Blutspur Version: v1.0
Die meisten Dorfbewohner schliefen noch, als Rani aufbrach, um die Scherben des Femegerichts ei...
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Blutspur Version: v1.0
Die meisten Dorfbewohner schliefen noch, als Rani aufbrach, um die Scherben des Femegerichts einzusammeln. Sein Blut war der Schlüs sel zum steinernen Obelisken in der Mitte des Dorfes. Sechs weitere, identische Obelisken waren über die anderen Gebirgsdörfer ver streut. Und in jedem Ort gab es einen Jungen oder Mann wie Rani. Die grausame Aufgabe wurde von einer Generation auf die nächste vererbt. Vor Rani hatten schon sein Vater, Großvater und Urgroßva ter dasselbe getan. Man konnte der Bestimmung nicht entgehen. Als sein Vater vor einer Woche gestorben war, hatte Rani in dessen Rol le schlüpfen müssen. Er durfte nicht länger Kind sein. Von nun an war er der Todesbote.
Was bisher geschah Lilith Eden ist die Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. 98 Jahre lag sie in ei nem Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Für was, kann auch die Vision nicht klären, die sie von ihrer toten Mutter empfängt. Diese warnt sie vor feindlichen Vampiren, insbesondere vor einem gewissen Landru. Lilith müsse gegen die Blutsauger kämpfen, bis sie sich ihrer Bestimmung bewußt würde. Dabei hilft ihr ein Kleid, das seine Form beliebig ändern kann – ein Symbiont. Lilith verläßt das Haus, das in einer Erdspalte versinkt, nachdem es den Menschen in seiner Umgebung die Lebensenergie geraubt hat. Hora, das Oberhaupt der hiesigen Vampirsippe, und sein Sohn stellen Li lith – und werden von dem Symbionten getötet. Als die restliche Sippe sich zusammenrottet, kann Lilith in eine Kirche entkommt. Sie gerät in die Ge walt von Pater Lorrimer, der einen Exorzismus an ihr vornimmt. Der Pries ter-Aspirant Duncan Luther rettet sie – sowohl vor Lorrimer als auch vor den draußen lauernden Vampiren. Der Police-Detective Warner ist auf heißer Spur. Er findet heraus, daß eine Serie von Genickbruch-Morden eine feste Tradition in Sydneys Histo rie hat. Doch als er Polizeichef Virgil Codd informiert, schickt der ihn zu ei nem ganz besonderen Einsatz: den Garten des versunkenen Hauses zu er kunden, der schon Dutzenden von Menschen zur Todesfalle wurde. Duncan sucht mit Lilith Unterschlupf bei einer alten Freundin: Beth MacKinsey. Als Lilith erfährt, daß Beth an der Paddington-Sache arbeitet, bittet sie die Reporterin, sie begleiten zu dürfen. Dort aber wird Beth schon an der ersten Sperre abgewiesen, Lilith hinge gen – dank Hypnose – durchgelassen! Sie betritt den Garten und spürt, daß sie, wenn sie weiterginge, von etwas gefangen würde, das schon sehnsüch tig auf sie wartet. Auf dem Rückzug sieht sie dann kurz einen alten Abori ginal-Schamanen. Indes taucht Landru in Sydney auf. Er erfährt, wie Vampira unter der
hiesigen Sippe gewütet hat, und macht Andeutungen über einen verlore nen Blutkelch, nach dem er seit langer Zeit sucht. Beth befragt ihren eingeborenen Kontaktmann Esben Storm über die mysteriösen Vorgänge, erfährt aber nichts. Lilith erkennt in Storm den geheimnisvollen Schamanen aus dem Garten. Allein sucht sie seinen Laden auf. Ohne viele Worte geht Storm in Lilith »auf die Reise«. Dann bietet er ihr an, sie auf Traumzeitpfaden in das ver sunkene Haus zu führen. Lilith erbittet sich Bedenkzeit und kehrt in Beth’ Wohnung zurück. Doch die Reporterin ist unterwegs zu einem Informan ten aus Polizeikreisen, der ihr wertvolle Informationen über eine »Genick bruch-Totenliste« und die Geschehnisse in der Paddington Street liefert. Landru spürt Lilith mittels des konservierten Schrumpfkopfs ihres Vaters auf. Und als sie erneut zu Esben Storm aufbricht, heftet er sich an ihre Fer sen. Storm nimmt Lilith mit auf die Traumzeitreise. Sie betreten den Garten und entdecken eine große Anzahl Menschen, die die Früchte eines Apfel baumes, der im Zentrum wächst, essen und danach verschwinden. Das Grab von Liliths Mutter ist leer, das Haus hat seine Struktur völlig verändert, seit Lilith es verließ. Entsetzt bittet sie Storm, sie wieder zurück zubringen – aber er ist verschwunden. Das Haus will Lilith auch als reinen Astralkörper nicht mehr hergeben. Und schlimmer noch: Sie spürt, daß es auch ihren Körper holen will! Das geschieht genau in dem Moment, als Landru Lilith in seine Gewalt bringen will. Sie löst sich vor seinen Augen auf. Aus Rache zündet er den Laden des Aboriginals an. Storms Astralleib kehrt zurück, ehe das Haus Lilith vollständig binden kann. Er kappt die »Nabelschnur«, und Lilith wacht benommen in einer Gasse Sydneys auf. Liliths Mißmut gegen Storm ändert sich erst, als sie zu seinem Laden zu rückkehrt und diesen abgebrannt vorfindet. Nun stellt sich natürlich die Frage, was aus dem Aboriginal geworden ist. Der Vampir Habakuk, der Landru beeindrucken will, verfolgt Lilith in Gestalt einer Krähe. In einem Park besiegt Lilith ihn und preßt mit Hilfe des Symbionten-Kleides wichtige Informationen aus ihm heraus. Landru indes erhält Besuch einer geheimnisvollen alten Freundin: Nona, eine Wer wölfin. Bevor Landru aber das Wiedersehen mit ihr feiern kann, erreicht Habakuks Todesimpuls die Sippe …
Wer die Scherben am Ende eines Monats aus dem Leib des Obelis ken barg, so schrieb das Gesetz es vor, war selbst gefeit gegen die daraus erwachsenden Folgen. Dennoch konnte sich Rani über dieses Privileg nicht freuen. Auch sein Vater, der zeitlebens ein guter Mensch gewesen war, hatte unter der hohen Bürde seiner Aufgabe gelitten. Das Grauen steckte im Detail. Zwar war der Todesbote eines Ortes selbst immun gegen das Scherbengericht – aber es konnte jederzeit jemanden aus seiner Fa milie oder seinem Freundeskreis treffen! Rani zitterte, als er die Hand in die kreisrunde Öffnung des Obe lisken steckte. Mit diesem Loch hatte es auch eine merkwürdige Be wandtnis. Rani hatte gestern schon einmal versucht, die geballte Faust hineinzuschieben. Es war mißlungen, obwohl die Hand seines Vaters viel größer als seine Kinderfaust gewesen war und all die Jahre mühelos hindurchgepaßt hatte. Es war, als hätte sich das Blut schloß dem neuen Schlüssel angepaßt. Nur Ranis geöffnete Hand fand ungehinderten Zugang, wenn er die Finger eng aneinanderleg te. Das tat er. Als Erstgeborener hatte er seinen Vater schon früh auf seinem monatlichen Gang begleitet und ihm zusehen dürfen. Er wußte, worauf es ankam. Der Schmerz war auszuhalten, als sich der Dorn im Innern des Obelisken in Ranis Fleisch bohrte. Als er gestern in der Öffnung forschte, war der Dorn nicht zu fühlen gewesen … Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich das Steinmonument vor dem Jungen öffnete. Rani war mit Magie aufgewachsen. Dennoch klopfte sein Herz bis zum Hals, als er sich über die freigelegte Höhlung beugte und die
Tonscherben in den mitgebrachten Rucksack füllte. Es waren fast so viele Scherben wie Einwohner – nur eine weniger. Der Todesbote durfte sich nicht am Femegericht beteiligen, aber von allen anderen versäumte es niemand, seine Wahl abzugeben. Wie er es von seinem Vater gelernt hatte, warf Rani keinen Blick auf die Namen. Vom Auszählen ganz zu schweigen. Das brachte Unglück. In der Familie hielt sich hartnäckig die Überlieferung, daß es einmal einen Erstgeborenen gegeben hatte, der die Scherben vor Ablieferung in Augenschein genommen hatte, um den Namen des Verdammten vor allen anderen zu erfahren. Er hatte den Namen seines Erstgeborenen gefunden, seines Lieb lingssohnes. Er sollte noch versucht haben, den Namen von den Scherben zu tilgen und gegen einen anderen auszutauschen. Als er aber von sei nem langen Gang nach Hause zurückgekehrt war, mußte er den noch hören, daß sein Sohn vermißt wurde. Nach der Geburt seines nächsten Sohnes raffte es dessen Geschwister und die Mutter dahin. Der Vater starb, als sein Sohn alt genug war, sein Amt zu überneh men. Bis heute wußte niemand, wie die ganze Familie gestorben war. Nur der nach dem Frevel geborene Sohn überlebte und grün dete seinerseits eine neue Familie … Solche Schreckgespenster hatten Rani von Kindesbeinen an ge prägt. Er wußte, daß er sich seiner Aufgabe nicht verweigern konnte, wollte er nicht Not und Verderben über seine Angehörigen bringen. Der Tod des Vaters war schlimm genug; weitere Familienmitglieder zu verlieren hätte er nicht ertragen. Als er alle Scherben verstaut hatte, schulterte er den Rucksack. Der Obelisk schloß sich lautlos. Die Sonne tastete über die Zinnen des höchsten Berggrats, als Rani
aufbrach. Ein beschwerlicher Aufstieg stand ihm bevor. Wenn er da von heimkehrte, würde einer aus ihrer Mitte fehlen. So war es immer gewesen. Es war Gesetz. Niemand wußte, was mit dem Opfer eines Scherbengerichts ge schah. Noch nie war jemand zurückgekehrt, um Zeugnis darüber abzulegen …
* Drei Wochen später, Sydney, Australien Archie Sanders haßte Fisch. Dennoch saß er frohgelaunt am Fenstertisch im »Doyle’s«. Vor ihm auf dem Teller lag eine krebsrote Languste, der er zwischenzeit lich alles gebrochen hatte, was es zu brechen gab. Um den ersten Bissen drückte er sich jedoch immer noch erfolgreich herum und spülte den Anblick der Chitinleiche lieber mit einem 1973er Dom Perrion hinunter. Suzannes Gesellschaft entschädigte ihn für verpaßte Gaumenfreu den. Sie war eine Rassefrau, und daß sie ihn nach wochenlangem, ver geblichem Werben doch noch erhört hatte, war der vorläufige Höhe punkt eines ohnehin nicht gerade erfolgsarmen Tages. Einen hoch dotierten Vertragsabschluß hatte Sanders als »Aufhänger« genom men, um Suzanne doch endlich zu einem Dinner ausführen zu dür fen. Sie hatte unter der akzeptablen Bedingung eingewilligt, das Lo kal zu bestimmen. So waren sie im »Doyle’s« gelandet, einem auf al lerlei Meeresgetier spezialisierten Gourmet-Tempel, den Sanders
normalerweise links hätte liegen lassen. Dennoch reute ihn der Besuch keine Sekunde. Ein Vorzug des »Doyle’s« war der grandiose Ausblick auf das nächtliche Hafenpanorama mit der malerischen Watsons Bay. Einige der vor Anker liegenden Traumjachten waren bereits voll illumi niert. Ihre Lichter spiegelten sich wie funkelnde Edelsteine im maje stätisch ruhigen Wasser, und über allem thronte ein Mond, wie er Sanders – und offenbar auch Suzanne – in dieser Pracht selten be gegnet war. »Ich kriege eine Gänsehaut«, flüsterte seine Begleiterin und schüt telte sich schaudernd. »Wegen mir?« Sanders hielt sein Glas zwischen sich und die bild hüsche Brünette, die sich sichtlich wohl in seiner Begleitung fühlte. Er wußte inzwischen, daß ein Restaurantbesuch im »Doyle’s« ganz oben auf der Liste ihrer Wünsche gestanden hatte. Von ihrem be scheidenen Gehalt hätte sie ihn sich aber vermutlich nie erfüllt. Sie schien mit beiden Füßen fest auf dem Boden zu stehen. Bei aller un übersehbaren Attraktivität also ein sehr häuslicher, sparsamer Typ Frau … Sanders wußte nicht, wie lange er schon nach einer solchen Le bensgefährtin suchte. Er war kein »schneller Aufreißer«, auch wenn Suzanne dies vielleicht insgeheim von ihm denken mochte. In der Firma eilte ihm ein entsprechender Ruf voraus, ohne daß die Quelle solcher Verleumdung je zu lokalisieren gewesen war. Aber Neider gab es überall. Mittlerweile pfiff er darauf. Wenn Sanders sich verstohlen an den anderen Tischen umsah, un terschied sich Suzanne wohltuend von den dort schlemmenden, klunkerbehängten Damen. Sie trug einen phantastisch schlichten und phantastisch engen Body, weite Jeans, die von einem schwarzen Gürtel gehalten wurden, und blaue Pumps.
Das war alles. Vielleicht noch ein Höschen darunter – aber da war sich Sanders nach einigen eindeutig zweideutigen Bemerkungen nicht mehr hun dertprozentig sicher. Zwei Gläser schweren roten Weines hatten ge nügt, ihre Zunge zu lösen. Einmal mehr bewahrheitete sich die alte Weisheit von den »stillen Wassern« und deren »Untiefen«… »Wollen wir vor dem Nachtisch noch einen kleinen Spaziergang machen?« schlug er vor. »Der Strand sieht enorm einladend aus die se Nacht.« Sanders’ großes Plus war, daß er Enthusiasmus nicht vorspielte, sondern lebte. Er konnte andere mit wenigen Sätzen mit seiner Be geisterung für eine Sache anstecken. Besonders wenn er etwaigen Vorbehalten seiner Zielperson bereits mit flüssigen Argumenten zu Leibe gerückt war. »Einverstanden!« Suzanne lächelte etwas verschämt. Sanders’ Herz machte einen Freudenhüpfer. Er signalisierte dem Ober ihre Pläne und zahlte vorsorglich, ehe sie aufbrachen. Eine laue Nacht empfing sie. Der Vollmond hing wie ein Gebirge am Firmament. »Als ob er jeden Moment herabstürzen könnte«, wisperte Suzanne und schmiegte sich wie selbstverständlich in seinen Arm. Gemeinsam gingen sie die Holzbohlentreppe hinunter. Das Re staurant war an den Hang gebaut. Keine Flut konnte es erreichen. Aus den Dünen hörten sie anfangs noch hin und wieder Ge räusche, die an heimliche Liebespärchen denken ließen. Aber mit je dem weiteren Schritt, den sie sich vom »Doyle’s« und den Parkplät zen entfernten, wurde es weniger.
Sie sprachen kaum. Sanders genoß Suzannes Duft und die Wärme, die sie ausstrahlte. Ihre Sanftheit, die sich in jedem Wort und jeder zufälligen Berüh rung ausdrückte. Es wurde ihm immer bewußter, daß er sie wirklich gern hatte. Als sie plötzlich stehenblieb, fürchtete er bereits, sie wolle umkeh ren. Aber sie wies auf etwas, das nahe des Hangs dunkel im Mond licht lag. »Was ist das?« Er folgte ihrem ausgestreckten Arm. »Ein kleines Boot, leider ver täut.« »Leider?« Sie zog ihn darauf zu. »Sonst könnten wir eine kleine Fahrt unternehmen.« »Ich war noch nie in der Dunkelheit auf See.« »Ich auch nicht –« Sie lachten. Das Boot entpuppte sich im Näherkommen als bessere Nußschale. Suzanne schien darüber jedoch nicht enttäuscht. Wieder blieb sie plötzlich stehen, nahm Sanders’ Wangen in beide Hände und gab ihm einen zärtlichen Kuß auf den Mund. »Ich habe mich noch gar nicht für die Einladung bedankt.« »Das ist auch nicht …« Weiter kam er nicht. »Psst!« machte Suzanne und legte ihren Fin ger auf seine Lippen. »Ich schlage vor, wir nehmen die Nachspeise hier ein …« Als er begriff, was sie meinte, durchlief es ihn heiß und kalt. Sie ließ ihn nicht zum Denken kommen, sondern zog ihn an der Hand auf das Boot zu. Im Laufen entledigte sie sich akrobatisch ih rer Hose. Darunter kam ein String-Slip zum Vorschein, der ihre ap felrunden Pobacken enthüllte.
Sanders schluckte. »Sollen wir wirklich …?« Er verstummte und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Trottel! »Nur, wenn es gegen keines deiner Gelübde, Prinzipien oder Vor sätze verstößt …« Ihre Natürlichkeit selbst in dieser Situation war Medizin für seine Schüchternheit, die ihn selbst überraschte. »Nein«, sagte er rauh. »Prima.« Sie begann, ihn auszuziehen. »Wenn dir kalt ist …« Er schüttelte den Kopf. Während sie an ihm herumnestelte, konnte er sie nur ansehen. Sie hatte eine herrliche Pagenfrisur. Und zierli che Ohren. Sanders stand auf Ohren. Endlich waren sie beide nackt. Suzanne sank im Schatten des Boo tes in den noch warmen Sand und zog Sanders mit sich. Sie dirigierte ihn, und schon bald ging ihm auf, wie sie sich das Vorspiel zur Nachspeise vorstellte. Ihre Körper verschlangen sich zu einer mit etwas Phantasie erkennbaren Zahl. 69. Sie vergaßen alles um sich herum. Bis Suzanne aufschrie. Sanders zuckte aus ihrem Schoß hoch. Zunächst glaubte er, etwas zu stürmisch vorgegangen zu sein, angeregt von ihren Bemühungen an ihm. »Sorry, ich wollte nicht –« Sie stieß ihn mit Beinen und Füßen von sich. Ein Tritt traf ihn so brutal gegen den Hals, daß ihm fast die Sinne schwanden. »Bist du verrückt?« protestierte er.
Sie schrie immer noch. Sanders folgte ihrem Blick … und konnte nicht verhindern, daß auch ihm der Schrecken einen Schrei aus der Kehle trieb. Etwas glomm vor ihnen in der Dunkelheit. Augen? Ein – Hund …? Es war sein erster Gedanke. Damit, daß jemand, auch um diese Zeit noch, einen Strandspaziergang unternahm und seinen Vierbei ner von der Leine nahm, mußte man rechnen. Er und Suzanne hat ten kein Abonnement auf Frischluftabenteuer. Er tätschelte beruhigend ihr Bein. »Kein Grund zur Sor-« Das Knurren brachte ihn aus dem Konzept. Es war kein Hundeknurren. Es war … »Schei-ßeeee! Vorsicht!« Sein Schrei weckte Suzanne nicht aus ihrer Starre. Sanders wußte sich nicht anders zu helfen, als sich schützend über sie zu werfen. Fast gleichzeitig landete der Angreifer auf seinem Rücken. Krallen bohrten sich in sein Fleisch. Der Schmerz zuckte bis in seinen Hin terkopf. Sanders brüllte etwas Unartikuliertes. Dann schnellte er herum. Kreatürliche Angst schnappte nach ihm. Er versuchte, den Wolf ab zuschüttelnd, ehe dieser ihm ins Genick biß. Den Wolf? Er hätte mit niemandem darüber gestritten, aber er wußte plötz lich, daß ihn ein silbrig grauer Wolf attackierte. Kein Hund. Sanders hörte förmlich, wie seine Haut überall dort, wo sich die scharfen Krallen eingruben, zerfetzt wurde. Er glaubte, den Geruch seines eigenen Blutes wahrzunehmen.
Suzannes gellender Schrei brach ab. Seltsamerweise ernüchterte ihn der Moment der Stille soweit, daß er neue Kräfte mobilisieren konnte. Irgendwie kam er auf die Beine. Blickte sich gehetzt nach al len Seiten um. Das Tier war verschwunden. Neben ihm wimmerte Suzanne. »Gütiger Gott, was war das?« Sie hatte den erstbesten Fetzen ihrer Kleidung gepackt und preßte ihn gegen ihre Brust, als könnte sie sich dadurch schützen. Sanders hütete sich, ihre Illusionen zu zerstören. »Hast du gese hen, wohin er verschwand?« Er fing sich erstaunlich rasch. Sie nickte tränenüberströmt und zeigte zum sanft ansteigenden Hügel, der etwa fünfzig Meter weiter oben an der Straße endete. Sanders starrte eine Weile mit brennenden Augen hinauf. Er fand keine Spur des Tieres an der buschbewachsenen Dünung. Als er sich endlich um Suzanne kümmern wollte, wehrte sie ihn ab. »Laß das. Es ist nur der Schreck, der mir noch in den Gliedern sitzt. Zeig mir lieber, was der Köter bei dir angerichtet hat …« Sie stand auf. Den Body hielt sie weiter lose vor ihren Busen. Es mußte eine unbewußte Geste sein, so intim, wie sie schon miteinan der geworden waren. »Du mußt sofort zu einem Doc. Vielleicht war er tollwütig. Ein Dingo war es jedenfalls nicht.« Sanders gehorchte widerwillig. Es überraschte ihn nicht, daß sie meinte, ein Hund habe ihn angefallen. Und obwohl er zweifelte, daß sie ihm glauben würde, sagte er mit bemüht fester Stimme: »Es war ein Wolf.« Sie sog die Luft ein. Nicht wegen seiner Behauptung, wie sich her ausstellte, sondern wegen der offensichtlichen Schwere seiner Ver letzungen.
»Unsinn«, meinte sie. »Glaubst du, du schaffst es bis zum Restau rant zurück?« Er lachte, um sich selbst zu beruhigen. »Natürlich!« »Dann komm!« Notdürftig schlüpften sie in ihre Klamotten zurück. Suzanne half ihm, was Sanders zu der Bemerkung hinriß: »Ein wenig netter hatte ich mir den Verlauf des Abends schon vorgestellt …« Sie strengte sich an, Optimismus zu verströmen. »Wir haben noch die ganze Nacht. Ich schätze, eine Präventivspritze und ein paar straffe Verbände müßten dich wieder soweit zusammenheften, daß man auch ein bißchen an dir rütteln darf …« »Du bist sehr lieb.« »Oh, das ist erst der Anfang!« Sie legte seinen Arm über ihre Schulter und übte sich als lebende Krücke. Erst auf dem schleppend vonstatten gehenden Rückweg wurde ihnen bewußt, wie weit sie sich bereits vom »Doyle’s« ent fernt hatten. »Vielleicht ist es besser, du läufst alleine vor und benachrichtigst eine Ambulanz«, sagte Sanders auf halber Strecke. »Probleme?« »Nur ein bißchen schummrig. Wahrscheinlich habe ich doch etwas Blut verloren …« »Eine Arterie wurde jedenfalls nicht verletzt«, beruhigte sie ihn. »Komm, das schaffst du. Ich lass’ dich hier nicht allein zurück.« Sanders gestand sich ein, daß ihn dieser Satz beruhigte. »Okay.« Er biß die Zähne zusammen. Minuten verstrichen. Vor ihnen tauchte die Treppe auf, die vom Strand zum Restaurant führte. »Geschafft!« rief Suzanhe erleichtert. »Da sitzt jemand. Eine Frau, glaube ich. Sie wird uns helfen …!«
Sanders winkte lahm. Die Gestalt erhob sich. Sie schien ein Kostüm zu tragen. Eine Mas ke. »Ist hier irgendwo ein Maskenball?« fragte Suzanne irritiert. Die Unbekannte war sehr reizvoll anzusehen – trotz des fellähnli chen Überzugs und der skurrilen spitzohrigen Kopfbedeckung … »Das … gefällt mir nicht«, hörte Sanders sich sagen. Von oben drangen leise Musik- und Gesprächsfetzen zu ihnen her unter. Auch etwas Licht, das den Mond unterstützte. Suzanne achtete nicht auf Sanders’ Einwand, sondern rief: »Hallo! Würden Sie uns helfen …?« Sanders mußte unwillkürlich schlucken, als er die geschmeidigen, pantherhaften Bewegungen der Frau bemerkte. Dann kamen jähe Zweifel, ob das, was ihr Gesicht darstellte, tatsächlich eine Maskie rung war. Er blieb stehen und zwang Suzanne, es ihm gleichzutun. »Chhhhrrrrr …!« knurrte die Bepelzte. »Chhhhrrrrr …!« antwortete eine identische Stimme genau hinter Archie Sanders und Suzanne.
* In diesem Teil der Stadt schien die Dunkelheit dunkler zu sein als anderswo. Trotz des vollen Mondes, der als glotzendes Auge am Firmament hing. Lilith Eden schauderte beim Anblick der umgestürzten Grabmäler, verbrannten Kruzifixe und der Graffiti, deren Inhalt eindeutig nicht dem Christentum zuzuordnen war.
Sie hatte die äußeren Grenzen des Ortes erreicht, den ihr Habakuk kurz vor seiner Tötung noch hatte nennen müssen.* Von den noch halbwegs erkennbaren Kreuzsymbolen strömte nicht das geringste Unbehagen aus, wie es Lilith normalerweise an solchen Plätzen empfand. Ihre Blicke vermochten das Zwielicht in nerhalb des Ackers jedoch nicht so mühelos zu durchdringen wie üblich, und dies allein verriet, daß sie an der richtigen Adresse war. Wo Magie im Spiel war, standen die Chancen, Landru zu finden, nicht schlecht. Trotz Habakuks unfreiwilliger Auskunft wußte Lilith nicht annä hernd, was sie im Unterschlupf der Vampire tatsächlich erwartete. Auch der Symbiont, den sie wie ein enges Kleid an ihrem Körper trug, verweigerte diesbezügliche Tips. Alle Versuche, ihm Informa tionen zu entlocken, waren gescheitert. Dafür erfüllte er momentan bereitwillig jeden Wunsch, was sein Aussehen anging. Genaugenommen war dies schon ein Erfolg. Lilith war bescheiden geworden. Sie hatte – nun schon zum zweiten Mal – ein rot-schwar zes Catsuit gewählt, das ihre Figur wie eine zweite, verführerische Haut umgab. Es begann hochgeschlossen am Hals, ließ aber die Schultern und Hüften frei und endete unten an den Füßen, die es mit umschloß. Manchmal, wenn Lilith schnell lief oder eine heftige Bewegung vollführte, stieg der Verdacht in ihr auf, die Kleidung würde ihre Körperkräfte noch verstärken. Im Schutz der Finsternis war sie stre ckenweise gerannt »wie der Wind« und hatte kaum Kontakt zum Erdboden gespürt. Zugleich haftete auch dieser neuen Entdeckung Beängstigendes an. Lilith wußte inzwischen, daß der Symbiont nicht ihr willfähriges Werkzeug war. Er ließ sich nicht nach Belieben manipulieren, son
*siehe Vampira 5: »Niemandes Freund«
dern verfolgte ureigene, noch nicht annähernd bekannte Ziele. Seine Nahrung bestand, wie sie jüngst erkannt hatte, aus dem schwarzen Blut der Vampire. Menschen hatte er bislang nur ein einziges Mal attackiert: als ein Geistlicher namens Lorrimer versucht hatte, Lilith zu exorzieren. Aber dabei hatte es sich um eine Ausnahmesituation gehandelt, weil der Symbiont sich vermutlich in seiner eigenen Exis tenz bedroht fühlte.* Vielleicht rührten die Beschwingtheit und Leichtigkeit, die sie spürte, aber auch einfach nur von ihrem Ausflug zum Strand her. Joeys Blut war ihr bekommen. Daß sie in einem fernen Winkel ihres Bewußtseins auch leise Ge wissensbisse spürte, lag allein an Duncan. Schon mehrfach hatte sie sich dabei ertappt, daß sie zwar große Sympathie für ihn empfand, aber die sexuelle Fixierung auf eine Person entsprach nicht ihrem Wesen. Momentan lebte sie deshalb zwangsläufig nach der Devise: Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Irgendwann jedoch, darin machte sie sich nichts vor, konnte ihre junge Freundschaft an diesem Punkt scheitern. Duncan war eindeutig monogam. Vermutlich wäre sein christliches Weltbild zusammengestürzt, wenn er von Liliths Eskapaden erfahren hätte. Sie rechnete damit, den Friedhof nicht unbehelligt betreten zu kön nen. Doch dieses Risiko mußte sie eingehen. Ihr Ziel war es, Landru aufzuspüren, bevor er sie ein zweites Mal fand. Vielleicht waren die Legenden um seine Macht nur Märchen, und sie konnte ihn ebenso leicht töten wie das Oberhaupt der hiesigen Vampirsippe. Hora war mehr oder weniger im Alleingang von ihrem Symbionten vernichtet worden, der in dieser Hinsicht über bemerkenswerte Methoden ver fügte … Die Umzäunung mit dem Stacheldraht schreckte Lilith nicht. Sie
*siehe Vampira 3: »Besessen«
überwand das Hindernis behende. Die geringfügigen Schrammen, die sie sich zuzog, verheilten binnen Sekunden. Auf der anderen Seite angelangt, griff sofort eine merkwürdige Stimmung nach ihr. Der Boden unter ihren Füßen schien mit haßer füllter Stimme zu flüstern. Eine Gänsehaut kroch über ihren ganzen Körper. Doch sie lernte rasch, damit umzugehen, und folgte kaum erkennbaren Pfaden. Ihr Ziel war eine zerfallene Kapelle, deren Dach das Mondlicht auf sich zu ziehen und ins Erdreich abzuleiten schien. Dadurch entstand eine gespenstische Aura. Lilith huschte auf die Mauern zu. Hin und wieder glaubte sie, das hohe Gras und verborgene Wurzeln versuchten, nach ihren Fußge lenken zu greifen. Sie blieb nicht stehen, um sich zu vergewissern. Die ganze Zeit vertraute sie darauf, daß das Kleid ihr auch gegen diese Gefahren beistehen würde. Durch ein zerstörtes Portal drang sie in die verfallene Kapelle ein. Das komplette Kirchenschiff war verwüstet, als hätten Vandalen hier gehaust. Selbst der etwas erhöhte, mächtige Steinaltar war in zwei ungleiche Teile zerbrochen. Kruzifixe an den Wänden ragten mit der Spitze nach unten und sahen aus wie in Blutlack getaucht. Lilith hatte keinerlei Probleme, das verfallene Gemäuer zu betre ten. Hinter dem Steinaltar, der aussah, als hätte ihn ein Schmiede hammer mit einem eisernen Amboß verwechselt, sickerte Licht aus dem Boden. Der Eingang, dachte sie. Durch knöchelhohen Staub strebte sie darauf zu. Ihre Blicke such ten unablässig nach Feinden im Verborgenen, die den Zugang ins unterirdische Reich der Vampire bewachten. Sie wurde nicht fündig. Die Sippe mußte sich sehr sicher fühlen. Nicht zum ersten Mal bedauerte Lilith, daß es ihr nicht möglich
war, eine andere Gestalt anzunehmen, wie ihre Gegner es scheinbar mühelos vermochten. Alle Versuche in dieser Richtung waren ge scheitert. Auf den ersten Stufen, die in die Tiefe führten, blieb sie kurz ste hen. Sie vernahm jedoch keine verdächtigen Geräusche. Höchstens verdächtige Stille. Erst als sie sich ein gutes Stück abwärts bewegt hatte, hörte sie Klänge, die an psychedelische Musik erinnerten. We nig später kamen Stimmen hinzu, ohne daß einzelne Worte oder In halte verständlich wurden. Die Treppe hörte auf, und damit veränderte sich die Umgebung abrupt. Lilith atmete verdorbene, modrige Luft. Der Bereich, durch den sie sich von nun an bewegte, verlor seine anfängliche Kargheit schnell. Prächtige Kristallüster erhellten einen prunkvollen Korridor mit Kerzenschein. Von diesem Gang zweigte eine hohe Zahl kohle schwarzer Türen ab. Dennoch erinnerte kaum etwas daran, daß Li lith sich viele Meter unter der Erdoberfläche befand. Die Umgebung besaß den Charme eines aus Mangel an Vermögen heruntergekom menen, uralten Familiensitzes. Aber an Geld, dachte Lilith, mangelt es denen, die hier hausen, gewiß nicht. Hier tagten die wahren Herrscher von Sydney. Ob sie auch hier lebten, entzog sich ihrer Kenntnis. Sie hatte Habakuk auch nicht dazu befragt. Hinter jeder der mit unheiligen Intarsien übersäten Türen konnte der Tod lauern. Ihr Tod! Vorsichtig öffnete sie die erste. Der Raum war klein und verlassen. Dennoch besaß er Flair. Exo tik. Lilith war auf Anhieb überzeugt, daß ihn eine Frau bewohnte. Kleinigkeiten deuteten darauf hin. Erotische Darstellungen in Form
von Skulpturen und Ikonen umsäumten ein hölzernes Bettgestell, das mit Fellen und Pelzen behängt war. Kerzen brannten ohne er kennbaren Docht; auch jetzt, da sich niemand darin aufhielt. Die Wände waren mit kompliziert geknüpften Gobelins dekoriert; Por träts von dunkler Ausdruckskraft starrten zu Lilith herüber. Sie schloß die Tür und wandte sich der nächsten zu. Ihr fehlte die Zeit, die Ästhetik ihrer Feinde zu studieren. Sie wollte Landru schwächen. Oder ihn sofort töten. Auch der Hinweis auf das omi nöse Gefäß, von dem Habakuk gesprochen hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Ein Unheiligtum der Vampire. Der Lilienkelch… Die nächsten Räume boten kaum Überraschungen, außer daß auch sie wie gerade erst verlassen wirkten. Der Verdacht, in eine Falle zu tappen, die jeden Moment zuschnappen konnte, versetzte Liliths Nerven in fast unerträgliche Spannung. Plötzlich zwang ihr Instinkt sie stehenzubleiben. Oder war es ein äußerer Einfluß, der sie dazu veranlaßte …? Sie hatte das bis ins Mark gehende Gefühl, etwas wollte sie stop pen und zur sofortigen Umkehr bewegen! Unwillkürlich berührte sie den Stoff ihres Symbionten. War er da für verantwortlich? Keine Antwort. Wenige Schritte später – sie streckte gerade ihre Hand nach einer weiteren Klinke aus – durchzuckte es sie erneut. Diesmal noch vehe menter und voll überschäumender Qual: NEIN! GEH …! Es konnte immer noch eine Falle sein. Aber Lilith stieß die Tür ent schlossen nach innen auf. Ungewohnte Düfte, die entfernt an jene im »Garten der Dämme
rung« erinnerten,* wehten ihr entgegen. Räucherwerk, das ihre Libi do augenblicklich und wider Willen anregte. Fast mechanisch übertrat sie die Schwelle und krümmte sich vor Scham. Scham? Der Raum war noch sparsamer möbliert als jene Kammern, die Li lith zuvor eingesehen hatte. Nach einem Bett hielt sie vergeblich Ausschau; nur ein lastgebeugter Schrank verdeckte eine der Wände fast vollständig. Ansonsten lagen hier und da ein paar verstreute Utensilien. Lilith inspizierte zunächst den Schrank, ohne sagen zu können, warum gerade diese Kammer ihr tiefergehendes Interesse gefunden hatte. Außer ein paar handgewebten Tüchern, deren Berührung ei gentümliche Empfindungen auslöste, fand sich in den unteren Schubladen nichts. Der obere Bereich mit mehreren Doppeltüren war sogar völlig leer. Lilith durchmaß den fensterlosen Raum. Plötzlich stolperte sie über einen Wust von Männerkleidung. Nicht die Kleidung, sondern das, was darauf lag, traf sie gänzlich unvorbereitet. Der Anblick des haarlosen Schädels war abscheulich. Daß er nur faustgroß war und durch einen unbekannten Schrumpfungsprozeß tiefschürfende Veränderungen durchgemacht hatte, milderte den Eindruck, den er hinterließ, nicht im geringsten. Die Haut war bräunlich mumifiziert und von Runzeln übersät. Die Augenhöhlen – obwohl leer und verdorrt – schienen Liliths Entsetzen in bestürzen der Weise zu reflektieren. Lilith erkannte, daß das Schamgefühl, das sie vorhin zu spüren meinte, hier seinen Ursprung hatte. *
Wie von selbst streckten sich ihre Hände nach der schrecklichen Trophäe aus. Aber sie schaffte es nicht, sie zu berühren. Es gab eine Schranke, die nicht zu überwinden war. Zentimeter vor der Fratze ging es nicht weiter. Es ist Zufall, redete sie sich ein. Die Ähnlichkeit ist rein zufällig. Es kann nicht – Sie wußte, daß sie sich etwas vormachte. In diesem Moment wußte sie auch, daß sie sich in Landrus Kam mer aufhielt, und hier war alles möglich. Ihr offener Mund klaffte wie ein Riß. »Vater …?«
* Duncan Luther wußte, daß es wahrscheinlich ein grober Fehler ge wesen war, Lilith allein ziehen zu lassen. Als er Geräusche an der Tür hörte, hoffte der ehemalige Priester anwärter, sie kehre nach Stunden endlich zurück. Doch es war nur Beth. Der blonden, kurzhaarigen Reporterin gehörte dieses Apartment. Duncan und Lilith waren bei ihr lediglich untergeschlüpft. Noch dazu unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Beth schien mittlerweile Verdacht zu hegen, daß sie belogen wur de. Daß sie sich mit der reizend-erotischen Lilith eine Halbvampirin ins Haus geholt hatte, ahnte sie hingegen mit ziemlicher Bestimmt heit nicht. Beth hatte ein festgefügtes Weltbild. Die Frage war nur, wie lange dies noch Bestand hatte …
Duncan seufzte leise. Elisabeth MacKinsey legte ihre Tasche auf einen kleinen Bistrotisch im Wohn-/Eßzimmer (zur Zeit Wohn-/Eß/Schlafzimmer; Duncan nächtigte auf der Couch daneben). Dann setzte sie sich davor. »Sag nicht, daß sie immer noch nicht da ist!« »Sie war da. Kurz.« »Ach …« Die sonstige Powerfrau sah übermüdet aus. Dennoch blitzten ihre Augen, als sie ihr Powerbook aus der Tasche zog. Sie schloß es an ein bereitstehendes Netzteil an. Der »Mac« begann leise zu summen, das Display erhellte sich. Duncan begann sich in den folgenden Minuten höchst überflüssig zu fühlen. Seine Freundin aus Collegetagen behandelte ihn wie Luft. Daß dies nicht ohne Absicht geschah, war ihm klar, änderte aber wenig. Die Reporterin kramte noch etwas aus ihrer Umhängetasche. Eine Zeitung, die sie forsch unter Duncans Nase hielt. Er griff zu. »Unter anderen Umständen«, sagte sie, ohne den Blick von ihrem Computer-Notebook zu wenden, »würde ich nicht mit der Tür ins Haus fallen. Aber die Umstände sind leider nicht so, wie ich sie mir wünschte.« Er setzte sich neben sie auf die eigenen Hacken. Noch länger konn te sie ihn nicht ignorieren. Als sie ihn endlich ansah, wurde ihr Tick für täglich wechselnde »Augenfarben« offenbar. Ein unerschöpfli ches Reservoir verschiedenfarbiger Haftschalen war das Geheimnis. Heute schien »Albino« angesagt. »Worauf willst du hinaus?« fragte er. »Liebst du deine Eltern?« Schlagartig breitete sich ein flaues Gefühl in seinem Bauch aus.
»Was soll die Frage? Ich –« »Ja, du, mein Freund!« fauchte sie ihn scharf an. »Falls ich dich noch ›Freund‹ nennen kann … Quatsch nicht, lies!« Ihre Aggressivität verunsicherte ihn noch mehr. Aber als er den markierten Bericht überflogen hatte, wußte er Bescheid. Sein Gesicht verkantete. Die Lippen wurden strichdünn. Er sagte nichts. »Es kann wohl kaum Zufall sein«, tat sie es für ihn, »daß erst dein Priester unter ungeklärten Umständen stirbt und nun auch noch dei ne Eltern in den Flammen ihres Hauses umkommen …!« Er schwieg immer noch. Gedanken rotierten hinter seiner Stirn. »Wie kannst du so sicher sein, daß hier die Rede von meinen Eltern ist …?« »So häufig ist der Name Luther nun auch nicht, mein Lieber! Als ich von der Brandkatastrophe in Leichhardt las, war ich noch arglos. Es interessierte mich einfach. Daß es sich bei den Opfern um deine Eltern handeln könnte, ging mir erst später auf …« Er erhob sich und machte einen Schritt auf die Wohnungstür zu. Die Bewegung schien ihm ungewöhnlich schwerzufallen. »Wo willst du hin?« »An die frische Luft.« »Willst du nicht fertiglesen, was da steht?« Er schüttelte den Kopf. Wenn die Zeitung nichts hinzugedichtet hatte, kannte er den Inhalt. Sie gönnte ihm keine Schonung. »Verdammt billig, immer dann davonzulaufen, wenn Ehrlichkeit geboten wäre! Anfangs habe ich dir wirklich geglaubt, daß du mit Lorrimers Tod nichts zu tun hast. Aber diese neue Tragödie …« »Warum wendest du dich nicht einfach an die Polizei, wenn du
mir so mißtraust?« »Weil ich immer noch hoffe, daß du das selbst tust!« »Man würde mir nicht glauben.« »Sie würden zuhören. Wie ich, wenn du mir, verdammt noch mal, endlich die Wahrheit über dich und Lilith sagen würdest! Ich bin nicht irgend jemand, falls du das tatsächlich vergessen haben soll test! Ich bin eine Freundin …« Das weiß ich, dachte er. Es geht trotzdem nicht. Wo sollte ich anfangen, großer Himmel … »Gib mir etwas Zeit …« Einen Moment sah es aus, als würde dieser Wunsch das Faß end gültig zum Überlaufen bringen. Ihr Nicken räumte ihm dann aber doch eine letzte – eine allerletzte – Galgenfrist ein. »Okay. Wie du willst. Aber ich warne euch, dich und Lilith: Der Countdown läuft. Ihr reißt mich da in etwas rein, was mir bestimmt nicht gefällt. Hätte ich nicht genügend andere Sachen um die Ohren, könntet ihr so nicht mit mir umspringen! Ich gebe euch eine letzte Frist bis morgen – entweder teilt ihr dann eure Pro bleme mit mir, oder ihr verschwindet!« »Ich verstehe dich gut, glaub mir …« »Phantastisch!« unterbrach sie ihn. »Dann bitte ich dich jetzt, an die Luft zu gehen, wie du es vorhattest. Ich denke, es hilft mir enorm, mich wenigstens zeitweilig wieder etwas wohler in meinen eigenen vier Wänden zu fühlen …!«
* Lilith versuchte noch einmal, den Schrumpfkopf zu ergreifen, ob wohl das Grauen ihr die Kehle zupreßte. Sie scheiterte. Die unüber
windliche Barriere befand sich in ihrem Kopf! Drei Lederbeutel neben dem Schädel lenkten sie ab. Einer davon, gerade groß genug, den Schrumpfkopf zu fassen, war leer. Lilith untersuchte auch die beiden anderen. Hier gab es keine Schranken. Nur Überraschungen. Denn der zweite Beutel enthielt: Sand. Mehr nicht. Staubtrockene Körner, die durch ihre Finger rannen. Einige ver fehlten den offenen Beutel und fielen dennoch nicht zu Boden; sie kehrten auf Umwegen zur Gesamtmenge zurück. Das Zauberkunststückchen brachte Lilith nicht weiter. Deshalb wandte sie sich dem dritten und letzten zu. Hier geschah etwas noch viel Gespenstischeres. Ein lederartiges Knäuel knisterte in ihrer Hand und faltete sich selbständig ausein ander. Lilith mußte das Gebilde mit beiden Händen straffen, um sei nen Sinn zu erkennen. Es war eine … Landkarte, mit Blut gezeichnet. Das Material fühlte sich an wie gegerbte Haut, und das Blut dar auf war alt! Eine uralte Karte aus Haut und Blut? Liliths Blicke glitten über die Darstellung eines unbekannten Landstrichs. Aber noch ehe sie sich auch nur ein einziges Detail ein prägen konnte, hörte sie vom Korridor her näherrückende Stimmen. Sie hatte die Tür nur beigedrückt, nicht geschlossen. Eine Sekunde lang drückte sie die Karte wie erstarrt gegen die Brust. Dann knüllte sie die Karte zusammen und stopfte sie in den Beutel zurück. Es gelang ihr gerade noch, in den Schrank zu schlüp fen, bevor die Tür zur Kammer aufgerissen wurde. Lilith preßte ein Auge gegen den Spalt, den sie zwischen den
Schranktüren gelassen hatte. Ihr Mund wurde trocken, als sie den nackten Mann eintreten sah. Optisch glich er einem attraktiven Fünfzigjährigen. Er war einsfünfundachtzig bis einsneunzig groß, sehr schlank, und hatte das schwarze Haar streng nach hinten ge scheitelt. Das feingeschnittene Gesicht spiegelte einen enormen Er fahrungsschatz wider. Besonders auffällig war ein fingerlanges, kreuzförmiges Stigma auf der linken Wange, das wie rohes Fleisch schimmerte. Vielleicht war es diese Narbe – vielleicht das frische Blut um seinen Mund, was ihm trotz unstrittiger Attraktivität eine perfide Note verlieh. Auch sein sonstiger Körper wies zahllose Vernarbungen auf, die von keinen normalen Verletzungen herrühren konnten. Lilith wuß te, daß Vampire – sie selbst bildete da trotz ihrer »menschlichen Komponente« keine Ausnahme – herkömmliche Wunden so perfekt regenerierten, daß in der Regel keinerlei Male zurückblieben. Und dieser Mann war ein Vampir. Ein Supervampir. Sie erkannte ihn auf Anhieb anhand seines Charismas, das sie schon einmal als Todesaura wahrgenommen hatte. In Esben Storms Laden …! Seine Begleiterin – gleichfalls nackt – war keine Vampirin. Aber eine Frau, die Lilith spontan, obwohl rot- und nicht blondhaarig, an Beth erinnerte. Figur und Mimik wiesen eine befremdliche Ähnlich keit mit der Reporterin auf. Auch Beth hatte diese knabenhafte, aus drucksstarke Figur … Liliths Blick glitt zu Landru zurück. Als er sich seiner am Boden abgelegten Kleidung zuwandte, hielt seine Begleiterin ihn zurück und drängte sich spielerisch gegen ihn. Die keck aufgerichteten Brüste paßten mühelos in eine Männerhand. Und genau danach schien ihr zu verlangen, denn sie wies Landrus
Fingern den Weg. »Es war phantastisch«, seufzte sie. »Wie ich mein Rudel vermisse. Unsere gemeinsame Jagd entschädigt für die lange Einsamkeit …« Beide schienen von einem grausigen Mahl zurückzukehren. Über all an ihren nackten Körpern klebte Blut. Landru löste stumm die Hände von ihrem Busen und umfing statt dessen ihren Po. Als er sie mühelos Zentimeter über den Boden hob, stöhnte sie laut. Zugleich geschah etwas Merkwürdiges. Landrus Haut erbleichte – offenbar unter dem Einfluß zunehmender Erre gung. Seine Begleiterin schien dieses Signal zu kennen. Sie stöhnte noch wollüstiger und begann sich stärker zu winden. Ihre Arme waren um seinen Nacken geschlungen. Der Fahle, erinnerte sich Lilith an Worte ihrer Mutter, die Landru mit diesem Beinamen versehen hatte, ohne näher auf den Grund einzugehen. Lilith versuchte, einen Blick auf Landrus Männlichkeit zu erha schen. Die ganze Zeit über waren seine Lenden entweder von der Frau verdeckt worden oder einer anderen Richtung zugewandt ge wesen. Sie ertappte sich dabei, in Landru nicht nur das Monster, sondern auch den Mann zu sehen. Das war mehr als ein Schock. Irritiert biß sie sich auf die Lippe. Sie erinnerte sich an den Schädel, der immer noch auf Landrus Klei dung lag. Mörder! zitterte es in ihr. »Ich war nicht untätig in all den Jahren«, lenkte die kurzatmige Stimme der Rothaarigen sie jedoch wieder dem Geschehen zu, das sie alles andere als unbeteiligt ließ. »Schließ die Augen und liefere dich mir aus. Ich will deine Alpha-Herrin sein – wie immer, wenn
wir uns begegnen …« Lilith kam aus dem Staunen nicht heraus. Nicht im Traum hätte sie erwartet, daß Landru solchem Verlangen nachgeben würde. Aber er tat es. Behutsam setzte er die Frau auf den Boden zurück. »Du darfst alles«, sagte er. »Nur nicht enttäuschen. Was habe ich zu tun?« Er breitete die Arme aus, wies die leeren Handflächen und demonstrierte unmißverständlich, daß er sich ihr – zumindest sym bolisch – ergab. Dabei wurde endlich auch der Blick auf sein hoch gerecktes Glied frei. Das Zittern in Lilith wurde stärker, als sie die Größe erkannte. Im ersten Moment hielt sie es für unmöglich, daß er damit eine Frau be glücken konnte, ohne sie zugleich zu verletzen. Seine knabenhafte Gefährtin schien darüber jedoch nicht im ge ringsten besorgt. Im Gegenteil, ihr entwichen unkontrollierte Schreie der Vorfreude. Liliths Neugierde über den weiteren Verlauf wuchs synchron zur eigenen Erregung. Daß sie sich als Voyeur betätigte, war ihr weder bewußt, noch hätte es sie in diesen Minuten gestört. »Ich werde meine Zelte hier abbrechen, zumindest vorüberge hend«, sagte Landru in dem Moment, als die Frau sich nach einem dünnen Schleier bückte, mit dem sie seine Handgelenke kunstvoll auf dem Rücken zusammenflocht. »Es könnte fatale Folgen haben, noch mehr Zeit zu verschwenden. Das Balg läuft mir nicht fort. Sol len sich einstweilen andere an ihr versuchen …« »Von wem redest du ständig?« Er demonstrierte eindrucksvoll, daß er keine Lust zu Diskussionen verspürte. Trotz Fesselung schnellte er sich ihr entgegen und riß sie mit zu Boden. Eine Weile rangelten sie ausgelassen. Landru bedeck te ihren Körper mit Küssen und hielt erst wieder ein, als sie lachend um »Gnade« winselte. »Ich dachte, ich wäre die Alpha-Herrin …«
Er blieb kurz auf dem Rücken. »So soll es auch sein. Aber öffne zu erst den Beutel dort, und ergieße ihn über den Boden.« »Staub der alten Heimat?« Sie schien seine Eigenheiten zu kennen. »Staub der alten Heimat«, nickte er. »Nur Reisende wie ich wissen um seinen Wert. Ohne ihn fände ich in der Fremde keinen Schlaf. Aber er verschafft mir auch Wonnen, die süßer als erholsamer Schlaf sind – mit der richtigen Gefährtin …« Lilith lauschte aufmerksam. Nona seufzte tief. »Schade, daß du nie verrätst, wo diese Heimat liegt. Es würde mich reizen zu erforschen, ob es dort noch mehr Prachtexemplare wie dich gibt …« »Du vergißt, daß auch ich über deine Herkunft im dunkeln tappe.« »Ich hätte es längst erwähnt, wenn es nicht gar so belanglos wäre.« Es war unübersehbar, daß Landru ihr das nicht abnahm. Dennoch ließ sie sich nicht beirren, entleerte den Beutel, dessen Inhalt sich über den Boden verteilte, und fuhr fort: »Vielleicht suchst du noch eine treue Gefährtin. Ich wüßte da jemanden, der dir die Entbehrun gen einer längeren Reise versüßen könnte …« Landrus Ungeduld wuchs. Lilith hatte noch nie heimlich anderen beim Sex zugesehen. Den noch konnte sie sich der Verlockung nicht entziehen. Doch noch ehe es richtig zur Sache ging, huschte die gertenschlan ke Frau plötzlich direkt auf Liliths Versteck zu! Lilith erstarrte und wich vom Spalt zurück bis zur Rückwand des Schrankes. Es war ein Reflex. Es hätte sie nicht geschützt, wenn jetzt die Tür aufgerissen worden wäre. Doch Nona beschränkte sich auf eine der Schubladen, aus der sie die Tücher hervorholte, welche Li lith zuvor schon bemerkt hatte. Sie blieb unentdeckt, und nach einer Weile wagte sie es, zu ihrem
Beobachtungsposten zurückzukehren. Abgehackte Laute wiesen ihr den Weg zum Geschehen. Landru kniete – noch immer gefesselt – hinter Nona, die sich auf alle viere niedergelassen und den Kopf weit in den Nacken zurückgebogen hatte. Offenbar hatte sie keine Schwierigkeiten gehabt, Landru in sich aufzunehmen. Die Art, wie sie sich jedem seiner Stöße entge genstemmte, verriet, daß sie längst in einen ekstatischen Zustand verfallen war, in dem Schmerz, falls vorhanden, nicht mehr zählte. Die Tücher, die Nona aus dem Schrank genommen hatte, dienten beiden Akteuren nicht als Unterlagen oder Decken, sondern um tanzten sie wie lebendige Irrwische. Jedes Tuch hatte seine eigene Farbe, seine eigene Stimulanz. Landru genoß sichtlich. Verzücken malte sich auf seine bleichen Züge. Die Kreuznarbe schien rhythmisch aufzuflammen. Liliths Unruhe wuchs. Unbewußt berührte sie ihren eigenen Kör per, weil sie sich dem Bann fremder Leidenschaft kaum noch entzie hen konnte. Mit Gewalt mußte sie sich daran erinnern, weshalb sie sich in höchste Gefahr begeben hatte. Eine günstigere Gelegenheit, Landru zu überrumpeln, schien kaum vorstellbar. Und doch zögerte Lilith. Selbst in einer Situation, in der andere Männer vielleicht klein und verletzlich gewirkt hätten, strahlte Landru unbeugsame Stärke aus. Er war nicht Hora. Er hatte weder im Aussehen noch in der Aura seiner Macht Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Sippenoberhaupt. Mit ihren bloßen Händen würde sie ihn nie besiegen können. Nur der Symbiont hatte vielleicht eine Chance, wenn er kompromißlos zu Werke ging … Ehe Lilith diesen Gedanken zu Ende knüpfen konnte, traf es sie wie eine eiskalte Dusche. Ich würde nie gegen ihn vorgehen – niemals!
Der Gedankenimpuls des Symbionten war deprimierender als al les, was Lilith je von ihm hatte hinnehmen müssen. Sie war regelrecht geschockt. Verräter! machte sie ihrer angestauten Wut Luft. Und mußte prompt den nächsten Schock hinnehmen. Landru hielt trotz Nonas unüberhörbaren Protestes in seinen Be wegungen inne, zerriß die Fessel und wehrte die ihn umschmei chelnden Tücher ab. »Was ist in dich gefahren?« Die Exotin drehte den Kopf. Ihr Ge sicht glühte nach. Es hatte sich verändert, und Lilith begriff, mit wem sie es zu tun hatte. Reißzähne fletschten Landru an. In Wolfsaugen spiegelte sich archaische Lust. »Ich weiß nicht …« Er machte eine unbestimmte Geste. »Etwas ist verändert. Störende Einflüsse …« »Hier?« »Hier!« Noch während Landru sich aus Nona zurückzog und ruckartig aufrichtete, gefror Lilith das Blut in den Adern.
* Zur selben Zeit … Es krachte häßlich, als Maud Edwards den Spiegel im Vorraum der Damentoilette zertrümmerte. Dem Scherbenregen entging sie mit ei nem eleganten Sidestep. Anschließend steckte sie den metallenen Briefbeschwerer in die Außentasche ihres strenggeschnittenen Kleids zurück.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht hatte, wie immer, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, etwas Debiles. Kurz darauf verließ sie den Toilettenraum ohne erkennbare Hast und kehrte zu ihrem Büro zu rück. Es war nicht das erste Mal, daß sie auf diese Weise sieben Jahre Pech heraufbeschwor. Pikanterie erlangte das Ganze lediglich da durch, daß die brünette Frau eigentlich gar keine Toilette benötigte. Um im täglichen Dienstbetrieb nicht über Gebühr aufzufallen, muß te sie jedoch hin und wieder nicht vorhandene Notdurft vortäu schen. Es war nie leicht gewesen, den Anschein zu wahren, und seit der Hausmeister per Aushang am Schwarzen Brett nach dem »Spie gel-Rowdy« fahndete, war es noch schwerer geworden. Mauds einziges Glück war, daß sich der Hauswart im allgemeinen nicht seine Nächte um die Ohren schlug. Der alte Jeremy war jedoch ein gescheiter Bursche, und der Moment, in dem sie in eine seiner »Fallen« tappen würde, war abzusehen. Spätestens dann würde sich die Sache mit dem Pech bewahrhei ten. Pech für Jeremy … Äußerlich wirkte Maud wie eine etwas aus dem Rahmen fallende Frau um die Vierzig. Ihre Augen lagen weit zurückversetzt in den Höhlen. Dies, die fliehende Stirn, ihre Hakennase, ein ausgeprägtes Hohlkreuz und ein paar weitere Details trugen dazu bei, daß Chief Codds Sekretärin einen etwas lädierten Eindruck machte. Unerklär lich eigentlich, daß dennoch Scharen von Männern hinter ihr her waren. Der Korridor innerhalb des Polizeihauptquartiers war von Neon licht erhellt. Auf dieser Etage wurde um diese Stunde nirgends mehr gearbeitet. Hinter den meisten Milchglasscheiben war es folg lich dunkel. Nur in den tieferliegenden Stockwerken summte das
Leben in Wechselschichten. Wirklich zur Ruhe kam der Gesetzesap parat in einer Stadt wie Sydney nie. Auch das Verbrechen machte schließlich keine Pausen. Als Maud das Vorzimmer betrat, blieb sie verdutzt stehen. Auf ih ren Tischen hatte sich nichts verändert, aber auf dem Boden davor lagen einige Dinge verstreut, was sie sofort beunruhigte. Das lag an der Natur der Gegenstände: Ein Dienstrevolver. Ein tragbares Funkgerät. Eine Stablampe … Maud bückte sich und hob nach und nach alles auf. Während sie die Dinge auf einen der Tische legte, irrte ihr Blick durch den Raum. Die Tür zu Codds Büro war geschlossen. Das Summen des Com puters auf Mauds Schreibtisch war das einzige hörbare Geräusch in nerhalb des etwa vier mal vier Meter großen Raumes. Sie wollte sich gerade vergewissern, ob Codd noch einmal zurück gekommen war, als das Telefon sie ablenkte. Jemand rief ohne den Umweg über die Zentrale zu ihr durch. Und das, dachte sie, konnte eigentlich nur derjenige sein, den sie gerade noch verdächtigt hatte, zurückgekehrt zu sein. Sie hob ab. »Maud?« »Chef?« »Al und ich fahren jetzt weiter zur Paddington. Ich werde diese Nacht nicht mehr ins Büro kommen. Sie können auch nach Hause gehen, wenn Sie wollen.« »Danke«, sagte Maud. Ihre graugrünen Augen wanderten zu den Utensilien zurück, die sie gerade aufgesammelt hatte. »Ist noch etwas?« fragte Codd. Sie und er waren vom gleichen
Schlag. Kaum einer konnte vor dem anderen etwas verbergen. »Nichts von Bedeutung«, hörte Maud sich sagen. »Es hat Zeit, bis wir uns wiedersehen.« »Bestimmt?« Maud nickte unbewußt. »Bestimmt.« Codd unterbrach die Verbindung, Maud legte auf, setzte sich auf ihren Stuhl und rollte damit zum Nebentisch, wo der Revolver und die beiden anderen Gegenstände lagen. Als hätte jemand ziemlich radikal seinen Dienst quittiert, dachte sie. Daß ihr Chef nicht nur Befürworter seiner Personalpolitik besaß, war ein offenes Geheimnis. Andererseits würde niemand es, wie hier geschehen, wagen, ihm die Insignien seines Jobs quasi vor die Füße zu pfeffern. Maud nahm den schweren Revolver in eine Hand und drehte ihn sachkundig. Es war eine Polizeiwaffe. Die eingravierte Nummer auf der Unter seite des Knaufs bestätigte es. Als sie sich dem Walkie-talkie zuwenden wollte, gefror sie mitten in ihrer Bewegung. Verantwortlich dafür war ein Geräusch aus dem Nebenzimmer – genauer, aus Codds Büro. Maud Edwards war absolut angstfrei. Trotz des Umstands, daß ihr hier oben um diese Zeit im Ernstfall wohl niemand rechtzeitig zu Hilfe eilen konnte. Sie stand auf und trat auf die Tür zu. Das kurze Geräusch war längst wieder verstummt. Es hatte Ähn lichkeit mit dem harten Husten eines Menschen besessen, der einen Bissen in die falsche Kehle bekommen hatte. Maud öffnete die Tür.
Ein Grund für ihre Furchtlosigkeit war, daß sie nicht annähernd so wehrlos war, wie sie erscheinen mochte. Codds Büro war dunkel. Das war es fast immer, selbst wenn der Polizeichef anwesend war. Tagsüber wurde das Licht von Jalousien gedämpft. Codd war – zumindest nach außen hin – ein kranker, geplagter Mann. Allergisch gegen »alles und jeden«. Auch gegen grelle Hellig keit. Dennoch wurde er auf geradezu wundersame Weise seit vielen Jahren immer wieder neu in seinem Amt bestätigt … Maud hatte keine Mühe mit der Dunkelheit. Sie entdeckte die Ge stalt in den Schatten sofort. Sie drehte ihr den Rücken zu und war damit beschäftigt, in einem von Codds Aktenschränken zu stöbern. Wer immer es war, er mußte bemerkt haben, daß sich die Tür öff nete. Aber er ignorierte es. »Was tun Sie da?« fragte Maud scharf. Sie machte keine Anstalten, das Licht anzuknipsen. Aus ihrem Vorzimmer fiel Helligkeit in den Raum, jedoch nicht bis zu dem unbefugten Besucher. Maud Ed wards warf keinen Schatten in die Lichtinsel auf dem Boden. Der Mann suchte weiter. Viel mehr, als daß es sich um einen Mann handelte, war noch nicht erkennbar. »Hören Sie auf, oder ich schlage Alarm!« warnte Maud. Die Gestalt kam ihr vertraut vor. Dennoch traf es sie wie ein Keu lenhieb, als der Mann sich zu ihr umwandte. »Sie …?« »Wo ischt Codd?« Maud rang sekundenlang um ihre Fassung. Erst nach einigem Nachdenken begriff sie, was die hingenuschelte Frage bedeutete. »Wo-her kommen Sie? Wer hat Ihnen …?« »Wo ischt Codd?« schnarrte der schiefe Mund, dessen Kiefer un
kontrolliert hin und her wackelten. »Außer Haus«, sagte sie und ging auf den Eindringling zu. »Es wird später Abend, bis er wiederkommt.« Auf dem Gesicht des Mannes erschien ein neuer Ausdruck. Mit abgehackten Bewegungen trat auch er ihr entgegen, so daß sie sich nach wenigen Schritten treffen mußten. »Scholange kann isch nischt warten …« Maud Edwards hatte längst begriffen, daß die Utensilien, die sie im Vorraum aufgelesen hatte, von dem unangemeldeten Besucher stammten. »Sie waren verschwunden«, sagte sie und blieb zwei Me ter von ihm entfernt stehen. »Tagelang. Was haben Sie gemacht in dieser Zeit? Wer – wer hat Ihnen das angetan?« Trotz ihrer Nachfrage sprach keinerlei Mitleid aus ihrer Stimme. Emotionslos nahm sie lediglich unübersehbare Fakten zur Kenntnis. Auch ihr Gegenüber hatte seinen Vorwärtsdrang gestoppt. Er hob die Hand. Sein gestreckter Finger wies auf Maud. »Blut schauger!« schnarrte er. Es war längst egal, daß er sie durchschaute. Es war auch egal, wel che Hölle ihn nach all den Tagen wieder ausgespien haben mochte. Er war zurück und damit eine unabsehbare Gefahr. »Was wollen Sie um diese Zeit vom Chef?« fragte Maud kalt. »Daschelbe wie von dir.« »Und das wäre?« »Er musch erlöscht werden!« Maud stemmte höhnisch die Fäuste in die Taille. Der Mann vor ihr war unbewaffnet. Seine zerrissene Kleidung ließ keine Versteck möglichkeit zu. Die einzige Waffe, die er besessen hatte, lag draußen auf einem der Tische, und sie hätte ihm nicht viel genützt. »Es war dumm, hierher zurückzukommen, wenn Sie schon wis
sen, wer Codd ist und wer ich bin …« Er schien sie nicht zu hören. Mit marionettenhaften Bewegungen überwand er die schmale Kluft zwischen ihnen, und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie stumpf sein Blick war. Sie wich nicht aus. Sie hob die Arme, um seinen Kopf zu fassen und es kurz und schmerzlos zu Ende zu bringen. Im selben Moment entwickelte er eine solche Behendigkeit, daß sie den Bewegungsabläufen kaum folgen konnte. Seine Hände schnell ten hoch. Auch er zielte nach ihrem Kopf, aber nicht, wie sie im ers ten Moment annahm, um ihr das Genick zu brechen. Er krallte eine Hand in ihr sprödes Haar, mit der anderen umfaßte er ihr Kinn. Sie stöhnte. Ihre Arme fanden nicht den Weg an ihm vorbei. Die Kraft, die er entwickelte, war für einen wie ihn absolut unnatürlich. »Hören – Sie – auf!« preßte sie hervor. Die Erkenntnis, daß es ein folgenschwerer Fehler gewesen war, ihn zu unterschätzen, spülte den letzten klaren Gedanken, den sie dringend gebraucht hätte, hin weg. Sein Griff wurde noch zwingender. Er zwang ihren Kopf weit in den Nacken und hielt zugleich ihr Kinn felsenfest, so daß ihr Mund weit aufgerissen wurde. Als sie begriff, daß es um ihre Existenz ging, setzte die Metamorphose fast wie von selbst ein. Ihre Eckzähne verwandelten sich in tödliche Waffen, aber sie fanden kein Ziel. Der Griff ihres Gegners wurde noch unnachgiebiger. Dann hörte sie aus nächster Nähe wieder jenes Geräusch, das sie in den Raum gelockt hatte. Dieses … Würgen. Er ist wahnsinnig, dachte sie, als das mißgestaltete Gesicht auf sie zuglitt. Dieser Narr will mich küssen? Ich werde ihn … Auch er riß jetzt den Rachen auf.
Es knirschte furchtbar. Aus Mauds Kehle brach ein Fauchen, das jedem anderen höchste Gefahr signalisiert hätte. Ihre Reißzähne funkelten wie Elfenbein. Aber wieder kam sie nicht dazu, ihre eigene Stärke zu entfalten. Vielleicht war sie auch zu fasziniert von dem widerwärtigen Akt, der sich genau vor ihren Augen abspielte. Etwas arbeitete sich den Rumpf und Hals des Mannes empor, als wollte es beides sprengen, und in dem Moment, als sich beide Rachen trafen … Etwas, das sich in ihren Mundraum quetschte und ihre Zunge zer malmte. Im selben Moment ließ ihr Gegner los. Sie taumelte rückwärts, und ihre Hände fuhren zur Kehle. Sie ver suchte, den Fremdkörper in ihrem Mund wieder auszuspucken. Es war unmöglich. Das Ding in ihr hätte sie erstickt, wenn Maud Edwards noch ein Mensch gewesen wäre. Es klemmte bereits weit hinten und ließ auch keine Nasenatmung mehr zu. Maud war so wenig Mensch wie Virgil Codd. Sie war nur noch eine Kreatur. Obwohl sie schmerzunempfindlich war, hatte Maud das Gefühl, innerlich zerfetzt zu werden. Das Ding preßte sich die viel zu enge Speiseröhre entlang abwärts. Vorbei am Herzen, das schlug, trotz dem es schon lange nicht mehr lebte. Erst im Magen kam es zur Ruhe. Sekundenlang geschah nichts. Maud starrte in die Augen des Mannes, der ihr das Unbeschreibli che angetan hatte. Da platzte die Frucht …
* Landru untersuchte sorgfältig seine Sachen. Doch auch als er nichts Verdächtiges fand, schien ihn das nicht spürbar zu beruhigen. Plötz lich wandte er sich dem Schrank zu. Hilf mir! flehte Lilith lautlos. Zur Hölle mit dir, wenn du mich im Stich läßt! Die Hölle, die du meinst, will mich nicht, gab ihr Symbiont ungerührt zurück. Dann wirst du mit mir zugrunde gehen …! Das Ungeheuer auf ihrer Haut verzichtete auf weitere Kommenta re. »Komm zu mir zurück!« hörte Lilith die Werwölfin fauchen – und hoffte, Landru würde seine Gespielin erhören. Obwohl Nonas Körper jetzt mit Haaren überzogen war, büßte sie nichts von ihrem Sex-Appeal ein. Gesicht und Schambereich zeigten weiterhin nackte Stellen. »Gleich«, antwortete Landru – und machte weitere Schritte auf den Schrank zu. Nur kurz blieb er stehen und preßte die Fingerspit zen gegen seine Schläfen. Noch immer ragte sein steifes Glied wie ein Pfahl in die Horizontale. Die Unterbrechung schien sich keines wegs nachteilig auf den Grad seiner Erregung auszuwirken. Noch nicht. Lilith stellte sich die Frage, was Landru tun würde, wenn er sie in ihrem Versteck entlarvte. Würde er versuchen, sie sofort zu töten, oder …? »Jetzt!« knurrte der mutierte Frauenkörper und fuhr mit einem Satz auf. »Ich will dich jetzt!« Mit einer kaum nachvollziehbaren Bewegung sprang Nona Land
ru von hinten an. Spielerisch biß sie in den Nacken des Vampirs. Ihr heißer Wolfsatem flüsterte heisere Obszönitäten, die trotz der über aus brenzligen Situation auch bei Lilith Wirkung zeigten. Sie bemühte sich, den Kopf klar zu bekommen. Sie mußte sich selbst helfen, denn sie war nun völlig allein. Den Symbionten konnte sie vergessen! Diesmal zog sie sich auch nicht an die Rückwand des Schrankes zurück. Ihr Auge klebte buchstäblich am Beobachtungsspalt, um so fort reagieren zu können, wenn Landru die Hand nach der Tür aus streckte. Doch Nonas Argumente schienen stärker als Landrus warnende Instinkte. Zunächst noch widerstrebend, dann mit steigender Ei geninitiative befaßte er sich mit seiner erhitzten Gefährtin, die ihn zurück in den Reigen der Tücher zerrte. Direkt neben Landrus abge legten Kleidern – also auch neben den Beuteln und dem Schrumpf kopf – glitten sie erneut zu Boden. In der Folge wurden die wollüsti gen Geräusche immer intensiver. Als Lilith hoffen konnte, daß beide Akteure blind und taub vor Vergnügen waren, entschloß sie sich zum Rückzug. Jetzt oder nie! Eine bessere Chance würde sie nicht mehr erhalten. Zugleich wußte sie aber auch, daß sie mit leeren Händen gehen würde. Die vielversprechend aussehende Karte mußte sie ebenso zurücklassen wie (es brach ihr fast das Herz) den Schädel, den sie identifiziert zu haben glaubte! Im Grunde hatte ihr Besuch keinen anderen Erfolg gebracht als das nahe Kennenlernen ihres ärgsten Feindes. Doch momentan konnte sie froh sein, diesen Ort unbeschadet wieder verlassen zu dürfen … Sie wagte es.
Das leise Knarren, mit dem die Schranktür aufschwang, erschien ihr laut genug, um das enthemmte Treiben ihrer Gegner zu unter brechen. Glücklicherweise geschah dies nicht. Landru lag mit vollem Gewicht auf seiner Wolfsgefährtin, deren Augen wie Achate glommen und irgendwo zur Decke gerichtet wa ren. Als sie zwischendurch einmal besonders heftig aufheulte, er starrte Lilith zur Salzsäule, weil sie sich doch noch ertappt wähnte. Aber sie gelangte unbehelligt in den leeren Korridor. Erst auf der untersten Stufe der zum Altarraum führenden Treppe hörte sie ein Geräusch. Im Umdrehen glaubte sie hinter sich etwas davonhuschen zu sehen. Da sie sich nicht sicher war und der Schat ten – wenn überhaupt existent – vor ihr floh, sah sie keine Veranlas sung, dem nachzugehen. Wieder durchquerte sie in Windeseile den Totenacker. Diesmal fand sie sogar zufällig einen Durchschlupf im Zaun, der schon häu figer benutzt schien. Auch mit Erreichen beleuchteter Straßen fühlte sich Lilith nicht wirklich erleichtert. Immer wieder schob sich eine Fratze vor ihr geistiges Auge. Eine Grimasse, die sie bis in ihre Träume verfolgen würde. Sie gehörte nicht Landru. Es war das verdorrte Gesicht ihres vor Jahrzehnten enthaupteten Vaters …
* Paddington Street
Der Wagen hielt. Türen klappten auf und zu. »Nehmen Sie die Lampe weg, Sie Idiot!« fauchte Polizeichef Codd einen Beamten an, der ihm ins Gesicht leuchtete. »Waren Sie es, der uns informiert hat?« Der Polizist nickte eingeschüchtert. Auf der anderen Seite stieg Al Weinberg aus der schweren Limou sine. Der Bürgermeister von Sydney war ein kleiner, schwergewich tiger Mann von extremer Blässe. Seine Figur und das feiste Gesicht verliehen ihm unschmeichelhafte Ähnlichkeit mit dem Gründer des amerikanischen FBI, dem legendären J. Edgar Hoover. Einziger Un terschied: Über Weinbergs Nasenwurzel wuchsen die struppigen Augenbrauen wie Vogelnester zusammen. »Weg da!« scheuchte auch er den Polizisten, der wie ein getretener Hund parierte. Codd und Weinberg stapften auf das Tor zu, hinter dem das größ te Mysterium lag, mit dem sie sich in ihrer bisherigen Dienstzeit auseinanderzusetzen hatten. »Zur Hölle, wo können sie stecken?« keuchte der Bürgermeister. »Er hat sich schon wieder verändert.« Codd sprach in flachem Ton und ohne auf Weinbergs Frage einzugehen. »Der Garten?« »Natürlich der Garten.« »Ich sehe keinen Unterschied.« »Er ist zu fühlen.« Weinberg räusperte sich verächtlich. »Wo bleibt der Helikopter?« Wie auf Stichwort ertönte in diesem Moment Rotorengeräusch. Es schwoll rasch an. Wenig später landete ein Polizeikopter auf der ge räumten Straße. Codd und Weinberg gingen geduckt darauf zu und stiegen ein.
Wiederum nur kurze Zeit später hob der Pilot mit klaren Instruk tionen ab. Sowohl Codd als auch Weinberg verzichteten auf die an gebotenen Restlichtverstärker. Codd dirigierte den Piloten mit lei denschaftsloser Stimme. Zunächst flogen sie die äußere Grund stücksgrenze ab, von wo aus die fremdartige Vegetation gut zu überblicken war. An ihr schieden sich die Expertengeister. Nicht, weil es sich um eine unbekannte Flora handelte. Nein, man hatte die Pflanzen eindeutig identifizieren können. Das Unglaubliche war, daß sie unter dem hiesigen australischen Klima überhaupt »in freier Wildbahn« gedeihen konnten. Normalerweise gab es die meisten davon nur im Kunstklima überdachter botanischer Gärten. »Verplempern wir nicht noch mehr Zeit«, knurrte Weinberg. »Was wir hier sehen, hätten wir auch vom Boden aus erkannt. Die Wipfel und Blätter verbergen die wirklich wichtigen Details. Gehen wir hö her und wenden uns dem Zentrum zu!« Codd lachte ohne Heiterkeit. »Es ist gefährlich, Al. Sehr gefährlich, vergiß das nicht!« Obwohl er es sich nicht anmerken ließ, lief dem Piloten bei diesen Worten eine Gänsehaut über den Rücken. »Ich vergesse es nicht«, konterte der Bürgermeister. »Aber du weißt, was sie von uns erwarten …!« In der Mitte des Grundstücks hatte einmal ein merkwürdiges Haus ohne Fenster und Türen gestanden. Es war verschwunden, und auf der Lichtung, die es hinterlassen hatte, war binnen Tagen ein rätselhafter Baum von imposanter Größe gewachsen. Eine botanische Unmöglichkeit. Es gab Bildaufzeichnungen darüber. Beides – das spurlose Verschwinden des Gebäudes und der kom plette Vegetationsaustausch – waren ungelöste Rätsel, von denen potentielle Gefahr nicht nur für die menschlichen Bewohner Syd
neys ausging, sondern auch für die uralte Rasse, die den Menschen seit Anbeginn der Zeit knechtete. Eine ganze Armee von Experten war in Bewegung gesetzt worden, um sich mit dem Phänomen zu befassen und Antworten zu finden. Seit gestern standen auch diese Experten auf der Verlustliste. Zeugenberichten zufolge hatten sie das Grundstück betreten, und keiner von ihnen war wieder zurückgekehrt. Daß Menschen in 333, Paddington Street verschwanden, war nicht neu. Vereinzelt war dies seit Ausrufung des Notstands im Viertel im mer wieder geschehen. Aber mehr als ein Dutzend auf einmal … Der dschungeldichte, knapp zwanzig Meter breite Gürtel entlang der Mauer bestand aus Pflanzen, die normalerweise im persischen Raum heimisch waren. Doch damit erschöpfte sich bereits das, was hochkarätige Wissenschaftler an Erklärungen beisteuern konnten, ehe sie verschwanden. »Bringen wir es hinter uns, bevor es hell wird«, willigte Codd wi derstrebend ein und gab entsprechende Weisung an den Piloten, der sich immer mulmiger in seiner Haut fühlte. Dennoch steuerte er ohne Zögern über die Luftgrenze des Grundstücks. Kurz darauf war es Codd, dem ein Stöhnen entfuhr. Noch vor Weinberg erkannte er, was sich verändert hatte. »Bei Cane, wie ist das möglich?« Die Kreatur neben ihm begriff sofort, was er meinte. »Es – ist zu rückgekehrt!« kicherte Weinberg nervös. »Womöglich ist das der Grund, weshalb die Leute verschwunden sind …« Unter ihnen erhob sich kein rätselhafter Baum mehr, sondern ein sehr altes, sehr ungepflegt wirkendes Gebäude!
»Zeit für Taten«, knirschte Codd. »Wir werden nicht länger zuse hen, wie uns das Heft aus der Hand genommen wird!« Er wandte sich an den Piloten. »Landen Sie, wenn Sie eine Möglichkeit in der Nähe des Hauses sehen!« Während der Pilot ohne Zögern gehorchte und den Kopter herum zog, fragte Weinberg: »Sie wollen landen? Haben Sie die Ver schwundenen vergessen? Es ist niemandem gedient, wenn wir uns wie Kamikaze-Jäger verhalten …« Codd schüttelte den Kopf. »Jetzt gilt’s! Den Schwanz einzukneifen bringt uns nicht mehr weiter. Ich habe es satt zu warten, bis die Her ren sich endlich zum Handeln entschließen. Aber ich zwinge Sie nicht, mich zu begleiten. Sie können in der Kanzel warten.« Weinberg schwieg. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Als sie auf dem schmalen, vegetationsfreien Streifen vor dem Haus aufsetzten, stieg er unaufgefordert mit Codd aus. Der Polizeichef gab dem Piloten Weisung, mit laufendem Motor auf ihre Rückkehr zu warten. Jederzeit bereit für einen Alarmstart. Der Wind der Rotorblätter durchzauste die Haare der beiden Ge stalten, die sich waffenlos entfernten, bis sie sich wieder miteinander unterhalten konnten, ohne daß das Knattern der Rotoren ihre Stim men übertönte. »Sehen Sie das?« Codd richtete seine Stablampe auf die bröckelige Fassade. »Akute Einsturzgefahr, wenn Sie mich fragen …« Weinberg riß seinerseits mit der mitgeführten Lampe Details aus der Dunkelheit. »Fenster und Türen«, murmelte er. »Die Attrappen sind verschwunden …!« Das war nur die halbe Wahrheit. Zwar gab es keine Trugbilder mehr, aber das Haus war immer noch unzugänglich. Vor Codds und Weinbergs Augen erhob sich
ein dem Verfall preisgegebenes Gebäude, dessen Fenster und Türen vor sehr langer Zeit mit Ziegelsteinen und Mörtel zugemauert wor den waren. Lückenlos. Noch unbegreiflicher erschien es bei diesem Anblick, daß das Haus nachweislich von wenigstens einem Menschen betreten und wieder verlassen worden war: Brian Secada, der Parapsychologe, der seither um Jahrzehnte gealtert in der Polizei-Psychiatrie behan delt wurde. Bis zum heutigen Tag war ihm kein vernünftiges Wort darüber zu entlocken gewesen, was er innerhalb dieses Geisterhau ses erlebt hatte. Auch etwas Nichtmenschliches hatte das Haus mühelos verlassen. Codd und Weinberg wußten es. Die Herren wußten es. Nur die Welt war weiter ahnungslos … Codd verzog das Gesicht, als er daran dachte, was die von ihm ge haßten Medien dafür gegeben hätten, ein Team hierher zu entsen den, wo er gerade stand. Weinbergs Schrei riß ihn aus den Gedanken. Der Bürgermeister hatte sich ein paar Schritte Richtung Garten entfernt, vermutlich, um das Gebäude besser in seiner Ganzheit überblicken zu können. Dabei war er einem Strauch zu nahe gekom men. »Helfen Sie mir – schnell!« Codd eilte auf ihn zu, verlangsamte aber wenige Schritte vor Weinberg das Tempo. Im Licht der Lampe sah er die Wurzel, die sich aus der Erde gebohrt und wie eine Schlinge um das Fußgelenk des Bürgermeisters gewunden hatte. Mit bloßem Auge war zu ver folgen, daß damit nicht genug war. Der Stoff von Weinbergs Hose
schien unter der Wurzelschlinge zu zerfallen. Ein merkwürdiges Ge räusch begleitete den Vorgang, der darauf hinauslief, daß sich die Wurzel immer fester um Weinbergs Bein schmiegte und … Weinberg schrie nicht länger – er brüllte! Codd zögerte immer noch. Im gelben Schein der Lampe sah er, wie Weinbergs Wade lepröse Symptome zeigte. Fleisch verfaulte binnen Sekunden. »Helfen Sie mir!« Weinbergs Stimme kippte vor Panik. Hinter ihnen wurde auch der Kopter-Pilot auf sie aufmerksam. Als Codd kurz den Blick wandte, sah er ihn heraneilen. Obwohl Codd nichts mehr haßte als die Nichteinhaltung seiner Befehle, nahm er diese Initiative des Piloten fast dankbar zur Kennt nis. Er hatte eine unerklärliche Scheu, Weinberg zu berühren, um ihn von der Wurzel loszureißen, obwohl er ihn nicht im Stich lassen wollte. Dahinter steckte die Angst, ebenfalls an dieser unnatürlichen Wur zel klebenzubleiben, wie jemand, der bei versuchter Hilfeleistung selbst an einem Starkstromopfer hängenblieb … Der Pilot kannte solche Ängste nicht. Er sah die Bescherung, kaum daß er Codd und Weinberg erreichte, bückte sich und zerrte an der Schlinge. Dann geschah das, was weder der Polizeichef noch der Bürger meister verstanden. Schon bei der ersten zaghaften Berührung durch den Piloten zog sich die Wurzel wie ein Gummiseil in den Bo den zurück und gab Weinberg frei, der sich sofort humpelnd vom Strauch entfernte. Versuche des Piloten, sich um seine Wunde zu kümmern, lehnte er
kategorisch ab. Von Codd gestützt, kehrten sie zum Polizeikopter zurück. Ungehindert hoben sie ab. Noch in derselben Stunde gab Codd Befehl an die Bulldozer.
* Nona brannte ein wahres Feuerwerk an Leidenschaft ab und über raschte mit immer neuen reizvolleren Varianten. »El Nabhai sei gepriesen!« Landrus Seufzer war Lob und Ansporn für spätere Taten zugleich. »Eine talentiertere Schülerin wurde von ihm nie unterrichtet!« »Hab vielen Dank«, gurrte die Werwölfin. Unter seinen letzten temperamentvollen Stößen hatte sie das Haarkleid degenerieren las sen und ihre makellos glatte Haut zurückgewonnen. Zärtlich schmiegte sie sich an die Brust ihres Liebhabers und begann, sacht seine Narben zu streicheln. »Du bist zu gütig …« Wie immer war nicht zweifelsfrei erkennbar, ob sie es ernst oder spöttisch meinte. Genau das aber schien Landru an ihr zu schätzen. Niemand sonst durfte so mit ihm umspringen. Plötzlich schien sich seine Haut unter ihren Händen zusammenzu ziehen. Nona stockte. Landru löste sich von ihr und blickte zu dem einzigen Möbelstück im Raum. »Etwas stimmt nicht …!« Diesmal ließ er sich nicht von seiner Meinung abbringen. Geschmeidig glitt er auf den Schrank zu und riß die Türen auf. »Leer«, hörte er Nona sagen. »Hast du etwas anderes erwartet? Dachtest du, wir würden belauscht? Von ›Glatze‹ vielleicht …?« Ihre
Augen funkelten. Landru hielt sich nicht mit einer Antwort auf. Er konzentrierte sich. Von seinen ausgestreckten Händen züngelten schwefelgelbe Nebelschwaden ins Innere des Schrankes und ballten sich dort zu sammen. Für Sekunden entstand der dreidimensionale Abdruck eines We sens, das sich noch vor kurzem hier verborgen gehalten hatte. Nona entschlüpfte ein Laut der Verblüffung. »Eine Frau«, mur melte sie. »Aber Glatze war es nicht …« Landru senkte die Hände. Der Zauber erlosch. Als er sich umdrehte, war er beinahe so bleich wie auf dem Höhe punkt ihrer Vereinigung. »Sie war da!« entfuhr es ihm abwesend. Fast hektisch kehrte er zu seiner dunklen Kleidung zurück und untersuchte noch einmal den Inhalt des momentan wichtigsten Beutels. Er zog etwas hervor, das sich knisternd vor ihm entfaltete. Dennoch wirkte er beunruhigt. »Sie weiß es!« »Wovon redest du?« Nona war aufgesprungen und neben ihn ge treten. Neugierig glitt ihr Blick über die absonderliche Karte. »Es geht um den Kelch, nicht wahr? Ist hierauf der Ort vermerkt, wo du ihn zu finden hoffst?« Landrus Fingernägel bohrten sich von hinten durch das gegerbte Kartenmaterial. Ohne auf ihre Frage einzugehen, preßte er hervor: »Ich hätte es wissen müssen. Sie hat Habakuk nicht nur vernichtet – sie hat ihn zuvor noch zum Verrat gezwungen! Nur von ihm kann sie davon erfahren haben …!« Nona umschlang ihn von hinten und streichelte zärtlich sein
Glied. »Du nimmst immer das Schlimmste an«, meinte sie beruhi gend. »Aber die Karte ist hier. Sie wurde nicht gestohlen. Der Fehler war, diesen Ort ohne Wächter zurückzulassen, als du die Sippe aus schwärmen ließest. So hatte die … Fremde leichtes Spiel, hier einzu dringen. Es hätte nie passieren können, wenn …« Sein ungewohnt harscher Blick brachte sie zum Verstummen. Ihr wurde kalt. Sie zog die Hand zurück. Sie wollte nicht sterben …
* Als Duncan in die Wohnung der Reporterin zurückkehrte, klebte eine ernstzunehmende Warnung an der Schlafzimmertür: Wagt ja nicht, mich aufzuwecken! Meine Schönheit ist hart erarbeitet – sie verlangt ihren Mindestschlaf! – Beth. Lilith war offenbar immer noch nicht zurück. Es war 3 Uhr früh. Duncan bediente sich aus dem Kühlschrank. Ursprünglich hatte er vorgehabt, in einer Kneipe einzukehren, es dann aber doch verwor fen. Nur wenige Ausschankbetriebe besaßen eine Sonderlizenz für verlängerte Sperrzeiten – das erleichterte Stichprobenkontrollen der Polizei. Und es gab momentan – außer Vampiren – kaum etwas, was Duncan weniger gelegen gekommen wäre. Beth hatte in einer offenen Wunde gerührt. Die Behörden hatten bereits nach Pater Lorrimers Tod begonnen, nach seiner Person zu fahnden. Der Brand in Leichhardt würde die se Anstrengungen zweifellos noch intensivieren. Womöglich hatte man inzwischen herausgefunden, daß seine Eltern nicht erst durch die Flammen umgekommen, sondern schon vorher hingeschlachtet
worden waren …* Als er die Bierflasche mit zur Couch nahm, wurde ihm bewußt, wie schnell manche Dinge zur Gewohnheit werden konnten. Es war hoch an der Zeit, daß sie ihre Zeche bei Beth beglichen. Offenheit war das wenigste, was sie erwarten durfte. Den Ton, der in diesem Moment durch den Wohnraum geisterte, konnte er zunächst nicht zuordnen. Erst beim zweiten oder dritten Mal begriff er, daß es sich um ein extrem leise gestelltes Telefon han delte. Er hob ab. Beth zu verständigen erschien ihm angesichts ihres Warnschilds als zu großes Wagnis. »Ja?« Seinen Namen zu nennen erschien ihm noch viel riskanter. »Duncan?« Es war Lilith. »Wo steckst du? Hier brennt’s lichterloh! Beth schmeißt uns raus, wenn du nicht umgehend –« »Können wir uns treffen?« »Natürlich. Wovon rede ich denn? Komm her!« »Nein, komm du zu mir. Keine langen Diskussionen, bitte! Ich hat te gehofft, dich und nicht Beth an den Apparat zu bekommen. Es ist einiges passiert, ich bin völlig durcheinander. Am liebsten würde ich die Zelte bei Beth sofort abbrechen. Jeder, der sich mit mir ein läßt, ist in tödlicher Gefahr …« Duncan streckte sich unbehaglich. Das Gefühl, als wären mehrere Nerven gleichzeitig zwischen vorgerutschten Bandscheiben einge klemmt worden, hielt sich hartnäckig. »Ich eingeschlossen«, nickte er und räusperte sich. »Aber das ist keine Neuigkeit. Sag schon, wo du dich herumtreibst!«
*siehe Vampira 4: »Landrus Ankunft«
Sie nannte eine Adresse am anderen Ende der Stadt. Sie vereinbar ten, daß Duncan sich sofort in Marsch setzen würde. Und so geschah es. Er schlich sich wie ein Dieb aus Beth’ Wohnung. Sein meuterndes Gewissen beruhigte er damit, daß er selbst zum Spielball von Ereig nissen geworden war, die ungefähr so beherrschbar waren wie ein zerberstender Staudamm. Duncans eigener Wagen, ein altersschwacher Vauxhall, stand noch im Hof der anglikanischen Kirche am Trumper Park. Seit Pater Lor rimers Tod wagte er sich nicht mehr dorthin zurück. Und mit dem Chrysler Voyager, den Lilith und er benutzt hatten, um zu Beth zu gelangen, hatte es einen ähnlichen Haken. Dessen wahrer Besitzer war ebenfalls tot. Sich mit ihm aus der Tiefgarage auf eine öffentli che Straße zu wagen wäre ziemlich zwangsläufig ins Auge gegan gen. Als einziger verfügbarer fahrbarer Untersatz wäre nur noch Beth’ Mini in Frage gekommen. Da Duncan wußte, wie die Reporterin an ihrer Sardinenbüchse hing, verzichtete er freiwillig auf einen weite ren Prüfstein ihrer strapazierten Freundschaft. Er verließ das Apartmenthochhaus und suchte die nächstgelegene Telefonzelle auf. Von dort aus bestellte er ein Taxi, das auch kurze Zeit später eintraf. Mittlerweile war es 3.30 Uhr. Die Straßen waren frei wie zu keiner anderen Tageszeit, und der Fahrer war einer von der schweigsamen Sorte. Duncan brachte es zu seinem eigenen Erstaunen fertig, etwas zu entspannen. Das änderte sich, als das Taxi ihn am Moore Park, dicht bei den Victoria Barracks, absetzte. Es hatte leicht zu regnen begonnen. Vom Meer her trieben Wolken heran und schoben sich vor den Mond.
Den Treffpunkt zu finden, den Lilith ihm beschrieben hatte, war dennoch ein Kinderspiel – und passend dazu handelte es sich auch um einen Kinderspielplatz. Er lag unter einem monströs in die Nacht aufragenden Denkmal zu Ehren jenes Captain Arthur Phil lips, der den Flecken Erde um Sydney im 18. Jahrhundert entdeckt hatte. Duncan verließ den gepflasterten Pfad, und drei Schritte abseits davon ließ die Wirkung der aufgestellten Laternen bereits rapide nach. Der schlanke blonde Mann tappte durch losen Sand auf eine der Parkbänke zu, die den Spielplatz umsäumten. Niemand hielt sich um diese Zeit noch hier auf – schon gar keine Kinder. Luther stellte sich neben eine der Bänke. Es fiel ihm schwer, gedul dig zu bleiben. Kühler Wind raschelte in den Bäumen, die tagsüber den dringend nötig gewordenen Schatten spendeten. Der Schwund des schützenden Ozonmantels speziell über der südlichen Hemisphäre hatte katastrophale Folgen. Insbesondere Kleinkinder erkrankten immer häufiger am schwarzen Hautkrebs. Die Australier versuchten zwar, ihre Lebensweise und die ihrer Sprößlinge auf die veränderte Lage umzustellen. Aber die Todessta tistiken wiesen von Jahr zu Jahr mehr Opfer einer aggressiv gewor denen Sonne aus … Luther bewegte sich unruhig. Langsam wuchsen Zweifel, sich tat sächlich an der vereinbarten Stelle zu befinden. Oder war Lilith nach dem Telefonat etwas zugestoßen? Warum sonst hätte sie ihn hier schmoren lassen sollen? Da huschte sie auf ihn zu. Packte ihn am Kragen. Schleifte ihn ins nasse Gehölz hinter der Parkbank. Weiche Lippen milderten den Schrecken, der ihm in die Glieder gefahren war. Sie küßte ihn wie eine Ertrinkende, und obwohl er
nicht sicher war, glaubte er auch, Tränen zu schmecken. Was war mit ihr geschehen? »Du Wahnsinnige, du!« keuchte er. Er wußte, daß sie im Dunkeln so gut sehen konnte wie bei Tag. Nur er selbst hatte in dieser Hinsicht bisher keinerlei Fortschritte ge macht. »Ist dir jemand gefolgt?« wisperte ihre Stimme, die frei von jeder Anstrengung war. Der Spurt hatte sie nicht annähernd außer Atem gebracht. Dennoch war ihr Ton verändert gegenüber sonst. Ab grundtiefe Traurigkeit schwang darin. »Wer sollte mir folgen?« fragte er. »Vampire?« Seine Augen ge wöhnten sich an das Dunkel, und es gelang ihm, wenigstens Umris se von ihr auszumachen. Sie preßte sich fester an ihn. »Ich dachte kurz, ich hätte etwas au ßer dir gehört«, sagte sie verhalten. »Deshalb habe ich zunächst ab gewartet. Aber ich kann mich irren. Ich bin so froh, daß du gekom men bist …« Duncan erwiderte den Druck ihrer Umarmung und spürte sofort ihre Dankbarkeit für die Geste. Als er mit ihrem Kleid in Berührung kam, zuckte er jedoch leicht zusammen. Er mochte den Symbionten nicht. Er traute ihm nicht über den Weg. »Was ist passiert? Warum wolltest du nicht in die Wohnung kom men? Findest du es hier –«, er rümpfte die Nase, »gemütlicher?« »Natürlich nicht.« Sie lockerte den Griff. »Ich dachte nur, weil Typen, die in Särgen zu nächtigen pflegen, vielleicht andere Maßstäbe anlegen als –« »Du willst mich verletzen.« »Ein bißchen«, räumte er ein. »Jetzt erzähl endlich, was los ist!« »Nicht hier. Ich habe weiter hinten ein Gebäude entdeckt. Es ist of
fen. Dort können wir …« »War es offen?« »Nicht ganz …« Duncan seufzte. Die Gelegenheit, korrigierend auf Liliths Moral verständnis einzuwirken, hätte ungünstiger nicht sein können. Er gab sich einen Ruck. »Okay, bei allem, was wir beide zwischen zeitlich auf dem Kerbholz haben, kommt es darauf wohl auch nicht mehr an …«
* Scheiß-Regen, fluchte Macbeth mit zusammengekniffenen Zähnen. Im Bett war’s gemütlicher … Sie hatte sich in Windeseile die erstbesten Haftschalen in die Au gen gedrückt. Den Protest ihrer Hornhaut hatte sie ignoriert, weil sie wußte, daß jede Sekunde zählte. Trotz Halbschlafs war ihr das Summen des Telefons im Neben raum nicht entgangen. Schlaftrunken war sie aus dem Bett gekro chen – ehe Duncans leiser Verschwörerton sie hinreichend ernüch tert hatte. Daß Ohren an Türen zu den ältesten, simpelsten und zugleich ef fektivsten Abhörvorrichtungen zählten, war eine der Grundlektio nen auf dem steinigen Weg zur erfolgreichen Reporterin. Beth war in dieser Hinsicht Musterschülerin. Sie begriff sofort, wen Duncan am Apparat hatte. Und sie erkannte die einmalige Chance, den Grund für die Geheimniskrämerei ihrer beiden »Unter mieter« herauszufinden. Wenn ihr mir euer Vertrauen nicht freiwillig geben wollt, hol’ ich’s mir eben mit Gewalt! Nach diesem eilends bemühten Motto handelte sie,
als Duncan das Apartment verließ. Sie schnappte sich die kleine Ka mera, die sie irgendwann mal aus Moskowitz’ Fundus geschnorrt hatte, und folgte ihm. Es bedurfte keiner seherischen Fähigkeiten, um zu ahnen, weshalb er eine Telefonzelle aufsuchte. Offenbar hatte er jeder Gefahr aus dem Weg gehen wollen, sie, Beth, doch noch aufzuwecken. Beth kehrte in die Tiefgarage zurück und schaffte es, sich unauffäl lig an das ankommende Taxi zu hängen. Am Moore Park hatte sie ihren Mini abgestellt. Von da an war es schwieriger geworden, Dun can zu folgen. Eule müßte man sein, dachte sie, als ihr Jugendfreund vom Weg ab kam und in die Dunkelheit eines Spielplatzes tauchte. Am besten wasserdichte Nachteule... Der Nieselregen wurde immer störender. In der Eile hatte sie keine passende Kleidung gegriffen, so daß sich der Stoff ihrer Jeans und ihres Shirts immer mehr vollsog. Ihre nächtliche Verfolgungslust verfluchend, verbarg sie sich im Gebüsch. Hinter, vor und neben ihr raschelte es immer wieder leise. Ihre angeborene Manie, sich vor allem zu gruseln, was kleiner als eine Maus war, sträubte ihr ein ums andere Mal das Haar. Dann kam etwas über Duncan. So abrupt, daß Beth im ersten Moment an einen Überfall glaubte. Sehen konnte sie so gut wie nichts. Aber das folgende leise Wortge plänkel, das bruchstückhaft zu ihr drang, bewies, daß ihre Sorge un begründet war. Lilith liebte offenbar spektakuläre Treffpunkte und Auftritte. Besser wurde es, als sie und Duncan querfeldein zu einem kleinen Häuschen marschierten, in dem sie schließlich verschwanden. Beth schlich hinterher. Das peitschende Geräusch, mit dem sich der Tod näherte, entging ihr.
Ihre Neugier verdrängte alles andere. Die Außentür des gemauerten Verkaufsstandes war nur noch an gelehnt. Brachialgewalt hatte sie aus ihrem Schloß gerissen. Wen habe ich mir da ins Haus geholt? dachte die Reporterin. Bonnie & Clyde für Arme? Knacken die doch tatsächlich einen Kiosk … Das Ganze nahm zunehmend groteske Züge an. Beth hatte gute Lust, die Polizei zu verständigen. Nur die alte Freundschaft zu Dun can und die eigene Neugierde trieben sie weiter. Daß hinter ihr, unsichtbar, noch jemand folgte, merkte sie immer noch nicht. Ein kurzer, dunkler Stauraum. Dahinter eine weitere Tür, die den Verkaufsraum abtrennte. Dort hatte jemand Licht angeknipst, das durch die Ritzen sickerte. Ganz schön unverfroren, dachte Beth. Stimmen zogen sie näher auf die Verbindungstür zu. Sie bückte sich und spähte durch das leere Schlüsselloch. Deutlich konnte sie Duncan und Lilith erkennen, die sich zwischen Regalen mit Zeitschriften und Süßigkeiten gegenüberstanden und ihr Profil präsentierten. Die Reporterin fühlte einen leisen Schauder. Lilith war einfach un irdisch schön. Und was sie gegenwärtig am Leib trug – dieses haut enge Catsuit, – bewies, was Beth längst wußte: Bei dieser Frau wa ren alle Proportionen perfekt. 90-60-90, schätzte sie, ohne die eigene Erregung leugnen zu können. Ich wünschte, ich hätte einen solchen Traumbusen … Es war einigermaßen verrückt, hier und jetzt daran zu denken. Aber woran dachten die beiden? Trafen sie sich am Ende nur hier, um ein gewagtes Schäferstündchen abzuhalten? Manche Leute stan den auf den Kick, jederzeit dabei überrascht werden zu können …
Beth schüttelte den Kopf. Sie versuchte, sich auf den Disput zu konzentrieren, den die beiden miteinander ausfochten. Hinter ihr raschelte es zwischen Paketstapeln. Beth hatte nur Augen und Ohren für das Treiben jenseits der Tür. Dem Tod war es recht. Ihn zog es unwiderstehlich auf sie zu …
* Lilith erzählte atemlos, und Duncan hörte ebenso atemlos zu. Es ha gelte Neuigkeiten. »Lilienkelch?« echote er zwischendurch, während Lilith von ihrem Abstecher zum Unterschlupf der Vampire berichtete. »Heimaterde? Eine … Karte aus Haut und Blut …?« »Und Tränen!« Er verstand nicht gleich, was sie damit meinte. Aber als er ihre grasgrünen Augen in Tränen schwimmen sah, begann er zu ahnen, daß sie ihm längst nicht alles erzählt hatte. Sein Drängen half. Stockend erzählte sie von dem Schrumpfkopf, in dem sie ihren Vater wiedererkannt zu haben glaubte. Duncan machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. »Dieser Landru muß ein Perverser sein, wenn er solche Trophäen sammelt!« »Ich werde alles daransetzen«, schwor sie, »ihn nicht nur für die sen einen Mord zu strafen – und ich werde alles versuchen, die ›Tro phäe‹, wie du es nennst, in meinen Besitz zu bringen. Er darf nicht länger damit spotten …« »Laß dich zu nichts hinreißen, was du später bereuen könntest. Wir müssen besonnen vorgehen.«
»Wir?« »Ich dachte, das wäre klar. Oder meinst du, ich lasse dich noch einmal allein in den Krieg ziehen?« Sie nagte an ihrer Unterlippe. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht blieb schwermütig. Doch dann wechselte sie übergangslos das The ma. »Wir brauchen diese Karte!« bekräftigte sie erneut. Duncan musterte sie prüfend. »Dieser Vampir, der dir den gehei men Treffpunkt der Vampire verriet – er nannte doch Indien als Landrus Ziel auf der Suche nach diesem magischen Kelch … Bist du sicher, daß es dieses Objekt überhaupt gibt und daß diese Karte dir den Weg zeigen kann? Der Vampir könnte in seiner Not das Blaue vom Himmel heruntergelogen haben …« Lilith, die sich noch zu genau ihrer Verhörmethode erinnerte, schüttelte bestimmt den Kopf. »Es war die Wahrheit. Er wußte nicht viel, aber was er sagte, war niemals Lüge!« Er mußte es so stehenlassen, obwohl er immer noch Zweifel hegte. »Du willst doch nicht ernsthaft noch einmal zurück? Nicht einmal du solltest das Glüek überstrapazieren!« »Ich …« Lilith verstummte. Sie sah die Irritation in Duncans Gesicht, der sie die ganze Zeit un verwandt angestarrt hatte. Noch ehe sie seinem Blick folgte, schien auch Lilith die Verände rung zu bemerken. Der Symbiont wurde aktiv. Das Kleid geriet in Bewegung. Es schlug »Falten«, als liefen Mee reswellen unter seiner Oberfläche entlang! »Was hat das zu bedeuten?« keuchte Duncan. »Woher soll ich das wissen?« Sie versuchte, mit beiden Händen
den Stoff zu glätten, zuckte aber sofort zurück, als hätte sie einen Stromschlag erhalten. Kurz danach straffte sich das Kleid ganz von allein wieder. Dennoch blieb eine Veränderung erhalten. Duncan rückte näher. Er beugte sich zu Liliths Bauch hinab. Als er sich wieder aufrichtete, konnte er nur fassungslos den Kopf schüt teln. »Allmählich wird mir das ›Ding‹ hier doch noch sympathisch … Du kannst dir einen erneuten Gang in die Höhle des Löwen sparen – jedenfalls, wenn es dir nur um die Karte geht. Die trägst du nämlich, wenn mich nicht alles täuscht, bereits auf dem Bauch …!« Lilith hätte ihn für verrückt gehalten, wenn sie es nicht mit eige nen Augen gesehen hätte. »Spiegelverkehrt …«, hörte sie Duncan noch hinzufügen und erin nerte sich der Reflexbewegung kurz vor Landrus Rückkehr. Sie hat te die ungewöhnliche Landkarte kurz gegen ihren Körper gepreßt. Dabei mußte es passiert sein. Der Symbiont hatte die Karte blitz schnell »kopiert« und gab sie nun auf seiner Oberfläche wieder …! Ehe Lilith sich jedoch näher damit befassen konnte, wendete sich das Blatt erneut. Gefahr in Verzug! wisperte es in ihrem Schädel. Zu spät. Die Zwischentür des Ladens flog mit Getöse auf. Jemand hatte da gegengetreten. Duncans Augen weiteten sich, als er die Frau erkannte, die eigent lich zu Hause in ihrem Bett hätte liegen sollen. »Beth?« Lilith beachtete weniger die Geisel als die Gestalt, in deren Fängen die Reporterin hilflos zappelte.
Unversöhnlicher Haß schien ihnen aus dem verheerten Körper der kahlköpfigen Vampirin entgegenzuströmen. »Hallo, Hurenkind!« hechelte sie. »Wie wäre es mit einem kleinen Handel …?«
* Es war eine unbewußte Geste, als sich Hekade über das narbige Haupt fuhr, wo Landrus Bestrafung allgegenwärtig war. Hekade hatte ihn und die brünstige Wölfin heimlich beim Liebess piel belauscht. Als Zeugin von Nonas Raffinesse waren ihr schier die Augen übergegangen. Kein Wunder, daß Landru diesem verdor benen Geschöpf auf den Leim gegangen war …! Die Chance, sich für die Demütigungen und Mißhandlungen zu rächen, wollte sich Hekade nicht entgehen lassen. Sie beglück wünschte sich, Landrus Befehl, auszuschwärmen, nicht befolgt zu haben. Der Ungehorsam hatte sich gelohnt. Während Landru und Nona auf dem Höhepunkt ihrer Begierde blind und taub für ihre unmittelbare Umgebung waren, hatte sich jemand aus seinem Schrankversteck davongestohlen. Hekade hatte sich heimlich an die Fersen der Flüchtenden gehef tet. Und nun schien ihr sehnlichster Wunsch, es der »Wolfsschlampe« heimzuzahlen, zum Greifen nahe. Landrus Gunst war Hekade si cher, denn sie hatte die Flüchtende erkannt und würde sie ihm auf dem silbernen Tablett servieren. Sie hatte nur einen günstigen Moment abgewartet. Jetzt schlug sie zu …
* »Handel?« echote Lilith. Mit einer Geste hatte sie Duncan angewiesen, sich zurückzuhalten. Dem fiel Zurückhaltung schwer. Sichtlich. Beth war nicht irgend wer. Ihre Freundschaft währte – trotz momentaner atmosphärischer Störungen – schon lange Jahre. Das wischte man nicht einfach weg … »Handel!« stieß die Gestalt hinter Beth hervor. Es war eine Frau – aber kein Mensch. Lilith wußte, wann sie einen Vampir vor sich hatte. Sie glaubte so gar vage, sie schon einmal gesehen zu haben – vor den Verwüstun gen, die ihren Kopf entstellten. »Kennen wir uns?« versuchte sie Zeit zu schinden. Der Blick aus Beth’ Augen ging ihr bis auf die Knochen. Mehr als bloßes Entsetzen lag darin. »Ich kenne dich«, gab die kahl- und narbenköpfige Vampirin zur Antwort. »Das genügt. Du bist Lilith – die Tochter der Hure! Du bist … Aussatz!« Danke für die Blumen, dachte Lilith. Wie immer nahm sie es sehr übel, daß jemand ihre Mutter als Hure bezeichnete. »Mit dir kann ich selbstverständlich nicht konkurrieren.« Die Vampirin krümmte sich. Beth litt darunter. Klauenhände hatten sich von hinten um ihren Hals geschlossen und drückten ihr Kinn nach oben. Die Vampirin hielt weder Hände noch Arme ihrer Geisel fest. Sie verließ sich völlig auf ihre über menschliche Kraft.
Lilith registrierte nur am Rande, daß Beth ganz offensichtlich Dun can Luther gefolgt war, als der die Wohnung verließ. Und der Foto apparat vor ihrer Brust ließ keinen Zweifel über ihre Motive. Doch sie hütete sich, ihm einen Strick daraus drehen zu wollen, daß er die Verfolgerin nicht bemerkt hatte. Die wirkliche Gefahr, die Blutsaugerin, war unzweifelhaft ihr gefolgt! Als sie den Friedhof der Vampire verlassen hatte … »Was willst du?« fauchte Lilith die Vampirin an. »Ist das so schwer? Dich!« »In Ordnung. Nimm mich. Verkrieche dich nicht länger hinter ei nem lebenden Schild. Hier bin ich!« Die Vampirin lachte häßlich. Zugleich verstärkte sie den Druck ih rer Hände. Einer der Fingernägel bohrte sich wie unabsichtlich in Beth’ Hals. Ein paar Blutstropfen quollen heraus und rannen in den Kragen ihres Shirts. »Zieh das Kleid aus!« befahl die Vampirin. Lilith spürte einen Stich im Herzen. Jetzt wußte sie, woher sie die Verstümmelte kannte. Sie war bei der Horde gewesen, die Zeuge von Horas Tod in der Nähe der an glikanischen Kirche wurde. Sie wußte, was es mit dem Kleid auf sich hatte – daß es eine tödliche Waffe war! »Das – kann ich nicht«, sagte sie rauh. Es war die volle Wahrheit – aber ebenso sicher mußte die Vampi rin es für eine Finte halten. »Ich glaube dir nicht, daß dir der Tod eines Menschen egal ist«, zischte sie. »Wenn du auf der richtigen Seite stündest, wäre es dir egal. Aber du bist ein verfluchter Zwitter. Ein Mischwesen, das die wahre Ehre nicht kennt und das GESETZ mit Füßen tritt. Du achtest Leben. Du würdest nie –«
»Laß sie frei, feiges Monster!« keuchte Duncan neben Lilith. Er hatte sich lange zurückgehalten. Jetzt schien der Punkt erreicht, wo er sich nicht länger beherrschen konnte. »Noch so ein Gewürm«, erwiderte die Vampirin abfällig. Ihr Blick brannte auf Lilith. »Ich zähle jetzt von drei abwärts. Entweder du legst deinen mörderischen Fummel ab, oder ich kille die Kleine! Möglich, daß danach ich an der Reihe bin – aber vorher kann ich vielleicht noch dein Kleinliebchen hier mitnehmen …!« Sie brauchte nicht zu Duncan zu blicken, um zu zeigen, wen sie meinte. Lilith machte ihm eine Geste, die hieß: Laß dich nicht provozieren. Überlaß alles mir! Gleichzeitig schauderte ihr vor dem Moment, da sie auch nur ver suchen würde, den Symbionten abzustreifen. Dessen Reaktion kann te sie inzwischen. Er würde es nicht zulassen. Er würde ihren Kör per mit Schmerzen überfluten, für die es keinen Vergleich gab … Scheinbar resignierend zuckte sie mit den Schultern. »Gut. Wenn ich richtig verstanden habe, lautet der Handel: ich gegen diese bei den Menschen. Ich werde das Kleid ablegen – zumindest werde ich mich bemühen. Danach läßt du deine Geisel frei. Ich werde dich be gleiten, wohin du willst, aber die beiden hier bleiben unbehelligt!« Die Grimasse grinste süffisant. »Natürlich …« Obwohl Lilith ihr keine Sekunde traute (ebensowenig vermutlich, wie ihre Feindin es umgekehrt tat), begann sie vorsichtig an ihrem Catsuit zu nesteln. Ein hoffnungsloses Unterfangen, denn das Klei dungsstück besaß keine Knöpfe oder Reißverschlüsse. Es um schmiegte Liliths Haut nahtlos. Nur der Symbiont selbst war in der Lage, etwas daran zu ändern. Lilith wußte nicht, ob er sich entschei den würde, ihr zu helfen. Es war eine Ausnahmesituation. Vielleicht würde er ausnahms
weise … Schmerz grellte durch ihr Nervengeflecht! Sie schien in flüssigem Feuer zu baden, und gleichzeitig überkam sie das vertraute Gefühl, als würden sich tausend winzige, scharfe, widerborstige Zähne in ihr Fleisch bohren, verankern, festbeißen, nie mehr loslassen … Ihr wurde schwarz vor Augen. Der Boden unter ihren Füßen schi en sich in Treibsand zu verwandeln. Sie sank auf die Knie und hörte nur noch, wie die Vampirin den tödlichen Countdown abzuzählen begann. »Drei … zwei …«
* Beth hatte alles wie gelähmt über sich ergehen lassen. In dem Mo ment, als das Alptraumwesen hinter ihr zu zählen begann, erwachte sie aus ihrer Starre. Sie sah Lilith in die Knie gehen. Der Blick der bildschönen jungen Frau war verschleiert, ohne daß der Grund ersichtlich wurde. Ihr Verhalten war merkwürdig. Schon die Forderung des Wesens, des sen scharfe Krallen Beth an ihrer Kehle fühlte, war mehr als seltsam. Was war an dem Kleid so wichtig? Es ist kein normales Kleid, Närrin! Du hast es doch gesehen! Sie versuchte immer noch zu verdrängen, was sie gesehen hatte. Sekundenlang hatte es ausgesehen, als würde Liliths Kleidungs stück leben… So etwas konnte nicht sein! Aber konnte es sein, daß sie fauligen Atem im Nacken spürte, ra
siermesserscharfe Fingernägel ihre Haut ritzten, eine verstümmelte Frauengestalt sie wie ein Schraubstock festhielt …? Und wovon hatten Duncan und Lilith gesprochen? Von einem Kelch, der Nachwuchs für Vampire zeugte … Einem Supervampir, der danach suchte und Lilith ganz nebenbei nach dem Leben trach tete … Und was war das für keine Karte, die sich seitenverkehrt auf Liliths Kleid abgebildet hatte, wie Fotopapier, das sich im Entwick lungsbad langsam mit Konturen füllte …? Beth spürte, wie ihr Verstand abzudriften begann. Was sie hier erlebte, war mehr, als ein Mensch verkraften konnte. Sie hatte sich für leidlich intelligent und gestählt durch das alltägli che Mobbing in der Redaktion gehalten … Pustekuchen! Um sie herum krachte und knisterte es im Gebälk ihrer fein säu berlich geordneten Welt. »… eins!« Eins? Scheiße, sie wollte nicht sterben! Nicht hier, nicht so! Warum glotzte Duncan nur, und warum wand sich Lilith wimmernd am Bo den? »Das war’s!« krächzte die entmenschte Stimme an ihrem Ohr, ge tragen von einem Odem, der allein fast ausreichte, Beth die Besin nung zu rauben. »Ich lasse mich nicht bluffen! Spiel weiter dein Spiel. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Fahrt alle zur Hölle …!« Das war der Moment, in dem sich Beth dessen entsann, was vor ihrer Brust baumelte. Es war auch der Moment, in dem Duncan offenbar doch noch über seinen Schatten sprang und sich wankend in Bewegung setzte. Und der Moment, in dem das Killerwesen hinter Beth seine Klau
en krümmte, um ihre Kehle mit einem zornigen Streich zu zerfetzen.
* Lilith kämpfte gegen den Sumpf, in dem ihr Geist unterzugehen drohte, gegen blutige Nebel – als es plötzlich grell vor ihr aufblitzte. Die Lichtexplosion schien dem wütenden Dämon in ihr Einhalt zu gebieten. Der Schmerz verebbte. Sie sah Beth nach vorn taumeln und gegen Duncan prallen, der sie auffing. Lilith hörte Stimmen. Überraschungsrufe. Einen lästerlichen Fluch. Es wurde ihr kaum bewußt, daß sie vom Boden emporschnellte und sich der orientierungslos herumirrenden Vampirin in den Weg stellte. Lilith handelte, ohne zu überlegen. Die Kraft, die sich in ihr auf baute, ließ ihre Muskeln erzittern. Ihr Körper produzierte unter der einsetzenden Metamorphose kehlige, knurrende Laute. Wie auf dem Gipfel höchster Lust verformten sich ihre Zähne zu vorzeitlichen Waffen und ihre Finger zu gekrümmten Klauen. So lange, wie der Kampf mit der Vampirin dauerte, hatte Lilith keine Kontrolle über sich. Dunkelste Instinkte steuerten ihren Kör per und zeigten ihr, wie sie dieses absolute Tötungsinstrument zu handhaben hatte. Schwarzes Blut spritzte zum Himmel. Lilith schlug Wunden, die nie mehr heilen würden. Dämmerung senkte sich über ihren Geist. Sie handelte wie eine Maschine auf engstem Raum. Die Luft wurde von kaum verfolgbaren Schlägen gepeitscht. Auch
Lilith empfing Wunden. Auch ihr Blut quoll hervor. Aber sie hielt nicht ein, bis die Vampirin unter ihr am Boden lag, nicht mehr in der Lage, nach ihr zu greifen, weil ihre Arme gebrochen waren. Zersplit terte Knochen rieben aneinander. Vampirzähne versuchten selbst jetzt noch, nach Lilith zu stoßen, deren Blut sich mit dem der Fein din mischte. Und erstmals fiel ihr auf, daß ihr Blut heller war als das der alten Rasse. Menschlicher? Die Rasanz, mit der alles ablief, verhüllte gnädig Details eines Kampfes, bei dem nichts fragwürdiger wurde als Liliths Mensch lichkeit. In diesen Sekunden schien das Erbe ihres Vaters ausge löscht. Sie wütete wie ein Berserker und gab erst Ruhe, als sie den Kopf der Vampirin abgetrennt hatte. Einen Moment lang pulste der Blutschwall noch aus dem offenen Rumpf. Dann zerfiel beides. Wurde mürbe. Glomm auf wie die Reste eines bereits niedergebrannten Feuers, unter dessen weißem Aschemantel ein letzter Windstoß noch einmal die Glut auflodern ließ – ehe auch das vorbei war. Lilith richtete sich ernüchtert auf. Sie blickte in Duncans Augen, die von Grauen erfüllt waren. Er kauerte neben Beth, die besin nungslos am Boden lag. Als Lilith einen Schritt auf ihn zumachte, zuckte er zurück, und sie begriff, daß sie zu weit gegangen war. Zu weit für einen Mann, der ihr unzweifelhaft mehr als ein paar oberflächliche Gefühle entge genbrachte. In ihrer Not linderte sie mit Hypnose seine Erinnerung an das Ge sehene. Während sie darauf warteten, daß Beth aus ihrer Ohnmacht er wachte, erfuhr Lilith, daß die Reporterin im letzten Moment auf den Gedanken gekommen war, das Blitzlicht der Kamera gegen ihre
Gegnerin einzusetzen. Die grelle Lichtexplosion direkt in die emp findlichen Augen der Vampirin hatte ihr das Leben gerettet und Li lith die Zeit verschafft, die sie brauchte. Beth’ Verletzungen, um die Duncan sich sofort gekümmert hatte, waren harmloser, als es zunächst den Anschein hatte. Ihr Blutverlust war nicht dramatisch. Dennoch hatte die ungeheure Anspannung sie kollabieren lassen. »Wirst du sie jetzt einweihen?« fragte Duncan leise. »Meinst du, sie würde es verkraften?« »Ich meine, sie würde es nicht verkraften, schon wieder betrogen zu werden! Sie hat Kratzspuren und andere Verletzungen davonge tragen, die sich schwerlich erklären ließen.« »Irrtum. Wenn ich will, wird sie keine andere Erinnerung in sich tragen als die an einen normalen Überfall. Ich könnte ihr suggerie ren, daß jemand in dieses Gebäude einbrach und wir ihn gemeinsam dabei überraschten. Es kam zu einem kurzen, heftigen Kampf, Beth verlor dabei das Bewußtsein, der Täter floh …« »Wir wissen nicht, wie lange sie uns schon belauscht hat!« Lilith hatte auch darauf die passende Antwort, sparte sie sich aber. Statt dessen streichelte ihre Hand zart über seine Wange. »Du möch test, daß ich sie endlich einweihe«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Offenbar gibst du dich der Hoffnung hin, es fiele dir mit einem menschlichen Verbündeten selbst leichter, die Veränderungen in dei nem Leben zu verkraften …« Er schwieg verbissen, aber sie hatte das Gefühl, nicht weit neben der Wahrheit gelegen zu haben. »Okay«, sagte sie, »versuchen wir es. Warten wir einfach ihre Reaktion ab. Hypnotisieren kann ich sie immer noch.« »So wie mich eben?« fragte er. »Das hast du bemerkt?«
Ihre Betroffenheit war echt, besänftigte ihn aber nicht. Er senkte den Blick. »Es war nur ein Verdacht. Er wurde gerade bestätigt. Aber auch das läßt sich locker korrigieren, nehme ich an …« Er fuhr sich durchs Haar und rief plötzlich: »Achtung: Sie kommt zu sich!«
* Es war tiefe Nacht, als Virgil Codd das HQ der Sydneyer Polizei be trat. Er hatte vergeblich versucht, mit den Herren in Verbindung zu treten. Sie ignorierten alle Bemühungen. Nichts hätte mehr Frust auslösen und nichts deutlicher unterstreichen können, wie gering geschätzt seine Arbeit in ihren Kreisen wurde. Codd war nicht in der Lage, jene, die ihn zu dem gemacht hatten, was er heute war, zu hassen. Aber niemand konnte verhindern, daß er in stillen Stunden manchmal vor sich hinstarrte und sich fragte, wie es wäre, wenn sein Herz noch im Takt eines Lebenden geschla gen hätte. Wie immer streifte er die bleiernen Gedanken mit Betreten seines Büros ab. Maud war da. »Besondere Vorkommnisse?« fragte er. Das Licht war eine Idee heller als sonst. Es bereitete ihm Verdruß. »Hat Weinberg sich ge meldet, während ich weg war? Er wollte mich über alle Fortschritte in der Paddington auf dem laufenden halten …« Seine Sekretärin antwortete nicht. Bleich saß sie vor dem Monitor ihres Schreibcomputers. »Etwas Besonderes?« wiederholte Codd. Sein Ton wurde eine Nu ance schärfer. Normalerweise war dies bei Maud nicht nötig. Sie war wie er. Eine Kreatur. Dazu verdammt zu dienen. Den Mächten
im Hintergrund, die das Uhrwerk der Welt in Gang hielten. Und die bestimmten, wann ein schleifendes Rädchen ausgetauscht wurde. Maud antwortete immer noch nicht. Erst als Codd sich vor sie stellte, bemerkte er ihre Verwirrung. Sie hockte verkrampft hinter dem Arbeitstisch. Ihre Augen flackerten. Sie war Codd über die Jahre so vertraut geworden, daß ihm auch eine geringere Veränderung aufgefallen wäre. Plötzlich sah sie zu ihm auf, und ihr unschuldiger Blick ging Codd bis ins Mark. »Wo – bin isch?« Er berührte kurz ihren Hals – und prallte zurück. Vor Verblüffung löste sich ein dünner Speichelfaden aus seinem Mund. Während er raubtierhaft den Tisch umrundete, überkam ihn das Verlangen, sich am ganzen Körper zu kratzen. Etwas begann fürchterlich zu jucken. »Wer – schind Schie …?« fräste sich Mauds Stimme in sein Gehirn. Codd blieb hinter ihr stehen. Sie saß puppenhaft starr da, wagte kaum den Kopf zu bewegen. Vor ihr leuchtete der Monitor, auf dem eine sinnlose Aneinanderreihung von Buchstaben stand. Der Schirm war voll damit. Codd wußte nicht, wie es passiert war. Er hatte nie davon gehört, daß etwas Derartiges möglich war. Aber er sah das Ergebnis. Es war geschehen. »Maud?« Ohne sich umzudrehen, flüsterte sie weinerlich: »Bin – isch dies che … Maud?« Codds Blick schweifte an ihr vorbei zum Nebentisch. Ein Revol ver, ein Walkie-talkie und eine Taschenlampe lagen dort. »Wem gehören die Sachen?« fragte er. Keine Antwort.
»Wer war hier?« fragte Codd eindringlich. Er versetzte dem Dreh stuhl, auf dem sie brettsteif hockte, so viel Schwung, daß sie zu ihm herumfuhr. Zentimeter vor ihren Augen plazierte er sein Gesicht. »Wer – war – hier?« Es dauerte Sekunden, bis er begriffen hatte, daß er von ihr keine Antwort erhalten würde. Nie mehr. Sie war – leer. Codd tastete erneut nach ihrem Hals. Ihre Haut war warm. Die Schlagader pochte verlockend. Ich muß es herausfinden. Ich muß wissen, ob es wahr ist … Sie blickte ihn an wie ein neugeborenes argloses Lämmchen, das dem Wolf begegnet, ohne von dessen Hunger zu wissen. Codd ging in die Knie. Er hielt ihre Schultern fest und grub seine Zähne wie chirurgische Werkzeuge in sie hinein. Sie schrie vor Schmerz, und endlich versuchte sie auch, ihn abzu wehren. Codd scherte sich nicht darum. Er preßte ihr den Mund mit einer Hand zu und ließ nicht ab von seinem Experiment. Ihr Blut war warm und von jungfräulichem Bouquet. Und es war rot. Trotz dieser Sensation konnte Codd erst von ihr ablassen, als er seine schlimmste Begierde gestillt hatte. Er stand auf. Ihr Kopf fiel schlaff nach hinten. Ihr Herz klang wie ein nasser Schwamm, der von fremder Faust immer wieder müde zusammengepreßt wurde. Codd ließ sie in ihrem Sessel liegen. Er wechselte in sein Büro und sah, daß sich jemand an seinen Akten zu schaffen gemacht hatte. Maud?
Codd öffnete eine Schranktür, hinter der sich ein Handwaschbe cken befand. Er säuberte seine Mundpartie und hielt den Kopf unter das kalte Wasser. Danach vermochte er seine Gedanken etwas zu ordnen. Er kehrte ins Vorzimmer zurück – und fand eine Leiche. Maud hatte sein »Experiment« nicht überstanden. Codd zog sie vom Stuhl und wickelte sie in einen der Teppiche. Danach versuchte er, die Herren ans Telefon zu bekommen. Wieder um vergeblich. Bei Weinberg hatte er mehr Glück. Als er ihm schil derte, was passiert war, erntete er zunächst nur Unglauben. Dann wurde Weinberg ganz still. Und schließlich meinte er: »Ich schicke jemanden, der sie abholt. Wenn es wahr ist, ist es nicht unser Problem. Oder?« Codd hatte seine Sicherheit weitgehend zurückerlangt. »Nein«, räumte er ein. »Einfallen müssen sie sich etwas lassen …« Er war Zeuge eines einmaligen Aktes geworden. Eine Dienerkreatur hatte sich in einen Menschen zurückverwandelt! »Sie werden nicht länger kneifen können«, bekräftigte Weinberg. »Zumindest hoffe ich es. – Was die Paddington angeht: Das Haus wurde von den Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht!« »Und?« fragte Codd. Seine Zunge suchte vergessene Spuren au ßerhalb des Mundes. »Nichts. Es war nur eine verlassene Ruine, scheinbar seit Jahrzehn ten unbewohnt. Nichts und niemand hielt sich darin auf. Hexerei …« »Auch darum sollen sie sich kümmern. Hexerei ist ihr Metier. Kei ne unliebsamen Zwischenfälle?« »Keine.« »Gut. Wir werden ein letztes tun, indem wir die gesamte Vegetati on mit Stumpf und Stiel von dem Grundstück entfernen. Danach
werden wir die Sperren so schnell wie möglich aufheben und die Medien-Geier sich darauf stürzen lassen. Es wurde schon viel zuviel Wind gemacht. Entschärfen wir das Problem – zumindest zum Schein. Ein eingestürztes Haus … Jemand hat verbotenerweise mit Sprengstoffen herumgebastelt – wir mußten erst alles sicherstellen, bevor wir die Evakuierung und Nachrichtensperre aufheben konn ten … Das übliche Blablabla. Laß deinen Presse-Heini etwas in die ser Art rausposaunen. In ein paar Wochen redet kein Mensch mehr darüber.« »Wenn es in der Paddington Street ruhig bleibt«, sagte Weinberg. »Wenn es dort ruhig bleibt«, nickte Codd, Es klang von beiden nicht sehr zuversichtlich. Stunden später klappte Codd endgültig die Kinnlade nach unten, als seine Nachforschungen ergaben, um wessen Dienstrevolver es sich auf Mauds Tisch handelte.
* Sie wollte fortrennen! Sie wollte in die Nacht hinausschreien, was sie gesehen hatte! Lilith hatte alle Hände voll zu tun, Beth durch »gutes Zureden« (was einer schonenden, von Duncan kritisch verfolgten Hypnose gleichkam) davon abzuhalten. Die blonde Reporterin war außer sich, und das war kein Wunder, denn sie hatte erlebt, wie die hauchdünne Kulisse dessen zerrissen war, was sie seit ihrer Geburt als Wirklichkeit betrachtet hatte. Wie Milliarden andere Menschen auch. Von einem Moment wußte sie nicht mehr, woran sie überhaupt noch glauben sollte.
Sie hatte zwar nicht mehr Liliths Verwandlung mitbekommen. Aber sie hatte die Gestalt gesehen, in deren Fängen sie sich befun den hatte, bis ihr der rettende Einfall gekommen war. Dieses Wesen hatte entfernt einer Frau geähnelt. Aber es war kein Mensch gewesen – niemals! Und was hatte es mit diesem veränderlichen Kleid auf sich, das Li liths Körper wie eine zweite Haut umgab …? »Wie geht es dir?« Liliths Stimme erreichte sie wie durch Berge von Watte. Beth versuchte, sich zu konzentrieren. Ihr Herz schien dicht unter halb ihres Kehlkopfes zu trommeln, als wollte es heraus aus der Enge des Körpers. »Wer, um Himmels willen, bist du? Was geht hier vor?« Ihr Blick wechselte. »Dun …« Er hockte neben ihr. Er knetete seine Hände und zeichnete sich durch völlige Sprachlosigkeit aus. »Wir werden über alles reden«, sagte Lilith. »Aber nicht hier.« Eine Welle der Furcht kam über Beth. Gehetzt blickte sie in jeden Winkel des überschaubaren Raumes. »Wo – ist sie …? Wer war sie?« »Auch darüber werden wir reden. Gedulde dich bitte. Bist du mit deinem Wagen hier?« Beth hatte das Gefühl, durch ein Eiswasserbad gezogen zu wer den. Sie fing an, wie Espenlaub zu zittern. Duncan beugte sich über sie und versuchte, sie zu wärmen. Aber sie stieß ihn von sich. »Zur Hölle, redet nicht mit mir wie mit einer Schwachsinnigen! Wo bin ich da reingeraten? Träume ich das nur – oder bin ich bereits tot? Ist das eines dieser beschissenen Nah-Todeserlebnisse?« »Beruhige dich«, sagte Lilith. Und seltsamerweise begann ihr Herz tatsächlich sofort leiser zu
pochen. Fast bedächtig. Beth blickte an sich herab. Die Kamera baumelte immer noch vor ihrer Brust. Sie hatte sie nur hochgerissen und auf den Auslöser ge drückt. Danach … Was war danach passiert? Wieder wechselte ihr Blick zu Duncan. »Wer ist sie? Du hast sie doch angeschleppt – du mußt es doch wissen!« Duncans Züge verkrampften sich. »Sie –«, setzte er an. Lilith ließ ihn gewähren. »– ist eine … nun, kein Mensch!« Beth’ Wut erreichte den Siedepunkt. »Was dann?« fauchte sie, ohne zu begreifen, was er damit wirklich andeutete. »Eine Vampirin«, sagte Lilith lapidar. Ihr dazugehöriges Lächeln kam etwas saftlos. »Mütterlicherseits.«
* Wieder wurde ein »Todesimpuls« von der Vampir-Sippe aufgefan gen. Aber als sie am Ort des Geschehens eintrafen, konnten sie er neut nur die kalte Asche ihrer Schwester bergen. Erneut hatte das Balg zugeschlagen und eine der ihren vernichtet. Ihre Wut und ihr Haß waren grenzenlos, fanden jedoch kein Ziel. Hilflos kehrten sie mit den kärglichen Überresten zur unterirdi schen Kathedrale zurück, wo eine böse Überraschung auf sie warte te …
* Lilith atmete tief durch, als sie aus dem Schlafzimmer trat und die Tür hinter sich schloß. Beth hatte sich unter sanftem Nachdruck hingelegt. Eine denkwür dige Fahrt zu dritt in einer Sardinenbüchse lag hinter ihnen. Aber sie hatten es geschafft, unbehelligt zur Wohnung der Reporterin zu rückzukehren. Liliths Anspannung war bis zuletzt geblieben. Wie Duncan hatte sie jede Sekunde damit gerechnet, daß Beth doch noch ausflippen könnte. Das war nicht geschehen. Dennoch wäre jede Entwarnung zu früh gewesen. »Du hast gesehen, was wir ihr mit der Wahrheit antun«, wandte sie sich an Duncan, der in der Küchennische gerade einen flüssigen Herzschrittmacher durch die Espresso-Maschine jagte. »Bist du jetzt zufrieden?« »Warum willst du mir eigentlich immerzu Schuldgefühle einimp fen? Um von deiner Schuld abzulenken?« »Will ich das?« »Es klingt verdammt danach.« Sie wiegte den Kopf und schaute sich suchend um. »Wo ist die Ka mera?« Er wies unfreundlich zur Couch. »Hast du Angst, sie könnte die Killerin auf Zelluloid gebannt haben? Geht das überhaupt, wenn Vampire nicht mal ein Spiegelbild besitzen?« »Ich habe Angst, daß dies hier –«, sie zeigte auf ihren Bauch, »ver schwindet, ehe ich es irgendwie festhalten konnte!«
Den Abdruck der Karte auf dem Symbionten schien er völlig ver gessen zu haben. Tatsächlich schienen die Konturen schon ein wenig verwaschener geworden zu sein. »Ich soll es fotografieren?« »Ich würde es selbst tun, wenn ich nur längere Arme hätte«, knirschte sie. »Bitte, beeile dich etwas!« Er legte die lasche Haltung ab. Als er mit dem Fotoapparat zu rückkehrte, verzichtete Lilith darauf, sich irgendwie in Pose zu stel len. Sie drängte ihn, aus verschiedenen Winkeln zu fotografieren, mit und ohne Blitzlicht, und gab erst Ruhe, als der Film voll war. »Noch einen Wunsch, Ma’am?« erkundigte sich Duncan sarkas tisch. Als sie nickte, bereute er es. »Wir können nicht wissen, ob der Symbiont abzulichten ist. Ich möchte, daß du es vorsichtshalber noch abzeichnest – als Sicherheitskopie sozusagen.« »Jetzt gehst du zu weit …« Offenbar hielt er ihren neuerlichen Wunsch für Schikane. Was wiederum bewies, daß ihm die Spur zum Lilienkelch nicht halb so wichtig war wie Lilith. »Danach gehe ich zu weit – ich verspreche es!« Obwohl Duncan ihre Andeutung auf ein unvergeßliches Betterleb nis verstand, lehnte er schroff ab. »Nein!« Mit ausgreifenden Schritten ging er zur Garderobe und nahm den dortigen Spiegel von der Wand. Als er zurückkehrte, hielt er ihn wie einen Schild vor sich. »Schau hinein«, drängte er. »Und dann sagst du mir, was du siehst!« »Ich weiß, daß mein Spiegelbild verschwomm …« Lilith stockte. Ein einziger Blick genügte, um zu erkennen, worauf Duncan sie erst mit der Nase hatte stoßen müssen: Sie selbst war nur als verwasche ner Schemen im geschliffenen Glas zu erkennen; bei ihrer Kleidung verhielt es sich anders. Der Symbiont wurde im Spiegel problemlos
abgebildet – besser noch: Die eingeprägte »Karte« war darin nicht länger seitenverkehrt! Obwohl dies ein Beweis zu sein schien, daß man auch scharfe Fo tos davon erhalten würde, wollte Lilith auf Nummer Sicher gehen. Sie plazierte den Spiegel so auf einer Kommode, daß sie im Stehen selbst eine Kopie der Karte zeichnen konnte. Ein Blatt Papier und ein Bleistift waren schnell gefunden. Liliths zeichnerisches Talent hielt sich in Grenzen. Aber es genüg te, da das Vorbild recht simpel war. Duncan stellte sich mit einer Tasse Espresso hinter sie und beob achtete interessiert ihre Fortschritte. Kurz vor Vollendung der Zeichnung fiel der Bleistift vor lauter Hast zu Boden. Als sie ihn aufhob und weitermachte, blitzte es in Duncans Augen erstaunt auf. Er wartete, bis sie fertig war. Dann fragte er: »Bist du links- oder rechtshändig?« »Warum? Ich weiß nicht …« Sie war in die hingekritzelte Karte vertieft. »Du bist beidhändig.« Er stellte die Tasse auf der Kommode ab und nahm den Bleistift. »Bevor er dir aus der Hand fiel«, sagte er, »hast du mit rechts gemalt – danach hast du deine Arbeit nahtlos mit links fortgesetzt! Ich will nicht sagen, daß es ein grafisches Meisterwerk ist, aber die Selbstverständlichkeit, mit der du die Seiten gewechselt hast, beweist, daß du mit beiden Händen gleich gut umgehen kannst.« »Ist das etwas Besonderes?« Sie schien immer noch nur mit halb em Ohr hinzuhören. »Die meisten Menschen haben schon Schwierigkeiten, eine Hand zu gebrauchen«, nickte er. »Du auch?« Für eine Spitze genügte auch das Minimum an Auf
merksamkeit, das sie ihm zollte. »Ich auch.« »Du Ärmster …« Sie zeigte auf das Blatt Papier. »Ich habe in mei ner ›Traumschule‹ nicht immer aufgepaßt: Ist das Indien?« »Keine Ahnung. Dieses Gekritzel könnte alles und nichts sein. Es gibt keinen einzigen Ortsnamen! Wenn das alles ist, bezweifle ich, daß dein Landru etwas damit anfangen kann …« »Mein Landru«, betonte Lilith überzeugt, »kann! Das Original die ser Karte braucht keine Ortsnamen, um zum Ziel zu führen. Es war weit mehr als eine einfache Karte. Es war aufgeladen mit … Magie.« »Dann hoffe ich, wir kommen auch so zurecht. Eine weitere Chan ce, mehr über das Ziel zu erfahren, haben wir nämlich nicht«, warf Duncan ein und wies auf ihr Kleid. Lilith erschrak, als sie an sich herabsah. Der Symbiont hatte den Abdruck der Karte verloren. Die Fläche war wieder leer. »Hoffen wir, daß die Fotos was geworden sind …« Duncan verstummte, als sich die Schlafzimmertür öffnete. Beth streckte den Kopf heraus … »Ich finde keinen Schlaf. Unter einem Dach mit Blutsaugern schläft es sich schlecht.« Lilith lächelte schief. »Ich habe mir meine Herkunft nicht aussu chen können. Aber Duncan ist noch ein vollwertiger Mensch, keine Sorge. Komm doch her zu uns. Wir diskutieren gerade wichtige Dinge.« Macbeth trat zögernd aus dem Schlafzimmer. Ihre knabenhaft schlanke Figur steckte in einem Seidenpyjama. Das blonde Kurzhaar war zerzaust. Erstmals, seit Lilith sie kannte, trug Beth eine Brille. »Dann möchte ich mitdiskutieren!« Ihr Ton war fast der alte. Fast.
Lilith ging auf sie zu. Sie tat es behutsam. Beth wich nicht vor ihr zurück, obwohl Skepsis hinter ihren Bril lengläsern lauerte. »Du hast grüne Augen«, stellte Lilith fest. »Wie ich.« Ihr Arm legte sich um Beth’ Hüfte und lenkte sie zu Duncan. »Womit die Ähnlichkeiten erschöpft wären.« Beth ließ sich bewe gen, obwohl es ihr innerlich zu widerstreben schien. »Wer weiß …« Lilith stellte nicht zum ersten Mal fest, welch eigen tümlichen Reiz die Frau mit dem Spitznamen »Macbeth« auf sie ausübte. »Was ist das?« Beth deutete auf die Zeichnung. »Picasso à la Lilith«, gab Duncan launig bekannt. Die Reporterin fuhr ein paar Linien nach. »Es sieht aus wie das … Ding, das ich auf deinem Kleid sah …« Lilith warf Duncan einen triumphierenden Blick zu. »Sie hat es so fort erkannt!« »Künstler unter sich«, seufzte er. Sein Bemühen, die Situation mit Sprüchen aufzulockern, war allzu offensichtlich. »Vielleicht kann Beth uns helfen«, sagte Lilith. »Wobei?« fragte die Reporterin. Lilith reichte ihr die Kamera. »Einmal unauffällig entwickeln, bit te, und das schnell. Du hast doch jede Menge Beziehungen …« Beth nahm den Apparat entgegen. »Kann mir einer sagen, warum ich das tue? Ich meine, warum werfe ich Typen wie euch nicht ein fach den Bullen zum Fraß vor …?« Duncan erwiderte: »Weil das Fräulein hier Macht über uns besitzt. Sie hat uns alle hypnotisiert, und – wer weiß – vielleicht sieht sie uns auch nur als kleine Notration für zwischendurch. Richtig emanzi piert fühle ich mich ihr gegenüber jedenfalls nicht …«
»Armleuchter!« fauchte Lilith. Er nickte Beth bekümmert zu. »Siehst du, sie fängt schon wieder an.«
* Der Vormittag des nächsten Tages zog sich zäh wie Sirup dahin. Hinter Duncan Luther lag ein Stundenschlaf, der kaum Erwähnung verdiente. »Wenn es klingelt, ist es die Polizei!« unkte er. Seine Füße hatten jeden Quadratmeter der Wohnung mehrmals durchmessen. Lilith gab sich Mühe, nicht von seiner Nervosität angesteckt zu werden. »Du hast doch darauf bestanden, sie nicht gefügig zu ma chen. Es wäre leicht gewesen …« »Gefügig! Wie das klingt …!« »Traumtänzer. Wir haben ihr Wort, daß sie uns helfen will. Aber sie wird Tage brauchen, bis sie begriffen hat, was alles in ihr kaputt gegangen ist. Wie war es bei dir?« »Das kann man nicht vergleichen!« »Nein? Denk trotzdem mal darüber nach – und dann übe dich in Geduld und Vertrauen.« »Wie du.« »Wie ich. Ach ja – ich werde noch einmal kurz weg müssen«, er öffnete sie ihm. »Du wartest am besten hier.« Er schüttelte den Kopf. »Ich komme mit. Diesmal begleite ich dich – egal, wohin du willst!« »Während ihr etwas geschlafen habt, bin ich noch einmal mit mir
ins Gericht gegangen. Ich habe zwar eine Kopie der Karte, aber Landru besitzt noch etwas, das ihm nicht gehört … Vielleicht kann ich ihm außerdem seine Heimaterde stehlen, damit er hier ein biß chen auf Trab gehalten wird. Ich muß jedenfalls noch einmal zum Unterschlupf der Vampire zurück.« »Du willst den Schädel deines Vaters holen – ist es das?« Sie nickte nur. Duncan reckte entsagungsvoll die Hände zur Decke. »Okay. Ich sehe ein, daß ich bei diesem Gang nur stören würde. Einer muß hier schließlich die Stellung halten, bis Beth zurückkehrt …« Lilith imitierte sein gezwungenes Lächeln problemlos. »Oder die von dir beschrienen Bullen … Wünsch mir Glück!«
* Zur selben Zeit, anderenorts … Trish Tough kannte den Weg. Sie hatte sich durch die Betten der Bosse zum gefragten Model hochgearbeitet. Daß sie dabei aus nahmslos Angebote aus der Hardcore-Branche erhielt, störte sie nicht. Sie hatte ihr Auskommen, manchmal sogar echten Spaß, und mußte nicht mehr acht Stunden täglich in irgendeinem schlechtge lüfteten Büro die Launen eines komplexbeladenen Chefs ertragen, nur damit am Monatsende die Kasse stimmte. No! Trish hatte nicht das Näschen gerümpft, als Leroy Harps ihr nach dem ersten Beischlaf eine Rolle in einem von ihm produzierten Vi deo angeboten hatte. Eins von der Sorte, wie sie nur in ausgesuchten Shops oder unter der Ladentheke gehandelt wurden.
Seither war Trish im Geschäft, und gelegentliche Besuche bei ih rem »Entdecker« gehörten sich nicht nur aus Anstandsgründen, sondern waren auch gut, um sich für neue Produktionen in Erinne rung zu rufen. Daß Leroy bei solchen Besuchen – gewissermaßen als »Betthupferl« – auch ein paar Nettigkeiten erwartete, fand Trish nur recht und billig. Sie war willig. Das machte alles so herrlich unkompliziert. Und Leroy schien zu wissen, welchen Schatz er sich mit ihr gean gelt hatte. Bisher hatte er sie noch kein einziges Mal abgewiesen, wenn sie unangekündigt vorbeischaute. Sie kannte die Zeiten, zu denen er auf »Privat« machte, und es hätte sie auch nicht gestört, ihn in den Armen einer anderen anzutreffen. So etwas konnte ganz spannend werden. Sie wäre die letzte gewesen, die sich geziert hät te, bei einer ménage à droit mitzuwirken. Vor der Kamera gehörte das zum Grundrepertoire. Sie hoffte, daß der gute Leroy in Sachen »Koks« nicht genauso blank war wie der Typ, von dem sie gerade kam. Im Aufzug kontrollierte sie noch einmal ihr Make-up. Trish war Haitianerin und benötigte wenig, um ihre Schokoladen seiten ins rechte Licht zu rücken. Leroy hatte sie einmal – nicht zu Unrecht – als »Naturtalent« bezeichnet, und ihm mangelte es be stimmt nicht an Vergleichsmöglichkeiten. Der Gang war leer, als Trish aus dem Lift trat. Sie schielte, um einen Blick auf den Ohranhänger mit der winzigen Uhr zu erha schen. Es war kurz nach zwei Uhr mittags. Leroys »Siesta-Time«. Sie klopfte gegen die Apartmenttür. »Leroy-Schatz!« gurrte sie und kratzte mit den Fingernägeln wie eine räudige Katze über das Holz. »Trish-Darling ist da …!«
Vielleicht pennte er. Trish drückte auf den Klingelknopf und hörte, wie der Summer drinnen anschlug. Die Vorstellung, den Weg vielleicht umsonst gemacht zu haben, gefiel ihr nicht. Sie hatte sich schon voll auf Leroys Luxus einge stimmt. Sie liebte es, sich auf seinem wogenden Wasserbett zu tum meln … Als wieder keine Reaktion erfolgte, drehte sie auf Verdacht am Türknauf. Niemand war überraschter als sie selbst, daß die Tür sofort nach gab. Es lag schon an der Branche, daß Leroy ein erhöhtes Sicherheitsbe dürfnis pflegte. Wer die schwarzen Schafe im Mileu kannte, der konnte nur unterstreichen, daß es wenig ratsam war, seine Woh nung nicht abzuschließen. Es gab genügend Gesocks, das sich eine solche »Einladung« nicht zweimal hätte geben lassen. Trish zögerte dennoch keinen Augenblick einzutreten. Wenn Leroy beim Weggehen so in Eile gewesen war, daß er das Abschlie ßen vergaß, konnte sie auf seine Rückkehr warten. Er würde nichts dagegen haben, hinterher ein paar Lockerungsübungen zu machen. Trish verriegelte als erstes die Tür hinter sich, damit ihr keine un angenehme Begegnung blühte. Dann stöckelte sie auf ihren hohen Pumps schnurstracks ins Wohnzimmer. Schon von weitem hörte sie das Geplätscher von Wasser. Es kam aus dem Bad. Sie lächelte. Leroy war also doch da. Vermutlich ließ er sich gerade die Wanne vollaufen und hatte Trishs Läuten überhört. Sie legte ihre Handtasche auf den Couchtisch und durchquerte den kurzen Flur, der zum Bad führte. Dabei stellte sie sich Leroys Gesicht vor, wenn sie so plötzlich vor ihm stand.
Wenige Schritte vor der Tür verwandelte sich der Teppich in eine Sumpfzone. Trish bekam nasse Füße. Veranstaltete Leroy etwa eine Orgie? Das Wasser flutete jetzt sichtbar unter dem Türschlitz hervor. Trish verwarf weitere mögliche Erklärungen für die Schweinerei. Sie überwand die letzte Strecke und drückte die Tür nach innen auf. Das Wasser auf dem Boden war nur ein dünner, stetig rinnender Film und bot wenig Widerstand. Als sie Leroy entdeckte, erstarrte Trish. »Was ist denn in dich gefahren?« keuchte sie, während sie sich ab wechselnd auf ein Bein stellte und die nassen Pumps von den mani kürten Füßen schälte. Leroy antwortete nicht. Er saß in voller Montur in der mit dem Boden abschließenden Wanne und beobachtete scheinbar fasziniert, wie das Wasser aus dem Zulauf schoß. Das Becken mußte schon geraume Zeit gefüllt sein, denn die überschüssige Menge drängte gleichmäßig über die Ränder und hatte sich nicht nur über das Bad verteilt, sondern – wie gesehen – auch schon den Flur erreicht. Trish eilte auf die Mischbatterie zu und drehte den Hahn zu. Aus Leroys Mund rann die Enttäuschung eines betrogenen Kin des. Sein Blick suchte und fand Trish. Die Leere darin machte ihr auf Anhieb angst. »Was ist los?« fauchte sie dessen ungeachtet. »Hast du gekokst? Hoffentlich nicht alles, was da war?« Ein Geräusch, das an gurgelndes Wasser erinnerte, wich aus Harps’ Kehle. »G-e-k-o-k-s-t …?« »Oh, Scheiße!« fluchte Trish. Heute war nicht ihr Tag. Sie beugte
sich hinab, angelte mit einem Arm nach der Kette des Wannenstöp sels und zog daran. Es würde Minuten dauern, bis das Becken leer gelaufen war. Als sie sich wieder aufrichten wollte, schoß Leroys Hand nach oben und schloß sich eisern um ihren Unterarm. Mit spielerischer Leichtigkeit wurde sie heruntergezerrt und landete mit ihren paille tenbesetzten Shorts, dem Flatter-Top und den Schuhen im Wasser zwischen Leroys Beinen. Sie quietschte, als sie begriff, daß das Wasser eiskalt war, und schlug mit einer Hand um sich – die andere hielt immer noch Leroy. »Fuck! Laß los! Spinnst du?« Er glotzte sie an. Seine Züge verzerrten sich. Trish traute ihren Augen nicht. Ihm liefen Tränen über die Wan gen, und er flüsterte erstickt: »Der Meister ist tot …! Der Meister ist tot …!« Dann krallte sich seine freie Hand in ihr Haar. Sie wehrte sich verzweifelt. Das ablaufende Wasser färbte sich rot. Trish schrie. Trish strampelte. Aber es nutzte ihr nichts. Sie starb unter den Bissen der Dienerkreatur, die Hora vor Tagen geschaffen hatte – bevor er selbst getötet wurde.* Eine Kreatur, die, ihrer geistigen Führung durch den Meister be raubt, seitdem auf Befehle gewartet hatte. Und die nun erste Ei geninitiative entwickelte: den Mord an Trish, um ihren Durst zu stil len. Noch konnte niemand wissen, welche Folgen dies haben würde – für Leroy Harps im besonderen … und die Bevölkerung von Sydney im allgemeinen …
*siehe Vampira 2: »Der Moloch«
* Auch diesmal schien niemand Augen, Ohren oder andere Sinne für übertriebene Wachsamkeit offenzuhalten. Schon der entweihte Friedhof hatte, bei Tage besehen, jenes Maß an Bedrohlichkeit miss en lassen, an das Lilith sich von ihrem nächtlichen Besuch her noch bestens erinnerte. Sie ließ sich dennoch nicht einlullen. Jeder Schritt, den sie sich in die Tiefe unter der verfallenen Kapelle vorwagte, war von über großer Vorsicht geprägt. Unnötigerweise, wie sich herausstellte. Das unterirdische Reich bot ein verlassenes Bild. Verschwunden war all der Tand und Prunk, der die Korridore und Gemächer eines Schlosses vorgaukelte. Kahle Wände warfen jedes Schrittecho hal lend zurück. Der Schmutz am Boden schien uralt. Lilith zog erneut einen Hinterhalt Landrus in Betracht. Während sie sich seiner Kammer näherte, versuchte sie magische Einflüsse ausfindig zu machen. Warum sollten die Vampire dieses ideale Versteck aufgegeben ha ben? Sie ging schneller. Als sie Landrus Kammer erreichte, zögerte sie, die kohlenschwar ze Tür zu öffnen. Ihr fiel auf, daß die blasphemischen Intarsien auf der Oberfläche verschwunden waren. Sekundenlang schloß sie die Augen und wartete auf ähnliche Emotionen wie jene, die sie schon einmal davon hatten abhalten wollen, den Raum dahinter zu betre ten. Nichts geschah. Kein Geräusch war zu hören, nicht der kleinste Laut. Ohrenbetäu
bende Stille unterstrich die allgemeine Verlassenheit. Auch Landrus Kammer bildete keine Ausnahme. Schon bei Liliths erstem Besuch war die Einrichtung an Sparsamkeit kaum zu über bieten gewesen. Nun fehlte sogar der Schrank, in dem sie sich ver steckt hatte! Was war in den wenigen Stunden passiert? Und warum war es geschehen? Landru war mit Sack und Pack verschwunden. Er hatte alle Hab seligkeiten mitgenommen, einschließlich ihres Vaters Schädel. Und der Karte … Ein lähmender Hauch streifte durch Liliths Körper, als sie begriff, daß Landru noch schneller reagiert hatte als sie. Er war fort, abge reist. Mit oder ohne Nona, die sich ihm als Begleiterin angetragen hatte …! Warum auch alle anderen Vampire verschwunden waren, interes sierte Lilith nach dieser Erkenntnis nur beiläufig. Für sie zählte al lein, daß Landru offenbar auf dem Weg war, das verschollene Un heiligtum seiner Rasse wiederzubeschaffen – und daß er einen kaum noch einholbaren Vorsprung besaß! Ehe sie den Unterschlupf verließ, machte sie noch eine makabre Entdeckung. Ein ganz charakteristischer Geruch lockte sie zu einer Tür unter der nach oben führenden Treppe, die ihr vorher nicht auf gefallen war. Dahinter sah es aus wie im Kühlhaus einer Metzgerei – deren Kühlung seit langem ausgefallen war. Ein Heer stark verwes ter, wie es aussah, ausnahmslos männlicher Leichen stapelte sich hier. An einigen Toten waren typische Merkmale von Kannibalis mus erkennbar … Das Bild verfolgte Lilith auf ihrem ganzen Weg zurück. Duncan merkte sofort, daß etwas nicht stimmte. Seine Frage nach dem Erfolg ihrer Mission beantwortete sie einsilbig. Über das Mas
sengrab vermochte sie nicht zu sprechen. Sie war froh, als Beth zu rückkehrte. »Was ist los?« Auch ihr entging Liliths Stimmungswandel nicht. Duncan zuckte die Achseln. »Sie spricht nicht darüber. Vielleicht hast du mehr Glück.« »Ich hatte schon mal Glück damit«, griff Beth den Faden auf, »daß ich Moskowitz kenne.« »Moskowitz?« Sie winkte ab. »Man muß ihn nicht kennen.« Sie griff in ihre Um hängetasche und blätterte ihnen einen Packen großformatiger Fotos hin. »Ich habe euren Wunsch weitergeleitet. Alle Negative wurden seitenverkehrt abgezogen …« Lilith streifte die Erinnerung an die Leichen ab und griff nach den Papierbildern. Sie war erstaunt über die Tiefenschärfe der Aufnah men. Kein Detail ging darauf verloren. »Prima Kamera«, lobte sie. »Solche Ergebnisse liegen immer am Fotografen«, frotzelte Dun can. »Das ist noch nicht alles. Ihr habt auch Glück, daß ich einen Com puter-Zombie kenne.« »Was heißt das nun wieder?« fragte Duncan. »Fragt mich bloß nicht nach Details«, winkte sie ab. »Ich weiß nur, daß man heutzutage auf beliebige CD-ROM-Datenbanken zurück greifen kann. Auch auf fotografische Kartographierungen unseres Planeten. Der Freak aus unserer Redaktion hat eines der Fotos, das ich ihm leihweise überließ, eingescannt und dann den Computer die Arbeit machen lassen, nach geographischen Übereinstimmungen auf seinen Software-Atlanten zu suchen …« Sie griff erneut in ihre Tasche und zog einen Papierausdruck hervor. »Was soll ich lange
drumherum reden? Er fand das hier …« Was sie jetzt vor ihnen ausbreitete, war mehr, als Lilith sich in ih ren kühnsten Träumen erhofft hatte – und viel mehr, als auf der Ori ginalkarte zu erkennen gewesen war. Es war die detailverliebte Schwarzweißwiedergabe einer Hochge birgslandschaft. Lilith studierte die Karte genau. Dann schüttelte sie bedächtig den Kopf. »Du hast dir sehr viel Mühe gegeben, Beth, danke. Doch es kann nicht stimmen. Hier oben steht ›Nepal‹. Ich weiß aber sicher, daß Landrus Ziel in Indien liegt. Ich fürchte, wir müssen noch ein mal von –« »Wir wissen, daß Landru nach Indien wollte«, fiel Duncan ihr ins Wort. »Aber das widerspricht sich nicht unbedingt …« Er zeigte ihr, was er meinte. Die Gegend, die der Computer ausgewählt hatte, trug zwar in großen Lettern den Aufdruck »NEPAL«, zeigte aber einen dünnen Grenzverlauf, der sich durch die untere Hälfte des Bildes zog: die Grenze zum indischen Subkontinent. Wahrscheinlich konnte man den Ort von Indien her leichter erreichen als von einem nepalesi schen Flughafen aus. Und für ein Wesen wie Landru waren Grenz kontrollen eh nicht von Belang. »So wie du es erklärst, könnte es den Tatsachen entsprechen …« Sofort loderte neue Euphorie in Lilith auf. »Landrus Vorsprung ist vielleicht doch noch einholbar …« Erst jetzt erzählte sie ausführlich, welche Situation sie im Unter schlupf der Vampire vorgefunden hatte. Nur das Massengrab klam merte sie weiterhin aus. Die Vorstellung, Vampire könnten neben den bekannten Vorlieben auch dem Kannibalismus frönen, hatte etwas extrem Erstickendes. Lilith sträubte sich schon aus rein privaten Gründen vehement da
gegen. Auch ihre Mutter war eine Vampirin gewesen …
* Ein sinnentleertes Wesen schlich durch Sydneys Straßen. Sein Name: Leroy Harps. Alte Freunde hätten ihn nicht wiedererkannt. Nicht einmal die Neider und Feinde, von denen er etliche mehr besaß. Er sah aus wie der letzte Penner. Wie einer, der sich mit schwerverdaulichem Billigfusel abgefüllt hatte. Aber der ehemals gutaussehende, smarte Dandy-Typ war nicht betrunken, sondern von anderem Stoff berauscht. Der Meister ist tot …, kroch es zäh durch sein mit Gedankenmüll überfrachtetes Gehirn. Er war völlig aus der Bahn geworfen. Nicht, weil er zum ersten Mal selbst Blut getrunken hatte, sondern weil … DER MEISTER WAR TOT! Harps hatte den Tod des alten Hora so deutlich gespürt, als hätte jemand versucht, ihm das Herz bei lebendigem Leib aus der Brust zu reißen! Hora hatte ihn erst kurz vor seinem Ende zum Sklaven bestellt. Zur Dienerkreatur. Aber dann hatte Hora ihn ohne einen einzigen konkreten Befehl wieder verlassen …! Er war in Eile gewesen. Natürlich hatte er zurückkehren wollen. Aber dann war etwas dazwischengekommen. Etwas Stärkeres als Hora, der solche Macht in sich gebündelt hatte, daß Harps noch jetzt schwindelig wurde, wenn er sich zurückbesann!
Ich bin ein Diener ohne Herr, steigerte er sich selbst immer tiefer in einen Wahn, dessen Folgen ihm selbst am wenigsten bewußt waren. Ein Diener ohne Auftrag … WAS SOLL ICH TUN? Er konnte versuchen, mit der Sippe Kontakt aufzunehmen. Will ich das? Und was bedeutete dieses Rumoren in seinem Innern, das nicht mehr aufhörte, seit er Trish für all die Nettigkeiten der Vergangen heit hatte belohnen wollen … Unsterblichkeit, raunte es in seinen verstopften Ganglien. Warum ist es schiefgegangen? Der Meister hat es versprochen! Die Belohnung meiner Dienste … Ewig wandeln. Jahrhunderte kommen und gehen sehen … ABER DER MEISTER WAR TOT! Wie Feuer brannte es in Leroy Harps. Als er irgendwann wieder nach Hause fand, schwamm Trish im mer noch tot in der Badewanne. Etwas ist schiefgegangen, dachte Harps. Aber was …?
* Die nächsten beiden Tage bestanden aus Reisevorbereitungen. Ganz so kopfüber, wie Lilith zunächst vorgehabt hatte, wollte sie dann doch nicht hinter Landru herhetzen. Duncan und Beth halfen ihr, sie mit Informationen über Land und Leute zu versorgen. So wohl Indien als auch Nepal schienen eine faszinierende Vergangen heit zu besitzen. Überraschenderweise erklärte sich Duncan bereit, sie bei ihrem Aufbruch ins völlig Ungewisse zu begleiten. Damit hatte Lilith nicht unbedingt gerechnet, obwohl vorsorglich zwei Plätze in der Maschi
ne gebucht worden waren. Bevor sie sein Angebot annahm, wollte sie mit Beth sprechen. Bei ihr war der Fall anders gelagert. Die Reporterin hatte alle Er öffnungen überraschend gut verkraftet. Dennoch war sie noch nicht wieder soweit gefestigt, daß ein längeres Zusammensein ratsam er schien – obwohl Lilith gerade in der jetzigen Situation Skrupel hatte, sie mit den vielen quälenden Fragen, die ihr auf der Seele brennen mußten, allein zurückzulassen. Aus diesem Grund suchte sie sie am Abend vor dem Flug auf, nachdem Beth bereits zu Bett gegangen war. »Was ist?« Ihre Frage verriet, daß sie noch nicht geschlafen hatte. Lilith ließ die Tür nur einen Spalt weit offen und setzte sich im Zwielicht neben sie. Duncan war vor dem Fernseher eingenickt. Der Ton war leise gestellt. »Ich wollte mich noch einmal für alles bedanken«, sagte Lilith. »Duncan hat eine gute Wahl getroffen, als wir nicht mehr wußten, wohin …« Beth’ Stimme klang rauher als sonst. Fast konnte der Verdacht auf kommen, sie hätte geweint. »Unsinn. Ich muß euch danken. So wer de ich zumindest eines nicht mehr: dumm sterben.« Liliths Blicke tasteten über das Gesicht der Reporterin. »Es wäre ideal, wenn du es so sehen würdest. Aber ich mache mir Sorgen.« »Um mich?« Es klang ehrlich verblüfft. »Natürlich um dich. Dun will mich nach Nepal begleiten.« »Das ist doch prima! Er war früher ein feiner Kerl – er wird es auch heute noch sein. Ich habe mich nur noch nicht wieder richtig an ihn gewöhnt …« Auch das klang ehrlich.
»Du bist ein feiner Kerl.« Lilith fand mühelos ihre Hand und drückte sie sanft. Beth zuckte leicht zusammen. Dann erwiderte sie den Druck. Lilith versuchte, den Knoten im Bauch aufzubekommen. »Es … könnte nicht ganz ungefährlich für dich werden. Ich kann dir nicht versprechen, daß man meine Spur hierher nicht findet … Das ist es, was mich hauptsächlich beunruhigt.« »Ich habe nie ganz ungefährlich gelebt«, erwiderte Beth. »Außer dem werde ich mich sofort nach eurer Abreise mit Bergen von Knoblauch eindecken!« »Ein Grund, nie wiederzukommen …« Lilith lächelte, aber sie spürte nicht die erhoffte Erleichterung. Beth schwieg, sah Lilith nur an. In ihren Augen war plötzlich noch etwas anderes, ein Ausdruck, den Lilith nicht einordnen konnte. Der Druck von Beth’ Hand in der ihren verstärkte sich. »Ist Dun da draußen?« fragte Beth. Ihre Stimme zitterte unmerk lich. »Er war auf der Couch eingeschlafen, als ich zu dir ging.« »Willst du nicht auch endlich ins Bett? Du hast morgen einen har ten Tag vor dir …« Obwohl die Frage ganz neutral klang, schienen Beth’ Augen dabei aufzuglühen. Einem nomalen Menschen wäre es nicht aufgefallen. Aber in dem herrschenden Zwielicht waren Liliths Sinne bis aufs Äußerste geschärft, viel mehr als bei Tageslicht. Sie sollte nicht mehr erfahren, was Beth bewegte. Denn in diesem Moment klang das Schrillen des längst wieder lautgestellten Telefons vom Wohnzimmer herüber. Sie hörten, wie Duncan abhob und sich mit schlaftrunkener Stimme meldete. Schon näherte er sich der Tür und drückte sie auf.
»Was sitzt ihr denn hier im Dunkeln?« erkundigte er sich nicht eben intelligent. »Wir haben uns unterhalten«, sagte Beth knapp. Leichter Ärger schwang in ihrer Stimme mit. »Ein Anruf für mich?« Duncan nickte. Er schien es bereits zu bereuen, abgehoben zu ha ben. Irgendwo geisterte immer die Angst herum, es könnte die Poli zei sein, die nach ihm fahndete. »Für wen sonst? Merkwürdige Be kannte hast du. Um diese Zeit und –« Beth glitt aus dem Bett und huschte zum Telefon. »Aufgelegt«, sagte sie enttäuscht. »Nannte er wenigstens seinen Namen?« Duncan nickte. »Er nuschelte stark, aber ich glaube, er sagte etwas wie Warner … Jeff Warner …« Den Grund für die durchscheinende Blässe, die Beth’ Gesicht jäh überzog, kannte nur die Reporterin selbst …
* Einige Tage später, Nepal Padam liebte die mückenlose Zeit. Er liebte die Auwälder, die an den terrassenartig angelegten Berghängen wucherten und sich aus Bambus, Rhododendren und Zimtbäumen zusammensetzten. Und er liebte Bimal. Bimal war so jung wie er, gerade siebzehn. Ihr schmales Gesicht leuchtete wie der Tau auf den vergoldeten Dächern der Yak-Tempel, wenn sie sich trafen, ohne daß andere Angehörige ihrer beiden Fa milien dabei waren.
Das taten sie, so oft es ging. Auch heute waren sie für den späteren Nachmittag verabredet. Zuvor mußte Padam das Seine zum Lebens unterhalt der Familie beitragen. Er liebte es, allein zu arbeiten, ohne einen Bienenschwarm von Begleitern um sich herum. Der Weg vom Dorf zu den Wildreisfeldern war ein schmaler, in den Hang gehaue ner Felspfad, gerade schmal genug, um einen Lastenträger nach dem anderen passieren zu lassen. Gleich am Ende des Dorfes schlängelte er sich durch ein schattiges Wäldchen aus verkrüppelten Bäumen, die ober- und unterhalb des Steilhanges wuchsen. Padam war gut gelaunt, während er dahinmarschierte. Er tag träumte von Bimal und ihrer süßen Aprikosenhaut. Niemand wuß te, daß er schon jede Stelle ihres verlockenden Körpers geschmeckt hatte. In ihrem Dorf lebten, anders als in den umliegenden Orten, über wiegend Buddhisten, keine Hindus. Aber die strengen Sitten waren bei beiden Religionen in etwa vergleichbar. Eine Frau sollte unbe rührt in die Ehe gehen. Selbst unter Verheirateten waren Zärtlichkei ten in der Öffentlichkeit verpönt. Die Liebe zwischen Bimal und ihm, Padam, war aber so stark, daß sie beide nicht hatten warten können, bis sich ihre Familien einig ge worden waren und die Hochzeit ausrichteten. Schon vor Monaten hatten sie das erste Mal miteinander »geschlafen«. Auf ihre Weise. Ohne daß Padam wirklich in Bimal eingedrungen war. Es gab viele Möglichkeiten, die Lust des anderen zu befriedigen und als Frau dennoch im klassischen Sinne »unberührt« zu bleiben … Als der Fremde hinter einer Biegung des Pfades auftauchte, wur den Padams sehnsüchtige Gedanken jäh unterbrochen. Es war ein wirklich Fremder. Padam hatte ihn nie zuvor gesehen, und er stammte mit Sicherheit aus keinem der anderen Orte. Schon
seine Kleidung entlarvte seine westlich geprägte Herkunft. Dennoch erschien sein Aufzug selbst Padam vergleichsweise altmodisch. Der Mann war schlank und hochgewachsen. Sein Gesicht an diesem kla ren Morgen wirkte wie mit einer dünnen grauen Wachsschicht über zogen. Einfach ausgedrückt: Er sah krank aus. »Namaste«, grüßte Padam. »Namaste«, erwiderte der Fremde. Seine Augen waren stechend. Padam hatte sofort ein ungutes Gefühl. Wenige Schritte voneinander entfernt blieben sie stehen. Einer mußte zur Seite weichen, um den anderen ungehindert vorbeizulas sen. Padam, als der Jüngere, fand es normal, daß er dies tun würde. Zuvor fragte der Fremde jedoch: »Wie heißt du?« Er sprach akzentfrei. Als ob es sich um seine Muttersprache han delte. Padam wunderte sich, wie schnell sich seine Zunge in Bewegung setzte. »Padam.« »Du lebst in dem Dorf?« »Ja.« »Erzähle mir mehr davon«, forderte der Fremde ihn an unge wöhnlicher Stelle und zu ungewöhnlicher Zeit zu einem Plausch auf. »Erzähle mir, wie ihr lebt. Eure Bräuche. Was ihr fürchtet …« Padam ertrank in den stechenden Augen. Worte sprudelten über seine Lippen, ohne daß er begriff, woher sein Mitteilungsbedürfnis kam. Er redete und redete. Die Ebene mit den Wildreisfeldern er reichte er nie.
* Mittags legte Bimal ein paar Rapsblüten vor dem Stupa ab.
Der winzige buddhistische Familientempel sah bei flüchtiger Be trachtung wie ein einfacher Erdhügel aus. Wind und Wetter hatten ihn verwittern lassen – aber das gehörte dazu. Einen Stupa errichtete man nur einmal – und überließ ihn dann den Elementen. Nach dem üblichen Gebet eilte Bimal flink zum Haus ihrer künfti gen Schwiegereltern zurück. Es galt, Einzelheiten der bevorstehen den Hochzeit zu bereden. Vor dem Betreten zog sie die Schuhe aus. Als sie ins Halbdunkel hinter den Mattenwänden tauchte, schrak sie vor der Gestalt zurück, die ihr entgegentrat und sich sofort verlangend an sie drängen woll te. »Padam, nicht!« rief sie. Sie war verblüfft, ihn zu treffen. Es hatte geheißen, daß er bei der Reisernte wäre … Er ließ sich nicht bremsen. Seine Hände fanden kundig die Lücke zwischen ihrem Kleid. Obwohl ihr die Hitze in den Kopf schoß, wehrte sie ihn heftig ab. Er muß verrückt sein! dachte sie. So kurz vor dem Ziel gefährdet er al les …! »Wenn uns deine Eltern oder Geschwister überraschen …« Trotz des Flüstertons kam ihre Stimme mit aller Schärfe. »Padam!« Ein paar Sekunden sah es aus, als würde er sich besinnen. Sein Atem streifte ihr Gesicht. Bimal fühlte sich plötzlich benommen, schwindelig. »Wieso bist du hier? Es war verabredet, daß …« »Psst!« Sein Finger legte sich auf ihre Lippen, stieß plötzlich in ih ren Mund und fuhr ein und aus. »Saug dran«, flüsterte er. Wider Willen spürte sie ein Brennen zwischen ihren Beinen. Eine Gänsehaut kroch über ihre Kopfhaut. Sie zuckte zurück. »Du bist wahnsinnig! Sie werden uns steinigen!« »Vergiß sie!«
»Wie könnte ich? Jeden Moment –« »Vergiß sie!« Ihre Knie wurden noch weicher. Sie spürte, wie er mit einem Fin ger unten an ihrer Pforte zu reiben begann, aber sie war außerstan de, ihn noch einmal zu maßregeln. Der Druck in ihrem Kopf wuchs. Um sie herum begann sich alles zu drehen. Hitze und Kälte wechselten sich ab. »Niemand wird uns stören«, versprach Padam, ohne zu erklären, wie er dieses Versprechen halten wollte. Er nahm sie bei der Hand und führte sie in sein Zimmer. Im Haus war es totenstill. Nur von draußen klangen vereinzelte Geräusche herein. Selbst sie hatten et was Unwirkliches. Padam schälte sie aus ihrem Gewand. Bimal hatte das Gefühl, neben sich zu stehen und einer Fremden beim verbotenen Treiben zuzuschauen. Ihre Kehle war wie ausge trocknet. Auch Padams Kleider fielen. Keuchend riß er sie mit sich hinab auf sein Lager. Sein Drängen entzündete eine Fackel in Bimals Brust. Die Höfe ih rer Brustwarzen wurden dunkler vor nicht mehr bezähmbarer Lust. Bimal streckte in Rückenlage Arme und Beine von sich. Wieder sah sie sich selbst wie von einer erhöhten Warte außerhalb ihres Körpers. Sie spürte Padams steifes Glied über ihren Schoß streifen, aber nicht wie gewohnt innehalten, sondern mit einem schnellen Ruck weiter vordringen. Das war das Ende ihrer bis dahin so streng gehüteten Jungfernschaft. Ein zitternder Ton löste sich aus Bimals Mund. Er muß von allen guten Geistern verlassen sein, gellte es durch ihr betäubtes Bewußt sein. Von allen guten … Sie schloß die Augen und hielt sie geschlossen. Erschrocken merk te sie, wie sich ihr Körper den Stößen öffnete. Wie ihre Arme zu zit
tern begannen und ihre Haut sich mit glitzerndem Schweiß überzog. Ehe sie sich versah, wurde sie selbst immer zügelloser. Ihre Beine zuckten und traten unbeherrscht um sich, während sein Becken wei ter über ihr kreiste. Sie klammerte sich mit beiden Händen in seinen Rücken, biß und kratzte und spürte in der Woge, die sie überrollte, kaum, wie er sich in sie ergoß. Dann kam die kalte Dusche. Die Ernüchterung. »Was – haben wir getan?« hauchte sie, als er sich aus ihr zurück zog. Erst jetzt öffnete sie die Augen. Der Schock war so stark, daß ihr Herz fast für immer aussetzte. Aufschreiend versuchte sie, sich von dem Fremden zu entfernen, der nicht einmal entfernte Ähnlichkeit mit Padam aufwies, aber nackt neben ihr kauerte. »Danke«, sagte er freundlich. »Es war sehr nett.« Ihre Seele stürzte in einen Abgrund. Ihr Schrei brach ab. »Wo – ist – Padam …?« Immer noch freundlich, aber seltsam unbeteiligt, erwiderte der bleiche Fremde: »Ich werde euch zusammenführen. Ihr habt es ver dient.« Was nun geschah, war ebenso unmöglich wie das plötzliche, über gangslose Verschwinden Padams, doch Bimal nahm es seltsam un beteiligt hin. Sie war gefangen in ihrem eigenen Körper, der ihr nicht mehr ge horchte. Vor ihren aufgerissenen Augen materialisierte sich ein Gefäß mit ten in der Luft, ein Kelch, dessen oberer Teil wie Blütenblätter ge formt war.
Gleichzeitig spürte sie Schmerz an ihren Handgelenken. Blut tropfte aus langen Schnitten hervor, fiel aber nicht zu Boden, son dern trotzte der Schwerkraft und fand auf unerklärliche Weise den Weg in das unwirklich strahlende Gefäß, welches jeden Tropfen auf fing. Es schien unersättlich. Und dann hob der schreckliche Fremde den Kelch schließlich an seine Lippen und begann genußvoll daraus zu trinken … Es wurde ein schmerzvoller Weg zu Padam.
* Landru wartete bis zum Abend, ehe er sich unbemerkt von seinen Opfern entfernte und das kleine Haus in der Mitte des Gebirgsdor fes verließ. Nach der beschwerlichen Anreise fühlte er sich wieder im Zenit seiner Kräfte. Er hatte nicht nur vielerlei Blut gekostet, son dern auch andere Bedürfnisse befriedigt. Das zeitweilige Bedauern darüber, Nonas Angebot, ihn zu begleiten, abgelehnt zu haben, war gewichen. Die Töchter dieser Region besaßen ihren ganz eigenen Reiz … Von Padam, dem jungen Nepali, glaubte Landru genügend über den hier herrschenden Kult erfahren zu haben, um die Spur, die die Karte wies, weiterverfolgen zu können. Die Blutspur zum Lilienkelch. Ob sie, die oben im Gebirge hausen sollten, für den Diebstahl ver antwortlich waren, wußte er noch immer nicht. Aber er würde es herausfinden. In der Dunkelheit erklomm er den Pfad, den Padam ihm genannt hatte. Ein Mensch hätte seine liebe Not gehabt, unter den herrschen den Bedingungen Meile um Meile zurückzulegen. Landru verzichte
te sogar auf den Einsatz seiner Magie. Sie war hier nicht nötig. Noch nicht. Er hatte zu lange auf den Erfolg seiner Suche gewartet, um nun übertriebene Hast an den Tag oder die Nacht zu legen. Stundenlang kletterte er in der dünnen Luft immer höher hinauf zu den schroffen Zinnen des Himalayas. Erst als das goldene Dach eines schlank in den Himmel ragenden Gebäudes in Sicht kam, schuf er ein Nebel feld zur Tarnung. Kurz darauf sah er erste Gestalten in roten Kutten. Eine Weile beobachtete Landru von einem kleinen Plateau aus, wie sie sich stumm unter der silbernen Sichel des Mondes bewegten. Kein Wort wechselte unter ihnen. Er hätte es gehört; seine Sinne wa ren geschärft wie selten. Leichte Unsicherheit erfaßte ihn, als er bemerkte, daß er die Schat ten ihrer übergestülpten Kapuzen nicht zu durchdringen vermochte. Das war ungewöhnlich bei jemandem, für dessen Augen Tag und Nacht beinahe identisch waren. Aufhalten ließ er sich davon nicht. Wer immer die Kuttenträger waren, der einfachste Weg, es heraus zufinden, war immer derselbe. Landru glitt nach angemessener Beobachtung auf eine einzelne Gestalt zu, die abseits der anderen regungslos vor dem Rand einer überhängenden Felsnase stand und, auf einen langen, geschwunge nen Stab gestützt, zum Firmament hochblickte. Die Sterne leuchteten kalt, während sich der Nebel mit Landru nä herte. Auch dies geschah lautlos und fügte sich harmonisch in die Szene rie ein, der etwas grandios Majestätisches anhaftete. Pilger hatten schon immer größtmögliche Nähe zu ihrem Gott ge
sucht … Landru lächelte höhnisch. Hinter dem Kuttenträger verharrte er. Nebel umschmeichelte den Rücken der Gestalt, und dann tauchten Landrus Hände aus dem Weiß, legten sich um den Hals seines Opfers … Landru begriff nicht, warum er innehielt. Wie festgefroren hingen seine Arme in der Nacht. Der Nebel, den er zu seiner Sicherheit erschaffen hatte, verwandelte sich in fallen den Schnee und entblößte den Vampir, kurz bevor sich der Kutten träger umdrehte. Langsam. Wie in Zeitlupe. Landru stand zur Salzsäule erstarrt. Seine hochgereckten Hände waren immer noch zu mörderischen Klauen verformt. Aber die lan gen Nägel schienen wie in einem flüssigen Stickstoffbad zu versprö den. Kälte, in dieser Dimension nie erlebt, kroch die Arme entlang auf seinen restlichen Körper zu. Die Schwärze unter der Kapuze richtete sich gegen Landrus Ge sicht. Auch die Schwärze wirkte wie dunkelgefärbtes Eis. Mit einem heiseren Aufschrei schüttelte Landru die Lähmung ab. Noch nie war ihm klarer vermittelt worden, wie hilflos seine Opfer sich fühlen mochten. Er mobilisierte seine ganze Kraft, um die Flucht in die Nacht zu schaffen. Als Fledermaus stürzte er sich in den saugenden Abgrund. Und doch wußte er schon jetzt, während er mit bleischweren Schwingen dem Tal entgegentrieb, daß er zurückkehren würde. Der Lilienkelch, wisperte es in seinem winzigen Fledermausschädel.
Er muß hier sein! Wer sonst hätte ihn so lange verbergen können …?
* Noch etwas geschah in dieser Nacht, von dem Landru nicht wußte, daß er die Schuld daran trug. Etwas näherte sich dem Dorf im Gebirge, das er verlassen hatte. Eine Gestalt in roter Kutte. Ungesehen durchschritt sie die Straße zwischen den geduckten Häusern. In ihrer Tasche rieben Scherben, aber niemand hörte es. Niemand hörte den Namen, den die Scherben wisperten. »Bimal … Bimal … Bimal …« Der Unheimliche fand sein Ziel ohne Probleme. Die Tür war offen, wäre aber auch verschlossen kein Hindernis gewesen. Unwiderstehlich glitt die Gestalt ins Innere des Hauses. Sicher fand sie den Weg zu dem Mädchen, das die Scherben nannten. Erst hier geriet der Unheimliche ins Stocken. Das Mädchen war tot. Ermordet. Etwas Beispielloses war geschehen! Er hob es auf und trug es fort. Aber er wußte schon jetzt, daß SIE sich nicht damit zufriedengeben würden … ENDE
Der Kult von Adrian Doyle Ein uralter Ritus aus Terror und Unterdrückung wurde unwissent lich durch Landru gestört und unterbrochen: das Scherbengericht. Die Folgen sind Chaos und Tod. Noch kann niemand ermessen, welche Ausmaße seine Tat noch annehmen wird. Lilith und Luther sind ahnungslos, als sie in New Delhi anlangen. Sie folgen Landrus Fährte, solange sie noch warm ist. Doch sie sol len bald am eigenen Leib die Macht des Kults erfahren. Gleich nach der bösen Erkenntnis, daß Landru sehr wohl mit Verfolgern gerech net und tödliche Vorkehrungen getroffen hat …