Martin Baresch
Norbert Ehry
Bluthunde
Roman
WELTBILD
Originalausgabe mit Genehmigung der Autoren und der AVA
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Martin Baresch
Norbert Ehry
Bluthunde
Roman
WELTBILD
Originalausgabe mit Genehmigung der Autoren und der AVA
(Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn)
© des Tatort-Drehbuchs by Norbert Ehry und AVA
(Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn)
© der Romanfassung 1999 by Martin Baresch und AVA
(Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn)
Editionsidee und Redaktion:
Reinhold G. Stecher, Richard Mader
Einbandgestaltung: Agentur Zero GmbH, München
Titelbild: Bavaria Bildagentur, München
Bayerischer Rundfunk
Tatort ist eine Produktion der ARD für Das Erste
Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg
Printed in Germany
Ein Sprung mit dem Bungee-Seil… wie ein Meteor durch den Himmel jagen… für die Florettfechterin Petra Nickel endet dieses Abenteuer tödlich! Kurz darauf werden Filmaufnahmen ihres grausigen Sturzes im Münchner Sender ISAR-TV ausgestrahlt. Woher stammen diese Bilder? War Petras Unfall womöglich kein Zufall? Die Kommissare Ivo Batic und Franz Leitenmayr nehmen die Ermittlungen auf und haben dabei gegen zwei Hindernisse anzukämpfen: Die unersättliche Gier des Fernsehpublikums und einen blitzschnellen und heimtückischen, anonymen Sensationsreporter – einen Bluthund. Als sich weitere mysteriöse Unglücksfälle ereignen, beginnt für das Kripo-Team ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit… Regisseur Peter Schulze-Rohr und Drehbuchautor Norbert Ehry stellten in diesem BR-Tatort das Thema: »Fake«, die Fälschung von Fernsehberichten, in den Mittelpunkt – Zündstoff, brisant wie nie zuvor! Martin Baresch schrieb einen Thriller, der unter die Haut geht…
Plötzlich war alles um sie herum ganz unnatürlich still und weiß, und sie stemmte sich gegen die drängenden, stoßenden Hände und blieb einfach stehen und legte den Kopf in den Nacken und drehte sich unbeholfen, mit weit ausgestreckten Armen, um die eigene Achse – ein letzter Aufschub. Eine Henkersmahlzeit für die Seele. Über den gläsernen Himmel schäumte eine Brandung aus Hitze und Smog heran, und Petra wußte, ganz fern und mit einem kindhaften Entsetzen, daß es trotzdem gleich, gleich, soweit sein würde: Der Abgrund… und über den Abgrund hinaus und in die Tiefe. Nur ein Schritt, und dann – Für Sekunden kehrte die Realität noch einmal an Ort und Stelle zurück. Petras Wahrnehmungen wurden wieder normal, ihr Mund formte wie im Zustand eines ungeheuerlichen Schocks lautlose Worte: O-lieber-Gott-bitte-bitte-nicht! – Niemand hörte sie. Niemand wollte sie hören. Nicht jetzt. Denn JETZT wollten sie alle nur den Sprung. Ihren Sprung. Wollten ihn sehen – hören… und, vor allem: SPÜREN. Das Bersten und Krachen von Knochen, alles war möglich. Kollektive Hysterie und Sensationsgier – miserabel gebändigt, kaum verhohlen. Der Kranführer winkte herüber und reckte beide Daumen nach oben. Der Bann zerbrach, und ringsum explodierten zehn, zwölf Leute in zappeligen Bewegungen und begeistert schockierte »Ah«- und »Oh«-Rufe; Linda streckte die Zunge heraus und tat so, als lecke sie die Videokamera voller Hingabe – obszöne Kuh! Schluß mit dem Innehalten, keine Chance mehr, es jetzt noch zu stoppen: Tohuwabohu, blasse, verzerrte Gesichter und weit aufgerissene Voodoo-Augen, denen nichts entging. Eine anonyme, wogende Gesichter-Augen-Körper-Masse außerhalb der rotweißen Absperrung im Zentrum des weiten Geländes.
Ein verlorenes Häuflein sensationsgeiler Gaffer. Petra dachte: Das sind doch nicht meine Freunde. Sie dachte: Es ist nicht wahr, bitte laß es nicht wahr sein. Jemand kicherte schrill, und noch während Petra sich umdrehte und festzustellen versuchte, wer es gewesen war, spürte sie die grobe Berührung zwischen den Schulterblättern. Mike schob sie an – ein großer, ungeduldiger Junge, der einem beschädigten mechanischen Spielzeug einen kleinen Schubs verpaßt, um es möglicherweise doch noch einmal in Gang zu bringen. Und tatsächlich, es funktionierte; sie kreischte nicht: »Laßt mich, ich will das nicht, jetzt nicht mehr, nicht in diese Tiefe!«, und sie schlug auch nicht panisch um sich; sie setzte sich grotesk hüpfend in Bewegung. Gehorsam. Wie immer. Sie hatten ihr die Füße zusammengegurtet, so daß sie nur kleine, unsichere Schritte riskieren konnte. Jenny, Hans-Dieter, Jutta, Suse, Sascha und alle anderen, die ihr so gestenreich den Vortritt gelassen hatten, applaudierten und feuerten sie an. Geräusche und Stimmen wie knisterndes und zerreißendes Papier. Alles beschleunigte sich – unaufhaltsam. Sie war wie betäubt. Gebannt. Verhext. Genauso sensationsgeil wie die anderen. Sie wollte es ihnen zeigen. Sie wollte unsichtbar sein und nur noch WEG und sich irgendwo zusammenkauern und weinen. Alles gleichzeitig. Bis sie nicht mehr wußte, was sie wollte. An der Plattform kontrollierte Mike die Fußfessel und den Karabinerhaken, der Stahlseil und Bungee-Seil zusammenhielt, richtete sich auf, blinzelte ihr zu; sein Mund war zu etwas verzogen, das keinerlei Ähnlichkeit mehr mit einem Lächeln hatte. Als er sich abwandte, strich sein Arm wie unbeabsichtigt über ihre rechte Brust. Petra haßte sich dafür, daß sie nur ein T-Shirt und den dünnen, orangeroten Anorak zu der hautengen, schwarzen Hose angezogen hatte, haßte sich dafür, daß sie auf die Berührung reagierte und ihre Brustwarzen hart wurden; sie
konnte den Kerl nicht ausstehen. Aber er war ihre letzte Chance: Die Zeit brannte. Vertickte in einem Affentempo. Red’ mit ihm, schnell, um Himmels willen, kreischte eine Stimme in ihr. Er ist Profi, er gibt die Kommandos, er wird es verstehen. – Was verstehen? WAS? Daß sie früher an diesem Tag wie aus heiterem Himmel eine Eingebung von fast religiös-wahnhafter Intensität gehabt hatte: Wen von uns wird es erwischen? – Und daß sie jetzt, Stunden später, in einem letzten Moment der Erleuchtung, das Ganze doch noch ernst zu nehmen und sich bis auf die Knochen zu blamieren gedachte? Längst schrien alle auf sie ein, und der zeitlose Augenblick war bereits Vergangenheit – in einem Gewirbel vieler Körper und seltsam verfremdeter Bewegungen wurde sie auf die winzige Plattform gehoben. Es gab kein Entkommen mehr. Sie glaubte Blut in ihrem Mund zu spüren, und Tränen und Gehirnmasse und Knochensplitter und blutergußdunkles Grauen. Sie klammerte sich an dem lächerlich dünnen Gestänge fest, ihre Lippen zuckten und zuckten. Mike sagte, professionell und aufgekratzt: »Olli und Markus fahren mit dir hoch. Hey, gleich wirst du deinen SPASS haben!« In seinen Augen war nichts zu erkennen – gar nichts, am allerwenigsten Leben. Steine in schmutzigem Wasser. Er gab das Zeichen. Pures Adrenalin schoß in ihren Kreislauf. Die Stahlseile spannten sich mit einem ganz und gar unmöglichen, rostigen Knirschen, die Plattform unter ihr ruckte und schwankte und hob sich – es war, als würden sie alle in den blauen Himmel hinaufgeschleudert werden. Gedanken, die nicht ihre Gedanken waren, plapperten zunehmend hysterisch Paul Celans Todesfuge herunter – wieder und wieder: Wir schaufeln ein Grab in den Lüften – da liegt man nicht eng.
Es war der falsche Anlaß. Celans Worte wurden völlig sinnentfremdet; dies hier war kein KZ, niemand wurde auf entsetzliche Weise gemordet, und die Meute dort unten, vor der roten Baracke der »Bungee-Jumping-Power-Company Mike Weitzel« war keine Nazi-Horde. Freunde. Das waren ihre Freunde. Es ist doch nur eine… Mutprobe. – Was hatten sie gelacht, als sie auf diese durchgeknallte Idee gekommen waren! Doch der Abgrund war jetzt rings um sie her… nahe, ganz nahe. Die Tiefe flüsterte und tuschelte ihr zu. Komm-komm komm. Die Plattform schwebte nicht mehr nur ein paar lächerliche Zentimeter über dem Boden, sondern war bereits in zehn, elf, zwölf Meter Höhe angelangt. Der Teleskop-Arm des Krans war wie ein Stachel im Fleisch des Himmels. Sarah, Roland, Jutta, Heinz… alle da unten waren nur noch Ameisen. Wurden von ihr weggezogen in einen rotbraun flammenden Abgrund, der schrecklicher war als alles, was sie jemals gesehen hatte. Und die Plattform wurde immer noch höher hinaufgerissen. Zwanzig Meter. Fünfundzwanzig. Dreißig. – Schnell. Viel zu schnell. Es ist ein Vierzig-Meter-Sprung, Baby, einer mit Orgasmus-Garantie – klar? Einmal über die volle Distanz, und du brauchst nie wieder einen Kerl, weil du dann nämlich nur noch springen willst, weil du dann nie wieder loskommst von diesem Wahnsinnsgefühl, weil du dann alles hast, was du wirklich brauchst Mike Weitzels Stimme füllte ihren Kopf wie eine Springflut aus Altöl. Petra versuchte zu atmen, doch es gab keine Luft mehr. Sie dachte: Warum machst du das, warum, wem mußt du etwas beweisen? Und dann gab es endgültig keine normale Außenwelt mehr – die Häuser und Bäume am Rand des weiten Brachgeländes, die Kirche irgendwo vor dem Horizont – alles löste sich in Streifen blauen und weißen Himmels auf.
Pures, strahlendes Weiß. Und Hitze.
Überall.
Petra schloß die Augen – und öffnete sie wieder. Ein Vierzig Meter-Sprung. Einer mit Orgasmus-Garantie. Die beiden jungen Männer, die, einer hinter und einer neben ihr, mit hochfuhren, lächelten ihr aufmunternd zu. Ganz cool, Baby. Wir holen uns diesen Kick jeden Tag. Vielleicht hatten sie ihre Gedanken gelesen. Plötzlich schämte sie sich. Plötzlich nahm sie die beiden nur noch wie durch zertrümmertes Spiegelglas wahr. »Mir wird schon vom Hochfahren schlecht…«, stieß sie endlich mit einer ganz weinerlichen Kleinmädchenstimme heraus. »Ich glaube… ich kann das nicht.« »Dein erstes Mal?« erkundigte sich der blonde Junge neben ihr. Sie mußte sich zusammenreißen, mußte sich einschärfen: Er heißt Oliver, Olli, er ist nett, er ist nicht wie dieser Mike!, um überhaupt einen klaren Gedanken fassen und nicken zu können. »Ist halb so schlimm«, sagte er in einer eigenartigen Mischung aus Ernsthaftigkeit und aufmunterndem Lächeln. »Bitte, ich will runter – ich – « »Komm schon, alle gucken nur auf dich. Und die Kamera läuft! Linda gibt sich echt alle Mühe. Bist du ‘n Powertyp oder ‘n Lolly? Hey, du willst dich doch nicht blamieren.« »Das sind doch meine Freunde…« Es war nur noch leeres Gemurmel. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie hörte Olivers Worte, als schwebten sie, in Styropor verpackt, in lustigen Wölkchen-Sprechblasen heran: »… sollst doch nicht nach unten sehen, solange wir noch nicht – « Sie stand stocksteif, schweißnaß und zitternd auf dieser winzigen, immer heftiger schwankenden Plattform, dreißig, dreiunddreißig, sechsunddreißig Meter über dem Boden, über einer GIGANTISCHEN Tiefe. Sie klammerte sich an ein paar
vibrierenden Metallstangen fest, und in ihren Ohren war ein Brausen und Rattern wie von vielen U-Bahn-Zügen in langen, dunklen Tunneln voll schwüler Hitze und fauligen Gestanks. Olivers Lächeln. Er war jünger als sie, höchstens achtzehn, neunzehn, und er war schüchtern und behutsam, doch er hatte kein bißchen Angst. In seinen Augen tanzten Lichtfunken, es war hypnotisch. Sie hätte ihn gern geküßt, nur so. Und sich an ihm festgeklammert. Die Sekunden wirbelten wie Luftblasen an ihr vorbei – in die Tiefe. Irgend jemand schrie ihr von dort unten Mut zu. Einige hüpften und winkten. Mike und Linda standen ein wenig abseits, rauchten und filmten; Mike grabschte an Linda herum, sie rieb sich an ihm, knabberte an seinem Ohr. Linda mochte das. Ich werd’ schon aufgeregt, wenn er mich nur anguckt. – Konnte sie das wirklich sehen und hören – aus dieser Entfernung? Sie dachte verzweifelt: Jetzt drehst du durch. Sie dachte: Und springst. Mit dieser Scheißkamera konnte Linda sie zu sich heranzoomen. Großaufnahme. Ich seh’ deine Angst. Ich seh’, daß DU aufgeregt wirst, Petra-Baby. Daß DU dich naß machst… vor Angst, BABY. Vierzig Meter: Die Plattform war oben und stoppte mit einem erdbebenhaften Rucken. Der Himmel war so nah. Das Weiß bleichte an den Rändern bereits aus. Petra schlang die Arme um sich und dachte an ihren Kater Lolly – hätte ihm zum Abschied was Besseres füttern müssen –, sie dachte an die Bücher, die sie noch hatte lesen wollen, sie dachte an ihre Eltern und Brüder und was sie ihnen antat; und sie spürte die Leere in ihren Augen und ganz tief in sich selbst. Wen von uns wird es erwischen? Sie kannte die Antwort, ja, plötzlich kannte sie die verdammte Antwort ganz genau. Mich. Mich wird es erwischen. Am Ende eines Vierzig-Meter-Orgasmus.
»… paß auf, ich entsichere dich jetzt, und du gehst ganz nach vorn, an den Rand… klar?« Ollis Stimme war ein sanftes Locken. Sein Gesicht: strahlend, scharf umrissen; sie nahm jede einzelne Pore wahr. Hypnotisch. Doch er würde ihr nicht helfen. Er sah sie, doch er sah sie nicht richtig – das Flehen, das stumme Kreischen um Erlösung. Er hatte ja nicht einmal bemerkt, daß sie längst ganz vorn, am Rand, stand – haha. Die letzten Sekunden ihres Lebens, sie sprudelten wie Luftblasen davon. Sein Lächeln wurde zu einem provozierenden Lachen. Tu es, jetzt. Power-Typ. Kein Lolly. Und wenn dein Kater hundertmal so heißt. Und sie wußte, o ja, sie würde es tun, bei Gott, sie war stark genug, gegen diese Art von Angst zu bestehen, sie hatte es schon oft genug bewiesen. In die Enge getrieben und – gesiegt. En garde. Keiner von Weitzels Angestellten kannte ihr ganz persönliches, kleines Geheimnis. Stark genug. »… gehst einfach an den Rand…« »Ja«, murmelte sie – in einer Verzückung, die sie nicht verstand, die sie innerlich bereits wieder loskreischen ließ. »… breitest die Arme aus… läßt dich einfach fallen, nach vorne wegkippen… du wirst sehen, das ist toll.« Sie nickte entrückt und voller Entsetzen über sich selbst; sie tastete nervös, plötzlich eitel, über die straff zu einem Pferdeschwanz zurückgebundenen, blonden Haare; sie schüttelte den Kopf. Sie stand ganz vorn am Rand der Plattform. Nicht mehr gesichert. Vierzig Meter. Nichts unter den Füßen. Vierzig Meter bis zum Aufschlag. Linda würde es filmen. Würde sie heranzoomen. Würde sich über die Lippen lecken. Würde – Alle Zweifel explodierten in tausend blutige Fetzen. Es. War. Soweit.
Ganz ruhig. Spring dem Wind hinterher (in ein Grab in den Lüften). Petra breitete die Arme aus und ließ sich fallen, einfach nach vorne kippen… und wußte im gleichen Moment, es war falsch, schrecklich falsch… und absolut nicht toll. Sie schrie abgehackt und ließ sich wie ein Fallschirmspringer immer noch weiter nach vorn fallen und zog das am Stahlseil angehängte Bungee-Seil wie eine bizarre Nabelschnur hinter sich her, und dann, ganz unvermittelt, spürte sie den Luftwiderstand und glaubte schon, gegen alle Naturgesetze irgendwie mitten im Nichts festzuhängen, aber das war ein Irrtum, o ja, denn in Wirklichkeit stürzte sie wie ein Stein schneller und schneller senkrecht in die Tiefe, und ihr wurde schlecht. Sie hatte Angst, sie würde sich übergeben und an ihrem eigenen Erbrochenen ersticken, und jetzt schossen Sturmfinger aus dem Abgrund herauf und krallten über ihr Gesicht und rissen und zerrten und zausten an ihren Haaren, ihrer Kleidung, und versuchten ihren Körper herum- und über den Horizont davonzuschleudern; zehn Meter, zwanzig Meter, dreißig Meter im freien Fall… so schnell, so schwindelerregend rasend schnell, tick-tick-tick, gleich-gleich. Jetzt verwandelte sich ihr Schreien in ein winselndes Babygeheul, und von unten antwortete ihr die Meute mit ihrem zufriedenen Kreischen und mit einem genüßlich-entsetzten Aufstöhnen, und sie konnte nicht mehr richtig sehen. Vor ihr, unter ihr, war nur noch ein riesiges, schwarzweißes Flimmern, ein Fernsehbild kurz nach Sendeschluß, und für die Dauer einer Hundertstelsekunde, für die Dauer von zwei, drei, vier Metern, wunderte sie sich darüber, daß sie immer noch denken konnte – und keine Zeitrafferzusammenfassung ihres Lebensfilmes präsentiert bekam. Als sei dies eine Art Auslöser gewesen, erinnerte sie sich an zwei Vorfälle aus ihrer Kindheit – daran, wie sie sich beim Geschirr spülen den rechten kleinen
Finger in einem Milchkännchen eingeklemmt und beim Herausziehen den gesamten Nagel abgerissen hatte; und daran, wie sie, ebenfalls kopfüber, von der Schaukel gefallen war und Sekunden-, minutenlang nicht mehr hatte atmen können – Und dann WAR sie UNTEN, umgeben von dröhnender, tobender, knatternder Luft. UNTEN, achtunddreißig, neununddreißig, vierzig Meter weit, Kopf und Arme voran UNTEN, und spürte, jetzt kam der Aufprall, und sah den rotbraunen Sand und tausend scharfkantige, nadelspitze Steine heranschießen – wen von uns wird es erwischen? Mich. Mich wird es – Sie sieht ein strahlendes Licht – in Zeitlupe. Sie will sich losreißen und davonfliegen, aber sie ist an den Füßen festgegurtet und weiß, es ist unmöglich, sich jetzt noch hochzukrümmen und zu versuchen, freizukommen, und deshalb will sie nur atmen, atmen, und befiehlt sich: Denk irgendwas Schönes, an Engel, doch ihr Gehirn funktioniert nicht mehr, ihr Gehirn fühlt sich an, als berste es unter einem alles zermalmenden Druck durch ihre Schädeldecke hindurch ins Freie. Und dann schreit und kreischt sie atemlose, verstümmelte, schreckliche Zeitlupenworte und – – wurde von dem Bungee-Seil gestoppt und wie ein bizarres Jo-Jo zwanzig Meter weit in die Luft zurückgeschnellt. Das Ganze hatte die Qualität eines Treffers mit einem Vorschlaghammer. Aber jetzt genoß sie ihr Emporschleudern in den Himmel, jetzt lachte und weinte sie gleichzeitig vor lauter ERLEICHTERUNG. Und wirbelte über den Zenit hinaus und stürzte bereits wieder. Überschlug sich kichernd. Hatte es ihnen allen gezeigt. Power-Typ. Stürzte, drehte sich, stürzte, Kopf und Arme voran. Sah den eigenen Körper, die eigenen langen Beine schemenhaft über sich, seltsam verdreht. Und, daß sie plötzlich nicht mehr mit dem Bungee-Seil verbunden waren. Daß das
Seil eine Million Meter weit über ihr völlig losgelöst umherwirbelte – Wen von uns wird es – Immer noch voller Erleichterung kichernd. Es ist nicht wahr. Wirklich nicht? Wirklich nicht? – Der Karabinerhaken, irgend etwas an der Befestigung zwischen den beiden Seilen, hat sich gelöst und – Sie spürte Blut in ihrem Mund, o ja, und Tränen und Gehirnmasse und Knochensplitter (aber kein Grauen mehr, höchstens Fassungslosigkeit), spürte es quälend intensiv fünf, vier, drei, zwei Sekunden vor dem letzten, großen Schlag, der ihren Körper zertrümmerte und die Erde und alle Menschen darauf erzittern ließ. Und sie begriff noch voller Scham, daß ihre Arme und Beine in einer absolut grotesken Imitation eines engelhaften Flugversuchs spastisch zuckten und zappelten, und daß das für Linda möglicherweise tatsächlich nach der Vollendung eines sensationellen Vierzig-Meter-Orgasmus aussah – Schlagartig auf kaltem Entzug – als der Körper, das Ding, das einmal ein fühlender Mensch gewesen war, acht Meter entfernt auf den Boden aufschlug und Staub und Steine und einen Dunst aus Blut und anderen, schrecklicheren, Körperflüssigkeiten um sich herum versprühte, verging auch Linda Egelers ganze Welt. Schaltete einfach ab. Bild: Stop. Kassette: Eject. Alles aus, alles schwarz. Sie mußte weg von hier, schnell, sie dachte: Hau ab, hau bloß ab, wenn die Bullen kommen und deine Augen sehen, dann wissen die sofort Bescheid. Keine Gefühle mehr. Aber das stimmte nicht. In der Welt, in der sie einundzwanzig Jahre lang gelebt hatte, war für Gefühle ohnehin noch nie Platz gewesen – Zeit, daß sie die Wahrheit akzeptierte. Linda stieß die Luft aus; es klang, als würde in einem der alten Grzimek-Filme eine Hyäne lachen.
Nur die Ruhe – gaaanz cool. Die Bilder liefen weiter, jetzt sogar bereits wieder in Farbe. Seit dem Aufschlag war gerade mal eine Sekunde vergangen. Ringsum – schattenhafte, unnatürliche, seltsam ziellose Bewegungen in alle Himmelsrichtungen. Der Wolf im Hühnerstall konnte kein größeres Durcheinander anrichten. Flauer, flauer. Lindas Augen verwandelten sich in Kameralinsen. Mit der Bildschärfe stimmte noch etwas nicht. Während zuerst Claudia und Uwe und dann ALLE durcheinanderschrien und zu dem hinüberstürzten, was von Petras Körper übrig war (eine schreckliche, scheinbar knochenlose Haut-Fleisch-BlutMasse), verging die zweite Sekunde, und Linda war in einer plötzlichen, wahnsinnigen Panikattacke davon überzeugt, sie selbst sei tot, zerschmettert, und, bis an die Haarspitzen mit Adrenalin und Kokain vollgepumpt, drauf und dran, in die ewigen Jagdgründe davonzuschweben. Aber dann begriff sie mit der Wucht einer abrupten Eingebung: Falsch, ganz falsch. Die süße Petra war gestorben. Ausgeknipst. So schnell konnte das gehen. Aber hey – sie selbst lebte, intensiver als je zuvor, es war wie ein RAUSCH, ein Auftrag höherer Mächte. Ab jetzt auf der Überholspur, nie wieder Mief, das Leben ist so scheißkurz. Sie hörte sich selbst keuchen, sie hämmerte sich ein: Laß es sie nicht sehen, laß es nicht nach außen, genieß die Erleuchtung ganz allein. Zahllose unkontrollierbare Zuckungen im Gesicht, löste sie sich endlich von Mike Weitzel – der ihr vor keiner halben Minute die Videokamera weggenommen hatte, um das Finale selbst zu filmen; er klammerte sich totenblaß irgendwie immer noch daran fest. Dachte er daran, daß soeben nicht nur die süße blonde Petra eine kleine Bruchlandung hingelegt hatte, sondern auch seine Bungee-Jumping-Power-Company? War er so spießig? Tick
TACK. Die dritte und die vierte Sekunde nach Petras Aufprall. Wirklich nur vier Sekunden? Überall Schreie wie im Irrentrakt eines mittelalterlichen Gefängnisses, es war, als stürze die Sonne wieder und wieder auf die Erde, ein verrückter, flammender Gummiball, als komme ewige Finsternis. Linda starrte Mike an, starrte die Kamera an, BEGRIFF – flüsterte mit einer brüchigen Stimme, die unmöglich ihre eigene sein konnte: »Du, die läuft noch…« Er reagierte nicht, murmelte nur: »Scheiße, Scheiße – « Linda ohrfeigte ihn, packte ihn am T-Shirt, schüttelte ihn aus seiner Erstarrung, seinem Selbstmitleid, schrie ihn an: »Die läuft noch! Mike, du hast alles drauf – du hast das alles drauf – « Er stierte sie an wie jemand, der nicht mehr Herr seiner Sinne war; jemand, der sich seinen Verstand mit zu vielen Speedballs aus LSD, Kaffee und medizinischem Alkohol aus dem Schädel geblasen und daraufhin beschlossen hatte, bis ans Ende seiner Tage ins glühende Herz der Sonne zu glotzen. »… ja, hab’ alles drauf«, nuschelte er, als sie schon nicht mehr damit gerechnet hatte, und dann begann er wie nach einem langen, erschöpfenden Traum zu blinzeln und zu grinsen und sich über die Lippen zu lecken. Er schaltete die Kamera aus. Und jetzt hatte er plötzlich Krokodilstränen und echtes Begreifen und GIER in den Augen. Sein hageres Gesicht zuckte wie unter Schlägen. Linda fiel ihm, vor Liebe und Dankbarkeit schluchzend, um den Hals und raunte ihm zu: »Ich habe dich erkannt!« – und daß sie am liebsten mit ihm schlafen würde, gleich hier und jetzt, aber daß das nicht möglich sei, weil sie jetzt verdammt vorsichtig sein müßten, weil genau JETZT ihr neues Leben begonnen habe und – Aber Mike verstand es nicht, noch nicht, verstand nicht, daß sie mehr denn je eins waren, daß sie soeben die gleichen
Gedanken und Gefühle abseits aller menschlichen Norm gedacht und gefühlt und damit einen dunklen Pakt besiegelt hatten. Mit einem unwilligen Laut schüttelte er sie grob ab, und die Sekunden tickten wieder normal und hastig. Er hetzte zu den anderen hinüber, gab ihnen eine Extravorstellung von Der Wolf im Schafspelz, so absolut perfekt, daß er sie alle täuschte. Linda schwankte ein wenig… Dann rief sie über Handy die Polizei und folgte Mike schließlich entrückt lächelnd und lautlos flüsternd nach: Mich wirst du nie wieder täuschen, denn ich, ich hab’ dich erkannt – hungriger, gieriger Wolf. Auf der Autobahn unter ihm rauschte der Verkehr in beiden Richtungen: Weit und breit kein Unfall-Stau, kein wahnsinniger Golf-Raser; und schon gar keine sabbernde Falschfahrerin im Morgenmantel und mit zerzausten Haaren, die später zittrig und wirr und irgendwie staunend ob des Fiaskos ringsum in die Kamera zu Protokoll geben würde: »Ich bin unschuldig an dieser Massenkarambolage, ich hörte nur diese Botschaft von den Aliens über meinen BackenzahnEmpfänger und mußte einfach gehorchen und auf der falschen Straßenseite losfahren…« Weil das Warten und jede Menge Geduld seinen Job ausmachten, textete er als Zeitvertreib Werbung in eigener Sache: Hendrik Graf – Leichen und Katastrophen live. Der Mann, der schneller an Ort und Stelle ist als sein Schatten… Vorausgesetzt, es gab irgendwo Leichen und Katastrophen. Als er den eigenen Zynismus nicht mehr ertragen konnte, stieß er die Fahrertür auf und atmete ein paar Mal tief durch. Verdammt, während er auf die Leichen und die Katastrophen wartete, hatte er zuviel Zeit zum Denken, und noch mehr Gründe, sein Gehirn nur in diese Richtung schweifen zu lassen, denn in der anderen Ecke lauerten Schulden, Probleme, Selbstvorwürfe.
Graf warf das Papier, in dem ein fettiges Wurstbrötchen eingewickelt gewesen war, achtlos über die Schulter auf den Rücksitz des betagten Daimler-Kombis und rieb die Handflächen am Lenkrad. Später würde er sich über den muffigen, alten Fleischgeruch im Wagen ärgern – aber nicht jetzt. Er rammte den Fahrersitz durch die Masse seines Gewichts weiter nach hinten, schüttelte endlich doch noch über sich selbst den Kopf, stopfte das nächste Wurstbrötchen in sich hinein und trank noch mehr von dem lauwarmen Spülwasser, das sie ihm an Klara‘s Wurstbraterei mit einem Lächeln als K-a-f-f-e-e verkauft hatten. Sein Blickfeld hatte sich am oberen Rand längst eingetrübt. Der Ausblick durch die verdreckten Scheiben seines Daimlers auf die Autobahn unterhalb dieses vergessenen Miniüberweges für Traktoren war auch nicht mehr das, was er mal gewesen war. Graf spürte kalte Schauer um seine Wirbelsäule herum hochkribbeln. Er gähnte. Er war seit fast vierzehn Stunden im Auto unterwegs, ziellos, die große Runde, immer auf der Lauer nach Sensationen… bitte möglichst mit ein paar dekorativen Toten oder doch wenigstens ein bißchen Sex: ein kleiner Unfall (Headline: Drei splitternackte Nonnen im Geschwindigkeitsrausch – die wahre Geschichte einer schrecklichen Prüfung!) oder eine große Gasexplosion in der Spielzeugfabrik (Headline: Schickte Michael Jackson telepathisch das Strafgericht nach Bayern?) oder wenigstens ein Selbstmörder, der der Welt noch Großes zu verkünden hatte, bevor er mit einem doppelten Salto in die Tiefe sprang. Von den Top-Storys gar nicht zu reden: GAU im Atomkraftwerk – Headline: Siebzehnjährige Jungfrau mit zwei Köpfen verläßt Versteck und jubelt – endlich werde ich einen Partner finden! Auch eine exklusive UFO-Notlandung auf der Autobahn Stuttgart-München wäre nicht übel.
Hauptsache, bewegte Bilder – den Rest besorgen wir von ISAR-TV; haha. Hendrik Graf rief sich zur Ordnung. Das war nicht lustig, das war nur noch traurig. Weil er wußte, daß Schuster, der Ressortleiter von ISAR-TV genau diesen Mist, ohne mit der Wimper zu zucken, senden würde. »Heil dir, du süße Einschaltquote«, murmelte Graf schläfrig. Da war ein gallebitterer Geschmack unter seiner Zunge. Er war todmüde. Er hatte nicht geduscht; er hatte nicht einmal die Unterwäsche gewechselt. Er war vierundvierzig, er hatte seit mehr als einem Jahr mit keiner Frau mehr geschlafen, beziehungsweise keine Frau mehr mit ihm, er war fett und verzweifelt und ungepflegt, und er roch wie ein Ein-PersonenSlum. Und er hatte noch immer keine sensationell-aktuellen Bilder im Kasten, er hatte gar nichts. Schon den zweiten Tag in Folge. Nicht gut, gar nicht gut. Graf kaute Kaffeebohnen, wischte sich mit beiden Händen über die brennenden Augen und den Stoppelbart, lauschte dem Geschnatter im Polizeifunk und versuchte wach und einsatzbereit zu bleiben, indem er in Gedanken Listen führte über Träume, die er sich schon lange erfüllen wollte. Aber es fiel ihm nichts ein. Er wurde den Verdacht nicht los, daß sein Leben verpfuscht war, und das führte unweigerlich zu diesem elenden schwarzen Loch: Selbstmitleid, Depressionen, Absturz, Dauerkurzschluß. Aber dann wünschte er sich doch noch etwas: Regen, eine kleine Sintflut, die den ganzen Dreck dieser Welt davonspülte – auch auf die Gefahr hin, daß er danach definitiv arbeitslos und nicht mehr nur Anwärter darauf war. Um sich auch davon abzulenken, blinzelte er trübsinnig auf den immer spärlicher tröpfelnden Verkehr hinunter und textete noch ein paar verrückte (sensationelle!) Story-Headlines, die
leider nie gesendet werden würden: Berühmter Chirurg macht aus Versehen Frau zu Mann – Hendrik Graf und seine magische Videokamera waren live dabei. »Au, Mann«, brummte er und kratzte sich im Schritt. Ihm fiel auf, daß er in letzter Zeit vor allem dort schwitzte. Die nächste Headline kam ganz von selbst: Amoklauf, weil er im Schritt schwitzte – verzweifelter Reporter hatte seinen Chef lange genug gewarnt: Ich hätte nie so lange im Auto sitzen dürfen. Nicht so gut. Das Piepsen seines Handys rettete ihn – irgendwie. Er verzog das vierschrötige Gesicht, schaltete auf Freisprechen und meldete sich so mürrisch wie immer: »Graf – ja, was ist?« Er hörte nur Rauschen und ein verrückt machendes, hochfrequentes Zirpen. Das Ganze klang wie eine bizarre Live-Übertragung direkt aus dem Jenseits; dann war da ein Schluchzen und eine kaum mehr verständlich winselnde Jungenstimme. Und Graf war mit einem Schlag hellwach, er stellte mit der Linken bereits den Pappbecher mit dem Spülwasser aufs Wagendach, er packte den Rest des Wurstbrötchens dazu und schnauzte ungeduldig: »Hey! – Geht das nicht deutlicher?« »Papa, du… sofort kommen – stehst du – « »Olli, bist du das? Scheiße, ich versteh’ dich kaum – « »… zur Bungee-Anlage… ist was… passiert – schnell – « Olivers Stimme klang vollends wie durch einen Häcksler gejagt, und dann war die Verbindung WEG. Graf drehte den Zündschlüssel, zog die Fahrertür zu, war bereits unterwegs, kalkulierte die Fahrzeit. Er dachte: Was soll der Scheiß? Er dachte: Junge, wenn das eine Ente ist – Neunzig Sekunden später war er auf der Autobahn. Schaufelte sich eine ganze Handvoll Kaffeebohnen in den Mund, gab Gas, drehte richtig auf. Und, seltsam, plötzlich
waren sie alle da – die Dauer-Linksfahrer, die Schlafmützen in ihren teuren Mercedes-Limousinen und die Amoktrucker, die, ohne zu blinken, ausscherten und sich ihre kleinen Elefantenrennen lieferten. Graf kaute Kaffeebohnen und kürzte die Quälerei ab – er fuhr auf Mitte, hundertfünfzig, hundertsechzig, hupte sie alle an, hängte sie alle ab. Nach dem ewigen Herumhängen im Abseits und dem Hoffen auf Aliens, splitternackte Nonnen und zweiköpfige Jungfrauen war das hier wenigstens ein bißchen aufregend.
Leitmayr wandte sich, beide Arme ausgestreckt, aggressiv an die Meute der Kollegen von der Spurensicherung: »Was schaut’s denn so blöd mich an? Ich kann die auch nicht mehr zusammenbauen und wieder lebendig machen.« Leider. Scheiße: Leider. – Aber das dachte er nur – mit einer ganz eigenartigen, traurigen Jungenstimme; einer Stimme, wie er sie vielleicht vor dem Stimmbruch gehabt hatte. Er konnte und wollte sich nicht mehr richtig daran erinnern. Viel zu viele Tote an viel zu vielen Tatorten lagen zwischen heute und damals. Alle schauten betreten und irgendwie unschlüssig weg – Gesichter wie Luftballons. Die Teams der Kripo hatten die Aufnahme der Personalien sowie die Befragung sämtlicher zum Zeitpunkt des tödlichen Sprunges Anwesenden beendet; nach und nach hatten sich die meisten Kollegen dann hier eingefunden… und hier standen sie jetzt in einer dichten Traube um den Leichnam herum, den Kopf gesenkt, stumm, scheu. Jedem einzelnen schien es schwerzufallen, sich zu bewegen. Leitmayr hielt sein Gehirn unter Strom: Das Schlimmste lag hinter ihnen. Blieb die Frage, ob es ein Mord war. Der Leichnam… nein, die sterblichen Überreste der
jungen Frau waren noch immer nicht mit einer Plane abgedeckt worden. Er erledigte das eigenhändig, trotzdem war von dem Schlamassel ringsum noch genügend zu sehen; sein Magen schlug Purzelbäume – wenn er nicht in Bewegung blieb, haute ihn dieser riesige, gräßliche Fleck um. Kein Gesicht mehr. Überhaupt nichts Menschliches mehr. Der Tatort-Fotograf räusperte sich, signalisierte erst jetzt, daß er fertig war, und ging einfach Richtung Autos davon; das brach die Starre aller Beteiligten, jetzt kam wieder so etwas wie Leben in sie – behutsam, wie bei einer ersten Probe zu einem komplizierten chinesischen Tanz. Das hier war für keinen von ihnen die erste schlimm zugerichtete Leiche. Routine gegen Brechreiz. Und gegen den Ärger: Was schiefgehen kann, geht schief – deshalb hüpft man nicht bloß zum Spaß oder aus Langeweile aus einer so großen Höhe runter, dummes Mädchen, weiß doch jedes Kind. Sie alle hatten gelernt, ihre Gefühle hinter Maskengesichtern und zynischen Sprüchen zu verstecken. Er schämte sich dafür, aber er war trotzdem sauer. Er dachte: So sinnlos. Auch die Gerichtsmedizinerin und frühere Notärztin Kristina Brunner richtete sich nun aus der Hocke auf, steckte das Diktiergerät ein, strich die langen, rabenschwarzen Haare aus dem Gesicht. »Dann wollen Sie von mir jetzt auch bestimmt nicht gleich wissen, woran sie gestorben ist.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage; vielleicht sogar eine Art Selbsthilfereaktion. Mit ihren dreißig Jahren gab sich Kris bevorzugt in Situationen wie dieser so abgebrüht wie ein Brauereigaul kurz vor dem Gnadenbrot. Aber ihrer Stimme war nichts anzumerken, schon gar keine Bosheit, also beschloß Leitmayr, das Ganze einfach zu überhören. Außerdem hatte er sie lange genug verdutzt angestarrt.
Immer noch ohne die ihm normalerweise eigene zielgerichtete Dynamik wandte er sich ab. Er stapfte ein paar Schritte weit, nur um in Bewegung zu sein und dies auch richtig wahrzunehmen; er sperrte das eigene Grauen, die eigene Erschütterung ganz tief unten in die Katakomben und hoffte, daß er den Anblick des zertrümmerten Häufleins Mensch überhaupt jemals wieder aus dem Kopf bekommen würde. Einer der Kripoleute holte ihn ein und verpaßte ihm einen harten Klaps auf die Schulter. »Und?« schnappte Leitmayr und warf ihm einen knappen Seitenblick zu. Kriminalhauptmeister Burkhardt Landskron zuckte mit den Achseln. »Sieht so aus, als sei irgendwas an der Verbindung zwischen diesem Stahlseil und dem Gummiband gerissen… so eine Art Splint. Möglich, daß es ein Materialfehler war.« Leitmayr nickte ergeben. »Die nächsten fünf Sätze kenn’ ich schon.« »Da muß das Labor ran, Franz.« »Noch vier. Erspar’s mir halt, Burgl.« Er nickte ihm zu, hatte ihn bereits vergessen, drehte sich um sich selbst, fragte sich, was er hier noch sollte, nahm den trostlosen Platz in sich auf – den riesigen Kran im Zentrum, die Gaffer an der Peripherie, dort, wo die weißen Zeltspitzen des Zirkus Roncalli zu sehen waren, die herumstehenden und gestikulierenden Kollegen, die hilflos und schockiert blickenden oder weinenden Freunde der toten Petra Nickel, die tausend Lichtreflexe auf dem Lack und den Scheiben der Dienstfahrzeuge. Immer noch angespannt und nervös wie ein Aufschlagzünder hielt er nach Batic Ausschau, entdeckte ihn vor dem roten Wellblech-Kassenhäuschen der Bungee-Jumping-PowerCompany im Gespräch mit Weitzel und Linda Egeler; er
stocherte genauso hilflos wie alle anderen nach einem möglichen Fremdverschulden. Leitmayr dachte: Zeitverschwendung, Beschleunigung. Trotzdem schlenderte er zu ihnen hinüber, spitzte die Ohren, dachte daran, wieder mal ein paar Runden zu boxen; plötzlich hatte die Aussicht darauf, auszuteilen und einzukassieren, einen verdammten Heiligenschein. »Kannten Sie das Mädchen?« »Noch nie gesehen. Eine Kundin, halt. In letzter Zeit hat es sich halt herumgesprochen, daß es hip ist, bei uns zu springen – « »Ja, die war zum ersten Mal hier.« »Und wie’s passiert ist… haben Sie das gesehen?« »Also… nö – ich war im Büro. Oliver hat alles mitgekriegt, der war mit ihr oben, und Markus Clauß.« »Und wo steckt Oliver?« »Na, aufm Klo. Wischt sich den Rotz ab, unser süßer Kleiner.« Das war sie, die deutsche Jugend kurz vor dem Millennium, cool bis zum Kotzen. Michael Weitzel, 22, und seine Freundin Linda Egeler, 21, rauchten Kette und gaben sich so unbeteiligt, daß es fast schon weh tat. Abgebrüht. Hey, das ist unser Bungee-Power-Job, wir seh’n so was täglich. Leitmayr dachte: Sollte Kris sich mal eine Scheibe von abschneiden. Wir alle. Mit knapp achtunddreißig Jahren hatte er noch nie Probleme mit seinem Alter gehabt; er war einsneunzig groß, schlank, schlaksig, eine geballte Ladung harter Muskeln; sein Gesicht unter den zu langen, immer ein wenig zerzausten, lockigen Haaren war schmal und dank der Hakennase markant, aber trotzdem irgendwie gefährlich harmlos. Das Lächeln um die Mundwinkel immer ein bißchen provozierend, aber das war auf eine Muskelfehlfunktion zurückzuführen… oder auf seinen Job bei der Mordkommission. Und auf Typen wie Weitzel und
Fräuleinwunder Egeler. Schätzungsweise waren auch genau die beiden daran schuld, daß er sich plötzlich anfallsweise wie Methusalem persönlich fühlte – Kindskopf hin, knallharter, original bayerischer Sturschädel her. Das war nicht sein Tag, heute. Er dachte: Und schon hätten wir, sozusagen post mortem, eine erste Gemeinsamkeit, gell, Petra? Und auch die erste Hyäne hatte bereits den Weg zum Schlachtfeld gefunden; drüben, am Tor stieg Graf von ISAR TV aus seinem alten Daimler. Außerdem hatte Weitzel kilometerweit daneben gegriffen mit seiner Behauptung, Olli habe sich sensibel aufs Klo zurückgezogen. Der Kleine ließ sich von Hendrik Graf trösten, der Koloß tuschelte irgend etwas mit ihm und klopfte ihm in einer armselig-unbeholfenen, tröstenden Geste auf den Rücken. »Mensch, Kleiner, du bist doch nicht dran schuld…« »Tolle neue Recherchemethode«, giftete Leitmayr – endgültig stinksauer. Der Junge riß sich los und stolperte davon, eine Hand vors Gesicht gehalten… und stoppte nach fünf, sechs Metern, als sei ihm nach einem Marathonlauf die Luft ausgegangen. Graf nahm die Videokamera hoch und begann kommentarlos das Schlachtfeld zu filmen. Leitmayr entschied, daß Batic auch ohne ihn zurechtkam, stellte sich dem Kerl von ISAR-TV in den Weg und brüllte: »Wo bleiben die Sargträger, verdammt?« Die beiden Herren kamen wie auf Stichwort im Laufschritt herbei – schwarze Hose, weißes Hemd. Ein plötzlicher Windstoß plusterte ihre dunklen Krawatten hoch. Petra Nickels Leichnam wurde dezent in die Zinkwanne gehoben; der Deckel wurde geschlossen. Graf folgte ihnen mit seiner Kamera – kein bißchen dezent. Leitmayr sorgte so gut es ging dafür, daß der Sensationsreporter außer seinem Gesicht nichts auf den Film bekam.
»Drehgenehmigung?« »Noch ‘n Problem«, maulte Graf ergeben, fast ohne jede Betonung, rückte nach rechts weg und filmte weiter – den großen Fleck, die Sargträger, den Kran, den Leichenwagen. Leitmayr blockte ihn wieder ab. »Den Sturz haben’s ja leider verpaßt?« Ganz verbindlich unfreundlich und zynisch im Plauderton – dein Feind und Helfer bei der Arbeit. »Wir haben die noch mal runtergeworfen, für die Tagesschau«, schnauzte Graf zurück. Freunde werden ging anders. »Zutrauen würd’ ich’s Ihnen.« »Ja, klar. Hau schon ab, geh in Rente, gieß deine Vorurteile!« Graf nahm die Kamera von der Schulter, rückte noch weiter nach rechts, taxierte, sondierte, hatte immer noch dieses unwillige und absolut entschlossene Glitzern in den Augen – entschlossen, sich weder beeindrucken noch von seiner Beute wegdrängen zu lassen. Pressefreiheit. Der Sarg wurde in den Leichenwagen geschoben, die Heckklappe geschlossen. Die Show war vorbei. Leitmayr sagte bösartig gönnerhaft: »Okay, jetzt können’s.« »Arschloch!« Graf tappte wütend zu seinem Daimler – der praktischerweise direkt neben dem Leichenwagen stand – und schoß noch eine armselige Totale: Wagen mit Sarg geht ab. Leitmayr spie aus; er hatte genug und ließ den Kerl stehen, im Davongehen rollte er sich die Hemdsärmel hoch. Batic lungerte noch immer beim Kassenhäuschen herum; jetzt lehnte er sich dagegen, verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu ihm her, während das coole Power-Dream-Team Mike Weitzel und Linda Egeler davontrippelte. Weitzel rückte sich eine große Sonnenbrille vor die Augen – plötzlich ein Popstar. »Bluthunde«, schimpfte Leitmayr – laut und bissig genug.
»Wer? Die beiden Kids da?« erkundigte sich Ivo Batic harmlos und mit dieser extremen kroatischen Ruhe, die gewisse Kollegen vor allem in Situationen wie dieser hier wirklich an ihm haßten. Kollegen namens Franz Leitmayr, zum Beispiel. »Der Fettsack«, brummte er fast trotzig. »Neulich ist der ‘ner Leiche über die Hand gefahren mit seiner Rostlaube von einem Daimler.« »Sagt wer?« Leitmayr zupfte sich an der Nase und kürzte das Gespräch mürrisch ab. »Einer, der dabei war.« »Das ist doch Schmarr’n«, sagte plötzlich jemand hinter ihm – verächtlich. Leitmayr drehte sich langsam um und sah den sensiblen Oliver davongehen; höchstens achtzehn, blond, hübsches Milchbubigesicht. »Paßt irgendwie, daß der in lauter schwarzen Klamotten hier rumläuft, find’st du nicht?« Batic zuckte mit den Schultern. »Tu’ ich ja auch, und ich war’s auch nicht. Hast du seine verheulten Augen gesehen? Der steckt das nicht so cool weg wie seine beiden Spezl’n.« »Herrgott, Ivo, laß mir halt meine – « »Der Junge hat das aus nächster Nähe mitgekriegt: Die lassen sich von dem Kran hochziehen, das Mädchen bibbert, Olli macht ihr Mut, sie springt schließlich doch… und zwar nachweislich ohne, daß jemand nachhilft – und bumm.« Jetzt sah Leitmayr ihm doch noch in die Augen – beinahe feindselig. »Kennt ihr euch, oder kannst du Jungs allgemein nicht heulen sehen?« »Oliver ist Grafs Junge.« »Na, toll für ihn. – Und?« »Und war ab und zu mal Balljunge, als wir noch – «
»Wir…? Du meinst: Du und der Fettsack –?« Leitmayr spitzte die Lippen. »Der kommt doch im Leben nicht auf Touren, du verarscht mich, Mann.« Batic zuckte die Schultern; so langsam wurde das zur Manie. Außerdem marschierte er bereits hinter Olli, dem Sensiblen, her und fragte nur noch halb über die Schulter zurück: »Petra Nickel… Sagt dir der Name was?« »Das tote Mädchen?« Batic nickte vielsagend. »Das«, stellte Leitmayr, nun ebenfalls im Weitergehen, ein wenig verkniffen fest, »wird jetzt aber ein Ablenkungsmanöver.« »Ich hab’ den Namen schon mal irgendwo gehört«, meinte Batic. Leitmayr blieb stehen, beide Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt, und löcherte Ivos Rücken mit Blicken – harrte der Dinge, die da kamen. Knüppelte das Adrenalin in sich auf Normal zurück, zwang sich unter Kontrolle. Wahrnehmen, einordnen, nachdenken, verstehen, nicht verurteilen – komm endlich wieder auf den Boden. Er war immer noch wütend auf die ganze Welt und wußte nicht, warum. Er wußte nur, daß er für die letzten paar Minuten keine Fair-play-Medaille umgehängt bekommen würde. In seinem Kopf hallten entsetzliche Geräusche und Echos – als sei eine ungeheuerliche, mörderische Apparatur in Bewegung geraten; Geräusche und Echos wie von großen stählernen Zahnrädern und Stacheln, die sich unaufhaltsam ineinanderfraßen und sich verkeilten und verbogen und schließlich klirrend brachen.
Die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit – du kannst weglaufen, aber du kannst dich nicht verstecken.
Batic ging das Gespräch persönlich an, erkundigte sich vage Richtung Grafs vornübergebeugtem, massigen Rücken: »Hast du mal wieder gespielt?« Da er ohnehin nicht mit einer schnellen Antwort rechnete, sperrte er alle störenden Gedanken an früher, an Grafs Frau, an schnellen, verschwitzten Sex, aus und schaute sich die beiden in Ruhe an: Vater und Sohn Graf, der eine verstaute seine Kamera im Wagen – professionell, alle Gefühle weggesperrt, hektisch, in Gedanken bereits wieder unterwegs, tausend Lichtjahre von hier und trotzdem ziemlich am Ende; der andere war… WO? Erde an Raumschiff Olli: Der Junge stand nur da und starrte auf den Rücken seines Vaters hinab; er war innerlich auf Notstrom geschaltet, es schien, als habe er den Mund voller Erbrochenem… oder voller Selbstvorwürfe oder unterdrücktem Betteln nach jemandem, der ihm zuhörte, einfach nur zuhörte. Sah so aus, als suche er diesen Jemand an der falschen Stelle. Früher, in einem anderen Leben, als ein gewisser Hendrik Graf und ein gewisser Ivo Batic noch Freunde gewesen waren, hatte der eine dem anderen oft zu den unmöglichsten Gelegenheiten ganz unvermittelt zugemurmelt: »Olli ist das Beste, was ich je gemacht hab’, ich lieb’ den Kleinen mehr als mich selber, kannst du das verstehen, Ivo?« Und weil Batic schon damals geahnt hatte, daß er selber keine Kinder haben würde, hatte er ihn sogar sehr gut verstanden. Der Junge war anders gewesen als sein ewig polternder, hyperaktiver, cholerisch-verrückter… liebevoller, verständnisvoller Vater. In sich gekehrt, schüchtern. Plötzlich bedauerte Batic, die letzten elf, zwölf Jahre seiner Entwicklung nicht miterlebt zu haben, nur, weil – Da es auch nach all diesen Jahren noch weh tat, kappte er die besinnliche Stimmung ganz unvermittelt. Holte sich das Bild
des zerschmetterten Mädchens vor das innere Auge zurück, dachte: Zur Hölle mit gestern. Schau heute genau hin. Und fragte sich, ob Hendrik seinen Sohn heute überhaupt noch wahrnahm. Das Beste, was ich je gemacht hab! Nur um die Pause in Ollis Gegenwart nicht zu peinlich werden zu lassen, hakte Batic nach: »Und, hast du?« Hendrik richtete sich auf, schlug die Hecktür zu, schüttelte den Kopf – geschäftig, abweisend. »Keine Zeit mehr.« Er umrundete bereits den Daimler. »Weißt du noch? Die Clubmeisterschaft sechsundachtzig – ?« Graf sah ihn und Olli noch immer nicht an. »Klar. Du hast den Matchball bei sechs zu fünf im dritten Satz vermasselt.« An Olli gewandt, erklärte Batic: »Dein Vater und ich waren fast mal Clubmeister im Doppel – « »Fast«, betonte Graf und zerrte die Tür auf der Fahrerseite auf. »Acht zu zehn im fünften Satz – «, murmelte Batic und kam sich vor wie bei einem Eiertanz – nur, daß diese Eier in Wirklichkeit Handgranaten waren und – Olli reagierte noch immer nicht. Graf ließ sich hinters Steuer fallen. »Solltest an deinem Aufschlag arbeiten, Batic.« Das vierschrötige Gesicht verzog sich zu einem freudlosen Feixen. »Ich muß los, Olli. Nimm’s dir nicht so zu Herzen, du kannst nichts dafür. Mach’s gut, mein Junge.« Es war nur noch das Proforma-Gesabbel eines vor einer Million Jahren abgestumpften Überlebenskämpfers, der sich hütete, seine Kriegsverletzungen herzuzeigen – schon gar nicht vor einem Zeugen namens Ivo Batic. Graf war schon tot, obwohl er noch lebte, oder wenigstens so tat. Er zog seinen Daimler nach links, gab Gas. Der Sanka rauschte nach rechts weg, ein typisches Schluß-Bild.
Batic klopfte Oliver auf die Schulter und verzog sich ebenfalls; es kam ihm wie eine Flucht vor. Er fühlte sich hilflos, machtlos, wortlos – schuldbewußt. Als er sich im Weggehen noch einmal unbehaglich halb umwandte, stand der Junge immer noch da und kaute an den Fingernägeln und starrte vor sich hin. Flog davon, wie Petra Nickel, flog mit ihr um die Wette, vielleicht in eine andere, bessere Welt. Aber nur in Gedanken. Nur in Gedanken. Das Bombardement aus alptraumhaften Videoclip-Fetzen von in großer Tiefe aufschlagenden und wie reife Tomaten zerplatzenden menschlichen – weiblichen – Körpern, Verzweiflung, und Selbstzerfleischung (Lieber-Gott was/was/was-wäre-wenn-ich-sie-nicht-überredet-hätte) wurde schließlich zu einem Dauerrauschen irgendwo zwischen Großhirn und Augenhintergrund. Oliver Graf hyperventilierte, er dachte wie im Fieber daran, was wohl passieren würde, wenn er jetzt, genau jetzt, die Kontrolle über seine Blase verlor – und hatte die Frage bereits wieder vergessen. Er starrte weiterhin ohne zu blinzeln in den sonnigen, heißen Tag – sein Gesicht so schlaff wie das eines völligen Idioten, es war, als würde irgend jemand ununterbrochen das Licht an und wieder ausmachen. Doch er war nicht völlig WEG, tief in ihm, da war noch Leben – er hatte mitbekommen, daß er von Mike und Linda auf den engen Notsitz des Jeep-Wranglers gepackt worden war, er spürte, daß Mike sehr, sehr schnell fuhr, daß sie unterwegs waren, irgendwohin unterwegs, und daß Häuser und ein riesiger Stop and-go-Verkehrsstrom verrückterweise links an ihnen vorbeibrodelten. Und natürlich hörte er Mikes und Lindas Stakkato-Stimmen, ihr Geschrei. Das, was sie ihm vorschlugen.
Und er bemerkte, daß er nickte. Und daß Linda ihn dafür abknutschte und es wie ein Versprechen für mehr wirken ließ. Später. Heimlich. Verlier keine Zeit, wir müssen jetzt zuschlagen, genau jetzt – es war ein Omen – Irgendwann wußte Olli nicht mehr, ob das sein eigenes Denken oder Lindas heiseres Gekeuche dicht an seinem Ohr war. Er hätte sie gern gestreichelt – nur ihr Gesicht. Es war so blaß und zerbrechlich schmal; die kurzen, rotbraunen Haare wurden vom Fahrtwind zu einer Feueraura zerwühlt. Sie grinste schon wieder. Lächelte ihm MUT zu, signalisierte, daß sie seine Gedanken kannte… alle. Es sah aus, als würden ihre Augen die Farbe wechseln wie ein Regenbogen, als würden die fünfzehn Sommersprossen links und rechts ihrer Nase Junge bekommen. Sie war so rotzfrech und schön… und um so vieles stärker als er. Dabei sah sie auf den ersten Blick fast noch aus wie ein Mädchen, schlank, schmale Hüften, lange, knochige Fohlenbeine. Aber er wußte es besser, er wußte, daß die Brüste unter ihrem engen, schwarzen T-Shirt groß genug und prall und keck waren, und daß sie wußte, was passierte, wenn sie sich in diesem Minirock vor irgendwelchen Kerlen nach vorn beugte. Und genau das wollte. Sie war kein kleines Mädchen mehr, das war nur ihre Tarnung. Ihre Schenkel waren wunderschön, einfach perfekt, und plötzlich wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie nur anschauen zu dürfen, endlos lange, unbemerkt, heimlich – Sie war wie ein Schutzzauber… etwas Magisches. Wenn er sie betrachtete, dann sah er nicht mehr dieses andere Mädchen – Petra. Und wie sie in die Tiefe sprang. Und schrie. Und aufschlug. Und ihm mit diesem plötzlich knochenlosen Arm noch einen bizarren Abschiedsgruß zuwinkte, immer und immer wieder.
Hey, Olli, es war wirklich ganz einfach und supertoll, haha. Er stammelte wirres Zeug und biß sich die Zunge blutig, weil er wie in einer krachenden Eruption begriff, daß er nicht mehr mit Linda und Mike zusammen war, sondern im Büro des Ressortleiters der NEWS von ISAR-TV stand. Und dem Omen Respekt bezeugte. Etwas in Bewegung setzte. Schuster und die Chefredakteurin Ruth Salina starrten auf den kleinen Bildschirm – atemlos und gierig. Etwas ging vor mit ihnen. Es war, als würden brennende Luftmoleküle aus ihren Schädeln heraussprühen. Und das Schlagwerk in Ollis Schädel dröhnte: Sie haben nichts-nichts nichts bemerkt. Haben nur Augen für dieses Video. Mikes und Lindas Video. Du bist in Sicherheit. – War er in Sicherheit? Hier? Mit diesen, sich dauernd wiederholenden, blutroten Videoclip-Erinnerungen? Ruth Salina stieß die Luft aus, klatschte in die Hände. »Das ist Super-Material, wirklich Olli. Gut, daß du gekommen bist.« Ihre Stimme klang kehlig vor Aufregung. Dann – mit einem Schnappen: »Kennt dein Vater das Video?« »Der war doch gar nicht dabei, als – « »Nein, nein«, sagte Schuster, »der war schon auch da draußen, der hat uns auch Material geschickt, aber – « Sie beachtete ihn gar nicht. »Dein Vater ist nie dabei, wenn etwas passiert. Das ist sein Problem – nicht nur als Reporter…« Ruth Salina tastete, ohne es zu bemerken, mit beiden Händen über die perfekt sitzende schwarze Mähne und lächelte ihr Hexenlächeln; sie war zweiundvierzig, schlank, sexy und hatte ihm schon vor vielen Jahren eingehämmert, daß es nur der Erfolg war, was wirklich zählte. Sie ließ, auch während sie ihn lobte, den Bildschirm keine Sekunde lang unbeachtet. Nicht einmal, als der AUFSCHLAG kam. Olli stürzte durch die dunkle Membran
ihrer Augen in einen endlos tiefen Schacht. Flauer, flauer. Er fragte sich, woher er diese Worte hatte, sie kamen ihm vor wie ein Vermächtnis. Das Rauschen in seinem Kopf wurde lauter, und er spürte, er würde Salinas und Schusters Anblick höchstens noch zwanzig, dreißig Sekunden lang ertragen können, ohne loskreischen zu müssen. Obwohl er in einer panischen Reaktion die Augen schloß, sah er, was sie sahen. Sah es aus seiner ganz persönlichen Perspektive. Gehst ganz an den Rand vor… breitest die Arme aus, läßt dich einfach fallen. »Rene, was ist mit den British Open? Sorry, stör ich…?« Ollis Hysterie löste sich in pures Nichts auf – Löwenzahnflaum über blühenden Wiesen. Er kannte die meisten Leute von ISAR-TV. Er dachte: Familie. Er dachte: Nur der Sportredakteur. Hereingeplatzt, wie ein ungezogener Junge. Und plötzlich verlegen – weil er Ruth Salina bemerkt hatte. »Ich komm später noch mal vorbei – « Aber der Mann ging nicht, sondern wirkte auf einmal verdutzt, dann angespannt. Er kam näher. Er starrte auf den Monitor – Schuster spulte das Video im Bildlauf zurück. »Das ist doch Petra Nickel«, sagte der Sportredakteur. »Was ist denn mit der?« Gesprungen. Hey, und es war ganz einfach und supertoll. Ein Vierzig-Meter-Orgasmus, genau wie Mikey sagte. Aus dem Rauschen in Ollis Kopf wurde ein helles Klingeln – bingo, bare Münze. Jetzt schrien und jubelten alle durcheinander. Ruth umarmte ihn, drückte ihn so fest gegen ihre Brüste, daß er sich verlegen freiwühlte, zerzauste ihm die Haare, küßte ihn. Schuster schrieb bereits den Scheck aus. Seine Stimme – ein Baßdröhnen: Zuuufrieeeden, Olli?
Oliver Graf nickte, obwohl er NEIN, BEHALT IHN kreischen wollte. Er nickte und nahm den Scheck und hatte das Gefühl, seine Seele zu verkaufen. Er nickte und schaltete für den Rest des Rituals (Das-war-super-bring-uns-ruhig-mehrsolche-Hämmer) auf Durchzug, um nicht durchdrehen und hysterisch loskichern zu müssen. Mike und Linda warteten direkt vor dem Haupteingang von ISAR-TV Mike ließ den Motor des Jeep-Cabrios aufheulen zur Begrüßung. Wie auf Stelzen ging er zu ihnen hinüber, signalisierte mit hochgerecktem Zeige- und Mittelfinger eine ZWEI. Konnte sich nicht richtig freuen. Sah Petra fliegen und flattern und aufschlagen. Es ist toll Wirklich. »Zwei Riesen?« brummte Mike überrascht – eher versuchsweise, wie ein kompletter Idiot in einer fünftklassigen Rate-Show. Olli lächelte – plötzlich ganz cool. Er spürte, daß er auftaute. Daß die Eiszeit von ihm wegrückte. Da waren seltsame Farben in seinem Kopf, und Musik. Böse Musik. Und er dachte: Scheiß drauf und schwang sich auf den Notsitz, hielt ihnen den Scheck hin – genoß Mikes Gebrüll »Was? Zwanzigtausend?!« und den ungläubigen Ausdruck auf Lindas Gesicht, während er spürte, wie ihre knochigen Finger seine Handgelenke umklammerten. »Zwanzigtausend Mark für ‘n paar Sekunden?« quiekte sie fassungslos und ehrfürchtig. Olli erstickte fast am eigenen Speichel; er schluckte und schluckte und kaute die Erklärung heraus – alles gleichzeitig: »Diese Petra Nickel… das… das war nicht irgendein Mädchen.« Und genoß es immer noch weiter, und schrie und johlte plötzlich mit den anderen vor Begeisterung um die Wette, während das Grauen über sich selbst in dunklen
Schockwellen durch ihn hindurchtobte und ihn schwindeln ließ.
Sie fuhren ins Präsidium zurück und nahmen eine erste Sichtung ihrer Notizen vor – keiner der Anwesenden hatte sich in Widersprüche verheddert, alles paßte ganz harmlos zusammen: Es sollte nur eine Mutprobe sein, es war eine Schnapsidee, wir haben die ganze Nacht durchgefeiert und irgendwer kam damit an, daß wir alle Engel sein könnten, flatter-flatter, am schönen, weiten Firmament, und da haben wir uns halbtot gelacht, ist doch logisch, und dann brachte ausgerechnet Petra den Vorschlag mit dem Bungee-Springen, und das war ja dann wohl eine Art… Bumerang für sie. Jetzt war Petra Nickel tot, und Leitmayr schaukelte auf seinem Stuhl und dachte über Ivos Spruch nach: Das ist kein Mordfall, Franz, das ist höchstens ein Vater-Sohn-Drama, und dafür sind wir nicht zuständig. Nebenan lief der Fernseher – laut. Carlo Menzinger, der Polizei-Hippie mit dem längsten Pferdeschwanz des ganzen Reviers, telefonierte, beide Füße wie Magnum auf die Tischplatte gelegt, und sagte gerade mit dem Charme eines Schlangenbeschwörers: »Aber das darfst jetzt wirklich net glauben, Gitti-Schatz, gell – « Es reichte. Leitmayr schmiß die Notizzettel auf den Tisch und verzog sich nach nebenan, in das Besprechungszimmer. Ganz unvermittelt bemerkte er, daß es nirgendwo in diesem Riesengebäude so intensiv nach Bohnerwachs roch wie gerade in den heiligen Hallen der Mordkommission. Er hielt den Kopf unter eiskaltes Wasser und dachte über seine Wut nach, und über Gespräche, die er nie geführt hatte… oder an die er sich in wachem Zustand nicht mehr erinnern
konnte. Irgend etwas an dieser Sache kratzte an einer längst vernarbten und sogar vergessenen Wunde herum: WAS? Als Kind hatte er oft davon geträumt, abzustürzen, hilflos ausgeliefert zu sein… War es das? Komm schon, Sensibelchen! Damals war er oft mitten in der Nacht schreiend aufgewacht. Da hatte er auch geglaubt, was sein Vater ihm als Gute-NachtGeschichte verkauft hatte – daß sie gemeinsam durch ein flammenspeiendes Labyrinth stürzten, und daß er als guter Sohn dazu verpflichtet sei, den Vater zu tragen. Und deshalb hatte er ihn schließlich getragen, hatte erlaubt, daß der Alte sich in sein Genick geschwungen und ihn mit nadelspitzen Hahnensporen traktiert und »Schneller, schneller, schneller, bring mich hier raus!« geschrien hatte. Und er hatte ihn rausgebracht, o ja, und danach war er schweißnaß aufgewacht, aber – April, April – es war kein richtiges Aufwachen gewesen, sondern nur ein schemenhaftes Überwechseln von einem Alptraum in den nächsten, und in diesem nächsten Alptraum war er wie von Sinnen auf hohe Bäume geklettert und abgestürzt, immer wieder. Und jedesmal kurz vor dem sicheren Aufschlag hatte er gedacht: Oh, wie schrecklich, und: Scheiße, jetzt kann ich gar nichts mehr tun, um – Aber jetzt, heute, war er alt genug, um eine Menge tun zu können. Verdammt, was stimmte an dieser Nickel-Sache nicht? Er verließ das Büro, ignorierte Carlo, den Hippie-Freak, der ihn seelenruhig-treuherzig anblinzelte, und ging in eines der leeren Vernehmungszimmer hinüber. Dort ließ er die Rollos herunter. Er schaltete das Licht nicht an. Er setzte sich und genoß den schwindenden Geruch hastig gerauchter Zigaretten und die Dunkelheit und die Ahnung ferner Aktivitäten in den Räumen nebenan und unter und über sich. Er dachte an die Aktenstapel, drüben, in Batics und seinem Büro; dann erinnerte er sich an seinen Vorsatz: boxen – und
stellte es sich vor. Lockerungsübungen, dann der Punchingball. Fünf Minuten lang schaffte Leitmayr es nicht, seine Schläge in einen Rhythmus zu bringen und den Ball richtig tanzen zu lassen. Konzentrationsmangel. Das kitzelte seinen Ehrgeiz an. Seine Instinkte übernahmen die Führung. Seine Fußballen spürten jede noch so winzige Unebenheit des Bodens, seine Bewegungen gingen fließend ineinander über. Konzentration und Balance. Der richtige Kontakt mit dem Boden und dem Universum ringsum. Seine Gedanken ließen los; alles wurde ganz kühl. Er atmete tiefer, gleichmäßiger, er drosch nicht mehr blind drauflos; jetzt plazierte er seine gedanklichen Schläge so präzise und rasend schnell, als hinge sein Leben davon ab. Arm- und Brustmuskeln spannten und entspannten sich in blitzartigen Reflexen, die Treffer kamen schneller und härter und noch schneller, Schweiß überzog seinen sehnigen Oberkörper. Es sah aus, als sei ihm eine zweite, stählerne Haut gewachsen – und der Ball wurde zu einem wirbelnden Schemen, das Echo der Schläge hallte als Hämmern, dann als ununterbrochenes Rattern von den Wänden wider. Als Leitmayr ins Büro zurückkam, waren gerade mal elf Minuten vergangen – aber er hatte sich etwas beruhigt, und solange Carlo den Mund hielt, würde das wohl auch so bleiben. »Ivo, Franz, kommt’s einmal rüber, schaut’s euch des an!« sagte Carlo etwa gleichzeitig. Der Fernseher wurde lauter gestellt. Leitmayr spielte mit dem Gedanken, den Freak mit dem eigenen Pferdeschwanz zu erwürgen, dann verstand er inmitten des Radaus einzelne Worte, erste Satzfetzen: »… deutsche Weltmeisterin tödlich verunglückt… Sprung von einer Bungee-Anlage ist die…« Plötzlich rannte Leitmayr. Batic war bereits an Ort und Stelle, reckte den Kopf vor. ISAR-TV brachte Petra Nickels Sprung
live und in Farbe – bis zum Aufschlag und inklusive Knochenkrachen. Sie zuckten beide zurück. Wir haben die noch mal runtergeworfen, für die Tagesschau – Originalton Hendrik Graf. »He, Moment«, plapperte Leitmayr unkontrolliert los. »Der Graf kam doch erst lang nach uns – « »… weltbeste Florettfechterin, Petra Nickel, heute in München tödlich verunglückt. Laut Zeugenaussagen löste sich aus bislang noch ungeklärten Gründen…« Dazwischengeschnitten: Bilder aus dem entscheidenden Kampf um die Weltmeisterschaft. Blitzende Klingen. Noch mehr scheinheiliges Betroffenheits-Blabla der Off-Stimme. Und die Zeitlupenwiederholung des Aufschlags – natürlich. »Entsetzen und Trauer unter den Sportfreunden in aller Welt… mit Petra Nickel verliert der deutsche Leistungssport eine der sympathischsten und erfolgreichsten…« »… wieso gibt’s denn dann von dem Sprung ein Video?« schnauzte Leitmayr. »Machen diese Bungee-Freaks doch immer«, sagte Carlo gönnerhaft im sonoren Brustton der Überzeugung. »Wollen sich halt verewigen, weißt, des ist nur menschlich, Franz.« Leitmayr ignorierte ihn. »Wenn des ein Amateurvideo ist«, sagte er, »wie kommt des so schnell ins Fernsehen?« Batic atmete durch, verkniff es sich im letzten Moment, mit den Schultern zu zucken und wechselte statt dessen diplomatisch das Thema. »Jedenfalls sieht’s wirklich nach Unfall aus. Jetzt warten wir erst einmal die Laborergebnisse ab – « Aber Leitmayr war bereits einen Gedankensprung weiter – ein Video dieses wahnsinnigen Todessprungs, Petra Nickels ganz große sportliche Abschiedsvorstellung live und verwackelt, aber in den entscheidenden Phasen doch zufällig
gestochen scharf… und, vor allem, exklusiv bei ISAR-TV dem Sender, der selbst ein Interview mit E.T. noch als WAHR verkaufen würde – Es war, als würde direkt in seinem Kopf eine Milchglasscheibe zerplatzen. »Herrgott«, nörgelte Leitmayr ungeduldig und schon wieder gereizt, »kapiert’s ihr denn nicht? Wir müssen auf jeden Fall wissen, wer das Video gemacht und verhökert hat.« Und jetzt, endlich, spürte er, wie ihn eine ganz unheimliche Ruhe überkam; plötzlich war es wie immer: Sie hatten nichts, aber sie mußten es nutzen. Seit Mike Weitzel sie in Klein-Bogenhausen bei den armseligen, heruntergekommenen Reihenhäusern abgesetzt hatte und allein zur Bungee-Anlage zurückgebraust war, um sich das polizeiliche Siegel am Tor noch einmal genauer anzusehen und sich darüber grün und blau zu ärgern, war Ollis Stimmung auf Steigflug. Er trottete neben Linda her, redete wie ein Wasserfall auf sie ein und tröstete sie: » Es ist nicht mehr weit, alles wird wieder in Ordnung kommen, und überhaupt, das mit eurem versifften Wohnwagen auf dem Gelände der Bungee-Anlage war ja ohnehin keine Dauerlösung. Ich meine, die Bullen müssen da rumschnüffeln, das ist schließlich ihr Job.« Ihm war klar, daß er den starken Mann nur markierte; und vor allem wußte er, daß Linda das wußte. Es war ihm egal. Doch kein bißchen egal war ihm, daß sie da war. DAS machte ihn so high, daß er sich kaum beruhigen konnte: Bei mir, nicht bei Mike. Und so nahe, daß er hören konnte, wie die Innenseiten ihrer Schenkel bei jedem Schritt gegeneinanderschabten, daß er riechen konnte, wie verschwitzt sie war, und wie gut sie trotzdem duftete – nach Maiglöckchen und Freiheit und verrückten Dummheiten. Er dachte:
Schicksal. Scheiß auf Mike und die ganze Welt, vergiß Petra Nickel, nutz deine Chance. Linda verschwand bereits aus seinem Blickfeld; sie hatte die große Umhängetasche mit ihren Lieblingshabseligkeiten geschultert und war einfach weitergetrippelt. »Schreib mir ‘ne Karte, wie das ist, wenn man Wurzeln schlägt.« Olli lachte kopfschüttelnd und überholte sie. »Und wohin soll die Karte gehen, eh?« Jetzt lachte sie auch; es klang, als hätte sie noch einen kleinen Joker irgendwo unter ihrem T-Shirt versteckt. Vielleicht sogar eher zwei. »Papas Daimler. Schon vergessen? Ich hatte heute schon mal das Vergnügen, und die Rostlaube hat echten Wiedererkennungswert.« Linda gegen den Rest der Welt. Linda mit ihrem IQ von sieben Millionen fünfhunderttausend und ihrer mitreißenden, angsteinflößenden Verrücktheit. Linda, die unverbrüchlich auf ihre Intelligenz, ihre Stärke, ihr Glück vertraute – und sonst auf gar nichts und niemanden. Die restlichen paar Meter legten sie wie in einer geheimen Übereinkunft schweigend zurück. Olli merkte, daß seine Handflächen schweißnaß waren. Das Haus seines Vaters war eine Katastrophe, ein langgezogener, einstöckiger Plattenbau mit Giebeldach, einem kleinen Balkon und zwei morschen Stützbalken links und rechts vom Eingang. Der Briefkasten rostete, vollgestopft mit den Werbeangeboten der vergangenen sechs Monate, ergeben vor sich hin. Einige der eitergrünen Eternitplatten waren wie nach einem Granatbeschuß zertrümmert; darunter sah man die morsche Holzgitterkonstruktion und den in großen Blättern abfallenden, alten Verputz. Die Fenster waren blind vor Dreck. »Home, sweet home«, sagte Olli.
»Aber dieser kleine Brennessel- und Stechginster-Rasen rings ums Haus ist ganz allerliebst«, lobte Linda so honigsüß, daß jeder andere darauf hereingefallen wäre. Sie grinsten sich an. Plötzlich war es, als könnten sie sich ganz ohne Worte verständigen – die Luft um sie herum war ein Netz aus knisternder Energie. Olli klopfte versuchsweise an der Haustür und kommentierte dies ein wenig verlegen: »Die Klingel ist seit fast einem Jahr kaputt.« »War ich nie drauf gekommen.« – Wenn sie kicherte, klang ihre Stimme so schrill, daß man Angst hatte, Fensterscheiben könnten in sich zusammenfallen, einfach so. »Wahrscheinlich ist er im Studio unten.« »Doktor Frankenstein, ho-ho-ho.« »Früher hat er alle seine Fernsehbeiträge selber bearbeitet – Schnitt, Ton… alles«, sagte Olli, immer noch ernsthaft. Sie umrundeten das Gebäude; es war, als seien die Farben der Welt hier hinten gedämpfter. In den benachbarten Gärten stapelten sich ausgeschlachtete Autowracks, weit und breit ließ sich keine Menschenseele blicken – ISAR-TV-Kundschaft bei ihrem täglichen, kleinen Beitrag zur Festigung der Einschaltquote. Zerbröckelnde Stufen führten in die ehemalige Waschküche hinab. Eine schwarze Katze huschte davon – ein goldäugiger Schatten unter Schatten. Olli klopfte wieder – dieses Mal auf ein zwanzig mal zwanzig Zentimeter großes Schild mit der Aufschrift VIDEO PRODUKTIONEN/HENDRIK GRAF. Niemand reagierte, aber es war nicht abgeschlossen – also ging er hinein und zog Linda mit sich; er spürte sie hautnah, sie schubste ihn mit dem Unterleib Schritt für Schritt vorwärts. In dem engen, dunklen Flur roch es nach Heizöl und Nässe. Die Tür zum Studio war nur angelehnt.
Das Studio selbst war im Laufe der Jahre mindestens genauso heruntergekommen wie der Rest des Gebäudes, in das sich Hendrik Graf nach seiner Scheidung verkrochen hatte. Schatten und Staub begruben gnädig ein Arsenal von Regalreihen, alle mit Videokassetten gefüllt, ein Durcheinander betagter PCs, Videorecorder, Schneidevorrichtungen und noch ein paar Zentner High-Tech mehr – und, natürlich, Vater Graf-Frankenstein in seinem zerknautschten Ledersessel hinter den beiden zusammengeschobenen, wurmstichigen Schreibtischen. Fast hätte Olli dessen zusammengekauerte Gestalt im Dunkeln gar nicht bemerkt. Workaholic. Hochkonzentriert. Das Gesicht sah aus wie von schwarzer Säure aufgeweicht, die Augen waren zu Billardkugeln angeschwollen; er blickte nicht einmal auf, als Olli und Linda sich in den Raum hineindrängelten. Das Flimmern der Monitore sorgte für ein bizarres, blaugraues Halblicht aus Stroboskopfunken – ein knapp vierzig Jahre alter Mann kämpfte sich gegen Sturmböen über ein Blechdach zu einer Antenne vor, stolperte plötzlich und wurde rücklings vom Dach geweht. Die Off-Stimme kommentierte: »Föhn über Bayern – plötzlich waren es Sturmböen! Sie entwurzelten nicht nur Bäume, sie brachten nicht nur Boote auf den Seen zum Kentern, sondern rissen auch den Hausmeister Michael Baumgartner, 38, aus Weilheim in Oberbayern, vom Dach dieses Gebäudes, als er die Antenne sichern wollte…« Lange genug andächtig gewartet – Oliver sagte: »Hi. Papa, das ist Linda…« »Moment, Kinder, ich hab’s gleich.« »… noch am Unfallort erlag er seinen schweren Verletzungen…«
»Was war’n da los?« wollte Linda wissen und kicherte ausnahmsweise so harmlos, wie sie glaubte, daß ein kleines Mädchen lachte, wenn es ein wenig… verunsichert war. Schnitt: Auf dem anderen Monitor riegelte die Polizei den Unfallort ab. Ein Krankenwagen fuhr vor. Notärzte gingen neben einem reglosen Körper in die Hocke. DAS waren keine Statisten. Rechts flimmerte die Szene im Bildrücklauf, der Hausmeister wirbelte auf das Dach zurück und grinste plötzlich wie nach Regieanweisung flehend in die Kamera. Olli hörte seinen Vater halblaut murmelnd Ergänzungen zu dem Off-Text durchprobieren und erkundigte sich ungeduldig: »Und? Was war wirklich?« »Seht ihr doch: Ein Hausmeister ist ausgerutscht und runtergefallen.« Linda durchschaute ihn auf Anhieb. »Kommt schon, ihr beiden. Der Mann auf dem Haus da, das ist doch jemand anders. Das ist nachgedreht. Getürkt.« Jetzt ruckte das vierschrötige Gesicht doch noch hoch. »Was wollt ihr? Mit mir über Kunst im News-Flash diskutieren?« »Ich… hab’ Mike und Linda gesagt, daß sie hier ein paar Tage unterkommen können.« Olli wand sich verlegen. Linda besserte mit ihrer Lolitastimme nach: »Wir kommen zur Zeit nicht auf das Gelände, wo wir unseren Wohnwagen stehen haben. Und in unseren Wohnwagen hinein kommen wir erst recht nicht. Alles original versiegelt, eine echte Pechsträhne.« Natürlich bekam sie die Schlüssel. »Zimmer ist oben, unterm Dach.« Olli liebte seinen merkwürdigen Vater dafür, daß er in Situationen wie dieser genausowenig Aufhebens machte wie in allen anderen. »Und? Irgendwas nicht okay mit dir, Junge?«
Er druckste herum, er kam sich ertappt vor und gleichzeitig wie mit einem Vorschlaghammer mitten ins Herz getroffen; und plötzlich wußte er: Schluß mit lustig. Es war noch nicht vorbei. »Die Sache mit dem Mädchen…« Oliver brachte es nur zittrig heraus und versuchte dies mit einer übertriebenen, wegwerfenden Bewegung zu überspielen. Er zupfte an einem winzigen Hautfetzen am Nagelbett des linken Daumens herum. Auf einmal war er unglücklich und voller Angst, obwohl Linda bei ihm war. Weil sie seine Zitterstimme hörte, weil sie Zeugin seiner Schwäche wurde. »Papa, ich hab’ die bequatscht und die hatte Angst. Wenn ich sie nicht so bearbeitet hätte – « »Sie war erwachsen, oder? Sie war alt genug?« Die Dunkelheit schlug brausend über ihm zusammen – er schrie fast dagegen an. »Die hatte so ‘ne Art… Todesahnung, glaub ich.« Linda sagte noch immer nichts – und er sah nicht zu ihr hin; vielleicht war sie längst von den Schatten und dem Flimmerlicht der Monitore absorbiert worden. Schließlich wurde die Stille irgendwie… gefährlich, und Olli hob pantomimenartig den Kopf; tatsächlich – er hatte gewußt, daß sein alter Herr ihn prüfend anstarrte. »Euer Video…« »Purer Zufall, daß wir’s draufhatten. Den ersten Sprung dreh’n wir doch immer mit…« »Und…?« »Es war meine Idee«, sagte Linda ganz sachlich. Dünnes Eis. Olli versank im Boden. Das Thema war ihm unangenehm. Er ahnte die Geste seines Vaters mehr, als er sie im Dunkeln tatsächlich sah – den über Mittel- und Zeigefinger reibenden Daumen: Nur Bares ist Wahres, Geld regiert die
Welt, hast du Kohle, raucht der Schornstein. Er kannte die Sprüche, und er fand sie zum Kotzen. Sein Vater hob beide Hände. »Schon gut… ist schon gut.« Es klang nicht wütend, es klang nicht enttäuscht; vielleicht gab man sich so, wenn man einmal wirklich gut gewesen war und dann ganz plötzlich seinen Meister fand. Er sah sie nicht mehr an; er nahm die Kassette aus der Schneidemaschine, steckte sie in eine Hülle, schnappte sich seine Lederjacke. »Das hier muß noch in die 18.45-Uhr-Nachrichten. Schließt einfach hinter euch ab. Und raucht nicht im Bett, klar?« Als die äußere Tür hinter ihm ins Schloß fiel, sagte Linda: »Schlechtes Gewissen?« »Geht so. Er ist mein Vater.« »Er ist ein bißchen verrückt«, meinte sie grinsend und rollte mit den Augen. »Hat er eigentlich keine Freundin?« »Glaub’ nicht.« »Komm, is’ doch nicht normal…« Nur ein weiteres ihrer Spielchen – er wußte es. Spürte, wie intensiv sie auf seine Reaktion lauerte. Kalte Hitze. Dann begriff er – es war nicht nur Provokation; es war eine Prüfung. Also zwang er sich, seine Stimme ganz dunkel und ruhig zu halten: »Na, ich schätze, er hat einfach keine Zeit für so was – « Die Schatten des Studios krochen in ihre Augen, spiegelten sich darin. Sie rückte aggressiv ganz dicht an ihn heran. Wollte, daß er sie spürte. Wollte, daß er sie WOLLTE. »Also, ich hab’ noch keinen getroffen, der dafür keine Zeit hatte.« »Scheiße, Linda, warum tust du eigentlich immer so – « »Wie denn?« »Na, so… nuttig.« So, wie er das aussprach, klang es nur noch hilflos.
Sie lachte, tänzelte um die Schreibtische herum, lümmelte sich in den großen, weichen Ledersessel… schaukelte hin und her, hin und her… hypnotisch. Sie wich seinem Blick keine Sekunde lang aus. Er kannte diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht – herausfordernd… kampfbereit und gefährlich. Er sah, daß ihre Brustwarzen unter dem dünnen T-Shirt in Zeitlupe hart wurden. Er wußte, er war auf dem besten Weg, sich wirklich rettungslos in sie zu verknallen. Um es zu verschleiern, trat er einen dümmlichen Rückzug an: »Tut mir leid. Hab’s nicht so gemeint.« »Wie denn?« Linda spreizte die Beine ein wenig; es sah aus, als würden alle Schatten gleichzeitig unter ihren kurzen Rock springen und – Er mußte seinen Blick wegreißen. Sein Gesicht – wie roher Rote-Beete-Salat. Er spürte, daß sie seine Gedanken las. Da sprang sie bereits hoch und warf sich gegen ihn und drängte ihn gegen die Regalreihen und berührte ihn – nur ganz flüchtig, und da war es wieder, dieses schreckliche Kichern: »Ich sag’s dir, wie du’s gemeint hast. Du hättest gern, daß ich vornehm bin. Wie eine Prinzessin. So etepetete, wie deine vornehme Frau Mama, der du mich lieber nicht vorführst – « »Komm schon, hör auf, das ist doch – « »Quatsch?« keuchte sie ganz dicht an seinen Lippen. »Blödsinn? Geil?« »Linda…« »Mon dieu! Avec plaisir mit mir!« näselte sie affektiert und völlig ausgerastet vor Übermut. Sie kitzelte ihn, kreischte ihr Kriegerinnen-Lachen – spie ihn an: »Ich bin aber nicht vornehm. Ich bin gierig und vulgär und geil, ich nehm mir, was ich will. Ich laß mich anfassen. Mir gefällt das. Ich bin die böse Micky Maus.« Und sie wirbelte ihn herum und schleuderte ihn in den Ledersessel seines Vaters und stellte
sich mit gespreizten Beinen zwischen seine Schenkel, beugte sich vor, ließ ihn ihren heißen Zigarettenatem spüren, und – Seine Zahnreihen krachten so abrupt aufeinander, daß die Kiefergelenke knackten. So nahe. Und ihre Schattenaugen, so dicht vor den seinen, lockten: Komm, los, komm schon, wenn du dich traust. Er wußte, sie würde es zulassen, würde alles zulassen, wenn er nur – Sie flüsterte: »Na, gefällt dir das etwa nicht?« Was – wenn sie kein Höschen trug, wenn sie – ? Er befeuchtete seine Lippen. Ihm war wieder schwindelig. Das Rauschen in seinem Kopf erreichte Atombombenlautstärke. Er starrte sie nur an, reckte sich ihr entgegen, wollte – wollte – … und begriff irritiert, daß sie nicht mehr lachte, daß es plötzlich ernst wurde, daß sie sich beide wie Zombies anglotzten und den Verstand wieder einschalteten – und daß DER MOMENT eindeutig vorbei war. Oliver versuchte ihr stotternd zu erklären, daß – Aber sie rückte trotzdem weg, tätschelte ihm beide Wangen, hauchte liebevoll-spöttisch: »Deine Mami wartet.« Sie hatte ihm eine Lektion erteilt – Sex und Stacheldraht. Und er wollte mehr.
Der nächste Tag, zehn Uhr – es war ein gutes Gefühl, in Bewegung zu sein. Der Ressortleiter der Nachrichten von ISAR-TV bat sie mit einem nervösen Blick auf die Armbanduhr höchstpersönlich in sein Allerheiligstes – die Grenzen waren damit bereits abgesteckt: Ich bin wichtig, ich bin ein vielbeschäftigter Mann, bitte kommen Sie zur Sache und hindern Sie mich nicht länger als unbedingt nötig daran, Sendeformate und GELD zu machen.
»Schuster, mein Name. Kommen Sie, bitte. Nehmen Sie Platz.« Schusters Geste umfaßte den Hundert-QuadratmeterDesigner-Alptraum aus Stahl, Glas und Bildschirmen, und dazu halb München. Leitmayr sah Batic an, Batic sah ihn an. Sie traten ein, nickten und blieben beide stehen. Schuster lächelte gönnerhaft und wartete. Er war einssiebzig groß, schlank mit beginnendem Bauchansatz; seine Pupillen waren beeindruckend dunkel, sein Blick unangenehm wässerig und dennoch zwingend. Die Stirnglatze glänzte fettig, vermutlich wegen der Sendeformate, die er ständig entwickelte. Leitmayr erwiderte das Lächeln verbindlich genug und tastete sich demonstrativ über die zerzauste Mähne. Dann ging er es an – DIREKT: »Herr Schuster, Ihr Film über Petra Nickels Tod… Wir würden gern wissen, wer Ihnen den verkauft hat.« Möglich, daß die kleine Bosheit mit den Haaren ein Fehler gewesen war. Schuster legte die Fingerspitzen gegeneinander; es sah aus, als wolle er anfangen zu predigen – aber dann knipste er doch nur sein Lächeln aus und demonstrierte das, was Leute seinesgleichen unter Härte verstanden. »Warum? Da war jemand zufällig Zeuge eines tragischen Unfalls…« »Und das war natürlich ein Glücksfall für Sie.« – Süffisant. Batic übernahm, sachlicher: »Wir würden diesem Zeugen gern ein paar Fragen stellen.« »Sicher, sicher. Nur – ich werd’ Ihnen nicht verraten, von wem der Beitrag ist.« Leitmayr spürte, daß er die Geduld verlor – nur Schuster merkte das nicht; er war bereits wieder mit seiner Armbanduhr beschäftigt. »Wir wollen«, erklärte Leitmayr es ihm ganz langsam, »herausfinden, wer an dem Tod des Mädchens schuld
ist… wenn jemand daran schuld ist. Dazu brauchen wir sämtliches verfügbare Material.« Kein Anschluß unter dieser Nummer: »Ich versteh’ Ihr Problem«, Schusters Stimme wurde ausgesprochen herablassend, »aber verstehen Sie auch meins. Informantenschutz ist eine der Säulen des Journalismus. Wir nennen prinzipiell keine Urhebernamen, müssen wir auch nicht. Lesen Sie’s im Gesetzbuch nach, Herr Kommissar.« Leitmayr zwinkerte ihm gallebitter-vertraulich zu. »Sie müssen des vielleicht nicht, aber Sie dürften es.« Schuster wiegte den Kopf – stellte richtig: »Ich dürfte es, aber ich will nicht.« Sie starrten sich eine kleine, peinliche Weile lang taxierend an. Leitmayr dachte: Hau ihm eine rein. Aber statt dessen ging er zur Tür; laut sagte er: »Sie wissen, daß wir uns wiederseh’n werden.« Erst im Flur draußen atmete er wieder normal und hörte Batic noch fragen: »Sagen Sie: Hendrik Graf – der arbeitet doch als Videoreporter für Sie…« »Ja, aber als freier – « »Schon lange?« »Der gehört schon zum Inventar. – Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen…« »Ruth Salina?« »Sie kennen sie –?« »Lassen Sie sie nicht warten. Das mag sie nicht.« Ivos kleine Tips für Knalltüten. Leitmayr marschierte gefrustet den Korridor entlang und versuchte sich eine bessere Welt vorzustellen – ohne Sender wie ISAR-TV, ohne Talk-Shows; und dann hörte er unvermittelt den Ex-Bundeskanzler von den Kosten der deutschen Einheit salbadern: »Wir, und ich schon gar nicht,
unterschätzen die Kostenfrage keinesfalls, aber wir sehen in gleicher Weise die ermutigende Perspektive, und ich möchte Sie, meine Damen und Herren, deshalb an ein altes Sprichwort erinnern: Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt!« Leitmayr wischte sich übers Gesicht, verordnete sich Time out, drückte die nur angelehnte Tür des Schneideraums der Firma VITEC/Marina Gerstmann neugierig auf und trat ein. Die blonde, bildhübsche Videotechnikerin saß an ihrem High-Tech-Arbeitsplatz zwischen Bildschirmen und Computern; sie wandte ihm den schmalen Rücken zu und gab sich abgeklärt – ohne herzusehen sagte sie: »Bis jetzt ist es nur eine Konserve aus dem Archiv, aber die Leute lachen darüber, Sie werden sehen.« »Haben Sie irgendwo unter diesen toll hochgesteckten blonden Haaren ein paar Extra-Augen versteckt?« »Wie wär’s mit: gute Ohren?« »Worüber lachen Sie denn, Frau Gerstmann?« erkundigte er sich ganz harmlos, nur um das Gespräch in Gang zu halten. An Tagen wie diesem unterhielt er sich ganz gern mit hübschen blonden Hinterköpfen. »Bullenwitze…« Sie ließ es fragend klingen und keß; aber sie war nicht richtig bei der Sache, weil sie am Schneidegerät nachträglich den Text bearbeiten mußte. Leitmayr genoß es, ihre Stimme zu hören, und ihren trockenen Humor; zu spüren, wie die Wut auf Schuster verrauchte. Aber er blieb unerschütterlich beim Thema: »Hört man mir des an –?« Sie wedelte sich mit der Linken geziert vor der attraktiven Nase herum und schnupperte demonstrativ – und sah noch immer nicht her, obwohl er mittlerweile nahe genug war. Leitmayr griff dies auf, roch kurz Richtung rechte Achselhöhle – nichts, harmloser großer Junge. Und geduscht und gesalbt.
Sie zappte den Ex-Bundeskanzler erneut auf den Bildschirm und sagte ihrerseits im Plauderton: »Wie bringt man das Gehirn eines Bullen auf Erbsengröße?« »Und?« »Aufblasen.« Er furchte die Stirn und barg das Gesicht kurz in Denkerpose in beiden Händen. »Versteh’ ich jetzt nicht…« Nun blitzte sie ihm doch noch ein vergnügtes Lächeln hoch. »Sie lachen nicht oft, hm?« Er sagte todernst: »Wie kriegt man eine Blondine in ein italienisches Restaurant?« Sie antwortete: »Weiß nich’.« Sie zupfte keck an ihrem hochgesteckten Pferdeschwanz. Leitmayr stellte fest, daß er Pferdeschwänze bei Frauen wirklich mochte. Er sagte: »Man fragt sie, ob sie Lust hat«, und ließ es wirken – bayerische Cops sind harte Kerle. »Und? Haben’s Lust?« »Warum nich’?« »War ‘n Witz.« Leitmayr genoß das gutmütige kleine Zucken um ihre Mundwinkel, stützte sich auf ihrem Schreibtisch ab, bewunderte, wie blitzartig sie umschaltete und den Ex-Kanzler für sich sprechen ließ: »… der brave Mann denkt an sich selbst…« PAUSE! »… zuletzt.« »Nicht schlecht«, meinte Leitmayr, ehrlich beeindruckt. »Machen Sie des immer so locker… Ich mein’, geht des immer so?« »Sie meinen, daß wir der Wahrheit ein bißchen nachhelfen? – Macht das nicht jede Frau morgens vor dem Spiegel?« Er himmelte sie an. »So blond und schon so weise!« Sie war wirklich auf eine burschikose Art wunderschön. Und sie war klug und bissig und hatte diesen Humor –
Er räusperte sich. »Wie sieht’s aus, wollen wir mal zum Italiener geh’n?« »Gern.« »Übermorgen?« »War ‘n Witz!« Diesmal zeigte sie ihm beim Lachen sogar die Zähne. Er stieß die Luft aus. Tolle Frau. Aber definitiv nicht von dieser Welt Unmöglich.
Die Schläge und Tritte kamen jetzt brutal und hageldicht: Olli wich schreiend vor dem schattenhaften Angreifer zurück, blockte die zweite, dritte, vierte Attacke mit hochgerissenen Armen ab, hörte das boshaft-zufriedene Rasseln: »Gut – gut – gut!« und kassierte einen Treffer an der Halsseite, der ihn gegen die Wand drosch und nur noch schwarze Flecken sehen ließ – Puzzlestückchen, die aus der Normalität herausbrachen, zu Boden prasselten und zu Asche wurden. Das war kein Spaß mehr, das war blutiger Ernst. Vielleicht hatte er in diesem Moment tatsächlich Schaum vor dem Mund; die Zeit stand still und verbrannte; vollgepumpt mit Adrenalin ließ er sich einfach durch die kreisenden Schatten fallen, und eine Explosion greller Schmerzen tobte hinter seiner linken Kniescheibe los, doch bei all seiner Panik wußte er – er durfte keine Rücksicht darauf nehmen, nicht jetzt. Er schaltete es ab, schaltete alles ab, war so hart, wie alle es wollten, duckte sich weg, sah Schweißtropfen durch die Dämmerung des Raums sprühen und fing Mikes Tritt mit der rechten Hüfte ab. Es zertrümmerte ihm fast den Beckenknochen, aber Mike verlor die Balance, taumelte verdutzt zwei, drei Sekunden lang – hatte ihn noch immer nicht richtig erledigt. Olli kroch wimmernd, keuchend, trotzig über den mit großen Matten belegten Boden; er spürte, daß Mike ihm folgte, und kassierte
bereits die nächsten Schläge, links-rechts, links-rechts. Mikes Schritte – Geräusche, als würden entsetzliche Fleischbrocken zu Boden fallen: klatsch, klatsch, klatsch. »Na komm, Kleiner, na komm – «, flüsterte Mike atemlos erhitzt, wie jemand, der Blut spuckte. »Hoch mit dir.« Olli verpaßte ihm aus dem Liegen heraus einen Treffer gegen das Schienbein und sah das Zwielicht des Kampfraumes in blutroten und schwefelgelben Funken auseinanderstieben. Vor Zorn und Angst kreischend, war er bereits auf den Füßen, schnellte vor und krachte aus einer wischenden Drehbewegung heraus gegen Mike, schmetterte ihn zurück, setzte nach, schlug blindlings mit aller Kraft wie von Sinnen auf ihn ein, traf Kopf, Hals, Schultern und dann nur noch die Boxhandschuhe vor der Vision eines bluttriefenden Gesichts. Merkte es gar nicht. Schrie und schlug. Schlug Petra Nickels Gesicht in Stücke, und die blitzenden, flirrenden Erinnerungsfetzen ihres jämmerlichen Todes und ihr Schreien und sein eigenes Schreien. Er hörte kaum, daß es klingelte, nur, daß Mike lachte. In diesem Augenblick haßte er ihn mit jeder Faser seines Seins – und wußte, daß das auf Gegenseitigkeit beruhte. Konkurrenten. Linda. Und er weiß, daß ich-ich-ich – . Dann war nur noch ein Huschen um ihn. Es schien, als habe er auf Granit eingeprügelt. Ein fauchender Luftzug riß Ollis Kopf in den Nacken. Plötzlich lag er rücklings am Boden und verschluckte sich an seinem eigenen, schaumigen Speichel. Mike war weg. Nur noch ein Schemen. Nur noch ein kehliges Lachen im Zwielicht. Er betätigte den Türöffner, drüben, hinter der Bar. Kaum angestrengt. Schon gar nicht beeindruckt. Olli bleckte die Zähne, krümmte sich zusammen, stieß sich hoch. Flauer, flauer – krachte mit einem wilden Grunzen puren Triumphes gegen Mike, erwischte ihn mit der Schulter am Kinn, wünschte sich flehend, Knochen splittern zu hören;
er wollte ihn HART treffen, wollte ihn totschlagen, wollte ihm VOR ALLEM weh tun, sehr, sehr weh tun. Aber er lief nur mit verheerender Wucht in den nächsten Schlag hinein. Mike trieb ihn bis in die Mitte des Raumes, keuchte spöttisch-anerkennend: »He, he, he, das war guuut, Kleiner!« und gab ihm mühelos den Rest, täuschte geduckt mit einer Schlagkombination links-rechts an – und ließ ihn ins Leere laufen und einfach stehen. Olli senkte den Kopf, schweißnaß, völlig ausgepunktet, verbarg sein vor Haß und Anstrengung blasses Gesicht hinter strähnigen Haaren, atmete schluchzend lodernde Flammen. Verstand die Botschaft: Embryo. Kleiner. Du schaffst es nicht, wirst es nie schaffen, mich zu besiegen. Ivo Batic stand in der offenen Tür des Trainingsraumes und klatschte gemächlich Beifall. »Ich hab’ noch ‘n paar Fragen. An dich, Olli.« Er nickte nur schweratmend, zerrte sich die Boxhandschuhe herunter, nestelte am Klettverschluß der Bandagen herum – immer noch wie weggetreten, Adrenalin-Junkie. Mike kam zu ihm, raunte: »Sorry, Kleiner, das war hart. Aber es wird schon – « Olli verzog die Lippen, ließ sich knuffen, nickte Mike und dann auch Batic zu, fühlte mit einem Mal eine seltsame Dankbarkeit und ging aufrecht zu ihm hinüber, überspielte die überall pochenden Schmerzen. Nur ein Kampf. Training. Er schämte sich für seine Gedanken während des Kampfes. Er leistete Abbitte: Das hat er nicht verdient, Mike ist mein Freund, er kümmert sich um mich. Er glaubte es wirklich, weil er es glauben wollte. Alles entspannte sich. Keine Verzerrungen, keine schwarzen Flecken und Puzzleteilchen mehr. Nur ein bißchen Training. Mike holte bereits zwei Dosen Red Bull aus dem Kühlschrank – in der plötzlichen, frostigen Helligkeit sah sein
Gesicht wie eine Erscheinung aus einer Überwelt aus, schön und häßlich, gut und böse; er bemerkte seinen Blick, zwinkerte und warf ihm eine Dose herüber, bot Ivo Batic die andere an. »Auch ein bißchen Energie tanken?« »Danke, hab’ mehr davon, als mir lieb ist.« »In dem Alter?« »Grad’ in dem Alter, Junge.« »Deshalb stets im Einsatz. – Jugoslawe?« »Kroate, Ex-Jugoslawe«, erwiderte Batic kurz angebunden, aber voller KRAFT und jetzt auch ein wenig ungeduldig – keine Zeit für Blabla; Olli fing ein verschwörerisches Grinsen auf – Morsezeichen, daß Ivo Mike Weitzels Existenz im gleichen Moment bereits vergessen hatte. Wer ihm lästig war, den ließ er es wissen, so war Onkel Ivo schon früher gewesen. Als sein Vater ihn noch meinen verdammten besten Kumpel genannt hatte und sie alle zusammen in den Urlaub gefahren waren. Olli erwiderte das Grinsen kurz, trank aus, zerknüllte die Dose. NUR an ihn gewandt, stichelte Batic: »Einen eigenen Masseur hast du nicht?« Aus seinem Feixen wurde ein verlegenes Nuscheln: »Geh’n wir in mein Zimmer.« Mike rief ihnen großspurig hinterher: »Und ich, Herr Kommissar? Darf ich duschen, oder brauchen Sie mich auch?« Batic lächelte nur schmal. Oliver hängte sich das Handtuch über den Kopf, frottierte sich unterwegs die verschwitzten Haare, erinnerte sich daran, daß dieses Lächeln manchmal gewaltig täuschen konnte, und plötzlich wußte er, daß er mächtig auf der Hut sein mußte. Die Onkel-Ivo-Zeit lag noch vor der Scheidung seiner Eltern – verdammt lange her, eine Nebelfetzen-Erinnerung, mehr nicht. Kein Grund für Sentimentalitäten. Dennoch empfand er unvermittelt eine
große Traurigkeit; nicht um das, was war, sondern um das, was hätte sein können – mit seiner Mutter und seinem Vater, mit Ivo, mit ihnen allen. Und ihm. Zeit schinden – der Junge warf die Boxhandschuhe in die Ecke, räumte Porno-Kassetten weg, raffte Kleiderbündel, Videos, Bücherstapel, eine Kamera zusammen, drehte sich unschlüssig umher, mehr und mehr überfordert, gab es schließlich auf und warf alles in einem großen Haufen auf die schwarze Ledercouch. Batic ließ ihn an der langen Leine rotieren, nahm Olivers Zimmer in sich auf. Chrom, Leder, alles sehr modern und teuer, viele Bücher, noch mehr CDs, zwei Fernsehapparate, zwei Videogeräte, ein CD-Player und, gleich daneben, ein altmodisches Tonbandgerät, ein Plattenspieler. Regale voller Vinylscheiben – Stones, Beatles, Small Faces, Eagles, Iron Butterfly. Hemmungslos umspült von dieser gewaltigen, nicht unsympathischen Unordnung, ein Schreibtisch voller bekritzelter Papierstapel und weiterer Bücher – Fachliteratur über Filmproduktion, Drehbuchschreiben, Fördermöglichkeiten. Er tippte auf das Tonbandgerät, murmelte, halb zu sich selbst: »Hab’ noch ein paar Bänder, die will ich schon seit ewigen Zeiten überspielen…« »Kein Problem.« Batic stellte, plötzlich wieder hellwach, auf Zeitlupe um, registrierte jeden Wimpernschlag: »Olli, das Video von dem Todessprung – weißt du, wer das gemacht hat?« »Nö.« – Mit einem merkwürdigen, puddingweichen Unterton. Batic merkte es sich, lümmelte sich in den Schreibtischsessel, machte weiter: »Bevor diese Petra Nickel gesprungen ist – wer hat da die Halterungen überprüft?« »Unten Mike, oben – ich.«
»Und?« »Nichts – und.« »Hat sie etwas gesagt, das darauf hindeuten könnte – « »Nein.« »Ist dir sonst irgend etwas aufgefallen?« »Nein.« Genervt. »Wie ist das, Olli: sehen, wie die Leute sich in die Hosen machen…« Der Junge schaltete endgültig auf Abwehr. »Jedenfalls lustiger als an der Uni büffeln.« Batic blieb cool, legte TEMPO vor. »Du lebst immer noch hier bei deiner Mutter?« »Mein Vater war ja ständig unterwegs.« Ohne die Miene zu verziehen. »Du hast es ausprobiert?« Olli zuckte mit den Schultern, zupfte an seinem schwarzen Muscle-Shirt herum, fröstelte, bekam Gänsehaut. »Kommst du mit ihm klar?« hakte Batic nach. »Er ist kaputt, aber in Ordnung.« Olli begriff, was er da gesagt hatte und zögerte. »Will halt seine Gefühle nicht so zeigen. Harter Reporter-Brocken und so.« »Und finanziell auf dem Zahnfleisch. Hat sich nach der Scheidung nicht wie deine Mutter einen Geldscheißer zugelegt.« »Wo Geld doch die Welt regiert«, schnappte Olli zynisch. Batic schmunzelte: »Vor allem nach der Scheidung…« Die Feststellung kam schneller und härter, als ihm lieb war; und sie brachte ihn aus dem Rhythmus, plötzlich war der Faden gerissen, er starrte auf sein eigenes Spiegelbild in einer der Fensterscheiben, er begann dieses eine, ganz spezielle Geheimnis zu verfluchen. Mit einem Mal verlegen, wandte er den Blick ab, hatte Petra Nickel vor Augen, ein zerschmettertes Stück Fleisch, und gestand ihr und endlich
auch sich selbst, daß er an diesem Samstagmittag in Wirklichkeit gar nicht ihretwegen hier war – sondern um seiner eigenen Erlösung willen. Oliver ließ sich auf die Ledercouch fallen, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn, irgendwie alarmiert: »Wozu brauchst du die Informationen, Onkel Ivo? Mein Vater, ich, das Mädchen… Fehlt nur noch meine Mutter. Es war ein Unfall. Was hat das mit der Scheidung meiner Eltern zu tun?« Die letzten Worte schrie er – und offenbarte damit endgültig seine ganze Einsamkeit und Verzweiflung. »Wir könnten miteinander reden – wie Freunde.« »Ich könnte mich mal so richtig ausheulen.« »Wenn es sein muß.« Olli lachte bellend. »Ivo, ich bin achtzehn, ich hab’ Freunde.« Draußen rief eine Stimme, die er in all diesen Jahren nicht aus dem Kopf bekommen hatte: »Olli, Olli-Schatz… hilf mir mal. Welchen Schal soll ich nehmen – « Batic schoß das Blut in den Kopf. Oliver wischte sich die nassen Haare aus der Stirn, war bereits an der Tür und draußen. Die ganze Sache war ihm peinlich. Er beschwerte sich nörgelig: »Du, ich hab’ Besuch!« Batic kam zu Atem und folgte ihm gelassen genug und dennoch mit weichen Knien. Zu viele in muffigen Seelenlöchern aufbewahrte Erinnerungen und… Phantasien. Ruth Salina hatte sie beide ertappt – jeden auf seine ganz private Art und Weise. Ihr Auftritt war, obwohl definitiv nicht einstudiert, einfach perfekt: Wie ein großer Schmetterling kam sie die Wendeltreppe herabgerauscht – schön wie eh und je, das Make-up so sorgfältig aufgelegt, als gelte es, einen Preis zu gewinnen, orangerotes Kleid, um den Hals Goldschmuck und drei verschiedene Seidenschals, die langen, schwarzen Haare
wie ein Gespinst züngelnder Schlangen. Batic murmelte Hallo; doch möglicherweise hatte er das auch nur gedacht. Sie stutzte, versteifte sich und hielt sich an dem verschnörkelten Treppengeländer fest. »Ivo…? Ivo Batic?« rief sie ungläubig. »Ruth.« Er nickte ihr über Ollis Schulter hinweg zu. Olli drehte sich um und sah ihn seltsam an – Überraschung. Ruth erwiderte seinen Blick – völlig kalt, fast unwillig. Ebenfalls ertappt. Doch dann hatte sie sich bereits wieder unter Kontrolle; die silbrigen Funken in ihren Augen erloschen – jetzt glomm da nur noch vage-höfliches Interesse. »Was machst du denn hier?« »Routinekram. Du weißt ja, ich bin bei der Kripo.« »Ach, jetzt versteh’ ich: Es geht um dieses arme Ding… diese Sportlerin?« Er beruhigte sie: »Nur ‘n paar Fragen für’s Protokoll.« Eine Augenbraue ruckte hoch. Jetzt wirkte sie eher belustigt und überheblich. »Ivo Batic von der Kripo ermittelt Routinekram für’s Protokoll.« Sie ließ jedes Wort auf der Zunge zergehen. »Klingt atemberaubend.« Er fragte sich, warum sie ihn provozieren wollte. Für Sekundenbruchteile sah er nur den einen, großen Vergangenheits-Film – schwarzweiß und trotzdem Cinemascope – schau mir in die Augen, Kleines: Wie sie ihn damals braungebrannt und mit von der Sonne glutheißer Haut angemacht hatte, voll Spott: Du kannst mich schlagen, wenn du willst, aber ich werd’ nicht geh’n, vielleicht steh’ ich ja drauf. Sie war mit nassen Haaren und nur mit einem seidenen Morgenmantel bekleidet aus ihrem und Hendriks Zimmer in sein eigenes gekommen – hungrig. Sie hatte sich noch immer genommen, was sie brauchte. Aber dieses Mal brauchte er es auch. Sie preßte sich an ihn, keuchte, zauberte jeden Gedanken
an Hendrik Graf WEG, und er wußte, diesmal würde es dazu kommen und er würde draufzahlen, lange, lange draufzahlen, aber sie waren beide verrückt. Soviel Sonne und Meer und Lachen und Wein. Ihre Kaltblütigkeit und Gier verschlugen ihm den Atem. Er erwiderte ihre Küsse. Sie stieß ihn weg, brachte ihn zu Fall, war bereits über ihm, rollte an ihn geklammert mit ihm über den Boden, zerrte ihm die Kleider vom Leib. Irgend etwas stürzte um und zersplitterte, doch sie lachte nur dumpf, ihre Lippen saugend auf seinen Lippen, an seinen Brustwarzen. Keine Chance, auf langsam und zärtlich zu machen, sie ließ sich gehen und ihre nassen, schwarzen Haare verschleierten seine Sicht, bis er völlig verrückt losflüsterte: Das können wir nicht machen, der dreht durch, wir sind – SCHNITT. Vielleicht hatte sie den gleichen Film gesehen – widergespiegelt in seinen Augen. Auf ihren Wangen erschienen rote Flecken – trotz Make-up. Kein schlechtes Gewissen, kein Bereuen. Draußen fuhr ein Wagen vor; es wurde energisch gehupt. Routinekram für’s Protokoll. Batic war froh, daß er um eine Antwort herumkam. Ruth wurde plötzlich hektisch: »Ich muß los, Olli. Wenn du Hunger hast, im Kühlschrank – « »Ich bin fast neunzehn, Ma!« »Mach’s gut, Schatz.« Sie hielt ihm die Wange hin, ließ sich einen widerwillig-flüchtigen Kuß darüberhauchen, flatterte durch die fußballplatzgroße Halle zum Eingang. Batic begleitete sie und verabschiedete sich von Olli mit einem Zwinkern – nimm’s leicht, Kumpel. Der Taxifahrer winkte wie ein alter Freund und ließ den Daimler-Motor ein paarmal aufheulen.
Batic würgte die Vergangenheit hinunter, sagte: »Karrierefrau, immer auf dem Sprung.« »Dafür kommt mein zweiter Aufschlag noch immer nicht richtig.« »Wird schon. Mit dem richtigen Coach.« Sie lachte gereizt und abgelenkt. »Entschuldige, Ivo, ich bin ziemlich in Eile.« »Ja, klar.« Er küßte sie ein wenig ungelenk auf die Wange, roch ihre erhitzte, schweißnasse Haut von damals und ihr Parfüm von heute – es war immer noch Poison. Zehn Sekunden Innehalten – wie im Zeitraffer. Sie sah ihn an, es war, als suche sie etwas. Dann flüsterte sie nur heiser: »Du wirst schon grau, Ivo.« Seine Antwort, wenn er eine hätte geben wollen, interessierte sie schon nicht mehr; sie stieß ihn weg, wie damals, hastete zu dem wartenden Taxi hinüber und stieg ein. Sie sah nicht mehr zurück. Was hatte er erwartet? Batic atmete kopfschüttelnd durch. Sein BMW stand noch an Ort und Stelle. In den Scheiben spiegelten sich ein strahlend blauer Himmel und schnell dahinziehende Wolken. Plötzlich hatte er Lust auf ein kleines Wettrennen. Sie folgten ihnen in Mikes Wrangler-Cabrio vom Olympiastadion Richtung Innenstadt: Der Troß aus flüchtenden Bürgern und betrunkenen Fans, Freaks und Skinheads verwandelte Gehwege, Straßen, Parks in einen aufgeheizt brodelnden, farbenschreienden Mahlstrom rennender, torkelnder, grölender, fahnen-, schal-, wimpel- und flaschenschwenkender Körper. Aus einem Autokorso der Sieger wurde die Mutter aller Staus. Irgendwo hatte es gekracht, irgendwo schrien mitten auf der Straße Bayern-Fans und Hansa-Kings wie Höhlenmenschen durcheinander. Ein Bayer in Krachledernen pinkelte auf eine hanseatische Fahne und krakeelte unter dem frenetischen Beifall seiner Freunde
triumphierend: »Do host’es!« An Bus- und S-BahnHaltestellen wurden Bierflaschen zertrümmert. Ein Taubenschwarm kreiste panisch über dem Menschengewimmel und den Blechlawinen der Autos durch den Smog. Linda zappelte auf dem Notsitz herum, quetschte Ollis Rückgrat zu Wackelpudding und kreischte: »Oooch, süß, halt drauf, halt drauf!«, und Olli hielt drauf, und Mike fuhr schneller, über Fahrradwege und Grünstreifen an der stehenden Kolonne vorbei, und beschimpfte Tauben und Menschen aus dem offenen Jeep heraus, feuerte sie an, heizte mit. Das Bundesligaspiel war vorbei, doch der große Verkehrsinfarkt stand unmittelbar bevor. Überall Hupen, Schreien, Springerstiefel und Bomberjacken. Irgendwo heulten Martinshörner, nicht weit entfernt. Hansa Rostock hatte gewonnen, gegen Bayern, das konnte nicht gutgehen. Durch die Videokamera gesehen, war es vollends wie ein Sog, der ihn in einen nach süßlicher Verwesung riechenden Fiebertraum schleuderte. Olli konnte gar nicht genug bekommen, er dachte, beinahe staunend, aber mit einem wie rasend eisig anschwellenden Grauen: Keine Gesichter, man sieht wirklich keine Gesichter mehr, keine Individuen. Das da draußen waren nur noch Farben, Kleiderfetzen, Chaos und Lärm… Quotenbringer. Er dachte: Jetzt geht es richtig los. Petra Nickels Tod war das Vorspiel – ab jetzt war mit weiteren Leichen stündlich zu rechnen. Und sie würden live dabeisein. Quotenbringer, Bluthunde, Geldabzocker – die einen waren ohne die anderen nicht denkbar, es war ein symbiotisches Liebesverhältnis. Alles verwischte zu huschenden Schmierstrichen. Mike fuhr schneller, schneller – sie alle wollten ungeduldig ins Zentrum. Im Radio meldeten sie bereits erste Tumulte am Starnberger Bahnhof, und Linda schrie ihm von hinten gegen den Fahrtwind »Guuuut, genau das, was wir
alle BRAUCHEN!« in die Ohren, und »Halt drauf, such’ dir die Geilen, die ganz Heißen raus!« Und das tat er, denn Mike hatte ihn gelobt, hatte ihm gesagt, daß er trotz Bussi-BussiMama ein verdammt guter Kameramann sei, und nach den schlimmen Gedanken während des Kampfes hatte er genau DAS dringend nötig gehabt, um wieder an ihre Freundschaft glauben zu können. Freunde – gegen den Rest der Spießer-Welt. Mike hatte das Lenkrad herumgerissen und raste Richtung Hackerbrücke und Starnberger Bahnhof. Olli filmte weiter: Schubsereien, Geschrei, Gefuchtel. Linda fummelte an seinem Nacken herum, Mike drehte das Radio lauter. »… den Ausschreitungen im Olympiastadion haben alkoholisierte Fans Passanten angepöbelt und Schaufenster eingeworfen. Dabei kam es immer wieder zu gewalttätigen Begegnungen zwischen den Fans beider Vereine… Mehr als vierzig Verletzte mußten ärztlich behandelt werden. Auf die Kritik an den Sicherheitsvorkehrungen der Polizei erwiderte ein Sprecher, man habe die Gewaltbereitschaft der Fans keineswegs unterschätzt – « Mike stellte den Jeep in eine Halteverbots-Zone, zerrte Olli heraus, führte ihn wie einen Blinden an einer endlosen Reihe abgestellter Fahrräder vorbei. Olli ließ es geschehen, nahm die Kamera keine Sekunde lang herunter, fing den Fiebertraum ein – angsterfüllte Passanten, aber auch immer mehr gleichgültige Feierabend-Spießbürger, Menschengedränge, stolpernde Hansa-Fans, das verzweifelte Gesicht eines großen Jungen, der von seinen Freunden hochgerissen und mitgeschleift wurde und sich unterwegs übergab. Unterführung, Unterwelt – waren sie schon am Bahnhof? Noch mehr Menschen – Frauen, Kinder, die wie unter Bombeneinschlägen nach links und rechts auswichen und
gegen die Wände gedrückt weghasteten. In den langen Tunneln hallten Schreie. Die Geräusche eines Kampfes entpuppten sich als Windei: Ein alter Mann schlug mit seinem Spazierstock spielerisch auf einen vorbeihetzenden Hansa-Fan ein. Beide lachten, waren schon wieder weg. Die wahre HÄRTE fand woanders statt. Ein Erdbeben aus hämmernden Schritten, die ihn an Wochenschau-Bilder aus der Nazizeit denken ließen, an endlose Reihen im Stechschritt marschierender Soldaten; Licht und Schatten veränderten sich, dann überlagerten unvorstellbare Schleifgeräusche alles. Als würde ein Berg aus Fleisch beiseite geschoben. Olli war im Sog, sicher geleitet. Mike war, vor Anspannung und Jagdfieber keuchend, neben, Linda hinter ihm. Olli war nur noch KameraAuge, Zoom-Auge, Verfolger, Jäger. War hinter den Tumulten aus zersplitternden Flaschen und in völlig neuer, hysterischer Qualität hochpuffenden Schreiereien in Sicherheit. Sein Mund trocknete aus. Er glaubte, den Gestank brennender Autoreifen wahrnehmen zu können und Blutgeruch; den schrecklichen, roten Schimmer einer heraufziehenden Apokalypse. Das Ganze hatte die Eindringlichkeit eines Rücksturzes in archaische Zeiten. Lieber Gott, es war so intensiv. »… links, links – werden Steine geschmissen…«, hörte er Mike rasseln und ruckte bereits herum: zerschlagene Neonröhren an der Decke, Blut auf dem Steinboden, eine zerrissene Flagge, milchige Splitter. Davonhastende Körper – Hansa- und Bayern-Fans. Es wurde ernst. Olli zoomte in den Hexenkessel hinein. Ein dürrer Kerl mit langen Haaren stand inmitten der Tumulte und dudelte selbstvergessen auf einer Querflöte herum. Der Junge von vorhin lag schon wieder am Boden, diesmal im eigenen Erbrochenen. Seine Freunde verschwanden in einem schwarzen Loch prügelnder Rowdys. Überall nur noch Stürzen
und Hasten. Der Junge kroch lallend und kichernd davon, kam hoch und rannte blindlings einen langen Seitentunnel entlang – Richtung Straße und Autoschlangen. Falsche Richtung, großer, großer Fehler – abgeschnitten von seinen Freunden. Der Kleine zog sein weißes Käppi in die Stirn und verkroch sich in einen leeren Müllcontainer. Als er noch einmal hochblickte, um die Lage zu sondieren, bemerkte er Ollis Kamera und legte lächelnd einen Finger auf die Lippen – ein lautloses Betteln: Verrat mich nicht. Bitte. Der Junge hatte gute Augen. Fröhliche Augen. Nahm das Ganze noch immer nicht ERNST. Aber es war ernst.
Blutig-mörderisch-ernst.
IRGEND JEMAND PFIFF EINEN AUS DER MEUTE
ZURÜCK. Ohne hinzusehen, wußte Olli Bescheid – Linda. Natürlich. Wir brauchen eine kleine Sensation. Blut und Tränen, ganz nah dran. Wir brauchen geilere Bilder als alle anderen, wenn wir im Geschäft bleiben wollen, und das wollen wir mehr als alles andere, weil wir mehr als alle anderen aus dem Dreck herauskommen wollen. Blut, Tränen, geilere Bilder: Weil das genau DAS war, was die Spießer abends schockiert und empört im Fernsehen sehen wollten – auf sicherer Distanz, bei Chips und Flips, und mit Frau, Rehpinscher und Kindern gemütlich in die Sofaecke gekuschelt. Das BEGREIFEN war wie ein Ritt auf einer Feuerlohe, wie der Flugversuch eines Schmetterlings in einer Gasexplosion. Der kindliche, sensible Olli hörte in diesem Sekundenbruchteil einfach auf zu existieren. Der plötzlich erwachsene Oliver Graf sah einen der Schläger anhalten und kehrtmachen und wußte, was jetzt kam, o Gott, er wußte es. Ist halb so schlimm… gehst ganz nach vorn, an den
Rand. Läßt dich einfach nach vorne kippen und breitest die Arme aus. Möglich, daß Oliver schreiend protestieren wollte – nicht so, bitte, das ist nicht fair? Unwürdig? Schrecklich? Du wirst sehen – das ist toll. Aber er saugte nur schluchzend die stickige Luft in sich hinein und hielt drauf, hielt einfach nur drauf auf den Jungen, das Opferlamm, das sich jetzt wegduckte, immer noch auf sein VERSTECK vertraute. Er filmte, als der stämmige Kerl mit den kurzgeschorenen Haaren mürrisch »Was ist denn?« sagte, und Linda nur »Da!« antwortete und mit ausgestreckter Hand zeigte, und Mike »Los, halt drauf, Olli!« kommandierte. Der mit den kurzen Haaren brummte »Jooo-do-schau-her!«, unvermittelt mit einer zufriedenen, fast fröhlich-gutmütigen Stimme, als würde er sich für eine richtig zünftige Maß Bier bedanken. Es war, als höre man Geisterstimmen auf einer kaputten Tonspur. Oliver filmte, während Olli in einer Woge gräßlicher Schamhitze vollends zu Schlacke verbrannte. Freunde – gegen den Rest der Spießer-Welt. Verbündete im Schattenreich. Der Schläger bewies Voraussicht, stülpte sich eine Art Skimaske vors Gesicht, die nur Augen und Mund freiließ – und flankte, in einen Dämon verwandelt, mühelos in den Container hinein. Der Hansa-Fan hatte sich auf dem Boden zusammengekrümmt – und dann raste die Zeit, raste mit Olivers panischem Pulshämmern um die Wette. Der Junge in dem Container kassierte den ersten Fußtritt in die Nieren und jaulte mit einer so groteskschrillen Stimme auf, daß Oliver zwei, drei Sekunden lang ganz ernsthaft glaubte, alles sei nur ein Spaß und gleich würden alle in tränensprühendes Gelächter ausbrechen. Aber das geschah nicht. O nein. Der zweite Tritt riß dem Jungen die halbe Nase weg, der dritte schmetterte seinen Schädel wie einen bizarren Knochen
Fleisch-Haut-Fußball gegen die Container-Wand und ließ Blut und Speichel sprühen. Und jetzt legte der Kerl mit der Maske erst richtig los – abwechselnd mit beiden Fäusten und mit beiden Füßen, diesen schrecklichen Springerstiefel-Füßen, und der Junge wehrte sich noch immer nicht. Und wie die Geräusche von Schlägen auf bluttriefendes Fleisch und die Schreie und das Betteln des Jungen lauter und schmerzerfüllter und verzweifelter wurden, wurde auch das unsägliche Gedudel des Flötenspielers immer lauter und lauter. Olivers Magen verwandelte sich in einen riesigen Luftballon – und schien zu platzen. Er konnte es nicht mehr ertragen, konnte nicht mehr weiterfilmen – auf Füßen, die wie stählerne Attrappen waren, den schrecklichen, süßlichen Blut-Schweiß-Angstgestank in Nase und Lungen, wich er zurück und riß sich die Kamera vom Auge; er würgte an einer ungeheuerlichen, siedendheißen Masse direkt in seinem Mund. Mike ohrfeigte ihn. »Mann, Scheiße, bleib dran jetzt – Penner, mach weiter, mach weiter!« Er konnte es nicht mehr, nicht das, unmöglich. Mike wand ihm die Kamera aus der Hand, stieß ihn beiseite, filmte selber, schrie: »Gut so, los, mach!« Und die Schläge gingen weiter und weiter – wurden zu Detonationen, und immer mehr Passanten blieben stehen und sahen kopfschüttelnd und murmelnd zu. Und taten NICHTS. Oliver versuchte die schrecklichen Geräusche auszublenden, versuchte die Gedanken an jenes Geräusch auszublenden, mit dem Petra Nickel gestorben war (es war ähnlich gewesen, nur irgendwie gewaltiger – KLATSCH! Du wirst sehen, es ist toll) und starrte den Container an, wischte sich Tränen weg, starrte Mike an, starrte Linda an, sah sie gleichzeitig in Schwarzweiß und wie mit Blut übergossen.
Sie hatte sich halb zu ihm herumgedreht und lächelte ihn seltsam verächtlich an. Weichei. Bubi. Das traf ihn wie der übelste Schlag von allen. Oliver spürte seine Beine nicht mehr, plötzlich waren da nur noch Schwerelosigkeit und Kribbeln. Passanten und Gaffer tanzten ihren Totentanz um ihn herum, stießen ihn weiter. Er kauerte sich auf der schmutzstarrenden Treppe nieder, sah den Dämon aus dem Container hochtauchen und fragend zu Linda herüberschielen. Aber sie hatte noch immer nicht genug, sie sagte, ganz geschäftsmäßig und immer noch lächelnd: »Los! Los! Los!« Und der Dämon nickte und machte weiter, machte eine Ewigkeit lang weiter, und Oliver saß nur da, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen oder gar einzugreifen, sich durchzusetzen gegen diesen Wahnsinn, saß da und beobachtete leer, völlig leer, wie der Junge mit den fröhlichen Augen vor laufender Kamera totgeschlagen wurde.
Ausgeschlagene Zähne, ein zertrümmerter, schiefhängender Kiefer, Blut, Speichel, Tränen, ein Jungengesicht voller rasender Schmerzen, Entsetzen, Todesangst; dann nur noch die Totale: Ein zusammengeballtes, wimmerndes Bündel auf dem Boden eines Müllcontainers – und die Tritte und Faustschläge hörten und hörten noch immer nicht auf. Das blaugrauschwarze Geflimmer des Bildschirms schleuderte ein irres Schneetreiben gegen Leitmayrs Gesicht. Er rutschte von der Tischkante und krümmte sich vornüber, als müsse er selbst Blut spucken, doch statt dessen spulte er das Band zurück und sah sich das Video aus sichelschmal zusammengekniffenen Augen heraus noch einmal an. Er spürte, wie sich das Begreifen mit der Wucht eines Tritts entfaltete: Die Schatten der hastenden, stürzenden, sich prügelnden Fans springen ihn an. SCHNITT. Der Hansa-Fan
mit dem weißen Baseball-Käppi versteckt sich im Müllcontainer. SCHNITT. Der Nachwuchs-Totschläger stürmt zusammen mit einer ganzen Horde johlend in die entgegengesetzte Richtung davon, stoppt, dreht sich verwundert um und trottet zurück und auf die Kamera zu – grinsend – ohne böse Absichten: Was ‘n los, ey? SCHNITT. Der Bursche weiß ganz plötzlich, was er will und wo er danach suchen muß, er entdeckt den Jungen in seinem Versteck, er zieht sich die schwarze Maske vors Gesicht… tritt in Aktion und knöpft sich den Buben GANZ KNOCHENHART vor. Und das Ganze wieder live und mit besten Grüßen von ISAR TV, ihrem aktuellen Familien-Sender. Alles um Leitmayr herum wurde flirrend ROT. Er schaltete auf Standbild, dachte: Intensivstation, Endstation, aus. Wegen eines scheißblöden Fußballspiels. Wirklich nur wegen eines Fußballspiels? Was ’n los, ey? Er erwiderte das fragende Starren des Schlägers, dachte, ziellos: Warum grinst der Kerl so? Er widerstand der Versuchung, die Fernbedienung durch das geschlossene Fenster zu werfen, er schrie sich seine ohnmächtige Wut noch immer nicht von der Seele. Da war ein merkwürdiger Zwang, innezuhalten, genauer hinzusehen. Er spürte, unterbewußt hatte er es längst durchschaut. Er dachte plötzlich, wie vom Donner gerührt: Falsch. Inszeniert. Einschaltquote: Gib ihnen, was sie haben wollen. Carlo kam hereingestiefelt – unbeeindruckt und laut, wie immer. »Also, Franz, des Material is’ von ISAR-TV – « Leitmayr wischte das Geschwafel mit einer unwilligen Geste weg, fauchte: »Na, des seh’ ich auch, am Logo. Was ist mit dem Original?«
»Die haben’s jedenfalls als erste gesendet.« Mit der ihm eigenen urbayerischen Seelenruhe hockte sich Carlo Menzinger neben ihn auf den Schreibtisch, rauchte, ließ die Füße baumeln wie im Englischen Garten, am Eisbach, und bewies einmal mehr, daß er den Kopf meistens überall, bloß nicht so recht bei der Arbeit hatte: »Aber du und der Ivo, ihr seid’s doch die Mordkommission, seit wann ermittelt’s ihr denn wegen groben Unfugs und Sachbeschädigung?« »Sieht des bloß nach Sachbeschädigung aus? Aber keine Panik, Carlo, für den Unfug bleibst weiter du zuständig. Da, schau dir des an! Den Kerl holt doch einer zurück – der war doch mit den andern schon am Abhauen.« Er ließ das Ganze Bild für Bild laufen. Jetzt beugte sich auch Carlo vor – zunehmend verlegen und unwirsch. »Was weiß denn i, ‘zifix? Irgendein anderer von dene Arschlöcher wird dem halt was g’sagt hab’n.« Aber Leitmayr hatte Blut geleckt. »Da, Carlo, der grinst doch!« »Ja, mei, der grinst halt.« »Direkt in die Kamera? Weil der so glücklich ist, daß er jetzt ins Fernsehen kommt und im Anschluß daran in den Knast?« schnappte Leitmayr gereizt und starrte ihn mit einem Ruck an. »Carlo, wer des da gefilmt hat, der hat auch den dummen Sack da verarscht. Filmt den ohne Maske. Und dann zeigt er, wie der sich dieses Ding vor’s Gesicht zieht und den Jungen fertigmacht…« »Ja, glaubst denn – ?« Carlo räusperte sich, blinzelte durch seinen Zigarettenqualm, sah jetzt richtig hin. »Der kriegt da so eine Art… Regieanweisung«, murmelte Leitmayr. »Der hat keine Ahnung, daß er dabei schon gefilmt wird. Da, schau.« Er ließ das Band weiterspulen. »So a Sau!« flüsterte Carlo. »Der laßt nix aus!« murmelte Leitmayr.
Als der Schatten in das dunkle Büro hereinplatzte, zuckten sie beide zusammen. »Der Junge, den sie da zusammengeschlagen haben«, zischte Batic mit einer Stimme voller frostiger Wut, »ist noch nicht vernehmungsfähig. Wird er auch noch lange nicht sein, vielleicht nie mehr.« Aber Leitmayr kannte seinen Partner; was Batic wirklich meinte, war: Damit kommen die nicht durch. Damit nicht.
Sie machten DRUCK, aber Schuster gab sich, als kenne er das Wort nicht einmal vom Hörensagen und ließ sie im Treppenhaus von ISAR-TV einfach stehen. »Ich hab’ Termine.« Marlene Dietrich blieb ebenfalls cool und spähte trauerumflort in geheimnisvolle Fernen – irgendwo im Münchner Osten: Ihr Konterfei zierte überlebensgroß die Wand. Leitmayr und Batic ignorierten sie und wechselten einen Blick – kurz: Knacken wir ihn. Da waren sie beide schon unterwegs. Guter Bulle, böser Bulle. Batic schrie Schusters Hinterkopf an: »Die Ärzte wissen nicht, ob der Junge überhaupt jemals wieder zu sich kommt. Also, sagen Sie uns endlich – von wem haben Sie das Video!« Schuster hatte fast acht Stufen Vorsprung. Im zweiten Stock blieb er schließlich stehen, scharrte mit dem Absatz des linken Schuhs ein wenig auf dem dunkelgrau gemaserten Marmorboden des Treppenabsatzes herum und tat, als halte er innere Einkehr. Dann sagte er beinahe einlenkend: »Ich habe schon einmal versucht, Ihnen zu erklären – « Leitmayr grinste böse und unterbrach ihn: »Laber, laber. Das Ding ist nicht zufällig gefilmt worden, das ist inszeniert. Und zwar von einem, den Sie bezahlen.« Schuster erwiderte sein Lächeln oberlehrerhaft.
»Das ist ein schlimmer Vorwurf. Beweise?« »Die kriegen wir. Und dann hängen Sie mit drin.« Es sah aus, als sende Schuster der überlebensgroßen Marlene ein Stoßgebet. Möglich, daß er auch nur eine Art stumme Abbitte leistete – weil er es versucht hatte und diesen überheblichen Blick einfach nicht zustande brachte. Den arroganten Tonfall jedoch schaffte er locker. »In jeder zweiten Wohnung liegt mittlerweile ‘ne Videokamera herum. Bedienen kann die Dinger jeder Schimpanse. Haben Sie daran schon mal gedacht?« Er war bereits wieder unterwegs; ein Wunder, daß seine rote Krawatte nicht hinter ihm herflatterte – weit ausgreifende Schritte, Echos, die wie Salven von den Wanden widerhallten. Und von Marlenes unbeweglichem Gesicht. Batic zeigte Schuster den Mittelfinger, Leitmayr zerrte an Batics Arm. Sinnlos. Noch. Sie schlenderten in den ersten Stock hinunter; dort stiegen sie in den gläsernen Aufzug und fuhren ganz nach oben – Verlierer unter sich. Es war 11.46 Uhr, und Leitmayr wurde das elende Gefühl nicht los, daß sie nur noch hinter Phantomen herhechelten. Erst Petra Nickel, jetzt dieser Junge – Nur ISAR-TV und die Einschaltquoten waren real. Sehr real. Die Glaskabine hielt und tat sich auf; sie stiegen aus. Leitmayr beschwerte sich: »Blöder Hund, aber zäher Knochen, dieser Schuster.« Batic sah ihn nachdenklich an – hatte in Gedanken schon weitergezappt. »Wie willst du denn dem überhaupt irgendwas beweisen?« fragte er ärgerlich. »Ohne Zeugen. Und gegen wen ermitteln wir überhaupt?« »Glaub mir, Ivo: Da läuft eine Riesensauerei – « »Ja, schon möglich – «
Diesmal wechselte Leitmayr das Thema – im Weitergehen: »Dein Freund Graf, was ist denn des für einer?« »Jedenfalls keiner, der sich an Blutmatsch aufgeilt.« Ivo Batics Stimme klang unvermittelt beängstigend scharfkantig. »Und seinen Job macht er aus purem Idealismus, oder was?« säuselte Leitmayr honigsüß. »Ich kenn’ den, Franz«, beteuerte Batic. »Solche Sauereien macht der nicht.« Die nächsten drei, vier Minuten behielt Leitmayr alle seine Gedanken für sich. Strafe muß sein. Sie verließen den Stahl Beton-Glaspalast von ISAR-TV und betraten den Dachgarten, genossen die Juniwärme und beobachteten die hastenden, jedoch allesamt ziemlich glücklich dreinschauenden ISARTV-Mitarbeiter, umrundeten das Gebäude und stiefelten einträchtig die Betonrampe zum Parkdeck hoch. Um sich vollends zu erden, dachte Leitmayr an die Videotechnikerin Marina Gerstmann und ihren wunderbar trockenen, bissigen Humor, und an wehmütige Saxophonmelodien in verrauchten amerikanischen Clubs; er summte In the Mood. Dann Sympathy for the Devil. Als Batic immer noch nicht reagierte, platzte ihm der Kragen. Er überholte ihn, stellte sich ihm in den Weg, herrschte ihn an: »Warum verteidigst du den Fettsack eigentlich ständig? Was war los zwischen euch, hm? Warum bist du so verdammt freundlich zu dem?« Gnadenfrist – Batic war in Gedanken fast so weit weg wie Marlenes Blick und drängelte sich nur verbissen an ihm vorbei. Ging schneller. Leitmayr stapfte nörgelnd hinter ihm her. »Ivo, Herrschaftszeiten, du sturer Hund, jetzt mach halt den Mund auf!«
Er holte ihn ein, zerrte ihn halb herum, schüttelte ihn – improvisierte: »Also gut… Graf und du, ihr wart Spezl’n. Du willst ihm helfen. Das ist nur anständig – « Batic wiederholte abfällig: »Anständig, Spezl’n…« Schüttelte den Kopf, wurde langsamer. »Eigentlich… eigentlich – es ist nicht so einfach.« Leitmayr reckte theatralisch beide Hände gen Himmel. »Er spricht wieder – « »Franz – bitte!« Das klang eindringlich. In Batics Augen flammte ein STOPSIGNAL, so groß wie das Matterhorn. Und plötzlich wußte er es, wußte er Bescheid und platzte damit heraus: »WEIBERGESCHICHTEN –??!« Er witterte, daß er richtig lag. Und er wußte es ENDGÜLTIG, als er Ivos Gesicht sah. Plötzlich fühlte sich Leitmayr richtig milde gestimmt: »Du und Grafs Frau, ihr beide – « Er gestikulierte eindeutig genug herum – ärgerlicherweise wandte Batic ihm bereits wieder den Rücken zu. »Na und? Wie lang ist des jetzt her?« rief er ihm nach. In die Enge getrieben, fuhr Batic stinksauer herum. »Na und? Na und? Ich hab’ seine Ehe auf dem Gewissen. Irgendwie bin ich sein Schicksal.« »Schicksal!« tönte Leitmayr salbungsvoll und spürte, daß er langsam, aber sicher ebenfalls wütend wurde: Er roch brenzligen Kurzschluß-Geruch. Sie hatten den metallicblauen BMW erreicht und funkelten sich über das Wagendach hinweg an. »Ivo, in welchem Jahrhundert lebst du eigentlich? Krebs oder ein Raucherbein – das ist Schicksal. Aber so ein Seitensprung – « »Ich nehm’ so was ernst!« schrie Batic zurück. »Das verstehst du nicht. Seit Ruth ihn verlassen hat, ging es nur noch runter mit ihm. Abwärts.«
»Ihr Balkan-Papagalli…« Er bleckte die Zähne, schüttelte fassungslos den Kopf und stieß ein freudloses Lachen aus. »Lendenkraft ohne Ende! Aber hier drin – « Er tippte sich gegen die Stirn, »Ödnis und Mittelalter. Knoblauch gegen Vampire – « Mit einer zornigen Geste warf er Batic die Wagenschlüssel hinüber. »Was is’?« Batics Augen wirkten seltsam wässerig. Leitmayr winkte, bereits im Davongehen, ab. »Trink ‘n Bierchen. Mach Feierabend. Entspann’ dich. Ich hab’ noch was vor.« Scheiß drauf – für heute hatte er mehr als genug ausgeteilt. Schließlich waren sie Freunde. Auch eine Stunde später kam er sich noch so vor, als segle er vor einer GIGANTISCHEN Druckwelle her. Er stieg aus dem Taxi, bezahlte, wich einem zwölfjährigen Mutanten mit grüngefärbten Haaren aus, der auf seinen Rollerblades so haarscharf an ihm vorbeipfiff, daß es beinahe weh tat, und ging hinter einem Zitronenfalter her quer durch die verwilderte Wiese zu Grafs abbruchreifer Villa Kunterbunt hinüber. In einem der Nachbargärten wurden ganz normale Automotoren zu SOUND-Maschinen hochgetrimmt – das Gedröhne war enorm. Leitmayr streifte an der Vorderfront des Hauses entlang und sondierte das Terrain: offenstehende Fenster, die Räume dahinter stockfinster. Gekicher, Gegurre, Stöhnen – ein Mann, eine Frau balgten sich im Bett, Tory Arnos sang dazu Professional Widow. Leitmayr hämmerte mit der geballten Faust ungeduldig gegen den Bretterverschlag, der vor langer Zeit einmal eine Haustür gewesen sein mochte – er war weiterhin nicht in der Stimmung, sich von irgend jemandem für dumm verkaufen zu lassen.
Doch anstelle von Hendrik Graf zog Mike Weitzel mit der einen Hand die Tür auf und hielt sich mit der anderen wie mit einem Lorbeerblatt bedeckt. »Ach«, entfuhr es Leitmayr. »Graf is’ nich’ da«, sagte Weitzel – es klang nicht sehr bedauernd. »Und was machen Sie hier?« »Na, raten Sie mal.« Er drehte sich um, präsentierte seinen nackten, blassen Hintern und schlurfte davon. Leitmayr beschloß, an den Bällen zu bleiben. Er betrat die Bruchbude behutsam genug, um keinen Einsturz zu riskieren. Tory Arnos verstummte. Linda Egeler kam aus einem Zimmer ganz am Ende des Flurs, zupfte einen spinatgrünen Bademantel nachlässig-keß vor den Brüsten zusammen und lehnte sich gegen die Wand, als wolle sie sie abstützen. »Waren wir zu laut? Hat sich ‘n Nachbar beschwert?« Leitmayr grinste widerwillig. »Die sind alle mit heißeren Öfen beschäftigt.« Als sie ihn verdutzt anstarrte, verdeutlichte er es: »Brumm-brumm!« »Ah.« Jetzt nickte sie lächelnd, sie hielt seinem Blick mühelos stand und taxierte ihn, während er ihr die Gedanken an der Nasenspitze ablas – nur ein weiterer kleiner Spießer, gerade richtiger ein paar Spielchen. Ihre Augen waren sehr dunkel. Die kurzgeschnittenen, rotbraunen Haare waren zerzaust und ein ganz kleines bißchen verschwitzt; ein paar Strähnen hingen ihr in die Stirn – sie strich sie nicht zurück. Ihre Halsschlagader tickte immer noch heftig – sie sah sehr hübsch und wild und stark aus, und Leitmayr wunderte sich, daß er sie bisher als Frau gar nicht wahrgenommen hatte. Trotz der nackten Tatsachen immer noch ziemlich gelassen, faßte er es professionell zusammen: Chamäleon.
Da sie ohnehin keine Nettigkeiten austauschen würden, konnte er genausogut loslegen: »Wo ist er denn, der Hausherr?« Sie starrte ihn nur weiterhin an – Weitzel antwortete: »Der arbeitet.« Leitmayr tippte gegen die nackte Glühbirne über sich, servierte ihnen den Bluff im Plauderton – ganz beiläufig. »Schad. Ich bräuchte nur ein paar Sachen aus seinem Archiv.« Er wußte im gleichen Moment, daß Linda nicht darauf hereinfallen würde – sie kannte sich aus, an ihrem Hals zuckten Muskelstränge, nur ein einziges Mal. Aber irgend etwas an dieser Situation bereitete ihr auch ein diebisches Vergnügen. Leitmayr drückte sich an ihr vorbei und sah sich um. »War vielleicht richtiger«, meinte Linda träge wie eine Katze vor dem offenen Sahnetöpfchen, »wenn Sie vorher mit ihm selber reden.« Mike Weitzel tappte genervt davon. »Ich mach’ Kaffee.« Leitmayr zuckte die Schultern. Linda stieß sich von der Wand ab und glitt an ihm vorbei, ins Wohnzimmer. Der Morgenmantel klaffte vorn bereits wieder auf. Sie ließ ihn ihre kleinen Brüste sehen, ihren Geruch schnuppern; es gelang ihr trotzdem nicht, ihn abzulenken. Während sie den Telefonhörer abnahm, eine Nummer wählte und ihn nicht aus den Augen ließ, bescherte ihm der schwülstig-altmodisch eingerichtete Raum einen gräßlichen Anfall extremster Klaustrophobie: Stehlampen, Plüschsessel, ein durchgelegenes Sofa, an den Wanden eine billige Tapete, Drucke hinter Glas, an der altersdunklen Decke ein achtarmiger Kronleuchter mit elektrischen Birnen. Mindestens drei davon waren schwarz verfärbt und würden nie wieder erstrahlen. Hier drin stand die Zeit für immer still. Plötzlich hatte Leitmayr Mitleid mit Graf. Aber nur etwa zweiundzwanzig Sekunden lang.
Linda nickte verschwörerisch zu ihm herüber – hab’ ihn am Telefon. Laut sagte sie: »Ich bin’s, Herr Graf. Hier ist ein Kommissar, Leitmayr heißt der, glaub’ ich. Der will sich mal in Ihrem Archiv umsehen.« »Schmeiß ihn aus! Der soll ’n Termin machen, wenn er was von mir will!« Leitmayr hörte Grafs Geschrei, auch ohne die Ohren zu spitzen. »Okay, ich sag’s ihm.« Sie wirkte nicht sonderlich beeindruckt, obwohl sie den Hörer ganz behutsam auflegte. Ihr Lächeln vertiefte sich, wurde echt und sympathisch… und, als sie weitersprach, ein ganz kleines bißchen spitzbübisch. »Sein Archiv is’ im Keller.«
Schlagartig mußte er sich am Lenkrad festklammern, um den Kontakt zur Realität nicht völlig zu verlieren. Er fuhr schneller. Er hörte noch immer Lindas Stimme, er fluchte noch immer. Und er konnte noch immer nicht sagen, was ihn so durchdrehen ließ. Vielleicht die Gewißheit, daß es ab jetzt verdammt eng wurde. Nicht für ihn, sondern für Olli und die Typen, die der Freunde nannte. Hendrik Graf wußte, daß sein Gehirncomputer dabei war, ganz unspektakulär abzustürzen; er hatte sich seit Jahren nicht mehr als Ollis Vater gefühlt oder sich gar um jemand anderen als sich selbst Sorgen gemacht. Aber plötzlich konnte er nur noch an Olli denken, der plötzlich kein kleiner Junge mehr war, sondern ein achtzehnjähriger, volljähriger Bengel, der längst eigene Wege ging, groß und muskulös und fast zu gutaussehend. Wie war das wirklich gelaufen, mit dem toten Mädchen und dem beinahe toten Hansa-Fan? Die Hooligan-im-Blutrausch-Sache war ein Fake.
Und der Todessprung? Kleines bißchen nachgeholfen? Oliver? O nein, Sir, wir waren nur zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort und hatten außerdem auch noch unsere Kamera dabei. Ein stechender Schmerz unmittelbar hinter der Stirn ließ ihn stöhnen. Zu viele Kaffeebohnen, und noch mehr ungesunde Hamburger. Seine Gedanken rumpelten wie tausend Güterwaggons – nur schneller, viel schneller. Und während seine Kopfschmerzen immer schlimmer wurden, ein Feuerwerk aus Explosionen wurden, raste er auf dieser gottverlassenen Landstraße im Niemandsland hinter KirchTrudering mit einhundertzweiundvierzig Kilometern pro Stunde endgültig ins absolute berufliche AUS. Das Verkehrsschild tauchte auf und war schon wieder weg – nur das BLITZEN blieb. Radarfalle. Erwischt. Die Polizei, dein Freund und Helfer. »Scheiße, Scheiße!« Er konnte es nicht einmal mehr schreien. Panisch, schlagartig nüchtern und schmerzfrei, bremste er herunter. Die Beamten stoppten ihn nach zwei Kilometern. Der mit der rotweißen Kelle unter dem Arm leierte seinen Spruch herunter: »Hundertzwoundvierzig bei sechzig. Gratuliere, das ist Tagesrekord.« Es klang nicht genüßlich, eher resignierend – ein Mann, der sich damit abgefunden hatte, bis zu seiner Pensionierung bei Wind und Wetter an irgendwelchen Straßen herumzustehen und mit MichaelSchuhmacher-Imitationen über Geschwindigkeitsrekorde zu kommunizieren. »Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte«, fügte er noch hinzu. Graf kurbelte die Scheibe nach unten, er bewegte sich nur noch mühsam; er setzte zittrig an: »Hören Sie – « »Ja?«
Graf winkte ab, war innerlich nur noch ein Häuflein Asche. Kein Führerschein – kein Job mehr. Polizist war verzweifelt – sie ließen mich meinen Dienst nicht in Frauenkleidern tun, da mußte ich mich rächen! Rasender Reporter von Polizist ausgebremst – Aliens, nackte Nonnen und Mann, der früher Frau war, jubeln! Graf lächelte, obwohl ihm zum Heulen war. Schluß mit den irren Headlines, such’ dir ein neues Spielchen. Er händigte dem Beamten seine Papiere aus. Und dann dachte er eine grausige, dunkle Ewigkeit lang nur noch: Nichts geht mehr.
Leitmayr ging die Suche ruhig und systematisch an – das Wichtigste zuerst: In der Nebelstrahler-Helligkeit der einzigen Schreibtischlampe sah er sich die Rückenbeschriftungen der endlosen Reihen von Videokassetten an, taxierte das gesamte Studio-High-Tech samt Zubehör – PCs, Schneidegeräte, Recorder, Monitore. Er schnüffelte in dem Belege-Chaos auf den beiden zusammengeschobenen Tischen herum, zog Schubladen auf, kramte in Stapeln von Mahnungen, Vollstreckungsandrohungen, Widerspruchs-, Rechtfertigungs und Fristverlängerungsschreiben an Gerichte und Banken, und in handschriftlichen und akkurat maschinengeschriebenen Aufstellungen von Zahlenkolonnen. Ganz unten, neben den unvermeidlichen Reißzwecken und rostigen Heftklammern, fand er ein paar zerknitterte, bunte StrichmännchenZeichnungen, die mit OLLI signiert waren. Am unteren Rand – in krakeliger Kinderschrift: Führ meinen beßten tolen Papsi. Es gab Momente, da haßte Leitmayr seine Neugier und Besessenheit, und das hier war so ein Moment. Schwer, einen beßten tolen Papsi als Fettsack abzukanzeln. Eine Tonne Unbehagen krachte auf ihn herab: Sind wir nicht alle ein bißchen Bluthunde?
Er feuerte sich an – ärgerlich. Paß auf, paß auf – das hier ist wichtig, grab’ es aus. Dabei hatten sie noch nicht einmal einen richtigen Fall mit einem definitiven Mordopfer. Alles halb Affe, halb Fahrrad. Fast hätte er es laut ausgesprochen. Um sich nicht zu mies oder gar zu dämlich zu fühlen, rasselte er in Gedanken die Namen herunter, sie waren seine Indizienkette: Petra Nickel, Olli, Mike, Linda, Hendrik Graf, ISAR-TV, Hendrik Graf, Mike, Olli, Linda und dieser namenlose Junge aus dem Müllcontainer. Sie hatten ein berühmtes, totes Mädchen, aber noch keinen definitiven Mord. Trotzdem wußte er, daß etwas passieren würde, etwas wirklich Schlimmes, er spürte es, das hier war eine auf Touren kommende Lawine, irgendwo hinter den Kulissen… und sie beschleunigte sich kolossal. Tickticktick. Plötzlich hatte er ein eisiges Gefühl im Nacken. Zehn, zwanzig, dreißig Sekunden vertickten. Er haßte Leerlauf, also blätterte er den auf dem Schreibtisch liegenden Leitz-Ordner mit den Kontoauszügen durch. Hundertvierzigtausend Mark in den Miesen. Fünfunddreißig Sekunden. Er hörte Linda zurückkommen – immer noch aufreizend nackt und verschwitzt unter ihrem Morgenmantel, reichte sie ihm die Kaffeetasse herüber. »Mit Milch, ohne Zucker.« »Genau richtig.« sagte Franz Leitmayr, einsilbig. Da in seinem Hinterkopf die Bahnhofsuhr weitersauste, nahm er nur einen kleinen Schluck – »Wonach suchen Sie denn?« »Nach der Wahrheit.« Er ließ es ein wenig wie eine Frage ausklingen. Linda zupfte an dem weit aufklaffenden Morgenmantel herum und tat verblüfft: »Ach, in seinen Kontoauszügen?«
»Kontoauszüge«, dozierte Leitmayr, »sind immer der Schlüssel zur Wahrheit.« Jetzt schien sie aufzuwachen; mit einer schneidendscharfen Stimme konterte sie: »Ach ja? Nach dem Motto, wer blank ist, der ist zu allem fähig?« Sie ließ sich in Grafs Schreibtischsessel fallen, lachte gallebitter, schüttelte den Kopf, sah ihn weiter unverwandt an. Schlug die Beine übereinander. Ließ den Morgenmantel noch weiter wegrutschen. Sie hatte schöne Beine – sehr lang. Sehr, sehr nackt. Der Kaffee war gut, aber er schmeckte ihm plötzlich nicht mehr. Leitmayr stellte die Tasse weg. Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit – und stornierte sie schließlich ganz; er war genervt, er wurde nicht schlau aus diesem Kind-Frau-BiestChamäleon. Dann bemerkte er, daß er noch immer Ollis Kinderzeichnungen festhielt. Papsi – besser, sie sieht es nicht. Er schob alles hastig an Ort und Stelle zurück und stand auf, machte sich über die Leitz-Ordner in den tiefergelegenen Regalen hinter dem Schreibtisch her. Linda bohrte nicht nach; sie rauchte lächelnd. Als sie schließlich doch noch etwas sagte, klang es kindlich und altklug zugleich: »Es geht doch immer noch um die Bungee-Sache. Was hat denn Ollis Vater damit zu tun?« »Tja, was hat Ollis Vater damit zu tun?« Sie wußten beide, was Sache war und grinsten vor sich hin wie ein uraltes Ehepaar. Seine Deckung war einfach perfekt. Jetzt war er an der Reihe. Während sie noch taktierte und die eigenen Beine, die Hüftknochen und den Nabel bewunderte, schob er die Ordner zurück und verpaßte ihr ganz sanft, ohne sich aufzurichten, die Frage: »Ihnen ist inzwischen nicht zufällig
noch eingefallen, von wem das Video ist, das dauernd im Fernsehen läuft?« Sie kokettierte ein bißchen herum. Jetzt wieder ganz Femme fatale, ließ sie ihn ihre Schamhaare sehen. Murmelte verträumt: »Fragen über Fragen.« Er hatte ohnehin nicht erwartet, daß sie antwortete. Er schnüffelte weiter, sah Staub hochfliegen, dachte: Wie Krebszellen, Schatten. »Okay«, stieß sie plötzlich ganz ernsthaft heraus. »Ich geb’s zu. Wir drehen die ersten Sprünge immer. Das ist so ‘ne Art Kundendienst.« Immer noch in der Hocke, wandte er sich zu ihr um. »Und warum sagen Sie das erst jetzt?« »Wir waren total von der Rolle an dem Tag. Echt!« Er speicherte dies und ging nicht weiter darauf ein. Er richtete sich auf, wischte sich die Hände an den schwarzen Jeans ab und fühlte sich müde und steinalt. Das passierte ihm in letzter Zeit dauernd mit ihr. Purer Zufall, daß er es doch noch entdeckte: Hinter den Videokassetten steckte ein älteres, gerahmtes Porträtfoto von Ruth Salina. Das Glas war eingeschlagen. »Was macht die denn hier?« entfuhr es Leitmayr. »Das ist seine Ex… Ruth Salina. Ollis Mami.« »Die immer die Nachrichten moderiert?« »Mhh. Ihr gehört ja der Laden.« Sie drückte die Zigarettenkippe genüßlich auf Grafs Schreibtisch aus. »ISAR-TV gehört Ruth Salina?« Mit einem vertraulichen Zwinkern raffte sie den Morgenmantel endgültig zusammen – die Show war vorbei, er hatte seine Chance gehabt.
»Genaugenommen«, verriet sie ihm mit einem heiseren Flüstern, »gehört ISAR-TV natürlich ihrem jetzigen Ehegemahl – aber was sollen solche Haarspaltereien?« Wieder dieses Zwinkern, diesmal verschmitzt. Ihm blieb noch immer die Luft weg – und sie GENOSS es in vollen Zügen. »Sagen Sie bloß, das haben Sie nicht gewußt? Neugierig, wie Sie doch sind – « So langsam wurde er nervös. So langsam wurde er auch wieder stinksauer auf einen gewissen Ivo Batic.
Je länger er auf dieser unbequemen Sonnenliege auf der Terrasse vor der ISAR-TV-Kantine toter Bluthund spielte und den Himmel anstarrte, desto intensiver glaubte er, die Wolken würden Feuer fangen. Je angestrengter er seinen Geist völlig leerzuräumen versuchte, desto schneller produzierte sein Gehirn Visionen von Kreditsachbearbeitern, die ihn mit skelettierten Zeigefingern auf überzogene Kreditraten-Termine hinwiesen, die ihm flüsternd und tuschelnd zuredeten, daß er doch vielviel-viel mehr verdienen mußte, um aus diesem Schlamassel herauszukommen und seinen Verpflichtungen gegenüber der Bank gerecht zu werden. Und daß er diese Chance bei genügend gutem Willen doch jederzeit hatte, daß er sich nur ernsthaft anstrengen mußte, vielleicht ein paar Stündchen mehr pro Tag auf Tour bleiben mußte… ein bißchen aufmerksamer nach Leichen und dergleichen Ausschau halten mußte. Und daß es, nur nebenbei angemerkt, höchste Zeit war für die Abgabe der Jahresabschlußunterlagen und für neue Aufstellungen von zu erwartenden Einnahmen, und daß er sich melden mußte, wenn diese Einnahmen nicht oder zu spät
kamen. Und daß man dann wirklich Termine vereinbaren und überhaupt alles überdenken mußte, vor allem dieses riesige Engagement der Bank, dieses gigantische negative Eigenkapital, das die Bank für ihn von einer Innenrevision zur nächsten schleppte, und wie es denn nun mit ihm und der Bank weitergehen sollte. DRUCK. Er reagierte nach wie vor sehr schlecht auf Druck. Druck lähmte ihn, machte ihn müde, zynisch, todtraurig, aggressiv, lethargisch, ließ ihn alles unter SINNLOS verbuchen. Druck plus Verzweiflung plus Angst, ohne einen Pfennig zurückzubleiben, zum Sozialfall zu werden, obwohl er sein ganzes Leben lang immer gearbeitet hatte, immer im Streß gewesen war, knipsten das kleine, böse Überdruckventil in seinem Kopf an, das sich unbedingt einschalten mußte, bevor man durchdrehte. Und dann mußte er sich verkriechen, und dann verpuffte seine gesamte Lebensenergie vollends. Hendrik Graf undercover. Dann spürte er die jüngeren Bluthunde der Konkurrenz ganz nah hinter sich im Schneetreiben auf seiner Fährte hecheln, und wurde ganz ruhig; dann wußte er, daß sie ihn längst einkesselten, daß sie über ihn redeten, über ihn und sein Versagen, daß sie ihre lustigen Witzchen rissen und sich auskotzten vor Lachen. Und wurde immer noch ruhiger; und irgendwann war er dann wirklich tödlich ruhig und fast heiter gelöst und dachte nur noch, dachte nur noch (an bessere Zeiten, an verrückte, völlig unrealistische Winkelzüge, dank derer DAS ALLES ganz schnell mit einem einzigen, riesigen Kraftakt wieder auf die Reihe bringen konnte) – und war überhaupt nicht mehr in der Lage, dieses Gedachte in HANDELN umzusetzen oder sich auch nur zu artikulieren. Und dadurch verlor er kostbare Minuten, Stunden, Tage, die er auf gar keinen Fall verlieren durfte, denn eigentlich müßte er ja eher ein paar Stündchen mehr pro Tag auf Tour bleiben und
sehr ernsthaft und aufmerksam nach Leichen und dergleichen Ausschau halten. Ach, und dann dachte er in dieser Phase auch schlimme Dinge. Schmutziger Sex mit jungen Mädchen. Überfälle auf die Lotto-Zentrale. Meistens aber dachte er nur: Leg sie einfach alle um, und dann leg dich selber um und flieg davon – sorg für einen letzten, groooßen Aufmacher, für die MegaQuote, mit freundlichen Grüßen, für Ruth, die treulose Ruth. Unter Druck war er ein autistischer Zombie, der mit einem frohgemuten Grinsen auf dem Gesicht vollends versagte. Schlimmer Fehler – aber die Euphorie war nun einmal künstlich, und nur die Depression war echt. Die Wolken brannten noch immer nicht. Graf zwinkerte, riß sich enttäuscht los – war aus dem schwarzen Loch zurück; Selbstmitleid, Absturz, Dauerkurzschluß verglühten. Achtzehn Stunden seit dem GAU mit seinem Führerschein. Beinahe gleichzeitig fiel Ollis Schatten lang und schwer über ihn – jetzt blinzelte Graf überrascht… und auch ein wenig verlegen. Ertappt. Scheiße. »Was ist? Warum bist du denn nicht unterwegs?« Er quälte sich ein geisterhaftes Feixen ab. »Zu schönes Wetter zum Arbeiten.« »Sag halt – « Er sagte: »Heute passiert nichts, Junge. Tote Hose…« Olli setzte sich auf die Lehne, stützte das Kinn auf beide Hände, und beide Ellbogen auf die Oberschenkel, und wandte ihm einen sehr gewölbten Rücken zu. Weil alles besser war, als ihn auf die richtige Idee kommen und Mitleid heucheln zu lassen, schnauzte Graf ihn an: »Was sollen die Sauereien? Die Sache mit dem Hooligan, die Schlägerei? Das wart ihr doch, oder?« »Woher willst ‘n das –?« entgegnete Olli irritiert.
Aber Graf war in Fahrt, er ging gar nicht darauf ein, er schrie ihn an, eindringlich: »Ihr wandert alle zusammen in den Knast, wenn ihr so weitermacht.« Zeitverzögert ruckte Olli doch noch herum, zeigte Nerven, brüllte zurück: »He, ich hab’ doch auch nicht gedacht, daß Mike so ‘ne heftige Nummer – « »WARUM machst du da mit, Olli – « »Woher soll ich das wissen«, stammelte er. »Mike und Linda, das sind meine Freunde – « Graf hörte sich staubtrocken und absolut humorlos auflachen. »Freunde! Scheiß drauf, mein Junge! Scheiß auf die Freunde!« Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas. Dann meinte Graf ruhiger, aber immer noch intensiv: »Es ist dein Leben, das du dir da versaust.« Olli sah wieder weg. Stützte den Kopf erneut auf die Hände. Um nicht doch noch zu hyperventilieren und die eigene Verzweiflung und Bitterkeit zu verraten, atmete Graf gezügelt tief durch – aber er fühlte sich weiterhin unter einem nach Aas riechenden Berg von Verantwortung zerquetscht. Er verspürte ein großes, tobsüchtiges Verlangen danach, einfach aufzustehen und cool wegzugehen – verdammt, er hatte keinen Führerschein mehr, dafür aber tonnenweise Schulden und genug eigene Probleme, die nichts mit seinem Sohn zu hatten. Die Wolken waren weg. Die Terrasse war leer. Und durch die große Panoramascheibe des Restaurants, das für alle ISAR-TV-Leute nur die Kantine war, konnte er ziemlich genau auf den epochalen Flachbildschirm über der langen Designer-Theke sehen. Ruth verlas gerade professionell und schön wie eine Fata Morgana die Anreißer-Texte zu den neuesten Sensationen: Schlager-Star ließ sich liften – plötzlich singt er wie Caruso! Frau aus Ludwigshafen besiegt Cellulitis – ich badete täglich im Rhein und trank dabei auch ein paar
Schlückchen! Elfjähriger erschoß seine Lehrerin – er sammelte schon seit seinem siebten Lebensjahr Stöckelschuhe! Graf seufzte, richtete sich endlich in eine einigermaßen sitzende Stellung auf und verpaßte seinem Jungen einen verlegenen, unbeholfenen Schulterklaps. »Stehst schwer unter Streß, hm?« Er hätte ihm gern mehr Halt gegeben, in diesem Moment, auf dieser Welt, in diesem Leben – aber es ging nicht, es ging einfach nicht. »Ich bin draußen«, murmelte Olli. »Ich mach’ da nicht mehr mit.« »Versprochen? Großes Indianerehrenwort?« Er hielt ihm die Hand hin, als wolle er ihn zu einer Runde Armdrücken herausfordern. Olli erwiderte seinen Blick, nickte – sehr ernsthaft. »Großes Indianerehrenwort.« Er tippte Daumen, Zeige- und Mittelfinger gegen die Lippen, gegen die Herzgegend, und schlug ein… plötzlich lächelnd. Gott, Graf genoß es. Der Junge ist das Beste, was ich je gemacht hab’… Der Berg und der Aasgeruch – beides war ganz plötzlich weg. Graf stemmte sich aus der Sonnenliege, zerrte die Jeans so zurecht, daß sie ihm nicht mehr in den Kniekehlen schlotterte. Er legte fünf Mark neben die leere Cappuccino-Tasse, hängte sich seine Lederjacke über die Schultern, tätschelte dem Jungen noch einmal aufmunternd den Arm und stiefelte los. »Wo willst du denn jetzt hin?« rief Olli ihm alarmiert hinterher. Er umschrieb es gewandt: »Canossa.« »Papa – «, sagte Olli kehlig. Endlich, nach zwei weiteren, lahmen Schritten, schaffte er es doch noch, sich umzudrehen und seinem Sohn in die Augen zu sehen. »Sag mal, macht dir dein Job Spaß?« Graf beantwortete es ihm mit einem vielsagenden Geräusch – er machte: »Pffffft!«
»Ich bin nicht cool genug dafür«, murmelte Olli; es sah aus, als halte er das für einen genetischen Defekt. »Sagt wer?« schnappte Graf heiser zurück. »Deine coolen Freunde?« Doch er wollte die Antwort gar nicht hören. Unter wankenden Sonnenschirmen hindurch ging er davon – er hatte auf einmal das STARKE Gefühl, seine eigenen Probleme zumindest angehen zu können.
Plötzlich Lärm und Turbulenzen – Carlo Menzinger stellte eine halbleere Kaffeetasse vor ihn hin, wedelte nachlässig mit einem Stapel Blätter herum und sagte: »Also, den Fall Petra Nickel könnt’s abschließen. Eindeutig Materialfehler. Jetzt streiten sich die Versicherungen.« Leitmayr hörte es und verstand es dennoch nicht richtig – die Stirn gegen die geballten Fäuste gestützt, im Kopf jedoch WEIT weg, versuchte er sich vorzustellen, wie das damals abgelaufen sein mußte, mit dem kleinen Ivo: Der Junge wird, kaum zwölf Jahre alt, von den kroatischen Eltern zu Onkel und Tante, beide Gastarbeiter, ins gelobte Land Deutschland geschickt. Die Eltern lieben ihn, er ist ihr einziges Kind, aber sie geben ihn unter Tränen und Lachen weg, sie wollen, daß er es einmal besser hat als sie; sie reißen ihn aus Freundschaften heraus, vielleicht sogar aus einer ersten, nicht mehr ganz so kindlichen Schwärmerei für das Nachbarsmädchen. Vielleicht tun sie es unter einem Vorwand, vielleicht sagen sie: Es ist doch nur so etwas wie Ferien, aber sie wissen, daß der Junge, ihr Junge, nicht mehr zurückkommen wird, denn so haben sie es mit der Tante und dem Onkel in Deutschland abgesprochen, und der Junge spürt zumindest, daß irgend etwas verdammt nicht richtig ist – jedes Kind spürt es, wenn es von den Eltern, aus welchen Motiven auch immer, belogen wird. Ivo spürt es
und versteht es nicht. Er ist auf der Hut. Er sucht die Schuld bei sich. Er versucht keine Fehler zu machen und ein guter Junge zu sein. Nachts hört er seine Eltern diskutieren, seine Mutter schluchzen. Und eines Tages sitzt er in diesem Bus Richtung Deutschland, und eine ganze Welt, SEINE Welt, bleibt zurück, und dann, nach der Ankunft, ist er gezwungen, mit seinem Heimweh klarzukommen, und mit dem Gefühl, verraten worden zu sein. Keine alten Freunde mehr zu haben. Ganz allein zu sein. Und, natürlich, muß er Onkel und Tante lieben und ehren und ihnen bis in alle Ewigkeit dankbar sein für das, was sie für ihn tun – daß er nicht mehr zurückmuß, obwohl er zurück will, daß er hierbleiben darf, obwohl er nur wegwill. Oh, und sie lieben ihn natürlich wie einen eigenen Sohn, sie machen ihm bewußt, was sie für ihn auf sich nehmen, was er ihnen bereits zu verdanken hat und noch alles zu verdanken haben wird – sie wollen seinen Dank; vielleicht brauchen sie seinen Dank auch, weil Leuten wie ihnen in einem Land wie diesem nicht viel Achtung entgegengebracht wird. Es sind einfache Leute, die nicht viele Worte verlieren, und dem Jungen gegenüber sind es oft die falschen Worte. Es sind trotzdem gute Leute – haben keine bösen Absichten. Sie arbeiten schwer, auch seinetwegen. Der Junge versteht es nicht und ist kein guter Junge mehr, aber er tröstet sich – es ist ja nur eine Art Ferienaufenthalt. Aber er wird seine Eltern nie wiedersehen. Irgendwann redet er sich ein, er will sie nie wiedersehen. Vielleicht hat er sie nie wiedergesehen. Ivo Batic redete nicht viel über diese Zeit. Leitmayr dachte, irritiert blinzelnd, hochschreckend: Vielleicht ist er deshalb so, wie er ist. Vielleicht bedeuteten ihm deshalb ganz bestimmte Werte viel mehr als den anderen – Freundschaft, Beziehungen, Verantwortung, Hilfe.
Und vielleicht konnte er deshalb nie lange sauer auf ihn sein; deshalb, und weil er es sich eben nicht vorstellen konnte, wie das war, von den Eltern aus Liebe in ein fremdes Land weggegeben zu werden. Bayerische Jungs müssen nicht aus Liebe in fremde Länder weggegeben werden. Fehlende Erfahrungswerte. Resultat für einen erwachsenen, bayerischen Cop: ein schlechtes Gewissen als – kleiner – Preis für eine behütete Kindheit im Münchner Glockenbachviertel mit vielen Freunden, auch Freundinnen, und trotz eines etwas merkwürdigen Vaters, dem er einige Alpträume zu verdanken hatte. Carlo rauschte weiter; er riß die Tür zum angrenzenden Besprechungszimmer auf, und Batic brüllte »RAUS!« Carlo warf die Tür kommentarlos wieder zu, kam zurückgestapft, breitete schicksalsergeben die Arme aus und brummte, jetzt an ihn gewandt: »Was?!« Leitmayr sagte: »Danke, Carlo.« »Krach? Ihr beiden? Oder warum ist sonst die Tür zu?« »Er telefoniert halt, Carlo.« »Ja, mei, und du unterstützt ihn von hier herinnen telepathisch, oder wie?« Leitmayr nickte, völlig ernsthaft. »Ah, ja«, murmelte Carlo übertrieben naiv. »Danke, Carlo.« »Bittschön, Franz, bittschön.« Gestelzt. Aber er verstand den Wink mit dem Zaunpfahl noch immer nicht richtig. Leitmayr gab sich fürsorglich. »Is’ sonst noch was, Carlo?« »Nö. Eigentlich nö.« »Danke, Carlo.« Jetzt war der Tonfall inbrünstig. Todernst. Als sich das Schweigen zwischen ihnen hinzog, trat Carlo doch noch den Rückzug an – steinernen Gesichts, gesträubten
Schnauzbarts, schmollend, aber stilvoll genug. Die Kaffeetasse nahm er mit. Die Tür schloß er ganz behutsam hinter sich. Erst jetzt schlich sich ein Lächeln von ganz tief innen auf Leitmayrs Gesicht. Weil er von der Gedankenarbeit genauso die Nase voll hatte wie von der Vergangenheit, schielte er aus den Augenwinkeln heraus durch die Glasscheibe und das schiefhängende Rollo zu Batic ins Besprechungszimmer. Die Heimlichtuerei ging weiter – er telefonierte immer noch mit gedämpfter Stimme. Leitmayr ging zu ihm hinüber, ignorierte den kurzen, ertappten Seitenblick, zog sich einen Stuhl heran, setzte sich mit dem Gesicht Richtung Lehne, um notfalls etwas zu haben, woran er sich festhalten konnte… starrte den Mann aus Kroatien an, hörte ungeniert zu. »… vielleicht eine höhere Geldstrafe?« sagte Batic unbehaglich, lauschte seinerseits eine ganze Weile und versuchte es schließlich andersherum: »Mensch, der Mann ist Reporter, ohne Führerschein ist der erledigt. Gibt’s denn gar keine Chance, daß der – « Wieder Warten. Dann, mürrisch: »Schade. Ja. Trotzdem: danke.« Leitmayr ließ ihm keine Chance, Ausreden zu erfinden. »Es geht um das… um den Bluthund, stimmt’s?« Batic legte auf. Um seine Mundwinkel zuckte ein störrischer Muskel. »Er ist kein Bluthund«, antwortete Batic ruhig, aber bestimmt – ohne aufzusehen. Also rasselte Leitmayr herunter: »ISAR-TV bringt inszenierte Nachrichten, egal, ob Menschen dabei draufgehen oder nicht, Graf beliefert den Laden, sein Ex-Gattin ist Chefredakteurin, und auf seinem Konto stapeln sich hundertvierzigtausend Miese. Und DU erzählst mir, was er alles nicht nötig hat und wie sauber er ist!«
»Du behauptest also«, flüsterte Batic, »daß Graf diese Schweine-Videos gemacht und an die verkauft hat –?« »Ja – « »Okay.« Er nickte und versprach: »Ich kümmer’ mich drum.« »So. Und wie stellst dir des vor?« »Jetzt, ohne sein’ Führerschein ist der doch…« »Oh, nein«, beschwerte sich Leitmayr, weil er plötzlich wußte, worauf das hinauslief. In seinem Kopf: Wirres Zeug, bedingt durch Übermüdung – er konnte seit Tagen nicht richtig schlafen; Vorahnungen wie wuchernde Krebszellen, ein absolut surreales Gefühl von Beschleunigung – hinter den Kulissen. Das hier war nicht vorbei, es ging erst so richtig los. Menschen, Tiere, Sensationen – und Einschaltquoten. Gedanken wie AlienStimmen aus dem Äther. Dann ein glasklarer, einzelner Satz: Eine auf Touren kommende Lawine. Ivo Batic lächelte ihn sehr wehmütig an; vielleicht hatte er damals, als Zwölfjähriger, ebenso gelächelt – zum Abschied. Leitmayr dachte: Er spürt es auch. Eine auf Touren kommende Lawine – hinter den Kulissen. Die Angst, selbst im Mittelpunkt des Wirbelsturms zu stehen, erlosch wie ausgeknipst. Als Oliver begriff, WAS sein Vater gemeint hatte, WAS sich da im Sender anbahnte, hetzte er los, fuhr mit dem gläsernen Lift hoch, versuchte noch, ihn allein zu erwischen – vor dem Kniefall; doch es war längst viel zu spät. Nitroglyzerin – der Vorsprung seines alten Herrn war zu groß, die Explosion war nicht mehr zu verhindern. Aber er kannte zumindest den Ort, wo sie stattfinden würde, und so betrat er die Garderobe seiner Mutter lautlos durch das Nebenzimmer, das auch als Ankleideraum diente, und erstarrte im Dunkeln, als er ihre Stimmen hörte, bewahrte jenes vernünftige Maß an Diskretion und Stille, das seine Mutter zeitlebens von ihm gefordert hatte.
»… weshalb nimmst du dir keinen Fahrer?« »Weil ich keinen bezahlen kann!« »Was hab’ ich damit zu tun? Soll ich dich fahren?« »Ruth, ich brauch’ mehr Geld, ich brauch einfach mehr Geld.« Stille, nervöse Schritte, Geklapper – Oliver schob sich, längst schweißnaß, bis an die Tür vor, beobachtete, belauschte, wie sie sich vor dem großen Spiegel und in Anwesenheit einer unauffälligen Maskenbildnerin wie ganz normale, disziplinierte Erwachsene weh taten, ohne auch nur einmal richtig LAUT zu werden. Verachtete sich dafür, daß er nicht hineinstürmte und sie BEIDE anschrie und – »… nur gute Filme anbringen, dann verdienst du gutes Geld. – Es ziept so, entschuldigen Sie, Eva – bitte passen Sie doch auf!« »Ruth, ich bin jeden Tag achtzehn Stunden auf Achse. Achtzehn Stunden, mehr kann man nicht – « »Am Fleiß kann’s also nicht liegen – « Ihre Stimmen verwandelten sich in Wattebällchen, zerrissene Wattebällchen; er sah blutige Fetzen um sich herumkreisen – ein träger Mahlstrom. Ihm war schwindlig. Er haßte seine Mutter für ihr Gerede. Und er haßte seinen Vater, weil er diese Boshaftigkeit ohne Gegenwehr einsteckte. Aus Oliver wurde wieder der kleine Olli. Vor seinen Augen flackerte es stärker, als starre er ins Innere eines wie irr zuckenden Herzens; in seinen Ohren wurde ein elektrisches Summen und Schmoren LAUT. Es war, als schlafe er, wache er, schlafe er – und die Geräusche, Worte, Wattefetzen schwebten immer weiter um ihn herum, immer weiter. Und er konnte noch immer nicht – konnte noch immer nicht – »… nur ein leichtes Make-up, Eva, ich will – « »… also gut, weshalb gefallen euch meine Filme auf einmal nicht mehr?«
»… Hendrik, bitte, verschon’ mich mit Details. Dafür habe ich einen Nachrichtenchef – « »Ja, aber Schuster hat sich noch nie beschwert. Nicht ein einziges Mal! Der sendet in den letzten Wochen nur kaum noch was von mir, und – « » – und da soll ich ihm sagen: Rene, jetzt drücken Sie aber ein Auge zu! Meinem Ex-Gatten steht das Wasser am Hals! Sag mal, bist du noch bei Trost?« Olli preßte die Stirn gegen den Türrahmen, wollte nichts mehr hören, rammte die Faust gegen die oberen Schneidezähne, spürte Blut, biß, saugte; er sperrte die Schreie ein – warum erniedrigt er sich SO? Wie schlimm muß es um ihn stehen, wenn er – Als sein Vater diesmal sprach, klang seine Stimme ganz sanft und beinahe fröhlich – ein Mann, der endgültig mit allem seinen Frieden gemacht hat. »Du weißt ganz genau, daß ich es so nicht gemeint hab’.« Olli stieß sich weg, rannte davon, wie er vor allem davonrannte, Speichelbläschen sprudelten aus seinem Mund; er taumelte durch einen Abgrund aus Schwärze Richtung Tür, hörte hinter sich ein Handy summen, hörte die Stimme seines Vaters erstaunt »Ivo?« sagen, und wollte-wollte-wollte es nicht mehr hören, preßte sich im Laufen beide Hände auf die Ohren. Doch als er an dem großen Ankleidespiegel vorbeikam, riß er die Hände herunter und schlug zu, zertrümmerte wie rasend das Huschen und Gleißen und seinen nur verschwommen erkennbaren, im Glas eingesperrten dunklen Zwillingsbruder, und stieß, als er das Splittern und Klirren und Prasseln hörte, endlich-endlich ein erlöstes Wimmern aus.
Batic stieg mit beiden Füßen gleichzeitig auf die Bremse, doch der Daimler-Kombi wurde nicht langsamer, nur das schrille
Kreischen von Gummi auf Asphalt veränderte sich, wurde zu einem irren Winseln, dann zu einem Baßdröhnen, als halte irgend jemand die ganze Welt an wie einen KinderBrummkreisel; das langgezogene Kastenheck des Wagens brach ruckelnd aus, überholte ihn fast von links, und auf dem Beifahrersitz schrie Graf immer noch: »… rechts vorbei, Mensch, mach schon!«, und Batic ruckte das Lenkrad mit soviel Gefühl wie nur irgend möglich nach rechts. Zwei, drei, vier Zehntelsekunden lang war er davon überzeugt, den Wagen der Länge nach mitten in eine riesige, fahrbare, orangerote Turnhallenwand hineinzudonnern, aber natürlich war es keine Turnhallenwand, sondern das verdammte, UNGEHEUER GROSSE Heck eines Müllwagens, dessen Fahrer ohne Rücksicht auf Verluste rückwärts aus einer Einbahnstraße herausstieß. Seine Kollegen auf den hinteren Trittbrettern schrien, sprangen ab und stürzten fluchend in Sicherheit. Dann war der Schatten des Müllwagens DA. Mit einem Schlag, der jedem anderen Wagen die Achsen zertrümmert hätte, katapultierte sich der Kombi über die Bordsteinkante auf den Gehweg (und einen gewissen Batic samt Beifahrer Graf beinahe durchs Wagendach), PFIFF an dem Müllwagen vorbei, fuhr zwei Mülltonnen samt Inhalt völlig zu Schrott und schrammte an drei weiteren vorbei, ohne sie auch nur einen Millimeter weit zu verrücken. Plötzlich schien es entsetzlich intensiv nach brennenden Reifen und davonspritzendem Benzin und explodierender Bremsflüssigkeit zu riechen – Grafs Daimler schoß wie ein Rammsporn aus Stahl an dem amokfahrenden Müllungetüm vorbei und war bereits wieder auf der Straße. Batic hupte wütend und zeigte dem Idioten hinter sich die geballte Faust. »Laß, das kostet nur Zeit, mach, mach, da vorne links – «, brummte Graf, kaute Kaffeebohnen im Akkord und spitzte die
Ohren – das Gequake aus dem Polizeifunk verging fast im DRÖHNEN des Motors. An vier Querstraßen vorbei, immer geradeaus, an der nächsten Ampel rechts, dann wieder rechts, dann weiter geradeaus, stadtauswärts, Richtung Johanneskirchen – grüne Welle, immer noch ungewöhnlich lichter, fließender Verkehr; Kreuzungen, Unterführungen, endlose Häuserfronten. Die nächste Ampel: ROT. »Fahr durch!« kommandierte Graf – seine Stimme war nur ein Hauch. »NEIN!« schrie Batic. »Kommt nichts, los, rechts ab, wir sind gleich da – « Batic hatte längst jede Orientierung verloren, die Gebäude in dieser Gegend sahen ohnehin alle gleich aus – endlos aneinandergepappte Mietskasernen, trist, altersfleckig, schmutzig. Über Funk sprachen die Kollegen bereits von Rückzug, und Graf kommentierte es mit einem ärgerlich-verzweifelten Schnauben – gierig, auf der Jagd, Blut geleckt. Batic zog den Wagen in die Kurve, steuerte dagegen und motzte, fast brüllend: »Sag mal, müssen wir wie die Irren durch die Gegend brettern?!« »Das hier ist kein Schreibtischjob«, fauchte Graf. »Außerdem – du wolltest doch unbedingt Chauffeur spielen – « »Ja, Massa, ja – « Batic schlug genervt aufs Lenkrad und bremste scharf ab – Endstation. Zehn, zwanzig Meter vor ihnen: Polizeisperren, Stau, Smog, Gehupe, Gaffer im Auto, Gaffer zu Fuß – lauter kleine, heftig gestikulierende Spezialisten. Der Föhn drückte schwarzblaue Qualmwolken bis auf die Wagendächer herunter, versuchte, das Heulen von Feuerwehrsirenen und Martinshörnern zu ersticken. Batic stellte den Daimler halb auf den Gehweg.
Graf war schon draußen und unterwegs, überquerte die Straße, riß die klobige Videokamera hoch und schoß im Laufen eine erste Totale; er drängelte sich bis zu den überforderten Beamten an der Absperrung durch, hielt ihnen mit der Linken den Presseausweis hin und wartete ihr Okay gar nicht erst ab. Es war heiß – schwül. Vielleicht würde es bald regnen. Batic hielt den Dienstausweis bereit, nickte den Kollegen grüßend zu, fädelte sich ebenfalls durch das Gedränge und den Radau. Er blieb mit einem Gefühl von rasant wachsendem Abscheu und Fassungslosigkeit über den Zustand der Menschen dieser Welt dicht hinter Graf. Jenseits der drängelnden, debattierenden, ungeduldig schimpfenden Massen: zwei große Löschzüge der Münchner Feuerwehr – die Drehleitern waren noch ausgefahren, aber das ganz große Feuerwerk war so gut wie vorbei; Feuerwehrleute und Polizisten standen in kleinen Gruppen beieinander, husteten sich die Seele aus dem Leib, rauchten Zigaretten, redeten – je nach Kondition. Sprungtücher wurden wieder eingepackt, Schläuche aufgerollt. Dächer, Häuserfassaden, das Kopfsteinpflaster der Straße – alles tropfte und glänzte vor Nässe. Auch hier: steinalte Mietshäuser, fünf, sechs Stockwerke hoch und dicht an dicht, Endstationen für Alte und Sozialhilfeempfänger. Zerborstene Fenster im zweiten Stock – aus dem ganz links qualmte es noch immer. Graf hatte sein Ziel längst im Fadenkreuz. Jemand brüllte: »… die Leute mit dem Sarg durch!« Im Treppenhaus – Zwielicht, Scherben, intensiver Rauchgestank, bürgerkriegsartige Zustände. Feuerwehrleute, aufgeschreckte, verstörte Nachbarn, Bereitschaftspolizei, alle wimmelten scheinbar gleichzeitig nach oben und unten… nur, um plötzlich irgendwo stehenzubleiben. Noch mehr STAU.
Batic wühlte sich durch den Strom hoch, überholte, zeigte den Kollegen seinen Ausweis, schaufelte den Weg frei, wartete auf Graf. Der motzte hinter seiner Kamera hervor: »Ivo, du bist nicht durchsichtig!« Weiter unten kamen die Sargträger – ein Tuscheln und Raunen eilte ihnen voraus; es erinnerte Batic an das Rascheln von Schlangen in altem Laub. Graf ließ sie vorbei – zwei Männer in grauen Anzügen, fast wie Zwillinge, schüttere Haare, vorstehende Knopfaugen – und kommandierte sie vor dem gaffenden Publikum herum: »Tschuldigung, hey, Jungs mit dem Sarg! Könnt ihr mir ‘n kleinen Gefallen tun? Noch mal paar Schritte zurück, fünf, sechs Stufen runter und so tun, als ob er schon drin liegt?« »Des kost’ fei was – « »Klar, Fuffi für euch…« Batic beherrschte sich, schaltete endgültig alle Gefühle AB. Er konnte das, seit – Hör auf laß es, hör auf! Die Zwillinge mit dem Sarg stapften gehorsam wieder nach unten, brachten ihre kleine Fernsehkarriere ins Laufen und grinsten mit gelblichen Zähnen starr in die Kamera. »Das war noch nicht so gut, Jungs… Noch mal, bitte. Nicht lachen – und nicht vergessen, da liegen siebzig Kilo drin, klar? Und immer dran denken, bloß nicht lachen, oder die Mutti in der Ex-DDR grüßen, klar? Ganz feierlich… ja… langsam! Ivo, Herrgott, aus dem Bild!« Sie schafften es nach dem dritten Probelauf. Irgendwer aus dem Publikum kommentierte es: »… geschmacklos… starkes Stück…« Graf biß um sich: »Ob jetzt oder nachher, in zehn Minuten liegt wer drin, also, was soll’s – ?« Batic verzog sich nach oben, ließ sich von einem der diensthabenden Beamten knapp informieren. »Dreizimmer
Altbauwohnung, der Brand hat sich zum Glück net ausbreiten können. Rentnerehepaar. Der Mann ist tot, erstickt, die Frau – « Mit einem hilflosen Schulterzucken ließ er es offen. Das Knistern und Knacken und Fressen gnadenloser Flammen in den Ohren, drückte Batic die nur angelehnte, verkohlte lür auf und trat in den kurzen, engen Flur hinein, sah in die Zimmer links und rechts, orientierte sich. Es war, als laufe er gegen eine Wand aus kaltem Rauch, Ruß, Löschwasser und -schaum. Abgesehen von der Küche ganz am Ende des Flurs war die Wohnung ein Trümmerfeld, völlig verwüstet. In der Küche – Stimmen und Helligkeit. Eine Notärztin, die er nicht kannte, redete einer alten Frau tröstend zu. Die alte Frau wiederholte monoton einen bizarren Rosenkranz: »Mein Bazi, mein Bazi, mein Bazi – « Unwillkürlich atmete Batic noch flacher. Mit einer plötzlichen Traurigkeit, die selbst wie ein Schwelbrand war, dachte er: Es ist nicht richtig, jetzt hier zu sein, nicht für Typen wie – Er zuckte zusammen, als Graf direkt hinter ihm hereinpolterte und loslegte – Schwenk über verkohlte Möbel, angesengte Vorhänge, den explodierten Fernseher, das verbogene Metallgestell einer altmodischen Stehlampe… und den Leichnam des alten Mannes, gleich links neben der Tür, auf den brandgeschwärzten Dielen. Graf drehte sich in dem ausgebrannten Wohnzimmer langsam um sich selbst und ließ die Kamera schließlich sinken. Sein fleischiges Gesicht war totenweiß. Anspannung, Konzentration, Gier, die im Treppenhaus noch DA gewesen waren, versickerten; jetzt wirkte er nur noch abwesend trotzig, jede einzelne Pore strahlte telepathische RechtfertigungsBotschaften aus: Ich weiß, was du jetzt denkst, aber es ist nur ein Job, und irgendwer muß ihn schließlich machen, die Leute haben ein Recht darauf, informiert zu werden. – Über
Zimmerbrände? Über tote alte Männer und weinende alte Frauen in schäbigen Mietwohnungen? – Klar, ist doch normal. Beweise gefällig? Lawinenunglück? Aufmacher: achtzig Tote. Auffahrunfall auf der A1 – ganz wichtig: dreiundzwanzigeinhalb Tote. Gasexplosion? Zwölf Tote, darunter acht Kinder. Erdbeben in der Türkei – achthundert Tote. Es ist wichtig, die Toten zu melden, die Toten-Chronik weiterzuschreiben, immer weiterzuschreiben. Warum, weiß niemand so genau. Batic verkniff sich jeden Kommentar. Ihm war schlecht. Der Rauch brannte in seinen Lungen; bereits halb abgewandt, sah er Graf merkwürdig müde einen Vogelkäfig aufheben und den schwarzen, ebenfalls verkohlten Brocken darin anstarren. Ausdruckslos. – Wirklich ausdruckslos? Ich werd’ nicht mehr schlau aus ihm. Ich kenn’ den nicht mehr. – Batic atmete aus, ließ die Luft ganz gemächlich aus sich herausströmen. Kannte er ihn wirklich nicht mehr? Graf stellte den Vogelkäfig sehr behutsam weg. Batic schrie ihn noch immer nicht an. Die beiden Träger, die sich möglicherweise schon als Gaststars von zwei Dutzend Mittags-Talkshows sahen, waren da und stellten den Sarg vor der Wohnung ab; sie blickten sich ein wenig verunsichert um, weil Graf sie keines Blickes mehr würdigte, weil keiner der Polizisten etwas sprach, weil überhaupt alle Geräusche in weite Ferne gerückt schienen. Nur in der Küche wimmerte die alte Frau immer noch: »Mein Bazi, mein Bazi – « »Sind Sie ein Verwandter?« erkundigte sich die Notärztin knapp, als Batic eintrat. »Nein. Kripo.« Die Ärztin war jung und nicht abgebrüht. Sie richtete sich langsam auf, strich der Frau über die weißen Haare; einzelne Strähnen standen jedoch auch weiterhin wie Drahtgewirr von
der rosigen Kopfhaut ab. Aber in ihren Augen veränderte sich etwas. »Ich muß ja kochen«, murmelte die alte Dame plötzlich. »Der Rudi kommt ja gleich heim, der ißt doch allweil erst abends.« Sie fuhr hektisch auf, öffnete den Küchenschrank, nahm Teller heraus, stellte sie auf den Tisch und hantierte am – abgeklemmten – Gasherd herum. Batic schämte sich, weil er sich nicht einmal nach dem Namen des Ehepaares erkundigt hatte. Die Notärztin kam zu ihm; sie sah aus, als sei sie entschlossen, den Dienst zu quittieren. »Ich hab’s ihr gesagt, aber sie kapiert’s nicht, sie steht unter Schock, sie weiß nicht, daß ihr Mann tot ist. Sagen Sie’s ihr noch mal – ich kann das nicht – « Ihm fiel keine passende Entgegnung ein – also schwieg er und sah ihr zu, wie sie sich hinausstahl. Die alte Frau saß bereits wieder am Tisch und starrte mit trüben Augen die leeren Teller an – eine Million Lichtjahre weit weg. »Mein Bazi ist tot.« Jetzt flüsterte sie nur noch. Mit einem seltsamen Déjà-vu-Empfinden ging Batic neben ihr in die Hocke – er war kein guter Seelentröster. Hatte es nie richtig gelernt, hatte es nie selbst erfahren; er hatte immer allein mit allem fertigwerden müssen. »Wer ist denn der Bazi?« Jetzt lächelte sie – früher mußte sie einmal sehr hübsch gewesen sein, keß, fröhlich. Sie antwortete ihm so vertrauensvoll, daß es weh tat: »Mein Vogerl. Fünf Jahr’ war der jetzt bei uns.« Er legte ihr ganz sanft, aber auch hilflos, die Hand auf den Arm – ihre Haut war eiskalt. Graf brüllte im Flur: »Ivo, wir müssen!«
Batics Kopf ruckte ärgerlich hoch; aber er wußte gleichzeitig, Graf hatte die alte Frau nicht gefilmt – warum auch immer, such’s dir aus. Dann gestand er sich ein, daß er es ihr auch nicht sagen konnte – hören Sie, ihr Mann ist tot, Sie müssen jetzt ganz stark sein, bitte… Die Worte krochen in seinem austrocknenden Schlund herum, und sie hörten sich miserabel an. Er schaffte es nicht. Konnte es ihr nicht beibringen. Wahrscheinlich gelang das überhaupt niemandem mehr, nicht in diesem Leben. »Ivo!« Raus hier – plötzlich sehnte er sich nach einer eiskalten Dusche, nach Regen, viel Regen. Und nach Sturm. Jeder Menge Sturm. Er war schon an der Tür, er wußte, daß sie es gar nicht bemerkte, aber es erschien ihm dennoch wie Verrat. So sehr er sich bemühte, es professionell anzugehen – er konnte ihren knochigen, knotigen, EISKALTEN Arm noch immer spüren. Plötzlich ärgerte er sich, daß er sie nicht einfach an sich gezogen und gedrückt hatte, einmal nur. Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte er wieder an seine Mutter – an seine richtige Mutter, nicht an seine Tante und Pflegemutter. Das größte Unglück ist es, daß so viel im Menschen stirbt, während er noch lebt. Einen pelzigen Geschmack auf der Zunge, gelobte Batic, auf der Hut zu sein. Draußen war es stockdunkel geworden. Und es regnete in Strömen. Das Jüngste Gericht kam über die große Stadt.
Der Verband war bereits wieder blutdurchtränkt. Oliver verkroch sich in der Villa seiner Mutter, zündete Dutzende von Teelichtern und Kerzen an, riß die triefenden
Fetzen von seinen Händen, küßte die Schnittwunden an den Fingerknöcheln und dachte: Beichte, gehe in dich, tu Buße… ändere etwas, oder mach kaputt, was dich kaputt macht. Er bereute nicht, was er im Sender, in der Garderobe seiner Mutter, getan hatte, ganz im Gegenteil – es war eine Erlösung gewesen, und sie hatten ihn nicht erwischt. Zunehmend unruhig strich er durch das große, stille Haus und lauschte dem silbrigen Prasseln des Regens; als ihn der Hauch ihres Parfüms würgen ließ, floh er in seine Wohnung im Erdgeschoß, ging ins Bad, immer noch entschlossen, kein Licht anzumachen, wartete, bis sich seine Augen an das Huschen und Hasten und Züngeln der Schemen gewöhnt hatten – und starrte seinen dunklen Zwilling im Spiegelglas an, seine blutverschmierten Lippen, den Schmerz in seinen Augen. Um den Kontakt wiederherzustellen, murmelte er ihm zu: »… hab’ es versprochen…«, doch der andere antwortete ihm nicht. Es gab keine Antworten. Es gab nur Linda und Mike und ihn – gegen die ganze Welt. Er schloß die Augen, fühlte, daß er es schaffen konnte – und wußte, daß er gleich losschluchzen würde: Olli-Baby in Aktion, krank und halb wahnsinnig von einer Überdosis Begreifen – das Gesicht seines Spiegelbild-Bruders nur noch eine Grimasse, als wolle es ausdrücken: So einfach geht das aber nicht, weil – Plötzlich beschämte es Oliver bis zur Hysterie, daß er nicht einmal mehr wußte, wie viele Tage genau vergangen waren, seit dieses Mädchen auf der Bungee-Plattform ganz nach vorn getreten war, ganz an den Rand, und sich einfach vornüber hatte fallen lassen, einfach gesprungen… und gestorben war. Zwei Tage? Drei, vier? Eine ganze Woche? Ein Monat? In seinem Kopf war alles wie aus Brei… nein, wie aus Flüssigbeton. Plötzlich vermißte er es so sehr, daß ihn schon
lange keiner seiner alten Freunde mehr anrief; daß sie ihn ohnehin nie oft angerufen hatten. Auf einmal erkannte er atemlos, daß er, selbst wenn er dies gewollt hätte (aber er wollte es nicht, o nein, besser, niemand erlebte ihn in dieser uncoolen Stimmung), niemanden hatte, den er genau jetzt einfach anrufen konnte – der ihm zuhören, DA sein würde. Das war das Schlimmste von allem. Sein soziales Umfeld bestand aus Anrufbeantwortern – bitte sprechen Sie nach dem Piepton, aber wir werden leider nicht zurückrufen, wir sind mit uns selbst beschäftigt. Und plötzlich weinte er tatsächlich, aber nur kurz und lautlos und ganz ohne Tränen. Gefangen – Obsession. Er liebte Linda, er verachtete sie und begehrte sie, er wollte sie retten, er wollte, daß sie ihn rettete – er wollte – Und dann rief er sie endlich an. Hab’s ihm versprochen. Dann bat er sie endlich, zu kommen, ich muß mit dir reden, es ist dringend, bitte. Sie kicherte nur und sagte ja, aber das Taxi bezahlst du. Während er auf sie wartete, träumte er von ihr, und noch während er von ihr träumte, war er glücklich, daß er ihr alles sagen konnte und sich nicht mehr verstellen mußte. Und nahm Abschied von ihr. Mach kaputt, was dich kaputt macht.
…du kannst weglaufen, aber du kannst dich nicht verstecken, keiner kann das. Er fuhr viel zu schnell. Plötzlich war der Regen überall – auch unter ihnen. Gischtende Stöße gegen das Bodenblech ließen den Daimler fast abheben. »Auf das Weglaufen«, brummte Graf und hielt ihm beiläufig, ohne herüberzublicken, ein rotes Päckchen hin.
Batic wischte sich übers Gesicht, hämmerte sich ein, sich zu konzentrieren. Möglich, daß er vorhin laut gedacht hatte und daß Graf dies als eine Art Waffenstillstand auffaßte. »Was is’ denn das?« »Noch mehr Kaffeebohnen, greif zu. Wir haben noch mindestens sieben Stunden vor uns.« Er winkte ab – vergiß es. Minus hundert Grad – vor zehn Minuten war die Heizung ausgefallen, und jetzt rauschten sie in diesem eiskalten Einsatzwagen, diesem Rostkübel, durch Regenfontänen und durch die dunkle Nacht in die Stadt zurück. Das Schweigen zwischen ihnen wurde bereits wieder tiefer und frostiger. Batic schaltete herunter und fuhr langsamer, obwohl er sich nach hellen Straßenbeleuchtungen und Schaufenstern sehnte. Das Sirren und Kratzen der Scheibenwischer ging ihm auf die Nerven. Aus dem brodelnden Dunkel zwischen den waagrecht von vorn heranwirbelnden Tropfen blinzelte ihm das Gespenstergesicht der alten Frau zu, und ihr lippenloser Mund sagte: »Bazi, mein Bazi!« Weil alles besser war, als dies ertragen zu müssen, nahm Batic die wie vor einer halben Ewigkeit versickerte Unterhaltung mit Hendrik Graf wieder auf: »Unser Törn nach Korsika – wann haben wir den eigentlich gemacht? Sechsundachtzig, siebenundachtzig?« »Sechsundachtzig«, brummte Graf unwirsch, als ärgere er sich, daß er diese Erinnerung noch immer nicht losgeworden war. »Zu Ruths Dreißigstem.« »Ja, klar. Sie wollte raus aus dem ganzen Trubel.« »Sie hatte«, stellte Graf es richtig, »eine Scheißlaune. Lieber ‘n Skorpion in der Hose, als ‘n böses Weib an Bord.« Mit einem unfrohen Lachen hakte Batic nach: »Hast du’s noch?« »Das böse Weib? Nee. Müßtest du eigentlich wissen.«
»Das Boot«, betonte er. Graf kaute Kaffeebohnen, feixte und rieb den Daumen gegen Zeige- und Mittelfinger – Money-Money: »Keine Lust mehr.« »War ‘ne schöne Zeit… Trotzdem«, murmelte Batic versonnen. »Findest du nicht auch?« Diesmal reagierte Graf – ruckte nach vorn, riß den Schädel zu ihm herum, starrte, explodierte: »Also, wenn du hier irgendwas loswerden willst, dann spuck’s aus – « Die Zeitmaschine in Batics Kopf kam knirschend zum Stillstand und zerbarst mindestens so eindrucksvoll wie Graf. Keine Chance mehr, die guten, alten Zeiten heraufzubeschwören. Er kam sich trotz besten Willens wie in einen Vierfrontenkrieg verwickelt vor; er wechselte das Thema, rettete sich in puren Zynismus – übergangslos. »Ich fand’s geil…«, sagte er inbrünstig. »Megageil.« »Was denn?« »Bazi, mein Bazi«, zitierte er, astrein hochdeutsch und ignorierte das gefährliche Blitzen in Grafs Augen. »Dieser totale Blackout der Alten, der leere Sarg, der Opa schon im Himmel… Das bringt doch richtig Quote, und für dich ‘n Tausender extra, oder zwei oder drei…« Treffer – Graf klammerte sich an der Videokassette fest, die er gerade noch ungelenk beschriftet hatte; er sagte, ganz ruhig: »Halt an!« Batic dachte nicht daran. Graf schrie los: »HALT AN!« Er hätte ihm gern eine geknallt – Ellbogenstoß, Schluß, aus, Ruhe, aber er blockierte dies, ermahnte sich zu Ruhe-RuheRuhe, sperrte den cholerischen Ivo Batic tief unten ein; dann sah er das Omen, die Erlösung – zuckende weiße Lichter, Glühwürmchen im Sturm. Batic blinkte, fuhr rechts ran.
Der Bretterverschlag neben dem Schild mit der Aufschrift Bushaltestelle war menschenleer, vier Neonröhren blinkten hektisch um die Wette, doch es sah ganz danach aus, als würde mindestens eine in den nächsten zwanzig Sekunden den Geist aufgeben. Graf stapfte bereits im Regen um den Daimler herum, riß die Fahrertür auf. »Raus! Besten Dank für deine Hilfe, aber ich brauch’ dich nicht!« Seine Stimme wurde undeutlich, vermischte sich mit der Schwärze draußen; er war längst naß bis auf die Knochen, es sah aus, als schwemme der Regen sein Gesicht davon. »Mann, ich will doch bloß – « Kläglicher Versuch – Batic unterbrach sich selbst. »Die Schlüssel!« brüllte Graf. »… will doch bloß kapieren, wie dein Job funktioniert.« brachte er es diesmal, ruhig und eindringlich, zu Ende. Grafs Gebrüll ging in gallebitteres Lachen über; das Lachen wurde zu einem schleimigen Gurgeln und Husten; er stieß sich aus seiner gebückten Haltung hoch, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Wagen, reckte das Gesicht in den Regen, tönte weiter: »Jaaa, klar, und du wolltest kein bißchen über Ruth reden, nur über meinen Job, über die schlimmenschlimmen Dinge, die ich in diesem Job tu’, und über das viele Geld, hab’s kapiert, Ivo, und du bist der einzige gute Mensch auf Gottes schöner, weiter Welt, hm? Um dich herum nur Haie und Geier, und wenn – « »Tut mir leid – Hendrik, ich – « Kein Anschluß unter dieser Nummer – »Ja, tut dir leid, und wie, ist ja auch alles so einfach. Du kannst die letzte SAU sein und ein schönes schlechtes Gewissen vor dir hertragen… Seht nur her, Leute, wie mir all das zu Herzen geht, aber ich bin halt auch bloß ein armes, kleines Sünderlein – und schmeiß lieber den ersten Stein auf
andere. Scheiße, Batic, warum bist du hier? Weil du so gern Auto fährst? Oder weil du den alten Fettsack Graf so liebhast? Soll ich dir nachträglich Absolution erteilen –? Okay, du hast sie. Amen.« Es klang, als schreie und weine er gleichzeitig – als heule er den Mond hinter dem Regen der Nacht an. Batic spürte, wie etwas in ihm implodierte – er ballte die Fäuste, daß die Fingerknöchel knackten. »Warum reden wir nicht wie erwachsene Männer miteinander?« »Pfffft! Über WAS denn, Ivo? Ruth? Daß sie ein Kracher war im Bett, daß sie’s ab und zu aus Spaß gemacht hat, meistens aber nur für ihre Scheißkarriere? Wach auf, Alter. Ruth ist schon lange weg. Es gibt nichts mehr, worüber wir beide reden müßten. Nicht einmal mehr unsere Freundschaft.« Batic kniff die Augen fest zu; er fand sich für eine schreckliche, nicht meßbare Zeitspanne in einem Pandämonium wieder, in dem es nur rote Lichtblitze gab und das rasende Hämmern seines eigenen Herzens und das Wissen um Gründe – Gründe, die jeder von ihnen hatte, um genau so zu sein, wie er war. Verzweiflung, Geldsorgen, schlechtes Gewissen, Helfersyndrom… und eine tote junge Frau und einen schwerverletzten Jungen, aber keinen richtigen Fall, keinen von der üblichen Sorte: Mordopfer – Ermittlungen. Viele, viele schwarze Gründe. »Steig endlich wieder ein.« »Ja!« rief Graf wie irrsinnig und mit warnendem Unterton, »und dann schleimst du mich noch ein bißchen mehr voll, wie leid dir alles tut und wie schön doch alles war, vor allem der kleine Fick mit meiner Frau.« Und plötzlich hatte er genügend Dampf abgelassen. Mit einem Mal winkte er nur noch müde ab. »Scheiße. Ruf dir ‘n Taxi und fahr heim – « Er streckte ihm fordernd die Hand hin, Handfläche nach oben. »Schlüssel!«
Kopfschüttelnd und stur beschied Batic ihm: »Ich laß’ dich nicht ans Steuer.« »Ich muß tanken!« »Okay, tanken wir.« Schon fuhr er an, und Graf wetzte fluchend um den Daimler herum, hämmerte aufs Wagendach ein, schwang sich tropfnaß ins Innere und schmollte etwa drei Minuten lang. Ivo Batic schmollte auch. Quitt. Aber das Leben ging weiter: Zweieinhalb Minuten später erreichten sie die Tankstelle. Der Wächter über das gute Dutzend Zapfsäulen im Niemandsland döste in einem großen Glaskasten vor seiner Registrierkasse; über dem Eingang prangte eine rosarote Neonleuchtschrift: 24-STUNDEN-NON STOP-TANK-SHOP. Hendrik Graf zupfte die Schlüssel aus dem Zündschloß, wuchtete sich schnaufend ins Freie, stopfte den Stutzen in den Tank, lauschte andächtig (oder wehmütig), wie das SuperBenzin hineingluckerte und beruhigte sich. Batic stieß die Fahrertür auf, sah den Regentropfen beim Fallen zu und dachte: Hat doch alles keinen Sinn. Aber die regensatte, würzige Nachtluft kühlte auch ihn ab. Er stieg ebenfalls aus, nahm einen Wischer aus einem der bereitgestellten Kübel und begann die Heckscheibe zu polieren. Den Kopf immer noch gesenkt, bekam er Grafs Laienpantomime mit dem Tankstutzen gut genug mit – wie er ihn demonstrativ abschüttelte und in die Zapfsäule zurückhängte, ein Mann und sein großes, bestes Stück. Bevor er Richtung SHOP losmarschierte, reckte er sich und grinste mit gefletschten Zähnen über das Wagendach. »Außerdem«, rief er im Davongehen über die Schulter zurück, daß es unter dem großen Tankstellendach nur so hallte, »warst du nicht der einzige.«
»Was?« »Das Leben ist voller Überraschungen.« »Von was redest du denn?« Der Zapfsäulenwächter war aufmerksam geworden und stierte wachsam, eine Hand wie ein Dach über die Augen haltend, zu ihnen heraus. Zwei Meter vor dem hellerleuchteten Eingang des SHOPs hielt Graf an und drehte sich beinahe übermütig, mit in Hüfthöhe ausgebreiteten Armen, herum. »Von der Liebe red’ ich, mein Freund, von der Liebe. Oder was man so nennt. Und von Salina, dem kleinen, fetten GeldSchweinchen. Und daß du eben nicht der einzige warst, der während meiner großartigen Ehe mit ihr geschlafen hat. Den Horst Salina, den gab’s vor dir, während dir und natürlich nach dir.« Graf zeigte mit dem Zeigefinger auf ihn, tat, als schieße er. »Sie hat mir immer alles brühheiß erzählt. Von allen, mit denen sie’s hatte. Du bist ganz gut weggekommen. Respekt, Respekt.« Damit verschwand er in dem SHOP. Batic verdaute die Nachricht – oh, Ruth. Auf der Stirn spürte er ein paar Schweißtropfen. Wenn er tief genug durchatmete, fühlte er wieder kalten Rauch in seinen Lungen, hörte er wieder die alte Stimme »Bazi, mein Bazilein…« sagen. Alle und alles krank. Er starrte auf den Wischer in seiner Hand hinunter, als sehe er ihn zum ersten Mal, ließ ihn angewidert in den Kübel zurückfallen und verzog sich wieder hinter das Lenkrad; Graf geisterte als Schattenriß durch den Laden, raffte Chipstüten und Schokoriegel an sich, wechselte mit dem Mann an der Kasse gestikulierend ein paar Worte und bezahlte. Als er sich auf seinen Sitz fallen ließ, sagte Batic: »Und warum hat sie das alles erzählt?« Graf stieß ein mißtönendes, abfälliges Lachen aus, zog die Tür zu, murmelte in die Kälte hinein. »Bestimmt nicht aus Wahrheitsliebe…«
Batic bekam einen Schokoriegel angeboten – diesmal nahm er an, nickte dankbar, auffordernd – red weiter. Sekundenlang sah es nicht danach aus, als habe Graf die Kraft dazu; er kaute Schokolade, fuhr sich nur mit beiden Händen durch die fettigen Haare und atmete laut, mit offenem Mund, als wolle er gleich fragen: Wen interessiert das noch, Ivo? Aber dann redete er es sich doch noch von der Seele – erlöste sie beide: »Salina war damals schon eine große Nummer. Viel Geld, Aktien, Immobilien und, natürlich, der Sender. Und Ruth war schon immer ein sehr ehrgeiziges Mädchen. Ich hab’ sie Salina vorgestellt, mehr brauchte sie gar nicht. Ich hab’ eine ganze Zeitlang nicht in die Scheidung eingewilligt, ich könnt’ mir einfach nicht vorstellen, daß die das mit dem kleinen, fetten Schweinchen länger als zwei Wochen aushält. Horst Salina. Dachte, das gibt sich wieder. Warum braucht sie den, wenn sie zu Hause mich kleines, fettes Schweinchen sitzen hat? Ich hab’ geklammert wie wahnsinnig, und da hat sie dahin getreten, wo’s wirklich weh tut. Damit ich loslasse, verstehst du? Hab’ ich ja dann auch – haha.« Die letzten Sätze hatte er nur noch wie den Wetterbericht von vorgestern heruntergeleiert – wen interessiert das noch, Ivo? Mich. Mich interessiert das, Hendrik. Ein paar Sekunden lang saßen sie einfach nur in dem eiskalten Wagen und schwiegen vor sich hin. »Hmm – Stückchen fahren?« schlug Graf mit einem versöhnlichen Brummen vor und warf ihm die Schlüssel herüber. »Nimm’s nicht so schwer, Alter.«
»Du willst uns also wirklich hängenlassen?« sagte Linda und starrte ihn nur mit diesem vampirhaften, entrückten, gefährlichen Lächeln an. Für einen eisigen Moment war er fest davon überzeugt, daß sie sich mit der Wucht einer Stahlfeder auf ihn stürzen, ihre langen, spitz zugefeilten Fingernägel in sein Gesicht, seine Augen, seinen Mund krallen und »Du bist so gemein, du machst alle meine schönen Filmpläne kaputt!« flüstern… und ihn dann zerfleischen und zu Tory Arnos’ Song Professional Widow auffressen würde. Aber sie zerrte nur mit einem sanften Rucken die Flügeltüren zur Terrasse auseinander, atmete Regen und Nachtluft ein und beachtete ihn nicht mehr. Oliver sagte lahm: »Ihr habt doch gut kassiert.« Er rutschte ganz ans Kopfende seines Betts hoch, schnappte sich die Videokamera, fummelte daran herum – montierte einen aufgeladenen Akku, überprüfte die AutomatikFunktionen. Dachte: Thema beendet. Es war so einfach. Du kannst mir alles sagen. Und sie war immer noch da. Er redete sich ein, die Wärme ihrer Haut bis hier herüber spüren zu können; er hätte sich gern selbst einen Tritt verpaßt, um sich in Bewegung zu setzen, um – … sie endlich-endlich schweißnaß-keuchend nach MEHR flehend bei sich zu haben… ihr endlich-endlich-ENDLICH zuraunen zu können: »Ich bin besser als er, ich bin besser als er!« Aber Linda kam ihm zuvor, wie immer. Sie schwebte durch den Raum, legte tatsächlich Tory Arnos auf, ließ sie In the Springtime of his Voodoo säuseln und begann ihn zu verhexen. Obwohl sie nur für sich selbst tanzte. Die Flammen der Kerzen und Teelichter züngelten wie unter einem jähen Eishauch höher… veränderten ihre Farbe: schwefelgelb, violett… Plötzlich verging alles wie unter
Schmierstrichen in BLUTROT. Lindas Seidenbluse war fast durchsichtig in diesem Licht. So kleine Brüste. Ihre Brustwarzen… Oliver dachte: Weichzeichner; er hob die Kamera, nur versuchsweise, nur, um später einmal eine kleine Erinnerung an wirklich gute Zeiten zu haben. Er hatte es ihr gesagt, und sie war immer noch da. Wie Petra Nickel. Du wirst seh’n, es ist toll. Aber während Petra nur noch durch seine Alpträume geisterte und unverständliches Zeug tuschelte, war Linda hier, um ihn zu retten. Tanzte. Ließ ihn dabei zusehen. Mag es, wenn man mich anfaßt Oh, und er wollte sie anfassen. Sie legte sich ganz beiläufig eine Linie Koks und sniffte sie weg, wischte sich die Nasenspitze mit dem Handrücken ab. Lächelnd – nicht die Spur verlegen; unartiges Mädchen, ich bin die böse Micky Maus. Nur wir beide, Olli, signalisierte ihr Blick, aber er war sich nicht sicher, noch nicht. Möglich, daß er das, was ihn kaputtmachte, doch noch kaputtmachen mußte. Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Vielleicht ist es ein Abschied, weil du uns hängenläßt, ausgerechnet jetzt hängenläßt, las er in ihren Augen, und dann: Vielleicht ist es aber auch ein Anfang – Gott, sie wußte es, sie wußte ALLES, sie war die Inkarnation der großen Sphinx, sie spielte mit ihm, sie ließ ihn Dinge sehen und hören, die – Aber in Wirklichkeit tanzte sie nur selbstvergessen und entrückt, fieberhaft nach einer LÖSUNG suchend und kommt jetzt ganz nah zu ihm, ist schon auf dem Bett, steht mit gespreizten Beinen über ihm und sieht mit diesem Lächeln auf ihn herab, das ihm bedrohlich vorkommt, und hungrig, und traurig. Aber dieses Mal weicht er ihrem Blick nicht mehr aus, dieses Mal lächelt er ebenfalls – lächelt erwachsen zu ihr hoch und denkt keine Sekunde lang an Mike, sondern nur an sich und das, was er schon so lange von ihr will, und daß er ihr wirklich alles sagen kann und sich vor ihr nicht mehr verstellen
muß. Und natürlich filmt er sie immer noch, ihre Beine, ihre Schenkel, er sieht, wie sie ihr Höschen unter dem engen Rock hervor- und herunterzieht, er schwenkt die Kamera höher, sieht ihr Gesicht am Ende eines Tunnels und begreift, daß längst er es ist, der unaufhaltsam emporgerissen wird und dann in die Tiefe stürzt und in Treibsand landet und – Linda flüstert: »Ich bin soweit, nur wir beide – wenn du dich traust«, und er ist trotz aller Unsicherheit und Scheu auch soweit. Es TUT SO WEH, daß er hyperventiliert und an seinem eigenen Speichel zu ersticken droht und minutenlang nur schluckt und schluckt, und er zoomt ihr Gesicht heran, ihr Lächeln, die Augen mit den riesengroßen Pupillen und dem glasigen Blick hinter den zerstrubbelt ins Gesicht hängenden Haarsträhnen. Und dann ist sie über ihm, auf ihm, hockt auf seinem Bauch und schlägt die Kamera spielerisch beiseite. Es hat keine Bedeutung, er sieht sie weiterhin wie durch Kameralinsen, er spürt ihre Hitze durch das T-Shirt. Ihre Schenkel, ihre Knie, sind wie Zangen an seine Seiten gepreßt. Er hat sich auf die Zunge gebissen, jetzt füllt ein heißer Strom von Blut seinen Mund, und er muß an seine zerschlagenen, zerschnittenen Finger denken, an die Küsse, die er selbst darauf verteilt hat; vielleicht wird er verrückt, er weiß es nicht, manchmal klingen seine Gedanken wie metallisches Klicken, als würde der Schlagbolzen eines Revolvers auf fehlerhafte Patronen krachen, immer und immer wieder. Laß es geschehen. Sei zärtlich wie noch niemals jemand zärtlich zu ihr war – sei besser als ER – laß sie laß sie laß sie nicht mehr weg. Durch züngelnde Goldfarben und grauviolette Regenbogen tastet er hoch, streichelt ihren Hinterkopf, ihren Nacken, ihren Rücken – will nur zärtlich sein, hat so viel Liebe zu geben. Irgendwann hält er sie fest auf sich herabgezogen und kostet es aus, ihre Brüste, ihr Kindergewicht, ihren Atem zu spüren.
Sie riecht so gut. Ohne es zu verstehen, muß er an Kastanien denken und an hohe Laubhaufen und Kinder, die übermütig darin herumtollen. Sie klammern sich beide aneinander fest. Linda kichert ganz leise, guttural, sie versteht ihn, er weiß, daß sie ihn versteht. Dann beginnt sie sich an ihm zu reiben; und sie küßt ihn dabei auf den Mund und er hat plötzlich Angst… … nicht vor dem, was nun kommt, oder vor dem, was danach sein wird; er hat vielmehr Angst davor, daß sie es sich doch noch anders überlegt, daß sie sich losreißt und irgend etwas Spöttisches sagt… daß sie alles zerstört. Aber sie reißt sich nicht los. Sie sagt gar nichts. Sie atmet ganz langsam aus, es klingt fast wie ein kleiner Stoßseufzer nach einer unglaublichen, aber bestandenen Mutprobe. So friedlich und jung und verletzlich hat er sie niemals kennengelernt. Jetzt verachtet er sie nicht mehr, hält sie auch nicht mehr für obszön; jetzt liebt er sie nur noch. Er weiß, sie ist, wie er selbst, so glücklich darüber, sich nicht mehr verstellen zu müssen. Sie ziehen sich langsam aus, blicken sich dabei in die Augen. Er sieht das hektische, kräftige Schlagen ihres Herzens. Er hört das Gleiten und Zucken ihrer Muskeln unter der Haut. Sie hat eine kleine Blinddarmnarbe. Linda lenkt ihn ab, streichelt über sein Gesicht, am Nagel ihres linken Zeigefingers ist der Nagellack abgesprungen. Sie bemerkt seinen Blick, lächelt, atmet schneller. Er glaubt davonzuschwirren. Er denkt: Es passiert passiert passiert wirklich. Er fühlt sich erwachsen und mit dem Schicksal ausgesöhnt und dankbar. So gut. Linda kauert immer noch auf ihm; irgendwann hilft sie ihm, die Jeans herunterzuzerren, kichert dabei leise neckend: »Olli, du bist wie ein bockender Gaul!« Sie kitzelt ihn, beißt ihn in den Hals und kostet den
Blutgeschmack – Vampir. Ihre Hexenaugen sind so nahe, sie verändern ihre Farbe und lodern ihm zu und dann… … wurde alles ganz heiß und ganz schnell und wirr, und sie war dort unten und doch auch wieder nicht dort unten, sondern beherrschend und ungeduldig und stark über ihm. Und er faßte sie an, und überall, wo er an ihr schluchzte und saugte, spürte er ihren rasenden Herzschlag, und es war einfach perfekt, und sie wurden schneller, waren heftiger und gieriger bei der Sache, und sie lächelte die ganze Zeit geheimnisvoll und undurchschaubar, während sie alles, alles bestimmte und es mit halbgeschlossenen Augen genoß – Sie versuchte noch immer keine Tricks, o nein, brauchst dich nicht mehr verstellen – sie akzeptierte seinen Entschluß, auszusteigen, aufzuhören, sie schlief mit ihm, weil – weil… Schlief ohne Bedingungen mit ihm, weil sie es genauso wollte wie er, rettete ihn, weil sie selbst gerettet werden wollte, küßte die tote, zerschmetterte Petra Nickel aus seinen und ihren Alpträumen davon. Bei diesen letzten Gedanken begann er zu zittern, er spürte, daß seine Haut eiskalt, dann glühendheiß wurde – irgendwo klickte ein Schalter, es war, als falle eine Klimaanlage aus, bei drei Millionen Grad im Schatten. Und in genau diesem Moment kreischte Linda los – nicht vor Angst oder gar Entsetzen. Nein: Sie lachte ihr wahnwitziges Straßenmädchen-Lachen und krümmte sich über ihn, riß ihn mit sich in ein kullerndes Gewirbel aus Armen und Beinen – Und noch während sie beide schreiend und lachend vom Bett stürzten, sah Oliver endlich, was Linda gesehen und zu ihrer verrückten kleinen, tumultartigen Flucht veranlaßt hatte: Ein schattenhaftes Wesen mit engelhaft schönem Marmorantlitz stand in der weit geöffneten Terrassentür, führte eine Zigarette zum Mund, ließ eine Glutspitze leuchten, sah ihnen voller Liebe und Verständnis… und ebenfalls lachend zu. Mike.
Die nächste Zigarette, der nächste Morgen – und noch knapp dreißig Kilometer Autobahn bis München. Gerade eben hatte er aus seinem hohen Cockpit dem blassen Mond beim Untergehen zugesehen, jetzt wirbelten bereits bleiche Wolken und seltsam kalte Sonnenfetzen Richtung Westen (und dem Dom zu Unserer Lieben Frau) über die Welt, alles wirkte wie frisch gewaschen. Johannes Füssl lächelte, schaltete das Abblendlicht aus und rauchte genüßlich. Die Tachonadel zitterte konstant über der Zahl FÜNFZIG, der Magirus-Deutz-Lkw lag samt Anhänger butterweich auf Kurs – alles im grünen Bereich. Füssl mochte diese Stimmung, er mochte das rasselnde, klickende, scheppernde, dieselstinkende Lärmen des Motors – manchmal bildete er sich ein, es seien mindestens eine Million PS, die er da bei der Arbeit belauschen konnte. Manchmal plauderte er auch mit ihnen. Manchmal verriet er ihnen sogar ein paar intime Geheimnisse, und das ging dann etwa so: Gestern hob’ ich wieder bei Marie in Unterach am Attersee übernachtet, ich meine, sie ist nicht mehr die Jüngste, und sie hat einen dicken Po und außerdem einen zwölfjährigen, pickligen Jungen, der nicht danach aussieht, als würde er jemals freiwillig Papa zu mir sagen, aber sie ist richtig nett, ich mag ihre Stupsnase und ihr pausbäckiges Lachen und daß sie sich um jedes noch so verwanzte herrenlose Tier kümmert, als würde sie dafür bezahlt werden, ich mag’s auch, daß sie im Bett nicht bloß so daliegt und auf den Weltuntergang wartet, aber am meisten mag ich, daß wir miteinander reden und stillsein können, einfach so, daß sie wenig Fragen und schon gar keine Bedingungen stellt. Da er dennoch, seit er sie kannte, nie etwas getan hatte, was sie enttäuschen könnte, nahm er an, daß er sie wirklich liebte. Irgendwann würde er nicht mehr bloß mit ihr schlafen, sondern es ihr sagen, ganz feierlich. Er war dreiundfünfzig Jahre alt
und hatte keine Illusionen und Träume mehr, aber ein bißchen Verrücktheit konnte nicht schaden. Und er war trotz Marie immer noch gern und ohne schlechtes Gewissen allein in dem alten Magirus-Ungetüm unterwegs – und transportierte alles, bis auf Waffen, Plutonium und – bedauernswerte! – illegale Einwanderer, von Punkt A nach B und umgekehrt. Er rieb sich den Nacken – alles völlig verkrampft und steif. Heute abend würde er gegen schlimme Kopfschmerzen anzukämpfen haben. Die Wolken trieben davon, vor ihm floß der Verkehr langsamer und dichter. Auf einer Autobahnbrücke stand – wie gestern vergessen – ein einzelner Müllmann in seiner orangeroten Kluft und spähte herab. Der Mann hantierte am Brückengeländer herum – nur kurz, vielleicht eine Sekunde. Jetzt hob er ein Handy an den Mund. Füssl murmelte: »Um die Zeit, und hier draußen –?« Helligkeit fiel wie Scheinwerferlicht auf ein Etwas, das genau in Höhe seines Gesichts schwebte – und auf ihn zuschoß. Die Windschutzscheibe explodierte. Er sah es, aber er wollte es nicht begreifen. Eine Milliarde blitzender Glassplitter schwirrte wie Hornissen um ihn herum, zerfetzte seine Haut, prasselte in seinen zu einem lautlosen Schrei weit aufgerissenen Mund. Das Etwas zertrümmerte seinen rechten Wangenknochen, krachte gegen die Rückwand der Fahrerkabine und zerschmetterte im Zurückschwingen seine rechte Schulter. Die halbgerauchte Zigarette flog in einem hohen Bogen davon. Er erkannte, daß er von urwelthaften Gewalten irgendwie emporgedroschen worden war und jetzt trotz Sicherheitsgurt über dem Fahrersitz schwebte – und außerdem in einer ersten Schockreaktion das Lenkrad herumgerissen hatte. Nicht gut – schlimmer Fehler – er dachte an den träge fließenden Verkehr
vor sich. Er begriff auch, mit einer unsäglichen Traurigkeit, daß er Marie vermutlich niemals mehr feierlich gestehen konnte, wie sehr er sie in den letzten Jahren lieben gelernt hatte. Bremsen, Mann, du solltest – Der Magirus-Deutz bockte schlingernd, die PS kreischten Füssl fürchterliche Wahrheiten und Konsequenzen zu. Der Anhänger überholte ihn bereits mit einem lächerlich leisen, fast beiläufigen Rumpeln, die Plane flatterte davon – ein Ungeheuer, das sich aus dem Staub machte, solange es noch ging. Direkt vor ihm, unter ihm, stand der Verkehr. Er roch Benzin. Er roch Feuer. Aber er hörte es erst jetzt KRACHEN – Stahl, auf Blech, auf Glas. Schwere Dinge (Autos, es sind die anderen Autos, die Autos vor mir – zu kurzer Bremsweg) wurden beiseite geschoben, zertrümmert, aus dem Weg geschmettert. Ein Schwall sengender Hitze brauste durch Füssl hindurch. Er dachte stammelnd: O Marie, o du lieber Gott! und falls er noch einen letzten Beweis brauchte, daß er sie liebte, so hatte er ihn in diesem Moment erhalten – die ganze Welt kippte und überschlug sich und kugelte um ihn herum und in alle Richtungen davon. Die Fahrerkabine löste sich wie unter dem Wüten unsichtbarer Klauen in bizarre Fetzen auf. Die Innenbeleuchtung ging an und erlosch und ging wieder an. Die Bruchstücke der Kabine verwandelten sich in schwarze Vögel und flatterten davon, vermutlich der Plane hinterher. Und die Welt kippte und überschlug sich immer weiter. Die Glut der fallenden Zigarette beschrieb einen weiten Kometenschweif. Dann erlosch alles.
»Was ist denn –?« Graf bedeutete ihm mit einer herrischen Geste, den Mund zu halten, er drehte den Funk lauter, lauschte, packte Pommes und Pepsi-Becher aufs Wagendach hinaus – stellte unter Beweis, daß er auch bei Leerlauf nie richtig abschaltete; jähe Anspannung, Besessenheit, fast Wahnsinn, trieben ihm die Augäpfel aus den Höhlen. Dieses Mal schockierte es Batic nicht mehr; er wußte Bescheid, er riß den Zündschlüssel herum. Graf schrie ungeduldig: »Die fordern grad einen Hubschrauber an, los –!« »Edelweiß für Copper 17 – « Nur ein Flüstern im Äther. Batic trat das Gaspedal ins Bodenblech. Pommes und PepsiBecher wirbelten nach hinten weg. Graf ließ das Fenster hochsurren, tippte eine einprogrammierte Nummer, schaltete auf Lautsprecher. »Verkehrsleitstelle, Einsatzzentrale Erding – im Moment haben wir auf der… Rückstau bis… Empfehlen Umleitung über B 71.« Die Störgeräusche wurden absolut ungenießbar – Rauschen, Krachen, Maschinengewehrknattern. »Die nächste Ausfahrt raus!« Graf zerrte sich die Straßenkarte über den Schoß und begann zu telefonieren. Eine Frauenstimme meldete sich: »Autobahnmeisterei – « »Ja, Graf hier. Sag mal, habt ihr was über den Unfall vor Aschheim?« »Massenkarambolage nach Lkw-Unfall, ein Toter, drei Schwerverletzte – bis jetzt.« »Zufahrt noch möglich?« »Nicht mehr lang, Graf. Die machen Totalsperrung für Bergungsarbeiten. Sieht schlimm aus.« Graf strahlte: »Merci!« Er unterbrach die Verbindung, schoß einen fiebrigen Halt-mich-bloß-nicht-auf-ich-hab-Blut-geleckt
Blick zu Batic hin, herrschte ihn an: »Ab über die Dörfer!« Atemlos, hochkonzentriert, hatte er ihre Reiseroute bereits zusammengestellt, rasselte die Stationen herunter – den kürzesten Weg ins Grauen. Batic fuhr schneller; die Autobahn ruckte hinter ihnen weg. Die Landstraßen waren noch leer. Zeitraffer. Alles beschleunigte sich, wurde hell, gläsern, irreal. Graf stierte auf einen Punkt am Horizont; er hockte wie abgeschaltet auf dem Beifahrersitz, die raschelnde Straßenkarte scheinbar vergessen vor sich, aber dieser Eindruck täuschte wohl. Plötzlich hätte Batic einiges darum gegeben, Grafs Gedanken lesen zu können… aber er hatte genug mit den Horror-Szenarien in seinem eigenen Kopf zu tun. Sirenen, Notarzt, Feuerwehr, eine hundert Meter lange Trümmerspur, zehn, zwanzig, dreißig ausgeweidete Wracks… und tote, bluttriefende Körper. Eine sich aufheizende Atmosphäre aus Benzingestank, Tränen, Blut, Urin, Schweiß, Knistern und seltsam fernen, hektischen Kommandos – Ausnahmezustand. Bürgerkrieg. Hundertfach widerhallende Echos von sich verformendem Blech – Schrottpressenechos. Das absolute Entsetzen schnappte erst jetzt ZU wie ein Fangeisen. Unter Schock herumirrende Frauen und Kinder und Männer. Und, zuerst ganz leise, dann immer LAUTER – das Schreien und Wimmern und Weinen der Verletzten und Sterbenden. Gute Bilder für Graf, sehr gutes Material. Da Batic wußte, daß er überreagierte, knüppelte er die Vision aus dem Kopf. Dachte: Frag ihn frag ihn, wie er das Tag für Tag für Tag aushält? Doch statt dessen preßte er die Lippen nur härter aufeinander, fühlte sich schneeweiß ausgeblutet, atmete mit aller Kraft durch die Nase aus. Aber es war trotzdem wie ein Erwachen in wimmelnder, ekelhaft lebendiger Dunkelheit. Sie sprachen kein Wort miteinander, es war besser so. Draußen schimmerte der blaue Himmel wie frisch gewachst. Zitronengelbe
Rapsfelder wischten vorbei, langgezogene Gehöfte, Silos. Alles so friedlich. Das herrliche Bilderbuch-PostkartenBayern. Grafs Handy summte. »Graf hier!« »ISAR-TV – Hendrik, haben Sie von dem Lkw-Unfall bei Aschheim gehört – ?« »Ja, sind schon auf dem Weg – « Die Stimme des Redakteurs klang samtweich zufrieden: »Wär’ gut, wenn wir’s in die 9-Uhr-Nachrichten kriegen könnten.« Graf sah auf die Uhr. »Müßte klappen.« »Primaaa. Bis dann.« Und Willkommen zurück im Schoß der großen, schönen Gemeinde der ISAR-TV-Macher. Batic stieg auf die Bremse – der gelbe Richtungsweiser huschte rechts vorbei: SCHWABEN 8 Km. Darüber: Anzinger Straße. Er hielt sich links. Ließ den Daimler in einer Wolke aus Schotter hinüberschleudern, hörte Sekundenticken, gab wieder STOFF. Aus den Augenwinkeln: Grafs zufriedenes, glückliches Gesicht. Aber ringsum verdunkelte sich alles. Jetzt hörte man bereits die Sirenen. Es war, als wolle sein Gehirn durch die Schädeldecke platzen und allein abhauen. Graf stürzte hinaus, hastete die Böschung zur Autobahn hinunter, tauchte in die Apokalypse ein. Diesmal folgte Batic ihm nicht. Er ging ganz langsam zu der Autobahnbrücke hinüber, lehnte sich an das Geländer, sah hinunter, übersah eisern, was er längst in seinem gräßlichen, zeitlupenhaften Gehirnfilm gesehen hatte, sperrte alles aus, hörte auch die Sirenen und die Schreie nicht mehr, beobachtete nur Graf, Hendrik Graf, inmitten all dieser… Objekte, inmitten all dieser immer
langsamer werdenden Bewegungen – den Mann, den Leitmayr Fettsack nannte und Bluthund, den Mann, den er in besseren Zeiten zu kennen geglaubt hatte, den er Freund genannt hatte… und vor dem er sich in diesem Moment nur ekelte… dem er sich immer noch verpflichtet fühlte. Weit unten, im Abgrund, hielt Graf wie geohrfeigt inne, drehte sich halb um… sah wissend zu ihm herauf. Die Verletzten und Sterbenden um ihn herum kreischten und schluchzten und flehten um Hilfe; die Feuerwehrleute brüllten Kommandos, schnitten, vor Anstrengung, Schock, Verzweiflung keuchend, immer noch mehr blutüberströmte Körper aus zerdrückten Blechknäueln; und das Sirenengeheul verwandelte sich in einen allgegenwärtigen Klagelaut und ließ die Welt selbst bis in ihre Grundfesten hinab vibrieren. Geile Bilder. Blutopfer für den goldenen Einschaltquoten-Altar.
Schuster katapultierte sich mit einem heftigen RUCK aus dem Ledersessel hoch, zappte den Lkw weg, schaltete den Fernseher aus – eine halbe Sekunde, bevor es richtig KNALLTE und BUNT wurde. »Welcher Anfänger hat das denn aufgenommen, du?« Mike Weitzels Kopf zuckte vor; seine Lippen wurden ganz starr: »Warum?« »Scheißschlechte Kamera, mein Junge – « Demütigung, Delirium tremens ohne einen Tropfen Alkohol; die grelle Panik, bereits wieder aus dem großen Spiel draußen zu sein, das ganz große Geld nicht zu machen, ließ ihn durchdrehen; Gedanken wie Schmetterlinge – O nein, o nein, o nein! Plötzlich nahm er Schuster und sich selbst nur noch wie phantomhaft herumhampelnde Marionetten in einem luftleeren Spiegelkabinett wahr – aber er mußte eine Antwort geben,
schnell, und ganz cool, und so schnauzte er aggressiv zurück: »Schauen Sie sich doch erst mal ALLES an, Mann. Ist doch alles gestochen scharf – das totale Chaos – « Schuster stand noch an Ort und Stelle, ließ die Videokassette aus dem Recorder schnappen, spielte mit ihr herum – und flatterte davon und in die Sicherheit hinter seinem GROSSEN Schreibtisch zurück. Weitzels Augen begannen zu tränen – er war überfordert. Plötzlich wünschte er sich eine ganze Wagenladung von Lindas Koks herbei. Unglaublicherweise übertönte Schusters gönnerhafte Stimme das Dröhnen und Rauschen in seinem Schädel: »Üb erst mal zu Hause, Junge.« »Das ist doch eine Scheißausrede – « »Und wenn, es ist meine Scheißausrede, und ich bin hier das Alpha-Tier und der Boß in Personalunion. Na, klappert da was, wenn du den Kopf bewegst?« Schusters Mund wurde in Zeitlupe größer, formte ein häßliches, verzerrtes Lachen, wie ein mittelalterlicher Wasserspeier. Weitzel versuchte sich zu konzentrieren; aber das Reißen und Zerren der unsichtbaren Marionetten-Drähte an seinem Kopf, seinen Armen und Händen, wurde heftiger und ungeduldiger. Seine Seele schrie und krallte wie rasend um sich, aber er ließ es nicht nach draußen, noch nicht; Visionen von eingeschlagenen Schädeln und kichernden Mündern brachen wie große Puzzleteile aus der Luft und auf ihn herunter. Immer noch krampfhaft um ein eiskaltes Auftreten bemüht, zappelte er doch längst hilflos vor dem Schreibtisch herum. »Wenn Sie nichts mehr von uns wollen, müssen Sie’s nur sagen«, stieß er nur noch mühsam beherrscht heraus. Er wußte im gleichen Moment – verloren, ausgespielt, damit beeindruckst du DEN nicht; seine Stimme war der große Verräter, der Tonfall bettelte in einem weinerlichen Sterntalerchen-Flehen: O bitte bitte bitte –
Schuster grinste breiter. Genoß das Spielchen. Genoß selbst den HASS. Marionetten-Zappelphantome in einem luftleeren Spiegelkabinett. Schusters Wasserspeier-Maul plapperte dröhnende Worte: »Mike, ist dir eigentlich klar, was passiert, wenn wir das Material senden?« Grins ihn an, zeig ihm deine Überlegenheit. Sein Gehirn mutierte mit einem einzigen lauten KRACHEN; eine altmodische Adler-Schreibmaschine ratterte los, Bleibuchstabentypen hämmerten Antworten direkt auf die Rückseiten seiner Augen – er brauchte den TEXT nur noch abzulesen: »Was denn?« Herausfordernd, keß – dann verharmlosend: »Wir haben ‘n Tip gekriegt. Wir sind da hingefahren. Wir waren die ersten – « »Ihr habt einen Tip gekriegt!« – Schuster verpaßte ihm die Antwort so abfällig höhnisch, daß er fast wie unter einem Schlag zurückgetaumelt wäre. Schusters Körper löste sich in flirrende Moleküle auf – und Mike wappnete sich: Gleich gleich ist er endgültig unsichtbar, und dann würde er nie wieder für ihn zu sprechen sein. Doch zuvor legte der Boß noch die Regeln fest: »Ich sag’ dir was, Mikey-Baby. Ihr geht jetzt erst mal eine ganze Weile auf Tauchstation – « »Aber das ist wirklich geiles Material – « Mike zerbiß ein wimmerndes Stöhnen zwischen den Backenzähnen, begehrte ein letztes Mal auf: »… ich hab’ sogar das Gesicht von dem Fahrer ganz GROSS herangeholt, eine halbe Sekunde, bevor – « Schuster fegte dies weg, vernichtete ihn mit purer Autorität. »Entspannt euch, laßt Gras über die Sache wachsen. Dann reden wir weiter. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Mike hieb mit der flachen Hand auf den Tisch – arroganter Scheißer! Sie starrten sich an wie Todfeinde. Schuster lächelte immer noch, aber in seinen Augen trieben Glassplitter an die Oberfläche. Unmöglich, diesem Starren standzuhalten. Das Surren des Ventilators auf dem Schreibtisch wurde lauter. Mike spürte, daß er abgelenkt zusammenzuckte und gleich darauf am ganzen Leib zitterte. Der Ventilator riß das letzte bißchen Verstand aus dem blutroten Dunst in seinem Schädel, saugte es auf, zerquirlte es in einen mörderischen Bildersturm. Er dachte: ALLES UMSONST. Linda und Olli, Ollis Kopfschütteln – ich bin draußen, ich mach nicht mehr mit, Linda und er selbst – Müllmänner mit Videokameras, Linda auf der Brücke, mit ihrem Unschuldslammlächeln, mit dem an eine Nylonschnur gebundenen Pflasterstein, ihre Stimme aus dem Handy: Jetzt, Mike, es geht los, halt drauf, und dann nur noch der große Radau, das große Sterben. Alles umsonst. Schuster wartete, bis das Begreifen richtig in Mike zündete, dann warf er ihn endgültig hinaus. 17.03 Uhr – Leitmayr folgte dem mürrischen TÜV-Mann quer durch die zugige Halle und holte ihn schließlich ein; Seite an Seite umrundeten sie den zerfledderten Trümmerhaufen, der einmal ein Magirus-Deutz-Lkw samt Anhänger gewesen war. »Au, Mann«, murmelte Leitmayr. Der TÜV-Angestellte zuckte mit den Schultern – es konnte alles mögliche bedeuten: Alltag, Routine, die Idioten, die das da draußen mit der Formel 1 verwechseln, sterben, aber nicht aussterben. Mit dem rasend schnell unerträglich werdenden Gefühl, lange genug auf irgendwelche Offenbarungen gewartet zu haben, berührte der Kommissar ihn ungeduldig am Arm und ermunterte ihn: »Und? Jetzt machen Sie’s halt net so spannend.« Es wirkte.
Der Mann dozierte im Weitergehen los, als habe er nie etwas anderes getan: »Einen technischen Defekt haben wir keinen gefunden. Aber dafür das hier – in dem, was von der Fahrerkabine noch übrig war.« Er schritt jetzt schneller aus, erreichte die langgezogene Werkbank und tippte vielsagend einen kopfgroßen Pflasterstein an. Alarmiert genug hakte Leitmayr nach: »Wär’s theoretisch möglich, daß den ein Fahrzeug vor ihm verloren oder hochgeschleudert hat?« »Einen Stein von der Größe? Bestimmt nicht.« »Sondern?« Drei Sekunden lang sah er sich in der Goldrandbrille des TÜV-Mannes verzerrt widergespiegelt, dann kam die Offenbarung doch noch: »Das war kein Zufall, das war ein Mensch mit einem verdammt kranken Spieltrieb.«
Noch mehr Überstunden für einen Fall, der sich nur ganz langsam zu einem richtigen Fall entwickelte. Mit Blaulicht, jedoch ohne Sirene, raste er im Tiefflug ins Präsidium zurück – alles war zugeparkt, obwohl es bereits dunkel wurde. Leitmayr fluchte, stellte den BMW in einer Seitengasse ab, rannte über die Straße und den Block entlang, aktualisierte seine Gedankenliste: Petra Nickel – tot, nicht ermordet, aber der Unfall wenigstens exklusiv für ISAR-TV; der Hansa-Fan Helge Lange – halbtot geschlagen, im Koma, aber das alles wenigstens vor laufender Kamera… und exklusiv für ISAR-TV wir informieren Sie täglich weiter über das schwere Schicksal dieses jungen Menschen… Neuzugänge: Ein toter Fiat-Fahrer, drei Schwerverletzte, Tendenz – steigend. Unter den Opfern, aber nicht vernehmungsfähig –
der Fahrer des Lkws, Johannes Füssl, dreiundfünfzig, Raucher, Nichttrinker, zuverlässig, umsichtig, korrekt – kein Raser, wie der Fahrtenschreiber bewies. Im Aufzug fragte sich Leitmayr, was als nächstes kam: Boeing 747 von Luftpiraten entführt – zufällig stürzte die Unglücksmaschine genau auf Atomkraftwerk… mit ISAR-TV sind Sie live dabei! Er betete, daß Ivo noch da war – und wußte, sie würden sich doch nur wieder anbrüllen. Er betete um Entspannung, um eine Chance, abschalten oder aber diese Sache (Lawine, es ist eine –) mit einem SCHLAG stoppen zu können. Er war stinksauer und wußte erst beim zweiten Anlauf zu sagen, auf wen: ISAR-TV Ruth Salina, Rene Schuster… und die Affen mit der Videokamera und dem kranken Spieltrieb. Er warf die Tür hinter sich ins Schloß; im Besprechungszimmer nebenan brannte eine einzelne Schreibtischlampe, Batic arbeitete Aktenberge auf; das kaputt vor der Scheibe hängende Rollo filterte viel zuviel Helligkeit aus – aber momentan war ihm das nur recht. Leitmayr rannte in Gedanken immer noch. Beschleunigung. Er wußte plötzlich: Das hier wird bös’ enden – und weil Hilflosigkeit demütigte, warf er sich, in steigendem Maße wütend, in seinen Schreibtischsessel, schnappte sich die Fernbedienung, schaltete Carlos tragbaren Fernseher ein und kreiselte im Halblicht des Büros immer weiter um seine eigene Achse. Batic blieb nebenan und reagierte noch immer nicht.
Leitmayr tippte den Fernseher LAUTER:
»… schweren Unfall in der Nähe von Aschheim war der gesamte Verkehr im Nordosten des Großraums München gestört. Verursacht wurde die Massenkarambolage von einem Lkw, der ins Schleudern geriet und sich überschlug – ein Mensch ist noch am Unfallort seinen schweren Verletzungen erlegen, zahlreiche Schwerverletzte wurden – «
ISAR-TV live. Natürlich.
»Ivo, komm mal!«
Batic starrte die Fernsehbilder an – neunzig Sekunden
Trümmer, Notärzte, Feuerwehr, Sirenen und verzweifelte Helfer, aber kein spritzendes Blut. Keine Sensationen. »Da, kaum sitzt du bei Graf auf ‘m Schoß, schon bringt ISAR-TV nur noch seriöse Beiträge!« schimpfte Leitmayr. Batic motzte auf kroatisch zurück und verzog sich wieder ins Licht hinüber. Dafür kam Carlo, wie immer im falschen Moment, dazu – und fragte mit dieser Unschuldsmiene, die einen wahnsinnig machen konnte: »Was hat’er denn jetzt scho’ wieder, der Ivo?« Abwiegelnd, aber immer noch sauer genug – und demonstrativ Richtung Besprechungszimmer, antwortete Leitmayr: »Ach, Probleme mit seinem neuen Job als Chauffeur hat’er. Was gibt’s denn, Carlo?« »Neuigkeiten, Franz!« »Und, Carlo?« Sie starrten sich zähnefletschend, grinsend an – Carlo zählte die interessanten Punkte schließlich doch noch an den Fingern ab – kurz bevor er vor lauter Vorfreude platzte: »Also, erstens: Der Fahrer von dem Lkw is’ noch nicht vernehmungsfähig. Die Ärzte ham’ den in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt…« Er dehnte es genüßlich, ließ die Zigarettenspitze zwischen den Lippen vielsagend wippen. Dann, mit durchtriebener Miene: »… ein Zustand, der in unserer Abteilung ja hinlänglich bekannt sein dürfte. Zweitens: Wegen diesem Zeugnisverweigerungsrecht. Also, des besteht tatsächlich, und zwar – « Er las es, plötzlich ganz ernsthaft, von einem Schmierzettelchen ab: »… zum Schutz der Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit – « Batic verabschiedete sich im Vorbeigehen: »Bin weg, versuch’ mit meinem Job als Chauffeur klarzukommen – «
AAAH! Die Tür wurde von draußen aufgerissen, und ein Maria Hellwig-Double stürmte herein – perfekt, fesch in Dirndl und Lodenmantel. »Bin ich da richtig, also ich hab’ da eine Mahnung ‘kriegt und – « Batic drückte sich an ihr vorbei. Leitmayr zählte von fünf bis eins rückwärts und unterbrach: »Da müssen’s ins Betrugsdezernat, das hier ist die Mordkommission.« Carlo bugsierte sie sanft, aber bestimmt, Richtung Tür. Maria Hellwig rümpfte die Nase und wedelte Zigarettenrauch von sich weg. Carlo schloß die Tür hinter ihr. Leitmayr blieb beim Thema: »… also gibt’s tatsächlich einen Schutz für diese Schuster-Typen…« Er schoß ihm einen dezent auffordernden Blick zu. »Richtig, Franz.« Er las es noch einmal ab, eindringlich: »Den Schutz der Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit.« Im Brustton des überlegenen Wissenden. Leitmayrs Nerven flatterten aggressiver. »Und, Carlo –?« »Und, Franz, jetzt kommt’s!« sagte er, noch zufriedener. »Nicht geschützt ist aber des Material, des recherchierte Material des Journalisten. Verstehst?« »Noch nicht ganz, Carlo – « »Des hab’ ich mir fast denkt, Franz. Also… theoretisch muß der Fernsehmensch dir wirklich nix sagen – « Maria Hellwig war zurück und stürmte das Büro ein zweites Mal: »Die haben mir aber g’sagt, daß ich – « Mit hämmerndem Kopf stand Leitmayr auf und schob sie höchstpersönlich zum Ausgang. Im Flur unterhielt sich Batic noch mit einem Kollegen. »Da – da draußen«, sagte Leitmayr, »des is’ unser Spezialist für Ihren Fall: Batic heißt der.
Lassen’s sich nicht abwimmeln. Manchmal wirkt der am Anfang ein bißchen spröd’ – « Diesmal knallte er die Tür zu, schloß ab, lehnte sich dagegen, faßte Carlos Informationen zusammen: »Theoretisch muß mir der Schuster also nix sagen – « »… aber praktisch kannst du’s selber rausfinden – mittels Beschlagnahmung von Material.« Carlo schob seinen Hintern auf die Tischplatte, zupfte an seinem Hippie-Pferdeschwanz herum und reckte sich. »Und des wär’ dann rechtens, ich mein’ – diese Beschlagnahmung?« Carlo nickte, zuzelte hektischer an seiner Zigarette. »Schon, aber der Staatsanwalt meint, er würd’s nur im äußersten Notfall machen.« Draußen zeterte die Hellwig auf Batic ein. »Wieso«, sagte Leitmayr, ganz auf die Fakten konzentriert, »wenn’s doch okay ist?« Carlo tat verschwörerisch: »Weil natürlich die Medien in so an Fall sofort mit einem Mordsg’zeter den Rechtsstaat in Frage stellen – Einschränkung der Pressefreiheit und so.« Vor der Tür beruhigte Batic die aufgebrachte Blondine – die Polizei, dein verständnisvoller Freund und Helfer. Die Frau giftete: »Also i bleib’ jetzt da sitzen, bis – « »Des heißt, Carlo«, übersetzte Leitmayr nach kurzem Überlegen und immer noch ernst, »wir verbrennen uns die Finger, wenn wir bei ISAR-TV mit einer Razzia ankommen – « »Aber nur…« Notwehr – gerade noch rechtzeitig schaffte er es, ihm zuvorzukommen: »Aber nur, wann nix dabei rauskommt, richtig, Carlo?«
»Richtig, Franz.« Carlo Menzinger fletschte wieder die Zähne und strahlte; selbst sein Schnauzbart strahlte mit. »Ich bin stolz auf dich, Franz.« TREFFER. Leitmayr nickte, plötzlich sehr ruhig, sehr zufrieden; er schmatzte ein ganz dickes Bussi auf die Handfläche und pappte es mit einem freundschaftlichen Klaps auf Carlos Denkerstirn; war in Gedanken unterwegs – richterliche Anordnung, ISAR-TV, Nägel mit Köpfen, Lawinenexpreß. Er hatte sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen – jetzt war seine Stimmung auf dem Nullpunkt, doch in seinen Adern schäumte pures Adrenalin, bescherte ihm krampfartige Magenschmerzen und machte ihn hellwach. Tick-tick-TACK, die Zeit brannte, es war 8.13 Uhr. Unter einem violettschwarzen, tief durchhängenden Morgenhimmel fuhren die grauen Wagen mit den unauffälligen Männern vor der Zentrale von ISAR-TV vor. Leitmayr schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch, stieg aus, dachte kurz an seine Karriere, dachte, etwas ausführlicher: Scheiß drauf! und gab den neun Kollegen mit einem Wink das Zeichen, loszulegen. Sie nahmen das Foyer im Handstreich, stürmten hinein, verbreiteten dezentes Chaos und hielten selbst eisern Disziplin, teilten sich auf – vier Leute Richtung Treppe, zwei zum Lift. Empfangschef und Wachpersonal wurden völlig überrumpelt. In ihren Augen flammten die Schlagzeilen des Tages: Dreister Polizei-Willkür-Überfall auf ISAR-TV – tapfere Wachleute versuchten zu retten, was zu retten ist! Leitmayr zeigte ihnen die richterliche Anordnung nur von weitem, sah, daß einer der beiden Wach- und Schließdienst-Oldtimer tatsächlich am liebsten gezogen und geschossen hätte, signalisierte seiner Mannschaft: Treppe, Aufzug, Telefon, nichts und niemand kommt hier raus, drängelte sich bereits zu den anderen in die Glaskabine und ließ sich mit ihnen in die Teppichetage
hochschießen. Der Oldtimer ballerte ihnen nun doch nicht hinterher. In einem Anflug rabenschwarzen Galgenhumors bastelte Leitmayr vier, fünf, sechs Sekunden lang an einer völlig neuen Gedankenliste herum. Die Fernsehsendungen, die ich mir zukünftig noch genehmigen werde: Tagesschau, Frontal, Report Baden-Baden… Er kam bis Ally McBeal, Lindenstraße, Tatort, Akte X – dann drückte er Schusters persönliche (lauthals schreiende) Sekretärin sanft beiseite und die dick mit Leder gepolsterten Flügeltüren in das Allerheiligste hinein auf. Es war wie schweben, und es wurde immer NOCH besser – keine Spur mehr von Stimmungsnullpunkt. Schuster fiel beinahe im Sitzen nach vorn, über seinen GROSSEN Schreibtisch; er hielt das Telefon ein Lichtjahr weit vor dem Mund und plapperte verdutzt in eine völlig andere Richtung: »Was sagen Sie? WER kommt?« Zielgerichtetes Tohuwabohu, die Kollegen schwärmten grinsend aus; der knöcheltiefe Teppich schluckte jeden Laut. Schuster hatte sich bereits wieder unter Kontrolle, protestierte nur halbherzig: »Entschuldigung, hab’ Sie gar nicht anklopfen hören – « Die Stirnglatze, die in Wirklichkeit schon eine Halbglatze war, sah aus wie mit kochendem Fett übergossen; der Ressortleiter der Nachrichten zupfte an seiner Krawattennadel und starrte ihm aus großen Fischaugen heraus entgegen… er gab sich alle Mühe, es nach distanziertem, wissenschaftlichen Interesse aussehen zu lassen – ein Insektenforscher, der nur aus Höflichkeit einen kleinen Blick durchs Mikroskop riskiert. Die Explosionen fanden nur in seinem Kopf statt – Leitmayr ging mit raumgreifenden Schritten zu Schuster hinüber, spielte mit, war ganz jovial, obwohl sein Herz wie ein Schlagwerk hämmerte.
»Hier, die richterliche Anordnung. Ich brauchte die Schlüssel für alle Schränke, Schreibtische und so weiter… bitte.« Er wedelte mit dem Sesam-öffne-dich-Schriftstück, zwinkerte vielsagend – Männer von Welt unter sich. Sie gaben sich noch immer nicht die Hand. Schuster blickte noch immer nicht demonstrativ auf die Uhr. Der ganze Planet schien sich nur noch halb so schnell um seine Achse zu drehen. Schuster strahlte jetzt mühsam verhaltenen Zorn aus und legte den Telefonhörer auf; aber nur, um sofort neu zu wählen. Mit einem plötzlich harten Kopfschütteln stoppte Leitmayr ihn. »Ihren Hausanwalt können Sie nachher anrufen. Die Schlüssel, bitte.« Da es genaugenommen gar keine Bitte mehr war, fügte er boshaft hinzu: »Dann geht auch nix kaputt.« Mit einem schlecht gespielten leidvollen Augenaufschlag gab Schuster klein bei. Leitmayr reichte Schusters Schlüsselbund an den Kollegen Fritzsche weiter und ermahnte sich: Tricks-Tricks-Tricks. Er hielt jede Wette: Wenn-wenn-wenn, dann KANN er nicht anders, dann muß und wird er es versuchen, laß ihn nicht aus den Augen. Ringsum kam die Razzia richtig auf Touren, Präzisionsarbeit mit den Ausmaßen eines Wirbelsturmes – sie hatten alles perfekt genug abgesprochen, sie kannten die Örtlichkeit, jeder Handgriff saß; sie konzentrierten sich ganz auf Videokassetten und vertragliche Unterlagen. Schuster nutzte die Gelegenheit, um jetzt doch unseren Hausanwalt, Herrn Dr. Zeitter, zu benachrichtigen, und Leitmayr ließ ihm den Punkt – es war ohnehin nur ein weiterer, kleiner Köder. Als der erste Karton gefüllt war, kam bereits die Kavallerie hereingerauscht – ganz in schwerer Parfüm-Brandung und orangeroter Seide, auf High-heels im gleichen Farbton; die schwarze Haarmähne trug sie wie einen Witwenschleier
schützend rings um ein empörtes und dennoch eisern diszipliniert lächelndes Gesicht gefönt. »Meine Herren, darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten…? Ruth Salina – ich bin die Chefredakteurin – « Die Kavallerie drehte sich um sich selbst, ganz kurz irritiert, da alle schwiegen und sie nicht wußte, wer die Aktion leitete. Es kam zu einer peinlichen Pause – der Auftritt war eindeutig ruiniert. Immer noch in der Hocke, einen ganzen Arm voller Videokassetten an sich gepreßt, hatte Leitmayr sie längst problemlos wiedererkannt – auf eine totenkalte Art war sie immer noch bildschön; nur die schwarze Locke, die ihr heute so perfekt in die Stirn fiel, war neu, und der klitzekleine Ansatz eines Doppelkinns. Er dachte: Nichts, was ein Schönheitschirurg nicht ausbügeln könnte. Er dachte: Ivo, Herrschaftszeiten – DAS ist dein Typ? Weil es nicht fair war, würgte er den Gedanken ab – die Geschichte war zehn Jahre alt. Nur sein von einer halbnackten Linda Egeler beaufsichtigtes Herumschnüffeln in den modrigen Tiefen von Grafs Archivkeller verbuchte er jetzt doch noch als Teilerfolg. Auch harte bayerische Cops müssen sich motivieren. Er dachte: Laß sie nicht länger schmoren. Laut und ernst sagte er: »Leitmayr, Mordkommission. Wenn Sie die Anordnung des Richters – « Noch während er sich über das konstante Gefühl grimmiger Gelassenheit und Belustigung tief in sich wunderte, hatte er die Kassetten zurückgelegt; er richtete sich auf, ging zu ihr, hielt seine Antennen jedoch sorgfältig auf Schuster eingependelt. Eine flatternde Handbewegung unterbrach ihn. »Um den juristischen Teil dieser Angelegenheit kümmert sich gleich unser Anwalt, Herr Dr. Zeitter. Reden wir doch einfach wie vernünftige Menschen. Was werfen Sie uns denn vor?«
»Juristisch gesehen: Strafvereitelung.« »Lächerlich, Herr Kommissar – « Er federte dies ab – unbeeindruckt. »Ich dachte, wir reden wie vernünftige Menschen miteinander? Weshalb sagen Sie uns nicht einfach, von wem das Material ist?« Ihre Augen wurden groß und strahlend: »Welches Material?« Er konnte ihren Pfefferminzatem riechen. »Die Prügelszene, zum Beispiel…«, schlug Leitmayr gedehnt vor. »Wo dieser Hooligan sich über den Jungen hermacht.« Ihr Gesicht wurde ganz leer und harmlos – da wußte er schon, was er zu hören bekommen würde. Und wurde nun doch wieder wütend. »Sehen Sie, Herr Hauptkommissar, seit jeder in diesem Lande eine Videokamera hat, ist der Zuschauer zum Chronisten des Alltags geworden. Wir sind nur ein kleiner Sender, aber einer mit einem treuen Stammpublikum. Wir freuen uns, wenn uns die Leute eigene Filme schicken – « Er seufzte. Sie hielt inne; ihr rechtes Augenlid zuckte zweimal. Er konnte nicht widerstehen; also stopfte er ihr das dumme Geschwafel bis zum Anschlag in den Hals zurück. »So ein aus dem prallen Leben gegriffenes Programm. Und so wahnsinnig preiswert.« Sie verstand ganz genau, wie er das meinte. Mit einer spitzen Erwiderung löste sie ihr kleines Debakel: »Sollen wir Zuschauer denunzieren, die aus Liebe und Treue zu unserem Sender Initiative ergreifen – « »Der verprügelte Junge liegt im Koma. Wahrscheinlich stirbt er.« »Das wäre sehr… tragisch.« »Klar«, sagte Leitmayr – ebenso professionell bedauernd. »Könnte ja auch einer von Ihren treuen Zuschauern sein.«
Unser Hausanwalt, Herr Dr. Zeitter, betrat schneidig den Raum, nickte grüßend in die Runde, sagte »Entschuldigung, bitte« und nahm Ruth Salina beim Arm, redete leise auf sie ein. Leitmayr ließ ihnen ihre Privatsphäre und verdrückte sich – der Wirbelsturm ringsum kreiste und kreiste weiter. Noch mehr Kartons wurden gefüllt, versiegelt und zum Abtransport bereitgestellt; die Kollegen Hahn, Gleinser und Hentschel begannen den großen Schreibtisch auszuräumen. Schuster schlenderte in seinem Büro umher, genoß jenseits aller Aufregung oder gar Empörung den Ausblick durch die weiten Panoramascheiben, schaute ein-, zweimal auf die Uhr, strich mit sensiblen Fingerspitzen wie prüfend über den Fernseher und den danebenstehenden Videorecorder und steckte ganz unauffällig eine Camcorder-Hi8-Kassette ein. Und das war’s. Kriminalhauptkommissar Franz Leitmayr schnappte nicht nach Luft; er fühlte sich nicht einmal als Sieger. Äußerlich ganz gelassen, schlenderte er Schuster hinterher. Der setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, schob die richterliche Anordnung wie etwas Unanständiges hin und her und begann schließlich in einer Programmzeitschrift zu blättern; seine Stirn war so gefurcht, als brüte er über Integralgleichungen oder Volumenberechnungen von Rotationskörpern. Leitmayr verständigte sich mit Hentschel und Hahn durch einen einzigen, spitzbübischen Blick – kostete es ganz genüßlich aus. »Brauchen Sie den Beschluß noch?« fragte er jungenhaft. Schuster nahm das Blatt Papier mit spitzen Fingern und reichte es kommentarlos zu ihm hoch – ohne selber aufzusehen. Wahrscheinlich interessierte es ihn wirklich, wie es mit Ally McBeals kompliziertem Liebesleben weiterging.
»Danke…« Heiß-heiß-ganz-heiß: Jetzt ertappte sich Leitmayr dabei, daß er grinste wie ein Honigkuchenpferd – es wurde immer NOCH und NOCH besser. »Und jetzt die Hi8-Kassette, bitte. Die kleine. Die aus Ihrer Hosentasche.« Schuster ließ den Adamsapfel hüpfen und lächelte verzerrt – was blieb ihm auch anderes übrig? Er händigte ihm die Kassette aus – immer noch wortlos. Leitmayr warf sie hoch, fing sie auf, warf sie erneut hoch und fing sie wieder. Und steckte sie ein, wandte sich ab. Die Kollegen waren auch soweit. Die Kavallerie hatte ihr juristisches Briefing absolviert und preschte heran – Ruth Salinas schwarze Haarmähne sah nicht mehr ganz so betonhart und korrekt frisiert aus, auch klang ihre Stimme verändert – jetzt war sie nur noch geschäftsmäßig und schneidend scharf: »Sie haben sich beklagt, wir seien nicht kooperativ. Okay, wir helfen Ihnen. Aber wenn Sie Ihre Vorwürfe nicht belegen können, junger Mann, dann machen Sie sich auf was gefaßt.« Der Hausanwalt Zeittig nickte so bekräftigend, daß die schlohweiße Gotthilf-Fischer-Frisur in Unordnung geriet. Beide Arme zu einer entwaffnenden Geste ausgebreitet, strahlte Leitmayr sie an und konterte mit einer knallharten Polizistenfrage: »Ihr Angebot mit dem Kaffee – steht das noch?«
Hundemüde: Als das Funkgebrabbel und Ätherrauschen ohrenbetäubend und die Kopfschmerzen niederschmetternd wurden, stieg Batic aus und streckte sich. Ganz gemächlich umrundete er den Daimler, stakste auf steifen Beinen zu dem Brückengeländer hinüber und lehnte sich in Hüfthöhe dagegen. Nach einer Weile sagte er widerwillig anerkennend: »Du mußt wohl nie schlafen?«
Graf lächelte nur versonnen und traurig, er hatte die Beifahrertür aufgedrückt, die Scheibe heruntergekurbelt und den rechten Fuß auf den Metallrahmen plaziert. Jetzt wackelte er mit der Schuhspitze. »Laß uns aufhören für heute«, versuchte Batic es andersherum. Graf zuckte mit den Schultern und stieg auch aus. Ein paar Minuten lang standen sie einträchtig nebeneinander und waren nur still. Im Westen hing die Sonne als grandiose Zeitlupen-Explosion in Schwefelfarben in einer endlosen Wolkenbrandungsweite. Die Autobahn unterhalb der Brücke war leer und ruhig und friedlich. Ein warmer Wind wehte scheinbar aus allen Richtungen gleichzeitig heran… und erstarb. Die Weite leuchtete auf. Plötzlich schien alles möglich zu sein – es war ein magischer Augenblick. Sie spürten es beide – fröstelnd. »Sag mal«, brummte Batic, »bei dir zu Hause… wartet da niemand?« Ohne sich abgesprochen zu haben, setzten sie sich gleichzeitig in Bewegung, schlenderten am Brückengeländer entlang – den ersten Ausläufern der Sonnenexplosion entgegen. »Und bei dir?« fragte Graf irgendwann. Batic schüttelte den Kopf. Unter der Brücke rauschte ein einzelner, uralter Ford Richtung Chiemsee durch, auf dem großen Anhänger war ein Segelboot festgezurrt. Batic mußte an den Fliegenden Holländer denken. Hendrik Graf und er gingen immer noch nebeneinander her – es war eine sehr lange Brücke. Das Gefühl, zu zweit in dieser stillen, friedlichen Leere und Weite herumzuspazieren, ließ ihn Grafs Traurigkeit verstehen. Sie war plötzlich irgendwie auch in ihm.
»Was machst denn du, wenn du mal…?« »Frierst?« Grafs Stimme klang, als habe sie einen sehr, sehr weiten Weg zurückgelegt. Batic nickte. Graf tat, als banne er mit seinen zum Kreuzeszeichen gegeneinandergelegten Zeigefingern eine Horde Vampire… oder Schlimmeres. »Aber doch nicht total…?« brummte Batic. »Das ist doch gegen die Natur.« Die Schwefelsonnenexplosion verblaßte bereits – letzte Farbkleckse trieben auseinander. Der Wolkenozean geriet wieder in Bewegung, der Wind frischte auf, und jetzt war er kühl. Graf seufzte und antwortete doch noch. »Ich lutsch’ ‘n Pfefferminz.« »Und dann?« »Is’ es vorbei. Und du?« »Ich mach’ Nachtdienst.« »Sag’ ich doch«, murmelte Graf schläfrig. »Alles eine Frage der Technik.« Vor ihnen erstreckten sich frisch umgepflügte Äcker und ein Feldweg; ein paar Saatkrähen hüpften lustlos von Scholle zu Scholle. Die Brücke lag hinter ihnen. Weit im Hintergrund verwuchs Grafs Daimler mit der schnell vom Himmel fallenden Nacht; die offenstehende Beifahrertür sah aus wie der gebrochene Flügel eines bizarren Vogels aus Schwärze und Stahl. Sie machten kehrt und schlenderten zurück. »Und wie kommst du mit dem klar, was du bei deinem Job Tag und Nacht zu sehen kriegst?« Batic warf ihm einen scheuen Seitenblick zu. »Wie verdaust du das? Wie verdaut man das überhaupt?« Graf kickte Steine vor sich her.
»Manchmal«, sagte er tonlos, als Batic schon damit rechnete, nie wieder etwas von ihm zu hören, »manchmal ist es besser, die Alpträume von irgendwem zu filmen und darüber die eigenen zu vergessen. Banken, Schulden, Termine, Probleme, Probleme, Probleme.« Er stieß ein krächzendes, unfrohes Lachen aus. »Wirklich alles eine Frage der Technik. Hauptsache, man hat für alles ‘ne Zange im Koffer.« Batic fuhr ihn nach Hause – sie sprachen auf der ganzen Fahrt kein Wort mehr miteinander; vielleicht, weil jeder viel zuviel von sich und seiner Einsamkeit preisgegeben hatte. Graf stieg aus. Er nahm das Funkgerät mit. Dann zögerte er und beugte sich doch noch zum Fenster herab. »Ich hab’ noch ‘n Slibowitz oben. Gutes Tröpfchen…« Es klang so verunsichert, daß es schon fast wieder rührend wirkte. Aber Batic schüttelte bedächtig den Kopf. »Ein andermal.« Freunde – diesmal verstanden sie sich ganz ohne Worte. Graf bleckte die gelben Zähne, nickte, klopfte mit der flachen Hand zweimal auf das Wagendach. »Paß gut auf ihn auf.« »Ja.« Batic versteifte sich; er wollte bleiben, mit ihm reden – und doch wollte er nur noch weg. Als er Gas gab, bröckelte die starre Maske auf seinem Gesicht bereits; er war schweißgebadet, er hatte Krämpfe in der Brust und in den Beinen, er fühlte sich katastrophal. Gedanken an Gott und Gerechtigkeit fuhren ihm durch den Kopf. Die Erleuchtung war ganz plötzlich gekommen – vorhin, auf dieser Brücke: Produktion – und Vertrieb. Die richtigen Kontakte. Hendrik Graf und ISAR-TV. Aber auch: Oliver und Ruth, Olli und seine Freunde UND ISAR-TV. Jetzt verlor er endgültig die Fassung – ertappte sich dabei, daß er es geisterhaft monoton murmelte.
Vor lauter Müdigkeit pinkelte Graf im Sitzen und versuchte sich an seinem alten Trick – gar nichts denken, nur dasein. Weil er damit erwartungsgemäß das Gegenteil erreichte und wieder richtig wach wurde, gab er sich schließlich einen Ruck, wusch sich die Hände, dann das Gesicht, und beschloß, doch noch nach der Post zu sehen. Er hatte eine Scheißangst vor dem, was in diesem Briefkasten vor sich hin gammelte – noch mehr Rechnungen, Mahnungen, Vollstreckungsandrohungen und, das Schlimmste von allem, Briefe von Freunden, die ihm mit Darlehen ausgeholfen hatten und nun damit drohten. Der Rhythmus seiner Gehirnströme geriet ziemlich durcheinander – aber er holte sich den Packen Briefe herein und sortierte ihn im Licht des Kronleuchters durch, am Wohnzimmertisch stehend. Werbung, Mahnschreiben und Kontoauszüge warf er achtlos beiseite. Ollis Handschrift – also öffnete er den wattierten Din-A5 Umschlag. Er griff hinein und erstarrte. Knisternde Scheine. Geld. Viel Geld. Nachdem der erste Schwindel in seinem Kopf abgeklungen war, nachdem er die blitzlichtartigen Bilder – Schulden bezahlen, Freunde zurückgewinnen, ein besseres, menschenwürdigeres, weniger GEHETZTES Leben – durch einen imaginären Fleischwolf gejagt hatte, holte er die Tausendmarkscheine ganz bedächtig heraus und starrte sie an. Er schlurfte zum Telefon und tippte, während er die Scheine auffächerte und immer verzweifelter und wütender wurde, Ollis Nummer. »Oliver Graf. Ich bin im Moment nicht zu erreichen.« Den Eindruck hatte er auch.
Er hatte immer gedacht, er hätte längst mit allem abgeschlossen. Aber das stimmte nicht. Er dachte verzweifelt: Das Beste, was ich je gemacht hab… Er blieb noch fast drei Minuten lang so stehen – zwanzig Tausendmarkscheine in der Hand, den Hörer zwischen Hals und Schulter geklemmt, in den Ohren und im Kopf diese unheimliche, unechte Stille und Leere aus dem Telefonanschluß, als horche man geradewegs auf den Meeresgrund hinab.
Aus einer sekundenlangen Wachtraum-Schreckensvision von einem sich überschlagenden, in engen Tunneln explodierenden, blutroten Jeep-Wrangler-Cabrio wurde wieder die Nacht-Realität. Olli dachte erleichtert und stammelnd: Bin bin in Sicherheit. Es klang irgendwie arabisch – Binbinin… Von hinten schrie ihm Linda die Ohren voll, und neben ihm, auf dem Fahrersitz, brüllte Mike, und von überall her KREISCHTE und tobte der Fahrtwind. Und Mike Weitzel beschleunigte immer noch mehr und sorgte dafür, daß sie alle von der WUCHT einer ungeheuerlichen Tiefenströmung mit hundertzwanzig Kilometern pro Stunde durch eine Nachtwelt gespült wurden, die kein bißchen Ähnlichkeit mehr mit dem alltäglichen München hatte. Sie tranken Champagner aus der Flasche, sie waren angeheitert und übermütig und verrückt vor Tatendurst – obwohl es eigentlich nur eine Abschiedsfeier hatte werden sollen. Linda stand plötzlich auf und tänzelte auf dem Notsitz herum, sie hielt sich nur am Überrollbügel fest, reckte ihren linken Fuß geziert nach vorn: »… find’st ‘n die Schuhe?« Der
Wind harkte durch ihre Haare, krallte ihr die Worte von den Lippen und schleuderte sie davon. Aber Olli brüllte dagegen an: »Geil – « »Ja? Na, weiß nicht!?« Es klang eher enttäuscht. Herzklopfen – Schuldgefühle – er sah sie wieder splitternackt, ernsthaft und kindhaft unschuldig – mußt dich nicht mehr verstellen. Aber die Uhr tickte und tickte, die Zeit war weitergelaufen, jetzt kannte er Linda bereits nicht mehr. Es war wie ein Kurzschluß. Er hatte Angst um sie, hatte Angst vor ihr. Und vor Mike. Und sich selbst. Sie hatten miteinander geschlafen, und es war so schön gewesen – aber es hatte nichts geändert. Gar nichts. Wirklich nicht? Da Olli nicht wollte, daß sein Gesicht, seine Augen, ihn verrieten, senkte er den Kopf, versteckte sich hinter dem Vorhang seiner Haare. Linda turnte lachend zu ihm nach vorn, wand sich kichernd um ihn herum, strubbelte ihm die Tarnung weg und ließ sich, das Gesicht hitzigstrahlend ihm zugewandt, rittlings auf seinen Schoß fallen. Sie legte ihm die Arme um den Hals – rieb sich an ihm; plötzlich war ihr Mund ganz nah an seinem, ihre Augen schickten herausfordernde KoboldMorsefunken: Was ist? Vor wem hast du Angst? Er weiß es doch längst – er hat uns zugesehen! Auf einmal wurde ihrer beider Atem eins. Linda rückte noch näher. Ihr gelber Anorak knirschte wie Schlangenhaut. Der Stoff der schwarzen Jeans raschelte wie Laub. Olli schoß Mike einen wachsamen, entschuldigenden Blick zu, und Mike lachte immer weiter und weiter – du bist so prüüüüde, Olli-Baby! – bis Olli sich entspannte und mitlachte. Linda küßte ihn, bis er es nicht mehr aushielt und seiner Prüderie einen verdammten Tritt verpaßte; gleich darauf riß Linda sich los, drückte ihm die Flasche gegen die Zähne, und er trank kichernd und glucksend, bis er keine Luft mehr bekam. Er reichte die Flasche an Mike
weiter, schnappte sich dessen Zigarettenstummel, und Mike ließ es geschehen und nahm einen tiefen Schluck Champagner. Sie rasten im Zickzack durch Unterführungen und über den eitrigen Schattenriß des Horizonts hinaus – bis zur BungeeAnlage. Bis zum Ort des Grauens. Mike ließ den Jeep der Länge nach gegen das Tor schleudern, zog die Schlüssel ab, sprang bereits hinaus, johlte, hangelte sich den Maschendrahtzaun empor und schnellte mit einem jähen Ruck kopfüber auf sein Gelände. Er landete federnd auf allen vieren, winkte, gestikulierte, heizte sie an, endlich auch herüber zu kommen. Linda gehorchte, wie von Sinnen kreischend. Während Olli sich die Ohren zuhielt, um es nicht mehr mitanhören zu müssen, wurde sie vom Zaun gerissen, ließ sich fallen, fiel Mike um den Hals, küßte jetzt ihn, ließ sich herumschwenken – Will es will es von uns beiden! Oliver ignorierte das Stechen der Eifersucht tief in seiner Brust, er bemerkte erst jetzt, daß er immer noch außerhalb des Zauns stand und das Gesicht wie zur Bestrafung gegen die rostigen Maschen drückte. Er verstand nicht, warum sie HIER waren. Er verstand nicht, warum sie ihm DAS antaten. Der Schatten der toten Petra Nickel war plötzlich ganz dicht hinter ihm, Gespensterlippen raunten ihm gräßliche Wahrheiten zu, die er nicht hören wollte. Er flüsterte: »Wann – wann dürft ihr denn wieder öffnen?« »Wieso IHR? Bist du wirklich nicht mehr dabei?« »Ja, klar, schon…« Sie hörte ihm gar nicht zu; sie verschwand lachend in dem roten Büro aus Wellblech, schaltete die Hauptsicherung ein. Mit einem lauten KLACK! gingen die Lichter an –
Die Scheinwerferstrahlen rissen den gigantischen KRAN aus dem Dunkel, schwemmten Schatten und Gespenster aus dem Zentrum des Geländes davon… aber nicht weit genug weg. Olli konnte ihr eisiges Tuscheln und Raunen und Flüstern immer noch hören: In einem weiten Umkreis, an den Rändern des hellen Flecks im Herzen der Anlage, begann die Finsternis bereits wieder massiver zu werden; ein Moloch, der sich zuckend und pulsierend regenerierte und unbeirrbar von neuem heranrückte; sie einschloß… und ERDRÜCKEN würde. »… wenn’s mal eng ist…«, brachte er seinen Satz doch noch zu Ende. »Olli, Mann, zick hier nicht rum«, kicherte Mike und äffte ihn nach: »Wenn’s mal eng ist! Du gehörst dazu.« »Ja, klar – « »Ja, klar, scheiß auf den Rest der Welt!« Linda wirbelte wie feuerspeiend aus dem Wellblech-Container heraus – wirbelte mit zuckenden Händen und ausgebreiteten Armen um die eigene Achse, packte Mike und wirbelte auch ihn herum – gab kreischend die Losung für ein Leben auf der Überholspur aus: »Wir drei sind ein Team! Zusammen sind wir unschlagbar…« Und Mike nickte nur und führte die Beschwörung im Voodoo-Singsang weiter: »Wir machen Videos, die geilsten Videos der Welt… Na, komm endlich, Olli, los, Mann!« Oliver murmelte entsetzt: »Nein, o nein« – und zappelte bereits wie ein Insekt im Licht; zappelte über den Zaun hinweg, ließ sich von ihnen auffangen und umarmen und zum Zentrum des Geländes mitreißen. Er sah den großen, schwarzen Fleck, den blutverkrusteten Fleck, und sein Gehirn schaltete AB. Linda schleppte Fernbedienung, Seile und Gurte herbei. Plötzlich wußte er, WAS sie vorhatten. Der Schatten der toten Petra Nickel rückte näher und näher, schmiegte sich wie nasser Schleim von hinten in seinen Nacken, auf seine Schultern, und
flüsterte: »Du wirst seh’n, es ist toll, Olli, du mußt nur ganz nach vorn gehen, an den Rand… und dich fallenlassen, einfach die Arme ausbreiten und nach vorn wegkippen und – « Linda in der Hocke vor ihm; sie gurtete ihn an, sicherte ihn, checkte die Splint-Verbindung von Stahlseil und Gummiseil, reckte den Daumen nach oben – okay. Mike plapperte auf ihn ein: »Mensch, Olli, wir drehen nur noch im roten Bereich… Richtig extrem!« Linda kommandierte: »Schmeiß den Motor an – « O nein, bitte, o nein, nicht DAS – Aber Olli blubberte nur Luft aus sich hinaus. Der Motor des Krans RATTERTE und übertönte ihn mühelos, verschleuderte bläulich schillernde Wolkenwucherungen voller Dieselgestank. Mike fummelte mit der Fernbedienung herum und ließ die Plattform aus dem Dunkel herabschweben. Olli versuchte Lindas Hände abzuschütteln, aber sie war plötzlich wieder überall um ihn herum, ihre Stimme rasselte voller Haß Beschwörungsformeln: »Ohne Maloche! Ohne Scheißregeln! Ohne irgendeinen Idioten, der dir ständig sagt, was du tun mußt!« Sie nahmen ihn zwischen sich, drängten und stießen ihn über die Rampe; Mike zündete die Startraketen – die Stahlseile spannten sich, rissen die Plattform wackelnd, kreiselnd nach oben. »Linda, Mike… bitte, das ist doch WAHNSINN!« »Ja, Wahnsinn!« Sie waren auf dem Weg nach OBEN, sie flogen geradewegs in den schwarzen Schlund der Nacht. Obwohl sie dicht an dicht standen, wurde es kalt. Wind blähte das weiße Zelt des Zirkus Roncalli auf, peitschte über die fernen Hausdächer von München. Die Plattform schwankte heftiger, Olli klammerte sich zitternd an dem dünnen Gestänge fest, lauschte Mikes stoßweisem Atmen, Lindas Herzschlag und dachte in einem
irrsinnigen Empfinden von Déjà-vu wieder an Petra Nickel. Ich will da nicht rauf. Mir wird vom Hochfahren schon schlecht. O nein, bitte, ich will nicht sterben, ich will nicht – Aber dann starrte er in Mikes weißes Marmorgesicht, sah, wie sich die dünnen Lippen über perfekten Zahnreihen teilten, und brachte das Gewinsel nicht mehr heraus. Wurde ganz ruhig. Überlegte – schlag zu – schlag zu, solange er nicht damit rechnet! Doch diese völlig neue Form von Feigheit und Davonlaufen raubte ihm endgültig die Luft. Die tote Petra Nickel verwirrte ihn noch immer mit Einflüsterungen, und unfaßlicherweise hörte er sich plötzlich atemlos Worte stammeln: »Diese Petra… wart ihr das? Ich meine – « »Oh, nein, das waren nicht wir, das war nur der Anfang, das Omen, Olli, der Fingerzeig eines dunklen, hungrigen Gottes, verstehst du? So müßt ihr es machen, schnelles Leben, schnelles Geld, Geld regiert die Welt – « Dreißig Meter, einunddreißig, zweiunddreißig – in seinen Ohren war nur noch Brausen. Er dachte: Vermächtnis, tu’ Buße, tu Gutes, sorg dafür – Laut stotterte er Bedingungen in taube Ohren: »Ihr müßt aufhören mit den Fakes. Bitte. Mal ‘ne Frittenbude abfackeln… okay. Aber alles andere… Scheiß auf alle Omen – « »Frittenbuden abfackeln bringt keine Kohle, kleiner Stier – « Linda keuchte ihm ihren Champagner-Raubtieratem ins Gesicht. »Ich will nicht… daß… daß Leute sterben, okay? Das Ding mit dem Lastwagen – « »Was für ein Spruch! Olli, Mensch, der Fahrer wird’s überleben, und dann hat er bis in alle Ewigkeit was, mit dem er andere Leute vollabern kann – Interview-Termine, Talkshows: ICH saß in der rollenden Bombe, ICH war der große Feuerball – «
Mit einem Petra-Nickel-Wimmern stieß er ihre Hände weg – will es nicht mehr! Mit einer unheimlichen Klarheit stellte er fest, daß er Lindas und Mikes Stimmen nicht mehr voneinander unterscheiden konnte, Voodoo-Stimmen, HexerStimmen. Sie rissen ihn herum, in einem völlig wahnsinnigen Indianer-Tanz. Sie fetzten ihm die GURTE vom Leib und stießen ihn über den Rand der Plattform hinaus und sangen »winke, winke« hinter ihm her – du wirst seh’n das ist toll. Aber das war nur Einbildung – Höhenkoller, er tauchte zu schnell aus zu großer Tiefe empor, er stand immer noch vierzig Meter über einer gräßlichen, zähnestarrenden Schattenwelt, haha, und begann einfach nur durchzudrehen. Um seine Gedanken in die Normalität zurückzuzwingen, flüsterte er: »Die Bullen glauben, mein Vater war’s.« Linda rückte ein wenig von ihm ab. »Und dein Vater…weiß der…?« Olli nickte und hörte seine Muskeln, Sehnen, Knochen vor Kälte knirschen. Linda nahm ihn in den Arm – sprach ihr Hexen-Urteil mit einem bösen Lachen: »Du bist ein kleiner Prinz, Olli. Wenn du was haben willst, dann gehst du einfach zu deiner Mami, und die holt ihr Scheckheft raus. Wir – wir sind Straßenratten. Hin, abbeißen und weg – « »Und wir brauchen dich, Olli – « »Wir sind deine Familie, und in einer guten Familie ist einer für den anderen da.« »Yeaaaahhhh!« kreischte Mike und hängte sich an Linda und ihn, zwang sie beide in einen muskelstrotzenden Ringergriff, schob, drückte – nahm bereits Anlauf. Diesmal war es keine Einbildung, sondern – Du wirst sehen, es ist – SCHLAGARTIG NÜCHTERN.
»Ihr wollt doch hier nicht zu dritt abfliegen – ?!« kiekste die Petra-Nickel-Gespensterstimme noch speichelsprühend aus seinem Olli-Baby-Mund, als Linda schrill und begeistert »ONE – TWO – THREE!« abzählte, und der Rand unter Ollis tappenden, tastenden Füßen nach hinten wegwischte – – über ihnen, im Dunkel, verschwand. Seine Worte kamen hunderttausend Jahre zu spät: »Wir sind viel zu schwer – « Ein heißer Strahl: Vor lauter Entsetzen und Hilflosigkeit pinkelte er sich an – Dann nur noch Mikes Grollen: »Bleib cool, Olli, bleib cool. Ich hab’ alles im Griff – « Dann nur noch Lindas aggressives Orgasmus-Keuchen: »Jetzt-ja-ich-will-ja-ja – « Dann nur noch – endlose Schreie und Finsternis und Sturm und Stürzen und ABWÄRTS. Drei vor Schrecken und Tollkühnheit kreischende, johlende, schließlich kichernde und NOCH LAUTER schreiende, aneinandergeklammerte Menschen… und noch immer kein GROSSER SCHLAG, sondern, statt dessen und ganz plötzlich, das gemeinsame Empfinden von Transformation und Dreieinigkeit, auf immer und ewig zusammengewachsen, ein großes, zappelndes Ganzes an einem lächerlich dünnen Jo-Jo-Spinnenfaden. Unten – und mit Titanengewalten wieder nach oben geschleudert. Und wieder unten. Und immer noch kein BODENTREFFER. Unbesiegbar. Unsterblich. Auf – ab, auf – ab. Drei Sternschnuppen, deren schimmernde Spur sich bereits in Nichts aufzulösen beginnt.
Sie drehte den Schlüssel zweimal im Schloß und sagte zufrieden: »So. Braucht ja nich’ jeder wissen, was wir hier machen.«
Franz Leitmayr war hingerissen und ließ sie nicht aus den Augen. Nach den Horrorbildern der aus Schusters Hosentasche beschlagnahmten Kassette wirkte die Videotechnikerin Marina Gerstmann mehr denn je wie eine Überdosis süßen Schlangengifts auf ihn. In ihrer Nähe verrauchte der Zorn, den er seit jenem Tag empfunden hatte, an dem Petra Nickel in den Tod gesprungen war; diese, aus dem Gefühl heraus, etwas hilflos geschehen zu lassen, geborene, reißende Ungeduld. Um sie nicht noch länger wie ein spätpubertierender Cop mit pathologischer Veränderung des Nerven- und Muskelgewebes anzuhimmeln, riß er sich zusammen, katapultierte seinen Geist in jene Professionalität zurück, die ihn im Ernstfall Tag und Nacht hochkonzentriert am Funktionieren hielt. Aber er mochte diese Frau. Er mochte sie sehr… trotz ihres angeblichen Faibles für Bullenwitze. Ihre Stimme mochte er auch, und wie sie statt nicht nich’ sagte. Und ihre berufliche Kompetenz und Ernsthaftigkeit. Und diesen abgeklärten, kessen Blick, den sie bevorzugt gegen einen gewissen schlaksigen Hauptkommissar einsetzte, um ihn zuckersüß-rachsüchtig immer wieder für seine angebliche Vorliebe für Blondinenwitze büßen zu lassen. »… sind Sie noch da?« vergewisserte sie sich gerade, begleitet von einem harmlosen Wimpernflattern – und Leitmayr nickte ein wenig zu hastig. Auf den Monitoren flimmerte, elektronisch vergrößert, die grausigste Szene der letzten Tage als Standbild – der Magirus Deutz-Lkw, den er in einer zugigen TÜV-Halle nur noch als Schrotthaufen zu Gesicht bekommen hatte, kurz bevor es KRACHTE; alles verzerrende, bläuliche Elmsfeuerreflexe auf der Windschutzscheibe, dahinter Johannes Füssls Gesicht, eine Grimasse aus Sehen, Erkennen und Nichtbegreifenwollen; und drei, vier Meter vor der Windschutzscheibe, schwarz, klobig, scharf umrissen, ganz deutlich – dieser kopfgroße Pflasterstein.
»Au, Mann«, sagte Leitmayr und spielte, ohne es zu merken, mit nervösen Fingern an der weißen, unbeschrifteten Hülle der Camcorder-Kassette herum. »So!« sagte Marina Gerstmann noch einmal, jetzt tatendurstig, und setzte sich auf ihren Sessel, ganz dicht neben ihn, zog die Computer-Tastatur heran, legte los. Sie tippte das Standbild in Bewegung – Punkt für Punkt; erklärte es ihm: »Sehen Sie… Da ist dieser Stein. Und der bleibt genau auf gleicher Höhe. Der fällt nich’, der hängt.« Plötzlich glühten ihre Wangen, wurde ihre Stimme kieksig: »Der hängt an irgendwas.« Auf dem Monitor tickte der Lkw aus dem Schlagschatten der Brücke heraus, der Stein blieb konstant und zerschmetterte die Windschutzscheibe; ließ sie Bild für Bild und in einer entsetzlichen Lautlosigkeit in einem Sprühregen großer und kleiner Trümmer auseinanderbersten – »Ja«, murmelte Leitmayr. »Können’s des noch mal vergrößern? Und jetzt noch mal zurück… in der Größe.« Sie nickte nur – sehr ernst und sehr blaß. Der Magirus-Deutz wischte wieder nach hinten weg. Der Pflasterstein schwebte in einer geraden Linie in die andere Richtung. Konstante Höhe. Definitiv. Leitmayr hörte sich mit den Zähnen knirschen, spürte die Kiefergelenke schmerzen – stürzte zehn, zwanzig Nanosekunden lang völlig in rasendes Denken ab. Petra Nickels Todessprung war nur der Anfang gewesen – eine Art… Auslöser; jemand war auf Ideen gekommen. Jemand, der dabeigewesen sein mußte. Nicht zwingend Hendrik Graf. Wer-wer-WER, verdammt? Was hatte er übersehen? Er hatte den Beweis, hinter dem er seit Tagen herhechelte – die Fakes waren knallhartes Geschäft, sie wurden ohne Rücksicht auf Verluste inszeniert und mit oder ohne Schusters und Salinas
Wissen für ISAR-TV produziert, je heimtückischer und spektakulärer, je mehr Tote, Verletzte, knall-bum-päng, je höher der THRILL, um so besser, um so höher die Einschaltquoten. Jetzt hatte er den Beweis, aber er empfand nur Ab scheu und Bestürzung und Verzweiflung, nicht die Spur eines Triumphs. Er dachte: Mordsgeschäft. Lawine. Halt sie auf; aber die Unmöglichkeit dessen war ihm genauso klar. Unmöglich. Noch. Es riß ihm die Luft aus den Lungen. Er sah den Fahrer im Krankenhaus, zer schmettert, den rechten Arm amputiert, das rechte Auge und das Gesicht von tausend Splittern zerfetzt – im künstlichen Koma; hörte die Stimme des behandelnden Arztes Dr. Erich Walter – »… selbst unter Narkose hat er von einer Marie geredet und geweint, aber wir können sie nicht ausfindig machen, wir wissen nicht, wer das ist…« Ein Schauder aus Haß und blinder WUT durchfuhr Leitmayr; aber er drosselte beides, indem er sich schwor: Ich krieg’ dich, ich krieg’ euch – wer auch immer das war, ich – »Teuflisch – «, hauchte die MAZ-Technikerin. Das holte ihn auf den Teppich zurück. Außerdem waren die zwanzig Nanosekunden ohnehin vorbei. »Ja«, krächzte Leitmayr, warf ihrem schmalen, hübschen Gesicht einen raschen Blick zu, war plötzlich spröde und bereits im Aufstehen begriffen – jetzt nur noch dienstlich. Dann fiel ihm noch etwas ein – Gedanken wie Stichworte: Indizien und Beweise gleich Spuren zu dem/den Täter/n. »Sagen Sie: Bei einer Schußwaffe… Wenn ich das Projektil hab’ und später die… naja, eben die Schußwaffe auftreibe, dann kann ich aufgrund der Laufspuren bestimmen, ob damit geschossen worden ist. Wie ist das bei einer Videokamera – ?« »Da gibt es sogenannte Footprints. Das ist das Spurbild unterm Mikroskop. Dazu brauchen Sie die Aufzeichnung und die Kamera.«
Er nickte, gleiches Procedere, hatte es jetzt eilig, zappte in Gedanken weiter: »Und wenn ich Ihnen noch eine zweite Kassette bringe, dann können Sie feststellen, ob auch diese Kassette – « »Kann ich – «, bestätigte sie, während sie zu ihrem High Tech-Recorder hinüberging, mit einem spitzen Zeigefinger auf die Eject-Taste tippte und ihm die beschlagnahmte Hi8 Kassette aushändigte. Ihre Finger berührten sich kurz; ganz unvermittelt lächelte sie dabei zu ihm hoch – ein sehr warmes, verschmitztes Lächeln – Schluß mit den Katz-und-Maus-Spielchen, Balsam für seine Seele. »Wunderbar! Bring’ sie Ihnen vorbei.« Drei Schritte weiter, fast an der Tür, riskierte er es doch: »Ach, und dann lad’ ich Sie wirklich zum Italiener ein.« »O ja, gern«, sagte sie. »Freut mich.« Leitmayr freute sich auch und strahlte sie an. »Toll. Übermorgen?« »War ‘n Witz«, sagte sie, aber die Wärme in ihren Augen sagte etwas ganz anderes. Leitmayr blies die Wangen auf, hielt sich, bis er an der Tür war, demonstrativ die Ohren zu; dann versuchte er die Tür aus den Angeln zu reißen – »Herr Kommissaaaaar…« – Wie ein verspieltes kleines Mädchen mitten im Himmel-und-Hölle-Hüpfen. Ohne herzusehen, machte sie mit der rechten Hand das Zeichen für aufschließen – Mit einem gequälten Lächeln gab er auch diesen Punkt an sie ab und war draußen und unterwegs; er wußte, es war ihre Art, ihn aufzumuntern, und tatsächlich hatte er dank ihr das eine Ende des roten Fadens durch das Vakuum-Labyrinth Richtung Lawine in Händen. Diese Gewißheit machte ihn schwindlig, in seinem Nacken pulsierte es, die letzten Meter über die
Betonrampe zum Parkdeck hinauf ballte er die Fäuste, rannte er, weil ihm ALLES viel zu langsam vorkam, und sein Blick war noch immer irgendwie nach innen gewandt, als könne er dort das Finale bereits sehen. Das Finale – und den Racheengel.
Kein Koks, sie war bei glasklarem Verstand. Und los: Kurz vor sechs Uhr morgens riskierte Linda es doch noch und schlüpfte, die Zigarette fest zwischen die Lippen geklemmt, zu Graf ins Wohnzimmer hinein. Der Kronleuchter verbreitete trübe Grablicht-Helligkeit. Graf war komplett angezogen auf der Couch eingeschlafen. Sie schmunzelte in sich hinein, blieb ganz still stehen, plötzlich froh, daß sie ebenfalls angezogen war, rauchte, starrte auf ihn hinab und wußte nicht mehr, ob sie es wirklich durchziehen konnte. Ihn streicheln? IHN auf den Mund küssen und – ? Er war nicht der süße Olli, sie war nicht in ihn verknallt, sie wollte ihn nicht spüren, er sah so alt und verloren aus, daß sie sich nur noch ekeln konnte – und wieder davonstürzen wollte. Er starrte ohne zu blinzeln zu ihr herauf. Sie merkte es erst jetzt, sie war wie vom Donner gerührt. Auf einmal wußte sie, daß er gefährlich war, daß sie ihn viel zu lange unterschätzt hatte. Verlierer. Zahnloser Straßenköter. Aber immer noch gefährlich. Möglich, daß Typen wie er gar nicht mehr richtig schlafen konnten; er stieß sich träge und keuchend vollends aus seinem Dämmerzustand hoch, rollte sich auf einen Ellbogen, blinzelte sie unter wirren, fettigen Haarlocken mit blutunterlaufenen Augen an, krächzte: »Was gibt’s?« Ließ sie eine unangenehme Strahlenmischung aus eisiger Erwartung und Ablehnung spüren. »Ich wollt’ Sie nicht aufwecken – «
»Was dann, kleines Ständchen bringen?« Sie ging leichtfüßig zu ihm, setzte sich ans Fußende der Couch; ignorierte seinen Dunst aus altem Schweiß und frischem Alkohol, hielt sein Starren aus. »Nur danke sagen… Dafür, daß wir immer noch hier pennen dürfen. Auch für Mike.« »Geht klar, ich meine – für Ollis Freunde.« Fasziniert und abgestoßen zugleich beobachtete sie, wie seine Zunge wie durstig geworden über die wulstigen Lippen tastete. Sein Gehirn funktionierte blendend, nur die Stimmbänder klangen nach rostig aneinanderscheuernden Stahlfasern. »Ihr seid doch Ollis Freunde, oder –?« Schroff. Sie dachte: Der traut uns nicht – und kalkulierte bereits die Konsequenzen. »Klar sind wir das. Zweifeln Sie daran?« Er wackelte mit dem Kopf, gähnte, setzte sich auf – bereit für eine kleine Nachmitternachts-Predigt… oder Schlimmeres. Er nuschelte: »Ziemlich riskant, was ihr da macht. Verdammt riskant… Aber eure Sache. Laßt Olli da raus.« Lindas Miene wurde steinhart; kalter Rauch füllte ihre Lungen, vereiste sie, wollte und wollte nicht mehr hinausströmen. Keine Chance, jetzt noch zu versuchen, die Hand an ihn zu legen und – Ganz langsam, ohne zu atmen, lauernd, stellte sie die entscheidende Frage: »Und? Haben Sie der Polizei was erzählt?« »Aber logisch«, prustete er so unverschämt spöttisch und überlegen heraus, daß sie ihn dafür haßte. »Ich geh’ immer als erstes zur Polizei. Problemchen? Polizei. Hab’ denen gesagt, sie sollen euch einbuchten, wegen schwerer Körperverletzung, Mordversuch, Betrug – « Linda atmete die Kälte aus, hörte nur zu – bereit zuzuschlagen oder davonzulaufen.
Graf wurde ernst und eindringlich, beugte sich zu ihr herüber. »Mädchen… Warum, glaubst du eigentlich, mach’ ich die Schießbudenfigur für euch, hm?« »Schätze… damit die Bullen Olli in Ruhe lassen.« Sie wartete auf seine Reaktion. Spürte Eisberge zerbersten und die Trümmer in ihr Gesicht wehen. Der alte Versager schnaufte nur abfällig. Sie hakte nach… provozierender: »Und? Glauben Sie, das haut hin? Die Bullen glauben, die Videos sind von Ihnen?« »Wenn, dann nicht mehr lange…« »Fragezeichen.« Sein Gesicht war voller Schweiß und Resignation. »Ich hab’ neuerdings einen ständigen Begleiter bei mir. Wenn noch mehr Fakes von euch auftauchen, dann kann ich’s logischerweise nicht gewesen sein.« Oberwasser – sie zuckte leichthin die Achseln: »Schade eigentlich. Gerade, wenn’s anfängt, Spaß zu machen.« Seine fleischige Pranke schoß heran, packte sie, riß sie nach vorn und in seine Schweiß-Alkohol-Ausdünstungen hinein; da war ein blutrotes Lodern – und dann nur noch diese erschöpfte Totenstimme: »Was, Bitteschön, macht denn Spaß daran, andere Leute totschlagen zu lassen –?« »Das wissen Sie nicht?« Oh, sie spürte sein Entsetzen längst; sie hörte es in seinen gepreßten Atemzügen aus ihm herausquellen – und saugte es lustvoll TIEF in sich hinein – kichernd: »Faken macht süchtig. Du allein hast alles in der Hand. Du kannst alles beeinflussen. Du bist das Schicksal.« Die falschen Worte: Angewidert stieß er sie weg. Aber sie hatte ihn. Hatte seine Seele. Seine Ehre. »Scheiße«, flüsterte er, als müsse er sich erbrechen. »Ihr seid so kleine Nummern. Ihr seid so borniert, ihr seid so dumm. Ihr geht in den Knast – für Peanuts.« So monoton. Aber – er war
gut für sie, er gab ihr etwas, er hatte keine Ahnung davon, aber er gab ihr etwas… Worte, Lebensenergie, neue Ideen. Offenbarungen. Laß ihn laß ihn reden, hör nur zu, jetzt-jetzt! Und er redete sich tatsächlich in Rage, redete und produzierte sich mit dieser monotonen Totenstimme – und schoß ihre Phantasie endgültig in den Orbit: »Mädchen, mit keinem Filmchen der Welt, mit keiner Nachricht, machst du richtig große Kohle…« »Außer – « »Außer mit dem angekündigten Ereignis. Mit der angekündigten Katastrophe.« Er sah ihr an, daß sie es noch nicht ganz kapiert hatte. Sie dachte – in ihrer Lolitastimme: Streng dich an, sie schickte ihm telepathische Kommandos: Sag’s mir, Versager, gib’s mir, zeig’s mir… bist so klug und groß und stark, bring’ dem süßen, versauten, verlorenen kleinen Mädchen was bei – Vielleicht war er tatsächlich so weggetreten, wie er in diesem Moment aussah. Vielleicht aber – »Linda… warum stehen Leute nachts um vier auf und gucken Boxen?« »Weil sie hoffen, daß Blut fließt…?« Graf wedelte mit einem klobigen Zeigefinger vor ihrer Nase herum. »Weil sie WISSEN, daß Blut fließt.« Plötzlich erregt, ertrug sie seine Nähe, seinen Geruch nicht mehr und sprang auf. »Wieso? Sie meinen, die Riesenquote bringt nur das, was angesagt ist… also… worauf die Spießer den ganzen Abend warten – « Er riß sie mit sich, stürzte sie kopfüber in seine VISION. »Ja. Ein Flugzeug wird entführt und auf einen anderen Kurs gebracht. Aber der Sprit reicht nicht mehr bis zum nächsten Flughafen… und alle wissen das. Der Pilot schickt verzweifelte Funksprüche… Werden sie in den Bergen
zerschellen? Gelingt ihm eine Notlandung auf dem Wasser? – Wir berichten live. Bleiben Sie dran. Bleiben Sie dran.« Ein Credo – wie mit Menschenblut geschrieben. Sie hielt die Luft an, bis sie, nur für eine einzige Sekunde, das Bewußtsein verlor.
Der Heiligenschein rings um ihre Dreieinigkeit war verpufft wie in einer Benzinexplosion, zurück blieb nur die Dornenkrone und die Selbstgeißelung: Feigling-FeiglingFeigling, du elender Feigling. Aber mit einem seltsam leichten Gefühl der Verlorenheit und des Wissens um Unausweichlichkeit und Schicksal wußte er auch, er war zu schwach, sein dunkler Zwilling war nicht länger in Glas gebannt, er war aus dem Spiegel herausgekrochen und zu einem Bruder Lindas und Mikes mutiert. Olli krümmte sich auf dem Notsitz des Jeep-Cabrios zusammen, lächelte, ohne es zu merken, sein Gesicht war grau und alt, er raffte den Kokon aus Zeitlosigkeit und Zurückgezogenheit schutzsuchend enger um sich – er wollte nichts mehr, als seine Schwäche beichten: Ich bin ihnen nicht ebenbürtig. Und er würde diese Aktion nicht mehr verkraften, er würde wahnsinnig werden. Er konnte nicht mehr zurück, er konnte sie nicht verraten, aber lieben – lieben konnte er sie auch nicht mehr richtig – oder doch? Er wußte es nicht. Er wußte nur, er konnte nichts tun – außer letzten Endes seinen ganz persönlichen Eintrittspreis in die Hölle allein zu bezahlen. Er war so tot wie Petra Nickel, obwohl er sich noch bewegte, obwohl er bei ihnen war, mit ihnen unterwegs war, in einem Zwanzig-Kilometer-Radius um München herum sämtliche in Frage kommenden Bahnlinien abklapperte. Obwohl er noch dachte und Angst, SCHRECKLICHE Angst und Panik empfand.
Lindas Offenbarung, Lindas Plan war als riesiger Pulsschlag allgegenwärtig. Irgendwann mittags rief sie über Handy mit verstellter Stimme bei Schuster an und kündigte das EINE, große Ereignis an… und einen weiteren Kontakt – vielleicht, und hatte bereits aufgelegt. Sie verlangte nicht einmal, daß er es als Meldung in den Nachrichten brachte. Sie wußten alle, daß ab jetzt die Uhr tickte, daß das Baby bereits WUCHS und GEDIEH. Das angekündigte Ereignis. Die angedrohte Katastrophe. Die ganz große Quote. Natürlich würde er die Meldung bringen – mindestens im Stundentakt. Würde die Zuschauer puschen, bis zur Hysterie. Heiß, ganz heiß: Sobald wir Neuigkeiten und BILDER haben, berichten wir LIVE. Bleiben Sie dran. BLEIBEN SIE DRAN. Die Höllenfahrt ging weiter. Sie fanden die EINE, ULTIMATIVE Stelle. Sie nahmen die Schienen und alles andere genau unter die Lupe, stoppten die Zeit, die sie benötigen würden. Linda sagte: »Wir müssen es anheizen, richtig anheizen, aber wir dürfen ihnen keine Chance lassen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, alles muß wie ein Zahnrad ins nächste greifen, versteht ihr?« Sie besorgten sich schwarze Skimützen aus Wolle (in die sie Schlitze für Augen und Mund schnitten), Overalls, Stiefel, lederne Arbeitshandschuhe, schweres Werkzeug, sie schmiedeten Pläne. Die Uhr tickte-tickte-tickte immer schneller. Linda knuffte ihn in die Seite und stichelte: »Mach dir bloß nicht in die Hose, Olli!«
Wenn er die Augen schloß, dann hörte er nur noch das stählerne Brausen großer, schneller Züge. Unausweichlich…
Drei Monitore – drei Fenster in die Hölle. Leitmayr raste mit Blaulicht und Sirene zu Grafs Haus – und starrte im Geiste immer noch auf die Bildschirme der Firma VITEC/Marina Gerstmann: Maskenmann, Lkw-Crash, die kaputte Petra-Nickel-Gliederpuppe – sekundenlang war er desorientiert, es war, als habe ihm jemand Hornissen durch die Ohren gejagt. Er konnte Batic immer noch nicht erreichen. Statt dessen wurde er, wie in einer Zeitschleife gefangen, Marina Gerstmanns und seine eigene Stimme einfach nicht los – Echos wie von Schüssen. »Schlägerei, Lkw-Unfall, Todessprung – das ist alles mit derselben Kamera aufgenommen.« Er hatte sich von halb sieben bis halb neun vor dem Bürogebäude von ISAR-TV herumgedrückt, um sie allein zu erwischen, um ihr die beiden anderen Kassetten zur Prüfung geben zu können. Er hatte dem Ergebnis entgegengebibbert. Jetzt hielt er den Kopf schräg geneigt, als höre er schlecht; oder als wolle er ES nicht hören. »Und das können wir auch beweisen?« Sie machte eine Geste – ganz undramatisch. »Bei einer neuen Kamera is’ die Videospurenlage, unter’m Mikroskop betrachtet, so gerade wie mit dem Lineal gezogen. Es gibt natürlich Toleranzen, aber in DEM Fall hier ist die Spurenlage dermaßen verzogen, daß sich der Defekt ganz eindeutig einer ganz bestimmten Kamera zuordnen lassen wird. Wenn sie sie auftreiben.« »Wie sicher ist das?«
»Wie sicher ist ein Fingerabdruck?« Sie lächelte. Er bemerkte, daß sie die Haare heute nicht hochgesteckt, sondern offen trug. »Hilft ihnen das jetzt?« erkundigte sie sich. Er lächelte zurück. »Und ob!« Diesmal hätte er fast die Kassetten vergessen. »Herr Kommissaaaar! Ihre Beweise!« Sie drückte sie ihm energisch in beide Hände. »Mit Ihnen würd’ ich wirklich ganz gern noch mal…« Er sah sie an, verlegen, gebranntes Kind, großer Junge, in Gedanken längst unterwegs und zerrissen. Brachte den Rest endlich doch noch heraus: »… zusammenarbeiten.« Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Sie denken jetzt was Falsches!« beteuerte er treuherzig und meinte es ganz ehrlich. »Wirklich?« Nicht von dieser Welt! Lawinenexpreß – er fuhr schneller, bedauerte, daß sie heute kein einziges Mal nich’ gesagt hatte, war bereits wieder ernst, unter DRUCK, kurbelte das Fenster herunter, hieß den Fahrtwind und die Kälte willkommen.
Er schlief, schrie, erwachte, schlief, schrie, erwachte – aber der Alptraum ratterte und brauste und dröhnte in einem mörderischen ICE-Tempo weiter; Linda und Mike schleppten ihn in seine Wohnung, drückten sein Gesicht in eiskaltes Wasser, zwangen ihn, einen halben Liter Kaffee zu trinken und schrien ihn an: »Hol die Kamera und den Rest, mach-mach mach!«, und er zerbröckelte innerlich immer weiter und gehorchte. Konnte keine eigenen Gedanken mehr fassen – und versuchte dennoch, Gegenstrategien zu entwickeln. Vielleicht kann ich sie doch noch –
Zug. Sie haben es auf einen vollbesetzten Zug abgesehen. Es war 17.03 Uhr. Sie waren seit genau neuneinhalb Stunden unterwegs – Blitzkrieg, alles war bereit. Linda und Mike warteten draußen, im Auto – ungeduldig. Nach zwei Minuten begannen sie zu hupen, lang-kurz, laaaang-kurz. Seine Mutter war im Sender, oh, natürlich war sie das, sie hatte ihm eine hastige Nachricht auf Band gesprochen, er erkannte ihre Stimme, doch er verstand nicht, WAS sie plapperte, es war auch egal, vermutlich schwärmte sie von der angekündigten Katastrophe. Er packte Camcorder, die große Videokamera, Hi8 Kassetten, Normalkassetten, Stative, Ersatzakkus, Taschenlampen in seine dunkle Sporttasche und sah den massigen Schatten seines Vaters (nicht Petras Schatten, o nein, nicht ihr Schatten, nicht bei Tag) draußen, vor dem großen Fenster, vorbeihuschen. Lindas und Mikes Gehupe hörte auf. Ollis Gesicht begann zu zucken. Er warf eine Fleece-Jacke über Tasche und Ausrüstung. Alle Türen standen offen. Der Schemen seines Vaters kam schon herein. »Na, wieder mal auf ‘m Sprung, Junior?« »Naja, eigentlich wollte ich – « Es interessierte ihn nicht wirklich. Er wedelte mit dem Kuvert herum. »Olli, woher kommt das Geld? Und jetzt erzähl’ mir nicht, vom Weihnachtsmann – « Ganz mechanisch: »Das ist nicht von den Fakes, falls du das meinst – « Oliver konnte das Gesicht seines Vaters kaum erkennen; zwei Geister, die sich unterhielten – keine Probleme, völlig harmlos: »Wo kommt das Geld her?« wiederholte sein Vater, plötzlich übertrieben ernst und nachdrücklich. Er sieht es mir an, er spürt etwas, er weiß es, er –
Olli dachte: Hilf mir. Er dachte: Nein, o nein, geh weg. Der starre Blick Grafs ließ seine Wimpern verräterisch flattern. Olli sah weg, seinem eigenen, flüchtenden Schatten hinterher. Er zeigte wortlos Richtung Decke – zweimal. »Hab’ ihr gesagt, ich brauch’ ‘ne neue Videoausrüstung.« Gab sich zerknirscht – schmollte. »Und wie kommst du auf die Idee, daß ich von dir Geld brauche?« Da es vermutlich von ihm erwartet wurde, zuckte er gleichmütig mit den Schultern, beschwerte sich: »Jetzt hab dich doch nicht so! Wenn’s bei dir wieder besser läuft, krieg’ ich’s zurück, aus.« Sein Vater schüttelte den Kopf. Er stapfte im Zimmer herum. Er würde sich nicht abwimmeln lassen. »Olli, wenn’s von IHR ist… nicht mal gelieh’n.« Übereinkunft – sie grinsten sich stumm an. Ollis Magen verkrampfte sich vor Angst. Die Uhr ticktetickte-tickte. Der Zug – längst unterwegs. Das Rattern, Schleifen, Brausen wurde ohrenbetäubend. Hörst du das auch – Papa? Sein Vater verdrehte die Augen – keine richtige Antwort war auch eine Antwort; Graf gab sich einen Ruck und schüttelte ihn am Arm, hatte noch etwas auf dem Herzen. Das Gefühl des Unwirklichen explodierte vollends. Jetzt hört Olli Grafs Stimme nur noch wie einen verzerrten Ton aus dem Anrufbeantworter: »Kannst du mir eins in die Hand versprechen, Olli, hier in die Hand – ? Daß du mit diesen Geschichten aufhörst?« »Was meinst ‘n jetzt damit?« »Na, diese Sachen mit deinen… mit Mike und Linda.« Er kann ihn nicht anlügen, kann es nicht, er liebt ihn doch, er schweigt verlegen, aber sein Vater hat die Sporttasche längst gesehen – er ahnt etwas – »Ihr habt doch wieder was vor?«
Es ist eine Feststellung. Jetzt schreit Olli ihn an: »Ich kann meine Freunde jetzt nicht im Stich lassen!« Draußen wird wieder gehupt – lang-kurz, lang-kurz. »Freunde!« stößt sein Vater heraus. »Ich kann dich doch hier nicht einschließen, Mann – « Oliver reißt die Sporttasche an sich. »Es ist das letzte Mal. Ich versprech’s dir.« Kein Anschluß unter dieser Nummer. Verzeih mir. »Sag mir wenigstens, WAS ihr vorhabt – « »Schau Nachrichten – « Er gibt ihm einen Klaps, er hätte ihn gern umarmt, wie früher, aber er spürt, daß Tränen in seinen Augen brennen, und so reißt er sich los, stürmt aus der Wohnung, aus der Villa seiner Mutter, aus seinem Leben davon.
Der Tag war kühl und bewölkt geworden – das paßte durchaus zu Leitmayrs Stimmung. Ausgeflogen. Fehlanzeige. Das hier war bereits sein zweiter Versuch innerhalb von zweieinhalb Stunden, hier draußen ein menschliches Wesen anzutreffen. Sämtliche Fensterläden waren geschlossen und verriegelt; Hendrik Grafs Haus war so komplett verbarrikadiert, als stehe die Landung der Marsmenschen unmittelbar bevor. Leitmayr parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite, schaltete das Abblendlicht aus und starrte eine Weile mit einem jämmerlichen Alles-entgleitet-mir-Gefühl vor sich hin; im Radio brachten sie Jazz und Blues, wild durcheinander. Er telefonierte mit Carlo und scheuchte ihn und noch zwei Kollegen zu Ruth Salina. Batic war auch via Handy noch immer nicht zu erreichen. Leitmayr dachte sich zum wiederholten Mal seinen Teil dazu und verkniff sich jede Gefühlsregung. Nur zur Sicherheit wiederholte er, mürrisch,
widerstrebend, sein Lieblings-Mantra Batic betreffend: Ivo weiß schon, was er tut. Er ignorierte seine Kopfschmerzen, gab sich und Graf noch fünf Minuten, spielte mit dem Gedanken, eine gewisse MAZTechnikerin anzurufen und sich nach den neuesten Bullenwitzen zu erkundigen. Nach dreißig Sekunden strich er die Frist rigoros auf zwei Minuten zusammen. Er hatte Beweise und Pläne. Tatenlosigkeit oder Ablenkung in diesem Stadium machten ihn gefährlich gereizt – Aufschlagzünder. Die Lichtverhältnisse veränderten sich. Das Gebäude, das er mit zunehmendem Frust observierte, war ganz übergangslos nur noch ein dunkler Klotz in einem mystischen Treibnetz aus schnell wandernden, ausbleichenden Lichtflecken und tiefen Schatten; es war, als rücke es aus der Wirklichkeit davon und in eine bedrohliche Schattenzone hinüber. Möglich, daß sich die Nacht entschlossen hatte, schon zur Rush-hour über München hereinzubrechen. Leitmayr drückte sich in eine aufrechtere Haltung hoch; so langsam wurde es empfindlich kalt in dem Wagen. Draußen, in den angrenzenden Gärten, rauschten und raschelten die altersmorschen Bäume und Sträucher lauter; in dem mit Autowracks und ausgebauten Motoren vollgestellten, benachbarten Grundstück standen drei etwa siebzehnjährige Jungen in weiten Skater-Hosen beieinander. Sie waren ihm vorhin noch gar nicht aufgefallen, tranken Bier aus Flaschen, kickten irgendwas zwischen sich umher und rülpsten ab und zu – modern talking. Bevor er endgültig müde wurde und den Schlaf viel zu vieler durchwachter Nächte nachholte, stieg er aus und rannte zu dem Haus hinüber. Erste Regentropfen wehten ihm ins Gesicht. Er drückte sich in den Windschatten, hämmerte gegen die Tür und lauschte den Echos. Nichts rührte sich.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, dachte er: Die Ruhe vor dem Sturm. Er klemmte seine Visitenkarte in einen Riß im Holz, kritzelte mit einem stumpfen Bleistift Rufen Sie mich bitte an! darauf und motzte halblaut: »Wenn ich nur wissen würd’ – « Als er zum Wagen zurücklief, frischte der Wind auf, wurde zu einem Brausen, kleine Äste und Laub vom letzten Herbst wirbelten über die Straßen. Das Handy summte. Carlo brüllte ihm aus dem Hörer entgegen: »Franz, bei der Ruth Salina is’ auch keiner da, sie nicht und der Oliver auch nicht. Was mach’ mer denn jetzt? Fahr’ mer heim?« »Ach… die Kamera läuft uns schon net davon…« »Ja, Franz – was jetzt?« Leitmayr stoppte, die Hand am Türgriff, die Haare vom Wind und vom Regen vors Gesicht gezaust, schüttelte den Kopf, spürte – Fehler, großer Fehler, nicht noch mehr Zeitverlust. Er fühlte, wie die Puzzlestückchen in seinem Kopf riesig und schwer wie Trümmer nach einer Kontinentalverschiebung wieder ineinanderglitten und knirschend und krachend einrasteten; wußte es plötzlich, entschied, ärgerlich auf sich selbst, laut und wie unter STROM: »Carlo, check’ das Kennzeichen von diesem Jeep und gib’ die Fahndung raus.« »Jetzt aber, Franz!« sagte Carlo noch, aber Leitmayr antwortete ihm bereits nicht mehr. Die Luft roch nach Ozon und Schnee. Er mußte sich beeilen, warf sich hinters Lenkrad, stocherte den Zündschlüssel ins Schloß, drehte ihn und fuhr mit jaulenden Reifen an. Plötzlich wußte er, wie er es anstellen mußte – sein Kopf drohte vor lauter WISSEN und Angst, daß schon wieder längst alles zu spät sein konnte, zu platzen.
Der Wettergott war mit ihnen und ließ es aus vollen Kannen regnen – Mike und Linda schrien vor Lachen, warfen die
schweren Seesäcke mit der Ausrüstung hin und tanzten grau in grau und schwarz mit ausgebreiteten Armen im strömenden Regen über Schienenstränge. Es sah aus, als würden sich ihre vermummten Körper mit dem wogenden Dunkel und einem eigenartigen, mit Nässe getränkten Nebel vermischen und einfach davontreiben. Oliver beeilte sich, um sie nicht völlig aus den Augen zu verlieren; doch dann wurde er langsamer, weil er begriff, daß es DIE Gelegenheit war, sich einfach herumzuwerfen und davonzustürzen und sich irgendwo im Unterholz neben den Schienen zu verkriechen und den hellen Tag abzuwarten. Sekundenlang hatte er keinerlei Orientierung mehr. Da waren nur noch Geräusche wie von reißender, berstender Gehirnsubstanz. Dann, ganz plötzlich – Zwielicht, ein helles Gleißen. Er hastete zwischen abgestellten Waggons hindurch und dann an einer endlosen Abteilreihe entlang, schneller, hinter Linda und Mike her, es war wie ein Zwang – Eisenspäne auf einem superstarken Magneten. Ferne grüne und rote Gleissignale zwinkerten ihm warnend zu; er stolperte über ein weiteres Gleisbett hinweg, hörte das beinerne Krachen und Kollern rutschender nasser, bräunlich verfärbter Schottersteine, die ihn an alte, ungepflegte Zähne denken ließen. Die Nässe war jetzt überall, und mit ihr erhob sich ein Geruch nach altem Rost, faulendem Gestrüpp, morschen Holzbohlen. Er dachte nicht mehr nach, er spielte nicht mehr verrückt. Sie hatten die letzte Grenze überschritten – ab jetzt war es nur noch ein Sturz in einen unermeßlich tiefen Abgrund… und zu Petra Nickel: Sternschnuppen, deren schimmernde Spur sich bereits im Nichts aufzulösen beginnt. So ein schöner, trauriger, erlösender Gedanke. Irgendwann holte er Linda und Mike ein; sie hatten die Masken bereits vor das Gesicht gezogen und wühlten das
Spezialwerkzeug aus den Säcken – große Stemmeisen, Zangen, stählerne Keile, Splinte, Vorschlaghämmer. Mike herrschte ihn an: »Olli, jetzt mach schon, du bist der Kameramann – ohne Muster keine Hysterie!« Olli nickte nur; alle Worte steckten in seiner Kehle fest – aber mittlerweile war es Gewißheit: Allein durch Willenskraft würde es ihm niemals gelingen, seine dunklen Geschwister zum Aufgeben zu bewegen. Sein Blut kühlte weiter ab – trotz aller Schnelligkeit keine Reibungshitze. Dabei hörte er längst wieder Züge heranschießen, heranfauchen, Millionen Tonnen Stahl und Glas… und ahnungslose Menschen. Gehetzt wischte er sich den Regen mit dem Arm aus dem Gesicht, war endlich ebenfalls in gleitender, nachtschimmernder Bewegung. (Wie spät ist es, wie spät –?) Er knipste die batteriebetriebene Fotolampe an und hielt sie in Schulterhöhe – leuchtete das Gelände wackelig genug aus – alles muß gaaaanz authentisch aussehen, klar? Ja, klar. Obwohl DAS hier nur ein altes Rangiergleis war. Nur eine Attrappe für ihren kleinen Terror-Trailer. Die echte Falle mußten sie notgedrungen ganz nach Fahrplan in letzter Sekunde scharfmachen. Lodernde Panikgedanken: Das Licht zu lange an, so weit zu sehen wie ein Leuchtfeuer, WAS wenn-wenn-wennMike und Linda warfen sich in Position, setzten die Stemmeisen an, verkanteten sie – … jemand nachsehen kommt –? Take one – Olli filmte sie mit dem handlich-leichten Camcorder… und glaubte direkt hinter sich Hundeschnüffeln und gleitende Bewegungen zu hören, er schaltete die Lampe atemlos keuchend und herumkreiselnd aus. Horchte. Aber da war GAR nichts… Nur sein eigener, zischender Atem. Und der Regen. Oder? ODER?
»Was ist?« sagte Mike verhalten. »Nichts. Macht weiter –!« Unsichtbar im Zentrum eines Orkans. Ollis Gehirn verwandelte sich in eine Hochleistungs-Stoppuhr und gab sich und seinen Geschwistern insgesamt drei Minuten gleich einhundertundachtzig Sekunden. Erstens: Ihr seid wahnsinnig. Zweitens: Laßt euch wenigstens nicht erwischen. Drittens: Bietet kein Ziel. Klack: Zweiundzwanzig Sekunden waren um. Seine Augen wurden hellsichtig wie Eulenaugen; seine Blicke brannten Feuerkegel in das treibende Zwielicht. Stahl klirrte auf Stahl – Olli schaltete die Lampe wieder ein, filmte Mike und Linda eine Minute und dreißig Sekunden lang dabei, wie sie mit wuchtigen Schlägen die Stemmeisen unter die Schienen trieben, diese hochrissen, die stählernen Keile unterlegten und festhämmerten. KLACK. Die ersten beiden Minuten waren UM. »Okay, und aus!« Dunkelheit. Stille. Nur das Regenrauschen. Immer noch kein Zug. Immer noch keine Polizei mit Hunden. Linda und Mike starrten im Dunkel zu ihm herüber, als würden sie ihn wie eine übernatürliche Erscheinung wahrnehmen. »Vorsicht, nichts als Vorsicht«, flüsterte er und fragte sich, schlotternd vor Grauen, in was er sich verwandelte. Linda zerrte sich die Maske schon wieder herunter, ihre Augen glänzten vor Aufregung und Bewunderung wie Öl, kurz bevor es Feuer fängt. Doch bevor es brenzlig werden konnte, bedeutete Olli ihr, aus dem Bild zu gehen. Schaltete die Lampe wieder ein – Die letzte Einstellung aus der Halbtotalen: die beiden wie bizarre stählerne Schlittenkufen abgespreizten und nach oben gerissenen Stahlteile. KLACK: zwei Minuten zehn, fünfzehn, zwanzig – und AUS. Alles im Kasten – der Trailer war fertig.
Die Schuld, die Dunkelheit und der Regen krachten wie Millionen Tonnen Kohle auf ihn herab und ließen ihn fast in die Knie gehen. Laß es dir nicht nicht nicht anmerken. Der Geruch nasser Haare – Linda war bei ihm, streichelte sein Gesicht, riß ihm die Kassette aus dem Camcorder und sagte: »Dann mal los! Die böse Micky Maus ist schon unterwegs und spielt Glücksbote!« KLACK, das Startsignal schrillte erneut. Die Stoppuhr in seinem Kopf ratterte weiter – kalkulierte vollautomatisch: zweiunddreißig Minuten bis zu ISAR-TV, eine Minute, um die Kassette in den Nachtschalter zu werfen, fünfunddreißig Minuten für die Rückfahrt. Linda war bereits Richtung Jeep davongehastet – eine lautlos streunende Katze. »Feuchte Träume, Kleiner?« stichelte Mike und riß ihn in eine wilde Ringer-Umarmung und mit sich fort – kopfüber eine Schotterböschung hinab, in Deckung. Hinter ihnen, über ihnen, rauschte ein hellerleuchteter Zug vorbei – ein materialisierter Sturm. KLACK – achtundsechzig Minuten Atmen mit offenem Mund… und WARTEN. Und danach: der Countdown.
21.03 Uhr – sie rauschten mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch den Sturm und ein Geprassel aus Regentropfen, die fast schon Hagelkörner waren, auf Landstraßen, Schnellstraßen, Autobahnen Richtung Süden, dann wieder Richtung Westen. Ivo – ich brauch dich! Wann hatte er angerufen und nur diesen einen, verdammten Satz herausgebracht, wann war Olli abgetaucht (um es-es-es mit seinen Freunden wieder zu tun) – vor drei Stunden, vier Stunden?
Batic warf Graf einen aggressiven Blick zu, öffnete den Mund, um ihn anzuschreien – doch dann war es, als werde mit einem Dietrich eine bisher völlig geheime Kammer tief in ihm geöffnet. Hilf ihm, sagte etwas ganz ruhig aus dem Dunkel dieser Kammer heraus. Und dann, viel leiser: Hilf dir. Mach, daß es aufhört! Um eines einzigen, erinnerten Satzes willen: Das Beste, was ich je gemacht hab! »Wo sollen wir sie suchen?« sagte er schließlich nur ein wenig ärgerlich und hilflos – und spürte seine Hände am Lenkrad blutleer und steif werden. »Wo? In dieser Hölle? – Hendrik, Scheiße – « Aber nachdem Graf während der vergangenen halben Stunde immer hektischer herumtelefoniert hatte, verfiel er jetzt zusehends in Lethargie. Er zuckte nur die Achseln, vermied es, ihn anzusehen. Er war kaum ansprechbar; in der grünlichen Armaturenhelligkeit sah er aus, als versuche er trotz stechender Schmerzen in der Brust eine Beschwörungsformel zu murmeln. Batic wendete, ließ den Daimler, in Schleier aus Regen und Abgase gehüllt, herumschleudern und fuhr Richtung Autobahn nach München; die Irrfahrt dauerte an und an, der Sturm schleuderte den Regen jetzt wie flüssiges, beinahe schon wieder erstarrendes Glas von allen Seiten heran und schüttelte den Daimler durch; das Schwirren der Scheibenwischer wurde langsamer, bis es nur mehr ein gequältes Kratzen war. Als Graf sich endlich bewegte, war das fast wie eine allumfassende Rückkehr in die Normalität – für Sekunden beruhigte sich selbst das Wetter. Graf vollendete seine Bewegung und zerrte einen kleinen, batteriebetriebenen Fernseher hinter dem Beifahrersitz hervor – schaltete ein, suchte herum, bis er ISAR-TV einigermaßen störungsfrei empfing. Hellsichtigkeit – es ging los, und sie waren live dabei:
»… soeben erhalten wir die Nachricht, daß in unserem Sendegebiet ein Anschlag auf einen Schnellzug geplant ist. Angeblich gibt es Filmmaterial. Frage an die Regie… Ist eine Zuspielung da?« Die Studioregie über Mikro: »Moment, kommt – und auf Sendung!« Graf schluckte aufstöhnend Luft; plötzlich schienen seine Augen vor Nässe zu explodieren. »Sind sie das?« Batic bremste herunter, ruckte in dem erneut und dutzendfach wütender einsetzenden Regen-Sturm-Inferno herum und erhaschte Wackelbilder – zwei Maskierte mit Vorschlaghämmern an einem Gleisbett, abgespreizte Stahlsplitter, rings um sie herum, unter Leichentüchern aus nassem Dunst und Finsternis: ein Ödland mit einem labyrinthischen Gewirr aus Schienen, überwucherten Bohlen, Gestrüpp, fernen Gleissignalen. Der Ort konnte überall sein. »Sind sie das?« Diesmal schrie Batic wirklich. Graf nickte nur. Begriff in diesem Moment selbst die letzten Zusammenhänge und schlug sich die Hände vors Gesicht, hechelte. Batic hörte zu, schoß Sperrfeuerblicke auf die im Regen wirbelnde und wogende Straße UND Richtung Monitor, auf die Sprecherin von ISAR-TV sah, daß es jetzt mit Ruth weiterging, fluchte – alles gleichzeitig. Grafs tonloses Geschwafel – kaum verständlich im Wüten des Regens. »Und ich gottverdammter… gottverdammter Idiot bin schuld. Hab’ sie auf die Idee gebracht. Jetzt dreh’n sie ihr großes Ding, jetzt dreh’n sie’s. Oh, Olli. Olli.« Jetzt war seine Stimme kaum mehr menschlich, nur noch ein herausgeschluchzter Hauch, es schien, als wolle er sich auf dem Beifahrersitz zu einer Kugel zusammenrollen und einfach zu existieren aufhören. Aber Ivo Batic hörte HINTER Grafs Winseln noch ein ganz anderes Wimmern, die Splitterstimme einer alten Frau: Bazi – mein
Bazi, o mein Bazi und dachte resignierend: Opfer. Alle zusammen Opfer der einen, großen Maschinerie. Die Heizung war immer noch nicht repariert. Plötzlich war es RICHTIG kalt im Wagen. Bazi. Mein Bazi. Als sei noch jemand… oder etwas… bei diesem Mistwetter und Tempo achtzig zugestiegen.
Das Gefühl einer alles verschlingenden Klaustrophobie wurde schlimmer, es war 21.22 Uhr, Regen und Sturm fraßen sie, schluckten sie, wirbelten sie in einen Alptraum prasselnder Geräusche – rasende Atemzüge, Funk-, Fernsehgetuschel, knirschendes Nachdenken: Wo-wo-wo bringen sie’s über die Bühne? Vom Monitor sprangen ihn Studiohektik und Durcheinanderreden und IHRE Stimme an: »… Ruth Salina – guten Abend, liebe Zuschauer. Aus aktuellem Anlaß haben wir unser Programm geändert und berichten ab sofort in einer Live-Sondersendung über den Anschlag auf eine Bahnlinie. Unbekannte haben uns den Videobeitrag zukommen lassen, den Sie soeben gesehen haben…« Batic drosch den Daimler über ein Bahngleis und wunderte sich, daß er keine Schranken, keine Signallichter gesehen hatte. Landstraße, eine Allee wogender Pappeln in Regen und Nebelfetzen, dann wieder Schwärze und nur der eine Gedanke: das Schlimmste verhindern. Er trat das Gaspedal ins Bodenblech, das Abblendlicht versickerte bereits einen halben Meter vor den Strahlern. IHRE Stimme, Ruths Stimme – hör zu, hör zu, vielleicht: »… sie wollten ins Fernsehen, und wir haben überlegt – sollen wir ihnen diesen Gefallen tun? Aber schließlich haben wir ausgestrahlt, weil wir eine Pflicht haben: die Pflicht, zu informieren.
Wir haben natürlich auch sofort die Bundesbahn und die Polizei verständigt und hoffen, daß noch alle Zugführer gewarnt werden können. Wir wissen nicht, wo in diesem Land der Anschlag stattfinden, welcher Zug entgleisen soll. Ich bitte daher auch Sie, liebe Zuschauer zu Hause, um Ihre Mithilfe. Wenn Sie etwas Verdächtiges beobachten, Personen, die sich am Bahndamm aufhalten oder sich an Gleisen zu schaffen machen, BITTE, liebe Zuschauer – rufen Sie sofort an. Rufen Sie an unter der Nummer 345876. Helfen Sie uns. Helfen Sie mit, daß bei diesem heimtückischen Anschlag keine Menschen zu Schaden kommen.« Einspielungen, aufgenommen mit Handkamera – über Pisten hastende Reporterteams, ein startender Hubschrauber, balkendicke Scheinwerfer über nässeglänzenden Hausdächern. Gute Bilder. Geile Bilder. Batic verwies Ruths Stimme in den Hintergrund, schaltete sein Handy ein, tippte Leitmayrs gespeicherte Nummer blind – klappte das Handy wieder zusammen – »… die Saboteure haben angekündigt, uns weitere Bilder umgehend zukommen zu lassen, wir von ISAR-TV hoffen inständig, daß wir ihnen diese Szenen nicht zeigen müssen, aber wir…« Schneller, und plötzlich innerlich ganz aus EIS, hörte er sein Herz, sein Blut, ihm einen ganz eigenen Rhythmus vorgeben; plötzlich war die blinde Wut weg, war er wieder er selbst, fiebernd unter der Erkenntnis DER EINEN, ENTSCHEIDENDEN Assoziationskette: … haben angekündigt, uns weitere Bilder umgehend zukommen zu lassen… – Also können sie nicht allzu weit WEG sein von ISAR-TV Live. Große Quote. Fortsetzung folgt. Bleiben Sie dran. Gedanken wie LEUCHTSPURGESCHOSSE.
Er war dabei, etwas einzukreisen. Er fuhr hochkonzentriert schneller, dachte: Radius. Der Himmel riß auf – ein violettes, dann hellblaues Loch inmitten eines schwarzen Sogs. Der Regen gewährte eine Atempause. Batic kitzelte die Tachonadel auf hundertfünfzig hoch – hatte plötzlich ein ZIEL. »… ohne unser Zutun, meine Damen und Herren, ist ISAR-TV zum Zentrum dramatischer Rettungsaktionen geworden. Immer noch rasen Schnellzüge durch die Nacht – und einer von ihnen womöglich in eine schreckliche Katastrophe hinein…« Batic riß Graf aus seiner Starre – schrie: »Er hat ein Handy, versuch es weiter – « Graf nickte, atmete wie nach stundenlangem Innehalten plötzlich rasselnd ein und wieder aus, tippte mit fliegenden Fingern, horchte, tippte, horchte – Ollis Handy blieb abgeschaltet, keine Verbindung. Olli war nur noch ein Phantom in einer apokalyptischen Nacht. »… und hoffen natürlich inständig, Ihnen, liebe Zuschauer, diese Szenen nicht zeigen zu müssen. Aber wir dürfen diese Informationen auch nicht vorenthalten, ISAR-TV ist zur unerläßlichen Informationszentrale geworden, hier laufen alle Drähte zusammen. Wir informieren Sie!« »Gott!« schrie Graf außer sich. »Hör dir das an!« Neue Perspektive: Opferperspektive. Batic feixte, verriet ihm seine Gedanken, zeigte ihm seinen Abscheu – nicht zum ersten Mal. Gedanken wie Leuchtspurgeschosse: BLEIBEN SIE DRAN. BLEIBEN SIE DRAN. BLEIBEN SIE DRAN.
Der Sturm trieb Leitmayr wie ein Geschoß in das Foyer; der Empfangschef erkannte ihn sofort wieder und zuckte alarmiert
hoch, sogar sein Mund vibrierte. Leitmayr brüllte jedes eventuelle Geschwafel nieder: »Wo geht’s zum Sendestudio?« »Was?« »Zum Sendestudio!« »Eine Treppe höher, aber – « Die letzten drei, vier Meter Richtung Treppe schlitterte er über den spiegelglatten Marmorboden und machte weitere zwei Sekunden GUT. Der Empfangschef geiferte hinter ihm her: »MOOOment, da können Sie nicht rein, die sind auf Sendung – « Opa, du hast keine Ahnung, was ich alles kann, wenn ich so richtig in Fahrt bin! Auf dem nur handflächegroßen Monitor des Fernsehers sah man tumultartige Zustände im Live-Studio, aus dem Off tönte, ganz verzerrt, eine Stimme: »Leitmayr – Kripo München… lassen ‘s mich durch – « Olli sperrte alle Bilder aus, verbarrikadierte sich in Blindheit, wollte es nicht wissen, wollte das Wir-haben-die-Sensationen-Gesicht seiner Mutter nicht mehr länger ertragen müssen – während Mike wie unter Strom johlte, krümmte Olli-Baby sich unter Phantomschmerzen und preßte schützend beide Hände um die Hoden. IHRE Stimme:»… begrüße ich Kommissar Franz Leitmayr im Studio und – « Alles verging in blutigen Fetzen. Züge donnerten und fauchten durch die Nacht; die endlose Waggonreihe wurde angekoppelt, Stahl krachte dumpf gegen Stahl, schickte hallende, die WELT erschütternde Echos in die Nacht. Mikes Marmorgesicht verwandelte sich vollends in eine glühende Teufelsfratze, Mikes Knochenfaust stieß ihn an, ohrfeigte ihn: »Hey, kennst du den noch?« Mikes Totenmaul kicherte und lachte und plapperte.
»… noch immer wissen wir nichts über die Saboteure und ihre Motive. Sind es eiskalte Mörder? Wollen sie Geld? Bis jetzt gibt es keine Anhaltspunkte, ob es sich um Erpressung handelt oder nur – « Olli setzte sich auf, riß die Augen wieder auf. Muß etwas tun. Sie wissen es, sie finden uns. Leitmayr boxte sich durch den Aufruhr, blinzelte in die Scheinwerfer, irgend jemand drückte ihm ein Mikro in die Hand. »… Herr Leitmayr… haben Sie neue Informationen?« »Wir haben Anhaltspunkte. Vermutlich beteiligt sind drei junge Leute, die einen roten Jeep-Wrangler-Cabrio fahren. Von hier aus die… äh… Bitte an alle Zuschauer: Wer einen roten Jeep in der Nähe von Bahngleisen sieht – rufen Sie bitte sofort die Polizei an – kann man die Nummer irgendwie einblenden?« IMPLOSION. Ollis Gesicht ruckte, schweißnaß und doch eiskalt, herum: »Mike, die wissen – «, plapperte er mit Baby-Stimme, versuchte es – versuchte es endlich: »Mike, schau, wir haben doch unsern Spaß gehabt, wir haben sie alle aufgemischt – warum – « »Du spinnst wohl! Das wird der absolute HIT, Mann – « Linda kam zurück – KLACK – zweiundachtzig statt achtundsechzig Minuten. Zeitverlust: vierzehn Minuten. Und der Zug: unterwegs. Und vor ihnen: noch eine Menge Arbeit mit den richtigen Schienen. »Aber – die Menschen… Was, wenn da wer draufgeht?« Leere Akkus. Keine Gefühle mehr. »Die sitzen doch wie im Tresor, und jetzt halt’s Maul.« Mike stürmte Linda entgegen, riß sie an sich, wirbelte sie herum, schrie: »Die haben angebissen, die haben sowas von angebissen, die senden das Ding ununterbrochen und LIVE!«
Olli blieb reglos, hörte, wie sie die Ausrüstung zu den Überlandschienen hinüberschleppten, hörte erste Hammerschläge, Kreischen von Metall, von rostigen Splinten in verwitterten, alten Bohlen… und, immer lauter, das Rumpeln und Dröhnen leerer Waggons, das Rauschen und Zischen und Brausen und Stampfen großer Züge, er verstand die Botschaft: Unausweichlichunausweichlichunausweichlich. Er schaltete sein Handy ein. Er hörte das Summen. Er meldete sich.
Graf jaulte mit sich überschlagender Stimme: »OLLI, Gott sei Dank, Olli, wo bist du?« Batic griff hinüber, riß Graf das Handy vom Ohr, hörte gerade noch die Baby-Stimme: »Darf… ich nicht sagen.« Steht unter Schock. Bricht zusammen. Ivo wußte endgültig: Die machen Ernst. Er blieb ganz ruhig, sagte eindringlich: »Oliver, hier ist der Ivo. Sag mir, wo ihr seid! Wenn du mir jetzt hilfst, dann kann ich später vielleicht auch was für dich tun – « »Kann nicht. Bitte. Wirklich nicht.« Störimpulse knatterten aus dem Hörer, Ollis Stimme wurde zu einem wischenden, flirrenden Stammeln: »… der Mike ist völlig durchgeknallt. Der schlägt mich tot, wenn ich was sage – « Batic bremste; er ließ den Daimler mit kreischenden Reifen an den Straßenrand schlingern – hörte richtig hin, HATTE ES: Dieses Knattern – das waren keine Störimpulse. Das war ein –
Der Hubschrauber tauchte in einer Flut aus krachendem Lärmen und Tentakeln aus blitzender Helligkeit aus den Wolkenbäuchen herab und im Tiefflug von Westen her über die Schienen. Plötzlich gab es für Olli nur noch dieses LICHT; es hatte die Intensität einer religiösen Offenbarung. Er richtete sich auf, hatte den kleinen Fernseher längst vergessen, krabbelte, das Handy immer noch in der Rechten, auf Händen und Knien die geschotterte, unkrautstrotzende Böschung zu den Gleisen hoch. Möglich, daß er weinte. Möglich, daß er ganz ruhig war. Mußte etwas tun, etwas vollbringen – und hütete sich, dies zu Ende zu denken. Manchmal-manchmal kann Linda Gedanken lesen, manchmal – Der Angriff aus dem dunklen Strömen des Regens erfolgte mit solcher Wucht, daß es ihn von den Füßen riß; seine Zähne malmten auf seine Zunge, Blut spritzte. Mike war da, war über ihm, zerrte ihn hoch und jagte ihn in einem stolpernden, zappelnden Wettlauf quer über die Schienen. Der Hubschrauber schwirrte rasend schnell von links heran. Plötzlich war es wie im Krieg. Preßwind fauchte herab. Lichtfinger tupften auf den Boden, ließen Reflexe über die Gleis-Adern blitzen – irrlichterten auf ihn zu – Aber Mike war wie ein Dämon aus dem Jenseits, Mike war schneller, schleuderte ihn mit einer letzten, irrsinnigen Kraftanstrengung unter die stehenden (immer noch stehenden??!) Waggons, schrie: »Deckung, Arschloch!« Der Hubschrauber dröhnte nur fünf, sechs Meter entfernt an ihnen vorbei, flog die Gleise ab… Laß es sie sehen, dieses eine, zerstörte Gleis, das Werkzeug, laß sie verschwinden, laß alles gut werden – … und wendete. Kam zurück. Olli kreischte Mike an: »Ich will weg, ich will weg, ich will weg!«
Mike stieß ein Grollen aus, lächelte ihn verschmitzt an und schlug ihm die Faust ins Gesicht, gegen den Kehlkopf; machte, daß er gurgelnd und wie in Todeszuckungen RUHE gab. Ruth Salina flatterte aufgeregt und mit anmaßenden Handbewegungen zu der Videowand hinüber und rief: »… habe ich Horst Freidank aus dem ISAR-TV-Hubschrauber in der Leitung. Horst, wie sieht es aus bei euch – « Noch mehr gestelztes Gerede – diesmal elektronisch verstärkt und von den Hubschrauber-Rotoren zerhackt: »Ja, Ruth, wir haben hier die Ruhe vor dem Sturm. Wir fliegen immer noch die Fernverbindungen der Deutschen Bundesbahn ab. Aus ermittlungstechnischen Gründen dürfen wir allerdings nicht sagen, wo genau. Aber das Attentat wird sich vermutlich im Sendegebiet ereignen – « Leitmayr ließ die Schultern hängen, spielte mit dem Mikro herum und dachte: KOTZ. Dachte: Abgehängt. Hinter den Kameras schrien zwei Dutzend Männer und Frauen durcheinander – produzierten die Sendung des Tages. Irgendwer hielt ihm einen Galgen, ein Mikro, vor die Nase. Leitmayr schlug ihn weg. Die Zeit lief davon. Wie wichtig ist es dir –? Sehr wichtig. Er hatte seinen Entschluß längst gefaßt, dort draußen, vor Grafs Haus; die Kontinentalverschiebungen in seinem Kopf (oder in unermeßlicher Tiefe?) begannen wieder zu knirschen und zu knacken. Leitmayr stieß im Dunkeln Körper beiseite, wühlte sich zurück zu Ruth Salina ins Scheinwerferlicht und VOR die Kameras. Dachte gar nichts mehr außer – benutz sie, wie sie dich benutzen. Ihm war speiübel. Aber die Adrenalin-Einspritzpumpe versorgte ihn mit genügend Energie. Mit großen Schritten ging er durch das Studio – mitten hinein in Ruths seelenloses BetroffenheitsTheater. »… also ist das Gebiet überschaubar. Wenigstens ein Fünkchen Hoffnung – «
Leitmayr umrundete die kitschige, blaue Theke, schob die Salina weg; er hörte das Blut in seinen Schläfenadern hämmern; dann spielte er seine letzte Karte aus – eisenhart; er sagte eindringlich in die Kameras: »Wir wissen, auf wen der rote Jeep-Wrangler zugelassen ist. Der Halter heißt Michael Weitzel. – Mike, vielleicht hörst du uns in diesem Moment… Gib auf, du bist identifiziert. Du wirst vor Gericht gestellt. Hört endlich AUF, macht SCHLUSS mit diesem Wahnsinn. Nehmt Kontakt auf, gebt eure Position durch… unter – kann man die Nummer wieder einblenden?« Ruth Salina nickte. Sie schwankte ganz leicht, ein einziges Mal nur – aber Leitmayr hörte den Panzer um ihre Seele knacken. Kontinentalverschiebungen. Das Begreifen, daß sie die öffentliche HETZJAGD auf ihren eigenen Sohn leitete, war wie Granatfeuer. Im Regie-Glaskasten beugte sich der Ressortleiter der Nachrichten GIERIG vor. Sein Habichtgesicht glänzte vor Schweiß. Leitmayr fletschte die Zähne, nahm keine Rücksichten mehr – auf niemand. Er ließ sich benutzen und für das goldene Kalb QUOTE mißbrauchen, und benutzte seinerseits ihre RELIQUIEN, redete beschwörend immer weiter in die Kameras mit den roten Lichtpunkten – ganz harmlos, ich bin euer FREUND, ich mein’s nur gut: »Linda, du bist doch ein kluges Mädchen… Komm schon… Und du Olli, Herrgott, du bist doch kein Massenmörder, denk an all die unschuldigen Menschen in dem Zug, den ihr hochgehen lassen wollt. Da sind auch Kinder dabei. Scheiße, Olli, du bist doch kein Massenmörder – « Keine Antwort. Keine Anrufe. Auch im Studio herrschte plötzlich nur noch eisiges Schweigen. Er schoß Blicke in das Dunkel hinter den Kameras, hinter der Menschenmauer, fühlte, wie es an ihm saugte und riß und zerrte. Momenteindrücke:
Die Salina schluchzte hinter geballten Fäusten vor sich hin – völlig weggetreten, Löwenzahnflaum im Sturm, wußte nicht mehr, daß sie immer noch auf Sendung war – sie wurde weggeführt. Leitmayrs Handy summte. Schuster hetzte aus der Regie –
Die Anspannung zerriß ihm die Brust – aber er war stärker; nach dem sechsten Summen hatte er Leitmayr endlich DRAN und schrie: »Franz, hör zu – Franz… hörst du mich?!« »Du, Ivo… im Moment – « Er brüllte ihn und sämtliche Störgeräusche nieder. »Hör zu, ich hab’ sie! Ich weiß, wo die sind! Stell die Positionen von allen Hubschraubern fest… wo die vor zwei Minuten waren. Exakt um – « Er riß den linken Arm hoch, starrte auf den Timer. »Exakt um 21.48 Uhr. Hast du verstanden? Die sollen dahin zurückfliegen, dieselbe Strecke. Einer von denen ist vor zwei Minuten da drüber, wo die sind! Mach – und gib mir Bescheid!« Er schrie es noch, als Leitmayr die Verbindung längst unterbrochen hatte. Der Regen tröpfelte nur noch. Batic ließ den Wagen ausrollen, ignorierte Grafs gepreßtes Atmen, ignorierte das Inferno auf dem Monitor, dachte an Züge in der Nacht, hörte einen Countdown durch seinen Kopf rattern und hielt es nicht mehr aus, nur dazusitzen. Er stieß die Tür auf und schnellte sich in das Dunkel und die Kälte hinaus, ging umher; er begriff erst Minuten später, daß sie im Schutz gewaltiger Pfeiler standen, daß der Betonhimmel über ihm ein Autobahnzubringer war. Leitmayr schnappte sich Schuster, riß ihn an der Krawatte herum und schleifte ihn zwei Schritte weit hinter sich her: »Ich brauch’ ein Büro mit Telefonanlage, schnell – «
Schusters Mund bewegte sich – ein Fisch auf dem Trockenen. Leitmayr hörte die Worte zeitverzögert; das Brausen in seinen Schläfen wurde zu einem Donnern. Er ließ Schuster los, jagte Richtung Regie-Glaskasten, hörte Schuster kommandieren: »Alles bleibt auf Sendung – Ruths Gesicht GROSS, ihren SCHMERZ, ihre BETROFFENHEIT.« Eine Volontärin begann hysterisch zu weinen. Verunsicherte Kameraleute. Schuster brüllte: »Draufbleiben!«, trat hinter die blaue Theke, ließ sich ein Mikro anstecken, sagte: »Zu viel Dramatik, meine Damen und Herren! Ruth Salina hat offenbar einen Schwächeanfall erlitten. Ich will versuchen, an ihrer Stelle weiter durch die Sendung zu – «
22.01 Uhr – DAS FINALE. Das Handy summte, Batic klappte es auf, als würde es sonst explodieren, hörte Leitmayr schreien, verstand kein Wort und brüllte ebenfalls: »Franz… du mußt lauter reden – « »Weilheimer Bahnhof… außerhalb, es muß dreihundert Meter Richtung – « Batic riß die Straßenkarte zu sich heran, breitete sie auf der Motorhaube des Daimlers aus, strich sie glatt – und sah wischende Bewegungen im Wagen; plötzlich hockte Graf hinter dem Steuer und gab GAS. Batic ließ die Karte davonflattern, taumelte zur Seite, schrie »Heeee!« und rannte neben dem Wagen her – Stotterbremse, Graf hielt doch noch an, Batic riß die Tür auf der Beifahrerseite auf, warf sich hinein – Graf zischte: »Weilheim, richtig?« »Richtig.«
»Fünf Minuten von hier – «
Er hustete immer noch Blut, aber er funktionierte wieder. Und gehorchte. Der Hubschrauber war weg, der Zug war unterwegs. »Macht, macht, noch zwei Minuten!« hechelte der Dämon, der einmal Mike Weitzel gewesen war, und eine gespenstische Linda rasselte: »Das angekündigte Ereignis, Olli, hat dein Papi gesagt. Die angekündigte Katastrophe, die bringt die KOHLE!« Er stellte gemeinsam mit ihnen entlang der Gleisstrecke die Stative auf, er montierte und justierte die Videokameras, starrte auf die zertrümmerten, verbogenen Gleise, spürte das leichte Vibrieren der Schienen, das Knistern der Luft, sah bereits die Bilder der Apokalypse, dachte O Gott o Gott – Und Gott hat ein Einsehen und schickt ihm einen vor ZORN tobenden Engel – und Oliver hebt ganz ruhig den Kopf in den Nacken, wischt sich Blut und Schleim von der Nase und empfindet nur noch Frieden. Die Stimmen der Dämonen, die ihm zurufen, vergehen in purem, strahlenden Licht, die Hexenworte »Weg, runter von den Schienen, hau ab, nur noch eine Minute, es wird HEISS… runter von den Schienen, oder – « prallen an ihm ab und zerfallen zu Staub, und er zertritt sie unter seinen Stiefelspitzen und kostet ein letztes Mal den Geschmack seines eigenen Blutes. Hundert Meter vor und über ihnen blitzte es grell auf; die ganze Welt schien sich aufzublähen und abzuheben und dann wieder in sich zusammenzufallen; die Scheiben des Wagens begannen leise zu klirren – aber der eine, große, alles zerschmetternde KRACH erfolgte noch immer nicht; im gleichen Moment riß das Fernlicht den roten Jeep-Wrangler aus der Schwärze, rechts, in der Sackgasse, bei den Lagerhallen. Graf stieg bereits auf die Bremse, Batic riß das Lenkrad herum, schrie: »Blockier ihn!«
Der Daimler schleuderte gegen das Heck des Wranglers; der Aufprall war dumpf und kaum zu hören. Graf riß die Handbremse hoch, wirbelte hinaus. Batic schnappte sich Schlüssel und Stablampe, war ebenfalls unterwegs, hetzte die Böschung zu den Schienen hoch, orientierte sich im Laufen – die Helligkeit geisterte im Tiefflug über eine Hunderte von Metern breite Ausdehnung aus Gleisen, Schotter, wucherndem Unkraut, uralten Bretterbuden, endlosen Reihen abgestellter Waggons. In der Ferne hallte lauter werdendes Metallflirren. DER ZUG. »Ivo – da vorn sind die Kameras – «, brüllte Graf, irgendwo vor ihm. DER. ZUG. KAM. Sie würden es nicht mehr schaffen, o Gott. In seinem Schädel explodierten Stahlkammern und spien bluttriefende Menschen durch die Nacht. Würden es nicht mehr schaffen. Wirklich nicht? Wirklich? Vielleicht überholten sie die Zeit; vielleicht war es Magie. Die letzten Meter – Seite an Seite. Graf jagte zu den Kameras, Batic sah die zerrissenen Schienen – und die Dunkelheit verwandelte sich in ein Züngeln und Flackern. Weitzel stellte sich Graf in den Weg, kreischte, völlig wahnsinnig geworden: »Sei nett – sei nett – «, warf sich gegen ihn und drosch ihn so beiläufig beiseite, als sei er nur ein Scherenschnitt. Batic wirbelte vorbei, sah ihn mit zuckenden Gliedmaßen stürzen. Konnte sich nicht um sie kümmern, um keinen von ihnen – konnte nur – Die Welt wurde vollständig dunkel, dann HELL. Der Preßwind der Hubschrauber-Rotoren schleuderte neue Regentropfen wie Geschosse heran, riß ihm die Haare in die Luft, trieb ihn vor sich her. Batic schwenkte die Lampe in Kopfhöhe – irgendwo weiter rechts rumpelte und ratterte ein gemächlicher Personenzug in die entgegengesetzte Richtung vorbei. Olli stand zehn, zwanzig Meter hinter dem Loch im
Gleisbett und starrte in den Himmel, vielleicht betete er. Linda kreischte von irgendwoher sinnlose Worte und rannte plötzlich neben Batic dem ZUG entgegen. Alles geriet durcheinander. Mike war plötzlich wieder VOR ihnen, prügelte auf Olli ein; der stürzte mit dem Gesicht nach unten in das Gleisbett, und der ZUG hatte sich in einen feuerspeienden, infernalisch kreischenden RAMMSPORN verwandelt und hob ab und schoß heran und – es war, als würden Fenstervorhänge zerfetzt. Feuer schienen zu lodern… und erstarrten. Alles erstarrte. Auch die Zeit. – Magie. Nur Batic selbst blieb in Bewegung; ohne anzuhalten, schlug er Weitzel die Stablampe quer über die Zähne, sah weißes Licht auf einer marmornen Dämonenfratze explodieren, sah ihn Blut und Splitter ausspucken und einfach stehenbleiben, wie ein von einem bösen Spielkameraden verstoßener Junge, und starren, aber auch darauf nahm er keine Rücksicht. Er rannte immer weiter und weiter dem ZUG entgegen und in das SCHRILLEN blockierender Stahlräder hinein, bis er selbst Teil dieses Infernos war, bis er selbst nur noch ein vibrierendes, flirrendes Etwas unter stählernen Schatten war. Wie von Sinnen schreiend, schwenkte er die Lampe, schwenkte und schwenkte und bemerkte in einer surrealen Allsicht, daß sich jetzt auch alles andere, irgendwie verzerrt, weiterbewegte – daß Linda schluchzend Olli von den Schienen zerrte, ihn herumwälzte, sich zu ihm kniete und ihn in die Arme nahm, wie eine Mutter ihr Neugeborenes – daß Graf heranstapfte, Olli hochzerrte und ohrfeigte und dann einfach in einer Bärenumarmung hielt. Und dann war das Finale endgültig da, dann war auch dieses dampfende, regensprühende Ungeheuer von einem ZUG da, und ein letztes Aufkreischen und –
KLACK: Mit einem Schlag erloschen in dem Fernsehstudio alle Lichter, und Leitmayr drehte sich um und sah, daß er ganz allein war – es war wie ein Omen. Wie Abschied nehmen nach langem Kampf. Keine Nachricht von Ivo. Er versuchte, systematisch vorzugehen, er wischte sich über das schweißtriefende Gesicht, befeuchtete sich zittrig die Lippen, machte einen ersten Schritt aus dem Regieraum hinaus, dann einen zweiten. Gab Ivo noch fünf Sekunden – dachte an sich verkeilende, sich knirschend zusammenfaltende und berstende Zugabteile und Trümmerregen und Blut – und zählte seinen ganz persönlichen Countdown herunter. Schrie seine Aufregung und Anspannung noch immer nicht hinaus, schlug noch immer nicht um sich, zerschmetterte noch immer keine Fernsehkameras. Zwei Sekunden vor Zero summte das Handy. Er hörte Batic: »Franz, der Zug steht… drei Meter hinter mir. Ich hab’ sie alle drei.« Er hörte sich selbst ganz zittrig und gerührt stammeln: »Ivo, Mensch – « Und er hörte Batic murmeln: »Geh nach Haus’.«
ENDE