Durch eine perfide List es Dorini, der Königin der Finsternis, gelungen, Cypher, das Königreich ihrer Schwester, zu ero...
26 downloads
749 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Durch eine perfide List es Dorini, der Königin der Finsternis, gelungen, Cypher, das Königreich ihrer Schwester, zu erobern. Der Kampf um Altanton scheint verloren, aber noch immer ist der Zwerg Broko Träger des Geheimnisses, und ohne dieses Geheimnis bleibt Dorinis Macht nur unvollständig. Unter unsäglichen Entbehrungen und Gefahren gelingt es Broko, auf die andere Seite des Großen Flusses, Calix Stay, zu fliehen, wo das Geheimnis, wenn auch nur für kurze Zeit, in Sicherheit ist …
Der Ring des LichtsCalix Stay, der Grosse Fluss
Fantasy-Roman Aus dem Amerikanischen von Ingeborg Ebel
Knaur®
Niel Hancock, Anfang vierzig, liebt Segeln und deutsche Motorräder Er ist viel herumgekommen, fand es auf den karibischen Inseln am allerschönsten, lebt jetzt in Texas und schreibt an einem neuen Romanzyklus.
Die Tetralogie Der Ring des Lichts von Niel Hancock besteht aus den Bänden: »Greyfax Grimwald« (Band 1230) »Faragon Fairingay« (Band 1231) »Calix Stay, der große Fluß« (Band 1232) »Der Kreis schließt sich« (Band 1233)
Deutsche Erstausgabe © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1985 Titel der Originalausgabe »Circle of Light – Calix Stay« Copyright © 1977 by Niel Hancock Umschlaggestaltung Adolf Bachmann Umschlagillustration Wang Siu Ying Satz Compusatz, München Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany • 1 • 10 • 885 ISBN 3-426-01232-4 1. Auflage
Für Kathlene Collins, die sich mit Walen und Kapitän Ahab auskannte
Inhalt
Erster Teil – Die Straße zur Schrecklichen Einöde 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Verfolgung Gefangennahme Brosingamenes Soldaten Garius Brosingamene gibt ein Fest Eine unerwartete Verbündete Flucht durch einen alten Kamin
14 15 21 28 33 39
Zweiter Teil – Eine Wildnis voller Schrecken 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Garius, Helfer in der Not Biarki, der Sohn Algunners Thumb Die Gorgolacs blasen zum Angriff Ned Thinvoice flickt Brokos Mantel Flucht durch einen Geheimgang Fornax
49 56 59 64 70 74 79
Dritter Teil – Die Geheimnisse der Erde 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.
Ein unerwartetes Wiedersehen Ein altes Zwergenbauwerk Thumbs geheime Höhle Die Wächter Der Weg in die Tiefe In der unterirdischen Zwergenfestung In der Dunkelheit gefangen
84 90 95 99 105 107 115
Vierter Teil – Fern von Sonne und Himmel 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29.
Der Gesang der Dunklen Stimmen Ein kurzer Blick in die Ewigkeit Der Grundstein Der Drachenstein verschwindet Im Musikzimmer Der Urstrom Die Beginning Mountains Bruinlen träumt Eine Reise durch Zeit und Raum
127 138 147 153 157 169 174 178 181
8
Was bisher geschah: Band 1 Von einer unerklärlichen inneren Unruhe getrieben, verlassen der Zwergenfürst Broko, der Bär Bruinlen und der Otter Olther ihre Heimat, die Sonnenwiesen, wo sie lange Jahre in Frieden gelebt haben. Mit der Hilfe von Brokos Drachenstein, dem Zauberkräfte innewohnen, überqueren sie den unheimlichen Fluß Calix Stay, der die Grenze zu dem Land Atlanton bildet. Dort herrscht Krieg. Broko hofft auf die Unterstützung seines Verwandten Creddin, der ganz in der Nähe ein Schloß bewohnt. Doch ehe sie dort ankommen, treffen sie auf zwei mächtige Zauberer, Greyfax Grimwald und Faragon Fairingay, die im Auftrag des Rings des Lichts auf geflügelten Rössern durch die Lüfte eilen und versuchen, die Geschicke Windameirs, zu dem auch das Reich Atlanton gehört, zu leiten – denn eine finstere Macht bedroht Atlanton. Creddins Schloß ist zerstört, und der alte Zwerg stirbt bald darauf; er hatte sich in seiner Geldgier mit den Mächten des Bösen eingelassen. Da die drei Gefährten nun keine Bleibe haben, raten ihnen die Zauberer, sich in der Nähe in einem lieblichen Tal anzusiedeln und abzuwarten; vielfältige Aufgaben würden noch auf sie zukommen. Inzwischen eilen Greyfax und Faragon in das Königreich Cypher, wo Lorini, die Lichte Königin, herrscht, deren Macht aber von ihrer Zwillingsschwester, der Finsteren Königin Dorini, bedroht wird. Sie ist es, die die Reiche mit Tod und Verderben überzieht, weil sie sich zur einzigen Herrscherin Windameirs aufschwingen will. Mächtige Verbündete stehen ihr zur Seite, Geschöpfe, die sie selbst geschaffen hat, wie Cakgor, Doraki und ganze Armeen von Halbmenschen, die Gorgolacs und Worlughs.
Fünfzehn Jahre vergehen, und Broko, Bruinlen und Olther werden des beschaulichen Lebens überdrüssig. Sie warten auf eine Nachricht von Greyfax oder Faragon. Da wird Broko von Cakgor, dem feuerspeienden Drachen in Dorinis Diensten, entführt und in ihren eiskalten Palast gebracht, denn er ist unwissentlich Träger eines der Fünf Geheimnisse des Rings des Lichts, ohne dessen Besitz Dorini keine Macht erlangen kann. Inzwischen ist Faragon wieder in das Tal gekommen und sieht, was geschehen ist. Er schickt Bruinlen und Olther, denen er vorher die Gabe verliehen hat, sich in Menschengestalt zu verwandeln, auf die Suche nach General Greymouse, der in Wirklichkeit auch ein Mitglied des Rings und mächtiger Zauberer ist. Broko gelingt es aus eigener Kraft, sich aus der Gefangenschaft Dorinis zu befreien. Doch bei seiner Rückkehr in das Tal findet er es verlassen und verwüstet vor. Also macht er sich auf die Suche nach seinen Freunden. Währenddessen wurden Bruinlen und Olther getrennt. Unter unsäglichen Mühen und Kämpfen erreichen sie das Lager von General Greymouse und finden dort auch unter den Menschen treue Freunde, die Soldaten Ned Thinvoice, Cranfallow und Flewingam, sowie Broko, der seinen Gefährten gefolgt ist. In der entscheidenden Schlacht bei den Sieben Hügeln gelingt es Greymouse mit der Unterstützung von Faragons Elfenheer, die angreifenden Truppen der Menschen-Bestien zu schlagen. Doch die Gefährten werden alle schwer verwundet, und Faragon läßt sie in das Lichte Königreich Cypher zu Lorini bringen, damit sie genesen, während die drei Soldaten von Faragons Elfenkriegern in ein Lazarett gebracht werden.
Band 2 Die Soldaten Thinvoice, Cranfallow und Flewingam kommen langsam wieder zu Kräften und beschließen, nach ihrer Gesundung weiterhin General Greymouse zu dienen. Unterdessen werden die drei Gefährten Broko, Bruinlen und Olther in Cypher aufopferungsvoll gepflegt von Königin Lorini und ihrer lieblichen Tochter Cybelle, in die Faragon unsterblich verliebt ist. Wieder auf den Beinen, verbringen sie dort heitere, unbeschwerte Tage, die allerdings nicht ewig währen können. Denn nach dem Sieg bei den Sieben Hügeln rast die Finstere Königin Dorini vor Zorn über ihre Niederlage und verdoppelt ihre Anstrengungen, die Herrschaft für immer an sich zu reißen. Broko wurde in Cypher von Greyfax der kostbarste Besitz des Rings anvertraut, auf den sich seine ganze Macht gründet: der Heilige Schrein. Der Zauberer glaubte ihn in Lorinis Königreich vor dem Zugriff Dorinis nicht mehr sicher. Würde er in die Hände der Finsteren Königin fallen, wären alle Bestrebungen, über sie zu siegen, zunichte. Schon bald zeigt sich, wie recht Greyfax hatte. Denn während die drei Gefährten – wieder auf Atlanton – unter des Zauberers Führung dem General Melodias zu Hilfe gegen Dorinis mörderische Truppen eilen, entführt sie die Tochter ihrer Schwester Lorini aus Cypher. Damit ist ihr ein entscheidender Sieg gelungen, und sie bläst jetzt zum vernichtenden Schlag auf Atlanton. Erst im letzten Augenblick gelingt es Greyfax unter Aufbietung all seiner Zauberkraft und mit Hilfe der drei Gefährten, eine endgültige Niederlage abzuwenden. Doch die Opfer waren groß: Greyfax schwer verwundet, die Truppen versprengt und Melodias unerreichbar. Und der Heilige Schrein geht verloren. Als Broko ihn mit Faragons Hilfe wiedererlangt, kann er ihn nicht, wie vereinbart, Greyfax oder Melodias übergeben, sondern soll ihn auf Geheiß des jungen
Zauberers mit Hilfe seiner beiden Freunde Bruinlen und Olther jenseits des Großen Flusses Calix Stay in Sicherheit bringen. Aber ehe sie dorthin gelangen, haben die Freunde einige Gefahren zu bestehen. Allein die Durchquerung des gefürchteten Dragur-Waldes scheint unmöglich, obwohl die drei jetzt wieder auf ihre alten Kameraden Ned Thinvoice, Cranfallow und Flewingam gestoßen sind. Von den Weisen Windameirs haben sie im Augenblick keine Unterstützung zu erwarten, denn das Reich wird von allen Seiten bedroht.
Erster Teil Die Straße zur Schrecklichen Einöde
13
1. Verfolgung Während die Gefährten von Panik ergriffen weiterrannten, explodierte hinter ihnen ein Sprenggeschoß, und ein Regen von Sand und feinsten Eisenpartikeln ging über sie nieder. Bruinlen wurde getroffen und stöhnte vor Schmerz laut auf, lief aber unvermindert schnell weiter. Flewingam fühlte einen brennenden Stich in seinem linken Bein und fing erbärmlich zu humpeln an. Broko, der an der Spitze des kleinen Trupps lief, stolperte blindlings gegen einen großen, hageren Mann, der in einen graugrünen Waffenrock und ebensolche Hosen gekleidet war und einen großen Ebenholzbogen trug. Cranfallow wollte seine Waffe auf den Fremden richten, doch sie wurde ihm aus der Hand geschlagen, und eine Sekunde später blitzten tausend Lichter in seinem Kopf auf, und alles um ihn herum versank in Schwärze. Der Zwerg saß, durch den plötzlichen Zusammenstoß mit dem grimmigen Krieger ein wenig benommen, atemlos zu dessen Füßen. Seltsamerweise war der Wald jetzt von einer unerklärlichen Stille erfüllt. Flewingam und Thinvoice sahen in ihrer Hast zu spät, was geschehen war, und blieben schnaufend stehen. Ebenso Bruinlen, der mühsam atmend als letzter auf der Lichtung eintraf. Der große Krieger sagte kein einziges Wort, er starrte die Gefährten nur kalt musternd an. Sie waren wie gelähmt von dem Blick seiner stahlblauen Augen, unter dunklen, dichten Brauen. Das Gesicht des Mannes, von Wind und Wetter gegerbt, war von fast ebenso dunkler Farbe wie der todbringende Bogen in seiner Hand. Und lautlos wurden die Freunde plötzlich von mehreren Männern umringt, die genauso grimmig wie der große Krieger aussahen. Noch ehe die völlig verblüfften Gefährten eine 14
Bewegung machen konnten, schossen die schweigenden Soldaten mit ihren Bogen kleine schwarze Pfeile ab, worauf eine seltsame Musik ertönte und sich über ihre Augen Dunkelheit senkte. Das alles dauerte nur einen Moment. Allein Olther, der in eine alte vergessene Fallgrube gestürzt war, wurde nicht entdeckt. Er lag dort unten und rührte sich nicht.
2. Gefangennahme Brokos Arme schmerzten von den Fesseln, die ihm tief ins Fleisch schnitten. Der Kopf tat ihm von dem plötzlichen Zusammenprall mit dem Krieger weh, und jedesmal, wenn er die Augen öffnete, sah er nichts als einen dunklen Schleier. Nach geraumer Zeit erst merkte er, daß man ihn ziemlich unsanft trug. Einer der Soldaten hielt ihn mit eisernem Griff unter den Arm geklemmt; sein Atem kam in mühsamen Stößen. Er riß die Augen wieder auf und konnte schließlich schemenhaft sehen, daß sie sich immer noch im Wald befanden. Die Bäume schienen sogar näher zusammengerückt zu sein und bildeten eine dichte schwarze Wand. Bruinlen stolperte und fiel hin. Rüde wurde er wieder emporgezerrt. Seine großen Tatzen waren mit einem Lederriemen zusammengebunden, und um den Hals trug er ein Eisen, an dem eine Kette befestigt war, die der Krieger, der vor ihm ging, festhielt. Sein Blick war teilnahmslos, und sein großer Kopf pendelte beim Laufen hin und her. Broko versuchte sich an das Geschehene zu erinnern, aber in seinem Kopf pochte ein dröhnender Schmerz, und schließlich verlor er das Bewußtsein: Die Anstrengung, sich aus dem Griff des Soldaten zu befreien, war zuviel für ihn gewesen. Der Mann, der Bruinlen an der Kette führte, lachte 15
plötzlich auf und zog mit einem scharfen Ruck daran. Der Bär fiel wieder hin und ging auf allen vieren weiter. »Es steckt doch mehr in diesen Bestien, als es den Augenschein hat, Gymir. Wer hätte schon gedacht, daß dieser hier die Gestalt eines Tanzbären annehmen kann?« »Das wird Garius gefallen, Hoder. Seit Jahren war kein Zauberer mehr bei ihm am Hof. Dabei liebt er sie so sehr wie einst sein Vater.« »Hauptsache, er kommt mal auf andere Gedanken und schickt uns nicht wieder zu einem dieser endlosen Patrouillengänge aus. Dabei gibt es jetzt überhaupt nichts mehr zu schützen. Alles liegt doch schon in Schutt und Asche.« Hoder, schlanker und jünger als sein Gefährte, zog wieder rüde an Bruinlens Kette. »Was mich angeht, von mir aus können diese Halbmenschen ruhig das Land bewohnen«, sagte Gymir. »Aber uns geht es doch gar nicht mal so schlecht. Die da draußen haben viel grausamere Anführer als Garius.« »Das ist mir gleich. Ich bin über diese Wälder niemals hinausgekommen.« »Damals müssen sie sehr schön gewesen sein. Ich habe die Alten darüber reden hören. Von der Zeit, als es noch keinen Krieg gab.« »Bah!« meinte Hoder, der Bruinlen an der Kette führte. »Das sind doch nur Ammenmärchen.« »Vielleicht. Aber du hältst besser deine Zunge vor Garius und den anderen im Zaum. Wegen deines Geschwätzes könntest du leicht in die Verbannung geschickt werden.« Gymir schwieg, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Und du weißt, was das bedeutet.« »Der Tod ist nichts im Vergleich zu diesem täglichen Einerlei hier. Jede Veränderung würde ich begrüßen.« Gymir lachte und warf sich Brokos schlaffen Körper über die Schulter. 16
»Wenn du dich amüsieren willst, so haben wir ja alle Zutaten für ein unterhaltsames Spektakel bei uns.« Hoder betrachtete nachdenklich den Bären, den Zwerg und die drei gefesselten Männer, die vor ihm gingen. »Ich weiß nicht, ob sie so vielversprechend sind«, sagte er mürrisch, »aber wenigstens brauchen wir dann ein oder zwei Tage nicht auf Patrouille zu gehen.« »Oder länger, wenn die anderen auch solche Tricks wie unser Freund hier auf Lager haben.« »Da habe ich schon Besseres gesehen«, gähnte Hoder. »Die Hexe, die in der alten Ruine wohnt, ist weitaus unterhaltender.« »Du meinst, ihr Gebräu schmeckt dir«, neckte ihn Gymir. »Jedenfalls vergesse ich dann diesen stumpfsinnigen Dienst und kann Garius' geistlose Witze besser ertragen.« »Psst!« warnte Gymir. »Der Sergeant kommt.« Die hagere Gestalt, mit der Broko zusammengestoßen war, fiel im Schritt zurück, bis sie auf einer Höhe mit Bruinlen ging. »Also haben wir durch unser Elixier auch diesem Zauberer hier die Kräfte rauben können, nicht wahr?« »Ich bezweifle, daß er genauso wie ich unter dem Marsch leidet«, sagte Hoder und zog scharf an der Kette. Der Sergeant riß Brokos Kopf abrupt hoch und blickte dem Zwerg ins Gesicht. »Seinesgleichen habe ich nicht mehr gesehen, seit ich Kadett war. Damals stießen wir auf einen Trupp, der unterhalb von Ravens Fen kampierte.« »Waren die denn wenigstens lebendiger als dieser Bursche hier?« fragte Hoder. »So lebendig, daß wir ein Dutzend von ihnen töten mußten. Selbst unsere Pfeile mit dem betäubenden Gift schienen ihnen nichts anzuhaben. Doch dieser hier ist wohl weit weniger kräftig als jene kleinen Teufel damals.« »Und wozu waren sie nütze?« fragte Gymir, der hoffte, 17
daß er sich nicht umsonst mit dem Zwerg abschleppte. »Sie bauten die Festung im Wald, wo heute noch die Ruine steht. Außerdem konnten sie gut mit Metallen umgehen. Die meisten unserer Pfeilspitzen und Messer haben sie geschmiedet.« »Es wäre doch sinnvoller, uns ebenso wie unsere Freunde hier zu bewaffnen«, meinte Hoder und stemmte das Gewehr hoch, das er Bruinlen abgenommen hatte. »Du weißt doch, was Garius von diesen Waffen hält, Soldat Hoder. Außerdem können sie nicht betäuben, sie töten nur.« Der Sergeant starrte seinen Untergebenen mit seinen kalten blauen Augen böse an, ehe er weitersprach. »Sie dienen unseren Zwecken nicht, und sie sind nicht geräuschlos wie unsere Bogen.« »Was macht es schon aus, wenn bekannt wird, daß wir in diesen Wäldern leben. Das ist schon längst kein Geheimnis mehr.« Wieder warf der Sergeant Hoder einen eiskalten Blick zu, bis dieser verlegen die Augen niederschlug. »Wir kommen noch auf deine merkwürdigen Ansichten zu sprechen, Hoder. Wenn wir erst zu Hause sind.« Dann beschleunigte der Ältere ohne ein weiteres Wort den Schritt, bis er wieder die Spitze des kleinen Trupps erreicht hatte. »Jetzt hast du dich in die Nesseln gesetzt, du Dummkopf. Wie kannst du nur so blödes Zeug daherschwätzen.« »Ach, das kann mir nichts anhaben«, entgegnete Hoder. »Zufällig weiß ich etwas über unseren so unerschrockenen Anführer.« »Was denn?« fragte Gymir ungläubig. »Nun, eben die Tatsache, daß er nicht einer der Unseren ist.« Gymir blieb stehen und starrte seinen Freund sprachlos an. »Nur ich und die alte Hexe wissen davon. Sie hat es mir 18
vor langer Zeit erzählt. Und außerdem sagte sie, daß Garius gar nicht Brosingamenes ehelicher Sohn ist. Jedenfalls daß er keiner legalen Verbindung entstammt.« Gymir machte große Augen und stammelte etwas Unverständliches. »Du Narr glaubst immer noch, daß unsere Anführer besser als wir sind, doch ihre Vergnügen unterscheiden sich von den unseren keinesfalls.« Hoder stieß ein häßliches, gemeines Lachen aus. »Garius' Vater hatte ein Liebchen, die in dem alten Dorf am Fluß bei Swan Haven lebte. Sie war so hübsch wie eine Frühlingsblume und die Tochter eines Steinmetzen. Und sie brachte Garius zur Welt. Er lebte in dem Dorf, bis die Frau seines Vaters starb, dann brachte der Alte Garius und seine Geliebte an den Hof.« »Nichts als Lügen erzählst du da«, schimpfte Gymir. »Lügen, die die Hexe dir erzählt hat und die du glaubst. Das kommt alles von dem üblen Gesöff, das sie braut.« »Meinst du? Vielleicht solltest du dich selbst davon überzeugen.« Hoder lächelte verschlagen. »Ich glaube das alles nicht«, bekräftigte Gymir. »Dann komm mit mir. Die Hexe ist Garius' Mutter, und sie kann es beweisen.« »Und wie kann sie das ? Sie wurde vom Hof verbannt, deswegen zürnt sie Garius und würde versuchen, ihm zu schaden.« Gymirs Stirn legte sich in nachdenkliche Falten. »Welche Beweise hat sie denn?« »Aha!« sagte Hoder triumphierend. »Du zweifelst.« »Nein. Ich habe keine Zweifel, ich frage ja nur.« »Und das sollst du auch, mein Freund. Warum, glaubst du, lebt sie in der Ruine? Warum hat Garius sie fortgeschickt?« »In der Ruine kann er doch nicht leben«, entgegnete Gymir einfach. »Aber man hätte sie wieder aufbauen können, das wäre viel sinnvoller gewesen, als die Siedlung woanders neu zu errichten.« 19
»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Hoder. Am Hof kursieren schon genug häßliche Gerüchte. Es ist nicht nötig, daß du auch noch dazu beiträgst.« »Sie lebt dort, weil Garius' Vater es so befohlen hat, und darf lebenslang diesen Ort nicht verlassen. Und wie es scheint, wird sie uns noch alle überleben.« Hoder lachte wieder sein häßliches Lachen und zerrte brutal an Bruinlens Kette. »Sehr gefährliche Reden führst du da, Hoder. Laß die Finger von diesen Dingen, sonst verbrennst du dich daran.« »Das werden wir ja sehen«, entgegnete Hoder geheimnisvoll. Olther, der sich schnell aus seinem Gefängnis befreit hatte, folgte seinen gefangenen Gefährten lautlos durchs dichte Unterholz. Sein ganzer Körper schmerzte von dem Sturz in die Fallgrube, doch Olther brannte vor Zorn beim Anblick seiner gefesselten Freunde, deren Geist von einem seltsamen Zauber umnebelt zu sein schien. Er konnte es gar nicht fassen, daß Bruinlen sich ohne Gegenwehr auf derart demütigende Weise behandeln ließ. Der kleine Kerl hastete so schnell wie möglich vorwärts, weil er auf keinen Fall diese merkwürdigen Krieger aus den Augen verlieren wollte. Er mußte unbedingt versuchen, seine Freunde zu befreien, doch er war außerstande, einen vernünftigen Plan zu fassen. Und er wußte nicht, welchem unbekannten Zauber sie erlegen waren und ob sie ihn überhaupt erkennen würden, wenn er versuchte, sie zu befreien. So, wie sie dahinmarschierten, schienen sie sich ihrer Umgebung nicht einmal bewußt zu sein. Stunden vergingen, und plötzlich verschwanden diese sonderbaren Krieger mit ihren Gefangenen in einer grünen Wand. Ungläubig starrte Olther darauf. Doch sie waren einfach verschwunden.
20
3. Brosingamenes Soldaten »Wer ist da?« ertönte eine Stimme. »Waldpatrouille zwei«, antwortete der hagere Sergeant. »Passiert«, sagte der verborgene Wachposten. Olther hatte die Stimmen gehört und wußte, daß sie nicht weit entfernt waren. Die Nase hochgereckt, folgte er dem starken Menschengeruch und stand zu seiner Überraschung plötzlich vor dieser grünen Wand, die von Menschenhand gefertigt war, jedoch völlig natürlich wirkte. Sie schien aus Weinreben zu bestehen, die so dicht ineinander verwoben waren, daß er nirgends durchschlüpfen konnte. Und doch mußte es einen Weg durch diese grüne Mauer geben, dachte er und suchte sie sorgfältig ab. Er begann ganz unten am Boden und hielt plötzlich inne. Da, nur einen Schritt von ihm entfernt, war wieder eine sorgfältig getarnte Fallgrube. »Für Menschen lieben sie das Graben aber außerordentlich«, murmelte er halblaut vor sich hin. Vorsichtig umrundete er die Grube, dann machte er wieder halt und steckte seine Nase unter die Äste, die die Grube bedeckten, um das Innere zu erforschen. Was er entdeckte, übertraf seine kühnsten Hoffnungen. Die Fallgrube erstreckte sich auch bis jenseits der grünen Mauer. »Ich würde gern ein oder zwei Schnurrhaare opfern, wenn dieses verdammte Loch voller Wasser wäre«, klagte er laut. »Aber das nützt alles nichts, ich muß meinen Freunden helfen.« Und dieser Gedanke verlieh ihm Mut und neue Kraft. Er krauste die Nase und kletterte die steile Wand der Grube hinab. Steine und Lehmbröckchen lösten sich unter dem Griff seiner Pfoten, und er hörte sie tief unten aufschlagen. Zweimal hätte er fast den Halt verloren, doch schließlich erreichte er unversehrt den Boden und machte sich an den 21
beschwerlichen Aufstieg. Vorsichtig spähte er über den Rand, und als er niemanden entdeckte, schwang er sich schnell aus der Grube. Jetzt war er innerhalb der Barrikaden dieser seltsamen Feinde. Leise huschte er innen an dem verwobenen Zaun entlang und hielt nach dem Wachposten Ausschau, aber in dem dichten Wald, der jetzt noch dunkler war, rührte sich nichts. Ihm war, als hätte er einen ummauerten Ort betreten, zu dem selbst die Sonne keinen Zutritt mehr hatte. Olther huschte weiter, bis er in einiger Entfernung vor sich einen uralten Baum entdeckte, dessen mächtiger Stamm viele Fuß Durchmesser maß, und nachdem er den Baum eine Weile betrachtet hatte, sah er Schlitze in dessen Rinde – eine Tür befand sich darin. Da hörte Olther jemanden aus dem Inneren des Baumes husten und wußte, daß er jetzt dem verborgenen Wachposten auf die Spur gekommen war. Er umging den Baum, und als er nicht mehr gesehen werden konnte, kehrte er auf den schmalen Pfad zurück, der immer tiefer in den Wald führte. Seltsamerweise wurden die Bäume jetzt wieder grüner, die vormals schwarzen Stämme hatten einen warmen braunen Farbton, und hier und da gab es kleine grasbestandene Lichtungen, auf denen winzige dunkelrote Blumen wuchsen – die ersten Blumen, die Olther sah, seit er diesen verhaßten Ort betreten hatte. »Ich möchte doch zu gerne wissen, was das für eine Sorte Menschen ist«, murmelte Olther und pfiff aufgeregt vor sich hin. »Sie machen ja einen ganz vernünftigen Eindruck, denn sie bekämpfen die Worlughs, aber warum verzaubern sie meine Gefährten und schleppen sie als Gefangene fort?« Während er weiterging, hörte er in der Ferne Stimmengemurmel. Da verlangsamte er seinen Schritt und suchte im dichten Unterholz Deckung. Die Stimmen wurden deutlicher, und Olther konnte die Sprache gut verstehen, wenn auch nicht das Benehmen der 22
Menschen. Sie sprachen die Sprache, die auf Atlanton während des Goldenen Zeitalters gebräuchlich gewesen war – ohne den Anflug eines Dialektes. Olther war sicher, solchen Menschen in Greymouses und Melodias' Zeltlagern begegnet zu sein. Unter den versammelten Männern entstand jetzt ein Tumult, und Olther kroch näher heran, um alles gut verstehen zu können. »Was für ein Fang, Jokim! Ein Tanzbär und ein Zwerg. Ganz zu schweigen von den drei starken Kerlen, die uns bei der Arbeit helfen können.« »Ja, wirklich. Ein guter Fang. Ein Grund, daß Garius heute abend ein Fest veranstaltet. Dann können wir den Bären tanzen sehen. Vielleicht beherrscht er auch noch andere Kunststücke. Ist der Zwerg ein Sänger?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Jokim. »Wir haben sie im Wald, in der Nähe des Alten Flusses, überrumpelt. Von den Bestien haben wir zehn erschlagen. Die schienen hinter unseren Gefangenen hier her zu sein.« »Hoder behauptet, daß der Bär ein Zauberer ist. Kann man seinen Worten Glauben schenken?« »Ja. Dieses eine Mal kannst du ihm glauben. Vor unseren Augen verwandelte er sich von einem Mann in einen Bären und bedrohte uns mit seinen Pranken. Doch wir verpaßten ihm schnell einen unserer Betäubungspfeile.« »Habt ihr sie alle erwischt, oder ist euch einer entkommen?« Olthers Herz setzte bei diesen Worten aus, und er duckte sich tiefer in sein Versteck. »Wir nahmen alle gefangen. Ich habe noch die Umgebung absuchen lassen, doch außer den toten Bestien haben wir niemanden mehr entdeckt.« Den Bauch dicht an den Boden gepreßt, kroch Olther bis zu einem niedrigen, braunen, strohgedeckten Gebäude, das nahe am Waldesrand stand. Er kroch an einem zweiten Haus vorbei und spähte behutsam über einen Zaun, der einen Garten begrenzte, der voller dieser kleinen roten 23
Blumen war, die er schon auf dem Weg hierher gesehen hatte. Alle Häuser waren auf die gleiche Art konstruiert, von demselben Erdbraun und strohgedeckt und so niedrig, daß er die Dächer – zu voller Größe aufgerichtet – berühren konnte. Von dort aus, wo er lag, konnte er sehen, daß es viele dieser Häuser gab und sie kreisförmig um einen Platz gruppiert errichtet waren. In der Mitte dieses Platzes umstanden die Leute einen hohen steinernen Pfeiler, dessen Sockel ein riesiger Baumstumpf bildete. Dieser Stumpf war sogar noch mächtiger als der Baum, der den Wachposten beherbergt hatte, und wenn der Baum so groß gewesen war, wie sein Durchmesser vermuten ließ, mußte er einst alle anderen Bäume des Waldes überragt haben. Olther kam ein vager Gedanke, der sich jedoch gleich wieder verflüchtigte und einem unermeßlichen Zorn Platz machte, als er seine Freunde gefesselt dastehen sah. Vor Wut und Hilflosigkeit knirschte er mit den Zähnen. »Es muß doch einen Weg geben!« murmelte er wütend. »Sie würden ganz schön dumm aus der Wäsche schauen, wären Faragon oder Greyfax hier.« Beim Gedanken an die Zauberer schöpfte Olther neuen Mut, doch der war nicht von langer Dauer. Sicherlich wußten die beiden nicht, in welcher Gefahr die Gefährten schwebten, und Olther hatte keine Möglichkeit sie zu benachrichtigen. Sein Atem stockte, und er riß entsetzt die Augen auf. Der Heilige Schrein. Der Schrein war in Gefahr, obwohl Olther nicht glaubte, daß sich diese Krieger für irgend etwas anderes als ihr Amüsement interessierten. Sie schienen nicht den Armeen der Finsteren Königin anzugehören, aber auch nicht denen Lorinis. Nur hin und wieder fiel der Name »Garius«, der ihres Anführers. Der vage Gedanke ergriff wieder von Olther Besitz. Er murmelte den Namen mehrmals vor sich hin, doch wollte 24
ihm nichts dazu einfallen. Da ertönte laut und schrill der Ruf eines Horns, und noch mehr Leute strömten auf den Platz. Diese Männer trugen blutrote Uniformröcke über silberfarbenen Westen und schwarze, blankgeputzte Stiefel. Ihre Hosen waren blau. Sie bewegten sich rhythmisch im Takt einer Trommel, die am Ende der Formation geschlagen wurde. Die Rotuniformierten marschierten vorbei, dann folgten schöne, hellhäutige Damen – die doch bei weitem nicht so schön waren wie Cybelle oder Lorini. Sie waren in hellblaue Gewänder gehüllt, und Dienerinnen trugen ihre Schleppen. Hinter den Frauen her schritt ein großer grauhaariger Mann, von Kopf bis Fuß in dunkles Blau gekleidet. Die Enden seines grauen Schnauzbartes hingen ihm bis über das Kinn hinab, und seine blitzenden blauen Augen strahlten eisige Kälte aus. Als er vorbeischritt, verneigte sich die Menge und rief: »Garius! Garius!« Doch der Anführer blickte weder rechts noch links, sondern setzte unbewegt seinen Weg fort. Olthers Blick wanderte wieder zu dem steinernen Pfeiler. Daneben lag Bruinlen besinnungslos am Boden; Broko saß mit schwankendem Kopf an seiner Seite. Flewingam, Cranfallow und Ned Thinvoice saßen nicht weit davon entfernt mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Blicklos starrten ihre Augen in die sie neugierig musternde Menge. Garius wandte sich an den für die Gefangenen verantwortlichen Soldaten. »Gute Arbeit, Jokim.« Jokim verneigte sich und trat einen Schritt zu Seite, damit Garius die Gefangenen besser betrachten könne. »Ist dies der Zauberer?« fragte Garius. Er streckte die Hand aus und wollte Bruinlen berühren. »Das würde ich nicht tun, Euer Gnaden. Ehe wir ihn 25
kampfunfähig machen konnten, hätte er fast zwei von unseren Leuten getötet.« »Und jetzt sieht er so harmlos aus. Ist er der Zauberer?« »Ja, Euer Gnaden.« »Gut. Nehmt ihn mit.« Er machte eine knappe Handbewegung, und Bruinlen wurde fortgeschleift. »Und dieser hier! Was für eine Kreatur. Seit Jahrzehnten habe ich keinen Gnom mehr gesehen. Welch hübsches Geschenk für meine Gemahlin. Er kann sie mit seinen Possen unterhalten.« »Wie es Euch beliebt, Euer Gnaden.« Der Blick der kalten blauen Augen ruhte jetzt auf Flewingam und seinen beiden Kameraden. »Diese da können bei den Kanalarbeiten helfen. Sie gehören wohl der unteren Klasse an.« »Sie befanden sich in Gesellschaft des Zauberers und des Gnoms. Wir hielten sie für deren Diener, Euer Gnaden.« »So? Nun, es scheint mir der Anlaß gegeben, heute abend ein Fest zu veranstalten. Großmarschall, verkündet bitte, daß wir heute hofhalten. Mit Tanz und Wein.« Garius winkte den Sergeanten zu sich. »Jokim, Ihr seid der Ehrengast. Ihr habt mir ausgezeichnet gedient. Meine Glückwünsche.« »Vielen Dank, Euer Gnaden. Ich hoffe, Ihr findet an den Gefangenen Gefallen.« »Das tue ich, mein treuer Jokim. Schon lange haben wir bei Hof nichts mehr zu lachen gehabt – bis heute.« Garius nickte bekräftigend, und auf dieses Zeichen hin setzten die Trommeln wieder ein, die roten Waffenröcke, gefolgt von den Damen, setzten sich wieder in Bewegung, und die ganze Prozession umrundete einmal den Pfeiler und verschwand dann in die Richtung, aus der sie gekommen war. Nachdem Bruinlen fortgeschleppt worden war, fühlte Olther eine innere Unruhe in sich wachsen, und er erkundete die umliegenden Häuser im Schutz der 26
angrenzenden Bäume des Waldes. Nach einer Weile hatte er gefunden, was er suchte. Das Haus glich in seinen Proportionen aufs Haar den anderen Häusern, nur war es gigantisch, und es schien Olther, als hätten die übrigen Gebäude alle Platz in ihm. Man konnte es durch eine hohe Doppeltür betreten, aber es gab keine Fenster. Die Prozession verschwand im Inneren des Gebäudes, die Flügeltüren schlossen sich, und Olther verlor jeden Mut. Wie sollte er nur seinen Freunden dort drinnen helfen können ? Hoffnungslose Verzweiflung überfiel ihn, und er ließ sich schwer zu Boden sinken. Das war das Ende. Sie alle – selbst er – waren jetzt Gefangene dieser merkwürdigen Menschen mitten im Dragur-Wald. Er spielte mit dem Gedanken, sich dem Feind zu stellen, dann wäre er wenigstens bei seinen Freunden. Schon wollte er den Gedanken in die Tat umsetzen, doch dann überkamen ihn wieder diese bohrenden Zweifel, und er vergaß sein Vorhaben. Ganz schwach glomm in seinem Herzen ein Fünkchen Hoffnung und verscheuchte die Finsternis. Das war es: Er hatte den steinernen Pfeiler im Coda Pool gesehen! Sollte das wirklich das Ende sein? War das die Botschaft der heiligen Quelle gewesen? Daß sie für immer Gefangene dieses Mannes mit den kalten blauen Augen sein sollten? Dann erinnerte sich Olther, daß er in der Quelle noch andere Dinge gesehen hatte: Ereignisse, die noch geschehen würden. Nein, ihre Reise war hier noch nicht zu Ende. Er beschloß, die Dunkelheit abzuwarten und dann weiterzusehen. Doch zuerst mußte er ein sicheres Versteck finden. Man durfte ihn auf keinen Fall hier entdecken. Irgendwie mußte er seine Freunde befreien, das wußte Olther.
27
4. Garius Brosingamene gibt ein Fest Viele Menschen hielten sich in Garius' großem Thronsaal auf. Er war der Zehnte Hüter Amarigins aus dem Geschlecht der Brosingamenes. Das strohgedeckte Dach wurde von mächtigen, mit Schnitzereien verzierten Tragebalken gestützt, die Drachenköpfe und Menschenfresser und hochgewachsene grimmige Krieger mit Federbüschen auf den Helmen darstellten. Der Saal wurde vom Schein unzähliger Kerzen in goldenes Licht getaucht, und es herrschte unter den Anwesenden eine Stimmung angespannter Erwartung. Aller Blicke waren auf die hohe, gewölbte Tür gerichtet, die zu Fürst Garius' Privatgemächern führte. Nach langen, eintönigen Monaten war dies das erste Fest, das der Herrscher wieder veranstaltete. Alle waren prunkvoll gekleidet – viele hatten sogar Masken angelegt –, und liebliche Lautenmusik ertönte. In einer dunklen Ecke stand eine maskierte Gestalt mit einem geschnitzten Holzbecher und beobachtete ängstlich ihre Umgebung. Olther, als Wildschwein verkleidet, fühlte sich in diesem Aufzug äußerst lächerlich, doch auf diese Weise hatte er, ohne Verdacht zu erregen, das Gebäude betreten können, wo seine Freunde gefangengehalten wurden. Neben ihm stand eine Dame, die schüchtern mit ihrem Begleiter flirtete. Plötzlich drehte sie sich um und wandte sich an Olther. »Marius?« fragte sie. Furcht griff nach Olthers Herzen. »Cleon?« fragte sie nun und fand offensichtlich Gefallen an ihrem Spiel. Olther schüttelte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches. »Justin!« rief sie, überzeugt, endlich richtig geraten zu haben. »Kommt, laßt uns tanzen.« Olther wollte das Angebot ablehnen, sah dann aber den 28
Ärger, der sich auf den Gesichtszügen der Schönen spiegelte, und folgte ihr zögernd zur Tanzfläche, wo die Musiker aufspielten. Glücklicherweise herrschte dort ein solches Gedränge und Geschiebe, daß niemand merkte, daß er den Tanz nicht beherrschte. Die Dame redete weiter auf ihn ein, doch der Lärm war so groß, daß er sie nicht verstehen konnte. Er versuchte während des Tanzes, die hohe, gewölbte Tür im Auge zu behalten, denn er war sicher, daß Bruinlen und Broko von dorther in den Festsaal geführt werden würden. Wo Thinvoice, Cranfallow und Flewingam gefangengehalten wurden, wußte er nicht, aber man hatte sie sicher von den anderen getrennt. Plötzlich rempelte ihn jemand an, und er fand sich vor einem großen, kräftigen Kerl wieder, der ziemlich betrunken zu sein schien. »Du willst dich also mit Freya vergnügen, eh?« Die trunkene Stimme kam ihm bekannt vor, doch er hatte keine Zeit zu weiteren Überlegungen, denn der Bursche wollte ihn rüde zur Seite stoßen. Geschickt wich Olther dem Angriff aus und verschwand in der Menge. Während er sich einen Weg durch die Tanzenden bahnte, hörte er, wie die Dame den ungehobelten Kerl mit Gymir anredete, und jetzt wußte Olther, wo er die Stimme schon gehört hatte. Er war froh, wieder allein zu sein, und suchte sich ein Plätzchen, von wo aus er die Tür beobachten konnte. Da ertönten Fanfaren und kündigten die Ankunft des Herrschers an. Während Garius durch die Menge schritt, verbeugten sich seine Untertanen, und als er an Olther vorbeiging, sah dieser, daß sich der Fürst in einem Zustand großer Erregung befand. Nachdem die Begrüßungszeremonie vorüber war, stimmten die Musiker einen wilden Tanz an, dem sich alle Anwesenden voller Begeisterung hingaben. Olther wurde von einem Kreis rotgesichtiger Tänzer mitgezogen, die seine Hände mit eisernem Griff umklammerten und ihn 29
zwangen, an ihrem barbarischen Ritual teilzuhaben. Er mußte an die liebliche Musik in Cypher denken, und dieser Gedanke stimmte ihn traurig, denn in diesem Moment wünschte er nichts sehnlicher, als in der Nähe Cybelles zu sein – weit weg von diesen seltsamen, ihnen feindlich gesonnenen Menschen. Als die Musik aufhörte, applaudierte die Menge frenetisch. Langsam legte sich der Lärm, und Olther sah, daß Garius am Ende des Saales auf ein Podium gestiegen war und seinem Volk Ruhe gebot. Stille trat ein. »Meine getreuen Untertanen. Heute abend haben wir allen Grund, ein großes Fest zu feiern.« Wieder brandete Applaus auf. »Und dank Jokim werden wir uns aufs prächtigste amüsieren.« Erneuter Applaus folgte diesen Worten. »Also wollen wir sofort beginnen und die Zeit nicht mit unnötigen Reden vergeuden.« Die Menge klatschte wie verrückt und stürzte sich dann auf die Speisen und Getränke. Irgend jemand drückte Olther auf einen Stuhl, und er fand sich eingeklemmt zwischen zwei alten Frauen wieder, die ihm zahnlos zulächelten und ständig Essen auf seinen Teller häuften und seinen Becher mit Wein füllten. Derart beschäftigt, war es ihm vollständig entgangen, daß man Bruinlen und Broko auf das Podium gebracht hatte, wo Garius speiste. Schließlich sah er sie: Vor dem Tisch des Fürsten hatte man sie an einen großen Steinblock angekettet. Bruinlen blickte so haßerfüllt um sich, daß seine Wächter sich hüteten, in die Nähe seiner mächtigen Tatzen zu kommen. Offensichtlich hatten sie Angst. Broko starrte düster vor sich hin; er ignorierte die neugierigen Blicke, die die Menschen ihm zuwarfen, einfach. Mit Erleichterung stellte Olther fest, daß Broko noch immer seinen grünen Mantel trug, also mußte er den Heiligen Schrein bei sich haben. 30
Eine Gruppe neuer Musikanten betrat jetzt den Festsaal und spielte auf. Gleichzeitig trug man buntschillernde Vögel in geflochtenen Käfigen herein, die freigelassen wurden und sich sofort auf ihren Schwingen in die Höhe erhoben. Das sanfte, goldene Kerzenlicht brach sich auf ihren Flügeln und Leibern in allen Farben des Regenbogens – ein wahrhaft prächtiges Schauspiel. Olthers Gedanken rasten. Er suchte nach einer Möglichkeit, seine Freunde zu befreien, doch die Anwesenheit der vielen feindlichen Soldaten entmutigte ihn, und seine Hoffnungen schwanden. Trauer senkte sich in sein Herz. Selbst wenn es ihm gelänge, Broko und Bruinlen von ihren Ketten zu befreien, besaßen diese Menschen noch diese seltsame Waffe, ihre Feinde willenlos zu machen. Der rasende Bruinlen hatte sich bei seiner Gefangennahme im Handumdrehen in ein sanftes Lämmchen verwandelt und war nicht gefährlicher gewesen als diese Vögel, die jetzt überall herumflatterten. Noch ehe Olther diese bitteren Gedanken zu Ende gedacht hatte, kam plötzlich eine große Unruhe über die Menge – ja etwas wie ehrfürchtige Scheu. Olther wandte den Blick zur Tür und sah dort ein sehr altes Weib stehen. Es war in Lumpen gehüllt und sein Gesicht von unzähligen Falten und Runzeln durchzogen. Trotzdem konnte man die einstige Schönheit der Alten und auch ihren Stolz ahnen. Ein Raunen ging durch die Menge, und viele der Anwesenden zogen sich vorsichtig von den festlich gedeckten Tischen zurück. Garius stand wie erstarrt da. Angst und Zorn spiegelten sich auf seinem Gesicht wider. Es war zu einer bläulichen Maske geworden. Da erhob die Alte ihre Stimme und sprach: »Hast du etwa geglaubt, du könntest mich ausschließen?« »Nein, du aussätzige alte Hexe.« »Eine alte Hexe. Ja, das stimmt. Ich bin gekommen, um den Zauberer anzusehen, den du gefangengenommen hast.« 31
»Dann sieh ihn dir an und geh wieder. Du weißt, daß du die Bestimmungen verletzt hast. Du wurdest rechtmäßig vom Hofe verbannt. Ich könnte dich deswegen töten lassen.« »Und wer würde es wagen, die Hand gegen mich zu erheben?« Die Alte brach in Gelächter aus und ging auf den Herrscher zu. Die Menge wich furchtsam zurück. Dann stand sie vor dem Podium und starrte Garius mit wäßrigen Augen an. »Siehst du? Niemand tut mir etwas zuleide.« Das Gesicht des Fürsten lief blutrot an, und eine Ader schwoll an seiner Stirn. »Ich befehle dir, augenblicklich diesen Ort zu verlassen!« »Ich gehe, wenn es mir paßt, mein Lieber. Ich bin gekommen, um mir deine Gefangenen anzusehen, und das werde ich jetzt tun.« Mit erstaunlicher Behendigkeit erklomm sie die Stufen zum Podium und ging auf Broko und Bruinlen zu. »Das sind wohl deine Zauberkünstler?« krächzte sie und trat näher an die beiden Gefangenen. Bruinlen stieß ein drohendes Brummen aus, und selbst Broko gab einen gereizten Laut von sich. Olther schlängelte sich näher an das Podium heran. »Laß einmal sehen, was du kannst, Meister Bär. Kannst du singen oder tanzen?« Und wieder brach die Alte in Gelächter aus. »Sie werden singen und tanzen, wenn das dein Begehr ist«, sagte Garius drohend. »Doch dann wirst du meinen Hof verlassen.« Die Alte warf dem Fürsten einen verschlagenen Blick zu. »Ich würde dir raten, etwas höflicher zu sein, mein Lieber.« Dieser Satz schien Garius an den Rand eines Wutanfalls zu bringen. »Wache!« zischte er, doch seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. 32
Niemand rührte sich. »Ich denke, ich werde deine Gefangenen mitnehmen, Garius«, sagte die Alte. »Sie sind nicht das rechte für dich und viel zu langweilig, um deine Gäste heute abend auf angemessene Weise zu unterhalten.« Und noch ehe Garius eine Bewegung machen oder sie aufhalten konnte, hatte sie Bruinlen und Broko von ihren Fesseln befreit und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Mit maßlosem Erstaunen sah Olther, wie seine beiden Freunde tatsächlich willig hinter der Alten hergingen. Der Zehnte Hüter Amarigins machte keinerlei Anstalten, die drei aufzuhalten, die langsam auf den Ausgang zuschritten. Olther folgte ihnen und entledigte sich seiner Maske in einem unbeobachteten Augenblick außerhalb des Festsaals. Und weiter schlich er leise hinter der seltsamen Prozession her durch eine Tür in der Umfriedung, die die Siedlung umgab. Gleich dahinter wurde der Wald immer dichter und unwegsamer, doch die Alte führte ihre erstaunlicherweise so ruhigen Gefangenen immer tiefer in das undurchdringliche Dickicht.
5. Eine unerwartete Verbündete Einmal, als Olther ziemlich nahe an der Alten war, glaubte er sie flüstern zu hören. Er konnte die Worte nicht verstehen, vermeinte aber Bruinlen und Broko antworten gehört zu haben. Nachdem sie viele Meilen gegangen waren – so schien es jedenfalls Olther –, stolperte er plötzlich über die Ketten, mit denen seine Freunde gefesselt gewesen waren. Er wunderte sich darüber, war gleichzeitig aber erleichtert, doch ließ er weiterhin Vorsicht walten und folgte den dreien in gebührendem Abstand. Dann zeichneten sich am Nachthimmel die Umrisse von Gebäuden ab. Olther konnte einen großen Turm und 33
mehrere verfallene Dächer erkennen. Es mußte sich um eine ehemalige Festung handeln. Irgendwo hinten war der schwach schimmernde Schein eines Lichts in einem der zu ebener Erde gelegenen Fenster zu erkennen. Olther hatte seine Freunde aus den Augen verloren. Er hielt einen Moment inne und lauschte auf ihre Schritte. »Du kannst dich jetzt zu uns gesellen, Olther«, krächzte plötzlich die alte Stimme, »sonst verirrst du dich noch in den Ruinen.« Eine Hand berührte seinen Arm, und Olther stieß einen erschrockenen Schrei aus. »Es ist ja gut, alter Junge«, beruhigte ihn Bruinlen. »Wir haben dich schon seit einer ganzen Weile gehört. Du scheinst völlig vergessen zu haben, daß du dich in Menschengestalt nicht so leise fortbewegen kannst.« »Ja. Deine Schritte haben geklungen, als wäre ein ganzer Trupp Soldaten vorbeimarschiert«, schimpfte Broko, der plötzlich neben ihm stand. »Aber da du nun schon einmal hier bist, kannst du ebensogut bei uns bleiben.« »Vielen Dank«, zwitscherte Olther und schlüpfte schnell wieder in seine eigene Gestalt. »Aber warum habt ihr mir denn nicht früher gesagt, daß ich nichts riskiere, wenn ich euch folge?« »Weil wir nicht wußten, wer uns folgt«, entgegnete Bruinlen. »Alane war sich nicht sicher, ob es sich auch wirklich um dich handelte.« »Ich bin Alane«, krächzte die Alte, »schon lange Jahre warte ich auf euer Kommen.« Angestrengt versuchte Olther in der Dunkelheit die Gesichtszüge der alten Frau zu erkennen. »Ihr wußtet also, daß wir kommen?« platzte er völlig verwirrt heraus. »Sie kennt Greyfax«, erklärte Broko. »Dann ist er hier?« fragte Olther erleichtert. »Nein. Aber er war hier«, sagte Alane, »obwohl das schon lange her ist.« Olther war 34
enttäuscht. »Alane hat uns erzählt, daß Greyfax ihr gesagt hat, sie solle nach gewissen Zeichen Ausschau halten«, sprach Broko weiter. »Und sie solle auf diejenigen warten, die in Ketten kämen.« »Aber was soll nun aus Ned, Cranny und Flewingam werden?« fragte Olther verwirrt. »Wir können sie doch nicht in der Gefangenschaft schmachten lassen.« »Sie sind schon in meiner Obhut«, sagte Alane einfach. »Ich habe nach ihnen schicken lassen.« »Wird Garius denn nicht versuchen, uns wieder in seine Gewalt zu bekommen?« »Das glaube ich nicht, mein guter Olther. Garius ist gewiß ein Mann, den man fürchten muß, doch gegen mich wird er nichts unternehmen, denn ich bin seine Mutter.« »Dann stimmt also, was ich gehört habe?« »Ja. Dieser Punkt stimmt. Wer sprach darüber? Hoder?« »Das war sein Name, glaube ich.« »Vor ihm müssen wir uns mehr in acht nehmen als vor Garius. Früher hat er mich oft hier besucht und etliches herausgefunden, das er als Druckmittel gegen meinen Sohn benutzen kann. Ich glaubte, er wäre mir wohlgesonnen, doch jetzt weiß ich, daß er mich hintergangen hat.« »Alane ist der Meinung, daß wir im Morgengrauen aufbrechen sollen«, sagte Broko. »Deshalb sollten wir uns so schnell wie möglich einen Fluchtplan zurechtlegen, etwas essen und noch ein wenig schlafen.« »Natürlich. Wir stehen schon viel zu lange hier in der Dunkelheit herum. Ich werde euch Feldbetten und Proviant herrichten. Außerdem kenne ich ein paar Schliche, die euch gut zupaß kommen dürften.« Alane drehte sich um und führte die drei Gefährten an den verfallenen Mauern der alten Festung entlang auf verschlungenen Pfaden, bis sie vor einem kleinen erleuchteten Fenster standen. Die dicke Mauer öffnete sich, und sie standen plötzlich 35
in einem langen, niedrigen, holzgetäfelten Raum. Ein fröhliches Feuer flackerte im Kamin, und hinten in der Ecke saßen Ned, Cranfallow und Flewingam an einem Tisch. Beim Eintreten der Gefährten sprangen sie voller Freude auf und stürmten auf sie zu. Nachdem sie sich alle begrüßt hatten, setzten sie sich vor den Kamin, um zu hören, was Alane zu sagen hatte. »Ihr müßt morgen den direkten Weg über die Alte Waldstraße zur Schrecklichen Einöde nehmen. Es ist ein paar Jahre her, daß ich diese Reise unternommen habe, doch ich weiß, daß unsere Patrouillen die Straße von Gesindel freihalten, bis zu der Stelle, wo der Wald aufhört.« »Es besteht also keine Gefahr, daß wir wieder gefangengenommen werden?« fragte Bruinlen. »Das glaube ich nicht, Bruinlen. Garius will mich nicht noch einmal bei sich sehen. Und es gibt noch einen anderen Grund, auf den ich aber nicht näher eingehen möchte, denn er betrifft nur die Siedlung. Die einzig wirkliche Gefahr droht euch von den Horden dieser Bestien, die jetzt unser Land durchstreifen.« »Und wie sollen wir uns ernähren, meine Fürstin?« fragte Broko, der unruhig auf und ab schritt. »Dafür ist schon gesorgt«, entgegnete Alane. »In der Vorratskammer ist alles, was ihr braucht. Jedoch weiß ich nicht, wie ihr an neue Vorräte kommt, habt ihr einmal den Dragur-Wald verlassen.« Olther und Bruinlen hatten die Tür zur Vorratskammer geöffnet und inspizierten den Proviant. »Das reicht ja für Wochen, wenn wir sparsam damit umgehen«, rief Olther entzückt. »Dir dürfte es schon Wochen reichen«, brummte Bruinlen und betrachtete die kleinen Päckchen mit jämmerlicher Miene. Da ging Broko hin und warf ebenfalls einen Blick auf den Proviant. »Das ist völlig ausreichend, wenn wir alles rationieren«, 36
stimmte er zu. Bruinlen war beleidigt und betastete die einzelnen Sachen. »Ah, wenigstens ist auch etwas Honig dabei«, sagte er schließlich. »Das Wasser in den Wäldern ist gut«, sprach Alane weiter. »Aber wenn ihr die Schreckliche Einöde erreicht habt, wäre ich an eurer Stelle mit dem Trinken äußerst vorsichtig. Unsere Kundschafter haben uns berichtet, daß die Ungeheuer dort die Quellen vergiftet haben. Also solltet ihr soviel gutes Trinkwasser wie möglich mit euch nehmen.« Da streckte Flewingam eine Hand aus und berührte ganz sacht den Arm der Alten. »Ihr habt für uns getan, was in Eurer Macht steht, meine Fürstin. Wir verdanken Euch unser Leben.« »Ach, schweig!« gab sie barsch zurück. »Ich habe euch nur ein wenig Ärger erspart. Das ist alles.« Alane errötete wie ein junges Mädchen, und sie schien sehr erfreut. »Auch wir möchten Euch danken, Cranny und ich«, sagte Ned und verneigte sich tief. »Ich glaubte schon, für den Rest meines Lebens Fronarbeit leisten zu müssen. Ihr habt uns wahrhaft eine Menge Ärger erspart«, schloß sich Cranfallow an und verneigte sich ebenfalls. »Doch wäre es nicht schlecht, wenn wir ein oder zwei Gewehre hätten«, fuhr Ned fort. »Der Gedanke, unbewaffnet durch diesen Wald zu gehen, gefällt mir überhaupt nicht.« »Um deine Waffe konnte ich mich nicht kümmern, mein guter Thinvoice. Wie mir scheint, ist Hoder ganz besessen davon. Doch hier müssen irgendwo noch ein paar Bogen und passende Pfeile dazu sein.« »Dann bescheiden wir uns damit, Ned«, sagte Broko. »Irgendeine Waffe ist jedenfalls besser als keine«, meinte Cranfallow erleichtert bei dem Gedanken, daß sie nun nicht völlig schutzlos waren. 37
»Jetzt legt ihr euch am besten schlafen«, sagte Alane. »Im Nebenzimmer habe ich Feldbetten aufgestellt. Vorher könnt ihr noch essen.« »Sollen wir eine Wache aufstellen?« fragte Flewingam. »Das übernehme ich«, entgegnete die alte Frau. »Auch Ihr braucht Euren Schlaf, meine Fürstin«, protestierte Broko, doch Alane brachte ihn mit einem Schnalzen der Zunge zum Schweigen. »Ich bin zu alt, um mit Schlafen meine Zeit zu vergeuden«, sagte sie. »Außerdem habe ich heute nacht noch viel zu tun.« »Dann nehmen wir Euer großzügiges Angebot dankbar an. Morgen werden wir unsere ganze Kraft brauchen.« Die kleine Gesellschaft bereitete sich auf die Nachtruhe vor, nachdem sie gegessen und ihre Rucksäcke zum Bersten voll mit Proviant gefüllt hatte, die sie neben ihre Feldbetten stellte. Bruinlen und Olther suchten, bis sie die schwarzen Ebenholzbogen samt den dazu gehörenden Köchern und Pfeilen gefunden hatten; sie stellten die Waffen neben die Tür. Als die Freunde sich schlafen legten, fuhr Olther plötzlich aufgeregt in seinem Bett hoch. »Das Wichtigste habe ich ganz vergessen, Broko. Hast du den Schrein noch?« »Ja, alter Junge«, entgegnete Broko ruhig. Er öffnete seinen Mantel und holte das kleine Kästchen hervor, das die Hoffnung so vieler barg, und das Zimmer wurde in einen Strom goldenen Lichts getaucht, und in ihren Herzen erwachte neue Kraft. So gestärkt durch die wunderbare Macht des Heiligen Schreins, fielen die Gefährten alsbald in einen friedvollen Schlummer. Aber Alane wachte, bis die Dunkelheit dem Morgengrauen Platz machte und der bleiche Mond am Himmel verblaßte. Und Hoder erwartete ungeduldig mit einem Dutzend Männer das Herannahen des neuen Tages. Er wußte, daß die alte Frau immer im Morgengrauen zu Bett ging. In seinen dunklen Augen leuchtete schon der Ruhm, der allein ihm gehören würde, 38
wenn er erst einmal die Geheimnisse dieser beiden Zauberer besäße. Als die Bande langsam und leise durch den schwarzen Wald auf die Ruine der Festung zuschlich, kam ein schwacher Wind auf.
6. Flucht durch einen alten Kamin Alane saß in ihrem geschnitzten Lehnstuhl vor dem sterbenden Feuer und war in einen leichten, unruhigen Schlaf gesunken. Die Bilder längst vergangener Tage stiegen vor ihr auf: Sie saß neben Greyfax Grimwald; der Tag war sonnendurchflutet; weiße, federgleiche Wolken zogen am tiefblauen Himmel dahin. Und sie war jung und sehr schön. Ihr langes braunes Haar fiel ihr wie gesponnene Seide über die Schultern, und ihre dunklen Augen leuchteten vor Liebe zu diesem stattlichen, mächtigen Zauberer, einem der Ältesten des Rings des Lichts. Es geschah nicht oft, daß solche Besucher die Festung Brosingamene aufsuchten, und obwohl ihr Vater ihr von diesen Gebietern erzählt hatte, wagte sie damals nicht an deren Existenz zu glauben, noch hätte sie sich jemals träumen lassen, an der Seite eines der mächtigsten Männer Windameirs im voll erblühten Garten spazierenzugehen. Der Mann, den sie vor kurzem geheiratet hatte, war schon ältlich und schien von der Bedeutung seines Besuchers völlig unbeeindruckt. Ja, er hatte ihn nicht einmal empfangen wollen. Greyfax war nur kurze Zeit bei ihnen geblieben, und am letzten Tag seines Aufenthalts hatte er Alane gebeten, ihn auf einem Spaziergang im Garten zu begleiten. Ihr Herz hatte einen Sprung getan. Sie war sicher, er würde sie bitten, mit ihm auf und davon zu gehen. Doch er hatte von ganz anderen Dingen zu ihr gesprochen, und während er sprach, war er gealtert. Als sie 39
sein Gesicht im hellen Sonnenlicht näher betrachtete, schienen seine Augen älter als die des Fürsten Brosingamene – ihres Mannes – zu sein, und sie verlor jede Hoffnung auf eine Zukunft an seiner Seite. Erst viele, viele Jahre später sollte sie sich an seine Worte erinnern, doch da hatte sie schon eine halbe Ewigkeit in diesen Ruinen gelebt, wo sie einst mit Greyfax in dem lieblichen Garten gesessen hatte. Der Zauberer hatte ihr gesagt, daß sie nach einem Zwerg und dessen Gefährten Ausschau halten und ihnen helfen solle, wenn sie gekommen waren. Auch von der Schrecklichen Einöde hatte er gesprochen, die schon damals, nach dem letzten Drachenkrieg, verwüstetes Land war. Und von einer alten Höhle war die Rede gewesen, doch an Einzelheiten konnte sie sich nicht erinnern. Noch wußte sie, wie viele Male sie die Spähtrupps, die täglich den Wald durchstreiften, nach diesen Fremden befragt hatte. Schließlich hatte sie ihre Bemühungen aufgegeben und es vorgezogen, am Feuer zu sitzen. Die Jahre vergingen, und sie war überzeugt, daß die Worte des Zauberers sich nicht bewahrheiten würden. Also hatte sie das Studium der alten Bücher der Weisheit wieder aufgenommen, die dem Ersten Hüter Brosingamenes gehört hatten. Ganz alleine hatte sie gelebt und außer dem Diener, den ihr Sohn Garius schickte, um sie täglich mit Speise und Trank zu versorgen, niemanden zu Gesicht bekommen. Sie war voller Genugtuung, als dieser erste Diener starb, und jetzt war auch der zweite schon alt und grau. Als Hoder es sich zur Gewohnheit machte, sie in ihrer Einsiedelei zu besuchen, merkte sie zum ersten Mal, wie sehr sie den Kontakt zur Außenwelt vermißt hatte, und sie hieß ihn stets willkommen, mehr noch, sie erwartete ihn ungeduldig. Von Hoder erfuhr sie von den täglichen Scharmützeln mit diesen seltsamen Halbmensch-Kriegern, die in den Außenbezirken des Waldes immer häufiger anzutreffen waren und die den Menschen immer größere Verluste zufügten. Hoder war von 40
Unrast erfüllt und sehr ehrgeizig, er wollte die Siedlung tiefer in den Wald verlegen oder den Wald ganz verlassen. Er erzählte ihr, daß viele Männer ihm folgen würden, wenn er sie nur davon überzeugen könnte, daß seine Ansichten die richtigen seien. Doch hatte er zeit seines Lebens in der Siedlung verbracht und fürchtete, außerhalb der Grenze ihres Reiches auf unüberwindliche Schwierigkeiten zu stoßen. So hatte Hoder in Alane eine Prophetin gesehen und geglaubt, mit ihrer Hilfe seine Pläne verwirklichen zu können. Und sie hatte so viel Gefallen an seiner Gesellschaft gefunden, daß sie sich dazu hatte hinreißen lassen von Dingen zu reden, über die sie besser geschwiegen hätte. Auf diese Weise hatte er erfahren, daß sie Garius unehelich geboren hatte. Als Hoder ihr dann von der Gefangennahme des Zwerges und seiner Gefährten berichtete, fielen ihr Greyfax' Worte wieder ein – so klar und deutlich wie am Tag, als er zu ihr gesprochen hatte. Und sie hatte den großen Fehler begangen, Hoder davon zu erzählen. Ein flüchtiges Geräusch riß Alane aus ihren Träumen. Sie schreckte auf, beruhigte sich jedoch sofort wieder, als sie sah, daß nur ein Holzscheit knisternd durch den Kaminrost gefallen war. Wieder war sie eingenickt, da wurde sie durch ein leises kratzendes Geräusch geweckt und fuhr erschrocken hoch. Jemand machte sich am Türschloß zu schaffen. Sie huschte mit einer für ihr hohes Alter erstaunlichen Geschwindigkeit zur Tür und legte den Querriegel vor, so daß niemand eindringen konnte. Ein enttäuschtes Murmeln draußen bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Aber eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, daß Hoder mit seinen Männern gewaltsam in ihr Haus eindringen würde, denn selbst er glaubte, sie sei eine Hexe, und fürchtete sie. Noch hatte sie den Angriff so früh erwartet. Von Garius hatte sie nichts zu befürchten, das wußte sie. Nicht, daß es ihrem Sohn an Tapferkeit gemangelt hätte, er hatte nur Angst, der Makel seiner 41
Geburt könnte bekannt werden, denn dann würden seine Untertanen ihn nicht mehr als ihren rechtmäßigen Herrscher betrachten und ihm die Gefolgschaft verweigern. Dieser Gedanke allein hielt ihn davon ab, die Hand gegen seine Mutter Alane zu erheben, denn dann würde sie ihren letzten Trumpf ausspielen und das Geheimnis verraten, so dachte Garius, obwohl Alane das niemals tun würde, denn es bedeutete ebenso ihren eigenen Untergang. Und da Hoder dies alles wußte, war für ihn nun der Augenblick gekommen, die Macht an sich zu reißen, nach der er schon so lange strebte. Es gab keine Fenster in dem langgestreckten Raum und keinen anderen Eingang als die schwere Eichentür. Er hatte einst als Waffenkammer gedient und konnte nicht eingenommen werden. Doch sie wußte, daß sich Hoder mit einer langen Belagerung nicht aufhalten würde. Wenn er Erfolg haben wollte, mußte er schnell handeln. Sie überprüfte noch einmal die Tür, befestigte sie mit einer Stange und ging ihre Gäste wecken. »Was gibt es?« rief Broko erschrocken, als Alane ihn wachrüttelte. Er hatte von schwarzen Pfeilen geträumt, die dicht an seinem Kopf vorbeipfiffen, und merkte nun, daß Alane es war, die pfiff, weil sie ihn wecken wollte. »Ihr müßt aufbrechen, mein Kleiner. Wir haben unerwünschten Besuch bekommen.« »Worlughs?« fragte Olther ängstlich und griff nach Pfeil und Bogen, die er neben die Tür gestellt hatte. »Nein. Nicht diese Bestien. Ein weitaus gefährlicherer Feind. Hoder mit seinen schurkischen Gefolgsleuten steht vor der Tür und will euch an den Kragen.« »Aber er ist doch einer von Garius' Soldaten!« platzte Olther heraus. »Das stimmt, Olther, ändert aber nichts.« »Was sollen wir tun?« fragte Broko, der sich schon seinen Rucksack umschnallte und den Schrein unter seinem Mantel sicher verstaute. Seine Hand zitterte, als sie das 42
kleine Kästchen berührte, und da ihm plötzlich die schwere Last dieser Bürde wieder bewußt wurde, mußte er sich setzen. Er dachte an Calix Stay und wünschte sich, endlich einmal wieder in Sicherheit zu sein, doch der Gedanke an eine weitere lange Reise in diesem gefährlichen Land war mehr, als er im Augenblick ertragen konnte, und das Herz wurde ihm schwer vor Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. »Ich habe meine Vorkehrungen getroffen«, sagte da Alane leise. Erregung schwang in ihrer Stimme. »Wir fliehen durch den Kamin.« Bruinlen starrte sie entgeistert an. »Den Kamin?« riefen die Gefährten wie aus einem Munde. »Es handelt sich um einen ziemlich ungewöhnlichen Kamin mit innen verborgenen Stufen und einem Durchschlupf zu den Räumen auf den einzelnen Etagen, von denen die oberen heute natürlich nicht mehr existieren. Ich bin wenigstens ein dutzendmal da hinaufgestiegen, und wenn meine alten Knochen das noch schaffen, ist es für euch ein leichtes.« »Wißt Ihr, wie viele Männer Hoder bei sich hat?« fragte Flewingam, der prüfend einen der Ebenholzbogen in der Hand hielt und einen Pfeil an die Sehne legte. »Es müssen ungefähr ein Dutzend sein. Die Burschen, die er immer als seine Truppe bezeichnet.« »Mit einem Dutzend kann ich es nicht aufnehmen«, meinte Ned Thinvoice und trat wütend mit dem Stiefel gegen die Wand. »Wir haben aber auch soviel Glück gehabt, das konnte ja einfach nicht so weitergehen.« »Das stimmt, Ned. Aber wenn wir uns unbemerkt davonschleichen können, wird doch niemandem ein Haar gekrümmt.« »Stimmt, Flew. Falls uns das gelingt … Aber mir gefällt der Gedanke überhaupt nicht, daß wir auf unsere Gewehre verzichten müssen. Mit Pfeil und Bogen kann ich schlecht umgehen.« 43
»Wir müssen uns aber damit begnügen, Cranny. Und unser Heil liegt in der Flucht, nicht im Kampf. Mit etwas Glück brauchen wir uns nur auf unsere Beine zu verlassen«, meinte Flewingam. »Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob wir das Glück haben«, murmelte Cranfallow und fügte dann leise zu sich selbst hinzu: »Jedenfalls nicht, seit wir euch wieder getroffen haben.« Er schämte sich sofort seiner Worte und sagte schnell: »Aber da wir keine andere Wahl haben, können wir nur hoffen, daß alles gutgeht.« »Cranny und Ned, ihr tragt das Gepäck. Bruinlen und Flewingam, ihr nehmt die Waffen. Und du, Olther, verwandelst dich am besten wieder in einen Mann.« Nachdem Broko seine Befehle gegeben hatte, wandte er sich an Alane. »Wir sind bereit, meine Fürstin. Es gilt, keine Zeit mehr zu verlieren, wenn wir den Kerlen da draußen entkommen wollen.« »Dann laßt uns gehen«, entgegnete Alane und führte die Gefährten zu einer niedrigen Tür, die aufschwang, als sie eine Stelle an der Wand berührte. Auf der anderen Seite konnten sie den Feuerrost sehen, wo die Scheite noch immer brannten, und auch den Rauch riechen. Der Durchgang war schmal, und ihre Augen mußten sich erst an die Dunkelheit, die hier herrschte, gewöhnen. Olther lief geradewegs in ein Spinnennetz. »Igitt«, sagte er, worauf sich Bruinlen, der vor ihm ging, überrascht umdrehte. »Was gibt's?« fragte der Bär ängstlich. »Ach, nur ein Spinnennetz.« Eine Gänsehaut überlief ihn – da er ja jetzt wieder Menschengestalt angenommen hatte –, und er stieß Bruinlen vorwärts, weil er außer Reichweite dieses gräßlichen Spinnennetzes und seines eventuellen Bewohners kommen wollte. »Hör auf, mich zu stoßen!« schimpfte Bruinlen. Panik schwang in seiner Stimme mit. »Psst!« warnte Alane. »Der Kamin führt ins Freie, und die anderen könnten uns hören.« 44
»Du meine Güte!« murmelte Broko erzürnt. Er war versucht, seinen beiden Freunden einen kräftigen Tritt vors Schienbein zu verpassen. Aus der Entfernung war deutlich Stimmengemurmel zu hören. Jetzt schwiegen alle und lauschten angestrengt. Ein Kieselstein löste sich über ihnen und fiel laut polternd durch den Kaminschacht bis vor Cranfallows Füße. Da ergriff Alane Brokos Hand, der wiederum Flewingams Hand ergriff, bis alle Gefährten sich an den Händen hielten. Auf diese Weise konnte niemand in der Dunkelheit verlorengehen. Während sie sich so langsam, aber ziemlich laut weitertasteten, sank Brokos Mut. Doch sofort schalt er sich wegen seiner Verzagtheit, und er marschierte weiter hinter der alten Alane her. Jetzt fingen die Stufen an, und sie führten eine Zeitlang steil in die Höhe. Dann bog die Alte um eine Ecke, ging ein paar Stufen hinunter, und plötzlich standen sie alle blinzelnd im hellen Tageslicht inmitten eines hohen, doch jetzt dachlosen Raums, der einst der Speisesaal gewesen sein mußte. Alane beugte sich zu Broko nieder und flüsterte ihm ins Ohr: »Ihr müßt den Saal durchqueren, dann kommt ihr in den Garten. Der Weg ist nicht schwer zu finden. Es gibt da noch einen alten Ziehbrunnen. Die Außenmauer ist zerstört, und gleich dahinter beginnt die Straße.« Broko blickte die alte Frau verständnislos an und wollte sie gerade fragen, warum sie sich ihrer Sache so sicher sei, doch sie gebot ihm mit einer Bewegung Schweigen und sprach weiter. »Das ist die Alte Waldstraße. Folge ihr. Sie ist gekennzeichnet, so daß du den Weg nicht verfehlen kannst. Vor langer Zeit lebten auch einige deiner Vorfahren hier und haben ihre Zeichen hinterlassen. Und jetzt muß ich gehen und Hoder ein bißchen an der Nase herumführen. Er kennt sich in diesen Ruinen bei weitem nicht so gut aus wie ich. Eine Weile werde ich ihn wohl hinhalten können. Aber 45
ihr müßt euch beeilen.« Broko wollte ihr danken, doch da lächelte sie, und dieses Lächeln ließ ihr ganzes Gesicht leuchten. »Falls du Greyfax je wiedersiehst, sag ihm nur, daß Alane ihr Versprechen gehalten hat.« Hinter der zerstörten Mauer waren jetzt leise Schritte zu hören, und ohne ein weiteres Wort war die gebeugte Gestalt Alanes plötzlich verschwunden. Einen Augenblick später hörten die Gefährten, wie jemand auf dem glatten Gestein ausrutschte. Jetzt waren die Schritte lauter. Es waren viele. Ihre Feinde rannten in eine andere Richtung, das konnten sie hören. Schnell durchquerten sie die Ruine, dann den Garten, bis sie die zerstörte Außenmauer überschritten hatten. Im Morgenlicht konnten sie das gewundene Band der mit Unkraut überwucherten Straße erkennen, das sich vom zerstörten Portal der einstigen Festung Brosingamene bis zum Wald hinzog, dessen Bäume jetzt noch im Schatten lagen. Gebückt huschten sie schnell über die freie Fläche ins schützende Dickicht des Unterholzes. Broko führte den kleinen Trupp an, und Olther bildete den Schluß. Während sie liefen, drehten sie sich immer wieder ängstlich um, doch niemand war zu sehen, und keiner dieser schwarzen gefürchteten Pfeile wurde auf sie abgeschossen. Als sie anhielten, um Atem zu schöpfen, hörten sie den hohen, schrillen Ton eines Signalhorns, dann ertönte ein herzzerreißender Schrei, auf den Schweigen folgte. »Das war Alane!« rief Broko und wollte losrennen. Flewingam riß den Zwerg zurück und drückte ihn gegen einen dicken Baumstamm. »Wir können ihr nicht mehr helfen«, sagte er. Broko versuchte sich zitternd aus Flewingams eisernem Griff zu lösen. »Ich verfluche sie, diese Mörder!« stöhnte er. Seine Stimme klang schrill vor Angst, Zorn und Schmerz. Olther stand wie versteinert da; Tränen strömten über sein Gesicht. Flewingam klopfte Broko beruhigend auf die Schulter 46
und wollte gerade zu Olther etwas sagen, als ein Schwarm häßlicher schwarzer Pfeile auf sie niederregnete. Und eine Sekunde später sah er, wie Hoder und seine Männer über die Gartenmauer sprangen und direkt auf sie zurannten.
47
Zweiter Teil Eine Wildnis voller Schrecken
48
7. Garius, Helfer in der Not Eine kalte tödliche Wut ergriff Broko, und er nahm den Ebenholzbogen, den Flewingam ihm reichte, spannte ihn und zielte sorgfältig. Er hörte weder, daß seine Freunde ihm zuriefen zu fliehen, noch achtete er auf die schwarzen Pfeile, die dicht über seinen Kopf surrten oder neben ihm zitternd in der Erde steckenblieben. Alle seine Gedanken galten der grüngekleideten Gestalt, die auf ihn zurannte, und als er den Pfeil von der Sehne schnellen ließ, rief er laut Alanes Namen. Da überkam ihn ein wahnsinniger Schmerz wie eine dunkle Flutwelle, und in der Sekunde, ehe es Nacht um ihn wurde, sah er, daß der Pfeil sein Ziel nicht getroffen hatte. Im nächsten Augenblick lag er in Flewingams Armen und wurde in das schützende Dickicht des Waldes getragen. Bruinlen half Flewingam den Zwerg tragen, und Ned Thinvoice kroch zurück und holte Brokos Bogen. »Da sind sie, Männer!« rief Hoder aufgeregt. Mehrere Stimmen antworteten ihm, und Olther sah drei grüngekleidete Gestalten rechts von ihm vorbeilaufen. »Schnell, Ned! Sie wollen uns in den Rücken fallen!« rief Olther und rannte zu den anderen, die geradewegs auf die Feinde zuliefen. »Bruinlen«, schrie er und winkte ihn nach links. Die Gefährten eilten, so schnell sie konnten, weiter. Doch abgestorbene Zweige und die scharfen Stacheln des Stechginsters, der hier üppig wuchs, behinderten ihre Flucht und bohrten sich schmerzhaft in ihr Fleisch. Das Dickicht wurde mit jedem Schritt undurchdringlicher; schließlich konnten sie nur noch auf Händen und Knien weiterkriechen, bis sie auf eine dichte Mauer Dornengestrüpps stießen und atemlos innehalten mußten. »Da kommen wir niemals durch«, sagte Bruinlen verzweifelt. »Ich kann unsere Verfolger nicht mehr hören«, stieß Ned, mühsam atmend, hervor. 49
»Nein, ich auch nicht«, stimmte Cranfallow zu. Er lauschte angestrengt. »Vielleicht wissen sie, daß wir hier in der Falle sitzen. Schließlich kennen sie sich ja in ihren Wäldern aus.« Angst verzerrte Neds Gesichtszüge. Flewingam hievte Broko über die Schulter und sah sich prüfend um. Nichts als undurchdringliches Gestrüpp umgab sie. »Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte er schließlich. »Wir müssen zurückgehen.« »Dann laßt mich zuerst allein gehen«, schlug Olther vor, »damit wir ihnen nicht blindlings in die Arme laufen.« Sein Gesicht war bleich vor Erschöpfung und mit blutigen Schrammen überzogen. Schnell verwandelte er sich wieder in einen Otter und verschwand augenblicklich im dichten Unterholz. Flewingam wagte nicht, Broko niederzulegen, aus Angst, sie könnten von ihren Feinden überrascht werden. Alle warteten voller Ungeduld auf Olthers Rückkehr. Auch Bruinlen murmelte den Zauberspruch und nahm wieder Bärengestalt an. »In meiner eigenen Gestalt kann ich mich meiner Haut besser erwehren. Sie sollen mir nicht so leicht davonkommen«, sagte er und spreizte die mächtigen Krallen. Ohne es zu wollen, stieß Ned einen erschrockenen Schrei aus. »Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen können«, jammerte er, »obwohl ich doch weiß, daß du über Zauberkräfte verfügst. Aber jedesmal fällt mir wieder das Herz in die Hose.« Beruhigend legte Bruinlen eine große Tatze auf Neds Schulter. »Tut mir leid, alter Junge. Das nächste Mal gebe ich dir vorher Bescheid.« »Trotzdem bin ich froh, in dir einen so starken Verbündeten zu haben«, sagte Ned, doch in seinen Augen war noch immer Angst zu lesen. Cranfallow brachte ihn mit einer knappen Bewegung zum Schweigen und starrte angestrengt in die Richtung, aus 50
der sie gekommen waren. Die Schatten der Bäume schienen dunkler zu werden, und ein feiner, eiskalter Wind streifte die Gesichter der Gefährten und ließ sie erschauern. Ein geisterhafter Nebel tauchte hier und da auf, und ein seltsam verlorener Klagelaut war zu hören. »Ooooooh, aaaaaaah«, rief es. Grauen bemächtigte sich aller; sie wagten nicht mehr zu atmen und waren wie erstarrt. Dann ertönte wieder der Klang des Horns, dessen Echo sich vielfältig brach. Als das Echo verklungen war, hörten sie Schritte. Bruinlens Nackenhaar sträubte sich, er richtete sich auf, seine Augen sprühten Funken, und seine Fangzähne blitzten. Ned und Cranfallow knieten nieder und hielten ihre Bogen schußbereit. Flewingam legte Broko hinter sich und zog sein Messer. »Nur keine Aufregung«, ließ sich da Olthers Stimme vernehmen, »ich bin's.« Und dort, wo vorher nur undurchdringliches Dickicht gewesen war, stand plötzlich eine große, schlanke, in ein graugrünes Wams gekleidete Gestalt, deren blaue Augen die Gefährten ernst musterten. Olther stand neben dem Mann, jetzt wieder als Mensch. »Garius!« riefen die Gefährten wie aus einem Munde. »Ich habe meine Aktion nicht sorgfältig genug geplant«, sagte Garius, ohne den geringsten Versuch, seine Anwesenheit zu erklären. »Ich habe Olther bereits gesagt, warum ich hier im Wald bin. Er wird euch berichten.« Garius schwieg und blickte Olther an. »Hoder ist tot und alle seine Gefolgsleute auch«, platzte Olther heraus. »Leider kam Garius zu spät, um Alane zu retten, doch er war Hoder gefolgt. Er wußte, daß ein Komplott gegen ihn geschmiedet wurde und daß Hoder dahintersteckte.« »Meine Mutter und ich haben uns nie sehr gut verstanden«, sagte Garius bitter. »Aber sie war auf ihre Art 51
eine sehr weise Frau. In jüngeren Jahren hatte ich meine eigenen Vorstellungen davon, wie ich herrschen wollte. Und sie war dagegen, also verbannte ich sie vom Hof. Bald danach schon kursierten Gerüchte über ihr seltsames Verhalten, doch ich ließ die Leute denken, was sie wollten, denn ich schämte mich, daß sie meine Mutter war und ich außerehelich geboren wurde.« »Garius wollte uns nicht gefangenhalten«, unterbrach Olther den Fürsten. »Das geschah alles nur zum Schein, denn er wollte herausfinden, wer gegen ihn revoltierte. Wer auch immer es war, mußte sich der Gefangenen bedienen, um das Volk auf seine Seite zu ziehen.« »Als ich noch ein kleiner Junge war, erzählte mir meine Mutter von dem Besuch Greyfax' in Brosingamene. Ich hielt das alles für ein Fantasiegespinst, doch als man euch dann zu mir brachte, wußte ich, daß ihre Geschichte wahr war. Ich bin kein studierter Mann, aber ich glaube, daß ich wenigstens gerecht bin. Wenn ich Fehler gemacht habe, so geschah das, weil ich die Dinge falsch beurteilte, nicht aus bösem Willen.« »Und am Hof hatte Garius keine Gelegenheit, uns das zu erklären«, fiel Olther wieder ein. »Doch nach der Entlarvung des Verräters hätte er uns freigelassen.« »Welche Pläne habt Ihr denn jetzt mit uns, Garius?« fragte Flewingam, der nicht glauben konnte, daß sich ihr ehemaliger Feind in einen Freund verwandelt haben sollte. »Ich werde euch mit den notwendigen Vorräten versehen und durch mein Reich führen, wohin ihr auch wollt.« In der Aufregung hatte sich niemand mehr um Broko gekümmert, der immer noch besinnungslos dalag. Olther kniete nun neben dem Zwerg nieder. »Feine Freunde sind wir«, sagte er. »Wir haben Broko vollständig vergessen.« Sofort folgten alle Olthers Beispiel und suchten nach einer Verwundung. Da kam Garius und beugte sich über den kleinen Mann. »Ich glaube, er wurde von einem unserer Betäubungspfeile getroffen«, sagte er. »Hoder hätte ihn 52
niemals getötet.« Er öffnete Brokos Mantel und deutete auf einen kleinen schwarzen Pfeil, der unterhalb des rechten Schlüsselbeins in seinem Brustkorb stak. »Laßt mich einmal sehen. Der Pfeil muß entfernt werden.« Garius beugte sich näher über den Zwerg, untersuchte ihn nach anderen Wunden und zog dann mit einem heftigen Ruck den Pfeil heraus. »Er wird noch eine ganze Weile schlafen, doch sonst hat er keine Verletzungen davongetragen. Wir präparieren diese Pfeile mit einer Droge, die wir aus Pflanzen gewinnen, die hier im Wald wachsen. Die Zubereitung ist ein wohlgehütetes Geheimnis, und wir waren dadurch in der Lage, unser Reich erfolgreich gegen Eindringlinge zu verteidigen.« »Aber wir können Broko nicht hier liegenlassen«, sagte Bruinlen. »Er hat Besseres als ein Bett aus Dornengestrüpp verdient.« »Wir werden ihn nach Brosingamene tragen. Das ist das wenigste, was ich für ihn tun kann, nachdem ihm so großes Unrecht geschehen ist. Dort wird man ihm zumindest die richtige Pflege angedeihen lassen.« »Ich trage Euch nichts nach, Garius, aber umzukehren scheint mir wenig sinnvoll. Vor noch nicht einem Tag wurde ich aus der Gewalt Eurer Leute befreit, und jetzt soll ich dorthin zurückkehren?« Cranfallow sah Ned um Unterstützung bittend an. »Da muß ich Cranny zustimmen«, meinte Ned. »Ich bin zwar nicht besonders schlau, aber es liegt doch auf der Hand, daß es uns hier besser geht als in Gefangenschaft.« »Ich verstehe euer Mißtrauen, das ihr gegen mich hegt. Doch ich will alles tun, um wieder gutzumachen, was geschehen ist.« Bruinlen verwandelte sich schnell in Menschengestalt und sah Olther fragend an. »Ich vertraue Garius. Wenn er uns hintergehen wollte, hätte er nicht Hoder und seine Gefolgsleute töten lassen.« 53
Olther suchte nach Zustimmung in den Gesichtern seiner Kameraden, während er sprach. »Dann laßt uns Garius' Angebot annehmen«, sagte Flewingam. »Und nehmt uns unser Zögern nicht übel, Herr. Taten zählen mehr als schöne Worte.« »Ich danke dir, Flewingam. Ich werde mein Versprechen einlösen.« Da ertönte wieder der Ruf eines Horns, den sie schon kannten, und Garius holte ein zierliches, perlenfarbenes Instrument hervor, das die Form einer Muschel hatte, und blies die Antwort. Lang hallte der Ton über dem DragurWald. Darauf folgte eine kurze Gegenantwort. Garius lächelte und steckte sein Instrument wieder ein. »Meine Leute haben die Verräter alle gefunden. Sie werden in Kürze hier sein und helfen, den Zwerg nach Brosingamene zu tragen. Doch vorher wollen wir noch meine Mutter bestatten, dort, wo sie so lange gelebt hat, soll sie auch für immer ruhen. Sie war die letzte Fürstin der alten Festung Brosingamene.« Tiefe Traurigkeit umschattete Garius' Züge, während er sprach. »Broko möchte sicher gern dabeisein«, sagte Flewingam und faltete dessen Mantel, den er ihm als Kissen unter den Kopf schob. »Ich möchte, daß über ihren Tod noch Stillschweigen bewahrt wird. Sie kann womöglich noch eine wichtige Rolle bei der vollständigen Aufklärung dieses Verrats spielen. Je eher sie ihre letzte Ruhe findet, um so besser. Ich bin sicher, ihr versteht mich.« Garius schwieg, denn jetzt waren viele Schritte zu hören und kündeten von der Ankunft seiner Männer. Sie tauchten urplötzlich aus dem Nichts auf und sahen schweigend zu, wie Bruinlen und Flewingam behutsam Broko aufnahmen und sich hinter dem Herrscher dieses seltsamen Reichs auf den Weg machten. Auch Olther, Ned und Cranfallow schlossen sich den anderen an. Schließlich erreichten sie den verfallenen Garten, aus dem sie vor nicht einmal einer Stunde geflohen 54
waren. Garius machte ein Zeichen, und eine kleine Gruppe seiner Soldaten folgte ihm zu der Stelle, wo der Leichnam Alanes lag. Direkt in ihrem Herzen stak einer von Hoders häßlichen schwarzen Pfeilen. Garius kniete nieder und hob ihren zerbrechlichen Körper auf und trug sie in eine verwilderte Ecke des Gartens. Dort legte er sie nieder. Dann häuften die Männer große Steine aus den Ruinen über sie, bis ein hohes Monument entstanden war, zu Ehren der letzten Bewohnerin der alten Festung Brosingamene. Nun war Alane ein Teil dieser Ruinen geworden; das letzte Zeichen Lebens hatte diesen Ort verlassen. Garius verneigte sich vor dem Grab und küßte die Steine. Als er zu den Gefährten zurückkehrte, schien er älter geworden zu sein. Der Weg zu Garius' Siedlung war nicht einmal halb so weit, wie Olther ihn in Erinnerung hatte. Sie betraten sein Haus durch einen Geheimgang, so daß niemand von ihrer Ankunft wußte. Erst als sie den Zwerg auf die weiche Lagerstatt betteten und ihn zudeckten, merkte Bruinlen, daß der Heilige Schrein nicht mehr in Brokos Mantel war. Und mit ihm waren alle Hoffnungen verloren. Wie betäubt hielt Bruinlen Brokos abgetragenen Mantel in den Händen; ein unerträglicher Schmerz bemächtigte sich seines Herzens. Ihre ganze Reise, ja alle Strapazen und Mühen waren umsonst gewesen, und der Kopf sank auf seine Brust, und er weinte bitterlich. Viele hatten heute ihr Leben lassen müssen. Sollte alles umsonst gewesen sein? Er war froh, daß Broko diese Verzweiflung erspart blieb. Dann stand er auf, um sich auf die Suche nach dem zu machen, auf das sich alle Hoffnungen des Rings des Lichts gründeten. Und er betete mit der ganzen Kraft seines Herzens, daß die Mächtigen des Rings ihm in dieser dunklen Stunde beistehen möchten.
55
8. Biarki, der Sohn Algunners »Wo ist denn Bruinlen?« zwitscherte Olther als er das große Vorzimmer betrat, das vor dem Gemach, in dem Broko schlief, lag. »Vor kurzem war er noch hier«, entgegnete Flewingam. Er saß am Tisch, vor sich einen Teller mit köstlich duftendem Eintopf. »Ich habe ein Buch gefunden und möchte gern, daß er mir daraus vorliest. Ich glaube, es handelt von seinen Vorfahren.« Olther legte einen großen, in Leder gebundenen Band vor sich auf den Tisch und blätterte langsam durch die mit Goldschnitt versehenen Seiten. »Sieh mal.« Er hielt Flewingam das Buch hin. Eine ganze Seite zeigte das Bild eines furchterregenden Königs, der in ein grünes und goldenes Gewand gekleidet war. Unter dem reich verzierten Helm schaute der Kopf eines Bären hervor. »Das ist so sicher ein Bär wie ich ein Mensch bin«, nuschelte Flewingam, denn er kaute gerade. »Laß mich auch mal sehen«, sagte Cranfallow und trat an den Tisch. »Selbst wenn ich total betrunken wäre, würde ich sagen: das ist ein Bär. Schließlich bin ich an diesen Anblick ja gewöhnt.« »Hat Bruinlen gesagt, wo er hinwill?« »Nein. Nichts hat er gesagt, Olther. Er half noch, Broko ins Bett zu bringen, und ich ging dann, um etwas zu essen. Ich dachte, er würde es mir gleichtun, weil er doch ständig Hunger hat.« Ned Thinvoice, der am Herd stand und in dem Topf mit dem Eintopf rührte, sagte jetzt: »Ich sah ihn, wie er ging. Er wirkte etwas seltsam, aber das schob ich auf die erlittenen Strapazen. Wir alle haben ja in letzter Zeit ziemlich viel durchgemacht.« »Du glaubst also, er ist von hier fortgegangen?« »Ja, das ist er. Ich habe ihm noch gesagt, daß es etwas zu 56
essen gebe, doch er hat überhaupt nicht zugehört.« Olther klappte das Buch zu und stand auf. »Am besten suche ich nach ihm. Der Gedanke, daß er allein da draußen in den Wäldern herumläuft, gefällt mir überhaupt nicht.« »Glaubst du, irgend etwas stimmt nicht?« »Garius vertraue ich, wenn du darauf anspielst«, erwiderte Olther. »Aber eines macht mir Sorge. Ich glaube nicht, daß Garius alle Gefolgsleute von Hoder unschädlich machen konnte.« »Du meinst also, er ist noch immer von Verrätern umgeben?« Flewingam hatte seinen Löffel beiseite gelegt und runzelte jetzt nachdenklich die Stirn. »Das ist mehr als wahrscheinlich. Jetzt, nach Hoders Tod, ist sicher jemand da, der nur darauf wartet, seinen Platz einzunehmen. Und das weiß Garius auch. Vielleicht hatte Hoder einen Vertrauten, der in alles eingeweiht war.« »Dann würde uns also von diesem Mann Gefahr drohen.« »Ja. Vor allem dann, wenn er in Erfahrung bringt, daß wir Garius' Gäste sind.« Flewingam schob seinen Stuhl zurück, wischte sich den Mund ab und sagte entschlossen: »Dann begleiten wir dich.« »Ich auch«, sagte Ned. »Nein, Ned. Du und Cranny, ihr bleibt bei Broko. Wir dürfen ihn nicht schutzlos hier zurücklassen.« »Da hast du recht«, nickte Cranfallow und ging in das Schlafzimmer des Zwerges. »Wir sind bald wieder hier, Ned. Falls irgend etwas passiert und wir nach einer Stunde nicht zurückgekehrt sind, mußt du Garius Bescheid sagen.« Ned riß erstaunt die Augen auf. »Glaubst du wirklich, daß uns Gefahr droht?« »Nein. Ich mache mir nur Sorgen, jemand, der nicht wissen soll, daß wir hier sind, könnte Bruinlen sehen.« »Wir beide passen auf Broko auf. Der arme kleine Kerl. 57
Er war völlig außer sich, als diese Teufel die alte Alane umbrachten. Ich war mir sicher, er würde sie mit einem seiner Zauberwünsche verwünschen. Das wäre ja nicht das erste Mal gewesen.« »Wahrscheinlich hatte er gar nicht mehr die Zeit dazu, Ned«, sagte Olther. »Ja, so wird es gewesen sein. Manchmal stelle ich mir vor, wie schön es wäre, wenn wir uns einfach hinsetzen könnten, und er würde für uns zaubern. Nur so zum Vergnügen.« »Das wird er sicher tun, wenn wir am Ende unserer Reise angekommen sind, Ned.« »Du meine Güte!« schnaubte Ned. »Ich glaube nicht, daß wir jemals dort ankommen. Jedenfalls ich werde das nicht mehr erleben.« »Doch, wir kommen dort an«, sagte Olther mit fester Stimme. »Und jetzt wollen wir nach Bruinlen suchen«, fuhr er, an Flewingam gewandt, fort. »Vielleicht ist er in Schwierigkeiten geraten.« Die beiden Freunde gingen durch Brokos Zimmer und verließen durch den Geheimgang ungesehen Garius' Siedlung. In einiger Entfernung trottete Bruinlen den Weg zurück bis zur alten Festung von Brosingamene. Die Nase dicht am Boden, prüfte er seine Umgebung mit größter Sorgfalt auf der Suche nach dem verlorenen Schrein. Doch vergebens. Auch in den Ruinen konnte er nichts entdecken und kletterte dann enttäuscht über die verfallene Mauer und ging in den Wald. Als er das dichte Dornengestrüpp erreicht hatte, das ihnen beinahe zum Verhängnis geworden wäre, machte sich ein sonderbarer Geruch bemerkbar. Schwer hing er in der Luft und überdeckte sogar den würzigen Duft der Erde und der Bäume. Zum ersten Mal, seit Bruinlen den Dragur-Wald betreten hatte, roch er wieder Tiere. Und der Geruch kündete nicht von der Anwesenheit eines Wildschweins, Hirsches oder Dachses, 58
stellte er zu seiner Freude fest. Nein, diesen Geruch strömten nur Bären aus. Er legte die Ohren flach an und erhob sich auf die Hintertatzen. Dann murmelte er leise die Namen von Baum, Stern, Wind und Wasser und aller seiner Ahnen. Schließlich bat er seine unsichtbaren Verwandten um Verzeihung, weil er ohne Erlaubnis in ihr Territorium eingedrungen war. Dann nannte er seinen wirklichen Namen, der geheim war, und den nur Olther, die Zauberer und die Königin Lorini kannten. »Ich bin Biarki, der Sohn Algunners. Meine Heimat sind die Sonnenwiesen. Mein Leben gehört euch.« Bruinlen brummte, verneigte sich und schwieg. Vielleicht würden Stunden vergehen, ehe sich sein unsichtbarer Gastgeber zeigte und ihn entweder willkommen heißen oder mit ihm kämpfen würde. So saß er mit gesenktem Kopf auf seinen Hintertatzen, wie die guten Sitten es verlangten, und wartete.
9. Thumb »Willkommen«, ertönte da eine tiefe, grollende Stimme, viel eher, als Bruinlen es erwartet hatte. Instinktiv richtete er sich auf und nahm seine Verteidigungsposition ein. »Unsere Leben gehören dir«, ließ sich die fremde Stimme wieder vernehmen. Bruinlen blickte auf, und vor ihm stand ein mittelgroßer, pechschwarzer Bär, der sich tief verneigte, so wie es zwischen Reisenden, die sich zufällig begegnen, üblich war. »Ich heiße Thumb. Und das sind Bram, Ham, Lilly, Cress, Elam, Storni, Cryis und Fornax.« Aus dem Unterholz krochen acht schwarze Gestalten hervor. Sie waren unterschiedlich groß, der Größte fast so mächtig wie Bruinlen. 59
Auch die Neuankömmlinge verneigten sich und nahmen dann neben ihrem Anführer Platz. Bruinlen kannte diese Bärenrasse aus seinen alten Büchern der Weisheit, war bisher jedoch noch niemals mit ihnen zusammengetroffen. Er war über ihren Anblick derart verblüfft, daß er fast seine guten Manieren vergaß. »Nun, ich habe noch nie …« stammelte er, riß sich aber sofort zusammen. »Im Namen der Auferstehung Borim Bruinthors«, murmelte er gerade noch rechtzeitig. »Im Namen der Auferstehung«, wiederholte Thumb und verneigte sich erneut. »Ist das Borim?« fragte das kleinste der schwarzbepelzten Tiere. »Sei still, Lilly. Natürlich ist er es nicht. Du hast doch gehört, er heißt Biarki.« Thumb brummte und gab der kleinen Bärin einen Knuff. »Lilly ist die Tochter von Harns Frau«, erklärte er Bruinlen. »Ihre Mutter wurde von diesen Menschen-Bestien getötet.« »Wie lange lebt ihr schon hier in diesen Wäldern, Thumb? Habt ihr schon immer hier gewohnt?« »Nein, mein Bruder. Meine Vorfahren stammen aus dem Süden. Erst seit zehn Jahren leben wir hier.« Auf ganz natürliche Weise hatte Bruinlen die Führungsrolle übernommen und stellte den jüngeren Bären Fragen. »Das ist eine lange Zeit in solch feindlicher Umgebung.« »Einmal versuchten wir den Calyon zu überschreiten, doch unsere Zaubersprüche hatten keine Wirkung mehr. Also war das der einzige Ort für uns, der uns Sicherheit bot. Aber jetzt wird das Leben hier von Tag zu Tag gefährlicher. Heute sind uns schon drei Trupps dieser finsteren Bestien begegnet.« »Calyon? Meinst du damit den Großen Fluß? Ich nenne ihn Calix Stay.« 60
»Ja. Das ist derselbe.« »Und diese finsteren Bestien? Sprichst du von Menschen oder diesen Halbmenschen?« »Soviel ich weiß, sind sie keinem menschlichen König untertan. Sie essen Fleisch und haben einen Pelz wie Baumrinde.« »Dann handelt es sich um Worlughs oder Gorgolacs«, stellte Bruinlen fest und sah sich ängstlich um. »Ungefähr eine Tagesreise von hier entfernt gibt es eine Straße, auf der sie regelmäßig patrouillieren.« »Und habt ihr hier in der Nähe welche gesehen?« »Nein. Die Menschenbanden erschlagen sie, wenn sie sich hier rumtreiben. Sie haben auch zwei unserer Gefährten getötet.« Thumbs leise brummende Stimme hatte bei dem letzten Satz einen drohenden Unterton angenommen. »Ich bin mit einigen Menschen befreundet«, sagte Bruinlen, »und es gibt unter ihnen welche, die genauso aufrichtig sind wie redliche Bären. In jedem Volk gibt es Bösewichte, nicht nur bei den Menschen.« Fornax, ein junger, kräftiger Bär, dessen schwarzer Pelz von hellgrauen Lichtern gezeichnet war, hob jetzt die Tatze und nahm eine drohende Haltung ein. »Das ist deine Meinung über die Menschen, wir aber haben bei unserem Blute geschworen, daß wir jeden töten, dem wir begegnen.« »Hüte deine Zunge, Fornax«, wies ihn Thumb zurecht. »Nein. Ich sage, was ich auf dem Herzen habe«, gab der junge Bär aufgebracht zurück. »Und ich bin nicht gewillt, mir dieses Gerede anzuhören. Wirkliche Freunde findet man nur innerhalb seiner eigenen Rasse.« Bruinlen nickte zustimmend, und er fragte sich, ob er wohl jemals alle diese Unbilden erlitten hätte, wenn er genauso strikt wie dieser junge Spund gedacht hätte. Seit Beginn dieser schier endlosen Reise waren ihm oft ähnliche Gedanken gekommen. Und erst jetzt fiel ihm wieder der eigentliche Grund 61
seines Ausflugs ein. »Ich bin geneigt, diesem jungen Heißsporn zuzustimmen, doch möchte ich zu bedenken geben, daß es unter allen Wesen feige, hinterhältige und mutige, aufrechte gibt. Außerdem bin ich hier, weil ich nach einem sehr mächtigen Schatz suche, den einst schon Borim Bruinthor verteidigte.« »Borim Bruinthor, unser aller König?« sagten die Bären wie aus einem Munde ehrfurchtsvoll. »Ja, meine Brüder. Borim Bruinthor war einer der Ältesten Windameirs und kämpfte an der Seite der Menschenkönige, als Atlanton von den Mächten der Finsternis bedroht wurde.« »Er lügt, Thumb«, sagte Fornax verächtlich. »Er ist genauso wie all die anderen. Ich habe niemals davon gehört, daß unser großer König sich mit Menschen eingelassen hätte.« »Laß ihn ausreden, Fornax«, sagte Thumb drohend und bleckte die Fangzähne, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Du bist sehr jung, mein Freund«, sagte Bruinlen freundlich, »und ich kann mir vorstellen, daß du noch nicht in den alten Büchern der Bärenweisheit gelesen hast, worin alles geschrieben steht. Und was dort steht, ist die reine Wahrheit. Du solltest also deine engstirnigen Ansichten ändern.« Storm, der jetzt dicht hinter Thumb stand, richtete sich zu voller Größe auf und sagte laut: »Wir haben keine Angst vor dir, Fremder. Zwar bist du groß, aber wir sind viele.« »Und ich bin Biarki, ein Nachfolger Borim Bruinthors«, dröhnte Bruinlen. Er wirbelte herum – um ihn erhob sich eine Wolke schwarzen Staubs – und stand plötzlich in Menschengestalt vor den erschrockenen Tieren. Noch ehe sie eine Bewegung machen konnten, hatte er sich wieder in einen Bären zurückverwandelt und stand drohend vor dem sich duckenden Fornax und Storm. 62
Er stieß seinen schrecklichen Kriegsruf aus, und seine Fänge und Krallen glitzerten tödlich im Sonnenlicht. Wie der Blitz waren Fornax und Storm im Dickicht untergetaucht. »Bleib, Thumb! Du hast nichts zu befürchten.« Die zu Tode erschrockenen Tiere spähten vorsichtig hinter ihren Tatzen hervor. Da lief Lilly auf Bruinlen zu und umklammerte mit ihren kleinen Tatzen sein Bein. »Oh, wie stark zu bist! Ich wette, du könntest Fornax und Storm mit einem einzigen Schlag betäuben.« »Ich werde niemanden schlagen, kleine Schwester. Doch wenn ihr mir alle helfen würdet, diesen kostbaren Schatz wiederzufinden, wäre ich euch sehr dankbar. Wenn ihr nicht wollt, nun, dann sage ich euch adieu und wünsche euch alles Gute.« »Natürlich helfen wir dir«, bot Thumb an. »Auch Fornax und Storm suchen mit, selbst wenn ich sie mit Ohrfeigen dazu bringen muß.« »Ich danke dir, mein Bruder. Doch niemand soll deswegen geschlagen werden. Wir können auch ohne sie auskommen.« Sie hörten ein leises Rascheln im Gebüsch, und bald darauf tauchte Storm auf. Langsam kam er mit hängendem Kopf auf sie zu. »Es scheint, als hätte einer unserer jungen Hitzköpfe seine Meinung bereits geändert«, sagte Thumb. Er war sehr erleichtert, denn er wollte nicht das Mißfallen eines solch mächtigen Verwandten erregen, der über dieselben Zauberkräfte wie der große Borim Bruinthor verfügte. »Dann wollen wir mit der Suche beginnen. Je weniger geredet wird, desto rascher kommen wir zum Ziel. Ich suche ein kleines Kästchen. So groß etwa.« Bruinlen deutete die Größe mit den Tatzen an. »Es ist perlweiß und birgt eine ungeheure Kraft. Falls ihr es findet, berührt es auf keinen Fall, sondern ruft nach mir.« Die Bären gaben zu verstehen, daß sie verstanden hatten, und bald suchten alle nach dem Heiligen Schrein. 63
Flewingam, der hoch oben in einem Baum saß, entdeckte Bruinlens mächtige Gestalt, und er ließ einen abgestorbenen Ast zu Boden fallen, um Olther die Neuigkeit mitzuteilen. Nicht weit davon entfernt saß Fornax versteckt. Er schäumte vor Wut über die Demütigung, die ihm widerfahren war, und starrte jetzt mit blutunterlaufenen Augen auf das seltsame kleine graue Tier.
10. Die Gorgolacs blasen zum Angriff Hinter den Ozeanen der Zeiten führte Faragon Fairingay eine Armee gegen die Horden der Finsteren Königin an, die eine einst prächtige Hafenstadt belagerten. Und weit davon entfernt, am anderen Ende Atlantons, befehligte Greyfax Grimwald eine Armee Krieger. Fast unhörbar bewegten sie sich durch einen dichten Dschungel, um eine Festung der häßlichen Menschen-Bestien zu stürmen. Auf ganz Atlanton versammelten sich die Streitkräfte des Rings des Lichts. In einer letzten verzweifelten Anstrengung versuchten sie, Dorini zu besiegen und deren teuflischen Plan, sich des Heiligen Schreins zu bemächtigen und die unteren Welten für immer in eiskalter Finsternis erstarren zu lassen, zu vereiteln. Und in den Tiefen des Dragur-Waldes schrie Olther vor Schmerz laut auf und kämpfte verzweifelt, um sich aus den Fängen seines böse brummenden Gegners zu befreien. »Ich komme, Olther!« rief Flewingam und schwang sich behende von Ast zu Ast zur Erde nieder. Olther, dessen Vorderpfote taub war, biß wütend mit seiner ganzen Kraft in das geifernde Maul seines Feindes. Der war für einen Moment unaufmerksam, und Olther nahm all seinen Mut zusammen und murmelte schnell den Zauberspruch, den Faragon ihn vor so langer Zeit gelehrt hatte. Fornax spürte die Veränderung und wich zurück. 64
Wütend riß er die blutunterlaufenen Augen auf. Sein vorher so kleines Opfer stand jetzt als ausgewachsener Mann vor ihm und schwang drohend ein häßlich aussehendes, glitzerndes Ding. Das machte ihm angst. Noch einmal brüllte er vor ohnmächtiger Wut auf, dann gab er Fersengeld. Da tauchte Flewingam mit gezogenem Dolch auf. »Aus welcher Richtung ist er gekommen?« fragte er schnell. Dann sah er Olthers blutenden Arm. »Du bist ja verletzt. Komm, ich verbinde dich.« »Laß nur. Es geht schon. Das ist nur eine kleine Schramme.« »Ein Wunder, daß der Arm nicht gebrochen ist. Dieser Bursche hat dir ganz schön zugesetzt.« »Ja, es tut ziemlich weh«, gab Olther zu. »Aber er ist noch ganz. Hast du Bruinlen gesehen?« »Ja. Er ist ganz in der Nähe. Aber er ist nicht allein.« »Was treibt er nur da? Und wer ist bei ihm?« »Bären. Sie sehen genauso aus wie der, der dich angegriffen hat.« »Dann müssen wir uns beeilen. Vielleicht braucht er Hilfe.« »Es sah so aus, als würden sie hinter ihm hergehen. Ich glaube nicht, daß sie ihn verfolgen.« Da war plötzlich ein lautes Brummen zu hören, das von leiserem, vielstimmigem Brummen beantwortet wurde. »Ich glaube, man hat uns entdeckt«, sagte Olther furchtsam. »Hoffentlich sind diese Burschen Bruinlen gegenüber freundlicher als der, dem ich begegnet bin.« »Soll ich dich zurückbringen?« fragte Flewingam besorgt. »Dazu haben wir keine Zeit. Vielleicht braucht Bruinlen uns.« »Zwar gefällt mir der Gedanke nicht, aber es ist, wie du sagst. Er könnte unsere Hilfe brauchen. Da hinten muß er sein.« Flewingam deutete in die Richtung, wo er Bruinlen gesehen hatte. 65
Olthers Arm schmerzte, während sie schnell ausschritten, doch er biß die Zähne zusammen und ging tapfer weiter. Er verdrängte sein Elend, denn er machte sich große Sorgen um seinen Freund Bruinlen. Kalter Schweiß rann ihm in die Augen und trübte seine Sicht. Da hielt Flewingam plötzlich inne und bedeutete ihm, still zu sein. Olther hörte, wie jemand ganz in der Nähe geräuschvoll schnaufte. Die beiden Freunde zogen ihre Dolche und schlichen leise weiter. Olther hörte ein Geräusch hinter sich, drehte sich um, und Bruinlen stand vor ihm. »Bruinlen!« rief Olther. »Du hast mir aber Angst eingejagt.« »Dasselbe kann ich von dir behaupten«, brummte der Bär. »Ich dachte schon, ihr würdet zu Hoders Lumpengesindel gehören oder wärt Worlughs.« »Nur Flewingam und ich sind hier. Wir machten uns über dein Verschwinden Sorgen.« Da kam ein ziemlich ängstlicher Flewingam auf sie zumarschiert. Von beiden Seiten wurde er von Bruinlens schwarzen Freunden eskortiert. »Grüß dich, Flewingam. Wie ich sehe, hast du schon Bekanntschaft mit meinen Freunden gemacht.« Als Flewingam merkte, daß ihm von diesen schwarzen Gesellen keine Gefahr drohte, berichtete er sofort, daß Olther von einem der Ihren angegriffen worden war. Thumb hörte aufmerksam zu. Sein Gesicht wurde immer ernster. »Ich habe mir schon seit einiger Zeit wegen Fornax Sorgen gemacht«, sagte er, nachdem Flewingam geendet hatte. »Ich glaubte, sein hitziges Temperament sei der Tatsache zuzuschreiben, daß zwei aus seiner Familie von Menschen getötet wurden. Und sein Vater wurde von einer der Bestien mit den gelben Augen erschlagen. Aber ich hätte niemals gedacht, daß er bösartig werden würde. Bis 66
jetzt habe ich ihn noch immer zur Raison bringen können.« Zum Erstaunen von Bruinlens neuen Freunden wiederholte Olther den Zauberspruch und verwandelte sich in die ihm weitaus bequemere Ottergestalt. Sorgfältig prüfte er seine verletzte Vorderpfote. »Ich kann seinen Haß auf die Menschen verstehen«, sagte er schließlich, und seine Schnurrhaare zitterten vor Schmerzen. »Aber es gibt ein Gesetz gegen sinnloses Töten. Und Bären und das Wasservolk sind seit Urzeiten Freunde gewesen.« Lilly erholte sich als erste von ihrer Verblüffung, und sie ging zu dem kleinen, grauen Kerlchen. »Oh«, purrte sie. »Sieh doch mal, Thumb. Das ist das erste Mal, daß ich einen Otter sehe. Wie niedlich er ist.« Mit diesen Worten griff sie nach ihm, und Olther schrie vor Schmerz und Überraschung auf. »Lilly!« rief Thumb und wollte Olther aus ihrem rauhen Griff befreien. Da ließ sie ihn unvermittelt fallen, und Olther fiel mit einem harten Plumps zu Boden. »Puh!« stöhnte er. Und fügte dann schnell hinzu: »Das Vergnügen, deine Bekanntschaft zu machen, ist ganz auf meiner Seite.« »Er ist so warm und schnuckelig«, meinte Lilly, »und so winzig. Ich könnte ihn den ganzen Tag mit mir herumtragen.« »Nun, das würde mir kaum gefallen«, murmelte Olther und zog sich vorsichtig ein paar Schritte von seiner neuen Bewunderin zurück. »Du mußt ihr verzeihen, mein Bruder. Sie hatte kaum Gelegenheit, andere Tiere kennenzulernen. Bis vor ein paar Monaten hat sie noch bei ihrer Mutter gelebt.« »Darf ich ihn behalten, Thumb?« Olther stieß einen entsetzten Schrei aus. »Nein, Lilly. Brüder gehören einem nicht.« »Dann behalten wir auch Biarki nicht?« fragte die junge Bärin. »Natürlich nicht.« Nervös rang Thumb die Tatzen. 67
Da unterbrach Flewingam die beiden mit einiger Schärfe. »Ich fühle mich sehr geehrt, eure Bekanntschaft gemacht zu haben, doch jetzt wüßte ich gern, was unser Freund Bruinlen hier draußen sucht.« Bruinlen ließ sich ins Gras fallen. Betrübt senkte er den Kopf. »Ich suche den Schrein«, platzte er heraus. »Als ich Brokos Mantel zusammenfaltete, konnte ich ihn nirgends entdecken. Und dort hatte er ihn immer versteckt. Ich dachte, daß er auf dem Weg zu Garius' Siedlung verlorengegangen sein könnte.« Bestürzt ließen sich Olther und Flewingam neben Bruinlen ins Gras plumpsen. »Dann ist er also wieder verschwunden?« klagte Olther. Verzweiflung senkte sich in sein Herz. »Ich habe schon überall gesucht, doch ohne Resultat«, sagte Bruinlen mutlos. »Treibt sich vielleicht noch irgend jemand anderer hier herum?« fragte Flewingam und blickte in die Runde. »Nein, nur wir, soviel ich weiß«, entgegnete Thumb leicht verärgert über diese Frage. »Könnte einer der Männer, die Broko trugen, den Schrein gestohlen haben?« »Nein, Olther. Die meiste Zeit habe ich ihn getragen und die Augen nicht von ihm gelassen.« »Dann ist er wahrscheinlich in seinem Schlafzimmer.« Bruinlens Kopf schnellte hoch; er schöpfte neue Hoffnung. »Da habe ich nicht nachgesehen«, sagte er. »Also muß er dort sein«, zwitscherte Olther. »Vielleicht ist er unters Bett gefallen.« »Dann wollen wir schnell umkehren und dort nachsehen.« Flewingam erhob sich und half Olther auf. Bruinlen gesellte sich zu Thumb, und die beiden hielten eine ziemlich lange Besprechung ab, von der Olther und Flewingam nicht ein einziges Wort verstehen konnten, nur Brummen, Grollen und Pfeiftöne drangen an ihre Ohren. Schließlich richtete Bruinlen sich auf den Hintertatzen auf und verneigte sich. Thumb wiederholte das Ritual, worauf 68
alle anderen Bären zweimal brummten. Damit schien das Treffen beendet zu sein. »Hoffentlich ist der Schrein in Brokos Schlafzimmer«, sagte Olther zu Flewingam. »Der Gedanke, daß alle Strapazen umsonst gewesen sein könnten, ist mir schier unerträglich.« »Keine Angst. Er wird schon da sein.« Flewingam versuchte, überzeugend zu klingen. Doch tief in seinem Herzen spürte er eine entsetzliche Angst, so als würden Dorinis eiskalte Finger ihn berühren. Einen Moment drohte er unter dem schrecklichen Gefühl zu ersticken, doch dann gewann seine Zuversicht wieder die Oberhand. »Der Schrein wird sich dort finden«, sagte er laut, um damit den letzten bohrenden Zweifel zu verjagen. Dann kam Bruinlen zu den beiden und berichtete, was er mit Thumb beschlossen hatte. »Nicht weit von hier werden die Bären Unterschlupf suchen. Sie haben uns ihre Hilfe angeboten, falls wir sie brauchen.« »Sie sind uns als Verbündete stets willkommen«, sagte Olther und verneigte sich vor den neuen Freunden. »Und außerdem haben sie uns angeboten, bei der Durchquerung der Schrecklichen Einöde behilflich zu sein.« »Darüber wird sich Broko sehr freuen. Kennen sie die Wüste?« »Vor langer Zeit sind sie einmal dort gewesen, als sie auf der Suche nach einer neuen Heimat waren. Obwohl der Boden dort sehr karg ist, gibt es vereinzelt Stellen, wo man Wasser und Nahrung finden kann. Jedenfalls damals, als sie da waren.« »Dann wollen wir uns beeilen«, zwitscherte Olther. »Vielleicht ist Broko schon aufgewacht, und wir können ihm diese guten Neuigkeiten berichten.« »Erst müssen wir einmal den Schrein finden.« Und niemand wagte sich auszumalen, was passieren würde, wäre der Heilige Schrein wirklich verloren. Statt dessen freuten 69
sich die Gefährten bei dem Gedanken, daß sie nun nicht allein und auf gut Glück die Schreckliche Einöde durchqueren mußten – denn dahinter lag ja Calix Stay, und jenseits des Flusses würden sie endgültig in Sicherheit sein. Als sie den schmalen, baumgesäumten Pfad zurück zu Garius' Siedlung gingen, hörten sie in der Ferne den schrillen Ruf eines Signalhorns und Männerstimmen. Wieder ertönte das Horn, und als Antwort trug der Wind ihnen den häßlich krächzenden Ton von Gorgolac-Hörnern zu.
11. Ned Thinvoice flickt Brokos Mantel Ned Thinvoice saß neben Brokos Bett und flickte den abgetragenen Mantel des Zwerges. Sinnend blickte er auf, einen Faden zwischen den Zähnen. »Was das wohl ist, Cranny?« sagte er und hielt einen kleinen Gegenstand in der Hand, der aus einer Innentasche gefallen war, die er gerade nähen wollte. »Irgendein Schmuckstück, das Broko gehört. Vielleicht die Schnupftabakdose eines Zauberers. Am besten läßt du die Finger davon. Man kann nie wissen.« »Ich bin rein zufällig darauf gestoßen, als ich seinen Mantel nähen wollte. Da fiel das Ding heraus«, gab Ned unwirsch zurück. Er fühlte sich nicht wohl, weil der Zwerg ja über Zauberkräfte verfügte und dieses kleine Kästchen wahrscheinlich irgendwelche Magie barg. »Tu's an seinen Platz zurück, Ned. Wir haben schon genug Ärger auch ohne dieses Ding da.« »Da hast du recht«, entgegnete Ned, steckte das Kästchen in die Innentasche und vernähte sie mit ein paar schnellen Stichen. Cranfallow beugte sich über Brokos Bett und glättete die Decken. »Mir gefällt das nicht. Zuerst nimmt man uns gefangen, 70
und wir werden eingesperrt, und jetzt sind wir mit einem Male dicke Freunde. Da stimmt doch was nicht, Ned.« Thinvoice unterbrach seine Arbeit und runzelte die Stirn. »Du sprichst genau das aus, was ich denke, Cranny. Ich hab' so ein komisches Gefühl, wie vor der Schlacht bei den Sieben Hügeln.« Im Vorzimmer war ein Geräusch zu hören, und die beiden Freunde schreckten zusammen. Als an die Tür geklopft wurde, sprang Ned auf. Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat jetzt Garius Brosingamene das Zimmer. In der Hand trug er ein kleines silbernes Tablett. Cranfallows Hand lag an seinem Dolchgriff, und Ned stellte sich schützend vor Brokos Bett. »Ah, mein guter Cranfallow und mein guter Thinvoice. Ich habe einen Trank gebracht, der unseren Freund in Null Komma nichts wieder auf die Beine bringt.« Cranfallow blickte mißtrauisch auf das silberne Tablett. »Und wozu soll der gut sein?« fragte er barsch. »Er dient als Heilmittel gegen das Betäubungsgift und wurde aus Pflanzen und Rinden gebraut.« »Mit diesen Dingen kenne ich mich nicht aus. Erst wenn unsere Freunde zurückgekommen sind, geben wir Broko davon zu trinken.« Garius stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch neben dem Bett. »Ganz wie du willst.« Seine kalten blauen Augen sahen Cranfallow eindringlich an, der darauf den Blick senkte. »Du traust mir nicht. Nicht wahr, Cranfallow?« »Das ist es nicht, Herr. Nur wissen wir überhaupt nichts über Heilmittel oder ähnliche Dinge und wollen warten, bis Bruinlen, Olther und Flewingam wieder hier sind, um zu hören, was sie dazu zu sagen haben.« »Und wo sind sie hingegangen?« fragte Garius leise. Seine blauen Augen waren dunkel geworden. »Sie machen nur einen kleinen Spaziergang, weil sie 71
etwas frische Luft schöpfen wollten«, entgegnete Ned schnell und warf Cranfallow einen warnenden Blick zu. Garius starrte einen Augenblick gedankenverloren ins Leere, dann murmelte er vor sich hin: »Hoffentlich sind sie nicht in Schwierigkeiten geraten. Es wäre nicht gut, wenn meine Leute wüßten, daß sie hier sind.« »Sie sind nicht zum Vergnügen ausgegangen«, sagte Ned knapp und schwieg abrupt. »Ich wollte sagen, sie sind vorsichtig und passen auf, daß niemand sie sieht.« »Hoffentlich, Ned. Es wäre gar nicht gut, wenn gewisse Leute erführen, daß Hoder nicht mehr lebt oder daß diejenigen, hinter denen er her war, jetzt meine Gäste sind.« »Warum sind wir denn überhaupt hier?« fragte Cranfallow. »Wir könnten uns doch ebensogut in den Wäldern verstecken. Darin haben wir Übung.« Der Anflug eines Lächelns huschte über Garius' Gesicht. »Der Vorhang zum letzten Akt dieses Stückes ist noch nicht aufgegangen, Cranfallow. Meine arme Mutter hat ihr Leben lassen müssen, und einer meiner einst getreuesten Gefolgsleute konnte der Versuchung der Macht nicht widerstehen. Doch wie gesagt, das Schauspiel ist noch nicht zu Ende.« »Was fürchtet Ihr denn? Habt Ihr nicht alle Verräter unschädlich gemacht?« »Nur einen, mein guter Ned. Doch hinter der Sache steckt mehr, als ich angenommen habe. Aber ich werde damit schon fertig werden.« Garius schwieg und runzelte die Stirn. »Falls eure Freunde unentdeckt bleiben«, fügte er hinzu. »Das werden sie sicher«, entgegnete Ned. »Wahrscheinlich kommen sie jeden Augenblick wieder.« »Ich kann ihnen ja entgegengehen und sie warnen«, schlug Cranfallow vor und ging zur Tür. »Haben sie den Geheimgang benützt? Dann gehe ich selbst. Ich kenne den Weg besser als ihr. Bleibt da und paßt auf euren Freund auf. Es dauert nicht lange.« 72
Ehe Ned oder Cranfallow einen Einwand machen konnten, war Garius schon verschwunden. »Na, was hältst du von seinem Gerede?« fragte Ned. »Erst sagt er, daß wir nicht willkommen sind, und dann regt er sich auf, weil ein paar von uns nicht hier sind.« »Ich werde nicht schlau aus ihm. Aber ich hoffe, daß Flewingam, Bruinlen und Olther bald zurückkommen.« »Meinst du, wir sollten Broko etwas von diesem Gebräu einflößen?« »Nein. Ich halte es für besser abzuwarten.« »Hast du begriffen, was er mit seinen Reden über das Schauspiel meinte? Er sagte, der Vorhang zum letzten Akt dieses Stücks wäre noch nicht aufgegangen.« »Na ja, so reden diese Leute eben. Ich würde dem keine Bedeutung beimessen.« »Das könnten wir uns nur erlauben, wenn wir in Sicherheit wären. Aber so?« Kaum hatte Ned ausgesprochen, betrat Garius wieder das Zimmer. »Ich konnte sie nirgends entdecken. Seid ihr sicher, daß sie den Geheimgang benützt haben?« »So sicher wie ich Ned Thinvoice heiße, Herr. Erst ging Bruinlen, dann folgten Olther und Flewingam. Und mir kam das ziemlich seltsam vor.« »Was war denn daran seltsam?« Ned lächelte schüchtern und starrte auf seine Füße, während er sprach. »Nun, Bruinlen benahm sich sonderbar, Herr. Ich hatte gerade einen Eintopf auf dem Feuer, und er achtete überhaupt nicht auf das Essen, wo er doch sonst immer soviel Hunger hat.« »Das ist in der Tat merkwürdig, Ned. Hatte er Sorgen?« »Das weiß ich nicht, Herr«, entgegnete Ned. Er wählte sorgfältig seine Worte, aus Angst, zuviel zu verraten. »Er wirkte irgendwie erregt. Aber das waren wir ja alle nach den letzten Ereignissen.« Besorgt schritt Garius auf und ab, die Augen hatte er zu 73
schmalen Schlitzen zusammengezogen. Als er plötzlich wieder redete, ließ Ned vor Schreck Brokos Mantel fallen, den er noch immer in der Hand hielt. »Am besten schicke ich einen meiner Männer nach ihnen aus. Vielleicht haben sie sich verirrt. Außerdem ist der Geheimgang von draußen schwer zu entdecken.« Mit diesen Worten verließ er die völlig verblüfften Freunde.
12. Flucht durch einen Geheimgang »Was sollen wir denn nun tun?« sagte Ned gerade, wurde aber vom Eintreten eines Soldaten unterbrochen. Der große, finster blickende Mann durchquerte schweigend das Zimmer, ohne den beiden Freunden irgendwelche Beachtung zu schenken, und verschwand hinter der Geheimtür. »Seine guten Manieren scheint er vergessen zu haben.« Cranfallow ging schnell hinter dem Mann her. »Er ist verschwunden«, verkündete er und streckte seine Nase durch die Türöffnung. »Hoffentlich«, schimpfte Ned und griff wieder nach Brokos Mantel. »Bring deine Näharbeit endlich zu Ende, Ned. Ich passe inzwischen auf, daß uns niemand unverhofft eins auf die Rübe gibt.« Ned setzte sich wieder neben Brokos Bett, fädelte einen neuen Faden in die Nadel und beugte sich wieder über seine Arbeit. Da ertönte ein Alarmsignal, und er schreckte derart zusammen, daß er sich in den Finger stach. Als er den Finger in den Mund steckte und das Blut aufsaugte, erklang ein zweites Horn, und Rufen und das Umherlaufen vieler Menschen war zu hören. Die Antwort des Signals ließ nicht lange auf sich warten: die Gorgolacs bliesen zum Angriff. Cranfallow erbleichte und zog einen Dolch. »Gegen diesen Abschaum werden sie sich niemals verteidigen können. Was sollen wir jetzt tun?« schrie Ned. 74
»Nimm ihn. Wenigstens müssen wir ihn hier herausbringen.« Jetzt war die ganze Siedlung in heller Aufregung, soviel konnten sie hören. Überall erklangen Schreie und Schüsse. »Beeil dich, Ned. Vielleicht gibt es hier einen Ort, wo wir uns verstecken können.« Thinvoice hüllte Broko in dessen Mantel und warf sich den kleinen Mann über die Schulter. »Schneller!« rief Cranfallow. »Der große Festsaal brennt.« Gebückt eilten die beiden durch den dämmrigen Geheimgang. Ned trug Broko. Als er innehielt, um zu verschnaufen, drehte er sich zu Cranny um und sagte: »Kannst du es riechen? Auch hier brennt es. Und die armen Teufel haben mit ihren Bogen keine Chance gegen die Feuerwaffen der Gorgolacs.« »Ja, es sieht recht böse aus«, stimmte Cranfallow zu, »aber wir müssen unbedingt hier raus. Vielleicht treffen wir da draußen auf unsere Kameraden. Sie müssen doch irgendwo sein.« »Wenn die Gorgolacs sie nicht vorher gefressen haben«, entgegnete Ned wild. Er tätschelte Brokos Fuß. »Es scheint, als würde uns jedesmal das Glück verlassen, wenn wir in Gesellschaft unseres lieben Zwerges sind.« »Was redest du da für einen Unsinn. Schwing lieber deine Keulen, wenn du am Leben bleiben willst.« Ned lachte bitter auf. »Für mein Leben gebe ich keinen Pfifferling mehr, wenn wir diesen Bestien in die Hände fallen.« Da lief in dem dämmrigen Gang eine Gestalt auf sie zu, und Cranfallow zog sofort seinen kurzen Dolch. Die Gestalt entpuppte sich als Garius' Soldat. Keuchend blieb er vor den beiden stehen. »Wo ist Garius?« »Keine Ahnung, mein Freund. Die Gorgolacs haben die Siedlung in Brand gesteckt. Wir versuchen uns in Sicherheit zu bringen. Das solltest du auch tun.« Ned deutete in die Richtung, aus der der Mann gekommen war. »Laufen sie da draußen auch rum?« 75
Der Soldat antwortete zögernd: »Nein. Soviel ich gesehen habe, treibt sich keine von diesen Bestien da herum.« »Und was ist mit dir?« »Ich muß zu Garius.« »Das ist vollkommen verrückt, mein Freund. Da kommst du niemals lebend heraus.« »Ein Grund mehr, ihm beizustehen.« Ohne ein weiteres Wort spannte der Mann seinen Bogen und legte einen Pfeil ein. Dann rannte er den Gang zurück, den jetzt Flammen am fernen Ende gespenstisch erleuchteten. Eine Sekunde später hatten dichte Rauchwolken ihn verschluckt. Das Gewehrfeuer hatte jetzt aufgehört, doch das Knistern des Feuers wurde immer lauter. Broko stöhnte und bewegte sich unruhig auf Neds Rücken. »Er kommt zu sich. Wir sollten uns sputen«, sagte Ned gepreßt. Der Rauch trieb ihm Tränen in die Augen. Endlich erreichten sie die Außentür, und Cranfallow spähte vorsichtig hinaus. Kein Feind war in Sicht, und er machte Ned ein Zeichen. Im Nu waren sie draußen und atmeten dankbar die frische Luft ein. Die Sonne stand schon tief am Himmel, und sie sahen sich prüfend um. Garius' Siedlung stand in Flammen; dichte schwarze Rauchwolken stiegen über den brennenden Häusern empor. Nur vereinzelt waren jetzt noch Schüsse zu hören, und über dem Krachen und Knistern des Flammeninfernos hallten die gutturalen Stimmen der Gorgolacs. »Das war wohl das Ende dieser seltsamen Menschen«, sagte Cranfallow kopfschüttelnd. »Sie gehören zwar nicht zu den freundlichsten, aber sie waren immerhin Menschen.« »Und wie geht es jetzt weiter?« fragte Ned, dem Brokos Gewicht ziemlich zu schaffen machte. »Wir können doch hier nicht einfach stehenbleiben.« »Am besten gehen wir zu Alanes Behausung in den Ruinen. Vielleicht treffen wir dort auf unsere Kameraden.« 76
Mit diesen Worten schlug Cranfallow die Richtung zu der alten Festung Brosingamene ein. Ned eilte hinter ihm her und blickte sich öfter ängstlich um. Bald kam das imposante, verfallene Bauwerk in Sicht. Sie legten eine kurze Rast ein, und Cranfallow sah sich nachdenklich um. »Hier gibt es nichts als Ruinen, und die letzte Bewohnerin dieser einst stolzen Burg haben wir heute morgen beerdigt.« Sein Blick fiel auf die schwarzen Rauchwolken in der Ferne, und er fügte hinzu: »Und heute nachmittag wurde ein ganzes Volk von diesen Bestien ausgelöscht. Wir sind verloren. Ich weiß nicht mehr, wohin wir uns noch wenden könnten. Überall stoßen wir nur auf Tod und Verderben.« »Vielleicht könntet ihr mich wieder auf meine eigenen Füße stellen«, unterbrach ihn da eine aufgebrachte Stimme, und Broko stieß Ned unsanft mit dem Fuß vor die Brust. »Du meine Güte, unser lieber Broko ist wieder aufgewacht«, sagte Ned und ließ den kleinen Mann vorsichtig zu Boden gleiten. Der Zwerg stülpte sich seine Mütze fest auf den Kopf, dann fühlte er nach seinem Mantel. Er erbleichte, doch sein Gesicht bekam sofort wieder Farbe, als Ned das Kleidungsstück um seine Schultern drapierte. »Ich habe versucht, ihn zu flicken, wurde mit der Arbeit aber nicht fertig, weil diese verdammten Gorgolacs uns keine Zeit dazu ließen.« Ned scharrte unruhig mit den Füßen am Boden herum und starrte vor sich hin. Zu seiner großen Verwunderung machte Broko keinerlei Anstalten, irgendwelche Zaubersprüche aufzusagen oder ihn auszuschimpfen. Er sah nur ziemlich verwirrt aus. Schließlich blickte er seine Freunde verständnislos an. »Gorgolacs?« fragte er. »Ihr habt aber prächtig geschlafen«, meinte Cranfallow und berichtete schnell von den Ereignissen, die sich, seit Broko von dem Pfeil getroffen worden war, zugetragen hatten. Dann schwiegen alle, bis Broko schließlich nach 77
geraumer Zeit sagte: »Hier können wir nicht bleiben, und wir können auch nicht weitergehen, sonst treffen wir unsere Gefährten niemals wieder. Haben wir eigentlich Waffen?« »Nichts als diesen Dolch«, entgegnete Cranfallow und deutete auf seine Messerscheide. Broko drehte sich um und blickte lange auf die schwarzen Rauchwolken. Trauer machte sich auf seinen Zügen breit, und plötzlich erhob sich ein kühler Wind, der Regenwolken vor sich hertrieb. Es schien, als hätte er die Wolken herbeigezaubert. »Wir gehen jetzt zu Alanes alter Behausung. Vielleicht treffen wir dort unsere Freunde.« »Falls wir sie jemals Wiedersehen«, murmelte Ned niedergeschlagen. Broko sah seinen Freund an und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf das Hinterteil. »Mut, das ist es, was wir brauchen, Ned. Mut. Und vielleicht finden wir dort auch noch Proviant und Waffen.« Bei dem Gedanken an eine Mahlzeit und auch noch Waffen und der Aussicht, ihre Freunde wiederzusehen, waren Ned und Cranfallow sichtlich froher gestimmt. So gingen die drei schnell, um zu sehen, was sie in Brosingamenes alter Festung vorfinden würden. Weit von ihnen entfernt kauerten Bruinlen, Olther und Flewingam im dichten Unterholz neben Thumb und den Bären und beobachteten mit wachsendem Grausen, wie sich die scheußlichen Gorgolacs zu ihrem Festmahl niederließen. Es gab keinen Überlebenden aus dem Reich Garius Brosingamenes, dem Zehnten Hüter Amarigins. Voller Trauer wandten sie sich ab und tauchten im Schutz des Waldes unter. Bruinlen und Olther weinten, und Flewingam stieß häßliche Flüche aus. Doch keiner der drei wagte, über das Schicksal ihrer Freunde in dem Flammeninferno zu reden.
78
13. Fornax Bruinlen und Flewingam setzten sich unter einen Dornenstrauch, während Thumb durchzählen ließ, um zu sehen, ob sie alle bei ihrer überstürzten Flucht vollständig geblieben waren. Aller Herzen waren schwer. Olther starrte auf den dichten Wald. Dahinter lag die niedergebrannte Siedlung. Er ballte die Pfoten und wiegte sich in unsagbarem Schmerz immer hin und her. Nach einer Weile – als der Schmerz nicht mehr zu ertragen war – sagte er leise: »Ich kann einfach nicht glauben, daß sie tot sind, bis ich es mit eigenen Augen gesehen habe.« An diese winzige Hoffnung klammerte er sich, und seine Stimme nahm einen festeren Klang an. »Und ohne Broko, Ned und Cranny hat es überhaupt keinen Zweck weiterzugehen. Falls der Schrein verloren, oder noch schlimmer, gestohlen wurde, hat auch unser Leben keinen Sinn mehr.« Er blickte wieder in Richtung der zerstörten Siedlung. »Wenn doch nur Greyfax oder Faragon hier wären«, fügte er sehnsüchtig hinzu. Flewingam konnte jetzt halbwegs wieder einen klaren Gedanken fassen. Er stand auf und ging zu Olther. »Wir haben keine Waffen, alter Junge. Obwohl ich dir zustimme, daß wir nach ihnen suchen müssen. Doch vorher warten wir ab, bis sie ihre häßliche Mahlzeit beendet haben.« Bruinlen, der wie erstarrt, den mächtigen Kopf zwischen den Tatzen, dagesessen hatte, hob jetzt das Haupt und sagte mit erstickter Stimme: »Sie sind sicherlich entkommen. Durch den Geheimgang. Alle unsere Strapazen können doch nicht umsonst gewesen sein.« »Die Chancen, daß sie ihre Haut retten konnten, stehen wirklich nicht schlecht, mein Bruder«, sagte Thumb, der neben Bruinlen getreten war. »Die Menschen in der Siedlung da haben viele Höhlen und Gänge gegraben. Das weiß ich, weil wir während unserer Streifzüge oft darauf gestoßen sind. Natürlich sind sie mit Bärenhöhlen nicht 79
vergleichbar, aber nichtsdestoweniger sind es Höhlen. Und die können wir überprüfen, wenn du das willst.« Bruinlen stieß ein kurzes Brummen aus, und seine mächtige Gestalt straffte sich. Dann wechselte er ein paar Worte mit Thumb in der Bärensprache und wandte sich anschließend an Olther und Flewingam. »Thumb hat uns einen wertvollen Ratschlag gegeben. Er sagt, daß du und Flewingam ihn begleiten sollt, während ich seine Gruppe anführe. Auf diese Weise können wir alle unterirdischen Gänge überprüfen. Doch wir müssen damit bis zum Morgengrauen warten. Die Nacht können wir in Alanes alter Behausung verbringen.« Die Freunde waren froh, endlich einen Entschluß gefaßt zu haben. Die Aussicht, etwas tun zu können, verscheuchte ihre quälenden Gedanken. Sofort machte sich die kleine Gruppe mit Thumb an der Spitze in der Abenddämmerung auf den Weg zur alten Festung Brosingamene. Bruinlen bildete die Nachhut. Ängstlich sah er sich von Zeit zu Zeit um. Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie den tödlich verwundeten Fornax entdeckten. Über ihm lag die Leiche eines Gorgolac. Thumb stieß einen Schreckensschrei aus und kniete neben seinem gefallenen Bruder nieder. Dann erhob er sich wieder und tanzte den alten Totentanz der Bären. Bruinlen und die anderen Bären folgten seinem Beispiel, und bald bildeten alle Tiere einen Kreis um das sterbende Tier. Olther stimmte eine alte Klageweise an, und Flewingam neigte das Haupt ehrfürchtig vor diesem seltsamen bewegenden Spektakel. Nachdem der Tanz beendet war, eilte Thumb wieder an die Seite des Sterbenden, kniete abermals nieder, und flüsterte ihm leise etwas ins Ohr. Darauf beugte er sich über ihn, um Fornax' Worte besser zu verstehen. Schließlich stand er wieder auf. So verharrte er bewegungslos. Und eine Stunde nach Sonnenuntergang trat er plötzlich vor, ließ ein tiefes 80
Brummen ertönen und machte mit der Tatze eine kreisförmige Bewegung über dem leblosen Bären. »Er ist von uns gegangen«, sagte Bruinlen zu Olther, ohne den Blick von den beiden abzuwenden. »War nicht er es, der dich angegriffen hat, Olther?« fragte Flewingam flüsternd. »Ja«, erwiderte Olther einfach. »Aber deswegen hätte ich diesem Burschen nichts Böses gewünscht.« »Er war nicht glücklich in seinem Leben«, meinte Bruinlen, »und ich konnte hören, wie er zu Thumb sagte, er hätte sie vor den Gorgolacs warnen wollen.« »Diesen plötzlichen Gesinnungswandel kann ich nicht verstehen«, sagte Flewingam ungläubig. Bruinlen blickte seinen Kameraden lange schweigend an und sagte schließlich traurig: »Das war kein Gesinnungswandel, alter Junge. Er war hitzköpfig und hat vielleicht das Falsche getan. Aber er ist immer ein Bär geblieben.« Die anderen Bären legten jetzt Steine auf den toten Fornax, und Thumb trat neben Bruinlen. »Kurz vor seinem Tod sagte er mir noch, daß er Männer gesehen hat, die aus den unterirdischen Gängen hier in der Nähe kamen und dann in Richtung der alten Festung gingen.« »Dann sind sie entkommen«, rief Olther und führte einen Freudentanz auf. »Doch euren Zwerg hat er nicht gesehen, sagt er«, sprach Thumb weiter. »Ich bin sicher, daß er ihn sonst erwähnt hätte.« Olther unterbrach sein Herumgehopse. »Vielleicht hat er ihn nicht bemerkt«, meinte der kleine Kerl hoffnungsvoll. »Broko kann sich fast unsichtbar machen, wenn er es darauf anlegt. Er beherrscht diese Kunst ebensogut wie wir Tiere.« Thumb sah seinen kleinen Freund traurig an. »Es wäre möglich, daß er deinen Freund nicht gesehen hat. Vielleicht war er durch den Angriff der Gorgolacs zu abgelenkt.« »Außerdem hätten Ned und Cranny Broko niemals 81
hilflos zurückgelassen. Das ist nicht ihre Art«, meinte Bruinlen aufmunternd. Er gab Olther einen freundschaftlichen Klaps. »Das hatte ich ganz vergessen. Natürlich. Ned und Cranny haben schon eine Möglichkeit gefunden, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen.« Da unterbrach Thumb die beiden. »Es wäre besser, wenn ihr eure Unterhaltung auf später verschieben würdet. Man kann nie wissen, ob wir belauscht werden. Außerdem sollten wir uns auf den Weg machen.« Vor Aufregung über Fornax' Tod und auch die Aussicht, daß ihre Freunde noch am Leben sein könnten, hatten die Gefährten die Anwesenheit der Gorgolacs in den Wäldern völlig vergessen. Jetzt schwiegen sie alle ängstlich, bis Bruinlen leise zu Thumb sagte: »Kannst du uns auch im Dunkeln zu der alten Festung führen?« »Ich finde meinen Weg so gut wie im hellen Tageslicht. Und es ist von Vorteil, nachts zu gehen, denn dann können uns diese Bestien da nicht so leicht entdecken.« Er deutete mit der Tatze in Richtung des blutroten, rauchgeschwärzten Himmels hinter den Bäumen. »Gut. Dann wollen wir uns jetzt aufmachen. Mit etwas Glück treffen wir unsere Freunde dort.« Er schwieg und sah Flewingam und Olther fragend an. »Wenn nicht, müssen wir eben morgen früh neue Pläne schmieden.« Nach diesen Worten wandte sich Bruinlen schnell ab, damit seine Freunde nicht den Zweifel in seinen Augen lesen konnten. Thumb versammelte seine kleine Gruppe um sich und gab das Zeichen zum Aufbruch. Und Bruinlen, Olther und Flewingam verbannten entschlossen alle trüben Gedanken und machten sich entschlossen auf den Weg. Schon bald waren die Gefährten in der schützenden Dunkelheit untergetaucht, und Stille senkte sich wieder über die Wälder.
82
Dritter Teil Die Geheimnisse der Erde
83
14. Ein unerwartetes Wiedersehen »So kommen wir nicht weiter«, sagte Broko ärgerlich und klopfte sich den Staub aus den Kleidern, als er aus einem Loch in der verfallenen Mauer wieder auftauchte. »Ohne Licht kann ich diese verdammte Tür nicht finden. Alle diese vermeintlichen Türen sehen in der Dunkelheit gleich aus. Wir könnten hier bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag suchen.« »Dann sollten wir irgendwo einen Unterschlupf suchen und warten, bis es Tag ist«, meinte Cranfallow. »Zwar gefällt mir der Gedanke, ohne Essen und Trinken zu schlafen, überhaupt nicht«, entgegnete Broko, der seinen bohrenden Hunger und Durst zu ignorieren suchte, »aber uns scheint nichts anderes übrigzubleiben.« Der Kopf tat ihm höllisch weh, und in seiner Kehle klebte der Staub aus dem Loch, wo er den Eingang zu Alanes Behausung gesucht hatte. »Jedenfalls geht es uns nicht so schlecht wie den anderen. Wir reden wenigstens noch übers Essen, anstatt von den Gorgolacs verspeist zu werden.« Broko lachte freudlos. »Das ist Ansichtssache, mein guter Ned. Ich glaube nicht, daß dieser Abschaum derselben Meinung wäre. Ein Zwerg dürfte ihnen kaum schmecken. Dafür bin ich zu zäh.« »Jedenfalls sitzen sie am Feuer mit gefüllten Mägen. Ich verfluche sie!« »Morgen finden wir schon den Eingang, Ned. Und dann frühstücken wir ausgiebig und machen ein Schläfchen. Danach sehen wir weiter. Wahrscheinlich sind dann auch unsere Gefährten hier eingetroffen.« Kaum hatte Broko ausgesprochen, berührte Cranfallow Brokos Schulter und gebot ihm Schweigen. Broko wollte schon mit einer Frage herausplatzen, doch da hörte er, wie sich ganz in der Nähe etwas bewegte. »Das sind keine Gorgolacs«, flüsterte Ned in Brokos 84
Ohr. »Dafür ist das Geräusch zu leise.« Jetzt näherten sich ihnen leise Schritte, und dann konnten sie das Geräusch von Metall, das gegen Stein geschlagen wurde, hören. Ein weiteres Geräusch erklang, so als würde jemand graben. Vergeblich spähten die drei in die Dunkelheit, nichts war zu erkennen. Nur am Horizont, über dem Wald, war der Himmel mit einem schwachen rötlichen Schein überzogen. In der Stille klangen diese Geräusche unnatürlich laut. Cranfallow zog seinen kurzen Dolch, und Neds Hand griff nach einem faustgroßen Felsbrocken. Broko tastete nach dem Schrein, in der anderen Hand hielt er seinen Drachenstein umklammert, den Bruinlen ihn in Cypher zurückgegeben hatte. Und bei dem Gedanken an Cypher wurde sein Herz leichter, und seine Furcht schwand. Er berührte seine Mütze, und da erklang ein leise summender Ton, der zuerst kaum hörbar war und dann zu gewaltiger Stärke anschwoll. Ein blaßgoldenes Licht erhellte die Dunkelheit wie flüssiges Feuer und tauchte die alte Ruine in gespenstische Schatten. »Beim Allmächtigen!« stieß Ned hervor. »Er hat wieder gezaubert.« Die Aufregung über dieses Schauspiel ließ ihn seine Angst vollständig vergessen. Cranfallow warf Broko nur einen mißtrauischen Blick zu, doch konnte er dessen Gesicht nicht erkennen. Da sah er wieder zu der Ruine hin, die jetzt in silbernes Licht getaucht war, und mitten zwischen den verfallenen Säulen und Torbogen stand Garius Brosingamene. Völlig bewegungslos stand er da in dem gleißenden silbernen Licht wie eine Geistererscheinung. »Da soll mich doch der Teufel holen, wenn das nicht der alte Garius ist«, sagte Ned, die Augen vor Erstaunen weit aufgerissen über Brokos mächtige Zauberkraft. »Garius!« rief Broko. Noch während er rief, verblaßte das Licht, bis wieder Dunkelheit herrschte. Die Dunkelheit kam so überraschend, daß Garius einen 85
kleinen Schrei ausstieß und stürzte, als er zurückweichen wollte. »Garius!« rief Broko wieder. »Ich bin es, Broko, der Zwergenfürst, mit meinen beiden Freunden. Wir wollen Euch nichts Böses tun.« Da hörten sie, wie Garius aufstand und langsam, schleppenden Schrittes auf sie zukam, bis er – eine schattenhafte Gestalt – vor ihnen stand. »Seid Ihr es, Broko?« fragte Garius mit zitternder Stimme. »Ja, ich bin's und zwei meiner Kameraden. Wir konnten dem Massaker durch Euren Geheimgang entkommen.« »Denselben Weg, den auch ich genommen habe«, entgegnete Garius müde. »Doch meinem Volk wurde dieses Glück nicht zuteil. Dieser Tag bedeutet das Ende des Hüters von Amarigin und seiner Familie.« Garius lachte freudlos und setzte sich auf einen Stein. »Alle Ränke und Intrigen waren umsonst, und ich konnte das Unheil nicht abwehren. Jener zweite Verräter machte mit den Gorgolacs gemeinsame Sache, und nun ist alles verloren.« Er wandte sich an Broko. »Ich will Euch nicht kränken, Zwergenfürst, aber Ihr habt meinem Reich kein Glück gebracht.« »Nicht ich bin an dem Untergang Eures Reichs schuld«, gab Broko barsch zurück. Doch dann fuhr er wesentlich freundlicher fort: »Aber wollt Ihr Euch uns nicht anschließen? Hier könnt Ihr nicht mehr bleiben. Wir wollen Calix Stay überqueren und dann noch weiterziehen. Dort haben wir mächtige Freunde, die uns helfen werden.« »Die Wächter Amarigins verlassen niemals ihren angestammten Platz, es sei denn, der Tod ruft sie«, entgegnete Garius ernst. »Und der läßt nicht mehr lange auf sich warten.« »Es sei, wie Ihr wünscht«, sagte Broko. »Aber könnt Ihr uns nicht den Eingang zu Alanes Behausung zeigen? Wolltet Ihr dorthin gehen?« »So ist es«, bestätigte Garius. »Die Grabgewölbe meiner Vorväter warten schon auf mich, und ich wäre ein Narr, 86
würde ich mich hier nicht auskennen. Kommt mit mir.« Als Garius aufstehen wollte, stolperte er und stürzte zu Boden. Bewegungslos blieb er liegen. Sofort kniete Ned neben ihm nieder. »Er hat eine böse Bauchverletzung erlitten«, sagte er zu den anderen und hielt eine blutige Hand hoch. Broko beugte sich über den Schwerverletzten. »Könnt Ihr uns sagen, wo der Eingang ist?« fragte er. »Der blaue Stein«, murmelte Garius, »blauer Stein …« Sein Gesicht war totenbleich, und seine Lider flatterten. »Die Grabgewölbe der Brosingamenes liegen unter … der Waffenkammer.« Garius atmete mühsam. »Und jetzt muß ich reinen Tisch machen, sonst werde ich niemals Ruhe finden. Wenn Ihr mir versprecht, mich in dem Grabgewölbe bei meinen Vorfahren beizusetzen, will ich Euch alles erzählen.« Mit vom Tode umschatteten Augen flehte er Broko an. »Das versprechen wir Euch«, versicherte Broko ihm. »Beruhigt Euch.« Ein Zittern durchlief den großen Mann, und Erleichterung war in seiner Stimme zu hören. »Gut. Ich wußte, daß ich mich auf Euch verlassen kann. So hat sich alles zugetragen: Meine Mutter erzählte mir von dem Besuch des Zauberers Greyfax Grimwald und daß irgendwann ein Zwerg hierherkommen würde. Das Erscheinen des Zwerges würde das Ende des Geschlechts der Brosingamene bedeuten. Es war ein Fluch, den jene Eurer Vorfahren ausgesprochen hatten, die wir vor langer Zeit erschlugen, als sie unsere Grenzen überschritten. Sie sagten, Brosingamene würde durch die Hand einer der Ihren fallen. Ich glaubte Alane nicht, bis Ihr auftauchtet. Also schmiedeten Alane und ich einen Plan, um dieses Schicksal abzuwenden. Und gleichzeitig wollten wir den Verräter in unseren Reihen entlarven.« Garius hustete, und wieder überlief ihn ein Zittern. »Doch alle unsere schönen Pläne haben nichts genützt. Das 87
Schicksal hat sich vollendet.« Garius lachte bitter. »Einer meiner Soldaten brachte einen Gorgolac zum Sprechen, der glaubte, dadurch seine Haut zu retten. Er bot uns einen Handel an.« »Mit wem versuchte er zu handeln?« fragte Broko und legte dem Sterbenden einen Mantel unter den Kopf. »Mit Jokim«, sagte Garius verächtlich. »Mit meinem Jokim, dem ich so vertraute. Meine eigene Leibwache versuchte die Macht an sich zu reißen. Hoder war nur ein kleiner Fisch in dem Komplott. Der Gorgolac sprach von einem Gnom und daß sein Gebieter höchst interessiert an Gnomen sei. Die größte Belohnung würde aber derjenige erhalten, der ihm den Gnom brächte, der in Gesellschaft von Tieren reiste.« Garius stöhnte, und Blut quoll aus seinem Mund. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Hört gut zu. Ich weiß, daß ich Euch nicht um Verzeihung bitten kann. Ihr wart eine Bedrohung für mein Volk. Also mußte ich Hoder und den Drahtzieher der Verschwörung dazu bringen, Euch aus Alanes Händen zu befreien. Dann mußte ich Hoder und seine Leute töten, um zu erfahren, wer wirklich hinter dem Plan steckte. Euch machte ich glauben, daß ihr nur heimlich meine Gäste wärt. In Wahrheit wußte aber jedermann davon. So hoffte ich, die Verschwörer würden Euch den Gorgolacs überantworten, die damit die Belohnung ihres Anführers einstreichen und uns in Ruhe lassen würden. Auf diese Weise hätte ich mein Königreich gerettet und außerdem den Verräter entlarvt.« »Ohne den Zwerg würde Brosingamene nicht fallen, so wie vorhergesagt«, murmelte Broko leise. »Ja, das war meine Überlegung. Alane war nicht in meine Pläne eingeweiht. Sie kannte die ganze Wahrheit nicht. Sie versuchte nur, Euch zu helfen, die Grenzen unseres Landes zu erreichen.« »Wenn das nicht ein starkes Stück ist …« fing Ned an, doch Broko unterbrach ihn. »Wie es scheint, werden wir verfolgt. Und 88
wahrscheinlich von Doraki. Inzwischen wird er wissen, daß ich der Träger des Heiligen Schreins bin, und hat jemanden beauftragt, sich an meine Fährte zu heften. Oder noch schlimmer, er selbst ist hinter mir her.« »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Ned voller Angst. »Es bedeutet, daß wir unsere Reise unverzüglich fortsetzen müssen, Ned. Wenn die Gorgolacs wüßten, daß wir uns in der Siedlung aufhielten, haben sie sie nur aus diesem Grund niedergebrannt.« »Jokim steckt dahinter. Er war sehr ehrgeizig und wollte mit diesen Bestien verhandeln, damit er die Herrschaft an sich reißen konnte. Doch sie haben ihn hintergangen.« Wieder durchlief ein Zittern Garius, und er atmete mühsam. »Versprecht mir, daß Ihr mich in das Grabgewölbe zu meinen Ahnen legt, Broko. Ich habe nur im Interesse meines Volkes gehandelt. Deswegen könnt Ihr mich nicht anklagen«, sagte Garius mit ersterbender Stimme. Dann sank sein Kopf zurück. »Er ist tot«, sagte Cranny und bedeckte ihn mit seinem Mantel. »Jetzt wissen wir ja, wie sich alles zugetragen hat. Aber was meinte er mit dem ›blauen Stein‹?« »Er markiert den Zugang zu Alanes Behausung. Er muß dort sein, wo Garius gegraben hat.« Die Gefährten eilten zu der Stelle, und bald rief Cranfallow: »Hier ist er.« »Gut gemacht, Cranny. Jetzt wollen wir mal sehen, wie wir da hineinkommen. Viel Zeit haben wir nicht. Nach dem, was Garius erzählt hat, sind diese Bestien sicher hinter uns her, als sie feststellten, daß wir uns nicht in der Siedlung aufhielten«, sagte Broko auf Cranfallow zueilend. »Da gibt es aber keine Tür, nur Stein.« »Es muß einen Weg geben.« »Sollen wir ihn in dem Grabgewölbe bestatten?« fragte Cranfallow, »wo er uns doch so schmählich hintergangen hat?« »Ja, das tun wir, Cranny. Falls uns genügend Zeit 89
bleibt.« »Ich habe ihm von Anfang an nicht getraut. Er hat sich immer so sonderbar benommen.« Broko sagte nachdenklich: »Er war sicher ein eigenartiger Mann. Und er hatte große Angst.« »Da war er nicht der einzige. Ich kann die Gorgolacs noch immer schmatzen hören.« »Genug davon!« schalt Broko. »Wir müssen uns beeilen.« Angst ergriff wie eine eiskalte Hand sein Herz. Er konzentrierte sich ganz auf das Graben und verscheuchte den Gedanken, was passieren könnte, falls Doraki seiner habhaft werden würde. Der Zwerg befahl Ned, rechts von dem blauen Stein zu graben, und Cranfallow links davon. Er selbst nahm sich die Mitte vor. Bald würden sie in Alanes Behausung in Sicherheit sein, konnten essen und sich wieder bewaffnen. Plötzlich spürte Broko wieder die schwere Last des Heiligen Schreins, eine Last, die er kaum noch zu tragen imstande war. Und die Finstere Königin wußte jetzt, daß er den Schrein hatte.
15. Ein altes Zwergenbauwerk Broko hatte nicht einmal mehr Zeit, einen Schrei auszustoßen. Plötzlich gab die Erde, in der er grub, nach, und er rutschte – langsam zuerst, dann immer schneller – mit den Erdmassen und Steinen in einen bodenlosen Abgrund. Auf seinem Hosenboden sauste er mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Tiefe. Es wurde immer dunkler, und er konnte nur noch mühsam atmen. Und so plötzlich, wie diese Rutschpartie begonnen hatte, war sie auch zu Ende. Benommen saß er in tiefer Dunkelheit da, während noch Stein- und Erdbröckchen hinter ihm herrieselten. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte er die Schwärze zu durchdringen. Vergeblich! 90
Doch er spürte, daß er in einem uralten, seit langem nicht mehr benutzten Raum saß. Erst glaubte er, in Garius' altem Grabgewölbe gelandet zu sein, doch dieser Ort hier war noch viel, viel älter. Es roch modrig, so als hätte seit langem kein Lebewesen seinen Fuß hierher gesetzt. Broko wackelte mit den Zehen und bewegte die Arme, um zu sehen, ob er sich irgendwie verletzt hatte. Dann stand er taumelnd auf. Außer ein paar Kratzern hatte er keinen Schaden davongetragen. Er starrte in die Höhe, um zu sehen, durch welches Loch er gefallen war, doch nichts als blauschwarze Dunkelheit umgab ihn. Zögernd setzte er mit vorgestreckten Händen einen Fuß vor den anderen. Aber er stieß auf kein Hindernis, nur schweigende Schwärze umgab ihn. Er atmete tief ein, um sich Mut zu machen, und holte den Drachenstein – kostbares Erbstück seiner Vorväter – aus seiner Tasche hervor. Er hielt ihn wie eine Lampe vor sich und murmelte beschwörende Worte. Nach seinem Sturz hatte zuerst eine eiskalte Angst ihn gelähmt, dieselbe Angst, die er gefühlt hatte, als die Finstere Königin ihn vor langer Zeit gefangenhielt. Ganz langsam, wie Licht unter Wasser, begann der Drachenstein zu glühen. Dann erstrahlte er in goldenem Licht. Und plötzlich gingen von ihm strahlende Blitze aus, die die Dunkelheit aus diesem unterirdischen Raum verscheuchten. Wild klopfte Brokos Herz. Im ersten Augenblick wurde er von der strahlenden Helligkeit geblendet, doch dann stand er vor maßlosem Erstaunen ganz still über den herrlichen Anblick, der sich ihm bot. Perlgraue Wände umgaben ihn, so hoch, daß das Auge die Decke nicht mehr sehen konnte. Die Wände waren von vielfarbigen Steinadern durchzogen und mit feinen Elfenbeineinlegearbeiten verziert. Sie waren von unvorstellbarer Schönheit. Und die Decke, die er jetzt in dem hellen Licht erkennen 91
konnte, war mit Bildern geschmückt, die Menschen, Elfen und seltsame Ungeheuer darstellten. In der Mitte prangte eine große goldene Sonne. Broko atmete wieder tief ein. Diesmal vor Bewunderung. »Das ist Zwergenarbeit«, sagte er laut. »Und wie groß war ihre Kunstfertigkeit.« Die Neugierde trieb ihn zur weiteren Erkundung dieser prächtigen Halle. Überall standen Möbelstücke aus getriebenem Silber und Elfenbein – jetzt waren sie vom Staub der Jahrhunderte bedeckt. In einer Ecke stand ein Musikinstrument, das er noch niemals zuvor gesehen hatte, aber aus seinen alten Büchern der Weisheit kannte. Es war wie eine Leier geformt und doppelt so groß wie er. Broko trat näher und berührte zart eine der Saiten. Ein leise summender Ton erklang, der mächtig anschwoll und sich vielfältig an den Wänden brach. Liebevoll strich er immer wieder über die Saiten, den Drachenstein noch immer in der Hand. Jetzt erglühten auch die Wände in einem inneren Licht und gaben so alle ihre Herrlichkeiten preis. Die goldene Sonne über ihm strahlte sanft. Broko bewunderte die Kunst seiner Ahnen, einen Raum ohne Fackeln oder Lampen beleuchten zu können, und betrachtete diese Wunder mit nicht enden wollender Verzückung. Die Halle war durch viele aufeinanderfolgende Bogengänge aus Elfenbein gegliedert, die ihrerseits alle mit Schnitzereien bedeckt waren – ein Anblick, von dessen Schönheit er nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Er wollte gerade zur Mitte der Halle schreiten, unter einen Bogen, der die Form eines Schmetterlings hatte, als von fern ganz leises Rufen an seine Ohren drang. »Meister Broko, Meister Broko«, rief eine verlorene Stimme. »Wo seid Ihr, Herr?« 92
Der Zwerg hielt inne und blickte zur Decke empor. »Hier bin ich«, entgegnete er verträumt und nur halblaut. Doch der Klang seiner eigenen Stimme schien den Bann gebrochen zu haben. Er räusperte sich und rief so laut er konnte: »Ich bin hier, unter euch. Seid vorsichtig. Dort, wo ich gegraben habe, müßtet ihr jetzt eigentlich Licht sehen. Versucht herunterzurutschen. Aber es ist tief.« Dann ging Broko schnell zu der Stelle, wo er glaubte, gelandet zu sein, und blickte prüfend zur Decke empor. Zuerst konnte er nichts erkennen, nur die Bilder der feinen Zwergenarbeiten waren zu sehen. Doch als er näher hinschaute, sah er ein dunkles, kreisförmiges Loch, das den Mund eines bunten, fliegenden Drachen bildete. Bei noch näherer Betrachtung entdeckte er am Fuß der Wand unterhalb des Drachenmauls einen Brunnen, der jedoch jetzt ausgetrocknet war, und frisch herausgebrochene Steine. Auf der weichen Erde daneben konnte er den Abdruck seines Hinterteils erkennen. »Natürlich«, dachte er laut, »ein Brunnen. Mein Volk liebte das Wasser.« Behutsam strich er über den glattpolierten Stein der Mauer. »Das Wasser kam sicher aus dem Drachenmaul und stürzte als Wasserfall in den Brunnen.« Andächtig betrachtete er diesen neuen Beweis uralter Zwergenkunst und verlor sich in Bewunderung darüber, bis er durch erneutes Rufen in die Wirklichkeit zurückkehren mußte. »Wo seid Ihr, Herr?« rief Ned klagend. »Wir können nirgendwo Licht entdecken. Hier ist es finster wie in einem Grab.« Da stellte sich Broko direkt unter das Drachenmaul, hielt seinen Drachenstein hoch und sprach die Worte, die ihn zum Leben erweckten. Doch der Stein war wie von selbst lebendig geworden: Züngelnde rotblaue Flammen schossen aus ihm wie Blitze. »Beim Barte des Coin, was soll das?« wunderte sich Broko. Und da fing der Stein mit tiefer Stimme an zu 93
singen… »In den frühen, goldnen Zeiten Bauten Zwerge, die alten Hier im Berg riesige Hallen, Um ihr Königreich zu verwalten. Dies geschah noch vor den Drachenkriegen, Als ich geboren wurde. Und wer mich besitzt, Dem helfe ich siegen. Eoin und Coin schufen diese Mauern, Die seither eine Ewigkeit überdauern. Lange ruhn sie schon in der Erde, Bis zu dem Tag, wo einmal Licht noch werde, Bei der Ankunft eines Zwergenwesen, Der kommt, das Versprechen einzulösen.« Broko wollte fragen, welches Versprechen gemeint sei, taumelte jedoch, ohne den Mund aufzumachen, zurück und ließ den Stein fallen, denn er war glühendheiß geworden. Mit einem letzten strahlenden Aufleuchten verlöschte der Stein und nahm eine milchigtrübe rotgraue Farbe an. Und kurz darauf war er verschwunden, nur ein schmaler Kranz bleichen Lichts kennzeichnete die Stelle, wo er gelegen hatte. Broko schrie vor Kummer auf und tastete über den Boden, wo noch vor einer Sekunde der Stein gewesen war. Ein rasender Schmerz durchzuckte seinen Arm, als er das Häufchen Asche berührte. Völlig verwirrt ließ er sich schwer auf sein Hinterteil plumpsen. Und gerade in diesem Augenblick – unter Fluchen und Schimpfen – landeten Ned und Cranfallow geräuschvoll neben dem Brunnen. Hinter ihnen rieselte eine kleine Erdund Steinlawine zu Boden.
94
16. Thumbs geheime Höhle »Psst!« flüsterte Thumb und hob warnend eine Tatze. Die kleine Gruppe versteckte sich schnell hinter den Bäumen, die die alte Festung Brosingamene in einiger Entfernung umstanden. »Habt ihr das gehört?« fragte Thumb nach einer ganzen Weile. Olther hatte nichts gehört, denn Bruinlen war ihm gerade versehentlich auf die Pfoten getreten. Und Bruinlen hatte ebenfalls nichts gehört, weil er sich gerade bei seinem Freund entschuldigte. »Das klang wie Stimmen«, murmelte Flewingam und lauschte angestrengt in die Nacht. »Wie Menschenstimmen«, fügte er hinzu. »Aber jetzt schweigen sie«, sagte Thumb. »Vielleicht haben sie uns gehört.« Die Freunde wagten kaum zu atmen. Nicht ein Laut durchbrach die Stille, und in der bleichen Morgendämmerung trieben Nebelfetzen wie gespenstische Schatten umher. Innerhalb weniger Minuten konnten sie nur noch ein paar Schritte weit sehen. »Das fehlt uns noch«, flüsterte Thumb. »Na ja, unsere Feinde bringt es auch nicht weiter«, zwitscherte Olther. Thumb überlegte, dann sagte er: »Hier in der Nähe gibt es einen Unterschlupf, den wir schon früher einmal benutzt haben, als wir dort jagten. Ich glaube, es ist besser, wenn wir dort den Tag abwarten.« Bruinlen streckte den Kopf hoch in die Luft, als ob er auf diese Weise die Nebelschwaden durchdringen könne. »Kannst du ihn denn in dieser Suppe finden?« fragte er und blickte sich ängstlich um. »Ja. Ich brauche mich nur auf meinen Geruchssinn zu verlassen. Ich habe schon unter schlimmeren Bedingungen meinen Weg gefunden.« »Dann führe uns dorthin«, brummte Bruinlen. »Ich will 95
mich an einem von euch festhalten, sonst gehe ich noch verloren«, bat Flewingam. »Ich bin nicht mit so einer feinen Nase ausgerüstet wie ihr Burschen.« Olther zwitscherte und streckte seinem Freund eine Pfote hin, mit der anderen grabschte er nach Bruinlens dickem Pelz. »Auf diese Weise können wir uns nicht verlieren«, kicherte er und genoß es, wie Bruinlen unter seinem festen Griff zusammenzuckte. »Das ist noch kein Grund, mir den Pelz vom Leibe zu reißen«, gab Bruinlen giftig zurück. »Ich habe dir doch gesagt, daß es mir leid tut, dich getreten zu haben. Außerdem laufe ich dir bestimmt nicht davon.« Da lockerte Olther seinen Griff, und die Freunde machten sich auf den Weg. Alle paar Schritte hielt Thumb an und beschnupperte den Boden oder einen Baum oder Felsen. Wirbelnde graue Nebelfetzen hüllten sie ein und machten sie ganz nervös und unsicher. Die Luft, die vor einer Stunde noch ziemlich warm gewesen war, wurde immer kälter. Bald waren alle mit silbrigen Tautropfen bedeckt, und selbst ihr Atem schien zu Nebel zu werden, und Olther konnte von seinem Freund vor ihm nur die kleine rostbraune Schwanzspitze erkennen. Flewingam, der letzte in der Reihe, sah nur Olthers Ohren, die wie kleine dreieckige Punkte in der silbrigen Watte über dem Boden schwammen. Ohne den festen Griff des kleinen Kerls hätte er sich hoffnungslos verirrt. Nach einer schier endlosen Zeit brummte Thumb, und seine Stimme klang dumpf, so als würde sie aus einer Höhle kommen. »Hier ist sie, und genauso, wie wir sie verlassen haben«, sagte er, als alle anderen sich um ihn scharten. Doch in dem Zwielicht konnten die Gefährten nicht erkennen, wo sie sich befanden. Sie hätten ebenso im Wald unter hohen Bäumen, auf einer Lichtung sein können. Bruinlen richtete sich zu seiner vollen Größe auf und reckte die Nase prüfend 96
in die Luft. »Was hast du, Bruinlen?« fragte Olther, der sich die plötzliche Vorsicht seines Freundes nicht erklären konnte. Bruinlen rümpfte die Nase. »Ich weiß nicht recht. Aber es gibt hier irgend etwas, ich weiß nur nicht, was.« »Gorgolacs?« fragte Flewingam, der neben den Freunden stand. »Nein. Ganz so stinkt es denn doch nicht. Mehr ein abgestandener Geruch, würde ich sagen. Irgend etwas sehr Altes.« Thumb war leise zu der kleinen Gruppe getreten. »Das ist in der Tat eine sehr alte Höhle, mein Bruder. Älter als die Menschen oder diese Bestien, die die Siedlung angegriffen haben. Wir entdeckten sie, als wir hier im Wald einen Unterschlupf suchten. Und sie ist sehr groß. Fornax hat einen Teil von ihr erforscht, hat sich aber nur bis auf Rufweite hineingewagt. Sie ist derart weitläufig, daß er Angst bekam, es aber nicht zugeben wollte.« »Wer diese Höhle wohl gebaut hat?« sagte Olther. Er hatte sich hingesetzt, denn plötzlich war er sehr müde. »Jedenfalls keine Menschen. Soviel steht fest«, entgegnete Thumb auf Olthers Frage. »Die Menschen in diesen Wäldern wußten nichts von ihrer Existenz. Ihr Eingang ist außerordentlich gut versteckt, obwohl ihr das in dem Nebel nicht sehen konntet.« »Du meinst, selbst Garius' Leute kannten die Höhle nicht?« fragte Bruinlen ungläubig. Er konnte sich nur schwer vorstellen, daß so ein vorzügliches Versteck ihren Augen verborgen geblieben war. »Wenn sie von ihrer Existenz wußten, so kamen sie doch niemals hierher, denn der Eingang ist sehr schwer zu finden«, sprach Thumb weiter. Er schwieg eine Weile und blickte in die Richtung, wo die Sonne in einer Stunde aufgehen würde. »Aber das kannst du dann alles selber sehen.« Bruinlen runzelte die Stirn. 97
»Es gibt hier irgend etwas. Wenn ich doch nur wüßte, was. Es riecht alt, nach … ja, nach …« Er verstummte, weil er nicht wußte, wonach es roch. »Nach Zwerg!« rief Olther aufgeregt. »Nach Zwerg riecht es.« Olther hatte seine Nase tiefer in die Dunkelheit gesteckt und tanzte jetzt um den sitzenden Bären. »Genau das ist es, Olther. Es ist Zwergengeruch. Dann müssen sie vor langer Zeit einmal hier gewesen sein.« »Könnte es sich um die Zwerge handeln, von denen Alane uns erzählt hat? Die, die Garius gefangennahm?« fragte Flewingam. »Das wäre möglich. Doch dieser Geruch ist so alt, älter als alles, was ich bisher gerochen habe.« »Du meinst, er stammt von Zwergen, die vor Garius lebten?« fragte Olther. »Viel, viel früher müssen sie gelebt haben, dem Geruch nach zu urteilen. Es riecht wie in Bergstollen, und von denen habe ich genug gegraben. Ich weiß, wovon ich spreche.« »Vielleicht hast du recht, Bruinlen«, sagte Olther und tanzte zum Eingang zurück. »Ich hoffe, die Sonne geht bald auf. Ich liebe solche alten Plätze.« Er drehte sich um und stieß gegen Bruinlen, der ihm gefolgt war. »Und falls du wirklich recht hast, wird auch Broko bald hier auftauchen. Er hat eine feine Nase und ein Gespür für die Orte, wo einst sein Volk gelebt hat.« Bruinlen blickte auf seinen Freund hinunter und lächelte. »Hoffentlich ist es so, Olther. Falls Broko überhaupt noch in diesen Wäldern ist.« »Am besten machen wir alle ein kleines Nickerchen«, schlug Thumb vor. »Wir haben noch eine Stunde Zeit bis Sonnenaufgang.« Flewingam schnarchte schon, und die Freunde legten sich neben ihren schlafenden Gefährten. Thumb, der vorgab, nicht müde zu sein, erbot sich, Wache zu halten. 98
Die beiden waren zu erschöpft und nahmen das Angebot dankbar an. Bald lagen alle in tiefem Schlaf. Und während sie schliefen, drangen Nebelschwaden in den seltsamen Unterschlupf und hüllten sie in ihren feuchten Schleiern ein. Thumb war doch müder, als er zugegeben hatte, und er nickte von Zeit zu Zeit ein. Er träumte von einem hellen Feuer und frischem Brot mit Honig. Schmatzend bewegte er im Traum die Lippen. So merkte niemand, daß tief innen in der Höhle Schritte sich ihnen langsam durch die dunklen Gänge näherten, die jahrhundertealten Staub aufwirbelten und so leise wie ein Windhauch waren, der übers Wasser strich. Und immer näher kamen die Schritte, und seltsame Wesen gingen dorthin, wo die erschöpften Gefährten in tiefem Schlummer lagen.
17. Die Wächter »Wo sind wir?« fragte Ned Thinvoice mit angstvoll aufgerissenen Augen. Cranfallow gab einen erschreckten Laut von sich und senkte den Kopf. »Ich stelle lieber keine Fragen«, meinte er nur. »Meine Vorfahren haben diese prächtigen Hallen hier erbaut«, erklärte Broko aufgeregt. »Eoin und all die anderen.« Dann lief er zu einer Wand und fuhr mit den Fingern behutsam über die feine Intarsienarbeit. »Seht doch mal! Was für Werkzeuge sie gehabt haben müssen! Und welche Kenntnisse! Stellt euch nur einmal vor: das alles war doch nur Erde und Stein.« Seine Stimme verlor sich. Voller Bewunderung versuchte er sich vorzustellen, wie diese kunstvolle Arbeit einst vollbracht wurde. Cranfallow war mühsam aufgestanden und klopfte sich jetzt den Staub aus den Kleidern. »Sind hier noch andere 99
Zwerge, Herr?« fragte er und half Ned auf die Füße. »Andere Zwerge?« wiederholte Broko versonnen und fragte sich, wie Eoin wohl ausgesehen hatte. »Nein, das glaube ich nicht, mein guter Cranny. Diese Hallen wurden lange vor den Drachenkriegen errichtet. Du hast sicher davon gehört.« »Den Drachenkriegen? Dann sind diese Ammenmärchen also wahr?« Broko blickte seine Freunde ernst an. »Ihr wollt doch nicht behaupten, daß ihr die Geschichte Atlantons nicht kennt?« »Oh, wir haben davon gehört. Meine Mutter spann endlose Geschichten über diese Kriege und wie die Elfen, Zwerge und Menschen alle noch in Eintracht und Frieden zusammen lebten und gemeinsam auf die Drachenjagd gingen. Und die Drachen brannten ganze Städte nieder, und es gab Wölfe, die so groß wie Kühe waren. Die zerstörten alles, was ihnen vor die Fänge kam.« »Ja, diese alten Geschichten kennen wir«, fiel Cranny ein, »aber wir dachten, das wären alles nur Ammenmärchen. Wirklich geglaubt haben wir an diese Geschichten nie.« Er schwieg und warf Broko einen betretenen Blick zu. »Jedenfalls nicht, bis wir Euch kennenlernen.« Broko plusterte sich ein wenig auf und glättete seinen Mantel. »Die Drachenhorden überfielen das Land zum ersten Mal kurz, vor dem Goldenen Zeitalter. Der Eine schickte sie, damit die Bewohner des Landes nicht zu übermütig wurden und glaubten, sie würden schon zu Lebzeiten im Paradies wandeln. Denn dann wären sie nie bereit gewesen, in ihre wirkliche Heimat zurückzukehren. Selbst heute deuten noch Bezeichnungen wie Dragur-Wald daraufhin, daß die Drachen wirklich hier gewesen sind.« Broko schwieg und schöpfte Atem, dann sprach er weiter. »Ich habe die Geschichtsbücher, die über jene Zeiten berichten, studiert. Auch mein Vater lehrte mich vieles, 100
Dinge von denen Menschen wahrscheinlich keine Ahnung haben. Und da ich außerdem Gelehrter bin, habe ich sicherlich mehr Kenntnisse über die Vergangenheit als ihr.« Neds Augen waren, während er zuhörte, immer größer geworden. »Und sie laufen hier immer noch herum?« »Wer?« fragte Broko kurz angebunden. Er liebte es nicht, wenn jemand seine Vorträge unterbrach. »Die Drachen.« »Der letzte wurde in einer großen Schlacht, nicht weit von hier entfernt, erschlagen. Und das war lange vor unserer Zeit, Ned.« »Und gehörten sie zu unseren Feinden?« fragte Cranny. »Ich meine, machten sie mit Gorgolacs und Worlughs gemeinsame Sache?« »Sie gehörten zu dieser Brut. Die Finstere Königin hat sie geschaffen – so wie noch viele andere Ungeheuer aus ihrer Hand stammen.« »Nun, das geht einfach über meinen Verstand«, seufzte Ned. »Ich würde nur gern wissen, wo wir hier überhaupt sind und wie wir wieder herauskommen! Und wo sind unsere Freunde? Und wann bekommen wir jemals wieder etwas zu essen?« Broko hatte vor lauter Bewunderung über die Kunstfertigkeit seiner Vorfahren vollkommen vergessen, in welcher Gefahr sie noch immer schwebten. Er nahm die Hand von der reich verzierten Wand und ging ein paar Schritte mit gesenktem Kopf auf und ab. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt. »Ich denke, daß wir die Chance verpaßt haben, in Alanes Behausung einzudringen«, sagte er schließlich an seine Freunde gewandt. »Es würde uns nichts nützen, dorthin zurückzukehren.« Er schwieg und deutete hoch über ihnen auf das Drachenmaul. »Im übrigen haben wir keine Seile, und die glatte Wand können wir ohne Hilfsmittel nicht erklettern.« Wieder 101
schwieg er, bis die beiden die gesamte Tragweite seiner Worte begriffen hatten. »Das heißt also, wir sind hier gefangen?« platzte Ned schließlich heraus. »Das habe ich nicht gesagt, mein Freund. Ich kenne mich mit unterirdischen Bauwerken aus, vor allem wenn es sich um Zwergenbauten handelt. Wir werden diese Räumlichkeiten erforschen. Ich bin sicher, daß es noch andere Eingänge gibt, denn dieser hier sollte wohl offensichtlich nicht als Tür dienen.« Wieder deutete er zur Decke, während er sprach. »Aber wir haben weder zu essen noch zu trinken.« »Ich weiß, Cranny. Aber vielleicht finden wir später etwas.« »Die Sache gefällt mir nicht«, murrte Ned bei dem Gedanken, wieviel Ärger ihm der Zwerg schon gemacht hatte. »Mir auch nicht, Ned. Aber etwas anderes bleibt uns nicht übrig.« »Ja, wenn das so ist, machen wir uns am besten auf die Suche. Viel zu verlieren haben wir ja schließlich nicht.« »Du hast recht, alter Junge. Wir müssen sehen, daß wir das Beste aus unserer Situation machen.« Vorsichtig tastend berührte Broko den Schrein in seinem Mantel. Und als er ihn berührte, durchströmte ihn neue Kraft, und er schöpfte wieder Hoffnung. »Vielleicht sind wir nicht nur aus Zufall hier gelandet, und alles wendet sich zum Guten«, sagte er fröhlich zu seinen Kameraden. »Gut oder schlecht – ist doch völlig gleich; wir sind nun einmal hier«, entgegnete Cranfallow griesgrämig. »Schwätzen bringt uns überhaupt nicht weiter«, schimpfte Ned. »Dann laßt uns gehen. Haltet euch dicht hinter mir. Wahrscheinlich habe ich schon bald herausgefunden, wie dieses unterirdische Bauwerk konstruiert ist. Mein ganzes Leben habe ich solche Anlagen studiert.« 102
Als Brokos Worte verklungen waren, hörten die Gefährten ein leise kratzendes Geräusch. Sie standen vor Schreck wie erstarrt da. Und wieder war es zu hören, so als würde ein schwerer Felsbrocken über den Steinfußboden gezogen. Nach geraumer Zeit trat wieder Stille ein. Doch die Stille wirkte noch bedrohlicher als das Geräusch. »Was war das?« fragte Cranfallow flüsternd. Broko, der angestrengt lauschte, gebot seinem Freund mit einer ärgerlichen Handbewegung Schweigen. Er kniete nieder und preßte sein Ohr auf die kalte, glasartige Oberfläche des Bodens. In dieser Stellung verharrte er so lange, daß seine Freunde schon glaubten, er sei eingeschlafen. Ned wollte ihn gerade berühren, als der Zwerg sich wieder erhob. Er sah verwirrt aus, und in seinen Augen stand ein besorgter Ausdruck. »Es ist seltsam, aber irgend etwas scheint hier zu sein. Ich habe Fußschritte gehört, oder etwas, das ganz ähnlich klang. Und noch etwas, das ich nicht einordnen kann. Es klingt wie lautes Kratzen.« Cranny war aschfahl geworden. »Ihr meint, wir sind nicht die einzigen in dieser Schlangengrube?« »Nein. Und dies hier ist keine Schlangengrube. Hier lebten einst Zwergenkönige.« »Ich wollte Euch nicht beleidigen, Herr«, sagte Cranfallow lahm. »Aber ich habe die meiste Zeit meines Lebens an frischer Luft zugebracht. Und hier unten, wenn ich es mir recht überlege, komme ich mir wie in einem Grab vor.« »Wenn du nur überlegen würdest, dann könntest du wenigstens nicht soviel Unsinn daherschwatzen«, sagte Ned bissig, dem bei der Erwähnung des Grabes kalte Schauder über den Rücken liefen. Broko brachte beide zum Schweigen. »Wer auch immer die anderen sind, jedenfalls halten sie sich in dem Stockwerk unter uns auf. Dieses Bauwerk umfaßt wahrscheinlich drei Ebenen, so wie alle 103
Zwergenkonstruktionen. Also befinden wir uns entweder auf der ersten oder der zweiten Ebene. Es gibt einen Raum, wo alle Ebenen zusammentreffen. Danach müssen wir suchen, denn von dort aus gelangen wir zum Ausgang.« »Und was ist mit den anderen da, die gekratzt haben?« fragte Ned. Broko lächelte unglücklich. »Sie werden kaum mit den Geheimnissen eines Zwergenbauwerks vertraut sein«, sagte er, »außer es handelt sich um Zwerge. Und in diesem Fall haben wir nichts zu befürchten.« Er redete soviel, weil er Ned und Cranny in Sicherheit wiegen wollte, doch im Innersten war er zutiefst beunruhigt. Die Geräusche hatten geklungen, als ob es sich um viele handeln würde. Was für Wesen das waren, wußte er nicht, nur soviel war gewiß: Es waren weder Gorgolacs oder Worlughs noch Menschen. Und noch eins wußte er, dieses kratzende Geräusch bedeutete nichts Gutes. Aber er nahm seinen ganzen Mut zusammen, und die drei machten sich auf den Weg in den schwach erleuchteten Teil der großen Halle. Als sie den großen Torbogen in Schmetterlingsform durchschritten, konnte Broko sehen, daß die Räume, die vor ihnen lagen, immer schwächer beleuchtet waren. Und weit vorne herrschte vollkommene Dunkelheit. Jetzt vermißte er den Drachenstein, und Bitterkeit stieg in ihm auf. Wie sollte er je den Weg finden? Bald krochen sie alle drei auf Händen und Füßen durch die Finsternis und stießen überall an. Selbst das Atmen schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Und schlimmer noch als die Finsternis waren die Worte, die ständig ohne Brokos Willen in seinem Kopf herumschwirrten. Es waren Worte seines Vaters, die dieser einst vor dem gemütlichen Herdfeuer zu seinem Sohn gesprochen hatte. »Und als der Feind auf Atlanton Gestalt angenommen hatte, beschlossen die alten Zwergenfürsten, 104
sich in die Tiefe der Erde zurückzuziehen und keinen Handel mehr mit den anderen Königreichen zu treiben. Der Feind war mächtig und voller Hintertücke und pflanzte überall in die Herzen der Tiere, Elfen und Menschen die böse Saat des Neides und der Zwietracht. Und so riefen die Herrscher der Unterirdischen die Wächter zu Hilfe, damit sie die Eingänge zu dem Königreich unter der Erde bewachten.« Broko erschauderte und preßte den Schrein fest gegen sein klopfendes Herz.
18. Der Weg in die Tiefe Weder Bruinlen, Olther, Thumb oder eines der anderen Tiere hörte die sich nähernden tappenden leisen Schritte. Und keines der Tiere, auch nicht Flewingam, hatte die geringste Chance, sich gegen das glitschige Netz zu wehren, das geräuschlos über sie geworfen wurde und in dem sie wie in einem Käfig gefangen waren. Olther, den ein Schmerz in der Schulter weckte, hustete und spuckte, denn irgend etwas Glitschiges füllte seinen Mund aus. Doch der Schmerz wurde immer größer, und er merkte, daß er sich überhaupt nicht bewegen konnte, denn Bruinlen war im Schlaf über ihn gerollt und erdrückte ihn fast. »Bruinlen«, knurrte Olther ärgerlich, »du Tölpel liegst auf mir. Roll dich zur Seite!« Er war ungeduldig und wollte seinem Freund einen Fußtritt verpassen, damit der aufwachte. Doch zu seiner größten Verwunderung konnte er sich nicht bewegen. Er versuchte es noch einmal mit aller Kraft, aber irgendein sauer riechendes klebriges Zeug hielt ihn wie in einen Schraubstock gepreßt fest. Der Geruch kitzelte ihn in der Nase, und er mußte niesen. Dann verlor er das Bewußtsein. Die anderen waren noch nicht aufgewacht. Sie lagen jetzt 105
alle bewußtlos da und waren gefesselt. Das Netz roch schwach nach modriger Erde, und dieser Geruch hatte sie alle betäubt. Sie wurden von knorrigen Händen gepackt und tiefer in die Höhle gezerrt. Die Fesseln schnitten schmerzhaft in ihr Fleisch. Als die Morgensonne den Nebel auflöste, wurde langsam der Eingang zu Thumbs Höhle sichtbar. Mächtige Felsbrocken umgaben ein gähnendes Loch, das in die Tiefen der Erde zu führen schien, und daneben standen uralte moosbewachsene Bäume. Wäre Broko bei ihnen gewesen oder hätten die Freunde diesen Ort bei Tageslicht sehen können, sie wären niemals auf den Gedanken gekommen, dort Unterschlupf zu suchen, selbst auf die Gefahr hin, von den Gorgolacs entdeckt zu werden, so unheildrohend wirkte dieser Ort. Und Thumb, der die Höhle vor ein paar Jahren als Unterschlupf benutzt hatte, war jedoch dort nie über Nacht geblieben. Auch hatte niemand diesen stinkenden Platz näher erkundet. Er hatte ein bißchen gelogen, als er behauptete, Fornax hätte das getan, denn er wollte seine neuen Freunde nicht ängstigen. Er wußte nur, daß sie in dieser Höhle vor jedem Verfolger sicher wären und Menschen sie niemals benützten. Für ein paar Stunden wären sie dort gut aufgehoben, hatte er sich eingeredet. Doch jetzt schien er etwas Schlimmes zu träumen, denn er spürte feste, übelriechende Stricke um seinen Körper und versuchte vergeblich, sich daraus zu befreien. Plötzlich wußte er, daß er nicht träumte, doch dann überschwemmte ihn eine dunkle Woge, und er sank wieder in Bewußtlosigkeit. Und weiter und tiefer unter die Erde wurden die Kameraden gezerrt, in eine abgrundtiefe Dunkelheit, bis man sie schließlich auf der kalten weichen Erde liegenließ. Rote glühende Augen starrten sie an. Ein Rumpeln schreckte Flewingam aus einem Alptraum auf, und beim schwachen Licht, das diese rotglühenden 106
Augen ausstrahlten, konnte er schwach erkennen, wie sich eine Wand bewegte und sie in einem riesengroßen Raum einschloß. Die glühenden Augen waren hinter der Steinwand verschwunden. Er stieß einen Warnruf aus, doch durch die Anstrengung wurde er wieder bewußtlos. Nur seine Stimme hallte von den nackten Wänden wieder, bis sie erstarb. Nichts rührte sich. Der mächtige Berg über ihnen erzitterte, als ob Leben in ihm wäre. Dann stieß er einen Seufzer aus, und alles erstarrte in schwarzem, totenähnlichem Schweigen.
19. In der unterirdischen Zwergenfestung »Auauauau«, heulte Ned bei jedem Schritt. »Was ist los, Ned?« fragte Broko ärgerlich, denn er konnte in dieser gräßlichen Finsternis nicht einmal seine Nasenspitze sehen. »Ich habe mir das Schienbein an so einem fiesen Stein gestoßen«, stöhnte Ned. »Laßt uns umkehren, es ist doch sinnlos, hier in der Dunkelheit umherzuirren. Diese Gänge führen nirgendwohin. Wir sollten zurückgehen und versuchen, durch das Loch in der Decke hier herauszukommen. In dieser Schlangengrube rennen wir uns doch nur die Köpfe ein.« »Dies ist keine Schlangengrube, merk dir das, mein lieber Ned«, fuhr Broko ihn gereizt an, obwohl er selbst nicht recht wußte, warum er so wütend war. Wahrscheinlich konnte er es nicht vertragen, daß jemand über ein Bauwerk seiner Ahnen schimpfte. Außerdem hatte er den Verlust des Drachensteins noch nicht verwunden. Cranfallow tappte unsicher näher zu Broko hin, betastete dessen Mütze, um sich zu vergewissern, daß er tatsächlich den Zwerg und nicht irgendein Monster vor sich hatte, und sagte: »Ned fürchtet sich nicht vor Gespenstern, Broko, und mir jagen sie auch keinen Schrecken ein. Aber wir sind schließlich keine Maulwürfe und können in der Finsternis nicht so gut 107
sehen wie Ihr. Ned hat recht, wir haben hier nichts verloren, obwohl ich weiß, daß Ihr zaubern könnt. Wir müssen umkehren und den Weg zurückgehen, den wir gekommen sind.« Cranfallow verstummte, beugte sich herab, damit er Brokos Gesicht sehen konnte, erkannte aber nur vage die Umrisse unter der Mütze. Der Zwerg war vor Wut über die Aufsässigkeit seiner Freunde rot angelaufen, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer häßlichen Grimasse, was seinen Kameraden aber glücklicherweise verborgen blieb. »Wie könnt ihr es wagen, derart an diesem Ort hier herumzunörgeln? Nie wurde euresgleichen die Ehre zuteil, auch nur einen Fuß in ein ähnlich wunderbares Bauwerk zu setzen. Diese Hallen hier wurden von den alten Herrschern, den Königen der Unterirdischen, geschaffen.« Brokos Stimme hatte sich zu einem schrillen Kreischen gesteigert. Ned streckte nun zitternd die Hand aus, weil er ihn beruhigen wollte. »Regt Euch nicht so auf, Broko, wir wollten Euch nicht beleidigen«, sagte er besänftigend. Doch Broko stieß ihn unwirsch beiseite. »Wie kannst du dich erdreisten, einen Nachkommen des Coin zu berühren?« sagte er frostig. »Niemand zwingt euch zu bleiben. Geht, wohin ihr wollt, wenn es euch hier nicht gefällt.« »Wir weichen nicht von Eurer Seite, Herr«, sagte Cranfallow begütigend. »Gemeinsam haben wir Schlimmes überstanden, die Schlacht bei den Sieben Hügeln überlebt, und Ihr wißt genau, daß wir keine Drückeberger oder ehrlose Gorgolacs oder Worlughs sind, die bei den ersten Anzeichen von Gefahr kneifen und einen Kameraden im Stich lassen. Wenn Ihr unbedingt weiter durch dieses Labyrinth irren wollt, folgen wir Euch, komme, was da wolle.« Er holte tief Luft, denn auch er hatte angefangen zu schreien. »Und es ist gemein von Euch, so zu Euren Freunden zu sprechen«, beendete Cranfallow seine 108
Protestrede beleidigt. Brokos Finger umschlossen krampfhaft den Schrein in seinem Mantel, und er war im Begriff, einen Zauberspruch zu murmeln. Ohnmächtige Wut stieg in ihm auf, die jedoch urplötzlich einem wunderbaren Gefühl Platz machte, und eine kühle, wohlriechende Brise umwehte seinen glühenden Kopf. Die mächtige, beruhigende Kraft des Schreins übertrug sich auf ihn und durchströmte sein Herz, glättete die überschäumenden Wogen seines Temperaments und stimmte ihn friedlich. Der schwanenförmige Turm von Lorinis Schloß in Cypher glitt einem Traumbild gleich an ihm vorüber, und der kühle Morgenwind führte die Düfte des östlichen Gartens und seiner üppigen Blumenpracht mit sich. Vor seinen Augen tanzten die leuchtenden blauen und purpurroten Blütenblätter in einem farbenprächtigen Reigen, und Lorinis sanfte Stimme drang wie das Säuseln des Windes an sein Ohr. Ihre Worte waren nicht verständlich, doch allein der Klang ihrer Stimme gab ihm neue Hoffnung und Lebensmut. Wie zartes Glockengeläut perlte fröhliches Gelächter auf, das Broko an die wunderbaren Singenden Brunnen erinnerte, die ihre schillernden Fontänen im Rhythmus der Lieder der Elfen, der Melodien ihrer sonnenfarbenen Flöten und der volltönenden Harfen hoch aufsteigen ließen. Cybelles betörend schönes Gesicht schob sich vor diese Vision und schien zum Greifen nahe. Ein Aufschrei entrang sich Brokos Lippen, und er fiel in sich zusammen, als hätte ihn ein Schlag niedergestreckt. Sein Körper wurde von krampfartigen Zuckungen geschüttelt, stöhnendes Schluchzen kam aus seiner Kehle, bis endlich eine befreiende Tränenflut die düstere Verzweiflung, die ihn seit Betreten des Dragur-Waldes zu ersticken gedroht hatte, hinwegschwemmte. Ned klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter, die tröstlichen Worte kamen als heiseres Krächzen aus seinem Mund, und er weinte ebenfalls. »Broko, wir sind zwar nur 109
armselige, nutzlose Kreaturen und Eurer Freundschaft nicht würdig«, stammelte er. »Als einfache Soldaten wissen wir mit all dem nichts anzufangen, wir haben nur das Kriegshandwerk erlernt.« »O Ned, du Narr«, polterte Broko da los und umarmte linkisch seinen verstörten Freund. »Merkst du denn nicht, daß ein mächtiger Zauber mich gefangenhält? Es liegt in der Natur eines Zwerges, daß er unter der Erde mürrisch und reizbar wird. Der Anblick dieses Bauwerks, das meine Vorfahren angelegt haben, hat mir für einen Moment den Verstand geraubt. Ich kann gar nicht sagen, wie leid es mir tut.« »Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen, Broko. Wir wissen, welch große Last Ihr zu tragen habt, ohne Euch wären wir verloren. Wir sollten uns wegen unserer Zweifel und unseres Gejammers schämen, wo es doch auf der Hand liegt, daß eine Umkehr sinnlos wäre und wir hier nie wieder herauskommen würden.« »Ganz meine Meinung«, murmelte Cranfallow und versuchte, seine Freunde in der Dunkelheit zu erkennen. Alle drei verfielen daraufhin in Schweigen und tasteten in der stockdunklen Nacht umher, bis sie sich endlich die Hände schütteln und einander aufmunternd auf die Schultern klopfen konnten. Mit jeder Faser seines Seins spürte Broko die schier unerträgliche Gespanntheit der Atmosphäre in diesem Zwergenbau. Alle Bücher, die er je gelesen hatte, wurden in ihm lebendig und erfüllten ihn mit einem übermächtigen Gefühl der Herrlichkeit im Gedanken an seine Vorfahren und deren fanatische Loyalität zueinander. Unzählige Geschichten berichteten von Verrat und Betrug im Umgang mit Menschen, Elfen und den Königen der Tiere, und tiefverwurzelt in seiner Seele trug Broko noch immer dieses grimmige Mißtrauen, das sich gegen alle jene richtete, die nicht dem Geschlecht der Zwerge angehörten. Dann dachte Broko an seine tiefe und langjährige Freundschaft mit 110
Olther und Bruinlen, mit Greyfax und Faragon und an die beiden treuen Gefährten, die ihm auch jetzt wieder in dieser neuen gefährlichen Situation tapfer zur Seite standen. Wäre er in üblicher Zwergenmanier erzogen worden und hätte er länger unter seinesgleichen gelebt, er wäre dem Zauber dieser Höhlen unweigerlich verfallen. Doch war er immer ein Einzelgänger gewesen und hatte einen Großteil seines Lebens mit anderen Geschöpfen verbracht und bei ihnen Vertrauen und Freundschaft gefunden, die das ihm angeborene Mißtrauen milderten. Und so führten ihn diese Gedanken zu Olther, Bruinlen und Flewingam und die Gefahren, die sie zu bestehen hatten. Broko erinnerte sich wieder an seine Aufgabe, den Schrein jenseits des Großen Flusses vor dem Zugriff der Finsteren Königin in Sicherheit zu bringen. Das kleine Kästchen in seinem Mantel wurde plötzlich so schwer, daß es ihn fast zu Boden drückte. Instinktiv ahnte er, daß auf seinen Schultern die entsetzliche Last der Verantwortung für das Schicksal Atlantons ruhte und er seinen Weg bis zum bitteren Ende gehen mußte. Broko dachte an Greyfax, und er wunderte sich, daß der Zauberer ihm, seinem Schützling, nicht zu Hilfe kam. Der kostbare Schrein war in den Händen eines kümmerlichen kleinen Trupps – bestehend aus zwei Tieren, einem Zwerg und deren Kameraden. Greyfax, Melodias oder Faragon mußten doch wissen, in welch großer Gefahr sie schwebten, und sie retten oder zumindest den Heiligen Schrein an sich nehmen. Doch dann schüttelte der Zwerg entschlossen diese trübsinnigen Gedanken ab und lächelte beschämt wegen seiner Zweifel am Ring des Lichts. Er war dazu ausersehen, allein mit der schweren Aufgabe fertigzuwerden – jedenfalls jetzt –, und mußte sein Bestes geben. Er wollte eben einige aufmunternde Worte an Ned und Cranny richten, als aus einer der Höhlen irgendwo zu ihrer Rechten wieder das seltsame kratzende Geräusch zu hören war. »Da ist es wieder«, flüsterte Ned mit aschfahlem Gesicht. 111
»Wir hören dieses Gekratze schon, seit wir hier stehen«, stimmte Cranny zu. »Ich weiß nicht, was es ist. Jedenfalls gefällt es mir ganz und gar nicht, das kann nichts Gutes bedeuten.« »Ich glaube, ich weiß, was es damit auf sich hat«, bekannte Broko bedrückt, »und du hast recht, Cranny, es bringt nichts Gutes.« Angestrengt lauschte Broko in die Dunkelheit und sprach dann weiter. »Vor langer Zeit, als die Herrscher des Unterirdischen damit begannen, dieses Bauwerk anzulegen, lebten die verschiedenen Königreiche im Frieden miteinander, die Grenzen waren offen, und man konnte ungehindert reisen. Das war natürlich lange bevor die Finstere Königin die Macht an sich gerissen hatte. Viel später dann – wann, kann ich nicht genau sagen – wurde dieser Friede gestört, und meine Ahnen brachen den Kontakt zu anderen Lebewesen ab. Während der schlimmen Zeiten der Drachenkriege und danach zogen sie sich in ihre unterirdischen Bauten zurück und verbarrikadierten ihr Königreich gegen die Außenwelt. Um sich und die Zugänge vor Eindringlingen zu schützen, riefen sie die Geister der Erde und der Felsen, die tief im Gestein verborgen sind, zu Hilfe. Diese Wächter, wie sie genannt werden, sind Wesen, wie sie keiner von uns jemals gesehen hat. Und sie überstanden alle Wandel der Zeiten, sie stammen noch aus den ersten Tagen der Schöpfung allen Lebens. Meine Vorfahren besaßen die Macht, sie zu rufen.« Broko holte tief Luft, denn er hatte sehr schnell gesprochen, weil er von dem Bedürfnis angetrieben wurde, seinen Kameraden zu schildern, was ihnen bevorstand. »Diesseits von Calix Stay habe ich viele Zwergenburgen besichtigt, doch sie wurden viel später errichtet, und keine Wächter beschützen ihre Eingänge. Die Anlage hier entstand ebenfalls in den Urzeiten, und die überirdischen Eingänge werden von diesen Erdgeistern bewacht. Zum Glück sind wir versehentlich durch einen der geheimen 112
Eingänge hier hereingekommen.« »Dann sind diese Kreaturen also so eine Art Wachhunde?« stieß Ned entsetzt hervor. »Richtig, Ned. Die Fürsten dieser unterirdischen Festung und ihre ganze Sippe scheinen umgekommen oder über den Großen Fluß geflohen zu sein. Nur die Wächter sind zurückgeblieben und soviel wir wissen, sterben sie nicht, solange sie mit einer Aufgabe betraut sind. Sie bewachen nach wie vor die Eingänge zu diesem Bauwerk.« »Jetzt verstehe ich auch, warum die unermeßlichen Schätze in der Halle dort hinten nicht geplündert wurden«, sagte Cranfallow. »Dort liegen mehr Edelsteine, als ein König der Menschen je besessen hat.« »Und es erklärt auch, warum keine Gorgolacs oder Worlughs hier hausen. Denn diese Gänge wären ein ideales Versteck für sie. Nicht einmal die Finstere Königin kommt an diesen Wächtern vorbei.« »Das ist ja recht gut und schön, Broko, und ich bin auch dankbar dafür, daß sie ein paar Worlughs und Gorgolacs, die sich hierher verirrten, verschlungen haben. Aber was wird aus uns? So wie Ihr die Wächter geschildert habt, zählen sie wohl nicht zu den freundlichsten Zeitgenossen, die uns liebevoll begrüßen werden.« »Stimmt, Ned. Sie sind weder Freund noch Feind. Sie stehen nach wie vor in den Diensten der Zwergenfürsten und sind an ihre Aufgabe gebunden. Und sie werden ihre Pflicht erfüllen, bis jemand sie davon entbindet und sie erlöst. Irgendwo habe ich gelesen, daß diese Wesen Geister des Bösen sind und zur Strafe für ein Unrecht, das sie einst begangen haben, hier umherirren, bis jemand sie befreit, damit sie dorthin zurückkehren können, woher sie gerufen wurden.« »Dann droht uns eigentlich keine Gefahr?« fragte Cranfallow ängstlich. »Nicht hier drinnen«, antwortete Broko grimmig. »Zumindest brauchen wir nicht zu befürchten, daß jemand 113
hier eindringen kann, und sind damit sicher vor bösen Überraschungen.« »Na, das beruhigt mich ja ungemein«, seufzte Ned erleichtert. »Ganz recht, insofern haben wir nichts zu befürchten. Unser Problem ist – wie kommen wir hier heraus«, gab Broko zu bedenken. Ned und Cranfallow schnappten hörbar nach Luft. »Heißt das, diese Biester lassen auch niemanden mehr hinaus?« »So ist es. Leider. Die alten Zwergenfürsten gaben ganz strikte Anweisungen. Sie allein kannten das Geheimnis, und ohne ihre Einwilligung durfte niemand die Festung betreten oder verlassen. Sie hatten Angst vor Verrätern in den eigenen Reihen – in jeder Sippe gibt es ja schwarze Schafe. Und um zu verhindern, daß ihr Versteck verraten oder andere Geheimnisse preisgegeben wurden, ließen sie alle Pforten mit Wächtern besetzen, die niemanden herein- oder hinausließen.« »Dann sind wir hier auf ewig begraben«, stöhnte Ned verzweifelt, und in der Finsternis hallten seine Worte wie ein böser Fluch wider. »Noch sind wir nicht verloren, Ned. Kopf hoch, alter Junge.« »Wir sind ihnen hilflos ausgeliefert«, knurrte Cranny. »Wir werden hier elendig verhungern.« »Ja, ihr beide allein, ihr würdet nach ein, zwei Tagen verhungern oder verdursten.« Ned und Cranny überliefen tödliche Schauder. »Doch davor bewahrt euch eine winzige Kleinigkeit – ihr seid in Begleitung eines Zwerges.« »Der uns die letzten Stunden mit verrückten Zaubergeschichten verschönern wird, obwohl uns ein gräßliches Ende trotzdem nicht erspart bleibt«, erwiderte Ned verbittert. »Vielleicht doch«, murmelte Broko geheimnisvoll. »Es kommt nur darauf an, ob diese Wächter 114
in mir einen Fürsten der Unterirdischen erkennen. Wie wär's, wenn der Zwergenzauber dir zur Abwechslung einmal Glück bringen würde, Ned?« Ned starrte seinen kleinen Freund durchdringend an. Ihm war, als hätte er ein unterdrücktes Glucksen, das sich wie Lachen anhörte, vernommen. Und das, dachte er entmutigt, kann wohl nur Schlimmes bedeuten.
20. In der Dunkelheit gefangen Tief unter dem Gang, in dem Broko und seine Gefährten beratschlagten, was zu tun sei, senkte sich beißender Frost über die Gruft, in der Olther gefangen lag. Keuchend rang er nach Luft, die Dunkelheit und die übelriechenden Stricke, mit denen er gefesselt war, betäubten seine Sinne. Die Finsternis war so undurchdringlich, daß er nicht wußte, ob seine Augen offen oder geschlossen waren. Bei jedem Versuch, sich zu bewegen oder gar aufzurichten, schnitten die Fesseln schmerzhaft in seine Glieder. Erschöpft gab er auf und lag bewegungslos, halb ohnmächtig da, atmete ganz flach und lauschte dem keuchenden Schnarchen seiner Freunde neben ihm. Flewingam stöhnte und krächzte unverständliche Worte in seinem unnatürlichen Schlaf. Olther raffte alle seine Kräfte zusammen und rief mit erstickter Stimme: »Bruinlen, kannst du mich hören?« Ein dumpfes Grollen, dann ein gereiztes Schnauben waren die einzige Antwort. »Bruinlen, alter Freund«, sagte Olther drängend, »wach auf.« Der große Bär hustete und fragte dann mit schwankender Stimme: »Olther?« »Hier, hier bin ich«, zwitscherte Olther erleichtert. »Was ist passiert?« »Keine Ahnung. Ich bin über und über mit Schleim bedeckt.« 115
»Ich auch. Kannst du dich daraus befreien?« Bruinlen gähnte geräuschvoll und ausgiebig. »Ich könnte es versuchen, wenn ich nur nicht so müde wäre. Ich werde erst einmal ein Nickerchen machen.« »Tu's nicht!« rief Olther befehlend. »Wir sind hier in großer Gefahr. Ich weiß zwar nicht, was passiert ist, aber wir liegen hilflos gefesselt in einer Höhle.« Bei dem Wort »Höhle« wackelte Bruinlen sofort mit den Ohren, und sein verwirrter Geist gaukelte ihm vor, er läge in seiner alten Behausung. Gierig dachte er an den Honig, den er dort eingelagert hatte. »Mmmh, ein, zwei Tropfen Honig und eine Scheibe Brot, das würde mir jetzt schmecken«, murmelte er träumerisch und wollte aufstehen. Grausam schnitten die groben Fesseln in seinen Pelz, und mit einem schmerzhaften Aufschrei ließ Bruinlen sich zurückplumpsen. »Wie, zum Teufel, soll ich aufstehen können, wenn du auf mir liegst«, schimpfte er wütend. »Mir scheint, Flewingam liegt hier neben uns.« »Oh, Bruinlen, du Tölpel, verstehst du denn nicht, was passiert ist ? Wir sind im Schlaf überrumpelt und gefangengenommen worden. Sie haben uns gefesselt.« Bruinlen ließ diese Neuigkeit in sein benebeltes Hirn einsickern und versuchte angestrengt, Ordnung in seine chaotischen Gedanken zu bringen. »Wo sind wir?« fragte er schließlich verwirrt. »Ich habe keine Ahnung. Ich kann mich nur noch erinnern, daß wir uns hingelegt haben, um noch ein, zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang zu schlafen. Thumb hatte uns zu einem Unterschlupf geführt.« »Ist Thumb auch hier? Und Flewingam, und die anderen?« »Ich glaube schon.« Bruinlen wälzte sich schwerfällig auf die Seite, knurrte vor Schmerzen und keuchte vor Anstrengung. »Verdammt, 116
womit wurden wir nur gefesselt«, grunzte er und zerrte hilflos an den Stricken, die dadurch nur noch tiefer in seinen Pelz schnitten. Erschöpft gab er auf. »Es ist sinnlos«, brummte er schließlich entmutigt. »Bei jeder Bewegung werden diese Dinger nur noch enger.« »Aber wir müssen etwas unternehmen. Wir können doch nicht einfach hier liegenbleiben«, keuchte Olther außer Atem, der all seine Geschicklichkeit und Wendigkeit einsetzte, um aus den Fesseln herauszuschlüpfen. Er wand sich wie ein Aal, drehte sich um sich selbst, zappelte wie ein Fisch, doch der Druck der kalten, feuchten Stricke um seinen Hals und die Hinterpfoten verstärkte sich derart, daß er zu ersticken drohte. Die Atemnot versetzte ihn in hysterische Panik, und er unterdrückte mühsam den Impuls, sich noch einmal mit aller Kraft aufzubäumen. Sonst hätten die Fesseln ihn erdrosselt. Bewegungslos lag er da und spürte erleichtert, daß der Druck nachließ. Würgend rang er nach Luft. »Es hilft nichts«, stieß er keuchend hervor, »ich kann diese ekelhaften Dinger nicht sprengen.« »Kannst du dich so nahe an mich heranschieben, daß ich sie mit den Zähnen erreichen kann? Vielleicht kann ich sie dann durchbeißen.« Bruinlens Magen revoltierte bei dem Gedanken, diese übelriechenden Stricke in den Mund zu nehmen, doch die entsetzliche Angst vor dieser eiskalten Finsternis und der gespenstischen Stille machte ihn fast verrückt. Er fürchtete sich nicht vor Höhlen, denn dort hatte er sein Leben lang gehaust. Doch dieser Ort hier war so stockfinster und unheimlich, daß er ihn mehr an eine Gruft als an eine Höhle erinnerte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als hier wegzukommen, egal wohin. Das Schweigen war weit unheilvoller und schauerlicher als die bedrückende Stille, die in dem unterirdischen Wasserlauf, der nach Havamal zum alten Rosenbrunnen führte, geherrscht hatte. Eiskalte Schauer liefen Bruinlen über den 117
Rücken, als er daran dachte, wie nahe sie damals dem Tod gewesen waren. Er verscheuchte diese beängstigende Erinnerung und bemühte sich krampfhaft, einen Ausweg aus dieser aussichtslosen Situation zu finden. Die Fesseln drohten ihn zu ersticken, und eine undurchdringliche Schwäche lähmte seine Lebensgeister. »Vielleicht gelingt es mir, den Strick um meinen Hals durchzubeißen«, quietschte da Olther aufgeregt. »O pfui Teufel, wie der stinkt!« »Aber wir müssen es versuchen«, drängte Bruinlen verzweifelt. »Es wird dir jedenfalls den Appetit verderben und jeden Gedanken an Hunger vertreiben. Ich kann sicher eine ganze Weile nichts mehr essen.« Bei der Erwähnung von Nahrung wurde Bruinlens Herz schwer, und er dachte wehmütig an die Fäßchen mit Honig, die ihm vorhin im Traum zum Greifen nahe schienen. »Das mag für dich ja zutreffen, mein Freund, doch ich bin vom Hunger so geschwächt, daß ich bald keine Kraft mehr habe, irgend etwas zu zerbeißen.« Olther erwiderte nichts darauf, und Bruinlen hörte nur das regelmäßige Knirschen der kräftigen Zähne des kleinen Kerls. Bruinlen neigte den Kopf bis auf die Brust, und es gelang ihm, seine Schnauze unter den Strick zu schieben, der seine Tatzen umschlang. Angeekelt preßte er die Augen zusammen, versuchte den gräßlichen Geruch zu ignorieren und biß mit aller Kraft in den dicken Knoten. Es schmeckte wie vergorene Rinde, und das Tau war steinhart. Bruinlen hielt die Luft an und kaute verbissen weiter. Seine Augen tränten, seine Nase lief, und die Überreste der letzten kärglichen Mahlzeit stiegen ihm in die Kehle. Tapfer kaute er weiter und zermalmte den gräßlichen, schleimigen Strick zwischen seinen kräftigen Zähnen. Triumphierendes Getschirpe neben ihm erschreckte ihn derart, daß er aus Versehen beinahe ein Stück des halb zerkauten Strickes verschluckt hätte. 118
Hustend und spuckend platzte er heraus: »Willst du mich umbringen, Olther? Sei doch still, ich hätte mich beinahe vergiftet.« »Ich kann mich bewegen, Bruinlen«, zwitscherte Olther unbeirrt weiter und stieß eine Reihe von schrillen Pfiffen aus. »Eine Pfote habe ich schon frei.« Noch ehe Bruinlen antworten konnte, raschelte und kratzte es neben ihm, er hörte die Zauberworte, die die Umwandlung in Menschengestalt bewirkten. Die Fesseln schnitten noch einmal schmerzhaft in Olthers Brust, dann ließ der Druck nach, und seine Hände waren frei. »Geschafft«, rief Olther mit seiner Menschenstimme. »So ist diese unförmige Gestalt doch zu etwas nütze. Ich habe alle Fesseln, bis auf den Strick um meine Beine, zerrissen.« Bruinlen fühlte Hände, die seinen Körper abtasteten und die Fesseln so weit lockerten, daß er sich aus dem engen Netz herauswinden konnte. »Hat Flewingam noch sein Messer?« fragte Olther hastig. Bruinlen setzte sich auf und schüttelte die stinkenden Taue ab. »Das wird sich gleich feststellen lassen. In dieser verdammten Finsternis kann man ja nichts sehen.« Blindlings tastete er umher, bis seine Tatzen Flewingams Gesicht berührten, dann seinen Körper abklopften, bis er endlich den kalten Knauf des Dolches fühlte. »Hier, ich habe ihn gefunden.« »Prima. Schneide jetzt die anderen los. Ich versuche inzwischen herauszufinden, wo wir sind und wie diese verdammte Höhle aussieht.« Olther richtete sich auf. »Auauau«, heulte er auf, denn er hatte sich den Kopf gestoßen. »Dieses Verlies scheint nicht sehr hoch zu sein«, murmelte Bruinlen. »Zu niedrig für diese ungelenke Gestalt«, erwiderte Olther, wiederholte die Zauberformel und schlüpfte in seine gewohnte Form. Zufrieden wedelte er mit dem Schwanz und setzte seinen Erkundungsgang fort. Bruinlen hatte beinahe die schwierige Aufgabe 119
vollbracht, seine Gefährten von den Fesseln zu befreien – er mußte sehr vorsichtig zu Werke gehen, um niemanden zu verletzen –, als er Olthers Stimme weit weg hörte. »Ich bin auf Wasser gestoßen, Bruinlen. Es fühlt sich jedenfalls an wie Wasser. Es ist naß, aber der Geruch gefällt mir nicht. Es scheint sich nicht zu bewegen, ich kann keine Strömung feststellen.« Ein dumpfes Aufplatschen ertönte, dann ein Prusten und hektisches Plätschern. »Scheint ein stehendes Gewässer zu sein, vielleicht ein toter Flußarm«, rief Olther. »Soweit ich feststellen kann, ist er nach einer Seite offen.« »Was hast du noch entdeckt?« »Felswände, sehr niedrig und nirgendwo ein Lichtschimmer.« »Keine Öffnungen oder weitere Höhlen?« »Nein, nichts dergleichen, bis jetzt jedenfalls«, fügte Olther noch hinzu und kämpfte gegen seine aufsteigende Mutlosigkeit an. Sie hatten sich zwar von den Fesseln befreien können, doch anscheinend gab es keinen Ausweg aus dieser Felsenkammer, in der sie gefangen waren. Als er auf Wasser gestoßen war, hatte ihn hoffnungsvolle Freude erfüllt. Doch die ölige Oberfläche und der abgestandene faulige Geruch ließen ihn befürchten, daß es sich dabei um totes Gewässer handelte, wie es oft in tiefen Brunnenschächten anzutreffen war. In der stockdunklen Nacht dachte Olther plötzlich an all die unheimlichen Wesen, die in dem Wasser lauern konnten, und erschrocken sprang er von dem glitschigen Rand zurück. Die Wasseroberfläche befand sich auf derselben Ebene wie der kalte, glatte Felsboden, der unvermittelt steil abfiel. »Wie tief ist es?« fragte Bruinlen, der sich vorsichtig näherschob. »Das weiß ich nicht. Es ist mir unheimlich.« »Könnte es sich vielleicht um einen überfluteten Schacht handeln, aus dem das Wasser nicht mehr abfließen kann? Dann ist es kein Flußarm oder Brunnen, sondern nur ein 120
Teich in diesem Tunnel.« Olther überlegte einen Moment. »Du könntest recht haben, Bruinlen. Die Wände sind sehr niedrig und erheben sich direkt aus dem Wasser. Kein Ufer, keine Böschung begrenzen es.« »Dann laß uns doch ein Stück hineinwaten, um herauszufinden, wohin es führt.« »Alle anderen Seiten sind von solidem Fels blockiert, dies scheint die einzige Öffnung zu sein, die ein Weiterkommen ermöglicht«, stimmte der kleine Otter widerstrebend zu. »Aber der Gedanke, darin zu schwimmen, behagt mir überhaupt nicht.« Olther spürte, wie Bruinlen an ihm vorbei zum Wasser ging, und hörte dann ein keuchendes Luftschnappen. »Brrrr, es ist eiskalt«, sagte Bruinlen mit klappernden Zähnen. »Sei vorsichtig, der Rand ist glitschig.« Dann folgte ein dumpfes Aufplatschen, und eine Wasserfontäne spritzte auf. Seine Warnung war zu spät gekommen. Der Wasserstrahl hatte Olther voll getroffen, er prustete und schüttelte die eiskalte Nässe aus seinem Pelz. »Bruinlen«, heulte er auf, »bist du in Ordnung? Iiiiih, wie scheußlich kalt es ist.« »M-m-mir f-f-fehlt n-n-nichts«, stotterte Bruinlen, seine großen Zähne klapperten laut. »Ich kann stehen, es ist nicht tief.« Unter lautem Platschen sprang Bruinlen zurück auf den trockenen Felsboden und schüttelte sich kräftig. »Auch eine Möglichkeit, die Spinnweben aus dem Kopf zu vertreiben«, stotterte er frierend. »Oder sich Frostbeulen zu holen«, erwiderte Olther ärgerlich. »Jedenfalls wissen wir jetzt, daß es nicht tief ist«, sagte Bruinlen beleidigt und schüttelte sich noch einmal. »Was ist denn da los?« erkundigte sich Flewingams schwache Stimme. »Oh, Flewingam, hast du endlich ausgeschlafen? Wir sind schon lange wach, haben ausgiebig gefrühstückt und ein erfrischendes Bad genommen.« 121
»Frühstück?« Hoffnungsvolle Erwartung kräftigte seine Stimme. »Aber warum ist es so finster? Es müßte doch längst Tag sein.« »Ist es auch«, belferte Olther zurück, »nur nicht in diesem elenden Loch hier.« »Eine Höhle? Ich hatte mich schon über das Echo gewundert.« »Höhle nennt er das«, grollte Bruinlen. »Es ist ein Loch, in dem sich nicht einmal ein Wurm wohlfühlen würde.« Tiefes Brummen und Grunzen kündigte an, daß auch Thumb und die anderen Bären aufgewacht waren. »Hallo, wo sind wir?« schrie Lilly und begann heftig zu niesen. »Steh nicht auf, Flewingam. Du stößt dir sonst den Kopf.« »Wo sind wir?« fragte nun auch Thumb. »Ruhig, Lilly, weine nicht«, tröstete Bruinlen die aufgeregte Bärin. Nun sprachen plötzlich alle auf einmal, und das laute Stimmengewirr wurde von den Felsmauern zurückgeworfen und verstärkte den Lärm. Olther geriet zweimal versehentlich unter große Bärentatzen, und trotz Bruinlens Warnung stieß Flewingam mit dem Kopf gegen die niedrige Decke. »Ich bin blind, ich bin blind«, schrien Storm und Elam hysterisch. Alle stolperten übereinander und trampelten in panischer Angst aufeinander herum. Olther brachte sich in Richtung des Wassers in Sicherheit. »Seid doch endlich still, ihr beiden«, schimpfte Thumb die zwei jungen Bären und verpaßte beiden einen kräftigen Knuff. Bram, Ham, Lilly, Cress und Cryis stöhnten leise, und tiefes Grollen kam aus ihren Kehlen. »Ruhe, seid sofort still!« brüllte Thumb. »Wie sollen wir einen klaren Gedanken fassen, wenn ihr so einen Lärm macht? Ich kann ja mein eigenes Wort nicht verstehen.« »Ganz recht«, stimmte Bruinlen zu. »Bleibt endlich stehen, wo ihr seid, damit wir feststellen können, ob wir vollzählig sind. Es ist so dunkel, daß ich mich nicht einmal selbst sehen kann.« »Endlich mal ein vernünftiger Vorschlag«, brummte 122
Thumb. »Thumb, seid ihr vollständig?« »Das hast du doch eben selbst gehört.« »Gut. Und auch Olther und Flewingam sind hier, und ich natürlich auch.« Bruinlen verstummte, zwickte sich kurz, um sich zu vergewissern, daß er tatsächlich anwesend war, und sagte dann: »Jetzt laßt uns beraten, was zu tun ist.« »Da gibt es nicht viel zu beraten«, warf Olther düster ein. »Wir sind von Felsen umgeben, der Schacht mündet auf einer Seite im Wasser. Leider besitzen wir nicht die Gabe, durch Felsen zu gehen, so sehr uns das auch im Moment helfen würde. Also bleibt uns nur der Weg durch diese eklige Brühe, oder wir bleiben hier, bis uns jemand findet, oder wir warten auf unsere Freunde, die uns hierhergebracht haben.« »Dann müssen wir durch das Wasser oder was immer es ist«, entschied Flewingam, verschwand im Schacht und tauchte eine Hand in die ölige Brühe. »Es scheint ein Tunnel zu sein, der vielleicht hier herausführt. Es ist nicht tief, wir können hindurchwaten.« »Hoffentlich trifft zu, was du sagst, Bruder. Dann wollen wir nicht länger kostbare Zeit vergeuden und sofort aufbrechen.« Thumbs Stimme zitterte ein wenig, und er hoffte inständig, daß sich niemand daran erinnern möge, daß er es war, der vorgeschlagen hatte, an diesem entsetzlichen Ort Unterschlupf zu suchen. »Also seid ihr alle damit einverstanden, wir gehen jetzt durchs Wasser. Hier, haltet euch an diesem stinkenden Ding fest«, sagte Bruinlen und reichte ihnen ein Ende des schleimigen Strickes, mit dem sie gefesselt gewesen waren. Um in dem fauligen Pfuhl nicht zu ertrinken, hatte Olther wieder Menschengestalt angenommen, so war er größer und konnte kräftiger ausschreiten. Er zog den Kopf ein, ergriff den glitschigen Strick und reicht ihn an Flewingam weiter. »Du, Thumb, achtest darauf, daß alle aus deiner Sippe sich daran festhalten. Wir wissen nicht, was uns da vorne erwartet, und wollen nicht riskieren, einen von uns zu 123
verlieren.« Bruinlen hielt die Luft an und stieg vorsichtig in das eiskalte Wasser, das ihm bis knapp unter die Knie reichte. »Vorwärts. Haltet euch am Seil fest. Versucht so leise wie möglich zu sein.« Lautes Schnaufen und Prusten, gedämpftes Quietschen und Kreischen erfüllte die niedrige Höhle, als die Kameraden einer nach dem anderen in das kalte, ölige Wasser stiegen. »E-e-es i-i-ist s-s-so k-k-kalt«, schnatterte Lilly, die hinter Flewingam ging. »Überaus erfrischend«, brummte Bruinlen, biß die Zähne aufeinander und stellte sich vor, er würde durch einen der Gebirgsbäche waten, in denen er sich in seiner alten Heimat jenseits des Calix Stay so gerne vergnügt hatte. Und da fiel ihm auch wieder ein, daß sie ja auf dem Weg dorthin waren, um den Heiligen Schrein in Sicherheit zu bringen. Die Erinnerung an den vergangenen Tag stieg in ihm auf, und er dachte an Broko, glaubte ihn verloren, vielleicht sogar in der Gewalt der Finsteren Königin, und die Trauer um seinen Freund raubte ihm jede Hoffnung. Entsetzt stellte er fest, daß das Wasser ihn nun bis zur Brust reichte. »Und keine Aussicht auf ein anständiges Frühstück«, schimpfte er halblaut vor sich hin, stapfte jedoch entschlossen und grimmig weiter und verbannte alle düsteren Gedanken aus seinem Kopf. Er klammerte sich verbissen an den Wunsch, irgendwo wieder die goldenen Strahlen der Sonne zu sehen und eine leichte Brise zu fühlen, die seine Stirn kühlte. Unterdrücktes Stöhnen und angeekelte Ausrufe durchbrachen die Stille der unheimlichen Gruft, angstvoll keuchten seine Gefährten, als das Wasser ihnen ans Kinn reichte, doch tapfer stapften sie weiter, bis die kleinste, Lilly, ihre Tatzen Flewingam auf die Schulter legen mußte, um nicht in der pechschwarzen Brühe zu versinken. Bruinlen drohte Panik zu überwältigen, als er fühlte, wie der Grund sich nach unten neigte, und er befürchtete, daß 124
sie alle ins Bodenlose sinken würden. Und da hörte er plötzlich den Klang tiefer Stimmen.
125
Vierter Teil Fern von Sonne und Himmel
126
2l. Der Gesang der Dunklen Stimmen »Aus Zeit und Staub Und dunkler Erde, Aus stillen Wassern Wurden wir geboren. Fern von Sonn' und Himmel Leben wir, Wo jedes andre Wesen Wär' verloren. Wir sind die Wurzeln, Dem ewigen Leben auserkoren.« Bawoooom. Bawoooom. Der Schacht erzitterte unter dem rhythmischen Dröhnen von Steinen, die aufeinanderprallten. Es hörte sich an, als würden Riesen laut schallend in die Hände klatschen. Felsstücke bröckelten aus der Decke, und eine dichte Wolke feingemahlenen Gesteinstaubs senkte sich auf die Gefährten. »Ihr schwachen Sterblichen, Was habt ihr hier verloren ? Wir sind die Wurzeln, Dem ewigen Leben auserkoren.« Bawoooom. Bawoooom. Bruinlen sprang stolpernd zurück und quetschte Olther gegen die Tunnelwand. »Zurück, zurück!« schrie Bruinlen in panischer Angst und kam japsend wieder auf die Beine. In wilder Panik fielen die Tiere übereinander. Entsetzen ergriff die kleineren Bären, wild schlugen sie um sich und flohen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Gellende Angstschreie dröhnten in dem niedrigen Schacht, und sie ließen den Strick fahren, der sie miteinander verbunden hatte. 127
Flewingam fühlte, wie ihm das Tau aus den Händen gerissen wurde; im selben Moment fiel die mächtige Gestalt Bruinlens auf ihn, und er fürchtete, in diesem chaotischen Rückzug ertränkt zu werden. Bruinlen hatte sich über ihn hinweggewälzt. Prustend und spuckend tauchte er jetzt zur Wasseroberfläche auf und half Olther auf die Beine, der ebenfalls niedergestoßen worden war. Olther holte tief Luft und rief mit aller Autorität, die er in seine zitternde Stimme legen konnte: »Könige der Tiere sind wir, von jenseits des Großen Flusses, Sucher des Lichts und Getreue der Herrscherin Cyphers. Olther, Nachfahre des Großen Othlinden, Und Bruinlen, aus dem Geschlecht Bruinthors. Gewährt uns Einlaß, Denn wir kommen ohne Haß, Und laßt uns in Frieden ziehen.« »Bawoooom, bawoooom«, dröhnten die Steine erneut, die Erde bebte, und die tiefen hohlen Stimmen hallten von allen Seiten wider. »Eure Rede klingt gut, Nun faßt neuen Mut. Könige der Tiere sind immer willkommen vor unseren Toren. Lang ist es her, Daß wir den Treueeid geschworen. Wir sind die Wurzeln, Dem ewigen Leben auserkoren.« Bawoooom. Bawoooom. »Erlaubt mir eine Frage, Exzellenzen: Verfügt ihr über 128
Licht?« zwitscherte Olther höflich, »damit wir euch sehen können?« Bawoooom. Bawoooom. »Licht gibt es hier ja weit und breit, O edler Fremder. Die Wurzeln seh'n Nur in der Dunkelheit, Ohne Augen, Ohne Ohren. Wir sind die Wurzeln, Dem ewigen Leben auserkoren.« »Könntet ihr uns hier herausführen, ihr Herren? Da ihr kein Licht habt, könntet ihr uns freundlicherweise die Türen zeigen, dann brauchen wir euch nicht länger zu belästigen.« Bawoooom. Bawoooom. »Wurzeln kennen keine Türen, Keine Wege, die aus der Dunkelheit führen. Sie sind in der Nacht geboren. Wir sind die Wurzeln, Dem ewigen Leben auserkoren.« »Verzeiht mir«, bat nun Flewingam, »kennt ihr wirklich keinen Weg, der nach oben führt?« Bawoooom. Bawoooom. »Nur in die Tiefe, unsrer Heimat zu, Führt jeder Pfad. Doch Zwergenfürsten, vor langer Zeit, Gruben Schächte, Mächtig breit. Auf ihnen erreicht man den hellen Tag.« »Wenigstens haben sie uns diesmal das ›Wir sind die Wurzeln, dem ewigen Leben auserkoren‹ erspart«, wisperte 129
Olther in Flewingams Ohr. Doch bei der Erwähnung von Zwergenfürsten hatte er aufmerksam die Ohren gespitzt. »Wenn ihr gestattet«, ließ sich nun Bruinlen, der seine Fassung wiedergefunden hatte, von weiter hinten vernehmen, »würde ich die edlen Herren gern danach fragen, wo wir uns hier befinden.« »Bawoooom, bawoooom«, antworteten die Steine. »Ihr seid bei den Wurzeln«, kam die simple Erklärung. »Ihr habt von Zwergenfürsten und Festungen gesprochen. Gehört dieser Tunnel zu einem dieser Bauwerke?« fragte Flewingam, der den Eindruck gewonnen hatte, daß die seltsamen hohlen Stimmen zwar nicht feindlich klangen, ihre Worte aber nicht gerade von übermäßiger Klugheit zeugten. Bawooooom. Bawooooom. »Erst kamen wir, dann bauten Zwerge Höhlen. Doch sie quälten und sie stachen uns, Verletzten unsere Seelen.« Bawooooom. Bawooooom. Völlig verwirrt sagte nun Olther mit einem leicht verdrießlichen Unterton in der Stimme: »Das muß nicht sehr angenehm für euch gewesen sein, doch ich hoffe, es geht euch jetzt wieder gut. Aber wir befinden uns in einer recht mißlichen Lage und wären euch überaus dankbar, wenn ihr uns Hinweise geben könntet, die uns weiterhelfen würden. Bitte versteht mich recht, als euch damals dies Unrecht geschah, haben wir noch nicht gelebt, und uns fehlt jede Fähigkeit, hier unter der Erde zu existieren. Wir müssen einen Weg nach draußen finden.« Bruinlen räusperte sich. »Hmmhmm. Wißt ihr, hier unten fühlen wir uns nicht wohl. Ich bin ein Bär, der zwar auch in Höhlen schläft und ißt, aber dies hier …« – mit einer weit 130
ausholenden Geste deutete er auf seine Umgebung – » … hat damit keinerlei Ähnlichkeit.« Bawoooom. Bawoooom. »Draußen? Wo ist draußen?« dröhnten die dunklen Stimmen. »Draußen«, erklärte Flewingam, »ist irgendwo dort oben, über der Erde.« Bawooom. Bawooooom. »Sprecht ihr etwa von der Außenwelt?« fragten die dröhnenden Stimmen ungläubig. »Jahrtausende schon leben wir hier, Und keine Wurzel sah je die Außenwelt, Dort droben wären wir verloren. Wir sind die Wurzeln, Dem ewigen Leben auserkoren.« »Ja, wir meinen die Außenwelt, wie ihr sie nennt«, zwitscherte Olther. »Für uns bedeutet es das Tor zurück in das Leben, wo wir hingehören, versteht ihr mich?« Bawoooom. Bawoooom. »In alten Büchern steht zu lesen, Daß Wesen auch weit oben leben. Doch wir sind niemals dort gewesen.« »Wenn ihr nur eine Fackel auftreiben würdet, könntet ihr sie hier in voller Lebensgröße bewundern«, sagte Bruinlen bissig, denn der langatmige Sermon dieser hohlen Stimmen ging ihm allmählich auf die Nerven. Kaum wahrnehmbar zunächst, dann zunehmend stärker, hatte sich um sie ein trüber, grauer Lichtschimmer ausgebreitet. Es war eigentlich kein Licht, sondern vielmehr eine schimmernde Dunkelheit, ein gespenstisches Glimmen. Phosphoreszierende Schatten überzogen jetzt die Felswände und die Decke. 131
»Was ist das?« quiekte Lilly und stieß vor Schrecken Flewingam unter die ölige Wasseroberfläche, als sie unkontrolliert um sich schlug. Unmittelbar vor Olther hatte sich etwas bewegt, glitt wie ein Schatten aus der Finsternis ins trübe Licht, kaum wahrnehmbar; es war nur eine flüchtige Bewegung im grauen Dunst. Bawooooom. Bawooooom »Jetzt sehen wir euch. Wenn auch nur undeutlich und bleich Von weitem, Ihr Könige aus alten Zeiten.« Vorher hatten die Gefährten geglaubt, die Stimmen kämen von irgendwo aus der undurchdringlichen Finsternis vor ihnen, und nun schienen sie direkt aus den Wänden um sie herum zu dröhnen. In nächster Nähe nahm die graue, formlose Masse eines Felsen die groben Umrisse eines unförmigen Gesichtes an. Die Nase wirkte wie ein gemeißeltes Dreieck, und dort, wo die Augen zu vermuten waren, schimmerten lumineszierende Kreise in mattem, silbriggrauem Licht. Olther näherte sich zögernd der Wand, und als sich seine Augen an das düstere Licht gewöhnt hatten, entdeckte er, daß der ganze Schacht plötzlich von diesen verschwommenen, gesichtsähnlichen Umrissen belebt wurde. »Ah, vielen Dank, so ist es besser. Jetzt können wir wenigstens etwas erkennen. Danke, ihr guten Wurzeln«, sagte Bruinlen überschwenglich und blickte sich erleichtert um. Bawoooom. Bawoooom. »Es ist das erste Mal seit unzähligen Zeitaltern, daß wir unsere dunklen Augen öffnen. Selten dringen Reisende in unser Reich ein.« »Das kann ich mir gut vorstellen«, stimmte Flewingam zu. »Obwohl der Ort doch gar nicht so übel ist. Ich meine, 132
es kann ja ganz gemütlich hier sein.« »Oh, bitte«, flehte Lilly, »könnt ihr uns den Weg dorthin zeigen, wo wir hergekommen sind?« Flewingam machte sich auf eine erneute Attacke der aufgeregten Bärin gefaßt, doch diesmal versuchte sie nicht, ihn unterzutauchen. »Nach draußen gibt es keine Türen, Nur Wege, die nach innen führen, Außer einem schmalen Pfad, Der seinen Ausgang tief unter dem Urstrom hat.« »Also doch!« rief Olther. »Habe ich euch recht verstanden, es gibt tatsächlich einen Weg, der hier herausführt?« Er hatte sich nun ganz an das dunstige graue Licht gewöhnt und gesehen, wie sich die Lippen der Wurzeln beim Sprechen bewegt hatten. Die Mauern erbebten, und die dröhnenden Stimmen stiegen aus den tiefsten Tiefen der Erde empor. »Oh, wie wunderbar«, sang Lilly und patschte aufgeregt ihre Tatzen zusammen. »Bald dürfen wir hier heraus.« Bruinlen machte sich wieder bemerkbar. Beschämt versuchte er, seine panische Flucht nach hinten wieder wettzumachen. Er stand jetzt neben Thumb. »Das ist ja alles ganz gut und schön, aber wo ist denn dieser Pfad, der nach draußen mündet? Und was heißt Urstrom? Gibt es denn hier unten nichts zu essen oder wenigstens frisches Wasser zu trinken?« Bruinlen war um einen beiläufigen Tonfall bemüht, doch bei der Erwähnung von Nahrung kamen ihm die Worte doch recht gepreßt aus der Kehle. Er war jetzt fest davon überzeugt, daß seine Angst vorhin nur auf seinen Hunger zurückzuführen war. Bawooooom. Bawooooom. »Nahrung und Wasser gibt's hier zu jeder Zeit, Doch der Urstrom fließ in der Tiefe, 133
Viele Meilen weit Unter den zweiten Ebenen, Den noch nie eines Lebewesens Fuß betreten.« »Meilen? Zweite Ebenen?« keuchte Bruinlen. »Keiner von uns würde dort lebend ankommen«, stöhnte er entsetzt. »Kopf hoch, alter Freund«, zwitscherte Olther. »Noch sind wir nicht verloren. Jetzt wissen wir wenigstens, daß es einen Weg nach draußen gibt.« »Das wird uns verdammt viel nützen«, schnauzte Bruinlen ihn an. »Wir werden alle verhungert sein, noch ehe wir in die Nähe dieses mysteriösen Ausgangs kommen.« »Das glaube ich nicht, Bruinlen«, widersprach Olther und wandte sich wieder an die geisterhaften Wesen. »Wie gelangen wir in diese Höhle, die ihr vorhin erwähntet, ihr Herren?« Bawooooom. Bawooooom. Ein tiefes Grollen erschütterte den Schacht, und die Wände schienen zu wanken. Wieder senkte sich eine Wolke feinen Gesteinstaubs über die Gefährten, und der glatte Felsboden unter ihren Füßen schien zu beben. Unverständliches Gemurmel drang aus den Wänden. Die Wurzeln berieten sich untereinander, Olther hörte verschiedentlich Bemerkungen wie »zu schläfrig« und »der Weg ist viel zu weit«. Fels rieb sich wieder knirschend an Fels; das wäßrige Licht flackerte wiederholt auf, und alles deutete darauf hin, daß die Wurzeln eine Entscheidung getroffen hatten. Eine tiefe Stimme ertönte. »Hier spricht Kore, die Wurzel. Ich werde euch zum Urstrom und darüber hinaus begleiten.« »Vielen Dank, Kore«, antwortete Olther. »Das ist sehr freundlich von Euch.« »Werden Euch Eure Freunde nicht begleiten?« fragte Flewingam. 134
»Wir Wurzeln sind gemächliche und bedächtige Wesen und überstürzen nichts. Meine Freunde bleiben hier, um abzuwarten, was der morgige Tag bringt.« »Morgen«, brummte Bruinlen ungehalten, »werden wir alle wohl verhungert oder verdurstet sein.« Bawooooom. Bawoooooom. »In diesen Wassern wohnt eine magische Kraft, Die jedem Dürstenden Erquickung verschafft.« »Brrrr. Das mag ja für Wurzeln gelten, doch mir ist es zu brackig«, bemerkte Thumb angewidert. Er hatte Bruinlen damit aus der Seele gesprochen. Flewingam schöpfte mit der hohlen Hand einige Tropfen Wasser und benetzte die Lippen damit. Er verzog das Gesicht, schloß die Augen und schluckte die übelriechende Flüssigkeit. Olther stieß einen Warnschrei aus, doch es war bereits zu spät. Ein Ausdruck grenzenlosen Erstaunens breitete sich auf Flewingams Gesicht aus. Weit riß er die Augen auf, schnappte kurz nach Luft und schluckte noch einmal. »Ist es vergiftet?« fragte Olther schrill. »Es schmeckt gut«, stotterte Flewingam noch ganz ungläubig, beugte sich hastig nieder und trank gierig von dem schwärzlichen Wasser. »Es fühlt sich auch gar nicht schlecht an«, warf nun Lilly ein, die sich nur mühsam hatte zurückhalten können, von dem Wasser zu trinken. Ihre Angst war größer gewesen als ihr Durst, und gespannt hatte sie beobachtet, wie dieser Mensch die Kostprobe vertragen würde. Bawooooom. Bawooooom. »Die Nahrung der Wurzeln ist magischer Trank. Wir genießen sie schon eine Ewigkeit lang.« Die Gefährten platschten nun fröhlich in der brackigen Brühe umher und bespritzten sich gegenseitig. Nachdem sie 135
ihren Widerwillen vor dem üblen Geruch endgültig überwunden hatten, tranken sie mit langen, gierigen Schlucken. Bruinlen hatte sich ebenfalls an dem erfrischenden Trunk gelabt und wandte sich nun an Lilly. »Du mußt nicht glauben, daß ich vorhin wirklich Angst hatte. Nur die Besorgnis um euch Grünschnäbel ließ mich umkehren. Als Anführer trage ich schließlich die Verantwortung und konnte nicht blindlings ins Verderben stolpern.« Zustimmung heischend blickte er in die Runde, doch niemand achtete auf seine Erklärung. Alle waren ausgiebig damit beschäftigt, ihren Durst mit der wunderbaren Wurzelnahrung zu stillen. »Ihr nährt euch also von diesem Strom«, bemerkte Olther höflich. Er hatte sich wieder an seine guten Manieren erinnert und bemühte sich, diese seltsamen neuen Verbündeten für sich zu gewinnen. Ein hohl klingendes Dröhnen erhob sich als Antwort und erschreckte die Gefährten, bis sie merkten, daß es Gelächter war. Die Wurzeln schüttelten sich vor Lachen in ohrenbetäubendem Getöse. »Unsere Gäste essen nicht mit ihren Füßen«, dröhnte Kores Stimme. Bawoooom. Bawooooom. »Sie senken zum Trinken die Köpfe, die armen Tröpfe«, hallten die anderen Stimmen als Echo wider. Verwirrt blickte Olther sich um und erkannte dann, was die Wurzeln so sehr belustigte. Sie sogen die Nahrung aus dem Wasser durch das, was man als ihre Füße bezeichnen konnte. »Nun, wir haben Münder, wie ihr seht«, erklärte er. »Für ein Leben, wie ihr es führt, sind wir nicht gut ausgerüstet, aber wir gehören ja auch nicht hierher.« Bawooooom. Bawooooom. »In der Tat, in der Tat, folgen wir schnell dem Pfad, dann kann ich umkehren und meine Nahrung verzehren.« »Wir sind bereit, Meister Kore, Herr«, verkündete 136
Bruinlen, der wieder die Führung übernommen hatte. »Und könntet Ihr bitte Eure Augen offenlassen, damit wir wenigstens etwas sehen können?« zwitscherte Olther bittend. »Wir sind sehr unbeholfen und nicht dafür geschaffen, uns in der Finsternis zurechtzufinden.« »Ich werde euch vorangehen und euch leuchten, bis zum Urstrom. Danach werdet ihr meine Augen nicht mehr brauchen und den Weg ohne mich finden.« Kore setzte sich langsam in Bewegung. Eine Lawine aus Fels und Gestein schien auf die Gefährten herabzupoltern, als sich vor ihnen eine graue Wand bewegte und auseinanderbrach. Unter dröhnendem Krachen löste sich ein Felsbrocken in Gestalt eines Mannes aus der Mauer und entschwand mit erstaunlicher Behendigkeit in dem Tunnel vor ihnen. Bawooooom. Bawooooom. »Lebt wohl, ihr Fremden, gute Reise. Wir bleiben hier und leben weiter auf unsere Weise. Dort oben im Licht wären wir verloren. Denn wir sind die Wurzeln, Dem ewigen Leben auserkoren.« »Lebt wohl, ihr lieben Wurzeln. Und habt Dank«, riefen die Gefährten im Chor. Dann eilten sie, so schnell sie konnten, auf das graue Licht zu, das weit vorne fahl auf dem Wasser schimmerte. Als sie die letzte der riesigen, unförmigen Wurzeln passierten, verlosch das wäßrige Licht, das sie verbreitet hatten, abrupt, und gurgelnd und glucksend setzten die Wurzeln ihr Mahl fort. »Wir müssen ihnen ja wie die letzten Barbaren vorkommen, so wie wir in ihrer Nahrung herumstiefeln«, bemerkte Olther beschämt zu Flewingam, der neben ihm durch das Wasser watete. »Ich glaube nicht, daß es ihnen etwas ausmacht. Nicht 137
viele Besucher werden sich hierher verirren. Und ihre Tischmanieren lassen auch zu wünschen übrig.« »Ich wette, wir waren die einzigen Gäste, die sie jemals hatten«, brummte Bruinlen über die Schulter zurück. Er schämte sich noch immer, weil er so unziemlich das Hasenpanier ergriffen hatte. »Das scheint mir nicht so, Bruder«, widersprach Thumb von hinten. »Im trüben Licht sah ich ausgebleichte Knochen herumliegen.« Ein Schauder überlief die Gefährten, und sie hasteten weiter. »Ich hoffe nur, ihre Suppe wird nicht tiefer«, brummte Bruinlen verdrießlich, denn die Wasseroberfläche war wieder stetig gestiegen. Bald darauf hatten sie Kore eingeholt, der weit vorne im Tunnel auf sie gewartet hatte. Als sie sich ängstlich um die dicke Wurzel scharten, schwappte ihnen das Wasser ums Kinn, und die kleineren Tiere hatten den Boden unter den Füßen verloren und wurden mühsam hinterhergezogen. Olther widerstand tapfer der Versuchung, in seine Tiergestalt zu schlüpfen und übermütig im Wasser umherzuschwimmen. Lilly war nahe daran, wieder in Tränen auszubrechen, als Kores unförmige Gestalt das Wasser in wogende Bewegung versetzte. Eng aneinandergeklammert folgten die Gefährten der davonhuschenden schattenhaften Gestalt der Wurzel, die in der Düsternis vor ihnen zu entschwinden drohte.
22. Ein kurzer Blick in die Ewigkeit »Der Schein trügt, meine Königin, die Macht Eurer Finsteren Schwester über Atlanton schwindet«, verkündete Cephus, der Hüter der Sterne, der am hohen Fenster saß, durch das er in das sternenübersäte Universum Windameirs hinausblickte. »Wie das, Cephus? Hat sie nicht mein Kind in ihrer Gewalt? Und fällt nicht eben im Moment Cypher in 138
die Hände ihrer Horden?« Lorinis Stimme klang alt, der singende Tonfall ihres Timbres hatte allen Zauber verloren. Ihr Gesicht war sehr blaß, und die sonst klaren graublauen Augen blickten matt und trübe. »So ist es, meine liebe Tochter. Wir leben in schrecklichen Zeiten. Doch das Blatt wird sich wenden. Die Gefahr ist noch nicht gebannt, das ist offenkundig, und böse Zeiten drohen uns allen, falls der Schrein verlorengeht. Aber unser guter Greyfax hat alle Geschöpfe in der Ewigkeit zusammengerufen, und Faragons Armeen stehen an der Schwelle zu einem glorreichen Sieg in jenem Reich, das er nun betreten hat. Und dieses Reich ist ein Bestandteil der verschiedenen Reiche, die gemeinsam die komplexe Form Atlantons und der anderen Welten bilden. Und wie Ihr wißt, besteht sogar Hoffnung, Origin und Maldan zurückzuerobern.« Cephus verstummte und sprach dann mit sanfterer Stimme weiter. »Denn diese beiden Welten gingen nur verloren, weil sie nicht den Vorzug hatten, von Cyphers Königin Lorini beschützt zu werden, so wie Atlanton jetzt. Auch die Fünf Geheimnisse des Rings des Lichts konnten damals nichts zur Verteidigung dieser Reiche beitragen, da sie nicht vereint waren.« »Hat das Schicksal mich dazu ausersehen, hier zu verweilen?« »Für eine gewisse Zeit, ja, meine Tochter. Doch die Stunde naht, die Euch an den Ort Eurer Sehnsüchte zurückführen wird.« »Ich werde meine Pflicht erfüllen, Cephus. Viele Aufgaben warten noch auf mich, ehe ich für immer in jenes Reich zurückkehren kann.« »Ein wahres Wort, meine liebe Königin. Eure Zeit ist noch nicht gekommen. Das Werk unseres Herrschers ist noch zu vollenden, und wir alle müssen den Weg gehen, den der Eine uns bestimmt hat.« »Können wir mit Greyfax in Verbindung treten?« 139
»Ich will es versuchen. Vielleicht können wir ihn kurz sehen.« »Ja, das würde ich gerne tun.« Cephus erhob sich und schritt über den glänzenden Boden, der silbern glitzerte und funkelte wie ein reflektierender Spiegel, und in dem sich das Leuchten unzähliger Sterne brach. Dann nahm er ein golden gebundenes Buch von der obersten Reihe des Bücherregals und legte den schweren Folianten auf den langen perlgrauen Tisch. »Hier werden wir ihn finden«, lächelte er und schlug den Band ungefähr in der Mitte auf. Die blendendweißen Seiten explodierten in einem Feuerwerk greller Flammen, und sanfte Musik erfüllte den Raum mit Flöten- und Harfenklängen. Als Lorini sich über die Seiten beugte, huschte eine graue Wolke darüber hin, blutrote Blitze durchzuckten die blau- und grüngefärbten Ränder. Dichter Nebel stieg auf, verflüchtigte sich wieder und gab den Blick auf einen brennenden Fluß aus geschmolzenem Gelb frei, der aus einem Gebirge hervorsprudelte, dessen blaue Gipfel von einem zarten Schleier aus glitzerndem Schnee und Eis gekrönt war. Fast im selben Augenblick wälzten sich erbittert kämpfende Armeen über eine weite Ebene purpurroten Lichts dahin, und im Zentrum der Schlacht erkannte Lorini Greyfax Grimwalds vertraute Gestalt. Er trug einen seltsam geformten Helm, der mit einem dichten Netz aus Zweigen von den mächtigen Bäumen, die dort wuchsen, bedeckt war. Greyfax' Gesicht war finster und grimmig. Heftige Kämpfe umtobten ihn, doch er blickte auf, direkt in Lorinis besorgte Augen, und seine düstere Miene wurde von einem hoffnungsvollen Lächeln erhellt. Sein Blick war klar und strahlend. Des Zauberers Lippen formten Worte, die jedoch in dem fürchterlichen Kampfeslärm der aufeinanderprallenden 140
Armee unhörbar waren. »Was sagt er?« rief Lorini Cephus zu, denn der Raum war von explodierenden Feuersalven und dem Knattern der Gewehre erfüllt. Dröhnendes Kampfgeschrei brach sich wie donnernde Wogen an felsigen Klippen. »Er ist guten Mutes und macht uns Hoffnung. Dort auf dieser Ebene schlägt er eben eine entscheidende Schlacht.« »Und wo ist Faragon?« »Jenseits der Grenzen dieses Reiches. Auch er wird aus dem Kampf als Sieger hervorgehen.« »Darf ich ihn sehen?« »Ja, doch nur ganz kurz. Ihr werdet ihn nicht leicht erkennen.« Cephus lachte leise vor sich hin, so als hätte er eine freudige Überraschung für Lorini. Er blätterte eine der großen weißen Seiten um, und da erblickten die beiden einen sehr ernst aussehenden Mann, der an einem Tisch saß und sich ebenfalls über ein dickes Buch beugte. Unzählige seltsam geformte Schreibgeräte und zerknüllte Blätter lagen unordentlich in dem kleinen Raum herum, dessen Wände mit Bücherregalen bedeckt waren. Die Gestalt an dem Schreibtisch zerknüllte eben ein weiteres Blatt Papier und warf es wütend zu Boden. Drei oder vier weitere Zornesausbrüche folgten, bis die schlanke Gestalt zu bemerken schien, daß sie beobachtet wurde, und mürrisch aufblickte. Erstaunlicherweise funkelten die Augen amüsiert, und die grimmigen Falten um den Mund verschwanden in einem fröhlichen Lachen. Dieses Gesicht hatte Lorini noch nie zuvor gesehen, und doch wußte sie sofort, daß die gebeugte Gestalt dort ihr ungestümer Fairingay war. »Was in aller Welt macht er da?« fragte Lorini, völlig verwirrt durch die seltsame Vision, die das Buch preisgab. »Er tut dasselbe mit seiner Feder, was Grimwald mit dem Schwert vollbringt.« 141
»Aber sollte Fairingay nicht eine Armee aufstellen und damit für den Ring des Lichts in den Kampf ziehen?« »Das hat er bereits getan«, fuhr Cephus fort und blätterte einige Seiten zurück. Diese Seite führte sie ebenfalls mitten hinein in ein Schlachtgetümmel. Hoch zu Roß ritt Faragon Fairingay an der Spitze eines Heeres hochgewachsener blonder Krieger, deren glänzende Schilde ein golden funkelndes Wappen trugen. Eine Seite davor erschien derselbe Fairingay in dunkelgrüner und grauer Kleidung, eine kurze Feuerwaffe im Arm. Eine andere Seite zeigte den jungen Faragon als alten, gebeugten Mann nahe an einem wärmenden Kaminfeuer sitzend; er war von vielen strahlenden jungen Gesichtern, die voll Ehrfurcht und Liebe zu ihm aufblickten, umgeben. Dann folgten etliche Seiten, die Greyfax an verschiedenen Schauplätzen in fantasievollen Verkleidungen zeigten. Alle diese Bilder wirbelten in einem bunten Kaleidoskop durcheinander und verwoben sich zu einem farbenprächtigen Gobelin, der aus dem Buch emporzusteigen schien. Zwischen den Seiten, die Faragon und Greyfax zeigten, tauchten Melodias und Greymouse, den Mitgliedern des Rings des Lichts als Mithramuse Cairngarme bekannt, auf. Eine Seite enthüllte Lorini für einen kurzen Moment den Anblick Cybelles. In Lumpen gekleidet saß sie neben einer älteren Lorini am Rand eines kühlen grünen Reichs inmitten einer kleinen Lichtung, die von Hollunderbüschen umgeben war. Rund um die beiden Frauengestalten kauerten hagere, erschöpfte Männer, den gehetzten, argwöhnischen Ausdruck der Gejagten im Gesicht. »Genug!« schrie Lorini entsetzt auf. »Das kann ich nicht ertragen.« »Wie Ihr wünscht, meine Tochter. Obwohl keine der Visionen Anlaß zur Mutlosigkeit bietet.« »Was haben sie zu bedeuten ? Ich verstehe ihren Sinn 142
nicht.« »Sie zeigen uns ganz einfach, daß wir nur unsere Rollen weiterspielen werden, so wie sie uns vorgeschrieben wurden. Jeder hat sein Schicksal zu erfüllen.« Bedächtig schloß Cephus den Folianten und stellte ihn vorsichtig an seinen Platz im Regal zurück. »Ohne Zusammenhang gesehen, ergeben diese einzelnen Bilder nichts als ein verwirrendes, unverständliches Chaos. Doch in all dem wohnt ein Sinn, den wir nicht sehen oder verstehen können.« Cephus drehte sich zu Lorini um und lächelte sie traurig an. »Ein Leitfaden zieht sich durch Zeit und Raum, durch unser Leben, bis wir allmählich erkennen, welch tiefgründige Bedeutung dahintersteckt.« Ein leises Lachen erklang. »Erst dann verstehen wir, und alles fügt sich zu einem Bild zusammen. Erst wenn alles vorüber ist, entdecken wir, welche Rolle uns zugedacht war und wo unsere Bestimmung liegt.« »Und wohin führt das alles? Wo liegt unsere Bestimmung?« »Wir kehren heim, meine Liebe. Dorthin, wo wir Ruhe finden werden.« Ehe Lorini Cephus weitere Fragen stellen konnte, betrat ein Page den Raum, verneigte sich vor ihr und sprach dann zu dem alten Mann. »Verzeiht, Herr. Erophin wünscht, daß Ihr sofort zur Ratsversammlung kommt.« »Hat er gesagt, worum es geht?« fragte Cephus und hüllte sich bereits in seinen Mantel. »Er sprach von einem Zwerg, Herr.« »Dann tut Eile not. Die Verantwortung liegt allein auf den Schultern dieses kleinen Kerls, weil er den Schrein verwahrt.« »Darf ich Euch begleiten, Cephus?« fragte Lorini. »Wie Ihr wünscht, doch dürfen wir keine Zeit verlieren. Ich befürchte Schlimmes, wenn Erophin sich gezwungen sieht, den Rat einzuberufen.« 143
Unverzüglich eilten sie durch die Gänge und Räume, bis sie die hohe Ratshalle erreichten, deren weite Fenster auf die Sternenhimmel Windameirs hinausblickten. An einem niedrigen Schreibtisch beugte sich eine Gestalt über eine kleine Scheibe, die in grellweißem Licht erstrahlte. Helle Flammen züngelten daraus empor und überzogen Erophins Bart und seine Stirn mit blendenden Strahlen. Weitere Mitglieder des Rats saßen schweigend in dem weitläufigen Raum und warteten geduldig, bis Erophin das Wort an sie richten würde. Lorini war den meisten Mitgliedern des Rings des Lichts zuvor schon einmal begegnet, doch sie sah hier auch Gesichter, die ihr unbekannt waren. Nach einer Weile löste Erophin den Blick von der glühenden Scheibe; er sah müde und erschöpft aus. »Ah, wie schön, daß Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beehrt, meine Königin. Kommt näher, setzt Euch neben mich.« Erophin deutete auf einen kunstvoll geschnitzten Sessel an seiner Seite. »Lorini dürfte euch allen bekannt sein, obwohl sie einige fremde Gesichter hier entdecken wird.« Mit dem Kopf wies Erophin auf einen alten Mann zu seiner Rechten. »Caliman«, stellte er vor, »Königin Lorini.« Der alte Mann verneigte sich höflich. »Ein Freund Eures Vaters«, erklärte Erophin kurz. »Und das ist Alomen.« Alomen, ein stämmiger, lebenslustiger, älterer Mann mit fröhlichen blauen Augen, winkte Lorini lächelnd zu. »Ich habe euch hierhergebeten, um euren Rat einzuholen«, eröffnete Erophin die Sitzung. »Ihr spracht von einem Zwerg, Erophin. Ich nehme an, er ist der Grund für diese Versammlung?« fragte Cephus. »Richtig. Der Eine hat mir eine Nachricht zukommen lassen, die von äußerster Dringlichkeit ist.« Erophin berührte die kleine Scheibe vor sich auf dem Schreibtisch, und eine zarte Melodie erfüllte den Raum, die aus den Tiefen des nun nur noch matt schimmernden 144
Objekts aufstieg. »Meine Königin, Ihr werdet unverzüglich in Euer altes Reich zurückkehren. Nein, nicht nach Cypher, das wäre im Moment zu gefährlich. Jenseits des Calix Stay, in den Beginning Mountains, werdet Ihr auf die Ankunft unseres kleinen Freundes und seiner Gefährten warten. Sie werden Eure Hilfe bitter nötig haben.« »Können wir ihr das nicht ersparen, Erophin? Sie ist erst kürzlich von dort zurückgekommen und hatte kaum Zeit, sich von den schrecklichen Geschehnissen in Cypher zu erholen«, sagte Cephus besorgt und berührte beruhigend Lorinis Arm. »Ich weiß, meine liebe Lorini. Dies ist eine weitere schwierige Aufgabe, mit der Ihr betraut werdet. Doch ich kann Euch versichern, es dient auch der Erfüllung Eures sehnlichsten Wunsches.« »Cybelle?« flüsterte Lorini. »Ja, meine Königin. Und dann werdet Ihr eine Form des Daseins erreichen, die frei von quälenden Wünschen und Begierden ist. Doch steht es nicht in unserer Macht, unser Schicksal zu befragen oder es gar lenken zu wollen. Unser Los ist in dem Buch fest verankert, nur der Wille des Einen zählt. Wir können den Lauf der Dinge nur manchmal etwas beschleunigen, doch unserer Bestimmung entgehen wir nicht. Eine Rückkehr nach Cypher ist nicht vorgesehen. Jenseits des Calix Stay werdet Ihr Eure Aufgabe erfüllen und uns dabei helfen, den Ring des Lichts zu verteidigen und den Heiligen Schrein davor zu bewahren, daß er dort, in dem niederen Reich, in die zerstörerischen Hände der finsteren Mächte fällt.« »Ich beuge mich Euren Wünschen, Erophin. Wann soll ich abreisen?« »Ich würde Euch gern noch etwas Zeit der Ruhe und Erholung gönnen. Doch wenn wir unser Ziel erreichen wollen, dürft Ihr nicht länger zögern.« Unter dichten Brauen hervor betrachtete der alte Mann Lorini; ein Ausdruck tiefer Besorgnis lag auf seinem 145
Gesicht. »Ihr könnt sofort aufbrechen, wenn Ihr damit einverstanden seid.« »Selbstverständlich, Erophin. Ich bin bereit«, stimmte Lorini zu und verneigte sich. »Weitere Anweisungen werdet Ihr dort erhalten.« »Ja, Erophin.« »Ich hoffe, daß uns demnächst glücklichere Umstände zusammenführen werden«, sagte Erophin abschließend. Er war aufgestanden und umarmte Lorini zärtlich. »Sei tapfer, mein Mädchen. Nur wir können das Licht retten. Das dürfen wir niemals vergessen.« Lorini hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte leise. »Kopf hoch, liebe Freundin, Tränen helfen nicht«, tröstete Cephus sie unbeholfen. »All unser Mühen und Streben war vergeblich, wenn wir jetzt versagen.« »Es ist schon vorbei«, sagte Lorini und trocknete ihre Tränen. Mühsam versuchte sie zu lächeln. »Ich hatte lange Zeit nicht das Bedürfnis zu weinen. Seid unbesorgt, es geht mir wieder gut. Ich werde meine Aufgabe erfüllen.« Mehr, um sich selbst Mut zu machen, zwang sie sich zu einem Lachen, das warm und volltönend klang, wie es oft durch das Schloß von Cypher gehallt war, als keine Sorgen sie bedrückten. »Ich vergesse nur manchmal, wie unbedeutend mein Leben ist und daß wir nur geschaffen wurden, um den Willen des Einen zu erfüllen.« »Ja, meine Liebe«, besänftigte Erophin sie und erwiderte ihr Lächeln. »Wir leben, um zu lernen, und jede Lektion bringt uns der Vollkommenheit ein Stückchen näher. Es ist ein mühsamer, beschwerlicher Weg.« Lorini drückte warm die Hand des alten Mannes und sagte herzlich: »Ich bin bereit, Erophin.« »Ich weiß. Möge das Licht des Einen uns schützen«, fügte Erophin noch hinzu, blickte in Lorinis Augen, und sein Gesicht hellte sich auf. Vertrauen und Zuversicht 146
strahlten von ihm aus. Die Ratshalle drehte sich einen Moment schwindelerregend vor Lorini; jedes einzelne Gesicht war ihr zugewandt und von demselben Strahlen umgeben, das ihr Mut einflößte. Ungeahnte Kräfte stiegen in ihr auf; Gelassenheit und Frieden kehrten in ihr Herz zurück, die sie nach Cybelles Gefangennahme durch ihre Finstere Schwester verloren hatte. Eine Fontäne glitzernder Regenbogenfarben ergoß sich über sie, und das leise Summen der Wiesen Windameirs hüllten sie ein. Schwach schimmerten im unendlichen Universum die Sterne und Welten, sanft glitt Lorini durch die Lüfte auf das verblassende Licht der Wiesen jenseits des Calix Stay zu, wo Broko, Bruinlen und Olther so lange glücklich auf den Sonnenwiesen gelebt hatten. Dahinter erhob sich die grüne Wildnis, das Grenzland, das die beiden Welten trennte – ihr neues Reich. Verschwommen stiegen Bilder der Erinnerung in ihr auf, in denen Greyfax und Faragon eine gewichtige Rolle spielten, und sie erkannte instinktiv alle die Orte, wo die beiden Zauberer gewesen waren. Freudige Erregung bewegte ihr Herz, denn nun wußte sie, daß ihre lieben Freunde sie an dem neuen Bestimmungsort erwarten würden. Erschrocken öffnete Lorini die Augen und blickte direkt in Greyfax Grimwalds amüsiert lächelndes Gesicht. Er saß an einem Tisch vor einem behaglich knisternden Feuer, und seine Miene drückte aus, daß er hier schon geraume Zeit auf ihre Ankunft gewartet hatte.
23. Der Grundstein Das ganze Wissen, das Broko aus dem Studium der Alten Lehre und der Geschichte seiner Vorfahren gewonnen hatte, und seine eigenen bescheidenen Kenntnisse nützten ihm 147
nun herzlich wenig. Die drei Gefährten waren mittlerweile in einem riesigen Raum angelangt, größer als alle anderen, die sie zuvor durchquert hatten. Ihre Stimmen hallten hohl von den hohen Wänden zurück. Die Luft war frischer, und obwohl noch immer Dunkelheit herrschte, schien ein Licht diesen Ort zu erhellen. Ned Thinvoice wollte gerade etwas sagen, als er über einen Gegenstand stolperte und einen Schmerzensschrei unterdrückte. »Sei vorsichtig«, warnte Broko ihn. Der plötzliche Lärm hatte ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Auch Cranfallow war bei Neds Ausrutscher erschrocken zusammengefahren, doch niemand hatte es bemerkt. »Wenn das so weitergeht, habe ich bald kein Schienbein mehr«, stöhnte Ned und rappelte sich mühsam wieder auf. »Die Haut an meinen Ellbogen ist so abgeschürft, daß schon die blanken Knochen durchkommen.« Ned merkte zunächst gar nicht, daß er Broko und Cranfallow tatsächlich sehen konnte. Seine Augen hatten sich so an die stockdunkle Finsternis gewöhnt, daß ihm das matte Licht in dem Raum nicht auffiel. Dann sah er seine Kameraden plötzlich mit weit aufgerissenen Augen und Mündern dastehen. »Was, zum Teufel, ist das?« schrie Cranfallow und hielt sich schützend einen Arm vors Gesicht. »Ein Drachenstein!« rief Broko ungläubig. Fassungslos kniete er vor dem Gegenstand, über den Ned gestolpert war, und strich zaghaft mit den Fingern darüber. Es handelte sich um eine hohe Vase oder Urne aus glattpoliertem Stein, die wunderschön geformt war. Im Inneren glühte das Feuer des Drachensteins. »Du hast ihn zum Leben erweckt, Ned«, sagte Broko über die Schulter. »Kaum zu glauben, er sieht genauso aus wie der, den ich verloren habe.« Broko hatte eine Hand in die Urne gesteckt und zog den 148
schwach glühenden Gegenstand heraus. Im trüben Licht, das von ihm ausstrahlte, untersuchte er das Ding genau. »Es ist der Stein, den ich verloren habe!« rief er schließlich erstaunt und aufgeregt. Noch ehe Ned oder Cranny Brokos Fund bewundern konnten, wurde die Dunkelheit plötzlich von einer grell leuchtenden blauen Feuerwoge verschluckt. Der hohe, mit reichem Wandschmuck verzierte Raum öffnete sich dem strahlenden Licht, und mit zurückgelegten Köpfen starrten die Gefährten zur Decke empor, die sich wie eine Kuppel so weit nach oben wölbte, daß sie glaubten, ein Stück Firmament zu sehen. Doch die funkelnden und glitzernden Sterne waren kostbare Edelsteine und der Mond ein Kunstwerk aus glänzendem Silber. Die Wände bestanden aus ebenholzfarbenen, mit meisterhaft geschnitzten Reliefs bedeckten Säulen, die Gestalten des Zwergenvolkes und runenartige Inschriften zeigten. In der Mitte des Raumes stand eine kreisförmige Mauer – nicht größer als Broko –, die aus feingehämmertem Gold gefertigt war. Es gab kein einziges Möbelstück in dem Raum, und der glatte, polierte Boden verlor sich irgendwo in weiter Ferne in der Dunkelheit. »Beim Barte des Coin«, sagte Broko ehrfürchtig. »Dies ist der Grundstein aller Zwergenweisheit.« Hastig riß er sich seine Mütze vom Kopf und verneigte sich zweimal vor der goldenen Mauer. Ned und Cranny folgten seinem Beispiel und traten dann verlegen von einem Fuß auf den anderen. Langsam und ehrfurchtsvoll näherte sich Broko dem goldenen Kreis, kniete davor nieder und streckte zögernd eine Hand aus, um dieses älteste aller Zwergenbauwerke zu berühren. Eine tiefe Stimme, die aus dem Drachenstein erklang, den er fest umklammert hielt, hinderte ihn im letzten Moment daran. »Berühre diesen Grundstein nicht. Er führt in eine Welt ohne Wiederkehr.« Broko zog hastig seine Hand zurück. »In den ersten 149
Tagen der Schöpfung wurde dieser Grundstein im Herzen Atlantons gesetzt, tief unter der Erde. Damals wurde diesen Welten neues Leben verliehen. Er ist das Tor zum Ursprung allen Seins.« Cranfallow hatte sich furchtsam hinter einer der geschnitzten Säulen versteckt, und Ned stand wie angewurzelt mit weit aufgerissenen Augen da. »Ist dies der Weg, den die Könige in alten Zeiten wählten?« fragte Broko mit zittriger Stimme. »Es ist nicht bekannt, wie viele durch diese Pforte zurückkehrten. Viele wurden ermordet, andere vergaßen, daß es diesen Ort gibt, und starben in den oberen Reichen. Und viele konnten sich nicht mehr an die Geheimnisse erinnern und gingen in der Finsternis der Welt zugrunde.« Als die Stimme verebbte, schwebte eine leuchtende Kugel aus feingesponnenem Licht empor, und in dieser schimmernden Helligkeit sah Broko die Vergangenheit, die Geschehnisse, die in den alten Büchern der Weisheit und den Geschichtsbüchern beschrieben wurden, lebendig werden. Er sah, wie der Grundstein errichtet wurde, erkannte die ersten Könige des Zwergenvolkes und die wunderschönen Schlösser. In atemberaubendem Tempo rasten unzählige Jahre an Broko vorbei, bis die Bilder allmählich verblaßten, und schreckliche Szenen von Krieg und Gewalt folgten auf die einstige Harmonie früheren Zwergenlebens. Nach einer besonders grausamen Vision – Broko weinte leise – konnte er einen flüchtigen Blick auf eine seltsam vertraute Gestalt werfen. Sie war weder Zwerg noch Elf, eingehüllt in einen einfachen grauen Mantel. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Broko begriff, daß die Gestalt, die ihm aus der leuchtenden Kugel zuwinkte, Greyfax Grimwald war. »Greyfax!« wollte er schon laut rufen. Erleichterung und Freude füllten sein Herz, und neuer Mut weckte seine Lebensgeister. 150
Doch seine Hoffnungen wurden abrupt zerstört, als er sah, daß der Zauberer nur als Vision existierte und dort mit jemandem sprach. Broko unterdrückte die aufsteigende Panik und zwang sich, weiterhin das Geschehen in dem wirbelnden Licht zu betrachten. Mit dem Rücken zu Broko saß jemand vor dem Zauberer. Er fühlte sich sofort zu diesem Mann hingezogen, und als der sich zur Seite wandte, schrie Broko überrascht auf. Es war sein Vater, so wie er ihn damals am ersten Tag nach der Überquerung des Calix Stay im Feuer des Zauberers gesehen hatte. Die strahlende Kugel schien noch heller zu leuchten, blaue und rote Blitze umzuckten Brokos Kopf, und er sah, wie Greyfax seinem Vater den Drachenstein überreichte. »Greyfax!« rief nun Broko verzweifelt. Und eine Sekunde lang glaubte er, der Zauberer würde ihm beruhigend zulächeln, und seine Lippen formten Worte, die er nicht verstehen konnte. Ehe Broko weiter über den Sinn dieser Worte rätseln konnte, drehte die leuchtende Kugel sich weiter, und glitzernde, wirbelnde Funken rieselten von der Kuppel des domartigen Raumes herab, und unzählige Zwergenkönige huschten an Broko vorüber, verblaßten und entschwanden, bis Broko plötzlich sein eigenes besorgtes und erschöpftes Gesicht in dem Funkenregen erkannte. So plötzlich, wie die strahlende Kugel erschienen war, verschwand sie nun mit einem letzten leuchtenden Aufstrahlen. Broko fand sich inmitten des riesigen Raumes wieder und starrte angestrengt in die dunklen Schatten. Neds Entsetzensschrei brachte den Zwerg abrupt in die Gegenwart zurück. »Dort, Cranny, sieh nur! Diese schwarzen Teufel!« Cranfallow gefror das Blut in den Adern, als er die gräßlichen Monster entdeckte, die aus der Finsternis auf sie zukrochen. »Wir sind verloren«, stöhnte er und stellte sich 151
dicht neben Broko. Broko sah zunächst nur zuckende Schatten, die sich aus der Dunkelheit auf sie zubewegten, bis die formlosen Geister Gestalt annahmen und schlangenartig über den glatten Boden herangekrochen kamen. Ned und Cranfallow drängten sich dicht an den kleinen Mann, denn aus allen vier Ecken glitten diese unheimlichen Monster lautlos näher. Brokos Hand fuhr in den Mantel, griff nach dem Schrein, doch ehe er ihn herausnehmen konnte, flammte der Drachenstein noch einmal auf, und eine tiefe, furchterregende Stimme rief ein einziges Wort, das donnernd durch den Raum dröhnte. Broko verstand nicht, was das Wort bedeutete, er wußte nur, es war ein Wort aus dem Hochzwergischen, ein Zauberwort, das die alten Könige der Unterirdischen benutzt hatten. Doch die schwarzen, unförmigen Monster schlängelten sich immer näher, bäumten sich auf, glitten geräuschlos dahin. Zu Tode erschrocken sah Broko, wie aus einem der gräßlichen Untiere mörderisch geformte Klauen mit messerscharfen Krallen hervortraten, die nach ihnen schlugen. Da schoß eine grellrote Flamme aus dem Drachenstein; die schwarzen Gestalten glühten blutrot auf, und grauer, stinkender Qualm verpestete die Luft. Eine zweite Flamme tauchte den Raum in gleißendes Feuer, dann explodierte es über ihren Köpfen, und schrille Todesschreie gellten durch den Raum, und um die Gefährten entbrannte ein wahres Chaos. Heiße, sengende Rauchschwaden trieben ihnen Tränen in die Augen, und die fürchterlichen Schreie schmerzten ihnen in den Ohren. Orkanartige Stürme tobten über sie hinweg und wirbelten Funken und verkohlte Teile zur Mitte des Raumes, und mit einem ohrenbetäubenden Getöse öffnete sich die goldene Mauer und verschlang Feuer, Rauch und die zerfetzten Monster. Zitternd wie Espenlaub und halb ohnmächtig vor Angst standen die drei Gefährten eng aneinandergedrängt in diesem Höllenspektakel. Als sich schließlich wieder Stille über sie senkte, wagten sie kaum 152
zu atmen, aus Furcht, ein neues Chaos könne über sie hereinbrechen.
24. Der Drachenstein verschwindet Endlich – Stunden schienen verstrichen zu sein – wagte Broko einen Blick auf seinen Drachenstein zu werfen, den er fest in der Faust hielt. Nur noch schwach flackerte das Licht, und tief aus seinem Inneren erklang leises Summen. Broko schüttelte sich und trat einige Schritte von der goldenen Mauer zurück. »Wir haben den Untergang der Wächter erlebt«, sagte er leise, fast traurig. »Und das bedeutet den Ruin für diese herrlichen Hallen, denn ohne die Wächter sind sie schutzlos den Plünderern ausgeliefert.« Broko schüttelte mißbilligend den Kopf. »Welch eine Verschwendung! Nach all den Jahren fällt diese ganze Pracht den Mächten des Bösen zum Opfer.« »Ich kann ja verstehen, daß Ihr traurig seid, aber sollten wir uns nicht freuen, daß diese Ungeheuer nun ausgerottet sind und wir hier nicht mehr in der Falle sitzen?« fragte Cranfallow und atmete erleichtert auf. Sein aschfahles Gesicht bekam allmählich wieder Farbe. »Hurra, hurra!« juchzte Ned, schlug seinem Freund kräftig auf die Schulter und verpaßte Broko einen Knuff, so daß der kleine Mann fast in den Schacht des goldenen Grundsteins gestolpert wäre. »Wir sind gerettet, der Weg ist frei.« Broko wollte Ned einen Boxhieb verpassen, verfehlte ihn jedoch, weil der wie ein Irrer umhertanzte. »Hurra, hurra, wir sind gerettet!« brüllte Ned unaufhörlich und sprang und hopste umher. »Ja, den Klauen dieser gräßlichen Biester, die jetzt dort unten in dem Loch schmoren, sind wir entkommen«, fuhr Cranny ihn an. »Aber wir sind immer noch in dieser Höhle, ohne Nahrung und Wasser, und haben keine Ahnung, wie wir hier herauskommen sollen.« 153
Der Gedanke an Essen dämpfte Neds Euphorie sofort, und er sagte ernst: »Wenigstens sind wir noch am Leben und spüren unsere hungrigen Mägen.« Broko bückte sich und hob den Drachenstein auf, der ihm aus der Hand gefallen war, als Ned ihn stieß, räusperte sich und verkündete: »Wir müssen in östlicher Richtung weitermarschieren. Der Grundstein wurde im Herzen von Coins Königreich errichtet. Aus den Geschichtsbüchern weiß ich, daß wir im tiefsten Reich der Unterirdischen sind. Keine Mine, kein Schacht hat jemals diese Ebenen hier, wo der Grundstein des Zwergenvolkes steht, erreicht. Es ist ein langer Weg, den wir vor uns haben, bis wir nach oben gelangen oder eine Pforte finden, die hinaufführt.« »Was meint Ihr mit ›langer Weg‹?« fragte Cranfallow besorgt. »Ganz einfach, ein langer Weg«, antwortete Broko kurz angebunden. Er rief sich die Beschreibungen dieses Bauwerks ins Gedächtnis zurück und wußte, daß sie kaum eine Chance hatten, ohne Nahrung und Wasser auch nur die unterste der oberen Ebenen zu erreichen. Und außerdem lag zwischen ihrem jetzigen Aufenthaltsort und dem Schacht, der nach oben führte, der Urstrom. Doch dies verschwieg er wohlweislich seinen Freunden. »Dann sollten wir hier nicht länger rumstehen. Unsere Füße sind zum Marschieren da. Frisch gewagt ist halb gewonnen, sage ich immer«, drängte Ned, zupfte seinen Mantel zurecht und war bereit, zu neuen Taten aufzubrechen. »Ned hat recht«, stimmte Cranfallow zu. »Kein Mensch hat je erlebt, was wir hier gesehen haben.« Er fuchtelte mit einer Hand in der Luft herum, um anzudeuten, daß er damit das Chaos meinte, das noch vor wenigen Minuten in dem Raum geherrscht hatte. »Du sprichst mir aus der Seele, Cranny. Beinahe wären wir darin umgekommen. Das Geschrei dröhnt mir noch jetzt in den Ohren.« »Auf unseren Zwerg können wir uns wirklich verlassen. Wir sind sehr stolz darauf, Eure Begleiter zu sein«, 154
verkündete Cranny bombastisch. »Ich fühle mich sehr geehrt, lieber Cranny. Laßt uns nicht länger hier verweilen, wir haben einen anstrengenden Marsch vor uns und sollten unsere Kraft nicht mit langatmigen Reden vergeuden.« Broko zwang sich, ganz beiläufig zu sprechen. »Zeig uns den Weg, Meister Broko. Meine alten Augen möchten endlich wieder Tageslicht sehen«, sagte Ned aufgeräumt. Ihm war noch ganz schwindlig von der ausgestandenen Angst und Aufregung. Während die Gefährten sich unterhielten, ertönte ein leises Summen, das allmählich lauter wurde. Broko merkte, daß es aus dem Drachenstein kam, hielt ihn dicht vor die Augen und blickte in das matte silberne Leuchten, das tief innen erglomm. Da erblickte er etwas in dem glänzenden Stein, das ihn vor Entsetzen lähmte. Er selbst stand da und warf seinen kostbaren Besitz in die goldenen Tiefen des Grundsteins. »Nein«, stammelte er, »das kann nicht wahr sein. Wir besitzen nur dein Licht, das diese Finsternis erhellt, und du bist die einzige Hilfe, die uns hier unten beisteht.« Schweigend verfolgten Ned und Cranny Brokos Zwiesprache mit dem schimmernden Stein in seiner Hand. Das Summen wurde jetzt lauter, und eine Stimme ertönte. »Die Stunde der Trennung ist gekommen, so wie es vorhergesagt wurde. Ihr habt mich lange und wohl verwahrt. Meine Aufgaben auf Atlanton sind erfüllt. Ich kehre nun zurück und werde meinen Frieden finden.« Das Summen verklang, und das Licht erlosch, bis nur noch die Umrisse des Steins matt schimmerten. »Aber wie soll es denn weitergehen?« stammelte Broko mit erstickter Stimme. »Alles, was Ihr braucht, werdet Ihr im Musikzimmer finden«, kam die leise Antwort. »Und nun lebt wohl, Broko, letzter Gebieter der Unterirdischen, Herr dieser schweigenden Hallen. So steht es geschrieben.« Eine silberweiße Flamme zischte aus dem Drachenstein und erlosch. Broko hielt nun einen gewöhnlichen, grauen, kalten Stein in der Hand. 155
»Lebt wohl, guter Freund. Ruht in Frieden«, schluchzte er und warf den stummen Stein in den goldenen Schlund des Grundsteins. Da erbebte der glatte Boden unter ihren Füßen, und ein heißer Wind umwehte die Gefährten, dann war es wieder still. Nur das Beben hielt noch an. »Ist das ein Erdbeben?« fragte Ned ängstlich. »Nein, das glaube ich nicht, Ned. Es war der Stein, der zurückgekehrt ist.« Darauf wirbelte ein Lichtschimmer durch die Luft, der jedoch sogleich ebenfalls in dem goldenen Schacht verschwand. Und wieder umfing pechschwarze Nacht die Gefährten. »Und jetzt sitzen wir wieder in der Tinte«, klagte Ned bitterlich. »Typisch für diese Hexereien, immer lassen sie einen im Stich.« Neds altes Mißtrauen gegen Zauberkünste aller Art kehrte auf einen Schlag zurück. »Wenn ich mich recht erinnere«, sprach Broko zu sich selbst und achtete nicht weiter auf seine Freunde, »halten wir uns von hier aus links, bis wir das Zimmer erreichen, von dem der Stein sprach.« Er senkte die Stimme und fügte halblaut hinzu: »Und es liegt vor dem Wasser.« Die Worte des Drachensteins hatten ihm Mut gemacht,und fröhlich plapperte er weiter. »In den Büchern wird das Musikzimmer als ein prachtvoller Ort geschildert. Liebliche Melodien erklingen aus den Wänden und tragen allen Kummer fort.« »Fest steht jedenfalls, daß wir dieses wunderbare Zimmer niemals sehen werden«, grollte Ned. »Ich will nur hoffen, daß uns unsere Ohren verkünden, wenn wir dort angekommen sind.« »Kopf hoch, Ned«, rügte Cranfallow. »Noch ist nicht alles verloren. Denk daran, was diese Stimme aus dem Stein gesagt hat.« »Das mag ja für ihn und seinesgleichen zutreffen. Schließlich muß er nicht hungern und dürsten und bricht sich nicht sämtliche Knochen in dieser Finsternis.« »Wir werden wohl erst verstehen, was gemeint war, 156
wenn wir dort sind«, warf Broko ungeduldig ein. »Der Meinung bin ich auch«, stimmte Cranny zu. »Unser alter Ned ist ein unverbesserlicher Schwarzseher. Daran kann man nichts ändern.« »Jetzt behaupte nur noch, daß es hier nicht stockfinster ist«, empörte sich Ned. »Von Sehen kann überhaupt nicht die Rede sein.« »Hier, halt dich an meinem Mantel fest, Cranny, und du, Ned, läßt Crannys Mantel nicht los!« befahl Broko. »Je schneller wir das Zimmer erreichen, um so eher wissen wir, was der Stein gemeint hat.« Cranfallow ergriff den Saum von Brokos Mantel, und Ned, der noch immer vor sich hinschimpfte, packte fest Crannys Mantel. So machten sich die drei auf den Weg. Vorsichtig setzten sie einen Fuß vor den anderen und tasteten sich durch die Dunkelheit. Nach ungefähr einer halben Stunde drang plötzlich sanfte, gedämpfte Musik an ihre Ohren. Und Melodien, die sie nie zuvor gehört hatten, erwärmten ihre Herzen, und frohen Mutes schritten sie nun rascher aus. Broko mußte nicht mehr alle paar Meter anhalten, um sich zurechtzufinden, denn bald liefen die drei blindlings durch die erdrückende Dunkelheit; sie folgten nur der leisen Musik.
25. Im Musikzimmer Weit vorne zeichnete sich die Silhouette einer dunkelblauen Öffnung gegen die pechschwarzen Hintergrund ab. Ned, der keuchend neben Broko hertrabte, stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »Dort, das muß die Kammer sein. Ich sehe zwar nicht mehr so gut in dieser höllischen Finsternis, aber ich glaube nicht, daß mich meine alten Augen trügen. Ich sehe Licht.« »Ja, ich kann es auch erkennen«, japste Cranny außer 157
Atem. »Ein blauer Schimmer.« Die drei verlangsamten das Tempo, und in dem matten bläulichen Leuchten, das den unterirdischen Gang nun erhellte, blickten sie sich um. Riesige unförmige Gebilde, bizarr geformt, ragten wie bedrohliche Schatten an den Wänden auf. Ned stieß einen erschrockenen Warnruf aus, als er die furchterregenden Ungetüme wahrnahm, doch Broko lachte ihn aus. »Das sind Wasserkrüge. Oh, seht nur, und hier steht ein Speiseschrank.« Cranfallow lief hastig zu einem der Ungetüme und stellte sich auf die Zehenspitzen, um hineinzuschauen. Dieses Gefäß war wie ein Pferd geformt und trug den Kopf eines Elfs. »Das riecht ja köstlich«, rief er begeistert. »Es duftet wie Blumen.« »Es ist Wasser aus dem Fluß, der hier durchfließt«, erklärte Broko. »In den alten Schriften wird es als der süßeste Nektar beschrieben, den es auf Atlanton gibt.« »Aber wie sollen wir da drankommen?« fragte Cranny hilflos. »Die Krüge sind zu hoch, wir können nicht daraus schöpfen.« »Hier«, sagte Broko und trat näher an das Gefäß. »Das Wasser fließt aus der Schale, die auf den ausgestreckten Händen ruht.« Er berührte mit den Fingerspitzen eine der Hände, und sofort sprudelte köstlich duftendes Wasser in die zierlich geformte Schale. Cranfallow und Thinvoice tauchten sofort ihre Hände hinein, bespritzten sich gegenseitig, tränkten ihre Taschentücher darin und wischten sich damit Gesichter und Hälse ab. Dazwischen schöpften sie mit den Händen Wasser aus der Schale und tranken das erfrischende Naß in langen, gierigen Zügen. Neue Kraft durchströmte sie und schwemmte jede Müdigkeit von ihnen. Broko spürte bereits nach den ersten Schlucken, wie alle vergangenen Mühen von ihm abfielen. Wie ein längst vergessener Traum verschwanden die Erinnerungen an sein Erwachen in Garius' Wald, der Kampf in den Ruinen und die anderen 158
schrecklichen Erlebnisse danach. Ihm dünkte, als wären sie schon immer hier in diesem wunderbaren kraftspendenden Raum gewesen. Zeit und Raum verschwammen in seinem Gedächtnis, er wußte nicht, ob es Tag oder Nacht war, die Atmosphäre in dieser uralten Zwergenfestung hatte jeden Bezug zur Wirklichkeit verwischt. Da durchströmte ihn eine Welle von Trauer und Verzweiflung. Er hatte Olther und Bruinlen verloren. »Ohne mich wären sie nie in diese üble Lage geraten«, murmelte er betrübt vor sich hin. »Wahrscheinlich irren sie irgendwo im Dragur-Wald umher oder sterben elendiglich in der Schrecklichen Einöde. Sie verfluchen sicher den Tag, an dem ich in ihr Leben trat.« »Wer verflucht Euch?« erkundigte sich Ned und rieb mit dem feuchten Tuch über seinen Nacken. »Bruinlen, Olther und Flewingam«, erwiderte Broko, trat von dem Wasserkrug zurück und trocknete sich den Mund mit einem Zipfel seines Mantels ab. Cranfallow verschluckte sich fast und sagte dann hustend: »An die armen Kerle habe ich gar nicht mehr gedacht.« Er schüttelte reumütig den Kopf. »Da stehe ich und schlappere Wasser wie ein Hund, während meine Freunde irgendwo jämmerlich verdursten.« »Wir könnten einen dieser Wasserkrüge mitnehmen, damit wir ihnen zu trinken geben können, falls wir ihnen irgendwo begegnen«, schlug Ned vor. »Nein, Ned. Die Krüge sind zu schwer. Nur mit Pferd und Wagen könnten wir sie transportieren.« »Und wie soll es nun weitergehen?« fragte Ned und musterte kritisch die unförmigen Gefäße. »Hierbleiben können wir auch nicht.« »Nicht für immer, das steht fest«, fügte Cranny hinzu. »Irgendwann wollen wir schließlich wieder ans Tageslicht.« Broko stand in Gedanken versunken da, angestrengt und mit besorgtem Gesicht überlegte er und suchte krampfhaft 159
nach einer Lösung. Ned und Cranfallow blickten sich schweigend an. Erschreckt fuhren sie hoch, als Broko plötzlich eine Faust in die andere Handfläche klatschte. »Zum Kuckuck damit!« schimpfte er laut. »Wie komme ich dazu, meine Freunde derart im Stich zu lassen? Den Schrein muß ich tragen, bis mich jemand von dieser Last erlöst. Doch bis jetzt hat sich niemand ein Bein ausgerissen, ihn mir abzunehmen – abgesehen von Lorinis abscheulicher Schwester. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, und nicht den leisesten Schimmer, wie wir jemals Calix Stay finden und überqueren sollen.« Broko stapfte mit finsterer Miene wütend auf und ab. »Ihr seid doch im Besitz von Zauberkräften«, äußerte Ned schüchtern. »Zwergentricks, um Kinder damit zu amüsieren«, schnaubte Broko gereizt, »lauter Firlefanz, nutzlose Spielereien, die mir jetzt auch nicht weiterhelfen.« »Aber sie haben uns doch schon aus mancher Notlage befreit, Herr«, widersprach Cranfallow mutig. »Und ohne Euch wären wir doch in diesem Verlies hoffnungsvoll verloren.« »Da bin ich mir nicht so sicher, Cranny. Hättet ihr euch nicht mit meinesgleichen eingelassen, wärt ihr jetzt irgendwo in General Greymouses Armee in Sicherheit, so wie es sich für Soldaten gehört, die ihr Handwerk beherrschen.« »Ich sehe das anders. Gut, vielleicht wären wir jetzt bei dem General, aber es ist noch längst nicht gesagt, daß es uns dort besser ginge als hier bei Euch. Als wir Euch begegneten, war unsere Lage bei weitem nicht rosig, die Worlughs und Gorgolacs hatten unsere Truppen fast vollständig aufgerieben. So war die Lage. Das muß einmal gesagt werden.« »Und außerdem ist es in Eurer Gesellschaft nie langweilig. Ich habe dieses eintönige Wacheschieben und Patrouillegehen gehaßt«, fügte Ned hinzu. »Ihr beide habt 160
mir treu gedient«, lenkte Broko nun ein, »und habt immer tapfer an meiner Seite ausgeharrt, wo andere schon längst das Hasenpanier ergriffen hätten.« »Ihr übertreibt«, widersprach Cranny verlegen, doch Broko gebot ihm Schweigen. »Doch, doch. Und ich bin stolz darauf, so mutige und unerschrockene Kameraden zu haben. Wie soll ich euch nur jemals gebührend dafür belohnen?« »Unsinn«, stotterte Ned jetzt mit hochrotem Gesicht. »Wir versuchen nur, unser Bestes zu geben, und das scheint mir nicht viel zu sein.« Bei Neds Worten war der Klang der Musik, die schon die ganze Zeit über gespielt hatte, lauter geworden und hatte sich verändert. Cranfallow lauschte angestrengt. »Pssst!« flüsterte er, und Broko und Ned blickten ihn fragend an. Dann hörten auch sie die neue Melodie. Die Töne vibrierten durch die Stille der Wände. »Es hört sich an wie Worte«, sagte Cranny, »aber ich kann sie nicht verstehen.« Broko trat rasch an eine der glatten, kühlen Wände und legte sein Ohr daran. Bewegungslos verharrte er so eine ganze Weile und lauschte angestrengt. Und als er sich von der spiegelnden Fläche abwandte, zeigte sein Gesicht einen ratlosen und verwirrten Ausdruck. »Ich werde nicht schlau daraus«, sagte er, »es hat etwas mit Wurzeln zu tun.« »Wurzeln?« rief Ned. »Und auch ein Fluß, der Urstrom genannt, kommt darin vor.« »Das wird wohl wieder so ein altes Zwergenliedchen sein«, brummte Cranny enttäuscht, denn er hatte eine wichtigere Botschaft erwartet. »In alten Zeiten gab es hier einen unterirdischen Strom. Ehe die Könige der Unterirdischen alle Zugänge 161
versiegelten, wurde er als Verbindungsweg zur Außenwelt benutzt.« Broko dachte nach. »Aber nirgends habe ich etwas über Wurzeln gelesen. Die Wächter und ihre Aufgaben wurden erwähnt, und wir haben ihren Untergang erlebt. Aber Wurzeln?« »Hoffentlich sind das nicht auch so gräßliche Monster«, sagte Ned schaudernd. »Mir sträuben sich noch jetzt die Haare, wenn ich nur daran denke.« »Ich weiß es nicht, Ned. In dem Text kommen sie immer wieder vor«, sagte Broko und stimmte eine Strophe des Liedes an. »Beim Urstrom treffen die Wurzeln Auf die Fremden, Die unter der Erde reisen. Und als Geschenk Werden sie ihnen den Weg Zum Sonnenlicht weisen.« »Das ergibt doch keinen Sinn, oder?« fragte Ned und kratzte sich am Kopf. Brokos Gesicht leuchtete plötzlich auf. »Der Drachenstein hat doch vorhergesagt, daß wir hier mit Hilfe rechnen könnten. Ich glaube nicht, daß damit nur das Wasser gemeint war.« »Glaubt Ihr, wir könnten auch etwas zu essen finden?« fragte Cranny hoffnungsvoll. »Viel Wichtigeres als Nahrung. Es muß etwas mit dem Lied zu tun haben. Sicherlich beinhaltet es eine Botschaft.« »Aber hier gibt es doch keinen Fluß, wir würden ihn doch hören.« »Stimmt, Ned. Er fließt unter uns, auf einer tieferen Ebene.« »Und wie sollen wir dorthin gelangen? Wir haben weder zu essen noch zu trinken.« »Folgt mir!« befahl Broko und hastete tiefer in das 162
mattblaue Licht des Musikzimmers hinein. »Wir müssen den Raum gründlich durchsuchen.« Ned und Cranny stolperten hinter Broko her. Rund um den ganzen Raum standen Reihen seltsam geformter Krüge, und in der Mitte entdeckten sie niedrige, geschnitzte Ruhebetten, Sessel und Tische, worauf Holzkelche standen. Broko streifte das alles nur mit einem flüchtigen Blick und eilte weiter durch die weitläufige Halle, Ned und Cranfallow dicht auf den Fersen. Abrupt blieb er plötzlich stehen und rief aufgeregt: »Habe ich es mir doch gedacht! Der Lagerraum.« Ned und Cranfallow stellten sich neben den Zwerg. »Auf jeder Ebene wurde seinerzeit eine Lager- und Vorratskammer angelegt«, erklärte Broko, »für den Fall, daß meine Vorfahren in die tieferen Ebenen fliehen mußten. Diese Kammer hier scheint wohlgefüllt zu sein.« Der Raum war tatsächlich mit allen möglichen Kriegsgeräten und Werkzeugen vollgestopft. Zwergenausrüstungen und Waffen lagen umher – Piken, Streitäxte, kurze Schwerter, Schilde, Dolche, Bogen und Köcher mit gefährlich aussehenden, vielzackigen Pfeilen. Ihre Blicke überflogen all diese Ausrüstungsgegenstände, bis sie entdeckten, wonach sie suchten. Wohlverwahrt in mächtigen Eichentruhen fand Broko es schließlich. »Reiseproviant!« rief er triumphierend und stemmte einen Deckel hoch. Schichtweise übereinandergestapelt lagen dort Unmengen von Zwergenkuchen. Behutsam strich Broko mit den Fingern darüber und lachte freudig auf. »Auf die alte Backkunst ist Verlaß; diese Kuchen halten ewig.« Ned, der über Brokos Schulter spähte, verzog das Gesicht und knirschte mit den Zähnen. »Mag ja sein, aber altbackener Zwieback gehört nun wahrhaftig nicht zu meinen Lieblingsspeisen.« Broko zog sein kleines Messer hervor und schnitt einen der Kuchen an. Er reichte Ned und Cranny je ein Stück und 163
aß selbst davon. »Das schmeckt gar nicht so schlecht, Ned. Mein Magen hat schon Übleres geschluckt.« Thinvoice grunzte nur zustimmend, da er den Mund voll hatte. Nachdem die drei Freunde den ärgsten Hunger gestillt hatten, setzten sie sich nebeneinander auf eine Truhe und betrachteten skeptisch die Ansammlung von Waffen um sie herum. »Es sieht nicht so aus, als würden wir etwas Brauchbares darunter finden«, meinte Broko, bückte sich und hob eine Axt auf. »Es wäre sicher interessant, alle diese Gegenstände eingehender zu studieren, um etwas über das Leben meiner Vorfahren daraus zu erfahren. Aber gegen Gorgolacs und Worlughs werden wir damit nichts ausrichten.« »Wenigstens bringt mein knurrender Magen mich jetzt nicht mehr um«, seufzte Ned zufrieden. »Und vor Gorgolacs und Worlughs sind wir hier wohl in Sicherheit, also brauchen wir auch keine Waffen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es irgendwo einen Ort gibt, den diese widerlichen Bestien nicht mit ihrer Anwesenheit verpesten«, gab Cranny zu bedenken. »Ganz egal, ob der Feind uns hier erreichen kann oder nicht, jedenfalls fühle ich mich wohler, wenn ich bewaffnet bin«, erklärte Broko und schwang eine robuste Axt prüfend durch die Luft. »Die sieht recht bedrohlich aus, Herr«, meinte Cranny. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, damals in der Schlacht bei den Sieben Hügeln habt Ihr einen Zauberspruch gemurmelt, und ein Heer von Zwergen, die alle diese Äxte trugen, kamen uns zu Hilfe.« Broko lachte, denn diese Schlacht hatte er schon fast vergessen. »Du hast ein gutes Gedächtnis, Cranny. Ich werde die Axt also als Talisman mitnehmen. Wenn sie auch nicht dazu taugt, Schädel zu spalten, so kann ich doch wenigstens Feuerholz damit machen.« 164
»Hier unten scheint rein gar nichts zu verderben. Schaut euch das nur an!« rief Ned, der bis zu den Hüften in einem Haufen Lederzeug stand. Er hielt ein Lederhemd hoch, das noch immer geschmeidig war. »Und das hier.« Er zeigte ihnen einen anderen Gegenstand, ebenfalls aus Leder. »Zeig mal her!« schrie Broko plötzlich und sprang mit einem Satz über einen Haufen aufeinandergestapelter Schwerter. »Mein Freund, ich gratuliere. Das sind Wassersäcke und Tornister, darin können wir Proviant mitnehmen.« Fieberhaft durchwühlten die drei jetzt den Haufen und fanden noch mehr Wassersäcke aus weichen Häuten und Rucksäcke in verschiedenen Größen. »An der Ausrüstung für Soldaten hat sich jahrhundertelang nicht viel geändert«, stellte Ned fest und stopfte einen der Rucksäcke mit Zwergenkuchen voll. »Schon damals mußten die Soldaten sich mit schweren Tornistern abschleppen.« Cranny lachte. »Ja, hol's der Teufel, Armeen sterben nie aus.« »Ich werde ein paar Wassersäcke füllen, Ned. Du packst so viele Kuchen in die Rucksäcke, wie wir tragen können. Und du, Cranny, hilfst mir, die Beutel zu füllen«, ordnete Broko an. »Wenn wir damit fertig sind, könnten wir doch ein wenig schlafen, was meint Ihr, Herr«, schlug Cranny vor, als er neben Broko zu den Wasserkrügen ging. »Daran habe ich eben auch gedacht, Cranny. Wir wollen uns noch überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen, und dann haben wir uns wohl eine kurze Rast verdient.« Schweigend füllten die beiden die Wassersäcke und schleppten sie dorthin zurück, wo Ned mit dem Packen der Rucksäcke beschäftigt gewesen war. »Verdammt, Ned ist verschwunden!« rief Cranny. Brokos Herz schlug wild, und er verfluchte sich wegen seiner Sorglosigkeit. Wie konnte er auch nur einen Moment glauben, daß sie hier unten in dem alten Bauwerk seiner Vorfahren in Sicherheit wären. Sie ließen die Wassersäcke fallen, rannten durch den Raum – Broko schwang 165
bedrohlich die Zwergenaxt über dem Kopf, und Cranny hatte seinen Dolch gezogen. Und da auf dem Boden, inmitten der Ausrüstung, lag Ned, den Kopf an einen gepackten Rucksack gelehnt, und rührte sich nicht. »Wer hat unseren Freund niedergeschlagen?« rief Broko und schaute mit wilden Blicken um sich. Ein Räuspern ertönte hinter seinem Rücken, er wirbelte herum, die Axt zum Hieb erhoben. »Ich glaube, nur der Schlaf hat ihn niedergestreckt«, grinste Cranfallow einfältig. »Er ist einfach erledigt.« Broko senkte langsam die Axt und erholte sich von dem Schrecken. »Also, beim Barte des Coin«, gähnte er schließlich herzhaft. »Schlaf haben wir wohl alle bitter nötig.« Die beiden legten sich neben Ned, zogen Rucksäcke als Kopfkissen heran und deckten sich mit ihren Mänteln zu. »Sollte einer von uns nicht Wache halten?« fragte Cranny schläfrig. »Dazu sind wir wohl nicht in der Lage. Es wird schon nichts passieren«, murmelte Broko, seufzte tief und war gleich darauf eingeschlafen. Bald hallte ungewohntes dreistimmiges Schnarchen durch die Waffenkammer. Im Traum stand Broko wieder unter der unendlichen Kuppel des domartigen Raums, in dem der Grundstein stand. Vor sich sah er die goldene Mauer, und der Schacht führte in die oberen Regionen hinauf. Umgeben von einem strahlenden Schein blendendweißen Lichts wartete dort ein Zwerg mit finsterer Miene und winkte Broko näher. Sein Herz setzte aus, denn dieser fremde Zwerg war kein Geringerer als Eoin selbst, der Vater aller Zwerge, der Stammvater seines Volkes und Erbauer dieser heiligen Zwergenfestung und des Grundsteins. »Mein König«, hauchte Broko ehrfürchtig und sank auf die Knie. »Willkommen, Bruder Broko, Träger des Heiligen Schreins, Bewahrer der Alten Lehre. Du hast alle meine 166
Hoffnung erfüllt und meinem Namen große Ehre erwiesen.« »Ja, Herr«, stammelte Broko und konnte seine Augen nicht von der glänzenden Gestalt abwenden. »Hier endet ein Abschnitt der Geschichte, die in den Büchern vorhergesagt wurde. Du und deine Freunde, ihr seid am Ende eines Weges angelangt. Die Prophezeiung, die vor langer Zeit geschrieben wurde, verkündet, daß diese alte Festung wieder ihrem Ursprung zugeführt wird, sobald ein Zwerg hierher zurückkehrt. Die Wächter wurden von ihrer Aufgabe entbunden, und der Urstein zersprang. Nun beginnt der Urstrom zu wüten und eilt seiner Bestimmung entgegen.« »Welcher Bestimmung, Herr?« fragte Broko zaghaft. »Der Urstrom wird dies alles in seinen Fluten fortschwemmen: die Festung und den Berg, in dessen Tiefen sie vor so langer Zeit gegraben wurde. Nichts wird mehr davon übrigbleiben. Eine neue Welt wird hier entstehen. Wir haben unsere Rolle zu Ende gespielt, so wie es uns vorherbestimmt war. Deine Ankunft gab das Signal für den letzten Akt.« »Ich, Herr?« »Dein Erscheinen wurde schon seit langem erwartet, und der Rat der Ältesten hat deine Reise durch die Zeiten beobachtet und dich bis zum heutigen Tag nicht aus den Augen gelassen. Es steht geschrieben, daß die Festung und der Urstein durch den Träger eines der Geheimnisse zum Ursprung zurückgeführt werden. In dieser Welt haben wir unsere Aufgabe erfüllt; die Mission des Zwergenvolkes und aller anderen Wesen hier auf Atlanton ist beendet, und wir alle kehren in die Ruhe und den Frieden unserer Heimat zurück.« Jetzt explodierten blauweiße Sterne, und gewaltige sphärische Ströme blendender Lichtflammen wirbelten glühende Feuerstrahlen in unendliche Höhen. Broko schlug die Hände vor die Augen und fiel vornüber aufs Gesicht. Er fürchtete sich, und gleichzeitig drohte sein Herz von Jubel 167
und Freude zu bersten. »Öffne die Augen, mein Bruder!« befahl die geisterhafte Stimme. Broko tat, wie ihm geheißen, und mit fassungsloser Verwunderung sah er, wie Eoins Gestalt sich wandelte. Silberne Nebel hüllten sie jetzt ein und lösten sich wieder auf, und da stand vor Broko ein Mann, der ihm einen Ausruf freudiger Überraschung entlockte. »Greyfax, Ihr seid es! Dem Himmel sei Dank, Ihr holt den Schrein.« Brokos Worte überstürzten sich. Tränen der Freude und Erleichterung strömten aus seinen Augen. »Nein, mein lieber Freund, ich bin nicht Greyfax und doch wieder Greyfax. Namen sind ohne Bedeutung. Und ich bin nicht gekommen, um den Schrein an mich zu nehmen. Ich bringe dir nur die frohe Botschaft, daß ihr bald Calix Stay überqueren werdet. Der Drachenstein hat euch hierhergeführt, und der Urstrom und die Wurzeln werden euch aus dieser Welt hinforttragen in ein neues Reich. Und auch dort wirst du Träger des Heiligen Schreins sein.« »Aber ich sollte ihn doch nur jenseits des Calix Stay in Sicherheit bringen. Dort wollte man mich von dieser schweren Bürde befreien«, sagte Broko bedrückt. »Das wurde mir jedenfalls versprochen. Ich kann diese Last nicht länger tragen. Sie erdrückt mich schier.« »Ich weiß, mein lieber Freund. Aber du bist dazu ausersehen, diese Aufgabe zu erfüllen. Alles hängt davon ab, daß der Heilige Schrein in deinen Händen über die Grenze gelangt. So steht es geschrieben.« »Könntet Ihr ihn denn nicht an Euch nehmen?« versuchte Broko es noch einmal. »Nein, das ist unmöglich. Meine Aufgabe besteht nur darin, dir die Botschaft zu überbringen, daß ihr bald Calix Stay überqueren werdet.« »Habt Ihr nicht mehr Neuigkeiten für mich? Was muß ich tun, wenn wir erst einmal jenseits des Calix Stay sind? Warum kommt Greyfax nicht oder Faragon? Ich bin verzweifelt, und ich habe meine Freunde verloren, und uns 168
ist alles mißlungen, seit wir nach Atlanton zurückgekehrt sind.« »Die Mitglieder des Rings des Lichts wissen, wo du jetzt bist, Broko. Fairingay wartet bereits auf dich, und deine Freunde leben und sind ganz in deiner Nähe. Mehr darf ich dir nicht verraten. Nur Mut, mein Freund, und bewahre dir den Glauben an das Licht.« Die Vision verblaßte, und Broko wachte schluchzend auf. Musik überflutete nach wie vor den Raum, tönte aus allen Wänden, ja sie schien lauter geworden zu sein. Broko wußte nicht mehr, ob er geträumt oder alles tatsächlich erlebt hatte. Und tief unten, tief unterhalb von Broko und seinen Freunden standen die Wurzel Kore und ihre Gefährten am zerklüfteten Ufer eines tosenden Flusses, des Urstroms.
26. Der Urstrom »Dort, wo Meer, Himmel und Erde eins sind, Fließt der Urstrom, Wälzt seine tosenden Wasser aus der Tiefe, Drängt ans helle Sonnenlicht, Denn unter der Erde ist er blind.« So sprach Kore, die Wurzel. »Hm, hm«, räusperte sich Bruinlen und blickte beklommen auf die schäumenden Stromschnellen. Der matte Lichtschimmer aus Kores Augen reflektierte sich auf dem tosenden Strom vor ihnen. »Habt Dank für Euer Geleit«, sprach Bruinlen dann. »Es ist tröstlich zu wissen, daß dieser Fluß irgendwo ins Freie führt. Mir bereitet nur eins Sorge«, und dabei sah er Olther und Thumb fragend an, »daß wir sicherlich in diesem reißenden Strom ertrinken werden.« Olther kroch bis an den Rand der tobenden Fluten, 169
schnüffelte und steckte vorsichtig eine Pfote ins Wasser. Das felsige Ufer schien früher ein Kai gewesen zu sein, große eiserne Ringe zum Vertäuen der Boote waren in die Mauer eingelassen. »Das Wasser fühlt sich gut an«, rief Olther den anderen zu. »Es riecht frisch und scheint trinkbar zu sein.« »Wir brauchen ein Floß«, stellte Flewingam fest. »Keiner von uns kann so gut schwimmen wie du, lieber Freund. In diesen Strudeln würden wir untergehen wie Steine, und außerdem müßten wir unsere Kleider und die ganze Ausrüstung hier zurücklassen.« »Er hat recht, Olther. Wir drei könnten es vielleicht schaffen, aber Thumbs Gefährten, vor allem die kleineren, würden elendiglich ertrinken.« Bruinlen tapste vorsichtig zum Ufer, wagte sich aber nicht so weit an die gischtenden Wogen heran wie Olther. »Ich traue mir nicht zu, in diesem Wirbelstrom zu schwimmen«, wehrte Olther ab. Sein kleines graues Gesicht war ganz spitz vor Angst. »Er ist zu reißend, und wir würden am felsigen Ufer zerschellen.« »Gibt es hier irgendwo noch Boote aus früheren Tagen, Kore?« fragte Flewingam. »Die Einbäume der einstigen Bewohner sind verschwunden. Vermodert, oder ihre Erbauer fuhren damit fort«, dröhnte die Antwort der Wurzel. »Vielleicht finden wir Treibholz oder Baumstämme hier am Ufer, womit wir ein Floß bauen könnten«, überlegte Flewingam laut und schritt suchend durch die Höhle. »Wir wollen uns verteilen«, schlug Bruinlen vor. »Vielleicht finden wir irgend etwas Brauchbares. Aber bleibt in Rufnähe.« »Könnt Ihr noch eine Weile bei uns bleiben, Kore?« fragte Thumb. »Ohne Euer Licht sind wir hilflos.« »Kore ist euer Diener«, stimmte die Wurzel feierlich zu. »Noch kann ich bei euch verweilen, doch bald muß ich neue Nahrung aufnehmen.« 170
»Oh, Ihr seid so lieb«, bedankte sich Lilly überschwenglich und hätte gern die Wurzel umarmt, wußte aber nicht, wie sie es anstellen sollte. Thumb hob sie mit seiner großen Tatze hoch und setzte sie neben sich auf den Boden. Dann marschierte sein kleiner Trupp los und suchte das Ufer ab. Sie waren erst ein paar Bärenschritte durch die Dunkelheit getappt, als er stolperte und auf die Vordertatzen fiel. »Auauau«, heulte er und rieb sich die verletzte Hintertatze. »Was ist denn das?« Die anderen Bären hatten sich um ihn geschart und betrachteten neugierig das seltsam geformte Ding, über das er gestolpert war. Es war ein großer, rostiger Ring, und sie konnten sich nicht vorstellen, welchem Zweck er gedient haben mochte. »Ich glaube, sie haben ihn dorthin gelegt, damit jemand darüber stolpert«, plapperte Lilly vorwitzig und strich mit einer Tatze über die rauhe Oberfläche. »Vielleicht können die anderen etwas damit anfangen«, sagte Thumb ratlos und brüllte, so laut er konnte, um das tosende Wasser zu übertönen. Olther, der ihnen am nächsten war, hörte ihn und sprang eilends zu den Bären. »Was ist das?« fragte Thumb und deutete mit seiner mächtigen Tatze auf das seltsame Ding. Olther beäugte es von allen Seiten, betastete es, roch daran und meinte schließlich enttäuscht: »Ich glaube, es ist nur ein Ring zum Vertäuen der Boote.« »Aber sieh doch, er hat sich aus seiner Verankerung im Stein gelöst«, bemerkte Storm aufgeregt. Olther bückte sich tiefer, legte die Nase auf den Boden und schnüffelte an dem Felsblock, in dem der Ring verankert war. Zwischen dem Block und dem steinigen Untergrund entdeckte er einen Spalt. »Hier riecht es komisch. Die Luft ist modrig, wie aus einem alten Schacht.« 171
Bruinlen und Flewingam hatten ihre Suche ergebnislos aufgegeben und gesellten sich nun zu ihren Freunden. »Habt ihr etwas gefunden? Eine Planke oder ein Faß?« fragte Flewingam und schob sich in den Kreis der Bären. »Ich weiß nicht, was das ist.« »Laß mich sehen«, sagte Flewingam und kniete neben dem rostigen Ring nieder. Überrascht schrie er auf und begann mit aller Kraft an dem Eisenring zu zerren. »Es ist eine Bodenklappe«, keuchte er und zog weiter, um den Fels zu verrücken. »Hier, faß mal an und hilf mir!« Bruinlen griff mit seinen riesigen Tatzen nach dem Ring, blies die Backen auf, stemmte die Hintertatzen in den Boden, lehnte sich zurück und zerrte mit aller Macht. Der Felsblock bewegte sich, doch kaum merklich, und der winzige Spalt verbreiterte sich ein wenig. Noch einmal setzte Bruinlen seine ganze Kraft ein – da riß der Ring aus seiner Verankerung, Bruinlen verlor das Gleichgewicht, stolperte rückwärts über Olther und fiel mit einem entsetzten Aufschrei in die gurgelnden Fluten des Flusses. Ehe die Gefährten überhaupt begriffen, was geschehen war, geschweige denn Bruinlen zu Hilfe eilen konnten, ertranken seine Schreie in dem reißenden Strom. Fassungslos starrte Olther in die schäumende Flut, schluchzte erstickt auf, und hätte Flewingam ihn nicht im letzten Moment zurückgerissen, wäre er seinem Freund hinterhergesprungen. Lilly brach in wehklagendes Geheul aus, die anderen Bären standen mit gesenkten Köpfen da und wiegten sich im Rhythmus eines tiefgrollenden Klageliedes. Olther wand und krümmte sich in Flewingams Armen und versuchte sich zu befreien. »Ich muß hinter ihm her«, schluchzte er. »Dieser Tolpatsch wird ertrinken. Er schluckt ja schon Wasser, wenn er nur kniehoch in einem Fluß herumplanscht.« »Laß gut sein, lieber Freund«, tröstete Flewingam ihn. »Du kannst ihm nicht mehr helfen.« 172
»Ich muß es wenigstens versuchen«, heulte Olther, zappelte noch stärker und wollte den Zauberspruch aussprechen, der ihm Menschengestalt verleihen würde. Flewingam verstärkte seine Umklammerung. »Er ist verschwunden, mein Freund. Vielleicht kann er irgendwo weiter unten ans Ufer schwimmen. Wir werden dem Fluß am Ufer entlang folgen und nach ihm suchen.« »Es ist meine Schuld«, klagte Olther. »Er stolperte über mich. Ich bin ein ungeschicktes, dummes Tier und habe den Tod meines liebsten Freundes verursacht.« »Hör auf, Olther. Es war nicht deine Schuld. Er ist unglücklich gefallen«, widersprach Flewingam. »Wir sollten sofort aufbrechen. Vielleicht braucht er unsere Hilfe.« Thumb legte sachte eine Tatze auf Olthers Schulter. »In dieser Welt bestimmt nicht mehr«, sagte Olther verbittert. »Wir brauchen dich, Olther. Wir müssen Thumb und seine Gefährten heil hier herausführen. Bruinlen hätte seine Freunde in der Not nicht im Stich gelassen.« Olthers verzerrtes Gesicht glättete sich, mühsam schluckte er seine Tränen hinunter. Er räusperte sich und sprach dann mit zitternder Stimme: »Also gut. Ich tue, was ich kann, und begleite euch, bis wir wieder ans Tageslicht kommen. Dann kehre ich allein hierher zurück und suche nach Bruinlen.« Flewingam sagte nichts darauf und gab Olther frei. Verzagt und niedergeschlagen setzte sich die Truppe, einer hinter dem anderen, in Bewegung und tapste vorsichtig am Ufer des Flusses entlang. Immer wieder starrte Thumb in die Fluten und sagte hoffnungsvoll: »Es gibt hier überall kleine Ausbuchtungen und Felsvorsprünge. Vielleicht konnte er irgendwo ans Ufer schwimmen und sich retten. Er ist ein guter Schwimmer und sehr kräftig. Vielleicht wartet er irgendwo da vorne schon auf uns.« Doch die ermutigenden Worte konnten Olther nicht trösten. Völlig benommen tapste er dahin und schluchzte immer wieder verzweifelt auf. 173
Nach einer Weile erdröhnte die tiefe Stimme Kores und übertönte das tosende Rauschen des Flusses. »Wir nähern uns lichteren Gefilden. Kore muß in sein Reich zurückkehren.« »Ohne dein Augenlicht können wir nichts sehen«, protestierte Flewingam. »Könnt Ihr uns nicht noch ein Stückchen weiter begleiten?« »Im Reich der Wurzeln seid ihr stets willkommen«, dröhnte Kore, »aber jetzt muß ich euch verlassen. In dieser leichten Luft kann ich nicht atmen, sie raubt mir meine Lebenskraft.« »Laß ihn gehen«, sagte Olther dumpf. »Wir finden uns auch im Dunkeln zurecht. Wir müssen nur dem Fluß folgen.« Dann drehte er sich um und verneigte sich vor Kore. »Vielen Dank für Eure Hilfe. Wenn die anderen draußen in Sicherheit sind, werde ich hierher zurückkehren und bei euch bleiben.« »Wie du wünschst, o Reisender des Urstroms. Wir sind die Wurzeln und sind euch stets zu Diensten.« Die Worte verhallten, das Licht erlosch, der Boden bebte und zitterte, und die Gefährten waren wieder allein in stockdunkler Finsternis.
27. Die Beginning Mountains Aufschäumende Gischt, tosende Strudel und wirbelnde Stromschnellen umtobten Bruinlen. Er kämpfte verzweifelt gegen eine mächtige Hand an, die ihn in die Tiefe zerren wollte, und ruderte mit aller Kraft, um wenigstens die Nasenspitze von Zeit zu Zeit über Wasser zu bekommen. Nach einigen vergeblichen Versuchen, ans Ufer zu schwimmen, sparte er seine Kräfte und kämpfte in der eisigen Flut nur noch ums Überleben. Panische Angst ergriff ihn, als er in einen Strudel geriet, der ihn unaufhaltsam unter Wasser zog, seine Ohren dröhnten, 174
seine Lungen drohten zu bersten. Mit einem letzten Aufbäumen – er wußte nicht, wie er noch die Kraft dafür fand – befreite er sich aus diesem tödlichen Sog, tauchte keuchend und spuckend an die Oberfläche auf und schlug mit allen vieren um sich, damit er nicht wieder unterging. Schneller und schneller rissen ihn die Fluten dahin, katapultierten ihn teilweise durch die Luft, und manchmal glaubte er zu fliegen. Einmal berührte eine Hintertatze kurz den Grund des Flusses, doch die Strömung trug ihn fort, ehe er Fuß fassen konnte. Unaufhörlich wurde er von dem tobenden Wasser mitgerissen, und seine Kräfte ließen nach. Erschöpft kämpfte er gegen die Müdigkeit an; seine Glieder waren schwer, und immer öfter versank auch sein Kopf in den Fluten. Er fürchtete in Ohnmacht zu fallen. In Gedanken rief er die Namen aller seiner Freunde, murmelte die Namen der Bäume, die in seiner alten Heimat wuchsen, und begann eben damit, die verschiedenen Sorten Honig aufzuzählen, die er kannte, bis er sich dabei ertappte, wie er die Zauberformel, die ihn in Menschengestalt verwandelte, aussprach. Beim ersten Mal vergaß er ein Wort, wiederholte rasch die ganze Formel und fühlte, wie neue Kräfte ihn durchströmten, als seine müden Glieder sich in starke Arme und Beine verwandelten. Zum ersten Mal seit Stunden – so schien es ihm jedenfalls – hielt er wieder Ausschau nach flachen Stellen am Ufer und bemerkte plötzlich, daß er schattenhafte Umrisse erkennen konnte. Die pechschwarze Finsternis hatte sich gelichtet, und der tosende Lärm des Flusses verebbte allmählich. Prüfend streckte er die Beine in die Tiefe und spürte Grund. Wilde Hoffnung stieg in ihm auf, und er sammelte alle seine Kräfte, um in einem letzten verzweifelten Versuch der Umklammerung dieser eisigen Fluten zu entkommen. Mit rasender Geschwindigkeit trieb Bruinlen auf eine Flußbiegung zu – diese Chance mußte er nützen. Es war zusehends heller geworden, das Licht blendete ihn, und er 175
kniff die Augen zusammen. Da schleuderte er plötzlich mit einem unheimlichen Schwung in hohem Bogen aus dem Wasser und raste durch die Luft mitten hinein in eine Fontäne funkelnder Lichter. In seinem Kopf explodierte ein Feuerwerk greller Blitze. Bruinlen hielt die Augen fest geschlossen, doch die Flammen zuckten unaufhörlich weiter. Ein mächtiger Wind trug ihn höher und höher, wirbelte ihn schwerelos durch die Lüfte. In seinen Ohren dröhnte ein fürchterlicher Lärm. Er hörte erst eine Stimme und dann unzählige Stimmen, die unverständliche Worte schrien. Dann erklang klar und deutlich ein Name – sein alter Name: Biarki, Sohn Algunners. Eine schwache Stimme, die er gar nicht als die eigene erkannte, antwortete diesem Ruf, und er hörte sich sprechen. Er erzählte von der Überquerung des Großen Flusses, Calix Stay, seinen Reisen mit Broko und Olther, schilderte die glücklichen Jahre in ihrem Tal, bis Broko in die Gewalt der Finsteren Königin fiel. Dann berichtete er von der abenteuerlichen Suche nach General Greymouse, der Schlacht bei den Sieben Hügeln und den erholsamen Tagen in Cypher bei Lorini. Er erzählte von dem Kampf um Hel und Havamal, von der Suche nach dem verlorengegangenen Schrein und dem beschwerlichen Unterfangen, ihn jenseits des Calix Stay in Sicherheit zu bringen, wo Greyfax, Fairingay oder Melodias ihn in Verwahrung nehmen würden. Die wirbelnden Lichter in Bruinlens Kopf erloschen, und um ihn herum herrschte wieder Stille. Allmählich beruhigten sich seine aufgewühlten Sinne, und er machte sich bittere Vorwürfe, daß er alle Geheimnisse preisgegeben hatte. Falls er sich in den Händen der Finsteren Königin befand, hatte er damit seine Freunde und den Ring des Lichts verraten und ihren Untergang verschuldet. Doch instinktiv ahnte er, daß er nicht in die Hand seiner Feinde gefallen war. Als sich sein benommener Kopf allmählich klärte, entdeckte er über den Gipfeln einer weit entfernten Bergkette einen zarten Lichtschimmer. Er blickte 176
sich um und bemerkte, daß er irgendwo hoch oben saß. Unter ihm erstreckten sich unendliche Wälder, von goldenen Feldern gesäumt, und kleine weiße Wolken schwebten darüber hin. Ehe er weiter über seine Situation nachdenken konnte, stürzte er kopfüber auf ein schmales, dunkelblaues Band, das sich durch die goldenen Felder wand, und er landete mit lautem Platschen in kühlem, sprudelndem Wasser. Bruinlen schlug wild um sich, denn er glaubte wieder in den reißenden Fluten versunken zu sein. Prustend und keuchend wollte er sich an die Oberfläche kämpfen, bis er die Augen öffnete und entdeckte, daß er auf dem Bauch in einem flachen, lieblich plätschernden Bach lag und in der Luft herumruderte. Das Wasser floß sanft über bunte Kieselsteine, murmelte leise in den kleinen Mulden, und das niedere, grasgrüne Ufer war zum Greifen nahe. Überrascht und verwundert richtete er sich auf und starrte ungläubig um sich. Die Umgebung kam ihm sehr bekannt vor und war doch gleichzeitig fremd. Unbeholfen stand er auf, blickte an sich herab und bemerkte, daß er noch immer in Menschengestalt war. »Na so was«, stammelte er und wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Hat man so etwas schon erlebt!« rief er aus, kletterte unbeholfen ans Ufer und ließ sich ins Gras plumpsen. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, blickte er sich staunend um und sprach erneut die Zauberformel, die ihn Fairingay vor so langer Zeit gelehrt hatte. Langsam und deutlich formulierte er die Worte, doch nichts geschah, er blieb ein Mensch. Er wiederholte die Worte, doch mit demselben Ergebnis. Entgeistert betrachtete er seine Hände, die Tatzen sein sollten, das abgetragene grüne Wams, wo rotbrauner Pelz seine Brust bedecken sollte. Nach weiteren vergeblichen Versuchen gab er resigniert seine Bemühungen auf. »Wahrscheinlich ist mir eines der Worte entfallen«, 177
sagte er laut und klammerte sich an die Hoffnung, daß er sich wieder daran erinnern würde, wenn er sich erst einmal von allen Strapazen erholt hatte. Um sich etwas abzulenken, begann er seine Umgebung zu inspizieren, diesen so seltsam vertrauten Ort, an dem er so plötzlich gelandet war. Rechts von ihm reckte ein majestätischer Wald aus Eichen und Buchen seine Wipfel in den Himmel empor, und weiter unten weitete sich der Bach zu einem der unzähligen Seen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Davor ragten die Gipfel einer Bergkette empor, die Umrisse waren ein wenig verschwommen im dunstigen Blau des Himmels. Sein Herz machte einen Sprung, und wilde Erregung durchströmte ihn. Er lief ein paar Schritte in Richtung der Berge, blieb dann stocksteif stehen, schirmte die Augen mit einer Hand ab und starrte lange auf die blauen Gipfel in der Ferne. Hufgetrappel und schwere Schritte rissen ihn aus seiner Versunkenheit. Nur zu gut kannte er das Klirren und Klappern der Ausrüstungsgegenstände, des Werkzeugs der Soldaten. Und erst jetzt konnte er die Geräusche erkennen, die schon seit einer Weile ungehört an seinen Ohren abprallten. Weit entfernt rollte dumpfer Kanonendonner über die Felder, und ohne länger zu überlegen, raste Bruinlen in den Schutz des nahen Waldes.
28. Bruinlen träumt Mit pfeifendem Sirren jagten Gewehrkugeln über Bruinlens Kopf hinweg und weckten längst vergessene häßliche Erinnerungen. Das Knallen der Schußwaffen war kaum zu hören, seine Verfolger waren noch weit hinter ihm. Dort, wo die Kugeln einschlugen, spritzten Schmutzfontänen auf, und mit Horror dachte Bruinlen an die Schlacht bei den 178
Sieben Hügeln, als er tief gebückt durch den Hagel von Geschossen rannte. Keuchend sprang er kopfüber hinter einem dicken Baum mit Ästen, die bis zur Erde reichten, in Deckung. Schwerfällig wälzte er sich herum und hielt vorsichtig nach seinen Feinden Ausschau, die sich rasch und pausenlos feuernd näherten. Bruinlen kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an und versuchte zu erkennen, wer seine Verfolger waren. Die Soldaten trugen mattgraue Helme und graue Waffenröcke. Erleichtert stellte er fest, daß es keine Worlughs oder Gorgolacs, sondern Menschen waren. Der Anführer des Stoßtrupps, der bereits gefährlich nahe war, ritt auf einem kupferfarbenen Pferd, das unruhig tänzelnd die Nüstern blähte und am Zaumzeug zerrte. Bruinlen konnte keinerlei Abzeichen an den grauen Uniformen entdecken. Ein Stück weiter verdichtete sich der lichte Wald, und ohne länger über diese neuen Feinde nachzugrübeln, hastete er tief gebückt auf das schützende Dickicht zu. Ehe er sich's versah, stolperte er in wilder Panik über einen grün gekleideten Mann, der ihn nicht weiter beachtete, sondern angestrengt in Richtung der heranmarschierenden Truppe starrte. Bruinlen rannte einige Schritte weiter und prallte direkt in die Arme einer kräftigen Gestalt, die ihn auffing und ihm beruhigend auf die Schulter klopfte. »Langsam, langsam, mein Alter. Hier bist du in Sicherheit«, sagte eine ruhige, tiefe Stimme. »Er ist völlig erledigt«, sagte eine zweite freundliche Stimme. »Bring ihn hierher, da kann er sich hinlegen«, befahl ein weiterer Mann. Bruinlen ließ sich zu einer Lichtung führen und sank erschöpft auf einen ausgebreiteten Mantel nieder, der auf dem weichen Waldboden lag. Keuchend rang er nach Luft und streckte alle viere von sich. Vereinzelt waren noch Schüsse zu hören, doch sie schienen sich zu entfernen. Der grün gekleidete Mann, über den er zuerst gestolpert war, 179
trat auf die hochgewachsene Gestalt zu, die ihn aufgefangen hatte, und salutierte. »Sie wagen nicht, näher zu kommen, Sir. Wir haben ihren Angriff abgewehrt, und sie treten den Rückzug an.« »Sehr gut. Sie werden es nicht riskieren, diese Wälder noch einmal zu betreten.« Der hochgewachsene Mann, offensichtlich der Anführer der Truppe, die überall im Dickicht versteckt lauerte und in ihren grünen Uniformen gut getarnt war, drehte sich um und näherte sich Bruinlen. »Nun, alter Freund, laß deine Geschichte hören. Wieso wurdest du von diesen Schakalen gejagt? Und wie hast du es geschafft, unbewaffnet durch die feindlichen Fronten zu schlüpfen?« Bruinlen blickte hoch und musterte den Mann eingehend. Er hatte ein freundliches, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht und ein offenes Lächeln. Es war zweifelsohne das Gesicht eines Mannes, und doch erinnerte vieles daran Bruinlen an die Elfen, so wie er sie an den Singenden Brunnen von Cypher hatte sitzen sehen. Bruinlen öffnete den Mund zu einer Antwort, doch da überfiel ihn plötzlich ein Schwindel, die Bäume drehten sich vor seinen Augen, und er wirbelte erneut in einem Lichterreigen funkelnder Strahlen herum. Dann senkte sich wie eine weiche Decke tiefe, friedliche Dunkelheit über ihn. Er hörte noch wie aus weiter Ferne besorgte Stimmen, die nach Wasser und einem weiteren Mantel riefen, dann erloschen die Lichter, und er schwebte sanft auf einer der kleinen weißen Wolken empor, die er vorhin über den dunstigen blauen Bergen gesehen hatte. Die Stimmen verklangen, und im Traum plumpste er in seine alte Hängematte, zog weiche, warme Decken über sich und sank erschöpft in tiefen Schlaf. Und melodisches Singen begleitete ihn in ein weites, blaues Land jenseits von Kummer, Hunger und Träumen. 180
29. Eine Reise durch Zeit und Raum Kore, die Wurzel, ließ die Gefährten am Ufer des tosenden Urstroms zurück. Sie konnte sich nicht erklären, was den sonst so friedlichen Fluß derart aufgewühlt hatte. Noch nie zuvor waren die Wassermassen so bedrohlich gurgelnd durch ihr unterirdisches Bett geströmt. Den seltsamen Fremden gegenüber hatte sie diese beängstigende Veränderung nicht erwähnt. Sie konnte nicht verstehen, daß die Reisenden so starrsinnig darauf beharrten, in das Chaos dieser unwirtlichen Welt über der Erde zurückzukehren. Kore überlief ein Schauder, und sie beeilte sich, wieder zu ihren Gefährten tief unterhalb dieser bedrohlich luftigen Ebenen zu gelangen. Kurz darauf hörte sie ein hohles, furchterregendes Grollen, das die Erde hinter und unter ihr erbeben ließ. Und irgendwo über ihr, in einem stillen Raum, lauschte Broko angestrengt auf die Botschaft, die ihm die uralten Wände des Zwergengemäuers zu übermitteln versuchten. Er vernahm ein leises Rauschen und Singen, war sich aber nicht sicher, ob er vielleicht nur Ohrensausen hatte. Im nächsten Moment spitzten auch Ned und Cranfallow aufgeregt die Ohren, fuhren erschreckt auf und starrten Broko verwirrt an. »Ich weiß auch nicht, was es ist«, beantwortete er ihre fragenden Blicke. »Zuerst dachte ich, es dröhnt nur in meinen Ohren, doch es wird immer lauter.« »Kommt dieses Dröhnen vielleicht aus dem goldenen Schacht, der die schwarzen Monster verschluckt hat?« fragte Cranny mit ängstlich aufgerissenen Augen. »Ich habe keine Ahnung, mein Freund«, log Broko und verschwieg den beiden seine alptraumhafte Vision. »Ich weiß wirklich nicht, was es zu bedeuten hat. Laßt uns jedenfalls so schnell wie möglich von hier verschwinden. 181
Nehmt euer Gepäck und folgt mir!« »Nichts hält mich hier zurück«, stimmte Ned zu, zog sich seinen Hut über die Ohren und stand auf. Cranfallow legte ein Ohr auf den Boden und lauschte angestrengt. »Es hört sich wie ein tosender Fluß in einer engen Schlucht an.« Broko bückte sich ebenfalls und sagte dann: »Ja, es ist Wasser, Cranny, doch das Brausen gefällt mir überhaupt nicht. Vielleicht ist irgendwo ein Damm gebrochen, als die Ungeheuer in die Tiefe gezogen wurden. Es hat mächtig gerumpelt und gepoltert, da wäre es doch möglich, daß eine Mauer der Festung eingestürzt ist. Es klingt, als würden ungeheure Wassermassen durch unterirdische Gänge rauschen.« Broko schnallte sich hastig seinen Rucksack um und ergriff die kurze Zwergenaxt. »Rasch, wir müssen hier heraus.« »Sofort, ich bin gleich soweit«, sagte Ned und zurrte seinen Rucksack fest. »Ich bin bereit!« rief Cranfallow, hievte den schweren Rucksack auf seine Schultern und schlang sich noch zwei Wassersäcke um den Hals. Schwer beladen marschierten die drei Freunde durch die alte Waffenkammer dem bläulich schimmernden Licht entgegen, das unruhig flackerte und dann ganz erlosch. Unaufhörliches Grollen und Tosen begleitete sie. Im letzten Schimmer des Lichts hielt Broko an. »Es hat etwas mit Wurzeln zu tun. Ich komme einfach nicht dahinter, was damit gemeint sein könnte.« »Führt dieses schwarze Loch hier irgendwo an die Oberfläche?« fragte Ned. »Wenn ich mich recht erinnere, führt dieser Gang hier zu einer Kreuzung. Und diese Kreuzung hat etwas mit Wasser zu tun. Ich glaube, dieser unterirdische Fluß führt ans Tageslicht.« »Na, das soll mir egal sein. Hauptsache, ich kann meine Nase bald wieder in die frische Luft recken«, nörgelte Ned. Undurchdringliche Finsternis hüllte sie nun wieder ein, 182
und Broko tastete sich an den Wänden entlang und folgte dem Geräusch, das immer lauter wurde, je tiefer sie in den unheimlichen Schacht eindrangen. Brokos Hand krampfte sich um den Griff der Axt. Die Finger der anderen Hand schlossen sich fest um das kleine Kästchen in seinem Mantel. Sie waren noch nicht weit gekommen, als die Erde unter ihnen und die Wände des Tunnels zu beben begannen, und eine feine Wolke aus Gesteinstaub senkte sich auf die drei Freunde. Eine fürchterliche Erschütterung riß sie zu Boden, und Cranfallow schrie entsetzt auf, als direkt vor ihm eine Wand krachend einstürzte. In der pechschwarzen Dunkelheit konnten sie nicht erkennen, was geschehen war. In panischer Angst tastete Ned nach Brokos Hand und umklammerte sie mit eisernem Griff. Ohrenbetäubendes Poltern und Krachen begleitete die heftigen Erdstöße. »Das ist das Ende!« schrie Cranny mit schriller Stimme, doch innerlich war er seltsam ruhig angesichts des bevorstehenden Todes. »Hierher, Ned, Cranny, kommt zu mir!« rief Broko, der sich mühsam auf den Beinen hielt, und streckte die Hände nach seinen Freunden aus. Ned Thinvoice und Cranfallow umschlangen ihren kleinen Freund mit den Armen, und eng aneinandergepreßt standen sie inmitten eines höllischen Infernos. »Mir schwante Schreckliches, als diese schwarzen Teufel in das goldene Loch fuhren«, klagte Ned jämmerlich, »dieser Berg wird uns zerquetschen wie Fliegen.« »Gib nicht auf, Ned!« schrie Broko. »Noch haben wir den Heiligen Schrein.« »Der kann uns auch nicht davor bewahren, hier lebendig begraben zu werden«, schimpfte Cranny. Broko befreite sich etwas aus der Umklammerung seiner Freunde und zog den Schrein aus dem Mantel. Als er ihn in der Hand hielt, ertönte ein gräßliches Getöse, und selbst 183
Broko, der hoffnungsvoll das Kästchen an sich drückte, verlor jeglichen Mut. Dunkel senkte sich die unabänderliche Gewißheit ihres Untergangs in sein Herz. Der tosende, schreckliche Fluß würde sie in seine tödlichen Tiefen reißen. Donnerndes Brüllen verschluckte jedes Wort des Abschieds. In Todesangst umklammerten sich die Gefährten, und dann stürzten die entfesselten, wild schäumenden Wassermassen auf sie nieder und rissen sie mit sich fort, hinein in eine schweigende, unendliche Schwärze. Brokos letzte Gedanken, ehe eine tiefe Ohnmacht ihn umfing, waren angefüllt mit grenzenloser Verzweiflung. Er hatte versagt. Seine Freunde, den Ring des Lichts verraten und den Verlust des Heiligen Schreins verschuldet. Ohne die Kraft der Geheimnisse, die der Schrein barg, war Atlanton verloren und würde in absoluter Finsternis versinken. Doch im letzten Moment, ehe die dunklen Tiefen der Fluten ihn verschluckten, erinnerte er sich an seinen Traum, und während das Licht dieser Welt in Finsternis versank, sah er, wie eine neue Welt erstrahlte. Mit ausgestreckten Armen winkte eine weißgekleidete Gestalt ihm freundlich zu. Weiter unten überflutete der unbändige Urstrom die Ufer und schwemmte Olther und Flewingam und Thumb und auch dessen Gefährten in die nasse Schwärze seiner Tiefen. Einen Herzschlag lang erstarrte alles Leben, und die Freunde wirbelten durch einen hellflammenden Tunnel an der Schwelle zum Ursprung allen Lebens. Dieser lautlose Flug durch fremde Gefilde vereinte die Freunde, und auf dieser zeitlosen Reise durch die Lüfte des Universums entzündete sich in ihnen die Flamme Windameirs und leuchtete in ihren Herzen. Ein leiser Hauch, ein schwacher Herzschlag würde genügen, sie zu neuem Leben zu erwecken, um sie erneut, betraut mit weiteren beschwerlichen Aufgaben, auf die Reise zu schicken. 184
Ein Kerzenlicht flackerte plötzlich unruhig im Wind, und als die Stille wuchs, erklang das Lied des Lebens und der Liebe von neuem.
185