Calibans Goldschatz
von Ekkehart Reinke scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Am Waldrand erschien ein Z...
45 downloads
685 Views
498KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Calibans Goldschatz
von Ekkehart Reinke scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Am Waldrand erschien ein Zweiergespann, das eine rotbemalte Kutsche zog. Der Kutscher warf scheue Blicke in alle Himmelsrichtungen, dann lenkte er das schwerbeladene Gefährt in eine düstere Senke. »Was hast du?« fragte sein junger Begleiter. »Wir nähern uns einem verrufenen Ort«, gab der andere zurück. »Sie nennen ihn den Hexentanzplatz.« Schwerfällig mahlten die Räder der Kutsche durch den grauen Sand. Wind pfiff durch das Gebüsch. Die letzten Strahlen der Abendsonne blendeten. »Ich glaube zwar nicht an derlei Ammenmärchen«, sagte
der jüngere Mann auf dem Kutschbock keck. »Aber gäbe es Hexen, so wollte ich sie gern tanzen sehen. Natürlich keine alten, sondern frische junge Hexlein!« Die Männer sollten keine Hexen tanzen sehen, sondern blinkende Schwerter. Jetzt ging es für sie ums Überleben.
Wie Gespenster brachen die Zwei aus dem Busch. Aber sie ritten auf Pferden von Fleisch und Blut, und sie selber waren auch höchst lebendig. Brustharnisch und Helm umschlossen die Leiber der Reiter. Im Galopp fegten sie heran. »Da siehst du, was für eine Unke du bist«, rief verächtlich der Jüngere auf dem Kutschbock. »Du mit deinen Hexen! Hier kommen uns zwei edle Ritter entgegen, Beschützer der Armen und Schwachen ...« »Vorsicht!« mahnte der Ältere. »Warum haben die edlen Herren wohl ihre Visiere geschlossen? Und warum schwenken sie die blanken Schwerter? Ich fürchte, sie führen Böses im Schilde.« Da mußte er auch schon die Kutschpferde zügeln, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Mit hartem Ruck kam das Gefährt zum Stehen. Gebannt sahen die Männer auf dem Bock den Rittern entgegen. Der vordere war ein hochgewachsener Mann, der einen Rapphengst mit einigen weißen Blessen ritt. Blondes Haar stahl sich unter dem Helm hervor. Im Schein der letzten Abendsonne glänzte es golden. Ihm folgte ein kleinerer Reiter mit beträchtlichem Leibesumfang. Der blonde Ritter packte den Kutscher an der Joppe und riß ihn vom Sitz. »Herunter mit euch!« Die Stimme klang wie Metall. »Wird's bald? Soll ich euch Beine machen?« Drohend schwang er die blitzende Klinge. Die beiden sprangen hurtig vom Bock in den gelben Heidesand, jeder nach seiner Seite. Unschlüssig und beklommen standen sie da, bis der Ritter sie anfuhr: »Werft euch zu Boden!« Sie taten es. »Nicht so! Dreht euch auf den Bauch! Und die Nasen ins Erdreich gedrückt! So ist's recht. Ihr lernt rasch. Nun denkt an eure Sünden, rührt euch nicht und schließt die Augen - sonst wird euch ein anderer, Gevatter Tod nämlich, bald die Augen für immer schließen!« Zitternd lagen die Kutscher im Sand und gaben keinen Mucks von
sich. Indessen ritt der große Mann weiter. Vor ihm öffnete sich der Kutschenschlag. Ein bärtiges Männergesicht lugte heraus. »Warum, zum Teufel, wird hier gehalt...« Die Hand des Ritters schoß vor, faßte den Bart und zog daran. Der Gepeinigte schrie laut auf. Er wurde aus der Kutsche gezerrt und fiel draußen auf die Knie. »Alle heraus!« dröhnte die metallisch klingende Stimme hinter dem geschlossenen Visier. Wenig später standen die Insassen - zwei Männer und zwei Frauen - verstört im Freien. Ängstlich wanderten ihre Blicke zwischen den reglos liegenden Kutschern und Reitern, deren Gesichter nicht zu erkennen waren, hin und her. Die letzten Sonnenstrahlen verlöschten. Urplötzlich kroch ein kalter Schauder über die Erde. Rot glühte es am Himmel. Die Damen fröstelten. Eine begann zu weinen. »Machen wir es kurz!« sagte der Ritter schneidend. »Die Herren händigen uns ihre Geldkatzen aus, die Damen ihren Schmuck.« »Das ist unverschämter Straßenraub!« empörte sich der Bärtige. »Ihr solltet Euch schämen! Wie können Ritter sich zu so unwürdigem Tun hergeben!« Er wollte noch weitersprechen, aber da traf ihn der Knauf eines Schwertes am Ohr. Er stieß einen lauten Schrei aus. Seine Hand fuhr in den Rock aus teurem Stoff. Wenig später händigte er, mißmutig und kleinlaut, seine reichgefüllte Geldkatze aus. Sein Begleiter folgte diesem Beispiel. Dabei murmelte er etwas, das niemand verstand. Es klang wie: »Elender Ritter!« »Sagtest du etwas?« fragte der Ritter drohend. »Ich sagte: Möge das Geld euch nützen!« »Gut gesprochen!« Schon streckte der Ritter die Hand nach den Halsketten und Ringen der Damen aus. Jetzt schluchzten beide. Ungerührt nahm er den Schmuck entgegen. Ohne weiteren Verzug wendeten die beiden Berittenen und sprengten davon. Eine Staubwolke bildete sich und sank lautlos zu Boden. Die Kutscher standen auf, klopften sich die Kleider ab und schauten betreten umher.
Die Raubritter aber waren verschwunden, wie sie erschienen waren - ein Spuk. »Habt Ihr den Schild des Ritters gesehen?« fragte der jüngere Kutscher erregt. »Was war mit ihm?« »Er zeigte ein Wappen - einen Würfel mit einem einzigen Auge.« Der Passagier mit dem Bart ließ sein blutendes Ohr los und faßte sich an die Stirn. »Gut beobachtet, Bursche! Es paßt zu dem übrigen. Der Ritter war hochgewachsen, blond und saß auf einem Rapphengst.« »Was bedeutet das alles?« fragte eine Dame. »Der Mann, der uns ausplünderte, war Ritter Roland! Roland, den alle für einen untadeligen jungen Helden halten, ist nichts anderes als ein erbärmlicher Strauchdieb!« * Zwei Tage später lagerte zur Mittagszeit eine Gruppe reisender Kaufleute auf einer Wiese, durch die sich ein schmaler, aber lebhafter Bach schlängelte. Nach einem herzhaften Mahl vom mitgeführten Proviant hatten sich die Herren zu einem Schläfchen im milden Herbstsonnenschein ausgestreckt. Plötzlich fielen zwei große Schatten über sie. Die Herren erwachten. Mitten unter ihnen saßen hoch zu Pferde zwei Ritter. Der Größere von ihnen deutete auf mehrere Ballen sehr guten Stoffes und fragte: »Wieviel verlangt ihr für diese Ware, Leute?« Die Kaufleute steckten die Köpfe zusammen und berieten sich flüsternd. Dann sagte der, den sie zum Sprecher erwählt hatten: »Für 100 Dukaten sollen diese Stoffe Euer sein!« »100?« wiederholte der große Ritter. »Das ist wohlfeil. Da braucht man nicht länger zu handeln.« Und er befahl seinem kleinen, ziemlich beleibten Begleiter, den er Pierre nannte, die ausgesuchten Stoffballen auf das mitgeführte Packpferd zu verladen. Die beiden jüngsten Kaufleute beeilten sich, ihm dabei zur Hand zu gehen, so
daß die Arbeit in kürzester Zeit erledigt war. Danach bedankte sich der große Ritter bei allen Kaufleuten für den angenehmen Verlauf des Handels, wünschte ihnen eine gute Reise und weitere vorteilhafte Geschäfte und schickte sich an, dem bereits wegreitenden Gefährten zu folgen. Doch die Kaufleute stellten sich ihm in den Weg. »Herr, Ihr vergaßt zu zahlen!« Erst jetzt fiel ihnen auf, daß beide Ritter zu keiner Zeit ihr Visier gelüftet hatten und ihre Gesichter deshalb verborgen geblieben waren. »Ist das so?« entgegnete der Ritter. »Wie unbesonnen ich war! Verzeiht mir, ich hole es nach. 100 habt ihr verlangt, nicht wahr? Und 100 sollt ihr bekommen. Ich zahle bar, und ich zahle in meiner eigenen Münze.« Damit hob er die Lanze und drosch mit dem eisernen Schaft auf den nächststehenden Kaufmann ein. Dabei zählte er laut die grausamen Schläge mit, als zähle er Golddukaten auf dem Tische ab. Bei sieben aber brach der bedauernswerte Mann zusammen. Die harten Schläge hatten ihm das Schultergelenk gebrochen. Keinen Blick verschwendete der Raubritter an den hingestreckten Körper des Verletzten. Vielmehr spornte er seinen Rappen, um dessen Kameraden zu verfolgen. Sie rannten in schierer Angst wie gejagtes Wild nach vielen Seiten davon. Laute Schmerzensschreie verkündeten, daß er noch hier und da einen erreichte und »bezahlte«. Doch bald wurde er der Verfolgungsjagd müde, und beim 16. Schlag stellte er sie ein. Weit dröhnte seine metallische Stimme durch das Tal. Sie drang, gut zu verstehen, auch an die Ohren der Fliehenden. »Warum rennt ihr denn vor eurem Schuldner davon?« rief er mit ätzendem Spott. »Paßt euch meine Münze nicht? Dabei sind meine Spezialdukaten viel wertvoller als die gemeine Feld-, Wald- und Wiesenmünze. Von der hält doch schon jeder Bauer ein paar Stück in der Matratze versteckt. Und mancher Landstreicher hat ein Exemplar im Halstuch verknotet. Seht nur - unter dem Gewicht von nur sieben meiner Dukaten ist euer Kamerad bereits zusammengebrochen.
Bleibt stehen, damit ich euch voll auszahlen kann - denn ich zahle gern!« Doch nur umso eiliger entfernten sich die geängstigten Männer. »Nun denn, nachlaufen will ich euch nicht«, beschloß der Ritter. »Zu seinem Glück soll man niemand zwingen, heißt es. Wo der Gläubiger Reißaus nimmt, da erlischt jede Schuld.« Sprach's, riß sein Pferd herum und folgte dem Reiter mit dem Packpferd. Bald war er verschwunden. Nach geraumer Zeit wagten sich die Kaufleute wieder an den Ort des unglückseligen Handels zurück. Grau im Gesicht, standen sie um den verwundeten Kameraden, der jämmerlich stöhnte. Einer, der sich auf Wundpflege verstand, richtete ihm mit Ästen und Leinen einen Verband. Ihr Sprecher aber sagte in ohnmächtigem Zorn: »Weh dir, falscher, verräterischer Roland! Wir haben dich gar wohl erkannt - an Schild, an Gestalt und am Roß. Auch nanntest du unbesonnen den Namen deines Knappen Pierre! Weh dir, der du dich als Drachentöter feiern läßt, während du in Wahrheit das schändliche Gewerbe des Raubgesellen betreibst!« * Die Gerüchte wanderten mit dem leichten Fuß des Boten, der kundig die Gebirge überschreitet - und mit dem raschen Galopp des Reiters über die offene Ebene. Die Neider, die das schnelle Anwachsen von Rolands Ruhm mißgünstig beobachtet hatten, begannen zu triumphieren. Die meisten Ritter aber waren betroffen und traurig. Jedes Verbrechen, das einer ihres Standes beging, beschmutzte auch den eigenen Wappenschild. In den Burgen wuchs die Unruhe. Schwer trafen die üblen Nachrichten Rolands Freunde. Wie ein Pesthauch vergifteten sie die Luft in der Aue, wo Percy Heißblut auf seiner schmucken kleinen Feste eine Schar Ritter gastlich
willkommen hieß. Noch nie hatten die Wände der rauchgeschwärzten Halle an den Abenden, da der Weinkrug kreiste, so viele derbe Flüche vernommen! Rolands Untaten mußte Einhalt geboten werden. Und sie durften nicht ungesühnt bleiben. Darüber waren die Gäste sich einig. Der abwesende Übeltäter wurde herzhaft verwünscht. Niemand tat sich dabei mehr hervor als der Graukopf Odoaker. Am liebsten hätte sich Percy, der Gastgeber, die Ohren zugestopft. Jedes Wort gegen den Mann, der ihn bei den Wikingern vorm Hängetod bewahrt hatte, schnitt ihm wie ein Messer ins Herz. Eine Stunde nach Mitternacht hielt er es nicht mehr aus. Mit den Fäusten hämmerte er auf die schweren Bohlen der eichenen Tafel, daß Krüge umstürzten, Wein verschüttet ward und alle Gespräche verstummten. »Wer unter diesem Dach«, rief Percy, »noch weiter die Stimme gegen Roland erhebt, den fordere ich zum Waffengang! Denn wer Rolands Ehre schmäht, schmäht auch die meine! In einer Woche treffe ich ihn am geheimen Ort. König Artus' Tafelrunde hat ihm einen neuen Auftrag erteilt. Er soll den Goldschatz des Caliban suchen und bergen. Dabei begleite ich ihn. Drum hütet Eure Zungen! Sonst wird meine Lanze rot sein vom Blute der Schmäher, wenn ich Roland, meinen Freund, begrüße!« Mancher versteckte sein Gesicht im Weinkrug. Aber viele Gäste murrten. Mit schriller Stimme schrie Odoaker: »Wollt Ihr einen Verbrecher in Schutz nehmen, Percy?« »Schweigt!« donnerte Percy entflammt. »Ich kenne Roland besser als ihr alle! Als mein Leben verfallen war, mein Körper in Fesseln lag und Wikingerführer Hakon Scharfaxt mich am höchsten Mast seines Schiffes zu hängen befahl - stand Roland an meiner Seite und bot 300 blutgierigen Wikingern Trotz. Daß ich Euch heute zu Gast laden konnte, verdanken wir nur ihm!« Odoaker wußte eine Entgegnung. »Eure Freundschaft in Ehren, aber was beweist sie? Nichts. Umso schlimmer verurteilte ich den,
der gestern tapfer gegen die Wikinger focht, wenn er heute harmlose Kaufleute überfällt!« »Schweig, Odoaker! Kein Falsch wohnt in Rolands Herz. Die Berichte lügen, oder die Zeugen müssen sich geirrt haben. Eher schießt der Blitz von der Erde aufwärts und schlägt hoch oben in die Wolke ein, als daß Roland eine ehrenrührige Tat beginge!« Beeindruckt schwiegen die Ritter. Nur Odoaker fuhr fort zu höhnen. »Man könnte meinen, edler Percy, nicht die schöne Helga sei Eure Gattin, sondern Ihr teiltet lieber mit Roland das Ehebett.« Diesen lästerlichen Worten folgte langes Schweigen. Manch einer wagte kaum zu atmen. Zentnerschwer wog die Beleidigung. Mit ungeheurer Anstrengung bezwang Percy den Drang, Odoaker zu packen und an die Wand zu schmettern. Endlich erhob er die mühsam gebändigte Stimme, während seine Hände zuckten. »Nur Euer graues Haar bewahrt Euch davor, Odoaker, daß ich Euch zum Waffengang fordere und mit der Lanze durchbohre. Wenn je das Wort Feigling in Verbindung mit einem Ritternamen gebraucht werden durfte, dann mit dem des eitlen Spötters Odoaker. Wer floh außer Landes, als die Wikinger angriffen? Odoaker! Wer sprang aus Angst vor einem meuternden Milchbart von Knappen aus dem Fenster, brach sich die Hüfte und lahmt noch heute? Odoaker! Wer meldete zu vielen Turnieren und sagte stets unter dünnem Vorwand ab? Odoaker!« Totenbleich saß der Gescholtene und wagte den Blick nicht zu erheben. »Heute schützt Euch noch das heilige Gastrecht vor meinem Zorn, Unseliger«, fuhr Percy fort. »Aber danach kommt mir nie wieder ins Gehege! Und nahtet ihr im kältesten Winter nackt und erschöpft, aus vielen Wunden blutend, durch tiefen Schnee dieser Burg, während hungrige Wölfe Euch umkreisten, ich ließe Euch die Tore nimmermehr öffnen!« *
Frohen Mutes lagerte die kleine Gruppe von Pilgern auf einer Anhöhe hoch über dem Rhein. Ihr Wegführer, ein kecker junger Bursche aus einem Dorf am großen Strom, hatte eine erfreuliche Mitteilung bekanntgegeben. Nur noch fünf Tagesreisen waren sie von ihrem Ziel, der heiligen Stadt Köln, entfernt. Während die Pferde unter dem wolkenbedeckten Himmel weideten, sahen die Pilger ehrfürchtig über den breiten Fluß zum jenseitigen Ufer und machten sich gegenseitig auf die Schönheiten der Landschaft aufmerksam. Manch einer betete still versunken im dankbaren Glücksgefühl, so Herrliches schauen zu dürfen. Da brauste wie ein Ungewitter ein Reiterpaar unter die fromme Herde. Gepanzert an Brust und Kopf, brachten zwei Ritter ihre Pferde mitten in der Gruppe zu plötzlichem Halt, sprangen auf den Boden und zogen die Schwerter. Die drei Frauen unter den Pilgern stießen Schreckensrufe aus und drängten dicht zueinander. Der eine Ritter war ein hochaufgeschossener Mann, dessen Gesicht unter dem verschlossenen Visier nicht zu erkennen war. Er kam ohne Umschweife zur Sache. »Mir ist zu Ohren gekommen«, sagte er mit einer metallisch klingenden Stimme, »daß ihr Männlein und Weiblein erhebliche Goldmengen mit euch führt. So etwas kann auf einer langen Reise zu Beschwerlichkeiten führen. Erlaubt also, daß ich euch von dem Überfluß befreie, ehe ihr noch bösen Räubern in die Hände fallt!« Und damit wandte er sich schon an den nächststehenden Pilger. Mit hohntriefenden Worten forderte er ihn auf, die Arme zum Himmel zu strecken und den Rock zu lüften, damit er ihm leicht an die Börse käme. Auf diese Weise nahm der Ritter in schneller Folge den Männern das Geld ab. Trotz ihrer bescheidenen Kleidung führten sie zum Teil wirklich größere Summen bei sich. Denn die meisten begnügten sich nicht mit dem Zehrpfennig. Vielmehr gedachten sie, am Ziel ihrer Reise, wo sie Vergebung aller Sünden erhofften, der Kirche eine erkleckliche Spende zukommen zu lassen. Viele hatten jahrelang dafür gespart.
Mit diesen schönen Plänen war es nun vorbei. Der Ritter ließ ihnen nichts, was Ähnlichkeit mit Gold und Goldeswert hatte. Niedergeschlagen ließen die Pilger diese harte Schicksalsprüfung über sich ergehen. Nur einer empörte sich. Mutig trat er zu dem plündernden großen Mann. »Herr Ritter, bedenkt, welche Sünde Ihr auf Euch ladet! Ihr bestehlt den lieben Herrgott, für den der größte Teil unseres Geldes bestimmt ist.« Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde der Ritter zornig. Schon bereute der Pilger sein vorschnelles Wort. Doch dann besann der große Mann sich anders. Er brach in schallendes Gelächter aus und rief: »Du bist auf dem Holzweg Pilger! Ich und der Herrgott wir stehen so miteinander.« Er hob die rechte Hand, wobei er Zeigeund Mittelfinger verschränkte. »Versündigt Euch nicht, Herr!« mahnte die milde Stimme eines älteren, fast kahlköpfigen Pilgers voll Nachsicht. »Nein, wirklich«, fuhr immer noch lachend der Ritter fort. »Gerade heute morgen erst gab mir der Herrgott ein Zeichen. Als ich noch auf meinem Lager ruhte, fragte ich mich: >Wohin soll ich reiten, um einen fetten Fang zu machen?< Und eine innere Stimme sagte mir: >Reite zu der Anhöhe am Rhein!< Nun, siehst du, das war die Stimme des Herrgotts, der es wahrhaftig gut mit mir meinte.« »Es war die Stimme des Teufels«, sagte erschauernd der kahlköpfige Pilger. »Du irrst! Der Teufel hätte mich in seiner bekannten Bosheit betrogen und mich irgendwohin geschickt, wo ich stundenlang vergeblich auf reiche Leute gewartet hätte!« Unter so rohen und lästerlichen Scherzen befreite der Ritter auch die letzten der frommen Schar von all ihrem Vermögen. Indessen hatte sich sein Begleiter - ebenfalls mit heruntergelassenem Visier an die drei Frauen herangemacht. Zwei lieferten ihm, wenn auch unter bitteren Tränen, freiwillig ihre Geldtaschen aus. Die Dritte, eine wohlgestaltete, hübsche Bürgerin, wollte ihn mit einem einzigen Dukaten abspeisen, den sie ihm mit spitzen Fingern reichte.
Der große Mann bemerkte ihr Manöver. »Laß dich nicht reinlegen, Louis!« warnte er. »Greif ihr in den Blusenausschnitt! Feine Damen pflegen oft ihr Geld in dem stillen Tal zwischen den beiden Hügeln ihres Busens zu verbergen. Frisch hineingefaßt!« Zum Erschrecken der Frau gehorchte Louis. »Der Rat ist trefflich, Roland!« rief er, packte die Frau mit dem Schwertarm an der Schulter und streckte die andere Hand nach ihrer Bluse aus. Da traf er auf ein unerwartetes Hindernis. »Hände weg, verruchter Bube!« erklang eine helle Stimme. »Du wirst diese Frau nicht berühren! Das lasse ich nicht zu!« Bei diesen Worten holte der junge Wegführer unter seiner Joppe eine stämmige Holzkeule hervor, die mit mächtigen Nägeln gespickt war. Mit dieser Waffe drang er auf den kleineren Ritter ein. Der ließ die Frau los und trat einige Schritte zurück. Herausfordernd schwang der junge Wegführer den Morgenstern. Der große Mann erfaßte die Lage auf einen Blick. Er ließ ein paar der geraubten Geldbeutel fallen und schritt drohend auf den Jungen mit der mörderischen Waffe zu. Der drehte sich zu dem neuen Gegner herum und ging in Verteidigungsstellung. »Laß den Morgenstern fallen!« befahl der große Mann. »Wenn Ihr die Dame in Frieden laßt!« verlangte der Junge. »Das ist bereits geschehen.« »Und Ihr werdet ihr auch nachher nicht mehr zu nahe treten?« »Nein. Sie kann unbesorgt sein. Eine Dame, die sich eines so kühnen Beschützers rühmen kann, hat nichts von uns zu befürchten.« Der Junge zögerte. »Versprecht Ihr mir das?« »So wahr ich Ritter bin!« Befriedigt ließ der Junge die gespickte Holzkeule sinken und trat bescheiden an seinen Platz zurück. Es war das letzte, was er auf Erden tat. Mit gewaltigen Sprüngen folgte ihm der große Mann. Hoch auf zuckte das Schwert. Dann sauste es herab! Der Schlag auf sein ungeschütztes Haupt tötete den jungen Wegführer sofort. Die Pilger sahen es in stummem Entsetzen. Nur
ein Stöhnen war in der Luft. Unter Flüchen hob der große Mann den Leichnam auf und schleuderte ihn den Abhang hinunter. So schnell sie konnten, rafften die beiden Schwertbrüder die Geldbeutel zusammen, warfen sich auf ihre Pferde und galoppierten davon. * Es dauerte mehrere Stunden, ehe sich die Pilger von dem lähmenden Entsetzen erholten, das sie bei dem grauenhaften Geschehen befallen hatte. Zunächst errichteten sie an der Todesstelle ihres jungen Wegführers ein aus trockenen Ästen roh gezimmertes Kreuz. Mit Tränen in den Augen sprachen sie ihre Gebete für seine Seele. Danach hob ein großes Beratschlagen an. Die Dame, der durch des Jungen beherztes Eintreten ihr Geld erhalten geblieben war, verteilte ihren Reichtum unter den Ausgeraubten. Mit drei Begleitern setzte sie alsdann entlang des Stroms die Pilgerfahrt nach Köln fort. Die meisten anderen traten erschüttert und mutlos geworden den Heimweg an. Zwei Männern, die sich häufiger mit dem Jungen unterhalten hatten, wurde die schwerste Aufgabe zuteil. Sie brachten den Leichnam in dessen Heimatort zurück. Zwei Tage später fanden fünf der heimkehrenden Pilger Herberge für eine Nacht auf Percy Heißbluts Burg in der Aue. Ihre Berichte weckten Mitleid und ohnmächtigen Zorn. Doch Percy blieb mißtrauisch. Er ließ die Leute zu sich kommen und überschüttete sie mit zweifelnden Fragen. Er suchte nach Widersprüchen und möglichen Lügen. Aber nach mehreren Stunden unerbittlichen Fragens mußte er sich eingestehen, daß er ehrliche Leute vor sich hatte, die nichts erfunden hatten. Also war sein Freund Roland ein nichtswürdiger Räuber, der nicht einmal vor Mord zurückschreckte! Allein geblieben, verfiel Percy in einen Zustand, der an Raserei grenzte. So furchtbar war sein Schmerz, daß er eine Schwertklinge,
die ihm in die Hände fiel, zerbrach. Danach wurde er ruhiger. Er ging zu seiner Frau, der schönen Helga, und offenbarte ihr alles. Er schloß: »Morgen reite ich zu dem vereinbarten Treffpunkt. Wenn er die Stirn hat, ebenfalls dorthin zu kommen, ziehe ich ihn zur Verantwortung. Ich werde nicht mit ihm zur Suche nach dem Schatz des Caliban aufbrechen. Ich nehme Roland fest und schleppe ihn in Banden vor das Angesicht des Königs Artus im Schloß Camelot.« Helga erbleichte. Eine furchtbare Angst legte sich auf ihr Gemüt. Im Geist sah sie ihren geliebten Percy von dem verbrecherischen Roland erschlagen. Mit versagender Stimme preßte sie hervor: »Er wird dich umbringen!« Percy lachte bitter auf. »Und wäre er stark wie Samson und stände mit allen Teufeln im Bunde, so würde ich ihn doch überwinden. Denn meinen Arm stärkt die Sache der Gerechtigkeit!« Ein wenig getröstet, folgte Helga ihm des Abends ins Schlafgemach. Der drohende Abschied machte die Welt schwärzer als die einfallende Nacht. Wie Schiffbrüchige klammerten sie sich aneinander fest und ließen sich nicht los. Sie taten kein Auge zu und liebten sich wie nie zuvor. Eigentlich hatte Percy im ersten Morgengrauen wegreiten wollen. Aber vergebens wartete sein Knappe Ken Stunde um Stunde am Burgtor auf ihn. Percy ließ sich nicht blicken. Mittagszeit war schon vorüber, als Percy und Helga erschienen. Ken schaute schüchtern weg, als sie Abschied nahmen. Wieder und wieder fielen sie sich in die Arme. Schließlich entschied Helga: »Ich begleite dich noch ein Stück, Liebster.« Ken holte ihren Zelter. Aber sie bestieg ihn nicht, und Ken mußte ihn am Zügel führen. Denn Percy hatte Helga zu sich in den Sattel gehoben. So konnte er die geliebte Frau noch eine Weile in den Armen halten. Während Ken voranritt, stiegen die beiden an einer einsamen Waldlichtung ab. Von den milden Strahlen der Herbstsonne umflossen, liebten sie sich ein letztes Mal - ach, wie feurig und
innig! Helgas Angst zerschmolz in der Glut der Umarmungen. Die Stärke ihres Mannes überströmte sie. Diese unbändige Jugendkraft erfüllte sie bis in die letzte Faser. Sie pries sich glücklich. Welch ein herrlicher Mann! Der verruchte Roland war bestimmt nicht imstande, ihm auch nur ein Barthaar zu krümmen! Im Galopp ritten sie hinter Ken her und holten ihn nach einer Weile ein. Helga stieg auf den Zelter um. Trotz des Abschieds war ihr Herz jetzt so leicht wie eine Vogelfeder. Die würgende Klammer der Angst war machtlos zersprungen. Noch einmal drückten sich die Liebenden die Hände. Noch einmal fanden sich die Lippen zu langem Kuß. Noch einmal trafen sich ihre Blicke. Noch einmal lächelten sie einander zu. Dann trennten sie sich. Singend trabte Helga zur Burg zurück. Gefolgt von dem unerschütterlichen Ken, strebte Ritter Percy dem gräßlichsten Abenteuer entgegen, das ihm je auferlegt ward ... * Lorimer war ein fahrender Ritter. Kein strahlender Sieger bei Turnierspielen. Kein Kämpfer, von dem Balladen berichteten. Kein Held, nach dem die Weiber ihre Köpfe verdrehten. Lorimer hatte wenige Bewunderer und gar keine Freunde. So war er zum Einzelgänger geworden. Und die Einsamkeit wurde ihm zur zweiten Natur. Sie lehrte ihn vieles. Mit Gleichmut trotzte er allen Widrigkeiten. Ruhig und ohne Murren ertrug er Entbehrungen. Augen und Ohren hielt er stets aufmerksam offen. Mit unermüdlicher Geduld wußte er einen Gedanken in vielerlei Richtungen zu verfolgen, bedachtsam hin und her zu wenden und immer wieder neu zu prüfen. Seine Ausdauer bei körperlichen Anstrengungen war einzigartig. Er konnte 100 Meilen zu Fuß gehen, ohne einmal Nahrung zu sich zu
nehmen. Er schlief auf knorrigen Baumwurzeln oder auf scharfkantigem Felsgrund so gut wie andere auf seidenem Pfuhl. Wenn es not tat, vermochte er eine Woche lang auf Schlaf zu verzichten. Auf die Freuden, die Frauen spenden, verzichtete Ritter Lorimer schon seit vielen Monaten. In der ganzen Zeit war er von einem einzigen Gedanken besessen. Dafür hungerte und dürstete er. Dafür schuftete und quälte er sich. Dafür nahm er jegliche Mühsal in Kauf. Denn er war felsenfest davon überzeugt, am Ende doch ans Ziel zu gelangen. Dann würde er sich zum Herrn der Ritterschaft aufschwingen. Er würde die schönste Burg erbauen, die tollsten Frauen besitzen und die glänzendsten Turnierfeste veranstalten. Ja, mit König Artus würde er wie ein Gleichgestellter verkehren! Seit Monaten suchte Lorimer mit einer Hartnäckigkeit ohnegleichen und einem langerprobten Spürsinn den Goldschatz des toten Räuberhauptmanns Caliban! Er dachte nicht daran, ihn - wie die Tafelrunde es plante - den vielen von Caliban beraubten Rittern und Städten zurückzuerstatten. Behalten würde er ihn bis auf den letzten Dukaten, bis auf das letzte Goldgefäß. Er wollte der reichste Mann des Landes werden - oder im Elend sterben! Schon war er dem Geheimnis dicht auf der Spur. Kein Ritter wußte auch nur entfernt so viel darüber wie er. Wenn auch nicht von Angesicht, so doch mit Namen und Beschreibung kannte er den augenblicklichen Besitzer und eifersüchtigen Hüter des Schatzes. Es war der sagenhafte Zwergenkönig Alberich, den keines Menschen Auge je erspäht! Jeweils zwölf Zwerge mußten ihm einen Monat lang als Schatzwächter dienen. Danach wurden sie von zwölf anderen Zwergen abgelöst. Verrat brauchte Alberich nicht zu befürchten. Das Gedächtnis der Zwerge ist kurz. Und außerdem nahm er jede neue Wachmannschaft viele Meilen entfernt in Empfang und verband jedem die Augen, ehe er sie an die Schatzkammer führte. Ebenso
hielt er es, wenn die alte Mannschaft abgelöst wurde. Lorimer aber kannte bereits den Namen des Ortes. Mit unendlicher Mühe hatte er ihn herausgefunden. Er hieß »das Felsenmeer«. Dieses Felsenmeer sollte sich sechzig Meilen nordostwärts von der heiligen Stadt Köln befinden. Während er die Gegend ruhelos und unermüdlich, gefühllos gegen Hunger und Durst, abgestumpft gegen Hitze, Kälte und Feuchtigkeit durchstreifte, begegnete Lorimer in einer hellen Mondnacht zwölf Zwergen mit verbundenen Augen, denen ein etwas größerer Zwerg voranschritt. Mitten im flotten Schritt verhielt Lorimer, erstarrte und wurde zur Steinsäule, Ein breiter Baum mit wucherndem Unterholz bot ihm willkommene Deckung. Nach einer Weile ließ er sich geräuschlos zu Boden gleiten. Vorsichtig schob er die Zweige des Unterholzes zur Seite und kroch so weit hindurch, daß er das Gelände vor sich gut überschauen konnte. Er hatte sich kaum einigermaßen behaglich in seinem Späherversteck eingerichtet, als der Anführer der Zwerge stehenblieb und auch dem blinden Gefolge, das ihm Hand in Hand nachschritt, zu halten gebot. Sie waren so nahe, daß Lorimer jedes Wort verstehen konnte. Der Anführer sagte mit der gequetscht klingenden Stimme, die den meisten Zwergen eigen war: »Setzt euch hierhin und wartet die Zeit, die man braucht, um eine Meile zurückzulegen! Dann mögt ihr die Binden abnehmen! Ihr werdet euch am selben Orte befinden, wo ich euch vor einem Mond abholte. Von hier aus findet ihr den Weg in die Gefilde, wo ein jeder von euch sein Wesen zu treiben pflegt. Und vergeßt, was ihr saht! Vergeßt es!« Nach jedem Satz antworteten die zwölf artig im Chor: »Jawohl, König Alberich, das werden wir tun!« Oder auch: »Jawohl, König Alberich, alles geschehe nach Eurem Befehl!« Das Herz schlug Lorimer bis in den Hals. Endlich bekam er den sagenhaften König, den Hüter des Schatzes zu Gesicht! Ganz nahe war er nun an seinem heißersehnten Ziel!
Er mahnte sich selbst zu äußerster Vorsicht. Mit Scharfsinn mußte er jetzt zu Werke gehen. Sonst entschlüpfte ihm noch der Schatz im letzten Augenblick. Gleichzeitig aber durfte er es an Mut nicht fehlen lassen. Mit größter Aufmerksamkeit musterte er seinen Gegner, den König Alberich. Trotz seiner geringen Größe bot der Zwergenherrscher einen imponierenden Anblick. Er war in erlesenes blaues Tuch gekleidet, das mit Tausenden von Gold- und Silberfäden durchzogen war. Im dichten schwarzen Haar, das ihm bis auf die Schultern wallte, trug er ein winziges silbernes Krönchen - mehr ein Erkennungszeichen denn ein Symbol seiner Würde. Er war von harmonischem Wuchs, wenn man von den ausladenden Schultern absah, unter denen ein breiter gewölbter Oberkörper den Blick gefangennahm. Er mahnte Lorimer. Die Kraft dieses Mannes mußte bedeutend sein. Der verborgene Ritter ahnte die starken Muskeln, über die Alberich zweifellos verfügte. Sie mußten die fehlende Größe mehr als wettmachen. Dieser Bursche war kein Zwerg wie andere Zwerge. Sein hoher Rang gebührte einem Würdigen. Er würde überall seinen Mann stehen und selbst für einen gut ausgebildeten und erfahrenen Ritter einen beachtenswerten Gegner darstellen. Sicherlich war er auch klug und listenreich. Dafür sprach schon die raffinierte Weise, in der er den Standort seines Schatzes selbst vor den Wachmannschaften geheimhielt. Alberich verließ die zwölf Zwerge. Lorimer ahnte, wohin der König sich jetzt begab. An den Ort, wo die neue Wache hinbefohlen war. Offenbar lag es Alberich daran, zu verhindern, daß die beiden Trupps einander je begegneten. Würde Alberich ihn jetzt in das Felsenmeer führen? fragte sich Lorimer gespannt. Seit Wochen befand er sich in dieser Gegend. Nach allen Richtungen hatte er sie durchstreift. Er war schon am Verzweifeln gewesen. Denn wie sollte es in dieser weithin flachen Landschaft ein Felsenmeer geben, das den aufmerksamen Augen nicht auf viele Meilen hin erkennbar war?
Doch jetzt fühlte Lorimer, daß sich das große Rätsel in der nächsten Stunde für ihn lösen werde. Geduckt schlich er Alberich nach. Es war nicht sonderlich schwer, ihn ungesehen zu verfolgen. Denn der König der Zwerge schritt in ein Feld wilden Hafers hinein, das ihm bis ans Kinn reichte. Sein Kopf ragte darüber hinaus wie der Kopf eines Schwimmers im Wasser. Lorimer hielt den eigenen Kopf natürlich tiefer. Zu Anfang hatte er mißtrauische Blicke nach hinten geworfen. Aber keiner der zwölf Zwerge nahm die Binde von den Augen. Nach Alberichs Weggang hatten sie angefangen zu schwatzen. Doch niemand übertrat sein strenges Verbot. Die warten wirklich, dachte Lorimer. Welch eine Disziplin! Der wilde Hafer wuchs spärlicher und wurde niedriger. Lorimer hielt inne. Er mußte Alberich einen größeren Vorsprung gönnen. Denn jetzt begann freies Feld, das nur von einigen Bodenwellen durchzogen war. Offenbar fühlte sich Alberich völlig sicher. Er ging unbeirrt im gleichen Tempo und warf nie einen Blick zurück. Sowie er hinter einer Bodenwelle oder einem Buckel verschwand, machte Lorimer zehn oder zwanzig lange Sätze und warf sich dann der Länge nach hin. Nie war er mehr als 200 Klafter hinter dem Verfolgten. Zwei Meilen hatten sie auf diese Weise zurückgelegt, als ein Heckensaum im Blickfeld erschien. Die Hecke schien sich endlos nach links und rechts zu erstrecken und war fast überall ihre drei Klafter hoch. Lorimer vermochte keine Lücke in dem wildwuchernden dornenbesetzten Gestrüpp zu erkennen. Wahrscheinlich war die Hecke auch mehrere Klafter dick. Wie sollte ein normaler Sterblicher da durchkommen? Lorimer faßte mit der rechten Hand kurz an seinen Unterschenkel. Auch für diese schier undurchdringliche Hecke war er gerüstet. Er hatte sich bei einem ihm bekannten Schmied für teures Geld ein beidschneidiges Messer von der Länge eines Kurzschwertes schmieden lassen. Als wenn ich es geahnt hätte! dachte der einsame Ritter, der
wenige Bewunderer und nicht einen einzigen Freund besaß. Das Messer, das ich am Unterschenkel festgeschnallt habe, ersetzt mir jeden Freund. Ja, es ist besser als ein Freund. Denn es wird nie wanken, nie deuteln, nie Widerspruch erheben. An seiner Treue ist nicht zu zweifeln! Doch wie wollte Alberich die Hecke überwinden? Jetzt war der kleine Mann mit dem silbernen Krönchen im Haar vor dem Hindernis angelangt. Lorimer beobachtete ihn, eng an den Boden gepreßt. Alberich schien unschlüssig. Er ging ein paar Schritte nach links, blieb stehen, streckte die Hand tastend aus und zog sie wieder zurück. Dann zuckte er die Achseln und ging nach rechts, ein paar Schritte über den Ausgangspunkt hinaus. Er kniete nieder und berührte einen im Boden halbversenkten Feldstein. Daraufhin bewegte sich wie von Geisterhand ein kleiner Abschnitt der Hecke und wich zurück. Es entstand eine Öffnung, durch die Alberich ging, als schritte er unter Trommelwirbel und bei Trompetenschall durch ein Ehrenportal. Lorimer merkte sich die Stelle genau. Er hatte nur wenige Herzschläge lang Zeit dazu. Denn hinter dem Zwergenkönig schloß sich die Hecke wieder. Und kein Zeichen verriet die geheime Pforte. Nicht einmal der Feldstein war noch zu sehen. Lorimer wartete noch eine Weile ab. Nichts rührte sich. Der bleischwere Himmel wölbte sich über der kargen Landschaft. Lorimer huschte zu der Stelle, die er sich gemerkt hatte. Mit seinem überlangen Messer hackte er einen Weg durch die Hecke. Er sah nun daß sie künstlich angelegt war. Die Arbeit war mühsam. Die Hecke erwies sich als noch verfilzter und dorniger, als sie aussah. Als er zum erstenmal den Kopf durch die entstandene Öffnung zwängte, stach er sich schmerzhaft. Da erinnerte sich Lorimer seines Helmes und setzte ihn auf. Der schützte nicht nur gegen Schwertstreiche, sondern auch gegen fingerlange Dornen. Dann hackte er sich weiter durch die Hecke.
Sie war drei Klafter dick - viel mehr, als er erwartet hatte. Keine Burgmauer bot ihrem Verteidiger besseren Schutz. Vorsichtig steckte Lorimer den Kopf zur Innenseite hinaus. In diesem Augenblick fuhr ihn eine gequetscht klingende Stimme in heißer Wut an: »Was suchst du in König Alberichs Reich?« Blitzartig wurde dem Ritter klar, daß er unbesonnen in eine gefährliche Falle geraten war. Alberich hatte seinen Verfolger also doch beobachtet, sich aber nichts anmerken lassen. Dann hatte er sich hier hinter der Hecke auf die Lauer gelegt! Doch Lorimer war nicht der Mann, der in schwierigen Situationen lange nachdenkt. Sich Vorwürfe über vergangene Fehler zu machen, kam ihm schon gar nicht in den Sinn. Damit vergeudete man nur Zeit. Statt dessen handelte Lorimer. Er hob das Messer, seinen besten Freund. Aber es ging mühsam. Er konnte sich kaum bewegen. Der Versuch, sich rückwärts ins Freie zu zwängen, mißlang. Er steckte fest. Die Dornenzweige hielten ihn mit vielen zähen, harten Fingern. Und da dröhnte ihm schon der Schädel zum Zerspringen! Mit voller Wucht war Alberichs Keule darauf gelandet. Ohne den Helm wäre Lorimer auf der Stelle tot umgefallen. Aber auch so erging es ihm schrecklich genug. Er sah viele tausend Sterne aufsprühen und sich mit irrer Geschwindigkeit in alle Richtungen der Windrose entfernen. Genau vor seinen Augen leuchteten grelle gelbe Sonnen, zerplatzten mit unerträglichem Krach und vergingen in silberfarbenem Gewölk. Ein lähmender Schmerz umklammerte seine Eingeweide. Die Beine hielten ihn kaum noch aufrecht. Sie schienen im harten Boden zu versinken wie in klebrigem Schlamm. Aus ungeheurer Entfernung vernahm er die Stimme des Zwergenkönigs: »Wer in Alberichs Reich ohne Erlaubnis eindringt, der ist des Todes!« Er hörte jedes Wort trotz der riesigen Entfernung genau, aber es gelang ihm nicht, den Sinn zu erfassen. Die Schmerzen wurden so unerträglich, daß er annahm, sein
Schädel sei an mehreren Stellen gespalten. Dabei ahnte er, daß Alberich die Keule bereits wieder erhoben hatte. Jeden Augenblick mußte der zweite Schlag niedersausen, der für ihn das Ende aller Dinge bringen würde. Lorimer sehnte sich förmlich danach. Noch einmal ein Schmerz, der alles Vorstellbare übertraf - dann aber Verlöschen, Stille, Erlösung. Ein wünschenswertes Ziel, dachte er ächzend. Schlag doch, schlag doch! hämmerte es dumpf in seinem gemarterten Schädel. Worauf wartest du noch? Gleichzeitig aber regte sich in Lorimers Inneren ein anderer Drang. Viele Jahre eines rauhen und harten Lebens als fahrender Ritter hatten einen Widerstandswillen in ihm erzeugt, der für normale Menschen unbegreiflich war. Und deshalb mahnte ihn sein Unterbe wußtsein: Gib nicht auf! Gib niemals auf! Als darum Alberichs zweiter Schlag niederfiel, hatte sich Lorimer mit jähem Ruck aus den zäh haftenden Dornen befreit und sich zur Seite geworfen. Fast so wirkungslos streifte die Keule nur die Schulter des Ritters. Der raffte sich bereits wieder auf, schnellte herum und sprang gegen den überraschten Zwergenkönig. Mit dem Oberkörper prallte er heftig gegen dessen Beine. Der Schwung schleuderte Alberich rücklings nieder. Sofort folgte Lorimer und kniete ihm auf der breiten Brust. Das Messer! Auch in der Hitze des Kampfes hatte er es nicht einen Augenblick losgelassen. Jetzt riß er es hoch und legte die Schneide an Alberichs Kehle. Dessen graue Augen blinzelten mehr verwundert als erschreckt. In der kurzen Spanne ihres Ringens hatte Lorimer alle Schmerzen vergessen. Jetzt überfielen sie ihn mit vermehrter Gewalt. Gleich wurden ihn die Kräfte verlassen. Dann wäre es ein Leichtes für Alberich, sich von ihm zu befreien. Ächzend stand er auf und trat ein paar Schritte zurück. Mit einer Handbewegung bedeutete er Alberich, sich ebenfalls zu erheben. Der
tat es. »Nun hebe beide Arme über den Kopf und verschränke sie!« Alberich gehorchte. Aber aus seinen Augen sprühten jetzt zornige Funken. »Was unterstehst du dich?« schrie er mit seiner gequetschten Stimme. »Du wirst es noch bereuen, dich je ins Reich des Zwergenkönigs gewagt zu haben! Jeden Augenblick werden meine Wachen erscheinen ...« »Deine Wachen«, unterbrach ihn Lorimer kalt, »sind bereits auf dem Heimweg. Und ihre Ablösung wartet fern von hier auf jemand, der nicht kommen kann. Also, halt den Mund und führe mich zu den Schätzen des toten Räubers!« »Zu welchen Schätzen?« Lorimer spürte, wie seine Schmerzen immer stärker wurden. Das steigerte seine Ungeduld. »Calibans Schätze! Du hast sie! Suche keine Ausflüchte!« Höhnisch antwortete Alberich: »In meinem Reich wachsen keine Schätze, sondern nur Steine. Sieh dich um! Hier gibt es Felsen, und sonst nichts.« Zum erstenmal wandte Lorimer die Augen von seinem Gegner. Was er sah, machte ihn erstaunen. Hinter der Hecke begann eine tiefe Schlucht von unbestimmter Länge. Wohin das Auge auch blickte, traf es auf graue Felsen von fantastischen Formen. Sie erhoben sich aus unsichtbaren Abgründen. Einer war bizarrer als der andere. Manche glichen Säulen, andere riesenhaften Figuren, andere Dämonen oder gar hochaufragenden Burgen. Das sagenhafte Felsenmeer! Deshalb hatte er es nie auf seinen zahllosen Streifzügen gefunden! Weil es in tiefer Schlucht hinter fast undurchdringlicher Umzäunung lag. Eine vergessene Welt. Begehrlichkeit erfaßte Lorimer. Die Schmerzen schwanden. Er konnte den Augenblick nicht abwarten, da er das Gold in die Hände nahm, um es zu liebkosen. »Verfluchter Zwerg! Führ mich zur Schatzkammer - oder ich lege dir den Kopf vor die Füße!« Alberich dachte nach.
Lorimer hob das Messer. »Wird's bald?« »Und wenn ich es täte ...«, begann Alberich zögernd. »Dann rettest du dein erbärmliches Leben!« Lorimer jubelte innerlich. Wie schnell hatte das Blättchen sich gewandelt! »Und ich bin auch bereit, mit dir zu teilen«, lockte er. »Es ist sowieso zu viel für einen Menschen wie mich.« »Sprichst du im Ernst?« »Zweifle nicht, ich schwöre es dir«, log Lorimer, wobei er den Zwergenkönig keinen Moment aus den Augen ließ. Alberich wiegte den Kopf auf den breiten Schultern. »Trotzdem weiß ich nicht, ob ich dir glauben darf. Die Menschen schwören oft und viel - und lügen dennoch!« »Nicht wenn sie bei dem schwören, was ihnen das liebste auf der Welt ist«, entgegnete Lorimer hastig. »Dann schwöre beim Leben deiner Mutter und beim Leben deiner Liebsten!« »Unsinn!« sprach der verruchte Mann. »Was gelten mir Frauen! Ich schwöre bei Alberichs Schatz! Der ist mir das liebste auf der Welt!« Lorimer lachte dröhnend. Ihm wurde von Atemzug zu Atemzug wohler. Was war er doch für eine starke Natur! Er fing an, sich zu bewundern. »Und nun geh voran, reicher Alberich! Führe deinen Ehrengast zur Schatzkammer, auf daß wir dort brüderlich teilen!« Noch zögerte der Zwergenkönig. Schon glaubte Lorimer, er habe die Täuschung durchschaut. Doch plötzlich wandte sich der andere ohne ein weiteres Wort und führte Lorimer durch die zaubermäßige Welt der zu grauem Fels erstarrten Wogen eines Ozeans aus vergangener Welt. Wie rasend klopfte Lorimers Herz vor Gier, als die Felsen wichen und die schmale Schlucht sich zu einem riesigen, von Gestein überdachten Halbrund weitete. Alberich streckte den Arm aus und sagte nur ein einziges Wort: »Da!« Und Lorimer sah sich den Schätzen gegenüber, die der tote Caliban mit seiner Bande in vielen Jahren aus 100 Burgen geraubt und hier
aufgehäuft hatte. Gold, Elfenbein, edle Hölzer,»Teppiche, Gemälde, Kleinodien, Geschmeide und Edelsteine. Überwältigt, fast geblendet schloß Lorimer die Augen. Als er sie öffnete, war Alberich ver schwunden. Unruhe ergriff Lorimer. »Wo bist du, verfluchter Zwerg?« Plötzlich sprang ihn ein Körper hinterrücks an. Hände legten sich wie Schraubstöcke um seinen Hals. Er mußte nachgeben. Erschöpft sank er zu Boden. Ein unsichtbares Wesen hielt ihn umklammert. Verzweiflung senkte sich über ihn. Die Augen traten ihm fast aus den Höhlen, aber er sah niemand. Und doch drückten Lasten auf seinen Körper und schnürten ihm den Hals ab. Lorimer wurde es schwarz vor Augen. Gegen Unsichtbare zu kämpfen, ist aussichtslos. Sein Körper streckte sich. Dann wurde er starr. Der Unsichtbare ließ ihn los. Die Lasten hoben sich von Lorimers Körper. Er blieb wie tot liegen. Es war sein letzter Trick. Und der unsichtbare Zwergenkönig Alberich fiel darauf herein! Unter fast geschlossenen Augenlidern sah Lorimer, wie der Zwerg plötzlich aus leerer Luft wieder zu einem menschlichen Wesen wurde. Von einer Sekunde zur anderen war er Fleisch und Blut. Lorimer nahm seine letzte Kraft zusammen. Als Alberich sich nach dem breiten Messer bückte, fuhr der Ritter in die Höhe, packte den Knauf, hob die Schneide - und trennte dem überraschten Verteidiger des Schatzes mit einer fließenden Bewegung den Kopf von den Schultern. Alberich war tot! Lorimer faßte sich an die Kehle. Das Messer entglitt seinem Griff. Ihm war unheimlich übel. Der Würgegriff schmerzte mehr als alle Leiden zuvor. Immer noch war er sich nicht ganz sicher, daß er überleben würde. Sein Blick fiel auf Alberichs Hand, die im Tode noch einen Gegenstand umklammert hielt. Eine graue Kappe aus einem Stoff, den Lorimer nicht kannte. Neugierig riß er ihm die Kappe aus der
Hand und setzte sich das Gewebe, das sich rauh und glatt, heiß und kalt, leicht und schwer in einem anfühlte, auf den Kopf. Von einem Augenblick zum anderen verging das dumpfe Dröhnen der Keulenhiebe auf seinen Schädel. Das Würgen im Halse wich wie unter dem Einfluß eines allmächtigen Balsams. Die erschöpften Glieder wurden leicht und schwerelos. Die Muskeln gehorchten ihm wieder. Eben noch zu Tode erschlafft, war ihm jetzt so wohl wie nach vielstündigem erquickendem Schlaf. Aber irgend etwas stimmte nicht. Ihm war, als berührten seine Beine nicht mehr den Boden, als schwebe er mehrere Fuß hoch in der Luft. Mißtrauisch warf er Blicke in die Runde. Nichts hatte sich geändert. Der Anblick war so überwältigend wie zuvor. Unbeweglich glänzten, glitzerten und gleißten die Schätze des Caliban, die hier von seinen Raubzügen aus 100 Burgen angehäuft waren. Gold, Elfenbein, edle Hölzer, Teppiche, Gemälde, Kleinodien, Geschmeide und Edelsteine! Alles unverändert. Und doch war etwas anders. Er blickte an sich herunter und sah nichts. Sein Körper war verschwunden! Er faßte sich an die Brust. Er befühlte seine Rippen. Er spürte sein Herz pochen. Aber er sah keine Hand, keine Brust, keinen Rumpf, keine Beine. Sein Körper war so unsichtbar geworden wie vorher der des Alberich! Eine Ahnung ließ ihn nach der grauen Kappe auf dem Kopf greifen. Das Gewebe war anders als jedes, das er bis dahin angefaßt. Es schien nicht von dieser Erde. Immer noch fühlte es sich rauh und glatt, heiß und kalt, leicht und schwer zu gleicher Zeit an. Er nahm die Kappe ab, und im gleichen Augenblick wurde sein Körper wieder sichtbar. Alles war da, wo es hingehörte: Hand, Arm, Brust, Rumpf, Beine, Füße. Da begriff Lorimer. Er hatte dem toten Alberich nicht nur nur seinen Schatz abgenommen, er war auch Erbe seines größten
Geheimnisses geworden. Er besaß die Tarnkappe, die ihn, wann immer er wollte, für jedermann unsichtbar machte! Wo er stand, sank Lorimer zu Boden. Der Ansturm der Glücksgefühle fällte ihn wie ein Blitz. Liegend kostete er die herrlichsten Augenblicke seines Lebens aus, die ihn für alle Entbehrungen belohnten. Der Schatz machte ihn zum reichsten Mann des Landes! Die Tarnkappe machte ihn zum mächtigsten Mann des Landes! Und so, in höchster Beseligung, schlief Lorimer inmitten seiner Schätze ein. Er schlief tief und traumlos. Er sah und hörte nichts. Er sah und hörte vor allem nicht, wie nach zwei Stunden ein furchtsamer Zwerg vorsichtig aus seinem Versteck, einer großen venezianischen Vase stieg. Der Zwerg hieß Säckelmann. Er war Alberichs Kammerdiener gewesen und hatte das Felsenmeer noch nie verlassen. In seinem Versteck war er unbemerkt Zeuge der blutigen Ereignisse geworden. Auf Zehenspitzen schlich Säckelmann davon. Als er die Kammer verlassen hatte, rannte er, so schnell ihn seine Füße trugen. Doch er hielt nicht lange durch. Bald stach und zwickte es überall in seinem ungeübten Körper. Vor Tränen fast blind, stolperte Säckelmann durch die Hecke, deren Öffnungsmechanismus er betätigte, und wanderte unbeholfen wie ein Heimatloser nach Süden, immer weiter weg vom Felsenmeer, wo er fast sein ganzes Leben verbracht hatte. * Sonst hüpfte ihm das Herz im Leibe vor Freude, wenn er zu neuen Taten auszog. Diesmal ritt Roland mit Leichenbittermiene zum Treffpunkt mit Percy. Auch seine Knappen Pierre und Louis ließen die Köpfe hängen, als sie wortkarg auf ihren Pferden hinter ihm herzottelten. In der vergangenen Woche war ihnen das Leben schier unerträglich geworden. Immer neue Kunde kam von Untaten, die
Ritter Roland mit seinen Knappen verübt haben sollte. Da nützte es wenig, daß Roland laut seine Unschuld beschwor. Zwar wagte kaum jemand, ihm ins Gesicht hinein zu widersprechen. Aber die Blicke, die sie hinter seinem Rücken tauschten! Das Getuschel, das sich erhob, wo immer er sich blicken ließ - und plötzlich erstarb, wenn er nahe herankam! Die geballten Fäuste, die man aus der Ferne gegen ihn schüttelte! Roland spürte die zunehmende Feindseligkeit in seiner Umgebung so deutlich wie einen Wetterumschwung. War es erst einen Monat her, daß man ihn als Sieger über die Wikinger und Retter des Landes bejubelt hatte? Dieselben Leute, die ihn damals in den Himmel hoben, verdammten ihn jetzt, als habe er sie selber beraubt, auf den Kopf geschlagen und zum Krüppel gemacht. Im Grunde war Roland froh, daß er eine neue Aufgabe erhalten hatte. Sie würde seinen ganzen Scharfsinn und seinen ganzen Mut erfordern. Er freute sich auf das Wiedersehen mit seinem Waffengefährten Percy. Mit ihm zur Seite getraute er sich, das Caliban-Rätsel zur Zufriedenheit der Tafelrunde zu lösen. Vor allem aber - Percy würde ihm bestimmt glauben, wenn er ihm versicherte, daß da offenbar ein bösartiger Doppelgänger sein tödliches Spiel getrieben habe. Nicht eine Sekunde würde Percy den häßlichen Verdacht der anderen gegen Roland teilen. Und mochten auch alle äußeren Anzeichen noch so sehr gegen ihn sprechen. So ritt Roland zum Treffpunkt. Und von Meile zu Meile wurde sein betrübtes Herz leichter. Wenn er Percy Auge in Auge gegenüberstand - so glaubte er -würde ihm ein einziger Blick zeigen, daß üble Nachrede nichts gegen Freundestreue vermochte! * Doch als die drei wirklich an dem Treffpunkt Percys ansichtig wurden, verschwendete der keinen Blick für sie.
Denn genau in diesem Augenblick war Percy in ein hitziges Duell mit einem fremden Ritter verwickelt. Roland stieg ab. Von einem kleinen Hügel konnte er den Fortgang des Scharmützels gut beobachten. Die Knappen folgten seinem Beispiel. Und sofort wich jeder Trübsinn von ihnen. Denn Percy, ihr Freund, zeigte sich in Hochform! Wieder einmal war sein Temperament, das ihm den Beinamen Heißblut eingebracht hatte, nicht zu zügeln. Mit beispiellosem Übermut attackierte er den Fremden, der bei fast jedem Zusammenprall nahe daran war, aufgespießt zu werden oder aus dem Sattel zu fallen. Doch Percy lag offensichtlich nichts an einem schnellen Sieg. Eine halbe Stunde zuvor war er unvermittelt dem Fremden begegnet, hatte seinen eigenen Namen genannt und nach dem des anderen gefragt. Er hoffte auf Austausch von Neuigkeiten, einen kleinen Schwatz unter Männern und dachte nicht im entferntesten an einen Waffengang. Doch da rief der fremde Ritter: »Ihr seid Percy? Percy Heißblut, die Zierde der Ritterschaft? Percy, dem die Weiber nachlaufen, und dem die Männer, blöd wie sie sind, nachzueifern trachten?« »Weiß nicht, ob ich so guten Ruf verdiene«, erwiderte Percy. »Weiß nur, daß ich jedes guten Mannes Freund bin und der Schrecken der Bösen.« »Tatsächlich?« meinte der hagere sehnige Fremde. »Dann muß ich wohl zu den Bösen gehören ...« Percy lachte laut. »Ihr treibt Scherz! Ich sah nicht, daß Ihr bei meinem Anblick erschrakt.« »Da saht Ihr recht. Wer sollte bei Eurem Anblick schon erschrecken?« Des Fremden Miene verfinsterte sich, als trüge er geheimen Groll. »In meinen Augen seid Ihr keine Zierde der Ritterschaft, sondern ein hochgelobter Affe!« »Hoho! Ihr vergreift Euch in den Worten!« »Keineswegs. Ich habe Euch durchschaut, affiger Percy. Und nun laßt uns nicht länger mit eitlen Worten fechten. Klappt das Visier
herunter! Ihr steht dem Ritter gegenüber, der Euch und alle Euch ähnlichen Schmarotzer mit blutigen Köpfen vom Gipfel unverdienten Ruhms herunterholen wird.« Percy war fassungslos über diese Frechheit. »Nennt Euren Namen, Fremder!« »Im Augenblick Eures Todes werdet Ihr ihn vernehmen, weit überschätzter Percy. Wenn Euer Heißblut im Sand verströmt, nenn ich Euch meinen Namen, damit Ihr im Jenseites berichten könnt, wer Euch überwand!« Nach diesen Beleidigungen blieb Percy gar nichts anderes übrig, als das Visier herunterzuklappen und den anderen zum Waffengang zu erwarten. Einem derartigen Abenteuer mochte aus dem Wege gehen, wer da wollte - der heißblütige Percy gewiß nicht. Und so drückte er" die treue Lanze in die Hüfte, gab seinem Pferd die Sporen und sprengte in voller Karriere auf den Hageren zu, der seinen Namen erst in der Todesstunde des Gegners nennen wollte. Doch schon beim ersten Waffengang erkannte Percy, daß ihm ein Sieg über den Fremden wenig Ruhm und gar keine Beute versprach. Der Gegner war gar zu schlecht für einen Zweikampf gerüstet. Nur mit Mühe gelang es ihm, sein Pferd zu einem müden Galopp aufzustacheln. Der Wallach war in Percys Augen ein elender Klepper. Hart zeichneten sich die Rippen unter dem abgewetzten Fell ab. Die Beine kamen kaum vom Boden weg. Mit zehn Galoppsprüngen gelangte das Tier kaum so weit wie Percys Pferd mit dreien. Und auch der Reiter wirkte schäbig genug. Es sah aus, als habe er sich bei einem armseligen Trödler ausgestattet, der irgendwo in einem baufälligen Schuppen alte, vielfach gebrauchte Rüstungen für wenig Geld verkaufte. Als Percy sich dem traurigen Paar näherte, sah er Rost an vielen Stellen des Harnischs. Mitleid überkam ihn. Ein einziger regelrechter Lanzenstoß würde den Hageren viele Klafter weit über den Pferdeschwanz zu Boden schleudern und wahrscheinlich sein Lebenslicht ausblasen. So wendete Percy die Lanze vom Ziel ab und ritt an dem Fremden
vorbei, ohne ihm Schaden anzutun. Dann parierte er sein Roß und rief ihm zu: »Laßt ab von diesem vergeblichen Streit, Mann! Ihr seid nicht in der Lage, Euch zu verteidigen! Reitet davon! Ich will Euch ungekränkt ziehen lassen.« Ein heiserer Wutschrei war die Antwort. Diesmal brachte der Klepper keinen Galoppsprung mehr zustande. In schaukelndem Trab kam er auf Percy zu. Kopfschüttelnd nahm Percy einen derben Lanzenstoß gegen die linke Schulter in Kauf. Trotzdem mochte er sich nicht dazu verstehen, dem Fremden zu Leibe zu rücken. Der aber ließ ihm keine Ruhe. Von neuem trabte er heran und zielte mit der Lanze nach Percy. Dabei bemerkte der Ritter etwas Seltsames. Auf dem schäbigen alten Helm des Fremden war - welch krasser Gegensatz - ein silbernes Krönchen angebracht! Von zwei weiteren Lanzenstößen geärgert, entflammte Percy schließlich in berechtigtem Zorn. Der Fremde hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen, nun sollte er leiden. Percy machte Ernst und hob ihn aus dem Sattel. Wie erwartet, flog er in hohem Bogen über den Pferdeschwanz hinweg und setzte sich unsaft auf die Erde. Doch blieb er unverletzt, rappelte sich mit großen Beschwerden auf und besaß noch die Unverfrorenheit, Percy erneut zum Kampf zu fordern. »Steigt herab von Eurem Roß!« verlangte er. »Oder ich werde aller Welt berichten, daß Percy ein erbärmlicher Feigling ist!« Kannte der Übermut dieses schäbigen Mannes denn keine Grenzen? Dem Geschmähten blieb keine Wahl. Percy sprang aus dem Sattel, steckte die Lanze mit der Spitze nach unten in die Erde und zog sein Schwert. Er war jetzt so gereizt, daß er beschloß, dem Fremden eine ernsthafte Lektion zu erteilen. Mit wenigen verwirrend schnell geschlagenen Hieben gewann Percy sofort die Oberhand. Der Gegner war alles andere als ein geübter oder auch nur geschickter Fechter. Doch er stand seinen Mann, gab nicht auf und verteidigte sich aus Leibeskräften. Ab und zu warf Percy einen Blick auf das rätselhafte Krönchen am Helm des anderen. Dann holte er zum nächsten Streiche aus. Nun geriet der Hagere wirklich in Bedrängnis. Es konnte nur noch
kurze Zeit dauern, dann würde Percy Lücken in seiner Abwehr finden und ihm die ersten Wunden zufügen. Noch einmal rief der Ritter von der Aue: »Ergebt Euch, Fremder, ehe ich Euch zur Ader lasse! Ihr seid mir hoffnungslos unterlegen, aber ich will Euch schonen.« »Und Ihr«, lautete die trotzige Antwort, »seid dem Tode näher, als Ihr denkt!« Percy seufzte und bereitete mit einigen Finten den nächsten Angriff vor. Schon vorher war ihm die graue Kappe aufgefallen, die sein schwacher Gegner in einer Lederschlaufe am Harnisch trug. Jetzt griff dieser verbissene Mann mit der freien Hand nach der Kappe und streifte sie sich blitzschnell über den Helm mit der Krone. Verblüfft blieb Percy mitten im Angriffschwung stehen. Sein Gegner war verschwunden! Wo er eben noch gestanden hatte, schwer bedrängt, keuchend, mit verzerrtem Gesicht, auf schwankenden Beinen, war nichts mehr ... Percy klappte das Visier auf und rühr sich mit der Linken über die Augen. Es half nichts. Der Kerl tauchte nicht wieder auf. Er hatte sich in Luft aufgelöst. Verwirrt kniff Percy beide Augen fest zu, um sie erst nach einer Weile wieder zu öffnen. Er starrte in alle Richtungen der Windrose. Doch der Kerl war und blieb verschwunden! Nur sein Klepper stand mit zitternden Beinen und hängendem Kopf ein paar Schritte entfernt und drohte jeden Augenblick umzufallen. Noch einmal rieb sich Percy die Augen. War hier Zauberei im Spiele? »Wo seid Ihr, fremder Ritter?« rief er. Er bekam keine Antwort. Und dieses leise Zischen, das die Luft zerschnitt - war das die Antwort? Unwillkürlich wollte Percy sich ducken. Doch es war schon zu spät. Das Zischen hörte auf, und aus dem Nichts stach die unsichtbare Messerklinge in Percys Brust.
Und aus dem Nichts sprach höhnend die Stimme des unsichtbaren Fremden: »Hörst du mich, Percy? Lorimer war es, der dich ins Jenseits beförderte! Lorimer, der einst ein fahrender Ritter war und jetzt die Schätze des Räubers Caliban im Felsenmeer hinter der dichten Hecke erbte! Lorimer, der reichste und mächtigste Mann im Lande!« Diese Worte waren das letzte, was Percy vernahm. Ein ungeheurer Schmerz in der Brust nahm dann seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Als er glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, verebbte der Schmerz. Erleichtert tat Percy einen tiefen Atemzug. Sein Bewußtsein trieb ab, und er starb. * »Vorwärts!« rief Roland mit metallischer Stimme. Sie hatten den Kampf von der Anhöhe aus beobachtet. Das Abtasten zu Beginn. Die große Überlegenheit Percys. Seine vergeblichen Versuche, den anderen zum Aufgeben zu überreden. Und schließlich den raschen, den bestürzenden, den kaum faßbaren Ausgang des Waffenspiels. Und nun rasten sie in voller Karriere zu dem Punkt, wo Percy im Staub lag, dahingestreckt von einem, der sich plötzlich in Luft verflüchtigt hatte, unsichtbar, ungreifbar, unverfolgbar wurde. Samum trug seinen Herrn fast doppelt so schnell zu Percy wie die Pferde der Knappen. Kaum stand der Araber, glitt Roland aus dem Sattel, kniete neben Percy, griff nach seiner Hand, nach seinem Puls, horchte an seiner Brust und schaute ihm in die Augen. Aschfahl war Roland, als er sich wieder aufrichtete. Der Puls des Ritters von der Aue stockte. Sein Herz war verstummt. Die Augen faßten nichts mehr. Ja, Percy war tot. Roland wünschte, er läge an seiner Stelle. Dann kamen die Knappen. Sie brauchten nicht zu fragen. Ein Blick in das Gesicht ihres Ritters verriet ihnen die grausame Wahrheit. »Percy tot«, stöhnte Louis. »Und du, Erde, bewegst dich weiter?
Und du, Sonne, hörst nicht auf zu scheinen? Und ihr, Bäume, werft eure Blätter nicht ab? Percy tot! Ich begreife es nicht. Er schien leichtes Spiel zu haben. Doch dann wurde sein Gegner unsichtbar. Was geht hier vor? Werden die alten Legenden Wirklichkeit? Aber warum wenden sie sich gegen den edelsten Sproß der Ritterschaft? Warum siegt das Böse? Lorimer nannte er sich. Nie hörte ich diesen Namen vorher. Lorimer! Drei Silben, eine mir verhaßter als die andere! Drei Silben, die dem Teufel einfielen!« Und er warf sich zu Boden und wühlte das Gesicht in den Staub. Lautlos weinte Pierre. »Lorimer«, wiederholte Roland mit einer Stimme, die jeden Klang verloren hatte. »Seltsam fügt es sich, daß ich dir begegnete, der du nach eigenem Zeugnis den Schatz des Caliban erbtest. Ich wünsche dir, Lorimer, daß du in diesen Schatz vernarrt bist, als sei er ein Stück von dir. Denn ich werde ihn dir entreißen, und es wird sein, als zerrisse ich dich in Stücke. Armer Percy! Du hörst mich nicht mehr. Oder doch? Im Jenseites vielleicht? Dort wo die Helden wohnen? Wie immer es Sein mag, bei deinem Leichnam, dessen Anblick mich jammert, schwöre ich, du wirst nicht ungerächt bleiben. Und wäre Lorimer der Satan selbst, ich würde ihn aus der Hölle holen.« Mit bebender Stimme erinnerte Pierre: »Im Felsenmeer wohnt er, hinter der dichten Hecke - ich erinnere mich wohl.« Obwohl niemand von ihnen je das Felsenmeer besucht hatte, war ihnen der Name und seine ungefähre Lage - sechzig Meilen nördlich von Köln - gut bekannt. Sie begruben Percy und pflanzten seine Lanze und seinen Schild aufs Grab. Als sie sich nach seinem Pferd umsahen, war es nirgends mehr zu sehen. Nur Lorimers Klepper war noch da. Er hatte in der Zwischenzeit ein saftiges Grasstück gefunden und tat sich daran gütlich. Offenbar hatte Lorimer sich auf Percys Pferd davongemacht. Herzlich, aber mit wenigen leisen Worten begrüßt, hatte sich unterdessen Volker vom Hohentwiel eingefunden. Auch der berühmte Minnesänger war auf dem Wege zu ihrem vorher vereinbarten Treffpunkt. Roland schilderte ihm mit bewegten Worten
Percys Ende. Als das Grab errichtet war, griff Volker zur Laute, schlug ein paar
Akkorde an und wollte singen. Aber die Stimme versagte ihm. So
große Trauer ließ keinen Gesang zu. Mit einem rührenden Achselzucken brach er ab. Wer würde Helga, Percys Weib, die traurige Nachricht überbringen? Roland beauftragte Louis damit. Dessen dunkle Augen wurden schwarz wie die Nacht. Der Auftrag behagte ihm wenig. Viel lieber wäre er stracks mit zum Felsenmeer geritten und hätte Lorimer herausgefordert, so große Gefahren das auch in sich barg. Doch der wildbärtige Knappe schickte sich drein. Herzlich nahm er Abschied von den Freunden und ritt dann den Weg zurück, der Burg in der Aue zu. Es war ein guter Tagesritt, aber schon bald war klar, daß Louis sicherlich drei Tage dazu brauchen würde. Denn je näher er der Burg in der Aue kam, desto langsamer ließ er seinen Braunen gehen. Aus Galopp wurde Trab. Aus Trab wurde Schritt. So schlichen sie unlustig dahin. Louis fürchtete sich vor dem Augenblick, da er Helga die furchtbare Nachricht enthüllen mußte. Welche Worte sollte er wählen? Wie sollte er ihr die Tragödie am schonendsten mitteilen? Kurz und trocken? Weit ausholend? Mit vielem Rumgerede? Was immer er tat, sie würde ihm die Wahrheit sogleich von den Augen ablesen. In seinen Ohren gellten schon die schrillen Schreie der schmerzgetroffenen Frau. Niemals hatte er eine schwierigere und peinvollere Aufgabe übernommen. Natürlich wußte er, warum Roland ihn und nicht etwa Pierre zum Boten bestimmt hatte. Pierre hatte zu wenig Erfahrung im Umgang mit Frauen. Wenn eine nur das Wort an ihn richtete, pflegte er schon zu erröten. Er würde ins Stottern kommen und alles nur noch schlimmer machen. Dennoch hätte Louis lieber einen Kampf auf Tod und Leben gegen eine feindliche Übermacht aufgenommen, als der armen Helga die
Nachricht zu überbringen, daß sie Witwe geworden war. Unwillkürlich musterte er aus spähenden Augen den vor ihm aufragenden Wald. Wenn dort ein Trupp Gesetzloser auf ihn lauerte und ihn überfiele! Es würde zumindest den schrecklichen Augenblick der Begegnung mit Helga hinauszögern. Doch niemand lauerte auf ihn. Niemand bedrohte ihn. Und keiner griff ihn an. Zwischen dem Wald und der etwa eine Meile weit entfernten Ortschaft wanderten nur einzelne, völlig harmlose Menschen dahin. Eine Kräutersammlerin, ein Holzfäller, ein Jäger. Eben betrat der Jäger ein schmales zweistöckiges Haus am Ortseingang. Als er die Tür öffnete, drang Stimmengewirr heraus. Es war ein Gasthaus! Wie von selbst trottete Louis Brauner auf das Gasthaus zu. Oder lenkte ihn sein Reiter dorthin? Ein kurzer Aufenthalt konnte nicht schaden. Plötzlich spürte Louis brennenden Durst. Er stieg ab, band den Braunen an einem Baum fest und beauftragte einen herumlungernden Jungen, das Tier zu füttern. Dann betrat Louis die Gaststube. Früher einmal hatte er selber eine Gastwirtschaft besessen, bevor der Ritter Aar sie dem Erdboden gleichgemacht hatte. Niemand kümmerte sich um den neuen Gast. Hinter dem Ausschank stand ein breitschultriger Mann mit vorgebundener Lederschürze. Besonders auffallend waren seine riesigen Hände. Seine Arme waren nackt, und die Muskeln boten bei jeder Bewegung ein prächtiges Bild. Man sah ihm auf den ersten Blick an, daß er über außergewöhnliche Körperkräfte verfügte. Eine hübsche, aber sehr blasse Frau half ihm. Sie spülte Krüge und reichte sie ihm zu. Dabei warf sie scheue Blicke um sich. Je länger Louis warten mußte, umso mehr wuchs seine Ungeduld. Er hatte große Lust, mit der Faust auf den Schanktisch zu schlagen und zu rufen: Bekomme ich endlich etwas zu trinken? Aber er bezwang den Impuls. Denn mit diesem Kraftmenschen, der der Wirt zu sein schien, wollte er nicht ins Handgemenge kommen. Endlich geruhte der Muskelmann, von Louis Notiz zu nehmen. Er
fragte in grobem Ton: »Willst du hier nur rumlungern und Maulaffen feilhalten, Bursche? Oder willst du, verdammt noch mal, was bestellen?« Wieder zuckte es Louis in den Fingern. Aber behielt die Ruhe und antwortete bescheiden: »Wenn es recht ist, nähme ich gern einen Humpen Bier und ein Krüglein Branntwein.« »Nur wenn du Geld hast, Bursche!« Louis nickte bestätigend. Nach einer Weile stellte der Mann das Verlangte vor ihn hin. Bedächtig tat Louis Schluck um Schluck. Die Getränke waren von mittelmäßiger Güte. Immerhin hob sich unter ihrem Einfluß die gedrückte Stimmung des Knappen. Als er Humpen und Krüglein geleert, nahm er dieselbe Ration noch zweimal. Danach fühlte er sich imstande, der Begegnung mit Helga mit größerem Gleichmut ins Auge zu sehen. Also kündigte er an, er wolle nunmehr die Zeche bezahlen. Der Wirt verlangte fünf Dukaten. Das war ungefähr sechsmal so viel, als er von Rechts wegen verlangen durfte. »Viel zu viel«, entfuhr es dem verblüfften Louis. Der Kraftmensch wandte ihm ein breites, grobes Gesicht mit kleinen bösen Augen zu. »Du hast zehn Humpen leergemacht«, behauptete er dreist, »und 15 mal füllte ich dir das Krüglein. Wirf schnell die fünf Dukaten über den Tisch - oder du bekommt eine Tracht Prügel, an die du dein Lebtag denken wirst!« Louis schien es, als werfe ihm die Frau warnende Blicke zu. Ihr Mund bewegte sich tonlos. Der Knappe las ihr das Wort von den Lippen: »Zahle!« In der Gaststätte schienen solche Szenen nicht gerade neu zu sein. Denn kaum einer kümmerte sich darum. Die meisten setzten unbeirrt ihre Gespräche fort. Nur ein alter Mann, der nicht weit von Louis entfernt seinen Bierhumpen hielt, mahnte ihn freundlich: »Junger Mann, wenn Hans Jürgen sagt, daß du ihm fünf Dukaten schuldest, dann ist es auch so. Denn Hans Jürgen rechnet besser als wir alle zusammen. Jeder von uns hat sich schon mal geirrt. Und jeden
belehrte er eines besseren, und so mußten wir draufzahlen, was ich dir auch dringend rate.« Louis verstand sehr wohl die Zweideutigkeit dieser Worte. Plötzlich aber erfaßte ihn ein wilder Zorn auf den Ausbeuter hinterm Schanktisch. Er warf ihm einen Dukaten hin und rief trotzig: »Hier, du Rechenkünstler! Mehr gibt es nicht! Ich verschenke mein Geld nicht an Betrüger!« Er hatte den letzten Satz kaum ausgesprochen, da schien das Dach über ihm zusammenzubrechen. Ein fürchterliches Krachen erfüllte seinen Schädel. Louis begann zu schwanken. Hilfesuchend ruderte er mit den Armen in der Luft. Er bekam den alten Mann zu fassen. Doch seine Finger glitten kraftlos ab. Dann stürzte er der Länge nach in die Sägespäne. * Volker und Pierre hatten große Mühe, Roland nicht aus den Augen zu verlieren. Eine tiefe Unruhe trieb den Ritter vorwärts. Sie übertrug sich auf Samum, der in weiten Galoppsprüngen dahinstürmte. Zweimal mußte Volker aus dem Sattel, um an Samums Hufspuren die Richtung zu bestimmen. Nur so blieben sie auf Rolands Spur. So kam es, daß er bei seinem Zusammentreffen mit Wulfbrand und dessen Kameraden allein war. Roland überraschte die drei Männer, als sie rund um ein Lagerfeuer saßen und einen Rehrücken brieten. Er hatte den Feuerschein schon von weitem gesehen und war gerade darauf zugeritten. Die Männer sprangen auf. Sie besaßen ausdrucksvolle Gesichter mit mehr Falten, als es in ihren Jahren üblich war. Sie schienen voll Furcht. Ihr Anführer, ein hochgewachsener Mann, sagte ehrerbietig: »Gestattet, Herr Ritter, daß wir Euch zu unserem Mahle einladen.« Unschlüssig verharrte Roland. Er hatte den ganzen Tag über keinen Bissen zu sich genommen. Der würzige Geruch des Bratens stieg ihm verlockend in die Nase. »Gut«, sagte er schließlich. »Ich
nehme Eure freundliche Einladung an. Mein Name ist Roland. Doch folgen mir noch zwei Gefährten ...« »Das Fleisch reicht für alle«, beruhigte der Große. Dabei flog ein Leuchten über sein Gesicht. Kam es von innerer Gemütsbewegung? Oder war es der Abglanz des Lagerfeuers? »Da Ihr Roland seid, den die Leute als Helden preisen, möchte ich mich und meine Kameraden unter Euren Schutz stellen. Ich heiße Wulfbrand. Seht, wir sind wandernde Schauspieler. Unsere Waffen taugen nur für die Bühne, auf der wir manche Schlacht darzustellen vermögen. Doch im wirklichen Leben sind wir erbärmlich dran, wenn es darum geht, die Waffen miteinander zu messen. Schon mehrfach begegneten wir Räubern und konnten ihnen nur knapp entkommen. Deshalb wäre es uns lieb, wenn Ihr uns schütztet, edler Roland.« Eine halbe Stunde später trafen Volker und Pierre ein. Dann ließen sich die sechs Männer den Rehrücken schmecken. Auch die beiden anderen Schauspieler bestätigten den Wunsch, unter Rolands Schutz Weiterreisen zu dürfen. »Wohin führt denn Euer Weg?« fragte Roland. »Zur Burg Momberg«, sagte der Anführer der Schauspieler. »Dort sind wir eingeladen, ein Spiel vorzuführen. Wir werden sie morgen im Laufe des Nachmittags erreichen. Sie liegt im Norden.« »Dann liegt sie auf unserer Richtung«, meinte Volker. »Aber sagt mir, guter Mann, wie kommt es, daß Eure Truppe aus nur drei Personen besteht? Welcher Art sind denn die Stücke, die Ihr spielt?« »Wir beherrschen auswendig sechs Tragödien und eine Komödie. Jeder von uns übernimmt in den Stücken mehrere Rollen, auch die von Weibern. So können wir selbst personenreiche Dramen wiedergeben.« »Aber es werden sich nie mehr als drei Personen gleichzeitig auf der Bühne befinden«, wandte Volker ein. »Das ist auch nicht notwendig«, erwiderte der Schauspieler. »Denn kein Zuschauer kann mehr als drei Personen auf einmal im Auge behalten.«
*
Wie Wulfbrand vorausgesagt hatte, kamen sie am Nachmittag des nächsten Tages auf Burg Momberg an. Sie lag äußerst abgeschieden - fern von den bekannten Reisewegen. Nach Auskunft der Mimen waren sie von der Burgherrin Tula eingeladen worden. Tula führte seit dem Tode ihres Vaters auf Momberg das Regiment. Die Burg sah vernachlässigt aus. Die Bediensteten, die Roland und seine Gefährten zu Gesicht bekamen, wirkten unhöflich und anmaßend. Man wies ihnen weit voneinander entfernt liegende Räume als Gastzimmer an. Erst am Abend wollte die Burgherrin sie beim Essen begrüßen. Danach sollte die Theatervorstellung beginnen. Rolands Gemach besaß einen winzigen vergitterten Balkon, auf dem gerade eine Person Platz fand. Da es im Zimmer stickig war, trat der Ritter auf den Balkon hinaus. Er blickte auf einen unregelmäßig verlaufenden Graben mit hohem Wasserstand. Der Rest war von Unkraut überwuchert. Auf dieser Seite der Burg, die grau und abstoßend wirkte, gab es nur einen weiteren Balkon, der ein Stück schräg über Roland an der Außenwand klebte. Aus der Richtung dieses Balkons ertönte plötzlich der Gesang einer Frau. Die Stimme war so lieblich wie der Himmel an einem schönen Frühjahrsmorgen, so klar wie ein Bergsee und so melodisch wie der Ruf der Lerche über dem Stoppelfeld. Roland erstarrte und lauschte gespannt. Die Stimme drang ihm tief ins Herz. Melodie und Text waren traurig. So lauteten die Worte: »Oh weh, wie ist der Geliebte mir ferne! Mich hört nur der Wind, mich sehn nur die Sterne. Wie sollt' ich nicht weinen, wie sollt' ich nicht trauern? Gefangen bin ich in den eigenen Mauern.« Dann verstummte der Gesang. Aber die Töne schwebten in Rolands Seele. Während er ihnen noch atemlos nachlauschte, entstand Bewegung auf dem unteren Balkon. Zuerst erschien eine Hand, ein schlanker Arm. Dann schob sich ein Köpfchen ins
Blickfeld - nur für kurze Zeit, nicht länger als drei schnelle Atemzüge. Aber die Linien dieses Gesichtes prägten sich Roland unauslöschlich ein. Das klare, leicht gebräunte Oval unter dem kastanienbraunen Schwall von Haaren, die hellen Augen, in denen Tränen glitzerten und die doch voller Mut erschienen, der volle kirschrote Mund. Roland war wie verzaubert. Wer war diese Schönheit? Noch ehe er zu einem Entschluß kam, vollführte der Arm der Frau eine halbkreisförmige Bewegung, und ein kleines rundes Etwas flog wie ein Vogel in steilem Bogen zu ihm hinauf. Doch ach, gleich war zu sehen, daß der Schwung nicht ausreichen würde. Zu kurz, zu niedrig flatterte das Ding. Doch kam es nahe genug, daß es zu erkennen war - ein Bogen Papier, der um einen Stein gefaltet worden. Eine Botschaft für ihn? Ohne Besinnen sprang Roland mit dem Kopf voran über das Gitter. Nur mit der linken Hand hielt er sich an dem eisernen Querrahmen fest. So hing er mit dem Kopf nach unten und haschte mit ausge strecktem rechten Arm nach dem Blatt. Schon berührte er es mit den Fingerkuppen. Noch einmal faßte er nach. Da entglitt es ihm schon. Er konnte es nicht festhalten. Es fiel nun rasch hinunter, platschte in den Burggraben und versank. Einen Augenblick drohte Roland abzustürzen. Doch eisern hielt seine Linke ihren Griff. Er warf den Körper herum und schwang sich mit einem kraftvollen Klimmzug über das Gitter auf den Balkon. Nun spähte er wieder nach drüben. Ihm war, als höre er einen unterdrückten Aufschrei. Der Arm der Frau verschwand. Noch lange Zeit stand Roland wie angewurzelt und wandte den Blick nicht von dem nun leeren Balkon. Von dort kam kein Laut mehr, und niemand zeigte sich. Zeitweise war ihm, als habe er am hellen Tage geträumt. Und doch hatte er ihr Lied gehört, ihr Gesicht gesehen und sich
nach ihrem Zettel ausgereckt. Und wie er alles noch einmal vor seinem geistigen Auge abrollen ließ, war er plötzlich ganz sicher, daß jemand im Inneren des Zimmers die Frau mit Gewalt hineingezerrt hatte. * Es klopfte an Volkers Zimmertür. Der Minnesänger erhob sich vom Lager, auf dem er geruht hatte, und öffnete. Draußen standen die beiden Schauspieler von Wulfbrands kleiner Truppe. Volker ließ sie herein. Mit verlegenen Gesichtern folgten sie der Aufforderung. Bevor sie ihr Anliegen vorbringen konnten, fragte Volker den Kleineren, dessen breiter Gürtel sich über einem ansehnlichen Bäuchlein spannte: »Was für Rollen spielt Ihr, mein Bester?« Bereitwillig gab der Dicke Auskunft. »Ich spiele Heldenväter und Könige, Pfaffen und Mönche, komische alte Weiber und strenge Richter.« »Und ich«, fiel ihm sein Kamerad, ein drahtiger Mann, Mitte Zwanzig ins Wort, »stelle meist Wulfbrands Gegenspieler dar, die Bösewichter und Verbrecher, die Intriganten und Ränkeschmiede. Doch wenn es sein muß, hülle ich mich auch in Weiberkleider und spiele zarte und romantisch gesinnte Prinzessinnen.« »Das bringt mich auf den Grund unseres Besuchs«, nahm der Dicke wieder das Wort. »Die Burgherrin Tula schickt uns. Da sie die schönen Künste liebt, bittet sie um den Vorzug, den berühmten Minnesänger vom Hohentwiel noch vor dem Abendessen kennenzulernen.« »Ich habe nichts dagegen. Ist sie jung und schön?« Statt einer Antwort verdrehten die beiden verzückt die Augen, und der Darsteller ruchloser Bösewichte und bezaubernder Prinzesinnen küßte sich vielsagend die Fingerspitzen. Volker sprang auf. »Warum sitzen wir noch herum? Lassen wir die Herrin nicht warten!«
»Gestattet, daß ich vorangehe«, sagte der Mann, der auf der Bühne Könige, Pfaffen und komische alte Weiber zu verkörpern pflegte. Volker ging hinter dem Dicken her. Seine lebhafte Fantasie malte sich bereits die Burgherrin Tula in vielen Einzelheiten aus. Dabei achtete er überhaupt nicht auf den Weg, den der dicke Schauspieler einschlug. Er merkte nicht, daß es tiefer und tiefer hinunter ging und immer dunkler wurde. In seine Fantasien versunken, fiel es ihm auch nicht auf, daß jetzt außer dem drahtigen Schauspieler, dem BühnenBösewicht, noch weitere vier Bedienstete ihm folgten. Einmal fragte er ungeduldig: »Sind wir bald da?« »Sofort«, gab der Dicke über die Schulter zurück. Als wäre das Wort ein Signal, stürzten sich auf einmal der Drahtige und die vier Bediensteten von hinten auf den Minnesänger. Der war viel zu überrascht, um große Gegenwehr zu leisten. Schon schloß der Dicke eine Tür auf, und die Männer stießen Volker in den dahinterliegenden Raum. Sie warfen die Tür hinter ihm zu. Gleich darauf hörte er, wie sich draußen abermals der Schlüssel drehte. Mit Schwung stürzte Volker in den stockfinsteren Raum, dessen Fußboden sich steil senkte. Laut plätscherte es unter seinen Füßen. Das Wasser spritzte bis zu seinen Oberschenkeln. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten und nicht lang hinzustürzen. Es roch muffig. Im Nu waren seine Schuhe durchgeweicht. Das Wasser mußte in dem Gemach anderthalb Fuß hoch stehen. Volker fand sein Gleichgewicht wieder. Er stand still. Das Wasser reichte ihm fast bis an die Hüften. Von irgendwoher kam ein leises Wimmern. Immer noch war es stockdunkel. Keine Möglichkeit, sich zu orientieren. Und doch hatte Volker schon eine ungefähre Vorstellung von dem Ort, an den man ihn verschleppt hatte. Er drehte sich um und schritt langsam zurück. Jetzt ging es bergan, und mit jedem Schritt wich das Wasser ein wenig. Wie aus weiter Ferne sagte eine Stimme: »Ist da wer?« Sie klang ungemein kläglich. Volker erkannte den Sprecher. Es
war Pierre, der Knappe. Er antwortete in ruhigem Ton: »Ja. Ich bin's, Volker!« »Oh, Herr Ritter«, jammerte Pierre unsichtbar in der Finsternis. »Ich fürchte, wir sind verloren!« »Niemand ist verloren, solange er sich nicht selber verloren gibt«, versetzte Volker. »Wie bist du hierher geraten?« »Ich schlief«, berichtete Pierre weinerlich, »ermüdet von dem langen Ritt. Da drangen zwei Kerle in mein Gemach, warfen einen Teppich über mich, rollten mich ein, so daß ich mich nicht wehren konnte, und trugen mich davon.« »Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?« »Zuerst dachte ich an einen Scherz. In meiner Pagenzeit trieben wir auf Schloß Camelot aus Übermut oft derlei derbe Spaße. Manchmal überfielen wir, als Gespenster verkleidet, einander des Nachts. Erst als sie mich in dieses grausige Gemach hier einsperrten, dämmerte es mir, daß die Sache womöglich nicht so harmlos gemeint war, wie ich zuerst angenommen.« »Da hast du recht, Pierre. Schauen wir den Tatsachen ins Auge! Wir sind im Verlies.« »Und das Wasser? Das Verlies auf Schloß Camelot, in dem einst Roland schmachtete, war völlig trocken.« »Das viele Wasser hier beweist, daß unser Gefängnis mit dem Burggraben in Verbindung steht. Wo bist du?« »An der Wand. Links neben der Tür.« »Gut. Bleibe vorläufig dort! Ich sehe mich mal um.« »Seid nur vorsichtig, Ritter!« »Ach Pierre! Keinen erwischt das Schicksal eher als den, der sich stets und ständig von der Vorsicht leiten läßt. Mein bester Ratgeber war immer der frische Mut.« Er hörte Pierre seufzen und watete wieder tiefer ins Wasser. Bald stieg es ihm bis an die Brust. Er begann zu schwimmen, denn das Waten wurde schwierig. Nicht lange, und seine tastende Hand stieß an Stein. Er mußte die äußere Burgwand erreicht haben. Volker schwamm an der Wand entlang. Zuerst versuchte er es nach
links. Aber hier endete das Verlies schon nach wenigen Schwimmstößen mit der Querwand. Deshalb drehte er sich um und erkundete die andere Seite. Unterwegs hielt er mit einer Hand stets Verbindung zur Außenwand. Plötzlich faßte er ins Leere. An dieser Stelle war der Stein durchbrochen. Volker schloß daraus, das sich hier der Durchgang zum Burggraben befand. Nach wenigen Augenblicken stellte sich heraus, daß seine Vermutung zutraf. Das Loch war ziemlich kreisrund und etwa eine Armspanne im Durchmesser. Das war der Ausweg ins Freie! Er überlegte, ob er gleich zurückkehren und Pierre holen sollte. Aber er entschloß sich anders. Der ängstliche Knappe würde ihn wahrscheinlich mit allerhand Bedenken, Ausflüchten und Verzögerungen längere Zeit aufhalten. Womöglich konnte der Junge nicht einmal schwimmen! Nein, jetzt kam es auf rasches Handeln an! Wer weiß, was inzwischen mit seinem Freund Roland geschehen war! Das Schwimmen durch den runden Verbindungskanal bot keine Schwierigkeiten. Allerdings mußte er sich sehr flach im Wasser halten, da es fast bis zur Decke reichte und man sich da oben leicht den Kopf stoßen konnte. Mit fünf Stößen geriet Volker an ein neues Hindernis. Eine schwere Holzklappe verschloß das Loch von außen. Mit den Fäusten klopfte Volker dagegen. Die Klappe rührte sich nicht. Er versuchte es mit verdoppelter Kraft, Ohne Erfolg. Volker murmelte ein paar Flüche, die er nie vor Damenohren von sich gegeben hätte. Dann befühlte er das Holz. Er suchte nach irgendeinem Schloß, einem Riegel, einem Haken oder wenigstens einer Unebenheit. Er fand nichts. Das Holz war so glatt poliert wie der Marmorsaal auf Schloß Camelot. Im Wasser legte sich Volker auf den Rücken, stützte sich mit den Händen an den Seitenwänden ab und bearbeitete das Brett mit den
Füßen. Das Brett rückte und bewegte sich nicht. Sie waren eingeschlossen. * Mehrere Gongschläge dröhnten durch Burg Momberg. Roland gürtete seine Lenden und verließ das Gemach. Er nahm als selbstverständlich an, daß der Gong zum Abendessen rief. So war es auch. Am Eingang zur Halle hielt ihn ein farbenfroh kostümierter Diener auf und erklärte mit vollendeter Höflichkeit: »Darf ich Euch bitten, Herr Ritter, Euer Wehrgehänge mit dem Schwert abzulegen, bevor Ihr die Halle betretet?« Als er die Unmutsfalte auf Rolands Stirn sah, fuhr er beflissen fort: »Laßt es mich nicht entgelten, daß ich diese Bitte äußere! Ich tue es nur auf strenges Geheiß der Burgherrin Tula. Sie haßt den Anblick von Waffen in solchem Maße, daß sie in ihrer Gegenwart keine duldet.« »Ist das wirklich so?« meinte Roland zögernd. »Ja, leider«, bestätigte der Lakai in einem Ton, als mißbillige er selber diese Anordnung der Herrin von Herzen. Unter widerstreitenden Gedanken entledigte sich Roland seiner Waffe und händigte sie dem Lakai aus. Dabei wurde er das unbehagliche Gefühl nicht los, einen schweren Fehler zu begehen. Aber er wollte als Gast nicht gleich Ärger machen, und die Erklärung des Lakaien war ja auch recht einleuchtend. Beim Eintritt in die Halle erblickte er als erstes die Burgherrin. Sie stand umgeben von Zofen und mehreren Männern. Sie trug ein kostbares Seidenkleid von zartgrüner Farbe. Nach der Mode der Zeit legte der tiefe Halsausschnitt die obere Hälfte ihrer prachtvollen Brüste frei. Bewundernd umfaßte sein Blick ihre herrliche Gestalt. Er sah den Schwall kastanienbrauner Haare und die feinen Linien ihres Gesichts, die sich seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatten.
Sie war es! Die traurige Sängerin auf dem Balkon war niemand anders als Tula, die Burgherrin. Entschlossen trat Roland auf sie zu. Aber da hielten ihn die Hände einiger Diener an den Ärmeln fest. »Verzeiht, Herr Ritter! Wir haben Auftrag, Euch zu Eurem Platz zu führen.« Gleichzeitig wandte Tula sich ab und begab sich mit ihrem Schwarm von Zofen und Lakaien an die Stirnseite der Tafel. Oder war es nicht vielmehr so, daß man sie mit sanfter Gewalt dorthin brachte? Roland wandte sich an den Diener, der hinter seinem Stuhl stand. »Wo ist Ritter Volker?« Die Antwort kam ohne Besinnen. »Ritter Volker erbat für eine Stunde Urlaub. Ihm ist eine Melodie für ein Minnelied eingefallen. Er ging vor die Burg, um beim Lustwandeln in den Fluren einen Text dazu zu ersinnen.« Beim Mahl saß Wulfbrand am oberen Ende der Tafel neben Tula. Angeregt unterhielt er sich mit ihr. Doch nur hin und wieder gab sie ihm eine kurze Antwort. Oft irrte ihr Blick von ihm ab, und dann ruhten ihre großen braunen Augen mit ernstem Ausdruck auf Roland. Es gab Forellen, Äschen und Hecht. Roland legte gerade eine große Gräte neben seinen Teller, als er wiederum Tulas Blick auffing. Plötzlich bemerkte er etwas Seltsames. Die Burgherrin sah ihn voll an und kniff dann das linke Auge zu. Das wiederholte sie fünfmal! Die Diener trugen Platten mit Wildschweinfleisch auf. Tula ergriff ein Fleischmesser. Ohne den Blick von Roland zu wenden, klopfte sie mit dem Messerrücken als sei sie in Gedanken versunken, auf die Tischplatte. Roland zählte mit. Sie tat es fünfmal! Und fünfmal schnippte sie mit den Fingern, um einen Diener herbeizurufen. Da wußte Roland, daß irgend etwas Schreckliches im Gange war, vor dem sie ihn warnen wollte. Auch sie selber schien sich in Gefahr zu befinden. Sie bat um Hilfe! Denn im geheimen Code der Ritterschaft, der nur mündlich
weitergegeben wurde, gab es ein besonderes Warn- und Hilfssignal. Es bestand in fünfmaliger schneller Wiederholung einer bestimmten Tätigkeit, die mit den Augen oder den Ohren wahrzunehmen war. Meist wurden diese Signale mit dem Horn gegeben. Wahrscheinlich kannte Tula das ritterliche Geheimnis von ihrem Vater. Vielleicht hatte er es ihr, da er keine männlichen Nachkommen besaß, auf dem Sterbebett anvertraut. War Tula in Not? Wieder einmal bedauerte es Roland, sich so leichtfertig von seinem Schwert getrennt zu haben. Ihm fielen die Schlußworte ihres Liedes ein: »Gefangen bin ich in den eigenen Mauern ...« War sie wirklich eine Gefangene? Und wer hielt sie gefangen? Jeder nannte sie doch die »Herrin«! Andererseits aber hatte es so ausgesehen, als hielte man sie mit Gewalt von ihm fern. So schien es auch, als die Tafel aufgehoben, die Bänke in Reihen aufgestellt wurden und die Burgbewohner Platz zu dem Schauspiel nahmen, das Wulfbrands Truppe aufführen sollte. Wieder versuchte Roland, an Tulas Seite zu gelangen. Wieder hielten Zofen und La kaien sie von ihm fern. Und wieder blinzelte sie ihm mit einem Auge zu - fünfmal! Das Schauspiel begann. Roland saß ganz links in der vordersten Reihe, um mehrere Plätze von Tula getrennt. Der dicke Bursche trat als erster auf. Er trug eine mit Goldfarbe angestrichene Pappkrone auf dem Kopf, erklärte, daß er König Janko heiße und beträchtliche Schwierigkeiten mit seinen Feinden habe. Sie wollten ihm Thron und Krone rauben. Das Publikum war sofort gebannt. Der Bursche sprach und spielte gut. Danach kam sein drahtiger Kollege. Er trug Frauenkleider, und die Zuschauer tauschten bewundernde Bemerkungen über seine reizende Erscheinung aus. Der verkleidete Drahtige gab bekannt, er sei Jarmone, die Tochter des Königs Janko, und sei bereit, dem kühnen Mann die Hand zum Ehebunde zu reichen, der ihrem Herrn Vater gegen seine Feinde
helfe und ihm Thron und Krone bewahre. Gerührt umarmte der Dicke den Drahtigen - der König seine Tochter - und dankte in bewegten Worten für soviel Kindesliebe. Der folgende Auftritt Wulfbrands setzte die Zuschauer in merkliche Erregung. Jetzt verstummten alle leisen Gespräche außerhalb des Bühnenraums, denn Wulfbrand war ein dramatischer Mime, der mit einer Handbewegung, einem einzigen Worte gespannte Aufmerksamkeit erzwang. Wulfbrand nannte sich in diesem Stück Prinz Joker. Mit einer geschulten Stimme, die bis in den letzten Winkel der Halle drang, schwor er, die Feinde des Königs zu vertreiben und alle, deren er habhaft werden konnte, zu erschlagen. Als Beweggrund führte er seine brennende Leidenschaft zu Jarmone an, die bei diesen Worten erregt die Hand an die Lippen führte und die Augen zu Boden schlug. Das war von beiden sehr gut gespielt. Man meinte fast, Jarmone erröten zu sehen. König Janko, der bis dahin sorgenvoll dreingeblickt hatte, lächelte erfreut, reichte Prinz Joker die Hand, drückte ihm gerührt seinen Dank aus und empfahl ihm, sich sofort ans Werk zu machen, damit er umso eher den Siegespreis in Empfang nehmen könne. Dann gingen König und Tochter gemeinsam ab. Es dauerte nicht lange, und sechs Männer in grauem Steifleinen, das wie Rüstungen aussah, stürmten auf die Bühne. Sie schwangen Schwerter aus Holz. Aber bevor sie auf Prinz Joker eindrangen, hielten sie noch eine erregte Besprechung mit Rede und Widerrede ab, fuchtelten mit den Armen, stampften mit den Füßen auf und rollten wild mit den Augen. Alles machte einen sehr starken Eindruck auf die Zuschauer. Roland fand es allerdings ein wenig lächerlich, weil er wußte, daß sich solche Szenen in Wirklichkeit doch etwas anders abspielten. Dennoch konnte er sich dem Zauber des Bühnengeschehens nicht entziehen. Jedenfalls bestand Wulfbrands Truppe, wie man sah, aus viel mehr Männern als den drei, denen er unterwegs begegnet war.
Endlich waren sich die Sechs in Steifleinen einig und rannten mit geschwungenen Holzwaffen und unter großem Kriegsgeschrei von allen Seiten zugleich auf Joker zu. Der folgende Kampf gefiel auch Roland über die Maßen. Obwohl er mit ungefährlichem Holz ausgetragen wurde, zeigte es sich deutlich, daß die Schauspieler nicht wenig von der Fechtkunst verstanden. Stich, Schlag, Finten und Konter folgten aufeinander mit verblüffender Leichtigkeit. Natürlich war alles vorher abgesprochen und sicherlich viele Male geprobt worden. Dennoch wirkte das Ergebnis verblüffend echt. Prinz Joker überwältigte nun einen seiner Gegner nach dem anderen. Die Zuschauer sparten nicht mit Beifall. So stürmisch ging es auf der Bühne zu, daß auch Roland gepackt war und zeitweilig meinte, einem wirklichen Kampfe beizuwohnen. Äußerst echt stellten einige der Steifleinen, die nicht fliehen konnten, ihre Sterbeszene dar. Wenn sie scheinbar unter großen Qualen ihr Leben aushauchten, wurden im Publikum Ausrufe laut, die verschiedene Stimmungen wiedergaben: Schadenfreude und Mitleid herrschten vor. Der dicke König rief seine Tochter auf die Bühne. In seinen Frauenkleidern kam der Drahtige angetrippelt. Wieder löste sein Erscheinen begeisterte Zurufe im Publikum aus. Wer nicht wußte, daß sich unter den Röcken ein Mann verbarg, hätte es nie erraten. So vorzüglich spielte der Drahtige die weibliche Rolle. Da stimmte alles bis in die Bewegung des kleinen Fingers. Auf dem Höhepunkt der Vorstellung sanken Jarmone und Joker einander in die Arme. Die Zuschauer klatschten sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Die beiden Schauspieler mußten die Umarmung mehrmals wiederholen. Das Publikum forderte es. Danach nahm König Janko wieder das Wort. »Du hast meine Feinde besiegt«, sagte er zu Joker, »aber dein Schwert ist dabei schartig geworden.« Joker zog sein Holzschwert, das allerdings krumm und schief gehauen war, und warf es auf den Boden.
»Zum Zeichen meiner immerwährenden Huld«, fuhr der Dicke fort, »nimm dieses Schwert entgegen!« Ein Lakai betrat die Bühne. Auf einem Samtkissen trug er die angekündigte Waffe vor sich her - so vorsichtig, als sei es ein Kessel voll heißer Brühe. Joker griff nach dem Wehrgehänge. Der Lakai machte kehrt und ging mit dem leeren Samtkissen ab. Roland warf einen schnellen Blick um sich. Die Dienerschaft stand überall an den Wänden der Halle verteilt. Und alle Diener schauten ihn unverwandt scharf an! In diesem Augenblick zog auf der Bühne Joker das Schwert aus der Scheide. Es funkelte und gleißte im Licht der vielen Fackeln. Dies war kein Holzschwert. Es war aus bestem Stahl - und die Schneide war geschärft. Während König und Tochter, der eine würdig, die andere anmutig die Bühne räumten, begann Joker einen faszinierenden Schwertertanz. Mit unglaublicher Gewandtheit wirbelten seine Füße ihren verwirrenden Takt. Dabei schwang er die Waffe in genau berechneten Figuren. Und immer näher tanzte er an die Stelle heran, wo Roland saß ... * Volker schwamm in das Verlies zurück. Sobald er Grund unter den Füßen hatte, watete er zu Pierre. Er rief ihn an, und dessen Antwort wies ihm im Dunkel die Richtung. Kurz berichtete Volker, wie die Sache stand. Pierre unterdrückte tapfer das aufsteigende Schluchzen. »Mit Gewalt ist da nichts zu machen«, schloß der Ritter. »Das Wasser des Burggrabens drückt die Holzplatte fest gegen die Wand rund um die Öffnung. Aber vielleicht könnte man sie zur Seite hin verschieben. Wenn man nur ein Werkzeug hätte!« »Ihr meint - ein Beil?« »Jeder spitze Gegenstand würde mir nützen. Du hast auch nicht zufällig einen spitzen Gegenstand bei dir?«
Pierres Antwort bestand in einem langen Seufzer. Volker deutete den Seufzer als Verneinung. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten.« »Aber ich habe einen spitzen Gegenstand bei mir! Zwei sogar ...« »Du hast...?« »Ja!« »Gib her! Gib sofort her! Was ist es?« »Ein Besteck.« »Ein Besteck?« »Ja. Ein Messer und eine Gabel. Ich trage immer ein Besteck bei mir, wohin es auch geht. Selbst ins Schlafzimmer und auch in die Schlacht. Ich pflege nämlich leicht hungrig zu werden. Und nichts ist enttäuschender, als im Zustand des Hungrigseins einen Batzen Fleisch oder einen schönen Käse zu finden und kein Besteck bei sich zu haben!« »Schon gut. Her mit dem Besteck! Oh, das ist gut. Ein sehr starkes Besteck. Das hält etwas aus. Damit brauchte man sich vor einem lebenden Bären nicht zu fürchten. Hör zu! Ich versuche jetzt, mit Hilfe deines Bestecks die Platte wegzuschieben. Wenn es gelingt, schwimme ich ins Freie und ... das heißt, ich sollte vielleicht noch einmal zurückkommen und dich holen?« »Das hat Zeit, Ritter Volker! Ich an Eurer Stelle würde zunächst nach Roland sehen. Ich mache mir Sorgen um ihn. Nun ist er ganz allein auf sich gestellt. Wer weiß, in welche Falle man ihn gelockt hat. Ihr müßt, sobald Ihr frei seid, Euch um nichts kümmern als um ihn. Sicherlich braucht er Hilfe. Mich könnt Ihr später befreien.« »Ich danke dir, Pierre. Du bist ein Bursche, der das Herz auf dem rechten Fleck hat.« Pierres Antwort hörte Volker nicht mehr. Er hatte sich erneut ins Wasser geworfen und schwamm zu der Öffnung. Unterwegs verirrte er sich mehrmals. Aber dann fand er doch den kreisrunden Durchlaß. Mit aller Kraft stieß er erst das Messer und dann die Gabel in die Holzplatte. Tief drangen Schneide und Zinken ein. Volker packte sie wie Handgriffe und schob mit aller Macht die Platte zur Seite.
Diesmal glückte es. Und es ging sogar überraschend leicht. Nach kurzer Zeit lag die Öffnung frei. Volker schwamm in den Burggraben hinaus. * Als sich der gewalttätige Gastwirt über Louis beugte, tauchte der Knappe aus den Tiefen der Bewußtlosigkeit wieder an die Oberfläche der Wahrnehmung. Er spürte, wie die schaufelgroßen Hände des Mannes seine Kleidung durchstöberten. Louis ganzes Vermögen bestand aus zwölf Golddukaten. Es dauerte nicht lange, und der starke Hans Jürgen fand sie. Ohne sich um die halb neugierigen, halb ängstlichen Blicke seiner Gäste zu kümmern, nahm er die Münzen an sich. Dann riß er den liegenden Körper hoch und rief: »Macht mir die Tür auf!« Beflissen gehorchten mehrere Gäste. Hans Jürgen schaukelte Louis wie ein kleines Kind. So holte er Schwung zum Rauswurf. Doch plötzlich wurde der scheinbar Bewußtlose in seinen Armen höchst lebendig. Er streckte die beiden angezogenen Beine scharf und trat dem Wirt vor die Brust. Mehr überrascht als vor Schmerz ließ der sein Opfer los. Im Sturz umklammerte Louis die Beine des Gegners und brachte ihn zu Fall. Schwer krachte Hans Jürgen vor seinem Schanktisch in die Sägespäne. Blitzschnell kauerte Louis ihm auf Brust und Oberarmen. Seine Knie bohrten sich schmerzhaft in Hans Jürgens Armmuskeln. Der stöhnte. Tränen traten ihm in die Augen. Mit einem Mal standen alle Gäste um sie herum. Die Stimmung war völlig umgeschlagen. Sie feuerten Louis an. »Gib es dem Betrüger!« »Er hat uns monatelang schikaniert!« »Jetzt bekommt er die gerechte Strafe!« Sie gaben dem hilflosen Hünen Püffe und Tritte. Es endete damit, daß Hans Jürgen das Schicksal erlitt, das er Louis zugedacht hatte. Sie nahmen ihm alles Geld ab, das er bei sich hatte, warfen ihn hinaus und rieten ihm, sich nie wieder blicken zu lassen.
Louis bat sich seine zwölf Dukaten aus, erhielt sie, stellte sich an den Schanktisch und sagte zu der blassen Frau: »Einen Humpen Bier, bitte, und ein Krüglein Branntwein!« Ihre Augen strahlten, als sie das Verlangte vor ihm hinsetzte. »Du kannst soviel trinken, wie du willst, und bezahlst keinen Pfennig - bis an dein Lebensende!« »Das hört sich gut an«, sagte er lächelnd und tat ihr Bescheid. »Ist Hans Jürgen nicht dein Mann?« »Ein Landstreicher ist er«, rief sie. »Kam eines Tages her, bot sich als Hilfe an und tyrannisierte bald alle Welt. Wer sich widersetzte, den schlug er zuschanden. Ich bin die Wirtin, aber ich zählte bald weniger als eine Dienstmagd. Und niemand hatte den Mut, mir zu helfen. Alle fürchteten seine gewaltige Kraft. Bis du kamst...« In ihren Augen las Louis, daß er diese Nacht nicht in freiem Felde und nicht auf einer Strohschütte verbringen würde. Helga hatte er völlig vergessen. * In der Halle der Burg Momberg ... Immer näher kommt der tanzende Wulfbrand dem gebannt zuschauenden Roland. Der Rhythmus des Tanzes aber hat sich verlangsamt. Aus dem Stakkato rascher Bewegung entwickelt sich das unheimliche Anschleichen eines Raubtieres. Drei Schritte vor, zwei zurück. Auch das Schwert führt Wulfbrand nun anders. Nur noch andeutungsweise zersticht es die Luft. In kleinen Bögen läßt der Schauspieler die Klinge tanzen. Der Mann, der neben Roland sitzt, beugt sich zu ihm. »Ist Wulfbrand nicht ein wunderbarer Mime?« fragt er zweideutig. »Alles beherrscht er: Sprache, Mimik, Gefühl und Aktion. Sagt selbst: habt Ihr je ein größeres Talent auf der Bühne gesehen?« »Noch nie«, beeilt sich Roland zu versichern. Tatsächlich war dies
die erste Theatervorstellung seines Lebens. Nicht einen Moment läßt er Wulfbrand aus den Augen. Und der kommt näher ... Drei Schritte vorwärts, zwei zurück. Unausweichlich näher ... Wenn er jetzt den Arm voll ausstreckt, würde die Schwertspitze Rolands Brust berühren. Drei Schritte vorwärts! Roland springt auf und wirft sich nach rechts. Die Luft sirrt wie unter einem Peitschenhieb. Nur um Handbreite verfehlt ihn der sausende Schwertstreich, der sein Haupt spalten sollte. Da gellt Tulas Stimme: »Flieht, Roland! Er wird Euch umbr...« Kräftige Fäuste haben die Burgherrin gepackt. Eine entschlossene Hand hält ihr den Mund zu. Unverhüllt geht Wulfbrand jetzt gegen Roland vor. Er hat die Tarnung des Tanzes aufgegeben. Schweiß steht auf seiner Stirn. Ein irrer Ausdruck unauslotbaren Hasses sticht aus seinen Augen. Die metallische Stimme dröhnt in Rolands Ohren; »Stirb, Elender!« Roland kann nicht zurückweichen. Die Stühle sind ihm im Wege. Hinter ihm steht wie eine Mauer die Schar der Gäste und Bediensteten. Gedankenschnell streckt er die Arme zur Seite, packt seinen Nachbarn, reißt ihn an sich und hält den Widerstrebenden wie mit eisernen Klammern, so daß er ihn mit seinem Körper deckt. Nun, denkt er, wird Wulfbrand nicht zuschlagen - er erschlüge den eigenen Mann! Der Mann in seinen Armen windet sich verzweifelt. Er versucht sich loszureißen. Es mißlingt. Rolands Arme sind eine unzerreißbare Fessel. Da dreht er den Kopf nach hinten, so weit es geht, und zischt: »Habt Erbarmen, Ritter, und laßt mich los! Ich würde Euch doch nichts nützen. Wulfbrands Haß ist ohne Grenzen. Auf nichts und niemand nimmt er Rücksicht, wenn er Euch verderben kann. Er wird erst mich töten - dann Euch! Erbarmen, Roland!« Ungläubig hat Roland die Worte gehört. Aber ein Blick in die wutflackernden Augen des Mimen zeigt ihm, daß der Mann die
Wahrheit spricht. Deshalb löst er den Griff und stößt ihn beiseite. Keiner soll seinetwegen Wunden empfangen. Dann reißt Roland den Stuhl hoch, auf dem er während der Vorstellung saß, und hält ihn schützend vor Kopf und Oberkörper. Doch was ist Holz gegen Stahl? Der Stuhl zersplittert, als das Schwert zuschlägt. Die Beine brechen ab. Doch die dicke Sitzplatte hemmt zunächst den Weg der Waffe. Verblüfft hält der Schauspieler einen Augenblick inne. »Hast du dein schäbiges Leben noch einmal gerettet, elender Roland?« ruft er, und die metallische Stimme klingt jetzt verzerrt vor unbändiger Wut. »Aber verloren bist du dennoch! Du verlängerst nur deinen Todeskampf.« Fast wider Willen läßt sich Roland zu einer Antwort hinreißen. »Ich weiß nicht, warum du mich töten willst, Wulfbrand! Ich habe dir nichts getan, wollte dir nur Gutes. Und denke daran, daß du das heilige Gastrecht verletzt!« »Auf das Gastrecht berufst du dich vergebens, Ritter! Denn ich bin nicht dein Gastgeber. Kein Stein dieser Burg gehört mir. Es ist Tulas Burg. Wende dich an sie! Aber zuvor schau um dich! Sie ging. Sie ist fort. Sie hat dich aufgegeben und überließ mir das Feld.« Sie haben Tula mit Gewalt aus der Halle gezerrt, soviel steht für Roland fest. Und er sieht nun ein: Mit Worten ist der Rasende, dessen furchtbarer Haß auf ihn ihm unerklärlich ist, nicht aufzuhal ten. Deshalb geht der Ritter urplötzlich zum Angriff über und schleudert die schwere Sitzplatte gegen den Feind. So bewirkt er nur einen kurzen Aufschub. Mit dem Schwert fängt Wulfbrand das Wurfgeschoß ab. Und dann stürmt er wie ein Stier auf Roland los. Da ist nichts mehr von tänzerischer Anmut zu spüren. Es ist der nackte Vernichtungswille, der den Mimen treibt. Ein Haß, dessen Wurzel Roland unbekannt ist... Der Ritter erspäht eine Lücke in der schweigenden Reihe der Leute. Er zwängt sich hindurch. Reißt zwei Fackeln von der Wand! Er schwenkt sie, daß die Flammen nach allen Seiten züngeln und ein Funkenregen aufstiebt. Erschrocken weichen die Leute beiseite.
Mit den Fackeln bietet Roland seinem Feinde Trotz. Er rückt ihm sogar damit zu Leibe. Wulfbrand fährt die Hitze sengend ins Gesicht. Abrupt bleibt er stehen. Er ist im Augenblick ratlos. Das Schwert läßt er sinken. Und wie der Blitz springt Roland vor. Die eine Fackel wirft er auf Wulfbrand. Mit der anderen schafft er sich gegen drei Männer Raum, die ihm bedrohlich von der Seite auf den Leib rücken. Wulfbrand duckt sich. Die Fackel fliegt über ihn hinweg und landet auf dem Estrich, wo sie noch einmal aufleuchtet und dann ungefährlich glimmt. Und wieder hebt der Mime das Schwert, um der zweiten Fackel in Rolands Hand zu begegnen. Die Schneide frißt sich durch den pechbeschmierten Schaft, und Roland ist seiner letzten Verteidigungsmöglichkeit beraubt. Wehrlos und waffenlos sieht er dem sicheren Ende entgegen. Langsam weicht er zurück. Aber nach sechs Schritten geht es nicht weiter. Er steht mit dem Rücken an der Wand. Er blickt in Wulfbrands zur Grimasse verzerrtes Gesicht. Er sieht die nackte Klinge, die sich bald von seinem Blute röten wird. »Jetzt hab ich dich endlich!« frohlockt Wulfbrand in freudlosem Ingrimm. »Gleich fährst du zur Hölle, und niemand wird dich fortan vermissen! Kein Lied wird von dir künden, kein Nachruhm deinen Namen treu bewahren. Nur Schande ist mit dem verbunden, der Roland heißt. Sogar die Ritterschaft wird mich rühmen, daß ich deinem ruchlosen Leben ein Ende setzte. Denn ein Strauchdieb, Heckenräuber und Meuchelmörder bist du in ihren Augen!« Der Schauspieler lacht gräßlich. »Und in diesen Ruf habe ich dich gebracht! Denn wisse, ich und meine beiden Gefährten haben, als Ritter verkleidet, Kutschen, Kaufleute und Pilger überfallen und einen jungen Mann getötet, um deinen Ruhm, der mich ärgerte, für immer aus dem Gedächtnis der Menschen zu löschen!« Nun ist das Geheimnis heraus. Wie Schuppen fällt es Roland von den Augen. Der lange Wulfbrand mit geschlossenem Visier auf einem Rappen - wie leicht ließen sich die erschreckten Opfer der
Überfälle irreführen! Natürlich nahm ihnen die Angst die klare Übersicht. Und wenn Wulfbrand sich dann noch von seinen Helfershelfern »Roland« nennen ließ, war die Täuschung vollkommen. Der dicke Schauspieler spielte dabei die Rolle des Knappen Pierre, und der Drahtige die des Louis. Welche abgefeimte Gemeinheit! Doch woher rührte dieser unendliche Haß des Schauspielers? Dafür gibt es immer noch keine Erklärung. Sollte ich je wider Erwarten aus dieser mörderischen Falle lebend entkommen, denkt Roland, dann werde ich nie, nie, nie mehr irgendeinen Raum einer fremden Burg waffenlos betreten. Ja, das schwört er sich in diesen heißen Augenblicken. Aber es ist gar nicht damit zu rechnen, daß er lebendig entkommen kann. Dennoch wird er sich nicht ergeben, sondern bis zum letzten Augenblick kämpfen. Noch einmal reißt Roland zwei Fackeln von der Wand. Wulfbrand aber schlägt sie ihm so schnell aus den Händen, daß Roland keinen Aufschub erreicht. Und an weitere Fackeln kommt er nicht heran. Vor jeder Leuchte stehen jetzt ein paar Männer. Roland duckt sich tief. Er weiß, er muß angreifen und so dem tödlichen Stoß zuvorkommen. Er entscheidet sich, im Hechtsprung unter der Klinge hinwegzutauchen und den Gegner um die Leibesmitte zu packen. Ahnt Wulfbrand das Manöver? Plötzlich hält der den Schwertgriff in beiden Händen, die Spitze der Klinge genau in die Richtung des geplanten Sprunges gerichtet. Wenn Roland jetzt seine Absicht ausführte, würde er sich glatt selber aufspießen. Nun wird es Roland allmählich doch bange ums Herz. Hinter sich hört er leise tappende Schritte. Gleich werden ihm Wulfbrands Helfershelfer in den Rücken fallen! Schon spürt er den verhaltenen Atem der Männer im Genick. Über Wulfbrands faltenreiches Schauspielergesicht, das bisher einen verkrampften Ausdruck trug, breitet sich ein höhnisches Grinsen aus. Der Mann badet sich im Vorgefühl des unausweich
lichen Triumphes. Es ist aus, denkt Roland. Gebe Gott, daß es schnell vorübergeht... Und gefaßt erwartet er den Tod. Schwertstich oder Würgegriff was wird es sein? Mit großer Deutlichkeit weiß er plötzlich: Jetzt tue ich meinen letzten Atemzug! Da dringt eine wohlvertraute helle Stimme vom Eingang her durch die Halle, und ringsum erstarrt jede Bewegung. Volker der Minnesänger ist es! Er ist naß wie eine Katze. Seine Kleidung trieft. Unter ihm bilden sich Pfützen auf dem Estrich. Volker ruft: »Hände weg von Roland! Zurück, ihr Männer - oder ihr seid des Todes! Wer noch eine Hand rührt, den treffen unsere Pfeile ins Herz! Die Waffen nieder! Sonst töten wir jeden im Saal!« Die Überraschung ist ungeheuer. Mit einem Fluch wendet Wulfbrand den Kopf zur Tür und starrt den Eindringling an. Ihm ist, als sähe er ein Gespenst! Wie nur kommt Volker vom Hohentwiel hierher? Er hat ihn doch hinter Schloß und Riegel im Verlies bergen lassen! Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Abergläubische Furcht befällt Wulfbrand, der wie alle Schauspieler fest an Geister, Hokuspokus und übersinnliche Mächte glaubt. Seinen Helfershelfern ergeht es nicht besser. Volker muß mit dem Teufel im Bunde sein! So glauben sie. Roland nutzt den Augenblick voll aus. Jetzt wagt er den geplanten Hechtsprung. Mit der Schulter prallt er gegen Wulfbrands Hüfte und wirft den übertölpelten Mann glatt um. Im Sturz läßt der sein Schwert los. Aber seine Hände greifen sofort nach Rolands Kehle. Der muß seinen eigenen Griff lösen. Und nun windet sich der Schauspieler wie eine Schlange aus seinen Armen und rennt davon. Das Schwert läßt er bei dem überstürzten Rückzug liegen. Noch einmal hören alle seine Stimme. Sie flattert jetzt vor Angst. »Löscht die Fackeln! Löscht sie alle! Schnell, schnell! So beeilt euch doch! Löscht sie!« schreit er. Die Männer beeilen sich, seinem Befehl nachzukommen. Nach
wenigen Herzschlägen liegt die weite Halle in stockfinsterer Nacht. Unheimliche Geräusche erfüllen sie. Hastige Schritte von Rennenden, Flüchtenden. Keuchen. Schmerzensschreie. Rufe nach Gefährten. Auch Volker ruft nach Roland. »Hier bin ich!« Wie Blinde suchen sie einander, werden von anderen Männern angerempelt, orientieren sich nach ihren Stimmen und treffen sich schließlich in der Mitte der Halle, wo Wulfbrands Männer in ihrer Hast sogar die große Essenstafel umgeworfen haben. »Ich danke dir, mein Volker«, sagt Roland leise und aus tiefstem Herzen. »Das war Rettung in höchster Not. Im letzten Augenblick. Ich hatte mit dem Leben schon abgeschlossen!« »Diese Burschen dachten, ich griffe mit einer ganzen Schar von Rittern an!« sagt Volker lächelnd. »Es war eine gute Idee von dir, in der Mehrzahl zu sprechen«, lobt Roland. »Das werde ich mir merken. Vielleicht kann ich diesen Trick auch einmal anwenden.« Dann erzählt er dem Freund in fliegenden Worten, was Wulfbrand ihm enthüllt hat, als er glaubte, Roland gleich ein für allemal zu erledigen. »Er hat also die ganzen Schandtaten in deinem Namen verübt?« staunt Volker. »Wulfbrand war es! Ein Schauspieler! Er ist ein noch größerer Verbrecher, als ich es für möglich hielt.« Plötzlich erinnert sich Roland an ein Versäumnis. Erregt fällt er dem Minnesänger ins Wort. »Ich muß Tula suchen! Sie haben sie aus der Halle gezerrt, als sie mich vor dem Überfall warnte. Bestimmt befindet auch sie sich jetzt in großer Gefahr!« »Aber zuerst brauchen wir Licht!« »Das ist wahr. Aber wie ...?« »Aus der Küche! Sicherlich brennt im Herd noch Feuer.« »Weißt du, wo die Küche ist? Findest du sie im Dunkeln?« »Nichts leichter als das! Gehen wir nur der Nase nach!«
*
Tula schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. Sie haben sie in ein Gemach geschleppt, das nahe dem Burgtor liegt und der Wachmannschaft sonst als Aufenthaltsraum dient. Süßer Roland, denkt Tula mit verzehrendem Schmerz, lebst du noch? O mein Gott, warum konnte ich nichts mehr für dich tun! Wenn sie dich umgebracht haben, dann erlischt der hellste Stern am Himmel meines Daseins. Dann will ich auch nicht mehr leben. Sie ringt die Hände. Es ist furchtbar, untätig zu sein, nichts unternehmen zu können. Sie denkt über die böse Wendung nach, die ihr Schicksal genommen hat. Sie sucht nach einem Gegenstand, der ihr als Waffe dienen könnte - und findet nur einen Mehlbeutel. In dem Moment, da sie dem von fern Verehrten endlich begegnete, hat sie ihn schon wieder verloren! Da wird die Tür aufgerissen. Wulfbrand stürmt herein. Die Haare hängen ihm wirr in die Stirn. Seine Augen haben einen irren Ausdruck. »Auf, Tula!« ruft er mit angstvoll gedämpfter Stimme. »Wir reiten! Wir verlassen die Burg!« Entschlossen sagt sie: »Ich komme nicht mit dir.« »Du kommst!« schreit er, packt sie grob am Ellbogen und reißt sie hoch. »Reize mich nicht! Ich koche vor Wut! Ich bin zu allem fähig. Du wirst mich begleiten! Es ist nur ein kurzer Ritt...« »Ich bleibe auf der Burg meines Vaters! Seltsame Dinge gehen hier vor. Warum sollte ich mitten in der Nacht ins Ungewisse hineinreiten?« »Weil du zu mir gehörst, Tula! Wir sind untrennbar gebunden. Vergiß das nie! Dein Vater hat dich meinem Schutz anvertraut...« »Da war er nicht mehr Herr seiner Sinne. Die Krankheit hatte ihn so hinfällig gemacht, daß er deinen Einflüsterungen erlag.« »Widersprich nicht länger! Komm jetzt! Es ist Zeit. Alles andere erfährst du unterwegs.« »Wo ist Roland?«
»Er ist tot!« »Du lügst!« ruft sie verzweifelt. »Warum würdest du sonst von hier fliehen? Fürchtest du einen Toten?« »Genug der Worte! Später erkläre ich dir alles. Komm jetzt!« Sie sträubt sich heftig. Aber ohne Mühe bricht er ihren Widerstand. Halb trägt er, halb schiebt er sie zur Burg hinaus. Der Himmel ist grauschwarz. Kein Stern unterbricht das Einerlei. Dünner Regen nieselt herab. Dann reiten sie. Die Tränen mischen sich mit den Regentropfen auf ihrem Gesicht. Sie weint über ihre Ohnmacht. Wie haßt sie Wulfbrand! Mit einer unseligen Leidenschaft hängt dieser Mann an ihr. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft gefiel er ihr auch. In der Einsamkeit der abgelegenen Burg Momberg bot er ihr willkommene Abwechslung. Seine hohe Gestalt, sein kühngeschnittenes Gesicht, die Anmut seiner Bewegungen, die Eleganz seiner Kleidung blendeten und verwirrten das unerfahrene Mädchen. Dazu kamen seine schauspielerischen Talente. Wie metallisch klang seine Stimme! Wie kraftvoll strömten die Worte der Dichter aus seinem Munde! Doch nicht lange dauerte es, und sie erkannte, daß sich hinter der glänzenden Fassade ein schäbiges Innere verbarg. Der Mann ist ein geborener Intrigant, eitel, selbstsüchtig und neidisch auf jeden, den das Glück begünstigt. Sie wandte sich von ihm ab. Sie entfloh seiner Gesellschaft. Sie sagte es ihm ins Gesicht, daß sie ihn nicht mochte. Da kam ihres Vaters Krankheit. Und schließlich kurz vor seinem Tod das verhängnisvolle Versprechen an Wulfbrand. Schon vorher hatte Tula begonnen, von einem Mann zu schwärmen, den sie nie gesehen hatte. Nur die Berichte seiner Taten drangen mit großer Verspätung an ihr Ohr. Die Zofen berichteten ihr, was in den Gesindestuben über ihn erzählt wurde. Sein Name ist Roland. Seine Abenteuer erfüllen ihr Herz mit Begeisterung. Das ist ein
Mann, dem sie jeden Wunsch von den Augen ablesen würde! Ihn kennenzulernen! Ihm um sich zu haben! Ihn zu lieben! Das muß der Himmel sein. Als Wulfbrand von ihrer Schwärmerei erfährt, glüht er vor Eifersucht und schmiedet finstere Pläne. Nur ein Ziel kennt er noch. Er muß Rolands Namen in den Dreck ziehen. Jedermann soll nur noch mit Verachtung von dem Mann sprechen, den sie den Ritter mit dem Löwenherzen nennen. Heimlich reitet er mit seinen beiden Kumpanen, dem Dicken und dem Drahtigen, übers Land. Als Ritter verkleidet, begehen sie Raub und Mord. Und immer vermitteln sie ihren armen Opfern auf heimtückische Weise die Gewißheit, ihnen sei von Roland und seinen beiden Knappen so übel mitgespielt worden. Tula aber wird in ihrem Glauben an Rolands edlen Sinn nicht irre. Bald durchschaut sie Wulfbrands arglistiges Spiel. Und als sie Gewißheit hat, daß er hinter all diesen Ränken und Verbrechen steht, verachtet sie ihn von Grund auf. Ihre Abscheu ist riesengroß. Was wird Roland von ihr denken? Muß er sie nicht für eine Komplizin Wulfbrands halten? Oder hat er bemerkt, daß sie ihm das Warnsignal der Ritterschaft gab? Wenn Roland lebt - und damit rechnet Tula fest - wird er sie verfolgen. Aber auch finden? Wulfbrand ist teuflisch geschickt. Er kennt Tausende von Tricks. Er wird Roland und seine Begleiter an der Nase herumführen, bis sie die Lust verlieren. Und dann wird er eines Tages unangefochten auf Burg Momberg zurückkehren, und kein Hahn wird nach seinen Untaten krähen! Vielleicht ist sie dann schon seine angetraute Frau. Vielleicht seine Geliebte. Welche Frau kann für sich garantieren, wenn sie gezwungenermaßen Tag und Nacht mit einem Mann zusammenlebt? Gefühle kann man nicht kommandieren. Sie kommen und gehen ungerufen. Sie muß etwas tun. Sie muß Roland Zeichen geben. Er darf ihre Spur nicht verlieren! Aber wie soll sie es bewerkstelligen?
Die Hufe der Pferde klappern. Sie reiten über felsiges Gestein. Erst wenn es hell wird, können sie die Verfolgung aufnehmen. Auf dem Fels prägt sich kein Hufschlag ein. Tula kämpft vor Verzweiflung mit den Tränen. Da fällt ihr der Mehlbeutel ein, den sie vorhin in der Verwirrung an sich genommen hat. Sie trägt ihn noch in der Tasche ihres langen Rockes. Zur Verteidigung taugte das Mehl nicht. Aber sie kann eine Spur damit legen! Sie knöpft den Beutel auf und läßt von Zeit zu Zeit ein wenig Mehl daraus zu Boden rinnen. Viel darf es nicht sein. Es gilt, haushälterisch mit der geringen Menge umzugehen, die der Beutel faßt. Aber wenn es in dieser Nacht nicht regnet und kein Sturm aufkommt, müßte ein aufmerksamer Reiter die häufig unterbrochene, dünne weiße Spur verfolgen können. Darauf hofft Tula ganz fest. * Auf Burg Momberg geht es inzwischen drunter und drüber. Wie vermutet, haben Roland und Volker in der Küche noch prasselndes Herdfeuer vorgefunden und daran mehrere Fackeln entzündet. Danach aber laufen sie einigermaßen planlos durch die engen Gänge und Räume der Burg. Sie suchen Tula. »Tula!« klingt Rolands spröde Stimme. »Wo bist du?« »Gib Antwort, Tula!« bittet das weichere Organ Volkers. Die Burg wirkt wie ausgestorben. Hin und wieder treffen sie einen, der sich ängstlich an ihnen vorbeidrückt. Alle, die hier leben, alle, die in dem Schauspiel auftraten, haben sich in die äußersten Ecken und Winkel der abgelegensten Räume zurückgezogen, wo sie mit bleichen Gesichtern auf die drängenden Fragen der Ritter nur mit abwehrenden Bewegungen antworten.
»Von dieser Teufelsbrut erfahren wir nie etwas!« zürnt Roland. »Ich wette, Tula befindet sich gar nicht mehr auf Momberg«, sagt Volker, etwas außer Atem von dem nutzlosen Gerenne. »Wulfbrand hat sie bestimmt mit sich geschleppt.« »Dann gnade ihm Gott!« erwidert Roland. Zu dieser Zeit denkt keiner der beiden Ritter an Pierre. Die erregende Suche nach der verschwundenen Burgherrin hat den Knappen vorübergehend aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Wozu sollte sich auch jemand um ihn Gedanken machen? Er ist zwar im düsteren Verlies eingesperrt, aber er hat es einigermaßen behaglich. Wohl sitzt er auf hartem Stein. Doch das dünkt ihn angenehmer als das verhaßte Schütteln im Sattel eines trabenden Pferdes. Nur der Hunger macht ihm zu schaffen. Aber da fallen ihm schon die Augen zu. Er schläft ein. Vergessen sind Einsamkeit, Abgeschlossenheit und Darben ... Pierre träumt... Er träumt, er säße in einer riesigen marmornen Badewanne. Aromatisch duftendes, angenehm temperiertes Wasser umspült seine Glieder. Zarte Frauenhände waschen seinen Körper und fügen dem Wasser, das sich ständig erneuert, immer verlockendere Essenzen zu. Die Damen wetteifern um Pierres Gunst. So etwas Schönes ist ihm noch nie widerfahren. Und o Wunder, diesmal hemmt keine Schüchternheit seine Zunge. Mit der Gelassenheit eines erprobten Schürzenjägers macht er ihnen die hübschesten Komplimente. Aber jetzt treiben sie es doch zu arg! Sie haben so viel Wasser nachgegossen, daß ihm ein Schwall in den Mund lief. Und es ist auch nicht mehr so wohlig warm. Es ist lau - nein, es ist verdammt kalt! Mit einem Ruck fährt Pierre in die Höhe. Verschwunden sind die lieblichen Damen. Die Wirklichkeit hat ihn wieder. Entsetzt stellt er fest, daß er wirklich bis zum Hals im Wasser sitzt. Das ganze Verlies ist überschwemmt! Er stemmt sich mit den Händen an der Wand empor, gegen die er mit dem Rücken lehnte. Noch immer geht ihm das Wasser bis an die Hüfte.
»Zu Hilfe, Ritter Roland!« ruft er, und seine helle Stimme überschlägt sich. »Zu Hilfe, Ritter Volker!« Keine Antwort. Nichts als das eintönige Gurgeln einströmenden Wassers. Und es ist wirklich unangenehm kalt! Pierres Beine wollen ihm fast den Dienst versagen, so unterkühlt sind sie. Seine Pulse beginnen zu jagen. Aus der anfänglichen Beklommenheit wird würgende Angst. Und das Wasser steigt. Es muß vom Burggraben hereinfließen - soviel ist Pierre klar. Aber warum steigt es? Der Wasserspiegel des Grabens kann doch, selbst wenn Wolkenstürme über ihn hereinbrechen, nicht so schnell in die Höhe steigen! Pierre kann ja nicht wissen, daß Wulfbrand zu Beginn seiner Flucht ein besonders heimtückisches Verbrechen beging. Er schloß ein Wehr im nahegelegenen Gießbach. Das änderte den rasenden Lauf der von den Bergen herabströmenden Mom und leitete ihn in den Burggraben, der daraufhin rasch anschwoll. Plan und Anlagen dieser Möglichkeit stammen noch vom Vater der Burgherrin Tula. Er hat sie für den äußersten Notfall einer kriegerischen Belagerung seiner Burg bauen lassen. Wenn etwa ein übermächtiges Heer seine Burg einzunehmen drohte, wollte er die Mom flutend in den Graben leiten. Alsbald würde der über die Ufer treten, eine Überschwemmung verursachen und die Feinde vertreiben. Von alldem weiß Pierre natürlich nichts. Aber selbst wenn er es wüßte, würde es ihm nicht helfen! Noch einmal ruft er, so laut er kann, um Hilfe. Und wieder hört er als Antwort nur das unheilverkündende Rauschen des steigenden Wassers, das ihm jetzt schon bis an die Brust reicht. Stöhnend preßt er die Stirn an die Wand des Verlieses. Verzweiflung droht ihn zu übermannen. Soll er hier wirklich elendig umkommen? Tief unter der Burg, in lichtloser Kammer, ersaufen wie eine Ratte? »Nein!« knirscht Pierre zwischen den Zähnen hervor.
Und er stürzt sich kopfüber in die anschwellenden Fluten. Alles ist besser, als ergeben auf den unvermeidlichen Tod zu warten. Zum erstenmal fühlt sich der sonst so vorsichtige und ängstliche Knappe als Kämpfer! Schwimmen kann er ja leidlich. Der Not gehorchend, hat er es in seinen ersten Wochen als Page auf Schloß Camelot gelernt. Denn zu den vielen rohen Scherzen, die dort unter den Jünglingen im Schwange waren, gehörte es auch, den Unbedachten in den Burggraben zu stoßen. Pierre schwimmt aufs Geratewohl los. * »Verfolgen wir Wulfbrand sofort?« fragt Volker den Freund. »Oder warten wir den Tagesanbruch ab?« Roland überlegt. Und dann schlägt er sich plötzlich mit der Hand vor die Stirn. »Beinahe hätten wir Pierre vergessen! Wo mag er stecken?« Nun ist es an Volker, sich zu erinnern. »Mein Gott, er teilte mit mir das Verlies! Er ist immer noch dort unten. Er blieb dort, als ich ins Freie schwamm. Wir kamen überein, daß er seine Befreiung abwarten solle. Ich versprach ihm, sowie du in Sicherheit bist, den Schlüssel zu besorgen und ihn herauszuholen. Um ein Haar hätte ich ihn im Stich gelassen!« Aber für Selbstvorwürfe ist jetzt keine Zeit. Und Volker weiß das wie kein anderer. Seine Erfahrung ist unermeßlich. Er verschwendet kein weiteres Wort, er handelt. Noch einmal macht er die Runde durch die Gemächer der Burg. Jeden, den er antrifft, befragt er nach dem Schlüssel für das Verlies. Doch alle zucken die Achseln und wenden sich ab. Ihnen sind die nächtlichen Geschehnisse unbegreiflich und unheimlich. Den Schlüssel hat keiner. Volker und Roland bewaffnen sich mit Piken. Sie steigen nach unten. Ein mürrischer alter Mann führt sie über gewundene Treppen
und viele Ecken zum Eingang des Verlieses, das sie allein nie gefunden hätten. Mit Geringschätzung verfolgt er ihre Vorbereitungen, die eiserne Tür mit Gewalt aufzubrechen. »Und hättet ihr die Kraft zehn Meter hoher Riesen mit Muskeln wie Schiffstaue, Dir sprengtet diese Tür nicht auf!« prophezeit er ihnen. »Ich habe das Gemach selber mitgebaut. Tulas Vater achtete darauf, daß keine menschliche Macht es ohne den richtigen Schlüssel öffnen kann. Warum, weiß ich nicht. Er selber war ein milder Mann und hat nie einen ins Verlies gesperrt. Den Schlüssel aber, sag ich Euch, hat Wulfbrand.« Die beiden Ritter hören nur mit halbem Ohr hin. Sie stemmen die Piken zwischen Arm und Körper, nehmen Anlauf und rennen gemeinsam gegen die Tür an. Mit Donnergetöse prallen die Waffenspitzen gegen die Türangel. Eine Pike nach der anderen zerbricht. Sie versuchen es immer wieder. Zerborstene Eisenrohre häufen sich zu ihren Füßen. Der alte Mann schüttelt . höhnisch lächelnd den Kopf. Die Tür rückt und rührt sich nicht. * Pierre schwimmt aus Leibeskräften. Im Wasser ist der beleibte Knappe beweglicher als auf dem festen Lande. Über die Richtung ist er sich sofort im Klaren. Er muß gegen den Strom schwimmen. Nur so kann er hoffen, den Durchlaß zu erreichen, von dem Volker erzählt hat. Ewigkeiten vergehen. Der Sog ist ungeheuer stark. Macht er überhaupt Fortschritte? Kommt er vorwärts? Er bezweifelt es. Die Zeit dehnt sich zu Stunden. Und ohne Unterbrechung streckt er Arme und Beine, zieht sie wieder an und streckt sie ... ein anstrengender, ermüdender Rhythmus ohne Ende. Drei Stunden meint er schon zu schwimmen, dabei hat er erst den zehnten Teil einer einzigen Stunde mit seinem einsamen Kampf
verbracht. Die Muskeln der Oberarme beginnen zu schmerzen. Die Hände biegen sich peinvoll im Ansturm des Sogs. Schwer werden die Beine. Er glaubt zu sinken. Ach, es wäre beinahe verlockend, sich sinken zu lassen ... Doch er kämpft weiter. In seinem Inneren erwachen Kräfte, von denen er nichts ahnte. Und seine Bewegungen werden leichter und freier. Nun glaubt er, genau zu wissen, daß seine Schwimmstöße ihn gegen die Macht des eindringenden Wassers vorwärtsziehen, dem Licht, der Luft, der Freiheit entgegen! Nach einer weiteren Ewigkeit gelangt Pierre an den kreisrunden Zugang zur Außenwelt. Sein Atem geht so schnell und so laut wie ein Blasebalg. Er übertönt schon das Wasserrauschen. In seinen Ohren dröhnt es. Die Arme schmerzen, wie von 1000 Nadeln gepeinigt. Die Beine sind schwer wie Blei. Wie Blei, an dem eiserne Gewichte hängen ... Und doch denkt er nicht ans Aufgeben. Der Wunsch, sich sinken zu lassen, in Vergessenheit und Tod zu tauchen, ist dahin. Aber auch die Angst, die ihm vorher die Kehle zuschnürte, verfliegt. Der Kampf bindet ihn ans Leben, unzerreißbar fest. Pierre schwimmt in die kreisrunde Höhlung ein. Und da macht er eine Entdeckung, die ihm jäh den neugewonnenen Mut wieder nimmt. Das Wasser füllt die Höhle jetzt völlig aus. Bis an den oberen Mauerrand. Hier kann man nicht mehr hindurchschwimmen, wie Volker es vor einer Stunde tat. Hier muß man hindurch tauchen! Bis ins Mark erschrocken, läßt Pierre sich zurücktreiben. Mit kleinen Bewegungen tritt er im Wasser auf der Stelle. Instinktiv trifft sein Körper die nötigen Vorbereitungen zu dem letzten, dem gefährlichsten Teil seines Abenteuers. Er pumpt Luft in seine Lungen. Mit großen Zügen atmet er ein und läßt jeweils nur einen kleinen Teil der Luft wieder ab. Er fühlt förmlich, wie seine Lungen anschwellen. So hat er gehört - tun es auch viele Turnierritter, unter ihnen die erfolgreichsten, vor dem
Finale im Lanzenstechen. Jetzt sind seine Lungen bis zum Platzen gefüllt. Er würde nun gern beten, den Herrn um Beistand bitten. Aber dazu verbleibt ihm keine Zeit. Nur einen flüchtigen Gedanken schickt er zum Himmel. Ob der da oben überhaupt von ihm Notiz nimmt? So oder so - er muß es beginnen. Jetzt oder nie! Und voll Entschlossenheit strafft der Knappe Pierre tief unter den Mauern der Burg in lichtloser Verlassenheit die schmerzenden Muskeln seines geschundenen Körpers und schießt in den andrängenden Schwall des Wassers hinein. Er vergrößert das Tempo seiner Bewegungen, als sein Kopf mit geöffneten Augen unter Wasser verschwindet. Nach dreißig heftigen Stößen glaubt er ersticken zu müssen. Und hat doch erst einen geringen Teil der Strecke zurückgelegt! Er läßt ein wenig Luft durch den Mund heraus. Das erleichtert ihn. Der Druck um den Brustkorb ist gelindert. Arme und Beine schneiden wie Flossen durch das Wasser, dessen Strömung immer mehr zunimmt. Diesmal gelingen ihm kaum zwanzig Stöße, ehe der eiserne Ring um die Brust wieder unerträglich wird. Und wieder atmet er ein wenig aus. Der Trick gelingt zum zweitenmal. Der Druck schwindet. Er kann weiterschwimmen. Und er tut es, mit dumpfem Mut und mit dem letzten Quentchen Kraft, das ihm von dem langen zermürbenden Kampf mit dem übermächtigen Element der Strömung verblieben ist. Zusammenkrümmen, Durchziehen, Strecken. Seine Muskeln arbeiten wie selbständige Wesen. Das Herz pumpt geduldig und voll Einsatz. Wie lange kann er das noch durchhalten? Sind es zwölf, sind es fünfzehn Schwimmstöße, als es in seinem Kopf zu flackern scheint? Ihm ist, als schössen Blitze durch sein Hirn. Jäh erlischt jede Kraft. Da läßt er das letzte bißchen Luft aus den gemarterten Lungen, und noch einmal verschafft ihm das ein wenig Erleichterung. Er beginnt
das alte Spiel: zusammenkrümmen, durchziehen, strecken... Ihm ist nur noch wenig Zeit vergönnt. Wenn Pierre in den nächsten Zügen nicht den Graben erreicht, ist er verloren. Schimmert es nicht schon ein wenig heller? Oder spielen ihm die Sinne nach der stundenlangen todschwarzen Finsternis und der gewaltigen Anstrengung nur einen Streich? Noch einmal nimmt er alle Kraft zusammen. Wie ein Messer schneiden die Arme durchs Wasser. So jedenfalls kommt es ihm vor. Höchstens noch einen Klafter und er ist im Freien! Aber dieser letzte Klafter will kein Ende nehmen ... Pierre ahnt nicht, was ihm wirklich geschieht. Längst sind seine Muskeln ermattet. Seine Bewegungen sind langsam und schwächlich geworden. Statt daß er die Strömung besiegt, treibt der Sog ihn immer stärker ins Verlies zurück. Schon hat er ihn aus dem kreisrunden Loch herausgedrückt. Und wieder will er sich strecken, da versagen ihm die Muskeln den Dienst! Sein Herz arbeitet in einem nie erlebten Schnelltakt. Es ist, als hielte es nicht mehr in ihm aus, als wolle es aus seinem Körper schlüpfen. Nun muß er doch aufgeben. Er kann nicht anders... gleich muß er Luft holen. Du darfst nicht! mahnt ihn eine innere Stimme. Er hört nicht darauf. Und dann schwinden ihm die Sinne. Zuerst vergehen die Schmerzen. Er fühlt sich leicht wie eine Flocke. Er gibt dem ungeheuren Druck nach, der ihn quälte. Wasser strömt ihm zum Mund herein. Sein Bewußtsein löscht aus. Eine Weile treibt der Körper noch totähnlich dicht unter der Oberfläche. Dann beginnt er zu sinken. Tiefer und tiefer ... In diesem Augenblick ergreift eine fremde Hand seinen rechten Arm. Eine zweite Hand krallt sich in sein Wams. Ein Ruck geht durch den schlaffen Körper. Er wird emporgerissen. Der andere schwimmt rückwärts. Er liegt auf dem Rücken, hält den
reglosen Pierre fest und arbeitet sich mit bewundernswerter Energie allein durch die Schubkraft der Beine gegen die Strömung. Eine kurze Spanne Zeit vergeht noch - dann wölbt sich der Himmel über Pierre. Die ersten Sterne erscheinen gerade. Der Kopf des Knappen taucht aus dem Wasser. Aber seine Augen sind fast geschlossen. Frische Luft streicht um seine Wangen. Er spürt sie nicht. Sie dringt durch Mund und Nase und fließt in seine Lungen. Er weiß nichts davon. Als Roland ihn jenseits des Burggrabens an Land zieht, ist Pierre wie tot. Volker hat am Ufer gewartet. Durch Zurufe lenkte er Roland. Er nimmt den Körper des Knappen in Empfang und stellt ihn auf den Kopf. Schier endlos schießt das Wasser aus dem schlaffen Mund. Indessen liegt Roland zwei Schritte abseits schweratmend am Boden und beobachtet das Aufsteigen der ersten Sterne. Im Geist geht er noch einmal die Geschehnisse durch. Unter dem Hohnlachen des alten Mannes haben sie ihre Versuche, die Verliestür aufzusprengen, eingestellt. Dann jagen sie hinauf, und das Lachen verfolgt sie, um Ecken, durch Windungen, über Treppen und Gänge. Das Lachen eines vom Leben enttäuschten Mannes, den nach so vielen eigenen Mißerfolgen nun nichts mehr auf der für ihn enggewordenen Erde freut als fremdes Scheitern. Volker zeigt dem Freund, wo er die Luke entfernt hat und aus dem Verlies in den Graben schwamm. Unverzüglich läßt Roland sich ins Wasser gleiten. Seine Hände erfühlen die Ränder der Öffnung. Und er erkennt, was geschah. Das Verlies wurde geflutet! Die Aussicht, Pierre zu finden und zu retten, ist verschwindend klein. Aber Roland überlegt nicht. Er fühlt sich für Pierre verantwortlich. Er holt tief Luft und taucht in den Höllenschlund. Zwei Stunden, nachdem er Pierre herausgeschleppt hat, wissen sie, daß sein Einsatz nicht vergeblich war. Der Knappe schlägt die Augen auf. Sein Mund zuckt. Seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig. Er sagt: »Ich habe es also geschafft. Habe ich geschlafen? Ich war
so entsetzlich müde.. ..« In dieser Nacht ist an eine Verfolgung Wulfbrands nicht zu denken, obwohl es Roland mit allen Fasern danach drängt. Volker rät dringend davon ab. Sie alle sind erschöpft. Einige Stunden der Ruhe werden ihnen nützlicher sein als ein unsicheres Hasten bei spärlichem Sternenlicht. Doch während Pierre und Volker schlafen, findet Roland keine Ruhe. Denn ununterbrochen denkt er an Tula. Jede Stunde, die sie in der Gewalt des Entführers verbringen muß, zerreißt auch ihm das Herz. Und so streift er die Nacht über in der Umgebung der Burg umher, um Spuren zu finden. Auf den Knien liegt er im Gehölz, im Unterholz. Auf den Pfaden legt er sich nieder, während seine Finger über den holprigen, steinigen Grund gleiten und suchen, suchen ... Als eine schmale Lichtschnur über den Horizont taucht und den nahenden Morgen ankündigt, erblickt er die dünne Mehlspur - die erste, die Tula nach Verlassen der Burg Momberg hinabrieseln ließ. Federnd springt Roland auf die Füße. Ein Seufzer der Erleichterung entringt sich seiner Brust. Die erste Spur! Ihm ist, als habe er damit schon einen Zipfel vom Gewände der Geliebten erhascht. Nun wird er sie finden. Die Befreiung ist nah. Ach, wie gründlich er sich täuscht... Er ist frisch. Kein Schlaf liegt auf seinen Wimpern. Seine Sinne sind locker und tatendurstig, als habe er eine lange Nacht in tiefem Schlaf verbracht. Und munter ist seine Stimme, als er zur Burg hin ruft: »Auf, Volker, jetzt erwache! Wir reiten!« * Tula hätte nicht sagen können, wie oft Wulfbrand während der Nacht die Fluchtrichtung wechselte. Doch getreulich und aufmerksam markierte sie jedes Abbiegen durch ein dünnes Rinnsal aus ihrem Mehlbeutel. Sie ging sehr vorsichtig mit dem kostbaren Stoff um.
Solange es geradeaus ging, hielt sie den Beutel fest geschlossen. Vor allem achtete sie darauf, daß ihr mißtrauischer Entführer von ihrem heimlichen Tun nichts merkte. Lang war der Ritt und der Inhalt des Beutels schon auf die Hälfte zusammengeschmolzen. Tula begann sich Sorgen zu machen. »Wenn Ihr mich wirklich liebt, Herr Wulfbrand«, klagte sie, »dann laßt uns endlich rasten! Denkt daran, daß ich eine Frau bin und für so wüste Anstrengungen weder geschaffen noch daran gewöhnt!« »Hegt keinen Zweifel an meiner Liebe!« begehrte der Schauspieler heftig auf. »Sie ist so rein und verzehrend wie das Feuer. Gerade deshalb kenne ich weder Rast noch Ruhe. Ich will vermeiden, daß die Verfolger uns einholen und Euch mir entreißen.« »Ich wette, die liegen noch auf meiner guten Burg im tiefen Schlaf. Wie sollen sie uns in dieser ägyptischen Finsternis folgen?« Wulfbrand lachte trocken und freudlos. »Keinem Ritter ist zu trauen«, versetzte er in schlauem Tonfall. »Sie haben Kenntnisse, von denen das normale Volk nichts ahnt. So besitzen sie einen geheimen Code ...« Tula erschrak. Hatte Wulfbrand bemerkt, daß sie Roland durch Notsignale zu warnen versuchte? Sei's drum! Ihm war ohnedies bekannt, daß sie ihm den Ritter vorzog. »Wer sagt denn«, fuhr er fort, »daß der verfluchte Roland, dessen Gebeine am Fluß bleichen mögen, nicht in der Nacht sehen kann wie die Katzen?« »Ihr träumt!« spottete sie. »Ich bitt' Euch nochmals: wenn Ihr ein wenig Gefühl für mich hegt, so laßt uns halten und ausruhen. Ich fühle mich wie gerädert!« »Zweifelt nicht an meiner Liebe!« rief Wulfbrand mit ausbrechender Wildheit. »So etwas macht mich zornig. Und hört mit dem Gejammer auf! Wir reiten noch ein kleines Stück. Ihr versteht Euch besser darauf, als Ihr vorgebt. Wie oft habt Ihr Euren Vater zur Jagd begleitet!« »Er jagte wenigstens nicht zur Nachtzeit«, widersprach sie. Wulfbrand versank wieder in mürrisches Schweigen.
Endlos dehnte sich der Weg. Allmählich schienen die Bäume zurückzutreten. Das Land weitete sich. Am Himmel glitzerten jetzt einige Sterne. Und dann bot sich Tula ein Anblick, der sie fast so schön dünkte wie die eigene Burg, die sie hatte verlassen müssen. Der Wald lag hinter ihnen. Aus den Wolken hob sich der Mond. Sein silberner Schein fiel auf ein geduckt niedriges Haus, das einzeln in der nächtlichen Landschaft stand - mit einem kleinen Stall daneben. Obwohl kein Lichtschimmer blinkte, erschien das Haus Tula über die Maßen gastlich, einladend und friedfertig. »Klopft an die Tür, Herr Wulfbrand!« bat Tula. »Ich bin zu Tode erschöpft. Ich kann nicht mehr!« Aber der Schauspieler stieß nur ein wütendes Knurren aus und lenkte die Pferde seitab. In großem Bogen vermieden sie das Haus, und bald wurde es hinter ihnen von der Dunkelheit verschluckt. Tula fragte sich, ob es wirklich da stand oder ob sie es nur geträumt habe. Wieder ließ sie einen dünnen Faden Mehl zu Boden fallen. In diesem Augenblick packte sie brennender Haß auf Wulfbrand. Bisher war sie bereit gewesen, ihm alles, was er ihr angetan, zu verzeihen. Seine Freveltaten, Raub und Mord. Den Bruch der Gastfreundschaft. Den Überfall auf den waffenlosen Roland. Ihre gewaltsame Entführung. Vielleicht, sagte sie sich, tat er wirklich alles aus Liebe zu ihr. Und Liebe war etwas, das sie nachfühlen konnte. Denn ihr ganzes Herz war erfüllt von Liebe zu Roland. Wer weiß, welcher Dinge sie fähig sein würde, wenn Roland seine Liebe einer Nebenbuhlerin zuwandte! Vielleicht wäre sie dann auch fähig, Menschen Gewalt anzutun oder sie durch Tücke zu schädigen. Aber niemals - selbst in tiefster Verzweiflung - würde sie ihrem Geliebten, dem Ritter Roland, Übles antun, Wulfbrand jedoch quälte und peinigte sie. Sonst hätte er an dem Haus Halt gemacht und um Quartier gebeten. Er hätte ihr einige Stunden Ruhe gegönnt. Ja, was hätte sie für nur eine einzige Stunde Schlaf gegeben! Aber er dachte nicht daran. Er zwang sie weiterzureiten. Dieser
Mann liebte sie nicht. Mag sein, daß er sie begehrte. Er wollte sie haben. Er wollte sie als Besitz. Sie und ihr Schloß. Aber lieben? Er liebte nur sich selbst. Plötzlich zügelte er sein Pferd. Dann drehte er es herum. Sie ahnte das Manöver im Dunkel mehr, als daß sie es sah. Hastig versteckte sie den Mehlbeutel. Mit brutalem Griff packte er sie am Handgelenk. Es tat so weh, daß sie aufschrie und die Finger öffnete. Dann nahm er ihr den Mehlbeutel weg. »Du falsches Weib!« beschimpfte er sie in rasender Wut. »Meinst du, mich betrügen zu können? Seit Stunden weiß ich, was du treibst! Du legtest eine Spur für Roland!« »Jawohl, das tat ich!« schrie sie außer sich. »Und er wird ihr folgen und uns unfehlbar finden und dir das Schicksal bereiten, das du verdienst!« Wieder ließ Wulfbrand sein häßliches trockenes Gelächter hören. »Wenn er der Spur folgt, so reitet er in die Irre. Was glaubst du, warum ich dich so lange gewähren ließ?« Hoffnung und Furcht stritten in ihrer Brust. »Lügner! Du hast es erst in diesem Augenblick gemerkt.« »Hoho, falsches Weib! Du irrst schrecklich! Ich ritt in diese Richtung, die du markiertest, um Roland endgültig abzuschütteln. Denn siehe, jetzt reiten wir eine Stunde auf unserer Spur zurück und biegen dann scharf ab. Sie werden uns nie finden! Und du selber bist es, die sie irregeleitet hat - das ist das Beste!« Und wieder lachte er hohl und freudlos. Verzweifelt sprach sie sich selber Trost zu: »Und er wird uns doch finden! Denn Roland ist dir in allem über! Selbst ohne Waffen trieb er dich in die Flucht.« Etwas wie ein Krampf zog über Wulfbrands Gesicht. »Täusche dich nicht, Tula! An roher Kraft mag er mir über sein. Allein darauf auch gründet sich sein fadenscheiniger Ruhm. Aber an Verstand kommt er mir nicht gleich. Ich werde ihn überlisten. Und an Rolands Grab wirst du mein Weib!«
*
Roland war den Gefährten weit voraus. Dem Tempo seines schwarzen Araberhengstes Samum konnten die anderen Pferde nicht folgen. Sie fielen um Meilen zurück. Die Angst um Tulas Ungewisses Schicksal trieb Roland an. Seine Augen waren gerötet und lagen tief in den Höhlen. Bartstoppeln umgaben das übernächtigte Gesicht. Aber sein Blick war scharf und schien die schwache Spur, den gelegentlichen dünnen Mehlfaden am Boden, schon auf Meilen hinweg zu entdecken. Doch zuweilen verpaßte er in seiner Hast eine Biegung und mußte manche Meile zurückreiten, ehe er die Spur wiederfand. Dann brach er jedesmal in einen Jubelruf aus. Denn jedes Mehlkorn brachte ihm Gewißheit, daß Tula noch am Leben war, daß sie ihm vertraute und daß er ihr näherkam. Am Vormittag erreichte er das geduckte niedrige Gebäude. Er sah, daß es eine Gastwirtschaft war. In vollem Galopp sprengte Samum heran. Eigentlich wollte Roland ohne Aufenthalt weiterreiten. Aber dann hörte er Samum schnauben. Das Tier brauchte Wasser. Also hielt Roland vor dem Haus. Ein Junge lief herbei. Bewundernd blieb er vor dem herrlichen Hengst stehen. Ein so schönes Tier muß einem sehr reichen Mann gehören, überlegte der Junge. Zwar sah Roland nicht gerade nach Reichtum aus. Aber mancher vornehme Mann liebte es, in geringer Kleidung durchs Land zu streifen. Also verlangte der Junge für Tränke und Futter statt des üblichen Vierteldukaten die volle Münze. Roland gab ihm einen halben Dukaten, wandte sich ab und betrat die Gaststube, die um diese Zeit noch leer war. Ein Mann, offenbar der Wirt, beugte sich mit dem Rücken zu ihm über ein Weinfaß und rollte es vor sich her. »Einen Krug Branntwein und einen Becher frischen Quellwassers!« forderte Roland laut. Der Mann hielt inne. Sein Rücken straffte sich. Er richtete sich auf
und drehte sich langsam um. Sein einziger Gast bekam große Augen. Es war Louis! »Ritter...«, stammelte Louis überwältigt. Roland war ungeduldig. »Was tust du hier?« Louis' Haltung wurde straff. »Ich helfe der Wirtin.« »Dann bring mir Branntwein und Wasser!« »Sofort!« Wenig später stand das Verlangte auf dem Schanktisch. Roland nahm einen kleinen Schluck Branntwein und behielt ihn eine Weile im Munde, bevor er ihn schluckte. Angenehme Wärme breitete sich in seinem Magen aus. Dann trank er durstig das Wasserglas leer. Louis füllte es neu. Roland machte sich über den Rest des Branntweins her. »Das tat gut«, sagte er schließlich und wischte sich über den Mund. »Und wie kommst du dazu, hier den Wirtsmann zu spielen?« In fliegenden Worten berichtete ihm Louis. Als Roland erfuhr, daß Louis noch nicht dazu gekommen war, Helga die Nachricht von ihres Gatten Tod zu bringen, verdunkelte sich sein Blick. Schon wollte er ein Donnerwetter über Louis ergehen lassen. Doch er hielt an sich. Er ahnte, wie schwer es dem Knappen angekommen war, der Überbringer einer so niederschmetternden Nachricht zu sein. »Und was führt Euch hierher, Ritter?« fragte Louis. Er meinte, Roland sei gekommen, um ihn abzuholen. Doch rasch wurde er eines besseren belehrt. Er erfuhr von dem Abenteuer auf Burg Momberg. »Sie müssen nachts an diesem Haus vorbeigekommen sein«, sagte Roland. »Hast du nichts gesehen oder gehört?« »Es tut mir leid, Ritter. Ich schlief wie ein Murmeltier. Die blonde Wirtin, die ich den Klauen des wilden Mannes entriß, bezeugt mir jeden Abend nach dem Zubettgehen ihre Dankbarkeit. Ich kann Euch sagen: sie ist ein Vulkan an Leidenschaft! Wenn ich nach ihren feurigen Umarmungen schließlich einschlafe, würde mich selbst ein Turnier, das vor der Haustür ausgetragen wird, nicht wecken.« »Wo ist die Frau? Vielleicht hat sie ...« »Ihr geht es nicht anders. Denn wenn sie ein Vulkan ist, bin ich ein
Tiger an Leidenschaft! Sie pflegt meist bis gegen Mittag im Bett zu bleiben. Ehrlich gesagt, ich bin dieses Lebens herzlich überdrüssig. Ich sattle mein Pferd und reite sofort mit Euch! Den Schurken Wulfbrand werden wir bald am Kragen erwischen!« Doch diese Voraussage erwies sich als schwerer Irrtum. Sie fanden noch eine Mehlspur, nicht weit hinter dem Hause. Es war die letzte. Den ganzen Tag über sprengte Roland auf Samum kreuz und quer durch die nähere und fernere Gegend. Auch die anderen suchten verbissen in jeder Richtung. Gegen Abend trafen sie sich in der Wirtschaft. Niemand hatte auch nur den Hauch einer Spur gesichtet. Wulfbrand und Tula schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. * »Au! Verflucht noch mal! Au! Was ist das für eine Schweinerei!« Wulfbrand hüpfte im Sattel hin und her, rieb sich die Kehrseite und schien mit der anderen Hand Insekten zu verjagen. Mehrmals sah er sich mißtrauisch nach Tula um. Aber die folgte ihm an langer Leine im üblichen Abstand von acht Klaftern. Es war am fünften Tag ihrer Flucht, und Tula fühlte sich einigermaßen erholt. Sie hatten mehrmals in guten Gasthäusern übernachtet, wo Wulfbrand tief und traumlos schlief. Mit Leichtigkeit hätte Tula sich davonstehlen können, wenn ... Ja, wenn sie nicht selber wie eine Tote geschlafen hätte. Obwohl sie den Mann nun tief verachtete, vermied sie weitere Streitigkeiten. Irgendwann, so hoffte sie, würde sich die Gelegenheit ergeben, ihm zu entkommen. Bis dahin machte sie gute Miene zum bösen Spiel und widersprach auch nicht, wenn er sie in den Gasthäusern Fremden gegenüber als seine Frau ausgab. Tagsüber beim Ritt durch die immer herbstlicher werdende Landschaft schmiedete er laut Zukunftspläne. Er wollte nach Norden, in eine Stadt unweit des Rheins. Deren Bürger waren berühmte Messerhersteller und Schwerterschmiede. Sie waren dadurch reich geworden und auf Vergnügungen erpicht.
Darauf gründete Wulfbrand seinen Plan. Mit den vielen blanken Dukaten, die er auf den Raubzügen in der Maske Rolands erbeutet hatte, wollte er ein geeignetes Haus kaufen, darin eine Bühne erbauen, neue Schauspieler anwerben und ein ständiges Theater betreiben. Es sollte ein Ort werden, wo sich an jedem Feiertag die wohlhabenden Bürger zusammenfanden. Er dachte auch an gleichzeitigen Ausschank von Bier und Branntwein. Sogar einen Namen für das geplante Theater trug er schon im Sinn. Es sollte Globus heißen. In den Sommermonaten aber würde er sich mit Tula auf Burg Momberg zurückziehen und dort das Leben eines begüterten Ritters führen ... Tula ließ ihn schwatzen und dachte sich ihr Teil. Wieder zuckte Wulfbrand mit einem Wehschrei zusammen. Er krümmte sich im Sattel und rieb sich die rechte Schulter, als habe ihn dort ein Knüppelhieb getroffen. Dann fluchte er laut und schaute sich nach allen Seiten um. Aber außer Tula war kein menschliches Wesen in der Nähe. Nur Habichte und Bussarde zogen hoch oben wie aufmerksame Wächter ihre Kreise. Halb und halb glaubte Wulfbrand, ein Prügelknabe böser Geister zu sein. Er bekreuzigte sich und murmelte mehrere Beschwörungsformeln, die er aus verschiedenen Schauspielen kannte. Doch sobald er ermüdet eine Pause einlegte, stachen und schlugen die »Geister« erneut auf ihn ein. Seine Stimmung wechselte von Erbitterung zu Niedergeschlagenheit und ohnmächtigem Zorn. Immer wieder schaute er sich um. Offenbar wurde er den absurden Verdacht nicht los, Tula habe ihre Hand im Spiele. Schließlich beorderte er sie an seine Seite. So hatte er sie ständig im Auge. Er sah, daß sie mit beiden Händen die Zügel hielt und ihn kaum beachtete. Trotzdem zwickte und prellte es ihn immer wieder von Zeit zu Zeit. Seine Flüche und Zornesausbrüche erfüllten die Luft. Tula konnte sich keinen Reim auf sein sonderbares Verhalten machen. Aber sie war zu stolz, ihn zu fragen.
Danach war eine Stunde Ruhe. Urplötzlich stand keine zehn Klafter vor ihnen ein Reiter. Er war mittelgroß und mager, trug eine alte, an manchen Stellen arg verbeulte, an anderen Stellen verrostete Rüstung und saß auf einem struppigen, ungepflegten und häßlichen Gaul. Am Gurt baumelte eine graue Kappe. Trotz seiner schäbigen Erscheinung hielt sich der Ritter sehr stolz. Mann und Pferd waren so unvermittelt erschienen, als seien sie im Augenblick aus dem Boden gewachsen. Weder Wulfbrand noch Tula hatten sie heranreiten sehen. Verdutzt rieben sie sich die Augen. Da sprang auch schon der Ritter vom Pferd, das ruhig stehenblieb, stellte sich breitbeinig hin und zog in feindlicher Haltung das Schwert. »Nennt Euren Namen!« forderte er. »Ich bin Wulfbrand.« »Nie gehört. Aber das gilt mir gleich. Wulfbrand, ich fordere Euch zum Zweikampf - auf Tod und Leben!« »Aber ich habe nichts mit Euch zu schaffen!« »O doch! So kommt Ihr mir nicht davon! Hat es Euch nicht vorhin gezwickt und gezwackt?« »Allerdings. Woher wißt Dir das?« »Das war ich, der Euch quälte.« Wulfbrand stieß ein rauhes Lachen aus. »Dann müßt Dir die Gabe besitzen, Euch unsichtbar zu machen!« »Vielleicht. Aber lassen wir das! Ich habe es auf Euren Besitz abgesehen. Deshalb will ich Euch im Zweikampf ums Leben bringen.« »Ihr wollt mein Geld?« »Daß ich nicht lache! So kann nur einer sprechen, der nicht weiß, welche erhabene Persönlichkeit er vor sich hat. Meine Name ist Lorimer, und ich bin der reichste Mann des Landes. Bald werde ich auch sein mächtigster Mann sein!« Wulfbrand unterdrückte ein hämisches Lächeln. Dieser abgerissene, schäbige Kerl, diese Vogelscheuche nahm den Mund sehr voll. Obgleich Wulfbrand nicht zum Kämpfen aufgelegt war,
entschloß er sich, das Duell anzunehmen. Von diesem hergelaufenen Burschen und großsprecherischen Prahlhans drohte ihm bestimmt keine Gefahr. Höhnisch fragte er: »Wenn Ihr so reich und mächtig seid, wie Ihr behauptet, warum trachtet Ihr dann nach meinem Besitz?« »Von all dem, was Euch gehört«, lautete die Antwort, »begehre ich nur eins. Es ist das Weib, das Ihr bei Euch habt. Denn zu meinem Reichtum und meiner kommenden Macht fehlt mir noch Schönheit. Und die da« - er deutete verzückt auf Tula - »ist das schönste Weib, auf das mein Auge je fiel, und ich bin viel im Lande herumgekommen. Ich will sie Euch nehmen und sie zu meinem Weibe machen. Das ist mein unumstößlicher Entschluß!« Tula senkte den Kopf. Erbittert dachte sie: Wenn der Himmel mir diesen Kerl! als Befreier schickt, dann meint er es wahrlich nicht gut mit mir. Der fremde Ritter breitete die Arme aus und rief mit erhobener Stimme, die rauh klang vom Staub unermeßlicher Landstraßen: »Ihr Haar ist dichter als die Mähne meines Pferdes. Ihre Augen blitzen wie Vogelschwingen. Ihr Mund ist verlockender als ein ZehnDukaten-Stück. Ihre Brüste ähneln reifen, knackigen Äpfeln. Und ihre Hinterbacken sind von der rechten Form - nicht so dürr wie Holzpfosten und nicht so breit wie Daunenkissen.« »Sehr poetisch«, höhnte Wulfbrand, sprang auch aus dem Sattel und begann den Kampf. Gespannt schaute Tula zu. Sie wünschte sich, beide Kämpfer würden ermattet von den Schlägen des Gegners zur gleichen Zeit niedersinken und ihr die Gelegenheit zum Entkommen bieten. Schon erhoben die Waffen ihren vertrauten Gesang. Stahl klang klirrend an Stahl. Wieder erwies sich der Schauspieler als geschickter Fechter. Lorimer kam ihm an Schnelligkeit und Fintenreichtum nicht gleich. Und bald geriet er in eine bedrängte Lage. Er wich zurück, Schritt um Schritt. Wulfbrand blieb ihm hart auf dem Pelz. Schließlich wurde Lorimer gewaltsam gestoppt. Er prallte nämlich rücklings
gegen einen Baum. Von seinem Sieg überzeugt, rief Wulfbrand: »Jetzt wird's Zeit, daß du dich unsichtbar machst!« »Wünsch dir das nicht!« versetzte Lorimer ernst. Wulfbrand holte zu einem Schlag aus, der dem Gegner den Garaus machen sollte. Aber der andere parierte mit großer Wucht. Und nun zeigte sich Lorimers größere Kraft in überraschender Weise. Mit einem Gewaltschlag entriß er Wulfbrand das Schwert. Verblüfft sah Wulfbrand auf seine leere Hand. Die Klinge lag auf der Erde. Er wandte sich um. Er wollte flüchten. Denn jeden Augenblick konnte Lorimer den tödlichen Streich führen. Wenn er es nur bis zu seinem Pferd schaffte ... Doch Lorimer lachte, hob Wulfbrands Waffe auf, bat ihn zu bleiben und reichte ihm die Waffe. »Du mußt fester zupacken, Wulfi! Es geht weiter!« Mit frischem Mut stellte sich Wulfbrand zum Kampf. Jede List probierte er aus, die er gelernt hatte. Neue Finten fielen ihm ein, und er brachte sie alle. öfter als zuvor traf er Lorimer. Doch was nützte es! Wulfbrands Kraft schmolz dahin. Ohne Schaden anzurichten, glitt die Klinge vom schartigen Panzer des Herausforderers ab. Dagegen schlug ihm Lorimer noch zweimal das Schwert aus der Hand, verzichtete aber auf seinen Vorteil und erlaubte Wulfbrand, es wieder aufzuheben. »Nur munter weiter!« rief er mit rauher Stimme. »Du lernst es schon noch!« Der Kampf dauerte jetzt schon so lange, daß Wulfbrands Arme erlahmten. Kaum noch konnte er das Schwert heben. Unwillkürlich wollte er auch noch zur Unterstützung mit der Linken zupacken, um die Waffe beidarmig zu schwingen. Dabei löste er ein wenig mit der Rechten den Griff. In diesem Augenblick traf Lorimers Klinge genau, und Wulfbrands Schwert flog in hohem Bogen nach hinten davon. Der Schauspieler wandte sich, lief ihm hinterher und bückte sich nach dem scharfen
Eisen. Lorimer blieb verächtlich stehen, wo er stand. Er hob sich nur ein wenig auf die Fußballen. Dann schwenkte er die eigene Waffe, die Spitze nach vorn, nahm bedächtig Maß und schleuderte sie auf den knieenden Mann. Sie durchbohrte Wulfbrands Hals und tötete ihn auf der Stelle. »Zu lange dauerte mir schon das Spiel«, bemerkte Lorimer und holte sein Schwert. Starr vor Entsetzen hatte Tula das gräßliche Ende des Zweikampfes miterlebt. Willenlos ließ sie es nun geschehen, daß Lorimer ihrem Pferd einen Hieb mit der Gerte versetzte. Es vollführte ein paar erschrockene Sätze, ehe es wieder in ruhigen Trab verfiel. Indessen bestieg der Sieger sein eigenes struppiges Pferd und ritt ihr nach, ohne noch einen einzigen Blick auf den Toten zu werfen. Eine Weile ritten sie stumm nebeneinander her. Schreckensbilder zuckten durch Tulas Hirn. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Zuletzt brach Lorimer das Schweigen. »Meine Gefühle für Euch, schönes Weib, kennt Ihr. Mit eigenen Ohren habt Ihr gehört, wie ich Eure Haare, Eure Augen und Eure unvergleichlichen Lippen anbete, wie mich Eure prallen Brüste und Hinterbacken entzücken. Nun sagt, erwidert Ihr meine Neigung?« Tula brachte keinen Ton heraus. Unstet flackerten ihre Blicke. Die Zügelhand zitterte. Aber sie schüttelte, von Abneigung und Ekel gepackt, heftig den Kopf. Es sah aus, als wolle Lorimer auffahren. Doch er beherrschte sich und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Ich fragte zu früh. Das verstehe ich wohl. Gerade erst nahm ich Euch den Gatten. Doch werdet Ihr Euch rasch an mich gewöhnen. Und wenn Ihr mich erst in meiner ganzen Herrlichkeit seht, im Glanz meiner unermeßlichen Reichtümer, werdet Ihr in rasender Leidenschaft zu mir entbrennen.« »Niemals!« wollte sie entgegnen, aber wieder versagte ihr die Stimme, und sie schüttelte nur heftiger den Kopf. Abscheu würgte
sie. Ihre Gefühle waren wie abgestorben. Doch diesmal nahm er kaum noch Notiz davon. »Denn ich bin Lorimer, der reichste Mann des Landes«, rief er, »der bald auch der mächtigste Mann sein und das schönste Weib sein eigen nennen wird! Alle, die mich bisher verachteten, werden wie Hunde um meine Knie streichen und um einen armseligen Knochen aus meiner Hand, einen freundlichen Blick, eine flüchtige Berührung von mir winseln!« Plötzlich war Lorimer verschwunden, als habe er sich in Luft aufgelöst. Tula ritt allein. Sie hatte nicht bemerkt, daß er zurückgeblieben oder vom Wege abgewichen war. Sie überlegte nicht lange. Sie war frei! Jetzt oder nie! Sie wandte ihr Pferd und ritt im Galopp den Weg zurück, den sie gekommen waren. Plötzlich spurte sie einen feinen Stich im Nacken. Nun erging es ihr wie vorher Wulfbrand. Überall zwickte und piekte es. Am Hals, an der Schulter, im Rücken, in der Seite, im Hinterteil. Sie wand sich, schlug mit den Armen um sich, stieß Wehlaute aus und fand doch keine Ruhe. Doch niemand war da. Kein Insekt. Kein Tier. Kein menschliches Wesen. Dann warf sich ihr Pferd herum und wendete auf der Hinterhand. Eine unsichtbare Hand schien das Tier zu lenken. Wieder ging es im Galopp in der alten Richtung weiter, nach Norden. Sie schauderte. Was ging hier vor? Und um das Grauen vollzumachen, klang jetzt Lorimers Stimme an ihr Ohr. Wild schaute sie zur Seite. Niemand! Nicht vorn, nicht hinten, nicht links, nicht rechts. Und doch sprach er zu ihr eindringlich, laut, als ritte er Schenkel an Schenkel mit ihr. »Nun wißt Ihr, daß Ihr mir nicht entfliegen könnt, mein Vögelchen«, sagte Lorimers Stimme mit unheimlicher Kraft. »Unsichtbar bin ich immer bei Euch, wohin Ihr Euch auch wendet. Und mögt Dir bisher ein ungebärdiger, wilder Falke gewesen sein, so werdet Ihr bei mir zum Täubchen, das bald kein anderes Verlangen mehr spüren wird, als bei seinem Täuberich zu bleiben.«
Tula senkte den Kopf. Ihr letzter Widerstandswille zerbrach vor dem Unerklärlichen. Sie wußte, daß Lorimer die Wahrheit sprach. * Wieder war Roland den Gefährten weit voraus geprescht. Da hörte er Jagdhörner. Wie helle Jubelstimmen schwangen sie sich über die Baumwipfel empor. Nur ein leichtes Berühren der Weichen Samums, und der Hengst griff noch ein wenig weiter aus. Sie überquerten jetzt ein weites Stoppelfeld, und der Araber schien darüber hinwegzufliegen. Wieder einmal empfand Roland das Glück, auf dem Rücken eines so fabelhaften Renners zu sitzen. Etwa 150 Klafter zur Rechten erblickte er die Jagdgesellschaft, die am Waldrand ritt. Bald ließ er diese Gruppe weit hinter sich. Im spitzen Winkel steuerte er das nächste Waldstück an und folgte nun dem Hundegebell im tiefer gelegenen Teil des Forstes. Das wütende Kläffen der Rüden zeigte an, daß sie das Wild gestellt hatten., Wenig später erschien Roland auf dem Plan. Wohl ein Dutzend Jagdhunde umringten einen riesigen Keiler. Die Hunde bellten sich schier die Lunge aus dem Leibe. Aber niemand wagte sich an das gereizte Wildschwein heran. Mehrere Hunde bluteten bereits. Der Keiler hatte ihnen, da sie zu keck wurden, erhebliche Wunden beigebracht. Jetzt hielten sie sich in geziemender Entfernung. Der Keiler stand auf sumpfigem Untergrund. Tief sanken seine Läufe in den Morast. Er kümmerte sich nicht um die feigen Kläffer. Seine ganze Aufmerksamkeit galt einem Mann, in dem er seinen wahren Gegner erkannt hatte. Ein hübscher schlanker Jäger, wenig älter als Roland, schritt entschlossen und selbstsicher auf den Keiler zu. In der Hand hielt er einen langen Hirschfänger gezückt. Die Borsten des Keilers waren aufgerichtet. Seine kleinen Augen
blickten tückisch. Schneeweiß blitzten die messerscharfen und ungewöhnlich langen Hauer. Der Jäger bewies Mut, als er so nahe an das gefährliche Wild heranging, um es zu erlegen. Gespannt sah Roland ihm zu. Der Jäger hob den Hirschfänger in Augenhöhe. Ein Streifen Sonne, der eben durch die golden belaubten Bäume drang, fiel auf die Schneide und badete sie in vollem Glanz. Im nächsten Augenblick würde sie vorschnellen und den Keiler töten. Da geriet der rechte Fuß des Jägers auf dem sumpfigen Untergrund ins Rutschen. Seine freie Hand griff haltsuchend nach oben und erhaschte einen tiefhängenden Zweig. Der Zweig brach ab, und der Jäger verlor das Gleichgewicht. Jetzt rutschte auch sein anderer Fuß in den Morast. Wehrlos lag der Jäger vor den wuchtigen Hauern des Untiers. Im Fallen hatte er sogar das Messer verloren. Nun blickte er unvermutet dem sicheren Tode ins Auge. Tausend Gedanken schossen Roland in diesem Moment durchs Hirn. Und schon handelte er. Mit voller Gewalt warf er die Lanze. Sie flog am Kopf des Jägers vorbei und senkte sich in den Nacken des Keilers, als dessen Hauer nur noch um Daumenbreite vom Unterleib des gestrauchelten Jägers entfernt waren. Der Keiler hielt inne. Sein mächtiger Leib schwankte. Ein Zittern durchfuhr ihn. Dann fiel er zur Seite um. Blitzschnell war Roland aus dem Sattel, reichte dem Jäger die Hand und zog ihn hoch. »Dank Euch, Ritter«, rief der junge Mann erleichtert. »Ihr kamt mir zuvor und habt mich möglicherweise vor Schaden bewahrt. Schade drum! Von Rechts wegen gehörte der Keiler mir - nach so langer heißer Jagd, wäre ich nicht unglücklich ausgeglitten...« Wortlos zog Roland die Lanze heraus, ergriff den Hirschfänger und trieb ihn in den Nacken des noch im Tode furchterregenden Wildschweins. »Spart Eure Worte!« sagte er dem Jäger. »Seht hin,
das Wild ist Euer! Meine Lanze kam zu spät.« Der Jäger musterte Roland mit langem, prüfendem Blick. Dann nickte er zufrieden und sprach, während er Roland die Hand hinstreckte: »Und Dank zum zweitenmal, Ritter, für diese Worte! Lassen wir's bei dieser Version, wenn's später ans Erzählen geht, und Ihr habt einen Freund gewonnen, auf den ihr immer vertrauen dürft.« Sie schüttelten einander die Hände. Näher klangen die Jagdhörner. Der Jäger brach einen Zweig mit buntem Laub von einer Eiche und steckte ihn dem Keiler ins Maul. Sinnend betrachtete er den toten Riesen, während er die Hundemeute wegscheuchte. »Ein kapitaler Bursche«, sagte Roland. Zweifelnd blickte der andere auf. »Ich habe ihn erlegt - dabei bleibt es doch?« fragte er zögernd. »Für immer und ewig!« bestätigte Roland. »Dann bin ich für immer und ewig Euer Bundesgenosse«, rief der Jäger erfreut und schüttelte Roland die Hand. »Ihr seid mir lieber als ein Bruder.« Er stutzte. »Nun erst erkenne ich Euch! Seid Ihr nicht der Ritter mit dem Löwenherzen?« »Wenn Ihr Roland meint - der bin ich.« »So ist meine Freude umso größer! Ich bin Gero von Geroldstein. Heute abend, wenn wir den Keiler verzehren, seid Ihr mein Gast. Und zwar, so lange Ihr mögt!« Bevor Roland sich für die Einladung bedanken konnte, brach die übrige Jagdgesellschaft durch die Büsche. An der Spitze ritt ein Jüngling, der Gero ähnelte. Er schien noch jünger, war aber größer und breiter. Unter dem glatten schwarzen Haar verfinsterte sich sein Blick, als er Gero neben dem erlegten Keiler sah. »So bist du mir doch zuvorgekommen, Bruder«, rief er mißmutig. »Wie es dem Älteren geziemt, Gildo«, erwiderte Gero stolz. Die .Männer umdrängten den Keiler und bewunderten seine Größe und Kraft. Gero stellte ihnen Roland vor, der freudig begrüßt wurde. Alle beglückwünschten Gero zu seinem großen Jagderfolg. Nur Gildo blieb mürrisch abseits. Und während das Halali
geblasen wurde und die Jagdgehilfen den Keiler waidgerecht abhäuteten, murmelte Gildo, unhörbar für die anderen, in bitterem Ton vor sich hin: »Immer willst du der erste sein, Gero, nur weil du als erster dem Mutterleibe entsprangst. Aber warte nur! Bald wirst du auch der erste sein, dem der Kopf von den Schultern rollt. Dann gehört mir Geroldstein - und alles andere!« * Die kleine Burg Geroldstein lag auf einer Anhöhe mit schöner Aussicht auf ein Dorf, auf Äcker, Wiesen und Mischwälder. Es gab weder Graben noch Zugbrücke. Die Gemächer lagen fast alle zu ebener Erde und waren auffallend klein. Geräumig war nur die Halle, in der am Abend getafelt wurde. Das würzige Wildschweinfleisch bildete den Hauptgang. An diesem Abend verliebte sich Volker vom Hohentwiel in eine Frau, die sich mit keiner vergleichen ließ, die er je gekannt. Geraldine war eine Schwester von Gero und Gildo. Sie stand im Alter zwischen beiden und war eine Blondine mit einer Haut wie Sahne und großen braunen Augen, in denen sich tausend Träume spiegelten. Volker ließ während des Mahles kein Auge von ihr. Erst recht nicht, als er später auf Wunsch aller Anwesenden ein Lied sang. Der berühmte Minnesänger sang vom verschollenen Schatz des Räubers Caliban! Das Lied endete mit den Zeilen: »Ich schenke euch alle Schätze der Welt, laßt ihr mir mein liebliches Schätzchen im Zelt!« Als er diese Worte sang, tauchten seine dunklen Augen so tief in Geraldines Traumaugen, daß ihm war, als versinke er in ihnen. Störend war nur, daß sie während der ganzen Zeit einen häßlichen Zwerg auf dem Schoß sitzen hatte, dem sie die faltigen Wangen koste und über den zottigen Bart strich. Der Zwerg war sehr vergnügt, kuschelte sich an die Brüste Geraldines, unterhielt sich laut mit ihr und tat, als sei er der Herr der ganzen Burg. Im Essen verhielt
er sich mäßig. Dafür bestand er darauf, im Trinken mit den Rittern mitzuhalten. Dem verliebten Sänger war der Zwerg höchst zuwider, und er freute sich königlich, als das Männlein unter der Wirkung der hastig eingenommenen Getränke nach einer Stunde einschlief und mit offenem Munde grollend schnarchte. Das schien ein alltägliches Vorkommnis zu sein, denn sofort bemächtigte sich ein Diener des betrunkenen Zwerges, hob ihn von Geraldines Schoß und trug ihn aus der Halle. Volker nahm neben dem schönen Mädchen Platz, trank ihr zu und begann ein intimes Gespräch. Während noch der Beifall ihn umrauschte, ergriff er ihre Hand und drückte sie zärtlich. Die Berührung mit den zarten Fingern ließ sein Herz höher klopfen. Sein Blick fiel in ihren Blusenausschnitt, und der Anblick der schwellenden Brust erregte ihn. Danach sah er ihr wieder tief in die Augen und wisperte: »Ihr seid bezaubernd, Geraldine!« Ihre Augen wurden zu Samt, auf dem Sterne ausgebreitet lagen. Ihre Lippen öffneten sich, als verlangten sie nach einem Kuß. Leise, so daß kein anderer sie hören konnte, sagte sie mit einer Stimme voller Zärtlichkeit: »Woher nehmt Ihr die Unverschämtheit, Ritter Volker, Euch in so deutlicher Weise mir zu nähern, obwohl ich mit einem anderen verlobt bin?« Dabei streichelte sie mit den Fingerspitzen die Innenseite seiner Hand, was seine Erregung noch steigerte. Doch ihren Worten lauschte er fassunglos. Sie fuhr fort: »Nehmt Ihr Euch diese frechen Anmaßungen heraus, weil man meinen Bräutigam soeben einer Unpäßlichkeit wegen zu seiner abgelegenen Kammer getragen hat? So laßt Euch sagen, daß ich Euer Verhalten über die Maßen unpassend und kränkend empfinde.« Volker saß wie vom Donner gerührt und fand keine Antwort. Während er in die braunen Augen sah, die ihn verlangend beobachteten, spürte er, wie sie die freie Hand auf sein Knie legte. Danach wanderte die Hand mit begehrlichem Druck seinen Oberschenkel hinauf.
Volker blieb fast die Luft weg. Geraldine mit dem häßlichen Zwerg verlobt? Ehe er die Stimme wiederfand, sprach sie weiter: »Da Ihr so schwere Verfehlungen begangen habt, befehle ich Euch zur Strafe, mich morgen früh um sechs Uhr auf einem Ausritt zu begleiten!« Endlich löste sich der Krampf in seiner Kehle. Ihre Hand hatte seine erregten Lenden erreicht. »Wird Euer ... Bräutigam nicht Einwände erheben?« Ihr Lachen klang schadenfroh. »Wie soll er Einwände erheben, wenn er gar nichts erfährt? Nach derartigen Unpäßlichkeiten pflegt er, wie ich aus Erfahrung weiß, nie vor dem späten Nachmittag zu erwachen. Ihr müßt wissen, Ritter Volker, mein Bräutigam hat eine zarte Natur. Er ermüdet schnell und nachhaltig.« Die Hand in seinem Schoß regte sich, als sie schloß: »Eure Natur, Volker, scheint mir völlig anders gearbeitet!« * Des anderen Tages in der sechsten Morgenstunde ritten sie. Noch lag Nebel über den Auen. Die Wälder dampften. Sie waren ein schönes Paar. Geraldine schlug den Weg zu den Buchen und Eichen ein. Eine halbe Stunde später machten sie an einer Lichtung halt, die von hohen weichen Gräsern einladend bedeckt war. Eine bleiche Sonne kämpfte sich über den Horizont. Der Nebel hatte sich aufgelöst. Die Gräser wiegten sich leise wie die Fransen eines Teppichs aus dem Morgenland. »Wir sind scharf geritten, Volker«, sagte Geraldine. »Mein Zelter verlangt nach einer Rast. Helft mir hinunter!« Schon glitt er zu Boden und hob die Arme, um die schlanke Gestalt aufzufangen. Als ihre Füße die Erde berührten, schwankte sie. Er schlang die Arme um sie. Ihre Körper schmiegten sich aneinander. Als die Lippen sich fanden, wollten sie nicht mehr voneinander lassen. Gleichmütig trotteten die Pferde über die Wiese. Sie begannen zu
fressen. Geraldine ließ sich in die Gräser gleiten. Volker legte sich daneben. Die Hände der beiden fanden keine Ruhe. Die Sonne war kaum eine Daumenbreite hoch geklettert, als ihre Körper nackt waren und sich, unsichtbar für fremde Späherblicke im hohen Gras, zu leidenschaftlichen Umarmungen vereinigten. Geraldines Leidenschaft überstieg Volkers kühnste Erwartungen. »Oh, wie lange habe ich keinen Mann in den Armen gehabt!« schwärmte sie und öffnete dabei verlangend die schöngeformten Beine. »Komm zu mir, Volker! Du bist der Gebieter. Ich will deine Sklavin sein.« Und Volker nahm stürmend Besitz von ihrem Leibe. Doch sobald sie zu eins verschmolzen waren, wurde jeder des anderen Gebieter und des anderen Sklave. So gut verstanden sich ihre Körper. So gleichartig waren ihre Wünsche. Mit langsamen, schmachtenden Bewegungen unter verhaltenen Seufzern begann der Ritt ins Glück. Er steigerte sich zu verzücktem Trab, den inbrünstiges Stöhnen begleitete. Und er endete stets nach einem rasenden Galopp mit wollüstigen Schreien. Und wenn der große Augenblick des herrlichsten Genusses, dessen der Mensch fähig ist, vorüber war, dann blieben sie eng zusammen. Sie streichelten den erhitzten Körper des anderen, flüsterten sich Liebesworte ins Ohr und fühlten bald den Strom neuer Kraft durch die Adern rinnen. Keiner zählte, wie oft sie den Ritt unternahmen. Gleichgültig flogen Specht und Drossel vorbei und hatten keinen Blick für die glühende Lust des Paares. Es ging auf den Mittag zu. Nun lagen sie nebeneinander auf dem Rücken und schwelgten erinnernd in den Seligkeiten, die sie genossen hatten. Dann begann Geraldine, von den seltsamen Geschehnissen auf Burg Geroldstein zu berichten. Vor kaum einer Woche war, verschmutzt, verstört und abgerissen, der Zwerg aufgetaucht. Er wirkte wie ein gehetzter Flüchtling. Sie
gaben ihm zu essen und zu trinken und fragten ihn aus. Sie erfuhren, daß er Säckelmann hieß und bis vor kurzem der Kammerdiener des mächtigen Zwergenkönigs Alberich gewesen war. Säckelmanns Reden waren verworren - nach Zwergenart. Seinen Andeutungen konnten sie jedoch entnehmen, daß Alberich über unermeßlichen Reichtum verfüge, den er eifersüchtig hütete. Gildo horchte auf. Der Zwerg schien einen geheimen Groll gegen Alberich zu hegen. Warum, war nicht klar ersichtlich. Hatte der König ihn schlecht behandelt? War Säckelmann wirklich geflohen? Oder verjagt worden? Da ließ er durchblicken, daß er unter gewissen Umständen bereit sei, die Brüder zu Alberichs Schatz zu führen. Nun war auch Gero ganz Ohr. Doch es vergingen mehrere Tage, bis Säckelmann mit dem herausrückte, was er unter »gewissen Bedingungen« meinte. Er verlangte als Gegenleistung nicht mehr und nicht weniger als den Besitz Geraldines. Der Zwerg war von ihrem Liebreiz wie geblendet und konnte an nichts anderes mehr denken. Die Brüder kamen mit Geraldine überein, ihm zum Schein nachzugeben. Hatte man erst Laurins Schatz erbeutet, so würde man den unerwünschten Bräutigam mit einem bedeutenden Anteil abfinden und ihm dann den Laufpaß geben. Während dieser Gespräche machte Säckelmann mehrmals Angaben über geheimnisvolle Kräfte, die sein ehemaliger Herr besitze. Er bezweifelte sehr, daß es Gero und Gildo allein gelingen würde, Alberich zu überwältigen. Kaum hatte Volker diese Neuigkeiten aus Geraldines Munde erfahren, als er ausrief: »Ritter Roland und ich würden uns glücklich schätzen, deinen Brüdern zu helfen!« Geraldine zeigte sich erfreut und versprach, ihnen diesen Vorschlag zu übermitteln. Danach fing Volker ihre Pferde ein, und das Liebespaar ritt zur Burg zurück. Noch am selben Nachmittag wurde man sich einig.
Schon am nächsten Tage wollte man aufbrechen und sich von Säckelmann zu Alberichs Reich führen lassen, das Felsenmeer genannt wurde. »Eigentlich müßte ich an deiner Liebe zweifeln, Volker«, sagte Geraldine, »da du so schnell bereit bist, mich zu verlassen!« »Nur, um desto rascher zu dir zurückzukehren!« antwortete er und verschloß ihre Lippen mit einem langen Kuß. Roland wollte in seiner freimütigen Art die Brüder sofort darauf aufmerksam machen, daß inzwischen ein Ritter namens Lorimer im Felsenmeer herrschte und sie ihm den Schatz wohl abnehmen, ihn aber nicht behalten dürften. Denn im Auftrag des Königs Artus sollten alle Schätze den rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben werden. Doch Volker redete ihm das aus. Dazu war immer noch Zeit, wenn sie den Schatz erobert hatten. »Ich frage mich nur, ob Säckelmann den Weg wirklich finden wird«, gab Louis zu bedenken. »Zwerge haben, wie ich weiß, ein kurzes Gedächtnis.« »Das stimmt«, gab Volker zu. »Aber es scheint, daß er viele Jahre bei Alberich verbrachte, und das prägt sich sogar einem Zwergenhirn ein.« Diese Ahnung trog den Minnesänger nicht. Säckelmann fand den Weg ohne Mühe wie eine Magnetnadel. Dagegen hatte der Zwerg bereits völlig vergessen, daß Alberich im Kampf gegen Lorimer umgekommen war und seine geheimnisvollen Kräfte, die Tarnkappe nämlich, in dessen Besitz übergegangen war. * Nicht an einer einzigen Stelle des langen Weges bis zum Felsenmeer gerät Säckelmann in Zweifel. Es ist wirklich so, als leite ihn eine innere Kompaßnadel. Stolz kauert er vor Gero auf dessen hohem Roß. Von Zeit zu Zeit streckt er den Arm aus und ruft: »Hier entlang, Ritter!« Aber am vierten Tag ändert sich sein Verhalten. Unruhig zappelt er
hin und her, so daß Gero ihn mit einer Hand halten muß, sonst würde er vom Pferd fallen. Und von Stunde zu Stunde wird es schlimmer mit ihm. Der Zwerg scheint vor Angst zu vergehen. Er zittert am ganzen Leibe. Wie im Schüttelfrost klappern seine Zähne. Das kann nur eins bedeuten: sie sind König Alberichs Festung nahe! Als sie aus den schützenden Waldbäumen auf eine weite, mit Sträuchern unregelmäßig bewachsene Ebene hinausreiten, schreit Säckelmann auf und will sich mit Gewalt losreißen. »Da ... da ... da drüben!« stammelt er in höchster Erregung. Sie halten und spähen über die Ebene. Etwa eine Meile vor ihnen erhebt sich eine Hecke, die sich über den ganzen Horizont erstreckt. Mit stockender Stimme erklärt der Zwerg: »Seht Ihr die Hecke, Ritter Gero? Dahinter verbirgt sich das Felsenmeer. Sie ist ein undurchdringliches Hindernis. Nur an einer Stelle befindet sich gut getarnt eine Geheimöffnung. Nirgendwo anders könnt Ihr ins Innere!« »Dann führe uns zu dieser Öffnung!« ruft Gildo wild. »Ich weiß nicht, wo sie ist.« Der Zwerg windet sich in Geros Griff. Angstschweiß rinnt ihm über die Stirn. »Alberich verband mir stets die Augen, wenn er mit mir durch die Öffnung hinein- oder hinausging. Niemand sollte je erfahren, wo der Eingang ist. Ihr müßt ihn selber aufspüren.« Nach kurzer Beratung trennen sich die Herren. Die Brüder schlagen einen weiten Bogen nach Norden, Roland und Louis tun das gleiche nach Süden. Die beiden Gruppen werden die Flanken und die Rückseite des Heckenwalls untersuchen. Volker und Pierre reiten dagegen auf die Vorderseite zu. Angstbebend bleibt Säckelmann am Waldrand zurück. Kaum haben sich die drei Gruppen entfernt, so klettert der Zwerg behend auf eine hohe Eiche und verbirgt sich oben im Laub, wo es am dichtesten ist. Mit wild klopfendem Herzen zwängt er sich in eine Astgabel und schlägt die Hände vor das Gesicht.
*
Als erste kehren am Nachmittag die Brüder zurück. Sie haben die Öffnung im Dornenwall nicht gefunden. Doch glauben sie, daß man sich notfalls auch mit Werkzeugen einen Pfad durch die Hecke bahnen könnte. Allerdings wird es mühsam sein. Sie machen es sich unter einem Baum bequem, essen und trinken von den mitgebrachten Mundvorräten. »Wo steckt nur der Zwerg?« wundert sich Gero. »Wie ich Säckelmann kenne, hat er am Branntweinfäßchen genippt, liegt jetzt irgendwo im Unterholz und schläft!« Über ihnen, im Laub der Eiche gut verborgen, horcht Säckelmann auf, als er seinen Namen hört. »Eigentlich brauchen wir ihn ja auch nicht mehr.« Das ist wieder die Stimme Geros, des älteren Bruders. »Er wird noch schön zetern, wenn er erfährt, daß er Geraldine niemals bekommt«, sagt Gildo mit rauhem Lachen. Oben lauscht der Zwerg mit angehaltenem Atem. »Sein Anteil am Schatz wird ihn schnell trösten.« »Willst du dem Dreckskerl wirklich einen Anteil gönnen?« fragt Gildo lauernd. »Mir täte es um jedes Goldstück leid.« »Aber wie willst du ihn sonst entschädigen?« Kalt kommt Gildos Antwort: »Ich wüßte schon wie.« »Er würde keine Ruhe geben, uns die Ohren volltrompeten ...« »Ein einziger Pfeil«, sagt Gildo, »schafft ihm und uns Ruhe.« »Willst du ihn abschießen?« fragt Gero erstaunt. »Warum nicht? Ich plane sogar, mich auch Rolands und Volkers zu entledigen, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben - also uns beim Eindringen und Überwältigen Alberichs geholfen haben.« »Wie willst du das tun?« fragt Gero zweifelnd. »Es sind bärenstarke Männer, wohl die besten Ritter des Landes. Jeder von ihnen wiegt 100 Säckelmanns auf!« »Das weiß ich so gut wie du, Bruderherz. Ich dachte auch nie daran, mich offen gegen sie zu stellen. Es wäre mein sicherer
Untergang. Doch es gibt andere Mittel. Ich habe schon einen bestimmten Plan, mit ihnen fertig zu werden.« So sehr Säckelmann die Ohren spitzt, jetzt kann er nichts mehr verstehen. Die Brüder tuscheln so leise, daß kein Ton hinauf in sein Versteck dringt. Erst nach einiger Zeit werden die Stimmen wieder verständlich, und der Zwerg kann die Worte verstehen. »Gut«, hört er Gero sagen. »Das leuchtet mir ein. So wird es sicherlich klappen. Ich werde den Sänger erledigen.« »Und warum nicht Roland?« Keine Antwort. »Warum du Roland nicht töten willst, hab ich dich gefragt!« sagt Gero unmutig. »Ich will es nicht, und damit basta«, sagt der Mann, der keine Woche zuvor Roland ewige Freundschaft geschworen hat. »Ihn überlasse ich dir. Was machen wir mit den Knappen?« Oben im Baum klammert sich Säckelmann an seinen Ast. Das Grauen über das eben Gehörte schüttelt ihn. In seinem Kopf dreht sich ein Mühlrad. Es flimmert ihm vor den Augen. Seine Gedanken verwirren sich. Er hört es gar nicht mehr, daß Gero sagt: »Nun, so mag es geschehen, wie du es willst, Bruder.« In diesem Augenblick kündet Hufschlag die Rückkehr des nächsten Trupps an. Es sind Roland und Louis. Auch sie haben den Eingang nicht gefunden. Nun warten die Männer auf Volker. Um Gildos Lippen spielt von Zeit zu Zeit ein böses Lächeln. Auch für Gero hält er in Gedanken schon eine Überraschung bereit. * Eigentlich haben Volker und Pierre den kürzesten Weg gehabt. Aber da sie über ein freies Stück Land hinweg mußten, ließen sie die Pferde im Wald und sind, jeden Strauch als Deckung benutzend, zu Fuß vorgegangen. Pierre ist von dieser Anstrengung bald außer Atem
und bleibt mehr und mehr zurück. Nach einiger Zeit trifft der voranschleichende Ritter auf eine Bodenrinne, die sich zu einem schluchtartigen Hohlweg erweitert. Sie läuft genau auf den Dornenwall zu. Erst kurz vorher steigt der Weg wieder allmählich an und erreicht das Niveau des Geländes. Geduckt huscht Volker weiter. Er macht immer nur einige Schritte, bleibt dann stehen, sichert spähend nach allen Seiten und lauscht angespannt. Er will nicht in einen Hinterhalt laufen. Erst wenn alles ruhig bleibt, schleicht er weiter. Als die Schlucht endet, legt er sich platt auf den Bauch und robbt weiter. Plötzlich biegt sich der Boden unter ihm, gibt nach und stürzt ein. Die Erde rieselt weg. Es knackt, es knirscht, es kracht! Die Erde tut sich auf. Und Volker sucht vergeblich nach einem Halt. Er stürzt kopfüber in die Tiefe, zusammen mit Ästen und Erdreich. Es geht so schnell, daß er nicht einmal Angst verspürt. Volker stürzt acht Klafter tief. Dann prallt sein Körper auf harten Fels, und sein Bewußtsein erlischt augenblicklich. Als der Ritter wieder zu sich kommt, liegt er nicht mehr in der Grube, in die er gestürzt ist, sondern auf festem Boden. Ringsum erheben sich bizarr geformte Felsen. Sein Blick aber gleitet von den fantastischen Kalksteingebilden weiter und fällt auf das harte, faltenreiche Gesicht eines mageren, sonnengebräunten Mannes, der sich über ihn beugt. Volker stöhnt. Von dem schweren Sturz tut ihm jetzt jeder Knochen im Leibe weh. Sein Schädel schmerzt, als hämmere jemand mit einem Knüppel darauf herum. Der Mann verzieht das knochige Gesicht zu einem häßlichen Grinsen. »Wie fühlst du dich, elender Schurke?« Volker schweigt trotzig. Der Mann schlägt ihm mit der Faust ins Gesicht. »Antworte, wenn ich dich etwas frage, Spitzbube! Ich bin Lorimer, der mächtigste Mann des Landes, der Alberich überwand und tötete und Calibans Schatz erbte. Du Hund hast versucht, dich in meinen Besitz
einzuschleichen, aber es ist dir schlecht bekommen. Du bist in meine Fallgrube geraten, die ich für Spitzbuben deiner Art gegraben habe. Wie heißt du Halunke?« »Das geht dich nichts an«, entgegnet Volker, in dem Zorn und Scham brennen. »Wenn du den harten Mann spielen willst«, ruft Lorimer, »mir soll es recht sein.« Er greift hinter sich und holt einen Ochsenziemer hervor. »Nach drei, vier Hieben erzählst du mir bereitwillig alles, was ich hören will.« Und schon hebt er das furchtbare Werkzeug zum Schlag. »Halt!« Volker richtet sich stöhnend auf. »Schon ein Schlag wäre zuviel. Ich heiße Martin von Golling. Frag mich, was du willst - aber schlag mich nicht! Ich sag dir die Wahrheit. Was willst du wissen?« Zufrieden senkt Lorimer den Ziemer. »Wie hast du das Felsenmeer gefunden?« fragt er neugierig. »Mir begegnete ein Zwerg. Er nannte sich Säckelmann. Er scheint der Diener des Zwergenkönigs Alberich gewesen zu sein. Der hatte ihn in einem Wutanfall fortgejagt, und Säckelmann wollte sich rächen. Deshalb führte er mich hierher. Als ich die Dornenhecke sah und er mir den Eingang wies, brachte ich ihn um. Ich wollte den Schatz nicht mit einem Zwerg teilen.« »Und nun bist du ganz allein?« »Ja, leider. Lieber wäre es mir jetzt, ich wäre mit zwanzig Freunden hergezogen, die deine Festung umzingelt und mich im Verlauf der nächsten Stunde herausgeholt hätten. Aber dem ist nicht so. Es hätte auch keinen Zweck, dir so ein Märchen vorzulügen. Nach dem ersten Schlag würde ich die Wahrheit doch ausspucken. Deshalb sage ich sie dir lieber gleich.« »Das ist klug gehandelt«, lobte ihn Lorimer mit schiefem Blick. »Klüger als vorhin, da du in die Fallgrube torkeltest. Ein Wunder, daß du dir nicht den Hals gebrochen hast! Weil du so freundlich warst, gleich mit der Wahrheit herauszurücken, Martin von Golling so heißt du doch, nicht wahr? So will ich Gnade vor Recht ergehen lassen. Statt dich zu Tode zu peitschen, schenke ich dir einen
schnellen Tod durch das Schwert.« »Zu gütig«, stößt Volker hervor, aber sein Herz klopft wild, und Furcht schnürt ihm fast die Kehle zu. Er tastet an seine Hüfte. Die Waffe hat ihm Lorimer abgenommen, als er bewußtlos war. Sogar die Scheide ist fort. Der Mann tritt vor ihn. Er versäumt keine Zeit. In seiner Hand funkelt das nackte Schwert. Volker sieht in das harte, häßliche Gesicht und erkennt, daß dieses Mannes Sinn durch nichts zu ändern ist. Er versucht die Beine anzuziehen. Soll er weglaufen? Ach, er ist ja noch von dem Sturz halb gelähmt. Vielleicht würde es ihm nicht einmal gelingen aufzustehen. Nun hängt die Klinge drohend über ihm in der Luft. Volkers Augen nehmen Abschied von der Welt. Da klingt eine helle Mädchenstimme an sein Ohr. »Laßt den Schuft leben, Lorimer!« Die köstlichsten Worte, die er je gehört hat! Die Klinge schwankt unschlüssig. Dann verschwindet sie aus Volkers Gesichtskreis. »Misch dich nicht ein!« sagt Lorimer zu dem Mädchen, aber es klingt nicht böse. »Ich meine es ernst«, sagt sie beharrlich. »Machen wir diesen Strolch doch lieber zu unserem Sklaven! Als Toter nutzt er uns nicht. Meint Ihr, es mache mir Vergnügen, Wasser aus dem Brunnen zu heben und eine halbe Meile herzuschleppen? Glaubt Ihr, ich sammle gern Feuerholz und trage es meilenweit auf dem Rücken? Soll sich die zukünftige Gattin des mächtigsten Mannes im Lande wie eine Magd mit niedrigen Arbeiten plagen?« »Du hast wahrlich recht«, stimmt Lorimer ihr zu. Dann schreit er Volker an: »Lieg hier nicht faul herum! Hast du nicht gehört, was deine Herrin sagt? Auf mit dir, Mistkerl!« Ächzend, aber ungemein erleichtert, rappelt Volker sich hoch. Plötzlich hört er Zweifel aus Lorimers Worten heraus. Der Mann sagt bedächtig: »Für einen Sklaven erscheint mir dieser Martin eigentlich zu hübsch. Du könntest dich in ihn vergaffen ...«
Sie lacht verächtlich. »In diesen Milchbubi? Hübsche Männer sind Weichlinge, denen ich nie meine Blicke gönnte. Ich liebe rauhe Männer mit wettergegerbten festen Gesichtern ... wie dich ...« Mit großer Anstrengung hat es Volker fertiggebracht, sich hinzuknien. Er hebt den Blick und sieht zum erstenmal seine Retterin. Zu seiner grenzenlosen Überraschung erblickt er Tula, die Burgherrin von Momberg. * Die Männer im Waldlager springen auf wie ein Mann! Denn wie von Dämonen gejagt, kommt bei sinkendem Tageslicht der brave Knappe Pierre angerannt. Völlig außer Atem erzählt er in stockenden Sätzen das böse Abenteuer, dem Volker zum Opfer fiel. Wie er, schon nahe der Hecke, in einer Fallgrube versank. Wie sich plötzlich eine Öffnung im Dornenwall auftat und ein Mann ins Freie trat. Wie dieser Mann mit Hilfe einer Sprossenleiter in die Grube hinabstieg und alsbald mit dem offenbar leblosen Volker auf der Schulter wieder an die Oberfläche kam, in der Dornenhecke verschwand und die Öffnung sich wie durch Zauberhand hinter ihm schloß. Blaß vor Entsetzen fragt Roland: »Soll das heißen, daß Volker tot ist?« »Ich weiß es nicht, Herr. Doch lag er, einem Toten gleich, auf der Schulter des Mannes. Also befindet sich Volker in Lorimers Gewalt tot öder lebendig.« »Vielleicht war er nur bewußtlos«, wirft Gero ein. Eine düstere Stimmung legte sich über das Lager. Schon breiten sich nachtblaue Schatten unter den Bäumen aus. Aus schweren Gedanken heraus fragt Roland: »Wo ist eigentlich Säckelmann?« Da raschelt es über ihnen in den Zweigen, und der Kleine mit dem eisgrauen Bart und der Zipfelmütze kommt den Stamm einer Eiche heruntergeklettert. Kaum berühren seine Füße den Boden, so eilt er
mit Trippelschritten zu Roland, klammert sich an dessen Hüften und fleht mit einer Stimme, die gequetschter klingt als je: »Helft mir, Ritter Roland! Bei allen Heiligen, ich bitte Euch von ganzem Herzen um Eure Hilfe!« Verwundert blickt Roland auf ihn herab. »Was ist mit dir, Zwerg? Wer bedroht dich denn? Du bist hier unter Freunden. Sicher wie im Mutterschoß.« Doch Säckelmanns Erregung steigert sich noch. »Oh, ihr wißt ja nicht, was sich begab, als Ihr fern wart. Dort oben in der Eiche saß ich, als ich ein Gespräch belauschte. Und da hörte ich, daß er mich töten will - mich töten, weil er mir meinen Anteil am Schatz neidet.« »Von wem sprichst du, Unglückswurm?« »Und danach«, fährt Säckelmann in fliegender Eile fort, »sollt Ihr an die Reihe kommen, Roland! Keinen will er verschonen, um den Schatz allein an sich zu bringen.« »Nun, hör einmal gut zu, Säckelmann!« unterbricht Roland den aufgelegten Zwerg. »Von wem sprichst du? Wen willst du belauscht haben? Wem gelten deine gewichtigen Anklagen? Gib mir jetzt Antwort!« Säckelmann beruhigt sich ein wenig. Er hebt den Kopf, sieht Roland mit tränenumflorten Augen an und öffnet den Mund zur verlangten Antwort. »Es ist...«, beginnt er. Seine Augen werden noch ein wenig größer. Etwas wie ein schmerzlicher Zug erscheint in seinem Gesicht. Dann senkt sich ein gläserner Vorhang über die Pupillen. Die kleinen Hände, die Rolands Hüfte umklammert haben, werden schlaff. Dann sackt der Zwerg in sich zusammen. Er fällt aufs Gesicht. Aus seinem Rücken ragt ein Pfeil. Das Geschoß muß ihn mitten ins Herz getroffen haben. Gero und die Knappen werden aufmerksam. Sie kommen heran. Gemeinsam mit Roland umstehen sie den kleinen Körper des toten Zwergs. Und nun sehen auch sie den tödlichen Pfeil. Roland schaut sich wild um. Seine Hand zuckt zum Schwertgriff.
Da fährt Gildos Stimme wie ein Schlag über sie hin. »Keiner rührt sich, oder er ist des Todes!« Hinter einem Baumstamm schiebt sich ein Bogen hervor. Abschußbereit liegt der Pfeil auf der straff gespannten Sehne. Dahinter blitzt ein Auge ... Es ist Gildo! Roland läßt das Schwert sinken. Er spürt den Atem Geros, Louis' und Pierres, die dicht bei ihm stehen. »So ist es gut«, sagt Gildo mit unheilvoller Drohung. »Ich habe euch alle im Visier!« Schweigend starren die vier Männer den Mörder mit dem Bogen an. Dann löst sich Roland aus der Erstarrung. »Gildo, Ihr seid des Teufels! Wir alle sind Partner auf Treu und Glauben, Partner mit gemeinsamem Auftrag. Wie könnt Ihr Euch so gegen die heiligen Gesetze der Ritterschaft stellen?« Hohnlachen antwortet ihm. »Wer wird es wagen, mich an heilige Gesetze zu mahnen, wenn ich erst einmal die Schätze Calibans und Alberichs besitze? Ja, Säckelmann sprach die Wahrheit! Nicht nur ihm habe ich den Tod geschworen, sondern auch Euch, Roland! Ihr solltet es nur noch nicht erfahren.« »Gildo!« ruft Gero ihn beschwörend an. »Besinne dich! Nur zum Schein sagte ich dir Unterstützung zu, falls wir den Schatz gewännen...« »Ahnte ich's doch!« schreit Gildo, halb wahnsinnig vor Wut. »Dann stirbst du mit ihm! Mein ganzes Leben hast du vergiftet, weil du als Erstgeborener mir bei jeder Gelegenheit vorgezogen wurdest. Immer warst du tonangebend. Du warst der Erbe. Du warst der Burgherr. Du erteiltest Befehle! Immer du, du, du! Und ich mußte kuschen. Damit ist es nun vorbei. Sprich dein letztes Gebet, denn diese Stunde überlebst du nicht! Ich hasse dich, Bruderherz, vom Grund meiner Seele!« Mit einer Haltung, die eiserne Entschlossenheit verrät, schreitet Gero würdevoll auf den tobenden Bruder zu. »Vorsicht!« mahnt ihn Roland.
Aber niemand hält Gero jetzt auf. Sein Schritt ist schnell und fest. Die gespannte Sehne, der flugbereite Pfeil, die Wut Gildos - sie gelten ihm nichts. Noch drei Klafter trennen ihn von dem jüngeren Bruder. Noch zwei. Noch einer... Gero hebt die Hand, um Gildo den todbringenden Bogen aus der Hand zu winden. Der läßt die straffgespannte Sehne los. Schwirrend schnellt sie nach vorn, und aus kürzester Entfernung bohrt sich der Pfeil tief in Geros Herz. Sein Körper bäumt sich auf. Dann schlägt er vornüber zu Boden. Nicht einmal einen Schrei kann der sterbende Ritter noch ausstoßen. Roland braucht keinen Blick, um zu wissen, daß Gero tot ist. Aus solcher Nähe konnte der Pfeil ihn nicht verfehlen. Aber es war der Pfeil des Bruders! Roland würgt es im Halse über diese verabscheuungswürdige Tat. Und nun springt ihn der Mörder an! Den nutzlosen Bogen hat er weggeworfen, denn so schnell könnte er den nächsten Pfeil nicht aus dem Köcher nehmen und auf die Sehne legen. Gildo kämpft nun ebenfalls mit blanker Waffe. Und mit Geschick nutzt er die vielen unregelmäßig stehenden Bäume, um den Leib hinter ihren Stämmen zu decken, wenn sein Schwert vorsticht. Nie findet Rolands Klinge ein volles Ziel. Oft muß er den Schlag unterwegs abbremsen, weil die Schwertspitze sich sonst tief in einen Baumstamm bohrte. Und doch drängt er Gildo langsam, aber sicher zurück. Von Baum zu Baum weicht der Mörder, um sich vor Rolands furchterregenden Angriffen zu bergen. Plötzlich sieht Roland mitten im Gefecht, daß die beiden Knappen in Gildos Rücken auftauchen, um ihn anzuspringen. »Zurück!« ruft er schneidend. »Der Mann gehört mir!« Widerstrebend gehorchen sie. Für einen Augenblick ist er abgelenkt. Das nutzt Gildo aus. Er stürzt aus der Deckung einer mächtigen Linde heraus und legt alle
Kraft in seinen Schlag, der Roland fällen soll. Doch als er das Schwert schwingt, entblößt er seinen Körper. Schneller als das Auge es erfaßt, reagiert Roland. Wie eine züngelnde Schlange fährt die Klinge in Gildos Brust. Mit einem gräßlichen Schrei verröchelt der Mörder sein Leben. Die Nacht ist hereingebrochen, bis die Toten begraben sind. Die Männer führen die Pferde an eine andere Stelle des Waldrands, breiten die Decken aus und begeben sich schweigend und bedrückt zur Ruhe. Noch lange liegt Roland wach. Er denkt darüber nach, wie die Gier nach dem Gold aus den Menschen wilde Bestien macht. Am liebsten würde er Calibans Schatz, der so viel Unglück über Freund und Feind gebracht, den Rücken kehren und heimreiten. Aber er muß die Festung angreifen, denn in ihr befindet sich sein Freund Volker - tot, verwundet - wer weiß es? Gefangen in jedem Fall. Wo aber mag Tula sein? Sein Herz wird ihm schwer, wenn er an die Schöne denkt. Zwischen den Baumwipfeln strahlt die Venus. Ihm ist, als zittere ihr Licht. Sie blinkt. Ein - zwei - drei - vier - fünfmal. Das Notzeichen der Ritter. Das Zeichen, mit dem Tula ihn in der Halle ihrer Burg warnte. Ihm fallen die letzten Verse aus Volkers Lied ein: »Ich schenke euch alle Schätze der Welt, laßt ihr mir mein liebliches Schätzchen im Zelt!« Dann schläft er ein. * Ein Schrei weckt Roland. Er fährt auf und schaut um sich. Noch ist es stockdunkel. Wer hat geschrien? Es klang nach der Stimme Volkers, des Freundes. Dann erkennt er, daß es nur ein Traum war. Doch nun hält es Roland nicht mehr im Lager. Er springt auf die
Füße. Stumm umgibt ihn der Wald. Die Knappen schlafen tief. Noch regt sich kein Vogel, die Morgendämmerung zu verkünden. Von Pierre hat Roland sich den Weg genau beschreiben lassen. Er findet ihn bestimmt auch im Dunkeln. Er läßt alles zurück, was entbehrlich ist und ihn durch Klirren verraten kann: die Rüstung und das Wehrgehänge. Nur den Helm setzt er auf, und das nackte Schwert nimmt er zur Hand. Volker, ich komme! Mit vorsichtigem Schritt auf holprigem Boden findet er unschwer den Hohlweg. Geräuschlos schreitet er dahin. Längst ist die Venus untergegangen. In eisiger Ferne schimmern die Sterne des Kleinen Bären über dem Nordhimmel. Als der Hohlweg ansteigt, wird Rolands Schritt bedächtiger. Lautlos schleicht er vorwärts. Es ist die Stunde vor der Dämmerung, die dunkelste der Nacht. Aber die Augen des Ritters haben sich an die Finsternis gewöhnt. Wie eine Katze erfühlt er instinktiv den Weg. Und im richtigen Augenblick hält er an. Vor ihm gähnt die tiefe Fallgrube. Sie war raffiniert getarnt. Auf einer Schicht von Knüppeln, Zweigen und Laub lag, von der Umgebung nicht zu unterscheiden, Erde, kurzes Gras, ein Strauch. Das alles ist jetzt in die Tiefe gerutscht. Ein Schauer überläuft Roland. Er umgeht die halboffene Grube. Dann steht er vor dem Dornenwall. Hier muß es sein, wo Pierre den mageren Lorimer durch die Öffnung schlüpfen sah. Mit unendlicher Geduld sucht Roland die Hecke ab. Überall strecken sich ihm wehrend wie geschliffene Messer die langen, harten und spitzen Dornen entgegen. Wohl ein dutzendmal verletzten sie ihn. Blut rinnt ihm über die Hände. Eine halbe Stunde geht dahin, und er findet nichts. Doch Roland läßt nicht locker. Er sucht weiter. Im Osten erscheint ein schmaler waagerechter Lichtstreif. Der Tag ist nahe! Und dann wird, scheint es, seine Geduld belohnt. Seine Hand ertastet einen Knauf aus glattgeschliffenem Holz, tief im
Dornengewirr versteckt. Er drückt. Nichts. Er zieht. Nichts. Wie ist dem Ding beizukommen? Kein Rütteln, Zerren, Schieben und Reißen hilft. Da merkt er, daß sich der Knauf drehen läßt. Er dreht ihn nach rechts. Auch das hat keine Wirkung. Er versucht es zur anderen Seite. Nichts. Enttäuscht stützt Roland die Hand auf einen halb im Boden verborgenen Feldstein. Und da - wie durch Zauberhand öffnet sich eine Pforte! Roland wagt kaum zu atmen, als er geschickt hindurchgleitet. Er läßt die Geheimtür offenstehen. Vielleicht muß er später sehr schnell von diesem Ort flüchten ... Das erste Licht berührt die Erde, als Roland mit staunenden Augen die seltsame Welt des Felsenmeers umfängt. Überall vor ihm schießen seltsam geformte, zackige und zerklüftete Steingebilde aus dem Boden hervor. Steinerne Pilze, Bäume, Kathedralen und Schlösser meint das Auge zu erkennen. Eine fremdartige, abweisende Welt. Kälte hockt zwischen den Felsen. Die einsame Welt des toten Zwergenkönigs. Und wenn nicht alle Berichte täuschen, muß hier irgendwo der Schatz des schrecklichen Räubers Caliban verborgen sein! Und irgendwo haust der Mann Lorimer, den Pierre gestern gesehen hat. Und irgendwo wartet Volker ... * Roland hält den Atem an. Auf Zehenspitzen bewegt er sich zwischen den Felstürmen. Er hat das Gefühl, nicht allein zu sein. Wird er beobachtet? Seltsame Laute werden hörbar. Es knarrt, es schnurrt, es pfeift, es heult. Ein unsichtbarer Geisterchor umgibt ihn. Seine Kopfhaut zieht sich zusammen. Die Nackenhaare sträuben sich. Es dauert eine ganze Weile, bis der Ritter erkennt, daß der Wind,
der um die gezackten Felsen streicht, diese Töne hervorbringt. Aufatmend schreitet Roland weiter und gerät immer tiefer in das Felsenmeer hinein. Und dann ... Aber das ist nicht der Wind! Hinter einem Felsen, der wie ein Obelisk schlank in die Höhe ragt, tritt mit einem lauten Fluch ein Mensch hervor. Ein schlanker, fast magerer Mann mit einer von Sonne ausgedörrten und von Wind und Wetter gegerbten bräunlichen Lederhaut. Voller Wut funkeln seine Augen. »Hat mich dieser Dreckskerl doch belogen! Das soll er mir büßen! Aber zuerst bist du dran!« Und im nächsten Augenblick ist Roland in einen Kampf auf Tod und Leben verwickelt. Sein Gegner hält sich an keinerlei Regeln des klassischen Fechtens. Seine unberechenbaren Bewegungen sind die einer aufs äußerste gereizten Wildkatze. Lorimer führt das Schwert wie einen Prügel, wie einen Dreschflegel, wie einen Hammer. Alles, was er tut, ist überraschend und von höchster Gefährlichkeit. Roland ist sofort in die Verteidigung gedrängt. Mehrmals weicht er dem Stahl des anderen nur mit letzter Anstrengung aus. Erst allmählich kann er zum Angriff übergehen und sich des wütenden Gegners einigermaßen erwehren. Ihm fällt die graue Kappe auf, die Lorimer in einer Schlaufe am Harnisch trägt. Der Mann ist sonst ritterlich gekleidet, wenn er auch wie ein Strauchritter ficht. Sogar einen Brustharnisch trägt er. Diese Kappe am Harnisch ist außergewöhnlich. Und Roland glaubt, daß es mit ihr eine besondere Bewandtnis habe. Mit drei machtvollen Hieben schafft Roland sich Luft. Der nächste soll den Gegner entscheidend treffen. Aber während das Schwert sich dem Ziel nähert, verschwindet dieses Ziel! Statt des fremden Ritters sieht sich Roland leerer Luft gegenüber. Nur die weißgrauen Felsen stehen wie vorher abweisend da, und der Wind spielt schauerlich heulend mit ihnen. Hab ich geträumt? denkt Roland.
Da trifft ihn ein Schlag auf dem Oberarm, der tief in das Fleisch zuckt. Rasender Schmerz durchfährt ihn. Das Blut schießt aus der Wunde. Und immer noch ist niemand zu sehen. Grauen erfaßt Roland, als er ganz nahe ein Hohngelächter hört und doch niemand sieht. Und er ahnt, daß er sogleich den nächsten Streich empfangen wird, wenn er nichts dagegen unternimmt. Percys schreckliches Ende fällt ihm ein. Wie ein Rasender läßt er das Schwert vor seinem Körper tanzen. Er legt gleichsam eine bewegliche Sperre zwischen sich und den Gegner. Das dauernde Klirren zeigt ihm an, daß sich ihre Klingen tatsächlich immer wieder kreuzen. Aber wie lange kann er so ein Gefecht mit einem Unsichtbaren durchhalten? Der linke Arm schmerzt teuflisch. Sein Atem geht schnell. Es kann nicht allzu lange dauern, und der Blutverlust wird ihn so schwächen, daß er nicht mehr zur Gegenwehr fähig ist. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf schießen, erscheint unter erneutem Gelächter sein Gegner wieder in Fleisch und Blut vor ihm. Lorimer schüttelt sein von Rolands Blut gerötetes Schwert und ruft mit rauher Stimme, auf der Staub von vielen Landstraßen liegt: »Noch einmal sollst du sehen, wer dich besiegt. Schau her! Ich bin Lorimer, der reichste und mächtigste Mann des Landes. Lorimer, der sich unsichtbar zu machen versteht! Lorimer, der deinen Tod beschlossen hat.« Der Mann hat sich in Ekstase geredet. Der Atem bleibt ihm weg. Und in diese Pause ruft eine andere Stimme, die Stimme einer Frau, mit höchster Eindringlichkeit: »Die Kappe, Roland! Nimm ihm die Kappe!« Der Ritter wartet kein weiters Wort ab. Mit einem gewaltigen Sprung ist er bei dem anderen, unterläuft einen hastigen Abwehrschlag und reißt ihm die Kappe vom Harnisch. Dann weicht er zurück und beobachtet Lorimer. Der heult auf. Nun klingt seine Stimme so schauerlich wie der Wind, der um die Felsecken streicht. Von Wut getrieben, greift Lorimer an. Die Kappe! Er will die Kappe wiederhaben!
Und er rennt unbedacht in Rolands Schwert. So endet der Traum Lorimers von Größe und Macht. Eine Frau kommt auf Roland zu. Sie hat die Arme weit ausgebreitet. Sie trägt ein zerfetztes Gewand. Sie geht langsam. Erschöpfung prägt ihre Züge. Und doch ist sie wunderschön. Es ist Tula! * Später betreten sie die Schatzkammer, und Roland erschrickt fast über diese Pracht. Aus 100 Burgen geraubt, türmen sich hier Gold, Elfenbein, edle Hölzer, Teppiche, Gemälde, Kleinodien, Geschmeide und Edelsteine. »Freut dich der Anblick?« fragt Tula leise. »Ja, soviel Schönheit muß jedes Menschen Sinne erfreuen«, antwortet Roland. Volker ist zu ihnen getreten. »Es ist eine unvorstellbare Pracht«, sagt er. »König Artus kann mit uns zufrieden sein. Du hast den Auftrag, den er dir gab, erfüllt.« »Was mich am meisten freut«, fährt Roland fort, »ist der Gedanke, daß ich alle diese wunderbaren Schätze endlich ihren rechtmäßigen Besitzern wiedergeben kann.« »Und du«, fragt Tula, »möchtest du nichts davon für dich behalten?« »Nein«, sagt er ehrlich. »Mein Herz lechzt nicht nach derlei Schätzen. So wertvoller Besitz würde mich lahmen. Genügend Dukaten für Speis und Trank im Beutel und ein gutes Pferd, gute Freunde und eine schöne Frau - das genügt mir!« Plötzlich ist Roland verschwunden. »Die Tarnkappe!« ruft Volker. »Er hat sich die Tarnkappe aufgesetzt!« Als Roland wieder sichtbar wird, steht er am Lagerfeuer vor der Höhle, wo ein Kessel mit Brühe brodelt. Er hält die Kappe in der Hand. »Vielleicht«, sagt er, »ist diese unscheinbare Kappe wertvoller als alles, was die Höhle birgt. Im Besitz des geeigneten Mannes kann
sie zu großer Macht verhelfen, wie sie Lorimer erträumte. Ich aber will diesen Traum nicht träumen. Was ich erreiche, will ich meinem Mut und meiner Kraft verdanken, nicht aber trügerischer Zauberei!« Und er wirft die Tarnkappe ins Feuer, wo sie zu Asche verbrennt.
ENDE
Liebe Ritter-Freunde,
nach dem Streit um »Calibans Goldschatz« möchte ich Ihnen in
14 Tagen den Band 6 unserer neuen Serie präsentieren.
Günther Herbst schrieb für Sie:
Die geteilte
Herzogskrone
Herzog Ottokar besaß einst eine kostbare Krone, der man magische Eigenschaften nachsagte. Als er nach einem erfüllten Leben starb, wurde sein Reich auf seine Söhne aufgeteilt. Leider vergaß er zu bestimmen, wer die magische Krone erhalten sollte. Sie wurde deshalb geteilt. Und bald entbrannte unter den Erben ein großer Streit. Jeder beanspruchte die ganze Krone für sich und somit die ganze Macht. Da griff König Artus in den Streit ein. Ritter Roland sollte die Kronenfragmente sicherstellen, damit die ewigen Kämpfe in dem Herzogtum aufhörten. Ob es ihm gelang, lesen Sie im nächsten Band. DM 1,60