem vorm Wind geschützten Felsen, wo er sich niedersetzte. Rhys stieg vergleichsweise umstandslos ab und führte die drei Pferde ans Wasser, um sie zu tränken; unterdessen das geschah, entnahm er seiner Satteltasche einen leeren Schlauch, kniete an der Böschung nieder und verbarg das Behältnis, während er es im eiskalten Wasser füllte, mit seinem Körper. Als er sich wieder zu den anderen gesellte, leistete Joram dem Prinzen soeben dabei Unterstützung, seine verkrampften Beine warmzureiben. Nachdem der Prinz einen langen Zug aus Rhys' Schlauch getrunken hatte, reichte er ihn ohne Zaudern weiter an Joram. Ehe der Ordensgeistliche seinerseits trinken konnte, packte Rhys zu und bemächtigte sich des Schlauches, indem er kurz das Haupt schüttelte, und
er entleerte den restlichen Inhalt in den Schnee. »Du hast ihm eine Droge verabreicht.« Jorams Äußerung war eine schlichte Feststellung, die nur geringfügige Überraschung zum Ausdruck brachte. Rhys nickte, als Cinhil das Haupt wandte und ihn anstarrte. »Im Wasser?« fragte leise Cinhil. »Es war notwendig. Ein Schlaftrunk ist's bloß, um Euch zu beruhigen, um Eure Beschwerden zu lindern, bis wir uns in ausreichendem Maße Erholung gönnen dürfen.« »Und um wider eine Hinterlist meinerseits vorzubeugen«, bemerkte Cinhil, auf den Lippen ein gequältes Lächeln. Ein gedämpftes Schluchzen entfuhr ihm, er senkte das Haupt und schloß für einen Moment die Lider. Als er wieder aufschaute, mied er ihre Blicke. »Was... was wird mit mir geschehen?« »Infolge der Droge?« Rhys musterte ihn mit festem Blick. »Ihr werdet euch bald sehr schläfrig fühlen. Eure Wahrnehmungsfähigkeit wird in beschränktem Umfang herabgesetzt sein. Wahrscheinlich werdet Ihr häufig einnicken. Glaubt mir, es ist besser so.« »Besser für wen?« flüsterte Cinhil. »Habt Ihr wirklich befürchtet, ich könne Euch hintergehen? Ich gab Euch mein Wort. Das war...« – er wies auf den Wasserschlauch – »... nicht nötig.« Joram stand unvermittelt auf, als Cinhil diese Worte sprach und entfernte sich zu den Pferden, um an des Gewässers Ufer niederzuknien, den anderen Männern seinen Rücken zugekehrt. Rhys folgte ihm, wobei er Cinhil wachsam im Blickfeld behielt und hockte sich neben den Geistlichen. Er sah deutlich, Joram war verärgert. »war es notwendig?« fragte Joram und schöpfte mit hohler Hand Wasser, um zu trin-
ken. »Ich glaube, das war's, Joram. Stundenlang habe ich auf geistiger Ebene zu ihm vorzudringen versucht, habe ich gehofft, er würde sich eine Blöße geben. Aber nichts dergleichen geschah. Er gleicht einer kahlen Mauer. Er besitzt anscheinend irgendeine Art von natürlichem Geistesschild, sobald er Druck ausgesetzt ist, und diesen Schirm konnte ich nicht durchdringen, jedenfalls nicht, ohne daß er den Versuch bemerkt hätte. Ich nehme an, daß wir in der vergangenen Nacht deshalb solche Schwierigkeiten mit ihm hatten. Ich bin zur Auffassung gelangt, daß wir uns in Dhassa auf kein Wagnis einlassen dürfen, zumal wir beide so ermüdet sind.« »Ja, vermutlich hast du recht.« Joram trocknete sich die Hände am Umhang, dann kehrte er sich Rhys halb zu. »Er hat wahrhaftig eine Art von natürlicher geistiger Wehr, so? Glaubst du, daß du sie zu einem späteren Zeitpunkt überwinden kannst?« Rhys zuckte die Achseln, auf den Lippen ein schwaches, leicht ruheloses Lächeln. »Es gibt Mittel und Wege, um letztendlich jedermanns geistige Abwehr zu überwinden, vor allem, wenn man Heiler ist. Außerdem kann mich Graf Camber unterstützen, sobald wir am Zufluchtsort sind. Es ist eine Herausforderung, zweifellos, aber ich nehme an, daß wir uns dieser Sache zuversichtlich widmen werden können.« Nachdenklich die Brauen gehoben, richtete sich Joram auf, reckte sich und schaute hinüber zu Cinhil. »Hast du ihm, was die Wirkung der Droge betrifft, die Wahrheit gesagt?« »Ja. Wir dürften genug Zeit zur Verfügung haben, um ihn zum Bestimmungsort zu bringen, bevor die
Wirkung weicht. Und wenn wir's zulassen, wird er schlafen.« »Hmmm. Wenn er sich in so einem Zustand der Benommenheit befindet, muß er da nicht Aufmerksamkeit erregen?« »Weniger als wenn er irgendeinen Trubel auslöste«, gab Rhys zur Antwort. Er befestigte den Wasserschlauch wieder am Sattel. »Sollte irgendwer diesbezügliche Fragen an uns richten, so erteilen wir dahingehende Auskunft, er sei krank, und wir brächten ihn zu des Bischofs Heiler. Das halte ich für eine ebenso schlichte wie glaubwürdige Behauptung.« »Nun gut.« Ergeben seufzte Joram, dann schüttelte er sein Haupt und lächelte. »Ich muß viel müder sein als ich meinte. Wahrlich, man kann sagen, du hast die verschlungenen Pfade und Schleichwege der Verschwörung mit sicherem Auge erkannt und beschreitest sie mit der angebrachten Begeisterung, im rechten Ungestüm und Schwung. Und doch bist du ein Mann, der ja nie zuvor sich auf die Kühnheit eines Verrats einließ.« »Ich wünschte, du verwendetest dies Wort nicht.« »Welches, ›Verrat‹?« Joram lachte gedämpft und klopfte Rhys auf die Schulter. Er deutete hinüber zum Prinzen, dessen Haupt schläfrig nickte. Nun mußten sie Cinhil irgendwie zurück in den Sattel befördern und weiterreiten. Von der nächsten Stunde hing das Schicksal eines ganzen Königreiches ab. Zum Glück für jene drei, welche in besagter Stunde nach Dhassa ritten, mahlten die Mühlen der Verwaltung ihrer Feudalgesellschaft mit gewohnter Langsamkeit, und daraus ergab sich, daß allein der Abt
von St. Foillan bereits dabei war, einzelne Stücke unsicherer Erkenntnisse zu einem Ganzen zusammenzufügen, das die Abwesenheit eines Mannes erklären sollte, den er als Bruder Benedictus kannte. Wie Rhys und Joram vermutet hatten, bemerkte man Bruder Benedicts Fehlen erst nach der Frühmette, als es dem Kantor auffiel, daß er während dieser Meßfeier Bruder Benedict nicht im Chor erblickt hatte. Doch der Kantor war ein vielbeschäftigter Mann und mußte mehrere Ämter versehen, und erst etliche Stunden später, als Bruder Benedict auch zu den Laudes sowie zur Prim nicht auftauchte, begann er sich ernstlich zu sorgen. Weil er befürchtete, Bruder Benedictus könne erkrankt sein, erkundigte er sich beim Krankenwärter; aber Bruder Reynard hatte den vermißten Mönch schon seit Tagen nicht gesehen. Eine gründliche Suche in sämtlichen übrigen Gebäuden und Bereichen der Abtei, durchgeführt im Anschluß an die Terz, brachte nicht die geringste Spur des Verschwundenen zum Vorschein. Am Zustand seiner Bettstatt ließ sich feststellen, daß er im Laufe der Nacht darin geschlafen haben mußte; aber niemand erinnerte sich daran, ihm nach der Komplet des vergangenen Abends noch begegnet zu sein. Zwei Laienbrüder eilten auf Pferderücken davon, um die Landstraße auf einer Strecke von solcher Länge abzusuchen, wie ein Mann zu Fuß sie zurückgelegt haben mochte, lediglich für den Fall, daß Bruder Benedict tatsächlich auf einmal erkrankt war und im Fieber hinausgeirrt. Doch der Sturm hatte sorgfältige Arbeit geleistet. Sollte Bruder Benedictus ins Freie gegangen und dort gestorben sein, ließ die Gewißheit darüber sich erst im Frühling erhalten. Von Trauer erfaßt, aber
mit der Ergebenheit, welche die Umstände aufnötigten, ließ der Abt am darauffolgenden Morgen für Bruder Benedictus eine Messe feiern; danach nahm das Leben in der Abtei seinen gewöhnlichen Fortgang. So wäre des Mönches Verschwinden wohl für unbestimmte Frist ungeklärt geblieben, hätte sich nicht am folgenden Nachmittag der Abtei Kleiderkämmerer dazu entschlossen, nun seine winterliche Bestandsaufnahme des vorhandenen Bekleidungsvorrats zu beginnen. Als er die Gestelle bei der Zelle des verschwundenen Bruder Benedictus durchsah, entdeckte selbiger Kleiderkämmerer, Bruder Leviticus mit Namen, zu seiner Verwunderung, daß er den Verbleib zweier weißer Gewänder nicht nachzuweisen vermochte. Sorgsames Befragen der Brüder, welche das Dormitorium miteinander teilten, förderte zu Tage, daß die beiden Gewänder mit Sicherheit zwei Tage zuvor noch am Platze gewesen waren, aber niemand wußte eine Erklärung für ihr nunmehriges Fehlen. In seiner Ratlosigkeit unterrichtete der Kleiderkämmerer von diesem Fall den Subprior, der seinerseits dem Prior davon erzählte; letzterer sagte es am Abend, nach der Abendmahlzeit, schließlich dem Abt selbst. Der Abt wollte die Angelegenheit schon mit einem Achselzucken abtun, doch hatten seine Gedanken sich den ganzen Tag lang mit dem rätselhaften Verschwinden seines teuren Freundes Bruder Benedict befaßt und nun sah er urplötzlich gewisse Zusammenhänge. »Bruder Patrick, wie viele Gewänder fehlen Bruder Leviticus' Ermittlungen zufolge?« – »Zwei, Vater Abt.«
Der Abt nahm einen Federkiel zur Hand und drehte ihn zwischen knochigen Fingern. »Sag an, Bruder, entsinnst du dich an die beiden Männer, die vor einigen Wochen kamen, um Bruder Benedict einen Besuch abzustatten?« »Den Heiler und den Mönch?« Der Jüngere blinzelte. »Natürlich, ich erinnere mich an ihren Besuch, Vater Abt. Der Mönch kam in des Erzbischofs Diensten, aber...« »Ja, das weiß ich selber noch«, fuhr ihm der Abt ungnädig ins Wort. »Er war ein Bruder des Gabrielitenordens – oder behauptete es!« Während der Prior ihn mit eulenhaft stierem Blick musterte und kein weiteres Wörtchen zu sprechen wagte, schob der Abt seinen Lehnstuhl zurück und entnahm einem Wandgestell hinter seinem Schreibpult ein zusammengerolltes Kalendarium. Als er unter seinen darin verzeichneten Vermerken nicht fand, wonach er suchte, warf er die Rolle mißmutig wieder ins Wandgestell und begann mit den Fingern auf dem Schreibpult zu trommeln. »Bruder Patrick, bitte laß unverzüglich den Krankenwärter kommen. Und dazu Bruder Paul, Bruder Phineas und Bruder Jubal.« »Sofort, Vater Abt.« Der Prior blinzelte fehlsichtig und entschwand durch die Tür. Während der folgenden Viertelstunde saß der Abt an seinem Pult und kaute an einem eingerissenen Fingernagel, derweil in ihm insgeheim der schlimme Verdacht wuchs, daß sein unvermitteltes Mißtrauen sich als berechtigt erweisen werde. Jene zwei Männer waren am selben Tage in der Abtei gewesen, als Bruder Benedict einen Zusammenbruch erlitt, und er hatte ihn beim Gespräch mit den zwei Ankömmlingen ereilt. Es war
seinerzeit um irgendeine wichtige Nachricht von Bruder Benedicts kurz zuvor verstorbenem Großvater gegangen. Er selbst hatte der Unterhaltung im Hintergrund beigewohnt. Der eine Besucher war Heiler gewesen – wie hatte doch gleich sein Name gelautet? Herr Re... Ro... Rhys! Jawohl, genauso. Und als Bruder Benedict nach seinem Zusammenbruch auf die Hilfeleistungen des Krankenwärters nicht ansprach, hatten sie diesen Mann sich um ihn kümmern lassen, ihm sogar Zutritt in die Klosterräume gewährt! Ja, wahrhaftig, er und der Mönch, der ihn begleitete, hatten Benedict in seiner eigenen Zelle behandeln dürfen! Der Abt unterdrückte einen unseligen, aber ursächlich völlig begründeten Fluch, setzte sich kerzengerade auf, zerknüllte den Brief, den er vorhin erst an den Generalvikar zu Valoret fertiggestellt hatte, und schleuderte ihn mit einer Geste, die deutlich seinen Grimm bezeugte, ins Feuer. Benedict war nicht aufgrund irgendeiner Erkrankung vom Fieber befallen gewesen, er war nicht in den Schnee hinausgewandert, um draußen zu sterben. Wahrscheinlich war er überhaupt nicht krank gewesen, weder vor zwei Tagen noch damals, vor ein paar Wochen. Man hatte ihn aus den Mauern der Abtei verschleppt – ja, aus dem Kloster! –, irgendwie hatten ihn jene beiden... Ein zaghaftes Pochen schreckte ihn aus seiner Aufwallung erbitterten Zornes, und er rang seinen Ingrimm nieder, um die angemessene väterliche Miene aufzusetzen. »Herein.« Achtsam spähte Bruder Patrick durch den Türspalt, bevor er eintrat, die Brüder Jubal, Paul, Phineas und Reynard in seinem Gefolge. Der Abt erhob sich, und einer nach dem anderen traten die Brü-
der vor, um seinen Ring zu küssen; er wartete, bis Bruder Patrick die Tür geschlossen hatte, ehe er wieder Platz nahm. Die Mönche standen reglos, ihre Arme in den weiten Ärmeln verbogen, während der Abt vor sich einen neuen Bogen Pergament ausbreitete und den Federkiel ins Tintenfaß tauchte. »Bruder Reynard, entsinnst du dich an den Tag von Bruder Benedicts letzter Erkrankung? Den Tag, als ihn beim Gespräch mit seinen zwei Besuchern unvermittelt ein Zusammenbruch überwältigte.« Bruder Reynard betrachtete einen Moment lang seine Zehen die aus seinen Sandalen ragten, bevor er den Blick hob. »Nun, das muß am Festtag der heiligen Margetan gewesen sein, Vater Abt. Nein, es war der Tag darauf, der Sankt-Edmunds-Tag.« »Welcher denn nun, Bruder Reynard?« »Sankt-Edmunds-Tag...« Der Krankenwärter wirkte jetzt überzeugt. »Ja, bestimmt, Vater Abt.« »Am Sankt-Edmunds-Tag, also am...« Der Abt zog erneut sein Kalendarium zu Rate. »Am 14. November.« Er schrieb das Datum nieder und richtete dann seinen Blick auf Bruder Jubal. »Bruder Jubal, ich glaube, an jenem Tag warst du mit dem Pförtnerdienst betraut, oder?« »Ja, Vater Abt.« »Vermagst du dich noch an die Namen der beiden Besucher zu erinnern? Der eine war Heiler, der andere, der ältere Mann, ein Mönch.« Nach einer Weile des Nachsinnens hob der Bruder eine Braue. »Ich glaube, des Mönches Name lautete Bruder Kyriell, Vater Abt. Vom Orden des Heiligen Gabriel.« »Aha, so, Bruder Kyriell«, wiederholte der Abt.
»Hat er auch einen anderen Namen genannt?« »Nein, bloß seinen Mönchsnamen«, meldete sich unaufgefordert Bruder Phineas zu Wort. »Darüber hinaus erwähnte er nur, daß er im Dienste von Erzbischof Anscom stehe, Vater Abt.« Der Abt nagte versonnen am oberen Ende seines Federkiels; dann schüttelte er sein Haupt. Er vermochte zum genannten Namen keinen irgendwie gearteten Zusammenhang mit irgend etwas auf dem weiten Erdenrund herzustellen, wiewohl er das dumpfe Gefühl hatte, dazu sehr wohl imstande sein zu müssen. Aber immerhin sollte auch dieser Name den Generalvikar zu irgendwelchen Maßnahmen befähigen können – immer vorausgesetzt, so verstand sich von selbst, daß der Mönch namens Bruder Kyriell wirklich dem Erzbischof diente. Er schrieb den Namen auf, indem er jeden Buchstaben mit größter Sorgfalt ausführte, dann ließ er seinen Blick erneut über die anwesenden Brüder schweifen. »Und nun den Namen des Heilers – er nannte sich Herr Rhys Soundso.« »Moorin oder Toorin oder so ähnlich?« meinte Bruder Jubal. »Ich glaube, er hieß Thurihn, Bruder Jubal«, sprach leise Bruder Reynard und reckte ein wenig den Hals, als der Abt zu schreiben anfing. »Ich bin hinsichtlich der Schreibweise im ungewissen, aber so klang's zumindest, Tuu-rihn. Ein Heiler wird er wohl gewesen sein. Ich hatte an jenem Tag Mühsal mit dem Urin, und...« Bruder Reynard verstummte, als der Abt ihm einen scharfen Blick widmete, und neigte verunsichert das Haupt. Nach längerem Schweigen beugte sich der Abt wieder vor und schrieb weiter. Der Fe-
derkiel kratzte übers Pergament, dann entließ er die Brüder mit einem Wink seiner Hand. Als sich die Tür hinter den Brüdern schloß, nahm er einen sauberen Bogen schönen Pergaments und begann einen neuen, anderen Brief an seinen Vorgesetzten; diesmal machte er seine Buchstaben deutlich und abgerundet, ohne jedes Beiwerk und ohne Schnörkel. »Hochwürdigster Vater Generalvikar«, lautete des Sendschreibens Anfang, »in tiefem Kummer und lebhaftestem Bedauern muß ich Euch die Verschleppung unseres Bruders in Christo, Bruder Benedictus, aus den Mauern St. Foillans vermelden, welchselbige stattgefunden hat vor zwei Tagen. Der Ablauf seiner Entführung läßt sich auf die nachfolgende Weise beschreiben...« »›Und so‹«, las der Generalvikar fünf Tage später wiederum seinem Oberhaupt vor, dem Erzbischof von Valoret, »›darf man es wohl zu Recht als außerordentlich wahrscheinlich erachten, daß Bruder Benedictus von besagten Personen, dem obenerwähnten Herrn Rhys Thuryn sowie dem vorstehend genannten Bruder Kyriell, in jener Art und Weise, wie ich sie Euch zuvor unter Voraussetzung Eurer gütigsten Erlaubnis in aller Ausführlichkeit geschildert habe, aus seiner klösterlichen Heimstatt verschleppt worden ist, wenngleich ich mich ganz und gar dazu außerstande sehe, dafür einen möglichen Grund zu nennen. Beigefügt übermittle ich Euch unter Voraussetzung Eures gütigen Einverständnisses Abschriften aller unserer Aufzeichnungen und Urkunden, welche Bruder Benedict betreffen, und hoffe, daß Ihr einen Zusammenhang zu erkennen vermögt, Euer Ehrwürden, der meinem schlichten Gemüt entgehen mußte. Ich erflehe Euer Ehrwürden allergnädigste Gunst, immer Euer wohlgesonne-
ner, getreuer Diener sein zu dürfen...‹ Et cetera, et cetera.« Der Generalvikar ließ das Schreiben sinken und sah seinen Vorgesetzten mit einer Miene an, deren Ausdruck sich am ehesten als Widerspiegelung ratloser Verblüffung bezeichnen ließ. Der Erzbischof, welcher während des Vorlesens aus einem irdenen Becher Ziegenmilch getrunken hatte, leerte nun das Trinkgefäß mit einem letzten Schluck und schnitt eine Grimasse, dann streckte er eine knorrige Hand nach dem Brief aus. Als er sich zurücklehnte, um das Sendschreiben selber zu lesen, bemächtigte sich der Generalvikar einer gar redlichen Scheibe köstlichen Käses. Dies geschah in des Vormittags Mitte, da es eine liebe Gewohnheit des Erzbischofs war, das Frühstück mit seinen nächsten Untergebenen einzunehmen, während er des jeweiligen Tages Schriftwechsel erledigte. Freilich war Robert Oriss, Generalvikar im Orden des St. Jarlath, weit mehr als ein gemeiner Untergebener. Er war in der selben Woche geboren wie der Erzbischof, Anscom von Trevas, und sie wuchsen kaum zehn Meilen voneinander getrennt auf, bis sie sich im Alter von zehn Jahren erstmals begegneten, als man beide Knaben in die berühmte Klosterschule St. Neot brachte. Obwohl Anscom ein Deryni war und Robert nicht, hatte dieser Umstand die Freundschaft, welche zwischen ihnen entstand, niemals gestört. Vielmehr pflegte Robert, wenn er in Valoret weilte und nicht gerade auf einer Besichtigungsreise von der einen zur nächsten jener Abteien war, die ihm unterstanden, noch heute den Erzbischof wenigstens einmal in der Woche zu treffen. Anscom zählte zu jenen seltenen Männern, die ihre alten Freunde nicht vergaßen, nachdem sie in höhere Stellungen als selbige Freunde
aufgestiegen waren; und Robert, obzwar er nicht alle Maßnahmen seines derynischen Kollegen verstand, wußte das Fortdauern ihres Zusammenwirkens hoch einzuschätzen. Allerdings hatte der gute Generalvikar seinen dieswöchigen Besuch beim Erzbischof schon vor zwei Tagen gemacht. Der Brief, welchen nun der Erzbischof in seinen Händen hielt, war der Anlaß dafür gewesen, daß er Anscom am gestrigen Abend eine dringliche Mitteilung hatte zukommen lassen, und ebenso dafür, daß er sich heute morgen wiederum beim Kirchenfürsten aufhielt. Der Generalvikar schenkte dem Erzbischof ein neues Maß Ziegenmilch ein – Anscom verabscheute sie, trank sie jedoch zur Besänftigung seines reizbaren Magens – und kaute dann an einem Kanten Brot, bis der Erzbischof am Ende vom Brief aufblickte. Anscoms von Falten zerfurchtes Antlitz bezeugte starke Verwunderung und eine Andeutung von Traurigkeit. »Was mag jenem Mönch so besonderes zugeeignet sein, Robert? Warum sollte man sich der Mühe unterziehen, ihn zu verschleppen?« Der Generalvikar schüttelte sein Haupt. »Kein Einfall kommt mir, der zur Erklärung herhalten möchte, Euer Gnaden. Ich habe mir die mitgesandten Aufzeichnungen angesehen. Er ist eines armen Wollzeughändlers Sohn, eine Waise. Er hat das Gelöbnis der Armut abgelegt... Ich kann's einfach nicht begreifen.« »Und dieser dein Abt, dieser Zephram von Lorda, ist er ein zuverlässiger, glaubwürdiger Mann?« Der Generalvikar wollte im ersten Augenblick kräftigen Einspruch einlegen – weil er alle seine Untergebenen für zuverlässig hielt –, doch dann breitete
er in einer Gebärde der Unentschiedenheit die Arme aus. »Ich habe niemals Berichte erhalten, die etwas Nachteiliges über ihn besagen, folglich muß ich annehmen...« Der Erzbischof stieß einen Brummlaut aus, warf den Brief auf den Tisch und starrte für eine beträchtliche Weile am Generalvikar vorüber. »Wußtest du, daß in der vergangenen Woche Cathan MacRorie das Leben verlor?« »Des Königs Berater?« »Der Sohn des Grafen Camber von Culdi«, bestätigte der Erzbischof. »Und Cambers Tochter Evaine ist Rhys Thuryn anverlobt.« »Rhys Thu...« Der Generalvikar unterbrach sich und streifte den Brief auf dem Tisch mit einem hastigen Blick. »Selbigem Rhys Thuryn?« »Ebendemselben.« Der Generalvikar stieß einen langgedehnten Seufzer aus und lehnte sich zurück; jeglicher Genuß, den ihm ein ausgiebiges Frühstück ansonsten zu bereiten pflegte, hatte ihn unvermutet geflohen. Als sein Vorgesetzter keinerlei Anstalten machte, weitere Bemerkungen beizutragen, schob der Generalvikar die Unterlippe nach vorn und schaute gedankenschwer über den Tisch hinweg den Erzbischof an. »Euer Gnaden, Ihr gedenkt doch sicherlich nicht anzudeuten, Graf Camber könne mit dieses Bruder Benedicts Entführung irgend etwas zu schaffen haben, oder?« Der Erzbischof blickte mit einem Ruck auf, und für einen flüchtigen Moment huschte ein Ausdruck von Kummer über seine gewöhnlich maskenhafte Miene. »Bist du von Sinnen?« entgegnete er mit leiser Stimme. »Ich kenne Camber. Er und ich besuchten einst,
um die Priesterwürde zu erlangen, die Hochschule zu Grecotha, bevor seine Brüder dahinstarben, so daß er seines Vaters alleiniger Erbe werden mußte. Ich habe ihm seine Gemahlin angetraut, alle seine Kinder getauft, seinen Sohn Joram in den Orden eingeführt, ich habe Cathan und Elinor getraut... Außerdem, was sollte denn ausgerechnet er für einen Grund besitzen?« »Keine Ahnung, Euer Gnaden. Infolge Eurer Redeweise hatte ich den Eindruck, Ihr wüßtet es.« Er seufzte noch einmal. »Dieser Rhys Thuryn – ich habe nie von ihm gehört. Wirkt er bei Hofe? Ihr kennt ihn ja anscheinend.« »Ich weiß einiges über ihn«, versetzte der Erzbischof zur Antwort. »Für einen Heiler ist er noch recht jung, aber er steht in ganz ausgezeichnetem Leumund. Er ist auch mit Cambers jüngerem Sohn Joram eng befreundet, der Michaelit ist... Hmmm, das gibt freilich zu denken.« »Ihr meint, besagter Joram könne der geheimnisvolle Mönch gewesen sein?« »Das ist auch mir unklar«, erwiderte der Erzbischof, obwohl sein Tonfall gewissen Zweifeln Raum gewährte. »Andererseits ist Joram ein Michaelit, und diese Ordensritter betätigen sich schon seit langem als Aufwiegler.« »Als Aufrührer, ja, gewiß, aber als Bedränger eines Mönches?« Robert Oriss schnob. »Ich sehe in einem Mann wie Bruder Benedict niemanden von staatsmännischem Rang.« »Ich auch nicht.« Der Erzbischof ließ einen Seufzlaut vernehmen. »Aber es umweben offenbar die MacRories irgendwelche staatsmännischen Ver-
strickungen. Du hast doch bestimmt die Gerüchte um Cathan MacRories Tod vernommen, nicht wahr?« Aber Robert Oriss kannte sie noch nicht. »Nun, man kann da gewisse Redensarten vernehmen, die besagen, Cathan sei nicht einfach so verstorben, gleichsam aus heiterem Himmel, sondern... habe den Tod, wie manche behaupten, von des Königs eigener Hand gefunden. Sollte das die greuliche Wahrheit sein, so böte es immerhin eine Erklärung für Imres absonderliches Verhalten anläßlich des Hofes erster Adventsfestlichkeit. Und zweifelsfrei lieferte es Joram, Camber oder Rhys einen Grund zu irgendwelchen Bestrebungen nach Vergeltung.« Er runzelte die Stirn. »Aber nicht wider einen Büßermönch! Ich muß gestehen, ich weiß keinen sinnvollen Aufschluß, Robert. Und du?« Aber dem Generalvikar ermangelte es daran ebenfalls. Nach einer Weile beiderseitigen Schweigens erhob sich der Erzbischof und trat langsam ans Fenster, stützte seine Hände matt auf das breite Fenstersims. Draußen fiel Schnee. »Bitte laß Uns allein, Robert«, sprach der Erzbischof schließlich mit gedämpfter Stimme. Der Generalvikar bemerkte den Übergang zum gestrengen bischöflichen ›Wir‹, stand sofort auf, verbeugte sich, entschwand durch die Tür und schloß sie von außen. Als er fort war, kehrte der Erzbischof zurück zu seinem Lehnstuhl und setzte sich wieder hinein; flüchtig berührte er den zurückgebliebenen Brief, dann faltete er auf der Tischplatte die Hände und begann zu beten. Obschon er Robert Oriss nicht die geringste diesbezügliche Andeutung gemacht hatte, wußte Erzbischof Anscom, wer Rhys Thuryn nach St. Foillan begleitete und nun Mitschuld trug an jener
Entführung. Er selbst und der ›Mönch‹ hatten sich zu Grecotha auf die Priesterwürde vorbereitet und miteinander tausend Augenblicke irdischer Freuden und Kümmernisse geteilt. Denn ›Bruder Kyriell‹ war der Name, den Camber von Culdi während seiner Anwartschaft aufs Priesteramt getragen hatte.
16 Da steht einer allein, ohne einen zweiten, hat weder Sohn noch Bruder. Doch all seiner Mühe ist kein Ende, und sein Auge wird nicht satt am Reichtum. Prediger 4,8 Welcher Art jedoch Anscoms eigene innerste Empfindungen für die MacRories sein mochten – namentlich für Camber MacRorie –, der gutmütige, fromme Erzbischof war auch ein Diener der Krone; und die Pflicht schrieb vor, daß des Mönches Entführung, wiewohl es sich dabei um eine Angelegenheit der Kirche handelte, auch dem König berichtet werden mußte. Anscom gab die Beschreibung ›Bruder Kyriells‹ weiter; sollte Imre selber zusehen, wie er aufdeckte, wer er war, jener rätselhafte Mönch. Unterdessen konnte Anscom sich vielleicht mit Camber in Verbindung setzen und herausfinden, was sich eigentlich abspielte. Denn daß Camber seinen alten Mönchsnamen als Tarnung benutzte, wollte Anscom zu dem Camber, welchen er kannte, nicht ganz passen. Möglicherweise versuchte Camber, ihm auf diese sonderbare Weise irgend etwas mitzuteilen; oder es gab doch einen anderen Bruder Kyriell, und es lag bloß eine zufällige Übereinstimmung des Namens vor. Allerdings hielt Anscom äußerst wenig von Zufällen. Wie die Erklärung für das alles auch lauten mochte, Anscom wünschte sie zu erfahren. So leitete
der Erzbischof seine Meldung auf den üblichen Dienstwegen weiter; falls Camber wirklich in irgend etwas verwickelt war, das Imres Mißfallen erregte, wollte Anscom es nicht sein, der dem König nachhalf. Und infolgedessen geriet das Schreiben des Erzbischofs nicht in des Königs Hände, sondern in den Besitz des Grafen Santare, der erst in der vorherigen Woche zum Hauptuntersuchungsbevollmächtigten der gewähnten MacRorie-Verschwörung ernannt worden war und an dessen Fersen sich seither ebenso unauffällig wie möglichst hilfsbereit Coel Howell geheftet hatte, auch wenn er dabei einige jener Erkenntnisse, zu denen er durch eigene Anstrengungen gelangt war, mit Santare teilen mußte, und daher kam es, daß er in Santares Gegenwart weilte, just als des Erzbischofs Nachricht eintraf. Doch schon vor Erhalt dieser neuen Kunde hatten die gemeinsamen Bemühungen der beiden Edelmänner einige höchst interessante Zufälligkeiten ans Licht der Sonnen gefördert – oder handelte es sich dabei um weit mehr? Beispielsweise wußten sie seit geraumer Zeit, daß Daniel Draper, einer jener in den von Joram MacRorie entwendeten Urkunden verzeichneten Männer, kaum zwei Monde zuvor eines natürlichen Greisentodes starb – und daß an seinem Sterbebette kein anderer als Herr Rhys Thuryn sich betätigt hatte. Weitere Nachforschungen – in Thuryns Haus und dessen Umgebung – hatten ergeben, daß selbiger Rhys Thuryn noch am Abend nach des Greises Ableben ein Pferd bestieg und die Stadt verließ. Zwar beharrten seine Bediensteten darauf, er sei nach Caerrorie geritten, um dort den Michaelstag zu verbringen, doch behaupteten dagegen die Brüder der Klosterschule zu St. Liam –
wo sich Joram MacRories derzeitige Wirkungsstätte befand –, daß Herr Thuryn und Pater Joram am selben Tage trotz starken Regens in aller Hast fortgeritten seien, in die Richtung zum Kloster St. Jarlath. Das war bereits reichlich sonderlich. Aber als sei's damit noch nicht genug an Verwunderlichkeiten, hatten St. Jarlaths Mönche zu schildern gewußt, wie die beiden Reitersmänner inmitten stockfinsterer Nacht sich ins Kloster Einlaß erschwatzten, um des Hauses Einweihungsverzeichnisse einzusehen. Die letzte Krönung verlieh dem Ganzen die Aussage des Abtes zu St. Jarlath, Gregor von Arden, der sich daran erinnerte, daß die beiden äußerten, sie suchten einen Bruder Benedict, dessen Großvater kürzlich in Valoret verstarb. Coels Schriftführer stellten gegenwärtig eine Aufstellung aller dem Orden angehörigen Brüder namens Benedict zusammen. Es bestand die Möglichkeit, daß sie dicht davor waren, den verschwundenen Nicholas Draper ausfindig zu machen. Coel und Santare saßen also mit zweien von Santares Helfern bei der Beratung, als des Erzbischofs Bote ankam, und es fiel Coel zu, das Schreiben entgegenzunehmen und sein Siegel zu erbrechen. Coels Füße ruhten behaglich auf dem geschrägten Mantel des Kamins, und an seinem Ellbogen stand ein Humpen mit Bier, während er die Mitteilung bis fast ans Ende in völligem Gleichmut las und nur das Knistern des Feuers das Schweigen durchdrang. Dann jedoch setzte er sich plötzlich mit einem heftigen Ruck auf und schwang die Beine vom Kamin auf den Fußboden. »Hagelschlag und Donnerwetter! Seht Euch das einmal an!« Er schob das Pergament hinüber zum Grafen Santare. »Ihr möchtet wissen, was Joram
MacRorie und Thuryn treiben? Na, was Thuryn anbetrifft, so kann ich's Euch nunmehr verraten. Und was Joram MacRorie angeht, so möchte ich wohl ohne Zögern wetten, daß er's war, der als dieser Bruder Kyriell auftrat. Was wolltet Ihr wetten, Graf, daß Bruder Benedict und Nicholas Draper ein und derselbe Mann sind?« Santare zog das Schreiben näher zu sich heran und las es in aller Eile. Sobald er fertig war, lehnte er sich im Stuhl zurück, hakte die Daumen in seinen weiten Gürtel und nickte bedächtig. »Kein Wunder folglich, daß wir diesen Draper nicht finden konnten. Er hat alle diese Jahre hindurch in einem Kloster gehockt. Sie müssen ihn durch die Urkunden zu Sankt Jarlath aufgespürt haben, auf dem gleichen Wege, wie wir den Bruder Benedict zu finden hofften. Und dennoch...« Der Graf erhob sich und begann hin und her zu schreiten; seine Stiefel erzeugten ein Rascheln der ausgestreuten Binsen. »Ihr müßt bedenken, es ist wirklich höchlichst sonderbar«, sprach Santare weiter, nachdem er das Gemach einige Male durchmessen hatte. »Dem Bericht des Erzbischofs zufolge suchten die beiden Männer Sankt Foillan zum erstenmal vor einem Mond auf, doch damals stellten sie dort nichts an. Das erweckt den Eindruck, als hätten sie nicht genau gewußt, ob es sich um den richtigen Mann handelte. Die Frage lautet nun, der richtige Mann wofür? Warum so ausgeprägtes Interesse an einem gewöhnlichen Mönch, der einer Familie von Händlern entstammt?« Ein Helfer Santares räusperte sich vorsichtig. »Man hat ja... äh... diese Gerüchte über die Wiederkunft eines Haldane-Königs gehört, Herr. Ihr kennt die Flug-
schriften, die jetzt immer häufiger auftauchen.« »Willimitische Hirngespinste und Wunschträume!« fuhr Coel auf. »Sie mögen vielleicht derlei Humbug in Umlauf setzen, aber irgend etwas Handfestes erreichen können sie damit doch nicht!« »Aber immerhin hat Thuryn eine Abbildung Ifor Haldanes entwendet, Herr«, erlaubte sich Santares anderer Scherge anzumerken. »Es muß doch dafür einen Grund gegeben haben.« »Das ist alles bloß Trug und Schwindel«, beharrte Coel. »Das muß es sein! Kein Haldane hat die Thronnahme überlebt. Jedermann weiß es.« »Aber hätte einer von ihnen überlebt, dies wäre für ihn ein verflucht günstiger Zeitpunkt, um aus dem Loch zu kriechen, oder?« meinte Santare und befahl seine zwei Gehilfen mit einem Wink hinaus. Coel lehnte sich zurück und stützte mit einer Miene deutlichen Mißmuts wieder ein gestiefeltes Bein an des Kamins Mantel, als sich hinter Santares Männern die Tür schloß. »Ja, freilich, das wäre es«, pflichtete er verdrossen bei. »Aber ich ersehe dennoch überhaupt keinen Sinn. Was könnte den MacRories denn ein Haldane bedeuten? Sie sind doch Deryni, so wie Ihr und ich. Gewiß, Camber besitzt keine Veranlassung, um dem König überschäumende Liebe entgegenzubringen, zumal nach dem – ums gelinde auszudrükken – etwas merkwürdigen Ableben Cathans aber sie sind doch, verflucht noch einmal, alle Deryni! Es könnte doch nie und nimmer seine Absicht sein, Imre durch einen König aus dem alten Herrschergeschlecht ablösen zu lassen – oder, noch ärger, durch einen, der selbigem entsprossen zu sein nur behauptet. Was gäbe es denn für Beweise? Und wo ist Camber
denn eigentlich?« »Ich weiß es nicht.« Santare hob die Schultern. »Wir haben zu Caerrorie die Diener und auch die Bauern im Ort befragt, aber...« »Nichts in Erfahrung gebracht! Santare, es dünkt mich schwer glaubhaft, daß kluge Untersuchungsbeauftragte dazu außerstande gewesen sein sollen, auch nur ein Jota an Wissen um Cambers Absichten oder Beweggründen aus diesen Lumpenkerlen herauszuholen. Hätte ich...« »Hättet Ihr meine Vollmachten, so hinge die Hälfte von Cambers Bediensteten, da zweifle ich nicht im mindesten, mittlerweile als Futter für die Raben an den unteren Enden fester Stricke«, sprach Santare, indem er Coel ins Wort fiel, mit nachdrücklicher Betonung, »ganz so wie im Oktober jene Bauern – und das, nur weil sie Euch Kenntnisse versagen müßten, die sie nicht haben. Glaubt Ihr denn wahrlich, ein so machtvoller Deryni wie Camber vermöchte sein Trachten, wenn ihm daran liegt, vor einer Handvoll menschlicher Diener nicht zu verheimlichen? Nicht zu gewährleisten, daß von ihnen niemand irgend etwas erfahren kann?« »Aber er muß doch irgendwo sein!« Des Streitgesprächs Fortsetzung erfuhr eine Verhinderung durch das ungestüme Eindringen eines jungen, völlig außer Atem befindlichen Knappen in Imres Gesindetracht. Des Burschen Miene spiegelte Erleichterung wider, als er sich die Mütze vom Schopf riß und eine tiefe Verbeugung vollführte. »Ihr Herren, Seine Königliche Gnaden wünscht Euer sofortiges Erscheinen in den Königlichen Gemächern. Seine Majestät...« – der Knappe rang um Atem – »...
ist außerordentlich erregt, Ihr Herren. Von jeglichem Säumen möchte wohl abzuraten sein.« Wie ein Mann stürmten Coel und Santare zur Tür. »Elendige, schändliche, mißratene Hurensöhne!« kreischte Imre, als man Coel und Santare in seine Gemächer einließ. »Verlogene, verabscheuungswürdige...! Coel! Wißt Ihr, was diese Hundsfötter getan haben?! Könnt Ihr Euch vorstellen, was...« »Was wer getan hat, Euer Gnaden?« unterbrach ihn kühn Coel und verbeugte sich zugleich aus Vorsicht ungewöhnlich tief. »Die Michaeliten! Schmutzige, janushäuptige, doppelzüngige, verräterische...!« »Sire! Was haben sie denn getan?« Imre stierte ihn wilden Blickes an, dann warf er die Arme in die Luft und ließ sich in einen Lehnstuhl fallen. »Sie sind verschwunden – bis zum letzten abtrünnigen Pavian ihres Schlages sind sie verschwunden! Sie haben ihre Schätze mitgenommen, ihre Altarplatten... alles! Sie sind ganz einfach... fort!« »Fort...«, wiederholte Santare im Flüstertone. Imre beachtete ihn nicht, sondern raffte sich aus dem Lehnstuhl auf und begann einen neuen Wasserfall von Beschimpfungen und Klagen zu vergießen, welcher sich hauptsächlich mit den Umständen von Geburt und Lebenswandel der Michaeliten befaßte, sie auf die abartigste und grobschlächtigste Weise darstellte. Santare dagegen, wie vom Donner gerührt und gegenüber Imre mehr als nur ein wenig vorsichtig, versuchte bereits die Beweggründe eines solchen Vorgehens zu erkennen, zwang sich dazu, trotz seiner Verblüffung unverzüglich an die Sicherheit des
Reiches zu denken. Eine derartige Maßnahme eines Ordens, der so reich und mächtig war wie die Michaeliten, zum gleichen Zeitpunkt, da sich Beweise für eine MacRorie-Verschwörung zu häufen begannen, konnte nur eines bedeuten: es bestand die Bestrebung, Imre zu stürzen und an seine Stelle einen angeblichen Haldane-Erben zu setzen. Und wenn die Michaeliten darin verwickelt waren, so mußten alle Beteiligten recht fest davon überzeugt sein, daß dieser Erbe ein echter Haldane war, daß sie eine vernünftige, begründete Aussicht sahen, einen Nachfolger Imres mit Erfolg vorstellen zu können. Die michaelitischen Ritter mußten sich gegenwärtig irgendwo sammeln und Vorbereitungen zum entscheidenden Schlag treffen. Indem sie sogar ihre waffenlosen Ordensmitglieder in Sicherheit brachten, hatten sie alle Druckmittel und Vergeltungsmaßnahmen schon vorher zunichte gemacht. Und – wahrhaftig! – die Michaeliten mochten nachgerade überall verborgen sein. Auch Coel war nicht blind für die Bedeutung, welche das Verschwinden der Michaeliten besaß, doch waren seine Überlegungen, während der König ungestört weiterwütete, mehr persönlicher Art und überdies reichlich trübsinniger Natur. Ach, für wie gescheit hatte er sich gehalten! Und nicht im geringsten gescheit war er gewesen. Alle seine Machenschaften und Einfädelungen, sein rücksichtsloses Werk der Vortäuschung einer Verräterei Cathans, der Mord an Maldred, Cathans Ermordung – das alles hatte unbeabsichtigt einen echten Umsturzplan aufgedeckt. Er hatte in sich selbst den Baumeister einer neuen Machtballung innerhalb Gwynedds gesehen und nicht einmal im Traum mit der Ungeheuerlich-
keit eines viel weiterreichenden Unternehmens gerechnet. Doch nun erwies sich, daß er nur ein Bauer gewesen war in einem Spiel, dessen Tragweite er jetzt erst ansatzweise zu begreifen begann. Und er sah nunmehr die durchaus vorstellbare Möglichkeit, daß der weitere Verlauf des Spiels ihn haltlos fortriß, getrieben von Kraftentfaltungen, an deren Zustandekommen er selber unwissentlich mitgewirkt hatte. Sollte er zuletzt gar als Schlachtopfer für den König enden? »Ich werde es ihnen zeigen!« brüllte Imre, und Coel richtete seine Aufmerksamkeit augenblicklich wieder auf die unmittelbare Krisis. »Sie sollen es bitterlich bereuen, mir getrotzt zu haben!« Imre ließ sich, indem er fortwährend gedämpft fluchte, auf den Stuhl hinter seinem Schreibpult niedersacken und fing überstürzt an zu kritzeln, derweil von seinen Lippen pausenlos zusammenhangloses Gemurmel drang und Coel und Santare einander fassungslos musterten. Nach einer Weile trocknete der König die Tinte mit Sand, drückte auf den unteren Rand des Bogens sein Siegel und sprang auf, um das Pergament Santare dicht unters Antlitz zu halten und damit zu wedeln, während ein bösartiges Lächeln seine Miene verunstaltete. »Ihr sorgt mir für die umgehende Ausführung dieser Befehle, Santare.« »Sire?« »Vorwärts, nehmt!« fuhr ihn Imre an und fuchtelte mit dem Schriftstück. »Die Michaeliten erkecken sich dreist, wider mich zu handeln? Sie wollen einen anderen König an meine Stelle setzen?! Ha! Das werden wir sehen! Der gegenwärtige König wird ihnen dies Trachten ungemein sauer machen.« Erneut schnauzte
er Santare an. »Also kümmert Euch darum!« Santare neigte das Haupt, noch nicht mutig genug, um das Schriftstück zu lesen, das er nun in seiner Hand hielt. »Sehr wohl, mein Lehensherr.« »Und solltet Ihr bei der Erledigung zufällig irgendeines vereinzelten Michaeliten habhaft werden«, ergänzte Imre seine Anweisungen, »dann bringt ihn ohne den allermindesten Verzug zu mir. Versteht Ihr mich? Ungeachtet der Stunde. Ich wünsche jeden dieser Schurken persönlich zu verhören, ehe er den schmählichen Tod eines Verräters findet.« »Jawohl, Herr.« »Dann hinaus! Raus mit Euch, beide hinaus!« Draußen atmete Santare erleichtert auf – der erste richtige Atemzug, den er sich seit seinem Erscheinen in des Königs Gegenwart gestattete –, dann entrollte er das Pergament; als Coel ihm über die Schulter zu lugen sich geneigt zeigte, wandte er sich schroff seitwärts. Der Graf las Imres Befehle langsam und mit großer Aufmerksamkeit, während sich Coel aus Ungeduld auf der Stelle wand; danach reichte er es, wie Coel erwartet hatte, an ihn weiter. Wir, Imre, durch Gottes Gnade etc., grüßen alle getreuen Untertanen Unseres Reiches. Wisset, daß die Mitglieder im Orden des Hl. Michael Uns am heutigen Tage auf die allerkläglichste und heimtückischste Art und Weise mit Verrat betrogen und hintergangen haben, so daß Wir den genannten Orden mit sofortiger Wirksamkeit auflösen, ihn zerstreuen in alle Winde und ausmerzen vom Antlitz des Erdkreises. Wir erklären seine vormaligen Brüder zu Vogelfreien, seine Güter und Ländereien für der Krone verfallen. In diesen
Bann schließen wir alle ein, welche den mit Verrat besudelten, fortan und für alle Zeiten verruchten Namen MacRorie tragen, vorzüglich Camber, vormals Graf von Culdi, und Joram, derzeitig Ordensritter der Michaeliten sowie den unter dem mit Verrat befleckten Namen Rhys Thuryn bekannten Heiler. Unserem über alles geliebten Grafen Santare von GrandTullie erteilen Wir Unseren Befehl, der Michaeliten Komturei zu Cheltham mit Königlicher Waffenschar zu nehmen und alle dortselbst Ansässigen in Gewahrsam zu überführen. Das vorgenannte Bauwerk ist zu räumen und niederzubrennen, seine Behausungen und Mauern zu schleifen, sein Land mit Salz zu bedecken, welchselbige Strafe vollzogen sein soll am Tag des St. Olympias, folglich binnen einer Woche von heute an. Mit dem Verlauf jeder neuen Woche soll ein weiterer Sitz der Michaeliten auf dergestalte Weise vom Erdboden ausgetilgt werden, bis des Ordens Generalvikar vor Uns tritt und sein Knie beugt, um Uns sowohl seinen abtrünnig gewordenen Orden mitsamt allen dazugehörigen Mitgliedern und Besitztümern sowie auch alle Angehörigen des MacRorie-Klans vollständig und gleichzeitig in Unsere Königliche Gewalt zu überantworten und Uns auf Gnade oder Ungnade auszuliefern. Eine Belohnung für die Ergreifung aller und jedweder Verräter... Imre hatte noch wesentlich mehr geschrieben, aber Coel verspürte keinerlei Lust und Laune, es ohne Not auch zu lesen. »Per intercessionem beati Michaelis Archangeli, stantis a dextris altari incensi...« Die Worte der Liturgie tönten mit glutheißer Inbrunst und leichtem Anklang von
Verzweiflung durch die vom Weihrauch getrübte Luft, im Säulengang, wo Camber MacRorie harrte, kaum vernehmlich. Der Zelebrant war Cinhil Haldane, in seiner Hand das Rauchgefäß, im Rücken einen Diakon, der ihm folgte und des Meßgewandes Saum hielt, derweil Cinhil den Altar umschritt und ihn beweihräucherte. Stumm beobachtete Camber, wie der priesterliche Prinz und der Mönch ihre Umrundung des Altars beendeten, sich nochmals wechselseitig einräucherten; dann sah er zu, wie der Diakon das Räucherwerk zur Seite beförderte und schließlich über Cinhils Fingerspitzen Wasser in ein kleines irdenes Gefäß goß. »Lavabo inter innocentes manus meas...« Heute hatte er noch nicht mit Cinhil gesprochen; er hatte den Prinzen seit dem gestrigen Nachmittag – vor seiner letzten Unterhaltung mit Alister Cullen – gar nicht gesehen. Er fühlte sich durch die bis dahin mit Cinhil erarbeiteten Fortschritte jedoch nicht sonderlich ermutigt. Obwohl sich der Prinz seit fast zwei Wochen in ihrer Mitte befand, war es ihnen bisher nicht gelungen, ihn für ihre Sache zu gewinnen. Nach rein oberflächlichen Gesichtspunkten benahm sich Cinhil zur Genüge zugänglich. Er ging, wohin man ihn zu gehen hieß, und er tat, was man von ihm wünschte. Er las, was man ihm zum Lesen gab, und er erteilte bereitwillig Antwort, wenn man ihn nach dem Gelesenen befragte. Manchmal entsprangen ihm sogar Funken staatsmännischer Geistesblitze, wenn es um des Reiches Angelegenheiten und das Schicksal von Land und Volk ging, mit welchen er sich nun mühselig auszukennen lernte. Aber er sprach freiwillig kein Sterbenswörtchen darüber und unterbreitete keinerlei Vorschläge aus eigenem Antrieb, er fühlte
sich zu keinen Taten geneigt; er zeigte nicht die allerleisesten Anzeichen von Interesse oder bloß Anteilnahme an der hohen Stellung, auf welche man ihn unter so schwierigen Umständen und so großen Anstrengungen vorzubereiten versuchte. Es handelte sich beileibe nicht um regelrechten Widerstand. Derlei hätten sie überwinden können, wenn nötig, durch Zwang. Vielmehr handelte es sich um eine gleichsam eingeübte Art von Gleichgültigkeit, eine Selbstversunkenheit, die so gut wie keinen äußeren Einfluß zuließ, einen Rückzug in die innere Welt, für die er sich als noch junger Mann entschied, vor beinahe zwanzig Jahren. Er duldete seine gegenwärtige Lage, weil er's mußte; aber er duldete nicht die gelindeste Anwandlung menschlichen Empfindens, soweit es sein verleugnetes Geburtsrecht betraf, er ließ keine derartige Regung auf sein Gewissen einwirken oder die Welt, worin er fast zwei Jahrzehnte verlebt hatte. Solange man ihn täglich die Messe lesen ließ, befleißigte er sich widerwilliger Fügsamkeit. Und erst an diesem Morgen, erstmals seit seiner Ankunft, merkte man ihm Äußerungen menschlicher Gefühle an, fast am Rande zur Verzweiflung angesiedelt. Camber glaubte den Grund zu wissen. Schritte verwiesen auf die Annäherung einer anderen Person hinter ihm im Säulengang, und dann gesellte sich Alister Cullen zu Camber. Während er zum Gruße nickte, trat Camber von des Balkons Brüstung zurück und gewährte dem Generalvikar der Michaeliten einen Blick hinunter in die Kapelle. Cullens Auftreten besagte nichts Neues. »Orate fratres«, betete Cinhil, seine Arme ausgebreitet in flehentlicher Anrufung, »ut meum ac vestrum sacrificium acceptabile fiat apud Deum Patrem omnipoten-
tem.« Camber musterte aufmerksam Cullen. »Ich vermute, Ihr habt deutliche Worte zu ihm gesprochen?« Cullen seufzte und nickte matt, dann reckte er das Kinn gegen den Hintergrund, um anzuzeigen, daß sie hinausgehen sollten. Im helleren Fackelschein des Korridors vermochte Camber die Beunruhigung in Cullens Miene erkennen, die er in der Düsternis der Kapelle nicht hatte wahrnehmen können. Er dachte bei sich, daß Cullen wohl unter mehr litt als bloß Schlafmangel. »Ich habe gestern abend«, sprach Cullen, »sehr lange mit ihm geredet.« »Wie ich annahm. Und?« In sichtlicher Erbitterung schüttelte Cullen sein Haupt. »Ich weiß es wahrhaftig selber nicht. Ich glaube, ich habe ihn endlich davon überzeugt, daß er seine Priesterschaft aufgeben muß, aber er steckt ganz einfach so voller Furcht vor diesem Schritt, daß sein Verstand gleichsam umnebelt ist.« »Mir erging's ebenso...«, bemerkte versonnen Camber, dann fiel ihm auf, daß Cullen womöglich seiner Äußerung Sinn nicht verstand. »Natürlich mußte ich meine Priesterschaft nicht für eine Krone opfern, damals, als meine älteren Brüder starben, nur für die Aussicht auf eine Grafschaft... und ich war auch noch gar kein geweihter Priester, sondern nur Diakon. Aber ich erinnere mich noch genau ans Ausmaß meiner innerlichen Bedrängnis, an meiner Seele Zerrissenheit, die Langwierigkeit meiner Gewissenserforschung. Ich wähnte ja, eine wahrhaftige Berufung zum Priester zu besitzen.« »Ihr wärt an die Kirche verschwendet gewesen, und das ist Euch sehr wohl klar«, versicherte ihm
Cullen im Brummtone, der mehr von seiner insgeheimen Bewunderung für den Grafen von Culdi zum Ausdruck brachte, als ihm lieb sein mochte. »Mag sein... wenngleich ich der Ansicht bin, aus mir wäre ein guter Priester geworden. Andererseits glaube ich nun jedoch, daß mir die Gunst der großen Aufgabe zugefallen ist, im Weltlichen ein bedeutsames Werk zu verrichten. Denn natürlich gäbe es heute, hätte ich meine Verpflichtungen gegenüber meiner Sippe mißachtet und Euren Weg eingeschlagen...« – er widmete Cullen einen Seitenblick und verhehlte ein Lächeln – »... wahrscheinlich keinen Joram MacRorie, und vermutlich befände sich nun auch kein Prinz Cinhil unter uns, der uns diese gegenwärtigen Schwierigkeiten macht. Welche Sorge, abgesehen von seinen verständlichen Gewissensbissen, bedrückt ihn denn?« »Er ist überzeugt von seiner wahrlichen Berufung – und er hat sie tatsächlich«, antwortete barsch Cullen. »Außerdem vertritt er die Auffassung, daß das Volk ihn nicht anzuerkennen bereit wäre, selbst wenn er die Opfer auf sich nähme, die wir von ihm fordern. Warum sollte das Volk auch schließlich so etwas tun?« »Da frage man jene, die unter unseres heutigen Königs Gewalt gelitten haben, seien's Menschen oder Deryni, und man kann sich weitere Fragen ersparen. Die Haldanes haben sich niemals solcher Schandtaten schuldig gemacht. Niemals!« Und nach einem Moment erbitterten Schweigens fügte er hinzu: »Es hat ja auch noch niemand Cinhil gesehen.« Plötzlich lächelte Camber. »Er selbst hat sich seit ein paar Wochen nicht angesehen, seine Tonsur ist zugewachsen,
sein Bart ellenlang!« Camber lachte gedämpft auf. »Nun, wir wollen einmal sagen, sobald der Barbier heute früh mit ihm fertig ist, wird er nur sehr wenig Ähnlichkeit mit jenem geschorenen, asketischen Bruder Benedict aufweisen, der vor zwei Wochen zu uns kam.« »Kennt er das Bildnis schon?« »Es wird für ihn bereitstehen, sobald er zurechtgestutzt ist, gleich neben dem Spiegel. Und wenn dieser Anblick ihm nicht schlagartig die Erleuchtung bringt, wer und was er ist, dann weiß auch ich nicht, was uns noch weiterhelfen könnte.« »Ich weiß es.« Der Generalvikar des Michaelitenordens zog aus seinem Priesterrock ein vielfach zusammengefaltetes Stück Pergament. »Werft hierauf einen Blick.« »Und das ist?« »Meine Aufstellung möglicher künftiger Königinnen von Gwynedd.« Cullen lächelte verzerrt, während Camber das Pergament entfaltete. »Mir ist's klar, er wird sich auch dagegen auflehnen, aber wir müssen den Mann um jeden Preis vermählen. Wir brauchen einen Erben für Cinhils Nachfolge, und zwar möglichst rasch.« »Nach allem, was ich in jüngerer Zeit vernommen habe, dauert derlei noch immer neun Monde lang«, murmelte Camber; er bemerkte, während er die Aufstellung durchlas, daß Cullen seine Arme auf der Brust verschränkte. »Könnte ich ihn noch heute trauen, es ginge mir nicht schnell genug«, meinte Cullen. »Aber die Verhältnisse sind dergestalt, daß wir wohl zum Ende dieser Woche eine Entscheidung fällen und das Paar
am Heiligen Abend vermählen. Das wäre heute in einer Woche.« »Ich verstehe«, sagte Camber. »Wie ich hier sehe, umfaßt Eure Auflistung auch mein junges Mündel Megan de Cameron. Erwägt Ihr sie mit aller Ernsthaftigkeit?« »Falls Ihr keine Einwände erhebt. Meine Hauptsorge gilt natürlich, abgesehen davon, daß sie Kinder zu gebären imstande sein muß, der Notwendigkeit, daß unsere künftige Königin eine vollständig makellose Herkunft aufweist. Über Cinhils Abwendung vom Priesteramte hinaus darf nicht einmal der Hauch von irgend etwas Tadelnswertem dieser Vermählung und ihrem möglichen Sprößling anhaften.« »Nun, was das betrifft, Megan ist ganz und gar untadelig«, versicherte ihm Camber. »Sie ist blutjung, gewiß, aber ich nehme an, das ist's, was Cinhil braucht. Sie besitzt ein ausgeprägtes Pflichtbewußtsein, hat keine anderweitigen Bindungen, sie ist kerngesund... und ich glaube, sie könnte ihn von ganzem Herzen liebhaben.« »Na, das dürfen wir getrost dem Zufall überlassen«, entgegnete Cullen mürrisch. »Mein vornehmliches Interesse ist's, ein jungfräuliches Weib zu finden, das...« »Nein, das ist kein Umstand, den man dem Zufall überlassen sollte, Alister«, widersprach Camber, indem er ihn unterbrach. »Freilich, Megan ist mein Mündel, und ich besitze durchaus das Recht, sie mit einem Manne meiner Wahl zu vermählen, doch ich wollte sie niemals mit jemandem zu einer Verbindung nötigen, der sie nicht gewachsen wäre, die sie nicht mit ihrem Herzen eingehen könnte, so wenig,
wie ich meine leibliche Tochter zu einer Ehe zwänge, die allein den Interessen zweier Fürstenhäuser dient, nicht aber zu ihrem Glück.« »Um Gottes willen, hört auf, Camber, zu reden wie ein Vater. Ich habe sie ja noch gar nicht auserkoren.« »Ich...« Urplötzlich schloß Camber den Mund und starrte Cullen an; schließlich schüttelte er sein Haupt und lachte leise. Ein paar Augenblick später lächelte auch Cullen. »Am Heiligen Abend...«, meinte gedankenverloren Camber, während die Spannung zwischen den beiden Männern verflog. »Beabsichtigt Ihr die Zeremonie persönlich zu vollziehen?« »Ja, es sei denn, Ihr wißt einen besseren Geistlichen vorzuschlagen.« »Nicht besser im buchstäblichen Sinne des Wortes, möchte ich sagen, aber besser für Cinhil«, entgegnete Camber. »Seid Ihr damit einverstanden, daß ich die Vorbereitungen in die Wege leite?« »Ich bitte Euch darum.« »Seid bedankt.« »Könnt Ihr mir nicht verraten, an wen Ihr denkt?« »Nein. Ich möchte nicht voreilig sein. Aber eines kann ich Euch versichern – wenn's mir gelingt, sein Einverständnis zu erlangen, dann werdet auch Ihr meinen Entschluß voll und ganz billigen.« »Hmmm. Nun gut.« Cullen betrachtete seine Füße, dann hob er seinen Blick von neuem in Cambers Antlitz. »Da ist... äh... noch etwas, das Ihr wissen solltet. Eigentlich gedachte ich's Euch noch nicht mitzuteilen, aber wahrscheinlich ist's doch richtig, Euch ohne Umschweife in Kenntnis zu setzen. Imre hat gegen unseren Orden einzuschreiten begonnen.« Sofort war Camber wieder ernst. »Was ist gesche-
hen?« »Vor zwei Tagen haben Kriegsleute Imres die Komturei zu Cheltham besetzt«, berichtete Cullen in düsterer Stimmung. »Sie schleppten fort, was sie befördern konnten, alles andere steckten sie in Brand. Soviel ich zuletzt erfahren habe, schleifen sie nun die Mauern und verstreuen ringsum Salz. Man sagt, daß sie mit jeder neuen Woche eine weitere Einrichtung des Ordens zerstören wollen, bis ich mich dem König stelle und ihm den Orden und Euch samt Eurer Familie ausliefere. Aber selbstverständlich ist eine Einlassung auf ein derartiges Ansinnen vollkommen ausgeschlossen.« Camber nickte nur stumm. »So hat's denn den Anschein«, fügte Cullen nach einem Weilchen hinzu, indem er seine gewohnte Beherztheit teilweise zurückerlangte, »daß die Ehre von uns einen besonders hohen Preis fordert, was, mein Freund? Aber es hat uns ja niemals irgendwer verheißen, diese Unternehmung werde ein leichtes Spiel.« Er lenkte seinen Blick in die Richtung des Säulengangs und seufzte. »Tja, ich warte wohl lieber auf Seine Hoheit, um zur Stelle zu sein, wenn die Messe endet. Ich sende Cinhil zu Euch, sobald der Barbier und ich mit ihm das unsrige getan haben.« »Sendet ihn zu Joram, falls ich nicht in meinem Gemach weile«, sprach Camber. »Vielleicht überträgt sich etwas von Jorams Begeisterung auf Cinhil.« Cullen zuckte die Achseln, als er das vernahm, als wolle er anzeigen, daß er bezweifle, es könne ein noch so hoher Grad von Begeisterung auf den verzagten Prinzen abfärben, dann hob er zum Gruß eine Hand und entfernte sich durch den Korridor. Camber begab sich zurück auf den Balkon; soeben hatte Cin-
hil die Messe beendet und strebte mit den Mönchen, die daran beteiligt gewesen waren, zum Ausgang. Camber seufzte, stieg die Treppe hinunter und betrat die Kapelle. Rhys harrte auf ihn; erwartungsvoll stand er seitlich des Altars. »Wie geht's ihm heute?« erkundigte sich Camber. Ernst schüttelte Rhys sein Haupt. »Er hat in der vergangenen Nacht nicht geschlafen. Während der Messe zitterten ihm die Hände. Ich glaube, er spürte, daß dies seine letzte Meßfeier gewesen sein mag. Sein Unwohlsein war so stark, daß ich's in der Luft fühlen konnte, gleich einem grauen Vorhang rings um den Altar. Habt Ihr's nicht ebenfalls wahrgenommen?« Camber musterte ihn aufmerksam. »Man hat mich fortgerufen. Wann ist das aufgetreten?« »Bei der Wandlung«, antwortete Rhys. Er schaute den Altar an dann wieder Camber, dessen Miene beherrscht war von Ausdruckslosigkeit. »Was denkt Ihr, Camber?« forschte der Heiler leise nach. »Wenn Ihr diese Miene aufsetzt, seid Ihr mir ganz und gar unbegreiflich.« »Ich denke«, erwiderte Camber und erklomm bedächtig die drei flachen Altarstufen, »daß unser Cinhil Haldane möglicherweise viel bemerkenswerter ist als angenommen.« Er hob eine Hand über die Altarplatte und tastete mit seinen derynischen Sinnen danach, sorgsam darauf bedacht, sie nicht körperlich anzurühren. Einen Moment darauf wandte er sein Antlitz halb Rhys zu. »Rhys, würdet Ihr mir bitte einmal helfen?« Der Arzt trat neben Camber und wartete, eine Augenbraue in stummer Fragestellung emporgeschoben. »Leiht mir Eure Kräfte und gewährt mir Unterstützung, während ich dies Od
gründlicher untersuche«, sprach Camber weiter. »Hier hat sich etwas höchlichst Sonderbares von einer Art niedergeschlagen, wie sie mir bislang noch niemals begegnet ist. Sollte Cinhil der Urheber sein, dann stehen uns sicherlich noch allerlei ungemein interessante Begebenheiten bevor.« Das gesprochen, schloß er die Lider und senkte seine Handflächen aufs Altartuch; bei der ersten Berührung zuckte er zusammen. Rhys stand an Cambers Elle, eine Hand auf des Grafen Ärmel gelegt, derweil er den anderen Deryni an seinen Kräften teilhaben ließ und zugleich dessen Eindrücke mit ihm teilte. Als Camber zurücktrat, glitzerten in seinen Brauen Schweißperlen, seine Augen waren leicht verschleiert. Er war ein wenig unsicher auf den Füßen geworden, so daß er sich von Rhys dabei helfen ließ, auf den Altarstufen Platz zu nehmen; beiläufig bemerkte er, daß auch des jüngeren Mannes Hände bebten. Es dauerte ein beachtliches Weilchen, bis er wieder zu sprechen wagte, und auch dann zeugte seine Stimme noch unüberhörbar von Erschütterung und Ehrfurcht. »Wieviel habt Ihr davon wahrgenommen?« »Fast alles, aber mit Euch als Mittler natürlich nicht in voller Stärke. Was haltet Ihr davon?« Camber schüttelte das Haupt. »Ich bin mir gar nicht darin sicher, ob ich das bereits richtig zu beurteilen vermag. Selbstverständlich müssen wir diese Eigentümlichkeit mit den anderen besprechen. Wenn wir derartige Eindrücke erhalten können, obgleich Cinhil nicht im selben Raum weilt, kann's mich freilich nicht länger verwundern, daß Ihr und Joram nicht seine geistige Schirm zu durchbrechen vermochtet, als es darum ging, ihn unauffällig von Sankt
Foillan fortzuschaffen. Vielmehr bereitet es mir nun Erstaunen, daß Ihr ihm die Besinnung rauben konntet, als wir ihm unseren ersten Besuch abstatteten.« »Dazumal rechnete er nicht mit so etwas«, wandte Rhys ein. »Er war betroffen, aber nicht um sich selbst in Sorge. Sein geistiger Schild war gleichsam gesenkt.« »Doch war das gleiche der Fall im Verlauf der Messe heute früh... wiederum im Zustand starker geistiger Erregung, ohne daß ihm eine unmittelbare Gefahr drohte. Er war aufgewühlt, weil er weiß, daß wir ihn früher oder später zum Verzicht auf seine Priesterwürde bringen werden, aber...« Camber unterbrach seine Rede und schüttelte von neuem sein Haupt. »Nein, das ist ein verkehrtes Herangehen. Seine Fähigkeit, diesen Schutz angesichts einer Bedrohung zu errichten, ist's nämlich, der unser Interesse gelten muß – die Kraft, die ohne Nachdenken zu entfalten er imstande ist. Mein Gott, ist Euch klar, daß er, vermöchten wir's ihn zu lehren, wie man diese Kraft zusammenballt und zu einem bestimmten Zweck gleichrichtet, die gleichen Dinge tun könnte wie ein Deryni? Mit einer solchen Befähigung wäre er ein König sowohl für Menschen wie auch Deryni.« »Für Deryni?« meinte Rhys. »Oh, gemach, dazu müßte er schon ein Deryni sein. Die größte Gunst, die wir Deryni künftig von einem menschlichen König, und stünden ihm auch alle Arten von Mächten und Kräften zu Gebote, erhoffen dürfen, ist schlichte Duldung.« »Oho, nicht so hastig! Natürlich ist er kein Deryni, Rhys. Aber ist auch nicht bloß ein Mensch. Und wenn ich so spreche, meine ich es mit dem allerfeinsten
Unterscheidungsvermögen. Wir haben stets behauptet, unser Volk besitze eine besondere Eigenart, die es von den Menschen trenne, über sie erhebe – aber vielleicht ist es gar keine besondere, sondern nur eine veränderte Eigenschaft. Und wollte es sich so verhalten, können wir womöglich aus Cinhil einen Deryni machen.« »Aber das ist doch vollständig...« »Ich weiß, daß es unmöglich ist, ihn in einen echten, einen geborenen Deryni zu verwandeln. Aber vielleicht läßt er sich hinsichtlich seiner Fähigkeiten zu einem Deryni entwickeln. Vielleicht können wir ihm derynische Macht und derynische Möglichkeiten geben. Ihr müßt einräumen, daß es ihm damit erheblich leichter fiele, könnten wir das bewerkstelligen, Imre vom Thron zu stürzen.« Rhys erwog die Überlegung einen Moment lang, nachdenklich die Lippen gespitzt. »Dennoch bezweifle ich, daß es sich auszahlte. Alle unsere Vorbereitungen sind darauf abgestellt, daß uns der Menschen Unterstützung zuteil wird, sobald wir den entscheidenden Schlag führen – aufgrund der Tatsache, daß Cinhil, der letzte lebende Abkömmling eines Herrscherhauses, welches vom Geschlecht der Festils verdrängt wurde, ein Mensch ist, in ausdrücklichem Gegensatz zu Imre, der als Verkörperung aller derynischen Greuel gilt.« »Aber erkennt Ihr denn nicht, daß die Gefahr einer Gegenbewegung besteht, die übers Ziel hinausschießt?« meinte Camber. »Indem wir die Menschen dazu anstiften, sich wider den Deryni Imre aufzulehnen, möchte sich wohl eine umgekehrte Verfolgung von einer Art und einem Ausmaß ergeben, wie wir
sie uns in unseren ärgsten Alpträumen noch nicht ausgemalt haben. Nur eine Handvoll von Deryni trägt die Schuld an den Übeln, die das Volk in den vergangenen achtzig Jahren zu spüren bekam. Wir müssen dafür sorgen, daß unsere Erhebung sich gegen den Mann Imre und seine Gefolgsleute richtet – und nicht etwa wider das gesamte Geschlecht der Deryni.« Rhys stieß einen gedämpften Pfeifton aus. »Jetzt begreife ich, wovon Ihr sprecht. Wäre Cinhil mehr denn nur ein menschlicher König, zugleich ein Deryni – oder wenigstens fast so etwas wie ein Deryni –, er könnte für beide Volksstämme ein gerechter Herrscher sein. Er vermöchte möglicherweise den Sturz Imres und die Wiederherstellung der HaldaneHerrschaft mit dem geringsten Maß an Blutvergießen zu verwirklichen.« Camber nickte. »Cinhil, ein menschlicher König mit Derynikräften, ein solcher Herrscher könnte uns vereinigen und die Fortführung des selbstzerstörerischen Ringens im Reichsinnern um die Frage, welcher Volksteil gegenwärtig die Oberschicht stellen soll, ein für allemal vereiteln.« »Und wir vermeinten in unserer Einfalt, wir befaßten uns lediglich mit einer Thronnahme im Handstreich«, sprach schließlich Rhys, als er sich zur Gänze verdeutlicht hatte, wovon Camber sich vorerst nur in Andeutungen erging. »Anscheinend sind die Dinge nie so einfach, wie sie wirken.« »Niemals«, pflichtete ihm Camber bei. »Und nun wartet erst einmal, bis ich Euch mitgeteilt habe, was Imre jetzt wieder angerichtet hat.«
17 ... vielmehr soll er sich eine Jungfrau aus seinem Volke zum Weib nehmen. 3. Mose 21,14 Doch Imres jüngste Maßnahme sollte sich beileibe nicht als so folgenschwer erweisen – wenngleich dieser Sachverhalt Camber und Rhys bis auf weiteres verborgen bleiben mußte – wie seine nächste Tat, obwohl dies letztere Unterfangen in viel geringerem Maße offene Gefahr anzeigte. Denn vier Tage nachdem man mit der Zerstörung der michaelitischen Komturei begonnen hatte, gelang es Imres Häschern, einen derynischen Geistlichen des Michaelitenordens zu ergreifen, den Priester Humphrey von Gallareaux. Im Kloster St. Neot nahm man ihn gefangen, obgleich er sich dem Schutze des dortigen Gabrielitenordens anempfahl, und brachte ihn unter strenger Bewachung nach Valoret; während des anstrengenden, dreitägigen Rittes zur Hauptstadt gewährte man ihm keinen Schlaf und nur wenig Nahrung. Eine halbe Stunde nach der Ankunft des Gefangenen erfuhr Imre von seiner Ergreifung. Im Handumdrehen enteilte er der Gesellschaft seiner Schwester und einiger Günstlinge und kam wenig später in die Räumlichkeit gestürmt, wo der derynische Gefangene wartete. Coel und Santare waren bereits dort; Coel stutzte sich mit einem von Edelsteinen schweren Dolch, einem Geschenk Imres, die Fingernägel, derweil sich Santare leise mit dem Hauptmann unterhielt, der den Gefan-
genen hergebracht hatte. Letzterer saß in einem wuchtigen Lehnstuhl aus hartem Holz und nickte aus Müdigkeit mit dem Haupt; die beiden Waffenknechte zu seinen Seiten schreckten ihn von Zeit zu Zeit, sobald er ernstlich einzuschlafen drohte, mit Hieben und Püffen wieder empor. Matt blickte er auf, als Imre den Raum betrat, und als die Knechte ihn hochrissen, machte er den Eindruck, als wollten ihm die Sinne schwinden. Imre winkte in die Runde, daß man keine Zeit mit Aufhebens verlieren solle, und gab den Waffenknechten mit einer Geste zu verstehen, daß sie des Gefangenen Arme loszulassen hätten. Unterm scharfäugigen Blick des Königs stand der Mann und schwankte in seiner Übermüdung wie ein Angetrunkener. Humphrey von Gallareaux war ein Mann von schlichter, unauffälliger Erscheinung, in seinem Alter so unbestimmbar, wie man's bei asketischen Gottgeweihten oftmals findet. Sein Äußeres hätte niemandem der Tatsache auf die Spur verholfen, daß er mehr war ein gemeiner Landpfarrer, als was seine Gewandung ihn auswies. (Er trug nicht, wie Imre voller Verachtung feststellte, die Tracht der Michaeliten. Offenbar hatte der Mann sich als Wanderprediger durchzuschleichen beabsichtigt.) Den eigentlichen Beweis für sein Anderssein boten jedoch seine Augen, welche Imre, der durch die Müdigkeit bedingten Stumpfheit zum Trotze, mit jener heiter-gelassenen Ruhe musterten, zu welchselbiger allein die Beherrschung derynischer Geistesübungen verhelfen konnte. Imre unternahm einen Versuch, des Mannes Gedanken zu lesen, und empfand keine Überraschung, als er erkennen mußte, daß es ihm nicht gelang. Mit grimmigem Lächeln gab er dem Mann einen Wink, daß er
sich wieder setzen dürfe, dann nickte er dankeshalber, als ihm Diener einen anderen Lehnstuhl brachten und ihn dem Gefangenen gegenüber hinstellten, so daß Imre sich ihm von Angesicht zu Angesicht widmen konnte. »Enthalten wir uns einmal aller Umschweife, dann dürfen wir feststellen, daß Ihr Humphrey von Gallareaux seid und trotz Eurer Gewandung ein Deryni im Michaelitenorden«, begann der König das Gespräch, indem er Humphrey mit einem Blick maß, der unmißverständlich vor Unbotmäßigkeiten warnte. »Wer ich bin, so glaube ich, wißt Ihr wohl.« »Eure Königliche Gnaden sind glänzend unterrichtet.« Des Geistlichen Stimme besaß einen unverfänglichen Tonfall. »Meinen Dank. Wißt Ihr, weshalb man Euch vor mich gebracht hat?« »Ich weiß nur, daß Eurer Gnaden Krieger das Sanktuarium zu Sankt Neot unter Anwendung roher Gewalt betreten und mich aus meiner Andacht gerissen haben«, antwortete Humphrey. »Ferner weiß ich, daß man mir während der drei seit meiner Festnahme verstrichenen Tage keine Rast und keine Ruhe gegönnt hat. Beliebt's Euch, mir dafür die Gründe zu nennen?« »Nein. Sagt mir, ist's üblich, daß ein Michaelit, welcher die Zurückgezogenheit sucht, um der Andacht zu pflegen, sich unter die Gabrieliten begibt?« »Üblich nicht. Doch war der Novizenbetreuer zu Sankt Neot, bevor ich mich einem Orden eigener Wahl anschloß, mein geistlicher Ratgeber. Ich trachtete nach seiner weisen Anleitung.« »Aha.« Imre starrte dem Geistlichen für einen lan-
gen Moment ins Antlitz. »Und Euer nächstes Wort wird lauten, vermute ich, Ihr besäßet nicht die klitzekleinste Ahnung davon, daß Euer Orden verboten und aufgelöst worden ist, daß Eure übrigen Brüder sich verborgen halten, daß ich die Austilgung michaelitischer Einrichtungen befohlen habe und Eurem Generalvikar die Aufgabe?« »Ich befand mich ja zur inneren Einkehr in der Abgeschiedenheit, Euer Gnaden«, entgegnete mit leiser Stimme Humphrey. »Ich vermag Euch nur zu antworten, daß Eurer Gnaden Worte mich in den allertiefsten Schrecken versetzen.« Imres Blick wanderte an Humphreys hagerer Gestalt hinab, heftete sich danach wieder auf des Michaeliten Antlitz; aus Gereiztheit begannen des Königs Mundwinkel zu zucken. »Seid Ihr Euch darüber im klaren, daß Ihr wahrscheinlich als Verräter hingerichtet werdet?« Humphreys Antlitz erblaßte, und seine Hände verkrampften sich um die Armlehnen; sonst jedoch regte er sich nicht. »Ich begebe mich in den Schutz der Kirche«, sprach er leise. »Coel?« Der König wandte sich seitwärts und schaute hinüber zum Angesprochenen, der bislang wortlos zugesehen und zugehört hatte. Mit gezierter Gleichmütigkeit schlenderte Coel an Imres Seite und verschränkte die Arme auf der Brust. »Erzbischof Anscom hat, sobald er von der Ächtung des Michaelitenordens erfuhr, für die Michaeliten die kirchliche Obhut beansprucht, Eure Majestät. Zu seinem Unglück ist Pater Humphreys Aufenthalt in unserer Mitte dem Herrn Erzbischof unbekannt. Dies Unglück dürfte vermutlich einem jeden Michaeliten
widerfahren, der in unsere Hände fällt. Es ist auch höchst unwahrscheinlich, daß der Herr Bischof jemals von derartigen Gästen vernehmen wird.« »Wie bedauerlich.« Imre lächelte. »Will heißen, für Pater Humphrey. Sollte er uns freilich gewisse Kenntnisse mitteilen, an denen uns gelegen ist, so ließe sich seine Überantwortung vielleicht einrichten...« Seiner Augen Blick, während er Humphreys Antlitz betrachtete, verhärtete sich, als er darin Ablehnung erkannte. Ruckartig erhob er sich, verharrte vorgebeugt an Humphreys Knie, seine Arme auf die Armlehnen des anderen Lehnstuhls gestemmt, und starrte in die braunen Augen, die Entschlossenheit widerspiegelten. »Seid kein Narr, Humphrey«, sprach er leise. »Mir mag's an den Feinheiten fehlen, welche man im Michaelitenorden lernt, aber ich entstamme einer uralten Sippe von mächtigen Deryni, die wußten, was sie wollten, und die sich vor der Anwendung auch der härtesten Mittel nicht scheuten, um zu erlangen, wonach ihr Begehr war. Ich kann Euren Widerstand, wenn's denn sein muß, auf jeden Fall brechen.« »Beginnt, was immer Ihr tun müßt, Sire«, erwiderte Humphrey mit leiser Stimme. »Und ich muß Euch mit all meiner Kraft trotzen. Ich gebe Euch mein Wort zum heiligen Pfand, daß ich des Verrats unschuldig bin, doch mehr kann und darf ich Euch nicht zugestehen. Mein Geist gehört allein meinem Gott und mir, es befinden sich darin die Geheimnisse vieler Sterblicher, welche sie mir in rückhaltlosem Vertrauen mitteilten. Nicht einmal mein König kann mir ihre Preisgabe abverlangen, und sollte die Weigerung mich das liebe Leben kosten.«
»Das Siegel, welches des Beichtvaters Lippen verschließt«, sprach Imre mit einem Seufzer und lehnte sich wieder in den eigenen Stuhl, schüttelte verdrossen das Haupt. »Wie günstig. Und wie zwecklos. Santare, holt den Heiler herein, damit er mich unterstütze. Ich will Gewißheit über des Mannes körperliche Verfassung haben, bevor ich damit anfange, auf seinen Geist einzuwirken.« Auch andernorts widmete man sich eindringlich einer gewissen Art von Einwirkung auf jemandes Geist, nur mußte in diesem anderen Fall Überzeugungskraft zum Erfolg verhelfen, kein grober geistiger Zwang; denn es war niemandes anderer denn Prinz Cinhil Haldanes Sinn, der dahin verändert werden mußte, daß er sich dazu entschloß, sein Erbteil anzutreten und aufzustehen als Streiter seines Volkes. Nach rein äußerlichen Gesichtspunkten gesehen, waren inzwischen einige Fortschritte errungen worden. Der hagere, vornehme Mann, der an diesem Weihnachtsabend in mürrischem Trotz am Kamin stand, wies kaum noch irgendeine Ähnlichkeit auf mit jenem zaghaften Mönch, welchen Joram und Rhys vor knapp drei Wochen aus der Abtei St. Foillan entführten. In seinem Wintergewand aus weinrotem Samt und den durch säuberlichen Zuschnitt von Bart und Schnurrbart betonten, den Haldanes eigentümlichen hohen Wangenknochen war dagegen die äußere Ähnlichkeit mit seinem Urgroßvater gänzlich unverkennbar. Selbst Cinhil, sobald er, wenn's sich nicht vermeiden ließ, seines Ahnen Bildnis ansah, vermochte nicht den wohligen Schauder eines Gefühls
der Verwandtschaftlichkeit zu unterdrücken, vor allem, wenn er seinen Blick auf die grauen Augen seines Vorfahren heftete, die den seinen so vollkommen glichen. Er mied das Bildnis, wann es nur ging, aber eine lebensgroße Zweitausfertigung der Abbildung aus dem Buch, welche sich neben seinem Spiegel befand, hing nun überm Kamin, wo man es schwerlich mißachten konnte. Häufig zog das Bildnis seinen Blick an, obwohl er sich eigentlich in Andacht versunken glaubte. Aber mochte Cinhil auch wie ein Prinz aussehen, noch immer verhielt er sich nicht so. Camber hatte im Laufe der vergangenen Wochen täglich Gespräche mit Cinhil geführt, unterstützt von Rhys, Joram und auch Evaine; sie hatten versucht, ihm Rang und Stellung eines Königs schmackhaft zu machen, sich bemüht, ihm durch Andeutungen einen Begriff von der Macht zu geben, die sie ihm, wenn er sich nur fürs Zusammenwirken entschied, verleihen konnten. Der Prinz war höflich, blieb jedoch standhaft. Heute, am Heiligen Abend, verlief die Auseinandersetzung besonders heikel, denn jeder der fünf im Gemach Anwesenden wußte, wie dieser Abend zu enden hatte – aber Cinhil wollte unverändert von allem nichts wissen. Seit zwei Stunden schon wiederholte er seine Weigerung. Schließlich befand Camber, daß es allerhöchste Zeit sei, es mit einer anderen Art und Weise des Herangehens zu versuchen. »Sagt mir, Eure Hoheit«, wandte er sich an den Prinzen, als Cinhil endlich wenigstens weitere Einwände wider den heiligen Stand der Ehe fehlten, »bedeutet Eure Zurückhaltung, daß Ihr das Treiben unseres gegenwärtigen Königs gutheißt?«
Cinhil warf dem Älteren einen scharfen Blick zu und machte schon Anstalten zu einer Entgegnung, die dem Ausmaß seiner Empörung über eine derartige Frage entsprach, aber dann besann er sich darauf, wer er so verzweifelt zu sein und zu bleiben versuchte, und faltete statt dessen frömmlerisch die Hände. »Ich bin ein Gottesmann«, sprach er mit gleichmäßiger Stimme. »Niemals vermöchte ich das Hinmorden Unschuldiger zu billigen.« »Mag sein, aber Ihr könntet ganz gut zum Urheber eines solchen Tuns werden«, warf ihm Joram vor. »Und zwar durch Eure Untätigkeit«, fügte er hinzu, als Cinhil den Mund zum Widerspruch öffnete. Cinhil kehrte sich wieder zum Kamin, die Hände in starrsinniger Haltung auf dem Rücken verschränkt. »Ich kann mich mit den Geschäften der Welt nicht befassen. Ihr versteht nicht die Verbindlichkeit meiner geistlichen Sendung.« »O nein, Ihr seid's, der nicht versteht, was rundherum geschieht«, berichtigte ihn Camber. »Warum will's Euch denn nicht in den Schädel, daß Ihr bereits in die Angelegenheit der von Euch so verachteten Welt verwickelt seid, daß eine beträchtliche Anzahl von Zeitgenossen Unbill und Leid erduldet, daß manche davon das Leben lassen müssen, weil sie an Euch und Eure gerechte Sache glauben?« »Meine Sache?« entgegnete Cinhil. »Aberwitz! Allein Eure Sache ist's, wovon Ihr hier beständig Reden führt. Ich habe niemals irgendwen darum ersucht, mich zum König zu erheben. Ich wünschte niemals irgend etwas anderes als meine Ruhe, um inneren Frieden finden zu können.« »Und diesen Frieden wähnt Ihr jemals finden zu
dürfen«, sprach mit gedämpfter Stimme Evaine, »obwohl Ihr wißt, daß es an Euch liegt, ob die Welt eine bedeutsame Veränderung erfährt, ob viel Kummer und Pein von ihrem Antlitz verschwinden, und Ihr dennoch nichts unternehmt?« »Was wollt denn Ihr von solchen Dingen verstehen?« schnauzte Cinhil. »Bin ich denn kein erwachsener Mann? Habe ich etwa kein Recht darauf, mein Leben nach meinem Gutdünken zu gestalten?« Camber stieß einen tiefen Seufzer ungnädiger Ungeduld aus. »Wärt Ihr mein Sohn und ließet Euch zu solchen verantwortungslosen Reden hinreißen, ich täte Euch, auch in Eurem Alter, eine Tracht Prügel verabreichen, die Ihr nur knapp überlebtet.« »Das würdet Ihr nicht wagen!« schleuderte ihm Cinhil entgegen, und in seine Stimme floß ein harter Klang ein, der starke Willenskraft verriet. Camber unterdrückte ein Lächeln, als er die Art von Cinhils Antwort bemerkte. »Ja, Ihr habt recht, wahrscheinlich nicht. Und zum Teil aus dem Grunde, weil Ihr nun allmählich wie ein Prinz zu sprechen anfangt, Euren Anstrengungen, das Gegenteil zu tun, zum Trotze. Glaubt Ihr, Bruder Benedict hätte mir eine solche Antwort erteilt, wie Ihr sie eben gegeben habt?« Mißmutig senkte Cinhil seinen Blick auf den Fußboden, und man hätte beinahe meinen können, man höre seine ineinander verschlungenen, verstrickten Gefühlsregungen in ihrem Widerstreit wüten, dann begab er sich, aus Ratlosigkeit unbeholfen, zu seinem Stuhl und nahm Platz. Er mied Cambers Blick und legte die Hände gefaltet in den Schoß, doch es kostete ihn sichtlich Mühe, weiterhin Ruhe zu bewahren.
»Ich... ich bedaure meine Heftigkeit. Ich bitte Euch, vergebt mir.« »Was soll ich Euch vergeben? Etwa, daß Ihr Euch endlich einmal wie ein Mann benommen habt? Sicherlich gibt's da nichts zu verzeihen. Begreift endlich, Ihr seid Prinz Cinhil Haldane. Das ist Eure Bestimmung, nicht das Dasein als Bruder Benedict. Ihr müßt Euer vergangenes Mönchsleben als eine Art von zeitweiliger Zufluchtnahme betrachten, in welche Ihr Euch geschickt habt, dieweil's nötig war, die allein Euch Schutz bot, bis die Zeit anbrach, da Ihr Eurer höheren Sendung folgen mußtet.« »Aber...« »Prinzen sind keine gemeinen Männer, Cinhil. Sie haben Pflichten – Pflichten, versteht Ihr mich? –, zu denen auch zählt, Bedrängern und Bedrohern von Volk und Reich in den Arm zu fallen. Euer königliches Geschlecht hatte in früheren Zeiten darin eine überaus glückliche Hand. Euer Ururgroßvater, also der Vater jenes Mannes, dessen Bildnis dort jene Wand schmückt, war unterm Volk bekannt als Heiliger Bearand, und zwar noch zu seinen Lebzeiten. Zu dieser Auszeichnung gelangte er nicht, weil er sanftmütig und gottesfürchtig war, und doch, er war ja auch das. Es geschah, weil er die eingedrungenen Mohrenscharen ins Meer trieb, weil er ein für allemal ihrer Seemacht das Rückgrat brach. Seither haben's die Mohren nie wieder gewagt, die großen Wüsten zu durchqueren oder das Südmeer zu verunsichern. Das hat dieser Heilige aus Eurem Geschlecht mit seinem mannhaften, heldenmütigen Handeln bewirkt.« Für einen langen Moment schwieg Cinhil. Als er von neuem sprach, zeugte seine Stimme von Bitternis.
»Heiliger Bearand. Vorzüglich. Doch Ihr fordert ja nicht von mir, ich solle so etwas Rühmliches vollbringen wie die Mohren ins Meer werfen – nein, Ihr mutet mir lediglich zu, meine heiligen Priestergelübde zu vergessen und einen mächtigen derynischen König zu stürzen. Ihr werdet wohl zugeben müssen, daß die Aussichten äußerst gering sind, jemals von einem abtrünnigen Priester als Heiligem Cinhil zu vernehmen.« »Ist's das, wonach Ihr strebt – die Heiligsprechung?« fragte in ruhigem Tonfall Rhys. »Die Mehrzahl von uns ist nicht so stolz und dünkelhaft, darauf zu hoffen, zu einer solchen, so makellosen, puren Vollkommenheit gelangen zu können.« Cinhil zuckte zurück wie von einer Natter gebissen, und eine staunenswerte Vielfalt von Gemütsregungen kennzeichnete in rascher Folge seines Antlitzes Züge; dann ließ er sich in seinen Lehnstuhl sinken, seine Hände tasteten fahrig umher, während er nach den geeigneten Worten forschte. »Es... es verhält sich keineswegs so, wie Ihr's darstellt. Auf welche Weise kann ich's Euch nur begreiflich machen, wie das ist, wenn man sein gesamtes Leben allein Gott geweiht hat? Pater Joram möchte es wohl ersehen, zöge er's nicht hartnäckig vor, des Teufels Advokat zu spielen, aber...« Während er sprach, öffnete sich lautlos die Tür, und hinter ihm betrat Alister Cullen die Schwelle; vom Prinzen unbemerkt, lauschte der Generalvikar, derweil Cinhil seine Erläuterungen fortsetzte. »Es ist, als sei man umhüllt von einem sanften goldenen Licht, als schwebe man stets eine Handbreit überm Grund, und man weiß, daß man vor allem behütet ist, das Unheil zufügen möchte,
weil man spürt, daß Er gegenwärtig ist, überall ringsum«, sprach Cinhil, sogleich in Verzückung versunken. »Es ist, als... als hasche man mit dem Geist nach einem Sonnenstrahl, und in dem Moment, da man ihn faßt, wird man von ihm umfunkelt. Man hat das Gefühl, daß...« Indem Cinhil sprach, stahl sich in seine Augen ein seltsamer, fremdartiger Glanz, und die Luft rund um ihn glomm verwaschen von schwacher Helligkeit, einem geisterhaft fahlen Flackern, das im Feuerschein und dem Wabern der Kerzen fast unsichtbar war, aber nicht völlig. Von den Anwesenden war Camber der erste, welcher die seltsame Erscheinung wahrnahm, dichtauf gefolgt von Rhys; und Camber schüttelte nahezu unmerklich das Haupt, als Rhys in seiner Verblüffung Anstalten machte, sich damit zu befassen. Während Cinhil wie im Traum weitersprach, seine Worte jedoch nunmehr für Camber bedeutungslos waren, tastete der derynische Edelmann mit seinen übermenschlichen Sinnen nach den Randbereichen des Leuchtens, auf geistiger Ebene in Bereitschaft, um die Kluft, welche ihn von Cinhils Bewußtsein trennte, gleichsam mit einem Sprung zu überwinden, sobald sich die Gelegenheit zur Nutzung der geistigen Öffnung ergeben mochte, welche nun allem Anschein zufolge bei Cinhil stattfand. Aber in diesem Moment mußte Cullen seine Gegenwart unbeabsichtigt irgendwie spürbar gemacht haben, denn urplötzlich wandte sich Cinhil an seinem Platz um und erblickte den Generalvikar. Inmitten eines Worts unterbrach er seinen ausgedehnten, von Selbstvergessenheit gekennzeichneten Vortrag, bevor Camber die geistige Verbindung herzustellen vermochte, an der ihm so verzweifelt gelegen war, und
als sich Cinhil erhob und unruhig vorm Generalvikar verneigte, ließ Camber einen langgezogenen Seufzer vernehmen, zu dem Rhys in den geistigen Gefilden das Echo beitrug. Zunächst hatte es den Anschein, als sei der Zwischenfall Joram und Evaine unbemerkt geblieben, doch dann sah Camber, wie Evaine ihres Bruders Arm berührte und nickte. »Pater Cullen...«, murmelte Cinhil. Cullen verneigte sich ebenfalls, die Stirn leicht gerunzelt. »Eure Hoheit...« Er lenkte seinen Blick an Cinhil vorbei hinüber zu Rhys. »Lady Megan ist hier, Herr Rhys. Ich glaube, Ihr solltet sie einer Begutachtung unterziehen, bevor wir sie näher in Kenntnis setzen. Graf Camber, ihr ist gesagt worden, Ihr hättet nach ihr geschickt. Ich hielt's für angebracht, daß Ihr derjenige sein sollt, der ihr den Anlaß mitteilt.« Camber stand mit neuerlichem Seufzer auf und nickte, um dann Cinhil, der dem Wortwechsel mit geweiteten Augen lauschte, aus nahezu väterlicher Miene zu betrachten, ungeachtet dessen, daß die beiden Männer hinsichtlich des Alters nur ein gutes Dutzend Jahre trennte. »Eure Braut ist eingetroffen, Eure Hoheit. Geduldet Euch noch für ein Weilchen, dann werde Ihr sie kennenlernen.« »Meine... meine Braut?« ächzte Cinhil, und plötzlich war sein Antlitz über dem samtenen Gewand aschfahl. »Die Lady Megan de Cameron, mein Mündel«, erklärte Camber, der Cinhil hoffnungsvoll musterte. »Sie ist ein Mensch wie Ihr, ein liebreizendes, wohlerzogenes Mägdelein. Sie wird Euch eine würdige Gemahlin und Königin sein.« »Ich... Mein Herr, das ist unmöglich!«
»Eure Hoheit, es muß und wird sein«, antwortete Camber, seinen Blick, hart wie Feuerstein, in Cinhils Antlitz geheftet. »Evaine, wolltest du wohl so gut sein und dich Rhys und mir anschließen? Megan ist fern von daheim und dürfte den Beistand eines anderen Weibes zu schätzen wissen.« Steif verbeugte er sich vor Cinhil. »Mit Eurer gütigen Erlaubnis, Hoheit.« Er vollführte eine Kehrtwendung und folgte Cullen hinaus durch die Tür. Als die Tür sich geschlossen hatte, wandte der zutiefst aufgewühlte Cinhil sich von neuem zum Kamin, und da überraschte es ihn, dort noch Joram sitzen zu sehen, der ihn ruhig, mit einer Gleichmütigkeit, die Cinhil geradezu als ärgerlich empfand, musterte. »Du bist noch hier«, stellte Cinhil fest, kam sich jedoch sofort närrisch vor, denn diese Tatsache war offenkundig. Um sein Unbehagen zu verhehlen, trat er an den Kamin und näherte die Spitze seines Hausschuhs gefährlich nahe einer glühenden Kohle; dann führte er eine zittrige Fingerspitze über die elfenbeinerne Statue des Erzengels Michael, die auf des Kamins Sims stand. »Pater Joram, vermag ich denn gar nichts vorzutragen, das ihre Herzen erweichen könnte?« fragte er schließlich kleinmütig. »Euer Herz ist's, das der Erweichung bedarf, Eure Hoheit«, antwortete Joram. »Eines Mannes persönliche Wünsche besitzen auf der großen Waage der Weltgeschichte wenig Gewicht. Es liegt in Eurer Macht, das Morden zu beenden, die Verfolgungen einzustellen, dem Volk, über das Eure Vorväter voller Liebe herrschten, Ordnung und Frieden wiederzuschenken. Man möchte meinen, es handelte sich um eine leichte Entscheidung. Wie könnt denn Ihr, der
Ihr Gottes Liebe zu kennen behauptet, Euch von Seinem Volk abwenden, Eurem Volk überdies, wenn Imre es bedrängt und bedrückt, das Land mit Drangsal erfüllt?« »Es ist nicht mein Volk«, widersprach Cinhil. »Jedenfalls nicht in diesem Sinn.« »Ach, Hoheit, aber es ist durchaus Euer Volk«, entgegnete Joram und hob in eindringlicher Gebärde einen Zeigefinger. »›Ich bin der gute Hirte, ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.‹« »Nein!« »›Und ich gebe mein Leben hin für sie.‹« Cinhil warf einen verzweifelten, gehetzten Blick zur Tür, durch welche Camber, Rhys und Evaine entschwunden waren. »Ich flehe dich an, Pater Joram, erspar mir dies. Es ist mir unmöglich. Du kennst die Gelübde, die ich abgelegt habe. Von allen müßtest gerade du...« »Priester oder Prinz, Schaf oder Mensch, Ihr seid's, der Imre bezwingen kann, Hoheit.« »Ich bitte dich, laß davon ab!« »Bedenkt doch, Hoheit«, sprach Joram, erhob sich und strebte zur Tür. »Woraus besteht denn die Kluft, falls es überhaupt eine gibt, zwischen Eurer Pflicht vor Gott und Euren Verpflichtungen gegenüber Seinem, Eurem Volk? Ist dazwischen denn eigentlich ein Unterschied vorhanden?« »Ich habe Gelübde getan«, stöhnte Cinhil. Joram verharrte an der Tür und sah seinen Priesterkollegen mit verständnisvollem Blick an. »Weide meine Schafe«, sprach er mit leiser Stimme; dann schlüpfte er hinaus und schloß die Tür. Die folgende Stunde verbrachte Cinhil auf den
Knien und bestürmte den Himmel unablässig um die Antwort, nach der es ihn so verzweifelt verlangte, von der er jedoch immer stärker die Befürchtung hegte, daß er sie nicht erhalten werde. Zuletzt, nachdem seine Anrufungen, Stoßgebete und inständigen Bitten nichts gefruchtet hatten und er sich nicht trostreicher fühlte als zuvor, raffte er sich auf und setzte sich an einen kleinen Tisch nahe beim Kamin. Seine Hände bebten, als er einen Becher mit Wein füllte und den Inhalt hastig hinabstürzte. Jenes Weib mußte bald hier erscheinen. Und er besaß keine Vorstellung davon, was er sagen oder tun sollte. Er nahm an, daß er nur zu bestätigen hätte, er fände es nicht zu häßlich, zu dumm oder wie immer, ganz danach, was für Maßstäbe er bei seiner künftigen... Gemahlin! – das Wort erzeugte zwischen seinen Schultern einen eiskalten Schauder – in der Erwartung seiner Nötiger anlegen sollte, wie sie sein oder nicht sein dürfte. Aber er verspürte gar kein Interesse daran, diese Person kennenzulernen. Es war unvorstellbar genug, daß er heute abend mit ihr in der Kapelle vor Gott und seine derynischen Peiniger treten mußte. Man würde ihn zwingen, ihren Erwartungen zu entsprechen. Die letzten Worte zwischen ihm und Camber waren beinahe so etwas wie eine gegenseitige Drohung gewesen. »Mein Herr, das ist unmöglich!« – »Eure Hoheit, es muß und wird sein.« Und mit einem Schwindelgefühl begriff er, es würde in der Tat dazu kommen. Er mußte das alles tun. Mittlerweile war es vollständig klar, daß sie ihren Willen durchzusetzen beabsichtigten, sie waren erst dann zufrieden, wenn er auf dem Haupt eine Krone trug, an seiner Seite eine Gemahlin und den Deryni Imre vom Thron verdrängt hatte.
Diese Gedanken brachten ihn erneut zum Erbeben, und er entsann sich ihrer derynischen Kräfte, die ihn hier an Ort und Stelle unmittelbar bedrohten. Sie waren Deryni. Wahrscheinlich konnten sie bewirken, daß er ihnen gehorchte, Gott allein mochte es wissen, falls er sich noch länger sträubte. Selbst der gewöhnlich überaus geduldige Camber war heute äußerst entschieden aufgetreten. Die Einsicht, daß er im Grunde genommen gar keinen Einfluß auf das bevorstehende Ereignis hatte, spendete ihm flüchtigen Trost, weil sie ihn der Verantwortung enthob, eine Entscheidung fällen zu müssen – zumindest für einige Zeit. Dann jedoch sah er sich dazu gezwungen, einen anderen, dunkleren Teil seines Ichs anzuerkennen, den er seit vielen, vielen Jahren begraben geglaubt hatte, und vor ihm empfand er noch wesentlich stärkere Furcht. Scheute er für den Fall, daß er seine klösterlichen Schwüre brach und die Priesterwürde abstreifte, den Zorn des Himmels? Oder befürchtete er vielmehr, daß es ihm nur allzu leichtfallen könne, sie zu brechen, daß er im tiefsten Innern bereits dem neuen Leben erwartungsvoll entgegensah, das man in jüngster Zeit in so verführerischer Darstellungsweise vor ihm ausgebreitet hatte? Cambers Bemerkung, daß er sich wie ein Prinz zu benehmen beginne, war schmerzlich nahe am Kern der Wahrheit gewesen. Er hatte sich wie ein Prinz verhalten – oder wenigstens so, wie er sich das Auftreten eines Prinzen vorstellte –, doch zugleich war's ihm wie die allernatürlichste Weise der Welt vorgekommen. All das erschreckte ihn in stärkerem Maße, als er jemals zuvor Schrecken empfunden hatte. Und ferner – eine Vermählung! Er füllte den Becher nochmals mit Wein – zum Glück handelte
es sich nicht um einen großen Becher – und leerte ihn erneut. Ein Weib zur Gemahlin zu nehmen, das er noch nie gesehen hatte, diese Gemahlin – er zwang sich dazu, in den Begriffen der Heiligen Schrift zu denken – zu ›erkennen‹, Nachkommen zu zeugen...! Seine Hände zitterten, und es wollte ihm nicht gelingen, ihr Beben zu unterbinden. Was ging nur vor? Dies waren keine Angelegenheiten, worum ein Mann sich zu sorgen haben sollte – vor allem kein Mann von dreiundvierzig Lenzen, der noch nie eine Frau ›erkannt‹ hatte. Vermählungen waren possierliche Sachen für Jungmannen! Es war heller Wahnsinn. Diese Leute mußten geistig verwirrt sein. Er vernahm ein Geräusch des Türgriffs, und er wandte sich ab, verharrte reglos. Nach einem Moment der Stille hörte er im Gemach leise, leichte Schritte. Er schloß die Augen. Er wollte sie nicht sehen. Er brachte es nicht fertig, sich umzudrehen. »Eure Hoheit...?« Die Stimme klang demütig und schüchtern; und nach einer sehr jungen Person. Cinhil riß die Augen auf, seine Schultern verkrampften sich, aber er schien auf der Stelle angewurzelt zu sein, unfähig zu irgendeiner Bewegung. Sie hatten ihm ein Kind geschickt, ein blutjunges Mägdelein! Er konnte sich doch nicht mit einem Kind verehelichen! »Ich... ich bitte um Vergebung, Eure Hoheit, aber man schickt mich zu Euch. Ich bin Megan de Cameron. Ich soll Eure Gemahlin sein.« Cinhil neigte sein Haupt, stützte sich auf den Tisch, der vor ihm stand. Plötzlich war ihm das Spotthafte ihrer Lage aufgefallen, verbunden mit der seinen, wie sie's war, und er verspürte einen fast unbezähmbaren Drang, laut herauszulachen. »Hat man dir das gesagt,
Kind? Wie alt bist du?« »Fünf... fünfzehn, Hoheit.« Sie schwieg einen Augenblick lang. »Ich erflehe Eurer Hoheit Nachsicht, aber... habe ich denn meines Vormunds Worte mißverstanden? Ist's nicht so, daß wir heute abend miteinander vermählt werden sollen?« Cinhil lächelte, und trotz seiner Anstrengungen, es zu verhindern, entfloh seinen Lippen ein bitteres Auflachen. »Doch, Kleines, so ist's. Doch sind's reine Herrschaftsinteressen, die unsere Eheschließung erfordern, nichts anderes. Der verschollene König von Gwynedd braucht eine Gemahlin. Du wirst die königliche Zuchtstute sein, verstehst du?« »Nein, Eure Hoheit«, entgegnete die Mädchenstimme in seltsam reifem Tonfall, indem sie das hohle Schweigen brach, das sein Gelächter hinterlassen hatte. »Ich soll Eure Königin sein.« Cinhils Miene erstarrte, und er senkte den Blick auf seine Hände, ohne sie zu sehen. Er fragte sich, was von ihm Besitz ergriffen haben mochte, da er so grausam zu der Jungfer gesprochen, sie gekränkt hatte. »Wenn du dich mit mir verehelichst mein Kind, wirst du die Mutter entweder von Königen oder von Verrätern sein, immer vorausgesetzt, daß wir lange genug leben. Willst du das letztgenannte Wagnis wirklich auf dich nehmen, obendrein mit einem Manne, der dich niemals so lieben kann wie ein Gemahl es können sollte, der dir dein Lebtag nichts bereiten kann als Kummer?« »Wer kann nicht lieben, Eure Hoheit?« fragte leise die Mädchenstimme. »Ich bin ein Priester, mein Kind. Hat man dir das verschwiegen?«
Wieder ergab sich ein Schweigen, diesmal von ausgedehnter Dauer. »Man hat mir gesagt«, antwortete dann die Stimme, »daß Ihr der letzte Haldane seid, Eure Hoheit, daß man Euch zum König machen will.« Die Stimme klang leise, war fast heiser von Tränen. »Ich erwiderte darauf, daß ich alles zu wagen bereit sei, auch mein Leben, um die Haldanes zurück ins Königtum zu versetzen und Imres blutige Herrschaft zu beenden. Und ich bin fürwahr dazu bereit.« Ein Schluchzen entrang sich dem Mädchen. »Doch wenn in Eurem Herzen kein Raum ist für Liebe, so wollte ich wohl lieber als Jungfrau sterben denn als ungeliebte Braut selbst Gottes leben!« Während Cinhil, entsetzt infolge der lästerlichen Rede, noch wie versteinert stand, hörte er ihre Schritte sich wieder der Tür nähern, und er fuhr gerade noch rechtzeitig genug herum, so daß er einen Schopf weizenblonden Haares aus seinem Blickfeld wirbeln sah, eine zierliche Hand, die den Türgriff umklammerte, einen schlanken Knöchel unter einem weiten, türkisgrünen Kleid. Die Tür erbebte unter der Wucht, mit welcher das junge Geschöpf sie zuwarf, und er stand wieder allein im Gemach, unwillkürlich eine Hand in jene Richtung ausgestreckt, wohin es verschwunden war, während die vernommenen Worte sein Herz zu zerreißen drohten. Unvermittelt machte er Anstalten, dem Mädchen zu folgen, um Vergebung zu bitten, in der Absicht, zu erläutern, daß er kein König war, nur ein schlichter Mönch, daß es nie sein Wille gewesen war, König zu werden oder auch bloß Prinz – doch da überwältigten ihn erneut die alten Vorbehalte, und es war zu spät. Einem Greise gleich ließ er sich auf eine Bank neben
dem Tisch sinken, ließ seine Hand matt an seine Seite fallen. Dann stützte er sein Haupt auf den Tisch und vergoß für lange Zeit bittere Tränen, um seine verlorene Jugend, seinen verlorenen Glauben, um sich selbst und um das Mädchen – an dessen Namen er sich nicht einmal länger erinnern konnte – sowie um alle, welche außer ihnen nun den Weg des vermutlichen Untergangs einschlugen. So fand man ihn noch vor, als man einige Stunden später kam, um ihn für die Vermählung vorzubereiten.
18 Der Herr sprach zu mir: »Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.« Psalm 2,7 Es geschah am Vorabend des Weihnachtsfestes, in der Nacht von des Heilands Geburt, daß Erzbischof Anscom von Trevas sich in gewohnter Weise von der Abendandacht in der Marienkapelle der Allerheiligen-Kathedrale zu Valoret zurück in seine Gemächer begab, um dort zu wachen und zu beten, bis die Zeit anbrach, um die erste Weihnachtsmesse zu feiern. Wie es am Heiligen Abend ebenfalls seine alte Gewohnheit war, bereitete er sich unterwegs schon innerlich darauf vor, über Erfolge und Fehlschläge des Jahres nachzusinnen, das nun zur Neige ging. Er rechnete nicht im mindesten mit der grau umhüllten, schemengleichen Gestalt, die aus einer Nische des Korridors trat, kurz bevor er seiner Gemächer heimelige Zuflucht erreichte. »Würdet Ihr wohl meine Beichte hören, Pater?« sprach ihn eine sonderbar vertraute Stimme an. Anscom hob seine Kerze ein wenig höher und versuchte durch die Düsternis und Trübnis zu spähen, die des Mannes Antlitz umgab. Da aber erkannte er, daß es nicht bloß Schatten waren, die des Fremden Antlitz verdunkelten. Der Mann in der grauen, mit einer Kapuze versehenen Robe war ein Deryni, dessen Haupt abgeschirmt war mit einem magischen Schleier, der das Antlitz unkenntlich machte und
ebenso die Stimme dämpfte. Doch diese Stimme wies keinerlei Anzeichen von Bedrohlichkeit auf, so wenig wie die Erscheinung des Fremden an sich einen bedrohlichen Eindruck hinterließ. Der geheimnisvolle Besucher war, wenngleich unerkennbar, friedfertigen Sinnes. Mehr verwundert und voller Neugier als beunruhigt nickte Anscom zum Zeichen seiner Einwilligung und öffnete dem Besucher die Tür zu seinen Gemächern, um ihn einzulassen, dann schloß er sie von innen. Kein Wort fiel, während Anscom seinen Andachtsraum betrat, dort eine zweite Kerze entzündete, vom Betstuhl eine purpurne Stola nahm, sie an seine Lippen hob und sich um die Schultern legte. Doch als er sich umkehrte und dem Ankömmling wieder zuwandte, schob der Mann sich die Kapuze in den Nacken und enthüllte ein Haupt mit angesilbertem, einst goldblondem Haar, das ein Anscom seit langem bekanntes und geliebtes Antlitz umrahmte. »Camber!« stieß der Erzbischof im Flüstertone hervor, dann umarmte er den Gast mit tiefer Herzlichkeit. »Ich preise Gott, dich zu erblicken«, fügte Anscom leise hinzu, als sie sich aus der Umarmung lösten und einander auf Armeslänge musterten, »denn wie oft habe ich mich bereits gefragt, wo du nur stecken magst. Als ich von jenem ›Bruder Kyriell‹ erfuhr, der... Aber sag erst einmal an, was treibst du hier? Sicherlich ist dir bekannt, daß gegen dich ein Haftbefehl des Königs vorliegt, oder?« »Würdet Ihr mich denn verraten, teurer Erzbischof?« entgegnete Camber mit einem Lächeln, das deutlich die Lachhaftigkeit der Fragestellung anzeigte. Anscom zupfte mit verzerrtem Lächeln an einem
Ende seiner Stola. »Selbst wenn ich's wollte, hiermit hast du meine Zunge gebunden. Ich unterliege der Schweigepflicht des Beichtvaters. Was du mir auch mitzuteilen gedenkst, ich werde darüber Schweigen bewahren müssen.« »Ich brauche mehr als Euer Schweigen, Anscom«, antwortete Camber. »Ich brauche Eure Unterstützung.« »Du weißt, daß es nur deines Wortes bedarf, um sie zu erlangen«, erwiderte darauf Anscom. »Sage mir, was du wünschst, und so es in meiner Macht steht, will ich deinen Wunsch erfüllen.« »Man sucht nach mir wegen Verrats«, rief ihm Camber in Erinnerung. »Und bist du ein Verräter?« »Nach Imres Beurteilung, ja. Die Tatsachen sprechen jedoch eine etwas andere Sprache. Falls Ihr Euch dazu entschließt, werter Erzbischof, vom Fleck weg mit mir zu kommen, so kann ich Eure eigenen Augen schauen lassen, wovon ich rede.« »Mit dir kommen? Wohin denn?« Camber senkte seinen Blick auf den Fußboden. »Das möchte ich vorab nicht aufdecken. Ich kann Euch jedoch sagen, daß wir dorthin durch Eure Porta Itineris zu gelangen vermögen, daß Ihr in keiner Gefahr schwebt, daß ich Euch nicht an Euer Versprechen der Hilfeleistung gebunden halten werde, solltet Ihr Euch, sobald Ihr den Sachverhalt kennt, anders entscheiden.« Er hob den Blick in des alten Freundes Antlitz. »Was jedoch die Örtlichkeit betrifft, so müßt Ihr mir Vertrauen schenken. Ich darf sie nicht nennen, nicht einmal Euch und auch nicht angesichts der Schweigepflicht, welcher Ihr in Eurer Eigenschaft als
Beichtvater unterliegt.« »Werden sich dort außer uns beiden noch mehr Leute befinden?« »Evaine, Joram, Rhys – und andere, ja.« »Rhys Thuryn? Aber er...« »Ich zöge es vor, wenn's Euch recht ist, diese Dinge nicht hier zu besprechen. Werdet Ihr mich begleiten?« Anscom zauderte nur für einen Augenblick, verunsichert durch sein Verlangen, Camber sofort näher zu befragen, dann neigte er sein Haupt. »Wie du wünschst. Für wie lange werden wir fort sein?« »Zumindest mehrere Stunden. Könnt Ihr's einrichten, daß ein anderer Eure Aufgaben wahrnimmt?« Darob hob der Erzbischof eine Braue. »Am Heiligen Abend? Dir dürfte klar sein, es wird von mir erwartet, daß ich um Mitternacht die Messe feiere.« »Es wäre uns eine gewaltige Ehre, würdet Ihr dies statt dessen für uns tun, Anscom«, entgegnete Camber in ruhigem Tone. »Sobald Ihr alles begreift, werdet Ihr ersehen, weshalb.« Anscom las für einen ausgedehnten Augenblick aufmerksam in des Freundes Miene, erkannte darin die Bedeutsamkeit des vorgetragenen Anliegens; schließlich winkte er ihn in den benachbaren Andachtsraum und schloß den Vorhang. Als sich Camber außerhalb des Blickfelds befand, trat der Erzbischof an eine Wand und zerrte an einem samtenen Klingelzug. Etwas später klopfte es, und ein Priester in schwarzer Soutane trat ein. Der Erzbischof saß auf seinem Bett und erweckte den Eindruck ernsten Unwohlseins. »Euer Gnaden, seid Ihr nicht wohlauf?« »Ich fühle mich reichlich krank«, gab der Erzbischof mit schwacher Stimme zur Antwort. »Geht und
ersucht Bischof Roland darum, daß er heute nacht an meiner Stelle die Messe feiern möge, ja?« »Die Christmette? Ja, gewißlich, Euer Gnaden, aber... Kann ich denn nichts für Euch tun? Soll ich den Arzneiverwalter oder einen Heiler senden, auf daß man sich Eurer annehme?« »Nein, das erübrigt sich«, gab Anscom zur Antwort, streckte sich rücklings auf dem Bett aus und ließ einen schmerzlichen Seufzer vernehmen. »Es muß an irgend etwas liegen, das ich gegessen habe, kein Zweifel. Ich werde meditieren und zu schlafen versuchen. In der Morgenfrühe werde ich wieder in tadelloser Verfassung sein.« »Sehr wohl, Euer Gnaden«, sprach in sichtlichem Zweifel der Priester. »Wenn Ihr dessen gänzlich sicher zu sein glaubt...« »Darin bin ich ganz sicher, Pater, ja. Laßt mich nun allein und erteilt Anweisung, daß ich durch nichts und niemanden gestört werden möchte. Ist das klar?« »Jawohl, Euer Gnaden.« Sobald der Priester die Tür von außen geschlossen hatte, sprang Anscom vom Bett auf und riß den Vorhang zur Seite, welcher seinen Andachtstraum verbarg. Camber lachte leise, als er des Erzbischofs Miene sah. »Gemahnt Euch dies an die Bubenstücke zweier junger Subdiakone zu Grecotha? Nun ja, weder Ihr noch ich haben jemals einen Streich gewitzter und gerissener durchgeführt als jenen, welchen wir jetzt zu begehen drauf und dran sind.« »Hmmpf!« machte Anscom. »Ich möchte doch hoffen, daß wir uns seither ganz erheblich verbessert haben. Was nun?« »Auf zu Eurer nächstbesten Porta Itineris.«
»Du stehst davor«, lautete Anscoms Antwort. Er lenkte Camber im Andachtsraum ein paar Schritte weit zur Seite und stellte sich neben ihn. »Was habe ich zu tun?« »Eröffnet mir lediglich Euer Bewußtsein und laßt Euch von mir mitnehmen. Ich verspreche Euch, daß ich Euch lückenlos in Kenntnis setze, sobald wir angekommen sind.« »Und gleichzeitig gehst du auf diese Weise darin sicher, daß ich nicht zu entdecken vermag, wohin wir uns begeben.« Anscom schnob verächtlich, lächelte matt und verschränkte die Arme auf der Brust. »Nur zu. Ich verstehe, warum es so getan werden muß.« Er schloß die Augen. »Doch es ist nur gut, wenn du weißt, daß ich dich jederzeit durchschaue, Camber MacRorie.« »So war's ja stets, mein Freund.« Camber lächelte breit und legte seine Hände auf Anscoms Schultern. »Und nun eröffnet Euch mir...« Und dann waren sie fort. Und standen in einer anderen Porta an einem anderen Ort. Anscom schlug die Augen auf, infolge des Wissens, welches ihm Camber soeben auf geistiger Ebene übermittelt hatte, wie vom Donner angerührt. Ungläubig wandte er sich nach Camber um. »Das kann doch unmöglich dein Ernst sein«, flüsterte er. »Ein Haldane-Erbe, hier? Er war's, den ihr aus Sankt Foillan fortgeholt habt? Camber, das ist Wahnwitz! Dergleichen muß der Erfolg versagt bleiben!« »Sehr viele sind anderer Meinung«, widersprach gelassen Camber. »Selbst unser Haldane beginnt allmählich zu glauben, daß es möglich und erstrebenswert ist. Unglücklicherweise liegen seine sittlichen
Auffassungen ein wenig im Hader mit seinen Verpflichtungen gegenüber seinem alten Herrscherhause. Euer Segen zu unserem Vorhaben wäre für ihn das Siegel kirchlichen Einverständnisses, dessen er bedarf.« »Ich soll dieser Sache meinen Segen geben?« »Ich möchte, daß Ihr die Rechtmäßigkeit seiner Abstammung bekräftigt, ihn zum rechtmäßigen Prinzen von Gwynedd erklärt, ihn von seinen Priestergelübden entbindet und mit meinem Mündel traut... und zwar alles noch in dieser Nacht. Wollt Ihr das für mich tun?« »Was du verlangst...« »Was ich verlange, weiß ich. Wenn Euer Gewissen es Euch nicht erlauben will, das zu tun, so will ich Euch zu nichts nötigen, wie ich's Euch versprochen habe. Dann müßten wir uns mit Pater Cullen zufriedengeben.« »Alister Cullen, dem Generalvikar der Michaeliten? Er ist hier?« »Leibhaftig.« Camber nickte. »Und er zählt vom Anbeginn an zu uns, obgleich es Rhys war, der auf den Prinzen den ersten Hinweis erhielt. Cullen kann tun, worum ich nun Euch ersucht habe, doch besäße es nicht das gleiche Gewicht.« Anscom richtete sich zu voller Körpergröße auf und heftete einen Blick äußerster Entrüstung auf Camber; sein zerfurchtes Antlitz bezeugte wildeste Empörung. »Ich verbiete Alister Cullen die Verrichtung dieser Dinge. Wenn sie getan werden müssen, dann werde ich sie vollbringen.« »Und werden sie vollbracht?« vergewisserte sich Camber und unterdrückte ein Lächeln, da er zur An-
sicht gelangte, daß es sich wohl schaffen ließ, seinen alten Gefährten unentrinnbar im Netzwerk priesterlicher Eifersucht zu verstricken. »Es ist das Vorrecht des Erzbischofs von Valoret«, erwiderte mit allem Nachdruck Anscom, »die königliche Erbfolge zu überwachen und zu bestätigen, königliche Hochzeiten zu vollziehen und die Könige von Gwynedd zu krönen. Letzteres ist zwar heute nacht noch nicht möglich, aber das kann mich keinesfalls daran hindern, wenigstens schon die beiden zuvorigen Aufgaben zu erledigen!« »Gut«, lautete Cambers schlichte Anmerkung. Er wandte sich seitwärts, damit Anscom nicht das Lächeln des Triumphes auf seinem Antlitz sehe. »Dann folgt mir nun, so daß ich Euch unserem widerwilligen, halsstarrigen Bräutigam und Prinzen vorzustellen vermag.« Und zur selben Zeit war der vorgesehene Bräutigam noch immer widerwillig. »Pater Joram, ich flehe dich inständigst an, dulde es nicht, daß dies mit mir geschieht! Ich kann die Trauung nicht mitmachen. Ich müßte meineidig werden.« Joram, zum Teil bereits mit der Gewandung für sein späteres Mitwirken als Diakon ausgestattet, faltete die Hände und sandte ein Stoßgebet um Geduld himmelwärts, bevor er antwortete. »Eure Hoheit, glaubt mir, ich verstehe Euer Zögern...« »Mein Zögern?« Cinhil schüttelte sein Haupt und begann von neuem hin und her zu schreiten; unter seinen Regungen der Rastlosigkeit knisterte sein mit Silber durchwirktes Hochzeitsgewand. »Nein, es ist kein Zögern, es ist eine klare, entschiedene Weige-
rung. Es mag ja ganz gut und schön sein, wenn man mir verheißt, Pater Cullen werde mich von meinen Gelöbnissen entbinden. Aber ich habe sie nicht vor ihm abgelegt, nicht in seinem Orden. Ich habe sie dem Generalvikar des Ordo Verbi Dei geleistet, ihm und Gott. Der Erzbischof selbst könnte...« »Ich denke, Eure Hoheit, wir lassen den Erzbischof dazu selber das Wort ergreifen«, unterbrach ihn Camber, indem er das Gemach in Begleitung eines Mannes betrat, den Cinhil nie zuvor erblickt hatte. »Ich darf Euch bekannt machen mit Seiner Gnaden dem Erzbischof von Valoret, Herrn Anscom von Trevas. Euer Gnaden, dies ist Seine Königliche Hoheit, Prinz Cinhil Donal Ifor Haldane.« Als er Cambers erstes Wort vernahm, war Cinhil erschrocken herumgefahren, und nun starrte er in fassungslosem Staunen den hageren, in einen purpurnen Priesterrock gekleideten Mann an Cambers Seite an. Der als Erzbischof Anscom vorgestellte Mann musterte den verblüfften Prinzen voller Anteilnahme und neigte leicht das Haupt, bevor er ihm seinen Ring hinstreckte. Daraufhin floh Cinhil der letzte Rest von Fassungskraft, und mit einem unterdrückten Schluchzen ergriff er Anscoms Hand, fiel auf beide Knie und drückte den Bischofsring erst an seine Lippen, dann an sein gesenktes Haupt, während er zu Füßen seines Oberen erschlaffte. »Steht mir bei, Euer Gnaden, ich flehe Euch an«, preßte er heraus. »Ich kann's nicht tun! Man sagt mir, ich solle meine Gelübde vergessen und mich wieder der Welt zuwenden. Ich fürchte mich, Pater. Die Welt ist mir fremd und unbekannt!« Mitleidig legte Anscom seine freie Hand auf Cin-
hils Haupt, gab zugleich mit den Augen den übrigen Anwesenden zu verstehen, daß sie sie allein lassen möchten. »Ich verstehe Eure Furcht, mein Sohn«, sprach er leise, als die anderen gegangen waren. »Mit Euch beklage ich's, daß Euch ein solcher Kelch gereicht werden muß. Doch es sind dies beklagenswerte Zeiten, worin wir leben, und wir müssen allesamt Opfer bringen.« Cinhil blickte zu ihm empor, als er das vernahm; seine geweiteten Augen schimmerten von Tränen. »Wollt... wollt Ihr damit sagen, daß ich ihnen gehorchen muß? Meine Gelübde vergessen, wie sie's fordern, und diese Krone aufsetzen, die sie mir aufdrängen wollen?« »Nicht immer fällt's leicht, den Pfad einzuschlagen, für den man auserkoren ist, Cinhil«, sprach mit sanfter Stimme Anscom. »Doch wir, die wir danach streben, Diener des wahrhaftigen Weges zu sein, dem Willen Gottes zu gehorchen, müssen einsehen, daß wir nicht darauf hoffen dürfen, alle seine Wege begreifen zu können. Ihr seid nunmehr in die Lage versetzt, daß Ihr dem Schöpfer einen hervorragenden Dienst zu erweisen vermögt, dem Herrgott und zugleich Seinem Volke, indem Ihr dies Kreuz auf Euch nehmt und es im Glauben für Ihn tragt.« »Aber ich habe Ihm bereits mein Leben geweiht! Zwanzig und mehr Jahre hindurch habe ich Ihm gedient, und ich gäbe mit Freuden auch den Rest meines...« »Ich weiß, mein Sohn.« Anscom nickte. »Du hast Ihm gedient, und es war wohlgetan. Doch nun verlangt Er ein andersgeartetes Opfer von Euch. Uns allen sind Dinge zugeordnet, welche jeder von uns nur
allein am besten verrichten kann, und nun verlangt Er von Euch diesen einzigartigen Dienst, den ausschließlich Ihr Ihm darbringen könnt. Es kann kein blinder Zufall gewesen sein, daß der Herr es einem Haldane erlaubte, bis in diese schwere Zeit hinein zu überleben, es muß vielmehr geschehen sein, um selbigen Haldane, unterdessen verborgen in der Sicherheit Seiner Kirche und geborgen in Seiner Liebe, zum Handeln zu rufen, sobald Sein Wille erfüllt werden soll.« In Cinhils Augen stak noch immer ein Funke des Trotzes, während er Anscoms hagere Miene musterte. »So sagt Ihr mir, daß ich in dieser Sache keinerlei Wahl habe? Daß mein Schicksal an Cambers aussichtsloses Trachten geknüpft ist?« Anscom schüttelte sein greises Haupt. »Nicht allein Cambers Trachten ist's, mein Sohn. Und ›aussichtslos‹ wird's nur sein, wenn Ihr selbst darauf beharrt, es aussichtslos zu machen. Und nichts anderes lenkt Euer Schicksal denn Gottes eigener Wille. Er hat Euch aufgerufen, Er weist Euch nun an Euren Platz. Doch liegt in Eurer Hand die Macht, Seinen Ruf mit Mißachtung und Taubheit zu bedenken. Solltet Ihr jedoch diese Entscheidung fällen, so wird der Tod von Tausenden seines Volkes über Euch kommen. Ja, doch, Ihr habt eine Wahl. Aber Ihr müßt auch, wie Ihr Euch immer entscheiden mögt, die Folgen tragen.« »Euer Gnaden, wie könnt Ihr mir das antun?« flüsterte Cinhil. »Ihr seid nicht anders zu mir als jene, auch Ihr schlagt die Stränge meines Herzens wie ein meisterhafter Lautenspieler, Ihr wißt genau, welche Klänge meinen Busen und meine Seele am stärksten ergreifen... Ach, wie ungerecht dies alles ist!«
»In Euren Augen, freilich«, stimmte Anscom ihm zu. »Aber wir sind bloß Sterbliche, Cinhil. Wir können nur auf die lautlose Stimme in unserem Innern lauschen und dessen eingedenk sein, daß wir die Folgen all unseres Handelns zu tragen haben, zumindest für unsere restliche Zeit auf Erden. Mein Gewissen ist rein, mein Sohn. Und Eures?« Cinhil wußte darauf keine Antwort zu geben. Er kauerte sich zurück auf seine Fersen und barg das Antlitz in den Händen, weinte leise bittere Tränen im Angesicht des Pfades, der sich nun vor ihm entrollte wie der rote Läufer vorm Königsthron, wovon er wußte, daß er sich nicht länger zu weigern vermochte, ihn zu beschreiten. Der Erzbischof, erfahren in der Einschätzung anderer Leute, kniete sich schließlich neben den Prinzen und legte ihm sanft die Hände auf die Schultern, spendete dem von Schluchzern geschüttelten Manne Trost und ließ seine Tränen versiegen. Nach einer Weile beteten sie gemeinsam. Eine halbe Stunde vor Mitternacht saßen zwei Frauen im Säulengang oberhalb der Kapelle Mittelschiff; während sie darauf warteten, daß die volle Stunde feierlich schlage, lugten sie wiederholt durch die Sichtscharten hinab. Drunten hatten sich bereits die Mehrzahl aller am Zufluchtsort Versammelten eingefunden – die MacRories, die Priester und die michaelitischen Ritter –, und die Kapelle leuchtete im Schein zahlreicher Kerzen. Reihen von mit Mistelzweigen umwundenen Kerzenleuchtern standen an den rautenflächigen Seitenwänden, und ihr Licht warf lebhafte Schattengebilde zwischen die Säulen und Streben des niedrigen Gewölbes, erzeugte auf der Altar-
platte ein goldenes, bernsteinernes Glitzern. Zu Füßen der Altarstufen, wo die Zeremonien der Anerkennung und Trauung stattfinden sollten, lag ein ungeheuer kostbarer, dreieckiger kheldischer Teppich ausgebreitet. Im Hinblick auf die erste Meßfeier des Weihnachtsfestes – und in Erwartung der königlichen Vermählung, die alle erhofften – hatte man den Altar mit den besten Tüchern versehen, die aufzutreiben gewesen waren, und reichlich mit Immergrün geschmückt. Noch herrschte eine Stimmung der Ungewißheit, eine gedämpfte Erwartung, während die Anwesenden auf die Mitternacht und des Königs Kommen harrten. Zumindest die Braut war schon zur Stelle, doch bedingte die allgemeine Spannung, daß jedermanns Geduld sich rasch zu erschöpfen drohte. Megan de Cameron, des Grafen von Culdi Mündel, vorgesehene Prinzessin von Gwynedd, hatte sich nach der ersten Begegnung mit ihrem künftigen Gemahl tapfer gehalten, doch die Spannung sowie eine verständliche Ermattung begannen nun auch bei ihr ihren Tribut zu fordern. Sie war aus Erregung gerötet und hatte seit ihrer Ankunft am Nachmittag keinen Bissen zu verzehren vermocht. Evaine hatte ihr unablässig zu versichern versucht, es werde sich alles zum besten entwickeln, doch sprach sie damit gleichsam zu tauben Ohren. Sie vermutete, daß Megan genauso ruhelos wäre, selbst wenn die Lage sich nicht durch soviel Unsicherheit auszeichnete. Evaine fragte sich in Anbetracht all dieser Umstände, wie Megan und Cinhil miteinander auskommen mochten, falls die Eheschließung stattfand – und dafür gab es gegenwärtig noch gar keine Gewähr. Rhys hatte sie von Cinhils Gemütsverfassung unterrichtet, als er und Jo-
ram sich zu ihm unterwegs befanden, um ihn für die Feierlichkeiten vorzubereiten, und ebenso von Erzbischof Anscoms unvermutetem Eintreffen. Sie erwog, ob Anscom erfolgreich gewesen sein konnte. Megan zufolge hatte der Prinz sie nicht einmal angeschaut, als sie mit ihm zu reden versuchte. Das bekümmerte Megan am meisten, so wußte Evaine. Aber unter sachlichem Gesichtspunkt – soweit es unter den vorgegebenen Umständen möglich war, eine solche Haltung einzunehmen – war sein Benehmen lediglich zu Cinhils Nachteil gewesen. Megan war eine Schönheit. Sie besaß eine mittlere Körpergröße, war gertenschlank und hatte große, türkisgrüne Augen, denen eine Anzahl von Sommersprossen rings um die leicht aufwärts geschwungene Nase einen Anflug von Keckheit verlieh, und sie pflegte sich mit ungezwungener Anmutigkeit zu bewegen – eine unverdorbene, unbefangene Jungfer von bereits fraulichem Wesen, vielleicht genau die recht beschaffene Person, unschuldig und verführerisch zugleich, um den scheuen, von Gewissensbissen gepeinigten Cinhil zu gewinnen. Sie war gekleidet in ein silbernes Gewand, wie's einer Prinzessin ziemte, ihr weizenblondes Haupthaar war unter einem Krönchenkranz aus Stechpalmen und Rosmarin zu schimmrigem Knoten verschlungen. Sie bot einen zauberhaften Anblick, vollauf dazu geeignet, eines Prinzen Herz im Sturm zu erobern – wenigstens eines herkömmlichen Prinzen. Die Frage lautete jetzt bloß: konnte sie auch den Sinn eines Prinzen ändern, der lieber ein Priester sein wollte? Das schöne Geschöpf heftete seinen zaghaften Blick auf Evaine und rang zwischen zittrigen Fingern einen
Zipfel silberfarbenen Tuchs. »Ach, was soll all das nutzen?« klagte Megan leise. »Er bedarf meiner nicht. Er... er will mich ja nicht einmal zur Gemahlin haben. Ich... ich glaube, ich gefalle ihm gar nicht.« »Gewähre ihm Zeit, Megan«, sprach darauf Evaine und legte zur Ermutigung eine Hand auf der Jüngeren Arm. »Er fürchtet sich so sehr wie du – ja, sogar mehr, weil er niemals die Absicht hegte, sich zu verehelichen, wogegen du...« – hier stupste sie neckisch des Mädchens Nase – »nahezu von Geburt an der Gegenstand von vieler Männer Anbetung gewesen bist, angefangen bei deinem Vater, Gott hab ihn selig, bis nicht an letzter Stelle zu meinem Vater. Für dich war's nie eine Frage, ob du jemals Hochzeit feierst, ungewiß war bloß das Wann und mit wem.« »Aber er hat gesagt... er sagte, diese Eheschließung diene nur Herrschaftsinteressen, und ich solle nichts anderes sein als eine kö-königliche Zuchtstute«, stammelte Megan, und ihre Augen spiegelten das Maß ihrer Kränkung wider. »Was hat er gesagt?« Evaine bemühte sich, aus ihrer Stimme Anzeichen ihres Schreckens und Zornes fernzuhalten, doch vergeblich, und sie wünschte sich nur, Cinhil wäre hier, so daß sie ihn rechtschaffen am Ohr reißen könne, Prinz oder nicht. »Oh, ich glaube, er wollte durchaus keine Beleidigung wider mich ausstoßen«, fügte Megan hastig hinzu. »Er gab nur blindlings all seine innere Pein weiter, die ihm während der vergangenen Wochen entstand. Das alles kann für ihn nicht leicht gewesen sein.« »Nein, das war's ganz gewiß nicht.« »Und ich begreife, welche Überwindung es ihn ko-
sten muß, mich zur Gemahlin zu nehmen«, sprach Megan gedämpft weiter. »Ich wünschte selbst, ich könnte es ihm ersparen, aber in unser aller Namen darf ich's keinesfalls tun. Wäre nicht ich's, er müßte halt ein anderes Mädchen zum Weibe nehmen. Das verstehe sogar ich.« Sie stieß einen Seufzer der Ergebenheit aus, und Evaine betrachtete sie für einen langen Moment. »Ich glaube, du liebst ihn bereits«, sprach Evaine schließlich und blieb ungerührt, als Megan mit einem Ruck das Haupt hob und sie anstarrte. »Es ist so, oder nicht?« Kummervoll nickte Megan, und Evaine lächelte sanftmütig. »Ich weiß, es ist ein schweres Los, zu lieben und der eigenen Liebe Erwiderung zu ermangeln, stimmt's? Gott gebe, daß seine Liebe noch wächst.« »So zu sprechen, mag dir leichtfallen, da Herr Rhys dich von ganzem Herzen liebt«, flüsterte Megan. »Ich werde nur eine Krone haben, und vielleicht, sollten wir scheitern, nicht einmal sie.« »Doch deshalb braucht er dich ja um so mehr, verstehst du nicht?« antwortete ihr Evaine. »Er braucht ein sanftes, liebevolles Weib – mehr als bloß eine Bettgefährtin –, das ihn zu trösten vermag, wenn Furcht ihn plagt, das ihn zu ermutigen weiß, sollte einmal sein Herz ins Wanken geraten. In mancherlei wesentlicher Beziehung ist er eigentlich viel jünger als du, Megan, und er hat eine so schwere Bürde zu tragen. Laß sie nicht auf ihm allein ruhen.« »Aber ich fürchte...«, begann Megan eine Entgegnung. »Mir ergeht's ebenso«, unterbrach Evaine sie nachsichtig. »Ständig. Doch wenn wir nicht unsere Man-
nen in ihrem guten, gerechten Werk unterstützen, welche Hoffnung gäbe es dann noch für irgendwen unter uns? Bedenke, was sie bereits gewagt haben, um uns nur dahin zu bringen, wo wir heute in unserem Bestreben stehen! Du sagst, es sei ein Glück, daß ich Rhys habe – und wie recht du hast! Aber seit vielen Monden schwebt er nun schon in unausgesetzter Gefahr, und an jedem Tag bestand die Möglichkeit, daß ich ihn verliere. Dennoch hätte ich ihn niemals an dem zu hindern versucht, was er zu tun hatte – und dergleichen werde ich niemals versuchen. Ganz so, wie auch ich meinerseits nie und nimmer es von ihm hinnähme, gedächte er mich ausschließlich aufgrund der Sorge, ich könne Schaden erleiden in der Erfüllung meiner Aufgaben zu hemmen. Begreifst du, was ich damit sagen will?« »Ein bißchen, vermeine ich.« Megan schniefte, wischte sich die Augen und brachte ein Lächeln zustande. »Evaine«, fragte sie einen Moment später, »willst du mir etwas versprechen?« »Wenn ich's kann, gewiß.« »Versprich mir, daß du mich nicht im Stich läßt, wenn ich Königin bin. Andernfalls wäre ich schrecklich einsam.« »O Megan...!« Evaine drückte die Jüngere an sich, während ihr selber Tränen in die Augen stiegen, doch plötzlich erschollen aus der Kapelle drunten die Geräusche vielfältiger Bewegung, und sie traten beide in atemloser Erregung an die Sichtscharten. Es war Mitternacht; der erste Weihnachtstag war angebrochen. Und als die Türflügel der Kapelle aufflogen und dazwischen das Prozessionskreuz aufleuchtete, da wußten sie, daß dieser Tag nicht allein die Nieder-
kunft des Himmelskönigs bedeutete. »Dominus dixit ad me: ›Filius meus es tu, ego hodie genui te‹«, sangen mit großer Stimmgewalt die michaelitischen Ritter und Mönche. »Der Herr sprach zu mir: ›Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.‹« Und während die Klänge des althergebrachten Introitus durch die Kapelle brausten, unterm Gewölbe und in den Gängen widerhallten, schritt Erzbischof Anscom als Führer von Joram und Cullen herein, die ihrerseits in ihrer Mitte den stattlichen, wenngleich blassen Cinhil geleiteten. Dem prinzlichen Geleit folgten Cathans junge Söhne, deren ein jeder auf samtenem Kissen einen silbernen Stirnreif brachte. Die Knaben verharrten neben ihrem Großvater, die Augen aus lauter Staunen geweitet, als Erzbischof Anscom die Altarstufen erstieg. Cinhil kniete vor der untersten Stufe nieder, derweil zu seinen Seiten Joram und Cullen andächtig die Häupter neigten; im Kerzenschein wirkte sein Antlitz gefaßt und ausdruckslos. Sobald die zur Einleitung bestimmten Gebete gesprochen waren, wandte sich Anscom um und trat die drei flachen Stufen hinunter; seine Mitra und der Bischofsstab funkelten im Schein der vielen Kerzen. Joram und Cullen begaben sich von Cinhils an Anscoms Seiten und warteten, daß der Erzbischof zu sprechen begänne. »Wer seid Ihr«, fragte der Erzbischof schließlich mit lauter Stimme, »der Ihr's wagt, vor den Altar des Herrn zu kommen?« Cinhil erbleichte, raffte sich auf und verbeugte sich in fahriger, ruheloser Geste; aller Mut schien ihn fliehen zu wollen, als der Augenblick anbrach, da er die schicksalhaften Worte sprechen mußte. »Wenn... es
Euer Gnaden beliebt, ich bin...« Beschwerlich schluckte er. »... Cinhil Donal Ifor Haldane, Sohn des Alroy, Enkel des Aidan, Urenkel des Königs Ifor Haldane von Gwynedd, und der letzte Nachfahre meines Geschlechts.« Er tat einen zittrigen, tiefen Atemzug, ehe er in seiner Erklärung fortfuhr. »Ich bin gekommen, um das Geburtsrecht meines Namens und meiner Sippe zu fordern.« »Und welchen Beweis dafür bringt Ihr, Cinhil Haldane, daß Ihr fürwahr der rechtmäßige Erbe von Gwynedd und daher Prinz in diesem Reiche seid?« Rhys Thuryn trat vor, gehüllt in seinen grünen Mantel, und hielt einen Bogen Pergament in die Höhe. »Euer Gnaden, ich unterbreite Euch den Taufnachweis Prinz Cinhils und seines Vaters Alroy. Wiewohl diese Aufzeichnungen lediglich angenommene Namen enthalten, welchselbige die Haldanes während der vergangenen achtzig Jahre zu ihrem Schutze tragen mußten, so bin doch ich, Rhys Thuryn, meines Zeichens Heiler, hier und zur Stelle, um zu bestätigen und durch einen heiligen Schwur zu bekräftigen, daß Daniel Draper, den Urkunden zufolge Prinz Cinhils Großvater, in Wirklichkeit kein anderer war denn Prinz Aidan, von Geburt Sohn von Ifor Haldane, letztem der Haldane-Könige vorm Machtantritt des gegenwärtigen Herrscherhauses.« Joram kam mit der Heiligen Schrift zu ihm, und Rhys legte darauf seine Rechte. »Das schwöre ich bei meinem Augenlicht und meiner Gabe der Heilkraft, und möge Gott mir beides entreißen, so ich etwas anderes spreche denn die reine Wahrheit!« Danach verbeugte sich Rhys, desgleichen tat Anscom, und Rhys kehrte an seinen vorherigen Platz zurück, woraufhin an sei-
ne Stelle vorm Altar der junge Davin MacRorie trat, der auf einem Samtkissen einen silbernen Stirnreif trug. Joram streckte die Heilige Schrift von neuem hinzu; Anscom nahm den Stirnreif zwischen seine Hände, die in Handschuhen staken, und legte ihn auf die aufgeschlagenen Seiten der Bibel. »Kniet nieder, Cinhil Haldane«, rief er mit fester Stimme. Cinhil gehorchte. »Cinhil Donal Ifor Haldane«, erhob der Erzbischof daraufhin erneut seine Stimme, indem er die Hände über des Prinzen geneigtes Haupt ausstreckte, »ich erkenne Euch an als den Erben der Haldanes und Prinzen von Gwynedd ohne Land.« Seine Hände senkten sich auf das silbrige Haupt. »Wiewohl es zur Stunde nicht in meinem Vermögen liegt, Euch Euren rechtmäßigen Platz auf des Reiches Thron zuzuweisen, übereigne ich Euch zum Zeichen Eurer königlichen Herkunft diesen Stirnreif.« Er ergriff den Silberreif und hob ihn über Cinhils Haupt. »Flehentlich bete ich zum Himmel, daß ich an dieses Stirnreifs Stelle so bald wie möglich eine Krone aus Gold setzen darf, mit aller Würde und in aller Pracht, wie es Euch gebührt. Bis dahin nehmt diesen Stirnreif zur Mahnung an die Schwere der Verantwortung, welche Ihr für Euer Volk tragt.« Mit diesen Worten setzte er den Stirnreif auf Cinhils Schopf, richtete den Prinzen auf und vollführte vor ihm eine feierliche Verbeugung. Unbeholfen erwiderte Cinhil die Verbeugung, sah Camber und Rhys an; dann nahm er sich den Stirnreif vom Haupt und kniete erneut nieder. »Euer Gnaden, ich nehme diesen Stirnreif in dem Geiste entgegen, in welchem Ihr ihn mir übergeben habt, doch ich trage noch an der Bürde vorangegangener Gelöbnisse, wel-
che der vollständigen Wahrnehmung der Aufgaben im Wege stehen, die mir als dem Prinzen von Gwynedd zufallen.« »So ist's denn Euer Wunsch, mein Sohn, daß ich Euch dieser Gelübde entbinde?« »Nicht in meinem Namen wünsche ich's, sondern im Namen meines Volkes, Euer Gnaden«, antwortete Cinhil in kaum vernehmlichem Flüstern. »Ich bin der letzte Abkömmling meines königlichen Geschlechts. Entzöge ich mich meinen Verpflichtungen, schräke ich davor zurück, mein Volk müßte noch länger unter des Tyrannen eherner Ferse schmachten. Obgleich mir mein zuvoriges Dasein lieb war und wert, ersehe ich, daß ich Gottes Willen besser zu dienen vermag, indem ich nach meinem Geburtsrecht und meiner Krone trachte, um mein Volk von den Ketten der Bezwinger zu befreien und eine gerechte Herrschaft wiederherzustellen.« »Wir sagen Euch Dank für Eure früheren Dienste und entbinden Euch von den einst geleisteten Gelübden. Ego te absolvo...« Derweilen der Erzbischof die Worte der Entlassung sprach, führte Evaine ein furchtsames, aber entschlossenes Mägdelein die schmale Treppe zum Eingang der Kapelle hinab. Etwas später schwangen der Kapelle Türflügel erneut auf, diesmal zum Einlaß der in Silber gewandeten Prinzessin, die ihren Blick gesenkt hielt, während sie sich zu ihrem Bräutigam gesellte. Aller Anwesenden Augen richteten sich auf sie, als sie vorm Altar erschien – außer den Augen Cinhils. Der Prinz, welcher zu ihrer Rechten stand, hielt seine Aufmerksamkeit zumeist aufs Kreuz an des Erzbischofs Brust gerichtet und wagte seinen Blick nicht seitwärts zu lenken.
Nachdem er nun von seinen Gelübden entbunden war, flößte dieser Teil der Feierlichkeit Cinhil das ärgste Grauen ein; es bereitete ihm Mühe, jenen Dingen, die man nun sprach, ungeteilte Beachtung zu schenken. Er ließ sich durch das Ritual leiten, tat und sprach, wie man's ihn hieß, bis er plötzlich begriff, daß er das Ehegelübde geleistet hatte, und neben sich eine leise, zittrige Kontraalt-Stimme vernahm, die nun einen gleichartigen Schwur ablegte. »Ich, Megan de Cameron, einzige leibliche Tochter von Herr und Herrin zu Farnham, Mündel von Herrn Camber MacRorie, dem Grafen von Culdi, gehe wissentlich und aus freiem Willen, nachdem ich im vergangenen Januar das fünfzehnte Lebensjahr vollendete, das heilige Band der Ehe mit dem höchst vortrefflichen und alleredelsten Prinzen Cinhil Donal Ifor Haldane ein, dem Erben von Gwynedd, und nehme besagten Prinzen Cinhil von Gwynedd zu meinem rechtmäßigen Gemahl und Ehegatten, und für die Dauer seines und meines irdischen Lebensweges lasse ich jeglichen anderen Manne dem Vergessen verfallen, und indem ich dies gelobe, schenke ich meinem Gemahl umgekehrt Glauben und Vertrauen.« Dann berührte ein schmales goldenes Band Cinhils Finger, und er wand eine Länge davon um die Hand dieses seltsamen Mägdeleins. »In nomine Patris, et Filii et Spiritus Sancti. Amen.« Er entsann sich später daran, der Braut die Hände gereicht zu haben, und daran, daß der Erzbischof die Zipfel seiner Stola über ihre vereinten Hände legte; dann folgte die Meßfeier. Er meinte, sich auch darauf besinnen zu können, daß er die Kommunion empfangen habe, aber zum ersten Mal in seinem Leben war er sich dessen unsicher. Am
Schluß nämlich forderte man ihn auf, er möge den Kranz aus Stechpalmenzweigen und Rosmarin von Megans Haupt nehmen und die Haarnadeln entfernen, welche ihr Haar auf dem Haupt ineinander verschlungen hielten. Als er's tat, löste sich ihr Haar in eine Wolke weizengoldener Pracht auf, süß und köstlich im Duft, weich wie hauchfeine Seide, und fiel bis fast zu ihren Hüften hinab – und beinahe entglitt ihm der Silberreif, den man ihm reichte, damit er ihn ihr aufsetze. Erst als er sich wieder ungeschoren in seinem Gemach befand – und sie in einer anderen Räumlichkeit –, vermochte er wieder klar zu denken; doch eigneten sich seine Gedanken wenig dazu, sein Mißbehagen zu mildern. Nach einem Weilchen kam Joram, um ihm beim Auskleiden zu helfen; der Geistliche ließ ihn willenlos am Kamin zurück, nur noch in eine mit Pelz gesäumte Robe gekleidet. Er wußte nicht, wie lange es dauern mochte, bis sie kamen, aber er kniete sich pflichtschuldig in den Betstuhl, der in einer Ecke seines Gemachs stand, und versuchte das Abendgebet zu sprechen; doch seine Worte wirkten auf ihn selbst kindlich und bedeutungslos, spendeten ihm wenig Trost. Er zitterte, während er sich auf diese Weise sinnlos abmühte. Nur allzu rasch schreckte ihn ein Pochen an die Tür aus seinen verworrenen Überlegungen, und dann führte ihn eine Prozession im Schein von Fackeln zum Hochzeitsgemach. Als man die Tür öffnete, sah er den Erzbischof das Bett mit Weihwasser bespritzen. Aus den Fellen der Bettstatt ragte ein bleiches Antlitz mit schüchterner Miene hervor, umrahmt vom nun schon wohlbekannten weizenblonden Schopf. Saumselig trat er ein; der
Erzbischof verbeugte sich vor der Braut im Bett, dann vor Cinhil, wonach er auch ihn mit Weihwasser segnete. Ein Klopfen auf die Schulter, als der Erzbischof an ihm vorüberschritt – offenbar zu seiner Aufmunterung gedacht –, und dann verließen Bischof, Diener und Zofen das Gemach, alle gingen, bis auf das Brautpaar, die Tür schloß sich; und sie waren allein. Cinhil schluckte mühsam und betrachtete mit scheinbar erheblichem Interesse den Fußboden. Schließlich widmete er dem Mägdelein im Bett einen vorsichtigen Blick. Zu seiner Verwunderung schaute es mindestens so furchtsam drein wie ihm zumute war; er fragte sich, ob er wohl den gleichen Eindruck auf seine Braut machte. Hastig schaute er fort. »Meine... meine Dame«, sprach er mit leiser Stimme, die mit jeder Silbe zu versagen drohte und infolgedessen seine innere Aufgewühltheit, all seine Unsicherheit verriet, »ich... Ihr wißt, was für eine Art von Mann ich bin, daß... daß ich keine Kenntnis habe von der Weiber Art und Weise...« Seine Stimme sank herab und verklang, und er wagte nochmals den Blick zu heben. Megans Augen glichen dunklen Seen, ließen fast vermuten, ein Mann könne darin ertrinken – und hätte er jetzt noch seinen Blick wieder abwenden wollen, es wäre ihm unmöglich gewesen. »Dann sind wir einander gleich, mein Herr«, erwiderte sie leise, doch anscheinend nicht länger ganz so furchtsam wie zuvor. »Denn ich kenne meinerseits nicht die Art und Weise der Männer. Aber Ihr seid mein Gemahl...« – sie streckte ihm scheu eine Hand entgegen –, »... und ich bin Eure Gemahlin. Wollt Ihr, daß wir gemeinsam die Art und Weise von Männern und Weibern erlernen?«
Das Bett war breit, und sie lag ungefähr in dessen Mitte. Um ihre Hand zu nehmen – was er, wie ihm klar war, nun mußte –, hatte er einige Schritte zu gehen, um den Abstand zum Bett zu überwinden, und sich auf die Bettstatt zu setzen. Plötzlich verspürte er auch das Verlangen danach, es zu tun, und so tat er's. Und nach einem kurzen Moment, während dessen sie einander in die Augen blickten, so gut es im trüben Licht möglich war, hob sie seine Hand an ihre Wange und rieb sie sachte daran; es verblüffte ihn, als er bemerkte, daß ihre Wange feucht war von Tränen, während unglaublich weiche Lippen über seinen Handrücken streiften. Erschrocken aus Besorgnis, er könne ihr Abscheu eingeflößt haben, rückte er näher, um sie anzuschauen, und gleich darauf streichelte er mit der anderen Hand ihr Haar, wischte ihr die Tränen ab. Und dann berührte sie sein Antlitz, seinen Bart, fuhr mit den Fingerspitzen behutsam über seinen Schnurrbart; und er begann ihre Zärtlichkeiten zu erwidern, küßte ihre Handfläche. Als Camber in den frühen Stunden der Morgendämmerung ins Gemach lugte, fand er das Paar in friedlicher Umarmung vor, sah er die Bettücher in schönster Unordnung, Cinhils mit Pelz besetzte Robe achtlos am Fußende des Bettes liegen. Während er wieder hinausschlich, auf seinen Lippen ein Lächeln, widmete er jenem Heiligen ein stummes Dankgebet, der über Hochzeitsbetten wachte; wer es auch sein mochte, dieser Heilige oder diese Heilige hatte offenbar ein gutes Werk getan.
19 Und legten ihn gefangen, bis ihnen klare Antwort wurde durch den Mund des Herrn. 3. Mose 24,12 Die Tage verwandelten sich in Wochen, die Wochen wiederum in Monde, bis das Frühjahr anbrach – der Frühling mit seinen Verheißungen mannigfaltigsten Neubeginns. In der Tiefe ihrer von Felsen umschlossenen, weitläufigen Zufluchtsstätte konnten die Geächteten die üblichen Anzeichen des Frühlingserwachens nicht sehen: das Erblühen der Bäume, das Emporschießen frischen Grases und die Entfaltung neuer Blüten auf allen Weiden. Doch es reifte eine großartigere Frucht im Leibe jener heran, die eines Tages ihre Königin sein mochte. Erzbischof Anscom begab sich ein zweites Mal unter die Geächteten, gerade lange genug, um einen Dankgottesdienst zu feiern. Und mit dem Bevorstehen der königlichen Niederkunft im nächsten Herbst besaßen sie nunmehr einen absehbaren Zeitpunkt, auf den sie ihr Planen und Handeln einzurichten hatten. Im vorangegangenen Winter waren sie schließlich übereingekommen, Cinhils Leben nicht in einem Handstreich aufs Spiel zu setzen, bevor die königliche Nachfolge gesichert war; der nächste Schnee sollte in einem Winter fallen, der auch das Ende von Imres Herrschaft bedeutete. Für Cinhil jedoch war dieser Frühling keine Zeit
des frohgemuten Auflebens. Noch immer voller Furcht und gequält von Gewissensbissen wegen der Maßnahmen, woran er fügsam mitgewirkt hatte, vertiefte er sich immer mehr ins Erlernen jener schöngeistigen und staatsmännischen Kenntnisse, aller gelehrten Dinge, welcher er zuvor entbehrt hatte; er mied seiner jungen Gemahlin Bett und entzog sich allem, soweit es ging. Obgleich ihm Rhys versicherte, er habe einen Sohn gezeugt und brauche nur den Oktober abzuwarten, um darüber Gewißheit zu erhalten, verdrängte Cinhil dies Wissen aus seinem Bewußtsein und versteifte sich gar noch in seinem Trotz. Man mochte ihn zwingen, ein Prinz zu sein, von ihm aus auch noch dazu, ein König zu werden, aber niemand konnte ihm den Zwang auferlegen, daran auch Wohlgefallen zu haben. Kein zweites Mal erfuhr seine sonderbare geistige Abschirmung eine so beträchtliche Schwächung wie an jenem Tag, da er seine letzte Meßfeier vollzog, in der Kapelle, oder an dem Nachmittag, als er von seiner Berufung zum Priester sprach, am Vortage seiner Hochzeit. Über die Möglichkeit, sich selbst derynigleiche Kräfte anzueignen, verweigerte er sogar rundheraus jegliche Aussprache. Doch ein recht bemerkenswerter Fortschritt war unterdessen gemacht worden. Zwar lehnte Cinhil es nach wie vor ab, mit Camber, Soram oder einem der übrigen Männer in den Felsgewölben mehr zu reden als unbedingt vonnöten war, doch unterhielt er sich bisweilen mit Evaine. Und sonderbarerweise geschah der diesbezügliche Durchbruch erst nach Evaines Vermählung mit Rhys Thuryn am Dreikönigsfest. Joram segnete die Verbindung, während Camber und
alle anderen Bewohner des kleinen Reiches im Bergesinnern in stolzer Freude dabeistanden. Aber Cinhil, wenngleich er mit Megan teilnahm und dem jungvermählten Paar Glück wünschte, zog sich bald nach der Trauung in seine Gemächer zurück, noch bleicher und wortkarger, als man ihn ohnehin kannte. Ihm sei zum Feiern nicht zumute gewesen, sagte er später zu Evaine. Doch wiewohl ihn Evaines Vermählung allem Anschein zufolge fast in dem Maße erschütterte wie seine eigene Hochzeit, so brachte sie doch Evaine in ein zwar anderes, aber durch größere Sicherheit gekennzeichnetes Verhältnis zu ihm. Er war sich dessen unbewußt – und es wäre ihr nicht einmal im Traum in den Sinn gekommen, ihm davon etwas zu verraten und so das zerbrechliche Band des gegenseitigen Vertrauens, das zwischen ihnen im Entstehen begriffen war, zu gefährden –, doch hatte es, zumindest auf Cinhils Seite, eine Grundlage für ein andersartiges Verhältnis zu ihr gegeben, ein anderes, als er's überhaupt selbst gebilligt oder es ihm behagt hätte. Welcher Beschaffenheit diese Grundlage auch gewesen sein mochte, mit dem Treueschwur, den Evaine am Dreikönigstag Rhys Thuryn schwor, war sie im Handumdrehen für immer zerstört worden. Ebensowenig jedoch ersah Cinhil, daß damit der Weg für eine in Wahrheit noch innigere Beziehung gebahnt war: er besaß keinerlei Begriffe von einer Verbindung auf geistiger Ebene. Es entwickelte sich zur Gewohnheit, daß sie beide, Cinhil und Evaine, sich an den Nachmittagen zum Gespräch zusammensetzten, manchmal in Gesellschaft Jorams oder Rhys', häufiger jedoch jene zwei allein; sie saßen dann behaglich im Vorraum zu Cin-
hils Gemächern am Kamin. Er erzählte ihr aus seiner Kindheit, von seinem Vater und dem Großvater, und gelegentlich äußerte er sich auch über sein nunmehr verflossenes Klosterleben – etwas, worüber er noch nie zuvor mit irgendwem geredet hatte, schon gar nicht mit einem Weibe. Und ihre Aufnahme seiner Schilderungen überraschte ihn; er staunte insgeheim über die Einfühlsamkeit, mit welcher sie seinen Beschreibungen der Einheit, die er mit der Gottheit empfunden hatte, zu folgen vermochte – eigentlich weniger deshalb, weil sie ein Weib war (eine solche Geringschätzung des weiblichen Geschlechtes war ihm fremd, da er ja um die berühmten weiblichen Mystiker vergangener Jahrhundert wußte), vielmehr dagegen, weil es ihm schwerfiel, zu begreifen, daß überhaupt irgendein Laie eine Vorstellung von den spirituellen Verzückungen erlangen konnte, welche er im Verlauf seines Klosterdaseins erlebt hatte. Derartige Erfahrungen hatte er stets für ein Vorrecht jener erachtet, die sich vollständig Gott hingaben – oder anders ausgedrückt, jener, die eine geistliche Berufung besaßen. Und Evaine, zumal sie mittlerweile vermählt war mit Rhys Thuryn, war unzweifelhaft keine fromme Sendung zugefallen. Eine Zeitlang betrachtete er ihre geistige Verwandtschaft mit ihrem priesterlichen Bruder, Joram MacRorie, als die Ursache, zu dem sie überdies in engem, herzlichem Verhältnis stand. Dann aber begann er sich nach und nach zu vergegenwärtigen, daß ja das gleiche für ihren Vater und ihren Gemahl galt, und er erwog, ob es sich dabei um eine rein zufällig allen vier Personen eigene Besonderheit handeln könne, oder ob diese Eigenart erklärlich sei durch ihr Derynitum – jene Art
des Andersseins, die bisweilen zwischen ihm und ihnen eine solche Kluft aufriß. Er unterzog seine diesbezüglichen Gefühle einer sorgsamen Prüfung und erkannte am Ende, daß er diese Andersartigkeit gar nicht als so sehr fremd empfand. Auch das verblüffte ihn; doch wiederum verdrängte er seine Einsichtigkeit, obwohl ihr Umfang wuchs. Der tatsächliche Wendepunkt in ihrer Beziehung ergab sich eines Tages im Spätmärz. Er traf sie in der Kapelle beim Gebet an und entdeckte in ihrer Erscheinung einen solchen Frieden, wie sie dort kniete, eine so ruhevolle Einigkeit mit der Welt als Ganzes daß er aus lauter Ehrfurcht beinahe selbst an Ort und Stelle auf die Knie gesunken wäre. Alsbald bemerkte sie seine Gegenwart – oder sie hatte von Anfang an darum gewußt –, öffnete ihre Augen und blickte sich nach ihm um. Indem sie das tat, schaute er an ihr einen solchen Glanz purer Helligkeit, ja, der Heiligkeit, daß er nicht zu sprechen wagte, ehe sie beide die Kapelle verlassen hatten. Auch danach antwortete er auf ihre wenigen Äußerungen vornehmlich einsilbig, bis sie seines Arbeitszimmers Geborgenheit betraten und er die Tür schloß. Er hatte das Gefühl, sie danach, was er gesehen hatte, befragen zu müssen – und er empfand, daß er's konnte und durfte. Doch zunächst bereitete es ihm Mühe die rechten Worte zu finden. Als er sich ihr gegenüber am Kamin niederließ, sah er in ihrer Hand einen kleinen, goldgelben Stein. Unbewußt spielte sie damit, ihre Fingerkuppen streichelten die glatte Oberfläche mit zerstreuter Zufriedenheit. Plötzlich verspürte Cinhil den Drang, sich danach zu erkundigen, was sie da hatte. »Was ist's, das Ihr da habt, hochedle Lady?«
»Ihr meint diesen Stein?« Beiläufig senkte Evaine den Blick auf ihren Besitz. »Man nennt ihn einen Shiral. Er kommt aus den Bergen Kierneys, aus der Nähe von meines Vaters Stammsitz Cor Culdi. Er schenkte ihn mir im vergangenen Jahr, nachdem ich ihm eine gleichartige wie jene Frage stellte, welche nun Ihr an mich gerichtet habt.« Sie reichte ihn ihm und lächelte dabei, und er drehte ihn in seiner Hand hin und her, betrachtete die gleichsam flüssige Maserung der Oberfläche, wie sie lebhaft das Licht einfing. »Ist's nur ein Kleinod, nichts als Tand?« fragte er nach längerem Weilchen. »Mich will wohl dünken, ich habe Euch ihn schon bei anderen Gelegenheiten tragen sehen, doch mag's sein, daß ich ihm wenig Beachtung schenkte. Er muß für Euch von besonderer Bedeutung sein.« Evaine senkte ihren Blick und versuchte insgeheim abzuschätzen, wieviel Cinhil von dieser Bedeutung bereits erfaßt haben mochte; endlich beschloß sie, einen Versuch zu wagen. »Ja, Eure Hoheit, dies ist ein besonderer Stein, zum Teil, weil mein Vater ihn mir gab, aber zugleich auch aus anderen Gründen. Wünscht Ihr, daß ich Euch zeige, was mir mein Vater zeigte, als ich derartige Fragen äußerte?« Cinhil heftete seinen Blick hastig, aber nur für einen flüchtigen Moment auf den Kristall, und seine Miene nahm einen angespannten Ausdruck an, derweil sich seine Finger krampfartig um den Stein schlossen. Dann überwand er seine heftige innere Anwandlung und sah von neuem Evaine an. »Eure Worte klingen fürwahr unschuldig genug, meine Dame. Und doch wähne ich eine gewisse Vorahnung zu spüren. Ist mein Eindruck berechtigt?«
Sie streckte ihre Hand aus, auf ihren Lippen ein sanftmütiges Lächeln, das gleichzeitig in ihren Augen saß; es diente dem Zweck, ihn wieder zu beruhigen. Sie wußte, als er ihn zurück in ihre Hand legte, daß er, während er den Kristall in seinen Händen hielt, irgend etwas gespürt hatte, selbst wenn ihm dabei entgangen war, was. »Ihr braucht Euch nicht zu sorgen, Eure Hoheit, nicht mehr, als man sich zu beunruhigen braucht, wenn man im Stande der Gnade ein Sakrament empfängt.« Evaine kleidete ihre Erläuterungen in Worte, welche sie für die ihm am leichtesten verständliche Ausdrucksweise erachtete. »Der Kristall als solcher enthält weder Gutes noch Schlechtes, obgleich er gewisse Kräfte besitzt. Man muß sich ihm mit Hochachtung und zugleich mit Umsicht nahen, mit Achtsamkeit darauf, was man beginnt Er kann ein Bindeglied sein... vielleicht gar zur Gottheit selbst...?« Sie hob ihre Schultern. Der Kristall blinkte auf ihrer Handfläche. Cinhil beugte sich vor und blickte ihr eindringlich in die Augen. »Hat er etwas zu schaffen mit jener seligen Miene, welche ich vor kurzem Weilchen in der Kapelle auf Eurem Antlitz sah?« »Er war nicht die Ursache, aber er mag eine günstige Wirkung ausgeübt haben«, entgegnete sie leise. »Doch das ist nur eine seiner vielen nutzreichen Anwendungsmöglichkeiten.« Cinhil entließ gedehnt den Atem, ohne seinen Blick aus Evaines Augen zu heben. »Zeigt mir, was Ihr meint«, flüsterte er. Mit leichtem Nicken lehnte sich Evaine zurück und stützte ihre Ellbogen auf des Lehnstuhls Armlehnen, hielt den Stein locker zwischen den Fingerkuppen,
wie sie's lange zuvor bei ihrem Vater gesehen hatte. Sie richtete ihren Blick fest in des Kristalles Innerstes, atmete tief ein, ließ den Atem langsam wieder entweichen und veranlaßte mittels ihrer Willenskraft ihre derynischen Sinne den Kristall zu ertasten und allseitig zu umfassen. Anfänglich sah man im Innern des Kristalles nichts als den flackernden Widerschein des Kaminfeuers; doch dann begann der Stein selbst aufzuglühen. »Er ist ein Ballungsmittelpunkt, ein Wahrnehmungsmittler«, wisperte Evaine mit ausdrucksloser Miene. »Aber dies ist bloß der Anfang. Ich könnte nun...« Sie verstummte und schüttelte ihr Haupt, strich sich mit einer Hand fahrig über die Augen, und die Glut im Kristall erlosch. Bestürzt beugte sich Cinhil vor; noch begriff er nicht, was er soeben erlebt hatte. »Ist etwas mißlich geraten?« erkundigte er sich und berührte sorgenvoll ihren Arm. Evaine spürte die Berührung, ging jedoch nicht anders als mit einem Kopfschütteln und einem Lächeln darauf ein; sie sah den Kristall an, dann Cinhil. »Nein, durchaus nicht«, versicherte sie ihm. »Nur ist das Sprechen ein wenig schwierig, wenn man gleichzeitig das Leuchten bewahren soll.« Damit äußerte sie freilich eine Unwahrheit. »Ich kann Eure Fragen leichter in meinem gewohnten Zustand beantworten.« »Dann war, was Ihr jetzt getan habt... außergewöhnlich?« »Nun, das nicht unbedingt, für eine Deryni war's eine Gewöhnlichkeit... oder sagen wir lieber, es war nicht ungewöhnlich.« Sie lächelte. »Der Shiralkristall ist eine Hilfe zur Sammlung der Geisteskräfte. Man
kann so gut wie alles als Ballungspunkt benutzen, aber ein Shiral ist besser als die meisten Hilfsmittel, weil er es durch sein Aufleuchten anzeigt, sobald man den geringsten Grad der geistigen Kräfteballung erreicht hat. Ein jeder helle Gegenstand vermag diesen Zweck zu erfüllen – ein Ring, ein Flecken Sonnenlicht auf Glas. Eigentlich benötigt man gar keinen festen Gegenstand, aber so etwas ist vor allem anfangs eine beträchtliche Hilfe.« »Ihr verwendet ihn also als Ballungsmittelpunkt zur Sammlung Eurer Geisteskräfte«, wiederholte zusammengefaßt Cinhil. »Und das war's auch, was Ihr vorhin in der Kapelle tatet?« »Gewiß, ja, zufällig hatte ich ihn in Gebrauch, aber...« Sie musterte ihn mit scharfsinnigem Blick, sich insgeheim dessen bewußt, daß er dicht davorstand, jene Frage zu stellen, zu welcher sie ihn im jüngst vergangenen Weilchen auf gerissene Weise hingeleitet hatte. »Eure Hoheit, Ihr denkt doch nicht etwa daran, Euch selbst mit dem Shiralkristall zu versuchen? Ich bezweifle, daß Menschen ihn verwenden können.« »Laßt mich wenigstens den Versuch wagen«, bat er sie; und damit schluckte er den Köder, ohne den Haken zu bemerken. Wortlos legte Evaine den Kristall in seine Hände und sah zu, wie er sich anlehnte, in seinen Augen ein siegessicheres Glitzern. Er hielt den Kristall, wie er's zuvor bei ihr gesehen hatte, starrte eindringlich hinein, verkrampfte sich in seiner Anstrengung, ihn durch seine Willenskraft zum Leuchten zu bringen. Doch nichts geschah. Nach einem Weilchen umschloß er den Kristall mit den Händen und blickte zu Evaine auf; in des Raumes Stille war
sein Schlucken deutlich zu vernehmen. Seine ganze Haltung bewies jedoch offenkundig, daß er sich noch nicht geschlagen gab. »Zeigt mir, wie man's macht.« Seine heisere Äußerung war unmißverständlich ein Befehl. Evaine nickte und rückte ihren Lehnstuhl ein wenig näher, so daß sie ihn von der Seite sehen konnte. »Ihr müßt meine Anweisungen ganz genau befolgen«, sprach sie zu seiner Warnung, indem sie sachte seine leere Hand anrührte und seine volle Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Ich habe noch nie einem Menschen die Gelegenheit dazu eingeräumt, dies zu versuchen, und ich möchte Euch auf jeglichen Fall vor Schaden behüten. Ich sagte Euch's schon, der Kristall besitzt gewisse Kräfte.« »Ich werde lediglich tun, was zu tun Ihr mich heißt«, antwortete Cinhil mit gedämpfter Stimme. Sein Blick ruhte aus lichten Augen eindringlich auf ihr, während sie sich ihm zuwandte. »Heftet Euren Blick auf den Kristall«, begann sie ihre Unterweisung und bemerkte, daß der Stein den Feuerschein unverändert ruhelos widerspiegelte, obwohl Cinhil ihn mit sicherer Hand in Augenhöhe hielt. »Versenkt Euren Blick hinein und verdrängt alles andere in diesem Zimmer aus Eurem Bewußtsein. Laßt meine Stimme Euch führen und schirmen, denn wollt Ihr in des Kristalles Frieden Eingang finden, so muß alles andere von Euch weichen und Euch fernbleiben. Richtet die gesamte Aufmerksamkeit, welche Euer Bewußtsein aufzubringen vermag, auf den Kristall, und laßt meine Stimme Euer Führer sein. Stellt Euch vor, alles Licht Eures Wesens ströme durch Eure Fingerspitzen ins innere Gefüge des Kristalls. Ihr seht
nicht länger irgend etwas als des Kristalles Feuer, Ihr hört nichts außer meiner Stimme, die Euch leitet, Eure ganze Welt besteht allein aus dem Kristall, und Ihr betretet sein Reich...« Während sie so sprach und ihre leise Stimme beinahe in einen Beschwörungssingsang überging, verhaftete seine Aufmerksamkeit sich uneingeschränkt dem Kristall, seine Atemzüge waren nun tiefer und langsamer, die straffen Furchen seines Antlitzes lockerten sich; daraufhin dehnte sie mit aller Behutsamkeit um nicht das heikle Gleichgewicht, das nunmehr entstand, zu stören, ihr Wahrnehmungsfeld auf Cinhil aus, und sie spürte, wie sein Widerstand dahinschmolz, sein Bewußtsein sich ins Innerste kehrte. Er befand sich am Rande eines Trance-Zustandes, seine Verfassung glich bereits einer oberflächlichen, schwachen Trance. Evaine schloß ihre Lider und ließ ihre Derynisinne die Lücken seiner äußeren Bewußtseinsschichten ertasten, sie fühlte, wie die entstandenen Breschen sich erweiterten, während seine geistigen Wälle zerbröckelten und brachen. Verstohlen verschaffte sie sich Zutritt in sein Bewußtsein und bewirkte gewisse Änderungen, hinterließ bestimmte Anweisungen und schmiedete gewisse Bande um den Sitz seines Willens, welchselbige Maßnahmen später unentdeckt bleiben sollten, wenn sie von ihm abließ. Wie sie schon seit langem angenommen hatte, war sein oberes Bewußtsein eine Heimstatt geistiger Ordnung und spiritueller Schönheit; doch diesmal wagte sie noch nicht tiefer vorzudringen, denn seine Trance war nur ungemein leichter Natur, und falls er sie ertappte, konnte sein Vertrauen zu ihr eine ernste Schädigung erleiden. Doch sie hatte eine Saat gepflanzt, und sie wußte, daß sie
ihn das nächste Mal schon mit geringem Willensaufwand in eine solche oder tiefere Trance versetzen konnte. Schließlich zog sich Evaine aus seinem Geist zurück und verwischte dabei sämtliche Spuren ihres Aufenthalts; bedächtig schlug sie die Augen auf. Sie musterte Cinhil; seine Augen sahen nicht, sein Antlitz war ruhig und unbekümmert. Da zog plötzlich der Kristall zwischen seinen Fingerkuppen ihren auf einmal von Unglauben gekennzeichneten Blick an. Er glühte! Schwach, aber mit Beständigkeit. Aber er leuchtete! Indem sie die Anwandlung zu einer unwillkürlichen Regung unterband, sich ein Wort oder einen Ausruf des Staunens versagte, begann sie leise erneut zu ihm zu sprechen, führte sie sein Bewußtsein zurück in den herkömmlichen Wachzustand. Als seine Lider flatterten und seine Hände ein wenig zuckten, erlosch die Helligkeit im Herzen des Kristalls; aber sie hatte den Glanz unzweifelhaft gesehen, und sie wußte ebenso zweifelsfrei, daß er dies Werk vollbracht hatte. Cinhil blinzelte mehrmals und ließ ein Seufzen tiefer Verwunderung vernehmen, dann legte er die Hand mit dem Kristall behutsam auf seine Evaine zugewandte Armlehne. Noch mied er ihren Blick. »Habe ich... habe ich wirklich und wahrlich erlebt, was erlebt zu haben ich glaube?« fragte er endlich, nachdem er den Kristall für die Dauer mehrerer Herzschläge angestarrt hatte. »Ja, Eure Hoheit, das habt Ihr.« Da erst sah er wieder auf, in seinen Augen einen Ausdruck flehentlicher Bittstellung. »Ich weiß, ich sollte Euch darum nicht ersuchen, aber... ich würde den Kristall gern für eine Zeitlang bei mir behalten.
Ich... möchte dies Gefühl näher erforschen.« »Was habt Ihr denn gefühlt?« fragte Evaine, die seiner diesbezüglichen Auskunft eigentlich gar nicht bedurfte, aber wußte, daß er diese Frage erwartete. »Ich... ich weiß es selbst nicht recht. Eine sonderliche Friedfertigkeit... eine Aufhebung der Zeit.« Er richtete den Blick seiner grauen Haldane-Augen auf sie, ehe seine Lippen sich erneut teilten. »Darf ich ihn behalten? Ich bitte Euch inständig darum.« »Nun gut, einverstanden, aber unter einer Bedingung: Ihr dürft Euch ausschließlich in meiner Gegenwart mit dem Kristall befassen.« »Damit bin ich meinerseits einverstanden.« »Gebt ihr mir Euer königliches Wort?« meinte hartnäckig Evaine. »Mehr noch, Euer priesterliches Wort?« Er nahm den Kristall und betrachtete ihn nochmals, dann nickte er und seufzte aus Erleichterung auf; er erhob sich und tat den Kristall in eine kleine Schatulle, die auf dem Kaminsims stand. Er stützte sich mit einer Hand auf selbiges Sims, sobald er das getan hatte, und rieb sich mit der anderen Hand die Augen. Als er sich Evaine wieder halb zukehrte, vermochte er nur mangelhaft ein Gähnen zu unterdrücken. »Vergebt mir... ich weiß nicht, warum oder wieso, doch bin ich plötzlich sehr müde. Ich glaube, ich begebe mich nun zur Ruhe.« »Der Umgang mit dem Kristall kann viel Kraft kosten«, bemerkte Evaine, stand ebenfalls auf und nahm ihn am Arm. »Kommt, laßt mich Euch zu Bette helfen.« Um die Hälfte einer Stunde später unterrichtete Evai-
ne von dieses Tages Entwicklung Camber, Rhys und Joram, indem sie ihnen auf geistiger Ebene ihre Eindrücke mitteilte. Cambers Miene leuchtete aus Stolz, als sie ihre Geschichte erzählte. Als sie fertig war stieß Joram einen wilden Jauchzer der Freude aus, und Rhys gab ihr einen herzhaften Kuß. Camber lehnte sich wohlgefällig zurück und schenkte allen Glühwein ein. »Laßt uns auf Evaine trinken« sprach er, »da ihr gelungen ist, was keinem anderen glücken wollte, die des Prinzen Geistesschirm ohne bloß den Ansatz zu einer Auseinandersetzung zu durchdringen vermochte. Der Weg ist uns nun bereitet. Wir können ihn anleiten und lenken, ohne daß es ihm bewußt wird, bis die Zeit kommt, da er ohnehin vollbringen muß, was zu tun ist Auf Evaine!« »Auf Evaine!« riefen wie ein Mann Joram und Rhys und tranken ihr freudig zu. Anschließend führten sie noch ein langes Gespräch, das bis spät in die Nacht währte, sie versuchten einzuschätzen und erstmals zu beurteilen, was sich nun ergeben hatte was Evaine bereits anläßlich ihres äußerst behutsamen Vorgehens entdeckte, und auch, was sich noch alles an Möglichkeiten entdecken ließe; sie legten sich Pläne zurecht, errichteten kühne Gedankengebäude... Am Nachmittag des folgenden Tages, nachdem Cinhil für heute genug Gelehrsamkeit betrieben und seine Mahlzeit eingenommen hatte, suchte Evaine ihn wiederum auf. Er erwartete sie bereits; und kaum hatte sie sich an ihren gewohnten Platz begeben, vergeudete er keine weitere Zeit, brachte den Kristall zum Vorschein und setzte sich an ihre Seite. »Ich habe ihn seit gestern nicht angerührt«, erklärte er und
legte ihn in ihre Hand. »Als ich heute in der Frühe erwachte, ärgerte ich mich zunächst über das Euch gegebene Versprechen, aber dann sah ich doch ein, daß dieser Kristall ein zu gewaltiges Ding ist, um mich in meiner Ahnungslosigkeit damit beschäftigen zu dürfen, daß es wohl am besten ist, wenn wir im weiteren langsam und umsichtig vorgehen. Ich hätte gestern wahrlich nicht gewähnt, ich sei so müde.« »Das ist eine erwartungsgemäße Folgeerscheinung bei jemandem, der sich im Gebrauch neuer Fähigkeiten zu üben beginnt, auch unter Deryni.« Sie lächelte. »Aber Ihr seid heute morgen doch hoffentlich gestärkt und erfrischt aufgewacht, oder?« »Ja, in meinem Bett, und ausgekleidet. Ich...« Er senkte seinen Blick. »Ich erinnere mich nicht ans Einschlafen.« »Ihr seid sehr müde gewesen, als ich ging, Eure Hoheit. Ich habe Pater Nathan zu Euch geschickt, damit er's Euch für die Nacht behaglich macht, weil ich bereits annahm, daß Ihr erst am Morgen erwacht. Ich hoffe, Ihr verübelt mir nicht diese Unterstellung.« »Nein, natürlich nicht.« Er faltete seine Hände und betrachtete sie für einen Moment, durch ihre Erläuterung offenbar erheblich erleichtert. Dann sah er sie erneut an. »Können... können wir's noch einmal versuchen?« fragte er. »Lehnt Euch in den Stuhl und entspannt Euch.« Sie lächelte und hob den Kristall in seine Augenhöhe. »Und nun werdet Ihr, wenn ich den Kristall in Eure Hand lege, sofort in tiefen Schlummer versinken.« Er schloß die Augen, seine Atemzüge änderten sich, gingen regelmäßiger, und sogleich war er fest eingeschlafen. Mit einem verhaltenen Seufzer hob
Evaine eine Hand und berührte seine Stirn, um ihre Beherrschung seines Geistes zu vertiefen und zu sichern. Dann erhob sie sich und huschte zur Tür; sie ließ Camber ein und kehrte zurück an ihren Platz neben dem Prinzen, der in seinem Schlaf von alldem nichts merkte. Evaine spürte ihres Vaters Wesenheit in ermutigender Nähe, als sie ihre derynischen Sinne einsetzte und in Cinhils Bewußtsein vordrang. Sie erkundete dessen Abgründe für die Dauer von ungefähr einer Stunde Viertel, und Camber verfolgte ihre Erforschung mit ihrem Geist als Mittler; kein einziges Mal tastete er selbst Cinhil auf geistiger Ebene an. Schließlich zog sich Evaine zurück und schüttelte leicht ihr Haupt, um sich der letzten Benommenheit, welche von ihrer eigenen Trance verblieb, weil selbige sehr tief gewesen war, zu entledigen. Cinhil schlief unverändert, sich des Geschehens unbewußt, ebenso ihrer Gegenwart. Camber lächelte und streifte mit seinen Lippen zärtlich seiner Tochter Stirn, dann trat er in den Hintergrund. Nach einem Moment der Sammlung versetzte Evaine den Prinzen in eine oberflächliche, leichte Trance gleicher Art, wie er sie am Vortage selber über sich gebracht hatte. Wie bei jenem vorherigen Male leuchtete der Stein schwach auf. Sie atmete tief ein, um ihrer inneren Ruhe Stetigkeit zu verleihen. »Cinhil, vernehmt meine Stimme«, sprach sie sodann, »und lauscht darauf, was ich Euch sage. Obwohl Ihr Euch in dieser Verfassung der Andersheit befindet, hört Ihr meine Stimme, und Ihr vermögt dennoch zu tun, was ich Euch heiße. Wünscht Ihr des Kristalles Leuchten zu sehen? Ihr könnt antworten.« Die königlichen Lippen teilten sich und gaben die
Antwort mit kaum vernehmlicher Lautstärke. »Ja.« »Dann öffnet Eure Augen, sobald ich Eure Hand berühre. Ihr werdet in diesem Zustand der Andersheit verbleiben, Eure Verbindung mit des Kristalles Gefüge bleibt bestehen, doch Ihr werdet ihn sehen, Ihr werdet hören und fühlen. Was Ihr sehen werdet ist Wirklichkeit, und Ihr selber habt's getan. Versteht Ihr mich?« Er nickte knapp. »Nun denn!« Sie rührte an seine Hand. »Öffnet Eure Augen und sagt mir, was Ihr erblickt.« Er gehorchte, indem seine langen Wimpern sich langsam hoben; seine Augen glichen silbrigen Tümpeln, als sie ihren Blick verträumt auf den Kristall hefteten. Im ersten Moment schien er nicht auf den Anblick eingehen zu wollen, doch dann zuckte an seinen Mundwinkeln das allerschwächste Lächeln, und sie erkannte, daß er sah. »Er leuchtet«, murmelte er mit infolge der Trance ausdrucksloser Stimme, die jedoch einen ganz schwachen Anklang von Erstaunen verriet. »Und das habe ich bewirkt?« »Ja.« Sie berührte von neuem seine Hand. »Doch nun ist's an der Zeit zur Rückkehr. Ihr werdet Euch daran erinnern, was Ihr erblickt habt. Nun erwacht, seid ganz locker und entkrampft. Ihr hattet Erfolg.« Wieder flatterten seine Lider, und er erwachte aus der Trance; die Helligkeit im Kristall erlosch. Doch diesmal sah man, als er in die wirkliche Welt wiederkehrte, obwohl er dabei seufzte, ein Lächeln auf seinen Lippen, und er hielt den Kristall andächtig zwischen den Händen, statt ihn ohne Verzug zur Seite zu tun. Einen Moment lang starrte er in des Kamins Feuer, genoß den Nachhall des Empfundenen, dann schaute er Evaine an und lächelte ein aufrichtiges,
freimütiges Lächeln von einer Art, wie sie's während all jener Zeit, welche er nun schon in ihrer Mitte weilte, auf seinem Antlitz noch nicht gesehen hatten. »Ihr entsinnt Euch, oder?« fragte Evaine. Er nickte. »Und eine wundervolle Erfahrung war's. Und ich selbst habe sie bewirkt. Nicht wahr?« »Ihr selbst.« Evaine lächelte. »Doch das heißt beileibe nicht daß Ihr's künftig schon ohne meine Gegenwart versuchen dürft. Aber immerhin beginnt Ihr nun den Umgang mit dem Kristall zu erlernen. Ich glaube, Ihr vermögt daraus, daß Ihr Euch nach diesem Mal wesentlich wohler fühlt als beim ersten Versuch, zu ersehen, daß es Euch schon erheblich leichter gefallen ist. Ach, Cinhil, wenn Ihr's uns gestattet, Euch unsere Unterstützung zugute kommen zu lassen, wir können aus Euch einen König machen, wie ihn der Erdkreis noch nicht gekannt hat!« Als sie das äußerte, schaute er beiseite, wie sie's erwartet hatte, und sein Antlitz nahm den alten, finsteren Ausdruck an. Doch obschon seine geistige Schirm nun wiederhergestellt war, besaß sie bei weitem nicht das vorherige Ausmaß und die zuvorige Stärke. Sie überließ ihn seinen Gedanken über das Erlebnis, welches ihm soeben widerfahren war; und obwohl er den Kristall, nachdem Evaine gegangen war, für lange Zeit anstarrte, versuchte er sich an diesem Tag nicht nochmals damit. Er hatte ihr sein diesbezügliches Wort gegeben. Fortan arbeiteten Cinhil und Evaine fast täglich mit dem Kristall, bis er's lernte, ohne Nachhilfe in einen derynihaften Trance-Zustand überzugehen und auch wieder daraus zurückzukehren. Nach einer gewissen Zeitspanne der Einübung erlaubte Evaine es ihm, den
Stein bei seinen Meditationen zu verwenden; sie verriet ihm nicht, daß er des Kristalls nun gar nicht länger bedurfte. In der Folgezeit wirkte er nicht ganz so verbittert über den Verlust seiner Priesterschaft. Allerdings legte er auch noch immer keinen Wert darauf, König zu werden. Und weiterhin mied er den engeren Umgang mit der schon jetzt vereinsamten Megan, wann immer er's einrichten konnte, denn an diesen Teil seiner Herrscherpflicht ließ er sich besonders ungern erinnern. Dagegen erfuhr die Erweiterung und Vervollkommnung seines Wissens reibungslos Fortschritte, und überdies gewann er Fähigkeiten, wovon er selbst noch nichts ahnte. Seine Verwendung des Shiralkristalls war's vornehmlich, welche geistige Pfade ebnete, die sich als von unschätzbarem Wert erweisen sollten, sobald Camber entdeckte, wie man die Anlagen erschließen konnte, von denen sie mittlerweile wußten, daß er über sie verfügte. Der Mai brach an, bevor sie alle Vorbereitungen getroffen hatten und ihr Vorgehen feststand – das Ergebnis sechs langer Wochen der Forschungen, des allerheikelsten Prüfens und peinlich genauen Planens. Sie stritten lange darum, wieviel man ihm mitteilen solle; ob man ihm vorher etwas verraten dürfe; auf welche Weise die Freisetzung seiner noch im Schlummer befindlichen Kräfte erfolgen könne. Denn es gab für alles verschiedene Möglichkeiten, und sie mußten darunter jene herausfinden, welche Cinhil der geringsten Gefährdung aussetzte und zugleich am wenigsten zu seinem gestreng glaubenseifrigen Sinn in Widerspruch geriet. Sie wählten Christi
Himmelfahrt zum Tage der Kraftverleihung, den Tag, der in den früheren heidnischen Zeiten Beltane hieß. An jenem Abend begaben sich Camber, Evaine und Rhys früh, noch ehe man dem Prinzen die Abendmahlzeit brachte, in Cinhils Gemächer. Er saß in seinem Lehnstuhl am Kamin, seine Füße ruhten in Hausschuhen auf einer Fußbank, und den Shiralkristall hielt er in einer Hand; doch er hatte sich des Steins nicht bedient. Er hatte zwar von neuem über ihn nachgedacht, aber gegenwärtig beschäftigte er damit mehr seine Hände als seinen Verstand. Sein Magen zeugte davon, daß es an der Zeit war für's abendliche Mahl, und er wunderte sich, daß man's ihm noch nicht aufgetragen hatte. Insofern kam das Pochen an die Tür für ihn keineswegs unerwartet, allerdings überraschte es ihn, daraufhin statt Pater Nathan den Grafen in Begleitung seiner Tochter und Rhys Thuryns auf der Schwelle zu sehen. Er nickte ihnen zu, auf daß sie einträten, und wies auf die Stühle vorm Kamin. »Ich glaubte, es käme mein Essen«, bemerkte er, während er seinen Lehnstuhl zurechtrückte. »Gewöhnlich ist Pater Nathan sehr zuverlässig.« Die drei warteten, bis er selbst wieder Platz genommen hatte, bevor sie sich setzten. Evaine saß an ihrem üblichen Platz zu seiner Linken, Rhys auf ihrer Cinhil abgewandten Seite neben ihr, und Camber hatte sich links von Evaine niedergelassen. Als sie kein Wort sprachen, neigte Cinhil in beträchtlichem Befremden sein Haupt seitwärts und regte sich mißbehaglich auf seinem Stuhl. »Ist irgend etwas Unliebsames vorgefallen?« »Nein, Eure Hoheit, alles ist so, wie's sein soll«, antwortete Camber. »Doch ist's nun soweit, daß wir
miteinander ein ernstes Wörtchen reden müssen. Allerdings wird die Unterredung durch den Zwang der Umstände kurz ausfallen.« »Warum kurz? Der Abend liegt erst vor uns, und ich kann mich ja nirgendwohin entziehen.« »Mag sein, aber dennoch, heute werdet Ihr Neuartiges kennenlernen«, entgegnete Camber gelassen. »Das nämlich ist's, worüber wir mit Euch zu sprechen wünschen.« »Leider begreife ich Eure Äußerungen ganz und gar nicht.« Cinhil straffte sich ein wenig und legte seine Hände in betont ungnädiger Geste auf seines Stuhles Armlehnen. Ihm wollte Cambers Redeweise nicht recht behagen. Er sah Evaine an, in der Hoffnung, er könne in ihrer Miene irgendeinen Hinweis, irgendeine Andeutung hinsichtlich dessen erkennen, was bevorstand. Statt dessen jedoch sah er sie ihre Hand zu seiner Stirn erheben und begriff urplötzlich, daß er, wenn er sich nun berühren ließ, dem Willen dieser Deryni endgültig verfallen mußte. Er fuhr zurück, suchte ihrer Hand auszuweichen, aber es war zu spät. »Schlafe.« Sie sprach nur dies eine Wort. Cinhil verspürte das ruckartige, leichten Schwindel erregende Gefühl, welches er schon von seiner Benutzung des Shiralkristalls her kannte – er hielt ihn noch in seiner Hand, wie er gleichgültig feststellte –, doch war's diesmal nicht er, der darüber die Gewalt besaß. Er fühlte seine Lider herabsinken und sackte im Lehnstuhl ein wenig zusammen. Er vermochte nichts dagegen zu tun, keine Gegenwehr zu leisten. »Hört mir nun zu«, vernahm er im weiteren ihre Stimme – und außer selbiger Stimme schien es nichts zu geben.
»Ihr werdet auf jeden handgreiflichen Widerstand verzichten. Ihr könnt Eure Augen öffnen, aber Ihr werdet mir gehorchen. Schaut mich an, Cinhil.« Seine Lider zuckten empor, und er blickte sie an, aber alle seine Handlungen zeichneten sich durch eine gewisse Trägheit aus, die er nicht abzuschütteln vermochte. Er schluckte und musterte die beiden anderen; er sah Camber aufstehen und herzutreten, und der Graf stützte beide Hände auf die Armlehnen von Cinhils Lehnstuhl, um ihm festen Blickes in die Augen zu starren. Er war dazu außerstande, diesem Bezwingerblick auszuweichen. »Eröffnet mir Euren Geist, Cinhil«, sprach der derynische Magister zu ihm; und Cinhil erkannte augenblicklich, was diese Deryni mit ihm beabsichtigten. Auf dem Wege zur Kapelle leistete er ihnen unablässig auf geistiger Ebene Widerstand, doch blieben alle seine Bemühungen vergeblich. Sie führten ihn durch die Stollen und Gänge des Felsenreichs hinab, und er konnte weder fortlaufen noch schreien oder sonst irgendeinen Versuch unternehmen, um ihr Vorhaben zu durchkreuzen. Ein finsterer michaelitischer Ritter hütete die Pforte zur Kapelle – Cullen in Person, erkannte verblüfft Cinhil –, seine gepanzerten Hände aufs Heft des gewaltigen Kriegsschwertes gestützt. Als sie sich nahten, berührte er den Türknauf, der sonderlich glühte, und als sie vorüberschritten, neigte er achtungsvoll sein Haupt. Hinter ihnen schloß sich die Pforte mit einem dumpfen Laut der Endgültigkeit, welcher in Cinhil das verzweifelte Verlangen weckte, das Haupt zu wenden und wenigstens noch einen letzten Blick in die Richtung des nun verschlossenen Fluchtwegs zu werfen. Doch er tat's nicht. Denn ihm
war nicht mitgeteilt worden, daß er dergleichen tun dürfe. Vielmehr folgte er den drei Deryni dorthin, wohin sie ihn wiesen, und verharrte endlich fügsam und ohne Aufbegehren in der Mitte des Gewölbes mit seinen rautenflächigen Wänden, die Füße auf dem mit Edelsteinen durchflochtenen Teppich, worauf man ihn zum Prinzen gekrönt hatte. Im Schein des Präsenzlichtleins und zweier hoher Altarkerzen beobachtete er mit nebelhafter Anteilnahme, wie von der Seite Joram ins Blickfeld trat und die drei Stufen zum Altar erklomm. Der Priester beugte das Knie und verweilte für eine Zeitlang in tiefer Andacht; im kärglichen Kerzenschein schimmerten sein Haupthaar, sein Chorrock und die mit Brokat bestickte Stola. Ein Wachsstock flammte auf, als sich Joram umdrehte und Cinhil musterte; der Priester reichte den Wachsstab seiner Schwester und wandte sich wieder zum Altar, um in einem Rauchgefäß Glut zu entfachen. Cinhil vermochte Camber und Rhys nicht zu sehen, doch war er sich darüber im klaren, daß sie sich irgendwo in seinem Rücken befinden mußten. Man hatte am Fuße des Altars und zu Cinhils Seiten – jeweils um ein paar Schritte entfernt – in freistehenden kupfernen Kerzenhaltern frische Kerzen aus Bienenwachs aufgestellt, und zur ersten dieser Kerzen war's, wohin nun Evaine trat. Cinhil vermeinte, er könne sich daran entsinnen, beim Betreten der Kapelle eine vierte Kerze erblickt zu haben, in welchem Falle er im Mittelpunkt eines Kreises stand, dessen Rund die vier Kerzen begrenzten. Er vermochte sich nicht umzuwenden, um seine Annahme zu bestätigen, doch es beschäftigten ihn ohnehin nicht so sehr die Kerzen. Vielmehr war's das Vorhandensein dieses
Kreises, den sie umgrenzten, was ihn mit frostkaltem Grauen erfüllte. Er redete sich ein, daß es für sein Mißfallen einen vernünftigen Grund geben müsse, und versuchte, sich an eben denselben Grund zu erinnern; aber sein Verstand arbeitete nicht auf die gewohnte, bewährte Weise. Evaine entzündete die Kerze vor ihm, jene an des Altars Fuß, und begab sich dann zur Kerze an der rechten Seite, beschirmte ihre Glut unterwegs mit einer Hand. Die Andersheit der Deryni wirkte in diesem Gewölbe wie die Gegenwart einer sechsten Wesenheit, wie ein eisiger Finger, der an Cinhils Hirn rührte. Er hatte den Eindruck, daß die Kälte, die er verspürte, nicht ausschließlich den steinernen Wänden und dem Felsfußboden zugeschrieben werden konnte. Am Sockel der vorderen Kerze setzte Joram einen Gegenstand ab, der ein verhüllter Abendmahlskelch zu sein schien, dann reichte er Camber ein von weißer Seide umhülltes Ding, das klein war und zierlich, urteilte man nach der Behutsamkeit, mit welcher der derynische Edelmann es entgegennahm, und Cinhil bemerkte, daß dies Etwas seine Aufmerksamkeit nahezu unwiderstehlich anzog. Ihm war zumute, als sei die Zeit aufgehoben, als beobachte er alles ringsum durch eines Fremden Augen. Evaine entflammte die Kerze zu seiner Rechten und entschwand dann in den Bereich in seinem Rükken. »Wolltet Ihr wohl bitte niederknien?« Die Stimme, welche an seiner Seite zu ihm sprach, gehörte Rhys, und ohne Säumen gehorchte Cinhil, unfähig zum Widerstreben. Nun sah er, daß jener kleine Gegenstand, den Camber hielt, ein bemerkenswerter Cabochon-Rubin in den Ausmaßen eines kleinen Finger-
nagels war, umklammert von den Zähnchen einer rotgoldenen Fassung mit einem feinen Golddraht. »Diesen Stein heißt man das Auge Roms«, unterrichtete ihn Rhys' ruhige Stimme, während des Heilers Hände an seinem rechten Ohrläppchen etwas taten, das mit Kühle und Nässe einherging. »Die Legenden berichten, er sei in der Nacht von des Erlösers Geburt von den Sternen herabgefallen, und die drei Weisen aus dem Morgenlande sollen ihn dem Kinde zum Geschenk gebracht haben. Mag das nun wahr sein oder nicht, auf jeden Fall befindet er sich seit zwölf Geschlechtern in den Händen der MacRories. Wir haben ihn mit... ah... gewissen Eigenschaften ausgestattet, die Euch ein wenig später am heutigen Abend ungemein von Nutzen sein werden.« Rhys händigte Camber ein schmales Stück Metall aus und bekam dafür von ihm den Ring; dessen blutrotes Feuer hob der Heiler ans königliche Haupt. Erneut spürte Cinhil des Heilers vorsichtige Berührung und begriff, daß Rhys sein Ohrläppchen durchbohrt haben mußte. Nebelhaft fragte er sich, wie er wohl mit einem Ohrring aussehen möge. »So, das ist vollbracht«, sprach Rhys. Er beugte sich rückwärts, um sein Werk zu begutachten, dann senkte er eine Hand leicht auf des Prinzen Schulter. »Ihr könnt Euch erheben.« Cinhil konnte es und tat's auch; während der folgenden Augenblicke widmete er sich völlig dem Versuch, die Bedeutung dessen zu erfassen, was man nun getan hatte. Das leise Klingen von Metall ans Rauchgefäß schreckte ihn aus seinen mühevollen Überlegungen, und er sah, daß Evaine nunmehr den von Kerzen umschriebenen Kreis durchmessen hatte und ihren Wachsstab löschte,
während ihr Bruder sie mit Weihrauch einräucherte. Sobald er damit endete, vollführte sie eine leichte Verbeugung, doch ob vor Joram, vorm Altar oder der vorderen Kerze, das wußte Cinhil nicht zu entscheiden, da sie ihm den Rücken zukehrte, ihr Haupt etwas gesenkt. Joram begann, indem er vor sich das Rauchgefäß schwenkte und Weihrauch von schwerem, süßlichem Duft verbreitete, den Kreis nun seinerseits abzuschreiten, nachdem ihn zuvor Evaine durchmessen hatte. Cinhil erkannte die lateinischen Worte, die Joram sang: es handelte sich um den Zweiunddreißigsten Psalm. Außerdem gelangte er, wenn er seine Lider ganz schwach verengte, zum Eindruck, das der bis dahin unsichtbar gewähnte Kreis in Wahrheit leicht glomm. Bei dieser Gelegenheit mußte er für einen flüchtigen Augenblick dösig geworden sein, denn als nächstes nahm er wahr, wie Joram alle innerhalb des Kreises beweihräucherte. Camber stand zu Cinhils Linker, Rhys zu seiner Rechten; an des Kreises Rand harrte Evaine, in ihren Händen den inzwischen enthüllten Kelch. Er vernahm ein gedämpftes Klirren, als Joram das Rauchgefäß hinter ihm am Fußboden abstellte, dann spürte er, wie Joram an ihm vorüberschritt und sich zu Evaine begab, um von ihr mit einer Verneigung den Kelch in Empfang zu nehmen. Cinhils Haltung verkrampfte sich, als die Geschwister vor ihn traten, denn er empfand Furcht, wenngleich er nicht wußte, wovor Der Kelch, so bemerkte er, war zur Hälfte gefüllt mit Wein. Seltsamerweise vermochte er sich nicht darauf zu besinnen, diesen Kelch schon einmal gesehen zu haben, obwohl er glaubte, mit der gesamten Al-
tarausstattung und den Kultgegenständen dieser Kapelle mittlerweile vollauf vertraut zu sein. »Ich vermute, Ihr bemerkt, daß dies nicht der gewöhnlich in dieser Kapelle in Gebrauch befindliche Kelch ist«, sprach Joram, der anscheinend seine Verwunderung bemerkte. »Dafür gibt's Gründe, welche Euch binnen kurzem offenkundig sein werden. Der Wein ist zwar Meßwein, doch ungeweiht. Ich sage Euch das, damit Ihr dessen sicher sein könnt, daß mit alldem, was wir heute hier vollbringen oder Euch zumuten, keinerlei Schändung verbunden ist. Andernfalls wären wir gewißlich nicht hier an diesem Ort. Ihr mögt nun, so Ihr's wünscht, Fragen stellen.« Seine Worte lösten Cinhils Zunge, und der Prinz schluckte bange, während in seinem Bewußtsein ein Dutzend Fragen durcheinanderwirbelten. Nach kurzem Überlegen entschied er sich für ein vorsichtiges Herangehen, weil er ahnte, daß er die Art der Auskünfte in gewisser Hinsicht schon kannte. »Was ist vorhin getan worden?« »Wir haben eine Wehr errichtet. Ihr werdet's beizeiten lernen, wie man so etwas durchführt. Diese Wehr behütet uns vor äußeren Einflüssen, beschirmt uns wider Mächte, die andernfalls womöglich in das Tun eingriffen, das wir hier am heutigen Abend beginnen. Alles, was nun unser Banntrutz umgibt, ist vor jeder schädlichen Einwirkung geschützt.« »Dann ist's gefährlich, was hier geschieht?« »Wir schweben stetig in Gefahr«, sprach darauf leise Camber. »Wir trachten danach, diese Gefahr so gut wie möglich zu mindern, indem wir uns einem streng geregelten Verfahren unterwerfen. Glaubt mir, wir setzten Euch nie und nimmer einer Maßnahme aus,
deren Ablauf nicht sicher in unseren Händen liegt.« »Doch was soll denn mit mir geschehen?« erkundigte sich Cinhil mit wehleidiger Stimme. Joram blickte ihm in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken; seine Miene war todernst. »Wir werden Euch mit den Mitteln stärken, derer Ihr bedürft, um gegen Imre bestehen zu können.« »Aber...« »Genug, Cinhil.« Camber berührte des Prinzen Hand, und Cinhil verstummte. »Joram, setze ihn davon in Kenntnis, was wir von ihm erwarten.« Joram nickte knapp. »Der Kelch enthält Wein, doch wird selbiger in einem Weilchen mehr als nur das sein. Nicht anders in seiner Zusammensetzung und Beschaffenheit, wenngleich er bitter schmecken wird. In anderer Beziehung jedoch, die ich hier und jetzt nicht näher erläutern kann, wird er verändert sein. Der Veränderungsvorgang ist jenem während der Messe nicht unähnlich, doch handelt es sich beileibe nicht um die Wandlung, wie Ihr sie ja kennt. Es...« Er blickte um Rat hinüber zu seinem Vater, und als Camber nickte, senkte er dankbar das Haupt. »Die Einzelheiten sind nicht wesentlich für die Erfüllung Eurer Aufgabe«, sprach an Jorams Stelle Camber mit gefaßter Stimme weiter. »In kurzer Frist wird Euch Joram abverlangen, daß Ihr ihm bestimmte Worte nachsprecht. Es ist unerheblich, ob ihr an den Wahrheitsgehalt dieser Worte glaubt oder nicht, doch werdet Ihr feststellen können, daß sie Euch auf gewisse Weise vertraut sind. Zur rechten Zeit gesprochen, werden sie bei Einhaltung der richtigen Reihenfolge der dazugehörigen Handlungen den Zweck erfüllen, dem sie dienen sollen. Eigentlich dürften kei-
nerlei Schwierigkeiten auftreten.« »Und was wird, nachdem ich diese Worte gesprochen habe?« fragte Cinhil geflüstert, sich dessen sehr wohl bewußt, daß er zu gehorchen hatte, wie immer auch die Antwort lauten mochte. »Dann werdet Ihr den Wein trinken«, sprach Camber. »Und was sein wird, das wird sein.« Nach dieser Erwiderung trat Camber noch ein wenig weiter nach links, und zur Rechten Cinhils tat Joram desgleichen. Er spürte, daß Evaine hinter ihn trat; ihres Kleides Saum streifte in ihrer Bewegung seiner Füße Knöchel. Rhys widmete ihm ein Lächeln, dem Cinhil ansah, daß es ihm Mut einflößen sollte, und wandte sich dann zum Altar. Rhys' freundschaftlichen Gebarens zum Trotze verspürte Cinhil Entsetzen, denn er begriff, daß es – was immer es auch sein mochte – nun ernstlich begann, daß er keine Möglichkeit besaß, um sich zu entziehen. Er nahm einen tiefen Atemzug und suchte sich zu beruhigen, bemühte sich darum, seine innere Anspannung sich verlaufen zu lassen; und zu seiner eigenen Überraschung hatte er mit seinem Trachten Erfolg. Ein Moment des Schweigens und der inneren Sammlung herrschte, dann hörte er hinter sich Evaines Stimme, deren Klang die Ruhe im Innern der Kapelle in eine gegensätzlich kristallklare Stille verwandelte. »Außerhalb der Zeiten weilen wir, an einem Ort abseits des Erdenkreises. Wie unsere Ahnen vor uns taten, treten wir zusammen und sind eins.« Er sah, wie Rhys das Haupt neigte, und sah Camber das gleiche tun, ebenso Joram; daraufhin verhielt er sich nach ihrem Beispiel. »Bei Deinen Heiligen Aposteln Matthäus, Markus, Lukas und Johannes«, fuhr Evaine zu
sprechen fort, »bei all Deinen Erzengeln, bei allen Mächten von Licht und Schatten, wir rufen Dich an, beschirme uns und bewahre uns vor allem Übel, o Allerhöchster! So ist es und ist es immerzu gewesen, so wird es sein für alle künftigen Zeiten. Per omnia saecula saeculorum.« »Amen«, erscholl es im Chor; und Cinhil bemerkte, daß auch er mit diesem Wort geantwortet hatte. Danach schlugen sie gemeinsam das Kreuzzeichen und verharrten für ein Weilchen in völligem Schweigen. Schließlich kehrte sich Rhys um, seine Augen waren verschleiert, schimmerten wie Sonnenschein auf einem dunklen Gewässer. Als ihm Joram mit einer Verbeugung den Kelch überreichte, hob Rhys das Gefäß zwischen sich und Joram in Augenhöhe empor, seine Rechte über des Kelches Rand ausgestreckt, ohne ihn jedoch zu berühren. »Ich rufe den machtvollen Erzengel Raphael an, den Heiler und den Herrn über Wind und Wetter. Wie einst der Heilige Geist über den Wassern schwebte, so leihe Geist diesem Kelch, so daß, wer daraus trinkt, gebieten mag der Lüfte Gewalten. Fiat, fiat, fiat voluntas mea.« Während er seine Hand über den Kelch hinwegführte und langsam seinen Atem auf das Gefäß entließ, entstand überm Wein ein strudliger Dunst und sank auf der Flüssigkeit Oberfläche hinab. Unter Cinhils Augen erkaltete der Kelch mit erstaunlicher Urplötzlichkeit, Reif schlug sich darauf nieder, helle Perlen von Feuchtigkeit rannen auf Rhys' Hände und glitzerten. Rhys neigte überm Kelch das Haupt und übergab ihn Joram. Der Geistliche hob den Kelch auf die gleiche Weise empor, wie's zuvor Rhys getan hatte, und breitete ebenfalls seine
Hand darüber. »Ich rufe den gewaltigen Erzengel Michael an, des Himmels Streiter, den Wächter an des Paradiesgartens Tor. Wie dein Flammenschwert den Himmelsthron hütet, so leihe Lohe diesem Kelch, so daß, wer daraus trinkt, gebieten mag des Feuers Gewalten. Fiat, fiat, fiat voluntas mea.« Seine Rechte glitt hinweg über den Kelch, und an des Gefäßes Rand und überm Wein leuchtete kalt ein blaues Feuer auf. Cinhil schloß die Augen und atmete nochmals tief ein, um sein Entsetzen zu meistern. Bewegung in seinem Rücken verriet ihm, daß nun Evaine den Kelch erhielt. »Ich rufe den mächtigen Erzengel Gabriel an, des Himmelskönigs Herald, der frohe Kunde brachte Unserer Lieben Frau. Bringe hernieder Weisheit in diesen Kelch, so daß, wer daraus trinkt, mit Wissen walten mag der Wasser Wege. Fiat, fiat, fiat voluntas mea.« Dann befand sich der Kelch in Cambers Händen; der großartige Edle wirkte düster und grimmig wie eine Winternacht. Zum vierten Male hob sich eine Hand über den Kelch, und von neuem begannen derynische Geisteskräfte zu wirken. »Ich rufe den mächtigen Erzengel Uriel an, den Engel des Todes, der alle Seelen am Ende in die Unterwelt geleitet. Er hauche von seinem Geiste diesem Kelch ein, so daß, wer daraus trinkt, gebieten mag des Erdenreichs Gewalten. Fiat, fiat, fiat voluntas mea.« Eine nochmalige Bewegung der Rechten, und wie Staub senkte sich weißes Pulver nieder auf den Wein; dann streckte Camber den Kelch Cinhil entgegen. Das Metall troff von Feuchtigkeit, glitzerte eisig kalt; überm Gefäß-
rand irrlichterte ein geisterhaftes Feuer wie aus blauem Frost. Dunst schwebte über des Weines Oberfläche, und der Wein war nun dunkler, undurchsichtiger. Cinhil fühlte eine eiskalte Woge seinen Körper durchwallen; er fürchtete die Worte, die er, wie er wußte, als nächste vernehmen sollte. »Nehmt den Kelch, Cinhil«, befahl Jorams Stimme von der Rechten. »Haltet ihn vor Eure Augen und sprecht die Worte nach, die ich sage.« Cinhil bebte, während er seine Hände zugreifen sah, sie sich um den feuchten, kalten, glatten Kelch schlossen. Er sah, wie seine Hände den Kelch erhoben, nahezu ohne daß er daran einen Gedanken verschwendete, ganz so, wie er schon zuvor viele Male derartige Kelche gehoben hatte, doch er es seit einiger Zeit nicht länger durfte; er begriff, daß alles, was er nun gesehen hatte, was er nun zu vollziehen sich anschickte, nicht weniger weihevoll war als alle jemals von ihm vollzogenen priesterlichen Handlungen. Dieser Gedanke läuterte ihn mit einer Gründlichkeit, wie es bis dahin sein Verstand nicht vermocht hatte. Klar und deutlich wiederholte er die vertrauten Worte, welche ihm Joram vorsprach. »Libera nos, quaesumus, Domine, ab omnibus malis, praeteritis, praesentibus et futuris...« Wir bitten Dich, o Herr, erlöse uns von allem Übel, sei es vergangen, gegenwärtig oder zukünftig... »Per eumdem Dominum nostrum Jesum Christum Filium Tuum, qui tecum vivit et regnat in unitate Spiritus Sancti Deus. Per omnia saecula saeculorum.« »Amen«, sprachen die vier Deryni. Und dann hoben seine Hände den Kelch an seine Lippen, und er wußte, er würde trinken. Der Kelch enthielt nun eine
ungeheure Kraft; er spürte sie in seinen Händen kribbeln, während er das Gefäß hielt, und bis hinab in seine Arme vordringen. Der Wein war kalt und bitter und füllte seinen Magen wie eine bleischwere, eisige Masse; doch dann strömte von dort aus Feuer in seine Adern, blendende Glut loderte hinter seinen Augen auf, als er den Kelch leerte. Durch seinen Geist fuhr etwas wie ein kraftvoller Sturmwind, rüttelte und riß an den Grundfesten seines Bewußtseins, trieb vor sich einen Wall glasgrüner Flut einher; Blitze zuckten; im Gewebe seines Wesens taten sich Klüfte auf. Und Schmerz befiel ihn – eine Pein von solcher Eindringlichkeit, daß er nicht einmal zu schreien vermochte. Er spürte, wie der Kelch seinen Fingern entglitt, hörte ihn gedämpft auf den dicken Teppich unter seinen Füßen prallen. Dann aber war er blind, und zugleich war er taub; und er stürzte in einen Abgrund, während sein Geist einen lautlosen Schrei des Entsetzens von sich gab. Dann obsiegte die Finsternis.
20 »Höre uns, Herr! Ein Gottesfürst bist du in unserer Mitte.« I. Mose 23,6 Danach ruhte er für einen Tag und eine Nacht gleich einem Toten, derweil Rhys mit der gebotenen Umsicht seinen Zustand überwachte und die anderen sorgenvoll in seiner Nähe ausharrten. Als er am zweiten Morgen erstmalig wieder die Augen aufschlug, waren sie zur Stelle, umdrängten ihn und betrachteten ihn voller Erwartung, auf ihren Lippen ein Dutzend unausgesprochener Fragen. Aber er entsann sich gar nicht an das Ereignis; oder jedenfalls behauptete er, daß er sich nicht entsänne. Auch bestritt er's, daß er irgendwelche neuen Fähigkeiten oder Kräfte besäße – wieso, tat er einfältig, solle er denn? Sie konnten nunmehr nicht einmal in sein Bewußtsein eindringen und den Wahrheitsgehalt oder die Unwahrhaftigkeit seiner Angaben nachprüfen, denn mit der Übertragung derynischer Eigenheiten auf ihn hatten sie sich der Möglichkeit enthoben, Gewalt über ihn auszuüben. Falls Cinhil tatsächlich derynische Fähigkeiten gewonnen hatte, so verschwieg er's ihnen; und vielleicht, sollte er etwa zutiefst verärgert infolge der Art und Weise sein, wie die Übertragung abgewickelt worden war, würde er es ihnen niemals verraten. Oder vielleicht war ihre Maßnahme fehlgeschlagen, es war nichts geschehen, nichts außer daß sie ihren künftigen König für eine
Zeitlang in Besinnungslosigkeit versetzt hatten. Bis er sich womöglich entschied, ihnen mitzuteilen, was sich ereignet hatte, falls überhaupt irgend etwas, gab's für sie keinen Weg, um es ohne ihn herauszufinden. So harrte man der Geburt von Cinhils Erben und ergab sich der Hoffnung. Der Sommer verstrich. Draußen, außerhalb ihres Zufluchtsortes, kamen Imres Vergeltungsmaßnahmen wider die michaelitischen Besitztümer endlich zum Ende, als des Königs Krieger ein in der Nachbarschaft eines der dem Untergang geweihten Klöster gelegenes Dorf plünderten und brandschatzten. Hätte Imre zu diesem Zeitpunkt nicht eingegriffen und dem Treiben seiner übermütig gewordenen Raufbolde Einhalt geboten, es wäre möglicherweise zu einem Aufstand gekommen. Doch mochte der Michaeliten Zorn, als der Sommer verging, sich vielleicht gemäßigt haben, auf gar keinen Fall traf das zu für den Grimm der Willimiten. Ermutigt durch die nun überall verbreiteten Gerüchte vom Kommen eines Haldane-Erben, verrichteten kleine Haufen von willimitischen Rächern des Nachts ihr tödliches Werk, erschlugen zwei Dutzend und einige Deryni mehr, deren Verbrechen die Gerechtigkeit bis dahin unbeachtet und ungestraft gelassen hatte. Schließlich ereilte das Schicksal gar einen königlichen Prinzen – Termod von Rhorau, einen Vetter des Königs –, und Imre konnte nicht länger über die Willimiten hinwegsehen. Außerhalb Gwynedds breitete sich das Strafgericht der Femen selbst bis nach Kheldour aus, bis weit in des Reiches Norden, wo noch menschliche Herren unter argwöhnischer Duldung durch die derynische Oberschicht ihre Angelegen-
heiten selber verwalten. In äußerster Wut beschloß Imre, die Mörder diesmal ausfindig zu machen und die Willimiten ein für allemal zu zerschmettern. Des Königs Heerscharen erwiesen sich unter dem Befehl des Grafen Santare erheblich befähigter und erfolgreicher beim Zusammentreiben von waffenlosen Landsleuten als sie sich bei der Verfolgung des Michaelitenordens gezeigt hatten. (Im Laufe der sieben Monde lang eifrig betriebenen Suche nach Angehörigen des in Ungnade gefallenen Ordens waren weniger als ein Dutzend Michaeliten ergriffen und allesamt auf grausamste Weise hingerichtet worden.) Als der Herbst anbrach, hatte man insgesamt mehr denn achtzig Willimiten, darunter die Führer ihres Bundes, entlarvt und festgesetzt, sie der Folter unterworfen und zur Abschreckung gerädert und gevierteilt. Imre, ermutigt durch die sichtlich immer geringere Anzahl von Widersachern, begann sich weniger und seltener um jenen Gegner zu sorgen, den er nicht sah, an dessen Vorhandensein er unterdessen schon zu zweifeln angefangen hatte. Nicht von einem einzigen der durch seine Häscher ergriffenen Michaeliten oder Willimiten war irgendein Beweis für das Dasein eines angeblichen Haldane-Erben zu erhalten gewesen. Als der St.-Michaels-Tag kam und verstrich, faßte Imre um so stärker neuen Mut. Während die Adventszeit näherrückte fiel's ihm noch leichter, in den zum Winteranfang üblichen Lustbarkeiten zur Gänze die Sorge um ein Unheil zu vergessen, das wahrscheinlich nie kam. Überdies war mittlerweile fast ein Jahr herumgegangen, seit die MacRories aus aller Blickfeld entschwanden. Im Verborgenen pflegte der verheißene Retter sei-
nes Volkes weiterhin der Vereinzelung. Obschon er sich inzwischen von seiner im Maienmond erlittenen Heimsuchung vollauf erholt hatte – zumindest in rein körperlicher Beziehung –, blieb das erhoffte Auftreten derynischer Fähigkeiten aus. Cinhil las und lernte, wie man's von ihm erwartete, und hatte sich anscheinend in das ihm zugedachte Geschick gefügt; nach einigen Wochen angespannter Stimmung nahm er auch wieder seine nachmittäglichen Zusammenkünfte mit Evaine auf, doch ergab sich dabei nie wieder die Vertraulichkeit ihrer früheren Gespräche. Die Michaeliten setzten ihre Vorbereitungen fort, das bereits gewohnte Leben am Zufluchtsort nahm seinen Gang; Camber jedoch machte sich Sorgen um die Zukunft – darum, was werden mochte, wenn das Kind geboren war und sie in allem Ernst die Thronnahme angehen mußten. Auf alle seine insgeheimen Fragen gab es keine einfachen, augenfälligen Antworten. Cinhils Sohn erblickte das Licht der Welt am Festtag des Hl. Lukas, ganz wie's sich hatte absehen lassen; und mit seinem ersten lebhaften Schrei begannen sich seines Vaters Gemütszustand und seine geistige Einstellung zu ändern. Noch immer zeigte Cinhil keinerlei Anzeichen irgendwelcher derynischer Kräfte, und er äußerte sich nicht im geringsten darüber, aus welchem Grunde es denn möglich sein möchte, daß ihre Anwendung ihm nach wie vor verschlossen sei. (Camber argwöhnte, daß er sie nicht benutzen wollte. Sie hatten unter sich nochmals den gesamten Vollzug des Rituals durchgesprochen, doch nirgends, zumal angesichts von Cinhils derzeitig erwartungsgemäßem Verhalten, die Möglichkeit eines Fehlers entdeckt.)
Aber nach des Kindes Geburt lächelte der Prinz häufiger. Und eines Abends, als er mit Evaine und Rhys beim Mahle saß, machte er sogar einen Scherz. Das Ereignis von seines Sohnes Geburt erwies sich in gewisser Weise als ein denkwürdiger Wendepunkt. Obwohl sich Cinhil große Mühe gab, daß man's ihm nicht anmerke, war's alsbald für jedermann offenkundig, daß der Prinz mehr als nur ein bißchen stolz war auf seinen Erben. Ohne jede diesbezügliche Anregung schlug er vor, daß man gerechterweise alle Bewohner der Zufluchtsstätte zu des Säuglings Taufe einladen solle. Er entwickelte sogar Interesse daran, mit Joram die Einzelheiten abzustimmen. Camber übermittelte des Prinzen Einladung mit Erleichterung der Allgemeinheit und setzte den Tag fest. Es sollte der 6. November sein, der Festtag des St. Illtyd. Das Taufzeremoniell sollte zur sechsten Stunde desselbigen Tages stattfinden. Während des Mondes vor der Taufe bekamen nur wenige den königlichen Knaben oder seine Mutter zu sehen, denn Prinzessin Megan hatte trotz Rhys' bester heilkundiger Bemühungen eine außerordentlich schwere Geburt durchstehen müssen. Cinhil stützte sie am Ellbogen, als sie Seite an Seite die Kapelle betraten, und obgleich ihre Miene ihr Mutterglück bezeugte, war sie doch noch etwas unsicher auf den Beinen. Evaine trug den jungen Prinzen, begleitet von Rhys, der zu ihrer Linken ging, zum Taufbecken. Cinhils Blick verriet beinahe ungläubige Ehrfurcht, und dem äußeren Anschein zufolge bemerkte er gar nicht die Häupter, welche sich ringsum neigten, als er mit seiner Prinzessin der Kapelle Gewölbe betrat, so ungeteilt galt seine Aufmerksamkeit dem Kind, das
munter, umhüllt von Seide, in Evaines Armen zappelte. Auch als Erzbischof Anscom die förmlichen Worte der Taufe begann, wich sein Blick nicht von seinem Sohn. »In nomine Patris, et Filii et Spiritus Sancti.« »Amen.« Rhys und Evaine, welche auserkoren waren zu des Kindes Paten, standen am Taufbecken, gegenüber von Joram und Anscom sowie einem Michaeliten, den Anscom aus Valoret mitgebracht hatte. Des Erzbischofs harsche Stimme erreichte jeden Winkel zwischen den rautenflächigen Wänden der Kapelle. »Exorcizo te, creatura salis, in nomine Dei...« Als Anscom das Salz segnete, welches der Geistliche zu seiner Linken hielt, reckte Cinhil den Hals, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen; dann nahm er Megans Arm und schob sie an eine Stelle links von Rhys, wovon aus sie ihren Sohn besser sehen konnte. »Aidanus Alroi«, erscholl Anscoms Stimme, »accipe sal sapiente...« Empfange das Salz der Weisheit... Der Säugling prustete und strampelte, als das Salz seine Zunge berührte, aber Evaine koste und wiegte ihn ein wenig, und er beruhigte sich sogleich. Anscom, für den das Aufbegehren vom Salz verärgerter Säuglinge zum Gewohnten zählte, fuhr unverdrossen mit dem Zeremoniell fort und breitete das Ende seiner Stola über des Kindes Leib. »Aidanus Alroi, ingredere in templum Dei...« Betrete den Tempel Gottes... Nachdem der Erzbischof das Kind an der Brust und zwischen den Schulterblättern mit Öl gesalbt hatte, wandte er sich an Rhys. »Aidanus Alroi, credis in Deum, Patrem omnipotentum, Creatorem coeli et terra?« »Credo«, antwortete Rhys an seines Patenkindes
Stelle. Ich glaube. »Credis in Jesum Christum Filium ejus unicum, Dominum nostrum?« »Credo.« »Credis in Spiritum Sanctum et sanctam Ecclesiam?« »Credo.« »Aidanus Aloi, vis baptizari?« »Volo.« Ich will. Anscom lächelte andeutungsweise, als er die silberne Kanne ergriff, die das Taufwasser enthielt. Er vermochte sein Vergnügen kaum noch zu verbergen, als er sich umwandte und die Kanne dem Prinzen darbot. »Wünschen Eure Hoheit Eurem Sohn dies Sakrament zu spenden?« Cinhils Kinn sank herab, und seine Augen weiteten sich. »Ich, Euer Gnaden?« »Im Zweifelsfalle ist's so, daß auch ein Laie taufen kann, Cinhil«, lautete Anscoms Entgegnung, und er lächelte breiter, als er sah, daß Cinhil zu begreifen anfing. »Ich glaube, wenn jemand ganz gewißlich dazu das Recht hat, dann Ihr.« Cinhil starrte den Erzbischof an, als könne er noch immer seinen Ohren nicht trauen, und sein Antlitz spiegelte eine solche Freude wider, wie man sie seit vielen Monden in seiner Miene nicht erblickt hatte. »Kann denn das wahr sein?« flüsterte er. »Das wird mir gestattet?« Anscom nickte sanftmütig und drückte dem Prinzen die Kanne in die Hände. »Fiat, Frater«, sprach er leise. Demütig neigte Cinhil sein Haupt, hielt die Kanne an seine Brust und verbeugte sich zum Zeichen seines Dankes; dann kehrte er sich nach seinem Sohn um.
Das Kind lag nun wieder ruhig in Evaines Armen, und als Cinhil sie näher zu sich winkte, gähnte der Säugling und machte den Eindruck, als wolle er nun gar einschlafen. Evaine stellte sich so zurecht, daß sie das Kind übers Taufbecken halten konnte, und Rhys legte seine Rechte an des Knäbleins Schulter. »Aidanus Alroi Camberus«, begann Cinhil mit gedämpfter Stimme und goß, wie's vorgeschrieben war, dreimal Wasser über des Kindes Scheitel. Camber richtete seinen Blick überrascht auf Cinhil, als der Prinz jene Namen sprach, denn er hatte nicht gewußt, daß der königliche Erbe auch seinen Namen erhalten sollte. »Ego te baptizo in nomine Patris, et Filii et Spiritus Sancti. Amen.« Doch als Cinhil die Kanne zurück an ihren Platz stellte und nach dem Tuch griff, das ihm Joram reichte, erstarrte Rhys plötzlich, dann legte er beide Hände auf des Knäbleins Haupt. Der Säugling wimmerte, hustete und ließ einen leisen Seufzlaut vernehmen; danach blieb er reglos und still. Während Rhys' Kinn in tiefstem Schrecken herabsackte, heftete Cinhil seinen Blick mit einem Ruck auf das Kind. »Süßer Jesus, was ist mit ihm? Warum regt er sich nicht? Er atmet ja nicht!« Benommen starrte Rhys geradeaus, wagte nicht das Gräßliche auszusprechen, das unter seinen Händen geschehen war, und Evaine hob ihren starren Blick, der von Fassungslosigkeit zeugte, in des Prinzen Antlitz. »Er... er ist tot, Cinhil«, sprach sie mit zaghafter Stimme. Vielleicht fünf Herzschläge lang war in der Kapelle nicht der allerleiseste Laut zu hören; dann erst stieß Prinzessin Megan einen erstickten Schrei aus und verlor die Besinnung. Guaire d'Arliss fing sie in sei-
nen Armen auf, als sie niedersank, und sein erschrokkener Ausruf – »Edle Dame!« – brach endgültig die schreckenskalte, grausige Stille im Innern der Kapelle. Cinhil wandte sich ihr entsetzt zu, aber im selbigen Moment griff er sich in sichtlichem Schmerz an die Brust und begann zu wanken. Er fand Halt am Rande des Taufbeckens, stützte sich unsicher darauf, schwankte wie trunken, verkniff seine Lider und schüttelte das Haupt, als versuche er sich von irgendeiner Gewalt zu befreien, die ihn in ihren Bann zu schlagen trachtete. Seine Knöchel traten an den Händen weiß hervor, als er sich in seiner Pein über des Taufbeckens Einfassung krümmte, und seine Lippen entfloh ein gedehnter, beinahe tierischer Schrei, während er hinab ins Wasser starrte. Dann straffte er sich ruckartig und mit wilder Gebärde und blickte wütig um sich, furchtbarer Grimm leuchtete in seinen Augen. »Man hat meinen Sohn getötet!« schrie er, während sein Blick jeden der Umstehenden wie ein Faustschlag traf. »Man hat meinen Sohn ermordet, und nun will man mich verderben!« »Wer ist's, der Euch zu verderben sucht, Cinhil?« wandte sich Camber an ihn. »Nennt Eure Bedränger! Sagt, was Ihr spürt!« Seiner Augen Blick schweifte durch die Kapelle und forschte nach irgendeinem Anzeichen von Feindseligkeit zu entdecken, keinerlei gegenwärtige Bedrohung. Wenn jemand Cinhil ans Leben wollte, so mußte es ein unerhört geschickter Angreifer sein. »Nein, nicht ›man‹... er!« Cinhil keuchte und röchelte. »Er ist in dieser Räumlichkeit! Er ist einer, dem wir vertrauten.« Er fuhr auf, als Rhys Anstalten
machte, als beabsichtige er ihn zu besänftigen. »Rührt mich nicht an!« Urplötzlich wirbelte er herum und entriß Evaine den toten Säugling, drückte ihn an sich, als könne er ihn noch schützen, während er in die Richtung des Altars zurückwich. »Wir werden ihn finden, Aidan«, flüsterte er mit vom Schmerz zerrissener Stimme. »Wir werden dich rächen!« »Cinhil!« Camber's Stimme durchdrang der Kapelle Gewölbe und das allgemein im Ansteigen begriffene Entsetzen mit einer Schärfe, als habe er laut gerufen, doch hatte er die Stimme in Wahrheit nur ein wenig angehoben. »Cinhil, Ihr vermögt nichts für ihn zu tun. Überlaßt Rhys das Kind. Vielleicht kann er...« »Nein. Er ist tot.« Des Prinzen Stimme klang ausdruckslos und bleiern schwerfällig. »Ich weiß es mit jener unanfechtbaren Sicherheit, Camber, die Ihr selbst mich zu lehren versucht habt.« Sein gleichsam eherner Blick wanderte erneut rundum. »Einer hier hat mich verraten.« »Hat er den Verstand verloren?« flüsterte Joram seinem Freund Rhys zu. Rhys schüttelte sein Haupt. »Nein. Das Kind hat Gift bekommen... ich glaube, mit dem Salz. Ich...« Der Prinz hatte jeden in der Kapelle mit seinem eindringlichen Blick einer Prüfung unterzogen und strebte nun wutentflammt zurück zu der Kapelle Mittelpunkt; dort starrte er in glutheißer Erbitterung einen Mann in der Tracht des Michaelitenordens an – jenen Geistlichen, der Anscom beim Taufzeremoniell geholfen hatte. Des Mannes Augen waren ruhig, entbehrten jeglichen Ausdrucks, bis Cinhil um einen Schritt vortrat und ein einzelnes Wort flüsterte.
»Du!« Daraufhin richteten sich aller Anwesenden Augen auf den Geistlichen, und jene in seiner Nähe schraken zurück, als des Mannes Verhalten sich änderte. Seine Augen belebten sich, er straffte seine Haltung – und dann hob er die Arme, um derynische Geisteskräfte zu entfesseln, seine Finger regten sich zum Zwecke der Gewährleistung gewisser derynischer Angriffsarten und Verteidigungsmöglichkeiten. Unwillkürlich warf Cinhil in einer Geste der Abwehr einen Arm in die Höhe, und ein schwaches Flirren rosaroten Feuers verschleierte sein Antlitz. Unerschrocken musterte er den Mann, derweil alle übrigen Anwesenden an die steinernen Wände zurückwichen. »Du, ein Priester, würdest es wagen, die Hand wider deinen Bruder zu erheben?« fragte mit leiser Stimme Cinhil, sich dessen, was er soeben getan hatte, nicht bewußt. Der Michaelit schwieg; er stand nur da und starrte den Haldane-Erben aus glühenden Augen an. Am Mittelpunkt der Kapelle ballten sich ungeheure Kräfte zusammen. Cinhils Angreifer mochte ein geübter Deryni sein, wogegen Cinhil zumindest unerprobt war, doch keiner von beiden säumte nur lange genug, um den Bereich ihrer Auseinandersetzung mit einem Schutzwall zu umgeben. Camber, der für die Menschen in ihrer Mitte fürchtete, gab seinen Artgenossen ein Zeichen, daß es gelte, die übrigen Anwesenden abzuschirmen. Seine Mahnung erfolgte gerade noch zur rechten Zeit, denn Cinhils nächste Worte brachten die Luft selbst ins Erbeben, die alten, höchster Ehrfurcht würdigen Wendungen hallten wider von Bogenwölbungen, Querstreben und mit Mosaiken ausgelegten Flächen. Cinhils Worte schufen kar-
mesinrotes Feuer, das ihn einhüllte, ihn umtanzte, eine lebendige Flamme, die jene außerhalb ihres Kreises weniger sahen denn fühlten und spürten. Es war dies ein Feuer, das man, wenn überhaupt, am ehesten in den Augenwinkeln wahrnahm, das sich der Begutachtung entzog, sobald man es geradeheraus ins Auge fassen wollte, und das dennoch tödlich wirkte, erfaßte es einen Ungeschützten. Cinhil stand aufrecht und im Gebaren eines fürchterlichen Rächers, den toten Sohn an seinen Busen gepreßt. Der Michaelit nahte sich ihm inmitten eines goldgelben Dunstes; nur ein paar Schritte weit trennte sie noch glitzrige Luft voneinander. Die Luft flimmerte von angestauten Gewalten, helle Lichtbogen schlugen ihre lichten Wurzeln vom einen zum anderen Mann, nur um an Schilden aus reiner geistiger Kraft abzuprallen. Scharfer, schwefliger Geruch verbreitete sich, ähnlich der geladenen Luft in der Stille vor einem Gewitter. Im Zustrom geistiger Kräfte der anschwoll, flackerten die Kerzen und loderten heftig. Das Summen und Sirren der Kräfteballung hallte im Felsengewölbe der Kapelle, und die gestauten Gewalten umwaberten die Häupter der beiden Widersacher wie irrwitzige, mißlungene Heiligenscheine. Eine ungeheuerliche Woge von Geisteskraft löschte endlich alle Kerzen, und einen Moment lang hörte man in der Düsternis den Wind stöhnen. Da schwoll dieses Windes Brausen zu einem Heulen empor, und die Versammelten vermochten das Grollen zweier Stimmen zu unterscheiden, die in wortloser Machtentfaltung überm Abgrund finster einander widerstritten, welchen der Zusammenprall auf Leben oder Tod unwiderruflich für einen der zwei Kämpfer aufgerissen hatte. Immer
stärker spürte man den Druck, und die Zuschauer versuchten ihre Ohren ihre Augen und ihren Geist vor den auf geistiger Ebene überdeutlich wahrnehmbaren Un-Lauten, Nicht-Anblicken und UnGedanken zu verschließen, welche von allen Seiten auf ihre Sinne eindrangen. Endlich taumelte der Michaelit und stieß einen dumpfen Schrei der Verzweiflung aus, und die tranceartige Starre floh nun seinen Blick, als er flehentlich die Arme ausstreckte und zuletzt den Fußboden maß. Urplötzlich verstummte jedes Geräusch, Totenstille herrschte, und Schwärze war in der Kapelle. Inmitten seiner im Erlöschen befindlichen Aura, das lebendige Licht seiner nun offenbar gewordenen Fähigkeiten, seine Arme noch immer wie zum Schutze um die kleine Gestalt seines toten Sohnes geschlungen. Camber war's, der schließlich den Mut dazu aufbrachte, das Schweigen und die Anspannung zu brechen, indem er seinen Platz an der Wand verließ und die Kerzen wieder anzündete. An seinen Fersen folgte ihm Anscom, der sich bedächtig an die Seite des gefällten michaelitischen Geistlichen begab, dort niederkniete und sich des Mannes Haupt stumm in den Schoß bettete. Rhys kam herbei und senkte eine Hand auf des Michaeliten Stirn, doch der Geistliche war tot. Daraufhin drang Rhys gemeinsam mit Anscom in des Toten Gedächtnisreste ein; der Heiler bahnte für Anscom den nunmehr finsteren Weg zu jenen wenigen Kenntnissen, die sich noch erhaschen ließen. Als Anscom nach einer Weile sein Haupt hob, geschah es, um seinen von Schrecken erfüllten Blick auf Cinhil zu richten. Er stand nicht auf, sondern neigte beschämt sofort wieder das Haupt. »Vergebt
mir, mein Prinz. Leider trifft die Schuld an diesem entsetzlichen Vorfall teilweise mich. Ich hätte ihn nicht mitbringen dürfen. Er berichtete mir, daß Imres Büttel ihm im Frühling nachgestellt hätten – und das war der Grund, warum ich ihn in meinen Schutz nahm. Doch es war ihm unmöglich, mir zu sagen, daß Imres Leute dabei auch Erfolg hatten. Er... er ist für seine Tat nicht schuldhaft verantwortlich. Ich bitte Euch, verzeiht ihm.« »Der König hat das getan?« fragte Cinhil. Seine Stimme besaß einen dunklen, bedrohlichen Klang. »Ja, mein Prinz«, entgegnete im Flüsterton Anscom. »Er vermag eines Mannes Geist dergestalt zu entstellen, daß er eine so schmähliche Tat gar wider den eigenen Willen begeht?« Anscom nickte, da er nicht nochmals zu sprechen wagte, und Cinhil richtete seinen fürchterlichen Blick auf Camber, auf die übrigen Versammelten, die rundum standen, ließ seinen Blick über sie hinwegschweifen, ohne sie wirklich zu sehen. Dann trat er langsam zwischen Anscom und Rhys, die beiderseits des toten Geistlichen knieten, kauerte sich nieder und legte sachte eine Hand auf des Toten Schulter. »Da ein Stärkerer dich gezwungen hat, da du selbst weder mir noch meinem Sohn ein Übel wünschtest...« Die Stimme wollte ihm den Dienst versagen, aber er behielt sie in der Gewalt. »Deshalb verzeihe ich dir.« Hastig erhob er sich, und seine Miene war im Kerzenschein schrecklich anzuschauen. »Für ihn jedoch, der dir und mir dies Verbrechen zugefügt hat, für ihn kann's weder in dieser noch in der nächsten Welt Verzeihung geben. Wehe dir, Imre von Festil, dir und allen deiner ruchlosen Abstammung und deines feigen Blutes, welche
wehrlose Kindlein erwürgen und aufrechte Männer zu Sklaven unterm Joch des Bösen machen! Sie werde ich rächen und alle, die unter deiner Macht Leiden erdulden mußten! Ich, Cinhil Donal Ifor Haldane, schwöre es dir, ich schwöre es bei meinem Glauben, bei der Krone von Gwynedd, die meine Vorväter trugen und die ich tragen werde sobald ich dich zermalmt habe, und ich gelobe es beim Leichnam meines gemordeten Sohnes! Dein Wüten muß ein Ende haben!« Und wahrend der Prinz von Gwynedd solchermaßen aufrecht und hochgewachsen unter den Augen Gottes und der Mannen stand, derweil das Leuchten rings um sein Haupt erlosch und er sich wieder in einen lediglich ein wenig höhergestellten Menschen verwandelte, beugte sich rundum jegliches Knie in uneingeschränkter Treue, senkte sich zu seinen Ehren ein jedes Haupt. Auch Camber, der mit den anderen Anwesenden niederkniete, versuchte seine Besorgnis zu vergessen.
21 Denn aus dem Kerker ist er auf den Thron gekommen und war doch arm geboren, als jener noch König war. Prediger 4,14 Sie begruben den jungen Prinzen Aidan in einer kleinen Grabkammer unterm Fußboden der Kapelle, wo ihn der Tod ereilt hatte; das taten sie am Festtag der vier Gekrönten, denn jene waren Jahrhunderte zuvor ebenfalls unter königlicher Tyrannei zu Märtyrern geworden. Zunächst ließ Cinhil, furchtbar in seinem Gram und Grimm, keinen anderen den Leichnam berühren, sondern wachte für eine Nacht, einen Tag und noch eine Nacht allein in der kalten Kapelle, ohne zu schlafen oder Speise und Trank zu sich zu nehmen. Erst am Morgen des zweiten Tages seiner Totenwache ließ er wieder andere eintreten, und man legte das Kind in einen winzigen Schrein und übergab es dem Grabe. Cinhil sprach fortan kein Wort mehr über das furchtbare Ereignis. Auch den gefallenen Geistlichen setzte man in der Kapelle bei, allerdings um einen Tag später, und um ihn zu betrauern, fanden sich nur Camber und die Michaeliten ein. Alister Cullen vollzog die schlichten Riten der Beisetzung. Später sollte in die Felswand, worin er lag, ein Stein mit einer Inschrift gesetzt werden, doch mußte die Inschrift kurz ausfallen, wie's seit jeher für jeden Michaeliten gewesen war, der im Glauben starb: Hier
ruht Humphrey von Gallareaux/Priester des Heiligen Michael. Nur diese Worte sowie der Tag seiner Geburt und jener seines Todes. Darüber hinaus konnten sie für ihn nichts tun. Cinhil war nach dem Zwischenfall stark verändert. Hatte er zuvor zurückgezogen und in Mißstimmung gelebt, so war er nun gemütskalt, unbarmherzig, hart wie Stein, sogar im Umgang mit seinen Verbündeten. Er war nicht länger der ruhige, von Schuldgefühlen gemarterte Priester cum Prinz, der mit seinem Gewissen darum ringen mußte, daß es sich mit seiner neuen Berufung abfand, sondern nun zeigte er gleichmütiges Interesse an allen Einzelheiten der Vorbereitungen zur Thronnahme, welche man mit immer fieberhafterer Geschäftigkeit vorantrieb; jedoch wies seine Anteilnahme die düstere Färbung von Rachsucht auf, und seine innerste Gleichgültigkeit verlieh seiner Mitwirkung eine gewisse Oberflächlichkeit. Ihm lag daran, genau ihre Kampfkraft zu kennen, zu wissen, an welchem Ort und welcher Stelle die verschiedenen Stoßtrupps ihre Schläge führen sollten, sobald sie ihre Befehle erhielten, er legte Wert darauf, die einzelnen Befehlshaber zu kennen, und schenkte seine Aufmerksamkeit den Voraussetzungen, welche für die unterschiedlichen Schachzüge des Handstreiches gegeben waren oder noch geschaffen werden mußten. Vor allem anderen jedoch wollte er endlich Klarheit über den Zeitpunkt haben. Das Warten erfüllte ihn nun mit Unruhe. Man gab ihm auf seine Fragen die entsprechenden Auskünfte, obschon Camber insgeheim noch einige Bedenken hinsichtlich des Prinzen Beweggründe hegte. Die michaelitischen Ordensritter, so erfuhr der Prinz, waren für den großen Schlag
gesammelt und eingeteilt, fünfzig von ihnen standen hier im Schoß der Berge in Bereitschaft, eineinhalb Hundertschaften harrten zu Dhassa. Auch ein Volksaufgebot von fünfhundert Mann stand bereit, von Camber während einer Anzahl von Aufenthalten im Lande unbemerkt angeworben, um Valoret von außen zu bestürmen, falls der Michaeliten Handstreich im Herzen der Hauptstadt mißlang. Imres Sturz sollte am 1. Dezember erfolgen, an dem Abend, da Imre festlich seinen Adventshof zu eröffnen pflegte, da jeder von irgendeiner erheblichen Bedeutung und von Rang im Königreiche in Valoret weilte, und dort – was noch wichtiger war – innerhalb von der Königsburg Mauern. Urteilte man nach den Erfahrungen von Imres vorherigen Adventsfestlichkeiten, so durfte es auch diesmal eine Nacht der Zecherei und liederlicher Ausschweifungen werden, kurz gesagt, die allergeeignetste Gelegenheit für Widersacher, um in die Königsburg einzudringen, unachtsame Wachen zu überrumpeln, ein Herrschergeschlecht zu stürzen. Sie erfuhren auch mehr über den Mann, der Prinz Aidan den Tod gebracht hatte. Es handelte sich nicht um einen Fall wohlbedachten Verrats. Imres Maßnahmen, die Humphrey betrafen, hatten allein aufgrund gewisser Umstände zu diesem schweren Schlag geführt. Als er in Gefangenschaft geriet, hatte Humphrey weder mit Sicherheit um den HaldaneErben gewußt noch den Ort der Zufluchtsstätte gekannt; das sah auch Imre ein, sobald es ihm gelang, Humphreys Willenskraft zu brechen. Doch für den Fall, daß Humphrey jemals einem solchen Manne begegnete oder wenigstens von ihm vernahm, hatte Imre in des Michaeliten Geist eine Saat des Verrats und
des Vernichtungsdranges gepflanzt. Der König ließ Humphrey frei, nachdem er aus seiner Erinnerung die Tatsache der Gefangenschaft getilgt hatte; Humphrey glaubte statt dessen, einer Gefangennahme mit knapper Not entronnen zu sein. Ein natürlicher Entschluß war's daher von ihm, sich unter Erzbischof Anscoms Schutz zu begeben; und Anscom nahm Humphrey arglos auf. Er handelte im Gefühl der größten Selbstverständlichkeit, als er Humphrey, da die Zeit kam, um Cinhils Erben zu taufen, mit zur Zufluchtsstätte nahm, waren doch die Michaeliten dieses Geistlichen Brüder. Pflichtgemäß unterrichtete man Cinhil auch von diesen Erkenntnissen, so wie man ihm alle Neuigkeiten zuleitete, die man erfuhr; und die Kunde besänftigte ein wenig des Prinzen Herz gegenüber jenem Manne, dessen leibliche Hülle seinem Sohn einen weit verfrühten Tod verursachte. Doch wenngleich Cinhil fortgesetzt ein erstaunliches Einfühlungsvermögen entfaltete, was das Planen der kriegerischen Seite ihres Unterfangens anbetraf, mit der man ihn nun beständig bedrängte, wich nicht seine Zurückhaltung von ihm, welche immer stärker einherging mit einer Abneigung wider die Deryni, den Umständen von Humphreys Tat zum Trotze. Camber spürte des Prinzen Widerwillen in wachsendem Maße, und seine frühere Besorgnis fand durch Cinhils Verhalten Bestärkung; er besprach sich diesbezüglich mehr als einmal mit seinen Verwandten und Gefährten, doch gab's nichts, das sie in dieser leidigen Angelegenheit hätten unternehmen können. Es ließ sich nur hoffen, daß sie sich niemals in allem Ernste damit auseinandersetzen mußten. In den Wochen, die sich dem traurigen Geschehen
anschlossen, war's wohl Cinhils Prinzessin, die am meisten und schwersten litt. Obwohl sie alsbald von neuem mit einer Schwangerschaft gesegnet war, weil Cinhil eingesehen hatte, daß man sich so eilends wie nur möglich eines neuen Erben vergewissern mußte, glich sie bloß noch einem gespenstischen Schatten jener springlebendigen, empfindsamen Jungfer, die vor nicht ganz einem Jahr mit Kühnheit kam, um des Haldane-Prinzen Braut zu werden. Das geringste Maß an Beachtung durch ihren Gemahl hätte ihr Herzeleid ganz beträchtlich gelindert, aber Cinhil war zu beschäftigt und betriebsam, um ihr Bedürfnis zu erkennen. Vor den Augen der Allgemeinheit benahm er sich auf sanftmütige, nachsichtige Weise höflich zu ihr, wie's der Mutter seines künftigen Erben zurecht angedeihen mochte, und man konnte ihm nicht nachsagen, daß er mit ihr Mißbrauch treibe oder sie auch nur vernachlässige, aber ihr Verhältnis war gekennzeichnet durch eine kühle Vordergründigkeit, als habe seine Bestimmung als Prinz von Gwynedd und Retter des Volkes ihn der Fähigkeit beraubt, Liebe zu schenken und Liebe zu empfangen Zwar hatte er allem Anschein zufolge seine Berufung zum Prinzen mittlerweile endgültig anerkannt, aber dennoch haftete ihm eine immer deutlicher spürbare Weltfremdheit an, welche nicht ausschließlich seiner Frömmigkeit entsprang, wiewohl diese nach wie vor ein unveräußerlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit blieb, sondern vielmehr eine Art von gefühlskalter Losgelöstheit war, eine Entfremdung des Gemüts von gefühlsmäßiger Wahrnehmung der Ereignisse, eine Haltung des Gleichmuts gegenüber den Dingen, die zukünftig geschehen mußten, wenn sie alle das liebe
Leben behalten wollten. Camber beobachtete all das mit Kummer; er grämte sich zwiefach, da er Megan liebte wie ein Vater und mitansehen mußte, wie sie allein litt, während sie am stärksten der Liebe ihres Gemahls und seines Zuspruchs bedurfte. Camber wußte ja, was es bedeutete, ein Kind zu verlieren. Er hatte einen Sohn hingeben müssen, und er besaß darüber volle Klarheit, daß er auch das Leben weiterer Kinder ebenso wie sein eigenes Leben zu opfern bereit sein mußte, sollte es denn notwendig sein, falls es keinen anderen Weg gab, um ihrem Bestreben zum Siege zu verhelfen. Doch war's eines, ein Kind im Ringen mit dem Feind zu verlieren; aus Mangel an Zuneigung dahinzusiechen, war etwas ganz anderes. Er selbst sowie Evaine und Rhys gaben sich besondere Mühe, um Megan mit Trost zu versehen, doch blieben ihre Anstrengungen ein armseliger Ersatz dafür, was Megan in Wirklichkeit brauchte. Man konnte nur hoffen, daß Cinhil in absehbarer Frist ein Einsehen hatte und begriff, was er ihr antat. Der Abend des ersten Dezembertages sah alle ihre Vorbereitungen aufs beste abgeschlossen, und schon waren die ersten Schritte unwiderruflich eingeleitet. Am späten Nachmittag hatten die fünfzig michaelitischen Ordensritter, welche auf dem Wege durch eine Porta Itineris den Angriff in die Königsburg selbst vortragen sollten, an einer der Sache Cinhils besonders geweihten Messe teilgenommen und ihre Schwerter für die heilige Schlacht segnen lassen, in deren Verlauf einige von ihnen ein ritterliches Ende erfahren mochten. Die restlichen anderthalb Hun-
dertschaften von Michaeliten, welchselbige dem Befehl James Drummonds und Herrn Jebedias von Alcara unterstanden, waren vor der Porta Itineris zu Dhassa bereit zur Versetzung in des Erzbischofs Gemächer zu Valoret. Ihnen fiel die Aufgabe zu, die Stadt zu nehmen, ihre Wachmannschaften zu überwältigen und dafür zu sorgen, daß niemand außer Haldane-Getreuen durch die Stadttore gelangte. Nachdem der letzte Segen erteilt war, verweilten nur die Fürsten noch in der Kapelle – Cinhil sowie Camber und seine Verwandten –, und die Waffenlosen blieben ohnehin ganz zurück. Die Männer waren in Hauberte und Helme gewappnet und hatten die wuchtigen Kriegsschwerter umgegürtet; ihre Wappenröcke und Adelskronen kündeten vom jeweiligen Rang und Namen. Cinhil allein war nicht wie die anderen gekleidet – und das war auf seine Art bereits so etwas wie ein Sieg. Ursprünglich hatte Cinhil völlig unbewaffnet zu ziehen beabsichtigt. Um die Tadellosigkeit seines Trachtens zu verdeutlichen, wollte er anfangs nur eine blütenweiße Robe mit einem Leibgurt anlegen; er war kein Krieger. Es dünkte ihn unangemessen, daß ein Priesterkönig wie herkömmlicher Kriegsmann mit gewöhnlichem Eisen und Stahl ausziehe, um den Erzfeind zu vernichten. Denn kein bloßer Stahl vermochte Imre von Festil zu überwinden. Die Damen seiner Umgebung jedoch setzten ihren andersgearteten Willen durch; sie gewährleisteten unfehlbar, daß ihr Prinz auszog, wie's einem König gebührte. Wochenlang hatten Megan, Evaine und Elinor gearbeitet, ihm aber beharrlich verheimlicht, woran sie sich betätigten. Und am Nachmittag vor der
Schlacht, als sich Cinhil in seine Gemächer begab, um vor der Messe noch eine Zeitlang der inneren Einkehr und andächtigen Besinnung zu pflegen, da mußte er sich damit abfinden, daß ihn eine wahrhaft königliche Ausstattung erwartete. Niemals erfuhr er, woher der vergoldete Kettenpanzer stammte, doch besaß das Metall einen kühlen, unirdischen Schimmer, bei dessen Anblick er's vorzog, ihm lieber gar keinen Gedanken zu widmen. Diese Wehr war über einem Untergewand aus weißer Seide und einem Wams aus dem allerweichsten Leder zu tragen, welche seine Haut vor des Panzers Kettengeflecht schützte. Über die Beinkleider und Stiefel aus Leder gehörten schwungvoll gewölbte, erzerne Beinschienen mit feinen, zierreichen, mit Gold ausgelegten Ziselierungen. Gleichartig gefertigte Armschienen sollten seine Unterarme bewehren. Scharlachrote Handschuhe, auf deren Stulpen sich das Wappen der Haldanes erblikken ließ, ausgeführt in reicher Stickerei, waren das Geschenk Elinors, des gemeuchelten Cathans Witwe. Über allem war der knielange, karmesinrote Wappenrock aus Seide zu tragen, auf dessen Brust und Rückseite kühn der Goldene Löwe von Gwynedd leuchtete, genäht mit goldenem Zwirn. Alle diese Prunkstücke machten Cinhil sprachlos vor Staunen. Er legte das Untergewand, das gesteppte Wams, die Beinkleider an, stieg in die Stiefel; danach stand er für ein beachtliches Weilchen vorm Spiegel und betrachtete das kantige Kriegerantlitz, das ihn mit unerschütterlichem Blick maß. Schließlich rief er die Frauen zurück, damit sie ihm beim weiteren Ankleiden hülfen; ihm blieb keine andere Wahl. Er empfing sie mit Würde und dankte jeder einzeln; und er bat sie,
ihn auch zu wappnen. Es dünke ihn ziemlich, sprach er zu ihnen, daß ihn, einen Mann, der nie zuvor Eisen getragen hatte, jene Damen zu seinem Jungfernstreit rüsteten, denen er's danken mußte, daß er überhaupt in die Schlacht ziehen konnte. Also wappneten sie ihn, und wenngleich manche zarte Hand und mancher vornehm feine Finger sich in den Gurten und Schnallen verstrickten, füllten sich doch die Augen mit Freudentränen. Sobald sie fertig waren, gürtete Evaine ihm über den Wappenrock ein schlichtes Kriegsschwert, dessen Griff jedoch gestaltet war wie ein Kreuz. Das Weiß des Gurtes sei zur Verdeutlichung seiner Lauterkeit, erklärte Evaine, als sie ihm einen sachten Kuß auf die Wange gab. Dann trat sie zurück und vollführte einen feierlich tiefen Hofknicks; danach kam die Reihe an Megan. Die Prinzessin hatte ihr Geschenk bis zum Schluß aufgehoben und bescheiden im Hintergrund geharrt, während ihr Gemahl immer mehr das Aussehen und die Erscheinung eines Königs annahm. Indem sie kaum länger zu atmen wagte, so groß war ihre Erregung, brachte sie nun einen Kronreif zum Vorschein – nicht den einfachen, silbernen Stirnreif, mit welchem man ihn am Tage ihrer Vermählung zum Prinzen Gwynedds erkoren hatte, sondern einen schweren Reif aus umeinander verwundenem Gold und Silber, wovon stolz vier Kreuze aufragten. Der Prinzessin Hände begannen zu beben, als sie in Cinhils Augen blickte. Tief gerührt legte Cinhil seine Fingerkuppen an der Prinzessin Fingerspitzen, so daß sie den Kronreif zwischen sich hielten. Sie schluckte und wollte sich schon rücklings entfernen, doch da schüttelte Cinhil freundlich sein Haupt und schloß seine Hände
um die seiner Gemahlin. »Ich bitte Euch inständig, verzeiht mir, meine Dame. Ich habe Euch Härte spüren lassen, derweil ich Euch zur Dankbarkeit verpflichtet war... zur Dankbarkeit für meinen Sohn, für Euren Beistand, den Ihr mir gewährtet, wann immer ich dessen bedurfte.« Er senkte seinen Blick auf ihren Leib und erwiderte dann ihren Blick mit einem gezwungenen Lächeln. »Und für unsere Söhne, die da sein werden. Ihr müßt wissen, diesmal werden's zwei Kinder. Zwillingsknaben.« Die Augen der Prinzessin weiteten sich, denn zwar hatte Rhys sie davon unterrichtet, daß sie ein Kind unterm Herzen trage und es ein Knabe sein müsse, doch man sah ihr noch keinerlei Anzeichen an. Und wie konnte ihr Gemahl wissen, daß es sich um Zwillinge handelte? »Das... wißt Ihr, mein Herr?« »Ich weiß es«, lautete seine Antwort. »Ja, ich weiß.« Sie schaute abwärts und errötete auf die allerlieblichste Weise, und Cinhil befand, daß er sie noch nie so liebreizend gesehen hatte. Er war sich dessen bewußt, daß Evaine und Elinor im Hintergrund weilten, und ebenso der Möglichkeit, daß er ihnen mit diesem Moment offener Zärtlichkeit Verlegenheit bereiten mochte, aber er bekümmerte sich deswegen nicht; er hatte plötzlich darüber Klarheit gewonnen, daß er am heutigen Abend trotz seiner zusätzlichen Kräfte den Tod finden konnte, und sollte es so geschehen, dann durfte er dies liebenswerte, unverdorbene Weibsgeschöpf, das seine Gemahlin war, nie wiedersehen. Wie sonderbar es auch an ihn rührte, er dachte nun völlig unbefangen und mit Leichtigkeit in den Begriffen eines Gatten, ohne länger von Gewissensbissen beunruhigt zu werden. Unvermittelt reuten ihn die
Wochen der selbstauferlegten Absonderung von seinem Weibe, welche er damit verbracht hatte, über seiner Rache zu brüten, und in urplötzlicher Einsichtigkeit erkannte er, daß er nun, in diesem Moment, zumindest eine teilweise Wiedergutmachung erbringen konnte. Er hob den Kronreif um ein weniges höher und nahm ihn ihr aus den Händen. »Ich will diesen Beweis von meiner Dame Gunst unter einer Bedingung entgegennehmen«, sprach er und senkte seinen Blick in die Augen von schier unglaublichem Türkisgrün. »Nämlich unter der Bedingung, daß meine Dame diesen Kronreif zuerst trägt.« Er krönte mit dem Reif ihr weizenblondes Haupt. »Möge dies ein Zeichen der Herrscherwürde sein, die wir miteinander teilen, und der Regentschaft, die ich meiner Dame im Namen meiner Söhne übertrage, denn sollte ich die Nacht, welche sich naht, nicht überleben, meine Dame, so seid Ihr, die Mutter meiner Erben, Königin von Gwynedd.« Schimmrige Tränen verschleierten der Prinzessin Augen, als er den Kronreif wieder zwischen seine Hände nahm und ihn sich mit sichtlicher Entschlossenheit aufs Haupt setzte. Dann gab er ihr einen zarten Kuß auf die Lippen und geleitete sie und die beiden anderen Damen zur Messe in die Kapelle. Lang nach Mitternacht war's, als die Großfürsten von Gwynedd endlich König Imre auf dem Wege zum Prunkbett in seinen Turmgemächern heimleuchteten. Fast eine weitere halbe Stunde verstrich noch, bevor Erzbischof Anscom sich den restlichen Gästen unauffällig entziehen und die Burgkapelle aufsuchen konnte. Für Anscom war der Abend in äußerster An-
spannung und unter stärkster Beanspruchung seiner Geduld verlaufen, wußte er doch insgeheim, wie diese Nacht enden mußte. Weit schwerer als sonst war es ihm gefallen, artig zu den zahlreichen Speichellekkern und Schmarotzern zu sein, welche bei Hofe weilten und den Festsaal bevölkerten; mehr als einmal war er schroff gewesen und aufgebraust, wie's sich durchaus nicht in die Festlichkeit und ihre Ergötzungen fügen wollte. Da er sich so offenkundig unpäßlich fühlte, wandte sich der Obermundschenk sogar mit der höflichen Frage an ihn, ob er sich zurückzuziehen wünsche. Anscom hatte ihn jedoch dessen versichert, es handele sich lediglich um eine zeitweilige Gereiztheit seines Magens; und weil des Erzbischofs empfindliche Eingeweide am Hofe einer gewissen Bekanntheit nicht entbehrten, brachte der Obermundschenk ihm in lobenswerter Zuvorkommenheit einen Becher Ziegenmilch. Danach gab sich Anscom alle erdenkliche Mühe, um einen wohlgelaunteren Eindruck zu machen. Und dennoch, diese Festlichkeit zeichnete sich durch einige höchst sonderliche Eigenheiten aus; sie war voller Spannungen und Mißklänge, durchdrungen von unterschwelligem Irrwitz, von Erscheinungen, wie man sie gewöhnlich nicht von Imres Veranstaltungen kannte, zumal nicht von der Eröffnung seines Adventshofes, einem der festlichsten Anlässe des ganzen Jahres. Anscom fragte sich, ob Imre womöglich ahnte, daß etwas sich zusammenbraute, oder ob diese fiebrige Lustbarkeit lediglich ein Anzeichen des allgemeinen Unbehagens war, welches sich im Verlauf des vergangenen Jahres bei Hofe angestaut hatte. Übrigens fiel's auch auf, daß Imre in diesem Jahr Grün zur Farbe dieser Festlich-
keit erklärt hatte – nicht das inzwischen in der Erinnerung angekränkelte Weiß des letztjährigen Adventshofes. Vielleicht war's genau diese Erinnerung an die letzte Adventszeit, die Imre eine solche Beunruhigung einflößte. Anscom konnte dem König eine derartige Ruhelosigkeit durchaus nicht verdenken. Im Gegensatz zum vorherigen Mal blieb in diesem Jahr Prinzessin Ariella völlig aus; und eigentlich hatte sie auch niemand erwartet. Seit einiger Zeit sah man sie selten in der Öffentlichkeit, und den Gerüchten zufolge war sie seit einigen Monden ernstlich krank. Gehässigeres Geschwätz in den Mauern der Königsburg wollte zu vermelden wissen, bei Ariellas ›Krankheit‹ handele es sich um nichts, was nicht durch den Verlust eines binnen neun Monden angesammelten Gewichts bestimmter Art behoben werden könne, doch besprach man solche Mutmaßungen nirgends, wo sie dem König zu Ohren kommen mochten. Anscom selbst hatte sich in dieser Frage noch keine Meinung gebildet doch sollte Ariella tatsächlich ein Kind im Leibe tragen, so konnte es recht wohl das Ergebnis einer blutschänderischen Verbindung mit ihrem Bruder sein. Falls es sich so verhielt, konnte das Kind zu einer ernsten Gefahr für den Thron werden, sollte es leben doch das war eine Sache, um die man sich beizeiten zu kümmern hatte. Es bestand selbstverständlich die Möglichkeit, daß Ariella jener Greuel unschuldig war, welche man ihr nachsagte; Anscom jedoch hegte Zweifel an ihrer Unschuld. So verstrich denn die festliche Eröffnung des Adventshofes, wie dergleichen für jemanden verstreichen muß, der zwangsweise daran teilnimmt, seine
Zeit mit etwas zu vergeuden gehalten ist, woran teilzuhaben er nicht den gelindesten Wunsch verspürt. Das Festmahl bot eine Vielfalt annehmbarer Gerichte und Leckerbissen, doch fand Anscoms infolge seiner Anspannung trockener Gaumen wenig Geschmack an den Speisen; und der dargebotenen Unterhaltung haftete eine verkrampfte Fröhlichkeit an, welche nur ganz gelegentlich an aufrichtigen Frohsinn grenzte. Als des Reiches Großfürsten schließlich Fackeln entzündeten und den weit mehr als nur angetrunkenen König in seine Gemächer geleiteten, freilich nicht ohne trunken irgendwelche nicht länger erkennbaren Weisen zu grölen und zotige Scherze zu lallen, welche eines Erzbischofs Ohren beleidigen mußten, da blieb Anscom erneut nichts anderes übrig, denn seine Ungeduld zu bezähmen und diesem Abschiedsauftritt seinen Segen zu geben. Sobald er jedoch die Zuflucht der Burgkapelle erreicht hatte, stützte er, um sich zu fassen, seine Stirn an die kühle bronzene Pforte, und es währte ein ganzes Weilchen, derweilen sein Herz wummerte, bis sich ihm Gemüt und Verstand wieder geklärt hatten. Dann erst begab er sich zur Tür der Sakristei, schob seinen Schlüssel ins Schloß und trat, als er die Tür von innen zudrückte, in vollkommene Finsternis. Inmitten der Räumlichkeit flammte eine Kerze auf, und da standen Camber, Joram, Evaine, Rhys und einige andere Gefährten und erwarteten ihn, um den gekrönten Prinzen Cinhil geschart. »Verzichtet vorerst auf Artigkeiten, Erzbischof«, sprach Cinhil, als Anscom sich niederknien wollte. »Wie ist die Lage? Befindet sich der Tyrann im Bette?« Indem er eine Braue emporrutschen ließ, als er die
Bezeichnung vernahm, welche Cinhil seinem Widersacher anscheinend unterdessen verliehen hatte, glättete Anscom seinen Priesterrock und nickte. »Vor einer halben Stunde habe ich ihn mit den Großherren in seine Gemächer gebracht, Eure Hoheit. Infolge der Menge an Wein, die er sich in den Rachen geschüttet hat, gleich einem Vieh, dürfte er mittlerweile einem toten Holzklotz ähneln. Die Wachen sind in nur geringfügig besserer Verfassung. Alles verhält sich so, wie wir's uns erhofften.« »Ausgezeichnet.« Cinhil nickte. »Unsere Schar draußen hat bereits die wichtigsten Befestigungswerke der Stadt zu besetzen begonnen. Doch haben wir auf Eure Kunde geharrt, ehe wir unseren Stoßtrupp an diesen Ort befördern.« Anscom seufzte und nickte ebenfalls. »Dann laßt uns nicht länger säumen, Eure Hoheit. Ein tüchtiges Stück Arbeit ist zu verrichten, wollen wir diesen Augiasstall noch in dieser Nacht auskehren.« Zwei Stunden später befand sich die Burg im wesentlichen in Cinhils Hand, doch kam es in den Korridoren und im Burghof noch zu vereinzelten Zusammenstößen. Guaire d'Arliss und einigen michaelitischen Ordensrittern war es gelungen, die Türen der Wachstube und den Zugang zu den Unterkünften der Waffenknechte von außen zu verrammeln, so daß der Stoßtrupp nur mit den zur Zeit zur Wache eingeteilten Bewaffneten kurze Scharmützel auszufechten hatte Joram und Cullen führten ein halbes Dutzend Ordensritter sowie den Prinzen und seine Begleitung in schwungvollem Sturmschritt durch den Hauptgang der Burg und ins untere Geschoß des
Burgfrieds; dort mußten sie einen kurzen, aber blutigen Kampf durchstehen, um die Wendeltreppe zu erreichen. Vier ihrer michaelitischen Brüder fielen durch feindliche Schwerter, doch genügten wenige Augenblicke, und die Aufständischen hatten sich den Weg über die Treppe bis vor Imres Tür gebahnt. Dort stand keine Wache, und aus den Königlichen Gemächern ließ sich kein Laut vernehmen. Joram stellte sich die Frage, ob Imre den Kampflärm wahrlich verschlafen haben konnte oder ob er schon jenseits der Tür mit allen Mitteln in Bereitschaft harrte, die einem Deryni zur Verteidigung verfügbar waren, um auf sie niederzufahren, sobald sie die Tür aufbrachen. Joram senkte sein Schwert, als er den Treppenabsatz vor Imres Gemächern betrat, und wischte sich mit einem blutigen Handschuh die schweißige Stirne, während er einen gedämpften Seufzer äußerte. Hinter ihm warteten mit blanken Schwertern Cullen, Rhys und die beiden überlebenden Ordensritter; Camber schob sein Schwert in die Scheide zurück und verweilte an Cinhils Seite, der mit finsterer Miene Evaine beschirmte. Camber nickte Joram knapp zu, und der Ordensgeistliche wandte sich zur Tür, um mit seiner Waffe Griff kraftvoll an das schwere, polierte Eichenholz zu pochen: einmal, zweimal, dreimal und ein viertes Mal. Das Klopfen hallte auf der Wendeltreppe wider, welche sie vorhin um einen hohen Preis erstürmt hatten. »Was ist los?« nölte drinnen eine schläfrige, vom Wein unsichere Stimme, weit genug entfernt, um kaum verständlich zu sein. Bei ihrem Klang versteifte sich Cinhils Haltung, und er sah Camber an. Als seine Lippen lautlos den Namen Imre? erfragten, nickte Camber, und Joram
klopfte erneut. »Wer ist da?« ertönte die Stimme von neuem, diesmal jedoch lauter. »Ich habe doch geboten, mich nicht zu stören. Verschwindet!« »Hier ist der Hauptmann der Wache, Sire«, sprach Joram, indem er seine Stimme leicht veränderte. »Ich bringe eine Nachricht für Eure Hoheit.« »Kann das nicht bis morgen warten, Mann?« nörgelte die Stimme in gereiztem Tonfall. »Ich bin gerade erst ins Bett gegangen, wie Ihr sehr wohl wißt.« »Die Torwache in der Stadt ließ mir ausrichten, es sei ungemein wichtig, Sire«, gab Joram zur Antwort. »Vielleicht sollten Eure Hoheit einen Blick auf das Sendschreiben werfen.« »Vielleicht sollte Meine Hoheit Euch für Eure Frechheit auspeitschen lassen«, schnauzte Imre. »Ach, also gut, sei's drum! Schiebt den Fetzen unter der Tür durch, ich sehe ihn mir dann irgendwann an.« Verdrossen richtete Joram seinen Blick hinüber zu den Gefährten, dann jedoch huschte ein flüchtiges Lächeln über sein Antlitz. »Zu meinem Bedauern ist das unmöglich, weil es sich um eine versiegelte Rolle handelt, Sire«, entgegnete er, indem er seine Zufriedenheit aus seiner Stimme fernhielt, wenn er sie schon nicht in seiner Miene verhehlen konnte. Man vernahm einen gequälten Seufzer und dumpfe Geräusche von Bewegungen weit jenseits der Tür, und dann nahte sich das fast lautlose Patschen nackter Füße, während des Königs Stimme unverständliche Unmutsäußerungen nuschelte. Als der Riegel zur Seite ruckte, warfen sich Joram und Cullen gemeinsam gegen die Tür. Ein Ächzen der Verblüffung erscholl, als die schwere Tür den Mann auf der anderen Seite traf. Sie stürzten hinein und trieben den fas-
sungslosen, entrüsteten Imre rückwärts. Rhys schlug die Tür von innen zu und verriegelte sie wieder. Imre war vollständig überrascht, und er erbleichte, als er sich von kaltem, schimmrigen Stahl bedroht sah. »Verrat!« keuchte er. »Blanke Waffen in meiner Gegenwart! Wachen! Wo ist meine Leibwache? Wer...? Camber!« Seine Augen weiteten sich, als er den Mann mit der Adelskrone eines Grafen auf dem Haupt erkannte. »Wie könnt Ihr so etwas wagen?! Was ist dies für eine schuftige Verräterei?« Camber schwieg; statt irgendein Wort an Imre zu verschwenden, trat er beiseite und nickte Cinhil zu, welchselbiger daraufhin um einen Schritt vortrat. Imres Antlitz nahm eine kränklich fahle, kalkige Blässe an, als ihm in seinem vom Wein umnebelten Hirn die Erkenntnis herandämmerte, wer's sein mußte, der da nun vor ihm stand, und er wich langsam zurück, bis seine nackten Waden an eine Fußbank stießen. Ruhelos rangen seine Finger den Kragen seines Nachtgewandes. »Der Haldane...!« flüsterte er. »Also es gibt ihn!« »Der Tyrann von Festil«, sprach Cinhil mit leiser, bedrohlicher Stimme, »auch ihn gibt's – noch jedenfalls.« Imre schüttelte sein Haupt, als könne er, umschleiert von Trunkenheit, wie sein Geist war, nicht glauben, was er da hören mußte. Plötzlich fuhr er zusammen, als er wahrnahm, wie die zwei michaelitischen Ordensritter beiderseits Bogen um ihn schlugen, um ihm den Rückweg ins Schlafgemach abzuschneiden. Augenblicklich von Panik befallen, sprang er auf und davon, um sich den Rächern zu entziehen, dann schrie er in höchstem Entsetzen, als die beiden
Ordensritter ihn ergriffen und der Länge nach auf den Fußboden schleuderten. »Ariella!« kreischte er, während er sich seinen Bedrängern zu entwinden versuchte. »Ariella, flieh!« »Haltet sie auf!« brüllte Camber, als die anderen an Imre vorübereilten und über des Schlafgemachs Schwelle drängten. »Laßt sie nicht entkommen! Sie trägt von ihm ein Kind!« Fast hätten sie sie gepackt. Doch als sie ins Schlafgemach polterten, schien sich das verhangene Himmelbett unvermittelt in einen Wirbel von Kissen, Fellen und weißen Gliedmaßen zu verwandeln. Ariella fegte wie ein mitternächtliches Gespenst mit wehendem Haar und den mörderischen Augen einer Walküre zum Kamin, um daselbst durch eine Öffnung im Gemäuer zu verschwinden, welche noch einen Moment zuvor niemand dort vermutet hätte. Nur ein paar Schritte trennten Joram und Cullen von ihr, doch als sie aufholten, versperrte ihnen zu ihrem verdrießlichsten Unmut wieder fester, harter Mauerstein den Weg. Sie hämmerten dagegen und versuchten die Öffnungsvorrichtung zu entdecken, aber als ihnen in ihren Bemühungen endlich Erfolg beschieden war und sie diese Vorrichtung betätigten, ließ sich von der entflohenen Prinzessin nicht die kleinste Spur noch erblicken. Cullen warf Camber einen mißmutigen Blick der Schicksalsergebenheit zu und entschwand dann zum Zwecke der Suche in die Öffnung, dichtauf gefolgt von Joram. Imre, nunmehr unentrinnbar in den Fäusten der beiden michaelitischen Ritter, schielte mißbehaglich rundum, angesichts der Gefahr in geschwinder Ernüchterung begriffen. Im Augenblick, so sah er ein, war ein Entkommen so gut wie ausgeschlossen.
Selbst wenn die zwei Michaeliten nicht seine Arme gepackt gehalten hätten, wäre es doch äußerst zweifelhaft gewesen, ob er den vier anderen eingedrungenen Frevlern hätte entspringen können. Rhys und Evaine bewachten die Tür zu den inneren Gemächern, und Camber stand beim Fluchtweg, den Ariella benutzt hatte. Cinhil befand sich an Cambers Seite; nicht ein einziges Mal lenkte er seinen Blick vom Antlitz des Erzfeindes. Doch war's ja nicht so, sann Imre, daß dieser angebliche Haldane selbst für ihn irgendeine Bedrohung sein konnte. Und auch den beiden Michaeliten, welche ihn in ihrer Fäuste Umklammerung hielten, waren ja, so erkannte er nun, da er wieder klarer zu denken vermochte, Grenzen gesetzt. Es kostete ihn nur einen blitzartigen Gedanken, und seine persönliche Leibeswehr flackerte silberhell auf, warf die zwei Ritter beiseite, befreite ihn von ihrem aufdringlichen Zugriff. Freilich waren die beiden Ordensritter ebenfalls Deryni, und sogleich waberten ihre Wehren aus geistiger Gewalt empor, um den Gefangenen in einem weniger handfesten, dennoch aber engeren Netz zu verstricken. Doch damit hatte er gerechnet; vorerst stellte es ihn zufrieden, der Auseinandersetzung die Anwendung von Mitteln aufzuzwingen, welche seine Vorstellungen und seinem Vermögen entsprachen. Hochmütig richtete sich Imre zu seiner vollen Körpergröße auf – doch blieb er damit immer noch um Haupteslänge kleiner als die Michaeliten – und raffte gleichsam die Reste seiner königlichen Würde um sich zusammen. »Du bist übel beraten, da du dich erkühnst, Hand an deinen gesalbten König zu legen«, wandte er sich an Cinhil. »Und der verräterische Graf von Culdi hat seinen Le-
henseid der Königstreue gebrochen, um dir den Steigbügel zu halten!« Geringschätzig musterte er Camber, dann heftete er seinen Blick wieder auf Cinhil, da Camber ärgerlicherweise selbigem Blick nicht betreten auswich. »Ein aufrechter Mann scheute sich nicht, sich mir allein zu stellen, Haldane! Doch wie man mir zu vermelden wußte, bist du in Wahrheit ein abtrünniger Pfaffe namens Nicholas Draper, und daher rührt's wohl, daß man von dir weder mannhaftes noch ehrbares Betragen erwarten darf.« »Ich fürchte mich nicht, Euch zu Euren Bedingungen entgegenzutreten, Tyrann«, versetzte Cinhil ruhig und gab den beiden Michaeliten ein Zeichen, daß sie sich von Imre zurückziehen und die Türen zum Balkon bewachen sollten. »Ich hege uneingeschränkte Bereitschaft dazu, mit Euch in jeder Art und Weise des Widerstreites zu ringen, welche Ihr zu nennen vermögt... eingeschlossen das Duellum Arcanum.« »Ach?« meinte Imre. »Oho, freilich! Aber natürlich ist das nur ein Versuch der Täuschung. Du bist ein Mensch, falls du wirklich bist, wer zu sein du behauptest. Und ohne deine derynischen Verräter und deine Bewaffneten bist du mit all deiner eisernen Wehr und deinem Stahl doch ein Nichts.« »Ich werde Euch besiegen, ohne Stahl wider Euch zu erheben«, antwortete Cinhil, entgürtete sich des Schwertes und ließ es auf den Fußboden fallen. »Gerechtigkeit wär's, könnte ich Euch mit Salz töten, denn das wäre, ließe sich's nur vollbringen, wohl ein angemessenes Ende für den Unhold, der meinen Sohn hinmordete.« »Deinen Sohn? Was denn! Besinne dich, Haldane! Und wäre es auch die Wahrheit, welcher Magistrat
im ganzen Reiche wollte es mir zum Vorwurf machen, hätte ich den Bankert eines Priesters ausgetilgt?« »Ich bin meiner Priestergelübde entbunden worden«, erwiderte Cinhil mit gefaßter Stimme, doch Camber ersah mit aller Deutlichkeit, daß der Prinz gewaltige Mühe aufwenden mußte, um sich zu beherrschen. »Und meine Dame und Gattin ist von edler Herkunft. Ich will Eure ungehörigen Bemerkungen keiner weiteren Beachtung würdigen. Ihr seid schuld und verantwortlich am Tode meines Sohnes, ob's nun Eure Hand war, welche die schmähliche Tat ausführte, oder nicht.« »Wie das?« »Bestreitet Ihr, daß ein Ordensgeistlicher der Michaeliten mit Namen Humphrey von Gallareaux in Eure Gefangenschaft geriet, daß Ihr ihn schwerer Bedrückung ausgesetzt und schließlich seinen Geist solchermaßen verdunkelt habt, daß er Euren Wünschen willfuhr? Er merkte sich Eure giftigen Einflüsterungen gut, Tyrann. Mein Erstgeborener starb bei seiner Taufe am Salz auf seiner Zunge. Euer Sklave beging diese Tat!« Imre, überaus erstaunt durch Cinhils Bericht, klatschte frohgemut die Hände zusammen. »Das hat Humphrey getan? Ah, wie prächtig! Welch wunderschöner, feiner Witz! Ich erteilte ihm den Auftrag, den letzten Haldane-Erben zu töten. Und das war dein Sohn, den er daher an deiner Stelle traf! So war meine Mühe nun doch nicht vergeblich. Und nun ist's deine Absicht, im Gegenzuge mich zu erschlagen?« »Ja.« »Ich verstehe.« Imres Miene spiegelte nun kühlen
Ernst wider. »Sag an, gedenkst du mich von deiner verräterischen Horde in Stücke hauen zu lassen? Oder wird mir das Recht eines ehrbaren Zweikampfes mit meinem Ankläger gewährt?« »Ehrbar?« höhnte Cinhil. »Was ist ehrbar am Gift im Salz einer Taufe? Was ist ehrbar an der Hinrichtung von fünfzig Bauern, darunter Frauen und Kinder, für einen Mord, an dem sie gar keinen Anteil hatten? Was ist ehrbar daran, kalten Blutes einen Freund niederzustrecken, aufgrund bloßen Verdachts, ohne den Tatsachen nachzuspüren? Sprecht Ihr mir nicht von Ehrbarkeit, Tyrann! Euch wird nichts zuteil als meine allertiefste Verachtung.« Er stand hochaufgerichtet und starrte Imre über den Abstand von wenigen Schritten hinweg an, der sie trennte, und für einen Moment schien das Gemach in Raum und Zeit zu verharren, keine Regung, kein Laut störten die Spannung, die zwischen den beiden Männern anwuchs. Dann hob Imre in verächtlicher, stolzer Geste die Schultern und die Hände, und ebenso überheblich eine Braue. Diese Geste war zuviel – sie war die letzte Kränkung, jene Beleidigung, die Cinhil nicht hinzunehmen vermochte. Er riß die Arme empor, um nicht allein rings um seine Gestalt ein Netzwerk aus karmesinrotem Flimmern zu schaffen, sondern auch, um auf Imre einen Blitz scharlachroten Feuers zu schleudern, den der König gerade noch rechtzeitig abwehren konnte. Imre überwand seine Überraschung mit notgedrungener Schnelligkeit, geübt regten sich seine Finger zur Bewerkstelligung seiner Abwehr, und gewohnheitsmäßig zog er rund um des Kampfes Stätte einen Schutzwall. Sein Gebaren war nachdenklich und zeugte von Verwunde-
rung, während er um ein Stück nach rechts trat, um mehr Freiraum zu erlangen. Man sah ihm mit Offenkundigkeit an, daß er so etwas nicht im mindesten erwartet hatte, und anscheinend forschte er insgeheim wie ein Rasender nach einem Ausweg, um den Zusammenprall zu meiden, von dem es nun nicht länger ganz so gewiß war, daß er daraus als Sieger hervorging. »Man berichtete mir, du seist nur ein Mensch«, begann er sich versuchsweise an Cinhil zu wenden. »Wie ich sehe, war das ein Irrtum. In diesem Falle bist du kein echter Haldane – aber du bist ein Deryni, nicht wahr?« Er entblößte seine Zähne zu einem Lächeln, das im Halbdunkel leuchtete. »So komm, laß uns diesen Unfug beenden. Deryni sollten nicht miteinander streiten. Gib diese Narretei auf, und ich werde dich mit einer Stellung in meinem Reiche belohnen, die dich weit über deine kühnsten Träume hinaus erhöht und dir unermeßlichen Reichtum beschert.« »Könnt Ihr mir meinen Sohn zurückgeben?« fragte Cinhil leise, und seine Stimme hatte innerhalb der Schutzwälle einen hohlen Klang. »Könnt Ihr dem Grafen von Culdi seinen Sohn zurückbringen, vermögt Ihr die willimitischen Märtyrer wieder zum Leben zu erwecken, die doch nur Gerechtigkeit in diesem Lande wollten und niemals daran dachten, sich gegen ihren König zu erheben? Könnt Ihr die Bauern aus Graf Cambers Dorf wiederauferstehen lassen, die Ihr ermordet habt, Opfer eines Unrechts, das mir die Zunge durch seine Größe lähmen will? Ich habe nicht nach Eurer Krone getrachtet, Imre von Festil. Aber ich muß sie Euch nun entreißen. Mir bleibt keine Wahl.« »Er hatte mich hintergangen!« brüllte Imre. Er
deutete mit ausgestrecktem Finger auf Camber. »Deshalb erschlug ich seinen Sohn! Du hast ja keine Ahnung, was mich sein Tod kostete! Ich liebte ihn wie einen Bruder!« Camber neigte sein Haupt, insgeheim voller Mitgefühl im Herzen für diesen schwachen, mißgeleiteten König. »Aber Cambers Mitwirkung an dieser Verräterei ist mir Beweis zur Genüge, daß ich nicht falsch gehandelt habe«, rief Imre, und seinen Bemühungen zuwider, es zu verhindern, kennzeichneten verbissene Wut und schierer Wahnwitz seine Stimme. »Coel hatte recht. Ich war ein Narr, daß ich nicht früher auf seine Ratschläge hörte! Ich hätte die MacRorie-Brut ausmerzen sollen, solange mir dazu noch die Zeit zur Verfügung stand.« Das gesprochen, schlug er mit silbrigem Flammenspeer zu, der Cinhils karmesinroten Nimbus wie geschmolzenes, glutheißes Erz traf. Des Prinzen Wehr hielt stand, und für einen Moment ließ sich Cinhil gelassen von den Gewalten umtosen, die Imre in seinem Grimm auf ihn niedersandte, jedoch vom Prinzen harmlos abglitten. Für eine Weile von unbestimmbarer Dauer knisterte und knackte die Glut zwischen den beiden Männern, während keiner von ihnen den anderen körperlich berührte; dann aber änderte Imre plötzlich die Art seines Angriffs, aufs äußerste erbittert. Bedrohliche, grauenhafte Gestalten begannen sich aus Nebeln zu verfestigen und zu erscheinen, groteske Geschöpfe der Nacht und unvorstellbarer Meerestiefen, Rachen klafften, Fangarme zuckten, Klauen, Zähne und ledrige, gesprenkelte Schwingen rückten wider Cinhil vor. Der Gestank nach faulem Aas und Schwefel verbreitete sich sogar außerhalb der Schutzwälle. Die Schreie greulich schleimiger
Ungeheuer durchdrangen die Gemächer, gräßlicher Kreaturen, wie sie ansonsten nur in den allerschlimmsten Alpträumen vorkommen mochten. Giftzähne schnappten nach einem Opfer, das im selben Moment nicht länger in ihrer Reichweite war; krumme Krallen, die aus stinkigen, mit fauligem Schleim nachgerade gesättigten Pelzen ragten, scharrten über Schiefer, rührten an einen unter Aufbietung aller Mühen beschirmten Geist. Es gelang Cinhil, ein jedes der in den Kampf geworfenen Grauensgeschöpfe zurück wider ihren Gebieter zu lenken, und er unterdrückte sein Entsetzen und versagte sich jegliche Regung des Schreckens, auf daß seine Rache den Sieg davontragen möge. Nach einiger Zeit war Imre überströmt von Schweiß und außer Atem, und er trat näher und vor Cinhil, um ihn, durch nichts vom Prinzen getrennt als das Glimmen ihrer Körperwehren, eindringlich zu mustern. Der König hob eine zittrige Hand, um eine Unterbrechung des Ringens anzukündigen, und als Cinhil ihn mit auf die Schulter geneigtem Haupt argwöhnisch betrachtete, nickte er, um die Redlichkeit seiner Absicht zu bekräftigen. »Ich vermag's nicht zu begreifen«, flüsterte Imre, und alle Großtuerei war nun aus seiner Stimme gewichen. »Ich bin nahezu ermattet, und du – du dagegen stehst dort in aller Seelenruhe, kaum angetastet, mit unverminderter Kraft und Stärke, aus Gründen, die Gott allein wissen mag!« Er atmete tief ein, preßte sich die Arme an den Leib, als er sich von der winterlichen Kälte in seinem Vorraum gepackt fühlte. Cinhil harrte aus und musterte ihn, gänzlich unbeschadet, gefaßt, kaum ein Haar an seinem dunklen, silbrigen Haupt war gezaust, seine hellhäutigen Hände baumelten
locker an seinen Seiten. »Gebt Ihr Euch geschlagen?« erkundigte sich Cinhil in gleichmütigem Tonfall. »Mich geschlagen geben? Du weißt, das kann ich nicht.« Imre schüttelte sein Haupt. »Von dir will ich keine Niederlage erdulden. Noch bleibt mir ein Ausweg. Keiner, den ich ohne Not erwählte, aber sei's drum.« Ein schiefes Lächeln verzerrte sein Antlitz, als er gegen einen Tisch taumelte, während zugleich der Atem in seiner Kehle stockte. »Noch bin ich Herr meines Körpers«, keuchte er, »und diese Herrschaft werde ich niemals aufgeben. Ich bestimme, wann und wo ich sterbe. Und ich beschließe, daß es hier und jetzt sein soll, durch meinen eigenen... Willen!« Damit sackte er seitwärts auf den Tisch und sank dann langsam auf den Fußboden nieder, sein Antlitz verfärbte sich aschgrau, derweil sich seine Augen schlossen und seine Wehr dahinschmolz. Sofort gab Cinhil die eigene Verteidigung auf und sprang hinzu, auf dem Antlitz einen Ausdruck von Schrecken und Verblüffung. Camber wollte zuerst zur Warnung eine Hand heben, da er eine Finte befürchtete. Da jedoch bemerkte er, daß sich Cinhil durchaus dieser Möglichkeit bewußt war und deshalb auf der Hut, trotz seiner Eile; Camber sah zu, wie Cinhil sich hinabbeugte, um an Imres Halsschlagader nach dem Herzschlag zu tasten. Des Prinzen Abscheu war offenkundig, als er sich vom Leichnam abwandte, der nun zu erkalten begann. »Er ist tot«, sprach er, und seine Lippen waren schmal und verpreßt vor Zorn. »Er hat sich lieber den Tod durch die eigene Willenskraft bereitet als den Untergang von meiner Hand zu erdulden.«
»Er war ein Deryni, Sire«, sprach mit ruhiger Stimme Camber. »Ihr werdet zur rechten Zeit erkennen lernen, daß ihm fürwahr keine andere Wahl offenstand. Erinnert Euch, ich kannte seinen Vater, und vor ihm den Großvater.« Cinhil gab keine Antwort; einige Augenblicke lang stand er nur reglos da und sah Camber an. Draußen schwoll im Burghof ein Getöse an, Kampflärm ertönte, und Cinhil schaute in gelindem Mißmut hinüber zu des Balkones Türen. Camber winkte Rhys und den beiden Ordensrittern zu, auf daß sie einen Blick hinaus täten, dann trat er gerade noch rechtzeitig zu Cinhil, der unvermutet erbleicht war, um ihn zu stützen, als der Prinz, erschüttert und aufgewühlt – die Nachwirkung der durchlebten Schrecknisse und Belastungen –, auf die Knie sank. Ein Weilchen verstrich, ehe Cinhil wieder sein Haupt zu heben vermochte; unterdessen bebte er in Cambers Armen und rang die Unruhe in seinen Eingeweiden nieder, während sich die Erlebnisse der letzten Stunden in seinem Geist zu einem ordentlichen, ruhigeren Gesamtbild zusammenfügten. Als er dann sein Antlitz zu Camber hob, fuhr er sich mit zittriger Hand über die Stirn, und der Blick, den er empor in seines Lehrmeisters Augen richtete, war gekennzeichnet von sonderlicher Abgetretenheit. »Ich... bin nun König von Gwynedd, stimmt's?« »Ihr seid's, mein Prinz.« Daraufhin neigte Cinhil erneut sein Haupt und tat einen tiefen, von einem Schluchzen zerrissenen Atemzug, ehe er seinen Blick hinüber zur Stelle lenkte, wo er Imres Leichnam zurückgelassen hatte – und er sah überrascht, daß der Tote nicht länger dort lag. Aber noch im gleichen
Moment sah er, daß die beiden michaelitischen Ritter sich des Leichnams bemächtigt hatten, ihn unter den Armen hielten, als lebe Imre noch, und ihn auf den Balkon schleiften. Als Imres Gestalt für die Kämpfer drunten im Burghof sichtbar war, ebbte des Gefechtes Lärm ab, langsam verstummte das Stimmengewirr. Cinhil machte Anstalten, die beiden Ordensritter anzurufen, sie zu fragen, was sie beabsichtigten; aber Camber ergriff ihn am Arm und schüttelte das Haupt. Willenlos beobachtete Cinhil, wie die beiden Ordensritter den Leichnam an die Balkonbrüstung lehnten und ihn dort hielten, als stünde er da aus eigener Kraft. Für einen kurzen Moment der Stille, in welchem jedermanns Herz zu verharren schien, weilte Imres Gestalt solchermaßen im Mittelpunkt von aller Kämpfer Aufmerksamkeit. Dann neigte sie sich langsam, gleichsam bedächtig über die Brüstung. Ein weiterer Moment vollkommenen Schweigens verstrich, bis sie auf des Burghofs hartes Kopfsteinpflaster prallte, und da erhob sich aus hundert Kehlen ein Ruf des Jubels in ohrenbetäubender Lautstärke, und wie Donnerhall erscholl der Mannen Verlangen nach ihrem König. »Cin-hil! Cin-hil! Cin-hil!« Als der Stimmen Laut in den Königlichen Gemächern Cinhils Ohren erreichte, half Camber dem neuen König auf die Beine und deutete zu den offenen Türen des Balkons hinüber. »Eure Ritter sind siegreich und rufen ihren König, Sire. Wollt Ihr Euch ihnen zeigen?« Stumm ließ Cinhil sich von ihm zum Balkon führen, und die übrigen Anwesenden wichen, als er sich nahte, zur Seite. Sein Erscheinen löste neuerlichen Jubel und Freudenrufe aus, die tiefen Stim-
men von Kriegern riefen ihm in froher Erleichterung zu, Schwerter schlugen auf Schilde einen ehernen Takt. Als Cinhil seine noch unruhigen Hände auf die Brüstung stützte, bemerkte er, daß nur einige Dutzend der Männer, welche ihm drunten ihre Ehrerbietung bezeugten, die Wappenröcke und Mäntel des Michaelitenordens trugen. Die anderen Krieger gehörten zur Burgbesatzung, doch wogegen sie eben noch seinen Anhängern widerstritten hatten, legten sie nun die Waffen nieder und erkannten ihn einstimmig als ihren neuen König an. Urplötzlich verstummte das Frohlocken aus rauhen Kriegerbrüsten, und als sich Cinhil nach Camber umwandte, sah er den Grund. In den Händen des derynischen Grafen funkelte die Reichskrone von Gwynedd, ihm soeben von Evaine überreicht, deren Lippen ein sanftes Lächeln zierte. An ihrer Seite stand Rhys; sein Antlitz unter dem vertrauten roten Schopf war von sonderbar feierlichem Ernst. Irgendwann während der letzten Augenblicke waren Joram und Cullen zurückgekehrt, und ihre grimmigen Kriegermienen sagten Cinhil alles über ihren Versuch, Ariella zu fassen, was er wissen mußte. Er schluckte unruhig, als die beiden michaelitischen Ordensritter ihre Helme abnahmen und niederknieten, ihre Schwerter mit aufwärts gekehrten, Kreuzen ähnlichen Griffen senkrecht aufstützten und voller Vertrauen und Zuversicht zu ihm aufschauten. Er wußte, welche Worte Camber nun sprechen wollte, und es gab kein Mittel, um's zu verhindern. »Sire«, sprach Camber, »wollt Ihr nun Eure Prinzenkrone gegen die Krone Gwynedds austauschen?« Beklemmung engte Cinhils Busen ein, als er die
Krone betrachtete, und einen Moment lang verweilte er unschlüssig in scheinbar unendlicher Unentschlossenheit. Noch war's nicht zu spät, oder? Er hatte den Tyrannen Imre gestürzt, aber noch konnte er die Krone zurückweisen. Kein Mann war wirklich unentbehrlich, allen eindringlichen Belehrungen seiner Bundesgenossen zum Trotze Vielleicht konnte er nun, da seine Aufgabe in diesem Ringen beendet war, in sein Kloster zurückkehren. Sicherlich fand man einen anderen Edlen, der über Gwynedd herrschen konnte. Und doch sah er ein, noch während derlei Gedanken ihm durch den Kopf gingen, daß diese Anwandlung lachhaft war; er konnte jetzt nicht zurückschrecken. Er konnte ihrer Sache jetzt nicht den Rücken mehr zuwenden, als er den Namen Gottes lästern mochte oder die Heilige Hostie unter seiner Ferse zertreten. Mit oder ohne sein Wohlgefallen, er war diesem Volke nun verbunden, dem Thron verpflichtet, nach dem er niemals gestrebt hatte; die Macht solcher war's gewesen, welche sich selbst Deryni nannten, die ihn in diese Lage brachte, Deryni wie auch der tote Tyrann einer gewesen war, und er teilte mit ihnen ihre Macht, war durch sie ihnen gleich geworden. Der Gedanke kam ihm, daß die Deryni, welche einen König gestürzt hatten, mit Leichtigkeit auch einen zweiten König zugrunde richten konnten, sollte er ihnen eines Tages nicht länger behagen; doch sofort verwarf er diesen Einfall als unwürdig. Diese Deryni waren ehrenwerte Männer und Frauen, die dem selben hohen Zwecke dienten wie er selbst, wie er ihm so lange in der Abgeschiedenheit zu dienen versucht hatte; sie entgolten einen hohen Preis, um mit Gewißheit zu bewirken, daß der Tyrann Imre das Volk
nicht länger bedrücke. Er durfte und wollte nicht zulassen, daß die Opfer, welche er gebracht hatte, die Vereitlung seines frommen Ehrgeizes, seine Haltung zu einem ganzen Volksstamm verdunkelte. Und doch war er ja, trotz seiner zur Erregung tiefster Ehrfurcht geeigneten Kräfte, ein Mensch, und er mußte stets des Bösen eingedenk sein, das sein Volk während des Interregnums der Deryni zu erleiden gehabt hatte. Nun jedoch war die Zeit der Erneuerung und Aussöhnung gekommen, zur Wiedergutmachung des Unrechts, das die alten Herren taten. Und sollte sich irgendwo, irgendwann jemand rühren, womöglich gar unter seinen heutigen derynischen Bundesgenossen, der ihm dabei Steine auf den Weg zu häufen versuchte... Nun, sie selbst hatten ihn Rücksichtslosigkeit gelehrt. Die Erhaltung des Gleichgewichts und die Gewährleistung des Ausgleichs konnten keine leichte Aufgabe sein, aber es galt, sie auf jeden Fall zu bewerkstelligen. Er erbebte in der kühlen Luft vor Anbruch der Morgendämmerung und senkte den Blick auf seine Hände, die vor kurzem so mörderische Gewalten entfesselt hatten. Er schaute hinunter auf die Männer im Hof, die erwartungsvoll zu ihm aufblickten, sah Camber und dessen Kinder an, die neben ihm standen, und die michaelitischen Ordensritter, die vor ihm knieten und die Kreuzgriffe ihrer Schwerter aufrecht hielten, um diesen bedeutungsvollen Augenblick zu gebenedeien. Da hob er seine Hände in die Höhe und nahm sich bedächtig den Kronreif vom Haupt, reichte ihn mit leichtem Neigen selbigen Hauptes Evaine. Als er das tat, fielen die Mannen im Burghof auf die Knie, und Camber hob die Reichs-
krone empor, so daß sie im Fackelschein glitzerte und gleißte. Cinhil faltete die Hände und kehrte seinen Blick zum Himmel, der sich allmählich aufzuhellen begann. Seine Bestimmung erfüllte sich nun; er konnte nichts anderes tun als sich darin fügen. »Cinhil Donal Ifor Haldane«, sprach Camber und betrachtete Cinhil sowohl mit den Augen eines Vaters wie auch denen eines getreuen Untertanen, »zur großen Freude Eures Volkes hat Euer altes Geschlecht die Herrschaft in Gwynedd wiedererrungen. Seid für alle Eure Tage gekrönt mit Stärke und Weisheit.« Er setzte die Krone auf Cinhils Haupt. »Und möge der Allmächtige Euch eine lange, gedeihliche Herrschaft gewähren, das Eurem ganzen Volke Gwynedds Gerechtigkeit beschert und Ehrbarkeit.« »Fiat voluntas tua«, flüsterte Cinhil, so leise, daß nur Camber es vernahm. Dein Wille geschehe...