Jeff Grubb
Bruderkrieg Artefakt-Zyklus 1. Teil DREIZEHNTER BAND Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNC...
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Jeff Grubb
Bruderkrieg Artefakt-Zyklus 1. Teil DREIZEHNTER BAND Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
INHALT
PROLOG
Gegensätze ziehen sich an ....................... 13 (63 AR) E RSTER T EIL
Die Schule der Macht
................................ 21
(10 AR-20 AR) KAPITEL 1
Tocasia ................................................. 22
KAPITEL 2 KAPITEL 3 KAPITEL 4 KAPITEL 5
Ornithopter ..................................... 41 Koilos ............................................. 56 Visionen ......................................... 78 Trennung ......................................... 100
ZWEITER TEIL
Der Stein gerät ins Rollen .......................... 123 (21 AR-28 AR)
KAPITEL 6 KAPITEL 7 KAPITEL 8 KAPITEL 9 KAPITEL 10 KAPITEL 11 KAPITEL 12 KAPITEL 13 KAPITEL 14 KAPITEL 15 KAPITEL 16
Kroog ............................................... 124 Mak Fawa ....................................... 161 Tawnos ............................................... 191 Ashnod ........................................... 209 Korlis ............................................... 226 Staatsangelegenheiten ................... 258 Phyrexia ............................................ 271 Friedensverhandlungen ................. 287 Nächtliche Unternehmungen .......... 314 Parade und Attacke ....................... 331 Nachwirkungen ............................. 361
DRITTER TEIL Parallelen .............................................................. 369 (29 AR-57 AR) KAPITEL 17 KAPITEL 18 KAPITEL 19 KAPITEL 20 KAPITEL 21 KAPITEL 22 KAPITEL 23 KAPITEL 24 KAPITEL 25 KAPITEL 26 KAPITEL 27 KAPITEL 28 KAPITEL 29
Mishras Baum ................................. 370 Urzas Turm ..................................... 382 Austausch von Neuigkeiten ............ 395 Transmogranten ............................. 400 Elfenbeintürme ............................... 417 Urzas Mitra ...................................... 430 Schutzkreise ................................... 441 Der dritte Pfad ............................... 450 Die Folter ............................................ 460 Uhrwerke .......................................... 479 Sylex ................................................ 491 Argoth .............................................. 503 Mana und Wissenschaft ................. 516
VIERTER TEIL Die Entscheidung (57AR-63AR) KAPITEL 30 KAPITEL 31 KAPITEL 32 KAPITEL 33 KAPITEL 34
............................................ 529
Kriegstrommeln ............................. 530 Magie und Maschinen .................... 540 Der Weg zur Apokalypse ............... 559 Tawnos und Ashnod ........................ 578 Urza und Mishra .............................. 586
EPILOG Getrennte Wege {64AR)
................................................ 599
Meinem Bruder Scott gewidmet, der mir zustimmen wird, daß wir uns bedeutend besser verstanden als Urza und Mishra
DANKSAGUNG
Geschichten, die in Welten angesiedelt sind, in denen die unterschiedlichsten Individuen leben, verdanken ihre Entstehung mehr Leuten, als auf dem Umschlag angegeben sind. Da ich lange Zeit hinter den Kulissen (und auch davor) gearbeitet habe, möchte ich den wichtigen Personen danken, die ich zum Teil nicht einmal persönlich kenne und deren Arbeit und Kreativität die Grundlage dieser Geschichte schufen. Ich möchte den Schöpfern des Kartensets >MAGIC The Gathering, die Altertümer danken: Skaff Elias, Jim Lin, Chris Page, Dave Pettey, Joel Mick. Sie hauchten den Karten Leben ein, das ich mit diesem Buch fortführen wollte; außerdem den zahlreichen begabten Künstlern, die nach wenigen beschreibenden Zeilen wundervolle Zeichnungen anfertigten. Auch möchte ich Jeff Gomez, Jerry Prosser, Paul Smith, Tom Ryder, Phil Hester und Jeof Vita danken, die einen Teil dieser Geschichte grafisch darstellten. Dann möchte ich besonders der Menschen gedenken, die mir halfen, dieses Buch ins Leben zu rufen. Dazu gehören: Peter Venters und das MAGIC-Team, Chaz Elliot, Mary Kirchoff und Emily Arons, die sich als verständnisvoll, geduldig und genial erwiesen. Besonderer Dank gilt auch Peter Archer und Lynn Abbey, die sich viel zu viele eigenartige Fragen und Theorien anhören mußten. Zum Schluß danke ich Richard Garfield, der die ganze Sache überhaupt ins Rollen brachte. Um Sir Isaac Newton zu zitieren: >Wenn ich weit vorausschauen konnte, lag es daran, daß ich auf den Schultern von Riesen stehen durfte.< Ich hatte das große Glück, mit einer gewaltigen Anzahl von fähigen Riesen zusammenarbeiten zu dürfen.
ERLÄUTERUNG ZUR ENTSTEHUNG UND GENAUIGKEIT
Die Geschichte von Mishra und Urza ist die berühmteste Legende Terisiares und wurde bis in die entlegensten Winkel Dominias getragen. Natürlich ist sie weder vollständig noch ganz und gar verständlich, da es im Laufe der Zeit verschiedene Versionen gab, die von den Strömungen des jeweiligen Jahrhunderts beeinflußt wurden. Während der Epoche, die unter dem Namen >die Dunkelzeit< bekannt ist, bezeichnete man Mishra und Urza als bösartige Halunken, die für den schlimmen Zustand der Welt verantwortlich waren. Während der langen Eiszeit ließ man sie als Heilige einer längst vergangenen Technologie auferstehen, mit deren Hilfe man die Welt retten zu können glaubte. In unserem Jahrhundert werden sie abwechselnd als Helden und als Schurken bezeichnet, als Genies und als Narren, die entweder in den Himmel gelobt oder in die Flammenhölle Phyrexias verdammt werden. Diese Erzählung versucht, sie so schildern, wie sie wirklich waren: Menschen ihrer Zeit, geprägt von der Welt, in der sie lebten und die sie ihrerseits beeinflußten. Das Buch, das Sie in Händen halten, beruft sich wie alle anerkannten Versionen - vor allem auf >Die Kriege des Altertums<, den epischen Gedichtband von Kayla bin-Kroog. Dabei handelt es sich um einen der wenigen vollständig erhaltenen Berichte, der aus den Lebzeiten der Brüder stammt. Außerdem hat der Autor sich die Mühe gemacht, sämtliche Quellen aus jener Zeit aufzuspüren, alle später erschienenen Versionen der Geschichte zu lesen und die Dinge auszumerzen, die entweder ganz offensichtlich unwahr sind 10
oder den Wünschen und Hoffnungen der Schreiber entsprangen. Das Ergebnis ist die umfassendste und neueste Geschichte über Urza, Mishra und den Konflikt, der sie und ihre Welt verschlang. Es ist die Wiedergabe der klassischen Legende im Stil der heutigen Zeit. Der Leser sollte nur dieser und keiner anderen Version Glauben schenken.
11
ZEITANGABEN
Wenn im Text Zeitangaben auftauchen, sind sie nach argivianischer Zeitrechnung (AR) benannt, die überall in Dominia kalendarisch anerkannt ist. Der Kalender stammt aus dem Jahr, in dem die Brüder geboren wurden, und ist erst viele Jahre nach ihrem Tod allgemein gebräuchlich geworden. In jener Zeit führten die Argivianer die übersichtlichste Zeitrechnung, die mit der Gründung Penregons, der Hauptstadt, begann. Als Urza und Mishra geboren wurden, schrieb man das Jahr 912 PF.
12
Es war die Nacht vor dem Ende der Welt.
Die gegnerischen Armeen hatten zu beiden Seiten eines verwüsteten Tales Stellung bezogen. Einst war das Land fruchtbar gewesen, durchzogen von einem breiten gewundenen Fluß, dessen hügelige Ufer dichte Eichenwälder, Bleichgehölze und Ehernwurzelbäume zierten. Inzwischen waren die Bäume verschwunden; nur ein paar Stümpfe ragten hier und dort aus dem Boden, der mit verbranntem Gras bedeckt war. Der Fluß strömte träge unter einem dichten Ölteppich dahin, aus dem namenlose und schattenhafte Umrisse hervorlugten. Dunkle Wolken verbargen den Mond und die Sterne. Auf Argoth war es kalt und bewölkt, obwohl überall sonst in Terisiare für diese Jahreszeit ungewöhnlich warmes Wetter herrschte. Die Armeen waren dazu übergegangen, die Wälder abzubrennen, und sei es nur, um den Feinden Deckung und Holzvorräte zu nehmen. Tagsüber war die Wolkendecke dunkelgrau, und es sah aus, als habe sich der Himmel in ein Kleid aus unbearbeitetem Stahl gehüllt. Bei Nacht erhellten nur Tausende von Lagerfeuern und das Licht der Gießereien, die überall aus dem Boden geschossen waren, die Dunkelheit. Die Flammen, die von den Feuern auf der jeweils gegenüberliegenden Talseite stammten, funkelten wie glühende, bösartige Augenpaare in der Finsternis. Quer über dem Fluß lagen zwei umgefallene Riesen, die Überreste einer früheren Schlacht zwischen fremden Eroberern und den Ureinwohnern des Landes. Eine der Gestalten war aus Lebendholz geschnitzt 14
worden und in Tausende von Splittern zersprungen. Der riesige hölzerne Kopf lag mit aufgerissenem Mund am Boden; sein lautloser Schrei verhallte ungehört. Er war der letzte Held der Menschen von Argoth gewesen, eine Reinkarnation ihrer Göttin. Mit seinem Tode wurde den Insulanern jegliche Hoffnung genommen. Aber auch der Gewinner des Kampfes war umgekommen. Das riesige Monstrum in Menschengestalt bestand aus Stein, und seine Gelenke waren durch schwere Eisenplatten und Scharniere miteinander verbunden. Sein massiger Körper war oftmals beschädigt und wieder zusammengefügt worden, und große Metallplatten hielten ihn zusammen. Der Kampf gegen die Lebendholzkreatur hatte seine Kolben und das Getriebe überfordert. Der letzte Hieb hatte den Gegner zerschmettert und den Steinriesen von den Beinen gerissen. Jetzt lag er mit dem Gesicht nach unten im öligen Wasser und bildete eine Brücke, die beide Ufer des Flusses verband. Ein Arm des Riesen war während der Schlacht abgerissen worden und lag ein paar hundert Fuß entfernt, die Finger wie eine Klaue gen Himmel gestreckt. Auf dem Rücken des gefallenen Steinmonstrums wartete eine einsame Gestalt. In seiner Jugend war er breitschultrig und gutaussehend gewesen, aber die langen Kriegsjahre und der Dienst bei seinem Herrn hatten ihn ausgelaugt. Die Schultern hingen herab, und der Körper mußte die Last der Verantwortung und des Alters tragen. Das einstmals wirre blonde Haar war spärlich und grau geworden, und eine kahle Stelle, die künftige Glatzköpfigkeit verhieß, breitete sich langsam aus. Da er jedoch größer als die meisten Menschen war, fiel es nur auf, wenn er sich setzte. Unruhig wanderte er auf dem Rücken des Riesen hin und her. Tawnos zog sich den rauhen wollenen Umhang 15
fester um die Schultern und verfluchte die Kälte und die Finsternis. Dabei berührten seine Finger den metallenen Brustharnisch. Er paßte ihm nicht - nur eigens für seine große Gestalt angefertigte Dinge saßen richtig, und er hatte erst im letzten Augenblick daran gedacht, eine Rüstung mitzunehmen. Die Botschaft hatte sich freundlich und einladend angehört, aber sie stammte aus dem feindlichen Lager. Es würde Urza verwirren, wenn sein ehemaliger Schüler so leicht zu übertölpeln wäre. Am anderen Ende des Steinriesen, wo der zerschmetterte Kopf in seltsamem Winkel zum Rest des Leibes lag, regte sich etwas. Tawnos sah sie nicht heraufklettern, aber plötzlich war sie da. Das rote Haar fiel über den schwarzen Umhang. Es schien, als sei sie mit der Nacht selbst bekleidet, und diese stand ihr ausgesprochen gut. Sie war allein, wie sie es versprochen hatte. Als sie auf ihn zuging, zog Tawnos einen kleinen Gegenstand aus der Tasche. Es handelte sich um eine winzige Kugel, aus der ein Lampendocht herausschaute. Er drückte einen seitlich angebrachten Knopf, und ein leises Knattern ertönte. Eine gelbe Flamme entzündete den Docht und verwandelte sich in warmes Licht, als Tawnos den Knopf vorsichtig hin- und herdrehte. Ashnod stand vor ihm, und sie trug das belustigte Lächeln zur Schau, das er schon immer sehr anziehend gefunden hatte. Er bemerkte, daß sich die ersten grauen Strähnen durch die rote Haarpracht zogen. »Ich hörte, du seiest tot«, sagte er. »Du darfst nicht alles glauben, was man erzählt, mein Kleiner«, erwiderte Ashnod, die Gefühllose, mit breitem Lächeln. »Den Gerüchten nach hätte ich in den letzten zehn Jahren schon fünfmal tot sein müssen.« Dann wurde ihr Gesicht ernst. »Ich danke dir, daß du gekommen bist.« 16
»Du hast mir eine Botschaft geschickt«, erinnerte sie Tawnos. »Es hätte eine Falle sein können«, meinte sie. »Das stimmt«, gab er zu und öffnete den Umhang. Der Brustpanzer glänzte im Licht der kleinen Flamme. In seinem Gürtel steckten reichverzierte Waffen. Wieder lächelte Ashnod. »Gut zu wissen, daß du noch immer vorsichtig bist.« »Vorbereitet«, berichtigte Tawnos. »Sonst nichts. Ich bin nur vorbereitet.« Ashnod warf ihr Bündel zu Boden und kniete daneben nieder. Zuerst zögerte Tawnos, gesellte sich dann aber zu ihr. Lange Zeit saßen sie schweigend da. Aus der Ferne drang von beiden Seiten des Tales der Lärm der Schmiedehämmer zu ihnen herüber, die bezeugten, daß die letzten Vorbereitungen für das blutige Werk des kommenden Tages getroffen wurden. »Du hast mir eine Botschaft gesandt«, wiederholte Tawnos drängend. »Es geht dem Ende zu«, sagte Ashnod und starrte in die Nacht, die von den flackernden Lagerfeuern erhellt wurde. »Das ist der letzte Kampf. Die entscheidende Schlacht. Der Krieg zwischen deinem und meinem Herrn wird bald vorbei sein.« »Zwischen Urza und Mishra«, bestätigte Tawnos nickend. »Sie sind beide hier«, fügte Ashnod hinzu. »Es gibt keine Reservetruppen mehr. Keine Seite kann mehr zurückweichen. So oder so: Das ist das Ende.« Tawnos rutschte unbehaglich hin und her. Es war lange her, seit er zum letztenmal auf einem harten Steinboden gesessen hatte. »Ein guter Zeitpunkt, das Ganze zu beenden«, sagte er. »Es dauert schon viel zu lange an.« Er sah, wie sie den Kopf neigte. »So vieles wurde vernichtet!« 17
»Unzählige haben das Leben verloren«, setzte er hinzu. Ashnod kicherte. Das unangebrachte Lachen empörte Tawnos. »Leben?« wiederholte sie. »Leben bedeuten nichts. Denk an die verbrannten Wälder, die ausgetrockneten Seen und die geplünderten Ländereien! Stell dir vor, was wir damit alles hätten erreichen können! Und die Menschen - ja, wäre nicht dieser Krieg, wir hätten sie uns zunutze machen können.« Bei diesen Worten versteifte sich Tawnos vor Ärger. Ashnod spürte seine schweigende Mißbilligung. »Tut mir leid«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe erst geredet und dann nachgedacht.« »Gut zu wissen, daß sich manche Dinge nie ändern«, erwiderte Tawnos eisig. »Tut mir leid.« In der darauffolgenden Stille drang ein eigenartiges Klappern zu ihnen herüber. Fast hörte es sich an, als lache ein mechanischer Dämon. »Wie geht es ihm?« fragte Ashnod. »Wie immer, höchstens noch schlechter«, lautete die Antwort. »Und deinem?« Sie schüttelte den Kopf. »Irgend etwas... stimmt nicht.« Tawnos hob fragend die Augenbrauen, und sie fügte hastig hinzu: »Mishra ist kühler als je zuvor. Berechnender. Ich mache mir Sorgen.« »Ich sorge mich ständig«, erwiderte Tawnos. »Urza hat sich in den letzten Jahren immer mehr in sich zurückgezogen.« »Zurückgezogen«, wiederholte sie nachdenklich. »Das ist das passende Wort. Als wären wir gar nicht vorhanden. Als wäre niemand mehr da.« Sie berührte ihn an der Schulter. Tawnos zuckte zusammen und lehnte sich zurück. Sie ließ die Hand sinken. »Du hast recht, was die Verschwendung von Leben angeht«, meinte sie nach einer Weile. »Aber noch können wir es verhindern.« 18
»Wie?« Er kniff die Augen zusammen. »Gib ihm, was er haben will. Gib Mishra die andere Hälfte des Steins.« »Als Zeichen des Ergebens?« sagte Tawnos mit viel zu lauter Stimme. »Nach allem, was wir hinter uns haben, sollen wir uns ergeben? Wenn wir morgen vielleicht als Sieger dastehen? Ehe wir nach Argoth gezogen sind, wäre das eine Möglichkeit gewesen.« Er dachte nach und sagte dann mehr zu sich als zu seinem Gegenüber: »Nein, nicht einmal dann.« Ashnod hob beschwichtigend die Hände. »War nur ein Vorschlag, Kleiner.« »Hat er dich mit dieser Botschaft geschickt?« »Es handelt sich um meine eigenen Worte!« fauchte sie. »Er vertraut mir nicht«, fügte sie etwas sanfter hinzu. »Nun, wer würde das zu diesem Zeitpunkt schon tun?« fragte Tawnos. Die Worte waren gesprochen, ehe er richtig begriff, was er gesagt hatte. «Schön!« zischte Ashnod und sprang auf. Sie packte ihr Bündel und ließ es unter dem weiten Umhang verschwinden. »Und ich war so dumm, Geschenke mitzubringen!« »Ein Geschenk von dir muß man mit Mißtrauen betrachten«, meinte Tawnos und erhob sich schwerfällig. Ein kalter Windhauch streifte die beiden, die schweigend nebeneinander standen. Schließlich wandte sich Ashnod zum Gehen. »Vielleicht...«, begann Tawnos. Sie zögerte. »Vielleicht könnten wir unsere Gebieter zu einem Treffen überreden«, fuhr er fort. »Ohne Waffe. Ohne Armeen. Vielleicht gibt es einen Weg, damit sie einander verstehen.« Ashnod schüttelte den Kopf. »Sie sind in ihren Plänen gefangen, gehen so mechanisch vor wie ihre eigenen Erfindungen und sind ebensowenig aufzuhalten 19
wie die Gezeiten des Schimmermondes.« Sie stieß ein trauriges Lachen aus. »Du träumst von einer Zeit, in der sie sich verstanden. Diese Zeit hat es nie gegeben.« Sie ging davon, wandte sich aber nach wenigen Schritten noch einmal um. »Sei morgen sehr vorsichtig. Hoffentlich überlebst du die Schlacht.« Sie schritt zum Kopfende des Riesen und setzte die Kapuze auf. Das rote Haar war nicht mehr zu sehen, und sie wurde eins mit den Schatten der Nacht. »Sei auch du vorsichtig«, sagte Tawnos leise und wandte sich dem Lager seines Herrn zu. Auf dem Rückweg prägte er sich die Besonderheiten des Schlachtfeldes ein und merkte sich die Stellen, die Urzas Armee meiden mußte. Ein Teil seines Bewußtseins beschäftigte sich noch immer mit den Worten Ashnods und wiederholte sie wieder und wieder. »Diese Zeit hat es nie gegeben...«
20
KAPITEL 1
Tocasia Die argivianische Archäologin nahm die Brille ab und rieb sich die brennenden Augen. Der Wüstensand war einfach überall, und am schlimmsten war es, wenn wie heute - eine steife Brise gen Osten wehte. Die Wüstenluft war heiß wie ein Schmiedefeuer, und Tocasia freute sich über jeden Lufthauch. Ohne den Wind wäre es am Ausgrabungsort unerträglich heiß und drückend gewesen. Die alte Forscherin saß an einem reich verzierten Tisch, einem uralten Möbelstück mit dicken gedrechselten Beinen und einer schweren Platte, die eine Einlegearbeit aus Perlen zierte. Es handelte sich um das Geschenk einer vornehmen argivianischen Familie, eine Belohnung für das >Geradebiegen< eines schwarzen Schafes der noblen Sippe. Das Schmuckstück sah ausgesprochen komisch aus, wie es da unter dem blaßgrauen Baldachin aus Tomakulmusselin auf der Felsnase stand, die Tocasia als ihr Hauptquartier auserkoren hatte. Das Geschenk war gut gemeint gewesen, und sie konnte sich vorstellen, welche horrenden Kosten allein der Transport verursacht hatte. Die Wüste hatte bereits ihren Tribut gefordert: Die kostbare Politur war von dem mit Sandkörnern gespickten Wind schon fast abgetragen, und das bloßliegende Holz war in der Hitze rissig und spröde geworden. Möbelstücke, die in einen vornehmen Salon gehörten, waren für die Wüste weniger gut geeignet. Immerhin war die Tischplatte flach und eben, und das wußte Tocasia zu schätzen. 22
Auf dem Tisch lagen Schriftrollen, die halb aus den Schutzhüllen herausragten, und mit rostigen Metallstücken beschwerte Landkarten, deren eingerissene Ecken im Wind raschelten. Ein besonders großes Stück bläulichen Metalls lag genau vor Tocasia und zog sie in seinen Bann. Es sah wie die Parodie eines menschlichen Schädels aus, hatte das Gesicht einer Fledermaus und kalte leblose Augen aus buntem Kristall, die fest in dem Tocasia unbekannten Material steckten. Das Metall fühlte sich so weich und nachgiebig wie Kupfer an, aber wenn man es verbog, zog es sich langsam wieder in seine ursprüngliche Form zurück. Thranglyphen waren in die Unterseite des Schädels eingekerbt worden, und Tocasia übersetzte sie mit >Su-chi<. Ob es sich um den Namen des Wesens, des Besitzers oder des Herstellers handelte, blieb ein Geheimnis. Der wölfische Unterkiefer des Schädels ragte ein Stück vor und endete in spitzen Fängen. Die Schädeldecke war entfernt worden, und darunter verbarg sich ein Gewirr von blauen Drähten. Inmitten der Drähte ruhte ein riesiges Juwel, das wie eine alte, glanzlose Glasscherbe aussah, über die sich ein langer Riß zog. Tocasia seufzte. Selbst wenn ihre Arbeiter den Rest dieses Artefaktes fanden, würden sie es kaum wieder in Gang bekommen. Der angerichtete Schaden war zu groß. Auch wenn man den Körper wiederherstellte, blieb das Juwel, das die Antriebskraft beherbergt hatte, doch zerstört. Sie hatten höchsten zehn solcher Steine entdeckt, die noch unversehrt waren. Sie glühten in allen Regenbogenfarben und vermochten die alten Thranartefakte zu beleben. Die größten Steine wurden nach Argivia verschifft, damit man sie dort eingehender erforschen konnte. Außerdem dienten sie als Gegenleistung für Vorräte und weitere Unterstützung der Ausgrabungen. 23
Ein Schatten fiel über den Tisch, und Tocasia zuckte zusammen. Sie hatte sich so sehr auf den Schädel konzentriert, daß sie niemanden bemerkt hatte. Verwirrt sah sie in Lorans dunkles Gesicht und fragte sich, wie lange das Mädchen schon vor ihr stehen mochte. Loran war die Tochter eines Edelmannes und eine der besten Schülerinnen Tocasias, obwohl das nicht viel zu bedeuten hatte, wenn man sich die derzeitigen Studenten ansah. Zu Beginn ihrer ruhmreichen Laufbahn hatte Tocasia die Unterstützung vieler Adelshäuser Penregons angenommen. Im Gegenzug schickten ihr die Familien häufig aufsässige und ungeratene junge Angehörige, die der verrückten Archäologin einen Sommer lang in der Wüste bei den Ausgrabungen nach Thranartefakten helfen sollten. Um der Wahrheit gerecht zu werden, dachte Tocasia, hatten sich die meisten der Jugendlichen nichts Schlimmes zuschulden kommen lassen, sondern waren wie alle Heranwachsenden, und ihre Eltern suchten nur nach einem Grund, sie für eine Weile loszuwerden. Am Ausgrabungsort schwankte ihr Interesse an Tocasias Arbeit zwischen >kaum vorhanden und >nicht vorhanden<. Sie waren froh, den höfischen Zwängen, den kleinlichen Intrigen und - das war am wichtigsten - ihren Eltern entkommen zu sein. Tocasia übertrug ihnen so viel Verantwortung, wie sie bereit waren, auf sich zu nehmen. Einige beaufsichtigten die Fallajiarbeiter, während andere sich an der Reinigung und Aufzeichnung der Schätze beteiligten, die ans Tageslicht befördert wurden. Wieder andere waren es zufrieden, die Katapulte zu bemannen, die rings um das Lager aufgestellt waren, um Räuber und Aasfresser abzuwehren. Die jungen Männer und Frauen kamen, brachten die vereinbarte Zeit hinter sich und flohen erleichtert in die Städte zurück, mit genügend Geschichten ausgerüstet, um ihre 24
Freunde zu beeindrucken, und genügend gereift, um ihre Eltern zufriedenzustellen. Wenige, wie zum Beispiel Loran, waren klug und besonnen genug, um nach dem ersten Sommer zurückzukehren. Loran war nun zum drittenmal hier und befand sich gerade auf der Schwelle vom Mädchen zur Frau. Tocasia wußte, daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sich Loran mehr für Ballkleider und Festgesellschaften als für Artefakte und Ausgrabungen interessieren würde, aber in diesem Sommer konnte sie sich noch an ihrer sachverständigen Hilfe erfreuen. Tocasia blinzelte, schob die Brille wieder zurecht und hob fragend die Augenbrauen. Loran würde nicht sprechen, bevor man ihr eine Frage stellte, aber Tocasia versuchte, ihr diese Eigenart abzugewöhnen. Nach einer Weile sagte das Mädchen: »Die Karawane aus Argivia ist eingetroffen.« Tocasia nickte. Den ganzen Morgen hatten sie die sich von Osten nähernde Staubwolke beobachtet, aber sie war davon ausgegangen, daß Blys Wagen nicht vor dem Spätnachmittag eintreffen würden. Der Karawanenführer hatte sich anscheinend neue Zugtiere zugelegt; vielleicht hatten die alten Auerochsen endlich ihr Leben ausgehaucht. Lorans spärliche Botschaft besagte, daß Blys Wagen durch das Tor ins Lager gerollt waren und Tocasia sich sputen sollte, um ihre Schüler vor der schlechten Laune des Kaufmanns zu schützen, der ausgesprochen zornig war, wenn ihn die Leiterin der Ausgrabungen nicht persönlich willkommen hieß. Loran rührte sich nicht, und Tocasia sagte: »Ich komme so schnell wie möglich. Wenn es Bly nicht paßt, soll er eben ein wenig schmoren.« Lorans Lippen spannten sich zu einem dünnen Strich, aber sie nickte und eilte davon. Tocasia seufzte. In ein oder zwei Jahren würde Loran Kaufleute wie Bly mühelos herumkommandieren, aber zur Zeit ließ sie sich - wie die 25
meisten der jungen Leute - von seinem Gehabe einschüchtern. Die Gelehrte sah dem Mädchen nach, das den gelben Arbeitskittel der weiblichen Hilfskräfte trug. Ihr fiel auf, daß Loran ihr Haar wachsen ließ; eine Mode, die in der Hauptstadt Beifall fand. Das Mädchen hatte dunkles, langes und besonders dichtes Haar, und sie wirkte inmitten der anderen Schülerinnen recht auffallend. »Ein Hauch von Wüste«, hieß es bei den argivianischen Adelsfamilien. Das war kein Kompliment, sondern die hämische Unterstellung, daß sich irgendwo im Stammbaum ein barbarischer Ahn aus der Wüste verbarg. Vielleicht war das der Grund, weshalb Loran jeden Sommer zurückkehrte - ihre Familie zwang sie gewiß nicht dazu. Als Tocasia im letzten Jahr Penregon einen Besuch abstattete, hatte Lorans Mutter deutlich zum Ausdruck gebracht, daß ihre Tochter der närrischen Beschäftigung, im Wüstensand nach Metall zu graben, nicht länger nachgehen sollte. Die Archäologin schaute über das Lager hinweg. Rings um die Hügel zog sich eine einfache Mauer. Die niedrigen Erhebungen wurden von ausgetrockneten Gräben durchzogen und beherbergten zahlreiche Thranartefakte. Die Mauer bildete eher eine sichtbare Grenze als einen wirklichen Schutz, aber wenigstens hielt sie die Räuberbanden auf Abstand. Auf den aufeinandergestapelten Steinen standen zwei riesige Katapulte, die mit aus Schutt bestehenden Geschossen geladen waren, um auch die Aasfresser abzuwehren. Im Lager herrschte dank der lähmenden Hitze wenig Geschäftigkeit. Ein bestimmter Hügel, auf dem sie auch den Su-chi-Schädel fanden, hatte sich als besonders vielversprechend erwiesen. Sie hatten ihn mit Stäben und Seilen in verschiedene Abschnitte aufgeteilt, um weitere Ausgrabungen vorzunehmen. Die trägen Onulets stapften den Wagen der Karawane entgegen. 26
Adlige junge Burschen machten sich einen Spaß daraus, die großen Albinolasttiere mit ihren Stöcken anzutreiben. Inzwischen hatte sich das Tor hinter der Karawane geschlossen, eine Gestalt sprang vom ersten Wagen herab und fuchtelte wild mit den Armen. Es schien Bly großes Vergnügen zu bereiten, die Studenten in Angst und Schrecken zu versetzen - vielleicht lag es daran, daß er in Penregon vor ihren Eltern katzbuckeln mußte. Tocasia lächelte, als ihr einfiel, wie sich Bly in der Hauptstadt Argivias benahm. Mit dem Hut in der Hand und gesenktem Kopf bemühte er sich, seine Bitten demütig vorzubringen und jegliche Flüche zu vermeiden. Wahrscheinlich war auch er in der Wüste am besten aufgehoben. Die Archäologin fuhr sich mit den Händen durch das kurze, ergraute Haar, um es - unnötigerweise - zu entwirren. In ihrer Jugend hatte sie es lang getragen, und es war ebenso dunkel und dicht wie Lorans gewesen. Vielleicht haftete auch ihrer Familie ein Hauch der Wüste an. Aber im Alter unterscheiden sich die Menschen nicht mehr sonderlich, und die kurzen Locken ließen sich in der Wüste viel leichter pflegen. Tocasia versetzte dem blauen Schädel einen liebevollen Klaps und erhob sich. Sie ergriff ihren Stock, der aus Holz und Stahl bestand und einst Bestandteil einer unbekannten Thranmaschine gewesen war. Noch war sie rüstig genug, den Stock nur als Hilfsmittel auf dem unebenen Boden anzusehen und nicht als Krücke. Aber die Schmerzen, die ihre Gelenke in den kühlen Morgenstunden plagten, erzählten eine andere Geschichte. Tocasia ließ sich Zeit, den luftigen Platz zu verlassen. Bly würde schimpfen und toben, aber das hielt ihn nie vom Handeln ab. Die Artefakte und die verkäuflichen 27
ausgegrabenen Gegenstände waren die lange und beschwerliche Reise in die Wüste wert. Es überraschte sie nicht, die Studenten und Arbeiter im Kreis um den Karawanenführer herumstehen zu sehen. Überraschend hingegen waren die beiden Knaben, mit denen sich Bly herumzankte. Tocasia hatte sie nie zuvor gesehen. Der eine, dunkelhaarig und von gedrungener Statur, zuckte jedesmal zusammen, wenn Bly losbrüllte. Er versuchte, sich halb hinter dem anderen zu verbergen, einem hochgewachsenen, dunkelblonden Knaben, der kerzengerade stand und das Geschrei des Mannes furchtlos ertrug. »Betrüger! Lügner! Gauner!« brüllte Bly. Die beiden mochten ungefähr zehn Jahre alt sein, schätzte Tocasia, allerhöchstens zwölf. Die Adligen neigten dazu, Kinder in diesem Alter in das Lager der Archäologin zu schicken. Aber hier handelte es sich nicht um Schüler, denn sie erwartete die nächsten Neuankömmlinge erst im folgenden Sommer. Loran stand ein wenig abseits und war offensichtlich durch die unerfreuliche Szene peinlich berührt und gleichzeitig erleichtert, nicht das Opfer von Blys schlechter Laune zu sein. »Ihr wollt mich übers Ohr hauen! Entladet die Wagen, ihr mutterlosen Hunde!« schrie Bly, dessen Gesicht allmählich puterrot anlief. Der dunkelhaarige Junge ballte die Faust und trat einen Schritt vor. Der Blonde hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück, ließ den Händler jedoch keine Sekunde aus den Augen. »Sirrah«, sagte er ruhig und so laut, daß ihn die Umstehenden gut hören konnten, »wir hatten eine Abmachung. Wir wollten für dich arbeiten, um die Reise hierher zu bezahlen. Jetzt sind wir angekommen und werden nicht länger für dich arbeiten.« Bly war inzwischen dunkelrot angelaufen. Er sah 28
aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen. »Ihr habt euch einverstanden erklärt, während der Reise zu arbeiten. Die Reise ist aber noch nicht vorüber; wir müssen noch nach Penregon zurück!« »Aber dann müssen wir auf eigene Faust wiederkommen!« brüllte der kleinere Junge und klammerte sich an den Arm seines Gefährten. »Was geht hier vor, Meister Bly?« fragte Tocasia. Der Händler wirbelte herum und blinzelte verwirrt, als habe er sie jetzt erst wahrgenommen. »Eine persönliche'Angelegenheit, werte Tocasia. Nichts weiter.« Der größere Knabe trat vor. »Seid Ihr Tocasia, die Gelehrte?« »Wir sind noch nicht fertig!« warf Bly ein, aber Tocasia brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und wandte sich dem Knaben zu. »Die bin ich«, antwortete sie. »Ich heiße Urza«, stellte er sich vor. »Und das ist mein Bruder Mishra.« Der Kleinere nickte, und der Blonde zog einen arg mitgenommenen Umschlag aus dem Hemd. Das Siegel einer wohlbekannten Adelsfamilie war unversehrt, aber anscheinend hatte das Schreiben die ganze Reise im Hemd des Jungen zurückgelegt. Bei diesem Anblick schnappte Bly hörbar nach Luft. Tocasia sah von den beiden Jungen zum Karawanenführer hinüber. Mit einem sandverkrusteten Fingernagel ritzte sie den Umschlag auf. Die Schrift war gestochen klar und schön und stammte offensichtlich von einem berufsmäßigen Schreiber. Der Namenszug am Ende des Briefes war zwar leserlich, jedoch verwischt und zittrig geschrieben. Während sie las, herrschte Stille. Mishra und Bly traten unruhig von einem Fuß auf den anderen und warteten nur darauf, ihren Streit fortzusetzen. Urza stand reglos mit verschränkten Armen vor der Gelehrten. 29
Tocasia faltete den Brief zusammen und sagte nachdenklich: »So ist das also.« Sie wandte sich an die Knaben: »Holt eure Sachen, und laßt euch von Loran euer Quartier zeigen.« Zu Bly sagte sie: »Ich übernehme die Verantwortung für die beiden. Sie bleiben als Schüler hier.« Wieder lief der Händler dunkelrot an. »Aber sie schulden mir die Rückreise! Ihr wollt mir doch nicht weismachen, daß die beiden Gauner die Vereinbarung brechen dürfen, nur weil Ihr diesen Brief gelesen habt!« Tocasia ließ ihn toben. Sie beobachtete, wie die Jungen zwei schmale Rucksäcke von einem der Wagen zerrten und Lorans schlanker Gestalt folgten. Erst als sie sich entfernt hatten und die Umstehenden sich an das Entladen der Wagen machten, wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem wütenden Mann zu. »Ihr hattet vereinbart, sie sollten während ihrer Reise für Euch arbeiten«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Mit ihrer Ankunft im Lager ist die Reise für sie beendet. Von nun an leben sie hier. Habt Ihr mich verstanden?« Bly kannte diesen Ton und wußte, daß sie nicht mit sich spaßen ließ, wenn sie so redete. Er holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu bleiben. Tocasia schwenkte den Brief. »Der stammt von ihrem Vater, von dem ich seit Jahren nichts gehört habe. Was wißt Ihr über ihn?« Bly stotterte vor sich hin, nahm sich dann zusammen und sagte: »Es geht ihm nicht besonders. Hat neulich wieder geheiratet - ein zänkisches Weib, einen Drachen aus guter Familie mit eigenen Kindern. Einen Monat vor unserer Abreise aus Penregon wurde er schwer krank. Bestimmt ist er inzwischen tot.« »Das kann sein«, stimmte Tocasia zu. »Oder aber er ist zu krank, um sich um das Wohlergehen seiner 30
Söhne zu kümmern. Von diesem Brief habt Ihr nichts gewußt, nicht wahr?« Der Karawanenführer starrte beschämt auf seine Füße. »Nein, Ihr wußtet nichts davon«, stellte Tocasia fest. »Denn sonst hättet Ihr nicht gewagt, die Kinder zu einer so unglaublichen Vereinbarung zu zwingen. Die >ganze Reise<, meiner Treu! Wie ich Euch kenne, habt Ihr sie so hart arbeiten lassen wie die Auerochsen, wenn nicht noch härter! Und Ihr wußtet, daß ich sie ohne ein Schreiben nicht aufgenommen hätte.« »Die neue Mutter ist ein wahrer Dämon«, sagte er leise, als erkläre das alles. »Wollte sie aus dem Haus haben, aber nichts für ihren Unterhalt ausgeben. Wollte auch das Familienvermögen nicht anrühren, das ihr inzwischen bestimmt schon gehört.« »Also habt Ihr die Knaben mitgenommen, sie wie Sklaven behandelt und versucht, sie zu behalten, da sich niemand um sie kümmert«, sagte Tocasia verärgert. »Das ist übel, selbst für einen wie Euch, Bly. Jetzt ladet die Waren aus, denn ich werde selbst prüfen, ob alles vorhanden ist. Außerdem beladen wir sie für Euch, und Ihr dürft trotz Eures widerwärtigen Benehmens Dinge mitnehmen, die Euch gute Gewinne einbringen.« Tocasia hätte ihn gern noch länger zurechtgewiesen, aber Loran lief auf sie zu. »Weise Tocasia, die neuen Jungen!« Tocasia warf dem Mädchen einen bösen Blick zu. Endlich hatte sie einmal ungefragt gesprochen; also mußte es wichtig sein. »Ja?« »Sie prügeln sich!« stieß Loran hervor. »Mit Richlau und ein paar anderen Burschen!« Tocasia fluchte leise. Bly lachte schadenfroh. »Ich kann sie gerne wieder mitnehmen, werte Dame«, sagte er grinsend. Die Archäologin warf ihm einen Blick zu, der einem 31
Ochsen auf fünfzehn Fuß Entfernung die Haut vom Leibe gezogen hätte. Zu Loran sagte sie: »Hole Ahmahl und ein paar Arbeiter, um sie auseinanderzubringen! Dann bringst du die beiden in mein Zelt.« Loran zögerte, und Tocasia stampfte mit dem Fuß auf. »Sofort!« Das Mädchen verschwand in einer riesigen Staubwolke, und Bly meinte: »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Die beiden werden Euch mehr Ärger bereiten, als sie wert sind.« »Das würde mich nicht wundern«, antwortete sie. »Ihr Vater war früher auch schrecklich ungebärdig.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Wollt Ihr sie trotzdem behalten?« Tocasia seufzte. »Tja, das schulde ich ihrem Vater einfach. Für eine alte Gefälligkeit.« »Das muß aber etwas ganz Besonderes gewesen sein«, sagte Bly. »Was hat er Euch gegeben?« »Nur meine Freiheit«, antwortete sie und wandte sich ab, ohne auf eine weitere Bemerkung zu warten. Bly sah ihr nach, als sie den Hügel hinaufschritt. War es Einbildung oder war sie in den wenigen Minuten wirklich gealtert und gebrechlicher geworden? Rufe ertönten, als die Arbeiter die Wagen entluden, und sofort vergaß er die Gelehrte. »Ihr da!« brüllte er die Männer an. »Habt Ihr noch nie Waren entladen? Das Zeug ist zerbrechlich! Geht damit um, als handele es sich um das Neugeborene eurer Schwester, sonst gibt es keine Bezahlung!« Der Hügel kam Tocasia auf dem Rückweg steiler vor als auf dem Hinweg, und die Knaben erwarteten sie bereits, als sie ihr Zelt erreichte. Auch Ahmahl und Loran waren bei ihnen. Der Anführer der Arbeiter nickte grüßend. Auf fallaji, der Sprache der Wüstenbewohner, sagte er: »Paßt auf den Kleinen auf. Er bestand nur noch aus Fäusten 32
und Bissen, als wir ihn fortzerrten. Viel Feuer steckt in dem Zwerg. Der Große hat Richlau die Nase blutig geschlagen, aber zum Glück ist nichts gebrochen.« Tocasia erwiderte in der gleichen Sprache: »Richlau verdient es nicht anders. Sag ihm, er hat für den Rest des Monats Küchendienst. Und die Habe der Jungen soll in Havacks Unterkunft gebracht werden.« Ahmahl nickte und verschwand. Loran rührte sich erst von der Stelle, als ihr Tocasia auftrug, Bly im Auge zu behalten. Die Archäologin schritt um den Tisch herum und verstaute den Stock in seiner Halterung, die aus dem Fuß eines Onulets hergestellt worden war. Sie stützte die Handflächen auf die Tischplatte und sah die beiden Jungen an. Die feinen Hemden waren bei der Prügelei zerfetzt worden, und jemand hatte Urzas Taschen abgerissen. Mishra hatte ein blaues Auge, und beide waren mit zahlreichen Kratzwunden bedeckt. Tocasia seufzte und setzte sich. Die Knaben traten unruhig von einem Bein auf das andere. »Fünfzehn Minuten«, sagte sie nach geraumer Zeit. »Fünfzehn Minuten, und schon prügelt ihr euch. Ein neuer Rekord - selbst für unser Lager!« Beide redeten gleichzeitig. Urza rief: »Ich möchte mich im Namen aller Beteiligten entschuldigen...« »Es tut mir leid, aber es war nicht unsere Schuld!« stieß Mishra hervor. »Ruhe!« Tocasia schlug mit solcher Wucht auf den Tisch, daß der Su-chi-Schädel hochsprang und sich eine der Perlen aus der Tischplatte löste. Die Jungen schwiegen auf der Stelle. Tocasia lehnte sich zurück. »Was ist geschehen?« Die beiden sahen einander an, als wolle jeder dem anderen den Vortritt lassen. In schweigender Übereinstimmung ergriff Urza das Wort. »Einer der älteren Jungen ist auf meinen Bruder losgegangen. Ich habe ihn aufgehalten«, erklärte er 33
knapp. »Ein großer Bursche mit roten Haaren und Sommersprossen.« »Aha.« Die Gelehrte wandte sich an Mishra. »Und warum ist er auf dich losgegangen?« »Ohne Grund«, lautete die Antwort. Urza wollte etwas sagen, aber Tocasia hob die Hand, um ihn daran zu hindern. Nach langer Zeit fügte Mishra hinzu: »Er sagte, ich säße auf seinem Bett.« »Stimmt das?« Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich.« Nach einer Pause stieß er hervor: »Aber deswegen hätte er nicht gleich so unverschämt werden müssen!« »Richlau ist immer unverschämt«, sagte Tocasia. »Daran müßt ihr euch gewöhnen, wenn ihr hierbleiben wollt.« Sie sah Urza an. »Du bist der ältere von euch beiden, nicht wahr?« »Jawohl«, antwortete er, aber Mishra hustete gekünstelt. Urza verzog das Gesicht und setzte hinzu: »Ich muß dazu sagen, daß wir beide im gleichen Jahr geboren wurden. Ich am ersten Tag und Mishra am letzten. Also bin ich - bis auf diesen letzten Tag - ein Jahr älter.« »Am letzten Tag sind wir gleichaltrig!« rief Mishra, als freue es ihn, daß sein Bruder seine Aussage berichtigt hatte. Tocasia hielt den Brief in die Höhe. »Wißt ihr, was in diesem Brief steht?« Wieder sahen sich die beiden an. Tocasia spürte, daß sie sich in einer geheimen, nur ihnen verständlichen Sprache austauschten. »Nicht genau«, antwortete Urza schließlich. »Euer Vater war ein guter Freund, dem ich viel verdanke«, erklärte die Archäologin. »Er möchte, daß ich für euch sorge und euch erziehe, falls ihm etwas zustößt. Das bedeutet, daß ihr geraume Zeit hier leben werdet. Außerdem müßt ihr mit meinen Studenten 34
und mir zusammenarbeiten. Wenn euch das nicht gefällt, kann ich euch mit Bly zurückschicken, aber, um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, wie ihr in Penregon empfangen werdet.« Wieder wechselten die Knaben einen Blick. Diesmal sprach Mishra. »Welche Arbeit meint Ihr?« »Ich grabe. Besser gesagt, ich leite Ausgrabungen. Wir suchen nach Artefakten. Versteht ihr, wovon ich rede?« »Überreste der Vergangenheit«, sagte Urza. »Dinge, die einer Kultur entstammen, die es lange vor der Entstehung Argivias oder anderer Länder Terisiares gab. Relikte.« »Stimmt genau«, meinte Tocasia. »Artefakte, die von winzigen Spielzeugen bis hin zu riesigen Maschinen reichen. Maschinen, die die Arbeit vieler Männer erledigen können.« »Wie die großen weißen Ochsendinger?« flüsterte Mishra aufgeregt. Tocasia hob überrascht die Brauen. »Jawohl. Die Onulets, die wir hier draußen als Lasttiere benutzen, sind auch Artefakte. Ich habe sie den Funden nachgebaut, die wir hier entdeckt haben. Sie wurden einst von den Thran geschaffen. Onulets sind starke, hirnlose und gehorsame Maschinen, und sie arbeiten unermüdlich. Sie brauchen weder Nahrung noch Wasser, und wenn sie irgendwann zusammenbrechen, brauen wir aus der Flüssigkeit, die ihre Gelenke schmiert, ein herzhaftes Getränk, das wir den Wüstenstämmen im Tausch für andere Artefakte und interessante Nachrichten geben.« »Sie hören sich sehr nützlich an«, meinte Urza. Tocasia lehnte sich bequem zurück. »Ich bin beeindruckt, Mishra. Ein Gerüst wird mit zusammengenähten Häuten bezogen, um die Maschinen vor dem Wüstensand zu schützen. Ich hatte einmal eine Schülerin, 35
die sehr gut nähen konnte. Die meisten Neuankömmlinge halten die Onulets für Lebewesen, da sie nur Auerochsen als Vergleich haben.« Sie lachte. »Bestimmt wollten sich Richlau und die anderen einen Scherz erlauben und planten, euch die Onulets füttern zu lassen. Sie hätten euch befohlen, nicht eher zurückzukehren, bis sie die Mahlzeit beendet hätten. Wie hast du erraten, daß es sich nicht um lebendige Tiere handelt?« Mishra blinzelte und runzelte die Stirn. »Ich habe nicht geraten, ich wußte es.« Urza schnaubte verächtlich. »Sie bewegen sich unnatürlich. Die Onulets rucken bei jedem Schritt ein wenig vor. Ein echtes Lebewesen würde sich geschmeidiger bewegen.« Er sah die Gelehrte an. »Ich wußte es auch, aber ich hielt es nicht für erwähnenswert. Die Thran müssen erstaunliche Leute gewesen sein, daß sie solche Maschinen entwerfen konnten!« »Was weißt du denn über die Thran, junger Mann?« Der dunkelblonde Knabe stellte sich breitbeinig vor sie hin und verschränkte die Hände auf dem Rücken. An diese Haltung erinnerte sich Tocasia aus ihren Schultagen, wenn sie einen Vortrag halten mußte. »Die Thran sind ein uraltes Volk, das vor vielen tausend Jahren in diesem Land lebte. Sie haben zahlreiche wunderbare Maschinen erschaffen, von denen nur wenige bis in die heutige Zeit erhalten geblieben sind. Es heißt, daß auch die große Uhr am Hauptgerichtshof von Penregon ein Thranartefakt ist.« Tocasia mußte ein Lächeln unterdrücken, denn die Uhr war einer ihrer ersten Funde gewesen. »Aber wer waren sie? Waren die Thran Menschen?« Urza sah sie an, als habe sie ihm eine unsinnige Frage gestellt. »Natürlich. Was sollten sie sonst sein?« »Hast du Beweise?« hakte die Frau beharrlich nach. Er überlegte eine Weile, und ihr fiel auf, daß er den Kopf hängen ließ, als müsse er das gedankenschwere 36
Haupt mit dem Oberkörper abstützen. »Ich kenne keine Stelle, die das Gegenteil behauptet. Also gehe ich davon aus, daß es Menschen waren.« »Das glauben die meisten Leute«, stimmte Tocasia zu. »Aber in Wahrheit wissen wir es nicht. Vielleicht waren es Menschen. Ahmahl, einer der Fallaji, kennt Legenden, nach denen die Thran mächtige Götter waren, die sein Volk hierherbrachten, aber die Geschichten sind ungenau. Die Thran hätten alles mögliche sein können: Minotauren, Elfen, Zwerge oder sogar Goblins!« »Oh, ich hoffe, es waren Minotauren«, meinte Mishra. »Die sehen wirklich gut aus!« Urza streckte die Hände aus. »Als wir noch klein waren, gab es ein Volksfest in Penregon. Damals hat Mishra zum ersten und einzigen Mal einen Minotaurus gesehen.« »Tatsache ist, daß wir nicht wissen, wer oder was die Thran waren«, fuhr Tocasia fort. »Deshalb graben und forschen wir und versuchen, der Vergangenheit auf den Grund zu gehen. Die Onulets sind das Ergebnis unserer Ausgrabungen. Auch die Katapulte, die auf den Mauern stehen, gehören gewissermaßen zu unseren Funden. Wir wissen, daß viele Thranmaschinen von kristallinen Energiequellen angetrieben wurden. Wir nennen sie Kraftsteine. Wie die Thran sie nannten, wissen wir nicht. Zum Glück haben wir ein paar Erkenntnisse über ihre Sprache, obwohl sie kaum etwas Schriftliches hinterließen. Wir fanden weder Statuen noch Kunstgegenstände oder Getöpfertes - nichts, was auf bildende Kunst schließen läßt. Wir wissen, daß sie das Land auslaugten, haben aber keine Ahnung, wie sie ausgestorben sind. Ob durch einen Bürgerkrieg, Hungersnöte oder Seuchen.« Sie seufzte. »Wir wissen nicht einmal, wie sie aussahen. Sie hätten wie Menschen aussehen können. Oder 37
so, wie unser Freund hier.« Sie schob den Schädel ein Stück vor und streichelte ihn liebevoll. Mishra beugte sich vor und ergriff den Schädel. Tocasia war über die Schnelligkeit, über die nur Raubtiere und kleine Kinder verfügen, völlig verblüfft. Interessiert drehte er ihn hin und her. »Hör...«, begann sie. Sie hatte sagen wollen: Hör auf damit, und leg es sofort zurück, aber es war zu spät. Als sie den Mund öffnete, sprang Urza auf seinen kleinen Bruder zu. »Leg es zurück!« zischte er, »Vielleicht ist es gefährlich!« »Bestimmt nicht«, erwiderte der dunkelhaarige Knabe. »Wenn es gefährlich wäre, hätte sie es an einem Ort aufbewahrt, wo wir es nicht berühren könnten!« »Dann ist es zerbrechlich!« schrie Urza. »Du machst es kaputt!« »Wenn ich es beschädige, dann nur, weil du mich nicht in Ruhe läßt!« Sie rangen miteinander, den Schädel zwischen sich haltend. »Gib her!« brüllte Urza. »Nein!« schrie Mishra. »Genug!« donnerte Tocasia und schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch. Sofort sprangen die beiden auseinander, und der Schädel lag wieder auf der Tischplatte, an derselben Stelle wie zuvor. Die Forscherin sah die Jungen drohend an. »Ihr könnt gut reden und habt anscheinend zuviel überschüssige Kraft. Wie schön. Den Rest des Monats werdet ihr euch mit der Arbeit hier vertraut machen und ganz unten anfangen. Und zwar in der Küche, gemeinsam mit Richlau. Ich rate euch, euch zusammenzunehmen. Gibt es noch mehr Ärger, schicke ich euch mit Blys Karawane zurück.« Sie warf ihnen böse Blicke zu. »Habe ich mich klar ausgedrückt?« Die beiden nickten heftig. 38
»Gut.« Sie ließ sich wieder in den Stuhl sinken. »Meldet euch im Küchenzelt und schält Knollen. Heute abend gibt es ein großes Festessen für Bly und seine Leute. Ich gehe davon aus, daß ihr mir keinen weiteren Ärger bereitet.« Wieder nickten die beiden. Sie scheuchte sie mit einer Handbewegung davon, und die Knaben stürmten den Hügel hinunter, zwei große Staubwolken hinter sich herziehend. Trotz ihres Zorns mußte sie lächeln. Sie waren fast gleichaltrig, aber die Reihenfolge ihrer Geburt hatte auf ihr Benehmen abgefärbt. Urza war erst zehn, benahm sich aber, als sei er viel älter und für seinen Bruder verantwortlich. Mishra war fast zehn, verhielt sich aber kindlicher und war sehr ungestüm. Bestimmt war er jederzeit bereit, alles Neue auszuprobieren, weil der große Bruder immer schützend über ihn wachte. Nun, dachte sie, es wäre sicher nicht verkehrt, mit Richlau zu reden. Er sollte ruhig wissen, daß sie es nicht schätzte, wenn er den neuen und jüngsten Schülern das Leben schwermachte. Natürlich würde es Neid hervorrufen, wenn die anderen glaubten, sie zöge die Brüder vor, aber diesen Preis mußte sie zahlen, und er war nur gering. Bald verließ die Gruppe junger Leute das Lager und würde im nächsten Sommer von anderen Kindern aus Penregon ersetzt. Bis dahin sollten die Knaben in der Lage sein, sich einzuleben, dachte sie, oder sie mußten gehen. Tocasias Lächeln erstarb, als sie den Su-chi-Schädel aufhob. Sie prüfte, ob die Jungen auch keinen Schaden angerichtet hatten. Während der Rangelei waren die beiden Hälften des Kristalls zusammengedrückt worden. Der lange Riß war verschwunden, und der Kraftstein sah unversehrt aus. Seltsamerweise regte sich ein winziger Lichtschimmer im Inneren des Kristalls, nur 39
schwach, zweifellos aber ein Hinweis auf die Kraft, die noch vorhanden war. Tocasia starrte den Schädel und sein kristallines Gehirn an, bis Loran erschien, um sie zum Essen zu holen. Während der Mahlzeit schweiften ihre Augen und Gedanken immer wieder zu den beiden Knaben hinüber, die erst vor wenigen Stunden eingetroffen waren.
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KAPITEL 2
Ornithopter Weder damals noch in den nächsten sechs Sommern schickte Tocasia die Jungen mit Bly nach Penregon zurück. Urza schloß Frieden mit Richlau, und Mishra hütete sich, auf fremden Betten zu sitzen. Loran kehrte nach Penregon zurück und blieb fünf Jahre lang fort. Bly peinigte auch die neuen Ochsen und versuchte vergeblich, Tocasia ein Onulet abzukaufen. Tocasia setzte die Ausgrabungen fort und erzog die beiden Knaben, die man ihr anvertraut hatte. Anfangs betrachtete sie Urza und Mishra als zwei Hälften einer Einheit. Daß sich die beiden immer erst ansahen, ehe sie eine Frage beantworteten, bestärkte sie in ihrer Meinung. Dennoch erwiesen sie sich als völlig unterschiedliche Persönlichkeiten, und das Leben in der Wüste brachte gewisse Eigenschaften noch stärker zur Geltung als zuvor. Urza wurde immer lernbegieriger und verschlang alles, was Tocasia über die Thran zusammengetragen hatte. Er brütete über den Aufzeichnungen über die Artefakte der vergangenen Jahre und untersuchte auch jene Funde, die als wertlos beiseite gelegt wurden. So entdeckte er etliche Teile, die zu später ausgegrabenen Artefakten gehörten und zum Zeitpunkt ihrer Entdekkung als nutzlos aussortiert worden waren. Tocasia fand schnell heraus, daß Urza von der Funktionsweise von Mechanismen fasziniert war. Mit zwölf Jahren nahm er die Vorderbeine eines Onulets auseinander und setzte sie erst wieder zusammen, als ihm die Archäologin mit schlimmen Strafen drohte. Mishra 41
und Urza bauten das Tier über Nacht wieder zusammen, und dank ihres Könnens bewegte es sich nicht mehr so ruckartig wie früher, sondern völlig gleichmäßig. Der ältere Bruder blieb groß und drahtig. Die heiße Sonne bleichte sein Haar strohblond, und er trug es als Pferdeschwanz, der ihm über den Rücken hing. Sein Wissensschatz war allumfassend, und er verfügte über eine schnelle Auffassungsgabe. Mishra blühte in der Wüste förmlich auf. Während sich Urza in die abgegriffenen Schriftrollen und Karten vertiefte, lernte Mishra, wie man grub, siebte und Funde einschätzte. Der jüngere Bruder verbrachte bedeutend mehr Zeit draußen als sein Gefährte. Er kletterte in die ausgetrockneten Gräben und über die zerklüfteten Felsen. Schon bald sah er einen zukünftigen Ausgrabungsort nur an und versuchte zu erraten, in welcher Tiefe die Thranartefakte lagen. Meistens behielt er recht. Tocasia fiel auf, daß Mishra viel mehr Zeit mit den anderen Studenten und Ahmahls Arbeitern verbrachte als sein Bruder. Nach dem Abendessen, wenn sich Urza über die Zeichnung eines Skelettartefaktes beugte, hielt sich Mishra im Fallajilager auf und lauschte den Geschichten, die am Lagerfeuer zum Besten gegeben wurden. Die Legenden erzählten von Überfällen, Helden und Wüstendschinns, von großen Städten, die in winzigen Flaschen gefangengehalten, und von armen Seelen, die in Esel verwandelt wurden. Mishra lernte die Thran kennen, wie sie die Wüstenbewohner sahen: Eine Rasse von Halbgöttern, die mit Hilfe ihrer Artefakte Städte schufen, die wundervoll und furchtbar zugleich waren. Tocasia vermutete, daß die Arbeiter Mishra von ihrem Nabiz kosten ließen, dem starken gegorenen Wein, der mit Zimt gewürzt wurde und das Lieblingsgetränk der Fallaji war, aber sie schwieg dazu. Sie fand es gut, daß Mishra die 42
schützenden Arme des Bruders verließ. Urza schien nicht aufzufallen, daß sein Bruder immer mehr Zeit mit anderen verbrachte, da er viel zu sehr mit seinen Studien beschäftigt war. Die schwere Arbeit unter der heißen Wüstensonne härtete Mishra ab. Seine Muskeln kräftigten sich, und seine Haut wurde tiefgebräunt. Er trug das lange dunkle Haar in kunstvolle Zöpfe geflochten, wie es bei den Wüstenstämmen Sitte war. Er war breitschultriger und kräftiger als sein älterer Bruder und vermochte sich jederzeit zu behaupten, ohne Urzas Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Beide Knaben arbeiteten unermüdlich, und Tocasia wußte nun, weshalb Bly sie nicht hatte freigeben wollen. Allerdings schätzte sie die Kinder noch aus anderen Gründen. Beide kamen ihren Pflichten mit anstekkender Begeisterung nach. Tocasia nahm sie sehr ernst und redete mit ihnen wie mit Erwachsenen, und sie erwiderten das in sie gesetzte Vertrauen. Schon bald waren die Knaben zu einem fast so wichtigen und beständigen Teil des Lagers geworden wie die alte Archäologin selbst. Nach zwei Jahren waren die jungen Adligen, die aus Penregon kamen, im gleichen Alter wie Urza und Mishra, die sich zu diesem Zeitpunkt bestens auskannten. Da sie ihre eigenen Erfahrungen nicht vergessen hatten, suchten sie sich immer die vorlautesten und herrschsüchtigsten Neuankömmlinge heraus und machten ihnen klar, daß im Lager keine Unterdrückung der Schwächeren geduldet wurde. Nach zwei weiteren Jahren wurden die Brüder anstandslos als Anführer aller Studenten angesehen, und Tocasia blieb mehr Zeit für ihre Arbeit an den Artefakten und den Kraftsteinen. Im Herbst des zweiten Jahres überbrachte Blys Karawane die Nachricht, daß der Vater der Brüder nach langer Krankheit verschieden war. Die Botschaft war 43
kurz und knapp; ein undeutliches Gekritzel der Stiefmutter. Eine Erbschaft wurde nicht erwähnt, und Tocasia vermutete, daß auch in Zukunft in dieser Hinsicht nichts zu erwarten war. Urza war der erste, dem sie die traurige Nachricht überbrachte. Er arbeitete unter Tocasias Baldachin und war gerade dabei, den Staub von einem Gerät zu entfernen, das sie vor wenigen Stunden gefunden hatten. Es wurde durch eine Sprungfeder angetrieben, und die Forscherin nahm an, daß es sich nur um ein Uhrwerk handelte, aber der Knabe hatte Gravierungen entdeckt, die große Ähnlichkeit mit bekannten Thranglyphen hatten. Als sie ihm vom Tode seines Vaters erzählte, legte er die Werkzeuge nieder und starrte wortlos auf die Tischplatte hinab. Dann rieb er sich die Augen, dankte ihr für die Botschaft und nahm die Werkzeuge wieder auf, als sei die Arbeit unaufschiebbar. Mishra reagierte völlig anders. Als sie mit ihm gesprochen hatte, verließ er den Ausgrabungsort und kletterte auf den Berg, der sich hinter Tocasias Zelt erhob. Sie wollte ihm folgen, aber Ahmahl hielt sie davon ab. Er sagte, der Junge wolle mit seinem Kummer allein sein. Nach dem Abendessen sah die Forscherin, wie auch Urza den Berg erklomm, und die beiden saßen lange Zeit nebeneinander, während der Schimmermond aufging. Keiner der Jungen redete später über diesen Abend, und Tocasia fragte sich, was sie dort oben auf dem Berg wohl besprochen hatten. Im Frühling des sechsten Jahres nach der Ankunft der Brüder kehrte Loran zurück. Diesmal nicht als einfache Schülerin, sondern als Abgesandte ihrer Familie. Sie hatte sich verändert und war jetzt eine vornehme Dame, die - so berichtete Bly Tocasia mit einem Augenzwinkern und einem plumpen Rippenstoß - zahlreiche Verehrer hatte, die sich um ihre Hand und die stattliche Mitgift bemühten. Offiziell sollte Loran das 44
Lager und die jüngsten Ausgrabungen begutachten, um herauszufinden, ob es angebracht war, daß ihre Familie der Archäologin weitere Unterstützung zukommen ließ. In Wirklichkeit hätte diese Entscheidung auch in Penregon getroffen werden können, da zahlreiche junge Leute aus einflußreichen Familien mindestens einen Sommer bei Tocasia verbracht hatten und deren angenehme Erinnerungen sich in reichlich fließenden Zuschüssen bemerkbar machten. Die Forscherin wußte, daß sich die argivianische Krone nichts aus ihrer Arbeit machte, aber das Königshaus war schwach und behandelte die Angelegenheit wie alle anderen, die ihm gleichgültig waren: Es beachtete sie nicht. Loran hatte die weite und beschwerliche Reise hauptsächlich deshalb auf sich genommen, um Tocasia wiederzusehen, und das wußte die alte Archäologin. Das vornehme Benehmen und die Geziertheit verschwanden weitgehend schon am ersten Abend, und am folgenden Mittag kroch Loran neben Tocasia durch ausgehobene Gräben. Tocasia wollte dem Mädchen etwas Besonderes zeigen, wovon sie den anderen ehemaligen Studenten berichten sollte, wenn sie nach Penregon zurückkehrte. Im vergangenen Monat hatte es fürchterlich geregnet, und die herabprasselnden Wassermassen hätten um ein Haar etliche Ausgrabungen wieder verschüttet. Rahud, einer von Ahmahls Arbeitern, hatte von einem Familienmitglied, das als Nomade durch die Wüste zog, erfahren, daß es im Norden zu noch schwereren Regenfällen gekommen war. Dabei wurde eine Sandbank überspült, und eine Maschine kam zum Vorschein, die wahrscheinlich ein Thranartefakt war. Rahud hatte Mishra davon erzählt; der wandte sich an Tocasia, und innerhalb weniger Stunden machte sich eine kleine Expedition in Richtung Norden auf. Die Maschine, die sie entdeckten, stammte zweifels45
frei von den Thran. Zuerst sah der Fund wie eine Art Segelschiff aus - ein in der Wüste völlig unmögliches Transportmittel. Lange Stäbe aus uraltem Kerzenholz, an denen Fetzen hingen, die wie Segeltuch aussahen, ragten aus dem Sand heraus. Urza untersuchte das Ganze, und zu Tocasias größter Überraschung stellte er mit Bestimmtheit fest, daß es sich um eine Flugmaschine handelte, eine bis dahin nie gesehene Erfindung, die nur in den ältesten Legenden erwähnt wurde. In der folgenden Woche konzentrierten sich alle Arbeiten auf den neuesten Fund, um die Flugmaschine vollständig freizulegen und zum Lager zu schaffen. Die Arbeiter mußten eifrig graben, um nicht die Aufmerksamkeit wenig freundlicher Fallajistämme oder gefährlicher Raubtiere zu erregen. Die Studenten wurden eingespannt, um Sand fortzuschaffen, und Urza und Mishra schliefen an Ort und Stelle, um den Fund zu bewachen. Es dauerte nur wenige Tage, bis sie Sand und Geröll entfernt hatten und Urzas Aussage sich als richtig erwies. Was Tocasia für Segel gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Flügel. Die Maschine ähnelte einem seltsamen Vogel, und so nannte Tocasia sie >Ornithopter<. Beide Flügel waren unversehrt, der Schwanz jedoch zerschmettert. Inmitten eines Gewirrs aus Drähten und Kabeln ruhte der beschädigte Kraftstein. Zwei Tage vor Lorans Ankunft brachten sie den Ornithopter ins Lager, und Tocasia freute sich, als sie den Gesichtsausdruck der jungen Frau beim Anblick des Fundes bemerkte. Für jeden anderen Argivianer lag dort nur ein Durcheinander aus zerbrochen Holzstäben, verbogenem Metall und uralten Tuchfetzen, aber für alle Schüler Tocasias war es ein wahrer Schatz. Der Anblick einer so großen Maschine, nachdem man den ganzen Sommer winzige Steinfragmente mit einem 46
Pinsel abgestaubt hatte, war für die Archäologin und die Studenten überwältigend. Tocasia fiel auf, daß Loran im Laufe der Jahre sehr selbstsicher geworden war. Sie zögerte nicht mehr, jederzeit zu sprechen. Auch verbrachte sie nicht die ganze Zeit mit ihrer alten Lehrerin. In den ersten Tagen blieb sie an Urzas Seite, der den Kristall und sein schützendes Gehäuse aus dem Vogel entfernt hatte und sich jetzt bemühte, die einzelnen Teile zu säubern und wieder zusammenzusetzen. Urplötzlich und ohne Vorwarnung wandte das Mädchen seine Aufmerksamkeit Mishra zu, der die Wiederherstellung des äußeren Gerüstes übernommen hatte. Tocasia hatte keine Ahnung, ob etwas geschehen war, um das wechselnde Interesse der jungen Frau zu beeinflussen, da keiner der beiden Brüder sie in ihrer Anwesenheit je erwähnte. Loran kehrte mit dem Versprechen in die Hauptstadt zurück, für weitere Unterstützung Tocasias und die Beschaffung von leichtem Segeltuch zu sorgen, und die jungen Männer setzten ihre Arbeit fort. Mishra stellte die äußere Form des Vogels her, stand aber bei dem Schwanz vor einem Rätsel. In schweigendem Übereinkommen übernahm Urza diese Arbeit und fand heraus, welche Drähte wohin gehörten, was sie bewirkten und wie man sie während des Fluges zu bedienen hatte. Urza war es, der entdeckte, daß die segelähnlichen Flügel mit dünnen Kerzenholzstäben durchzogen werden mußten, damit sie während des Fluges ihre Form beibehielten. Mishra bestätigte dieses, indem er zerbrochene Stäbe am Fundort ausgrub, die ursprünglich an jetzt ausgefransten Seilen gehangen hatten. Urza bemerkte, daß sich Drähte besser für diese Aufgabe eigneten als Stricke, und Bly wurde ein entsprechender Auftrag erteilt. Die Brüder verbrachten Stunden über den Plänen des Ornithopters und grübelten über die Bauweise des Schwanzes nach. 47
Insgesamt dauerte die Instandsetzung des Vogels acht Monate. Der Schlüssel des Ganzen war die Kiste mit Drähten und Kabeln, aus der die Maschine ihre Kraft bezog. Urza, Mishra und selbst Tocasia wußten nicht genau, wie eine so winzige Energiequelle den riesigen Ornithopter antreiben konnte, aber sie waren sicher, daß es möglich war. Urza benutzte den kleinen schwachen Kristall, der in dem Su-chi-Schädel gesteckt hatte, um den Vogel in Gang zu setzen. Am letzten Tag des Jahres, an Mishras Geburtstag, war die Maschine fertig. Es war ein überraschend warmer Tag, und ein sanfter Wind fuhr über die Wüste hinweg. Die Brüder gerieten in Streit, wem die Ehre und die Gefahr - gebührte, den ersten Probeflug zu unternehmen. »Ich sollte es tun«, meinte Urza. »Schließlich weiß ich, wie die Kraftquelle funktioniert.« »Ich sollte es tun!« widersprach Mishra. »Die Hebel, mit denen die Flügel betätigt werden, sind äußerst störrisch und bedürfen einer starken Hand, um sie richtig zu bedienen.« »Ich bin leichter«, sagte Urza. »Ich bin stärker«, knurrte Mishra. »Ich kann die Hebel bedienen«, erklärte Urza. »Und ich verstehe genauso viel von Kraftsteinen wie du«, setzte Mishra hastig dagegen. »Ich bin der Ältere!« stellte Urza zufrieden fest. »Aber es ist mein Geburtstag!« rief Mishra, der vor Zorn rot anlief. »Wir sind also gleichaltrig!« Seufzend sah Tocasia von einem zum anderen. Solche Streitereien kamen selten vor, waren aber ernst genug, um ihr Sorgen zu bereiten. Schließlich sagte sie: »Wenn ihr euch nicht einigen könnt, muß ich meine alten Knochen aufs Spiel setzen, um die Maschine auszuprobieren.« Die beiden jungen Männer starrten sie entsetzt an 48
und wechselten abschätzende Blicke. Dann zeigten sie gleichzeitig auf ihr jeweiliges Gegenüber und sagten: »Er soll fliegen!« Zum Schluß warfen sie eine Münze. Urza gewann, und Mishra gab sich redliche Mühe, seine Enttäuschung zu überspielen, als sie die letzten Vorbereitungen trafen. Außerhalb der Palisade hatten die Fallaji einen großen ebenen Platz für die Maschine geräumt. Der blonde junge Mann kletterte in die Kabine im vorderen Teil des Ornithopters und schob vorsichtig die beiden Haupthebel herunter, die den Kristall in Gang setzten; dieser ruhte in einem Gewirr von Kabeln und Drähten, die er in den vergangenen Monaten in liebevoller Kleinarbeit zusammengefügt hatte. Die ganze Maschine erbebte, als sich die letzten Drähte strafften und die riesigen Flügel sich ausbreiteten. Sie senkten sich einmal, zweimal und dann zum dritten Mal. Dann hüpfte der Ornithopter ein Stück vor, und Tocasia sah, wie Mishra zusammenzuckte. Er sprach kein Wort, aber seine Augen klebten an der Maschine, und die Hände waren zu Fäusten geballt. Tocasia fragte sich, ob er sich um seinen Bruder sorgte oder befürchtete, daß Urza die Maschine beschädigte, ehe er Gelegenheit hatte, sie auszuprobieren. Der Vogel tat noch einen Hüpfer, gefolgt von einem größeren Sprung. Der von den heftig schlagenden Flügeln aufgewirbelte Staub flog in alle Richtungen; die Umstehenden wichen zurück und bedeckten schützend Mund und Augen. Ein letzter Hüpfer, und der Ornithopter blieb in der Luft. Er segelte mit flatternden Flügeln davon. Tocasia und ihre Schüler hörten das angestrengte Surren der Drähte, als sich das Gebilde gleich einem jungen Greifen, der den schützenden Hort zum erstenmal verläßt, der Sonne entgegenhob. Der Ornithopter stieg höher, und sie vernahmen das Krachen, als Urza den Sperr49
hebel betätigte, der die ausgebreiteten Flügel in eine starre Fläche verwandelte. Der junge Mann blieb zehn Minuten lang in der Luft. Er umkreiste das Lager zweimal, und alle hielten den Atem an, als der Vogel urplötzlich zehn Fuß an Höhe verlor, die er jedoch schnell wieder gewann. Urza drehte noch eine Runde und landete dann auf dem ebenen Platz vor den Palisaden. Die Flügel hoben und senkten sich, und die Kerzenholzstäbe knarrten bedenklich, aber die Landung verlief ohne Zwischenfälle. Urza kletterte aus der hölzernen Kabine. »Bin in kältere Luft geraten«, lautete die knappe Erklärung. »Hat anscheinend Auswirkungen auf die Flugfähigkeit«, sagte er zu Tocasia. »Ich will es auch einmal versuchen!« warf Mishra ein. Urza beachtete ihn nicht. »Wir müssen die Gelenke auf Verschleißerscheinungen untersuchen«, erklärte er, den Blick immer noch auf Tocasia gerichtet. »Und die Stäbe auf Risse. Ganz zu schweigen vom Zustand des Kraftsteines.« Mishra sah Tocasia mit düsterer Miene an. »Urza«, sagte die Archäologin leise, »du läßt jetzt deinen Bruder in den Ornithopter.« Urza öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber nach einem Blick auf seinen Bruder trat er schweigend beiseite. Mishra kletterte in die Kabine. Urza beugte sich zu ihm hinein. »Der rechte Hebel klemmt. Du brauchst sehr viel Kraft!« Mishra grinste nur und rief: »Macht Platz!« Er riß beide Hebel herab und setzte die Flügel in Bewegung. Urza beeilte sich, außer Reichweite zu kommen. Jeglicher Sand, der vom ersten Flugversuch nicht fortgeweht worden war, wurde jetzt aufgewirbelt und hüllte die Zuschauer ein. Der Ornithopter stieg mit einem Satz fast senkrecht 50
in die Luft. Das ganze Lager vernahm das laute Krachen der Holzstäbe und das schrille Kreischen der Drähte, die über metallene Rollen und Ringe liefen. Urza verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse. »Es wäre besser gewesen, die Maschine vor einem neuen Flugversuch erst einmal gründlich zu überholen.«, sagte er mißmutig zu Tocasia. »Besser vielleicht, aber nicht klüger!« entgegnete die alte Forscherin. Der Vogel stieg hundert Fuß in die Höhe; Mishra stellte die Flügel fest und ließ die Maschine in einem weiten Bogen tief über das Lager hinwegfliegen. Die Schafe und Ziegen in ihren Pferchen blökten verängstigt, als der Ornithopter nur wenige Fuß über ihren Köpfen dahinschoß. Mishra zog die Hebel zurück, und der Vogel gewann erneut an Höhe. »Bist du immer noch der Meinung, daß die Maschine einen leichteren Piloten braucht?« erkundigte sich Tocasia. Urza zuckte mit den Achseln. »Eigentlich halte ich es für möglich, daß die Flügel stark genug sind, um drei oder gar vier Personen zu tragen, wenn wir die Kabine vergrößern.« »Damit ist die Behauptung, daß du als erster fliegen mußtest, da du leichter bist, widerlegt worden«, antwortete sie lächelnd. Urza zuckte zusammen, sagte aber nichts mehr. Noch zweimal umkreiste Mishra das Lager. Tocasia war der Meinung, daß er nach der gleichen kalten Luftströmung suchte, in die sein Bruder geraten war, um ebenfalls den schnellen Höhenverlust erleben zu können. Außerdem fiel ihr auf, daß Mishra Vergnügen daran fand, immer wieder die Richtung und die Flughöhe der Maschine zu ändern, anstatt sie ruhig auf einer Höhe zu halten, wie Urza es getan hatte. 51
Nach einer letzten Runde über den Köpfen der Zuschauer wandte sich der Ornithopter nach Westen und flog davon. Allmählich wurde er immer kleiner, bis er schließlich nur noch ein Punkt am Horizont war. Tocasia und Urza sahen sich an. »Vielleicht ist einer der Drähte an der Steuerung gerissen«, mutmaßte die Archäologin. »Oder der kleine Narr will ausprobieren, wie weit er fliegen kann«, knurrte Urza und lief zu dem Felsen hinter dem Lager, um eine bessere Aussicht zu bekommen. Er hatte erst die Hälfte des Hügels erklommen, als sie das Geräusch der mächtigen Flügel vernahmen, das Mishras Rückkehr ankündigte. Der jüngere Bruder drehte noch zwei Runden über ihren Köpfen und landete dann dicht vor den Palisadentoren. Als der Vogel den Boden berührte, wartete Urza mit eisiger Miene. »Was hast du dir dabei gedacht?« brüllte er, als Mishra die Kabine verließ. »Schlimm genug, daß du mit dem Auf und Ab höchstwahrscheinlich die Rollen und Drähte zu stark beansprucht hast! Aber dann auch noch außer Sichtweite zu fliegen! Greife hätten dich attackieren können! Wenn du abgestürzt wärest, hätten wir dich niemals gefunden!« Mishra schien ihm nicht zuzuhören. Er sagte: »Ich habe die Bilder gesehen! Du auch?« Urza verstummte und sah seinen Bruder verblüfft an. Mishra wandte sich an Tocasia. »Da draußen in der Wüste sind Zeichnungen. Dunkle Erde, die sich vom hellen Sand abhebt. Wir sind schon daran vorbeigegangen, aber es ist uns nie aufgefallen. Aus der Luft kann man genau erkennen, daß es sich um richtige Bilder handelt! Ich habe Drachen, Dschinns, Greife sogar Minotauren erkannt!« Er schaute Urza an. »Du hast sie auch gesehen, nicht wahr?« 52
Urza blinzelte unsicher. Zögernd meinte er: »Ich habe mir mehr Gedanken über die Fliegerei und die Maschine gemacht.« Mishra hörte ihm gar nicht zu. »Sie ziehen sich um einen großen Hügel herum. Jede Wette, wenn wir ihn näher untersuchen, finden wir ein Thranlager oder etwas Ähnliches!« »Es könnte auch ein Fallajiheiligtum sein«, gab Urza zu bedenken. Sein Bruder schüttelte den Kopf. »Nein«, widersprach er mit Bestimmtheit. »In den alten Geschichten gibt es keine Hinweise auf Siedlungen in dieser Gegend. Ich bin sicher, es handelt sich um die Thran, und wir sollten der Sache auf den Grund gehen.« »Wir sollten lieber nachsehen, welchen Schaden die Flüge dem Ornithopter angetan haben«, brummte Urza, der bereits die Flügel untersuchte, das Segeltuch zur Seite schob und die Hände über die Holzstäbe gleiten ließ. Tocasia breitete beschwichtigend die Hände aus. »Wir sollten feiern«, schlug sie vor. »Morgen früh ist Zeit genug, uns um alles weitere zu kümmern.« An diesem Abend errichteten die Arbeiter und die Schüler ein riesiges Lagerfeuer und versammelten sich um die hell auflodernden Flammen. Die jungen Leute unterhielten sich aufgeregt. Sie würden viel zu erzählen haben, wenn sie nach Argivia zurückkehrten. Sie waren dabei gewesen, als Urza den ersten Flug wagte und Mishra die Bilder in der Wüste entdeckte. Nach langen Monaten harter Arbeit in tiefen Gräben und sorgfältigem Säubern uralter Metallteile war endlich etwas Besonderes geschehen. Sie konnten stolz auf den Erfolg sein. Es wurde gesungen, und der Nabiz floß in Strömen. Rahud bemühte sich, ein paar jungen Adligen den traditionellen Fallajitanz beizubringen. Die Knaben hatten kein Gefühl für den Rhythmus, da 53
aber das Schwenken angespitzter Stäbe zum Tanz gehörte, nahmen sie mit Begeisterung teil. Mishra erzählte die Geschichte seines Fluges zum hundertsten Mal, und Tocasia wußte, daß sich jeder Junge und jedes Mädchen in Zukunft um die Möglichkeit, den Ornithopter zu fliegen, reißen würde. Urza hielt sich am Rande des Feuers auf und vergnügte sich weder mit Trinken noch mit Tanzen oder Plaudern. Tocasia gesellte sich zu ihm. »Amüsierst du dich?« wollte sie wissen. »Sicher«, antwortete er mürrisch. »Ich finde, wir sollten die Stäbe auf Schäden überprüfen. Und wenn wir eine größere Kabine bauen...« »Morgen«, versprach sie ihm. »Du bist jung genug für unzählige >Morgen<. Du solltest heute abend feiern.« »Ich beschäftige mich lieber mit Maschinen« antwortete er und sah zu seinem Bruder hinüber, der inmitten zahlreicher Arbeiter und Studenten auf der anderen Seite des Feuers hockte. Tocasia hatte den Eindruck, daß er seine Geschichte bei jeder Erzählung ein wenig mehr ausschmückte. »Es gibt auch noch andere schöne Beschäftigungen«, meinte sie und folgte seinem Blick. »Dein Bruder scheint das entdeckt zu haben.« Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Urza: »Ich hatte nichts dagegen, daß Mishra geflogen ist.« »Das habe ich auch nicht behauptet«, erklärte Tocasia. »Es ist nur so, daß jedes Gerät, das zum erstenmal ausprobiert wird, darunter leidet. Wir hätten es gründlich überholen sollen, ehe er sich in die Luft wagte.« »Selbstverständlich«, pflichtete sie mit ruhiger Stimme bei. »Er hätte sich verletzen können, auch wenn man einmal von seiner Waghalsigkeit absieht«, fuhr Urza fort. »Ja,« Tocasia sah ihn prüfend an. »Aber erzähle das 54
einem jungen Mann, der es seinem Bruder gleichtun möchte.« »Ich bin einfach vorsichtig.« »Wärest du auch so vorsichtig gewesen, wenn du nicht als erster geflogen wärest?« fragte die Forscherin. Urza antwortete nicht, sondern starrte über die Flammen hinweg zu Mishra hinüber.
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KAPITEL 3
Koilos Mishra hatte recht: Westlich des Lagers befanden sich
Bilder im Wüstensand. Es handelte sich um riesige Figuren, die man aus dunkler Erde geformt hatte und die sich deutlich vom hellen Untergrund abhoben. Am besten waren die Umrisse aus der Luft zu erkennen. Tocasia hatte schon früher Expeditionen in diesem Gebiet geleitet, ehe sie sich für den derzeitigen Lagerplatz entschied, aber nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, daß es sich bei der dunkleren Erde um Bestandteile von Thranbildem handeln könnte. Die Darstellungen waren sehr vielfältig. Es gab die verschiedensten menschenähnlichen Gestalten, von denen jede ein Thran hätte sein können. Außerdem waren zahlreiche Tiere zu sehen: Hirsche, Elefanten und Kamele. Dazwischen standen geometrische Symbole - Kurven, Spiralen und rechte Winkel, die einander überkreuzten und berührten, andere Zeichnungen halbierten und wieder andere unberührt ließen. Gekritzel, dachte Tocasia, von Wüstenriesen in den Sand gemalt. Selbstverständlich stammten die Bilder von den Thran, wie Mishra richtig vermutet hatte. Sie gruppierten sich um einen größeren Hügel herum, der sich als Fundgrube für Artefakte erwies, unter denen sich auch ein fast vollständig erhaltenes Su-chi-Skelett befand. So erfüllte sich endlich Tocasias Traum, eines der rätselhaften Wesen zusammensetzen zu können. Sie entdeckten auch die Überreste einiger Ornithopter. Allerdings rückten sowohl die Vögel als auch das Skelett in 56
den Hintergrund, als man im Mittelpunkt des Hügels auf einen wahren Schatz von Kraftkristallen stieß. Etliche waren beschädigt oder erloschen, aber dennoch gab es mehr als genug Steine; glitzernde und funkelnde Juwelen, deren inneres Feuer sie in allen Regenbogenfarben erstrahlen ließ. Sie waren so zahlreich, daß Tocasia genug für ihre Forschungen behalten und überzählige Stücke an andere Gelehrte und vornehme Familien in Penregon, die ihre Arbeit unterstützten, verschicken konnte. Das wiederum erregte bei den Adligen so viel Aufsehen, daß Tocasia in der Lage war, ein zweites Lager an dem von Mishra entdeckten Artefaktenhügel aufschlagen zu lassen. Die Zeichnungen in der Wüste hatten sie durch Beobachtungen aus der Luft gefunden. Auf die gleiche Weise stießen sie auch auf ähnliche Plätze, wenngleich keiner von ihnen so groß und so unversehrt wie der erste war. In weitem Bogen zogen sie sich von den Kherhügeln aus in die Wüste hinein. Auf einigen Zeichnungen waren bekannte Lebewesen zu erkennen, auf anderen dagegen nicht. Alle rankten sich in kreisförmigen Mustern oder Zickzacklinien um einzelne Hügelkuppen herum, die beschädigte Artefakte und Kraftsteine enthielten. In den folgenden beiden Jahren entdeckten die Forscher fast zwanzig solcher Hügel. Noch immer hatten Tocasia und die Brüder auf die wichtigsten Fragen keine Antworten gefunden. Niemand hatte bisher Skelette der Thran oder bildliche Darstellungen ausgegraben. Die Archäologin fand auch nichts, was Aufschlüsse über die Sprache gegeben hätte, nur ein paar Bruchstücke mit Zeichen und Zahlen. Es war zur Gewohnheit geworden, daß Tocasia, die Brüder und die älteren Studenten während der abendlichen Mahlzeiten über die Thran diskutierten. »Es müssen Menschen gewesen sein«, behauptete 57
Urza einmal. »Alles, was wir gefunden haben, kann von menschenähnlichen Wesen benützt werden. Wahrscheinlich handelte es sich um einen besonders erfolgreichen Zweig der frühen Fallaji, der die übrigen mit Hilfe seiner außergewöhnlich fortschrittlichen Wissenschaft beherrschte. Die heutigen Fallaji machen aus ihren Vorfahren göttergleiche Wesen.« »Die Tatsache, daß wir mit ihren Artefakten und Werkzeugen umgehen können, beweist überhaupt nichts«, widersprach Mishra. »Auch Zwerge oder Elfen könnten sie handhaben. Oder Minotauren.« »Minotauren sind viel zu groß«, entgegnete Urza. »Ihre Hände wären für die Bedienung der meisten Maschinen zu klobig.« »Minotauren hätten Befehle erteilen können, die von Menschen ausgeführt werden mußten«, gab Mishra zurück. Tocasia fiel auf, daß der jüngere der beiden seinem Bruder selbst bei den geringfügigsten Anlässen widersprach. »Stellt es euch doch einmal vor«, fuhr Mishra fort. »Minotauren herrschen über die Thran, und Menschen sind nur zweitklassige Wesen. Es ist wie bei den Orks: Die Großen regieren, und die kleinen Goblins müssen die harte Arbeit tun.« »Wir haben keine Minotaurenüberreste gefunden«, sagte Urza kühl. »Wir haben auch keine menschlichen Überreste gefunden«, meinte Mishra und hob das mit Nabiz gefüllte Glas, um sich auf Grund seiner logischen Feststellung zuzuprosten. Tocasia lehnte sich in ihrem Sessel zurück (vor kurzem aus der Hauptstadt eingetroffen - ein bequemes, gut gepolstertes Möbelstück) und ließ die beiden reden. Dieses Streitgespräch wiederholte sich seit vielen Jahren mindestens einmal im Monat. Es endete immer auf die gleiche Weise: Sie mußten zugeben, daß sie nicht genug wußten. Dieses Eingeständnis schien
beide jungen Männer immer wieder aufs neue zu bedrücken. In den letzten Jahren hatten sich die Brüder verändert. Urza war dünner als je zuvor, obwohl er endlich recht breite Schultern bekommen hatte. Er hatte ein glattes Gesicht und war stolz darauf, sein Temperament zügeln zu können und nicht mehr in die Wutausbrüche seiner Kindheit zu verfallen. Mishra dagegen war immer noch so impulsiv wie am Tag seiner Ankunft im Lager. Der spärliche dunkle Bart, der seinen lächelnden Mund einrahmte, hatte sein Aussehen verändert. Die älteren Studenten, die mit am Tisch saßen, lauschten der Auseinandersetzung, mischten sich aber nicht ein. Inzwischen waren Urza und Mishra älter als die meisten Schüler, und in wenigen Jahren würden sie zu den Erwachsenen zählen. Die vornehmen jungen Leute lernten schnell, daß jegliche Meinungsäußerung bei diesen Disputen zur Folge hatte, daß sich beide Brüder sofort gegen den Sprecher wandten. Tocasia war stolz auf die Jungen und ihre Erfolge, und die beiden waren ihr treu ergeben. Aber immer wieder stritten sie über dieses besondere Thema und kamen nicht weiter. Niemand kannte die wahre Natur der Thran. Als die Stimmen der Brüder immer schriller wurden, beugte sich die Forscherin vor, um die Widersacher abzulenken. »Und warum nicht?« fragte sie. Verwirrt blinzelnd schauten sie zur ihr herüber, und sie wiederholte: »Warum haben wir keine Überreste gefunden - ob menschliche oder andere?« »Aasfresser«, antwortete Mishra sofort. Urza gab einen ungehörigen Laut von sich. »Und warum fanden wir keine Überreste der Aasfresser?« fragte er spöttisch. »Bei den Ausgrabungen 59
sind wir auf keinerlei Knochen gestoßen. Es müßten aber welche da sein, auch wenn sie nur durch Zufall zwischen die Artefakte geraten sind.« »Und du hast sicher eine entsprechende Theorie, was, Bruder?« fragte Mishra. »Eine Seuche«, antwortete Urza ruhig. »Es kam eine Seuche über sie, die nicht nur die Thran auslöschte, sondern auch ihre Überreste vernichtete. Das erklärt auch, weshalb die Artefakte so weit verstreut herumliegen.« Mishra schüttelte den Kopf. »Keine Seuche. Krieg! Bei einer Krankheit bleibt rätselhaft, wieso keinerlei Kunstgegenstände zu finden sind. Bei einem Krieg nicht. Die Sieger verbrannten alles: Gemälde, Bücher und Körper. Dann zerstörten sie alles übrige. Wir haben bei den Ausgrabungen immer wieder Feuerstellen gefunden.« »Die stammen aus Werkstätten und haben nichts mit einem Krieg zu tun«, entgegnete Urza. »Und wenn du recht hättest: Was wurde aus den Siegern?« »Sie wurden Aasfresser«, erklärte Mishra triumphierend und setzte das Glas ab. »So muß es gewesen sein. Eine menschliche Sklavenrasse vernichtete die Minotaurenherren und ging unter, da sie keinen Zugang zu den Wissenschaften ihrer ehemaligen Beherrscher hatte.« Urza lachte. »Eine hervorragende Theorie! Jeder Punkt stützt sich auf einen anderen fragwürdigen Punkt als Beweis, der voraussetzt, daß du an das glaubst, was du eigentlich zu beweisen trachtest. Warum, lieber Bruder, haben diese überlebenden Aasfresser nach dem Krieg keine Kunstwerke geschaffen?« Mishra runzelte die Stirn und dachte nach. »Sie waren nicht kultiviert genug«, meinte er schließlich. »Daher gibt es keine Kunstwerke aus dieser Zeit.« »Außer den Bildern in der Wüste«, sagte Urza. 60
»Außer den Bildern in der Wüste«, stimmte Mishra zu. »Es sind aber keine«, meinte Urza, und die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. Mishra schüttelte verwirrt den Kopf. »Es sind keine Bilder? Sie können aber nicht auf natürliche...« »Es handelt sich nicht um Kunst«, unterbrach ihn Urza. »Sicher, bei den menschlichen Gestalten könnte es so sein; vielleicht sind es auch nur Bilder anderer Rassen, die den Thran einst begegnet sind. Aber die Linien, Winkel und Kritzeleien haben nichts mit Kunst zu tun. Es sind Anweisungen.« Jetzt sah auch Tocasia Urza gespannt an. Was hatte er nun wieder entdeckt? Urza stand auf und ging wortlos davon. Er kehrte mit einer Karte des Gebietes zurück, die er auf dem Tisch ausbreitete. Hastig sprangen die Studenten auf, um die Reste des gekochten Hasen und der Honigmelone zu retten, die sonst unter dem Pergament verschwunden wären. Auf der Karte waren die neu entdeckten Ausgrabungsorte eingezeichnet. »Hier liegen die verschiedenen Thranstützpunkte, die wir kennen«, sagte er und tippte auf die Karte. Er ließ den Finger von Punkt zu Punkt gleiten und beschrieb einen weiten Bogen. »An jedem Platz scheinen die seltsamen Winkel und Linien in eine Richtung zu weisen. Vom zweiten Lager aus zeigen sie nach Nordwesten.« Der blonde Mann zog einen Stift aus der Tasche und zeichnete mit geübter Hand eine Linie in nördlicher Richtung ein. »Am nächsten Ort, weiter westlich, zeigt der größte Teil der Symbole ebenfalls in eine bestimmte Richtung, die diesmal ein wenig mehr nach Norden führt«, erklärte er und zog eine zweite, schnurgerade Linie. »Und am nächsten weisen uns die Zeichen den fast direkten Weg nach Norden. Dann folgen Hinweise mit leicht nordöstlicher Nei61
gung und immer so weiter.« Er zog neue Striche auf der Landkarte. Dann trat er einen Schritt zurück, damit alle Studenten besser sehen konnten. Die Ausgrabungsorte beschrieben einen Bogen, wie ihnen bereits bekannt war, aber die Striche, die Urza gezogen hatte, wiesen in eine gemeinsame Richtung: in den Mittelpunkt eines Kreises, dessen Umriß durch die Artefaktenfundorte verdeutlicht wurde. »Die Thran waren kein künstlerisches Volk«, sagte er und sah seinen Bruder an. »Warum also sollten sie Bilder in den Wüstensand malen? Die Antwort lautet: Das taten sie gar nicht. Sie hinterließen Anweisungen. Es waren Hinweise, wo sich ihre größten Siedlungen befanden. Wir haben die Bilder gesehen, die wir verstanden, und beachteten die Symbole nicht, weil wir nichts mit ihnen anfangen konnten. Aber die Zeichen sind wichtig.« Mishra beugte sich mit düsterer Miene über die Karte. »Striche auf einem Pergament!« schnaubte er verächtlich. »Du hast den Bogen gesehen, die Mitte berechnet und in den Fundorten der Artefakte nach Bestätigung gesucht.« »Also stimmst du meiner Theorie nicht zu, Bruder?« fragte Urza ruhig. Mishra lächelte, und die strahlendweißen Zähne schimmerten unter dem dunklen Bart. »Ich liebe deine Theorie! Sie ist hervorragend. Jeder Punkt stützt sich auf einen anderen fragwürdigen Punkt als Beweis, der voraussetzt, daß du an das glaubst, was du eigentlich zu beweisen trachtest! Die Theorie an sich liebe ich! Aber deine Schlußfolgerungen halte ich für falsch.« Urza rollte die Landkarte wieder zusammen. »Darf ich annehmen, daß du mich deshalb morgen auch nicht begleiten wirst, wenn ich der Sache auf den Grund gehe?« 62
Mishra zuckte zusammen, und auch Tocasia warf dem älteren Bruder einen durchdringenden Blick zu. »Mit Eurer Erlaubnis, Herrin, würde ich das Ganze gerne mit Hilfe eines Ornithopters überprüfen. Da mich mein Bruder nicht begleiten möchte, reicht mir einer der kleinen...« »Ich habe nie gesagt, daß ich nicht mitkomme!« unterbrach ihn Mishra heftig. »In werde auf jeden Fall dabeisein, und sei es nur, um dich daran zu hindern, Ruinen zu sehen, wo gar keine sind.« Urza nickte zufrieden. Dann duckte er sich, schlüpfte unter dem herabhängenden Baldachin hindurch und schritt durch das Dämmerlicht davon. »Ich muß mich vorbereiten!« rief er über die Schulter zurück. »Habt noch einen schönen Abend!« Die Zurückbleibenden schwiegen. Die Studenten mochten sich nicht zu Urzas Behauptungen äußern, und Tocasia mußte erst verdauen, was der junge Mann gesagt hatte. Nach einer Weile sprachen sie über alltägliche Dinge. Ein Student sagte, der jetzige Ausgrabungsort berge interessante Tafeln, auf denen Thranzahlen stünden. Ein anderer behauptete, seine Arbeit werde durch einen jungen Schüler aufgehalten, der in jedem gefundenen Stein ein wertvolles Artefakt einer uralten Rasse sah. Die jungen Leute lachten verhalten, und Tocasia gab eine Geschichte über eine Studentin zum besten, die vor einigen Jahren erklärt hatte, daß man ihrer Meinung nach auf Berggipfeln graben solle, denn wenn sie eine Thran gewesen wäre, hätte sie die kostbarsten Schätze dort versteckt. Mishra hockte schweigend am Feuer und strich sich über den stoppeligen Bart. Nach ein paar Minuten entschuldigte er sich und verließ die Gruppe. Er wandte sich nicht dem Zelt zu, das er mit Urza teilte, sondern ging zum Lager der Fallaji hinüber. Tocasia fiel auf, 63
wie besorgt er dreinblickte, aber sie dachte nicht weiter darüber nach. Am gleichen Abend, als das Essen abgeräumt worden war, brütete die Archäologin über den Einzelteilen eines Su-chi-Beins. Das Bein, das zu dem fast vollständigen Skelett gehörte, entsprach ganz und gar nicht Urzas oder Tocasias Erwartungen. Es sah aus, dachte sie, als wären die Beine verkehrt herum angebracht, so daß die Knie nach hinten zeigten. Hatten die Thran Gefallen an dieser Erfindung gefunden, oder handelte es sich um ein Abbild ihrer eigenen Körper? Ein Schatten tauchte im Zelteingang auf, und sie hob den Kopf. Ahmahl trat ein. Der alte Ahmahl, rief sie sich ins Gedächtnis. Das geflochtene Haar war grau geworden. In letzter Zeit hatte er sich über Altersbeschwerden beklagt. Tocasia wußte, daß er bereits Großvater war und das Lager in absehbarer Zeit verlassen wollte. Sie würde ihn vermissen, denn er verkörperte alles, was sie an den Fallaji bewunderte. Er war offen, direkt und ehrlich. Seiner ernsten Miene nach zu schließen, würde sie bestimmt eine geballte Ladung der letzteren Eigenschaft zu spüren bekommen. »Ich hörte, Eure jungen Männer wollen morgen in die Berge fliegen«, sagte er. Trotz vieler Jahre des Zusammenlebens mit Argivianern war der Wüstenakzent unverkennbar. »Woher...«, begann Tocasia, hielt aber inne, als ihr klar wurde, wer Ahmahl die Neuigkeit berichtet hatte. Mishra hatte ihn gewiß über den Artefaktkreis und seinen Mittelpunkt befragt. Und das hatte den alten Fallaji offensichtlich beunruhigt. Sie nickte und wies auf einen Klappstuhl. Der alte Anführer der Arbeiter ließ sich so vorsichtig nieder, als befürchte er, daß entweder der Stuhl oder er selbst zusammenbrechen würde. 64
»Urza glaubt, dort auf eine große Thransiedlung zu stoßen.« Ahmahl starrte auf den staubigen, verschlissenen Teppich zu seinen Füßen. »Ich halte es für eine schlechte Idee. Die Fallaji möchten es nicht.« Tocasia runzelte die Brauen. Nie zuvor hatten Ahmahl und seine Leute verbotenes Land erwähnt. Ganz im Gegenteil. Die meisten Dörfer, die sie besucht hatte, waren sehr stolz auf ihre Thranartefakte gewesen, mit denen sie zwar keinen Handel trieben, sie aber gerne herumzeigten. »Nicht alle Fallaji«, fuhr er fort. Er warf ihr einen schnellen Blick zu, als habe er ihre Gedanken erraten. »Die meisten von uns sind fortschrittlich und klug genug, um zu wissen, daß es in den Bergen nichts gibt, was es nicht auch in der Wüste gibt. Aber manche Leute sorgen sich wegen der Geister der Thran. Wegen ihres Herzens. Man sagt, das geheime Herz der Thran liege in den Bergen verborgen, und wir Fallaji halten uns von dort fern.« »Ahmahl«, sagte Tocasia sanft, »nie zuvor hast du das erwähnt oder dich wegen der Ausgrabungen beschwert.« »Weil sie in der Wüste stattfanden, und die Wüste gehört allen, die sie ertragen können«, sagte Ahmahl. »Die Fallaji beanspruchen das ganze Land, sind aber bereit, es mit jenen, die es achten, zu teilen. Das Hochgebirge ist gefährlich, und das liegt nicht nur an den dort lebenden Riesengreifen. Es gehört den Fallaji, aber wir gehen nicht dorthin. Und wir empfehlen niemandem, es zu betreten.« Auch Argivia beansprucht das Gebirge für sich, dachte Tocasia, sprach es aber nicht aus. Die meisten Argivianer lebten an der Küste, und die ausgedehnten Gebiete, die von den Herrschenden beansprucht wurden, waren nichts als Striche auf den Landkarten. 65
»Wenn wir ein Verbot mißachten...«, begann sie. Ahmahl hob die Hand. »Kein echtes Verbot, Herrin. Es ist ein Brauch. Ein Gebot. Die meisten Fallaji glauben nicht an die Geschichten ihrer Großmütter, manche dagegen doch, und sie werden Euch Schwierigkeiten bereiten. Mein Gehilfe, Hajar, glaubt an Dschinns, Ghule und die Riesendrachen, die Mak Fazvas, die bei Nacht umhergeistern.« »Ahmahl«, sagte Tocasia lächelnd, »du weißt, daß man ebensogut versuchen könnte, den Wüstenwind aufzuhalten, wenn man die beiden Brüder von einem einmal gefaßten Entschluß abbringen will. Sie werden sich auf die Suche machen. Und nun, da du mir deine Bedenken mitgeteilt hast, werde ich sie begleiten. Ich frage dich: Wenn wir etwas finden und es naher untersuchen möchten - wirst du uns begleiten und behilflich sein?« Ahmahl richtete sich vor Verblüffung kerzengerade auf. Tocasia hatte die Frage genau richtig formuliert. Sie barg einen versteckten Vorwurf, verlangte aber nach einer klaren Antwort. Er räusperte sich verunsichert, gewann aber schnell die Fassung wieder. »Ich werde dort sein, wo Ihr mich braucht«, antwortete er kühl. »Durch die Zusammenarbeit mit Euch habe ich mehr über die vergangenen Zeiten gelernt, als ich sonst je hätte erfahren können. Wir beide, Ihr und ich, haben viel zuviel Sand miteinander geschaufelt, um uns durch Ammenmärchen trennen zu lassen.« Tocasia gestattete sich ein winziges Lächeln, ehe sie den alten Mann mit ernster Miene anschaute. »Dann geh, und such diejenigen unter deinen Leuten aus, die an die alten Geschichten glauben, und jene, die sie nicht für bare Münze nehmen. Finde heraus, wer an Ausgrabungen in den Bergen teilnehmen würde. Fordere weder ihren Stolz noch ihren Mut heraus, denn dann werden auch jene kommen, die das Unterfangen 66
für ein Sakrileg halten. Ich weiß nicht, ob wir etwas finden, aber wenn es der Fall ist, gehen wir der Sache auf den Grund.« Ahmahl nickte und erhob sich. »Ich war sicher, daß Ihr keine Herausforderung scheut, Tocasia. In dieser Hinsicht seid Ihr wie ein Mann.« Respektvoll erhob sich auch Tocasia. »Und ich habe nie geglaubt, daß du mir wichtige Neuigkeiten unterschlagen würdest. Ich danke dir.« Ahmahl verneigte sich und verschwand. Kopfschüttelnd sah sie ihm nach, als sein Schatten mit den anderen Schemen des frühen Abends verschmolz. Ihr seid wie ein Mann, hatte er gesagt, und es als Kompliment gemeint. Auch nach all diesen Jahren war er noch immer ein typischer Wüstenbewohner. Dennoch war er bereit, die alten Geschichten zu verleugnen und ihr zu helfen. Wieder schüttelte sie den Kopf und wandte sich den Schwierigkeiten zu, die das Bein des Su-chi-Körpers barg. Am nächsten Morgen brachen sie auf. Sie packten genügend Proviant für drei Tage ein. Die Brüder nahmen ihre Begleitung ohne Widerspruch zur Kenntnis, und keiner der beiden schlug vor, sie solle im Lager bleiben. Tocasia übertrug Kantar, einem der begabtesten Studenten dieses Jahres, die Leitung des Lagers und gebot ihm, nicht mit Ahmahl oder Hajar zu streiten und alle größeren Entscheidungen und Dispute bis zu ihrer Rückkehr zu vertagen. Sie nahmen den Ornithopter, den sie vor vielen Jahren entdeckt und neu zusammengesetzt hatten. Inzwischen war die Kabine vergrößert worden und bot ausreichend Platz für drei Forscher und ihre Ausrüstung. Die Hebel, die in der Mitte der Kabine steckten, waren für beide Brüder gut zu erreichen. Die Kraft des Kri67
stalls war unerschöpflich, aber die der Menschen nicht. Nach ungefähr vier Flugstunden mußte der Pilot sich ablösen lassen. Vom Boden aus waren die Grenzen der großen Wüste nichts als staubbedecktes Ödland, mit zahlreichen Felsen übersät. Das Gebiet war unfruchtbar und wurde von den Küstenstaaten beansprucht, deren Grenzen häufig wechselten. Auch die Fallaji beanspruchten das Land, meldeten sich aber nur zu Wort, wenn sie dadurch den Kaufleuten oder Forschern Geld aus der Tasche ziehen konnten. Die ganze Gegend wirkte verlassen und unwirtlich. Aus der Luft sah alles völlig anders aus. Aus den Berggipfeln wurden stumme Wächter, die den Lauf der Zeit beobachteten. Die tiefen und unpassierbaren Schluchten verwandelten sich in Regenbogen aus buntem Granit und Sandstein. Die ausgetrockneten Seen wurden zu schimmernden Salzflecken. Der Wüstenwind zerrte an den Spanndrähten des Ornithopters, während sie mühelos nach Norden flogen. Saß Urza am Steuer, nahmen sie den geraden Kurs, den er berechnet hatte. Hin und wieder bat er Mishra, die Richtung zu überprüfen. Jedesmal, wenn er Landkarte, Kompaß und die Sonne betrachtet hatte, erklärte der jüngere Bruder, alles sei in bester Ordnung. Und jedesmal nickte Urza, als habe er mit keiner anderen Auskunft gerechnet. Wenn Mishra am Steuer saß, blieben sie zwar auf nordwestlichem Kurs, flogen aber immer wieder ein wenig nach Süden oder Osten. Erspähte er etwas Interessantes, steuerte er geradewegs darauf zu, bis Urza ihn warnte, den Kurs nicht zu verlieren. Dann seufzte Mishra und lenkte den Ornithopter wieder in die ursprüngliche Richtung. Manchmal mußten sie auch die Flügel in Bewegung setzen, um verlorene Höhe wiedergutzumachen. Dann überprüfte Urza sie minde68
stens dreimal, um sich von ihrer Unversehrtheit zu überzeugen. Einmal überflogen sie neue Zeichen. Diesmal handelte es sich nicht um Darstellungen von Wesen, sondern nur um Spiralen und Winkel, die nebeneinander standen. Sie deuteten in die Richtung, die Urza berechnet hatte. Am Abend des ersten Tages landeten sie auf einem besonders hohen Tafelberg. Außerhalb des Schutzes von Palisaden und Katapulten wagten sie kein Feuer zu entzünden und schliefen in der Kabine des Ornithopters. Obwohl Tocasia während des Fluges die Hebel nicht bedienen mußte, war sie sehr erschöpft. Das blecherne Klirren der Drähte im Wind verursachte ihr Kopfschmerzen. Sie fiel in einen traumlosen Schlummer und erwachte am anderen Morgen mit steifen Gliedern. Die jungen Männer waren bereits draußen. Urza reckte sich, und Mishra machte ein paar Kniebeugen. Nach einem kalten Frühstück brachen sie auf. Die Thransiedlung, die Ahmahl als das >geheime Herz< bezeichnet hatte, war aus der Luft nicht zu übersehen, wenngleich sie zu Fuß nur schwerlich zu erreichen wäre. Sie lag am Ende einer langen gewundenen Schlucht, die sich nach Westen zog, über dem Bett eines längst ausgetrockneten Flusses, der den niedrigen Tafelberg gespalten hatte und die Ruinen umgab. Und Ruinen waren es in der Tat. Lange Reihen geborstener Fundamente und eingestürzter Mauern. Ein paar Ruinen erinnerten Tocasia an argivianische Herrenhäuser. Andere ähnelten den Zwiebelkuppeltempeln des fernen Tomakul. Wieder andere unterschieden sich vollkommen von allen den drei Forschern bekannten Bauwerken. Es handelte sich um scheinbar planlos errichtete Metallgerüste, mehrere Stapel Steinplatten mit gezackten Rändern, von denen jede mannshoch war, und ein Gewirr von blauen, ineinander 69
verschlungenen Drähten. An der gegenüberliegenden Schluchtwand klebte etwas, das wie ein Nest voller zerbrochener Bronzespinnen aussah. Die Ruinen lagen größtenteils unter einer dicken Sandschicht verborgen, die der Wind aus der Wüste herübertrug. »Zweifelst du noch immer an meinen Berechnungen, Bruder?« fragte Urza lächelnd. »Nur ein Narr würde seinen Augen nicht trauen. Gut gemacht, Bruder!« lobte ihn Mishra mit breitem Grinsen. »Das geheime Herz der Thran«, murmelte Tocasia. Mishra zuckte zusammen, und sein Gesicht wurde ernst, aber Urza nickte zustimmend. »Das alte argivianische Wort für Geheimnis ist >Koilos<«, sagte er. »So wollen wir diesen Ort nennen. Laß uns eine große Runde drehen, Bruder. Von oben können wir alles am besten sehen.« Mishra nickte und betätigte die Hebel. Plötzlich fiel ein Schatten über den Ornithopter. Es hätte eine Wolke sein können, aber der Himmel war klar und unbedeckt. Tocasia wußte, was auf sie zukam. Im gleichen Augenblick, als sie einen Warnschrei ausstieß, lenkte Mishra den Vogel im Sturzflug in die Tiefe. Urza war nicht darauf gefaßt und fluchte lautstark, als er gegen die Kabinenwand geschleudert wurde. Der Greif segelte an der Stelle über sie hinweg, an der sich Sekunden zuvor der Ornithopter befunden hatte. Es handelte sich um ein riesiges Exemplar seiner Gattung, von der die alten Legenden berichteten, sie sei in der Lage, ganze Elefanten zu packen und als Abendessen in den Hort zu tragen. Der Greif war dreimal so groß wie der Ornithopter, und der Luftzug brachte die Maschine gefährlich ins Schwanken. Der Greif kehrte zurück und machte sich zum Angriff bereit. 70
»Warum attackiert er uns?« schrie Urza. »Wir sind groß, und wir bewegen uns!« antwortete Tocasia, die gegen den Wind anschreien mußte. »Wahrscheinlich hält er uns für einen fremden Greifen!« Mishra fluchte und zog die Hebel so weit wie möglich zurück. »Ich glaube kaum, daß wir über ihn hinweg fliegen können. Er ist viel zu schnell für uns!« Wieder schwebte der Raubvogel über ihnen und setzte zum Sturzflug an. Mishra löste die Flügelsperre und lenkte die Maschine nach links, aber damit hatte der Greif gerechnet. Er vollführte eine leichte Drehung, auf der rechten Seite erklang ein ohrenbetäubendes Reißen, und Tocasia sah, daß einer der Holzstäbe des Flügels losgerissen worden war und nun heftig hinund herschlug. Besser, als würde der ganze Flügel fehlen, dachte Tocasia. Aber es reichte, um sie zu behindern. »Wir schaffen es nicht!« brüllte Mishra. »Ich setze zur Landung an!« »Da drüben!« rief Urza und wies auf das Nest mit den zerbrochenen Metallspinnen. »Ich glaube, in der Felswand befindet sich ein Loch.« »Das schaffen wir nicht!« schrie Mishra erneut und zerrte erst an dem einen, dann an dem anderen Hebel, während er versuchte, den Vogel abzuschütteln. »Das kommt, weil du wie ein Vogel zu fliegen versuchst!« fauchte Urza, stieß seinen Bruder beiseite und übernahm die Steuerung. »Fliege das Ding wie eine Maschine, dann werden wir es schaffen!« Jetzt, da Urza den Ornithopter lenkte, flog er nicht mehr im Zickzack, sondern sauste geradewegs voran, über die Ruinen von Koilos hinweg. Der Greif, dessen schlichtes Gehirn erwartete, daß sich der Ornithopter wie ein Vogel benahm, ging davon aus, der Gegner werde entweder kehrtmachen oder ausweichen. Er zögerte, die Verfolgung aufzunehmen. Seine Unent71
schlossenheit bescherte den Flüchtenden die Zeit, die sie brauchten. Urza steuerte auf die Felswand zu. Mishra schrie vor Angst. Tocasia erinnerte sich plötzlich an ein Gebet, das sie als Kind in der Tempelschule Argivias gelernt hatte, als Tempel noch in Mode waren. Während die Wand immer näher kam, murmelte sie die Worte vor sich hin. Urplötzlich riß Urza den Ornithopter herum, und der Bug hob sich. Er löste den Mechanismus, der die Flügel in Position hielt, und sie falteten sich zusammen. Ohne diesen Halt fiel die Maschine senkrecht in die Tiefe. Wieder fegte der Greif durch die Luft, wo sich Sekunden zuvor der Gegner befunden hatte. Urza ließ die Maschine ungefähr fünfzig Fuß tief fallen, ehe er die Sperre erneut betätigte. Sofort breiteten sich die Flügel wieder aus, fingen den Wind ein und verlangsamten den Fall. Dennoch landeten sie recht unsanft im Sand. Wären sie auf felsigen Boden geprallt, wären die meisten Flügelstreben zerbrochen - und gewiß auch unsere Knochen, dachte Tocasia. Urza löste die Sperre, und die Flügel falteten sich wieder zusammen. Nur der beschädigte Holzstab stand in einem seltsamen Winkel ab. Tocasia steckte den Kopf aus der Kabine und suchte den Himmel ab. »Er wird zurückkommen«, sagte sie. »Dann sollten wir nicht mehr hier sein.« »Wir können aber nicht sofort wieder aufsteigen«, wandte Urza ein. »Vielleicht lauert er irgendwo. Außerdem muß der Stab erst zusammengeflickt werden. Sehen wir uns das Loch in der Felswand einmal genauer an. Bist du unverletzt, Bruder?« »Als ob dich das interessiert!« brüllte Mishra, und Tocasia wandte sich hastig um, da sie befürchtete, der junge Mann sei verletzt. »Ich wußte, was ich tat! Du hättest dich nicht einmischen dürfen!« 72
Urza blinzelte und verzog das Gesicht. Die Besorgnis war durch Zorn ersetzt worden. »Du hast ein Spiel getrieben und bist wie ein Greif geflogen! Natürlich hätten wir es so nie schaffen können. Wir sind nur in Sicherheit, weil ich...« »In Deckung!« befahl Tocasia. »Streiten könnt ihr später. Nehmt Fackeln und Wasser mit. Vielleicht müssen wir bis zum Einbruch der Dunkelheit dortbleiben.« Die Brüder schwiegen und widersprachen nicht. Sie kletterten hinter ihr die Sandbank hinauf und rannten, so schnell sie konnten, als der Schatten des Greifes über sie fiel. Tocasia erreichte den Höhleneingang als erste. Sie sah zum Himmel hinauf. Der Greif kreiste hoch über der Schlucht. »Beim nächstenmal müssen wir Katapulte mitnehmen«, sagte sie. »Wenn wir eine Möglichkeit finden, sie mit dem Ornithopter zu befördern«, fügte Mishra hinzu. »Sicher müssen wir eine Weile hierbleiben«, meinte Urza. »Sollen wir nachsehen, ob diese Höhle weiter in den Berg hineinführt?« Das Loch in der Felswand war ein Eingang. Während der ersten zehn Schritte berührten ihre Füße felsigen Boden, aber dann folgte ein Gang, der aus glattem Granit bestand. Tocasia ließ die Hände über die Wand gleiten. Sie war aus einzelnen Blöcken zusammengesetzt worden, deren Fugen dem Betrachter verborgen blieben und nur durch eine Berührung als Einzelteile entlarvt werden konnten. Sie stieß einen leisen Pfiff aus. Bei den Ausgrabungen verschiedener Thranruinen war sie noch nie auf derartig hervorragende Handwerksarbeit gestoßen. Mishra, der hinter ihr ging, hatte die Fackeln angezündet. Die rauchenden Flammen spendeten nur wenig Licht, aber es war besser als gar keines. 73
»Wie gut, daß du diese Öffnung bemerkt hast«, sagte Tocasia zu Urza. »Das war nicht schwer«, antwortete der junge Mann. »Die Lage der Gebäude ließ auf Straßen schließen, die ausnahmslos von dieser Stelle ausgingen. Hier liegt der Mittelpunkt des geheimen Herzens der Thran.« »Das Herz des Herzens«, wisperte Tocasia. Sie unterhielten sich nur noch im Flüsterton, als fürchteten sie, ihre Worte würden die Verstorbenen wecken. Tocasia versuchte, die Stimme zu heben, aber die beeindruckende Umgebung hinderte sie daran. Mishra untersuchte den vor ihnen liegenden Gang. »Hier gibt es keine Lebewesen. Seht nur, wie staubig es ist. Außer unseren gibt es keine Fußabdrücke.« Urza hielt die Fackel in die Höhe, deren Licht von den Wänden zurückgeworfen wurde. »Auch keine Fledermäuse. Hier war seit Urzeiten niemand mehr.« Die beiden sahen Tocasia an. »Also gut«, meinte sie schließlich. »Gehen wir. Bleibt aber unbedingt beisammen und weicht nicht vom Weg ab.« Letzteres erwies sich als unnötige Sorge, denn die wenigen Öffnungen zu beiden Seiten des Ganges stellten sich als kleine Nischen heraus, und der Gang führte immer tiefer in den Berg hinein. Sie mußten ein paar Treppen überwinden und ein oder zwei große Höhlen durchqueren, aber nichts ließ auf lebende oder tote Bewohner schließen. Leblose Kristalle schmückten die Decke über ihren Köpfen. Sie warfen das Licht der Fackeln zurück, strahlten aber kein eigenes aus. Die ersten Nischen waren leer, aber als sie weiter in, den Berg vordrangen, fiel Tocasia auf, daß einige Su-chi-Überreste enthielten. Es waren verrostete Relikte, kaum besser erhalten als jene, die sie bei den Ausgrabungen entdeckt hatte. Manche bestanden nur aus Torsos, deren obere Hälften im Laufe der Zeit verlorengegangen oder Grabräubern in die Hände ge74
fallen waren. Befriedigt stellte sie fest, daß die Knie dieser Wesen tatsächlich nach hinten zeigten. Sie erreichten eine Treppe, die in die Tiefe führte, als sie es hörten - oder besser gesagt, fühlten. Die Steine schienen ein dumpfes Dröhnen auszustoßen, als summe die Erde ein ihnen unbekanntes Lied. Tocasia sah zu ihren Begleitern hinüber. Die beiden starrten einander an, und die alte Archäologin mußte daran denken, wie sie sich anscheinend wortlos verständigen konnten. Dann wandten sich die Brüder ihr zu und nickten. Sie gingen die Treppe hinab. Aus der Tiefe drang ein Lichtschein. Es war nicht mehr als ein grauer Fleck in der Finsternis, der mit jedem Schritt heller wurde. Entlang der Wände gab es keine Su-chi-Nischen mehr. Am Fuß der Treppe betraten sie einen großen Raum, ähnlich den Höhlen, die sie unterwegs durchquert hatten. Die Wände bestanden aus natürlichem Fels, wurden aber durch uralte Stahlsäulen und Pfeiler gestützt, die aus den großen Granitblöcken gefertigt worden waren, die Tocasia schon vorher bemerkt hatte. Entlang der Wände standen zahlreiche Maschinen. Sie stammten eindeutig aus der Thranzeit, unterschieden sich aber in einem Punkt deutlich von ihren bisherigen Funden. Sie waren völlig funktionstüchtig. Die Zahnräder glänzten, waren gut geölt und ihre Oberflächen so stark poliert, daß man sich darin spiegeln konnte. Es sah aus, dachte Tocasia, als seien die Thran erst vor wenigen Augenblicken weggegangen. Es war hell in der Höhle. Die Kristalle in der Decke strahlten ihr sanftes Licht aus. Helle Lichtbälle umkreisten ein paar Maschinen wie kleine Monde einen Planeten. Aber das alles wurde von dem riesigen Kristall im Mittelpunkt des Raumes überstrahlt. Es war ein unversehrter Kraftstein, dem das Alter 75
nichts hatte anhaben können. Seine Flächen waren glatt und glänzend und die Kanten scharf genug, um damit selbst den Stoff, aus dem die Träume sind, zu durchtrennen. Er war so groß wie zwei menschliche Fäuste. Dennoch mußte Tocasia bei seinem Anblick sofort an zwei Herzen denken, da er aus eigener Kraft zu pulsieren schien. Er funkelte in allen Farben des Regenbogens, wie er da so stark und kraftvoll vor ihr lag. Der Kristall ruhte auf einer niedrigen Plattform, von zwei Spiegeln eingerahmt, die mit langen Drähten an verschiedenen Maschinen angeschlossen waren. Die Archäologin überlegte, ob der Kraftstein nur für das Licht verantwortlich war, die Maschinen antrieb oder vielleicht eine ganz andere Funktion hatte. Vor der Plattform stand eine Metallbank, der man die Form eines riesigen geöffneten Buches verliehen hatte. Die Seiten bestanden aus Glas und Metall, und das Glas funkelte wie ein bösartig blickendes Auge. Dergleichen hatte Tocasia nie zuvor erblickt. Sie vermutete, diese Schöpfung sei gegen Ende der Thranzeit entstanden. Vielleicht war das, was sie so liebevoll ausgegraben und bearbeitet hatte, nichts weiter als die Schrottplätze der Thran gewesen, wo man die uralten und wertlosen Geräte entsorgt hatte. Sie starrte den Kristall an, während die beiden jungen Männer darauf zugingen, als ziehe er sie magisch an. Sie verhielten vor dem Buch, gegen dessen Pracht und Übergröße sie wie Kinder wirkten. Ihre Stimmen wurden von den Höhlenwänden zurückgeworfen und übertönten das dumpfe Summen, das den Raum erfüllte. »Er ist wunderschön«, sagte Mishra. »Sieh nur, wie er leuchtet.« »Er ist völlig unbeschädigt«, meinte Urza. »Stell dir vor, was wir alles erfahren werden.« »Diese Zeichen hier sehen wie die Thranglyphen 76
aus, die wir gefunden haben.« Mishra deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Seiten des Buches. »Aber sie sind viel ausführlicher. Viel fortgeschrittener.« »Nichts anfassen!« rief Urza und streckte die Hand aus, um den Bruder zurückzuhalten. »Wir wissen nicht, was alles passieren kann!« Tocasia vermochte nicht zu sagen, welcher der Brüder für die folgenden Ereignisse verantwortlich war. Sie wußte nicht, wer die Zeichen berührt oder ob es überhaupt jemand getan hatte. Keiner der beiden gab es später zu, und jeder beschuldigte den anderen, die Katastrophe verursacht zu haben. Tocasia sah nur, daß Urzas Hand vorschnellte, um seinen Bruder aufzuhalten, und im gleichen Augenblick wurde das Leuchten stärker und greller. Eine lautlose Explosion folgte, und der riesige Kraftstein, das Herz des geheimen Herzens, zersplitterte in einem gewaltigen Funkenhagel.
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KAPITEL 4
Visionen Tocasia sah Folgendes:
Der Kraftstein, der im Mittelpunkt der Höhle lag, glühte vor Helligkeit, und sein eigenes Feuer schien ihn zu verzehren. Er leuchtete, als habe sich ein Sonnenstrahl losgerissen und befinde sich hier im Inneren des Berges. Unwillkürlich riß Tocasia die Arme hoch, um ihre Augen zu schützen, aber schon waren die beiden Brüder nur noch undeutlich zu erkennen. Sie rief ihre Namen, aber ihre Stimme verhallte im Krachen der Explosion ungehört. Und eine Explosion war es, obwohl jeglicher Lärm auf Schallwellen übertragen wurde, die kein menschliches Ohr zu hören vermochte. Die Höhle durchlief ein Beben und rüttelte jeden einzelnen ihrer Knochen durch. Es fühlte sich an, als drücke sie die Hand eines Riesen zu Boden. Dann wurde ihr ganzer Körper von diesem Druck erfüllt und hielt sie auf den Beinen. Es war so heiß, als stünde sie inmitten eines Schmiedefeuers. Die Hitze verschwand jedoch ebenso schnell, wie sie gekommen war. Zum Schluß verspürte sie einen heftigen Windstoß im Rücken, als bemühe sich die Welt, die eben gerissene Lücke mit aller Macht zu füllen. Die unerwartete Wucht des Windes ließ sie taumeln und auf die Knie fallen. Nach einer Weile gelang es Tocasia, sich mit Mühe zu erheben. Ihre alten Knochen protestierten heftig, und ihre Augen brannten noch immer von der plötz78
liehen Helligkeit des Kristalls. Als sie sich umsah, war der Stein verschwunden, und das dumpfe Dröhnen, das vorher die ganze Höhle erfüllt hatte, war verstummt. Tocasia blinzelte hilflos. Allmählich konnte sie wieder besser sehen. Zuerst nur ihre unmittelbare Umgebung, und auch die nur verschwommen. Sie wischte sich über die tränenden Augen, und endlich klärte sich ihr Blick. Die Plattform war leer. Der Kraftstein war wirklich verschwunden. Die beiden jungen Männer lagen am Boden, versuchten aber, sich aufzurichten. Anscheinend war keiner von ihnen ernstlich verletzt. Allerdings bewegten sie sich wie uralte Greise, die Angst hatten, sich beim Aufstehen die Knochen zu brechen. Erst dann fiel der Forscherin auf, daß der Kristall nicht verschwunden war. Er war in zwei Hälften zersprungen, und jeder Bruder hielt eine Hälfte in der linken Hand. Es wurde heller in der Höhle, und Tocasia horte das Stampfen metallener Füße auf dem Steinboden. Urza sah folgendes: Er wollte Mishra aufhalten, aber es war zu spät. Ein greller Lichtstrahl verschlang sie beide. Das letzte, was er deutlich erkennen konnte, war das überraschte Gesicht des Bruders, dessen Bart den weit geöffneten Mund einrahmte. Stieß er einen Fluch oder eine Warnung aus? Urza hörte es nicht, und plötzlich hüllte ihn die Helligkeit vollends ein. Dann befand er sich an einem unbekannten Ort. Er schwebte. Er flog über eine Gegend, die er nie zuvor gesehen hatte. Der Erdboden bestand aus zerfressenen Metallkabeln, die einander immer wieder kreuzten, bis sie schließlich einen dicken, eng gewobe79
nen Teppich bildeten. Riesige Getrieberäder bahnten sich ihren Weg durch das Geflecht; sie drehten sich nur langsam und kämpften mit den unzähligen Drähten. Kupferfarbene Schlangen glitten hin und her. Erst nach einer Weile merkte Urza, daß es nur Kabel waren, die sich blind einen Durchschlupf suchten. Er sah große runde Platten, die wie seitlich gedrehte Getriebe aussahen, eine vom Rost zerfressene Oberfläche hatten und fast zwei Schritt dick waren. Urza fiel auf, daß die ganze Landschaft leicht auf und ab wogte, als sei sie lebendig. Hügel bildeten sich, bewegten sich langsam und schoben die Getriebe unermüdlich nach rechts hinüber. In dieser Richtung Westen, dachte er, obwohl es in der beweglichen Landschaft schwer festzustellen war - erblickte er einen rötlichen Schimmer. Urza landete auf einem der Getriebe und ließ sich davontragen. Die kupferfarbenen Kabel ringelten sich um seine Füße, berührten ihn aber nicht. Ringsumher schien es plötzlich von den schlangenähnlichen Drähten nur so zu wimmeln. In der Ferne braute sich ein Sturm zusammen; gelbliche Wolken hoben sich vom dunklen Himmel ab. Blaue Blitze zuckten zwischen den Wolken auf und hoben deren Umrisse deutlich hervor. Regen peitschte das Land. Er schmeckte nach Öl, war aber nur ein kurzer Schauer. Die wogenden Hügel trugen Urza eilig von dannen. Warmer Dampf stieg auf, und ein kurzes Knirschen erklang, das gleich wieder abbrach. Vor Urza schoß ein hoher Turm aus dem Boden, der Kabel und Getriebe zerriß. Er bestand aus schweren Metallplatten, die von mannshohen Bolzen zusammengehalten wurden und mit eckigen Runen bedeckt waren. Er wuchs immer höher, und das Getriebe, auf dem Urza stand, rollte in Windeseile die Hügel hinauf 80
und hinunter. Der Turm verschwand ebenso schnell in der Erde, wie er emporgeschossen war, und die schwankende Landschaft trug Urza weiter voran. Urza hörte das Surren von Insektenflügeln; es mußten Tausende sein. Das Geräusch hüllte ihn ein, aber die Wesen blieben unsichtbar. Dann verklang auch dieser Laut. Jetzt fiel ihm auf, daß er nicht länger allein war. Andere Lebewesen standen auf einer sich bewegenden Scheibe, die bedeutend größer als seine eigene war. Diese Wesen arbeiteten, während sie davongetragen wurden. Sie hatten menschliche Gestalt und waren von Kopf bis Fuß in strahlendweiße Roben gehüllt. Die Gesichter blieben hinter weißen Masken verborgen, die Köpfe unter weißen Kapuzen versteckt. Urza starrte angestrengt zu ihnen hinüber, konnte aber nichts weiter erkennen. Er sah nur, daß sie emsig arbeiteten. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, daß er träumte. Eigentlich hätte er sich mit seinem Bruder Mishra und der Dame Tocasia in einer Höhle befinden sollen, dachte er. Vorsichtig streckte er die Hand aus und zählte seine Finger. Er hatte immer gehört, daß man dadurch feststellen könne, ob man träume. Die Anzahl der Finger stimmte (jedenfalls glaubte er das), aber seine Hand war durchsichtig geworden. Somit war das Experiment nicht aussagekräftig. Die weißgekleideten Gestalten bewegten sich jetzt schneller, und endlich erkannte er, daß sie bronzene Einzelteile einer Maschine zusammensetzten. Sie sah aus wie eine der Spinnen im Nest an der Felswand, wo er den Ornithopter in der Welt der Wirklichkeit zurückgelassen hatte. Diese Maschine war kein zerstörtes Artefakt aus längst vergangener Zeit. Sie überragte die Wesen. Wenn die Traumspinne die gleiche Größe wie ihre Gefährtinnen hatte, waren die Wesen dort drüben 81
nur ein wenig kleiner als gewöhnliche Menschen, dachte Urza. Die Traumspinne war riesig und bestand aus dikken Bronzeplatten. Blauweiße Blitze zuckten an den Gelenken auf, die von armdicken Bolzen zusammengehalten wurden. Das Gerät besaß keinen Kopf, aber mitten auf dem Rücken befand sich eine ausgeprägte Wölbung, in der ein Metallrohr steckte. Urza dachte an die Katapulte, die er aus dem Lager kannte, und begriff, daß es sich bei der Maschine um eine Waffe handelte. Schon nach einem Blick auf die Spinne wußte Urza genau, welchem Zweck sie diente. Er sah die stämmigen Beine und erkannte, wie sie zusammengesetzt worden waren und wie sie sich bewegen würden. Er betrachtete das Metallrohr auf dem Rücken des Wesens und wußte, daß es verschraubt werden mußte, um sich in alle Richtungen drehen zu können. Er begutachtete die festen, überlappenden Metallplatten - den Panzer der Spinne - und wußte, daß unbeschreiblich viel Kraft erforderlich war, um ein solches Geschöpf voranzubewegen. Inzwischen unterhielten sich die weißgekleideten Gestalten miteinander. Sie hatten Urza gesehen, konnten aber anscheinend nichts mit ihm anfangen. Plötzlich verspürte der junge Mann einen Druck in der Brust, als habe man ihm ein zweites Herz eingesetzt. Er sah an sich hinab. Sein ganzer Körper war durchsichtig geworden. Ohne darüber nachzudenken, griff er hinein und zog ein großes Juwel heraus, das grün, blau, rot, weiß und schwarz glänzte. Die Farben verschmolzen miteinander und erschienen alle gleichzeitig an derselben Stelle. Die Kanten des Juwels waren rauh, und Urza erkannte, daß eine Hälfte fehlte. Er hob den Stein in die Höhe und zeigte ihn den Gestalten. Das schien sie zu 82
beruhigen; augenblicklich vergaßen sie seine Anwesenheit und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Der rote Lichtschimmer im Westen nahm zu, als sich das schwebende Getriebe seinem Ziel näherte. Urza schaute sich um und erblickte andere weißgekleidete Wesen, die auf eigenen runden Scheiben emsig arbeiteten. Manche beschäftigten sich auch mit Spinnenmaschinen. Andere mit riesigen Statuen, gigantischen Elefanten oder Ochsen. Alle bestanden aus den schweren, bronzefarbenen Metallplatten und waren ebenso gut gepanzert wite die Spinnen. Nach einer Weile sah er, daß der rote Lichtschein von einem großen Schmiedefeuer stammte, wie man es zur Fertigung von Hufeisen und Schwertern benötigte. Die Feuerstelle bestand aus Metall und sah wie ein monströser Kopf aus. Lange gebogene Hörner rahmten ein weit geöffnetes Maul ein, aus dem gierig leckende Flammen schlugen. Urza wußte, daß er sich eine halbe Meile davon entfernt befand, spürte aber dennoch die Hitze auf der Haut. Sie würde ihm das Fleisch von den Knochen schmelzen, hätte er noch Fleisch besessen. Eine breite Rampe aus Bronze führte geradewegs in das feurige Maul des Monstrums hinein. Die bronzene Traumspinne und ihre Gefährtinnen setzten sich in Bewegung, gefolgt von den Elefanten, Ochsen und Riesen. Die Scheiben hielten am Fuß der Rampe an, und die Maschinen, angetrieben von ihren Kraftsteinen, schritten voran. Die Gelenke stießen Dampf und Funken aus, und die künstlichen Geschöpfe stellten sich zu beiden Seiten der Rampe in zwei Reihen auf. Jetzt verließen auch die Weißgekleideten, die Erfinder dieser Maschinen, ihre Fortbewegungsmittel. Langsam, fast widerwillig, gingen sie die Rampe hinauf. Dabei verfolgten die Rohre auf den Spinnenkörpern jede Bewegung mit einer leichten Drehung. 83
Eine der Gestalten, die nicht weit von Urza entfernt ging, zögerte einen Augenblick lang und wandte sich dann zur Flucht. Wenigstens versuchte sie es. Eine Spinne, die von der Gestalt zusammengebaut worden war, feuerte auf ihren Schöpfer. Ein greller Lichtstrahl schoß aus dem Metallrohr und traf den Fliehenden. Urza sah, wie seine gelblichen Knochen zu Boden fielen und zum Fuß der Rampe rollten. Die übrigen Gestalten beachteten ihren toten Kameraden nicht. Statt dessen gingen sie langsam weiter, auf die Flammen zu, die Köpfe vor den gefährlichen Waffen neigend. Urza wollte ihnen eine Warnung zurufen, aber er brachte nur Laute zustande, die wie heftig zuschlagende Schmiedehämmer klangen. Ein paar Gestalten zerschmolzen bereits, während andere durch die Hitze in Flammen aufgingen. Ihre Gefährten drängten und zerrten sie weiter, bis sie endlich das gähnende Maul erreichten. Dann stürzten sie sich kopfüber hinein. Urza schrie. Seine Schreie schienen ihn vom Feuermaul zurückzuwerfen, fort aus der Welt der goldenen Schlangenkabel, der beweglichen Hügel und bewaffneten Maschinen. Der Feuerschlund wurde allmählich immer kleiner, war nur noch ein winziger roter Punkt. Er spürte Wärme auf dem Rücken. Schnell wandte er sich um und... ...erwachte am Boden der Höhle. Die Hälfte des Kraftsteines hielt er in der Hand. Aus der Ferne vernahm er das Stampfen metallener Füße auf dem Steinboden. Mishra sah folgendes: Urza sprang vor, und Mishra sah ihn an, aber als er das ernste und wütende Gesicht des Bruders erblickte, wurden sie auch schon von dem grellen Licht umschlossen. Nur der zornige Blick Urzas tauchte sekun84
denlang vor ihm auf. Dann befand er sich an einem unbekannten Ort. Er stand in einem hohen Gang. Seine Umgebung sah völlig anders aus als die glatten Korridore, die durch den Berg führten. Die Wände schienen aus Echsenhaut zu bestehen, waren schwarz und biegsam. Er berührte eine Stelle mit dem Finger, und die Wand zuckte zusammen. Mishra sah, wie ein Schaudern den Gang entlanglief, als habe er etwas im Schlaf gestört. Die Luft war feucht und schwer. Der Gang zog sich ins Unendliche. Er drehte sich um. Auch dort war kein Ende abzusehen. Wieder wandte er sich um. Der Gang zog sich ins Unendliche. Noch einmal drehte er sich um und schritt dann tapfer voran. Er trat auf einen Gegenstand, und ein Knirschen ertönte. Hastig wich er zurück. Ein aus Gold gefertigtes Spielzeug lag am Boden; eine menschliche Gestalt. Seltsamerweise dachte er daran, ob sich Urza wohl in der Nähe befinden mochte. Und Tocasia - Tocasia fiel ihm ein, die noch vor wenigen Sekunden hinter ihm gestanden hatte. Er starrte die Figur an, aber sie ähnelte niemandem, den er kannte. Versehentlich hatte er den Arm zertreten, und das Gesicht des Spielzeugs war zu einem Schrei erstarrt. Überall vor ihm lagen kleine Figuren mit schmerzverzerrten Gesichtern am Boden. Einige stellten Menschen dar, andere Elfen, Orks, Minotauren und Zwerge. Er versuchte, beim Weitergehen nicht auf sie zu treten, aber es waren einfach zu viele. Nach einer Weile fiel ihm auf, daß alle Spielzeuggestalten verzerrte Gesichter hatten, auch wenn er sie nicht berührte. Mit dem Gefühl, hier keinen zusätzlichen Schaden anzurichten, und der Gewißheit, daß diese winzigen Statuen nicht lebendig waren, ging er weiter, ohne besondere Rücksicht zu nehmen. 85
Zu beiden Seiten des Ganges lagen jetzt zahlreiche Nischen, deren Rückwand aus einem dunklen Spiegel bestand. Vor der ersten blieb er stehen und erblickte eine menschliche Gestalt. Nein, eine menschenähnliche nackte Gestalt. Während er zusah, verzerrte sie sich und verwandelte sich in ein fremdartiges Wesen, dann in ein zweites und ein drittes. Schließlich sah er eine Statue aus dunklem Stein, der gleichzeitig fest und flüssig wirkte. Dann waren die Verwandlungen beendet, und alles begann wieder von neuem. Mishra trat vor den zweiten Spiegel und erblickte eine andere Gestalt. Sie trug eine Rüstung oder etwas, was einer Rüstung sehr ähnlich war. Während sie sich von einer Rasse zur nächsten wandelte, wurde ihm klar, daß die Rüstung ein fester Bestandteil der Statue oder der Kreatur war, die die Statue darstellen sollte. Aufregung packte ihn. Plötzlich wußte er, wozu die Maschinen in der Höhle dienten. Sie konnten Gestalten aus Fleisch und Stein in etwas völlig anderes verwandeln. Sie konnten ihre eigenen Leistungen im Laufe der Zeit verbessern. Sie konnten Dinge erschaffen. Er lief zum nächsten Spiegel, die Spielzeuggestalten zu seinen Füßen außer acht lassend. Diesmal traf er wieder auf eine sich verändernde Statue, aber sie trug eine umfangreichere Rüstung als ihre Vorgängerin. Außerdem hatte sie Hörner, die sich über dem Kopf nach hinten bogen, ähnlich wie bei einer Antilope, und nicht nach außen, wie bei einem Minotaurus. Sie veränderte sich langsamer, und Mishra stellte fest, daß ihre Haut ledrig war und der Oberfläche der Wände im Gang glich. Dunkle Knochen stachen aus dem Fleisch hervor. Mishra trat zum nächsten Spiegel. Hier erblickte er nur eine einzige Gestalt, die sich nicht veränderte. Sie hatte eine schwarze Schlangenhaut, aus der ebenfalls dunkle Knochen ragten. Das Gesicht war schmal und 86
wölfisch; in dem geöffneten Maul funkelten messerscharfe Zähne. Die Augen blieben geschlossen, und auf dem Kopf bogen sich Antilopenhörner unglaublich weit nach hinten. Rings um die Hörner schlängelten sich wurmähnliche rötliche Kabel, die aus dem Schädel sprossen. Mishra starrte das Wesen lange Zeit an und wartete, ob es sich verwandeln würde. Aber es blieb reglos stehen. Plötzlich jedoch öffneten sich die Augen, und Mishra wich einen Schritt zurück. Die Augen waren lebendig - feucht, weich und am Rand blutunterlaufen. Sie blinzelten, und die Brauen zogen sich zusammen. Mishra wurde bewußt, daß er keine Statue, sondern ein Lebewesen ansah. Und, was noch schlimmer war: Das Wesen beobachtete ihn. Dann hob es die Hand und tippte sich auf die Brust. Mishra ahmte die Bewegung nach. Seine Finger berührten eine glatte Oberfläche, und er sah nach unten. Mitten in seiner Brust steckte ein Juwel, das in unzähligen Farben erstrahlte. Für einen Augenblick vergaß er das Wesen und zog sich den Edelstein aus dem Körper. Glitzernd und funkelnd lag er in seiner Hand, aber die glatten Flächen endeten scharfkantig, denn eine Hälfte des Steins fehlte. Das Juwel fühlte sich warm an, regelrecht beruhigend. Das Wesen im Spiegel hob die Hand und legte sie gegen die Spiegeloberfläche. Gegen seinen Willen hob auch Mishra die Hand, als sei er das Spiegelbild der Kreatur. Beinahe hätte er sie gegen das dunkle Glas gedrückt. Der Dämon aus Metall, Knochen und Leder lächelte. Jemand rief ihn beim Namen. Er war sich dessen ganz sicher. Jemand, der hinter ihm stand, rief seinen Namen. Er wandte sich von der finsteren Kreatur und 87
dem Spiegel ab, wurde augenblicklich in gleißend helles Licht gehüllt und... ...erwachte am Boden der Höhle. Die Hälfte des Kraftsteines hielt er in der Hand. Aus der Ferne vernahm er das Stampfen metallener Füße auf dem Steinboden. Stolpernd lief Tocasia auf die beiden Brüder zu, die sich langsam vom Boden erhoben. Was auch immer sie getan haben mochten, der riesige Kristall war zersprungen, und jeder Bruder hielt eine Hälfte in der Hand. Im Gegensatz zu anderen beschädigten Steinen, die Tocasia bei den Ausgrabungen gefunden hatte, hatten diese Kristalle ihr Leuchten und ihre Macht beibehalten. Sie funkelten vor Kraft, die in ihrem Inneren verborgen war. Beide erstrahlten in unzähligen Farben, obwohl Urzas sehr häufig rot aufleuchtete, Mishras dagegen grün. Tocasia blinzelte und stellte fest, daß es in der Höhle bedeutend heller war als zuvor. Die Kristallplatten in der Decke verströmten mehr Licht, und entlang der Wände blitzten immer wieder grelle Funken auf. Urza eilte zu Mishra hinüber. Der jüngere Bruder wehrte die helfend ausgestreckte Hand ab und erhob sich aus eigener Kraft. Er schwankte leicht, als müsse er sich erst wieder an den Gebrauch der Beine gewöhnen. Urzas Gesicht war von geisterhafter Blässe überzogen, und die leuchtenden Farben des Kristalls tauchten es in buntes Licht. »Was ist geschehen?« fragte er keuchend. Tocasia sah von einem zum anderen. Sie schienen unverletzt, aber ein wenig verstört. »Der Kraftstein ist geborsten«, erklärte sie. »Ihr haltet die Einzelteile in Händen.« Mishra wies auf seinen Bruder. »Es war seine Schuld!« schrie er.
»Ich wollte dich zurückhalten!« fauchte Urza. »Genug!« rief Tocasia, und ihre Stimme wurde von den Höhlen wänden zurückgeworfen. »Hört doch!« Die beiden schwiegen und vernahmen das langsame, rhythmische Stapfen metallener Füße auf dem Steinboden. Es waren schwere Tritte zahlreicher Füße, und sie näherten sich unaufhaltsam und unbarmherzig. Umrisse tauchten am anderen Ende des Raumes auf. Tocasia konnte sich nicht erinnern, vor der Explosion eine Tür gesehen zu haben; vielleicht hatte gar keine existiert. Jetzt befand sich dort eine Öffnung, durch die sich ein halbes Dutzend riesiger Schatten drängte. Su-chis, die Wächter der Thran, mit ihren Wolfsköpfen und nach hinten gebogenen Knien. Trotz ihrer Größe und der eigentümlichen Körperform bewegten sie sich ausgesprochen behende. Sie eilten auf die Menschen zu. »Flieht!« rief Tocasia. »Nein«, widersprach Urza. »Ich glaube, ich kann sie aufhalten.« Das Juwel schien bei seinen Worten heller zu leuchten, und er hielt es den Eindringlingen entgegen. Ein einzelner roter Lichtstrahl schoß durch den Raum und tauchte die sechs Su-chis in helles Licht. Sie zögerten und schienen den Augenblick zu genießen. Dann gingen sie weiter. »Sie gehen schneller!« schrie Tocasia. »Was auch immer du vorhattest - du hast ihnen mehr Kraft verliehen!« »Dann müssen wir fliehen«, sagte Urza. Mishra hob seinen Stein, aber Urza drückte ihm den Arm nach unten. »Wir haben es versucht, und es hat nicht funktioniert! Mach es nicht noch schlimmer!« Er rannte hinter Tocasia her, und Mishra folgte ihnen. Alle Stufen, die sie auf dem Hinweg herabgeklettert waren, kamen ihnen jetzt wie steile Klippen vor, die sie überwinden mußten. Tocasias Muskeln schmerzten bei 89
jedem Schritt, und ihre Knochen waren schwer wie Blei. Nach der dritten Treppe mußte sie sich auf Urza stützen, um nicht umzusinken. Die Su-chis konnten auf den Treppen nicht schnell vorankommen, nahmen dafür jedoch immer zwei Stufen auf einmal und kannten keine Erschöpfung. Tocasia warf einen Blick über die Schulter. Die Wesen kamen immer näher. Mishra blieb keuchend stehen. Urza war nicht in besserer Verfassung, und Tocasia fürchtete, gleich ohnmächtig zu werden. »Vielleicht... können wir etwas... die Treppe hinabstoßen. Sie... aufhalten«, stieß Urza atemlos hervor. Wieder hob Mishra den Kristall, aber Urza schüttelte den Kopf. »Klappt nicht. Macht sie... noch stärker. Schon versucht.« Auch Mishra war erschöpft und rang nach Luft, zwang sich aber zum Sprechen. »Du hast es versucht. Mit... deinem Stein. Will... es mit meinem probieren.« Urza stieß einen ärgerlichen Schrei aus, aber sein jüngerer Bruder war schneller. Er hob den Kristall hoch, und die Lichtstrahlen schossen die Treppe hinab. Sie beschrieben keine gerade Linie, sondern zogen grüne Bogen durch die Luft. Die Strahlen erreichten den Anführer der Su-chis auf halbem Wege die Treppe hinauf, als er gerade eine Stufe erklomm. Das Wesen, das Sekunden zuvor noch stark und ausdauernd gewesen war, sackte nun in sich zusammen, als habe man ihm alle Kraft ausgesaugt. Es krümmte sich zusammen. Sein hinter ihm gehender Gefährte wich überrascht zurück, rutschte aus und riß im Fallen zwei weitere Su-chis mit sich. Alle drei blieben zu einem Knäuel verschlungen am Fuß der Treppe liegen, und nur zwei von ihnen standen wieder auf. »Hat sie nicht aufgehalten!« keuchte Urza. »Hab ich dir gleich gesagt.« 90
»Hat sie aber durcheinandergebracht!« fauchte Mishra. »Streitet euch später!« befahl Tocasia und raffte ihr Gewand zusammen. »Lauft endlich!« Tocasias Brust schien in Flammen zu stehen, während sie den Gang entlangliefen. Da nirgendwo Abzweigungen waren, konnten sie sich weder verirren noch verstecken. Die Deckenkristalle leuchteten hell und warfen seltsame Schatten, als die Menschen in wilder Hast flohen. Vielleicht gehörte das auch zum Bewachungssystem der Thran, dachte die alte Forscherin. Wenn jemand eindringt und die Maschinen benutzt, gehen alle Lichter an, und die Su-chis werden aus dem Schlaf gerissen. Als sie an den Nischen vorbeirannten, sah Tocasia, wie sich die dort liegenden Gestalten aufzurichten versuchten, aber nicht mehr in der Lage dazu waren. Ein metallener Arm hob sich drohend, als die Fliehenden weiterliefen. Ein Wolfskopf aus dunkelblauem Metall wandte sich ihnen fauchend zu. An einer Stelle taumelte der Unterkörper eines Su-chis mit nach hinten gebogenen Knien aus seiner Nische heraus. Urza blieb stehen und stellte sich schützend vor Tocasia, Mishra aber hielt seinen Kristall in die Höhe. Ein jadegrüner Lichtstrahl traf das Wesen, das in zahlreiche Einzelteile explodierte, die in alle Richtungen verstreut wurden. Sie eilten weiter. Im Hinterkopf durchzuckte Tocasia der Gedanke, wie bedauerlich es sei, daß sie keine Zeit hatten, die Kreatur genauer zu untersuchen. Die Verfolger waren nicht mehr zu sehen, aber die Forscherin hörte ihre lauten Schritte, das Surren ihrer Antriebe und das Klicken der Gelenke. Endlich sahen sie einen Lichtschimmer vor sich, der natürlichen Ursprungs war. Sie hatten den Höhleneingang erreicht und waren in Sicherheit. 91
Urza streckte abwehrend den Arm aus und hielt Mishra und Tocasia zurück. Der jüngere Bruder fluchte leise, aber Urza deutete schweigend nach vorn. Ein Schatten glitt über den Sand vor dem Höhleneingang. Ein großer Jäger erwartete sie. Tocasia schaute über die Schultern, ob die Verfolger nahten. Die Brüder schlichen lautlos weiter. Der Greif hockte genau über dem Loch in der Felswand, wie eine Eule, die darauf wartet, daß eine Maus ihr Nest verläßt. Urza fluchte. »Ich will es versuchen«, flüsterte Mishra und hielt den Kristall in die Höhe. Diesmal hielt ihn sein Bruder nicht auf. Mishra schlich weiter, um den Greifen besser sehen zu können. Urza blieb dicht hinter ihm. Mishra streckte die Hand mit dem Stein aus, und der grüne Lichtstrahl, der selbst im hellen Tageslicht nicht zu übersehen war, brach heraus und traf den Vogel. Der Greif stieß einen lauten Schrei aus. Er flog davon und ließ sich in hundert Schritt Entfernung auf einer Felsnase nieder. Das Licht folgte ihm, verursachte aber keinen weiteren Schaden. »Fall um!« knirschte Mishra durch die zusammengebissenen Zähne. »Fall um, verdammtes Biest!« »Du schwächst ihn«, sagte Urza, »aber er ist zu groß. Und zu zäh.« »Wir bekommen Besuch«, bemerkte Tocasia trocken. In der Ferne hörten sie das Stampfen der Su-chis. »>Zwischen der Wüste und dem tiefen salzigen Meer<«, zitierte Mishra ein altes Fallajisprichwort. Urza starrte auf die Überreste des Spinnennestes. »Mishra, nimm Tocasia mit und laufe zum Ornithopter. Bleibt nicht stehen, ehe ihr ihn erreicht habt.« »Aber der Greif...«, begann Mishra. »Überlasse ihn mir!« befahl Urza und sprang ins helle Sonnenlicht. 92
Tocasia widersprach, aber Mishra packte sie bei der Hand und zog sie hinter sich her. Seine Finger waren wie Stahlklammern, und sie hatte keine Wahl, als ihm zu folgen. Hinter ihnen tauchten bereits die ersten Su-chis im Licht der Deckenkristalle auf. Sobald er Urza sah, schwang sich der Greif in die Lüfte und flog mit ausgebreiteten Schwingen auf den Platz über dem Höhleneingang zurück. Sein gebogener Schnabel hieb nach dem jungen Mann, aber Urza wich behende aus. Sekunden später hatte er die Überreste der Bronzespinnen erreicht, die am Fuß des Hügel herumlagen. Tocasia und Mishra liefen auf den Ornithopter zu. Auf halbem Wege suchten sie hinter einem großen Felsbrocken Schutz. Zwei Augenpaare lugten hinter dem riesigen Stein hervor, um nach Urza Ausschau zu halten. »Was treibt dieser Idiot da?« flüsterte Mishra. Urza kletterte zwischen den Spinnen herum und verschwand. Tocasia preßte die Hand auf die Brust und holte tief Luft. Auch sie sah den älteren Bruder zwischen den Bronzespinnen herumwandern. Sein Kristall besaß anscheinend andere Kräfte als der seines Bruders. »Er will...« Sie hielt inne und schluckte. Ihr Mund fühlte sich wie ausgedörrt an. »Er will eine dieser Spinnen wieder in Gang setzen. Aber warum...?« Der Rest des Satzes wurde von dem gewaltigen Dröhnen unter ihren Füßen übertönt, als eine bronzene Spinne aus dem staubigen Nest sprang. Sand strömte wie Wasser aus dem Körper, und Tocasia fiel auf, daß der Panzer des Wesens an zahlreichen Stellen beschädigt war und der größte Teil der Vorderbeine fehlte. Durch die zerstörten Platten sah sie Urza, der unablässig Hebel bediente und auf Knöpfe drückte. Ein rötlicher Glanz umgab ihn, der sich mit dem Dampf ver93
mischte, der aus den Gelenken der Spinne aufstieg und dem Ganzen eine höllische Aura verlieh. »Er treibt die Spinne mit seinem Kristall an«, meinte Mishra. »Er hat ihn in die Maschine gesteckt. Dadurch verleiht er Artefakten neue Kraft.« »Nein. Er hält ihn in der Hand«, berichtigte Tocasia. »Aber du hast recht. Mit Hilfe des Kristalls stärkt er die Maschine und treibt sie voran.« »Egal!« grunzte Mishra. »Er hat sowieso keine Zeit mehr. Seht nur!« Die Su-chis standen im Höhleneingang und traten zögernd ins helle Sonnenlicht. Das Rohr auf dem Rücken der Spinne drehte sich mit schrillem Kreischen der eingerosteten Schrauben und zielte auf die Verfolger. Tocasia begriff sofort, daß es sich um eine Waffe handelte. Der Greif flatterte kreischend auf, um den schmackhaften Menschen aus dem Gehäuse zu zerren. Tocasia hörte, wie Urza einen unverständlichen Schrei ausstieß, und eine Flamme schoß aus dem Rohr heraus. Das Dröhnen der Waffe hallte durch die Schlucht von Koilos. Der Schuß traf den Greifen an der Brust, setzte das Gefieder in Brand, und auch der Rest des Körpers ging in Flammen auf. Der riesige Vogel versuchte davonzufliegen, aber das Feuer war schneller, fraß sich an seinen Flügeln entlang, und sie brannten schon lichterloh, als er sie in Bewegung setzte. Sekundenlang wurde der Greif zum Phönix der Fallajlegenden - ein in Flammen gehüllter Vogel. Aber anstatt sich hoch in die Lüfte zu schwingen, fiel er kopfüber auf den Boden der Schlucht. Er landete genau vor dem Eingang der Höhle, wo die Su-chis standen. Den Wesen blieb noch Zeit, den Blick zu heben, und Tocasia vernahm ein schrilles metallisches Heulen, das ein Schrei hätte sein können. Dann stürzte der schwere Körper des Greifen auf sie und zermalmte sie unter sich. 94
Wieder erklang ein Schrei, diesmal aber noch schriller. Die rostige, beschädigte Spinne, in der Urza saß, hatte ihn ausgestoßen. Der Dampf, der von ihren Gelenken ausging, verwandelte sich in schwarzen Qualm. Flammen und Funken stiegen auf. Urza sprang aus dem Gehäuse und rannte davon. Tocasia sah, daß er den rötlich leuchtenden Kristall fest an sich drückte. Das Kreischen wurde schriller und schriller. Tocasia glaubte, ihr Kopf würde jeden Augenblick zerspringen. Dann erscholl ein ohrenbetäubender Donnerschlag, und die Metallspinne explodierte. Das Echo der Explosion wurde von den Schluchtwänden zurückgeworfen und hallte kurze Zeit später weiter oben im Tal wider. Urza gesellte sich stolpernd zu den anderen. Tocasia sah prüfend zum Höhleneingang hinüber, aber dort waren nur die rauchenden Überreste des Greifen zu sehen. »So, das hätten wir erledigt!« sagte Urza zufrieden. Sein Gesicht und die Haare waren mit Ruß bedeckt; er roch nach verbranntem Leder und Metall. »Du hast Glück gehabt«, meinte Mishra mit gerunzelter Stirn. »Wir alle haben Glück gehabt«, verbesserte ihn Tocasia. »Es war Glück, diesen Ort zu finden, und Glück, dem Greifen zu entkommen. Glück, lebendig aus der Höhle zu gelangen. Jetzt hoffen wir, glücklich heimkehren zu können.« »Du hast Glück gehabt«, wiederholte Mishra, an seinen Bruder gewandt. »Glück hat nichts damit zu tun«, erwiderte Urza mit gekränkter Stimme. »Ich war sicher, den Gebrauch der Spinnen zu kennen, und ich besaß die Macht, sie in Gang zu setzen. Ich habe blitzschnell nachgedacht und geplant - das hat nichts mit >Glück< zu tun.« »Du hast gar nichts gewußt!« fauchte Mishra. »Dum95
merweise hast du sogar die Wächter mit deinem Kristall gestärkt.« »Man lernt aus seinen Fehlern«, sagte Urza achselzuckend. »Ich jedenfalls. Du machst fortwährend neue Fehler.« »Jungs!« rief Tocasia warnend. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit!« »Ich habe die Su-chis mit meinem Stein besiegt!« brüllte Mishra. »Du hast den Kristall zerbrochen!« »Das ist nicht wahr! Ich habe nichts angefaßt!« schrie der jüngere Bruder. »Du warst es!« »Schluß jetzt!« rief Tocasia und trat zwischen die beiden Kampfhähne. »Wir können darüber reden, wenn wir in der Luft sind. Jetzt muß der Ornithopter instand gesetzt werden, damit wir heimkehren können.« Sie deutete mit dem Kopf auf die rauchenden Überreste des Greifen. »Wir wissen schließlich nicht, ob er ein Einzelgänger war oder einer großen Familie angehörte.« Mit diesen Worten wandte sich Tocasia ab. Sie überlegte, ob sich etwas finden lassen würde, das sie als Stock benutzen konnte. Sie hatte ihren Stab auf der Flucht aus der Höhle verloren, und ihre Beinmuskeln verkrampften sich durch die starke Beanspruchung. Nach diesem Abenteuer freute sie sich auf eine lange Ruhepause. Keiner der beiden jungen Männer rührte sich. Sie drehte sich um und sagte: »Heute noch, wenn es euch nichts ausmacht!« Die beiden sahen aus, als würden sie jeden Augenblick vor Zorn zerplatzen. »Gleich«, antwortete Urza. »Aber zuerst gibst du ihn mir.« Er streckte die rechte Hand aus. Mit der linken hielt er den rötlich leuchtenden Kristall umklammert. »Wen?« Mishra drückte seine Hälfte des Juwels gegen die Brust. 96
»Den Stein«, erklärte Urza. »Gib ihn mir. Vielleicht können wir die Hälften wieder zusammensetzen.« Mishras Hand hielt den Stein noch fester, und Tocasia hätte schwören können, das Juwel flackerte genau in diesem Augenblick gelblich-grün wie ein Katzenauge auf. »Nein«, antwortete er mit grimmiger Miene. »Es besteht die Möglichkeit, daß wir ihn wieder zusammenfügen können!« »Gut«, knurrte Mishra. »Dann gib mir deinen!« Urzas Gesicht wurde länger. »Das geht nicht. Du könntest ihn beschädigen.« »Ich beschädige nie etwas!« lautete die wütende Antwort. Seine Stimme klang schrill. Für Tocasia hörte es sich an, als würde sie jeden Augenblick brechen, wie es vor einigen Jahren häufig geschehen war. »Du bist derjenige, der alles besser weiß«, fuhr Mishra fort, »aber immer schiebst du jegliche Schuld auf mich! Nun, du bist aber nicht so klug, wie du annimmst. Das weiß jeder!« »Ich weiß es besser, weil ich der ältere von uns beiden bin«, erwiderte Urza eisig. »Dann weißt du auch, daß ich dir den Stein nicht gebe«, beharrte sein Bruder. »Wenn du ihn zusammensetzen willst, mußt du mir deine Hälfte geben, Herr Hochnäsig-und-viel-zu-gut-für-uns-gewöhnlicheSterbliche! Zeig mir, wie weise du bist, Bruder! Gib mir deinen Stein.« »Du willst ihn haben?« grollte Urza. »Schön. Hol ihn dir! Du nimmst dir doch dauernd Dinge, die dir nicht gehören.« Tocasia schrie, aber es war zu spät. Urzas Hand schnellte vor, den Stein noch in der Faust haltend. Mishra sprang vor, genau in den Hieb des Bruders hinein. Das Juwel traf ihn an der Stirn, und er brach zusammen. Urza kniete entsetzt nieder. »Es tut mir leid, Mishra. Ich wollte dich nicht verletzen.« 97
Mishra stützte sich auf die Ellenbogen und versuchte zurückzuweichen. »Laß mich in Ruhe, du Mistkerl!« Tocasia packte Urzas Schultern. »Steh auf! Du hättest es besser wissen müssen!« schimpfte sie wütend. Sie stand kurz davor, ihrem Temperament die Zügel schießen zu lassen. »Immer behauptest du, älter und klüger zu sein!« fauchte sie. »Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast!« Urza wollte etwas entgegnen, sah aber dann zu Mishra hinüber. Das Juwel hatte ihm Schnittwunden zugefügt, und dunkles Blut strömte aus der Verletzung an der Schläfe. Urza sah Tocasia an. »Es... es tut mir leid«, stammelte er und hielt Mishra die rechte Hand entgegen. »Das wollte ich nicht. Es tut mir leid.« Mishra schlug die Hand beiseite. »Verschwinde! Ich brauche deine Hilfe nicht.« Tocasia mischte sich ein. »Mishra, dein Bruder will nur...« »Und Ihr braucht auch keine Erklärungen für ihn abzugeben«, unterbrach er sie. »Es geht mir bestens.« Er warf Urza einen bösen Blick zu. »Der Stein gehört mir. Du hast deinen eigenen.« Tocasia kochte vor Wut. Die beiden waren dickköpfige dumme Jungen. Sie hatte genug. Die Forscherin atmete tief durch und zwang sich, ihren Zorn zu unterdrücken. »Schön«, sagte sie endlich. »Urza, du kümmerst dich um den Flügel des Ornithopters. Mishra, sieh dir die Überreste des Greifen an, und stelle fest, ob die Su-chis noch am Leben sind. Ruf uns, wenn es der Fall sein sollte.« Keiner der beiden rührte sich, und Tocasias Stimme bekam einen stählernen Unterton. »Sofort, Kinder!« Die Brüder setzten sich in Bewegung, warfen einan98
der aber finstere Blicke zu, als seien sie miteinander verfeindete Hunde. Der Rückflug zum Lager erfolgte in dumpfem Schweigen, und sie flogen auch während der Nacht, um nicht wieder in unbekanntem Gelände rasten zu müssen. Die Brüder sprachen so gut wie gar nicht miteinander. Wenn sie einmal redeten, ging es um praktische Überlegungen wie das Wetter, die Haltbarkeit des ausgebesserten Flügels und den Kurs des Ornithopters. Keiner erwähnte das geheime Herz der Thran, den Greifen oder die Flucht. Tocasia begriff, daß an diesem Tag mehr zerbrochen war als nur der Kristall.
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KAPITEL 5
Trennung Nach der Entdeckung von Koilos veränderte sich die Welt und wurde in den darauffolgenden Monaten zu einem unangenehmeren Ort. Sobald die drei Forscher ins Lager zurückgekehrt waren, zog sich Urza in die Hütte zurück, die er mit seinem Bruder teilte, und verließ sie nur noch, um an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen. Kurz darauf zog Mishra aus und wohnte von nun an im Lager der Fallaji. Er hätte sich auch inmitten der Studenten niederlassen können, aber Tocasia nahm an, der junge Mann wollte mit dieser Entscheidung seinem Bruder und ihr seine Unabhängigkeit beweisen. Von nun an stritten sich die Brüder fortwährend. Urza behauptete in aller Öffentlichkeit, Mishra lasse die Studenten viel zu tief graben. Mishra schlug zurück und erklärte, Urza beanspruche mehr Studenten zum Säubern der Artefakte, als er in Wirklichkeit brauche. Die Mahlzeiten wurden besonders unangenehm. Die beiden lieferten sich nicht mehr nur harmlose Wortgefechte oder besprachen neue Ideen. Ein stählerner Unterton, scharf wie die Klinge eines Dolches, beherrschte die Unterhaltung. Fragen wurden zu spitzen Haken, und Antworten enthielten verhüllte Drohungen und Herausforderungen. Hin und wieder verlor Mishra seinem Bruder gegenüber die Beherrschung. Nach einem Monat nahm Urza nicht mehr an den Mahlzeiten teil und aß in seiner Hütte. Offenbar hatte er Mishras ehemaligen Schlafplatz zur Erweiterung seiner Arbeits100
fläche genutzt, was den jüngeren Bruder noch mehr erzürnte. Mishra nahm noch einen Monat lang mürrisch an den Mahlzeiten teil, ehe er schließlich ebenfalls zum Essen im Fallajilager blieb. Keiner der beiden redete über persönliche Belange, weder mit Tocasia noch mit sonst jemandem. Der alten Forscherin gegenüber blieben sie höflich und versuchten, die Unterhaltung auf die Ausgrabungen (Mishra) und die Beschaffenheit der Artefakte (Urza) zu beschränken. Wenn die Höhle erwähnt wurde, schwiegen beide und wandten sich ab. Teilweise schrieb Tocasia die veränderte Beziehung der Brüder den Steinen zu. Urza hatte seinen Kristall in eine goldene Fassung setzen lassen, die wie eine Kralle geformt war, und diese trug er an einer Kette um den Hals. Auch Mishra trug den Stein um den Hals hängend, hatte ihn aber in einem kleinen Lederbeutel verstaut, wie es die Fallaji mit ihren Talismanen taten. Tocasia hatte keine Ahnung, ob das zerbrochene Juwel den Streit zwischen ihren besten Schülern hervorgerufen hatte oder ob das, was jetzt ans Tageslicht kam, bereits seit Jahren unter der Oberfläche gebrodelt hatte. Schon bald nach der Entdeckung von Koilos suchte sie jeden der beiden auf und bat darum, die Steine untersuchen zu dürfen, um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Urza weigerte sich, seinen Kristall herzugeben. Statt dessen wollte er ihn selbst prüfen, sagte er. Tocasia traute ihm doch wohl zu, eine ordentliche und gründliche Untersuchung vornehmen zu können? Er sprach es zwar nicht aus, aber die alte Forscherin ahnte, daß er befürchtete, sie werde den Stein seinem Bruder übergeben. Mishra seinerseits würde an Tocasias Gefühle appellieren. Bestimmt würde sie ihm als dem jüngeren Bruder die Möglichkeit einräumen, beide Hälften des Kristalls zu untersuchen, nicht wahr? 101
Und tatsächlich dachte Mishra nicht daran, seinen Stein aus der Hand zu geben. Wenn Urza seine Hälfte nicht zeige, sagte er störrisch, würde er es auch nicht tun. Er sprach es zwar nicht aus, aber die alte Forscherin ahnte, daß er befürchtete, sie werde den Stein seinem Bruder übergeben. Urza seinerseits würde an Tocasias Vernunft appellieren. Bestimmt würde sie ihm als dem älteren Bruder die Möglichkeit einräumen, beide Hälften des Kristalls zu untersuchen, nicht wahr? Die Archäologin war zutiefst enttäuscht. Keiner der beiden wollte den ersten Schritt machen, und sie vertrauten ihr nicht genug, um ihr die Steine zu geben. Sie wandte sich anderen Kristallen zu; sowohl jenen, die noch ein wenig Kraft enthielten, als auch anderen, die jegliche Macht eingebüßt hatten. Ohne Erfolg. Keiner dieser Steine besaß ähnlich große Kräfte. Mishras Kristall schien lebende oder künstliche Dinge zu schwächen. Urzas dagegen kräftigte sie und konnte selbst die schlichtesten Mechanismen beleben. Traurig dachte Tocasia, daß kein anderes Juwel die beiden mit solcher Habgier und Streitlust erfüllt hatte. Die eigentliche Beschaffenheit dieser geheimnisvollen Kraft blieb Tocasia verborgen. Sie wußte nur, daß es sie gab und daß sie für die Benutzung der Thranmaschinen von größter Bedeutung war. Mehr brachte sie nicht in Erfahrung. Woher kam sie, und wie war sie entstanden? Gehörte sie zur Natur dieser Kristalle, oder hatten die Thran sie den Steinen eingegeben? So viele Fragen, aber keine Antworten, und ihre vergeblichen Anstrengungen verdüsterten Tocasias Laune noch mehr. Um gerecht zu sein: Die schlechte Stimmung im Lager war nicht allein die Schuld der Brüder. Mehr Fallaji, als Ahmahl erwartet hatte, waren erzürnt, weil Tocasia und die Jungen das geheime Herz der Thran 102
aufgespürt hatten. Scharenweise verließen die Arbeiter das Lager. Den alten Ahmahl berührte diese Wendung der Dinge aufs peinlichste, da er Tocasia noch vor ein paar Tagen versichert hatte, die wenigsten seiner Leute würden sich von den alten Legenden ins Bockshorn jagen lassen. Als sich die Nachricht über die Entdekkung von Koilos verbreitete, wurde aus dem stetigen Strom der von den Wüstenbewohnern gefundenen Artefakte ein dünnes Rinnsal, das schließlich fast vollständig versiegte. Teilweise lag das auch an den zunehmenden Überfällen. Zahlreiche Stämme, darunter auch die Suwwardi, die sich jahrzehntelang zurückgehalten hatten, machten sich bemerkbar. Sie überfielen Handelskarawanen und wagten sogar einen Vorstoß in argivianische Gebiete. Bisher war das Lager dank der dort lebenden Fallaji verschont geblieben, aber Tocasia fürchtete, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis die räuberischen Stämme über sie herfielen. Ahmahl stimmte ihr zu. »Bei den Fallaji gibt es unzählige Familien, Sippen und Stämme«, erklärte er eines Abends, zehn Monate nach der Entdeckung von Koilos. Sie saßen unter Tocasias Baldachin und tranken Nabiz. Die anderen schliefen bereits. Nur in Urzas Zelt brannte noch gedämpftes Licht. Leises Zischen drang aus dem Kohlebecken, das zwischen den beiden Alten stand. Der Fallaji spreizte die Finger und zählte die Namen der Stämme auf: »Die wohlhabenden Muaharin, die einst mächtigen Ghestos und mein eigener Stamm, die Thaladin«, sagte er. »Es gibt auch noch andere, wie die Tomakul, deren Heimat dem am nächsten kommt, was ihr Ausländer eine >Stadt< nennt. Die Tomakul halten sich für die Herrscher über die anderen Stämme. Aber das stimmt eigentlich nicht. Die Stämme folgen starken Anführern. Eine Generation lang folgten sie den 103
Ghestos, da deren Anführer überaus weise war. Danach schlossen sie sich den Muaharin an, die von einem großen Krieger geleitet wurden.« »Und nun folgen sie einem neuen Stamm«, sagte Tocasia verbittert und nippte an ihrem Nabiz. Sie trank ihn heiß, wie es bei den Wüstenbewohnern Sitte war, verzichtete aber auf das Würzen mit Zimt. »Den Suwwardi«, nickte Ahmahl. »Als ich noch ein Kind war, kamen sie aus den Ländern im Südwesten, die an den ausländischen Staat Yotia grenzen. Sie haben einen Quadir, einen Anführer, der viele Verbündete gewann. Er redet viel von den alten Zeiten, als die Fallaji sehr mächtig waren. Außerdem schürt er die Abneigung gegen die Küstennationen, besonders gegen jene, die Anspruch auf Fallajigebiet erheben.« »Und diese Suwwardi führen euch jetzt?« fragte Tocasia. Ahmahl zuckte die Achseln. »Es ist nicht wie bei euren Königen, Feldherren und Adligen. Mein Volk legt sehr viel Wert auf Respekt. Wir respektieren die Suwwardi wegen ihrer Taten und hören deshalb auf sie. Viele Leute sorgen sich ob des Vorrückens der Küstenbewohner, die altes Fallajiland besetzen. Viele sorgen sich auch ob der Entdeckungen, die von Euch gemacht werden.« »Wir forschen zum Nutzen aller Völker«, entgegnete Tocasia ruhig. »Da stimme ich Euch zu. Ich dachte, auch andere wären meiner Meinung. Aber sie sehen, daß die Artefakte, die sie uns bringen, und jene, die wir ausgraben, östlich nach Argivia, südöstlich nach Korlis und südlich nach Yotia gebracht werden. Sie fragen sich, welche wundervollen und mächtigen Dinge ihnen da verlorengegangen sein mögen.« »Und diese Suwwardi machen sich die Sorgen zunutze«, stellte Tocasia fest. »Sie gewinnen Macht, 104
indem sie einen gemeinsamen Feind schaffen, einerlei, ob es ihn wirklich gibt oder nicht.« Ahmahl nickte bedächtig und meinte: »Ihr kennt Euch anscheinend aus.« Tocasia lachte und nahm einen großen Schluck Nabiz. »Grundlage der argivianischen Politik. Seit Jahren überleben die Könige von Argivia, weil sie eine Seite gegen die andere ausspielen. In Penregon geschehen Dinge, die eigentlich unmöglich sind. Wenigstens sind die Fallaji ehrlich, wenn sie jemanden als Feind betrachten.« »Deshalb sind wir mit dem Lager noch nicht nach Koilos gezogen, und sollten es auch auf keinen Fall tun.« »Der einzige Weg in die Schlucht, wo sich die Höhle befindet, führt durch die Wüste«, begann Tocasia. »Jener Teil der Wüste wird von den Suwwardi und ihren Verbündeten beherrscht. Sie haben verbreiten lassen, daß jeder, der nicht zum Volk der Fallaji gehört und dort auftaucht, von ihnen nach Belieben beseitigt wird.« Tocasia breitete die Hände aus und starrte auf die hölzerne Platte unter ihren runzligen Fingern. Die Wüste hatte den Kampf gegen den großen argivianischen Tisch fast gewonnen. Er war wacklig und morsch geworden, und die letzten Perlen der Einlegearbeit waren dem Staub und dem heftigen Temperaturwechsel zum Opfer gefallen. In Kürze würde er nur noch taugen, um Feuerholz daraus zu machen. Erst jetzt merkte Tocasia, wie sehr sie den Tisch vermissen würde, der zum einen eine Erinnerung an das ferne Penregon und zum anderen eine vorzügliche glatte Arbeitsfläche darstellte. Hätten sie diese Schwierigkeiten mit den Wüstenstämmen auch bekommen, wenn Urza nicht so gut mit Landkarten und Berechnungen hätte umgehen können 105
und Mishra nicht so vertraut mit den Fallaji und ihren Legenden gewesen wäre? Tocasia schüttelte den Kopf. Vergangenes war vergangen, so unveränderlich wie die Felsen, in denen sie die Thranmaschinen aufgespürt hatten, und so fest wie das Metall, aus dem die Artefakte bestanden. Lange schwiegen die beiden alten Leute. Außer dem Knistern des Kohlebeckens war kein Laut zu vernehmen. »Ihr denkt weder an die Wüstenstämme noch an die Ausgrabungen«, sagte Ahmahl schließlich. »Ihr denkt an Eure beiden jungen Männer.« Tocasia schwieg. Nach einer Weile antwortete sie: »Sie haben sich wieder gestritten.« »Das tun sie unentwegt, seitdem ihr das geheime Herz der Thran entdeckt habt«, sagte Ahmahl. Tocasia sah ihn prüfend an, und er hob beschwichtigend die Hand. »Nein, sie haben mir nicht erzählt, was dort geschehen ist. Niemand erzählt diesem alten Fallaji etwas! Aber mir und allen anderen ist klar, daß die beiden seither zerstritten sind. Es handelt sich um die Art von Zerwürfnis, von dem sich Brüder nie wieder erholen. Letzte Woche hätten sie sich fast geprügelt.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Wißt Ihr davon?« Sie nickte. »Urza dachte, Mishra würde zu tief graben, um auf Onuletteile zu stoßen. Als die Arbeiter schließlich doch drei Teile ausgruben, beschuldigte Urza seinen Bruder, er habe sie dort absichtlich versteckt.« »Mishra fand die Schulterstücke recht schnell«, erklärte Ahmahl. »Aber danach zwang er die Männer, in der Mittagshitze, wenn wir normalerweise ausruhen, weiterzugraben. Ihn hätte nur ein vollständiges Onulet zufriedengestellt, möglichst unversehrt oder gar lebendig, nur um seinen Bruder als Lügner hinstellen zu können.« 106
Tocasia nickte. »Es wird täglich schlimmer, und sie wollen nicht miteinander reden. Wann immer sie aufeinandertreffen, entbrennt sofort ein Streitgespräch. Hinterher kommen sie zu mir, um es fortzusetzen und mir zu beweisen, daß der andere im Unrecht ist. Wenn ich ihnen aber erkläre, daß jeder im Recht oder Unrecht sein kann, benehmen sie sich, als habe ich für den anderen Partei ergriffen. Von der ganzen Zeit, die ich sie jetzt kenne, waren die letzten Monate die schlimmsten.« Ahmahl beugte sich vor. »Die Fallaji glauben, daß der Mensch aus Stein und Feuer, Himmel und Wasser besteht. Beim vollkommenen Menschen halten sich diese Elemente die Waage. Der jüngere Bruder hatte schon am ersten Tag seines Hierseins mehr Feuer, als nötig ist, und daran hat sich nichts geändert. Der ältere Bruder neigt mehr dem Stein zu. Er ist kalt und unnachgiebig. Unfähig, sich zu beugen, wird er eines Tages zerschmettert werden oder verwittern.« »Bei den Argivianern gibt es einen ähnlichen Glauben, dem man aber heutzutage wenig Bedeutung beimißt«, meinte Tocasia. »Die Welt ist in Traum und Wirklichkeit geteilt. Die alten Tempelpriester Argivias würden sagen: Die beiden jungen Männer werden von ihren Träumen verschlungen und vergessen die Wirklichkeit.« Ahmahl grunzte. »Redet Urza mit Euch über seine Träume?« Tocasia schüttelte den Kopf. »Urza redet mit niemandem mehr. Weder mit mir noch mit seinem Bruder.« Sie sah den Alten an. »Und Mishra?« Ahmahl nickte. »Mit mir nicht, aber er redet schon. Mit Hajar, einem meiner jüngeren Gehilfen, der ihm in Alter und Temperament nahesteht. Auch Hajar ist mit dem Feuer in Berührung gekommen, und er träumt davon, ein großer Krieger zu sein. Ich fürchte, wir wer107
den ihn nur zu bald an die Suwwardi verlieren. Aber Mishra hat mit Hajar gesprochen, der wiederum mit mir und ich jetzt mit Euch. Mishra hat Träume.« »Wovon träumt er?« Tocasia schenkte sich noch ein wenig Nabiz ein. »Von der Finsternis«, antwortete Ahmahl und hielt die Hände über das Kohlebecken, um die kalten Finger zu wärmen. »Er behauptet, da draußen herrsche Finsternis; eine Finsternis, die ihn mit Gesängen lockt - Sie zerrt und zieht an ihm wie ein Schakal, der sich in sein Hosenbein verbissen hat. Er fürchtet sich vor ihr.« »Das hat er gesagt?« fragte Tocasia erstaunt. Ahmahl zuckte die Achseln. »Mishra spricht mit Hajar. Hajar spricht mit mir. Ich spreche mit Euch. Immer wenn etwas weitererzählt wird, wird etwas verändert oder vergessen. Vielleicht solltet Ihr ihn selbst fragen. Wahrscheinlich hat er Hajar nicht gesagt: >Hajar, ich fürchte mich vor meinen Träumen<, aber da er im Lager der Arbeiter schläft, weiß ein jeder, daß er manchmal mitten in der Nacht aufwacht und etwas anschreit, was gar nicht vorhanden ist.« Tocasia schwieg eine Weile. Sie wußte nicht, ob Mishra auch vor der Entdeckung von Koilos derartige Träume gehabt hatte, als er noch mit Urza zusammenlebte. Sein Bruder hatte nie etwas verlauten lassen. Allerdings hatte Urza auch nie eigene Träume erwähnt, falls er überhaupt welche hatte. »Weißt du, daß beide etwas aus Koilos mitnahmen?« fragte sie. »Die Juwelen der Macht«, antwortete Ahmahl. »Sie sehen wie die Steine aus, die die Maschinen der Thran antreiben. Jeder der Jungen hat einen davon. Beide tragen ihn ständig bei sich.« »Könnten die Steine schuld an der ganzen Sache sein? Vielleicht bringt ihre Kraft die Brüder dazu, sich so zu benehmen.« 108
Wieder zuckte Ahmahl mit den Achseln, und Tocasia fuhr fort: »Weißt du, wozu die Kristalle in der Lage sind?« »Mishra hat nichts erzählt«, entgegnete Ahmahl ernst. »Vielleicht redete er mit Hajar darüber, aber...« Der unvollendete Satz hing in der heißen Wüstenluft. »Urzas Stein stärkt Dinge«, erklärte die Forscherin. »Er nennt ihn den Machtstein. Mishras scheint das Gegenteil zu bewirken. Deshalb hat Urza ihn Schwachstein genannt.« Ahmahl grunzte. »Es gefällt dem jüngeren Brüder sicher nicht, den schwächeren Stein zu haben.« »Richtig«, sagte Tocasia. »Urza weiß es und sagt es Mishra deshalb offen ins Gesicht.« »Wie nennt Mishra die Steine?« Tocasia dachte eine Weile nach. »Ich habe nie gehört, daß er Namen benutzt hat. Es ist >sein< Stein. Und der andere ist >sein< - Urzas - Stein.« »Das ist typisch«, bemerkte Ahmahl. »Der ältere Bruder neigte schon immer dazu, Dinge mit Namen zu belegen. Es gibt ihm das Gefühl, sie zu besitzen.« Tocasia seufzte. »So viele Jahre leben sie schon hier! Trotzdem sind sie mir immer noch so rätselhaft wie die Kraft, die in den Kristallen wohnt. Oder wie die Thran.« »Irgendwann werden wir alten Leute, Ihr und ich, die Thran verstehen«, meinte Ahmahl. »Sie sind nämlich so vernünftig, tot und begraben zu bleiben. Die Lebenden verändern sich im Laufe der Zeit dauernd. Das ist schwieriger, als auf ein laufendes Pferd zu springen.« »Ein altes Fallajisprichwort?« Tocasia hob den Becher. »Ein altes Ausgrabungssprichwort«, antwortete Ahmahl und erwiderte den Salut. »Von diesem alten Ausgräber hier erfunden.« 109
Später unterhielten sie sich über andere Themen. Zum Beispiel über die Schicht aus hartem Sandstein, auf die sie im zweiten Lager gestoßen waren. Auch darüber, ob Bly zusätzliche Wachen als Begleitschutz der Karawane benötigte (und wieviel er Tocasia dafür berechnen würde). Schließlich verabschiedete sich Ahmahl und verließ die alte Forscherin. Die Nacht war angenehm mild, und Tocasia wußte, daß sie wahrscheinlich in ihrem Sessel sitzend schlafen würde, in die weiche Pelzstola aus Sardia gewickelt. Langsam ging Ahmahl durch das Lager. Die Feuer waren abgedeckt und alle Lampen gelöscht worden. Selbst das Licht in Urzas Hütte, das länger als alle anderen gebrannt hatte, war erloschen. Der alte Mann blieb mitten im Lager stehen und sah zu den Sternen empor. Die Monde waren noch nicht aufgegangen, aber der Himmel war mit unzähligen funkelnden Sternen bedeckt. Ahmahl versuchte sich vorzustellen, ob der Himmel über den fernen Küstenstädten auch so prachtvoll aussah. Bestimmt nicht. Dort brannten die ganze Nacht über Feuer, deren Rauch die klare Nachtluft verpestete. So war es eben in den großen Städten. Zu seiner Linken gewahrte er eine Bewegung und vernahm den leichten Tritt von Sandalen auf dem Sandboden. Langsam drehte er sich zur Seite, den Kopf noch immer gen Himmel erhoben; sein Blick schweifte jedoch suchend umher. Die mondlose Nacht war dunkel, aber nicht dunkel genug, um die scharfen Augen eines Fallaji zu narren. Ein Rascheln ertönte aus der Nähe der Studentenunterkünfte. Ahmahl hörte ein unterdrücktes Husten. »Ist da wer?« rief er und sah genau in die Richtung, aus der das Geräusch kam. »Zeige dich, schattenhafte Gestalt, sonst wecke ich das ganze Lager!« Eine hagere Gestalt, in dunkles Leinen gehüllt, trat 110
aus dem Schatten heraus. Es war Hajar, Ahmahls oberster Gehilfe. Der junge Fallaji grinste schuldbewußt, und die weißen Zähne blitzten im Licht der Sterne. »Es ist eine so schöne Nacht, und ich konnte nicht schlafen«, erklärte er. »Ich wollte ein wenig Spazierengehen.« Ahmahl lächelte. »Ja, die Nacht ist wunderschön, und auch ich wandere umher. Gehen wir doch zusammen weiter.« Er wandte sich um, aber Hajar rührte sich nicht. Ahmahl lächelte und fügte hinzu: »Oder bist du etwa nicht allein?« Er sah zu dem Schatten hinter Hajar hinüber und sagte: »Du kannst auch herauskommen.« Ahmahl hatte erwartet, eine der vornehmen Studentinnen zu sehen, die Tocasias Obhut unterstanden. Solche Romanzen, die zwar offiziell nicht gern gesehen wurden, kamen recht häufig vor, und der Alte erinnerte sich noch gut genug an seine eigene Jugend und die Rechtfertigungen und Entschuldigungen, die man bei derartigen Gelegenheiten vorzubringen pflegte. Eine ordentliche Strafpredigt und eine Warnung an Tocasia, das argivianische Mädchen im Auge zu behalten, reichten normalerweise aus, um die ganze Angelegenheit zu regeln. Daher war Ahmahl verblüfft, als sich die Gestalt, die aus den Schatten heraustrat, als der breitschultrige Mishra entpuppte. Verwundert sagte der alte Fallaji: »Guten Abend, junger Herr. Genießt auch Ihr die wunderbare Nacht?« Mishra lächelte, aber selbst im gedämpften Licht der Sterne fiel Ahmahl auf, wie dünn und gezwungen dieses Lächeln wirkte. »Ich muß etwas aus Urzas... aus meiner alten Hütte holen«, erklärte er. »Ich bat Hajar, mir zu helfen.« »Aha. Und dieses Etwas ist so wichtig, daß Ihr es jetzt, mitten in der Nacht holen müßt, wenn Euer Bruder schon schläft?« meinte Ahmahl vorsichtig. 111
»Ja.« Mishra schien nachzudenken und einen Entschluß zu fassen. Er richtete sich kerzengerade auf und sagte herausfordernd: »Ja. Etwas Wichtiges. Zweifelst du an meinen Worten?« Ahmahl hatte sich den beiden genähert. Sie rochen nach Nabiz. Mit Sicherheit hatten sie bedeutend mehr getrunken als er selbst. »Keineswegs, Mishra. Ist dieser Gegenstand so schwer, daß Ihr einen zweiten Mann oder gar einen dritten benötigt, Euch tragen zu helfen?« »Ja«, sagte Mishra wieder. Dann berichtigte er sich hastig, als bereue er seine Worte: »Nein. Eigentlich nicht. Hajar leistet mir bloß Gesellschaft.« »So, so«, brummte Ahmahl. »Nun, ich brauche Hajar. Wenn Ihr ihn entbehren könnt, habe ich einen Auftrag für ihn.« Mishra verzog unwillig das Gesicht, und Ahmahl fragte sich, ob der Junge allein weitermachen oder den Plan fallenlassen würde. Ganz offensichtlich war er auf dem Weg zu Urzas Hütte, und der Alte nahm an, der jüngere Bruder wolle mit dem älteren streiten. Mishra hatte sich Mut angetrunken - eine zeitraubende Arbeit, die auch die späte Stunde erklärte. Wieder zwang sich der junge Mann zu einem dünnen Lächeln. »Natürlich. Wenn du Hajar brauchst, kann ich ihn ohne weiteres entbehren.« »Es ist bloß eine Kleinigkeit«, meinte Ahmahl. »Trotzdem brauche ich seine Hilfe. Ich möchte Euch noch einmal darauf hinweisen, daß Euer Bruder schläft. Er hat die Lampen gelöscht.« Mishra schüttelte den Kopf. »Manchmal liegt er im Dunkeln wach und schmiedet Pläne. Es würde mich wundern, wenn er schon schläft.« Ahmahl hob in gespielter Ergebung die Hände. »Wie Ihr meint. Ihr kennt ihn besser als ich. Komm, Hajar! Du mußt mir helfen.« 112
Der hagere Fallaji gesellte sich zu Ahmahl, und die beiden gingen auf das Lager der Arbeiter zu. Ahmahl blickte über die Schulter. Mishra war schon wieder mit den Schatten verschmolzen. »Was hattet ihr vor, Hajar?« Der junge Mann zog eine Grimasse. »Ich weiß nicht, ob ich es dir erzählen darf.« »Wir sind Fallaji. Wenn ich mir die Mühe machen würde, könnte ich herausfinden, daß die Familie meiner Mutter und die Familie deiner Mutter eine gemeinsame Mutter hatten. Heraus damit! Was hattet ihr vor, nach Wein stinkend und wie Schakale umherschleichend?« Der jüngere Mann blieb stehen, da er offenbar nicht gleichzeitig nachdenken und gehen konnte. Ahmahl wartete. Schließlich sagte Hajar: »Der junge Herr Mishra war wütend.« »Auf Urza?« Er nickte. »Weil Urza ihn fortwährend ärgert. Ihn bloßstellt. Und weil er ihm seinen Stein abspenstig machen will.« »Und heute war er betrunken und wütend genug, um etwas zu unternehmen«, stellte Ahmahl fest. Hajar zuckte mit den Achseln. Ja, das war es, dachte Ahmahl. Den Bruder mitten in der Nacht wecken, um ein drei Tage zurückliegendes Streitgespräch fortzusetzen. Die Gedanken ordnen, sie mit Alkohol begießen und dann anzünden. Hatte er überhaupt vor, Urza noch wach anzutreffen? Ein schrecklicher Gedanke überkam Ahmahl. Vielleicht wollte Mishra wirklich etwas aus der Hütte holen. Es überlief ihn kalt. »Schnell!« sagte er zu Hajar. »Ich habe doch einen Auftrag für dich. Lauf zu Tocasias Baldachin. Sie schläft bestimmt in ihrem Sessel. Wecke sie! Erzähle 113
ihr, was du mir gesagt hast, und sage, sie soll zur Hütte der Brüder... nein, zu Urzas Hütte eilen.« Hajar zögerte. »Ich denke, das wird kaum...« »Du hast zuviel getrunken, um noch denken zu können, Junge!« zischte Ahmahl. »Du wirst die Herrin Tocasia holen, und zwar sofort! Ansonsten wird der nächste Graben, den du aushebst, der Abtritt für die Studenten sein! Jetzt beeile dich!« Die Schärfe seiner Worte durchdrang Hajars trunkene Benommenheit wie ein Messer. Plötzlich hellwach und aufmerksam, lief der junge Mann schnell auf die Felsen zu, hinter denen Tocasias Zelt stand. Ahmahl schüttelte den Kopf und lief zu Urzas Behausung hinüber. Die Hütte war niedrig, aus grob gezimmerten Brettern gebaut und besaß ein graues Schindeldach. Eine schwere Tür und mit Kerzenwachs versiegeltes Pergament an den Fenstern boten Schutz vor dem Wüstensand. Sehr bequem für eine Person, dachte Ahmahl. Geeignet für zwei Knaben, und sehr eng für zwei junge Männer. Ganz besonders, wenn diese beiden jungen Männer sich nicht verstanden. Durch die Fenster drang Licht. Wenn Mishra einen Raub geplant hatte, so war er vereitelt worden. Stimmen waren zu hören, wütend und laut. Als Ahmahl näher kam, hörte er die beiden sprechen, konnte aber nichts verstehen, Mishras Stimme klang trunken und dröhnend, während Urzas einen bösen, eisigen Unterton hatte. Ahmahl stellte sich gegenüber der Tür auf. Wenn nicht etwas oder jemand durch die Tür geflogen kam, war es am besten, auf die Herrin Tocasia zu warten, entschied er. Der Streit wurde lauter, und in den Zelten und Hütten der Studenten gingen die Lichter an. Wenn der junge Mishra auf ein unbelauschtes Gespräch gehofft hatte, so blieb ihm das verwehrt. Jetzt brüllte Urza. 114
Ahmahl verstand nur die Worte. »Dieb!« und »Lügner!« Tocasia und Hajar gesellten sich zu ihm. Der junge Gehilfe schätzte die Situation richtig ein und verschwand in Windeseile in Richtung des Fallajilagers. Zweifellos würde er überall verbreiten, daß die beiden Brüder sich heftig stritten. Tocasia wirkte verwirrt, als sei sie aus tiefem Schlaf gerissen worden. Sie fuhr sich mit der Hand durch die kurzen grauen Haare. »Warum hast du sie nicht auseinandergebracht?« »Bisher sind noch keine Möbel zu Bruch gegangen«, erwiderte der Alte. »Und wenn, sollten wir trotzdem noch ein wenig abwarten. Dieser Streit schwelt seit Monaten. Sie müssen es endlich einmal austragen.« In der Hütte splitterte Glas. Tocasia trat einen Schritt vor, aber Ahmahl hielt sie sanft zurück. »Immer wenn die beiden streiten, mischt sich jemand ein und schlichtet. Laßt sie weitermachen. Vielleicht bekommen sie ein paar Beulen und Kratzer ab, aber es ist höchste Zeit für eine richtige Auseinandersetzung.« Das Geschrei hörte sich inzwischen an, als würden zwei wilde Hunde einander ankläffen. Wieder ertönte ein Krachen, das diesmal von einem schweren Gegenstand zu stammen schien. Inzwischen hatten sich die meisten Studenten vor der Hütte versammelt, und zahlreiche Arbeiter - angeführt von Hajar - waren ebenfalls erschienen. Durch die Fenster drang ein seltsames Leuchten. Zum goldenen Glanz der Lampe gesellte sich ein roter und grüner Schein, der immer stärker wurde, bis er das Lampenlicht schließlich verdrängte. Ahmahl senkte den Arm. Nie zuvor hatte er erlebt, daß eine Lampe derartige Farben verströmte. Er fragte sich, ob vielleicht ein Feuer ausgebrochen war. Plötz115
lieh erschien ihm der Gedanke, daß die beiden einander Vernunft einprügeln sollten, nicht mehr so gut wie noch vor wenigen Minuten. »Die Steine«, stieß Tocasia mit angsterfüllter Stimme hervor. »Sie bekämpfen einander mit den Steinen.« »Mit den Thransteinen?« fragte Ahmahl. Sie hörte ihn. nicht mehr. Die alte Forscherin rannte auf die Tür der Hütte zu. Er folgte ihr und bedeutete den anderen, Abstand zu halten. Tocasia betrat die Hütte als erste; Ahmahl war ihr dicht auf den Fersen. Der Fallaji roch den Rauch und sah Brandmale an den Wänden, obwohl kein offenes Feuer brannte. Die Brüder standen an den gegenüberliegenden Wänden des Raumes. Jeder hielt seinen Kristall umklammert. Urzas schickte rote Lichtblitze aus, Mishras dagegen grüne. Die Strahlen trafen mitten im Raum aufeinander, und es sah aus, als würden sie miteinander ringen, und jede Farbe versuchte, die andere zu überwältigen. Der Kampf forderte seinen Tribut. Mishra war schweißüberströmt wie ein halb zu Tode gehetztes Pferd; Blut floß aus seiner Nase. Urzas Gesicht war eine verzerrte Maske aus Schmerz und Anspannung, und auch er blutete aus der Nase. Mishra hatte sich ein wenig zusammengekrümmt, während sein Bruder stolz und hochaufgerichtet dastand. Ein jeder hielt seinen Kristall fest in beiden Händen. Der Raum war von den stärkenden und schwächenden Blitzen nicht unberührt geblieben - es herrschte eine drückende Hitze. Die Luft schimmerte förmlich vor geballter Energie; sie war wie ein Lied der Macht, das allmählich immer lauter wurde. Keiner der jungen Männer gab nach, und das Leuchten der Blitze wurde immer greller. Tocasia hob die Hände und rief etwas, was Ahmahl 116
nicht verstand. Die Brüder beachteten sie nicht, sondern waren vollkommen in ihren Zweikampf vertieft. Wieder rief Tocasia und trat in die roten und grünen Strahlen hinein, die Arme hoch erhoben, als wolle sie die Jungen und ihre Kristalle mit dieser Geste zum Einhalten bringen. Ahmahl stimmte in ihren Ruf ein und sprang vor, aber er war zu langsam. Tocasia durchbrach einen der rubinroten und jadegrünen Blitze. Sofort starrten beide Brüder sie an. Sie waren verwirrt, und die Strahlen Schossen kreuz und quer durch den Raum... Dann explodierte die Hütte. Ahmahl fühlte sich emporgehoben und durch die Öffnung, wo vorher die Tür gewesen war, fortgeschleudert. Die vier Wände und der größte Teil des Daches barsten auseinander und bedeckten die Zuschauer mit Holzsplittern und brennenden Sparren. Irgendwann merkte Ahmahl, daß er die Sterne über sich sah. Sie drehten sich langsam im Kreis, während er auf dem Rücken lag. Mit Mühe rappelte er sich auf und spürte, wie in seinem Knie etwas Weiches nachgab. Der Alte verzog das Gesicht und erhob sich. Er hörte das Stöhnen der Verwundeten und die Schreie der Helfer. Sekunden zuvor hatte er keinen Laut vernommen, und er fragte sich, ob ihn die Explosion vorübergehend taub gemacht hatte. Immer mehr Fackeln leuchten auf, und jemand hatte ein Lagerfeuer entfacht. Taumelnd richtete er sich auf und sah zu den Überresten der Hütte hinüber. Sie war fast vollständig zerstört; nur eine Ecke stand noch. Die nähere Umgebung war in Rauch und Feuer gehüllt. Im Innenraum der Hütte erblickte er drei Gestalten. Zwei von ihnen knieten über der dritten. Ahmahl hinkte zu ihnen hinüber. Tocasia lag in Urzas Schoß, und Mishra kniete daneben. Sie sah wie eine zerbrochene Puppe aus, und der Kopf lag in 117
einem seltsamen Winkel zum Körper. Mishra hielt die Finger an ihren Hals gepreßt. Er sah Ahmahl an und schüttelte den Kopf. Auch Urza sah auf, ohne den Alten jedoch zu beachten. Er blickte seinen Bruder an. Der Haß, der aus seinen Augen sprach, war auch durch die Tränen, die über seine Wangen strömten, unverkennbar. Ahmahl konnte sich nicht erinnern, den jungen Mann jemals weinen gesehen zu haben. Der alte Fallaji erkannte, wie abgrundtief der Haß und die Verachtung in seinem Blick waren. Mishra wich zurück, als habe man ihn geschlagen. Er stand auf und entfernte sich ein kleines Stück von der Leiche. Urza regte sich nicht und sagte kein Wort. Der jüngere Bruder tat erst einen Schritt, dann noch einen und rannte plötzlich in wilder Hast davon, das zerstörte Haus hinter sich zurücklassend. Niemand hielt ihn auf. Ahmahl legte den letzten Stein auf die kleine Pyramide. Die Studenten und die Arbeiter hatten der Toten die letzte Ehre erwiesen, und Hajar hatte freiwillig angeboten, einen Gedenkstein anzufertigen, um Tocasias letzten Ruheplatz zu kennzeichnen. In dem Gebiet, das von Gräben und Gruben durchzogen war, beerdigten sie die Gelehrte in dem steinigen Boden des Hügels, auf dem einst ihr Zelt gestanden hatte. Während des ganzes Tages, als man den Leichnam wusch, ankleidete, die Gebete sprach (alte argivianische Gebete), Fallajilieder sang und schließlich die Steinpyramide errichtete, wich Urza nicht von ihrer Seite. Von Mishra gab es kein Lebenszeichen, und alle gingen davon aus, ihn nie wieder zu sehen. Urzas Gesicht war von Schmerz und Trauer gezeichnet, und kurzzeitig fand Ahmahl, daß der junge Mann älter aussah, als Tocasia es gewesen war. Er wollte 118
etwas sagen, aber Urza brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Ahmahl nickte und zog sich hinkend zurück. Er stützte sich auf einen Wanderstab Tocasias, um sein verletztes Knie zu entlasten. Es war der Nachmittag des ersten Tages nach Tocasias Tod. Bei Sonnenuntergang des zweiten Tages kehrte er zum Grab zurück und fand Urza in der gleichen Stellung vor, als habe er sich in einen Stein verwandelt, um als Statue am letzten Ruheplatz seiner Gönnerin zu verweilen. »Junger Herr Urza, wir müssen uns unterhalten«, sagte Ahmahl leise. Urza nickte. »Ich weiß. Es gibt viel zu tun. Die Studenten sollen etwas lernen, und wir müssen die Ausgrabungen fortsetzen. Artefakte müssen aus dem Boden geholt werden.« Er sprach mit ausdrucksloser Stimme, als sei es das letzte, was er zu tun wünsche. »Wir müssen einiges besprechen. Die meisten Studenten und Arbeiter sind unverletzt, nur einige wenige wurden bei der Explosion verwundet. Nichts Ernstes.« Urza nickte, und Ahmahl fragte sich, ob Urza überhaupt einen Gedanken an die anderen Bewohner des Lagers verschwendet hatte. Oder an seine eigenen Verletzungen. Die Kratzer und Brandwunden an den Armen und am Hals waren bereits mit häßlichen dunklen Krusten bedeckt. Ahmahl schüttelte den Kopf und zwang sich weiterzusprechen. »Es wäre besser, die Studenten so bald wie möglich nach Penregon zurückzuschicken.« Urza sah den Alten erstaunt an. In seinen zuvor leblosen Augen regte sich allmähliches Begreifen. »Wir müssen Tocasias Arbeit fortsetzen«, stammelte er schließlich. »Wir müssen weitermachen.« Ahmahl seufzte. »Die Fallaji folgen eher Menschen als Ideen. Sie haben Tocasia hoch geachtet und deshalb 119
haben sie ihr geholfen. Vielleicht wären sie auch Eurem Bruder gefolgt, der unter ihnen lebte. Aber Euch kennen sie nicht. Ihr habt sie kaum beachtet. Sie bleiben nicht hier.« »Wir können andere Arbeiter anheuern«, widersprach Urza. »Außerdem haben wir die Studenten. Sie können auch mithelfen.« »Wenn keine Fallaji hier sind, seid Ihr ein leichtes Ziel für die Wüstenräuber«, erklärte der Alte. »Immer mehr Fallaji mögen es nicht, wenn sich Argivianer in dem Land aufhalten, das sie als das ihre ansehen. Ihr müßtet viele Leute aus Argivia herbringen. Soldaten. Arbeiter. Der Ort ist für Studenten nicht mehr geeignet.« Urzas Mund war nur noch ein dünner Strich. »Ich verstehe.« Ahmahl wußte, was sich hinter seiner gefurchten Stirn abspielte, wie ein Gedanke zum nächsten führte. »Sage mir«, meinte Urza schließlich, »bin ich hier in Sicherheit?« Ahmahl sah zu der Steinpyramide hinüber. Vor einiger Zeit hatte er Tocasia versichert, es werde keine Schwierigkeiten geben, aber er hatte sich geirrt. Einen ähnlichen Fehler würde er nicht noch einmal begehen. »Nein, ich glaube nicht. Den Studenten wird nichts geschehen, aber viele unter meinen Leuten geben Euch die Schuld an Tocasias Tod. Und am Verschwinden Mishras.« Urza sah zu Boden. »Ich weiß nicht, wo er steckt«, sagte er leise und fügte hinzu: »Ich wünschte, er würde zurückkehren.« Ahmahl nickte. »Das wünschte ich auch.« Er legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. Urza erschauerte unter der ungewohnten Berührung und wich zurück. Der Fallaji senkte den Arm und ließ den jungen Mann am Grab zurück. Per Ornithopter sandte man eine Botschaft über das 120
Unglück nach Penregon, und der Vogel kehrte mit Loran und - zu Ahmahls größter Überraschung - mit Richlau an Bord zurück. Die junge Adlige sollte sich um Tocasias Hinterlassenschaft kümmern, während der Mann das Abbrechen des Lagers beaufsichtigte. Besorgte Eltern aus Penregon hatten bereits eine Karawane ausgesandt, damit ihre unbeaufsichtigten Kinder nicht zum Opfer der Wüstenräuber würden. Als diese Karawane eintraf, war Urza bereits verschwunden. Er hatte zwei Tage lang gemeinsam mit Loran Tocasias Schriften zusammengestellt und sich dann einer kleinen Karawane angeschlossen, die nach Süden zog. Er teilte der jungen Frau mit, er habe kein Verlangen, nach Penregon heimzukehren. Ahmahl erklärte er, er wolle nicht mit ansehen, wie sein geliebtes Lager abgebrochen wurde. Es gab kein Lebenszeichen von Mishra, obwohl Richlau Ornithopterpatrouillen ausschickte, die ihn aus der Luft aufstöbern sollten. Falls er jemals das Lager betrat, so sah ihn niemand oder aber wollte nicht zugeben, ihn getroffen zu haben. Ahmahl war der letzte, der sich von Urza verabschiedete. Keiner der anderen Fallaji wollte sich ihm nähern, und da keine Arbeit mehr anlag, entfernten sich die Leute in Zweier- oder Dreiergruppen. Das Lager wirkte allmählich wie eine Geisterstadt: noch immer bewohnt, aber ohne das lebenswichtige Herz. Dieses Herz war mit Tocasia gestorben. Ahmahl saß neben Tocasias Grab und beobachtete, wie sich die Karawane, die aus >freundlich< gesinnten Fallaji bestand, langsam entfernte. Urza ging zu Fuß, einen Stock der Gelehrten als Wanderstab benützend. Abgesehen davon trug er nur ein paar ausgebrannte und beschädigte Kraftsteine bei sich. Jene Dinge und sein Wissen, dachte Ahmahl. Urza drehte sich um und sah zu Ahmahl hinauf. 121
Nein, berichtigte sich der Alte. Er schaute zu Tocasias Grab hinauf. Ahmahl stand zu weit entfernt, um das Gesicht des Jungen erkennen zu können, aber er sah die herabhängenden Schultern. Der alte Fallaji glaubte Urza zu verstehen. Der junge Mann hatte seine Gönnerin, seine Heimat und seinen Bruder verloren - nur ob der Taten einer einzigen Nacht. Ahmahl würde Jahre brauchen, um zu begreifen, welcher der drei Verluste für Urza am härtesten zu ertragen war.
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KAPITEL 6
Kroog Kayla
bin-Kroog, Tochter des Herrschers der Stadt Kroog, Prinzessin von Yotia und schönste Frau östlich des gewaltigen Mardunflusses, vergnügte sich mit Einkaufen, als sie dem seltsamen Argivianer begegnete. Gerade hatte sie die frischen Pflaumen gekostet, die per Schiff aus den Küstengebieten Yotias eingetroffen waren, und man hatte ihr die feinsten und farbenprächtigsten Stoffe aus Zegon gezeigt. Die Händler boten ihr die frischesten Gewürze aus dem fernen Almaaz und die größten Riesenklauenkrabben aus Obermardun an. Eine Gruppe sardianischer Zwerge wollte ihr goldene Ohrringe verkaufen, die einst ihrer mächtigsten Kaiserin gehört hatten. Eine verschleierte Nomadin bot sich an, der Prinzessin aus der Hand zu lesen. Das alles ging mit umständlichen Zeremonien und größtem Ehrerbieten vonstatten, worüber Kayla entzückt war. Es hatte durchaus Vorteile, eine Prinzessin zu sein. Sie prüfte mehrere Handvoll der glänzenden Eissteine aus Sarinth, kristallklare Juwelen, hart wie Stahl. Sie ließ die Finger über die dicken gewebten Fallajiteppiche gleiten, die aus Tomakul importiert wurden. Ein Barde sang ihr seine Verse vor, die er - wie er hoch und heilig beteuerte - nur für sie allein gedichtet hatte. Straßenartisten bildeten eine menschliche Pyramide, um sie zu erfreuen. Ladenbesitzer brachten Kostproben erlesener Speisen oder Stoffmuster, um sie der ersten Dame der Stadt Kroog zu zeigen. Kayla bin-Kroog hatte jedoch einen bestimmten 124
Grund für den Ausflug ins Kaufmannsviertel. Es handelte sich nicht um einen willkürlichen Einkaufsbummel, wenngleich niemand wagen würde, sie danach zu fragen - außer vielleicht ihr Vater, der manchmal in diesen Dingen recht kleinlich sein konnte. Diesen Grund verbarg sie in dem kleinen Beutel, den sie fest gegen die Brust gedrückt hielt. Weder hatte sie ihrem Vater davon erzählt, noch hatte sie ihre Leibwachen oder die ehrenwerte Zofe, die als Anstandsdame an ihrer Seite zu weilen hatte, in Kenntnis gesetzt. Dieser Grund war es auch, der ihre Schritte beflügelte. Bei jedem Aufenthalt, den sie auf dem Spaziergang einlegte, erkundigte sie sich nach den Läden der Umgebung. Es gab Tavernen, Tuchgeschäfte, Hutmacher, Juweliere, Kettenknüpfer und viele andere. Aber erst als jemand einen Uhrmacher erwähnte, leuchteten die dunkelbraunen Augen auf. Dort würden sie hineinschauen, teilte Kayla der Zofe mit, die es wiederum den Wachen erzählte, die sich wiederum nach der genauen Lage erkundigten und ihrer königlichen Herrin einen Weg durch die Menschenmenge bahnten. Der Laden des Uhrmachers war winzig, was im überfüllten Händlerviertel von Kroog etwas heißen wollte. Das Gebäude hatte nur ein Stockwerk, war hoch und schmal und zwängte sich zwischen eine Schmiede und einen Juwelier. Das Erdgeschoß wirkte durch den langen niedrigen Ladentisch, der sich fast durch den gesamten Raum zog, noch kleiner. Er trennte die Werkstatt vom Verkaufsraum. Die Wachen blieben draußen stehen, aber nur ein Verbot der Götter hätte die Anstandsdame zurückgehalten, die förmlich an der Seite der Prinzessin klebte. Beim Betreten des Ladens rümpfte Kayla die Nase - es roch nach Holz, Öl und anderen Dingen, die sie nicht benennen konnte und wollte. 125
Es war laut hier. Das Ticken einer Uhr war unterhaltsam. Bei zehn Uhren war es entnervend, und hier hingen und standen mindestens zwanzig Uhren rechts und links an den Wänden. Schwere Pendel schwangen gleichmäßig vor und zurück, während andere Zeitmesser leise schlugen, um jede vergehende Sekunde anzuzeigen. Es war gleichzeitig überwältigend und faszinierend. Der Uhrmacher war ein typischer Vertreter seines Berufsstandes: gut genährt, wie ihr Vater sagen würde. Eigentlich war der Bursche mehr als nur gut genährt, fast schon fett. Er und die Anstandsdame glichen einander im Umfang, und einen Augenblick lang fragte sich Kayla, ob sie wohl zu dritt im selben Raum Platz hatten. Der Uhrmacher war nicht nur beleibt, sondern auch fast kahlköpfig, mit grauen Schläfen. Er trug eine argivianische Brille, wie sie bei Feinarbeiten üblich war. Der Mann war mit einem ölbeschmierten Hemd bekleidet, das teilweise von einer schweren Lederweste verdeckt wurde. Entweder gehörte die Weste einem jungen Verwandten, oder er hatte sie gekauft, als er noch dünner gewesen war. »Hochverehrte königliche Hoheit!« stieß der Uhrmacher entzückt hervor. Untertänige Begrüßungen der Prinzessin waren in Kroog selbstverständlich. Ganze Werkstätten und Läden kamen bei ihrem Eintritt zum Stillstand, wenn sich die Inhaber und Arbeiter verbeugten und vor Unterwürfigkeit gegenseitig überboten. Der Uhrmacher konnte es mit den demütigsten unter ihnen aufnehmen. »Ich vermag kaum zu glauben, daß Ihr meinen bescheidenen Laden mit Eurer Gegenwart beglückt«, murmelte er bewundernd. »Ich fühle mich geehrt, überaus geehrt.« »Ihr stellt Uhren her«, sagte Kayla freundlich, und 126
seine Augen leuchteten auf, als habe sie ihm die bevorstehende Ankunft der Götter angekündigt. »O ja!« rief er begeistert aus. »Ihr befindet Euch im Heim Ruskos, im Haus der Uhren, und wir heißen Euch willkommen. Ist unsere wunderschöne Majestät an einem Zeitmesser interessiert?« »Nein«, antwortete Kayla kurz. In der Tat hätte sie sich kaum etwas weniger überflüssiges als eine Uhr vorstellen können. Sicher, sie waren für jene armen, unglücklichen Menschen notwendig, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein mußten, aber das galt nicht für sie. Feierlichkeiten nahmen erst ihren Anfang, wenn sie den Saal betrat, und immer waren es die anderen, die auf sie zu warten hatten. Kayla legte den Beutel auf den Ladentisch und öffnete ihn. »Ich habe etwas, das repariert werden muß. Es gehörte meiner Mutter, funktioniert aber seit einigen Jahren nicht mehr.« Sie zog ein kleines silbernes Kästchen hervor. Es war so gut poliert, daß es die Sonnenstrahlen von draußen anzuziehen schien, um seinen Glanz noch zu verstärken. Kayla erblickte ihr Spiegelbild - klare dunkelbraune Augen, glänzendes rabenschwarzes Haar, weiche Lippen, voll und sinnlich. Sie war der Ansicht, daß man auch viel Aufhebens um sie machen würde, wenn sie nicht die Tochter des mächtigsten Mannes von Kroog gewesen wäre. Sie reichte dem Uhrmacher das Kästchen, der es so behutsam in die Hand nahm, als handele es sich um eine lebendige Maus. Vorsichtig drückte er auf den Verschluß, und lautlos öffnete sich der Deckel. »Oh!« sagte er ehrfürchtig und dann, um sein Staunen zu betonen, noch einmal: »Oh!« Plötzlich war sich Kayla sicher, daß der Mann ein derartiges Kunstwerk nie zuvor erblickt hatte. »Wenn 127
der Deckel geöffnet ist, sollte eigentlich Musik erklingen«, erklärte sie. »Ja«, stimmte er hastig zu. »Ja, natürlich, so sollte es sein!« Er schloß das Kästchen und drehte es ein paarmal in den Händen herum. Dann legte er einen Finger an die Lippen, zog nachdenklich die Brauen zusammen und stellte es auf den Ladentisch. Er sah Kayla mit einem Lächeln an, das freundlich wirken sollte, aber in Wirklichkeit nichts anderes als ein schmieriges Grinsen war. »Laßt mich meinen Gehilfen rufen. Für dieses Schmuckstück bedarf es junger Augen und geschickter Hände.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und rief: »Gehilfe! Zur Theke!« Kayla sah zum hinteren Teil des Raumes hinüber. Der Uhrmacher hatte sich an einen schlanken blonden Mann gewandt, der im Hintergrund der Werkstatt auf einer Bank gesessen hatte. Er war ihr vorher nicht aufgefallen, da er bei ihrem Eintreten nicht aufgestanden und nach vorn gekommen war. Das erschien ihr eigenartig. Jeder erhob sich und kam näher, wenn sie einen Raum betrat. Der junge Mann war groß, aber nicht riesig, schlank, aber nicht hager, gutaussehend, aber kein Schonung. Das weißblonde Haar trug er zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er schlenderte zum Ladentisch, hob fragend die Brauen und sagte: »Wie kann ich Euch behilflich sein, edle Dame?« Als sie seine Aussprache vernahm, war Kayla zweifach beruhigt. Die abgehackte Sprechweise verriet den Argivianer, und als solcher wußte er nicht, wie man wahre königliche Hoheiten zu behandeln hatte. Der König von Argivia war schwach, und es wurde erzählt, daß der Adel machte, was er wollte. Außerdem wußten junge Argivianer, wie man mit Artefakten und alten Mechanismen umging. Der Uhrmacher deutete auf das Silberkästchen. »Ihre 128
Majestät wünscht eine Reparatur dieses Gegenstandes«, erklärte er und betonte den Titel deutlich, damit der Gehilfe auch wußte, wen er vor sich hatte. »Es handelt sich um eine Spieluhr.« Der junge Mann hob das Kästchen auf und betrachtete es eingehend. Kayla fand, daß er bedeutend selbstsicherer wirkte als der Uhrmacher. »Woran fehlt's?« fragte er. »Es funktioniert nicht!« zischte der Alte. »Es soll Musik machen!« »Aha«, meinte der Gehilfe gelassen. »Nun, wollen wir mal nachsehen, was nicht in Ordnung ist.« Er drehte die Spieluhr um und drückte beide Daumen gegen die Unterseite. Ein lautes Knacken ertönte. Bei dem Geräusch zuckte Kayla bin-Kroog zusammen, und der Uhrmacher sah aus, als würde er jeden Augenblick ohnmächtig zu Boden sinken. Hatte der Gehilfe das kostbare Kunstwerk zerbrochen? Kayla war sich nicht ganz sicher. Dann bemerkte sie, daß der junge Mann nur eine Klappe auf der Unterseite des Kästchens zurückgeschoben hatte. Darunter kam ein Gewirr aus Drähten und Spiralen zum Vorschein, das zu einer so zierlichen Kostbarkeit gar nicht zu passen schien. »Da haben wir das Problem«, sagte der Argivianer. Seine schlanken Finger tasteten über die feinen Drähte. »Die Hauptantriebsfeder ist herausgesprungen. Kleinen Augenblick, bitte.« Er legte das Kästchen auf die Ladentheke, ging zu seiner Werkbank hinüber und kehrte mit einem kleinen, länglichen Stift mit gebogener Spitze zurück. »Damit beheben wir den Schaden«, murmelte er. Ein leises Klicken, und der Gehilfe lächelte zufrieden. »Bitte sehr.« Mit lautem Knacken schloß er die Klappe und reichte der Prinzessin die Spieluhr. Dabei berührten sich ihre Finger sekundenlang. 129
Kayla bin-Kroog öffnete den Deckel des Kästchens. Nichts geschah. Die Anstandsdame verzog unmutig das Gesicht. Kayla warf dem jungen Mann einen eisigen Blick zu und hob die sorgfältig gezupfte Augenbraue. Der Uhrmacher sah aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen. »Wenn du die Spieluhr der Prinzessin kaputtgemacht hast...« »Nun, man muß sie natürlich aufziehen«, sagte der Argivianer, und Kayla hätte schwören können, einen selbstgefälligen Unterton in seiner Stimme zu vernehmen. »Ihr habt doch den Schlüssel, nicht wahr?« »Schlüssel?« wiederholte Kayla. »Laßt mich noch mal nachsehen.« Der Gehilfe streckte die Hand aus. Die Prinzessin reichte ihm das Kästchen, und wieder streiften sich ihre Finger. Der junge Mann nahm es entgegen und durchsuchte etliche Schubladen eines Schrankes hinter der Theke. Schließlich hob er den Kopf und kam wieder nach vorn. »Ein Schlüssel«, sagte er. »Habe einen gefunden, der paßt.« Er hielt einen schlichten Schlüssel aus billigem, glanzlosen Metall in die Höhe, der an der Seite schon ein wenig verrostet war. Er steckte ihn in eine Öffnung, drehte ihn ein paarmal herum, zog ihn wieder heraus und gab der Prinzessin die Spieluhr zurück. »Versucht es noch einmal.« Kayla öffnete das Kästchen, und eine leise, ein wenig blechern klingende Melodie erfüllte den Raum. Einen Augenblick lang vergaß sie das unablässige Ticken der Uhren, die sie umgaben. Es hörte sich an, als spielten winzige Kobolde mit kleinen Kristallglöckchen. Wenn man genau hinhörte, erklang neben der ersten Melodie noch eine zweite, etwas leisere. Sie hielt die Spieluhr ans Ohr und sagte: »Ich höre zwei Lieder.« 130
Der Argivianer nickte. »Ein Kontratempo. Zwei Melodien, unterschiedlich schnell. Ich erinnere mich, als Kind eine ähnliche Spieluhr besessen zu haben, die natürlich nicht so kunstvoll gearbeitet und nicht so schön war.« Kayla lächelte und nahm das Kompliment für sich in Anspruch. Sie schloß den Deckel, und die Musik verstummte. »Vielen Dank«, sagte sie. Der Argivianer hielt ihr den häßlichen Schlüssel entgegen. »Nehmt ihn mit, damit Ihr sie aufziehen könnt.« Der Uhrmacher riß den Schlüssel mit einer Geschwindigkeit an sich, die man ihm ob seiner Leibesfülle nie zugetraut hätte, und präsentierte ihn der Prinzessin formvollendet. »Die Spieluhr von Kroog und der Schlüssel von Rusko!« sagte er und legte ihn in Kaylas zierliche Hand. Die Prinzessin sah den Argivianer an. »Ihr seid Rusko?« Der junge Mann grinste, und es war ein unmißverständlich süffisantes Grinsen. »Er ist Rusko. Ich heiße Urza. Und Ihr könnt Euch bei jedem Goldschmied einen schöneren Schlüssel anfertigen lassen.« »Vielen Dank, Herr Urza«, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln, das nur für ihn bestimmt war. Dieses Lächeln hatte schon erfahrene Höflinge und schneidige junge Offiziere dahinschmelzen lassen. Der Argivianer namens Urza erwiderte das Lächeln anscheinend unbeeindruckt und sagte: »Gebt acht, daß Ihr die Spieluhr nicht überdreht. Das war sicherlich der Grund, warum die Feder heraussprang. Zieht sie nur so lange auf, bis Ihr einen Widerstand verspürt.« Er hatte sich an die Anstandsdame gewandt, da er an131
scheinend davon ausging, daß sie für derartige Aufgaben zuständig war. Kayla lächelte erneut, reichte ihm aber nicht die Hand. Sie schwebte aus dem Laden, die ältere Frau im Schlepptau. Die Anstandsdame blickte mürrisch drein, als habe sie nicht verstanden, was geschehen war. Als sie wieder auf der Straße standen, fragte sie die Prinzessin: »Zum Goldschmied, Majestät?« Kayla steckte das Kästchen in den Beutel zurück und behielt den rostigen Schlüssel in der Hand. »Demnächst«, antwortete sie. »Für heute habe ich genug eingekauft.« Daraufhin wandte sich die Prozession - Wachen, Anstandsdame, Prinzessin, Neugierige und Bewunderer - um und schritt in die Richtung der königlichen Gefilde, zurück zu Papas Palast. Im Laden des Uhrmachers klebte Rusko so lange am Fenster, bis auch die letzten Begleiter der Prinzessin verschwunden waren und die Straße wieder das gewohnte Bild bot. »Die Prinzessin!« sagte er mehr zu sich selbst und rieb sich die Hände. Dann hob er die Stimme. »Die Prinzessin von Kroog war hier! In meinem Laden!« »Mit einer überdrehten Spieluhr.« Urza schüttelte den Kopf. »Haben die denn keine Lakaien, die derartige Dinge für sie erledigen?« »Hüte deine Zunge, Bursche!« warnte ihn Rusko. »Wenn sich herumspricht, daß sie mein Geschäft betreten und meine Uhren bewundert hat, bekommen wir mehr zu tun, als wir bewältigen können.« »Mir ist nicht aufgefallen, daß sie Eure Uhren bewundert hat«, meinte Urza. »Weil du nicht darauf geachtet hast!« erwiderte der Uhrmacher lächelnd. »Und das ist aus zwei Gründen eine regelrechte Tragödie. Erstens: Sie ist eine könig132
liehe Hoheit, und man soll Hoheiten immer beachten; sie können einem übel mitspielen, wenn man es nicht tut. Und zweitens: Selbst wenn sie keine königliche Hoheit wäre, so ist sie auch noch wunderschön.« »Kann sein. Ist mir nicht aufgefallen«, bemerkte Urza und ließ sich wieder an seiner Werkbank nieder. »Nicht aufgefallen?« fauchte Rusko. Dann zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. »In deinen Adern muß Eiswasser fließen, Kerl. Entweder das, oder aber in Penregon wimmelt es von solchen Schönheiten.« Urza antwortete nicht, und Rusko schüttelte den Kopf. Der junge Mann war ein fleißiger Mensch, hatte aber außer seiner Arbeit anscheinend keinerlei Interessen. Vor drei Monaten war der Bursche auf der Suche nach einer Stellung aufgetaucht. Er war mit einer Fallajikarawane aus der Wüste gekommen, aber seine Redeweise wies ihn als Argivianer aus, der wahrscheinlich aus gutem Hause stammte. Rusko vermutete, daß es sich um dem mißratenen Sprößling einer Adelsfamilie handelte. Ist bestimmt bei seinen Eltern in Ungnade gefallen, weil er den falschen Löffel zum Essen der Suppe benutzt hat oder etwas in der Art, dachte Rusko. Er hatte gehört, daß der Junge zuerst bei der Tempelschule um eine Anstellung als Gelehrter nachgefragt hatte. Natürlich sprach sein Mangel an religiöser Unterweisung gegen ihn. Dann versuchte er es bei den Gilden. Auch dort erwies sich die argivianische Herkunft als Nachteil, denn die meisten Gilden stellten vorrangig einheimische Yotianer ein. Rusko war ein unbedeutendes Mitglied der Uhrmacher- und Juweliergilde (das aber kurz vor der Vergrößerung seines Ladens stand, wie er fortwährend behauptete), und er brauchte einen Gehilfen. Außerdem war der Argivia133
ner bereit, für wenig mehr als Unterkunft und Verpflegung zu arbeiten. Selbstverständlich wußte Rusko den Fleiß seines neuen Gehilfen zu schätzen. Er machte sich jedoch Sorgen, daß Urza - weil er Argivianer war - die schönen Seiten des Lebens nicht zur Kenntnis nahm. Nach Ruskos Meinung waren die Argivianer ein verdrießliches und sachliches Volk, und der neue Gehilfe war das beste Beispiel dafür. »Ich glaube, sie interessiert sich für dich«, erklärte er nach einer Weile. »Mir ist der Blick nicht entgangen, den sie dir zuwarf, als ich ihr den Schlüssel reichte.« »Den Schlüssel von Rusko«, sagte Urza und blickte auf. »Warum habt Ihr so ein Theater bei der Übergabe des Schlüssels veranstaltet?« »Oh!« stieß der Uhrmacher hervor und lächelte väterlich. »Laß mich dein Wissen vergrößern, junger Mann. Regel Nummer Eins: Versieh jede Arbeit mit deinem Zeichen. Ich verkaufe nicht einfach nur Uhren, sondern die Uhren von Rusko!« Er deutete auf die an der Wand hängenden Zeitmesser. »Deine Arbeit muß immer mit deinem Namen in Verbindung stehen! So weiß jeder, was du geschaffen hast, und dein Ruhm kann sich verbreiten. In hundert Jahren werden sich die Menschen noch an Rusko und seine Uhren erinnern.« »Nur wenn es gute Uhren sind!« erwiderte Urza. »Ja, es sind die besten Uhren!« strahlte Rusko. »Woher wissen die Leute das? Weil wir es ihnen sagen! Zeige immer, wessen du fähig bist. Und versieh jede Arbeit mit deinem Namen.« Urza wandte sich wieder der zerlegten Uhr zu, die vor ihm lag, und untersuchte einen äußerst widerspenstigen Hebel, der einfach nicht an seinem Platz bleiben wollte. »Hörst du mir überhaupt zu?« fragte Rusko. »Wir sagen es ihnen«, wiederholte Urza gleichgültig. 134
Zeigen, wessen man fähig ist. Die Arbeit mit dem eigenen Namen versehen. Ich höre Euch zu.« Er sah aber nicht auf. Drei Monate. Seit drei Monaten arbeitete der Argivianer für ihn, übernachtete im Laden, und trotzdem wußte Rusko nichts über den Mann. Er beschäftigte ein Rätsel; ein fleißiges Rätsel zwar, aber dennoch ein Rätsel. Irgend jemand mußte dem jungen Mann zeigen, daß es außer der Arbeit noch mehr im Leben gab. Rusko seufzte. Da aber niemand Geeignetes vom Himmel fiel, würde er diese Aufgabe wohl selbst übernehmen müssen. Der alte Uhrmacher sagte: »Ihr Argivianer seid so langweilige Leute. So praktisch und ordentlich. Warum tat es so schlimm zuzugeben, daß man gerade eine traumhaft schöne Vision hatte?« Urza legte den Hebel auf die Werkbank. »Also gut. Sie war sehr hübsch. Kann ich jetzt weiterarbeiten?« »Ich glaube, der Mangel an Göttern ist schuld daran«, überlegte Rusko laut und hob mahnend den Finger. »Die Argivianer beten nicht besonders viel, stimmt's?« »Früher schon«, antwortete Urza. »Heutzutage nicht mehr.« »Daran liegt es!« meinte Rusko und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Keine Götter, kein Leben. Ihr habt aus euren Göttern bloße Redensarten, Psalmen, Gleichnisse und trockene Schriften gemacht. Die Götter Yotias dagegen sind quicklebendig! Unser größter Tempel ist mit Göttern überfüllt, und ständig kommen neue aus dem Hinterland dazu. Bok, Mabok, Horiel, der Flinke, Gaea, die Erdmutter, Thindar, Rindar, Melan...« »Ein Gott für jede Gelegenheit«, bemerkte Urza trocken. 135
»Genau!« rief Rusko. »Was man auch tut: Ein Gott stimmt zu, ein anderer ist dagegen oder warnt ernsthaft davor. So ist das Leben viel aufregender.« »Reine Energieverschwendung«, meinte Urza. »Außer natürlich man hat Befehlsgewalt über alle diese Tempel, die von der allgemeinen Verehrung profitieren.« Rusko wedelte verärgert mit der Hand. »Du verstehst mich falsch. Ein Yotianer würde wenigstens zugeben, eine sehr hübsche und mächtige junge Frau kennengelernt zu haben. Er hätte seine Freude daran. Du streitest es ab und fügst so deiner Seele Schaden zu.« Urza legte das Werkzeug beiseite, holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Dann lächelte er. »Ich gebe es zu, Herr Rusko! Sie war wunderschön. Traumhaft! Und jetzt, da ich es zugegeben habe - was ändert es? Der König hat sie bestimmt schon einem mächtigen Adligen oder Politiker versprochen, um ein Bündnis zu besiegeln.« Rusko starrte den jungen Mann durchdringend an, da er nicht wußte, ob sich sein Gehilfe über ihn lustig machte. Dann lächelte auch er. »Da irrst du dich, mein Lieber. Der König hatte bereits eine Hochzeit vorbereitet, aber der junge Bräutigam ist ertrunken. Sein Schiff sank in einem Sturm auf der Reise nach Korlis. Und das nennen sie nun >Sicheres Meer<, bei Bok und Mabok! Es wäre natürlich keine Liebesheirat gewesen.« Er schnaubte. »Du hast gesehen, wie sehr sie trauert! Im Augenblick ist sie frei und geht ihren eigenen Vergnügungen nach.« »Aber nur im Augenblick«, meinte Urza, »denn der König hat bestimmt andere Pläne für seine Tochter. Und dann werdet weder Ihr noch ich sie je wiedersehen.« Rusko seufzte. Der Bursche war so romantisch wie eine Kiste voller Nägel. 136
Urza wandte sich erneut seiner Arbeit zu. »Wenn Ihr Euch jetzt wieder dem Geschäft zuwenden möchtet! Ich habe herausgefunden, warum diese alte Uhr dauernd nachgeht.« Der König hatte Pläne für seine Tochter geschmiedet, die Rusko jedoch niemals erraten hätte. Seine Jugend hatte er auf den Schlachtfeldern verbracht. Er hatte spät geheiratet und war noch später Vater geworden. Kayla war sein Augapfel und der größte Schatz des Reiches. Sie war ein Kleinod, das er niemandem leichtfertig zum Geschenk machte. Ringsumher herrschte Frieden. Sein letzter größerer Feldzug, bei dem er die Schwertsümpfe erobert und zu yotianischem Gebiet erklärt hatte, lag etliche Jahrzehnte zurück. Eine ganze Generation - seine Tochter inbegriffen - war in einem friedlichen Land aufgewachsen. Der König haßte den Frieden. Er war von verweichlichten Männern und Frauen umgeben, von Höflingen, die Worte an Stelle von Dolchen benutzten, alten Generalen, die ihre letzten Jahre mit ihren Enkeln spielend hinter sich brachten, und schmucken jungen Offizieren, die sich ihre Beförderung durch das Sauberhalten der Uniform und nicht durch den Kampf gegen einen Feind verdienten. Verweichlicht, dachte er, allesamt. Kaylas Verlobter war noch der beste des ganzen Haufens gewesen, und er hatte einer Vermählung erst zugestimmt, nachdem seine Ratgeber ein großes Geschrei wegen des fehlenden Thronerben erhoben hatten. Und dann mußte der verdammte Narr vor Korlis auf Grund laufen und ertrinken. Er wollte natürlich nicht, daß seine Familie allmählich immer schwächer wurde, wie es bei den Königen Argivias der Fall war. Seine Nachkommen brauchten 137
Kraft. Kayla, sein Engel, war eine starke Frau und verdiente einen ebenso starken Gefährten. Einen Monat nach Beendigung der offiziellen Trauerzeit für Kaylas Verlobten gab er folgendes bekannt: Seine Tochter sollte den stärksten Mann im Königreich heiraten. Und um diesen Mann zu ermitteln, hatte sich der Herrscher eine Kraftprobe einfallen lassen. Auf dem großen Hof vor dem Palast ließ er eine Sta-, tue errichten. Sie war aus einem einzigen Jadeblock gehauen worden, war zwanzig Fuß hoch und trug die Gesichtszüge des Königs. Fünfzehn Männer waren notwendig, um sie vor dem Palast aufzustellen. Er erklärte, daß er demjenigen die Hand seiner Tochter geben würde, der in der Lage war, die Statue ganz allein von einem Ende des Hofes zum anderen zu bewegen. Als der erste Tag des Wettstreits anbrach, sagte Urza, es sei das Dümmste, was er je vernommen habe. Diese Behauptung ließ Rusko wieder einmal über die Unterschiede zwischen Argivia und Yotia nachdenken. »Ihr habt einfach kein Gespür für Romantik«, meinte er schließlich und schloß die Tür des Ladens hinter ihnen ab. Das Schließen des Geschäftes war anscheinend die einzige Möglichkeit, den jungen Mann zum Verlassen seiner Arbeitsstätte zu bewegen, und Rusko fand, der Wettstreit sei eine ausgezeichnete Gelegenheit, Urza mit den angenehmen Seiten des Lebens in Kroog bekanntzumachen. »Von heldenhaften Taten und unlösbaren Aufgaben berichten schon unsere Legenden«, fuhr er fort. »Denk nur an die Geschichte von Bish und Kana. Und daran, wie Alorian um Titanias Liebe kämpfte.« Urza blieb mitten auf der Straße stehen. »Aber die Legenden erzählen doch, daß Bish und Kana an ihrem Hochzeitstag starben, und Alorian wurde von Titanias Hunden zerfleischt, nachdem sie ihn abwies.« 138
Rusko räusperte sich vernehmlich. »Ich habe nicht behauptet, du sollst den Vergleich wörtlich nehmen.« Er ging die Straße hinunter, auf den Palast zu. Urza folgte ihm kopfschüttelnd. Der Wettstreit sollte an jedem ersten Tag eines Monats stattfinden, und der König und Kayla würden den Männern zuschauen. Fast alle Läden der Stadt schlossen ihre Türen während der fünf Stunden, in denen sich starke Burschen bemühten, die Hand der Prinzessin zu gewinnen. Diener räumten den Hof auf, damit sich kein Hindernis zwischen der Statue und der gegenüberliegenden Wand befand. Anschließend stellten sie ringsumher Stühle und Bänke für die Zuschauer auf. Urza und Rusko beobachteten, wie sich kräftig gebaute, muskulöse Männer in einer Reihe aufstellten. Der kleinste von ihnen war doppelt so groß wie Urza, und etliche sahen aus, als könnten sie einhändig gegen einen Elefanten antreten. Nach den Narben auf den nackten Oberkörpern zu urteilen, hatten es einige anscheinend auch schon versucht. Am anderen Ende des Hofes stand ein niedriges Podest. Dort saßen der König und Kayla auf einer gepolsterten Bank. Als sich Urza und Rusko in den Hof drängten, ertönte ein Gongschlag. Der erste Teilnehmer trat vor, um sich mit seinem Jadegegner zu messen. Er schlang die muskelbepackten Arme um die Knie der Statue und versuchte, sie mit aller Kraft anzuheben. Das riesige Standbild schwankte nicht einmal. Der Mann grunzte, packte fester zu und versuchte es noch einmal. Nichts geschah. Wieder erklang der Gong, und die Runde war beendet. Ein zweiter Muskelprotz trat vor, der fast breiter als hoch war. Er versuchte, die Finger unter die Statue zu zwängen. Dabei brach er sich zahlreiche Knochen und war ebenfalls gescheitert. Ein Gongschlag, und 139
ein dritter Mann ging auf das Standbild zu, umklammerte es mit beiden Armen und beugte die Knie. Mit einem lauten Schrei machte er sich daran, die Statue zu bewegen. Aus dem Schrei wurde ein schrilles Kreischen, und er ließ das Standbild urplötzlich los, sank zu Boden und wand sich wimmernd hin und her. Der Gong erklang, und ein paar Tempelheiler eilten herbei, um sich des gefallenen Kraftprotzes anzunehmen. »Laßt uns den Herrschaften einen Gruß entbieten«, sagte Rusko und wies mit dem Kopf zur königlichen Tribüne hinüber. Die Reihe vor dem Podest geriet in Bewegung. Die Yotianer traten vor den König und seine Tochter, verneigten sich und legten ehrerbietig einen Finger an die Lippen, wie es in Kroog Sitte war. Rusko zog Urza mit sich und stellte sich hinten an. Der Uhrmacher verbeugte sich tief und vergaß auch den traditionellen Fingerkuß nicht, aber Urza neigte nur respektvoll den Kopf. Und schon waren sie an der Tribüne vorbei. »Sie hat dich angesehen«, bemerkte Rusko. »Hat sie nicht«, entgegnete Urza. »Sie muß heute tausend Menschen an sich vorüberziehen sehen.« »Sie hat gelächelt«, beharrte der Uhrmacher. »Sie ist eine Prinzessin. Solche Leute lächeln fortwährend. Ich an ihrer Stelle würde mir ernsthafte Sorgen machen, daß einer dieser starken Krieger tatsächlich in der Lage ist, die Statue zu bewegen. Ich glaube kaum, daß die königliche Sippe in diesem Falle in Zukunft mit außergewöhnlicher Klugheit gesegnet sein wird.« Rusko schüttelte den Kopf. »Wieder einmal denkst du zu nüchtern und zu praktisch. Wahrscheinlich geht sie davon aus, daß niemand Erfolg haben wird. Früher oder später muß sich ihr Vater eine sinnvollere Aufgabe einfallen lassen. Was ist?« 140
Urza starrte gebannt auf die neben der Tribüne aufgehäuften Schätze. »Was ist denn das?« fragte er. Rusko blinzelte. Sein Gehilfe wies auf einen riesigen Stapel von Geschenken, die auf einem goldfarbenen Tuch lagen. Darunter befanden sich Langschwerter, spiegelblanke Schilde und Rüstungen, die seit Generationen nicht mehr getragen worden waren. Mit Rubinen, Diamanten und Saphiren gefüllte Truhen standen herum, und in rot ausgeschlagenen Schatullen ruhten Kronen und Diademe. »Das ist die Mitgift«, erklärte Rusko und fügte eilig hinzu: »Ich weiß, was du jetzt auf deine nüchterne Art wieder denkst: >Warum braucht die Tochter des mächtigsten Mannes von Yotia eine Mitgift?< Nun, das ist Tradition. Die Schätze gehörten vergangenen Königen. Manche stammen aus den Anfängen unseres Volkes. Manche wurden sogar vor der Gründung der Stadt Kroog hergestellt.« »Was ist mit dem Buch?« fragte Urza. Seit er ihn kannte, hatte Rusko den jungen Mann nicht so aufgeregt erlebt. Angestrengt blinzelnd sah er in die Richtung, in die Urza starrte. »Meinst du das neben dem Elfenbeinschild?« »Ja, das große Buch. Was ist damit?« Rusko beugte sich vor. »Es ist ein Buch«, bestätigte er. »Unverkennbar.« »Natürlich ist es ein Buch! Aber seht doch nur! Auf dem Einband stehen Thranglyphen!« keuchte Urza. Wieder blinzelte Rusko erstaunt. Der junge Mann war völlig außer sich über seine Entdeckung. Der Uhrmacher nahm die Brille ab, säuberte die Gläser mit dem Hemdzipfel und setzte sie wieder auf. Er zuckte mit den Achseln. »Wenn du meinst. Kannst du sie aus dieser Entfernung entziffern?« Urza schwieg eine Weile und dachte anscheinend 141
angestrengt nach. Dann sagte er: »>Ja-lum<. Gab es in der Geschichte Yotias einen Jalum?« »Hmm«, meinte der Alte nachdenklich. »Ich glaube, es gab mal einen Ratgeber oder Gelehrten dieses Namens. Oder einen Philosophen. Ist lange her, noch vor der Gründung der Tempelschulen. Ist das wichtig?« Urza starrte auf die gesammelten Schätze und dann zur Prinzessin hinüber. Sie wandte den Kopf ab und schien ganz in den Anblick des letzten Teilnehmers versunken zu sein. Ihr Gesicht war unbewegt und wunderschön. Urza nagte an seiner Unterlippe und sagte schließlich: »Werter Herr Rusko, ich glaube, ich möchte diese Statue bewegen.« Rusko konnte sein ungläubiges Staunen kaum verhehlen. »Und ich möchte zum Mond fliegen und den Harem des Paschas von Sumifa entführen. Ich würde mich auch damit begnügen, daß ich weniger Kopfschmerzen beim Aufwachen habe, wenn ich am Abend vorher dem Branntwein zugesprochen habe. So lautet eine goldene Lebensweisheit: Erwarte nichts Unmögliches, dann wirst du auch nicht enttäuscht.« »Ich erwarte es aber!« sagte Urza entschlossen und sah zu dem riesigen Standbild hinüber. Auch der letzte Mann hatte keinen Erfolg bei seinen Bemühungen gehabt. »Aber ich brauche bestimmte Dinge.« Er wandte sich an seinen Arbeitgeber. Seine Stimme klang hart und bestimmt. »Metallbolzen, Ehernwurzelholz und anderes. Werdet Ihr mir helfen?« Rusko geriet ins Stottern. Er hatte sehr viel für Romanzen übrig, aber plötzlich schien seiner Geldbörse Gefahr zu drohen. »Nun, ich könnte dir einen Vorschuß gewähren«, meinte er zögernd, »aber du benötigst wohl eine größere Summe.« 142
Urza nickte. »Habt Ihr schon von Ornithoptern gehört? Von den argivianischen Flugmaschinen?« Jetzt nickte Rusko. »Ich habe Geschichten von Reisenden gehört.« Er überlegte und senkte die Stimme. »Weißt du, wie sie funktionieren?« »Ich... ich war am Bau des ersten Ornithopters beteiligt. Ich könnte Euch die Pläne geben. Würdet Ihr mir das Material für meine Arbeit besorgen?« Rusko spürte, wie sich sein Herz und seine Geldbörse dem jungen Manne öffneten. Er lächelte. »Das ist atemberaubend!« stieß Rusko hervor und betrachtete die Pläne. Der Uhrmacher hatte als erstes Pergament und Federn gekauft, und der junge Argivianer hatte die ganze Nacht damit zugebracht, die Pläne des Ornithopters zu zeichnen. Zuerst kam eine allgemeine Beschreibung. Dann folgten seitenweise Einzelheiten, aus denen hervorging, wie die Hebel in der Kabine bedient werden mußten, welchen Zweck die Drähte hatten, woraus die Flügel und Verstrebungen bestanden und in welchem Verhältnis sie zueinander standen, um ein perfektes Zusammenwirken zu ermöglichen. Rusko war verblüfft. Das alles wußte der stille Bursche, der seine Uhren reparierte! Selbst ein dressierter Affe wäre in der Lage gewesen, nach diesen Anweisungen einen Ornithopter zu bauen. Nein, sogar Rusko konnte es schaffen! »Wundervoll«, murmelte er und blätterte versonnen in den Pergamenten. »Unglaublich. Ein Kunstwerk.« Der Uhrmacher konnte sich kaum beherrschen, da die Maschine förmlich vom Blatt zu springen schien, um in Lebensgröße vor ihm zu stehen. Urza lächelte, aber Rusko war nicht sicher, ob dieses Lächeln eine Antwort auf seine Begeisterung war oder den fertiggestellten Plänen galt. Sie hatten die Werk143
statt mit Vorhängen vom Laden abgeteilt, und Urza hatte bereits mit dem Bau des Gerätes begonnen. Es sah aus, als errichte er eine Statue als Gegenstück zu dem Jadestandbild des Königs. Ein Wesen aus gebogenen Metallstäben, das die Gestalt eines stehenden Mannes hatte. Die Gliedmaßen bestanden aus Metallstreben, die kreuz und quer durch starke Bolzen miteinander verbunden waren. Der Oberkörper war aus dünnerem Metall und Ehernwurzelholz gefertigt, das am Ende der Wirbelsäule zusammenlief. Zu beiden Seiten des Körpers baumelten unschöne lange Arme, die eher zu einem Gorilla gepaßt hätten. Ein grob gezimmerter Helm mit aufklappbarem Visier diente als Kopf. Zur Zeit stand es auf, und darunter kam ein Gewirr von Kabeln, Zahnrädern und Schrauben zum Vorschein, die sich um einen glanzlosen Edelstein gruppierten. Plötzlich fiel Rusko auf, daß Urza in der letzten Woche häufiger gelächelt hatte als in den vorhergegangenen Monaten. Es handelte sich nicht um das höfliche, für Kunden bestimmte Lächeln oder um das überhebliche argivianische Gelehrtenlächeln oder gar das Ertragen-wir-den-alten-Rusko-Lächeln. Der junge Mann wirkte zufrieden und lebendig, wenn er sich mit seiner Maschine beschäftigte. Während der ganzen Zeit hatte Rusko nur einmal etwas beanstandet. »Die Knie sind nach hinten gebogen«, sagte er. »Das muß so sein«, murmelte Urza und wartete keine weitere Bemerkung ab, sondern begab sich, mit einem Schraubenschlüssel bewaffnet, in den Brustkorb der Maschine. Nach zwei Monaten war aus den zahlreichen Einzelteilen, die Rusko gekauft, eingetauscht oder von anderen Läden >geborgt< hatte, ein ansehnlicher Riese geworden. Er wirkte ein wenig menschenähnlich, und 144
Rusko fragte sich, ob Urza ihn einem lebenden Wesen nachempfunden hatte. Auf eine Beantwortung dieser Frage verzichtete der Uhrmacher jedoch. Statt dessen stellte er eines späten Abends, als Urza Kabel überprüfte und Drähte miteinander verband, eine ganz andere Frage. »Wer ist Mishra?« Fast wären die Werkzeuge Urzas flinken Fingern entglitten. »Ich nehme an, jemand, der dir wichtig ist«, fuhr der Alte fort. Urza starrte Rusko an, und sekundenlang erstarrten seine Gesichtszüge zu Eis. Für kurze Zeit saß wieder der stille, ernsthafte Mann der ersten Monate vor ihm, und Rusko fürchtete, er hätte den lächelnden Urza für immer vertrieben. Dann seufzte sein Gehilfe und entspannte sich. Er wandte sich wieder der Maschine zu. »Woher kennt Ihr den Namen?« Rusko mußte ein Grinsen unterdrücken. »Du schläfst äußerst selten, Urza. Aber wenn du es tust, dann redest du. Immer wieder fällt der Name Mishra. Und noch einer. Tacashia.« »Tocasia«, berichtigte ihn Urza. »Tocasia... war meine Lehrerin. Sie ist tot.« »Hmmm«, brummte Rusko. »Und Mishra?« »Mein Bruder«, lautete die gleichgültige Antwort. Urza spähte ins Innere seiner Schöpfung hinein. »Lebt er noch?« »Wahrscheinlich.« Urza zuckte mit den Achseln. Er tat so, als betrachte er die zusammengefügten Drähte, und lehnte sich zurück. »Ich weiß es nicht. Wir haben uns nicht als Freunde getrennt.« »Aha.« Rusko spürte den Widerwillen Urzas, die Fragen zu beantworten. Irgend etwas stimmte nicht. »Und das macht dir zu schaffen«, fuhr er beharrlich fort. 145
»Ich wünschte, ich hätte etwas tun können, um den Lauf der Dinge zu ändern«, erklärte Urza. Rusko nahm an, daß die Behauptung der Wahrheit entsprach, aber da war noch mehr; etwas, das bis jetzt ungesagt geblieben war. Stille senkte sich über den Raum. Schließlich ergriff Rusko das Wort. »In Yotia glaubt man, ein Mann habe mehrere Seelen. Wußtest du das?« Urza schüttelte den Kopf, aber die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. Ein Ertragen-wirden-alten-Rusko-Lächeln, dachte der Uhrmacher. »Du trägst nicht mehr die Kleidung, die du als Knabe anhattest und du wirst andere Gewänder tragen, wenn du älter bist«, erklärte er. »Das gleiche gilt für die Seele. Als Kind hat man eine Seele, als Jugendlicher eine andere und mehrere als Erwachsener.« Urza zuckte die Schultern. »Ich trage unterschiedliche Kleidung. Aber bei den Seelen bin ich mir nicht so sicher.« Rusko strich sich nachdenklich übers Kinn. »Die meisten Religionen Yotias sagen, daß jede Seele einzeln bewertet wird, wenn man stirbt. Sagen wir einmal, deine drei ersten Seelen waren eigentlich gut. Dann wurdest du zum Dieb und Räuber und hattest eine vierte Seele, eine böse. Danach hast du bereut und ein ehrbares Leben geführt, wodurch du eine fünfte und gute Seele bekamst. Die drei ersten und die fünfte Seele werden für ihre Achtbarkeit belohnt. Die vierte fährt in die Hölle, wird vernichtet oder zurückgeschickt, je nachdem, welchen Göttern du anhängst.« »Wollt Ihr auf etwas Bestimmtes hinaus?« Urzas Blick schweifte wieder zu seiner Maschine hinüber. Rusko lächelte. »Ich will andeuten, daß du dich an dem schuldig fühlst, was deinem Bruder geschah. Oder deiner verstorbenen Lehrerin. Das ist unnötig. 146
Seit deiner Ankunft hier hast du eine neue Seele: Eine yotianische Seele. Das soll dir ein Trost sein.« Urza erhob sich und dachte angestrengt nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich bereue so lange, bis ich wieder mit meinem Bruder reden kann. Aber ich danke Euch für den guten Rat. Er ist sehr...« Er zögerte, und plötzlich zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Genauso wie die Stadt Kroog.« Auch Rusko grinste und faßte die Worte als Kompliment auf. Dann warf er der riesigen Gestalt einen prüfenden Blick zu. »Nun, funktioniert sie?« »Noch nicht.« Urza zog eine Halskette unter seinem Hemd hervor. Rusko sah, daß ein großer Edelstein daran hing; ein dunkler Rubin, von dem ein vielfarbiges Funkeln ausging. Urza kletterte die Trittleiter empor, bis er sich auf gleicher Höhe mit dem Kopf des Riesen befand, und steckte den Edelstein hinein. Rusko stellte sich auf die Zehenspitzen und sah, wie der junge Mann den glanzlosen Stein im Inneren des Kopfes mit dem Rubin berührte. Der bisher leblose Kristall begann zu glühen; zuerst nur schwach und unregelmäßig, dann immer stärker, bis er es schließlich mit dem Leuchten des rubinroten Edelsteines aufnehmen konnte. Strahlendweiß funkelte das Licht im Kopf des Wesens. Es ist so, dachte der Uhrmacher, als würde jemand ein Feuer entzünden, indem er einen brennenden Ast an einen vertrockneten Zweig hält. Als der Edelstein hell leuchtete, bewegte sich die Maschine. Zuerst hob sie einen Arm, senkte ihn und hob ihn erneut. Die Hebel und Bolzen an Arm und Schulter knarrten leise. Urza ließ das Visier herab. Jetzt drang das Licht nur noch durch die Augenschlitze. »Seht Ihr«, sagte der junge Mann, »jetzt hat auch die Maschine eine neue Seele.« 147
Der dritte Monat des Wettkampfs war angebrochen, und Kayla fand, daß er sich nicht von den vorhergegangen Tagen unterschied. Hörner- und Trompetenklang erfüllte den Hof. Eine lange Reihe ehrerbietiger Untertanen verneigte sich vor Kayla und ihrem Vater (ihr fiel auf, daß es mit jedem Mal weniger wurden). Wieder warteten muskulöse Krieger darauf, das Unmögliche zu schaffen. Aber auch sie waren nicht mehr so zahlreich vertreten wie zuvor. Der erste Wettkampftag war wie ein großes Fest gewesen. Beim zweitenmal war es nur noch interessant. Aber jetzt, zwei Monate nach dem ersten Wettstreit um ihre Hand, empfand Kayla die ganze Angelegenheit als langweilig. Sie betrachtete die Teilnehmer und mußte ein Schaudern unterdrücken. Die Kerle würden sich gut hinter einem Pflug ausnehmen (oder gar davor, dachte sie gehässig), aber was Führungsqualitäten anging, ließen sie viel zu wünschen übrig. Im Geiste zuckte sie mit den Achseln. Warum machte sie sich überhaupt Gedanken darüber? Nach der Hochzeit würde sie es sein, die alle wichtigen Entscheidungen träfe. Während die Männer auf den Beginn des Wettstreits warteten, stellte sie sich vor, wie ein Leben an der Seite dieser Muskelprotze aussehen mochte. Leider erwiesen sich diese Gedanken als wenig angenehm, und deshalb vergnügte sie sich damit, die Verletzungen zu erraten, die sich jeder einzelne beim Anheben der Statue zuziehen würde. Bisher hatte sie zehn Muskelrisse gezählt (drei davon im Lendenbereich), zwei geplatzte Därme, sieben Erschöpfungsanfälle und eine Kopfverletzung. Letztere hatte sich ein junger Mann aus den Schwertsümpfen hoch im Norden zugezogen, der aus lauter Enttäuschung und Wut mit dem Kopf gegen das Standbild gerannt war. Die Tempelheiler hatten ihn an den Beinen aus dem Hof geschleift. 148
Der erste Teilnehmer war ein Grunzer. Er packte die Statue und versuchte, sie mit aller Kraft auf sich zu ziehen. Kayla mochte Grunzer nicht besonders. Die Brüller gefielen ihr viel besser. Sie machten mehr Lärm und gaben in der Regel schneller auf. Die Reihe der grüßenden Untertanen war vorübergegangen, und auf den Zuschauerbänken blieben viele Plätze frei. Kayla fragte sich, wie lange ihr Vater diesen ergebnislosen Wettkampf fortsetzen lassen wollte. Wahrscheinlich nur so lange, dachte sie, bis eine der weniger vornehmen Adelsfamilien ein besseres Angebot machte, um die Hand der Prinzessin zu erringen. Papa liebte es, im geheimen vorzugehen. Kayla hatte sich in ihr Schicksal ergeben. Sie war schon immer eine pflichtbewußte Tochter gewesen, und wenn ihr Vater gewünscht hätte, sie solle einen Fallaji heiraten, hätte sie das Leben in einem Zelt, weitab von jeder Zivilisation in Kauf genommen. Höfische Politik war ihr nicht fremd. Seit Jahren wurde sie darauf vorbereitet, Kroog durch eine Eheschließung zu stärken. Die Tatsache, daß der vorgesehene Ehepartner dummerweise starb, ehe die Hochzeit stattfinden konnte, hatte an diesem Ziel nichts geändert. Sie warf ihrem Vater, der die Wettkämpfer beobachtete, einen Blick zu. Er trug eine ernste Miene zur Schau und wirkte kühl, nachdenklich und majestätisch. Würde das einfache Volk ihn weniger schätzen, wenn es gewußt hätte, daß er nach dem ersten Wettkampftag eine ganze Stunde lang ob des Versagens der Muskelmänner in seinen Gemächern getobt hatte? Sicher nicht, entschied sie. Ihr Vater war ein berühmter Kriegsheld und ein gerechter König. Sie vermutete, daß er mit dieser Veranstaltung sich selbst beweisen wollte, daß es in Yotia noch tapfere Krieger gab. Außerdem war er gewiß der Meinung, er hätte 149
in seiner Jugendzeit die Statue ohne weiteres heben können. Wieder verletzte sich ein schreiender Titan, und Kayla fiel auf, daß es keine weiteren Bewerber gab. Nein, ganz hinten standen noch drei Gestalten. Eine war schlank, eine fett, und die letzte, die ihre Vorgänger weit überragte, war in einen weiten Umhang mit Kapuze gehüllt. Der Seneschall ging zu den drei Männern hinüber, und es entspann sich ein kurzes Gespräch zwischen den beiden kleineren Burschen und dem königlichen Beamten. Dann eilte der Seneschall zur Tribüne zurück. »Wir haben noch einen Kandidaten«, erklärte er mit leiser unsicherer Stimme. Der Seneschall liebte und fürchtete den Herrscher gleichermaßen. »Allerdings ist die ganze Sache ein wenig seltsam.« Der König grunzte: »Der große Bursche?« »Nein, Hoheit, der schlanke Mann. Er behauptet, er könne Eure Statue durch die Kraft seines Geistes bewegen, wenn Ihr es ihm gestattet.« Ein Lächeln breitete sich über die Züge des Königs aus, und Kayla wußte, daß das keineswegs der Vorbote einer angenehmen Stimmung war. »Soll er es nur versuchen. Teile ihm aber mit, welche Strafe ihn erwartet, wenn er Unsere Zeit verschwendet.« Der Seneschall verneigte sich und eilte davon. Kayla sah den Neuankömmlingen entgegen. Der schlanke Mann war recht anziehend, aber erst als sie ihn neben seinem Begleiter sah, wußte sie, wo sie ihm schon einmal begegnet war. Er war der argivianische Uhrmacher, der Fremde mit dem spröden Lächeln und dem auffallenden Akzent. Sekundenlang gestattete sich Kayla, sich ein Leben an seiner Seite vorzustellen. Es erschien ihr nicht unangenehm. Auch wunderte sie sich, wie er die Statue 150
durch geistige Kraft bewegen wollte. Wahrscheinlich würde er sich dabei eine Gehirnquetschung zuziehen. Kayla geriet ins Grübeln. Urza - so hieß er. Sein Schlüssel lag neben der Spieluhr ihrer Mutter. Und sein fetter Begleiter! Er hatte ihr damals auch seinen Namen genannt, aber er fiel ihr nicht mehr ein. Urza stellte sich genau vor die Jadestatue. Der Dicke blieb hinter ihm und stützte den verhüllten Riesen. Es lag ein Geruch in der Luft wie kurz vor einem Gewitter. Der Argivianer verbeugte sich tief. »Ich danke der Krone für die Gelegenheit, dort Erfolg zu haben, wo so viele andere versagten«, erklärte er. Der König wedelte unwillig mit der Hand, damit der junge Mann sich kurz fassen möge. Kayla war sicher, daß ihr Papa nach dem heutigen Tage eine andere Möglichkeit suchen würde, um ihr einen geeigneten Mann zu verschaffen. »Jetzt werde ich die Statue durch die Kraft meines Geistes bewegen«, fuhr Urza fort. Er hob die Hand und zog die Kapuze vom Kopf des Riesen. Ein lautes Raunen durchlief die Reihen der Zuschauer, als der Umhang zu Boden fiel und das bisher verborgene Wesen enthüllte. Es bestand aus Metall und war der menschlichen Gestalt nachempfunden. Anfangs glaubte Kayla, es handele sich um ein Lebewesen, aber sie erkannte ihren Irrtum schnell. Es war eine Maschine. Natürlich, dachte sie. Schließlich ist er ein Uhrmacher und ein Argivianer. Die Argivianer wühlten fortwährend in alten Ruinen herum, um mächtige Maschinen für den Eigengebrauch zu finden. »Ich habe sie selbst gebaut, mit der Kraft meines Verstandes«, sagte Urza, und der Dicke räusperte sich vernehmlich. »Damit und mit Hilfe Ruskos, des Herstellers feinster Uhren«, setzte er hinzu. »So soll das, was die Geisteskraft schuf, die Statue bewegen.« 151
Die riesige Maschine stapfte vorwärts, und einen Augenblick lang glaubte Kayla, sie würde kopfüber auf das Pflaster fallen. Der Argivianer blieb an der Seite seiner Schöpfung, sprach mit ihr und steuerte jede Bewegung. Schließlich erreichten die beiden die Statue. Urza wies auf eine seitlich gelegene Stelle, und die Maschine legte eine Metallhand mit Fingern aus poliertem Holz dorthin. Er wies auf die andere Seite, und wieder gehorchte sie seinem Befehl. Urza klopfte dem Wesen auf die Schulter, und es versuchte, das Jadestandbild anzuheben. Nach den Brüllern, Schreiern und Grunzern war die jetzt eingetretene Stille fast schon unheimlich. Ein leises Surren erklang. Die Maschine beugte die Knie (die - so bemerkte Kayla von ihrem Platz aus - verkehrt herum angebracht waren) und hob die Jadestatue in die Höhe. Die Zuschauer rangen nach Luft, als sich das Standbild bewegte. Die Maschine hielt es ungefähr einen Fuß über dem Boden. Langsam drehte sie sich in den Hüften - auch die Wirbelsäule vollzog die Drehung -, bis die Knie nach vorn zeigten. Dann setzte sie sich langsam in Bewegung und schritt auf die gegenüberliegende Hofseite zu. Das Wesen kam nur langsam voran. Zwar konnte es die Statue tragen, aber der Hof schien das Gewicht des Standbildes und der Maschine nicht zu verkraften. Pflastersteine barsten unter den Füßen der Kreatur, und an einer Stelle schwankte sie so stark nach rechts, daß die Steine zu Staub zermalmt wurden. Mit leisem Kreischen glitten die Drähte über Spulen, und Kayla war sicher, hier das mechanische Gegenstück zu einem Lendenmuskel zu erblicken. Sofort war Urza neben seiner Schöpfung, untersuchte sie und brüllte Befehle. Der Metallriese reagierte, neigte sich zur anderen Seite und erreichte end152
lieh sein Ziel. Urza gab eine letzte Anweisung, und schon setzte das Wesen die Statue vorsichtig ab, das Gesicht der königlichen Tribüne zugewandt. Die Menge klatschte Beifall. Ein paar Zuschauer eilten davon, um ihren Freunden zu erzählen, daß die Statue des Königs von einem Metallmonstrum besiegt worden war, das ein Argivianer geschaffen hatte. Kayla sprang beifallklatschend auf, aber ein Blick ihres Vaters brachte sie zur Besinnung. Sein Gesicht verhieß einen Wirbelsturm, und die Adern an seinen Schläfen pochten wild. Wortlos stand er auf, verließ die Tribüne und stürmte in den Palast. Pflichtbewußt wie immer folgte ihm Kayla, gestattete sich aber noch einen Blick auf den begabten Argivianer. Der junge Mann stand in der Mitte des Hofes, rechts neben ihm die Maschine, links neben ihm der dicke Uhrmacher. Das Volk strömte von allen Seiten auf ihn zu, um ihn zu beglückwünschen. Urza strahlte übers ganze Gesicht. Kayla gefiel sein Lächeln, und sie erwiderte es. Sie blieb aber nicht stehen, um abzuwarten, ob er den Gunstbeweis bemerkte, sondern drehte sich um und folgte ihrem Vater durch die Türen des Palastes. Kayla hoffte, der König würde einen Raum mit besonders dicken Wänden erreichen, ehe er explodierte. Es dauerte fünfzehn Minuten, ehe der König zu fluchen aufhörte, und noch einmal fünfzehn Minuten, ehe er in verständlichen Sätzen reden konnte. Kayla, der Seneschall, die Anstandsdame und zahlreiche beunruhigte Höflinge warteten, bis der Sturm vorüber war, ehe sie es wagten, ihre Meinung kundzutun. »Eine Unerhörtheit!« brüllte der König. »Eine Beleidigung! Wie kann er es wagen, dieser... dieser...« Sein Mund schloß und öffnete sich ein paarmal, ehe er das richtige Wort fand. »Dieser Hänfling! Dieser Hänfling 153
glaubt, er bekommt die Hand meiner Tochter als Gegenleistung für ein elendes Zauberkunststück!« »Nun«, meinte der bebende Seneschall, »Ihr sagtet, derjenige, der die Statue bewegt, dürfe Eure Tochter heiraten.« Der König knurrte böse. »Und Ihr habt ihm gestattet, es zu versuchen«, fuhr der Beamte, mutig geworden, fort. »Er erklärte, er werde die Statue durch die Kraft seines Geistes bewegen.« »Aber das hat er nicht!« brüllte der König. »Diese dumme Maschine hat das Standbild angehoben!« »Nun«, meinte der Seneschall ernsthaft, »dann muß Eure Tochter die Maschine heiraten.« Kayla unterdrückte ein Kichern, aber die Bemerkung des Beamten hatte einen Strom übelster Flüche des Herrschers zur Folge. Der Seneschall floh entsetzt und nahm nicht mehr an der Besprechung teil. »Und du!« schrie der König und wandte sich seiner Tochter zu. »Was hast du dazu zu sagen?« »Zu sagen?« wiederholte Kayla. Sie war entrüstet, plötzlich angeschrien zu werden. »Ich hatte auch nichts zu sagen, als Ihr mich mit einem armseligen Seefahrer verheiraten wolltet!« Mit festen Schritten ging sie auf ihren Vater zu. »Ich hatte auch nichts zu sagen, als Ihr beschlossen habt, mich dem stärksten Ochsen im Königreich zur Frau zu geben. Und jetzt, wo Euch endlich einmal jemand bei Euren dummen kleinen Spielchen geschlagen hat, da habe ich plötzlich etwas zu sagen?«
Der König, über ihren Ausbruch völlig entgeistert, starrte sie an. Er ließ die Schultern hängen. »Ich will doch nur das beste für dich. Aber dich diesem... Ausländer zu geben! Diesem... Argivianer! Diesem... Hänfling!« »Ihr seid der König von Kroog«, sagte Kayla mit ei154
fsiger Stimme. »Ihr könnt tun, wie es Euch beliebt. Ihr könnt ihn verbannen. Aber wenn Ihr meine Meinung hören wollt, hier ist sie: Er hat ein nettes Gesicht, eine gute Figur und scheint sehr klug zu sein. Es würde mir nichts ausmachen, ihn zu heiraten.« Der König runzelte die Stirn, und Kayla überlegte, Welchen Punkt ihr Vater bedachte - die Tatsache, daß den Argivianer verbannen konnte, oder die TatSache, daß es ihr nichts ausmachen würde, ihn zu heiraten. Hinter sich vernahm sie das Knarren der Tür, und der Seneschall steckte den Kopf hindurch. »Was ist?« knurrte der König. Kayla befürchtete, der Beamte würde sich jeden Augenblick in Luft auflösen. Zu ihrer großen Überraschung blieb er jedoch stehen und sprach mit schmeichelnder Stimme: »Ein Besucher bittet um Audienz, Majestät.« »Der Hänfling?« schrie der König. »Sage ihm, Wir haben noch nicht entschieden, ob sein Trick rechtens war!« »Nicht der...« Der Seneschall schluckte und fuhr fort: »...Argivianer. Sein, äh, Gönner.« Der König sah Kayla an, und sie nickte heftig. Ihr Vater vermochte die meisten Menschen einzuschüchtern. Vielleicht besaß der kleine Uhrmacher die Fähigkeit, für Urza einzutreten. Anfangs schien sich diese Hoffnung nicht zu erfüllen. Der Uhrmacher verneigte sich dreimal, ehe er vor den König trat. Jede Verbeugung erwies sich als aufwendige und umständliche Zeremonie, die viel Zeit in Anspruch nahm und die Geduld ihres Vaters arg strapazierte. Als sich Rusko zum drittenmal aufrichtete, ging Kayla zu ihm und half dem übergewichtigen Mann. »Hoheit und Majestät«, keuchte der Dicke. »Eroberer der Schwertsümpfe, Begründer des Wohlstandes und Herr unseres Schicksals!« 155
Der König winkte abwehrend, und die Prinzessin überlegte, ob der Uhrmacher auch im täglichen Leben so redete. »Ich überbringe zwei Botschaften«, sagte Rusko. »Die erste stammt von meinem klugen Gehilfen und Gefährten, dem werten Herrn Urza, dem Argivianer.« Er hielt inne und wartete auf eine Entgegnung. »Weiter!« knurrte der König und spuckte die Worte aus, als würden sie seine Zunge verbrennen. Der Uhrmacher räusperte sich. »Majestät, Urza sagt, er könne verstehen, wenn Ihr Euer Angebot zurückziehen wollt, obwohl es ihn zutiefst enttäuschen würde, auf die entzückende Gesellschaft Eurer schönen Tochter verzichten zu müssen.« Er verneigte sich vor Kayla, und die Prinzessin bedachte ihn mit einem freundlichen Nicken. Ob es stimmte, was er über Urzas Enttäuschung gesagt hatte? »War das alles?« fragte der König. »Das war die erste Botschaft.« »Und die zweite?« »Die zweite stammt von mir«, erklärte Rusko. Er senkte die Stimme ein wenig. »Hier ist sie.« Er griff unter seine Jacke und zog einen Stapel Pergamente hervor, die er dem Seneschall übergab, der sie an den König weiterreichte. Der Herrscher blätterte die Papiere durch und grunzte. »Was ist damit?« »Es sind Pläne, Hoheit. Pläne für eine Flugmaschine, eine argivianische Flugmaschine, vom begabten Herrn Urza entworfen.« Der König sah den Uhrmacher an, dann die Pläne und wieder den Uhrmacher. »Der Argivianer weiß, wie man Flugmaschinen baut? Funktionieren sie auch?« Der Dicke verneigte sich tief. »Das weiß ich nicht genau. Vor zwei Monaten hätte ich nicht gewußt, ob dieser mechanische Mann funktioniert. Aber er tut es!« 156
Noch einmal betrachtete der Herrscher die Pläne. »Bestimmt trägt der Argivianer noch andere Geheimnisse mit sich herum«, sagte er mehr zu sich selbst. »Das nehme ich an«, stimmte Rusko zu. »Er ist ein stiller Mensch und offenbart sich nur denen, die ihm wirklich nahestehen. Auf jeden Fall bedarf es der liebenden Hand einer Frau, um das beste in ihm zur Geltung zu bringen.« Er verbeugte sich wieder vor Kayla. Der König schwieg, und Kayla wußte, daß er das Für und Wider erwog. Schließlich sagte er: »Tochter, war es dein Ernst, als du sagtest, es würde dir nichts ausmachen, diesen... begabten... Hänfling zu heiraten?« Sie nickte. »Ich sprach die Wahrheit, als ich sagte, er sei der beste Bewerber, den Ihr bisher gefunden habt.« Der König seufzte abgrundtief und rieb sich die Augen. Dann gab er dem Uhrmacher die Pläne zurück. »Nun gut. Dann wollen Wir hinausgehen und Unserem zukünftigen Schwiegersohn gratulieren.« Selbst für yotianische Verhältnisse war die Zeremonie prunkvoll. In Kroog gab es mehr als dreißig große Tempel und unzählige kleinere, die von vielen tonangebenden Priestern geleitet wurden, und ein jeder wollte bei der Hochzeit mitreden. Kayla versuchte, die Zahl der amtierenden Geweihten herausfinden, gab aber auf, als sie bis fünfzehn oder sechzehn gekommen war. Es dauerte unendlich lange. Predigten wurden gehalten. Gebete wurden gesprochen. Geister wurden vertrieben. Götter wurden angerufen. Noch mehr Predigten. Noch mehr Gebete. Das Brautpaar küßte die Ikonen. Es legte die Hände auf die Schriftrollen. Es tanzte um ein zeremonielles Feuer herum. Es wurde mit Weihwasser besprengt und trank gesegneten Wein. Es ließ eine Taube frei und verbrannte eine Schriftrolle 157
mit der Auflistung seiner Sünden. Es schritt unter einem Spalier gezückter Schwerter hindurch. Es wurde mit Segenswünschen, Glückwünschen und Jubel bedacht. Mit Rücksicht auf Urzas Herkunft trugen Braut und Bräutigam goldene Stirnreifen, die mit einer schlichten Silberkette miteinander verbunden waren. Kayla hatte keine Ahnung, an welchem Punkt der Zeremonie sie endlich rechtmäßig mit Urza, dem argivianischen Gelehrten und neuen obersten Kunsthistoriker von Kroog, vermählt war. Sie wußte nur, daß sie gegen Abend wirklich und wahrhaftig verheiratet war. Die ganze Zeit über war ihr Gemahl verständnisvoll und kein bißchen ungeduldig, wie es Männer bei derartigen Gelegenheiten oftmals sind (Papa war nach der siebten Predigt sichtlich unruhig geworden). Auch wirkte der junge Mann weder gelangweilt, noch gab er sich betont lässig und geduldig. Er schien sich alles, was er erlebte, gut einzuprägen, und ließ es kommentarlos geschehen. Kayla erwartete, das überhebliche argivianische Lächeln während des urwüchsigen und rustikalen Teils der Zeremonie erscheinen zu sehen, aber auch den nahm er wohlwollend zur Kenntnis. Nach den unendlichen Gottesdiensten folgte eine ebenso unendliche Prozession durch die Straßen der Stadt, und die Menschen winkten ihnen zu, bewarfen sie mit bunten Bändern und schwenkten farbig leuchtende Lampen. Danach fand ein gewaltiges Festmahl mit unzähligen Gängen statt, von denen ein jeder durch zahlreiche Trinksprüche unterbrochen wurde. Jeder, der etwas Gutes über die Prinzessin und ihren überraschenden (und bisher recht geheimnisvollen) Gemahl zu sagen hatte, nutzte die Gelegenheit. Als endlich - lange nachdem die Mitternachtsglocke geläutet hatte - das Mahl und alle Zeremonien beendet waren, wurde das Brautpaar zu seinem Schlafgemach geleitet, das in einem eigens hergerichteten Flügel des 158
Palastes lag. Dort befand sich die Mitgift der Prinzessin nebst einigen geschmackvolleren Geschenken der Hochzeitsgäste. Das Bett war mit Laken aus AlmaazSeide bedeckt und mit Rosenblättern bestreut worden. Weihrauchduft stieg aus einem Dutzend kleiner Schalen auf, und der Raum wurde vom Licht zahlreicher Kerzen erhellt. Die Diener zogen sich zurück und schlossen die Tür hinter den Jungvermählten. Kayla holte tief Luft und streckte ihrem Gemahl die Hand entgegen. Urza ergriff sie zögernd. Die Prinzessin merkte, daß der junge Mann ein wenig zitterte und bei der Berührung fast zurückgezuckt wäre. Sie fragte sich, ob ihm bewußt war, daß er ihr seine Unsicherheit so deutlich zu erkennen gab. Statt dessen sagte sie: »Du hast kraftvolle Hände.« »Wenn man mit Artefakten arbeitet«, erwiderte er mit rauher Stimme, »braucht man kräftige Finger.« »Und einen scharfen Verstand«, sagte sie und drängte sich an ihn. Sein Körper war so gespannt wie die Feder ihrer Spieluhr. »Kayla«, flüsterte Urza, den Mund in ihrem Haar vergraben, »ich muß dir etwas sagen.« Kayla erstarrte, riß sich aber sofort wieder zusammen. Mit fester Stimme antwortete sie: »Du kannst mir alles erzählen.« »Ich...« Urza wich einen kleinen Schritt zurück und sah ihr in die Augen. »Man sagte mir, ich würde im Schlaf sprechen.« Sie lächelte und legte ihm zwei Finger auf die Lippen. »Das ist nicht schlimm«, flüsterte sie mit kehliger Stimme, »ich bin eine gute Zuhörerin.« Dann küßte sie ihn. Später lag sie ruhig und gleichmäßig atmend neben ihm. Sie schlief auf der Seite liegend, an seinen drahtigen Körper geschmiegt. Sanft strich er ihr über die 159
Stirn. Kayla bewegte den Kopf, drehte sich um und schlief tief und fest weiter. Leise erhob sich Urza aus dem Brautbett. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen, und von seinem Fenster aus sah er über die schlafende Stadt Kroog hinweg. Die Feierlichkeiten hatten die Bürger ermüdet, und nur vereinzelte Lichter leuchteten zwischen dem Palast und dem Fluß. Langsam durchquerte Urza den Raum. Er löschte die Kerzen, bis auf eine einzige. Damit näherte er sich der Mitgift seiner Braut. Aufmerksam ließ er den Blick über die aufgehäuften Schätze schweifen. Dann kniete er nieder und zog das schwere Buch hervor, dessen Rücken Thranglyphen zierten. Das Buch des Jalum. Urza trug es zum Schreibtisch hinüber, der sich an der Wand gegenüber dem Bett befand. Er steckte die Kerze in einen Ständer und sah lange Zeit auf seine junge Frau hinab, die schlafend auf den seidenen Laken ruhte. Dann öffnete er das Buch und begann zu lesen.
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KAPITEL 7
Mak Fawa Steh auf, Sklave!« knurrte der Aufseher und versetzte
Mishra einen Stoß mit seinem spitzen Stock. Der untersetzte junge Mann stöhnte und versuchte sich umzudrehen, was ihm einen zweiten Stoß einbrachte. Der Aufseher wiederholte den Befehl auf fallaji. »Rakiq! Qayim!« Mishras Kehle war wie ausgedörrt. Hustend stützte er sich mühsam auf die Ellenbogen. Der Aufseher ging zum nächsten Sklaven, während sich der junge Mann den Staub aus den Augen wischte. Im Traum hatte ihn die Finsternis eingehüllt schwarz und undurchdringlich. Er war ganz allein gewesen, ohne Tocasia, ohne Urza und ohne die anderen. Sie hatten ihn verlassen. Irgendwann durchdrang Gesang die Dunkelheit. Es war ein lieblicher Gesang gewesen, von seinem grünen Kristall ausgehend. Aber den Stein hatte er ebenso sicher verloren wie alles andere, was bisher sein Leben ausgemacht hatte. Mishra blinzelte, um auch den letzten Rest der Finsternis zu vertreiben, und dachte, daß die Wirklichkeit kaum besser als sein Traum war. Er befand sich im Lager der Suwwardi. Sie hatten ihn gefangengenommen. Jetzt gehörte er ihnen. Er war ein Sklave. Ein Rakiq. Nach Tocasias Tod war er in Richtung Norden geflohen, auf die Höhle von Koilos zu. Anfangs war er blindlings davongestürmt, ohne ein Ziel vor Augen. Seine Füße fanden den Weg durch die Wüste und die Berge, und allmählich näherte er sich der Schlucht. Die 161
saftigen Pflanzen, die sich am Rande der Wüste angesiedelt hatten, versorgten ihn auf seiner Wanderschaft mit dem lebensnotwendigen Wasser. Trotzdem war, er schwach und abgemagert, als die Suwwardi ihn ; fanden. Zuerst hielt Mishra sie für Retter, für Freunde der Fallajiarbeiter, die - von Hajar und Ahmahl ausgeschickt - nach ihm suchten. Aber die Reiter waren anders als die ihm vertrauten Fallaji. Es handelte sich um harte Männer mit windgegerbten Gesichtern und einer Abneigung gegen Ausländer, die sich in ihrem Gebiet, aufhielten. Sie trugen breitkrempige flache Helme aus Bronze, in deren Rand kriegerische Sprüche eingraviert waren. Die Männer schleppten ihn in ihr Lager, das sich glücklicherweise ganz in der Nähe befand. Ansonsten hätten sie ihn der Einfachheit halber getötet und ausgeraubt. Man nahm ihm den Kristall, schenkte ihm aber nicht mehr Beachtung als einem gewöhnlichen Schmuckstück. Mishra hatte noch Kraft genug, einen schwachen Protestschrei auszustoßen, als man ihm den Beutel vom Hals riß, aber sogleich erhielt er einen Schlag ins Gesicht, der ihn zum Schweigen; brachte. Die Suwwardi ließen Mishra mit den übrigen Sklaven arbeiten. Die meisten waren Fallaji; Gefangene anderer Stämme, die als Geiseln festgehalten wurden, bis ein entsprechendes Lösegeld gezahlt worden oder aber die Treue zu den Suwwardi erwiesen war. Diese Gefangenen wurden einigermaßen erträglich behandelt. Außer Mishra gab es noch ein paar ausländische Sklaven; Überlebende ausgeraubter Karawanen, die sich geweigert hatten, die horrenden Wegezölle für das Durchqueren von Suwwardiland zu entrichten. Diese Männer mußten sich zu Tode arbeiten. Von den sieben Ausländern, die bei Mishras Ankunft vor 162
drei Monaten im Lager gelebt hatten, war er der einzige Überlebende. Zwar waren später noch ein paar fremde dazugekommen, aber sie starben schon nach kurzer Zeit. Seitdem waren keine Ausländer mehr verschleppt worden. Anscheinend verzichteten die Suwwardi jetzt darauf, sie lebend gefangenzunehmen. Mishra war zum Sklaven geworden. Er arbeitete am Bau und in Gruben. Er schleppte schwere Lasten. Er stellte keine Fragen. Ein Ausländer hatte einmal eine Frage gestellt, und sofort hatte man ihm sämtliche Zähne mit einem Meißel ausgeschlagen. Mishra schlief, wenn es gestattet war. Er aß, was man ihm vorwarf, und das war weniger als das, was die Hunde des Quadirs bekamen. Und er träumte. Er träumte von der Finsternis und dem Gesang des Kristalls. Er hätte gerne nach dem Stein gesucht, war aber zu müde dazu. Ein Gefangener seines schwachen Körpers. Tagsüber, wenn er einen Stein auf den anderen legte, Feuerstellen errichtete, Gräber oder Abfallgruben aushob, grübelte er über die Träume nach. Heute mußte er einen Graben ausheben. Hin und wieder stieß sein Spaten auf ein Stück Metall aus Thranzeiten, und er warf es auf den Haufen Gerümpel, der sich bereits angesammelt hatte. Während er grub und nachdachte, überhörte er, wie jemand ihn beim Namen rief. Er hörte weder den ersten noch den zweiten Ruf. Erst als sich ihm eine Hand auf die Schulter legte, zuckte er vor Schreck zusammen. Schützend hob er den Arm vor das Gesicht. Im Suwwardilager wurde kein ausländischer Sklave aus Freundlichkeit berührt. »Herr Mishra, Ihr seid es also wirklich!« rief Hajar. Mishra blickte den Sprecher an und erkannte den hochgewachsenen Arbeiter aus Tocasias Lager, der ihn 163
in jener unseligen Nacht, als das Unglück den Höhe punkt erreichte, begleitet hatte. Dieser Hajar trug doch einen Suwwardihelm und zwei auf dem Rücke hängende Schwerter. Er lächelte strahlend. »Geht es dir gut?« fragte Hajar auf fallaji. Zögernd nickte Mishra. In den vergangenen Monaten hatte er kein Wort sagen dürfen, und niemand hatte das Wort an ihn gerichtet, außer um ihm Befehle zu erteilen. Eine Gestalt näherte sich. Es war der Aufseher, der nicht mehr viele Sklaven zu beaufsichtigen hatte und| deshalb noch härter mit den verbliebenen Männern umsprang als zuvor. »Rede nicht mit dem Rakiq!« sagte er in scharfem Ton. Hajar lachte, und Mishra fiel auf, daß der ehemalige Arbeiter inzwischen einen höheren Rang bekleidete! als der Aufseher. »Weißt du, wer da Löcher für dich; gräbt?« Mishra wollte sagen, es gefalle ihm, Löcher zu graben, und Hajar solle ihm diese Freude nicht nehmen. Aber er brachte kein Wort heraus. »Der Mann ist ein großer Gelehrter«, erklärte Hajar. »Er weiß Dinge, die kein anderer weiß. Er hat die Geheimnisse der Ahnen entdeckt. Und du läßt ihn Gräben ausheben!« Wieder lachte er schallend. »Ein Gelehrter!« Der Aufseher spuckte verächtlich! aus. »Das erklärt, warum er so schlecht gräbt. Jetzt verschwinde!« Hajar schüttelte den Kopf. »Er sollte überhaupt nicht graben.« »Stimmt!« brüllte der Aufseher. »Ich ging davon aus, daß er schon vor Monaten sterben würde! Er ist Ausländer und Sklave. Und jetzt arbeitet er für mich, den Aufseher Maurik. Wenn du willst, daß er für dich arbeitet, mußt du zum Quadir gehen!« 164
Hajar dachte eine Weile nach und sagte: »Das werde tun. Laß ihn nach Möglichkeit am Leben, bis ich wiederkomme.« Mit hocherhobenem Kopf ging er davon. Mishra grub eifrig weiter, aber der Aufseher war verstimmt. Ein heftiger Stoß in die Seite mit dem spitzen Ende des Stabes erinnerte den ehemaligen Gelehrdaran, daß es nicht ratsam war, geschwätzige Freunde zu haben. Mishra stöhnte, grub aber fast unvermindert schnell weiter. Der Schmerz breitete sich im ganzen Körper aus, während er mit letzter Kraft den Spaten schwang. Gegen Abend pflegten die Suwwardi die Hauptmahlzeit einzunehmen. Zuerst wurde im Zelt des Quadirs gespeist, dann kamen die Krieger, dann die Frauen und Kinder, dann die Hunde des Quadirs und schließlich die Sklaven an die Reihe. Die Fallajisklaven erhielten das Essen vor den Ausländern, denn es gab immerhin Gründe, sie am Leben zu erhalten. Mishra kaute an einem halb verschimmelten Stück Brot, als man ihn abholte. Krieger mit schweren goldenen Halsketten und breiten Helmen schritten auf die Sklaven zu. Leibwachen des Quadirs, dachte Mishra. Der Anführer der Suwwardi mußte sehr wohlhabend sein, um seine Männer so prunkvoll auszustatten. Die Wachen riefen dem Aufseher ein paar für Mishra unverständliche Sätze zu, und der grimmige Mann zog unter zornigem Gemurmel in seine Hütte zurück. Dann schleiften die Krieger Mishra zum großen Zelt des Anführers, aus dem gedämpftes Licht drang. Die Wachen blieben nur kurz stehen, um Mishras Fußfeszu lösen, ehe sie ihn unsanft in das Zelt stießen. Das Innere des Zeltes war von Rauch erfüllt. Zahlreiche Kohlebecken standen herum, und der Duft von Sandelholz, Wüstenzeder und scharfen Gewürzen 165
stieg Mishra in die Nase. Der Rauch trieb ihm Tränen in die Augen, aber wenigstens milderte er den Gestank der anwesenden Suwwardi. Dicke Teppiche aus der festen Wolle der Gebirgsschafe bedeckten den Boden. Sie waren teilweise mit Speiseresten und Blut verschmiert. Überall lagen große Ruhekissen herum. Zu beiden Seiten des Raumes saßen die engsten Verwandten des Quadirs, seine treuen Anhänger und Abgesandte anderer Stämme. In der Mitte des Zeltes erhob sich ein Podest, das mit etwas weniger schmutzigen Teppichen bedeckt war. Dort saß der Quadir. Er war ein massiger Mann mit breiten Schultern, flei- | schigem Stiernacken und kantigem Schädel. Die äußeren Anzeichen seines Wohlstandes waren nicht zu übersehen - der gewölbte Bauch hing über den Gürtel, der die weiten Gewänder zusammenhielt. Als Mishra das Zelt betrat bediente sich der Quadir gerade aus einer Schüssel mit Nüssen. Rechts von ihm saß eine jüngere Ausgabe des Mannes, die ebenso gekleidet war und ihm sehr ähnelte. Auf der anderen Seite stand Hajar. Mishra fiel auf die Knie und wartete auf das, was jetzt geschehen würde. Der Quadir verschlang eine Handvoll Nüsse. »Hast du diesen minderwertigen Sklaven gemeint, Hajar?« fragte er auf fallaji. Die Worte klangen, als bestünden sie aus dickflüssigem Mokka. »Das ist er, mein Gebieter«, antwortete Hajar in der gleichen Sprache. »Und du behauptest, er sei ein Gelehrter?« »Ein höchst ehrenwerter Gelehrter«, erklärte Hajar, und Mishra fiel auf, daß die junge Ausgabe des Quadirs keine Miene verzog, sondern eher gelangweilt aussah. Der Quadir beugte sich vor und starrte Mishra an. 166
»Sieht nach gar nichts aus. Selbst für einen Ausländer unscheinbar.« Die Zuhörer lachten belustigt. »Bewertet Ihr ein Pferd nach seinem Zaumzeug oder nach dem Dienst, den es zu leisten vermag?« sagte Mishra. Er hatte sehr leise gesprochen; eigentlich war es nur ein Flüstern gewesen. Das alte Wüstensprichwort hatte Ahmahl ihn gelehrt, und Mishra sprach perfektes Fallaji. Er hob nicht einmal den Kopf, als er es sagte. Er sprach auch nicht stolz oder aufsässig. Aber er sagte es. Augenblicklich herrschte Totenstille. Der Quadir warf Hajar einen Blick zu, der den jungen Mann beinahe im Boden versinken ließ. »Und der Rakiq spricht sogar unsere Sprache«, meinte er bedächtig. Hajar verneigte sich beunruhigt. »Er ist auf vielen Gebieten bewandert.« Als er sich wieder aufrichtete, hatte sich der Quadir abgewandt. Er sah Mishra unter schweren Lidern an. »Kennst du die Legenden der Ahnen?« »Ich weiß von den Thran«, antwortete Mishra. »Ein uraltes Volk, das den Kontinent Terisiare lange vor allen anderen Völkern bewohnte. Sie hinterließen keine Gebeine, aber in der Wüste blieben die Überreste ihrer Maschinen zurück.« »An denen ihr Ausländer euch wie Aasfresser gütlich tut!« knurrte der Quadir. Hajar sah, daß Mishra kurz zögerte. Dann sprach er mit sorgfältig bedachten Worten. »Die Völker der Ostküste möchten verstehen, was in der Vergangenheit geschah, um ein besseres Verständnis der Zukunft zu erlangen.« Der Quadir stieß einen Laut aus, der wie eine Mischung aus Grunzen und Grollen klang. »Es gibt Dinge, die besser unerforscht bleiben. Vielleicht entdecken die Urahnen eines Tages, wie du dich durch 167
ihre Hinterlassenschaft wühlst, und dann strafen sie dich für deine Frechheit. Und uns, weil wir dich nicht aufgehalten haben.« Wieder überlegte Mishra, ehe er sprach. »Wie Ihr meint, ehrenwerter Gebieter.« Er sah nicht mehr zu Boden, und sein Gesicht blieb undurchdringlich. Hajar vermochte keinen Hauch von Spott zu entdecken. Dem Quadir erging es ähnlich. Er lehnte sich in den Kissen zurück und ergriff einen riesigen Weinkelch. »So, du bist also ein Gelehrter?« fragte er. »Ich bin noch Student«, erklärte Mishra, »aber ich weiß schon recht viel.« »Du sprichst sehr gut fallaji«, meinte der Quadir. Mishra zuckte mit den Achseln. »Ich hatte gute Lehrer. Die Sprache ist eine weitere Hilfe beim Erforschen der Vergangenheit.« Wieder knurrte der Suwwardianführer. Hajar wußte, daß er kein Interesse an der Vergangenheit hatte. »Kannst du die ausländischen Sprachen? Argivianisch, Korlisch und Yotianisch?« Das letzte Wort spuckte er förmlich aus. »Es handelt sich um ein und dieselbe Sprache«, erklärte Mishra. »Allerdings gibt es unterschiedliche Dialekte und Aussprachen. Vor vielen Jahrhunderten entwickelten sich die Dialekte aus...« Der Quadir hob die Hand, und der junge Mann verstummte sofort. »Kannst du rechnen?« »Ja.« »Ich habe neun Patrouillen bestehend aus je acht Männern. Wie viele Männer habe ich insgesamt?« »Zweiundsiebzig«, antwortete Mishra, ohne zu zögern. »Vier dieser Patrouillen sind beritten. Wie viele Beine sind also vorhanden?« fragte der Quadir mit grimmigem Lächeln. 168
»Zweihundertzweiundsiebzig«, erwiderte der Argivianer, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen. Das Gesicht des Suwwardi verdüsterte sich, und er sah zu Hajar hinüber. Der junge Fallaji dachte eine Weile nach und zählte an den Fingern die Fußtruppen, die Reiter und die vorhandenen Pferdebeine ab. Dann nickte er zustimmend. Der Quadir sah den untersetzten Sklaven mit steinernem Blick an. »Du bist geeignet.« Er wandte sich an die Wachen. »Bringt ihn hinaus, und badet ihn.« Dann sah er wieder zu Mishra hinüber. »Rakiq, du wirst der Lehrer meines Sohnes sein. Bringe ihm das Rechnen bei, und lehre ihn, deine Sprache zu sprechen. Schaffst du es, wirst du gut behandelt. Versage, und ich lasse dich töten.« Mishra erhob sich und verneigte sich tief. »Euer untertänigster Diener, gnädiger Herrscher.« Die beiden Wächter nahmen Mishra in die Mitte. Einer von ihnen hielt noch die Fußfesseln in der Hand. Der andere legte ihm die Hand auf die Schulter. Der junge Argivianer wandte sich um und verließ das Zelt. Hajar fiel auf, daß der junge Quadir, die kleinere Ausgabe seines Vaters, die ganze Zeit über nichts gesagt hatte und sich ebensowenig für seinen neuen Lehrer wie für alles andere zu interessieren schien. Hajar hatte das Lager in der Wüste verlassen, als die letzten Studenten in ihre Küstenheimat zurückkehrten und die vor kurzem ausgegrabenen Metallteile in Ochsenkarren fortgebracht wurden. Er hatte Ahmahl überreden wollen, ihn zu begleiten, aber der Alte zog es vor, in der vertrauten Gegend zu bleiben. Hajar schloß sich einer Nomadengruppe an, später einer anderen und fand schließlich zum Lager des Quadirs. Ein entfernter Verwandter auf Seiten beider Mütter erleichterte ihm die Aufnahme, und sein Ar169
beitseifer und die erstaunliche Tapferkeit, die er beim Überfall auf eine Handelskarawane an den Tag legte, festigten seine Stellung im Lager der Suwwardi. Aber nun hatte er ein Wagnis auf sich genommen, indem er einen von Tocasias Schülern als Lehrer des jungen Quadirs vorgeschlagen hatte. Sein Schicksal war jetzt mit dem Mishras verknüpft, und dessen Versagen würde ihm angelastet werden. Hajar besuchte den Argivianer häufig in seiner neuen Behausung, einem offenen kleinen Zelt neben der Unterkunft der Köche. Wenn Mishra nicht unterrichtete, mußte er bei der Vorbereitung der Mahlzeiten helfen. Man hatte ihm einfache, anspruchslose Arbeiten zugewiesen: Holz sammeln, das Feuer in Gang halten und Fleisch zum Räuchern vorbereiten. Der Anfang war wenig vielversprechend. Der zehnjährige Sohn des Quadirs interessierte sich weder für Sprachen noch für Mathematik. Außerdem schien ihm der Gedanke, sich unterrichten zu lassen - noch dazu von einem Ausländer -, sehr zu mißfallen. Mishra war verzweifelt. »Spätestens in vierzehn Tagen werde ich wieder Gräben ausheben«, vertraute er Hajar eines Abends an, während er, durch die Fußfesseln behindert, umherstolperte, um das Feuer zu schüren. Hajar wußte es besser. Wenn man den Quadirs enttäuschte, wurde man nicht degradiert, sondern getötet. Weder Hajar noch Mishra hatten sich erkundigt, ob es schon andere Lehrer gegeben hatte, wenngleich alle Anzeichen dafür sprachen. Im Zelt des Knaben lagen argivianische Bücher und ein Rechenschieber herum. Allerdings schienen sie nie mit den Fingern des jungen Burschen in Berührung gekommen zu sein. »Er will nichts lernen«, erklärte Mishra, »und ich werde meine Zeit nicht damit zubringen, mich mit einer Wand zu unterhalten.« Er seufzte abgrundtief. 170
»Er kümmert sich nur um Schlachten, die Ruhmestaten seines Vaters und dafür, was er tun wird, wenn er Quadir ist.« »Vielleicht sollte ich einmal mit dem Quadir reden«, schlug Hajar vor, schüttelte aber gleich den Kopf über seine Torheit. Der Vater machte sich noch weniger aus Gelehrsamkeit als sein Sohn, verlangte aber, daß der Knabe das können mußte, was er selbst nicht lernen wollte. Hinter diesem Wunsch stand die scharfe Klinge eines Schwertes. »Wenn er gut gelaunt ist, zappelt er nur herum«, fuhr Mishra fort. »Ist er unlustig, schläft er ein. Einmal habe ich ihn wachgerüttelt, und er ließ mich dafür von seinen Wachen verprügeln.« Der untersetzte Mann rieb sich die Schultern. »Das werde ich nie wieder tun.« »Tut mir leid, daß es nicht so klappt, wie ich es mir vorgestellt habe«, entschuldigte sich Hajar. »Nun, mir tut es auch leid. Meiner Meinung nach ist es... hoffnungslos. Ich fühle mich ausgebrannt. Ausgebrannt und nutzlos.« In der Tat sah Mishra aus, als habe er tagelang nicht geschlafen. An der Arbeit konnte es nicht liegen, dachte Hajar, denn in diesem Punkt ging es dem Gefangenen besser als zuvor. Also mußte es etwas anderes sein. Vielleicht bedrückte ihn sein Versagen. Hajar dachte eine Weile nach und sagte: »Warum hast du Fallaji gelernt?« Mishra sah ihn erstaunt an. »Was?« Hajar fuhr fort: »Die argivianische Frau beherrschte unsere Sprache, denn sie mußte sich mit Ahmahl und den Arbeitern unterhalten. Keiner der ausländischen Studenten schien Interesse daran zu haben, mehr als ein paar Flüche zu lernen. Soviel ich weiß, nicht einmal dein Bruder. Nur du. Und warum?« »Mein Bruder findet nur Gefallen an Maschinen und 171
Dingen«, antwortete Mishra. »Ich dagegen interessiere mich mehr für Menschen.« »Nun, die Argivianer im Lager waren auch >Menschen<«, erwiderte Hajar. »Warum hast du unsere Sprache erlernt?« Mishra zuckte mit den Achseln. »Ich vermute, daß ich die alten Legenden deines Volkes hören wollte. Über die Wüstengeister, die Helden und die Prinzessinnen. Über die Drachen, die ihr Mak Fawa nennt, und die tapferen Krieger. Wenn sie übersetzt wurden, hörten sich die Geschichten trocken an, verstümmelt, blutleer und leblos. In der Landessprache waren sie viel spannender.« »Habt ihr Ausländer denn keine eigenen Legenden?« »Natürlich. Zum Beispiel die Geschichte des grauen Piraten, der die Küste von Korlis überfiel, und die Legende der kriegerischen Königin von Argivia, die vor mehr als fünfhundert Jahren lebte. Außerdem gibt es unzählige Göttersagen, die man aber nur noch in Yotia und anderen rückständigen Ländern glaubt.« Hajar grinste. »Vielleicht würde dein Schüler das gerne hören. Unter Umständen möchte er dann auch deine Sprache lernen.« Mishra dachte nach und nickte schließlich. »Außerdem solltest du die Rechenaufgaben in verständliche Beispiele kleiden«, fuhr Hajar fort. »Denk an die Fragen, die dir der Quadir stellte. Bestimmt hat auch er auf diese Weise zählen gelernt.« Mishra starrte schweigend ins Feuer. Nach einer Weile sagte er: »Vielleicht hast du recht. Es ist einen Versuch wert.« »Um unserer beider willen«, bekräftigte Hajar. »Übrigens könntest du ihm auch argivianische Flüche beibringen. Bestimmt wird ihm das gut gefallen.« 172
Monate vergingen. Anscheinend ging es dem Argivianer besser, und Hajar entspannte sich. Wenn nach so langer Zeit neue Schwierigkeiten auftauchten, war es höchst unwahrscheinlich, daß man ihn dafür zur Verantwortung ziehen würde. In der Tat schien Mishras Unterricht, der sich jetzt mit argivianischer Geschichte und yotianischer Mythologie befaßte, die gewünschte Wirkung zu erzielen. Der junge Quadir verfügte über Grundkenntnisse der fremden Sprache, und er hatte sogar Interesse für ausländische Sitten und Gebräuche bekundet, die nichts mit dem Geschehen auf dem Schlachtfeld zu tun hatten. Auch die Abneigung des Schülers gegen den Lehrer wurde geringer. Mishra erhielt weniger Schläge, bis sie eines Tages ganz aufhörten. Auch schlief der Junge während des Unterrichts nicht mehr ein. Nach einer Weile schien er seinen Lehrer sogar zu mögen, und oft wurde der Argivianer von seinen anderen Pflichten befreit, um eine Geschichte, die er am frühen Nachmittag begonnen hatte, zu beenden. Eines Abends bat Mishra Hajar, sich zu ihnen zu setzen, als der junge Quadir die Geschichte des grauen Piraten und des letzten Meerdrachens nacherzählte. Ungefähr ein Dutzend Zuhörer hatten sich eingefunden, aber nur Hajar und Mishra verstanden alles, was der Knabe sagte. Einen Teil der Legende erzählte er auf argivianisch, ehe er wieder ins Fallaji verfiel. Die Fallajierzählung war bedeutend flüssiger, ausführlicher und blutrünstiger, aber Mishra verbesserte seinen Schüler nicht. Kurz darauf wurden seine Fußfesseln entfernt, obwohl er sich immer noch um die Kochfeuer kümmern mußte, wenn er sich nicht in Gesellschaft des jungen Quadirs befand. Hajars Leben verlief zufriedenstellend. Viele der 173
örtlichen Stämme schworen den Suwwardi Gefolgschaft. Die Überfälle- waren erfolgreich, und die Menschen wurden immer wohlhabender. Handelskarawanen mußten Wegezoll entrichten oder wurden ganz offen erpreßt. Zahlreiche argivianische Siedlungen auf Fallajigebiet wurden in Brand gesetzt und die Bewohner mit Schwertern vertrieben. Als die Argivianer ihre schwerfälligen Soldaten ausschickten, um Vergeltung zu üben, waren die flinken Wüstenbewohner längst verschwunden. Zu Hajars Überraschung wurde er eines Tages in das Zelt des Quadirs befohlen. Außer den Leibwachen war niemand anwesend. Der Quadir ruhte auf seinen Kissen und spielte mit einem großen grünen Stein herum. Hajar trat ein, kniete ehrerbietig nieder und wartete. »Du kennst den Rakiq-Lehrer«, sagte der Quadir nach einer Weile. Er sah Hajar nicht an. »Ich kenne ihn«, antwortete Hajar und erhob sich langsam. Er fragte sich, was er über seine Bekanntschaft mit Mishra verschweigen sollte. »Er macht sich gut«, fuhr der Herrscher fort. »Der Junge kann zusammenzählen, abziehen, malnehmen und teilen. Auch spricht er die fremde Sprache recht flüssig, sagte man mir.« »Sehr gut sogar«, beeilte sich Hajar zu sagen. »Ich hörte ihn reden, und seine Aussprache ist richtig und wohlklingend.« »Der Junge lernt schnell. Vielleicht zu schnell.« Stille senkte sich nach dieser Behauptung über den Raum. Schließlich erkundigte sich Hajar vorsichtig: »Wie meint Ihr das, ehrenwerter Quadir?« Der Suwwardi hielt den grünen Stein in die Höhe und betrachtete ihn wie ein Händler, der seine Ware untersucht. »Weißt du, was das ist?« Hajar hatte den Stein nie zuvor gesehen, wußte aber gleich, worum es sich handelte: Es war einer der Kraft174
kristalle, um die Tocasia und die beiden Brüder immer so viel Aufhebens gemacht hatten. Offenbar hatte er seine Energie nicht verloren, da ein grünliches Leuchten von ihm ausging, obwohl an einer Seite anscheinend ein Stück abgebrochen war. Hajar dachte an die Geschichten, die nach der Rückkehr der Brüder an den Feuern der Arbeiter erzählt wurden. Er dachte an den Beutel, den Mishra um den Hals trug. Sorgfältig wählte er seine Worte. »Es sieht wie ein Auge der Ahnen aus«, sagte er, das Fallajiwort für den Kristall benutzend. Der Quadir knurrte und gab einen Laut von sich, der an ein ausspuckendes Kamel erinnerte. »Tatsächlich. Es gibt Argivianer und Yotianer, die auf der Suche nach solchen Schätzen in die Wüste eindringen. Was weißt du über diesen Stein?« Hajar schwieg, um seine nächsten Worte zu bedenken, aber der Quadir bedrängte ihn: »Den hier nahmen wir dem Rakiq bei seiner Gefangennahme ab. Er wurde zu meinen Schätzen gelegt, danach geriet er in Vergessenheit. Aber gestern fragte mein Sohn danach, und ich ließ ihn holen. Warum möchte mein Sohn den Stein haben?« Hajar schwieg noch immer und hoffte, es möge sich um eine weitere rhetorische Frage handeln. Leider war das nicht der Fall. Schließlich sagte er: »Vielleicht hat der Lehrer den Stein erwähnt, und der Junge wurde neugierig.« Der Quadir grunzte unwillig. »Vielleicht will er ihn auch zurückhaben, was? Und warum, frage ich dich, will der Rakiq diesen bestimmten Stein zurückhaben?« »Vielleicht hat er eine besondere Bedeutung für ihn«, antwortete Hajar schnell. »Seht nur, wie er an der einen Seite geschliffen ist.« »Abgebrochen, nicht geschliffen«, entgegnete der Quadir schlau. »Meistens sind beschädigte Steine kraft175
los und erloschen. Dieser hier birgt aber noch immer das Feuer, das ihm die Ahnen eingegeben haben. Also ist er vielleicht etwas ganz Besonderes. Die Frage ist nur: Wo liegt seine Besonderheit?« Hajar dachte an den Abend im argivianischen Lager, als die geisterhaften Lichter in Urzas Hütte aufleuchteten. Die Steine, hatte Tocasia gesagt; sie hatte von den Steinen gesprochen. Dann erfolgten die Explosion und das Feuer, und Mishra war in der Wüste verschollen, bis Hajar ihn als Sklaven im Lager des Quadirs entdeckte. Er hatte sich nie erkundigt, was wirklich in jener Nacht geschehen war. Er war davon ausgegangen, daß Mishras älterer Bruder, der magere, unheimliche Bursche, die Schuld daran trug. Hajar schluckte und antwortete: »Das weiß ich nicht, Ehrwürdiger.« Wieder knurrte der Quadir grimmig und meinte: »Ich auch nicht. Und eben deshalb werde ich ihn meinem Sohn verweigern, damit er nicht in Versuchung gerät, ihn an den Rakiq weiterzugeben. Ich will ihn selbst behalten und herausfinden, ob er die Kraft der Ahnen in sich trägt.« Der Quadir steckte den Kristall in die Westentasche und drehte sich ein wenig zur Seite, bis er Hajar ins Gesicht sehen konnte. Er verschränkte die Hände und sagte: »Es stellt sich folgende Frage: Warum entspricht mein Sohn dem Wunsch eines Rakiq?« Hajar geriet ins Schwitzen. »Es könnte sein, daß der Rakiq Eurem Sohn von dem Stein erzählt hat, und der Junge möchte ihn für sich haben.« Nachdenklich legte der Quadir den Kopf zur Seite, als habe er diese Möglichkeit noch nicht erwogen, »Vielleicht«, meinte er schließlich kopfschüttelnd. »Aber vielleicht will er ihn auch für seinen Freund und Lehrer haben.« 176
Sorgfältig wählte Hajar die nächsten Worte. »Der Sohn eines Quadirs würde niemals Freundschaft mit einem ausländischen Rakiq schließen.« »Das ist wahr«, stimmte der Quadir zu. »Ich fürchte jedoch, daß er zu sehr auf den Ausländer hört. Er stützt sich auf ihn, wie man sich auf eine Krücke stützt. Stützt man sich zu oft, vergißt man schnell, wie es ist, aus eigener Kraft zu gehen.« Leise sagte Hajar: »Ich glaube nicht, daß Ihr so etwas befürchten müßt.« »Ich fürchte überhaupt nichts«, entgegnete der Quadir schnell. »Aber von nun an wird uns der Junge auf den Raubzügen begleiten. Er ist noch jung, aber nicht zu jung, um das Kriegshandwerk zu erlernen. Wenn mein Sohn im Lager weilt, darf der Rakiq ihn unterrichten, aber ansonsten hat er sich um die Kochfeuer zu kümmern. Was meinst du, wird der Junge gegen Ende des nächsten Jahres genügend gebildet sein, auch wenn er jetzt mit uns in den Kampf zieht?« Hajar überlegte. Der Sohn des Quadirs war inzwischen schon viel gebildeter als die meisten Suwwardis im Lager. Aber diese Aussage kam ihm ungünstig vor. Statt dessen antwortete er: »Ende des nächsten Jahres. Ja, das reicht aus.« Der Quadir lehnte sich zurück. »Wunderbar. Wenn der Junge in den Kreis der Krieger aufgenommen wird, benötigt er die Krücke nicht länger. Und wenn die Zeit gekommen ist, wird die Krücke fortgeworfen und zerbrochen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?« Hajar sah in die kleinen Schweinsaugen des Quadirs. Die Aussage war unmißverständlich. Der Suwwardi sorgte sich um die Gesinnung seines Sohnes. Wenn die Zeit gekommen war, würde man Mishra in die Wüste bringen und umbringen. Und Hajar würde 177
die Männer anführen, die den Befehl des Quadirs ausführten. Er beeilte sich zu sagen: »Wie Ihr befehlt, Erhabener. Eure Worte sind Gesetz.« Der Quadir winkte abwehrend. Hajar kniete nieder, verbeugte sich und verließ das Zelt. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Er hatte das Todesurteil vernommen, und falls er nicht gehorchte, unterschrieb er damit sein eigenes. Und weswegen? Wegen ein paar väterlicher Sorgen und eines halben Steins. Hajar ging am Zelt des Prinzen vorbei und blickte durch die Öffnung. Mishra unterhielt sich mit dem Knaben. Sie sprachen leise, aber immer wieder brachen sie in herzliches Gelächter aus. Der Junge winkte auffordernd, und Mishra schenkte Getränke ein. Dann prosteten sie einander mit kühlem Nabiz zu. Hajar runzelte die Stirn. Vielleicht hatte der Quadir gar nicht so unrecht mit seinen Befürchtungen. Vielleicht hatte auch er als Knabe einen Freund gehabt, auf den er sich stützte, und vielleicht war auch dieser eines Tages unter geheimnisvollen Umständen verschwunden. Vielleicht gehörte das zu einem wahren Anführer, dachte Hajar. Man verläßt sich auf andere, macht sich aber niemals von ihnen abhängig. Hajar beschloß, den längeren Weg zu seinem Zelt einzuschlagen. Mishra wollte er nichts sagen; dem Knaben konnte er nichts sagen. Er hoffte, der Junge würde sich vielleicht weniger für seinen Lehrer interessieren, wenn er erst einmal mehr kämpferische Erfahrungen gesammelt hatte. Bei nachlassendem Interesse würden die Befürchtungen des Quadirs verschwinden und das Todesurteil aufgehoben werden. Sehr unwahrscheinlich, dachte Hajar, aber nicht unmöglich. Außerdem konnte bis zum Ende des nächsten Jahres noch viel geschehen. 178
Mishra träumte. Als sich sein Körper von den Mißhandlungen erholt hatte und sein Verstand wieder gefordert wurde, träumte er immer heftiger. Manchmal von Tocasia, manchmal von seinem Bruder. Meistens träumte er jedoch von dem Kristall, der aus der Finsternis heraus zu ihm sang. Er hatte dem Sohn des Quadirs von dem Stein erzählt, und der Junge fand heraus, daß er sich noch im Besitz seines Vaters befand. Das wußte Mishra bereits, denn der Stein hielt ihn im Lager fest, wie es alle Fesseln der Welt nicht vermocht hätten. Daher träumte er von dem Stein, sah, wie er sich in der Finsternis um die eigene Achse drehte, sein betörendes Lied sang und nach ihm rief. Er wollte ihn zurückhaben. Er wollte ihn bei sich tragen. Und in seinen Träumen holte er ihn sich zurück. Im Traum wachte er auf und merkte, daß er sich an einem fremden Ort, weit vom Suwwardilager und von der Wüste entfernt befand. In einer anderen Welt. Über ihm standen nicht die vertrauten Fallajisterne, dichtgedrängt und über den ganzen Himmel verteilt. Statt dessen war der Himmel dunkel und bewölkt, und hin und wieder zuckten vereinzelte Blitze auf. Er konnte trotz der Finsternis sehen und bemerkte, daß er sich auf dem Gipfel eines niedrigen, kahlen Berges befand, der von dichtem Gestrüpp umgeben war. Er hörte den Stein in der Ferne singen und ging langsam in die Richtung, aus der das Lied erklang. Das Gestrüpp, das den Berg umgab, war dicht und verschlungen, aber er schritt hindurch, als handele es sich um einen fein gewobenen Vorhang. Leuchtendes Gelb und Orange hoben sich von dunkleren Blättern ab. Er blieb stehen und sah, daß auch die Blätter seltsam glänzten, als habe man sie aus Stahlplatten gestanzt. Auch die Blumen wirkten metallisch, und an 179
Stelle von duftendem Nektar tropfte ein übelriechender Saft auf den Boden. Mishra berührte ein Blatt, und es leuchtete bei dieser Berührung auf. Das Leuchten erinnerte ihn an seinen Stein, und er wandte sich ab, um dem herzerweichenden Gesang zu folgen. Einmal mußte er einen Bogen um einen großen See machen, auf dessen Oberfläche eine ölige Schicht lag. Er sah kurz in eine andere Richtung, und etwas Großes, Schwarzes tauchte auf, um sofort wieder zu verschwinden. Als er erneut hinsah, waren nur noch kreisförmige Wellen zu erkennen, die sich zum Ufer hin ausbreiteten. Das Wasser bewegte sich eigenartig, als bestünde es aus einer dickflüssigen, sirupähnlichen Masse. Mishra fand ein Ei mit durchsichtiger Schale und glaubte zuerst, es handele sich um seinen Kristall. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß im Inneren des handtellergroßen Eis eine winzige goldene Kreatur heranwuchs. Nein, sie wuchs nicht, sie wurde zusammengebaut. Noch kleinere goldene Wesen eilten mit Schraubenschlüsseln und anderen Werkzeugen umher; das Ganze erinnerte ihn an Urzas Maschinen. Während er zusah, entstanden Kopf und Körper einer Echse. Wieder erscholl der Gesang. Mishra legte das Ei auf den Boden und folgte dem Ruf des Kristalls. Es begann zu regnen. Der Regen schmeckte wie Tränen und hinterließ ölige Flecken auf seiner Kleidung. Er folgte dem Gesang. Endlich erreichte er ein Gebäude; eine Pyramide erhob sich inmitten des Dschungels metallener Pflanzen. Die Beschaffenheit der Pyramide kam ihm bekannt vor. Sie bestand aus Drähten und Kabeln. Schriftzeichen bedeckten eine Seite des Gebäudes, aber er vermochte sie nicht zu entziffern. 180
Die Pflanzen hatten ihre Wurzeln ferngehalten, und Mishra entdeckte eine Treppe, die zu einer kleinen Nische hinaufführte. Aus dieser Nische drang der grüne Schein des Kristalls. Ja, er hatte etwas Ähnliches schon gesehen. Damals stand er in einem erleuchteten, von Spiegeln gesäumten Gang und hatte den Stein gerade erst errungen den Stein, der jetzt auf ihn wartete. Ein lautes Knacken ertönte zu seiner Rechten. Ein riesiger Bronzekopf erhob sich aus den Metallblättern. Zuerst glaubte Mishra an eine Riesenschlange, denn der dreieckige Kopf saß auf einem langen gebogenen Hals. Aber dann näherte sich das Wesen, und Mishra sah, daß der Hals an einem schweren, fast elefantenähnlichen Körper befestigt war. Riesige Löwenpranken endeten in scharfen Stahlklauen. Es war ein Drache, allerdings ein mechanischer, von unbekannten Händen angefertigt und mit unheimlichem Leben erfüllt. Glanzlose blaue Juwelen bildeten die Augen, Dampf strömte aus den Nüstern und drang durch die Gelenke nach außen. Die Maschine sah wie ein gigantischer Lindwurm aus. Beim Anblick Mishras stieß das Wesen einen halblauten herausfordernden Schrei aus. Dann kam es halb hüpfend, halb rutschend auf ihn zu. Sekundenlang erstarrte Mishra; zum Glück nur sekundenlang. Dann floh er die Stufen empor, dem verlorenen Stein entgegen. Die im Traum herrschende Logik sagte ihm, daß er in Sicherheit war, sobald er den Kristall erreichte. Bei der ersten Berührung des Kristalls durchströmte Mishra ein Gefühl tiefsten Friedens, und er vergaß die dampfende Maschine, die ihn verfolgte. Als er sich umdrehte, hatte das Wesen die Verfolgung aufgegeben. Statt dessen lag es der Länge nach auf der Treppe. Die Ohren lagen flach am Kopf, und in den Augen stand 181
nicht länger Wut, sondern Unterwerfung. Schwache Dampfschwaden drangen aus den Nüstern. Es wartete darauf, seine Anweisungen entgegenzunehmen. Mishra hielt den Stein in die Höhe, und sein Licht fiel auf den Drachen. Tatsächlich, es handelte sich um eine Maschine in Gestalt eines Lindwurms. Die Vorderbeine gehörten zu einem Drachen, aber an Stelle von Hinterbeinen besaß die Kreatur gebogene Bronzeplatten, die sich über kleinen Rädern wölbten. Laufrollen, dachte Mishra. Der Drache trug eine eigene Straße bei sich, die er vor sich ausrollte und wieder mitnahm. Eine bis ins letzte durchdachte Maschine. »Interessant.« Jemand hatte gesprochen, und Mishra fuhr entsetzt herum. Es war niemand zu sehen, aber das Wort hallte in seinem Kopf wider. Über der Nische hockte die Kreatur, die er einst im Spiegel erblickt hatte: ein Wesen aus Knochen, Hörnern, Fangarmen, mit einer Rüstung bekleidet. Der junge Mann spürte, daß es sich um mehr als nur eine Maschine handelte, trotz der aus dicken Kabeln bestehenden Muskeln und der nach hinten gebogenen Metallhörner. Es war ein Lebewesen, und zwar ein kraftvolles, und im Gegensatz zu dem Drachen würde es sich nicht von der Macht des Steins einschüchtern lassen. Die Kreatur betrachtete Mishra lange Zeit nachdenklich. Dem jungen Mann fiel auf, daß die langen Strähnen, die von den Hörnern herabhingen, eigentlich kleine Fangarme waren und sich aus eigener Kraft bewegten. Plötzlich lachte das Wesen. Es war das trockene, hohle Lachen eines Skelettes. »Gib mir den Stein!« brüllte es und sprang mit einem Satz auf Mishra hinab. Mishra schrie. Er versuchte aufzuwachen, fortzulaufen und den Drachen zu zwingen, ihm zu helfen. Doch 182
die gehörnte Kreatur lachte nur, und er spürte, wie sich die Klauen um seine Hand schlossen, um die Hand, die den Stein umklammerte. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Arm, als das Wesen das Juwel mitsamt dem Arm an sich riß. Wieder schrie Mishra auf und erwachte. Er lag in seinem Zelt, das neben den Kochfeuern stand. Einer der Wächter hockte am Feuer und starrte zu ihm hinüber, machte aber keine Anstalten, ihm zu helfen oder ihn zu bestrafen. Mishra sah auf seinen linken Arm hinab. Er war noch vorhanden, aber lange rote Striemen zogen sich darüber, als habe er sich durch ein Dornengestrüpp gezwängt. Oder eine Klauenhand habe danach gegriffen. Die Hand hatte er zur Faust geballt; langsam öffnete er sie. Es kam kein Juwel zum Vorschein. Die Hand war leer. Mishra holte tief Luft. Es war nur ein Traum gewesen, weitaus gewalttätiger und wirklicher als je zuvor, aber dennoch nur ein Traum. Langsam atmete er aus. Plötzlich bebte der Erdboden unter seinen Füßen. In dieser Nacht war Hajar an der äußeren Lagergrenze als Wächter eingeteilt worden. Später berichtete einer der Überlebenden, der Lehrer des jungen Quadir habe einen Fluch ausgestoßen, ehe sich die Erde auftat und das Höllenwesen freiließ, aber das konnte auch eine nachträgliche Erfindung des Mannes sein. So vieles, was sich in jener Nacht ereignete, wurde später ausgeschmückt und verändert wiedergegeben. Anfangs glaubte Hajar, es handele sich um nichts weiter als ein kleines Nachtbeben, bei dem sich der abkühlende Sand ein wenig verlagerte. Manchmal zitterte die Erde im Umkreis von tausend Meilen, von den sardianischen Bergen bis nach Zegon. Einige Menschen behaupteten, es handele sich dabei um Omen, 183
aber in der Wüste wurde eigentlich alles, was den Rahmen des Üblichen sprengte, als Omen bezeichnet. Ein Nachtbeben dauerte nur einen Augenblick an, vielleicht auch zwei, und verging wieder. Dieses hielt jedoch ganze zehn Sekunden lang an. Dann wurde es heftiger. Schon entstand Unruhe im Lager. Die Ziegen rannten laut meckernd in ihrem Pferch umher, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Die Pferde, die über Nacht angebunden wurden, zerrten verzweifelt an den Stricken. Die Wachen riefen einander zu, und die schlafenden Fallaji erwachten. Hajar schrie auch, wußte aber nicht, ob der Schrei seine Kehle verließ. Das Dröhnen der Erde war mehr, als seine Ohren ertragen konnten. Zelte wurden emporgehoben und brachen zusammen. Der niedrige Zaun des Ziegenpferches fiel auseinander, und eine Flut von grauen und weißen Leibern strömte in die Freiheit. Die Pferde rissen die Anbindepflöcke aus dem Boden und galoppierten davon. Dann entfloh der Mak Fawa seinem Erdgefängnis und tauchte im Mittelpunkt des Lagers auf. Es war ein Drache wie aus den alten Legenden, dessen keilförmiger Kopf mühelos den Sand durchdrang. Es folgte ein langer Hals und schließlich ein riesiger Körper, dessen metallene Rippen im Mondlicht funkelten. Es dauerte eine Weile, bis Hajar begriff. Dieser Mak Fawa bestand vollständig aus Metall. Viele Wachen wandten sich zur Flucht, aber die meisten Männer stürmten auf das Monstrum zu. Es war ganz in der Nähe des Zeltes des Quadirs aufgetaucht. Ein paar Fallajis hatten Angst, andere beseelte der Gedanke, den Herrscher zu schützen. Hajar wünschte, sein Leben zu retten und dennoch keine Feigheit zu zeigen. Er lief um das Lager herum in der Hoffnung, 184
auf Verstärkung zu treffen, damit sie gemeinsam gegen das Wesen angehen konnten. Etliche seiner Gefährten warteten gar nicht erst, sondern stürmten allein zum Angriff. Der Drache senkte beiläufig den Kopf und packte einen der Männer. Seine mächtigen Kiefer schlossen sich um den Kopf und die Schultern des schreienden Kriegers. Dann riß er das metallene Haupt in die Höhe und schleuderte den Schreienden in hohem Bogen durch die Luft. Das Gebrüll zog über Hajar hinweg und verstummte urplötzlich, als der Angreifer irgendwo außerhalb des Lagers aufschlug. Jetzt griffen auch andere Krieger den Drachen an, aber die gebogenen Suwwardischwerter und die spitzen Speere prallten wirkungslos ab, als seien sie auf eine Steinmauer gestoßen. Wieder senkte sich der mächtige Kopf und packte einen zweiten Mann. Diesmal schüttelte er ihn hin und her, wie es die Hunde des Quadirs mit einem gefangenen Hasen zu tun pflegten. Schließlich schleuderte er auch diesen Krieger fort und kletterte ganz aus dem Erdverließ heraus. Auch Hajar wollte angreifen, um den Quadir und das Lager zu schützen und um Rache für die Getöteten zu nehmen. Aber ein Teil seines Verstandes erinnerte ihn an die Arbeit mit Ahmahl und Tocasia, und er wußte, was dieses Ding war und wer am besten wissen würde, wie man damit umzugehen hatte. Er fand Mishra in dessen Zelt, furchtsam zu einem menschlichen Knäuel zusammengerollt. »Der Traum«, murmelte er mit fest geschlossenen Augen. »Der Traum.« Hajar kam es vor, als versuche der junge Mann, das Wesen weit fortzuwünschen. »Es ist Wirklichkeit!« fauchte er unwirsch und setzte auf argivianisch hinzu: »Es ist eine Maschine. Ein Artefakt. Du kennst dich damit aus. Wie können wir es besiegen?« 185
Die Worte des Fallajis rissen den jungen Gelehrten aus seiner Benommenheit. »Natürlich!« sagte er. »Es muß eine Maschine sein. Vielleicht keine Thranmaschine, aber auf jeden Fall ein mechanisches Wesen. Ich muß den Stein haben!« »Stein?« wiederholte Hajar, dem allmählich flau im Magen wurde. »Ein grünes Juwel, von dem nur eine Hälfte vorhanden ist«, erklärte Mishra. »Man hat es mir bei meiner Ankunft hier abgenommen. Damit kann ich den Drachen schwächen.« »Ich habe den Stein gesehen«, sagte Hajar und wandte sich dem Kampfgeschehen zu. Leise fügte er hinzu: »Der Quadir hat ihn.« Er blickte über die Zerstörung hinweg, die der Drache angerichtet hatte. Frauen, Kinder und alte Leute flohen aus dem Lager, während sich die Krieger zu einem geordneten Angriff aufstellten. Unter ihnen befand sich die unförmige Gestalt des Quadirs. Ein grünes Leuchten ging von ihr aus. »Da!« rief Hajar und deutete auf den Suwwardianführer. »Er hat ihn!« Er wartete nicht ab, ob Mishra ihm folgte, sondern rannte los. Hajar befand sich ungefähr zweihundert Schritte hinter der Kriegergruppe und dem Quadir. Das rettete ihm das Leben. Die Drachenmaschine beugte sich vor und riß das Maul vor den heranstürmenden Männern auf. Aus dem Leib des Monstrums drang ein Laut, der sich wie das Herannahen eines Wirbelsturms anhörte, und rotglühender Dampf quoll hervor. Hajar hörte die Schreie, als die Krieger von der rötlichen Wolke eingehüllt wurden. Er spürte die Hitze auf seiner Haut und taumelte ein Stück zurück, ehe er sich zusammenriß und weiterlief, dem sich schnell verflüchtigenden Dampf entgegen. 186
Die Männer waren auf der Stelle verschmort; das dunkelbraune Fleisch hing von den Knochen herab. Hajar wurde übel, aber dennoch hielt er Ausschau nach dem großen Körper, der einst dem Quadir gehört hatte. Er fand ihn mit dem Gesicht im Schmutz liegend. Eine riesige Blutlache hatte sich dort gebildet, wo das Fleisch von den Knochen geschmolzen war. Seine Aufgabe verfluchend, kniete Hajar nieder und durchsuchte die Taschen der Leiche. Er blickte nur einmal auf, als der Sohn des Anführers ein paar Krieger zum Angriff auf die Flanke des Wesens führte. Der Quadir hatte zu seinem Wort gestanden und den Stein bei sich getragen. Er leuchtete noch immer, und sein Schein fiel auf die gräßlich zugerichteten Leichen rings umher. Hajar nahm das Juwel an sich und beging den Fehler, noch einmal aufzuschauen. Er starrte genau in die Augen des Mak Fawa. Diese Augen blickten nicht leblos und stumpf. Das war kein Wesen wie die Su-chis oder die langsamen Onulets, die im argivianischen Lager gearbeitet hatten. In diesem Blick war Klugheit zu erkennen, und hinter dieser Klugheit verbarg sich Bösartigkeit. Der Mak Fawa sah Hajar an und wußte sofort, wen er vor sich hatte, was er in seinen Händen hielt und warum er es nicht benutzen konnte. Der Drache riß das Maul auf, und wieder hörte man den herannahenden Wirbelsturm. Hajar wußte, was er zu erwarten hatte, und rannte davon, auf die Mitte des Lagers zu. Sein Rücken schien in Flammen zu stehen, als ihn die rote Wolke erreichte. Aber er lief weiter, und sie verzog sich. Er war frei, und Mishra kam ihm entgegen. Hajar blickte über die Schulter. Der Drache setzte sich in Bewegung und kam auf sie zu. 187
Der Fallaji drehte sich um und warf Mishra den Stein zu. Dann sprang er zur Seite und riß die Arme schützend vor das Gesicht - für den Fall, daß Mishra vielleicht doch nicht wußte, wie er die Maschine besiegen sollte. Vielleicht würde ihn der Drache für tot halten und nicht weiter beachten, dachte Hajar verzweifelt. Lange Zeit verharrte er reglos. Jeden Augenblick rechnete er damit, den feurigen Atem zu spüren. Als nichts geschah, ließ er vorsichtig die Arme sinken. Der Mak Fawa lag am Boden und sah aus wie ein Hund des Quadirs (des verstorbenen Quadirs, verbesserte sich Hajar), der sich gemütlich zum Schlafen niederlegt. Die stählernen Klauen ruhten unter den Vorderbeinen, und Hajar bemerkte, daß die Maschine keine Hinterbeine, sondern seltsame Rollen und darüberliegende Metallplatten besaß. Der Hals des Drachen lag ausgestreckt im Sand; der keilförmige Kopf bewegte sich nicht. Kleine Dampfwolken quollen aus den Mundwinkeln. Vor dem Drachen stand Mishra, den Stein in den erhobenen Händen haltend. Das Juwel leuchtete hell; wie ein grünliches Leuchtfeuer durchdrang es die Dunkelheit. Hajar erhob sich und ging mit unsicheren Schritten auf den Gelehrten zu. »Hast du ihn getötet?« fragte er. Mishra schüttelte den Kopf, und seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Nein, das habe ich nicht. Ich habe ihn auch nicht geschwächt, aber ich glaube, er gehorcht mir.« Stimmen näherten sich, und Hajar erblickte den jungen Quadir. Blut strömte aus einer tiefen Schnittwunde am Arm des Knaben, und das gerötete Gesicht schien mit dem Dampf in Berührung gekommen zu sein. »Ist er tot?« rief er Mishra zu. 188
»Gezähmt!« erwiderte der Argivianer. »Ich glaube, ich kann ihn jetzt beherrschen.« Der Knabe nickte und sagte: »Das wird meinen Vater freuen.« Hajar zuckte zusammen. »Es tut mir leid, junger Herr, aber Euer Vater ist...« Er geriet ins Stocken. »Jetzt seid Ihr der Quadir.« Noch während er sprach, verdüsterte sich die Miene des Jungen. Die Nachricht hatte ihn anscheinend versteinert. Plötzlich wirkte er älter als Sekunden zuvor. Nach einer Weile wandte sich der neue Quadir Mishra zu und fragte: »Kannst du das Ding wirklich beherrschen?« Eine klare Frage. »Ich denke, ich kann es«, lautete die Antwort. »Kann es sonst noch jemand?« Mishra dachte eine Weile nach und schüttelte den Kopf. »Hätte Euer Vater es vermocht, hätte er es sicherlich getan.« Er schwieg kurze Zeit. »Wir können das später gründlich nachprüfen.« »Einverstanden«, sagte der Junge. »Schaffe das Wesen aus dem Lager, und bleibe bis zum Anbruch des Tages bei ihm.« Zu Hajar gewandt meinte er: »Zeige mir den Leichnam meines Vaters. Wir müssen nach den Verwundeten sehen und herausfinden, welche Schäden angerichtet wurden. In dieser Nacht haben wir viel verloren.« Er sah den Drachen nachdenklich an und sagte, mehr zu sich selbst als zu Hajar: »Vielleicht haben wir aber auch genauso viel gewonnen.« Mishra sprach mit leiser Stimme: »Wie Ihr wünscht, Erhabener. Ich bin Euer gehorsamer Rakiq.« »Nein«, widersprach der Knabe und hob die Hand, wie es sein Vater zu tun pflegte. Sekundenlang entspannten sich seine Züge. »Du bist kein Rakiq mehr, kein Sklave. Von nun an bist du mein Raki, mein Magier. Ich brauche dich an meiner Seite, um diesen er189
staunlichen Drachen zu beherrschen. Mit seiner Hilfe können wir die Herrschaft über die anderen Stämme behalten und weitere Eroberungen machen. Wirst du mir treu dienen?« Mishra kniete nieder und sagte: »Das werde ich.« Hajar war beeindruckt. Der Junge benahm sich, als habe er sich auf diesen Augenblick vorbereitet und wisse genau, was zu tun war. »Ich danke dir«, sagte der junge Quadir zu Mishra. »Fürwahr müssen deine und meine Mutter eine gemeinsame Ahnin gehabt haben. Aber nun müssen wir uns sputen! Wir haben noch viel zu tun!«
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KAPITEL 8
Tawnos O hne
Voranmeldung traf der Fremde in der Akademie der Wissenschaften in Kroog, der Hauptstadt Yotias, ein. Er hatte eine lange Reise von der Südküste hinter sich und war müde und erschöpft. Vernünftiger wäre es gewesen, wenn er sich ein paar Tage ausgeruht und ein passendes Gewand zugelegt hätte, ehe er auf die übliche Art und Weise um einen offiziellen Empfangstermin ersuchte. Der Fremdling war jedoch mit den Sitten der vornehmen yotianischen Gesellschaft nicht vertraut und begab sich sofort zur Akademie, ein Empfehlungsschreiben in der Tasche seines Reiseumhangs und das mitgebrachte Geschenk in einem Beutel verstaut. Die Akademie der Wissenschaften war in einem erst kürzlich errichteten Flügel des königlichen Palastes untergebracht worden. Der Fremde stellte überrascht fest, daß am Haupteingang kein Pförtner saß, der nach seinem Begehr fragte. Allerdings verwehrte ihm so auch niemand den Eintritt. Überall eilten Schreiber, Bibliothekare und kleinere Beamte hin und her, aber niemand erinnerte auch nur im entferntesten an einen uniformierten Wächter oder an einen hilfsbereiten Fremdenführer. Schließlich hielt er einen der Schreiber an, einen rundlichen, freundlich wirkenden Burschen, der mit Schriftrollen und Tintenfässern bepackt war. Der Mann erklärte ihm, er könne den Leiter der Akademie im Vogelsaal finden, der im Mittelpunkt des Gebäudes unter der hohen Kuppel gelegenen Werkstatt. Der Besucher 191
möge die hintere Treppenflucht erklimmen, dann im ersten Stock rechts abbiegen, an der zweiten Gangkreuzung links, an der sternförmigen Kreuzung wieder rechts - aber nicht zu scharf rechts -, dann eine. Treppe hinab und schon sei er im Vogelsaal. Der Schreiber fragte nicht einmal, weshalb der hochgewachsene blonde Mann den Leiter der Akademie sprechen wolle. Die Anweisungen des freundlichen Schreibers ließen zu wünschen übrig. Es dauerte noch fünfzehn Minuten (und bedurfte der Hinweise zweier weiterer Schreiber), ehe der Reisende den Vogelsaal fand, der sich - wie angekündigt - unter der hohen Kuppel des Haupthauses befand. Ihm fiel auf, daß das runde Dach des Raumes auf schwenkbaren Balken ruhte und bei Bedarf geöffnet und zur Seite geschoben werden konnte. Unter der Kuppel herrschte geordnetes Chaos. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand erhob sich das Skelett eines der berühmten Ornithopter, dessen Körper inmitten einer Explosion erstarrt zu sein schien. Die einzelnen Teile waren ordentlich an der Wand befestigt, und feine Linien führten zu den Stellen, an denen sie ihren ursprünglichen Platz hatten. Seitlich daneben stand eine Gruppe junger Schüler an rollbaren Werkbänken und war dabei, Rippen aus Kerzenholz zu schnitzen. Auf der anderen Seite wurde gerade ein Omithopter gebaut, und ein paar junge Leute zogen Leinwand über die Flügel. Der Leiter der Akademie stand in der Mitte des Raumes an einem mit Plänen übersäten riesigen Tisch. Sein Haar war hellblond, fast weiß. Zwar war er kleiner als der Fremde, aber seine überwältigende Ausstrahlung ließ ihn bedeutend größer erscheinen. »Drei Komma vier Zoll bis zum ersten Spurkranz!« rief er den Studenten an den Werkbänken zu, die gehorsam ihre Tastzirkel hervorzogen und zu messen be192
gannen. »Nein, nein!« Er eilte zu den Schülern hinüber, die mit der Leinwand beschäftigt waren. »Zuerst müßt ihr den Stoff über die großen Ösen oben auf dem Flügel ziehen! So kann sich der Flügel ganz natürlich entfalten.« Während der Neuankömmling zusah, betrat ein Schreiber den Raum und reichte dem blonden Mann eine Schriftrolle. Urza studierte sie eine Weile, schüttelte dann den Kopf und hieß den Schreiber zu warten, während er wieder zu seinem Schreibtisch ging. Er kritzelte ein paar Worte auf das Papier. »Und richte ihm aus, daß ich die Sachen bis morgen mittag haben muß!« knurrte er unwirsch. »Keine Sekunde später!« Der Schreiber machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon. Plötzlich fiel dem Fremden die Frau auf, die an die Wand gelehnt stand. Sie blieb inmitten des Aufruhrs so ruhig, daß er sie zuerst für eine Statue hielt. Sie war mit einem einfachen blauen Gewand bekleidet, und das glänzende schwarze Haar fiel ihr über die Schultern. Ihrer Miene nach zu schließen mißbilligte sie das Geschehen ringsumher. Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt. »Entschuldigung, mein Fräulein...«, begann der Fremdling. »Ich möchte nur...« Sie sah ihn an, und die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er die vollen Lippen, die feurigen dunklen Augen und die edlen Gesichtszüge sah. Sofort wußte er, mit wem er es zu tun hatte, und geriet ins Stottern. »Verzeiht mir, Majestät.« Er fiel auf die Knie. Kaum hatte er den Boden berührt, legte sich ihm eine zarte Hand auf die Schulter. »Erhebt Euch, junger Mann«, sagte Kayla bin-Kroog, Prinzessin von Yotia und Ehefrau des Akademieleiters. Als er aufblickte, lächelte sie belustigt. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. 193
»Es tut mir leid«, stammelte er. »Ich wußte nicht, wer da vor mir steht.« »Hier in der Höhle des Akademieleiters legt man wenig Wert auf feierliche Begrüßungen«, erwiderte die Prinzessin. Inzwischen brüllte Urza erneut die Studenten an; »Ich sagte: drei Komma vier, nicht drei Komma zwei! Die Streben dürfen nicht weiter als null Komma zwei auseinanderstehen!« »Ist Euer Gem...« Er hielt inne und setzte erneut an. »Ist der Leiter der Akademie zu sprechen?« »Das weiß ich nicht«, antwortete die Prinzessin mit stockender Stimme. »Seit zehn Minuten stehe ich hier und warte darauf, daß er mich zur Kenntnis nimmt Wenn es länger als fünfzehn Minuten dauert, gehe ich immer davon aus, daß er zuviel zu tun hat.« Der Fremde sah sie aufmerksam an und nickte. »Vielleicht wäre es besser, wenn ich morgen wiederkäme«, schlug er vor. Sie lachte freudlos. »Es gibt nie weniger zu tun als jetzt! Ist es wichtig?« Der Mann griff in seine Tasche und zog einen Umschlag hervor. »Ich bin sein neuer Gehilfe.« Kayla öffnete den Brief und überflog ihn hastig. Der Fremde hielt den Atem an, als befürchte er, das Schreiben könne eine Unhöflichkeit enthalten, die ihm ein Kennenlernen des mächtigen Urza verwehren würde. »Ein Spielzeugmacher?« fragte sie schließlich. »Aus Jorilin, an der Küste gelegen«, erklärte er schnell. Sie nickte. »Als ich noch ein Kind war, verbrachten wir manchen Sommer dort, wenn es in Kroog unerträglich heiß wurde.« »Nun, seit einigen Jahren arbeitete ich dort als Spielzeugmacher und bin anerkannter Geselle. Meine Arbeit fand einige Anerkennung, und man schlug mir 194
vor, mich um eine Stellung als sein Gehilfe zu bewerben ...« Verlegen zuckte er mit den Schultern. Daheim in Jorilin hatte sich alles so vernünftig angehört; viel vernünftiger als jetzt, da er es der mächtigsten (und schönsten) Frau von Kroog zu erklären versuchte. »Ich verstehe«, sagte die Prinzessin, die jetzt wieder belustigt dreinblickte. »Sein Gehilfe.« »Nun, einer von ihnen«, verbesserte er rasch. »Bitte sehr«, lachte sie. »Alle anderen hier sind keine Gehilfen. Es sind Drohnen, die ihren König Urza umschwirren. Helfer, Studenten, nützliche Hände - sonst nichts. Von richtigen Gehilfen erwartet man mehr als von diesem Haufen hier. Normalerweise halten sie sich nicht länger als einen Monat oder so. Es ist schwer, mit ihm Schritt zu halten, und er ist ein sehr anspruchsvoller Arbeitgeber.« Als wolle er ihre Behauptung bestätigen, brüllte Urza erneut. »Ich sagte, ich benötige null Komma zwei als Zwischenraum, Werkbank Eins! Benutzt du ein Zahlensystem, das mir bisher unbekannt war?« Die Schüler lachten verhalten, während der Angesprochene mit rotem Kopf zurück an die Arbeit ging. »Vielleicht sollte ich später wiederkommen«, meinte der Fremde noch einmal. »Jeder Zeitpunkt ist so gut wie der jetzige«, entgegnete die Prinzessin. »Morgen ist er genauso schlecht gelaunt, aber dann bin ich nicht hier, um Euch zu helfen. Urza! Mein Gemahl! Hör einen Augenblick zu!« Der Akademieleiter hob als Antwort auf den Ruf eine Hand. In der anderen hielt er einen Stift und rechnete eine lange Zahlenreihe aus. Er sah nicht einmal auf. »Dieser...«, murmelte die Prinzessin, und etliche unschöne Falten tauchten auf ihrer Stirn auf. »Ich schwöre Euch, er arbeitet tagtäglich bis zur völligen Erschöpfung. Dann wacht er des Morgens auf und 195
meint, er habe sechs Stunden verloren, weil er etwas so Unnützes wie Schlafen getan hat. Urza!« Die Hand blieb erhoben und - als wolle er zeigen, daß er zuhöre - wedelte hin und her. »Vielleicht wird das hier helfen«, murmelte der Fremde, griff in den Beutel und zog das Geschenk hervor. Zuerst sah es wie das Stück einer einfachen Kette aus. Er betätigte einen Schalter, der an einem Ende der Kette saß, woraufhin diese plötzlich fest wurde und vorwärts schoß. Eine Schlange war in den Händen des Mannes zum Leben erwacht. Entsetzt sprang Kayla zur Seite. Die Schlange flog durch die Luft, als besitze sie unsichtbare Flügel, und landete inmitten der Papiere auf Urzas Schreibtisch. Sie wühlte sich hindurch und tauchte genau unter dem Notizblock Urzas wieder auf. Mit klapperndem Schwanz und erhobenem Kopf zischte sie dem Leiter der Akademie eine Warnung zu. Totenstille senkte sich über den Raum. Die Werkbänke standen still, die mit der Leinwand kämpfenden Studenten hielten inne, und Urza stand mit erhobenem Stift reglos da und starrte auf die gebleckten Zähne des Reptils. Dann beugte er sich vor und tippte mit dem Stift auf die Nase der Schlange; ein hohlklingendes Geräusch ertönte, und sie ringelte sich zusammen. Der Gelehrte sah mit breitem Grinsen auf. »Wer war das?« Der Fremde errötete. »Ich war es.« Kayla trat mit dem Empfehlungsschreiben in der Hand vor. »Das ist Tawnos, ein Spielzeugmacher aus Jorilin. Er möchte dein Gehil...« Urza ließ sie nicht ausreden und nahm ihr das Schreiben aus der Hand. »Spielzeugmacher? Und das ist deine Schöpfung?« »Eine davon«, antwortete Tawnos. 196
»Warum Holz?« fragte Urza. »Metall ist viel dauerhafter.« »Holz ist leichter«, antwortete der junge Mann. »Und Schafgarbenholz verleiht ihr einen viel echteren Klang, wenn sie sich bewegt. Metallschuppen klirren.« »Also hast du es versucht«, meinte Urza und hob die Augenbrauen. »Gut. Sehr gut. Ich nehme an, von einer Feder angetrieben.« »Ein Uhrwerk«, erklärte Tawnos. »Ich hörte, Ihr hättet einst als Uhrmacher gearbeitet.« »Eine Weile«, murmelte Urza geistesabwesend. Seine Finger untersuchten die Schlange, betasteten und prüften sie. »Dann zog ich mich zurück, um für die Regierung zu arbeiten. Weniger schwere Arbeit.« Kayla mischte sich ein: »Geliebter Gemahl, mein Vater erwartet...« Eine erhobene Hand brachte sie zum Verstummen. »Sie ist sehr lebensecht«, bemerkte der Argivianer. »Hast du Schlangen beobachtet, um sie so gut nachbauen zu können?« »An der Küste leben zahlreiche Schlangenarten«, erklärte Tawnos. »Diese hier habe ich einer Viperrasse nachempfunden. Ich habe sie nur zum Spaß gebaut, zu meinem eigenen Vergnügen.« »Urza!« warf Kayla ein, aber ihr Gemahl hatte sie vollkommen vergessen. »Was ist mit Vogelarten?« erkundigte er sich. »Ich habe versucht, das langsame Aufsteigen der Ornithopter zu verbessern.« »Es hängt ganz davon ab, was Ihr wollt«, sagte der junge Mann. »Vögel, wie zum Beispiel Möwen oder Geier, die vom Boden aus blitzschnell abheben, eignen sich nicht als Vorbilder für die Ornithopter. Ich finde, Ihr solltet Euch jene Tiere ansehen, die sich von luftigen Ausgangspunkten abstoßen, wie Eulen oder Raubvögel.« 197
Urzas Miene hellte sich auf, und in diesem Augenblick begriff Tawnos, daß ihm die Stelle als Gehilfe sicher war. »Daran habe ich nicht gedacht«, sagte der blonde Mann. »Bisher war ein Vogel nichts weiter als ein Vogel für mich. Aber du hast recht: Das Aussehen richtet sich nach der Bestimmung, und die Bestimmung formt das Aussehen. Hier, schau dir diese Pläne an, und sage mir, ob es sich um einen Aufsteiger oder, einen Abstoßer handelt.« Tawnos betrachtete die auf dem Schreibtisch liegenden Zeichnungen und atmete tief durch. Die Pläne stellten die Ornithopter dar, die sich durch unterschiedliche Flügelformen voneinander abhoben. Einige erinnerten ihn an lebende Vögel, während andere aussahen, als könnten sie niemals fliegen. Plötzlich fiel ihm die Prinzessin ein, die schon zweimal versucht hatte, sich in Erinnerung zu bringen. Als er aufsah, war sie verschwunden, und Urza brüllte schon wieder die Studenten an und ermahnte sie, genauer zu arbeiten. Die Absätze der Prinzessin waren mit Metall beschlagen und sandten eine Botschaft aus, wenn sie über die marmornen Böden des Palastes schritt. Manchmal hörte man ein gemächliches Tappen, das der Dienerschaft verriet, daß die Hoheit über etwas nachdachte. Dann wieder erklang ein gleichmäßiges Klicken. Es bedeutete für gewöhnlich, daß sie in Begleitung war. Meistens handelte es sich um einen vornehmen Besucher aus dem Hinterland, dem sie den Palast zeigte. Hin und wieder jedoch ertönte ein wahres Trommelfeuer, wenn sie durch die Gänge lief. Das kam im Gegensatz zu der Zeit vor ihrer Vermählung jetzt nur noch selten vor. Heute sandten ihre Absätze eine Warnung aus. Sie hatte gerade ihren Gemahl, den argivianischen Gelehr198
ten, besucht und war anscheinend nicht sehr zufrieden. Das harte Klicken des Metalls auf dem Marmor reichte aus, um auch die hartgesottensten Höflinge in die Flucht zu schlagen, und auch die erfahrensten Diener zogen es vor, ihr aus dem Weg zu gehen. Daher durchschritt Kayla leere Gänge und Hallen, als sie zu ihren Gemächern ging. Sie kochte vor Wut. Er war beschäftigt. Er war immer beschäftigt. Wenn er die Möglichkeit hatte, würde er seine ganze Zeit der Arbeit widmen. Den Ornithoptern. Den Metallstatuen. Den riesigen Lasttieren, die eines Tages unvermittelt im Rosengarten erschienen waren. Er würde bis zur völligen Erschöpfung arbeiten, und auch alle anderen bis an ihre Grenzen treiben. Wenn sie keinen Wächter ausschickte, würde er sogar im Vogelsaal schlafen. Manchmal ließ sie es auch zu, aber das verminderte seine Arbeitswut nicht. Natürlich lag die Schuld dafür nicht allein bei ihrem Gemahl, das wußte Kayla. Ihr lieber Vater trug dazu bei, daß ihr Gatte sie vernachlässigte. Immer wieder äußerte er neue Wünsche. Ein besonderes Geschenk für einen Baron. Eine bestimmte Maschine für einen Tempel. Etwas, um die Arbeit einer Gilde zu erleichfern. Ein neuartiger Ziehbrunnen. Eine Erntemaschine. Selbstverständlich konnte der Leiter der Akademie dem König nichts abschlagen, insbesondere dann nicht, wenn es um die Entwicklung einer neuen Erfindung ging. Es war eine vollkommen harmonische Beziehung. Urza baute liebend gerne Maschinen, und Papa liebte alles, was Urza baute. Dem König war gleichgültig, wie Urza die wundervollen Geräte herstellte, und Urza fragte nie, wozu der Herrscher sie benötigte. Ihre Pläne und Interessen ließen Kayla zur Nebensache werden. Sie blieb stehen und stampfte wütend mit dem Fuß auf. Zahlreiche der in der Verborgenheit wartenden 199
Diener fragten sich, ob man den Abdruck ihres Absatzes durch heftiges Polieren verwischen konnte oder ob es gar einer neuen Marmorplatte bedurfte. Kayla holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Eigentlich, dachte sie, könnte es viel schlimmer sein. Inzwischen mochte das yotianische Volk Urza gern, nachdem es dem ausländischen Schwiegersohn des Königs anfangs mißtrauisch gegenübergestanden hatte. Die Hochzeit hatte dazu beigetragen, auch die einfachen Menschen und die meisten Kaufleute zu gewinnen. Der Adel stellte mit Erleichterung fest, daß sich Urza nicht für Politik interessierte, sondern ganz in seiner Arbeit aufging. Und die Tempel... Nun, anfangs waren die Tempelangehörigen trotz der Begeisterung, die sie bei der Hochzeit an den Tag legten, ein wenig schwierig gewesen. Die Argivianer waren abscheulich ungläubige Leute, und der Glaube an die verschiedensten Götter spielte im politischen Leben Kroogs eine wichtige Rolle. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß sämtliche Glaubensgemeinschaften genau wußten, daß sie den Argivianer Urza in ihre Tempelschulen hätten aufnehmen können, sie ihn aber ob seiner Herkunft abgelehnt hatten. In den ersten Jahren blieb die Stimmung ein wenig gespannt, da sämtliche Tempel nur darauf warteten, daß Urza einen Fehler beging und die eine oder andere Gruppe tödlich beleidigte. Urza selbst war es, der das Problem löste. Erstens hockte er in seiner Werkstatt und hatte gar keine Gelegenheit, die Tempel zu verärgern. Zweitens war es ihm gelungen, einen kleinen Teil der alten Thranmagie aus dem Buch des Jalum zum Nutzen der Tempel anzuwenden. Es handelte sich um ein einfaches kleines Amulett, an dessen Rückseite das Bruchstück eines Kraftsteines befestigt war. Es gab ein leises Summen von sich, das auf den Träger beruhigend wirkte und ihn so vor man200
cherlei Unbilden schützte. Selbstverständlich rissen die Tempel alles, was auch nur im geringsten mit Heilzaubern zu tun hatte, an sich, und sofort wurde einstimmig erklärt, Urza sei - selbst für einen Argivianer - ein wunderbarer Bursche. Nun waren die Glaubensgemeinschaften zufrieden. Auch die Kaufleute waren glücklich, denn die Menschen reisten in Scharen nach Kroog, um die >Zauberamulette< zu sehen. Das einfache Volk war ebenfalls zufrieden, da die Kaufleute mehr Hilfskräfte einstellen mußten, und sie freuten sich über den Anblick der Ornithopter, die über der Stadt kreisten und noch mehr Besucher anzogen. Außerdem, dachte Kayla, war Papa glücklich, weil er Metallstatuen, Ornithopter und Wunderdinge besaß, die kein anderer König sein eigen nannte, und einen Schwiegersohn, der ganz darin aufging, immer neue Maschinen zu erfinden. Eigentlich machte der Leiter der neuen Akademie alle Menschen glücklich - bis auf seine Frau. Und am schlimmsten war, daß Papa sich beklagte, noch immer keinen Enkelsohn zu haben, keinen Erben, der den Titel tragen würde. War es etwa ihre Schuld, daß der König ihren Gemahl fortwährend mit anderen Dingen beschäftigte? Kayla wußte, daß es auch andere Möglichkeiten gab, nicht ohne Liebe auskommen zu müssen, aber sie hielt nichts davon. Früher hatte ihre Anstandsdame ihr viele Geschichten über Königinnen und Prinzessinnen erzählt, die sich mit gutaussehenden Höflingen oder gar einfachen Bürgern einließen. Die meisten dieser Geschichten dienten jedoch als Warnung, denn für gewöhnlich endeten sie damit, daß einer oder beide der betroffenen Personen im Exil landeten oder hingerichtet wurden. Beides erschien Kayla nicht erstrebenswert. Aber sie war jung und schön, und es gab genügend 201
Männer, die sie mit begehrlichen Blicken ansahen, während ihr Gemahl keine Zeit für sie hatte. Gut zu wissen, daß man sich immer noch nach ihr umdrehte, dachte sie. Kayla war sicher, daß der hochgewachsene Spielzeugmacher von der Küste um ein Haar seine Zunge verschluckt hätte, als er sie erkannte. Derartige Kleinigkeiten versetzten sie in gute Stimmung. Sie dachte über den Neuankömmling nach. Er war groß und breitschultrig; zweifellos hatte er sich, ehe er einen Handwerksberuf erlernte, am Kap von Jorilin mit dem Einziehen schwerer Sardinennetze beschäftigt. Sein blondes Haar war zerzaust und verlieh ihm das Aussehen eines herrenlosen jungen Hundes. Das ist ein Mann, dachte sie lächelnd, der eine starke Frau benötigt, um Ordnung in sein Leben zu bringen. Und seine Manieren! Reines Hinterland - wenn er sprach, konnte man beinahe die Möwen krächzen hören. Bei richtiger höfischer Erziehung würde sich das jedoch bald geben. Außerdem hatte er fast augenblicklich Zugang zu Urza gefunden. Falls ihr Gemahl in Zukunft wieder einmal nicht für sie zu sprechen war, würde er vielleicht auf einen Mann hören, der die Sprache der Erfinder, der Wissenschaftler und Mechaniker beherrschte. Kayla schüttelte den Kopf. Sie wünschte dem gutaussehenden Fremden, daß er die Strapazen der Zusammenarbeit mit ihrem Gemahl aushielt, denn er wirkte wie ein ausgesprochen netter junger Mann. Aber sie wußte sehr gut, daß er sich Urza anpassen mußte, wenn er einen Platz in dessen Welt finden wollte. Sie hatte gelernt, daß jeder, der sich nicht anpaßte, einfach übersehen wurde. Inzwischen ging sie langsamer, und das Klappern der Absätze war zu einem leisen Pochen geworden. Die Höflinge wußten, daß der Sturm - welchen Ur202
sprung er auch gehabt haben mochte - abgeflaut war, und sie schritt an ein paar Dienern vorüber, die sich verbeugten und dann mit Schriftrollen, Leintüchern und Geschirr in den Händen ihren Pflichten nachgingen. Schließlich erreichte sie den großen Salon, holte tief Luft und trat ein. Der Geheime Rat tagte bereits. Am Kopfende des langen Tisches saß ihr Vater. Links neben ihm hockte Rusko, der gemeinsam mit Urza in den Palast gezogen war und nicht so aussah, als wolle er ihn je wieder verlassen. In der Zwischenzeit war der Uhrmacher zu einem halboffiziellen Verbindungsoffizier zwischen dem Palast und den Gilden geworden, und diesen Titel (und die damit verbundenen Vergünstigungen) würde er nur wieder hergeben, wenn entweder er selbst oder die Stadt Kroog nicht mehr existierte. Auf der rechten Seite saßen der Hauptmann der Garde und der Seneschall. Der Hauptmann hatte dem König vor ewigen Zeiten als Knappe gedient, war aber weniger schonend gealtert und verbrachte die meiste Zeit vor sich hin dösend. Der Seneschall hatte sich in den Jahren seit der Hochzeit kaum verändert. Wahrscheinlich schreckte seine innere Unruhe sogar jegliche Krankheit und jegliches Unglück ab, sich ihm auf mehr als zwanzig Schritt Entfernung zu nähern. Diese drei Männer waren die engsten Ratgeber ihres Vaters. Natürlich gehörte auch Kayla zu seinen Vertrauten. Sie war immer willkommen, und man schenkte ihren Ratschlägen Beachtung. Aus diesen vier Menschen setzte sich der Geheime Rat des Königs zusammen. »Kommt er?« erkundigte sich der Herrscher mit strenger Miene. »Ist er jemals gekommen?« erwiderte die Prinzessin 203
und bemühte sich, einigermaßen fröhlich zu klingen. »Nein, er ist damit beschäftigt, seinen neuen Gehilfen einzuweisen.« Der König warf Rusko einen fragenden Blick zu, der die Achseln zuckte. »Davon weiß ich nichts. Ich wette, der hält sich auch nicht länger als einen Monat.« Die Prinzessin ließ sich neben dem Uhrmacher nieder. Anfangs hatte die Nähe der königlichen Herrschaften Rusko verunsichert und zum Stottern gebracht, aber nach ein paar Jahren hatte sich das gegeben. Manchmal vermißte Kayla seine übertriebenen Schmeicheleien ein wenig. »Wie sieht die Lage in den Schwertsümpfen aus?« fragte der König ungehalten. Der Hauptmann schniefte und unterdrückte ein Niesen. Die Prinzessin merkte, daß er jedesmal niesen mußte, wenn man ihm eine unausweichliche Frage stellte. »Ruhig«, murmelte er. »Die Fallajis werden von Monat zu Monat unverschämter. Man sagt, ein bestimmter Stamm sei dabei, die anderen zu beherrschen.« »Ein anderer Stamm als die Tomakul?« warf der Seneschall beunruhigt ein. Wieder kämpfte der Hauptmann gegen ein Niesen an und erwiderte: »Die in Städten lebenden Fallajis sind tonangebend, aber selbst sie haben sich diesem Wüstenstamm angeschlossen. Normalerweise verbringen die Nomaden aus der Wüste ihre gesamte Zeit damit, einander zu bekämpfen.« »Jetzt aber nicht mehr«, warf der König ein. »Inzwischen überfallen sie fortwährend Karawanen.« »Oder verlangen unerhörte Wucherpreise als Wegezoll«, fügte Rusko hinzu. »Manchmal fordern sie auch >Sold< für Karawanenwächter aus ihren Reihen. Das ist Erpressung, und sie saugen den Kaufleuten das Blut aus!« »Was ist mit unseren Patrouillen?« fragte der König. 204
Der Hauptmann hielt sich die Nase zu. »Entlang der Sümpfe sind drei Einheiten stationiert. Sobald eine Karawane yotianisches Gebiet erreicht, ist sie in Sicherheit. Es gab keinerlei Überfälle auf unserem Grund und Boden. Aber wir haben nicht genügend Männer, um alle Karawanen durch die Wüste begleiten zu können.« »Was ist mit den Ornithoptern?« mischte sich Kayla ein. Diese Frage hatte ein gewaltiges Niesen zur Folge. Die Nase des Hauptmanns verschwand hinter einem riesigen Taschentuch, und er schneuzte sich dröhnend. »Wir könnten sie als Begleitung der Karawanen einsetzen«, stimmte der Hauptmann schließlich ihrem Vorschlag zu. Der König schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht, daß unsere Maschinen den Fallajis in die Hände fallen. Können wir sie nicht als Sumpfpatrouillen einsetzen?« Der Hauptmann blinzelte angestrengt. »Könnten wir. Aber wir haben nicht genügend Ornithopter zur Verfügung.« »Warum nicht?« Es sah so aus, als folge dieser Frage wieder ein langanhaltendes Niesen und Schneuzen. Daher beeilte sich Rusko, die Antwort zu geben: »Es liegt nicht daran, daß wir zu wenige Maschinen oder zu wenige tollkühne junge Männer und Frauen hätten, die sie fliegen möchten. Die Schwierigkeit liegt bei der benötigten Energie. Die Ornithopter brauchen die Kraft der alten Thransteine. Die Metallstatuen auch. In Yotia gibt es nicht allzu viele davon. Urza versucht, erloschene Steine wieder zum Leben zu erwecken, aber das ist ausgesprochen schwierig. Wir können unendlich viele Ornithopter bauen, aber ohne Kraftkristalle sind sie nichts anderes als hübsche Spielzeuge. Da liegt unser Problem.« 205
Der König grunzte unzufrieden. »Gibt es einen Ort, wo wir diese Steine bekommen können?« Jetzt wagte der Seneschall eine Bemerkung. »Die Argivianer haben im Laufe der Jahre sehr viele Steine gesammelt, aber sie benutzen sie für ihre eigenen Artefakte. Soviel ich weiß, suchen sie außerdem in der Wüste nach weiteren Kristallen.« Stille senkte sich über den Raum. Kayla sah förmlich, wie sich die Gedanken hinter der Stirn ihres Vaters überschlugen. Immer wenn er so in Gedanken versank, hatte das unangenehme Folgen für irgend jemanden. »Hauptmann«, sagte er nach geraumer Zeit, »ich wünsche, daß Ihr Forscher in die Wüste schickt. Sie müssen Beschreibungen dieser Steine mitnehmen, damit sie wissen, wonach sie suchen sollen. Wir fragen Urza nach den wahrscheinlichsten Fundorten dieser Kristalle.« Diesmal war es keine Frage, und der Hauptmann nickte zustimmend. »Was ist, wenn unsere Forscher auf die Argivianer stoßen, die auch nach den Steinen suchen?« erkundigte sich der Seneschall schüchtern. »Wahrscheinlich freuen sie sich, wenn sie außer auf die verrückten Fallajis auch noch auf zivilisierte Menschen stoßen!« fauchte der König. »Aber, um auf Nummer Sicher zu gehen, werdet Ihr einen Brief an den argivianischen König aufsetzen. Schreibt ihm, was wir vorhaben, aber stellt es als wichtige Verteidigungsmaßnahme beider Länder dar: Wir alle haben einen gemeinsamen Feind: die Wilden aus der Wüste. Das sollte ihn beruhigen. Sonst noch etwas?« Rusko meldete sich zu Wort. »Noch eine Sache, Majestät.« Aus den Falten seiner geräumigen Weste zog er eine kleine Schüssel und ein Fläschchen mit schwarzem Pulver hervor. »Durch die Erfolge Urzas beflügelt, 206
habt Ihr angeordnet, daß wir die Augen nach anderen Erfindungen aufhalten sollten, die Kroog nützlich sein könnten; sei es in alten Büchern oder gar auf dem Marktplatz. Ich glaube, ich habe etwas Besonderes entdeckt.« Der ehemalige Uhrmacher stellte die Schüssel auf den Tisch und schüttete ein wenig von dem Pulver hinein. Es bestand aus winzigen runden Kristallen, die Kayla an verschrumpelte Erbsen erinnerten. Rusko stand auf und entzündete eine Kerze an einer der Öllampen. Mit dem brennenden Docht berührte er das Pulver. Ein greller Lichtblitz zuckte auf, es knallte, und eine dichte Rauchwolke hing über dem Tisch. Das war entschieden zuviel für den Hauptmann, dessen Gesicht hinter dem Taschentuch verschwand. Der Seneschall sah aus, als wolle er jeden Augenblick aus dem Zimmer fliehen. Unwillig wedelte der König den Rauch mit der Hand fort. »Goblinpulver!« knurrte er. »Was ist damit?« »Goblinpulver«, bestätigte Rusko. »Auch Zwergenschwarzfeuer genannt oder Schwarzer Staub oder Grellblitz. Eine chemische Masse, die von den Goblins und den Zwergen des Nordens benutzt wird.« »Für gewöhnlich jagen sie sich damit in die Luft«, bemerkte der König trocken. Kayla lehnte sich weit zurück, um frische Luft einatmen zu können. »Nun, es ist gefährlich, tückisch und launisch«, erklärte Rusko. »Es ist nicht leicht zu benutzen, weil man nah herangehen muß, um es zu entzünden, und wenn man zu dicht danebensteht, wenn es sich entzündet, fliegt man eben in die Luft.« »Man benutzt es in winzigen Mengen für die Feuerwerkskörper der Kinder«, warf der Seneschall ein, »aber es hat keinerlei wirklichen Nutzen.« »Aha!« rief Rusko und hob die Hand. »Was ist, wenn man eine Zündschnur legt und das Pulver dem Feind 207
entgegenwirft, ehe es explodiert? Oder, noch besser: Wenn man einen Feuerstein hinzufügt, der Funken schlägt, sobald er auf den Boden prallt?« »Hört sich auch sehr unsicher an«, meinte der König. »Man müßte es aus großer Höhe werfen, um so einen Funken zu bekommen. Wenn man es von einer Mauer aus wirft, wird man sie dabei gleich mit zerstören.« Rusko nickte. »Und was ist, wenn man es von, nun, sagen wir einmal... einem Ornithopter aus wirft?« Einen Augenblick lang herrschte atemloses Schweigen. Dann lachte der König zufrieden. »Und der Feind kann es nicht zurückwerfen. O ja, das gefällt mir!« »Habe ich Eure Zustimmung, die Sache genauer zu erforschen?« fragte Rusko. »Sicher«, antwortete der Herrscher, immer noch lachend. »Selbstverständlich. Übrigens, erzählt es Urza nicht - wenigstens jetzt noch nicht. Wenn er es nicht nötig hat, an unserem Treffen teilzunehmen, geschieht es ihm recht.« Der Seneächall schniefte leise. »So wird er merken, daß auch andere Menschen gute Ideen haben.« »Stimmt!« lachte der König vergnügt und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Die Sitzung ist beendet. Wir haben viel zu tun!« Kayla befand sich schon auf halbem Wege zur Tür, um dem Gestank des Pulvers zu entkommen, und ihre Absätze klapperten laut über den Marmorfußboden.
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KAPITEL 9
Ashnod Die Soldaten lagerten vor den Mauern von Zegon, und Hajar kannte Mishra gut genug, um zu merken, daß er sich Sorgen machte. Natürlich wollte Mishra nicht mit dem Quadir darüber sprechen, und auch Hajar unterließ jede Bemerkung. In den letzten Jahren war der Quadir erwachsen geworden, hatte sich aber nicht besonders gut entwickelt. Aus dem eifrigen Knaben, der sich für argivianische Legenden interessierte, war ein übergewichtiger Tyrann geworden. Sein Stamm und seine Anhänger verhätschelten ihn. Die Stämme, die den Suwwardi die Treue schworen, verneigten sich vor ihm. Niemand sagte jemals >Nein< zu ihm. Es hätte auch niemand überlebt. Was einst Trotz gewesen war, hatte sich nun zu schlimmen Wutausbrüchen gewandelt. Was einst Tapferkeit gewesen war, hatte sich zu Torheit entwickelt. Er war fetter als es sein Vater je gewesen war, aber noch immer der Meinung, er könne die Kriegszüge selbst anführen. Seine Laune war wechselhaft, seine Ausbrüche gewalttätig. Während der Quadir immer tyrannischer wurde, nahm Mishras Beliebtheit bei den Suwwardi stetig zu. Der ehemalige Sklave konnte so gut mit dem Quadir umgehen, daß er ihm auch die unangenehmsten Dinge sagen und trotzdem den Kopf auf den Schultern behalten durfte. Anfangs fiel es nur den Offizieren des Quadirs auf, dann auch den Höflingen und später den Anführern der anderen Stämme. Schon bald besuchten 209
alle, die unerfreuliche Nachrichten oder neue Pläne vorbringen wollten, zuerst Mishra, um seinen Rat einzuholen, ehe sie sich an den Quadir wandten. Mishra verhielt sich gegenüber dem Volk, das ihn vor einiger Zeit noch mißhandelt hatte, warmherzig und offen. Er kannte die Wüstenlegenden und die Lieder der Fallajis und fand immer die richtigen Worte, wußte alle Daten und hielt immer köstlichen Nabiz bereit. Allerdings versäumte er nie darauf hinzuweisen, daß sein Rat davon abhing, was für den Quadir der Suwwardi am besten war. Er verärgerte den Anführer nur, wenn es unumgänglich oder lebenswichtig war. Anfangs gab es kaum Gründe, mit dem Quadir zu streiten. Etliche Stämme - insbesondere die Thaladin wollten sich von den Suwwardi lossagen, als sich die Nachricht vom Tode des alten Quadirs verbreitete. Dieses Streben nach Unabhängigkeit wurde jedoch schnell durch die Anwesenheit des riesigen Drachen erstickt, der jetzt zum Eigentum der Suwwardi zählte. Zu Beginn seiner Herrschaft machte sich der junge Quadir die Mühe, seine Verbündeten, egal, ob sie schwach oder mächtig waren, der Reihe nach zu besuchen. Die Kraft des Metallgiganten beeindruckte alle Fallajistämme. Manche behaupteten, es sei ein Zeichen der Ahnen, die den Suwwardi ihre Gunst schenkten, um die Wüste von Eindringlingen wie den Argivianern oder den Yotianern zu befreien. Die Tatsache, daß der alte Quadir und viele seiner Anhänger beim Auftauchen des Drachen ums Leben gekommen waren, wurde nicht mehr erwähnt. Auch sahen die Stämme in dem jungen Quadir den Beherrscher des Mak Fawa und mißachteten geschickt die Tatsache, daß nur der argivianische Raki die Kreatur befehligen konnte. Selbstverständlich gab es auch dafür eine einfache Erklärung: Der ausländische Ma210
gier beherrschte den Drachen, aber der Quadir beherrschte den Magier. Den Suwwardi wurde schon nach kurzer Zeit bewußt, daß nur Mishra den Drachen zu leiten vermochte. Sobald er den Kraftstein einem anderen Menschen übergab (nur sehr ungern und nur auf ausdrücklichen Befehl des Quadirs), richtete sich der Drache brüllend auf und drohte, das Lager dem Erdboden gleichzumachen. Nach ein paar mißlungenen Versuchen überließ man Mishra den Stein auf Dauer. Wenn er schlief, ließ Mishra auch den Drachen ruhen, der jeden seiner Befehle augenblicklich befolgte. Hajar fiel auf, daß es keiner Worte bedurfte. Der mechanische Diener gehorchte seinem Herrn auf eine Geste oder ein Nicken hin. Die Unterwerfung der Wüste durch die Suwwardi verlief nicht ohne Zwischenfälle. Eine Gruppe junger Heißsporne vom Stamm der Thaladin versuchte, den Quadir und seine Krieger in einen Hinterhalt zu locken. Mishra hetzte den Drachen auf sie, und fünfzehn der jungen Reiter starben, unter ihnen auch der Sohn des Thaladinanführers. Nicht ein einziger Suwwardi nahm Schaden. Kurz darauf ergaben sich die Thaladin. Nachdem er seine Stellung im östlichen Wüstengebiet gefestigt hatte, wandte sich der Quadir nach Westen. Das von Zwiebeltürmen beherrschte Tomakul war der Mittelpunkt des Fallajilandes und seine größte und älteste Stadt. Mishra erklärte, er sei ob der argivianischen Patrouillen an der Ostgrenze und der zunehmenden Ausfälle der Yotianer im Süden beunruhigt. In Wahrheit wollte er nur mehr Zeit gewinnen, um den wunderbaren Drachen eingehend zu untersuchen, dachte Hajar, aber der Quadir ließ sich nicht ablenken. Sie zogen nach Westen, der Hauptstadt entgegen. Die Zeit ist knapp, hatte der Quadir gesagt, um jeglichen 211
Plänen, die in den zahlreichen Palästen Tomakuls geschmiedet wurden, zuvorzukommen. Er hätte sich keine Gedanken machen müssen. Tomakul war so faul wie eine überreife Frucht und wartete nur auf den winzigsten Stoß, um auseinanderzufallen. Die Stadtbewohner ähnelten eigentlich mehr den Yotianern als den Fallajis. Sie dachten nur an Wohlstand, Geld und Karawanen. Als der Quadir versprach, sich nicht in ihren Alltag einzumischen, waren sie bereit, ihm die Tore der Stadt zu öffnen. Der Suwwardi nahm ihren Tribut an, wollte die Stadt aber nicht betreten. Statt dessen ließ er sein Lager vor den Mauern Tomakuls aufschlagen, und die Städter mußten ihn im Schatten des riesigen Drachen aufsuchen. Hajar und Mishra hatten die Stadt betreten. Sie fanden sie wunderschön und verrottet, staunenswert und verseucht. Hier kreuzten sich die Handelsstraßen von Sarinth und Kroog mit denen der Ostküste und der weiter westlich gelegenen Terisiare-Stadt. Letztere war für Hajar nichts als eine Legende, eine Stadt der Gelehrten, die von den Wüstenbewohnern Artefakte kauften, wie es auch die Argivianer taten. Die bunt gemischte Bevölkerung Tomakuls setzte sich aus vielen Rassen zusammen: Es gab Zwerge aus Sardia, heilige Männer aus dem fernen Gix und Minotauren-Seeleute, die von entlegenen Inseln stammten. Sie sahen Krieger aus Zegon, mit Umhängen aus Zebrafell bekleidet, und in Pelze gehüllte Händler, die zum Volk der Yumok gehörten, das im Schatten eines mächtigen Gletschers lebte. Auch yotianische Kaufleute, die sich inmitten der siegreichen Fallajikrieger sichtlich unwohl fühlten, weilten in Tomakul. Ferner eilten zahlreiche Wesen durch enge Seitenstraßen und dunkle Gassen, deren Abstammung oder Heimatland man nicht einmal erahnen konnte. Nach einiger Zeit zogen sich Mishra und Hajar wie212
der in die Wüste zurück, um mit dem Quadir zu beraten. Obwohl Mishra dem Herrscher zuredete, weiter nach Westen bis zu der berühmten Stadt der Gelehrten vorzudringen, entschied sich der Quadir, zuerst nach Süden zu ziehen. Er wollte nach Zegon, sagte er, an den Ort, der einst in Fallajihand gewesen war und rechtmäßig zum Reich der Wüstenbewohner gehörte. Mishra widersprach, aber schließlich gab ihm der Quadir zu verstehen, daß es beschlossene Sache sei. Und nun, dachte Hajar, lagerten sie vor Zegon. Fünfhundert Krieger und ein mechanischer Drache. Leider benahm sich der Drache ausgesprochen seltsam. Sobald sie sich der Stadt bis auf eine halbe Meile näherten, blieb der Gigant stehen. Er weigerte sich weiterzugehen. Er bewegte sich nach Osten, Westen und auch zurück, aber keinen Schritt vor, egal was unternommen wurde. Der Quadir, der keinen Widerstand duldete, war außer sich vor Wut. Er wünschte, den Drachen über das Tor schauen zu sehen, wenn sich die Stadt ergab. Statt dessen befand sich die Armee in Sichtweite der weißgetünchten Mauern und konnte nicht weiter vorrücken. Hajar beobachtete die Stadtwache, die auf den Wehrgängen der äußeren Mauer herumlungerte, lässig auf die Speere gestützt, die Krieger des Quadirs verhöhnend. Auf vielen Speerspitzen steckten Schädel - zweifellos eine weitere Verunglimpfung des Feindes, die Hajar bisher unbekannt gewesen war. Die Armee mußte versuchen, das Beste aus der unangenehmen Lage zu machen. Die Drachenmaschine begab sich auf einen langen Patrouillengang, der immer wieder rings um die Stadt führte, den Abstand von einer halben Meile einhaltend, als habe man eine unsichtbare Mauer errichtet. Den Herrschern von Zegon ließ der Quadir eine Botschaft schicken, in der 213
er auf die Macht des Drachen hinwies und die sofortige Kapitulation verlangte. Die Antwort der Zegoni lautete: Man werde das Angebot des Quadirs erwägen, und er sei willkommen, so lange zu warten, bis man eine Entscheidung gefällt habe. Diese Unverschämtheit verbesserte die Stimmung des Suwwardis nicht. An diesem Abend schimpfte er lautstark über seine Offiziere und ganz besonders über seinen Raki. »Warum schaffst du es nicht, ihn zum Weitergehen zu bewegen?« brüllte er. »Das weiß ich auch nicht«, antwortete Mishra gelassen. »Und warum weißt du es nicht?« schrie der Suwwardi. Weil du darauf gedrängt hast, daß wir das ganze Land durchqueren müssen, um die anderen Stämme zu beeindrucken, dachte Hajar. Weil wir keine Zeit hatten, den Drachen genauer zu untersuchen, sondern nur ein paar flüchtige Pläne aufzeichnen konnten, während wir von einem Ort zum anderen eilten. Und weil es dir bisher unwichtig erschien. Hajar fragte sich, ob Mishra ebenso dachte. Statt dessen sagte der Raki: »Es kann viele Gründe haben. Vielleicht befindet sich etwas in der Stadt, was ihn abschreckt. Vielleicht liegt es auch am Mak Fawa selbst. Vielleicht besitzen die Zegoni etwas, das die Maschine stört. Wir wissen zuwenig, um den Grund zu kennen. Jetzt stellt sich uns die Frage: Wagen wir einen Vorstoß oder brechen wir die Zelte ab, verlassen Zegon und geben uns mit den Reichtümern einer vereinten Wüstennation zufrieden?« Der Quadir sank in seine Kissen zurück, und eine Dienerin kühlte ihm die Stirn mit einem feuchten Tuch. Er beachtete sie nicht weiter und sagte: »Wir sind 214
durch dieses Land gereist. Es ist reich an Holz und Metallen. Außerdem gehört es zu unserem Reich. Sein Volk ist unser Volk.« Genau wie in Tomakul, dachte Hajar. Er hatte den Eindruck, daß die Zegoni die gleichen Ansichten und Gewohnheiten wie die übrigen Städter hatten. Er fragte sich, ob alle Küstenvölker über Mittel verfügten, die Drachenmaschine aufzuhalten, und wie der Quadir reagieren würde, wenn es wirklich so wäre. Der Herrscher redete noch immer: »Wir erobern das Land. Zuerst bleibt der Drache auf Patrouille, und wir zerstören die kleinen Orte außerhalb des Bannkreises. So treiben wir Flüchtlinge in die Hauptstadt, verängstigte Menschen, die von dem Monstrum berichten, das vor den Toren Zegons lauert. In der Zwischenzeit schicken wir Boten nach Tomakul, um weitere Krieger anzufordern. Dann können wir im Notfall auch die Mauern erstürmen.« Hajar glaubte, die Durchführbarkeit des Plans würde fast ein ganzes Jahr an Zeit beanspruchen, aber falls die Offiziere seiner Meinung waren, so hüteten sie sich, sie auszusprechen. In der Vergangenheit hatten ein paar Ratgeber gewagt, dem Quadir zu widersprechen. Sie alle waren kurz darauf spurlos verschwunden. Der einzige, der davonkam, war Mishra, und er hatte etliche Tonnen Drache hinter sich, um seine Meinung ungestraft kundzutun. Diesmal nickte Mishra nur. »Wir brauchen Belagerungsmaschinen. Nichts Umständliches. Einfache Rammböcke, um von allen Seiten gegen die Tore anzurennen. Das und eine reichliche Truppenverstärkung sollten genügen.« Hajar wunderte sich nicht zum erstenmal, warum sich Mishra nicht einfach mit Hilfe des Drachen vom Tyrannen befreite und dessen Platz einnahm. Er glaubte, die Antwort zu kennen. Der Raki konnte den 215
Quadir beseitigen und auch die Stämme auf seine Seite bringen. Aber wozu? Mishra hegte nicht den Wunsch, ein Reich zu regieren, nicht einmal ein sehr kleines. Viel lieber hielt er die Macht hinter dem Thron in Händen. Ein Wächter stand vor dem Zelt des Rakis. Das war ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher war das bereits entzündete Kohlebecken im Inneren des Zeltes, das ein einladend warmes Licht verströmte. »Besuch«, sagte der Wächter. Sein Dialekt war fürchterlich, und Hajar nahm an, daß er einem der westlichen Stämme aus der Gegend von Tomakul angehörte. »Es ist spät«, sagte Mishra. Der Mann zuckte mit den Achseln. »Weiß der Quadir davon?« fragte Mishra und erhielt ein weiteres Achselzucken als Antwort. Hajar fühlte, wie ihn der Zorn über das Benehmen des Wächters packte. Wozu ist ein Wächter gut, der nichts bewacht? Waren das die Männer, denen man ein ganzes Reich anvertraute? »Ich verstehe«, sagte Mishra ruhig. »Geh wieder auf deinen Posten.« Der Mann grinste und entblößte dabei zahlreiche Goldzähne, ehe er wieder in der Dunkelheit verschwand. Mishra betrat sein Zelt und sah den Eindringling aufmerksam an. »Ich habe dich erwartet«, sagte er zu Hajars Überraschung. »Wie schön, daß du es dir in meiner Abwesenheit gemütlich gemacht hast.« Im Zelt befand sich eine Frau, die schöner war als jede andere, die Hajar je zu Gesicht bekommen hatte. Rotes Haar war selten in der Wüste und wurde bei den Suwwardi als Zeichen des Bösen angesehen. Die wallende Mähne der Frau war so rot wie die züngelnden Flammen eines Lagerfeuers. In dichten Wellen floß es über ihre Schultern. Sie hatte grau-grüne Augen, die 216
ihn an das Meer erinnerten, dessen Wellen an den Strand von Zegon schlugen. Bekleidet war sie mit einer der bei den Ausländern sehr beliebten Rüstungen, die in ihrem Fall dem kurvenreichen Körper der Fremden angepaßt worden war und eher schmückend als schützend wirkte. Hajar merkte, daß er den Atem anhielt. Er holte tief Luft und hoffte, daß sie es nicht bemerkt hatte. Die Frau räkelte sich auf Mishras Kissen und streckte sich genüßlich, als die beiden Männer eintraten. »Ich wurde erwartet?« fragte sie. Ihre Stimme klang sanft, hatte jedoch einen unüberhörbar stählernen Unterton. »Du oder irgend jemand sonst«, antwortete Mishra gelassen. »Du bist die Abgesandte Zegons, und du wirst mir einen Vorschlag unterbreiten, um die Stadt zu retten.« »Ich habe niemandem außer dem von mir bestochenen Wächter davon erzählt«, meinte sie. »Wenn er es dir verraten hat, werde ich ihn töten lassen.« »Keine Bange«, erklärte Mishra. »Er wird streng bestraft, weil er eine Ausländerin ins Lager ließ. Man wird ein Exempel statuieren, und dann wird er sich wünschen, du hättest ihn getötet. Darf ich dir ein wenig Nabiz anbieten?« »Gerne«, sagte die Fremde, und Mishra gab Hajar einen Wink, den Krug auf das Kohlebecken zu stellen. Er ließ sich der Frau gegenüber nieder und wartete. Sie starrte Hajar durchdringend an. »Dein Diener!« sagte sie mit eisiger Stimme. Hajar zuckte bei der Beleidigung zusammen. »Er ist mein Leibwächter«, erklärte Mishra. »Er sollte nicht anwesend sein«, erwiderte die Fremde. »Geh!« forderte Mishra den Fallaji auf. Hajar wollte widersprechen, aber Mishra schnitt ihm 217
das Wort ab. »Geh in dein Zelt! Rede mit niemandem! Wenn ich dich brauche, werde ich rufen.« Hajar zögerte und sah Mishra unsicher an. Der Argivianer trug eine ausdruckslose Miene zur Schau und betrachtete die Frau, die auf seinen Kissen saß. Er verhielt sich so, wie er es auch in Gegenwart des Quadirs tat, dachte Hajar: verschlossen und unnahbar. Der Fallaji seufzte und verneigte sich, ehe er mit mißmutiger Miene das Zelt verließ. »Selbstverständlich hast du recht«, sagte die Fremde, als Hajar fort war. »Die Herrscher von Zegon haben mich ermächtigt, in ihrem Namen mit den Fallajieindringlingen zu verhandeln.« »Du bist keine Zegoni«, stellte Mishra fest. Ein Lächeln stahl sich über ihre Lippen. »Und du bist kein Fallaji.« »Ich bin Mishra, Raki der Suwwardi.« »Und ich bin Ashnod, von irgendwoher.« »Bist du in Zegon daheim?« wollte Mishra wissen und fuhr mit der Hand über den Krug hinweg. Der Nabiz war beinahe fertig. »Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete sie. »Bist du den Zegoni treu ergeben?« fuhr er fort. »Das habe ich auch nicht gesagt«, lautete die Antwort. »Ich sagte nur, daß man mich ermächtigt hat, die Verhandlungen zu führen. Dazu waren die Herrscher freudigen Herzens bereit. Sie gehen davon aus, daß ihr mich tötet, wenn ich etwas falsch mache, und dann fällt es ihnen leicht, mich zu verleugnen und schnell zu vergessen.« »Wie lautet das Angebot, das du uns unterbreiten sollst?« Der Argivianer griff nach zwei Bechern. Ashnod legte den Kopf zur Seite und sagte: »Augenblick, bitte.« Sie bückte sich und zog einen langen Stab unter den Kissen hervor. Er war aus schwarzem Donnerholz ge218
schnitzt. Die Spitze schmückte der schmale Schädel eines Meerestieres, von dem zahlreiche Kupferdrähte herabbaumelten. Blitzschnell hob sie den Stab auf und richtete ihn auf den Zelteingang. Ashnod stieß ein paar unverständliche Worte aus, und die Kupferdrähte begannen zu summen und zu klingen. Kleine Blitze zuckten auf, liefen an den Drähten entlang und erreichten den Schädel. Der Stab erbebte, aber Mishra sah keinen Lichtstrahl oder etwas Ähnliches hervorschießen. Allerdings bemerkte er die Folgen. Vor dem Zelt stieß Hajar einen erstickten Schrei aus und fiel durch den Eingang, beide Hände auf die Brust gepreßt. Sofort sprang Mishra auf, rannte zu ihm und kniete neben seinem Leibwächter nieder. Hajar wand sich am Boden. »So kalt«, stieß der Fallaji hervor. »Mir ist so kalt.« »Du solltest uns allein lassen«, erklärte Ashnod ungerührt. Sie senkte den Stab. Schweißperlen bedeckten ihre Stirn. »Ich hasse es, wenn Bedienstete nicht gehorchen.« Ein heftiges Schwindelgefühl überfiel Hajar, und es dauerte geraume Zeit, ehe die Welt aufhörte, sich zu drehen. »Sie... sie... war... es!« keuchte er. »Das stimmt«, sagte Mishra und half ihm auf die Beine. »Weil du nicht gehorcht hast. Ich sagte doch, du solltest in dein Zelt gehen.« »Aber...« »Geh jetzt, alter Freund.« Hajar sah den jungen Mann an. Mishras Miene war starr - nein, die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. Mishra war zufrieden. Über Hajars Treue? Nein, dachte der Fallaji, es war etwas anderes. Freute er sich über die Tat der Frau? War er erfreut, weil Ashnod seinen Leibwächter angegriffen hatte? Hajar riß sich zusammen. 219
»Hajar!« rief Mishra. Der Fallaji wandte sich um. »Ich danke dir, weil du nicht zu laut geschrien hast.« Wieder zeigte sich ein schwaches Lächeln. »Ich möchte mich mit meinem Gast unterhalten, ehe zahlreiche Wachen heranstürmen. Aber jetzt geh, bitte!« Hajar stolperte davon. Mishra sah ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand. Ashnod hatte die Gelegenheit genutzt und den Nabiz in die Becher eingeschenkt. Jetzt räkelte sie sich wieder in den Kissen und benahm sich, als sei nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Der Stab lag zu ihren Füßen. Mishra nahm seinen Becher und setzte sich wieder. Dann lachte er. Anfangs war es nur ein lautloses Grinsen, das sich mehr und mehr steigerte, bis es schließlich zu einem ausgewachsenen, tiefdröhnenden Gelächter wurde. Nach geraumer Zeit hob er den Becher der Frau entgegen und sagte: »Das war ausgesprochen dumm.« Ashnod sah ihn gekränkt an und erwiderte seine Geste nicht. »Er hat hinter uns her spioniert und war ungehorsam.« Mishra nahm einen kräftigen Schluck Nabiz und lachte erneut. »Nein, ich rede nicht von deinem Angriff auf Hajar. Aber mit deiner Tat hast du mir sehr viel offenbart.« Ashnod warf ihm einen bösen Blick zu, und Mishra lächelte. Dir fiel auf, daß es ein freundliches Lächeln war, ohne jede Bosheit darin. Sie entspannte sich ein wenig. »Hast du den Stab selbst angefertigt?« erkundigte sich Mishra. »Ja.« Er nickte und lächelte erneut. »Deshalb kann sich der Drache nicht nähern, stimmt's? Auch die Wächter auf den Wehrgängen haben ähnliche Stäbe. Du hast sie 220
angefertigt und den Herrschern erklärt, daß sie die schrecklichen Fallaji von der Stadt fernhalten.« Langsam nickte die Frau. »Deine Maschine ist ein unübersehbares Ziel.« Mishra fuhr ungerührt fort: »Deine Stäbe haben einen Fehler. Sie kosten den Benutzer viel Kraft.« Ashnod schwieg. »Obwohl du ihn nur kurz benutzt hast, hast du stark geschwitzt.« Sie murrte unwillig. »Männer schwitzen. Frauen glühen.« »Dann hast du eben geglüht wie ein Pferd, das ein schweres Rennen gelaufen ist«, sagte Mishra lachend. »Wenn es den Wächtern ebenso ergeht, werden sie nicht lange durchhalten. Das wird die Herrscher von Zegon nicht erfreuen.« Ashnod schnaubte verächtlich. »Die Herrscher konnten meine Stäbe nicht schnell genug an sich reißen«, erklärte sie. »Als die Wachen ermüdeten, wußten die Herrscher vor Angst nicht ein noch aus.« »Und so schickten sie dich in die Wüste, um Friedensverhandlungen zu führen«, setzte Mishra hinzu. »Bestimmt sagten sie, es sei deine Idee gewesen, Widerstand zu leisten, und so ist alles Geschehene allein deine Schuld.« »Du hast die Zegoni wohl schon kennengelernt«, meinte Ashnod und vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken. »Diese Art von Menschen gibt es überall«, erklärte Mishra. »Also, was wollen sie? Kurz und schmerzlos, bitte.« Ashnod holte tief Luft. »Sie stellen die gleiche Forderung wie Tomakul: Sie ergeben sich, zahlen einen Tribut, erkennen euren Knaben als Herrscher an und können ungehindert mit ihrem Leben fortfahren.« Mishra überlegte. »Hört sich vernünftig an. Das 221
heißt aber nicht, daß der Quadir vernünftig ist. Schließlich habt ihr uns aufgehalten, wenn auch nur zeitweilig. Ich werde sehen, was ich erreichen kann.« Er setzte den Becher ab. »Jetzt möchte ich mir dein hübsches Spielzeug anschauen.« Ashnod beugte sich vor und ergriff den Stab. Sie sah Mishra tief in die Augen, als wolle sie prüfen, ob sich Bosheit hinter seiner Freundlichkeit verbarg. Dann reichte sie ihm den Stab. Der Raki betastete ihn eingehend. »Ich sehe die Thraneinflüsse, aber vieles ist mir neu. Wie funktioniert er?« »Er beeinflußt die körpereigenen Nerven«, erklärte Ashnod. »Die Blitze bringen die Nerven durcheinander, mit deren Hilfe man Schmerzen fühlt. Geraten sie zu sehr in Verwirrung, wird das Opfer hilflos. Da die Drachenmaschine zu weit entfernt ist, wird sie nicht übermäßig beeinflußt, weigert sich aber, näher heranzukommen.« »Nerven«, wiederholte Mishra, nickte und tippte auf den winzigen Kraftstein, der im Inneren des Schädels steckte. »Stimmt«, sagte Ashnod, stellte den Becher ab und beugte sich vor. »Im Körper befinden sich verschiedene Mechanismen. Es gibt lebende Röhren, in denen das Blut fließt, weiche Kabel für die Nerven und dehnbare Drähte für die Muskeln.« Sie berührte Mishras Arm. Er zuckte nicht zusammen und wich nicht zurück. »Du bist kein Bücherwurm. Dein Arm fühlt sich hart wie Stahl an.« »Das Leben in der Wüste ist hart«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich habe den Körper nie als Maschine betrachtet.« »Er ist die beste Maschine der Welt!« rief Ashnod und ließ ihn los. »Auf dem Schlachtfeld erprobt, sich immer wieder verändernd und sogar fortpflanzend! 222
Wenn wir die Geheimnisse unseres Körpers verstehen, verstehen wir die ganze Welt. Alles andere ergibt sich. Deine Drachenmaschine ist ein Wunder, aber sie ist nur die einfache Nachahmung eines Lebewesens.« Mishra grinste. »Das ist das erste richtige Gespräch, das ich seit langer Zeit führe.« Ashnod räkelte sich wohlig in den Kissen. »Gibt es bei den Fallaji keine gebildeten Menschen?« Mishra lachte laut auf und beugte sich vor. »Die meisten Unterhaltungen, die ich mit den Suwwardi führe, lauten ungefähr so: >Du gibst mir das< in den verschiedensten Formulierungen, gefolgt von: >Du und welche Armee?<.« Wieder lachte der junge Mann und legte den Stab zu Boden. »Ich habe den Körper nie als Maschine betrachtet, aber es ergibt einen Sinn. Schließlich bauen wir Dinge nach lebenden Vorbildern. Vielleicht haben die Thran es auch so gemacht.« Er stand auf und ließ sich neben Ashnod nieder. Sie rückte näher, und ein süßlicher Moschusduft Stieg ihm in die Nase, vermischt mit dem Geruch getrockneten Schweißes. Eine angenehme Mischung, dachte er. »Ich glaube, ich kann den Quadir überreden, das Angebot der Zegoni anzunehmen«, sagte er. »Das dachte ich mir«, flüsterte Ashnod. »Ich halte dich für ausgesprochen klug.« »Tatsächlich?« Ashnod fragte sich, ob Mishra wohl immer so gewinnend lächelte. Der Raki fuhr fort: »Übrigens ist der Erhabene so ungeduldig wie ein kleines Kind. Wenn er auf Verstärkung aus Tomakul warten müßte, würde er die Wartezeit nicht ertragen. Aber da ist noch etwas.« Sie wich ein Stück zurück. »Was denn?« »Die Zegoni müssen für ihren Widerstand büßen. Sie müssen mehr leiden als die Bürger Tomakuls, die uns 223
freiwillig die Tore geöffnet haben. Wir brauchen eine zusätzliche Garantie.« »Eine Garantie?« »Die Fallaji nehmen Geiseln, um Gehorsam zu erzwingen«, erklärte Mishra. »Sicherlich reicht es aus, wenn wir die erste Magierin des Landes mitnehmen, oder?« Ashnods Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. »Wäre ich die Geisel der Fallaji oder die deine?« Wieder grinste Mishra, und diesmal konnte er einen Hauch von Bosheit nicht unterdrücken. »Die Fallaji können mit Frauen nicht viel anfangen. Sie brauchen sie nur für das... Wesentliche.« »Und das Wesentliche schließt intelligente Gespräche nicht ein, stimmt's?« erkundigte sich Ashnod. »Das hast du richtig verstanden«, stimmte er zu. »Man würde dich mehr als etwas betrachten, was wir dem Feind fortnehmen, und weniger als etwas, was dem Stamm von Nutzen sein kann.« Ashnod beugte sich vor und strich Mishra über die Wange. »>Geisel< ist ein garstiges Wort. Wie hört sich >Gehilfin< an?« Er hob überrascht die Brauen, riß sich aber sofort wieder zusammen. »Ist es das, weshalb du hergekommen bist?« »Bin ich so leicht zu durchschauen?« fragte sie in neckischem Ton. »So leicht zu durchschauen wie Glas«, sagte Mishra lachend. »Wann möchtest du mit der Ausbildung beginnen?« »Morgen früh«, flüsterte sie mit kehliger Stimme. »Heute abend sind wir allein. Ich glaube kaum, daß dein Leibwächter so bald zurückkehrt.« Am nächsten Morgen wurde bekanntgegeben, daß sich die Stadt Zegon aus Furcht vor der Drachenma224
schine dem mächtigen Fallajireich angeschlossen hatte. Ein Tribut würde geleistet werden, und von nun an unterwarf man sich gehorsam dem Quadir der Suwwardi, dem erhabensten aller Herrscher. Die Zegoni erklärten sich bereit, die Tore der Stadt zu verbrennen, damit sie den Fallaji nie wieder Einlaß verwehren konnten. Außerdem lieferten sie ihre beste Magierin aus, die von nun an als Gehilfin des Rakis arbeiten sollte. Wenn sich die Krieger ob der Gegenwart der Frau mit dem eisigen Blick und dem verfluchten Haar unwohl fühlten, so redeten sie nicht darüber - jedenfalls nicht, wenn sich der Raki in Hörweite befand. Kurz darauf erreichte den Quadir die Botschaft, daß die an der Küste lebenden Ausländer schwere Überfälle auf Fallajiland durchführten, und die Armee machte sich auf den Weg nach Osten.
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KAPITEL 10
Korlis Der
erste Wissenschaftler des Staates hatte so viele Treffen des Geheimen Rates versäumt, daß niemand mehr seine Abwesenheit bemerkte. Rusko war sein offizieller Stellvertreter, aber Kayla wußte, daß Urza sich kaum noch mit Rusko unterhielt. Der erste Wissenschaftler von Kroog arbeitete die meiste Zeit mit seinem neuen Gehilfen Tawnos, der sich viel länger hielt, als Rusko es prophezeit hatte - sehr zum Unmut des Uhrmachers. Inzwischen hatte die Wache einen neuen Hauptmann bekommen; der alte hatte sich zur Ruhe gesetzt, um endlich mehr Zeit mit seinen Enkeln und Pferden verbringen zu können. Seinen Nachfolger wählte der König persönlich aus, und dieser Mann besaß viele Eigenschaften, die auch den Herrscher auszeichneten: Er war lebhaft und handelte schnell und entschieden. Gleich zu Beginn seiner Ernennung erklärte er, es reiche nicht aus, nur Patrouillen entlang der Grenzen einzusetzen. Die Yotianer müßten einen Korridor schaffen, der den Karawanen die sichere Reise bis nach Tomakul ermöglichte. Jetzt versuchte der Rat, diesen grob umrissenen Plan auszuarbeiten. Bewaffnete Patrouillen auf dem Weg nach Tomakul würden immer schwere Überfälle der Fallaji herausfordern. Inzwischen hatten die Wüstennomaden ihre Raubzüge bis in die Schwertsümpfe ausgedehnt, die bisher von solchen Überfällen verschont geblieben waren, seit der König die Stämme in seiner Jugend eigenhändig vertrieben hatte. Yotia hatte nicht 226
genügend Soldaten, um sowohl die Grenzen zu bewachen als auch die Karawanen auf dem Weg in die Wüstenhauptstadt zu begleiten. »Wir müssen das Übel an der Wurzel ausrotten!« verkündete der Hauptmann. »Wir sollten in die Wüste ziehen, das Herz der Fallaji finden und es zermalmen!« »Wenn Ihr mir zeigen könnt, wo es sich befindet, und mir garantiert, daß es auch noch dort ist, wenn wir in die Wüste ziehen, dann will ich es gerne versuchen!« knurrte der König. »Die Wüste ist wie ein Ozean. Sie ist größtenteils leer, und wir werden unseren Truppen mehr schaden als den Fallaji, wenn wir das Schlachtfeld dorthin verlegen. Sie sind in der Wüste daheim - wir nicht.« »Wir haben Ornithopter«, beharrte der Hauptmann. »Damit können wir die Wüste auskundschaften.« »Es sind nur wenige«, warf Rusko ein. »Höchstens zwei Dutzend, und der besorgte Wissenschaftler möchte sie den Gefahren nur ungern aussetzen. Wir mußten ihm - bildlich gesprochen - fast den Arm brechen, um sie als Patrouillen entlang der Grenze einsetzen zu dürfen.« »Was ist mit der Suche nach weiteren Thransteinen?« fragte der König. »Sie geht nur langsam und zögernd voran«, erklärte Rusko. »Überall lauern Wegelagerer, und sie scheinen unsere Expeditionen geradezu zu riechen. Mögen uns Bok und Mabok schützen!« »D-d-die Argivianer haben das gleiche Problem«, stotterte der Seneschall. »Auch sie versuchen, neue Steine zu finden, sind aber auf erbitterten Widerstand gestoßen.« Der König strich sich über das Kinn. »Vielleicht ist es an der Zeit, eine geeinte Front zu präsentieren.« »Gemeinsam mit den Argivianern?« Der Seneschall bekam vor Aufregung einen Schluckauf. 227
»Und mit den Korlisianern«, fuhr der König fort. »Vielleicht ist die Zeit gekommen, die Küstennationen zu einen. Haltet Ihr es für möglich, daß eine geeinte Front, die ihnen Frieden anbietet, die Barbaren aus der Wüste locken kann?« Der Hauptmann sah ihn entgeistert an. »Wollt Ihr damit sagen, wir sollen mit diesen Wilden reden? Obwohl wir so viele Männer verloren haben?« »Ihr hört mir nicht zu«, entgegnete der König geduldig. »Ich fragte, ob eine geeinte Front, die ihnen Frieden anbietet, die Anführer der Barbaren aus der Wüste an einen bestimmten Ort locken kann?« Ein böses Lächeln umspielte seine Lippen. »Sie würden die Einladung eher annehmen«, warf der Seneschall ein, »wenn sie von den Kaufleuten aus Korlis ausgesprochen würde...« »...die keine gemeinsame Grenze mit den Fallaji haben und so keine richtige Bedrohung darstellen«, beendete der Hauptmann den Satz. »Außerdem möchten die Korlisianer eigene Ornithopter besitzen«, fügte der König nachdenklich hinzu. »Und sowohl die Argivianer als auch wir könnten ihnen Flugmaschinen überlassen. Somit ergibt sich eine ausgezeichnete Gelegenheit, handelseinig zu werden, wenn sie die Fallajianführer in ihr Land locken.« Der König lachte, und der Hauptmann stimmte fröhlich ein. Nach Kaylas Meinung war zu vieles ungesagt geblieben. Die Männer verbargen ihre Gedanken hinter einer Unmenge von Worten. »Also werden wir Friedensgespräche mit den Fallaji führen?« fragte sie. »Ja«, antwortete ihr Vater mit plötzlich wieder ernster Miene. »Wir sprechen darüber. Aber wir werden dafür sorgen, daß wir am längeren Hebel sitzen.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Die Sit228
zung ist vertagt. Werter Herr Rusko, ich bitte Euch, zu bleiben und mir das Neueste über Euer...« Er warf Kayla einen Blick zu. »... besonderes Vorhaben zu berichten.« Der Hauptmann und der Seneschall verließen den Raum in angeregter Unterhaltung über die diplomatischen Vorbereitungen, die nun zu treffen waren. Auch Kayla verabschiedete sich; ihre Metallabsätze glitten fast lautlos über den Marmorfußboden. Irgend etwas war geschehen, etwas, das sie miterlebt, aber nicht verstanden hatte. Das Gespräch war in ihrem Beisein auf rätselhafte Weise fortgeführt worden. Aber es lief auf eines hinaus, dachte sie. Papa plante etwas. Obwohl sie eine erwachsene Frau war, versuchte er immer wieder, sie vor den harten Tatsachen des Lebens zu schützen. So war es beim Tode ihrer Mutter gewesen, bei den Plänen für ihre Vermählung, bei allem, das den Ruch von Geheimnis, Kampf oder Not hatte. Er führte etwas im Schilde. Daran zweifelte sie keine Sekunde. Und Rusko war eingeweiht, Urza dagegen nicht. Ohne es zu wollen, führten sie ihre Schritte zum Vogelsaal Ihr Gemahl und der breitschultrige Tawnos waren allein. Sie hatten den Studenten für den Rest des Tages freigegeben. Tawnos hatte sich das Hemd ausgezogen und war dabei, einen dicken Sparren aus Kerzenholz entlang einer schwungvollen, mit Kreide an die Wand gezeichneten Linie zu biegen. Kayla kannte sich gut genug aus, um zu wissen, daß es sich um eine Flügelstütze für einen der Ornithopter handelte. Der hochgewachsene Spielzeugmacher ächzte vor Anstrengung, und seine Muskeln spannten sich, während er sich gegen den Sparren stemmte. »Festhalten!« rief Urza, zwängte sich unter den Sparren und verband ihn mittels zahlreicher Drähte mit der 229
Wirbelsäule des Ornithopters. »So, jetzt mußt du ihn entgegengesetzt biegen.« Tawnos holte tief Luft und stemmte sich erneut gegen den Sparren, der jetzt wie ein >S< geformt war. Kayla war tief beeindruckt. Kerzenholz war leicht, aber der Sparren, mit dem der junge Mann kämpfte, war so dick wie ihr Unterarm. Außerdem fand sie, daß Tawnos mit entblößtem Oberkörper hervorragend aussah. »Gemahl, wir müssen uns unterhalten«, sagte sie nach einer Weile. Urza hob die Hand und winkte abwehrend, aber sie ließ sich nicht entmutigen. »Nein, wir müssen miteinander reden.« Er sah seinen Gehilfen an. »Unterhaltet Euch nur. Ich warte«, sagte Tawnos mit zusammengebissenen Zähnen. Urza wandte sich seiner Frau zu. Sein Haar war vollkommen weiß geworden. Bestimmt lag es daran, daß er unablässig arbeitete, dachte Kayla. Er trug die schwere Lederrobe, die im Laufe der Jahre wie eine zweite Haut geworden war. »Es tut mir leid, meine Liebe«, sagte er, »aber ich habe viel zu tun.« »Du hast immer viel zu tun!« fauchte Kayla. »Selbst im Schlaf findest du keine Ruhe.« Sie beruhigte sich wieder und strich ihm über die Wange. Urza zuckte zusammen. Dann ergriff er ihre Hand. »Es könnte sein, daß wir eine Möglichkeit gefunden haben, die Manövrierfähigkeit des Ornithopters zu verbessern. Tawnos schlug vor, die Flügel genau wie die der Raubvögel zu gestalten.« Kayla nickte, ging aber nicht darauf ein. »Ich glaube, Vater schmiedet Pläne.« Urza seufzte und warf Tawnos einen Blick zu. Der junge Mann nickte ermutigend, aber die Adern an seinem Hals traten stark hervor, weil er den Kerzenholzsparren mit aller Kraft in der gewünschten Stellung 230
hielt. Urza wandte sich wieder an Kayla. »Dein Vater schmiedet fortwährend Pläne. Das ist seine Lieblingsbeschäftigung.« Die Prinzessin seufzte und schüttelte den Kopf. »Diesmal ist es etwas Besonderes. Er will mit den Fallajianführern sprechen, und die Argivianer und Korlisianer sollen auch dabei sein.« »Wie schön«, antwortete Urza geistesabwesend und betrachtete die Kreidezeichnung an der Wand. »Die meisten Fallaji, die ich kannte, waren vernünftige Männer, auch wenn es manchmal Schwierigkeiten mit den Karawanen und ein paar Heißspornen gab. Und dein Vater ist viel zu klug, um sich von den Argivianem auf der Nase herumtanzen zu lassen. Wo also liegt das Problem?« »Bisher wollte er sich nie mit den Fallaji unterhalten«, erklärte Kayla. »Menschen ändern sich.« Urza zuckte mit den Achseln, ohne den Ornithopterflügel aus den Augen zu lassen. Du nicht, dachte Kayla. Laut sagte sie: »Ich weiß nicht. Ich fürchte, irgend etwas stimmt nicht.« Urza sah sie an und seufzte. »Dein Vater ist ein weiser Mann. Ein alter Haudegen, aber sehr vernünftig. Auch bei den Fallaji gibt es solche Männer. Selbst bei den Argivianem! Ich bin sicher, es wird alles gut.« »Meister Urza!« rief Tawnos. »Es rutscht ein wenig ab.« »Ich muß an die Arbeit«, sagte Urza und wandte sich dem Sparren zu. »Aber was ist mit...«, begann Kayla. Urza hob abwehrend die Hand. »Dein Vater will Frieden. Hört sich gut an, wenn auch ein bißchen ungewöhnlich. Und die Argivianer sind dabei. Bestimmt wird er dir irgendwann erklären, was los ist.« Hinter ihm erklang das Dröhnen der Absätze, die 231
mit voller Wucht über den Marmorboden klackten, ehe die Prinzessin aus dem Vogelsaal stürmte. Dann wurde die Tür heftig zugeschlagen. »Was war denn los?« erkundigte sich Tawnos mit schweißüberströmtem Gesicht. »Das weiß ich nicht genau«, antwortete Urza. »Kayla macht sich zu viele Sorgen wegen ihres Vaters. Biege den Sparren ein wenig mehr nach außen. Gut so! Jetzt halte ihn fest...« Einen Monat später erfolgte die Verkündung der Neuigkeit. Abgesandte Argivias, Yotias und Korlis' würden sich in Korlis treffen, um Gespräche mit den Wüstenbewohnern zu führen. Boten wurden mit weißen Friedensfahnen nach Tomakul, Zegon und anderen Fallajistadten geschickt, um auch den Quadir der Suwwardi einzuladen. Allen Teilnehmern wurde sicheres Geleit versprochen. Die Küstennationen wählten nicht die Hauptstadt Korlis als Treffpunkt, sondern einen etwas abseits gelegenen Ort namens Korlinda. Korlinda lag nahe der Quelle des Kor am Fuße des Khergebirges. Sollten die Fallaji auftauchen, erklärte der König, würden sie keine so weite Reise machen müssen. Kayla glaubte, die Wahl des Ortes müsse einen anderen Grund haben. Die Fallaji würden sich weit von ihrer Heimat entfernt befinden, und so erfuhren die zivilisierten Länder frühzeitig, wie umfangreich die Truppe war, die sich auf Korlinda zubewegte. Nur die Ankündigung, daß zwei der älteren Ornithopter als Geschenk für die Korlisianer gedacht waren, brachte Urza dazu, den Vogelsaal zu verlassen. Ein Dutzend Flugmaschinen sollte in Korlinda erscheinen und zwei davon hinterher für die Kaufleute zurückbleiben. Nachdem Urza sich beschwerte, daß er dabeisein müsse, um den Fremden die Ornithopter zu er232
klären, ließ sich der König dazu herab, die Einladung, an den Gesprächen teilzunehmen, auch auf den Leiter der Akademie auszudehnen. Er wußte, daß man ihn listig geködert hatte, und deshalb widersprach Urza nicht länger, sondern arbeitete einen Plan aus, um so wenig Zeit wie möglich von seiner Werkstatt entfernt verbringen zu müssen. Der König und sein Gefolge brachen frühzeitig auf. Urza sollte fünf Tage vor Beginn des Treffens mit den Ornithoptern folgen. Er hinterließ Tawnos und den Studenten genaue Anweisungen, die sie in seiner Abwesenheit zu befolgen hatten. Tawnos dachte, daß es länger gedauert hatte, die Anweisungen zu Papier zu bringen, als die Ausführung an Zeit in Anspruch nehmen würde. Aber er nickte nur zustimmend, als ihm sein Meister den engbeschriebenen Stapel Papier reichte. Auch Urzas Metallstatue sollte nach Korlinda gebracht werden, würde aber auf einem Wagen reisen. Rusko war dafür verantwortlich und benutzte einen der gefederten Wagen, die Urza im vergangenen Jahr entworfen hatte. Der Uhrmacher war sehr an diesem Fahrzeug interessiert, das die schlimmsten Stöße der unebenen Straßen abfing, auch wenn ihn Urza darauf hinwies, der Metallriese würde auf eigenen Füßen schneller in Korlis sein als Rusko. Daraufhin beschwor Rusko zahlreiche yotianische und ausländische Gottheiten und rief, er wolle nicht derjenige sein, der bei seiner Rückkehr dem Wissenschaftler gestehen müsse, die wandernde Statue habe sich ein Bein gebrochen oder sei von unwissenden Bauern entdeckt und versehentlich auseinandergenommen worden. Zum Schluß blieb Tawnos als Verantwortlicher für die Akademie zurück, und auch Kayla verließ Kroog nicht. Der König berief sich auf die Gefahren einer Reise, auch wenn man freundlich gesinnte Länder 233
durchquerte. Er sagte, er brauche sie und den Seneschall, um das Land in seiner Abwesenheit zu regieren. Der Hauptmann der Garde durfte ihn begleiten. Die Reisegesellschaft brach an einem schönen Mittsommertag auf, und Urza folgte ihr zwanzig Tage später mit den Ornithoptern. Die Einwohner von Kroog nutzten jede noch so unbedeutende Gelegenheit zum Feiern, und so boten beide Abreisetage die Möglichkeit, viel Pomp und Prunk an den Tag zu legen. Der König ritt an der Spitze der Karawane. Er saß auf einem mächtigen Streitroß, dem Nachfahren des Hengstes, den er bei seinen siegreichen Feldzügen einst geritten hatte. So würde er den Menschen von Kroog für immer im Gedächtnis bleiben: In voller Rüstung auf einem kostbaren Pferd, seinen Leuten vorausgaloppierend. Aber seine Abreise verblaßte vor den Feiern, die anläßlich des Fluges der Ornithopter abgehalten wurden. Der Innenhof des Palastes war für den Abflug geräumt worden, und in der Woche vor dem großen Tag schlief Urza in einem Zelt neben seinen Flugmaschinen. Immer wieder überprüfte er jeden einzelnen Draht, jede Strebe und Stütze und vergewisserte sich, daß genügend Ersatzteile mitgenommen wurden, um für sämtliche Notfälle gerüstet zu sein. Kayla gegenüber erwähnte Tawnos, daß ausreichend Teile an Bord seien, um einen vollständig neuen Ornithopter bauen zu können. Im Laufe der Woche versammelten sich zahlreiche Zuschauer. Sie beobachteten Urza, der von einer Maschine zur nächsten eilte und mit Tawnos Berechnungen und Pläne verglich. Je mehr Neugierige zusammenströmten, um so größer wurde die Aufregung. Jeder kannte die Ornithopter, da sie fast täglich über Kroog schwebten. Doch nie zuvor hatten die Bürger so viele Flugmaschinen auf einmal gesehen. 234
Am Morgen der Abreise erschien Kayla, um ihren Gemahl zu verabschieden. Die Menschen beobachteten, wie sich die beiden umarmten, und stellten sich vor, daß sie zärtliche letzte Worte wechselten. Dann gab Urza Tawnos ein Zeichen. Der junge Mann winkte den anderen Reisenden zu, damit sie sich bereit hielten, während Urza in die weiße Kabine seines Ornithopters kletterte. Gleichzeitig setzten die Piloten die Kraftsteine in Gang, und die geflügelten Maschinen erwachten zum Leben. Langsam bewegten sich die großen Flügel auf und ab. Donnernder Beifall erklang. Ein paar Piloten winkten den Zuschauern zu, was eine erneute Beifallswoge auslöste. Dann schlugen die Flügel schneller. Urzas Maschine mit den doppelt geschwungenen Flügeln tat einen kleinen Hüpfer und schwebte plötzlich in der Luft - so mühelos wie ein richtiger Vogel. Auch die beiden Ornithopter hinter ihm hüpften und flogen davon. Paarweise folgten die anderen Flugmaschinen ihrem Beispiel. Die Einwohner von Kroog brachen in lauten Jubel aus. Zuerst beschrieben die Ornithopter einen gemächlichen Bogen über dem Palast, heftig mit den Flügel schlagend, um an Höhe zu gewinnen. Die ganze Zeit über brüllten sich die Zuschauer die Kehlen heiser. Sie schwenkten bunte Fähnchen und entzündeten Knallfrösche, die sich in letzter Zeit größter Beliebtheit erfreuten. Ein paar Männer kletterten auf hohe Türme und schwenkten große Flaggen. Die Ornithopter stellten die Flügel fest und neigten sich grüßend zu Seite. Dann flogen sie der aufgehenden Sonne entgegen. Die Menschen sahen ihnen nach, bis sie schließlich verschwunden und auch für die Beobachter auf den Türmen nur noch winzige Punkte am Horizont waren. Die Leute, die die Prinzessin anschauten, behaupteten 235
später, sie habe Tränen in den Augen gehabt, die sie mit dem Taschentuch abwischte, als sie in den Palast zurückkehrte, begleitet vom Seneschall. In den folgenden Tagen und Monaten wurde behauptet, sie habe geweint, weil ihr Gemahl sie verließ. Andere Stimmen erklärten, sie habe im Traum gesehen, was geschehen würde, und gewußt, daß sie es nicht verhindern konnte. Wieder andere sagten, sie sei sicher gewesen, das Ende ihrer Welt und die Vernichtung Kroogs werde mit der Konferenz in Korlis ihren Anfang nehmen. Die Maschinen hielten sich ausgesprochen gut, und die Reise nach Korlinda dauerte nur vier Tage. Urza hatte Rusko befohlen, ein paar Lagerstätten zwischen Kroog und Korlinda aufschlagen zu lassen, wenn der Uhrmacher mit den Wagen nach Osten fuhr. Sämtliche Lager befanden sich auf yotianischem Gebiet und somit in Sicherheit. Jedes war bestens auf die Ankunft der Ornithopter vorbereitet, und die Piloten genossen gute Mahlzeiten und weiche Betten nach dem anstrengenden Tag. Das Wetter blieb klar und freundlich, und selbst die Stürme, die den Südosten Terisiares regelmäßig heimsuchten, schienen sich schlafen gelegt zu haben. Urza hatte einen zusätzlichen Reisetag eingerechnet, falls sie in ein schweres Unwetter geraten sollten, was über den südlichen Ausläufern des Khergebirges häufig geschah, aber sie hatten nicht einmal mit starkem Bodennebel zu kämpfen. Die größte Schwierigkeit für die Piloten waren die Yotianer selbst. In jedem Lager hatte sich eine Menschenmenge versammelt, um den berühmten Wissenschaftler und seine Flugmaschinen zu bestaunen. Die Neugierigen drängten sich auf dem Landeplatz, und oft mußten die Ornithopter im Tiefflug über sie hin236
wegsegeln, um sie auseinanderzutreiben, da sie sonst nicht landen konnten. Ein Pilot sagte, es sei fast wie Schafe hüten, aber leider stand der Leiter der Akademie in seiner Nähe. Dieser Pilot verbrachte den Rest des Fluges am Ende der Gruppe und hütete sich, noch einmal den Mund zu öffnen. Sobald sie landeten, hagelte es Wünsche - meistens baten die Zuschauer, auch einmal mitfliegen zu dürfen. Anfangs lehnte Urza ab, aber die Piloten waren bereit, auch nach den Strapazen des Tages Zeit zu opfern, um Kinder und Jugendliche mitzunehmen. Schließlich willigte Urza ein, sagte aber unmißverständlich, daß er keine Rundflüge durchführen und sein weißer Ornithopter mit den doppelt geschwungenen Flügeln am Boden bleiben werde. Sämtliche Piloten hatte Rusko ausgewählt und behauptet, er wolle Urza die zeitraubende Arbeit ersparen. Die Männer waren mindestens fünf Jahre jünger als Urza und waren von einer Begeisterung beseelt, wie er sie aus seiner Jugendzeit nicht kannte. Die meisten waren für ihre waghalsigen Flugkunststücke bekannt, forderten ihre Maschinen bis an die Grenzen der Belastbarkeit und waren teilweise schon in schlimme Unfälle verwickelt gewesen. Urza hätte Männer mit besserem technischem Wissen und größerem Bedürfnis nach Sicherheit ausgewählt, aber er wußte, daß jeder der Piloten in der Lage war, seinen Omithopter auch in schwierigen Situationen zu beherrschen. Während der Reise verhielten sich jedoch auch die waghalsigsten jungen Männer ruhig und folgten dem Beispiel, das Urzas Omithopter vorgab. Der Ort, an dem die Versammlung stattfinden sollte, lag nicht weit von dem Punkt entfernt, an dem sich die drei >zivilisierten< Nationen aus Ostterisiare trafen. Wo der Fluß Kor aus dem Khergebirge in tiefere Regionen stürzte, um sich über etliche Ebenen hinweg schließ237
lieh ins Meer zu ergießen, befand sich ein geeigneter Treffpunkt. An diesen Platz grenzte ein schmaler Streifen Niemandsland, ein unwirtlicher Landstrich, hinter dem die drohenden Gipfel des Khergebirges aufragten. Bisher hatte noch keine Nation diesen Ort für sich beansprucht. Es handelte sich um ein flaches Stück Land, auf dem über einem hölzernen Podest ein riesiger Baldachin errichtet worden war. Vier Lagerstätten - für jedes Land eine - umgaben den Platz. Die Yotianer lagerten im Westen, die Kaufleute aus Korlis im Süden und die Argivianer im Osten. Der Platz im Norden blieb leer. Er war für die Fallaji gedacht, aber niemand wußte, ob sie erscheinen würden. Urza ließ seinen Ornithopter in der Nähe des yotianischen Lagers landen. Die übrigen Piloten folgten seinem Beispiel mit militärisch anmutender Genauigkeit. Jede einzelne Flugmaschine beschrieb einen eleganten Bogen, schwebte sekundenlang über dem Boden und setzte dann ruhig auf. Hier gab es keine Zuschauermenge und keine Neugierigen, die einen Blick auf den berühmten Wissenschaftler und seine Ornithopter erhaschen wollten. Den Yotianern war der Anblick vertraut, und die Abgesandten der anderen Staaten verhielten sich - aus rein politischen Gründen - völlig uninteressiert. Falls Urza gehofft hatte, bei den Gesandten Argivias auf ehemalige Studenten Tocasias zu treffen, so wurde er enttäuscht. Es waren ausnahmslos Beamte und Diplomaten mit besten Verbindungen zum Königshaus anwesend. Die Politiker Argivias fanden, daß die nach Artefakten suchenden Gelehrten und die Adligen, die sie unterstützten, zu radikale Ansichten hegten, wenn es um die Fallaji ging. Ihrer Meinung nach sollte die Wüste jedem zugänglich sein, insbesondere den argivianischen Expeditionen. Die 238
Krone, wenngleich schwach, war anderer Meinung: Argivia sollte dort enden, wo die Hügel rauher und trockener wurden, und die Fallaji sollten in der Wüste bleiben. Da der Herrscher die Männer auswählte, die nach Korlinda reisten, traf Urza nur auf eingleisig denkende Politiker, die schnellstens ein Friedensabkommen treffen, die Grenzen anerkennen und eiligst nach Hause zurückkehren wollten. Auch dem yotianischen König waren ihre Ansichten offenkundig unangenehm. Die Argivianer waren mit eigenen Ornithoptern gekommen, die jedoch von einfachster Bauweise waren und sich kaum von jenen unterschieden, die Urza, Mishra und Tocasia vor vielen Jahren in der Wüste gefunden hatten. Von den Piloten erfuhr Urza, daß die Krone sämtliche Funde aus der Wüste für sich beanspruchte und den größten Teil von Tocasias Nachlaß beschlagnahmt hatte. Die Adelshäuser ließen noch immer Ausgrabungen durchführen, berichteten dem Königshaus aber nicht mehr, was sie entdeckten. Die Korlisianer waren reine Kaufleute. Die Regierung des Landes ruhte seit Jahren in den Händen der Gilden. Die derzeitige Herrscherin war eine rundliche Frau. Ihre Meinung - und die aller anwesenden, gutgekleideten Kaufleute - lautete: Die Verhandlungen würden nicht einfach werden, aber selbstverständlich würden sie damit enden, daß man in Zukunft ungehindert entlang der Handelsstraßen nach Tomakul reisen konnte. Der yotianische König fand die Dame übrigens nur wenig sympathischer als die Argivianer. Alle Abgesandten hatten eigene Leibgarden mitgebracht. Yotia besaß die größte Truppe, Argivias Soldaten hatten die kostbarsten Waffen, und die Krieger aus Korlis waren am schlagkräftigsten ausgerüstet, wie es Söldnern zustand, die im Dienste von wohlhabenden Kaufleuten stehen. 239
Urza zog sich in sein Zelt zurück, wo Rusko den bereits angekommenen Metallriesen aufgestellt hatte. Die Reise war dem Giganten nicht gut bekommen, und am rechten Knöchel hatten sich etliche Schrauben gelöst. Die erste Nacht und den darauffolgenden Tag verbrachte Urza damit, sein Geschöpf für die Begrüßungszeremonie vorzubereiten. Die offizielle Eröffnung der Versammlung fand ohne die Fallaji statt. Die Abgesandten stellten sich einander vor und tauschten die üblichen Höflichkeitsfloskeln aus. Während des am ersten Abend abgehaltenen Festmahls wurde viel über Zusammenarbeit gesprochen. Der Tag verging, ohne daß die Fallaji erschienen oder ein Späher ihr Auftauchen in weiter Ferne meldete. An diesem Tag trug Urza das besonderen Anlässen vorbehaltene Hofgewand mit dem hohen Stehkragen, das er bisher erst ein einziges Mal angehabt hatte: Damals, als man ihn zum obersten Wissenschaftler des Landes ernannte. Das Gewand war feuerrot, mit weißen Stickereien versehen und bedeckte seinen Körper vom Hals bis zu den Knöcheln. In dem warmen Hochlandsommer war es unerträglich heiß und unbequem, aber Urza tröstete sich damit, daß die offiziellen Gewänder der übrigen Teilnehmer noch unbequemer aussahen. Der zweite Tag kam und verging auf ähnliche Weise, obwohl das neugeschmiedete Bündnis der drei Küstenländer bereits erste Risse bekam. Die Gesandten Argivias weigerten sich zuzugeben, daß ihre Leute in Fallajigebiet eingedrungen waren. Es stellte sich heraus, daß ihr König überzählige Kraftsteine besaß, die er den Yotianern und Korlisianern anbot, falls sie zu einer Einigung kommen sollten. Dieser unverhohlene Bestechungsversuch empörte den König von Yotia, aber er wußte nur zu genau, wie nützlich die Steine für sein Land und für Korlis waren. Die Korlisianer stan240
den kurz vor der Selbstzerfleischung, da nur zwei Ornithopter zurückbleiben sollten, aber nicht weniger als fünf Gilden behaupteten, ein Recht darauf zu haben. Bissige Bemerkungen drohten, zu offenen Streitereien auszuarten, und gegen Ende des zweiten Tages nahmen sämtliche Abgesandten die Abendmahlzeit in den eigenen Lagern ein. Noch immer hatte man nichts von den Fallaji gehört, und die meisten Teilnehmer gingen davon aus, daß sie nicht mehr erscheinen würden. Der König nannte ihre Abwesenheit eine >Beleidigung für das yotianische Volk<, und die Argivianer mahnten zur Geduld. Die Gesandten von Korlis trugen beunruhigte Mienen zur Schau, da sie ihre Ornithopter nicht bekommen würden, wenn die Fallaji fernblieben, denn der König hatte bewaffnete Krieger vor den Flugmaschinen postiert. Am Morgen des dritten Tages erschienen die Fallaji ohne jede Vorankündigung. Dichter Nebel lag über den Bergen, und als er sich langsam verzog, waren die Wüstenbewohner plötzlich da. Niemand hatte sie kommen sehen, doch als sich der Nebel lichtete, sah man die zahlreichen kleinen Zelte, die sich um ein großes weißes Zelt reihten. Die Fallaji waren zahlreicher erschienen als alle anderen Nationen, und anscheinend handelte es sich bei ihnen ausschließlich um Krieger. Von den Zelten bis zum Baldachin zog sich ein breiter Pfad, auf dem eine seltsame Prozession voranschritt. Sie wurde von einer Ehrengarde angeführt, von Kriegern mit goldenen, breitkrempigen Helmen. Ihnen folgte eine Sänfte, in der der Quadir des Fallajilandes ruhte. Aber hinter dem Quadir kam eine Kreatur, die von den Anwesenden mit unverhohlenem Staunen angestarrt wurde. Es handelte sich um eine riesige Metallmaschine in Gestalt eines Drachen. Der Tau auf den Flanken des 241
Wesens glänzte in der Morgensonne, und der mächtige Kopf pendelte bedächtig hin und her. Die Vorderbeine sahen so aus, wie man es von einem Drachen erwarten durfte, aber die Hinterbeine bestanden aus Metallplatten und Rollen, und sie wühlten den Erdboden auf. Die Prozession bewegte sich feierlich und gemessen auf den Baldachin zu, um den übrigen Teilnehmern Zeit zu geben, sich auf die zeremonielle Begrüßung vorzubereiten. Der König von Yotia fand sich als erster mit seinem Gefolge ein, begleitet von Urza und dem Metallmann. Die Maschine, die ihm die Hand Kaylas errungen hatte, sah völlig unbedeutend gegenüber dem Riesendrachen aus, den die Fallaji mitbrachten. Urza bemerkte den abfälligen Blick, den sein Schwiegervater seiner Schöpfung zuwarf, und seine Miene verfinsterte sich. Die Korlisianer versammelten sich ebenfalls, und ihre Anführerin stellte sich neben den König, um die Ankunft des Quadirs zu erwarten. Die Argivianer kamen bedeutend später, und die Gesandten zogen sich die festlichen Jacken über, als die Prozession bereits den Baldachin erreichte. Die Ehrenwache teilte sich, und die Sänfte mit dem Quadir wurde nach vorne getragen. Urza fiel auf, daß der Suwwardi einige Jahre jünger als er selbst und so fett war, daß die Zeremoniengewänder über dem runden Bauch spannten. Ein untersetzter Mann trat hinter der Sänfte hervor, und Urza blieb vor Schreck der Mund offen stehen. Mishra stand inmitten der Fallaji! Er war mit einer jadegrünen Robe bekleidet, die nach Wüstentradition an beiden Beinen hoch geschlitzt war, um dem Träger viel Beinfreiheit zum Reiten und Kämpfen zu gewähren. Außerdem trug er ein grünes Stirnband, auf dem goldene Fallajischriftzeichen aufgestickt waren. 242
Vor lauter Staunen beachtete Urza die Frau, die seinen Bruder begleitete, überhaupt nicht. Sie war wunderschön, hatte auffallend rote Haare und trug einen kostbaren Stab in der Hand, auf dessen Spitze ein Delphinschädel steckte. Mishra blieb neben der Sänfte stehen, als müsse er letzte Anweisungen entgegennehmen. Sein Blick glitt über die Anwesenden und hielt inne, als er Urza erreichte. Vielleicht war es eine Täuschung, aber Urza vermeinte, ein freundliches Nicken des Bruders zu erkennen. Er erwiderte es. Dann trat Mishra vor und wandte sich den Gesandten der drei Küstennationen zu. »Ich grüße Euch, ehrenwerte Herrscher und Vertreter aus dem Osten. Ich bin Mishra, der oberste Ratgeber des Quadirs der Suwwardi, des edelsten Kriegers der Fallaji. Seine weise und hochverehrte Exzellenz begrüßt Euch, bittet um Entschuldigung und um Geduld. Er begrüßt Euch, da er der Hoffnung ist, daß sich alle Unstimmigkeiten klären und kein Blut mehr vergossen wird. Er entschuldigt sich für unser plötzliches Auftauchen. Wir wählten einen Gebirgspfad, der in Vergessenheit geraten ist, und mußten sehr langsam reisen. Er bittet Euch um Geduld, weil wir eine lange Reise hinter uns haben und gerne ein wenig ausruhen möchten, ehe wir die Verhandlungen aufnehmen. Nach dem Mittagsmahl möchte er hierher zurückkehren und an den Gesprächen teilnehmen. Wir danken Euch für Euer Verständnis.« Mishra verneigte sich tief. Der Quadir wartete keine Antwort ab und hob schweigend die Hand. Die Prozession machte auf der Stelle kehrt. Der Drache schritt rückwärts zum Fallajilager, gefolgt von der Sänfte des Herrschers und der Ehrenwache. Den Schluß bildeten Mishra und die rothaarige Frau, aber der Magier ver243
weilte lange genug, um noch einen Blick über die Schulter zu werfen. Urza rief: »Bruder!« und trat vor. Aufgeregtes Stimmengewirr erhob sich unter den Yotianern. Er sah sich um und bemerkte die grimmige Miene des Königs. Aber schon stand Rusko neben dem Herrscher und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der König nickte, und Urza wandte sich wieder seinem Bruder zu. Mishra hatte sich umgedreht. Seine Begleiterin umklammerte den Stab fester, aber der jüngere Bruder hob die Hand und schickte sie fort. Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie kehrtmachte und den Fallaji folgte. Mishra stand reglos da, als Urza auf ihn zuging. Er streckte auch nicht die Hand aus, sondern wartete ruhig und gelassen mit verschränkten Armen ab. »Bruder!« wiederholte Urza. »Bruder«, sagte Mishra. Lange Zeit schwiegen sie und sahen einander an. Urza fand, Mishra sehe noch wettergegerbter, gebräunter und muskulöser als bei ihrer Trennung aus. Mishra fand, Urza sei noch hagerer als damals und stark gealtert. Dem jüngeren der beiden fiel auf, daß sich bereits erste Falten in den Augenwinkeln des Bruders zeigten. Urzas Haut hatte die teigige Färbung der Städter angenommen. Schließlich sagte Urza: »Wie schön, daß es dir so gut geht.« Mishra antwortete. »Ja, es geht mir sehr gut. Und dir?« Urza nickte und fügte hinzu: »Es überrascht mich, dich als Fallajivertreter zu sehen.« »Nun, mich überrascht es nicht, dich bei den Argivianern anzutreffen«, erwiderte Mishra. »Bei den Yotianern«, berichtigte ihn sein Bruder. Mishra nickte. »Ach so. Das erklärt, warum die Yoti244
aner plötzlich Raubzüge durchführen, um an Kraftsteine und Thranartefakte zu kommen.« »Es handelt sich um Expeditionen«, widersprach Urza, »nicht um Raubzüge.« »Natürlich.« Mishra lächelte gezwungen. »Es ist sicher so, wie du sagst. Nun, wir sollten den Diplomaten überlassen, die richtigen Worte zu finden.« Sein Bruder nickte wieder. »Ich hörte, daß sich die Fallajistämme mit atemberaubender Schnelligkeit vereint haben. Dein Name wurde aber nie erwähnt.« Mishra verneigte sich übertrieben tief. »Ich bin nur ein einfacher Raki, ein Diener des Quadirs - sein Name sei gepriesen, seine Gedanken sind weise!« Erneut schwiegen sie geraume Zeit. Urza zögerte, als wisse er nicht, was er sagen sollte. »Ich bin der Leiter der wissenschaftlichen Akademie von Kroog«, stieß er schließlich hervor. Sein Bruder lächelte herablassend. »Wie schön für dich. Ich glaubte, einen Metallsoldaten zu erkennen. Gehört er dir?« Urza nickte, und Mishra fuhr fort: »Eindeutig von den Su-chis beeinflußt, mit denen du dich als Knabe befaßt hast. Das merkt man an den Knien.« »Ich habe ihn als Herausforderung gebaut«, sagte Urza, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Wieder legte sich unangenehmes Schweigen über die beiden. Diesmal ergriff Mishra das Wort. »Ich nehme an, es ist dir gut gegangen?« »Sehr gut«, antwortete Urza und fügte hinzu: »Ich bin verheiratet.« »Das wußte ich nicht. Es überrascht mich, daß es eine Frau gibt, die dich von deinen Büchern und Forschungen losreißen kann.« »Sie heißt Kayla und ist die Tochter des Königs.« »Ach so«, meinte Mishra vielsagend. Erneute Stille. Die Yotianer standen in kleinen Grup245
pen beieinander und beobachteten die Brüder. Der König, der sich immer noch unter dem Baldachin aufhielt, sah mit grimmiger Miene zu ihnen hinüber. Schließlich sagte Urza: »Die junge Frau, die dich begleitet... ist sie...?« »Ashnod?« Mishra trat von einem Bein aufs andere. »Sie ist meine Gehilfin. Sie ist sehr begabt.« »Das glaube ich«, antwortete der ältere Bruder. »Ich habe auch einen Gehilfen. Tawnos. Ein Yotianer. Und außerdem unterrichte ich ungefähr zwanzig Studenten.« »Wie schön für dich«, meinte Mishra mit steinerner Miene. »Hört sich an, als führtest du ein gutes Leben.« »Was ist mit dir? Hast du auch eine Schule?« Mishra schüttelte den Kopf. »In der Wüste ist kein Platz für derartige Dinge. Wir müssen ums Überleben kämpfen. Du lernst ganz nebenbei, was dir wichtig erscheint.« »Offenbar hast du auch eine höchst interessante Maschine gefunden.« »Ja.« Diesmal war Mishras Lächeln echt. »Sie sieht anders aus als die Thranartefakte, die wir damals gefunden haben. Woher stammt sie?« erkundigte sich Urza. »Sie war im Sand verborgen«, erklärte sein Bruder. »Ich hatte ein seltsames Gefühl, als spürte ich ihre Anwesenheit.« »Das hast du schon immer gehabt. Eine besondere Begabung«, stellte Urza fest und lächelte unsicher. »Vielleicht kannst du es mir später einmal ausführlich erzählen und mir einen Blick auf das Ding gewähren.« Hastig fügte er hinzu: »Ich habe den ursprünglichen Ornithopter verändert. Ich würde ihn dir gerne zeigen.« Mishra schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich würde ihn mir gerne ansehen. Vielleicht später, wenn 246
diese Versammlung beendet ist.« Er verneigte sich tief und wich ein paar Schritte zurück zum Zeichen, daß er das Gespräch als beendet ansah. Urza wandte sich ab. Der Machtstein, den er um den Hals trug, erschien ihm schwer wie Blei. Er berührte ihn mit den Fingerspitzen und drehte sich noch einmal um. »Mishra?« Mishra sah auf. Seine Hand ruhte auf dem Beutel, den er um den Hals trug. »Ja, Bruder?« Urza verzog das Gesicht und stammelte: »Es... es... ist... gut, dich wiederzusehen.« »Das finde ich auch«, erwiderte Mishra gelassen. »Wenn das alles vorbei ist, müssen wir uns unterhalten, du und ich. Über das, was wir erlebt haben. Über die Vergangenheit.« »Die Vergangenheit begleitet uns auf Schritt und Tritt«, antwortete der jüngere Bruder ruhig. »Die einzige Frage ist: Lassen wir sie an uns heran?« Der König ließ Urza sofort zu sich rufen, sobald er zum Lager der Yotianer zurückkehrte. Als Urza das königliche Zelt betrat, saß der Herrscher auf einem Klappstuhl und sah ihm prüfend entgegen. Neben ihm standen Rusko und der Hauptmann der Garde. »Dein Bruder ist ein Fallaji?« knurrte der König. Urza schüttelte den Kopf. »Mein Bruder ist kein Fallaji, aber er dient ihrem Quadir, so wie ich Euch diene.« »Warum hast du mir das nie gesagt?« herrschte ihn der König an. »Bis heute wußte ich nicht einmal, daß er noch am Leben ist.« »Verstehe.« Der König lehnte sich zurück. Rusko, der ihn aufmerksam beobachtete, dachte bei sich, daß der König in der Tat verstanden hatte, obwohl sich seine und Urzas Meinung sicherlich unterschieden. Die Feinde des Herrschers hatten einen Magier, der an247
scheinend ebenso begabt war wie sein eigener Schwiegersohn. Diese Erkenntnis war äußerst unangenehm. »Was macht er bei ihnen?« fragte er der König. »Ich weiß es nicht.« Urza zuckte mit den Schultern. »Wie ist er zu ihnen gekommen?« Der König stieß mit den Füßen nach einem Hocker. »Das weiß ich auch nicht«, lautete die Antwort. »Was kann der mechanische Drache bewirken?« Die Stimme des Königs wurde immer lauter, und Rusko kam es vor, als würde es immer heißer im Zelt. Urza streckte mit hilfloser Geste die Hände aus. »Wir haben kaum darüber gesprochen.« Der König rieb sich die Unterlippe. Als er die Hand senkte, waren die Finger blutbefleckt, »Hoffentlich kannst du mir die nächste Frage beantworten. Kannst du auch so einen Drachen bauen?« Urza dachte nach. »Wahrscheinlich. Wenn ich Gelegenheit habe, ihn genauer zu untersuchen. Mishra sagt, er habe ihn in der Wüste gefunden. Er ist jedoch anders als alle Thranartefakte, die ich bisher kannte. Ich vermute, er stammt gar nicht von den Thran.« Der König murmelte halb zu sich und halb an den Hauptmann und Rusko gewandt: »Wir haben Patrouillen, die den Sand nach Kraftsteinen absuchen, und sein Bruder findet eine völlig unversehrte riesige Maschine!« »Er behauptet, er habe ihn gefunden«, warf Urza ein. »Ich weiß aber nicht, ob es stimmt.« »Du merkst nicht, ob dein Bruder die Wahrheit spricht?« fragte der König mit erhobenen Augenbrauen. »Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Urza zornig. »Wir... wir sind nicht gerade in Frieden auseinandergegangen.« »Das hat mir Rusko schon gesagt.« »Später werde ich mich in aller Ruhe mit ihm unterhalten«, erklärte Urza. »Wenn es ein >Später< gibt«, meinte der König kopf248
schüttelnd. »Diese Fallaji haben uns mit ihrem Drachen an der Nase herumgeführt. Wir wollten ihnen unsere Macht beweisen, ihnen die Ornithopter und den Metallmann vorführen. Statt dessen erscheinen sie mit einem legendären Drachen, der so groß wie ein ganzes Schiff ist. Die Argivianer würden am liebsten davonrennen, und die Korlisianer möchten sich bei allen für ihr Erscheinen bedanken, die Ornithopter mitnehmen und heimkehren. Nein, diese Wüstenräuber haben uns mit Hilfe deines Bruders bloßgestellt. Jetzt müssen wir etwas erwidern.« Urza hinterfragte die Worte des Herrschers nicht, auch nicht, als man ihn entließ und nur Rusko und der junge Hauptmann zurückblieben. Er sah nicht einmal mehr nach den Ornithoptern, um die sich zahlreiche Menschen drängten. Er suchte sein Zelt auf, legte sich hin, erwartete den Beginn der Verhandlungen und die Gelegenheit, seinen Bruder wiederzusehen. Unter dem Baldachin hatte man einen großen Tisch aufgestellt. An drei Seiten standen Stühle. An der Westseite saß der König, von Urza und dem Metallmann eingerahmt. Die Laune des Yotianers hatte sich nicht gebessert, und er sah aus, als würde er jeden Augenblick explodieren. An der Südseite saß die von zwei Söldnern flankierte Handelsherrin aus Korlis. Der Stuhl an der Ostseite wurde von einem beunruhigten argivianischen Diplomaten eingenommen, dem zwei ebenso beunruhigte Beamte zur Seite standen. An der Nordseite des Tisches stand eine niedrige Bank für den Quadir. Er wurde in der Sänfte getragen und begab sich im Watschelgang zu seinem Platz. Mishra und die rothaarige Frau stützten ihn dabei. Der Drache war im Fallajilager geblieben, aber der lange 249
Hals und der schwere Kopf ragten hoch über die Zelte hinweg. Die Handelsherrin aus Korlis eröffnete die Versammlung. »Wir heißen die Vertreter der Fallaji herzlich willkommen. Ich hoffe, daß wir die strittigen Punkte klären und zu einer Lösung kommen werden, die für alle Beteiligten zufriedenstellend ist.« »Mit Eurer Erlaubnis«, unterbrach Mishra sie, »würde ich gerne eine Erklärung des ehrenwerten Quadirs verlesen.« Vor Überraschung vergaß die Korlisianerin, den Mund zu schließen. Dann nickte sie ergeben. Der König von Yotia schüttelte mißmutig den Kopf. Mishra wartete nicht länger, und seine laute Stimme übertönte den Widerspruch des Königs. »Wir, das Volk der Fallaji, begrüßen die Gelegenheit, mit den Menschen aus dem Osten zu sprechen. Nehmt zur Kenntnis, daß unser Volk vom Quadir vereint wurde und unser Reich sich von Tomakul bis hin zur Grenze Argivias, so wie vom eisbedeckten Ronomsee bis zur warmen zegonischen Küste erstreckt. Wir sind zahlreich und mächtig. Was auch immer hier beschlossen wird: Wir erklären, daß es unser höchstes Ziel sein wird, sämtliches Fallajiland zurückzuerobern, und dieses Land und alle Schätze, die es enthalten mag, vor jedwedem Eindringling zu schützen, ob es sich nun um Forscher, Räuber oder Möchtegerneroberer handelt.« Bei diesen Worten zuckte der König zusammen und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Keine schlechte Rede für ein Volk von Strauchdieben, Banditen und Möchtegerneroberern! Stimmen die Einwohner von Tomakul und Zegon mit euch überein, oder warten sie nur darauf, daß jemand diesen jungen Quadirwelpen tüchtig übers Knie legt?« Mishra hob erstaunt die Augenbrauen, und auch 250
Urza war über die zornigen Worte entsetzt. Beruhigend legte er seinem Schwiegervater die Hand auf die Schulter. Diesmal antwortete der Quadir persönlich. Er sprach mit unüberhörbar argivianischem Dialekt. »Seid vorsichtig, alter Mann! Ihr solltet mich nicht erzürnen.« Urza sah Mishra an, und Mishra nickte ihm zu. Der Quadir hatte genug von seinem Raki gelernt, um eine Beleidigung zu verstehen und sie beantworten zu können. Der König ließ sich nicht beruhigen. »Seid lieber selbst vorsichtig, kindlicher Krieger! Erzürnt nicht jene, die mehr Erfahrung und Weisheit besitzen als Ihr!« Urza mischte sich ein. »Vielleicht wäre es angebracht, die Versammlung zu vertagen und über...« Der Quadir schnitt ihm das Wort ab. »Wißt Ihr, wer ich bin?« fragte der junge Fallaji. »Ich bin der Quadir des Suwwardistammes. Einst lebte mein Volk in dem Land, das nördlich von Yotia liegt. Ihr nanntet es >die Suwwardisümpfe<.« »Die Schwertsümpfe!« fauchte der König. »Als ich ein junger Mann war, säuberten wir das Gebiet von Strauchdieben und machten es mit wahrer Zivilisation bekannt.« »Es ist Suwwardiland und gehört den Fallaji!« rief der Quadir. »Seit den Zeiten Eures Urgroßvaters hat es dort keine Suwwardi mehr gegeben!« entgegnete der König hitzig. »Stimmt!« zischte der Quadir. »Ihr habt meinen Urgroßvater aus seinem Land vertrieben. Mein Großvater wuchs in der öden Wüste auf. Mein Vater einte die Fallajistämme. Und jetzt stehe ich vor Euch und verlange die Rückgabe des Landes meiner Väter!« Urza sah zu Mishra hinüber, aber sein Bruder starrte mit ausdrucksloser Miene vor sich hin. War es mög251
lieh, daß er nichts von den Absichten des Quadirs gewußt hatte? Die Korlisianer und Argivianer unterhielten sich aufgeregt, und die Stimmung unter dem Baldachin war spannungsgeladen. »Ihr seid ein alter Narr«, fuhr der Quadir mit höhnischer Stimme fort. »Ihr glaubt, Eure angebliche Macht verleihe Euch Sonderrechte!« »Ich will Euch zeigen, was ich von Macht verstehe«, antwortete der König. »Lernt Eure Lektion, Kind!« Er hob die Hand. Der Hauptmann, der vor dem Baldachin stand, drehte sich um, hob ebenfalls die Hand und senkte sie wieder. Im Lager der Yotianer erwiderte Rusko die Geste und gab den Ornithopterpiloten, die bereits in den Flugmaschinen saßen, ein Zeichen. Sekunden später ertönte das heftige Schlagen der schweren Flügel über dem Baldachin. Elf Ornithopter (ausgenommen Urzas neueste Schöpfung mit den doppelt gebogenen Flügeln) flogen im Tiefflug über die Versammlung hinweg. Der Quadir sah entsetzt zum Himmel, aber schon war Mishra an seiner Seite und sprach auf fallaji auf ihn ein. Urza wandte sich seinem Schwiegervater zu. »Was soll das?« brüllte er wütend. »Weshalb fliegen meine Ornithopter? Warum hat man mir nichts davon gesagt?« »Es ist eine Lektion in Sachen Macht!« schrie der König, und seine Zähne blitzten wie die eines Haifisches. »Es wird dir guttun, genau hinzusehen!« Die Ornithopter beschrieben einen weiten Bogen und hielten genau auf das Fallajilager zu. Drei wandten sich ein Stück nach links, drei nach rechts. Die restlichen fünf flogen in gerader Linie auf den Drachen zu. Kleine Gegenstände wurden von den Piloten abgeworfen. Schwarze Bündel fielen in das Lager der Wüstenbewohner hinab. Sobald sie aufprallten, explodierten sie. Rauch und Flammen stiegen auf. Schreie er252
klangen, die Flammen breiteten sich aus, und weitere Bündel fielen zur Erde. Urza brüllte, aber sein Schrei ging im Dröhnen der Explosionen unter. Die fünf Ornithopter, die auf den Drachen zuhielten, flogen sehr tief, um ihre Bündel dem riesigen Monstrum vor die Füße werfen zu können. Wieder schossen Flammen auf. Die Maschine zuckte schreiend zusammen und wich zurück, schien aber nicht beschädigt zu sein. Dann riß sie das Maul auf, und eine rote Dunstwolke hüllte einen der Angreifer ein. Der Ornithopter löste sich noch in der Luft in seine Einzelteile auf. Die Flügel klappten zusammen, und er stürzte zwischen die Zelte. Eine riesige Stichflamme zuckte auf, als sich der Rest seiner Fracht entzündete. Unter dem Baldachin war unbeschreibliches Chaos ausgebrochen. Die Argivianer suchten unter dem schweren Tisch Deckung. Die Söldner aus Korlis packten ihre Herrin an den Armen und zerrten sie hastig davon, während ihnen die Frau fortwährend Befehle und Beschimpfungen an den Kopf warf. Der König von Yotia lachte aus vollem Halse und verhöhnte den Quadir. Der Suwwardi erhob sich mit einer Schnelligkeit von der Bank, die Urza überraschte. Seine Hand schoß vor. Der König sah den Hieb kommen und wich aus, aber der junge Mann war schneller. Ehe einer der Brüder eingreifen konnte, steckte die gebogene Klinge in der Brust des Alten, und das Blut sprudelte wie aus einer Quelle hervor. »Nein!« schrie Urza, der das Gewicht des Machtsteines spürte. Er legte die Hand darüber, während er mit der anderen den Metallmann in Gang setzte. »Halte ihn fest!« Der mechanische Mann sprang vor und packte den Quadir an der Vorderseite seines Gewandes. Der junge ,253
Mann stieß einen erstickten Schrei aus, als die unglaublich langen Arme nach ihm griffen und sich die Finger aus Ehernwurzelholz und Metall in seine Robe krallten. Gleichzeitig senkte die rothaarige Frau ihren Stab und deutete damit auf Urzas Schöpfung. Blitze züngelten aus dem Delphinschädel, und Urza wurde übel. Es fühlte sich an, als sei jeder Zoll seiner Haut plötzlich überempfindlich geworden. Dann durchzuckten ihn schreckliche Schmerzen. Er biß die Zähne zusammen und stieß einen weiteren Befehl aus. Der Metallriese zog den Quadir über den hölzernen Tisch hinweg. Draußen auf dem Schlachtfeld versuchten die Fallaji, sich zu sammeln. Mishra hatte seinen Drachen gerufen, und nun hob und senkte sich der lange Hals des, Wesens zwischen den angreifenden Ornithoptern. Es ergriff eine Flugmaschine, deren Flügel Feuer gefangen hatten, und schleuderte sie zu Boden. Inzwischen stürmten die yotianischen Truppen vor und töteten alle Fallaji, die dem ersten Angriff entkommen waren. Zahlreiche Söldner aus Korlis hatten sich ihnen angeschlossen. Ashnod stieß einen Schrei aus, und Mishra drehte sich um. Er sah den Quadir, der sich im Griff des Riesen wand. Er rief dem Drachen noch einen letzten Befehl zu, ehe er sich Urza zuwandte. Mishra umklammerte den Lederbeutel, der um seinen Hals hing, und grüne Lichtstrahlen quollen unter seinen Fingern hervor. Er richtete diese Kraft auf Urzas Maschine. Urza spürte die Macht, die sein Bruder gegen den Metallmann richtete, und wich taumelnd zurück - Der Riese kam nicht so glimpflich davon. Funken sprühten aus den Gelenken, und Rauch quoll unter dem Visier hervor. Seine Finger lösten sich, und der Quadir fiel nach Luft ringend zu Boden, beide Hände um den Hals gelegt. Ashnod rief etwas, und Mishra nickte. Plötzlich 254
wurde die Nordseite des Baldachins zerschmettert, als sich die Drachenmaschine einen Weg auf die Plattform bahnte. Ashnod senkte den Stab, und die Blitze versiegten. Sie klemmte ihn sich unter den Arm, packte den Quadir und zerrte ihn wie eine leblose Puppe auf den Drachen zu. Langsam ließen Urzas Schmerzen nach. Er richtete den Machtstein auf seine Schöpfung. »Mishra!« rief er. »Wir müssen sofort damit aufhören!« Undeutlich vernahm er das wütenden Knurren seines Bruders: »Also hast du mich schon wieder verraten, Bruder?« Urza setzte zu einer Antwort an: »Ich wußte nicht, daß... » Die Macht der beiden Steine war zuviel für das mechanische Wesen, das zwischen den Brüdern stand. Es brach in der Mitte entzwei, und aus dem Kopf schlugen grelle Flammen. Urza schrie auf, als ihn das Feuer einhüllte. Das letzte, was er sah, war Mishra, der auf seinen Drachen zustürzte, während dieser vom dunklen Rauch der Ornithopterbomben umgeben war. Die Männer fanden Urza unter dem zerfetzten Baldachin. Er hielt den Leichnam des Königs in den Armen. Die verbogenen Beine und Hüften seiner Maschine standen neben ihm, während Teile des Kopfes und des Oberkörpers überall verstreut waren. Der Hauptmann salutierte vor ihm. »Der Feind hat den Rückzug angetreten, edler Herr.« Urza schwieg, und der Hauptmann fuhr fort: »Wir haben dem Gegner schwere Verluste zugefügt, selbst aber nur wenige Männer verloren. Vier Ornithopter wurden zerstört. Etliche Söldner haben sich uns angeschlossen und warten nun auf ihre Bezahlung. Die Argivianer sind bereits geflohen, ohne die Schwerter auch nur angerührt zu haben.« Urza blickte den blassen, ernsthaften Mann an, wäh255
rend dieser weiterredete. »Der Quadir und...« - er zögerte - »... Euer Bruder sind mit der Maschine in die Berge geflohen. Wir werden sie mit den verbliebenen Ornithoptern suchen.« Urza sagte etwas, sprach aber so leise, daß ihn der Hauptmann nicht verstand. »Wie bitte, edler Herr?« fragte er. »Ich sagte nur: >Warum?<«, meinte Urza traurig und blickte auf den Toten. »Warum hat er das getan?« »Ihr habt den Fallajiteufel gehört«, erwiderte der Hauptmann. »Sie wollen Yotia überfallen und Land zurückerobern, das sie vor vielen Jahren verloren haben. So ist es bei den Wüstenbewohnern, sie sind nachtragend, und diese Rachegelüste halten über mehrere Generationen hinweg an.« »Nein!« warf Urza mit eisiger Stimme ein. »Er war darauf vorbereitet. Der Überfall war geplant. Die Ornithopter. Die Sprengladungen. Goblinpulver, nicht wahr? Die ganze Zeit über hat der König diesen Angriff geplant. Es hätte ein Massaker werden sollen. Wäre die Maschine meines Bruders nicht gewesen, wäre es auch so gekommen.« Der Hauptmann trat unruhig von einem Bein aufs andere und schwieg. »Warum hat er mir nichts davon gesagt?« fragte Urza verbittert. »Warum hat er nicht gesagt, daß er meine Maschinen für einen Angriff benutzen wollte?« Der Hauptmann geriet ins Stottern: «Ich... ich weiß es nicht.« Urza legte den Leichnam zu Boden und wandte sich wieder dem Hauptmann zu. »O doch! Ihr wißt es ganz genau. Ihr könnt es mir ruhig erzählen. Wer hat davon gewußt? Welchen Plan hat er geschmiedet? Was wollte er damit erreichen? Warum habt Ihr mir nichts gesagt? Warum habt Ihr die Prinzessin nicht eingeweiht? Alle diese Fragen werdet Ihr mir beantworten!« 256
Der Hauptmann wirkte ausgesprochen verunsichert. »Denn ich«, fuhr Urza fort und sah auf den toten König hinab, »muß nach Kroog zurückkehren und meiner Frau mitteilen, daß ihr Vater nicht mehr lebt. Und dazu muß ich die Hintergründe kennen, um sie auch ihr zu erklären. Denn bisher verstehe ich noch immer nicht, was hier geschehen ist.«
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KAPITEL 11
Staatsangelegenheiten Tawnos schritt so leise und leichtfüßig durch den Palast, wie man es ihm ob seiner Größe nicht zugetraut hätte. In den Monaten seit dem Tode des Königs hatten alle Anwesenden gelernt, sich möglichst lautlos in den marmornen Fluren des Palastes von Kroog zu bewegen. Die Nachricht vom Tode des Königs traf die Yotianer wie eine eisige Sturmflut. Sie kam völlig unerwartet, ohne jede Vorwarnung, mit vernichtender Wucht. Die meisten Bürger Yotias hatten nie einen anderen Herrscher als den König gekannt, und er war ihnen unsterblich erschienen. Jetzt war er tot. Von einer Fallajiklinge ermordet, sagten die einen. Nein, widersprachen die anderen, Fallajimagie sprengte sein Herz in tausend Stücke. Nein, meldeten sich wieder andere zu Wort, eine teuflische Maschine, die vom bösen Bruder des Gelehrten Urza beherrscht wurde, hüllte ihn in Rauch und Feuer ein, so daß er bei lebendigem Leibe verbrannte. Nein, der König trug ein Amulett Urzas, und es explodierte urplötzlich. Der König rettete seinen Schwiegersohn vor einer rothaarigen Dämonin, die dessen böser Bruder beschworen hatte. Auch als die Wahrheit bekannt wurde, überlebten die Gerüchte und wurden im Laufe der Zeit zu umfangreichen Legenden. Eine Geschichte, die jedoch auf der Wahrheit beruhte, war besonders beliebt. Eines späten Abends kehrte Urza aus Korlinda zurück. Er saß am Steuer sei258
nes auffälligen Ornithopters und brachte den Leichnam des Königs heim. Es hieß, er sei ohne Pause den ganzen Weg von Korlinda gekommen. Ein paar Leute wollten gehört haben, daß er eine kurze Rast eingelegt hatte, aber dennoch brauchte er nur zwei Tage, um Kroog zu erreichen. Er legte den Leichnam im Schrein des Palastes nieder und ließ die Tempel benachrichtigen. Dann überbrachte er der künftigen Königin die traurige Nachricht; Das Staatsbegräbnis wurde mit allem Prunk begangen und dauerte zehn Tage an. Die Menschen strömten aus den entlegensten Winkeln Yotias herbei, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Wachen mußten rings um den Sarg postiert werden; nicht, um den Leichnam zu schützen, sondern um jene, die vor Trauer und Verzweiflung ohnmächtig zusammenbrachen, beiseite zu tragen. Am schlimmsten traf es Kaylas Anstandsdame, die sich tränenüberströmt vor dem Sarg niederwarf und schließlich für lange Zeit zu Verwandten aufs Land geschickt wurde, um sich dort zu erholen. Königin Kayla und ihr Gemahl, der Wissenschaftler Urza, erschienen erst am letzten Tag. Ihre Gesichter war von Gram und Erschöpfung gezeichnet. Sie sprachen kein Wort und verzogen keine Miene. Nachdem der Leichnam im großen Schrein zu Grabe getragen worden war, zogen sich die Königin in ihre Gemächer und der Wissenschaftler in seinen Vogelsaal zurück. Ruhe kehrte in Kroog ein, aber es war ein trügerischer Friede. Die Kaufleute gingen ihren Geschäften nach, die Gilden kümmerten sich um ihre handwerklichen Belange, und die Gelehrten kehrten in die Tempelschulen zurück. Die oberflächliche Ruhe vermochte den Zorn des Volkes nur schwerlich zu verbergen. Die Fallaji hatten den geliebten König umgebracht, und dafür würden sie bezahlen! 259
Es gab verschiedene Zwischenfälle. Fallajihändler (und einmal auch ein Juwelier aus Zegon) wurden in den Straßen gelyncht. Junge Abenteurer zogen in kleinen Gruppen in das Land der Fallaji, um Rache auszuüben. Wenn sie nicht zurückkehrten, schickte man ihnen neue Gruppen nach, um wiederum die Verschollenen zu rächen. Um weitere Torheiten zu verhindern, öffnete die Armee jedem, der sich ihr anschließen wollte, Tür und Tor. Die Zahl der Rekruten verdreifachte sich. Schließlich erschien die Königin in der Öffentlichkeit, aber der Verlust ihres Vaters hatte sie gezeichnet. Manche Leute behaupteten, ihr Vater habe sie bisher gegen alle Pflichten zu sehr abgeschirmt, und nun fühle sie zum erstenmal die Last der Verantwortung. Andere erklärten, sie halte Besprechungen mit den Adligen und den Gildenmeistern ab, um den Fallaji entgegentreten zu können. Vielen Menschen auch Tawnos - fiel auf, daß sie immer allein zu sehen war. Es wurde geflüstert, daß der Wissenschaftler sich in seine Werkstatt zurückgezogen hatte, um eine Geheimwaffe zu erfinden, mit der die Fallaji besiegt werden konnten. Einige behaupteten, es handele sich um einen neuartigen Omithopter, eine starke Sprengladung oder eine noch größere Ausgabe des Metallkriegers, dem sofort der Beiname >Urzas Rächer< verliehen wurde, da er blutige Vergeltung üben sollte. Als die Überreste des ersten mechanischen Mannes mit den Truppen aus Korlinda zurückkehrten, wurden sie neben dem Sarg des Königs bestattet, wie ein treuer Hund neben seinem Herrn. Rusko war nicht zurückgekommen. Tawnos erfuhr, daß er den Angriff überlebt hatte, Kroog aber fernbleiben würde. Der Hauptmann der Garde befehligte jetzt eine Patrouille entlang der westlichen Grenze zum Fal260
lajireich, und seine Pflichten im Palast hatte ein anderer Mann übernommen. Innerhalb eines Monats wurde jeder Pilot, der in Korlinda gewesen war, zu einer Einheit entlang der Wüstengrenzen versetzt. Nur der Seneschall behielt seine Stellung, wurde aber an einer kurzen Leine gehalten, deren Ende in den strengen Händen Königin Kaylas ruhte. Allen Höflingen, Beamten und Dienern fiel auf, daß jeder, der das Mißfallen der Königin erregte, schon nach kürzester Zeit verschwand. Von nun an gingen die Menschen im Palast nur noch auf Zehenspitzen und unterhielten sich im Flüsterton. Die Fallaji verhielten sich überraschend ruhig. Sie fielen einmal in die Schwertsümpfe ein, worauf sofort ein Gegenangriff erfolgte, der jedoch nach kurzer Zeit mangels ausreichender Vorräte und Feinde im Wüstensand verlief. Bald darauf wurde eine von der Königin und ihrem Gemahl unterzeichnete Bekanntmachung verlesen: Jeder Zoll yotianischen Bodens sollte verteidigt werden, aber niemand durfte ohne ausdrückliche Erlaubnis Fallajiland betreten. Viele Leute sahen darin einen sicheren Hinweis darauf, daß der Ehemann der Königin an einer tödlichen und mächtigen Waffe arbeitete, die in Kürze gegen die Fallajis eingesetzt werden würde. Von allen Einwohnern Kroogs wußte nur Tawnos, woran sein Meister im Monat nach dem Tod des Königs gearbeitet hatte. Urza war Tag und Nacht im Vogelsaal geblieben. Er hatte alle Studenten fortgeschickt, um den König zu betrauern, sie aber nicht zurückgerufen. Er gestattete nur Tawnos, bei ihm zu bleiben, und sein Gehilfe arbeitete gewissenhaft, um die Maschinen gut geölt und die Flügel der Ornithopter geschmeidig zu halten. Die meiste Zeit hielt er sich jedoch nicht in Urzas Nähe auf. Ein- oder zweimal täglich verließ Urza den Saal, um 261
sich mit dem neuen Hauptmann der Garde zu treffen oder irgendeinem Beamten eine unfreundliche Nachricht zukommen zu lassen. Anschließend verschwand er sofort wieder. In seinem Arbeitszimmer starrte er auf ein leeres Blatt Papier, das er an seinem Zeichenbrett befestigt hatte. Anfangs fragte sich Tawnos, welche Wunderdinge Urza sich wohl ausdenken mochte. Aber nach dem fünften Tag war der junge Spielzeugmacher überzeugt, daß sein Meister nur vor der Verantwortung zurückscheute, die ihn außerhalb des Vogelsaales erwartete. Ein einziges Mal hatte Tawnos gewagt, Urza anzusprechen. Er hatte gehört, wie Gerüchte laut wurden, der Wissenschaftler wolle nicht gegen die Fallaji kämpfen, weil diese von seinem bösen Bruder angeführt wurden, den er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Auch hieß es, Urza zögere, weil er seinen Bruder mit eigener Hand töten wolle. Dann wieder hörte man, er fürchte sich vor seinem Bruder und scheue einen Kampf. Tawnos erwähnte nichts von angeblicher Feigheit, stellte aber die entscheidende Frage: Warum schlug er nicht zurück? Urza wäre vor Zorn fast explodiert. »Krieg ist eine Verschwendung von Maschinen!« brüllte er. »Bei dem nutzlosen Angriff haben wir vier Ornithopter verloren, und ich kann sie nicht ersetzen, bis ich neue Kraftsteine bekommen! Warum sollte ich Zeit, Gold und wertvolle Menschenleben vergeuden? Um in der Wüste Geister zu jagen? Warum brenne ich nicht gleich die Stadt nieder, um meinem Bruder Arbeit zu ersparen?« Der Ausbruch kam ebenso plötzlich wie unerwartet. Danach huschte Tawnos so leise wie möglich im Vogelsaal umher. Botschaften wurden überbracht, und der Gehilfe 262
nahm sie an der Tür entgegen. Wenn sie vom Gardehauptmann stammten, ließ sich Urza zu einer knappen Antwort herab, die Tawnos dem Empfänger aushändigte. Hin und wieder schickten auch Kaufleute oder Handwerker Botschaften. Meistens knüllte der Gelehrte die Briefe zusammen und warf sie fort, aber gelegentlich beantwortete er sie. Es gab auch Botschaften, die das Siegel der Königin trugen. Diese stapelte Urza ungeöffnet auf seinem Schreibtisch. Eine Zeitlang wurden es immer mehr, aber nach einer Weile versiegten sie. Schließlich empfing Tawnos einen Brief, in dem die Königin ihn zu einem mitternächtlichen Treffen befahl. Niemand, nicht einmal Urza, durfte davon erfahren. Leise schritt Tawnos durch die Gänge des Palastes. Seit dem Begräbnis des Königs standen keine Wachen mehr vor den Gemächern der königlichen Familie. Es war schon spät, und auch die Dienerschaft hatte sich zurückgezogen. Als die Tempelglocken von Ferne die Mitternachtsstunde schlugen, klopfte er behutsam an die Tür der Herrscherin. Es erfolgte keine Antwort, und Tawnos nahm an, sein Klopfen sei überhört worden. Doch dann sagte eine schwache Stimme: »Herein.« Vorsichtig öffnete Tawnos die Tür, betrat den Raum und schloß sie hinter sich. »Majestät?« fragte er zögernd. Kayla seufzte tief. »Nein. Nenn mich nicht Majestät. Heute habe ich das Wort so oft gehört, daß ich es nicht mehr ertragen kann. Heute nicht und überhaupt nicht mehr!« Sie nippte an einem Becher mit Weinbrand. »Nenn mich Kayla. Wirst du das tun, Tawnos Spielzeugmacher?« Tawnos öffnete den Mund und versuchte, eine Antwort über die Lippen zu bringen, aber sie wollten ihm 263
nicht gehorchen. Schließlich sagte er: »Tut mir leid, edle Herrin, aber ich kann nicht.« Kayla schnaubte auf damenhafte Art. »Dann muß ich mich wohl mit der edlen Herrin begnügen - vorläufig jedenfalls.« Sie rutschte von dem Platz am Fenster und setzte beide Füße auf den Boden. »Möchtest du etwas essen? Ich habe kaltes Fleisch und Käse heraufschicken lassen.« Sie deutete auf einen Tisch. Er war mit feinstem Kristall, Silberbesteck und kostbaren Kerzenleuchtern gedeckt. Teller aus hauchdünnem, fast durchsichtigem Porzellan waren mit Speisen beladen. Es gab kalten Braten, Käse, Früchte und eingelegte Nahrungsmittel, die Tawnos nicht auf Anhieb erkennen konnte. »Wenn Ihr es wünscht, Maj... äh, edle Dame«, antwortete Tawnos und ging auf den Tisch zu. Kayla kreuzte seinen Weg, um zu ihrem Stuhl zu gelangen. Dabei geriet sie ins Stolpern, verschüttete ein wenig von ihren Getränk und fiel gegen den jungen Mann. »Entschuldigung«, murmelte sie und stützte sich mit einer Hand gegen seinen Oberkörper. »Ist nicht schlimm«, sagte er hastig. Der Geruch ihres Duftwasser und der des Weinbrands stiegen ihm in die Nase. Hätte man ihn aufgefordert, eine Meinung kundzutun, hätte er gesagt, der Weinbrand sei gewiß älter, als es der verstorbene König gewesen war. Tawnos versuchte sich zu erinnern, wann die Königin zuletzt mehr als ein einziges Glas Alkohol getrunken hatte. Es fiel ihm keine Gelegenheit ein, aber heute hatte Kayla den Becher bestimmt schon des öfteren geleert. Zögernd setzte er sich, unsicher, was von ihm erwartet wurde. Er war nur ein einfacher Bursche von der Küste, mit den Feinheiten höfischen Benehmens nicht vertraut, aber er ahnte, wohin der Abend führen würde. 264
Kayla spießte einen Brocken Käse mit dem Messer auf und schwenkte es in seine Richtung. »Also, wie geht es ihm?« »Wem, ihm?« antwortete Tawnos und starrte die eingelegten Speisen an, um herauszufinden, wie sie in natürlichem Zustand ausgesehen haben mochten. Seine Antwort belustigte Kayla. »>Wem, ihm<, fragt er! Ihm, meinem liebenden und aufopfernden Gemahl natürlich. Ihm, den du bedeutend öfter siehst als ich.« Sie betonte die letzten Worte sorgfältig und lehnte sich zufrieden zurück, weil sie ohne zu lallen gesprochen hatte. Tawnos suchte nach Worten. »Es... es geht ihm gut, Majestät.« »Kayla«, verbesserte ihn die Königin. »Kay... Kayla, edle Dame.« Tawnos erröte, als er ihren Namen aussprach. »Ich schreibe ihm, aber er antwortet nicht«, seufzte sie, steckte den Käse in den Mund und sah sich nach einem neuen Ziel um. »Ich weiß«, stimmte Tawnos leise zu. »Er ist sehr beschäftigt. Er kümmert sich um Patrouillen und dergleichen. Er arbeitet.« »Ach so.« Sie hob die Hände zur Decke. »Urzas wunderbare Arbeit! Wie ich ihn beneide! Er kann sich in seinem Vogelsaal einschließen und muß mit niemandem reden. Schon gar nicht mit seiner Frau, denn er arbeitet immer an wunderbaren Erfindungen!« Plötzlich merkte Tawnos, daß er ihre ursprüngliche Frage völlig falsch beantwortet hatte. Aber woher hatte er wissen sollen, daß sie hören wollte, es gehe Urza nicht gut? Die Königin schien in den Anblick ihres Bechers versunken zu sein. Plötzlich sah sie auf. »Von dieser Ehe habe ich mir nicht viel erhofft. Ich nahm jedoch an, daß ich mich mit ihm unterhalten könnte. Und daß er mir 265
zuhören würde. Vielleicht noch einen oder zwei Erben, um Papa glücklich zu machen. Und jetzt? Keine Erben, kein Papa und nicht einmal mehr ein Ehemann.« Sie sah Tawnos forschend an. »Kann ich es mit dir?« Tawnos blinzelte. Der starke Geruch ihres Duftwassers brachte ihn völlig durcheinander. »Könnt Ihr was mit mir?« »Kann ich mich mit dir unterhalten?« fragte Kayla. »Ich habe nämlich genug von Menschen, zu denen ich spreche. Die immer die richtigen Antworten geben,. aber nicht zu einer vernünftigen Unterhaltung in der Lage sind.« Sie fuchtelte mit den Amen, und der Weinbrand schwappte mehrmals über den Rand des Bechers hinweg. »Ich kann zu dem Seneschall reden, zu meiner Zofe - das heißt, ich könnte es, wenn sie hier wäre. Aber es gibt niemanden, mit dem ich wirklich sprechen kann.« »Früher glaubte ich, mit Urza reden zu können«, fuhr sie leise fort. »Nicht sehr oft. Am Tage arbeitete er an seinen Erfindungen, an seinen wundervollen Plänen. Aber dennoch unterhielten wir uns häufig. Ich hörte ihm auch gerne zu, selbst wenn ich nicht ganz verstand, was er mir sagen wollte. Und jetzt... jetzt...« Sie stockte. Als Tawnos noch sehr jung gewesen war, hatte er für seinen Onkel auf dessen Fischerboot gearbeitet. Eines Morgens, als er nicht richtig aufpaßte, riß eine riesige Welle das Boot herum, und er wurde über Bord gespült. Sein Onkel rettete ihn, zerrte ihn ins Boot zurück und schlug vor, der junge Mann solle sich lieber nach einer geeigneteren Arbeit umsehen. In diesem Augenblick fühlte Tawnos sich wie damals, nur war kein hilfreicher Onkel in Sicht. »Ich bin sooo schrecklich eifersüchtig auf dich«, erklärte Kayla, deren Augen zu schmalen Schlitzen wurden, als sie diesen neuen Weg einschlug. »Er verbringt 266
so viel Zeit mit dir, und wenn er über Flaschenzüge, Schrauben und Mechanismen redet, verstehst du ganz genau, worum es geht. Ich bin nicht dumm, aber selbst in meinen lichtesten Momenten habe ich keine Ahnung, welche Feder an welcher Stelle sitzen sollte.« Tawnos wagte eine Antwort: »Jeder Mensch hat seine eigenen Stärken und Schwä...« »Bin ich so abstoßend?« fragte sie, lehnte sich über den Tisch und hielt seine Hand fest. »Bin ich so widerwärtig?« Als sie sich vorbeugte, öffnete sich das Gewand, unter dem eine fast durchsichtige Robe zum Vorschein kam. Hastig schloß Tawnos die Augen. »Nein«, stieß er hervor, »Ihr seid ganz und gar nicht abstoßend.« »Warum kommt er dann nicht zu mir?« fragte sie und setzte sich wieder gerade hin. Noch immer hielt sie seine Hand umklammert, und ihre Stimme klang tränenerstickt. »Er schläft in seiner Werkstatt. Das weißt du. Ich muß den Grund wissen. Warum kommt er nicht zu mir?« Vorsichtig löste Tawnos die Finger aus der Umklammerung der Königin. Als er antwortete, fiel ihm auf, daß Kayla zum erstenmal an diesem Abend wirklich zuhörte. »Ich glaube, er leidet«, sagte Tawnos ruhig. »Er?« fragte sie ungläubig. »Die große Denkmaschine? Der Ausbund an Vernunft? Das kostbarste Artefakt Kroogs?« »Genau der«, bestätigte Tawnos. »Der Mann, der neben Eurem Vater stand, als man ihn tötete. Der Mann, der ihn nicht zu retten vermochte. Habt Ihr mit ihm über das, was in Korlinda geschah, gesprochen? Wirklich gesprochen?« Kayla starrte ihn an und blinzelte unsicher. »Anscheinend nicht«, sagte Tawnos. . »Er hat nicht gewußt, was Papa plante«, murmelte Kayla. »Ich wußte auch nichts davon.« 267
»Das stimmt«, erklärte Tawnos. »Aber dadurch wird es nicht einfacher. Urza kehrte zurück, und alle behandelten ihn wie einen Helden, weil er das Unglück überlebte. Und er mußte Euch gegenübertreten...« Er machte eine hilflos wirkende Geste. »Also deshalb kommt er nicht zu mir«, stellte Kayla fest. Die Wirkung des Alkohols war anscheinend verflogen. »Er bestraft sich selbst, weil er annimmt, ich gebe ihm die Schuld am Tode meines Vaters. Oder er findet, ich sollte ihn für schuldig halten, auch wenn ich es nicht tue. Und ich halte ihn nicht für schuldig.« »Eben«, stimmte Tawnos zu. »Soll ich also zur Werkstatt marschieren und mit ihm darüber reden?« Tawnos hob abwehrend die Hände, als ihm sein eigener Versuch, mit Urza unverblümt zu reden, wieder einfiel. »Vielleicht wäre es besser, mit etwas anderem zu beginnen. Redet über etwas, was nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den letzten Monaten steht. Hattet Ihr glückliche Augenblicke miteinander?« »Laß mich nachdenken.« Kaylas Miene erinnerte Tawnos an eine Maschine, die unter Dampf steht und mit aller Kraft zu arbeiten versucht. »Ja. Ja, die hatten wir.« »Dann beginnt damit«, schlug er vor. Das Gesicht der Königin erhellte sich. »Ja. Jetzt weiß ich, wie ich es anfange.« Sie ging zum Schreibtisch und kritzelte ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier, das sie Tawnos reichte. »Hier. Gib das Urza. Sorge dafür, daß er es liest. Sage ihm, es sei sehr wichtig.« »Selbstverständlich«, antwortete Tawnos und erhob sich. »Er wird noch wach sein.« »Ach, Tawnos!« rief Kayla. Er drehte sich um. Die Königin beugte sich vor und küßte ihn sanft auf die Wange. »Ich danke dir.« 268
Tawnos errötete, und im hellen Kerzenschein sah Kayla, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. »Es war mir ein Vergnügen. Das Reich kann es nicht mehr lange ertragen, wenn es um Euch und Euren Gemahl einen großen Bogen machen muß.« »Das meine ich nicht«, sagte sie. »Ich danke dir, weil du ein bedeutend besserer Mensch bist, als ich es je sein werde.« Tawnos sorgte dafür, daß Urza die Nachricht las, und eine Viertelstunde später betrat der Gelehrte seine ehelichen Gemächer. »Meine Königin?« fragt er. »Kayla?« Königin Kayla bin-Kroog saß an einem prunkvoll gedeckten Tisch, auf dem mit Fleisch und Käse beladene Platten standen. »Ah, der erste Wissenschaftler des Staates. Ich danke dir, daß du so schnell gekommen bist.« »In deinem Schreiben erwähntest du einen Notfall«, sagte Urza, dessen Augen sich allmählich an den Schein der Kerzen gewöhnt hatten. »Einen technischen Notfall!« »Ja«, antwortete sie. »Ich besitze eine Spieluhr. Ein Erbstück. Ich glaube, sie geht nicht mehr.« Sie wies auf den Platz ihr gegenüber. Auf einem Teller stand ein silbernes Kästchen. Urza öffnete es vorsichtig und drehte es um. »Ich glaube, die Uhr wurde wieder einmal überdreht«, stellte er fest. »Überdreht?« wiederholte Kayla mit weit aufgerissenen Augen. Urza nickte und räusperte sich. »Ja. Ich brauche einen Schlüssel.« »Einen Schlüssel«, wiederholte die Königin und öffnete ihren Umhang. Das darunter zum Vorschein kommende Gewand war im Kerzenlicht fast durchsichtig. Um den Hals trug sie ein rosafarbenes Band, an dem 269
ein alter Schlüssel hing, der an den Kanten schon ein wenig verrostet war. »Wäre dieser Schlüssel geeignet, edler Herr?« Urza sah zuerst auf den Schlüssel, dann auf die Spieluhr. Schließlich blickte er in die Augen der Königin. »Ja«, meinte er endlich, »ich glaube, der wird passen.« Und zum erstenmal seit einem Monat lächelte Urza. Der erste Wissenschaftler des Staates erschien weder am nächsten noch am übernächsten Tag im Vogelsaal. Am dritten Tag fand Tawnos bei seiner Ankunft ein Blatt Papier vor, auf dem genaue Anweisungen standen. Zuerst sollte er alle Studenten zurückkommen lassen, ehe er sich einer Liste mit Verbesserungen für die neuen Ornithopter und dem Bau eines mechanischen Kriegers widmete. Urza war nicht zu entdecken, und eine spätere Botschaft teilte dem Gehilfen mit, man solle ihn nicht vor dem Spätnachmittag erwarten. Wenn überhaupt. Tawnos gestattete sich ein breites Grinsen und machte sich daran, die Liste Meister Urzas Punkt für Punkt zu erfüllen.
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KAPITEL 12
Phyrexia Der winterliche Sandsturm kam aus dem Süden; ein richtiger Schirokko, der von Horizont zu Horizont reichte und bis zum höchsten Punkt des Himmels zu steigen schien. Es war ein echter Großvatersturm - so nannte man die Unwetter, von denen die alten Leute oft erzählten, ein Sturm, der die Sonne auszulöschen drohte. Der Wind trug Sandwolken herbei, die jedem Lebewesen, das ihnen in die Quere kam, die Haut vom Körper reißen wollten. Begleitet wurde er von Tornados, die ihn umtanzten und schließlich von der dunklen Wand des Sturms aufgesogen wurden. Er überholte den dahinstapfenden Mak Fawa und verschluckte ihn, was aber weder die Maschine noch das Unwetter beeinträchtigte. Der Drache setzte seinen Weg unbeirrt fort, ohne den heftigen Wind und die Sandböen zur Kenntnis zu nehmen. Man konnte längst nicht mehr sehen, wohin die Maschine ging, aber sie war sich ihrer Sache offenbar sicher und verlangsamte ihre Schritte kein einziges Mal. Mishra und Ashnod hockten in einer winzigen Ausbuchtung unter den Rückenplatten des Mak Fawa. Die Beförderung von Reisenden war beim Bau der Maschine nicht berücksichtigt worden, aber unterhalb der Wirbelsäule befand sich ein kleiner Hohlraum. Dort kauerten der Raki und seine Gehilfin und lauschten dem Sand, der den Metallkörper peitschte. »Wie kann er sehen, wohin er geht?« Ashnod mußte schreien, um den Lärm des Unwetters zu übertönen. »Er braucht nichts zu sehen«, erwiderte Mishra. »Er 271
weiß genausogut wie ich, wohin er seine Schritte lenken muß. Er sucht das Geheime Herz der Thran. Ich spüre die Macht von Koilos, und da die Maschine auf mich reagiert, spürt sie es auch. Es ist wie bei einem Raubvogel, der jedes Jahr in sein altes Nest zurückkehrt.« Ashnod starrte den untersetzten Mann prüfend an. Mishras Neigung, alles in geheimnisvolle und rätselhafte Worte zu kleiden, mißfiel ihr. Glaubte er wirklich, was er sagte, oder handelte es sich um Wortspiele, die bemänteln sollten, daß er keine Ahnung hatte, wohin die Reise führte? Ashnod wollte ersteres glauben, da sie ansonsten blind durch einen Großvatersturm taumelten, nur von einem unbestimmten Gefühl in Mishras Herzen geleitet. Es war der Winter nach dem Massaker von Korlinda; der Winter nach dem Tode des Königs von Yotia, der durch die Hand des Quadirs umgekommen war; der Winter, in dem sich Mishra und Ashnod aufmachten, das Geheime Herz der Thran zu suchen. Sie hatten niemandem davon erzählt, nicht einmal Hajar und schon gar nicht dem Quadir. Der Gedanke, daß der Raki des Stammes noch einmal zum Thranheiligtum aufbrach, hätte dem Fallajianführer nicht gefallen. Der Rückzug aus Korlinda war zermürbend gewesen, und nur einer von fünf ursprünglich ausgezogenen Kriegern kehrte zurück. Die Überlebenden reisten während der Nacht und verbargen sich am Tage in unzugänglichen Schluchten, um den Mak Fawa vor den patrouillierenden Ornithoptern der Feinde zu verbergen. Zuerst wollte der Quadir kehrtmachen und einen sofortigen Gegenangriff durchführen. Besonnene Köpfe und die Tatsache, daß nur ein Bruchteil der Krieger überlebt hatte, überzeugten ihn davon, sich zurückzuziehen und sich mit dem Tode des Königs von Yotia zu trösten. 272
Selbstverständlich gab der Quadir dem Raki die Schuld an dem Angriff. Mishra hätte wissen müssen, daß sich sein begabter und verräterischer Bruder bei den Feinden befand. Mishra hätte dem Quadir unverzüglich davon berichten müssen. Mishra hätte sich darauf konzentrieren sollen, ihn, den Quadir, zu schützen, anstatt der Drachenmaschine Befehle zu erteilen. Selbstverständlich, dachte Ashnod belustigt, ist Mishra auch Schuld daran, daß er nach diesem Unglück bei den Fallaji beliebter ist als je zuvor. Die übrigen Stammesanführer überzeugten sich davon, daß es dem Raki gutging, und dann erst erkundigten sie sich nach dem Befinden des Quadirs. Obwohl der Quadir den alten König getötet hatte, war es Mishra und seinem Drachen zu verdanken, daß die Überlebenden fliehen konnten und in die Heimat zurückkehrten. Niemand außer dem Quadir gab Mishra die Schuld an dem Überfall, aber der junge Anführer beschwerte sich bei jedem, den er zu Gesicht bekam, und natürlich wagte niemand, ihm zu widersprechen. Der Quadir brachte auch noch andere Beschwerden vor. Mishra hätte inzwischen noch weitere, dem Mak Fawa ähnliche Maschinen finden müssen. Ein einziger Drache war ein zu großes Ziel und viel zu verletzlich. Er erinnerte Mishra an die Schwierigkeiten, die sie in Zegon gehabt hatten. Konnten die Yotianer Dutzende Maschinen ins Feld schicken, so mußte der Quadir es ihnen gleichtun. Selbstverständlich zweifelte niemand an Mishras Ergebenheit, sagte der Quadir, und auch nicht an seiner Begabung. (Die bloße Erwähnung ließ beides zweifelhaft erscheinen.) Es waren viele Jahre vergangen, seit der Raki den Drachen entdeckt hatte, und nun brauchte das Volk neue Maschinen. Gerüchte wurden laut, der Raki fürchte sich vor den Flugmaschinen und der Macht seines Bruders, berichtete der Suwwardi. Natür273
lieh glaube niemand, dessen Meinung von Belang sei, auch nur ein Wort davon, fuhr er verschlagen fort. Ashnod hatte die ganze Zeit schweigend zugehört, wie man es bei den Fallaji von einer Frau erwartete. Nachdem der Quadir sie entließ, machte sie ihrem Unmut Luft. Mishra ging schweigend davon. Er suchte sein Zelt auf und erteilte den Kriegern Befehle. Zuerst einmal mußte man Thranartefakte finden; vorzugsweise Maschinen, die noch funktionstüchtig waren. Späher wurden mit genauen Beschreibungen der benötigten Artefakte ausgeschickt. Innerhalb eines Monats kehrten sie mit der Nachricht zurück, eine große Maschine liege unweit des Mardunufers. Der Quadir, der damit beschäftigt war, seine Macht über die Stämme zu festigen, erlaubte dem Raki und seiner Gehilfin, der Meldung nachzugehen. Sie entdeckten eine gut erhaltene Maschine. Es handelte sich offensichtlich um ein Beförderungsmittel der Thran, um Geräte oder Werkzeuge von einem Ort zum anderen zu bringen. Das Artefakt sah wie ein großer Wagen oder Karren aus, der sich aus unbekannten Gründen überschlagen hatte. Rost hatte sich gebildet, und die Speichen der gewaltigen Räder waren verbogen oder zerbrochen. Das Kabelgefüge, in dem der Kraftstein ruhen sollte, fehlte, wenn es überhaupt je vorhanden gewesen war. Mishra schüttelte den Kopf. Es kostete viel Zeit und Arbeit, um das Gefährt wieder instand zu setzen, und auch danach würde es nicht annähernd so beeindrukkend wie der Mak Fawa aussehen. Dem Quadir würde das nicht gefallen. Am Morgen nach dem Fund des Wagens ließ Mishra Hajar und seine Krieger am Ufer des Flusses zurück, um sich mit Ashnod und dem Mak Fawa auf die Reise zu begeben. Sie wandten sich nach Osten und reisten Tag und Nacht, denn der Drache ermüdete nie. Sie 274
schliefen in der kleinen Ausbuchtung unter der Wirbelsäule des Wesens, wo sie sich nun vor dem Sturm zusammenkauerten. Zehn Tage und Nächte saßen sie dort gefangen, während der Sturm mit aller Macht über die Wüste hinwegfegte. Sie hatten genügend Vorräte und auch Licht, aber der winzige Raum war schon für eine Person unbequem und für zwei Menschen fast unerträglich eng. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählte Mishra seiner Gehilfin von seinem ersten Besuch in Koilos. Außerdem nutzte er die Gelegenheit, ihr Vorhaltungen wegen ihres Benehmens zu machen. Schon bald hätte Ashnod lieber dem Sturm getrotzt, als Mishras Belehrungen und dem Aufzählen ihrer großen und kleinen Vergehen noch länger zuhören zu müssen. »Ich habe nichts Böses getan«, erklärte sie am zehnten Tag des Sturms verzweifelt, als Mishra (zum fünftenmal an diesem Tag) einen Zwischenfall erwähnte, der sich kürzlich im Suwwardilager zugetragen hatte. »Der Krieger, den du niedergeschlagen hast, war anderer Meinung«, erwiderte er. »Er sagte, ich sähe wie ein Mann aus«, erklärte Ashnod matt. »Das ist eine alte Redensart der Wüstenbewohner. Es soll ein Kompliment sein.« »O nein«, entgegnete Ashnod, »das war es gewiß nicht!« »Du hättest ihn nicht zum Krüppel schlagen müssen!« meinte er mit strenger Miene. Ashnod stemmte eine Hand gegen seinen Oberkörper. »Wäre dir lieber, wenn ich meinen Stab gegen ihn gerichtet hätte, weil er meine feinen damenhaften Ohren mit eindeutigen und lästerlichen Vorschlägen beleidigte?« fragte sie. »Denn genau das hat er getan.« Mishra antwortete nicht sofort. Statt dessen wies er nach draußen und sagte. »Hör nur!« 275
Ashnod lauschte. »Ich höre nichts.« »Genau!« rief Mishra. »Ich glaube, wir haben den Sturm hinter uns gelassen. Sieh bitte einmal nach.« Ashnod blinzelte verblüfft. »Und wenn der Wind nur sekundenlang nachgelassen hat? Was ist, wenn er wieder zuschlägt, sobald ich draußen bin?« Mishra lehnte sich gegen die Metallwand. »Du bist die Gehilfin. Das bedeutet: Du mußt alle unangenehmen oder gefährlichen Arbeiten ausführen.« Murrend kroch Ashnod zur Außenwand, schob eine der Platten zur Seite und spähte hinaus. Im Norden erhob sich eine nachtschwarze Wolkenwand, aber der Himmel über ihrem Kopf war strahlend blau, der Sand lag wieder am Wüstenboden und wirbelte nicht mehr in der Luft herum. »Der Sturm ist vorüber«, stellte Mishra fest und folgte ihr. »Jetzt können wir die Reise außerhalb des Drachenleibes fortsetzen.« »Es wurde auch höchste Zeit«, murmelte Ashnod und scherte sich nicht darum, ob Mishra ihre Bemerkung hörte oder nicht. Weit und breit war kein Lebewesen zu entdecken. Die Wüste war wie leergefegt, und alte Felsformationen waren verschwunden, während neue zum Vorschein gekommen waren. Nach einer weiteren Woche erreichten sie die Schlucht von Koilos. Der Ort war vom Sturm verschont geblieben und sah noch so aus, wie bei Mishras erstem Besuch. Die bleichen Knochen des Greifen lagen noch immer vor dem Höhleneingang, zwischen den Überresten uralter Thranmaschinen. Während sie die Schlucht durchquerten, wurde Mishra immer ernster und schweigsamer. Ashnod nahm an, er würde von Erinnerungen heimgesucht, von denen einige anscheinend unangenehmer Art waren. Sie wühlten sich durch die Wrackteile und Ruinen in 276
unmittelbarer Nähe des Höhleneingangs, hatten aber auch nach mehreren Tagen nichts entdeckt, das dem Quadir von Nutzen sein könnte. »Diese Metallspinnen waren sicher einmal sehr nützlich«, meinte Ashnod eines Abends. »Aber dein Bruder hat ihnen den Rest gegeben, als die Maschine explodierte. Vorher waren sie sicher schon recht mitgenommen, doch nun sind sie schrottreif.« Bei der Erwähnung seines Bruders zuckte Mishra zusammen. Ashnod hatte bemerkt, daß das Thema >Urza< für Mishra tabu war. Das steigerte Ashnods Neugier noch, mehr über das Verhältnis der beiden zu erfahren. Mishra reagierte auf ihre Bemerkung nicht, sondern starrte auf die Knochen des Greifen, die vor dem Eingang der Höhle verstreut lagen. Die Lösung des Rätsels mußte im Inneren von Koilos verborgen liegen. In jener Nacht schlief Mishra sehr schlecht und erwachte laut schreiend. Ashnod gab sich Mühe, ihn zu beruhigen. »Ich habe vom Wind geträumt, von einem sehr heftigen, dunklen Wind«, sagte er verstört und schweißgebadet. »Er wirbelte um mich herum, sprach zu mir und trug schreckliche Geheimnisse mit sich, die er mir preisgeben wollte.« »Ist schon gut«, murmelte Ashnod. »Es war nur ein Traum. Träume sind nicht wichtig.« »Für mich schon«, antwortete Mishra und starrte in die Dunkelheit. Am nächsten Morgen betraten sie die Höhle. Der lange Gang war früher hell erleuchtet gewesen, erzählte Mishra, aber nun lag er im Dunkeln, und sie mußten Öllampen mitnehmen. Ashnod ließ die Hand über die Wände gleiten. Sie bestanden aus einzelnen Steinen, aber sie vermochte keine Fugen zu entdecken. Sie kamen an den Überresten der Su-chi-Wächter 277
vorbei. Mishra hob einen der geschwärzten schmalen Schädel auf und schlug ihn gegen die Wand. Er zersprang wie eine Nußschale, aber statt vertrockneter Innereien kam ein Kraftstein zum Vorschein, ein Auge der Uralten. Es war ein wenig angeschlagen, enthielt aber das Feuer der Thran. Er grunzte zufrieden, und sie setzten ihren Weg fort. Schließlich erreichten sie eine endlos erscheinende Treppe und danach die große Höhle, den Hort der Thranmaschinen. Die Kristallplatten an der Decke hüllten den Raum in ein geisterhaftes, unstet flackerndes Licht. Die Maschine im Mittelpunkt der Höhle bestand aus Metall und Spiegeln, die um eine leere Fläche gruppiert waren. Mishra legte den Kraftstein des Wächters auf den leeren Platz. Sofort ertönten ein leises Summen und ein Dröhnen, das von den Wänden auszugehen schien. Das Flackern hörte auf, und die Höhle wurde in ein sanftes Licht getaucht. »Woher wußtest du, was zu tun ist?« fragte Ashnod. »Ich wußte es einfach«, erwiderte Mishra. Er hörte sich an, als sei er in Gedanken tausend Meilen weit entfernt. Dann zuckte er mit den Achseln, als müsse er eine Erinnerung abschütteln. Ashnod untersuchte die Glyphen und Lichter vor der großen Maschine, die in ein Podium eingelassen waren, das die Form eines riesigen geöffneten Buches hatte. Sie berührte nichts, sah sich die Zeichen aber ganz genau an. Irgendwo zwischen ihnen lag ein Mechanismus verborgen, der Türen öffnete; Türen, hinter denen sich die Wächter aufgehalten hatten, deren Überreste jetzt im Gang lagen. Falls sie den Mechanismus entdeckten darin waren sich Mishra und Ashnod einig -, könnten sie dem Quadir Wunderdinge vorführen. Ganz und gar erstaunliche Wunderdinge. 278
Nach einer Weile sagte Mishra: »Und?« Ashnod schüttelte den Kopf. Die Glyphen waren einfache geometrische Zeichen, die ebensogut Anweisungen, Verbote oder Warnungen sein konnten. Sie enthielten keine erkennbaren Hinweise auf die Maschinen. Schließlich zeigte sie auf eine Glyphe. »Das könnte das Zeichen für eine Tür sein.« Mishra schaute ihr über die Schulter und nickte. »Drücke dagegen«, befahl er. »Gehört dies nicht zu den Dingen, die du einfach weißt?« erkundigte sich Ashnod. Mishra runzelte die Stirn. »Ich bin genauso unwissend wie du. Trotzdem solltest du sie berühren. Ich habe das Gefühl, es ist das richtige.« Vorsichtig legte Ashnod die Fingerspitze auf die Glyphe, und im Inneren des Berges ertönte eine Glocke. Eigentlich war sie nicht zu hören, sondern eher zu spüren. In den Tiefen der Thranmaschine hatte sich etwas getan, und Ashnod hoffte, daß es andere Mechanismen in Gang setzen würde. Sie hielt den Atem an. Ein Licht leuchtete rechts von ihnen auf. Erst war es nur ein kleiner in der Luft hängender Punkt, der sich jedoch schnell ausbreitete und um die eigene Achse drehte, bis schließlich eine Scheibe daraus entstand, die hochkant über dem Boden schwebte. Langsam schritt Ashnod um die Erscheinung herum. Die Scheibe war hauchdünn und von einem sanften anziehenden Licht umgeben. Über die Oberfläche zogen sich kaum sichtbare Linien und bildeten die Umrisse eines Sterns. Ashnod warf Mishra einen fragenden Blick zu, aber er schwieg. Die Scheibe wurde immer größer, bis sie doppelt so groß wie der Raki war. Ashnod hob ihren schwarzen Stab und drückte mit dem Ende gegen die Scheibe. Weder bot das Licht 279
Widerstand, noch verlosch es bei der Berührung. Sie beugte sich ein wenig vor, und der Stab glitt lautlos durch die Scheibe hindurch. Allerdings kam er auf der anderen Seite nicht wieder zum Vorschein. Ashnod hatte ein drei Fuß langes Holzstück in eine hauchdünne leuchtende Scheibe geschoben, aber auf der anderen Seite war nichts davon zu sehen. Sie zog den Stab wieder heraus. Er sah völlig unversehrt aus. Wieder schaute sie Mishra an. »Wir haben die Eingangstür gefunden«, sagte er gelassen. »Wer geht zuerst hinein?« wollte Ashnod wissen. Mishra sah sie wortlos an. Nach einer Weile meinte sie: »Also gut. Wenn es unangenehm oder gefährlich wird, muß es die Gehilfin tun.« Sie trat in die Scheibe hinein. Das Licht hüllte sie ein und sog sie auf. Sekundenlang meinte sie, den warnenden Schrei einer alten Frau zu hören. Aber er verstummte schnell, und sie befand sich in einer neuen Welt. Das erste, was ihr auffiel, war die Hitze. Sie war nicht wie die Hitze in der Wüste, trocken und vertraut, sondern feucht und schwül, wie sie Ashnod aus den Sümpfen von Almaaz kannte. Wie von einer Decke wurde sie davon umhüllt. Dann bemerkte sie den Geruch, den durchdringenden Gestank von Verwesung und Zerfall. Nein, es ist mehr als nur das, dachte sie. Es roch nach Öl und Chemikalien. Nach Goblinpulver, Feuer und Stahl. Kurze Zeit glaubte sie, wieder in Korlinda zu weilen und vor den Bomben fliehen zu müssen. Und dann die Farben! Ein wahrer Pflanzendschungel umgab sie. Grellbunte Blüten hoben sich von einem Meer aus dunkelgrünen Blättern und Ranken ab. Aber die Farben sahen unnatürlich aus. Sie waren zu grell, 280
zu leuchtend, zu fremd und hatten einen metallischen Schimmer. Und die Ranken - sie muteten eher wie Kabel denn wie Pflanzen an. Sie berührte eine Blume und zog hastig die Hand zurück. Der Saft, der von der Blüte herabtropfte, brannte ihr auf der Haut. Eine Libelle ließ sich auf der Blume nieder, aber bei näherem Hinsehen bemerkte Ashnod, daß es kein Insekt, sondern eine winzige Maschine aus Goldplättchen und Silberdrähten war. Sie wollte das Wunderwerk festhalten, aber die Libelle war schon im Dschungel verschwunden. Ashnod fuhr herum. Mishra tauchte aus der leuchtenden Scheibe auf wie ein Schwimmer, der das Meer verläßt. »Ja, es ist noch so, wie ich es in Erinnerung hatte«, sagte er. »Du warst schon einmal hier?« »Nur im Traum«, antwortete er. Tatsächlich, seine Stimme klang entrückt und verträumt. Ashnod umklammerte den Stab ein wenig fester und blickte zum Himmel empor. Er war bewölkt und rot gefärbt. Es sah aus, als lägen glühende Kohlen unter einer Schneedecke. »Phyrexia«, murmelte Mishra. Ashnod starrte ihn an und fragte: »Weißt du das auch aus dem Traum?« Er nickte gedankenverloren. »Der dunkle Wind brachte Worte mit sich. Dieser Ort heißt Phyrexia.« Er starrte vor sich hin und versuchte, sich zusammenzureißen. »Hier entlang«, sagte er schließlich. »Ich glaube, gleich kommen wir zu einem Teich oder etwas Ähnlichem.« Ein See breitete sich vor ihnen aus, dessen schwarze spiegelblanke Oberfläche mit Ölspuren verschmiert war. Etliche große Maschinen, die an den Mak Fawa erinnerten, wateten hindurch und zerrten Metallteile 281
vom Boden des Gewässers an die Oberfläche. Es waren insgesamt vier Maschinen. »Du bleibst hier«, befahl Mishra. »Halte deinen Stab bereit.« »Was hast du vor?« erkundigte sich Ashnod. Er blinzelte unsicher. »Ich will versuchen, sie zu beherrschen. Wie ich es auch mit dem Drachen mache.« Er hörte sich an, als sei die Antwort auf ihre Frage klar gewesen. »Und wenn sie sich nicht beherrschen lassen wollen?« »Nun, dann mußt du den Stab einsetzen«, erwiderte er. »Halte dich bereit, notfalls zu fliehen.« Beunruhigt beobachtete Ashnod, wie Mishra weiterging. Eine der Drachenmaschinen - die kleinste - entdeckte ihn plötzlich und stieß ein leises Blöken aus. Sofort blickten die anderen auf. Sie rannten auf Mishra zu, und der kleinste Drache erreichte ihn als erster. Ashnod hielt den Atem an, als er sich vorbeugte und den Eindringling beschnupperte, wie es ein Hund bei Fremden zu tun pflegt. Mishra stand gelassen da, als sei es vollkommen normal, sich von einer gefährlichen Maschine beschnuppern zu lassen. Plötzlich ließ sich der Drache fallen und legte den Kopf auf den Boden. Seine Gefährten taten es ihm gleich. Ashnod fiel auf, daß sie sich von dem Mak Fawa unterschieden. Die Köpfe wirkten schwerfälliger und sahen wie Schaufeln aus, und die Körper glänzten nicht so hell wie die Metallhaut des vor der Höhle wartenden Wesens. Mishra winkte Ashnod näher heran, und mit erhobenem Stab trat sie auf die Maschinen zu. Der Raki nickte grimmig. »Es hat nichts mit dem Stein zu tun«, sagte er. »Ich dachte, mein Kraftstein hat Macht über sie, aber das stimmt nicht. Ich selbst bin es. 282
Ich erteile ihnen in Gedanken einen Befehl, und schon gehorchen sie mir.« Er wirkte weniger erfreut als vielmehr verblüfft über diese Feststellung. »Gut«, meinte Ashnod und fragte sich sekundenlang, wie gut es wirklich war. »Sie sehen zu groß aus, um durch die Tür zu passen. Könntest du etwas Kleineres herbeizaubern?« In weiter Ferne erklang ein Gongschlag. Die Drachenmaschinen sahen auf und stürzten sich wieder in die öligen Fluten. Noch einmal ertönte der Gong, diesmal aus der Nähe. Die Drachen schienen zwischen ihrem Gehorsam gegenüber Mishra und der Furcht vor dem, was sich allmählich näherte, hin und her gerissen zu sein. Zum drittenmal hörten sie den Ton, und nun vernahm Ashnod das metallische Klirren von Pflanzen, die an den Wurzeln ausgerissen wurden. Die drei größeren Maschinen tauchten hastig in den Wellen unter, nur die kleinste verharrte, stieß aber ein schrilles ängstliches Kreischen aus. Zu ihrer Linken wurde der Dschungel niedergemäht, und ein Riesenwesen tauchte vor ihnen auf. Es hatte die Gestalt eines für den Landweg gedachten Schiffes auf Schienen. Am Bug öffnete sich ein tiefer Rachen, geschmückt mit blitzenden, sich ständig drehenden Zähnen, die wie übergroße Sensen aussahen. Sie fraßen sich mit Leichtigkeit durch den Dschungel. Immer wenn sie einen besonders dicken Baumstamm zermalmten, erklang das Geräusch, das Ashnod irrtümlich für einen Gongschlag gehalten hatte. Auf einem Vorsprung über dem Maul stand eine hochgewachsene, dämonische Gestalt. Sie bestand dem Anschein nach ebenfalls aus Metall, obwohl sich dunkle Knochen durch die teilweise ledrige Haut bohrten. Sie war mit einer Rüstung angetan, die förmlich mit dem Körper verwachsen war. Ein unheimli283
ches Grinsen lag auf dem fleischlosen Gesicht. Inmit-, ten eines Gewirrs von wurmähnlichen Ranken, die sich um den Kopf ringelten, wuchsen kräftige Hörner empor, die sich nach hinten bogen. »Lauf!« schrie Mishra, aber Ashnod brauchte keine Aufforderung. Sie folgte dem Raki, der auf die glühende Scheibe zurannte, die Sicherheit verhieß. Während sie floh, zerrten die Pflanzen an ihren Gewändern, als wollten sie die Frau zurückhalten, um sie der dämonischen Gestalt als Opfer darzubringen. Irgend etwas fügte ihr einen tiefen Riß am Arm zu, und eine Blüte legte sich ihr aufs Gesicht, als wolle sie Ashnod blenden. Sie sah nur ein einziges Mal zurück. Der kleinste Drache war nicht geflohen und stand jammernd am Ufer des Sees. Die grauenhafte Maschine hatte ihn fast erreicht. Sie verlangsamte ihre Geschwindigkeit nicht, als sie den kleinen Burschen überrollte, der in einem Gewirr aus Gold und Silber verschwand. Ashnod wandte sich ab und rannte noch schneller. Der Verfolger gab jedoch nicht auf und blieb dicht hinter ihr. Mishra wartete an der Tür, wollte aber nicht ohne Ashnod fliehen. Kopfüber sprang sie in die Scheibe hinein. In ihrem Hinterkopf regte sich der Gedanke, daß sie gar nicht wußten, ob sie auf diese Weise in die Höhle zurückkehren konnten. Aber alles war besser, dachte sie nüchtern, als noch länger in einer Welt zu verweilen, die Schreckgestalten wie das phyrexianische Monstrum beherbergte. Ashnod fiel der Länge nach auf den kalten Höhlenboden; der Stab flog ihr aus der Hand und landete krachend an der Wand. Sie drehte den Kopf und erblickte Mishra, der in den Raum sprang. Er lief zu dem aufgeschlagenen Buch und betrachtete die verschiedenen 284
Glyphen. Dann berührte er eines der Zeichen, aber nichts geschah. Ashnod schrie auf, und Mishra griff nach dem KraftStein, den er inmitten der Spiegel abgesetzt hatte. Er zerrte ihn aus seinem Nest und fluchte, als er sich an dem heißen Kristall die Hand verbrannte. Der Stein, der ein Su-chi angetrieben hatte, war mit der Aufgabe, die große Thranmaschine zum Leben zu erwecken, Völlig überfordert und ausgeglüht. Mishra ließ den fauchenden Kristall fallen, der in tausend Teile zersprang. Die leuchtende Scheibe erlosch und verschwand. Ashnod preßte sich die Hand auf die Brust und Spürte das Dröhnen und Pochen ihres Herzens. Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, der Mak Fawa könnte außer Mishra noch andere Herren haben, und jene Herren hatten etwas gegen Eindringlinge. Zu Mishra sagte sie: »Das Wesen auf der Maschine kanntest du es?« Mishra nickte und rang nach Luft. Sie fuhr fort: »Aus deinen Träumen?« Wieder nickte er. »Erinnere mich daran, von nun an Träumen mehr Aufmerksamkeit zu schenken«, meinte sie nachdenklich. Mishra schüttelte den Kopf und pustete dem verbrannten Finger Kühlung zu. »Wir haben bekommen, was wir wollten. Laß uns gehen.« Ohne den Kraftstein des Su-chis war die Höhle wieder in flackerndes Licht gehüllt. Mit schnellen Schritten eilte Mishra die Treppe hinauf und auf den Ausgang zu. Ashnod folgte ihm verwirrt. Schließlich holte sie ihn ein. »Was meinst du damit? Wir haben bekommen, was wir wollten? Wir mußten doch alles zurücklassen und die Tür zuschlagen, damit die... die Maschine uns nicht folgen konnte.« Mishra hob die Hand. »Pst! Sieh doch!« 285
Ein Beben durchlief die Schlucht. Eines der noch stehenden Gebäude versank plötzlich im Erdboden. Unweit des Höhleneingangs tauchte der schaufelförmige Kopf eines Drachen wie ein Pfeil aus dem Sand auf, von dem langen Hals gefolgt. Nach einem weiteren Beben erschien ein zweiter Kopf. Dann ein dritter. Es waren die drei Drachen aus dem See. Von Phyrexia in diese Welt versetzt. Langsam gruben sie sich aus dem Sand und bewegten sich halb rutschend, halb gehend auf die Menschen zu. Sie knieten vor Mishra nieder und erkannten ihn als. ihren neuen Herrn an. »Beeindruckend«, murmelte Ashnod. »Und was geschieht jetzt?« Mishra lächelte. Sein Gesicht verzog sich zu einer unansehnlichen Grimasse, aber es war das erste Lächeln, das Ashnod seit langer Zeit sah. Er schaute die drei Maschinen an und sagte: »Jetzt werden wir eine neue Friedenskonferenz einberufen.« Im Inneren der Höhle entzündete sich ein Licht, und die leuchtende Tür öffnete sich. Diesmal war die Scheibe nur wenige Zoll hoch. Eine ledrige Hand, aus der dunkle metallene Knochen ragten, zwängte sich hindurch und suchte Halt in der Luft. Einmal, zweimal fuhren die Krallen nach Halt suchend umher. Dann wurde das Leuchten schwächer, die Hand zog sich hastig zurück und verschwand wenige Sekunden bevor die Tür sich wieder schloß. Wieder einmal kehrte für ein paar Jahre Ruhe im Herzen von Koilos ein.
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KAPITEL 13
Friedensverhandlungen Das Angebot, neue Friedensgespräche zu führen, erfolgte nach einem Jahr voller Kämpfe entlang der
Rückzug der Truppen, während Gespräche über einen möglichen Frieden stattfinden.« »Wie schlimm sind die Kämpfe?« wandte sich Kayla an den Hauptmann. Der >neueste Hauptmann< - wie ihn viele im stillen nannten - war ein bedächtiger Mann, und er überlegte seine Antwort sorgfältig. »Nun, bedenklich genug, aber zum Glück nur sporadisch aufflackernd«, sagte er und hielt inne. Sein Benehmen ärgerte Tawnos, aber die anderen hatten sich an diese Eigenart gewöhnt und ließen ihm Zeit, seine Gedanken zu sammeln. »Die Kampfhandlungen spalten sich in zwei Gruppen«, erklärte er schließlich. »Zum einen handelt es sich um die üblichen Überfälle. Die Fallaji brechen in unser Land ein, überfallen wahllos eine Stadt oder eine Karawane und ziehen sich zurück, ehe unsere Soldaten zur Stelle sind. Die anderen Kämpfe werden von einer größeren, geordneten Truppe durchgeführt, die sich auf ein bestimmtes Ziel konzentriert - sei es eine Brücke, eine Mühle oder eine Festung. Oftmals werden die Krieger von der Drachenmaschine begleitet. Bei diesen Feldzügen wird wenig geraubt, aber sehr viel zerstört.« »Das sind die sorgfältig geplanten Angriffe«, meinte Urza leise. »Bei den anderen handelt es sich um die gewöhnlichen Räuber aus der Wüste, die auf Ruhm und Beute aus sind. Die von dem Drachen begleiteten Truppen verfolgen bestimmte Pläne und Ziele.« Noch immer starrte er wie gebannt auf das Pergament. »Jene Feldzüge tragen die Handschrift meines Bruders und haben seine Zustimmung.« »Nun, Zustimmung hin oder her«, warf der Seneschall ein, »das alles dient dazu, die Bewohner der Schwertsümpfe und entlang des Mardunufers zur Verzweiflung zu treiben. Die Fallaji überfallen die Gebiete am anderen Ufer des Flusses mit schöner Regelmäßig288
keit, und mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, daß sie einen größeren Angriff planen, der sich bis auf yotianisches Gebiet ausdehnen soll.« »Stimmt das wirklich?« fragte Kayla mit fester und ausdrucksloser Miene. Tawnos fiel auf, dass sie immer erst alle Anwesenden anhörte, ehe sie eine Entscheidung fällte. Der Seneschall sah den Hauptmann an, der nach Einigem Zögern antwortete: »Das wissen wir nicht ggenau. Wir besitzen Festungen mit zwei Feuertürmen am diesseitigen Ufer, die uns vor großen Angriffen warnen können. Der Fluß ist so breit, daß sie uns gut vorbereitet antreffen würden, selbst wenn sie ausreißend Boote zur Verfügung haben.« Er legte eine Pause ein. »Wie dem auch sei, die zusätzlichen Garnisonen am Mardun zehren an unseren Truppenreserven.« Kayla bedachte die Worte des neuesten Hauptmanns und nickte. »Wir können die Ornithopter auf zusätzliche Patrouillen ausschicken.« »Das zehrt ebenfalls an unseren Reserven«, mischte sich Urza ein. »Dreißig Ornithopter sind auf fünf Patrouillen mit je sechs Maschinen eingeteilt. Wenn wir die erbetenen Kraftsteine aus Argivia bekommen, können wir ihre Anzahl verdoppeln, aber die argivianische Krone...« - er biß sich auf die Lippen - »... weigert sich noch.« Wieder nickte Kayla. Nach Urzas Aussagen mußten die Argivianer in Kraftsteinen, die zumeist aus Tocasias Ausgrabungen stammten, schwimmen. Es schien weniger Mühe zu bereiten, die Kristalle aus dem Boden zu graben, als sie den Argivianern zu entreißen. »Wie wurden die Patrouillen verteilt?« fragte sie. Urza antwortete, da der Hauptmann wieder einmal nachdachte. »Fünf Gruppen stehen entlang der Grenze nördlich der Schwertsümpfe. Die sechste ist hier in Kroog stationiert. Die Schwertsumpfgruppen befinden 289
sich in befestigten Anlagen. Ich finde, wir sollten mehr Festungen entlang der Grenze bauen, damit die Ornithopter bei Bedarf von einem Ort zum anderen geschickt werden können.« Der Hauptmann wandte mit gerunzelter Stirn ein: »Das wäre eine große Belastung für die Piloten.« »Wir haben mehr fähige Piloten als Flugmaschinen« erwiderte Urza. »Durch zusätzliche Festungen werden wir beweglicher und können besser zurückschlagen. Außerdem könnten auch wir uns den Überraschungsmoment zu eigen machen, den die Fallaji zur Zeit ausnützen.« Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Die Piloten müssen sich regelmäßig ausruhen.« »Sollten die Maschinen auch ruhen, nur weil es die Menschen tun?« In Urzas Stimme schwang beißender Spott mit. Tawnos kannte diese Wortgefechte. Wenn es um die Ornithopter ging, hatte das Wort des Wissenschaftlers mehr Gewicht als das des Hauptmanns. Der Hauptmann überlegte eine Weile und zuckte dann besiegt mit den Schultern. Kayla beobachtete die Männer herablassend und sagte: »Urza, stelle genaue Pläne über zusätzliche Festungen auf, und lege sie dem Hauptmann vor. Es hört sich so an, als seien uns im Augenblick Grenzen gesetzt.« »Wir besitzen mehr als nur Ornithopter«, erinnerte sie der Hauptmann. »Wir haben Fußtruppen, Kavallerie und berittene Boten.« Er hielt inne und warf Urza einen Blick zu. »Aber es stimmt: Die dauernden Überfälle haben uns geschwächt.« »Dann werden wir das Angebot des Quadirs annehmen«, erklärte Kayla. »Vielleicht können wir gemeinsam eine Lösung finden.« »Höchst unwahrscheinlich!« rief Urza. »Seine Forde290
rungen, die er in Korlinda bekanntgab, lassen uns keinen Spielraum. Sie wollen alles Land, das ihrer Meinung nach >traditionelles Fallajigebiet< ist. Das schließt die Schwertsümpfe ein. Bist du bereit, sie abzutreten?« Kayla schüttelte den Kopf. »Die Sümpfe gehören zum Erbe meines Vaters. Nun, wir werden trotzdem mit ihnen verhandeln, und sei es nur, um ihnen deutlich zu machen, daß unser Yotia ein anderes ist als jenes, das sie in Korlinda kennengelernt haben.« Sie erhob sich und zeigte damit das Ende der Sitan. Der Hauptmann und der Seneschall folgten rem Beispiel. Urza blieb sitzen. Er tippte auf das Pergament. »Die Frage ist folgende: es noch die gleichen Fallaji, die sie in Korlinda waren?« fragte er Tawnos. Das Angebot wurde angenommen und die Antwort Ornithopter überbracht. Als Datum nannte man das Ende des nächsten Monats, und als Treffpunkt wurde Kroog bestimmt. Die Fallaji planten, mitten durch die Schwertsümpfe zu reisen. Der Hauptmann protestierte dagegen, und der Seneschall schlug einen Weg entlang des Mardun vor, der die Grenze des umstrittenen Gebietes nur streifte. Der Seneschall war siler, die Fallajis würden den Vorschlag zurückweisen, und war angenehm überrascht, als sie ihr Einverständbekundeten. Die Vorbereitungen auf das Treffen verliefen ohne großes Aufsehen. Mit Anti-Fallaji-Parolen beschmierte Wände wurden sorgfältig gesäubert, und vor den dikken Stadtmauern räumte man einen riesigen Platz für die erwarteten Truppen. Wieder freute sich der Seneschall, als er vernahm, daß die Fallaji nur wenig mehr als eine Ehrenwache mitbringen wollten. Weniger freute ihn die Nachricht, daß auch die Drachenmaschine mitkommen würde. 291
Urza und der neueste Hauptmann trafen Vorsichtsmaßnahmen. Die Palastgarde wurde bis zur Vollkommenheit gedrillt und die Stadtgarnison mit Truppen von der Küste verstärkt. Eine zweite Ornithoptergruppe aus den Schwertsümpfen eilte herbei, um die fünf Flugmaschinen von Kroog zu unterstützen. Urza wünschte, daß die Ornithopter während der ganzen Zeit über den Fallaji schweben sollten, solange sich diese auf yotianischem Gebiet bewegten. Dagegen wehrten sich die Fallaji und ließen den Seneschall ihren Unmut spüren. Mehrere Tage lang sah es so aus, als würden die Verhandlungen an diesem Punkt scheitern, aber schließlich gab Urza nach. Allerdings sollte der Zug der Fallaji von einer berittenen Eskorte begleitet werden. Urza machte sich die Mühe, sämtliche Ornithopterpiloten in der Hauptstadt unter die Lupe zu nehmen und sich mit ihnen zu unterhalten. Tawnos begleitete den Wissenschaftler die meiste Zeit und wunderte sich über dessen Benehmen - schließlich hatte Urza die Piloten zum größten Teils selbst ausgewählt und ausgebildet. Sie alle waren ihm treu ergeben. Während der Gespräche begriff Tawnos, daß es Urza nicht um die Ergebenheit der jungen Männer ging. Diese Eigenschaft stand nicht zur Debatte und wurde als selbstverständlich vorausgesetzt. In der Tat genoß Urza bei seinen Piloten den Ruf einer Legende, fast eines Heiligen. Mit seinen Fragen wollte er herausfinden, wie die Piloten über die Fallaji, die Wüste und die anhaltenden Feindseligkeiten dachten. Tawnos merkte, daß es Urza um die innere Einstellung der Männer ging. Urza wollte wissen, ob einige von ihnen - sei es absichtlich oder zufällig - daran dachten, das Vorhaben des verstorbenen Königs zu Ende zu bringen. Er erforschte sie, als handele es sich um Einzelteile einer Maschine, die auf Verschleißerscheinungen untersucht werden mußten. 292
Tatsächlich entdeckte er zwei Piloten, die ihren Haß auf die Fallaji zugaben, und einen, der seine Treue schwor, obwohl er nicht mit den Plänen der Diplomaten einverstanden war. Urza versetzte die jungen Männer zu anderen Flugtruppen und ließ sie durch gemäßigtere Gemüter ersetzen. Tawnos begriff, daß der erste Wissenschaftler des Staates einmal unangenehm überrascht worden war und eine Wiederholung unbedingt verhindern wollte. Mit einer Genauigkeit, die er auch bei seinen Forschungen und Erfindungen an den Tag legte, überprüfte er sämtliche in der Hauptstadt stationierten Truppen. Nach einer Weile kannte er jeden Kaufmann, der behauptete, von den Fallaji überfallen worden zu sein. Er war jeden Zoll der Mauern abgeschritten, die Kroog auf drei Seiten umgaben, und kannte jeden Schritt entlang des Mardunufers, das die vierte Seite einnahm. Dennoch setzte er wenig Hoffnung in die Verhandlungen und teilte dies Tawnos offen mit. Der Quadir beanspruchte das Land, das Kaylas verstorbener Vater erobert hatte, und sie würde es nicht hergeben, erklärte er seinem Gehilfen. Daraufhin erkundigte sich Tawnos, weshalb dann überhaupt Verhandlungen stattfanden. Urza seufzte abgrundtief und meinte: »Manchmal sollten sich selbst Feinde zusammensetzen und miteinander reden. Vielleicht kommt nichts dabei heraus, aber wenn nichts Unangenehmes eintritt, so kann man auf ein nächstes Treffen hoffen.« Tawnos glaubte, daß mehr als nur dieser Grund dahintersteckte. Das Treffen, auf das sich der Wissenschaftler so sorgfältig vorbereitete, fand nicht zwischen den Fallaji und den Yotianern oder dem Quadir und der Königin statt. Das Treffen fand zwischen Urza und seinem jüngeren Bruder statt. 293
Kurz nachdem die Fallaji die Grenze der Schwertsümpfe erreichten, trafen die Botschaften in regelmäßigen Abständen ein, wie Urza es befohlen hatte. Der Quadir hielt sein Versprechen, und die Gruppe war kleiner als damals in Korlinda. Die Drachenmaschine begleitete die Fallaji, aber diesmal zog sie einen Metallwagen, der fast so groß war wie das Wesen selbst und riesige, seltsame Räder besaß. Der Drache bewegte sich nur langsam vorwärts, hielt aber mühelos mit den Truppen Schritt. Der yotianische Rat besprach die Mitnahme des Wagens. Der Seneschall meinte, es könne sich um ein Geschenk handeln. Der neueste Hauptmann glaubte, es würden sich zusätzliche Krieger darin verbergen. Urza sagte zu Tawnos, es sei ein Zurschaustellen von Macht, eine Erinnerung daran, daß Mishra seit Korlinda nicht untätig gewesen war. Kayla beschloß, keinen Widerspruch gegen die unerwartete Vergrößerung der Fallajigruppe anzumelden. Urza befahl einer Grenzflugtruppe, die normale Patrouillentätigkeit wieder aufzunehmen, und einer zweiten, parallel zu den Fallaji zu fliegen, jedoch außer Sichtweite zu bleiben. Am fünften Tag der Reise, fünf Tage bevor die Feinde Kroog erreichen sollten, wurden Gerüchte über eine Zusammenballung von Fallajitruppen an der nördlichsten Grenze der Schwertsümpfe laut. Der Seneschall meinte, es handele sich bestimmt nur um einen der üblichen Überfälle; wahrscheinlich von Fallaji angestiftet, die ein Scheitern der Verhandlungen wünschten. Der Hauptmann dagegen erklärte, ein Überfall, egal aus welchem Grund, sei zu diesem Zeitpunkt eine Katastrophe, und die Ornithopter würden gebraucht, um die Wüste im Auge zu behalten. Zuerst weigerte sich Urza, seine Zustimmung zu geben, wurde jedoch von Kayla umgestimmt. Schließlich gestattete er zögernd, daß sich drei Fluggruppen 294
(einschließlich jener, die den Drachen beschattete) in den fernen Norden begaben. Urza erklärte Tawnos den Grund für seinen Sinneswandel nicht, aber etliche Diener berichteten von einem lautstarken Streit, der aus den königlichen Gemächern gedrungen sei. Tawnos wußte, daß Urza in den vergangenen Nächten sehr lange gearbeitet hatte. Der Wissenschaftler behauptete, an Verbesserungen der Metallsoldaten zu arbeiten, aber von nun an nahm er nur noch an den Ratssitzungen teil, wenn ihn seine Gemahlin ausdrücklich dazu aufforderte. Am zehnten Tag trafen die Fallaji vor den Mauern von Kroog ein. Bunte Flaggen hingen von den Wehrgängen herab, als könnten sie die Kraft und den Zweck der starken Mauern verheimlichen. Fast die gesamte Bevölkerung Kroogs hatte sich auf den Mauern eingefunden, und auch die Fenster der Häuser, die einen Blick auf die Fremden gewährten, waren dicht umlagert. Die Kaufleute verdienten ein Vermögen mit dem Verkauf von Fernrohren, einer argivianischen Erfindung, die aus zwei polierten Gläsern bestand, die im Inneren eines Metallrohres steckten. Als sich die Fallaji näherten, bestand Kroog nur noch aus Schaulustigen. Ihre Majestät, der Prinzgemahl, Tawnos, der Seneschall und der neueste Hauptmann warteten in Begleitung zahlreicher Beamter am Nordtor auf die Ankunft der Wüstenbewohner. Die Sonne spiegelte sich funkelnd in den breitkrempigen polierten Helmen und schweren Schulterklappen der Krieger, aber kaum jemand beachtete sie, denn alle Aufmerksamkeit richtete sich auf die Drachenmaschine. Tawnos, der ebenfalls am Nordtor wartete, staunte über alle Maßen. Es schien, als habe man ein Lebewesen in eine Maschine verwandelt. Er sah einen Drachen, dessen Muskeln aus Kabeln bestanden, die Haut 295
aus Metallplatten und die Augen aus glitzernden Edelsteinen. Er bewegte sich wie eine lebendige Kreatur, mit kleinen Zuckungen und Reflexen. Der Kopf pendelte bedächtig hin und her, als bestaune das Wesen die ungewohnte Umgebung. Urza hatte Tawnos von der Maschine berichtet und erzählt, Mishra habe sie unter dem Wüstensand entdeckt. Aber das war keine Thranschöpfung, dachte Tawnos, und dieses Ding war meilenweit von den Metallsoldaten des Wissenschaftlers entfernt. Tawnos war beeindruckt, obwohl er von Urza wußte, was ihn erwartete. Er konnte sich vorstellen, was der Rest der Bevölkerung dachte. Die Drachenmaschine trug ein Geschirr wie ein Zugochse und zog einen Wagen, der fast so groß war wie er selbst. Ansonsten wirkte das Gefährt nicht sonderlich beeindruckend. Es sah aus wie ein metallenes, vierstöckiges Gebäude auf Rädern. Die scharfen Kanten und offenen Speichen verrieten, daß es von den Thran gebaut worden war. Etliche Türen und Wehrgänge zierten die Seiten, die außerdem mit Katapulten und kleinen Geschützen bestückt waren. Die Waffen waren nicht geladen und mit Tüchern bedeckt, die ihren Zweck jedoch ebensowenig verbargen wie die bunten Flaggen auf den yotianischen Mauern. Kayla hatte befohlen, die Ornithopter vor den Stadtmauern aufzustellen. Zu beiden Seiten des Nordtores erwartete jeweils eine Fluggruppe die Fallaji. Die Piloten standen neben ihren Maschinen, die als Warnung dienten, wie es bei einem in der Scheide steckenden Schwert der Fall ist, das auf einem Tisch ruht und den Gegner daran erinnern soll, daß man zwar keinen Kampf beabsichtigt, notfalls jedoch darauf vorbereitet ist. Die Piloten, mit blau-weißen Wappenröcken angetan, warteten geduldig neben ihren Ornithoptern. Die 296
Fallaji stellten sich ihnen gegenüber in respektvoller Entfernung auf. Der Drache kam mitsamt seiner Last vor dem Tor zum Stehen. Tawnos fiel etwas auf, das Urza nicht erwähnt hatte. Ein dumpfes Dröhnen war zu hören, als die Körperflüssigkeit des Wesens durch die verborgenen Rohre strömte und die hydraulischen Gelenke sich bewegten. Das Dröhnen erinnerte an einen Herzschlag, und Tawnos fühlte es mehr, als daß er es sah. Nach einer Weile öffnete sich eine Tür an der Seite des Wagens. Eine Treppe wurde herabgelassen, und zwei Gestalten verließen das Gefährt. Keine von ihnen konnte der Quadir sein. Mishra schritt voran, gefolgt von seiner Gehilfin. Tawnos kannte keinen von beiden, wußte aber nach einem Blick, daß es sich um Urzas Bruder handeln mußte. Der jüngere Bruder war kleiner, stämmiger, dunkelhaarig und trug einen gestutzten Bart. Aber sein Gang und das Gesicht unter diesem Bart verrieten seine Verwandtschaft mit dem ersten Wissenschaftler von Kroog, dem Prinzgemahl von Yotia. Mishra trug die weiten Gewänder eines Wüstenfürsten, aber keine Kopfbedeckung. Er strahlte übers ganze Gesicht. Dann sah er blinzelnd ins Sonnenlicht und winkte den Zuschauern auf den Wehrgängen zu. Schmährufe mischten sich unter den aufbrandenden Jubel, aber er schien sie nicht zu bemerken. So sehr der Wagen von der Gegenwart des sagenhaften Drachen überstrahlt wurde, so sehr verblaßte Mishra neben seiner Gefährtin. Es war eine schlanke Frau, deren Haar die Farbe von blutroten Rubinen hatte. Sie war in dunkle Gewänder gehüllt, und ein weiter Umhang fiel ihr über die Schultern. In der Hand hielt sie einen Stab aus schwarzem Holz, und hoheitsvoll überhörte sie das Geschrei der Menge. Ihr Blick 297
blieb starr geradeaus gerichtet. Urzas Beschreibung nach mußte das Ashnod sein. Der Quadir erschien nicht, und die Yotianer am Torhaus unterhielten sich aufgeregt. Wenn der Quadir sich nicht zeigte, meinte der Seneschall, sollte auch die Königin bei der ersten Begrüßung fehlen. Eine gleichrangige Gruppe sollte die Abgesandten der Fallaji empfangen. Mehr könnte als Schwäche ausgelegt werden, weniger als Beleidigung. Das bedeutete: Tawnos und Urza würden den Magier und seine Gehilfin begrüßen. Urza nickte zustimmend, und seine Miene erstarrte, als er seinem Bruder entgegensah. Tawnos nahm an, daß er viel lieber unter vier Augen mit Mishra gesprochen hätte, aber es sollte nicht sein. Die Königin wollte im Torhaus zurückbleiben, während ihr Gemahl und sein Gehilfe die Fremden empfingen. Ernst und gemessenen Schrittes ging Urza auf die Fallaji zu. Tawnos blieb zwei Schritte hinter seinem Meister und trug eine gelassene Miene zur Schau. Vor Mishra und Ashnod blieb Urza stehen und hob die Hände, als sei er ein Priester, der dem Paar seinen Segen geben wollte. »Willkommen in Kroog, Bruder«, sagte er. Mishra breitete die Arme aus, und einen Augenblick lang glaubte Tawnos, er würde auf den älteren Bruder zulaufen und ihn umarmen. Statt dessen verneigte er sich tief. Auch Ashnod neigte grüßend den Kopf. »Eure Einladung ehrt uns zutiefst«, sagte Mishra und richtete sich wieder auf. Sein Lächeln mochte ehrlich gemeint sein, dachte Tawnos, vielleicht aber war es auch nur das aufgesetzte Grinsen eines Fallajihändlers. »Eure Anwesenheit ist eine Ehre für uns«, entgegnete Urza, dessen Worte in Tawnos' Ohren hohl und nichtssagend klangen. »Ist der Quadir auch hier?« »Leider nein!« Wieder verneigte sich Mishra tief. 298
»Leider konnte uns seine Erhabenheit und Weisheit nicht auf der Friedensmission begleiten. Unser Reich wird immer größer, und er muß sich derzeit um andere Dinge kümmern.« Urza schwieg, und Tawnos sah, wie sich seine Kiefermuskeln spannten. »Man hätte uns benachrichtigen sollen, daß euer Herrscher... anderweitig beschäftigt ist«, meinte er schließlich. »Wir begreifen eure Enttäuschung«, erwiderte Mishra hastig. »Seid versichert, daß unser mächtiger und ehrwürdiger Quadir eure Gefühle teilt. Ich möchte dir nichts vorlügen, Bruder. Nach der letzten Erfahrung mit deinem Volk ist er vorsichtig geworden. Er hat mich ermächtigt, in seinem Namen zu verhandeln. Wenn wir ob seiner Abwesenheit nicht willkommen sind, bitten wir um Vergebung und ziehen uns untertänigst zurück.« Er verbeugte sich zum drittenmal. Tawnos begriff, daß Mishra seine übertriebenen Gesten nicht für Urza, sondern für die zuschauenden Yotianer ausführte. Selbst wenn Urza es gewünscht hätte - jetzt konnte er seinen Bruder nicht mehr fortschicken. Tawnos bemühte sich, seine ausdruckslose Miene beizubehalten, wie er es schon als Kind getan hatte, wenn sich seine Onkel miteinander unterhielten. Er blickte nach vorn, an Mishra vorbei. Nach einer Weile merkte er, daß er Ashnod ansah, die ein Stück hinter ihrem Meister stand. Auch ihr Gesichtsausdruck war der eines Kindes, das wohlerzogen zu warten hat, während sich die Eltern unterhalten. Tawnos blinzelte. Sie sollte nicht denken, er starre sie an. Schnell ließ er den Blick ein Stück nach links schweifen, zu einem Rad des riesigen Wagens hinüber. Dabei fing er Ashnods Blick auf. Sie blinzelte ihm zu. Es war nur der Hauch eines Blinzelns, begleitet von der Andeutung eines Lächelns. Tawnos zuckte zusam299
men und sah die rothaarige Frau noch einmal an, die aber schon wieder starr geradeaus schaute. Das alles spielte sich ab, ehe Urza eine Antwort gefunden hatte. »Als Abgesandter deines Volkes bist du willkommen. Ich will dich der Königin vorstellen. Wenn du mir bitte folgen möchtest?« Der Wissenschaftler verbeugte sich leicht, und Mishra antwortete: »Wenn ich es sagen darf: Du siehst gut aus, Bruder. Es hätte mir das Herz gebrochen, wenn dir in Korlinda etwas zugestoßen wäre.« »Nun, das...« Urza geriet ins Stocken. Sekundenlang schien die Welt sich nicht weiterzudrehen. Dann fuhr er fort: »Es ist gut zu wissen, daß auch du wohlauf bist. Was Korlinda angeht...« Mishra hob abwehrend die Hand. »Darüber können wir uns später noch ausführlich unterhalten. Ich habe im vergangenen Jahr lange darüber nachgedacht. Wir sprechen bei Gelegenheit darüber. Aber jetzt sollten wir die Königin nicht länger warten lassen.« Urza verzog das Gesicht, entspannte sich aber sofort wieder. »Natürlich.« Er machte auf dem Absatz kehrt und schritt zum Stadttor zurück. Mishra folgte ihm, von seiner Gehilfin begleitet. Tawnos schloß sich ihnen an. Die rothaarige Frau zögerte ein wenig und sah den jungen Mann an. Sie sagte: »Du mußt Tawnos sein.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie und verneigte sich leicht. »Entschuldige. Ja, ich bin Tawnos, der Gehilfe Urzas. Und du bist Mishras erste Gehilfin, Ashnod?« Sie zog die Hand zurück, und erneut stahl sich der Hauch eines Lächelns über ihr Gesicht. »Die erste und einzige«, erwiderte sie. »Wie gewöhnlich denkt keiner der beiden daran, uns einander vorzustellen. Mishra ist ein Genie, aber er hat die Manieren eines Bauern. Muß in der Familie liegen, wie?« 300
Tawnos setzte zu einer Antwort an, aber als ihm endlich etwas wirklich Witziges eingefallen war, hatte sie sich schon wieder umgedreht und folgte den beiden Brüdern. Tawnos schüttelte den Kopf und ging weiter. Er traf am Tor ein, als Urza seine Gemahlin vorstellte und ihre zahlreichen Titel nannte, die er wie ein Schulmeister mit besonderer Betonung vortrug. »...Blume von Mardun, Tochter des großen Königs, Königin der Yotianer, Herrscherin von Kroog. Meine Frau, Kayla bin-Kroog«, schloß er. »Mishra, auserwählter Gesandter der Fallaji. Der Quadir ist verhindert und bittet um Vergebung.« Bei diesen Worten sah Urza den Seneschall an, und der Mann zuckte unwillkürlich zusammen. Kayla streckte Mishra die Hand entgegen. »Urza hat mir von Eurer Schönheit berichtet«, sagte der jüngere Bruder und verneigte sich tief. »Allerdings vergaß ich, daß er zu Untertreibungen neigt. Ein majestätischer Baum ist für ihn nichts weiter als ein paar Klafter Holz, und eine Wüste nichts als ein Stück Land, das sich über etliche Meilen erstreckt. Und nun sehe ich, wie sehr er Eure Schönheit untertrieben hat.« Ein kleines Lächeln stahl sich über Kaylas Lippen. Tawnos fand, sie wirke zufrieden, obwohl sie schon lange immun gegen übertriebene Schmeicheleien war. »Urza sprach auch von seinem Bruder«, antwortete die Königin, »aber ich muß gestehen, daß ich nicht auf einen so wortgewandten Mann vorbereitet war.« »Ich habe nur wenig in meinem Leben vermißt«, erklärte Mishra und hielt die Hand der Herrscherin fest. »Mir fehlte jedoch immer eine Schwester. Aber da Ihr die Frau meines Bruders seid, ist dieser Mangel wettgemacht.« Er lockerte seinen Griff, und sanft entzog ihm Kayla die Hand. Anschließend stellte man Ashnod, Tawnos, den Se301
neschall und den Hauptmann vor, ehe die Fallaji ihr Lager rings um die Drachenmaschine aufschlugen. Später, nachdem alles gesagt und getan war, erinnerte sich Tawnos überdeutlich an den eisigen Blick, den Urza seinem Bruder zugeworfen hatte, als jener Kayla mit Schmeicheleien überhäufte, und an Mishras strahlendes Lächeln, das er der Gemahlin seines Bruders schenkte. Der Streit war bis in die große Halle hinunter zu hören. Ein paar Dienerinnen flohen aus den königlichen Gemächern und liefen an Tawnos vorüber den Gang hinab. Er hörte die wütenden Stimmen, die stählern von den Wänden zurückgeworfen wurden. Je näher er kam, um so drückender lastete das Geschrei in der Luft. Drohende Gewitterwolken schienen sich in den Fluren des Palastes zusammenzubrauen. Unbeirrt setzte er seinen Weg fort. Die Tür zu den königlichen Gemächern war geschlossen, aber das dämpfte die Stimmen der Streitenden nur geringfügig. Jetzt konnte Tawnos die Worte verstehen und zögerte, ehe er klopfte. »Die Antwort lautet: Nein!« brüllte Urza. »Es ist ein guter Handel!« schrie Kayla. »Dann lassen sie die Schwertsümpfe in Frieden!« »Du hast nicht das Recht, damit zu handeln!« Nie zuvor hatte Tawnos den Wissenschaftler so laut schreien hören, nicht einmal wenn er die unfähigsten Studenten anbrüllte. Wieder zögerte der Gehilfe. War es ratsam, die beiden zu unterbrechen und ihnen bewußt zu machen, daß ihr Streit überall zu hören war, oder sollte er warten, bis sie eine Pause einlegten? Er klopfte. Ein wütendes Knurren ertönte. »Was ist?« Eine weibliche, weitaus beherrschtere Stimme fügte hinzu: »Herein!« 302
Vorsichtig schob sich Tawnos in den Raum und sagte: »Die Abgesandten der Fallaji warten darauf, daß Ihr ihnen den Vogelsaal zeigt, Meister.« Der Blick, den Urza seinem Gehilfen zuwarf, war so frostig wie der Ronomgletscher. Aha, dachte Tawnos, kein guter Zeitpunkt für eine Unterbrechung. Kayla stand mit gefalteten Händen an der gegenüberliegenden Wand. Bei den Sitzungen des Rates war dies üblicherweise ein Zeichen, daß die Besprechung zu Ende war. »Wenn Ihr wünscht, daß ich die...«, begann Tawnos, aber Urza unterbrach ihn. »Ich komme!« lautete seine Anwort, wie Tawnos es erwartet hatte. Der Gedanke, daß sein Bruder ohne ihn durch die Werkstatt schlenderte, war Urza unerträglich. An seine Frau gewandt fauchte er: »Unsere Unterhaltung ist noch nicht beendet, Kayla.« Sie nickte herablassend: »Da hast du recht, Urza.« Der Wissenschaftler deutete eine Verneigung an und schritt zur Tür. Kayla sagte: »Tawnos, bleib noch eine Weile hier.« Tawnos sah seinen Meister an. Urza verzog unwillig das Gesicht und nickte schließlich. »Folge mir, sobald es dir möglich ist.« Dann eilte er mit wehendem Umhang davon. Tawnos wandte sich der Königin zu. »Majestät?« Hastig fügte er hinzu: »Edle Dame?« »Du hast unser >Gespräch< schon im Gang vernommen?« Er holte tief Luft. »Ich glaube, man konnte Euer >Gespräch< sogar in Tomakul hören.« Kayla lächelte und ließ sich in den Thronsessel fallen, ein mit prächtigen Schnitzereien verziertes Monstrum. »Ich habe aber nicht viel verstanden«, fuhr Tawnos 303
eilig fort. »Nur die lauten Stimmen, nicht aber die Worte waren zu vernehmen.« Kayla verschränkte die Hände und stützte das Kinn auf die Hände. »Würdest du sagen, daß die Verhandlungen der letzten Tage gute Fortschritte gebracht haben?« »Sehr gute sogar«, antwortete Tawnos. In der Tat hatten sich beide Parteien hervorragend verstanden, wenn man die Geschehnisse in Korlinda bedachte. Geschenke waren überreicht worden. Segenswünsche ausgesprochen. Höflichkeiten und Schmeicheleien ausgetauscht. Besprechungen unter vier Augen zwischen Kayla und Mishra hatten zu heftigen Debatten bei den Fallaji und innerhalb des Geheimen Rates geführt. Das gute Verhältnis war durch Urzas Angebot, seinem Bruder den Vogelsaal zu zeigen, unterstützt worden. Als Gegenleistung bot Mishra an, Urza und Tawnos die Drachenmaschine und den großen Wagen vorzuführen. Alles entwickelte sich unerwartet gut. »Und der Botschafter Mishra?« fragte Kayla. »Was hältst du von ihm?« Tawnos zögerte, da er nicht sicher war, was die Königin zu hören wünschte. »Er ist...« Er suchte nach Worten. »Er ist wie sein Bruder - aber doch anders. Er geht mehr aus sich heraus. Ist redefreudiger.« »Aber dennoch immer auf der Hut«, meinte Kayla. Tawnos überlegte. Ja, trotz aller Schmeicheleien, Lobpreisungen und Höflichkeiten war Mishra nicht weniger verschlossen als Urza. Er schien es ehrlich zu meinen, aber vielleicht verbarg er seine wahren Gefühle hinter einer Maske aus Worten. Tawnos begriff, daß Urza anders war. »Ich weiß selten, was Urza denkt, denn er spricht nicht viel. Ich weiß nicht, was Mishra denkt, weil er soviel spricht.« Wieder lächelte Kayla. »Er ist äußerst charmant. Ich hörte, daß die Händler aus der Wüste sogar einer 304
Schlange die Haut abzuschwatzen vermögen. Glaubst du, er hat die Macht, hier geschlossene Abkommen auch wirklich durchzusetzen?« Tawnos nickte. »Er hat die Drachenmaschine mitgebracht. Die Krieger, die ihn begleiten, mögen und achten ihn.« Kayla schwieg geraume Zeit, ehe sie sprach. »Glaubst du, wir können ihm vertrauen?« Tawnos hob die Hände. »Ich finde, wir haben ihm bisher keine Möglichkeit gegeben, das zu beweisen.« »Stimmt.« Kayla legte den Finger an die Lippen. »Was würdest du sagen, wenn ich dir erzählen würde, daß Mishra bereit ist, einen Vertrag zu unterzeichnen, der Yotias Anspruch auf die Schwertsümpfe anerkennt?« Verblüfft stieß Tawnos hervor: »Dazu ist der Quadir bereit?« Kayla hob mahnend den Finger. »Ich sagte: >wennWenns<, aus müßigen Gedanken, die ausgesprochen werden. Nehmen sie nicht Gestalt an, verleugnet man sie und vergißt sie schnellstens.« »Wie die Versuchsmodelle im Vogelsaal«, grinste Tawnos und dachte über Kaylas Worte nach. »Welcher Preis wird für diesen Vertrag verlangt?« Kayla nickte. »Der geforderte Preis beinhaltet den Schutz der Fallaji, die in unserem Land leben, Wachen für ihre Karawanen, die unser Gebiet durchqueren, und eine Abfindung für die eroberten Ländereien. Allerdings müssen wir dem Quadir keine formelle Entschuldigung für ihre Eroberung ausrichten. Weiterhin haben wir den Quadir als Herrscher über das vereinte Fallajireich anzuerkennen. Das sind eigentlich recht angemessene Forderungen. Leider gibt es noch einen Punkt, und da liegt die Wurzel allen Übels.« Sie schwieg lange Zeit, und Tawnos hütete sich, sie 305
zu stören. Schließlich redete sie mit ruhiger Stimme weiter. »Was bewirkt Urzas Stein? Derjenige, den er um den Hals trägt?« »Sein Machtstein!« rief Tawnos. Jetzt begriff er. »Mishra will den Talisman seines Bruders!« »Was bewirkt er?« wiederholte Kayla. »Er trägt ihn fortwährend bei sich.« Tawnos dachte an das, was Urza mit Hilfe des Steins erreicht hatte. Zögernd antwortete er: »Der Stein scheint Artefakten und Wesen zusätzliche Kräfte zu verleihen - innerhalb gewisser Grenzen natürlich. Urza benutzt ihn auch, um zerstörten Kristallen neues Feuer einzuhauchen. Allerdings arbeitet der Stein nur, wenn er ihn in Händen hält. Und er halt ihn in Händen, wenn er nachdenkt, aber das kann natürlich auch reine Gewohnheit sein.« »Meister Mishra besitzt auch einen Stein, das Gegenstück zum Kristall meines Gemahls. Wußtest du das?« Tawnos schüttelte den Kopf. »Nun, auch mich hat es überrascht, und noch dazu war es Mishra, der mir davon erzählte«, fuhr Kayla mit leicht verärgerter Stimme fort. »Also hat der Stein Macht, und Mishra will ihn haben. Er behauptet, sein Kristall würde für ihn singen. Singt Urzas Stein auch?« »Nicht daß ich wüßte«, antwortete Tawnos. »Ich auch nicht«, setzte Kayla hinzu. »Vielleicht verfügt Mishra über einen mir unbekannten Wüstenzauber, oder es handelt sich lediglich um eine Illusion. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß Mishra uns Frieden garantiert, wenn Urza den Stein hergibt.« Tawnos schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum, daß Urza dazu bereit ist.« »Da hast du recht«, meinte Kayla bedrückt. »Darum auch unser >Gespräch<, das die Palastmauern erbeben ließ.« 306
Die Königin von Yotia legte die Hände aneinander, die Finger blieben gespreizt. Sie ließ sie eine Vierteldrehung vollführen, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Das hatte Tawnos auch schon oft bei Urza beobachtet, wenn der Meister grübelnd über einem Entwurf hockte. Er fragte sich, ob die Königin die Gewohnheit ihres Mannes übernommen hatte oder ob es umgekehrt war. »Ich glaube kaum, daß es unserem Reich schaden wird, wenn Mishra die andere Hälfte des Kristalls bekommt«, sagte sie nachdenklich. »Es könnte Urza schaden«, gab Tawnos zu bedenken. »Und dadurch wiederum könnte es dem Reich schaden.« »Richtig«, stimmte Kayla zu und verdrehte erneut die Hände. »Aber darf ich diese Gelegenheit ungenutzt vorüberziehen lassen? Verdamme ich die Schwertsümpfe zu dauernden Überfällen und den Rest des Landes zu fortwährender Alarmbereitschaft wegen eines von beiden Brüdern begehrten Gegenstandes?« Tawnos überlegte und meinte: »Urza hat recht.« Kaylas Miene verdüsterte sich, aber der junge Mann setzte schnell hinzu: »Ihr müßt ausführlicher darüber sprechen. Ihr und Urza. Ihr und Mishra. Mishra und Urza. Vielleicht findet sich eine Möglichkeit, den Schwertsümpfen Frieden zu bescheren. Es kann sein, daß Mishra nur herausfinden will, wie weit er gehen kann. Vielleicht verlangt er den Stein und gibt sich mit etwas anderem zufrieden - mit etwas, von dem Ihr noch nichts ahnt.« Kayla seufzte. »Das sind die Schwierigkeiten des Regierens. Es gibt Situationen, die sich allen einfachen Lösungen verschließen.« »Aus diesem Grund bemühe ich mich, Euch entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.« Kayla nickte. »Dein Talent ist als Gehilfe Urzas ver307
geudet, Tawnos. Du würdest einen ausgezeichneten Seneschall abgeben.« Tawnos zuckte mit gespieltem Entsetzen zurück. »Aber Ihr habt doch bereits einen vorzüglichen Seneschall. Und wäre ich nicht der Gehilfe Urzas, mit wem würdet Ihr dann über ihn sprechen?« Die Bemerkung brachte Kayla bin-Kroog zum Lachen. »Wie wahr! Jetzt geh nur. Aber versäume nicht, mir zu berichten, wie sich die beiden Brüder verstehen.« Tawnos gesellte sich im Vogelsaal zu Urza, der gerade dabei war, seinem Bruder den Vorteil der doppelt geschwungenen Flügel zu erklären. Mishra lauschte aufmerksam und stellte genau die richtigen Fragen, die Urza von einem Punkt auf den nächsten brachten. Der Wissenschaftler redete mit Begeisterung über seine Arbeit. Die beiden schienen sich bestens zu verstehen, und Tawnos nahm an, daß sie nicht über die Kraftsteine gesprochen hatten. Der Gehilfe sah sich um. Die meisten Fallaji langweilten sich sichtlich über alle Maßen, und die anwesenden Studenten kannten Urzas Erklärungen bereits. Sie betrachteten die im Saal ausgestellten Modelle und versuchten, nicht einzuschlafen. Ashnod ließ Tawnos nicht aus den Augen. Als er den Blick auf sie richtete, schaute sie schnell zu Mishra und Urza hinüber. Sobald er sich abwandte, fühlte er ihre Augen auf sich ruhen. Es verursachte ihm Unbehagen. Aus Urzas Erzählungen hatte Tawnos geschlossen, daß Ashnod sowohl Mishras Geliebte als auch seine Gehilfin war. Die beiden verhielten sich aber nicht wie Liebende. Außerdem deuteten ihr früheres Zwinkern (wenn es ein Zwinkern gewesen war) und das heutige eindeutig-zweideutige Starren auf etwas anderes hin. Die Besichtigung dauerte bis zum Spätnachmittag. 308
Mishra unterbreitete Urza ein paar eigene Vorstellungen zur Verbesserung der Ornithopter, während Urza ihm erklärte, welche Änderungen er anstrebte. Schließlich stellte sich heraus, daß sie nicht mehr genügend Zeit hatten, den Drachen an diesem Tag zu besichtigen, da sich alle Anwesenden auf das Festmahl vorbereiten mußten. Mishra entschuldigte sich überschwenglich. »Ich sehe, daß du viel erreicht hast. Wenn erst einmal Frieden herrscht, hoffe ich, auch eine Akademie einrichten zu können«, sagte er. »Wenn es soweit ist«, antwortete Urza, »kann ich dir meine Notizen über Lehrmethoden schicken. Ich habe festgestellt, daß sich ein paar Themen bedeutend besser als andere eignen, um die Aufmerksamkeit junger Burschen zu fesseln.« »War es in unserer Jugend nicht genauso?« erwiderte Mishra lachend, und Urza zwang sich zu einem Lächeln. Ja, dachte Tawnos, Urza hatte den Streit mit Kayla nicht vergessen, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Er würde keinen Anlaß zu neuem Zwist bieten, um die Hoffnungen seiner Gemahlin auf einen dauerhaften Frieden nicht zu trüben. Das Festmahl fand im großen Innenhof unter freiem Himmel statt. Zu Ehren der Fallaji wurde es gemäß ihren Sitten und Gebräuchen abgehalten. Jedes Kissen und jeder Teppich des Palastes mußte herhalten, und die bereitstehenden Diener warteten mit gebratenem Lamm und gewürztem Huhn auf. Die Fallaji, die schon zu viele Mahlzeiten auf hochlehnigen Stühlen hinter sich hatten, entspannten sich merklich, während die Yotianer unruhig hin und her rutschten, um einigermaßen bequem zu sitzen. Der Seneschall hatte Muaharinmusiker aufgetrieben, denen es nichts ausmachte, für die Leute des Suwwardiquadirs zu spielen, und das schrille Zirpen ihrer Instrumente erfüllte die Luft. 309
Kayla saß zwischen Urza und Mishra. Sie unterhielt sich mit beiden, machte aber besonders viel Aufhebens um ihren Gemahl. Einmal bot sie ihm sogar eine mit Käse gefüllte Dattel an. Er ließ sich nicht füttern, sondern nahm sie ihr lächelnd ab und verzehrte sie. Die Städter, die das königliche Paar beobachteten, waren zweifellos von der unübersehbaren Zuneigung der beiden begeistert. Tawnos nahm an, daß der furchtbare Streit vergeben war. Wenn Mishra mit Kayla sprach, schilderte er ihr das Leben in der Wüste in den glühendsten Farben. Das Essen hatte acht Gänge, gemäß yotianischer Tradition, aber sämtliche Speisen waren nach Fallajiart zubereitet. Außer Lamm und Huhn gab es gedünsteten Fisch mit heißen Paprikaschoten, Salat mit Spinat und Ziegenkäse sowie die verschiedensten Pökelfleischsorten. Dazu wurde ein durchdringend nach Zimt riechender heißer Wein serviert. Der Wein, Nabiz genannt, war ebenso stark, wie er roch, und Tawnos fiel auf, daß zahlreiche Yotianer ihn benutzten, um sich über die unbequemen Sitzgelegenheiten hinwegzutrösten. An seinem Tisch saßen hauptsächlich Fallajioffiziere, die miteinander scherzten und sich einmal, als eine bekannte Melodie erklang, in einer langen Reihe zum Tanz aufstellten. Mishra gesellte sich zu ihnen. Ein Schatten glitt neben Tawnos. »Interessant, was?« fragte Ashnod und ließ sich auf einem Kissen nieder. »Ein traditioneller Kriegertanz«, erklärte er. Sie hielt ihm ihren Becher entgegen; einen goldenen Becher, der vor langer Zeit zum zehnten Hochzeitstag des Königs angefertigt worden war. Tawnos griff nach dem Krug mit Nabiz und füllte ihn. Seine Erklärung beantwortete sie mit einem abfälligen Schnauben. »Wieder eine reine Männertradition«, sagte sie mit ein wenig benommen klingender Stimme, und er fragte sich, wieviel sie wohl schon ge310
trunken hatte. »Die Fallaji sind schreckliche Männlichkeitsfanatiker, und die Suwwardi gehören zu den schlimmsten unter ihnen. Mishra mußte den Quadir fast mit Gewalt dazu bringen, mit einer Frau zu verhandeln. Frauen sollen Kinder aufziehen und Fladenbrot backen, sich aber nicht mit Politik, Krieg, Religion, Wissenschaft oder ähnlichen >männlichen< Angelegenheiten befassen.« Tawnos ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. »Die Zeiten ändern sich für uns alle«, meinte er. »Vielleicht ändern sich auch die Fallaji.« »Das werden wir beide nicht mehr erleben«, erwiderte die rothaarige Frau. »Ich bin Mishras Gehilfin und Schülerin. Der große Mishra führt die Fallaji gemeinsam mit dem Quadir, und die Stämme vertrauen ihm mehr als dem jungen Narren, der sich >Anführer< schimpft. Deshalb dulden sie mich. Fallajilegenden erzählen böse Dinge über rothaarige Frauen.« Sie stellte den Becher ab, fuhr sich durch die wallende Mähne und dehnte den schlanken Körper. »Deshalb fürchten sie sich vor mir.« »Ist das begründet?« fragte Tawnos. Auch er spürte die Auswirkungen des Nabiz und vermochte sein Interesse an dieser Frau nicht länger zu unterdrücken. »Die Furcht vor mir?« Ashnods Lippen umspielte ein teuflisches Lächeln. »Ich hoffe es. Aber wenn Mishra ihnen morgen den Rücken kehrt, wäre auch ich wenig später verschwunden - dessen bin ich sicher.« Tawnos schwieg und sah zu den Tanzenden hinüber. Inzwischen hatten sich die meisten Fallaji erhoben, und aus der langen Reihe war eine Spirale geworden. Mishra führte die Männer an und hatte den hageren Seneschall überredet, ihn zu begleiten. Der kleine Mann bemühte sich, Mishras Bewegungen nachzuahmen, und es gelang ihm recht gut, die unterschiedlichen Schritte, Verneigungen und Rufe auszuführen. 311
Auch Palastbedienstete schlossen sich den Fallaji an, aber der unbekannte Tanz und der gewürzte Wein arbeiteten gegen sie, und so schlurften sie unbeholfen umher. Das schien den Fallaji nichts auszumachen, sondern sie im Gegenteil zu noch kühneren Sprüngen und Schreien anzuspornen. »Alles entwickelt sich zum besten«, bemerkte Tawnos. »Besser, als du es dir vorstellen kannst«, murmelte Ashnod. »Wie hat dir der Vogelsaal gefallen?« wollte Tawnos wissen. »Er ist eindrucksvoller, als ich erwartet habe«, antwortete Ashnod und schüttelte die wallende Haarpracht. »Meister Mishra ist neidisch! Er gibt es nicht zu, aber er redet seit Jahren davon, eine Werkstatt einzurichten. Ich glaube, das ist der Grund, warum er diesen Frieden will. In Tomakul und Zegon hat er Handwerker angeworben, aber keinen dauerhaften Platz für sie gefunden.« Tawnos nickte. Ashnod redete mehr, als er erwartet hatte, aber er lauschte ihr mit Vergnügen. »Wie schade, daß wir uns so lange im Vogelsaal aufgehalten haben«, sagte er nach einer Weile. »Ich hätte liebend gerne...« Er sah ihr tief in die geheimnisvollen Augen und hätte um ein Haar den Faden verloren. »...Mishras Drachenmaschine besichtigt«, setzte er lahm hinzu. »Wer sagt, daß das nicht mehr möglich ist?« »Nun, vielleicht klappt es ja morgen«, meinte er. Ashnod schüttelte den Kopf. »Nicht morgen. Heute.« Er starrte sie erstaunt an. »Aber das Festmahl ist noch im Gange.« »Später. Hör zu. Kannst du an den yotianischen Wachen vorbeischleichen, die vor dem Flügel des Palastes stehen, in dem unsere Gemächer liegen?« Er dachte nach. »Das ist kein Problem. Sie kennen mich schließlich.« 312
»Und ich vermag an den Kriegern vorüberzugehen, die den Drachen bewachen«, sagte sie fröhlich. »Sie kennen und fürchten mich. Ich kann dir eine ganz besondere Führung gewähren. Einverstanden?« Tawnos stotterte unsicher, und Ashnod setzte hinzu: »Komm schon! Wir sind doch auch noch Studenten. Das heißt: Wir dürfen ruhig einmal schwänzen. Hast du das etwa noch nie getan?« »Niemals«, gab Tawnos zu und merkte, wie er errötete. »Oder jedenfalls kaum einmal. Und du?« Ashnod setzte eine ernste Miene auf und ahmte ihren Begleiter nach. »Niemals«, erklärte sie mit männlich tiefer Stimme. Dann mußte sie lachen und zwinkerte ihm zu. Diesmal ganz unmißverständlich. »Kaum einmal. Also, hast du Lust?« Tawnos begriff, daß sich hier eine Gelegenheit bot, mehr über Mishra zu erfahren, was der Königin und seinem Meister nützlich sein konnte. »Ja«, sagte er entschlossen. »Ich habe große Lust dazu.« »Heuchler«, spottete Ashnod und erhob sich behende. Plötzlich merkte man ihr nicht mehr an, daß sie getrunken hatte. »Dann sehen wir uns nach dem Läuten der Mitternachtsglocke. Komm in meine Gemächer. Und bringe einen ordentlichen Wein mit, hörst du? Dieser Wüstenwein schmeckt wie flüssiger Zucker.« Dann war sie fort, inmitten der betrunkenen Fallaji und Yotianer verschwunden, die taumelnd und grölend im Innenhof umhertanzten.
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KAPITEL 14
Nächtliche Unternehmungen Tawnos wählte einen Weißwein aus dem königlichen Vorrat, der - wie ihm der Kellermeister versicherte zum besten Jahrgang gehörte, den die Weinberge von Korlis in den letzten hundert Jahren hervorgebracht hatten. Trotzdem kam er sich wie ein Spion vor und nicht wie ein Wissenschaftler, der eine außergewöhnliche Maschine begutachten wollte. Ehe er aufbrach, nahm er die hölzerne Schlange an sich, mit der er vor vielen Jahren Urzas Aufmerksamkeit erregt hatte. Er zog das Uhrwerk auf, spannte den Hebel und steckte das Spielzeug in die Tasche. Von der anderen Seite der Stadt ertönte das Läuten der Mitternachtsglocke. Jetzt beseitigten die Diener die Spuren des Festmahls, und die Gäste, die nicht mehr in der Lage waren, sich in ihre Gemächer zu begeben, wurden in stille Ecken gerollt und in Decken gehüllt. Urza und Kayla hatten den Innenhof Arm in Arm verlassen, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Mishra hatte noch einmal mit den Kriegern getanzt und ihnen dann befohlen, in ihr Lager zurückzukehren. Ashnod und er übernachteten im Gästeflügel des Palastes. Anfangs vermutete Tawnos, daß weiche Betten und fließendes Wasser der Grund für diese Entscheidung waren. Nach seinem Gespräch mit Ashnod hatte Tawnos keinen Nabiz mehr getrunken. Das einzige andere Getränk an diesem Abend bestand aus einem dickflüssi314
gen Kaffee, der in winzigen Tassen serviert wurde. Die Mischung schlug ihm auf den Magen, und er fühlte sich nicht besonders wohl. Wenigstens hoffte er, daß nur der Kaffee und der Nabiz an seinem Unwohlsein schuld waren. Tawnos blieb an der Abzweigung stehen, die zum Gästeflügel führte. Plötzlich drehte er sich um und schritt in die entgegengesetzte Richtung, auf den Vogelsaal zu, der am anderen Ende des Palastes lag. Es war erst kurz nach Mitternacht. Urza würde noch wach sein, und er konnte ihm sagen, worauf Tawnos achten mußte, wenn er den Metalldrachen besichtigte. An der Tür zum Vogelsaal stieß er auf Kayla, die sich gerade lautlos zurückziehen wollte. Sie zuckte zusammen, als sie Tawnos hinter sich stehen sah, und legte den Finger an die Lippen. »Er schläft«, flüsterte sie. »So früh?« »Es war ein langer und angenehmer Tag für ihn«, sagte sie. »Das stimmt«, nickte Tawnos. »Er versteht sich gut mit seinem Bruder.« Kayla schob eine Haarsträhne zurück und lächelte verhalten. »O ja. Aber nicht nur das. Trotzdem solltest du ihn eine Weile ruhen lassen.« Tawnos nickte und wurde sich bewußt, daß er den Weinkrug in der Hand hielt. Zum Glück machte Kayla keine Bemerkung darüber. Dennoch hielt er die Hand ein wenig hinter sich und fragte: »Was wurde aus Eurem - äh - >Gespräch« Kayla zuckte mit den Schultern und ging ein paar Schritte weiter. »Wir haben uns unterhalten. Gut unterhalten.« »Und was hat er gesagt?« Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie antwortete. »Nun, er hat nicht >nein< gesagt.« 315
Tawnos nickte ermunternd. »Das ist doch immerhin ein Anfang.« »Ein guter Anfang«, stimmte Kayla zu. »Ich glaube, wir beide sollten jetzt andere Orte aufsuchen.« Tawnos errötete ein wenig. Also hatte die Königin den Krug bemerkt und nahm an, er sei auf dem Weg zu einem Rendezvous. Morgen würde er ihr die Wahrheit erzählen. Jetzt verneigte er sich höflich und ging zum Gästeflügel zurück. Ashnod und ihr Meister waren in unterschiedlichen Stockwerken untergebracht worden, und beide verfügten über eine ganze Flucht von Gemächern. Eine handverlesene Schar von Dienstboten, für ihre offenen Ohren und ihre Verschwiegenheit bekannt, war den Gästen zugeteilt worden, gemeinsam mit Wachen, die der Königin treu ergebenen waren. Es war den Fallaji gestattet, eigene Leibwächter mitzubringen, die ebenfalls von den Palastwachen beobachtet wurden. Nach der zweiten Nacht hatte Mishra seine Leibwächter fortgeschickt, um den Gastgebern sein Vertrauen zu bekunden. Die Vorkehrungen waren typisch für Kroog. Jedes Entgegenkommen barg eine heimliche Überwachung in sich. Tawnos fragte sich, wieviel davon auf Urzas Anweisung geschehen war. Er entschied, daß es in bezug auf Mishras Besuch nichts gab, was Urza unbekannt war. Die Wachen hoben die kurzen Speere, um ihn durchzulassen. Tawnos klopfte, und die unverschlossene Tür öffnete sich bei seiner Berührung. Ashnod saß an einem Tisch und befestigte Drähte an einem Tierschädel, der auf der Spitze ihres Holzstabes thronte. Sie hob die Hand. »Einen Augenblick noch.« Geschickt zog sie ein Kabel durch das Nasenloch des Schädels. »So. Fertig.« Sie schaute auf. Ein seltsames Feuer glühte in ihren Augen, das Tawnos nicht fremd war. Es leuchtete auch aus Urzas Augen, wenn er an einer neuen Erfindung arbeitete, 316
und er sah es im Spiegel, wenn er dem Wissenschaftler behilflich war. Ashnod blinzelte, und das Glühen ließ ein wenig nach, verlosch aber nicht ganz. »Nur ein kleines Experiment, an dem ich ein wenig herumbastele«, erklärte sie und legte den Stab beiseite. Tawnos betrachtete ihn interessiert und bemerkte, daß der Schädel genau auf das Ende paßte. »Kann ich dir helfen?« erkundigte er sich. Sie schüttelte den Kopf. »Nur eine Spielerei, um die Langeweile zu vertreiben.« Sie strahlte plötzlich. »Oh, du hast den Wein mitgebracht! Ich hole zwei Becher. Wir trinken einen Schluck, und dann nehmen wir ihn mit zur Drachenmaschine.« Tawnos stellte den Krug auf den Tisch und setzte sich. »Ich hoffe, es ist nicht zu spät.« »Es ist doch gar nicht spät«, widersprach Ashnod und hielt ihm zwei Trinkbecher entgegen. »Ich bin an Mishras Arbeitszeiten gewöhnt. Er steht früh auf und geht sehr, sehr spät schlafen.« »Genau wie mein Meister«, sagte Tawnos und schenkte den Wein ein. »Ich habe mir angewöhnt, zwischendurch kleine Nickerchen zu machen.« Ashnod nahm den Becher entgegen. »Das kann ich nicht. Mir hilft der starke Sanduq, der Kaffee, den man in der Wüste trinkt. Eine Tasse reicht, und schon kann ich vierundzwanzig Stunden lang wach bleiben. Dann falle ich vor Erschöpfung um.« Tawnos rieb sich den Nacken. Er hatte nach dem Essen nicht weniger als vier Tassen getrunken. Ashnod hob ihren Becher. »Ein Trinkspruch! Auf unsere Meister, die beiden Verrückten!« Tawnos blinzelte verwirrt. »Verrückt?« Sie senkte die Hand ein wenig. »Dann eben auf Mishra und Urza.« »Auf die genialen Brüder!« erwiderte Tawnos. Beide 317
tranken einen Schluck. Tawnos hatte sich noch nie etwas aus Wein gemacht, aber nach den stark gewürzten Speisen und den ungewohnten Getränken schmeckte er wunderbar. Ashnod ließ sich ihm gegenüber nieder. »Du hältst unsere Meister also nicht für verrückt?« »Nun, sie sind genial«, antwortete er. »Aber verrückt?« »Dazwischen liegt eine hauchdünne Grenze«, stellte Ashnod fest. »Könnte man sagen, daß sie von den Göttern des Wahnsinns geleitet werden? Wie oft hat Urza dir schon etwas vollkommen Unmögliches vorgeschlagen, das sich hinterher als machbar erwies?« Tawnos zuckte mit den Achseln. »Ich gehe immer davon aus, daß er einen Grund für seine Vorschläge hat, auch wenn er ihn mir nicht verrät.« »Hach!« rief Ashnod. »Und ich dachte, alle Gehilfen beklagen sich über ihre Meister! Wie ich hörte, warst du einst Spielzeugmacher. Hattest du an deinem damaligen Meister auch nichts auszusetzen?« »Nun, mein Meister in Jorilin war gleichzeitig mein Onkel, deshalb habe ich nie...« Er verstummte, da Ashnod lauthals lachte. Sie mußte ihm die Enttäuschung vom Gesicht abgelesen haben, weil sie sich sofort bemühte, wieder ernst zu werden. »Du hörst dich wie ein Entenküken an, das immer brav hinter der Mutter herwatschelt. Wie niedlich! Also, dein erster Meister war ein Verwandter, und dein zweiter Meister ist...?« Tawnos hob die Schultern. »Er ist Urza. Er weiß mehr als jeder andere, den ich kenne.« Ashnod sah ihn an und sagte mit leiser Stimme: »Ihr Götter! Du meinst es wirklich ernst, nicht wahr?« Wieder hob er die Schultern. »Sicher. Warum sollte man einen Meister haben, der weniger weiß als der Gehilfe?« 318
»Aber du weißt doch auch Dinge, die er nicht weiß oder?« Sie hielt ihm den leeren Becher entgegen. »Sicher«, gab Tawnos zu und schenkte ihr Wein ein. iDanach füllte er seinen eigenen Becher. »Aber über die wirklich wichtigen Dinge weiß er mehr als ich.« »Und aus diesem Grund bleiben wir bei ihnen? Weil sie mehr wissen als wir?« »Teilweise«, meinte Tawnos nachdenklich. »Nur teilweise. Urza verlangt sehr viel, ist übergenau, und man kann ihm manchmal kaum folgen, wenn er sich eine Idee in den Kopf gesetzt hat.« »Mishra ist genauso«, sagte Ashnod. »Es kommt mir vor, als müsse er sich zurückhalten, wenn er etwas erklärt, und wähle besonders einfache Worte und Begriffe, damit man versteht, was er sagen will. Außerdem erwartet er, daß ich ihm nacheifere.« Tawnos lachte. »Urza auch! Hast du das Windzimmer neben dem Vogelsaal gesehen? Er hat es erbauen lassen, damit die Studenten feststellen können, daß ihre Änderungen an den Ornithoptern nicht funktionieren. So erspart er sich die Arbeit, ihnen die Fehler erklären zu müssen, und sie brauchen nicht jedesmal ein vollkommen neues, flugtüchtiges Modell anzufertigen.« »Oder ein fluguntüchtiges«, ergänzte Ashnod, und wieder mußte Tawnos lachen. »Wie ich dir bereits beim Festmahl erzählt habe, beneidet Mishra seinen Bruder um das alles hier. Ein riesiger Palast. Eine eigene Schule. Reichlich Material.« Sie zögerte und fuhr dann fort: »Eine schöne Frau.« »Es gibt Dinge, um die Urza seinen Bruder beneidet. Zum Beispiel um die Drachenmaschine.« »Tatsächlich?« Ashnod sah ihn über den Becherrand hinweg an. »Hat Urza das gesagt?« »Wenn es nicht um Maschinen geht, spricht Urza nur selten. Aber ich kenne seine Stimmungen, seine 319
Blicke, verstehe, wovon er redet und - was noch wichtiger ist - wovon er nicht redet.« »Das gilt auch für Meister Mishra«, erklärte Ashnod. »Er redet viel, vermeidet aber gewisse Themen. Und ich weiß, daß er über das nachdenkt, was er nicht laut ausspricht. Er kommt mir vor wie ein Dschinn im Mittelpunkt eines Wirbelwindes.« »Genau! Urza denkt, Mishra habe mehr Freiheit. Urza glaubt, für alles die Verantwortung zu tragen, und die Wüste bietet Freiheit. - Was ist denn so witzig daran?« »Nichts«, sagte Ashnod und unterdrückte ein Kichern. »Es ist nur komisch, daß sich die Fallaji gerade in den eisernen Klauen eines trotzigen Halbwüchsigen befinden. Wenn du glaubst, die Wüste bedeute Freiheit, dann kennst du den Quadir nicht.« »Ich glaube, Urza würde am liebsten nur mit Artefakten arbeiten; das Wohl eines Landes liegt ihm weniger am Herzen.« »Auch das gilt für Mishra«, meinte Ashnod und hob den Becher zu einem neuen Trinkspruch. »Die Liebe zu Artefakten hält sie bei der Stange, und bei uns beiden ist es ähnlich. Es ist faszinierend, eine neue Maschine kennenzulernen.« »Ihrem Aufbau auf die Spur zu kommen«, fügte Tawnos hinzu. »Ihre innersten Geheimnisse zu enthüllen.« »Die Idee, die dahintersteckt, zu ergründen.« »Ihre Macht zu spüren.« »Den Sinn und Zweck kennenzulernen und ihre Fähigkeiten zu erweitern.« Wieder mußte Ashnod lachen, und diesmal war es ein zufriedenes Lachen. »Es gibt sehr wenige wie uns. Ich gehöre zu den wenigen, mit denen Mishra reden kann. Ich verstehe ihn.« »So geht es mir mit Urza«, erklärte Tawnos. Und setzte hinzu: »Und auch mit dir.« 320
»Ich werde jetzt nichts Gefühlvolles hinzufügen.« »Und ich gebe mir Mühe, deinem Beispiel zu folgen.« »Alles ist furchtbar schwierig«, meinte Ashnod. »Ich meine, ich fühle mich meilenweit von den gewöhnlichen Menschen entfernt. Erstens: Bei den Fallaji ist eine mächtige Frau die Ausnahme und nicht die Regel. Zweitens: Als intelligenter Mensch fühlt man sich unter den Fallaji so...« »... allein«, schlug Tawnos vor. »Genau! Schenke mir noch ein bißchen Wein nach.« , »Wir sollten uns bald die Maschine ansehen.« »Wir haben Zeit. Alle Zeit der Welt.« Tawnos füllte ihren Becher und sagte: »Vor ein paar Monaten bin ich nach Jorilin gereist und habe meinen Onkeln und Tanten von meinem neuen Leben erzählt. Sie waren sehr höflich und aufmerksam, aber ich glaube, sie haben gar nicht verstanden, was ich jetzt mache.« »Wenigstens haben sie interessiert zugehört. Ich ernte bei den Suwwardi nur böse Blicke. In Zegon war es genauso. Anfangs glaubte ich, es läge daran, daß ich eine Frau bin. Aber der Grund ist: Ich bin einfach klüger als andere Menschen. Intelligenz kann einsam machen. Klugheit trennt dich vom Rest der Bevölkerung.« »Ja, es ist nicht einfach, anders zu sein«, pflichtete Tawnos bei. »Und die andauernde Arbeit hält dich von deiner Familie fern«, fuhr sie fort. »Von deinen Freunden. Von deiner Frau.« »Ich, äh... ich bin nicht verheiratet«, erklärte er. »Ich habe dich überhaupt nicht gemeint. Allerdings wette ich, daß du nicht einmal eine feste Freundin hast.« »Nun, ich war sehr beschäftigt«, verteidigte er sich. »Ich gebe auf«, sagte Ashnod und schlug mit der 321
Hand auf den Tisch. »Genau wie die Entenmutter Urza. Du arbeitest für den mächtigsten Mann Yotias, und die Mädchen laufen dir nicht in Scharen nach?« Tawnos zuckte mit den Achseln. »Wie ist es bei dir?« »Bei den Fallaji? Ha!« Wieder schlug sie auf den Tisch. »Ich glaube, die haben ein richtiges Zuchtprogramm, um solche Idioten hervorzubringen!« »Was ist mit Mishra?« Ihre Miene verdüsterte sich. »Mishra?« Ashnods Augen glänzten feucht. »Ja, anfangs. Aber eigentlich war es keine Liebesbeziehung, sondern eher ein Machtkampf. Nach dem Motto: Wer beherrscht wen? Es wurde schnell langweilig, und schon bald dachte er nur noch an seine kostbaren Maschinen. Ich mag es nicht, hinter Maschinen zurückstehen zu müssen.« Tawnos nickte. Also hatten die beiden ein Verhältnis gehabt, aber es war anscheinend vorbei. Beinahe wäre ihm die Bedeutung eines ihrer Worte entgangen. »Maschinen?« wiederholte er. »Wie bitte?« Ashnod blinzelte verwirrt. »Du sagtest, er hätte nur noch an seine kostbaren Maschinen gedacht. In der Mehrzahl.« Sie riß sich zusammen. »Einmal an die Drachenmaschine. Dann an den großen Wagen, vor den man sie gespannt hat. Die Fallaji nennen ihn >Kriegsmaschine< aber Mishra befahl ihnen, dieses Wort bei den Verhandlungen zu vermeiden. Es könnte die Yotianer verunsichern.« »Aha.« Tawnos merkte sich diese Neuigkeit. Vielleicht wäre auch eine Besichtigung des Wagens angebracht. Er beschloß, noch ein wenig weiterzuforschen. Offensichtlich würden sie den Drachen erst anschauen, wenn der Weinkrug geleert war - und wer weiß, ob es dann noch möglich war. »Liegt es in Mishras Macht, ein Friedensabkommen zu schließen?« 322
»Ja, falls er das möchte. Der Quadir wird jammern und schimpfen, aber viele Scheiche stehen hinter Mishra. Die übrigen Anführer wollen es entweder so oder so. Entweder einen ruhmreichen Krieg oder einen richtigen Frieden, ohne irgendwelche Zwischenlösungen. In der Beziehung sind sie wie Maschinen. Leicht zu lenken und zu befehligen.« »Und was möchte Mishra wirklich?« fragte Tawnos. »Ich meine, Urza könnte ihm beim Aufbau einer eigenen Akademie helfen, wenn es das ist.« Ashnod schüttelte den Kopf. »Die Fallaji nehmen keine Hilfe, keine Geschenke oder Almosen an. Sie nehmen sich, was sie wollen, sei es durch Handel oder Raub, durch Gewalt oder Redegewandtheit oder was auch immer. Der alte König hat das gewußt, aber ich glaube, Königin Kayla hat davon keine Ahnung.« Tawnos runzelte die Stirn. »Mishra ist kein Fallaji. Er ist Argivianer, genau wie Urza.« Ashnod erwiderte: »Mishra lebt schon lange bei den Fallaji und lenkt ihre Geschicke. Er versteht sie besser, als Urza die Yotianer versteht. Insgeheim beneidet Mishra seinen Bruder und will das haben, was jenem gehört.« Tawnos dachte an sein Gespräch mit Kayla. »Den Stein.« Ashnod nickte. »Den Stein. Mishra hat mir erzählt, daß er einst einen großen Kristall besaß, der durch die Schuld seines Bruders in zwei Hälften zersprang. Hat Urza dir auch davon berichtet?« Tawnos suchte nach Worten, brachte aber keinen Tön hervor. Schließlich krächzte er: »Wir haben nie darüber gesprochen, und ich habe nie nachgefragt.« »Kleines Entenküken!« fauchte Ashnod. »Mishra ist auf das gute Leben, die Akademie und die schöne Frau seines Bruders eifersüchtig. Das ist wahr. Aber am meisten wünscht er sich den Stein.« 323
»Ist er es wert, dafür die Schwertsümpfe aufzug ben?« »Nun, er ist es wert, über die Aufgabe der Schwertsümpfe zu reden!« sagte Ashnod lachend. »Die Falla bekommen, was sie begehren, mit Gewalt oder Schmeichelei. Und wenn ich mich nicht irre, bahnt sich bereits ein Erfolg an.« Sofort wurde ihr bewußt, daß sie zuviel ausgeplaudert hatte, und erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund. Nach einer Weile sagte sie: »Darüber sollte ich nicht reden. Diplomatische Geheimnisse und so weiter. Jetzt wollen wir uns die Drachenmaschine ansehen.« Tawnos erhob sich und dachte fieberhaft über die Ereignisse des Tages nach. Das Zusammentreffen mit Kayla vor der Tür zum Vogelsaal. Die Tatsache, daß sie sich während des Festmahls rührend um Urza kümmerte, obwohl sie kurz zuvor erbittert gestritten hatten. Die Tatsache, daß sie darauf beharrte, er solle Urza auf keinen Fall stören. Sie hatte gesagt, sie beide hätten andere Orte aufzusuchen. Er habe nicht >nein< gesagt, hatte sie erklärt. »Ich muß gehen«, sagte Tawnos. Ashnod erhob sich. »Wir haben die ganze Nacht vor uns.« »Ich glaube, ich muß mit Meister Urza reden.« »Es ist schon spät, auch für Urza. Vielleicht sollte ich dich begleiten.« »Hoffentlich ist es noch nicht zu spät«, murmelte Tawnos und blieb an der Tür stehen. »Tut mir leid, aber du mußt hierbleiben. Es war ein interessanter Abend, und ich hoffe, ich irre mich mit dem, was ich vermute, denn ich würde mich gerne später mit dir weiter unterhalten.« Dann war er fort, und Ashnod sah die Speerspitzen der Wachen, als sich die Tür hinter ihm schloß. Sie 324
schüttelte den Kopf und umklammerte den Becher fester. Im Gang hörte sie Tawnos rufen, man möge sofort Meister Mishra suchen. Zuviel gesagt, dachte sie. Und zu früh. Wieder lüttelte sie den Kopf und trank den Rest des Weines. Dann holte sie ihre Schmuckschatulle und nahm ein paar Ohrringe heraus. Sie entfernte die schimmernden Kristalle aus den kunstvollen Fassungen und legte den schwarzen Stab auf den Tisch. Mit langsamen, aber geübten Bewegungen setzte sie die Juwelen in die leeAugenhöhlen des Schädels ein. Tawnos mußte Urza wachrütteln. Der Wissenschafttler wachte nicht auf, als sein Gehilfe in den Vögelsaal stürmte und ihn mehrmals beim Namen rief. Am Boden lag ein umgefallener Krug, aus dem ein dünnes Rinnsal des starken Weines geflossen war. Zwei leere Becher standen neben zahlreichen Papieren, die den Schreibtisch bedeckten. Urza lag zusammengerollt auf seiner Liege unter einer Decke und schnarchte leise. Tawnos schüttelte ihn mit aller Kraft, und endlich erwachte der Wissenschaftler. Er richtete sich auf und blinzelte verschlafen. »Tawnos? Was ist los? Ist ein Feuer ausgebrochen? Was ist passiert?« Urza war nur spärlich bekleidet, und der Rest seiner Gewänder lag zusammengeknüllt am Boden. Tawnos sah ihn an und sagte: »Herr, Euer Stein.« Instinktiv fuhr Urzas Hand an die Brust, wo der Stein üblicherweise hing. Sie faßte ins Leere. Hastig tastete er im Nacken nach der Kette, aber sie war nicht mehr da. »Der Stein!« rief er, und ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen. »Wo ist er?« Sofort suchte er unter der Decke nach dem kostbaren Kristall. »Meister, ich bin Eurer Frau begegnet, als sie den Saal verließ...« 325
»Kayla?« Urza sah auf. Dann verfinsterte sich seine Miene. »Kayla!« wiederholte er mit eisiger Stimme. Hastig ordnete er seine Kleidung und griff nach dem prunkvollen Umhang, den er beim Bankett getragen hatte. In der Eile fand er die Verschlüsse nicht schnell genug und schleuderte das Kleidungsstück fluchend quer durch den Raum. Dann rannte er zur Tür brüllte Tawnos an, er solle ihm unverzüglich folgen. Tawnos war größer als Urza und hätte den Wissenschaftler mit Leichtigkeit einholen müssen. Aber Urza bewegte sich, als sei er ein fleischgewordener Ornithopter, und hastete mit übermenschlicher Geschwindigkeit durch die leeren Gänge und an den Wachen vorbei. Die Wächter, die am Eingang zum Gästeflügel standen, hielten Tawnos an und teilten ihm mit, Mishra sei nicht in seinen Gemächern. Sie hatten den ganzen Flügel vergeblich abgesucht, fügten sie hinzu. Wünschte Tawnos, daß man den gesamten Palast absperre und einen Boten zum Fallajilager schicke, damit man herausfände, ob Mishra sich dort aufhielt Tawnos stimmte hastig zu, doch als er sich nach dem kurzen Wortwechsel umdrehte, war Urza bereits verschwunden. Gebrüll drang aus den königlichen Gemächern, aber diesmal handelte es sich nur um männliche Stimmen. Außerdem stand die Tür auf, die halb aus den Angeln gerissen worden war. Tawnos vermutete, daß ihr jemand einen heftigen Tritt versetzt hatte, anstatt den Knauf zu drehen. Aus dem dahinterliegenden Raum fiel ein grelles, wechselhaftes Licht. Tawnos blieb auf der Schwelle stehen und hob sich schützend die Hand vor die Augen, um besser sehen zu können. Das Licht ging von Urzas und Mishras Steinen aus, die die Pole eines Magneten bildeten, während das Licht die Stelle von Metall einnahm und beide miteinander verband. Urza hielt seinen Kristall 326
der Hand und brüllte seinen Bruder an. Mishra schrie unverständliche Worte als Entgegnung, und is sonst so charmante Lächeln des Fallajiabgesandhatte nun einer grimmigen Fratze Platz gemacht, Durch das laute Dröhnen der beiden Steine blieben Beschimpfungen der Männer unverständlich. Zwilen ihnen, eng an die gegenüberliegende Wand gepreßt, stand die Königin. Tawnos fiel auf, daß sich nicht nur Urza in größter Eile angekleidet hatte. Auch Mishras Gewänder waren unordentlich und zerdrückt, und Kayla hatte nur ein Laken um den Körper gewickelt, das sie vorne fest zusammenhielt. Als sie Tawnos erblickte, malte sich Erleichterung auf ihren Zügen ab. Sie sagte etwas, das der Gehilfe nicht verstand, und trat einen Schritt auf ihn zu. Tawnos hob abwehrend die Hände und rief ihr zu, nicht weiterzugehen. Was auch immer sich zwischen den Steinen und den Brüdern abspielte - hier waren Kräfte am Werk, die er nicht kannte und denen er nicht traute. Vielleicht war Tawnos' Schrei schuld, vielleicht auch seine fuchtelnden Hände. Vielleicht auch der Anblick Kaylas, die beinahe in die Lichtstrahlen trat. Vielleicht verspürte Urza auch nur einen Moment der Schwäche. Urza ließ seinen Stein fallen. Nur für eine Sekunde, dann hielt er ihn wieder fest umklammert. Aber er ließ ihn fallen, und das reichte aus. Ein leuchtendbunter Regenbogen schoß aus Mishras Kristall hervor und traf Urza. Der drahtige Wissenschaftler wurde emporgehoben und quer durch den Raum gegen einen Waffenschrank geschleudert. Die Türen des Schrankes zersplitterten unter seinem Gewicht. Das Licht von Mishras Kristall erlosch, und plötzlich wirkte der Raum finster, obwohl zahlreiche Kerzen 327
brannten. Tawnos blinzelte verwirrt und sah zu Urza hinüber. Da prallte eine schwere, untersetzte Gestalt gegen ihn und drängte sich an ihm vorbei. Später wurde ihm bewußt, daß es Mishra gewesen mußte. Weinend kniete Kayla neben ihrem Gemahl. Urza hatte die Augen geöffnet, aber es war nur das Weiße zu sehen, und sein Atem ging stoßweise und kaum vernehmbar. Er hielt den Machtstein fest umklammerte und ein buntes Farbengemisch strömte zwischen seinen Fingern hervor. »Die Tempelamulette!« rief Tawnos. »Jene, die Urza schuf! Habt Ihr eines davon hier? Vielleicht können wir; damit...« Kayla nickte, aber es blieb ihnen keine Zeit, etwas zu unternehmen. Wieder summte der Stein in Urzas Hand, das Leuchten nahm zu, und Tawnos glaubte, die Farben eher zu spüren als zu sehen. Ganz langsam hob sich Urzas freie Hand, legte sich um den Stein, und schon atmete er gleichmäßiger. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, sahen sie aus wie immer. Nein, nicht wie immer, stellte Tawnos fest. Sie sprühten förmlich. Sie sprühten vor unbeschreiblicher Wut. Urza erhob sich. Kayla wollte ihn zurückhalten und flehte ihn an, er möge bis zum Eintreffen der Geweihten ausruhen, aber er wehrte sie mit dem Arm ab. Seine Bewegung war recht heftig, und die Königin taumelte und stürzte hintenüber zu Boden. Hastig erhob sich auch Tawnos und legte Urza die Hand auf die Schulter. Der Wissenschaftler schüttelte sie unwirsch ab. »Wo ist er?« schrie er. Seine Haare waren völlig zerzaust, und er sah aus wie ein Verrückter. Tawnos sagte kein Wort, sah aber vielsagend zur Tür hinüber. Sofort setzte sich Urza in Bewegung. Kayla rief ihm nach, aber er beachtete sie nicht. 328
Die Königin weinte bitterlich, und ihre Tränen durchnäßten das Laken, das ihren Körper einhüllte. »Ich habe alles versucht«, schluchzte sie. »Ich wollte das Beste für mein Land, Tawnos.« Tawnos wußte keine Antwort darauf, aber jetzt drang Geschrei aus dem Gang. Er half der Königin auf die Beine. »Kleidet Euch an, und ruft die Garde«, sagte er und eilte zur Tür hinaus. Im Gästeflügel herrschte Aufruhr, und der Gehilfe befürchtete, Urza habe seinen Bruder zu schnell entdeckt. Das Geschrei nahm zu, und ein unheimlicher Lichtschein drang aus der großen Halle. Tawnos rannte los und hoffte, einen Mord verhindern zu können. Statt Urza und Mishra erblickte er Ashnod. Sie schwang den Stab, an dem sie vor einigen Stunden gearbeitet hatte. Die Augen des Schädels glühten durch die Kraft der Kristalle, und kleine Blitze zuckten entlang der Drähte, die rings um den Schädel hingen. Etliche Wächter lagen bereits am Boden. Die meisten hielten sich die Köpfe und stöhnten jämmerlich. Ashnod schwang den Stab hin und her, und der leuchtende Schädel hinterließ eine bunte Spur in der Luft. Sie war unverletzt, aber schweißüberströmt. Der Wachoffizier bereitete seine verbliebenen Leute auf einen geordneten Angriff vor, aber Tawnos legte ihm die Hand auf die Schulter und gab ihm zu verstehen, er wolle mit der Frau sprechen. Dann trat er mit erhobenen Händen vor sie hin. Ashnod hielt inne und schrie: »Ich möchte gehen! Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?« Tawnos versuchte zu lächeln, obwohl er wußte, daß er genauso hinterlistig aussah, wie er sich fühlte. »Leider hat es einen kleinen Zwischenfall gegeben«, sagte er. »Ich fürchte, du mußt eine Weile hierbleiben.« »Das glaube ich kaum«, entgegnete sie und hob den Stab. Goldenes Licht schoß aus dem Schädel. 329
Der Strahl traf Tawnos in den Magen, und ein furchtbarer Schmerz durchzuckte ihn. Sein Magen drehte sich, und Übelkeit stieg in ihm auf. Es gelang ihm, auf den Beinen zu bleiben, und haltsuchend krallte er die Hände in seinen Umhang. Gab es eine Möglichkeit, die Kraft des Stabes zu brechen? Seine Finger berührten die hölzerne Schlange in der Tasche. Hastig zog er sie heraus und drückte auf den kleinen Hebel am Schwanzende. Inzwischen drehte sich die Welt vor seinen Augen, aber er wußte noch, wo Ashnod stand, und schleuderte das Spielzeug nach ihr. Die hölzerne Schlange flog durch die Luft, entrollte sich klappernd und stieß ein böses Zischen aus. Ashnod schrie auf und hob den Stab ein Stück höher, um den neuen Angreifer abzuwehren. In diesem Augenblick, als ihre Aufmerksamkeit abgelenkt war, sprang Tawnos vor. Er schlang beide Arme um die Frau und riß sie zu Boden. Der Stab flog zu einer Seite, die Schlange zur anderen. Ashnod lag auf dem Rücken, und schon waren die Wachen über ihr, die Speerspitzen auf die rothaarige Frau gerichtet. Tawnos beugte sich über sie, nach Atem ringend. Ashnod hob resignierend die leeren Hände. »Anscheinend hat das Entenküken scharfe Zähne«, bemerkte sie und erhob sich langsam. »Tagtäglich erlebt man die ungewöhnlichsten Überraschungen.«
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KAPITEL 15
Parade und Attacke Tawnos spürte, wie das gesamte Gewicht des yotiani-
schen Reiches auf seinen Schultern lastete, und dieses Gefühl benagte ihm überhaupt nicht. Vier Monate waren seit jener schicksalhaften Nacht vergangen, ohne daß man ein Lebenszeichen von Mishra erhalten hatte. Er war verschwunden, und mit ihm die Fallaji, die Drachenmaschine und auch der große Wagen. Tawnos zweifelte nicht daran, daß die Fallaji ihre Abreise sorgfältig geplant hatten. Berittene Späher suchten noch in der Nacht das Flußufer in beide Richtungen ab, ohne auch nur die geringste Spur zu entdecken. Urza mußte bis Sonnenaufgang warten, ehe er die Ornithopter ausschicken konnte. Zur selben Zeit entdeckten die Späher, daß eine flußaufwärts verkehrende Fähre am anderen Ufer versenkt worden war. Die Vermutung lag nahe, daß Mishra mit seinen Maschinen nach Westen geflohen war, auf die Grenze des Fallajireiches zu. Dann traf eine Botschaft aus dem Osten ein, die besagte, daß ein Bauer zahlreiche Fallajihelme und Gewänder gefunden hatte. Also hatte sich Mishra anscheinend in die entgegengesetzte Richtung abgesetzt, um im Khergebirge Schutz zu suchen. Kurz darauf traf ein Reiter aus den Schwertsümpfen mit der Nachricht ein, eine große Metallkreatur sei gesichtet worden, die sich nur des Nachts fortbewegte und in Richtung Norden marschierte. 331
Bei jedem neuen Gerücht wurden Truppen in die eine oder andere Richtung geschickt. Was aber noch schlimmer war: Urza schloß sich einer Ornithoptertruppe an und reiste fortwährend von einem Ort zum anderen. Seit vier Monaten war er nicht mehr in Kroog gewesen und hatte seiner Frau auch keine Botschaft zukommen lassen. Tawnos erhielt laufend Befehle über Änderungen und Verbesserungen der Ornithopter. Außerdem beauftragte Urza ihn, die Herstellung der Metallsoldaten, die im Volksmund >Urzas Rächer< hießen, voranzutreiben. Sämtliche Botschaften befaßten sich nur mit technischen Angaben, ohne sich jemals nach seinem Befinden, dem Wohlergehen der Königin oder der Lage in der Hauptstadt zu erkundigen. Letztere verschlechterte sich laufend. Das Gerücht ging um, der böse Bruder des Wissenschaftlers verberge sich bei den Fallajihändlem in Kroog und hecke einen Umsturz der Regierung aus. Bei den daraus entstandenen Unruhen wurden siebzehn Fallaji getötet, darunter einer der Musiker, die beim Bankett aufgespielt hatten. Alle Fallaji, die Angehörige in der Wüste hatten, flohen aus Kroog und anderen yotianischen Städten. So entstand ein neues Gerücht: Mishra hätte das erste Gerücht in Umlauf gebracht, damit seine Männer und er in der allgemeinen Verwirrung entkommen konnten. Die gewalttätigen Unruhen überforderten die Tempel, da sie sich anstatt der Schüler und Ratsuchenden plötzlich Verwundeter und Heimatloser annehmen mußten. Die Priester riefen nach weiteren Heilamuletten, aber Urza war nicht zur Stelle, um sie anzufertigen. Tawnos hörte, das Volk zweifle an der Regierung. Wenn Urza so klug war, sagten die Leute, warum schaffte er es dann nicht, den eigenen Bruder im Land der eigenen Frau zu finden? Entweder war Urza nicht 332
so klug, wie man bisher angenommen hatte, oder Mishra war noch klüger - was wiederum äußerst beunruhigend war. Inzwischen wurde in den Tavernen und Gasthöfen der Stadt fortwährend über angebliche Überfälle auf die Schwertsümpfe und die an den Mardun grenzenden Gebiete geredet. Viele Kaufleute erwogen, sich für die Dauer der Feindseligkeiten in die Küstenprovinzen zurückzuziehen. In der Tat herrschte große Verwirrung unter den einfachen Bürgern der Stadt, was den Ausgang der Verhandlungen betraf. Allgemein nahm man an, Urza und Mishra hätten sich geprügelt, nur der Grund blieb ein Geheimnis. Manche sagten, es sei um die Schwertsümpfe gegangen. Eine andere Geschichte lautete, Urza habe Mishra beschuldigt, seine Ideen gestohlen und danach die Drachenmaschine gebaut zu haben. Nein, es war genau andersherum, widersprachen viele Leute. Urza hätte den Plan für die Ornithopter von seinem Bruder gestohlen. Hin und wieder fielen Bemerkungen über Kayla, aber sie stammten von zweifelhaften Individuen, die sich in dunklen Kneipen herumtrieben. Niemand schenkte ihnen Gehör. Wenigstens hoffte Tawnos es. Die Verwirrung, die in der Stadt herrschte, war auch im Palast zu spüren. Der Hauptmann der Garde war außer sich, denn viele seiner Befehle wurden oftmals von Urza, der an der Front umherflog, über den Haufen geworfen. Der Seneschall, der die Fallaji begeistert willkommen geheißen hatte, versuchte verzweifelt, allen zu beweisen, daß er ebenso unerbittlich wie der alte König sein konnte. Die Königin blieb in ihren Gemächern und war nur für wenige Menschen zu sprechen. Ihre Zofe schirmte sie gegen jeden unerwünschten Besucher ab. Sie empfing den Hauptmann, den Seneschall und Tawnos sonst niemanden. Zur Verwirrung des Geheimen Rates 333
lauteten ihre Befehle: »Macht, was ihr für richtig haltet.« Oder: »Was würde Urza tun?« Um alles noch schlimmer zu machen, hatte die Zofe Tawnos (durch unzählige unmißverständliche Andeutungen und Freudenausbrüche) mitgeteilt, Majestät sei >gesegneten Leibes<. Als Tawnos sich kurz darauf mit Kayla unterhielt, fiel ihm auf, wie erschöpft und müde sie aussah. Er schickte Urza eine Botschaft und schilderte den Zustand der Königin, erhielt aber als Antwort nur eine Liste der Änderungen, die an den >Rächern< vorgenommen werden sollten. Tawnos begriff Urzas Verhalten nicht, bis er zu rechnen begann. Wenn man die Nebelmondphasen und die Zeit der Schwangerschaft verglich, mußte die Königin irgendwann in der Woche empfangen haben, in der die Fallaji in Kroog weilten. Wahrscheinlich gegen Ende jener Woche, ehe Urza die Stadt verließ. Urza verfolgte Mishra. Tawnos mochte nicht daran denken, was das verhieß, aber er zweifelte keinen Augenblick, daß Urza sofort begriffen hatte, was geschehen war. Außerdem lag ihm die Sache mit Ashnod im Magen, die noch immer als Geisel im Gästeflügel des Palastes saß. Sämtliche Versuche, mit den Fallaji über ihre Freilassung zu verhandeln, waren gescheitert. Viele Leute forderten ihre Hinrichtung für Verbrechen, die ebenso undurchsichtig waren wie die Gerüchte über den Streit zwischen Urza und Mishra. Der Stab mit den geheimnisvollen Kräften hatte Tawnos überrascht, und die Wachen hatten alles aus ihrem Raum entfernt, mit dem sie unter Umständen eine Waffe hätte herstellen können. Tawnos behielt den Stab für sich. Es handelte sich um eine außergewöhnliche Erfindung, und er bat die Königin um Erlaubnis, mit Ashnod darüber zu sprechen. So jedenfalls lautete die Ausrede, die er Kayla gegenüber angab. 334
»Woher hast du das Wissen, um einen solchen Stab zu bauen?« fragte er einmal. »Aus einem alten Buch? Von einem Lehrer? Von einem Wanderer aus fernen Gefilden?« Ashnod saß auf der Fensterbank, und das rote Haar leuchtete in der Morgensonne. Sie schwieg. »Es wäre besser, wenn du sprechen würdest«, sagte Tawnos. »Schweigen wird dir auch nicht weiterhelfen.« Ashnod sah ihn aufmerksam an. Dann schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. »Ich weiß einen guten Witz. Willst du ihn hören?« Er schaute sie verwirrt an. »Die Königin und die Zofe unterhalten sich. Die Zofe sagt: >Man kann über diesen Mishra sagen, was man will, aber eines muß man ihm lassen: Er weiß sich gut anzuziehen< Daraufhin seufzt die Königin: >O ja, und noch dazu geht es bei ihm sehr schnell< Na, wie gefällt dir das?« »Das ist nicht witzig!« fauchte Tawnos. »Weißt du, daß die Tempelinquisitoren nur darauf warten, dir deine Geheimnisse zu entlocken?« »Aber du hältst sie zurück«, sagte Ashnod und verließ ihren Sitzplatz. »Und warum, Entenküken?« Tawnos war wütend, bemühte sich aber um eine ruhige Antwort. »Weil sie dir... Schaden zufügen würden. So könnte alles Wissen, über das du verfügst, verlorengehen.« »Vielleicht würde ich meine Geheimnisse eher mit ins Grab nehmen, als Meister Mishra zu verraten«, seufzte sie. »Du bist so naiv und so freundlich. Kein Wunder, daß du der Liebling der Königin bist.« »Was weißt du schon...«, begann Tawnos zornig. Ashnod winkte ab. »Hier gibt es nicht viel zu tun, also höre ich zu: den Wächtern, den Dienerinnen und den Menschen, die am Fenster vorübergehen. Ich 335
glaube, du kommst hierher, um mit jemandem zu reden. Entenmutter Urza ist nicht mehr da, und die arme Kayla überhäuft sich mit Vorwürfen. Deshalb kommst du zu mir.« Tawnos schwieg. Mit gesenktem Kopf starrte er auf den Tisch. Lange Zeit blieb es still im Raum. Schließlich setzte sich Ashnod auf einen Stuhl. »Ich finde, es hängt davon ab, wie man an die Sache herangeht«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme war ruhig, fast sprach sie im Plauderton. »Was meinst du damit?« Ashnod seufzte und schüttelte den Kopf. »Der Stab! Haben wir nicht eben darüber gesprochen?« »Unter anderem«, antwortete Tawnos mit beleidigter Miene. »Hör endlich auf damit!« fauchte ihn die Frau an, »Hör zu. Hast du schon mal in einem Schlachthaus gearbeitet?« Er blinzelte verwirrt. »Ich habe einst als Fischer gearbeitet.« »Das ist etwas ganz anderes. Fische sind dumme Kreaturen und kaum ihre Gräten wert. Wenn man Kadaver auseinandernimmt sieht man, wie die Gelenke miteinander verbunden sind, wo die Nerven liegen und wie sich die Haut abziehen läßt.« »Ich habe Tiere seziert«, erklärte Tawnos. »Zum Beispiel Vögel, um ihre Flügel als Grundlage für die Ornithopter zu nehmen.« »Aber sicher keinen, der beim Aufschlitzen noch gelebt hat, stimmt's?« erkundigte sich Ashnod. Tawnos schwieg, aber sein Gesicht verriet ihr die Antwort. Sie fuhr fort: »Wie gesagt, es hängt davon ab, wie man an die Sache herangeht. Du und Entenmutter Urza, ihr wollt euch nicht die Hände schmutzig machen, nicht in Blut, Haut, Muskeln, Nerven und anderem wühlen. Ihr seid nie auf den Gedanken gekommen, die Nerven 336
es Gegners mit einer Waffe wie meinem Stab zu verarmen.« »Ich weiß nicht, ob das ein erstrebenswertes Ziel ist«, entgegnete Tawnos. »Eine alberne Antwort!« fauchte Ashnod und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Wieder leuchtete das vertraute Feuer aus ihren Augen, das Feuer der Erfinder. »Du siehst dir den Flügel eines Vogels an und grübelst, wie man ihn nachbauen kann. Ich sehe mir den Flügel an und überlege, wie man ihn verwenden und wieder zum Leben erwecken könnte. Wenn ich Ornithopter bauen würde, hätte ich die Flügel der Greife genommen. Mit deren eigenem Blut hätte ich sie Leben gehalten und an den Gehäusen der Flugmaschinen befestigt.« »Das ist unmöglich!« rief Tawnos. »Mädchen haben Träume!« sagte Ashnod lächelnd. »Aber genauso haben sie es mit der Drachenmaschine gemacht. Ihre einstigen Schöpfer, meine ich. Sie haben nicht versucht, einen Drachen aus Metall und Drähten zu bauen, wie es die alten Thran getan hätten. Nein, sie nahmen einen Drachen und bauten daran herum, bis er schließlich zu einer Maschine wurde.« Die Augen der rothaarigen Frau funkelten noch immer. »Man darf sich nicht vor lebenden Wesen fürchten - und auch nicht vor toten. Lebendes Gewebe ist nichts als ein Baumaterial für uns. Wenn wir unsere rückständigen Vorstellungen endlich hinter uns lassen, werden wir irgendwann wahre Fortschritte machen!« Sie sah Tawnos an und zuckte mit den Schultern. »Wenigstens glaube ich das. Vielleicht ist Mishra anderer Meinung. Ich denke, die Antwort liegt im Inneren eines Körpers, nicht außerhalb.« Das Gespräch hatte eine beunruhigende Wendung 337
genommen. Um ein anderes Thema anzuschneiden, fragte Tawnos: »Was glaubst du, wo Mishra jetzt ist? Hat er ein bestimmtes Versteck?« Ashnod schüttelte den Kopf. »Er braucht sich nicht, zu verstecken. Er hat seinen Bruder genau da, wo er ihn haben wollte. Urza sucht ihn überall.« »Hat er das geplant?« Sie zögerte und schüttelte dann erneut den Kopf »Ich weiß von keinem besonderen Plan. Mishra ist vorausschauend, aber dann geht er plötzlich hin, läßt jegliche Vorsicht außer acht und fordert das Schicksal heraus.« »Wahnsinn«, murmelte Tawnos. »Oder göttliche Eingebung«, entgegnete Ashnod. »Er hat dich also nicht eingeweiht.« »Hätte er es getan, würde ich nicht in diesem prunkvollen Gemach sitzen, oder?« Ashnod deutete auf die kahlen Wände des Zimmers. »Nein. Er hat mir nichts verschwiegen, obwohl er sich sonst so geheimnisvoll gibt. Ich glaube, er hatte keinen genauen Plan, als er nach Kroog kam, aber ich weiß, daß er jetzt sehr zufrieden mit sich ist.« Tawnos seufzte. »Ich wünschte, ich könnte dir glauben.« Mit gerunzelter Stirn breitete sie die Arme aus. »Also gut, eines verrate ich dir ganz und gar kostenlos. Mishra läßt sich niemals eine günstige Gelegenheit ent-, gehen, und jetzt, wo Urza die ganze Zeit in der Gegend herumornithoptert, wird Mishra seinen Bruder verletzen, und zwar schlimm. Der Quadir ist so ein Hitzkopf, daß er einen Jihad erklärt, wenn bloß ein Suwwardihelm zu Boden fällt. Irgend etwas wird geschehen.« »Aber du weißt nicht, was oder wann«, setzte Tawnos hinzu. Ashnod zuckte mit den Achseln. »Noch etwas«, meinte sie. »Du hast dich sicher ge338
fragt, wie ich den Stab in den Palast gebracht habe, nicht wahr?« »Ich nehme an, unsere Wachen waren während der Festlichkeiten ein wenig nachlässig.« Ashnod lächelte; es war ein strahlendes Lächeln. »Der schwarze Stab aus Donnerholz, den ich am ersten Tag bei mir trug. Du hast ihn gesehen. Wer will einer Frau verwehren, ihren Wanderstab mitzunehmen? Den Schädel habe ich hineingeschmuggelt. Der Golddraht war in den Saum meines Mieders eingenäht, die Kraftsteine gehörten zum Schmuck in meiner Schatulle.« Tawnos starrte auf die Tischplatte. Er hatte, ohne es zu bemerken, den Zusammenbau der Waffe mitangesehen. »Hat dieses Geständnis einen besonderen Grund?« »Nur einen«, antwortete Ashnod. »Sämtliche Einzelteile wurden zum richtigen Zeitpunkt zusammengefügt. Und so wird es auch in Zukunft sein. Wenn alles zusammenpaßt und der richtige Zeitpunkt gekommen ist...« Sie breitete die Arme aus. »Peng!« Tawnos erhob sich. »Du hast mir reichlich Stoff zum Nachdenken geliefert.« Auch Ashnod stand auf. »Stimmt, und dazu gehört sicherlich die Frage: >Kann ich ihr vertrauen?< Die Antwort lautet: >Nein, aber du solltest wenigstens zuhören< Verstanden?« Tawnos nickte und wandte sich zum Gehen. Ashnod rief seinen Namen, und er drehte sich um. Sie beugte sich vor und küßte ihn sanft. Tawnos zuckte zusammen, als habe sie ihm einen Dolchstoß versetzt. Ashnod nahm keine Notiz von seiner Reaktion. »Ein Dankeschön. Danke, weil du mich nicht an die Tempel ausgeliefert hast. Und danke, weil du gekommen bist, um mit mir zu sprechen. Du bist ein liebes Entlein.« Sie lächelte. Draußen im Gang rieb sich Tawnos die Wange, die 339
Ashnod geküßt hatte. Die Haut fühlte sich dieser Stelle ganz warm an. »Urza«, murmelte der Gehilfe, »wo auch immer du dich aufhältst, du solltest bald zurückkehren.« Leutnant Sharaman genoß das Vorrecht, Urza Bericht erstatten zu dürfen. Gemeinsam mit einem anderen Piloten hatte er Mishras Kriegsmaschine inmitten eines riesigen Lagers entdeckt, drei Flugstunden in westlicher Richtung entfernt. Es war das erste Mal seit der Flucht, daß eine von Mishras Maschinen gesichtet wurde, und Sharaman war begeistert, endlich ein Ergebnis der langen Suche melden zu können. Die yotianischen Ornithopter hielten sich in ihrem dritten Quartier auf und drangen immer tiefer in feindliches Gebiet vor. Die Schwertsümpfe lagen wochenlange Fußmärsche entfernt hinter ihnen, und sämtliche Vorräte mußten eingeflogen werden. Sharaman sehnte sich nach der Bequemlichkeit des heimischen Stützpunktes: nach warmen Mahlzeiten, netten Frauen und - was er am schmerzlichsten entbehrte nach heißem Badewasser. Davon zu reden war jedoch der sicherste Weg, die Pilotenstellung zu verlieren, und Sharaman war das Fliegen wichtiger als die Aufmerksamkeit der schönsten Frauen Yotias. Urza saß in seinem Zelt, über einen notdürftig zusammengezimmerten Tisch gebeugt, auf dem eine sorgfältig gezeichnete Karte der Wüste lag. Neben der Jagd nach seinem Bruder nahm der Wissenschaftler sich die Zeit, eine genaue Aufzeichnung des Gebietes zu erstellen. Abends erstattete man ihm über Hügel, Berge, ausgetrocknete Flußbetten und seltsame Steinhügel Bericht, die der Prinzgemahl als >Thranorte< bezeichnete. Sharaman betrat das Zelt, schlug die Hacken zusammen und grüßte. 340
»Edler Herr, wir haben die Kriegsmaschine gesichtet.« Urza sah nicht einmal auf. »Ich höre.« »Ein großes Zeltlager. Die Kriegsmaschine steht im Mittelpunkt.« »Wo?« fauchte Urza. »Drei Flugstunden von hier, fünfzehn Grad im Südwesten.« Urza fuhr mit dem Finger auf der Karte in die angegebene Richtung. »Ja. Das ergibt einen Sinn. Wären wir so weitergezogen, wie ursprünglich geplant, hätten wir das Lager verfehlt. Anscheinend hat mein Bruder nicht mit so breit gefächerten Patrouillen gerechnet.« Er wandte sich an den Leutnant: »Hat man Euch gesehen?« »Nein«, antwortete Sharaman. »Allerdings verstecken sie sich vor uns.« »Stimmt«, räumte Urza ein. »Am besten gehen wir davon aus, man habe Euch entdeckt und breche bereits das Lager ab. Bereitet alle Ornithopter zum Flug vor. Nehmt alle Goblinbomben mit.« »Herr?« fragte Sharaman. »Habt Ihr ein Problem, Leutnant?« Der Wissenschaftler sah zum erstenmal auf. Sein Gesicht wirkte angespannt und erschöpft, und das war nicht allein dem unablässig wehenden Wüstenwind zuzuschreiben. »Es ist schon sehr spät, Herr«, sagte Sharaman mit sorgfältig bedachten Worten. »Ich weiß, wie spät es ist, Leutnant«, erklärte Urza mit eisiger Stimme. »Wenn wir bis morgen früh warten, ist Mishra fort.« »Ehe wir am Lager eintreffen, wird die Dämmerung hereinbrechen«, widersprach der Pilot. »Und es wird Mitternacht sein, wenn wir noch lange darüber diskutieren!« schrie Urza. »Beeilt Euch! Die 341
gesamte Gruppe muß in fünfzehn Minuten in der Luft sein!« Sharaman stand stramm, grüßte und zog sich zurück. Noch während er das Zelt verließ, brüllte er den anderen Piloten und dem Bodenpersonal Befehle zu. Sofort brach emsige Betriebsamkeit aus, und zahlreiche Studenten rannten zu den Ornithoptern hinüber, um eine letzte Überprüfung durchzuführen. Piloten, die schon einmal mit Urza geflogen waren, hatten sich bereits zu ihren Maschinen begeben, als Sharaman das Zelt des Wissenschaftlers betreten hatte. Der Leutnant war beunruhigt. Ein Abendangriff war gefährlich und bedeutete entweder eine Landung auf feindlichem Gebiet, um dort die Nacht zu verbringen, oder aber man mußte trotz unsicherer Nachtwinde und starker Abkühlung den Rückflug wagen. Nun, man durfte Urza nicht widersprechen; schon gar nicht, wenn es um seinen Bruder ging. Nach zehn Minuten waren sie bereit: fünf Ornithopter und Urzas eigene Maschine. Inzwischen besaßen alle die doppelt geschwungenen Flügel, wie Urza sie in Korlinda benutzt hatte. Noch immer war der Ornithopter des Wissenschaftlers besser ausgerüstet als die übrigen. Er verfügte über bedeutend längere Flügel und faßte doppelt so viele Goblinbomben. Letztere hatte man per Ornithopter aus der Heimat mitgenommen und mit feuchten Tüchern umwickelt, damit sie sich nicht erhitzten. Der Flug zum feindlichen Lager verlief ohne Zwischenfälle, aber Sharaman fielen die immer länger werdenden Schatten der Hügel und der Ornithopter auf. Als sie die letzten Erhebungen hinter sich ließen, lag das Lager vor ihnen. Die weißen Zelte leuchteten in der untergehenden Sonne. Im Mittelpunkt des Lagers stand die wie ein riesiger Goldbarren glänzende Kriegsmaschine Mishras. 342
Irgend etwas stimmte nicht, dachte Sharaman, aber was? Ihm blieb keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn Urza gab das Zeichen zum Angriff. Die sechs Ornithopter teilten sich in zwei Dreiergruppen auf. Eine wurde von Sharaman angeführt, die andere von Urza. Urzas Gruppe löste die Flügelsperren und stieg höher auf, während Sharamans Truppe einen Bogen beschrieb und dicht über das Lager hinwegsegelte. Sharaman stellte die Flügel auf Schwebeposition ein und griff nach den Goblinbomben. Ohne in die Tiefe zu sehen, ließ er eine nach der anderen über Bord fallen. Der Angriff sollte die Bewohner des Lagers ängstigen und kopflos machen. Auf Genauigkeit kam es erst an, wenn sie über dem großen Wagen schwebten. Am Boden ereignete sich nichts, und Sharaman blickte nach vorn. Der riesige Metallwagen, der ungefähr fünfzig Fuß hoch war, ragte vor ihm auf. Sie verloren schneller an Höhe, als er vermutet hatte, und Sharaman überlegte, ob er die Flügel betätigen sollte, damit sie weniger dicht über der Kriegsmaschine flogen. Dann eröffnete der Wagen das Feuer, und die Flughöhe war plötzlich Sharamans geringstes Problem. Als sich die Ornithopter näherten, erwachte der Wagen zum Leben. Fenster öffneten sich, und Metallplatten drehten sich, um Katapulte, große Armbrüste und andere Waffen, die Sharaman nie zuvor gesehen hatte, zu enthüllen. Aus der Mitte des Wagens ragte etwas auf, das wie ein Wasserwerfer aussah, nur spuckte es Feuer anstatt Wasser. Unmengen von Geschossen flogen durch die Luft: Steine, Pfeile und riesige Armbrustbolzen. Sharaman löste die Flügelsperre und warf den Motor an, in der Hoffnung, dem Hagel zu entgehen. Er konnte ausweichen; nur ein Bolzen, so groß wie ein kleiner Baum, 343
traf seinen rechten Flügel. Unglücklicherweise war die Spitze mit Widerhaken versehen und blieb im Flügel des Ornithopters stecken. Plötzlich war die Flugmaschine aufgespießt, wie der Schmetterling eines Sammlers. Das Gewicht des Bolzens zog den Ornithopter in die Tiefe. Sharaman konnte nichts dagegen tun. Der Leutnant fluchte und schlug auf den Nothebel, mit dem man den beschädigten Flügel abwerfen konnte. Der Hebel war beim Aufprall des Bolzens verbogen worden und rührte sich nicht. Sharaman sah sich nach einem Gegenstand um, mit dem er den Hebel lösen konnte, denn er verlor mit großer Schnelligkeit an Höhe. Dann fiel sein Blick auf die Kiste mit den Goblinbomben, und er fluchte noch lauter. Die Bomben explodierten, wenn sie den Boden berührten, und wenn sie noch an Bord waren, wenn der Ornithopter aufschlug ... Sharaman wandte sich von dem Nothebel ab, denn er ging davon aus, daß er auf jeden Fall abstürzen würde, war aber wild entschlossen, keinen Riesenkrater dabei zu hinterlassen. Er hob die ganze Kiste mit Goblinbomben noch und schob sie über die Brüstung der Pilotenkabine. Er flog schon sehr tief, und die Bomben explodierten fast augenblicklich. Eine dichte schwarz-rote Wolke erhob sich. Die Detonation riß den Ornithopter mit sich, und er stürzte krachend auf eines der sonnenbeschienenen Zelte. Sharaman nahm an, daß er nur für wenige Sekunden das Bewußtsein verloren hatte. Als er zu sich kam, stieg ihm ein brenzliger Geruch in die Nase. Beim Atmen verspürte er ein heftiges Stechen in der Brust, und sein linkes Bein war taub. Nach einer Weile wurde ihm klar, daß er unbedingt aus dem Bereich der Flammen gelangen mußte. 344
Vorsichtig hievte sich Sharaman aus den Trümmern des Ornithopters. Das linke Bein konnte er nicht belasten. Schnell zog er ein Messer aus der Jackentasche, um jeden Fallaji abzuwehren, der sich auf ihn stürzen wollte. Es waren keine Fallaji zu sehen. Das Zelt, auf dem er gelandet war, war leer. Das Feuer rührte von den brennende Goblinbomben her. Das war es, was ihn vorhin gestört hatte. Es war Abend, aber nirgendwo brannten Kochfeuer. Das Lager war längst verlassen worden. Sie haben die Kriegsmaschine zurückgelassen, dachte er. Er bewegte sich halb taumelnd, halb hüpfend auf eine zerbrochene Zeltstange zu, um sie als Krücke zu benutzen. Der Angriff hatte sich zu einer Katastrophe entwickelt. Von seinen beiden Gefährten war keine Spur zu entdecken, nur zwei Rauchfahnen zeigten an, wo ihre Goblinbomben explodiert waren. Er hoffte, die Piloten hatten genügend Geistesgegenwart bewiesen, um sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Schon bereitete sich die zweite Ornithoptergruppe, angeführt von Urzas weißer Maschine, auf den Angriff vor. Sharaman starrte die Kriegsmaschine an. Warum stürzte niemand heraus, um gegen ihn zu kämpfen? Waren sie alle zu beschäftigt? Dann wurde ihm bewußt, daß sich niemand mehr im Lager befand, auch nicht im Inneren des Wagens. Die Waffen feuerten automatisch und reagierten auf ein Gerät, das der Bruder des Wissenschaftlers erfunden hatte, um Eindringlinge zu erkennen und abzuwehren. Sie kämpften gegen Geister. Und sie starben in diesem Kampf. Sharaman versuchte, die Piloten der anderen Orni345
thopter auf sich aufmerksam zu machen, aber keiner beachtete ihn. Vielleicht hielten sie ihn auch für einen Fallaji. Sobald sich die Gruppe der Kriegsmaschine näherte, eröffnete sie das Feuer. Urza und ein zweiter Pilot rissen ihre Ornithopter rechtzeitig herum, aber der dritte Mann hatte weniger Glück. Er flog geradewegs in einen Pfeilhagel hinein. Die kleinen Geschosse vermochten den Ornithopter nicht sonderlich stark zu beschädigen, aber sie drangen in die Kabine ein und töteten den Piloten. Der Ornithopter geriet ins Trudeln, beschrieb eine Rechtskurve und stürzte unaufhaltsam in die Tiefe, wo er in einer grellen Stichflamme verschwand. Die beiden übriggebliebenen Ornithopter setzten ihren Weg fort, mit dem kleineren Fluggerät an der Spitze. Sharaman überlegte, weshalb die Fallaji den riesigen Wagen unbewacht zurückgelassen hatten, den Wagen, den Mishra als Zeichen ihrer Macht mit nach Kroog genommen hatte. Vielleicht war es eine Falle, dachte er. Nichts als eine gut angelegte, hinterlistige Falle. Der Leutnant schrie, aber schon warf der erste Pilot seine Ladung Goblinpulver über Bord. Die Bombe traf den großen Wagen... ...der in tausend Stücke zersprang. Der Ornithopter ging in Flammen auf und explodierte noch in der Luft. Nur Urzas Maschine flog weiter. Die weißen Flügel brannten und zogen dichte Rauchwolken hinter sich her. Der große Ornithopter hielt auf die riesigen Hinterräder des Wagens zu, der jetzt kaum mehr als eine Ruine war. Er prallte krachend dagegen und verschwand in einer gewaltigen Stichflamme, als die an Bord befindlichen Goblinbomben explodierten. Der Wagen schwankte hin und her und kippte schließlich zur Seite. Brennend lag er im Wüstensand. 346
Vor der Flammenwand tauchte eine Gestalt aus den rauchenden Trümmern auf. Sharaman humpelte auf sie zu. Er war unsicher, ob er sie begrüßen oder angreifen sollte. Es war Urza. Sein Umhang war angesengt und brannte an mehreren Stellen. Die rechte Gesichtshälfte war mit Schnittwunden übersät. Er hielt etwas an die Brust gedrückt, von dem ein helles Leuchten ausging. Urza hustete in den brennenden Ärmel des Gewandes, ehe er ihn fest gegen sein Bein schlug, um die Flammen zu ersticken. »Falle«, keuchte er, als Sharaman ihn erreichte. »Jawohl, Herr.« »Hätten... - er hustete heftig - »...hätten es besser wissen müssen.« Er schüttelte den Kopf. »Andere Überlebende?« Sharaman sah sich suchend um. »Ich glaube nicht.« »Dann sollten wir gehen«, meinte Urza. »Langer Weg bis zum Lager. Langer Weg bis nach Yotia.« »Herr?« »Was ist?« »Leider habe ich ein gebrochenes Bein«, sagte Sharaman. Fast war es ihm peinlich, davon zu reden. Urza verzog das Gesicht, als habe der Leutnant ein kleines Ärgernis erwähnt. Dann hellte sich seine Miene auf, und er sagte: »Natürlich. Das habt Ihr in der Tat. Ruht Euch aus. Ich werde ein paar Schienen anfertigen. Danach sehe ich mir die Wracks an. Vielleicht finde ich Vorräte oder gar ein Tempelamulett. Dann machen wir uns auf den Rückweg.« »Wie Ihr wünscht, Herr.« Urza wandte sich um und starrte das rauchende Wrack des Wagens an. Er schüttelte den Kopf, und Sharaman hörte ihn sagen: »Bruder, warum hast du das getan? Was bedeutet diese aufwendige und kostbare Falle?« 347
Das fragte sich Sharaman auch. Als sie Wochen später die yotianische Grenze erreichten, erhielten sie die Antwort auf diese Frage. Der Angriff erfolgte im Morgengrauen und kam völlig unerwartet. Als die Botschaft eintraf, daß Urzas Gruppe vermißt wurde, schickte Tawnos die in Kroog stationierten Ornithopter nach Norden, um an der Suche nach den Piloten teilzunehmen. Damit blieb nur eine einzige Maschine in der Hauptstadt zurück, die nur für Übungsflüge benutzt wurde. Später fragte sich Tawnos, ob das Fortschicken der Ornithopter als Zeichen für den Angriff aufgefaßt worden war, ob Urzas Verschwinden in der Wüste die Truppen des Quadirs angespornt hatte oder ob Mishra unter allen Umständen angegriffen hätte, egal was aus Urza geworden war. Kroog war auf drei Seiten von hohen Mauern umgeben, und auf der vierten bildete der Mardun die Grenze. Die Fallaji kamen über den breiten Fluß. Urza (ebenso wie Tawnos und der Rest der Bevölkerung) war der Meinung gewesen, daß ein Angriff auf die jenseits des Mardun gelegenen Gebiete eine ausreichende Warnung für die Hauptstadt bedeutete. Um ihrer Sicherheit willen hatten die Yotianer am anderen Ufer mehrere Feuertürme errichtet, die im Notfall warnende Leuchtsignale abgaben. Das hatte nicht ausgereicht. Im Schutze der Nacht hatten die Fallaji alle Turmwachen durch List oder Gewalt überwältigt, und gegen Morgen erfolgte der Angriff auf die Hauptstadt. Es war ein nebliger und feuchter Morgen; dichte Dunstschleier hingen über den Wellen des Mardun. Die Flußfischer waren es, die die erste und einzige Warnung erhielten. Als sie bei Anbruch der Dämmerung die Netze in die Boote luden und sich zum Aus348
laufen bereit machten, schrie einer der Männer auf und deutete verblüfft auf die Mitte des Stroms. Dort trieben die unterschiedlichsten Barken, Ruderboote, hastig zusammengezimmerte Flöße und flußaufwärts gestohlene Fähren auf dem Wasser. Sie waren mit Männern beladen: mit bewaffneten Kriegern, die weite Gewänder unter den Rüstungen trugen. Breitkrempige Metallhelme bedeckten ihre Köpfe; in den Händen hielten sie gebogene Klingen. Einen Augenblick lang wußten nur die Flußfischer, welche Gefahr drohte, aber schon Sekunden später erwachten die Feuertürme am anderen Ufer zum Leben. Riesige Flammen schlugen gen Himmel und begrüßten den neuen Morgen. Sie waren jedoch nicht als Warnung gedacht, sondern dienten als eindeutige Kriegserklärung. Ein paar Fischer ließen die Boote im Stich, andere verharrten lange genug, um die schrecklichen Köpfe mehrerer Drachenmaschinen aus den grauen Fluten des Mardun auftauchen und die Docks von Kroog überragen zu sehen. Ihre Klauen fanden am Ufer Halt und wirbelten den Schlamm auf, als sie sich auf den Weg in die Stadt machten. Der größte Drache atmete tief ein und dann wieder aus. Eine Stichflamme schoß aus seinem Maul. Hinter ihm landete die erste Bootsladung Fallaji. Brüllend stürmten die Krieger den Kai entlang. Die Stadt Kroog wurde angegriffen. Als ihn die Nachricht erreichte, schlief Tawnos, wie so oft in letzter Zeit, im Vogelsaal. Ein junges Mädchen, außer sich vor Angst, überbrachte ihm die Botschaft. Tawnos befahl ihr, alle Studenten zusammenzurufen, damit sie den letzten Omithopter und sämtliche Rächer bereitstellten. Falls er nicht zurückkehrte, wenn der Palast angegriffen wurde, sollten die Studenten sich mit Hilfe der Maschinen verteidigen. 349
Tawnos zog sich an, während er zu den Gemächern der Königin rannte. Der Seneschall und der Hauptmann waren schon eingetroffen und stritten sich mit der Königin. »Ich bleibe hier«, sagte Kayla. Ihre Schwangerschaft war nicht mehr zu übersehen. »Majestät, es geht um Eure Sicherheit!« flehte der Hauptmann. »Als vorübergehenden Aufenthaltsort...«, begann der Seneschall im gleichen Augenblick. »Ich bleibe hier!« verkündete Kayla mit fester Stimme. »Das ist mein Zuhause!« Sie sah Tawnos an. »Ich will hierbleiben.« »Das ist vielleicht unklug. Bereitet Euch darauf vor zu fliehen. Hinterher ist Zeit genug, sich dessen zu schämen.« An den Hauptmann gewandt, erkundigte er sich: »Wie sieht es aus?« »Wir wurden nicht gewarnt. Flöße und Schiffe, mit Fallajikriegern beladen, schwimmen flußabwärts. Ununterbrochen treffen neue Feinde ein und überschwemmen die Stadt. Zuerst haben sie den Fischereihafen und die Docks gestürmt. Sie verfügen über mindestens drei Drachenmaschinen, vielleicht sogar vier. Sie führen den Angriff an und vernichten alles, was sich ihnen entgegenstellt. Wir haben sämtliche Truppen der Hauptstadt zusammengezogen, aber die Bevölkerung verstopft die Straßen.« »Öffnet die Tore, damit das Volk fliehen kann«, befahl Kayla. »Aber die Feinde!« warf der Hauptmann ein. »Stehen bereits in den Straßen!« fauchte die Königin. »Müssen wir die Menschen auch noch opfern?« Der Hauptmann gab auf. Tawnos fragte: »Wie lange noch, ehe sie hier sind?« Der Seneschall stotterte und rang nach Worten. 350
»Es... es g-g-gibt k-k-keinen G-g-grund z-z-zu... der A-a-annahme...« »Es sind Mishras Drachen!« schrie Tawnos. »Wohin sollten sie sonst wollen?« Der Hauptmann überlegte eine Weile. »Eine Stunde noch. Zwei, wenn wir viel Glück haben. Verfügt Ihr über irgendwelche hilfreichen Maschinen?« »Ich lasse sie gerade vorbereiten«, antwortete Tawnos. Er wandte sich an Kayla: »Packt zusammen, was Ihr braucht. Wenn es zum Schlimmsten kommt, müssen wir fliehen.« Kayla wollte widersprechen, aber er setzte hinzu: »Befolgt meinen Rat. Bereitet Euch auf das Schlimmste vor und hofft auf das Beste. Die Zofe soll Euch zur Hand gehen.« Er schaute sich suchend um und merkte erst jetzt, daß die schwergewichtige Gestalt der älteren Frau nirgendwo zu sehen war. »Wo ist sie?« Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann stammelte der Seneschall: »S-s-sie hat ei-ei-eine Schwester, d-d-die unten am H-h-hafen wohnt. S-s-sie hat sich S-s-sorgen um s-s-sie gemacht.« Tawnos Lippen waren nur noch ein dünner Strich. »Packt zusammen! Ich komme wieder.« Als er zum Vogelsaal zurückkehrte, waren die Studenten schon bei der Arbeit. Fünf Rächer warteten auf ihren Einsatz. Allerdings mußte neben jeder Maschine ein Student gehen, um ihr die entsprechenden Befehle zu erteilen. Tawnos wies die fünf ältesten Knaben an, sich mit den Rächern zum Hauptmann zu begeben. Er kritzelte auf ein Pergament die Botschaft, daß die Jungen zusammenbleiben und gegen die Drachen eingesetzt werden sollten. Falls die Rächer fielen, sollten die jungen Burschen sofort aus der Stadt fliehen. Der einzig flugtüchtige Ornithopter war sehr viel größer als die üblichen Exemplare und durchaus in der Lage, einen schwerbewaffneten Rächer zu befördern. 351
Tawnos befahl den restlichen Studenten, Urzas Notizen, Pläne und Muster hineinzupacken. Ein Junge zögerte. Er gehörte zu den jüngsten Knaben und war im ersten Studienjahr. »Werden wir denn nicht kämpfen, Meister Tawnos?« fragte er neugierig. Tawnos nickte. »Doch, aber wir müssen unser gesammeltes Wissen schützen und in Sicherheit bringen.« »Aber wir könnten doch den Ornithopter im Kampf einsetzen!« entgegnete der Knabe aufgeregt. Tawnos sah ihn eindringlich an. »Im Kampf? Wie denn? Wir könnten Bomben auf sie werfen. Leider befinden sie sich in unserer Stadt, und so würden unsere Leute umkommen. Mit den Rächern schinden wir Zeit, aber wahrscheinlich schaffen sie es nicht, die Drachen ganz allein zu besiegen. Verstehst du mich?« Der Junge starrte auf seine Füße. »Ich glaube, ja. Aber ich würde lieber kämpfen.« Tawnos sah ihn grimmig an. »Und ich würde lieber gewinnen. Begreifst du den Unterschied?« Nach kurzem Zögern meinte der Junge: »Ich glaube, ja.« »Gut. Denn du wirst den Ornithopter fliegen. Wenn du kämpfen mußt, sollst du es tun. Aber vergiß nicht: Es ist viel wichtiger, den Ornithopter und die kostbaren Bücher zu einer der abgelegenen Festungen im Osten zu bringen. Wenn sie ebenfalls fällt, fliegst du nach Korlis oder gar nach Argivia. Hast du mich verstanden?« Der Junge nickte, und gemeinsam beluden sie die Flugmaschine. Aus der Ferne vernahmen sie das Dröhnen und Krachen des Kampfgeschehens. Hin und wieder ertönten dumpfe Schreie. Als der riesige Vogel beladen war, überreichte Tawnos dem Jungen das Buch des Jalum. Als dieser es entgegennahm, sagte er plötzlich: »Mein Bruder gehört auch zu den Studenten. Er heißt Sanwell.« 352
Tawnos zögerte. »Möchtest du, daß er dich begleitet?« »Er gehört zu den älteren Semestern.« Tawnos nickte bedächtig. Sanwell und seine Gefährten waren mit den Rächern in den Kampf gezogen. Der Junge sprach mit leiser Stimme: »Wenn Ihr ihn seht, sagt ihm, daß ich nicht mehr hier bin. Und er soll sich keine Sorgen machen.« »Du heißt Rendall, nicht wahr?« »Ja, Rendall.« Der Knabe legte sich das schwere Buch auf den Schoß. »Wenn ich ihn sehe, richte ich es ihm aus, Rendall. Mögen die Götter dir Flügel verleihen.« Und uns allen zur Seite stehen, fügte Tawnos im stillen hinzu. Rendall betätigte den Hebel, die Kraftsteine begannen zu glühen, und der riesige Ornithopter erwachte zum Leben. Mit einem gewaltigen Satz sprang die Maschine in die Höhe. Diesmal vollzog sie keinen großen Bogen, wie es bei Probeflügen üblich war, sondern flog pfeilschnell geradewegs nach Osten. Tawnos hörte das wütende Fauchen einer Drachenmaschine, die den Abflug bemerkt hatte. Sofort fühlte er sich ein wenig besser. Wenn es Mishra gelang, Urzas Stadt einzunehmen, würde ihm das Wissen seines Bruders nicht in die Hände fallen. Hastig schickte er die anderen Studenten fort und befahl ihnen, alles Notwendige einzupacken und in östlicher Richtung zu fliehen. Man werde sich in der Karawanenstadt Hench treffen und sammeln. Falls der Ort schon gefallen war, sollten sie sich zur Küste oder nach Korlis durchschlagen. Er sah von einem Gesicht zum anderen und wußte, daß ein paar der jungen Leute sofort nach den Waffen greifen und sich in den Kampf stürzen würden. Die meisten aber waren vernünftig genug, sich in Sicherheit zu bringen und den Fortbestand der Akademie zu sichern. 353
Als sie fort waren, riß Tawnos den schwarzen Stab Ashnods an sich und verließ den Vogelsaal zum letzten Mal. Er begab sich zum Gästeflügel des Palastes. Die Wachen standen auf ihrem Posten. Er entließ sie, um sie bei der Verteidigung der Stadt einzusetzen. »Tolles Fest!« begrüßte ihn Ashnod. »Schade, daß wir nicht teilnehmen.« Ihre Stimme klang fröhlich, aber ihre Miene war ernst und sorgenvoll. »Ich brauche deine Hilfe«, erklärte Tawnos. »Wir müssen aus der Stadt fliehen.« »Wir?« fragte die rothaarige Frau. »Meinst du mich damit? Immerhin sind es meine Leute, die uns besuchen.« »Es sind Fallaji!« brüllte Tawnos. »Glaubst du etwa, sie werden mitten im Kampf den Unterschied zwischen dir und irgendeiner yotianischen Frau bemerken?« »Wenn ich meinen Stab habe, schon! Gib ihn mir zurück!« »Versprich mir, daß du uns hilfst. Versprich, die Königin in Sicherheit zu bringen Oder, falls wir gefangengenommen werden, garantiere für ihre Sicherheit.« »Warum sollte ich deiner kostbaren Königin helfen?« fauchte Ashnod. »Sie ist schwanger.« »Ich hoffe nicht, daß du an meine mütterlichen Instinkte...« »Wahrscheinlich ist Mishra der Vater des Kindes«, unterbrach Tawnos sie. »Möchtest du ihm mitteilen, daß sein Kind gestorben ist, als die Krieger die Stadt stürmten?« Ashnod ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Uff!« stieß sie hervor. Vor dem Fenster erklang eine Explosion. Für Tawnos Geschmack viel zu nahe. »Dieses Gerücht ist mir noch gar nicht zu Ohren gekommen. Bist du sicher?« 354
Er starrte auf seine Hände. »Nein.« Ashnod schüttelte den Kopf und lachte vergnügt. »Nun, das ist Grund genug für mich. Ich verspreche dir, daß ich dir helfe, die Königin fortzuschaffen oder, falls man euch gefangennimmt, für ihre Sicherheit zu garantieren. Kann ich jetzt meinen Stab wiederhaben?« Zuerst zögerte Tawnos, aber dann reichte er ihr den Stab. Sie strich mit den Finger über das Holz und sagte: »Ich bin davon ausgegangen, daß du ihn auseinandergenommen hast.« »Habe ich«, antwortete Tawnos und ging zur Tür. »Aber ich habe ihn später wieder zusammengebaut. Los, gehen wir!« Die Gänge waren verlassen, und durch die Fenster sahen die beiden die dichten Rauchwolken, die über der Stadt lagen. In weiter Ferne, irgendwo in der Stadtmitte, erblickte Tawnos eine Drachenmaschine. »Es gab mehr als eine«, sagte er zornig. »Stimmt. Habe ich dir gesagt, aber du hast nicht aufgepaßt.« »Ich hätte dich doch den Priestern übergeben sollen.« »Und wer würde dir dann jetzt helfen?« Am Eingang zu den königlichen Gemächern trafen sie auf den Seneschall und die Königin. Der Seneschall schleppte eine schwere Tasche, vollgestopft mit der Habe Kaylas. Ashnod starrte auf den gerundeten Bauch der Herrscherin. »Ihr habt Euch aber gehen lassen!« sagte sie belustigt. Tawnos wandte sich an den Seneschall: »Und?« Der dürre Mann geriet sofort ins Stottern. »Sch-schschlecht. Die R-r-rächer haben den ersten D-d-drachen aufgehalten. D-d-der aber zog sich b-b-bloß zurück, und sch-sch-schon stürmten unzählige K-k-krieger heran und überwältigten die R-r-rächer und die St-st355
Studenten. Die meisten L-1-leute glauben, die K-k-königin sei in einem O-o-ornithopter geflohen.« Tawnos hätte sich ohrfeigen können. Ihm war nicht in den Sinn gekommen, die Königin und nicht Urzas Notizen auf dem Luftweg in Sicherheit zu bringen. Oder sich selbst. »Wir müssen uns beeilen«, sagte der Seneschall, der sich ein wenig beruhigt hatte. »Sie werden jeden Augenblick hier sein.« Die Erde erbebte, und ein tiefes wütendes Fauchen unterstrich die Worte des Mannes. Die Drachen waren bereits eingetroffen und hieben mit den großen schaufelförmigen Köpfen wie mit Rammböcken gegen die Mauern. Die Wände erbebten, und eine Seite des Ganges zerbrach unter dem heftigen Angriff der Maschinen. Das Mauerwerk zerbarst, als habe eine riesige Klinge den Palast in zwei Hälften zerschnitten. Möbel, Bodenplatten und Steine - alles flog durcheinander und verschwand in einer gewaltigen Staubwolke. Tawnos packte Kaylas Arm und zog sie ein Stück zurück, auf festen Boden. Der Seneschall hatte weniger Glück. Der Boden unter seinen Füßen Öffnete sich, und mit einem gellenden Schrei stürzte er in den gähnenden Abgrund. Kayla schrie auf, als er - die Tasche fest umklammert - vor ihren Augen verschwand. Ashnod schüttelte Tawnos an der Schulter. »Los jetzt! Majestät kann sich später neues Gepäck zulegen.« Tawnos runzelte wütend die Stirn, aber jetzt war keine Zeit für Streitgespräche. Der gesamte Flügel des Palastes zerfiel unter den Tritten der Drachen zu einem Trümmerhaufen. Wieder fauchte die Maschine zornig, und Ashnod, Kayla und Tawnos rannten in wilder Flucht den Gang hinunter. Sie erreichten das Haupttor, wo sie auf die ersten 356
Fallajikrieger stießen. Eine Ehrengarde, dachte Tawnos beim Anblick der Hüte und kostbaren Goldepauletten. Als die Flüchtlinge die breite Treppe hinabstürmten, eilten die Wüstenkrieger gerade in die Eingangshalle. Sekundenlang erstarrten beide Gruppen. Dann trat Ashnod einen Schritt vor und rief: »Diese Leute stehen unter meinem Schutz!« Eine gewichtige Gestalt löste sich aus der Fallajigruppe. Der Mann war mit einer prunkvollen Rüstung aus gehärtetem Leder angetan und so beleibt, daß eigentlich nur das Wort >fett< sein Aussehen richtig beschrieb. »Du bist eine Frau. Du kannst keinen Schutz bieten.« Ashnod richtete sich kerzengerade auf, und Tawnos merkte, daß die beiden sich kannten. »Ich bin die Gehilfin Eures Rakis, Mächtiger«, erklärter sie mit wütender Stimme. »Ich kann tun, was mir gefällt.« »Wie schade«, meinte der Dicke, »daß meine Leute dich in der Verwirrung der Schlacht töteten, ehe sie bemerkten, wen sie vor sich hatten. Das wird Mishra später verstehen müssen.« Ashnod sah ihn entsetzt an. »Warum wollt Ihr das tun?« Der Dicke grinste. »Mishra stützt sich auf dich, wie sich ein Mann auf eine Krücke stützt. Mein Vater hat einmal gesagt, es sei nicht gut, wenn ein Mann eine Krücke braucht. Ich tue es, um Mishra zu stärken.« Er wandte sich an seine Krieger: »Tötet alle drei!« Tawnos brüllte auf und zog sein Schwert. Mit der freien Hand schob er Kayla hinter sich. Ashnod stieß einen unflätigen Fluch aus und hob den Stab. Der mit Golddrähten umwickelte Schädel summte leise und sprühte Funken. Die Fallajisoldaten kamen nur bis zur zweiten Treppenstufe. Sie griffen sich an die Kehlen und hielten sich die Bäuche. Obwohl Tawnos hinter der Magierin 357
stand, spürte er die Kraft, die von der unheimlichen Waffe ausging. Kayla drückte sich an ihn. Sie murmelte vor sich hin, und er begriff, daß sie unaufhörlich zu allen möglichen Göttern betete. Die Krieger sanken scharenweise zu Boden, aber Ashnod gab nicht auf. Statt dessen richtete sie den Stab auf den Dicken, der sie bedroht hatte. Er griff sich an die Kehle und drehte sich wie eine Marionette mehrmals um die eigene Achse, aber noch immer hielt Ashnod den Stab auf ihn gerichtet. Blut lief dem Mann aus Mund und Nase, dann auch aus den Augen und Ohren. Als sie die Hand endlich sinken ließ, brach er tot über den bewußtlosen Kriegern zusammen - eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren. Ashnod sackte ebenfalls in sich zusammen, und Tawnos stützte sie behutsam. Sie war in Schweiß gebadet, und aus ihren Nasenlöchern liefen dünne Rinnsale roten Blutes. »Ich muß endlich einmal darangehen«, sagte sie keuchend und wischte sich das Blut mit dem Ärmel ab, »die lästigen Nebenwirkungen zu beseitigen, die sich beim Gebrauch des Stab eingenistet haben.« Tawnos half beiden Frauen die Treppe hinunter, an den am Boden liegenden Männern vorbei. Neben dem dicken Fallaji blieb er sekundenlang stehen. Das Gesicht des Mannes war blutüberströmt. »Du hast ihn gekannt?« Ashnod sah auf den toten Quadir der Fallaji hinunter. »Ein Niemand aus der Wüste«, erklärte sie verbittert. »Ohne ihn ist Mishra viel besser dran.« Kayla wollte sich den nach Osten Fliehenden anschließen, aber Ashnod zerrte sie statt dessen nach Westen, auf die Docks zu. Zweimal wurden sie von feindlichen Kriegern aufgehalten, aber beide Patrouillen fügten sich ohne weiteres Ashnods Behauptung, die Yotianer stünden unter ihrem Schutz. Zum Glück, 358
dachte Tawnos, denn Ashnod konnte sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten und würde keinesfalls einen zweiten Kampf überstehen. Inzwischen hatten sie die Front hinter sich gelassen. Die feindlichen Truppen vernichteten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Häuser, die nicht von den Drachenpranken zermalmt worden waren, hatte man in Brand gesteckt. Aus den Fensteröffnungen schlugen hohe Flammen. Außer den Leichen war niemand zu sehen. Tawnos entdeckte einen der Rächer, dessen Beine die Fallaji entfernt hatten. Der Torso drehte sich auf einem verlassenen Platz im Kreis. Tawnos nahm sich die Zeit, ihn zum Stillstand zu bringen und den Kraftstein zu entfernen. Der dazugehörige Student war spurlos verschwunden. Endlich erreichten sie die Docks. Hier waren weder Feinde noch Flüchtlinge zu sehen. Der Hafen lag verlassen im Sonnenlicht. Ashnod wählte ein kleines Boot, das an der Mole vertäut lag. »Da sind wir. Steigt ein.« »Wir sollten nach Osten ziehen«, warf Kayla zaghaft ein. Ashnod schüttelte den Kopf. »Mishras Truppen werden in den nächsten Wochen nichts anderes tun, als Euch zu suchen.« Sie warf Tawnos einen Blick zu. »Dich auch. Und jeden anderen, der mit Urza in Verbindung steht. Haltet auf die Südküste zu. Von dort aus könnt ihr nach Osten gehen.« Tawnos half Kayla an Bord des Bootes. Die Königin von Kroog ließ sich im Heck auf einer Bank nieder und zog den Umhang fester um die füllige Gestalt. Tawnos drehte sich um. »Hast du von dem Angriff gewußt? Ich meine, von dem genauen Zeitpunkt?« Sie schüttelte den Kopf. »Hätte ich davon gewußt und es dir erzählt, hättest du mir geglaubt? Ich habe mein Versprechen eingelöst. Jetzt gehe ich.« Sie um359
klammerte den Stab, als fürchte sie, Tawnos wolle ihn ihr entreißen. »Vielleicht töten sie dich«, gab er zu bedenken. »Wohl kaum. Die Gefahr ist so gut wie vorüber«, antwortete sie. »Wenn ich Mishra finde, ist alles in Ordnung. Kümmere du dich um die Königin. Glaubst du wirklich, daß sie Mishras Kind trägt?« »Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Vielleicht weiß sie es selbst nicht genau.« Ashnod schüttelte den Kopf. »Spielst immer noch das Entenküken, auch wenn die Entenmütter längst zum Schlachthof gebracht werden? Deine Treue wird dich noch einmal in eine so schwierige Lage bringen, daß nicht einmal ich dir mehr helfen kann. Viel Glück, Entlein!« Sie küßte ihn hastig, trotzdem war es Kayla nicht entgangen. Nach einem Zwinkern und einem kurzen Winken verschwand die rothaarige Frau in der brennenden Stadt. Tawnos sah ihr nach, bis er sie durch den dichten Rauch aus den Augen verlor. Dann ergriff er den langen Stecken, stieß sich vom Kai ab und lenkte das Boot in die Mitte des Flusses, wo die Strömung am stärksten war. Der Mann und die Königin beobachteten die brennende Stadt, während sie langsam davontrieben. Der Rauch über dem riesigen Scheiterhaufen war noch lange zu sehen, auch als die Hügel die Häuser längst vor ihren Blicken verbargen. Den Rest der Reise verbrachten sie in tiefstem Schweigen. Tagelang trieben sie flußabwärts. Das Gefühl des Verlustes und der Verantwortung, die sie beide trugen, lastete schwer auf dem kleinen Boot.
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KAPITEL 16
Nachwirkungen Urza brauchte fast einen ganzen Monat, um das zerstörte Kroog zu erreichen. Zuerst marschierte er mit dem verletzten Leutnant Sharaman durch die Wüste und stieß in den Schwertsümpfen auf die Überreste der yotianischen Armee, die er sammelte und geordnet nach Süden führte. Nachdem sie die Schwertsümpfe und den Norden Yotias hinter sich gelassen hatten, wurde ihm bewußt, daß es nichts mehr gab, für das es sich zu kämpfen lohnte. Auch bestand keine Möglichkeit mehr, eine große Armee zu versorgen. Die Fallaji tauchten immer wieder in Grenznähe auf, ließen die Soldaten aber unbehelligt. Urzas Truppen marschierten weiter, bis sie sich nur noch zwei Tagesflüge von Kroog entfernt aufhielten. Der Prinzgemahl (und - in Abwesenheit der Herrscherin - de facto König) machte sich mit drei Ornithoptern auf, die Hauptstadt zu besuchen. Mishra, der bei den Yotianern jetzt als der >Schlächter von Kroog< bekannt war, hatte die Stadt verlassen, und seine Drachen hatten kaum ein Gebäude verschont. Die dicken Stadtmauern standen noch, nur die mächtigen Tore waren abgerissen oder hingen schief und zersplittert in den Angeln. Innerhalb der Mauern war alles den Flammen zum Opfer gefallen, und sämtliche nicht brennbaren Materialien hatten die Drachen zertrampelt. Noch drei Tage nach dem Angriff fiel ein grauer Ascheregen über Kroog. Ein riesiger Trümmerberg zog sich bis zum Mardunufer hinab. Dahinter hat361
ten jene Menschen, die zu dickköpfig oder zu dumm für eine Flucht gewesen waren, notdürftige Unterkünfte errichtet. Die drei Ornithopter landeten auf dem Hügel, auf dem einst der Palast gestanden hatte. Urza und Sharaman verließen ihre Maschinen, aber der dritte Pilot blieb in seiner Kabine, um bei den ersten Anzeichen von Ärger die Flucht zu ergreifen. Es gab nichts zu tun; sie konnten sich nur umsehen. Allerdings gab es außer Trümmern auch nichts zu sehen. Urza stand erst an einer Stelle, dann an einer anderen und ging schließlich zu einer dritten. Hin und wieder hob er einen Stein auf oder ließ feinen Staub durch die Finger rinnen. Der Leutnant nahm an, der Herrscher versuche sich vorzustellen, welches Gebäude hier gestanden hatte und an welchem Punkt er sich aufhielt. Eine Stelle inmitten der Trümmer war freigeräumt worden. Anfangs glaubte Sharaman, es handele sich um den großen Innenhof, aber nach einer Weile merkte er, daß Urzas ehemaliger Vogelsaal dort gestanden hatte. Urza stand inmitten der freien Fläche, fiel auf die Knie und schlug sich die Hände vors Gesicht. Sie hatten ihm nicht einmal mehr die Trümmer gelassen, damit er sie hätte berühren können. Allmählich wagten sich immer mehr Leute durch die zerstörten Palasttore. Sharaman zuckte zusammen, bis er merkte, daß es sich um die heimatlosen Yotianer handelte. Er überließ Urza seiner Trauer und ging ihnen entgegen. Sharaman war nur ein paarmal in Kroog gewesen. Das erstemal hatte er die Hauptstadt besucht, als er seine Pilotenausbildung begann. Für einen Jungen aus den Ostprovinzen, der als Knabe in einem Ornithopter mitfliegen durfte, als Urza nach Korlinda zog, war die Stadt ein wahres Wunder. Aber das schien unend362
lieh lange zurückzuliegen, und das mächtige Kroog bestand nur noch aus Trümmern. Der Leutnant unterhielt sich mit den Yotianern, ehe er schließlich zu Urza, zu dem sich inzwischen ein Knabe gesellt hatte, zurückkehrte. »Majestät«, sagte er leise. »Immer habe ich meinem Bruder vorgeworfen, er würde nichts zu Ende bringen«, murmelte Urza. Dann klärte sich sein Blick, und er sah Sharaman fragend an. »Was ist?« »Die Leute dort drüben - sie möchten wissen, was sie tun sollen.« »Tun?« Urzas Stimme klang erstickt. »Was können sie schon tun? Sagt ihnen, sie sollen nach Süden, Osten oder Westen ziehen, oder dahin, wo sie sich in Sicherheit wähnen. Sagt ihnen, daß hier nichts mehr zu retten ist.« »Vielleicht wäre es angebracht, daß Ihr es ihnen mitteilt.« Urza warf ihm einen verzweifelten Blick zu. »Was soll ich denn sagen? Daß es mir leid tut, ihnen nicht helfen zu können? Daß es mir leid tut, nicht hier gewesen zu sein? Daß es mir leid tut, daß mein Bruder mich zum Narren hielt? Daß es mir leid tut, daß meine Frau, mein Gehilfe und meine Arbeit verschwunden sind?« Er wurde immer lauter, und Sharaman fürchtete, Urza würde in Tränen ausbrechen. Statt dessen schüttelte der Wissenschaftler schließlich den Kopf und sagte: »Nein, ich habe versagt. Sie sollen sich jemanden suchen, der nicht versagt hat, und ihm folgen.« Zum erstenmal fiel sein Blick auf den Knaben. »Wer ist das?« »Anscheinend einer Eurer Studenten«, erklärte Sharaman. Urza starrte den Jungen durchdringend an. »Vielleicht. Du heißt... Rendall?« 363
»Sanwell, Majestät«, antwortete der Junge. »Rendall ist mein jüngerer Bruder. Er war es, den Meister Tawnos auserwählte, um den Ornithopter zu fliegen.« Urza warf Sharaman einen Blick zu, ein lauerndes Funkeln in den Augen. »Ornithopter? Es ist also je-, mand mit einem Ornithopter entkommen?« Stockend und zögernd erzählte Sanwell die Geschichte, die er nach dem Kampf von einem anderen Studenten gehört hatte. Sein jüngerer Bruder hatte die wichtigsten Pläne und Aufzeichnungen genommen und war nach Osten geflogen. Nein, niemand hatte ihn begleitet. Ja, der Befehl hatte gelautet, notfalls bis nach Argivia zu fliegen, um den Fallaji zu entkommen. Nein, er wußte nicht, was aus Meister Tawnos und der Königin geworden war. Sanwells Rächer war von Fallajikriegern überwältigt worden. Er hatte etliche besiegt, aber die Überzahl war zu groß gewesen. Nachdem er geendet hatte, erhob sich Urza mit leuchtenden Augen. »Also doch, Bruder!« rief er. »Du hast es wieder nicht geschafft! Sharaman!« »Majestät?« »Geht mit unseren restlichen Truppen nach Süden. Besetzt die Häfen und haltet sie!« »Zu Befehl, Majestät. Was wird aus Euch?« »Ich werde das Wissen aufspüren, das Tawnos in Sicherheit bringen ließ. Rendall!« »Sanwell, Majestät.« »Sind noch andere Studenten hier?« Sanwell sah sich suchend um. »Nein, Majestät.« »Dann wirst du mich begleiten«, bestimmte Urza. »Wir müssen herausfinden, wohin dein Bruder geflohen ist, und sogleich wieder mit der Arbeit beginnen.« Er ließ den Bück über die Trümmer schweifen. »Und diesmal werde ich mich nicht zurückhalten oder Mitleid mit dir haben, Bruder. Diesmal rechnen wir ab, das schwöre ich!« 364
Und wie als Antwort auf seine Worte erhob sich ein kalter Wind, der die Asche zu ihren Füßen aufwirbelte. Besucher betraten die Höhle von Koilos. Keine Argivianer. Sie kamen aus einem Mönchskloster an der Nordküste des Kontinents und gehörten einem Orden an, der die Macht, die Majestät und - was am bedeutendsten war - die Maschinen der Thran verehrte. Sie nahmen ein großes Gebiet ein, lebten aber recht zurückgezogen. Sie wußten, daß andere Kulturen ihren Respekt vor den Maschinen nicht teilten, andere (wie die Fallaji) sie sogar verkauften oder gar nachahmten (wie die Argivianer). Daher blieben sie unter sich und begaben sich nur selten über die Grenzen ihres Landes hinaus. Bis die Träume sie heimsuchten. Das hatte vor mehr als einem Jahr begonnen. Zuerst träumte nur ein Bruder, dann ein zweiter, ein dritter, und es wurden immer mehr. Sie alle hatten die gleiche Vision: Sie sahen eine Welt voller Maschinen, die weitaus fortschrittlicher waren als die der Thran; lebendige Maschinen aus Stahl und Draht, mit unzerstörbaren Herzen, die lebenswichtiges Öl durch die Körper pumpten. Sie sahen stählerne Blätter und rasiermesserscharfe Gräser in einer Welt, in der es Öl regnete und Maschinen im Überfluß herrschten. Kurz gesagt: das Paradies. Die Träume bezauberten die Männer, lockten sie mit Sirenengesang, drängten sie, ihr Land zu verlassen und zum Ausgangspunkt der Träume zu kommen, wo sie wahre Wunder vollbringen würden. Unter dem Einfluß der Träume gab die Bruderschaft des Gix dem Drängen nach. Zwei Dutzend der vertrauenswürdigsten Brüder, die den Maschinen die meiste Ehrerbietung entgegenbrachten, verließen das Kloster und wanderten nach Süden. 365
Sie gingen den Malpiri aus dem Weg, die in regelmäßigen Abständen ihr Land überfielen, aber ein paar der Männer fielen den Gefahren der Wüste zum Opfer - der Hitze, Banditen oder wilden Tieren. Ein ,| Jahr später traf nur ein Dutzend Mönche in Koilos ein. Sie waren ausgemergelt, in Fetzen gekleidet und hatten ein fanatisches Leuchten in den Augen. Während der Reise wurden die Träume immer wahrhaftiger. Sie sahen die Schlucht und den Eingang der Höhle. Dort angekommen, zogen sie ihre uralten leuchtenden Steine aus den Taschen und schritten die langen Gänge entlang, wobei sie über die Überreste zerstörter Maschinen klettern mußten, die der mächtige Maschinengott geprüft und als ungeeignet ausgesondert hatte. Endlich standen sie vor der größten Maschine. Sie nahmen die Lichtsteine und legten sie in das Nest aus Drähten, wie man es ihnen in ihren Träumen befohlen hatte, ehe sie die Hände auf die geheimnisvollen Schriftzeichen preßten. Die Tatsache, daß sie die Zeichen nicht entziffern konnten, beunruhigte sie nicht weiter. Es kam nur auf den Traum an, und der Traum hatte ihnen gesagt, was zu tun war. Die Mönche der Bruderschaft des Gix waren nicht überrascht, als es plötzlich hell in der Höhle wurde, alle Maschinen zu summen und zu singen begannen, miteinander sprachen und das Loblied ihres Gottes anstimmten. Begeisterung spiegelte sich auf den Zügen der Gixianer, denn nun würden ihre Träume wahr werden. Ein große Scheibe leuchtete auf. Sie schwebte hochkant mitten im Raum, wie eine aufrechtstehende Ölpfütze. Sie schimmerte in allen möglichen Farben, die jedoch nicht von dieser Welt waren. Die Scheibe wurde immer größer, bis sie mannshoch war, und eine Gestalt trat heraus. 366
Sie war hochgewachsen und menschenähnlich. Sie trug anscheinend eine Art Rüstung aus schwarzen Stahlschlangen. Nach einer Weile entdeckten die Mönche zu ihrem größten Entzücken, daß es sich um die Haut des Wesens handelte; eine Haut aus Metall und Draht. Das Gesicht war leichenblaß, und auf dem Kopf ringelten sich blutrote Schlangen. Alle Mönche fielen ehrerbietig auf die Knie. Das göttliche Wesen, der Diener des Maschinengottes, blieb vor der leuchtenden Scheibe stehen. Es sog prüfend die Luft ein, als erlebe es diesen Augenblick zum erstenmal. Dann reckte es die Drahtmuskeln und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, als müsse es die Funktionen seines Körpers erproben. Einer der Mönche, der Anführer der Überlebenden, erhob sich bedächtig. »Wir heißen Euch willkommen, göttliches Wesen. Wie dürfen wir Euch ansprechen, damit wir Euch besser dienen können?« Die Kreatur sah von einem zum anderen, und sie spürten, wie ihr Verstand ihren Geist mit sanfter Geste berührte und prüfte. Dieses Wesen hatte ihnen die Träume geschickt. Es hatte sie hierher gerufen, an diesen heiligen Ort. Die Lippen des Wesens verzogen sich zu einem Lächeln. »Gix«, sagte es schließlich mit einer Stimme, die außer Mishra und Ashnod noch nie ein Mensch vernommen hatte. »Ihr dürft mich Gix nennen.«
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KAPITEL 17
Mishras Raum Während Ashnods Abwesenheit hatte sich am Herrscherhof vieles verändert, was sie aber nicht erstaunte. In dem Jahr seit der Zerstörung Kroogs war sie ein halbes Dutzend Mal fortgereist und wieder zurückgekehrt, und jedesmal entdeckte sie einen neuen Flügel, zusätzliche Nebengebäude und vieles mehr. Der Palast des neuen Quadirs der Fallaji wurde immer prunkvoller. Mishra hatte einen Platz am nordwestlichsten Zipfel des Khergebirges gewählt. Von dort aus genoß er einen überwältigenden Ausblick über die Öden Ländereien, die sich nach Westen erstreckten. Genau an dieser Stelle herrschten ungewöhnlich günstige Wetterverhältnisse, daher gab es ausreichend Wasser und so riesige Bäume, daß man meinen könnte, die Thran hätten sie eigens hier angepflanzt. Es handelte sich um eine Art Eichen, mit dicken Stämmen und langen geraden Ästen. Inzwischen hatte man zahlreiche Unterkünfte und Laboratorien in den ausladenden Ästen untergebracht. Als Mishra Quadir wurde, dachte Ashnod, hatte er seine Wurzeln in den Boden senken wollen. Vielleicht meinte er das sogar wörtlich, als er sich unter den Baumriesen niederließ. Als sie den Ort zum erstenmal erblickte, fiel es ihr schwer zu glauben, daß derart gewaltige Pflanzen in einer sonst so öden und unfruchtbaren Gegend gedeihen konnten. Rings um das Waldstück hatte man kleinere Bäume (immerhin große starke Eichen und junge Ahorne) gerodet. Ein Teil des Landes sollte fruchtbar gemacht 370
werden, aber der Rest war für den Bau von Schmieden und Gießereien vorgesehen. Schon jetzt strömten die Rückstände aus diesen Betrieben, nicht verwertbare Schlacke, den Berg hinab und ergossen sich in die Flüsse, die am Fuß des Gebirges dahinplätscherten. Das neueste Bauwerk war eine große Halle, die am Ende des Ortes errichtet worden war. Sie bestand aus metallenen Rundbögen, über die man eine riesige Plane gespannt hatte. Die Sklaven schleppten Steine, um später feste Mauern und Wände zu ziehen. Ashnod übergab ihr Pferd einem Knecht und betrat die Werkhalle. Einer der großen Bäume war schon vor Äonen abgestorben und hatte einen gewaltigen Stumpf hinterlassen, der mehr als sechzig Fuß hoch und doppelt so dick war. Mishra hatte ihn aushöhlen und zu einer Werkstatt umbauen lassen, um damit den zerstörten Vogelsaal des untergegangenen Kroog zu übertrumpfen. Jetzt ragte das Gebilde vor ihr auf; durch die in die Rinde geschnittenen Fenster drang ein warmes Licht. Die Fenster hatten seltsame Umrisse, die mehr durch die Form der einst lebenden Rinde als durch Mishras Wünsche bestimmt worden waren. Ashnod fand, sie sähen wie bösartig blinzelnde Augen aus. Die Räume im Inneren des Gebäudes waren ähnlich - eigenartig geformt, wie Tränen oder Spiralen oder Kästen mit mehreren Ebenen. Die Räume zogen sich von einem Ende zum anderen und waren teilweise terrassenförmig angeordnet. In jedem Zimmer standen Maschinen. Ashnod war sicher, daß es inzwischen neue Räume gab, die bei ihrem letzten Besuch nicht vorhanden gewesen waren. Der Wohnsitz des Quadirs hatte ungeheure Ausmaße. Unverändert waren die Schätze, die sich in den Gängen stapelten, Überreste der Plünderung Kroogs. Es lagen goldene Teller, gesprungene Kristallgläser und Juwelen herum, die aus den durch unsanften Transport 371
beschädigten hölzernen Schatullen gefallen waren. Hier und da standen seltene Vasen aus blau-weißem Porzellan, die zahlreiche Risse und Sprünge hatten. Das alles wurde gehortet, um von der Macht des Rakis der Suwwardi zu künden, dem neuernannten Quadir des Fallajireiches, des ruhmreichen Mishra. Entlang einer Wand standen einfache Holzbänke, wo Diplomaten, Kaufleute, Höflinge und andere Parasiten darauf warteten, mit Mishra sprechen zu dürfen. Ashnod mußte natürlich nicht warten und eilte an den armen Kreaturen vorbei. Sie spürte, wie die Blicke der Männer ihr folgten, und lächelte zufrieden. Das war eines der angenehmen Dinge bei der Rückkehr zum Wohnsitz des Herrschers. Der eigentliche Arbeitsbereich bestand zu einem Drittel aus der Bibliothek, dem zweiten Drittel aus der Werkstatt, und das letzte Drittel nahm der Thronsaal ein. Ein schwerer dunkler Eichenthron, auf dem sich zahlreiche Kissen türmten, stand an einer Wand. Davor lag ein kostbarer Purpurteppich, den man aus den Ruinen des Palastes von Kroog geborgen hatte. Zu beiden Seiten des Thrones türmten sich hohe Bücherstapel. Die Bücher stammten aus Plünderungen yotianischer Häuser oder waren per Schiff aus Zegon und Tomakul gekommen. Schwere Folianten, kleine Tagebücher, Schriftrollen, Wachstafeln und unzählige in Leder gebundene Bücher mit Beschreibungen lebender und längst ausgestorbener Tiere waren darunter. Ashnod fiel nicht zum erstenmal auf, daß viele mit einer Staubschicht bedeckt waren und seit ihrer Ankunft unberührt an der gleichen Stelle lagen. Sie mußte an Urzas Vogelsaal denken. Obwohl er eigens für die Besichtigung aufgeräumt und geputzt worden war, hatte er überfüllt gewirkt. Allerdings war es ein geordnetes Chaos gewesen, voller Leben und Be372
wegung. Die Bücher in Mishras Haus hätten ebensogut leere Seiten enthalten können, da sie kaum jemals berührt wurden. Mishra saß nicht auf dem Thron. Während die Besucher draußen warten mußten, stand er an der riesigen Tafel - einer Kriegsbeute -, die an der Wand gegenüber der Tür hing. Mishra benutzte bunte Kreide, und inmitten des Geschmiers und der Kritzeleien erhob sich der Kopf einer Drachenmaschine, mit geheimnisvollen Zeichen und unleserlichen Buchstaben versehen. Hajar, der allzeit getreue Hajar, stand neben dem Thron und kündete Ashnods Besuch an. Glücklicherweise, dachte Ashnod, sonst hätte Mishra nicht einmal aufgesehen. Mishra starrte seine Gehilfin an, und sie spürte die Unruhe und Spannung, die von ihm ausging. Er tippte noch ein paarmal mit der Kreide auf die Tafel, warf sie dann in ein Kästchen und schritt zum Thron. »Berichte!« knurrte er, als er sich auf den Kissen niederließ. Bei jedem Besuch war Mishra mürrischer und wortkarger geworden. Jetzt, da er der Herrscher der Wüste war und die Verantwortung für ein ausgedehntes Reich trug, war keine Zeit mehr für Höflichkeit, selbst wenn ihm daran gelegen gewesen wäre. »Beute aus den yotianischen Provinzen«, sagte Ashnod und reichte Hajar eine umfangreiche Liste. Sie verschränkte die Arme und zählte auf: »Viertausend Pfund Gold, sechstausend Pfund Silber, davon zweitausend Pfund in Barren, siebzehn gut erhaltene Vasen mit Juwelen im Werte von...« Mishra winkte ab und fragte: »Bücher?« Ashnod seufzte. Meister Mishra war in letzter Zeit sehr ungeduldig geworden. »Fünf über Alchimie, die Ihr noch nicht kennt. Drei über Optik. Zwei über Hydraulik, die bestimmt sehr interessant sind, und eines 373
über Metallurgie im yotianischen Stil, das sich als unschätzbar lehrreich erweisen könnte. Eines über Uhren, angefüllt mit einem Loblied auf den Verfasser. Berichte über das Schleifen von Juwelen, das Blechschmiedehandwerk und Architektur. Die übliche Sammlung von Tagebüchern und Briefen, bei denen noch geprüft werden muß, ob sie nützliche Einzelheiten enthalten. Viele Landkarten, die hauptsächlich die Handelsstraßen von Korlis betreffen.« Mishra nickte, faltete die Hände und preßte die Fingerspitzen gegeneinander. »Bodenschätze?« »Wir haben drei neue Minen erobert und besitzen nun insgesamt siebzehn«, erklärte Ashnod. »Wir hatten achtzehn, aber yotianische Rebellen haben die Hauptstützbalken entfernt und es vorgezogen, sich von den Trümmern begraben zu lassen, anstatt aufzugeben. Vier Gießereien wurden auseinandergenommen, hier wieder aufgebaut und sollten innerhalb der nächsten zwei Monate einsatzbereit sein. In den Suwwardisümpfen errichten wir kleinere Betriebe. Im Norden Yotias werden die Wälder unter bewaffneter Aufsicht abgeholzt.« Wieder nickte Mishra. »Neuigkeiten?« »Das übliche«, antwortete Ashnod. »Die noch bestehenden Küstenstädte Yotias sind bereit, Tribut zu entrichten und uns die Treue zu schwören - wenigstens nach außen hin. Trotzdem gibt es im Süden der Suwwardisümpfe Aufstände und Rebellion. Daher sind Berechnungen, die yotianische Bodenschätze betreffen, recht fragwürdig. Dank der besiegten Städte und der überwältigten Rebellen haben wir mehr als genug Sklaven zur Verfügung.« Ashnod beschönigte die Wahrheit. Zum erstenmal herrschten die Fallaji über ein nicht verwandtes Volk ohne die üblichen Bindungen an den Quadir. In Yotia waren schwerbewaffnete Truppen nötig, um das Volk 374
zu unterdrücken und die Plünderungen durchzuführen. Dadurch war ein großer Teil der Krieger fest gebunden, und die Fallaji haßten es, an einen Ort gefesselt zu sein. Mishra erkundigte sich nicht nach den Gründen für die erneuten Unruhen. Statt dessen fragte er geradeheraus: »Und mein Bruder?« »Lebt immer noch jenseits des Khergebirges«, antwortete Ashnod. Jedesmal lief der Bericht auf diese einfache Frage hinaus; jedesmal erfolgte diese einfache Antwort. Die Plünderungen, die Bodenschätze, das angehäufte Wissen - alles war zweitrangig, wenn es um Neuigkeiten über Mishras Bruder ging. »Soweit du weißt«, entgegnete Mishra. Ashnod seufzte und versuchte, ihre Ungeduld zu unterdrücken. Seit der Machtergreifung hatte sich Mishra verändert, und das nicht zu seinem Vorteil. »Soweit es uns bekannt ist. Über allen Pässen nach Osten wurden Ornithopter gesichtet. Es gab jedoch keinen organisierten Widerstand der Yotianer. Angeblich hat sich Urza in Argivia niedergelassen, nahe der Grenze zu Korlis, aber Korlis gelobt in dieser Angelegenheit völlige Neutralität als Gegenleistung für den Zugang zu den Märkten der Fallaji.« Hajar schnaubte abfällig. Die meisten Fallaji hielten die Korlisianer für ebenso schlecht wie die Yotianer und verdächtigten sie, honigsüße Lügen über ihre Freundschaft zu verbreiten, während sie gleichzeitig nur auf den eigenen Vorteil bedacht waren. Wäre den Korlisianern wirklich daran gelegen gewesen, Freundschaft mit den Fallaji zu schließen, hätten sie Urza gefangengenommen, als er durch ihr Land gereist war, und ihn an Mishra ausgeliefert. »Worauf wartet er?« Mishra schlug die Hände zusammen. »Ein Jahr ist vergangen.« »Der Verlust von Kroog und Nordyotia hat ihn zu375
tiefst getroffen«, sagte Ashnod. »Vielleicht versteckt er sich einfach nur.« »Er versteckt sich nie!« erwiderte Mishra zornig. »Er schmiedet Pläne. Komplotte. Noch immer steht er mit den yotianischen Städten in Verbindung, dessen bin ich sicher! Und die Rebellen befolgen seine Befehle. Er wartet auf den richtigen Augenblick. Auf einen Moment der Schwäche. Auf unsere Unaufmerksamkeit. Und dann...« Mishra hob beide Hände, um die Gewalt von Urzas Rache anzudeuten. Ashnod biß sich auf die Lippen, ehe sie antwortete. »Wenn das der Fall ist, sollten wir vielleicht die yotianischen Städte belagern und plündern, damit er nicht auf ihren Reichtum zurückgreifen kann. Unsere Drachenmaschinen sind schon ungewöhnlich lange im Ruhestand.« Mishra murrte unwillig und verließ den Thronsessel. Er winkte Ashnod, ihm zu folgen, und ging auf eine Seitentür zu. Sie eilte ihm nach, und Hajar schloß sich den beiden an. Die Tür führte zu einer Wendeltreppe, die sich durch den ausgehöhlten Baumstumpf zog. Vor einer weiteren Tür endete die Treppe. Mishra öffnete sie und betrat die große Halle, dicht gefolgt von der neugierigen Ashnod und dem ungerührten Hajar. Die Sklaven, die mit dem Aufbau der Wände beschäftigt waren, hielten inne und sahen zu ihnen hinüber, was ihnen sofort Prügel durch die Aufseher einbrachte. Zwei riesige Maschinen beherrschten das aus einem einzigen Raum bestehende Gebäude. Winzige Gestalten - Schüler aus Zegon und Tomakul und die begabtesten jungen Fallaji - kletterten wie Ameisen auf und ab. Die erste Drachenmaschine sah eher wie ein Kadaver aus. Sie lag auf der Seite. Die Rollen und die Bauchplatten waren entfernt worden, und ein Gewirr 376
von Drähten füllte die Bauchhöhle. Man hatte sie teilweise entwirrt, und darunter kamen Pumpen und Servomechanismen zum Vorschein. Zahlreiche kleine Kraftsteine schimmerten schwach in den Wunden des Drachens, aber die Kreatur wirkte tot und erloschen. Daneben stand eine zweite Maschine, die der ersten so ähnlich sah, wie das von einem Kind gezeichnete Pferd dem lebenden Vorbild ähnlich sieht. Sie bestand nur aus Winkeln und scharfen Kanten und besaß weder das täuschend echte noch das elegante Äußere ihres Verwandten. Der Kopf war zwar recht ähnlich, sah aber trotzdem wie eine lächerliche Parodie des ersten Drachen aus. Die Muskeln bestanden nicht aus beweglichen Kabeln, sondern aus grob gehämmerten Metallbolzen, die durch Nieten und Schweißnähte miteinander verbunden waren. An dem zweiten Drachen wurde gearbeitet, und Ashnod beobachtete, wie die Studenten und Schüler ihn dazu brachten, ein Vorderbein zu heben. Es klappte, dennoch wirkte er lebloser als die auf der Seite liegende Kreatur. »Er ist in Kroog beschädigt worden«, erklärte Mishra und sah mit schmerzlichem Blick auf den gefallenen Drachen hinab. »Beim Kampf gegen einen der verdammten Rächer meines Bruders. Er hat überlebt, aber nach und nach sind sämtliche Funktionen erloschen. Zuerst wurde er immer langsamer, stolperte, war dann auf einer Seite gelähmt und wurde schließlich blind. Nichts konnte den Verfall aufhalten. Außerhalb dieses Lagers weiß niemand davon.« Ashnod zuckte mit den Achseln. »Ihr habt doch noch die übrigen Maschinen.« »Denen das gleiche widerfahren kann!« erwiderte Mishra aufgebracht. »Ich weiß nicht, was mein Bruder plant, und tagtäglich kann er Übleres im Schilde führen. Stell dir vor, wie es ist, wenn einer der Drachen 377
auf dem Schlachtfeld zusammenbricht! Was ist, wenn die Feinde sehen, daß meine Kreaturen nicht unbesiegbar sind?« Ashnod dachte darüber nach und nickte schließlich. »Mein Bruder ist in der Lage, sie zu besiegen. Das weiß ich mit Sicherheit«, meinte Mishra. »Wäre ich bloß dageblieben. Aber nein, ich mußte den Ornithopter verfolgen, von dem ich annahm, er berge mögliche Geiseln. Ein geringfügiger Fehler meinerseits, der jedoch fatale Folgen für diesen Drachen hatte. Wäre ich in Kroog geblieben, würde er noch funktionieren.« Wenn du in Kroog geblieben wärest, dachte Ashnod, wärest du jetzt sicher kein Quadir. Aber davon wußte Mishra nichts, auch nichts von der Rettung der Königin und Tawnos. Sie nickte wortlos. Mishra deutete auf die zweite Maschine. »Das ist nur ein schwaches Abbild. Ein Versuch, das Original nachzuahmen. Es verfügt über fast soviel Kraft wie der richtige Drache, besitzt aber überhaupt keine Eleganz. Kein Einfühlungsvermögen. Kein Leben. In dem sterbenden Körper stecken Geheimnisse. Unglaubliche Geheimnisse. Es übersteigt unsere Kräfte, sie zu ergründen. Vielleicht könnte Urza...« Mishra stockte. Schließlich fuhr er mit eisiger Stimme fort: »Urza könnte es, und deshalb müssen wir die neuen Maschinen fertigstellen, um ihn in Schach zu halten.« »Meister Mishra«, warf Ashnod ein, »ich glaube, ich kann Euch helfen.« Er starrte sie durchdringend an. »Du glaubst, den sterbenden Drachen reparieren zu können?« Ashnod betrachtete die Maschine. Sie sah wie ein von Aasfressern zerrissener Kadaver aus. Sie schüttelte den Kopf. »Eure Pläne gehen wunschgemäß voran. Erlaubt mir, mich wieder an meine Studien zu begeben, und ich werde Euch Waffen liefern, um Euren Bruder zu besiegen.« 378
»Du mußt die Plünderung Yotias beaufsichtigen. Du allein kannst beurteilen, was wertvoll ist und was nicht.« Ashnod schüttelte den Kopf. »Die meisten Wertsachen wurden bereits entfernt, können als Tribut gefordert werden oder sind nach Korlis gebracht worden. Ihr braucht mich nicht als Aufseherin, edler Herr. Ihr solltet mich nachdenken lassen. Um Euch beim Bau der Maschinen zu helfen.« Mishra sah sie nachdenklich an, und Ashnod fuhr fort: »Ich habe viel Zeit zum Überlegen gehabt, sowohl während meines unfreiwilligen Aufenthaltes in Kroog als auch später, während ich für Euch nach Büchern Ausschau hielt. Ich glaube, ich kann eine Maschine um ein Lebenslicht herum entwickeln. Ich gebe Euch die Armee, mit der Ihr Urza besiegen werdet.« Mishra wippte vor und zurück, ehe er den Kopf schüttelte. »Ich brauche dich. Außerhalb dieser Mauern bist du mein Auge und mein Ohr. Es ist noch viel zu tun, und es gibt nur wenige außer dir und Hajar, denen ich vertraue.« Ashnod legte den Kopf zur Seite und sagte: »Wie schade! Urza hätte Tawnos die Arbeit zugetraut. Außerdem war es der Student Tawnos, der Euch mit dem Ornithopter ablenkte, denn sein Meister Urza hat ihn gut ausgebildet. Wollt Ihr also sagen, Urza sei ein besserer Meister als Ihr?« Unbändige Wut spiegelte sich auf Mishras Zügen, und einen Augenblick lang fürchtete Ashnod, sie hätte es zu weit getrieben. Dann holte er tief Luft und beruhigte sich ein wenig. »Was brauchst du, um diese Armee zu bauen?« fragte er mit schneidender Stimme. Ashnod gab sich gelassen, als habe sie die Frage erwartet. »Meinen eigenen Arbeitsplatz, fernab von neugierigen Blicken.« Sie nickte Hajar spöttisch zu. »Die meisten der geplünderten Bücher, die sich mit Biologie 379
und Anatomie befassen. Chirurgische Geräte aus Zegon. Und Sklaven. Sowohl ausgebildete Schmiede und Glasbläser als auch andere, bei denen es gleichgültig ist, ob sie überleben oder nicht.« Mishra schwieg. »Dürfen es auch Kriminelle sein?« fragte er nach geraumer Zeit. Ashnod nickte. »Verbrecher, Verräter, Revolutionäre, Fahnenflüchtige - alle, deren Verschwinden nicht bedauert wird. Was ich vorhabe, mag einige Leute abschrecken.« Sie sah Hajar an. »Aber ich muß es tun, um diese Armee zu erschaffen. Aus diesem Grund möchte ich meine Arbeit geheimhalten.« Nach kurzem Zögern sagte Mishra: »Es sei dir gestattet.« »Ich kann natürlich keine sofortigen Ergebnisse versprechen«, erklärte Ashnod. »Weder heute noch morgen oder übermorgen. Aber mittels meiner Forschungen und Eurer Drachenmaschinen werden wir Euren Bruder aufstöbern und vernichten, wo auch immer er sich verbergen mag.« »Mein Bruder ver...« Mishra unterbrach sich und nickte. »Nimm dir, was du brauchst. Erstatte mir regelmäßig Bericht. Ich will wissen, was du tust. Und beeile dich. Mein Bruder wird nicht ewig auf eine günstige Gelegenheit warten.« Ashnod fügte hinzu: »Ihr solltet eigentlich wissen, was ich vorhabe. Es ist keine sanfte Methode.« »Wir leben auch nicht in sanften Zeiten. Wir sind kein sanftes Volk. Tu, was getan werden muß, aber gib mir die notwendigen Waffen. Tu, was du tun mußt!« Ashnod verneigte sich tief. Mishra machte auf dem Absatz kehrt und kehrte in seine seltsame Behausung zurück. Sein lautloser Schatten Hajar folgte ihm auf den Fersen. Als sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten, wußte Ashnod, daß Hajar dem Quadir Vorhaltungen über das Vertrauen machen würde, das 380
er der rothaarigen Frau schenkte. Oder er beglückwünschte den Quadir zu seiner Weisheit und war erleichtert, daß Ashnod nun nicht mehr so oft bei Hofe auftauchen würde. Das alles war ihr gleichgültig. Sie wartete, bis die beiden Gestalten außer Sichtweite waren, und gestattete sich dann ein strahlendes Lächeln. Sie hatte bekommen, was sie begehrte - einen eigenen Arbeitsplatz und die Freiheit, ihren Forschungen nachzugehen. Außerdem hatte sie noch etwas erfahren. Mishra fürchtete sich. Er fürchtete sich vor seinem Bruder. Er fürchtete sich, weil er dessen Frau verführt, den Palast zerstört und seine Spielzeuge zertrampelt hatte. Ein nützliches Wissen im Umgang mit dem neuen Quadir, aber sie würde sich hüten, dieses Wissen allzu offensichtlich werden zu lassen. »Sprich das Zauberwort, und die Türen zum verborgenen Schatz werden sich öffnen«, sagte sie zu sich selbst und dachte an die alte Fallajilegende. »Und das Zauberwort heißt >Urza<.« Ashnod beobachtete die winzigen Gestalten, die auf der Maschine herumkletterten. Sie entnahmen ihr wichtige Teile, um eine andere zum Leben zu erwecken. Dann kehrte sie in ihre Gemächer zurück, um Pläne für die Zukunft zu schmieden.
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KAPITEL 18
Urzas Turm Drei Jahre nach der Zerstörung Kroogs gelang es Tawnos endlich, sich wieder an Urzas Seite zu begeben; dieser lebte in der südwestlichsten Provinz Argivias. Es waren harte Jahre gewesen, und sie hatten in seinem Gesicht ihre Zeichen hinterlassen: Jahre des Versteckens, der Flucht, des Wartens, der Arbeit und der unvollendeten Arbeit. Kayla und ihr Sohn Harbin, der während des Monsuns unweit von Jorilin geboren worden war und jetzt zweieinhalb Jahre zählte, waren bei ihm. Außerdem befanden sie sich in Begleitung zweier Statuen aus Ton, die Tawnos in jenem furchtbaren zweiten Winter geschaffen hatte, als die Sklavenjäger aus der Wüste sie zwangen, ins Khergebirge zu fliehen. Irgendwann hatten sie es bis nach Korlis geschafft, wähnten sich aber auch dort nicht in Sicherheit. Die Korlisianer trieben Handel mit den Fallaji, und obwohl sie über ein Bündnis mit den Argivianern verhandelten, das ihnen gegenseitigen Schutz vor den Wüstenbewohnern zusicherte, war Kayla nicht sicher, ob die Kaufleute sie nicht vielleicht doch als Zeichen ihres guten Willens an Mishra ausliefern würden. Sie reisten unter falschen Namen und nur bei Nacht. Trotzdem wurde Kayla des öfteren erkannt - besonders in den yotianischen Küstenstädten -, und man bot ihnen Hilfe an. Dieses Erkennen und die dadurch entstehende Bedrohung überzeugten die ehemalige Königin von der Notwendigkeit, nach Norden und Osten zu fliehen, in Richtung Argivia. Als sie schließlich hör382
ten, daß Urza sich unweit der Grenze zu Korlis aufhielt, machten sich die drei, von den beiden Tonmenschen begleitet, auf den Weg zu seinem Turm. Das hörte sich leichter an, als es getan war. Urza hatte einen Ort weitab von Städten und Dörfern gewählt, an den Ausläufern des Khergebirges gelegen. Das Tal, in dem sein Turm stand, war fortwährend in dichte Nebelschwaden gehüllt, die von den über die Felsen stürzenden Gebirgsbächen aufstiegen. Dem flüchtigen Beobachter erschien es wie eines von hundert ähnlichen Tälern entlang der Westgrenze von Korlis und Argivia. Dieses Tal jedoch beschrieb einen Bogen und breitete sich ein Stück nach Norden aus. In jenem nördlichsten Winkel, vom dichten Nebel verborgen, erbaute Urza seinen Turm. Fünf Gestalten tauchten inmitten der weißen Schleier auf. Ein Mann zu Pferde, eine Frau und ein Kind auf dem Rücken eines kräftigen Ponys und zwei unermüdlich dahinstapfende Statuen. Der Turm bestand aus weißen Steinen und hatte eine goldene Kuppel. Schlank und einsam stand er dort, nur von den Berghängen umgeben. Kayla fiel auf, daß sich nirgends etwas regte. Sie meinte, das ganze sähe völlig verlassen aus. Tawnos stimmte zu. Früher, in Yotia, wären fortwährend Ornithopterpatrouillen über einem so bedeutenden Ort geflogen. In der Tat, wenn sie nicht vor zwei Tagen in einer nahegelegenen Stadt auf einen patriotischen Yotianer gestoßen wären, hätten sie den Turm niemals entdeckt. Das Kind Harbin rutschte unruhig vor seiner Mutter im Sattel hin und her. Der Nebel bereitete ihm großes Vergnügen, und immer wieder versuchte der Kleine, die weißen Schwaden mit den Händen festzuhalten. Tawnos erklärte ihm, daß man Luft nicht fangen könne, wenigstens nicht mit den Händen. Der Knabe 383
hörte aufmerksam zu, nickte mit ernster Miene und sobald Tawnos ihm den Rücken zuwandte - fuhr fort, nach dem Nebel zu greifen. Hundert Schritt vom Turm entfernt zügelte Tawnos sein Pferd. Grabesstille herrschte rings umher. Warum machten sich keine Verteidigungsmaßnahmen bemerkbar? Hatte Urza den Turm wirklich verlassen, oder hatte man sie bereits gesehen? Wenn ja, weshalb hieß sie dann niemand willkommen? Zu seiner Rechten gewahrte Tawnos eine Bewegung, und er riß das Pferd herum. Aus den Schatten ertönte ein seltsames leises Zirpen. Eine Gestalt erschien, gefolgt von einer zweiten und einer dritten. Sie sahen wie eine Mischung aus Männern und metallenen Insekten aus. Die länglichen Ameisenköpfe saßen auf spindeldürren Hälsen, und ihre Rüstungen schienen mit Rostflecken übersät zu sein. Sekunden später erkannte Tawnos, daß diese Rüstung den eigentlichen Körper bildete. Unter den Metallplatten erspähte er Drähte und Gelenke, die den Gestalten die Fortbewegung ermöglichten. Die Knie zeigten nach hinten; ähnlich wie bei den Rächern. Allerdings waren diese Gestalten nicht einmal mannshoch. Sie waren mit schweren Hackbeilen bewaffnet, die auf langen Stäben steckten. Drohend marschierten sie auf die Reisenden zu. Die Maschinen schwiegen. Das Zirpen erklang, wenn Metall auf Metall stieß, wenn sich die Zahnräder drehten, Drähte durch Ösen glitten und kleine Hebel auf und nieder wippten. Ein erstickter Schrei ließ Tawnos herumfahren. Drei ähnlich bewaffnete Gestalten waren seitlich von Kayla am Wegesrand aufgetaucht. Beide Gruppen näherten sich mit drohenden Gebärden. Tawnos brüllte den Statuen einen Befehl zu - einen der fünf, die sie verstanden - und trieb sein Pferd 384
voran, während er Kayla zurief, sie möge ihm folgen. Das Pferd war alt und erschöpft und wieherte unwillig, ehe es sich langsam in Bewegung setzte. Ebenso langsam wandten sich die beiden Statuen den Angreifern zu. Man hatte ihnen beigebracht, Waffen zu erkennen und Feinde zu bekämpfen. Die Vielzahl der Gegner verwirrte sie einen Augenblick lang. Dann wandte sich jede Statue einer Gruppe von Gegnern zu. Es folgte ein lautloser Kampf, ohne Schreie und Rufe. Die Tonstatuen hatten nur die Fäuste zur Verfügung, aber es waren riesige, hammerähnliche Fäuste, die mit aller Kraft geschwungen wurden. Die Metallgestalten bewegten sich flinker und konnten mit den Waffen Abstand halten, was den Statuen nicht möglich war. Ein tödlicher Tanz begann. Nur das Dröhnen der Fäuste, die auf der Rüstung landeten, und das sanfte Zischen der Klingen, die in den weichen Ton fuhren, waren zu hören. Die Anführer der Maschinen gerieten auf beiden Seiten zu nah an die Gegner heran und wurden mit harten Schlägen ins Gesicht belohnt. Einer konnte ausweichen, der andere jedoch nicht. Der dürre Hals brach in der Mitte entzwei, und der Kopf - nur noch von einem Drahtgewirr gehalten - fiel hintüber. Der Rest des Körpers beachtete den Verlust nicht und schlug weiterhin auf den Gegner ein. Die Klingen schlugen tiefe Wunden, aber der Ton schloß sich nach jedem Hieb wieder. Eines der Beile blieb im Ton stecken, und schon griff die Statue nach dem Kopf der Maschine. Sie drückte fest zu, und der Schädel des Gegners zerplatzte wie eine hohle Nuß. Einzelne Teile blieben in den Pranken des Tonmenschen zurück. Zwei der Maschinen wichen zurück und griffen dann gleichzeitig an. Die Tonstatue hob die Hand, um 385
sie abzuwehren, und beide zielten auf den ihnen zuge- , wandten Arm. Die erste Klinge drang tief in den Ton ein, die zweite noch ein Stück tiefer. Das dumpfe Klirren von Metall auf Metall war zu hören und dann ein Knacken, als der zweite Hieb den Metallknochen durchtrennte, der unter dem Ton verborgen lag. Die Statue hob den Arm noch höher, aber der größte Teil des Tons fiel ab und enthüllte das darunterliegende dünne Bronzegerüst. Während die Kreaturen gegeneinander kämpften, ritten Kayla und Tawnos auf den Turm zu. Wenn Urza dort lebte, gehörten die Maschinen ihm, und er konnte sie zurückrufen. Wenn er nicht daheim war, fanden sie vielleicht Unterschlupf in dem Gebäude, bis die Statuen ihre Gegner besiegt hatten. Tawnos rief zum Turm hinauf und entdeckte eine Bewegung. Eine hochgewachsene, vertraute Gestalt hob eine Pfeife an die Lippen. Drei kurze Pfiffe erklangen, und Tawnos drehte sich im Sattel um. Die Maschinen brachen den Angriff ab. Leider hielten die Tonmänner sie weiterhin für Feinde, und wieder brach ein dürrer Hals entzwei, ehe Tawnos ihnen befehlen konnte, stillzustehen. Sie gehorchten; einer von ihnen hielt mitten im Schlag inne. Tawnos sah wieder zum Turm hinauf, aber die Gestalt war verschwunden. Dann öffnete sich die Eingangstür, und ein Mann trat heraus. Es war nicht Urza, aber der Fremde war ebenso schlank wie der Wissenschaftler. Tawnos fragte sich, ob er den Mann oben auf den Zinnen mit einem anderen verwechselt hatte. Der Fremde trug die Uniform eines yotianischen Offiziers - anscheinend ein Pilot, wenn man sich die Stellen ansah, an denen einst Abzeichen und Schulterstücke befestigt gewesen waren. Er war Leutnant - besser gesagt, er war es gewesen, als Yotia noch eine Armee besaß. 386
Der Mann fiel vor den Neuankömmlingen auf die Knie. »Majestät«, begrüßte er Kayla. »Meister Tawnos. Der edle Herr Urza heißt Euch willkommen. Hätte er von Eurer Ankunft gewußt, hätte er die Wächter außer Betrieb gesetzt. Ich bin Sharaman. Bitte tretet ein, und fühlt Euch heimisch.« Er trat neben Kaylas Pony, um ihr beim Absitzen zu helfen. Statt dessen drückte sie ihm Harbin in die Arme. Der ehemalige Leutnant sah aus, als habe sie ihm einen Korb voller lebender Schlangen gereicht, und beeilte sich, den blonden Knaben sanft zu Boden zu stellen, während Kayla abstieg. Der Junge achtet nicht weiter auf die unfreundliche Behandlung und starrte angestrengt zu den Turmzinnen hinauf. Auch Tawnos sah nach oben und erspähte gerade noch, wie sich Urza hastig in den Schatten des Turms zurückzog. Dann war er verschwunden. Tawnos saß ab, und Sharaman sagte: »Wenn Ihr mir bitte folgen möchtet. Ich sollte Euch begrüßen und sofort zum Meister bringen.« »Das ist uns recht«, antwortete Kayla. Sharaman zögerte kurz. »Verzeihung, Majestät. Man wies mich an, Euch alle willkommen zu heißen, aber nur Meister Tawnos soll mich zum Herrn begleiten. Ich hoffe, das ist möglich.« Kayla und Tawnos wechselten einen Blick. Tawnos war davon ausgegangen, Urza brenne nach all diesen Jahren darauf, seine Frau wiederzusehen. Kaylas Lippen waren zu einem schmalen Strich geworden. Sie nickte zustimmend. Sharaman brachte die Königin und Harbin in einen kargen Warteraum im Erdgeschoß unter. Er teilte ihnen mit, er werde mit Getränken und - falls die Königin es gestatte - mit Zuckerwaffeln zurückkehren. Das brachte ihm Harbins Zuneigung ein, der begeistert 387
kreischte, als Kayla zustimmend nickte. Der ehemalige Offizier führte Tawnos zahlreiche Treppen hinauf. »Wie geht es ihm?« fragte Tawnos einmal. »Wie soll es ihm gehen?« lautete die Antwort. »Er hat viel durchgemacht.« Haben wir das nicht alle? dachte Tawnos, schwieg aber, als Sharaman endlich vor einer Tür anhielt und beiseite trat, um ihm Platz zu machen. Der Gehilfe betrat Urzas Arbeitszimmer, und sein Begleiter zog leise die Tür hinter ihm zu. Der Raum war ordentlich und geschmackvoll eingerichtet, wenngleich ein wenig karg. Ein dünner Teppich lag auf dem hölzernen Boden, und an den Fenstern standen ein paar Zeichenbretter, die mit Plänen der unterschiedlichsten Maschinen bedeckt waren Ein aus Schafgarbenholz geschnitztes Kugelgelenk lag neben einem aufgeschlagenen Buch auf einem kleinen Tisch. Urza stand an der Turmbrüstung, mit dem Rücken zu Tawnos, und sah über das nebelverhangene Tal hinweg zum Schauplatz des Kampfes hinüber. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Tawnos wartete. Schließlich stieß Urza einen Seufzer aus und drehte sich um. »Ich hatte zuerst eine Botschaft erwartet.« Tawnos sah die vielen kleinen Falten in den Augenwinkeln des Meisters. Die Augen schienen tiefer in den Höhlen zu liegen, und das Haar hatte die Farbe von gesponnenem Weißgold angenommen. Er trug seinen Arbeitskittel, der sauber und frisch gebügelt aussah. Tawnos sagte: »Botschaften können abgefangen werden. Außerdem wußten wir nicht genau, wo Ihr Euch aufhieltet, bis wir die argivianische Grenze überquerten.« Urza nickte gedankenverloren und holte tief Luft. Dann zwang er sich zu einem Lächeln. »Wie schön, 388
daß du am Leben bist. Als ich nichts von dir hörte, habe ich mir Sorgen gemacht.« »Wir mußten länger als geplant in Yotia bleiben.« »Aha.« Urza legte die Handflächen gegeneinander und drehte sie hin und her. »Das war sicher unumgänglich. Sieh dir meinen Schreibtisch an. Und zwar den Buchständer!« Tawnos schritt zum Schreibtisch hinüber. »Das Buch des Jalum!« sagte er nach einer Weile. »Das Buch des Jalum«, wiederholte Urza. »Du hast es geschafft, Tawnos. Das ganze Wissen, das du in den Ornithopter packen ließest, ist gerettet. Der Knabe Rendall ist nach Argivia geflohen, und als ich Penregon erreichte, erwartete er mich. Unsere Aufzeichnungen und fast alle Bücher sind hier. Natürlich gab es Verluste, aber nichts, was wir nicht wieder erarbeiten können. Ein Student hat sogar eine Wäscheliste eingepackt, weil er sie mit einem wichtigen Papier verwechselte, aber unter den damaligen Umständen war das Unterfangen insgesamt eine Glanzleistung.« Er sah Tawnos an. »Ich danke dir.« »Es war meine Pflicht.« Tawnos verneigte sich leicht. »Und die hast du mehr als hervorragend erfüllt. Übrigens finde ich diese Statuen da unten sehr beeindruckend.« »Ton, unter dem ein Gerüst aus Zweigen und Metall steckt«, erklärte Tawnos. »Das ist kein gewöhnlicher Ton«, widersprach Urza. »Er hat die Hiebe regelrecht abgeschüttelt.« »Richtig, Meister«, sagte Tawnos und fragte sich, warum sie ein derartiges Gespräch führten, während Kayla unten wartete. »Er stammt aus einer Gegend in den Bergen, in der wir - Ihre Majestät und ich - uns einmal versteckt hielten. Er besitzt die Eigenschaft, sich wieder zusammenzuschließen, wenn er durchtrennt wird. Anfangs dachte ich, er enthalte etwas Ähnliches 389
wie die Thransteine, aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Hätte ich den Ursprung dieses Bodens gefunden, könnten wir wunderbare Geschöpfe bauen.« »Stimmt«, meinte Urza und deutete plötzlich in eine Ecke des Zimmers. »Die Truhe dort. Schau nur hinein!« Tawnos sah den Wissenschaftler fragend an, gehorchte aber. Als er die Truhe öffnete, wurde er vom Glanz der Kristalle geblendet. »Kraftsteine«, flüsterte er. »Jawohl«, bestätigte Urza stolz. »Nie zuvor habe ich so viele auf einem Haufen gesehen.« »Stimmt. Während wir uns in Kroog mit wenigen zufrieden gaben, haben die argivianischen Edelleute sie seit vierzig Jahren gesammelt. Es gibt noch viel mehr; mehr als genug, um jede Anzahl von Maschinen in Gang zu setzen. Übrigens treiben sie auch die yotianischen Soldaten an.« »Yotianer?« fragte Tawnos, schmerzlich berührt. Urza hob abwehrend die Hände. »Ein kleiner Einfall meinerseits. Meine Wächter. Sie sind kleiner als die Rächer und leichter anzufertigen. Ich nenne sie yotianische Soldaten, denn ich hoffe, sie verhindern, daß Argivia und Korlis das gleiche Schicksal wie Yotia ereilt. Ein alter Freund sagte einmal, Namen hätten Macht. Und wer weiß...« Er beendete den Satz nicht. »Wer weiß, vielleicht gewinnen sie Yotia für die Königin zurück«, warf Tawnos ein. »Für das yotianische Volk«, berichtigte Urza hastig. »Für die Menschen, die mir vertrauten und die meinem Bruder in die Hände fielen.« »Euer Bruder hat im Augenblick alle Hände voll zu tun«, bemerkte Tawnos. Urza schwieg. »Wie ich hörte, ist er jetzt Quadir der Fallaji.« Urza nickte. »Das Universum verändert sich. Yotia fällt. Mein Bruder führt die Fallaji an. Die argivianische: 390
Krone besitzt nur noch wenig Macht, denn sie überließ Yotia die Sorge um die Wüstenstämme, und nun ist Yotia zerstört. Die Adligen herrschen in Penregon, und sie befürchten voller Sorge, daß die Fallaji das Gebirge überqueren und angreifen wollen.« »Und Ihr? Sorgt Ihr Euch auch?« Urza breitete die Arme mit einer Geste aus, die den ganze Raum einschloß. »Das ist das Ergebnis meiner Sorgen, Tawnos! Hätte ich das notwendige Material, könnte ich diesen Turm in fünf Tagen ein zweites Mal erbauen. Ich arbeite an einer Methode, mit deren Hilfe die yotianischen Soldaten ihn errichten können. Stell dir eine ganze Reihe dieser Festungen vor, bewacht von Soldaten, die niemals schlafen und die Argivia und Korlis vor den Fallaji beschützen. Vor meinem Bruder.« Tawnos nickte. »Ich war erstaunt, keine Ornithopter zu sehen.« Urza schüttelte den Kopf. »Sie werden im Norden benötigt, um die Pässe im Auge zu behalten. Außerdem ist ein fliegender Ornithopter ein deutliches Zeichen für den Feind, das ihm deinen Aufenthaltsort verrät. Für das Erlernen dieser Lektion habe ich einen hohen Preis gezahlt.« Urza drückte die Handflächen gegeneinander. »Habe ich dir schon erzählt, daß wir eine neue Akademie haben, und zwar in Penregon? Rendall und sein Bruder Sanwell weilen dort. Er und eine Handvoll anderer Studenten haben überlebt. Die Akademie wird von einem alten Freund geleitet - von Richlau. Habe ich ihn schon erwähnt?« »Urza«, sagte Tawnos leise. »Ich glaube nicht«, meinte Urza versonnen. »Nun ja, eine ganze Gruppe junger Adliger - eigentlich sind sie gar nicht mehr so jung -, mit denen ich einst im Lager Tocasias zusammengearbeitet habe, unterstützt mich. 391
Sie kennen sich mit Artefakten aus und wissen sie zu schätzen.« »Urza«, wiederholte Tawnos. »Wir haben mehr als nur die Kraftsteine«, fuhr Urza fort. »Arbeitskräfte, einen hohen Ausbildungsstand und viele Vorräte. Argivia ist ein reiches Land.« »Urza!« sagte Tawnos mit schneidender Stimme. »Was ist denn?« fragte der Wissenschaftler gereizt. »Kayla ist hier.« »Ich weiß.« Eine lange Pause entstand. Schließlich wiederholte er seufzend: »Ich weiß.« Es folgte eine noch längere Pause. »Ihr solltet zu ihr nach unten gehen. Und zu Eurem Sohn.« »Ist er denn wirklich...« Urza beendete den Satz nicht. »Er hat Euer Haar.« »Er hat das Haar meines Vaters«, entgegnete Urza und starrte wieder aus dem Fenster. »Ich wünschte, du hättest sie nicht hergebracht«, sagte er nach geraumer Zeit. »Bei allen Göttern Yotias!« schrie Tawnos, und Urza zuckte vor Schreck zusammen. »Wir waren drei Jahre lang auf der Flucht und mußten uns verbergen! Ich habe geholfen, Euren Sohn - jawohl, Euren Sohn - inmitten eines schrecklichen Sturms zur Welt zu bringen. Ich bringe die beiden sicher bis hierher, und Ihr wollt sie nicht einmal sehen! Haßt Ihr sie denn noch immer so sehr?« Urza erbleichte, und Tawnos fürchtete, er würde zurückweichen und sich ihm verschließen. »Nein«, antwortete er endlich. »Das ist es nicht. Nicht wirklich. Aber ich habe versagt. Ich habe nicht vorausgesehen, was geschehen würde. Ich habe die Pläne meines Bruders nicht durchschaut. Ich habe sie enttäuscht und das ganze Land dazu.« 392
»Ich habe auch versagt«, sagte Tawnos zornig. »Sie hat auch versagt. Während unserer Flucht hat uns dieses Versagen auf Schritt und Tritt begleitet. Ist es das, Urza? Schämt Ihr Euch, weil Ihr ebenso irren könnt wie der Rest der Menschheit?« Wieder entstand eine lange Pause. Dann seufzte Urza und sagte: »Ich bin eine Nebelkrähe, Tawnos. Ein böses Omen. Ich bringe nur Unglück, wohin ich auch gehe. Ich will sie nicht wieder verletzen. Nur ein Narr würde bei mir bleiben wollen.« »Dann dürft Ihr mich gerne einen Narren nennen«, erklärte Tawnos. »Ich möchte wieder Euer Gehilfe sein. Kayla möchte wieder Eure Gemahlin sein.« Erneut wandte sich Urza ab, und Tawnos sah, wie er die Hand hob - vielleicht, um eine Träne abzuwischen. Als sich der Wissenschaftler wieder umdrehte, war seine Miene besonnen und ruhig, die Augen hell und klar. Er lächelte. »Ich brauche keinen Gehilfen mehr. Und dein Geschick in bezug auf diese Statuen beweist, daß du ein wahrer Meister deines Fachs geworden bist.« »Nun, wenn Ihr keinen Gehilfen braucht, dann braucht Ihr jemanden, der ab und zu hinter Euch steht und Euch einen gehörigen Tritt versetzt. Das kann ich ganz besonders gut.« »In der Tat«, lächelte Urza. »Ich brauche einen Freund, und der warst du mir schon früher. Und ein Freund der Königin. Du hast uns nie enttäuscht.« »Da irrt Ihr Euch«, widersprach Tawnos. »Aber darüber wollen wir später einmal reden.« »Gut, das wollen wir.« Urza nickte ihm zu. »Laß uns hinuntergehen und meine Frau begrüßen. Und meinen Sohn.« Langsam schritten sie die Treppen hinunter. Tawnos fragte sich, ob dieser Turm genauso hellhörig war wie der Palast in Kroog. Einmal blieb Urza stehen, als 393
wolle er etwas zur Bauweise des Turmes erklären, schüttelte aber sofort den Kopf und ging weiter. Er wußte, dachte Tawnos, daß er das Unausweichliche nicht länger aufschieben konnte. Sie erreichten den Empfangsraum. Tawnos blieb an der Tür stehen. Sharaman stellte ein Tablett mit Zuckerwaffeln ab und zog sich in den Flur zurück. Kayla erhob sich, und Urza ging auf sie zu. Sie um-, armten sich, aber es war eine höfliche Umarmung, bei der sie jeweils die Hände auf die Ellenbogen des anderen legten. Trotzdem ließen sie sich nicht los, und Kayla hatte Tränen in den Augen. »Es ist schön...«, begann Urza mit krächzender Stimme. Er räusperte sich vernehmlich und versuchte es noch einmal: »Es ist schön, dich wiederzusehen.« Kayla bewegte die Lippen, aber Tawnos hörte kein Wort. »He!« rief Harbin, der neben seiner Mutter stand. Er zupfte Urza am Kittelsaum, und der Wissenschaftler sah zu dem Kind hinunter. Harbin sah Urza so forschend an, wie es nur ein zweieinhalbjähriges Kind vermag, und sagte: »Onkel Tawnos sagt, du bist mein Papa. Stimmt das?« Urza sah Kayla an und dann wieder zu dem Knaben hinab. Er kniete nieder und ergriff die kleine Hand. »Ich nehme es an«, sagte er. »Und ich bin sehr froh, dich nach all diesen Jahren endlich kennenzulernen.«
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KAPITEL 19
Austausch von Neuigkeiten Gix, der Dämon, hörte sich an, was einer seiner Mön-
che zu berichten hatte, aber es wurde kein Wort gesprochen. Statt dessen kniete der Mönch neben dem behelfsmäßigen Thron des Dämons, dessen Finger seinen Schädel umklammerten. Der Mönch stöhnte leise, als sich die Krallen in seine Kopfhaut gruben und Verbindung zu den darunterliegenden Nerven aufnahmen. Es war ein wundervolles Gefühl für Gix, regelrecht berauschend. Diese fleischlichen Wesen waren mit Empfindungen angefüllt. Sogar die Mönche, die - wie Gix inzwischen erfahren hatte - ein völlig anderes Leben führten als ihre Artgenossen, waren ein Füllhorn von Gefühlen, ein Abgrund unterschiedlichster Begierden, ein reichhaltiges Meer von Stimmungen. Die mitreißende Erregung, die ihn jedesmal packte, wenn er diese Gefühle indirekt miterlebte, war überwältigend. Der Dämon hätte nie zugegeben, daß dies vollkommen anders als alles war, was er daheim in Phyrexia erlebt hatte. Es war köstlich. Das war genau das richtige Wort. Die Berührung der Nerven war einfach köstlich. Die Gefühle ließen nach - Furcht, Zorn, Leidenschaft, Glück -, und Gix erforschte das Gehirn des Mönches. Die Mönche waren stolz auf ihr geordnetes Leben, aber Gix empfand ihren Verstand als wirres 395
Durcheinander, als Dschungel einander widersprechender Gedanken, die ebenso undurchdringlich wie der heimische Urwald waren. Langsam vergrößerte Gix sein eigenes Bewußtsein, zähmte den Urwald und zog die benötigten Antworten aus dem Schädel seines Anhängers. Manche Mönche hatten sich gegen seine behutsame Erforschung gewehrt; sie lagen draußen vor der Höhle begraben, neben den Schwächlingen, die schon bei der ersten sanften Berührung ihres Geistes zusammenbrachen. Nur die starken und willigen Brüder blieben im Dienste des Dämons, was genau in seinem Sinne war. Durch die Mönche hatte er viel über ihre Welt gelernt, eine Welt, die vollkommen anders als die seine war; so geordnet wie eine Goblinparade und so gut durchdacht wie ein auf dem Kopf stehender Ameisenhügel. Selbst diese Ausdrücke hatte er aus den Mönchsköpfen gezogen, denn das unbeschreibliche Chaos ihrer Welt war in keiner Weise mit dem Leben unter dem öligen Himmel Phyrexias zu vergleichen. In dieser Welt lebten unstete Wesen ohne fähige Herren, die sie hätten leiten können. Vielleicht hatte es einmal richtige Herren gegeben, aber sie starben oder gingen fort. Ihren Platz nahmen plärrende Kinder ein. Eine längst ausgestorbene Rasse wurde >die Thran< genannt. Wahrscheinlich waren sie Herrscher gewesen. Nun waren sie fort und hatten ihr Spielzeug hinterlassen - einfache, dumme Maschinen ohne einen Funken Verstand. Diese Maschinen waren von einigen der plärrenden Kinder entdeckt worden, die jetzt gefährliche Spiele damit spielten. Eines der Kinder hatte den Weg nach Phyrexia entdeckt und Spielzeuge der wahren Herren gestohlen. Es hatte jemanden bestohlen, der das Gestohlene suchen würde. Es hatte Gix bestohlen. Dieses Kind hieß Mishra, teilte ihm der Mönch mit. 396
Er war der Herrscher der Fallaji, eines dummen und gewalttätigen Volkes, das in der Wüste lebte. Aber es wäre zuviel der Ehre, ihn als Herrscher zu bezeichnen, denn er machte sich nur die bestialische Natur dieses Volkes zunutze. Die Fallaji kämpften willkürlich gegen andere Wesen. Dieser Mishra war nicht bedeutender als die Zierleiste einer teuflischen Maschine. Es gab noch jemanden, eine Untergebene Mishras. Die rothaarige Frau war in Gix' Erinnerung nicht deutlich zu sehen. Er war der Dieb. Mishra war es, dessen Geist den seinen vor vielen Jahren flüchtig berührt hatte. Er träumte von Mishra. (Hatte er geträumt, ehe er Mishra zum erstenmal sah? Gix dachte angestrengt nach. Er konnte sich nicht daran erinnern.) Mishra war in Phyrexia eingedrungen und hatte die Drachenmaschinen gestohlen, die Mak Fawas, Kreaturen der ersten Sphäre. Mishra mußte bestraft werden. Aber Mishra war nicht allein, denn damals, vor vielen Jahren, war eine schattenhafte Gestalt bei ihm gewesen. Anfangs hielt er sie für einen anderen Untergebenen, ähnlich der Dienerin Ashnod. Aber schon bald merkte Gix, daß die andere Person Mishra ähnlich war, aus den gleichen Materialien und Ursprüngen stammte. Ein Bruder, erklärte der Verstand des Mönches. Diesmal hatte das Wort eine andere Bedeutung als bei den Priestern. Der Bruder Urza war Herr über ein weiteres dummes, gewalttätiges Volk. Solche Barbaren gab es anscheinend ohne Ende in dieser Welt; Kinder unbekannter, nicht mehr vorhandener Herrscher. Nachdem Gix Urzas Vorhandensein gespürt hatte, konnte er ihn deutlich erkennen: er war aus dem gleichen Holz wie Mishra geschnitzt. Ihr Verstand schien geordneter zu arbeiten, jedenfalls geordneter, als es bei den meisten anderen Menschen der Fall war. 397
Jeder Bruder trug das Vermächtnis der Urahnen bei sich, der sogenannte Thran. Es handelte sich um einen in zwei Hälften zersprungenen Stein. Jede Hälfte enthielt alles, was den ursprünglichen Stein ausgemacht hatte, war jedoch verändert worden, um sich dem organischen Wesen anzupassen, dem sie nun gehörte. Gix spürte das kristallene Verlangen der beiden Hälften, ihre gegenseitige Anziehungskraft und die ebenso starke Abweisung. Die Steine wirkten wie Leuchtfeuer auf Gix, und er fühlte ihre Macht auch ohne den Geist des Mönches; Die Leuchtfeuer hatten sich in den letzten Jahren kaum bewegt. Eines glühte im Westen, hinter einem unwegsamen Gebirge. Das andere befand sich im Süden, hinter einer ähnlichen Barriere. Sie riefen ihn. Sie flehten ihn an, sie nach Phyrexia zu bringen, wo sie wahrhaftig von Nutzen sein würden. Anfangs, als er diese fleischliche Welt betrat, ging Gix davon aus, er würde nur den Dieb bestrafen und mit den Drachenmaschinen zurückkehren. Er vernahm ihre Rufe, wenngleich eine von ihnen vor einigen Jahren immer schwächer geworden war und schließlich geschwiegen hatte. Er trauerte um den Drachen und sehnte sich nach Rache. Jetzt war viel mehr daraus geworden. Er vermochte die Träume des Diebes zu berühren, so lange er sich in Phyrexia aufhielt, aber in dieser Welt konnte er weder Mishras noch Urzas Träume erreichen. Anscheinend waren sie gegen seine Berührungen gefeit. Gehörte das zur Macht der Steine oder lag es an dieser Welt? Die Steine waren wichtig. Sollte er sie an sich nehmen? Und stellten die beiden organischen Kinder eine Bedrohung für Phyrexia dar? Wenn sie die Grenze übertreten konnten - würden es auch andere schaffen? Um die Fragen zu beantworten, ging Gix logisch und vernünftig vor. Er schickte die Mönche aus, um 398
Neuigkeiten zu erfahren. Ein leises Stöhnen erklang, als die alten Gedanken aus dem Geist des Mönches gezogen und neue Anweisungen hineingegeben wurden. Gix hatte durch Fehler mit tödlichen Folgen gelernt, welche Teile des Gehirns für die Grundfunktionen des Körpers notwendig waren, und ließ sie unberührt. Der Dämon hob die Hand, und die Krallen glitten aus der Haut des Mannes. Der Mönch fiel, vornüber, in die ausgebreiteten Arme seiner Brüder (Brüder auf andere Weise, als Urza und Mishra es waren). Sie würden für den Mann sorgen und ihn pflegen. Wenn sein Geist sich erholte, würde er ihnen die Botschaft des Gottes übermitteln. Sie sollten ihre Brüder versammeln und zu Urza und Mishra gehen. Sie würden Teil ihrer dummen, gewalttätigen Völker werden. Sie mußten beobachten und ihm Bericht erstatten. Wenn die richtige Zeit gekommen wäre, sollten sie Gix auf seinem Thron in der Höhle von Koilos rufen, und er würde die beiden Brüder für ihre Sünden wider die Maschinen bestrafen. Für ihre Verbrechen wider Phyrexia. Und er würde ihnen die Steine fortnehmen, dachte Gix und bewegte die Finger. Blutstropfen des Mönches fielen auf seine Brust, wo sie Blasen bildeten und zischend verdampften. Ja, dachte der Dämon. Die Steine waren sein rechtmäßiges Eigentum. Er würde sie nach Phyrexia bringen.
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KAPITEL 20
Transmogranten In den folgenden Monaten erstattete Ashnod Mishra regelmäßig, wenngleich nicht allzu umfangreich Bei richt. Ein paar Worte über die bisherigen Fortschritte. Ein geänderter Terminplan. Eine Liste benötigter Materialien: Sand für eine besondere Glassorte, Metall aus einer bestimmten Schmiede, auf bestimmte Art gewebter Stoff. Und Sklaven - immer wieder neue Sklaven. Letztere gab es in Hülle und Fülle, alles andere aber wurde allmählich knapp. Der größte Teil Yotias war geplündert worden, und die Bewohner ganzer Dörfer mußten in den Minen arbeiten, die noch nicht ausgebeutet waren. Es trafen weniger Karawanen aus Zegon und Tomakul ein, als geplant, und die Güte der Waren ließ merklich zu wünschen übrig. Die Korlisianer, die sich noch immer hinter einer undurchsichtigen Maske der Neutralität verbargen, benahmen sich immer widerspenstiger. Mishra war überzeugt, ihre Karawanen dienten argivianischen Spionen, die seinem verhaßten Bruder Bericht erstatteten, als Deckung. Der Quadir stellte fest, daß Ashnods Forschungen die Disziplin und Treue seiner Truppen stärkten, als bekannt wurde, daß alle Deserteure und Diebe auf Nimmerwiedersehen in ihrem Lager verschwanden. Nach langen Monaten des Wartens erschien Ashnod schließlich mit einem Modell, um es Mishra vorzuführen. Es schwankte fortwährend nach links. Es sabberte. Es schlurfte auf zwei Beinen. Riesige Nadeln steckten in den Knöcheln, Ellenbogen, Handgelenken 400
und Knien. Metallplatten verstärkten den Hals. Es hatte keine Haare. Es besaß auch keine Zähne, und dort, wo einst Augen gesessen hatten, waren zwei dunkle Flecke zu sehen. Die Haut sah wie ein bläuliches dunkles Pflaster aus, war von Rissen durchzogen und schien von einer Wachsschicht umhüllt zu sein. Es konnte nicht sprechen und gab ein leises Miauen von sich. Es stank ekelerregend. Als Ashnod ihm einen Befehl erteilte, entwaffnete es drei von Mishras Soldaten, hätte sie um ein Haar getötet und achtete auch nicht auf eigene Schmerzen, als ein vierter Krieger es mit dem Speer an den Boden nagelte. Es kämpfte weiter und versuchte, den Angreifer mit den Krallen zu zerfetzen, bis die Organe schließlich aufgaben und es starb. Mishra war sehr zufrieden und erteilte Ashnod die Genehmigung, eine ganze Armee aus >Transmogranten< aufzustellen; aus Wesen, die einst Menschen gewesen und nun zu organischen Maschinen geworden waren, die Ashnods Befehle befolgten. Falls Ashnod die ängstlichen und angewiderten Blicke der Fallaji bemerkte, die beobachteten, wie ihr Modell an den Beinen aus dem Zimmer geschleift wurde, so schwieg sie dazu. Auch die in dunkle Kutten gehüllten Priester aus dem Norden, die sich aufgeregt im Flüsterton unterhielten, fielen ihr nicht auf. Trotz des erfolgreichen Abschneidens des ersten Modells dauerte es fast ein ganzes Jahr, bis Ashnod die notwendigen Verbesserungen ausgeführt hatte und eine Erfolgsrate von fünfzig Prozent garantieren konnte. Ein weiteres Jahr verging mit der Aufgabe, aus den Transmogranten eine geordnete Truppe zu machen. Die Methoden der rothaarigen Frau waren einfach 401
und skrupellos. Sie zerstörte den Geist und den Willen ihrer Gefangenen, bearbeitete ihre Haut und verwandelte sie in zähe, widerstandsfähige und stumpfsinnige Kreaturen. Nur ein Funke Intelligenz blieb erhalten genug, um einfache Befehle zu befolgen. Jegliche Persönlichkeit war verschwunden. Wie gut, daß der Vorgang den Körper und die Seele verstümmelte, dachte Ashnod. Es wäre schlecht, wenn ein Fallajikrieger plötzlich seinen kriminellen Vetter unter ihren Soldaten entdeckte. Endlich war die Truppe bereit, Mishra zu dienen. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Die Korlisianer, entschied Mishra, waren Verräter, und man mußte ein Exempel statuieren, ehe sie zu mächtig wurden. Argivia bewachte die Gebirgspässe im Norden, aber wenn die Armee des Quadirs im Süden durchbrach, unweit von Korlinda, konnten die Fallaji einen Teil des Gebirges besetzen. Mishra schickte Ashnod eine Botschaft, in der er sie anwies, die Soldaten kampfbereit zu halten. Die Magierin antwortete, sie wolle ihre Schöpfungen selbst in die Schlacht führen. In seinem Palast beschwerten sich die Offiziere beim Quadir. Wie sollte eine Frau die Truppen anführen? fragten sie. Wie konnte ein richtiger Mann einer Frau gehorchen? Insbesondere wenn es sich um einer Frau mit unglückbringender Haarfarbe handelte! Mishra hörte sich die Beschwerden an und schickte Ashnod eine zweite Botschaft, aus der hervorging, daß er ihre Teilnahme am Feldzug wünschte. Von einem Führen der Truppen war jedoch nicht die Rede. Ashnod las zwischen den Zeilen und antwortete, sie könne für keinerlei Erfolg ihrer Soldaten garantieren, wenn man ihr nicht die Führung der ganzen Armee anvertraue. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis 402
Mishra schließlich offiziell bekanntgab, daß Ashnod für den Feldzug nach Korlis zur obersten Befehlshaberin aller Truppen ernannt wurde, der sämtliche Offiziere unterstellt waren. Mishra verließ seinen Palast und begab sich in die Suwwardisümpfe, wo sich die Armee versammelte, um die Truppen zu inspizieren und sich zum letztenmal mit den Offizieren zu beraten. Wieder erklärten viele der Männer, unter ihnen auch der alte Jarin vom Stamm der Ghestos, wie beunruhigt sie über Ashnods Oberbefehl waren. »Sie ist eine Frau«, stellte Jarin bei dem letzten Treffen mit dem Quadir fest. Ashnod nahm nicht daran teil, denn sie bereitete ihre Transmogranten auf den langen Marsch vor. »Noch dazu eine gefühllose Frau«, fügte der alte Mann hinzu. »Sie ist meine rechte Hand«, entgegnete Mishra. »Ich vertraue ihr bedingungslos.« »Vertraut Ihr Euren Offizieren etwa weniger, Weisester der Weisen?« »Ich vertraue euch allen und erwarte, daß ihr eure Pflicht gegenüber dem Fallajivolk erfüllt«, lautete die Antwort. »Sie ist keine Fallaji!« rief Jarin aufgebracht, und die übrigen Offiziere flüsterten aufgeregt miteinander. »Sie wagt unaussprechliche Dinge! Ihre Abscheulichkeiten erschrecken die Pferde und beunruhigen die Krieger! Sie bedient sich fremder Magie!« Mishras Miene verdüsterte sich. »Ich bin auch kein Fallaji!« fauchte er. »Untertäniger Diener, willst du etwa auch auf meine ausländische Magie verzichten?« Jarin geriet ins Stottern und verstummte eiligst. Ein lastendes Schweigen legte sich über die Männer, und niemand stimmte Jarin zu. Auch Hajar stand mit steinernem Gesicht neben seinem Herrn. Schließlich kniete der Anführer der Ghestos vor Mi403
shra nieder und sagte: »Ich bedanke mich für die Gelegenheit, meine Befürchtungen aussprechen zu dürfen, allmächtiger Herr, und erkenne die Weisheit Eurer Entscheidungen bedingungslos an.« Die Gespräche wurden fortgesetzt, aber Jarin wagte nicht, sich noch einmal zu Wort zu melden. Die anderen Offiziere hüteten sich, das Thema erneut anzuschneiden, obwohl sie einer Meinung mit dem Alten waren. Am nächsten Morgen fand die große Truppenparade statt. Als die Truppen aufmarschierten, versammelten sich Mishra, seine Adjutanten und Hajar in dem großen Pavillon. Unter den Zuschauern waren nicht nur Fallaji, sondern auch Yotianer, die sich inmitten der Wüstenbewohner ein wenig unwohl fühlten. Die Soldaten trugen ihre Galauniformen, Rüstungen und Umhänge, die anschließend sorgfältig verpackt wurden und erst wieder zum Vorschein kommen sollten, wenn sie die Hauptstadt von Korlis erreichten. Drei Kavallerieeinheiten trabten vorbei, mit wallenden roten Gewändern angetan, die wie grelle Flammen aussahen. Trotz seines Gefühlsausbruches durfte Jarin die Ghestosreiter anführen, und mit ausdrucksloser Miene ritt er an ihrer Spitze. Die Sonne spiegelte sich in den breitkrempigen Metallhelmen der Fußtruppen, die in tadellos ausgerichteten Reihen am Quadir vorüberzogen. Ihnen folgten die Sturmtruppen, deren Soldaten jünger waren und ein wenig ungeordneter marschierten. Es handelte sich größtenteils um jüngere Söhne, die gerade erst in die Armee eingetreten waren. Dann erschienen die Späher auf ihren flinken Pferden. Sie galoppierten, ineinander verschlungene Figuren beschreibend, vor dem Pavillon auf und ab. Beim Aufmarsch jeder Einheit brachen die Fallaji in Jubelrufe aus, und sogar die anwesenden Yotianer konnten nicht umhin, das eindrucksvolle Auftre404
ten der Krieger und Offiziere zu bewundern und sich zu freuen, daß sie endlich ein anderes Land als Yotia aufsuchten. Jetzt traf Ashnod mit ihrer Horde Transmogranten ein. Fast dreihundert Kreaturen marschierten in Reih und Glied. Sie marschierten nicht im Gleichschritt, wie gut ausgebildete Soldaten, sondern wandelten mit unheimlichen, abgehackt wirkenden Bewegungen voran, da sie von einem einzigen Verstand befehligt wurden. Sie unterschieden sich nicht voneinander, als habe man alle aus einer Form gegossen. Auf den ersten Blick sahen sie aus, als würden sie beim geringsten Windhauch vornüberfallen, doch sie stapften unbeirrbar weiter. Die Wesen waren mit Waffenröcken aus grobem braunem Tuch bekleidet, die den Eindruck erweckten, als habe man sie erst nachträglich in aller Eile hinzugefügt. Ashnod ritt den Kreaturen auf einem kräftigen Rappen voraus. Ihr Umhang hatte die gleiche Farbe wie ihr leuchtendes Haar, und sie trug eine reich verzierte schwarze und rote Rüstung - eine Spezialanfertigung aus Zegon, wurde gemunkelt. Die Rüstung war mit scharfen Spitzen versehen und so gut poliert, daß sie jeden Sonnenstrahl einfing und die Zuschauer blendete. Die Jubelrufe verstummten, und auch der Beifall ließ fast vollständig nach. Mishras Adjutanten saßen wie versteinert neben ihm und verzogen keine Miene. Der Quadir hob freundlich die Hand, und Ashnod erwiderte den Gruß. Keiner von beiden beachtete die mangelnde Begeisterung der übrigen Menschen. Zum Schluß erschienen die Drachenmaschinen. Es handelte sich um vier neue Schöpfungen, angetrieben von Sklaven im Inneren der Körper, die riesige Blasebälge betätigten, um den Dampfdruck gleichmäßig zu halten. Als die gewaltigen Maschinen an der Menge 405
vorüberschritten, wallten neuer Beifall und Jubel auf. Nur zwei der Drachen sollten Ashnod begleiten; die anderen beiden wurden entlang des Khergebirges nach Süden geschickt, um die Aufmerksamkeit der Korlisianer zu erregen, damit sie ihre Armee aufteilten und dem Angriff der Fallaji weniger gut gerüstet entgegentraten. Der Anblick der Drachen hatte die Zuschauer begeistert, und nach der Parade gab der Quadir ein Festmahl für das Volk. Während des Mahls saß Ashnod zu seiner Rechten, und niemand konnte an dem Vertrauen zweifeln, das er ihr entgegenbrachte. Jarin saß am anderen Ende der Tafel, aber viele Fallaji - unter ihnen auch Hajar - blieben stehen, um dem alten Ghestos ihre Bewunderung auszusprechen. Im Morgengrauen brach die Armee auf und marschierte nach Osten, in Richtung Korlis. Sie nahm einen Weg ähnlich dem, den Mishra und Ashnod vor vielen Jahren benutzt hatten, um nach Korlinda zu gelangen. Die Reise verlief weniger glatt, als man erhofft hatte. Zum einen waren die neuen Drachenmaschinen nicht so gewandt wie die alten; sie bewegten sich langsamer und brauchten viel Platz, um eine Drehung auszuführen. Außerdem waren sie sehr laut, ließen zischend Dampf ab und klapperten wie ganze Säcke voller alter Nägel. Das brachte die Kavallerie durcheinander, und Ashnod begriff, daß es diesmal kein Überraschungsmoment geben würde. Zum anderen gab es die Transmogranten: Sie waren langsamer als die Fußtruppen und sogar langsamer als die Drachen. Allerdings kannten sie keine Müdigkeit. Tag für Tag blieben die lebenden Automaten weit hinter den Fußtruppen und der Kavallerie zurück. Und in jeder Nacht, kurz vor dem Läuten der Mitternachtsglocke, stapften die unansehnlichen Wesen ins Lager. 406
Ashnod blieb bei ihnen und unterhielt sich nur selten mit den anderen Offizieren. Gegen Ende des zehnten Tages im Gebirge entdeckten die Späher einen Ornithopter. Er sichtete sie ebenfalls und zog sich eiligst zurück; die riesigen Flügel schlugen heftig auf und ab. Nach Mitternacht hielten die Generale Kriegsrat. Es würde noch zwei Tage dauern, ehe sie die Berge hinter sich ließen und das offene Land des oberen Khortales erreichten. Die Korlisianer - wahrscheinlich von den Argivianern unterstützt - würden Mishras Truppen erwarten, ehe sie sich vollends vom Gebirge abgewandt hatten. Ein solcher Kampf war für die sonst so bewegliche Kavallerie eine Katastrophe. »Wie schrecklich, wie schrecklich!« sagte Jarin und kehrte die Handflächen nach außen. »Wir sind verloren! Die Söldner von Korlis werden den Paß stürmen und ihn gegen uns verteidigen. Wir können nicht einmal kehrtmachen, um unnötiges Blutvergießen zu verhindern. Gehen wir weiter, ist es blanker Wahnsinn; kehren wir um, beflecken wir unsere Ehre!« »Es muß einen anderen Weg geben«, murmelte Ashnod vor sich hin. »Wenn es einen gibt«, entgegnete Jarin, »werdet Ihr ihn sicherlich finden. Aus diesem Grund hat unser Quadir - gepriesen sei er für seine Weisheit! - Euch den Oberbefehl der Armee anvertraut.« Ashnod sah ihn an, um nach einem Anzeichen von Spott Ausschau zu halten, aber sie konnte nichts entdecken. Sie dachte eine Weile nach und sagte schließlich: »Wir müssen den Paß verlassen, ehe die Truppen von Korlis eintreffen.« »Sicher, aber wir sind zu langsam«, antwortete Jarin. »Hätten unsere Maschinen Flügel, könnten wir es schaffen, aber leider haben sie keine.« 407
Ashnod legte die Fingerspitzen gegeneinander und meinte: »Dann lassen wir die Drachen eben hier.« Die Offiziere waren entsetzt, und eine heftige Diskussion entspann sich. Die Maschinen seien wertvolle Geräte, erklärte ein Hauptmann, unschätzbar wichtig im Kampf. Es seien bewegliche Festungen, meinte ein zweiter, stabile Mittelpunkte, vor denen sich die Männer zu Verteidigung sammeln konnten. Ein dritter Offizier sagte, sie gewährten Schutz vor den Ornithoptern, deren Piloten sich hüteten, zu dicht an sie heranzufliegen. Ein Lächeln glitt über Jarins Gesicht, aber er schwieg. »Die Maschinen sind zu langsam«, wiederholte Ashnod. »Sie werden am Eingang des Passes zurückbleiben.« Sie sah Jarin an. »Oder habt Ihr eine bessere Idee?« fragte sie mit seidenweicher Stimme. Niemand antwortete. Die Besprechung war beendet. Ashnod verschwand, um ihre eigenartigen Kreaturen der Armee vorauszuschicken. Die Mak Fawas blieben zurück und sollten versuchen, die Armee später einzuholen. Die Fallaji erreichten das obere Khortal, ehe die feindliche Armee zu sehen war. Späher berichteten, daß sie im Anmarsch war. Auch hatten sie Omithopter gesehen, die über den Truppen kreisten: ein Beweis (wenn es überhaupt jemals Zweifel gegeben haben sollte), daß Urzas Argivianer mit den Kaufleuten im Bunde standen. Am nächsten Morgen würden die Feinde Mishras Armee gegenüberstehen. So blieb Ashnod Zeit genug, eine Falle vorzubereiten. Ihr Plan war einfach. Die Fußtruppen standen im Mittelpunkt der Ebene, rechts neben ihnen die drei Einheiten der Kavallerie. Die Transmogranten hielten sich hinter einer Reihe Fußsoldaten verborgen. Die Sturmtruppen sollten den Feind herausfordern und 408
den Angriff einleiten. Dann griffen die Transmogranten ein, und auf Ashnods Zeichen hin sollte die Kavallerie von der Flanke her angreifen. So würden die Korlisianer zwischen den schnellen Pferden und den standhaften Transmogranten zerquetscht werden. Jarin zeigte sich unbeeindruckt. Fallajireiter wurden für blitzschnelles Zuschlagen ausgebildet, erklärte er, aber nicht, um ganze Einheiten zu zermalmen. »Man kann alte Werkzeuge für neue Methoden einsetzen«, behauptete Ashnod, die den alten Ghestosanführer allmählich satt hatte. »Und wenn die Korlisianer den Köder nicht schlukken? Wenn sie ein Lager aufschlagen und auf Verstärkung warten?« »Dann treffen die Drachenmaschinen ein, und wir kämpfen auf althergebrachte Weise«, lautete ihre mißmutige Antwort. »Sagt mir, Hauptmann, würdet Ihr auch Mishras Befehle so oft bemängeln und in Frage stellen?« Der Alte nahm eine steife Haltung ein und erwiderte mit zusammengebissenen Zähnen: »Ich habe meine Befehle, und ich muß Euch gehorchen. Wir werden auf Euer Zeichen warten und von der Flanke her angreifen.« Am nächsten Morgen trafen die Korlisianer ein. Zahlenmäßig waren beide Armeen etwa gleich groß. Sie wurden von zwei Ornithoptern begleitet, von denen einer beim ersten Anblick der Feinde zurück nach Osten flog. Um Urza und Tawnos Bericht zu erstatten, dachte Ashnod. Gewiß befand sich keiner der beiden in der Nähe. Es gab keinerlei Hinweise auf Maschinen oder zusätzliche Ornithopter. Die Sturmtruppen forderten die Vorhut der Feinde heraus. Sie feuerten mit Kriegsschleudern und leichten Bogen. Ein paar feindliche Einheiten stürmten vor, wurden aber von ihren Offizieren zurückgerufen und 409
nahmen ordentlich Aufstellung. Da die Korlisianer hauptsächlich Söldner beschäftigten, würden sie bedeutend disziplinierter vorgehen als die unfähigen Argivianer, überlegte Ashnod. Allerdings mochten sich zahlreiche yotianische Hitzköpfe zwischen den Söldnern befinden, was wiederum zu einem verfrühten Angriff führen konnte. Langsam rückten die Feinde wie ein Mann vor. Die Mitte marschierte als fester Block, aber schon wagten sich die Flanken weit vor. Sie boten sich geradezu dafür an, von ihren Kameraden abgeschnitten und besiegt zu werden. Ashnod lächelte, als sie den Kriegern entgegensah. Die Transmogranten standen hinter einer dünnen Reihe Schwertkämpfer verborgen. Zu ihrer Rechten erschien die Kavallerie und wartete auf ihr Zeichen. Die beiden Armeen stießen mit der Gewalt prähistorischer Kreaturen aufeinander, und das große Sterben begann. Mit Speeren bewaffnete Fallaji hielten die Söldner auf Abstand, während die Schwertkämpfer sich in tödliche Zweikämpfe verstrickten. Ashnod rief einen Befehl, und die Soldaten im Mittelpunkt des Getümmels stoben auseinander. Noch ein Schrei, und die Transmogranten stapften mit erhobenen Waffen voran. Auf der gegenüberliegenden Seite geschah etwas Unvorhergesehenes: Die Söldner wichen aus, und dort, wo normalerweise die Elitetruppen standen, wurden seltsame Kreaturen sichtbar. Einige sahen wie Menschen in Insektenrüstungen aus, die anderen wie grobschlächtige, aus weichem Material bestehende Oger. Ashnod begriff, daß die Rüstungen die äußere Hülle menschenähnlicher Maschinen waren, und die Oger bestanden aus einer Art Schlamm. Automaten, dachte sie, wie Urzas Rächer. Die Korlisianer hatten ebenfalls für eine Überraschung in den eigenen Reihen gesorgt. 410
Ashnod fluchte, als sich die unterschiedlichen Kreaturen gegenüberstanden. Die Transmogranten hätten eine Menschenreihe mit Leichtigkeit durchbrochen, aber hier handelte es sich nicht um gewöhnliche Krieger. Die Insektenmänner kämpften mit der Genauigkeit eines Uhrwerks. Sie hoben und senkten die Klingen wie Bauern, die ihr Korn mähten. Die riesigen Schlammgestalten stapften einfach drauflos und zerquetschten die Schädel der Gegner zwischen den schweren Fäusten. Die Transmogranten zogen sich nicht zurück und stellten sich auch nicht neu auf. Ashnod hatte ihnen nicht genügend Verstand gelassen, um solche Vorgänge zu begreifen. Der rothaarigen Generalin war klar, daß sie unterliegen mußten - eine Tatsache, die auch den Fallajifußsoldaten und den Sturmtruppen nicht entging. Sie verloren bereits an Boden und befanden sich nur noch wenige Schritte vom schmählichen Rückzug entfernt. Ashnod sah sich an drei Seiten von Söldnern und Automaten umgeben. Sie erteilte den Befehl, das vereinbarte Zeichen zu geben. Ein plötzlicher Flankenangriff würde die Feinde zerstreuen und ihren eigenen Leuten Gelegenheit geben, sich erneut zu sammeln. Der Melder entrollte eine große, leuchtendrote Flagge und winkte der Kavallerie. Die Reiter rührten sich nicht. Ashnod starrte ungläubig zu ihnen hinüber, aber sie irrte sich nicht: Die Kavallerie verließ ihren Posten nicht. Eine Einheit Bogenschützen aus Korlis nahm genau gegenüber Aufstellung, aber die Reiter griffen nicht an. Ashnod fluchte noch einmal und brüllte den Melder an. Wieder schwenkte der Mann das rote Banner. Nichts geschah. Ashnod sah sich um. Die linke Flanke, die am weitesten von den Reitern entfernt stand, löste sich allmäh411
lieh auf. Die Fußsoldaten ließen Speere und teilweise auch Helme im Stich und wichen zurück. Vor ihr schnitten die Klingen der Insektenmenschen die Transmogranten in Stücke. Sie beobachtete, wie eine Lehmgestalt einen Transmogranten aufhob, über dem Kopf schwenkte und an Armen und Beinen auseinanderriß. Die Überreste fielen auf das Wesen herab, das keine Müdigkeit zeigte. Ashnod sah, wie sich die erlittenen Verletzungen von ganz allein schlossen. Ihre Schöpfungen hatten bei den Insektenmenschen mehr Erfolg, und überall am Boden lagen Fleischreste und zerstörte Maschinen herum. Ashnod sah noch einmal zur Kavallerie hinüber. Endlich bewegten sich die Reiter. Sie fluchte laut. Sie zogen sich zurück. Ein geordneter Rückzug, obwohl sie nur gewöhnlichen Bogenschützen gegenüberstanden. Der Anblick der zurückweichenden Kavallerie gab der rechten Flanke den Rest. Die Truppen schwankten und flohen. Da nun beide Flanken die Flucht ergriffen hatten, hielten nur noch die Transmogranten stand. Mit schmerzlicher Miene riß Ashnod ihr Pferd herum. Die Gewißheit, ihre Schöpfungen zurücklassen zu müssen, drohte ihr Herz zu zerreißen. Sie würden untergehen. Es gab keine Möglichkeit, sie zu retten. Sie gab dem Rappen die Sporen und verließ den Ort der Vernichtung. Hoffentlich fügten die Transmogranten den Feinden genug Schaden zu, um die Verfolgung der Fallaji so lange aufzuhalten, bis sie sich wieder unter dem Schutz der Drachenmaschinen befanden. Die Transmogranten erfüllten diese letzte Aufgabe bestens, denn nach dem Rückzug der Fallaji nahmen die Korlisianer die Verfolgung nicht auf. Vielleicht war der Feind angeschlagener, als Ashnod vermutet hatte, oder 412
wartete auf Verstärkung. Vielleicht enthielten die Verträge der Söldner Klauseln, die sie der Pflicht enthoben, besiegte Feinde in die Berge zu verfolgen. Vielleicht fürchteten die Offiziere einen Hinterhalt, dachte Ashnod. Wie auch immer, sie wurden nicht verfolgt. Nur ein einzelner Omithopter flog einen Tag lang hinter ihnen her, bis sie endlich auf die Drachen stießen. Die Überraschung war fehlgeschlagen, die Truppen stark verwundet, die Transmogranten ausgerottet. Die Soldaten scharten sich um die Drachenmaschinen und begaben sich auf den langen Heimweg. Einen halben Monat später stand Ashnod vor Mishras dunklem Eichenthron. Sie schäumte vor Wut. »Verrat!« schrie sie. »Ich habe einen unmißverständlichen Befehl gegeben, und Jarin hat ihn nicht befolgt! Deshalb haben wir den Kampf verloren!« »Allergnädigster Quadir«, entgegnete Jarin ruhig, »wir haben das Zeichen zum Angriff nicht gesehen. Unsere verehrte Generalin hatte befohlen, erst beim Schwenken der Flagge anzugreifen. Als wir sahen, daß unsere Truppen unterliegen würden, mußten wir uns zurückziehen, um sie vor den Feinden zu schützen. Hätten wir es nicht getan, wären noch mehr Krieger umgekommen.« »Wir wurden besiegt, weil er die Flagge nicht beachtet hat!« schrie Ashnod. »Ich habe die Flagge nicht gesehen«, erklärte Jarin mit ausdrucksloser Miene. »Keiner der Offiziere hat sie gesehen.« Mishra drückte die Fingerspitzen zusammen. »Willst du behaupten, daß meine Vertraute lügt?« »Nein, o Weisester aller Weisen«, beeilte sich Jarin zu sagen. »Ich sage nur: Wir haben die Flagge nicht gesehen. So kann das Schicksal spielen. Ein gewagter Plan 413
wird nicht ausgeführt, weil eine unvorhergesehene Kleinigkeit ihn verhindert.« Er sah Ashnod an. »Oder weil jemand einen Fehler begeht.« Hätten Blicke töten können, wäre Jarin auf der Stelle tot umgefallen. Der Alte fuhr fort: »Wir haben uns geordnet zurückgezogen. Die Reiter blieben größtenteils unverletzt; auch den Drachen wurde kein Schaden zugefügt. Bei den Fußtruppen gab es schwere Verluste, und die eigenen... die Sondereinheit der geschätzten Generalin... wurde vernichtet.« »Welch eine Überraschung!« murmelte Ashnod. Mishra beachtete ihre Bemerkung nicht und entließ den alten Krieger. »Glaubt Ihr seine Lügen etwa?« rief die rothaarige Frau, als sich die Tür hinter dem Ghestos schloß. Mishras Miene war ernst und angespannt. »Ich hatte gehofft, dein Unterfangen würde erfolgreich ausgehen. Erfolg bestätigt so manches Experiment. Wärst du in Korlis einmarschiert und hätten deine Wesen eine Landzunge erobert, würden die Offiziere jetzt Schlange stehen, um mir zu erzählen, daß sie dir von Anfang an vertraut haben. Leider ist es nicht so.« »Es sind Lügen«, erwiderte Ashnod hitzig. »Sie haben Angst vor mir. Vor uns. Vor dem, was wir erschaffen. Das Schlachtfeld gehört nicht länger den Menschen. Das haben die Drachenmaschinen bewiesen. Die Transmogranten auch.« »Nun, noch stimmt es nicht«, antwortete Mishra mit ausdrucksloser Stimme. »Ihre Schwerter hatten dort Erfolg, wo deine hirnlosen Wesen versagten. Aber nun stellt sich mir ein neues Problem. Die meisten Stammesführer denken, daß ich zu sehr auf dich gehört und Schwäche gezeigt habe, weil ich mich auf dich verlassen habe.« »Schwäche!« schrie Ashnod. »Sollen sie doch versuchen, eine ganze Armee zu befehligen!« 414
»Das werden sie«, sagte Mishra. »Ich schicke dich nach Sarinth.« Lange Zeit blieb es still im Raum. »Sarinth liegt am anderen Ende des Reiches«, meinte Ashnod schließlich. »An den Ufer des Ronomsees«, bestätigte Mishra. »Ein Land reich an Metallen und Holz - Materialien, die wir hier benötigen. Ich will, daß du mir die Treue der Stammesfürsten sicherst.« »Ihr wollt mich aus dem Weg haben!« Mishra breitete die Hände aus. »Du bist meine engste Vertraute. So lange du unter den anderen Offizieren weilst, fürchte ich um deine Sicherheit!« »Ihr solltet lieber um deren Sicherheit fürchten!« fauchte sie. »Das tue ich auch. Noch ein Grund, um dich nach Sarinth zu schicken. Nimm eine kleine Truppe vertrauenswürdiger Krieger mit. Sichere mir den Beistand der Fürsten.« »Und wenn Sarinth uns keinen Treueschwur leisten möchte?« erkundigte sich Ashnod verbittert. »Dann schicke ich dir eine größere Truppe und einen richtigen Offizier.« Ashnods Augen sprühten Funken, aber sie schwieg. Mishra hob die Brauen, und seine Miene wurde freundlicher. Diesen Ausdruck hatte Ashnod lange nicht mehr gesehen. »Meine Schülerin, du machst viele Dinge bedeutend besser als mancher Mann, als jeder Mensch meines Reiches. Aber du bist ein Teil dieses Reiches und mußt tun, was der Quadir befiehlt.« Ashnod verbeugte sich förmlich. »Ich respektiere Eure Wünsche, Weisester der Weisen«, erklärte sie hölzern. »Laßt mich die Vorbereitungen für meine Abreise treffen.« Mishra lächelte. »Noch etwas.« 415
Sie wandte sich ihm zu. »Laß Jarin am Leben. Es wäre... schwierig, zum jetzigen Zeitpunkt eine Erklärung zu finden, warum ihm so kurz nach diesem Gespräch etwas Grauenvolles zugestoßen ist.« Ashnod runzelte die Stirn, aber sie nickte. Die Tür schloß sich hinter ihr, und Mishra stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann erhob er sich vom Thron, ging zu der großen Tafel hinüber und macht sich daran, die Beine der neuen Drachenmaschine verbessern.
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KAPITEL 21
Elfenbeintürme Die argivianische Gelehrte Loran erreichte Terisiare- Stadt im Frühsommer des fünften Jahres nach Yotias Untergang. Die Reise hatte lange gedauert; erst von Penregon zu dem südlich gelegenen Korlis, dann mit einem Boot über das stürmische Meer nach Westen, in Richtung Norden bis nach Tomakul und schließlich wieder nach Westen, auf dem Rücken eines Kamels quer durch die Wüste, bis sie endlich die Grenze des Stadtstaates erblickte. Loran fragte sich, ob sie die Reise auch unternommen hätte, wenn ihr die wahre Entfernung bis nach Terisiare-Stadt bewußt gewesen wäre. In der Tat hatten zahlreiche befreundete Adlige versucht, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Aber sie wollte nicht in Penregon bleiben. Ein regelrechtes Kriegsfieber hatte den Adel ergriffen; eine Krankheit, die anscheinend das Hirn benebelte und bei den Erkrankten die Wahnvorstellung erweckte, jener Urza, der Yotia nicht hatte retten können, wäre diesmal in der Lage, ihr Land vor den Horden seines Bruder zu schützen. Loran glaubte keineswegs daran. In den Salons und Ratsstuben Penregons begegnete man ihren Zweifeln bestenfalls mit Gleichmut und schlimmstenfalls mit Hohn. Vor vielen Jahren hatte sie einen Briefwechsel mit der Archimandritin begonnen, und als die Gelehrte sie einlud, ihr einen Besuch abzustatten, war sie nur zu gern dazu bereit. Jetzt, nach endlosen Monaten, stand sie vor den Toren der mächtigen Elfenbeinstadt. 417
Terisiare-Stadt war von fruchtbaren Feldern umgeben, und man sah sie schon aus großer Entfernung. Die Stadt war ein Juwel, in einer Fassung aus weißem Stein. Die Dächer der Häuser bestanden aus Glas und Kristall, reflektierten das Sonnenlicht und tauch-; ten die Straßen in bunte Farben. Wenn die schweren Winterregenschauer herabprasselten, so wurde Loran von ihrem Führer versichert, klapperte und rasselte die ganze Stadt wie ein zu heftig geschütteltes Tamburin. Die Stadtmauern bestanden aus weißem Stein, der aus den fernen Colekganbergen stammte und den die Zwerge von ihren riesengroßen Sklaven nach Norden bringen ließen. Hohe Türme aus ähnlichem Gestein umgaben die ganze Stadt. Sie erinnerten Loran an Schachfiguren, die ein nachlässiger Gott vergessen haben mochte. Diese Türme waren regelrechte Kunstwerke, denn man hatte sie liebevoll mit Reliefs von Fabeltieren, geflügelten Löwen und Elefanten verziert. In einem dieser Türme sollte Loran die > Herrin des Elfenbeinturmordens < treffen, die Archimandritin von Terisiare-Stadt, oberste Gelehrte aller weisen Turmgelehrten. Loran wußte nicht, welcher Turm der Archimandritin gehörte, und erkundigte sich am Stadttor danach. Sie wollte ihre Ankunft melden lassen und sich ein Zimmer in einem Gasthof suchen. Am Tor stand ein breitschultriger, bärtiger Mann mit einem breitkrempigen Hut und einem Wanderstab in der Hand. Während sie mit den Wachen sprach, wischte er sich mit einem groben Tuch den Schweiß von der Stirn. Beim Klang ihrer Stimme drehte er sich um. »Ihr sucht die Herrin der Türme?« fragte er. »Kommt nur! Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr.« 418
Er wandte sich ab und ging ein paar Schritte weiter. Loran fiel auf, daß er ein lahmes Bein hatte. Beim Gehen stützte er sich schwer auf einen kurzen Metallstab. Einen Augenblick später blieb er stehen und sah sich nach ihr um. »Argivianerin, dem Dialekt nach zu urteilen.« Loran nickte verwirrt. »Seid Ihr vielleicht Loran, die Gelehrte aus Penregon?« »Die bin ich. Aber leider weiß ich nicht, wer Ihr seid.« Der Mann machte kehrt und humpelte auf sie zu. Loran ging ihm entgegen. »Feldon«, stellte er sich vor und beugte sich über ihre ausgestreckte Hand. »Ein Gelehrter, genau wie Ihr. Wißt Ihr, woran ich Euch erkannte?« Loran überlegte. »Ich nehme an, hier im Westen gibt es nur wenige Argivianer.« Feldon nickte, und Loran bemerkte, daß er das lange Haar nur zurückgeschoben hatte und nicht geflochten trug. Bei der Hitze war es kein Wunder, daß er so stark schwitzte. »Ihr werdet erwartet«, fuhr Feldon fort. »Kommt, wir wollen die Archimandritin gemeinsam aufsuchen.« Loran wies auf ihren Führer, der wartend neben seinem Kamel stand. »Ich muß erst eine Unterkunft suchen.« »Ach so. Gestattet Ihr?« Er hinkte auf den Führer zu und stieß einen Schwall Fallajiworte hervor. Der Dialekt war Loran unbekannt. Ihr Führer antwortete, und Feldon zog eine Münze aus der Manteltasche. Er warf sie dem Mann zu, der sie geschickt auffing und sich lächelnd verbeugte. »Ihr wohnt im selben Gasthof wie ich«, erklärte er Loran. »Übrigens, wäre Euer Führer kein ehrenwerter 419
Mensch, wärt Ihr nicht bis hierher gekommen. Jetzt folgt mir.« Er setzte sich hinkend in Bewegung. Er erinnerte Loran an einen Bären. An einen großen Bären, dachte sie, der versehentlich aus den Bergen gekommen war und mit einem Menschen verwechselt wurde. Bei dem Gedanken mußte sie lächeln, während sie ihm nach eilte. Letzteres war nicht schwer, da er immer wieder stehenblieb, sich den Schweiß abwischte und über die Hitze klagte. »Ihr seid auch nicht von hier«, stellte Loran fest. »Ich stamme aus dem nördlichen Hochland, nicht weit vom Gletscher entfernt. Bin hierher gekommen, um die Bibliotheken zu besuchen. Nutzlose Einrichtungen, diese Bibliotheken. Habe keine Runen gefunden, die übereinstimmen.« »Übereinstimmen womit?« erkundigte sich Loran. »Damit«, antwortete der Mann und hielt den Wanderstab in die Höhe. Der Griff war zu einem kunstvollen Bogen geformt. »Ein Wanderstab«, meinte Loran verständnislos. »Eher ein Stock«, entgegnete Feldon. »Seht ihn Euch genauer an.« Loran ergriff den Stab und betrachtete ihn eingehend. Die ganze Länge des Schaftes war mit winzigen Zeichen bedeckt - kaum mehr als Kratzer, die aber eindeutig eine bestimmte Ordnung aufwiesen. »Keine Thranrunen«, sagte sie nach geraumer Zeit. »Stammen auch nicht von Zwergen oder Goblins. Oder von sonst einer bekannten Rasse«, meinte Feldon »Habe ihn im Gletscher gefunden. Ich erforsche ihn.« »Den Stab?« fragte Loran verwundert. »Den Gletscher«, erwiderte Feldon mit einem breiten Grinsen. »Den, der sich in den Ronomsee ergießt. Gletscher sind gefrorene Flüsse, wißt Ihr? Sie bewegen sich. Nicht so, daß man es bemerkt, aber sie rutschen ganz langsam den Berg hinab. Dabei reißen sie alles 420
mit, was am Boden liegt. Habe den hier am Fuße des Gletschers gefunden und viele andere gesehen, die im Inneren begraben liegen.« Feldon setzte seine Erklärung fort, während sie an der Stadtmauer entlanggingen. Sie ließen den ersten Turm hinter sich und blieben vor dem zweiten stehen. Feldon schrie der Wächterin am Tor einen Schwall Worte in einer Loran völlig unbekannten Sprache entgegen. Die Frau verneigte sich und trat beiseite, um die beiden eintreten zu lassen. »Sumifanisch«, erklärte Feldon. »Die Sprache ist so sehr vom Tonfall abhängig, daß ein Gespräch zur Qual werden kann. Ein einziges Wort hat viele verschiedene Bedeutungen, je nachdem, wie man es betont.« »Seid Ihr Sprachforscher?« erkundigte sich Loran. »Wenn ich mich nicht gerade mit Gletschern befasse«, antwortete er lächelnd. »Eigentlich habe ich so viele Sprachen gelernt, weil ich alles über Gletscher wissen wollte und die alten Schriften nicht lesen konnte oder die Legenden in ihrer ursprünglichen Sprache nicht verstand. Also mußte ich Sprachen erlernen. Ihr habt Euch auf Artefakte spezialisiert, stimmt's?« »Auf alte Thranmaschinen«, erläuterte Loran. »Wie die beiden Brüder«, brummte ihr Begleiter, »Mishra und Wieheißternoch.« »Urza.« »Gefährliche Dinge, diese Artefakte«, meinte Feidon, und ein seltsamer Unterton in seiner Stimme erregte Lorans Mißtrauen. Inzwischen hatten sie die Eingangshalle hinter sich gelassen und den Hauptraum betreten. Der Raum war bedeutend größer, als Loran erwartet hatte, und wurde von einem schweren lackierten Eichentisch beherrscht. An den Wänden standen mit Glastüren versehene Bücherschränke, die unzählige 421
Folianten, Schriftrollen, Papiere und Kuriositäten entt hielten. Die Herrin des Turmes schritt auf sie zu. >Schwebte auf sie zu<, hätte es heißen müssen, denn die Archimandritin, eine gertenschlanke Frau mit schmalem, blassem Gesicht, schien den Steinboden nicht zu berühren. Das lange schwarze Haar floß ihr den Rücken hinunter. Loran dachte daran, wie sie schon als junges Mädchen ihr Haar offen getragen hatte, damals, im Lager Tocasias. Sie hatte das Gefühl, als läge das hundert Jahre zurück. »Guter Feldon«, begrüßte ihn die Archimandritin, Ihre Stimme war leise, aber bestimmt. Loran merkte sofort, daß man sich in ihrer Gegenwart für gewöhnlich still verhielt, um sie zu verstehen. Der schwitzende Gelehrte verneigte sich tief und wandte sich Loran zu. »Ehrwürdige Archimandritin, darf ich Euch Loran, die Argivianerin, vorstellen, Kennerin von Thranartefakten. Eine Frau, die mich freundlicherweise nicht unterbricht, wenn ich stundenlang über meine Gletscher plaudere.« Die Archimandritin verbeugte sich, und Loran erwiderte ihren Gruß. »Wie schön, daß Ihr da seid. Ich will Euch den anderen vorstellen.« >Die anderen< stellten sich als ein kahlköpfiges Paar heraus, ein Mann und eine Frau, die am anderen Ende des Tisches saßen. Der Mann, ein rundlicher Geselle, erhob sich. Loran streckte ihm die Hand entgegen, aber der Fremde kreuzte beide Arme auf der Brust, die Fingerspitzen auf die Schlüsselbeine gelegt. Loran hielt dies für eine Begrüßung und ließ die Hand sinken. Feldon grinste, und die Herrin des Turmes schwieg. »Drafna, Gründer der Schule von Lat-Nam«, stellte sich der Mann vor. Die Frau hustete leise. Es war kaum mehr als ein Räuspern, aber Loran und Drafna hörten es trotzdem. 422
Drafna räusperte sich ebenfalls und fuhr fort: »Mitbegründer der Schule von Lat-Nam.« Wieder erfolgte ein leises Hüsteln, und er versuchte es zum dritten Mal: »Mitbegründer der gegenwärtigen Inkarnation der Schule von Lat-Nam.« Er drehte sich zu der Frau um, die ihn anlächelte. »Meine Frau und Mitbegründerin, Hurkyl.« Loran verbeugte sich, und Hurkyl führte die gleiche Geste aus, wie eben ihr Gemahl. Bei ihr sah es bedeutend anmutiger und doch unverbindlicher aus. Loran starrte die kahlköpfige Frau an. Die Fremde hatte mandelförmige Augen, und die bloßen Schultern waren mit kunstvoll tätowierten Mustern bedeckt. Die Archimandritin bedeutete Loran, Platz zu nehmen, während Feldon für sich einen schweren Eichenstuhl zum Tisch zog, den Hut an die Lehne hängte und sich vorsichtig niederließ, wobei er sich schwer auf den Stab stützte. »Ich danke Euch für die Einladung, Herrin der Türme«, sagte Loran, »und ich möchte Euch gleich zu Beginn mitteilen, daß ich mit dem Wissen des obersten Wissenschaftlers von Argivia gekommen bin, nicht aber als seine Vertreterin.« »Das ist doch dieser Wieheißternoch!« warf Feldon ein. »Urza«, antwortete die Archimandritin gelassen und gab den Dienern ein Zeichen. Auf den ersten Blick war sie Loran recht jung vorgekommen, aber nun sah sie, daß die Frau älter war als sie selbst. Die unvergleichliche Anmut war sicherlich jahrelanger Übung zuzuschreiben. Ein sumifanischer Diener servierte den Kaffee. Er roch nach Honig und war nicht so dickflüssig wie das Loran bekannte Gebräu der Fallaji. »Wenngleich ich nicht als offizielle Abgesandte komme«, fuhr Loran fort, »habe ich die Beschreibun423
gen der Thranartefakte mitgebracht, die seit vielen Jahren von den Argivianern gesammelt wurden, und die Notizen Tocasias.« Sie wandte sich an Feldon. »Tocasia lehrte mich alles Wissenswerte über Artefakte. Außerdem unterrichtete sie Urza und Mishra.« Sie sah. wieder die Archimandritin an. »Leider gestattete Urza nicht, daß ich Unterlagen über seine eigenen Werke mitnahm. Da ich viele Meilen durch Gebiete reiste, die sein Bruder beherrscht, fürchtete er, die Schriftstücke könnten in die falschen Hände fallen.« »Verstehe«, sagte die Archimandritin und tat mit einem Wort kund, daß sie keinerlei Fragen über Urzas Arbeit stellen würde - jedenfalls nicht heute. »Aber Ihr habt genügend Unterlagen dabei, die von großem Wert für uns sind. Ihr kanntet die Brüder schon als Kinder?« »Ja«, antwortete Loran. »Damals war auch ich noch sehr jung.« »Haben sie sich schon immer gehaßt?« Loran überlegte eine Weile. »Nein. Sie waren Rivalen, würde ich sagen. Das sind Brüder doch immer. Urza war klüger; besser gesagt: fleißiger. Mishra war netter. Er verstand sich gut mit anderen Menschen.« »Es handelt sich um den gleichen Mishra, der Kroog vernichtet hat?« erkundigte sich Feldon in spöttischem Ton. Die Archimandritin beachtete ihn nicht und sagte: »Also haßten sie sich damals noch nicht.« »Nein.« Loran sah zu Feldon hinüber. »Aber sie, haben sich verändert. Ich habe Mishra seit dem Tod Tocasias nicht mehr gesehen, doch man sagt, er sei ein grausamer Herrscher, ein Dämon, was Korlisianer und Argivianer angeht.« »Stimmt das?« wollte Drafna wissen. Loran schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie er jetzt ist oder warum. Aber es fällt mir schwer, mir den 424
jungen Mann, der einst Geschichten am Lagerfeuer erzählte, als den Schlächter von Kroog vorzustellen.« »Die Zeit verändert uns alle«, meinte die Archimandritin. »Was ist mit seinem Bruder? Was ist mit Urza?« Wieder schüttelte Loran den Kopf. »Urza ist zutiefst verletzt worden. Er hat sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen. Ich habe nur einmal mit ihm gesprochen, als ich ihm von dieser Reise berichtete. Er war... nicht kalt, aber abwesend, als sei alles im Leben nur eine verschlüsselte Nachricht, die man entziffern könne, wenn man den richtigen Kode kennt.« Die Archimandritin beugte sich vor. »Ihr glaubt also nicht, daß es zu Verhandlungen kommen wird, sondern zu einem weiteren Kampf?« »Es gibt bestimmt keine Verhandlungen. Als ich Argivia verließ, baute man gerade zahlreiche Türme entlang der Grenze, bis unters Dach mit Urzas Soldatenmaschinen angefüllt. Im Hinterland wurden neue Minen erschlossen, und die meisten Flüsse sind gestaut, um zusätzliche Energie zu liefern. Als ich durch Zegon und Tomakul reiste, hingen überall Bilder von Mishra herum, und alle Leuten waren der Ansicht, er werde sie in eine glänzende und großartige Zukunft führen. Nein, es wird keine Verhandlungen geben, sondern einen Krieg.« »Sagte ich ja!« triumphierte Feldon. Die Archimandritin runzelte die Stirn. »Wen schert es schon, was zwei plärrende Kinder auf der anderen Seite des Kontinents treiben?« sagte Drafna mit scharfer Stimme. »Das hat nichts mit uns zu tun. Sollen sie sich zanken. Wir kümmern uns um unsere Arbeit. Wenn sie lieber kämpfen als forschen was geht es uns an?« »So einfach kann man das nicht abtun«, entgegnete Feldon. »Derartige Ereignisse neigen dazu, weite Kreise 425
zu ziehen. Zuerst kämpfen die Fallaji gegen die Yotianer. Jetzt gegen die Argivianer und Korlisianer. Wie lange wird es noch dauern, bis wir in die Streitigkeiten hineingezogen werden?« »Der Quadir der Fallaji wendet sich mit seiner Armee nach Osten. Er denkt gar nicht an uns«, meinte Drama. »Tatsächlich?« fauchte Feldon den verdutzten Mann an. »Heute morgen habe ich mich mit einem Kaufmann aus Sarinth unterhalten. Anscheinend weilt Mishras teuflische Gehilfin, Ashnod, die Gefühllose, in Sarinth, um über Nutzholz und Erzvorkommen zu >verhandeln< Anscheinend bestehen die Verhandlungen darin, daß Sarinth die Wahl hat, den Tribut freiwillig herauszugeben, oder die Fallaji holen ihn sich.« »Das würde ich gerne sehen«, spottete Drafna. »So haben auch die Zegoni gesprochen«, murmelte Feldon. »Und nun verbluten sie allmählich unter der Knute der Fallaji. Den Yotianern ergeht es ähnlich.« »Die Abgesandten des Quadirs haben auch die Ratsherren unserer Stadt angesprochen«, sagte die Archimandritin leise. »Man hat sie höflich abgewiesen. Was geschieht, wenn sie mit ihren Drachenmaschinen vor unseren Stadttoren stehen?« »Oder vor Euren, Drafna?« fragte Feldon. Der Mitbegründer der Schule von Lat-Nam schnaubte unwillig, antwortete aber nicht. »Terisiare-Stadt ist ein uralter Ort«, erklärte die Archimandritin, an Loran gewandt, aber ihre Worte waren für Drafna bestimmt. »Wir haben zahlreiche Verteidigungsmöglichkeiten. Auch die riesigen Türme rings um den Stadtkern gehören dazu. Diese Anlagen sind alt und reichen vielleicht nicht aus, um einem Angriff von außen zu widerstehen. Unser Volk lebt schon so lange in Frieden, daß es sich nichts anderes mehr vorstellen kann. Wir hassen den Krieg.« 426
»Es ist einerlei, ob ihr den Krieg haßt oder nicht«, warf Drafna ein. »Wenn er auf euch zukommt, habt ihr keine Wahl!« »Stimmt!« rief Feldon mit dröhnender Stimme. »Deshalb müssen wir uns vorbereiten. Ansonsten werden alle westlichen Länder, ihr Wissen und die Gelehrten der Reihe nach Opfer der Barbaren werden!« »Ihr könntet euch mit Urza verbünden«, schlug Loran vor. »Mishra bedeutet die größere Gefahr.« Die Archimandritin und Feldon wechselten Blicke und sahen dann Loran an. »Wieheißterdochgleich kann genauso schlimm sein wie Mishra«, antwortete Feldon. »Die Art, wie er Yotia verteidigte, läßt viel zu wünschen übrig.« »Wir möchten nicht dem einen Herrn entkommen, um uns vor dem nächsten zu verneigen«, fügte die Archimandritin leise, aber bestimmt hinzu. Loran dachte über ihren Ausspruch nach. »Das stimmt«, sagte sie nach einer Weile. »Leider ist Korlis inzwischen kaum mehr als eine Provinz Argivias. Die meisten Entscheidungen werden in Penregon mit der Ausrede gefällt, es geschehe im Namen der vereinten Bemühungen gegen die Fallaji.« »Stimmt genau«, sagte Feldon. »Wir müssen einen Ausweg finden.« Die Archimandritin beugte sich vor; unwillkürlich folgte Loran ihrem Beispiel. »In dieser Stadt leben viele Gelehrte. Sie kennen andere Gelehrte, die überall im Westen des Kontinents leben. Ich schlage vor, wir rufen sie zusammen und bilden einen Rat, eine Gemeinschaft, eine Versammlung von Weisen, die in der Lage ist, sich mit ihrem Wissen gegenüber den Maschinen der Brüder zu behaupten.« »Ich kenne ein paar sarinthianische Gelehrte, die in dem Augenblick, als Ashnod die Hauptstadt betrat, ihre Taschen gepackt haben«, sagte Feldon. »Und in 427
der Nähe des Gletschers leben Schamanen und Hexen, die uns ebenfalls zur Seite stehen könnten.« »Die berühmten Musikmagier aus Sumifa wären vielleicht ebenfalls zur Zusammenarbeit bereit. Wahrscheinlich auch die Astrologen und Zauberer, die aus Zegon geflohen sind«, setzte die Archimandritin hinzu. »Nein«, sagte Drafna. Alle starrten den Kahlkopf an. »Nein!« wiederholte er mit fester Stimme. »Das ist nichts für uns. Lat-Nam liegt so weit entfernt daß wir uns keine Sorgen wegen eines Wüstenstammes zu machen brauchen. Wir halten uns zurück.« Ein Husten ertönte, so leise, daß es fast nicht zu hören war. Drafna sah seine Frau an, die noch einmal hustete. Feldon hob fragend die Brauen, und die Archimandritin setzte eine ausdruckslose Miene auf. Drafna verzog das Gesicht. »Ich wollte sagen, wir warten ab.« Er warf seiner Frau einen bösen Blick zu. »Ich bin nicht ganz überzeugt, aber wir werden Euch unser Wissen und Können zur Verfügung stellen.« Er holte tief Luft und legte die dicken Finger gegeneinander. »Schließlich können wir vielleicht daraus lernen.« Die Archimandritin wandte sich an Loran. »Und Ihr, Loran aus Penregon? Werdet Ihr Euch uns anschließen?« Loran dachte eine Weile nach. Sie war gekommen, um ihr Wissen zu vergrößern, aber vielleicht handelte es sich um Wissen, das gegen jeden der Brüder angewandt werden konnte. Schuldete sie Urza und Mishra nicht doch etwas? Durfte sie Tocasias Unterlagen an Menschen weiterreichen, die nach einem Weg suchten, die Brüder zu besiegen - auch wenn es nur geschah, um sich zu verteidigen? Sie dachte an die immer zahlreicher werdenden Minen und Gießereien in ihrer Heimat und an die 428
adligen Familien, die Urza anscheinend zum Schutzpatron erklären lassen wollten. An die Fallaji, die Mishra wie einen Gott verehrten. Würde Tocasia wollen, daß einer der beiden ihre Lehren zu seinem Nutzen anwandte? Loran atmete tief durch, als sei sie ein Taucher, der im Begriff war vom Kai ins Meer zu springen. »Ja«, sagte sie schließlich, »ich schließe mich Euch an.«
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KAPITEL 22
Urzas Mitra Wie könnt Ihr bloß diese Kragen ertragen!« stieß Tawnos hervor und zerrte an dem gestärkten Kragen, der sich an seinen Hals drückte. »Kann ich gar nicht«, widersprach Urza. »Als ich noch ein Kind war, habe ich jede Zeremonie gehaßt, die ein Festgewand erforderte. Ich glaube, einer der Gründe, warum der Adel der Religion den Rücken wandte, ist der, daß sie zu viel unbequeme Kleidung mit sich brachte.« Beide Männer trugen gestärkte Baumwollhemden, darüber kratzige Wolljacken und schwere Wollhosen. Sämtliche Kleidungsstücke waren sorgfältig gebügelt worden. Ebenso unbequeme neue Lederstiefel, auf Hochglanz poliert; vervollständigten die Aufmachung. Tawnos erinnerten sie eher an Bleigewichte als an Schuhe. Bei den offiziellen Empfängen und Festlichkeiten, an denen sie oftmals teilnahmen, mußten sie sich in Gewänder zwängen, die sie verabscheuten. Tawnos überlegte, ob sie vielleicht nur die Kleider schicken sollten und selbst daheim bleiben konnten. Wenn er es recht bedachte, waren sie noch glimpflich davongekommen. Manche der Kostüme und Galauniformen der Adligen ließen die Träger wie vollbeladene Segelschiffe aussehen. Obendrein schmückten sich die Argivianer noch mit unzähligen Bändern, Abzeichen und Orden. Da Argivia nie zuvor einen Verteidigungsund Wissenschaftsminister oder einen Professor der Wissenschaften gehabt hatte, wurden die beiden Männer vor der schlimmsten Verunstaltung bewahrt. 430
Tawnos hatte immer gehört, die Argivianer seien ein ernstes, humorloses Volk. Die Art und Weise, wie sie Festlichkeiten begingen, war ein Beweis für diese Aussage, dachte er. Noch nie hatte er Menschen gesehen, die so darauf erpicht waren, sich unter allen Umständen zu vergnügen. Sie verfolgten dieses Ziel fast schon mit Verbissenheit. Das hatte sich im letzten Monat nur zu oft gezeigt. Unermeßlich viele Feierlichkeiten hatten in Penregon stattgefunden. Zuerst die königliche Hochzeit des jungen Kronprinzen und der Enkelin der ehrenwerten Herrscherin von Korlis. Dann die offizielle Abdankung des ehrwürdigen (wenngleich schwachen) Königs von Argivia zu Gunsten des Kronprinzen und seiner Braut. Danach folgte die offizielle Bekanntgabe der Vereinigten Königreiche von Argivia und Korlis (obwohl Korlis politisch längst schon von Argivia vereinnahmt worden war). Und nun die vorläufig letzte Feierlichkeit: Die Ernennung Urzas zum Verteidigungs- und Wissenschaftsminister beider Reiche. Dahinter steckten die Adligen. Sie lagen seit Jahren mit dem Königshaus im Zwist. Der König (der ab jetzt >der alte König< genannt wurde) hatte die Wüstenstämme immer mit Beschwichtigungen in Schach gehalten. Diese Taktik und die letzte Macht des alten Königs waren gemeinsam mit Kroog untergegangen. Die Adligen und die Kaufleute aus Korlis hatten die königliche Hochzeit geplant. Außerdem gelang es ihnen, den König zur Abdankung zu überreden. Tawnos wußte, daß sie Urza gedrängt hatten, das Zepter und die Mitra des Verteidigungsministers anzunehmen. Er begriff jedoch nicht, warum Urza den Posten angenommen hatte. Als Tawnos ihn fragte, redete sich der Wissenschaftler mit einer schwachen Begründung heraus - jedenfalls war sie in Tawnos' Augen schwach. 431
»In Yotia gestattete mir der König, meine Maschinen zu bauen, aber ich hatte wenig Einfluß auf ihre Verwendung und niemals ausreichende Materialien, um sie weiterzuentwickeln«, erklärte Urza. »Jetzt, als Wissenschaftsminister, bestimme ich ihren Einsatz und habe uneingeschränkten Zugang zu allem Material.« »Nun, dessen bin ich mir nicht so sicher«, entgegnete Tawnos. »Soviel ich weiß, müssen sich auch Führer bestimmten Dingen unterwerfen. Zum Beispiel dem Willen der Masse. Es gibt viele Leute, die danach schreien, Yotia zurückzuerobern.« »Das kann gut möglich sein, aber nur mit einer mechanischen Armee, die aus Rächern, Metallsoldaten und anderen Maschinen besteht, die wir noch erschaffen werden.« »Vielleicht bleibt uns nicht die Zeit, unser Werk zu beenden«, gab Tawnos zu bedenken. »Dieses neue Amt könnte dazu führen, daß man Euch unter Druck setzt, einen Angriff durchzuführen.« Urza rieb sich nachdenklich die Hände. Dann zuckte er mit den Achseln. »Vielleicht hast du recht, mein ehemaliger Schüler.« »Warum wollt Ihr dann Zepter und Mitra annehmen?« »Ich habe meine Gründe«, antwortete Urza und preßte die Lippen zusammen. Gerade wollte Tawnos nachhaken, um welche Gründe es sich handelte, als die Tür aufgerissen wurde. Ein kleiner Vogel aus Metall flatterte ins Zimmer, von dem Knaben Harbin gejagt. Der Siebenjährige lachte und sprang nach dem Vogel, der ihm mühelos auswich und über den Köpfen der Männer kreiste. Tawnos pfiff eine Melodie, und schon ließ sich der Vogel auf dem Kaminsims nieder. Sofort verstummte das Kind, als es sich der Anwesenheit Erwachsener bewußt wurde. »Onkel Tawnos!« rief es erfreut. Dann 432
verdüsterte sich seine Miene. »Vater, entschuldige, daß ich euch gestört habe.« Urza lächelte und sagte: »Du störst nicht.« Er sah zum Kamin hinüber. »Eine deiner Schöpfungen, Tawnos?« Tawnos zuckte mit den Achseln. »Eine kleine Zerstreuung, bei der ich ein paar unserer neuen Ideen verwendet habe. Der Vogel weicht dem Jungen aus, weil er den Luftzug, verursacht durch die Handbewegungen, wahrnimmt. Wenn er sich ganz langsam bewegt, kann er den Vogel fangen, aber ich kenne keinen kleinen Jungen, der so viel Geduld hat.« Urza nickte. »Die Yotianer mögen viele Seelen haben, aber du bist und bleibst ein Spielzeugmacher.« Kayla, Exilkönigin von Yotia, trat ins Zimmer, während der Diener, der ihren Umhang trug, vor der Tür stehenblieb. »Harbin! Du darfst doch deinen Vater und Tawnos nicht stören!« Wieder gestattete sich Urza ein Lächeln und sagte: »Er stört nicht. An einem Tag wie heute ist es kaum möglich, vernünftig zu arbeiten. Kommt, laßt uns auf unser Glück trinken.« Tawnos wandte sich um und ergriff eine riesige Rotweinflasche, ein Geschenk der Adligen. Die Argivianer liebten blutroten, gallenbitteren Wein. Urza holte zwei Gläser und seinen eigenen Kelch. Letzteren hatte er selbst entworfen und aus der Pumpe gefertigt, die Tocasias letztes Onulet angetrieben hatte. Das Onulet war in Argivia inzwischen zu einem ebenso legendären Geschöpf wie der Minotaurus oder der Greif geworden. Tawnos schenkte sich und der Königin nur wenig ein, füllte aber Urzas Becher bis zum Rand. Urza hob den Kelch. »In den letzten Jahren gingen wir durchs Feuer, und das hat uns gestählt. Inzwischen brennt das Feuer noch heißer, aber wir sind stär433
ker und immun gegen die Flammen. Auf Argivia und Korlis!« »Auf die Erinnerung an Yotia!« sagte Kayla. »Auf den neuen Wissenschafts- und Verteidigungsminister der Vereinigten Königreiche!« sagte Tawnos. »Auf den neuen Professor der Wissenschaften!« rief Urza fröhlich, und sie stießen an. Urza leerte seinen Becher und sprach: »Wir brechen jetzt lieber auf. Wenn wir zu spät kommen, werden die Argivianer in Zukunft das Zuspätkommen zu einem wichtigen Bestandteil jeder Zeremonie machen - von heute an bis zum jüngsten Tag!« Er ging zur Tür, hielt aber plötzlich inne. Dann pfiff er das Lied, daß Tawnos eben gepfiffen hatte. Der mechanische Vogel breitete die Flügel aus und stieß sich vom Kaminsims ab. Harbin sprang danach, verfehlte sein Ziel jedoch, und der Vogel flatterte im Zimmer umher, immer dicht vor der Nase des hüpfenden Kindes. Die Zeremonie war wie alle argivianischen Zeremonien: langatmig und ermüdend. Als sie vor einigen Wochen an der Hochzeit teilnahmen, hatte Tawnos geglaubt, die Feierlichkeit nicht zu überleben, aber diesmal war es viel schlimmer, da er und Urza im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit standen. Man konnte nicht einfach hinausschlüpfen, wenn man vor allen Anwesenden auf einem Podium thronte. Die Festhalle war einst eine Kathedrale gewesen, zu Ehren eines längst vergessenen Gottes erbaut. Sie war bis zum Bersten mit Adligen gefüllt, die ob ihrer prunkvollen Gewänder doppelten Körperumfang angenommen hatten. Der Geruch von Weihrauch wetteiferte mit den vielfältigen Duftwässern der Frauen (und Männer). Tawnos fragte sich, ob er trotz des engen 434
Kragens in der Lage sein würde zu niesen. Seine Augen tränten bereits. Die Argivianer gingen ihm auf die Nerven ganz besonders die Adligen. Aufgrund seiner yotianischen Abstammung behandelten ihn die meisten wie einen Verwandten vom Lande. Schon in Kroog hatte er sich fehl am Platze gefühlt, wie es oft der Fall ist, wenn ein Junge aus einer Küstenprovinz in die Großstadt zieht. Aber wenigstens hatte er in Kroog unter Yotianern gelebt. Die meisten Bewohner Argivias nahmen an, die Yotianer hätten Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Daher redeten sie sehr laut und langsam mit ihm. Noch schlimmer waren die Argivianer, die ihn behandelten, als sei er noch immer nichts weiter als Urzas Gehilfe. Häufig beachteten sie ihn überhaupt nicht, als sei er nur ein Dienstbote, ein Schmarotzer, ein Parasit. Selbst wenn der Wissenschaftler Tawnos' Erfindungen ausdrücklich erwähnte - zum Beispiel das Triskelion, eine bewegliche Festung -, bekamen sie einen abwesenden Blick, und Tawnos hörte förmlich, wie sie die Ohren verschlossen. Ach nein, dachte Tawnos, die gestärkten Kragen sind schlimmer als alles andere. Er wollte daran zupfen, hielt sich aber noch rechtzeitig zurück. Er würde wie ein Bauerntölpel wirken, wenn er während einer feierlichen Zeremonie an seinem Kragen zerrte. Das Ritual nahm kein Ende. Zuerst wurden die Anwesenden willkommen geheißen. Dann erfolgte die Begrüßung der ausländischen Gesandten, anschließend die persönliche Begrüßung der wichtigsten Adligen, was einem Aufruf an die gesamte Kathedrale gleichkam. Schließlich hielt der Oberste Kammerherr Argivias eine unendlich lange Rede, die jede noch so ausgedehnte Predigt im Tempel übertraf. Es folgte eine Aufzählung aller guten Ereignisse der letzten Tage, die 435
man (ob gerechtfertigt oder nicht) den Bemühungen Urzas und seines treuen Gehilfen Tawnos zuschrieb. Der Platz des brünetten Mannes ermöglichte es ihm, die Zuschauer anzusehen und einzelne Gesichter in der Menge zu suchen. Kayla und Harbin saßen in der ersten Reihe. Sie wurde von ihrer Robe fast erdrückt, und der Junge hatte sich schon vor einer halben Stunde der Langeweile ergeben und trat schmollend mit den Absätzen gegen die hölzerne Bank. Die Studenten saßen neben ihrem Lehrer Richlau. Rechts und links von ihm saßen die beiden ältesten Schüler, Sanwell und Rendall. Sharaman trug eine Galauniform und schien sich recht wohl darin zu fühlen. Tawnos beobachtete auch andere Zuschauer: argivianische Edelfrauen in prachtvollen Kleidern und junge Höflinge, die sie an Prunk zu übertreffen suchten. Korlisianische Kaufleute, die zwar weniger auffallend, aber dennoch kostbar gewandet erschienen waren. Die Abgesandten der Zwerge aus den Bergen Sardias bildeten eine mürrische, unscheinbare Gruppe, gegen die die Argivianer geradezu übermütig und die Korlisianer zumindest fröhlich wirkten. Das felsige Gebiet der Zwerge barg viele Bodenschätze, die Urza benötigte, und die kleinen Leute waren bereit, Steine und Metalle gegen Gold einzutauschen, das in Urzas Augen unwichtig war, da es auf dem Schlachtfeld keine Verwendung fand. Auch Yotianer waren anwesend - farbenfroh, aber schlicht gekleidet. Es handelte sich um Flüchtlinge, die nach Argivia entkommen waren und zu den mächtigsten Familien Yotias zählten. Neben den Einheimischen wirkten sie aber wie arme Verwandte. Viele Zuschauer waren Tawnos weniger gut bekannt. Dazu gehörten eine mit Fellen bekleidete Horde Barbaren aus Malpiri sowie eine Gruppe Priester in schwarzen Kutten, die winzige Maschinen an langen 436
Ketten um den Hals trugen. Gixianer, erinnerte sich Tawnos, aus einem hoch im Norden gelegenen Kloster. Sie hatten Urza angeboten, ihm bei seinen Forschungen behilflich zu sein, aber Tawnos fand, sie verehrten alle Maschinen mit einer an Fanatismus grenzenden Hingabe. Sie behandelten sogar die Ornithopter, als wären es lebende Wesen. Das beunruhigte Tawnos, und er ging ihnen aus dem Wege, wie es fast alle Menschen taten, denn niemand hatte Zeit für irgendwelche Götter und Priester. Die Rede des Kammerherren neigte sich dem Ende zu, und schließlich nahm die Handelsherrin von Korlis seinen Platz ein; sie besaß eine etwas angenehmere Stimme, war aber anscheinend darauf aus, den Anwesenden zu beweisen, daß ihr Volk ebenso langatmige Ansprachen halten konnte wie die Argivianer. Sie erwähnte die jüngsten Ereignisse, den Bau der Verteidigungstürme entlang der Grenzen beider Länder und die regelmäßigen Ornithopterpatrouillen, die sie vor den Fallajiteufeln beschützten. Derzeit sind sie nicht nur wegen der Ornithopterpatrouillen in Sicherheit, dachte Tawnos. In Penregon war bekannt geworden, daß Mishra ganz Yotia und Zegon ausgeplündert hatte und nun nach neuen Vorräten Ausschau hielt. Anscheinend war der Versuch, sich Sarinth als westliche Provinz einzuverleiben, nicht erfolgreich verlaufen, und nun lag eine riesige Armee vor den größten Städten und belagerte sie. Anstatt ein weiteres Vorratslager zu erschließen, hatte sich Mishra schon wieder Feinde geschaffen. Wenn er so weitermachte, würde Urzas Bruder in kurzer Zeit von Gegnern umzingelt sein. Selbstverständlich wußten die Adligen Argivias das zu schätzen, und auch die Korlisianer waren erfreut, da sie ihre kostbaren Karawanenstraßen gerne wieder bereist hätten. Jetzt war die Zeit gekommen, sagten sie, 437
zurückzuschlagen. Jetzt war es an der Zeit, Yotia zurückzuerobern. Jetzt war es an der Zeit, Mishra in seine Schranken zu weisen. Zu Tawnos' Überraschung hatte Urza auf die Forderungen reagiert. In Yotia hatte er sich in den Vogelsaal zurückgezogen und den anderen das Reden überlassen. Jetzt traf er sich fortwährend mit dem Adel und den Handelsherren und ließ es sich nicht nehmen, ihnen die neueste Maschine oder seine kühnen Pläne zu erklären. Sie wiederum hatten ihre Schatztruhen für ihn geöffnet und gaben ihm Kraftsteine, Land und alles, was er für seine Maßnahmen brauchte. Tawnos glaubte zu wissen, was Urza vorhatte. Der Wissenschaftler würde weiterhin Rächer, Ornithopter, Wächter und Soldaten bauen, bis er so viele besaß, daß sie jeder Drachenmaschine überlegen waren. Erst dann würde er einen Angriff auf seinen Bruder durchführen. Tawnos hoffte, daß Urza genügend Zeit blieb, diesen Plan in die Tat unzusetzen. Wenn er jedoch an die Ungeduld der Argivianer und die Gier der Korlisianer dachte, war er sich dessen nicht so sicher. Endlich verließ die Handelsherrin das Podium, und der junge König verlieh die Auszeichnungen. Urza kniete nieder (eine Glanzleistung, wenn man die steife Kleidung bedachte), und der Herrscher setzte ihm die hohe Mitra des Wissenschaftsministers auf den Kopf. Danach reichte er ihm das Zepter des Verteidigungsministers der Vereinigten Reiche. Die Menge applaudierte heftig, während Urza sich erhob, um den Beifall lächelnd entgegenzunehmen. Als Tawnos an der Reihe war, war der Jubel nicht ganz so laut, aber dennoch überschwenglich genug. Man legte ihm den schweren Samtumhang der Professoren um die Schultern (der für einen Mann seiner Größe hatte verlängert werden müssen). Auch Tawnos kniete, aber als der König ihm den Goldreif auf den 438
Kopf setzen wollte, mußte er sich ein wenig vorbeugen, damit der Herrscher sich nicht auf die Zehenspitzen zu stellen brauchte. Dann war es Zeit für die Schlußrede, und Tawnos sah, wie ein Schaudern die Zuschauer durchlief, als der Kammerherr noch einmal das Podium betrat und mit schriller Stimme eine flammende Ansprache gegen die Fallajiteufel hielt. Sie fehlen hier, dachte Tawnos. Es waren keine Fallaji anwesend - wenigstens wagte niemand, eine dahingehende Abstammung zuzugeben. Der Kammerherr erklärte Urza zum Verteidigungsminister aller Länder, die nicht von den Fallaji oder ihren Verbündeten besetzt waren. Mit anderen Worten: alle Länder, die sich der Herrschaft Mishras entzogen. Endlich war die Zeremonie vorüber, und die Menschen verließen die Kathedrale, um am traditionellen Festmahl teilzunehmen, bei dem noch viel längere Reden gehalten werden sollten. Jeder Handelsherr und noch so unbedeutende Adlige würde sich erheben und seine Ansichten laut verkünden. Tawnos konnte es nicht mehr ertragen. Als sie Urzas Gemächer betraten, setzte der Wissenschaftler lächelnd die Mitra ab. Sie war sehr schwer, und Tawnos hatte anfangs befürchtet, Urza würde durch das Gewicht ins Stolpern geraten. Mit offensichtlicher Begeisterung wog er die Mitra in beiden Händen. Nach einer Weile sagte Tawnos: »So fröhlich habe ich Euch auch in Kroog nie erlebt, wenn das Volk Euch zujubelte. Bringt Euch die Tatsache zum Lächeln, daß es sich hier um Eure Landsleute handelt?« Urza sah ihn leicht verwirrt an. Dann grinste er über das ganze Gesicht. »Das glaubst du? Daß ich ein eingebildeter alter Narr geworden bin, der sich an der Bewunderung der Menge ergötzt? Sieh dir meinen neuen 439
Hut an, mein ehemaliger Schüler, dann weißt du, warum ich lächle.« Tawnos stellte sich neben ihn und sah auf die Mitra hinab. An den Saum und entlang der Ränder hatte man unzählige Edelsteine genäht. Aus diesem Grund war die Mitra so schwer. Nein, keine Edelsteine, dachte Tawnos. Kraftsteine. rein und unversehrt. Es waren mehr, als sich damals vor fünf Jahren, in der Schatulle befanden, die Urza bei ihrem Wiedersehen gezeigt hatte. Tawnos sah den Wissenschaftsminister an, der ihn mit einem strahlenden Lächeln bedachte. Deshalb hatte erden Prunk und die Unbequemlichkeiten der Zeremonie; erduldet. Deshalb hatte er die langweiligen Reden tragen, den Adligen geschmeichelt und schließlich, Bescheidenheit zur Schau tragend, den Posten des Ministers angenommen. Alles, um mehr Macht zu bekommen. Freien Zugang zu notwendigen Bodenschätzen. Urza überließ Tawnos die Mitra und holte seineiv Becher, ehe sie sich zum Festmahl begaben. Tawnos schüttelte den Kopf. Sein ehemaliger Lehrer hatte sich nicht verändert. Noch immer waren die Maschinen der Mittelpunkt seiner Welt. Tawnos war unschlüssig, ob ihm diese Erkenntnis gefiel oder nicht.
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KAPITEL 23
Schutzkreise Die Bruderschaft des Gix rief ihren Herrn in Mishras Palast. Die Priester riefen ihn, weil Mishra, der Quadirzauberer der Fallaji, schon bald nach Westen reisen wollte, in die Karawanenstadt Tomakul. An der sarinthianischen Front hatte sich ein erbitterter Krieg entwickelt, und Mishra wollte zur Stelle sein. Er hatte Truppen aus Yotia abgezogen, und die Armee befand sich auf dem langen Weg nach Norden und Westen zu den von Wäldern gesäumten Ufern des Ronomsees. Die Gixianer wußten von diesen Entscheidungen, da sie sich in den Alltag des Palastes und der umliegenden Fabriken eingeschlichen hatten. In den letzten Jahren waren sie zu einem festen Bestandteil von Mishras Hof geworden und wurden stillschweigend geduldet. Diese Duldung ermöglichte ihnen, ein dichtes Netz aus Verrat zu weben. Ihnen entging so gut wie nichts, und kaum etwas geschah, das nicht die Ohren ihres Meisters Gix erreichte. Inzwischen waren die meisten Minen ausgebeutet, sagten die Berichte aus Yotia, und ganze Berge wurden abgebaut, um an eventuelle Bodenschätze zu gelangen. Der Tribut aus Zegon an Menschen und Waren ließ immer mehr zu wünschen übrig. Das entlegene Almaaz hatte sich seinen Schutz erkauft, indem es seine legendären Musikmagier für die Fallaji arbeiten ließ, aber nach geraumer Zeit war Mishra auch von ihren Holz- und Erzvorräten abhängig. Dann war da noch Sarinth. In den offiziellen Berich441
ten des Truppenkommandeurs war die Rede von großen Lindwürmern, die in den Wäldern hausten, und von Truppen, die aus dem Hinterhalt zuschlugen. Die Stadt Sarinth, die jahrelange Angriffe der aus dem Norden stammenden Yumoks abgewehrt hatte, war hart zu knacken wie eine Nuß mit eiserner Schale. Es gab auch noch andere Berichte aus Sarinth, die von Ashnod stammten. Es fiel den Gixianern nicht leicht, sie in die Hände zu bekommen, aber es war auch nicht unmöglich. Die Briefe klangen freundlich, und angenehm, unterließen es aber nie, die Schwierigkeiten des Truppenkommandeurs zu erwähnen und die unausweichliche Tragödie anzukündigen, die hereinbrechen würde, wenn die rothaarige Frau nicht schnellsten den Oberbefehl über die Armee erhielt. Mishra blieb bei seiner Entscheidung: Er übergab ihr keinerlei militärische Befehlsgewalt, rief sie aber auch nicht an den Hof zurück. Die Gixianer waren darüber hocherfreut. Und schließlich kamen Berichte aus dem Osten, durch die Pässe im Khergebirge, aus Argivia und Korlis. Der Krieg ging dort nur langsam voran, da zweiGiganten miteinander rangen. Zweifellos war Urza unermüdlich und zerstörte riesige Gebiete des Landes, um seine Maschinen zu bauen. Überall an den Grenzen standen hohe Türme, die fast über Nacht auftauchten und mechanische Verteidiger bargen. Es gingen Gerüchte um, daß die Argivianer die Berge überqueren und Yotia erobern wollten. Mishra sah sich gezwungen, seinen Hof nach Tomakul zu verlegen, in die Nähe des Herzens seines Reiches, um der sarinthianischen Front näher und der nur schlecht verteidigten Grenze zu Argivia ferner zu sein. Letzteres beunruhigte die Bruderschaft des Gix. Ein Umzug brachte ihr ganzes Nachrichtennetz in Unordnung. Daher versammelten sich die Mitglieder in ihrer 442
Unterkunft (die neben dem Abflußkanal der großen Fabriken lag) und riefen nach ihrem Meister. Der Gesang war eintönig und unmißverständlich. Vor ihrem Aufbruch von Koilos hatte man sie gelehrt, wie sie nach Gix rufen mußten, und der Dämon hatte ihnen genaue Anweisungen erteilt, wann sie sich an ihn wenden durften. Jetzt, im fensterlosen Hauptraum ihrer Unterkunft, stimmten die Brüder das richtige Lied an und führten die vorgeschriebenen Gesten aus. Nach einer Weile bewegte sich die Luft im Zimmer, und eine hohe schwarze Rauchwolke erschien, die nach brennendem Öl roch. Sie vernahmen das Knirschen eines Getriebes, und Gix, ihr Meister, trat in seiner prunkvollen Rüstung aus dem Rauch hervor. Die schlangengleichen Drähte und Kabel auf seinem Kopf ringelten sich bis auf die Schultern. »Ihr habt mich gerufen«, sagte Gix. »Ich nehme an, es gibt einen guten Grund dafür.« Unsichtbar glitt Gix durch die nächtliche Wüste. Dichte Rauchwolken bedeckten den Himmel und verbargen die Landschaft vor neugierigen Blicken. Nur das schwache Licht der Tag und Nacht arbeitenden Gießereien und Schmieden sorgte für ein wenig Helligkeit. Die riesigen Bäume, die einst die Fabriken umgeben hatten, waren längst gefällt, und das Holz war für den Bau von Katapulten, Rammböcken, Drachenmaschinen und anderer Kriegsgeräte benutzt worden. Die übriggebliebenen Stümpfe hatte man ausgehöhlt, mit dünnen Kupferdächern abgedeckt und zu Unterkünften und wieder neuen Fabriken umgebaut. Es lebten noch Menschen hier - Sklaven und Krieger -, aber der größte Teil der Arbeit wurde von Maschinen verrichtet, von großen klappernden Wesen, die gedankenlos eine Arbeit nach der anderen erledigten. 443
Es war nicht Phyrexia, dachte der Dämon, aber merhin kein schlechter Anfang. Seine Anhänger hatten recht. Wenn Mishra sein Hauptquartier erst einmal verlegte, war es schwierig an ihn heranzukommen. Außerdem konnte es Jahre dauern, bis der menschliche Magier Tomakul zu solchen Höhen erhob, wie er es hier geschafft hatte. Jetzt war die Zeit des Handelns gekommen, dachte der Dämon, ehe der gewonnene Vorteil zerrann. Gix bewegte sich wie ein Geist durch die leeren Gänge und Räume. Er hatte seine Kinder, die Mönche, zurückgelassen, nachdem er sie mit Träumen von Phyrexia belohnt hatte. Sie lagen in tiefer Ohnmacht und träumten vom Paradies der Maschinen. Gix reiste am liebsten allein. Falls man ihn entdeckte, würde er im Bruchteil einer Sekunde nach Koilos fliehen. In den vergangenen Janren hatte er sich mit den Höhlen vertraut gemacht, und allein ein Gedanke genügte, um ihn dorthin zu bringen. Nur mit Hilfe seiner Priester konnte er an anderen; Orten erscheinen, aber die Heimkehr war kein Problem. Gix gestattete sich ein winziges Lächeln. Inzwischen empfand er Koilos als seine Heimat. Nicht Phyrexia. Dorthin konnte er nicht zurückkehren, solange er den Eindringling nicht bestraft hatte. Nicht, solange er sich nicht im Besitz der beiden kostbaren Kristalle befand. Auf dem Weg zu Mishras Arbeitszimmer ereignete sich nur ein einziger Zwischenfall. Ein Automat, der aus einer Fabrik kam, kreuzte seinen Weg. Die Maschine nahm etwas Unbekanntes wahr, blieb stehen und brummte drohend. Gix war nicht sicher, ob das Gerät ihn als Fremden erkannte oder lediglich automatisch eine Warnung ausstieß. In den letzten Jahren hatte er sich bemüht, die schlichten Maschinen der ungeschickten Sterblichen zu 444
verstehen. Sein Geist griff nach dem Gerät und beruhigte es mit sanften menschlichen Worten, wie ein Sterblicher mit einem verletzten Tier sprechen würde. Es war nicht wichtig, ob das Tier die Worte verstand, Wenn es nur die Absicht des Sprechenden begriff. Die Priester, die in Koilos lebten, hatten die alten Su-chis wieder zusammengesetzt, und diese Maschine hier ähnelte ihnen. Sie erbebte, als Gix Geist den Kraftstein berührte, der ihr als Herz und Verstand diente. Der Dämon veränderte nur winzige Elemente im Inneren des Kristalls, aber das reichte aus, um das Gerät zu überzeugen, daß sich nichts Ungewöhnliches ereignete und es keinen Grund zur Beunruhigung gab. Es verstummte und eilte davon. Gix betrat Mishras Arbeitszimmer und glitt an zwei schläfrigen Wächtern vorbei, die seine Anwesenheit ebensowenig bemerkten wie den Rauch, der unentwegt zum Himmel emporstieg. Die Füße des Dämons berührten den Boden nicht, als er mühelos in die Gemächer des Diebes schlüpfte, wo sich sein Opfer - laut den Beteuerungen seiner Mönche - allabendlich aufhielt. In der Tat: Der Dieb lag zusammengesunken in einem Sessel, der vor einer riesigen Wandtafel stand, ein Stück Kreide in der Faust haltend. Gix ließ den Blick durch den Raum schweifen. Überall lagen Bücher herum, die fast alle von einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand ein schwerer Holzthron, neben dem ein schlafender Fallajiwächter lag. Gix nickte zufrieden. Ein Wesen weniger, das er auf der Stelle umbringen mußte. Er ging auf den schlummernden Mishra zu. Der Mensch sah im Schlaf wunderbar friedlich aus. Graue Strähnen zogen sich durch den dunklen Bart, 445
und das Haar war im Nacken kurz geschnitten. Mishra hatte seit dem Besuch in Phyrexia zugenommen, und sein Bauch hing über den breiten Gürtel, der das Gewand zusammenhielt. Zahlreiche Fältchen nisteten in den Augenwinkeln, und tiefe Falten bedeckten die Stirn. Der Mann trug schwer an der Herrschaft über die Fallaji. Trotzdem spürte Gix die Wachsamkeit, die auch im Schlaf von diesem Mann ausging. Sein Verstand arbeitete, träumte von neuen Maschinen und schmiedete neue Pläne. Selbst jetzt, während er ruhte, wirkte er ein wenig unruhig. Der Dämon mußte sich leise verhalten. Eigentlich hatte Gix geplant, die Schädeldecke des Menschen zu öffnen und ganz langsam das Gehirn herauszuholen, damit Mishra vor seinem Tod begriff, was mit ihm geschah. Jetzt, als er merkte, daß der Mann auch im Schlaf nachdachte, beschloß Gix, ihm nur die Kehle durchzuschneiden und den Stein an sich zu nehmen. Der Kraftstein. Er ruhte in einem kleinen Lederbeutel, der um Mishras Hals hing. Gix spürte seine Kraft, wie er auch die Kraft Mishras oder die Anwesenheit einer Maschine spürte. Damit verglichen, war der ge-, wöhnliche Mensch auf der anderen Seite des Raumes, lediglich eine Statue, ein Klumpen Erde. Mishra und sein Stein strömten eine Kraft aus, die Gix fast zu schmecken vermeinte. Der Dämon hob den Finger, und eine nadelspitzeKralle fuhr heraus. Er beugte sich vor. Ein schneller Schnitt, dachte er, von einem Ohr zum anderen, unterhalb des Kiefers. Ein Summen erklang, so leise, daß nur Gix es hörte. Unter dem Gewand des Menschen glühte der Steil in seinem Beutel auf. Er erwachte durch eigenen Willen zum Leben. Unzählige Farben ergossen sich 446
durch die kleine Öffnung des Lederbeutels und hüllten Mishra ein. Gix erstarrte unwillkürlich. Der Stein hatte ihn gespürt, wie auch er den Kristall spürte. Er wollte ihn von seinem Vorhaben abhalten. Er streckte die Hand aus, aber je mehr er sich bemühte, um so schwerer fiel es ihm, bis es schließlich unmöglich wurde, als versuche er, fest geschmiedetes Eisen zu durchdringen. Verwundert schüttelte Gix den Kopf. Bisher hatte er nicht gewußt, daß der Kristall seinen Träger beschützte. Aber nun konnte er sich nicht vorbeugen, um Mishras Leben zu beenden. Der Dämon änderte seine Pläne. Zuerst wollte er den Stein an sich nehmen und dann den Menschen als Vergeltung für den Diebstahl der Maschinen umbringen. Der Kristall erkannte Gix' Absicht offenbar und glühte heller, als der Dämon nach dem Beutel griff. Fluchend zog Gix die Hand zurück. Der Kristall hatte ihn verbrannt, und kleine Rauchwölkchen stiegen von seinen Fingern auf. Der Mensch, der neben dem Thron lag, bewegte sich im Schlaf. Gix hielt sich die verbrannte Hand und murmelte unverständliche Flüche vor sich hin. Er sah den schlafenden Mishra an und fauchte wie eine wütende Katze. Der Stein schützte sich und seinen Herrn vor Kreaturen wie den Phyrexianern. Er hatte ihn verbrannt. Nein, nicht verbrannt, verbesserte sich Gix. Der Kristall versuchte, ihn einzuschätzen und zu beherrschen, wie er vor vielen Jahren die Drachenmaschinen beherrscht hatte. Der Stein, der selbst nicht denken konnte, erkannte seine Absichten und wies ihn als gefährlich zurück. Dieses Zurückweisen verursachte Brandwunden. Gix hockte sich auf die Kante von Mishras Schreib447
tisch. Der Stein schützte den Mann. Der Stein schützte den Stein, so lange er sich im Besitz des Mannes befand. Gix dachte eine Weile nach und lächelte schließlich. Die Antwort lautete: Er mußte die Natur des Steins ändern - oder die Natur des Mannes. Der Stein war nur eine Hälfte des ganzen Kristalls, und vielleicht hatte er erst durch die Trennung diese beschützende Eigenschaft angenommen. Er sehnt sich nach der anderen Hälfte, dachte Gix. Vielleicht hält er Mishra für diese zweite Hälfte. Das würde erklären, warum er einen Phyrexianer auf Abstand halten will. Füge die beiden Teile zusammen, und du hast den wunderbaren Kristall für dich! Dann konnte er ihn mit in die Heimat nehmen. Und der Mann? Gix sah wieder auf den Schlafenden hinab. Unter Umständen konnte man ihn auch verändern und in etwas verwandeln, das Gix' Herren besser als lebender Sklave anstatt als Leichnam diente. Jawohl. Es würde eine Weile dauern, aber Zeit war das einzige, was Gix im Überfluß besaß. Durch seine Klugheit, seine Stellung und seine Macht unterschied sich Mishra von seinen Mitmenschen. Konnte Gix ihn und seinen Bruder verändern und mit in seine Heimat nehmen? Wäre das nicht eine viel bessere Strafe als der Tod? Ein vergnügtes Grinsen breitete sich auf dem lippenlosen Gesicht des Dämons aus. Ja, man konnte eine Kreatur auch quälen, ohne ihr das Leben zu rauben. Manchmal reichte es schon, ihr das zu geben, was sie am meisten begehrte. Gix warf den Kopf zurück und stieß ein paar abgehackt klingende Worte hervor. Innerhalb seines Körpers spielten sich kleine Veränderungen ab, und er sprach zu den Maschinen in Koilos. Sie antworteten 448
und zogen ihn zurück in ihre Nähe und Wärme. Im Bruchteil einer Sekunde war er verschwunden. In Mishras Arbeitszimmer regte sich Hajar und verfluchte sich lautlos, weil er eingenickt war. Die Vorbereitungen für den Umzug nach Tomakul hatten ihn ebenso erschöpft wie Meister Mishra. Hajar schlurfte zum Stuhl des Quadirs hinüber. Das Hemd war geöffnet, und der Lederbeutel, in dem der bunte Kristall ruhte, lag gut sichtbar auf der Brust des Herrschers. Hajar lächelte, verstaute den Beutel vorsichtig wieder unter dem Hemd und deckte den Schlafenden zu. Dann blinzelte er verschlafen und sog prüfend die Luft ein. Es lag ein Geruch im Zimmer, ein seltsames Gemisch aus brennenden Kohlen und Maschinenöl. Wahrscheinlich hatte sich der Wind gedreht und den Geruch mitgebracht. Hajar schüttelte den Kopf. Er war jedenfalls froh, wenn sie diesen Ort verließen und wieder unter dem Wüstenhimmel schliefen. Ehe er sich wieder hinlegte, überprüfte er noch einmal die Türen und Fenster, die fest verschlossen waren, und sank dann erneut in einen tiefen Schlaf. Hajar träumte von der Wüste. Auch die Mitglieder der Bruderschaft des Gix träumten die Träume, die ihnen geschickt wurden. Es gab neue Befehle, sagten die Träume, und es war erforderlich, daß sie länger als geplant in Mishras Nähe blieben. Aber wenn ihre Mission beendet war, würde sie eine wundervolle Belohnung erwarten. In jener Nacht gab es im Lager Mishras nur angenehme Träume.
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KAPITEL 24
Der dritte Pfad Loran schritt anmutig die Wendeltreppe des Turmes hinab. Im ersten Jahr ihres Aufenthaltes in den Elfenbeintürmen hatte sie sich regelmäßig verirrt, da die Gänge und Wände nicht gerade waren, sondern sich der äußeren Form der Türme anpaßten. Erst allmählich hatte sie es sich abgewöhnt, an Norden und Süden zu denken, und war statt dessen dazu übergegangen, diä: Entfernung vom Mittelpunkt des Turmes und den Winkel zur Tür zu berechnen. Jetzt waren ihr die Bauwerke kein Rätsel mehr. Der Archimandritin war ihre zunehmende Selbstsicherheit aufgefallen - anscheinend entging ihr nichts -, und sie gratulierte der Argivianerin. »Nach den Versammlungen steht Drafna auf und geht immer noch zur falschen Tür«, sagte sie. Drafna kam mit vielen Dingen nicht zurecht, war aber ein Genie im Umgang mit Artefakten. Er vermochte ein Artefakt aus winzigen Einzelteilen zusammenzusetzen und irrte sich fast nie in seinen Berechnungen. Wenn er sich manchmal mit brennendem Eifer in Tocasias Notizen vertiefte, erinnerte er Loran manchmal an die Knaben Urza und Mishra. Im alltäglichen Umgang erwies er sich als Plage. Fortwährend widersprach er dem, was die Mehrheit entschied. Wäre Hurkyl nicht gewesen, hätte er die Gemeinschaft längst verlassen. Hurkyl hielt ihn an der Leine, und nach geraumer Zeit wurde Loran bewußt, daß sie die meisten Entdeckungen machte und den kahlköpfigen Mann als 450
Sprachrohr benutzte. Sie war eine unscheinbare Frau, fast schon unsichtbar zu nennen. In den drei Jahren, die Loran jetzt in Terisiare-Stadt wohnte, hatte sie erst dreimal erlebt, daß die Frau einen vollständigen Satz von sich gab. In mancher Weise erinnerte Hurkyl Loran an sich selbst als junges Mädchen. Das Leben in der Stadt schien Hurkyl gut zu bekommen. Sie, ihr Gemahl und alle Studenten aus Lat-Nam rasierten sich die Köpfe, weil die Schule unter der Erde lag und nur das Rasieren aller Körperhaare sie vor Läusen bewahrte. Seitdem sie in Terisiare-Stadt lebten, ließ Hurkyl ihr Haar wachsen, das sich in dicken, wunderschön glänzenden Locken um ihre Schultern legte. Drafna war mehrmals nach Lat-Nam gereist, aber Hurkyl hatte ihn nicht begleitet. Die Archimandritin war die Leiterin der Gemeinschaft, aber Hurkyl gehörte zu den Schlüsselfiguren, ebenso wie Feldon und - trotz allem - Drafna. Und, wie Loran aufgefallen war, sie selbst. Überall liefen Schreiber und Studenten herum, und sie mußte sich zwischen ihnen hindurchschlängeln, um zu Feldons Arbeitszimmer zu gelangen. Die Stadt wurde mehr und mehr zum Zufluchtsort für jene Menschen, die sich anderswo nicht mehr in der Lage sahen, frei zu arbeiten. Die meisten stammten aus Ländern, die an das Reich der Fallaji grenzten, aber es hielten sich auch zahlreiche Gelehrte aus Zegon, Tomakul und anderen, von Mishra regierten Städten hier auf. Zu Lorans Überraschung traf man auch auf Wissenschaftler aus Korlis und Argivia und auf ein paar sardianische Zwerge, die kein Vertrauen zu Urza und den Argivianern hatten. Leider strömten auch unzählige Scharlatane, Gaukler, Betrüger und Hochstapler in die Stadt. Aber auf drei dieser Halunken kam wenigstens eine Person, die ein nützliches Gerät mitbrachte, eine alte Schriftrolle 451
oder etwas anderes, das zum Wissen der Gelehrten beitrug. Lorarv hätte sie alle der Stadt verwiesen, aber' die Archimandritin nahm sie auf. Außerdem gab es noch die Bruderschaft des Gix. Der Orden der Mönche in ihren schwarzen Kutten verehrte eine Art Maschinengottheit, was erwarten ließ, daß sie sich auf den Umgang mit Artefakten verstanden. Ihre Verehrung grenzte jedoch an Fanatismus, und fortwährend bewerteten sie die Maschinen und jene, die sie bedienten. Allen, die unvorsichtig genug waren, sie zu fragen, erklärten sie, daß sie Urza und Mishra der großartigen Geräte, die sie erschufen, für unwürdig hielten und die beiden sicherlich der gerechten Strafe entgegengingen. Die Bruderschaft ließ keinen Zweifel daran, daß sie über Drafna, Loran und die übrigen im Turm genauso dachte. Die Brüder schienen etwas zu verschweigen. Sie hörten allen und jedem zu, hatten aber außer dem Loblied auf die Maschinen nur wenig zu sagen. Feldon hatte von seinen Reisen Seher aus Sarinth mitgebracht, und aus den Yumokbergen im NordenSchamanen und Hexenpriester. Letztere waren korpulente Männer mit bleicher Haut, die unter ihren Pelzen und den Umhängen aus Seehundfell stark schwitzten. Loran begriff, warum sich Feldon so gut mit ihnen verstand, denn er fühlte sich in der warmen Stadt Terisiare ebenso unwohl wie sie. Die Archimandritin holte alle Studenten und Bibliothekare des Ortes zu sich. Sie unterschieden sich im Temperament und im Wissen sehr stark voneinander. Vom begeisterten Bücherwurm bis zum langweiligen Regaleinräumer war alles vertreten. Letztere wären eher gestorben, als jemandem zu gestatten ihre kostbaren Bücher zu öffnen und das darin enthaltene Wissen entkommen zu lassen. Mit Hilfe vieler freundlicher Worte und dem eisernen Willen der Ar452
chimandritin gelang es, ihnen die heiligen Texte zu entreißen. Die Gelehrten erlebten eine bittere Enttäuschung. Die Musikmagier aus Sumifa weigerten sich, der Gemeinschaft beizutreten. Sie hatten sich mit Mishra verbündet und machten sich seine Fähigkeiten zunutze, während sie in seinem Dienst standen. »Ich weiß nicht, was daran so schlimm sein soll«, sagte Drafna, als er die Nachricht erhielt. »Die Sumifaner - alle Almaazianer - sind bestenfalls ein gräßliches Volk. Ihre Sprache besteht nur aus Trillern und Gebrabbel, so daß man sie kaum versteht.« »Sie verfügen über Wissen aus alter Zeit«, erklärte die Archimandritin gelassen. »Ihre Lieder haben die Macht, wilde Tiere zu beruhigen und manchmal sogar zu beherrschen.« »Hokuspokus!« schnaubte Drafna. »Vielleicht«, warf Loran ein, »aber es kann etwas dahinterstecken, eine natürliche Begabung vielleicht, die uns fehlt. Gewiß könnten wir viel von ihnen lernen.« »Falls ihre Lehren überhaupt einen tieferen Sinn haben«, sagte Drafna, »dann verbirgt er sich unter so viel Narretei und Mummenschanz, daß er für uns unbrauchbar ist. Wie dieser Maschinengott der Gixianer. Das ist ein übler Haufen: Unheimliche Fanatiker mit Visionen eines mechanischen Utopias. Sie sind nicht ganz richtig im Kopf.« Der Kahlköpfige schlug sich ein paarmal mit der flachen Hand gegen die Stirn, um seine Meinung zu bekräftigen. Normalerweise runzelte Feldon die Stirn, sobald Drafna den Mund aufmachte. Jetzt schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Ihr solltet die Musikmagier nicht abtun! Nur weil wir ein Phänomen nicht begreifen, heißt es nicht, daß es nicht existiert!« Drafna sah beleidigt drein. »Ich kann einfach nicht 453
glauben, daß ein wildes Tier sich durch Musik beruhigen läßt.« »Und ich kann kaum glauben, daß Menschen in Thranartefakten durch die Luft fliegen«, fauchte Feldon. »Oder gar in mechanischen Drachen umherreisen. Aber wir leben in einer Welt, wo das alles möglich ist und ich, für meinen Teil, möchte gut vorbereitet sein.« Jetzt, da sie vor Feldons Tür stand, fiel Loran dieses Gespräch wieder ein. Feldon und Drafna waren nie einer Meinung. War das der Grund, warum Feldon sie bat, in sein Arbeitszimmer zu kommen? Um ihr etwas zu sagen, das er nicht im Beisein der anderen erwähnen wollte? Sie klopfte, und eine tiefe Stimme forderte sie zum Eintreten auf. Das Zimmer war spartanisch eingerichtet. Auf einem niedrigen Tisch lagen ordentlich aufgestapelte Bücher. Ein paar Stühle standen um den zweiten Tisch herum, und an der Wand hing eine Tafel. Der Raum hatte nur ein einziges Fenster. Ein Mann mit Bärenstatur saß am Tisch, auf dem nur ein einziger Gegenstand lag. »Habt Ihr schon die Neuigkeit gehört?« erkundigte sich Loran. Feldon warf ihr einen traurigen Blick zu. »Aus Yotia? Drafna hat sie mir beim Frühstück erzählt. Sie ist nicht mehr neu.« Loran nickte. Es dauerte geraume Zeit, bis selbst Gerüchte es schafften, sich im ganzen Fallajireich zu verbreiten. Aber Flüchtlinge aus Zegon waren am gestrigen Abend in der Stadt eingetroffen und hatten wichtige Nachrichten mitgebracht: Urza hatte die Grenze zwischen Korlis und Yotia überschritten und befreite die Städte von den Fallaji, die sich in der Minderheit befanden. »Überhaupt nicht mehr neu«, wiederholte Feldon. 454
»Als sie hier eintraf, stand Wieheißterdoch vielleicht schon längst in Tomakul.« »Oder er könnte durch einen Gegenangriff aufgehalten worden sein«, gab Loran zu. »Aber Ihr habt mich nicht hergebeten, um den Verlauf des Krieges zu besprechen. Was ist los?« »Was haltet Ihr davon?« fragte der Mann und winkte sie heran. »Fischer aus Yumok haben es mit dem Netz eingeholt. Die gleichen Leute, die im vergangenen Jahr den Korallenhelm gefunden haben.« Auf dem Tisch lag eine Kreuzung aus einer auf einem breiten Podest sitzenden Schüssel und einem flachen, ausladenden Kelch. Die Schüssel hatte einen Durchmesser von ungefähr einem Fuß, und auf jeder Seite befanden sich zwei feste Griffe. Dem Anschein nach bestanden sie aus Kupfer, aber nie zuvor hatte Loran derartiges Kupfer gesehen. Das Ganze erinnerte die Gelehrte an die Opferschalen, die bei den alten Religionen Argivias in Gebrauch gewesen waren. »Man nennt das Ding Sylex«, erklärte Feldon, der die Schale nicht aus den Augen ließ. »Wenigstens nennt es sich selbst so. Es stammt aus Golgoth, einem Ort, von dem ich noch nie gehört habe.« »Ihr wißt, was es ist?« fragte Loran erstaunt. Feldon kippte die Schüssel auf die Seite. Das Innere, das normalerweise glatt sein sollte, war mit kleinen eingravierten Zeichen übersät, die sich vor Lorans Augen spiralförmig vom Rand bis zum Boden zu drehen schienen. »Der Zweck steht hier geschrieben.« Loran kniff die Augen zusammen. »Es sind Thranglyphen«, meinte sie nach geraumer Zeit. Feldon nickte. »Ich kann sie nicht lesen.« Er deutete auf andere Zeichen. »Aber das hier sind Fallajibuchstaben uralten Stils, die ich entziffern kann. Sie ähneln den Musikzeichen der Sumifaner, und diese wiederum 455
entsprechen jenen, die auf meinem Wanderstab stehen.« Er wies auf die nächsten Reihen. »Die hier sind anders als alle mir bekannten Zeichen. Wißt Ihr, was sie bedeuten?« »Eine Erläuterung, wie man die Thransprache liest«, sagte Loran. »Ein richtiger Kode, um viele alte Sprachen zu entschlüsseln.« Feldon lächelte. »Tatsächlich? Wenn nur die Botschaft, die ich entziffert habe, nicht so schlimm klingen würde.« Loran hob eine Augenbraue. »Wie lautet sie?« Feldon beugte sich über die Schüssel. »Ich konnte nicht alles lesen, aber das meiste schon. Hier steht: Dies ist ein Sylex, und er stammt von Golgoth. Ob Golgoth ein Land, ein König oder ein Erfinder ist, weiß ich nicht. Es soll das Ende der Welt ankündigen.« Loran sah ihn schweigend an. Feldon schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was Ihr denkt. Mummenschanz und Narretei. Aus diesem Grund habe ich es nicht vor den anderen erzählt. Sonst befürchtet Drafna noch, ich würde demnächst Weihrauch verbrennen und Gebete singend durch den Turm ziehen. Aber hört Euch die Übersetzung der alten Fallajibuchstaben an: >Befreit das Land. Führt das Ende herbei. Stürzt die Reiche für einen Neuanfang.< Und das hier: >Macht ein Ende, und füllt ihn mit Erinnerungen an das Land.< Hört sich ein bißchen unsinnig an.« »Füllt ihn mit Erinnerungen«, murmelte Loran. »Hört sich wie eine Strophe aus der Rede eines Scharlatans an. Klingt nach uralter Magie, die das Flüstern eines Sterbenden und das Lächeln einer Katze braucht. Gab es nicht eine alte Fallajilegende über eine Stadt in einer Flasche, die die völlige Vernichtung der ganzen Welt überlebte?« Feldon blickte auf. »Ihr glaubt also nicht daran?« Loran schüttelte den Kopf. »Ein wunderbarer Fund, 456
der uns helfen wird, andere Geheimnisse zu entschlüsseln. Vielleicht birgt er eine Warnung aus vergangener Zeit. Aber nein, ich glaube nicht daran.« »Berührt ihn«, verlangte Feldon und wich ein Stück zurück. »Los, berührt ihn!« Loran streckte die Hand aus und packte einen der Griffe. Sofort überkam sie eine innere Unruhe, als habe sich die Sonne hinter einer Wolke versteckt und lasse sie im Schatten zurück. Sie blickte auf, und der ganze Raum schien plötzlich in Dämmerlicht gehüllt zu sein. Aus dieser Dämmerung glaubte sie einen Schrei zu vernehmen, den unwilligen Schrei eines kleinen Kindes, der jedoch so leise war, daß man ihn kaum zu hören vermochte. Sie ließ den Griff los, und die Welt wirkte wieder normal. Die Sonne kam wieder hervor, und der Schrei war verstummt. »Ihr habt es auch gefühlt«, stellte Feldon fest. Loran nickte und setzte sich ihm gegenüber. Der Sylex stand zwischen ihnen. »Er hat etwas Unheimliches an sich.« »Etwas, das wir noch nicht verstehen. Ist es eine Warnung? Oder eine Waffe?« »Aber was soll der Satz bedeuten?« rätselte Loran. »Fülle ihn mit Erinnerungen?« »Hat Euch Hurkyl ihre Art der Meditation beigebracht?« erkundigte sich Feldon. »Sie unterwies die Archimandritin darin, und die zeigte sie mir. Aber es gibt unzählige Arten der Meditation, um die Konzentration zu steigern. Die Musikmagier in Sumifa haben beispielsweise...« Hastig winkte Feldon ab. »Was wißt Ihr über die Meditation unserer schweigsamen Freundin Hurkyl?« »Die Archimandritin sagt: >Sie setzt sich des Morgens hin, denkt an ihre Heimat Lat-Nam und an die blauen Wellen mit ihren weißen Schaumkronen, die 457
sich hoch aufbäumen, ehe sie an der Küste zerschellen< Ich glaube, es beruhigt sie, an die Heimat zu denken«, sagte Loran. »So lange die Erinnerung lebendig bleibt, fühlt sie sich nicht genötigt, auf die Insel zurückzukehren.« »Sonst noch etwas?« Loran zuckte mit den Achseln. »Es haben sich eigentümliche Dinge ereignet«, fuhr sie fort. »Die Archimandritin berichtete, daß Hurkyls Zimmer nach einer Meditation viel ordentlicher aussieht. Die Bücher stehen in der richtigen Reihenfolge im Regal, und alle Stifte stehen im Behälter auf dem Schreibtisch. Es kann sich niemand daran erinnern, die Sachen aufgeräumt zu haben.« »Glaubt Ihr das?« fragte er mißtrauisch. »Ich finde, wir sollten der Angelegenheit auf den Grund gehen. Wenn es nicht Hurkyl wäre, würde Drafna von den Zinnen schreien, es sei nichts als dummes Zeug und fauler Zauber.« »Stimmt.« Feldon nickte. »Habt Ihr es selbst einmal versucht? Habt Ihr auch an Eure Heimat gedacht?« Wieder zuckte Loran mit den Achseln. »Im Augenblick möchte ich nicht an Argivia denken oder an das, was dort geschieht.« »Das kann ich verstehen. Ich nehme an, ich muß diese Art zu meditieren erlernen. Hört sich so ähnlich an wie: Fülle ihn mit deinen Erinnerungen an das Land.« Loran antwortete nicht und betrachtete die Schüssel. Sie streckte die Hand aus, zog sie aber wieder zurück. Feldon meinte: »Wenn es eine Waffe ist, könnte sie den Brüdern nutzen?« Loran schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Es gibt keinen Mechanismus, keine Drähte, Hebel und keinen Kraftstein. Nur eine Warnung und ein unbehagliches Gefühl, wenn man das Ding berührt.« 458
Er nickte. »Das ist wahr. Und weshalb scheue ich mich dann, den anderen davon zu erzählen?« Loran überlegte. »Ihr solltet wenigstens der Archimandritin Bericht erstatten. Und fertigt einen Pergamentabdruck der Innenseite an. Die Übersetzungen sind von unschätzbarem Wert für unsere Arbeit. Danach solltet Ihr den Sylex an einem sicheren Ort aufbewahren, damit er keinem Dieb in die Hände fällt. Nur für den Fall, daß er wirklich das ist, was er behauptet zu sein.« Wieder nickte Feldon und starrte den Sylex an. »Die Versuchung ist da, nicht wahr? Alles auszulöschen und einen Neuanfang zu wagen.« Loran stand auf und ging zur Tür. »Ja, aber dann würden Eure Gletscher schmelzen. Und was solltet Ihr dann erforschen?« Feldon gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Aus Euch spricht die Stimme der Vernunft. Egal wie die Dinge zwischen Mishra und Wieheißterdoch stehen, noch ist nicht alles verloren.« Auch Loran lächelte und verließ den Raum. Draußen, in dem gewundenen Gang, berührte sie die Hand, die den Sylex gehalten hatte. Sie war taub geworden, und erst allmählich kehrte das Gefühl wieder zurück. Sie bewegte die Finger und zwang sie zu gehorchen. Loran schüttelte den Kopf. Noch war nicht alles verloren. Noch nicht.
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KAPITEL 25
Die Folter T awnos lag in Ketten. Die Handgelenke verband eine knapp einen Fuß lange Kette, eine zweite hielt die Füße zusammen. Um seine Mitte schlang sich die dritte Kette, an der die beiden ersten befestigt waren. Sie führte zu einem eisernen Ring im Fußboden. Er konnte nicht aufrecht stehen und sich kaum bewegen. Allerdings gab es nicht viel Platz für Bewegungen. Bis auf einen Hocker war der Raum leer. Durch ein vergittertes Loch in der Decke fiel ein schwacher Lichtschein in den Kerker, und ein vergittertes Loch im Boden sorgte dafür, daß der Unrat fortgespült wurde. An einer Wand befand sich eine Eisentür mit einem verschlossenen Fenster darin. In einer Ecke lag ein menschlicher Schädel, die einzige Erinnerung an den früheren Bewohner des Raumes. Sonst gab es nichts. Nichts, nur Tawnos und seine Ketten. Wie schade, dachte Tawnos, bis vor kurzem verlief der Krieg noch ausgezeichnet. Mishra hatte sich an zu vielen Stellen verzettelt, und die Vereinigten Reiche von Argivia und Korlis hatten seine Schwäche ausgenutzt. Mishra gelang es, die Pässe im Norden zu halten, aber die Verteidigung Yotias war mehr als armselig. Die Übergriffe der Feinde nahmen zu, bis eines Tages eine Gruppe Korlisianer in Yotia gefangengenommen und massakriert wurde. Die Märtyrer von Korlis zeichneten sich durch ihre Jugend und die Tatsache aus, daß niemand sie be460
zahlte. Es handelte sich um wahre Patrioten, um die Söhne und Töchter der vornehmsten Handelsherren. Ihr Tod brachte den Süden der beiden vereinten Länder in Aufruhr, und der König wurde bestürmt, sofort zu handeln. Es war geschehen, wie Tawnos befürchtet hatte: ehe Urza bereit war, aber zum Glück später, als Tawnos anfangs annahm. Der Verteidigungsminister verfügte über genügend Soldaten, um seine Maschinen nach Süden zu schicken, ohne die Truppen an den Pässen im Norden zu schmälern. Da der größte Teil von Mishras Armee nach Westen zog, in Richtung Sarinth, rechnete niemand mit einem Schlag gegen Argivia. Natürlich schlugen die Fallajis zu, aber es handelte sich nur um hastige, schlecht geplante Überfälle, die ohne weiteres von den vorhandenen Truppen unterbunden wurden. Eine große Armee, bestehend aus Argivianern und aus - seit neuestem sehr patriotischen Korlisianern zog, von Ornithoptern unterstützt, nach Süden. Dazu gehörten yotianische Soldaten, die unterschiedlichsten Rächer, die neuesten Wächter, Triskelions und eine vierteilige Flugmaschine namens Tetravus. Die Legionen überschritten die Grenzen und drangen in das besetzte Yotia ein. Die Fallajigarnisonen waren nicht in der Lage, sie zurückzuschlagen, besaßen aber genügend Kampfkraft, um energischen Widerstand zu leisten, und verhinderten einen schnellen Sieg. Im Jahr darauf zogen sich die Wüstenbewohner Stück für Stück zurück, von einer Provinz zur nächsten. Sie brannten alle Gebiete nieder, in die sie nicht zurückkehren wollten. Im Herbst des ersten Jahres waren sämtliche Provinzen südlich von Kroog von der Herrschaft der Fallajis befreit, wenngleich nicht von gelegentlichen Überfällen. Das galt auch für Jorilin und die übrigen Küsten461
gebiete. Gegen Ende des nächsten Jahres hatte man die Fallajis fast völlig aus Yotia vertrieben - mit Ausnahme der jenseits des Mardun gelegenen Regionen und der Schwertsümpfe. Im Verlauf der Kämpfe, die sich als schwere Belastungsproben für Urzas Schöpfungen erwiesen, wurden sieben Drachenmaschinen zerstört. Das Land war von den zurückweichenden Fallajis und dem langen Krieg vernichtet worden, aber wenigstens befand es sich nicht mehr in der Hand der Feinde. Tawnos ritt unter dem Jubel der Bevölkerung an der Spitze der Armee durch die Straßen der befreiten Städte. Auch böse Blicke folgten ihm, die Blicke jener, die unter den Besatzern gelitten hatten und sich fragten, was ihre frühere Königin in Penregon tat. Nach kurzer Zeit erhielten sie die Antwort darauf. Yotia wurde in den Bund der Vereinigten Reiche von Argivia und Korlis aufgenommen, ohne das befreite Volk zu befragen. Die Königin kehrte nicht zurück, und Yotia war von nun an ein Vasallenstaat der geeinten Nationen. Nach mehr als zehn Kriegsjahren hatte Yotia einen Herrn vertrieben, um einem anderen zu dienen. Tawnos begriff die Notwendigkeit dieser Maßnahme. Er wußte, daß man nur auf diese Weise die Handelsherren und die Adligen dazu brachte, das zerstörte Land wieder aufzubauen und ein Volk zu ernähren, dessen Ländereien von den Fallajis abgebrannt worden waren. Aber da er Yotianer war, sträubte sich etwas in ihm gegen die Entscheidung, und es lag auf der Hand, daß auch andere unzufrieden waren. Die nächste Entscheidung des Verteidigungsministers erregte ebenfalls Mißfallen. Die Menschen gingen davon aus, daß Urza ganz Yotia befreien und wieder vereinen würde. Statt dessen sah er davon ab, die 462
Schwertsümpfe, die sein Schwiegervater einst erobert hatte, an sich zu reißen. Die Armee sammelte sich zu einem Angriff jenseits des Mardun, um sofort nach Tomakul vorzustoßen. Die Yotianer murrten und redeten über die Kaufleute aus Korlis, die sich danach sehnten, ihre kostbaren Karawanenstraßen wieder beschreiten zu können. Tawnos wußte es besser - anscheinend hatte Mishra sein Hauptquartier nach Tomakul verlegt, und Urza wollte seinen Bruder besiegen. Der Feldzug ging langsam, genau nach Plan und ohne Unterbrechung vonstatten. Man rückte täglich dreißig Meilen vor, obwohl viele Maschinen weitere Strecken zurücklegen konnten. Sobald sie des Abends rasteten, wurde einer von Urzas Türmen errichtet, der mit großen Spiegeln und Signalfeuern ausgestattet war, um Botschaften an seine Nachbarn weiterzuleiten. Eine Garnison aus Menschen und Maschinen entstand, und der Rest der Armee zog am nächsten Morgen weiter. Je weiter sie nach Westen kamen, um so heftiger wurde der Widerstand, und sie benötigten Verstärkung. In seinem Hauptquartier in Penregon sah sich Urza schließlich gezwungen, Truppen von den Pässen abzuziehen, um sie nach Westen zu schicken. Außerdem warb er Söldner an, denen er beim Fall Tomakuls reiche Beute verhieß. Die Korlisianer beunruhigte die Nachricht, daß Tomakul dem Schwert zu Opfer fallen sollte, aber da die meisten Söldner aus ihren Reihen stammten, hielten sie sich mit Äußerungen zurück. Inzwischen führte Tawnos die Armee nach Westen, obwohl er offiziell nur als Berater General Sharamans galt. Tawnos kannte die Stärken und Schwächen der Maschinen, und der General vertraute seinem Urteil so sehr, daß er die Ratschläge des Professors als Befehle 463
weitergab. Sie waren schon in Sichtweite der goldenen Kuppeln von Tomakul, als das Unheil über sie hereinbrach. Fallajikavallerie hatte während des ganzen Marsches Angriffe auf die Vorratseinheiten gewagt und mehrmals einen Turm erobert. Das zwang die Armee, wieder zurückzugehen, um einen neuen Turm zu errichten, damit die Nachrichtenübermittlung nicht gestört wurde. Anfangs waren es nur gelegentliche Überfälle, aber dann fanden sie fast täglich statt. In der Tat machte Tawnos diese Überfälle zum Teil für die Niederlage verantwortlich. Die Argivianer hatten sich an die Raubzüge gewöhnt und nicht gemerkt, daß sie sich veränderten. Tawnos gab auch dem Mangel an ausführlichen Botschaften die Schuld an der Katastrophe. Während sie nach Westen zogen, war die Hauptstadt Sarinths nach jahrelangen Belagerungen gefallen, und niemand teilte es ihnen mit. Der größte Teil Sarinths leistete erbitterten Widerstand, aber die riesige befestigte Stadt war besiegt, und die Truppen, die bisher an der Belagerung teilgenommen hatten, strömten jetzt nach Süden, um es mit Tawnos und seinen Leuten aufzunehmen. Urza hatte zu lange gebraucht, um nach Tomakul zu gelangen, und jetzt erhielt Mishra Gelegenheit zum Zurückschlagen. Zuerst kamen die Drachenmaschinen. Mishra hatte ungefähr ein Dutzend aufgetrieben; die meisten waren klappernde Neuschöpfungen, aber auch zwei oder drei der Wesen, die Kroog zerstört hatten, befanden sich unter ihnen. Sie bewegten sich anmutig wie Panther und schlugen unbarmherzig zu. Außerdem tauchte eine ganz neue Drachenart auf, die fliegen konnte und die Ornithopter so schnell vertrieb wie ein Habicht einen Schwarm Spatzen. 464
Ihnen folgten die Transmogranten: zombieähnliche Kreaturen, die einst Menschen gewesen und nun zu todbringenden Maschinen geworden waren. Sie bewegten sich mit gleichmäßigen Schritten über das Schlachtfeld voran und vernichteten Tawnos' Lehmstatuen gleich haufenweise. Man hatte die Transmogranten gelehrt, den Lehm aus den Körpern der Statuen zu reißen, damit keine Möglichkeit zur Selbstheilung bestand. Auch die argivianische Armee hatte keine Möglichkeit, sich ein zweites Mal zu sammeln. Angefangen bei der Vorhut, wurde sie Schritt für Schritt zurückgetrieben: Rückzug, Kampf, Rückzug. Die Nachricht traf ein, neue Söldner aus Korlis seien im Anmarsch, die von den mechanischen Soldaten aus den kürzlich aufgestellten Türmen begleitet wurden. Die Verstärkung traf nie ein. Statt dessen fanden die zurückweichenden Truppen einen der Türme von Mishras Kavallerie besetzt vor, die entlang der Flanke einen Bogen geschlagen hatte und sich nun mit Hilfe von Urzas eigenen Maschinen auf die Überreste von Sharamans Einheiten stürzte. Das Schlachtfeld schwamm in Blut; die Schreie der Verwundeten und Sterbenden waren weithin zu hören. Tawnos hielt den Gegnern eine Weile stand, von zwei Lehmstatuen unterstützt. Er bildete eine Insel inmitten der argivianischen Verteidiger, von einem Meer aus Fallajischwertkämpfern und mechanischen Soldaten umgeben. Der Himmel gehörte den fliegenden Todesboten. Plötzlich erfolgte eine gewaltige Explosion, und es wurde finster um Tawnos. In einem dunklen Kerker kam er wieder zu sich. Er hatte sich zahlreiche Blutergüsse zugezogen - besonders im Gesicht -, war aber ansonsten unverletzt. Nach 465
seiner Schätzung war er mehrere Tage lang bewußtlos gewesen. Außer einem schweigenden Wächter, der ihm einmal am Tag eine Schüssel mit wäßrigem Mehlbrei brachte, besuchte ihn niemand. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die kleine Luke in der Tür. Funkelnde Augen sahen zu ihm herein, ehe sich die Klappe wieder schloß. Dann wurde die Tür geöffnet. Tawnos schloß die Augen vor der Helligkeit. Mehrere Gestalten standen im Türrahmen, dunkle Umrisse gegen das helle Licht. Die erste Gestalt trat ein und zog sich die Handschuhe aus. Sie trug eine mit Spitzen übersäte Rüstung. »Hallo Entlein«, sagte Ashnod. »Ich hoffe, dein Quartier gefällt dir. Es ist zwar nichts Besonderes, aber mehr, als du verdienst.« »Es wird Oubliette genannt«, erklärte Ashnod, als zwei Wachen das Möbelstück hereintrugen. »Anscheinend gehört es zur Tradition der Fallajis und stammt aus der Zeit, als sie noch regelmäßig Gefangene machten. Eine spärlich erleuchtete Zelle, wie geschaffen für den Aufenthalt persönlicher Feinde. Tomakul besitzt unzählige davon. Wir mußten ein paar Knochen hinausschaffen, um dich unterzubringen. Der Schädel blieb als Erinnerung zurück. Sein Besitzer verhungerte hier, von den Wachen unbeachtet und vom Rest der Welt vergessen.« Die Wachen trugen den schweren, mit dicken Kissen belegten Stuhl in die Mitte des Kerkers. Gelassen nahm Ashnod darauf Platz. Dann stellten die Männer einen kleinen Tisch vor sie hin. Die Füße waren wie Krallen geformt, die sich an den rauhen Steinboden klammerten. Ashnod versuchte, den Tisch umzukippen, und als der sich nicht rührte, nickte sie zufrieden. An der Tischplatte war eine Handfessel angebracht. 466
Tawnos' rechte Hand wurde befreit, und die Krieger zwangen ihn mit gezücktem Dolch, die Hand mit der Innenfläche nach oben durch die Manschette zu zwängen. Dann wurde die eiserne Fessel verschlossen, und zwei der Männer verließen den Kerker. Der dritte blieb zurück. »Es gibt viele Fallajis, die deinen Tod wünschen«, erklärte Ashnod. «Glücklicherweise wurden sie von jenen überstimmt, die dir zuvor langanhaltende Qualen bescheren möchten.« Sie zog eine kreisrunde Metallplatte aus ihrer Tasche, an der sich Drähte und Kabel befanden. Sie schob die Platte unter seine Hand. Der Krieger setzte ihm die Dolchspitze an die Kehle, während Ashnod winzige Klammern an jeder Fingerspitze befestigte. Blut tropfte auf den Tisch. Tawnos wartete, bis er den Dolch nicht länger an der Kehle spürte. »Und welche Gruppe vertrittst du?« Seine Lippen waren von den auf dem Schlachtfeld erhaltenen Schlägen noch immer geschwollen. »Wie immer vertrete ich nur mich selbst«, antwortete die Rothaarige und betätigte einen kleinen Hebel. Tawnos zuckte zusammen, als ein schmerzhaftes Prickeln seine Hand durchfuhr und den ganzen Körper ergriff. Fast wäre er von seinem Hocker gefallen, aber die Hand war fest an den Tisch gebunden, und der Tisch stand unverrückbar auf dem Boden. Er wand sich hin und her, als der Energiestoß ihn packte. Ashnod zog den Hebel zurück. »Es funktioniert«, sagte sie zufrieden. Tawnos keuchte: »Was... ist...?« »Die Fallajis verfügen über traditionelle Foltergeräte: Streckbank, Daumenschrauben und Würgeisen. Vor Jahren erfand Mishra seine eigene Streckbank, die mit sehr wenig Aufwand ausgesprochen viel Unbehagen zufügt. Das hier« - sie streichelte die Drähte, die seine 467
Hand umgaben - »ist eine kleinere Ausgabe der von mir erfundenen Streckbank. Gefällt sie dir?« »Wunderbar!« stöhnte er. »Paßt zu dir. Warum bringst du mich nicht einfach um?« »Das ist die eine Möglichkeit«, antwortete Ashnod. »Eine, die ich möglichst umgehen möchte.« »Ashnod, als du unsere Gefangene warst, haben wir dich gut behandelt.« »Ich verrate dir etwas, Entlein: Nach Fallajimaßstäben wirst du gut behandelt. Die meisten deiner Gefährten sind längst tot. Mishra will nicht einmal mehr yotianische Sklaven haben. Er glaubt, Urza könne auch aus der Ferne ihre Gedanken lesen. Mishra wollte deinen Kopf einlegen lassen und ihn dann an Entenmutter Urza schicken. Ich redete es ihm aus und behauptete, daß du über nützliches Wissen verfügst.« »Ich sage nichts!« stieß Tawnos hervor. »Ich weiß«, antwortete sie gelassen. »Aber entweder diese Befragung oder der eingelegte Kopf.« »Warum erzählst du mir das alles?« knurrte er. »In der Hoffnung, daß ich dir etwas verrate?« »Das auch.« »Und dein Freund hier hört zu?« Ashnod schüttelte den Kopf. »In der Fallajiarmee wird jeder schief angesehen, der Argivianisch versteht. Paß auf.« Sie wandte sich dem Wächter zu und sagte laut und deutlich: »Ich verwandelte deinen Vater in einen Transmogranten. Deinen Großvater und deinen Bruder ebenfalls. Sie waren nämlich unbefriedigende Bettgefährten.« Der Wächter schwieg. Ashnod sah Tawnos an. »Siehst du? Würde ich das gleiche auf Fallaji sagen, wäre er außer sich vor Zorn.« Sie wandte sich wieder an den Krieger und erteilte ihm einen Befehl auf Fallaji. Er wollte widersprechen, aber sie brüllte ihn an. Der Mann zögerte, warf Tawnos einen bösen Blick zu und verließ die Zelle. Die Tür 468
schloß sich hinter ihm. Noch einmal wurde die Klappe kurz zurückgeschoben und wieder geschlossen. Dann herrschte Ruhe. »Jetzt mußt du mir einen Gefallen tun«, sagte Ashnod. »Ich stehe dir zur Verfügung«, antwortete Tawnos verbittert. »Mein Rücken ist zur Tür gewandt. Ich nehme an, die Wachen werden sich regelmäßig von meinen Fortschritten mit dir überzeugen. Wenn sich also die Klappe öffnet, gibst du mir ein Zeichen, und ich verpasse dir eine Ladung.« »Warum sollte ich das tun?« »Wenn du es nicht tust, muß ich wahllos den Hebel betätigen, um den Schein zu wahren«, antwortete sie und drückte den Hebel nach unten. Tawnos wand sich, als der Kraftstrom seinen Arm durchzuckte. »Das Kodewort heißt >Verräter<. Verstanden?« »Leicht zu behalten«, meinte Tawnos. »Jetzt hör auf damit!« »Ich bitte dich«, sagte Ashnod lächelnd. »Das ist noch gar nichts, verglichen mit der tödlichen Dosis für einen Mann deiner Größe und deines Alters. Vertraue mir, ich kenne mich aus.« »Das glaube ich dir. Diese Transmogranten, diese Zombies - das sind deine Schöpfungen, nicht wahr?« »Wie gefallen sie dir?« fragte sie lächelnd. »Sie sind abscheulich.« Ashnods Lächeln schwand, und als es erneut erschien, wirkte es gezwungen. »Und ich glaubte, gerade du verstündest mich.« »Es waren einst lebende Menschen!« zischte Tawnos. »Die Betonung liegt auf >einst<. Es waren Verbrecher, Sklaven, Gefangene. Man hätte sie getötet und den Aasfressern überlassen. Ich habe eine nützliche Verwendung für sie gefunden.« »Verräter!« stieß Tawnos eilig hervor. 469
Ashnod betätigte den Hebel, und wieder durchfuhr ein Kraftstoß seinen Arm. Es kam ihm vor, als warte sie länger als nötig, ehe sie den Hebel losließ. Als er sich erholt hatte, fuhr sie fort. »Die Wüste hat nur zwei Schätze. Zum einen die Thran-Artefakte. Mishra hat alles aus ihnen herausgeholt, was möglich war. Zum anderen die Menschen. Aus ihnen kann man auch etwas machen.« Tawnos schwieg. »Ich habe keine Angst, mir die Hände schmutzig zu machen«, erklärte Ashnod. »Oder blutig«, warf er ein. Sie griff nach dem Hebel, zog die Hand dann aber zurück. »Wir sind nicht so reich wie die östlichen Nationen«, verteidigte sie sich. »Wir müssen mit dem vorlieb nehmen, was wir haben.« »Ihr kümmert euch nicht um das, was ihr habt!« fauchte Tawnos. Ashnod sah ihn verwirrt an, und er fuhr fort: »Ihr habt Yotia vollständig ausgebeutet.« Ashnod schlug die Augen nieder. »Ja. Ich war dagegen, aber Mishra hat mich überstimmt. Ist dir das auch schon mit Urza widerfahren?« Tawnos zögerte und nickte schließlich. »Öfter, als ich gern zugäbe. Warum warst du dagegen?« Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Habe ich dir jetzt nicht endlich einmal recht gegeben?« »Ja, aber wahrscheinlich gefällt mir der Grund dafür nicht.« »Weil es eine Verschwendung von Bodenschätzen ist«, erklärte sie. »Und eine Verschwendung von Menschen und Vorräten, die wir zu einem späteren Zeitpunkt hätten gebrauchen können.« »Das dachte ich mir. Verräter.« Der Hebel wurde gedrückt, allerdings nicht so lange wie beim vorherigen Mal. Trotzdem war Tawnos sicher, daß sein Herzschlag einmal aussetzte. 470
»Aber du wurdest überstimmt«, sagte er, als er wieder atmen konnte. »Jawohl. Seit Jahren hält mich Mishra auf Abstand. Er will meine Transmogranten, meine Rüstungen und die übrigen Schöpfungen, versucht aber den Eindruck zu vermeiden, er sei von mir abhängig. Bei den Fallajis gilt das als Schwäche, und auch nach all diesen Jahren benötigt er ihre Unterstützung.« »Die der Stammesführer«, sagte Tawnos. »Und anderer. Sein Adjutant, der seit langer Zeit bei ihm ist, klebt wie ein Schatten an ihm. Dann sind da noch die Gixianer. Sie würden liebend gern meine Notizen durchstöbern.« »Gixianer?« wunderte sich Tawnos. »Die Bruderschaft des Gix? Maschinenanbeter?« »Jawohl«, knurrte Ashnod. »Widerliche Kreaturen.« »Sie halten sich auch am argivianischen Hof auf. Sind es eure Spione?« Ashnod zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Vielleicht versuchen sie, beide Seiten gegeneinander auszuspielen. Ich traue ihnen nicht.« »Ich auch nicht«, stimmte Tawnos zu. »Jetzt noch weniger, nachdem ich weiß, daß sie auch mit Mishra zusammenarbeiten. Verräter.« Ashnod drückte den Hebel, und Tawnos schrie auf. Nach einer Weile sagte er: »Ich glaube, ich kann es nicht viel länger aushalten.« »Einverstanden«, sagte Ashnod. »Wir haben auch genügend Zeit miteinander verbracht, damit ich behaupten kann, du seist eine hart zu knackende Nuß. Entenmutter Urza treu ergeben - bis in den Tod.« »Dann wird man mich also töten!« fauchte Tawnos. »Und was sollte das alles? Die letzte Gelegenheit, mich zu reizen?« »Die letzte Gelegenheit, mich zu überzeugen, ob du 471
so klug bist wie ich«, erwiderte sie mit scharfer Stimme. »Und eine Gelegenheit, jene bloßzustellen, auf die Mishra sich so sehr verläßt. Wenn alles gutgeht, schuldest du mir einen Gefallen. Ein Mädchen kann, nie genug ausstehende Gefallen haben.« »Ich verstehe kein Wort.« »Du wirst schon noch verstehen, wenn du so klug bist, wie ich annehme. Für heute ist unser Gespräch beendet.« Sie drückte den Hebel, und der Schmerz durchfuhr seinen Körper, bis er ohnmächtig wurde. Tawnos wußte nicht, wie lange sie den Hebel gedrückt hielt, aber als er zu sich kam, befanden sich die Wächter wieder im Raum. Man hatte ihn vom Tisch befreit, und seine rechte Hand schmerzte heftig, als sie ihm die anderen Fesseln wieder anlegten. »Du hast mich doch gar nichts gefragt!« keuchte er. »Über die Artefakte.« Ashnod kniete neben ihm nieder und fauchte: »Ich muß dich nichts fragen. Wir haben die Überreste eurer Artefakte. Sie verraten mir mehr über dich und Urza, als ein ganzes Jahr auf der Streckbank aus dir herausholen würde.« Dann war sie fort. Lange Zeit hockte er in der Dunkelheit und bemühte sich, den rasenden Herzschlag und den rasselnden Atem zu beruhigen. Einmal öffnete sich die Klappe in der Tür, und ein unsichtbarer Beobachter überzeugte sich davon, daß Ashnod ihn nicht getötet hatte. Langsam öffnete Tawnos die geballte Faust. Auf seiner Handfläche lagen zwei Ohrringe der Magierin und eine Spule aus Golddraht. Die Kristalle glänzten in dem ihnen eigenen Licht in den goldenen Fassungen der Ohrringe. Ich soll beweisen, daß ich so klug bin wie sie, dachte er. 472
Tawnos gestattete sich ein Lächeln und kroch auf den Schädel zu, der in seiner Zelle liegengeblieben war. Mishra, der seinen Wohnsitz in den Palast des alten Paschas von Tomakul verlegt hatte, befahl Ashnod zu sich. Ein Monat war seit dem Gespräch mit Tawnos vergangen, und nach drei Tagen hatte sie einen Bericht über dessen Artefakte abgeliefert. Einige seiner Ergebnisse konnte sie gut für eigene Schöpfungen benutzen. Mishra saß nicht am Schreibtisch, sondern auf dem Thron des ehemaligen Paschas. Er tippte die Fingerspitzen gegeneinander. Langsam. Nach ihrer Rückkehr aus Sarinth hatte sie Mishras Aussehen überrascht. Er war fett geworden, und unter dem von grauen Strähnen durchzogenen Bart wölbte sich ein Doppelkinn. Mishra trug die wallenden Gewänder des Wüstenvolkes, in denen er noch dicker wirkte. Im Gürtel trug er das Zeichen Sarinths, den rasiermesserscharfen Ankh. Der Krieg hat ihm seinen Stempel aufgedrückt, dachte Ashnod. Seit Jahren fürchtete er sich vor dem Gegenschlag seines Bruders, und als er schließlich erfolgte, besiegte er ihn. Jetzt fürchtete er sich vor dem nächsten Schlag. Seitlich vom Thron, ein kleines Stück dahinter, stand Hajar, schweigend und vertrauenswürdig wie immer. Auf der anderen Seite stand ein Gixianer, ein widerlicher Bursche mit einem Buckel und verschiedenfarbigen Augen. Ashnod kniete nieder und erhob sich, um Mishras Worte anzuhören. »Vor fünf Nächten floh Tawnos aus seiner Zelle«, sagte er ruhig. Ashnod runzelte Stirn. »Warum hat man mich nicht unterrichtet?« fragte sie zornig. »Wurde er gefunden?« 473
»Noch nicht«, antwortete Mishra. »Und niemand hat mir davon erzählt?« fauchte die Frau. »Ich hätte bei seiner Verfolgung helfen können!« »Oder sie behindert«, bemerkte der Priester. Ashnod warf ihm einen Blick zu, der Bände sprach. Sie nahm bereits Maß für die Transmograntenumwandlung. »Was soll das heißen?« Anstelle des Gixianers antwortete Mishra. »Eine Anschuldigung über deinen Anteil an der ganzen Sache wurde vorgebracht.« »Meinen...« Sie starrte ihn entgeistert an. »Wer bringt solche wilden Anschuldigungen vor?« Mishra schwieg, aber der Priester lachte. Es war ein beunruhigendes, keckerndes Lachen. »Du hast mit dem Entflohenen gesprochen«, stellte Mishra fest. »Einmal!« erwiderte sie aufgebracht. »Vor über einem Monat! Auf Euren Befehl hin. Um herauszufinden, ob er unter der Folter spräche. Ich fand schnell heraus, daß es zwecklos war, und ließ ihn liegen. Das alles stand in meinem Bericht.« »Sicher«, meinte Mishra und fegte ihre Antwort beiseite. »Tatsache ist, daß er seine Flucht mit Hilfe einer Waffe bewerkstelligte, die deinem Stab ähnelt.« »Wie bitte?« Ashnod fragte sich, ob es ihr gelang, ausreichend überrascht zu wirken. »Eine Waffe, die den Wächter schwächte«, fuhr Mishra fort. »Eine Waffe, die eine ganze Patrouille außer Gefecht setzte, als man ihn fast gefangen hatte. Eine Waffe ähnlich jener, die du einst gegen mich wandtest, damals, vor den Mauern Zegons.« »Das beweist gar nichts«, sagte Ashnod und atmete tief durch. »Als ich in Kroog gefangen saß, nahm man mir meinen Stab weg. Tawnos hätte ihn untersuchen können, um sich das notwendige Wissen anzueignen. 474
Es ist nicht meine Schuld, wenn Eure Wachen ihn nicht gründlich durchsuchten.« »Und euer Gespräch«, meinte Mishra, ohne auf ihre Worte zu achten. »Eine ausgesprochen seltsame Foltermethode.« »Bisher haben Euch meine Methoden gute Dienste geleistet«, antwortete sie, während ihr ein Schauer über den Rücken lief. Hatte sie einer der Wächter verstanden? Als könne er ihre Gedanken lesen, sagte Mishra: »Obwohl die Wachen nur Fallaji sprachen - um eine Unterhaltung mit dem Gefangenen zu unterbinden -, hatten sie ein gutes Gedächtnis. Die Wiederholung der Worte, die sie sich einprägten, erwies sich als aufschlußreich. Sie verstanden euch nicht, und die Übersetzung war ein wenig verworren, aber sie waren besonders aufmerksam, sobald mein Name fiel.« Der kalte Schauer wurde zu einem Eisregen. Ashnod sagte: »Wenn Ihr mir nicht traut, Meister, dann gebt mir beim nächsten Mal einen Wächter mit, der die Sprache des Gefangenen spricht. Ich bin sicher, sie haben etwas Falsches weitergegeben.« »Ich würde dir gern glauben, wenn nicht das letzte Beweisstück wäre. Priester, tritt vor!« Der Gixianer kicherte und streckte die Hand aus. Ein Paar Ohrringe lag auf der Handfläche. Die Juwelen waren entfernt worden. »Sie wurden im Abwasserkanal unter der Zelle gefunden«, erklärte der Mönch kichernd. »Erstaunlich, was die Leute so alles verlieren«, meinte Ashnod kalt. »In der Tat.« Mishra sah an ihr vorbei. »Sie sehen so ähnlich aus wie die Ohrringe, die du besitzt. Aber du hast sie seit längerer Zeit nicht mehr getragen. Bei diesen fehlen die Kraftsteine, die eigentlich hineingehören.« 475
Ashnod öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Mishra hatte sein Urteil bereits gefällt, ehe sie den Raum betreten hatte, und schenkte ihren Worten keinerlei Beachtung. Auch wenn sie unschuldig gewesen wäre - die Umstände sprachen gegen sie. Und sie war nicht unschuldig. »Meister«, begann sie und änderte ihre Taktik, »wißt Ihr, daß Mitglieder der Bruderschaft des Gix an Urzas Hof weilen?« Mishra verzog keine Miene, als aber Urzas Name fiel, zuckte es um seine Lippen. »Das hast du vom Gehilfen meines Bruders erfahren?« »Ja.« »Stand es in deinem Bericht über eure Unterhaltung?« fragte er mit zusammengekniffenen Augen. Ashnod begriff ihren Fehler. Während sie ihre Treue und Unschuld beteuerte, hatte sie enthüllt, was sie ihm verschwiegen hatte. Sie bemühte sich, eine ausdruckslose Miene beizubehalten, und sagte: »Ich wollte keine wilden Behauptungen in die Welt setzen« - sie nickte dem Priester zu -, »ohne Beweise zu haben.« »Und diese Beweise hast du jetzt?« »Ich warte noch auf die Bestätigung aus anderen Quellen, wollte es Euch aber nicht länger vorenthalten.« »Ich wußte es schon«, meinte er. »Der gute Bruder berichtete mir davon. Du aber nicht. Du hast dein Urteil selbst gesprochen.« Ashnod klammerte sich an Strohhalme. »Ihr werdet mich doch nicht für die Flucht eines Gefangenen verantwortlich machen! Was ist mit den Wachen?« »Sie sind bereits tot. Ich gab den Befehl dazu.« Ashnod zögerte. »Aha. Und mein Schicksal?« Sie sah ihn an und glaubte, Milde in seinem Blick zu entdecken. Aber nur für wenige Sekunden. »Du wirst verbannt.« 476
»Hoch verehrter...«, begann sie. »Verbannt!« wiederholte Mishra mit lauter Stimme. Der Priester lachte und rieb sich die Hände. Jawohl, dachte Ashnod, dahinter stecken die Gixianer. »Urza würde seinen Gehilfen nicht so schäbig behandeln!« rief sie zornig. Sobald die Worte ausgesprochen waren, begriff sie ihren Fehler. Mishras Gesicht war dunkelrot vor Wut. »Was mein Bruder täte oder nicht, geht dich nichts an!« brüllte er. Die Worte trafen sie wie Hammerschläge. Mishra fiel zurück in seinen Sitz. Der Wutanfall war vorüber, aber seine Augen funkelten böse. »Du bist vom Hof und aus dem Reich der Fallajis verbannt. Geh jetzt. Wenn man dich nach Sonnenaufgang noch in meinem Reich findet, wirst du getötet. Und zwar langsam. Hast du verstanden?« Ashnod sah ihn an und nickte. »Klar und deutlich«, antwortete sie. Dann verneigte sie sich und verließ den Thronsaal. Sie stürmte durch die Gänge und schlug den Weg zu ihren Gemächern ein. Nein, dachte sie plötzlich, die anderen Mönche sind bestimmt schon da, durchwühlen meine Aufzeichnungen und reißen meinen Besitz an sich. Es würde ihnen Freude bereiten, ihre Abreise zu verzögern, um Mishras Befehl auszuführen, damit sie ein für alle Mal beseitigt war. Statt dessen lief sie zu den Stallungen hinüber und sattelte ihr Lieblingspferd, den Rappen, der sie über das Schlachtfeld von Korlis getragen hatte. Sie nahm nur die Kleider mit, die sie am Leibe trug, und das Wissen, das sie im Kopf hatte. Das mußte reichen. Sie verließ den Palast des Paschas und zügelte das Pferd. Die Straße führte nach Osten und nach Westen. Nach Osten in Richtung Argivia (der Weg wurde sicherlich beobachtet) oder nach Westen ins Unbekannte. 477
Ashnod trieb das Pferd an und machte sich auf die lange Reise nach Westen, in Richtung Terisiare-Stadt und die Länder, die nicht von den Brüdern beherrscht wurden. Der Wächter am Tor beobachtete sie und teilte dem Gixianer, der ihn um die Auskunft gebeten hatte, ihre Entscheidung mit. Der Mönch wiederum erzählte es seinem Vorgesetzten, der es Mishra ins Ohr flüsterte. Mishra nickte bloß und machte sich daran, den nächsten Feldzug seines glorreichen Landes vorzubereiten.
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KAPITEL 26
Uhrwerke Tawnos hatte schon fast die Grenze erreicht, als ihn der Mak Fawa einholte. Im Grunde hatte er damit gerechnet. Bisher war ihm das Glück mehr als hold gewesen, und er wußte, daß es nicht ewig so bleiben würde. Nach seiner Flucht wandte er sich nach Norden und später nach Osten, um durch die Wüste zu den Gebirgspässen nach Argivia zu gelangen, anstatt entlang der Turmruinen zu reisen, die in Richtung Yotia wiesen. Das hatte seine Verfolger in die Irre geführt. Bei den Flüchtlingen aus Sarinth, die an den Ufern des Mardun lagerten, fand er Unterschlupf, reiste aber meist allein weiter und nur bei Nacht. Das sanfte Licht des Nebelmondes erhellte seinen Weg, und manchmal mußte er mit dem flackernden Schein des Schimmermondes vorlieb nehmen, wenn dessen großer Bruder sich nicht zeigte. Leider hatte sich keiner der beiden Monde in der vergangenen Nacht hinter den Wolken hervorgewagt, und Tawnos beschloß - da er sich kurz vor dem Ziel befand -, der Gefahr zu trotzen und am Tag weiterzureiten. Um ein Haar hätte er sein Leben und das Pferd verloren, als er sich einer von Mishras Maschinen gegenübersah. Die Kreatur reagierte auf Bewegungen oder Schallwellen. Sie lag unter dem Sand verborgen und wartete auf ihre Opfer. Als Tawnos an ihr vorbeiritt, begann der Sand rings um ihn her zu brodeln, als handele es sich um siedendes Wasser. Tawnos versuchte, das Pferd zu zü479
geln, aber es ging durch und raste in wildem Galopp davon. Wieder einmal hatte er Glück gehabt. Wäre er stehengeblieben, hätte er in der Falle gesessen. Gebogene Gliedmaßen, scharf wie Sensenklingen, wühlten sich unter dem Sand hervor und schlugen wild um sich. Ein schrilles Kreischen erfüllte die Luft. Aus weiter Ferne erscholl eine Antwort. Tawnos krallte sich in die Mähne des Pferdes und sah über die Schulter zurück, während das Tier weitergaloppierte. Noch einmal fuchtelten die Metallarme herum, dann verschwanden sie langsam wieder im Sand, der sich über dem Wesen schloß. Sekunden später sah der Wüstenboden aus wie zuvor. Kalter Schweiß lief Tawnos den Rücken hinunter. Hätte ihn die Kreatur nur angegriffen, wäre er durch seine Flucht entkommen. Sie hatte jedoch durch ihr Kreischen verkündet, daß ihr Opfer entkommen war, und auch eine Antwort erhalten. Tawnos schlug dem Pferd die Fersen in den Bauch und trieb es auf den Paß zu. Er hoffte, nicht noch einmal auf eine derartige Falle zu stoßen. Als er nach geraumer Zeit wieder über die Schulter zurückblickte, fiel ihm eine Staubwolke am Horizont auf. Verfolger. Er trieb das Pferd erneut an, aber als er nach hinten schaute, erkannte er bereits einen schwarzen Punkt am Fuß der Staubwolke, der immer näher kam. Eine Drachenmaschine. Das Land wurde jetzt hügelig, und halbverdorrte Pflänzchen schmückten die Erhebungen. Tawnos erwog, sich zu verstecken, entschied sich dann aber doch für den Paß. Die meisten Drachenmaschinen waren ungeschickte, wenig wendige Wesen und hatten Schwierigkeiten, die Felsen zu überwinden. 480
Er sah zum drittenmal zurück und konnte bereits Einzelheiten erkennen. Es handelte sich um eine der neueren Maschinen, die jedoch wesentlich schlanker und geschmeidiger wirkte als die ersten Geschöpfe Mishras. Mit den Monstern, die Kroog in den Boden gestampft hatten, konnte sie sich allerdings nicht messen. Selbst auf die große Entfernung erkannte Tawnos, daß der Kopf des Drachen vor- und zurückstieß, wie bei einem seltsamen Insekt. Er lächelte, aber das Lächeln verging ihm, als zwei riesige Flügel aus dem Rücken des Wesens wuchsen. Sie entfalteten sich im Licht der Nachmittagssonne und schlugen auf und ab, während der Drache zum Sprung ansetzte. Die Staubwolke legte sich, als er sich langsam in die Lüfte erhob. Tawnos fluchte und trieb das Pferd zu noch größerer Eile an. Ich schaffe es nicht, dachte er. In Tomakul hatten fliegende Drachenmaschinen den größten Teil seiner Flugbrigade vernichtet. Die Armee der Argivianer vermochte ihnen nichts entgegenzusetzen. Einen Augenblick lang erwog Tawnos, sein Pferd im Stich zu lassen und sich zu verstecken. Wenn er den schmalen Pfad am Fuß des Passes erreichen könnte, fände er vielleicht eine argivianische Garnison, ehe ihn der Drache packte. Er schaffte es beinahe. Tawnos sah es nicht, spürte aber den Luftzug, als das Monstrum über ihm schwebte. Gebrüll erscholl, und die Hitze versengte ihm den Rücken. Das Pferd wieherte und geriet ins Stolpern. Tawnos wurde aus dem Sattel geschleudert und riß die Arme schützend vors Gesicht. Er drehte sich noch im Fallen und landete auf der Schulter, wurde aber durch die Wucht des Aufpralls ein Stück zur Seite geworfen. Der Rauch, der vom Körper des brennenden Pferdes 481
aufstieg, raubte ihm den Atem. Das Tier lebte noch und schlug wild um sich, während es allmählich verbrannte. Tawnos hatte Mitleid mit ihm, aber ein Teil seines Verstandes notierte, daß der Drache eine Art brennendes Gelee ausgespuckt hatte, das nicht einmal dann erlosch, als sich das Pferd im Sand wälzte. Noch eine Sorge mehr, dachte er. Als er zum Himmel blickte, flog das Ungetüm über ihn hinweg und beschrieb einen Bogen, um den nächsten Angriff auszuführen. Es gab wenig Deckung, und die brennende Masse würde jeden Strauch sofort vernichten. Außerdem war er sicher, daß der Drache jede seiner Bewegungen spürte und dabei war, die begonnene Arbeit zu beenden. In diesem Augenblick tauchten die Metallvögel auf. Ein riesiger Vogelschwarm erhob sich im Osten und hielt genau auf die Drachenmaschine zu. Anfangs glaubte Tawnos, es handle sich um echte Vögel, die aus irgendeinem Grund angriffen. Dann sah er, daß es kleine Maschinen waren, niedriger als mannshoch. Sie schwirrten durch die Luft und umringten den Drachen. Das Monstrum drehte den Hals hin und her und schlug mit dem Flügel nach einem Vogel. Er wich geschickt aus, durch den Luftzug vor der Attacke gewarnt. Obwohl sein ganzer Körper schmerzte, mußte Tawnos grinsen. Er wußte, woher die Vögel kamen und wer sie gebaut hatte. Und wer den Erfinder auf die Idee gebracht hatte. Die Vögel umzingelten den Drachen und blieben ständig in Bewegung. Er konnte sich in der Luft halten, aber die Gegner waren so flink, daß er ihnen keinen Schaden zufügte. Die brennende Masse brachte nur einen einzigen Vogel zu Fall. Der Drache geriet allmäh482
lieh in Bedrängnis und verlor trotz wild schlagender Flügel nach und nach an Höhe. Die Schnäbel der Angreifer hatten messerscharfe Spitzen und rissen die äußere Haut des Ungetüms in Fetzen. Mehrere Löcher verunstalteten den Rücken des Mak Fawas. Tawnos beobachtete, wie einer der Vögel sich in eines dieser Löcher begab, unweit der Stelle, an der Flügel und Körper miteinander verbunden waren. Tawnos hörte ein Knirschen und Knacken, dann eine kleine Explosion. Der Flügel zog sich zusammen, als wolle er in den Körper zurückgleiten. Der Drache stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus und taumelte nach links. Der unversehrte Flügel schlug auf und ab, aber das Monstrum stürzte wie ein Stein zu Boden, zweihundert Schritt westlich von Tawnos. Selbst auf diese Entfernung spürte er die Hitze der Explosion. Ein riesiger Feuerball verschlang die Maschine. Schützend hielt er sich die Hand vor die Augen, und als er nach geraumer Zeit wieder hinsah, war nur noch ein Metallgestell übrig, das in züngelnde Flammen gehüllt war. Falls der Drache von Menschen gesteuert worden war, so waren sie verbrannt. Die Metallvögel sammelten sich. Aufgeregt schwirrten sie hin und her, um den angestammten Platz zu finden. Schließlich hatten sie sich ordentlich in V-Form aufgereiht und flogen nach Osten, auf den Paß zu. Tawnos folgte ihnen humpelnd in Richtung Argivia. »Uhrwerkvögel«, erklärte Urza und setzte seinen Lieblingsbecher ab. »O ja, sie beruhen auf dem Spielzeug, das du einst für den kleinen Harbin bautest.« »Das habe ich mir gedacht«, antwortete Tawnos und lehnte sich in einem der viel zu dick gepolsterten 483
Stühle zurück, die Urzas Empfangszimmer beherrschten. Er trug den verletzten Arm in einer Schlinge, war aber ansonsten unversehrt. Urza ließ sich ihm gegenüber nieder. Das Haar des Wissenschaftsministers war inzwischen schlohweiß, und die Falten in seinem Gesicht traten deutlich hervor. Tawnos war sicher, daß der Meister seit ihrer letzten Begegnung noch dünner geworden war, und er wußte, daß der Ältere zum Lesen eine Brille benutzte. Gedankenversunken fuhr sich Tawnos mit der gesunden Hand durchs Haar, das in letzter Zeit viel lichter geworden war. »Nach deiner... Gefangennahme setzte ich mich mit Harbin zusammen und sah mir die alten Spielzeuge an. Er wußte noch, in welcher Reihenfolge du sie bautest, und hat sie immer gut gepflegt. Darunter befanden sich ein paar wirklich geniale Schöpfungen!« »Größtenteils Einfälle und Träumereien, die keinen wirklichen Nutzen hatten«, meinte Tawnos bescheiden. »In der Tat.« Urza lächelte. »Nun, die Vögel erwiesen sich als sehr nützlich. Die fliegenden Drachen waren schlimm genug, aber als sie dann auch noch flüssiges Feuer spuckten...« Er hob die Hände. »Wir gerieten durch deine Abwesenheit in arge Bedrängnis. Wir hielten dich für tot.« »War ich aber nicht«, bemerkte Tawnos. »Jedenfalls nicht ganz.« Prüfend bewegte er die rechte Hand. »Ich bin sehr froh, daß du noch lebst«, sagte Urza, und man merkte ihm an, daß er es ernst meinte. Tawnos stellte sich vor, wie der Meister am Tisch gesessen und die alten Spielzeuge seines Sohnes in der Hand gehalten hatte; bemüht, die Erinnerung an die gemeinsame Arbeit beiseite zu schieben und sich ganz auf die Geheimnisse zu konzentrieren, die Tawnos' Schöpfungen bargen. 484
Der Augenblick ging vorüber, und Urza räusperte sich. »Die Vögel waren ein Geschenk des Himmels. Sie sind einfach zu bauen, nicht kostspielig und leicht gegen Mishras Drachen einzusetzen. Die große Schwierigkeit bei diesem Krieg liegt in der Entfernung. Wenn eine Waffe an die Front geschickt wird, wo sie schweren Schaden anrichten kann, ist bereits eine Gegenwaffe erfunden und im Einsatz. Die Uhrwerkvögel helfen uns beim Kampf gegen die Flugdrachen, aber als wir die Truppen endlich für einen neuen Angriff sammelten, hatte Mishra schon wieder neue Grenzposten erfunden.« »Die Sandwühler«, warf Tawnos ein. »Ich bin einem davon am gleichen Tag begegnet, als ich von dem Drachen angegriffen wurde.« »Gefährlich«, pflichtete Urza bei. »Sie verlangsamen den Vormarsch der Armee und geben meinem Bruder mehr Zeit, einen Gegenangriff vorzubereiten.« »Was ist mit dem flüssigen Feuer? Diesem Zeug, das der Drache ausspuckt.« »Eine neue Erfindung, die angeblich aus Sarinth stammt«, antwortete Urza. »Dort gibt es Ölquellen und noch zähere Flüssigkeiten, die aus dem Boden sprudeln. Mein Bruder fand eine Möglichkeit, diese Flüssigkeit in ihre >Einzelteile< zu zerlegen, und eines dieser Teile ist hoch entzündlich - wie Goblinpulver. Beinahe wäre die gesamte Armee verbrannt, ehe die Vögel einsatzbereit waren.« Er schwieg eine ganze Weile. »Yotia gehört uns immer noch.« »Und die Pässe in Argivia und Korlis«, ergänzte Tawnos. »Leider haben wir seit damals keinen weiteren Vormarsch geschafft. Wir warten darauf, daß er den nächsten Schritt tut. Wenn er angreift, können wir reagieren. Keine Seite hat genügend Kraft, einen vernichtenden Schlag auszuführen, oder die Zeit, die Grenzen 485
ausreichend zu sichern. Und in der Zwischenzeit verbrauchen wir den größten Teil unserer Bodenschätze und Vorräte.« »Auf meinem Weg hierher fielen mir zahlreiche neue Gießereien auf.« »Neue Gießereien, Fabriken und Bergwerke«, erklärte Urza. »Wir fällen die Wälder von Korlis und kaufen den sardianischen Zwergen Metall ab. Die Kaufleute beschweren sich über die Unmengen von Gold, die nach Norden geschickt werden, und sie diskutieren über einen Feldzug gegen die Zwerge. Sie wollen, daß wir das Land der Zwerge erobern und so die Bodenschätze in unseren Besitz bringen.« »Und wie denkt Ihr darüber?« Als er die Frage stellte, fiel Tawnos auf, daß er wahrscheinlich >Wie lautet Eure Entscheidung? < hätte fragen sollen. »Man sollte nie ohne guten Grund angreifen«, antwortete Urza. »Allerdings möchte ich die Zwerge auf Abstand halten. Man darf niemandem trauen, nur weil er behauptet, die Fallajis nicht zu mögen und unser Freund zu sein. So sprachen auch die Gixianer.« Tawnos nickte. Eine der ersten Folgen seiner Rückkehr war die Gefangennahme aller Gixmönche gewesen. Die Tatsache, daß sie sich an Mishras Hof aufhielten, hatte die Argivianer peinlich berührt und beunruhigt. »Die Priester haben sich in deiner Abwesenheit in der Akademie eingenistet - wußtest du das?« erkundigte sich Urza. »Unmittelbar unter Richlaus Nase. Als die Sache herauskam, lief er rot an wie eine überreife Tomate.« »Gut zu wissen, daß die ganze Angelegenheit auch etwas Positives erbrachte.« Schweigen legte sich über den Raum. Urza runzelte die Stirn und rieb die Handflächen aneinander. »Übri486
gens habe ich auch an deinen Tonstatuen gearbeitet«, meinte er schließlich. »Mir kam die Idee, den Ton ohne das Untergestell zu verwenden. Dadurch sind die Kreaturen geschmeidiger.« Tawnos sah seinen Meister aufmerksam an. »Urza, was bedrückt Euch?« Er kannte ihn gut genug, um zu merken, wenn Urza um etwas herumredete. Der Verteidigungsminister hob abwehrend die Hand. Dann schüttelte er den Kopf und schwieg geraume Zeit. »Harbin«, sagte er endlich. »Er will Ornithopterpilot werden.« Tawnos nickte. »Das erzählte er mir. Er ritt mir entgegen.« »So schnell wie der Wind, als die Nachricht über deine Rückkehr in Penregon eintraf. Als wir von der Schlacht bei Tomakul erfuhren und glaubten, du seist tot, wollte er losstürmen und sich der Armee anschließen, um deinen Tod zu rächen.« »Ich weiß«, sagte Tawnos mit ernster Miene. »Seine Mutter war am Boden zerstört, als sie von deinem angeblichen Tod erfuhr«, erklärte Urza kopfschüttelnd und starrte vor sich hin. »Wenn ich von einer Schlacht heimkehre, reitet Harbin mir nie entgegen.« Tawnos zuckte die Achseln. »Ich weiß, daß er Euch respektiert.« »Respekt, ja!« stieß Urza gereizt hervor. »Er ist immer so höflich und respektvoll. Seine Mutter hat ihn gut erzogen. Aber wir reden kaum miteinander. Er weiß alles über die Spielzeuge, die du ihm schenktest, interessiert sich aber nicht weiter für Maschinen, nur für ihre Benutzung. Er ist klug, aber ihm fehlt die gesunde Neugier. Er hält große Stücke auf dich.« »Er respektiert Euch«, wiederholte Tawnos. »Als Kind war er viel mit mir zusammen.« »Ja.« Urza hielt inne, als trügen ihn seine Gedanken 487
weit fort. Dann sagte er: »Also hat er dir erzählt, daß er einen Ornithopter fliegen möchte.« »Das war sein zweiter Satz, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß ich noch lebe.« »Und?« Tawnos seufzte. »Er ist vierzehn. Das ist ein gutes Alter, um mit der Ausbildung zu beginnen. Er ist flink und klug, wie Ihr schon bemerktet. Er wird ein guter Pilot werden.« »Seine Mutter bringt mich um, wenn ich es ihm erlaube«, murmelte Urza bedrückt. »Sie will nicht, daß ihr Sohn in den Krieg zieht. Sie will, daß er in Sicherheit ist. Er soll ein Amt in der Regierung übernehmen, sagt sie. Außerdem hat sie bereits eine Heirat für ihn geplant, sobald er volljährig ist.« »Das hat er mir erzählt«, meinte Tawnos. »Sie erwähnte es in einem ihrer Briefe.« Urza wies auf einen Stapel unbeantworteter Schreiben. »Nette Familie. Argivianischer Adel.« Er drückte die Handflächen gegeneinander. »Das Problem ist: In einem Krieg brauchen wir jeden fähigen Menschen. Jeden. Meine Fabriken arbeiten mit einer Notbesetzung, da wir alle Männer und Frauen in der Armee benötigen. Ich habe schon versucht, Goblinsklaven einzusetzen, aber sie schaffen ebenso viele Probleme, wie sie lösen. Wie kann ich verlangen, daß alle unter diesem verfluchten Krieg leiden, wenn ich den Jungen davor bewahre? Tue ich es nicht, breche ich seiner Mutter das Herz. Ich möchte niemanden verletzen.« Tawnos sah den älteren Mann an. Urza konnte ihm jede Maschine bis in die kleinste Einzelheit erklären, aber das wahre Leben stellte ihn immer wieder vor ein Rätsel. »Ich finde, Ihr solltet Harbin die Ausbildung ermöglichen«, sagte er schließlich, jedes Wort sorgfältig bedenkend.
»Nun, dich hat er anscheinend schon überredet.« »Er war sehr überzeugend. Er ist klug und geschickt. Wenn er einst ein ganzes Land führen soll, muß er jetzt lernen, Verantwortung zu tragen.« »Aber seine Mutter...« »...muß es hinnehmen«, unterbrach Tawnos den Meister. »Ich rede mit ihr und erinnere sie daran, daß auch ich überlebte.« Urza schüttelte den Kopf. »Wenn ihm in der Schlacht etwas zustößt...« »Ich schlug nicht vor, daß Ihr ihn in die Schlacht schicken sollt«, widersprach Tawnos. Urza hob fragend die Brauen, und Tawnos fuhr fort. »Er soll die Pilotenausbildung absolvieren. Dann sorgt Ihr dafür, daß er in friedlichen Gebieten des Reiches eingesetzt wird. Schickt ihn nicht nach Yotia, wenn sich Unruhen zusammenbrauen, sondern laßt ihn Botschaften nach Korlis übermitteln. Er soll als Späher arbeiten. Gebiete aus der Luft überwachen. Es gibt mehr als genug Arbeit für einen Ornithopterpiloten, ohne ihn der Gefahr des Feindkontaktes auszusetzen.« Urza starrte auf seine Hände. »Das wird ihm nicht gefallen.« »Dann soll er sich beschweren. Wenn er zu Euch kommt, werdet Ihr ihm sagen, wie schlecht es aussieht, wenn der Verteidigungsminister die Privilegien seiner Stellung ausnutzt und seinen Sohn einer Kampfeinheit zuweist, obwohl viele andere junge Männer schon lange auf diese Ehre warten.« Urza rieb sich das Kinn. »Er wird sehr wütend sein.« »Ja, das wird er sein«, stimmte Tawnos zu. »Auch ich möchte ihn vor Gefahren schützen. Aber ich denke, es ist nicht gut, wenn man ihn dauernd behütet.« Urza lachte und hob den schweren Becher. »Es ist gut, dich wieder hier zu haben. In deiner Abwesenheit hat mir etwas gefehlt.«
»Mir auch, Urza«, erklärte Tawnos und hob seinen Becher. Plötzlich vernahm er eilige Schritte vor der Tür. Beide Männer wandten sich um, als eine Botin erschien, die sich nach Atem ringend an die Türfüllung lehnte. »Professor!« stieß sie hervor. »Ehrenwerter Minister!« Sie rang nach Luft. »Unsere Spione schickten eine Botschaft. Mishras Armee rückt vor.« Die Männer sahen sich bestürzt an. »Wohin? Nach Yotia? Auf die Pässe zu?« Die Frau schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Terisiare-Stadt. Er zieht nach Westen. Nach TerisiareStadt.«
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KAPITEL 27
Sylex Die Elfenbeintürme standen in Flammen.
Die Feinde waren vor einem Jahr aus der Wüste gekommen und hatten die Verteidiger schon beim ersten Ansturm fast überrannt, ehe es jenen gelang, die Tore zu schließen und mit den schweren Metallbalken zu verriegeln. Tausende von Gegnern strömten wie eine Heuschreckenplage aus dem Osten herbei: grimmige Wüstenkrieger und geistlose Maschinen. Sie zogen plündernd durch das ganze Land und verbrannten alles, was sie nicht forttragen konnten. Innerhalb weniger Tage lagerten sie vor den Toren der Hauptstadt. Dort mußten sie innehalten. Die Tore schlossen sich genau vor ihrer Nase, und Mishras Armee zog heimwärts. Im darauffolgenden Frühling kehrten sie mit Rammböcken und Drachenmaschinen zurück, für eine lange Belagerung gerüstet. Die sich endlos hinziehende Belagerung richtete die Stadt und ihre Bewohner zugrunde. Die Türme bewiesen ihren unschätzbaren Wert, da der Feind nicht nahe genug an die Mauern herankam, ohne von den Zinnen mit brennenden Pfeilen und kochendem Pech begrüßt zu werden. Jeder einzelne Turm wurde wiederum durch die Mauern und die benachbarten Türme geschützt. Die ganze Stadt lag innerhalb eines Mantels aus Stein und wurde zusätzlich durch Katapulte und Bogenschützen verteidigt. Ein Flugdrache unternahm den Versuch, die Stadt aus der Luft mit flüssigem Feuer in Brand zu setzen, aber sobald er über den Verteidigern schwebte, wurde 491
er so heftig beschossen, daß er sich noch in der Luft in sämtliche Einzelteile auflöste. Mishras Truppen wagten kein zweites Mal, die Stadt zu überfliegen. Die ganze Zeit über wußte niemand den Grund für diesen Angriff. Die Stadtoberen hatten versucht, mit den Feinden zu verhandeln, aber jede Annäherung wurde mit Pfeilen und Schwertern beantwortet. Der Winter bescherte der Stadt einen Aufschub, und man beeilte sich, die Kornspeicher zu füllen, die Kinder und die alten Leute in Sicherheit zu bringen und sämtliche Verteidigungsanlagen zu verstärken. Die Gemeinschaft der Gelehrten arbeitete fieberhaft an ihren Forschungen. Die Belagerung zog sich monatelang hin, ohne daß die eine oder die andere Seite einen Fortschritt erzielte. Es gelang den Gelehrten, eine der beiden mächtigsten Armeen des Kontinents in Schach zu halten, während sie ihre Arbeit fortsetzten und die Geheimnisse des dritten Pfades zu ergründen suchten - des Pfades, auf dem weder Urza noch Mishra gingen. Wie Feldon vorhergesagt hatte, verschaffte ihnen Hurkyls Art der Meditation Zugang zu diesem Pfad. Der Schlüssel lag in der Konzentration auf die Erinnerungen an die Heimat. Aus diesen Erinnerungen und dem Land vermochte man unbekannte Energien zu ziehen. Hurkyl entdeckte diese Kräfte, aber die Archimandritin war es, die ihnen den Namen >Mana< gab. Damals befand Loran, der Name sei irreführend, schmecke nach den alten Fallajilegenden und mehr nach Zauberei als nach Wissenschaft. Trotz des Namens gelang es der Archimandritin, das Mana zu erforschen, zu verfeinern und auf die Grundelemente zu reduzieren. Jene Grundelemente verwandelte sie in eine Waffe gegen die Wüstenkrieger. Aber nun war Hurkyl tot, die Archimandritin verschollen, die Stadt war verraten und von den Fallajis 492
besetzt worden. Die Elfenbeintürme fielen der Reihe nach Mishras Truppen zum Opfer. Der Turm der Archimandritin - einer der wenigen, der noch stand - war in Aufruhr. In der großen Halle brüllte Drafna die sumifanischen Wächter an und erteilte die letzten Befehle für den Ausfall. Seine Glatze ragte kaum über die Schultern der Krieger hinaus, aber die Stimme hätte Loran überall wiedererkannt. Drafna stellte sich auf einen Stuhl, um besser gehört zu werden, und Loran fiel der wilde Blick auf, das fanatische Feuer, das ihn nach Hurkyls Tod wie ein Fieber ergriffen hatte. Der Lauf der Zeit hatte dieses Feuer nicht gemindert. Er hatte mitangesehen, wie seine Frau vor den Toren der Stadt starb, als sie von den Gixianern verraten wurden. Sie alle waren sich der von außen drohenden Gefahr bewußt, ohne die Fäulnis im Innern wahrzunehmen. Die Gelehrten hatten die Maschinenanbeter kaum beachtet, die wenig sprachen, aber immer gut zuhörten. Die Gixianer hatten in Terisiare-Stadt viel gelernt, und die Wissenschaftler behandelten sie wie harmlose, ein wenig zurückgebliebene Leute. Als die Priester genug zu wissen meinten, verrieten sie die Gelehrten und öffneten dem Feind das Tor. Die immer aufmerksame Hurkyl ahnte, was vorging, und überredete Drafna, die getreuen Wächter um sich zu scharen. Drafnas Truppe gab sich große Mühe, den Angriff zurückzuschlagen und die Tore zu schließen, ehe der Feind in die Stadt gelangte. Aber Mishras Soldaten waren auf die Gegenwehr vorbereitet und untermauerten den Verrat durch den Einsatz von drei Drachenmaschinen. Drafnas Leute wurden auseinandergetrieben, und die Drachen rückten vor. In diesem Augenblick enthüllte Hurkyl, welche Macht die Gelehrten durch ihre Studien errungen hatten. 493
Loran beobachtete die Szene vom nächstgelegenen Turm aus, um den Einsatz der Katapulte zu überwachen, damit nur die Drachen und deren Verteidiger beschossen wurden. Hurkyl stand neben einem Flügel des Tores. Sie sah aus wie eine zerbrechliche Puppe, in ein blaues Gewand gehüllt, und das schwarze Haar wehte wie eine Flagge im Wind. Sie schloß die Augen, hob schweigend die Arme, und die Welt ringsumher veränderte sich. Ein Leuchten umgab sie, ein saphirblauer Schein so blau wie das Meer von Lat-Nam. Der Schein breitete sich aus und warf einen Schatten. Die Krieger blieben stehen, und die Drachenmaschinen... ...verschwanden. Weder wurden sie zerstört, noch zogen sie sich zurück. Statt dessen verblaßten sie langsam. Der Hintergrund trat immer deutlicher hervor, bis die Maschinen nur noch ein bunter Nebelschleier waren. Dann waren sie verschwunden, durch die Tat einer Frau verschwunden. Hurkyl taumelte vor Anstrengung und Erschöpfung, und Mishras Krieger nutzten ihre Schwäche zum Angriff. Der blaue Schein wurde schwächer und erlosch schließlich ganz, als die Frau von einer Woge von Speerwerfern überrollt wurde. Hurkyl hatte die Artefakte besiegt, aber nicht die menschlichen Krieger, die sie begleiteten. Loran sah, wie Drafna seine Truppen an die Stelle zu führen versuchte, an der seine Frau gestanden hatte, aber es war zu spät. Der kahlköpfige Gelehrte wurde in einen Turm zurückgetrieben und die Stadt von Mishras Soldaten gestürmt. Überall brannten Feuer, alles wurde geplündert, und die überlebenden Menschen schlachtete man gnadenlos ab. Die Fallajis zertrümmerten alle Glasdächer; nicht eine Scheibe blieb ganz. Die Gelehrten 494
brachten sämtliche unterirdischen Gänge in die Stadt zum Einsturz, versiegelten die Fenster, damit weder der Rauch noch die Schreie der Gemarterten hineindrangen und machten sich auf das Schlimmste gefaßt. Erst fiel einer, dann der zweite und dann der dritte der Elfenbeintürme. Die Feinde bewegten sich wie eine apokalyptische Uhr im Kreis um die Stadt herum. Es gab keine Rettung vor den Fallajis, kein Wunder in letzter Minute. Loran hatte einen Brief von einem Freund aus Argivia erhalten, der mit monatelanger Verspätung eintraf und vom Aufstand der sardianischen Zwerge berichtete. Urza hatte alle Hände voll zu tun, und im Westen gab es niemanden, der sich Mishra entgegengestellt hätte. Die Natur schenkte ihnen eine Galgenfrist. Ein Sandsturm zog über die Wüste hinweg nach Osten und trug eine schwere, dichte Staubschicht mit sich, die Mishras Armee zum Stillstand brachte und eine klare Sicht unmöglich machte. Viele Gelehrte nutzten den Sturm, um in seinem Schutz der Stadt zu entfliehen. Sie nahmen das neuerrungene Wissen mit. Es wurde behauptet, auch die Archimandritin sei geflohen. Dann wieder hieß es, Mishra habe sie gefangengenommen. Ein anderes Gerücht lautete: Der Sandsturm sei ihr Werk, wie das Verschwinden der Drachenmaschine Hurkyls Werk gewesen war. Dennoch hielt der Sturm nicht ewig an, und sobald er vorüber war, würde ein Turm nach dem anderen fallen. Die überlebenden Wissenschaftler bereiteten sich darauf vor, der Stadt den Rücken zu kehren. Unterhalb der Türme verliefen zahllose Gänge, und etliche konnten mit etwas Mühe freigeschaufelt werden und eine Flucht ins Hinterland ermöglichen. Drafna brüllte den Wachen und Dienern, die sich mit der den Sumifanem angeborenen Gelassenheit und 495
Anmut bewegten, weitere Anweisungen zu. Loran sah sich suchend um, vermochte Feldon aber nicht zu entdecken. Sie war sicher, daß er sich ebenfalls im Turm aufhielt. Schließlich fand sie ihn in seinem Arbeitszimmer, wo er den golgothianischen Sylex anstarrte. Bei ihrem Eintritt hob er kurz den Blick und seufzte abgrundtief. »Füllt ihn mit Erinnerungen und wagt einen Neuanfang«, sagte er. »Alles sauber abkratzen. Wie bei einem Gletscher.« »Wenn das stimmt«, wandte Loran ein. »Ich fürchte, es wäre für den Anwender ebenso gefährlich wie für das Opfer.« Feldon grunzte und erhob sich. »Das glaube ich auch. Drafna befahl, sämtliche im Turm befindlichen Artefakte zusammenzutragen. Er will mit den restlichen Wachen einen Ausfall wagen, um sich notfalls nach Lat-Nam durchzukämpfen. Er ist in gefährlicher Stimmung. Ich glaube, er wäre glücklicher, wenn er den Tod fände und die Flucht mißlänge. Nun, ich habe ihm alles gegeben, bis auf das hier...« Er stockte und streichelte den Sylex. »Glaubt Ihr, es trifft ein?« fragte Loran. »Daß alles zu Ende ist, so wie es hier steht?« Feldon sah sie an. »Möchtet Ihr es herausfinden?« Loran starrte auf die Schüssel, während sie fieberhaft nachdachte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Wir wissen viel zu wenig darüber.« Feldon nickte. »Stimmt. Aber wenn wir den Sylex nicht benutzen, was sollen wir dann damit tun?« »Wir sollten ihn vernichten.« »Ich weiß nicht, ob wir das können. Er hat wer weiß wie lange auf dem Meeresboden gelegen, und mir ist es nie gelungen, auch nur einen Splitter abzuschleifen. Vielleicht hätte Hurkyl mit ihrem Mana etwas tun kön496
nen...« Wieder stockte er. Lange Zeit sah er das Artefakt an. »Ich will ihn Drafna nicht geben.« »Habt Ihr Angst, er verliert ihn?« »Ich habe Angst, er benutzt ihn«, verbesserte sie der Mann. »Seit Hurkyls Tod benimmt er sich - nun, seltsam. Ich denke, ihm ist es einerlei, ob die Welt untergeht oder nicht.« »Seine Welt starb mit seiner Frau«, erklärte Loran, und Feldon nickte zustimmend. »Nehmt ihn mit«, fuhr sie fort. »Wir müssen bald aufbrechen.« »Mit meinem Bein komme ich nicht weit«, wandte er ein und tippte mit dem Stock gegen den Knöchel. »Ich will zu entkommen versuchen, aber mit möglichst wenig Gepäck.« Es entstand eine Pause, bis Loran das Wort ergriff. »Ihr wollt, daß ich ihn mitnehme. Darauf läuft unser Gespräch hinaus.« Feldon zuckte die Achseln. »Nun, Ihr werdet schließlich auch fortgehen. Entweder durch die Tunnel oder gemeinsam mit Drafna.« »Durch die Tunnel. Und Ihr werdet mich begleiten.« »Bin zu alt und zu langsam«, erwiderte er. »Ohne mich kommt Ihr schneller voran. Außerdem hat unser Wissen mehr Aussicht, erhalten zu bleiben, wenn wir getrennt gehen. Am Fuß des Ronomgletschers liegt eine kleine Stadt namens Ketha. Dort treffe ich Euch innerhalb eines Jahres, wenn ich überlebe. Bitte, nehmt ihn an Euch.« Loran verzog den Mund. »Warum gerade ich?« »Ist es Euch gelungen, die Meditation zu erlernen? Seid Ihr in der Lage, dem Land das Mana zu entziehen?« Sie streckte die Hände aus. »Ich glaube nicht, daß die ganze Sache etwas mit Magie zu tun hat. Es handelt sich um eine Wissenschaft, die wir noch begreifen müssen.« 497
Feldon stützte sich auf seinen Stuhl. »Die Antwort lautet also: Nein, es ist Euch nicht gelungen.« Loran sah zuerst ihn an, dann die Schüssel. Er hatte recht. Es war ihr nicht gelungen, die Meditation zu erlernen. Entweder lag es daran, daß ihre Erinnerungen an Argivia zu schwach waren, oder aber die Heimat war einfach zu weit entfernt. Vielleicht lag es auch daran, daß die Heimat nicht mehr so war, wie sie sie in Erinnerung hatte. Loran hatte oft darüber nachgedacht und sich gefragt, ob das ein Teil dieser neuen und unbekannten >Wissenschaft< war. Nach geraumer Zeit schüttelte sie den Kopf. »Ihr solltet ihn trotzdem nehmen«, sagte Feldon. »Ich hatte nur wenig Erfolg, obwohl ich an die Berge und das ewige Eis denke. Bei jedem von uns ist es anders, und jeder erzielt andere Ergebnisse. Ihr jedoch nicht, und daher müßt Ihr ihn nehmen.« »Wenn etwas passiert, bin ich nicht in der Lage, ihn in einem schwachen Augenblick zu benutzen«, stellte sie fest. Feldon sah sie an und stieß einen tiefen Seufzer aus. Loran ergriff den Sylex. Als sie ihn berührte, fiel der Schatten über sie, und fast hätte sie die Schüssel fallen gelassen. Statt dessen packte sie fest zu und fragte den Alten: »Habt Ihr eine große Tasche?« Feldon zog einen abgeschabten Rucksack unter dem Bett hervor, der noch aus seinen Tagen als Gletscherforscher stammte, und Loran verstaute das Artefakt darin. Es war schwer, wog aber im Vergleich zur der Aura der Verdammnis, die es umgab, nur wenig. Loran und Feldon verabschiedeten sich voneinander, und sie umarmte ihn heftig und mit Tränen in den Augen. »Begleitet mich«, drängte sie. »Wir flattern auseinander wie eine Gänseherde«, sagte er. »Sie können uns nicht alle abschießen.« 498
»Ein geringer Trost, wenn Ihr zu den abgeschossenen Gänsen zählt. Paßt gut auf Euch auf.« »Und Ihr auf Euch«, meinte er. Dann verließ sie den Raum. Feldon packte seine Habseligkeiten in einen zweiten Rucksack und blieb stehen, als er Drafnas Gebrüll vernahm, der die Truppen zum Angriff befahl. Inzwischen hatte Loran die unterirdischen Gänge erreicht. Hoffentlich war sie Mishras Leuten und den verhaßten Gixianern entkommen. Er schulterte den Rucksack und schüttelte ihn ein wenig, um die schweren Gegenstände zu verlagern. Unter sich hörte er, wie sich die schweren Tore öffneten, und vernahm das Schreien der Männer und Frauen, die sich den Weg freikämpfen wollten. Wenigstens hoffen sie darauf, dachte er. Feldon zählte bis hundert, um sicherzugehen, daß sie auch bestimmt fort waren. Dann zählte er noch einmal bis hundert. Den Wanderstab fest umklammert, machte er sich auf den Weg zu den unterirdischen Gängen. Während er humpelnd die Treppe hinabstieg, betete er: für sich, für die anderen Gelehrten, für Drafna, für die Archimandritin und für Loran. Ganz besonders für Loran. Einen Monat später lag Loran im Sterben. Ihre rechte Körperhälfte war von der Steinlawine zerschmettert worden. Ein paar Fuß entfernt lag der Sylex, der aus dem Rucksack gefallen war. Sie hatte es bis zu den Ausläufern des Colekgangebirges geschafft, ehe das Unglück geschah. Die Überlebenden waren durch Mishras Truppen geströmt wie Wasser durch ein Stahlsieb, hatten sich in drei Himmelsrichtungen verstreut und suchten ihr Heil überall - nur nicht im Osten. Loran hatte sich einer Gruppe Yumoks angeschlossen, die nichts weiter wollte, als diesem angeblich 499
zivilisierten Land den Rücken kehren und ihre Heimat zu erreichen. Sie schritten über einen der ersten Pässe, als eine Lawine über sie hereinbrach. In einem Augenblick zog eine Flüchtlingskarawane den steinigen Pfad entlang, und im nächsten Augenblick regnete es aus einem strahlendblauen Himmel Steine und Erdbrocken, und es wurde finster um sie. Loran hörte Schreie und Stöhnen, aber bald wurde es still. Nicht nach allem, was geschehen ist! hatte sie gedacht. Sie schickte den längst vergessenen Göttern ein stummes, flehentliches Gebet und bezweifelte, daß es sich um eine natürliche Lawine handelte. Sie sollte recht behalten. Jetzt, da sich der Staub legte, wanderten Gestalten zwischen den Steinen umher. Anfangs hatte sie an Flüchtlinge geglaubt, die der Lawine entkommen waren und nach Überlebenden suchten. Loran versuchte, den Arm zu heben, um ihnen ein Zeichen zu geben, aber sie konnte ihn nicht bewegen. Die ganze rechte Körperhälfte bestand nur noch aus Blut, das den dicken Reiseumhang tränkte. Es schmerzte, den Kopf zu drehen, als sie sich ihre Verletzungen anschauen wollte. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß es keine Yumoks waren. Die Gestalten trugen mit Spitzen übersäte Rüstungen und weite Umhänge. Sie stiegen über Schutt und Geröll und stießen mit den Schwertern nach den herumliegenden Körpern. Plünderer. Sie hatten die Lawine ausgelöst. Sie hatten das Gestein ins Rutschen gebracht, um die Leichen auszurauben. Loran mußte gezuckt oder gestöhnt haben, denn hinter ihr erklang eine durch das Helmvisier gedämpfte Stimme: »Eine Überlebende!« »Wie schön«, antwortete eine klare Frauenstimme. 500
»Ich hatte schon Angst, Ihr hättet Euren Auftrag zu gewissenhaft erfüllt, Hauptmann.« Loran wollte sich umdrehen, um den Sprecher anzusehen, schaffte es aber nicht. Schwere, behandschuhte Hände legten sich auf ihre Schulter, und ein stechender Schmerz durchzuckte sie. Ein Gesicht, von einem Metallvisier verdeckt, tauchte über ihr auf. Die Gestalt sah wie eine von Urzas Maschinen aus, aber die Augen gehörten eindeutig zu einem Menschen. Sie sahen nicht besonders mitfühlend oder tröstlich drein, aber immerhin handelte es sich um einen Menschen. »Tot oder lebendig?« fragte die weibliche Stimme. »Lebendig, aber nicht mehr lange«, erklärte der Mann. Er atmete ebenso keuchend wie Loran, und sie las, was in seinen Augen stand. Schmerz. Ein schmerzlicher Blick. »Nun, lange brauchen wir sie auch nicht«, sagte die Frau. Der Krieger trat beiseite, und nun erblickte Loran die Frau. Auch sie trug eine Rüstung, aber keinen Helm. Dichte rote Locken fielen ihr über die Schultern. »Wir benötigen nur ein paar Auskünfte«, erklärte sie mit kühler Miene. »Dann kann sie wie die anderen sterben.« In ihrem Blick stand nichts Schmerzliches zu lesen. Nur Machtgier. »Herrin, seht Euch das an!« rief der Soldat. Er hielt den Sylex in Händen. Loran mußte versucht haben, sich umzudrehen oder etwas zu sagen. Sekunden später durchzuckte sie ein stechender, unerträglicher Schmerz. Als sie wieder klar denken konnte, drehte die Rothaarige den Sylex hin und her. Ashnod, dachte Loran und fragte sich, ob ihre Lippen den Namen geformt hatten. Aber es hieß doch, Mishra habe Ashnod verstoßen. Was tat sie hier, noch dazu mit eigenen Soldaten? »Bemerkenswert«, murmelte Ashnod und fuhr mit 501
dem Finger über die Zeichen auf der Innenseite der Schüssel. »Höchst bemerkenswert. Ich glaube, unsere kleine Freundin hier kennt sich damit aus. Du bist keine Yumok und keine Fallaji. Vielleicht eine Gelehrte aus dem Osten?« Loran schwieg und hoffte zu sterben, ehe ihr noch Entsetzlicheres widerfuhr. Die Geschichten von Ashnods Grausamkeit waren legendär. Die Rothaarige schien ihre Gedanken zu erraten, denn sie sagte: »Wir müssen die Dame gesundpflegen, Hauptmann. Sie hat uns viel zu erzählen. Dessen bin ich ganz sicher.« Loran versuchte, den Tod herbeizuzwingen, aber die Antwort darauf bestand in Ashnods höhnischem Gelächter.
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KAPITEL 28
Argoth Gwenna
beobachtete den Eindringling von ihrem Platz auf den ineinander verschlungenen oberen Zweigen des Baumes aus. Sie hatte ihn zuerst gesehen, und deshalb gehörte er ihr. Die anderen eilten zum Dorf zurück, um Botschaften nach Süden zu schicken, nach Citanul und an den Hof Titanias, um nach einer Beurteilung dieser seltsamen Lage zu fragen. Bis dahin hatte sie die Pflicht, ihn zu beobachten und einzuschätzen. Sie hatte bisher noch keinen Eindringling gesehen, obwohl genügend Geschichten über sie im Umlauf waren. Gwenna wußte, daß es sie in allen möglichen Formen und Größen gab. Gemeinsam war ihnen nur, daß sie nicht aus Argoth stammten, sondern üblicherweise durch einen der Stürme, die Argoth schützten, an die Küste getrieben wurden. Außerdem kannte keiner von ihnen das Land und verstand es auch nicht. Dieser Eindringling war männlich wie die Druiden von Citanul, der einzigen Stadt Argoths. Er war größer als die Druiden und hatte dunkelblondes Haar, das er zum Pferdeschwanz gebunden trug. Der Fremde war mit einer blauen Hose und einem weißen Hemd bekleidet; die blaue Jacke baumelte seitlich an seinem Gefährt. Er sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand, und versetzte der Maschine einen Tritt. Gwenna vermutete, daß es sich um einen menschlichen Fluch handelte, der die Menschengötter beschwor, die jedoch niemals zuhörten. 503
Gwenna war eine Elfe wie die meisten Bewohner von Argoth. Es gab auch Kobolde, Baumwesen und andere Waldbewohner auf Argoth, aber die Elfen waren das klügste und vornehmste Volk der Insel wenigstens nach Gwennas Meinung. Menschen gab es nur sehr wenige, und sie hielten sich an ihre heiligen Orden und steinernen Behausungen. Sie fragte sich, warum die Eindringlinge in den alten Geschichten meistens Menschen waren, denn es gab doch so viele Elfen auf der Welt. Sie kamen über das Meer, und ihre Boote zerschmetterten an den Riffen und wurden von den Malströmen der Insel fortgerissen. Sie waren für gewöhnlich halb ertrunken, verletzt und schwach. So konnten sie kaum Widerstand leisten, wenn es an der Zeit war, sie zu töten. Dieser hier kam jedoch aus der Luft und befand sich in ziemlich guter Verfassung. Sein Gefährt sah wie ein verletzter Vogel aus, der zusammengekauert im weißen Sand hockte. Hätte Gwenna nicht die Landung beobachtet, hätte sie nie geglaubt, daß dieses Ding fliegen könne. Nun, fliegen war eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Es war im Sturzflug auf den Strand zugesteuert, wie ein Kormoran es zu tun pflegte, und erst in der letzten Sekunde abgebogen. Dennoch prallte er mit ohrenbetäubendem Krachen auf den Sand. Jetzt war einer der Flügel völlig verbogen. Titanias Gesetze waren, was Eindringlinge betraf, streng, aber unkompliziert Man mußte sie beobachten und sofort eine Nachricht nach Citanul an ihren Hof schicken. Fügte der Fremde dem Land Schaden zu (und das taten früher oder später alle), wurde er getötet. Gwenna konnte sich nicht vorstellen, warum dieser Eindringling getötet werden mußte, aber so lautete Titanias Gesetz im Sinne der mächtigen Göttin Gaea. 504
Der Fremde sah ausgesprochen harmlos aus, nicht wie einer der schiffbrüchigen Barbaren. Aber die Regeln schrieben vor: Beobachten und feststellen, welche Verbrechen er der Insel zufügte. Dann, wenn der Befehl vom Hof kommt, wurde er beseitigt, ehe er noch mehr Schaden anrichtete. Also setzte Gwenna ihre Beobachtungen fort. Harbin schritt um den abgestürzten Ornithopter herum und versetzte ihm einen Tritt. Das verbesserte den Zustand der Flugmaschine nicht, und er fühlte sich auch kaum besser, wenn er seine unangenehme Lage bedachte. Als ihm sein Vater erlaubte, die Pilotenausbildung zu beginnen, träumte er davon, einen Ornithopter in die Schlacht zu fliegen. Statt dessen hatte er ein Dutzend Jahre mit langweiligen Aufträgen verbracht. Er beförderte Botschaften und Befehle in den Vereinigten Reichen von Argivia, Korlis und Yotia. Er war an den Landvermessungen entlang der Nordküste Malpiris beteiligt. Er flog Diplomaten und Beamte von Kroog nach Penregon. Sicher, die Aufträge waren wichtig, aber dennoch langweilig. Er hatte versucht, sich einer Kampftruppe oder wenigstens einer Garnison anzuschließen, hatte aber von seinen Eltern keinerlei Unterstützung erhalten. Mutter war von Anfang an gegen die Fliegerei gewesen. Vater war so kühl und abweisend wie immer und betonte, man dürfe niemanden bevorzugen. Das war typisch Vater: die perfekte Antwort auf jede Frage. Sogar Onkel Tawnos hatte keinen Versuch gemacht, ihm zu helfen. Natürlich hatte auch Harbin aufregende Momente erlebt. Einmal griffen ihn Malpirikrieger an, als er entlang der Küste wanderte. Insgesamt viermal stieß er auf Fallajibanden. Bei einer dieser Gelegenheiten ver505
folgte ihn eine Drachenmaschine, der er davonflog und die er in die Reichweite der Uhrwerkvögel seines Vaters lockte. Trotzdem - die meisten anderen Piloten wurden früher oder später zur Front versetzt; nur er blieb in sicherer Entfernung vom Kriegsgeschehen. Harbin witterte eine Verschwörung, und sie stank geradezu nach der Einmischung seiner Eltern. Vor kurzem hatte er sich noch einmal um eine Versetzung bemüht, und man teilte ihm mit, er werde nach dieser Mission eine Stelle als Ausbilder antreten. Er sei jetzt sechsundzwanzig, erklärte ihm der Offizier, beinahe ebenso >antik< wie die ersten schlichten Ornithopter. Seine Frau Melana würde überglücklich sein, wenn er als Ausbilder arbeite, aber schließlich lebte sie die ganze Zeit am Hofe seiner Mutter und wünschte sich sehnlichst, er möge die Fliegerei an den Nagel hängen. Es raschelte in den Bäumen. Harbin zuckte zusammen und legte die Hand auf den Schwertknauf. Es raschelte noch einmal, und ein Augenpaar, das auf bunten Stielen saß, schob sich durch den grünen Blätterwald. Die Augen blinzelten ihn erstaunt an, ehe sie blitzschnell wieder verschwanden. Das Rascheln entfernte sich eiligst. Harbin sah etwas schwarz-gelb Gestreiftes aufblitzen und wußte, daß er einer Waldschnecke begegnet war, die ihm an Größe in nichts nachstand. Allerdings hatte die Schnecke mehr Angst vor ihm als er vor ihr. Harbin schüttelte den Kopf und merkte, daß er noch immer den Schwertgriff umklammert hielt. Die Klinge bestand aus einem von Tawnos' >neuen< Metallen - sie war leichter, härter und vielseitiger als die bisher üblichen Klingen. Sie hatten sich in der Schlacht als nützlich erwiesen und schon mehrmals dazu verholfen, Mishras Truppen in die Flucht zu schlagen. Harbin besaß eine der ersten Waffen aus dem neuen 506
Metall, und sein Ornithopter gehörte zu den neuesten Ausführungen, die längere Flügel hatten und leichter als ihre Vorgänger waren. Die älteren Modelle hätten den Sturm nicht überstanden, der ihn an diesen fernen Strand trieb. Wieder einmal Einmischung der Eltern, dachte er. Eher unerwünschtes Beschützen, das ihm in diesem Fall das Leben gerettet hatte. Der Sturm überfiel ihn aus dem Nichts, als er entlang der korlisianischen Küste flog. Er hatte versucht, ihm auszuweichen, wurde aber immer weiter aufs Meer hinausgetrieben. Auch ein Überfliegen erwies sich als unmöglich, denn der Sturm hüllte ihn wie eine große Woge ein und riß ihn mit sich. Fast kam es ihm vor, als könne das Unwetter denken und sei darauf bedacht, ihn nicht entkommen zu lassen. Schließlich flog er genau in den Sturm hinein und wurde drei Tage und drei Nächte entsetzlich hin- und hergeschleudert. Der heulende Wind drohte, die Flügel zu zerbrechen und die schützende Kabine abzureißen, während er von den grellen Blitzen geblendet wurde. Elektrische Funken tanzten über die Flügel und das Gehäuse. Einen schrecklichen Augenblick lang stand der Ornithopter auf dem Kopf, und die hoch aufragenden Wellen standen wie eine Wand vor Harbin, ehe er wieder Gewalt über die Maschine hatte. Dann hatte er den Sturm überwunden und flog durch helle und klare Luft. Hinter ihm tobte das Unwetter mit unverminderter Kraft, aber vor ihm lag rettendes Land; eine riesige grüne Fläche. Wo sich Land und See trafen, erstreckte sich ein weißer Sandstrand, der ihm wie ein Leuchtfeuer nach der Finsternis erschien. Von dem dreitägigen Kampf gegen die Elemente erschöpft, setzte Harbin ganz plötzlich zur Landung an. Als der Ornithopter den Boden berührte, ertönte ein lautes Krachen. Der junge Mann taumelte aus 507
der Kabine und brach unter einem der halb eingezogenen Flügel zusammen. Als er aufwachte, war es später Nachmittag, und er war nicht sicher, ob er mehrere Tage oder nur mehrere Stunden geschlafen hatte. Niemand hatte ihn gestört, und glücklicherweise stand der Ornithopter in so sicherer Entfernung vom Wasser auf dem Strand, daß ihm die Flut nichts anhaben konnte. Harbin klopfte sich den Sand von der Uniform, betrachtete seine Umgebung und überprüfte den Schaden an der Flugmaschine. Der schnurgerade verlaufende Sandstrand war von so leuchtendem Weiß, daß ihm die Augen schmerzten, wenn er zu lange hinsah. Keine Wolke zeigte sich am leuchtendblauen Himmel, der - je mehr er sich dem Horizont näherte - zu Weiß, dann zu Grau und schließlich zu Schwarz wechselte. Der Sturm tobte immer noch in der Ferne und schien auf ihn zu warten wie eine Katze, die vor einem Mauseloch lauert. An den Strand grenzte ein Dschungel, der anscheinend völlig unberührt war. Wo der Sand aufhörte, begann dichtes Gestrüpp, das schon bald von mächtigen Bäumen mit weißer Rinde abgelöst wurde, die Harbin noch nie gesehen hatte. Der Wald war so alt, daß die oberen Äste ineinander verschlungen waren und einen dichten grünen Baldachin bildeten. Harbin fragte sich, ob Argivia auch einmal so ausgesehen hatte, lange bevor sein Vater und Mishra den immerwährenden Krieg führten. Ehe das Land von Bergwerken unterhöhlt wurde und die Luft schwarz vom Qualm der Fabriken war. Vielleicht hatte so das Paradies ausgesehen. Harbin sah zur Sonne hinauf. Er befand sich südlich der zivilisierten Länder, viel weiter südlich, als die korlisiarnsche Küste lag. Er hatte keine Ahnung von der genauen Lage. Seine Heimat mochte im Norden, Nord508
westen oder Nordosten liegen. Wenn er nach Nordwesten flog, überlegte Harbin, würde er irgendwann auf Land stoßen. Irgendwann. Er betrachtete den Ornithopter. Eigentlich sah er noch recht gut aus. Ein paar Drähte waren gerissen, und die Zahnräder unterhalb der Lenkung hingen schief - das Ergebnis seiner ungeschickten Landung. Am schlimmsten war die zersplitterte rechte Flügelstrebe. Sie hatte den Sturm überstanden, war jetzt aber in der Mitte durchgebrochen. Sie mußte ersetzt werden, ehe er sich wieder in die Luft wagte. Harbin versetzte dem Ornithopter einen Tritt. Dann öffnete er die Kabine und zerrte die Werkzeuge heraus, die zu jeder Flugmaschine gehörten. In der Stahlkiste lagen ein Hammer, eine Axt mit zwei Ersatzköpfen, ein biegsames Sägeblatt, Drahtrollen, Zahnräder, eine Rolle Katgut und Stahlnadeln, um Löcher in den Tragflächen nähen zu können, und ein zusammengerolltes Seil. Harbin wühlte eifrig in der Kiste. Er fand ein paar Angelhaken, ein Maßband, Notrationen, Zunder und Feuerstein und einen riesigen Hut, um sich vor der Sonne zu schützen. Er starrte die Sachen an und spürte die schützende Hand des Vaters. Anscheinend hatte er wieder einmal an alles gedacht, was man im Falle einer Notlandung benötigte. Harbin kaute an einem Stück Trockenfleisch und ging noch ein paarmal um den Ornithopter herum. Ohne die Beschädigung der Strebe hätte er sofort wieder abheben können. Jetzt mußte er sich auf die Suche nach einem geeigneten Baum machen, um eine neue Strebe anzufertigen. Das hieß: Er mußte den Dschungel betreten, in dem die schwarz-gelben Schnecken hausten. Harbin hoffte, daß die Schnecken zu den größten Schrecken gehörten, die in dem urzeitlichen Wald sei509
ner harrten. Dann schulterte er die Axt und schritt auf die grüne Wand zu. Titanias Gesetze, die Eindringlinge betreffend, waren einfach und streng, und Gwenna wußte, wie die Reaktion auf ihren Bericht ausfallen würde. Dennoch hielt sie sich an die Regeln. Sie beobachtete den Fremdling. Selbstverständlich würde der Hof eine Botschaft schicken, der Eindringling müsse festgenommen werden, wenn er dem Land keinen Schaden zufügte. Hatte er Schaden angerichtet, fand er den Tod. Wenn man bedachte, daß es eine Weile dauerte, bis die Botschaften zum und vom Hofe ausgetauscht wurden - selbst bei mystischer Übermittlung -, war es unumgänglich, daß der Fremde etwas beschädigte und getötet werden mußte. Gwenna gefiel der Eindringling. Er wußte schließlich nicht, daß er sein Todesurteil unterzeichnete, wenn er sich an Gaeas Besitz verging. Vielleicht war das von Titania beabsichtigt. Sie sprach im Namen der Göttin Gaea, und die Elfen, das Baumvolk und die Kobolde gehorchten. Der Mensch bewegte sich vorsichtig durch das Gestrüpp und versuchte, einen Pfad ausfindig zu machen. Ranken und Dornen zerrten an seinen Hosenbeinen, und das von den Bäumen tropfende Wasser hinterließ dunkle Flecke auf dem weißen Hemd. Gwenna folgte ihm und kletterte lautlos über die verschlungenen Äste von Baum zu Baum. Einmal streifte sie einen abgestorbenen Zweig, der polternd zu Boden fiel. Sie rührte sich nicht, als der Mensch sich mißtrauisch umsah. Schließlich ging er weiter, und sie folgte ihm wie ein Schatten. Sobald er das Dickicht hinter sich ließ, war der Boden unter den Bäumen weniger überwuchert. Ein 510
dicker Teppich aus verrotteten Blättern dämpfte seine Schritte, und der hohe Baldachin aus Zweigen wurde nur an wenigen Stellen unterbrochen, wo der Wind Bäume entwurzelt und umgerissen hatte. Die gestürzten Waldriesen dienten jungen Pflanzen, die sich eifrig nach dem spärlichen Licht reckten, als Spalier. Der Eindringling blieb neben einem der gefallenen Bäume stehen und wählte einen besonders gerade gewachsenen jungen Kerzenholzbaum aus. Er ging dreimal um ihn herum, nickte zufrieden und zog einen Stoffetzen aus der Hosentasche, den er in Augenhöhe um den dünnen Stamm schlang. Dann kehrte er auf geradem Wege zum Strand zurück. Er hielt eine Axt in der Hand, die er jedoch nicht benutzte. Gwenna wußte, was er vorhatte. Wenn er das Bäumchen fällte, bedeutete das seinen Tod. Die Boten würden zurückkehren und fragen: »Hat der Fremde Schaden angerichtet?« Sie müßte antworten: »Ja, er fällte einen jungen Baum.« Dann würden sie antworten: »So muß auch er gefällt werden.« Das erschien Gwenna unnötig. Sie wollte mehr über das beschädigte Vogelding wissen, in dem der Mensch geflogen war. Wie hielt es sich in der Luft und trug einen Menschen? Nie zuvor waren die Eindringlinge geflogen. Vielleicht war es sinnvoll, mehr darüber zu erfahren und ihn am Leben lassen. Hastig sah sie sich in der näheren Umgebung um und entdeckte einen kürzlich umgestürzten Blaßwurzelbaum, der ein paar junge Eichen und Schafgarben mit sich gerissen hatte. Eine der entwurzelten Schafgarben war ungefähr so hoch wie das Bäumchen, das der Fremde gekennzeichnet hatte. Sie schickte ein Stoßgebet an Gaea und entfernte dünnere Äste mit ihrem Schwert, ehe sie den kleinen Baum an eine Stelle 511
zog, die der Fremdling bei seiner Rückkehr passieren mußte. Er kehrte mit einem zusammengerollten Seil zurück und blieb vor dem Bäumchen stehen. Verwirrt starrte er den gekennzeichneten Baum an, dann wieder den vor ihm auf dem Boden liegenden. Er zuckte die Achseln (eine seltsame menschliche Geste) und schlang das Seil um den toten Stamm. Er nahm Gwennas Gabe an und verschonte den lebenden Baum. Der Mensch zog und zerrte. Er fluchte heftig (in seiner eigenartigen Sprache) und schaffte es mit viel Mühe, den Stamm bis zum Strand zu ziehen. Gwenna war erleichtert, daß sie ihn nicht sofort umbringen mußte. Er suchte den Wald noch einmal auf, um Trinkwasser zu holen. Auch dabei tötete er nichts, da er die Nahrung zu sich nahm, die er mitgebracht hatte, und ein paar Fische fing. Angeln gestattete Titania, da sie nur das Land schützte. Die meiste Zeit war der Mensch damit beschäftigt, auf den Baum einzuschlagen. Danach entfernte er einen Flügel seines Gefährts und ersetzte die zerbrochene Holzleiste. Gwenna beobachtete ihn, fand sein Tun aber langweilig und ein wenig verwirrend. Er nahm Maß, schnitt, maß erneut, schnitt noch einmal und gab sich alle Mühe, damit das neue Holzstück genauso aussah wie das alte. Gwenna empfand das Ganze als Zeitverschwendung. Die Nächte waren warm, und der Fremde entzündete kein Feuer, obwohl er es vorbereitete. Sollte es anderen als Signal dienen? Gab es vielleicht noch mehr fliegende Menschen auf der Welt? Am vierten Abend legte sich der Mensch früh schlafen, und Gwenna verließ ihren luftigen Ausguck. Sie schlich aus dem Wald hinaus und ging zum Strand hinunter. Ohne die schützenden Bäume fühlte sie sich 512
ein wenig unbehaglich, aber die Neugier trieb sie voran. Der Mensch lag schlafend im Bauch des beschädigten Vogels, der jetzt einen neuen Flügel aus grob behauenem Schafgarbenholz hatte. Sie trat nahe genug heran, um ihn ganz genau ansehen zu können. Sie fand, er sah wie ein Kind aus. Glatte Wangen und eine faltenlose Stirn. Sie stand so dicht neben ihm, daß sie ihn hätte berühren oder ihm die Kehle hätte aufschlitzen können. Vielleicht sollte sie es tun und behaupten, er habe dem Land Schaden zugefügt und den Tod verdient. Aber tief in ihrem Herzen wußte sie, daß sie ihre Gefährten nicht belügen konnte. Außerdem wüßte Gaea die Wahrheit. Und wenn Gaea sie kannte, kannte sie auch Titania. Außerdem war sie immer noch neugierig, wie das Vogelding funktionierte. Der Fremde bewegte sich unruhig im Schlaf und wehrte einen bedrohlichen Traum ab. Gwenna huschte außer Sichtweite, und der Jüngling murmelte undeutliche Worte, ehe er ruhig weiterschlief. Die Elfe umkreiste das seltsame Gerät noch einmal und fand heraus, daß es von Menschen gebaut worden war und nach totem Holz und Öl roch. Dann zog sie sich wieder in ihr Versteck zurück und wartete ab, wie Titania es wünschte. Am nächsten Morgen weckte sie ein unbekanntes Geräusch, und sie war augenblicklich davon überzeugt, daß es ein Fehler gewesen war, den Fremden zu verschonen. Auf dem Strand setzte sich der Riesenvogel in Bewegung. Der Mensch saß in seinem Innern, und die großen Flügel schlugen auf und ab. Ein schrilles, in den Ohren schmerzendes Kreischen erfüllte die Luft, und die Flügel wirbelten dichte Sandwolken auf. Der 513
Vogel machte einen gewaltigen Satz, dann noch einen und schoß wie ein Pfeil in die Höhe. Gwenna beobachtete, wie er immer höher stieg. Die Drähte sangen, als sich der Wind darin verfing. Das Gefährt kreiste langsam über dem weißem Strand. Gwenna fragte sich, ob der Mensch landeinwärts fliegen wollte und wie sie ihm folgen sollte. Statt dessen stieg der Vogel so hoch, bis er schließlich nur noch ein winziger Punkt am Himmel war, der sich endlich nach Nordwesten wandte und nach einer Weile ihren Blicken entschwand. Er hielt genau auf die Stürme zu, die Titanias Land begrenzten. Gwenna lief zum Strand hinunter und sah dem Ding nach, bis es verschwand. Sie hatte nicht erwartet, daß es noch einmal flöge. Sie hatte auch nicht erwartet, daß der Fremde närrisch genug für einen Fluchtversuch war. Zweifellos würde er es nicht schaffen und irgendwo entlang der Küste zurück an den Strand getrieben werden. Falls das geschah oder er im Sturm umkam, so erlebte sie es nicht. Zwei Tage später suchte einer der Ältesten sie auf und fand sie noch immer an der gleichen Stelle. Sie erzählte, der Eindringling habe den Vogel repariert und sei davongeflogen. Der Alte fragte: »Und er hat keinen Schaden angerichtet?« »Nein.« Der Älteste dachte eine Weile nach, da ihn die Antwort überraschte. Dann meinte er: »Du hast richtig gehandelt, ihn nicht zu töten, wenn er das Gesetz nicht brach.« Und das war es. Der Fremde kehrte nicht in diesem Monat zurück und nicht im nächsten. Auch nicht im übernächsten. Niemand fand die Überreste des Menschen oder des Vogels. Man vermutete, er sei von den 514
Stürmen vernichtet worden, die Argoth schützten und umgaben. Gwenna war beunruhigt. Die Sache mit dem Fremden lag ihr im Magen: Sie hatte ihn davon abgehalten, dem Land Schaden zuzufügen, und ihn so vor dem Tod bewahrt. Sie fragte sich, ob das vielleicht falsch gewesen war. Zu Argoths Verderben und ihrer eigenen Schande würde sie noch erleben, wie falsch sie gehandelt hatte.
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KAPITEL 29
Mana und Wissenschaft Die Gehilfin kündigte dem Wissenschafts- und Verteidigungsminister der Vereinigten Königreiche von Argivia, Korlis und Yotia, Harbins Ankunft an. Harbin wartete Urzas Antwort nicht ab und betrat den Raum hinter der Gehilfin, damit sein Vater keine Möglichkeit hatte, ihn abzuweisen. »Vater, du mußt mich sehen!« verlangte er. »Ich sehe dich auch«, antwortete Urza und schob die auf die Nasenspitze gerutschte Brille an den angestammten Platz zurück. Er nickte der Gehilfin zu, und die junge Frau ging wieder an ihre Arbeit. Harbin sah seinen Vater an. Urza war noch hagerer geworden und erinnerte ihn an einen ausgesprochen dürren Vogel. Die dünnen schneeweißen Haare waren über der tief gefurchten Stirn nach hinten gekämmt. Er trug die Brille dauernd - nicht bloß dann, wenn er arbeitete. Urza sah alt und müde aus. »Du hast meinen Bericht gelesen, Vater«, stellte Harbin höflich, aber ohne Umschweife fest. »Ja.« Urza tippte auf einen dünnen Papierstapel. »Ich muß sagen, du hast großes Glück gehabt. Die Stürme im Südosten haben schon so manches Schiff zertrümmert und gute Männer auf den Grund des Meeres befördert. Deine Mutter und deine Frau waren außer sich vor Sorge. Ich nehme an, du hast sie aufgesucht und beruhigt.« 516
»Ich schickte ihnen eine Botschaft, Vater, und kam erst zu dir.« Urza sah ihn überrascht an und nickte. »Du hast etwas entdeckt.« »Eine Insel«, erklärte Harbin. »Mehr als eine Insel: eine gewaltige Landmasse, die sich südlich und östlich von Korlis erstreckt. Mit dichtem Wald bewachsen, aber aus der Luft sah ich, daß es auch hohe Berge gibt, so hoch wie das Khergebirge. Ich habe mir alles genau eingeprägt und bin sicher, daß wir sie trotz der Stürme wiederfinden werden.« Urza schwieg und rieb die Handflächen aneinander. »Es gibt genügend Holz, um eine ganze Armada von Ornithoptern zu bauen, und die Berge enthalten sicher genügend Erz, um zahlreiche Legionen deiner Rächer auszustatten«, berichtete der junge Mann voller Begeisterung. »Das ist die Gelegenheit, den Krieg zu unseren Gunsten zu entscheiden.« Urza schwieg noch immer und zog die buschigen Brauen zusammen. »Habe ich etwas Falsches gesagt, Vater?« Jetzt hob Urza die Brauen und schüttelte den Kopf. Harbin fragte sich, woran der Vater gedacht hatte, als er mit ihm sprach. Plötzlich fragte Urza: »Harbin, wie verlief der Rückflug nach Penregon?« »Ohne besondere Zwischenfälle.« »Was hast du aus der Luft gesehen?« Harbin zuckte die Achseln. »Bergwerke, Fabriken, Gehöfte, Türme, Garnisonen. Nichts Ungewöhnliches.« »Hm«, brummte Urza. »Nichts Ungewöhnliches. Einst war Argivia ein Land der grünen Hügel und großen Güter. Wußtest du das?« »Ich kenne die Geschichte Argivias«, entgegnete der junge Mann. »Geschichte, die ich selbst erlebte. Korlis bestand fast nur aus Wäldern, und nun steht nicht einmal mehr 517
ein einziger Baum zwischen der Hauptstadt und der Küste. Yotia war ein fruchtbares flaches Land. Jetzt liegen die Felder brach, und die Schwertsümpfe sind nur noch eine Fläche aus geschwärztem Glas.« »Das liegt an Mishras Erfindungen«, beeilte sich Harbin zu sagen. »An den Sandwühlern und den Armageddonuhren. Er wird das Land lieber vernichten, als es dir zu überlassen.« »Ja, die Erfindungen des Quadirs!« seufzte Urza, der nicht einmal mehr den Namen des Bruders in den Mund nahm. »War ich etwa besser? In unserem Bestreben, alle Bodenschätze und Reichtümer des Landes für den Krieg zu nutzen, wurde es auseinandergerissen. Die überlebenden Zwerge Sardias berichten, feuriger Regen falle aus dem Himmel auf ihr Land, vernichte alles Lebendige und zersetze sämtliche Maschinen. Der Quadir hat eine Nation nach der anderen ausgeplündert. War ich nicht genauso schlimm?« Harbin schwieg eine Weile und meinte schließlich: »Solche Gefühle passen nicht zu dir, Vater. Gibt es noch andere Neuigkeiten, die ich wissen sollte?« Urza lächelte gezwungen. »Warum merkt eigentlich jeder außer mir, wenn mich etwas bedrückt?« Er wandte sich dem Schreibtisch zu. »Ich sehe gerade Richlaus Papiere durch. Hast du ihn gekannt?« »Er war der Lehrmeister der Studenten.« Er hielt inne und setzte nach ein paar Sekunden hinzu: »Ich wußte nicht, daß er nicht mehr lebt. Es tut mir leid.« »Geschah während deiner Abwesenheit. Ich kannte ihn schon, als wir noch Knaben waren. Er starb eines natürlichen Todes. In seinem Arbeitszimmer. Aber sein Tod beunruhigt mich.« Harbin schwieg. Sie hatten sich an die fortwährenden Verluste von Menschen und Maschinen gewöhnt, die der Krieg mit sich brachte. Aber einen schlichten Tod aus Altersgründen konnte Harbin sich kaum vor518
stellen. Wenn Richlau älter als sein Vater gewesen war, dann mußte er furchtbar alt gewesen sein. »Nun, ich las seine Aufzeichnungen und stieß auf einen Briefwechsel, den er mit einer alten Freundin namens Loran führte.« Urza tippte auf einen Stapel mit Briefen. »Sie ist eine Gelehrte, die nach Terisiare-Stadt zog, als du noch sehr klein warst.« Harbin glaubte zu verstehen. Terisiare-Stadt war in die Hände der Feinde gefallen und geplündert worden. Seit damals war es mehrere Male erobert und zurückerobert worden. Falls Loran dort gelebt hatte, war sie jetzt mit Sicherheit tot. »Loran schreibt von einer Meditationsmethode, die dort entwickelt wurde«, fuhr Urza fort. »Sie gestattet dem Anwender, Dinge und Lebewesen zu beeinflussen. Zu fliegen. Große Entfernungen mit einem Sprung zu überwinden. Dinge zu zerstören. Was hältst du davon?« »Ich empfinde diese Behauptungen als... zweifelhaft«, antwortete Harbin. Es war das netteste Wort, daß ihm einfiel. »Zweifelhaft? Wieso?« forschte Urza, dem Harbins Zögern nicht entgangen war. »Weil ich das alles für unglaubhaft halte. Fliegen ohne Ornithopter! Hast du das etwa schon gesehen?« Urza schwieg, und sein Sohn wunderte sich wieder einmal, was er denken mochte. Die Hand des Vaters griff nach dem Amulett, das er immer um den Hals trug. »Nein. Eigentlich nicht. Manchmal, wenn ich an einer neuen Erfindung arbeite, entsteht ein Funke, ein Gefühl, das mich überkommt, wenn alles funktioniert. Aber nein, ich wüßte nicht, wie man ohne Ornithopter fliegen soll.« »Na also«, sagte Harbin. »Wenn du es nicht weißt, dann ist es bestimmt unmöglich.« Urza grinste über das ganze Gesicht. Zum erstenmal 519
seit seiner Kindheit fühlte sich Harbin in Urzas Gegenwart entspannt. »Du überschätzt mich«, sagte Urza. »Jeder Sohn sollte das Können seines Vaters hoch einschätzen.« Plötzlich verdüsterte sich Urzas Miene, und dem jungen Mann wurde bewußt, daß er zuviel gesagt hatte. Hastig fügte er hinzu: »Wenn diese Meditiationsmethode funktioniert, hat sie ihnen im Kampf gegen den Feind nichts genützt, oder? Die Stadt wurde ausgeraubt und niedergebrannt, und keine Meditation auf der ganzen Welt konnte das verhindern.« »Gut gesprochen«, sagte Urza. Harbin nickte, und Urza wog die Briefe in der Hand, ehe er sie wieder zurücklegte. »Vor deiner Rückkehr fragte ich mich, wie wir uns in Zukunft vor dem Quadir und seinen Maschinen schützen können. Das Land ist so gut wie am Ende. Wir stehen am Rande eines Abgrundes, auf der Schneide zwischen Sieg und Niederlage. Falls es uns gelänge, die Maschinen mit Hilfe dieser Meditationsenergie anzutreiben, mit diesem Mana...« Harbin schwieg, da er unsicher war, ob sein Vater mit ihm oder mit sich selbst redete. Urza seufzte abgrundtief. »Nein, du hast recht. Wir wissen zu wenig darüber, selbst wenn etwas Wahres an der Sache ist. Es würde Jahre dauern, um herauszufinden, was die Gelehrten der Elfenbeintürme entdeckten, und ihre Aufzeichnungen befinden sich jetzt im Besitz des Quadirs.« Er sah Harbin an. Sein Gesicht war ernst und würdevoll wie immer. »Deine Entdeckung, dieses neue Land, wäre eine Möglichkeit, endlich einen Vorteil gegenüber meinem... dem Quadir zu erringen. Du hast deine Sache gut gemacht, Harbin.« »Ich danke dir, Vater. Ich habe bereits Pläne für die Eroberung des Landes geschmiedet.« 520
»Du?« Urza blinzelte verwirrt. »Nur weil du einmal das Glück hattest, die Stürme zu überstehen...« »Ich sollte die Expedition anführen, die dorthin aufbricht«, unterbrach ihn Harbin. »Das hat gute Gründe.« Er verschränkte herausfordernd die Arme. »Deine Mutter wird davon nichts wissen wollen.« »Deshalb kam ich auch zuerst zu dir, anstatt mit ihr oder Onkel Tawnos zu reden. Wenn du ja sagst, werden sie deine Entscheidung hinnehmen.« Urza nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Du läßt mir keine andere Wahl. Also gut, du sollst die Expedition anführen.« Harbin hatte heftigen Widerspruch erwartet oder wenigstens eine flammende Rede. Statt dessen klang Urza matt und erschöpft. Urza kratzte sich am Kinn. »Harbin?« »Ja, Vater?« »Träumst du?« Die Frage überraschte den jungen Mann. »Träume? Ich nehme an, jeder träumt.« Urza hielt die Brille ins Licht, und ein Sonnenstrahl verfing sich in den funkelnden Gläsern. »Ich träumte, eine Brille zu besitzen, die mich in das Herz der Menschen schauen ließ. In den Kern des menschlichen Wesens. Ich sah in das Herz meines Bruders und fand nur Finsternis vor. Nichts als Finsternis.« »Vater?« »Nichts als Finsternis«, wiederholte Urza seufzend. »Deshalb müssen wir deine Insel in den Krieg mit einbeziehen. Wir müssen diese Finsternis vertreiben. »Blödsinn! Unsinn und Kamelmist!« brüllte Mishra und schleuderte das Buch gegen die Wand seines Arbeitszimmers. Der Band überschlug sich ein paarmal, ehe er - weit geöffnet - mit dem Rücken gegen die Mauer prallte. Ruhig ging Hajar hinüber, glättete 521
die Seiten, so gut es ging, schloß es und legte es auf einen der zahlreichen Bücherstapel, die überall herumstanden. »Hochverehrter Quadir«, sagte er gelassen, »auch unter Unrat können sich Juwelen befinden.« »Juwelen? Juwelen?« fauchte Mishra. »Unter diesen irrwitzigen Tagträumen befinden sich ebensowenig Juwelen, wie es heutzutage noch Gras in den Suwwardisümpfen gibt!« Hajar versuchte es erneut: »Die Gelehrten der Elfenbeintürme hielten unsere Truppen so lange...« Mishra brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Sie hatten feste Mauern und gute Waffen!« schrie er. »Dieser mystische Quatsch hatte nichts damit zu tun.« »Die Generale, die bei der Belagerung und der anschließenden Plünderung den Oberbefehl hatten, widersprachen Euch«, wandte Hajar ein. »Die Generale suchten nach Entschuldigungen für ihr eigenes Versagen«, knurrte Mishra. »Der Unsinn der Gelehrten kam ihnen gerade recht. Eine Drachenmaschine geht verloren, und sie geben Hexen und Kobolden die Schuld daran!« Er wollte weitersprechen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Der oberste Magier und Quadir des Fallajireiches beugte sich vornüber und hustete heftig und anhaltend. Hajar wartete, bis der Anfall vorüber war. In den letzten Jahren hatte Mishra stark zugenommen, und manchmal bereitete ihm das Atmen Schmerzen. Der dichte gelbe Rauch, der Tag und Nacht über Tomakul hing, verbesserte sein Befinden nicht. Hajar hatte dem Quadir empfohlen, sich in die klare Wüstenluft zu begeben, aber der gute Rat des Leibwächters wurde - wie so oft in diesen Tagen - nicht beachtet. Diesmal dauerte der Hustenanfall nicht lange, und Mishra zog ein seidenes Tuch aus der Tasche, um sich 522
den Speichel von den Lippen zu wischen. »Gelehrte«, knurrte er verächtlich. »Mystische Kraft eines Landes! Anzapfen dieser Kraft durch Erinnerung und Meditation. Unsinn! Wir vertrieben die Scharlatane aus Zegon, und sie flohen nach Terisiare-Stadt. Und ich glaubte, sie besäßen wertvolles Wissen!« »Nun, aber selbst unter Unrat kann sich...« »...noch mehr Unrat befinden!« schrie Mishra. »Jene Bücher enthalten nicht mehr Wahrheit als das >zweite Gesicht< einer alten Fallajifrau, die auf dem Marktplatz sitzt und rosige Aussichten gegen bare Münzen eintauscht.« Hajar zuckte bei dieser Beleidigung zusammen, aber Mishra schenkte ihm keine Beachtung. »Ich hoffte, auf eine Wunderwaffe zu stoßen, mit der ich meinen Bruder endgültig hätte besiegen können. Und ich fand nichts als Märchen und blühenden Unsinn!« Wieder überkam ihn ein Hustenanfall. Hajar ging zum Kamin und stocherte in den glühenden Kohlen herum, ehe er sie mit einem Schöpflöffel Wasser übergoß. Hitze und Dampf erleichterten dem erhabenen Quadir das Atmen. Mishra brauchte Hilfe, und Hajar hatte gehofft, er werde sie in den aus Terisiare-Stadt geplünderten Büchern finden. Hajar glaubte den Generalen, als sie von der Rakikrait der Gelehrten erzählten, mit der sie die Drachenmaschinen und die Transmogranten besiegten und die Armee lange zurückhielten. Während Mishra nach einer Wunderwaffe suchte, fiel das Reich allmählich auseinander. In Osten führten die Fallajis nur noch vereinzelte Überfälle jenseits des Khergebirges aus. Im Süden lag die Front an der Grenze Yotias. Jedenfalls in den Gebieten, die Mishra noch nicht in eine schwarze Glasfläche verwandelt hatte. Die neuesten Ausführungen der Sandwühler, die Armageddonuhren, verwandelten das Land und 523
machten es für den Feind unbrauchbar. Überall im Reich arbeiteten sich riesige Pflüge durch die rauhe Erde, um nach bisher verborgenen Schätzen Ausschau zu halten. Im Westen lag eine ungezähmte Wildnis, die jedoch auch schon geplündert worden war, um die Maschinen des Krieges in Gang zu halten. Allmählich zerfiel das mächtige Reich. Im eroberten Almaaz herrschte Bürgerkrieg, im besetzten Sarinth Revolution. Viele Fallajistämme überfielen mittlerweile benachbarte Stämme, und die Disziplin brach ringsumher zusammen. Ashnod, die vor vielen Jahren in die Verbannung geschickt worden war, trug die Schuld daran, glaubte Hajar. Als man nicht mehr gegen sie intrigieren konnte und die Generale keine gemeinsame Gegnerin mehr hatten, wandten sie sich gegeneinander. Urza war der ewige Feind, aber er war weit fort. Jeder hatte Ashnod gehaßt und gefürchtet. Ein Bericht besagte, sie sei in Sumifa gesehen worden. Nein, in den Colekganbergen, behauptete ein anderer. Nein, in Yotia, wo sie Urza ihre Geheimnisse verkaufen wollte. Nein, sie war tot - durch eine ihrer teuflischen Erfindungen umgekommen. Wie auch immer die Wahrheit lautete, befand Hajar, ohne sie hatte das Reich gelitten. Mishras Krampf ließ nach, und er tupfte sich die Lippen ab. Eine in letzter Zeit schon automatische Geste. »Sicher ist es für dich schwer zu verstehen, Hajar, aber alle meine Erfindungen beruhen auf einem Grundprinzip.« »Wenn Ihr es sagt, Ehrwürdiger.« »Und diese« - er wies auf den hohen Bücherstapel »närrischen Gelehrten benehmen sich, als gäbe es kein Grundprinzip! Zum Fliegen braucht man keine Flügel mehr, und man kann eine Armee ohne Transmogranten erschaffen! Du mußt bloß an dein Heimatland den524
ken, und schon werden deine Wünsche wahr!« Er hieb mit der flachen Hand auf die Bücher, und eine Staubwolke hüllte ihn ein. »Pah!« Mishra hob das Tuch an den Mund und setzte sich auf seinen Thron. »Ruf die Gixianer!« befahl er. Hajar verbeugte sich, blieb aber stehen. »Die Gixianer?« »Seit Jahren spielen sie mit Ashnods Schöpfungen herum. Vielleicht haben sie etwas gefunden, das ich gegen meinen Bruder einsetzen kann.« »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Ehrwürdiger: Es gibt Leute, die behaupten, Ihr verlaßt Euch zusehr auf die Priester.« Mishra legte die Stirn in Falten und knurrte: »Es heißt auch, ich verließe mich zu sehr auf dich, Hajar. Jetzt geh und schaff diese verdammten Priester herbei!« Innerhalb einer Stunde standen drei Gixianer vor Mishra. Hajar hatte sie schon damals, als sie an den Hof kamen, nicht leiden können. Mit jedem Jahr wurden sie ihm verhaßter. Langsam, aber sicher hatten sie sich in sämtliche Ämter eingeschlichen und sich unersetzlich gemacht. Seit Ashnods Desertion (niemand redete von Verbannung; wäre sie dem Quadir ergeben geblieben, hätte sie bleiben dürfen) hatten sie ihre Laboratorien und ihr Schlachthaus übernommen. Außerdem die Ausbildung der jungen Fallajis, die Mishra ursprünglich selbst hatte unterrichten wollen. Die Schulen waren inzwischen zu regelrechten Priesterseminaren geworden. Zwei junge Fallajis begleiteten den Anführer der Mönche, als er vor den Thron trat. Vielleicht wollten die Gixianer Mishra damit erfreuen, aber Hajar fand es entsetzlich. Diese jungen Burschen sollten Krieger sein. Statt dessen sangen sie Lieder für einen fremden Gott. Noch schlimmer war die Tatsache, daß die Bruder525
schaft des Gix dazu übergegangen war, ihre Körper den von ihnen verehrten Maschinen anzupassen. Fleisch, eiserne Ketten und Metallplatten lösten einander ab, und sogar ganze Körperteile wurden durch Metall ersetzt. Sie verstümmelten sich und erklärten, so an Frömmigkeit zu gewinnen. Ihr Anführer sah abscheulich aus. Er hatte keine Augen, denn eine spiegelblank polierte gebogene Metallplatte bedeckte die Augenhöhlen. Sie war an den Schläfen des Mannes angeschraubt worden, und manchmal lief ein Blutstropfen unter den Schrauben hervor. Der Mönch war mit schweren Gewändern bekleidet, und Hajar fragte sich, welche Körperteile er noch zu Ehren seines Gottes durch Metall ersetzt haben mochte. Der Fallaji unterdrückte ein Schaudern und entschied, daß er es nicht wissen wollte. Jetzt verneigte sich der Gixianer, und die beiden jungen Männer ahmten jede seiner Bewegungen wie Marionetten nach. »Allerweisester, allerklügster, aller-mächtigster Quadir«, begrüßte ihn der Mönch. »Wir bieten Euch unsere untertänigste Hilfe an.« Mishra faltete die Hände über dem Bauch und tippte die Fingerspitzen gegeneinander. »Ihr sagtet, es befinde sich wertvolles Wissen in Terisiare-Stadt.« Der Manrv verneigte sich erneut. »Das stimmt. Meine Brüder bewegten sich zwischen den Gelehrten lernten dort sehr viel.« Mishra fuhr fort: »Ich habe die Unterlagen studiert und finde, es ist wertloses Zeug.« Wieder verneigte sich der Priester. »Wenn das Eure Meinung ist, wird es stimmen.« Hajar wunderte sie wie aalglatt jede Antwort ausfiel. »Dennoch habt Ihr behauptet, sie verfügten über große Macht«, beharrte Mishra. Eine weitere Verneigung. »Sie hielten ihre Kraft vor uns verborgen oder hüllten sie in mystische Riten. Viel526
leicht glaubten sie, wir würden ihre Sitten achten.« Der Mönch senkte den stahlbewehrten Kopf und setzte hinzu: »Wir sind fleißig, aber nicht allwissend.« »Außer dem üblichen Plunder haben wir nichts von Wert gefunden«, erklärte Mishra mit erstickter Stimme, die den nächsten Hustenanfall ankündigte. Hajar ging zum Feuer hinüber und goß Wasser über die Kohlen. Ein Anfall packte den Quadir, und sie warteten schweigend, bis er vorüber war. »Ehrenwerter Herrscher, wir haben einiges erfahren«, verkündete der Priester. »Zum Beispiel?« »Es geht um die Geheimnisse des menschlichen Körpers. Wir haben Ashnods Arbeiten untersucht und sind der Meinung, sie« - er legte eine kunstvolle Pause ein - »verbessert zu haben.« Mishra beugte sich gespannt vor. »Verbessert? Wie denn?« »Ashnod hielt den Körper für eine Art Vorratslager. Wir halten ihn für eine Maschine. Deshalb sollte man ihn wie eine Maschine weiterentwickeln. Heiliger machen. Und mächtiger.« »Mächtiger?« krächzte der Quadir. »Wie? Kann er dann als Waffe dienen?« Der Priester wandte sich zu Hajar um, der verwirrt überlegte, woher der Mann ohne Augen wußte, wo er stand. »Wir werden es Euch erzählen, wenn kein Lauscher zugegen ist.« Hajar wollte widersprechen, gab aber auf und zog sich unter Verbeugungen zurück. Die prunkvollen Türen des Arbeitszimmers schlossen sich hinter ihm. »So«, meinte Mishra lächelnd und sah die Gixianer ,an. »Jetzt könnt ihr mir alles erzählen.«
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KAPITEL 30
Kriegstrommeln Gix, der Dämon, saß in der Höhle von Koilos und labte sich an den Erinnerungen zweier seiner Anhänger. Der eine war ein Spion aus Argivia, der noch den Körper eines Menschen besaß. Die Frau, die an Mishras Hof gelebt hatte, war mit Ringen und anderen Metallteilen behängt. Sie hatte einen künstlichen linken Arm. Das Gesicht - eine starre Grimasse - deutete auf weitere Veränderungen am Hals und am Kiefer hin. Die Gixianer knieten zu beiden Seiten des Dämons, und er grub die Finger in ihre Schädeldecken, um ihre Erinnerungen aufzunehmen. Er genoß ihre Erfahrungen, ihr ungeordnetes Leben und die überschäumenden Gefühle. Der menschlichere von beiden, der Mönch aus Argivia, war zweifellos neidisch auf seine Gefährtin. Er konnte sich nicht so zurichten wie sie, da er in Penregon, der Hauptstadt Argivias, unerkannt unter anderen Menschen leben mußte. Aber gerade dieser unscheinbare Bursche brachte wunderbare Neuigkeiten über die Entdeckung einer Insel südlich der Küste von Terisiare mit. Das Land wurde von Stürmen umtost. Waren sie überwunden, wartete eine üppig bewachsene Landschaft auf die wagemutigen Forscher. Es hörte sich ähnlich an wie die Wildnis der ersten Sphäre Phyrexias, nur ungeordneter und viel organischer. 530
Er durchsuchte das Gehirn der Priesterin, die an Mishras Hof weilte, fand aber nichts ähnliches. Ja, sie hatten Ashnods Aufzeichnungen studiert und benutzten ihre Forschungen am menschlichen Körper mit großem Erfolg, um Veränderungen am eigenen Leib vorzunehmen. Sicher, Mishra verließ sich immer mehr auf die Priester und war geneigt, sich die Vorschläge der Bruderschaft anzuhören und sie zu befolgen. Aber Mishra benötigte dringend neues Material, da er die Länder seines Reiches ausgeblutet hatte. Aber kein Wort über ein unbekanntes Land. Gix speicherte die Nachrichten im seinem Verstand. Er wollte den geteilten Kraftstein vereinen, war aber nicht sicher, welcher Bruder es für ihn übernehmen sollte. Mishra war in sein Reich eingedrungen, verließ sich jetzt aber immer mehr auf Gix' Marionetten, die Mönche. Urza, von seinen Anhängern und Studenten umgeben, war ihm fremd. Mit Hilfe des neuen Landes würde er seinen Bruder im Laufe der Zeit jedoch besiegen. Der Dämon wollte einen Bruder töten und den anderen ausreichend schwächen, damit er ihm nicht im Wege stand. Beide Männer hatten ihre Vertreter und Untergebenen und waren einander seit mehreren Dekaden nicht mehr begegnet. Vielleicht konnte er das ändern. Der metallübersäten Priesterin flößte er die Botschaft ein, daß Urza eine neue Quelle für den notwendigen Nachschub der Kriegsmaschinen entdeckt habe. Die Frau schauderte, als ihr Gehirn die Nachricht aufnahm, und eine einzelne ölige Träne lief ihr aus dem Augenwinkel. Gix befahl dem Mann, nach Argivia zurückzukehren und sich gefangennehmen zu lassen. Dann sollte er nur unter der Folter - enthüllen, daß Mishra plane, die kostbare Insel höchstpersönlich zu erobern, sich an 531
ihren Schätzen zu bereichern und die gesamte Südküste von Urzas Reich zu stürmen. Im nachhinein verbrannte Gix den Teil des Gehirns, der die Eifersucht des Mannes steuerte. Der Spion keuchte laut. Maschinen kennen keine Eifersucht, dachte Gix. Also galt das gleiche für ihre Verehrer. Er ließ die beiden los, und die Frau stöhnte leise, als die geistige Verbindung abbrach. Der Spion fiel in sich zusammen, und Gix rief ein paar Su-chis herbei, die die Priester wieder zusammengebaut hatten, und ließ ihn fortbringen, um sich an einem ruhigen Ort zu erholen. Wenn man den Schaden bedachte, den sein Gehirn erlitten hatte, würden ihn die Argivianer mit Leichtigkeit ausfindig machen. Gix lehnte sich in seinem Thron zurück und schlug die Krallen gegeneinander. Endlich näherte er sich dem Ziel. Gwenna war zur Stelle gewesen, als der erste Eindringling kam, und sie war zur Stelle, als die Invasion die Insel erreichte. Titania war keine Närrin, und ein entkommener Eindringling kam sicherlich irgendwann zurück. Gwenna und ein paar Elfen ihrer Sippe hatten den Befehl erhalten, in den nächsten ein bis zehn Jahren die Küste zu beobachten, um nach weiteren Menschen aus dem Himmel Ausschau zu halten. Sie kamen vom Himmel und über das Meer. Gwenna saß auf dem Baum, von dem aus sie den unberührten weißen Sandstrand an der Stelle überblicken konnte, an der damals der Fremde gelandet war. Es war noch früh am Morgen, und die Stürme, die einen Schutzwall um die Insel bildeten, zeichneten sich als dunkle Linie am Horizont ab. Plötzlich tauchten winzige Punkte am grauen Horizont auf, die allmählich größer und deutlicher wurden. 532
Schnell stellte sich heraus, daß es sich um Schiffe handelte. Eine ganze Flotte segelte auf die Insel zu. Andere Punkte erschienen am Himmel, die wie winzige Insekten aussahen. Gwenna begriff, daß es die ihr bekannten Vogeldinger sein mußten. Da sie - verglichen mit den Schiffen - winzig wirkten, mußten die Schiffe wahrhaftig riesig sein. Ein jedes war so groß wie ein ganzes Elfendorf. Gwenna starrte in die Ferne, während noch mehr Schiffe aus dem Sturmgebiet auftauchten. Und immer noch mehr. Manche stießen schwarzen Rauch aus, andere weißen Dampf. Viele besaßen riesengroße helle Segel, die durch das Unwetter in Fetzen gerissen worden waren, und sahen wie Geisterschiffe aus. Eine solche Armada hatte Gwenna nie zuvor gesehen. Nicht einmal in den alten Legenden wurde etwas derartiges erwähnt. Argoth stand eine Invasion bevor. Die Flotte hielt auf eine westlich gelegene Halbinsel zu, und auch Gwenna eilte in diese Richtung. Anfangs wollte sie den Strand entlanglaufen, aber schon waren die Vogeldinger über ihr und beobachteten das Land. Also hielt sie sich an die oberen Äste der hohen Bäume und blieb in Deckung. Sie traf die junge Doril auf ihrem Posten an, die fassungslos auf die Schiffe starrte. Nackte Angst stand in ihren Augen. Gwenna schüttelte sie und befahl ihr, die Nachricht der Invasion sofort zum Hof Titanias zu bringen. Doch noch während sie sprach, wurde ihr bewußt, daß bei einer so riesigen Flotte Gaea persönlich benachrichtigt werden mußte. Wenn Gaea es erfuhr, ermahnte sich Gwenna, dann erfuhr es auch ihre Königin Titania. Doril war vor Angst wie erstarrt, und Flucht war das einzige, wozu sie noch in der Lage war. Als sie die jüngere Elfe erreichte, landeten die Eindringlinge bereits. Die Schiffe warfen keine Anker aus, 533
sondern fuhren auf den Strand hinauf. Dann öffnete sich der Bug jedes Schiffes und spuckte eine Ladung seltsamer Kreaturen aus, die wie Ameisen aussahen. Es befanden sich auch Menschen und Wesen unter ihnen, die Gwenna völlig fremd waren. Manche sahen wie Menschen mit Käferköpfen aus, und sie wanderten wachsam am Strand auf und ab. Mechanische Riesen mit eigenartig gebogenen Knien entluden die Schiffe. Große, einer Festung ähnliche Türme, angefüllt mit Waffen, rollten an Land. Eine riesige Maschine mit Spinnenbeinen und scharfen Zähnen kroch über den weißen Sand. Wenn Gwenna bisher noch Zweifel bezüglich ihrer Schuld an dieser Invasion hegte, so wurden sie in der nächsten Sekunde zerstreut, als sie den Anführer der Armada erblickte. Dort, zwischen Menschen und Maschinen, stand der Fremde, den sie vor über einem Jahr nicht getötet hatte. Er brüllte den Leuten Befehle zu, und alle gehorchten ihm. Dann wandte er sich zu einem anderen Menschen um, einem älteren größeren Mann mit breiten Schultern. Sie unterhielten sich. Dann erteilte der jüngere weitere Befehle, und die Maschinen befolgten sie. Die Kreatur mit den Spinnenbeinen kroch auf den Waldrand zu, während die mechanischen Riesen eine Grube aushoben, um den ersten Turm aufzustellen. Die scharfen Zahne der Spinne gruben sich in die Baumstämme, und Rindenstücke und Sägemehl flogen in alle Richtungen, als sich das Ungeheuer einen Weg in den Dschungel bahnte. Immer mehr Schiffe legten an. Ihre Bäuche öffneten sich und spuckten unzählige Abscheulichkeiten an Land. Ein paar waren an den Riffen gescheitert, aber die meisten erreichten die Küste ohne Zwischenfälle. Am Himmel wimmelte es von großen und kleinen Flugmaschinen. 534
Es blieb keine Zeit mehr, auf eine Antwort Titanias zu warten. Hier handelte es sich nicht um vereinzelte Schiffbrüchige. Es war eine Armee, schwerbewaffnet und gefährlich. Sekunden nach ihrer Landung fügten sie dem Land schon schwere Schäden zu. Gwenna wußte, daß sie auf eine offizielle Entscheidung warten sollte, ahnte aber auch, wie sie ausfallen würde. Wenn sie noch lange wartete, war der Wald verloren. Ihr Ausguck geriet ins Schwanken, als eine der hohen Bleichwurzeln umstürzte und zwei andere Bäume im Fallen mit sich riß. Gwenna zog sich in die Tiefe des Waldes zurück. Sie mußte ihre Sippe zusammenrufen, um einen Kriegsrat abzuhalten. Die Eindringlinge würden nicht auf eine höfliche Einladung der Königin warten. Ashnod starrte den Sylex an und lächelte zufrieden. Es hatte viele Jahre gedauert, aber nun kannte sie seine Geheimnisse. Sie fuhr mit dem Finger über den Rand der Schüssel. Es wurde dunkler auf der Welt, und Ashnod hieß diese Dunkelheit willkommen. Sie versprach eine neue Macht, eine frische Kraftquelle, die sie nutzen konnte. Ashnod hatte viel gelernt, obwohl ihre Lehrerin einiger Aufforderungen bedurfte, ehe sie bereit war, die Geheimnisse der Elfenbeintürme preiszugeben. Inzwischen war sie fort, lebte aber noch. Ashnod hätte einen Weg gefunden, die Frau zu erwecken, wenn sie gestorben wäre, aber die Gelehrte war geflohen und im Schutz der Nacht entkommen, entweder durch eigene Kraft oder mit Hilfe unbekannter Freunde. Es war nicht wichtig. Sie hatte den größten Teil ihres Wissens zurückgelassen. Die neue Macht erforderte eine ganz andere Denkweise, die Ashnod zu Beginn sehr schwerfiel. Bisher 535
hatte sie in einer rein physischen Welt gelebt, wie andere Wissenschaftler auch. Wenn man erst begriff, daß Land Kraft zu spenden vermochte, die nur freigesetzt werden mußte, war der Rest der Theorie einfach zu verstehen. Wenn man an Magie glaubte, schaffte man es. Ashnod nahm den Finger von der Schüssel, und es wurde wieder hell. Es war viel zu gefährlich, den Sylex zu benutzen, aber die Geheimnisse, die er enthüllte, waren so mächtig, daß sie Mishra ihre Kraft beweisen und ihren Platz an seiner Seite wieder einnehmen konnte. Er hatte ihre Hilfe bitter nötig. Die Fallajistämme entzweiten sich, und in den eroberten Ländern herrschten Revolutionen und Bürgerkriege. Zu allem Überfluß strömten Unmengen von schrecklichen Maschinen aus dem Osten durch die Pässe; Maschinen aus den Fabriken seines verfluchten Bruders. Ashnod hatte sich in Almaaz, weitab von der völlig zerstörten Hauptstadt Sumifa, eine neue Heimat geschaffen und war dabei, die verschiedenen Gruppen und Parteien des Landes gegeneinander auszuspielen, während das Land langsam zugrunde ging. Irgendwann einmal dachte sie daran, das Land wieder zu vereinen und als Königin von Almaaz zu Mishra zurückzukehren, aber nun... Das Wissen und die Macht, das sie jetzt besaß, würden ihn viel mehr beeindrucken als ein Königreich. Ein Schatten tauchte im Türrahmen auf. Es war einer ihrer Gehilfen, ein Veteran aus den Bürgerkriegen. Sie hatte ihre Schüler an vielen Geheimnissen teilhaben lassen, ihnen aber nicht zuviel verraten, damit sie ihr nicht gefährlich werden konnten. Von der wahren Macht des Sylex wußten sie nichts. »Herrin?« fragte der Diener. »Sprich, Thaxus«, forderte sie ihn hoheitsvoll auf. 536
»Neuigkeiten aus Tomakul«, antwortete er. Mit zusammengekniffenen Augen sah Ashnod auf. »Heraus damit!« »Mishra erfuhr, daß sein Bruder eine riesige Insel entdeckte, auf der es unzählige Bäume und große Erzvorkommen gibt.« Ashnod nickte. Diese Nachricht würde Mishras Verzweiflung noch vergrößern. »Und? Stimmt es?« »Der Quadir ließ die Werften von Zegon wieder eröffnen und schickte Sklaven aus, die eine Flotte bauen sollen«, berichtete Thaxus. »Er will die Insel für sich beanspruchen.« Wieder nickte Ashnod. Das war typisch Mishra. Er brauchte ein neues Ziel, um sein Reich zusammenzuhalten. Das Versprechen reicher Beute reichte aus, um die großen Kinder, die sich >Anführer< der Fallajistämme schimpften, bei Laune zu halten. Aber er brauchte Hilfe, um Erfolg zu haben. Ihre Hilfe. Die Nachricht war mindestens drei Monate alt. Inzwischen waren Mishras Schiffe sicher schon fertiggestellt. Thaxus trat von einem Fuß auf den anderen, und als Ashnod ihn ansah, funkelten ihre Augen. »Sattle mein Pferd!« befahl sie. »Ich brauche Vorräte für eine lange Reise.« »Wohin reiten wir?« erkundigte sich ihr Gehilfe. »Du reitest nirgendwohin«, erwiderte sie mit dem bösartigen Lächeln, das ihre Untergebenen fürchteten. »Aber ich, ich kehre heim.« Der junge Wissenschaftler Sanwell, der vor vielen, vielen Jahren mit Urza in den Ruinen von Kroog gestanden hatte, fand den Verteidigungsminister in dessen Werkstatt. In der Mitte des Raumes hatte man eine freie Fläche geschaffen, über der eine leuchtende Kugel schwebte. 537
Sie erstrahlte in einer für Sanwell unbekannten Farbe, einer Mischung aus unruhig flackerndem Gelb und Grün, die sich seinen Augen förmlich aufdrängte, so daß er sie auch noch vor sich sah, als er die Augen fest zusammenkniff. Kleine Blitze zuckten über die Oberfläche der Kugel, die sich freischwebend in der Mitte des Raumes bewegte. Gerade als Sanwell sich bemerkbar machen wollte, sah Urza ihn und unterbrach den Energiestrom, der, die Kugel speiste. Sie leuchtete noch einmal hell auf und schwebte sanft zu Boden. Sanwell fiel auf, daß die weißen Haare des Ministers zu Berge standen, und er vermutete, daß sich Urza im Kraftfeld aufgehalten hatte. »Rakalit«, sagte Urza, als erkläre der Name des Gerätes alles. »Funktioniert auf die gleiche Weise wie die alten Amulette aus Kroog. Der Körper wird in ein Schutzfeld gehüllt, das die Heilung beschleunigt. Was ist los?« »Der Spion, Herr.« Urzas Lächeln verschwand. Der alte Mann zwang sich, seine Gedanken von der Erfindung zum Krieg zu lenken. »Der Gixianer? Was ist mit ihm?« »Wir haben ihn endlich zum Reden gebracht«, sagte Sanwell. »Leider mußten wir ihn am Ende töten.« »Natürlich«, stimmte Urza leise zu. »Was hat er erzählt?« »Er gehörte zu den Gixianern, war einer ihrer Priester. Er spionierte für Mishra. Der Bursche nannte uns ein paar Namen, aber die Leute sind bereits geflohen.« »Also weiß der Quadir alles?« fragte Urza mit scharfer Stimme. »Er weiß von der Insel?« Sanwell nickte. »Euer Bruder - der Quadir - läßt eine Flotte bauen und wird höchstpersönlich die Invasion der Insel anführen.« »Tawnos ist hier, und Harbin führt die Expedition 538
an.« Urza rieb sich die Hände. Dabei hoben sich seine Schultern, und er sah wie ein Albinogeier aus. Er schwieg lange Zeit und starrte die seltsam gefärbte Kugel an, die auf dem Boden ruhte. Er murmelte etwas Unverständliches. »Herr?« fragte der jüngere Mann. »Ich sagte: Ich reise«, knurrte Urza und schaute Sanwell an. Er sah müde aus, und das Feuer, das noch vor wenigen Sekunden in seinen Augen aufgeflackert war, war erloschen. »Ich reise zu dieser Insel. Dort werde ich meinen Bruder zum letzten Mal treffen.«
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KAPITEL 31
Magie und Maschinen Harbin entdeckte den Hof der Elfenkönigin Titania von Argoth. Es hatte ihn maßlos überrascht, daß die Insel eine Königin besaß und außer Bäumen und bunten Schnekken noch andere Wesen hier lebten. Kein Flug der Kundschafter hatte ihnen Lichtungen, Feuerstellen oder sonstige Anzeichen einer Zivilisation enthüllt. Natürlich waren diese Elfen nicht normal. Sie lebten auf Bäumen, denen sie ihren Willen aufzwangen. Im Herzen des Waldes waren freie Flächen entstanden, über denen sich die mächtigen Äste wölbten, auf denen die Elfen hausten. Der Hof Titanias glich einer Kathedrale aus Bäumen, und von den Zweigen hingen grüne, goldene und weiße Fahnen herab. Harbin hatte seine Ornithoptertruppe ungefähr eine halbe Meile entfernt auf einer kleinen Lichtung landen lassen. Eine Gruppe Elfen erwartete ihn. Sie trugen Rüstungen aus lackierten Weidenruten und waren mit spitzen, aus Knochen gefertigten Speeren bewaffnet. Kobolde - winzige menschenähnliche Wesen mit Libellenflügeln - flitzten zwischen ihnen herum, und hinter den Elfenkriegern standen Zentauren und Angehörige des Baumvolkes, die große Ähnlichkeit mit den Bäumen hatten, die sie umgaben. Der Anführer der Krieger war ein hochgewachsener Elf, der fast so groß wie Harbin war. Er trug grünweiße Gewänder, die sich wie dünne Wolkenschleier 540
um seinen Körper schlangen. Er hob die Arme und hielt die Handflächen nach außen gewandt. Harbin erwiderte die Geste. Der Elf sagte auf argivianisch: »Begleite uns. Es wird dir nichts geschehen, solange du am Hofe Titanias weilst. Ich bin ihr Sprecher.« Er sprach klar und deutlich - noch eine Überraschung für Harbin. Die Elfen, die sie bisher bekämpften, hatte ihre eigene Sprache gesprochen und weder die Fähigkeit noch Neigung zu einem Gespräch gezeigt. Sie kämpften mit allen Mitteln um jeden Fußbreit der Insel. Schon kurz nach seiner Landung auf der Insel hatten die Überfälle begonnen und nahmen mit jedem Monat zu. Die Türme entlang der Küste wurden sofort angegriffen, und die Arbeiter, die den Wald betraten, litten unter Überfällen aus dem Hinterhalt. Sie mußten das Gebiet um jeden Turm im Umkreis von einer Meile roden, und selbst das stellte sich als schwierig heraus. Oft wuchsen an den gerade befreiten Stellen die Bäume und Pflanzen über Nacht in die Höhe, bis sie schließlich durch Feuer vernichtet wurden. Dann erfolgten offene Angriffe der Elfen, Zentauren und Baumwesen. Es handelte sich um schwere Schlachten gegen bewaffnete Kreaturen, die mit der Leidenschaft rasender Tiere kämpften. Allerdings befanden sich auch richtige Tiere unter ihnen: Pumas, Wölfe und andere wilde Tiere. Anfangs glaubte Harbin, die Armeen würden die Tiere vor sich hertreiben, aber schon bald begriff er, daß die Elfen Macht über die hirnlosen Viecher hatten, wie die Argivianer über ihre Maschinen. Blitzschnell stürmten sie aus dem Wald und schlugen zu, waren aber ebensoschnell wieder verschwunden, wenn die Soldaten zum Gegenangriff ansetzten. Jene, die den Elfen in das grüne Gewirr der Äste folgten, wurden hinterrücks niedergemetzelt. Die Türme wurden mit Wehrgängen umgeben, und 541
in einiger Entfernung zur Front errichtete man hohe Palisaden aus frisch geschlagenem Holz. Schwere neue Ornithopter, die jetzt den Namen >Ornibomber< trugen, überflogen den Dschungel, um Elfen und Tiere zu vertreiben, ehe sich die Holzfällermaschinen in Bewegung setzten. Nach und nach wurden die Bäume gefällt und zu immer mehr Palisaden, Wehrgängen und Maschinen verarbeitet. Sie erlitten schwere Verluste an Menschen und Maschinen. Die Argivianer bekamen den Feind nur selten zu Gesicht. Urplötzlich tauchte einen große Horde Elfen, Kobolde oder Baumwesen aus dem Nichts aus. Eine Gruppe der letzteren erreichte einen der Türme an der Küste und zerstörte zahlreiche mit Vorräten beladene Schiffe, ehe die Argivianer überhaupt begriffen, daß man die Wesen wie gewöhnliche Bäume in Brand setzen konnte. Eines Morgens hörten die Angriffe so plötzlich auf, wie sie begonnen hatten. Sieben Tage später erschien eine unbewaffnete Elfe mit einer Schriftrolle vor den Toren der ersten Palisade. Harbin weilte gerade in dieser Festung und befahl den Wachen, die Elfe einzulassen. Er wollte mit ihr verhandeln, und sie durften nur auf die Fremde schießen, wenn sich das Ganze als Falle erwies. Es war aber keine Falle. Die Elfe reichte ihm die Schriftrolle. Harbin entrollte sie. Es handelte sich um eine Landkarte, die den Weg zu einem ein paar hundert Meilen landeinwärts gelegenen Ort wies. Ein beiliegender Zettel teilte ihm in anmutigen Schriftzügen mit, daß er zu einer bestimmten Zeit an diesem Ort erscheinen solle, falls er zu verhandeln wünsche. Harbin nickte zustimmend. Die Elfe trat einen Schritt zurück und wandte sich zum Gehen. Plötzlich zögerte sie, und Harbin hätte schwören können, sie hätte ihm etwas sagen wollen. Dann schüttelte sie den 542
Kopf und ging. Sobald sie den Waldrand erreichte, schien sie sich in Luft aufzulösen. Die verbleibende Zeit reichte nicht aus, um eine Botschaft nach Penregon zu schicken, und nach zahlreichen besorgten Gesprächen gestattete Tawnos dem jungen Mann, die Verhandlungen zu eröffnen, bestand aber darauf, daß er eine Ornithoptertruppe mitnahm. Der Sprecher der Elfenkönigin führte sie durch den Wald zum Hofe Titanias. Zwei Männer blieben zurück, um die Ornithopter zu bewachen, zwei andere begleiteten Harbin. Aber wenn die Königin ihr Wort brach, war es gleichgültig, ob sie zusammen oder getrennt starben. Bleiche Elfenkrieger schritten vor und hinter ihnen. Sie hatten die Gesichter mit einer Kreideschicht bedeckt. Den Weg säumten Elfen und andere Lebewesen, die die Fremden neugierig beobachteten. Einmal hätte Harbin schwören mögen, einen Menschen in der Menge zu entdecken, aber konnte nicht stehenbleiben, um sich zu vergewissern. Schließlich erreichten sie die hohe Baumkathedrale und wurden in grünes Licht getaucht. Der Boden war glatt und eben (der übrige Waldboden war holprig und uneben, was ihr Vorankommen zusätzlich behinderte). Ein freier Platz, um den sich Hunderte von Elfen und Kobolde drängten, lag vor ihnen. Ganz vorn standen in braune Kutten gekleidete Menschen, die Harbin bitterböse Blicke zuwarfen, als er an ihnen vorüberschritt. Am anderen Ende des Platzes erhob sich ein Podest. Stufen führten zu einer weißen Marmorfläche empor, auf der ein tiefgrüner Thron stand. Die Elfenkönigin erwartete ihn. Sie war von überirdischer Schönheit. Nein, dachte Harbin, sie ist ein überirdisches Wesen. Ihr schmales Gesicht wirkte wie eine Jademaske. Sie war schlank und grazil, und hätte sie gestanden, wäre sie größer als 543
Harbin gewesen. Ein leuchtendgelbes Gewand aus frischen Schößlingen von Ranken und Blättern bedeckte den zierlichen Körper, aber die Augen waren alt, weise und undurchdringlich. Der Sprecher bedeutete Harbin, am Fuße des Podiums stehenzubleiben, ehe er zwei Stufen erklomm und sich vor der Königin verneigte. Titanias Miene verfinsterte sich, als sie Harbin betrachtete, und er hatte das Gefühl, sie ziehe ihm mit den Blicken die Haut ab, um in seine Seele zu schauen. Es war kein angenehmes Gefühl. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sprach die Königin, und ihre Worte klangen wie Musik in den Ohren der Menschen. Harbin merkte, daß ihre Sprache mit den Elfensprachen, die ihm bekannt waren, soviel gemeinsam hatte wie Kammermusik mit dem Gesang ungehobelter Barbaren. Ihre Stimme fesselte und begeisterte ihn. Der Sprecher gab mit deutlicher Stimme eine Erklärung ab. »Ich spreche für Königin Titania. Titania spricht für die allmächtige und erhabene Göttin Gaea. Argoth steht unter ihrem Schutz und ist die Heimat ihrer Kinder. Ihr seid hier unerwünscht und solltet fortgehen.« Trotz des angenehmen Tonfalls war die Aussage unmißverständlich grob. Harbin erwiderte: »Ich überbringe die Grüße der Vereinigten Königreiche von Argivia, Korlis und Yotia. Die Grüße des Herrschers und des Volkes. Ich grüße Euch im Namen des Verteidigungsministers, des Herrn Urza, des berühmten Wissenschaftlers. Ich bin sein Sohn Harbin. Sprecht mit mir, wie Ihr mit ihm reden würdet.« Der Sprecher übersetzte seine Worte, und Harbin fragte sich, warum die in Ranken gekleidete Königin einmal lächelte. Dann redete sie, und der Sprecher übersetzte erneut. 544
»Sie weiß, wer du bist und was du bist. Sie möchte wissen, ob du begriffen hast, was sie sagte.« Harbin holte tief Luft. »Sag ihr, daß ich ihre Worte verstand. Aber sag ihr auch, daß wir diese Insel nicht verlassen werden.« Wieder erfolgte eine Übersetzung, und Titanias Antwort klang scharf wie ein Dolchstoß. »Dann wird dein Volk hier sterben. Ihr habt das Land zerstört und werdet dafür bestraft. So lautet Gaeas Gesetz.« »Wenn ich dazu etwas sagen darf«, meinte Harbin und hob die Hand. »Titania sollte wissen, daß mein Volk das Holz der Bäume und das Erz aus den Bergen braucht. Wir führen Krieg gegen eine dunkle Macht und brauchen alles Material, dessen wir habhaft werden können.« Der Sprecher machte sich gar nicht die Mühe, seine Rede zu übersetzen, und wiederholte: »Sie weiß, wer du bist und was du bist. Du bist nicht willkommen und mußt fortgehen.« Harbin hob die andere Hand. »Der Bruder meines Vaters bedroht unser Land mit schrecklichen Massenvernichtungsmaschinen. Ohne Holz und Erz können wir uns nicht schützen und werden vernichtet. Wenn er uns vernichtet hat, wird Mishra kommen und diese Insel vernichten.« Der Sprecher übersetzte, und Königin Titania saß schweigend und mit ausdrucksloser Miene auf ihrem Thron. Harbin hatte eine sofortige Antwort erwartet. Dann begriff er. Königin Titania war gar nicht wirklich anwesend. Die wunderschöne Gestalt dort oben war nur eine Marionette, die aus der Ferne bedient wurde. Sie sah lebendig aus, bestand aber bloß aus Holz und Ranken. Dachte die unsichtbare Titania über seine Worte nach, oder war sie anderweitig beschäftigt und beriet sich mit ihren Höflingen? 545
Schließlich sprach die Elfe, und das Gesicht des Sprechers verfinsterte sich. Er wandte sich an Harbin: »Euer Feind hat die Insel bereits gefunden. Er erreichte die Westküste und hat eine ebenso große Armee bei sich wie du. Genau wie du ist er dabei, dem Land Schaden zuzufügen.« »Das habe ich doch gerade erklärt«, entgegnete Harbin. »Er besitzt große Massenvernichtungsmaschinen.« »In welcher Weise unterscheiden sie sich von deinen Massenvernichtungsmaschinen, Mensch?« erkundigte sich der Sprecher, ohne zuvor mit der Königin zu reden. Harbin schäumte innerlich vor Wut, riß sich aber zusammen. »Sag deiner Königin, daß wir sie gegen Mishra verteidigen, wenn sie sich mit uns verbündet.« Der Sprecher dachte nach und übersetzte schließlich. Die Antwort war kurz und knapp, und Harbin wußte, was sie bedeutete. »Sie sagt: >Nein, danke.<«, erklärte der Sprecher diplomatisch. Harbin war verzweifelt. »Ihr versteht mich nicht. Wenn ihr euch nicht mit uns verbündet und uns nicht erlaubt, eure Erze und das Holz zu benutzen, wird Mishra das Land vernichten. Nur als unsere Verbündeten könnt ihr...« Eine heftiger Wortschwall der Königin unterbrach ihn. Sie sah zornig aus, und Harbin staunte, wie lebendig die Marionette wirkte. »Die Zwerge aus den Bergen Sardias waren eure Verbündeten«, sagte der Sprecher. »Wo sind sie jetzt?« Harbin war verblüfft. »Was wißt ihr von den Zwergen Sardias?« stieß er hervor. »Die Göttin Gaea weiß alles. Sie spricht zu Titania, und Titania spricht zu mir. Wo sind deine ehemaligen Verbündeten?« »Ich habe sie nie als Verbündete betrachtet«, antwor546
tete Harbin, der sich allmählich von seinem Staunen erholte. »Ihr Volk lebt in einem Land, das an Argivia grenzt. Wir haben Metalle mit ihnen getauscht und fanden nach geraumer Zeit heraus, daß sie auch mit Mishra Geschäfte machten.« »Ihr habt sie getötet«, sagte Titania in einer Sprache, die Harbin deutlich verstand. »Dein Volk tötete die Zwerge Sardias. Wenige überlebten als Sklaven oder gingen ins Exil, aber ihre Bergwerke wurden ausgeraubt und dienen jetzt Goblins als Unterschlupf. Ist das das Schicksal deiner Verbündeten?« Obwohl sie wütend war und Argivianisch sprach, klang ihre Stimme noch immer unvergleichlich melodisch. Harbin geriet ins Stottern. »Zu jener Zeit war ich nur ein Kind, aber...« »Und Yotia?« unterbrach sie ihn. »Deine Mutter stammt aus Yotia, Mensch. Wie erging es diesem Land als eurem Verbündeten? Besteht seine nördliche Region nicht aus einer Fläche geschmolzenen Sandes und schwarzem Glas?« »Daran hat mein Vater keine Schuld!« rief er wütend. »Mishra hat das getan!« Titania hörte gar nicht zu. Sie hielt den Kopf zur Seite geneigt, als lausche sie einer Melodie, die niemand sonst vernahm. Dann versteifte sich ihr Körper, und sie stieß einen markerschütternden Schrei aus. Harbin trat einen Schritt zurück, und sämtliche Umstehenden folgten seinem Beispiel. Titanias Gesicht war verzerrt, und Teile der hölzernen Maske zersplitterten, während sie schrie. Blätter fielen von dem grünen Gewand ab, und dünne Ranken schossen wahllos empor. Sie wand sich in ihrem Stuhl hin und her und lag dann still. Plötzlich wurde Harbin sehr deutlich bewußt, wo er sich befand: tief im Herzen eines unbekannten Landes. 547
Von Wesen umgeben, die ihn seit seiner Ankunft bekämpften. Den einzigen Schutz vor ihnen bildete das Versprechen, das ihre Königin ihm gab, die einen Schmerzensschrei ausstieß, nachdem er sie angebrüllt hatte. Harbin drehte sich nicht um. Er stellte sich vor, daß jeder Elf, jeder Zentaur und jeder Kobold die Waffe zogen. Titanias Anfall ging so schnell vorüber, wie er gekommen war. Die Königin bewegte sich und setzte sich wider aufrecht hin. Die grünen Gewänder nahmen ihr ursprüngliches Aussehen an. Als sie Harbin ansah, wirkte sie erschöpft, und ihre Augen waren wie tiefe, finstere Seen. »Du und die anderen Eindringlinge stinken«, erklärte sie ruhig. »Ihr stinkt nach Metall und Maschinenöl. Beide Parteien zerstören unser Land, und beide müssen vertrieben werden. Argoth gehört dir nicht, Kind des Wissenschaftlers. Es gehört weder deinem Vater noch seinem Bruder. Geh jetzt. Teil den übrigen Menschen folgende Botschaft mit: Verlaßt sofort die Insel, oder ihr werdet vertrieben.« Sie senkte den Kopf. Der Sprecher sagte: »Die Audienz ist beendet.« Harbin wollte nicht aufgeben und Titania noch einmal vor Mishra warnen, aber die Puppe löste sich bereits in ihre Bestandteile auf. Ranken und Blätter fielen zu Boden und verrotteten augenblicklich. Schließlich lag nur noch eine Jademaske auf dem Thron. »Ihr steht unter ihrem Schutz, solange ihr auf unserem Gebiet weilt«, erklärte der Elf. »Jetzt müßt ihr gehen.« Harbin und die beiden Piloten wurden fortgebracht. Harbin schritt neben dem Sprecher einher. Es gab noch so viele Fragen; soviel war ungesagt geblieben. Er hatte die Erlaubnis, den Wald abzuholzen, nicht be548
kommen. Aber er wußte jetzt, daß diese seltsame Königin niemals eine derartige Erlaubnis geben würde. Womit belebte sie die Puppe? War sie anwesend und beobachtete ihn die ganze Zeit? Wieder entdeckte er ein menschliches Gesicht in der Menge. Es war grimmig verzerrt. Harbin dachte an die Männer in den braunen Kutten und fragte den Sprecher: »Es leben Menschen auf der Insel?« Der Elf nickte, verlangsamte seine Schritte aber nicht. »Ja. Sie sind dir aber nicht freundlich gesonnen, Wissenschaftlerkind. Sie hassen Artefakte und Maschinen und flohen schon vor vielen Jahren auf diese Insel.« Harbin dachte eine Weile nach. »Daher kennt ihr Urza und Mishra, nicht wahr? Es sind Flüchtlinge vom Festland.« Der Elf lächelte. »Die Druiden von Citanul kamen schon vor Jahrhunderten hierher, Kind des Maschinenbauers.« »Aber du sagtest, sie hassen Artefakte.« »Denkst du etwa, dein Land sei das erste, das sich auf die Tyrannei der Maschine verläßt? Oder gar das letzte?« Als Harbin nicht antwortete, fuhr er fort: »Warum hast du die Flugmaschinen auf die Insel gebracht?« »Die Ornithopter? Weil es damit am schnellsten ging. Außerdem beschädigen sie eure kostbaren Wälder nicht.« »Es war ein Zurschaustellen eurer Macht«, meinte der Elf trocken. Harbin schämte sich. Der Sprecher hatte recht. Aber nachdem er erlebt hatte, wozu die Königin in der Lage war, fühlte er sich nicht besonders mächtig. »Ja, so war es«, bestätigte der Elf. »Ein kleiner Machtbeweis. Jetzt gestatte uns einen kleinen Machtbeweis.« 549
Sie betraten die Lichtung, auf der die Ornithopter standen. Die fünf Maschinen und die beiden zurückgebliebenen Piloten waren unversehrt. Überall standen Elfenkrieger und Männer in braunen Kutten herum. Die Druiden von Citanul. »Paß gut auf«, sagte der Elf und gab den Menschen ein Zeichen. Die Druiden stimmten ein Lied an. Sie sangen so leise, daß man es mehr fühlen als hören konnte und benutzten die Sprache, in der sich der Elf mit Titania unterhalten hatte. Ihre Stimmen hoben und senkten sich und teilten sich schließlich in verschiedene Chöre, die sich immer wieder miteinander vermischten. Die Piloten griffen nach ihren Waffen, aber Harbin hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Die Elfenkrieger rührten sich nicht. Dann setzten sich die Ornithopter in Bewegung. Anfangs glaubte Harbin an einen leichten Windstoß als Ursache, aber dann schlugen die Flügel mit aller Kraft auf und ab. Sie schlugen heftiger als je zuvor. Während Harbin die Maschinen anstarrte, rissen die Drähte entzwei, Streben zersprangen, Zahnräder verbogen sich. Das Krachen und Knacken unterstrichen den Gesang der Druiden. Einer der Piloten lief schreiend zu seinem Ornithopter hinüber, aber es war zu spät. Die Flugmaschinen erhoben sich wie bockende Pferde und hieben mit den zerstörten Flügeln auf den Boden. Einen Augenblick lang sahen sie wie todwunde Vögel aus. Dann fielen sie in sich zusammen, da ihr Gehäuse und das Segeltuch der starken Beanspruchung nicht mehr gewachsen waren. Wo die Ornithopter gestanden hatten, lagen jetzt fünf Häufchen aus zerbrochenem Holz und Tuch. Elfen und Druiden zogen sich Schritt für Schritt in den Wald zurück. 550
»Euer Machtbeweis. Unser Machtbeweis!« rief der Elf. »Ihr sollt wissen, daß es auch geschehen kann, wenn ihr durch die Lüfte fliegt. Aber ihr steht unter Titanias Schutz, solange ihr in dieser Region weilt. Ihr habt nichts zu befürchten, bis ihr das von euch vernichtete Gebiet erreicht.« Der Sprecher lächelte, und es war ein zufriedenes, bösartiges Lächeln. »Ich wünsche dir einen angenehmen Heimweg, Mensch.« Dann war er verschwunden. Mishra handelte schneller, als Ashnod vermutete. Als sie in Zegon eintraf, war er bereits mit der Invasionstruppe aufgebrochen, die Urza das neuentdeckte Land entreißen wollte. Nur durch persönliche Gefallen und nicht weniger persönliche Drohungen gelang es ihr, einen Platz an Bord eines Vorratsschiffes zu bekommen, das der Flotte nachfolgte. Sie sah die Insel, ehe sie am Horizont auftauchte. Eine riesige Rauchwolke stieg zum Himmel empor, während sich ihr Schiff durch die Stürme kämpfte; ein dunkles Leuchtfeuer, das sie rief. Die Küste bestand nur noch aus rußbedecktem Boden und verbrannten Baumstümpfen, die sich wie faule Zähne erhoben. Der Wald war schon bis zum Horizont abgeholzt worden, und Mishras Fabriken arbeiteten Tag und Nacht, um das Holz zu verarbeiten. Ashnod schritt zwischen den Baumstümpfen umher und entdeckte Anzeichen, daß die Invasion nicht ohne Gegenwehr vonstatten ging. Unweit der Docks, an denen ihr Schiff lag, ruhte der zerschmetterte Körper einer Drachenmaschine, und sie kam an einem offenen Grab vorbei, in dem die Leiber zahlreicher Transmogranten und anderer Lebewesen - offenbar Elfen lagen. Zuerst wollte sie gleich zu Mishra eilen, überlegte es sich dann aber anders. Mishra hatte sie verbannt und 551
war vielleicht nicht erfreut, sie zu sehen. Es war besser, sich erst einmal umzuhören. Sie machte sich auf die Suche nach Hajar. Zwei Meilen die Küste entlang stöberte sie ihn auf. Er versuchte, eine Maschine zu befreien, die knöcheltief in einem Sumpf steckengeblieben war. Hajar warf Ashnod einen eisigen Blick zu und nickte. Eine so herzliche Begrüßung hatte sie nicht erwartet. Vielleicht wurde der Kerl langsam alt. »Ihr seid wieder da«, brummte er. »Neue Horizonte, neue Möglichkeiten«, antwortete sie. »Ist es möglich, seine Hoheit zu sehen?« Sie legte den schweren Rucksack auf den Boden und deutete auf eine Kiste. »Ich habe ihm etwas mitgebracht.« Hajar antwortete nicht, befahl aber einem Gehilfen, mit der Arbeit fortzufahren. Dann ging er die Küste entlang, und Ashnod folgte ihm. Sie trug den Rucksack und die Kiste, da er ihr keine Hilfe anbot. Ashnod fiel auf, daß der Fallaji ein wenig gebückt ging. Allmählich machten sich die Jahre bemerkbar, die er als Leibwächter des Quadirs verbracht hatte. Endlich gelangten sie zu einem Blockhaus, einer grob gezimmerten Festung aus Holz und Stein. Auch sah man Spuren eines Kampfes, da die Außenwände schwarz vom Ruß und teilweise angesengt waren. »Anscheinend gab es Schwierigkeiten«, stellte sie fest. Hajar nickte. »Das Land ist besetzt und muß Schritt für Schritt erobert werden.« Ashnod nickte als Antwort. »Kann man mit den Besitzern verhandeln?« »Die Anführerin der Eingeborenen tauchte kurz nach unserer Ankunft auf. Eine grüne Frau, in Blätter und Ranken gewickelt.« »Und wie verlief das Gespräch?« fragte Ashnod, die keinen Zweifel an der Antwort hegte. 552
Hajar seufzte. Ein kleiner Seufzer nur, aber immerhin. »Mishra befahl den Drachenmaschinen, sie mit Feuer zu überschütten. Sie schrie und brannte lichterloh. Danach wurden die Angriffe fortgesetzt.« »Wie geht es ihm?« erkundigte sie sich, als sie die schweren Tore der Festung durchschritten. »Mishra, meine ich.« »Nun, er ist...«, begann Hajar und sah sie an. Seine Augen blickten ausgesprochen milde. »Und dann ist er es wieder nicht. Ihr werdet es verstehen, wenn Ihr ihn gesehen habt.« Der Thronsaal lag im vorderen Teil des Blockhauses; ein einfaches Zimmer, in dem auf einem aus zwei Steinblöcken errichteten Podest ein Kapitänsstuhl stand, der den Thron darstellte. Rechts und links davon standen zwei Gixianer. Einer besaß einen künstlichen Arm, der andere hatte eine Stahlplatte über die Augen geschraubt. Hajar blieb an der Tür stehen, und Ashnod fiel auf, daß sich die Rangordnung bei Hofe in ihrer Abwesenheit verändert hatte. Auch Mishra war nicht mehr der alte. Seit ihrem letzten Treffen war er dünner und muskulöser geworden. Was sich jetzt unter den weiten Gewändern wölbte, waren feste Muskeln. Auch die Haare und der Bart schienen dunkler geworden zu sein. Ashnod nahm an, er habe aus Eitelkeit auf die bei den Zegonis übliche Haarfarbe zurückgegriffen, um die Spuren des Alters zu verbergen. Seine Augen sahen sie so lebhaft, neugierig und forschend wie immer an. Im Laufe der Jahre hatte sie diesen Blick fast vergessen. Der scharfe Ankh aus Sarinth steckte noch immer in seinem Gürtel, obwohl in jenem Land Aufruhr herrschte. Ashnod nahm sich vor, es keinesfalls zu erwähnen, da es bestimmt ein wunder Punkt für Mishra 553
war. Sie stellte die Kiste und den Rucksack ab und warf sich dem Quadir zu Füßen. »Ich grüße Euch, Herr der Wüste und neuer Herr des Meeres«, sagte sie und erhob sich, ohne auf seine Erlaubnis zu warten. »Ich dachte, ich hätte dich verbannt«, meinte Mishra mit grimmiger Miene. »Ich sagte, du würdest den Tod finden, wenn du mein Land noch einmal betrittst.« »Das ist wahr, Ehrwürdiger und Gerechter«, antwortete sie demütig und benützte die formelle Anrede, da sie seinen Unmut spürte. »Wenn dieses Land wahrhaftig in Eurer Hand läge, hätte ich nie gewagt, Euren Zorn zu beschwören, indem ich hier erscheine. Anscheinend bestehen aber Zweifel über die Herrschaft der Insel. Ich biete Euch an, Euch bei der Eroberung behilflich zu sein.« Sie blickte Mishra an und wartete auf ein Lächeln oder ein Zeichen, daß er sich über ihre Rückkehr freute. In seinen Augen stand aber nur unterdrückter Zorn. »Welche Hilfe soll das sein?« »Während meiner... Abwesenheit bin ich weit gereist«, erklärte Ashnod und öffnete die Kiste. »Ich habe viel gelernt und fand zahlreiche Dinge, die Euch nützlich sein könnten.« Sie zog eine Kupferschüssel aus der Truhe. »Ich glaube, daß ich mit diesem einfachen Sylex unsere Zukunft bestimmen kann.« Lächelnd hielt sie die Schüssel in die Höhe. Reglos betrachtete Mishra Ashnod und ihr Geschenk. »Du bringst mir eine Schüssel?« fragte er. »Hast du in der Zwischenzeit den Beruf einer Kupferschmiedin erlernt?« Enttäuscht ließ Ashnod die Hände sinken. »Es ist keine einfache Schüssel, Ehrwürdiger. Es gibt Mächte, die jede Kraft unserer Maschinen übertreffen. Es ist mir gelungen, jene Mächte zu beherrschen.« 554
»Fremde Magie!« rief Mishra. »Wie bitte?« »Magie«, wiederholte der Quadir. »Eine Magie, an die auch die Narren aus Terisiare-Stadt glaubten.« »Wenn ich erklären...«, begann Ashnod, aber Mishra winkte ab. »Eine solche Magie gibt es nicht. Fauler Zauber, der mit Hilfe von Rauch, Spiegeln und anderen Dingen bewirkt wird. Verschone mich mit solch minderwertigen Dingen.« »Hochverehrter und mächtiger Quadir, ich würde die Magie der Gelehrten der Elfenbeintürme keineswegs als...« Mishra lachte. Es war ein unangenehmes Lachen, das ihr überhaupt nicht gefiel. »Ich hätte nie geglaubt, daß ich den Tag erlebe, an dem die mächtige Ashnod Ashnod, die Gefühllose - zu einer einfachen Scharlatanin wird, die sich mit faulen Tricks mein Vertrauen erschleichen will.« Bei dieser Beleidigung errötete Ashnod. Alles entwickelte sich völlig anders, als sie erwartet hatte. Sie versuchte es erneut: »Ich könnte Euch zeigen...« Wieder unterbrach er sie. »Spar dir deine Vorführung für die Leichtgläubigen auf, Ashnod. Ich kenne deine Sprüche. Aber ich habe sie vermißt. In deiner Abwesenheit habe ich mich verändert - du vielleicht nicht.« Er sah sie lange und durchdringend an, und wieder einmal fragte sich Ashnod, was er wohl denken mochte. Nach geraumer Zeit sagte er: »Du kannst gern hierbleiben oder wieder fortgehen. Ich beende deine Verbannung hiermit. Aber sei gewiß, daß ich dich beobachten lasse.« Er nickte einem der Priester zu. »Wenn ich das geringste Anzeichen für Verrat feststelle, werde ich dich höchstpersönlich in einen Transmogranten verwandeln. Habe ich mich klar ausgedrückt?« 555
»Glasklar«, antwortete Ashnod mit gerunzelter Stirn. »Könnten wir uns nicht in weniger formeller Umgebung unterhalten?« »Du wirst kommen, wenn ich dich rufen lasse«, erklärte Mishra. »Sonst nicht. Du bist wirklich genial, Ashnod, und ich bin sicher, wenn du dich deiner eigentlichen Begabung widmest - dem Erfinden von Maschinen -, wirst du wieder Hervorragendes leisten. Du kannst jetzt gehen.« Ashnod zögerte, und der Quadir wiederholte: »Du kannst gehen.« Seine Stimme hatte einen stählernen Unterton. Ashnod verneigte sich und verließ den Raum. Hajar folgte ihr. »Nun, das war nicht sehr erfolgreich«, sagte sie zu dem hageren Leibwächter. »In meiner Abwesenheit hat es sich nicht zum Guten verändert.« »Das ist mir auch schon aufgefallen«, erwiderte er trocken. Sie wollte ihm weitere Fragen stellen, um herauszufinden, wie einflußreich die Gixianer waren und wer Mishras rechte Hand war, als sich die Tür erneut öffnete. Der Priester mit der Stahlplatte vor den Augen näherte sich ihnen und machte eine angedeutete Verbeugung vor Ashnod. »Wir interessieren uns für Eure Schüssel«, sagte er. »Diese Stück närrischer Magie?« fragte sie mit angehobenen Augenbrauen. »Eine Magie, an die Euer Herr nicht glaubt?« Wieder verneigte sich der Mann, und Ashnod hätte schwören könnte, daß sie ein Klicken und Surren vernahm. »Die Bruderschaft bleibt neuen Wegen gegenüber offen. Falls sie sich als nützlich herausstellen, können wir sie Seiner Hoheit auf überzeugendste Art und Weise näherbringen. Die Schüssel, bitte.« »Wohl kaum«, entgegnete Ashnod. 556
Der Priester starrte sie an - wenn man von einem Wesen ohne Augen behaupten konnte, es starre jemanden an. »Wir wurden beauftragt, Euch im Auge zu behalten, ehemalige Gehilfin. Uns schenkt Mishra Gehör; wir können Eure besten Verbündeten am Hofe sein.« Er grinste, und sie sah, daß jeder zweite Zahn fehlte. »Oder Eure schlimmsten Feinde. Die Schüssel, bitte.« Ashnod sah Hajar an und fragte: »Ist es jetzt Sitte bei Hofe, in den Gängen und Fluren ausgeraubt zu werden?« Hajar schwieg. Statt dessen starrte er zu Boden, aber sein Verhalten sprach Bände. »Ich verstehe«, meinte Ashnod. Sie reichte dem Priester die Kiste. »Bitte nehmt dieses Geschenk als Zeichen meiner Wertschätzung«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Möge Euch jemand hilfreich zur Seite stehen, wenn Ihr daran erstickt.« Der Mönch nahm die Truhe entgegen und schenkte ihr ein weiteres lückenhaftes Grinsen. »Ich wußte, daß Ihr Eure Klugheit beweist, wenn Ihr erst begriffen habt, wie es bei Hofe steht.« Dann kehrte er in den Thronsaal zurück. Hajar sagte auch später nichts dazu, aber das war auch nicht notwendig. Er geleitete Ashnod in die Zeltstadt, wo die meisten Angehörigen des Hofes lebten. Sie erhielt ein Einzelzelt und die Erlaubnis, zu kommen und zu gehen, wie es ihr beliebte. Wenn sie etwas brauchte, sollte sie sich an Hajar wenden. Dann verließ er sie eilig. Ashnod ließ sich auf ihr Lager sinken und schüttelte den Kopf. Sie war zurückgekehrt, aber es handelte sich nicht um die Rückkehr der verlorenen Tochter, die sie sich erhofft hatte. Hajar hatte recht. Mishra war wie früher und doch ganz anders. Sie fragte sich, ob sie bleiben sollte, und entschied, 557
erst einmal herauszufinden, wohin sie gehen konnte, ehe sie eine voreilige Entscheidung traf. Schließlich hob sie den Rucksack auf das Bett und Öffnete ihn. Aus seinen Tiefen zog sie den golgothianischen Sylex hervor, der in eines ihrer Gewänder gewickelt war. Natürlich hatte Mishra recht gehabt. In ihrer Abwesenheit hatte sie sich zu einer Kupferschmiedin entwickelt. Außerdem zu vielen anderen Dingen. Wenigstens war sie mißtrauisch genug geblieben, um Mishra nur eine Kopie des Sylex zu schenken. Die Priester des Gix hielten Ashnods Sylex in Händen, während sie das Original besaß. Sie ließ den Finger über den Rand der uralten, mit Runen verzierten Schüssel gleiten, und es wurde finster im Zelt.
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KAPITEL 32
Der Weg zur Apokalypse Harbin und seine Gefährten erreichten die Grenze von Titanias Gebiet mit wunden Füßen, aber ansonsten unverletzt. Die Elfenkönigin hatte ihr Wort gehalten. Harbin spürte, daß man sie keine Sekunde aus den Augen ließ, aber die Einheimischen fügten ihnen kein Leid zu. Selbst die Tiere schienen sie zu meiden, während sie in der feucht-schwülen Hitze den langen Weg bis zum Lager zurücklegten. Der Grund dafür offenbarte sich ihnen, als sie die Grenze von Titanias Gebiet erreichten. Der Wald endete so plötzlich wie eine steil zum Meer abfallende Klippe. Auf der einen Seite stand der üppige grüne Wald der fruchtbaren Welt Titanias. Auf der anderen lag das Land der Argivianer. Jeder einzelne Baum war gefällt worden. Niedrige Stümpfe standen wie Grabsteine in der Ödnis, und jede Pflanze und sämtliches Gestrüpp waren verschwunden. In der Ferne erblickte man rauchende Haufen aus Blättern und Ranken. Dahinter sah Harbin die Maschinen, die den Erdboden aufrissen, um nach Bodenschätzen zu suchen. Das Land sah wie das Argivia aus, in dem er aufgewachsen war, und nicht wie Argoth, die Heimat der Elfen. Sein Volk nahm die Insel in Besitz und machte sie - ungeachtet jeglicher Verluste - zu seinem Eigentum. Harbin verließ den Wald, und sofort betrat er harten, 559
ausgetrockneten Boden. Die Strahlen der Sonne trafen ihn wie Hammerschläge. Er blinzelte in das helle Licht, während ihm seine Männer folgten. Hinter ihnen erscholl der vielstimmige Kriegsschrei der Elfen. Wie gehetzt rannten die fünf Piloten zwischen den Baumstümpfen umher und hofften, die rettende Dekkung der Scheiterhaufen zu erreichen, ehe die Elfen sie einholten. In seiner Höhle in Koilos nahm Gix durch die Augen seiner Untergebenen an dem Geschehen teil. Die Frau gehörte zu den Unglücklichen, die die Maschinenprüfung nicht bestanden hatten. Ihre Glieder waren durch Stäbe und Mechanismen ersetzt worden, aber es handelte sich um nachlässige und schlechte Arbeit, die nicht lange gehalten hatte. Jetzt lag sie wie eine fortgeworfene Puppe vor dem Thron, die nutzlosen Glieder verdreht und zerbrochen. Sie hatte so lange geweint, bis Gix es nicht mehr mitanhören konnte und ihr die Lippen zunähen ließ. Dennoch war sie noch zu gebrauchen. Er umklammerte ihren Schädel und zapfte ihren Verstand an. So ergötzte er sich durch den Schleier aus Qual und Schmerz an dem stattfindenden Zweikampf. Zwei der Su-chis kämpften miteinander. Gix beherrschte sie, wie er die Frau beherrschte, aber er tat es aus der Ferne. Lange Jahre der Übung und die Hilfe einiger Maschinen, die er selbst erfunden hatte, verhalfen ihm dazu. Er verfügte über großes Geschick, die Herzen und Seelen der Maschinen gemäß seinen Wünschen zu lenken. Die Su-chis standen sich in zwei Schritt Entfernung gegenüber und hieben aufeinander ein. Der eine hielt eine Kette in der Hand, der andere das Bein eines Su-chis, das er in einem früheren Kampf besiegt hatte. 560
Gix befahl ihnen, einander in Stücke zu schlagen, und - da sie treue Diener ihres Gottes waren - sie folgten ihm ohne Widerspruch oder Beschwerden. Dieser Kampf hatte nichts Anmutiges an sich, da beide ihren Platz beibehielten und weder zurücksprangen noch auswichen. Statt dessen hieben sie unermüdlich aufeinander ein, und die Höhle war erfüllt von dem Krachen und Dröhnen der Schläge. Bei jedem Klirren, wenn Metall auf Metall traf, zuckte die Priesterin zusammen. Hin und wieder flog ein Su-chiteil durch die Luft, und die Frau bäumte sich in den Klauen des Dämons auf. Gix genoß den plötzlichen Adrenalinstoß, der durch den menschlichen Körper strömte. Ohne die Gefühle der Frau wäre der Kampf nichts als ein schlichter Gewaltakt gewesen; Maschine gegen Maschine. Aber durch menschliche Augen betrachtet, nahmen die Su-chis eine besondere Bedeutung an, und Gix liebte dieses Gefühl. Die Kämpfer waren unermüdlich, aber zum Schluß hielt das Metall die Belastung nicht länger aus. Die Kette des einen Su-chis wickelte sich um den Hals des Gegners und riß den Kopf aus der Verankerung. Der aus blauen Drähten bestehende Schädel rollte durch die Höhle und blieb vor dem Thron des Dämons liegen. Die Priesterin bäumte sich auf. Inzwischen fuhr die erblindete Maschine fort, mit dem Bein zuzuschlagen. Der Gegner ließ die Kette fallen und wehrte die Hiebe mit dem erhobenen Arm ab, der sich unter der Wucht des Angriffs verbog. Funken sprühten aus den Gelenken, aber dennoch gelang es ihm, beide Arme zu heben und die Hände in die Brust des Kopflosen zu krallen. Dann zog der Su-chi die Hände langsam auseinander und zerriß die Brust des Feindes. In einem neuerlichen Funkenhagel sank der Beinschwinger in sich zu561
sammen, da ihn nichts mehr aufrechthielt. Die Priesterin zuckte zusammen und wollte sich abwenden, aber Gix hielt ihren Kopf fest und befahl ihr, die Augen offen zu halten, um die Zerstörung der Kämpfenden mitanzusehen. Sekunden später war es vorbei. Der Kettenschwinger kauerte über dem Schrotthaufen, der einst ein Su-chi gewesen war. Gix fühlte den Abscheu und die Furcht der Frau, und sie schmeckten ihm wie köstlicher Wein. Er ließ sie gehen und zog die Klauen zurück, während sie zuckend vor dem Thron liegenblieb. Gix stand auf und ging zu dem Sieger hinüber. Funken sprühten noch immer aus den Gelenken, und die Schläge hatten den Schädel der Maschine eingedrückt. Gix streckte einen Finger aus und stieß ihn gegen die Brust des Su-chis. Die Maschine geriet aus dem Gleichgewicht, taumelte rückwärts und fiel krachend hintenüber. Durch den Aufprall lösten sich Arme und Beine des Wesens, und ein letzter Funkenregen sprühte aus seiner Brust. Dann blieb es reglos liegen. »Unwürdig«, stellte Gix fest. Er sah die beiden vernichteten Maschinen an. Sie waren wie die beiden Brüder: hirnlos, leicht zu beeinflussen und von unermüdlichem Kampfgeist besessen. Zum Schluß war der Sieger eine leichte Beute für Gix. »Bald«, sagte er mit dem lippenlosen Mund. »Sehr bald.« Königin Titania liegt im Sterben, dachte Gwenna. Die Königin starb, und das Land starb mit ihr. Über der Insel hing ein nie zerreißender Dunstschleier, während immer größere Teile des Landes den Brüdern zum Opfer fielen. Urza rückte von der einen Seite vor, Mishra von der anderen. Sie ließen nichts als Vernichtung hinter sich zurück. Mit jeder zertrampel562
ten Lichtung, mit jedem Stück Wald, das die Maschinen verschlungen, und mit jedem Berg, den sie aushöhlten, wurde das Land schwächer. Die Schwäche des Landes schwächte die Königin; die Schwäche der Königin schwächte das Volk. Gwenna fühlte es; das ganze Volk fühlte es. Die Verbindung zum Land, die sanfte und vertrauenerweckende Berührung, die sie tief in ihren Herzen spürten, war verschwunden. Es herrschte Leere. Gähnende Leere. Und der Rauch der Scheiterhaufen lag in der Luft. Titania habe sich in den verstecktesten Winkel ihres Reiches zurückgezogen, um den letzten großen Angriff zu planen, hatte man Gwenna erzählt. Sie hatte Titania kurz vor der Abreise gesehen und wußte, daß die Herrscherin dieses Versteck nicht mehr verlassen würde. Titania war erschöpft und ausgemergelt, denn jeder Schlag gegen das Land traf auch sie. Gwenna wußte, daß die Königin verloren war, und mit ihr verließen auch Gaeas Weisheit und der Schutz der Göttin das Volk. Gwenna wollte nicht zusehen und auf die Nachricht von Titanias Kapitulation warten oder die letzte Schlacht erleben, in der sich die geschwächten Elfen nicht mehr richtig zur Wehr setzen konnten. Bestimmt gelang es ihnen, einen der Eindringlinge zu besiegen, keinesfalls aber beide zur gleichen Zeit. Sie beriet sich mit anderen Elfen, und sie beschlossen, auf eigene Faust loszuschlagen. Dann tauchte die rothaarige Menschenfrau auf und bot ihnen die Möglichkeit, den Feind abzugreifen. Jetzt hatten sie sich an der zerstörten Küste Argoths an einer Stelle versammelt, die von den Feinden nur im Vorüberziehen gestreift worden war. Sie warteten auf einen Feind, um gegen den anderen vorzugehen. Die großen Schiffe aus Holz und Metall umrundeten 563
eine Landzunge. Ihre Maschinen spuckten wahre Funkenregen gen Himmel. Viele Elfen murrten unwillig, und Gwenna vernahm das Wort >abscheulich<. Nun, sie würde sich in den Bauch dieser Scheußlichkeiten wagen, wenn sie die Eindringlinge auf heimischem Boden schlagen konnte. Die großen Schiffe gingen im tiefen Gewässer der Bucht vor Anker, während kleinere Boote zum Strand gerudert wurden. Die rothaarige Frau mit dem seltsamen Stab kam auf die Elfen zu. Eine Schar Krieger in weiten Gewändern folgte ihr. Die Männer wurden von einem alten Menschen mit hagerem Gesicht angeführt. Die Rothaarige verneigte sich tief und sagte in Gwennas Sprache: »Seid ihr für die Reise bereit?« Gwenna sah ihre Gefährten an. Sie wirkten beunruhigt, aber gleichzeitig zornig. Es war gerechter Zorn über die Vernichtung ihrer Heimat. Sie nickte. »Dann steigt schnell ein und kommt an Bord. Solange ihr an der Küste herumsteht, seid ihr ein leichtes Ziel für den Feind. Zum Glück haben die Stürme nachgelassen, und ihr werdet eine sichere Reise haben.« Die Stürme lassen nach, weil Titania im Sterben lag, dachte Gwenna, sagte aber nichts. Statt dessen nickte sie nur und gab den anderen ein Zeichen. Sie ergriffen die Waffen und kletterten in die Boote. Gwenna blieb eine Weile stehen und lauschte dem Abschied der Frau und des alten Mannes. Sie verstand nicht, wovon sie redeten, aber vielleicht waren es Liebende, die sich jetzt trennten. Vielleicht für immer. Der Gedanke gefiel ihr, und sie kletterte in das letzte Boot und tat den ersten Schritt außerhalb des Landes, der sie ins Herz des feindlichen Kontinentes bringen würde. »Es ist sehr gewagt«, meinte Hajar, als die Elfen in ihren lackierten Holzrüstungen in die Boote stiegen. »Alles ist gewagt«, entgegnete Ashnod. »Aber wir 564
müssen Urzas Werften angreifen, ehe er Nachschub kommen lassen kann. Wir haben nicht genug Soldaten, aber diese Waldelfen sind so wütend auf ihn, daß sie die Arbeit für uns erledigen.« »Ihr solltet mitkommen«, sagte der Alte. Ashnod schüttelte den Kopf. »Mishra wird Eure Abreise hinnehmen, aber wenn ich verschwinde, wird er mich verfolgen lassen.« »Er wird wütend sein.« »Er wird sich freuen, wenn Ihr Erfolg habt.« »Ich bringe die Boote zurück.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Warum? Um Vorräte aus Zegon zu bringen? Dort gibt es nichts mehr. Alles wurde geplündert und bereits beim erstenmal hierhergebracht. Wir sind am Ende, Hajar. Jetzt oder nie, lautet die magische Formel.« Hajar schwieg nachdenklich. Schließlich sagte er: »Ich habe Eure Denkweise vermißt. Die Bruderschaft des Gix ist nicht halb so beruhigend.« »Wenn Mishra alles herausfindet, werde ich ihm sagen, es sei mein Einfall gewesen, und Ihr hättet nur darauf bestanden, den Überfall anzuführen, damit nichts mißlingen könne.« Hajar brachte ein winziges Lächeln zustande. »Es war mir eine Ehre, mit Euch zusammenzuarbeiten. Ihr denkt wie ein Mann.« Ashnod umklammerte den Stab fester, zwang sich aber zu einer höflichen Antwort: »Ich danke Euch, Hajar. Ich nehme es als das Kompliment, das Ihr beabsichtigt habt.« Die Boote legten ab, und Hajar war fort. Ashnod beobachtete die blinkenden Lichter der Schiffe, bis sie hinter der Landzunge verschwanden. Dann machte sie sich auf den langen Rückweg zum Lager und fragte sich, ob Mishra überhaupt merken würde, daß die Schiffe und Hajar nicht mehr da waren. 565
»Er schickt mich heim«, sagte Harbin und ließ sich auf einem Klappstuhl gegenüber Tawnos' Stuhl nieder. Der Wissenschaftler sah auf, sagte aber kein Wort. »Er behauptet, ich werde in Penregon nötiger gebraucht als hier«, fuhr der Jüngere fort. Tawnos, der emsig arbeitete, zog eine Schraube fest. »Er hat recht.« »Natürlich hat er recht!« fauchte Harbin. »Er hat immer recht! Das ist es doch, was einen Verteidigungsminister ausmacht, nicht wahr? Er hat immer recht.« Tawnos stand auf und betrachtete sein Werk. »Sieht gut aus. Was meinst du?« Harbin sah sich Tawnos' Schöpfung an. Sie ähnelte einer Kiste, war sieben Fuß lang, drei Fuß hoch und drei Fuß tief. Eigentlich wirkte sie unscheinbar, bis auf die Tatsache, daß die Kiste aus Metall bestand und einen schweren Deckel hatte. »Sieht wie ein Sarg aus«, stellte er fest. Tawnos trat einen Schritt zurück und starrte sein Werk lächelnd an. »Ja, ich glaube, du hast recht. Um so besser.« »Was bewirkt es?« fragte Harbin, um sich vom Ärger über seinen Vater abzulenken. »Als ich Mishras... Gast war, hielt man mich in einer Zelle fern von allen anderen gefangen.« Während er sprach, bewegte Tawnos die rechte Hand hin und her, als müsse er einen alten Schmerz beseitigen. »Ich habe lange nachgedacht und hatte diesen Einfall. Es funktioniert auf die gleiche Weise wie die alten Amulette, die wir in Kroog hatten, und ähnlich wie der Stab Ashnods.« »Aha. Und was ist damit?« »Dieser Sarg erhält einen Körper im Ruhezustand. Das heißt: im Schlaf, solange die Kraftsteine im Innern funktionieren oder bis der Deckel geöffnet wird.« Tawnos warf Harbin einen Blick zu. »Weißt du, ich habe 566
überlegt, was dein Vater mit seinem Bruder anstellt, wenn er ihn irgendwann besiegt. Ich denke, er wird es nicht über sich bringen, ihn zu töten. Er kann ihn aber auch nicht am Leben lassen. Das hier« - er klopfte auf den schweren Sargdeckel - »ist die dritte Möglichkeit.« Harbin lächelte; es war ein Lächeln voller Zuneigung. »Onkel Tawnos, du erfindest die Antwort auf eine Frage, die noch gar nicht gestellt wurde. Du gehst davon aus, daß wir Mishra besiegen und ihn lebend gefangennehmen.« »Natürlich werden wir siegen«, erklärte Tawnos. »Wir sind nicht so weit gereist, um aufzugeben.« »Wer weiß.« Tawnos sah ihn erstaunt an. »Zweifelst du an unserem Sieg?« Harbin schüttelte den Kopf. »Nein, aber wenn ich mit Vater rede...« Wieder schüttelte er den Kopf. »Er wirkt, nun, nicht mutlos, aber erschöpft und müde.« »Erschöpft«, stimmte Tawnos zu. »Er hat einen weiten Weg hinter sich, der bald zu Ende ist. Ich glaube, er spürt es. Das Ende ist nahe - so oder so.« »Und wenn das Ende kommt, will ich dabei sein. So oder so«, entgegnete Harbin. Tawnos schüttelte den Kopf. »Die Elfen haben Schiffe in die Hände bekommen und ziehen raubend und mordend die Küste entlang. Wir brauchen einen starken Anführer für die Truppen, die ihnen Einhalt gebieten sollen. Dieser Anführer bist du.« Harbin schwieg. »Du wolltest in den Kampf ziehen. Dafür zahlst du den Preis, den jeder Führer zahlen muß. Du mußt deine Truppen anführen, auch wenn du viel lieber etwas anderes tätest.« Harbin nickte zögernd. »Du und Vater, ihr habt bereits darüber gesprochen, stimmt's?« Tawnos zuckte die Achseln. »Er bat mich um Rat.« 567
Harbin sah ihn prüfend an. »Wirst du dich um ihn kümmern? Um Vater, meine ich. Um sein Wohlergehen.« »Das tue ich doch immer«, antwortete der Gelehrte. »Nein, diesmal meine ich etwas Besonderes. Als wir uns verabschiedeten, sagte er etwas Beunruhigendes. Er sagte: >Richte deiner Mutter aus, sie solle mich in Erinnerung behalten, wie ich zu sein versuchte, und nicht, wie ich in Wirklichkeit war.< Er geht davon aus, diese Zeit nicht zu überleben.« Harbin sah zu Boden. Tawnos ergriff das Wort: »Ich kümmere mich um ihn. Das tue ich seit Jahren.« Harbin seufzte. »Ich habe ihm gesagt, daß ich mich irrte.« »Weil du an seiner Seite bleiben wolltest?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Vor langer Zeit fragte er mich, was ich von der Arbeit der Gelehrten der Elfenbeintürme hielte. Von ihrer Magie. Ich antwortete ihm, daß ich nicht daran glaubte. Aber jetzt, nachdem ich die Elfen und ihre Königin erlebt habe, die ohne die Hilfe irgendwelcher Maschinen die wunderbarsten Dinge vollbringen, bin ich mir nicht mehr sicher. Ich fühle mich verantwortlich für die Tatsache, daß er nicht an diese Magie glaubt.« »Ich glaube kaum, daß Urza jemals etwas glaubte, woran er nicht selbst völlig überzeugt war«, beruhigte ihn Tawnos. »Vergiß nie: Es gibt immer etwas, das du noch nicht weißt und lernen solltest.« »Ist das der Grund dafür, daß du nach all diesen Jahren immer noch mit Vater zusammen bist?« »Wahrscheinlich. Ich habe von vielen Leuten viel gelernt. Von Anfang an ging ich davon aus, wenig zu wissen, und war deshalb bereit, anderen zuzuhören und zu lernen.« Harbin mußte lächeln. Tawnos durchquerte das Zelt und wühlte in einer Truhe. Schließlich zog er einen 568
kurzen Stab heraus, der ungefähr so lang wie Harbins Unterarm war und eine dicke runde Spitze von der Größe eines Apfels besaß. »Hier«, meinte er. »Ein Abschiedsgeschenk.« »Was ist das?« fragte Harbin. »Ein Gerät, das ich vor langer Zeit erfand. Es verbirgt den Träger vor den Sensoren der Artefaktkreaturen. Das ist der Prototyp. Bei großen Wesen scheint er nicht zu funktionieren, hilft dir aber, wenn Transmogranten in der Nähe sind.« Harbin grinste. »Du willst mich immer noch beschützen, wie? Nein, behalt ihn nur. Du brauchst ihn bestimmt nötiger. Wenn ich bedenke, wohin ich reise...« »Also wirst du gehen?« Harbin streckte die Hände in gespielter Demut aus. »Selbstverständlich!« Wieder grinste er. »Aber sobald diese streunenden Elfen besiegt sind, kehre ich zurück. Darauf kannst du dich verlassen.« »Daran zweifele ich keine Sekunde«, meinte Tawnos. »Schließlich bist du der Sohn deines Vaters.« »Natürlich bin ich das!« rief Harbin vergnügt. »Wer sollte ich sonst sein?« Weder erkundigte sich Mishra nach Hajar noch nach den Schiffen oder gar nach Ashnod. Statt dessen drang er immer tiefer in das Herz der Insel vor. Alles, was sich nicht in den Gießereien und Schmieden verwenden ließ, wurde verbrannt oder vernichtet, und das ganze Land war mit Scheiterhaufen übersät. Dichter Rauch hing über den Orten, an denen einst die Wälder Argoths gestanden hatten. Mishras Armee bewegte sich so gleichmäßig und unaufhaltsam wie eine gut geölte Maschine voran, die alles niedermäht, was sich ihr in den Weg stellt. Schließlich ließ er Ashnod zu sich rufen. Die Priester 569
des Gix hingen um den Thron herum wie Aasgeier, die darauf warten, daß der Löwe seine Beute reißt. »Du hast dich mit den Eingeborenen unterhalten«, sagte der Quadir, ohne ihre Verneigung abzuwarten. Ashnod warf den grinsenden Mönchen einen Blick zu und antwortete: »Selbstverständlich. Ich versuchte, sie zu einem Angriff auf Urzas Truppen zu überreden. Druidenpriester leben unter den Elfen, die...« Mishra unterbrach sie, als hätte sie nach dem Wort >Selbstverständliche nicht weitergesprochen. »Denkst du, sie könnten die Armee meines Bruders besiegen?« Ashnod sah ihn prüfend an, aber seine Augen lagen im Schatten. »Nein. Das glaube ich nicht«, sagte sie einfach. »Aber sie könnten ihn schwächen«, meinte der Quadir. »Ja. Was ist überhaupt los?« Mishra riß den Kopf hoch, und sie erkannte das Feuer in seinen Augen. »Urzas Hauptlager liegt sieben Tagesreisen entfernt. Eine Armee Elfen marschiert auf ihn zu; sie sind zwei Tagesmärsche entfernt. Wenn die Elfen meinen Bruder ausreichend schwächen, kann ich ihn endgültig zermalmen. Deine Meinung?« »Urza besitzt viele Maschinen«, erklärte Ashnod, hielt aber inne, als sie sein böses Gesicht bemerkte. »Ja, wenn die Elfen ihn angreifen, wird er geschwächt. Im offenen Kampf wird er jedoch den Sieg davontragen.« »Danke«, sagte Mishra und wandte sich ab. »Du kannst gehen.« »Hoheit«, begann Ashnod, »wenn es zur Schlacht kommt, müssen wir einen Angriffsplan aufstellen.« »Ist bereits geschehen«, erwiderte Mishra, und die Priester grinsten hämisch. Ashnod wußte, wer ihn beraten hatte. »Wir ziehen unsere Truppen zusammen, folgen den Elfen und halten uns bereit, nach ihnen anzugreifen. Du kannst gehen.« 570
Ashnod warf den Priestern noch einen Blick zu, verneigte sich und verließ den Raum. Dabei murmelte sie unverständliche Worte vor sich hin. An jenem Abend fand im Quartier der Gixianer eine Feier statt. Ein großes Lagerfeuer wurde entzündet, und die Luft hallte von unzähligen Liedern und Gebeten wider. Ashnod überlegte, ob sie Mishra noch einmal aufsuchen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Die Mönche hatten sicherlich einen der ihren zurückgelassen, um den Quadir im Auge zu behalten. Die Rothaarige saß auf ihrem Bett und hielt das Bündel mit dem golgothianischen Sylex in Händen. Anscheinend würde sie keine Aufgabe bei der Schlacht haben. Und - einerlei, was später auch geschah - nie wieder eine Rolle im Leben des Quadirs spielen. Eine Weile starrte sie nachdenklich in die Dunkelheit. Außer dem Jubel der Gixianer war nichts zu hören. Ashnod würde etwas unternehmen, ob es Mishra behagte oder nicht. Sie zog ein Pergament und einen Stift aus ihrem Bündel und machte sich daran, einem alten Freund einen Brief zu schreiben. Die Elfen hatten nie die geringste Chance, dachte Tawnos traurig. Aller Mut, alle Tapferkeit und alle Hingabe der Welt nützten nichts, wenn man nur mit einfachen Rüstungen und schlichten Waffen gnadenlosen Maschinen und hirnlosem Gestein gegenübertrat. Sie kamen in Wellen - Elfen, Waldgeister, Zentauren und Baumwesen. Manche ritten auf riesigen Wildkatzen, andere kommandierten ganze Schneckenherden, die sich an die Beine der Artefakte klammerten und ihre Energie aufsaugten. Der Himmel bebte, und Blitze zuckten auf die Erde nieder, über die Tausende von Füßen stürmten. Eine gigantische Gestalt überragte das Getümmel. Sie war das Sinnbild der Wälder von Argoth. Ihr Kör571
per hatte menschliche Form, aber die wallende Mähne bestand aus Ästen und Zweigen, der Leib aus lebendigem Holz, das die Form gewaltiger Muskelstränge trug. Das Wesen hielt ein steinernes Schwert in Händen, das aus dem Herzen des Gebirges geschmiedet worden war. Tawnos erinnerte sich an Harbins Worte über die Magie der Elfen und begriff, daß die Elfen die Kraft des Waldes genutzt und sich zu Diensten gemacht hatten. Urzas Truppen waren zur Verteidigung bereit: Rächer, Wächter, Tetravis, Triskelions, Soldaten mit Insektenköpfen, ausgerüstet mit den neuen Stahlwaffen, und Lehmstatuen. Als die erste Welle Angreifer über sie hinwegrollte, wurde eilends Verstärkung angefordert. Die Elfen wurden abgeschlachtet. Für jede gefallene Maschine ließen dreißig Elfen ihr Leben. Für jeden abgeschossenen Ornithopter starben fünfzig Kobolde. Das Baumvolk schrie vor Qual, als es den Flammen zum Opfer fiel. Dennoch rückten immer mehr Elfen nach. Tawnos hielt sich in den ersten Reihen der Verteidiger auf und bemerkte, das sie schwächer wurden. Schließlich mußten sie dem unermüdlichen Ansturm weichen. Tawnos schrie nach Verstärkung, aber die Hilfstruppen kämpften schon darum, die Flanken zu halten. Wenn die Mitte nicht standhielt, würde die ganze Armee zusammenbrechen. Lautes Donnern erklang, und der Erdboden bebte. Die ersehnte Verstärkung war eingetroffen. Urza besaß einen eigenen Titanen, der vor dem Verrat der Zwerge in den Bergen von Sardia angefertigt worden war. Es handelte sich um einen gewaltigen Riesen aus Stein und Metall, der hoch über allen Lebewesen aufragte. Ein einziger Schritt maß hundert Fuß; 572
auf seinem Kopf nisteten Krähen und Aasgeier. Man hatte ihn auf einer großen Barke nach Argoth gebracht, und er hatte gute Dienste als Leuchtturm getan, um die übrigen Schiffe durch die Stürme zu lotsen. Jetzt traf der Riese auf das einzige Wesen, das ihm an Größe ebenbürtig war. Das Baummonstrum brüllte herausfordernd und stürmte auf den schweigenden Gegner zu. Die beiden trafen mit Urgewalt aufeinander und vertrieben die kleineren Lebewesen und Maschinen. Die ersten Reihen der Kämpfenden auf beiden Seiten brachen auseinander, um den Giganten Platz zu machen. Alle Elfen und Maschinen, die zu langsam waren, wurden rücksichtslos zertreten. Das steinerne Schwert fuhr durch die Luft und vergrub sich tief in der Seite des Feindes. Die Kreatur schauderte, und Metallplatten fielen krachend zu Boden. Der Waldriese machte sich zum nächsten Schlag bereit, aber diesmal war der Gegner schneller. Er packte den Arm des Baumwesens und riß ihn ohne große Anstrengung aus dem Gelenk. Es hörte sich an, als schriee der ganze Dschungel auf, als der abgetrennte Arm in hohem Bogen über das Schlachtfeld flog. Obwohl der Baum schwer gelitten hatte, wich er nicht zurück. Er holte mit dem anderen Arm aus. Die riesige Faust aus Holz und Stein prallte donnernd gegen die Schläfe des Kolosses, und die Hälfte seines Kopfes zersprang in tausend Stücke. Allerdings brauchte der Koloß den Kopf weder zum Denken noch zum Handeln. Eine Hand packte den Baumriesen an der Brust. Die andere holte aus und schlug zu. Wie ein Rammbock bohrte sie sich in den Oberkörper des Feindes. Der Körper des Baumes explodierte förmlich. Ein Regen aus Splittern mähte Soldaten im Umkreis von 573
hundert Schritt Entfernung nieder. Die Beine des Riesen spreizten sich, der Kopf fiel zurück, und schließlich brach er schreiend zusammen. Das brachte die Elfen zur Verzweiflung. Der Angriff brach mit dem Riesen zusammen, und sie flohen in wilder Hast. Die meisten ließen sogar die Waffen fallen. Jene Maschinen, die dazu in der Lage waren, verfolgten die Flüchtenden und töteten sie ohne Gnade. Dennoch hatte der Waldriese nicht vergebens gekämpft, da sein Gegner nicht in der Lage war, sich vom Kampf zu erholen. Der Hieb des Schwertes hatte die Seite und einen Arm schwer beschädigt, der polternd zu Boden fiel und dabei fast ein kleines Erdbeben verursachte. Funken sprühten aus den Gelenken, als die Statue langsam in die Knie sank und endlich quer über den kleinen Fluß fiel, der durch das Tal strömte. Das Gewässer war rot von Blut und schwarz von Öl gefärbt. Das ganze Tal erzitterte, als der Titan mit dem Gesicht nach unten aufschlug. Tawnos war bedrückt. Es war nicht die Schuld der Elfen, daß sie für ein Land kämpften, das ihnen entrissen wurde. Sie waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Wäre die Insel geheim geblieben, wäre das alles nicht geschehen. Doch durch die Entdeckung des Landes wurden sie in den Mahlstrom des Krieges getrieben. Er schüttelte den Kopf, als die letzte Gruppen Elfen und Zentauren sich auf einem Hügel aus umgestürzten Triskelions versammelten, wo sie schon bald von Soldaten niedergemetzelt wurden. Es blieb nichts mehr zu tun, als das Schlachtfeld aufzuräumen. Die Leichen wurden eingesammelt und verbrannt, die Artefakte untersucht und repariert. Für den Koloß kam jede Hilfe zu spät, aber die Metallplatten des Rumpfes konnten noch zum Ausbessern anderer Maschinen verwendet werden. Abends traf Urza mit weiterer Verstärkung und 574
zahlreichen Wissenschaftlern und Mechanikern ein, die bei den Reparaturen behilflich waren. Obwohl die Elfen fast vollständig vernichtet waren, hatte der Angriff die Argivianer stark geschwächt. Dann traf ein Späher mit schlimmen Nachrichten ein. Fünf Tagesmärsche westlich von hier war Mishra gesehen worden, der mit seiner Armee auf sie zu kam. Tawnos fand, sie sollten sich in die Festungen entlang der Küste zurückziehen, aber Urza wollte nichts davon hören. »Baut sämtliche Festungen innerhalb von vier Tagesmärschen Entfernung ab«, befahl er. »Wir kämpfen genau hier.« »Wir sind angeschlagen und erschöpft«, widersprach Tawnos. »Unsere Maschinen sind angeschlagen, aber sie können gar nicht müde sein«, entgegnete Urza. »Sämtliche nicht kampffähigen Lebewesen können wir in Sicherheit bringen. Die kommende Schlacht soll an einem von uns bestimmten Ort und einer uns genehmen Zeit stattfinden.« Tawnos sah Urza prüfend an und merkte, daß Harbin recht hatte. Urza war entschlossen, gegen seinen Bruder zu kämpfen, gleichgültig, mit welchem Ergebnis. Der Späher brachte auch eine Botschaft für Tawnos. Er teilte ihm nicht mit, wie er sie erhalten hatte, aber sobald Tawnos die Handschrift sah, kannte er den Absender. »Etwas Wichtiges?« erkundigte sich Urza. »Hat Harbin die Feinde besiegt?« »Nur die Nachricht eines alten Freundes«, erklärte Tawnos mit finsterer Miene. Urza beugte sich bereits über die Landkarten der Insel und nickte geistesabwesend. Tawnos steckte den Brief ein, und Urza erwähnte die Botschaft nicht mehr. 575
»Wenn sie fünf Tage brauchen, um hierher zu gelangen, greifen sie am sechsten an. Das ist der letzte Tag des Jahres«, meinte Tawnos nach einer Weile. »Wenn wir siegen, beginnt das neue Jahr mit weltweitem Frieden.« »Der letzte Tag«, murmelte Urza. »Und am letzten Tag sind wir gleich.« »Wie bitte?« Urza schüttelte den Kopf. »Bloß eine alte Geschichte. Je älter man wird, um so häufiger weilt man in der Vergangenheit. Das bleibt vom Leben: alte Erinnerungen und Reue.« In Koilos vernahm Gix den Gesang seiner Priester und wußte, daß es an der Zeit war, nach Argoth zu gehen. Alles paßte zusammen. Ein Bruder war verwundet, und der andere machte sich zum Angriff bereit. Der Überlebende würde schwer verletzt werden und nicht in der Lage sein, sich zu wehren. Keiner der beiden war auf die Überraschung gefaßt, die Gix für sie bereithielt. Der Dämon lächelte, als sich ein kleiner Lichtschein unweit seines Thrones zeigte. Er wuchs, bis er die Form einer Scheibe angenommen hatte und wie ein leuchtender See aussah, der aufrecht im Raum stand. Der Geruch von Rauch erfüllte die Höhle, und man vernahm das Knarren von Getrieben. Gix schaute sich suchend um und erblickte die Überreste der zerschmetterten Su-chis. Bald würde er im Triumph zurückkehren. Er sah zu seiner Beobachterin hinüber, der armen Priesterin, deren mechanische Glieder ihr den Dienst verweigert hatten. Sie schaute ihn flehend an, da sie nicht mehr sprechen konnte. Die Scheibe hatte fast die vollständige Größe erreicht, und Gix blieb nicht mehr viel Zeit. Schnell trat 576
er auf sie zu und legte beide Hände um ihren Kopf. Seine Klauen bohrten sich in den Schädel, durch die Knochen und tief in das Gehirn. Er öffnete jede Synapse und füllte sie mit dem heiligen Feuer. Sie zuckte zusammen und wand sich unter seinen Händen. Dann lag sie still. Gix löste seinen Griff, und sie sackte auf dem Boden zusammen - eine Marionette, deren Fäden gekappt worden waren. Gix fiel auf, daß ein Lächeln auf den zusammengenähten Lippen lag. Er erwiderte es und trat durch die geöffnete Pforte in den letzten Kampf zwischen den beiden Brüdern.
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KAPITEL 33
Tawnos und Ashnod Die
letzte Schlacht begann noch vor Morgengrauen, als der bewölkte Himmel erst einen Hauch von Helligkeit erahnen ließ. Die Mechaniker auf beiden Seiten überprüften ihre Artefakte, und das Dröhnen der Antriebe diente den Armeen als Wecksignal. Immer mehr Geräusche wurden laut; Flügel setzten sich in Bewegung, Zahnräder surrten, und Beingelenke wurden noch einmal überprüft. Im ersten Licht des neuen Morgens stürmten die Drachenmaschinen los. Wie ein gewaltiger Keil hielten sie auf die Reihen der Argivianer zu. Hinter ihnen marschierten zwei aus Transmogranten bestehende Flanken, und die Fallajisoldaten in der Mitte trugen die mit Spitzen versehenen Rüstungen Ashnods. Die Nachhut bildeten Sandwühler und andere Kriegsmaschinen, die zum Schutz der Flanken vorgesehen waren. Ein Stück hinter ihnen erhob sich ein Dutzend geflügelter Drachenmaschinen, deren wilde Schreie und brennender Atem die Luft erfüllte. Urza war davon ausgegangen, daß sein Bruder einen Frontalangriff durchführen würde, da er annahm, die Argivianer seien nach dem Kampf gegen die Argothianer geschwächt. Aus diesem Grund stellte er Tawnos' bewegliche Festungen, die Triskelions, in die Mitte. Von Urza erfundene Kriegsmaschinen unterstützten sie zu beiden Seiten. Die restlichen Truppen teilte er in kleinere Gruppen auf, die aus Lehmstatuen,
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Rächern und Wächtern bestanden. Neue Lehmstatuen, die ihre äußere Form verändern konnten, stellte er an den Flanken auf. Der Himmel war schwarz von Ornithoptern und Ornibombern, die von Tetravis und Uhrwerkvögeln beschützt wurden, welche in dichten Schwärmen auf die Drachenmaschinen zuflogen. Mit einem vielstimmigen Schrei und metallenem Krachen trafen die Armeen aufeinander. Die auf dem Boden befindlichen Drachen stürzten sich auf die Triskelions und setzten ihnen mit Flammen und hämmernden Schlägen zu, aber die riesigen Festungen wichen keinen Schritt zurück. Urzas Kriegsmaschinen wurden von den Pranken der Drachen zermalmt, hielten sie aber geraume Zeit auf, während sich Rächer und Lehmstatuen an ihre Flanken klammerten und versuchten, die Metallhaut zu durchbrechen, um an die Antriebe im Innern zu gelangen und sie zu zerstören. Das Gebrüll der Drachen war ohrenbetäubend, und die Transmogranten fielen über Urzas Flanken her. Sie stürzten sich wie fleischfressende Affen auf die Lehmgestalten, aber die neuen Statuen, die ihre Form verändern konnten, waren zu stark für die wiederbelebten Menschen und Elfen. Altes Blut und frisches Öl spritzen über die Kämpfenden hinweg, die sich ineinander verkrallten. Die Uhrwerkvögel griffen die Flugdrachen an und suchten nach Schwachstellen, die ihnen ein Eindringen gestatten würden. Sie waren ausgerüstet, um im Körper der riesigen Maschinen Sprengladungen-abzulegen. Hin und wieder erscholl ein metallischer Schrei, wenn ein Ornibomber oder ein Drache Flügel oder Gliedmaßen verlor und in die Tiefe stürzte. Die gewaltigen Maschinen fielen kopfüber in die brodelnde Masse am Boden und zerquetschten Freunde und Feinde gleichermaßen. 579
Weit rechtsaußen führte Tawnos eine Horde yotianischer Soldaten an. Sie waren schwerbewaffnet und sahen mehr wie Käfer denn wie Menschen aus, als sie versuchten, sich einen Weg in Mishras hintere Reihen zu bahnen. Tawnos hielt den Schutzstab in die Höhe, den er vor einigen Tagen Harbin angeboten hatte. Keiner der Kämpfenden schien ihn und seine Truppe zu beachten. Vor ihm entstand Unruhe, und Tawnos brüllte einen Befehl. Die Soldaten bildeten einen Keil hinter seinem Rücken und hoben die Klingen aus gehärtetem Glas, die selbst durch Stahl schnitten. Der Gelehrte gab den Befehl zum Angriff, und die Soldaten marschierten vorwärts. Er vernahm das Surren der Antriebe und das Klicken der Gelenke, als sie nach Opfern Ausschau hielten. Eine Gruppe Mönche stand ihnen gegenüber, und die Soldaten fielen wie ein Rudel Wölfe über sie her. Die unzerbrechlichen Klingen hoben und senkten sich, und die Gixianer sanken schreiend und kreischend zu Boden. Glas traf auf Metall, und zuerst nahm Tawnos an, die Priester trügen Rüstungen unter den Kutten. Als er näher kam, erkannte er jedoch, daß die Gixianer zahlreiche Körperteile durch Metallgliedmaße ersetzt hatten - große, unförmige Prothesen, die sie an flinken Bewegungen hinderten und so zu leichten Opfern machten. Tawnos starrte auf die Leichen hinab und fragte sich, ob diese Veränderungen freiwillig vorgenommen worden waren. Er glaubte, Ashnods Handschrift darin zu sehen, aber bisher hatte sie niemals lebendige Menschen verändert, sondern sie nur gequält. War es etwa eine neue Erfindung Mishras? Von diesem Augenblick mißlang alles. Das vertraute Surren eines yotianischen Soldaten er580
klang hinter Tawnos' Rücken, und er drehte sich um. Der Soldat hatte die Klinge zum Schlag erhoben. Der Gelehrte wich zurück und stolperte über den Leichnam eines Gixianers. Der Sturz rettete ihm das Leben, denn der Hieb fuhr durch die Luft, wo er Sekunden zuvor gestanden hatte. Ein zweiter Soldat stellte sich vor Tawnos, um ihn zu verteidigen, und die beiden Maschinen schlugen wie wild aufeinander ein. Langsam und mit schmerzenden Knien erhob sich Tawnos. Er schaute sich um. Sämtliche yotianischen Soldaten bekämpften einander. Die Glasklingen fanden ihr Ziel und schälten die schweren Rüstungen mühelos von den Körpern. Etliche fielen zu Boden, aber er vermochte nicht zu sagen, ob es sich um Angreifer oder Verteidiger handelte. Tawnos brüllte das Kommando zum Aufstellen, aber niemand beachtete ihn. Er gab den Befehl, den Kampf abzubrechen - ohne Erfolg. Schließlich brüllte er ihnen zu, sofort die Antriebe abzuschalten, aber wieder hörten sie nicht zu. Diejenigen, die noch auf den Beinen waren, machten sich auf die Suche nach neuen Gegnern. Tawnos trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Schließlich rannte er auf die Heeresmitte zu. Zwei Soldaten folgten ihm, gaben aber schnell auf, um gegeneinander zu kämpfen. Wohin er sich auch wandte, überall geschah das gleiche. Die Maschinen auf beiden Seiten hatten ihre Befehle vergessen und schlugen wahllos um sich, einerlei, wen sie vor sich hatten. Tawnos erblickte eine Truppe Lehmstatuen im Kampf gegen die Rächer, die mit aller Kraft den Lehm abrissen und fortschleuderten. Am Horizont hatten zwei Drachenmaschinen die Hälse wie paarungsbereite Gänse ineinander verschlungen. Beide Mäuler waren weit auf581
gerissen, und ein jeder versuchte, den Kopf des Gegners abzureißen. Die Triskelions eröffneten das Feuer auf Urzas Kriegsmaschinen und aufeinander, und überall stieg Rauch von den brennenden Gerüsten auf. Die Uhrwerkvögel griffen die Ornithopter an, und die nadelspitzen Schnäbel zerrissen die Segeltuchflügel. Tawnos stolperte über die Leichen zahlreicher Menschen: Mechaniker, Gelehrte und Fallajikrieger. Die Menschen waren die ersten, die unter dem Ansturm der Maschinen gefallen waren. Tawnos hörte, wie jemand seinen Namen rief, und er sah rotes Haar über einem schwarzen Umhang. Wieder rief Ashnod nach ihm, und er wartete, bis sie über den Körper einer Lehmstatue geklettert war. Sie hielt ihren Stab in der Hand und hatte den Rucksack bei sich, den sie auch am gestrigen Abend bei sich getragen hatte. »Ist das dein Werk?« schrie Tawnos, um den Schlachtenlärm zu übertönen. In hundert Schritt Entfernung benutzte eine kopflose Drachenmaschine den langen Hals wie eine Peitsche, um einen Triskelionturm zu zerstören. Ashnod schüttelte heftig den Kopf und brüllte zurück: »Nein, Mishras Maschinen sind auch betroffen. Vielleicht liegt es an den Befehlen.« Jetzt widersprach Tawnos: »So etwas ist noch nie passiert. Vielleicht haben die Steine der Brüder - der Machtstein und der Schwachstein - etwas damit zu tun! Was meinst du?« »Das weiß ich nicht! Anscheinend hat plötzlich alles, was einen Kraftstein besitzt, einen eigenen Willen!« Ganz in der Nähe explodierte etwas. In viel zu großer Nähe. Der Mann und die Frau kauerten deckungsuchend am Boden, als sich ein riesiger Feuerball zum Himmel emporhob, während der Boden unter ihren Füßen erbebte. 582
»Das war eine von Mishras Kriegsmaschinen!« schrie Ashnod. »Ich kehre in unser Lager zurück!« rief Tawnos. »Kommst du mit?« »Ich dachte schon, du würdest nie mehr fragen!« entgegnete sie. Die beiden eilten davon, als eine Drachenmaschine wahrscheinlich eine der alten, die schon in Korlinda dabeigewesen war - hinter einem Hügel auftauchte. Sie starrte auf die beiden Menschen herab, als handle es sich um lästige Insekten. »Kennst du ein Kommando, das sie befolgt?« fragte Tawnos. »Denkst du etwa, sie würde auf mich hören?« Der Drache zögerte und wandte sich schließlich ab, um sich wieder ins Kampfgetümmel zu stürzen. »Hast du das fertiggebracht?« schrie Tawnos, aber Ashnod schüttelte den Kopf. Eine dritte Stimme mischte sich ein. »Nein, ich habe es ihr befohlen.« Eine Gestalt trat vor, und Tawnos erblickte eine Kreatur, die aus einem Alptraum zu stammen schien. Das Wesen war so groß wie er selbst. Aus dem knochigen Schädel wuchsen lange, tief herabhängende Kabel heraus, die aus eigener Kraft zuckten und sich wanden. Der Körper bestand aus Streben und Drähten und wurde von Sehnen und Fleischfetzen zusammengehalten. Eine ganz und gar abschreckende, sehr lebendig wirkende Maschine stand vor ihnen. »Dämon!« schrie Ashnod entsetzt. Das Wesen lachte abgehackt und knarrend. »So nennst du jemanden, der dich gerade vor den Kreaturen deines Meisters rettete? Ja, ich beherrsche die Maschinen, auch wenn eure Herren dazu nicht in der Lage sind. Ich kann die meisten dieser Wesen 583
steuern, und wenn sie das allgemeine Gemetzel beendet haben, nehme ich die stärksten von ihnen mit nach Phyrexia.« Ashnod ließ den Rucksack fallen und umklammerte den Stab mit beiden Händen. »Verschwinde!« rief sie. Der Dämon lachte noch einmal. »Es ist an der Zeit, die Spielzeuge zusammenzupacken und heimzukehren. Heute werden Urza und Mishra sterben, und mit ihnen gehen ihre Hoffnungen und ihr Erbe zugrunde.« Er legte eine Pause ein und fuhr nach geraumer Zeit fort: »Und natürlich auch ihre Gehilfen.« Der Dämon setzte zum Sprung an, aber Ashnod war schneller. Sie riß den Stab hoch, und die vielfarbigen Kraftströme schossen aus dem Schädel an der Spitze der Waffe. Der Angreifer geriet ins Taumeln, blieb aber auf den Beinen. »Du bist stärker geworden!« knurrte er mit gepreßter Stimme. »Ich habe fleißig geübt«, antwortete Ashnod. Tawnos fiel auf, daß sie die Zähne fest zusammenbiß. »Tawnos!« rief sie ihm zu. »Nimm den Rucksack an dich!« Tawnos zog statt dessen seine eigene Waffe aus dem Gürtel. »Nein!« schrie sie. »Er gehört mir! Nimm den Rucksack! Er enthält eine Schüssel. Sag Urza, er soll sie mit den Erinnerungen an das Land füllen. Hast du verstanden? Mit Erinnerungen an das Land!« Tawnos rührte sich nicht, und Ashnod fluchte. »Urza braucht sie, wenn dieses Ding bereits hier ist!« Der Dämon hatte sich wieder in der Gewalt und trat einen Schritt vor. Er kämpfte gegen den Kraftstrom aus Ashnods Stab an. Tawnos sah, wie sein Arm immer länger wurde. Die Finger wurden zu Krallen. Der Schweiß lief in Strömen über Ashnods Gesicht. 584
»Lauf, Entlein!« rief sie und konzentrierte sich mit aller Kraft auf ihre Waffe. Der Dämon wich taumelnd zurück. Sekunden später kam er wieder näher. Tawnos ergriff den Rucksack und rannte auf das Lager zu. Hinter ihm stieß der Dämon einen wütenden Schrei aus, und Ashnod fluchte laut. Dann gingen ihre Stimmen im Lärm der Schlacht unter.
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KAPITEL 34
Urza und Mishra Urza war allein im Lager. Seine Gehilfen und Leibwächter waren geflohen, hatten sich den Truppen angeschlossen oder waren im Kampf umgekommen. Unter ihm, im rauchverhangenen Tal, blickte er auf ein Meer der Vernichtung. Die meisten kleinen Maschinen waren zerschmettert worden; nur die großen Monster kämpften noch gegeneinander. Ölgetränkter Qualm bedeckte den größten Teil der Insel, und er vermochte nicht bis zum anderen Ende des Tales zu sehen. Urza nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Soviel Aufwand, dachte er, für so wenig Erfolg. Er wußte, daß Tawnos irgendwo auf dem Schlachtfeld weilte, aber bisher war er noch aus jeder Schlacht zurückgekehrt. Wenigstens war Harbin in Sicherheit und auf dem Weg nach Penregon. Urza wußte, daß er sich zurückziehen und verschwinden sollte. Zurückziehen - aber wohin? Die Festungen standen leer; alle Soldaten waren in diese Schlacht gezogen. In den Vereinigten Königreichen gab es keine Krieger mehr, auf die er zurückgreifen konnte. Zwar waren die Werften noch in Betrieb, aber kein Land besaß mehr Holz oder Erz, um neue Schiffe zu bauen. Kopfschüttelnd blickte er auf das Tal hinab. Er dachte an Lorans Notizen, und er dachte an Harbin. Der Junge hatte begriffen, wozu die Eingeborenen dieses Landes in der Lage waren, und glaubte, daß es 586
mächtigere Kräfte als Maschinen und Wissenschaft gab. Vielleicht hatte er recht. Aber jetzt war es zu spät. Vielleicht ist es schon immer zu spät gewesen, dachte Urza. Er bemerkte eine Bewegung zu seiner Rechten und drehte sich in der Erwartung um, Tawnos aus dem Dunst auftauchen zu sehen. Statt dessen war es ein anderer: ein junger, muskulöser Mann, in die wallenden Gewänder der Wüstenbewohner gekleidet. »Hallo, Bruder«, sagte Mishra. Urza blinzelte verwirrt. Mishra hatte sich seit ihrem letzten Treffen, damals in Kroog, nicht verändert. Wenn überhaupt, so sah er noch jünger, stärker und selbstsicherer aus. Unwillkürlich griff Urza nach dem Machtstein, der ihm um den Hals hing. »Du siehst nicht gut aus«, stellte Mishra mit grimmigem Lächeln fest. »Deine Maschinen haben dir die Lebenskraft ausgesogen. Das ist einer deiner Fehler. Einer von vielen.« Mishra trat einen Schritt vor, und der Machtstein glühte auf. Auch von dem Beutel, den Mishra um den Hals trug, ging ein Leuchten aus. Mishra öffnete ihn mit der linken Hand und zog den faustgroßen Stein heraus. »Zwei, die zusammengehören«, sagte er. »Wie lange bekämpfen wir einander schon, Bruder? Und weshalb? Wegen solcher Steine?« Er zog den Ankh aus dem Gürtel. »Wegen der Herrschaft über Völker und Nationen?« »Ich wollte immer nur lernen«, sagte Urza mit leiser Stimme. »Ich wollte nichts, als meine Maschinen bauen.« Mishra trat noch einen Schritt vor, und Urza versuchte, den Jüngeren zurückzudrängen. Er bemühte sich, dem Stein seinen Willen aufzuzwingen, wie er es damals in Kroog getan hatte. Wie er es damals im Lager Tocasias getan hatte, am Anfang seines Lebens. 587
Diesmal hatte er weniger Erfolg. Mishra tat noch einen Schritt, wenngleich er sich langsamer bewegte. Sein Lächeln wirkte starr und verkrampft. »Du bist alt geworden, und dein Lebenslicht ist geschwächt. Sollen wir noch eine letzte Unterhaltung führen, oder soll ich dich sofort töten?« »Du willst meinen Stein also immer noch«, stellte Urza fest, aber das Sprechen fiel ihm schwer. Die Jahre machten ihm zu schaffen, und der Machtstein um seinen Hals wog so schwer wie ein Mühlstein. Noch ein Schritt, und beide Brüder wurden in das Licht der Steine gebadet; in das bunte Licht der Kraftströme. Sie standen einen Fuß voneinander entfernt. »Glaubst du etwa, es geht bloß um einen zersprungenen Stein? Du glaubst, darin liegt große Macht?« Mishras Grinsen war zu einer starren Maske geworden. »Du willst meinen Stein, Bruder? Hier hast du ihn!« Mit dem Stein in der Hand schlug Mishra zu. Urza sprang zur Seite, wußte aber, daß der Angriff eine Finte war. Der Ankh in der anderen Hand schnellte nach oben, und er wich stolpernd zurück. Das Licht des Machtsteins erlosch, als die scharfe Klinge des Ankh über Urzas Stirn fuhr. Rasende Schmerzen durchzuckten seinen Kopf, und fast wäre er hintenüber gefallen. Mishra lachte schallend, und Urza ließ die Hand übers Gesicht gleiten. Der Ankh hatte eine tiefe Kerbe auf seiner Stirn hinterlassen, aus der bereits Blut quoll. Die klebrige Flüssigkeit lief ihm über die Schläfen und färbte die Brillengläser rot. »Du hast wahre Macht nie erkannt, Bruder«, verhöhnte ihn Mishra. »Du mußtest nie um dein Leben kämpfen. In deiner aus Maschinen und Berechnungen bestehenden Welt warst du immer in Sicherheit. Jetzt weißt du, daß du den falschen Weg eingeschlagen hast. Du stirbst alt und allein, und ich werde dein Land, 588
dein Volk und deine Erfindungen an mich reißen und sie meinem Willen Untertan machen.« Mishra beugte sich vor, um den Todesstoß auszuführen. Wut stieg in Urza auf, heiße und frische Wut. Mit der Wut kam die Tatkraft zurück. Hätte er lange nachgedacht, wäre er zurückgewichen, hätte geredet und Pläne geschmiedet. Aber jetzt hatte er Schmerzen, die ihn in rasende Wut versetzten. Er handelte instinktiv und blitzschnell. Urza ließ jegliche Verteidigung fallen, die er rings um sich errichtet hatte. Statt dessen benutzte er die Kraft des Steines, um einen Frontalangriff gegen seinen Bruder durchzuführen. Er konzentrierte sich ganz auf den Stein und ließ seine abgrundtiefe Wut auf Mishra hineinfließen. Aber nicht nur seine Wut und sein Zorn, sondern auch alle anderen Gefühle kamen an die Oberfläche: die Liebe zu Mishra, der Haß auf Mishra und die Verzweiflung über den Krieg, der ihr Leben und ihre Welt zerstört hatte. Das alles strömte in den Stein hinein und verließ ihn als mächtiger Kraftausstoß. Als das geschah, zerbrach etwas in ihm. Es war, als zerrisse ein Muskel unter großer Anspannung. Plötzlich stürzten die Mauern ein, die er um sich herum errichtet hatte, und er erkannte, daß sein Bruder recht hatte. Er hatte nicht gewußt, was wahre Macht war. Bis heute. Urza begriff, daß die Macht von ihm ausging und nicht von einer Maschine oder einem Kraftstein. Er gab seine Macht an den Kristall weiter, der sie in einem starken Strahl gegen Mishra schickte. Mishras Brust zersprang in einem rotglühenden Feuerball, und der jüngere Bruder fiel schreiend zu Boden. Die Flammen fraßen sich durch seine Gewänder, und er schlug wild mit den Armen um sich. Der 589
ganze Körper glühte leuchtendrot auf. Dann schlugen die Flammen über ihm zusammen, und er verschwand in einer dichten Rauchwolke, die sich mit dem Qualm vermischte, der über dem Tal lag. Urza beobachtete ihn gebannt und begriff, was Mishra stark gemacht hatte. Seine Gewänder waren bei dem Angriff verbrannt, und mit dem Stoff schälte sich auch die Haut vom Leib. Unter der Haut war Metall gewesen. Urza hatte es nur sekundenlang gesehen, aber das hatte ausgereicht. Wo Mishras Rippen sein sollten, befanden sich Metallplatten, und an Stelle der Muskeln erblickte er Stahlseile und Rollen. Sein Bruder war von den Maschinen verschlungen worden. Er war selbst zur Maschine geworden. Urza spürte die Nachwirkungen seines Angriffs. Er hatte sich verändert, und jetzt, da die Tür offen stand, konnte sie nicht wieder geschlossen werden. Er nahm die Welt außer mit Augen und Ohren auch noch auf andere Weise wahr. Er spürte die eigene Macht und die Kraft des Landes, das ihn umgab. Das Land schrie vor Schmerz. Nicht nur Argoth, sondern ganz Terisiare. Sein Bruder und er hatten das Land ausgebeutet und ihm beinahe unheilbare Wunden zugefügt. Jetzt schrie es vor Qual. Ein immer wiederkehrender Schrei, der um Erlösung flehte. Um Ruhe bat. Wieder nahm er eine Bewegung wahr; diesmal zu seiner Linken. Schnell hob er den Machtstein, um den vermeintlichen Angreifer abzuwehren. Tawnos taumelte durch den Rauch auf ihn zu. Er hustete heftig und umklammerte einen schäbigen Rucksack. Der Gehilfe sah wie ein uralter Mann aus, als er auf Urza zustolperte. »Urza!« rief er keuchend. »Die Maschinen gehorchen nicht mehr!« 590
Urza blickte über das Schlachtfeld hinaus und sah es mit anderen Augen. Wo er vorher nur heilloses Chaos bemerkte, sah er nun einen Puppenspieler, der an den Fäden zog. An den Fäden der Artefakt-Kreaturen. An den Fäden seines Bruders. An den seinen. »Ich begegnete einem Dämon, einer Kreatur aus Phyrexia«, fuhr Tawnos fort. »Er lauerte Ashnod und mir auf. Sie sagte, ich solle Euch dies bringen.« Er zog eine Schüssel aus dem Rucksack. »Urza, hört Ihr mir überhaupt zu?« Urza starrte die Schüssel an und vernahm die Schreie des Landes ringsumher. »Ich höre«, sagte er. »Ich höre mehr, als du dir vorstellen kannst.« »Wir sollten uns zurückziehen. Wir sollten fliehen. Wenn Euer Bruder uns findet...« »Mein Bruder war schon hier, und er wird zurückkehren.« Urza nahm die Schüssel entgegen. Als er sie berührte, nahmen die Schreie zu und wurden zu einem ohrenbetäubenden Klagegeheul, das nur Urza hörte. »Ashnod sagte, Ihr solltet ihn mit den Erinnerungen an das Land füllen«, erklärte Tawnos. Es zuckte um seine Mundwinkel, und nach einer Weile setzte er hinzu: »Ich weiß nicht, was das bedeutet.« »Ich weiß es«, sagte Urza, und er wußte es. Im gleichen Augenblick, als er den Sylex in Händen hielt, kannte er seinen Zweck und wie er mit ihm umzugehen hatte. Das Begreifen durchströmte ihn wie ein elektrischer Schlag. »Wir sollten gehen«, drängte Tawnos. »Nein«, lautete die ruhige Antwort. »Urza, Ihr seid verletzt...«, begann Tawnos, aber Urza unterbrach ihn. »Nein!« rief er. »Hier endet es - für ihn und für mich.« Plötzlich sah er Tawnos an, als würde ihm dessen Gegenwart erst jetzt richtig bewußt. »Du mußt dir ein Versteck suchen. Geh und finde einen sicheren Ort.« 591
»Urza, ich bin kein...« »Widersprich mir nichtl« donnerte Urza mit funkelnden Augen. »Such die tiefste Höhle, den höchsten Baum oder die stärkste Festung auf! Geh in Deckung, und zwar sofort!« Tawnos verschwand, und Urza blieb allein auf dem Hügel zurück. Sekunden später vernahm er ein Rattern und Klirren zu seiner Rechten. Der Lärm kam näher und näher. Mishra kehrte zurück, und er war in Begleitung einer Drachenmaschine. Die Dunstschleier lichteten sich, als der riesige Drache den Hügel hinaufkroch, auf den verletzten Wissenschaftler zu. Urza verbesserte sich insgeheim: Mishra war nicht in Begleitung des Drachen, sondern die Maschine war ein Teil seiner selbst geworden. Der größte Teil des Fleisches war verbrannt, und darunter kam eine Unmenge Kabel und Drähte zum Vorschein. Öl tropfte aus Mishras Gelenken zu Boden. Die Kabel ragten aus dem Körper hervor und hatten sich mit den Kabeln und Drähten des Drachen verschlungen. Die große Maschine war damals in Korlinda gewesen. Auch aus ihrem Leib ragten Kabel, die in Mishras Leib verschwanden. Mann und Maschine waren zu einer Einheit verschmolzen. Mishras Gesicht war noch vorhanden, nur eine lange Brandwunde zog sich von der Schläfe über die Wange bis zum Kinn. Fleischfetzen schlugen bei jedem Schritt gegen die Metallknochen, während sich der Kiefer öffnete und schloß, als der Mann wilde Drohungen ausstieß. Rote Tropfen liefen über die verletzte Gesichtshälfte - es mochte sich um Blut handeln. Urza starrte das Ungeheuer an, das einst sein Bruder gewesen war, und wußte, was er zu tun hatte. Er murmelte ein Wort und nahm die Kraft des Landes in sich auf. 592
Augenblicklich rutschte der Hügel unter seinen Füßen auf Mishra und den Drachen zu. Die Maschine und der Mann wurden von den Erdmassen mitgerissen und ins Tal geschleift. Das wird meinen haßerfüllten Bruder nicht aufhalten, dachte Urza, aber ihn wenigstens behindern. Das mußte ausreichen. Urza ließ sich mit verschränkten Beinen auf dem Erdboden nieder, den Sylex auf dem Schoß. Die Runen im Innern der Schüssel liefen spiralförmig auf den Grund des Gefäßes zu, aber er mußte sie nicht lesen. Die Kraft, die ihm jetzt durch die Adern floß, schenkte ihm Verstehen und gestattete ihm, Verbindung zu dem Artefakt aufzunehmen. Er hörte die gequälten Schreie des Landes. Blut rann aus der klaffenden Stirnwunde, tropfte in die Schüssel und füllte die eingravierten Runen. Urza rief seine Erinnerungen wach, Erinnerungen an sein Leben und seine Studien, und füllte den Sylex damit. Er dachte an Argivia und an Korlis. Er dachte an die Türme, die Werkstätten und den Vogelsaal in Kroog. Er dachte an die Länder, die er überflogen und um die er gekämpft hatte. Er dachte an das Khergebirge und an die Höhle von Koilos. Außerdem dachte er an ein kleines Lager in der Wüste, von den Menschen vergessen und unter dem Sand begraben, wo einst die Schüler einer alten Frau nach den Artefakten eines längst vergangenen Volkes gruben. Wo zwei Brüder von den Thran erfahren hatten. Die Mishramaschine hatte sich von der Erdlawine erholt und stürmte den Hügel hinauf, wobei sie wilde Schreie ausstieß. Urza blickte auf und sah in das Gesicht seines Bruders, das den metallenen Schädel teilweise verbarg, und er weinte um ihn. Die Tränen des Wissenschaftlers vermischten sich mit dem Blut und 593
den Erinnerungen im Innern des Sylex, und er spürte die ganze Kraft des Landes. Sie erfüllte seinen Körper und stammte von allen Ländern, allen Erinnerungen und allen Taten, die er je vollbracht hatte. Seine Trauer, sein Stolz, sein Zorn und seine Einsamkeit ergossen sich in den Sylex und füllten ihn bis zum Rand, bis zum Überlaufen. Und darüber hinaus. Die Mishramaschine hatte die Spitze des Hügels erreicht, und der Drachenkopf ragte hoch über Urza auf. Mishra grinste - halb Mensch, halb Maschine. Es war ein triumphierendes Grinsen. Mishra brüllte etwas, aber Urza hörte ihm nicht länger zu. Er hörte nur noch den Schrei des Landes, das um Erlösung flehte. Und Urza erlöste es. Ein greller Blitz zuckte am Boden der Schüssel auf und breitete sich aus - eine neue Sonne ging auf und setzte alles in Brand, was ihre Strahlen berührten. Urza lächelte versonnen. Als letztes sah er seinen Bruder, der mit der Maschine verschmolzen war. Beide wurden von den gleißenden Strahlen erfaßt. Mishras Grinsen wurde zu einem verzerrten Schrei, als seine Lebensgeister aufgaben. Dann zersprang der Mishradrache in winzige Einzelteile, die von der gewaltigen Explosion davongewirbelt wurden, die Urza beschworen hatte. Sie flogen weit, weit fort. Dann war auch Urza verschwunden. Argoth starb. Denjenigen, die noch am Leben waren, blieben nur Sekunden, um auf den grellen Lichtblitz am Horizont zu reagieren, ehe er sie verschlang. Die noch stehenden Bäume fingen augenblicklich Feuer, wurden später vom Sturmwind umgerissen, und ihre Stümpfe rissen den Boden auf. Als die Insel im Meer versank, schoß neue Erde aus den Fluten hervor. 594
Gaea schrie auf, als die Vernichtung immer weitere Kreise zog. Die Männer auf Harbins Schiff, die nach Süden gestarrt hatten, wurden von der Explosion geblendet. Ihre Augen füllten sich mit Blut. Masten und Segel des Schiffes fingen augenblicklich Feuer. Das Schiff bäumte sich auf, als die See zum wogenden Gebirge wurde. Harbin klammerte sich an die Überreste der Reling und schrie nach seinem Vater. Urplötzlich befand sich das Schiff auf dem Kamm einer gigantischen Woge, und Harbin erblickte im fernen Süden den Feuerschein. Argoth stand in Flammen. Dann wurde das Schiff vom Ozean verschlungen. Gwenna spürte, wie der Erdboden unter ihren Füßen erbebte. Sie vernahm Gaeas Schrei, als Argoth starb. Die Elfen kämpften entlang der Küste gegen die Korlisianer, und jetzt warfen Krieger beider Armeen die Waffen beiseite und brachen in Tränen aus. Der Krieg war vorbei, und es gab keinen Gewinner. Gwenna sah, wie das Meer verschwand. Große Flächen aus Schlamm und Gestein blieben zurück. Sie wußte, was das bedeutete. Eilig brüllte sie ihren Gefährten zu, in die Berge zu fliehen. Dann stürmte sie davon und wartete nicht ab, ob sie ihrem Befehl Folge leisteten. Sie hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt, als die ersten großen Wellen, von denen jede so hoch war wie ein kleiner Berg, über das Land hereinbrachen und alles zerschmetterten, was sich ihnen in den Weg stellte. In Penregon legte Kayla die Schreibfeder aus der Hand, als sie das ferne Donnergrollen vernahm. Es wurde immer lauter und vermischte sich bald mit dem Heulen eines Sturmwinds. Der Boden erzitterte, und 595
aus dem Raum nebenan drangen das Klirren und Poltern von Geschirr, das aus den Vitrinen geschleudert wurde. Der ganze Raum neigte sich, die Möbel fielen um und rutschten an die tiefer gelegene Wand. Im Süden leuchtete der Himmel rot auf, als habe der südliche Teil Argivias Feuer gefangen. Die Tür sprang auf, und Jarsyl, Harbins ältester Sohn, lief weinend auf Kayla zu. Er hielt ein altes Spielzeug seines Vaters umklammert, einen mechanischen Vogel, den Tawnos einst gebaut hatte. Kayla umarmte das Kind und flüsterte beruhigende Worte, während von draußen das Schreien der Menschen und das Krachen zusammenstürzender Häuser hereindrangen. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wangen, als sie ihren Enkel zu trösten versuchte. In den Höhlen von Koilos flimmerte die Luft. Es roch nach verbranntem Öl, als Gix in sein Nest zurückkehrte. Er war verletzt und hinterließ schmierige Fußspuren und Ölspritzer. Menschliches Blut klebte an seinem Oberkörper, seinen Krallen und seinem Gesicht, aber er hatte keine Zeit, sich Gedanken über sein Aussehen zu machen. Er handelte schnell, und ein Teil seines Verstandes versuchte auszurechnen, wie lange es dauern würde, ehe ihn die Explosion einholte. Gleichzeitig überlegte er mit einem anderen Teil des Verstandes, ob der Berg ihm ausreichenden Schutz bot, während ein dritter Teil die Thranmaschine vorbereitete. Er füllte einige Kraftsteine in die Halterung, die eigentlich für den wiedervereinigten Macht- und Schwachstein vorgesehen war. Die blutverschmierten Hände huschten flink und anmutig über die Glyphen. Die Luft geriet in Bewegung, und das leuchtende 596
Tor entstand, aber noch ehe es vollständig vorhanden war, erbebte die Erde. Die Explosionswelle eilte die Schlucht hinauf. Gix sprang die Stufen zum Gang hinauf und sah sich um. Teile der Decke stürzten ein, und die Maschinen erstarben in heftigem Funkenhagel. Gix fluchte und sprang mit den Füßen voran durch das kleine Tor. Noch bevor er es vollständig passiert hatte, erlosch die leuchtende Scheibe. Ein Schrei hallte durch die Höhle. Dann war es still. Nur der am Ellbogen abgetrennte Arm des Dämons, mit einer suchend ins Nichts greifenden Hand, lag auf dem Boden der einstürzenden Höhle. Nicht weit vom Fuße des Ronomgletschers entfernt, beobachteten Feldon und Loran, wie ein großer Sandsturm die weit unter ihnen liegenden Hügel verschlang. Der Sand stammte aus der viele hundert Meilen entfernten Wüste und bedeckte die ganze Tiefebene. Selbst hier oben, unterhalb des Eisberges, spürten sie den heißen, staubigen Wind, und Loran zog mit dem linken Arm den Umhang enger um den Körper. Der rechte Arm war nur noch ein verdrehtes und zerquetschtes Anhängsel ihres Körpers. Feldon schaute in die Tiefe, wo ein Tal nach dem anderen verschwand und nur ein dichter Nebel aus Staub und greifbarer Verzweiflung zurückblieb, der sich den Weg zu ihnen herauf bahnte. Schon verschwanden die ersten hohen Gipfel unter seinem Ansturm. »Nun«, sagte er bedächtig, »jetzt ist es vorbei.« Loran antwortete: »Gut.« Und es herrschte Stille in Terisiare.
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Ihre Träume riefen sie herbei. Aus den Ruinen des Klosters und den mit schwarzem Glas übergossenen Gebieten Yotias. Aus den verlassenen Überresten Tomakuls und den Verstecken innerhalb der alten Küstenkönigreiche. Sie brachten ihre Erfindungen mit, ihre Maschinen und die Notizen über die Beschaffenheit der neuen Magie. Die Träume riefen sie ins geheime Herz der Thran, in die Höhle von Koilos. Und sie gehorchten. Sie gruben den eingestürzten Eingang frei. Sie bestatteten die Leichen und errichteten einen Schrein für den Arm des mächtigen Dämons, den sie zuckend am Fuß des Glyphenbuches fanden. Sie reparierten die Maschinen nach bestem Wissen, von den Träumen geleitet. Endlich war das Werk vollbracht, und sie legten die zersprungenen und fast erloschenen Kraftsteine an den dafür vorgesehenen Platz. Sie berührten die Glyphen, wie man es sie gelehrt hatte. Die Maschinen erwachten langsam und zögernd zum Leben. Die Luft in der Höhle begann zu flimmern, und eine leuchtende Scheibe erschien, ein Tor zum verheißenen Land. Durch dieses Tor streckte sich ein metallener langer Arm, mit scharfen Krallen versehen. Das Gegenstück zum Arm des Gix, der in dem heiligen Schrein ruhte. Der Arm winkte ihnen und zog sich wieder zurück in sein Land, und eine Stimme ertönte: »Tretet ein, meine Kinder. Tretet ein und weilt im Paradiese.« Lächelnd kamen die Mönche der Bruderschaft des Gix näher und betraten Phyrexia. 600
Was einst ein fruchtbarer Küstenstreifen gewesen war, war nun ein schlammiges, von Trümmern übersätes Gebiet. Baumstämme und riesige Felsbrocken waren meilenweit landeinwärts geschleudert worden. Alles Leben war erloschen. Die Küste sah trostlos und verlassen aus. Unter den Trümmern befand sich eine große Kiste, sieben Fuß lang und drei Fuß hoch und tief. Sie hatte der Vernichtung standgehalten und lag inmitten des Treibgutes, das von der Insel Argoth stammte. Neben der Kiste stand Urza und drückte die Hand gegen den Deckel. Der Deckel glitt zur Seite und enthüllte den Körper seines schlafenden Gefährten. Tawnos atmete tief durch und setzte sich urplötzlich auf. Er schnappte heftig nach Luft. Der ehemalige Gehilfe Urzas war leichenblaß. Abgestorbene Haut hing in Fetzen an seinem Körper. Geduldig wartete Urza darauf, daß sich Tawnos erholte. Tawnos holte tief Luft, hielt den Atem an und wiederholte den Vorgang. Dann sah er entsetzt auf die vernichtete Landschaft. »Es ist vorbei«, sagte Urza und ließ sich auf dem Rand der Kiste nieder. Tawnos schluckte und sah sich noch einmal um. »Das war das sicherste Versteck, das ich mir vorstellen konnte«, meinte er. Urza schwieg. Tawnos fragte: »Euer Bruder?« »Tot. Ich...« Urza schüttelte den Kopf. »Der Dämon, dieser Phyrexianer, tötete meinen Bruder vor langer Zeit. Ich habe es nur nicht gemerkt.« »Wo sind wir?« wollte Tawnos wissen. Urza sah umher und seufzte vernehmlich. »An der Südküste Yotias.« Tawnos blinzelte. »Sie hat sich sehr verändert.« 601
»Aufgrund meiner Taten hat sich die ganze Welt verändert. Ich bin schuld daran.« Tawnos kletterte aus der Kiste heraus, und Urza war ihm behilflich. Tawnos war noch schwach von der Inkarnation und rieb sich Arme und Beine. Zum einen um die abgestorbene Haut abzureiben, und zum anderen um den Blutkreislauf zu unterstützen. Es war kälter an dieser Küste, als es in seiner Jugend gewesen war. »Ich muß dich um einen letzten Gefallen bitten, mein ehemaliger Schüler.« »Was kann ich für Euch tun?« »Ich will, daß du nach Westen reist. Finde die Überlebenden der Gemeinschaft der Gelehrten der Elfenbeintürme. Erzähl ihnen, was geschehen ist. Erzähl ihnen, was wir getan haben und was wir falsch machten. Sorg dafür, daß sie es besser machen. Ich traue dir zu, sie zu leiten.« Tawnos schaute den älteren Mann an, aber Urza kam ihm nicht mehr alt vor. Seine Haare waren wieder blond, seine Schultern straff. Die Augen wirkten uralt und unbeschreiblich gequält. »Ihr könnt mir vertrauen«, antwortete Tawnos. »Wohin geht Ihr?« Urza wandte sich ab. »Fort«, sagte er nach kurzer Zeit. »Ich gehe... fort.« »Es sieht so aus, als könnten wir Eure Hilfe gut gebrauchen«, wandte Tawnos ein. Urza stieß einen Laut aus, den Tawnos für ein beunruhigtes Lachen hielt. »Ich glaube, das Land könnte keine weitere Hilfe meinerseits verkraften. Ich muß... fortgehen. Und zwar allein. An einen Ort, wo ich niemandem schaden kann.« Tawnos nickte und meinte: »Ich weiß nicht, ob es einen so weit entfernten Ort gibt.« 602
Urza schüttelte den Kopf. »Es gibt Länder, weit von Terisiare entfernt. Länder, die außerhalb der Welt von Dominaria liegen. Als ich den Sylex mit meinen Erinnerungen füllte, erblickte ich sie. Ich sah viele Dinge, von deren Vorhandensein ich nie etwas ahnte.« Er drehte sich wieder zu Tawnos um, und der ehemalige Student schaute in Urzas Augen. Es waren keine menschlichen Augen mehr, sondern zwei Kristalle, die eine ganze Kaskade bunter Lichter ausströmten: grün, weiß, rot, schwarz und blau. Der Machtstein und der Schwachstein waren wieder vereint: vereint im Körper des überlebenden Bruders. Der Anblick währte nur wenige Augenblicke, dann sahen die Augen wieder wie früher aus. Urza lächelte. »Ich muß gehen«, sagte er. Tawnos nickte zögernd, und der Mann mit den menschlich-kristallenen Augen erhob sich. »Du warst lange Zeit ein Schüler. Jetzt geh und sei ein Lehrer.« Während er sprach, verblaßte seine Gestalt allmählich. Zuerst verschwand jegliche Farbe, und nur die Umrisse des Körpers blieben zurück. Dann wurden auch sie immer schwächer. »Berichte ihnen von unseren Triumphen und unseren Fehlern« sagte er mit einer wie aus weiter Ferne erklingenden Stimme. »Und sag Kayla, sie solle sich meiner nicht erinnern ...« »... wie Ihr wart, sondern wie Ihr zu sein versuchtet«, beendete Tawnos den Satz, aber er sprach ins Leere. Urza war von dieser Welt in eine andere gereist, die nur seine kristallenen Augen schauen konnten. Tawnos sah sich suchend um, aber nirgends war ein Anzeichen von Leben zu entdecken. Er schritt landeinwärts und hoffte, die schlimmsten Zerstörungen hinter sich zu lassen, ehe er den Westen erreichte. 603
Er vermochte keine vertrauten Wahrzeichen zu entdecken und hatte das Gefühl, daß es lange Zeit so bleiben würde. Tawnos fragte sich, wie groß das Ausmaß der Zerstörung sein mochte.
Und während Tawnos landeinwärts ging, begrüßten ihn die ersten Schneeflocken, die ein eisiger Wind vor sich hertrieb.