JOHN FARRIS
BLUTFLUCH
Roman Aus dem Englischen von Michael Windgassen
Scanned by Doc Gonzo
Deutsche Erstausgabe
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JOHN FARRIS
BLUTFLUCH
Roman Aus dem Englischen von Michael Windgassen
Scanned by Doc Gonzo
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/8744
Titel der Originalausgabe FIENDS
Redaktion Jutta Ressel
Copyright © 1990 by John Farris
Copyright © der deutschen Ausgabe 1993 by
Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co KG, München
Pnnted in Germany 1993
Umschlagillustration Photo Media
Umschlaggestaltung Atelier Ingrid Schütz, München
Satz (1468) IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
Druck und Bindung Elsnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-06378-3
Für Robert Gleason
Unter Mühen sollst du Kinder gebären... 1. Mose 3, 16
Der folgende Abschnitt ist einem Titel entnommen, der am zweiten August 1970 in der Nashville Tennessean erschien und verfaßt wurde von Katherine B. Singerline, der Kulturredak teurin dieser Zeitschrift: Das wohl überraschendste Talent, das bei der Eröffnung der Patientenkunstausstellung zu Tage trat, gehört Mr. Arne Horsfall, dessen Alter nach Auskunft der Landeskrankenanstalt von Cumberland >um die Siebzig< sein dürfte. Mr. Horsfall ist stumm; er kann weder lesen, noch schreiben und aus diesem Grund auch nichts zur eigenen Person sagen. Im Krankenhaus weiß niemand genau, wann er eingeliefert wurde, zumal die Unterlagen der älteren Dauerpatienten durch jenen verheerenden Brand im Jahre 1934 vernichtet wurden, der auch vielen Menschen das Leben kostete. Althea Tidball, die seit vierzig Jahren als Schwester auf der Psychiatriestation ihren Dienst versieht und demnächst in Pension gehen wird — Althea Tidball behauptet, daß Mr. Horsfall bereits >mehrere Jahre< Patient gewesen war, als sie 1930 angestellt wurde. Es kann also davon ausgegangen werden, daß Mr. Horsfall sein ganzes Erwachsenenleben in der Landeskrankenanstalt verbracht hat. Wo er herkommt und wer seine Eltern waren, bleiben ein Rätsel, das wahrscheinlich nie gelöst werden wird. Ebensowenig läßt sich beantworten, woher er die Inspiration für seine außergewöhnlichen Zeichnungen bekommt, die er allesamt in einem explosionsartigen Ausbruch von Kreativität während der vergangenen zweieinhalb Jahre geschaffen hat. Er arbeitet ausschließlich mit Kohlestift und weißer Schuhcreme auf Zeitungspapier, das ihm das Krankenhaus zur Verfügung stellt. Nach Aussage seiner Kunstlehrerin Enid Waller, einer Studentin der Vanderbilt-Universität, 7
zeichnet Mr. Horsfall >naiv<, und zwar in dem Sinne, daß er in seiner Arbeit völlig unbeeinflußt zu sein scheint von den Klas sikern der Moderne wie zum Beispiel Klimt oder Munch, ob wohl Erinnerungen gerade an diese beiden Künstler wach werden, wenn wir Mr. Horsfalls Winterbilder betrachten, jene Kompositionen aus düsteren Schatten und schockierendem Weiß mit ihren fast unmenschlichen Gesichtern, die uns noch verfolgen, wenn wir die Ausstellung längst verlassen haben. Mr. Horsfall zeichnet nur Porträts - meist von einer haarlosen Frau beziehungsweise Spukgestalt, die ihm anscheinend in seinen Träumen nachstellt. Wer ist sie? Hat sie jemals existiert? Wenn Arne Horsfall doch sprechen könnte — was hätte er für eine Geschichte zu erzählen!
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August 1906 Der Weg nach Dantes Mühle
l
Vertraute Geräusche weckten den Jungen auf: der Morgenge sang der Grasmücken und Goldammern, das Knacken bren nender Holzscheite, das tägliche Schärfen von Beil und Mes ser. Aber unter diese Laute mischte sich auch Unvertrautes: Sein Vater weinte. Arne zog die Decke über den Kopf und wünschte sich, wie der einschlafen zu können, egal, wie schlimm die Träume auch gewesen sein mochten und wie unbequem der Boden war, auf dem er lag. Aber der Hühnerhund neben ihm hob den Kopf und gähnte. Der warme, stinkige Atem war dem Jungen ebenfalls vertraut und sehr viel angenehmer als der heiße Teergeruch, der ihm in die Nase stach und die Augen tränen ließ, noch bevor sie sich auf das Licht einstellen konnten. Er dachte, was ihm bislang als Gedanke unverzeihlich er schienen war. Verrückt... Vater mußte verrückt sein. Aber das Bezugsobjekt war fraglich, und das wußte Arne, denn der ein zige Sohn von Luke und Elvira Slater (>Sohn< und doch längst erwachsen, ja, schon ergraut, aufgeschwemmt und schlampig in seinen Overalls) hockte, sooft es zum Markt ging, auf dem hinteren Rand des Wagens, ließ die Beine baumeln, schlürfte Cola und jammerte mißgelaunt und mit stierem Blick vor sich hin, unfähig, ein vernünftiges Wort zu sagen. »Der ist ohne Grips zur Welt gekommen«, hatte ein älterer Freund Arnes einmal gehöhnt, verächtlich, als könnte Slaters >Sohn< was dafür. Verrückt. In der Tat, Arnes Vater verhielt sich von Tag zu Tag merkwürdiger, aber im Unterschied zum >Sohn< hatte Slater Verstand. Weshalb also war er plötzlich verrückt geworden? Warum sie sich hier in den Büschen aufhielten, war Arne 9
auch nicht klar. Schließlich gab es zu Hause eine Menge zu tun, die Kuh mußte gemolken werden. Wenigstens das Korn könnte gerettet werde, dachte Arne, und auch die Apfel und Birnen im Obstgarten. Anstatt zu arbeiten, trieben sie ziellos umher, nahmen Deckung in den Büschen und versteckten sich des Nachts. Nein, falsch... sein Vater versteckte sich nicht. Er ließ Arne oft zurück und zog alleine los, sagte nie wohin und machte sich nie die Mühe zu erklären, was er im Sinn hatte. Auf Fragen antwortete er auch nicht. Oft schien er Arne gar nicht zu hören; dann lauschte er ganz anstrengt auf etwas anderes — in seinem Kopf, in der Ferne. In seiner Ahnungslosigkeit fühlte sich Arne kleiner als er in Wirklichkeit zu sein glaubte, ohne Anrecht auf Vertrauen. Oder Liebe. Wie sich das Verhältnis zwischen ihm und dem Vater verändert hatte! In so kurzer Zeit. Arne stützte sich mit dem Ellbogen ab und wischte sich die Augen trocken. Hawkshaw stand auf und reckte sich. Arnes Vater saß vor einem umgekippten Baum beim Feuer und hielt den Schleifstein unter den Fuß geklemmt. Er schärfte das Beil. Durch das Flirren der heißen Luft und den Dampf, der vom Wald aufzog, schaute Arne zum Vater hinüber, der selbstver gessen dahockte und weinte. Männer weinen nicht. Das Herz des Jungen war voller Angst, wie ein gefangener kleiner Frosch, pulsierend und kalt in der geschlossenen Faust. Der Vater weinte, weil er schreckliche Schmerzen hatte. Die eine Wange voller Tränen, die andere blau und grün geschwollen, wie angefault. Arne blickte auf die linke Hand des Vaters. Alles, was er sehen konnte, war ein dicker Ver bandsklumpen, steif von Wundwasser und Eiter. Arne wei gerte sich, sich auszumalen, wie die Hand wohl aussehen mochte. (Erfroren.) Mehr hatte der Vater auf Arnes Frage hin nicht erklären wollen. Erfroren. Im Hochsommer, in brütender Hitze die Hand erfroren. Wird sie wieder heil? Nein. 10
Wie ist das passiert? Weiß nicht. Verrückt... Arne stand auf, wickelte die Decke nach Art der Indianer um den Leib und ging, ohne einen weiteren Blick auf den Va ter zu werfen, an den Rand des Lagers. Die Sonne hing noch unterhalb der Baumlinie, aber schon war der Reif verschwun den, der in der klaren Nacht so hell geglitzert hatte. Knir schender, weißer Frost — mitten im August. Wenn auch nicht überall. Er schien ihnen zu folgen, von einem Lager zum an deren in immer entferntere Senken, ihren Aufenthaltsorten, seit sie die Farm verlassen hatten. Nein (korrigierte sich Arne entschieden), seit sie davongelaufen waren, mit nichts als den Kleidern am Leib... Zitternd nestelte Arne an den Knöpfen herum und hätte fast in die Hose gepinkelt, bevor er es schaffte, den Hosenstall zu öffnen. Er machte den Stechginster naß, den der rätselhafte Frost mit Reif überzogen, wenn nicht gar hatte eingehen lassen. Die Blätter eines nahen Judasbaumes waren braun an den Rändern, viele davon zu Boden gefallen. Der Vater jammerte und seufzte laut auf. Arne kniff die Augen zusammen und versuchte, sich so am Weinen zu hindern. Er hatte zwei Knöpfe verloren, an denen die Hosenträger befestigt waren, und nun hingen ihm die Jeans bis auf die Hüften herab. Die nackten Arme und Hände waren von Mücken und Bremsen zerstochen. Der Junge mit Haaren wie Flachs, einem runden Ge sicht und kleinen Augen — wie ein blonder Igel sah er aus. Er war schmutziger als je zuvor in seinem Leben und hungriger. Als gestern der Vater spät in der Nacht zum Lager zurückgekehrt war, hatte er nichts zu essen bei sich gehabt, nicht einmal ein Eichhörnchen, das sie hätten braten und mit dem letzten Rest von Maisbrei essen können. Er war mit dem herbeigeschleppten Holz fast ins Feuer gefallen und so benommen, so bleich gewesen, daß Arne nicht den Mut aufgebracht hatte, sich zu beklagen. Auch Hawkshaw machte einen ausgehungerten Eindruck; er wühlte in den Büschen und im Schilf herum, das im feuch 11
ten Bachbett wuchs. Aber der Hund war auf die Jagd und das Apportieren gedrillt, nicht aufs Töten. Wenn man ihn nicht fütterte, würde er krepieren müssen. Die Mutter war nicht da, der Vater verletzt, und der Hund lag im Sterben — das war zuviel für Arne. Zitternd vor Angst und Wut näherte sich der Junge seinem Vater, der mit offenem Mund vornübergesunken am Boden kauerte, das Beil lose in der rechten Hand. Er war längst jenseits aller Müdigkeit, hatte er doch den Rest der Nacht durchwacht, während der Nebel wie eine Spinne zwischen den Bäumen hing, Kälte aufkam, und der Mond, der schwächliche Gaffer, einem starren Riesenauge gleich am Himmel stand. »Wir haben Hunger«, protestierte der Junge und fing fast wieder an zu weinen. Sein Gesicht zuckte vor Verlegenheit, doch Arne hatte Angst. Angst vor Lügen, Angst vor der Wahrheit - wie immer die auch aussehen mochte. Er blickte auf den flüssigen Teer im Blechtopf überm Feuer. Auf der Oberfläche quoll fett eine Blase. Arne zeigte sich irritiert. Wozu war das? »Wo hast du das Pech aufgetrieben?« Der Vater öffnete den Mund und schloß ihn wieder; er brachte kein Wort heraus. Er war ein junger Mann, noch keine dreißig, kräftig gebaut. Daß er es soweit geschafft hatte, verdankte er ausschließlich seiner jugendlichen Kraft. Er war unrasiert, seit mehr als einer Woche. Solange hatte er auch die Sachen nicht gewechselt. »In Dantes Mühle«, antwortete der Vater schließlich. »Bist du da letzte Nacht gewesen?« »Ja.« Arne spürte Erregung in sich aufwallen; jetzt würde er etwas herausbekommen, dessen war er gewiß. »Wen hast du gesehen?« »Niemanden.« »Wirklich?« »War... keiner da.« Der Vater blickte auf seine linke Hand hinab und preßte die Lippen aufeinander. Dann sah er den Sohn an, achtete aber nicht auf die Enttäuschung und den 12
Zweifel in dessen Augen. »Du kannst gehen. Keine Gefahr für dich. Du wirst zu essen finden. Du weißt schon, was du neh men kannst, wonach zu graben ist.« »Darf ich das Gewehr mitnehmen?« »Nein. Die Munition... ist fast alle.« Zaghaft schüttelte Ar nes Vater den Kopf aus Ärger über die eigene Vergeßlichkeit. »Weiß selber nicht, warum ich daran nicht gedacht hab' letzte Nacht. Hätte mir holen können, was ich wollte. Aber Kugeln... nicht gut.« »Gut genug, um Eichhörnchen damit zu schießen«, entgeg nete Arne trotzig. »Geh und versuch, einen Fisch aus dem Wasser zu ziehen. Ich muß jetzt... schlafen.« »Wann können wir wieder nach Hause?« Arne schreckte zurück vor den hohlen, starren Augen des Vaters. Es roch nach brennendem Holz und Teer. Auch nach Fäulnis von der geschwollenen, sterbenden Hand. »Mußt du damit nicht zum Arzt?« »Das weiß ich selber. Ich versprech' dir, Junge, bald werden wir nach Hause gehen. Morgen, wenn die Sache erledigt ist.« »Aber was hast du vor? Können wir nicht jetzt schon nach Hause gehen? Ich will Mutter sehen.« Stöhnend und knurrend strich der Vater die Beilklinge über den Schleifstein, als wäre er immer noch unzufrieden mit dem Grat, der nicht schärfer hätte sein können. Seine Miene wirkte so verzweifelt, daß Arne die Finger in die Brust krallte, um nicht schreien zu müssen. »Wo ist sie? Wohin ist Mutter gegangen?« Der Vater lehnte sich zurück an den Baum und schloß die Augen. Im Feuer platzte ein Holzscheit auf; Funken sprühten über die nackten Füße des Jungen und brachten ihn zum Tan zen. »Nicht weit... so Gott will... Ich kann sie nicht zurückho len.« Die wunden Stellen im Gesicht leuchteten auf, als er den Kopf in die Sonne drehte. Er sah Arne an und lächelte zum er
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stenmal seit Tagen. Ein starker Mann, immer heiter, stets ein Lied auf den Lippen. Achtzehn Jahre war er gewesen und im mer noch nicht ausgewachsen, als er einen störrischen Hengst mit der Faust gezähmt und sich damit den Spitznamen >Pfer dekiller< eingehandelt hatte. »Grüne Ranken«, flüsterte er. »Würgerfeigen.« Sein Ver stand schien abzudriften; die Augen, gerötet von Rauch und Flammen, klappten langsam zu, und bevor er noch ein Wort sagen konnte, war er eingeschlafen, so tief und fest, daß der Junge im ersten Moment erschreckt dachte, er sei gestorben. Aber dann ging ein Beben durch den breiten Brustkasten; der Vater schnarchte. Arne deckte ihn mit der eigenen Decke zu.
2 Arne nahm die Angelschnur, zwei Haken und Senkblei aus dem Rucksack und verließ das Lager. Aus einer Hainbuche geschnitten, dem härtesten Holz, das in den Wäldern von Tennessee wuchs, war der knorrige Knüppel, den er trug zum Schutz und zur Beruhigung - Arne war fast neun Jahre alt und mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Allerdings hielt sich Hawkshaw irgendwo in der Nähe auf und würde ihm bald folgen. Der Junge kletterte aus dem Bachbett zum Uferrand hinauf, kaute eine Handvoll Minzeblätter, um dem Magen ruhig zustellen. Die Luft war kühl zwischen den Eichen und Hicko rybäumen. Der Wasserdampf, den sie verdunsteten, perlte im Haar und von der Stirn, während der Tau auf den üppig wu chernden Farnen die Hose bis zu den Knien durchnäßte. Flie genschnäpper und Bluthänflinge flatterten durch die Sonnen strahlen, aber in den Wipfeln der hohen Bäume war es dunkel und still. Er hörte Spechte hämmern und sah mehr Eichhörn chen, als er zählen konnte. Das Wasser lief ihm im Mund zu sammen bei dem Gedanken an ein fettes, geröstetes Eichhörn chen, das neben Truthahnbraten seine Lieblingsspeise war. 14
Wie immer und ohne sich der Notwendigkeit ständig bewußt zu sein, nahm er Notiz von gut wiederkennbaren Wegmarken. Da waren zum Beispiel zwei Bäume, die sich im Fallen gegen seitig stützten, von Klematis umrankt wurden und einen na türlichen Torbogen formten, oder ein Felsvorsprung aus Kalkstein mit einer Höhle darin, die einem achtsamen Auge glich. Arne würde sich nie in Wäldern verirren, egal wie weit er von zu Hause auch weg wäre. Von einer Hügelkuppe aus spähte er nach Osten. Über dem Tal, in dem sich die Flüsse Cumberland und Harpeth trafen, schwebte goldener Dunst. Der Junge erkannte den Kupferturm der neuen Baptistenkirche von Sublimity, der Stadt, wo er die Schule besucht und an zwei Samstagen im Monat in den Einkaufsläden herumgelungert hatte. Er spürte ein Stechen im Herzen und Traurigkeit. Nicht weit entfernt stieg Rauch von einzelnen Hütten auf. Arne konnte zwar nicht den Abstand in Meilen schätzen, wußte aber doch, daß der Fußweg dorthin und bis zur Stadt in einem Tag zu schaffen wäre. Aber der Vater, besessen von der Furcht vor einer rätselhaften Ge fahr, schaute nachts, wenn er das Feuer hütete, immer zum Himmel empor und schärfte dem Sohn warnend ein, sich von allen anderen fernzuhalten. Sich zu verstecken, auch tagsüber, sowohl vor Fremden als auch vor denen, die er als Freunde kannte. Selbst vor Kindern seines Alters. Arne konnte sich keines einzigen Altersgenossen entsinnen, vor dem er Angst haben müßte. Er schaffte sie alle, und Mäd chen waren für ihn sowieso uninteressant. Verrückt... Verrücktverrücktver... Arne schluckte das letzte Wort wie einen Stein, wie bittere Medizin. Ihm war zum Heulen zumute, und er versuchte, nicht weiter nachzudenken über seine - ihre - unheilvolle Lage, als er einem kleinen Pfad durch ein Dickicht aus Hartriegel und Ginster folgte, dem Geräusch tropfenden Wassers entgegen. Er entdeckte die Quelle. Sie speiste den Bach, der am Lager vorbeiführte. Im weichen Boden ringsum waren Wildspuren auszumachen. Das Wasser strömte klar und knöcheltief über grün samtenes Kalkgestein. Wasserkresse und 15
violettfarbene Schiingengewächse wirbelten in kleinen Stru deln umeinander. Arne kniete nieder, um zu trinken, schüttelte sich, als ihm das kalte Wasser übers Gesicht lief und die Zunge betäubte. Er hatte seinen Durst noch nicht gelöscht, als ihm ein Laut zu Ohren kam. Von dem belaubten Hang hinter ihm näherte sich offenbar ein Tier, das, wie es schien, größer war als ein Kaninchen oder Waschbär. Arne sah sich um, hob instinktiv den Knüppel. Aber es war nur Hawkshaw, der da herbeigetrottet kam. Der Junge schlang die Arme um den Hund und strich mit den Händen über sein räudiges Fell und die hervorstehenden Rippen. Am Ohr hing eine aufgeblähte Zecke, doch bevor Arne den Blutsauger abdrehen konnte, war der Hund schon ans Wasser gesprungen, um davon zu schlappern. Arne klappte sein Taschenmesser auf und kam gleich zur Sache. Schnell vertiefte er sich in das, was ihm Spaß machte, so daß alles Unbehagen, die verwirrenden und problematischen Ereignisse der letzten Woche, wenn auch nicht vergessen, so doch beiseite geschoben waren. Aus einem geraden Weidenast schnitt er eine Angelrute, so, wie es ihm der Vater beigebracht hatte. Behutsam und streng darauf bedacht, in keines der Wespennester zu greifen, hob er dann vor einem verrotteten Baumstumpf das Erdreich an, bis er auf eine wimmelnde Kolonie von Käfermaden stieß. Überall um ihn herum summte, schwirrte und pulsierte Leben, das seine Geister neu erweckte, und Arne fing an, ein Lied zu sin gen, das er vom Vater kannte und sehr gern hatte. »Wie eine Bergbahn ist das Leben, an Bord ein tapfrer Maschinist; dir muß die schwere Fahrt gelingen vom Wiegenanfang bis zur letzten Frist.« Nahebei wuchsen im schwarzen, fruchtbaren Waldboden ver lockende Pilze mit weißem, kegeligem Hut, und Arne leckte sich die Lippen. Er hatte schon welche gegessen, die so ähn 16
lich aussahen, fürchtete aber, sein Glück zu versuchen, denn er wußte, daß Verwechslungen möglich waren mit einer Art, die Knollenblätterpilz genannt wurde und so tödlich wirkte wie ein Schuß ins Herz. Arne steckte die Maden in die Hosentasche und lief den Bach entlang, der bald breiter wurde und dann über eine Kas kade zwei Meter tief in ein sonnenüberflutetes Becken rauschte. Rundherum standen Flußbirken, die alten, dunklen Wurzelbeine im Wasser versenkt. Arne steckte einen Ma denköder auf den Haken, richtete die Rute auf und verkeilte sie in der Astgabel einer jungen Pappel. In der Nähe entdeckte er einen Pflaumenbaum, der von den Vögeln noch nicht geplündert war. Von dem pflückte er mit beiden Händen reife Früchte, über die er sich so heißhungrig hermachte, daß er fast die Steine mit verschluckt hätte. Er wusch sich den Saft vom Kinn, um keine Mücken anzulocken, und steuerte dann auf den kleinen Hain von Stieleichen zu, der, unweit vom Bach, ein schattiges, trockenes Plätzchen bot. Mit dem Messer schnitt er etliche junge Triebe ab und setzte sich dann im Schneidersitz auf den Boden, um Körbe zu flechten einen für Hickorynüsse, Portulak-Knollen und Pflaumen, den anderen für die Fische, die er zu fangen hoffte. Der laufende Monat gab keine guten Früchte her; für viele war es zu spät und noch zu früh für die bittersüßen schwarzen Kirschen, Persimonen oder wilden Melonen, die so köstlich nach Vanille schmeckten. Als Arne an den Bach zurückging, um nach der Angel zu se hen, fand er die Schnur gespannt von der Spitze bis zum quir lenden Wasser. Am Haken hing ein mittelgroßer Karpfen. Bis kurz vor Mittag hatte der Junge drei weitere Exemplare in den Korb legen können. Nun summte er zufrieden. Der Tag war heiter, die Bremsen hatten sich aus den Wäldern zurückgezo gen, und auch die Mücken fielen kaum mehr zur Last. Mit Schmerzen dachte Arne an sein Zuhause, an die bestellten Felder und das reifende Korn, und er wünschte sich so sehr, glauben zu können, daß, wenn - falls - er zurückkehrte, alles auf wundersame Weise wiederhergestellt sein würde. Die ge 17
sunden Getreideähren, das Lächeln seiner Mutter. Doch seine Hoffnungen und Wunschvorstellungen kamen nicht an gegen die Einsicht in das, was unwiderruflich verloren war. Vor zehn Tagen hatte sich der todbringende Frost eingestellt, die Fensterscheiben zu Hause weiß umrahmt, alles Gemüse auf den fruchtbaren Äckern verkümmern lassen und das früchtetreibende Korn tabakbraun verfärbt, so weit das Auge reichte. Am Morgen des Frosteinbruches war die Mutter ver schwunden. Sein Vater hatte Angst, und auf den Wangen zeigten sich diese seltsamen Male, die sich immer tiefer ins Gesicht fraßen und faulten. Seiner Hand war noch nichts pas siert. Das kam später - aber Arne wußte nicht genau, wann dem Vater die Hand erfroren war. Er muß doch wissen, wo Mutter steckt, dachte der Junge. Das zufriedene Gesumme war verstummt, sein Gemüt mit einem Male umgeschlagen. Er fühlte sich nun elender als nach dem Aufwachen. Warum sagt er mir nichts? Die Wahrheit nagte in der Brust wie ein Fuchs, der nach draußen wollte. Doch der Junge leugnete sie trotzig und folgte Hawkshaw auf dem Rückweg ins Lager. Er trug die Körbe zu beiden Seiten der geschulterten Angelrute und hatte nur noch wenige Meter zu gehen, als der Vater plötzlich gellend auf schrie, erschreckend wie Dynamit.
3 Hawkshaw blieb stehen, sträubte die Nackenhaare und win selte. Arne ließ entsetzt die Körbe fallen und rutschte auf nackten Sohlen die Böschung hinunter, in der Hand das aufgeklappte Taschenmesser. Der Vater lag am Boden, gleich neben dem herunterge brannten Feuer. Am ganzen Körper zuckend, rang er nach 18
Luft, und es schien, als wäre er vom Baum gestürzt. Der Topf mit dem Teer war umgekippt, und in der Luft hing der Gestank von angesengtem Fleisch. Der Vater hielt immer noch das Beil gepackt. An der Klinge glänzte frisches Blut. Aber es dauerte eine Weile, bis Arne endlich begriff, was geschehen war und sah, daß der linke Arm des Vaters am Handgelenk endete und in einer Lake aus rauchendem Teer steckte. Die Hand, die er auf rohe Weise amputiert hatte, lag ein paar Meter weiter weg, mit dem Rücken nach unten und noch halb umwickelt mit dem dreckigen Verband. Jetzt konnte sich der Junge den markerschütternden Schrei erklären, den er gehört hatte, und in der Vorstellung sah er den Vater den Arm auf den umgestürzten Baum legen und schreiend mit dem Beil zuschlagen, die Hand abtrennen. (Lange Blutfäden zogen sich vom blanken, wettergebleichten Bruchholz hinunter auf den Boden.) Der Vater schien gerade noch genug Mut aufgebracht zu haben, um den zuckenden Stumpf in den Teertopf zu tauchen. Sein Gesicht war schweißgebadet, die Adern traten hervor, und das faule Fleisch der Wange schillerte wie Libellenflügel. »Es mußte sein«, stöhnte der Vater. »Wundbrand. Gelangt das Gift ins Herz... es würde keine Stunde dauern und...« Arne schluchzte hilflos. Sein Vater ließ das Beil los und faßte den Jungen bei der Schulter. »Ich weiß... wo sie sind, weiß, was zu tun ist... brauche aber zwei Hände. Du mußt mir helfen... sie zum Schlafen bringen.« Der Junge nickte, verstand aber kein Wort. Tränen tropften auf die zitternde Hand des Vaters. »Schneid ein paar Würgerfeigen. Binde Schlaufen daraus. Wir brauchen insgesamt... dreißig, vielleicht vierzig von den grünen Ranken. Himmel, davon gibt's mehr, als ich dachte. He? Muß wohl... bis zur letzten Seele in Dantes Mühle. Der verfluchte Hund... die ganze Stadt hat er umgekrempelt.. .« »Umgekrempelt? Was? Wer?« »Theron.«
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Arne schüttelte den Kopf, langsam zuerst, dann immer hef tiger, bis ihn der Vater stoppte. »Der dunkle... Mann. Der heißt doch so. Theron.« Die feuchten Haare im Nacken des Jungen stellten sich auf; Angst elektrisierte den Hinterkopf. »Der Dunkle Mann... ist der etwa... aufgewacht?« Der Vater nickte. »Wie ist das möglich?« Aber Arne erinnerte sich, daß die Mutter ihm erzählt hatte, was geschehen konnte, falls die ge trocknete Rankenschlinge, die Theron gefangenhielt, gelöst würde. Die Legende gab genauestens Auskunft über die Fol gen, und Arne wußte Bescheid. »Mutter?« »Mag sein, daß sie's getan hat. Das ist mein Verdacht von Anfang an. Sie hat die Ranke geschnitten.« »Warum? Wie kommt sie dazu?« »Ich weiß es nicht.« »Hat der Dunkle Mann sie mit sich genommen?« »Keine Ahnung. Ich habe Birka nicht mehr gesehen, seit...« »Aber du mußt sie gesehen haben. Lüg mich nicht an!« »Nein... nein, Arne. Ich belüg' dich nicht.« Der Vater hatte Kraft geschöpft und klammerte die Finger fest um Arnes Schulter. »Mach dich an die Arbeit! Los, besorg die Ranke! Und denk daran... die Sonne. Wenn sie untergeht, sieh nach oben. Halt den Blick immer nach oben gerichtet, denn sie kommen völlig lautlos.« Die letzten Worte gingen fast unter im Seufzen. Dann verlor er wieder das Bewußtsein und sackte über den Schenkeln des Sohnes zusammen. »Worauf soll ich achten?« fragte der Junge vergeblich. Arne versuchte, es dem Vater bequemer zu machen und legte seine Decke über ihn, denn er fühlte sich trotz der Mit tagshitze totenkalt an. Schlingpflanzen..., dachte der Junge, nein Würgerfeigen. Er wußte, wonach zu suchen war; Vater hatte ihm gezeigt, wo sie wachsen; in den Bäumen nahe der Farm. Der feste, drosselnde Griff um die Stämme erklärte ihren Namen. Sie preßten den Bäumen das Leben aus. 20
Die Sonne stand hoch am Himmel; dem Jungen blieb noch Zeit. Er legte Holz aufs Feuer, wusch und briet die Fische und kochte eine Suppe, beißend scharf gewürzt mit Thymian und wilden Zwiebeln. Er zerstampfte Ulmen-, Brombeerlaub und Kamille und verrührte alles mit Wasser zu Brei. Am frühen Nachmittag wechselte der Zustand des Vaters immer wieder zwischen Ohnmacht und qualvollem Bewußtsein; die Unter kühlung wich einem rasenden Fieberanfall. Sooft er aufwachte, gab Arne ihm zu trinken, und erst als dieser etwas gegessen hatte, gönnte sich der Sohn auch einen Happen: einen halben Fisch nur, den Rest mengte er unter eine Handvoll Trockenfutter für Hawkshaw. Arne wagte es nicht, einen Blick auf die abgetrennte Hand zu werfen, auf die brandigen Finger. Sein Vater war nun ein Krüppel. Wie würde er es anstellen, Ol' Vol, das Pflugpferd, zu führen, den Acker zu bestellen im kommenden Frühjahr? Schließlich faßte sich Arne ein Herz und hob mit Hilfe zweier Knüppel, die im Feuer gelegen hatten, die amputierte Hand vom Boden auf und trug sie an den Rand des Lagers. Nachdem er den neugierigen Hund verscheucht hatte, grub er ein tiefes Loch, legte die Hand hinein und wälzte einen schweren Stein darüber. Dann fragte er sich, ob ein paar Worte zu sprechen seien wie bei einer Beerdigung, doch ihm fiel kein passender Bibelspruch ein. Bestattung einer Hand. Doch der Va ter lebte noch. Gott sei Dank. Arne war nun bereit, nach der Würgerfeige zu suchen, von der, wie er wußte, so vieles abhing.
4 Arne scheuerte das Beil mit Sand und Moos ab und nahm es mit sich. Die Sonne sank, aber es war immer noch heiß und still im Wald entlang des gewundenen Bachbetts, dem er folgte. In den schattigen Senken, wo kein Lüftchen wehte, fühlte sich die schwüle Luft so dick und zäh wie Farbe an. Was 21
wie Wind klang, war bloß das Schwirren der Insekten. Hawkshaw scheute knurrend vor einer schwarzen, zwei Meter langen Natter zurück, die sich um den kahlen Stamm eines umgestürzten Baums gewickelt hatte, träge und vollgefressen von Wühlmäusen oder Fröschen. Der anthrazite Schimmer der Schlangenhaut, das bedrohli che, unbeirrte Auge, es erinnerte Arne an jene Gestalt, die, seitlich ausgestreckt, in einem tiefen Bett aus Holzwolle lag und den schwarzen Schlaf der Legende schlief. Der Magen des Jungen krampfte zu einem heißen Knoten zusammen. Was war Tatsache, was Geschichte? Wie konnte es sein, daß etwas, das aussah wie eine Statue aus erstarrtem Teer, aufstand und herumspazierte? Und wenn sie oder es wirklich lebte, was war dann aus Birka, seiner Mutter, geworden? War sie tot? Dem Jungen schwindelte vor Angst, und er beugte sich über den Bach, um das Gesicht mit kühlem Wasser zu bespritzen. Der Schwindel legte sich, nicht aber der Schmerz, den ihm die aufgewühlten, fast panischen Gedanken bereiteten. Tot? Tot? War es das, was der Vater wußte und für sich be hielt? Außer Atem setzte sich der Junge hin, um auszuruhen, das Beil im Schoß, dessen Schneide ihm (als er vorsichtig mit der Daumenkuppe darüberstreifte) durchaus geeignet schien, dem Dunklen Mann Paroli zu bieten - falls er ihm je begegnen würde. Arne konnte nicht so recht an etwas glauben, das er nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, doch war er auf der Hut und spähte suchend in den dichten Wald. Er wußte nicht, wie weit er schon gelaufen war, hegte aber keinen Zweifel daran, noch vor Sonnenuntergang zurückzu finden. Außerdem hatte er Hawkshaw mitgenommen - doch der war verschwunden. Arne konnte sich nicht entsinnen, wann er ihn zuletzt noch gesehen hatte. Zu hören würde der Hund nicht sein, da er darauf dressiert war, nicht zu bellen. Arne zwang sich aufzustehen. Er überquerte den Bach an einer kleinen Furt mit Riedgras bewachsener Sandinseln. Bunte Schwalbenschwänze spielten in der Sonne, und einer der Schmetterlinge ließ sich sogar auf Arnes Handrücken nie 22
der. Vorsichtig und feierlich trug er ihn über den Uferrand hin zu einem Hain aus Hickory und Eichen. Merkwürdig, aber das schöne, harmlose Tierchen machte den Jungen noch ver drossener. Vor kurzem nämlich hatte er von Schmetterlingen geträumt. Nein, von Motten... Nachtfaltern, riesig groß und mit menschlichen Augen. Arne sah zu den Bäumen auf, in denen wilder Wein rankte, die Doldenrebe, jenes zähe Schlinggewächs, nach dem er Aus schau halten sollte. Er blies den Schmetterling von der Hand und machte sich an die Arbeit. Bald waren die Finger ganz klebrig und das Beil verfärbt vom Saft, der mit jedem Hieb aufspritzte. Als zwei große Bündel Triebe geschlagen waren, hörte der Junge auf. Nun, da er nichts mehr zu tun hatte, kehrte die Verzweiflung zurück. Wenn es doch nur einen einzigen Dunklen Mann gab, wieso waren dann so viele Ranken nötig? Von Hawkshaw war noch immer nichts zu sehen. Arne warf die Bündel über die Schultern, rief nach dem Hund und machte sich auf den Rückweg. Hier, in der tief eingeschnittenen Senke, wo er den größten Teil des Nachmittags zugebracht hatte, schien schon keine Sonne mehr. »Haaaawkshaaaw!« Daß der Hund verschwunden war, hatte dem Jungen bei al lem Unglück noch gefehlt. Ihm wurde angst und bange, als er dastand, mitten im Bach, und die wunden Füße kühlte. Der Vater mußte inzwischen wieder aufgewacht sein und Schmer zen haben. Wie sollte er eine zweite Frostnacht überleben können? Es war unerläßlich, daß sie weiterzogen, ein neues Lager aufschlugen, bevor es zu spät sein würde. Aber Arne war schon müde; der rechte Arm und die Schulter schmerzten ihn vom Hacken. Am Rand seines Blickfelds sah er eine Bewegung und er starrte. Doch es war nur der Hund, der den Bach herunter rannte, zwar nicht so geschmeidig wie auf offenem Feld, das ihm mehr zusagte als der Wald, aber dennoch behende im Lauf durch das Dickicht der Hortensien und Lorbeerbüsche, 23
die am Bachlauf wuchsen. Er trug etwas im Maul — einen Vo gel oder ein kleines Tier, dachte Arne, doch als der Hund durchs Wasser spritzend näherkam, erkannte der Junge die Gestalt eines Säuglings mit baumelnden Armen und Beinchen, in blauem Stoff gekleidet, ein quadratisches Gesicht, grob zusammengenäht, mit Knopfaugen und einem gelben Wust aus lockigen Wollfäden. »Wo hast du das denn her?« fragte Arne verärgert. »Komm, wir müssen gehen.« Hawkshaw blieb wenige Meter vor dem Jungen stehen, ohne die Strohpuppe freizugeben. Kein Laut war von ihm zu hören; er sah Arne bloß an, als wollte er sich auf ein Spielchen einlassen. Dem Jungen schlug ein strenger Duftschwall von dem Hund entgegen, der, obwohl er im Bach gebadet hatte, übel stank, schlimmer noch als Schweinejauche, gemischt mit Bussardgewölle. Wie von Arnes Gesichtsausdruck beleidigt, machte der Hund kehrt und sprang mit weiten Sätzen den Bach hinauf. »Nicht da lang! Komm mit mir!« Doch Hawkshaw rannte weiter und blieb erst bei der näch sten Bachbiegung stehen, um dem Herrchen einen lockenden Blick zuzuwerfen. Der war wütend über die Launen seines Hundes und rief: »Heh, komm her, aber sofort!« In diesem Moment überkam den Jungen eine warnende Vorahnung, ausgelöst von der Puppe in Hawkshaws Maul und dem fauligen Gestank, über dessen Ursache Arne nichts Näheres zu erfahren wünschte. Doch der Hund schien darauf zu drängen, daß er ihm folgte. Nein, er durfte keine Zeit verlie ren, da war noch viel zu tun für ihn. Hawkshaw aber ließ nicht ab von seinem Vorsatz und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. »Wehe, das dauert lange«, murmelte Arne und watete, die Rankenbündel geschultert und das Beil in der Rechten schwingend, durchs Wasser auf den Hund zu. Sie mußten eine Felsklippe überwinden und stiegen in eine Schlucht ab, die, dicht bewachsen und nur schwer zugänglich war. Arne mußte sich durch Dornensträucher kämpfen, tief 24
hängende Zweige lüften und dabei auch noch auf die Orien tierung achten. Ein Wildwechsel führte durch einen engen Hohlweg, überwuchert von Heidelbeeren und Sumachge wächsen. Sich durch ein Netz aus Stacheldraht zu wühlen, wäre kaum schwieriger gewesen. Aber dann, ganz unvermit telt, lichtete sich das Dickicht. Arnes Blick fiel auf ein kleines Zedernwäldchen und einen einzelnen Judasbaum am Rand des Weges, der zu Dantes Mühle führte. Dem Stand der Sonne nach, die auf den einsamen Pfad leuchtete, mußte es, wie Arne schätzte, schon später als fünf sein. Er hatte sich die Stirn an einem Ast aufgeschürft, was nun um so weher tat, da er ins Schwitzen geraten war. »Und jetzt?« fragte er den Hund; doch der war bereits ein paar Sprünge weiter, nicht zur Mühle hin, sondern in Richtung Dorf- der heimatlichen Farm entgegen. Arne biß sich auf die Unterlippe und folgte. Sie hatten schon einen halben Kilometer zurückgelegt, als dem Jungen zweierlei auffiel: eine Gruppe von Bussarden, die dicht über Baumwipfeln kreisten, deren Laub schlaff herabhing und erfroren zu sein schien; zum anderen die stickige Luft, ein entsetzlicher Verwesungsgeruch. Eine grob zusammengehauene Holzbrücke überspannte den Wasserarm neben dem Weg, der wenig später eine Schutzhütte passierte, vor der ein morscher Wagen stand, dessen Plane in Fetzen über den hölzernen Rundbügeln hing. Arne hatte solch heruntergekommene Fuhrwerke schon oft gesehen während der Markttage auf dem Platz vorm Gericht. In dem entlegenen Bergland, dessen Zufahrt kaum als Straße zu bezeichnen war, lebten Bauern, die solche Wagen noch benutzten, wenn sie etwas zu transportieren hatten, was allerdings selten genug vorkam. Bis auf das leise Rufen einer klagenden Wildtaube war es still. Arne sah ein kastanienbraunes Pferd, eingespannt im Ge schirr des Wagens, reglos am Boden liegen. Fliegen schwirrten um den aufgeblähten Kadaver. Ein Raubvogel zerrte mit krummem Schnabel an einem zähen, widerspenstigen Teil. 25
Es sah aus wie eine frische Wurst, so violett und glänzend im Sonnenschimmer, der durch die Bäume flirrte. Ein Teil der Gedärme zerplatzte mit dumpfem Laut, und der Gestank drehte dem Jungen fast den Magen um. Vom Frost verwüstet war auch das Gras, leblos das Laub bis in die höchsten Wipfel. Nur die heiße, schwüle Luft konnte kaum darüber hinwegtäu schen, daß es Sommer war, nicht Winter wie zur alten Weih nachtszeit, wenn die Pferde des Nachts miteinander flüsterten, Kühe auf den Knien herumrutschten — und Gespenster erschienen. Arne betrat die Schutzhütte und steuerte sogleich auf den Kochtopf zu, der über ausgebrannter Asche im Kamin hing. Der Brei - von gestern nacht, vergangener Woche? - war steif geworden. Nicht einmal die blau schillernden Schmeißfliegen interessierten sich für das verklumpte Fett, zumal draußen ne ben dem Wagen genug Fleisch zu finden war, nicht nur das des Pferdes, sondern außerdem von zwei, nein, drei Leichen, wie Arne nun entdeckte. Da lag ein Mann, trotz des kahlen (o Gott — skalpierten?) Schädels unverwechselbar als solcher auszumachen aufgrund des vollen, dunklen Bartes, in dem eine Unzahl roter Ameisen wimmelte... sowie zwei Frauen (der Gestalt nach, auch wenn diese - enthäutet - aus den Fugen geraten waren). Eine von ihnen hatte so sonnenblonde Haare wie Arnes Mutter. Der Junge würgte und schlug die Hände vor die Nase, um Dreck oder Schweiß zu riechen, irgendwas, nur nicht den ekligen Gestank der Fäulnis. Und doch mußte er näher an dieses Schreckensbild heran, um ganz sicher zu sein, daß da nicht seine Mutter lag. Vom nackten, hautlosen Rumpf schwirrte eine Wolke von Fliegen auf, nur eine blieb wie ein pulsierendes Juwel in der Nabelhöhle stecken, wo ein Hautfetzen übriggeblieben war (wie auch rund um die Ohren und Augenbrauen). Die geöff neten Augen der Frau waren so kalt wie Sterne, die gebleckten Zähne dick beschmiert mit Blut. Der Leichnam schien an manchen Stellen angebissen zu sein, von einem wilden Tier vielleicht. Oder von Hawkshaw etwa? Nein, das konnte nicht die Mutter sein, unmöglich! Eine Fliege schlüpfte durch ein 26
Loch im Gebiß und krabbelte über die Lippe. Schreiend vor Entsetzen, wirbelte der Junge herum und rannte los, erbrach sich in vollem Lauf, stolperte fast über andere Leichen, von kleinen Kindern, alle auf einem Haufen. Auf dem Weg war die Luft wieder erträglich, und - Gott sei Dank - da kam jemand herbei. Hilfe nahte.
5 Er sah trotz tränenverschleierter Augen, hörte aber nicht das Pferd, das da herbeitrabte, denn zu laut toste ihm das Blut in den Ohren. Arne kauerte auf den Knien und schaute der Kut sche entgegen. Den Zügel hielt eine Frau in kurzärmeligem, weißem Kleid, das wie ein Brautkleid aussah und im Schatten des Verdecks aufleuchtete, wie auch der weiße Sonntagshut mit tiefem, glänzendem Schleier und die weißen Handschuhe, die bis zum Ellbogen reichten. Zitternd mühte sich der Junge aufzustehen; schwer drückten ihm die Rankenbündel auf dem Rücken. Das Pferd, eine graue, vernachlässigte Stute, fiel in ein langsames Schritttempo zurück, die Kutsche quietschte und blieb dann neben Arne stehen. Auf dem Kutschbock neben der Frau lag ein rot-weiß-ka riertes Tischtuch, zu einem Bündel zusammengeknotet, in dem ein klobiger Gegenstand zu stecken schien. Das Pferd schnaubte und scharrte Staub auf, nervös gemacht von den kreisenden Bussarden und durch den Gestank, der von der Schutzhütte herüberwehte. Auf den schweißnassen Flanken zeichneten sich blutige Striemen ab, die von der Peitsche her rührten. Zögernd hob die Frau den Schleier und lugte unter der Hut krempe hervor wie aus einem abgeschlossenen Raum. Der Mund mit seinen bleichen Lippen öffnete sich verwundert. »Mutter!« »Arne, was treibst du denn hier?« fragte Birka lächelnd. 27
Der Junge drehte den Kopf der Hütte zu und suchte nach einer Erklärung, aber die Knie wurden ihm weich. Er wandte sich wieder der Mutter zu, hob die Arme und wollte nur eins: getröstet werden. »Ja«, sagte sie und steckte die Peitsche in die Halterung. »Komm schon.« Arne trat einen Schritt auf die Kutsche zu. Die Mutter krauste die Stirn und wich mit dem Oberkörper zurück. »Aber ohne dieses schreckliche Zeugs.« Er wußte nicht, was sie meinte. Birka deutete auf die Ran kenbündel, von denen immer noch frischer Saft tropfte, und zog dann hastig die Hand wieder zurück. Aber nicht schnell genug, denn Arne sah noch, daß da, wo der kleine Finger hätte stecken müssen, etwas Spitzes aus dem ledernen Handschuh hervorstach. Es glich einem langen, schwarzen Stachel. Das Bündel auf dem Sitz neben der Mutter blähte sich mit einem Male zum Bersten auf, und Arne hörte ein ängstliches Quieken. Er glaubte, daß es von einem Tier stammte, einem kleinen Ferkel, aber dann fing das Knäuel plötzlich zu spre chen an. »Hilfe! Hilfe!« Die Stimme eines Mädchens. Arne mußte spontan an die Strohpuppe in Hawkshaws Maul denken. Entsetzt starrte er der Mutter ins Gesicht, über das nun wieder der Schleier fiel. Ehe er reagieren konnte, hatte sie ihn beim Arm gepackt, vom Weg gezerrt und ihm dabei fast die Schulter ausgekugelt. Sie war eine große Frau, aber daß sie so viel Kraft aufbringen konnte, hatte er bislang nicht geahnt. Eins der Rankenbündel rutschte ihm von der Schulter und fiel zu Boden. »Mach dir nichts draus«, murmelte die Mutter und schlug mit der freien Hand auf das Tischtuchknäuel, so fest, daß wie der dieses Quieken laut wurde. »Sie gehört mir. Du kommst jetzt mit und tust, was ich dir sage.« Sogar das Handschuhleder konnte nicht verhindern, daß der Junge die schreckliche Kälte ihrer Finger zu spüren bekam. Ihr Atem fuhr wie der Nordwind über seine Wangen, 28
und sie verströmte nicht den Hauch eines vertrauten Geruchs, so wie früher, als ihr der Duft des Puderdöschens und der frisch gebürsteten Haare eigen gewesen waren. Er schlug mit der Linken um sich und schleuderte ihr den Schleierhut vom Kopf. Darauf wuchs kein einziges Härchen mehr. Bevor sie den Jungen auf ihren Schoß ziehen konnte, war der Hund zwischen die beiden gesprungen und schnappte nach ihrer Kehle. Die Stute bäumte sich auf. Um Hawkshaw abzuwehren, ließ die Mutter von ihrem Sohn ab. Arne fiel zu Boden und schlug so hart auf, daß ihm die Luft wegblieb, über ihm die Kutsche, die, auf zwei Rädern stehend, herabzustürzen drohte. Kopfüber und mit tobender Gebärde landete der Hund im Dreck; aus dem weit aufgerissenen Maul strömte Blut. Noch ehe das Gefährt auf alle vier Räder zurückgekippt war, ruckte es an und rollte staubaufwühlend nur wenige Zentimeter an Arnes Kopf vorbei. Er sah die Mutter, die Peitsche schwingend, auf dem Kutschbock stehen; wütend trieb sie die Stute an auf dem Weg zu Dantes Mühle. »Neiiiin!« Flüchtend schaute sie zurück, zeigte ihren fürchterlichen Anblick, den kahlen Kopf, die großen, wilden Augen, Ge sichtszüge, so absonderlich gezeichnet wie die Gänseostereier im Schaufenster von Baumans Krämerladen. »Ich gehe zu Theron!« rief sie. »Sag Enoch, er soll nur ja wegbleiben; kommt er aber noch einmal, ist's aus mit ihm.« Stolpernd lief Arne der Kutsche hinterher, ohne weiter nachzudenken. Denn daran konnte kein Zweifel sein: Was er da sah, war nie und nimmer wirklich, eine raffinierte Täu schung vielleicht, mehr nicht (denn schließlich wuchsen seiner Mutter Haare). Doch nun hatte sich die Schreckgestalt hinter dem Verdeck zurückgezogen, auf den Bock gesetzt, neben das Kind in der karierten Tischdecke. (War es ungezogen gewesen und deshalb...? Aber so strafte doch keine Mutter. Auch das konnte nur ein Scherz sein - so schlecht wie der des Vaters, der vorgab, sich die Hand abgehackt zu haben.)
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Der Staubschlauch zwischen Arne und der Kutsche wurde immer länger. Der Junge rannte, was die Beine hergaben, um mitzuhalten, denn er wollte, daß der Streich endlich zu Ende sei. Und er lachte, schrie vor Lachen, bis er der Länge nach hinstürzte. Das eine Bündel, das er noch hatte, schlug ihm auf den Hinterkopf, stach zu mit den Schnittstellen der Ranken. Er atmete Staub, und seine Lunge war wie paniert. Immer noch versuchte er zu lachen, obwohl er keine Luft bekam. Dann richtete er sich auf und schaute die Straße entlang. Aber die Kutsche war verschwunden, so auch der Staub, und die Sonne stand tiefer. Die Mutter war nicht zurückgekehrt, um zu erklären, daß alles bloß ein Scherz gewesen sei, um den Hut abzunehmen, das üppige Haar über die Schultern zu schütteln und das Tischtuch aufzuknüpfen. (Was da wohl drin steckt, Arne, das kann doch nur die kleine Mary Louise Petrie sein.) Natürlich. (Haha, Arne Horsfall, dich haben wir aber an der Nase rumgeführt!) Als er in die andere Richtung blickte, dem Dorf Sublimity entgegen, sah er Hawkshaw reglos am Boden liegen, und es schien, als hielte er ein Schläfchen. (Haha, steh auf du fauler Hund...) Doch Arne konnte nicht mehr lachen. Das Lachen war aufgebraucht, und er fühlte sich nur noch müde. Zu hören war von ihm bloß ein jämmerliches Stöhnen aus trockener Kehle.
6 Als er endlich wieder bei Sinnen war, hatten sich die Schatten der Bäume ausgedehnt, und die Blätter rauschten im Wind, der aufkommt, wenn die Sonne untergeht. Mühsam raffte sich der Junge auf, doch Hawkshaw blieb liegen. Ein Bussard war herabgestiegen und wenige Schritte vom Kopf des Hundes entfernt auf dem Weg gelandet. Das brachte den Jungen auf Trab. Er schrie, sammelte Steine vom Boden, be 30
warf und verscheuchte den Vogel. Dann ging er näher heran und sah, daß Hawkshaw tot war, die Kehle aufgeschlitzt. Das Beil lag neben ihm. Jemand hatte damit zugeschlagen - doch war die Klinge frei von Blut. »Wer hat meinen Hund umgebracht?« stammelte Arne be nommen. Er erinnerte sich schwach: an den Bach und die Würgerfei gen, die er geschnitten hatte, an die Puppe im Maul des Hun des. Die war aber nirgendwo zu sehen. Und überhaupt, was hatte seine Mutter hierhergeführt auf diese Straße so spät am Tag ? Der Junge dachte krampfhaft nach, versuchte, eine Antwort auszudrücken wie einen Splitter in der Haut, doch so sehr er sich auch anstrengte, es kamen nur Kopfschmerzen dabei heraus, die schlimmsten, die er jemals hatte, und ihm war, als flackerte ein Licht auf, so hell wie aus der Blitzpfanne beim Fotografen, aber beständiger, einer kleinen Sonne gleich, die im Inneren seines Schädels brannte und Bilder von der Mutter aufleuchten ließ, wie sie im Garten Unkraut jätete, einen Kuchen aus dem Backrohr nahm. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. War heute erst geschehen, was ihm da vorschwebte? Wohl kaum. Und doch konnte er den Apfelstru del schmecken, die dunkelbraune, saftige Kruste, Zucker und Zimt - so deutlich, als hätte er sich gerade erst ein großes Stück genehmigt. Arne fing am ganzen Leib zu zittern an. Während er den leckeren Strudel kostete, verlor die Sonne im Kopf an Kraft, und das Bild der Mutter verschwamm. Dann aber sah er sie wieder, gemeinsam mit ihm im Stall, beim Licht einer Laterne. Mit Stemmeisen brachen sie den Deckel einer Kiste auf, die sie nach den schweren Junischauern am Ufer des Cumberland Rivers gefunden hatten. Mit knarrendem Laut lösten sich die Nägel aus dem Holz, einer nach dem anderen... und plötzlich schrie der Junge: »Nein, nicht öffnen, nicht öffnen!« Aber der Schrei wurde erst jetzt laut; vor zwei Monaten war Arne noch voller Neugier gewesen und gespannt darauf zu se hen, was in der sargförmigen Kiste aus Eschenholz enthalten 31
sein mochte. Von magischen Eigenschaften hatte die Mutter gesprochen. »Das ist das Ende für uns, Pa.« Er hielt Selbstgespräche, und die Fliegen umschwirrten den aufgeschlitzten Hals des Hundes, das klebrige Blut auf der Straße. Abrupt hob Arne den Kopf, als hätte er ein Geräusch vernommen... Eine Kutsche? Und einen Moment lang glaubte er, eine graue Stute samt Wagen weiter oben auf der Straße zu sehen, an den Zügeln die Mutter, die ihm zuwinkte. Doch die Sonne versengte sein Ge hirn, brachte ihn ins Wanken. Mit beiden Händen faßte er sich an den Kopf, taumelte zurück und lief dann los, zog schwerfallig den rechten Fuß nach, der nicht mehr zu ihm zu gehören schien. Das Beil, den Hund und das Rankenbündel ließ er zurück. Im Laufen dachte er noch: Jetzt geht's ab in die Hölle. Er fing an zu frieren, konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, als er plötzlich einen einzelnden Judasbaum inmitten von Zedern erblickte. Darauf steuerte er zu. Die Schlucht, in die er eintauchte, kam ihm vertraut vor. Aus unbestimmter Eingebung wußte er, daß eine Steigung vor ihm lag, daß sein Weg über einen Klippengrat hin zu einem breiten Bachlauf führte und wenig später an eine Stelle, wo gut zu fischen war. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zum Lagerplatz, wo er den Vater zurückgelassen hatte... Durch das Gestrüpp von Lorbeerbüschen und Hartriegel sah er den blaßgelben Mond aufsteigen, während das Sonnenlicht schwächer wurde. Arne zweifelte nicht daran, noch vor der Dunkelheit zurück zu sein, bevor der Frost einsetzte und mit ihm die weißen Nachtfalter zu schwärmen anfingen, draußen im Dunklen, weit weg vom Feuer, das er und sein Vater nicht zu vernachlässigen wagten.
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7 Während Arnes Abwesenheit war sein Vater fleißig gewesen; er hatte Holz gesammelt und ein Feuer entfacht, dessen heller Schein Arne den Weg wies. Kaum hatte er die Zuflucht erreicht, ließ er sich auf den Bo den fallen und streifte das eine ihm verbleibende Rankenbün del von der Schulter. Er schaute den Vater an, und sein Au gensinn ließ nichts anderes zu, als ihn vollständig und heil vor sich zu sehen. Mit derselben Sturheit ignorierte sein Verstand die Begegnung mit der Mutter. Der Vater sah ihm kurz in die Augen und senkte den Blick. »Wo ist das Beil?« »Verloren.« »Wo ist Hawkshaw?« »Tja, er...« Arne versuchte, beide Fäuste in den Mund zu stopfen - zu spät. Er spürte genau, daß, sollte er jetzt zu schreien anfangen, kein Halten mehr war und daß er Zeit seines Lebens nicht mehr aufhören würde zu schreien. Dem Vater schwante ähnliches. Ächzend wirbelte er herum und schlug dem schreienden Sohn mitten ins Gesicht. Arne biß auf die Zunge; seine Augen wurden groß und starr. Noch einmal schlug der Vater zu, weniger fest als zuvor, und Arne, der starr wie ein Zaunpfahl dagesessen hatte und bis zu den Ohren erbleicht war, warf nun die Arme um den Vater. »Fang nur ja nicht damit an. Ich brauche dich. Reiß dich am Riemen, Arne!« Wenig später kroch der Junge vom Schoß des Vaters, setzte sich aufrecht hin und hielt die Knie umschlungen. Hin und her schaukelnd, starrte er in die Flammen, am ganzen Körper zitternd. Er schmeckte Blut; die Zunge war aufgebissen. »Ich liebe dich«, flüsterte der Vater. Arne nickte. »Hast du Angst davor, sterben zu müssen?« »Ja«, antwortete der Junge. 33
Natürlich hatte er Angst vor dem Tod. Trotzdem, im Au genblick wünschte er sich nichts sehnlicher als eine Handvoll jener tödlichen Pilze aus dem Wald, die seinen Qualen schnell ein Ende bereiten würden. Aber das kam nicht in Frage; allein der Gedanke war verrückt. Jetzt dreh' ich auch noch durch, dachte er, und davor hatte er weit größere Angst als vor dem Sterben. Allmählich hörte er auf zu zittern. Sein Blick war ruhig und tieftraurig. »Sag mir, was passiert ist«, forderte ihn der Vater auf. Heimlich biß sich Arne wieder auf die Zunge; er verriet kei nerlei Regung, keinen Schmerz, biß entschlossen zu, damit er seine Gedanken nicht aussprechen und mitteilen konnte, was er gesehen hatte und mit Sicherheit wußte.
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August 1970 Der Sonntagsgast
l Marjory Waller war nach Nashville gefahren, um ihre Schwe ster Enid abzuholen, die wie gewöhnlich auf sich warten ließ. Marjory passierte den Haupteingang der Landeskrankenanstalt von Cumberland. Doch die Schwester war weder dort noch auf dem Rasenstück davor zu sehen, wo sie an schwülen Sommertagen ihren Kunstunterricht abhielt. Also bog Marjory in den Besucherparkplatz ein und steuerte, der vorge schriebenen Fahrtrichtung zuwider, aber mit Gespür für das, was straflos blieb, in eine Parkbucht im Schatten einer großen Eiche. Es kümmerte sie nicht, daß ein anderer Fahrer wütend hupte. »Da wollte ich gerade rein,junge Frau!« rief er, als Marjory ausstieg. Wegen des ungünstigen Anfahrtswinkels stand ihr Wagen reichlich schräg in der Lücke, aber immerhin hatte sie als erste Besitz davon ergriffen, und etwas anderes zählte für sie nicht. »Tut mir leid, Sir, aber Sie sehen ja: Der Wagen macht schlapp.« Weißer Rauch quoll aus der Motorhaube, die sich aufgrund des eingebeulten linken Kotflügels nicht schließen ließ. Der 68er Plymouth, ihr rostig blauer Untersatz, war heiß gelaufen, und das tat er schon seit einem Monat. Marjory hatte ihn eigentlich schon längst zur Tankstelle bringen und Buddy oder Lyle überreden wollen, den Kühler zu reparieren und ein paar Schweißarbeiten vorzunehmen - unentgeltlich natürlich. Aber daran war vorläufig nicht zu denken, weil der Corvair von Enid zur Zeit in der Werkstatt stand. Mit geschickten Handgriffen zerrte Marjory die Motorhaube auf und betrachtete die Innereien ihres Plymouths wie ein Chirurg, der bei einer komplizierten Herzoperation zu 35
Rate gezogen wird. Doch der ander Fahrer ließ sich nicht ab weisen. War er etwa ein schlechter Verlierer? Er öffnete die Tür, stieg aus und schaute ihr über die Schulter. »Kann ich helfen?« Ihr gefiel sein selbstgefälliges Grinsen überhaupt nicht. Er sah sehr viel älter aus als sie, war mindestens dreißig und of fenbar auf dem Land zu Hause. Er arbeitete wahrscheinlich in der Stadt, vielleicht als Studiomusiker, worauf seine langen Haare und die gescheckte Weste schließen ließen. (Allerdings fuhren Musiker in der Regel bessere Autos und nicht solche ungepflegten Schrottmühlen.) Er gehörte allem Anschein nach zu jenem Schlag von Männern, die Frau und Kinder in der Provinz verkümmern lassen und selbst vor Geilheit über alles herfielen, was nicht fliegen oder schnell genug weglaufen konnte. Marjory zog den roten Schirm ihrer Kappe tiefer in die Stirn, damit er ihr nicht in die Augen sehen konnte, und sagte: »Verstehen Sie was von kardanisch gelagerten Hohlbuchsen?« »Schätze, wenn ich lange genug suche, werd' ich deiner Hohlbuchse schon auf die Spur kommen.« »Nein, danke«, antwortete Marjory und zückte ihren Füh rerschein, weil der Kerl immer aufdringlicher wurde. »Ich bin sechzehneinhalb. Sagt Ihnen das was?« »Tja«, entgegnete er. »Hätte schwören können, du wärst äl ter, drall, wie du bist.« Marjory schüttelte müde den Kopf, hob zwei Finger zum Friedenszeichen und setzte sich vor den Eichenstamm, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Kinn auf die Fäuste. Wenige Sekunden später fuhr der Typ weiter und fand einen anderen Parkplatz. Marjory setzte die Baseballkappe ab, wischte mit einem durchgescheuerten Taschentuch den Schweiß von der Stirn und stierte auf das Symbol der St. Louis Cardinals, ihrer favo risierten Mannschaft: ein Vogel mit großem gelben Schnabel und roten Schwanzfedern, der auf einem Schläger hockte. Für die Cardinals lief es in diesem Jahr nicht besonders gut. Sogar 36
Harry Caray, der Sportreporter von Radio St. Louis, hatte ziemlich verzweifelt geklungen, als das Team auswärts in San Franzisco eine Drei-Punkte-Führung leichtsinnig verspielte. Und dann der Wurf, der die Niederlage besiegelte... Marjory, die diese Tragödie am Radio mitverfolgt hatte, war so verärgert gewesen, daß sie die halbe Nacht nicht hatte schlafen können. Daß sie schon seit Kindesbeinen unter Hitzepokken litt, war nur ein Teil ihres Problems. Eine Portion Softeis hätte ihre Nerven beruhigt, aber als sie im Nachthängerchen um zwei Uhr morgens in die Küche hinunterging, war kein Softeis im Kühlschrank zu finden, statt dessen bloß eine Flasche Limonade, der aber die ganze Kohlensäure ausgegangen war. Enid und ihr Liebster hatten natürlich bis nach Mitternacht auf der Veranda gesessen und das ganze Eis verschleckt wie auch die Hälfte der Quarktorte, um den einen Appetit zu stillen und den anderen zu kitzeln, bevor sie sich heimlich nach oben in Enids Zimmer stahlen (was Marjory nicht entgangen war, obwohl sie eigentlich nur Ohren hatte für das Spiel im Radio und der Ventilator am Fenster wie gewöhnlich Radau machte). Jetzt fragte sie sich, wann Ted wohl nach Hause gegangen war. Im Grunde konnte sie den Jungen ganz gut leiden und gab nur vor, ihn nicht zu mögen. Allerdings machte sie sich Sorgen, daß Enid womöglich ein Malheur passieren könnte und gezwungen wäre zu heiraten. (Falls sie die Pille nahm, konnte sie die Packung nur in der Handtasche aufbewahren, denn das war der einzige Ort, in den Marjory nie ihre Nase reinstecken würde.) Ted Lufford war nicht der Typ, den Marjory sich für ihre Schwester wünschte, die mit ihrem Aussehen, Talent und Grips mehr verdiente. Kein Lüftchen regte sich, als Marjory vor dem Auto im Gras saß. Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet bis auf ein paar kurze Gewitterschauer, die kaum für Erleichterung sorgten von den sengend heißen Tagen und schwülen Nächten Tennessees. Sie kramte in den Taschen ihrer kurzen Hose herum und brachte eine Packung Chiclets mit Fruchtgeschmack zum Vorschein, wovon zwei Drops in ihren Mund wanderten. Sie schaute auf das hohe Tor vor der parkähnli 37
chen Anlage, auf der sich die Nervenheilanstalt und ein Dut zend anderer Gebäude befanden. Unweit des Tors besprengten mehrere Bewässerungsautomaten die ausgedörrten Ra senflächen. Es gab Blumenbeete, Magnolien und Mimosen bäume zwischen großen Eichen und breiten Fußwegen — wie auf dem Campus einer Universität. Dabei war dieser Ort, wie Marjory fand, eher mit einem Friedhof wandelnder Leichen zu vergleichen. Enid hatte sie einmal herumgeführt, und das eine Mal war ihr schon zuviel gewesen. Die Anstalt und ihre schreienden, sabbernden Insassen schreckten sie so sehr, daß ihr die Knie weich wurden, bevor sie noch weit gekommen war. Daß ihr der Schweiß ausbrach und die Mimik unwillkür lich zu einer grinsenden Grimasse entgleiste, peinigte sie über alle Maßen, zumal sie ständig fürchtete, mit einem Irren ver wechselt und eingesperrt zu werden. Jener Zombiefilm, den sie, von Freunden neugierig gemacht, vor Wochen in einem Autokino gesehen hatte, war ihr längst nicht so unter die Haut gegangen wie diese Viertelstunde im Inneren der Landes krankenanstalt von Cumberland. Wie es die Schwester aushalten konnte, dort zu arbeiten, war ihr unbegreiflich. Seit zwei Jahren versuchte Marjory in gewissen Punkten, die ihr wichtig erschienen, Einfluß auf ihre Schwester auszuüben, war dabei aber nicht gerade erfolgreich (wie sie sich selber eingestehen mußte). Als Backfisch war Enid zur schönsten >Maid of Cotton< gekürt worden - mit haushohem Abstand gegenüber den Konkurrentinnen. Aber bei den Voraus scheidungen zur Miß-Tennessee-Wahl hatte sie nicht teilneh men wollen, trotz aller Überredungskünste von Marjory. Enid blieb stur, ohne viel Worte zu machen. Sich oder einen liebgewonnenen Standpunkt zu verteidigen, war nicht ihre Sache. Sie wollte einfach keinen Schönheitswettbewerb be streiten, basta. Nicht, daß sie an ihrem guten Aussehen ge zweifelt hätte. (Enid war sich allen Ernstes bewußt, von Gott reichlich gesegnet zu sein.) Sie hatte einfach keine Lust, >auf frivolen Gebieten zu wetteifern<, wie sie sich ausdrückte. Frivol? Na schön, verzichte auf den knöchellangen Nerz 38
mantel, das Stipendium, auf all die schicke Kledage und den hübschen Diamantenklunker — aber denk doch an die mögli chen Reisen! Darauf kam es nach Marjorys Meinung haupt sächlich an, und auf die tollen, unverheirateten Männer, die ihr, der Schwester, vorgestellt würden. Fernsehmacher, Leute aus der Werbung, Finanzjongleure oder auch Männer, die gar nicht erst zu arbeiten brauchten, weil sie sowieso genug Geld besaßen, aber trotzdem mit ihrem Leben was Gescheites an fangen wollten, zum Beispiel als Sponsoren für Expeditionen, Erfinder oder Botschafter in Griechenland. Einen solchen Mann hatte Enid verdient, und auf den würde auch Marjory als Schwägerin stolz sein können, denn obwohl sie erst sechzehn war, ahnte sie, daß ihr durch eine solche Verbindung die Chance gewährt würde, selber einen passablen Ehemann zu finden. Enid wollte also nicht an der Miß-Tennessee-Wahl teilneh men, die natürlich als Sprungbrett für die Ausscheidungen in Atlantic City dienen würde, und dann stünde die Wahl zur Miß Amerika an. (Es war kein Geheimnis, daß die Juroren für Frauen aus dem Süden ein besonderes Faible hatten.) Marjory konnte diese Enttäuschung gerade noch verwinden, zumal sie einen alternativen Plan für die Schwester in petto hielt, von dem sie sich nicht so leicht würde abbringen lassen. Das Elternhaus in Sublimity war schuldenfrei, abgesehen von einer geringfügigen, überfälligen Steuersumme. Der Wert des Hauses belief sich nach Auskunft des Maklers, den Marjory um Rat gebeten hatte, auf runde zwanzigtausend Dollar. Nashville boomte; Sublimity war praktisch schon jetzt ein Vorort dieser Stadt, und unten an der Hauptstraße, keine zwei Meilen entfernt, wurde großflächig gebaut. Nach Marjorys Rechnung reichten zwanzigtausend Dollar aus, um gemeinsam mit der Schwester zwei Jahre lang in Paris zu leben, wo Enid, talentiert, wie sie war, von jeder noch so renommierten Kunsthochschule aufgenommen und mit Europas besten Porträtmalern würde studieren können. Reiche Leute standen dort Schlange, um in Öl verewigt zu werden. Der Präsident der Vanderbilt Universität hatte sich unlängst porträtie 39
ren lassen, und zwar von einem Künstler aus New York, der dreitausend Dollar verlangte. Dreitausend Dollar! Wenn Enid nur ein Porträt im Monat malen würde... Aber der Hausverkauf kam für Enid nicht in Frage. Sie meinte, daß es unsinnig sei, nach Paris zu ziehen und vom Ka pital zu zehren, zumal sie ein Angebot der Werbeagentur von Curtis Sewell & Wainwright habe, die ihr hundertfünfund zwanzig Dollar die Woche plus Sonderzulagen zahlen würde. Mit dieser Sicherheit im Rücken könne sie in ihrer Freizeit Porträts malen, ein profitables Hobby, das ihr durchaus gefiele. »Marjory«, hatte Enid geduldig erklärt, als ihr die Schwester zum xten Mal mit Paris kam, »dein Plan klingt ja ganz schön, und natürlich habe ich immer davon geträumt, den Louvre zu sehen oder den Arc de Triomphe. Wer hätte das nicht? Ich weiß, du meinst es gut, Liebes, aber verstehst du denn nicht? Das sind Luftschlösser.« Und tief seufzend, was Enid so gut konnte, daß einem die Augen feucht wurden, hatte sie hinzugefügt: »Mama und Papa würden sich im Grab um drehen, wenn ich das Haus verkaufte, es sei denn, mir bliebe keine andere Wahl...« »Immerhin geht es um dein Leben«, antwortete Marjory. »Ich wünschte, du würdest das endlich begreifen. Entweder du kommst ganz groß raus oder du versauerst in der Provinz. Das ist deine Wahl. Und groß raus kommt nur, wer in Paris Kunst studiert.« »Nun hör mal, wie oft hat uns Vater gesagt, daß es kaum et was Schlimmeres geben könnte, als seinen angestammten Wohnsitz gegen Luftschlösser einzutauschen. Apropos >groß rauskommen<: Onkel Averill hat Hypotheken auf sein Haus aufgenommen und all sein Erspartes eingesetzt, um sich in diese Brathähnchen-Kette einzukaufen. Und was hat er da von?« »Ja, ich weiß. Die Hähnchen verbrutzeln, und der Sheriff steht vor der Tür.« Enid war sichtlich zufrieden. Sie hatte der Schwester die Leviten gelesen und zu der Einsicht verholfen, daß ehrgeizige 40
Möchtegern-Unternehmer allzuleicht mit dem Gesetz in Konflikt gerieten. »Sowas wird uns nicht passieren«, fuhr Enid fort. »Unser Haus ist abbezahlt und der wertvollste Besitz, den wir haben. Unsere Sicherheit. Du siehst, Marjory, ich denke nicht bloß an mich. Ich will dir Gelegenheit geben, dein Collegestudium abzuschließen, damit du einen ordentlichen Beruf ergreifen kannst. Ich bin verantwortlich für dich, Liebes, und damit ist es mir sehr ernst.« In der Tat, der Rechtslage nach war Enid Vormund und verantwortlich für Marjory. Die ältere Schwester hatte gerade ihr achtzehntes Lebensjahr erreicht, als die Eltern auf dem be rüchtigten unbewachten Bahnübergang in Caskey County bis zur Unkenntlichkeit in ihrem Auto verbrannten - ein schreck licher Unfall, den Enid, die zufällig im Gemeindebus dem Kombi ihrer Eltern folgte, mit eigenen Augen hatte miterleben müssen. Der Tod der Eltern hatte Enid so verstört, daß sie, zurück gezogen und verletzlich, selber nicht das geringste Risiko für sich einzugehen bereit war. Marjory, die nicht weniger trauerte, wohl aber beherzter aufzutreten wußte, hatte Verständnis für das zaudernde Verhalten ihrer Schwester und fühlte sich dazu verpflichtet, sie bei der Hand zu nehmen. Enid war etwas Besonderes und viel zu schade für ein Leben im Mittelmaß; ihr winkten Ruhm und Wohlstand. Sie brauchte bloß zulangen. Daß sie ihre vielfältigen Gaben nicht nutzte, war das, was Marjory auf die Palme brachte. Sie selber hatte (nach eigener Einschätzung) wohl nie die Aussicht, viel Geld zu verdienen oder über die Kleinstadtgrenzen hinaus bekannt zu werden, da ihr nur ein einziges Talent gegeben war, nämlich mit einem hölzernen Schläger auf einen apfelsinengroßen Ball einzudreschen. Marjory atmete tief durch, blickte zum Tor der Anstalt -Enid zeigte sich immer noch nicht- und untersuchte kaugum mikauend eine Warze am rechten Daumen. Ob die wohl noch weiterwuchert? Soll ich versuchen, sie mit Castor-Öl zu ent fernen, oder wie die anderen einfach ausbrennen lassen, fragte 41
sie sich. Marjory hatte eine wunderschöne Haut, um die sie alle Mädchen ihres Alters beneideten, aber Mutter Natur schien wie zum Ausgleich für eine pickellose Pubertät häßliche Warzen für sie vorgesehen zu haben. Aus Langeweile machte sich Marjory daran, einen Brief im Kopf zu entwerfen, und zwar an ihre große Liebe; sie hatte ihm zwar schon dreimal geschrieben, geschickterweise aber bislang nie ihre Leidenschaft eingestanden. Lieber Tim, Ich werde zwar bestimmt bis zu meinem Lebensende ein treuer Fan der Redbirds bleiben, kann ihnen aber nicht verzeihen, daß sie Dich und Curt Flood in dieser Saison an Philadelphia verkauft haben. Simmons' Arm ist längst nicht so stark wie Deiner, finde ich. Daß die Cards mit Tim McCarver am Schlagmal in fünf Jahren drei Meisterschaften gewonnen haben, war kein Zufall. Soviel zum Thema Treue. Deine gebrochene Hand verheilt hoffentlich gut, damit Du bald wieder ordentlich zuschlagen kannst. Übrigens, mir scheint, daß Dir der Zweiunddreißig-Unzen-Schläger am be sten liegt, der, mit dem Dir in Cincinnati der Drei-Punkte-Lauf gelungen ist. Zum Glück habe ich das Spiel im Fernsehen verfolgen können. Das soll bloß ein Vorschlag sein von einer glühenden Verehrerin, die Dir für Deine Baseballzukunft im fremden Lager alles Gute wünscht. Ich bin sicher, daß die Phils trotz ihres schlechten Starts am Ende der Saison ganz oben...
2 »Marjory?« Eine zusammengeklappte Staffelei, den Malkasten und ein paar große Zeichenblocks unter den Arm geklemmt, kam Enid über den Parkplatz auf sie zu. Marjory erhob sich, und auf ihrem Gesicht lag immer noch ein Lächeln als Nachglanz 42
ihrer Tagträumereien. Ihr war natürlich durchaus bewußt, daß Tim McCarver verheiratet war und zwei niedliche kleine Mädchen hatte. .Seine Frau hieß Anne. Aber eifersüchtig war Marjory nicht; Tims Frau gegenüber empfand sie nicht den geringsten Groll. Aus ihrer Sicht war Tim sozusagen auf sie und Anne verteilt. »Da bist du ja endlich; ich dachte schon, ich müßte einbre chen und dich befreien.« »Ach was, so schlimm ist es in der Anstalt nun wirklich nicht, Marjory. Ich wünschte, du würdest anders darüber denken.« »Von wegen. Mit all den Verrückten darin...« »Auch darüber solltest du dir eine andere Meinung zulegen. Was du sagst, stimmt einfach nicht. Es besteht nämlich ein großer Unterschied zwischen denen, die Hilfe brauchen, weil sie alleine nicht zurechtkommen, und solchen, die... nun, die ganz und gar defizitär sind.« Auweia, dachte Marjory. Enid war zwar voller Fürsorge und Mitgefühl für andere, aber in diesem Fall schien sie auf etwas Besonderes anzuspielen. Allerdings führte sie ihre Theorien über Geisteskrankheiten nicht weiter aus, sondern betrachtete das Auto, dessen Haube immer noch aufgeklappt war, obwohl der Motor inzwischen zu rauchen aufgehört hatte. »Stimmt was nicht, Marjory?« »Kaum der Rede wert. Das Ding läuft heiß. Liegt wahr scheinlich am Thermostat.« »Was ist das?« »Ein Teil, das ausgewechselt werden müßte, wofür wir aber kein Geld haben. Wenn es kaputt ist, wird der Kühler zu heiß und fängt zu tropfen an. Ich habe aber einen Kanister Wasser im Kofferraum; damit kommen wir ohne weiteres bis nach Hause. Wann ist denn der Corvair endlich repariert? Hast du daran gedacht, in der Werkstatt anzurufen?« »Ja. Der Defekt ist immer noch nicht gefunden. Die Cutters vermuten, daß die Elektrik nicht in Ordnung ist.« »Vermuten? Sie haben den Wagen schon seit fünf Tagen 43
und sollten mittlerweile verdammt noch mal Bescheid wis sen.« »Marjory...« »Du hast keine Ahnung, wie man mit Mechanikern reden muß, Enid. Vielleicht sollte ich mir mal die Gebrüder Cutter vorknöpfen.« »Ich bin sicher, die beiden tun ihr Möglichstes, und will nicht, daß du dich einmischst. Du gerätst immer so schnell in Rage.« »Enid, soll ich dir mal meine Lebensphilosophie erklären? In knapper Form?« Die Schwester lächelte geduldig. »Ein quietschendes Rad braucht Fett.« »Genau!« »Können wir jetzt fahren, Marjory? Ich hatte den ganzen Tag Unterricht, bin hundemüde und muß am Abend noch ar beiten.« »Okay. Ich muß nur eben schnell Wasser in den Kühler fül len.« Marjory nahm einen Lappen, einen Trichter und den Was serkanister aus dem Kofferraum, während Enid ihre Malsa chen auf die Rückbank legte, auf dem Beifahrersitz Platz nahm und einen der großen Zeichenblocks durchblätterte. Wenig später hatte Marjory den Kühler aufgefüllt und die Haube zugeschlagen. »Zum Glück ist die Garantie noch nicht abgelaufen.« »Wie bitte?« fragte Enid. »Ich rede vom Corvair. Nach all dem Ärger, den wir damit hatten, müßten wir eigentlich einen neuen kriegen.« Enid antwortete nicht. Sie musterte eine Kohlezeichnung. Marjory schaute ihr über die Schulter. »Du lieber Himmel, was soll denn das sein?« »Ein Porträt.« »Ohne Haare?« »Ich finde es herrlich.« »Welcher deiner künstlerisch begabten Idioten war da am Werk?« 44
»Arne Horsfall.« »Komm, wir fahren. Ich habe Kartoffelsalat zum Abend essen gemacht, Bohnen und grüne Tomaten mit Walnüssen.« »Ohne dich würde ich verhungern, Marjory.« »Wohl kaum. Du würdest in einer Woche drei Kilo Ahornkerne und ebensoviel Softeis verdrücken, ohne auch nur ein einziges Pfündchen zuzunehmen. Auch nicht oben rum.« »Dafür setz' ich am Hintern an.« »Ach was, da hast du höchstens Beulen. Immer noch besser als Warzen. Ich hab' nicht nur die Finger und Arme voll davon, sondern auch die Nase.« »Werden wahrscheinlich durch Viren übertragen.« »Nein, ich wette, sie sind ein Fluch.« Enid lachte. »Wer hätte Grund, einen Fluch gegen dich auszustoßen?« Mit finsterer Miene gab Marjory zur Antwort: »Ich könnte da ein paar Namen nennen...« Enid schaute wieder auf den Block in ihrem Schoß, als Marjory den Wagen aus der Parklücke rangierte. Noch einmal warf sie einen Blick auf das Porträt und verzog die dünnen Lippen. »Soll das ein Mann oder eine Frau sein? Oder womöglich ein Gespenst?« »Ich weiß nicht.« »Hat er nichts dazu gesagt?« »Mr. Horsfall ist stumm.« »Oh. Was hast du vor mit dem Bild?« »Einrahmen und in mein Zimmer hängen. Es ist ein Ge schenk von Mr. Horsfall.« »So was im Haus zu haben, paßt mir überhaupt nicht, Enid.« »Warum nicht?« »Es sieht schaurig aus und ist von einem Geistesgestörten gemalt. Das bringt Unglück. Ehrlich, so was spüre ich. Noch mehr Pech und böse Flüche haben uns gerade noch gefehlt.« 45
Seufzend klappte Enid den Zeichenblock zu. »Bevor wir auf die Autobahn kommen, würde ich gerne bei dem neuen Laden von Zayre haltmachen.« »Dann geraten wir noch in den dicksten Verkehr, und um halb vier habe ich ein Spiel.« »Es dauert nur eine Minute, Liebes. Ich brauche nur ein paar Sachen.« »Ich muß einen größeren BH haben.« »Jetzt schon?« »Enid, die Bemerkung war nicht nett!« »Aber trotzdem völlig ohne Hintergedanken.« »Ich weiß«, entgegnete Marjory, die der Schwester sofort verzieh. Enid war durch und durch gut und zu keiner Gemein heit imstande. Ganz im Gegensatz zu Rita Sue Marcum. Die Bösartigkeit stand ihr im Gesicht geschrieben. »Rita Sue wirft heute abend für die Presbyterianer.« »Ist sie gut?« »Sie schmeißt immer volle Pulle, aber das versuchen alle. Von mir bekommt sie dann die passende Antwort. Ich tue so, als wollte ich den Ball in Richtung Mal abklatschen lassen, und wenn Rita Sue dann rankommt, dresch' ich das Ding über sie weg.« »Liegt ihr zwei euch wieder in der Wolle?« »Wir konkurrieren bloß miteinander.« »Ich versteh' euch nicht. Ihr seid wie die Kinder, die sich ständig gegenseitig Erdnußbutter oder tote Käfer in die Haare schmieren.« »Den Flüchen von ihr verdanke ich meine Warzen.« »Marjory, manchmal zweifle ich an deinem Verstand... He, stop, wir wollen doch zu Zayre!« Marjory wirbelte kurz vor der Einfahrt ins Einkaufszentrum das Steuer herum und warf einen Blick auf die Tempera turanzeige. So weit, so gut. »Kommst du mit rein?« fragte Enid, als Marjory nach ei nem Parkplatz Ausschau hielt. »Warum nicht? Hier drin komm' ich noch um vor Hitze. Bin ich arg verschwitzt?« 46
»Es geht so. Ich kauf dir eine Cola, die kühlt dich ab.« »Danke.« »Aber zuerst muß ich eine Hose und ein kurzärmeliges Hemd für Mr. Horsfall besorgen.« Marjory bremste im letzten Augenblick und stieß den Wagen an, der in der gegenüberliegenden Parkbucht stand. »Wie bitte? Hab' ich richtig verstanden?« »Ach, was ich dich fragen wollte: Kannst du für Sonntag was Besonderes kochen? Paprikahühnchen und Auberginen zum Beispiel?« »Bei der Hitze?« »Vielleicht auch einen leckeren Gurkensalat und dazu Li monade.« »Warum?« »Mr. Horsfall kommt zum Essen.« »Der Anstaltsinsasse?« »Ich hoffe, du machst dir keine falschen Vorstellungen von ihm, nur weil er...« »Er besucht uns zu Hause?« »Ja«, antwortete Enid, und ihre sonst so ruhigen, brannt weinbraunen Augen blitzten entschieden auf. »Ich habe ihn eingeladen. Das gehört mit zur...« »Enid, du hättest mich fragen können; schließlich gehört das Haus uns beiden!« »Laß mich bitte ausreden, ja? Das Krankenhaus hat mit ei nem neuen Programm begonnen und erlaubt Patienten den Besuch bei Gastfamilien bis zu einer Woche...« »Eine Woche!« »Mr. Horsfall kommt zum Mittagessen. Wenn es ihm bei uns gefällt — und dafür werden wir sorgen —, dann darf er auch über Nacht bleiben. Marjory, sieh mich nicht so an. Denk an Vatis Worte: >Du willst wohl Fliegen fangen, Kleines.< Das sagte er immer, wenn du mit offenem Mund auf der Veranda gesessen hast. Ich weiß, du brauchst Zeit, um dich darauf ein zustellen. Deshalb habe ich die Sache jetzt schon vorgetragen. Um dir Zeit zu geben...« »Damit ich mich darauf einstelle. Das werde ich nicht.« 47
»Aber natürlich«, erwiderte Enid zuversichtlich. »Du wirst sehen, Mr. Horsfall ist ein wirklich friedlicher, liebenswerter Mann. Und so dankbar für kleine Aufmerksamkeiten.« »Weshalb sitzt er eigentlich ein? Wahrscheinlich ist er mit 'nem Beil auf seine Frau los...« »Komm, wir können auch im Geschäft über Mr. Horsfall reden. Da ist es kühler. Derweil suche ich ein Hemd für ihn aus.« »Hat er denn keins?« »Nur eins von der Fürsorge. Alle anderen Sachen, die er besitzt, sind Geschenke. Komm.«
3 Marjory schmollte und wollte eigentlich im Wagen sitzen bleiben, aber weil ihr ein dicker Schweißtropfen die Nase herunterlief, stieg sie schließlich doch aus, schlug unnötig fest die Tür zu und folgte der Schwester in den Laden. »Na schön«, sagte sie, als die beiden den Gang der Her renabteilung entlanggingen. »Er ist ein friedlicher und lie benswerter Mann, wahrscheinlich deshalb, weil man ihn mit Medikamenten vollstopft. Aber was passiert, wenn er seine Pillen nicht bekommt? Sei ehrlich, Enid. Hat er jemanden umgebracht? Vergewaltigt?« »Das hier sieht ganz hübsch aus«, sinnierte Enid und hob ein blaues Hemd mit breiten Streifen in die Höhe. »Woher kennst du seine Größe?« »Oh, ich weiß nur, daß er recht kräftig gebaut ist.« »Ein Bulle, he?« »Das nehm' ich und... laß mal sehen...« »Du willst dir den Kerl also wirklich antun?« »Ja.« »Wenn's unbedingt sein muß, könntest du doch auch Ted einladen.« 48
»Schon geschehen.« Enid lächelte der Schwester zu. »Na, zufrieden?« »Hmmm«, murmelte Marjory und machte sich über den Wühltisch her. »Was ist mit Unterwäsche? Willst du ihm auch Unterwäsche kaufen? Womöglich hat er keine. Es würde mich stören, am Mittagstisch mit einem Mann zu sitzen, der keine Unterhose anhat. So was tötet jeden Appetit. Was ist bei Männern ein großes Maß?« »Fünfzig oder zweiundfünfzig«, antwortete Enid, ohne zu zögern. »Ist das die Größe von Ted?« »Nein, er...« Enid stockte, dann lächelte sie wieder, ein bißchen dünner als zuvor. Marjory hielt sich zurück. Ihre Schwester hatte eine besondere Schwachstelle. Darauf anzu spielen, würde bedeuten, daß Enid eine Woche lang beleidigt wäre, und von ihr über diese Zeit keinen Ton zu hören, war für Marjory eine ernsthafte Bedrohung. Sei's drum, am Sonntag stand also Besuch ins Haus. Sie würde ihn bewirten und ver suchen, das gute Werk der Schwester nicht zu schmälern. Enid entschied sich für eine dunkelblaue Hose aus Polyester. »Den Saum kann ich selber umnähen.« »Sind wir endlich fertig?« »Er braucht noch einen Gürtel.« Marjory folgte zum Gürtelständer. »Hat er eine Familie?« »Das weiß niemand.« »Wie lange ist er schon in der Anstalt?« »Sechzig Jahre vielleicht. Unterlagen, die darüber Auskunft geben könnten, sind nicht vorhanden.« Marjory war perplex. »Sechzig Jahre? Wie alt ist er denn?« »Vielleicht siebzig. Aber...« »Es gibt keine Unterlagen.« Marjory schüttelte den Kopf. »Unfaßbar. Wenn er so harmlos ist, warum hat man ihn so lange festgehalten?« »Tja, Mr. Horsfall ist wohl so ein Fall, der aus den Augen verloren wurde.« Enid zog einen gewebten Gürtel vom Stän der. »Der paßt gut zu Blau. Das war's. Es sei denn, du willst dir noch einen BH kaufen.« 49
»Mach' ich Samstag. Was ist, wenn er sich an dem Gürtel erhängt?« »Ach, hör auf! Du bist makaber, Mr. Horsfall ist nicht sui zidgefährdet. Mag durchaus sein, daß er gar nicht in unsere Anstalt gehört. Aber da ist er nun schon so lange, daß keiner weiß, wohin mit ihm. Und entlassen kann man ihn auch nicht. Er würde es nicht schaffen, für sich selber aufzukommen. Wir brauchten in Nashville unbedingt eine Zwischenstation für Leute wie ihn. Aber versuch, den Politikern das mal beizu bringen.« Neben dem Kaufhaus war ein Cafe, wo die Schwestern Cola tranken. Anschließend fuhren sie über die Autobahn um die Innenstadt von Nashville herum. »Hat man rausgefunden, wie das Feuer im Studentenheim entstanden ist?« fragte Marjory. »Da scheint jemand mit seiner Zigarette nicht aufgepaßt zu haben. Es gab übrigens mehr Rauch als Flammen.« »Die Nachrichten haben gestern abend davon berichtet. All die Burschenschaftler lagen da, in voller Montur auf dem Ra sen ausgestreckt - wie Leichen, abgekratzt, weil sie zu dick an gezogen waren.« »Sie haben halt draußen weitergefeiert, das ist alles.« »Es heißt, daß Pete Dunleavy aus einem Fenster im dritten Stock gesprungen ist.« »So was tut er auch, wenn's nicht brennt.« »Apropos, meldet er sich eigentlich noch bei dir?« »Na klar.« »Sein Vater ist der drittgrößte Geflügelmäster im Süd osten.« »So ist es.« »Kleinvieh macht auch Mist. Die Dunleavys schwimmen darin.« »Im Mist.« »Im Geld natürlich.« »Marjory, ich versteh' dich nicht. Wieso interessierst du dich so sehr für Geld?« »Weil wir nie welches hatten.« 50
»Nun sei mal ehrlich, wärst du nicht ein bißchen enttäuscht von mir, wenn ich mit einem Kerl wie Pete Dunleavy ausgehen würde?« »Nein.« »Also, ich kann mir nicht vorstellen, mit einem Mann zu sammenzusein, der sein Dingsbums tätowiert hat.« »Sprichst du von seinem Zipfel? Seinem Schniedelwutz? Himmel, sag doch einfach Schwanz.« »Vulgär zu sein, gefällt mir nicht.« »Glaubst du wirklich, daß er das getan hat. Das Ding täto wiert?« »Ich hab's zwar nicht überprüft, kenne aber jemanden, der genau Bescheid weiß.« »Die Schwedin, die immer knackig braun ist, selbst im Winter?« »Ach, die hab' ich längst vergessen«, antwortete Enid nach denklich. »Das muß der Neid ihr lassen: Der steht alles. Und nichts wahrscheinlich noch besser.« »Jetzt wirst du gehässig. Überhaupt, wie kommen wir ei gentlich auf sie zu sprechen?« »Über unsere Finanznöte und die Frage, wie sich ein paar gerupfte Hühnchen auf den Kontostand auswirken.« Enid schüttelte den Kopf, als wollte sie ihre Gedanken ord nen, beugte sich nach vorn und drehte am Radio herum, das vor allem rauschte und nur selten einmal wohltönende Musik von sich gab. Marjory warf der älteren Schwester einen Blick zu, verkniff es sich aber, ihr Lieblingsthema zur Sprache zu bringen - den niedergelegten Rechtsstreit, den jämmerlichen Rat der Anwälte nach dem Tod der Eltern. Die Töchter hatten keinen Cent Entschädigung für die Tragödie bekommen, weder von der Eisenbahn noch vom Staat. Den Lebensunterhalt mußten sie bestreiten von dem monatlichen Scheck der Sozialversi cherung. Dazu kam noch Enids Verdienst als teilzeitbeschäf tigte Kassiererin im Supermarkt und das, was Marjory für ihre beiden Jobs bekam. An drei Tagen in der Woche arbei 51
tete sie als Haushaltsgehilfin; dienstags und donnerstags ver teilte sie im Wohnwagenpark von Sublimity >Essen auf Rä dern< an Invalide, denen sie anschließend auch aus Zeitungen vorzulesen hatte. Die Verwandtschaft war immer sehr groß zügig und ließ die Schwestern teilhaben an dem, was ihre Ge müsegärten, Hühnerhäuser und Forellenteiche hergaben. Zu hungern brauchten die beiden also nicht. Trotzdem war ihnen großes Unrecht widerfahren. Für Marjory gab es nur Recht oder Unrecht, schwarz oder weiß; Graustufen, wie sie zum Beispiel von Verwaltungsbe amten gemalt werden, konnte sie nicht erkennen. Was ihre Berufswünsche anging, war sie hin- und hergerissen zwischen der Wahl, eine streitbare Anwältin der Schwachen oder eine kreuzfahrende Journalistin zu werden. Auf jeden Fall würde der Tag kommen, an dem es keiner mehr wagte, Marjory Waller für dumm zu verkaufen. Sie hatten den Fluß überquert und den Distrikt von Caskey erreicht, waren also schon fast zu Hause, als Marjory auf blickte und ein rotes Blinklicht im Rückspiegel sah. »He, Enid, hinter uns ist der Hilfssheriff.« Der Streifenwagen setzte zum Überholen an. Ted Lufford saß am Steuer und hupte. »Mach's kurz, Enid, okay?« sagte Marjory und fuhr auf den Seitenstreifen. Ted Lufford stieg aus und schlenderte auf die Beifahrerseite des Plymouth zu. Er war groß gewachsen mit enorm schlanken Hüften, und sein Gang war hinreißend schlaksig, nicht af fektiert, sondern cool, wie John Wayne in jungen Jahren, bevor er einen Bauch angesetzt hatte. Auch Ted würde später mal ansetzen, er trank zu gerne Bier. Er spielte Bowling und ging oft auf Vogeljagd. Viel mehr war über ihn nicht zu sagen, außer daß er der einzige Hilfssheriff im Distrikt war, der kei nen Knastbruder in der Verwandtschaft hatte. Er beugte sich vors Fenster und schaute herein. »Hallo, Marjory. Na, wie geht's, Nuggins?« Marjory wußte mit diesem Kosenamen nichts anzufangen, sträubte sich aber, die Schwester um Aufklärung zu bitten. 52
Schlimm genug, daß die beiden das Stadium niedlicher Grußformen erreicht hatten, aber offenbar schliefen sie ja schon seit mindestens einem Monat miteinander. Enid hatte wohl schon Affären gehabt, dessen war sich Marjory sicher. Vor dem Tod der Eltern hätte Enid nicht einmal einem Jungen aus der Sonntagsschule auf die Backe geküßt. Dann aber entsprang ihrer Keuschheit ein kleiner Dämon, gerade so wie ein Pickel auf dem Kinn der Madonna. »Hallo, Ted.« Marjory sagte: »Die Leiche liegt im Kofferraum, Tatsache. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Aber es war nicht mehr auszuhalten, diesem Kerl sieben vertrackte Jahre lang Abend für Abend gegenüberzusitzen und zusehen zu müssen, wie er auf seinen Koteletts herummümmelt und meine hübsche Wachstuchdecke vollkleckert.« »Hör nicht hin«, meinte Enid grinsend. »Sie hat heute ihren makabren Tag.« »Ich glaube, die alten Leutchen färben auf dich ab, Mar jory.« »Die wissen sehr interessante Geschichten zu erzählen.« »Nimmst du am Wochenende am Friedensmarsch teil?« wollte Ted von ihr wissen. »Fällt ins Wasser.« »Soll heißen, daß ich sie gebeten habe, zu Hause zu blei ben«, dolmetschte Enid. Ted Lufford richtete seine Aufmerksamkeit nun auf die äl tere Schwester, die mit großen Augen einen Kuß von ihm er wartete. Marjory tippte mit den Fingern aufs Lenkrad und schaltete innerlich ab, während die beiden ihre jeweiligen Zeitpläne für die kommende Woche aufeinander abzustimmen versuchten. Dann richtete sich Ted plötzlich auf und ließ eine Kaugummiblase platzen, was Marjory immer besonders reizend an ihm fand. Das Funkgerät im Streifenwagen schnarrte und schien eine dringende Mitteilung zu machen. »Mach's gut, Marjory. Bis dann, Nuggins.« Er trabte zum Wagen zurück, hielt mit einer Hand den Pistolenhalter fest,
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sprang hinters Steuer und startete durch, daß der Schotter spritzte. Gleichzeitig fing die Sirene an zu heulen. »Die Bullen scheinen zu glauben, daß alle Ganoven stock taub sind«, bemerkte Marjory. »Wahrscheinlich muß er zu einem Verkehrsunfall.« »Ab nach Hause; ich hab' Hunger.« Als sie vor ihrem Haus auf der Old Forge Road anhielten, fuhr sich Enid mit der Hand über die Stirn und sagte: »Ich muß mich eine Weile hinlegen, Marjory. Hast du was dagegen, wenn wir erst um halb sechs essen?« »Geht's dir nicht gut?« »Vermutlich krieg' ich meine Mensis.« »Deine Mensis? Warum sagst du nicht, was es ist? Nämlich Krämpfe und Blähungen und Brustschmerzen und ein Blut schwall nach dem anderen und blöde, eklige Tampons und hänselnde Jungs auf dem Schulhof, die immer genau wissen, was mit dir los ist. Was haben wir bloß verbrochen, daß Gott uns jeden Monat damit straft?« »Schuld daran hat Eva.« »Ich frag' mich, was die sonst noch alles ausgefressen hat, wofür wir heute zahlen müssen.« »Keine Ahnung«, meinte Enid schwächlich. »Von Eva ist uns in der Sonntagsschule nicht viel erzählt worden, oder? Wie dem auch sei, ich geh' nach oben und leg' mir ein kaltes Tuch auf die Stirn.« »Ich ruf dich, wenn das Essen auf dem Tisch steht.« »Danke, Marjory.«
4 Das Telefon läutete. Marjory hob in der Küche ab. Es meldete sich Großtante Willie Lloyd, die wenige Meilen entfernt in McHenry's Ford wohnte. Tante Willie rief oft an, um sich zu vergewissern, daß die beiden Nichten noch lebten und nichtwie sie sich ausdrückte — >von irgendwelchen Strolchen ge 54
meuchelt< worden waren. Als Witwe bewohnte sie ganz allein ihr Acht-Zimmer-Haus. Ständig bedrängte sie die Mädchen, doch zu ihr zu ziehen. Aber davon hielt Marjory nichts, denn Tante Willie redete ohne Unterlaß, und außerdem war ihr Haushalt eine Katastrophe: Durch die Löcher in der Fliegengittertür spazierten die Hühner rein und raus. Mit geduldigen Worten schlug Marjory das Angebot einer Schale Tomaten aus, ließ sich dann aber zu zwei Gläsern Brombeermarmelade überreden, versprach, noch vor Sams tag zu ihr nach McHenry's Ford rauszufahren, und atmete er leichtert auf, als die Tante endlich, nach fast zehn Minuten, das Gespräch beendete. Marjory ging auf die Veranda hinter der Küche, um Luft zu schnappen, aber es war nach wie vor völlig windstill, die Bäume im Hinterhof regten sich nicht. Sie fütterte die beiden Kater Zombie und Tom-Tom, leerte den Wäschekorb und fing an zu waschen. Die alte Mangel klang schlimmer denn je; bald würde Ersatz nötig werden. Allerdings hatten die Schwestern nur fünfundvierzig Dollar auf . dem gemeinsamen Konto. Marjory schlenderte hinaus in den Hof, der prickelnde Schweiß unter der Hose machte ihr seit der Rückfahrt von Nashville zu schaffen und wurde immer unangenehmer. Ted Lufford hatte den Rasen geschnitten, wie schon den ganzen Sommer über, aber der Rest des knapp einen Hektar großen Grundstücks sah ziemlich verwildert aus. Auf dem Garten stück, das die Mutter gepflegt hatte, wucherte das Unkraut seit vier Jahren, und zwischen den Weinstöcken war kein Durchkommen mehr. Die Werkstatt des Vaters verfiel zuse hends; das Vorhängeschloß an der Tür war seit dem Tod der Eltern nicht mehr berührt worden und völlig verrostet. Daddy Lee war in der Nachbarschaft »der Mann für alle Fälle< gewesen, einer jener genialen Bastler, die jede Maschine zu reparieren verstanden. Deshalb hatte er immer viel zu tun gehabt. (Erstaunlich, wie viele Leute drei oder vier Dollar ausgaben, um einen Zehn-Dollar-Toaster zu retten.) So schaffte der Va ter genug Geld für die Familie an, und es reichte außerdem noch für seine große Leidenschaft: den Tausch, der Ausbil 55
dung und Präsentation von Dressurpferden. Doch der Stall war jetzt leer, so abstoßend leer, daß Marjory es nicht über sich bringen konnte, einen Blick hineinzuwerfen. Auch als ihr Vater noch am Leben war, hatte sie einen großen Bogen um die Pferde gemacht. Ihrer Meinung nach waren diese Viecher dümmer als Stroh, übellaunig und ständig geneigt, mit der Hinterhand auszutreten. Trotzdem hatte sie immer Stolz für den Vater empfunden, wenn er seine Tiere vorführte. Mann o Mann, was für eine tolle Figur er im Sattel machte! Vor allem aber liebte sie ihn dafür, daß er Verständnis hatte für ihre Leidenschaft, das Baseballspiel. Er lobte ihr Talent und sagte nie ein abfälliges Wort über ihr Äußeres. Marjory war hoch aufgeschossen und hatte breite Schultern. Sie sah ein bißchen kopflastig aus, ungelenkig, verbaut. Mit beiden Armen warf sie gleich gut. Als sie zum ersten Mal zu jonglieren versuchte, war es ihr fast auf Anhieb gelungen, vier Bälle in der Luft zu halten. Den ersten Golfball trieb sie hundertfünfzig Meter weit. Das Schwimmen hatte sie sich selbst beigebracht und darin eine beachtliche Ausdauer entwickelt. Wenn sie lief (ein Schritt nur, und die Höchstgeschwindigkeit war erreicht), zeigte Marjory eine Geschmeidigkeit und Eleganz, die gänzlich im Widerspruch zu ihrer Statur zu sein schien. Marjory hob einen alten, aus den Nähten platzenden Base ball auf, der von Ted mit dem Wagen überrollt worden war, warf ihn in die Luft, drehte sich herum und fing ihn geschickt hinterm Rücken auf. Dieses kleine Kunststück brachte sie er neut ins Schwitzen; die Bluse klebte auf der Haut. Um abzu kühlen, legte sie sich in die geflochtene Hängematte auf der schattigen Veranda, fand aber wegen der kribbelnden Nässe keine bequeme Lage. Auf der Eisenbahnstrecke drei Meilen entfernt hörte sie eine Diesellok tuten. Warum ihr gerade an diesem Tag der Zug einen kalten Schauer über den Rücken jagte, wußte sie selbst nicht zu beantworten. Sie wollte es immer noch nicht glauben, daß der Mann fiir alle Fälle, der Meister aller Maschinen, sein Auto vor einem herbeirasenden Güterzug auf den Schienen abgewürgt hatte.
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Die meisten Freunde und Verwandte vermuteten den Grund dafür in einer Herzattacke, die Daddy Lee zehn kritische Se kunden lang außer Kontrolle gebracht hatte. Aber Marjory fand in dieser Erklärung keinen Trost. Daß die Eltern tot waren, kam ihr vor wie ein Beispiel für die brutale Ironie des Schicksals, wie ein heimtückischer Verrat am Leben. Hoffent lich war Enid nur clever genug, für Schutz und Sicherheit zu sorgen. Ja, sie sollte Ted heiraten, der dann zu ihnen ziehen und das Haus wieder in Schuß bringen würde; Enid würde Kinder bekommen, die Marjory zu beaufsichtigen hätte, wäh rend die Mama bei Curtis and Wainwright arbeiten ginge, und so wären sie alle Sorgen los, für immer. Allerdings steckte in diesem Plan ein Haken wie der Wurm in einem scheinbar gesunden Apfel, und der störte Marjory. Mit Ted kam sie zwar inzwischen ganz gut aus, doch stand zu befürchten, daß er, wenn er erst einmal mit Enid verheiratet wäre, seine Meinung über die Schwägerin ändern, an ihr her ummäkeln könnte und womöglich versuchen würde, sie da vonzujagen. Ob ihr Enid dann noch beistünde, fragte sich Marjory. Sie war sich nämlich durchaus bewußt, daß sie der Schwester oft auf die Nerven ging. Der Gedanke daran, daß Enid treulos werden könnte, war in Kombination mit dem kitzelnden Schweiß zwischen den Beinen mehr, als Marjory zu ertragen vermochte. Sie wat schelte ins Haus, hinauf ins Badezimmer, zog Hose und Slip herunter und bepuderte die gereizten Stellen. Aus dem Duschkopf tropfte es, am Wasserschlauch hingen Strumpfho sen zum Trocknen, blaue Zahnpaste klebte in dem gesprunge nen Waschbecken aus Porzellan, auf dem Boden lag eine halbleere Shampooflasche. Den Schwestern fiel es schwer, Ordnung zu halten, vor allem weil die Zeit dafür fehlte. Aber am Sonntag war Besuch zu erwarten, und für Marjory stand es außer Frage, daß ihr die Aufgabe zukommen würde, klar Schiff zu machen, obwohl sie mit der Einladung nichts zu tun hatte... Sie ging den Korridor entlang, klopfte energisch an Enids Tür und saß schmollend am Küchentisch, als die Schwester herunterkam und ihr ausgeruht zulächelte. 57
»Das sieht ja herrlich aus, Liebes.« »So?« »Mehr nimmst du nicht? Bloß ein Glas Milch?« »Ja.« »Ach, du willst wohl...« »Wenn du meinst, daß ich ein paar Pfunde weniger vertra gen könnte, sag's ruhig frei heraus.« »Ich wollte bloß... Herrje, bist du empfindlich.« »Ist es meine Schuld, daß ich die Figur von Vater geerbt habe, während du mit den besten Genen der Familie gesegnet bis t?« »Das kann man nicht sagen. Du kannst dich enorm gut be wegen, und ich versteh' nicht einmal, Krocket zu spielen, ohne mir mit dem Schläger in die Hacken zu rammen.« »Was macht das schon? Glaubst du, Ted legt Wert darauf, daß du Krocket spielen kannst? Den macht mit Sicherheit was anderes an.« Enid nahm ein Stück von der Tomatenpastete und streute reichlich geriebenen Parmesan darüber. »Du hast die schönsten Augen in der Familie seit Urgroß mutter Emmie Jones Clawson, das sagt jeder, und deine Haut... sieh dir bloß mal meine an. Allmonatlich, wenn es soweit ist, kommt mir rund um die Augen der Dreck aus den Poren. Na und? Wir haben alle unser Päckchen zu tragen, Marjory.« »Warum versuchst du, mir gut zuzureden, wenn ich schlechte Laune haben will?« Schmunzelnd langte Enid nach dem Topf Bohnen. »Weil ich dich gern habe.« Marjory senkte den Kopf und knibbelte an einer Warze herum. »Wenn ich heute abend das Haus verlassen und nie mehr wiederkommen würde... würdest du mich vermissen?« »Dich vermissen? Ich würde sterben, Marjory.« »Oh.« Marjory putzte die Nase an einer Serviette ab. »Und jetzt sag mal, was mit dir los ist?« »Ich weiß nicht. Ach, fast hätte ich's vergessen: Tante Wil lie Lloyd hat angerufen.«
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»Die arme, alte Seele. Wie geht's ihr?« »Gut. Sie hat dem Radioprediger von Del Rio zwanzig Dol lar geschickt und einen Gebetsschal dafür bekommen. Den soll sie sich umwickeln und beide Hände aufs Radio legen, wenn er seine heilende Botschaft über den Äther verbreitet. Tante Willie reagiert aber allergisch auf den Farbstoff im Schal. Seit zwei Wochen sind ihr die Augen dick angeschwollen. Und in den Knien hat sie immer noch Wasser. Kannst du mir auch mal den Topf rüberschieben? Ich glaube, ich gönn' mir doch ein paar Bissen.«
5 Enid ließ Marjory vor der Baptistenkirche aussteigen und fuhr weiter zur Arbeit bei Krogers am Falling Spring Pike. Auf dem Baseballplatz hinter dem Gebäude der Sonntagsschule war ein Spiel der Nachwuchsliga im Gange. Einige von Marjorys Teamgefährtinnen und ein paar der Presbyterianer-mädchen in gelb-weißen Trikots standen am Rand und spielten sich mit einem Softball ein. Marjory, mit Handschuh und Lieblingsschläger ausgerüstet, ging auf eine Gruppe zu, die sich um Rita Sue Marcum geschart hatte, die überall, wo sie auftauchte, ihre natürliche Anziehungskraft wirken ließ. Sie plapperte süß daher und schäumte wie eisgekühlte Limonade. Wenn sie jedoch nicht zur Geltung kam, wurde sie zickig und dreist. Dank der domi nanten Gene ihrer aus Norwegen stammenden Mutter war Rita Sue hellblond, auch ohne Bleichmittel. Ihr Vater hatte vor kurzem viel Geld geerbt; seitdem bemalte sie ihre nordisch blauen Augen in extravaganter Manier und glaubte, sich in jeder Hinsicht verbessern zu müssen, selbst religiös: Den Bap tisten hatte sie den Rücken gekehrt und war der presbyteriani schen Kirche beigetreten. In der Provinz von Caskey County erregte dieser Wechsel so viel empörte Aufmerksamkeit, als wäre der Papst Talmudschüler geworden. 59
Rita Sues jüngste Errungenschaft war neben einem toma tenroten Cabriolet der hübsche Boyce Bledsoe, für den Mar jory in der siebten Klasse kurze Zeit geschwärmt hatte, bevor sie sich dann unsterblich in Tim McCarver, den Unerreichba ren, verliebt hatte. Boyce war über und über mit Sommer sprossen besät, und sein Haar hatte die Farbe von Flamingos. Er spielte in der High School Footballmannschaft als Quarterback, grinste viel und wußte nur wenig zu sagen, was ihn für Rita Sue um so begehrenswerter machte, da sie den Mund nicht halten konnte. Marjory nahm den Softball, der ihr entgegenrollte, mit dem Schläger an und beförderte ihn mit lässigem Klaps in Richtung Boyce, der darauf nicht gefaßt war, aber mit schnellen Reflexen verhindern konnte, daß ihm der Ball in die Rippen flog. Ihn zu fangen, gelang ihm jedoch nicht. »Üben!« rief Marjory ihm zu. Rita Sue drehte sich um und schirmte die Augen mit der Hand ab. Die Sonne stand tief hinter Marjory. Rita Sue lä chelte und zeigte strahlend weiße Zähne. »Bist du's, Marjory? Oder hat da jemand ein T-Shirt über Boyces Volkswagen gezogen?« »Hallo, Rita Suuuue! Weißt du noch, wie ich dein Schlaf zimmer in eine Ameisenfarm verwandelt habe? Warte mal ab, wie es aussehen wird, wenn du aus dem Ferienlager zurück kommst.« Daß sie diesen Konter für kümmerlich und mißlungen hielt, machte Rita Sue überaus deutlich, indem sie mit der Hand am linken Ohr vorbeistrich und breit und gelangweilt grinste. Marjory versuchte es ein zweites Mal. »Was soll eigentlich all die Farbe in deinem Gesicht? Ich dachte, wir kümmern uns heute abend ums Spiel mit dem Ball und nicht um Titus Andro-nicus.« Auch der Schuß ging daneben, genauer: an Rita Sues Kopf vorbei. Sie hielt Andronicus wahrscheinlich für eine schlimme Darmgrippe. Die drei Jugendlichen rückten einander näher und standen nun im Mittelpunkt der Zuschauer ringsum. 60
Rita Sue legte ihre schlanke, sonnengebräunte Hand auf Mar jorys Schulter, ihre rosalackierten Nägel waren wieder einmal makellos. Marjory dagegen kaute ihre ab - bis zum Nagelbett. »Herzchen, wie du weißt, bin ich bei Creekmuir's für die Teenagermode mitverantwortlich. Wir haben gerade heute unsere Auswahl für die Herbstsaison getroffen.« »Mist, daß ich da nicht dabeisein konnte.« »All die schicken Sachen... du solltest morgen mal vorbei schauen.« Rita Sue krauste ganz mondän die Stirn und gab sich nachdenklich. Im Licht der untergehenden Sonne schienen ihre hoch toupierten Haare Feuer gefangen zu haben. »Ich glaube, ich hab' was Süßes in deiner Größe gesehen.« »Was Süßes steht mir nicht«, sagte Marjory und bereute diesen Ausspruch sogleich, denn Rita Sues Miene verriet, daß sie zu einem neuen Tiefschlag ausholte. Dazu kam es nicht; Boyce puffte ihr den Ellbogen in die Seite. »Was hast du am Sonntag vor, Marjory?« fragte Boyce, doch Rita Sue strafte ihn für seine Unterbrechung mit einem leichten Knuff in seinen herrlichen Bizeps. »Nett, daß du fragst, Boyce. Sonntag? Tja, ich...« »Mein Vetter Duane, der aus Franklin, kommt zu Besuch und wohnt bei uns, während seine Eltern nach New Orleans zu 'ner Tagung fahren.« »Duane wer?« »Eggleston. Er will dich unbedingt treffen. Also...« »Mich treffen?« fragte Marjory, und daß Rita Sue über ihre verdutzte Miene zu glucksen anfing, verunsicherte sie noch mehr. »Kennt er mich denn?« Sie musterte Rita Sues Gesicht genau und machte sich auf eine hinterhältige Gemeinheit von ihr gefaßt. »Kenn' ich ihn von irgendwo her?« »Vor zwei Jahren, während der Ferien«, antwortete Rita Sue. »Der Junge, der so fleißig damit beschäftigt war, Schmet terlinge zu fangen.« »Der Lepidopterologe?« fragte Marjory und schüttelte sich vor Entsetzen. »Was immer das auch heißen mag.« »Komm mir bloß nicht mit dem...« Marjory wandte sich 61
an Boyce und fuhr fort: »Das Jüngelchen ist höchstens eins fünfzig groß. Wie alt ist er eigentlich? Zwölf?« »Duane ist gerade sechzehn geworden und mächtig ge wachsen. Du wirst ihn kaum wiedererkennen. Also...?« »Nee, Boyce, tut mir leid, aber Sonntag haben wir Besuch. Ein... ehm, Freund meiner Schwester und Ted Lufford kom men zum Essen.« »Na ja, dann nicht. Duane bleibt zwei Wochen, bis die Schule wieder anfängt.« »Prima. Dann sehen wir uns ja noch. He, die Kleinen sind mit ihrem Spiel gleich durch. Vielleicht sollten wir uns schon mal aufwärmen.« Rita Sue schmiegte sich an Boyces Seite, drängte ihm ihre rosafarbene Hand auf und ließ das Hinterteil aufreizend hin und her wackeln. Typisch, sie machte die Jungs an und wehrte sie dann ab, elegant wie eine Florettfechterin. Marjory vermutete, daß Rita Sue dem armen Boyce mächtig eingeheizt hatte. Seine kurzen Haare schienen ein bißchen steifer von der Kopfhaut abzustehen, und wahrscheinlich spürte er im Augenblick noch andere Versteifungen. Rita Sue beeilte sich, um auf dem Weg zum Spielfeld zu Marjory aufzuschließen. »Kann ich mal was Ernsthaftes mit dir besprechen, Mar jory?« Marjory geriet aus dem Tritt und schlug die Hand ans Herz. Der scheinbar gnadenlosen Rivalität der beiden lag eine fast telepathische Einfühlung in die jeweils andere Gemüts lage zugrunde. Die beiden Mädchen waren in unmittelbarer Nachbarschaft an der Old Forge Road aufgewachsen, bevor Rita Sues Vater einen alten Herrensitz wenige Meilen außer halb von Sublimity erwarb und die Familie dorthin umzog. Dieser Wechsel hatte am Verhältnis der beiden nichts geän dert, die zänkische Konkurrenz zwischen ihnen blieb beste hen. »Meine Mutter hat wieder mal einen ihrer Anfälle und meint, ich solle mich an dich wenden«, flüsterte Rita Sue und sah sich nach allen Seiten hin um. 62
»Algebra oder Biologie?« »Beides. Du weißt ja, was passiert, wenn ich nicht...« »Schon verstanden. Ich helf dir.« Rita Sue warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Sie hatte erwartet, irgendeine Gegenleistung abverlangt zu bekommen, doch Marjory zuckte nur mit den Schultern. Nein, sie wollte nichts für ihre Hilfe. Der bedauernswerten Rita Sue mußte beigestanden werden, andernfalls würde sie die High School mit einem schlechten Zeugnis verlassen müssen, und damit wären all ihre Chancen hin, an der Universität von Tennessee zu studieren. »Vielen vielen Dank, Marjory.« Marjory war von der eigenen Wohlanständigkeit ganz überwältigt, holte tief Luft und sagte: »Darf ich dir demnächst vielleicht auch noch das Händchen halten, wenn du zum Klo mußt?« Rita Sue blieb stehen, kniete sich in den Staub der ver wischten Linie am dritten Mal und schnürte den Turnschuh derart heftig zu, daß der Riemen riß. Sie zeigte wieder ihr brei tes, strahlendes hohles Lächeln. »Ehrlich«, antwortete sie, »manchmal würde ich dich all zugern einem Stinktier verfüttern.«
6 Am Sonntag nach der Kirche fuhr Enid Waller zum Landes krankenhaus von Cumberland, während Marjory zu Hause das Essen vorbereitete. Als das Hähnchen im Ofen und der Salat im Kühlschrank war, ging sie mit dem Federwisch durchs Haus, rückte die klo bigen, alten Mahagonimöbel zurecht und strich die gestickten Schonbezüge der Wohnzimmersessel glatt. Sie hatte wieder ihr nervöses Flattern, wie Mutter immer zu sagen pflegte. Die Gästehandtücher aus dem Zedernschrank im Flur wirkten fehl am Platz im frisch geputzten Badezimmer. (Enid war 63
schon um drei in der Früh aufgestanden, um sauberzumachen.) Sie wurden so selten benutzt, daß sie aus einem anderen Haushalt zu stammen schienen. Als Marjory, zurück in der Küche, das brutzelnde Hähnchen mit Bratensaft bestrich, hörte sie ein Auto auf dem Kiesweg vorm Haus. Sie nahm die Schürze ab, zupfte das enge, weiße Pikeekleid zurecht (das wie an den Hüften zu kleben schien) und ging auf die Veranda hinaus. Ted war in seinem Firebird gekommen. Marjory winkte ihm zu, tat einen Schritt nach vorn und blieb mit dem Absatz ihrer kostbarsten Sommerpumps in einer Fuge stecken. Der Absatz brach, bevor der Knöchel umknickte; trotzdem schlug sie der Länge nach hin. Jaulend vor Wut und rot im Gesicht stand sie auf, als Ted ihr zu Hilfe eilte. »Weh getan?« »Nein.« Sie trat den ruinierten Schuh vom Fuß und balan cierte auf einem Bein. Wolken hatten sich vor die Sonne ge schoben, aber das Licht war immer noch gleißend, die Luft schwül, und Marjory fühlte sich bereits wie mit einem Garten schlauch abgespritzt. Ausgerechnet jetzt kam Enid mit ihrem Gast an. »Was ist passiert?« »Ach, ich hab' mir den Absatz abgerissen.« »Dein Kleid hat anscheinend einen Grasfleck abgekriegt.« »Der läßt sich wegbleichen.« »Ich hab', glaube ich, noch ein Paar Schuhe, in die du dich reinzwängen könntest. Im Schrank irgendwo.« Marjory zog auch den anderen Schuh aus und sah Arne Horsfall an, der wenige Schritte hinter Enid stand und einen Zeichenblock unterm Arm geklemmt hielt. Er war sehr viel größer, als sie sich ihn vorgestellt hatte. Obwohl er einen Buckel machte, ragte er noch einen halben Kopf über Ted hinaus, der knapp einsneunzig maß. Aus den Ohren Arnes wucherte mehr struppiges, weißes Haar als auf der Kopfhaut. Sein Gesicht war knochig, dort, wo noch Fleisch saß, war die Haut tief vernarbt. Trotz dürrer Statur 64
wirkte er beileibe nicht schwächlich, sah aber derart ungelenk aus, daß es den Anschein hatte, er sei falsch zusammengebaut worden. Die neuen Sachen, die Enid gekauft hatte, paßten ganz gut, kleideten ihn aber dennoch nicht. Wahrscheinlich wäre er ganz in Schwarz besser ausstaffiert gewesen. In ihm schien kaum Leben zu stecken, so schweigsam und ernst war er. Bei einem kurzen Rundgang durch die Krankenanstalt hatte sich Marjory bereits mit dem Gros der Insassen vertraut machen können; die einen waren ruhiggestellt und antriebslos, die anderen spinnert und gespalten — allesamt standen sie unter Drogen, die so durchschlagend wie Raketentreibstoff waren. Arne Horsfall schien ein anderer Fall zu sein. Er sah aus, wie sich eine Migräne anfühlt. Allerdings ging eine Kraft von ihm aus, die Marjory aufmerken ließ. Sie war erregt, spürte so etwas wie Entdeckerlust. Ja, hinter diesen kleinen, dunklen Augen lebte jemand, ganz gewiß. Er verhielt sich distanziert, machte aber dennoch keinen unterwürfigen, pharmazeutisch gedämpften Eindruck. Es war, als habe er schon vor langer Zeit gelernt, daß sich andere von seiner starren Miene und blutleeren Gleichgültigkeit abstoßen ließen. Anstatt beobachtet zu werden, schien er lieber andere beobachten zu wollen, so wie er nun Marjory ins Auge gefaßt hatte. »Marjory, Ted... ich möchte euch Mr. Horsfall vorstellen. Er ist einer meiner begabtesten Schüler.« Ted streckte ihm die Hand um Enid herum entgegen. Arne Horsfall stierte ihn mehrere Sekunden lang entgeistert an, und es schien, als wäre ihm zum ersten Mal die Hand zum Gruß geboten worden. Dann nahm er sie an, ganz vorsichtig und ohne dabei den Gesichtsausdruck zu ändern. Marjory hielt sich lächelnd zurück und winkte ihm nur flüchtig zu. Sie brachte es nicht über sich, diese lange, gelbliche Hand zu berühren, auf der sich häßliche schwarze Venen zeigten und braune Flecken, die wie verschmiertes Motoröl aussahen. Von Ted wanderte Arne Horsfalls Blick nun suchend und langsam zum Haus hinüber. Die Sonne tauchte gerade hinter den Wolken auf. Er kniff die Augen zu einem Schlitz zusam 65
men und zog die Schultern noch mehr ein, als fühle er sich durch zu grelles Licht bestraft. »Laßt uns doch reingehen«, schlug Enid vor. »Die Fahrt war lang, und ich bin sicher, Mr. Horsfall lechzt nach einem Schluck eisgekühlter, süßer Limonade.« Marjory bemerkte, daß, sooft Enid sprach, Arne Horsfall ihr allergrößte Aufmerksamkeit zollte und zuhörte wie einem Orakel oder einer Heiligen. Der jüngeren Schwester wurde ganz mulmig, und am liebsten wäre sie davongelaufen. Doch sie besann sich und dachte: Was soll's? Immerhin war Arne Horsfall ein Mann, und wie jeder andere, der längere Zeit mit Enid zu tun hatte, schien auch er sich in sie verliebt zu haben. Das war nur allzu verständlich, zeugte geradezu von Verstand. Dieser Gedanke erleichterte Marjory ungemein; sie fand nun Mr. Horsfalls Gegenwart ein wenig erträglicher und war nicht mehr so unglücklich über seinen Besuch. Enid hakte sich anmutig bei ihm ein, und auch Ted lächelte, als ob er sich tatsächlich auf einen unterhaltsamen Nachmittag freue. In der Küche schaute Marjory noch einmal auf das knusprige Hähnchen im Ofen, stellte dann eine Karaffe Limonade und Gläser auf das ererbte Silbertablett, das sie vor kurzem beinahe noch aus Geldknappheit verkauft hätte. Aber die wenigen Schätze, die ihnen die Mutter hinterlassen hatte, zu ver ramschen, wäre einem Betrug gleichgekommen. Ada May Waller war nie hochnäsig, aber sehr traditionsbewußt gewesen und hatte den Familienstammbaum bis in die letzte Ver ästelung hinein gekannt, darunter auch bedeutende Zweige in Schottland und England. Ihr angeborener Sinn für Stil und Anstand war auf Enid übergegangen. Marjory nahm sich manchmal selber auf den Arm mit dem Hinweis darauf, daß sie einem Urahnen ähnlich sähe, der dafür bekannt gewesen sei, als Kirchenmann Ketzer auf kleinem Feuer geröstet zu haben. Dieser Scherz konnte allerdings auch sehr schmerzhaft sein. Sie trug das Tablett mit der Limonade ins Wohnzimmer, in das weiches Licht fiel, gefiltert vom Laub des Eichenbaums, 66
der wie eine große, grüne Kumuluswolke fast die gesamte Holzfront abschirmte. Arne Horsfall hatte immer noch den Zeichenblock unter den Arm geklemmt und schritt die Zimmerwände ab, an denen viele Porträts und Fotos von Vorfahren hingen, Männer und Frauen in altertümlichen Kleidern mit mittig gescheiteltem Haar. Ihre Bilder hingen schon dort, bevor Enid geboren war. Mr. Horsfall schien einen Moment lang ganz fasziniert zu sein von einem ausgestopften, roten Eichhörnchen, das, auf den Hinterbeinen stehend, die Vorderpfötchen wie ein MiniGrizzly in Drohgebärde spreizte. Marjory fürchtete schon, daß es sehr ermüdend sein werde, mit einem Mann zu reden, der kaum in der Lage war zu antworten. Aber Enid schien dadurch nicht beunruhigt zu sein. Sie konnte stundenlang mo nologisieren und über die Dinge sprechen, die die meisten Menschen zu Tode langweilten; nur, Enid langweilte nie, denn ihre Stimme, ihr natürlicher Tonfall, war so angenehm, daß die Worte nicht zählten. Ted sah sie an und schien sich wirklich glücklich schätzen zu können. Marjory setzte das Tablett auf dem Tisch ab, der vor einem der unbequemen Sofas aus Roßhaar stand, und füllte die Gläser mit Limonade. »Na, gibt's was Neues aus deinem interessanten Leben zu berichten?« Ted antwortete mit gedämpfter Stimme: »Tja, letzte Nacht ist auf mich geschossen worden.« »Was? Du machst wohl Witze!« Entsetzt und aufgeregt hielt Marjory nach Verletzungen Ausschau. »Vorbeigeschossen, oder? Was ist passiert?« Ted zuckte mit den Achseln. »Ach, es war so gegen neun, drüben in der Deavon's Mill Road. Da hing ein Auto in der Böschung; der Verkehr floß un gestört weiter. Den Schuß habe ich gar nicht gehört, aber eine meiner Rückleuchten zersprang in tausend Stücke. Ich stand nur einen knappen Meter davon entfernt und konnte nicht ausmachen, wer geschossen hatte und aus welcher Ecke. Viel leicht war's irgendein Idiot in einem Pick-up, der ein Knöll 6?
chen für zu schnelles Fahren bekommen hat und an mir seine Wut auslassen wollte.« »Das geht bestimmt ganz schön an die Nieren.« Wieder zuckte Ted mit den Achseln, trotzdem war ihm an zumerken, daß er ein bißchen stolz auf sein Abenteuer war. »Ach, so was passiert eben manchmal. Aber sag lieber nichts zu Enid. Du weißt, wie sie ist.« »He, Enid, hast du schon gehört?« Enid drehte sich um und lächelte. »Was denn?« Ted beeilte sich zu sagen: »Ich kann mir denken, daß es euch auch gefallen würde, Bob Dylan zu hören; er spielt näch ste Woche im Pantheon.« »Wunderbar.« Marjory hob zwei gefüllte Gläser in die Höhe. Ted nahm auf dem Sofa Platz und verzog das Gesicht, halb schmerzhaft, halb belustigt. »Kann ich noch was für dich tun, Marjory?« Marjory machte große Augen und schüttelte den Kopf. »O nein, Ted. Mit Bob Dylan bin ich mehr als zufrieden. Und wie nett von dir, mich einzuladen. Ich komm' in letzter Zeit so we nig raus.« Arne Horsfall setzte sich auf den Rand des schweren Plüschsessels und legte den Zeichenblock in den Schoß. Er nippte an der Limonade und hatte nur Augen für Enid. Der Ventilator unter der Decke gab krächzende Geräusche von sich, hielt aber kühl. Wie schon so oft sagte Ted: »Wenn ich das nachte Mal herkomme, werde ich das Ding reparieren.« Enid erzählte von ihrem Kunstunterricht im Krankenhaus und meinte, wie überrascht sie sei von der Anzahl der Schüler, die originelle und sehr interessante Arbeiten zustande brächten. Dem Gast, Mr. Horsfall fielen für kurze Zeit die Augen zu, und es schien, als würde er im Sitzen einschlafen. »Armer Mann«, murmelte Enid. Sie stand auf und nahm ihm vorsichtig das Glas aus der Hand. Seine fast wimpernlosen Lider flatterten, dann sackte der Kopf noch ein Stück tiefer, und wenig später fing er an zu schnarchen. »Aber er hält sich ganz wacker, finde ich. Ihr müßt wissen, er ist schon seit einer Ewigkeit nicht mehr draußen gewesen. Die Autofahrt 68
hat ihm schreckliche Angst gemacht, vor allem aber die schweren Lastwagen, die auf der Autobahn vorbeigedonnert sind. Trotzdem hat er immer die Augen offengehalten und war ganz begierig, alles zu sehen. Das muß ihn wohl müde gemacht haben.« »Enid, der Braten ist gleich fertig. Sollen wir ihn aufwek ken?« Arne Horsfall wachte vom eigenen Schnarchen auf, das ihm die Augen aufschlagen und den Kopf zur Seite zucken ließ. Ted sprang vom Sofa auf, um rechtzeitig verhindern zu kön nen, daß der Gast aus seinem Sessel kippte. Aber Arne hatte sich von selbst gefangen und gaffte in die Runde; das dünne, weiße Haar klebte am Hinterkopf und flatterte an den Spitzen im Luftstrom des Ventilators. Bei dem Versuch, die Kehle frei zu räuspern, mußte er sich mächtig anstrengen. Marjory krallte die Fingernägel ins abgegriffene Roßhaarpolster, als Arne plötzlich in Bewegung geriet. Wie von den Kochkünsten attackiert, mühte er sich auf und verharrte kauernd über der Sitzfläche, bevor er den Rücken straffte und auf die Küche zu steuerte. Die Schwestern folgten. Selbstvergessen und zwanghaft, wie er war, lief er in Schlangenlinie auf die Gittertür zu und blinzelte mit tränenden Augen über den Hof hinaus in das heiße Flirren über dem grünen Tümp el des Nachbarn Crudup. Dann wandte er sich Enid zu. Marjory öffnete gerade den Backofen, um das gebra tene Hähnchen herauszunehmen. Mit Handzeichen versuchte sich Arne verständlich zu machen; er deutete auf den Herd, tippte mit dem langen Zeigefinger an die Schläfe und schlug mit den Armen wie ein Dirigent, der Geistermusik vernimmt und unsichtbare Instrumente zum Einsatz bringt. »Ofen... diese Küche...« Arne nickte so heftig, daß sich Marjory nur wundern konnte, wie ein derart dünner Hals eine solche Belastung auszuhalten vermochte. »Das erinnert Sie... an früher, an Ihr Zuhause. Hab' ich richtig verstanden?« Arne nickte wieder und scharrte in nervöser Erregung mit dem Fuß. »Wie lange ist das her, Mr. Horsfall?« Er führte die Hand, rechtwinklig abgespreizt, an die Hosennaht. »Aha, da 69
waren Sie also noch ein kleiner Junge, nicht wahr? Wo lebten Sie damals? Wissen Sie das noch?« Diesmal schüttelte Arne den Kopf. Er starrte wieder durch die Gittertür nach draußen, hob die flache Hand an die Brauen und wies dann, den Arm ausstreckend, in die Ferne. Marjory fühlte sich an einen Film über Cochise erinnert, der finsteren Blickes mit weißäugigen Finken kommunizierte. Vielleicht hatte Arne Horsfall densel ben Western gesehen. Er gab ein komisches Bild ab; aber die Art, wie er die Lippen bewegte, und die Speicheltropfen, die sich bei seinen krampfhaften Ausdrucksversuchen in den Mundwinkeln bildeten, fand Marjory alles andere als amü sant. Im Gegenteil - der Anblick machte ihr angst. »Sind Sie auf einer Farm großgeworden?« rätselte Enid. »Einer Farm wie die da drüben?« Arne faltete nun die Hände und nickte unaufhörlich; die Zeichensprache hielt nicht mehr Schritt mit seinen Gedanken und Erinnerungen. Er stellte die Zeigefinger zu einem spitzen Dreieck auf. »Turm... Kirchturm? War Ihr Vater ein Prediger?« Arne schüttelte den Kopf. Er warf einen Blick auf die Töpfe und Pfannen, die neben dem Herd an der Wand hingen, nahm eine der Pfannen vom Haken, fuhr mit der Hand über den Kupferboden und wiederholte das giebelförmige Fingerzeichen. »Hatte die Kirche, die Sie besucht haben, ein Kupferdach?« Enids Gesicht rötete sich vor Erregung. Ja. Sie wandte sich an Ted, der hinter ihr in der Tür stand und die Eiswürfel im Limonadenglas klingeln ließ. »War unsere alte Kirche nicht auch mit einem Kupferdach gedeckt?« »Ich glaube ja. Aber die ist abgebrannt, vor langer Zeit. Da bin ich noch im großen Teich geschwommen. So um neun zehnhundertvierzig, -einundvierzig.« »Sie sind also in Sublimity geboren?« sagte Enid zu Arne Horsfall. Er zuckte die Achseln, spreizte die Hände und schaute wie der durch die Gittertür ins Freie. »Hier in der Nähe? Auf der anderen Flußseite? Jenseits des Cumberland... womöglich am Harpeth-Bach. Ja, das könnte 70
doch sein, oder? Und Ihr Vater war ein Farmer. Ihre Mutter...« Arne trat plötzlich auf Marjory zu, die erschrocken auf blickte und zurückwich, als er ihr Bürstenhaar berührte. »Ihre Mutter hatte blondes Haar wie meine Schwester, und sie war... groß. Hab' ich recht? Wir kommen der Sache näher, nicht wahr? Hatten Sie Geschwister? Ach, wohl nicht. Was können Sie uns sonst noch sagen? Ich bin ganz gespannt.« »Enid, wir sollten jetzt besser den Hahn zerlegen.« »Laß mich machen«, bot sich Ted an. »Danke. Ich muß mal kurz nach oben in mein Zimmer. Bin gleich wieder zurück. Ihr könnt ja schon das Essen auf den Tisch bringen.« Auf Socken huschte Marjory die Treppe hinauf und schloß sich im Badezimmer ein. Sie bespritzte das Gesicht mit Wasser (das aus eigenem Brunnen stammte und selbst im Sommer bitterkalt war) und befreite sich so von dem Ekel, der sie plötz lich überfallen hatte. Dennoch blieb ihr der Schreck über Arne Horsfalls Zudringlichkeit in den Knochen stecken. Enid mochte dessen malerisches Talent bewundern und ihn für einen alten, harmlosen Narren halten. Marjory aber hatte ihre eigene Meinung. Für sie stand fest, daß dieser Mann auf gefährliche Weise daneben war. Ihn plagten nicht nur Erinnerungen, sondern wohl auch entsetzliche Triebe, die, über Jahre aufgestaut, zum Ausbruch drängten. Wenn es dazu käme, wollte Marjory nicht in seiner Nähe sein. Sie beschloß, den Strumpfhalter auszuziehen, der ihr bei Tisch bloß unbequem sein würde. Der Appetit war ihr aller dings längst vergangen. Der Geruch des Bratens, der Zwie beln, Möhren und Selleriestücke in fetter Soße, die Hitze in der Küche und der unheimliche Gast waren ihr auf den Magen geschlagen. Um den lästigen Hüftgurt abzulegen, mußte sie das Kleid ausziehen. Beim Wiederanziehen fiel ihr auf, wie feucht es an manchen Stellen war und so eng, daß es bei jeder falschen Bewegung zu reißen drohte. Tränen quollen ihr aus den Augenwinkeln und tropften heiß die Nase entlang. Das
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Kinn fing zu zittern an, als ihr die Schwester von unten zurief. Marjory fuhr sich mit einem Waschlappen übers Gesicht, das in den Schlieren des Badezimmerspiegels einem Abklatsch der breiten, liebenswürdigen, leicht fischköpfigen Physiognomie des Vaters gleichkam. Das Zittern ließ nach. Langsam ging Marjory, nach wie vor ohne Schuhe, nach unten ins Eßzimmer. In ihrem weißen Kleid, über das die Geländerstreben lange Schatten warfen, sah sie aus wie eine im Stich gelassene Braut. Arne Horsfall hatte sich wieder beruhigt und betrachtete die dampfenden Geflügelteile, die ihm Enid auf den Teller legte. Er schaute auf, als Marjory am Tisch Platz nahm; ihr wurde sogleich wieder mulmig. Unter ihrem Herzen machte sich ein Druck wie bei Blähungen bemerkbar. Er schien ihre Furcht und Abneigung ihm gegenüber zu spüren und auf unerklärliche Weise all das, was dunkel und voller Unruhe in seinem Innersten wirkte, auf sie zu übertragen. Ted hatte Erfahrung im Umgang mit den verschiedensten Spinnern (von denen es in seinem Revier mehr als genug gab). Warum witterte er jetzt nicht die schlafenden Hunde in Arnes Seele? Statt dessen löffelte er sich Kürbisstücke und Kartoffelgratin auf den Teller und plauderte nett über sein Anglerglück in der Bucht bei Paris Landing. Marjory schwieg beklommen und betete im stillen, während Enid das Tischgebet sprach, daß der Tag bald und ohne Zwischenfälle zu Ende gehen möge und Arne Horsfall wieder in der Anstalt steckte, bevor ihm die Sicherungen durchbrannten. Das selbstauferlegte Schweigen machte sie bald schwindelig und entlockte ihr nervöse Kicheranfälle, so nichtig die Anlässe auch sein mochten. Enid mu sterte sie dann mit unerschütterlicher Nachsicht und verdoppelte ihre Bemühungen, dem Gast das Gefühl zu geben, Teil einer kleinen Familie zu sein.
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7 »Hast du was auf dem Herzen, Marjory?« fragte Enid in der Küche, als die Schwestern den Abwasch machten. Ted hatte Angelsachen aus dem Kofferraum seines Autos geholt und war mit Arne zu dem grünen, brackigen Tümpel gegangen in der Hoffnung, daß die eine oder andere Brasse anbeißen würde. »Wieso? Warum fragst du?« »Es war bei Tisch kaum zu ertragen mit dir. So hast du dich seit deiner Kindheit nicht mehr aufgeführt. Ich mußte mich für dich schämen.« »Tut mir leid«, knurrte Marjory und ließ einen Teller, der ihr tropfnaß gereicht wurde, durch die Finger gleiten, konnte ihn aber gerade noch auffangen, bevor er zu Boden fiel. »Vorsicht.« Marjory schnappte zischend nach Luft und reagierte, als wäre sie zum Teufel gewünscht worden. »Paß du doch auf! Ich hab' noch nie ein Teil von Mutters bestem Porzellan zerworfen.« »Ist ja gut. Was hast du nur?« »Er geht mir auf die Nerven, dein Freund«, antwortete sie und parodierte flüchtig Arne Horsfalls Zeichensprache. »Ich kann's nicht glauben. Hast du denn überhaupt kein Gefühl mehr für andere, sondern nur noch für dich?« »Das ist nicht fair.« »Natürlich war er ein bißchen nervös. Kannst du dir nicht vorstellen, was dieser Tag für ihn bedeutet? Bei uns eingeladen zu sein, freundlich behandelt und in seiner Würde respektiert zu werden? Die wird einem nämlich in der Anstalt abgenommen, Marjory. Die Würde. Und ohne sie... verstehst du, was ich meine?« »Ja doch. Wann geht er wieder zurück?« »Morgen.« »Oh, Enid, soll das heißen...?« »Ja, er bleibt über Nacht. Das ist so ausgemacht.« 73
»Eeeenid«, stöhnte Marjory. »Du tickst doch wohl nicht...« »Halt den Mund!« sagte Enid in einem Tonfall, den Mar jory seit schon fast zwei Jahren nicht mehr von ihr gehört hatte. Sie starrte die ältere Schwester gespannte Sekunden lang an, wandte sich dann ab, legte den abgetrockneten Teller auf den Tisch und marschierte nach draußen. Mit schriller Stimme rief Enid ihr nach: »Am besten, du bleibst in deinem Zimmer, bis du dich wieder eingekriegt hast.« Sie war vor die Küchentür getreten, um nicht überhört zu werden. Marjory hatte den oberen Treppenabsatz mit pol ternden Schritten erreicht und eilte so schnell den Flur entlang, daß die über den Teppich rutschenden Nylonsocken heiß wurden. »Noch ein Rat«, setzte Enid empört hinzu, »schlag ruhig mal die Bibel auf und lies...« Marjory warf die Tür hinter sich zu, fest genug, um noch ein Stück vom Wandputz gleich neben dem Pfosten abbröckeln zu lassen. Dann sprang sie der Länge nach aufs Bett, ohne Rücksicht zu nehmen auf das eng anliegende Pikeekleid. Es platzte an den Nähten auf wie ein Sack Mehl. Mit geballten Fäusten trommelte Marjory auf das Kissen ein. Ein paar Daunen wirbelten auf und schwebten träge in den grellen, durchs Fenster dringenden Sonnenstrahlen zu Boden. Anschließend lag sie minutenlang reglos da, schweißdurchnäßt, mit starrem Blick zur rissigen Decke und auf die Schatten toter Insekten im Milchglas der Hängelampe. Vom Tümpel tönte Teds Stimme herüber. Ihr war miserabel zumute, so scheußlich, daß sie nicht einmal mehr heulen konnte. Ja, sie fühlte sich gewissermaßen schuldig, war ihr doch klar, daß solche Anfälle in ihrem Alter eigentlich nicht mehr auftreten durften. Nach einer Weile stand sie auf, schlüpfte aus dem feuchten Kleid, wischte Brüste und Schultern am Frotteestoff der Bettwäsche trocken und zog dann eine kurze Hose und ein >Grateful Dead<-T-Shirt an, dessen Blau zwar verschossen, aber immer noch dunkel genug war, um über das Fehlen eines BHs hinwegzutäuschen. Sie schaltete den Ventilator ein, der wie ein Wesen aus Godzilla-Filmen seinen häßlichen schwar
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zen Kopf rotieren ließ, und hantierte mit der Antenne des Schwarzweiß-Fernsehers auf dem Teewagen herum. Jetzt zur Nachmittagszeit gab es nicht viel zu sehen: ein Gospel-Quar tett (dessen Mitglieder sich in sackigen Seidenanzügen zeigten, mit zurückgekämmten Haaren und Koteletten) sowie die Sendereihe The American Sportsman mit Curt Gowdy. Die Jagd auf Dickhornschafe in Alaska stand auf der Liste jener Dinge, die Marjory gern sehen wollte, ganz unten, unmittelbar vor den Themen >Landwirtschaft in Britisch Honduras< und >Ob-duktionen<. Sie schaute durchs Fenster auf den Hinterhof hinunter. Enid hatte (ganz selbstlos) den Abwasch allein beendet und schlenderte auf die Terrasse zu, begleitet von mehreren Katzen, den eigenen und denen der Nachbarn. Sie trug einen Skizzenblock und Farbmalstifte bei sich. Marjory gähnte. Ein Nickerchen täte gut, dachte sie. In der Nacht würde sie dann wachbleiben, die Tür verriegeln und das Licht brennen lassen. Egal, was Enid davon hielte. Das Gästezimmer, in dem Arne Horsfall schlafen sollte, lag direkt neben ihrem, Enids dagegen in sicherer Entfernung am Ende des Flurs. Am Nagel des kleinen Fingers knabbernd, blickte Marjory hinüber zum Tümpel, wo Ted dem Gast die Technik des Angelns mit Flie gen beibrachte. Sie wandte sich ab vom hellen Fenster, kroch bäuchlings aufs Bett und nahm das Kissen wie zum Trost in die Arme.
8 Der Zug hörte sich an wie ein Geist, der aus der Flasche fährt. Marjory saß im Heck des Kombiwagens, blickte auf und sah die plumpe, blau-gelbe Diesellok aus dem Wald auftauchen. Die Heckklappe des Autos war heruntergelassen, davor er streckte sich grauer Asphalt. Das Mädchen war besorgt, aber ohne Angst. Daddy Lee hatte den Zug bestimmt auch schon gesehen und würde nicht zulassen, daß den Seinen etwas pas 75
sierte. Einem Waller war noch nie etwas zugestoßen; es gab keinen in der Familie, der nicht sehr alt geworden und eines natürlichen Todes gestorben wäre. Der uralte Stammbaum ließ seine Früchte nicht vorzeitig fallen. Aber der Wagen rollte immer weiter auf die Gleise und das herandonnernde Unge heuer zu, das trotz hellichten Tages seine Scheinwerfer bren nen ließ. Daddy, sagte sie ruhig, aber bestimmt, halt an. Doch als sich der Fahrer umdrehte und sie grinsend ansah, bemerkte Marjory, daß es gar nicht ihr Vater war. Am Steuer saß Arne Horsfall. Die Bremsen sind kaputt, antwortete er. Marjory kroch an den Rand der geöffneten Heckklappe. Dem Auto folgten Enid und Ted auf Fahrrädern; sie schienen völlig arglos zu sein, lächelten und winkten Marjory zu. Sie versuchte, ihnen zuzurufen, bekam aber keinen Ton heraus. Natürlich nicht schließlich war sie stumm zur Welt gekommen. O Weh! Warum hatte sie bloß den Wagen an Arne Horsfall verliehen? Die Eltern würden ihr das nie verzeihen. Er gehörte nicht zur Familie, gehörte nirgendwo hin. Freundlich wollten sie zu ihm sein, und als Dank dafür machte er bloß Schwierigkeiten. Dem Mädchen blieb nur noch eine Chance: sich durch die Heckluke nach draußen zu werfen, bevor der Zug über das Auto hinwegdonnern würde. Aber Marjory war nicht nur stumm, sondern auch lahm. Reglos lag sie auf dem Rücken, starrte in das grüne Laub der vorbeifliegenden Bäume. Wild und schaurig stampfte die Lok herbei. Sie konnte die Hitze, das Dieselöl riechen, die Kraft der Maschine spüren, aber, nein... hinsehen wollte sie nicht - verdammt...
9 Marjory lag zitternd und mit pochendem Herzen auf dem Bett. Sie hörte die Tür zu Teds Firebird zuschlagen und wenig später den Motor aufheulen. Im ersten schrecklichen Augen blick glaubte sie, sich nicht rühren zu können, und ihr war, als wirke der Alptraum nach. 76
Nein, ich war nicht dabei. Zaghaft hob sie die Hand ans feuchte Gesicht und versuchte, den Kloß aus der Kehle zu schlucken. Ted rangierte seinen Wagen um Enids Corvair herum und bog in die Straße ein. Wahrscheinlich hatte er Nachtdienst, dachte Marjory. Die Sonne war ein gutes Stück weitergezogen und strahlte nicht mehr direkt ins Zimmer. Ein leichter Wind bewegte die Spitzengardinen. Zikaden zirpten in der Akazie vor dem Haus, deren Äste unbedingt zurückgeschnitten werden mußten, denn sie klopften, sooft Wind aufzog, an Fenster und Dach. - Ungefähr vier Stunden nach dem Unfall hatte sich das Haus mit Bekannten und Verwandten gefüllt; der Küchentisch lag voll von mitgebrachten Lebensmitteln. Enid hatte einen Schock erlitten und war ins Krankenhaus gebracht worden, aber von der kleinen Marjory schien jeder zu erwarten, daß sie, vom Tod der Eltern unterrichtet, einen Mordshunger haben würde. Heimlich machte sie sich auf dem Fahrrad aus dem Staub, denn es war ihr wichtig, den Unfallort selber in Augenschein zu nehmen. Sie schleppte an der Trauer, als hingen Gewichte an Händen und Füßen, als hätte sich ein schwerer Bleikragen um ihren Hals gelegt. Wütend trampelte sie die enge, kurvenreiche Straße entlang. Ein Wind schlug ihr ins Gesicht, der nach Sommerwald und schlammigem Bachbett roch. Der schwache Schein der Lampe unter der Lenkstange konnte gegen die Dunkelheit kaum etwas ausrichten. An der Unfallstelle war ein Getreidefeld, keilförmig an den Bahndamm geschmiegt. Nur im Spätsommer, wenn das Korn hoch im Halm stand, ließen sich die Gleise von der Doylestown Road nicht einsehen. Nun blockierte der Zug die Straße in beiden Fahrtrichtungen. Lichter aus roten und gelben Alarmlampen huschten über die weitgereisten Güterwaggons. Wabash. Santa Fe. Chesapeake und Ohio. Viele Männer standen herum, manche mit behördlichen Abzeichen. Einer paffte an einer Zigarre, von deren Gestank Marjory schlecht wurde. Sie solle verschwinden, rief er dem Mädchen zu. Aber Marjory scherte sich nicht um ihn, und kaum hatte er 77
ihr den Rücken zugekehrt, lief sie die Schienen entlang. Hun dert Meter südlich des Bahnübergangs standen die beiden Zugmaschinen. Einer der Generatoren brummte mit gedros selter Kraft. Die Scheinwerfer hatten einen gewaltigen Schwarm von Insekten angelockt, Käfer und Falter, die bei normalen Lichtverhältnissen nie zu sehen waren. Marjory ging um die führende, rußverschmierte Lok herum. Die Gerüche in der schwülen Luft stammten nicht nur vom Zug; es roch auch wie nach einem Barbecue-Grill, der eine gründliche Säuberung nötig hatte. Der Familienkombi war nicht zu sehen. Marjory glaubte schon, einer makabren Lüge aufgesessen zu sein. Ihr Blick folgte dem grellen Scheinwerferlicht, das, über eine Meile weit reichend, den Landstreifen rechts und links der Schienen beleuchtete. Marjory hoffte immer noch darauf, daß die Eltern lebten, durch eine wundersame Rettung vielleicht, die sie durchaus verdient hätten. Bei diesem Gedanken gingen die Nerven mit ihr durch, und sie zitterte am ganzen Leib. Nur am Rande nahm sie wahr, daß die Dieselmaschinen laut zu dröhnen anfingen und — zurücksetzend — den Boden zum Beben brachten. Ein Mann, der für die Eisenbahngesellschaft arbeitete, war herbeigekommen und führte sie von den Schienen; er hatte einen alten Filzhut auf dem Kopf, wie ihr Vater, wenn er in seiner Werkstatt bastelte. »He, Kleines, zu wem gehörst du?« »Ich heiße M-majory Waller. Wissen Sie, wo meine Mama und mein D-daddy sind?« Es machte ihr nichts aus, daß er sie bei der Hand nahm. Er schien ein netter Mann zu sein. Sie zitterte immer noch und klapperte mit den Zähnen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Marjory wich zurück, stolperte über einen metallenen Gegen stand, blickte zu Boden und sah: zerquetscht, verrußt, aber unverkennbar den Kühlergrill eines Personenwagens. Sie schaute dem Mann ins Gesicht, der nun langsam den Hut vom Kopf zog und vor ihr mit mitleidsvollem Lächeln in die Knie ging. Marjory sah den Zug vorbeirollen, und wie dieser verschwand, so versiegte ihre Hoffnung auf ein Wunder. Kno 78
chentief spürte sie eine Art nostalgisches Bedauern, vergleich bar mit jener Stimmung, die sie empfunden hatte, als ihr klar geworden war, daß es keinen Weihnachtsmann gab. Ein dik ker Käfer schwirrte herbei und prallte so heftig an ihre Stirn, daß sie taumelte. Marjorys Augen weiteten sich, aber es er schien sinnlos zu weinen. Sie fluchte auf den Käfer und auf Gott, doch beiden war nicht zu entkommen.
10 All diese schmerzlichen Erinnerungen hatte der Traum wieder aufgewühlt. Marjory stand auf, trat ans Fenster und schaute hinaus. Arne Horsfall war zu Enid auf die Terrasse gekommen. Beide malten; er ruckte dabei mit dem Kopf auf merkwürdige Weise hin und her und warf flüchtige Blicke zum Himmel, als suche er dort nach Eingebungen. Marjory ging hinunter in die Küche und aß einen Pfirsich. Zum Zeitvertreib wollte sie gerade eine Freundin anrufen, als das Telefon klingelte. Sie ahnte sofort, wer am anderen Ende der Leitung sein würde: Rita Sue. »Hallo, was treibst du so?« fragte Marjory und spuckte den abgelutschten Pfirsichkern aus, den sie geschickt mit dem nackten Fuß auffing und auf dem dicken Zeh balancierte. »Nichts. Brenda McClanahan ist vorbeigekommen und hat mir ihren Verlobungsring gezeigt. Einen so winzigen Dia manten hab' ich noch nie gesehen. Nur halb so groß wie Flie genmist. Schon gehört, daß Boyce mit seinem Vater die Ga rage aufräumen mußte und sich dabei den schweren Werk zeugkasten auf die Zehen hat fallen lassen?« »Sind Knochen gebrochen?« »Nein, aber er kann den Fuß kaum aufsetzen. Und nächste Woche geht's wieder mit dem Footballtraining los.« »Bis dahin ist er wieder fit. Hast du Lust auf Minigolf?« »Besser als nichts«, seufzte Rita Sue, die offenbar selber von Langeweile geplagt wurde. 79
»Ich hol' dich in zehn Minuten ab.« »Marjory, du weißt, ich fahr' auf keinen Fall in deinem alten Karren mit. Dagegen bin ich allergisch; der Blechhaufen hat bestimmt mal 'nem Nigger gehört«, meinte sie mit gequälter Stimme und fügte hinzu: »Ich hoffe, du nimmst mir das nicht krumm.« »Dir nehm' ich nie was krumm, Rita Sue. Immerhin rede ich ja noch mit dir.« Marjory trat den Pfirsichkern quer durch die Küche und verfehlte den Mülleimer nur um wenige Zenti meter. »Na schön, dann hol du mich ab. Hoffentlich hat Enid nichts dagegen, wenn ich ausgehe.« »Warum sollte sie?« »Du weißt doch, wir haben Besuch. Warte ab, bis ich dir davon erzähle. Heute nachmittag bin ich derart grantig gewe sen, daß Enid bestimmt erleichtert sein wird, wenn ich mich dünn mache. Übrigens, kann ich meine Joplin-Platten zurück haben?« »Hab' ich die denn immer noch? Kann sein, daß sie bei mir unterm Bett liegen. Ich seh' gleich nach.« Auf der Terrasse kauerte Arne Horsfall über dem Zeichen block, ganz vertieft in seine Arbeit. Fast verzweifelt fuchtelte er mit dem Zeichenstift herum, den er mit verkrampfter Hand wie unter Schmerzen gepackt hielt. Was er da zeichnete, war einer Scheune ähnlich, wenn auch nicht derjenigen, die auf der anderen Seite des Tümpels stand und dem Nachbarn Crudup gehörte. Marjory seufzte resignierend. Der Anblick des seltsamen Gastes erinnerte sie an einen streunenden Hund, der zugelaufen war und sich nun klammheimlich einzunisten versuchte. Enid warf der Schwester einen kühlen Blick zu. »Von mir aus kannst du gehen... obwohl wir Besuch haben. Aber sei spätestens in einer Stunde wieder da.« »Anderthalb könnten's schon werden. Rita Sue hat immer Probleme beim Einlochen. Und Ihnen macht's wohl auch nichts aus, wenn ich jetzt gehe?« sagte Marjory mit Blick auf Arne Horsfall, der aber keiner der Schwestern Beachtung schenkte. Marjory war überzeugt davon, daß sich seine De 80
fekte nicht nur auf Gehör und Sprache beschränkten. Unzu frieden mit dem Ergebnis seiner Zeichnung, blätterte er auf eine frische Seite um. Enid schüttelte energisch den Kopf, als wollte sie im Sinne des Gastes die gestellte Frage abwehren. In diesem Moment fuhr Rita Sue in ihrem roten Cabriolet vor. Das Radio war voll aufgedreht, und Roy Orbisons schaurige Stimme füllte die Luft wie Wolken den Himmel. »Du solltest dir vielleicht doch noch einen BH anziehen« meinte Enid mit gedämpfter Stimme zum Abschied. »Wir sind hier im Caskey County und nicht in Woodstock.« Marjory schaute hinab auf die erkennbaren Brustwarzen Ach was, dachte sie und eilte hinüber zu Rita Sue. »Na? Tun dir die Tittchen nicht weh, wenn sie so rum schlackern?« fragte die Freundin. »Am eigenen Leib wirst du die Antwort nie erfahren«, ent gegnete Marjory und sah mit schnippischem Blick auf Rita Sues plattes Oberteil. Die fläzte sich genießerisch auf dem Fahrersitz herum, zog ein Bein an und versuchte mit den Ze hen, das Radio lauter zu stellen.
11 Die Mädchen blieben länger fort als angenommen. Es war schon fast dunkel, als Rita Sue die Freundin nach Hause kut schierte. Über dem ruhigen Teich schimmerte apfelrot der Abend; Käuzchen schrien von den hohen Bäumen am Haus. Die Terrasse war geräumt. Enid saß allein auf der Veranda Sie kam ans Auto und bat Rita Sue, das Radio leiser zu stellen Es sei Besuch da, erklärte sie; der solle nicht gestört werden. »Was ist mit Mr. Horsfall?« wollte Marjory wissen. »Er ist müde geworden und schon früh nach oben gegangen. Vor einer Weile habe ich ihn schnarchen gehört.« Enid gähnte. »Ich glaube, ich gehe jetzt auch ins Bett. Kommst du mit rein, Marjory?« 81
»Sicher. Sollen wir noch ein bißchen fernsehen, Rita Sue?« »Nein, ich muß nach Hause zurück.« Doch ein paar Minuten blieben die beiden noch im Auto sitzen und hörten Radio, bis es völlig dunkel war. Rita Sue erzählte eine Anekdote über einen ihrer vertrottelten Verehrer vom Lande. Eine Katze schlich übers Vordach der Veranda. Eine zweite Katze, der einäugige Kater namens Zombie, sprang von einer Motte gelockt die Gittertür hoch. Rita Sue unterbrach ihre Geschichte und sagte plötzlich: »Das ist aber ein dickes Ding.« »Heh?« meinte Marjory überrascht. Sie hatte gerade über Kosenamen nachgedacht, mit denen Tom McCarver in den intimsten Momenten ihrer fantasierten Zweisamkeit sie an reden könnte. »Die Motte da drüben auf der Veranda. Siehst du? Da fliegt sie. Im Licht.« »Ja, ja, eine Lunamotte. Hübsch.« »Da ist noch eine.« »Das macht zwei«, erwiderte Marjory interesselos. »Bei uns in der Familie heißt es: Tante Alma ist so stark, daß sie einen halben Dollar quetschen kann, bis der Adler schmilzt...« »Ich dachte immer, es heißt: >Sie kann 'nen Penny quet schen, bis der Präsident pupt<.« »In dem Fall ist wohl von einem Mitglied deiner Ver wandtschaft die Rede, Marjory. Wie dem auch sei... oh, sieh nur, ist das nicht hübsch?« Eine Lunamotte hatte sich auf der Windschutzscheibe niedergelassen. Das blaßgrüne und lavendelfarbene Insekt zitterte leicht. Auf den durchscheinenden Flügeln zeichneten sich vier Punkte ab, die, dunkler als die violetten Ränder, wie Augen leuchteten. »Interessant«, sagte Rita Sue. »Wenn man lange genug hinsieht, kann man ein menschliches Gesicht ausmachen. Da ist noch eine. Wo kommen die bloß alle her?« »Weiß ich nicht. So viele auf einmal hab' ich schon eine 82
Ewigkeit nicht mehr...« Marjory schreckte zurück, als eine Motte dicht an ihrer Nase vorbeigeflattert kam. »Die beißen doch nicht, oder?« fragte Rita Sue. »Nicht, daß ich wüßte.« »Trotzdem, ich klapp' mal lieber das Verdeck zu.« Marjory blickte zur Veranda, wo sich die Katzen, hin und her springend, mit den Pfoten gegen eine Wolke von Motten zur Wehr setzten. Die Insekten umschwirrten die neben der Tür hängenden Glühbirne und verdunkelten deren Licht grünlich grau. Auch zum Auto hin flogen immer mehr. Marjory lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie konnte, wenn überhaupt, nur kleine Insekten leiden; Lunamotten aber waren groß, manche erreichten Handtellergröße. Die Luft war schwül, und es wehte kein Wind. Dennoch spürte Marjory einen kalten Schwall wie beim Öffnen der Kühlschranktür. Rita Sue schaltete die Zündung ein und ließ per Knopfdruck das Verdeck zuklappen. Eine Motte flatterte in ihrem Schoß; ein zweites Exemplar zierte den hellblonden Haar-schopf. Sie schaute hinauf auf das einschwenkende Dach und deutete plötzlich mit entsetzter Geste nach draußen. Marjory erhaschte nur noch einen flüchtigen Blick auf die schwarze Silhouette, die auf die Mottenwolke herabfuhr, wußte aber sofort, was sich hinter dem Schatten verbarg, und legte beruhigend eine Hand auf die Schulter der Freundin. »Keine Bange. Es ist bloß eine Eule.« »Marjory, das gefallt mir nicht!« jammerte Rita Sue. »Dreh das Fenster hoch!« Mit hastiger Hand arretierten sie das Ver deck, kaum daß der Rand vor den Rahmen der Windschutz scheibe gestoßen war. Eine Motte irrte noch im Wageninneren herum. Rita Sue schlug auf sie ein und preßte plötzlich entsetzt den Handrücken vor den Mund. »Du hast doch gesagt, die beißen nicht.« Ihre Stimme überschlug sich fast vor Hysterie, was Marjory überraschte, da die Freundin nur äußerst selten auf ihre gekünstelte Pose verzichtete. »Rita Sue, warum gehen wir nicht...« Aber sie hatte schon den Motor gestartet und fuhr los. Im 83
mer noch wirbelte die Mottenwolke vor der Scheibe umher, und fast hätte Rita Sue den Wagen vor die Eiche gesetzt, die neben der Auffahrt stand. Im letzten Augenblick riß sie das Steuer herum, so daß der Wagen hinten ausbrach und mit abgewürgtem Motor auf der Straße stehenblieb. »He, wo willst du hin?« »Nach Hause! Das Ding hat mich gebissen, Marjory. Im Ernst. Sind hier noch welche drin?« Sie ließ den Motor wieder an. »Zeig mir mal deine Hand«, sagte Marjory ruhig. Rita Sue streckte zitternd die Rechte aus. Im Licht der Ar maturen konnte Marjory keine Wunde ausmachen; statt dessen aber sah sie auf der braun getönten Haut zwischen Daumen und Zeigefinger einen kleinen grauen Fleck. »Das ist doch kein Biß.« »Tut aber weh und brennt. Marjory, was machst du jetzt?« »Was soll ich machen? Wie meinst du das?« »Sieh dir doch mal euer Haus an. All die Motten. Manche davon sind wahrscheinlich schon nach innen vorgedrungen.« Marjory blickte auf und spürte, wie ihr die Kehle aus trocknete. Das Haus war kaum mehr zu sehen hinter dem Geschwirr von Insekten, die mit ihrem schimmernden, ge spenstischen Grün das Mondlicht verfärbten. »Himmel!« stöhnte Marjory. »Ich frag' mich, ob Eni...« Sie öffnete die Tür, bevor Rita Sue aufs Gas treten konnte. »Marjory, wo willst du hin?« »Ich wohn' doch hier, oder? Du kannst ja fahren, wenn du willst.« »Aber die Biester beißen, ehrlich. Es fühlt sich an, als hätte mir jemand Trockeneis auf die Hand gelegt.« Marjory ließ sich zurück auf den Sitz fallen und schlug die Tür zu. »Was sollen wir jetzt machen?« »Keine Ahnung«, antwortete Marjory mit gepreßter Stimme und beobachtete, wie die Motten das Haus umschwärmten. Wenn wir doch einfach bloß vom Glück verlassen wä 84
ren, dachte sie; aber nein, Pech haben wir auch noch. »Was zum Teufel treiben die hier? Was lockt sie an?« »Wahrscheinlich steckt dahinter nur ein Zufall der Natur, und sie fliegen nach einer Weile wieder weg. Was meinst du? Sieh mal, all die Eulen.« »Da stimmt was nicht«, murmelte Marjory und schaukelte ängstlich hin und her. »Ich muß unbedingt nachsehen. Rita Sue, setz bitte hinters Haus zurück, vielleicht komm' ich so hinein.« »Der Wagen wird vor lauter Ungeziefer noch steckenbleiben ...« »Enid ist im Haus. Es könnte ihr was... ach, ich weiß nicht. Bitte, fahr endlich los.« Rita Sue wendete den Wagen und steuerte vorsichtig in die Auffahrt. »Mach das Licht an.« Flackernd durchdrang der Scheinwerfer die Wolke von Motten, die auf die Windschutzscheibe zutaumelten und in die Dunkelheit davonstoben. Rita Sue lenkte den Wagen zur Veranda hinterm Haus und blieb dicht neben den Stufen ste hen. Die Verandalampe war ausgeschaltet, und die Motten schienen hier weniger zahlreich zu sein. Die Autoscheinwerfer aber lockten weitere hinzu. Rita Sue machte das Licht aus. »Also, ich geh' jetzt rein.« »Ich will aber nicht allein im Auto sitzen.« »Dann komm mit.« Marjory holte tief Luft, stieß die Tür auf und sprang die Stufen zur Veranda hinauf, an denen sie sich noch am Nach mittag einen Absatz ihrer besten Schuhe abgebrochen hatte. Wie riesige Schneeflocken wirbelten ihr kalt die Motten ums Gesicht. Sie riß nun die Fliegengittertür auf, ließ Rita Sue vor bei, die keuchend gefolgt war, und eilte hinterher. »Da ist eine!« rief die Freundin und zeigte auf die Innenseite des Fliegennetzes. »Geh schon mal vor«, sagte Marjory und langte nach einem Besen, der neben der Waschmaschine stand. Eine zweite Motte, in der Dunkelheit nur schwer auszumachen, schwirrte 85
unter der Decke. Mit einem gezielten Besenschlag brachte Marjory das Insekt zur Strecke und rannte Rita Sue nach in die Küche. Erst als sie die Tür hinter sich ins Schloß geworfen hatte, wagte sie wieder zu atmen. Die beiden Mädchen hielten sich an den Händen fest und hörten im Obergeschoß Enids Stereoanlage leise dudeln. »Ich bin wieder gebissen worden«, klagte Rita Sue hilflos. »In die Backe.« »Ich auch. Du hast recht, aber wie ein Biß fühlt es sich nicht gerade an«, bemerkte Marjory und kratzte sich am Schenkel dicht unter dem Saum ihrer Shorts. »Ob hier noch mehr Biester rumschwirren?« »Komm, wir gehen nach oben. Aber laß die Lampen aus.« »Was tun Motten, wenn kein Licht da ist, das sie anlocken könnte?« »Ich hoffe, sie fliegen weg«, antwortete Marjory und schlich auf den Flur hinaus. Wenn man aus dem Fenster auf die Haustück blickte, waren unzählige Motten zu sehen; aus si cherer Entfernung ein fantastischer Anblick. An das, was wohl den Katzen jetzt geschah, mochte sie nicht denken. Vielleicht hatten sie sich, von den Schwärmen überwältigt, in ein dunkles Loch verkrochen. Marjory schaltete die Lampe der Eingangsveranda aus und huschte über die Treppe nach oben. »Enid! He, Enid!« »Marjory, was ist denn mit dir los?« sagte Enid, die sich mit verschlafenen Augen im Bett aufrichtete, als die Schwester ins Zimmer stürmte. Das Buch, über dessen Lektüre sie eingenickt war, lag am Boden. »Lunamotten!« Das massenhafte Auftauchen dieser Tiere war für Marjory im Grunde nicht mehr als ein ungewöhnliches, aufregendes Ereignis, kein Anlaß, sich fürchten zu müssen. »Milliardenfach... rings ums Haus.« »Ach«, sagte Enid und gähnte schmunzelnd. »Die sind sehr hübsch, nicht wahr? Laß mal sehen.« »Sie beißen«, erklärte Rita Sue mit finsterer Miene. Sie stand hinter Marjory im Flur. 86
»Motten? Nie gehört, daß Motten...« Enid suchte gerade mit den Füßen nach ihren Pantoffeln, als plötzlich ein Schrei von Arne Horsfall durchs Haus gellte. Wie von einem Stromschlag getroffen, riß Enid den Kopf herum; ihr Mund stand offen. Marjory schreckte zurück, prallte mit Rita Sue zusammen und starrte den Flur entlang auf die Tür des Zimmers, in dem der Gast zu Bett gegangen war. Jählings hatte sich an ihrem Körper Gänsehaut gebildet, und ihre Brustwarzen standen ab wie Knöpfe. Rita Sue bekam weiche Knie und krallte sich mit spitzen Fingernägeln an der Freundin fest. Aber es tat sich nichts, was den Schrei erklärt hätte. Die Schlafzimmertür blieb zu. Marjory war darauf gefaßt gewesen, daß Arne Horsfall berserkerhaft herausgestürmt käme mit einem schweren oder scharfen Gegenstand in der Hand, um alle, wie sie dastanden, brutal niederzumetzeln. Enid reagierte am schnellsten und versuchte, eine Bresche zwischen Marjory und Rita Sue zu schlagen, die den Eingang blockierten. »Aus dem Weg!« Marjory verlagerte ihr Gewicht und stieß Enid ein paar Schritte zurück. »O nein! Untersteh dich, da rüberzugehen!« »Marjory, irgendwas... er... »Ruf Ted an«, verlangte die jüngere Schwester, deren Stimme immer schriller wurde. »Marjory...« Marjory biß sich so fest auf die Lippe, daß ihr ein Tropfen Blut übers Kinn rann. »Ted soll kommen und nachsehen, was da los ist.« Ein paar Sekunden lang starrten sich die drei entgeistert an. Schließlich nickte Enid zerstreut mit dem Kopf, nahm auf der Bettkante Platz und stellte, den Hörer in der Hand, das Telefon auf ihren Schoß. Während sie die Nummer der Polizeiwache wählte, starrte Marjory den Flur entlang, als wolle sie mit Willenskraft allein versuchen, die Gästezimmertür geschlossen zu halten, bis Hilfe eintreffen würde. 8?
Rita Sue hatte wieder zur Sprache zurückgefunden und flü sterte: »Wer ist dieser Mann?« »Ein Patient aus der Nervenheilanstalt«, knurrte Marjory, die nun Rita Sue in Enids Zimmer drängte, die Tür zuschlug und sich daranmachte, die Eichenkommode davorzuschie-ben. »Pack doch mal mit an«, keuchte sie. Rita Sue ließ sich nicht lange bitten, und gemeinsam bugsierten sie die Kommode vor die Tür. Enid hatte unterdessen Anschluß bekommen. Sechs Minuten später traf Ted ein, gefolgt von zwei wei teren Streifenwagen. Rotes Licht huschte über die Wände in Enids Zimmer. Sie sperrte das Fenster auf und rief Ted zu. Marjory hockte auf dem Boden und stemmte den Rücken ge gen die Kommode. Sie fühlte sich zu ausgelaugt und schlaff, um das Möbelstück wieder an seinen Platz zu rücken. Aber zu dritt gelang es schließlich, für Ted die Tür freizuräumen. Eine Hand lag auf dem Knauf der gehalfterten Pistole, in der ande ren hielt er eine lange Stablampe. Der Flur im Obergeschoß war voller Kollegen in Uniform. Marjory und Enid redeten gleichzeitig los. »Sei still, Mar jory«, sagte Enid nachdrücklich aber ruhig und erklärte: »Ted, wir haben Mr. Horsfall schreien hören und zu viel Angst gehabt, selber nach dem Rechten zu sehen.« »Charley«, kommandierte Ted mit einem Blick über die Schulter, und einer der Beamten eilte zur Tür des Gästezim mers. Er rüttelte an der Klinke. Die Tür war versperrt. Ted trat neben ihn. »Mr. Horsfall?« Er klopfte zweimal laut an die Tür und sah zu Enid hinüber. »Tut mir leid, aber es muß sein.« Ein wuchtiger Tritt gegen die Verriegelung ließ die Tür auffliegen. Ted ging ins Zimmer. Zwei Kollegen folgten. Marjory und Enid kamen vorsichtig näher. Rita Sue blieb zurück, um ihre Mutter anzurufen. Kopfschüttelnd kehrte Ted aus dem Zimmer zurück. »Ist er... tot?« stammelte Enid, und Marjory spürte, wie sich ihr die Kopfhaut zusammenzog. »Du hast ihn schreien hören?« »Das haben wir alle. Es war...« 88
»...entsetzlich«, führte Marjory aus. »Da drin ist er nicht, Nuggins. Die Tür war verriegelt, die Fenster sind zu... Vielleicht steckt er irgendwo anders hier im Haus.« »Geht nachsehen«, sagte Enid und lehnte sich ans Trep pengeländer. Zwei Polizisten liefen nach unten. Ted ging in Enids Zimmer und schaltete die Deckenlampe ein. Die Bade zimmertür hatte die ganze Zeit über offengestanden. Der Kollege mit Namen Charles rief vom unteren Treppen absatz nach oben: »Er ist nirgends zu finden.« »Dann laß uns mal draußen nachsehen«, schlug Ted vor. »Das wird wohl keinen Sinn haben«, entgegnete Marjory. Alle Augen richteten sich auf sie. »Er ist verschwunden. Auf und davon. Enid, warum ich mir dessen so sicher bin, weiß ich selbst nicht. Aber er ist weg, und wir werden ihn nicht wiederfinden.« »Zu Fuß kommt er bestimmt nicht weit; er leidet ziemlich stark unter Gicht.« »Enid, hör doch! Ich sage dir, er ist weg und...« »Ich bin für ihn verantwortlich«, sagte Enid wütend, »wir müssen ihn wiederfinden.« »Reine Zeitverschwendung. Du wirst ihn nie...« »Also, in Luft wird er sich schließlich nicht aufgelöst ha ben«, entgegnete Enid, deren ganze Wut sich nun auf Marjory zu richten schien, als wäre ihr Mr. Horsfalls Verschwinden anzukreiden. Marjory seufzte. »Tja, so ungefähr«, sagte sie, und daß diese Bemerkung lächerlich klingen mußte, war ihr durchaus bewußt. Aber sie konnte den Mund nicht halten. So war ihr schon einmal zumute gewesen, und zwar während eines ok kulten Treffens, als sie dem Gespenst auf die Spur gekommen war und davon hatte berichten müssen. »Ich weiß zwar nicht, wohin all die Motten verschwunden sind, bin mir aber sicher, daß Mr. Horsfall jetzt da ist, wo diese Biester herkommen.«
Juni 1906
Auf Horsfalls Hof
l Sechs Tage lang fiel im mittleren Tennessee fast unaufhörlich Regen, dann brach die Sonne durch, und das Hochwasser der Flüsse und Bäche ging allmählich wieder zurück. Das Haus war durch und durch feucht, die Hühner legten nicht, und Birka mußte, an einer Halsentzündung leidend, das Bett hüten. Am späten Abend des dritten Juni stürzte sieben Meilen nördlich von Sublimity eine Eisenbahnbrücke über dem Cumberland River unter der Last eines Güterzuges in sich zusammen, der Roheisen und Kohle geladen hatte. Drei Ei senbahner wurden von den Fluten mitgerissen und ertranken. Als die Straßen rund um Sublimity wieder halbwegs trok ken waren, spannte Arnes Vater zwei Pferde vor die Kutsche und baute darin eine gut gepolsterte Pritsche für Birka auf, die sich langsam erholte und den Wunsch geäußert hatte, an diesem warmen, sonnigen Frühlingstag einen Ausflug zu ma chen. Arne half dem Vater, ein Picknick vorzubereiten, und mit Hawkshaw im Gefolge fuhr die kleine Familie an den Schauplatz der Katastrophe. Der Anblick, der sich ihr dort bot, war gewaltig: Auf einer Strecke von tausend Metern lagen die Trümmer der Brücke, von der nur noch die gemauerten Pfeiler standen, zu beiden Seiten des Flusses verstreut; aus den sandigen Ufern staken zersplitterte Balken; Kesselwagen und Güterwaggons steckten halb vergraben im Schlamm, und von der Lokomotive waren nur noch zwei Laufräder zu sehen, um die braunes Wasser quirlte. Im Zug hatte sich auch Lebendvieh befunden, und nun kreisten zahllose Bussarde am Himmel wie über einem Schlachtfeld. An den Ufern waren auch plün 91
dernde Menschen unterwegs, die mit Hämmern und Brechei sen in die Frachtwaggons einzubrechen versuchten. Birka entschied sich für einen Rastplatz zwischen wilden Rhododendronbüschen, deren Blüten das Sonnenlicht zum Schillern brachte. Arnes Vater half ihr aus dem Wagen; die Krankheit hatte sie arg geschwächt. Wie die Wolken - so bleich war sie, und unter den Augen zeichneten sich graue Ringe ab. Trotzdem lächelte sie viel. Die frische Luft tat ihr wohl ebensogut wie das Medikament, das sie hatte schlucken müssen. Sie sprach sogar davon, wieder Appetit zu haben. Arne kuschelte sich ihr in den Arm, doch drängte es ihn den Fluß hinunter, um zwischen den Trümmern herumzustöbern. »Bleib weg von den Waggons«, ermahnte ihn der Vater. »Und von diesen Männern«, sagte die Mutter, der die Plünderer offenbar wie Kriminelle vorkamen. Die Hammer schläge, mit denen die Güterwagen bearbeitet wurden, waren im weiten Umkreis zu hören. »Darf ich behalten, was ich finde?« Der Vater sah die Mutter an und meinte dann achselzuk kend: »Was wertvoll ist, liegt bestimmt auf Grund.« »Aber wenn ich was finde...« »Dann ruf mich.« »In Ordnung«, antwortete Arne und zog mit Hawkshaw davon. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, wie der Va ter die Mutter umarmte und ihr einen Kuß auf die Stirn drückte; dabei machte sie ein Gesicht, als wäre ihr eine himmlische Gabe zuteil geworden. Arne grinste, froh darüber, daß es ihr wieder besser ging. Die drei vergangenen Nächte waren schrecklich gewesen, denn er hatte kein Auge zugetan und den schweren Wasserkessel aus der Küche hin und her getragen, während der Vater die Kranke mit Medizin zu beruhigen ver suchte. Arne trug zwar kniehohe Gummistiefel, hatte aber doch große Mühe, nahe an den Fluß heranzukommen. Das dichte Ufergewächs war bis vor kurzem überflutet gewesen und nun mit Schlamm überzogen. Außerdem galt es, sehr wachsam zu sein, denn überall lauerten giftige Schlangen, die aus ihren 92
Verstecken gespült worden waren. Hawkshaw suhlte sich be geistert im Schlamm und spritzte durch die Pfützen, die das abfließende Hochwasser zurückgelassen hatte. Bald stießen sie auf eine tote Kuh, deren aufgeblähter Kadaver mit schim mernden Fliegen bedeckt war. Arne hielt die Luft an und schlug einen Bogen, vorbei an einem hohen Kalksteinfels, vor dem sich ein Geflecht aus entwurzelten Bäumchen verfangen hatte. Inmitten des Gestrüpps, von Ästen eingeklemmt, entdeckte er eine Kiste, trocken und allem Anschein nach unbeschädigt. Die schablonierten Zeichen ließen sich noch gut lesen. Die Ki ste war bei einer Breite von etwa fünfzig Zentimetern rund einsachtzig lang und hatte zu beiden Seiten Tragegriffe aus Metall. Arne schaute genauer hin und dachte: Darum läßt sich mit Leichtigkeit ein Seil schlagen. Er sah sich nach allen Richtungen um. Nach wie vor waren Stimmen zu hören und das Schlagen schwerer Hämmer, doch niemand schien in der Nähe zu sein. Knapp zehn Meter weiter unten gurgelte und wirbelte der Fluß durch das Treibholz, in dem die Kiste klemmte. Arne pfiff Hawkshaw herbei und trabte zurück zum Rast platz, wo Vater und Mutter den Inhalt des Picknickkorbs auf einem Tischtuch verteilten. Birka trug eine weiße Bluse und einen blauen Kammgarnrock. Im Haar steckte eine Rhodo dendronblüte, rosafarben wie ihre Wangen, durch die nun wieder Blut zu strömen schien. Auf den Augen aber lag immer noch ein milchiger Schatten, allerdings hatte sie seit dem Morgen nicht mehr gehustet. Gutgelaunt summte sie ein Lied und löffelte Kartoffelsalat aus einer Steingutschüssel auf die mitgebrachten Porzellanteller. Sie drückte Arnes Hand und schimpfte mit dem Hund, weil der so verdreckt war. Dann aber warf sie ihm ein Stück Rauchfleisch zu. »Ich hab' was gefunden«, sagte Arne. »Eine große Kiste.« Er beschrieb sie mit den Händen und fragte den Vater: »Willst du mal sehen?« »Sobald wir gegessen haben.« Der Vater schenkte dem 93
Sohn und sich Buttermilch aus, der Mutter kalten Steinbrech tee. Sie saß auf einem geklöppelten Kissen, den Rücken an das Wagenrad gelehnt, naschte vom Kartoffelsalat und sah mit zufriedenem Lächeln den vorbeiziehenden Wolken nach. Ein heftiger Windstoß wehte ihr das Haar in die Stirn. Die Pferde zupften frisches Gras und vertrieben die Fliegen mit peit schendem Schweif. Arne überredete den Vater, das neue, dreißig Meter lange Seil mitzunehmen, das unter dem Kutschbock lag. »Was es auch sein mag«, meinte er unterwegs zu dem Fels vorsprung, wo Arne die Kiste gesehen hatte, »uns gehört es nicht.« »Aber wenn wir's nicht reinholen, wird es bald wieder in den Fluß fallen. Dann gehört's auch keinem mehr.« »Na schön, werfen wir mal einen Blick darauf.« Vom Rand des Felsens aus musterte der Vater die Kiste in mitten der angetriebenen Hölzer. Selbst mit ausgestreckter Hand und auf dem Bauch liegend, konnte er nicht an sie her anlangen. »Ich könnte da reinklettern«, schlug Arne vor. »Und auf die Nase fallen.« Er rüttelte an einem der Äste, doch das dichte Geflecht gab nicht nach. »Ich will auch vorsichtig sein. Kannst du lesen, was darauf geschrieben steht?« »Nein. Es sieht so aus, als würde die Kiste auf dem Kopf stehen.« Wahrscheinlich — und das wußte Arne — war der Vater gar nicht in der Lage, die Buchstaben zu entziffern, auch dann nicht, wenn sie deutlicher zu erkennen gewesen wären. Er hatte nämlich nur bis zur fünften Klasse die Schule besucht und war oft sehr verlegen, was seine Ausbildung anging. Arne nahm ein Seilende zur Hand, befestigte es an seinem Gürtel und kletterte langsam den Fels en hinunter. Das dreck verschmierte Holz war glitschig, kein Verlaß auf den Zusam menhalt des knorrigen Gefüges. Über die Gefahr, in die Ver ästelung gezwängt in den Fluß zu stürzen, war sich der Junge durchaus bewußt. Aber aufgeben wollte er nicht, zu sehr 94
reizte ihn die Vorstellung, Beute machen zu können. Nachdem er das Seil durch einen Handgriff der Kiste geschlungen hatte, galt es nun, einen noch schwierigeren Akt zu bewältigen: Er mußte sein Gleichgewicht auf einem Ast finden, die Hüfte gegen den Kistenrand stemmen und mit beiden Händen das Seil fest verknoten. Der Vater sprach ihm Mut zu und sagte dann: »Das wird halten. Komm jetzt zurück.« Er beugte sich über den Vorsprung und streckte dem klet ternden Jungen die Hand entgegen. Mit wendigen Bewegungen hatte er sich bald aus dem Geäst befreit. Seine Augen strahlten vor Stolz. »Vielleicht sind Werkzeuge drin«, sagte er. »Vielleicht.« Der Vater hatte das Seil um die Hüfte gewun den und packte zu. Die Kiste bewegte sich und rutschte seitlich aus ihrem Nest. »Paß auf, daß sie nicht abstürzt und dich mit nach unten reißt!« warnte der Junge. Er bewunderte den geschwollenen Bizeps des Vaters, die straffen Schultern, den muskulösen Rücken. »Halt mich am Gürtel fest und leg dich ins Zeug«, sagte der Vater und suchte mit den Füßen festen Halt. »Ich hiev' das Ding jetzt hoch.« Beide waren darauf gefaßt, ein schweres Gewicht kontern zu müssen, doch als die Kiste aus den Asten ins Freie pendelte, erwies sie sich als leichter denn vermutet. Der Vater stolperte zurück und stieß den Jungen zu Boden. »Werkzeuge sind's wohl nicht.« Fast mühelos zog er das Fundstück nach oben. »Wiegt kaum mehr als du; an die hun dert Pfund, würd' ich sagen.« Wenig später war die Kiste über den Felsrand gezerrt. Der Vater löste das Seil von der Hüfte und betrachtete die glattgehobelten, sorgfältig vernagelten Bretter, die mit einer harzigen Schicht bestrichen waren, dick und kratzfest, wie Arne, mit dem Messer schabend, feststellte. Er wischte den getrockneten Lehm von der schablonierten Aufschrift und las laut und langsam: »Dr. N. C. Ayres, Fachbereich für An... Anthro... weiß 95
nicht, was das heißt... Vanderbilt Universität, Nashville, Tennessee.« Enttäuscht blickte er auf. »Ob da bloß Schulbü cher drin sind?« »Wohl kaum. Dann wäre die Kiste sehr viel schwerer. Ich schlage vor, Birka schreibt einen Brief an die Universität und rät diesem Dr. Ayres, herzukommen und seine Sachen abzu holen.« »Und wenn wir sie behalten?« »Das wäre nicht recht; schließlich wissen wir, wem sie ge hören. Oder?« »Ja.« Arne putzte weiter an der Kiste herum und bewegte schmunzelnd die Lippen. »Was steht sonst noch da geschrieben?« »Ich kann nur noch ein Wort ausmachen, und das ist >Is land<.« »Wirklich?« »Mama ist doch von Island, stimmt's?« »Sie wurde dort geboren, ist aber in Maine aufgewachsen.« »Ich wette, sie kann lesen, was hier steht.« »Mag sein.« Der Vater schlug nach einer Mücke, die sich ihm an den Hals gesetzt hatte. »Es wird langsam Zeit, nach Hause zu fahren. Komm, wir schleppen die Kiste in den Wa gen.«
Sie lagerten das Fundstück in der Scheune. Zwei Tage später schickte Birka einen Brief an Dr. Ayres von der Vanderbilt Universität ab. Bisher hatte Arne seine Neugier noch zügeln können. Allerdings ging er mehrmals am Tag in die Scheune, fuhr mit der Hand über die Kiste und rätselte über den Inhalt nach. Schließlich träumte er sogar von der Kiste. Einmal wurde er im Traum von einer mächtigen Woge des Flusses erfaßt;
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um sein Leben schwimmend, suchte er Halt an der Kiste, doch die trieb immer knapp an ihm vorbei. Für den Jungen gab es jetzt, da es nicht mehr ständig reg nete, viel zu tun. Freie Zeit blieb ihm nur wenig, und die ver brachte er meist in der Küche. Seine Mutter hatte ihre Krank heit immer noch nicht ganz auskuriert und mußte des öfteren ausruhen. Aber auch wenn sie saß, waren ihre Hände unab lässig in Bewegung; sie rollte Teig für Klöße aus, schälte Kar toffeln oder strickte wieder einmal einen jener schönen Pull over, die in der Gemeinde sehr begehrt waren. Meist sprachen die beiden über Island, ein Thema, an dem der Junge bis zum Fund der Kiste nie Interesse gezeigt hatte. »Wir sind ausgewandert, als ich acht Jahre alt war«, sagte die Mutter. »Die Sprache ist mir sehr vertraut, denn obwohl eine Rückkehr nach Island nie in Frage kam, mußten wir un serem Vater jeden Abend aus alten Büchern vorlesen, zum Beispiel aus Njäl's Saga, dem Buch der Siedlungen. An mein Heimatdorf kann ich mich allerdings kaum noch erinnern.« »Thjörsä?« Birka lächelte und korrigierte Arnes verunglückte Ausspra che. »So hieß auch der Fluß, unser Fluß, der durch fruchtbares Ackerland strömte. Nicht allzuweit entfernt gab es aber auch öde Lavawüsten und den Myrdalsjökull-Gletscher.« »Was ist denn das, ein Gletscher?« »Ein Berg aus Eis, der ständig in Bewegung ist und wächst.« Arne versuchte, sich ein Bild zu machen von diesem gewal tigen, lebendigen, bedrohlichen Phänomen. »Warum bist du nach Amerika gekommen? Hattest du Angst vor dem Glet scher?« Birka reichte dem Jungen eine rohe Kartoffelscheibe und schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben Island verlassen, weil sich unser Vater mit einem Nachbarn heftig in der Wolle lag. Zwischen den beiden hatte es immer schon Streit gegeben, eine regelrechte Fehde. Mal stritten sie um ein Stück Land, mal über ein Schaf, aber auch um nichts und wieder nichts. Wahrschein 97
lich gefiel es ihnen einfach zu streiten. Das jedenfalls meinte meine Mutter, die sehr verbittert darüber war. Du mußt dir vorstellen: Bei uns war die Winterzeit sehr hart. Drei Monate lang gab es nur Kälte und Dunkelheit.« Arne liebte die Sonne und lange Tage, die Zeit ließen für Spiele nach der Arbeit. Mit traurigen Augen sah er sie an. Birka lächelte. »Im Sommer dann hörte die Sonne kaum mehr auf zu schei nen. Der Sommer auf Island ist die Zeit des Lebens, der Wie dergeburt, der Befreiung von dieser schrecklichen Dunkelheit. Es finden Hochzeiten statt, Spiele, Feste, und ständig wird getrunken - so viele Männer und Frauen haben eine Schwäche fürs Trinken. Das verstehst du vielleicht nicht, denn hier gilt so etwas als schwerwiegende Sünde; deshalb gibt es solche Probleme bei uns hier nicht.« »Whiskeytrinken? Eugene Collums Pa stellt doch selber Whiskey her und trinkt ihn auch!« »Er ist eine Ausnahme in unserer Gemeinde. Der alte Steinn, mein Vater, und dessen Rivale, der, wenn ich mich recht erinnere, Sigurdur hieß, gerieten sich einmal ganz böse in die Haare; das war zur Rettir-Zeit, wenn die Schafe zusam mengetrieben werden. Die beiden hatten so viel getrunken, daß sie keine Hemmung mehr kannten. Zum Krach war es schon öfters zwischen ihnen gekommen, aber dieses Mal schlug mein Vater Sigurdur zum Krüppel.« »War er so stark wie...« »Wie dein Vater, ja.« Birka schmunzelte liebevoll. »Aber Enoch ist Gott sei Dank nicht gewalttätig. Wie dem auch sei, der Dorfrat verlangte von Steinn Vühjälm, neun Zehntel un serer Farm an das Opfer abzutreten. Hätte er sich dieser Strafe widersetzt, wäre er ins Gefängnis gesteckt worden. Vom Verkauf der Farm blieb uns nur ganz wenig Geld; davon bezahlte unser Vater die Überfahrt. Aber hier hatte er kein Glück, weder als Fischer noch als Farmer, und schließlich schaffte ihn die Trinksucht ganz und gar.« Birka sah aus, als ob sie würde weinen müssen, so kummer voll schien die Erinnerung an die Demütigung und den all 98
mählichen Ve rfall ihres Vaters zu sein. Arne rutschte unruhig auf dem Stuhl herum und langte nach einer zweiten Kartoffel scheibe. »Willst du nicht wissen, was in der Kiste steckt?« fragte er. »Das wird uns der Professor vielleicht verraten, wenn er herkommt. Eigentlich geht uns das Ganze ja überhaupt nichts an.« »Aber du weißt, wo sie herkommt, und hast gesagt...« »Ich sagte, daß ich von der Gegend um Asatrü schon mal gehört habe. Vor langer, langer Zeit, die wohl bis zur Sintflut zurückreicht« - Arne grinste über diesen märchenhaften An fang — »war in Asatrü ein riesiger Wald, der sich über viele Hektar erstreckte. Aber dann kamen die Nordländer, unsere Vorfahren; sie rodeten den Wald Stück für Stück. Ihre Schafe fraßen das Gras und zertrampelten die Wurzeln der Bäume. Die Winde verwehten den fruchtbaren Boden, so daß heute nur noch armselige Farmen und kahle Hügel dort zu finden sind. Sonst nichts.« »Aber da muß doch noch was zu finden gewesen sein... und das steckt jetzt in der Kiste.« »Ja. Ich habe mich auch schon gefragt...« »Willst du's nicht genau wissen?« fiel Arne ihr ins Wort. »Wir könnten die Kiste öffnen und den Deckel später wieder so fest vernageln, daß niemand...« »Wir warten, bis der Professor kommt«, entgegnete Birka. Sie senkte den Kopf und massierte sich ein wenig Farbe in die Wangen. Auch ihr bereitete die Kiste, dieser geheimnisvolle Bote aus der alten Heimat, Kopfzerbrechen. Daß sie innerlich ganz aufgewühlt war, konnte sie dem Jungen kaum verheimli chen. Aber die Skrupel überwogen ihre Neugier.
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Statt eines Besuchers traf Ende Juni ein Brief ein, adressiert an Birka. »Darin heißt es«, berichtete sie während des Abendessens, »daß Professor Ayres auf einer Forschungsreise im südlichen Pazifik ist und erst zum Frühlingssemester 1917 in der Uni versität zurückerwartet wird.« »In einem Jahr erst?« maulte Arne. »Und was sollen wir mit der Kiste solange machen?« fragte Enoch. »Davon ist nicht die Rede.« Birka faltete den Brief zusam men und sah mit krauser Stirn zu Arne hinüber. Arne hielt ih ren Blick für verschwörerisch und verlor kein weiteres Wort über die Sache. Sorgfältig trennte er die Haut von der Hüh nerkeule, die auf seinem Teller lag. Arnes Vater nickte mit dem Kopf. »Na ja, das Ding ist in der Scheune gut aufgehoben und steht auch nicht im Weg. Vielleicht springen für uns sogar noch ein paar Dollar Lager gebühr heraus.« »Oder eine Belohnung«, fügte Arne mit vollem Mund hinzu. Der Vater verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sto cherte mit dem Daumennagel zwischen zwei Zähnen herum. »Ich glaube kaum, daß diese Wissenschaftler viel Geld haben, jedenfalls nicht viel mehr als unsereins.« »Wenn er kein Geld hat«, meinte Arne, »womit bezahlt er dann die weite Reise nach...« Er schaute zur Mutter. »Wohin ist er gefahren?« »In den Südpazifik.« »Liegt da China?« »Nein. - Wenn du die Hühnerhaut nicht magst...« »Die kannst du haben.« »Ich will nur nicht, daß was umkommt«, erwiderte Birka.
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Nach dem Abendessen, während noch für gut drei Stunden Tageslicht herrschte, fuhr der Vater mit dem Einachser zu ei nem der Nachbarn, um ihm beim Graben eines neuen Brunnens zu helfen. Arne ging in die Scheune und rührte Kalk an, denn die Feuerstelle war schon lange nicht mehr geweißelt worden. Außerdem hatte der Junge die Aufgabe, mit Hammer und Ahle ein altes Pferdegeschirr neu zu nieten. Während der Arbeit am Amboß warf er ein ums andere Mal verstohlene Blicke auf die Kiste in der Ecke, bis schließlich die Sonne hinterm Tor wegtauchte und es zu dunkel geworden war, die schablonierten Zeichen zu entziffern. Mit jedem Hammerschlag stieß er ein exotisches Wort aus, so gut er es aussprechen konnte. Dabei hing er seinen Vorstellungen nach von dem Land der rauhen Felsen, dampfender Geysire und kahler, grüner Täler, dem Land, aus dem die Kiste stammte. Es dämmerte schon, als die Mutter mit einer brennenden Öllampe in die Scheune kam. Der Junge blickte mißmutig auf. Er hockte, das geflickte Geschirr im Schoß, auf einem Heuballen. »Arne, was ist dir denn über die Leber gelaufen?« »Ein ganzes Jahr wird's noch dauern., bevor wir erfahren, was in der Kiste steckt.« Birka hängte die Lampe an den Verschlag der Kuh, die schon über die Zeit trächtig war und trübsinnig im Stroh lag. Arne rückte zur Seite, um der Mutter auf dem Heuballen Platz zu machen. Sie legte ihm eine Hand aufs Knie. »Die Hose ist fast durch; da muß ein Flicken drauf.« »Können wir sie nicht öffnen?« bettelte er. Im Gebälk raschelten und zirpten ein paar Schwalben. Die Kuh wälzte ihren dicken Leib und glotzte den beiden entgegen. Im Verschlag nebenan malmte Ol' Vlo, das Pflugpferd, auf seinem Futter herum. Birka schwieg. Ihre Hand auf Arnes Knie griff ein wenig fester zu. Der Junge legte seine Hand dar auf und versuchte, die Mutter so zur Komplizin zu machen. »Du weißt, Enoch wäre damit nicht einverstanden.« 101
Arne wußte aber auch, daß der Brunnenbau begossen wer den, Vater seinen Teil trinken und anschließend Pfefferminzblätter kauen würde, damit Birka keinen Verdacht schöpfte. »Er bleibt sicher noch über eine Stunde weg. Ich könnte den Deckel aufheben und hinterher wieder so vernageln, daß er nichts merkt.« »Arne, eine Lüge käme aufs gleiche raus.« Ihre Stimme klang alles andere als entschieden, fast entschuldigend, und Arne drängte weiter. »Es ist nicht gelogen, weil wir ihm ja kein Wort verraten.« Wie zum Trost legte sie die Hand nun auf den Kopf des Jungen und nestelte an seinem Haar, das bis über die Ohren hing. »Da muß wieder mal die Schere dran«, sagte sie, aber auch ihre Augen waren auf die Kiste gerichtet. Arne sah die Mutter an und entdeckte einen verschmitzten Zug um ihre Lippen, eine gewisse Streitlust in den Augen, die bis auf einen kleinen Spalt zusammengezogen waren. »Wir werfen nur einen einzigen Blick hinein und sagen kein Wort«, versicherte ihr Arne. Lachend drückte sie ihn an die Brust. »Ein Schlawiner bist du. Den Weihnachtsmorgen konnten wir zwei noch nie geduldig abwarten, stimmt's? Na los, hol das Stemmeisen, für mich auch eins. Und den Hammer.« Arne sprang in Richtung Werkzeugschrank und rief über die Schulter: »Vielleicht wär's besser, du ziehst das Hofgatter zu.« Den Deckel zu öffnen, ohne Spuren zu hinterlassen, war für den Jungen schwieriger als erwartet. »Ebereschenholz«, erklärte Birka. »Das war mir sofort klar.« »Eberesche?« »Ja, was ganz Besonderes, ein Holz mit Zaubereigenschaf ten. Meine Mutter hatte ein kleines Kästchen aus diesem Holz. Darin bewahrte sie die Fotos von ihren drei Töchtern auf. Sie glaubte, dadurch Schaden von uns abwenden zu können.« 102
»Wo ist das Kästchen jetzt?« wollte Arne wissen, der gerade an einem widerspenstigen Nagel zerrte. »Vigdis hat es. Ich frage mich nur, warum man eine so große Kiste aus Ebereschenholz gebaut hat. Das muß sehr teuer gewesen sein.« Und ein wenig später fügte sie hinzu: »Arne, ich hab' nachgedacht. Vielleicht sollten wir doch lieber. ..« »Gleich ist sie auf!« Nach zwanzig Minuten behutsamer Stemmarbeit hatte er den Deckel einen halben Zoll weit ringsum angehoben. »Mutter, hilf mir. Setz das Eisen an, und paß auf die Lampe auf, damit sie nicht runterfällt.« Er redete wie sein Vater. Trotz aller Zweifel, die sie befallen hatten, griff sie schmunzelnd nach dem Stemmeisen und blickte zum Scheunentor hinüber. »Enoch wird jeden Moment kommen und furchtbar wütend sein, wenn er...« Die beiden sahen einander an. Birka zuckte mit den Achseln und setzte das Eisen an. »Bist du soweit?« fragte Arne. »Dann los jetzt.« Die langen Nägel knirschten im harten Holz. Arne kroch auf Knien um die Kiste herum. Schließlich stand er auf, packte den Deckel und riß ihn mit einem Ruck ab. Der Junge schreckte zurück; Birka keuchte auf und warf die Arme überkreuz an die Brust. »Was ist das?» Stammelnd ließ sie ein paar isländische Worte verlauten, wich ebenfalls nach hinten zurück und streifte mit dem Fuß die Lampe, die sie auf den Boden gestellt hatte. »Mutter!« »Mein Gott, mein Gott, was haben wir bloß getan? Leg den Deckel wieder drauf, Arne, schlag die Nägel rein!« »Aber was ist das?« Birka nahm die Lampe zur Hand und hob sie hoch über den Kopf. Das dunkle, auf einem Bett aus Holzwolle in sich zu sammengekauerte Etwas nahm im Schein der kleinen Ölflamme Gestalt an. »Huldufolk«, flüsterte sie entsetzt, stellte die Lampe wieder 103
auf den Boden zurück, floh dem Ausgang entgegen, stieß das Tor auf und lauschte an der Schwelle. Kein Laut war zu hören. Birka kehrte nun um und deutete stumm auf die Kiste. Der Junge hatte den nagelbespickten Deckel wie einen Schild vor die Brust gehoben und starrte über den Rand in die Kiste. Er war verschreckt und fasziniert zugleich, das Blut rauschte ihm in den Ohren. Ol' Vo l stampfte und schnaubte, als wäre ihm eine Fliege in die Nüstern geschwirrt. Birka stand da mit offenem Mund und rang nach Luft wie in der schlimmsten Phase ihrer Krankheit. In der Kiste lag die schwärzeste Menschengestalt, die Arne je zu Gesicht bekommen hatte. Sie war haarlos, und die ledrige Haut glänzte wie eingeölt. Darunter zeichnete sich jeder Knochen ab. Eine nackte Gestalt — vollständig, nicht einmal der knorpelige Stummel des unbeschnittenen Penis fehlte, nicht einer der umgebogenen Zehennägel. Jede Menge Holzwolle und eine Schicht aus kleinen, trockenen Blättern polsterten die auf der Seite liegende Mumie wie ein Ei im Nest. Arne zweifelte nicht, daß, wer immer da eingesargt war, schon viele Jahre tot sein mußte. Um den Hals des Toten hing lose eine Rankenschlinge, und das Erstaunliche war: Die Ranke schien frisch zu sein, vor kurzem erst geschnitten. Drei, vier winzige grüne Blätter entfalteten sich, als würden sie vom Licht der Lampe und der Frühlingsluft, die über dem offenen Sarg wehte, neu belebt. »Was heißt das: Huldufölk?« fragte Arne seine Mutter. »Mach den Deckel zu!« forderte sie und wandte das Gesicht ab. »Da liegt doch bloß ein alter Nigger«, sagte Arne, der sich das Entsetzen der Mutter nicht erklären konnte. Sein Puls hatte sich längst beruhigt, und die anfängliche Erregung war für ihn in Enttäuschung umgeschlagen. Er setzte den Deckel wieder auf und griff zum Hammer.
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Auf dem Weg zurück ins Haus sagte die Mutter kein Wort. In der Küche steckte sie Kienspäne in den Ofen und zündete ein Feuer an, um Kaffee aufzuwärmen. Ihre Hände zitterten, und an den Gelenken und Armen traten blau die Venen hervor. »Mutter?« Fast widerwillig sah sie den Jungen an. »Der Leiche hängt eine Ranke um den Hals. Hast du das gesehen?« »Darauf brauchte ich gar nicht erst zu achten«, antwortete Birka. »Ich wußte, daß sie da hängt.« »Es waren frische Blätter an der Ranke. Wie kann das sein?« »Ich weiß nicht. Solange die Ranke lebt, haben wir nichts zu befürchten.« Dennoch hatte sie Angst, und die steckte auch Arne an. Er nahm einen Haferkeks aus dem Schrank, knabberte schweigend daran herum und sah der Mutter zu, wie sie die Arme massierte, als wäre das Blut zum Stillstand gekommen. »Was will wohl der Professor mit einem toten Nigger?« »Das ist kein Nigger. Die Haut ist schwarz von der Ranke. Und ich denke, Professor Ayre wird auf das Schreckgespenst verzichten wollen, wenn er weiß...« »Wenn er was weiß?« »Das es gar nicht tot ist, niemals richtig tot sein kann.« Arne spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Dann lachte er über die absurde Bemerkung der Mutter und spuckte Kekskrümel über den Tisch. Birka drehte sich um und packte den Jungen bei den Schul tern, daß er vor Schreck fast vom Stuhl aufgesprungen wäre. Ihre sonst so blauen Augen schienen ihre Farbe verloren zu haben wie der Himmel, durch den ein Blitz zuckt. »Arne... der schwarze Mann ist eins von Evas ungewa schenen Kindern. Womit haben wir soviel Unglück verdient?« jammerte sie mit lauter werdender Stimme. »Ich weiß mir nicht zu helfen!« Sie ließ Arne aufstehen und wies mit wilder
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Gebärde in Richtung Scheune. »Wir müssen ihn wegschaffen und vergraben, wo ihn niemand finden kann. Ja. Die Eber esche verrottet nicht, sie wird sicher aufgehoben sein in der Erde... wo sie hingehört.« Dem Jungen war die Kehle ganz trocken geworden. Er schlang die Arme um die Mutter und preßte den Kopf an ihren Leib in der Hoffnung, sie beruhigen zu können. »Enoch darf davon nichts wissen. Wir warten ab, bis er wie der einmal die Farm verläßt. Aber das mu ß bald sein, sehr bald. Nur so können wir den Fluch von uns fernhalten.« »Was für einen Fluch?« Von neuem prickelte dem Jungen die Haut. Die Mutter fuhr ihm mit den Händen durch die Haare, berührte seine Ohren mit kalten Fingern. »Wir haben doch nichts getan und bloß die verfluchte Kiste geöffnet, mehr nicht.« »Nein, nein«, antwortete Birka. »Reg dich nicht auf. Es wird alles wieder gut. Aber ich will die Kiste keinen einzigen Tag länger hier bei uns haben. Selbst im Zustand des Schwarzen Schlafs könnte uns das Ungeheuer gefährlich werden.« Draußen war das Klirren von Pferdegeschirr zu hören. Va ter Enoch hatte den Hof erreicht. Nachdem er die Stute in die Scheune gebracht und sich an der Wasserpumpe gewaschen hatte, kam er mit nacktem Oberkörper zur Tür herein. Das Wasser tropfte ihm vom Kinn. Er nahm Platz, zog die Stiefel aus und lächelte Arne zu, dann Birka, die einen Becher Kaffee, ein geöffnetes Glas sauer eingelegten Gemüses und ein halbes Gewürzbrot vor ihm auf den Tisch legte. Darauf wandte sie sich ab, um mit einem Schrubbtuch die Dreckspuren aufzuwischen, die Enochs Stiefel auf dem Boden hinterlassen hatten. Doch Enoch hielt sie auf. »Du bist wohl wieder krank geworden.« »Nein, aber ich bin müde und werde gleich zu Bett gehen. Du auch, Arne.« Arne gähnte, wenn auch nicht besonders überzeugend, und vermied es, dem Vater in die Augen zu sehen. »Ich habe das Geschirr geflickt.« Nickend tunkte der Vater ein Stück Brot in den Kaffee. 106
»Nathaniel Ballard möchte wissen, ob du am Samstag mit den anderen Baseball spielst.« »Kann sein«, murmelte Arne. »Sie brauchen einen tüchtigen Werfer. Birka, laß gut sein. Ich mach' den Dreck gleich weg.« Sie lächelte - es gab schließ lich nicht viele Männer, die selbst ein Schrubbtuch zur Hand nahmen - und gab ihm einen Kuß. Arne folgte ihr in die Stube und kletterte auf die Leiter am Kamin hinauf in seine Schlaf stelle. »Mama...« »Pssst.« Sie schüttelte entnervt den Kopf, ging in die Schlafkammer nach nebenan und zog die Tür zu. Arne streifte die Hose ab, und weil er versäumt hatte, das Örtchen vorm Haus aufzusuchen, behalf er sich mit den Nachttopf. Schließlich lag er ausgestreckt auf dem Rücken und schaute durch das schmale Giebelfenster zu den Sternen hinauf. Die Augen wollten ihm nicht zufallen. Nach einer Weile kroch er auf Händen und Knien zu dem großen Leder koffer, der unter der Dachschräge verstaut war. Darin steckte ein Beutel aus Hirschhaut, der all das enthielt, was dem Jungen lieb und teuer war: eine Hasenpfote, eine polierte Roßkastanie, getrocknete Glückskleepflänzchen, gepreßt zwischen Pergamentseiten, und ein Fünf-Dollar-Goldstück - Talis mane, die er zusammen mit seinem Exemplar des Alten Testaments mit sich ins Bett nahm. Aber einschlafen konnte er immer noch nicht. Mit weit geöffneten Augen lag er da, die Hände schlaff auf der Decke. Sie fühlten sich so kraftlos an wie zuvor beim Versuch, den Kistendeckel wieder aufzunageln. Hatte er in der Eile die Nägel auch fest genug eingeschlagen? In seiner Vorstellung sah Arne eine teerige Hand den Deckel beiseite stoßen. Er hörte den Vater auf dem Weg von der Küche zur Schlafkammer über die Dielen schlurfen. Gern hätte ihn der Junge zu sich gerufen, den väterlichen Arm auf seinen Schultern gespürt. Aber Enoch wäre bestimmt mißtrauisch geworden und hätte ihn womöglich noch überredet, sein Herz auszuschütten... 107
Aus der Kammer nebenan war schon seit geraumer Zeit das Schnarchen des Vaters zu hören. Arne aber wälzte sich immer noch auf der mit Federn ausgestopften Matratze hin und her. Der schwarze Mann war tot; für Arne bestand kein Zweifel an dem, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Zu schaffen machte ihm allerdings die Ranke, die der Leiche um den Hals hing. Wie war es möglich, daß eine Ranke nach so langer Zeit noch grünte? Vielleicht war das Wasser vom Fluß in die Kiste gesickert und hatte die Pflanze neu belebt. Jedoch waren die Holzwolle und die alten, abgefallenen Blätter der Ranke völlig trocken gewesen, und in der Kiste hatte es nicht einmal nach Schimmel gerochen. Evas ungewaschene Kinder. Welche Kinder hatte die Mutter damit gemeint? Arne schlug das Alte Testament auf. Seine Augen waren zwar scharf genug, um auch noch bei Sternenlicht sehen zu können, aber der Junge kannte die Schöpfungsgeschichte und Adams Nachfahren so genau, daß er gar nicht mehr nachzule sen brauchte. Adam >erkannte< Eva (vögelte sie, wie Arne wußte, aber so direkt mochte die Bibel darüber nicht sprechen, denn sie war ein gutes Buch); sie wurde schwanger und gebar zuerst Kain, dann Abel. Kain >erschlug< seinen Bruder, weil er eifersüchtig darauf war, daß Abels Opfer von Gott an genommen wurde, das eigene aber nicht. Und die Stimme von Abels Blut (Arne konnte sich diese Stelle lebhaft vorstellen) schrie von der Erde zu Gott. Darauf sprach Gott zu Kain: Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Arne erschauderte. Die Geschichte war ihm vertraut, doch die Leiche in der Kiste blieb ihm unerklärlich. Sie konnte weder von Kain noch von Abel stammen, denn die beiden waren schon seit Menschengedenken tot. Schon vor der Sintflut, dachte Arne. Wer mochten die anderen Kinder Evas sein, die jenseits von Eden zur Welt gekommen waren? Arne wußte darüber nur vage Bescheid. Da hatte es einen 108
Seth gegeben, aber dazu sagte die Bibel bloß: >Und Adam war hundertdreißig Jahre alt und zeugte einen Sohn... und nannte ihn Seth; und lebte danach achthundert Jahre und zeugte Söhne und Töchter.< Wie hießen diese Kinder? Arne las die Verse aufmerksam durch, konnte das Rätsel aber nicht lösen. Namen wurden nicht genannt, und von ungewaschenen Kindern war ebenfalls nirgends die Rede. Die mußte es aber doch geben; seine Mutter hatte es gesagt. Ob >ungewaschen< etwas ganz Schlimmes bedeutete? Übermüdet schlief der Junge schließlich ein.
»Arne?« Die Stimme der Mutter. Sie war im Nachthemd hinauf in die Gaubennische geklettert und kniete neben der Matratze. »Was ist los?« Im Hintergrund schnarchte der Vater unge stört weiter. »Ich kann nicht einschlafen und will mit dir reden.« Sie nahm das Alte Testament an sich, das der Junge in den Händen gehalten hatte, seit er weggenickt war. »Diese Geschichte steht nicht in der Bibel. Es handelt sich vielmehr um eine Art Legende, was aber nicht heißt, daß die Sache mit den Kindern frei erfunden ist.« Arne rückte zur Seite, damit es sich die Mutter auf seiner Matratze bequem machen konnte. »Huldufölk bedeutet >Menschen im Verborgenen<. Als ich noch ein kleines Mädchen war, glaubte fast jeder in unserem Dorf, daß diese verborgenen Menschen ganz in der Nähe wohnen — tief im Fels vergraben oder in natürlichen Höhlen am Rand der Gletscher, an Orten, wo ewig Kälte herrscht und nie die Sonne vordringt. Ursprünglich aber, lange bevor sie nach Island kamen, hatten sie im Garten Edens gelebt.« »In der Bibel steht, daß Adam noch andere Söhne und Töchter hatte, aber kein Wort davon...« 109
»... daß Gott eines Tages in den Garten kam, als Eva gerade dabei war, ihre Kinder zu baden. Und weil sie noch nicht mit allen durch war, zeigte sie Gott nur diejenigen, die schon sauber waren. Du weißt, wie Mütter sind. Gott sollte glauben, daß sie nicht mehr Kinder habe als nur die sauberen. Aber na türlich läßt sich Gott nicht täuschen. Er war sehr verärgert über Eva...« »Er war wohl ständig über irgendwas verärgert, stimmt's?« »Es scheint so. In seinem Zorn verfluchte er Eva und ihre ungewaschenen Kinder und sagte: >Von nun an sollen alle, die du vor mir verborgen hältst, vor keines Menschen Angesicht mehr treten.<« »Wie viele ungewaschene Kinder hatte Eva denn?« »Das weiß niemand. Aber heute werden es Tausend sein, die in den Bergen und Fjorden von Island versteckt sind und überlebt haben, nachdem ein Großteil von ihnen in den Schwarzen Schlaf versetzt wurde.« »Einer von denen liegt jetzt in der Kiste, oder?« »Ja.« »Du hast gesagt, er wäre tot. Dabei sieht er aus als ob...« »Keiner vom Huldufölk kann jemals sterben, Arne. Sie leben ewig weiter. Wenn aber die Sonne auf sie scheint, werden sie entweder blind oder lahm, und der Kontakt mit grünen, wachsenden Pflanzen läßt sie in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf versinken.« »Hängt ihm deshalb die Ranke um den Hals?« »Ja. Aber wehe, sie wird entfernt...« »Wacht er dann auf?« Arne kuschelte sich erschaudernd an die Mutter. »Das wird doch hoffentlich nicht passieren, oder?« »Nein, Arne. Aber es hätte vielleicht passieren können, wenn es das Schicksal nicht gewollt hätte, daß die Kiste an uns gerät. Ich bin sicher, Professor Ayres hätte die Ranke entfernt, es sei denn, er kennt die Legende und glaubt ihr. Jedenfalls werden wir kein Risiko eingehen. Wir vergraben die Kiste, wo sie keiner finden kann. In zehntausend Jahren nicht.« »Ist das Huldufölk böse? Hast du Angst vor ihnen?« 110
»Bis zum heutigen Abend habe ich keinen von ihnen gese hen. Angst? Nun... ja. Es ist vernünftig, Angst zu haben. Es heißt, daß das Huldufölk Kunst liebt, Musik macht und tanzt. Sie schmücken ihre Höhlen mit Gemälden und Skulpturen. Mein Vater behauptete, einen Mann zu kennen, der schon mal in einer dieser Höhlen war, mitten in der Nacht, als die Bewohner alle in der Luft waren. Aber solche Geschichten hörte man oft, Beweise gab's keine.« »Was soll das heißen... als sie in der Luft waren?« »Das ist das Entsetzliche. Sie fliegen. Ihre Flügel bestehen aus Menschenhaut, gefärbt mit Pigmenten der Lunamotte: grün, rosa- und lavendelfarben. Ohne diese Flügel wären sie verdammt, auf ewig am Boden zu bleiben. Das ist einer der Gründe, warum sie so gefährlich für uns sind. Sie brauchen Menschenhaut, die sie ihren Opfern vom lebendigen Leib zie hen.« Die Mutter wurde still. Dem Jungen kribbelte es am ganzen Körper. Ungeduldig stieß er sie an und fragte: »Was für Gründe gibt es sonst noch?« »Ihr Herz schlägt nicht. Kein Spiegel beschlägt vor ihrem Mund, da sie nicht atmen. Sie können selber keinen Nach wuchs zeugen, vermehren sich aber um die Menschen, die sie enthäuten. Wie das geschieht, ist unbekannt. O ja, wer von ih nen berührt wird, empfindet Todeskälte, ihr Kuß läßt Men schenfleisch gefrieren.« Dem Jungen rumorte der Magen. Er rückte noch näher an die Mutter heran, schmiegte sich an ihren Schoß, den Kopf an ihrem Busen, der voll und warm unter dem Nachthemd zu fühlen war. Ihr Herzschlag erinnerte ihn an die eigene Her kunft, an das Menschsein, das ihm sonst als Selbstverständ lichkeit erschien. Obwohl er schon längst kein Kind mehr war, hatte er nichts dagegen, in den Armen der Mutter gewiegt zu werden. Ihre Nähe vertrieb die Angst, sie gab ihm Sicherheit, nahm dem Ungeheuer in der Scheune seinen Schrecken, so daß sich Arne ganz dem Gefühl der Faszination hingeben konnte. (Der Kon takt mit grünen, wachsenden Pflanzen läßt sie in einen tiefen, todesähn 111
lichen Schlaf versinken.) ... Ja, der Schwarze Schlaf. Ohne eine frischgeschnittene Ranke in der Hand wollte Arne keinen Schritt mehr auf die Kiste zugehen, geschweige denn den Deckel anheben. »Arne«, sagte die Mutter, als hätte sie seine Gedanken erra ten, »wir müssen uns von der Scheune fernhalten, bis es an der Zeit ist, die Kiste im Wald zu vergraben. Wir dürfen keinen Blick mehr auf den Dunklen Mann werfen.« »Aber wenn er...« »Wahrscheinlich nimmt er selbst im Schwarzen Schlaf Notiz von uns, so als wären wir Teil eines Traums. Vielleicht kann er auch jetzt seine Kräfte wirken lassen.« »Was für Kräfte?« »Mag sein, daß er uns schreckliche Dinge tun läßt, damit wir ihm die Ranke vom Hals schneiden.« Wie ein Windstoß überkam den Jungen aufs neue die Angst, und er zitterte am ganzen Leib. »Wie ist das möglich?« »Ich weiß nicht.« Ihre Augen waren halb geschlossen. Sie küßte seine Stirn wie eine heilige Reliquie. »Solange wir vor sichtig sind, kann uns nichts passieren.« »Was könnte ihn sonst noch aufwecken?« »Er wacht nicht auf«, antwortete sie mit ruhiger Stimme, aber ihr Herz vibrierte wie ein Baum unter den Schlägen einer Axt. Draußen, kaum eine halbe Meile entfernt, waren jaulende Luchse zu hören, rollig geworden mit dem säfteweckenden Frühling. Birka fing zu singen an, eine einfache Melodie mit isländi schen Worten. Arne hatte schon viele Lieder von ihr gehört, aber dieses besondere war ihm, wie er mit Bestimmtheit wußte, noch nie zu Ohren gekommen. »Was singst du da?« Sie stockte und hob den Kopf. Ihr Herz pochte wie wild. Er spürte, wie heiß ihr Atem war, ihre streichelnden Hände. »Ach... ein altes Lied. Ich weiß selber nicht, wieso ich mich nach all den Jahren ausgerechnet daran erinnere. Nun, es ist sehr spät; du solltest jetzt lieber schlafen. Du hast doch keine Angst, wenn ich dich allein lasse, oder?« 112
»Nein«, antwortete er, fragte sich aber gleichzeitig, warum er nicht die Wahrheit sagte. Er hätte sie bloß bitten brauchen, und sie wäre die Nacht über bei ihm geblieben. Doch er schämte sich; sie sollte ihn für tapfer halten, so tapfer wie sein Vater. Nichts konnte ihn bange machen.
Nachdem er über eine Stunde im Bett ausgeharrt hatte, bis er sich sicher sein konnte, daß die Mutter eingeschlafen war, zog Arne seine Hose an und schlich auf bloßen Füßen die Leiter hinunter, das Messer und den hirschledernen Beutel samt sei ner Glücksbringer fest in der Hand. Minutenlang stand er vor der Küchentür und starrte zur Scheune hinüber, die sich vor dem schimmernden Nachthim mel deutlich abzeichnete. Dann steckte er mit einem Streich holz die Laterne an, die neben der Tür am Haken hing, und trug sie nach draußen. Hawkshaw kroch eilig unter den Stufen hervor, wo er selbst im kältesten Winter übernachtete. Arne strich mit der Hand über den flachen, knochigen Kopf des Hundes, ohne die Augen von der Scheune abzuwenden. Sein Herz klopfte im Takt der schrillen Zikadenlaute und dem Flöten der Frösche, die zu Tausenden die vom Hochwasser überschwemmten Felder dreihundert Meter südlich der Farm bevölkerten. Es war warm, zu warm für die Bildung von Tau, die Luft still und voll vom Duft der Erde und der Pflaumenblüten. Arne zog das Messer und schnitt ein Stück von der Erbsen staude, die im Spalier neben der Veranda kletterte. Den Ast steckte er in die Tasche. Hawkshaw erriet, daß der Junge zur Scheune wollte und nicht zum Toilettenhäuschen und trottete voraus, was Arne ein wenig beruhigte, denn falls in der Scheune Gefahr lauerte, hätte der Hund längst angeschlagen. Der Dunkle Mann schlief und würde bestimmt nicht aufwachen, bevor er mit
samt seiner Kiste vergraben wäre, so tief wie Arne schaufeln konnte. Es gab nichts zu befürchten... Hawkshaw schnüffelte irgendeiner Spur nach; vielleicht war ein Opossum oder ein Waschbär vor kurzem durch den Hof gekommen und hatte eine Duftmarke hinterlassen. Arne sah dem hin und her pirschenden Hund nach, setzte dann die Laterne auf dem Boden ab und öffnete einen Flügel des Scheu nentors. Die Lampe hoch über dem Kopf trat er ein, schreckte aber nach wenigen Schritten erschaudernd zurück. Die Tem peratur in der Scheune war nahe dem Gefrierpunkt. Im Schein der Laterne sah er, wie ihm der Atem aus dem Mund dampfte. Weiter hinten, in dem düsteren Winkel zwi schen Egge und Pflug, gleich neben dem aufgehängten Ge schirr, stand nach wie vor die zugenagelte Kiste. Auf dem Deckel jedoch lag etwas, das vorher noch nicht da gewesen war, kaum erkennbar aus der Distanz. Es sah aus wie ein kleiner, grauer Erdklumpen. Arne rückte näher... Am ganzen Körper zitternd, hielt er die Lampe mit ausge strecktem Arm weit von sich und ließ den Lichtkreis im Dun kel umhertanzen. Der eigene Schatten sprang hoch unters Dachgebälk, und als das Licht schließlich auf den Sarg fiel, entdeckte er... eine Maus. Nichts als eine Maus, die, seitlich ausgestreckt, auf dem Deckel lag, die kleinen, rosafarbenen Pfotchen verkrampft, die Augen geschlossen und wie ein Nagel so steif der Schwanz. Die Maus war tot. Arne stocherte mit einem Strohhalm nach ihr. Das Fell und die Haut gaben nicht nach und schienen gefroren zu sein. Je näher sich der Junge vorwagte, desto kälter war die Luft; sie schmerzte in der Nase. Unter den nackten Füßen schien der Boden zu glühen. Arne wich zurück. Aus der Dunkelheit des Dachstuhls senkte sich ein gespenstisches Flattern herab, durchschwirrte den Lichtkreis der Laterne, die der Junge vor Schreck fast fal lenließ. Er sah das flatternde Etwas zuerst nur als Schatten, dann hielt er ihn für einen kleinen, seidenen Windvogel, er kannte aber schließlich an den Umrissen, daß es sich um eine 114
Lunamotte handelte. Eine größere hatte er noch nie zu Ge sicht bekommen. Sie schwebte über der Laterne, als wäre sie versucht, sich in die Flamme zu stürzen. Ihre Augen schienen auf den Jungen gerichtet zu sein, zwei Punkte, umschleiert von dem zartesten Grün, das die Natur zu bieten hat. Eine Motte war im Grunde ebensowenig furchterregend wie eine tote Maus, dennoch vergaß Arne seinen Vorsatz, die Kiste zu öffnen und dem Dunklen Mann die Erbsenranke um den Hals zu legen. Fluchtartig verließ er die Scheune und sperrte das Tor vor der unerklärlichen Kälte zu. Hawkshaw lief neugierig herbei, um zu sehen, was Arne nun vorhatte.
Theron, der Siebtgeborene des ersten Elternpaares, wird nach Jahrhunderten des Vergessens wieder erinnert an den Fall der Gnade, an das bittere Los, an die doppelte Schande der Mutter und die letzten Tage des Paradieses. (Soeben unter schmerzenden Wehen zur Welt gekommen, haucht das Kind in den Armen der Mutter sein Leben aus. Neben ihr, der apokalyptische Liebhaber; sein Gehirn sklerotisch wie kahles Gebein. Eiskalte Gottheit. Ein Kind weniger im Garten Edens. Die Mutter würde Trauer tragen zur Beerdigung, wenn es Kleider gäbe. Ihr Haar könnte einen Kamm vertragen, doch das Grau steht ihr gut zu Gesicht. Der alte Löwe gähnt, ein Vogel pickt die Krumen des Mondes auf. Es herrscht erschöpfte Stille, Trauerzeit in knospendem Grün.) Verwirrt, reglos, von einem blühenden Rankenstück, einem Überbleibsel des verfluchten Paradieses gefesselt, träumt Theron von einem neuen Eden, das er hat aufscheinen sehen im Geist der Frau und des Jungen. Er plant Erneuerung, den Ausbruch in die Freiheit, Beherrschung dieser vielverspre chenden, lockenden Umgebung, von der er trotz der Dunkel heit, die ihn gefangenhält, schon eine Ahnung hat. Er wittert 115
Gefahr, Argwohn, aber auch ein verborgenes, unerkanntes Sehnen, das seinem ähnlich ist. Tief im Inneren, zwischen Schichten von Pech glüht die Kraft der Luna. Greif zu, befiehlt Theron.
10 Mondlicht sickert durch die Spalten der Scheune. Ein Käuz chen schreit. Am Rand der Kiste eine reglose Motte.
11 Noch fehlt eine Stunde zum Sonnenaufgang. Sie ist schon lange ruhelos. Dann wacht auch er auf und schiebt eine Hand unter ihr Nachthemd. Birka trägt keinen Schlüpfer. Sie macht es ihm normalerweise immer leicht, entspannte sich und öff nete die Schenkel. Diesmal jedoch verkrampft sie. »Nein«, sagt sie. »Ich bin noch nicht bereit.« Sie lügt, ist sie doch mehr als bereit, aber voller Angst. Wie Lilith, ihre Vorgängerin, hat Birka von Schlangen geträumt.
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August 1970 Die Suche nach Arne Horsfall
l Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, trat Marjory unter das Vordach der Haustür und sagte zu Enid: »Wenn der Auflauf noch länger im Ofen bleibt, kann man ihn wegschmeißen.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schlug sie die Fliegengittertür derart schwungvoll zu, daß eine der Katzen Reißaus nahm. Enid schaute sich nicht einmal um; schon seit drei Tagen war mit ihr nichts anzufangen. Mit dunklen Ringen unter den Augen hockte sie auf dem Verandageländer. Das Licht der untergehenden Sonne rötete ihr Haar an den Schläfen. Sie nahm die ganze Geschichte viel zu schwer, aber Marjory wollte ihr das nicht noch einmal vorwerfen. »Du kannst natürlich auch später essen. Allerdings wird die Kruste dann ziemlich pampig sein. Aber bitte, sag was.« »Du kannst meine Portion haben, Marjory. Ich habe keinen Hunger.« »Glaubst du etwa, daß es mir darauf ankommt?« Marjory schüttelte den Kopf. »Ich treff mich mit Boyce und Rita Sue in der Dairy Queen, nachdem ich dich bei der Arbeit abgesetzt habe«, sagte sie und nahm Kater Zombie auf den Arm, der ihr an den Beinen entlanggestrichen war. »Die beiden wollen mich verkuppeln«, meinte Marjory mit verschlagenem Grinsen. Die Schwester merkte auf. »Oh... schön für dich. Wer ist...?« Enid zog die Stirn kraus. »In dem Aufzug willst du doch nicht etwa ausgehen, oder?« »Was paßt dir daran nicht?« »Tu nicht so. Dieser Lappen da, das blutige Stirnband... einfach scheußlich so was.« Marjory zupfte an einem Zipfel und entgegnete voller Stolz: 117
»Wie ich dir bereits gesagt habe: Das ist kein Blut, sondern rote Farbe. Symbolisch. Aus unserer Clique wird jeder das Tuch solange tragen, bis die Verantwortlichen für das Blutbad unter den Studenten von Kent State und Jackson State zur Rechenschaft gezogen werden. Ausnahmslos, einschließlich Nixnutz-Nixon.« Enid zuckte anteilnahmslos mit den Achseln und hielt wie der Ausschau, als erwarte sie, daß Arne Horsfall aus den Tiefen von Crudups Tümpel heraufgestiegen käme. Dabei war dieser Tümpel noch am Vortag auf ihr hartnäckiges Verlangen hin von mehreren Polizeibeamten durchsucht worden. »Enid, du kommst noch zu spät zur Arbeit. Oder willst du dich von Shelnutt, diesem Widerling, für den Rest der Woche piesacken lassen? Dessen Problem ist doch, daß er sich für den Besitzer der Klitsche hält...« »Ich geh' heute nicht ins Geschäft. Ich hab' was anderes zu tun.« Marjory setzte den Kater im Schaukelstuhl ab und stellte sich hinter die Schwester. »Du weißt so gut wie ich...« Sie hatte einen kämpferischen Ton angeschlagen, nahm sich aber gleich wieder zurück und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Mr. Horsfall hat bloß Angst bekommen und versteckt sich irgendwo. Sobald er Hunger hat, wird er wieder aufkreuzen.« »Sonntagnacht warst du noch anderer Meinung.« »Weil mir die Nerven durchgegangen sind. Solche gruseli gen Sachen sind nicht mein Fall. Du solltest mich eigentlich kennen, Enid.« Enid lächelte flüchtig und sah die Schwester an, ganz ohne jedes ironische Zwinkern, das so typisch für sie war. »Wer ist der Junge, mit dem du dich triffst?« »Er heißt Duane Eggleston. Ich kann mich nur noch vage an ihn erinnern. Vor drei Jahren sind wir uns mal auf einer Kirchenfreizeit begegnet. Er trägt eine Brille und sammelt Spinnen, wenn ich mich nicht irre. Es können auch Schmet terlinge sein.« 118
»Moment mal, ich hol' nur noch mein Portemonnaie. Wo hab' ich es bloß hingelegt?« »Auf den Tisch im Flur. Kannst du den Auflauf in den Kühlschrank tun? Vielleicht willst du später davon essen.« »Ach, wenn ich doch bloß nicht arbeiten müßte«, sagte Enid auf dem Weg ins Haus. »Dann kündige eben. Ich lass' meine beiden Kronen ein schmelzen und verkaufe das Gold. Aufs Kauen kann ich so wieso verzichten, denn zum Leben würde mir Erdnußbutter voll ausreichen.« »Ich wollte eigentlich nur sagen, daß es mir lieber wäre, noch ein wenig rumzufahren, bevor es dunkel ist. Vielleicht sehe ich ja...« »Enid, die ganze Welt sucht nach ihm! Auf dich kommt's nun wirklich nicht an. Weißt du, was ich glaube? Daß er über kurz ober lang von selber wieder auftaucht, und zwar im Krankenhaus.« »Davon bin ich nicht so überzeugt«, antwortete Enid und trat zögernd wieder vor die Tür. Daß sie mitunter ein wenig verträumt wirkte, war nichts Ungewöhnliches, aber an diesem Abend machte sie den Eindruck, als sei sie gerade aus dem Koma erwacht. »Hab' ich sonst noch was vergessen?« »Den Lippenstift. Komm schon, wir...« »Ich schmink' mich im Wagen.« »Gute Idee.« In diesem Moment fing das Telefon an zu klingeln. »Das ist bestimmt nicht wichtig«, sagte Marjory. Trotzdem schlug ihr das Herz plötzlich höher. »Wahrscheinlich ist es Ted.« »Aber faß dich kurz, ja?« Enid telefonierte fünf Minuten lang. Marjory schmollte und drängte sie zweimal zur Eile. Als die Schwester endlich wieder nach draußen kam, zeigte sie eine rätselnde und zugleich hoffnungsvolle Miene. »Es war tatsächlich Ted. Marjory, es scheint, daß man ihn gesehen hat.« »Aha, und wo?« »Gaithers Lick.«
»Bis dahin sind's zwölf Meilen. Zu Fuß kann Mr. Horsfall kaum so weit gekommen sein.« »Marjory, wärst du so nett...?« »Nein. Nein, Enid. Hör mir zu...« »Du ahnst nicht, wie schrecklich mir zumute ist. Ich muß irgendwas unternehmen...« »Das kannst du. Geh zur Arbeit und überlaß den Bullen alles weitere. Enid, nimm Rücksicht. Ich habe eine Verabredung. Weißt du, wie lange es her ist, daß ich...« Mit einem müden Kopfnicken gab sich Enid geschlagen. Marjory chauffierte sie zur Leichenhalle von Wager-Symms, einem weißen Kolonialbau, den eine vorgelagerte, weite Ra senfläche von der Autobahn trennte. Die Leute vom Ort nannten das Haus >Wages of Sin<: Lohn der Sünde. Es stand zweckmäßigerweise gleich neben dem Friedhof, auf dem die Eltern von Marjory und Enid begraben waren. »Ich werd' aus dir nicht schlau«, sagte Marjory und ließ Enid unter der dunkelgrünen Markise aussteigen, die das Portal überspannte. »Zuerst arbeitest du in der Klapsmühle, und dann ist es...« »Marjory, jetzt werde nicht wieder makaber.« »Ich bin nicht makaber. Aber sooft ich hier vorbeikomme, muß ich daran denken, daß...« »Ich weiß, ich weiß. Aber Cornell zahlt mir fünf Dollar die Stunde dafür, daß ich helfe, die Registratur zu organisieren.« »Ist denen denn auch jemand durch die Lappen gegangen?« Enid warf der Schwester einen bitterbösen Blick zu. »Entschuldige«, murmelte Marjory. »Ich sollte mir einen Reißverschluß an die Lippen nähen lassen. Aber der wird be stimmt klemmen, wenn's was zu Essen gibt.« Enid war wieder milder gestimmt und lächelte. »Amüsier dich gut, Marjory. Darf ich dir vielleicht noch einen ganz klei nen Rat geben?« »Nein.« »Ich wollte nur sagen, daß dir so viele Möglichkeiten offen stehen. Gib dem Jungen... wie heißt er doch gleich?« 120
»Duane.« »Gib ihm Gelegenheit, ein bißchen von sich zu erzählen.« »Wenn's mehr nicht ist. Versprochen. Deine Ratschläge sind wirklich sehr wertvoll, Enid.« »Ja.« »Darf ich es einem Jungen beim ersten Rendezvous durch gehen lassen, daß er mir seine Zunge ins Ohr steckt?« »Du brauchst mich nicht abzuholen. Cornell bringt mich nach Hause.« »Wie nett von ihm. Vielleicht holt er ja den langen Schwar zen aus der Garage...« »Gute Nacht, Marjory.« »Schöne Grüße an Cornell; aber gib ihm bloß nicht die Hand.« Marjory war ausgesucht guter Laune, als sie den Parkplatz der Dairy Queen erreichte. Rita Sue und Boyce Bledsoe waren schon da. Boyce hatte ein neues Paar Krücken und einen Strumpfverband am verletzten Fuß. Die beiden saßen allein in einer Nische. Marjory sah sich im Cafe um, entdeckte aber niemanden, der Duane Eggleston hätte sein können. »Marjory, hätte es ein unauffälligeres Pflästerchen nicht auch getan?« fragte Rita Sue. »Haha, wie witzig du wieder bist. Aber ich muß es dir wohl noch mal erklären: Was du um meinen Kopf geschlungen siehst, ist ein Symbol unserer Empörung!« »Ach, du weißt doch, ich bin absolut unpolitisch«, entgeg nete die Freundin und winkte mit der Hand ab. »Das wird sich ändern, sobald die Nationalgarde von Ten nessee das Tri-Delt-Haus in Knoxville unter Beschuß nimmt.« »Warum sollte sie so was tun?« Rita Sue zog die Stirn kraus. »Wie geht's deinem Fuß, Boyce?« »Gebrochen ist er jedenfalls nicht, aber schwer geprellt.« »Wo steckt eigentlich...« »Duane mußte mal den Ort für kleine Jungs aufsuchen«, antwortete Rita Sue. Sie hatte den Ellbogen auf den Tisch ge stemmt und das Kinn auf dem Handrücken plaziert. Mit die 121
ser Pose signalisierte sie stets den Wunsch, über andere zu tratschen. »Marjory, du ahnst nicht, was passiert ist.« »Ich hoffe, die Neuigkeiten werden mir keinen Schlag ver setzen.« »Durchaus möglich. Brenda McClanahan hat Darden seinen Ring zurückgegeben.« »Nicht zu fassen! War ihr das Ding nicht schmuck genug?« »Keine Ahnung. Ich hab' sie angerufen, um mehr zu erfah ren. Sie sagte bloß: Mit Darden ist's aus.« »Der Ärmste. Hoffentlich muß er nicht allzusehr leiden.« »Da kommt Duane«, sagte Boyce. Marjory musterte den Neuankömmling von oben bis unten, bevor sie auf der Bank durchrutschte. Zuerst wähnte sie sich von Boyce an der Nase herumgeführt, denn der Junge, der nun an den Tisch trat, sah ganz und gar nicht aus wie der Insektenfreund von damals. Zum einen war er sehr viel größer. Das sandfarbene Haar war kurz geschoren, die Haut bis auf ein paar kleine Pickel am Kinn ganz passabel. Er trug eine Brille in Tropfenform, die gut zu seinem eckigen Gesicht paßte, das ansonsten nicht viel hergab. Aber seine Augen leuchteten erstaunlich blau. Er sah Marjory nicht nur an, er fixierte sie. Ihr sträubten sich fast die Haare. Was an Duane sonst noch auffiel, war die Figur, mit der er sich nicht einmal hinter Boyce zu verstecken brauchte, und der war göttlich gebaut. »Hallo.« »Hallo.« »Na, erkennt ihr euch wieder?« fragte Boyce. Marjory zweifelte; Duane zuckte grinsend mit den Schul tern. »Klar. Bist du immer noch so gut am Ball?« Marjory holte tief Luft und antwortete: »Es geht so.« »Laß dir nichts vormachen«, sagte Boyce. »Sie ist eine Gra nate.« »Gefährlich.« »Hast du was für Baseball übrig?« fragte Marjory. »Nein.« Duane sah sie vorsichtig an und sagte nach kurzer Pause: »Protestierst du gegen die Sache von Kent State?« »Ja. Was ist mit dir?« 122
»Ich würde ja gerne, kann aber nicht.« »Protestieren? Warum nicht?« »Tja...« »Er würde Ärger bekommen«, erklärte Boyce, »wegen sei ner Bewährung.« »Was für eine Bewährung?« fragte Marjory und rechnete mit der Auskunft über irgendein Schulproblem. »Ich hab' ein Auto geknackt«, antwortete Duane. »Zusam men mit zwei anderen Typen.« »Im Ernst? Warum?« »Och... wir fanden die Idee ganz gut und haben nicht länger drüber nachgedacht. Wir sind 'ne halbe Stunde lang durch die Gegend kutschiert und dann zurück zu der Stelle gefahren, wo ich den Wagen - es war ein Cadillac - kurzgeschlossen habe. Aber die Bullen...« »Du hast einen Wagen kurzgeschlossen? Wo ist dir das denn beigebracht worden?« »Das kann doch jeder. Aber wir sollten das Thema wechseln. Ich komm' mir ziemlich dumm vor. Noch mal tu' ich so was bestimmt nicht.« Rita Sue sagte: »Erzähl ihr von den psychologischen Tests, die du machen mußtest.« »Dabei hat sich rausgestellt, daß er ein Genie ist«, bemerkte Boyce. »Deshalb ist darauf verzichtet worden, ihn in eine Bes serungsanstalt zu stecken.« »Gratuliere«, sagte Marjory. Sie hatte nur noch Augen für Duane. Er lächelte ihr verlegen zu, und es schien, als hätten sich Rita Sue und Boyce in Luft aufgelöst. Rita Sue sagte et was, aber Marjory hörte nicht hin. »Wie lange dauert noch deine...« »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, bis die Schule wieder be ginnt.« »Na, vielleicht...« »Ich würde dir gerne mal beim Baseballspielen zusehen.« »Wirklich?« »Willst du was essen, Marjory?« »Ja, ja, danke, Duane. Einen einfachen Hamburger. Aber 123
ohne Gurken und Ketchup. Ich will nämlich ein paar Pfund loswerden, verstehst du?« »Daß du zuviel davon hättest, seh' ich nicht«, entgegnete Duane.
Zu viert fuhren sie in Rita Sues Fairlane zum Autokino. Mar jory saß neben Duane Eggleston auf der Rückbank, und wäh rend der zwei Stunden, in denen John Wayne unbeachtet den Helden von Rio Lobo spielte, tauschten die beiden Anekdoten ihrer jeweiligen Lebensgeschichte aus. Boyce und Rita Sue fummelten aneinander herum. Ab und zu war von Rita Sue mit entschiedener Stimme »Boyce« zu hören. Doch beide rutschten auf ihren Sitzen immer tiefer. Rita Sue war schließlich still, und Marjory konnte von ihr und Boyce nur noch den einen Teil der Haare sehen. Marjory und Duane klebten an Hüfte und Schenkel zusammen, als wären sie so zur Welt gekommen. Ihr Inneres war aufgefühlt; sie fühlte sich schwindelig, und das Herz pochte heftig. Schließlich nahmen sie sich bei der Hand, aber fünf Minuten später war der Film vorbei. Boyce und Rita Sue rafften sich auf, nestelten an ihrer Kleidung herum. Schließlich brachte sie auch noch ihr Haar in Ordnung, worauf Marjory einen Niesanfall nach dem anderen bekam. »Besten Dank, Rita Sue.« »Bist du allergisch gegen Haarspray?« »Will jemand den Rest Popcorn?« fragte Boyce. »Nicht, wenn er voll Haarspray ist.« »Wie war der Film?« wollte Rita Sue wissen. »Es war viel lustiger, euch beim Ringkampf zuzusehen. Wer hat gewonnen?« »Verflucht«, sagte Rita Sue. »Ich hab' meinen Lippenstift vergessen.« »Besonders gut hat mir die Stelle gefallen, als John Wayne 124
das Gewehr fallen ließ und der halbe Fuß weggeschossen wurde.« »Das ist doch gar nicht passiert.« »Woher willst du denn das wissen?« »Das weiß ich eben. Einem John Wayne passiert so was nicht. Marjory, du hast nicht zufällig einen Lippenstift dabei?« »Nein. Ich hatte mal einen, aber den hab' ich dir geliehen. Oh, da wir beim Thema sind... was ist eigentlich mit meinen Janis -Joplin-Platten?« »Mensch, Marjory, irgendwo werden sie schon stecken.« Sie sprühte wieder eine Spraywolke um ihren Kopf. Marjory bekam einen Anfall, der teils gespielt, teils echt war. Duana rückte zur Seite und öffnete die Tür. »Tut mir leid«, keuchte Marjory aus Sorge, den Jungen ver schreckt zu haben. »Schon gut.« »Wohin willst du?« fragte Boyce. »Wenn vom Popcorn keiner mehr was haben will, kann ich dann den Behälter haben?« »Klar.« Boyce erfüllte ihm den Wunsch. »Wofür willst du die Schachtel?« Duane kippte den Restinhalt auf den Boden und stieg lang sam aus. »Eine Lunamotte«, sagte er. »Die größte, die ich je gesehen habe. Ich weiß, wo zehn Dollar dafür zu holen sind.« Marjory drehte sich um und sah das Insekt auf der Scheibe des Schiebedachs sitzen. Es war größer als ihr Handteller, ein schimmerndes Lindgrün mit scharf gezeichneter Umrißmar kierung, die im Neonlicht der Kassenbude weiter hinten violett aufleuchtete. Obwohl sie durch die Scheibe von der Motte getrennt war, schreckte Marjory zurück und erschauderte. »Himmel«, stöhnte sie. »Ich hasse diese Viecher. Ekelhaft, wie sie sich an einen ranmachen.« »Was ist los mit dir?« »Duane... laß es bitte draußen.« »Laß es nur ja draußen«, kam Rita Sues Echo. 125
»Die Larven können zur Plage werden, aber entpuppt sind sie völlig harmlos«, erklärte Duane. »Sie paaren sich und legen Eier; das ist alles.« Habgierig musterte er die Motte. »Diese hier gehört zu einer Sorte, die vor der eigentlichen Saison schlüpft. Das ist an der besonderen Zeichnung zu sehen. So was darf man nicht entkommen lassen. In unserer Gegend gibt's solche Riesenmotten äußerst selten. Sie gehen kaputt an all den Pestiziden und Herbiziden. Aber vielleicht lassen sie sich ja künstlich nachziehen. Ich werde mal versuchen, sie einzufangen...« »Nein«, protestierte Rita Sue. »Davon krieg' ich Alp träume.« Marjory starrte ihre Freundin an. »Hast du etwa auch davon geträumt?« Rita Sue nickte beklommen und biß sich auf die Unterlippe. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?« »Du hättest dich ja doch nur lustig über mich gemacht.« »Aber jetzt mal im Ernst, Rita Sue: Wie hat sie ausgese hen?« Doch die Frage war unnötig. Wie eine jener beschränk ten Vampirfilm-Jungfrauen, die aus dem Bett steigen und das Fenster öffnen, so fixierte Rita Sue das wunderschöne Insekt, das reglos außen auf der Scheibe hockte. »Genau wie die da! Sie sah aus wie eine dicke, alte, grüne Motte.«
Als er mitten in der Nacht den Bretterverschlag verließ, um Wasser zu lassen, wußte er ohne aufzublicken, daß er Gesell schaft hatte. Was ihn darauf aufmerksam machte, waren der kalte Lufthauch und das schillernde, frostige Licht. Bislang war ihm nicht genau bewußt gewesen, an welchem Ort er sich befand. Er wußte lediglich, daß er am späten Abend die Flüsse Cumberland und Harpeth auf der Eisenbahnbrücke überquert hatte. An einer Stelle glaubte er, das 126
Tal wiedererkannt zu haben, in dem die Horsfalls gelebt hatten zusammen mit den Nachbarn Sealock und Oakman sowie einigen anderen Familien. Die Silhouette des Scheunendachs vor dunkelndem Himmel, der Schatten eines alten Baumes auf offener Weide weckten Erinnerungen. Bellende Hunde aber hielten ihn auf Abstand. Auch wenn er Gelegenheit gehabt hätte, in der Baumrinde nach seinen eingeschnitzten Initialen zu suchen, wäre er sicherlich enttäuscht worden - nach all den Jahren; wie viele mochten es wohl sein? Er wußte es nicht. Seit den Ereignissen in Dantes Mühle fehlten ihm klare Erinnerungen an sein Leben. Die Jahre waren wie im Fieber traum an ihm vorbeigezogen. Sein Blut war dünn, Füße und Knie taten ihm weh, und er hatte Zahnschmerzen. Er war alt. Das Herz strengte sich an, pumpte aber nicht kräftig genug, um die Hände warm und das Gehirn wach zu halten. Er war schon lange unterwegs ge wesen, instinktiv in Richtung Westen, als er schließlich ohn mächtig zusammenbrach. Wiederaufwachend starrte er in den aufgehenden Mond. So wie jetzt - mit offener Hose, das Geschlecht in der Hand. Und er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, die morsche, im Dickicht versteckte Hütte verlassen zu haben, auf die er ge stoßen war, herumirrend, nachdem... ja. Es hatte gebratenes Huhn zum Essen gegeben. Dann war er auf ein Zimmer geführt worden, wo er die Nacht verbringen sollte. Daran erinnerte er sich ganz deutlich. Auch an das frische, schöne Bettzeug. Daran, daß er die Schuhe ausgezogen und sich hingelegt hatte. Ein altes Radio dudelte. Was für ein Komfort! Seine Mutter sagte zu ihm... Laß mich gehen. Sie klang gar nicht verärgert über das, was er ihr und allen an deren angetan hatte. Ihre Stimme war weich und liebevoll, als hätte sie sich nach gemeinsamem Spiel an ihre Pflichten erin nert und das Essen auf den Tisch bringen wollen, bevor Vater Enoch vom Feld zurückkehrte. 127
Laß mich gehen, Arne. Immer und immer wieder, geduldig und ohne die Stimme zu heben, redete sie über das Radio auf ihn ein, verzieh ihm... Nein, Mutter! Das kann ich nicht. Ich kann dich nicht gehen lassen. Vater hat gesagt... Sie sagte, daß man ihm, wenn er geschnappt würde, wie ei nem Kaninchen den Balg abziehen würde. Trotzdem war er jetzt hier gelandet. Er hätte dem Mädchen keinen Kummer machen dürfen; sie war so nett zu ihm gewe sen. Er konnte sie zwar malen, hatte aber wieder einmal ihren Namen vergessen. Sie war das schönste Mädchen, das er je ge sehen hatte. So schön wie seine Mutter. Enid. Der Name fiel ihm wieder ein. Enid hatte beim Malen seine ungeschickte Hand geführt, sich nie gesträubt, ihn zu berühren. Wie ver schieden diese Hände: seine wie die Krallen eines Truthahns und ihre... so sauber, rosig und gesund; an den Nägeln kleine Halbmonde — wie der Mond, der nun auf ihn herableuchtete, während das Ding in seiner Hand wundersamerweise steif wurde, wie in all den Jahren nicht, die er in der Anstalt zuge bracht hatte. Er schämte sich, und vor Angst wurden ihm die Knie weich. Wenn du sie liebst, Arne, kannst du sie haben. Ich zeige dir, wie's geht. Ihr werdet euch auf ewig lieben. Aber zuerst mußt du mir einen Gefallen tun. Er zog den Reißverschluß zu und sah sich widerwillig um. Ihre Stimme war so klar; es schien, als habe das Schicksal beide auf der Lichtung zusammengeführt. Nein, er war allein - von den Lunamotten abgesehen. Sie wirkten so fein wie Kir chenfensterengel, doch die Augen glühten blutrot. Sie beglei teten ihn, seit er die Flucht ergriffen hatte, wenn auch nur in der Nacht. Sie tauchten mit den Sternen auf und brachten jene sonderbare Kälte mit, wie er sie schon damals vor vielen 128
Jahren erlebt hatte. Sie hielten Abstand, waren harmlos, wie Motten allgemein, doch all die Augen, die sich auf ihn richte ten, zeugten von seiner Willensschwäche. Du brauchst nicht alt zu. sein, Arne, ausgezehrt und in Atemnot, du hast keine Zeit mehr zu verlieren. Wie bin ich hierhergekommen? dachte er. Wie hatte sie es fer tiggebracht, ihn so weit gehen zu lassen, obwohl er entschlos sen war, nie mehr einen Fuß in jene Höhle zu setzen? (Oh, Daddy, haben wir sie etwa doch nicht stoppen können? Ist womöglich einer von ihnen übriggeblieben und von uns übersehen worden?) Schweigen. Er spürte das Gewicht all der Jahre auf sich la sten, so schwer wie die Bruchsteine auf Enochs Grab: die Last eines Versprechens, das er nicht einzulösen wußte. Zitternd kroch er zurück in die kleine, halb eingefallene Hütte, schlang kauernd die Arme um die schmerzenden Knie und versuchte auszuruhen, versuchte, ihr zu widerstehen. Nur ein Weilchen, Arne. Dann will ich, daß du aufstehst und zu. mir kommst. Noch heute nacht, Arne, heute nacht. Da wußte er, daß sie Kummer hatte. Seine Hände krampften, waren kalt und blutleer. Das Herz mühte sich ab, und trotz der Trägheit im Gehirn kam er dahinter, was die Mutter so bedrückte. Aber noch hatte er die Kraft, ihrem Drängen zu widerstehen, und zwar so - und nur so - wie der Vater ihr wi derstanden hatte: durch den eigenen Tod.
Ein Streifenwagen parkte vor der Veranda, als Marjory eine halbe Stunde vor Mitternacht in die Einfahrt bog. »Auweia«, murmelte Duane Eggleston, dem seit seinem 129
Ausrutscher immer mulmig wurde, sobald die Polizei auf kreuzte. »Keine Angst; ich weiß, wer da gekommen ist. Komm mit rein. Auf ein Stück Kuchen.« »Ich muß noch vor zwölf bei Boyce sein. Das zählt mit zu den Bewährungsauflagen.« »Kein Problem. Der Weg dahin dauert keine fünf Minuten. Wie lange bist du auf Bewährung?« »Zwei Jahre.« Ted Lufford saß im Wohnzimmer und ließ sich ein großes Stück von dem Marmorkuchen schmecken, den Marjory ge stern gebacken hatte. Enid trank Kaffee. Marjory fragte die Schwester: »Na, wie war der erste Tag im neuen Job? Irgend jemand getroffen, den wir kennen?« »Und was hast du so getrieben?« wollte Ted wissen. »Oh, wir haben uns Rio Lobo angesehen.« »Wie war's?« »Sagenhaft. Ich hab' Rotz und Wasser geheult und war an sonsten vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen. Indianer! Büffel! Banditen! Besonders gut fand ich, wie sich das Pferd auf John Wayne gesetzt hat.« »Du flunkerst.« »Nie! Seht euch den Film doch selber an, wenn ihr mir nicht glaubt. Duane Eggleston, das sind meine Schwester Enid und Ted Lufford, der schon fast mit zur Familie gehört. Ted, du siehst Duke Wayne von Tag zu Tag ähnlicher. Vielleicht liegt's am Licht. Du lieber Himmel, ist vom Kuchen nichts übriggeblieben?« »Der beste Kuchen, den du je gebacken hast«, lobte Ted mit vollem Mund. »Hallo, Duane. Hoppla...« »Die Krümel saug' ich morgen weg«, sagte Marjory. »Duane ist aus Franklin und besucht für ein paar Wochen unser Caskey County, um zu erfahren, was Tristesse und Langeweile bedeuten.« »Nett, euch kennenzulernen«, sagte Duane, als Marjory ihn bei der Hand nahm und zur Küche hinauszog. »Deine Schwester ist...« 130
»...eine hinreißende Schönheit? Wolltest du das sagen? Ha, du mußt sie erst mal sehen, wenn sie in Topform ist. Sie war die letzten beiden Tage krank.« »Ein Stück nur, Marjory. Ich krieg' so leicht Pickel. Hast du eine Taschenlampe?« »Klar.« Marjory servierte ihm ein Stück Marmorkuchen und holte eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank. »Wofür?« »Mir gehen gerade die Motten durch den Kopf, die du hier zuhauf gesehen hast. Das ist ziemlich ungewöhnlich.« »Was du nicht sagst.« Marjory schüttete Milch in zwei Gläser, verzichtete aber auf Kuchen. »Ich selbst war mehr als überrascht.« »Lunamotten lassen sich vom Licht anlocken. Unbefruchtete Weibchen ziehen ihrerseits die Männchen an. Hast du am nächsten Morgen tote Motten auf dem Boden gesehen?« »Um ehrlich zu sein: Ich habe gar nicht erst hingeschaut.« »Tja, womöglich sind sie von Eulen gefressen worden, von Skunks oder Waschbären. Weißt du, in Tennessee paaren sich Lunamotten zweimal pro Jahr, und da das Schauspiel hier erst vor wenigen Tagen stattgefunden hat, ist anzunehmen, daß manche der Larven noch verpuppt sind.« »Was soll das heißen?« »Die Larven entpuppen sich und bilden dabei Flügel und Geschlechtsorgane aus. Dann fliegen sie auf, paaren sich und legen Eier.« »Werden wir demnächst etwa noch mehr davon hier rumflattern haben?« »Kann gut sein. Wenn am Boden Kokons mit Puppen zu finden sind, würde ich gerne zwei oder drei mit nach Hause nehmen. Noch bleiben mir ein paar Minuten Zeit. Wenn du mir jetzt die Taschenlampe raussuchen könntest...?« »Na schön.« Marjory war sichtlich ungehalten. Für die Jagd auf Puppen hatte sie nur wenig Verständnis. Sie zog eine Schublade auf. »Hier... die Taschenlampe.« Und obwohl sie 131
sein Interesse ganz und gar nicht teilte, folgte sie Duane nach draußen. Vielleicht ließ er sich ja auch noch für Baseball in teressieren. Das Leben war voller Kompromisse. Der Hof lag dunkel vor ihnen. Duane richtete den Lampen strahl auf den Boden. Marjory berührte mit der Hand seinen Ellbogen und ging neben ihm her. »Warum schwirren sie nur nachts herum?« »Weil sie halt Nachtfalter sind.« »Das überzeugt mich.« »Genau weiß ich es auch nicht. Vielleicht sind sie so vor na türlichen Feinden besser geschützt.« »Sie sind selbst nicht ganz harmlos. Eine hat mich gebissen. Ich könnte dir zeigen wo, tu's aber nicht. Ich hatte nämlich Shorts an, und das Biest flog mir von unten...« »Marjory, Lunamotten beißen nicht. Ihr Mundwerkzeug ist darauf eingerichtet, Nektar zu saugen. Sie können nicht einmal zustechen. Ein paar Raupenarten wie zum Beispiel der Io Spinner besitzen Stachel, die...« »Ich habe immer noch eine wunde Stelle. Das Ding hat mich gebissen; ich schwör's. Es war auf Blut aus. Ich zeig' dir den Fleck, aber vorher müssen wir heiraten.« »Ist der Baum da drüben ein Hickorybaum?« »Huch! Was war das denn?« Marjory machte einen Satz und nahm hinter Duane Deckung. Er schaltete die Lampe aus. Irgendein Tier- groß wie ein Vogel - war geräuschlos auf sie zugesegelt. »Eine Schwarze Hexe, glaube ich. Auch ein Nachtfalter. Sie kommen um diese Jahreszeit aus Mexiko hoch.« Plötzlich blieb er stehen und ließ Marjory auflaufen. »Macht nichts. Hmmm...« »Was ist?« Duane kniete sich auf den Boden, schaltete die Taschen lampe wieder an und stocherte vorsichtig mit einem Zweig durch Laub und Fruchtschalen. Einige der Blätter, die rings um den Hickorybaum verstreut lagen, waren faulende Reste aus dem Vorjahr. Darauf aber befand sich eine Schicht aus fri schen Blättern, an denen vereinzelte Hülsen klebten. 132
»Kokons der Lunamotte«, sagte Duane freudig erregt. »Leider sind sie leer.« Er stöberte weiter; Marjory legte eine Hand auf seine Schulter und schaute ihm zu. Nach einer Weile gab er die Suche auf und stand seufzend auf. Der Lampenstrahl tanzte über Marjorys Gesicht. »Ich muß jetzt gehen.« »Geh doch.« »Marjory...« »Schon gut.« Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Er küßte sie. Marjory hatte immer Großes in eine solche Situation hineingeheimnist und sich bange davor gemacht, stellte aber nun erleichtert fest, daß nicht viel dabei war. Sie fühlte sich ganz schlank und modisch und war beeindruckt. »Duane? Hast du 'ne Freundin?« »Nein. Ich bin mal mit einer gegangen, aber die ist nach South Carolina gezogen.« »Warum hast du mich geküßt?« »Och, nur so.« Marjory lachte nervös. »War's mit demselben Drang, der dich in ein fremdes Auto hat steigen lassen?« »Kann schon sein.« »Aha.« Weil der Lampenstrahl auf ihre Augen gerichtet war, sah sie kaum mehr als tanzende Funken. Sie wußte nicht, ob er schmunzelte. Duane hatte was Besonderes an sich: Vielleicht tat er oft das Verkehrte, aber wenn er sich am Zug wähnte, handelte er, und zwar so gut er konnte. »Willst du, daß ich morgen wieder herkomme?« »Am Nachmittag«, antwortete Marjory. »Morgens hab' ich viel zu tun.« Dann, als er schweigend eine Weile dagestanden hatte, langte sie mit der Hand an seine Wange und führte mit holperndem Herzen ihre Fingerspitzen gleich neben seine trockenen Lippen an seinen Mundwinkel.
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5 Marjory wollte sich zum Schlafengehen fertigmachen, als sie mit Enid zusammenstieß, die, das gewaschene Haar frottie rend, aus dem Badezimmer kam. »Wie war dein Rendezvous?« »Duane stemmt seit einem Jahr Gewichte. Findest du nicht auch, daß er verflixt gut aussieht? Er steht auf Janis Joplin und ist ganz schön clever. Will Zoologe werden oder sich auf Weltraummedizin spezialisieren. Irgendwas in der Art. Im jugendlichen Übermut hat er mal ein Auto geknackt. Wir haben uns geküßt.« Enid schwang einen Fuß übers Geländer, wischte mit dem Handtuch einen Blutstropfen von der Wade, wo sie sich beim Rasieren geschnitten hatte. Mit einem kritis chen Seitenblick auf die Schwester fragte sie: »Warum, Marjory?« »Wir hatten keine Zeit, es nicht zu tun«, antwortete sie und schlurfte wie John Wayne davon.
6 Früh am Morgen wurde er geweckt - vom Sonnenstrahl, der durch einen Spalt in der Bretterwand fiel, von lästigen Mük ken und lautem Vogelgezwitscher. Ohne lange nachzudenken, identifizierte er das rauhe Schnarren mit den Teichrohrsängern und die lieblicheren Töne mit Spechtmeise und Drossel. Seine Glieder zitterten unwillkürlich, die Knochen schmerzten. Ihm war entfallen, an welchem Ort er sich befand. Er wußte nicht einmal, was ihn hierher verschlagen hatte. In der Anstalt war es immer schön warm. Im Winter zisch ten und blubberten die Heizkörper. Manchmal schliefen auf seinem Zimmer bis zu sechs Patienten, in der Regel aber wa ren es bloß drei oder vier. Im Raum stand eine Kommode mit sechs Schubladen; sie war aus einem Metall gebaut, das wie 134
Holz aussah. Die Bettwäsche wurde zweimal in der Woche ge wechselt oder auch dann, wenn jemandem ein Malheur pas siert war. Auf jedem Bett lag eine Decke. Tränen liefen ihm über die Backen. Er zitterte, und im Hals kratzte es. Er vermißte seine Decke und die Anstaltsroutine, obwohl es dort nie viel zu tun gab. An einem Tag in der Woche schrubbte seine Gruppe den Boden, an einem anderen die Toiletten. Frühstück gab es immer um halb acht, Mittagessen um halb zwölf und Abendessen um halb sechs. Am liebsten mochte er Zimtbrot zum Frühstück, doch das bekam er nur sonntags. Jeden Mittwoch wurde mittags Sahnegeschnetzel-tes aufgetischt. Chili-Fladen — die waren nicht sein Fall; seine Portion tauschte er immer mit Rooney gegen einen Apfel oder eine Apfelsine. Aber der Freitag war der schönste Tag; dann nämlich backte Mutter immer zwei Kuchen mit Äpfeln, Kirschen, Heidelbeeren -je nachdem, was gerade... »Uuuuhhhmm«, ächzte er, und dunkler Schleim sprudelte ihm aus dem Mund, als er sich aufmühte. Er achtete nicht auf die Schmerzen in den arthritischen Knien. Es schwindelte ihn, und vor den Augen blitzten grelle Punkte auf, heller als das Sonnenlicht, das durch die Hütte strömte. In den Ohren rauschte es wie Sand auf Glas. Fast wäre er ohnmächtig zu sammengesackt, doch er klammerte sich, wie an schroffer Klippe hängend, am gemauerten Rauchfang fest, bis sein Ge hirn, seit Jahren mit Drogen vollgestopft, den alternden Körper wieder unter Kontrolle brachte. Neurochemische Wirkstoffe reagierten auf die drohende Krise, weckten aber auch Gehirnzonen, die mit vegetativen Funktionen nichts zu tun hatten. Arne hörte seinen Hund bellen. Draußen vor der Hüttentür sah er ganz deutlich die Hügel und Felder von Zuhause. Er sah seine Mutter, die Schürze voll Korn, beim Füttern der Hühner. Er sah den Vater die geradesten Ackerfurchen westlich des Cumberland Rivers ziehen. Weinend humpelte er zur Tür und fand sich in einer kalten, feuchten Höhle zweihundert Meter unter der Erde wieder. Beleuchtet war der Gang von den Ausstrahlungen riesiger Lunamotten, die zu Tausen 135
den an den Wänden klebten. Der Hund bellte. Arne drehte sich um und blickte über eine staubige Straße unter rotem Sonnenlicht. Hawkshaw lag im Staub; Blut sprudelte aus auf geschlitzter Kehle. Du kommst auch noch dran, sagte die Mutter und erhob eine Hand - schwarz wie Dornen, biegsam wie eine Peitsche -, langte aus, um ihn zu fangen... Ich geb' dir meinen Apfel für deinen Chili-Fladen, sagte der alte Rooney. Das sagte er jeden Donnerstagabend seit x Jahren. Arne wandte sich um, um den Apfel entgegenzunehmen, und blickte in die entseelten Augen seines Vaters, der einen Stein aus dem Fluß gefischt hatte, den er ihm nun reichte. Für mein Grab, Arne. Wieder fing Hawkshaw zu bellen an. Arne hörte Stimmen. Die Morgensonne brannte in den Augen; in den Ohren win selte es unablässig. »Komm zurück!« Die Stimme einer jungen Frau. Arne spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Er empfand Freude, gleichzeitig aber auch Verzweiflung. Es war Enid, und sie grollte, weil er weggelau fen war, obwohl er dafür selber nichts konnte. In seinem gan zen Leben gab es keinen Vorfall, den er zu verantworten hätte. Und wie tief steckte er im Elend! Er mußte schnellstens ein neues Versteck finden. Sie würde als erstes in der Hütte nachsehen und ihn in sich zusammengekauert entdecken. Selbst wenn sie ihn zur Anstalt zurückbrächte, würde er wahrscheinlich nicht mehr aufgenommen werden. Bestimmt hatte mittlerweile ein anderer sein Bett belegt, die Kommo denschublade vollgestopft und seinen Platz in der Gruppe ein genommen. Fußbodenschrubben montags und donnerstags. Dienstags und samstags Toilettendienst. 136
Ein schriller Pfiff, der schmerzhaft in den Ohren widerhallte ... »Ich bin es leid, dir hinterherzulaufen. Bleib doch, wo du bist. Wohl bekomm's!« Ein Hündchen rannte auf die kleine Lichtung hinaus und blieb jäh stehen, als es Arne erblickte. Ein Beagle, schwarz und sandfarben. Ein Spürhund. Er richtete den Schwanz auf, ließ den Hals schwellen und fing zu kläffen an. Arne wich zurück, nicht wegen des Hundes, sondern weil er Enid kommen hörte und zwar in Begleitung. Dabei war auch die kräftig gebaute, blonde Schwester, die aus irgendwelchen Gründen Angst vor ihm gehabt hatte. Er kroch hinter die tiefhängenden Zweige eines Sumach baums, um nicht gesehen zu werden. Der Beagle wich nicht von der Stelle; er zitterte und knurrte heiser. Ein Mädchen schlug sich durchs Gebüsch, gefolgt von einem sommerspros sigen Jungen. Beide stürzten auf den Hund zu. »Blöder Köter«, schimpfte das Mädchen, als es den Beagle beim Halsband gepackt hatte. Der Junge wischte ihm eins mit der Hundeleine aus. »Dir werd' ich's zeigen, jedem Eichhörn chen nachzujagen. Das Frühstück ist für dich gestrichen. Bis zum Abend müssen wir in Texarkana sein. Verstanden, Gumshoe?« Arne rührte sich erst, als die beiden weg waren. Seine Klei der waren in schlimmem Zustand, die Schuhe voll Dreck. Zimtbrot. Der Magen rumorte, das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Seit seiner Flucht hatte er nichts als Früchte ge gessen, ein paar Nüsse, die er gefunden hatte. Die Schreckens visionen waren verblaßt, aber sein Herz pochte wie wild. Er lauschte, hörte den Jungen und das Mädchen davonziehen, und was da an sirrenden Lauten zu vernehmen war, wußte er nun zuzuordnen. Sie stammten von Lkw-Reifen, die über den Asphalt rollten. Ganz in der Nähe tröpfelte Wasser. Er hörte ein Radio, das Hupen eines Autos. Eine belebte Straße schien nicht weit zu sein. Er mußte vorsichtig sein, um nicht entdeckt zu werden. Du kennst sie nicht, warnte ihn der Vater. Nicht einen von ihnen kennst du. Also bleib weg. 137
Arne sah sich um. Sein Vater hockte vor einem gefallenen Baum, den linken Arm aufgestützt. Das Handgelenk - ein schwarz verrußter Stumpf. Mit der Rechten hielt er das Beil gepackt. Die eine Gesichtshälfte schillerte wie ein Fliegen schwarm auf totem Fleisch. Arne schlug die Hände vors Gesicht, krallte die Fingernägel in die Kopfhaut, bis sie blutete. Er konnte nicht hinsehen, konnte nicht schreien. Seine Kehle fühlte sich an wie ein aus getrockneter, mit Steinen verstopfter Brunnen. Die Zunge war längst wieder verheilt. Trotzdem sprach er nicht, was ihm von Woche zu Woche leichter fiel; ja, er vergaß sogar, daß er jemals hatte sprechen können. Als er die Hände zu senken wagte, sah er eine Wolfsspinne auf dem Baumstamm sitzen, vor dem der alte Enoch gehockt hatte. Arne versuchte aufzustehen, ergriff, was in Reichweite war, um sich daran hochzuhangeln. Der Instinkt trieb ihn auf die Suche nach Wasser. Er hörte es über Felsen tröpfeln. Als der Durst gestillt war, folgte Arne dem kleinen Rinnsal bergab. Die Beine zu bewegen war besser, als sitzenzubleiben und von Wahnvorstellungen heimgesucht zu werden, Bilder zu sehen, die er nie wieder sehen wollte. Durch einen Felsspalt fiel sein Blick auf die breite Auto bahn, über die ein Lastwagen nach dem anderen rollte. Die Windschutzscheiben spiegelten grell das Sonnenlicht. Aus der Entfernung war gut zu sehen, wie ein grauer Abgasschleier über der Straße hing. Kein Lüftchen regte sich. So früh es war, stieg die Temperatur schon merklich an. Arne kam an einen Schotterweg, der stark befahren schien, hörte ein Auto kommen und ging in Deckung. Da rollte ein Kleintransporter herbei, einen Wohnwagen im Schlepptau, der fast so groß war wie das Haus, in dem er als Junge gelebt hatte, und auch wie ein Haus aussah mit Fenstern und einer Tür. Aus dem Fernsehen waren ihm solche Wohnwagen schon vertraut, und doch wunderte er sich über die Ausmaße dieses einen, der an den Zweigen der Bäume links und rechts der Straße vorbeistreifte. Arne mußte husten und niesen, so dicht wirbelte der Staub auf, der lange brauchte, um sich wieder zu 138
legen. Als er wieder befreit atmen konnte, ging er weiter durch den Wald entlang der Straße. Wenig später sah er die glitzernde Oberfläche eines Sees durchs Gehölz schimmern. Davor eine große Lichtung, ein Campingplatz auf erhöhtem Ufer. Autos, Boote, Karavane, Wohnmobile. Zwischen hohen Bäumen ein paar Zelte. Auch ein Holzhaus war zu sehen, davor eine lange, überdachte Ter rasse und zwei Fahnenstangen. Er hörte Radiomusik und roch gegrillten Speck. Drei Kinder spielten mit einem tellerartigen Ding, das durch die Luft segelte. So was hatte er auch schon im Fernsehen gesehen. Die Kinder stellten sich sehr geschickt an. Der gelbe Teller schwebte wie schwerelos knapp über dem Boden dahin. Auf dem Platz war auch ein Hund, groß wie ein Wolf, mit dem Namen Rin-Tin-Tin, so wie der Rüde aus Arnes liebster Fernsehsendung. Dieser Rin-Tin-Tin hing an einer Kette und biß auf einem Knochen herum. Arne war weit genug entfernt, um von dem Hund nicht wahrgenommen zu werden. Eine grauhaarige Frau in karierter Hose nahm Speck und Schinkenstreifen vom Grill und rief die Kinder zum Frühstück. Arne massierte den eingefallenen, von Früchten übersäuerten Bauch und sah sich um. Da standen vereinzelt hölzerne Hinweisschilder mit eingebrannten Buchstaben. Pfeile zeigten in verschiedene Richtungen. Arne konnte gut lesen, wovon das Anstaltspersonal keine Ahnung hatte. Zwar war er nur drei Jahre zur Schule gegangen, aber er hatte mit Hilfe des Fernsehens, das im Aufenthaltsraum stand, seine über lange Zeit vernachlässigten Fähigkeiten langsam aufbessern können. Er bewegte die Lippen und formulierte die Wörter. Die Haare im sonnenverbrannten Nacken prickelten. Endlich verstand er, was dort geschrieben stand. DANTES MÜHLE ÖFFENTLICHE PARKANLAGE
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Vögel zwitscherten in den Bäumen. Ein Kind lachte; aus dem Radio tönte Country-Musik. Ein Auto mit Wohnwagen rollte vom Platz hinaus auf die Straße. Auf dem Ast einer Kastanie entdeckte Arne ein rotes Eichhörnchen mit zitterndem Schweif. In einem Sonnenstrahl schwirrte ein Karussell von Schmetterlingen. Auf einem Holzschild neben der Straße sah Arne einen Pfeil eingeschnitzt, der die Richtung angab, in die er gehen mußte. Auf dem Rastplatz jenseits der Straße krochen gerade ein Junge und ein Mädchen aus ihrem Zelt; sie trugen die gleichen Sachen: kurze, beigefarbene Hosen und Hemden ohne Ärmel. Ein Handtuch um den Hals geschlungen, spazierten sie auf das Waschhaus zu. Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren, über querte Arne die Straße und schlug sich sogleich ins Gebüsch. Im Zelt, das die beiden verlassen hatten, dudelte Radiomu sik. Andere Camper waren nicht zu sehen. Er spähte ins Zelt und sah das Radio auf einem kleinen Klappstuhl stehen. Arne hatte große Angst, war aber ent schlossen, das Radio an sich zu nehmen. Es bedeutete ihm mehr als alles andere, und obwohl er sich dem Willen seiner Mutter zu widersetzen versuchte, brannte er darauf, ihre Stimme zu hören. Niemand hatte ihn gesehen, keiner wußte oder kümmerte sich darum, daß er hier war. Arne langte mit dem Arm ins Zelt und stahl das Radio. Es wog schwerer als gedacht; fast wäre es ihm aus der Hand gefallen. Außerdem hatte es so viele Knöpfe und Tasten, daß er nicht gleich wußte, wie die Lautstärke abzustellen war. Das versetzte ihn in Panik. Wenn die beiden vorzeitig zurückkämen und das Radio vermißten, würden sie seiner Spur durch den Wald folgen können. Die Beine versagten ihm eine schnelle Flucht. Der junge Mann war muskulös und würde ihn wahrscheinlich verprügeln. Arne stand hinter einem Baum und fummelte verzweifelt an den Knöpfen herum, und obwohl er das Radio nicht abschalten konnte, gelang es ihm immerhin, eine Einstellung zu finden, die zwischen zwei Sendern lag und leise war. 140
Dann steckte er das Radio unters Hemd und verzog sich in den Wald. Der Diebstahl, die Angst und die panische Flucht verlangten Tribut. Kaum war der Campingplatz außer Sicht, verkroch er sich in einem Rhododendronbusch, unfähig, einen weiteren Schritt zu tun. Nahebei hämmerte ein Specht auf totes Gehölz. Arne legte das statisch knackende Radio in den Schoß, starrte darauf und sehnte sich nach dem Klang ihrer Stimme. Im Schlafzimmer von Enids Haus hatte sie noch mit ihm gesprochen. Warum sollte sie es nicht auch jetzt tun? Die Sonne stieg am Himmel. Seine Gedanken schweiften ab. Nach drei, vier Stunden waren die Batterien des Radios verbraucht. Arnes Sinne erstarrten. Arme und Beine zuckten. Die Augen waren halb geöffnet, doch hatte er den Kontakt zum Hier und Jetzt verloren. Sein Geist weilte woanders. Arne, steh auf! Wir gehen. Schläfrig blickt Arne auf. Die zerbissene Zunge schmerzt un erträglich. Das Feuer ist herabgebrannt, der Mond unterge gangen. Morgendämmerung. Der Vater steht schon auf den Beinen. Arne wittert Gefahr und Tod so deutlich wie jedes Tier. Vehement schüttelt er den Kopf. Ich brauche dich, Arne. Ohne deine Hilfe schaff ich's nicht. Nimm das Rankenbündel und... Arne reißt den Mund auf, doch sein Schrei bleibt stumm. Am Kinn klebt getrocknetes Blut. Erschaudernd zuckt er zusam men, als der Vater neben ihm in die Knie geht. Tränen. Enoch benäßt die Finger der heilen Hand mit dem Wasser seiner brennenden Augen und versucht, das Blut vom Gesicht des Jungen zu wischen, ihn zu trösten. Aber wir müssen es tun. Nicht nur uns, sondern auch ihr zum Gefallen. Verstehst du denn nicht? 141
Er schüttelt den Kopf, muß selber weinen. Komm. Unterwegs erklär'ich dir alles. Ich sag' dir ganz offen, wassie getan hat... was sie mir angetan hat und dir antun wird, wenn du ihr Gelegenheit dazu gibst. Ame, uns bleibt keine andere Wahl. Glaube mir. Ich würde es gern anders wollen... aber nein, für sie gibt es keine Hoffnung mehr.
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AUGUST 1906
Enochs Geschichte
»Natürlich, sie hatte schwer unter Husten gelitten, was die Sache zumindest teilweise erklärte, ich meine, daß Birka sogar mir gegenüber merkwürdig war, auch als es ihr dann endlich wieder besser ging. Allerdings wäre ich damals nie auf den Verdacht gekommen, daß ihr ein unreiner, verfluchter Geist nahe getreten ist. Wie hätte ausgerechnet ich darauf kommen sollen, daß sie in ihrem Herzen verführt worden und deshalb nicht mehr in der Lage war, mich zu lieben? Tut mir leid; was in der Bibel steht, hat mir nie jemand beigebracht; aber jetzt ist es zu spät, Versäumnisse zu bedauern. Ja, du kennst die Geschichten viel besser; dafür hat Birka gesorgt. Eins weiß auch ich: In der Heiligen Schrift heißt es an einer Stelle, daß Verführer auftreten und eine andere Botschaft verkünden werden, daß sie uns einzureden versuchen, ihre Folter wäre eine neue Art von Paradies. Wer deine Mutter verführt hat, will ich dir sagen: Theron ist sein Name. Ich will dir erzählen von der Kraft seines unreinen Geistes, dann verstehst du auch, warum sein zweiter Name Folter ist.« (Mit rauher und leiser Stimme sagt er das zu seinem Sohn. Die beiden sind, seit sie ihr letztes Lager verlassen haben, noch keine halbe Meile weit gekommen, und schon weiß sich Enoch kaum mehr auf den Beinen zu halten. Arne versucht, ihn zu stützen, ihn am Fallen zu hindern, hat aber ohnehin schon schwer genug zu tragen an der Ausrüstung und dem sperrigen Bündel aus Würgerfeigen. Das Frühstück war dürftig, und die lädierte Zunge ist so sehr angeschwollen, daß er kaum kauen konnte. Er hat schrecklichen Durst, ist wie ausgedörrt; trotzdem fließen die Tränen in Strömen. Als sie eine Rast einlegen müssen, der Vater die Augen schließt und den Kopf hängen läßt, redet Arne verzweifelt auf ihn ein, um zu verhindern, daß er einschläft. Entsetzt registriert der Junge, daß der Vater am ganzen Körper fiebrig glüht und sich, ohne es selbst zu wissen, eingenäßt hat.) 143
»Tja, sie fing plötzlich im Schlaf zu reden an, und zwar in ihrer Muttersprache, von der ich nur ein paar Brocken verstehe, mehr nicht. In der Sprache hab' ich sie bis dahin nur damals während der zwei Wochen reden hören, als wir in Maine wa ren, um zu heiraten; genauer gesagt, in Zipporah, sechsund zwanzig Meilen von Portland entfernt, wo mein Bruder im Krankenhaus lag, nachdem er bei dem Fährbootunglück so schreckliche Verbrennungen hatte hinnehmen müssen. Wie dem auch sei; deine Mutter redete im Schlaf, drei oder vier Nächte nacheinander. Dann stand sie jedesmal auf und ging nach draußen. Ich dachte, sie hätte irgendwelche Probleme und müßte deshalb auf den Abort. Aber sie kam und kam nicht zurück. Ich kann tief und fest schlafen, wenn Birka neben mir liegt, aber wenn die andere Betthälfte leer ist, mach' ich mir Sorgen. Als sie in der zweiten Nacht so lange wegblieb, bin ich ihr gefolgt. Das Aborthäuschen war leer, aber das Scheuncntor stand sperrangelweit offen. Sie lungerte da im Dunklen herum und gab diese fremdländischen Jammerlaute von sich. Sprach sie doch tatsächlich mit der verdammten Kiste! Ich kann dir sagen, mir standen die Nackenhaare ab wie Igelstacheln. Ich rief ihr zu, doch sie reagierte nicht; und als ich sie in den Hof zerrte, wehrte sie sich wie der Teufel.« (Den Jungen schauert es angesichts der Vorstellung, daß zwischen den beiden Menschen, die er am meisten liebt, angeblich so viel Gewalt herrscht. Er blickt auf die faulenden Stellen an der Wange des Vaters und berührt sie mit den Fingerspitzen. Enoch zuckt aufheulend zusammen, stößt den Sohn mit einem heftigen Armschlag zurück und steht auf. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, schlurft er weiter und murmelt vor sich hin. Arne hat keine Mühe, ihn einzuholen, hält aber Abstand aus Angst vor dessen Wut und ist zugleich besorgt, der Vater könnte nun endgültig zusammenbrechen. Jedes Pferd würde sich an Enochs Stelle zu Boden werfen und nicht mehr von der Stelle rühren.) »Bevor ich sie ins Haus schaffen konnte, fiel sie in Ohnmacht. Ich hab' sie reingeschleppt, aufs Bett gelegt und bin dann auf die Idee gekommen, sie festzubinden, um sicherzugehen, daß 144
sie nicht wieder davonläuft. Denn mittlerweile waren ihre Au gen wieder offen, und sie sah mich wütend an. Sprechen tat sie nur in dieser fremden Sprache. Obwohl ich nichts verstand, war mir klar, daß sie auf mich fluchte. Hätte ich sie gewähren lassen, wärst du von dem Gezeter womöglich noch wach ge worden. Also knebelte ich ihr den Mund zu und hoffte, daß sie an der eigenen Zunge nicht ersticken würde. Als ich damit fer tig war, nun ja... richtig ohnmächtig geworden ist sie nicht; die Augen standen noch offen. Sie lag einfach bloß still da. Himmel, ich hab' sie seitdem nicht mehr bei Verstand gesehen. Du verzeihst mir doch, was ich getan habe, oder? Daß ich deine arme Mama gefesselt habe? Ich schwör' dir, was anderes ist nicht passiert. Du verzeihst mir doch, nicht wahr?« (Enoch hat seine kräftige rechte Hand auf Arnes Schulter gelegt und drückt zu - ein wenig nahe am Hals, so daß der Junge fast würgen muß. Der Stumpf des amputierten Arms schwebt dicht vor Arnes Gesicht; er riecht das verkohlte Gewebe, die im Knochen steckende Fäulnis, der das Brenneisen nichts anhaben konnte. Ihm wird übel. Der Vater läßt ihn los, und der Junge sackt vor seinen Füßen zusammen. Zitternd und unfähig, den Kopf zu heben, hört er den Alten sagen:) »Ich hab' Hob-Nob gesattelt und will, daß du jetzt aufstehst und zu deinem Großonkel Carl reitest. Frag ihn, ob er uns seine Schrotsäge ausleiht. Er wird dir anbieten, die Nacht über bei ihm zu bleiben. Das kannst du tun, denn Hob-Nob schafft den Rückweg kaum am selben Tag.« (Müde und voller Sorge sieht sich der Junge um, als erwarte er, das kastanienbraune Pferd gesattelt vorzufinden, erinnert sich aber dann: Ach, nein, ich bin ja schon geritten. Fast die gesamten fünfzig Meilen hoch nach Lang Cane ist er geritten, um die Schrotsäge zu besorgen, die sein Vater ebensogut bei den Oakmans aus der Nachbarschaft hätte ausleihen können. Doch Fragen stellte Arne nicht; es schmeichelte ihn zu sehr, daß der Vater ihm das beste Pferd für einen so weiten Ritt anvertraute, und außerdem war er voller Vorfreude auf den Besuch und die Möglichkeit, seine rothaarigen Vettern wiederzusehen. So begeistert 145
war er, daß er nicht bemerkte, wie ungewöhnlich sich der Vater verhielt, der jeden Handgriff seines Sohns kontrollierte und, als er schon losgeritten war, im morgendlichen Dämmerlicht eine weite Strecke nebenherhinkte, bis er schließlich den Arm ausstreckte, Arnes Hand drückte und Hob-Nob einen Klaps auf die Kruppe gab. Als Arne ihn das nächste Mal wiedersah... ... nein, Augenblick! Da ist noch mehr, was er nicht gehört hat und wissen will: Er steht auf und nimmt den Vater bei der Hand, hält und führt ihn, als wären die Rollen vertauscht; er, Arne, als Vater und Enoch, das Kind. Nur nicht auf der Stelle verharren und dem Vater in die leeren Augen schauen müssen, die schon wie vom Tod überschattet zu sein scheinen. Weitergehen. Bis der Bergrücken jäh abfällt und in der Ferne der schlichte, weiße Kirchturm von Dantes Mühle aus Bodennebel aufragt, und das sechs Meter hohe, in seinem Gerinne kreisende Wasserrad sichtbar wird und Hunde bellen. Ein Hahn kräht. Um gemelkt zu werden, meldet sich brüllend eine Kuh. Keine menschliche Stimme ist zu hören, nur die des Vaters, der so plötzlich und laut zu sprechen anfängt, daß Arne vor Schreck zusammenfährt.) »Ich hab' dir noch lange nachgeblickt und bin anschließend direkt in den Stall gegangen. Es war sehr kalt darin, Arne. Kalt wie zu Weihnachten, kalt, wie's sein wird unter der Erde, wo wir auch irgendwann hin müssen, denn da stecken die anderen tagsüber, da leben sie. Wie auch deine Mutter. Aber was ich sagen wollte, ist folgendes: Ich mußte Handschuhe anziehen, um die Kiste auf den Wagen zu hieven. Warum sie so kalt war, an einem Sommermorgen zumal... darauf weiß ich keine Antwort. Ich hab' auch keine Erklärung für das, was zuvor oder seither passiert ist. Du mußt mir einfach glauben, bis du mit eigenen Augen siehst... Nun, mir war nur eines klar: Ich mußte die Kiste vom Hof verschwinden lassen und im Wald vergraben, wo sie keiner finden kann. Und das habe ich getan. Bin mit dem Karren quer durch Coachmans Grund bis zu den Hügeln und tief in den Wald gefahren, wo kein Weg 146
mehr hinführt und das Gehölz so dicht steht, daß Öl' Vol nicht weiter konnte. Mit Hacke und Schaufel hab' ich eine Stelle freigelegt und vier Stunden fast ununterbrochen ein Loch für die Kiste ausgehoben. Und die ganze Zeit über hab' ich mich gefragt: Was steckt da wohl drin? Was hat Birka so durcheinandergebracht? Aber einen Blick reinzuwerfen, hab' ich mich nicht getraut. Das ist die reine Wahrheit. Dabei war die Kiste gar nicht mehr so kalt, was vielleicht daran lag, daß ich die abgehauenen Äste auf den Deckel geschichtet hatte. Birke, Holunder und Eiche. Es scheint, ich hab', ohne zu wis sen warum, das Richtige getan.« (Sonne. Die Bäume wiegen sich im sanften Morgenwind. Waldvögel singen. Arne hört einen wilden Truthahn unweit kollern. Wasser läuft ihm im Mund zusammen. Gebratener Truthahn. Wie ein glühendes Stück Kohle brennt der Hunger im Magen, aber er ist zu verzagt, um nach Eßbarem Ausschau zu halten. Fürs Gewehr sind nur noch wenige Patronen übriggeblieben. Vielleicht kann er im Dorf mehr davon bekom men. An Geld mangelt es nicht; er hat genug, um eine neue Flinte zu kaufen. In seinem Talisman-Beutel stecken fünf Golddollars, ein Taufgeschenk von der Großmutter aus Maine, das er bislang streng gehütet hat. Vielleicht kann er auch etwas zu essen kaufen unten in Dantes Mühle. Dort ist er noch nie gewesen. Aber Vater sagte... Arne blickt auf das Dorf, auf den in der Sonne glitzernden Teich, den schäumenden Wasserfall über dem Felsdamm bei der Mühle mit dem spitzen Giebel. Es muß auf neun Uhr zugehen, dennoch ist keine Menschenseele zu sehen. Der Wind streicht kitzelnd durchs Stirnhaar. Der Vater hat sich erschöpft auf den Boden fallen lassen; er atmet schwer durch den Mund, und aus den Augen blickt es hohl. Dem Jungen tun Schultern und Rücken weh. Die Blätter fangen zu trocknen an. Auf Patronen kann er verzichten. Er würde auch nicht des Essens wegen hinunter ins Dorf gehen, selbst wenn er vor Hunger sterben müßte. Das stille Dorf ängstigt ihn so sehr.) »Das Schaufeln hat mich fix und fertig gemacht, das sag' ich dir. Als das Loch tief genug war, brauchte ich nur noch die Ki ste zu versenken und Erde draufzukippen. Anschließend 147
wollte ich auf direktem Weg nach Hause gehen. Aber irgendwas hielt mich zurück. Angst hatte ich keine mehr. Immerhin handelte es sich bloß um eine Kiste, die zu vergraben war. Ich ließ mir zum Verschnaufen noch ein paar Minuten Zeit und dachte: Schau doch mal rein in die Kiste, dann hat die liebe Seele Ruh, und du kannst dir den Spuk endgültig aus dem Kopf schlagen. Schaden wird's bestimmt nicht. Also langte ich zum Brecheisen. Für den Fall, daß es zu schwer sein würde, den Deckel aufzustemmen, wollte ich mich nicht lange abmühen und gleich die Erde drauf schaufeln. Aber es war ganz einfach; eine Schreibtischschublade hätte sich nicht leichter öffnen lassen. Es schien, als wäre der Deckel schon einmal abgenommen worden. Vielleicht hat Birka... aber wie hätte sie das schaffen sollen, schwächlich, wie sie durch ihre Krankheit war? Wie dem auch sei, ich setzte das Eisen an, und schon flog der Deckel ab. Ich sah hinein und... oh, mein Gott.« (Während der Vater spricht, wird dem Jungen eiskalt. Er zittert und weiß, daß er es ist, der Schuld hat an allem, was passiert ist. Hätte er doch bloß die Finger von der Kiste gelassen...) »Es war schon dunkel, als ich zu Hause ankam. Birka lag im mer noch gefesselt auf dem Bett. Sie rührte sich nicht, sah mich aber mit offenen Augen an. Als ich mich zu ihr auf die Bettkante setzte, fing sie an zu weinen. Also hab' ich ihr die Hände und Füße losgebunden und den Knebel vom Mund entfernt. Ihre erste Frage war: >Hast du es getan?< Und ich antwortete: >Es ist getan.< Dann erzählte sie mir, was Sache ist, wer dahintersteckt: arme Teufel nämlich aus der Zeit der Schöpfung vor viertausendundvier Jahren, Evas Kinder, denen Gott die Hölle heiß gemacht hat. Deine Mutter wollte von mir wissen, ob ich die Ranke am Hals des schwarzen Mannes berührt hätte. Natürlich nicht, und ich hab' ihr gesagt, daß ich kein Wort mehr darüber verlieren würde. Tja, danach... danach haben wir getan, was Männer und Frauen so tun, wenn sie verheiratet sind; wahrscheinlich haben wir's getan, 148
und ich glaubte, endlich müde genug zu sein, um gut schlafen zu können. Aber ich wachte auf, als es noch dunkel war. Öl' Vol schnaubte, und der Wagen rollte knarrend ganz langsam am Fenster vorbei. Ich sprang aus dem Bett und sah Birka auf dem Kutschbock sitzen. Auf mein Rufen hin hob sie bloß die Peitsche und drosch auf Öl' Vol ein. Wütend, wie ich sie noch nie erlebt habe, trieb sie den Gaul an, der so schnell davon jagte, daß ich fürchtete, er würde nach kurzer Strecke den Geist aufgeben. Ich sah mich nach meinen Stiefeln um, konnte sie aber nirgends finden; meine Sachen auch nicht. Birka hatte jeden Fetzen von mir mitgenommen. Das konnte mich allerdings nicht aufhalten. Nackt wie am Tage meiner Geburt rannte ich deiner Mutter nach.« (Im Gebüsch zur Rechten raschelt es bedrohlich. Dem Jungen stellen sich die Nackenhaare auf; er greift zur alten Winchester und den verbliebenen Patronen. Der Vater ist arglos, in sich versunken. Seine Augen sind gerichtet auf einen Adler, der am Himmel kreist; der Mund steht offen, und die Halsmuskeln schwellen beim Versuch, einen neuen Auftrag an Ame in Worte zufassen. Arne öffnet den Verschluß, steckt eine 22er Patrone in den Lauf und klappt vorsichtig die Büchse zu. Die zweite, allerletzte Kugel hält er in der verschwitzten Faust gepackt. Es raschelt noch immer. Neben dem Vater kniend, späht er angestrengt ins Dickicht aus Lorbeer, Jasmin und jungen Schlingpflanzen, die um einen modernden Baumstamm ranken. Kleine Finken flattern aus ihrem Versteck wie dunkles Schneetreiben. Von dort droht Gefahr; sie kommt näher...) »Ich hätte ihr nicht verraten dürfen, wo die Kiste vergraben ist. Ihr Vorsprung war groß, aber sie hetzte Öl' Vol so sehr, daß er, wie ich vorausgeahnt hatte, zu Schaden kam. Ich sah den Wagen neben der Straße, nahe dem Grab. Der Gaul hing leblos im Geschirr, mit Schweiß und Blut bedeckt. Meine Füße waren inzwischen so wund, daß ich nur noch hinken konnte. Immerhin fand ich meine Kleider auf dem Wagen, die Stiefel auch. Doch die paßten nicht mehr über die geschwollenen Füße. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, und ich 149
folgte Birkas Spur in den Wald. Obwohl sie die Stelle, an der ich gegraben hatte, nicht genau kennen konnte, war sie gera dewegs draufzugesteuert. Vielleicht haben ihr die Motten den Weg gewiesen, die nach wie vor herumschwirrten, oder die kalte Luft, die aus der Senke herüberwehte. Ringsum war alles gefroren. Der Erdhaufen, den sie beim Freischaufeln des Sargs aufgeworfen hatte, war mit Rauhreif überzogen. Der Deckel lag neben der Kiste, und die war leer bis auf das Bett aus Sägespänen und der verdörrten, entzweigeschnittenen Würgcrfeige. Birka lag auf dem Rücken und hielt immer noch die Schau fel mit einer Hand gefaßt. Ihre Haut war leichenfahl und blau an den Stellen, wo sich die Knochen abhoben. Ich wagte es nicht, sie zu berühren, kalt wie sie war. Sie atmete noch, aber so flach, daß ich es anfangs nicht bemerkte, Mir war klar: Ich mußte sie nach Hause schaffen und ins heiße Bad stecken, an sonsten...« (Der Junge hört kaum noch zu; seine Sinne sind voller Angst auf das Dickicht gerichtet, in dem ein unsichtbares Tier herumstampft, Zweige knacken laßt und im Näherkommen wie jener dampfgetriebene Traktor klingt, den Arne einmal auf der Straße nach Nashville gesehen hat. Er nimmt die Flinte in Anschlag, legt den Finger an den Abzug und denkt bangend daran, wie klein die Kugel doch ist, viel zu harmlos als Not wehr gegen den Schrecken, der sich zu zeigen droht. Das linke Augenlid des Jungen flackert, der Atem kratzt im Hals, und sein Penis zuckt. Hinter ihm liegt der hilflose Vater; Reißaus zu nehmen, kommt nicht in Frage.) »Die nächste Farm war zwei Meilen entfernt, ein verkomme nes Gehöft, nicht mehr als eine Ruine, bewohnt von einem alten Ehepaar; er mit Rheuma, so schlimm, daß er sich nur mit Krücken bewegen konnte. Sie war noch recht rüstig, ein klei nes Persönchen, das mich an meine Mutter erinnerte. Diese Augen, kalt wie Nagelköpfe, die dich bis ins Mark gefrieren lassen. Der Himmel sei ihr gnädig; sie hat nicht lange Fragen gestellt und Wasser auf dem Ofen heiß gemacht, um Birka in 150
die Wanne zu stecken. Die Alte schrubbte deine Mutter mit einer Bürste durch, die einem abgebrühten Schwein die Haut abgezogen hätte, aber für Birka war's genau das Richtige. Nach und nach bekam sie wieder Farbe. Wir gaben ihr heißen Tee zu trinken. Schließlich machte sie die Augen auf und sagte ein paar Worte, die aber keinen Sinn ergaben, weil sie wieder diese verfluchte Sprache gebrauchte. Aber immerhin, sie sprach nun wieder. Dann legten wir sie ins Bett. Ich hielt den ganzen Tag neben ihr Wache und war selber mit meinen Kräften so sehr am Ende, daß ich mich weder rühren noch einen Happen essen konnte. Später dann... o, mein Gott! 0 nein! Schieß! Schieß, Arne!« (Aufgeschreckt vom Schrei des Vaters, läßt Arne die Flinte krachen, ohne das Ziel erkannt zu haben. Er sieht nur einen Schatten, eine schwarze Gestalt mit dem Kopf eines Bären und Armen aus rohem Fleisch, gebaut wie ein Mensch und doch mit Bekanntem nicht zu vergleichen, schauerlich, teuflisch. Das Ungeheuer bricht taumelnd aus dem Dickicht hervor, stürzt zu Boden, ringt nach Luft und gibt einen schrillen, zischenden Schrei von sich. Die kleine Kugel hat getroffen. Die Bestie ist gefallen, wälzt sich in ihrem Schmerz, während Arne den Verschluß öffnet, die heiße Messinghülse herausspringen läßt und das letzte Geschoß in den Lauf steckt. Schweiß rinnt ihm in die Augen. Die Hand des Vaters zerrt klammernd an seiner Schulter; der Junge versucht, sie abzuschütteln. Was ist das? Was ist das? will er von Enoch wissen, doch dem Mund, der wie bei einer Puppe auf- und zuklappt, entweichen nur würgende Laute. Jetzt erst erkennt er in der entsetzlichen Gestalt einen Mann, einen halb abgeschlachteten, nackten Mann. Fliegen und andere Insekten klebten zuhauf am Rumpf, an Armen und Schenkeln, da, wo die Haut aufgeschlitzt oder abgeschält ist.) »Das ist noch einer. Noch einer, der bei lebendigem Leib ent häutet wurde, und Gott weiß, wie er's geschafft hat, solange am Leben zu bleiben. Arne, hör mir zu. Ich muß dir die ganze Geschichte erzählen. Anscheinend bin ich an Birkas Seite ein geschlafen, denn als ich wieder zu mir kam, sang deine Mutter ein hübsches kleines Lied in ihrer Muttersprache. Ja, es war 151
hübsch, ließ mir aber eine Gänsehaut über den Rücken krie chen. Sie kniete auf dem Bett, sang wie eine Verrückte und hielt mir ein Schlachtermesser an den Hals. Es war schon dunkel geworden, der Himmel rot wie Blut, und Blut tropfte aus den Körpern der beiden Alten, in deren Hütte wir waren. Ich sah sie, an den Fersen aufgehängt, zwischen dem Bett und der Tür vom Deckenbalken baumeln. Und draußen ging die Sonne unter. Deine Mutter hörte nicht auf zu singen, und ihrem Blick nach zu urteilen, schien sie keine Ahnung zu haben, wer ich bin. Die scharfe Klinge drückte mir so fest an den Hals, daß, wenn ich geschluckt hätte, alles aus gewesen wäre... Schieß noch mal, ziel auf den Kopf! Wie der arme Teufel keucht. Ich kann's nicht länger mitanhören. Befrei ihn von seinem Elend, schick ihn heim zu Jesus!« (Arne schlottert am ganzen Leib. Der Vater hat ihn auf den leidenden Mann zugestoßen, dessen schwarzer Bart voll von Erbrochenem klebt. Am schlimmsten aber ist der Anblick seines fast hautlosen Leibs. Massen von Insekten wimmeln darauf herum und legen winzige Eier ins eiternde Fleisch. Nein, weit schlimmer noch sind wohl die klaffenden Augen, aufgeritzt wie von einem Dom. Der Kopf ist dem Sonnenlicht zugewandt. Das Stöhnen wird schwächer, und Arne entdeckt unterm nackten Schlüsselbein den Einschuß seiner ersten Kugel, die nur wenig Schaden angerichtet hat. Schieß, schieß ihn tot... Arne ist nur noch einen Schritt entfernt; er fällt auf die Knie und hebt das Gewehr, in der die letzte, kostbare Kugel steckt, die er verzweifelt gern für sich selbst zurückhalten würde. Er wirft einen haßerfüllten, flehentlichen Blick zurück auf den Vater. Aber der kennt seine Gedanken.) »Was ist los? Hab' ich einen Feigling großgezogen? Wenn dem so ist, soll dich Gott dafür verfluchen, daß du den armen Kerl so leiden läßt... und mich. Wie lange soll ich noch durchhalten ohne dich? Mach endlich! Erschieß dich doch. Dann werden wir beide hier vermodern, und keinem Menschen sagen können, was passiert ist. Und in nicht allzu langer Zeit, einem Jahr vielleicht, wird ganz Tennessee, das ganze Land womöglich ausgerottet sein, als wäre die Pest ausgebrochen. 152
Das ist schlimmer, Arne, viel schlimmer als tot zu sein. Du hast sie doch gesehen, oder nicht? Ja, du hast deine Mutter gesehen. Was glaubst du? Wäre sie nicht auch lieber tot? Ant worte! Sag was!« (Zwischen dem enthäuteten Mann und dem wütenden Vater steckt Arne wie in der Falle; er wirft den Kopf zurück und heult jämmerlich. Auf den Baumwipfeln stieben Schwarzdrosseln wie Splitter auseinander. Arne führt den Lauf bis auf eine Handbreit an den Kopf des Mannes heran, zielt zwischen die Augenbrauen und drückt ab, ohne zu wissen, was er tut, so benommen ist er. Er hört nicht einmal den Schuß. Die Fliegen ballen sich zu einer grün schillernden Wolke zusammen. Der Kopf fällt herab, direkt vor Arnes Füße. Blut kleckst auf seine nackten Füße, als er aufsteht und die Waffe von sich schleudert. Und plötzlich versagt ihm der Atem; die Brust wirft sich auf, aber Arne bekommt keine Luft mehr. Zuckend steht er da und rollt mit den Augen. Enoch packt ihn am Hosenbund und zerrt ihn mit sich. Über Wurzeln, Zweige und die Borke umgestürzter Bäume schleifen seine Füße, die bald selber vom Fußgelenk bis zu den Zehen enthäutet sind. Dem Vater läuft das Gesicht blau an; keuchend schleppt er den Sohn auf geradem Weg zur Hügelkuppe hinauf und stößt ihn in den Mühlteich sechs Meter tiefer. Enoch sieht nur noch einen Fuß des Sohns im grünen Wasser verschwinden. Erschöpft fällt er zu Boden und weint.) »Zu Ende ist's noch nicht mit dir, Arne. Ich weiß, es ist noch nicht zu Ende. Komm wieder hoch. Du schaffst es. Komm, mein Junge, komm! Sofort. O Gott, ich kann nicht mehr. Laß ihn leben. Hilf meinem Jungen!« (Sterben, zu Tode ersticken. Ein Würgen in der Brust, auf die ein Berg von Friedhofserde zu drücken scheint. Begräbnis hinter der Kirche. Die ganz jungen Kinder spielen selbstvergessen am Rand der Gräber. Ein Hund bellt, als die Trauergäste ein Lied anstimmen. So schön hat er die Mutter nie singen hören. Keiner, und sei er noch so tief in Trauer versunken, kann umhin, einen Blick auf sie zu werfen, die ihre Stimme zum wohlbekannten Choral erhebt. Er selber aber kann nicht singen. Er kann nicht einmal atmen, hat einfach vergessen, wie Luft zu holen ist. 153
Er gerät in Panik, fühlt sich wie eine Leiche, die, weil ihr ein Begräbnis in geweihter Erde versagt bleibt, durch die Luft geschleudert wird. Die Sonne - ein Brandmal in seinen Augen; der Wasserspiegel, gefüllt von Wolken. Er trudelt hinab, klatscht der Länge nach auf, spürt einen stechenden Schmerz doch der Atem versagt noch immer. Von einer kalten Strömung ergriffen, fängt er unwillkürlich zu schwimmen an. Nun taucht er auf, dem flirrenden Sonnenlicht zu, durchstößt die Oberfläche, schreit und saugt nun endlich wieder süße Luft. Doch vom Wasser getrieben, trudelt er den glitschigen Kanal ins tiefer gelegene Becken, das das Gerinne speist und die Schaufeln des großen Mühlenrads. Er stürzt, verfehlt nur knapp den Fels im Wasser, berührt den Grund, taucht auf und kriecht durch Schlick dem binsenbewachsenen Tümpelrand zu. Dort wälzte er sich auf den Rücken und bleckt die Zähne. Allmählich füllen sich die Lungen. Und dann kommt der Vater herbei.) »Es tut mir leid, mein Junge, verzeih. Aber das war das ein zige, was ich für dich tun konnte. Ich sah dich schon verloren. Gott weiß, ich hatte mich schon selber aufgegeben dieser Tage, mehr als einmal. Das Messer saß mir am Hals, und Birka schien mich nicht zu kennen. Es war, als führte sie bloß aus, was der Dunkle Mann ihr befohlen hatte. Zu dem Zeitpunkt war mir endgültig klar, daß sie in seiner Gewalt stand. Der unreine Geist hatte von ihr Besitz ergriffen. Und dann hab' ich ihn gesehen. Er stand im Türrahmen, voll bei Kräften, riesengroß. Der Himmel wurde dunkel, doch als er die Arme seitlich ausschwenkte, war's, als würden ihm Flügel wachsen, und wie ein Regenbogen sah's aus... Ich kann's nicht beschreiben. Dank sei Gott dafür, daß Birka für ein paar Sekunden von mir abließ und sich nach ihm umdrehte. Das war meine Chance. Ich verrenkte ihr mit aller Macht den Arm und fing mir dabei nur einen kleinen Schnitt am Kinn ein. Tja, sie lag schreiend am Boden und versuchte, das Schlachtermesser wieder in die Hand zu bekommen. Weil dieses unselige Gespenst in der Tür stand, bin ich durchs Fenster gesprungen und gelaufen, was das Zeug hält, nach Hause, um auf dich zu warten. Aber du hattest dich um zwei Tage ver 154
spätet, weil Hob-Nob lahmte. Ich wartete und war voller Angst, daß sie mir nachstellen. Helfen lassen wollte ich mir nicht noch mal. Denn das Bild der alten Leute, die gehäutet kopfüber von der Decke hingen, stand mir noch deutlich vor Augen. Nun, Birka hätte mich beinahe erwis cht, hätte mich fast auf ihre Seite gezogen. Aber jetzt bin ich der Jäger, Arne. Und da vorne ist es, wo sie alle stecken. Da drin.« (Langsam hebt der Junge den Kopf; die Angst steigt ihm wie Blut aus dem Herzen ins Gehirn, wo sie weiß wie die Sonne im Wasserlauf über ihm zerstäubt. Seine Augen richten sich auf die dunklen Fensterlöcher des Mühlengebäudes, doch darin ist niemand zu sehen. Kein Laut ist zu hören; das Haus scheint leer zu sein. Das gewaltige Rad dreht sich vergebens. Kein Korn, das für heute zu mahlen wäre. Arne erhebt sich vom Morast und schaut den Vater an, der zwischen den Binsen hockt und mit düsterem Blick vor sich hinstiert. Er sieht nicht weniger teuflisch aus als die Teufel, die er verfolgt. Er hat das Bündel Würgerfeigen mitgebracht, die Arne tags zuvor geschnitten hatte. Sonst trägt er nichts bei sich. Arne blickt zurück zur Mühle. Der Vater legt sacht die Hand an den Hinterkopf des Sohnes, korrigiert die Blickrichtung.) »Nein, dort sind sie nicht, Arne. Wenn dem so wäre, würde ich das Haus einfach anstecken und die ganze Meute verbrennen. Aber wir müssen es anders anstellen. Wenn du das, was du siehst, nicht mehr glauben kannst, dann schließ die Augen und halt dich an mir fest. Solange du tust, was ich dir sage, wird alles wieder gut. Das versprech' ich dir. Wenn nicht, wenn du die Nerven verlierst, tja, dann Gnade uns Gott.«
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AUGUST 1970
Huldufolk
l »Kartoffelsalat?« stöhnte Rita Sue. »Marjory, ich hab' dir doch schon gestern gesagt, daß ich den Kartoffelsalat mitbringe.« »Ach, wahrscheinlich bin ich deshalb auf die Idee gekom men«, antwortete Marjory munter. »Duane, kannst du mir mal helfen?« »Klar.« Behend sprang Duane von der Rückbank des Ca briolets. Ein Picknickkorb, Marjorys tragbarer Kurzwellen empfänger, ein Klapptischchen und eine große Kühltasche standen auf der Veranda bereit. »Kartoffelsalat«, wiederholte Rita Sue schmollend. Sie saß auf dem Beifahrersitz, eine Sonnenbrille tief auf der empfind lichen Nase, die ein Tupfer Sonnencreme zierte. »Na und?« entgegnete Marjory. »Deiner schmeckt sowieso anders als meiner.« »Und ich kann Berge davon verschlingen«, meinte Boyce, der gern den Schlichter spielte. »Marjory, ich glaube kaum, daß der Tisch auch noch in den Kofferraum paßt«, sagte Rita Sue. »Und ob. Wart's ab.« »Aber da stecken schon Anziehsachen von mir drin, und ich will nicht, daß sie verknautschen.« »Was hast du denn alles mitgenommen?« »Drei Kombinationen. Hast du was dagegen?« »Iwo. Falls während unseres Ausflugs der Atomkrieg erklärt wird, kann niemand behaupten, du wärst nicht richtig angezogen.« Marjory öffnete die Kofferraumhaube. »Da ist doch noch Platz. Was steckt denn in der Kiste? Werkzeug?« »Ach, die gehört mir«, sagte Duane. »Da sind Gläser drin, Chemikalien und so weiter.« 157
»Für Schmetterlinge? Warum mußt du die Tierchen eigent lich tot machen?« »Damit sie entspannen.« »Soso, und warum sollen sie... ach, erklär mir das lieber nach dem Mittagessen.« Duane grinste. »Es ist eine Kunst, Falter so zu präparieren, daß sie wie lebend aussehen, so, als ob sie jeden Augenblick aus dem Schmittschen Kasten auffliegen könnten.« »Aus dem was?« kicherte Boyce. »Laß gut sein, Boyce«, sagte Marjory. »Rita Sue, wo sind die Campingstühle geblieben?« »Herrjemine, wir machen doch ein Picknick. Kannst du nicht auf dem Boden hocken wie sonst auch immer?« »Das ist mir zu primitiv, und wenn's primitiv zugeht, krieg' ich schlechte Laune. Du weißt, bei den Pfadfindern hab' ich's auch nicht lange ausgehalten.« »Wohin willst du? Marjory, es ist schon zehn Uhr durch!« »Enid hat einen Klappstuhl, den sie zum Anstreichen be nutzt.« »Rita Sue«, nörgelte Boyce. »Gib mir was zu essen. Mein Magen glaubt, mir war die Kehle durchgeschnitten worden.« »Du kannst doch jetzt nicht anfangen zu essen, wir müssen erst mal ankommen und eine Runde schwimmen. So hab' ich's vorgehabt. Warum muß nur jeder versuchen, meinen Plan kaputtzumachen?« »Ich will nur ein kleines Butterbrot und versprech' dir auch, den Mund zu halten.« »Dann will ich auch eins«, verlangte Duane, der inzwischen wieder auf der Rückbank Platz genommen hatte. Nach einer Weile kreuzte Marjory mit einem Klappstuhl und verschiedenen anderen Sachen auf, einschließlich einer Taschenlampe und einem Serum gegen Schlangenbisse, das mitzunehmen ihr noch in letzter Minute eingefallen war. »Boyce, kannst du mit dem kranken Fuß überhaupt fahren?« »Na klar. Weh tut mir nur der linke, und den brauch' ich nicht zum Fahren.« Er trat das Gaspedal durch, ließ den Mo 158
tor aufheulen und gab dabei einen verwegenen Schrei von sich. »Ab geht die Post.« »Mein Wagen ist es zum Glück nicht«, sagte Marjory zu Duane, als es im Rückwärtsgang und mit durchdrehenden Reifen über die Einfahrt zur Straße hinunter ging. »Was für ein herrlicher Tag. Übrigens, dir klebt ein Stück von der sauren Gurke am Kinn.« »Das ist ein grüner Pickel. Wohin fahren wir eigentlich?« »Frag unsere Reiseführerin.« »Sprichst du von mir, Marjory?« meldete sich Rita Sue. »Wo findet unser Picknick statt?« »Ich dachte zur Abwechslung mal an Dantes Mühle; in Ri sing Fawn ist's am Wochenende immer so überlaufen. Und zum Schwimmen ist es viel schöner an der Mühle. Boyce, fahr langsamer, da hinten kommt eine Kreuzung! Ich will nicht, daß uns einer von den Ready-Mix-Lkws übern Haufen fährt; die brettern nämlich die Beaver Ruin entlang, als würde ihnen die Straße gehören.« Marjory sagte: »Habt ihr schon gehört, daß Priester Berri gan von den Bullen verhaftet wurde?« »Was regst du dich auf? Immerhin hat er das Gesetz gebro chen. Mein Vater findet auch: Papisten sind durchweg Unru hestifter, es sei denn, sie besaufen sich. Mehr hab' ich zu dem Thema nicht zu sagen.« »Wenn sie ihn wirklich einbuchten, wandere ich aus«, sagte Marjory zu Duane, der ebenfalls Mitgefühl für den Priester zu haben schien. »Im Ernst. Und dann kannst du, Rita Sue, je mand anders finden, der dich in Bio durchzieht.« »Hab' ich dich nicht schon des öfteren so tönen hören? Also bitte, bon voyarsch, wie die Franzosen sagen würden.« »Wohin würdest du gehen?« fragte Duane in der freundli chen Absicht, Marjory ernstzunehmen. »Enid und ich ziehen nach Italien. Nach Florenz. Sie stu diert dort Malerei, und ich... ich weiß noch nicht. Aber es gibt bestimmt eine Menge für mich zu unternehmen.« »Nächsten Sommer starte ich zu einer Motorradtour die Westküste entlang. Vielleicht bis nach Alaska hoch.« 159
»Ist dann die Bewährungsfrist vorbei?« »Ja.« »Prima Idee. Tja. Womöglich klappt's nicht mit Italien. Nicht so schnell. Wir müßten erst das Haus verkaufen und al les. Aber dann fahren wir. Es kribbelt mir schon in den Kno chen. Meine Schwester muß unbedingt raus aus dem Trott, in dem sie momentan steckt, und was Gescheites mit ihrem Le ben anfangen. Rita Sue, hast du die Tube Zinkoxid griffbereit? Meine Schultern sind schon rot geworden.« »Aber verbrauch nicht alles. Ich brenne auch schon wie Pommes frites in der Hölle.« »Weißt du, wer ich gerne sein würde?« meinte Marjory. »Sophia Loren. Mama mia! Diese wunderschöne Olivenhaut. Ich wette, die Loren hat niemals Sonnenbrand. Wenn du ein anderer sein könntest, wer käme dann für dich in Frage, Duane?« »Ich weiß nicht. Niemand. Schätze, ich bin noch nicht lange genug ich selbst gewesen, um rauszufinden, wie das so ist.« Marjory und Duane hatten während der vergangenen vier Stunden viel miteinander geredet, doch nach wie vor war sie überrascht von den Gedankengängen ihres neuen Bekannten. Sie hielt ihn für die tiefgründigste Person, die ihr je über den Weg gelaufen war. Rita Sue stichelte: »In einer Hinsicht bist du der Loren tatsächlich ähnlich, Marjory.« Die Angespro chene grinste verlegen und sagte: »Sie spricht von meinen...« Duane fiel ihr schmunzelnd ins Wort: »Das ist mir auch schon aufgefallen.« Marjory nahm die Sonnencreme von Rita Sue entgegen, schraubte den Verschluß ab und schaute Duane an, der sich nicht lange bitten ließ und ihr die Schultern ein schmierte. Anschließend tupfte er ihr einen Klecks auf die Na senspitze, obwohl die Baseballkappe ausreichend für Schatten sorgte. Marjory hörte nicht auf zu lächeln. Ihr war noch wohler zumute als nach einem Kuß.
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2 Der öffentliche Park von Dantes Mühle lag siebzehn Meilen westlich von Sublimity und war in den frühen sechziger Jahren angelegt worden zusammen mit dem dreihundert Hektar großen See für Angler und Schwimmfreunde. Für schnelle Motorboote war das Revier gesperrt, gemächlich schippernde Hausboote waren dagegen zugelassen und konnten von der landeseigenen Verleihstelle nahe der Staumauer tageweise gemietet werden. Bruchsteine, zu Tausenden von Tonnen ans Ufer gekippt, garantierten klares Wasser. Es gab drei Cam pingplätze mit Badestrand und Anlegestelle, darüber hinaus eine Cafeteria in der Geschäftsstelle des Parks sowie einen Kleintierzoo für Kinder. Das Herzstück bildete die wiederauf gebaute alte Siedlerstadt, die aus mehr als einem Dutzend Holzhäuser bestand. Vier Gebäude stammten noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg: ein Stall, eine Schmiede, eine Mühle, die immer noch funktionierte, und eine überdachte Brücke. Schon vor der Gründung des Parks war bekannt gewesen, daß das Gelände von zahlreichen Höhlen durchzogen wurde, wahrscheinlich bis hin zu Dantes Mühle. Einige davon hatten Forscher bereits erkundet, und es hieß, daß womöglich eine unterirdische Verbindung bestünde, ein tiefes, endloses Tun nelgeflecht, das sich nach Norden und Osten erstreckte bis zur Dunbar-Grotte bei Clarksville und zu den berühmten Mammutund Kristallhöhlen von Kentucky, die über hundert Meilen entfernt waren. Bevor das Land überflutet wurde, war der Grund sorgfältig erforscht und ein bislang unentdeckter Höhleneingang von der Größe eines Kaninchenloches zuge stopft worden, nachdem eine Untersuchung durch Mitglieder des Staatlichen Instituts für Speläologie ergeben hatte, daß sich hinter dieser Öffnung nur drei kleinere, schlammige Gänge verbargen, bewohnt von ganz gewöhnlichen Fledermäusen und durchsichtigen Grillen. Geologen waren zu dem Ergebnis gekommen, daß einer Überflutung des Geländes nichts im Wege stand und der 161
Kalksteingrund ein geeignetes Seebett böte. In der Cumber land-Gegend gab es überdies bereits Dutzende von künstlich angelegten Wasserflächen. Falls noch weitere, bislang unent deckte Höhleneingänge existierten, so lagen diese aller Wahr scheinlichkeit nach unter den gestauten Wasserläufen des Barren River, Percy Priest oder Guntersville. Die Chance, in der Umgebung von Dantes Mühle noch irgendwelche lohnen den Höhlensysteme zu finden, war gering, obwohl nach wie vor neue Eingänge auffielen - durch aufstiebenden Dampf etwa, Fledermausschwärme, neu entstehende Sumpflöcher oder andere Eigentümlichkeiten wie zum Beispiel die Go -chensche Feuerschluckergrube in Alabama, so genannt, weil sie den Rauch eines nahegelegenen Lagerfeuers in sich aufsaugen konnte. »Meine Mutter hat etliche Höhlen entdeckt«, sagte Duane. »Unten im Süden.« »Wahrscheinlich irgendwelche Spelunken oder Rauschgift höhlen«, meinte Marjory grinsend. »Von wegen. Sie ist eine echte Höhlenforscherin. In einer steckte sie mal drei Tage lang fest. Ein Felsrutsch hatte ihr den Weg abgeschnitten. Aber sie konnte allerlei aushalten und hat mir beigebracht: Laß niemals locker.« »Ein weiser Rat«, spottete Marjory. Sie fuhren gerade durch ein schattiges Waldstück. Auf der kurvenreichen Straße war hin und wieder schon von Ferne der See zu erblik-ken. Boyce hatte das Verdeck zugezogen, weil die voranfahrenden Autos rötlichen Staub von der unbefestigten Schotterpiste aufwirbelten. »Einmal hat sie mich auf einen Erkundungsgang mitge nommen. Ich war damals erst drei, werde den Tag aber nie vergessen. Wir stiegen ab in einen fünfzig Meter tiefen, dunk len Gang, gesichert mit einem Seil. Sie hatte mich unter den Arm geklemmt.« »Um Himmels willen. Hast du keine Angst gehabt?« »Ich fand's spannend. Die Höhle - ich glaub', sie war in Missouri - wurde nach ihr benannt. Meine Mutter hab' ich schon lange nicht mehr gesehen. Schon drei Jahre und zwei 162
Monate nicht. Mein Vater hat sich von ihr scheiden lassen, als ich noch ein Kind war. Er wollte eine Frau, die ihm abends, wenn er nach Hause kommt, das Essen auf den Tisch stellt. Damit konnte ihm meine Mutter nicht dienen.« »Wo ist sie jetzt?« »In Frankreich. Sie hat wieder geheiratet. Ich glaube, ihr neuer Mann ist Bergführer. Sie schreibt mir jeden Monat -auf französisch, denn sie will, daß ich Französisch lerne. Hab' mittlerweile ganz gut dazu gelernt. Als ich zehn war, bin ich mal allein zum Flughafen getrampt und heimlich an Bord eines Flugzeugs geschlichen. Gefunden hat man mich erst auf halber Strecke nach Washington. Ich wollte zu ihr.« »Will sie dich überhaupt sehen?« »Ich weiß nicht. Sie hat inzwischen zwei weitere Kinder. Vielleicht will sie mich nicht sehen. Aber immerhin schreibt sie mir, also denkt sie auch an mich.« »Läßt dich dein Vater nicht zu ihr? Alt genug wärst du ja.« »Er hat nichts dagegen, vorausgesetzt, ich zahle das Ticket selbst. Im vergangenen Jahr hab' ich gejobbt und Geld gespart, aber das ist an den Anwalt gegangen, als ich in Schwie rigkeiten geraten bin.« »Kommst du mit deinem Vater gut klar?« »Ja. Solange ich tue, was er verlangt. Er ist ganz in Ord nung, so auch Tante Dell, meine Stiefmutter.« »Erzähl mir von ihr.« »Sie trägt einen Pferdeschwanz, organisiert Bibelstunden und kocht gut.« »Wir sind da«, verkündete Rita Sue. Boyce hatte eine Lücke auf dem mit Kies bedeckten Parkplatz gefunden, der fast voll war. »Wer geht mit schwimmen?« Rita Sue und Marjory zogen sich in der Frauenkabine um und gesellten sich draußen auf einem sonnigen Strandabschnitt zu den Jungen, die an einer Reckstange um die Wette Klimmzüge pumpten. Rita Sue trug einen knappen, feuerroten Bikini, darüber ein bis zu den Knien hängendes Hemd mit langen Spitzenärmeln. Auf dem Kopf saß ihr ein mexikani scher Strohhut, groß wie ein Wagenrad. Marjory hatte einen 163
dunkelblauen Einteiler an und ein dazu passendes, kurzärme liges Top. Sie wagte nicht, nach unten zu sehen auf den Schat ten, den ihre Hüften über den Sandboden warfen. Boyce beklagte sich darüber, nach einer Woche an Krücken außer Form zu sein, und gab den Wettkampf an der Reck stange auf. Duane war nach siebenundzwanzig Klimmzügen ein wenig ins Schwitzen gekommen, ließ aber ansonsten kei nerlei Anstrengung erkennen. »Gehst du ins Wasser?« fragte er Marjory. »Oh, ich weiß noch nicht.« »Wer als erster bei dem Floß ist.« »Keine Lust.« Boyce lachte. Duane sah ihn verunsichert an und fragte: »Was ist daran so komisch.« »Das wirst du sehen, wenn sie mit dir um die Wette schwimmt.« Marjory saß schon längst am Rand des Floßes, als Duane auftauchte. Er grinste ihr zu, und sie genoß ihren Triumph. »Ich hätte vorher nicht all die Klimmzüge machen dürfen«, meinte er keuchend. »Findest du nicht auch, daß Rita Sue in ihren Badesachen super aussieht?« Duane schaute zurück zum Ufer. »Nicht übel. Etwas zu flach für meinen Geschmack. Du gefällst mir viel besser.« »Vielleicht ein bißchen besser als Namu, der Killerwal.« »Marjory, warum mäkelst du eigentlich ständig an dir herum? He, soll ich dir was sagen? Tante Dell war siebzehn, als sie meinen Vater geheiratet hat. Damals sah sie genauso aus wie du. Hatte die gleiche Figur. Alles Babyspeck, wie sie immer sagte. Heute lacht sie darüber. Sie ist letzten Donners tag vierundzwanzig geworden und hat schon mehrere Ange bote von Modellagenturen bekommen. Aber davon will sie nichts wissen; sie ist zu religiös.« Marjory sah eine Weile zum Himmel hinauf, dann suchte sie im Wasser nach Duanes Spiegelbild. »Vermutlich hältst du mich jetzt für spinnert.« »Halb so wild. Laß uns 'ne Runde schwimmen.« 164
3 Nachdem sie eine Stunde lang im Wasser herumgeplantscht hatten, zogen sich die beiden um und aßen mit den Freunden im Schatten eines Baumes zu Mittag. Anschließend machten es sich Boyce und Rita Sue auf einer Hängematte bequem, die Boyce zwischen zwei Fichten gespannt hatte. Duane kramte zwei seiner Insektengläser aus dem Kofferraum, ein Schmet terlingsnetz und ein Fernglas. Marjory klemmte ihren Kurz wellenempfänger unter den Arm. Gemeinsam schlenderten sie über einen Trampelpfad, schlugen sich aber wenig später seitlich in die Büsche und nahmen auf einem umgekippten Baumstamm Platz. Duane zog einen Joint aus der Hemdtasche. »Oh, du rauchst Dope?« fragte Marjory irritiert. »Ab und zu mal. In meiner Straße wohnt einer, der SteelTrommel spielt und früher in Tammy Wynettes Band war. Er hat fast immer gutes Gras zu Hause. Willst du mal probieren?« »Ich... tja, es wär' das erste Mal.« »Dachte ich mir. Der Stoff ist wirklich gut. Probier doch mal.« »Warum eigentlich nicht?« Duane steckte den Joint an. »Du mußt kräftig ziehen, und dann den Rauch so lange wie möglich in den Lungen halten.« Marjory folgte seinem Rat, und es gelang ihr auch, den Hu stenreiz zu unterdrücken. Als ihr Gesicht rot wurde, ließ sie den Rauch endlich entweichen. »Na schön. Und was passiert jetzt?« »Wart's ab.« Duane inhalierte kräftig und reichte den Joint an sie weiter. Eine Weile lang rauchten die beiden, ohne ein Wort zu wechseln. Ab und zu setzte Duane das Fernglas ans Auge und schaute zu den Bäumen auf, durch deren Laub die Sonne blitzte. Marjory entdeckte einen Schwarm Schmetter linge und stieß ihn an. »Da sind welche.« Jeder einzelne Falter - es waren wohl an 165
die fünfzig— hob sich außergewöhnlich klar vom dunklen Hintergrund des Waldes ab. Die Flügel waren gelb und schwarz gestreift und zeigten hinten am geschweiften Rand dunkelblaue Flecken. Marjory hatte solche Schmetterlinge noch nie gesehen und staunte ehrfürchtig. Noch einmal stieß sie Duane an. »Das sind Segelfalter«, erklärte er ihr und hob erneut das Fernglas. »Da hinten ist ein hübsch geschminktes Weibchen. Prachtexemplar. Vielleicht kann ich sie... schon flattert sie davon.« Marjory nickte, die Lunge voll von beißendem Qualm. Ausatmend starrte sie vor die Füße. Aus dem Radio tönte ein melancholisches Lied von Judy Collins. Marjory fühlte ein heftiges Verlangen danach, die Schuhe auszuziehen und mit den Schmetterlingen zu tanzen. Duane gab ihr das Fernglas und stand mit entspanntem Lä cheln auf. »Entschuldige mich für einen Moment, Marjory. Ich bin gleich wieder da.« »Mußt du aufs Klo?« »Ich stell mich irgendwo hinter einen Baum.« Duanes Auskunft kam ihr ungemein komisch vor, und sie schüttelte sich vor Lachen. Er schaute auf die herunterge brannte Kippe, die sie, zwischen Daumen und Zeigefinger ge klemmt, an die Lippen führte, und sagte: »Rauch ruhig zu Ende. Ich hab' noch mehr davon.« Sie nickte und nahm einen tiefen Zug, während Duane im Gebüsch verschwand. Da saß sie nun mitten im Wald auf ei nem Baumstamm und rauchte Gras mit einem Autodieb, der gleichzeitig Schmetterlingskundler war und nahe dran, ihr fe ster Freund zu werden. Wie der Zufall so spielte... Eine Stechmücke hatte sich ihr aufs Handgelenk gesetzt. Großherzig sah Marjory dem kleinen Blutsauger zu, bis er satt war und wieder davonflog, so langsam, als wollte er eine Bruchlandung riskieren. In ihrer Vorstellung war die Mücke groß wie ein Bomber, der, stürzte er zu Boden, literweise ihr Blut verspritzen würde. Sie erschauderte und verlor schlagar 166
tig die gute Laune. Aber ein weiterer, letzter Zug aus dem Stummel brachte sie wieder in Stimmung. Nach >Winter Sky< sang Judy Collins nun eins von Mar jorys Lieblingsliedern: >The Last Thing on My Mind.< Sie trällerte, bis ein Knistern und Rauschen einsetzte, das die Musik übertönte. Und es kam noch ärgerlicher: Das Radio schien plötzlich seinen Geist aufzugeben, obwohl es erst am Abend zuvor mit neuen Batterien geladen worden war. Marjory hob es auf die Knie und drehte suchend an der Senderwahl herum. Plötzlich waren Stimmen zu hören, wie aus der Ferne und ganz undeutlich. Fistelnde Stimmen in einer anscheinend fremden Sprache. Eine Frau schluchzte. Oder war's ein Kind? Marjory wußte sofort, daß sie da kein reguläres Programm empfing. Das Schluchzen machte ihr angst. Sie drehte weiter am Knopf und stieß wieder auf dieselben Geräusche. Schließlich schaltete sie das Radio aus. Ihr war mulmig zumute. Sie blickte auf die Kippe am Boden, die inzwischen fast restlos ausgeglüht war. Die Augen fingen mit einem Mal zu schmerzen an; das Tageslicht kam ihr unerträglich hell vor. Sie fühlte sich schuldig, wußte aber nicht genau warum. Als dann Duanes Schritte im Unterholz zu hören waren, blickte sie mit verzweifelter Miene auf. »Was is t passiert?« »Keine Ahnung. Mein Radio spielt verrückt.« »Was soll das heißen?« Duane nahm ihr das Gerät aus der Hand und schaltete es an. Lärmende Polkamusik ließ Marjory vor Schreck zusammenzucken. Dann lachte sie erleichtert auf. Duane drehte die Lautstärke herab und fand einen Sender, der Hits von den Beatles brachte. »Klingt, als wär' alles in Butter.« »Offenbar. Ich bin mir nicht einmal sicher, was ich da soeben gehört habe. Vielleicht war ich in irgendeinem Kurzwellenbereich, ohne es zu wissen. Komm, gehen wir woanders hin.« »Von mir aus. Wohin denn?« »Dantes Mühle ist ganz in der Nähe. Man hat das Dorf 167
wiederaufgebaut, genauso wie vor hundert Jahren. Da ist auch ein Laden, wo es Limo und Eis zu kaufen gibt.« »Nichts wie hin.« Er gab Marjory das Radio zurück, das nun wieder an standslos funktionierte, und gemeinsam marschierten sie über den markierten Trampelpfad zum Dorf, das sie wenig später von einer kleinen Erhebung aus erblickten. Unter ihnen lag der Mühlteich, um den mehrere Trauerweiden standen. Auf einer offenen Grasfläche neben dem Mühlengebäude hockten Besucher in der Sonne und schleckten Eis. Marjory und Duane folgten dem Pfad bis zu den Häusern des Dorfes hundert Meter westlich der Mühle. Ein schlankes Mädchen mit Trägerhemdchen und bekleck sten gelben Shorts kam aus dem Wald herbeigelaufen. Sie bremste kurz vor den beiden ab und rutschte so ungestüm auf den Sandalen nach, daß Duane die Arme hob, um sie aufzu fangen. Die tiefe Sonnenbräune ihrer Haut sah fast aus wie Schmutz. Ihr Lächeln wirkte wir die Replik der Kette aus Haifischzähnen, die ihr um den Hals hing. »Hoppla. Danke.« Auch sie trug ein Kofferradio bei sich, um das sie schützend beide Arme geschlungen hatte. Sie schaute auf Marjorys Apparat und lächelte immer noch aus Augen, die nahezu kreisrund und ein wenig aus der Sehachse verschoben waren. Es schien ihr Mühe zu machen, die beiden in den Blick zu bekommen. Daß auch sie Gras geraucht hatte, war offensichtlich. »Habt ihr das zufällig auch gehört? Mann, ich dachte zuerst, jetzt klinkt's aus. Schlechter Stoff oder so. Aber Wiley ist mein Zeuge. Das war kurz bevor er sich derma ßen zugeballert hat, daß er nur noch schlaff in den Seilen hängt. Deke und Smidge sind schon seit über 'ner Woche so drauf. Heute ist doch Samstag, oder?« »Ja«, antwortete Marjory. »Was sollen wir gehört haben?« »Ich heiße Brittany. Vorläufig jedenfalls«, meinte das Mädchen. »Schön, euch kennenzulernen. Kannst du mal hal ten?« Sie bepackte Duane mit ihrem großen, glänzenden Ra dio, obwohl der schon an seiner Experimentierkiste zu schlep pen hatte. »Ist das ein Schmetterlingsnetz? Super. He, habt 168
ihr zufällig guten Stoff bei euch? Natürlich nicht umsonst. Ich hab' hier irgendwo zwanzig Mäuse.« Brittany fuhr mit drei Fingern unter ihr Trägerhemdchen und kramte umständlich eine Zwanzig-Dollar-Note hervor, die auf die Größe eines Kaugummis zusammengefaltet war. Dabei lüftete sie eine Brustwarze, an der, den Flecken nach zu urteilen, heftig her umgeknutscht worden war. Duane schaute diskret zur Seite, bis dem Mädchen das Mißgeschick aufgefallen war. »Oh, Shit«, murmelte Brittany und zog flugs das Hemd über die Brust. »Du hast nichts gesehen, verstanden?« sagte sie zu Duane, der nur mit den Achseln zuckte. »Reichen zwanzig?« fragte sie und bedachte ihn mit strahlendem Haifischlächeln. »Ich hab' nur noch eine Portion«, antwortete er. »Die kannst du haben. Geschenkt.« »Prima.« Der zusammengefaltete Schein verschwand im Oberteil. »Das Zeug kommt uns womöglich noch sehr gelegen, wißt ihr? Denn die Scheißkarre, mit der wir unterwegs sind, schafft's bestimmt nicht mehr bis nach Chicago.« »Woher kommt ihr?« wollte Marjory wissen. »Diese oder vergangene Woche? Letzte Woche war ich in Sanibel. Nächste Woche werde ich wahrscheinlich bei Mount Horeb in Wisconsin sein. Irre, was? Da gibt's eine Milchfarm, an der mein Bruder Teilhaber ist. Ich hab' ihn — Max heißt er seit wer weiß wie vielen Jahren nicht gesehen.« Sie nickte Duane zu und ließ sich von ihm das Radio zurückgeben. Er langte in seine Hemdtasche und zog einen fertig gedrehten Joint zum Vorschein. Brittany zeigte sich dankbar: »Echt spitze von euch.« »Schon gut«, entgegnete Marjory. »Dein Radio gefällt mir.« »Ist ja auch ein echter Grundig. Hab' ich in Frankfurt er standen. Davon würde ich mich nie trennen, egal, wie dreckig es mir geht. Nicht, daß ich mir irgendwelche Sorgen mache. Ich weiß schon, wie ich mich durchschlage. Wiley... nun ja, er ist ganz in Ordnung, wenn er nüchtern ist, aber sobald wir in Chicago sind, werde ich mich von ihm verabschieden. Dann pump' ich meinen Bruder an und lass' mir Geld für den 169
Bus schicken. Was ich sagen will, ist folgendes: Könnt ihr euch Wiley in Mount Horeb, Wisconsin, vorstellen?« Marjory schaute zum Wald hin und fragte sich, wo Brittany ihre Reisegefährten wohl gelassen hatte. »Du hast soeben da von gesprochen, irgendwas Merkwürdiges im Radio gehört zu haben. Und dann wolltest du von mir wissen, ob...« »...ob du dasselbe gehört hast. Wie war noch gleich dein Name?« »Marjory. Das ist Duane.« »Also, die Sache war verdammt unheimlich.« »Sprichst du von diesen... diesen Heultönen?« »Ja, unter anderem. Aber schlimmer noch war diese Frau enstimme. >Puff<, rief sie ständig. >Puff, komm her und hilf mir. Ich brauche dich, Puff<.« »Puff?« »Ja. So verrückt es auch klingt. Auf der ganzen Welt gibt's, wenn's hochkommt, fünf Leute, die mich irgendwann mal Puff genannt haben. Hast du das auch gehört? Oder bin ich etwa übergeschnappt?« »Tja...« »Dein Radio läuft doch, oder? Ich hab' Bammel davor, meins einzuschalten. Im Ernst. He, kommt, wir gehen zum Teich runter und ziehen uns den Joint ein. Zum besseren Kennenlernen.« »Und was ist mit Wiley?« »Dem geht's gut, wo er ist. Ehrlich. Mit dem kann man viel Spaß haben, wenn er mal nicht zugekifft ist. Spielt Klavier in einer Cocktailbar. Das Holyday Inn in Mo Bay hat ihn sie benundfünfzig Wochen lang klimpern lassen. Aber davon ist er ganz jeck im Kopf geworden. Klar, wem würde es nicht so gehen, wenn er siebenundfünfzig Wochen lang Abend für Abend >Yellow Bird< singen müßte.«
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4 Brittany (»Ihr könnt mich auch Puff nennen, ich ändere dem nächst sowieso wieder meinen Namen...«) sagte, daß sie neunzehn sei, machte aber einen jüngeren Eindruck, der wo möglich daher rührte, daß sie pausenlos von sich gab, was ihr gerade durch den Kopf ging, und war es noch so unsinnig. Vielleicht lag es aber auch an ihrem ausgehungerten, ver wahrlosten Anblick; es schien, als habe sie seit Tagen keine anständige Mahlzeit zu sich genommen. Das eine Auge schielte träge wie auf der Suche nach den letzten Resten von Verstand, der ihr irgendwo unterwegs verlorengegangen zu sein schien. Puff hatte sich offenbar fest vorgenommen, Mar jory und Duane ihre komplette Lebensgeschichte anzuver trauen. Ihr Vater war Offizier bei der Armee gewesen, hatte sich aber nie durch besondere Leistungen hervortun können. Nicht einmal als Spieler war er erfolgreich; er gehörte zu jenen Prachtvögeln, die bei jedem Pferderennen - und bestünde es nur aus zwei Teilnehmern - partout auf den Verlierer setzten. Aufgrund irgendwelcher unsauberen Geschäfte mit Verpfle gungsgütern war er aus der Armee entlassen worden, und zwar in Schimpf und Schande. Zur Zeit lebte er in Mexiko. Oder vielleicht auch in Guatemala. Für Puff stand fest, daß ihm alle Schuld an ihrer chaotischen Entwicklung, an ihrem haltlosen Lebenswandel anzulasten war. »Und wie kommst du mit deiner Mutter klar?« fragte Mar jory. »Mit ihr hat's nie Probleme gegeben; aber sie ist gestorben.« »Tja, meine auch. Ich war damals gerade erst zwölf, kurz vor der Pubertät.« Puff hielt nach einem schattigen Plätzchen Ausschau und setzte sich schließlich unter einem Baum ins Gras. Ein kühler Wind wehte herbei. Im Osten tauchten Gewitterwolken auf, und in der Ferne grummelte es bereits. Mit Regen war aber nicht zu rechnen. Enten paddelten über den Mühlenteich. Unweit vom Ufer stopften kleine Kinder Hot dogs in sich hin 171
ein und verschmierten die sonnengeröteten Gesichter mit Senf. »Ich glaube, wir haben einiges miteinander gemein, Marjory.« Marjory zweifelte an dieser Behauptung. Puff hielt immer noch den Joint zwischen den Fingern. Hoffentlich steckt sie das Ding nicht an, dachte Marjory und sah sich nervös um. Aber Puff stierte bloß auf ihr Radio und grübelte. »Soll ich's noch mal einschalten? Vielleicht ist sie ja immer noch zu hören. Aber ich hab' Angst. Wer weiß, was sie jetzt so von sich gibt?« »Von wem sprichst du?« wollte Duane wissen. Er hatte ei nen langen Grashalm aus dem Boden gezupft und versuchte, einhändig einen Knoten zu schlingen. »Von meiner Mutter natürlich. Sie will Kontakt zu mir auf nehmen. Immerhin hat sie mich doch Puff genannt, oder? Das war mein Kosename in der Familie.« Duane warf Marjory einen Blick zu, verdrehte die Augen und schaute dann hinüber zu den Enten. Gedankenversunken nestelte er mit dem Finger immer noch an dem Grashalm herum. Marjory bewunderte seine Geschicklichkeit. »Ich würde gern meinen Bruder anrufen und ihm davon be richten«, sagte Puff. »Aber Max hält mich sowieso für überge schnappt.« »Wir sollten uns ein Eis gönnen«, schlug Marjory vor. »Willst du auch eins, Puff?« »Eis? Gute Idee. Dabei fällt mir ein, daß ich mächtig Kohl dampf habe. Wo kriegt man denn hier Eis?« »In dem Laden da hinten.« Puff hatte das Radio zwischen die Beine geklemmt, schlang die Arme um ihre Brust und warf einen wehmütigen Blick über die Schulter. »So weit? Ich weiß nicht.« »Wir bringen dir ein Hörnchen mit.« »Das würdet ihr tun? Ihr seid wirklich nett. Ich nehme Schokolade mit möglichst viel Krokantsplittern drüber. Zwei Kugeln.« Sie tauchte mit der Hand in ihr Trägerhemdchen, »Wo ist denn der verdammte Schein abgeblieben? Ich hab' ihn doch hier reingetan, oder?« 172
»Laß stecken. Wir laden dich ein«, sagte Marjory. Duane starrte auf Puffs Top, als wartete er darauf, daß die Brust wie der zum Vorschein springen würde. Marjory stieß ihn an. Un sanft. Puff hörte zu wühlen auf und kratzte sich statt dessen über ihr Dekollete. Auf der gebräunten Haut blieben hellrote Striemen zurück. »Ich mag Enten«, sagte sie mit Blick auf den Teich und zeigte ein kindliches Lächeln, das aber sogleich wieder ver schwand. Unvermittelt kam sie dann auf ihren merkwürdigen Halsschmuck zu sprechen. »Eigentlich gefallt mir die Kette nicht. Aber Haifischzähne sollen Glück bringen. Der Kerl, von dem ich sie habe, hat nur ein Bein. Womöglich ist ihm das andere von einem Hai abgebissen worden.« Gähnend legte sie sich zurück ins Gras und schüttelte die Haare, die verschie denfarbig getönt waren; von hellbraun bis dunkelrot und ins gesamt ziemlich verschmutzt. »Kinder mag ich auch. Aber die Vorstellung, eins im Bauch wachsen zu haben, nimmt mir jeden Spaß am Sex. Igitt. Ihr könnt eure Sachen ruhig hier lie genlassen. Ich pass' drauf auf.« »Ich nehm' nur das Radio mit. Unterwegs hör' ich gern Musik.« »Ich würde ja gern mitkommen, aber... ihr wißt schon. Ich fühl' mich nicht besonders. Liegt wahrscheinlich am Blutzuk ker. Himmel, mir ist trotz der Hitze ziemlich kalt. Mir kann's gar nicht heiß genug sein. Ins Schwitzen komme ich fast nie. Ich frag' mich, wie wohl das Wetter in Wisconsin sein wird. Ist wahrscheinlich ein Fehler, daß ich dahin möchte. Mount Horeb. Was mag das bloß für ein Kaff sein?« Marjory nahm ihr Radio in die linke Hand und hakte sich bei Duane unter. Gemeinsam gingen sie den Hang hoch in Richtung auf Dantes Mühle. Viele Leute bummelten über die Dorfstraße zwischen der Schmiede an dem einen Ende und der weißen, schlichten Holzkapelle am anderen. Auf dem Kirchhof waren rund um den Stamm einer alten Eiche Pick nickbänke angelegt, überdacht von weit ausladenden Zweigen. »Hier haben einige aus meiner Verwandtschaft gelebt«, 173
sagte Marjory. »Hast du die Bilder im Wohnzimmer gesehen? Auf einem davon ist dieser alte Knacker mit Pausbak-ken und Schlabberlippen. Den Namen weiß ich nicht mehr. Meine Mutter kannte sich mit den Familienverhältnissen noch gut aus. Merkwürdig, die Sache um Dantes Mühle. Puff hat mich wohl angesteckt mit ihrer Geistergeschichte.« »Was hat's denn auf sich mit Dantes Mühle?« »Eines Tages waren alle Bewohner verschwunden. Vier undsiebzig Leute. Männer, Frauen, Kinder - auf und davon.« »Wieso?« »Was mit ihnen passiert ist, weiß keiner. Vor der Kirche steht ein Schild mit all ihren Namen. Es sind Belohnungen ausgesetzt worden. Berühmte Detektive haben Untersuchungen aufgenommen. Sherlock Holmes zum Beispiel.« »Sherlock Holmes is t doch eine erfundene Figur.« »Das weiß ich selber. Ich spreche von dem Autor... wie heißt er noch gleich?« »Arthur Conan Doyle.« »Ich glaube, er hat auch ein Buch über Dantes Mühle ge schrieben. Auf dem Friedhof ist ein Gedenkgrab, aber es liegt niemand drin. Wie dem auch sei, mich wundert, daß du noch nie davon gehört hast.« »Steht die ganze Schlange da für Eis an?« fragte Duane mit Blick auf eine große Schar von Touristen, die sich unter der überdachten Veranda des Ladens drängten. »Vielleicht wollen sie auch nur in die Töpferei.« »Sieht so aus, als müßten wir uns auf 'ne längere Wartezeit einstellen.« »Ach was, ein Eishörnchen ist schnell gefüllt. Was hältst du eigentlich von Puff?« »Wahrscheinlich ist sie weg, wenn wir zurück sind.« »Ja, das hoffe ich auch. Aber dann mußt du zwei Hörnchen schlecken.« »Schokolade? Auweia, davon krieg' ich Ausschlag. Gleich hinterm Ohr.« »Wo's noch ziemlich grün zu sein scheint. Dir sind ja fast 174
die Augen aus dem Kopf gefallen, als Puff ihre Brust hat raus hängen lassen.« »Quatsch.« »Gefällt sie dir?« »Wer? Puff? Ojemine, die ist doch schlimmer als 'ne terpen tingebadete Katze.« »Okay, jetzt hab' ich dich wieder gern.«
5 Die beiden waren auf dem Weg zurück zum Teich, als ein Ge schrei losging. »Klingt ganz nach Puff«, meinte Marjory. »Oder kennst du noch jemanden, der dreimal das Wort >Scheiß< in einem Satz unterbringt?« Ein Kind fing an zu heulen. Marjory und Duane legten einen Schritt zu. Puff sah sie den Hang heruntereilen und winkte ihnen hektisch zu. Sie stand knöcheltief im Wasserlauf oberhalb des Mühlrades. Ein paar Leute waren zusammenge kommen, darunter auch eine Frau mit dem plärrenden Kind. Puff deutete mit ausgestrecktem Arm auf das Gerinne. In der anderen Hand hielt sie einen Steinbrocken. »Da lang ist er gerannt. Er hat mein Radio. Scheiße, warum unternimmt denn niemand etwas? Ich will mein verdammtes Radio zurück! Hat mich verdammt noch mal hundert Dollars gekostet, und ich will's wiederhaben!« »He, Puff.« »Kommt her! Kommt her! Er steckt da unten. Los, greifen wir ihn!« Die Mutter des heulenden Kindes sagte zu Marjory: »Er ist direkt an uns vorbei. Hätte fast meinen Bubba über den Hau fen gerannt.« »Wer?« »Der Mann. Er hat eurer Freundin das Radio geklaut und ist davongelaufen... obwohl, >laufen< ist eigentlich das falsche 175
Wort, denn besonders schnell war er nicht. Er ist geradewegs zum Mühlwehr da drüben und dann durch den Wasserfall.« »Er versteckt sich dahinter!« schrie Puff und watete im Wasserlauf auf und ab. »Raus ist er noch nicht. Ich hau' ihm seine Scheißbirne ein! Komm mit, Duane! Hier lang.« Sie wühlte sich durch die Binsen am Ufer des Baches und reichte Duane den Stein. »Schlag ihm den Kopf ein! Er hat mein Ra dio. Es ist bestimmt schon ganz naß geworden und wahr scheinlich kaputt.« »Hier ist dein Eis, Puff«, sagte Marjory und schaute auf das Wehr, über das das Wasser drei Meter tief herabstürzte. Ob sich hinter dem silbrig schimmernden Vorhang jemand ver barg, war nicht auszumachen. »Vielleicht sollten wir lieber Hilfe holen. Der Kerl steckt doch in der Klemme, oder?« Puff nahm das Eishörnchen entgegen, zögerte und reichte es dann dem kleinen Jungen, der ängstlich hinter seiner Mutter Deckung suchte. »Hier nimm! Du kannst es haben. Tut mir leid, daß ich dich durch mein Gebrüll erschreckt habe.« »Sieh mal, Bubba, sie schenkt dir ein Eis. Mit Krokant drauf. Und nun sag artig: >Danke für das leckere Eis.< Aber schmier mir den Rock nicht voll.« »Danke«, murmelte der Junge und nahm den Daumen aus dem Mund. Puff grinste gereizt und sah Duane an. »He, kommst du nun endlich?« »Na schön«, antwortete Duane, warf aber den Stein ins Wasser. Puff nickte. »Er ist eh nur ein alter Tattergreis. Ein Penner. Mit dem werden wir leicht fertig.« Marjory sagte: »Wieso versteckt er sich bloß hinterm Was serfall? Das ist doch sinnlos.« »Sehen wir mal nach«, meinte Duane und ließ sich von Marjory sein Hörnchen abnehmen. »Soll ich nicht doch besser Hilfe holen?« fragte Marjory. »Auf der Hauptstraße steht an Wochenenden immer ein Streifenwagen.« 176
»Warte noch«, entgegnete Duane. »Ich will nur mal nach sehen. Wenn er sich tatsächlich da unten versteckt, kommt er nicht weit.« »Paß auf, daß er dich nicht mit Steinen bewirft.« »Keine Bange.« Duane ging das Gerinne entlang bis an den Überlauf. Puff folgte dicht dahinter; sie war unsicher auf den nassen Steinen und mußte sich zweimal an seinem Gürtel fest halten, um nicht zu fallen. Duane nahm ihre Hand. Marjory sah, wie sich die beiden vorsichtig auf das Wehr zu bewegten. »Da wird einem ja schon vom Hinschauen ganz anders«, sagte die Mutter des gelockten Kindes. »Was die jungen Leute da treiben, ist doch viel zu gefährlich. Ich werde sofort die Parkaufsicht informieren.« »Besten Dank«, sagte Marjory, ohne den Blick von Duane abzuwenden, der hinter dem tosenden Wasser kaum noch zu sehen war. Offenbar hatten er und Puff den Radiodieb ent deckt. Unbegreiflich, daß er sich ausgerechnet unter dem Wasserfall zu verstecken versuchte. Duane und Puff kauerten nun in einem dunklen Winkel wenige Meter vor dem sich langsam drehenden Mühlrad. Über ihnen hingen die sturm zerzausten Zweige einer Weide, die, tief gebeugt, bis an die kahle Mauer der Mühle heranreichte. Ihre Stimmen hallten so laut, daß Marjory sie trotz des Wasserrauschens hören, wenn auch nicht verstehen konnte. Dann waren die beiden plötzlich nicht mehr zu sehen, und es schien, als hätten sie sich durch eine Lücke in der Wand zu rückgezogen. Ihre Stimmen hallten nun sehr viel hohler und wurden immer leiser, bis sie gar nicht mehr zu hören waren. Marjory setzte sich neben dem Wasserlauf ins Gras und wartete. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und ließ die Stelle, wo Duane und Puff zuletzt zu sehen gewesen waren, noch dunkler werden. Im stillen fluchte Marjory auf Puff, die ihr schon auf den ersten Blick mißfallen hatte und nichts als Ärger verursachte. Was trieben die beiden nur da unten? »He, Duane, Puff! Wo steckt ihr?« Auskunft hatte sie nicht erwartet, aber daß die beiden nun 177
offenbar außer Reichweite zu sein schienen, bereitete ihr Bauchschmerzen. Hilfe hatte sich bislang auch nicht angebo ten, und sie war hin- und hergerissen: Sollte sie welche holen gehen oder lieber an Ort und Stelle abwarten? Eine vertraute Autohupe tönte dreimal von der Straße jen seits der Mühle her. »Maaarjory!« Rita Sues Stimme klang ungehalten. Marjory hielt ihren Blick starr auf das Wehr gerichtet und renkte sich den Arm fast aus bei dem Versuch, die Freundin herbeizuwinken. Doch Rita Sue verstand die Geste nicht. Boyce saß im Fair-lane und drückte wieder die Hupe. »Ich kann nicht...« Verzweifelt langte Marjory nach Duanes Schmetterlingsnetz und den anderen Sammlerutensi-lien. Zusammen mit ihrem Radio trug sie das Zeug den Hügel hinauf zur Holzbrücke, die den Mühlbach überspannte. Von hier oben war der Wasserfall kaum zu erkennen. Im schäu menden Wasser unter dem Rad war auch nichts zu sehen, ge nausowenig wie auf den schlüpfrigen Felsen unter dem Rund lauf der Mühle. Wären die beiden dort aufgetaucht, hätte Marjory sie sehen können. Auf dem Rundlauf standen einige Leute mit Kameras, aber von Duane und dem ausgeflippten Mädchen... keine Spur. Verflucht! Sie und der Radiodieb blie ben verschwunden. Boyce setzte den Wagen zurück und hielt neben Marjory an. »Wo habt ihr gesteckt?« fragte Rita Sue. »Im Wald.« »Hat wohl Spaß gemacht«, amüsierte sich Boyce. »Quatsch nicht!« Marjory warf das Gepäck auf die Rück bank. Dann kramte sie das Portemonnaie heraus und die Ta schenlampe, die sie mitgenommen hatte. »Duane ist ver schwunden. Keine Ahnung, was mit ihm passiert ist. Er ist mit einem Mädchen zusammen, das wir getroffen haben. Ihr ist das Radio gestohlen worden. Wenn die Polizei kommt, sagt...« Marjory zuckte mit den Achseln. »Ich weiß auch nicht was. Sagt einfach, sie soll hier warten.« 178
»Hat denn jemand die Polizei gerufen?« fragte Rita Sue. »Marjory, wo willst du hin?« »Runter zum Wasserfall. Die beiden sind da irgendwo. Ich muß sehen, was los ist.« Boyce sagte: »Glaubst du, daß er sich verletzt hat? Ich komm' mit.« »Ausgeschlossen, Boyce. Mit dem lädierten Fuß kommst du nicht weit. Bleib hier. Du auch, Rita Sue. Bitte.« »Ich will endlich wissen, was eigentlich Sache ist«, maulte Rita Sue. Doch Marjory schüttelte nur den Kopf und eilte über die Brücke und den Hang hinunter. Die Taschenlampe, die sie in der Hand hielt, war wasserdicht, was Marjory allerdings bis her noch nicht hatte überprüfen können. Das Gerinne und der Wasserfall lagen mittlerweile im Schatten. Das Sonnenlicht fiel schräg auf die Mühle und spiegelte glitzernd in den Fen sterscheiben. Marjory blickte hinunter auf die Felsen am Fluß des Wehrs, auf die das Wasser herabstürzte. Haare und Kleider waren schon feucht von der stiebenden Gischt; auf den nackten Armen und Schenkeln hatte sich Gänsehaut gebildet. Marjory hielt die Luft an, passierte das verrostete Schild (Vorsicht, Gefahr. Schwimmen verboten), stieg ins herabstürzende Wasser und darunter hinweg. Zwischen dem Wasserfall und dem alten Steinwehr lag ein enger, nasser Absatz, übersät mit unverrottbarem Müll: Bier dosen, Plastikbecher und Windeln, an Zweigen verhakt, die, mit Moos überzogen, an den Felsen klebten. Vor ihren Füßen lag eine nasse Ente mit gebrochenem Hals. Aus zahllosen klei nen Rissen im Fels des Wehrs, der nach oben hin bedrohlich weit ausragte, rannen dünne Wasserfäden. Die Luft war so feucht, daß es ihr fast unmöglich war zu at men. Obwohl sich Marjory geschickt bewegen konnte, fiel ihr jeder Schritt enorm schwer. Knapp fünf Meter weit war sie erst gekommen und schon zweimal ausgerutscht. An einem vom Wasser scharf gewetzten Felsrand hatte sie sich die rechte Wade aufgeritzt. Sie war naß bis auf die Haut, und die Zähne klapperten. 179
Von Duane und dem Mädchen war immer noch keine Spur zu sehen. Das von den Fenstern reflektierte Sonnenlicht durchdrang den Wasserfall und sorgte für gute Sichtverhältnisse, was Marjory aber auch nicht trösten konnte. Je weiter sie sich fort bewegte, desto mulmiger wurde ihr. Plötzlich fiel ihr Blick auf ein rundes Etwas, das in behäbiger Bewegung den Pfad vor ih ren Füßen überquerte. Marjory blieb wie angewurzelt stehen und biß sich auf die Lippen. Eine Schildkröte. Puh... Mit Schildkröten mochte sie es noch aufnehmen, aber beim ersten Anzeichen einer Ratte würde sie Reißaus nehmen, und dann konnte jemand anders nach den Verschollenen suchen. Möglich, daß sich, versteckt von der sprühenden Gischt, ein Loch im Boden auftat. Falls Duane dort hineingetappt war und Puff mit sich gerissen hatte... Jeder Schrei wäre vergeblich gewesen; es hätte die beiden hinabgezogen, unter dem ächzenden Mühlrad hinweg Gott weiß wohin, vielleicht bis zum See, der mehrere hundert Meter weiter unterhalb lag. Marjory kannte etliche Geschichten über Menschen, die auf unvorstellbare Weise ertrunken waren. Ihr eigener Vater hatte... Marjory preßte die Lippen aufeinander. Ihr war zum Heulen zumute. Aber umzukehren kam für sie nicht in Frage. Die Ungewißheit über den Verbleib der beiden war schlimmer als ihre Angst. Vorsichtig rückte sie weiter vor, wobei sie sich mit einer Hand am Überhang festhielt, das Gesicht abgewandt vom tosenden Wasserfall, der mächtig genug war, um sie bei einem Fehltritt umzuwerfen. Picknick. Was für eine blödsin nige Idee. Ausflüge ins Blaue waren ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack. Viel lieber spielte sie Baseball. Das felsige Wehr wölbte sich zum Ufer und Fundament der Mühle hin. Inmitten des Wasserfalls, nahe genug, um es mit ausgestrecktem Arm berühren zu können, rotierte das Rad. Marjorys Füße waren in den nassen Halbschuhen empfindlich kalt geworden. Das Licht nahm ab. Sie bewegte sich nun am Rand vorbei auf eine Kluft zu, die etwa doppelt so breit war wie sie selbst und zwischen Wehr und Mühle in den Fels 180
ragte. Wie Finger tasteten sich von oben die tropfenden Zweige der Weide vor. Von hier aus schien ein Weiterkom men nicht mehr möglich. Doch bevor Marjory umkehrte, schaltete sie die Taschenlampe ein und richtete den Strahl ins Dunkle. Wie von weit her meldete sich Rita Sue. Dann war auch plötzlich Duane zu hören; seine Stimme klang ähnlich weit entfernt. »He, Marjory! Bist du da draußen?« Marjory war so erleichtert, daß sie ihm am liebsten spontan um den Hals gefallen wäre. Hektisch suchte sie mit der Lampe die zerklüftete Felswand ab, bis der Strahl mit einem Male in einem Loch verschwand. »Duane!« Tief im Inneren der engen Höhle traf das Lampenlicht auf einen Gegenstand, der sich bewegte, auf gleicher Höhe wie sie, aber etwa hundert Schritte entfernt. Jetzt erkannte sie Duane und sah, daß er ihr zuwinkte. »He! Hier bin ich.« »Und wo ist hier? Ich hab' mir schreckliche Sorgen ge macht«, rief Marjory. »Wo ist Puff?« »Bei mir. Sie hat sich ein bißchen weh getan. Halb so wild.« »Was treibt ihr da bloß?« »Komm rein. Keine Angst. Hier ist eine Höhle. Die größte, die ich je gesehen habe. Wahrscheinlich zweigen noch weitere Gänge von hier ab. Ich würde mich gern ein bißchen umsehen.« »Spinnst du?« Von Puff war nun zu hören: »Hör mal hin, Duane. Das ist mein Radio. Das Schwein hat mein Radio eingeschaltet. Hörst du's?« »Ihr seid wohl beide übergeschnappt. Es ist dunkel da drin, und wer weiß, wozu der Kerl in der Lage ist. Kommt raus, solange ihr noch Gelegenheit dazu habt!« »Es ist gar nicht so dunkel hier. Das scheint nur so, wenn man hineinschaut. Von allen Seiten schimmert Licht, und das 181
ist noch nicht alles... Komm her, Marjory, das mußt du gese hen haben!« »Ich werde mich hüten.« »Wie du willst. Wir werden uns jedenfalls hier weiter umse hen und nach dem Radio suchen. Wahrscheinlich gibt es noch einen zweiten Ausgang irgendwo.« »Duane?« »Was ist?« »Ich komme. Aber warte und rühr dich nicht von der Stelle. Und versuch nur ja nicht, mich zu erschrecken. Ich bin sehr nachtragend. Sieh dich also vor!« Der Höhleneingang war nicht mehr als ein Loch in der Wand, etwa hüfthoch. Die ersten Meter stiegen leicht an und glichen einer Abwasserröhre; in kauernder Haltung ließ sich die Strecke problemlos bewältigen. Boden und Wände be standen aus grauem Fels und glitzernden Kristallen. Marjory kam sich vor wie in einer riesigen Druse. An manchen Stellen glitzerte das Licht der Taschenlampe blendend hell. Unter den Füßen knirschten und raschelten trockene Blätter und Fruchtgehäuse, die Marjory nicht näher bestimmen konnte und wollte. Auf jeden Fall schimmerte dieser fahle Teppich, vom Lampenstrahl getroffen, in sämtlichen Spektralfarben. Stellenweise sah die Laubschicht aus wie alte Schlangenhaut. Gütiger Himmel, dachte Marjory, und es lief ihr heiß und kalt über den Rücken. »Duane!« »Ja, hier bin ich. Kannst du mich sehen?« »Ich fürchte mich vor Schlangen!« »Die gibt's hier nicht. Ein paar Salamander vielleicht, aber die tun dir nichts. Nicht mal Fledermäuse sind hier, obwohl sie hier früher offenbar genistet haben.« Marjory erreichte das Ende des engen Tunnels und stieß unsanft mit dem Knie gegen ein hervorspringendes Kristall stück. Duane war zur Stelle und half ihr hinunter in die eigent liche Höhle. Puff saß lässig auf einem Stein und hatte ein Bein über das andere geschlagen. Sie schielte auf den Joint, den Duane ihr gegeben hatte. Die Haare klebten naß am Kopf und 182
hingen bis über die Brust herab. Sie hatte das Trägerhemd -chen ausgezogen und ausgewrungen, trug aber nach wie vor die Kette aus Haifischzähnen. Halbnackt, wie sie war, und mit entrücktem Blick glich sie einer Steinzeitprinzessin, grob und furchterregend. »Hallo, Marjory. Hier, zieh dir auch mal einen rein, dann stört's dich nicht mehr, so naß zu sein. Und wenn du die Ta schenlampe ausmachst, wirst du feststellen, daß es hier recht gemütlich ist. Wring dein Hemd aus, sonst erkältest du dich noch. Ich glaub', ich hab' mir schon was eingefangen.« Marjory schaltete die Lampe aus. Bis auf die Glut der Joint spitze sah sie nichts mehr. Aber dann war ein schwacher Lichtschein zu erahnen wie am Himmel vor der Morgendäm merung. Die Wände ringsum changierten grün und grau, waren von zahlreichen Sprüngen durchzogen, die sich schließlich als Quarzeinlagerungen ausmachen ließen. Allmählich konnte Marjory auch Duane und Puff erkennen, deren Umrisse sich dunkel vor einem lavendel-, ocker- und dunkelrosafarben schimmernden Hintergrund abzeichneten. »Wahnsinn«, kommentierte Puff, eine Wolke von Rauch ausblasend, die in der dünnen, klaren Höhlenluft erstaunlich scharf und ätzend roch. »Aber das ist noch nicht alles.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »Der Kerl steckt irgendwo da hinten. Weiter durch. Ab und zu dreht er das Radio auf. Ehrlich. Duane hat's auch schon gehört. Stimmt doch, oder?« »W-wie ist es m-möglich, daß man hier unten einen Sender empfängt?« flüsterte Marjory zitternd, der das gespenstische Echo in der Höhle ganz und gar nicht gefiel. »Gute Frage. Meistens rauscht's nur, aber gelegentlich sind auch Stimmen zu hören. Genauso wie vorhin, als ich im Wald war. Ich wette, dahinter steckt eine ganze Bande, die hier in der Höhle haust.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, entgegnete Duane. »Macht aber doch Sinn. Sie klauen, was nicht niet- und na gelfest ist, und verstecken die Beute hier unten.« »Und spazieren jedesmal durch den Wasserfall?« Duane mußte niesen und preßte die Hand über Mund und Nase. 183
»Viel zu umständlich.« Dann platzte es niesend aus ihm her aus. »Gesundheit«, meinte Puff und schlug aus unerfindlichen Gründen ein Kreuz mit der Zigarettenglut in die Luft. »Nun, vielleicht gibt's, wie du sagst, einen zweiten Ausgang. Und den werden wir hoffentlich bald finden, denn ich will langsam wieder trocken werden.« »Schätze, uns könnte Schlimmeres drohen, als naß zu sein«, sagte Marjory. »Zieh lieber das Hemd aus, bevor du dir eine Lungenent zündung einhandelst.« »Ummöglich. Ich geniere mich.« »Du kannst ja den BH anlassen. Hier, nimm einen Zug. Und dann sollten wir uns einen Plan zurechtlegen.« Marjory knöpfte das Hemd auf, drehte den beiden den Rücken zu, wrang das Hemd aus und zog es wieder über. »Es ist schon seit einiger Zeit nichts mehr zu hören gewe sen«, stellte Duane fest. »Ich weiß zwar nicht viel über Höh len, aber es könnte durchaus sein, daß sich diese hier über etli che Kilometer erstreckt. Dein Radio kannst du wahrscheinlich vergessen, Puff.« »Das soll wohl ein Scherz sein.« »Hör zu. Wir sind hier am Anfang der Höhle und haben noch ein bißchen Licht. Aber in spätestens drei Stunden geht die Sonne unter; dann ist es stockdunkel. Kannst du dir vor stellen, wie schnell man sich in einer Höhle verlaufen kann?« »Allerdings«, antwortete Puff kleinlaut. »Damit wäre alles gesagt«, bemerkte Marjory. »Noch nicht«, erwiderte Duane. »Du hast doch selbst gesagt...« »Die Höhle interessiert mich. Vielleicht stellt sich heraus, daß sie etwas ganz Besonders ist. So wie die in Kentucky, wo dieser Leichnam aufbewahrt wird in einem Sarg mit Glasdek kel. Der Name war Floyd Collins, wenn ich mich richtig erin nere.« »Was ist mit ihm p-passiert?« wollte Marjory wissen. »Lebendig begraben in der Höhle, die er entdeckt hat. Wie 184
dem auch sei, ich würde gern den Rest der Zeit nutzen, um mich ein bißchen gründlicher umzusehen. Solange wir den Wasserfall hören, können wir uns nicht verlaufen.« Puff und Marjory tauschten entgeisterte Blicke. Duane zuckte mit den Achseln. »Na schön, dann zieh' ich eben alleine los. Wir treffen uns am Ausgang. Marjory, leihst du mir die Taschenlampe?« »Duane, und wenn es wirklich so ist, daß hier eine Bande von Dieben haust... oder noch Schlimmeres?« Duane grinste. »Was zum Beispiel?« »Ich weiß nicht. Komm, laß uns wieder rausgehen.« »Zehn Minuten noch. Ich verspreche es. In zehn Minuten bin ich wieder zurück. Und wenn ich einen besseren Ausgang finde, ruf ich euch.« Puff stand auf. »Hört sich vernünftig an. Ich will nicht wie der naß werden. Ich komme mit.« Duane sah Marjory an. »Sei's drum. Ich hab' auch keine Lust, naß zu werden, will aber bloß hoffen, daß du weißt, was du tust, Duane.«
6 Er fand keine Musik. Das Radio spielte, brachte aber nur Stimmen hervor, die er nicht zu. hören wünschte. Warum hatte ersieh das Radio überhaupt angeeignet, und das bei hellichtem Tag, umgeben von Menschen? Das Geschrei des Mädchens, die wüsten Beschimpfungen... und das alles nur, weil er hungriger auf Radios war als auf Essen. Drei hatte er bereits gestohlen. In einer Woche nur. Musik ließ Stimmen verstummen. Aber jetzt war keine Musik zu finden. Arne? 185
Nein, ich will nicht hören. Diesmal kommen sie wirklich. Sie werden uns hier finden und verschleppen. Was soll ich dann tun? Das ist nicht nur die Stimme der Mutter. Auch andere stöhnen und bitten. Doch die bringt sie zum Schweigen. Nur seine Mutter hat das Recht, mit ihm zu sprechen. Du mußt jetzt gehen. Und paß auf, daß sie dich hier nicht fin den. Sieh zu, daß sie mich nicht finden. Komm endlich. Komm zu deiner Mutter. Du weißt, ich bin die einzige, die sich um dich sorgt. Ich bin nicht böse über das, wozu er dich getrieben hat. Das weißt du. Komm näher, Arne. Ich kann nicht. Liebling. Warum nicht? An... an seinem Grab... da hab' ich schwören müssen... Wie schrecklich von Enoch, wie gemein! Ach, das uns so etwas passieren mußte. Aber noch ist es nicht zu spät. Ich kann alles wieder gerade rücken. In deinem Herzen weißt du, daß ich recht habe. Da kommen sie. (Halt! Ihr bringt ihn durcheinander. Kein Wort mehr!) Männer, Arne. Mörderische Männer; sie werden dich aufhängen, wenn sie diesen Ort entdecken. Wie kann ich's dir erklären? Sie schleifen dich an den Füßen davon und legen dir einen Strick um den Hals, wenn du nicht... Schnell, rette dich, rette mich! Nimm mich in deine Arme! Mein Junge, mein lieber Sohn... »Mamaaaa!«
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7 Der blonde junge Mann trug ein T-Shirt mit aufgemalter Krawatte. Er sagte: »Wir suchen eine Freundin. Vielleicht habt ihr sie gesehen. Sie ist ungefähr einssiebzig groß. Braun gebrannt wie wir. Wir kommen aus Florida. Ach ja, und sie hat wahrscheinlich ihr Radio bei sich, Marke Grundig. Eine dieser großen Kisten. Smidge, weißt du noch, was sie anhat?« »Ich glaub', 'ne kurze Hose. Es sei denn, sie hat inzwischen die Sachen gewechselt. Und die Kette natürlich. Ich hab' sie noch nie ohne diese Kette gesehen. Du etwa, Deke?« »Genau, 'ne Kette aus Haifischzähnen. Daran erkennt man sie sofort. Sie heißt Brittany, nennt sich aber auch Puff.« Boyce sah Rita Sue an, doch die schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte Boyce. »Wir suchen selber Freunde von uns.« »Oh, hast du dich am Fuß verletzt?« »Ist ein Werkzeugkasten draufgefallen.« Deke sah sich um. Er schaute beduselt drein; seine Augen waren stark gerötet. Die Jeans und das T-Shirt hatten eine Wäsche dringend nötig. Der Kopf war fast kahl, das übrigge bliebene Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bis auf den Rücken herabhing. Smidge, das Mädchen, hatte eine wild zerzauste Mähne und die ausgehungerten Augen eines hübschen Werwolfs. Trotz des sonnengebräunten Teints wirkte sie in ihrer zaghaft verstörten Art wie ein Kellerkind, das erst vor kurzem ins Licht entlassen wurde. Beide, Smidge wie Deke, machten einen nervösen, verlorenen Eindruck. »Wißt ihr, wo's hier in der Gegend was zu futtern gibt?« frage Deke mit Blick auf Boyce und Rita Sue. »Wann haben wir eigentlich das letzte Mal gegessen, Smidge?« »In Tallahassee, glaube ich. Aber Puff hat alles Geld dabei. Und auch die Benzinkarte. Ich hoffe, sie hat sich nicht davon gemacht.« Rita Sue meinte: »Weiter oben an der Straße ist ein Lebens mittelladen. Da kriegt man Eiscreme und alles mögliche.« 187
»Danke, aber solange Puff nicht aufkreuzt, sind wir geknif fen. Deke, das Beste wär, wir gehen zurück in den Wald und warten da auf sie.« »Stimmt.« Dekes Augen leuchteten, als hätte er eine zün dende Idee. Er zeigte sich ziemlich wacklig auf seinen nackten, verstaubten Füßen. »Wie lange wartet ihr noch auf eure Freunde?« »Nicht mehr allzu lange.« Rita Sue betonte jedes Wort. »Na schön. Also dann, wenn ihr Puff seht... ihr wißt Bescheid. Was ich noch fragen wollte, Partner, du hast nicht zufällig 'ne Dose Bier im Auto?« »Alles ausgetrunken.« »Pech. Aber wenn ihr euch was Gutes gönnen wollt... ich hab' was zum Naschen dabei. Vom Feinsten. Seht uns an. Wir sind voll drauf. Übrigens, Smidge, wo steht eigentlich unsere Karre?« »Da hinten auf dem Hügel.« »Was hast du dabei?« hakte Rita Sue nach. »Trips.« Smidge entblößte ihren Überbiß und zeigte ein Lächeln, das Rita Sue veranlaßte, die Arme schützend vor der Brust zu verschränken. »Speed. Garantiert allererste Güte. Wollt ihr?« »Nein, danke.« »Toll, wie du deine Haare hingekriegt hast. Oder ist das Natur?« »Klar doch.« »Tja, kommt vorbei, wenn ihr Lust auf'ne flotte Party habt. Ich würde dich gerne näher kennenlernen. Wie war noch gleich dein Name?« »Rita Sue.« »Süß. Also, wir bleiben bestimmt noch ein, zwei Tage hier. Wer weiß? Vielleicht sehen wir uns wieder.« »Smidge, mir geht's nicht so gut. Laß uns gehen. Ciao.« Als die beiden davongezogen waren, sagte Boyce zu Rita Sue: »Komisch, wie die dich gemustert hat.« »Komisch ist wohl kaum der passende Ausdruck. Manchmal redest du wirklich dummes Zeug daher.« 188
»Wieso?« Boyce war sichtlich verletzt. »Mach dir nichts draus. Jetzt fängt mein Rücken an zu brennen. Du hast ihn nicht richtig eingeschmiert. Ich will nach Hause. Wenn Marjory Waller nicht in spätestens zehn Minuten hier ist, kann sie mit Duane per Anhalter zurückfahren. »Soll ich dir den Rücken einsprühen?« »Ich kann mir doch hier nicht das Hemd ausziehen. Vor all den Leuten.« »Komm, fahren wir ein Stück die Straße entlang. Vielleicht treffen wir unterwegs auf Duane und Marjory. Und wenn wir an einer lauschigen Stelle vorbeikommen, sprüh' ich dir den Rücken ein.« »Okay. Es brennt wie verrückt. Hinten auf den Schenkeln auch.« »Laß mich nur machen.« Die beiden sahen sich eine Weile an, bis Rita Sue die Lider senkte. »Laß uns zuerst ein Eis kaufen. Dann suchen wir uns ein schönes Fleckchen.« »Und wenn Marjory inzwischen hier aufkreuzt?« »Soll sie doch warten. Wir haben schließlich auch auf sie warten müssen.«
8 »Mamaaaaa!« »Um Himmels willen, was war das?« Marjory wußte nicht zu unterscheiden, ob das jämmerliche Geheul von einem Menschen oder einem Tier stammte. Zu dritt standen sie in einem Durchgang, der so eng war wie eine Besenkammer. Duanes Atem hauchte ihr über die Wange, und Puff hatte ihre abgekauten Fingernägel in Marjorys Oberarm gekrallt. Der Schein der Taschenlampe flackerte auf den kahlen Wänden hin und her. »Puff, laß mich los!« 189
»Entschuldigung. Das war er, nicht wahr? Das kann nur er gewesen sein.« »Ich weiß nicht«, antwortete Duane. »Vielleicht war's das Radio. Und überhaupt, in Höhlen sind oft die merkwürdigsten Geräusche zu hören. Manchmal hört man Stimmen aus meilenweiter Entfernung. Wer seiner Fantasie freien Lauf läßt...« »Duane, mach dich mal dünner, damit ich vorbeikomme.« »Wo willst du hin, Marjory?« »Nach draußen. Ich hab' die Nase voll. Hier kommt man sich ja vor wie Zahnpasta in der Tube.« »Sei kein Frosch«, sagte Puff, die sich immer noch an Marjorys Arm festhielt. »Eigentlich ist es doch richtig amü sant hier unten.« »Da, nimm die Taschenlampe«, erwiderte Marjory und drückte sich an Duane und der Höhlenwand vorbei, Stück für Stück. Am liebsten hätte sie sich schreiend Platz verschafft, doch dazu war sie zu erschöpft und langsam schwanden ihr die Sinne in der beklemmenden Enge. Die Köpfe der drei schwebten so dicht beieinander wie bei Tauchern, die sich eine Sauerstofflasche teilen. Marjory war vor Müdigkeit geneigt, sich einem Federbett gleich auf Duane niederzulassen und solange zu träumen, bis es ihr vergönnt sein würde, unter Bäumen wieder aufzuwachen. Aber es trieb sie hinaus aus diesem finsteren Loch. Weit konnte der Eingang nicht sein; zu langsam war ihr Tappen bis hierher gewesen. Plötzlich bekam Marjory einen Schluckauf, und Duane fing zu lachen an. Marjory stauchte ihn zurecht; sie fühlte sich brüskiert, doch der Schwindel milderte ihren Arger. Duane sagte: »Ihr zwei könntet hier warten. Ich will nur noch einen Blick hinter die Biege da drüben werfen. Mir ist, als hörte ich Wasser tropfen. Vielleicht weitet sich die Höhle dort.« »Ich komme mit«, sagte Puff spontan. »Marjory?« 190
»Nein, mir... kick!... reicht's.« »In spätestens fünf Minuten sind wir wieder da. In Ord nung?« »Schon gut. Aber nicht so weit... hick!« Sie holte tief Luft. Duane legte die Hand auf ihre Schulter. »Keine Bange, ich bin okay«, sagte Marjory. »Aber beeilt euch und kommt nicht auf Abwege.« »Auf Abwegen find' ich mich besonders gut zurecht«, meinte Puff. »Dann kann ja nichts passieren«, entgegnete Marjory schnippisch. »Danke für die Taschenlampe. Und schlag Krach, wenn du Hilfe brauchst.« »Hiiilfe«, quietschte Marjory wie eine Maus und erntete Gelächter. Aber das Lachen war irgendwie verzerrt und klang unheilvoll in der tintenschwarzen Enge. Ihr Blick klebte am Strahl der Lampe, als sich Duane und Puff davonmachten. Marjory kehrte nun um, stieg den Gang hinauf und tastete sich mit den Fingerspitzen an der Felswand entlang. Sie un terdrückte den Schluckauf, wurde aber wie von Krämpfen ge schüttelt, sooft sich der Reiz zu entladen versuchte. Das feuchte Gestein und die Dunkelheit waren ihr zuwider. Nach einer Weile glaubte sie, das milde Glänzen der Kammer beim Ausgang entdeckt zu haben. Sie schöpfte Mut und hörte Puff und Duane miteinander sprechen, hörte, wie die beiden Schritt für Schritt tiefer in die Höhle vordrangen. Als sie sich umdrehte, sah sie den Widerschein der Taschenlampe, ein kurzes Aufglimmen in den Quarzeinlagerungen der Fels wand. Puff brabbelte immer noch davon, wie wichtig ihr das Radio sei. Beschränkt, das Mädchen, befand Marjory, die sich aber ansonsten vor allem Gedanken um Duane machte. Daß er sich so sehr für Höhlen interessierte, war ja noch verständlich. Er war höhlenerfahren und hatte keine Angst. Aber hoffentlich ließ er sich nicht von Puff zu irgendwelchen Torheiten überreden. Marjory ging vorsichtig weiter. Obwohl die Füße nicht zu sehen waren, schaute sie angestrengt nach unten. Auch wenn 191
sie den Blick hob, war nichts zu erkennen. So schlaff und müde wie jetzt fühlte sie sich nur selten. Duane und Puff hatten aufgehört zu reden. Statt ihrer Stimmen war nun das Rauschen des Wasserfalls draußen bei der Mühle zu hören. Mar-jory zweifelte nicht daran, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Schließlich gab es nur den einen. Oder? Der Schluckauf hielt an. Sie blieb etliche Male stehen und rieb sich die gereizten Augen. Anschließend sah sie schwimmende Funken und Hirngespinste, die wie Ausschnitte aus vergessenen Träumen anmuteten. Doch jedwedes Licht, auch wenn es nur aus der Einbildung oder von Nervenimpuls en stammte, war ihr willkommen. Durchfroren wie sie war, fing ihr Körper immer heftiger zu zittern an. Die Gedanken drifteten ab. Marjory hatte den Ein druck, sich kopfüber voranzubewegen, was natürlich nicht sein konnte. Wie lange noch?' Das Rauschen schwoll allmählich an. Sie hielt sich offenbar genau auf Kurs. Allerdings war ihr, als dröhnte der Wasserfall lauter denn je. Doch hier in der Höhle wurden wohl alle Geräusche verstärkt, und womöglich hatte ihr die Angst die Sinne geschärft. Marjory zitterte und gähnte krampfhaft. Plötzlich schnellte der Kopf in die Höhe, und unsanft prallte sie vor die Wand. War sie im Stehen einge nickt? Wir sehr sehnte sie sich nach gleißendem, heißem Son nenlicht. Daran konnte kein Zweifel bestehen: Ein Höhlen mensch war sie nicht. Schon jetzt stand ihr letzter Wille fest: kein Begräbnis nach dem Tod. Auch Großtante Lillie Day Wingo hatte in ihrem Testament verfügt, eingeäschert zu wer den. Sie zählte seit eh und je zu den Kauzigen in der Familie. Tante Lillie Day. Hartgesotten wie ein Henker. Drei Ehemän ner hatte sie zu Grabe getragen. Dabei waren zwei von ihnen bloß mal eben weggenickt. Haha, wo hatte sie den Witz ge hört? Auf einer Lachparty? Weiter vorn wurde es deutlich heller. Das Wasser rauschte mit ohrenbetäubender Lautstärke. Wie im Licht der Morgen dämmerung flogen kleine Flecke, die transparentenen Vögeln glichen, durch den schiefergrauen Himmel. Enorm. Und dieses Gedonnere! Das mußte doch der Wasserfall sein, den sie 192
sehnend anstrebte. Doch was für ein Geräusch! Ein Luftzug wehte ihr ins Gesicht, ein kalter Schwall aus den tiefsten Tie fen der endlosen Dunkelheit. 0 nein. Bitte. Das darf nicht wahr sein. Ich kann mich doch nicht verirrt haben! In diesem Augenblick sah sie es, nicht weit entfernt und so hoch oben schwebend, daß sie den Kopf in den Nacken werfen mußte: das Unfaßliche, illuminiert und umschwirrt von zahl losen Motten, grazil, leuchtend, aber mit grausigem Gesicht, fast ohne jegliche Kontur und klobig wie ein Klumpen Teer; die Augen glühend rot und furchterregender als das schaurigste Objekt einer Geisterbahn. Der Schrecken ließ den Schluckauf schlagartig aussetzen; statt dessen entleerte sich die Blase über die Beine.
9 Rita Sue hob den verschwitzten Kopf von Boyces Schulter und sagte, noch ganz außer Atem: »Wehe, du verplapperst dich. Wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen verrätst, egal an wen, dann besorg' ich mir die Flinte von meinem Vati und schieß dir die Ohren ab. Im Ernst.« »Keine Angst. Ich liebe dich, Rita Sue.« »Ich liebe dich auch.« Es war dunkel in dem kleinen Ver steck, wohin sie sich zurückgezogen hatten. Entweder war die Sonne schon untergegangen, oder aber es zogen Regenwolken herauf. Gleich neben den beiden auf der Rückbank dudelte Marjorys Radio. Rita Sues blanker Po nistete immer noch in Boyces Schoß. Sie rührte sich nicht, konnte sich nicht bewe gen. »Paß auf, daß du nicht mit den Händen auf meinen Son nenbrand kommst. Meine Lippen sind geschwollen. Da hast du wohl reingebissen. Wie ich morgen aussehen werde!« Pro behalber rückte sie hin und her. »Gefallt dir das?« Boyce holte tief Luft und meinte: »Und ob. Ich tu' dir doch nicht weh, oder?« 193
»Zu Anfang hat's ein bißchen gepiekst. Dabei war ich auf Schlimmeres gefaßt. Aber ein Hot dog ist auch nicht größer, wenn man das Brötchen wegläßt.« »Tja, ich bin nun mal klein gebaut, genau wie mein Daddy. Muß wohl in der... oh, Mann... Familie liegen.« »Genau richtig für mich«, gurrte Rita Sue und fuhr mit den Fingern durch seine strohblonden Haare. »Bleibt der Kleine jetzt die ganze Zeit über stehen?« neckte sie. »Nur, solange du auf mir sitzt, Täubchen.« »Das will ich auch gemeint haben. Erzähl mir, wie es sich anfühlt?« »Oh. Rita Sue! Wunderbar.« »Ich glaube, du solltest dich jetzt sputen. Ich bin dir nämlich weit... voraus.« Draußen schüttelte der Wind die Bäume und ließ die Blätter silbrig aufschimmern. Regen trommelte auf das zugeklappte Faltdach. »Boyce!« »He?« »Sag was Schlüpfriges, während wir's treiben.«
10 Marjory glaubte ihren Augen nicht trauen zu können. Aber was sich ihren Blick darbot, war nichts anderes als Arne Horsfall, der gerade dabei war, eine schwarze Mumie zu stehlen. Ein gewaltiger Schwarm von Lunamotten flatterte lumi neszierend in der tiefen Höhle aus geriffeltem, ausgewasche nem Kalkstein und folgte dem Mann wie ein Kometenschweif. Erstaunlich. Er war an die hundert Schritte von Marjory entfernt und schleppte das klobige Ding mit beiden Armen gangaufwärts davon. Für Marjory bestand dennoch kein Zweifel: Das war Arne Horsfall; nie würde sie sein Gesicht vergessen. 194
Aus einer Felsspalte ergoß sich eine mächtige Wasserfon täne zehn Meter tief in ein brodelndes Becken, was das don nernde Rauschen erklärte, das Marjory dem Überlauf vor der Mühle zugeschrieben hatte. Unerklärlich war ihr allerdings, wie sie sich hatte verlaufen können. Doch Angst empfand sie merkwürdigerweise kaum, trotz der gespenstisch schimmernden Motten, die auf sie zuschwirrten und die Luft mit zarten, wie von Blutstropfen gefleckten Flügeln aufrührten. Statt dessen wurde ihr vor schierem Entsetzen ganz heiß, und es schien, als schreckten die Motten zurück, von denen immer noch ein großer Teil die rot-äugige Mumie, die Arne auf den Armen trug, wie ein Leichentuch verhüllte. Bald hatte Marjory sich halbwegs gefangen; sie konnte wieder Luft schöpfen, ohne zu schreien, und daß sie erneut naß bis auf die Knochen wurde, machte ihr auch nichts mehr aus, zumal am Ausgang der Höhle sowieso ein kalter Schauer auf sie wartete. Arne kletterte vorsichtig über steinerne, vom Wasser ge formte Stufen einer Nische hoch oben in der Wand. Marjory sah die Augen des schwarzen Kopfes feurig glühen und hörte einen Wutschrei, der sie zusammenfahren ließ. Sie hörte... Aber das war unmöglich. Das Wasser donnerte viel zu laut. Sie würde nicht einmal sich selber hören, auch dann nicht, wenn sie wie am Spieß schrie. Ohne lange nachzudenken, blähte sie die Lungen auf und brüllte, bis ihr der Hals weh tat. Zu hören war wirklich nichts. Arne Horsfall zeigte keine Reaktion. Schwankend stieg er wei ter inmitten einer Wolke aus schimmernden Motten, die seine Haut limonengrün aufleuchten ließen. Schließlich hatte er die Felsnische erreicht, die offenbar einen Durchlaß bot, denn Se kunden später war er verschwunden. Nur ein flimmernder Widerschein blieb zurück. Marjory fragte sich, wie es zu diesem Licht kommen konnte, dachte aber nicht lange nach über die Lunamotten. Arne machte einen zielstrebigen Eindruck, und es war durch aus möglich, daß er den Ausweg kannte und darauf zusteu 195
erte. Es riet sich also, ihm und der Leuchtspur der Motten zu folgen, anstatt auf eigene Faust in der Dunkelheit umherzuir ren. Die Erregung flaute ab; Marjory fing wieder an zu frieren und zitterte am ganzen Körper. An der hohen Wand führte ein Weg über den Wassersturz hinweg: gefährlich schmale, krumme Stufen durch Tropfsteingebilde hindurch, die so glä sern und zerbrechlich wie ein Windspiel wirkten. Immerhin reichte noch das Licht, um sehen zu können. Aber was wäre, wenn die Motten weiter fort zögen, sich durch einen Spalt ver flüchtigten oder gar absterben würden - einfach so? Verlösch ten, ein Fünkchen nach dem anderen? Marjory bekam es wie der mit der Angst zu tun und glaubte, erstarren zu müssen; stocksteif wähnte sie sich schon zwischen den Stalagmiten ste hen, verwachsen und zum Verwechseln ähnlich mit dem Kalkgerippe ringsum. Von ihr bliebe dann bestenfalls ein kleines Foto an der Wand von Enids Enkelkindern - falls Enid nichts passierte. Doch wieso sollte sie sich ausgerechnet jetzt um Enid mehr Sorgen machen als um ihre eigene Person? Sie, Marjory, war es, die in der Klemme steckte, nicht Enid. Enid aber war es, die Arne Horsfall nach Hause eingeladen hatte. Damit hatten alle Schwierigkeiten angefangen, und deren Ende war noch nicht in Sicht. Nicht, solange er lebt. Dieser Gedanke brachte Marjory wieder in Schwung. Die Angst wich der Sorge um ihre Schwester, der, arglos wie sie war, Gefahr drohte, falls Marjory Arne Horsfall aus den Augen verlieren und ihn nicht würde aufhalten können.
11 »Was sind das für Viecher?« fragte Puff. Sie war einen Schritt hinter Duane, hielt seine linke Hand und packte nervös zu. Er ließ den Strahl der Taschenlampe, die er in der Rechten hatte, 196
langsam über die Wände der Kammer gleiten, die sie gerade betreten hatten. »Das sind doch nicht etwa Fledermäuse? Ich geh' keinen Schritt weiter, wenn das Fledermäuse sind.« »Lunamotten«, antwortete Duane. »Die größten, die es gibt. Reg dich wieder ab, Puff!« Sie hatte ihre Fingernägel tief in seinen Handteller gekrallt. »'schuldigung. Leben die hier unten?« »Ich weiß nicht. Normalerweise legen sie ihre Eier im Laub der Bäume ab, damit die Larven was zu fressen haben. Puff, mach mal für einen Moment die Augen zu.« »Nur, wenn du zuerst den Arm um mich legst.« »Was soll der Unsinn? Ich will die Lampe ausschalten, wei ter nichts.« »Ehrenwort?« »Du kannst mir glauben.« »Also gut. Die Augen sind zu.« Gleichzeitig wurde ihr Handgriff fester. »Keine Tricks. Ich kann's nicht leiden, wenn man mich austrickst. Dann dreh' ich durch. Hast du auch die Augen zu?« »Ja.« »Duane, sag mal. Wie alt bist du eigentlich?« »Sechzehn.« »Nicht möglich. Ich hätte dich für älter geschätzt. Die mei sten Jungs, mit denen ich in letzter Zeit was hatte, waren um die fünfundzwanzig und gingen stramm auf die Teens zurück, wenn du weißt, was ich meine. Bist du etwa noch in der HighSchool?« »Ja. Vorletzte Klasse.« »Ich wette, die Mädchen fliegen auf dich, und wahrschein lich hast du's schon mit einigen gehabt. Wie steht's eigentlich zwischen dir und Marjory?« »Du kannst jetzt die Augen wieder aufmachen.« »Und? Hast du dem Dornröschen, ich meine Marjory, auch schon die Augen geöffnet? Das Spielchen hat früher mein Va ter mit mir getrieben.« Sie legte die Hand ans Gesicht und be rührte mit den Fingerspitzen die Stirn, doch der Verdruß und der Schmerz in ihrer Miene waren nicht zu verbergen. »Ich 197
war immer die Prinzessin, wenn ich ihm an die Wäsche sollte. Wenn ich ihm aber die Stiefel putzen mußte, nannte er mich >Corporal Puff<.« Die Lider blinkten, als sie die Hand sinken ließ und über Duanes Arm strich. »Du hast ja Gänsehaut. Meinetwegen etwa... oh, mein Gott!« »Die Falter leuchten im Dunklen. Ich bin selber überrascht. Offenbar stammt das Licht, das schon in der letzten Kammer zu sehen war, von den Motten. Es wird bestimmt von den Kristallen in der Wand übertragen.« »Mann, das ist ja fantastisch! Wie im Märchen. Was glaubst du, wie viele...« »Abzählen werden wir sie wohl nicht können. Der Raum hier ist ungefähr zwanzig Meter lang, sechs hoch...« »Spinnweben. Überall auf dem Boden. Sieht aus wie... wie Engelshaar. Oder Zuckerwatte.« »Ich vermute, das sind Seidenfäden. Auf keinen Fall sind's Spinnweben. Erstaunlich. Ich sehe nirgends Mottenlarven. Anscheinend kommen die Falter, nachdem sie geschlüpft sind, hierher. Augenblick mal...« »Was ist?« fragte Puff irritiert. »Ich bin mir nicht sicher.« Duane kniete nieder, schaltete die Taschenlampe wieder ein und stocherte vorsichtig in einem der flauschigen Seidenknäuel herum. »Paß auf! Womöglich versteckt sich was darunter. Spinnen zum Beispiel.« »Ach was, das Zeug hat keine Spinne gesponnen.« Duane zupfte etwas zum Vorschein, daß wie ein verdrehter Perga mentstreifen aussah. Er runzelte die Stirn. »Könnte zu einem Kokon gehören, aber...« »Du hast einen schönen Rücken«, sagte Puff, beugte sich über ihn und pustete ihm in den Nacken. »Warum läßt du die Haare nicht wachsen und bindest sie hinten zusammen? Ich finde Männer mit Pferdeschwanz enorm sexy.« »Können wir nicht von was anderem reden?« »Bring' ich dich in Verlegenheit?« neckte Puff. »Nein.« Duane faltete den pergamentenen Streifen zusam men und steckte ihn behutsam in die Tasche des feuchten 198
Hemds. »Solange wir hier sind, will ich mich umsehen. Viel leicht ist da hinten...« »Du willst doch nicht etwa durch diese haarige Scheiße lat schen?« »Warum nicht? Ist bloß Seide. Und genau das finde ich seltsam.« »Wieso seltsam?« »Weil Lunamotten keine Seide spinnen. Das Zeug muß also woanders herkommen. Vielleicht sind Seidenwürmer hier un ten gezüchtet worden. Allerdings fressen die jede Menge Maulbeerblätter, und davon ist keine Spur zu sehen. Kann natürlich sein, daß es schon Jahre her ist, daß...« »Duane, sieh mal!« »Was ist?« »Da, wo du gerade deinen Fuß hinsetzen wolltest.« »Oh, ja.« Er schaltete die Lampe wieder ein und schwenkte den Strahl über eine Reihe von Fußabdrücken in dem matt glänzenden Seidenteppich. »Hier war jemand. Und zwar vor kurzem erst.« »Der Hund, der mein Radio geklaut hat.« »Sieht ganz danach aus.« Duane schaute soweit der Licht strahl reichte. »Da ist er lang gegangen.« »Vielleicht hält er sich irgendwo in der Nähe versteckt«, flüsterte Puff. »Glaub' ich nicht. Er ist hier nur vorbeigekommen.« »Laß uns rausfinden, wo er hingegangen ist.« »Marjory wird sich Sorgen machen.« Duane nagte an der Unterlippe und entschied: »Na gut. Mir nach.« »Vorausgehen wollte ich ohnehin nicht. Du hast recht. Es ist wunderschön hier und gleichzeitig seltsam. Was sagtest du noch, wovon die Seide stammt?« »Von den Larven der Seidenmotte.« »Aber du hast doch von Würmern geredet.« »Im Grunde sind's aber...« »Verstehe, sie sehen nur aus wie Würmer. Sobald dir einer unter die Augen kommt, sag mir Bescheid, denn falls ich auf so 'nem Scheißwurm ausrutsche, mußt du dir verdammt noch 199
mal was einfallen lassen, um mit mir wieder ins reine zu kom men.« »Quatsch nicht so viel und setz dich endlich in Bewegung.« »Was glaubst du, wie lange es dauert, diesen ganzen Haufen zu spinnen?« »Ein Faden kann bis zu tausend Meter lang sein. Übrigens, darüber wundere ich mich auch: Seidenwürmer spinnen eier förmige Kokons.« »Duane?« »Ja.« »Sieh dir mal die Höhle an. Findest du nicht, das sie wie ein Ei von innen aussieht?« »Du hast recht.« »Vielleicht latschen wir hier durch einen riesigen Kokon.« Plötzlich stürzte sie gegen Duane und brachte ihn fast zu Fall. »He, paß auf, wo du hintrittst!« »Tut mir leid. Ich bin irgendwo hängen geblieben. Das sind ja regelrechte Fußangeln, diese Seidenfäden.« »Setz deine Füße in meine Abdrücke.« »Mir ist wie auf 'nem Horrortrip. Kein Scheiß. All die Schmetterlinge und verrückten Farben...« »Das sind Lunamotten.« »Und dieser Kokon! Oder wie war der Name? Weich wie ein Bett. So ein Bett wollte ich immer haben, als ich ein kleines Mädchen war. Würmer sind hier doch keine, oder? Andernfalls hätten wir bestimmt schon welche gesehen, stimmt's?« »Keine Angst, ich bin sicher, daß hier keine sind. Jedenfalls schon lange nicht mehr.« Duane wurde an der Hand zurück gehalten und drehte sich um. »Na, du?« sagte Puff grinsend. Sie hatte ihr langes Haar über die Schulter zurückgeworfen und die Brüste entblößt. Das heile Auge schimmerte lüstern, das schielende wirkte verloren und verheult - Zwillinge mit gänzlich verschiedenen Temperamenten. Die Seidenkissen am Boden reichten dem Mädchen fast bis zu den Knien. »Ach, Puff, was soll das?« »Komm und nimm mich!« sagte sie, befeuchtete mit der 200
Zungenspitze die Unterlippe, knöpfte die kurze Hose auf und ließ sie fallen. »Ich zittere am ganzen Körper; es ist so kalt hier. Wärm mich, Duane.« Sie hob einen dicken Seidenbausch vom Boden auf und bedeckte die Scham, deren Haare auf die Form einer kleinen Pfeilspitze ausrasiert waren. Dann drehte sie sich um und lief den Weg zurück, den sie gekommen waren. Nach wenigen Schritten ließ sie sich la chend auf das wattige Seidenpolster fallen und strampelte, langsam tiefer sinkend, mit den Füßen in der Luft herum. »Einfach spitze, Duane. So weich. Unbeschreiblich. Das mußt du erlebt haben.« »Ich weiß nicht...« »Sei kein Frosch! Deine Freundin wird auch nichts erfahren. Beeil dich!« Duane holte tief Luft und massierte die heftig pochende Halsschlagader. Trotz aller Bedenken langte er schließlich an die Gürtelschnalle. In diesem Moment stieß Puff einen Schrei aus, der sich an hörte, als würde eine Katze vom Staubsauger verschluckt.
12 Marjory lauschte. Es donnerte wieder; ein dumpfes Poltern hallte herbei, als wäre irgendwo im Labyrinth der Stollen die Decke eingestürzt. Angst um ihr Leben hatte sie nie zuvor empfunden. Selbst in der schrecklichen Nacht, als ihre Eltern starben, war ihr mit keinem Gedanken die eigene Sterblichkeit in den Sinn ge kommen. Jetzt stand sie hilflos da und wußte nicht weiter. Arne Horsfall, der sich hier unten entweder sehr gut auszu kennen oder aber von einem mysteriösen Radarsignal gelotst zu werden schien, war spurlos verschwunden und mit ihm die von Motten umschwirrte Mumie. Zwar hatte er sich, alt und gebrechlich wie er war, nur langsam fortbewegen können, aber allem Anschein nach ein klares Ziel vor Augen gehabt. 201
Marjorys linkes Knie schmerzte so sehr, daß ihr ganz flau wurde. Sie war in einer Felsnische auf einem schmalen Steg ausgerutscht und hatte sich das Bein verrenkt. Nun konnte sie den Fuß kaum aufsetzen. Arne war, ohne etwas von ihr be merkt zu haben, weitergezogen, und auch das Licht der phos phoreszierenden Motten war inzwischen verloschen. Marjory steckte nun doppelt in der Klemme: Nicht nur die Dunkelheit, sondern auch das lädierte Knie machten ihr zu schaffen. Sie hörte das ferne Donnern und erschauderte bei dem Gedanken an zerberstendes Gestein, an Atemluft raubende Staubwolken, an Verschüttung bei lebendigem Leibe. »Arne! Arne Horsfall! Ich bin Marjory, Marjory Waller! Wo sind Sie? Helfen Sie mir! Bitte, helfen Sie mir!« Nach dem dritten Versuch, Arne Horsfall zu rufen, brach sie aus Verzweiflung in Tränen aus. Er war verschwunden und vergeblich all ihr Bemühen, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Sie hörte nichts als das eigene panische Keuchen und den Donner von weit her. Dann aber sah sie tief in der Dunkelheit ein Flackern von Licht, dem Aufleuchten eines Streichholzes gleich. Sie hielt die Luft an, um wie in yogahafter Konzentration die Sinne zu schärfen. Was war das? Es rauschte, als ob sich ein Wind er hoben hätte. Anscheinend strömte von außen Luft herbei, die sich im Geflecht der Gänge und Stollen verflüchtigte. Und nach wie vor donnerte es grollend. Marjory atmete wieder langsam durch und rieb sich das verletzte Knie. Falls es sich tatsächlich um Donner handelte und nicht um einstürzende Felsen, dann... Da, Gott sei Dank, flammte wieder das Licht auf, und zwar an derselben Stelle wie zuvor. Marjory hatte sich nicht getäuscht. Dort hinten war eine Öffnung nach draußen, wo sich ein heftiges Gewitter zusammenballte. Die Blitze zeigten ihr den Weg, und wenn sie nicht im Dunklen zu Tode stürzte, würde sie noch einmal davonkommen...
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13 »O Gott! Duane, es hat mich erwischt!« Duane sah, wie Puff aus dem seidenen Nest aufzuspringen versuchte und, mit der Hand ausgreifend, den Kopf in den Nacken warf. Doch sie kam nicht auf die Beine, schien immer wieder auszurutschen oder zurückgehalten zu werden und versank, so sehr sie sich auch wehrte, immer tiefer im Kokon. Duane eilte auf sie zu, kam aber im dichten Seidengespinst nur langsam voran. Er torkelte wie unter dem Einfluß von Al kohol, suchte Halt mit den Füßen. Die Haare standen ihm zu Berge, denn das Mädchen schrie wie am Spieß. Plötzlich trat er auf einen Gegenstand wie aus Leder und Knochen, kam ins Straucheln und stürzte auf das Mädchen, das seinen Arm umklammerte und mit der freien Hand auf ihn einschlug. Er packte Puff, suchte mit einem Fuß Halt auf dem Boden und zerrte sie in die Höhe. Ihr Gesicht kam bis auf wenige Zentimeter an das seine heran, und ihm war, als sähe er es zum ersten Mal, so angstverzerrt war ihre Miene. Dabei schien sie überhaupt nicht verletzt zu sein. Sie war nur eine halbe Portion, er dagegen ein kräftiger jun ger Mann. Er wirbelte sie herum und richtete die Taschen lampe auf ihren nackten Rücken und die feucht glänzenden Hinterbacken. Wunden waren keine auszumachen, abgesehen von kleineren, gelblichen Blutergüssen an einer Hüftseite, wo die Haut ein wenig heller getönt war. »Puff, hör auf mit dem Theater! Es ist doch nichts passiert.« Immerhin fand er die Szene, die sie ihm bot, nicht uninteres sant. Einen hysterischen Anfall dieser Art hatte er bislang noch nicht erlebt. Sie übergab sich und verdrehte die Augen wie ein Pferd mit gebrochenem Lauf. Seine Selbstbeherrschung geriet nun auch ins Wanken; ihm wurde mulmig. Außerdem versetzte ihn ihr nackter Anblick in heftige Erregung, die jedoch schlagartig gedämpft wurde, als Puff ihm aus Versehen ein Knie zwischen die Beine rammte. »Auuu! Was ist eigentlich los mit...« Dann sah er die Ursache im Schein der Lampe, halb ent 203
blößt am Boden liegen, dort wo Puff herumgestrampelt hatte, die nun, am ganzen Leib zitternd, an Duane hochzusteigen versuchte, ihn mit Speichel beschlabberte und ein leises Wim mern von sich gab. Duane wich mit ihr zurück; er mochte sei nen Augen nicht trauen, zielte mit dem Lampenstrahl auf das Unfaßbare und preßte Puff, so fest er konnte, an sich. Und er war stark, brachte eine Hundert-Kilo-Hantel in die Höhe. Puff bekam keine Luft mehr. Ihr Kopf fiel schlaff auf seine Schulter. Duanes erster Gedanke war: ein toter Nigger. Der schrecklich ausgemergelte Körper war schwarz vom Scheitel bis zu den ledrigen Zehennägeln, schimmerte aber leicht rötlich im gebündelten Licht der Taschenlampe. Das eine Knie des nackten, eindeutig männlichen Leichnams, war wie in entspannter Pose angewinkelt; die Arme lagen seitlich ausgestreckt. Die Penisspitze sah aus wie jener kleine OnyxStein, den Duanes Mutter in einer Höhle in Mexiko gefunden und ihrem Sohn geschenkt hatte. »Halt mich!« stöhnte Puff. Er hörte ihr Herz schlagen, spürte ihre Zähne im Nacken und fürchtete, gebissen zu wer den. Und mit gereizter Stimme sagte er: »Das ist doch nur... eine Art Mumie. Die tut dir nichts. Der Himmel weiß, wie lange sie hier schon rumliegt.« »Duane...« »Hast du dich beruhigt?« »Huhh, hu. Ohhh, Duane. Da ist noch wer!« »Wo?« »Laß mich nicht los!« »Keine Bange.« Er lockerte den Griff, mit dem er sie ge packt hielt. »Halt mich nicht für eine Memme. Ich hab' nicht mal ge heult, als ich die Abtreibung hatte. Aber das hier... entsetz lich...« Duane richtete die Taschenlampe auf die zweite Leiche, über die er gestolpert war, als er Puff hatte zu Hilfe eilen wol len. »Allmächtiger!« sagte Puff. »Das ist doch eine Frau, oder?« 204
»Ja.« »Sieh mal. Da, am Hals. Sie tragen beide was um den Hals.« »Scheinen trockene Ranken zu sein.« »Weißt du, was ich denke? Sie sind umgebracht und hier versteckt worden. Duane?« »Was ist denn?« »Zum Vögeln ist mir die Lust vergangen. Aber später viel leicht, wenn wir beide draußen sind... Laß mich los; ich will mir die Hose anziehen.« »Okay.« »Kommst du mit mir?« »Ja, Augenblick noch«, antwortete Duane und schwenkte den Lampenstrahl suchend umher. Dann trat er mit vorsichti gen Schritten auf den glänzenden Seidenberg zu, beugte sich vor und schob das Gespinst beiseite. »Rate mal, was ich hier sehe.« Puff fing an zu lachen. »Ich will's nicht wissen.« »Hier liegen insgesamt drei.« Duane richtete sich auf und schaute umher. »Wenn wir gründlich suchen, finden sich wo möglich ...« »Ohne mich. Ich geh' raus. Aber zuerst muß ich irgendwo Wasser lassen. Kann ich mal die Lampe haben?« »Sicher.« Duane interessierte sich nur noch für seinen Fund und warf dem Mädchen die Taschenlampe zu. Doch Puff stellte sich ungeschickt an und langte daneben. Die Lampe landete im Seidenkokon, wo sie mit metallischem Klirren auf einen festen Gegenstand prallte. Oben, unter der Höhlendecke, fingen Flügel lautlos zu schwirren an; im Schwarm der Lunamotten blinkte flackernd mattes Licht. Aus Puffs Radio war mit einem Male statisches Knacken zu hören, heftig und in voller Lautstärke. Und dann meldeten sich die Stimmen.
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14 Marjory kroch durch den engen Ausgang ins Freie. Sie genoß den Regen, der in Strömen vom Himmel fiel, wie jemand, der gerade dem kühlen, knochentrockenen Grab entstiegen war. Wie mochte es wohl sein, der Tod? Darüber hatte sich Marjory eigentlich noch nie Gedanken gemacht. Jedenfalls glaubte sie nicht daran, was man ihr als Kind über das Leben nach dem Tod erzählt hatte, daß nämlich Engel, mit Sandalen beschuht und auf Wolken sitzend, monoton frohlockten, während irgendein Heiliger aus einer Urteilsschrift Marjorys Namen laut verlesen würde. Diese Vorstellung schmeckte ihr so wenig wie der Gedanke an eine bis in alle Ewigkeit fortgesetzte Schulzeit. Vergnügungen wie auf der Kirmes sagten ihr mehr zu. Wer in den Himmel durfte, hatte doch wohl zumindest eine lustige Karussellfahrt verdient. Und wenn es denn sein mußte, gerichtlich untersucht zu werden, warum verlegte man den Prozeß nicht in ein Spiegelkabinett, in dem das eigene Leben noch mal von Anfang bis Ende Revue passiert? Hier bin ich im Alter von drei Jahren und gerade dabei, einer Katze Konservendosen an den Schwanz zu binden. Dort bin ich dreizehn - Ich weiß, daß ich irgendwann sterben muß, aber bitte erinnert mich nicht. Marjory preßte die Lippen aufeinander, bemüht, ihre Erre gung unter Kontrolle zu halten. Wo waren bloß Duane und Puff? fragte sie sich. Und wo war sie? Ein greller Blitz, der den Zacken einer riesigen Mistgabel gleich auf die sturmge peitschten Bäume vor ihr einzustechen schien, ließ sie zusam menzucken. Die Regentropfen im Gesicht mischten sich mit salzigen, heißen Tränen, und erst jetzt fiel ihr auf, daß sie weinte. Obwohl noch früh am Abend, war es zwischen den Blitzen schon ziemlich dunkel. Der Höhlenausgang oder -eingang führte mit steilem Ge falle in einen flachen Hügel und war knapp einen halben Meter breit. Ringsum wucherten Rhododendronbüsche. Auch wer die Stelle genau kannte, würde selbst bei hellem Tageslicht Schwierigkeiten haben, das Schlupfloch auszumachen. 206
Die glänzenden Rhododendronblätter schirmten den Regen halbwegs ab, während Marjory, wenige Meter vor der Höhle hockend, das verrenkte Knie massierte. Hier wollte sie eine Weile warten, bis das Gewitter vorübergezogen war. In den Stollen zurückzukehren, kam nicht in Frage. Die Blitze ängstigten sie nicht. Nicht sehr. Doch dann flackerte es unver sehens außergewöhnlich hell auf, und im grellen Licht sah sie, was ihr unter normalen Umständen nicht besonders bemer kenswert erschienen wäre, sie nun aber erschauern ließ. Es war ein Schuh, ein schwarzer Herrenschuh, der sich mit Regenwasser füllte. Von der Art der billigen Treter, wie sie Arne Horsfall getragen hatte, als er am Sonntag zu Besuch ge kommen war. Für Marjory stand fest: Dieser Schuh gehörte Arne Horsfall. Er mußte wie sie über diesen Weg gekommen sein, bepackt mit der rotäugigen Mumie - nein, wahrscheinlich hatte er sie durch das Gebüsch geschleift. Marjory schluckte auf und schmeckte Bitteres auf der Zunge. Aber warum länger darüber nachdenken? Arne Horsfall konnte ihr einerlei sein. Sie wollte nichts davon wissen, daß er Radios stahl und mit der Leiche eines Niggers durch Höhlen schlich... Doch eines ließ ihr keine Ruhe. Was Arne da getragen hatte, konnte unmöglich tot sein - nicht mit diesen Augen, die, tief unten in der Höhle, zu sehen vermochten, wofür Arne blind gewesen war: Sie hatten Marjory entdeckt. Oben aus den Zweigen fiel ihr etwas aufs Gesicht und klebte an der Wange fest. Ein Blatt war es nicht, dafür fühlte es sich zu fein und papieren an. Als Marjory sich übers Ge sicht wischte, erwies sich das lästige Ding als tote Lunamotte - wie auf die Haut tätowiert. Vor Ekel würgend, schlenkerte Marjory den Falter ab und kroch hastig auf Händen und Knien aus dem Gebüsch. Aber wohin? Am Himmel flammte Wetterleuchten; durchs Dunkel zogen helle Spuren, so fein und verästelt wie Eierschalenrisse. Der Regen schien nachzulassen und fiel schnurgerade herab. 207
Marjory wähnte sich nach wie vor im Gebiet des Parks von Dantes Mühle, irgendwo zwischen dem Seeufer und der Hauptverkehrsstraße. Fröstelnd schlug sie sich durch tropfnasses Dickicht und ging talwärts, den Hügel und den Einstieg zur Höhle hinter sich lassend. Im Licht der aufzuckenden Blitze fand sie einen gangbaren Weg. Von Ferne donnerte es. Marjory? So leise war der Name ausgesprochen, daß sie sich die Stimme nur eingebildet zu haben glaubte. Marjory blieb auf Zehenspitzen stehen und setzte vorsichtig die Fersen auf den feuchten Grund, schaute sich um, warf einen ängstlichen Blick zurück und sah... nichts. Heftig und wie vom schreckhaft schlagenden Herzen ange stachelt, fuhr ihr Kopf wieder herum, aber auch nach vorn hin war nichts zu erkennen außer dem sanft flackernden Wet terleuchten hinter der Silhouette eines hochgewachsenen Ka stanienbaums auf freiem Feld, einem Baum wie aus Kinder büchern, dessen knorriges und zugleich wolkig ausbauschendes Geäst zum Klettern einlud und zu Mutproben unter Freunden. Marjory fand genügend Zeit, um den Baum zu be trachten, denn der Himmel war nun ein einziges Leuchten, und es schien, als strahlte der Baum aus eigener Kraft, als umgäbe ihn eine rätselhafte Aura in blassen Farben, vor allem golden mit einer Spur von Grün, wie es sich auf Kupferdächern zeigt. Und je länger sie hinschaute, desto mehr war sie überzeugt davon, daß der Kastanienbaum einen Zauber barg, denn in seiner exponierten Stellung wäre er sonst bestimmt schon vor langer Zeit irgendeinem Gewittersturm zum Opfer gefallen. Ja, hier lang. Schreck laß nach!Es war nicht schwer, sich vorzustellen, daß der Baum eine Stimme hatte. Plötzlich goß es wieder in Strö men, und die Äste bewegten sich wie in geheimer Gebärden sprache. Der Fantasie standen Tür und Tor offen, doch Mar 208
jory, trotz ihres Talents, in den Tag hineinzuträumen, war nicht besonders kreativ. Sprechende Bäume? Für Wunder märchen hatte sie noch nie viel übrig gehabt. Du lieber Himmel, dachte sie, es ist dunkel und du hast dich im Wald verirrt; jetzt fang nicht an durchzudrehen. Mach, daß du hier rauskommst! »Nein, Marjory, komm hierher!« Nun konnte sich Marjory nicht länger bremsen und versuchte davonzulaufen. Doch das schmerzende Knie machte nicht mit. Stolpernd stürzte sie über einen Baumstamm am Boden und schürfte sich dabei die Haut von der Innenseite des rechten Fußes. Zum Glück landete sie weich auf federndem Humus. »Oh, Marjory... nein!« - So klang es klagend, mitleidsvoll, und die weibliche Stimme, die dies sagte, schien, wie Marjory mutmaßte, einen skandinavischen Akzent zu haben. Sie bekam es nun gehörig mit der Angst zu tun, nicht zuletzt aus Sorge davor, überzu schnappen und am Ende womöglich noch ins Landeskran kenhaus von Cumberland eingewiesen zu werden. Die Glieder schlackerten und wollten nicht mehr gehorchen, ausgerechnet ihr, der Sportskanone. Steif und behäbig wie ein Stein kugelte sie den Hang hinunter, was für sie noch bestürzender war als die Stimme. »Ich bin hier und will dir helfen. Ja, es gibt mich wirklich.« Marjory richtete sich auf, schluchzte und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, das über und über mit Spinnfäden ver klebt zu sein schien. »Was wollen Sie? Und wer sind Sie ei gentlich?« brüllte sie und wischte sich Nasenschleim von der Oberlippe. 209
»Der Baum, Marjory. Komm zum Baum. Ich bin gefangen. Hol mich hier raus, dann werde ich dir helfen.« Die Stimme der Frau klang ruhig, aber tieftraurig. »Der...« Marjory stockte, denn die Zunge war wie gelähmt, und außer dem fühlte sie instinktiv, daß für dieses schaurige Gespräch Worte nicht nur unnötig, sondern auch nutzlos waren. Wer sind Sie? Der Gedanke kam wie von selbst, floß aus ihr heraus, und sie spürte, wie er an anderer Stelle empfangen wurde. Auf die Hände gestützt, lehnte sie sich zurück und starrte auf den dunklen Baum, der vor ihr aufragte, hoch hinauf zu den Wol ken, in denen dunkelgrünes Licht pulsierte. »Ich heiße Birka und mache mir Sorgen um dich. Hast du dich arg verletzt? Kannst du noch gehen?« »Ja, ich...« Ach, warum laut reden? Es geht schon wieder. Hab' mir am Fuß ein bißchen weh getan. Aber was ist Ihnen bloß passiert? »Das erfährst du noch. Beeil dich, bitte.« »Schon unterwegs.« Ich komme. Marjory wischte sich wieder die Nase, stand schniefend aufund erstarrte vor Entsetzen. Schniefend hatte sie einen Ge ruch wahrgenommen, streng und frisch, den Geruch von Blut. Oh, mein Gott! Nein... Augenblick mal, ich bin doch gar nicht ver letzt, hab' mir nur eine Schürfwunde zugezogen. Unmöglich, daß die so stark blutet. Ihre Hände tasteten hektisch den Körper ab auf der Suche nach blutenden Stellen. Fehlanzeige, zum Glück... »Marjory, was ist los?« Ach, Moment noch. Hatte womöglich die Periode schon angefangen? Kaum anzunehmen, denn wenn sich Marjory aufregte, kam die Regel meist zu spät, nie aber verfrüht. Ich rieche Blut. 210
»Ich weiß. Die Ursache liegt bei mir, Marjory. Willst du dich nun beeilen?« Von einer Sorge getrieben, die so heftig wie unerklärlich war, vergaß sie alle Bedenken und rannte den sanft ansteigenden Hügel hinauf, auf dem der Baum stand, ihrer neuen Freundin entgegen. Der neuen Freundin? Im Gegenteil, es schien, als seien sie engste Vertraute, die jeden Gedanken miteinander teilten, sich liebten und auf ewig Treue geschworen hatten. Mein Leben würde ich für dich geben. Birka! Wo bist du? Ich sehe dich nicht! Die Schritte wurden langsamer, schleppender. Es roch nun so intensiv nach Blut wie in einer Metzgerei. Selbst der Regen konnte den Gestank nicht wegwaschen. Du lieber Himmel, was ist mit dir? Birka antwortete nicht. Ihr Schweigen wirkte fast abweisend kühl. Doch sie brauchte nichts zu sagen, denn Marjory hatte inzwischen den Baum erreicht, und sie standen einander ge genüber. Von den herabbaumelnden Füßen war einer nackt und zeigte schwarze Zehennägel; der andere steckte in dem häßlichen Schuh, der genau zu demjenigen paßte, der, mit Regenwasser gefüllt, zwischen den Rhododendronbüschen steckte. Bis auf den Schuh war Arne Horsfall völlig entblößt; ja, ihm fehlte sogar die Haut an den Beinen, und das Blut tropfte auf Marjory herab, bevor sie zurückweichen und den Anblick abwehren konnte. Sie schlug die Hände vors Ge sicht, preßte die Ballen in die Augen, als wären sie zu strafen für das entsetzliche Bild, daß sie vermittelten. Marjory schrie. »Birka!« »Hier bin ich«, antwortete sie, und zwar mit lauter Stimme nun, denn die beiden standen dicht beieinander. Mitgefühl 211
klang in ihren Worten mit, aber nicht genug. Von einer lieben, alten Freundin hätte Marjory mehr davon zu hören gewünscht.
15 Die Stimmen. Sie tönten aus dem Radio, alle auf einmal und durcheinan der, so daß Duane und Puff kaum ein Wort verstehen konnten. Doch welche Gefühle dahintersteckten war klar: Kummer und Verzweiflung. Puff hielt sich die Ohren zu und verzog das Gesicht. »Stell den Kasten aus!« »Wie soll ich das machen«, entgegnete Duane, »ich weiß nicht, wo das Radio ist, und hab' auch keine Lust zu suchen.« »Aber ich will mein Radio zurück haben und dann auf schnellstem Weg von hier verschwinden.« »Dann such du es doch.« »Nein! Du weißt, ich hab' die Stimme meiner Mutter gehört, und das war schon mehr, als ich aushalten konnte.« Sie nahm die Hände von den Ohren, schlang den einen Arm um seine Taille und stieß ihm wiederholt die Faust vor die Brust in der Absicht, ihn nach draußen zu drängen, zum Ausgang der Höhle hin. Doch Duane ließ sich nicht von der Stelle bewegen; er hatte keine Angst, war aber dafür um so faszinierter von dem, was um ihn herum geschah. Puff sah ihn an und stammelte mit tränenerstickter Stimme: »W-wo sind wir hier, Duane? In der Hölle? All diese Leichen. Sehen w-wir etwa auch so aus, w-wenn es aus ist m-m...« »He, Puff, laß dich von dem verdammten Radio nicht aus der Fassung bringen.« »Stell es ab! Bitte, Duane.« »Na gut. Bleib hier. Ich will mal sehen, wo der Kasten ist. Läßt du mich los?« Duane mußte ein wenig nachhelfen, um von ihr freizukommen. Puff hörte auf zu heulen und starrte 212
ihn an. Aus ihrem Gesicht war alles Mienenspiel verschwun den, scheinbar herausgepreßt wie Wasser aus einem Schwamm. Sie wirkte ausgesprochen kindlich, abgesehen von den prallen Brüsten und großen Brustwarzen, die so dunkel waren wie Blutergüsse. Er legte eine Hand dazwischen und fühlte ihr Herz pochen. Sie schluckte und ließ dabei den Adamsapfel hoch hüpfen, was Duane ebenfalls zum Schlukken reizte. Puff war ihm einerseits wie eine lästige Schwester, mit der er sich herumschlagen mußte; andererseits hatte er auch Lust, mit ihr zu schlafen, zumindest hier unten in der Höhle. Draußen, nun ja, da würde sie ihn kalt lassen. Duane wußte selbst nicht, was er davon halten sollte. Das schielende Auge des Mädchens schaute leblos drein, ein wenig beschlagen so wie die Augen der Jagdtrophäen seines Vaters. Der hatte sogar einen Waschbären ausgestopft, als handelte es sich bei diesem gewöhnlichen Tierchen um einen seltenen, gefährlichen Tiger. Seltsam, daß sich Duane ausgerechnet jetzt an den verhaßten Vater erinnerte. Womöglich sorgte Puffs Gesellschaft dafür. Sie schloß nun beide Augen und legte den Kopf in den Nacken, fast genießerisch. Er spürte, wie ihr Körper entspannte, der Atem ruhiger wurde. »Ist wieder alles in Ordnung?« fragte Duane. Die Geräusche aus dem Radio wurden leiser; es waren nur noch zwei oder drei flüsternde Stimmen zu hören. Aber auch ohne diese Laute sollte es eigentlich nicht schwerfallen, das Radio aufzustöbern, das mitten in dem riesigen Seidenkokon steckte. Das Licht der Taschenlampe reflektierte von den Quarzeinlagerungen der Felsendecke. »Bin gleich wieder da«, sagte Duane und nahm zögernd die Hand von ihrer Brust. Puff gab keine Antwort. Sie schwankte kaum merklich und atmete durch den Mund. Aus der Hysterie war sie in einen tranceähnlichen Zustand verfallen. Vielleicht war dieser Umschwung durchaus normal bei ihr — falls das Wort >normal< im Zusammenhang mit Puff überhaupt Sinn machte. Womöglich aber kam bei ihr gerade ein verzögerter LSD-Trip zur Wirkung. Wie dem auch sein mochte, Duane fand diesen Zustand am erträglichsten. Sobald er das Radio geborgen hatte, würde er sie - zahm und 213
nackt, wie sie war - bei der Hand nehmen und nach draußen fuhren. Zu hoffen blieb nur, daß ihn Marjory dabei nicht überraschte. Duane mußte bei dieser Vorstellung grinsen. Ich weiß nicht, wo ihre Sachen geblieben sind, Marjory. Puff hat sie Stück für Stück abgelegt, um den Weg damit zu markieren. Was für ein Tag! Autos klauen, war nicht halb so aufregend. Puff seufzte, und es schien, als zöge sie sich immer weiter in sich zurück. Duane ließ sie im weichen Seidengespinst stehen und machte sich auf die Suche nach dem Radio. »Mama?« hauchte Puff wie im Traum. Unter dem kranken Auge zuckte ein Muskel und fältelte die Haut. Die Hände ballten sich auf der Höhe des Bauchnabels so fest zusammen, das die Sehnen im Handgelenk zum Vorschein traten. Der Kopf lag immer noch im Nacken, und es schien, als fixierte sie einen Punkt unter der Decke. Die Augen waren geschlossen, aber der kleine Muskel zuckte wie nach einem planvollen Code. Puff krauste die Stirn. Die Zungenspitze tauchte zwi schen den Lippen auf, zog sich wieder zurück. Duane zögerte und geriet über das, was er sah, in Beklemmung. Er wollte et was sagen, um sie zur Vernunft zu bringen, fürchtete aber, das Falsche zu tun. Also beschloß er, sie in Frieden zu lassen und das Radio zu holen, um dann auf schnellstem Wege Leine zu ziehen. Jetzt war im Radio nur noch eine Stimme zu hören, ein schluchzendes Kind. Hör auf zu weinen, Ethan! Verflucht, dachte Duane; wer hat da gesprochen? Die Stimme kam nicht aus dem Radio, sondern schien im Innern seines Kopfes laut zu werden. Duane spürte, wie es ihm eiskalt über das Brustbein und bis in den Darm hinabfuhr. Er dachte daran, was Marjory über das rätselhafte Schicksal der Bewohner von Dantes Mühle gesagt hatte. Eines Tages waren alle ver schwunden. Vierundsiebzig Leute. Männer, Frauen, Kinder auf und davon. 214
Warum? Zu hören war nur noch ein dumpfes Gesumme. Das Radio blieb stumm. Um es zu finden, watete Duane tiefer in den Ko kon hinein und trat gegen einen darunter versteckten Kopf in der Größe eines Krocketballs. Vor Schreck sprang er zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte der Länge nach auf mu mifizierte Gebeine, die hier überall zu liegen schienen - wie Gefallene auf dem Schlachtfeld. Die Taschenlampe war ihm beim Sturz im hohen Bogen aus der Hand geflogen und strahlte unter die Decke. Duane hatte sich wieder aufgerappelt; er konnte die Leichen nicht sehen, stapfte aber mit jedem Schritt darauf herum, so vorsichtig er seine Füße auch zu set zen versuchte. Ausgedörrte Glieder, zäh und unnachgiebig. Duane würgte und erbrach sich. Als er wieder Luft holen konnte, wühlte er sich weiter durch das eklige Gespinst, das ihm bis zu den Hüften reichte, und schließlich gelangte er an die Stelle, wo die Taschenlampe auf Puffs Radio geprallt war. Es lag auf einer dunklen Erhebung, einer Leiche, die sehr viel kleiner war als die anderen. 0 Gott, ein Kind, dachte Duane und beugte sich nach vorn, um das Ra dio aufzuheben. Vom Erbrechen war er noch ganz benommen, aber sein Herz fing an zu flattern. Plötzlich drang ihm ein entsetzlicher Schmerz von Ohr zu Ohr durch den Kopf. Unwillkürlich preßte er die Augen zu sammen, knirschte mit den Zähnen. Aus dem Radio kreischten in voller Lautstärke nie gehörte Laute, Schreie, wie es schien, aber ganz und gar unmenschlich in ihrer Wut und Intensität, in der auch Erleichterung und Freude mitschwang. Duane blickte auf das verschrumpelte, pechschwarze Gesicht des mumifizierten Kindes, dem eine vertrocknete Ranke um den dürren Hals hing, und er glaubte ausmachen zu können, daß sich unter der eingefallenen Maske etwas wurmgleich regte, daß die Augenlider der Mumie zuckten und aufzuspringen bereit waren. Duane packte das Radio und langte tief in die Seidenkissen, um die Taschenlampe zu bergen, wobei er einen steifen Arm zur Seite schieben mußte. Die kreischenden Laute schrillten 215
ihm so schmerzhaft durch den Kopf, daß er selber zu schreien anfing, um sich Erleichterung zu verschaffen. Er nahm die Lampe, richtete sich auf und hielt Ausschau nach Puff. Doch die war verschwunden. Und als das Radio wieder zu lärmen anfing, in der Hand vibrierend ein Gewirr aufgeregter Stimmen von sich gab, schwante dem Jungen, daß Puff, wo immer sie auch stecken mochte, einen nicht wiedergutzuma chenden Fehler begangen hatte.
16 Ted Lufford hatte, obwohl es regnete, den Rasen gemäht, stellte die Maschine der Marke Toro in den Schuppen und ging tropfnaß in die Küche. Er trug lediglich eine abgeschnittene, speckige Jeans und ein Paar ausgetretene Halbschuhe, die so löchrig waren, daß nicht weniger als acht Zehen zum Vorschein kamen. An den leicht o-förmigen Beinen klebten Grasschnipsel bis hinauf zu den Knien, die der Auspuff des alten Mähers rußig eingefärbt hatte. Enid schob gerade eine Auflaufform mit panierten Koteletts in den Ofen und sagte schmunzelnd: »Du siehst aus wie ein Schwein.« »Laß uns zusammen duschen.« »Ich bin nicht dreckig«, antwortete sie und zog die Nase kraus. Ted beugte sich über die Spüle, um vom Wasserhahn zu trinken. »An deine Manieren werde ich mich wohl nie gewöhnen.« Ted hob den Kopf und wischte sich den Mund. »Ein Glas weniger, das gespült werden muß. Was gibt's zu essen?« »Marjorys aufgewärmte Reste.« Ted zeigte sich einverstanden und nickte. »Die schmecken sowieso erst nach dem zweiten oder dritten Aufwärmen.« Enid klappte die Ofentür zu und stellte den Temperaturregler ein. »Hauptsache, das Zeug schmort lange genug durch«, meinte Ted. 216
Enid band die Schürze ab und schaute auf die Küchenuhr. »Nach der Arbeit im Garten bist du bestimmt richtig ausge hungert.« Es donnerte. Der Regen platschte bis an den Rand der Ve randa, vor der sich das Wasser staute, weil der Abfluß ver stopft war. »Wenn ich das nächste Mal hier bin, werde ich mir den Ab fluß vornehmen«, versprach Ted. »Nett von dir«, sagte Enid und schenkte dem Freund ein Lächeln, das ihn schmelzen ließ wie Honig auf einem heißem Brötchen. »Wann kommt Marjory zurück?« »Keine Ahnung. Ich hätte gedacht, daß sie längst hier ist bei dem Regen. Aber vielleicht hält sie sich noch eine Weile bei Rita Sue auf.« »Dann sind wir allein zu Haus.« »Wer weiß, wie lange«, entgegnete Enid. Sie legte die Schürze über die Lehne des Küchenstuhls und schaute über die Schulter hinweg auf Ted. »Dein Blick sagt mir alles«, meinte er und grinste. »Das glaubst auch nur du«, neckte Enid. »Ich sollte mir wohl lieber mal die Hose ausziehen.« »Die Schuhe auch, wenn du schon dabei bist.« Ted ging zur Tür, befreite sich unterwegs von der Hose, be förderte die Schuhe per Fußtritt über die Schwelle und kehrte flugs zu Enid zurück, nackt wie er war, ein bißchen füllig an den Hüften, braungebrannt und glänzend von Regennässe und Schweiß. Enid legte den goldenen Armreif ab, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, schlüpfte aus dem ärmellosen T-Shirt und zog den BH aus. »Ich hab' Mama und Papa mal dabei erwischt, wie sie's hier in der Küche miteinander getrieben haben. Sie dachten, ich würde auf Marjory aufpassen. Damals war ich ungefähr sechs.« »Und was hast du davon gehalten?« wollte Ted wissen. »Nun, ich weiß noch, daß ich mich fragte: Wozu hat er bloß dieses große Ding?« 217
»Und? Hat sich die Frage beantwortet?« »O nein, damals noch nicht. Ich habe mich diskret verzo gen.« »Wann wußtest du denn endlich Bescheid?« hakte Ted nach. »Ich denke, du kennst die Antwort. Als du zur Stelle warst.« »So unschuldig bist du gewesen?« »Wie man's nimmt.« Enid ließ die grünen Bermuda-Shorts auf den Boden fallen und bot ihm das Schauspiel verrucht wackelnder Hüften. »O Mann, ich kann's kaum glauben«, sagte Ted bewun dernd. »Was kannst du kaum glauben?« fragte Enid. Splitternackt bis auf die Sandalen und die kleine Kette am Fußgelenk rieb sie sich mit den Knöcheln der Hand über die Brust. »Ich brauche mich doch nicht etwa zu schämen, oder?« »Mich verblüfft, daß du keine Unterhose trägst.« »Wenn's kalt ist, trag ich eine. Aber nicht bei dieser Hitze.« »Baby, Baby«, seufzte Ted und kam auf sie zu — die Hand am Gemächt. Enid steckte verspielt einen Daumen in den Mund und drückte mit dem eingeknickten Zeigefinger die Nase platt. Ted schmiegte sich an sie, nahm ihr den Daumen aus dem Mund und beschleckte die Hand, wobei er ihre Brüste nicht aus den Augen ließ, deren Spitzen sichtlich größer wurden. »Daddy, wozu hast du nur dieses große Ding?« hauchte Enid. Als Ted sie auf die Arme nahm, steckte sie den Daumen wieder in den Mund und schloß die Augen. Eine Viertelstunde später war sie eingeschlafen. Das pas sierte ihr anschließend immer, selbst im Auto, aber darin taten sie es seit sechs Wochen nicht mehr. Ted lag noch eine Weile neben Enid im Bett; er war selbst ein wenig schläfrig und schaute durchs Fenster hinaus in den Regen. Schließlich stand er auf, wischte ein paar Grasschnipsel vom Bettlaken und ging über den Flur ins Badezimmer. Marjory war immer 218
noch nicht zu Hause. Ted hatte schon des öfteren hier ge duscht, und er konnte ziemlich sicher sein, daß Marjory, die überall ihre Nase reinsteckte und spitz wie eine Zwecke war, genau wußte, was das Schwesterlein und Ted so miteinander trieben. Deshalb konnte er getrost die schmutzige Unterwäsche herumliegen lassen. Nachdem er sich wieder angezogen hatte, hielt er einen Waschlappen unters warme Wasser, warf ein Handtuch über die Schulter und kehrte damit in Enids Schlafzimmer zurück. Sie wachte auf, als er ihr eine Katzenwäsche verabreichte, und schlang die Arme um ihn. »Hmmm. Womit hast du dich denn einparfümiert?« »Hab' ich mir neu zugelegt. Gefällt's dir?« »Ich mag alle Gerüche an dir. Dein Rasierwasser, dein Shampoo, deinen Schweiß. Ich mag auch, wie deine Finger riechen, wenn du damit an unseren gewissen Stellen rumgespielt hast.« Sie hatte die Augen weit geöffnet und sah ihn geheimnisvoll an. Ted wußte in solchen Momenten nie, was er von ihr halten sollte. O ja, es gefiel ihm, beim Sex über Sex zu reden. Aber wenn sie es nicht miteinander trieben, zusammen aus waren oder am Telefon miteinander schwatzten, irritierten ihn solche Bemerkungen, und dann kicherte sie über seine Reaktion. Einmal waren sie aus essen gewesen; da hatte sie gesagt: »Was magst du lieber? Mein braunes oder mein rosafarbenes Fleisch?« Ted wäre fast an seinem Cheeseburger erstickt, als sie mit dieser Frage rausrückte. Und dann fügte sie hinzu: »Mit oder ohne Soße?« Oder ein anderes Beispiel: Es war am Nationalfeiertag gewesen, und sie saßen bei seinen Eltern draußen auf der Veranda, um dem Feuerwerk zuzusehen. Da hatte ihm Enid ins Ohr geflüstert: »Während ich heute im K-Markt einkaufen war, hab' ich an dich gedacht und mußte einfach mein Taschentuch rausholen.« Tatsächlich war es Teds Taschentuch, das er ihr gegeben hatte, nachdem es das erste Mal zwischen ihnen passiert war. Sie hatte es behalten und auch nach mehrmaligen Gebrauch nie gewaschen, Enid behauptete, das Taschentuch stets bei sich zu haben, weigerte sich aber immer hartnäckig, den Beweis anzutreten, 219
wenn sie dazu aufgefordert wurde. Ein Foto von ihm brauchte sie nicht, sagte Enid, viel wichtiger sei es, daß ihr seine Gerü che um die Nase wehten. Vielleicht wollte sie Ted bloß aufziehen und hatte damit auch Erfolg, denn solche Bemerkungen machten ihn nicht nur verlegen, sondern auch scharf. Enid war wirklich merkwürdig: im Bett feuriger, als er es sich je erträumt hatte, ansonsten jedoch spröde bis zum Gehtnicht-mehr, ohne dabei aber besonders nüchtern und sachlich zu sein. Teds Mutter meinte mißbilligend: »Man weiß einfach nicht, was dem Kind so durch den Kopf geht.« Wahrscheinlich stand diese Eigenschaft im Zusammenhang mit ihren künstlerischen, kreativen Talenten. Die meisten Mädchen, mit denen Ted etwas gehabt hatte, konnten ihn nach wenigen Wochen nicht mehr überraschen. Sie waren so leicht berechenbar wie Zugvögel. Ted dachte in diesem Zusammenhang daran, wie seine Mutter früher Weihnachtsgeschenke eingepackt hatte, bevor sie wegen fortgeschrittener Arthritis dazu nicht mehr in der Lage war. Ihre Päckchen verrieten scheinbar auf den ersten Blick, was darin steckte; doch am Weihnachtsmorgen stellte sich heraus, daß der vermeintliche Lastwagen ein Cowboy-Halfter samt Pistole war. Auch Enid packte sich täglich neu ein und ließ ihn raten. Das faszinierte ihn immer wieder aufs neue. O ja, und er mochte auch ihre Düfte über alles. »Vielleicht sollte ich besser mal die Bettwäsche wechseln«, sagte Enid. Sie gab ihm einen Kuß und stand auf. Ted sah zu, wie sie das Laken von der Matratze zerrte und bereute es, sich so schnell angezogen zu haben. Das Bett war noch nicht fertig bezogen, als sich Enid plötz lich aufrichtete, einen Arm vor der Brust verschränkte und mit düsterem Blick ans Fenster trat. Draußen schüttete der Regen in Kübeln vom Himmel und versperrte den Blick auf die Straße. »Was ist los, Nuggins?« fragte Ted. »Sieht aus, als hättest du Magenschmerzen.« »So ist es«, antwortete sie kaum hörbar. Ted war besorgt und erregt zugleich. Ihr hübscher Bauch 220
war, wie ihm schien, ein bißchen runder als sonst. »Du bist doch wohl nicht...—« »Nein«, entgegnete sie trocken. »Ich wüßte Bescheid, wenn du mir ein Kind gemacht hättest. Außerdem wäre das nicht möglich, denn ich nehme ja...« »Du hast sie nicht abgesetzt?« »Nein, und ich bin sehr pünktlich damit. Du weißt, daß ich so bald kein Kind haben will. Nicht, solange Marjory noch das Baby der Familie ist.« Enid krümmte sich, drohte fast, vornüber zu kippen. »O Gott«, stöhnte sie, und Ted sah im Spiegel der nassen Scheibe ihre dunklen Augen voller Angst nach außen gerichtet. »Schatz, was hast du?« »Ein flaues Gefühl. Wie damals, als Mutter und Vater beer digt wurden und mir klar war, daß ich sie nie wiedersehen würde.« Sie wandte sich zu ihm um. »Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich alles nur für einen Irrtum gehalten und es nicht wahrhaben wollen.« »Aber was ist denn jetzt los mit dir?« »Wir werden Mr. Horsfall nie mehr wiedersehen«, sagte Enid mit Tränen in den Augen. Sie ließ den Kopf sinken und schluchzte. »Oh.« Ted war erleichtert. Er hatte mit einer für ihn weitaus schlimmeren Antwort gerechnet und legte den Arm um die Schultern seiner Freundin, die ihren Tränen nun freien Lauf ließ. Gemeinsam setzten sie sich auf die Bettkante. »Liebste, ich weiß, du fühlst dich verantwortlich dafür, daß er ausgebüchst ist. Aber wieso glaubst du, daß ihm was passiert ist?« »Ich weiß jetzt genau, daß er irgendwo tot herumliegt.« Sie schaute zur Wand neben der Tür, wo ein Bild hing, das Mr. Horsfall gemalt hatte, zum großen Teil mit weißer Schuh creme. Ted fand das Porträt furchtbar häßlich. Es stellte eine Frau dar mit großen grell blauen Augen, aber ohne Haare auf dem Kopf. Die ausgestreckte, krallenhafte Hand hatte nur einen Daumen und drei Finger. Anstelle des kleinen Fingers war nur ein schwarzer Schmierfleck zu erkennen. 221
Ted versuchte zu trösten und drückte Enid an sich. Sie trocknete die Augen und lächelte ihn kläglich an. Während sie sich anzog, bezog er das Bett fertig. Anschließend gingen sie zusammen nach unten. Als das Geschirr gespült war, setzte Ted seine Bemühungen fort, Enid mit den Strategien des Blackjack-Spiels vertraut zu machen. Im Hintergrund dudelte das Radio. Sie stierte Löcher in die Luft und ballte die Rechte zur Faust und wippte mit dem Daumen darauf herum. Es gelang ihr nicht, Teds Ratschläge umzusetzen, obwohl sie redlich bemüht war, dem Spiel Interesse abzugewinnen. Sie legten eine Pause ein. Enid rief zu Hause bei Rita Sue an, schenkte sich anschließend noch eine Tasse Kaffee ein und kehrte an den Tisch zurück. »Wo stecken die bloß? Der Junge hat doch irgendwelche Bewährungsauflagen, oder? Daß Marjory wegen eines Jungen die Zeit vergißt, ist auch noch nicht vorgekommen.« »Tja, sie kommt eben langsam auf den Geschmack. Übrigens habe ich mal einen Blick in seine Akte geworfen. Es war seine erste Straftat, und laut Auskunft des Bewährungshelfers hat er ein ordentliches Zuhause, gute Schulnoten, und er geht auch regelmäßig zur Kirche. Seit er den Cadillac geknackt hat, ist er nicht mehr auffällig geworden. Ich hab' in seinem Alter selber das eine und andere Mal Mist gebaut, bin aber nie aufgeflogen.« »Aber es ist einfach nicht Marjorys Art, daß sie versäumt anzurufen, wenn sie sich verspätet. Es regnet kaum noch. Würde es dir was ausmachen, 'ne Runde im Auto zu drehen?« »Wohin? Um elf fängt meine Schicht an.« »Ich weiß nicht. Sie sind entweder nach Rising Fawn oder Dantes Mühle gefahren.« »Wie dem auch sei, du willst deiner Schwester doch wohl nicht nachspionieren? Sie kann auf sich selbst aufpassen und kommt nicht so leicht auf Abwege.« »Ich auch nicht; und trotzdem hast du mich zum sündigen Kartenspiel verführt. Wenn mich der Pfarrer mit dem Blatt in der Hand sehen würde, bekäme er einen Herzanfall.« 222
»Als Vertreter der öffentlichen Ordnung könnte ich dir ein paar Dinge über Pfarrer Goodbright sagen, daß dir die Ohren abfallen.« »Im Ernst?« »Das meiste davon ist allerdings nur Mutmaßung.« »Daddy sagte immer, daß Baptisten es faustdick hinter den Ohren haben, sich aber ganz bestimmt nie erwischen lassen.« »Einmal hat man ihn aber erwischt, und zwar mit herunter gelassener Hose. Das war vor ein paar Jahren während einer Kirchenkonferenz.« »Tatsächlich? Erzählst du mir mehr davon?« »Wenn du mir Zucker gibst, vielleicht.« Enid legte den Kopf in den Nacken zurück und zeigte ihm die Zungenspitze. »Komm und hol ihn dir«, sagte sie.
17 Sie hätte davonlaufen sollen. Soviel war ihr klar, obwohl sie ansonsten keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen konnte. Doch je länger sie dastand und auf die Leiche von Arne Horsfall starrte, die drei Meter hoch in den Ästen des Kastanienbaumes hing, desto unwichtiger erschien es ihr. Daß er tot war, hatte kaum Bedeutung für sie. Er war alt und... »Marjory?« Birka rief, und Marjorys Gesicht, noch verzerrt vor Schreck und Ekel, entspannte sich zu einem Lächeln. Nach wie vor zit terte sie am ganzen Körper. Auf der Suche nach ihrer Freundin blickte sie sich nach beiden Seiten um. Im Osten war der Himmel hell; die ersten Sonnenstrahlen trafen auf die Rauch säule des knapp zweitausend Meter hohen Vulkans, der über den Lavafeldern am Ende des grünen, baumlosen Tals thronte. Marjory, entgeistert nach wie vor, schaute wieder auf 223
und war überrascht. Der Kastanienbaum stand nicht mehr da, und da hing auch kein abgehäuteter Leichnam. Hatte sie denn bloß geträumt? Und unter dem gepflegten Weideland, auf dem fünf Familien wohnten, lag auch nicht jenes dunkle, alte Höhlengeflecht, wiewohl vereinzelt Spalten voller Dampf und Flüsse aus glühendem Magma zu finden waren — tief unter den fruchtbaren Tälern und Lavawüsten Islands. In ver gangener Zeit war die unterirdische Hitze hoch genug gewe sen, um die Kartoffeln im Feld zu backen. Kein Mensch hätte dort unten überleben können... Doch all das war nur Teil eines melancholischen Traumes, der so lange anzudauern schien wie eine Winterperiode. Die rot schimmernde Sonne, die für die nächsten vier Monate den Horizont streifen würde, schien ihr ins Gesicht. Geblendet von dem ungewöhnlichen Licht, den in den Augen schillernden Regenbogen, erlebte sie geradezu ekstatische Momente. Den ganzen Sommer über spielten sie im Freien bis zur Erschöpfung. Die Kinder in Marjorys Alter hießen Fall, Gundy, Vigdis und Lun. Und Birka war neun — acht Monate älter als Marjory - und die Anführerin aller. »Ich stecke fest, Marjory. Hilf mir!« Birkas Stimme klang wirklich verzweifelt. Aber wo war sie nur, und wo waren die anderen? Wo hielten sie sich versteckt? Obwohl die Sonne wieder schien, wehte der Wind immer noch kalt, schnitt in Ohren und Nase. Plötzlich spürte Marjory ein Rütteln unter den Füßen, die ersten Anzeichen eines Bebens. Gleichzeitig war sie auf rätselhafte Weise auf den mit Flechten überwucherten Grat eines Hügels verschlagen worden, der unterhalb des Felsenturms von Hekla lag, jenes verwitterten Massivs, das einem gefallenen Dinosaurier ähnlich sah. Hier wehte ein noch kälterer, böigerer Wind. Hinter Marjory, fast vier Kilometer entfernt, waren rote Dächer zu sehen. Aus den Kaminen stieg Rauch auf, und auf den Wiesen grasten Schafe. 224
»Wo bist du, Birka?« Hatte sie sich jemals zuvor so weit und ohne Begleitung hinausgewagt? Und was suchte Birka bloß hier oben auf dem Hügel zwischen den tückischen Felsen, die seit Menschengedenken unbewohnt waren, abgesehen von... »Es ist deren Schuld, Marjory! Sie haben mich hierher ge bracht. Du mußt mich befreien, bevor der Schatten herauf zieht!« Das Licht und der Wind trieben Marjory Wasser in die Augen. Und manchmal flog ihr auch feiner Sand ins Gesicht, der auf der Haut brannte, obwohl er nicht zu sehen war. Trotzdem kletterte sie höher hinauf, dem Rand einer Schneise entgegen, auf deren windgeschützter Flanke ein paar dürre Sträucher wuchsen. Vor ihr taten sich immer wieder Spalten voller Schnee auf, der mit einer schwarzen Ascheschicht überzogen war. Die Steine erinnerten in ihren bizarren Formen künstlerischen Skulpturen, und es schien, als wäre der Berg ein verwilderter Friedhof. Vielleicht war er für das Huldufölk tatsächlich immer noch heilig. Marjory zitterte, und ihre Brust schnürte sich krampfhaft zu. Sie hatte Angst und wußte, wovon Birka sprach: von den Verborgenen nämlich, den von Gott Bestraften. Helles Tageslicht war ihr Tod, ließ sie noch schwärzer werden als die Lava auf den Hängen von Hekla. Marjory durfte sicher vor ihnen sein, jedenfalls so lange, wie die Sonne schien. Plötzlich stolperte sie über einen losen Stein, konnte sich aber gerade noch fangen. »Ich höre dich!« rief Birka. »Komm her!« Birka fing an zu schluchzen, was Marjory die Suche nun end lich erleichterte. »Oh!« Der Schock. Wie ein Zittern der Erde als Warnung vor ver heerendem Aufruhr. Der Anblick von Birka: Sie lag einge 225
klemmt in einer bemoosten Felsspalte, nackt wie eine Erbse in der Schote, und um ihre Fußgelenke war ein Seil aus Pferde haar geschlungen. In der öden, verlassenen Gegend wirkte ihre Nacktheit geradezu unkeusch. Der Bauch war weiß wie Marmor, der Nabel pflaumenblau. Marjory hatte Birka immer wegen ihrer Heiterkeit und strahlenden Frische bewundert. Jetzt sah sie schrecklich niedergeschlagen aus, gedemü tigt ... aber warum? Ihre blauen Augen schwammen in Tränen. »Wer hat das getan?« »Fall. Gudny. Das Huldufolk soll mich hier finden. Einen Spaß wollten sie mit mir machen.« Sie blinzelte mit den Augen, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Der Schatten Heklas wan derte mit der Sonne. Wer wohl mochte aus diesem Schatten hervorkriechen, um Birka zu holen? »Sie haben dir die Sachen ausgezogen?« »Ja, so gemein, wie sie sind... Sie hätten schon längst wieder zurück sein sollen! Oh, bitte, Marjory, hilf mir hier raus! Mach die Fesseln ab!« (Birkas Hände waren frei; warum hatte sie den Knoten nicht selber gelöst?) »Wirst du sie verpetzen?« »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber den beiden zahl' ich's heim, keine Bange. Ich werde ihnen die Kleider stehlen, während sie ein Bad nehmen, und dann müssen sie nackt nach Hause gehen und können nicht mal ihren Hintern bedecken. Komm jetzt endlich! Bind mich los! Ich kann meine Füße nicht mehr bewegen. Da steckt ein Krampf drin.« 226
»Wo sind deine Sachen? Hat Fall oder Gudny... haben sie dich... berührt?« »Ach was. So dumm sind sie nicht. Nur gemein. Und meine Sachen - ich liege darauf.« »Ich... vielleicht sollte ich deinen Vater rufen.« »Damit er mich hier liegen sieht? Er würde die beiden um bringen. Und das will ich nicht. Bind mich los! Mir ist kalt, und ich will endlich nach Hause.« »Aber deine Hände...« Birka hob die Hände; ihre Finger hingen schlaff herab wie zum Beweis dafür, daß keine Kraft mehr drinsteckte. Marjory verstand oder glaubte zu verstehen. Sie kniete sich hin und berührte Birka; deren Schienbein fühlte sich an wie eine Klinge aus Eis. Sonderbar, daß sie nicht zitterte. Da Marjory nun zur Stelle war, hörte Birka auf zu weinen; statt dessen lächelte sie trotz ihrer mißlichen Lage. Wie hatte sie bloß darein geraten können? rätselte Marjory. Solche derben Spiele hatte es bislang unter den Kindern nicht gegeben. Birka wäre von sich aus auf einen Vorschlag dieser Art niemals eingegangen, und ihre Ablehnung galt immer als verbindlich. Fall und Gudny waren nach Marjorys Einschätzung alles andere als gemein. Sie hänselten und neckten wie alle Jungen, aber Brutalitäten waren ihnen eigentlich fremd. Unvorstellbar, daß sie Birka einfach liegenließen. Mit Schaudern vergegenwärtigte sich Marjory die Gefahren, die an diesem entlegenen Ort lauern mochten. Was wäre geschehen, wenn das Huldufolk Birka zuerst gefunden hätte? Sie zitterte so heftig, daß diese Schreckensvorstellung verwischte. »Nun mach schon«, sagte Birka ungeduldig. »Bind mich los.« 227
»Die Knoten... hinter den Gelenken... ich kann sie nicht...« »Idiot! Nein, verzeih mir, das habe ich nicht so gemeint. Du bist meine beste Freundin, Marjory.« Marjory schluchzte verzweifelt. Mit steifen Fingern nestelte sie an den Knoten herum. Es schien so dunkel geworden zu sein. Wo war die Sonne hingegangen? Und die Ranke, mit der Birka gefesselt war, war naß und glitschig. (Die Ranke? War es nicht soeben noch ein Seil aus Pferdehaar gewesen? Marjory hätte schwören können...) Der stechende Blick aus Birkas stahlblauen Augen schien sich durch Marjorys Stirn zu bohren. Seine Wirkung war nicht Schmerz, sondern ein schreckliches Gefühl von Verlust. Ver loren waren ihr Wille und alle Hoffnung. Aber dir fehlt doch nichts zum Leben, Marjory. Und du wirst ewig leben. Liebling, was hältst du davon? »Ich... weiß nicht. Das ist doch... unmöglich.« Oh, Marjory. Du weißt so wenig. Ich muß dir noch vieles beibringen. Lös nur erst einmal die Knoten! Marjory würgte, vergeblich versuchte sie zu schlucken. Birkas Augen leuchteten wie zwei blaue Sonnen; ihre Brüste wirkten ganz und gar nicht mädchenhaft. Und was war mit ihren wunderschönen schulterlangen Haaren geschehen? »Haben sie dir auch das Haar abgeschnitten?« Birkas Augen funkelten; sie verloren ihre Farbe, waren weiß wie Blitze. Marjory fühlte sich wie von innen nach außen ge krempelt, ganz ohne Gewicht, und das scheinbar rohe Selbst fing an zu schmoren, stank nach Ozon, wurde mit Gewalt in 228
die Luft geschleudert und stürzte nieder auf durchweichten Boden. Ich hätte davonlaufen sollen! Jetzt bin ich verloren! Marjory hob den Kopf, der sich kaum aufrecht halten ließ. Ihr Magen rebellierte. Angestrengt versuchte sie, den Blick zu schärfen. Ein Blitz war in den riesigen Kastanienbaum ge schlagen, hatte ihn in Brand gesteckt und einen schweren Ast gefällt. Trotz heftigen Regens war die Leiche Arne Horsfalls im Schein der Flammen zu erkennen. Sie konnte seine Augen sehen, aber dann stieg vom Rumpf dichter Qualm auf und verhüllte das Gesicht. Wo war die Mumie, die er aus der Höhle weggeschleppt hatte? Marjory schluckte den galligen Saft, der ihr aus dem Magen hochgekommen war. O Gott, sie hatte mit ihr gesprochen! Soeben noch, kurz bevor dicht über ihrem Kopf der Blitz ein geschlagen war. Jetzt war sie, von dem fallenden Ast weg geschleudert, mehr als zehn Meter vom Baum entfernt und steckte in dichtem Gebüsch. Mit geschundenem Körper. Der Unterkiefer schien verrutscht zu sein und schmerzte schreck lich, als sie den Mund zu schließen versuchte. Sogar das Atemholen tat grausam weh. (Mit ihr gesprochen... als ob...) Nein, nein, unmöglich! Nicht mit einer Mumie hatte sie ge sprochen, sondern mit einem nackten, zehnjährigen Mädchen, das wie ein Jungfrauenopfer gefesselt lag in der öden Wildnis Islands. Ihre beste Freu... Marjorys beste Freundin war Rita Sue Marcum, doch die war nie auf Island gewesen, und sie, Marjory, war nicht ge willt, hier im Dreck hocken zu bleiben und irre zu werden. Für sie galt es nun, aufzustehen und davonzulaufen, so schnell wie möglich. Aber nach nur wenigen Schritten gaben die Knie nach und erschöpft sank sie zu Boden. Nie zuvor hatte sich Marjory so schwach gefühlt. Schluchzend schloß sie die Augen. Als sie 229
wieder aufblickte, schien die Sonne, und Birka lief den Hang hinunter, in der Hand das bunte Kleid, das wie ein exotischer Vogel hinter ihr herflatterte. Sie lachte befreit, und Marjory rief ihr vergeblich nach: Warte, warte... Insgeheim fürchtete sie, etwas getan zu haben, wofür sie von den anderen Kindern ausgelacht werden würde. Aber war denn alles bloß ein Scherz, gewesen? Der Wind ließ ihre Augen tränen, die Sicht ver schwamm, und Birka schien nun nicht mehr nur zu laufen, sondern zu fliegen. Marjory schmollte. Vielleicht hatte es Birka durchaus verdient, gefesselt ausgesetzt zu sein. Aber ihr, Marjory, sagte ja niemand Bescheid. Sie wischte sich die Tränen ab und schaute zum Himmel empor, der nun in leuchtenden Farben erglühte, von limonen grün bis blutrot, so wie Birkas Kleid, das sich zu Flügeln ent faltet hatte und sie zu den Wolken aufsteigen ließ. Marjory war zutiefst verletzt und wütend und ratlos. Ein Blitz zuckte, schockierend blau, und der Himmel dampfte, verdunkelte sich und entlud seinen Regen. Und als sie aufblickte, sah sie wieder, was von Arne Horsfall übrigge blieben war, der baumelnd zwischen den Ästen hing, verkohlt wie die Füße einer Mumie. (Schwarz und verkohlt waren nur ihre Füße, die eine dürre Ranke gefesselt hielt. Alles andere an ihr schien lebendig zu sein, vor allem das heimtückisch blitzende Blau ihrer Augen, während der Mund versprach: Du wirst auf ewig leben! Nicht zu fassen. Marjory war mit ihren Kräften so sehr am Ende, daß sie kaum mehr zu hoffen wagte, die Nacht überste hen zu können.
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18 Duanes Herz beruhigte sich wieder, als er sah, wie Puff lang sam den Kopf aus den Seidenkissen emporreckte, die den Höhlenboden bedeckten. »Puff, was treibst du...« »Oh, Duane«, flüsterte sie fast ehrfürchtig und starrte in das wattige Gespinst. »Komm und sieh dir das an!« »Ich finde, daß wir jetzt wirklich wieder nach draußen sol len.« Puff antwortete nicht, auch sah sie sich nicht nach ihm um. Duane richtete den tanzenden Strahl der Lampe auf Puff. Sie wirkte ganz gefangen von dem, was sie sah. Ihr Atem ging rasch, und die Brüste hüpften auf und ab. Von der rechten Hand baumelte ein Gegenstand herab. Duane glaubte darin ein trockenes Rankenstück zu erkennen, wie es jeder Mumie um den Hals gehangen hatte, und was er sah, gefiel ihm nicht. Er wollte nicht darüber nachdenken, wovon dieses Stück ab gefallen sein mochte. Die Haut fing ihm zu prickeln an, ja, sie kräuselte sich sogar, was nicht nur eingebildet war, sondern die unwillkürliche Reaktion auf ein dünnes, wimmerndes Ge räusch, wie es ein Neugeborenes von sich gibt, das die ersten Atemzüge tut. So hatte sich sein kleines Schwesterchen ange hört, mit der seine Stiefmutter Nannie Dell drei Wochen vor der Zeit im Wochenendhaus in den Bergen niedergekommen war. Er hatte seinem Vater mehr oder weniger geholfen, das Baby zu entbinden, und so etwas wollte er noch mal nicht tun müssen. Puff atmete noch immer schwer durch den Mund. Dann schluckte sie, um sprechen zu können. Im Licht, das auf sie fiel, schien ihre Haut wie Wasser bewegt, so sehr zitterte sie, und die Haifischzähne ihrer Kette tanzten auf der Brust herum. »Duane? Weißt du was?« »Puff, verdammt noch mal, komm jetzt, wir müssen...« »Nein. Beeil dich! Es... er... lebt!« »Jesus!« »Duane«, sagte Puff bemerkenswert ruhig, obwohl ihr gan 231
zer Körper sichtlich in Aufruhr war. »Komm her mit der Ta schenlampe, damit ich besser sehen kann.« Sie drehte nun ihr Gesicht in den Lichtstrahl. Die Augen waren weit aufgesperrt und blinkten nicht. Das eine funkelte, das andere war matt und träge, sah aus, wie von einem schlampigen Bildhauer nachträglich ins Gesicht geschnitzt. Grinsend entblößte sie ihre langen Hundezähne, die spitzer denn je hervorzutreten schienen. Es waren nicht nur die Ner ven, die ihm zusetzten: Angesichts dieses wölfischen Grinsens, das in so krassem Widerspruch zu ihrer monotonen Stimmlage stand, wurde dem Jungen auf schaurige Weise klar, daß Puff nun endgültig den Verstand verloren hatte. Jetzt, so dachte er, wurde es wirklich ernst. Zu ihren Füßen wimmerte es wieder. Puff schaute hinab und sagte: »Es passiert tatsächlich. Ich wußte schon immer, daß er nicht... man hat ihn nicht einfach weggeworfen. O nein. Siehst du nicht? Sie werden allesamt hierher gebracht, Duane. Stimmt's? Gütiger Himmel, jetzt brauche ich mich nicht mehr schuldig zu fühlen. Duane, leuchte doch mal mit der Lampe.« Sie hob das zähe, schrumpelige Stück Ranke in die Höhe. »Mama wollte, daß ich sie zuerst losbinde. Aber der Knoten war zu fest. Also hab' ich ihn losgemacht. Wie soll ich ihn nennen, Duane? Hast du einen Vorschlag?« Duane hatte es die Sprache verschlagen, und rühren konnte er sich auch nicht. Die Taschenlampe in seiner Hand richtete den Strahl zu Boden. »Her mit der Scheißlampe!« wütete Puff plötzlich. Sie sprang auf und watete mit energischen Schritten durch die hüfthohen Seidenberge auf ihn zu. Die Kette flog ihr bis zu den Ohren hoch, und die Arme wirbelten umher wie die Glie der einer tanzenden Marionette. Duane wich zurück — nicht weit genug. Wie ein Hammerschlag fiel ihm ihre geballte Faust aufs Schlüsselbein. Duane sank in die Knie. Puff riß ihm die Taschenlampe aus der Hand, und wirbelte herum, um zu rück zu dem Nest zu eilen; dabei rammte sie ihm aus Versehen das Knie vor sein Kinn. Duane kippte zur Seite. Vor seinen Augen sprühten Fun 232
ken, über die sich unmittelbar darauf ein dichter Schleier zog. Dunkelgrau: Noch hielt er am Bewußtsein fest. Er war be nommen und blutete im Mund, aber hören konnte er gut. Wieder tönten Stimmen aus dem verdammten Radio, der Säugling wimmerte, und Puff brabbelte und rief ihn, Duane, als wäre ihr ganz entgangen, daß sie ihn soeben erst niederge streckt hatte. Unter der Seidenschicht ertastete er mit den Fingern felsigen Grund, er fand Halt und richtete sich auf. Er hatte sich auf die Zunge gebissen. Der Kiefer war noch ganz betäubt, um so mehr schmerzte der Nacken. Zum ersten Mal seit der Entdeckung der Mumien fürchtete Duane, nicht mehr lebend aus der Höhle herauszukommen. Puff war zurückgekehrt. Sie stand vor ihm. Auf ihren Augen lag mattes Licht. »Was hast du?« fragte sie. Er bekam kein Wort heraus. Puff bückte sich, packte seinen Arm und half ihm auf. Er wunderte sich über ihre Kraft und darüber, wie schwach er sich unter ihrem Zugriff fühlte. Seine Knie drohten wieder einzuknicken. Als er im Alter von acht Jahren vom Garagendach gestürzt war, hatte er weniger Schmerzen gehabt. »Das mußt du dir ansehen«, sagte sie mit heiterer Stimme und zerrte ihn in die Mitte des Seidenkokons. »Ich war im dritten Monat. Man hat mir gesagt, daß es in der Phase kleiner ist als eine Maus. Alles Lüge. Es war verdammt noch mal keine Maus, sondern mein kleiner Junge. Ich hab' ihn in Puerto Rico wegmachen lassen. Da wird Englisch gesprochen. In Puerto Rico. Und ausgeraubt wird man da. Fünfhundert Dollar hat es gekostet. Dabei war die Frau, die's gemacht hat, nicht mal 'ne richtige Ärztin.« »Mensch, Puff, laß mich los!« »Das ist drei Jahre her. Verstehst du? Ich dachte, mein Junge sei tot. Aber warte nur, wenn ich auspacke und von dieser Höhle erzähle...« »Nein, Puff, die Höhle ist... ach, ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß wir endlich nach draußen...« »Da. Da ist er. Sieh nur, ist er nicht wunderschön?« 233
Duane folgte dem Lampenstrahl und sah etwas Unförmiges, erkannte aber nicht, was es war. Es war nicht nur unförmig, sondern auch dunkel und voll schlängelnder Bewegung wie ein Knäuel lebendiger Aale, die in einem Eimer steckten. Es gab entsetzliche Geräusche von sich, Laute voller Angst und Geburtsschmerz. Duane konnte nicht länger hinsehen. Die Stimmen im Radio klangen mittlerweile schrill und laut wie die Zuschauer eines Preiskampfes. Puff hielt ihn unerbittlich fest. Er sah ihr ins Gesicht. Sie nagte wie wild auf ihrer Unterlippe herum, die zu bluten angefangen hatte. Das Blut floß ihr übers Kinn. Dem Jungen war vor Entsetzen eiskalt und schwindelig. Dünner Nebel stieg aus der plattgetrampelten Seide, wo sich das kleine Ding krümmte wie im Kampf um Leben und Tod. Der Atem der beiden kondensierte. Und nun tauchten mehrere Lunamotten auf. Die runde Zeichnung auf ihren Flügeln leuchtete wie kleine Laternen. Es schien, als interessierten sich die schwirrenden Falter für das abscheuliche Spektakel. Als stünde er am Rand eines schaurigen Ab-grundes, versuchte Duane zurückzuweichen und Puff mit sich zu ziehen. Doch Puff war nicht vom Fleck zu bewegen. Stocksteif blieb sie stehen, und nur ihr Kiefer bewegte sich; die scharfen Zähne zerbissen die Lippe. »Er kommt«, murmelte sie und wischte über die geschwol lene Lippe mit dem Rücken der Hand, die die Lampe gefaßt hielt. Zum Glück hörte sie nun wenigstens auf, sich zu beißen. Duane riskierte wieder einen Blick auf den Boden, als etwas dunkel und glitschig aus Seide und Nebel aufhüpfte, etwas, dessen Blick ebenso starr und benommen war wie der eigene. Der runde, haarlose Kopf eines teerkloßartigen Säuglings. Dessen Gesichtsausdruck verriet immer noch nicht, ob er zu leben versuchte oder im Sterben lag. »Verdammt, Puff, warum hast du ihm die Ranke vom Hals genommen?« Sie sah ihn überrascht an und gab seine Hand frei, die sie bis jetzt fest umklammert hatte. »Mama hat es so gewollt.« »Deine Mutter ist nicht hier.« 234
Puff zuckte vergnügt mit den Gliedern. »Schau ihn dir an!« Duane sah, wie sich das Kind aufrichtete. Die kleinen Arme und Beine, verrenkt und krumm wie das Rankenstück, das Puff in der Hand hielt, reckten sich langsam. Und auch der winzige Penis, der halb so lang war wie Duanes kleiner Finger, ging kerzengerade in die Höhe. Durch den Körper zuckten immer noch Krämpfe, aber das Schreien ließ nach. Die Haut wurde heller; war sie eben noch pechschwarz, schimmerte sie nun schon gräulich. Ein zarter Rosaton mischte sich darunter, den Duane zunächst zurückführte auf eine Reflektion der Motten, die durch den Lampenstrahl tanzten. Allmählich lösten sich die Krämpfe des Kleinen. »Ihm werden doch wieder Haare wachsen, oder?« fragte Puff und lächelte irre. Dann bückte sie sich und streichelte über den schön geformten Kopf. Derweil hellte die Haut überall weiter auf, wurde weicher. In Reaktion auf Puffs Be rührung hob das Kind die Arme, um aufgenommen zu werden. »Ohh«, sagte sie verzückt und reichte Duane die Ta schenlampe. »Puff, laß das!« »Ich nehm' ihn mit. Später kommen wir dann zurück, um Mama zu holen. Ich besorg' mir ein Messer, mit dem sich all die Ranken abschneiden lassen. Es soll niemand auf diese Art hier liegenbleiben.« Aus dem Radio schnarrte Protest, und Puff, die gerade das Kind vom Boden nehmen wollte, hielt inne und zog die Stirn kraus. »So ist es«, versicherte sie. »Ich sagte, ich komme zurück. Darauf könnt ihr euch verlassen.« Sie lauschte. »Ihr könnt euch auf ihn verlassen«, ergänzte sie, doch ihre Stimme klang nun weniger überzeugt, und Duane spürte einen alarmierenden Schmerz in der Herzgegend. »Ich lass' das Radio für euch eingeschaltet«, sagte Puff entschlossen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ganz dem Kind zu, das sie mit ruhigem Blick fixierte und ihr nach wie vor die Arme entgegenstreckte. Duane schätzte es auf fünf oder sechs Jahre, doch der kahle Kopf ließ eine genaue Altersbestimmung nicht zu. 235
»Laß das!« wiederholte Duane, aber es fehlte seiner Stimme an Nachdruck. Mit Puff war nicht zu streiten. Sie nahm das Kind in die Arme und befreite es von den Sei denfäden, die an der feuchten, runzeligen Haut klebten. Schließlich drückte sie es an ihre Brust. Sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter, doch die Augen, elliptisch und naß, blieben ge öffnet und waren auf Duane gerichtet, ohne eine Spur von Neugier oder Intelligenz zu verraten. »Ich werde ihn Alastor nennen«, sagte Puff. »Hast du jemals Shelley gelesen? Kennst du diese Geschichte?« Sie sprach mit dem Kind. »Wie gefallt dir dein neuer Name?« Eine Motte hatte sich auf den Kopf des Kindes gesetzt. Alastor schien sie nicht zu bemerken. Er war ganz still. Vorsichtig streckte Duane die Hand aus und berührte die kleine Schulter, zog aber hastig den Arm wieder zurück. Der Kleine fühlte sich entsetzlich kalt an, als wäre er aus einem Brunnen gefischt worden. Die Augen folgten Duane. Eine kleine Hand klammerte sich an Puffs Arm fest, und Duane stellte fest, das mit dieser Hand etwas nicht stimmte. Der kleine Finger war immer noch pechschwarz und verjüngte sich zu einem spitzen Stachel. »Puff«, sagte Duane mit zaghafter, fast kindischer Stimme. »Setz ihn wieder ab.« »Was?« »Setz ihn ab, und dann komm mit nach draußen. Wir haben hier nichts verloren.« »Ja, gehen wir nach draußen; aber Alastor kommt mit.« »Nein.« »Was soll das heißen: nein? Du Arschloch hast überhaupt nichts zu bestimmen. Der Kleine gehört mir.« Eine zweite Lunamotte ließ sich auf der Haut des Jungen nieder, die inzwischen weiter aufgehellt war und bereits einen weißlich grauen Ton erreicht hatte. Dann flatterte noch ein Falter herbei. Drei Flügelpaare reichten aus, um Alastor fast völlig zu bedecken. Sie schmückten das Kind mit ihrer leuch tenden Zeichnung und verliehen ihm gleichzeitig ein noch be drohlicheres Aussehen. 236
Duane schluckte. Er hatte die Stimme fast verloren. Puffs Anblick ließ erkennen, daß es sinnlos war, gegen sie aufzu mucken. Aber vielleicht konnte er sie retten. Sein Magen ru morte; die Haut zog sich zusammen. »Ich glaube... er ist daran gewöhnt, hier unten zu sein; er gehört hierher, und... wenn du, wenn wir ihn mit nach draußen nehmen, wer weiß, was dann passiert.« Mit uns. Puff schüttelte den Kopf und lachte. Alastors dünne Händ chen krallten sich noch fester in ihren Arm, und Duane sah, wie der Stachel des kleinen Fingers die Haut eindrückte. »Du bist verrückt!« sagte Puff. »Ihm passiert schon nichts. Also los, worauf warten wir noch?« »Du fühlst doch, wie kalt er ist. Es war ein Fehler, ihn... wiederzubeleben.« »Er ist nicht kalt. Ich finde, er fühlt sich gut an. Wahr scheinlich hat er Hunger. Ich werde ihm was zu essen geben und anziehen. Spielzeug bekommt er auch. Darauf freust du dich doch, mein Kleiner, stimmt's?« Puff ließ Alastor ein paarmal auf- und abhüpfen. Das Kind verzog keine Miene. Die schimmernden Motten fingen an zu flattern, blieben aber auf der Haut kleben. »Ich werde meinen Bruder Max in Wisconsin anrufen. Per R-Gespräch, versteht sich. Und wenn er die gute Nachricht hört, läßt er mir bestimmt hundert Dollar zukommen. Dann...« Mit diesem neugefaßten Plan vor Augen stieß sie Duane energisch aus dem Weg und marschierte los. Nach einigen Schritten drehte sie sich um und fragte: »Wir sind doch diesen Weg gekommen, oder?« »Ja.« »Ohne Licht finde ich mich nicht zurecht, Duane. Hilfst du mir?« »Oh, Puff.« »Ab und zu ein bißchen Hilfe von guten Freunden. Dann wird's schon gehen.« Sie hatte zu weinen angefangen. Der haarlose Kinderkopf, der, zwischen Haifischzähnen gebettet, an ihrer Schulter ruhte, schloß die Augen. Das Kind schien einzuschlafen. Vielleicht würden ihm tatsächlich 237
Haare wachsen. Vielleicht waren am Ende alle Befürchtungen hinfällig. Aus dem Radio kam kein Laut. So sehr sich auch Duane zu beruhigen versuchte, das Zittern in den Gliedern ließ nicht nach. Er fürchtete, hier unten zwischen all den lebendigen Toten selber übergeschnappt zu sein, was man ihm womöglich anmerken würde, sobald er nach draußen käme, wo er dann Gefahr liefe, in eine Anstalt gesteckt zu werden. Aber vielleicht, so spekulierte er, wäre eine sichere Unterbringung nicht einmal das Schlechteste für ihn. Ja, das Bedürfnis nach Sicherheit war stärker als der Hunger. »Geh voran, Puff«, sagte Duane. »Ich leuchte dir den Weg.«
19 Um fünf nach neun klingelte das Telefon in der Küche, und als Enid antwortete, hörte sie eine dünne, hohe Stimme, die kaum zu verstehen war, zumal es in der Leitung knackte. »Ich hab' Marjory seit Stunden nicht mehr gesehen und finde sie nirgends. Ich will nicht mit ihr sprechen, sondern einfach nur wissen, ob sie zu Hause ist.« »Rita Sue?« »Ja, ich bin's.« »Wo s teckst du?« »Im Park von Dantes Mühle. Telefonzelle. Auf dem Cam pinggelände. Die Läden sind alle schon dicht. Ich glaube, Marjory war zuletzt irgendwo in der Nähe des Wasserfalls. Deshalb bin ich in...« Enid hielt den Hörer vorn Ohr ab und rief nach Ted. Er lag unter dem Spülbecken und versuchte, ein Leck zu stopfen. Nun kroch er zum Vorschein, warf der Freundin einen irritierten Blick zu und langte nach einem Schmierlappen, um sich die Hände daran abzuwischen. Rita Sue redete noch immer. Enid schüttelte besorgt den Kopf. 238
»Rita Sue, Augenblick, erzähl alles noch mal von vorn. Wo hast du sie zuletzt gesehen? Wer ist bei ihr? Dieser Junge...« »Nein. Duane haben wir nicht gesehen. Marjory hatte ein paar seiner Sachen bei sich, das heißt irgendwelche Geräte, um Schmetterlinge zu fangen. Sie hat das Zeug auf den Rücksitz gelegt und gesagt... was hat sie gesagt, Boyce?« »Laß mich mal mit Boyce sprechen«, fuhr Enid schnell da zwischen. »Hallo Enid, hier ist Boyce.« »Ich weiß. Was ist los mit euch?« »Keine Ahnung.« »Das hilft mir auch nicht weiter. Jetzt überleg mal in Ruhe und erzähl mir alles, was Marjory gesagt hat, als sie das letzte Mal... wann genau hast du sie das letzte Mal gesehen?« Enid warf Ted einen Blick zu, deutete mit der Hand nach oben und forderte ihn so auf, am Apparat in ihrem Schlafzimmer mitzu hören. »Ich glaube, es war kurz nach vier.« »Und wo?« »Am Mühlteich beim alten Dorf.« »Und da ist sie jetzt nicht mehr?« »Tja, die Straße dorthin wird nach Sonnenuntergang ge sperrt.« Enid hörte Ted den Hörer in ihrem Zimmer abheben. »Als du Marjory kurz nach vier gesehen hast, war Duane nicht mehr bei ihr. Ist das richtig?« »Ja. Wo der Kerl hin ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er vorsichtig sein muß, denn schließlich hat er Bewährungs auflagen zu...« »Das ist mir egal«, unterbrach Enid. »Ich mache mir Sorgen um Marjory. Was hat sie zu dir gesagt?« »Wenn ich mich recht erinnere, sprach sie davon, daß Duane verschwunden sei, und zwar mit irgendeinem Mädchen. Ach ja, jetzt fallt mir ein: Deren Radio wurde gestohlen, und Duane wollte ihr helfen, es zurückzuholen. Sie sind zusammen hinter den Wasserfall gestiegen.« »Hinter den Wasserfall? Beim Mühlteich?« 239
»Ja, so ist es.« Boyce stockte. Offenbar hörte er Rita Sue zu, die im Hintergrund hastig dazwischenplapperte. »O ja, Mar jory muß wohl die Polizei verständigt haben, denn sie sagte, daß ein Streifenwagen unterwegs sei. Der ist aber nicht ange kommen. Daraufhin hat sie die Taschenlampe aus dem Ruck sack genommen und gesagt, sie wolle hinter den Wasserfall und Duane suchen gehen.« »Du lieber Himmel! Wie tief ist das Wasser an der Stelle? Ted?« Ted fragte Boyce: »Hast du Marjory hinter den Wasserfall gehen sehen?« »Nein. Rita Sue und ich sind im Auto geblieben. Nach einer Weile haben wir uns dann Eis gekauft...« »Boyce, wie konntet ihr Marjory allein lassen?« »Nuggins, beruhige dich. Ich kann den Jungen kaum ver stehen.« Boyce fuhr fort: »Ich wollte sie ja begleiten, aber mein Fuß... ich hab' den Werkzeugkasten drauffallen lassen, und er ist dick verbunden. Darauf läuft sich's nicht so gut.« »Kann ich mir vorstellen. Wo seid ihr im Augenblick?« »Auf dem Campingplatz bei der Parkverwaltung.« »Tut mir den Gefallen und rührt euch nicht vom Fleck«, meinte Ted. »In ein paar Minuten werden Kollegen von mir da sein.« Enid ließ den Hörer auf die Brust sinken und legte die Hand vor den Mund. In dieser Pose verharrte sie, bis Ted die Treppe heruntereilte, ihr den Hörer aus der Hand nahm und auflegte, um selber telefonieren zu können. »Mach dir nicht unnötig Sorgen. Vielleicht sind sie...« Er wählte eine Nummer. »Sie ist seit fünf Stunden verschwunden. Was fällt ihr bloß ein, hinter den Wasserfall zu gehen? Ist da nicht eine hohe Wehrmauer? Da kommt man doch nicht weit.« »Moment. Hallo Loretta, hier ist Ted. Ich bin bei Enid Waller. Ihre Schwester ist in Dantes Mühle und seit vier Uhr am Nachmittag verschwunden, wahrscheinlich zusammen mit zwei anderen Personen. Ihr Freund, mit dem sie weg ist, 240
heißt Duane...« Ted schnippte mit den Fingern, bis ihm der Name wieder einfiel. »Eggleston.« Er buchstabierte. »Ja, tu das, und benachrichtige auch die Polizei von Wingo County. Sie soll ein paar Beamte zur Parkverwaltung schicken. Ich werde da sein. Ach, und ruf Freund Rhabarber an; er soll bitte meine Schicht übernehmen... Ja, das weiß ich auch, aber das Jagdspringen fällt bestimmt ins Wasser. Bei dem Regen geht kein Gaul über den Parcours. Ach, da ist noch etwas.« Ted wandte sich von Enid ab und ging, die Telefonschnur nach sich ziehend, zur hinteren Veranda. Doch seine Stimme war nicht leise genug. Enid hörte, was er sagte, obwohl es draußen unablässig donnerte, als ob ein Bowling-Ball die Treppe her unterpolterte. »Sag den Kollegen von Wingo County, daß wir vielleicht Spürhunde brauchen. Und eine ausreichende Anzahl von Männern, um den Teich bei der alten Mühle durchkämmen zu können. Ja. Ich fahre sofort los.« Als sich Ted umdrehte, sah er Enid bäuchlings auf dem Bo den liegen. Es donnerte so laut, daß er sie nicht hatte fallen hö ren.
20 Birka mußte feststellen, daß es ganz und gar kein Zucker schlecken war, aus dem Schwarzen Schlaf aufzuwachen. Es fiel ihr ungeheuer schwer, an der Menschenperson Marjory festzuhalten, die sich für sie — und für alle anderen der Huldu fölkt-Kolonie - unter den gegebenen Umständen als einzig greifbare Hoffnung anbot. Arne umgebracht zu haben, war ein Fehler gewesen, ein unglücklicher Zufall. Während der ersten schmerzvollen Mi nuten nach dem Erwachen war Birka viel zu gereizt gewesen, um einzusehen, daß sie alles andere als frei entscheiden konnte. Arne (als eigener Sohn nicht wahrnehmbar, abgesehen von den Ahnungen entfernter Hypothalamus-Neuronen, 241
in denen ursprüngliche Empfindungen rudimentär weiterleb ten) hatte ihr klugerweise die Füße mit dem rankenden Ausle ger einer Würgerfeige gefesselt. Wütend, wie sie war, hatte sie ihm das Gehirn umgepolt und bewußtlos gemacht, was nor malerweise keinen Schaden anrichten konnte. Trotzdem hatte er plötzlich, vielleicht weil er ohnehin gebrechlich war, zu atmen aufgehört. Was das Besänftigen menschlicher Ge müter und die verheerende Wirkung von mißglückten Eingriffen in das hormonale Gleichgewicht anging, mußte Birka noch einiges dazulernen, obwohl es keine theoretischen Anleitungen darüber gab. Theron war zweifellos der weitaus Erfahrenere im Umgang mit Neulingen, hatte aber nur wenig Zeit gehabt, Birka zu instruieren; und so waren Enoch und der Junge ihnen mit den Schlingen der Feige zuvorgekommen. Sie habe Enoch nie wirklich ernstgenommen, klagte Birka, und das sei ihr Verderben gewesen. Als sie mit Gewißheit davon ausgehen konnte, daß Arne tot war, reagierte Birka nach uraltem Instinkt. Menschenwesen zu verschwenden, kam nicht in Frage. Also zog sie ihm die Haut ab. (Sie ging dabei sehr sorglos zu Werke, und plötzlich tauchte die Menschenperson Marjory in der Nähe auf. Birka mimte sofort kindlichen Kummer mit Tränen und beschickte das eigene zerebrale Einbildungssystem mit Vorstellungen von Blutsverwandtschaft. Ihr enorm sensibles, telepathisches Zirbeldrüsen>auge< verteilte diese Vorstellungen und Bilder ihrer jeweiligen Rangordnung nach auf die hierarchisch strukturierten Bewußtseinsebenen des menschlichen Gehirns von Marjory und verschaffte sich somit die Kontrolle über de ren Wahrnehmung - wenn auch nur vorübergehend.) Für Birkas Wiedergeburt mochte sich die alte, welke Haut womög lich noch als unnütz herausstellen, aber immerhin war damit ein Anfang gemacht. Hätte sie diese Gelegenheit verstreichen lassen, wären ihr von Theron bestimmt Vorwürfe gemacht worden. Obwohl Birka auf ihren tauben, vergifteten Füßen kaum stehen konnte, war es ihr nicht schwergefallen, Arnes enthäu teten Leichnam in die hohe Astgabel zu hängen. Allerdings 242
war Vorsicht geboten, denn hätten ihre Finger die Schlingen der Würgerfeige berührt, wäre die Hand nicht mehr zu ge brauchen gewesen. Sie hatte das Menschenwesen Marjory überreden können, ihr die Fesseln abzunehmen, und über die Verwandtschafts einbildung unablässig Gefühle der Sympathie zu vermitteln versucht, was für Birka in ihrem reptilienhaften Zustand eine besonders unangenehme Anstrengung war, die sie zunehmend auslaugte, zumal sich das Mädchen gegen ihre Um kremplungsabsichten sträubte. Und zu allem Unglück stand zu befürchten, daß ihr das Wetter einen Strich durch die Rechnung machte. Das Mädchen hatte den Knoten der Schlingen fast gelöst, als ein Blitz in den Baum fuhr. Und nun lag Birka hilflos da - in einem Gefängnis aus grünem Laub. Zwar konnten sie diese Blätter im Unterschied zur Ranke nicht in den Schwarzen Schlaf versetzen, dafür aber entzogen sie ihrer Hirnanhangdrüse ein erhebliches Quantum an Energie, was sich sehr nachteilig auf die Funktion ihrer Sinne aus wirkte. Und deren Schärfe war gerade jetzt gefordert. Außerdem hatte der strömende Regen die Botenschar der Lunamotten vertrieben. Birka wußte deshalb nicht, was unten in der Gruft passierte, wo Theron ungeduldig wartete. Seine Geisteskraft war zwar trotz Schlaf intakt geblieben, ließ sich aber für Birka nicht verwerten - zu dick waren die Ge steinsschichten, die zwischen ihnen lagen. Was würde er ihr jetzt in diesen Momenten kritischer Hilflosigkeit sagen und raten? Er würde sagen, daß Todesangst ihrer nicht würdig sei. Ihr Fleisch war so kalt, daß umherstreunende Tiere oder Aasvögel davor zurückschreckten. Allerdings ging von der Sonne eine nicht zu unterschätzende Gefahr aus. Die verhaßte Fackel Gottes leuchtete ihr und ihresgleichen unbarmherzig ins Jenseits. Eine Rankenschlinge war schlimm genug, doch mehr noch fürchtete Birka die Folter der Sonne. Bis zum Morgen blieben ihr aber noch ein paar Stunden übrig. Und was konnte sonst noch gefahrlich werden? Nichts. Was sie jetzt vor allem brauchte, waren Kleider und ein 243
Unterschlupf. Ein Bauernhof, eine Scheune würde schon rei chen. Kam Marjory von einem Gehöft oder aus der Stadt? Birka suchte die Abgeschiedenheit einer Farm; dort würde sie nur mit wenigen Menschen zu tun haben. Marjory machte ihr für den Augenblick schon genug Ärger. Birka hatte noch eine zweite Möglichkeit: unverzüglich in die Höhle zurückzukehren und die anderen zu befreien. Mit Marjorys Hilfe natürlich. Nur ein Menschenwesen konnte die Schläfer aufwecken. Ein solcher Versuch würde Birka jedoch womöglich überfordern in ihrem Bemühen, das Verhältnis zu dem Mädchen aufrechtzuerhalten. Marjory zu verlieren, konnte sie sich nicht leisten, und deren Urängste in Schach zu halten, war trotz der Nähe zu ihr ein äußerst heikles Unterfangen. Das Kind fürchtete nichts mehr als den Tod. (Birka ahnte etwas von dem schrecklichen Verlust, den Marjory durch den Tod ihrer Eltern hatte erleiden müssen.) Sie durfte dem Mädchen nicht mehr von der Seite weichen. »O Marjory, hast du dir weh getan?« »Ja. Am ganzen Körper.« »Kannst du dich noch auf den Beinen halten?« »Ich glaube, ja. Hast du... warum bist weggelaufen?« »Ich hatte Angst vor dem Gewitter und fürchte mich immer noch. Bring mich nach Hause.« (Marjory sieht das Wetterleuchten in der Ferne und richtet die Augen auf den zerborstenen Baum. In ihrem Tal auf Island gibt es keine Bäume. Ihr Blick fällt auf den Steinhaufen einer eingestürzten Schäferhütte.) »Ich hänge fest. Beeil dich, Marjory! Befrei mich von den Steinen!« 244
»Ich... komme, Birka.« Beschwerlich der steile und rutschige Weg den Hang hinauf. Keuchend der Atem. Sie schlägt sich durch die nassen, be laubten Zweige des Kastanienbaums, die tief auf den Boden herabhängen. Als es wieder einmal blitzt, zeigt sich eine fri sche Wunde im knorrigen Stamm. (Birka weiß all diesen Ein drücken eine andere Gestalt zu verleihen. Das Wetterleuchten kommt ihr dabei sehr entgegen, denn auch davor hat Marjory eine so panische Angst, daß ihr der Verstand aussetzt.) Marjory zuckt zusammen, sieht Birka hilflos im Schlamm liegen, ihr entgegenstarren. »Der Stein... so schwer. Kannst du ihn weghieven, Marjory?« »Ich weiß es nicht. Ich versuch's mal. Ist das Bein... gebro chen?« »Nein. Es läßt sich noch bewegen. Fester, fester... ja, ge schafft. Gib mir deine Hand!« »Was ist mit deinem hübschen Kleid passiert?« »Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Komm, nichts wie weg von hier. Wir gehen zu dir nach Hause. Ich will ein Bad nehmen. Du leihst mir doch ein Kleid, oder?« »Sicher. Birka... ich habe dich fliegen sehen. Wie...« »Marjory, mach dich nicht lächerlich. Wo geht's lang?« »Ich weiß nicht. Ich habe mich verirrt.« »Was soll's? Irgendwo muß es ja eine Straße geben. Wir wer den sie schon finden.«
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»Ja, wir werden sie schon finden.« »Unterwegs erzählen wir uns gegenseitig Geschichten. Das hält uns bei Laune. Und der Regen wird bestimmt bald aufhö ren.« »Du bist so kalt.« »Mir ist wohl dabei, Marjory.«
21 Das Mädchen namens Smidge hatte Puffs Gepäck durchstöbert und nach der Benzinkarte gesucht. Doch die war nicht zu finden gewesen zwischen all den dreckigen Unterhosen und anderen Kleidungsstücken, vollgekrümelt von Marihuana blättern, zwischen Taschenbuchausgaben von die geschichtli chen Ursprünge des Bewußtseins und Gedichten Shelleys, Starfotos mit Autogrammen von vergessenen Rockidolen der Hip-py-Generation und einer Arzneischachtel, die, mit Aluminiumfolie umwickelt und in der Spitze eines Schuhs aus Echsenleder versteckt, Puffs ganze Kostbarkeiten enthielt: ein paar Schmuckstücke, die anscheinend aus echtem Gold gefertigt waren. Beim Pfandleiher oder Juwelier wären, wie sich Smidge ausrechnete, an die hundert Dollar dafür zu holen. Also nahm sie das Zeug an sich, ohne ihren Reisegefährten Wiley oder Deke etwas davon zu sagen. Smidge hatte nach an fänglicher Verliebtheit an den Stränden von Sanibel ihr Inter esse für Puff verloren, die Smidge nicht an sich ranließ, es sei denn, Puff war so high, daß ihr alles egal zu sein schien. Smidge glaubte, daß Puff irgendeinem Typen mit schickem Motorrad über den Weg gelaufen war, dessen Gesellschaft ihr mehr versprach als ihr Verbleib in der Gruppe. Vielleicht hatte sie ihren, wie sie sich ausdrückte, >Todesengel< gefunden, der ihr nach Auskunft einer Wahrsagerin aus Europa 246
schicksalhaft begegnen sollte. Für Smidge war früher jedes Wort von Puff die reine Offenbarung gewesen, bis sie schließ lich dahinterkam, daß Puff nicht alle Tassen im Schrank hatte. Weil der Kombi schlappzumachen drohte und wie ein Loch Benzin schluckte, dachte Puff wahrscheinlich, daß eine längere Rast geplant sei und sie nach ein, zwei Tagen vorbeischauen und ihre Sachen abholen könne. Smidge stand noch immer unter den Nachwirkungen des Meskalintrips, den sie vor zwei Tagen geworfen hatte, und fühlte sich so elend wie ein Hund mit eiternder Pfote. Wiley hatte den halben Kombi vollgekotzt, während sie mit Deke losgezogen war, um nach Puff zu fahnden. Es regnete noch im mer, als sie zurück zum Wagen kamen, und so konnte sie das Fenster nur einen Spaltbreit herunterkurbeln, um frische Luft hereinzulassen — was auch nötig gewesen wäre, wenn sich Wiley nicht erbrochen hätte. Er war inzwischen wieder bei Be sinnung, lag aber wie tot unter der Plane, die die beiden Jungs über die aufgeklappte Motorhaube gespannt hatten. Deke versuchte derweil den Vergaser zu säubern, denn daß der Wa gen mit maximal dreißig Meilen pro Stunde daherstotterte, war nicht länger auszuhalten. Deke hatte enorm viel Ahnung, was Elektronik anging. Er konnte einen kaputten Gitarrenverstärker auseinandernehmen und in einem dunklen Bühnenwinkel wieder zusammensetzen, während fünfzehntau-send Teenies das Konzert bejubelten. Aber von Autos verstand er kaum was, und Wiley war zu nichts zu gebrauchen, außer am Klavier und — wenn man Puff glauben konnte — im Bett. Beide Jungs hatten sich gegen den Vorschlag ausgespro chen, Puff laufenzulassen. »Nennt mir einen Grund, warum nicht«, keifte Smidge. Wiley, träge im Kopf, dachte lange nach und sagte grinsend: »Weil sie Laune macht.« Mit dieser Feststellung wurde Smidge noch weiter an den Rand der klei nen Gruppe gedrängt. Sie hatte nicht übel Lust, den beiden Pennern den Rücken zu kehren. Die Hoffnung auf eine ro mantische Affäre mit Puff war sowieso ausgeträumt. Was hielt sie länger? Sie hatte nichts dagegen, den Rucksack urnzu 247
schnallen und auf eigene Faust weiterzuziehen. Der Regen konnte sie nicht abschrecken, nur das Gewitter mußte vorher aufhören. Sie hatte entsetzliche Angst vor Blitzen, die den Kopf wie mit Röntgenstrahlen durchleuchteten, gefolgt vom Donner, der das Herz aus der Verankerung zu reißen drohte. Wiley war mittlerweile aufgestanden und hielt die Ta schenlampe, während Deke am Vergaser herumbastelte. Der Benzingestank war so ätzend, daß man den galligen Auswurf im Wagen fast nicht mehr riechen konnte. Smidge versteckte das gestohlene Gold in ihrem Rucksack, warf einen Poncho über und öffnete die Heckklappe. Wiley riß Witze und zappelte unter der viereckigen Plane herum, die, voll von Regenwasser, in der Mitte heruntersackte. Worin unterscheide ich mich von einem jungen Mädchen? Kennst du den Unterschied zwischen Genealogen und Gynäkologen? Wiley, Wiley. Ihn konnte man nirgends mitnehmen, egal wie gut er angezogen war. Smidge war entschlossen, den Jungs Lebwohl zu sagen. »Wohin willst du, Baby?« fragte Wiley. »In ein anständiges Bett. Außerdem muß ich mal duschen. Meine Haare stinken nach Kotze.« »He, tut mir wahnsinnig leid. War ein Unfall.« Er leuchtete in ihr Gesicht und schaltete die Lampe an und aus. »Klar. Trotzdem geh' ich jetzt.« Deke sagte: »Was sollen wir Puff erzählen?« »Sagt ihr, daß ich auf dem alten Campingplatz bin«, ant wortete Smidge zögernd. »Wiley, hör auf, mich mit der ver dammten Funzel zu blenden!« »Die Karre läuft ganz bestimmt bald wieder«, versprach Deke. »Morgen kommen wir bei dir vorbei und holen dich ab.« »In Ordnung.« Regenwasser lief ihr den Nacken hinunter. Sie dachte an Puff und empfand einen unerwarteten Schmerz dabei, Wiley erbricht fahle Kotze, ein junges Mädchen hat 'ne kahle... »Wolang geht's zu dem Dorf?« wollte sie von Deke wissen. 248
»Du brauchst einfach nur dem Weg da zu folgen«, ant wortete er. »Dann kommst du auf die Straße, und die führt runter ins Dorf.« Smidge warf einen Blick über die Schulter, konnte den Weg aber nicht ausmachen. Ihr wurde mulmig. »Wie, zum Teufel, soll ich mich im Dunkeln zurechtfin den?« »Tja, das ist dein Problem.« »Ich könnte die Taschenlampe gebrauchen.« »Wir haben nur eine, und die brauchen wir.« Der Schlüssel, mit dem Deke schraubte, glitt ihm aus der Hand und fiel unter den Wagen. Deke stieß einen lästerlichen Fluch aus. »Du solltest Jesus aus dem Spiel lassen.« Wiley lachte. »Pfarrers Töchterlein«, sagte er. »Du wirst es kaum glauben«, meinte Deke, »aber ich bin mitunter durchaus sensibel.« Deke riß Wiley die Taschenlampe aus der Hand und suchte nach dem Schlüssel. »Wiley könnte mich bis zur Straße begleiten. Vielleicht brennen im Dorf ein paar Lichter. Einverstanden, Deke?« »Von mir aus. Verschwindet. Ich hab' sowieso die Faxen dick.« Deke tauchte mit dem Schlüssel in der Hand wieder auf, verzog das Gesicht und schlug wuchtig die Motorhaube zu. Wiley sprang lachend zurück und führte jenen jamaikanischen Tanz auf, der, wie er behauptet hatte, die Krokodilgötter günstig stimmen sollte. »Haben wir noch was zu essen?« fragte Deke. »Erdnußriegel.« »Erdnußriegel! Wer von euch hatte eigentlich die Scheiß idee, fünf Pfund Erdnußriegel einzukaufen?« »In dem verdammten Souvenirladen gab's nichts anderes. Aber vielleicht kann ich aus dem Dorf ein paar Dosen Bier mitbringen. Smidge, wir ziehen die gleiche Nummer auf wie in dem Kiosk, okay? Die Alte hinter der Theke sah aus wie die Großmutter von Beverly Hillbillies. Der hätte ich glatt das halbe Inventar wegräumen...« 249
Wiley hörte abrupt auf zu sprechen und leckte sich die Lip pen. Langsam drehte er den Kopf und schielte zur Seite. In letzter Zeit setzte es öfters bei ihm aus. Er hatte die Taschen lampe wieder an sich genommen und bestrahlte die Stoßstange. Auf einem Aufkleber stand zu lesen: Wir wollen alles, und zwar sofort! Smidge streckte den Arm aus und nahm ihm die Lampe ab. Fünf Sekunden später war Wiley wieder bei sich. Er zwinkerte mit den Augen und sagte: »Beverly Hillbil-lies. Das war 'ne Spitzensendung. Willst du irgendwo hin, Smidge?« »Wir gehen jetzt gemeinsam ins Dorf. Aber von Dorf kann eigentlich nicht die Rede sein. Kein Mensch wohnt da. Es ist sowas wie ein Freilichtmuseum. Kommst du mit?« »Aber klar doch. Bis gleich, Deke.« »Nur keine Eile.« »Na, Smidge? Kennst du den Unterschied zwischen einem Genealogen und einem Gynäkologen?« »Nein, und ich will ihn auch gar nicht wissen«, antwortete sie. Die Lampe in ihrer Hand leuchtete auf die Waldschneise, der sie von der Straße aus gefolgt waren, um tief im Inneren des Waldes zu campen, ohne Gefahr laufen zu müssen, von der Forstaufsicht überrascht zu werden. Zwei Tage waren sie nun schon hier und hätten in der Zeit schon in Chicago sein können. Da lebten Freunde von Freunden, die an der Uni stu dierten. Smidge hoffte fest darauf, dort unterkommen zu kön nen. »Wohin, sagtest du, ist Puff gegangen?« fragte Wiley, als er und Smidge über den regendurchweichten Pfad stapften. Im Norden oder dort, wo sie den Norden wähnten, blitzte es zwar fern, aber doch beängstigend. Die Taschenlampe reichte weit und war fast so grell wie ein Scheinwerfer. Smidge hatte ihren Südwester aufgesetzt, der ihr den Regen vom Gesicht hielt. Wiley war, wie gewöhnlich, barfuß. Seine gestreifte Hose starrte vor Dreck, und die Weste aus dem Leder eines ungebo renen Fohlens, glänzte naß auf, als der Lampenstrahl darauf fiel. Er hatte eine stämmige, muskulöse Figur, die aber vom Bier mittlerweile aufgeschwämmt war. Obwohl er kaum mehr 250
als dreißig Jahre alt sein konnte, waren die Koteletten, die lang und krumm in die Wangen wuchsen, bereits sehr grau geworden. Na ja, besser ihn zum Begleiter zu haben als nie manden. »Ich hab' überhaupt nichts gesagt und weiß es auch nicht. Sie ist, glaube ich, gegen vier losgezogen und seitdem weg.« Wiley antwortete nicht. Plötzlich fing er an zu singen >Lovely Bunch of Coconuts< -, hopste um Smidge herum, sprang in die Luft und hielt dabei die Hände vor den Zwickel. Klar, daß er schließlich ausrutschte und der Länge nach in den Matsch stürzte. Mit schmerzverzerrtem Blick sah er sie aus seinen dreieckig geschnittenen Augen an. »Wiley, steh auf!« »Ich kann nicht«, winselte er. »Hat's dir die Puste verschlagen?« ».. Ja.« »Wie kann man nur so bescheuert sein?« wunderte sich Smidge und reichte ihm die Hand. Wiley packte zu und hob den Kopf. Doch er war zu schwer für sie. »Ich glaub', ich schaffs nicht«, sagte er. »Was ist denn?« »Der Rücken...« »Großartig.« Mühsam richtete Wiley den Oberkörper auf. »Wird's wieder?« »Das will ich doch hoffen. Du kannst allein losziehen, wenn du willst. Vielleicht sollte ich lieber zurück zum Wagen.« »Kannst du gehen?« »Sicher. Augenblick noch.« »Die Taschenlampe behalte ich aber.« »Von mir aus. Kein Problem. Wir sehen uns dann morgen, klar?« »Gefallt mir überhaupt nicht, dich hier hocken zu lassen.« »Nur keine Panik.« »Also gut.« Smidge zögerte noch eine Weile. Bei Wiley wußte man nie, woran man war. Womöglich stellte er sich bloß an. Vielleicht 251
wollte er sich aufspielen. Ihr war gleich wohler zumute, als er >Malaguena< zu summen anfing. So schlimm konnte er sich also nicht verletzt haben. Smidge setzte ihren Weg entlang der Schneise fort und duckte sich jedesmal, wenn ein Blitz auf zuckte. Die Bäume schimmerten dunkelblau und wogten wie das Meer im Wind, von dem aber weiter unten nicht viel zu spüren war. Zum Regen kam nun das Wasser, das von den Zweigen plätscherte. Smidge blieb stehen, um den Rucksack enger zu schnallen. Da hörte sie Wiley aus vollem Hals ihren Namen brüllen. Seine heisere Stimme überschlug sich, und als Smidge den Kopf nach ihm drehte, fuhr ein Blitz dicht über die Baumwip fel, so grell, daß ihr die Augen brannten. Der Donner brauste heran wie ein Düsenjäger, der die Schallmauer durchbrach. Sie ließ die Taschenlampe fallen und schlug die Hände vor die Ohren. Als sie die Leuchte vom Boden aufhob, brüllte Wiley ein zweites Mal, und seine Stimme verriet deutlich Schrecken. Wiley und Angst? Er besaß das unerschütterliche Vertrauen eines Zweijährigen, dem nie etwas Schlimmes zugestoßen war. Vielleicht hatte er zu gehen versucht und saß nun wieder im Schlamm, beduselt wie er war. Smidge strahlte mit der Lampe in seine Richtung, sah aber nichts. Weit war sie noch nicht gekommen, doch die Dunkel heit und der Regen hatten ihr die Orientierung genommen. Langsam ging sie zurück und folgte dabei den eigenen Fuß spuren. »Wiley?« Smidge spähte rechts und links ins Unterholz in der An nahme, daß Wiley womöglich aus Jux und Dollerei... Wehe, wenn er versuchte, sie zu erschrecken! Der Regen schlug ihr heftig aufs Gemüt. Verdammter Wiley! Ein Blitz. Sie zuckte zusammen. Donner. Voller Hektik leuchtete sie den Pfad ab. Fußspuren über Fußspuren. Aber sie konnte doch noch nicht an Wiley vorbei sein! Eindeutig, das waren die Abdrücke sei ner Riesenquanten, Größe siebenundvierzig, doch er haßte Schuhe... Von wem aber stammen jene Spuren dort? 252
Sie waren klein und schmal, schienen zu einem Frauenfuß zu gehören und kamen von links aus dem Wald, in weitem Abstand voneinander, als wäre da jemand gelaufen, hin zu die sem Schlammloch mitten in der Schneise, der mit Regenwas ser gefüllten Suhle. Und von dort aus führten frische Spuren geradewegs weiter auf die gegenüberliegende Waldfront zu. Die kleinen Füße schienen... Smidge war wie versteinert. Interessant, diese Reaktion, dachte sie noch. Natürlich hatte sie davon gehört, daß Angst lähmt und einen Körper mitunter erstarren läßt. Nun aber er ging es ihr selbst so. Bei den Knien fing es an; sie wurden steif und wollten nicht mehr weiter. Dann versteinerten der Rük ken, die Schultern, der Hals, ja, sogar die Zunge lag ihr plötz lich wie ein Stein im Mund. Immerhin spürte sie noch ihr Herz schlagen, und der Regen tropfte von der Hutkrempe auf die starre Hand, die die Stableuchte umklammert hielt. Aus ihrer Kehle kamen Laute wie die eines Kätzchens, das gerade zur Welt gekommen ist und die Mutter sucht. In panischer Flucht und schreiend vor Entsetzen brach plötzlich eine Gestalt aus dem zehn Schritt entfernten Ge büsch hervor und blieb im Strahl der Lampe wie angewurzelt stehen. Doch sehen konnte sie nichts. Was von den Augen übriggeblieben war, rann als zähe Masse über die Wangen. Von den gelblich schimmernden Rippen hingen, wie mit Wäscheklammern befestigt, lange Hautfetzen herunter. Auf dem Bauch waberte zerfetztes Fett gewebe. Die Hände ruderten hilflos auf und ab im Lampen schein, der weit über das Gebüsch ausfächerte. In diesem Moment trat mit gelassenen Schritten die kalte, unnatürlich weiße, haarlose, nackte Frau aus ihrem Versteck und richtete ihre strahlend blauen Augen auf Smidge. Dann packte sie Wiley bei der langen Mähne, riß ihm den Kopf zur Seite und schlug mit einem Gegenstand zu, den sie umfaßt hielt. Schwer zu sagen, was es war; jedenfalls kein Messer, aber in der Faust steckte irgendeine Waffe, an die zehn Zenti meter lang, schlank und schwarz. 253
Was hatte die Frau bloß für Kräfte! Mühelos holte sie Wi ley, den Zweizentnerkerl, an den Haaren zerrend, von den Fü ßen und schleifte ihn hinter sich her. Bald waren beide im Dik kicht verschwunden. Smidge preßte die Lippen aufeinander, als sie das Blut durch den Kopf und die versteinerten Glieder pulsieren spürte. Sie rannte los, während die Hölle hinter ihr ein wahres Feuerwerk entzündete und der Donner ihre Schreie schluckte. Smidge war in vollem Lauf, als sich ihr plötzlich ein Schatten in den Weg stellte und sie beim Arm packte. »Hab' ich dich!« hörte sie eine kichernde Stimme sagen. Jäh abgebremst, wirbelte Smidge mit dem Schwung ihres Laufs herum und rammte die Taschenlampe, die sie in der freien Hand hielt, vor den Kopf der schattenhaften Gestalt. Sofort löste sich der Griff um Smidges Arm. Sie verlor das Gleichgewicht und prallte gegen ihren Widersacher, schlug rasend vor Wut noch einmal mit der Leuchte zu, verfehlte je doch das Ziel. Gemeinsam waren sie zu Boden gestürzt. Smidge kniete auf einer prallen Frauenbrust. Heißer Atem schlug ihr entgegen. Befreien konnte sie sich nicht, denn die junge Frau, die mit blutender Nase unter ihr lag, hatte beide Arme um Smidge geschlungen. Smidge strahlte ihr ins Gesicht. Ihre Augen waren so blau wie die der Schauergestalt von vorhin, aber voller Schmerz und Schrecken. »Ohhh, geh runter von mir!« »Wer bist du?« »Und wer bist du?« »Smidge. Wenn du dich vor dieser Wahnsinnigen in Sicher heit bringen willst, rat ich dir, die Beine in die Hand zu neh men, und zwar schnellstens.« »Was für eine Wahnsinnige?« »Nichts wie weg von hier!« Smidge richtete sich halb auf und warf einen flüchtigen Blick zurück. Das zersprungene Glas der Lampe streute mattes Licht. Sie spürte einen Kloß im Hals, der sich nicht herun terschlucken ließ, und die Angst schnürte ihr die Brust zusam 254
men. Marjory strich sich mit der Hand über ihre blutende Nase und schrie auf. Dann aber sprang sie so heftig auf, daß Smidge, zurückgestoßen, mit dem Rucksack im Schlamm lan dete. »Wo bin ich eigentlich?« »Darüber kannst du später nachdenken«, zischte Smidge, und ohne zu wissen warum - vielleicht weil deren Stimme so völlig verstört klang -, packte sie Marjory beim Kragen und zerrte sie hinter sich her. »Komm endlich in die Gänge!« Marjory brauchte nicht länger gedrängt zu werden. Sie rannte so schnell, daß Smidge ihr kaum noch folgen konnte und sie aus den Augen verloren hätte, wäre nicht hin und wie der ein Blitz vom Himmel gezuckt. Was, zum Teufel, hatte das Mädchen so ganz allein hier draußen zu suchen? Wahr scheinlich war auch sie auf irgendeinem üblen Trip, vollge dröhnt bis unter die Kopfhaut. Hab'ich dich! Spielte die Irrsin nige doch tatsächlich Fangen, während dem armen Wiley hundert Meter weiter wie einem Hirsch der Balg abgezogen wurde. Oder gehörte Wiley etwa mit zu diesem Spiel? Gab es außer ihm noch weitere Typen, die sich ringsum im Wald versteckt hielten? Teufelsanbeter, dachte Smidge, der sich der Magen ver krampfte aus Angst, nicht schnell genug davonzukommen. Menschenopfer. Sie wagte nicht zurückzuschauen. Der rituelle Mord an der schwangeren Schauspielerin und vier weiteren Personen war ihr in schrecklicher Erinnerung. 0 Gott. Mein Daddy ist Prediger bei den Methodisten. Verschon mich, Jesus! Ich will auch nie wieder lästern und würde sogar auf die Kanzel steigen, wenn du willst. Von Drogen laß ich ab sofort die Finger. Das schwöre ich auf die Bibel. Aber bitte, steh mir bei!
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22 »Ich glaube, wir müssen hier entlang«, sagte Puff und blieb stehen, um Luft zu schöpfen, als der Schacht, durch den sie gekommen waren, in eine Kammer mündete, die wie ein Hohlkegel geformt und so hoch war, daß das Licht der Lampe kaum bis zu den schimmernden Tropfsteinen unter der Decke reichte. »Alastor, was meinst du?« So ging es nun schon seit geraumer Zeit: Sie plauderte mit dem schläfrig dreinblickenden kleinen Jungen und ließ Duane dabei ganz außer acht. Gelegentlich nur schnauzte sie ihn an, dann nämlich, wenn er ihrer Meinung nach etwas Falsches tat oder Unsicherheit zeigte auf dem Weg aus der tiefen Kammer, die voller Motten und Seide und Mumien war. Duane wurde das flaue Gefühl nicht los, in die Irre gelaufen zu sein, und zermarterte sich den Kopf über dir Frage, an welcher Stelle sie vom richtigen Weg abgekommen waren. Vielleicht schon ganz zu Anfang: in der Mumienkammer mit ihren zahlreichen Öffnungen in der Wand, die alle gleich aussahen. Und dann der Junge — wenn es denn wirklich einer war, was Duane stark bezweifelte -, dieser Junge war auf so schauerliche Weise zum Leben erwacht, daß Duane an kaum etwas anderes mehr denken konnte. Um so krampfhafter versuchte er nun, Puffs irrsinniges Gebrabbel zu ignorieren und möglichst nüchtern und überlegt zu handeln. Die Lunamotten, die ihre Köpfe umflatterten, waren nicht gerade hilfreich und anscheinend selber in die Irre geraten. Aus durchscheinend schimmernden Steingebilden tropfte Wasser in eine Pfütze. Duane schöpfte eine Handvoll, schnup perte vorsichtig daran, trank aber schließlich bedenkenlos, denn die Sorge, daß Wasser könnte giftig sein, schreckte ihn schon nicht mehr. Puff setzte sich, legte Alastor in ihren nack ten Schoß und ließ seufzend den Kopf kreisen, um den Nacken zu entspannen. Auf der Brust und dem Bauch des Kleinen hatte sich eine Reihe von Haifischzähnen abgedrückt. Die Falter schwirrten auf ihn zu, nahmen auf ihm Platz und flatterten wieder weg. Er starrte auf die Kette, langte dann zag 256
haft mit der Hand danach und berührte sie mit dem Stachel des kleinen Fingers. Puff schmunzelte. »Puff, willst du auch was trinken?« Über die Schulter blickend, schaute sie auf das Wasserge rinne. »Wenn du Alastor mal solange hältst.« »Lieber nicht.« »Nimm ihn!« »Ist ja gut; reg dich ab.« »Und laß ihn nur ja nicht fallen«, fügte sie hinzu, stand auf und schlurfte auf ihren ausgetretenen Sandalen Duane entge gen. Duanes Brillengläser waren beschlagen. Er setzte die Brille ab, legte sie neben die Taschenlampe auf eine Felskante und nahm Alastor behutsam an sich. Ihm war, als hielte er einen Schneemann in den Armen; sogleich fing er zu zittern an und klapperte mit den Zähnen. Alastor schlang ihm die Beine um die Taille. Puff kniete nieder, um zu trinken, wobei ihr das Haar über die linke Schulter herabhing. Zwar konnte Duane ohne Brille nur halb so gut sehen, aber weil das Licht auf Puff gerichtet war, entging ihm nicht die dünne Blutspur, die vom Nacken aus an der Wirbelsäule entlanggeronnen war und nun schon fast getrocknet zu sein schien. »Puff? Hast du nicht gemerkt, daß du blutest?« »Wo?« murmelte sie und schlürfte aus den Händen. Alastor hob langsam den Kopf und musterte Duane mit starrem Blick. »Im Nacken, scheint mir.« »Oh.« Sie befühlte die Stelle mit ihren nassen Fingern. »Vorhin hab' ich was gespürt. Da muß mich wohl Alastor ein wenig gekratzt haben.« Kaum hatte sie das gesagt, als der Kleine mit dem Stachel der rechten Hand auf Duanes linkes Auge zielte. Instinktiv zuckte Duane mit dem Kopf zurück, konnte aber nicht verhin dern, daß der spitze Stachel in den Nasenflügel einstach. Duane ließ das Scheusal los und schlug ihm ins Gesicht. Schreiend fiel Alastor vor Duanes Füßen zu Boden. 257
Vom Schrei alarmiert, sprang Puff auf und eilte auf den Jungen zu, der mit gegrätschten Beinen dahockte. Doch als sie ihn aufheben wollte, krabbelte er auf allen vieren davon. Bei dem Versuch, ihm zu folgen, trat Puff mit dem Zeh vor eine Steinkante und heulte vor Schmerzen auf. Alastor war inzwischen einige Schritte entfernt; er hielt inne, sah sich um und blickte nach oben. Dann stand er plötzlich auf den Beinen und kletterte in die Wand. Sekunden später war er für Puff außer Reichweite. »Alastor! Nein! Komm zurück; das geht nicht gut!« Duane setzt die Brille wieder auf und leuchtete mit der Lampe auf die überhängende Wand, in der Alastor hing, mühelos, wie es schien, obwohl der blanke Fels nur wenig Halt bot für Hände und Füße. Der Kleine bewegte sich wie eine Fliege im Zickzack über die Wand, höher und höher, bis er die Hälfte der Strecke hinauf zur Kegelspitze der Kammer geschafft hatte. Ein Sturz von dort oben wäre für normal Sterbliche absolut tödlich gewesen; doch Alastor fiel nicht, was Duanes Ahnungen bestätigte. Dieser Gnom schien weder Mensch noch Tier zu sein. Was aber war er? »Hol ihn runter!« »Wie denn?« fragte Duane schulterzuckend und leuchtete mit der Lampe fast senkrecht nach oben auf ein Geschwirre von Faltern, die Alastor begleiteten. Der hatte, kopfüber an der Wand klebend, eine Pause eingelegt und schien sich ori entieren zu wollen. Dann änderte er den Kurs und kletterte weiter, raus aus dem Lichtkegel, den Duanes Lampe um ihn warf. Schließlich war er in der Dunkelheit untergetaucht. »Nein, o nein«, jammerte Puff. Sie hatte sich einen Ze hennagel aufgerissen und blutete heftig. »Er ist verschwunden! Wir müssen ihn wiederfinden!« Duane ließ den Kopf hängen und kauerte sich erschöpft auf den Boden. Die Stableuchte baumelte zwischen seinen eingewinkelten Knien. Puff sprang wie von Sinnen hin und her und trat mit dem verletzten Fuß nach ihm aus. 258
»Steh auf! Steh auf! Wir müssen hier raus und Alastor su chen!« »Ich kann nicht mehr, Puff«, entgegnete Duane, und es lie fen ihm Tränen übers Gesicht. »Ich schaff keinen Schritt mehr. Laß mich in Ruhe.« Sie versuchte, ihm die Lampe aus den Händen zu reißen, doch Duane hielt daran fest. Er duckte sich, als sie ihn zu be spucken anfing und mit Fäusten traktierte, bis auch ihr die Kraft ausging. Ausgetobt sackte sie keuchend neben ihm zu Boden. Er schaltete die Lampe aus. »Warum... tust du das?« »Um die Batterien zu schonen. Wer weiß, wie lange es noch dauert, bis wir nach draußen finden! Hoffentlich holt Marjory Hilfe herbei.« Puff rückte näher heran. Ihn schauderte, als er spürte, wie kalt ihre Haut war. Wie war es möglich, so durchfroren zu sein und nicht wie Espenlaub zittern zu müssen? »Mir ist nicht gut«, sagte Puff. »Mir auch nicht.« »Vielleicht schafft es Alastor auch alleine nach draußen. Da werde ich ihn dann finden. Oder?« Ich hoffe nicht, dachte Duane, dem das Bild des kletternden Gnoms immer noch nachging. »Wir ruhen eine Weile aus und suchen dann weiter nach dem Ausgang.«
23 Der Stall der Mühle war relativ sauber und trocken. Smidge ließ das Mädchen, das sich Marjory nannte, nicht aus den Au gen. Sie war größer als Smidge, schien aber harmlos zu sein. Vielleicht ein bißchen wirr im Kopf. Smidge hatte zwei Pfer dedecken gefunden und die nassen Kleider ausgezogen. Mar jory behielt ihre Sachen an, obwohl sie nicht weniger naß war, und klapperte mit den Zähnen. Sie war bleich, und der Bak kenknochen, den Smidge mit der Taschenlampe getroffen 259
hatte, schwoll bedrohlich an. Trotz des lädierten Reflektors spendete die Lampe noch ausreichend Licht, doch Smidge hielt es für ratsam, im Dunklen auszuharren, um möglichen Verfolgern das Versteck nicht preiszugeben. Marjorys Nase hatte zu bluten aufgehört. Ihr blondes Haar war struppig wie ein Vogelnest. Smidge empfand Mitleid mit ihr, doch was ihr sehr viel mehr zu schaffen machte, war der Gedanke an Wiley, den ein nacktes Gespenst halb enthäutet und bei den Haaren weggezerrt hatte. Ein entsetzlicherer Anblick war ihr noch nie zu Gesicht gekommen, dabei hatte sie in der wüsten Szene, in der sie verkehrte, schon einiges erlebt, was auch nicht leicht zu verdauen gewesen war. Sie und Wiley waren, wie es schien, in ein Hexenrevier getappt, und das Mädchen Marjory mochte durchaus dazugehören. Vielleicht auch nur als potentielles Opfer. Smidge konnte aus ihr nicht viel herausbekommen, was allerdings nicht verwunderlich war, da sie den Mund fast ausschließlich zum Zähneklappern brauchte. »Hör mal, Marjory. Ich werde hier wohl nicht allzulange bleiben«, sagte Smidge mit gedämpfter Stimme. »Wenn du mir versicherst, daß du mit diesem Spuk nichts zu tun hast, glaube ich dir. Denn irgendwie bist du nicht der Typ, und wahrscheinlich hast du ebenso verdammte Angst wie ich.« »W-was?« »Du hast doch gesehen, was mit Wiley passiert ist, oder? Warum hast du mich zu fangen versucht?« »W-Wiley?« »Tu nicht so. Du weißt, wovon ich spreche.« Marjory zog die Schultern ein und schlang die Arme um sich. Sie schniefte, aber vergebens; der Rotz lief ihr aus der Nase. Sie gab ein Bild des Jammers ab. »W-wer bist... du?« »Das sagte ich bereits: Ich heiße Smidge. Zugegeben, das ist kein richtiger Name. Ich war lange Zeit ziemlich klein, aber dann, so mit dreizehn Jahren, hab' ich einen Schub nach oben gemacht. Mein eigentlicher Name ist Paula. Paula Ko-vellis. Aus Akron, Ohio. Wohnst du hier in der Gegend?« »Ja.« 260
»Wiley sind die Augen ausgekratzt worden. Armes Schwein. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Himmel, ich darf gar nicht daran denken. Also, sag endlich! Warum hast du mich festgehalten? Was hattest du vor? Verdammte Scheiße, das war doch kein Spiel.« »Du hast ein d-dreckiges... Mundwerk.« »Ach so? Verzeihung, Herzchen. In welchem Mädchenchor singst du denn?« Marjory schüttelte den Kopf und schluckte. »Ich wollte nicht... ich bin m-mit Rita S-Sue unterwegs. Und Boyce. Und D-Duane. Aber er ist...« Marjory vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte erschüttert. »He, Marjory, beruhige dich.« »Ist Duane... immer noch da unten?« »Wo soll er sein?« »In der Höhle.« »Gibt's hier Höhlen?« »Ja. Und in einer hab' ich...« »Sprich weiter!« »Mr. Horsfall gesehen.« »Wer ist denn das?« Smidge wurde ungeduldig. »Dein ver dammter Sonntagsschullehrer?« Sie stand auf und ging hin und her. Nach hinten raus waren die Stalltüren offen. Es regnete immer noch, aber das Gewitter hatte sich verzogen. Nur in der Ferne grollte es noch. Eine Gaslaterne brannte vor einem der Gebäude weiter unten an der Straße, die durchs Dorf führte und vom Regen überschwemmt war. Smidge fühlte sich an eine Wildwestfilm-Kulisse erinnert. Alle Häuser schienen verlassen zu sein. Sie hatte auf der Flucht hierher gleich beim ersten Gebäude eine offene Tür gefunden. Allerdings war ihr immer noch angst und bange. Die haarlose Frau hatte ihr direkt ins Gesicht gesehen. Komisch, dachte Smidge. Daß sich eine Frau aus irgendeiner verrückten Laune heraus den Schädel rasierte, mochte ja noch angehen; aber auch zwischen den Beinen war nicht ein Härchen zu sehen gewesen. Und dann dieser Blick... wie ein beim Fraß gestörtes Raub 261
tier. Als hätte sie die Absicht gehabt, Wiley zu verspeisen. Smidge würgte. Bitterer Magensaft drängte nach draußen. Rückstände von Meskalin und Pillen. Sie preßte beide Hände vor den schmerzenden Bauch. »Was ist los?« fragte Marjory. »Deke. Er hängt immer noch da draußen rum. Womöglich hat's ihn schon erwischt. Hör zu, ich geh' jetzt. Irgend jemand muß schließlich Hilfe holen. Du kommst doch allein zurecht, oder?« Marjory stand langsam auf. »Ist Puff... eine Freundin von dir?« »Puff? Klar doch. Wo hast du sie gesehen?« »Sie war mit uns zusammen. Mit Duane und mir. In der Höhle. Mr. Horsfall hat ihr Radio geklaut und ist damit in die Höhle gestiegen.« »O Mann, das also ist deine Geschichte. Sei's drum. Puff ist im Augenblick nicht mein Problem; um mich hat sie auch nie was gegeben. Mir kommt's jetzt bloß darauf an, die eigene Haut zu retten, verstehst du?« »Nein.« »Warum ziehst du dich nicht wieder in den Stall zurück? Wenn du keinen Lärm schlägst, wird dich dort niemand fin den. Mach's gut, Marjory.« »Ich... ich muß Duane finden.« »Wie du meinst. Viel Glück dabei. Aber laß mich in Frieden, ich mach mich allein auf den Weg«, sagte Smidge, deren Bauchschmerzen nicht nachließen. Es rächte sich, so viel Chemie geschluckt zu haben. Seit dem fünfzehnten Lebensjahr nahm sie Drogen. Jetzt war sie zweiundzwanzig, nein dreiundzwanzig. Ein Jahr war ihr wie aus dem Gedächtnis ge strichen. Laut Reisepaß hatte sie Griechenland besucht, Spa nien, Italien... halb Europa, doch erinnern konnte sie sich nur noch an eine übergewichtige, ewig grinsende Frau, die steinreich war und sich Punk-A-Doodle nannte. Oder hatte so ihre Yacht geheißen? Ausgerechnet jetzt stellte sich bei Smidge der große Kat zenjammer ein. Sämtliche Glieder fingen spasmisch an zu 262
zucken. Hinter den Augen explodierten heiße Blitze, in den Ohren klingelte es. Kling, kling... vielleicht sollte sie ihren Vater zu Hause bei Akron anrufen. Womöglich würde er ihr sogar zuhören, ein einziges Mal noch. Daddys gaben ihre klei nen Mädchen schließlich nie auf, oder? Smidge schnallte den Rucksack über, legte die Pferdedecke um die Schultern und setzte den Südwester auf. Die Decke reichte bis zu den Knien. Ihr Blick war auf die flackernde Gas lampe in der Straße gerichtet, als sie aus dem Stall hinaustrat. Mit Hilfe der Taschenlampe konnte sie den gröbsten Schlammlöchern und Pfützen ausweichen. Noch einmal blickte sie sich um, aber der Eingang zum Stall war leer und von Marjory keine Spur zu sehen. Wenig später sah Smidge eine dunkle Gestalt über die Ve randa eines der Häuser huschen, was ihr einen derartigen Schreck versetzte, daß sie für einen Moment die Schmerzen vergaß, die sich wie heiße Drähte um ihren mageren Körper schnürten. Der Schatten reichte nur bis zum Verandageländer hoch, war also nicht größer als der eines Hundes. Spontan richtete Smidge den Lampenstrahl dorthin, um sich Gewißheit zu ver schaffen. Über einem der dunklen Fenster stand in Goldbuch staben >SOUVENIRS< geschrieben. Hinter der Glasscheibe glaubte sie, eine menschliche Gestalt erkennen zu können, die sich nicht von der Stelle rührte. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, daß es sich um eine altmodische Schneiderpuppe handelte, ausstaffiert mit einem seidenen Kleid und weißen Handschuhen. Vor dem Fenster stand eine Holzbank, aber Smidge konnte nicht genau erkennen, ob... Die Taschenlampe in Armeslänge von sich gestreckt, rückte sie vorsichtig näher an das Haus heran. Fast bis zu den Knöcheln versank sie im Schlamm der Straße. Feiner Sprüh regen wehte herbei; das Wetterleuchten war wie ein graues Schimmern in der Ferne. Was Smidges Aufmerksamkeit erregt hatte, kauerte unter der Bank. Es hatte die Beine eingezogen und den Kopf gesenkt; die Augen stierten über die Knie hinweg und waren auf 263
den dünnen Strahl der Lampe gerichtet. Smidge rückte einen Schritt näher heran. Was sie sah, waren menschliche Augen und abstehende Ohren... die eines Kindes, das weder Brauen noch Kopfhaare zu haben schien. »He!« rief Smidge. Sie hatte sich ein Herz gefaßt, obwohl ihr unerklärlich war, was ein Kind so mutterseelenallein und allem Anschein nach nackt dort unter der Bank verloren hatte. Vielleicht gehörte es ja zu der Aufseherfamilie, die im Dorf lebte. In der Wohnung über dem Souvenirladen? Doch in den Fenstern über dem Verandavordach brannte nirgends Licht. Als sie um einen weiteren Schritt heranrückte, kroch das Kind aus seinem Versteck, ohne den Blick von ihr abzuwen den. Es war ein Junge, soviel stand fest. Er hatte einen kaul quappengroßen Schniepel. Wie es schien, fehlte nicht viel, dann wäre er in panischer Angst davongejagt. »Warte einen Augenblick! Lauf nicht weg. Kann ich hier ir gendwo telefonieren? Ich muß unbedingt...« Eine schreckliche Eingebung ließ sie verstummen. Der Junge wirkte auf sie wie eine verkleinerte Ausgabe der Frau im Wald, die den armen Wiley so scheußlich zugerichtet hatte. Mutter und Sohn? Doch dieser Frage nachzugehen, lag ihr fern. Ein großes, schmieriges nasses Etwas flog aus der Dunkel heit herbei und klatschte kalt vor ihre Wange. Smidge wirbelte schreiend herum, verlor die Balance und sackte plump in den Schlamm. Ihre Hand, die zum Gesicht fuhr, zerquetschte ein geflügeltes Insekt, einen großen Käfer, wie es schien. Der kleine Junge johlte gehässig aus voller Kehle. Smidge rappelte sich auf. Die Taschenlampe war nun end gültig hinüber. Alle hektischen Versuche, sie zum Leuchten zu bringen, blieben erfolglos. Doch das gelbe Licht der Gasla terne zwei Häuser weiter war hell genug. Es zeigte den Jungen auf den Ve randastufen sitzend, zusammengekauert wie ein Frosch. Smidge rannte los, glitt immer wieder aus, hielt sich aber auf den Beinen. Als sie sich umdrehte, sah sie einen Pulk leuchtender Mot 264
ten durch die feuchte Luft schwirren. Die Wange, auf der einer dieser Falter aufgesetzt hatte, fühlte sich an wie schockge froren. Der Junge folgte; er trippelte ein paar Schritte, blieb stehen, wühlte sich weiter durch den Schlamm, in den er bis zu den Knien einsank. Dennoch kam er flink von der Stelle, schneller als Smidge. Bald hatte er aufgeholt, sprang mit einem weiten Satz auf ihre Schulter und klammerte sich am Rucksack fest. Smidge stürzte kopfüber in den Matsch. Sie fluchte und versuchte zappelnd, den Jungen abzuschüt teln. Der aber klebte an ihr fest wie eine vierzigpfündige Spinne. Smidge spürte seine eiskalten Hände, die ihre Haare rafften, um den Nacken freizulegen. Spitz wie eine Nadel drang es plötzlich in den Knochen der Schädelbasis, bohrte sich tief bis ins Kleinhirn. Vor Smidges Augen zuckten Blitze aus intensivem blauen Licht wie bei einer Migräne, und ihre Gegenwehr ließ allmählich nach. Aus einem Auge flossen Tränen. In den Adern schien das Blut zu blubbern und zu schäumen, als gärte Wein in einem Faß. Mit der Wirkung von Drogen, die sie bestens kannte, hatte dies nichts zu tun. Sie wähnte sich unendlich matt und wie in Watte gebettet. Die Tränen hörten nicht auf zu fließen. Als sie wieder zu sich kam und registrierte, daß der Junge nicht mehr auf ihrem Rücken saß, richtete sie sich auf und wischte den Schlamm vom Gesicht. Der Einstich im Hinter kopf kribbelte elektrisch. Sie putzte die Hände am Hemd ab und befingerte die Wunde: ein Tropfen Blut, mehr war nicht festzustellen. Der Junge hockte wenige Schritte entfernt mit eingezogenen Beinen auf der Straße und starrte sie an. Ein paar Luna-motten umschwirrten ihn trotz des anhaltenden Sprühregens. Er streckte den Arm aus und ließ einen der Falter auf der Hand Platz nehmen. Der kleine Finger dieser Hand war so verdreckt, daß er im spärlichen Licht pechschwarz aussah. »Was, zum Teufel, hast du mit mir angestellt?« jammerte Smidge. 265
Mit einem Schlenker aus dem Handgelenk ließ er den Falter aufflattern und schaute ihm versonnen nach. Dann spreizte er beide Arme und bewegte sie wie Flügel anmutig auf und ab. Smidge stand auf, warf die durchnäßte Pferdedecke ab und nahm den Rucksack vom Rücken. Der Junge hörte mit der spielerischen Flugimitation auf und erhob sich ebenfalls. Die beiden sahen einander an. Smidge fühlte sich benommen und weich in den Knien. Ihr Herz, so ihr Eindruck, war aufgebläht wie ein Heißluftballon; offenbar bahnte sich eine schwere Krise an. Sie kramte die kostbaren roten Pillen aus dem Rucksack, sammelte Speichel im Mund und schluckte ein paar davon, gegen alle Bedenken der Vernunft, auf die sie im Augenblick nichts gab. Der andere Gegenstand, den sie im Gepäck suchte, war schnell gefunden: ein Fahrtenmesser mit zweifacher Schneide und sechs Zentimeter langer Klinge. »Verschwinde!« sagte sie. »Und zwar sofort!« Der Junge begaffte das Messer, blickte ihr dann - uner schrocken, aber fragend - ins Gesicht. Es schien, als versuchte er, mit den Achseln zu zucken, was aber eher wie ein nervöses Zappeln aussah. Schließlich drehte er sich um und ging, mit den Füßen Schlamm aufspritzend, auf eine große Pfütze zu. Kurz davor blieb er stehen, drehte sich langsam nach Smidge um und forderte sie mit unmißverständlicher Geste auf, ihm zu folgen. »Was?« sagte Smidge. Ihre Zunge hing schlaff im Mund. Im Hinterkopf war ein Surren zu spüren, für das sie keine Er klärung wußte. Jetzt winkte sie der Junge mit beiden Armen herbei. »Komm endlich!« lockte er, und zum ersten Mal hörte Smidge seine Stimme, die auf entwaffnende Weise drollig klang — wie die eines ganz gewöhnlichen Jungen, der nachts vor die Tür schleicht, um zu spielen. Nur sein Aussehen war entschieden anders, kränklich und zum Fürchten unnatürlich. »Nein«, antwortete Smidge. »Ich werde mich hüten und...« »Willst du denn nicht mit mir spielen?« 266
»Ganz und gar nicht!« Die Antwort schien ihn kalt zu lassen. Er trampelte im Schlamm herum und fitschte dann auf den Holzzaun zu, hinter dem der Friedhof lag. Da war es wieder: dieses Schulter zucken, mit dem er mehr zum Ausdruck brachte als mit Wor ten. Und dieses Lachen. »Doch, du willst!« sagte er vergnügt und sprang behende über den Zaun. Smidge sah ihn zwischen Grabsteinen herum turnen, und plötzlich war er verschwunden.
24 »Ich will noch nicht nach Hause«, sagte Boyce. »Nicht bevor wir Duane gefunden haben. Er ist auf Bewährung draußen, und ich bin für ihn verantwortlich.« Boyce und Rita Sue standen auf der Veranda des Holzhau ses, in dem die Parkverwaltung untergebracht war. Ted Luf ford und Enid Waller waren vor zehn Minuten eingetroffen, wenig später dann die Beamten des Polizeireviers von Wingo County — leise und ohne Licht, um die Camper nicht zu stö ren. Sie reichten ein Foto von Marjory untereinander herum, das Enid ihnen gegeben hatte. Rita Sue sagte: »Mir tut der Sonnenbrand so weh, Boyce.« »Ich versteh dich nicht, Rita Sue«, erwiderte Enid mit ge dämpfter Stimme. »Marjory ist verschwunden, und du willst nach Hause. Dabei hast du sie doch als letzte gesehen.« Rita Sue wand sich hin und her. »Wenn ihr mich fragt...« »Was denn?« »Sie ist nicht verschwunden. Ich will sagen, die beiden sind zusammen. Ihr versteht schon.« Enid zeigte deutlich, daß sie dem Mädchen am liebsten eine Ohrfeige verpaßt hätte. »Aus dem, was ihr erzählt habt, kann ich nur schließen, daß hier Dinge passieren, die nicht geheuer sind. Du mußt bleiben und uns helfen.« »Sie hat recht«, sagte Boyce an Rita Sue gerichtet, die sich 267
nun wortlos zurückzog, auf einem Schaukelstuhl Platz nahm und die Hände im Schoß zusammenballte. Sie schaute trüb und schuldbewußt drein. Doch Enid Waller, die Rita Sue noch nie hatte leiden können, achtete nicht länger auf sie. »Ted!« rief Enid. Die Polizisten verließen die Veranda, und Ted kam herüber. »Die Kollegen wollen sich hier umhören und ein paar Leu ten das Foto von Marjory zeigen.« »Das ist doch Zeitverschwendung.« »Hör zu, Nuggins. Wir vier werden jetzt zur Mühle fahren. Es hat so sehr geregnet, daß die beiden vielleicht irgendwo feststecken.« »Was ist mit dem Wasserfall?« »Da werde ich zuerst nachsehen.« Enid fing an zu schluchzen. »Ach was, du mußt nicht gleich mit dem Schlimmsten rech nen.« »Ich dachte, deine Kollegen würden Hunde mitbringen.« »Tja, die Tiere waren in den letzten Tagen auf der Jagd nach einem entflohenen Sträfling und sind nicht mehr so frisch. Vielleicht brauchen wir sie sowieso nicht.« Ted nahm Enid beim Arm und führte sie die Stufen hinunter. Boyce humpelte hinterher. Rita Sue stand laut seufzend vom Schaukelstuhl auf und richtete sich die Haare. »Wenn ich nicht spätestens um halb zwölf zu Hause bin, führen meine Eltern einen Tanz auf.« »Sei still, Rita Sue!« zischte Boyce. »Zu viert passen wir besser in deinen Wagen, Rita Sue«, sagte Ted. »Ich hol' nur eben ein paar Sachen aus meinem Firebird.« »Ist das Marjorys Radio?« fragte Enid, als sie in den Ford Fairlane gestiegen waren. »Die Handtasche hat sie ja auch hier gelassen. Und wem gehört das andere Zeug?« »Duane. Er sammelt Schmetterlinge. Boyce, schmeiß den Kram in den Kofferraum, damit wir mehr Platz haben. Ist das Verdeck etwa undicht?« 268
»Sieht so aus.« »Scheiße«, stöhnte Rita Sue. »Die Karre geht mir auf die Nerven. Wie oft muß ich meinem Daddy eigentlich noch sa gen, daß ich einen Trans Am haben will?« Boyce saß am Steuer, daneben Ted, der mit der Taschen lampe nach draußen leuchtete. Der grelle Strahl streifte am Waldrand entlang. Boyce fuhr langsam und bediente den an der Seite befestigten Zusatzscheinwerfer. Enid saß still und zitternd neben Rita Sue auf der Rückbank. »Enid, ich glaube wirklich nicht, daß du dir Sorgen zu ma chen brauchst«, sagte Rita Sue. Im Scheinwerferlicht tauchte ein Fußgänger auf; ob Mann oder Frau, war nicht zu erkennen. Die Gestalt trug einen schwarzen Gummihut und eine Art Poncho, der bis zu den Knien reichte. Sie zögerte kurz und schlug sich dann seitlich ins Gebüsch. Ted sprang aus dem Wagen und winkte mit der Taschen lampe. »He! Ich muß mit Ihnen sprechen.« Doch der Fußgänger ließ sich nicht aufhalten. Ted eilte hin terher, stampfte krachend durchs Unterholz und hielt den Lampenstrahl auf den Flüchtigen gerichtet, der zunehmend an Vorsprung verlor. Zuerst fiel der Hut vom Kopf, und nun sah Ted, daß er einer Frau folgte, die sich bald darauf in einem Gewirr aus schmarotzenden Ranken verfing, herumwirbelte und den Verfolger mit derben Flüchen beschimpfte. Sie hielt ein Messer in der Hand. Die Zähne waren gebleckt, und, ge blendet vom Licht, stach sie wütend mit der Waffe um sich. »Verschwinde! Ich mach dich fertig!« »Ruhig Blut! Was ist los mit Ihnen? Ich tu Ihnen nichts. Ich bin von der Polizei und will nur ein paar Fragen stellen.« Smidge ließ sich erschöpft in das Pflanzengeschlinge zu rückfallen, befreite den darin verfangenen Arm und schüttelte ihr Haar aus. »Wehe, Sie... lügen und sind einer von denen.« Ihr Gesicht war dreckverschmiert. Ted fiel auf, daß die ex trem weit geöffneten Pupillen kaum auf den Strahl der Lampe reagierten, die er nun mit ausgestrecktem Arm vom Körper 269
hielt, um die Frau bei Seitenlicht zu mustern. Ihr Schrecken war alles andere als gespielt. »Also, erzählen Sie mir mal, wer hinter Ihnen her ist.« »Sind Sie wirklich ein Bulle?« »Ungelogen. Schauen Sie her.« Er leuchtete sein Abzeichen an. »Nehmen Sie die Kappe ab!« verlangte sie. Ted zögerte, dann nahm er die schwarze Baseballkappe vom Kopf, auf der in gelben Blockbuchstaben >Deputy< ge schrieben stand. Smidge schien überzeugt zu sein, und ihre Angst ließ deut lich nach. »Wie ich sehe, haben Sie Haare auf dem Kopf. Okay, können Sie mir helfen? Ich hänge fest.« »Lassen Sie zuerst das Messer fallen.« »Klar. Hier, Sie können es haben.« Smidge streckte ihm das Messer, an der Klinge gepackt, entgegen. Ted nahm es an sich und befühlte vorsichtig die Schneide mit dem Daumen. Von der Straße aus meldete sich Boyce. »Alles in Ordnung!« rief Ted zurück. »Nicht bewegen«, sagte er zu Smidge und schnitt sie von den Ranken los. Sie sackte auf die Knie und ließ ein Büschel Haare in den Schlin gen zurück. »Wir müssen weg von hier«, murmelte sie. »Wie heißen Sie?« »Smidge.« »Ich bin Ted.« »Ich hab' gesehen... was sie gemacht haben. Mit einem Freund von mir. Wiley. Er ist bestimmt tot.« »Wer ist Wiley? Und wer sind die anderen?« »Wie gesagt: Wiley ist ein Freund. Und die anderen... ich weiß nicht. Wahrscheinlich Mitglieder einer Teufelssekte, die Menschen opfern.« »Haben Sie Drogen genommen, Smidge?« »Nein, nur ein paar Beruhigungspillen geschluckt, das ist alles. Hören Sie zu: Ich bin noch mit einem anderen Typen zusammen, mit Deke. Er ist beim Wagen geblieben und hof 270
fentlich noch nicht erwischt worden. Bitte, helfen Sie! Sie hät ten Wiley sehen sollen! Die Frau hat ihm die Augen ausgesto chen und... o Gott... die Haut hing ihm in Fetzen vom Körper.« Ted klemmte sich die Lampe unter den Arm und half dem Mädchen auf die Beine. »Also los, zeigen Sie mir, wo's pas siert ist.« »Was? Sind Sie wahnsinnig? Im Leben geh ich nicht dahin zurück. Da wimmelt's von diesen Teufeln.« »Trotzdem müssen Sie mich hinführen, Smidge. Sie brau chen keine Angst mehr zu haben.« Mit der freien Hand langte Ted unter die Regenjacke und zog eine 38er Spezial aus dem Schulterhalfter. Smidge war völlig unterkühlt, wie Ted be merkte, der ihren Arm stützte. Ihre Zähne drohten zu zer springen, so heftig klapperten sie aufeinander. »Kommen Sie! Bewegung wird Ihnen guttun.« Smidge fuhr sich flüchtig mit der Hand übers Haar und riß dabei zahllose Strähnen aus. »Ich fürchte, mit denen werden Sie nicht fertig«, sagte sie. »Sie ahnen nicht, was ich gesehen habe. Warum lassen Sie mich nicht einfach raus aus der Sa che?« »Smidge — ein verrückter Name; nennen Ihre Freunde Sie so? Wie dem auch sei, ich lasse Sie nicht aus den Augen. Ent weder Sie helfen uns, oder ich lege Ihnen Handschellen an.« »Scheißdreck!« wimmerte sie. »Verdammt noch mal. Alles läuft schief.« »Sie können von Glück reden, wenn Sie sich keine Lungen entzündung eingefangen haben. Sie sind naß bis auf die Haut und kalt wie ein tiefgefrorenes Hühnchen.« Außerdem war sie extrem bleich. »Mir ist nicht kalt. Ich spüre überhaupt nichts. Nur der Nacken fühlt sich steif an. Dieser verfluchte Bengel...« Sie warf Ted einen scheuen Blick zu und biß sich auf die blutleere Unterlippe. Daß er ihr und dem, was sie zu sagen hatte, Glau ben schenkte, damit war nicht zu rechnen. Ted wies die Rich tung mit dem Lampenstrahl. Smidge rückte den Rucksack zu recht und trottete voran auf dem Weg zur Straße. 271
»Geben Sie mir den Rucksack, dann können Sie auf dem Beifahrersitz Platz nehmen«, sagte Ted, als sie beim Auto an gelangt waren. »Was ist passiert?« wollte Boyce wissen. »Wir müssen zum Campingplatz zurück. Smidge scheint ein Problem zu haben, um das wir uns kümmern sollten.« »Ich dachte, wir suchen Marjory«, beklagte sich Enid mit weinerlicher Stimme. Smidge drehte sich um und blinzelte mit den Augen. »Von wem reden Sie?« »Von meiner Schwester. Wir sind auf der Suche nach ihr. Ihr Name ist Marjory Waller.« »Groß und stämmig gebaut? Blonde Haare?« »Das ist sie«, antwortete Ted. »Ich weiß, wo sie steckt. Sie war dabei, als das mit Wiley passiert ist.« Enid stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen. »Wo ist sie jetzt?« »Keine Panik. Ich glaube, ihr ist nichts geschehen. Ich habe mich bei der Scheune im Dorf von ihr getrennt und gesagt, sie soll warten, bis ich...« »Ted!« »Ja, wir fahren gleich los. Ich muß nur eben den Kollegen Bescheid...« »Nein, sofort!« »Enid, laß mich nur machen und tu, was ich dir sage. Geh in den Wagen zurück.« »Nein. Was geht hier eigentlich vor? Warum sagst du mir nicht, was los ist? Ist sie verletzt?« »Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Smidge, doch ihre Stimme meldete Zweifel an. »Sie stand unter Schock, genau wie ich. Wir sind wie der Teufel gewetzt, als plötzlich...« Enid drehte sich auf dem Absatz um und rannte los in Rich tung Dantes Mühle. »Enid!« »He«, sagte Smidge zu Ted. »Ich kann Ihnen nur raten, las sen Sie Ihre Enid nicht allein.« 272
»Rein mit Ihnen«, knurrte Ted. »Und du, Boyce, steig aus! ich geh' ans Steuer. Verdammt noch mal, Enid, willst du endlich stehenbleiben?« Ted warf Boyce, der inzwischen ausgestiegen war, die Ta schenlampe zu und sagte: »Ich weiß, du hast Probleme mit dem Fuß. Trotzdem bitte ich dich, zum Campingplatz zu rückzugehen und den Beamten zu sagen, daß wir ins Dorf ge fahren sind.« »Geht in Ordnung.« »Also los dann.« Ted stieg in den Wagen. Smidge brauchte etwas länger, um neben ihm Platz zu nehmen. Ted zerrte sie auf den Sitz, legte den Gang ein und startete mit durchdrehen den Rädern. Enid war noch im Scheinwerferlicht zu sehen und schnell erreicht, marschierte aber mitten auf der Straße weiter und schaute sich nicht einmal um, als Ted die Hupe tröten ließ. Ted beugte sich aus dem Fenster. »Enid, komm, wir sind in zwei Minuten da!« Endlich blieb sie stehen, ganz außer Atem. Ted sprang aus dem Wagen und nahm sie bei der Hand. Sie starrte ihn einfach an; Regen tropfte ihr vom Gesicht, das Haar klebte naß an den Wangen. »Ted... Ted!« Rita Sue hatte die Tür auf ihrer Seite geöffnet, und Ted schob Enid auf die Rückbank, die ungelenk mit den Händen gestikulierte und keuchend zu sprechen versuchte. »Ich wußte es. Ich wußte, daß etwas Schreckliches...« »Noch wissen Sie gar nichts«, entgegnete Smidge. »Warten Sie ab.« »Schluß jetzt«, knurrte Ted und fuhr geradewegs zur Scheune am Rand der Ortschaft von Dantes Mühle. Das Tor stand nach wie vor offen. Ted ließ den Wagen halb durch die Öffnung rollen, blieb stehen und schaltete das Fernlicht ein. »Marjory!« »Da drüben«, sagte Smidge und deutete auf die Verschläge gegenüber der Schmiede. »Dort habe ich mich von ihr ge trennt.« Enid stieg langsam aus. Ted war schon draußen und durch 273
suchte die Verschläge, während alle gemeinsam nach Mar-jory riefen. Als Ted aus dem sechsten Verschlag auftauchte, schüttelte er frustriert den Kopf und hielt eine nasse Pferde decke in den Händen. »Soll das heißen, sie ist nicht hier?« fragte Smidge nervös und warf einen Blick zum Dachboden hinauf. »Ohhh...« Enid lief zum Tor an der Wand gegenüber und zerrte äch zend und schluchzend am Querriegel. Ted kletterte über die Leiter nach oben. Smidge blickte ihm nach und sah im Holm der Leiter einen Nagel stecken, von dem ein gräulicher Lappen herabhing. Sie ging hin und nahm ihn ab. »Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte Rita Sue und musterte das Mädchen, das im hellen Scheinwerferlicht stand. »Du warst heute nachmittag bei der Mühle und hast jemanden ge sucht. Um Himmels willen, was ist denn das?« »Frag nicht«, erwiderte Smidge. Sie drehte sich weg und zerknüllte ihren Fund in der Faust. Dann warf sie einen Blick über die Schulter auf Rita Sue, deren Augen glitzerten, obwohl ihr Kopf im Schatten lag. »Ja, dich hab' ich ebenfalls ge sehen.« Smidge lächelte freundlich. »Kleine Welt. Oder war's so vorbestimmt, daß wir uns begegnen?« Enid stieß einen Torflügel auf und schrie nach ihrer Schwe ster. Ted bewegte sich vorsichtig über den Dachboden. Spreu rieselte im Licht herab. Rita Sue schüttelte sich vor Unbehagen und starrte auf die Faust des Mädchens. An der Daumenwurzel war ein verschmierter Blutfleck zu erkennen. »Was hast du da?« wollte Rita Sue wissen. »Gehört das Marjory?« »Hör zu, es ist nichts, was... es ist nichts. Also kümmer dich nicht drum.« Ted kam wieder heruntergestiegen. Enid stand draußen im Regen und rief und rief. Rita Sue holte tief Luft und sagte: »Ted, das Mädchen ver steckt da was in der Hand, und ich glaube, es gehört Marjory.« Smidge wollte davonlaufen, doch Ted hielt sie am Handge 274
lenk gepackt und versuchte, die Faust aufzuhebeln. Das Mäd chen tobte und spuckte. Langsam öffnete sich die Hand, in der ein golfballgroßes Knäuel aus Blut und Gewebe zum Vor schein kam. »Was zum Teufel ist das?« »Hautttt!« zischte Smidge. »Ich hab's gefunden und behalte es.« »O Gott«, stöhnte Rita Sue. »O Gott, was denn für Haut?« Smidges Gesichtsausdruck verwandelte sich schlagartig. Ihre wildverzerrte Miene löste sich in Ungewißheit und Bestürzung. Ihr in die Augen zu schauen, kam dem Versuch gleich, ein von Baum zu Baum springendes Eichhörnchen zu beobachten. Ihr Blick huschte auf den feuchten Lappen aus Menschenhaut, den sie nun plötzlich mit den Fingern der Linken von der Handfläche zupfte und in hohem Bogen durch die Scheune schleuderte. »Laßt mich laufen! Ich will hier weg! Es ist was Schreckli ches mit mir passiert!« Das Haar fiel ihr übers Gesicht, und als sie es hinters Ohr zu streichen versuchte, lösten sich dicke Strähnen von der Kopfhaut und fielen zu Boden.
25 Duane war eingenickt und träumte von den Fluren der Straf vollzugsanstalt, wo er wegen Autodiebstahls eingesessen hatte. Doch diesmal war er allein - ohne seine Freunde Orby Upshaw, Robert Joe Poston und Style Nichols, die mit ihm er wischt worden waren. Dem Traum fehlten die Farben; er be stand aus Schatten, Verriegelungen und rauhem Beton. Hier und da blinkte ein Licht auf, und es waren Laute zu hören, klagende, gurgelnde Laute. Die Toilettenschüssel in der Zel lenecke sah aus wie ein dicker Giftpilz aus Porzellan. Von dort kam das Gurgeln. Das Wasser staute darin und drohte über zulaufen. Mit der Gewißheit eines Träumenden wußte er, daß 275
sich die Zelle bald in ein Aquarium verwandeln würde und er ertrinken müßte, obwohl eine der vier Wände lediglich aus Gitterstäben bestand und die Tür sogar geöffnet war. Aber so bald er nach draußen in den Korridor ginge... Besser war es, auf die oberste Pritsche in der Zelle zu stei gen, um der Flut auszuweichen. Dort lag, auf der Matratze ausgestreckt, seine Stiefmutter Nannie Dell - splitternackt, was Duane kaum überraschte und durchaus gefiel. Bisher hatte er sie nur ein einziges Mal nackt gesehen, schweißgebadet und völlig erschöpft von der Geburt. Die schlaffe, eingefallene Bauchdecke, die schweren, geäderten Brüste waren ein erstaunlicher, aber für ihn verbotener Anblick gewesen. Der Vater würde ihn bestrafen, falls er Nannie Dell noch einmal nackt sähe. Aber was sollte er mit dem Baby anfangen? Wie es in Träumen so passiert, hielt Duane plötzlich das Kind seiner Stiefmutter in den Armen. Es plärrte wie am Spieß - und war schwarz. Duane hätte heulen können. Er war schuld an allem. Nicht den Cadillac hatte er gestohlen, sondern das Baby. Des halb saß er im Gefängnis. Nein - es war der Gerichtssaal. Ganz weit vorne thronte der Richter in seiner schwarzen Robe und klopfte wichtigtuerisch mit einem kleinen Holzhammer aufs Pult, was wie Donner schläge dröhnte. Duane konnte ihn kaum erkennen. Der Mann sprach mit lauter Stimme und in einer Sprache, die Duane noch nie gehört hatte. Zwischen den Zuhörern saß auch Marjory; sie versuchte, einen Fleck auf der Bluse zu entfernen, eine große Lunamotte, wie es schien. Duane erkannte den Falter an den Farben, also träumte er nun auch farbig. »Wo ist der Tetrachlorkohlenstoff geblieben?« fragte sie wütend. »Mit was anderem sind sie nicht wegzukriegen.« Sein Blick wanderte von Marjory zu Puff hinüber, die auf der anderen Seite des Gerichtssaales saß und nur die klap pernden Haifischzähne trug. Sonst nichts. Ihr runder Hintern brachte Duane zu einer enormen Erektion. Es war so peinlich. Nannie Dell hatte ihren Sonntagsstrohhut aufgesetzt, in dessen Band ein Heidekrautzweig steckte. Sie trug das ärmellose, aquablaue Kleid, das ihm so gut gefiel, und lächelte Duane 276
von ihrer Kirchenbank aus unbekümmert zu, als wäre ihr seine Erregung entgangen. Der Organist spielte einen vertrauten Choral, wozu die Gemeinde in dieser fremden Sprache sang, die Duane so sehr irritierte. Der Altar war üppig geschmückt mit grünen Rankenpflanzen, die zusehends welk wurden, als er seinen Blick auf sie richtete. Er versuchte, den Sarg vor dem Altar zu ignorieren, in dem sein Vater lag, auf perlweißen Satin gebettet und mit einer ausgedörrten Rankenschlinge um den Hals. »Schau hin«, sagte Nannie Dell von hinten. Ihre Finger be rührten seinen Nacken, was sich wunderbar anfühlte. Aber er wollte das Gesicht des Vaters nicht sehen, das im Erstickungs tod schwarz angelaufen war. »Hab keine Angst. Er tut dir nichts. Wir sind die Liebe und nicht der Tod. Binde die Ranke los, dann wirst du dich selber überzeugen können.« Die Orgel brauste auf. Der Chor sang >Hosianna<. Nannie Dell kitzelte nicht mehr, sie kratzte nun über seinen Nacken mit katzenhaf ten Krallen, was ihn sowohl schmerzte als auch erregte. Die Sonne leuchtete durch das mittlere Kirchenfenster, und ihr warmer Schein, der auf Duanes Gesicht fiel, stimulierte ihn wie das Kratzen im Nacken. Er konnte sich nicht länger be herrschen und fuhr herum, um über Nannie Dell herzufallen. Aber sie war nicht mehr da. Duane befand sich in einer dunk len, kalten Grotte. Dennoch kam es ihm, heftig und ungestüm, und er stöhnte, bis der zuckende Krampf verebbte. Die Hoden glühten heiß im Vergleich zu der eiskalten Hand im Nacken. »Na?« sagte Puff. »Fühlst du dich jetzt besser?« Über seine Wangen flössen Tränen. Er konnte nicht spre chen. »Ausgerechnet hier und jetzt mußt du feuchte Tränen ha ben«, spottete sie und schaltete die Taschenlampe ein. »Ich hab' dir die Hose aufgemacht und hätte durchaus noch mehr für dich tun können. Aber seltsamerweise fehlte mir plötzlich die Lust dazu. Dabei war ich vorher die ganze Zeit scharf dar auf gewesen. Jetzt hab' ich nur noch eins im Sinn, und das ist...« Duane stand schwerfällig auf und steckte das Hemd in die 277
Hose. Er fing an zu zittern und ließ die Zähne aufeinander schlagen. »Wir... wir m-müssen nach draußen finden.« »O nein, zuerst haben wir was anderes zu tun.« Puff stand hinter ihm; die Haifischzähne rasselten auf ihrer Brust. »W-was denn?« »Wir müssen zurück zu den anderen.« »Wohin? M-meinst du etwa zu den verdammten Mu-mu mien?« »Sprich nicht so von ihnen. Das sind meine Leute. Meine Familie. Es geht ihr schlecht, daran läßt sich nichts ändern. Aber zumindest kann ich sie befreien, und dazu brauche ich deine Hilfe.« Er schreckte zurück vor dem Klang ihrer Stimme, vor dem Lichtkreis, den die Lampe auf den Felsboden warf. »B-bist du restlos übergeschnappt, Puff?« »Von wegen. Seh ich so aus?« Sie lachte leise. Die Taschen lampe in ihrer Hand senkte sich; der Strahl streifte ihre schmalen Füße, von denen die großen, verhornten Zehen dick und häßlich abstanden, wanderte über die knochigen Schien beine nach oben zu den Knien, die schrumpligen Gesichtern ohne Augen glichen, hin zu den straffen Schenkeln, über die rasierte Scham und den Einknick der Hüfte, den Bauchnabel und über die schimmernde Blinddarmoperationsnarbe zu den Brüsten, auf denen wie ein Schild die Haifischzähne lagen. Duane stockte der Atem, denn Puff war, abgesehen von den walnußfarbenen Brustwarzen, am ganzen Körper weiß und schimmernd, wie aus Wachs geformt, weißer als die Zähne ih rer Kette. Und noch etwas: Die Brust bewegte sich nicht; Puff hatte zu atmen aufgehört, worauf sie ausdrücklich hinzuweisen schien, denn der Strahl blieb lange auf den Torso gerichtet, bevor er weiter aufstieg über den Hals und das noch back fischhaft pummelige Kinn, den geschwungenen Kiefer bis zu den Ohrläppchen und dem elfenbeinernen, fast haarlosen Schädel. Nur wenige Strähnen waren übriggeblieben und hin gen auf ihre Schultern herab. Krank wirkte sie nicht; ihre 278
Haut war straff, das Fleisch fest. Tote sahen anders aus. Wäh rend er sie voller Entsetzen anstarrte, hob sie den linken Arm, fuhr mit dem Handrücken über die geschlossenen Augen und rieb sich dabei den Rest von Brauen und Wimpern ab. »Zu atmen brauche ich nicht mehr«, sagte Puff. »Auf Essen und Trinken kann ich in Zukunft ebenfalls verzichten; im Ge gensatz zu dir, Duane. Und wenn dir dein Leben lieb ist, soll test du lieber tun, was ich dir sage.«
26 »Geh weg vom Fenster, Marjory.« Gehorsam trat Marjory einen Schritt zurück, ließ den da mastenen Vorhang fallen und drehte den Kopf in Richtung auf Birka. Sie befanden sich im Wohnzimmer des Pfarrhauses, eines einstöckigen Gebäudes, das in einer Gruppe von vier gleichartigen Häusern am Dorfrand von Dantes Mühle lag. Das Licht der Scheinwerfer, die über die Straße schwenkten, als der Streifenwagen vor den Ställen am anderen Ende des Dorfes abbog, hatte auf die regennassen Fensterscheiben einen morgenroten Schimmer geworfen. Der Junge, den Puff Alastor genannt hatte, blieb auf dem Stuhl vor dem Fenster sitzen. Sein kahler Kopf ragte bis auf Augenhöhe ans Fensterbrett. Er starrte nach draußen zu dem Streifenwagen hin, der Sekunden später hinter einer Mauer verschwand. »Sieh mal!« sagte er. »Was ist das, Marjory?« »Ein Polizeiauto«, antwortete sie. »Ich denke, diese Kleider werden dir passen, Marjory«, sagte Birka lächelnd und reichte ihr schwarze Schuhe, eine Hose und ein kragenloses, weißes Hemd, die sie im Schlafzim merschrank gefunden hatte. Das Pfarrhaus war tagsüber für Touristen geöffnet, komplett möbliert und mit allen erdenkli chen Krimskrams ausgestattet. Obwohl auch Röcke und Blu sen zu finden waren, hatte Birka Marjory Herrenkleider vor 279
geschlagen — so wie sie um 1900 Mode waren, was Birka an scheinend verblüffte. »Welches Jahr haben wir, Marjory?« »Neunzehnhundertsiebzig«, antwortete sie und nahm die Anziehsachen entgegen. Das Hemd war gründlich gestärkt, die Hose aus schwerer Wolle gewebt. Marjory krauste die Stirn. »Immerhin besser als das, was du jetzt anhast«, meinte Birka. »Und wir wollen doch nicht, daß du dich erkältest.« »Danke«, sagte Marjory, deren Nase nun schon seit einigen Stunden ununterbrochen lief. »Willst du mir nicht statt der gerunzelten Stirn ein liebes Lächeln gönnen?« Marjorys Brauen zuckten nervös bei dem Versuch, Entge genkommen zu zeigen. Dann betrachtete sie das Kleiderbündel in ihren Armen. Von draußen drang ein Lichtstrahl durchs Fenster und traf dunkelrot auf die tapezierte Wand gegenüber. »Da kommt noch eins«, freute sich Alastor. »O Mann.« »Paß auf, daß dich niemand sieht«, riet ihm Birka. »Keine Bange. Wie schnell fährt so ein Auto, Marjory?« »Frisiert, ungefähr zweihundert.« Alastor sah sie verwundert an und fühlte sich veruzt. »Fri siert?« »Marjory, zieh die nassen Sachen aus.« »Warum muß sie überhaupt Kleider tragen?« fragte Alastor. »Ist sie denn nicht eine von uns?« »Noch nicht, und jetzt sei still.« Marjory schaute zu Alastor hinüber, der nach wie vor über das Fensterbrett lugte. Sie sagte nichts. Birka bemerkte, daß der Lichtschein, der ins Zimmer fiel, verharrte. »Marjory, beeil dich!« drängte sie. »Wir haben bis Sonnenaufgang noch eine Menge zu erledigen.« »Schon gut«, entgegnete Marjory. Sie knöpfte die Bluse auf, streifte sie ab und versuchte, den Verschluß ihres Büstenhal ters zu öffnen. Birka mußte ihr dabei helfen. Marjory zuckte zusammen bei der eiskalten Berührung. Birka bewunderte 280
den raffinierten BH und überlegte ein passendes Versteck für Marjorys abgelegte Sachen, die Bermuda-Shorts und das Höschen. Marjory stand nun nackt vor ihr und sagte: »Ich brauche ...« »Ja, ich verstehe«, unterbrach Birka. »Die Hose ist kratzig, und du brauchst was für drunter. Schauen wir mal in die Schubladen des Pfarrers. Aber dieses nasse Ding hier kommt mir nicht mehr auf den Busen. Hmmm. Es wird doch bestimmt Herrenunterwäsche aufzutreiben sein.« Birka versteckte Marjorys Kleider und das Handtuch, mit dem sie die Haare getrocknet hatte, auf dem Boden einer Holztruhe im Schlafzimmer und kehrte mit frischer Wäsche zurück. Marjory zog ein Unterhemd an, das ihr bis zu den Knien reichte, und schlüpfte in eine seidene Unterhose. Die formlose, grobe Wollhose schlappte bis auf den Boden und war ziemlich weit im Bund. Mühe hatte sie beim Anziehen der Schuhe, die viel zu eng waren. Aber barfuß durch die Höhlen zu gehen, kam nicht in Frage. Marjory saß auf dem Rand einer schlittenförmigen Couch und zwängte gerade einen Fuß in den Schuh, als sie Enid rufen hörte. »Maaarjoryyy!« Die Stimme wurde verstärkt durch einen Polizeilautsprecher. Marjory blickte langsam auf und verkrampfte. Sie sah zu Birka hin, und ihre Lippen fingen an zu zittern. »Wir können jetzt nicht raus und zusammen spielen, Mar jory. Darauf haben wir uns geeinigt. Es sind sehr viel wichti gere Dinge zu tun.« »Zeigen wir Marjory denn auch die Roben?« fragte Alastor. »Wir werden ihr alles zeigen. Und nun komm vom Stuhl runter. Draußen kommen immer mehr Leute zusammen; an scheinend haben sie vor, Haus für Haus zu durchsuchen.« »Ja, ja«, sagte Alastor. »Aber was ist mit...« »Mit wem?« »Den Namen kenn ich nicht. Aber ich habe sie zu einer von uns gemacht.« 281
»Du kleiner Schuft! Wer hat dir das erlaubt?« Alastor zeigte sich zerknirscht und knabberte an den Knöcheln der rechten Hand. »War doch bloß so zum Spaß«, murmelte er. »Und außerdem, wollen wir das denn nicht mit allen machen?« »Nein! Und schreib dir am besten gleich zwei Dinge hinter die Ohren: Es kann nicht jeder verwandelt werden, denn man che Menschen bekommen uns schlecht. Zweitens: Wenn wir alle verwandeln würden, wie kämen wir dann an unsere Ro ben? Und was wären wir ohne unsere schönen Roben?« O Schreck, ihre Stimme war schrill geworden. Überdies schien sie müde zu sein, was alles noch schlimmer machte. Birka schaute durch die gefärbte Glasscheibe, und richtete urplötzlich ihren Blick auf Marjory, die sich inzwischen von der Couch erhoben hatte. »Setz dich wieder!« Zitternd nahm Marjory Platz. Birka spürte einen schneidenden Schmerz im Hinterkopf, verursacht durch die Anstrengung, Marjory gefügig zu halten. Zusätzliche Probleme bereitete das andere Mädchen, das jetzt da draußen bei den Menschen war, was äußerst gefährlich werden konnte, unabhängig davon, wie sich dessen Umwandlung auswirkte. Birka wußte selber keinen Rat mehr. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, sich und die ihrigen zu schützen, bis Theron wiedergeboren war und die Führerschaft über das ganze Huldufölk übernehmen konnte.
27 Als sie wieder in den Ford Fairlane stiegen, wurde Smidge plötzlich von heftigen Krämpfen geschüttelt. Sie kippte vornüber auf die Straße und zuckte mit allen Gliedern. Die Zähne mahlten knirschend aufeinander, der Speichel troff aus dem Mund, und die Augen waren nach oben verdreht. Für Ted und die anderen deuteten sämtliche Sym ptome auf einen klassischen epileptischen Anfall hin. Ihre Haut war kalkweiß. Der Krampf dauerte an die dreißig bis 282
vierzig Sekunden, dann spürte Ted, der das Mädchen mit bei den Händen gepackt hielt, wie ihr Körper allmählich er schlaffte. Smidge stöhnte. Zum Glück hatte sie nicht die Zunge geschluckt. Von Ted angesprochen, reagierte sie matt. Auf dem rechten Wangenknochen zeigte sich ein schlimmer Bluterguß, der ihm zuvor nicht aufgefallen war, genausowenig wie der Gestank nach faulen Eiern, den ihr Atem mit sich führte. Wieder fielen ihr büschelweise die Haare aus, als sie von Ted und einem der Kollegen aus Wingo ins Auto gehievt wurde. »Und was ist, wenn sie mir den Wagen vollkotzt?« fragte Rita Sue pikiert. »Könnt ihr sie nicht in einem eurer Streifen wagen ins Krankenhaus schaffen?« »Nein«, entgegnete Ted und warf einen Blick auf Boyce, der in dem zweiten Polizeiwagen nach Dantes Mühle gekommen war. »Hat sich der Parkdirektor schon gemeldet?« »Er ist irgendwo beim Angeln. Einer der Aufseher holt ihn gerade ab und will in zehn Minuten zurück sein.« »Na schön. Dann fahrt jetzt zum Park und wartet dort auf ihn. Er wird die Ambulanz verständigen.« Smidge stöhnte und ließ den Kopf hin und her schaukeln. Rita Sue kreischte: »Mein Gott, jetzt kriegt sie gleich noch einen Anfall. Boyce, ich will nach Hause!« Das hörte Enid. Sie kam, die Flüstertüte noch in der Hand haltend, über die Straße herbei und schüttelte verzweifelt das zerzauste Haar. »Nein, du kannst jetzt nicht nach Hause zu rück. Wir müssen Marjory suchen. Und wenn du eine Freundin von ihr bist, bleibst du, bis wir sie gefunden haben.« »Aber es ist doch nicht meine Schuld, daß sie verschwunden ist.« »Aber wir alle sind dafür mitverantwortlich«, erwiderte Enid, dem Tonfall nach gelassen, aber ihre braunen Augen verrieten Panik und huschten hin und her. »Paß auf das arme Mädchen auf und sieh zu, daß sie es bequem hat, bis ihr vom Arzt geholfen wird.« »Enid, warum fährst du nicht mit. Dann könnte...« »Kommt nicht in Frage, Ted. Wieso stehen wir eigentlich 283
noch untätig herum? Ich werde jetzt in jedem einzelnen Haus hier nach Marjory suchen. Anschließend steige ich hinter den Wasserfall.« »Wir brauchen Schlüssel, Enid. Die Häuser sind allesamt zugesperrt.« Ted sah sich nach Boyce um, der seiner Freundin Rita Sue zaghaft eine Hand auf die Schulter legte. Doch sie wollte sich nicht trösten lassen, stieg in ihr Auto und musterte Smidge mit kritischem Blick, die rücklings auf der Bank lag, reglos und träge, als ob sie schliefe. Rita Sue bleckte die Zähne wie ein wütender Pinscher. »Ich kenne sie nicht einmal«, maulte sie. Boyce hüpfte her bei; er versuchte, den bandagierten Fuß nicht mit Schlamm zu verdrecken, und klemmte sich hinters Steuer. Ted legte einen Arm um Enids Taille und unterhielt sich mit den vier Beamten der Wingo-Polizei. Einen der Neuhin zugekommenen kannte er aus der Footballmannschaft der High School. Low Cow Jones hatte seitdem gut vierzig Pfund zugelegt, sah aber immer noch so aus, als könnte er Eisen bie gen. Sein Partner glich der Figur nach einem Geparden: schlanke Hüften und breit ausgestellte Schulterknochen. Sein Gesicht war voller Narben und kreisrund, und die schwarzen Augen schauten listig drein, was aber auf den zweiten Blick doch eine Täuschung zu sein schien. Er hieß Wayne Buck Vedders. Die beiden anderen Beamten, die bei der Ankunft von Enid und Ted im Park schon zur Stelle gewesen waren, hatten bereits etliche Dienstjahre auf dem Buckel. Moon Mil-cocks Gesicht war voller Blattern und ziegelrot. Die Hände reichten ihm fast bis zu den Knien, und daß seine Ohren so weit abstanden, hatte ihm schon in jungen Jahren den Spitznamen >Flappy< eingetragen. Lee Winkfield war ein langer, dürrer Kerl; in seinem säuerlich verzogenen Mund steckte ein Streichholz. Ted war mit ihm über einen Großonkel verwandt, der in Tonto Springs mit Autoreifen handelte. »Was ist los?« fragte Milcock. »Hab' ich richtig gehört, daß zwei junge Leute verschwunden sind?« »Es scheint, daß der Fall ein wenig komplizierter ist«, ant wortete Ted und schilderte seine Begegnung mit Smidge. 284
Auch von dem feuchten und womöglich aus Haut bestehenden Knäuel erzählte er, den das Mädchen im Stall gefunden und nicht hatte hergeben wollen. An seiner Seite zitterte Enid still vor sich hin. Milcock kratzte sich über die kahle Schläfe und sagte zu seinen Kollegen aus Wingo: »Ich denke, wir sollten den alten Wimp einschalten. Vielleicht kann der uns weiterhelfen.« »Mensch, Moon«, entgegnete Wayne Vedder. »Dem Ollen seine Enkelin hat doch heute geheiratet. Ihm müßtest du jetzt 'ne halbe Gallone Spülmittel durch die Leber pumpen, damit er wieder aufrecht stehen kann.« »Ach ja, hab' ich glatt vergessen«, murmelte Milcock. »Wir sollten uns aufteilen«, schlug Winkfield vor und nahm das Streichholz aus dem Mund, um es beim Gähnen nicht aus Versehen zu schlucken. »Ich könnte mit Flappy die Gegend am See unter die Lupe nehmen; das Mädchen behauptet ja, daß da satanische Kultorgien zelebriert werden. Wie wär's, wenn ihr euch derweil hier vor Ort umseht? Low Cow, du leihst uns doch sicher mal deine Wumme, oder?« »Wofür? Rechnest du damit, dem Teufel persönlich zu begegnen?« »Wär mir lieber als auf einen dieser Ausgeflippten zu treffen, die sich den Schädel zuknallen und Amok laufen. Mit 'ner 38er stoppt man eher 'ne Lokomotive als so einen.« Low Cow holte das Gewehr aus dem Auto und gab es den beiden Kollegen, die sich sogleich in ihren Wagen setzten und langsam davonfuhren. Enid atmete tief durch und sah Ted an, der ihr lächelnd Mut zu machen versuchte. »Wir wissen, daß sie noch lebt. Wenn es stimmt, was Smidge erzählt hat, ist Marjory jedenfalls nicht ertrunken, und das sollte uns hoffen lassen.« »Tja, das Mädchen hatte keinen Grund zu lügen. Aber wo steckt Marjory bloß? Und warum verhält sie sich so merkwürdig?« 285
»Vielleicht steht sie unter Schock. Schwer zu sagen.« »Womöglich ist sie verschleppt worden, Ted! Bevor wir hier angekommen sind. Und das ist erst... wie lange sind wir schon da?« »Die Stelle, an der wir Smidge aufgelesen haben, liegt knapp zehn Minuten von hier entfernt. Es sei denn, sie hat un terwegs eine Pause eingelegt, um sich die Nase zu pudern.« »Also kann Marjory auch nicht weit sein. Sie ist bestimmt ganz in der Nähe.« Wayne Vedders sagte: »Mit dem Auto kommt man nur auf dieser einen Straße ins Dorf und wieder raus. Wenn da jemand ist, der Ihre Schwester in seiner Gewalt hat, wird er wahrscheinlich mit ihr im Wald stecken und versuchen, sich bis zur Hauptstraße durchzuschlagen. Wir sollten also unten bei der Parkeinfahrt die Straße abriegeln.« »Gute Idee. Können wir heute nacht noch mehr Verstärkung herbeiholen?« »Wohl kaum. Die Kollegen fahren ganz woanders Streife. Vielleicht können wir die Kripo einschalten. Aber da Wimp nicht erreichbar ist, müßten wir den Chef dazu bewegen. Und du weißt, wie stur der Kerl ist.« »Ja, ich weiß«, antwortete Ted. »Wir sollten es trotzdem versuchen.«
28 »Gut, daß das Gewitter abgezogen ist«, sagte Lee Winkfield. Milcock saß am Steuer und lenkte den Wagen hinter dem Mühlteich in den Wald hinein. Winkfield bediente den Such scheinwerfer, der außen an der Beifahrerseite befestigt war, und leuchtete über das Gebüsch am Rand der schmalen Fahr spur, deren Belag vornehmlich aus Schiefer bestand und recht griffig war trotz des schweren Regens. »So'n Wetter macht mich selber ganz elektrisch«, gab Mil cock zu. »Ich kannte mal einen Jungen, der stand auf 'nem 286
Zaun, als ein Blitz einschlug, der ihm alles angesengt hat bis auf die dicken Zehen. Er ist mit dem Leben davongekommen, sah aber danach ziemlich übel aus.« »Das erinnert mich an Clinton Tuggle. Den müßtest du doch eigentlich auch noch kennen. Er war Marshall in Ap-worth, bevor er in die Rinderzucht eingestiegen ist.« »Ja klar. Der Mann war der absolute Poker-King, bis er diese überspannte kleine Frömmlerin geheiratet hat. Von der sagte man sich, daß sie aus fünf Meilen Entfernung hören konnte, wenn jemand Karten mischte.« »Genau. Clinton hatte genug Geld zusammengezockt, um Rinder zu ziehen. Es dauerte Jahre, bis er eine ordentliche Herde im Stall hatte. Dann kam so ein Gewitter auf, und der Blitz schlug in einen Amberbaum, unter dem jede Menge Kühe standen. Du weißt, wie das bei dem Baum ist; die Wurzeln liegen an der Oberfläche und wuchern weit auseinander. Und darauf stand nun der größte Teil der Herde.« »Auweia.« »Der alte Clinton hätte fast den Löffel abgegeben. Halt doch mal hier an, Moon.« Milcock bremste ab. Winkfield richtete den Suchschein werfer auf eine Brandschneise, die den Weg kreuzte und bergan führte. Am Rand der Schneise strömte Wasser in klei nen Kaskaden herab. »Was ist?« fragte Milcock. »Siehst du? Dahinten parkt ein Wagen. Ein Kombi, wie's scheint.« »Ja, du hast recht. Der Untergrund sieht fest genug aus. Wir könnten hinfahren.« »Dann laß uns das mal tun.« Der Kombi stand mit dem Heck zur Straße und hatte die Motorhaube aufgeklappt. Darüber hing, an niedrigen Baum ästen festgemacht, eine Regenplane. Die Polizisten näherten sich mit schußbereiten Gewehren. Milcock blieb hinter dem Wagen stehen, während Winkfield mit der Taschenlampe ins Innere leuchtete. »Da ist niemand«, sagte er. 287
»Ein richtiger Old-Timer.« »Ja, sieht aus nach einem sechsundvierziger oder sieben undvierziger Modell.« Winkfield fingerte ein frisches Streich holz aus der Hemdstasche, steckte es zwischen die violetten Lippen und öffnete die Fahrertür. »Hier ist jemandem schlecht geworden«, bemerkte er angewidert. »Dem Gestank nach hat er zuviel Bier getrunken.« Doch bevor er den Kopf zurückzog, schaute er sich gründlich im Auto um. »Nur Kotze«, sagte er. »Kein Blut.« »Hörst du das?« fragte Milcock leise und warf einen arg wöhnischen Blick über die Schulter. Winkfield lauschte, doch sein Partner hatte das schärfere Gehör. »Was denn?« flüsterte er wenig später. »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht ein Tier.« »Wo kommt denn das Geräusch her?« »Von da drüben.« Milcock deutete die Brandschneise hin auf. Wortlos setzten sich die beiden in Bewegung; Winkfield blieb ein paar Schritte hinter Milcock zurück. Wasser plät scherte weit entfernt, aber noch immer grollte es dumpf. All mählich hörte auch Winkfield das Geräusch, auf das sein Kol lege aufmerksam gemacht hatte. Ein Schluchzen. Milcock bog ab ins Gebüsch, das Gewehr in der einen Hand, in der anderen die Taschenlampe. Winkfield stieg ihm vorsichtig nach. Vor ihnen lag ein schmaler Pfad, kaum mehr als eine Wildfährte. Plötzlich fiel der Strahl der Lampe auf ein glänzendes Etwas. Es hing in einem Dornbusch. »Was has t du da?« wollte Winkfield wissen und stellte sich auf die Zehen, um dem Partner über die Schulter schauen zu können. »Ach, du Schande«, stöhnte Milcock. »Sieh selber hin.« Winkfield brachte auch seine Lampe zum Einsatz und sah einen blutigen Lappen aus gebräunter Haut, spärlich be wachsen mit hellen, sonnengebleichten Haaren. Er hätte al lerdings nicht erraten, um was es sich handelte, wäre da nicht mitten auf dem Fetzen ganz deutlich eine menschliche, ver schrumpelte Brustwarze zu erkennen gewesen. Ob von einem 288
Mann oder einer Frau, war nicht zu erkennen. Im Wald weiter oben wimmerte und schluchzte es. Winkfield bekam es mit der Angst zu tun; ihm war, als stünde er auf dem Wurzelgeflecht eines Amberbaumes, während sich dicht hinter ihm in der feuchten Luft ein Blitz zu entladen drohte. Milcock schälte die Zellophanhülle von seiner Zigaretten schachtel, brach dann von einer jungen Birke einen Zweig und gabelte damit den Hautfetzen von dem Dorn, an dem er steckte, packte ihn in Zellophan und verstaute das Beweis stück in der Tasche. Ein Käuzchen rief, und eine große Luna-motte flatterte in den Lichtkegel von Winkfields Taschenlampe, worin sie einen Moment lang reglos schwebte und dann davonsegelte. Durch den tropfenden Wald tönte nach wie vor das schaurige Wimmern.
29 Puff hatte die Taschenlampe und war auch nicht bereit, sie herzugeben. Duane blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen - zurück zur Mumienkammer, wo, wie er ahnte, Puff von ihm verlangen würde, den schwarzen Schläfern die vertrockneten Ranken von den Hälsen zu schneiden. Und was danach passieren würde, wußte er auch, denn ein Beispiel dafür war ihm schon zu Gesicht gekommen. Dann, wenn er all ihre For derungen erfüllt hätte... Duane starrte auf Puffs Hinterkopf, der so kahl war wie ihre Pobacken. Er versuchte, sich in ihre Lage zu versetzen, doch ihm blieb völlig unverständlich, wer sie gewesen und was aus ihr geworden war. Aus Angst ließ er sich immer weiter zu rückfallen und irrte zwischen Felsbrocken umher, die mit Ur gewalt aus den Wänden gebrochen und zum Teil größer waren als sein eigener Körper, Während der vergangenen Minuten hatte er viel über sich gelernt, vor allem über seine Art zu fürchten. Bislang hatte er ein fast angstfreies Leben geführt, abgesehen von unbedeutenden Schreckmomenten, zum Bei 289
spiel dann, wenn er mit der Hand an einen stromführenden Weidezaun geraten war. Bei naßgeschwitzten Händen hatte der Stromschlag besonders heftig gewirkt. Nun aber schwitzte er nicht; dafür war es zu kalt hier unten. (Wie er von seiner Mutter wußte, herrschte in den meisten Höhlen eine konstante Temperatur von rund dreizehn Grad.) Und ein Stromschlag war nichts im Vergleich zu dem Schrecken, den er jetzt verspürte. Angst roch säuerlich; er konnte sie auf seiner Haut riechen. Angst wirkte zerstörerisch, und ihm war, als würde sein Körper von Termiten ausgehöhlt. Die Angst fraß ihn buchstäblich von innen her auf. Solange er in Bewegung war, ließ sich damit noch fertig werden, aber die Beine gehorchten ihm immer weniger, und immer schwerfälliger mühte er sich über die Felsen hinweg. Er wollte nur noch an seine Mutter denken, und in der Fantasie sah er sie an einem starken Seil aus der Dunkelheit herabgleiten, um ihn zu bergen, an die Brust zu drücken, und lachend gäbe sie ein Signal nach oben, auf daß sie gemeinsam hinauf ins helle Tageslicht gezogen würden. Anschließend würden sie Kanu fahren oder zusammen schwimmen. Die Angst wäre verschwunden. Mehr wollte er vom Leben nicht verlangen. Mutter! Mach diesem Spuk ein Ende! Mit jedem Schritt wirbelte dichter Steinstaub auf und ver stopfte seine Nase, drang vor bis in den Rachen. Keuchend blieb er stehen und versuchte, die Kehle freizuräuspern. Die Augen tränten. Für einen kurzen Moment richtete sich der Lampenstrahl auf sein Gesicht. »Sieh mal, Duane. Deshalb bin ich hierher gekommen. Ich will, daß du's mit eigenen Augen siehst. Schau nach oben!« Schlagartig beschleunigte sich sein Puls; er schnaufte und keuchte, tat aber, was Puff von ihm verlangte. Unter der Decke flatterte es, als hätte sich ein kleiner Rest der Mottenschar aus der Mumienkammer hierher verzogen. Einzelne Falter waren ihm unterwegs auch aufgefallen, aber was er nun dort oben leuchten sah, stammte nicht von Insektenflügeln. Die Farben waren zwar ähnlich — blaßviolett, rot und grün -, 290
doch die Träger dieser Farben schienen eine stoffähnliche, durchsichtige Substanz aufzuweisen. Sie hingen an kaum wahrnehmbaren Seidenfäden. Puff leuchtete mit der Ta schenlampe und bewunderte das Schauspiel. »Das sind unsere Roben«, sagte sie. »Die Roben, die wir tragen. Und wenn wir sie tragen...« Duane lehnte sich gegen die Breitseite einer Felsplatte, die langsam und lautlos in Bewegung geriet. Zunächst glaubte er, einer Täuschung zu erliegen, da sein Körper heftig zitterte. Er preßte sich fester an den Stein und fühlte es nun ganz deutlich: Das Ding bewegte sich. Es war über zwei Meter lang, knapp einen halben Meter dick und Teil eines gewaltigen Felsbrok kens, der vor langer Zeit herabgestürzt und in mehrere Stücke zersprungen war. Die Platte lag in wackliger Balance auf einem der runden Steine, die aus dem Höhlengrund gewaschen zu sein schienen. (Der Boden war jetzt zwar trocken, aber die glatten Rinnen und Furchen ließen darauf schließen, daß hier vor langer Zeit Wasser durchgeströmt sein mußte, bevor es versiegte oder ein anderes Bett gefunden hatte.) Eine kolossale Wippe, die wohl mehrere Tonnen wog. Als Kind hatte es Duane immer besonders reizvoll empfun den, auf Händen und Knien über das grüngestrichene Wipp brett zu klettern, um auszuprobieren, wie weit er sich vortasten konnte, ohne das andere Ende zu Boden schwingen zu lassen. Wie albern, daß ihm ausgerechnet jetzt der Gedanke kam, hier auf diesem Stein einen ähnlichen Versuch zu wagen. Denn damit war nicht zu rechnen, daß sich die Tonnenlast mehr als einen Millimeter weit bewegen ließ. Aber falls doch, falls der Fels in Bewegung geriete... Was auch geschehen mochte, Duane wollte auf keinen Fall mit Puff zurück in den kokonartigen Leichenkeller und die Stimmen aus dem Radio hören, die gespenstischen Mumien sehen... Er winkelte das Knie an, hievte sich auf den Rand des lang gestreckten Quaders und rückte langsam vor wie eine Ei dechse, die nach einer Beutefliege Ausschau hält. Sein Herz 291
pochte so heftig, daß er nicht unterscheiden konnte, ob sich der Stein tatsächlich oder nur in der Einbildung bewegte. Puff schaute immer noch versonnen unter die Decke und sagte: »Du wirst sicherlich wissen wollen, woraus die Roben gemacht sind. Tja, was sie so besonders macht, ist ihr Material. Es besteht aus Haut, Duane. Aus Menschenhaut.« Duane kroch ein Stück weiter und spürte nun ganz deutlich, daß sich der Stein bewegte. Er selbst wog fünfundsiebzig Kilo. Der Höhlenboden war leicht abschüssig. Vielleicht reichte der Winkel. Günstig verteilt lagen auch die anderen rundgewaschenen Felsen. Aber wenn sich die riesige Platte bewegte und aufschlüge, würde es gewaltig krachen und ein Donnern durch die Höhle hallen. Duane hielt den Atem an, sprang mit einem Satz auf das freischwebende Ende der Steinwippe und spürte sogleich die andere Seite aufsteigen. Aber halt! Was geschähe, wenn die Platte angerissen wäre und zerbrechen würde? Oh, nein. Lautlos kippte sie herab, rutschte über ihre Lagerung und fing an zu rumpeln. Mit ausgestreckten Armen versuchte Duane, das Gleichgewicht zu halten. Puff, wenige Schritte entfernt, drehte sich gelassen um und richtete den Strahl der Lampe auf Duane, der mit der Wippe immer schneller hinabfuhr, gefolgt vom Licht, das ihm in den Augen blendete. Er wähnte die Entfernung allzu groß; mit nur einem Schritt zur Seite würde Puff ausweichen können. Plötzlich flackerte der Lampenstrahl weg und fiel ins Dunkel des tiefen Stollens. Ihm war, als hörte er Puff schreien, doch das Rumpeln und Knirschen der Felsplatte übertönte alles. Wie auf einem Schlitten rutschte Duane mit dem langgestreckten Quader über die runden Steine, und plötzlich wirbelte etwas Kaltes und Nasses über den vorderen Rand und schlug ihm gegen die Schulter. Duane ließ sich zurückfallen, und im selben Moment stieß die Platte krachend vor die Wand, aus der sich Splitter und faustgroße Steine lösten und auf ihn herabhagelten. Duane rollte über den Rand der Platte, die den Aufprall unbeschadet überstanden hatte, und schlug hart mit dem Gesäß auf dem 292
Boden auf. Die Brille fiel ihm von der Nase und landete in sei nem Schoß. Die Luft war voller Staub. Er konnte kaum atmen. Dann sah er den staubdurchwühlten Schein der Lampe, der starr auf die schwingenden Roben unter der Decke fiel. »Puff!« Auf allen vieren kroch er über den Schutt auf die Lichtquelle zu. Der Staub war so dicht, daß Duane die Kette aus Haifischzähnen erst bemerkte, als er sich mit der Hand darin verfing. Er zuckte zurück, schrie auf mit erstickender Stimme. Auf dem Handballen klebte ein feuchter Fleck, rot wie Blut, aber viel zäher, halb gefroren wie schmelzendes Speiseeis. Die Lampe lag einen halben Meter jenseits des Rands der Steinplatte. Puffs Leib klemmte zwischen Felsen. Ihr Kopf war abgetrennt, und von der Halswunde rann der zähe, rote Saft auf ihre Brüste herab in einem Muster, das an die Gefiederkrause eines Raubvogels erinnerte. Duane spürte die Kälte bis in die Knochen hinein. Er hatte kein Gefühl mehr in den Fingern, als er versuchte, die Lampe aus Puffs Hand zu zerren. Jeden Moment rechnete er damit, daß sie sich - mit oder ohne Kopf- aufrichten und zur Wehr setzen würde. Sein Magen rebellierte, und Duane wähnte sich einen langen, spiralenförmigen Kanal hinabtrudeln, weg von dem Licht, auf das er aus war. Er schluckte Luft, zwang sich aber dann, die Zähne aufeinanderzubeißen, denn ihm war klar, daß er durch Panik seine Lage nur verschlimmerte. Im Augenblick kam es einzig und allein darauf an, das wertvolle Licht zu ergattern und die Beine in die Hand zu nehmen. Jetzt sah er auch, warum Puff der Felsplatte nicht hatte ausweichen können. Ihr Fuß war in einer Bodenspalte steckengeblieben und nun um hundertachtzig Grad verdreht. Die Wucht des Felsens hatte das Knie wie ein erhitztes Maiskorn aufplatzen lassen. Nur nicht in Ohnmacht fallen, dachte Duane. Die Bat terien der Taschenlampe hätten sich wahrscheinlich ver braucht, wenn er wieder aufwachte, und dann wäre es besser, tot zu sein. Wie Puff. Vielleicht, so dachte Duane, war sie schon tot gewesen, bevor die Platte auf sie niederstürzte. Doch 293
mit dieser Frage wollte er sich nicht länger beschäftigen. Er wollte nur noch eines: seine Chance wahrnehmen, um wieder nach draußen zu gelangen. Anschließend würde er sicherlich noch genügend Zeit zum Grübeln finden.
30 Moon Milcock und Lee Winkfield, die Polizeibeamten von Wingo County, hatten die enthäutete Leiche des Mannes ge funden, der im nachhinein als Gene R. Wiley, siebenund zwanzig, zuletzt wohnhaft in Key West, Florida, identifiziert werden konnte. Am Rand einer kleinen Lichtung, knapp fünf zig Meter von der Brandschneise entfernt, lehnte er mit dem Rücken an einem Eichenstamm. Auch den anderen jungen Mann hatten die beiden Beamten bald ausfindig gemacht. Unweit der Lichtung kauerte er fünf Meter hoch in einem Baum und gab sich als >Deke< zu erkennen, war aber völlig verwirrt und nicht in der Lage, ein vernünftiges Wort von sich zu geben. Winkfield befahl ihm, vom Baum zu steigen, aber vergebens. Als der Polizist selber hochkletterte, um ihn zum Herunterkommen zu zwingen, fing Deke lauthals zu heulen an und trat wütend mit den Beinen aus. Winkfield mußte un verrichteter Dinge umkehren. Deke beruhigte sich wieder, hörte aber nicht auf zu schluchzen. Winkfield spuckte das zerkaute Streichholz aus und ging auf seinen Partner zu, der die Leiche im Licht der Taschenlampe inspizierte. Das entblößte Fleisch- und Fettgewebe hatte bereits eine erstaunliche Vielfalt von Insekten und Käfern angelockt. In der feuchten Luft machte sich der Gestank von Fäulnis breit. »Was ist los mit dem wilden Mann?« fragte Milcock, dem, als er sich aufrichtete, die Knie knackten. Er nahm eine Ziga rette aus der Packung. »Ist dein Kauspan auch noch zu was Sinnvollem zu gebrauchen?« Winkfield nahm das Streichholz aus dem Mund, wischte 294
den Speichel am Ärmel ab und reichte es dem Kollegen. Mil cock riß es auf dem Daumennagel an, der so hart und rauh war wie Beton. Winkfield sagte: »Der ist entweder high, total verrückt oder beides. Das beste wird sein, wir holen ihn mit einem Seil da runter.« »Ob er die Sauerei hier angestellt hat?« fragte Milcock mit Blick auf Wileys Überreste. Er zog heftig an der Zigarette und blies den Rauch durch die Nase. »Keine Ahnung. An seinen Händen ist jedenfalls kein Blut. Und das da sieht verdammt nach einer blutigen Schlachterei aus.« »Gründliche Arbeit«, bemerkte Milcock. »Bis auf ein paar Fetzen ist alles runter. Mir scheint, der arme Teufel ist nicht bloß zum Spaß so zugerichtet worden. Sind dir die Augen auf gefallen? Durchstochen, beide, und zwar genau in der Pu pille.« »Hast du 'ne Ahnung, warum?« »Ich tippe auf irgendeine rituelle Teufelei. Man hat ihn wohl geblendet, damit er nicht weglaufen kann. Drogen spielen womöglich auch eine Rolle. Sowas Widerliches passiert erst, seit es diese verdammten Drogen gibt.« Milcock blickte zum Baum hinüber, auf dem Deke hockte. »Kann sein, daß der langhaarige Typ nichts damit zu tun hat, aber ich wette, er hat gesehen, wer es war.« »Ja, er macht sich vor Angst in die Hose, 'ne abgehäutete Leiche hab' ich selbst noch nicht gesehen. Ekelhaft. Da gehen ja Bären freundlicher mit ihren Opfern um.« »Erinnerst du dich noch an den Fall Willie Wigfall, den man vor sieben Jahren auf Cudseys Farm in einem Futtertrog gefunden hat?« »Du meinst den Nigger, der immer so viel Wind gemacht hat. Hör mal, vielleicht sollten wir Low Cow rufen, damit er uns hilft, den Vogel vom Baum zu holen.« »Keine schlechte Idee.« »Sieht so aus, als könnten wir uns die ganze Nacht um die Ohren schlagen, Partner.« »Paß gut auf dich auf, solange ich weg bin.« 295
»Darauf kannst du dich verlassen«, antwortete Winkfield und tätschelte grinsend den Gewehrlauf.
31 Ted Lufford tauchte in Unterhosen hinter dem Wasserfall bei Dantes Mühle auf und rief den anderen zu, die auf der Brücke standen: »Hier ist ein Höhleneinstieg!« »Hast du Marjory gesehen?« wollte Enid wissen. »Keine Spur. Ich hab' gebrüllt, so laut ich konnte.« Low Cow Jones stieg aus dem Streifenwagen und watschelte auf seinen Kollegen Wayne Buck Vedders zu. »Ich werde an anderer Stelle gebraucht. Warte hier auf die Autobahnpolizei und die Jungs vom TBI.« Die Kripo von Tennessee. »Kein Scheiß? Das TBI? Wieso?« »Da ist 'ne Leiche gefunden worden.« Enid schnappte nach Luft, was wie ein inhalierter Schrei klang. Low Cow fügte hastig hinzu: »Soviel ich weiß, handelt es sich um eine männliche Leiche.« Er kehrte zum Streifenwa gen zurück, klemmte sich hinters Steuer und raste mit Vollgas los, daß Schlamm und Steine von den Reifen aufspritzte. Ted war inzwischen ans Ufer gewatet. Enid nahm seine Kleider vom Brückengeländer und eilte ihm entgegen. Wäh rend sie die Lampe hielt, zog er die nasse Unterhose aus und schlüpfte in die Jeans. »Wenn Marjory da rein gegangen ist, in die Höhle, meine ich, was hat sie dann da oben im Wald getrieben, wo ihr das Mädchen begegnet ist?« fragte Enid. »Keine Ahnung.« »Willst du nicht in der Höhle nachsehen?« »Nicht auf eigene Faust. Wer kommt denn da?« Eine fla schengrüne Limousine rollte auf der Straße heran. Sie blieb vor der Mühle stehen, und heraus stieg ein Parkaufseher mit Taschenlampe. 296
»Ist Ted Lufford hier zu finden?« fragte er. »Das bin ich.« Ted überquerte die Brücke und knöpfte sein Hemd zu. »Und das sind Wayne Vedders, Polizeibeamter aus Wingo County, und meine Freundin Enid Waller.« »Hallo, wie geht's? Mein Name ist Tilghman.« Er war kleingewachsen, um die Sechzig und hatte zurückgekämmtes weißes Haar. »Was ist hier eigentlich passiert? Die beiden jungen Leute... wenn man die mit dem Anfall dazuzählt sind's wohl drei; auf jeden Fall haben mir die beiden in der Parkverwaltung gesagt, daß seit dem Nachmittag jemand ver mißt wird. Was ist denn mit Ihnen? Haben Sie etwa ein Bad genommen?« »Nein. Wußten Sie, daß sich hinter dem Wasserfall eine Höhle verbirgt?« »Tatsächlich? Was für eine Höhle?« »Ich hab' nicht genauer nachgesehen.« »Tja, in dieser Region gibt's etliche Höhlen. Ein paar wenige sind noch unerforscht, zum Beispiel Big Spangle und Griffee und Bluefus...« Enid unterbrach. »Haben Sie Schlüssel zu all den Häusern hier im Dorf?« »Ja. Weshalb fragen Sie?« »Die Vermißte ist meine Schwester. Wir dachten, sie könnte vielleicht... vielleicht versteckt sie sich in...« »Wenn sie in einem der Häuser ist, hat sie entweder ein Fenster eingeworfen oder ein Türschloß geknackt. Und was soll das heißen: vielleicht versteckt sie sich? Vor wem?« Tilghman warf einen Blick auf den Revolver, den Ted gehalf tert am Gürtel trug. »Sind Sie auch Polizist?« »So ist es. Mr. Tilghman, wir dürfen uns doch mal hier um sehen, oder? Und sei es nur, um ausschließen zu können, daß Marjory in der Kirche oder sonstwo Unterschlupf gefunden hat.« »Deshalb bin ich gekommen«, entgegnete der Aufseher und klimperte mit dem Schlüsselbund. In der grünen Limousine schnarrte das Funkgerät. »Können Sie noch mehr Verstärkung anfordern?« 297
»An einem Samstagabend? Das dürfte schwerfallen. Und wozu überhaupt?« »Wir müssen sicherstellen, daß niemand den Park verläßt, ohne vorher von uns kontrolliert worden zu sein.«
32 Zuerst waren nur wenige Leuchtfalter in dem düsteren Loch zu sehen. Marjory fröstelte und ließ sich zurückfallen. Auch Birkas Augen schimmerten hell, fast so wie die blaue Flamme eines Schweißbrenners. »Was hast du, Marjory?« »Da runter... will ich nicht«, sagte sie und hätte fast >schon wieder< hinzugefügt, war sich aber nicht sicher, ob dieser Hin weis wirklich zutraf. Hatte sie mit Birka heute schon einmal in dieser Grube gespielt? Allerdings war ihre Vorstellung von heute recht vage. Heute, gestern - das Gefühl für Zeit schien ihr abhanden gekommen zu sein. Sie verließ sich ganz auf Birka, spürte aber dennoch ein hartnäckiges Unbehagen und fürchtete, etwas Falsches, Sündiges zu tun. »Wir sollten darauf ver zichten, hier unten zu spielen.« Marjory wand sich vor Be klommenheit. Die Haut juckte. Die Kleider paßten ihr nicht, und im Grunde war ihr alles ungeheuer. Doch diese Gefühle zum Ausdruck zu bringen, gelang ihr einfach nicht. Birka hatte immer recht, und deshalb war es sinnlos, mit ihr zu streiten. Marjory knabberte an den Fingernägeln, wich Birkas Blick aus und betrachtete statt dessen die Motten. Insgesamt zählte sie sechs... nein, jetzt waren es sogar acht. Immer mehr kamen hinzu; wie aus dem Nichts tauchten sie auf und versprühten weiches Licht über die roh behauenen Felswände ringsum. Sie sah Alastors haarlosen Kopf in einer dunklen Ecke glänzen. Der Junge spielte mit den großen Motten, sprang mit ungelenken Bewegungen umher bei dem Versuch, den Flug der Falter zu imitieren. Fliegen konnte er natürlich nicht, und doch gelangen ihm manch andere Kunststücke, die 298
Marjory in Staunen versetzten. Er konnte sich kopfüber, sich mit Fingern und Zehen festhaltend in die Wand hängen. »Hör auf damit«, sagte Birka ruhig. »Du fällst noch.« »Und wenn schon; weh tu' ich mir ja doch nicht.« »Nun, du mußt lernen, nicht allzu selbstsicher zu sein, denn auch du kannst dir durchaus weh tun. Zugegeben, du bist ein wendiger kleiner Bursche. Vielleicht solltest du Marjory beim Abstieg helfen.« »A-abstieg? Wohin?« stammelte Marjory. »Ach, du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe vor, dir einen ganz besonderen Ort zu zeigen. Den haben bislang nicht mal Fall oder Gudny gesehen.« »Und Rita Sue?« »Diese blö...! Nein. Nein, Marjory. Außerdem wäre es mir sehr lieb, wenn du dir diesen Namen endgültig aus dem Kopf schlagen würdest. Daß du noch an sie denkst, ist natürlich mein Fehler. Aber bitte versuche zu verstehen, daß ein großer Druck auf mir lastet. Es ist wirklich sehr schwer für mich, immer bei dir zu sein. Und so nahe.« »Ich... ich will doch bloß wissen, was mit ihr passiert ist«, erwiderte Marjory ganz verschüchtert und schneuzte sich die Nase mit dem Taschentuch eines längst verstorbenen Pfarrers. Sie zitterte wieder aus Angst, Birka zu verärgern, denn sie bedeutete ihr alles, weit mehr als... Der Gedanke, der sich gerade hatte bilden wollen, war plötzlich wie abgeschnitten. Doch das beunruhigte Marjory nicht. Im Gegenteil, sie war zufrieden damit, daß ihr Denken fast ausschließlich um Birka kreiste, und wollte alles tun, was sie von ihr verlangte. Und deshalb ließ sich Marjory auch darauf ein, mit Birka hier unten zu spielen, obwohl die Luft verbraucht und muffig war, ein wenig nach verfaulten Kartoffeln und der Fahne eines Säufers roch. Birka lächelte. Marjory erwiderte ihr Lächeln und rieb sich die geschwollene Nase. Inzwischen konnte sie sehr viel besser sehen. Zahllose Motten schwirrten durch den Kellerraum, der wie ein hohes Kirchenfenster anmutete, durch das über natürliches Licht flutete. Birka schaute sich um; offenbar ver 299
suchte sie, sich zu orientieren. Alastor verlor den Halt an der Wand, über die er wie eine Fliege hinweggekrabbelt war, und purzelte lachend zu Boden. Birka schüttelte den Kopf und nahm ihn bei der Hand. »Jetzt reicht's. Für deine Späße fehlt uns die Zeit. Ich glaube, wir müssen hier entlang.« Eine Wand des Pfarrhauskellers bestand aus losem Bruch gestein, das sich wie nach einer Sprengung dort aufgestapelt hatte. Birka wühlte darin herum wie ein Fuchs durch Hühner knochen, rückte Steine hin und her, packte einige beiseite. Ihre Miene wirkte nachdenklich und konzentriert, gerade so, als beschäftigte sie ein komplizierter Spielverlauf. Mit Leich tigkeit schichtete sie die Felsklumpen um, von denen einige so groß waren, daß Marjory sie um keinen Deut hätte von der Stelle rücken können. Bewundernd schaute sie zu, bis Birka schließlich eine Öffnung freigeräumt hatte, durch die nun ein Schwall von Motten hereinströmte wie Wein durch einen Fla schenhals. »Die paßt da nicht durch«, sagte Alastor und meinte Mar jory. »Sie ist zu fett.« »Ich bin nicht fett«, protestierte Marjory, die sichtlich be leidigt war. »Meine Knochen sind vielleicht kompakt aber...« »Wir müssen's halt versuchen«, antwortete Birka ungedul dig. »Einen anderen Weg gibt's nicht, und wir können Marjory nicht zurücklassen. Komm her, Marjory. Was glaubst du?« Marjory spähte durch die kleine Öffnung, konnte aber kaum etwas erkennen, abgesehen von den zahllosen Motten, die hinund herschwirrten. »Was... was liegt dahinter?« »Ach, wir müssen nur noch ein wenig tiefer steigen. Ich gehe vor, dann kommst du, und Alastor folgt hinterdrein.« Sanft berührte sie Marjorys blutunterlaufene Wange, doch das Mädchen zuckte zurück wie vor einer heißen Flamme. »Oh, entschuldige«, sagte Birka. »Ich habe ganz vergessen, wie schnell Menschenfleisch gefriert. Enochs Gesicht... Wie dem auch sei, jedes Problem läßt sich lösen. Ihr zwei wartet 300
hier. Und keine Mätzchen!« Diese Warnung galt vor allem Alastor, der gelangweilt mit den Schultern zuckte. Birka eilte die Kellertreppe hinauf, blieb eine Weile lauschend auf dem oberen Absatz stehen, öffnete dann die Tür und verschwand. Marjory und Alastor sahen einander an. Er streckte ihr die Zunge heraus. »B-blödmann.« Marjorys Kopfschmerzen taten weniger weh, wenn Birka nicht in der Nähe war. Statt dessen aber fühlte sie sich benommen und dermaßen verwirrt, daß ihr ganz schwindlig wurde. Und außerdem ging ihr dieser merkwürdige kleine Junge auf die Nerven, dessen bleicher Körper über und über mit Dreck verschmiert war. Er schien auch die Ursache dafür zu sein, daß ihr der Kopf rotierte. »Hör auf!« schimpfte sie und wandte sich von ihm ab. »Womit denn?« »Tu nicht so. Du weißt, was ich meine.« Ich hab' überhaupt nichts gemacht. »Und ob.« Marjory fuhr mit der Hand an den Hals. Panik drängte sie, Reißaus zu nehmen. Schon einmal war sie wegge laufen; sie erinnerte sich, aber vage und verworren wie an ei nen rätselhaften Traum. Das Mädchen, mit dem sie sich in der Scheune versteckt hatte. Was war mit ihm geschehen? Marjory spürte, daß Alastor sie grinsend beobachtete. Im Geiste sah sie dieses Grinsen ganz deutlich und schüttelte sich entsetzt. So klein er auch sein mochte, er hatte dem Mädchen aus der Scheune etwas Schreckliches angetan, und nun war er darauf aus, mit ihr, Marjory, ähnliches anzustellen. Wenn du wieder wegzulaufen versuchst, gibt's Ärger! Marjory antwortete nicht. So sehr sie sich auch sträubte, seine Gedanken sickerten ihr ungehindert ins Gehirn, farblos, ohne Form und kindisch, aber dennoch mit einer unwiderstehlichen Kraft, die Marjory zutiefst verängstigte. Sie haßte den Jungen, war ihm aber machtlos ausgeliefert. Es drängte sie 301
davonzulaufen, gleichzeitig aber war ihr die Aussichtslosigkeit der Flucht bewußt. Hin- und hergerissen, glaubte Marjory in Stücke zerspringen zu müssen. Na, na. Was soll das? Birka war wieder da; die Kellerstiege knarrte unter ihren Schritten. Mit verzweifeltem, tränenüberströmtem Gesicht wandte sich Marjory ihr zu. Birka kam auf sie zu, und das aufgewühlte Gemüt wurde wieder still und friedlich wie ein See am Abend. Nur ein schwaches Spiegelbild von Alastor blieb auf der Oberfläche zurück. »Hier, das wirst du nötig haben«, sagte Birka und reichte ihr ein Paar Handschuhe aus Wildleder. Auch ein Seil hatte sie dabei. Marjory zeigte sich ein wenig alarmiert beim Anblick des Seils, aber Birka lächelte ihr so gewinnend und aufmu nternd zu, daß auch Marjory wieder heiter dreinblicken konnte. Ja, was sie vorhatten, würde bestimmt lustig werden. Zieh die Handschuhe an, Marjory, und dann binde dir das Seil um die Taille. Wir werden bald am Ziel sein. »Wo?« Oh, tief unten. Hast du schon einmal von Eden gehört? Natürlich hast du das. Nun, dahin werden wir jetzt gehen. Nach Eden. Ist das nicht eine hübsche Überraschung?
33 »Hilfe.« Rita Sue hob erschrocken den Kopf. Die Illustrierte, eine alte Ausgabe von Feld und Strom, in der sie gelangweilt herum 302
geblättert hatte, rutschte ihr vom Schoß. Sie saß auf einem Stuhl, dessen Gestell aus Hirschgeweihen bestand, und war, halb einnickend, der Frage nachgegangen, was sie wohl tun würde, wenn sie schwanger wäre. Wahrscheinlich, so dachte sie, bliebe ihr nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen. Bisher hatte sie Boyce immer rechtzeitig zu bremsen verstan den, nun aber einsehen müssen, daß sie in kritischen Momen ten selbst die Kontrolle über sich verlor. Die Erkenntnis, daß sie über ihren eigenen Körper nicht immer bestimmen konnte, war niederschmetternd. Schwester Rosemary war mit neunzehn Jahren ausgerissen, um zu heiraten. Für diesen im pulsiven Entschluß hatte Rita Sue nun durchaus Verständnis; allerdings konnte sie nicht übersehen, daß Rosemary inzwi schen drei Kinder hatte und mit den Nerven am Ende war. Wie schrecklich! dachte Rita Sue. Noch deprimierender war die Tatsache, daß ihr Boyce nach dem, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, gar nicht mehr so wichtig erschien. Sie hatten während der vergangenen Stunden kaum mehr als zehn Worte gewechselt. Was wäre, wenn sie ihn heiraten müßte? Aber Moment mal - hatte Rosemary nicht gesagt, daß eine Frau genau wüßte, ob sie empfangen habe oder nicht? Doch Rita Sue hatte davon keine Ahnung; die Möglichkeit einer Schwangerschaft machte ihr um so mehr Sorgen. Obendrein wurde sie hier noch aufgehalten, und es gab nichts zu tun als... »Hilfe!« Der Ruf kam von Smidge, die nach ihrem Anfall auf ein Faltbett im Büro gelegt worden war. Die blonden Härchen auf Rita Sues sonnenverbrannten Unterarmen prickelten. Sie war ganz allein und saß draußen vor dem flachen Holzbau, in dem ein kleines Museum untergebracht war und die Wände voller Landkarten hingen. Boyce war mit einem der Aufseher weg gegangen, und seit über zwanzig Minuten wartete Rita Sue auf die Ankunft des Krankenwagens. Vergeblich. Das Mädchen fing nun an zu weinen. Rita Sue stand auf und sah sich um in der Hoffnung, Boyce würde auftauchen. Oder irgend jemand. Sie hatte keine Lust, ins Büro zu gehen 303
und auf die verzweifelten Hilferufe zu antworten. Aber was blieb ihr übrig zu tun? Noch ehe Smidge mit Schaum vorm Mund von Krämpfen geschüttelt worden war, hatte Rita Sue nun ja - Angst vor ihr gehabt. Das ungekämmte, schüttere Haar, die gefletschten Zähne, die vorspringenden Lippen, der starre Blick - sie war so gewöhnlich, so dreckig und... uuuh. Rita Sue schüttelte sich verächtlich. Doch gleichzeitig spürte sie, wie ihr die Knie weich wurden, und das Herz verkrampfte sich unter dem schmerzenden Eindruck hingebungsvoller Zu neigung, wie sie sie noch nie empfunden hatte, schon gar nicht für Boyce. »Hilfe, Hilfe. Jetzt ist es soweit. Nein. Ich will nicht, ich will nicht sterben!« Rita Sue zitterte wie Espenlaub. Sekundenlang starrte sie auf die Bürotür, bevor sie schließlich darauf zuging. Smidge schrie nicht; ihre Stimme war schwach. Es klang, als fanta-siere sie, als wäre sie nicht bei Verstand. Gefahrlich war sie in diesem Zustand sicherlich nicht. Also dachte Rita Sue: Etwas zu trinken kann ich ihr ja bringen, ein, zwei Minuten mit ihr reden und sagen, daß Hilfe unterwegs ist. Das Büro war klein, drei Meter im Quadrat. Ein Schreib tisch, zwei metallene Klappstühle und das schäbige Faltbett mit kariertem Bezug. Smidge war in eine olivfarbene Decke nachlässig eingewickelt, aus der die nackten Füße zum Vor schein kamen. Sie lag zitternd da wie ein Häufchen Elend, das Gesicht dem eigenen Schatten zugewandt, den die Schreib tischlampe auf die Wand warf. »Hallo... ich bin's, Rita Sue. Kann ich was für dich tun, Smidge?« »Himmel. Nein, nein. Laß mich sterben.« Der scheußliche, faule Gestank im Zimmer verschlug Rita Sue den Atem. Plötzlich richtete sich Smidge auf und riß mit wilder Gebärde die Decke vom Körper. Dann sperrte sie den Mund auf, und es schien, als wollte sie schreien. Doch was da hervortrat, war kein Laut. Rita Sue wich zurück wie vor der Mündung eines Gewehrs, das ihr zwischen die Augen zielte. So verließ sie das Büro, 304
schlug die Tür. Als ließe sich dadurch aufhalten, was sie soeben gesehen hatte. Die mehr oder weniger frische Luft, nach der sie nun schnappte, brachte ihr Gehirn vollends durcheinander. Sie eilte nach draußen, stürzte fast über den Flickenteppich im Eingang, umklammerte schnaufend das Verandageländer und blickte zum Mond auf, der dreiviertelvoll vom tintenschwarzen Himmel leuchtete. Den Kopf in den Nacken geworfen, fing sie an zu heulen wie ein Wolf neben einem frischen aufgeschütteten Grab.
34 Duane wollte sich schon endgültig aufgeben und der Angst überlassen, die sein Herz wie zwischen Mahlsteinen zu zerrei ben drohte, als er plötzlich Stimmen zu hören glaubte. Weder wußte er, wo er sich befand, noch war ihm klar, wie lange er nun schon versuchte, einen Ausgang zu finden. Im Licht der Taschenlampe sahen alle Stollen und Gänge gleich aus. Eine Uhr hatte er nicht dabei. Und weil ihm jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen war, konnte er nicht aus schließen, manchen Weg zwei- oder dreimal entlanggeirrt zu sein. Er war völlig unterkühlt und mit seinen Kräften fast am Ende. Nachzudenken fiel ihm zunehmend schwerer. Der Kopf war voller Kindheitserinnerungen, die einen traumhaften Glanz besaßen und nicht selten bizarre, halluzinative Wendungen nahmen. Träumend schleppte er sich weiter und folgte dem immer schwächer werdenden Lampenstrahl durch das Eingeweide des Berges, in dem glänzende Tropfsteine wie Fisteln herabhingen. Die Stimme, die er hörte, war weiblich, aber nicht zu identifizieren, und ihn schreckte die Vorstellung, Puff könnte als Gespenst zum Leben erwacht und ihm auf den Fersen sein. Unmöglich. Hatte er ihr doch den Schädel zerdrückt wie einem überreifen Pfirsich. Oberhalb der Schlüsselbeine war nichts heil geblieben. Aber vielleicht lau erten hier in den Gängen andere Gespenster. Die Mumien 305
steckten, wie er wußte, überall. Paß auf, wohin du trittst! schärfte er sich immer wieder ein. Zum Glück, und auch das wußte er, begleitete diese Mumien ein diffuses, wie durch Milchglas gefiltertes Licht, das von den Motten ausstrahlte. Duane wünschte sich, daß ihm ein paar dieser Falter den Weg weisen würden. Aber immerhin konnte er sich nun an den Stimmen orientieren. Oder tönte da womöglich ein Radio? Puffs Radio? War es möglich, daß es immer noch eingeschaltet war und in obskurer Sprache die Klagen der eingeschlossenen Toten übertrug? Beziehungsweise der nur Scheintoten, wie sich her ausgestellt hatte. Wenn die Laute, die er hörte, tatsächlich aus dem Radio stammten, hatten sich seine Befürchtungen bestä tigt, und er war tatsächlich im Kreis umhergeirrt. Nun taten ihm die Füße so weh, und die Müdigkeit war so überwältigend, daß er keine hundert Meter mehr zu schaffen glaubte, nicht einmal auf abschüssigem Weg. Aber womöglich gehörten die Stimmen doch Leuten, die nach ihm suchten. Duane spürte das Blut durch die Adern pumpen; der Hals schwoll ihm an. Keuchend holte er Luft, um laut loszubrüllen, besann sich aber und blieb still. Sich rufend bemerkbar zu machen, würde nicht viel nützen, da der Schall im Geflecht der Gänge verhallte. Ratsamer war es, aufmerksam zu lauschen. Die Stimmen mochten ihm als Richtungsweiser in der verschlungenen Dü sternis dienen, und er wagte sogar zu hoffen, daß sie näherkä men. Gesichter, Licht, Wärme, etwas zu essen — Duane fing an zu weinen, schluchzte verhalten, bemüht, sich nicht gehen zulassen. Er schniefte, schluckte, wischte die salzigen Tränen vorn Gesicht, doch dann hörte er schlagartig zu flennen auf, denn die Stimme, die er plötzlich hörte, klang vertraut, woran er aber erst wirklich glauben konnte, als sie sich ein zweites Mal meldete. »Birka, du gehst mir zu schnell! Ich muß haltmachen und mich ausruhen.« Marjory. 306
Aber wo war sie? Der Schall ließ sich nicht orten. Duane hielt den Atem an, lauschte, doch sein Herz pochte so schnell, das Blut rauschte so wild in Schläfen und Ohren, daß er nichts anderes hören konnte. Er rutschte den Felssok-kel hinunter, auf dem er im Dunklen gekauert hatte, um die Batterien zu schonen, und glaubte, etwas zu sehen: nicht etwa jene winzigen Funken, die vor geschlossenen Lidern auftauchen, wenn die Augen überanstrengt sind, sondern ein Schimmern in der Dunkelheit, zart wie das erste Morgenlicht. Er senkte den Kopf für eine Weile und schaute wieder auf. »Na schön, wenn es wirklich nicht mehr weit ist«, sagte Marjory zögernd und wie zur Antwort auf eine Frage, die Duane nicht gehört hatte. Der matte Schein war noch immer zu sehen, schien bewegt zu sein wie Licht auf gekräuselter Wasseroberfläche. Lunamotten, dachte er, wußte aber nicht einzuschätzen, wie weit sie entfernt waren. Er schaltete die Lampe an und richtete den Strahl auf die Füße, wobei er darauf achtete, nicht länger als ein oder zwei Sekunden ins Helle zu schauen. Ohne das eigene Licht wäre er nicht in der Lage, der langsam dahingleitenden Mottenwolke zu folgen. Jeder Sturz (so ermahnte er sich), ein verdrehtes Knie oder gebrochener Knöchel konnte hier unten katastrophale Folgen haben. Vielleicht hätte er Marjory rufen und sie bitten sollen zu warten. Sie suchte doch nach ihm, oder? Duane beeilte sich aufzuholen. Er hielt die Luft an und schluckte, starrte durch den schwarzen Raum auf die kleine pulsierende Galaxis, deren Entfernung nicht zu bestimmen war. Gerade wollte er ihren Namen ausrufen, als ihm das unmißverständliche Ge plapper fremder Stimmen aus Puffs Radio zu Ohren kam. Es tönte wie die aufgebrachte Menge beim Baseballspiel, das Bejubeln eines Helden. Duane lief es eiskalt über den Rücken, ahnte er doch, daß die Jubelrufe Marjory galten. Auch die glühenden Falter schienen gekommen, um ihr den Weg zu leuchten, den Weg zur Kammer, in der die Mumien auf Abruf warteten. Dem Jungen schnürte sich der Magen zu 307
sammen. Wer war in Marjorys Begleitung? Puff kam nicht in Frage, zerschmettert, wie sie war, und ohne Kopf. Denk nicht mehr an sie. Geh und hol Marjory! Der Stollen, in dem er sich befand, war frei von Hindernis sen. Überall tröpfelte Wasser über Felsen, der in Jahrhunderten spröde geworden war. Duane kam nicht umhin, Fußspuren zu hinterlassen - und entdeckte bald andere Abdrücke im abgelagerten Sand auf dem Boden der Höhle, Abdrücke, die schmale Schuhe hinterlassen hatten. Und da waren noch andere Spuren: von bloßen, weiblichen Füßen, kleiner als Marjorys. Beide Spuren führten auf ansteigendem Weg in ei nen Gang, der hinter einem Tropfenvorhang aus eiskaltem Wasser lag. Ein paar neongrüne Motten hingen an der Wand und ließen die Flügel in sanfter Zugluft flattern. Zur Orientie rung waren sie nicht mehr nötig. Die Richtung wies nun das Geschnatter aus dem Radio. Feines Seidengespinst schwebte in der Luft und strich ihm durchs nasse Gesicht. Mumienwatte. Kokonfäden. Duane fühlte das Blut kalt und langsam durch die Adern rinnen. Mit überraschend kindlicher Stimme sagte Marjory: »Ist das Fall? Sieht ja komisch aus, wie er so daliegt. Wer hat ihm denn das Ding da umgebunden?« »Frag nicht, und befrei ihn von der Schlinge«, antwortete die Frau mit Nachdruck in der Stimme. Die Härchen auf Duanes Unterarmen richteten sich auf wie unter dem Einfluß elektrostatischer Spannung. Er blieb stehen, ließ Licht durch die Finger strahlen, die den Lampenreflektor bedeckten, und sah im schwachen gelblichen Schein, daß der Stollen nach links abbog und Gefälle bekam. Duane war kaum hundert Schritt von der Kammer entfernt, die er geschworen hatte, nie wieder zu betreten. »Also gut«, sagte Marjory in hoher, fast quiekender Ton lage. »Aber danach müssen wir nach Hause gehen. Ich will nicht mehr spielen, Birka. Mir ist die Lust vergangen. So ein doofes Spiel.« »Die Ranke, Marjory. Nimm ihm die Ranke vom Hals.« »Aber das Ding ist so fest verknotet.« 308
»Versuch's noch einmal.« »Warum machst du es nicht?« »Zum letzten Mal, Marjory: Das geht nicht.« »Wieso?« »Weil es den Regeln nicht entspricht.« »Wer hat die denn aufgestellt?« »Tja, wer wohl?« Die Stimme der Frau klang gereizt. »Gib dir Mühe, bitte, mein Liebling. Oh, ich sehe, da sind ja zwei Knoten. Dieser verfluchte Enoch! Mach dir nichts draus. Ein ordentlicher Ruck, und die Ranke reißt.« Duane betrat die Kammer und erblickte eine Gestalt, in der er Puff wiederzuerkennen glaubte, doch der kahle Kopf war heil, und so wurde ihm die Täuschung bewußt. Dann glaubte er einen Mann zu sehen, der sich über eine der in Seide gehüllten Mumien beugte. Und wieder sah er sich getäuscht, denn es war Marjory, die in altmodischen Männerkleidern steckte. Er richtete den Lampenstrahl auf die beiden und krächzte: »Marjory. Nein. Tu das nicht! Geh weg von hier!« Die kahlköpfige Frau schleuderte ihm Blitze aus hellblauen Augen entgegen, und gleichzeitig hörte Duane einen kichernden Laut, der ihn weit mehr erschreckte als die Wut im Ge sicht der Frau. Er blickte nach oben und sah im zitternden Schein der Lampe einen kleinen Jungen drei Meter über ihm an der Höhlenwand kleben, kopfüber und mit grinsender Fratze. Dann löste sich Alastor vom Fels und stürzte mit ausgestreckten Armen auf Duane hinab. An einem der zarten Händchen fehlte der kleine Finger. An dessen Stelle wuchs ein spitzer, schwarzer Stachel, der sich fast durch Duanes Augapfel gebohrt hätte, wäre er nicht in letzter Sekunde ausgewichen. Duane duckte sich, das kleine Ungeheuer landete mit voller Wucht auf seinen Schultern, und gemeinsam stürzten sie mit ten hinein in den weichen Seidenberg.
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35 Der Parkaufseher namens Tilghman zielte mit dem Lampen strahl auf die Hintertür des Pfarrhauses, das jenseits des weiß umzäunten Friedhofes auf der gegenüberliegenden Straßen seite stand. »Sieht so aus, als wäre das Vorhängeschloß aufge brochen worden«, meinte er. Enid hatte keinen Zweifel. »Marjory ist hier. Oder sie war hier.« »Dann hatte sie Gesellschaft«, bemerkte Ted. Er musterte die Dreckspuren auf den Stufen. »Da sind zwei barfuß hoch gestiegen. Was soll man von den kleinen Abdrücken halten? Die wurden von einem Kind hinterlassen, daß kaum älter als sechs zu sein scheint.« »Fest steht jedenfalls, daß sie eingebrochen sind. Mal sehen, ob sie irgendwelchen Schaden angerichtet haben.« Tilghman öffnete die Tür. Enid folgte ihm und rief: »Mar jory! Ich bin's. Wo steckst du? Ist mit dir alles in Ordnung?« Keine Antwort. Enid sah sich nach Ted um, der sie am Arm zurückhielt und sagte: »Laß mich erst mal nachsehen.« Zusammen mit Tilghman ging er durch die Küche. Dahinter lagen ein kleiner Eßraum, ein Wohn-, zwei Schlafzimmer und die Toilette. Überall waren Fußabdrücke zu sehen: auf dem geblümten Wohnzimmerteppich wie auch auf den polierten Eichendielen im Flur. In einem der Schlafzimmer stand die Tür eines Kleiderschrankes sperrangelweit offen. Einbauschränke gab es nicht. Unter den Betten aus Walnußholz hielt sich niemand verborgen. Nichts schien in Unordnung gebracht worden zu sein. Die Fenster waren allesamt verschlossen, so auch die vordere Haustür. Tilghman rüttelte daran, um sich zu vergewissern. »Sie waren hier. Aber wo sind sie hin?« »Gibt's einen Keller?« fragte Ted. »Ja, einen Vorratskeller. In der Küche ist eine Falltür.« »Na bitte.« Sie kehrten in die Küche zurück. Enid wollte ih nen entgegeneilen, aber Ted wies sie zurück unter das Vor dach der Veranda. 310
»Wo kann sie sein?« Der Küchentisch war an den großen, schwarzen Herd ge rückt worden. Tilghman hatte mit Hilfe der Lampe die Falltür schnell entdeckt. Ted langte nach dem Ringgriff und klappte sie langsam auf. Die Scharniere knarrten. Eine Holzstiege führte nach unten in muffiges Dunkel. Auf dem Lehmboden des Kellerraumes zeichneten sich die Fußspuren deutlicher ab als oben. »Sehen Sie mal«, sagte Tilghman und richtete den Lam penstrahl nach unten. »Die Spuren stammen offenbar von einer Frau, es sei denn, da ist ein Mann mit ungewöhnlich zarten Füßen gegangen. Die anderen können eigentlich nur von einem Kind sein. Und das hier sieht mir ganz nach Schuhabdrücken aus. Von einem Mann, wie's scheint.« Die Detektivarbeit schien dem Aufseher gut zu gefallen, besser als das Überprüfen von Angelscheinen und Genehmigungen zum Campieren. »Auf der Veranda haben wir keine Schuhabdrücke gesehen«, bemerkte Ted. »Stimmt. Vielleicht war der dritte schon im Haus und hat auf die anderen gewartet.« »Oh, mein Gott, was geht hier bloß vor?« jammerte Enid. Auf der Straße sauste ein Auto vorbei und ließ das seitliche Küchenfenster rot aufleuchten. Ted hob den Kopf, krauste die Stirn und spähte dann wieder nach unten in den Keller. »Das schau ich mir mal aus der Nähe an«, sagte er und kletterte die steile Stiege hinab. »Ted!« »Keine Angst. Wir hätten was gehört, wenn da unten jemand wäre. Ich will bloß rausfinden, wohin sie gegangen sind.« »Könnten diese Fußabdrücke von Ihrer Schwester stam men?« fragte Tilghman. »Bestimmt nicht. Marjorys Füße sind größer. So wie meine. Die haben wir vom Vater geerbt. Leider. Auch die Tendenz zum Plattfuß.« 311
»Was hat Sie vorhin so sicher gemacht, daß Marjory hier in diesem Haus ist?« »Das war nur so ein Gefühl«, antwortete Enid vage. »Mr. Tilghman, könnte ich... darf ich mich auch mal im Haus um sehen?« »Wir haben schon alles durchsucht.« Aber Enid wollte sich unbedingt selbst davon überzeugen, daß das Haus leer war. Tilghman hatte dafür Verständnis und reichte ihr seine Ta schenlampe. Dann beugte er sich wieder über die Luke und schaute nach unten. »Schon was gesehen?« fragte er Ted. »Hier sind jede Menge loser Steine bewegt worden. Und in der Wand ist eine Öffnung. Da sind sie wohl durch.« »Kaum zu glauben. Ich bin wohl Hunderte von Malen hier gewesen, aber daß der Keller einen zweiten Ausgang hat, ist mir noch nie aufgefallen. Vielleicht führt er zu der Höhle, die Sie hinter dem Wasserfall entdeckt haben.« »Möglich. Das Loch war mit Steinen zugebaut. Manche davon sind so schwer, daß ich sie nicht hätte wegrücken kön nen, ohne mir den Rücken zu verrenken. Aber hier sind sie durch, und zwar mit einem Seil. Es liegt tief unten auf dem Grund eines Schachts.« »Ein Minenschacht?« »Ich weiß nicht. Sieht aber eher nach einem natürlichen Schacht aus. Kamin nennt man sowas wohl. Ich schätze, er ist an die zwanzig Meter tief. Der Abstieg dürfte verdammt haarig sein.« »Was gedenken Sie zu tun?« »Haben Sie ein Seil im Auto?« »Ein Abschleppseil. Aber das ist keine zwanzig Meter lang.« »Dann müssen wir uns was anderes einfallen lassen.« Enid brüllte laut auf, fast hysterisch. »Teeed!« Ted hastete auf allen vieren die Stufen hinauf und folgte Tilghman ins Schlafzimmer. Enid kniete neben einer Kiefern truhe am Fußende des Bettes. Einige feuchte Kleidungsstücke lagen vor ihr auf dem Boden: ein kurzärmeliges Hemd mit Marjorys Monogramm auf der Tasche, Shorts und ein Paar 312
Halbschuhe, naß und verdreckt. Einen der Schuhe hielt Enid wie einen Säugling im Arm. »O nein, o nein.« »Marjorys Sachen?« Ted nahm den anderen Schuh zur Hand. »Bist du absolut...« »Ja! Sie lagen ganz unten in der Truhe. Jemand hat sie darin versteckt! Warum?« »Nuggins... hör zu, Enid...« »Entweder sie läuft jetzt nackt herum, oder jemand hat... vielleicht...« Ted hatte die Sachen schon auf Blutflecken hin untersucht, aber keine entdeckt. »Sei nicht so voreilig mit deinen Schluß folgerungen.« Enid sprang auf. »Wir müssen was unternehmen! Schnell stens!« Ted zauderte einen Augenblick zu lange und reizte da mit Enid zur Attacke. Ted klammerte beide Arme um sie, um sich vor ihren Schlägen zu schützen. »Du hast sie schon gefun den, nicht wahr?« schluchzte Enid. »Im Keller. Gib's zu, man hat Marjory...« »Nein. Sie ist nicht tot. Ehrlich.« Enids Wut verebbte. Sie zitterte am ganzen Leib und biß sich auf die Unterlippe. »Ich bin sicher, es geht ihr gut. Die Sachen sind naß. Na klar, es hat geregnet. Also mußte sie das Zeug wechseln und hat sich wahrscheinlich aus der Truhe hier bedient.« Enid blickte auf; die Augen schwammen in Tränen. »Glaubst du wirklich?« »Ich hab' ein Schlupfloch gefunden, durch das sie gestiegen sind. Es führt in die Höhle. Und dort werden wir nach ihr su chen.« Tilghman räusperte sich. »An Ihrer Stelle würde ich aber nicht alleine runtergehen. Solche Höhlen sind ziemlich ge fährlich.« »Holen Sie mir das Abschleppseil«, sagte Ted. »Und wenn Sie sonst noch was haben, das mir nützlich sein könnte, brin gen Sie's mit.«
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36 Hinter der zugesperrten Bürotür der Parkverwaltung war Smidges Stimme zu hören. »Draußen bleiben! Ich will nicht, daß mich jemand sieht. Nur der Arzt darf rein. Wann kommt er? Hat jemand einen Arzt gerufen? Meine Haare fallen aus. Ich bin...« Der Rest blieb ihr im Hals stecken; sie würgte und hustete. Ein untersetzter Mann in Unterhemd und Bermudashorts, einer der Campingurlauber, die Rita Sue Marcum kurz zuvor zusammengetrommelt hatte, klopfte an die Tür und versuchte, sie zu öffnen. Verschlossen war sie nicht, doch Smidge hatte sie verbarrikadiert, wahrscheinlich mit dem Schreibtisch. »Miß, ich bin zwar kein Arzt, aber meine Frau ist ausgebil dete Krankenschwester und könnte Ihnen vielleicht helfen.« Seine Frau trug einen karierten Bademantel und hatte die Haare aufgerollt. »Machen Sie doch die Tür auf«, sagte sie aufmunternd. »Dann schau' ich Sie mir mal an. Vielleicht ha ben Sie sich bloß den Magen verdorben.« Smidge übergab sich und röchelte zwischen den Auswürfen. Rita Sue stand abseits in einer Ecke. Sie schmollte und sagte zu Boyce: »Gleich fang' ich auch noch an zu kotzen. Mir wird allein vom Zuhören ganz schlecht.« In der Ferne heulte eine Sirene. »Da kommt wohl endlich der Krankenwagen«, meine Boyce. Aus der Gruppe, die vor der Tür stand, meldete sich jemand mit den Worten: »Das ist die Autobahnpolizei. Mit zwei Wagen. Aber die fahren vorbei.« Smidge würgte immer noch. Rita Sue war puterrot; ihre Augen wirkten dagegen fast farblos. »Schnell, Boyce, geh mit mir nach draußen. Mir kommt die Galle hoch. Und dann fahr mich schnell nach Hause.« Der untersetzte Mann und seine Frau klopften wieder an die Bürotür. »Der Ärmsten scheint's wirklich schlecht zu gehen«, murmelte die Frau. 314
»Vielleicht sollte ich die Tür eintreten«, meinte er. »Aber das entscheide ich nicht gern allein. Hinterher macht man mich dafür verantwortlich, öffentliches Eigentum zerstört zu haben.« Smidge stöhnte. »Entschuldigen Sie uns«, sagte Boyce und bahnte sich mit Rita Sue einen Weg durch die Menge. Rita Sue lehnte sich an ihn und hielt den Bauch umklammert. »Rita Suuue! Wo bist du?« Rita Sue fuhr alarmiert mit dem Kopf herum und schlug die Hand vor den Mund. »Rita Suuue! Laß mich nicht allein!« »Oh, mein Gott«, flüsterte Rita Sue leise und grub ihre Fingernägel tief in Boyces Handgelenk. »Schaff mich hier weg!« Die Bürotür zersplitterte plötzlich in tausend Stücke, als wäre eine Dynamitladung hochgegangen. Die Frau im karier ten Bademantel schrie auf. Ein heftiger Schlag hatte sie rück lings zu Boden geschleudert. Ihr Mann taumelte, stolperte über die eigenen Füße und tastete mit den Händen übers Ge sicht, in dem dicke Holzsplitter steckten. Smidge kam von dem Schreibtisch gesprungen, der vor der zerborstenen Tür stand. Sie flog durch die Luft wie das Pro jektil einer Zirkuskanone, halb Clown mit kahlem Schädel, großen umränderten Augen und knallrotem Mund, halb Ka daver, angefault und übel zugerichtet. Blut spritzte ihr in dün nem Strahl aus dem Hals, und heulend trampelte sie über die am Boden liegende Frau hinweg. Ein entsetzlicher Gestank machte sich breit. Smidge lag ausgestreckt am Boden und sah sich nach Rita Sue um. Aus Nase und Ohren rann Blut und Gehirnwasser. Die Kopfschwarte kräuselte sich, als wühlten Würmer unter der Haut, die von blaßgrün bis dunkelviolett sämtliche Schat tierungen eines Blutergusses aufwies. Die Arme waren defor miert wie die von Popeye. Die Finger der linken Hand glichen denen eines Leprakranken: knotig, verstümmelt, faulend. An der rechten bildeten sich anstelle der Finger harte Dornen. 315
Mit einem Fausthieb hatte sie die Tür zerschmettert; jetzt kratzte sie im Estrich herum wie eine Katze, die ihre Notdurft zu verscharren sucht. »Rita Suuue!« Ein Auge glubschte übergroß aus dem aufgedunsenen, aschfahlen Gesicht; es schien sich auf Rita Sue einzuzoomen und vor Angst zu brennen, zerplatzte dann und troff wie eine gelierte Träne aus der Augenhöhle. Smidge hörte auf, den Bo den zu zerkratzen, und mit dick aufgetragenem Grinsen krab belte sie nun wie ein plumper Säugling auf das Objekt ihrer Begierde zu. Die Zeugen des entsetzlichen Anblicks wichen zurück und gaben dabei Geräusche von sich, wie sie ein Alptraum Schla fenden entlockt. »Nicht wie... die anderen«, ächzte Smidge, protestierend, verneinend. »Will keiner von denen sein. Neineinein. Holt... einen Arzt. Ich brauch einen Schuß. Schlaf. Morgen... ist alles wieder gut. Aber bleib... bleib, Rita Sue. Du mußt... bitte.« Smidge kam kaum voran. Arme und Beine waren nicht mit einander koordiniert. Die eine Hand krallte, ein Bein trat wü tend aus. Vor den geschwollenen Lippen schäumte Lungen gewebe. Sie hustete, schluchzte. Teile der Haut schlugen Bla sen wie kochender Pudding. Noch schockierender als ihr ver wüsteter Anblick war der Gestank. Die Menge hatte sich auf gelöst bis auf ein paar wenige, die wie gebannt das Entsetzli che begafften. »Bitteeee«, schrie Smidge und hob die Hand, deren Krallen wie die Zinken einer Kreissäge durch Holz zu schneiden ver mochten. Rita Sue klebte am Verandageländer, als wäre sie daran festgeschweißt; ihre geröteten Knie glichen tiefhängen den Früchten. Auf Smidges Wange klaffte eine Wunde, die, langsam größer werdend, das Gesicht zu einer grinsenden Fratze verzerrte. Boyce hielt Rita Sue mit einer Hand gepackt und riß einem Urlauber, der vor dem Scheusal am Boden zurückgewichen war, den Golfschläger aus der Hand, holte damit aus und 316
schlug mit aller Kraft zu. Das Eisen traf Smidge mitten auf die Stirn, drang durch den Knochen und verschwand bis zum Schaft. Der Schädel schien zu implodieren und schrumpfte zusammen bis auf das eine intakte Auge, das starr auf Boyce gerichtet war, dem Ausdruck nach durchaus normal und auf gelinde Art vorwurfsvoll. Alles war still, nur Rita Sue fing plötzlich laut an zu plärren. Boyce, benommen und fassungs los, hielt immer noch den Schläger in der Hand, das Opfer um Armeslänge auf Abstand haltend. Dann wurden seine Lippen taub und fingen zu zucken an. Er wähnte sich um tausend Meilen wegversetzt und spürte nur noch einen einzigen Wunsch, nämlich schlafenzugehen.
37 Marjory nestelte am letzten, widerspenstigen Knoten der dür ren Ranke, die um den schwarzen, schrumpeligen Hals der Mumie geschlungen war, in der sie Birkas Jugendfreund Päll wiederzuerkennen glaubte. Ihr war ganz und gar nicht wohl dabei zumute, und sie wollte dem dummen Spiel schon ein Ende machen, als plötzlich eine Stimme laut wurde, die sie aufschrecken ließ. »Hör auf mich Marjory. Nein. Tu das nicht! Geh weg von hier!« Sie erkannte die Stimme sofort, obwohl sie heiser und selt sam klang. Einen Blick über die Schulter werfend, sah Marjory aber nur Alastor, der mit breitem Grinsen an der Wand hing, beleuchtet vom Strahl einer Taschenlampe. Wie ein Schwimmer beim Start sprang er von der Wand ab und stürzte fast senkrecht auf Duane herab. Birka forderte mit scharfem Ton: »Weg mit ihm!« Ein heftiger, aber fast lautloser Kampf tobte nun inmitten der aufgeplusterten Seide, aus der das Lampenlicht mal hell, mal abgedunkelt schimmerte, während Duane sich hin- und herwälzend von Alastor zu befreien versuchte. Auch die Mot 317
ten waren in Aufruhr geraten und versprühten grelle Funken, Marjory sah sich verstört nach Birka um. »Wer ist...« »Kümmer dich nicht drum; die beiden spielen bloß.« Duane fluchte, Alastor quiekte vor Vergnügen. Schmerzen empfand er nicht, als Duane ihm mit der Faust ins Gesicht schlug. Alastor revanchierte sich, indem er gierig Blut saugte: aus einem Ohrläppchen, der Schulter und der Brust unmittelbar über Duanes Herz. Doch der Gnom verfehlte die vitalen Stellen, auf die er es abgesehen hatte: das Auge, den Nacken oder die Achselhöhle. »Ich will nach Hause«, jammerte Marjory. »Ich bin müde.« »Noch nicht. Schau, bald sind wir fertig. Der Knoten, Mar jory, der Knoten.« »Wenn's sein muß«, antwortete Marjory eingeschnappt, machte sich wieder an die Arbeit und pickte mit kalten Fingern an der Schlinge herum. »Marjory!« keuchte Duane, doch sie ignorierte ihn. Sie haßte es, wenn sich Jungs untereinander wie Kampfhähne aufspielten. Wenn ihre Fingernägel nur länger wären, ließe sich der Knoten besser lösen. Warum mußte sie bloß immer an den Nägeln knabbern? Na bitte, jetzt klappte es endlich. Der Knoten ging auf. Wach auf, Fall. Sei nicht albern und... Alastor quietschte wie eine Ratte und scheuchte mit seiner wilden Zappelei Scharen von Motten auf, die wie kleine Ko meten Leuchtspuren durch die dunkle Kammer zogen. Die lang ausgestreckte Mumie neben Marjory fing plötzlich an, sich wie ein Aal zu winden. »Birka?« Marjory war sichtlich verstört. Birka ging vor der Mumie in die Knie, und mit freudig strahlendem Gesicht hielt sie die Hände über die geschlosse nen, aber zuckenden Lider der schwarzen Gestalt. »Verdammt«, fluchte Duane, der über Marjorys Schulter hinweg auf das wiederbelebte Gespenst starrte und wildent schlossen das Mädchen auf die Beine zerrte. So heftig langte 318
er zu, daß er ihr fast den Arm auskugelte, und Marjory heulte laut auf vor Schmerzen. »Laß mich los!« »Komm mit, Marjory!« . Die Mumie fing unbändig an zu zucken. Marjory wich ent setzt zurück und starrte mit offenem Mund auf Birka. Duane reagierte in panischer Hast, packte erneut zu und schleifte das Mädchen durch den Seidenwust hinter sich her, dem nächsten Ausgang entgegen, ohne einen Gedanken daran zu ver schwenden, ob dieser Weg der richtige war. Marjory ließ sich widerstandslos führen, hörte aber nicht auf zu heulen. Der Stollen, in den die beiden blindlings hineinstürmten, wurde bald so eng, daß er nur noch in tief geduckter Haltung zu pas sieren war. Duane ließ sich nicht aufhalten. Hinter einer scharfen Kehre tropfte ihm kaltes Wasser ins Gesicht. Er blieb stehen, schnappte nach Luft und entdeckte im Lampenschein eine jäh und tief abfallende Felskante. »Warum geht's nicht weiter?« keuchte Marjory. »Eine Wasserrutsche.« »Wohin... führt Sie?« »Weiß nicht.« »Schrei mir nicht so ins Ohr!« »Entschuldige.« »Duane.« »Was ist?« Sie lehnte schwer atmend an seinem Rücken. »Was... waren das vorhin... für Gestalten?« »Keine Ahnung.« »Und... weißt du auch nicht, wo wir...« »Nein.« Marjory wandte sich ab und würgte. In Duanes erfrorene Fingerspitzen kehrte schmerzend wieder Leben zurück. Der Kampf gegen Alastor war wie ein Ringen mit Trockeneis gewesen. Er schaute Marjory an. Sie hatte den Kopf gesenkt; der Mund stand offen, und die Zunge war weit nach draußen gesteckt. Trotz allen Würgens erbrach sie 319
nicht. Als die Krämpfe nachließen, sagte Duane: »Gib mir ei nen deiner Schuhe.« »Duane...« »Frag mich nicht. Wie gesagt, ich habe keine Ahnung.« Er nahm den Schuh, den sie ihm reichte, und kroch vor bis zur Kante, über die sich ein schmales Wasserband ins Dunkel ergoß. Er warf den Schuh und versuchte, ihm mit dem Licht strahl zu folgen, und als der verschwand, zählte er langsam eins, zwei, drei —, bis tief unten ein Klatschen zu hören war. »Weiter«, sagte er. »Halt dich an mir fest.« »Duane, wir wissen nicht, was da unten ist.« »Aber zurück können wir nicht.« »Warum nicht?« Im Dunklen hörten sie Alastor kichern. Erschaudernd fuhr Duane herum und wies mit dem Licht zurück in den engen Stollen, wo Alastors rundes Gesicht aufleuchtete. Er kam, nur noch wenige Meter entfernt, auf allen vieren herangekrochen und grinste.
38 Ted Lufford seilte sich ab und stieg in den Schacht unterm Pfarrhaus von Dantes Mühle. Ihm folgte Wayne Buck Ved-ders, Polizeimeister aus Wingo County. Aufseher Tilghman hatte den Dorfladen geöffnet und die beiden mit allem Notwendigen ausgerüstet. Allerdings lagerte das Seil dort schon seit 1906, dem Jahr des plötzlichen Verschwindens der Dörfler, und es war eigentlich viel zu grob und schwer für eine solche Kletterpartie. Zu ihrer Ausrüstung gehörten auch zwei Sprühdosen voll Leuchtfarbe aus dem Kofferraum von Tilgh-mans Wagen sowie ein Dutzend Fackeln zusätzlich zu den Taschenlampen. Außerdem hatten sie Beile dabei, eine Spitzhacke und Schaufeln. Beide trugen eine Pistole. »Und was jetzt?« fragte Vedders, als seine Füße festen Grund berührten. Er hatte große Mühe beim Abstieg gehabt 320
und war zwischen den Schachtwänden hin und her gependelt. Vor Tiefen schreckte er zurück, und Höhlen waren ganz und gar nicht sein Metier. Als Kind hatte er einen Freund gehabt, der von einer Fledermaus gebissen und mit dem Erreger der Tollwut infiziert worden war. »Wir versuchen, den Spuren zu folgen. Markieren Sie den Weg mit den Sprühdosen, damit wir uns nicht verirren und unsere alten Tage hier unten beschließen müssen.« »Lufford!« »Was?« Vedders hielt seine nickelplattierte Smith in der Hand und hatte den Bolzen gespannt. »Da drüben hab' ich was flattern gesehen. Mann, ich kann Fledermäuse zum Verrecken nicht ausstehen.« »Das könnte man riechen, wenn hier Fledermäuse nisten würden.« »Im Ernst? Sie können diese Biester am Geruch erkennen?« »Deren Scheiße jedenfalls. Und zu sehen ist davon auch nichts. Hier! Hier sind sie langgegangen. Abdrücke von festen Schuhen.« »Du lieber Himmel!« »Was ist denn nun wieder?« »Da unter der Decke flattert 'ne Riesenmotte. Zwei sogar. Mann, sind die groß.« Ted richtete den Lampenstrahl darauf. »Tatsächlich.« »Wahnsinn, wie die Dinger aufleuchten. Haben Sie so was schon mal gesehen?« »Nein«, antwortete Ted uninteressiert. »Sprühen Sie einen Pfeil an die Wand, und dann nichts wie weiter.«
39 Die Wasserrutsche war glitschig und eiskalt, und obwohl Duane die nun schon bedenklich trübe funzelnde Taschenlampe mit beiden Händen gepackt hielt, war nur wenig zu se 321
hen außer bizarren Stalaktiten, die dicht über ihren Köpfen vorbeiflogen. Marjory hatte zu Anfang des rasanten Abstiegs die Beine fest um Duanes Taille geschlungen, verlor aber nach der ersten Kurve den Kontakt und geriet außer Kontrolle. Den ganzen Weg nach unten schrie sie aus Leibeskräften. Auch Duane schleuderte hin und her und sah mit stummem Schrecken einen Tropfstein nach dem anderen auf sich zura-sen. Ein Zusammenprall wäre verheerend bei der Geschwindigkeit, mit der die beiden die Rutsche hinunterjagten. Doch darüber nachzudenken oder das Wagnis zu bereuen, dafür war jetzt nicht die Zeit. Hilflos und von Wasser umspült beschleunigten sie durch den Schlauch nach unten, als würden sie von einem Untier bei lebendigem Leibe verschluckt. Duane rutschte auf dem Hintern und hielt Hände und Füße in die Höhe. In der rechten Achselhöhle klemmte Marjorys Fuß, die mit dem freien Bein um sich trat und nicht selten Duanes Kopf dabei traf. Die Rutsche schien nun an Gefälle zu verlieren. Duane wurde auf die Schultern zurückgepreßt und plötzlich so schwungvoll nach vorn geschleudert, daß er eine halbe Dre hung vollzog und kopfüber stürzte. Es dauerte eine Schreckse kunde, bis er registrierte, daß er keinen Grund mehr unter sich spürte und durch die Luft trudelte, dicht gefolgt von Marjory, die sich inzwischen heiser geschrien hatte und aus weit aufgerissenem Mund Laute hervorstieß, die wie aus einer an deren Welt klangen. Wo immer sie waren — der Lampenstrahl fand keinen Widerschein. Duane hörte Wasser rauschen und tauchte plötzlich unter. Die eisige Kälte raubte ihm fast die Sinne. Das Gesicht wurde taub, wie von einem harten Gegen stand getroffen. Unmittelbar darauf klatschte Marjory auf, prallte ihm vor die Brust und stieß ihn tiefer in die brodelnde Gischt. Die Taschenlampe glitt ihm aus der Hand, und er sah dünne Lichtschlieren unaufhaltsam tiefer sinken, während Arme und Beine unwillkürlich zu rudern anfingen, nach oben drängten, den aufsteigenden Luftblasen nach, die gespenstisch weiß aufschimmerten. 322
40 »Wir sind in Gefahr«, waren Therons erste Worte, die er an Birka richtete. Das siebente Kind von Adam und Eva schaute sich vorsich tig im Seidengespinst um. Durch seinen Kopf tönten schmerz haft die fordernden Stimmen derer, die immer noch in mu mienhafter Todesstarre verharrten und für die er nichts tun konnte. Vom Schwarzen Schlaf erwacht, schimmerte seine Haut im Lunalicht aschgrau, und seine Augen klärten sich vom Schleim, der aus den Winkeln tropfte. Sie standen weit aus einander und waren so blau wie die von Birka, aber im Unter schied zu den ihren mit einer prägnanten Mongolenfalte aus gebildet. Seine Glieder, vom Schlaf verrenkt und schlaff, kräf tigten sich zusehends. Die Brust nahm an Volumen zu. Er hatte die Gestalt eines prähistorischen Jägers, doch die Haut war glatt und haarlos wie die eines Kindes. Zärtlich, fast andächtig nahm Birka seinen Kopf in beide Hände. Der Stachel an ihrer Hand zuckte wie ein gereiztes Nervenende. War Theron soeben noch ein starrer Klumpen Pech gewesen, schien er nun aus belebtem Ton zu bestehen. Alastor huschte herbei, purzelte durch die wattige Seide und sagte wie beiläufig: »Sie sind unten im Teich. Wenn sie nicht schwimmen können, ist es wohl aus mit ihnen.« »Außerdem ist das Wasser viel zu kalt für sie«, fügte Birka ungehalten hinzu. »Trotzdem, ich hätte dir erlauben sollen, die beiden umzukrempeln.« Alastors Kopf schnellte in die Höhe. »Und wenn anschlie ßend was schiefgegangen wäre. Du hast doch gesagt...« »Wie dem auch sei; das tut jetzt nichts mehr zur Sache.« »Wir sind in Gefahr«, wiederholte Theron, der anderes an scheinend nicht zu sagen wußte. »Wahrscheinlich«, stimmte Birka zu. »Ich vermute, daß Leute kommen werden, um nach Marjory und dem Jungen zu suchen. Ich war ganz auf mich allein gestellt und bin in der Eile gezwungen gewesen, den Eingang im Pfarrhaus zu benut 323
zen. Aber jetzt sind wir zu dritt, und wenn ich Marjory zu rückholen kann, werden wir bald an die Hundert zählen.« »Wer ist Marjory?« fragte Theron winselnd. »Ein Mädchen, das ich draußen getroffen habe und mir sehr am Herzen liegt. Sie fürchtet sich so sehr vor dem Tod. Aber so erging's uns auch einmal.« »Du warst... draußen?« »Ja, dank Arne.« »Dein Sohn?« »Ja. Er war sehr alt, und ich habe ihm eine Gefälligkeit er wiesen.« »Nachdem, was er uns angetan hat?« »Daran war sein Vater schuld. Außerdem, was soll's? Wir sind zurück.« »Aber wir...« »Soll doch kommen, wer will. Wer uns zu finden versucht, wird verloren sein. Hier ist unser Zuhause. Hier bist du sicher. Fürs erste, zumindest. Ich werde mich jetzt aufmachen, um Marjory zurückzuholen.« »Ich wette, sie ist ersoffen«, sagte Alastor mit hämischer Freude. »Halt endlich deinen Mund!« schnaubte Birka. »Und paß auf Theron auf, solange ich weg bin. Was ziehst du für ein Ge sicht? Außerdem reicht's mir nicht, wenn du einfach nur mit dem Kopf nickst. Demnächst heißt es entweder >Ja, Ma'am< oder >Nein, Ma'am<, verstanden?« »Ja, Ma'am«, antwortete Alastor artig, obwohl er ihr kaum Beachtung schenkte. Er hatte den Kopf gehoben und lauschte auf ein Geräusch, auf das nun auch Birka aufmerksam wurde. Erstaunlich, wie weit der Schall durch die Höhlengänge wan derte. Stimmen. »Sie sind hinter dir her«, sagte Theron und legte eine Hand auf ihren Arm. Seine Hände waren riesig. Rund zehn Zenti meter maß der Stachel. Birka erschauderte in Erinnerung an seine Kraft. »Das ändert alles.« 324
»Wir müssen uns verteidigen.« »Ja. Kannst du...?« Mit ihrer Hilfe stand er auf und schwankte benommen hin und her. Er war über einen Kopf größer als Birka. Seine Kraft nahm spürbar zu, aber womöglich nicht rasch genug. Zum er stenmal seit Therons Wiederbelebung machte sich Birka Sor gen. »Ich werd' mit ihnen fertig«, prahlte Alastor. »Ich bin ein guter Kämpfer.« Birka schenkte dem Kleinen ein Lächeln. »Dann komm mit.« »Holen wir zuerst Marjory aus dem Teich?« »Nein, dafür fehlt uns die Zeit, und das heißt, sie wird wohl sterben müssen.« »Prima«, kommentierte Alastor.
41 Duane und Marjory klammerten sich aneinander fest und trieben röchelnd im Wasser des unterirdischen Sees. »Hol mich hier raus! Hol mich hier raus!« »Marjory!« Das Echo ihrer Stimmen hallte kollernd wider und übertönte das Rauschen des Wasserfalls. Trotz aller Panik und Angst vor dem Ertrinken bemerkte Duane, daß der Höhlenraum, in dem sie sich befanden, weit größer war als alle, die er bislang passiert hatte. »Hol mich hier raus!« Er sah sie nicht, spürte aber ihren zerrenden Griff am Gürtel, und das Wasser, von ihr aufgewühlt und ausgespuckt, klatschte ihm ins Gesicht. »Marjory... bleib ruhig... wir schaffen's schon.« Doch daran glaubte er selbst nicht. Er schluckte Wasser und bekam kaum noch Luft. Die Lungen drohten ihm zu platzen, und alle Kraft erschöpfte sich in dem Bemühen, an der Oberfläche zu bleiben. Sein Orientierungssinn war längst verloren. 325
»Hol... mich...« »Marjory. Ruhig. Versuch zu schwimmen. Entspann dich!« »Es ist so dunkel.« Trotzdem hörte sie auf ihn. Als gute Schwimmerin, die sie war, hielt sie sich mit kräftigem Bein schlag über Wasser. Die Knie der beiden schlugen aneinander. Er legte einen Arm um sie und streifte mit dem Gesicht das ihre. »Ja, weiter so. Und bleib still.« »Aber ich...« »Ich weiß... du kannst nichts sehen.« »Gott o Gott.« »Nur keine Panik.« Duane war zuversichtlich. Er spürte ih ren runden Körper, der für den nötigen Auftrieb sorgte, und legte die freie Hand auf eine ihrer hüpfenden Brüste. »Schön. Deine Bojen tragen uns.« »Duane, du Arschloch. Mach keine Witze.« Die Faust, mit der sie seinen Gürtel gepackt hielt, stieß ihm in den Unterleib. Nachdem ihre Hektik vorüber war, war nun zu spüren, daß sie sich nicht in einer Strömung befanden, die die beiden ins Ungewisse gespült hätte. »Warum... hast du mich mit Gewalt weggeschleppt? Ich...« »Marjory. Haben sie dir was angetan?« »Was meinst du?« »Haben sie dir zum Beispiel in den Nacken gestochen?« »Wie kommst du denn darauf?« »Deine Haare... fallen doch nicht etwa aus, oder?« »Bist du verrückt geworden?« »Na prima.« »Prima? Es ist eiskalt, und wir stehen kurz vorm Ertrinken. Ohhhh!« »Nein, wir schaffen's. Ich verspreche dir, dich hier rauszu holen.« »Wie denn?« »Weiß nicht. Noch nicht. Hast du noch Kraft zum Schwim men?« 326
»Wohin?« Weil er nicht gleich antwortete, rief sie entsetzt: »Duane!« »Ich hab' mich bloß umgesehen und glaube, da hinten ist... aber vielleicht täusche ich mich bloß.« Duane langte zur Brille, die ihm trotz des Sturzes auf der Nase sitzengeblieben war. Dann legte er die Hand in ihren Nacken. »Dreh dich um. Da, siehst du was?« »Nein. Oh, oder doch?« »Was denn?« »Da scheint was zu blinken. Hoch oben.« »Ja, das meine ich.« »Zwei, drei winzige Punkte. Wie Sterne. Sind das Sterne?« »Sieht fast so aus. Vielleicht sind's Reflexe im Kristall.« »Wie hoch?« »Keine Ahnung. Los, darauf schwimmen wir zu.« »Duane, ich bin fix und fertig.« »Ich auch. Trotzdem, reiß dich zusammen!« »Ich will nicht sterben.« »Dann schwimm, Marjory. Den Sternen entgegen.«
42 »Augenblick mal«, sagte Ted Lufford. Vor ihm verzweigte sich der Höhlengang, und in den Wänden glitzerte es wie aus Tieraugen, die am Rand einer ländlichen Chaussee lauerten. »Was ist das?« fragte Wayne Buck Vedders. »Ich tippe auf Quarzkristalle. Früher bin ich mit meinem Vater und dem Onkel durch Cordell Hull gezogen, um nach Drusen zu suchen. Haben Sie schon mal eine Druse gesehen?« »Klar, davon hatte ich ein paar als Junge. Ich habe sie in Jackson County gefunden, wo ich ab und zu gefischt habe. In Gainesboro ist übrigens ein Cafe, wo's die besten Butter milchtorten zu futtern gibt.« »Kenn' ich. Crawfords Laden.« »Genau, der alte Smiley Crawford. Ist schon lange tot, wie 327
ich gehört habe. Obwohl er nur einen Arm hatte, war er der beste und schnellste Koch weit und breit.« Von der Decke tropfte es auf Vedders herab. Er trat einen Schritt zur Seite und fragte nervös: »Was ist los? Haben wir sie verloren?« »Ich weiß nicht. Hören Sie was?« Beide waren still und lauschten. In der Ferne hörten sie Wasser rauschen. Und noch etwas, vielleicht eine Stimme, ganz leise und kaum wahrnehmbar. Vedders zitterte. Ted reichte ihm seine Taschenlampe und legte die Hände trichterförmig vor den Mund. »Marjory!« Die Stimme verhallte in den unergründlichen Tiefen der Höhle. Eine Antwort blieb aus. »Jesus«, flüsterte Vedders. »Wie groß mag die Höhle wohl sein?« »Keine Ahnung. Wahrscheinlich gibt's hier ein ganzes Ge flecht aus Gängen, die insgesamt viele Kilometer lang sind«, meinte Ted. Ihm zwackte der Magen aus Sorge um Marjory. Mit wem mochte sie zusammen sein? Er nahm die Taschen lampe wieder an sich und strahlte Wände und Boden an. »Ich weiß nicht«, murmelte er, »ich weiß nicht, welchen Weg wir einschlagen sollen.« »Gehen wir auf gut Glück weiter.« »Marjory!« brüllte Ted erneut und schnaufte ungeduldig. Da war ein unterdrücktes Kichern zu hören, und eine Kin derstimme meldete sich mit den Worten: »Ich weiß, wo sie steckt.« Ted und Wayne Vedders blickten aufgeschreckt in ver schiedene Richtungen, denn es war nicht zu entscheiden, von wo der unerwartete Hinweis kam. Die Lampenstrahlen streif ten das entsetzte Gesicht des jeweils anderen. »Allerdings ist sie längst abgesoffen.« Spontan eilte Ted in den Gang zur Linken, worüber sich der unsichtbare Junge kichernd zu amüsieren schien. »Wo bist du?« Schweigen. »Wie heißt du?« 328
»Frag nur zu, du Kakadu, mein Name ist für dich tabu«, trällerte Alastor. Vedders stürmte in den anderen Gang, bremste aber nach wenigen Schritten jäh ab. »Lufford!« rief er mit erstickender Stimme. Alastor kicherte. Ted rannte los und prallte mit Vedders zusammen, der ver schreckt zurückgewichen war. »Was ist los?« »Himmel, ich glaub's nicht. Er ist... ich weiß nicht. Sehen Sie selber.« Ted leuchtete in den Gang hinein. Unzählige Kristalle glit zerten auf. »Nein, weiter oben.« Vedders richtete seine Lampe unter die Decke, wo zwischen schimmernden Stalaktiten eine gnomhafte Gestalt am Felsen klebte. Fünf Meter über dem Boden. »Oh, Scheiße«, keuchte Vedders. »Wer bist du?« fragte Ted den nackten, haarlosen Jungen. Alastor fing an zu zwitschern. Täuschend echt das imitierte Zilpzalp des Weidenlaubsängers. Teds Nackenhaare stellten sich auf, und ihm war, als krabbelten ihm dicke Raupen über die Haut. »Wie kommst du da hoch?« »Frag nicht, dann brauch' ich nicht zu lügen.« »Du bist wohl ein ganz Gewitzter, he? Hast du keine Angst, da runterzufallen und dir weh zu tun?« »Ich kann mir nicht weh tun«, antwortete Alastor unbe kümmert. »Und warum nicht?« »Paß aufl« sagte Alastor grinsend und sprang mit einem Satz an die Wand, der Ted am nächsten stand. Ein kalter Luftschwall schlug Ted ins Gesicht. Erschrocken wich er zu rück und trat Vedders auf den Fuß. Ted rang sich ein Lächeln ab und sagte: »Bravo. Wie schaffst du das bloß?« »Das wüßtest du wohl gern, was?« »Nicht, um es dir nachzumachen, Kleiner.« 329
»Das gelingt dir auch erst, wenn du tot bist.« »Ach so.« Ted konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor so gefroren zu haben. Nasenspitze und Lippen brannten. »Es ist nicht zu fassen«, stöhnte Vedders im Hintergrund. »Hör zu, du Schlauberger, mach ruhig deine Witze mit mir, aber verrat mir doch eins...« »Wie heißt du eigentlich?« wollte Alastor wissen. »Papp nase?« Er gibbelte. »Nein, Ted. Und ich würde gerne von dir wissen: Lebst du hier unten?« »Wen interessiert das?« Aus Teds Mund dampfte es. Daß der Gnom atmete, war nicht zu sehen. Beim Blick in dessen helle, unheimliche Augen spürte Ted ein seltsames Picken im Kopf, und er wußte, daß der Junge in seinem Bewußtsein wühlte wie in einer Mailbox eine Empfindung, die er noch nie gespürt hatte, aber unver kennbar zu deuten war. Er langte an den Knauf der gehalfterten Smith Special. Alastors Augen folgten sorglos jeder seiner Bewegungen. »Ich zeige euch, wo ich wohne«, sagte er unerwartet und ohne zu kichern. Angst vor der Kanone, dachte Ted, mußte sich aber sofort korrigieren. Nein, der hat vor nichts Angst. Aus Vedders platzte es dampfend heraus: »Partner, ich hab' ein verdammt mulmiges Gefühl. Wir sollten die Kurve kratzen. Und zwar sofort.« »Nein. Ich muß Marjory finden.« »Darf ich mal die Waffe sehen?« sagte Alastor. »Hat die sechs Schuß?« »So ist es. Und jetzt verrate mir endlich...« »Was du über Marjory wissen willst, hab' ich schon gesagt. Sie ist mit ihrem Freund wahrscheinlich ertrunken.« »Soll das heißen, du hast sie gesehen? Wo genau?« Ted zog den Revolver, ließ die Trommel aufschnappen und schüttelte die 38er Patronen in die hohle Hand, mit der er zwi schen Daumen und Fingerspitzen die Taschenlampe gepackt hielt. Dann schob er die Trommel ins Schloß zurück und 330
lockte den Gnom mit der entladenen Waffe. So was interes siert alle Jungen, dachte er, ob lebendig oder tot. In Teds Hals zuckte ein kleiner Muskel, ein anderer im Gesicht. Die ausgestreckte Hand fühlte sich wie betäubt an, als hätte er sie in Äther getaucht. Alastor starrte stumm auf den Revolver, dann auf Ted, dem er nicht zu trauen schien. »Na, komm schon, Kleiner«, drängte Ted. »Sieh sie dir an.« Alastor löste die rechte Hand vorn Fels. Ted registrierte den deformierten kleinen Finger, dachte sich aber nichts dabei. Als er seine Chance gekommen sah, ließ er die Taschenlampe fallen und griff nach Alastors Handgelenk, zerrte ihn von der zerklüfteten Kristallwand und schleuderte ihn wie eine Katze zu Boden. Wieder erschrak er über die Kälte, die wie ein elektrischer Schlag durch Handfläche und Finger fuhr. Auf den Wider stand und die Kraft des Kleinen war er ebenfalls nicht vorbe reitet. Alastor prallte unbeschadet vom Boden ab, wirbelte herum und schlitzte ihm mit dem gekrümmten kleinen Finger der Rechten das Hosenbein vom Knie bis zum Saum auf. Ted ließ los, worauf der Kleine an die Wand zurücksprang und einen schrillen Pfiff wie aus einer Hundepfeife verlauten ließ. Im selben Moment hatte Vedders seine Waffe gezogen und abgedrückt. Der erste Schuß ging daneben; der zweite riß dem Knirps das halbe Gesicht weg. Es krachte so laut, daß Teds Trommelfell fast geplatzt wäre, und auch Vedders schlug vor Schmerzen die Hände an den Kopf. Knochensplitter und Schleim prasselten kalt auf ihn herab, doch Alastor schien den Schuß kaum bemerkt zu haben und krabbelte auf allen vieren zur Decke empor. Vedders feuerte ein drittesmal ab. Das Ge schoß durchbohrte die Seite des Jungen, was ihn aber nicht aufhielt, und kurz darauf war er aus dem hektisch hin- und herhuschenden Lichtkreis aus Vedders Taschenlampe ver schwunden. »Um Himmels willen. Hören Sie auf damit! Wollen Sie, daß uns ein Querschläger erwischt?« »Ich hab' ihn getroffen. Zweimal sogar.« 331
»Und was es gebracht hat, hab' ich gesehen.« Ted begaffte den Schlitz in seiner Hose. Eine dünne Blutspur trat darunter zum Vorschein. Er war noch ganz benommen von der Attacke des Jungen und dem ohrenbetäubenden Geknalle. Ein Wunder, wenn keine Schäden zurückbleiben, dachte er. Vedders drängte mit rauchender Pistole an ihm vorbei. Mit irrem Blick folgte er dem suchenden Strahl der Lampe. Im Stollen hing beißender Pulvergeruch. »Wollen Sie etwa behaupten, daß ich ihn nicht erwischt habe? Er wird inzwischen mausetot sein. Kommen Sie, gleich sehen Sie's selber.« Ted hielt ihn von hinten fest. »Hören Sie?« Kofschüttelnd versuchte er sich vom Ohrendruck zu befreien und lauschte wieder angestrengt. »Hören Sie das?« »Nein, ich bin halb taub.« »Aber ich höre Stimmen.« »Reden Sie doch lauter!« »Ich höre Stimmen! Marjory ruft nach uns. Sie ist nicht tot.« »Und aus welcher Richtung?« »Weiß der Henker. Auf, gehen wir da lang, dem Knirps hinterher.« Vedders starrte auf Teds Jacke, klaubte vorsichtig eine Handvoll geleeartiger Masse von der Knopfleiste und schlen kerte sie angewidert von den Fingern. »Das ist doch kein Blut? Ob der Widerling aus diesem Zeug besteht?« »Woher soll ich das wissen?« Vedders Gesicht verzerrte sich vor Entsetzen. Er fing an, mit den Zähnen zu klappern. »Partner, was... was spielt sich hier unten eigentlich ab?« »Auch darauf weiß ich keine Antwort.« »Wenn hier noch mehr solcher Gruselgestalten rumspuken, stecken wir voll in der Scheiße.« Plötzlich krachte es, als bräche ein Fels aus der Wand. Vedders ließ sich zu Boden fallen und leuchtete nach beiden Seiten durch den Stollen. Ted schnallte den Rucksack vom Rücken und kramte eine der Leuchtfackeln heraus, die er mit einer Handumdrehung in 332
Funktion setzte und in eine Felsspalte pflanzte. Zischend ver breitete sich grellrotes Licht in der Höhle. »Geht's Ihnen wieder besser?« fragte er den Polizeibeamten. »Verdammt, nein. Wer war dieser Knirps? Haben Sie eine Erklärung?« »Vermutlich ein Vampir oder so was Ähnliches. Ist mir egal. Ich will Marjory. Haben Sie was dabei, womit sich die Ohren verstopfen lassen?« »Mal sehen.« Vedders stöberte in den Hosentaschen herum und wurde mit einer zerdrückten Packung Zigaretten fündig. »Vielleicht helfen die Filter?« »In die Ohren damit. Ich will ein paar Schüsse abfeuern.« »Wieso?« »Um rauszufinden, woher die Rufe kamen.« »Jetzt mal im Ernst: Sie erwarten doch nicht, daß ich an Vampire glaube.« »Ist mir egal, was Sie glauben, Vedders. Fest steht, daß der Wicht trotz zerschossenen Kopfes auf und davon ist. Runter auf den Boden!« Ted stopfte sich die Ohren zu, lud den Revolver, legte sich flach auf den Bauch und leuchtete mit der Lampe durch den Stollen, um ein Ziel anzuvisieren, das die Gefahr eines Quer schlägers ausschloß. Dann drückte er den Abzug.
43 »Marjory?« sagte Duane und rüttelte sie bei den Schultern. »Laß mich«, murmelte sie. »Schlaf jetzt bloß nicht ein.« »Ich bin so kaputt.« »Das ist wegen der Kälte. Du mußt dagegen an, sonst ist es aus mit dir.« »Laß mich in Frieden.« »Nein«, bettelte Duane, der selber seine Glieder kaum 333
mehr spüren konnte und dem Verzweifeln nahe war. Er hauchte ihr ins Ohr. Keine Reaktion. Sie hatten sich aus dem Wasser gehievt und kauerten auf einem schmalen Felsvorsprung, der für beide gerade ausrei chend Platz bot. Von oben tropfte Wasser herab, was aber we der Marjory noch Duane zur Kenntnis nahm. Jetzt, da sie nicht mehr zu schwimmen brauchten, machte sich bleierne Müdigkeit breit. Ringsum undurchdringliche Finsternis. Marjory regte sich nicht mehr und reagierte kaum, wenn er ihr in den Arm oder Schenkel kniff. Dann kam er auf eine andere Idee, suchte mit der Hand nach einer Brust unter der nassen Bluse und zerrte gewaltsam an der Warze. »Au! Laß das!« »Hat's weh getan?« »Natürlich.« Sie versuchte, ihn von sich zu stoßen. »Paß auf! Du fällst noch ins Wasser, und dann kann ich dich womöglich nicht mehr finden.« »Was machst du da?« »Ein Feuerchen«, antwortete er und hörte nicht auf, an ihren Brustwarzen zu reiben, mal links, mal rechts. Auch nahm er die Zunge zu Hilfe, und es bedurfte nur wenig Anstrengung, um die Spitzen prall werden zu lassen. »Laß endlich sein!« maulte sie. »Nicht bevor du heiß geworden bist, Marjory«, keuchte Duane. Lüsternheit empfand er keine; bei ihm rührte sich nichts. »Schluß jetzt«, befahl Marjory. »Selbst wenn ich wollte... es hat keinen Zweck. Ich schlaf gleich ein.« »Kommt nicht in Frage.« Duane hörte auf, ihre Brüste zu bearbeiten, richtete sich auf, um tief Luft zu holen, und schrie aus Leibeskräften. »Komm, mach nicht schlapp«, forderte er Marjory auf und brüllte dann erneut drauflos. Wenig später glaubte er etwas zu hören, das wie ein Pistolenschuß klang. »Marjory!« »Ich bin hundemüde.« Duane hob Marjorys Kopf, der ihr auf die Brust gesunken 334
war. »Hast du nichts gehört?« Er sah sich orientierungslos in der Dunkelheit um, wischte Wassertropfen vom Gesicht und sah mit einem Male einen schwachen rosaroten Schimmer. Fast direkt über ihm. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder, und es schimmerte immer noch, ganz vage wie ein von niedri gen Wolken reflektierter Feuerschein. »Marjory!« »Heh?« »Ich glaube, da sucht jemand nach uns.« Er holte wieder tief Luft und schrie: »Wir sind hier unten!« Benommen wie er war, schwante ihm doch, daß mit dieser Auskunft nur wenig anzufangen war. »Marjory!« Er rüttelte sie, bekam aber keine Antwort. Die Angst verlieh ihm neue Kräfte. »Ich kann euer Licht sehen!« brüllte er und brach dann erschöpft und schluch zend über Marjory zusammen, die kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Sekunden später waren zwei weitere Schüsse kurz hintereinander zu hören. Ob damit ein Zeichen gesetzt war und was es bedeuten sollte, wußte Duane nicht. Er war nun zu matt, um den Kopf zu heben in Richtung auf den himmlischen Schein, der nach wie vor über ihm schwebte.
44 Wayne Buck Vedders gab aufmerksam acht, während Ted mit der Spitzhacke die Stollenwand attackierte, die über und über mit Quarzkristallen besetzt war. Er hatte den Schirm der Mütze tief in die Stirn gezogen, um sich vor den glasartigen Steinsplittern, die ihm entgegenspritzten, zu schützen, aber trotzdem fingen schon bald die Hände und das Kinn an, aus etlichen kleinen Kratzern und Einschnitten zu bluten. Als er seinen schmerzenden Schultern und Armen eine Pause gönnte, rief er nach Marjory und Duane. Eine Antwort blieb aus. »Mann«, sagte Vedders, »die Quarzader ist bestimmt viel zu dick.« 335
»Nein. Sie haben es doch gehört. >Ich kann euer Licht se hen< Damit ist bestimmt die Fackel gemeint. Und wenn das Licht da durchdringt, schaff ich's verdammt noch mal auch.« Ted massierte die Finger und schlug wieder mit der Spitzhacke zu, immer in dieselbe Kerbe und laut ächzend vor Anstrengung. Plötzlich brach ein Teil der Wand ein, und durch das melonengroße Loch, das entstanden war, strömte kalte Luft herbei. Blutverschmiert war der Schaft der Hacke, die Ted nun fallen ließ. Er trat an die Öffnung heran und starrte ins Dunkel dahinter. Das Rauschen von Wasser war zu hören. »Ich brauch' die Lampe.« Er nahm von Vedders die Stableuchte entgegen und steckte sie durchs Loch. »Duane, Marjory... wo steckt ihr?« Der Lichtstrahl huschte über ein gespenstisches Tropf steindickicht, das bläulich aufschimmerte. Manche Stalaktiten klebten in Bündeln zusammen und sahen aus wie gichtige Finger einer Hand; andere hatten sich zu zarten, kristallinen Nadeln ausgebildet, die auf die kleinste Berührung hin zu zerspringen drohten. Das Licht fiel senkrecht nach unten auf eine glänzend schwarze Wasseroberfläche, aus der vereinzelt Stalagmiten aufragten, geformt wie schlanke Zypressen oder runzelige, deformierte Trolle. Eins der Ge bilde glich tatsächlich jenem nackten Gnom, der mit hämischem Grinsen die Felswände entlangkrabbelte und verheerende Schußwunden überlebte. Ted räusperte sich frei von dem, was dick und bitter in der Kehle steckte. Er entdeckte den Wasserfall, der das Rauschen verursachte; daneben mündeten auch kleinere Rinnsale in den Teich. Obwohl das Licht der Lampe sehr stark war, vermochte es nicht, den gesamten Höhlenraum zu durchdringen. Mit der freien Hand ließ Ted nun einen Quarzbrocken nach unten fallen und zählte. Drei Sekunden dauerte es, bis der Stein aufklatschte und ein dumpfes Echo ringsum erzeugte. In Anbetracht dieser Tiefe bekam es Ted mit der Angst zu tun. Und 336
die beiden jungen Leute hatte er immer noch nicht gefunden.« »Ich kann euer Licht sehen.« Die Stimme klang so dünn, daß nicht auszumachen war, wer gesprochen hatte. »Hallo! Wer ist da?« rief er in die Höhle. »...Duane.« »Duane, hier ist Ted. Ted Lufford. Fehlt dir was? Verletzt? Was ist passiert?« »Kalt.« »Und Marjory? Wo ist sie?« »Bei mir. Sie ist.. .Marjory, Marjory, wach auf!« »Was ist los?« »Sie atmet noch, braucht aber dringend einen Arzt.« »Haltet durch. Ich komme runter.« Ted zog den Kopf aus dem Loch zurück und langte nach der Hacke. »Sie müssen zurück«, verlangte er von Vedders. »Trommeln Sie so viele Helfer zusammen wie nur irgend möglich. Und lassen Sie einen Arzt kommen. Mit Kranken wagen. Das Seil und ein paar Fackeln bleiben hier, und... können Sie mir Ihre Jacke leihen?« »Kein Problem. Ich bin in zwanzig Minuten zurück.« »Eher, wenn's geht.« »Falls mir nicht dieser Gnom übern Weg läuft. Das näch stemal zerschieß' ich ihn in Fetzen, und er wird seine liebe Mühe haben, sich neu zu sortieren. Wie wollen Sie da runter?« Ted hackte wieder auf die Wand ein. »Das Seil ist dreißig Meter lang. Das müßte reichen.« »Passen Sie gut auf sich auf. Bis dann.« »Bis dann«, antwortete Ted und schlug einen weiteren Quarzbrocken aus der Wand.
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45 In der Robenkammer betrachtete Theron die Überreste von Puff am Rand der Felsplatte, mit der Duane sie zerquetscht hatte. »Sie war eine von uns. Wo kam sie her?« »Alastor hat sie umgewandelt«, erklärte Birka. »Und noch jemanden, behauptet er.« Theron runzelte die Stirn. Auf Birka machte er immer noch einen beängstigend verwirrten Eindruck. Sein Erwachen war sehr schmerzhaft gewesen. »Wo ist der Junge jetzt?« »Ich weiß nicht«, entgegnete Birka. »Vielleicht überrascht er unsere Besucher. Ja, wäre ihm zuzutrauen. Mit Glück wird er es womöglich sogar schaffen, sie umzukrempeln. Sei's drum. Er findet uns bestimmt wieder. Kannst du klettern?« Theron musterte die Roben aus Menschenhaut, die, gründ lich durchgekaut, fast durchsichtig und mit Seidenfaden ver näht waren. Die Kleider hingen hoch unter der Höhlendecke und waren,nur schwer zu unterscheiden von den zahlreichen Motten, die leuchtend umherschwirrten. »Ja, ich kann klettern«, gab er zur Antwort, und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieg er in eine fast senkrechte Wand. Birka folgte ihm. Die Motten taumelten wie ausgelas sen durch die Luft. Bald würden sie in bedeutender Gesell schaft sein, mit dem nachtschwärmenden Huldufölk. »Wir sollten vielleicht sofort von hier verschwinden«, schlug Birka vor. »Draußen ist es wahrscheinlich schon Nacht.« »Und wenn nicht?« »Dann werden wir uns, sobald die Auferstehung abge schlossen ist, tiefer in die Höhle zurückziehen und unseren Zyklus zu Ende führen.« »Du weißt, daß die Roben nicht für alle ausreichen. Deshalb konnte uns auch dein Ehemann einholen. Es ist immer dasselbe, Birka. Nie sind wir in Sicherheit.« Birka wurde lang samer. Theron sah sich mit grimmiger Miene nach ihr um. »Was ist los mit dir?« 338
Marjory. Sie lebt, ist aber sehr schwach. Schwächer noch als du. Dann wird sie wohl sterben müssen. »Nein. Ich will nicht, daß sie stirbt. Vorher muß ich sie errei chen und umwandeln.« »Ein Mensch mehr oder weniger, darauf kommt's nicht an.« »Ich empfinde... mütterliche Gefühle für sie. Merkwürdig, nicht wahr?« »Allerdings.« »Theron?« »Ja, was ist?« »Ich bin gerne draußen.« »Das ist jeder von uns und ganz in Ordnung so, solange wir rechtzeitig in die Erde zurückkehren.« »Ich würde so gerne wieder hübsche Kleider tragen. In meiner Haut gefällt's mir nicht mehr. Ich will Musik hören und tanzen gehen. Was für einen Sinn hat es, ewig weiterzuleben und nicht tanzen zu können? Den Wunsch hat Er uns nicht genommen.« »Nein. Nur die Sonne.« »Und die Luft. Luft bekommt uns nicht. Genaugenommen fehlen uns auch Hunger und Lust, aber darauf läßt sich gut verzichten, denn schön sind diese Empfindungen nur, wenn sie auch zu befriedigen sind. Fliegen macht mehr Freude. Und Musik. Auf Sonne kann ich eher verzichten. Ach, Mozart. Hätte ihn doch einer von uns umgewandelt, dann würde er noch immer diese herrliche Musik komponieren.« »Würde er nicht. Das wäre nach den Regeln unseres Ge meinwesens nicht möglich. Wir können zwar unsere eigenen Roben herstellen, die notwendig sind, um unsere Existenz zu sichern. Doch alles andere ist von den Menschen nur ausgelie hen. Ihre Sprachen und Künste zum Beispiel. Wir werden es nie zu einer eigenständigen Kultur bringen oder zu einer per manenten Heimstatt. Komm endlich weiter.« »Theron? Wir sind doch in keiner schlechten Lage, oder?« 339
»Es gibt jedenfalls keine Alternativen für uns.« »Theron?« »Was redest du soviel?« »Weil ich dich nicht gesehen habe, seit... Theron, bist du Ihm begegnet? Im Osten von Eden?« »Nein. Ich wollte zwar von unserem Versteck aus Ausschau nach Ihm halten, hatte aber zu große Angst. Darum habe ich nur Seine Stimme gehört.« »Wie ist sie? Wie Donnergrollen? So als ob Berge auseinan derbrechen?« »Wie die eines Schulmeisters mit Furunkeln am Hintern.« »Theron! Das glaub' ich nicht. Na ja, immerhin weißt du wieder zu scherzen.« »Und warum kann ich nicht lachen?« Zehn Meter über dem Boden legte er erneut eine Pause ein, langte mit der Hand aus und pflückte eine Robe von der Decke. »Die wird dir passen«, sagte er und reichte Birka das Kleid, das safrangelb, golden und rosafarben schimmerte. »Danke.« »Und damit müßte ich wohl zurechtkommen.« »Ja. Blau steht dir am besten.« Kreischend vor Freude löste sich Birka von der Wand und segelte rücklings durch die Luft, umflattert vom durchscheinenden Gewebe ihrer bunten Robe. Kapriolen schlagend, strampelte sie wie ein Kind mit den Beinen und lächelte Theron zu, der nun selber eingekleidet war und mit elegantem Schwung von der Felswand abhob. Wie ein königlicher Geleitzug folgte ihm ein Schwarm glühender Riesenmotten. Für eine Weile schwebten die beiden Seite an Seite genießerisch in der Luft, und die membrandünnen Kleider aus Menschenhaut wogten um ihre weißen Gliedmaßen wie schillernde Wasserwellen. »Er hat uns mehr gegeben als genommen«, sagte Birka schließlich. »Das empfinde ich manchmal auch«, murmelte Theron. »Aber ich weiß es inzwischen besser. Menschen sind sehr er finderisch, wenn es darum geht, uns zu quälen.«
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46 Duane blickte auf zur Fackel, die wie Morgenrot über die Fel sen strahlte, und sah Ted aus dem aufgeschlagenen Loch her vortreten. Am Seil hängend, das um seine Hüfte geschlungen war, suchte er mit den Füßen Halt und stieg dann geschickt herab zu einer schmalen Kante, die wie die Wulst einer Paste tenkruste aus der Wand ragte unmittelbar über dem Vorsprung, auf dem Marjory mit geschlossenen Augen an Duane lehnte. Ted stampfte mit dem Fuß auf, um die Festigkeit der Paste tenkruste zu prüfen, und zündete dann eine zweite Fackel an. »Alles klar?« »Fix und fertig«, antwortete Duane, den das Licht nach Stunden absoluter Dunkelheit schmerzvoll blendete. »Und Marjory?« »Läßt sich nicht mehr aufwecken«, sagte Duane und fing zu schluchzen an. »Nur keine Panik. Wir holen euch hier raus.« Duane blinzelte in die Höhe, aus der sich Ted abgeseilt hatte, und schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Wie denn?« »Es kommen noch mehr, um zu helfen.« Ted musterte den unteren Absatz, den Marjory fast für sich allein beanspruchte. Für eine dritte Person fehlte der Platz. Er ließ das Seilende herab. »Komm hoch zu mir. Schling das Seil unter den Arm, ein mal um die Hüfte und dann zwischen den Beinen durch.« »In der Schule haben wir so was mal geübt«, erwiderte Duane. »Aber ich...« »Du schaffst es. Häng dich dran, ich zieh' dich hoch. Wie viel wiegst du?« »Achtzig Kilo.« »Dann mußt du ein bißchen mithelfen.« Duane warf einen Blick auf Marjory. Durch die verschmier ten Brillengläser sah er sie nur undeutlich, erschrak aber an gesichts der kreideweißen Erscheinung vor dem schwarzen Hintergrund des Wassers. Nachdem er tief Luft geholt hatte, 34l
packte er das Hanfseil und machte sich an den Aufstieg. Ted zerrte mit aller Kraft und trat von der brüchigen Kante Steine lose, die Duane auf den Kopf prasselten. Schließlich langte er nach der Hand des Jungen und hievte ihn über den Rand. Ausgelaugt und weinend sackte Duane vor Teds Füßen nieder. »Schätze, daß du vorerst keine Lust hast, das restliche Stück zu erklimmen.« »Auf keinen Fall. Ich kann nicht mehr.« »Dann ruh dich aus. Ich steige zu Marjory runter.« Mit einem Sprung war er bei ihr. Ihr Anblick und die Kälte ihrer Haut entsetzten ihn. »Duane? Ist sie ertrunken?« »Nein... nur unterkühlt, mehr nicht.« Ted richtete sie auf und riß ihr das nasse Hemd von den Schultern. »Marjory? Marjory!« Sie protestierte kleinlaut, hielt die Augen aber geschlossen. Um das Herz zu stimulieren, rieb er mit der Hand über das Brustbein. Unablässig auf sie einredend, holte er Wayne Buck Vedders' Jacke aus dem Rucksack und hüllte sie darin ein. Dann legte er ihr den Kopf in den Nacken und blies ihr seinen Atem in die Lungen. Weil er so hektisch um Marjory bemüht war, bemerkte Ted nicht, daß es in der Höhle allmählich heller wurde und eine Wolke von Lunamotten herbeiflog, gefolgt von zwei Gestal ten, die leiser durch die Luft glitten als ein Wispern auf dem Wasser. Marjory. Das Mädchen zuckte zusammen, trat um sich und wand sich aus Teds Armen. Erschrocken hob er den Kopf und sah in ein eisblaues Augenpaar. »Du kannst nichts für sie tun«, sagte Birka. »Überlaß sie mir; sie will es so. Frag sie nur. Marjory möchte bei mir sein.«
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47 Es näherte sich jemand. Enid erhob sich von der Kiste, auf der sie im Vorratskeller des Pfarrhauses gesessen hatte, trat vor die Laterne und warf einen langen Schatten über die aus aufgeschichteten Fels brocken bestehende Wand, in der ein dunkles Loch klaffte, durch das Ted und der Polizeibeamte in die Höhle gestiegen waren. Wieder vernahm sie ein Geräusch wie von rutschenden, lo sen Steinen. »Ted?« Sie wartete seit fast einer Stunde. Draußen vor dem Pfarr haus herrschte lebhafte Betriebsamkeit. Da waren heranfah rende Autos zu hören und das Knacken laut aufgedrehter Funkgeräte, aus denen knappe Order schnarrten, die aus der Entfernung nicht zu verstehen waren. Tilghman, der Parkauf seher, hatte sich ein paarmal im Keller sehen lassen, war aber jetzt, wie Enid annahm, oben auf der Veranda zusammen mit zwei Aufseherkollegen. »Mr. Tilghman? Ich glaube, sie kommen zurück.« Offenbar war er außer Hörweite. Enid nahm die Laterne zur Hand und ging auf das Loch in der Bruchsteinwand zu. Es war gerade breit genug, um einen Mann hindurchschlüpfen zu lassen. Enid lugte in den Schacht und rief. Diesmal antwortete das Echo der eigenen Stimme, was sie erschauern ließ. Das Echo verhallte, und Enid lauschte angestrengt in die Stille. Ted oder der Beamte schienen nicht in der Nähe zu sein. Das Geräusch, das sie gehört hatte, mußte also eine andere Ursache haben. Vielleicht lebten Ratten oder Fledermäuse in der Höhle, spekulierte sie, sträubte sich aber, selber nachzusehen. Besonders mutig war sie nie gewesen, und ihre Nerven lagen bereits jetzt bloß. Lieber wollte sie sterben, als sich ins Ungewisse dieser Grotte zu begeben. Lieber Gott, hol mich heim, mir fehlt die Kraft zum Leben, hatte Enids Mutter des öfteren gefleht. Aus Angst davor, daß ihr irgendwelche flie genden Ungeheuer vor dem Einstiegsloch begegnen könnten, 343
hatte Enid ihren Wachposten an den Rand der Stiege zurück verlegt. »Ted? Bist du's? Hast du Marjory gefunden? Ted, antworte doch?« Enid leuchtete mit der Laterne in den Schacht und sah das Kletterseil, an einem Mauerhaken hängend, langsam hin und her schwingen. Es war straff gespannt, was daraufhindeutete, daß jemand an ihm hochzusteigen versuchte. Sie langte mit der freien Hand nach dem Seil und spürte ein leises Vibrieren. Zu schwer für eine Ratte, dachte sie. Wenn Ted oder der Beamte daran hing, warum... »Ted?« rief sie zaghaft. »Wer ist da unten?« Enid blickte zurück zur Stiege. Aber Aufseher Tilghman tauchte nicht auf, und die Stimmen, die von oben zu hören ge wesen waren, hatten sich verflüchtigt. Im Keller war es gra besstill. Wieder zurrte das Seil in ihrer Hand; ihr Herz reagierte mit ähnlich flatternder Bewegung. Sie wandte sich wieder dem Schacht zu, ging langsam in die Knie und kroch auf den Rand zu. Das Blut rauschte ihr durch die Schläfen. Wie ein Korken in der Flasche steckte sie zwischen Schacht und Einstiegsluke. Erst jetzt wurde ihr gewahr, wie schwer es für Ted gewesen sein mußte, durch das Loch zu schlüpfen. Der Ärmste hatte nämlich in letzter Zeit tüchtig zugenommen — Marjory kochte so lecker. Der Metallboden der Laterne knirschte über Steine, als sie das Licht bis auf eine Handbreit an den Schacht heranschob. Das Seil zwischen den Knien war zur Ruhe gekommen. Ein fauler Geruch machte sich breit, den sie bislang nicht wahrge nommen hatte. Enid war hin- und hergerissen zwischen Angst und Neugier vor dem, was da unten im Schacht wohl sein mochte. Ted hatte sie davor gewarnt, ihm zu folgen. Das Loch war tief. Aus der Tatsache, daß Marjory den Abstieg bewältigt hatte, zog Enid den hoffnungsvollen Schluß, daß sie gesund und bei Kräften war. Enid lag nun bäuchlings auf dem Boden und robbte, die Lampe fest im Griff, noch dichter an den Rand. Die Finger tasteten über das Seil bis zu der Stelle, wo es nach unten abknickte. 344
Eine plumpe, erschreckend kalte Kinderhand legte sich plötzlich auf ihre Finger. Enid reagierte, als wäre sie in eine Wolfsfalle getappt, kreischte laut auf und versuchte, die Hand loszureißen. Fast hätte sie die Laterne in die Tiefe gestoßen. Das kreideweiße, zerschossene Gesicht des kleinen Alastor tauchte im Schein der Lampe auf. Sein Mund war wie zum Schrei weit aufge sperrt, doch aus den luftleeren Lungen drang kein Laut. Enid wich zurück, holte mit der Laterne aus und schleuderte sie ge gen die ohrlose Seite des Schädels. Doch das Scheusal ließ sich nicht abschütteln und schwang die krummen Beinchen über den Rand, als Enid auf aufgeschürften Knien zurück in den Vorratskeller kroch. Dann erlosch die Flamme in der Laterne. Alastors kleine Hand ließ nicht locker, so wütend auch Enid mit der lädierten Laterne auf ihn eindrosch und flüssigen Brennstoff um sich spritzte. Das rechte Handgelenk gefror unter dem eiskalten Griff. Die rechte Hand des Zwergs stach auf sie ein, zerkratzte Stirn und Wangen auf der Suche nach dem Nacken, doch, be täubt von Angst, spürte sie nichts. Beide wälzten eng um schlungen über den Lehmboden, und Enid schrie wie am Spieß, bis ihr der Dreck und der faule Gestank die Kehle zu schnürten. Lampenstrahlen durchstießen die staubgefüllte Luft des Kellerraums. Erregte Stimmen waren zu hören. Plötzlich ließ der nackte Junge von ihr ab. Fluchtartig, wie es schien, löste er sich mit einem Satz, der ihn bis unter die Kellerdecke hinauf schleuderte. Vor einer Gruppe von Männern landete er in kauernder Haltung auf dem Boden, sprang auf und fiel über sie her. Einer taumelte aus der Gruppe hervor; sein blutüber strömter Arm war wie von einer Rasierklinge zerfetzt. Enid sah einen Revolver aufblinken. Wie Leuchtfeuer huschten die Lampenstrahlen durch den Staubnebel. Bevor ihr eins der Lichter grell in die Augen strahlte, hatte Enid den Jungen auf dem Absatz der Kellerstiege gesehen; die runden Pobacken, die kleinen Schulterblätter, das runde Rückgrat und der Kopf, so schauderhaft, so entsetzlich. Sie hatte nur einen 345
kurzen Blick von ihm erhascht, mehr nicht. Er hüpfte die Stiege hinauf und stieß einen Mann, der ihm im Weg stand, mit unglaublicher Kraft von den Stufen. Enid schmeckte Brennspiritus und erbrach. Mit hängendem Kopf kniete sie auf dem Boden. Als ihr das Blut wieder ins Gesicht zurückströmte, spürte sie Stiche wie von Wespen auf der Haut. Vor Ekel und Schwäche fing sie heftig zu zittern an, als zwei Männer ihr wieder auf die Beine halfen. Ein erregtes Stimmengewirr wurde laut. Weitere Männer drangen in den Keller. Der Staub in der Luft schmeckte bitter. Enid sah die wimpernlosen, glühenden Augen, wie sie aus dem Loch hervorspähten, immer noch vor sich, spürte den harten Griff, der Knochen zu zermahlen vermochte. Jetzt wußte sie die Antwort: In die Hölle war Ted hinabgestiegen. Die Berührungen der Männer waren ihr zuwider, doch sie konnte sich nicht davon freimachen. Laßt mich in Ruhe! flehte Enid stumm, als man sie durch den Keller zur Stiege hin trug. Mein Gott, ist der Alptraum immer noch nicht vorbei?
48 Das könnten die Eltern des Gnoms sein, bemerkte Ted, der ruhig und besonnen zu bleiben versuchte. Beide waren nackt wie im Sündenfall, in ihrer Erscheinung auf fast obszöne Weise menschenähnlich (vor allem der Mann mit seinen lang herabhängenden Genitalien). Die Haut aber war so weiß wie eine Leinwand, auf der sich die zarte Färbung ihrer dünnen Schwingen abzeichnete - falls von Schwingen überhaupt die Rede sein konnte. Sie schillerten wie in frühem Morgenlicht und ließen ihre Tragflächen über dem Teich schweben, der ihr Bild so gestochen scharf widerspiegelte, daß sich Ted auch davon bedroht fühlte. Die Gestalten erinnerten ihn ein wenig an Engel aus Komikheften, wie er sie in der Sonntagsschule kennengelernt hatte: Bildergeschichten aus der Bibel. Ted glaubte seine Gesichtshaut schrumpfen zu spüren, so eisig 346
war die Kälte, die von den beiden ausstrahlte und nahezu sichtbar war wie die wehenden Schleier, die ihre Körper um hüllten und in der Luft trugen. Engel oder Teufel? Es schüttelte ihn so sehr, daß sein Brustbein zu zerspringen drohte. Um so verzweifelter war er bemüht, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Die Augen der beiden wirkten ungewöhnlich groß, was viel leicht an den kahlen Schädeln lag oder daran, daß sie nicht blinzelten und so starr dreinblickten wie Tieraugen. Als Reflex in den Pupillen der Frauengestalt sah Ted die schwirrende Mottenschar. Was hatten die Falter mit diesen gespenstischen Wesen zu schaffen? Es schien, als hielten sie Abstand zu dem Insektenschwarm, vorläufig jedenfalls. Kahle Köpfe machten auf Ted stets einen brutalen Eindruck, doch diese beiden wirkten geradezu sanft, abgesehen von den nadelspitzen, schwarzen Stacheln, die anstelle des kleinen Fingers an der rechten Hand saßen und dem kleineren Dorn entsprachen, mit dem der Gnom Teds Hose aufgeschlitzt hatte. Die weibliche Gestalt (sie als Frau zu bezeichnen, fiel Ted nicht ein) war von makelloser, aber harscher Schönheit, die ihn ungemein faszinierte und ein Gefühl in ihm auslöste, das er immer in Zahnarztsesseln verspürte, wenn er mit betäubtem Kiefer entspannt, aber aufmerksam beobachtete, was um ihn herum passierte. Er war weder besonders fantasiebegabt noch abergläubisch, hatte aber für den widerlichen und übernatürlich agilen Gnom unwillkürlich die Bezeichnung >Vampir< parat gehabt. Doch diese beiden Wesen, denen er nun gegen überstand, waren für ihn in keine Kategorie einzuordnen. Handelte es sich um Höhlenbewohner? Oder um das Gegenteil davon? Nach kurzem Rätselraten glaubte er zu einer Ge wißheit gefunden zu haben, die ihn nun statt mit Angst mit Ehrfurcht erfüllte. Er war seit acht Monaten im Streifendienst der Polizei ge wesen, als er auf eine sehr vage Beschwerde einer Frau hatte eingehen müssen, die fern von Nachbarn auf einer Farm im Nordosten von Caskey County lebte und sich darüber beklagte, daß ihr jemand mit hellen Lichtern durch die Fenster 347
leuchten würde. Als Ted vor ihrem Haus ankam, versuchte die Frau gerade, zwei Hunde aus einem Versteck unter den Verandadielen hervorzulocken. Doch die Hunde reagierten nicht einmal auf Futter. Die Frau hielt eine uralte, doppelläu fige Flinte im Arm und walkte auf einem Klumpen Kautabak herum. Nachdem sie kräftig ausgespuckt hatte, sagte sie: »Wenn Sie für die Fahrt hierher nicht die halbe Nacht ge braucht hätten, wären Ihnen die Typen noch zu Gesicht ge kommen. Zwanzig Minuten lang steckten sie da drüben im Kornfeld, stromerten darin herum, als gehöre der Boden ih nen.« »Wer war's?« fragte Ted. »Bestimmt keine Freunde von mir. Und Jesus wohl auch nicht. Denn wenn der wiederkommt, erkenn' ich ihn. Nee, Mister, das waren welche aus dem All.« »Außerirdische? Wie sahen sie aus?« »Ungefähr doppelt so groß wie Sie. Und silberne Sachen hatten sie an wie Astronauten. Die Köpfe so dünn wie Karotten und fast ohne Haare drauf. Ohren fehlten denen auch, das hab' ich gesehen.« »Und die Augen?« »Jede Menge hatten sie davon, mehr als Sterne am Himmel, und rund um den Kopf verteilt waren die kleinen, hell glitzernden Augelchen. Sie denken wohl, ich lüge, he? Kom men Sie nur mit, Wachtmeister. Ich zeig' Ihnen, wo sie run tergekommen sind; dabei hat's ein derart schrilles Pfeifen ge geben, daß die Hunde mit Schaum vor den Schnauzen davon gekrochen sind. Das Korn ist niedergeweht, als wäre ein Wir belsturm drüber weggegangen, und ganz ausgedörrt ist es. Was soll ich jetzt machen ohne Korn? Auch der Tümpel ist halb zugefroren. Im Juli, Mann!« »Worin sind sie runtergekommen?« »Dumme Frage. In 'ner Art Raumschiff natürlich.« »Wie groß?« »Ziemlich. Aber ich hab' nicht genau hingucken können, weil meine alten Augen weh taten. Es hat grelle Strahlen von sich gegeben. Die Augen brennen mir immer noch davon, und 348
deshalb sind sie auch ganz naß, das sehen Sie ja wohl. Mich täte interessieren, ob noch andere das Spektakel heute nacht mitgekriegt haben. Das Flugding war eigentlich kaum zu übersehen. Es kam ganz leise runter und leuchtete mir hell ins Haus. Normalerweise hätten die Hunde anschlagen müssen, aber statt dessen haben sie den Schwanz eingezogen und sind winselnd weggelaufen. Hunde wissen genau, wenn was nicht mit rechten Dingen zugeht.« Marjorys Körper verkrampfte, was Ted dazu veranlaßte, sie fester an sich zu drücken. Das weibliche Wesen schwebte dicht über ihnen auf Höhe der rötlich schimmernden Fels kante und starrte auf sie herab. Ted hatte keine Hand frei, um den gehalfterten Revolver zu ziehen. Doch der wäre, wie ihm schwante, ohnehin nicht von Nutzen gewesen. Duane ächzte heiser: »Halt Marjory fest. Die dürfen sie nicht kriegen.« »Das werd' ich zu verhindern wissen«, antwortete Ted, und, dem männlichen Wesen zugewandt, fragte er: »Wo kommen Sie her?« Die Antwort blieb aus. »Sagen Sie mir doch: Leben Sie hier unten?« Die Frau warf einen Blick auf ihren Gefährten, sah dann Ted an und lächelte. »Von den Sternen sind wir jedenfalls nicht. Hier unten leben? Wir leben überall, wo es uns gefällt.« Dieser Mensch gefällt mir nicht. Er ist zwar nur ein Bauernlümmel, könnte aber gefährlich werden. Wie dein ehemaliger Mann. Nimm ihm das Mädchen ab, und dann laß uns verschwinden. Nein, hab Geduld, Theron. Die beiden wissen schon zuviel über uns. Kannst du die Gedanken des Jungen lesen? Natürlich. Sie am Leben zu lassen, hatte ich auch nicht vor. Vielleicht sollte der Junge mit uns kommen. Er sagt mir irgendwie zu, ist intelligent und ganz anders als die frömmelnden, dummen Bauern aus dem Dorf. Anders auch als Alastor, der nichts als Unsinn im Kopf hat.
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Nein. Ich bin dagegen. Du bist noch zu schwach, um ihn zu nehmen. Und ich glaube, aus dir spricht die Eifersucht. Wenn du das Mädchen hast, warum sollte ich nicht auch jemanden für mich haben? Jung genug, um ihn nach meinem Bild zu formen? Zu Birka sagte Ted: »Was haben Sie also hier unten verloren? Von Ihrer Sorte gibt's wohl noch mehrere, oder? Wie schaffen Sie's überhaupt, so durch die Luft zu schweben? Sind Sie etwa selber eine Art Riesenmotte?« Kaum hatte er dies gesagt, als Ted spürte, wie sein Herz ei nen Sprung machte. Gleichzeitig zwickte ihn eine fremde Ein gebung, die er aber sogleich unterdrückte, zumal die beunru higende Ahnung in ihm aufstieg, daß sich die beiden in seine Gedanken einzuklinken verstanden. (>Von den Sternen sind wir jedenfalls nicht.< Dabei hatte Ted nichts erwähnt von dem Kornfeld und auch nichts von den Fußspuren oder den Me tallstücken, die von Spezialagenten der Regierung nach Son nenaufgang entdeckt worden waren.) Die beiden Wesen trieben nun auseinander. Die große Männergestalt stieg wie auf einer Thermikblase nach oben. Ted fuhr sich mit der Zunge über seine trockenen, tauben Lippen und hielt Marjory fest umklammert, die, wieder zu Kräften gekommen, den Kopf an seine Brust preßte, als ob sie an dem Schauspiel teilhaben wollte. Doch ihre Augen blieben ge schlossen. Duane sagte: »Laß sie nicht näher an dich ran, Ted! Kannst du ihre Stachel sehen? Damit versuchen sie, dir in den Nacken zu stechen. Bei Puff ist es ihnen gelungen. Daraufhin wurde sie ganz kalt...« Duane schnappte aufgeregt nach Luft. »Und die Haare fielen ihr aus. Dann hörte sie auf zu atmen. Ehrlich, das schwöre ich. Sie hat einfach zu atmen aufgehört und blieb trotzdem auf den Beinen. Ja, sie sprach sogar weiter mit mir, so, als wäre sie gar nicht tot.« Vielleicht verzichte ich doch auf ihn.
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Daß er Bescheid weiß, tut nichts zur Sache. Wandel ihn ruhig um; dagegen wird er kaum was ausrichten können. Wie gedenkst du an das Mädchen ranzukommen? Vergiß nicht, daß du dem Mann gegenüber einen Nachteil hast. Die zerklüfteten Felsen... Das überlasse ich Marjory. Paß auf! »Ich weiß nicht, was Sie mit Marjory zu schaffen haben, aber wenn Sie einen Funken Mitgefühl haben, helfen Sie mir viel leicht, das Mädchen aus der Höhle zu bringen, damit sie in ein Krankenhaus kommt, bevor...« Die Frauengestalt lächelte freundlich, doch ihre Augen, die vorhin noch so scharf und leuchtend waren, wurden mit einem Male ganz trübe. Es schien, als hörte sie nicht hin, als würde sie Ted überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Marjory riß sich von ihm los und trat schwankend an den Rand des Felsvorsprungs. »Birka!« »Hier bin ich, Liebling. Streck die Arme aus.« Ted versuchte verzweifelt, das Mädchen festzuhalten, doch plötzlich war sein Verstand wie durch einen Kurzschluß lahmgelegt. Sein Wille war blockiert und ihm blieb nichts an deres übrig, als den Blick langsam auf die Männergestalt zu richten, die derartig grausam auf ihn niederstarrte, daß sein Herz zu versteinern und sein Mark aus den Knochen zu fließen drohte. Ich dachte mir, daß du vielleicht ein wenig Hilfe gebrauchen könntest. Danke. Fixiere ihn noch ein wenig, während ich... Theron, Vorsicht! Birka hatte Marjorys zitternde Hände schon mit den Finger spitzen erreicht, als sich Duane, auf dem Felssims kauernd, von den Knien erhob, die von Ted in einen Spalt gesteckte Fackel aus der Wand riß, von der Kante absprang und, eine rauchend rote Leuchtspur hinter sich herziehend, durch den 351
Schwarm der Motten flog und auf Therons Rücken landete. Theron wußte sich momentan nicht zu helfen und schwankte stumm hin und her. Duane nutzte dessen Verblüffung und klammerte einen Arm um seinen Hals. Funken fielen auf das kostbare Gewand, das beide in die Luft trug, und plötzlich lo derte eine helle Flamme auf, die dem Jungen ins Gesicht schlug. Schreiend verlor er den Halt und stürzte kopfüber ins Wasser. Ted befreite sich aus Therons Hypnose und wollte Marjory zurückzerren. Zu spät. Birka hielt sie in den Armen und trug sie fort. Hilf mir... Ich steh' in Flammen! Ich brenne selbst. Motten, dachte Ted und starrte auf Theron, der sich auf schrumpelnden, versengenden Schwingen in der Luft zu halten versuchte. Birka entfernte sich von dem Felsvorsprung, auf dem sie stand, staunend über ihre Kraft, mit der sie Marjory davontrug — auf Flügeln, die so leicht zu zerstören waren. Überdimensionale Motten, was anderes sind die beiden nicht; und das Schlimmste, was Motten passieren kann, ist, in die Nähe offenen Feuers zu kommen. Aber Marjory war fort, und was konnte er nun tun? Die Luft roch nach verbrannter Haut. Theron sackte ab, verfehlte die Felskante um Haaresbreite und zog einen Schweif aus glimmenden Seidenfäden hinter sich her. Ge räuschlos tauchte er im schwarzen Wasser unter, aus dem fast gleichzeitig Duanes Kopf wieder zum Vorschein kam. Ohne das Licht der Fackel, die nun erloschen in der Hand des Jungen steckte, hatte sich die Beleuchtung der Höhle auf das grünliche Glimmen der Motten reduziert. Ted durchwühlte den Rucksack auf der Suche nach weiteren Fackeln. Weiter unten zappelte Theron im Wasser herum, die Lippen fest aufeinandergepreßt, die Augen voller Wut. Ted entzündete eine frische Fackel, die zischend rotes Licht versprühte. Verzweifelt versuchte Theron, sich an Duane festzuklam 352
mern, doch der Junge entkam ihm in panischer Hast, und der Alte versank vor Teds Augen. Ihm, Ted, fiel nun auf, daß sein Atem in der Kälte, die von den beiden mitgebracht worden war, dampfend kondensierte, doch als die Frauengestalt ge sprochen hatte, war kein Hauch von ihr zu erkennen gewesen. Jetzt wußte sich Ted den Untergang der Männergestalt zu er klären: Ohne Luft in den Lungen erging es ihm und seinesglei chen im Wasser wie Steinen. Trotzdem wartete Ted gespannt darauf, ob der Kopf des Alten nicht doch wieder auftauchen und seine Vermutung widerlegen würde. Dann rief er Duane zu: »Marjory wird gleich ins Wasser fallen. Du mußt sie ret ten!« Ted zündete eine zweite Fackel, nahm Maß auf Birka, die langsam wie ein Ballon im Wind davontrieb und Marjory of fenbar an der Taille umschlungen hielt, was aber Ted aus der Entfernung nicht genau zu erkennen vermochte, zumal die beiden ein Schwarm von Motten umflatterte. Die glühten wie eine grüne Gewitterwolke dicht unter den bizarren Tropf steinformationen. Das Wasser darunter schien tief genug zu sein. Ted wußte, daß er Marjorys Leben aufs Spiel setzte. Doch was blieb ihm anderes übrig? Ted schleuderte die Fackel mitten in die Wolke hinein, sah die Motten nach allen Seiten auseinanderstieben. Manche verpufften in kleinen Flammen, entfacht von der Hitze, die um sich griff, als das dünne Gewand der Frauengestalt Feuer fing und lichterloh verbrannte. Sekunden später waren von den schillernden Schwingen nur noch ein paar Ascheflocken sowie ein übler Gestank zurückgeblieben. Eng umschlungen stürzten Birka und Marjory in die Tiefe. Unmittelbar nach dem klatschenden Eintauchen ins Wasser wurde es grabesstill. Ted hate sich inzwischen die Jacke vom Leib gerissen und die Schuhe abgetreten. Nun schnallte er auch noch den Revol verhalter ab, schlüpfte aus der Hose und sprang vom Felsen, mit den Füßen voran, wie er es vorsichtshalber immer tat, wenn er in unbekannte Gewässer eintauchte. Das Wasser war kälter als befürchtet. An die Oberfläche zurückgekehrt, 353
schnappte er keuchend nach Luft und kraulte, so schnell er konnte, auf die Mitte des Höhlensees zu. »Ich kann nichts sehen!« brüllte Duane, und seine Stimme hallte durch den weiten Raum. »Meine Brille ist weg. Ich weiß nicht, wo sie sind.« Theron, wo bist du? Ick bin im Wasser und versinke. Hilfe... »Duane! Ich komme!« Hilf mir, Theron! Laß das Mädchen los, Birka! Mit kräftigen Armzügen pflügte Ted durchs Wasser und stieß mit Duane zusammen. Für eine Weile traten sie schnaufend im Wasser auf der Stelle, vis -a-vis das Licht der schwirrenden Motten. Ganz zart und schummrig war das Leuchten Hunderter von Faltern, die sich dicht über der Wasseroberfläche und nur wenige Meter von den Schwimmern entfernt zu einer quellenden Sturmwolke zusammendrängten. Die von den Flügeln aufgerührte Luft wehte kalt über die Köpfe der beiden. »Hier... hier muß es sein, wo sie untergegangen sind.« Ted antwortete nicht. Er holte ein paarmal tief Luft und tauchte, wie ein Frosch mit den Beinen schlagend, in tintenschwarze Tiefe. Kurz darauf stieß er mit der linken Schulter gegen einen harten, scharfen Gegenstand, einen Stalagmiten vielleicht, aber in der undurchdringlichen Dunkelheit packte Ted schiere Panik; er wirbelte herum und zerschürfte dabei seine Haut über den Rippen. Auf der anderen Seite des Tropfsteins, gegen den er geprallt war, schimmerte hell wie Mondlicht eine Lichtsäule tief hinab ins trübe Wasser, und über den Grund fielen die Schatten anderer Stalagmiten. Ein Unterwasserwald aus bizarr geformten Steinkegeln. Ted wähnte sich in einem riesigen Aquarium. In dem unwirklichen, gespenstischen Licht sah er eine winkende Hand zwei, drei Me 354
ter unter sich, die wie ein seltsam gestalteter Fisch anmutete und verschwand, als Ted darauf zutauchte. Der Druck auf den Ohren wurde unerträglich, außerdem war er körperlich schlecht in Form. Er brauchte unbedingt Luft, und es schien, als füllte sich sein Hals mit flüssigem Feuer. Tut mir leid, kleine Marjory... ich kann dich nicht länger halten. Schade drum. Du mußt sterben... und wir werden uns nie näher kennenlernen. Ted spürte, wie etwas sein Fußgelenk zu umschlingen ver suchte. Vor Schreck trat er hektisch aus und verbrauchte kost baren Sauerstoff. Es war Duane. Er deutete entschieden in eine andere Rich tung und strebte mit kraftvollem Armeinsatz auf einen der Stalagmiten zu, der wie eine Bergspitze aus schwarzer Nacht aufragte. Ted sah noch eine Turbulenz im trüben Wasser, mußte dann aber schleunigst zurück zur Wasseroberfläche. Theron ...du versinkst... warum? Uns fehlt... die Luft. Halt dich irgendwo fest. Ich sehe nichts. Es ist so dunkel... schlimmer als im Schwarzen Schlaf. Rette mich, Theron! Teds Kopf durchstieß die Oberfläche dicht unter dem eisigen Wirbel der Motten, von denen ihm eine vor die Stirn klatschte und kleben blieb. Sie war noch kälter als das Wasser und schmerzte wie ein Brandmal auf der Haut. Die Glieder waren ihm bleiern schwer geworden, und so gierig er auch nach Luft japste, schien es, als könne er die Lungen nicht mehr füllen. Duane war immer noch unter Wasser. Ebenso Marjory. Und dort würden sie auch enden, wenn sie länger blieben. Ted wußte: Allein die Kälte war tödlich; zuerst versagte der Orientierungssinn, dann setzten die Antriebskräfte aus. Voller Angst und verärgert über die eigene Schwäche, preßte Ted 355
die Lippen aufeinander und faßte allen Willen zusammen, um wieder hinabzutauchen. Theron... bitte... ANTWORTE MIR! In vier Metern Tiefe, am Rand des Lichts: Ted konnte weder Marjory noch Duane finden. Wie lange waren sie nun schon unter Wasser? Wild entschlossen drängte Ted auf einen schimmernden Tropfstein zu, eine verdrallte Felssäule, die ihm bislang noch nicht aufgefallen war. Er müßte tiefer tauchen doch was würde es nützen? Vom schwarzen Grund stiegen keinerlei Luftblasen auf. Und wären die nicht zu sehen, wenn Duane dort hinabgedrungen wäre? Ted orientierte sich ins trübe schimmernde Licht, das kaum mehr war als ein in dunkler Arena brennendes Streichholz, und stieß sanft mit einem nackten Fuß zusammen. Ted merkte auf und sah an der wulstigen Flanke des Tropfsteins zwei Gestalten langsam höhertreiben: Duane hielt Marjory bei den Haaren, schien aber völlig erschöpft zu sein und kaum mehr in der Lage, die Oberfläche zu erreichen. Schon drohte Marjory seiner Hand zu entgleiten, als Ted herbeieilte, den schlaffen Arm des Mädchens um die Schulter legte, und mit der freien Hand dem Jungen zu verstehen gab: Laß sie los; ich hab' sie. Ihre Augen waren geschlossen; das Gesicht wirkte entspannt. Tot? Mit aller Macht durchstieß er das Wasser und schöpfte Hoffnung, da Marjorys Körper noch Auftrieb spüren ließ. Wenn sie, bewußtlos, wie sie war, noch nicht zuviel Wasser geschluckt hatte, wenn ihr Gehirn der eisigen Kälte widerstand, war die Rettung möglich. Entlang der Tropfsteinsäule, die bis dicht unter die Ober fläche reichte, glitt Duane zügig aufwärts. Kaum daß er Luft geschöpft hatte, tauchte er wieder ab, um Ted zu helfen, und gemeinsam schafften sie es endlich, den Kopf des Mädchens aus dem Wasser zu hieven. Die kurzen blonden Haare klebten Marjory im Gesicht, das im Mottenlicht grün schimmerte wie die Haut einer Wassernymphe. 356
»Auf den Rücken mit ihr!« keuchte Ted. »Und rüber an den Felsrand!« Er hielt einen Arm des Mädchens gefaßt, Duane den ande ren. Mit synchronen, schwerfälligen Schwimmbewegungen zogen sie es durchs Wasser. Die Strecke zum Höhlenrand schien unendlich weit zu sein, doch schließlich erreichten sie die Klippe, wo ihnen das rote Licht der Fackel merklich warm entgegenschlug. Mit letzter Kraft zerrten sie Marjory auf den Fels. Da lag sie nun auf dem Rücken, ausgestreckt wie eine Leiche. Im bleichen Gesicht zeigte sich keinerlei Regung. Ted öffnete eins ihrer Lider, unter dem eine starre Pupille zum Vorschein kam. Während Duane sie zu beatmen versuchte, massierte Ted ihr Herz, zählte die pumpenden Stöße, geriet aber bald mit der Zeit durcheinander. Zehn kostbare Minuten waren das Minimum. In den Zwischenpausen, wenn er sie nicht beatmete, ließ Duane ungehemmt die Zähne klappern und fixierte Ted mit stierem Blick. Marjory? Es tut mir leid, so leid, daß wir nicht zusammen sind. Es ist dunkel hier unten, aber irgendwie anders als in der schrecklichen Finsternis, die uns befällt, wenn wir von Würgeranken gefesselt sind. So tief hat's mich hinabgezogen, daß ich keinen Finger mehr rühren kann. 0 weh, wie lange werde ich hier ausharren müssen? Auf ewig womöglich? Mir ist bange vor der Ewigkeit, so ganz allein und ohne Theron. Ich kann ihn nicht finden. Was haben sie ihm angetan? Marjory, ich spüre, daß du noch in meiner Nähe bist. Und darum weiß ich, daß du lebst. Halte mich in Erinnerung. Vergiß nie deine Birka, die dich liebt. Duane wollte gerade wieder seine Lippe um Marjorys Mund schließen, als ein Impuls ihren Körper der Länge nach durch zuckte. Ted schreckte zurück. Eine Hand flog hoch, und der Kopf richtete sich so ruckartig auf, daß Duanes Lippe platzte. Ihr Gesicht verzerrte, und aus der Kehle drangen gurgelnde Laute. Dann sprudelte ein Schwall brackigen Wassers aus ihr heraus, und hätte Ted sie nicht festgehalten, wäre sie, ge schüttelt vom krampfenden Würgen, zurück ins Wasser gefal len. 357
»Uuuaaah. Uhhh!« »Marjory...!« »Sie atmet!« »Und ich hatte schon geglaubt...« schluchzte Ted und schlang die Arme um Marjory. Sie versuchte zu sprechen, plapperte aber nur unzusammenhängend daher. Ted fürchtete, daß ihr Gehirn Schaden genommen haben könnte; doch ihre Lungen arbeiteten wieder, und das Herz schlug. Noch ist es nicht zu spät, dachte er. Wann kommt Vedders endlich zu rück? Hat er sich womöglich verirrt? Marjory sackte in sich zusammen, die Lider waren halb ge schlossen. Mit grimassenhafter Miene hob sie den Kopf und schaute über den Teich, über dessen geriffelter Oberfläche die Motten wie Möwen aufgebracht umhersegelten. »Birrr-ka!« »Es ist alles gut, Marjory. Sei nur still. Bald kommt Hilfe, und dann schaffen wir dich hier raus.« »Ted«, sagte Duane mit schrillem Tonfall. Ted hielt Marjory immer noch umschlungen, drehte den Kopf und sah Theron langsam aus dem Wasser auf sie zusteigen. Auch Marjory starrte ihm über Teds Schulter hinweg aus glasigen Augen entgegen. Ihr Mund war weit aufgesperrt, doch ihr Schrei tönte kaum lauter als das Fiepen einer Maus. Theron hielt inne. Der knöcherne, kahle Schädel ragte auf, und die fast lidlosen Augen lagen tief in marmornen Höhlen. Über den Felsvorsprung langte tastend eine weiße Hand: drei Finger und ein glänzend schwarzer Stachel. Ted erzitterte, und Marjory, die steif in seinen Armen lag, hörte nicht auf zu fiepen. Theron, wo bist du? Hilf mir, hilf! Nein. Du bist selber schuld, Birka. Bleib, wo du steckst, bis ich bereit bin, dir zu verzeihen. Ted löste einen Arm von Marjory und langte nach dem ge halfterten Revolver, auf dem er saß. 358
Theron erklomm nun langsam den Uferrand, starrte in die Mündung der vernickelten Waffe und richtete die Stachelhand auf in einer Geste, die Überlegenheit und Verachtung zum Ausdruck brachte. »Menschen«, sagte er. »Ich habe keine Angst, benötige aber eure Hilfe. Für eine Weile nur.« »Unsere Hilfe? Wozu?« Vor Erschöpfung konnte Ted kaum sprechen, geschweige denn mit einem Monstrum fertig wer den. »Ted«, sagte Duane. Seine Stimme war matt und müde. »Es gibt noch mehr... von denen. Wie Mumien liegen sie in der Höhle. Ich hab' sie gesehen. Manchen sind Ranken umge bunden... um den Hals. Sie brauchen uns... damit wir sie losbinden.« »Wer oder was sind Sie?« »Wir haben viele Namen; zum Beispiel nennt man uns das Huldufölk. Die eine oder andere Kugel mag mich zwar für eine Weile entstellen, richtet aber darüber hinaus keinen Schaden an, ist nicht einmal schmerzhaft.« »Woher kommen Sie... Sie und das ganze Huldufölk?« »Genaugenommen aus dem Paradies.« »Das liegt weit weg. Ich kann Ihnen allerdings nicht so recht glauben, auch nicht, daß Ihnen eine Kugel nichts anhaben sollte.« »Tja, du bist halt ein bornierter Bauer. Dein junger Freund — Duane, stimmt's? — ist sehr viel intelligenter. Hör zu, Dummchen: Mein Name ist Theron. Ich bin der älteste der vier und Oberhaupt des Huldufölks. Heute ist nicht mein Tag, aber wie du siehst, bin ich unsterblich, und selbst an schlechten Tagen fehlt es mir nicht an Kraft, dir mit zwei oder drei Hieben sämtliche Knochen im Leib zu zerschmettern. Mit der flachen Hand. Aber es geht auch einfacher. (Sei still, Birka!) Ich kann dich dazu bringen, daß du die Felswand hochkletterst und so lange an einem Finger unter der Decke baumelst, bis du zu Tode stürzt. Du machst einen ziemlich müden Eindruck auf mich. Ich bezweifle, daß du noch genug Kraft hast, das Ding da abzudrücken. Wie sagt man dazu? 359
Ach ja, >Revolver<. Nur zu. Versuch's. Sieh zu, wieviel Kraft du noch gegen mich aufzubieten hast...« (Birka, ich warne dich! Du kennst mich offenbar nicht gut genug. Ich kann sehr hart sein. Es gibt schlimmere Strafen als die, ein oder zwei Jahrhunderte im tiefen Wasser zu verbringen. Birka, nein! Du verdammtes Luder!) Marjory ließ den Kopf hochschnellen, starrte auf den Teich und horchte aufmerksam. »Ted«, sagte sie ausgesprochen deutlich, aber mit einer Stimme, die gar nicht zu ihr paßte. »Ziel auf den Stachel seiner Hand.« Mit teuflischer Grimasse sprang Theron auf sie zu und holte mit der Rechten zum Schlag aus. Ted drückte ab. Der erste Schuß traf Theron mitten in die Hand und bremste die Wucht, die auf Marjorys Gesicht zielte und ausgereicht hätte, ihr den Schädel zu zertrümmern. Ein zweitesmal krachte es, und das aufblitzende Mün dungsfeuer ließ die Gestalt des Unwesens noch mächtiger, be drohlicher erscheinen. Die Kugel durchschlug das rechte Auge; der Kopf schnackte zurück, und fast wäre Theron vom Felsrand gestürzt. Seine Arme ruderten in der Luft herum, als versuchte er, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Ted sprang auf, beugte sich über Marjory, stieß den kurzen Lauf seiner Smith gegen Therons rechte Hand und drückte er neut ab. Das Geschoß kappte alle drei Finger über dem zwei ten Gelenk und zersplitterte den tückischen Stachel. Für Sekunden war Theron wie versteinert. Seine affenarti gen Zehen umklammerten den Fels, während er mit dem ver bliebenen Auge auf die verwüstete Hand starrte. Wo der Sta chel gesteckt hatte, quoll aus einer Wunde zähe, halb gefrorene Flüssigkeit, schwarz wie Erdöl und von einem Gestank, der übler war als Verwesung. Immer heftiger spritzte es daraus hervor. Ted duckte sich und hielt schützend die Arme über Marjory, würgte angewidert vom ekligen Gestank, der die teuflische Essenz der Verdammnis verströmte. Theron krümmte sich in Agonie, die Knochen knackten wie Reisig, sein Leib schrumpfte und verlor alles Menschenähnliche. Das rötliche Licht überstrahlte nun ein freundlicherer 360
Glanz, der von den Motten herableuchtete, die sich über dem Felsabsatz zu einer flirrenden Kuppel formiert hatten, grün wie alles Gewächs, mit dunklen Markierungen, die wie Tieraugen aus grünem Dickicht hervorspähten in Erwartung weiteren Unheils. Der Gestank verflüchtigte sich allmählich, während Theron auf glühendem Fels zerfiel. Sein ehemals massiger Kopf verformte sich wie zu einem Spaten und schlenkerte hin und her. Am Ende war nichts von ihm übriggeblieben als eine farb lose Schlange. Schlaff und reglos lag sie da, bis Ted sich zit ternd erhob und sie mit einem Fußtritt in den Teich beförderte. Das Wasser schäumte schillernd auf, als die Schlange langsam nach unten sank und aus den Blicken verschwand. Zu dritt kauerten sie auf dem schmalen Felssims. Plötzlich fiel ein sonnenheller Lichtstrahl durch das geschlagene Loch in der Quarzwand hoch oben und huschte suchend über das stille Wasser. Erst jetzt bemerkte Ted, daß die Motten weggeflogen waren. Er hörte Stimmen, glaubte, der Rettungstrupp sei eingetroffen, und gab Marjory einen aufmunternden Knuff. Sie rührte sich, seufzte, sagte aber nichts. Duane starrte immer noch auf die Stelle im Wasser, an der die Schlange untergegangen war. Gebannt wie von einem rät selhaften Zauberkunststück, versuchte er, dem Geheimnis der vermeintlichen Sinnestäuschung auf die Spur zu kommen, ob wohl ihm im Grunde klar war, daß der Spuk noch längst nicht vorbei sein konnte. Theron lebte weiter, irgendwo, in irgendeiner Gestalt. Und sie alle würden noch teuer bezahlen müssen, für das, was sie ihm angetan hatten.
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Oktober 1970 Alastor und Enid 15. Okt. 1970 Hallo, Duane, ich bin's wieder! Es ist kaum zu fassen, nicht wahr? Zuerst Jimi Hendrix und jetzt Janis. Als ich davon hörte, bin ich zu Rita Sue rübergefahren und hab' mir meine Joplin-Platten zurückgeholt. Klar, daß sie allesamt zerkratzt sind. Rita Sue behauptet, die Kratzer seien schon drauf gewesen. Eigentlichdürfteichihrniemehrwasleihen,aberman lernt einfach nicht dazu. Ich wollte die ganze Nacht über Musik von Janis hören und dazu ein paar Weihrauchstäbchen abbrennen, du verstehst. Es sollte keine Totenwache werden, sondern ein spirituelles Erlebnis, eine Nacht, an die ich mich für den Rest meines Lebens erinnern würde. Tatsächlich habe ich es nicht einmal geschafft, >Summertime< bis zum Ende zu hören, was nicht heißen soll, daß ich eingeschlafen wäre, obwohl ich in letzter Zeit immer ziemlich-müdebin,müderals müde. Ich habe aber nichts wirklich tief Bewegendes verspürt, außer einer gewissen Traurigkeit, die sich auch dann einstellt, wenn die Frau des Briefträgers gestorben ist. Ich weiß nicht, ob's der guten Janis vorzuwerfen ist, sang-und klanglos abgetreten zu sein, oder ob an meiner Trauerfähigkeitwasnichtstimmt. Seit meiner Kleinmädchenzeit beschäftigt mich das starke Gefühl, daß es ungeheuer viele Menschen auf Erden gibt, die ich wahrscheinlichnietreffenwerde und mir dennoch näherstehen als zum Beispiel meine Schwester, im geistigen Sinne, meine ich. Seelengeschwister. Manchmal kriege ich eine Gänsehaut, höre Stimmen oder sehe Gesichter von so berühmten Personen wie Janis (bisweilen auch von weniger berühmten mit den Initialen D. E.). Als ich das erstemal Janis hörte, dachte ich: He, die ist genau wie du! Irgendwie hausbacken, ein bißchen verrückt und stinksauer über all die Gemeinheiten in der Welt, gegen die man zwar nicht ankommt, aber trotzdem so laut wettern sollte, daß jeder die Ohren aufsperrt. Genauso denke und empfinde ich auch, und genau das würde ich ausdrücken wollen, wenn ich singen könnte. Ich habe ihr mal Briefe geschrieben, aber Du weißt, wie das ist: Man kriegt ein Foto zurück, das wahrscheinlich ein anderer unterschrieben hat und auf dem sie so aussieht, als hättesiedieHaarenochnicht richtig durchgekämmt. Egal. Was für mich gezählt hat, war der spirituelle Aspekt, das Bedürfnis, meine Zuneigung zum Ausdruck zu
bringen, und die Hoffnung, daß ihr meine guten Wünsche irgendwie zuträglich sind, auch dann, wenn sie kaum Kenntnis davon nimmt. Aber ich fürchte, daß meine winzige Gabe an Janis und das, was uns verbindet, viel zu wenig war. Und dieses Gefühl der Hilflosigkeit macht mich so down. Zähle ich eigentlich überhaupt? Kann ich irgendwas verändern? Was macht es schon aus, wenn ich jemanden liebe? Dir das zu schreiben, war ursprünglich gar nicht meine Absicht, Duane. Ich wußte nicht einmal, daß mir der Kopf davon voll war. Im Grunde wollte ich Dir überhaupt keinen Brief mehr schreiben. Schon zwei Briefe und drei Telefonanrufe von mir sind unbeantwortet geblieben. Vielleicht bin ich zu hartnäckig, vielleicht bedeutet es Dir nicht so viel, was zwischen uns gewesen ist (vor dieser Geschichte in Dantes Mühle). Mag sein, daß ich - wie mein Paps immer sagte - Tomaten auf den Augen hatte und nicht registriert habe, daß Du nicht anders bist als all die anderen Jungs, die nur Flausen im Kopf haben. Wie dem auch sei, beim Baseball hat man drei Versuche, also gebe ich Dir auch noch einen. Kapiert? Wenn 's diesmal nicht klappt, gebe ich auf. Ich weiß, was Janis an meiner Stelle täte, das heißt getan hätte. Sie hätte sich die Birne zugekippt und wäre nach Franklin gedüst, um Dir einen Haufen vor die Tür zu setzen. AberJanis war eben Texanerin und viel derber als die Waller-Mädchen aus Tennessee, die einen guten Ruf zu verteidigen haben. Tja, ich habe mein Geschreibe gerade noch einmal durchgelesen und beschlossen, den Flausen- Vorwurf drinzulassen. Schließlich sind wir alle nicht vollkommen, gell? Allerdings ist mir der Gedanke gekommen, daß Dein Schweigen womöglich einen anderen Grund hat. Vielleicht fürchtest Du Dich, so wie ich mich auch fürchte; vielleicht geht es Dir noch schlimmer, weil Du mit niemandem über das, was passiert ist, reden kannst. Wenn dem so ist, mein Bester, sei's drum, ich verstehe. Ich verzeih' Dir, daß Du mich nicht sehen willst, zumal auf uns (den Wallers) ein Fluch zu lasten scheint, wie es in den Zeitungen behauptet wurde. Ich weiß nicht, wie ich es sinnvoll formulieren kann. Lieber Himmel, 364
dieser Brief ist wie Kraut und Rüben. Viel leichter wäre es, wenn ich mit Dir reden könnte. Ich fange am besten noch mal von vorne an. Vielleicht empfiehlt es sich niederzuschreiben, woran ich mich erinnere und was mir so alles durch den Kopf spukt. Willst Du mir darin folgen, oder ist der Brief schon im Papierkorb gelandet? Krankenhäuser. Die sind mir unheimlich, selbst so moderne und hübsche wie das Wingo County Memorial. Darin bin ich aufgewacht, und Zwar fast genau zweiundsiebzig Stunden nach unserem Aufbruch zum Picknickausflug. Ich schätze, ich kann von Glück reden, überhaupt wieder aufgewacht zu sein. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre weggetreten geblieben. Zuerst dachte ich, mit dem Auto verunglückt zu sein. Ohne Intensivpflege hätte ich wahrscheinlich schlappgemacht. Unterkühlung, Fieberanfälle, Krämpfe, Herzstillstand - Du weißt, wovon ich spreche, denn schließlich ist es Dir nicht besser ergangen. Aber vermutlich hat Dein Herz erst ausgesetzt, als Du nach Hause gekommen bist und den Entschluß gefaßt hast, dem Fräulein Waller die kalte Schulter zu zeigen - womit wir wieder beim Thema wären. Verzeihung, vielleicht hat mein Hirn am Ende doch Schaden genommen. Bist Du noch bei der Sache? Okay. Es dauerte eine Weile, bis ich mich endlich wieder im Bett aufrichten und die neun Schritt bis zum Topf auf eigenen Beinen laufen durfte. Ted und Enid und ein paar Ärzte gaben mir nun Auskunft, zum Beispiel darüber, wie es um meine Freunde stünde: um Duane (von den Eltern in ein Privatsanatorium bei Nashville gesteckt wegen all der Satanskult-Geschichten in den Zeitungen), um Rita Sue (die eigentlich immer glimpflich davonkommt; ich glaube sogar, daß ihre hysterischen Anfälle letztendlich gut für die Haut sind) und um Boyce - auf den komme ich später zurück. Schließlich war ich wieder stark genug, um meinerseits auf die Fragen der anderen antworten zu können. Leute vom Femsehen kamen (einer von ihnen sah ganz nett aus, wie Paul Newman, abgesehen von den Mitessern - aber ich schweife ab), und ich mußte mindestens zwanzigmal dasselbe erzählen: daß ich mich in einer Höhle verirrt habe auf der Suche nach Dir
und Puff, die nach Arne Horsfall suchte, weil er ihr das Radio geklaut hatte; daß Du mich gefunden und dann mit mir ein ziemlich kaltes Bad genommen hast und daß wir schließlich gerettet wurden. Drei dumme Teens sind in einer Höhle verlorengegangen, und die arme Puff ist immer noch nicht aufgetaucht, woran Du, wie ich weiß, keine Schuld trägst. Das ist die ganze Geschichte. Dazu allerdings noch eine kleine Anmerkung: Eines Nachts habe ich mir im Krankenhaus vor Angst in die Hose gemacht, als nämlich diese TV-Verrückten in mein Zimmer gestürmt kamen, Scheinwerfer auf meine verschlafenen Augen richteten und mich eine Frau mit Mikro und Porzellanzähnen lächelnd fragte, was ich über den Massenmord an den alten Dörflern von Dantes Mühle wissen würde, über Satanskulte und das rituelle Verstümmeln von Tieren wie dem, das Boyce vor der Parkverwaltung mit einem Golfschläger allegemacht hatte. Wie sollte ich darauf antworten? Ich hatte ja keine Ahnung. Aber wer weiß, vielleicht geistern mir in letzter Zeit deshalb so krause Vorstellungen durch den Kopf, vielleicht haben sich Rita Sue und Boyce deshalb getrennt, und womöglich haben all diese Fragen auch damit zu tun, daß Boyce nicht in Form ist (im letzten Spiel hat er fünf Punkte verschenkt, und so sind wir gegen Waynesboro mit neunzehn zu null badengegangen). Und noch eine kleine Anmerkung, auch auf die Gefahr hin, daß ich wieder abschweife. All die wichtigen Leute, die so beeindruckende In itialen vor und nach ihrem Namen tragen, weil sie als Idioten um einiges qualifizierter sind als das gemeine Volk - all diese Leute behaupten jetzt, daß es sich bei dem besagten Tier um ein armes mutiertes Albinobärchen gehandelt habe, das von der Mutter verstoßen worden und auf der Suche nach Nahrung in das Haus der Parkverwaltung gekommen sei. Anstelle der Bärenmutter hätte ich mich ähnlich verhalten. Ich sag' Dir was, Duane; aber behält's für Dich: Keiner weiß Bescheid, und dank der In kompetenz eines Experten, der die Überreste in einem Plastiksack weggeschafft und >verlegt< hat, werden wir nie erfahren, was eigentlich Sache ist. Stimmt's? Rita Sue meint, ich könne froh darüber sein, daß ich anderenorts fast ertrunken bin und nicht
mitansehen mußte, was sie gesehen hat. Aber ich habe Neuigkeiten für Rita Sue: Mir ist inzwischen viel Schlimmeres zu Augen gekommen. Und Du bist der erste, dem ich es anvertraue, denn irgendwie vertraue ich Dir doch noch und hoffe, Du hältst mich nicht für verrückt. Du weißt von Arne Horsfall und den Umständen, unter denen Enid ihn kennengelernt hat. Als er verschwand, machte sie sich schreckliche Vorwürfe, als trage sie die Schuld daran. Was ihm im Wald von Dantes Mühle passierte, ist entsetzlich. Mir will nicht in den Kopf gehen, daß es Menschen gibt, die zu solchen Verbrechen wie an Mr. Horsfall oder dem Typen aus Florida, mit dem Puff unterwegs war, fähig sind. Aber Enid gibt sich auch dafür die Schuld, unter der sie wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens leiden wird. Sie hat in der Anstalt von Cumberland einen Gedenkgottesdienst für Mr. Horsfall gehalten und war anschließend absolut runter mit den Nerven. Erholt hat sie sich immer noch nicht. Ich muß sie zum Essen zwingen und ihr jedes Wort aus der Nase Ziehen. Auch zur Arbeit geht sie nicht mehr. Der Wäschekorb verrät, daß sie äußerst selten ihre Höschen wechselt. Und das ist in ihrem Fall höchst alarmierend. Sie schläft - ungelogen -fünfzehn bis sechzehn Stunden am Tag, kommt nicht raus aus ihrer Bude und hat Türen und Fenster verrammelt. Ich mußte ihr ein paar Dutzend Kohlestifte und fünf Dosen weißer Schuhcreme aus dem Supermarkt besorgen - wofür, das werde ich noch rauskriegen. Ted, der Ärmste, hat sich enorm viel Mühe mit ihr gemacht, aber seit gestern die Segel gestrichen. Er ist weggefahren. Zur Jagd, wie er behauptet, dabei fängt die Jagdsaison doch erst im November an. Vorwürfe kann ich ihm jedoch nicht machen. Er hält es in Enids Nähe einfach nicht mehr aus. Genug Geld hatten wir Wallers zwar noch nie, aber wenn mir der Job im Kinderladen nicht angeboten worden wäre, müßten wir jetzt am Hungertuch nagen. Und ohne Strom auskommen. Enid läßt das alles kalt. Ich hoffe, Dich nicht allzusehr zu langweilen, und will mit diesen Bemerkungen eigentlich nur sagen, daß ich mir furchtbare Sorgen mache, Enid könnte einen Nervenzusammenbruch erleiden.
Der Herbst steht vor der Tür, und es ist schon ziemlich kalt bei uns. Aber Enid liegt die ganze Zeit auf dem Bett, ohne sich zuzudecken, hat -wenn überhaupt - nur ein dünnes Nachthemdchen an und alle Fenster offenstehen. Ich schleiche oft auf Zehenspitzen zu ihr rein und mache die Fenster zu, doch eine Stunde später sind sie wieder geöffnet. Ihr Teint ist ungepflegt, die Haare fallen aus. Heute war das Waschbecken wieder voller Strähnen. Noch vor einem Monat hätte meine Schwester jede MißWahl gewonnen. Besorgt bin ich nicht nur um ihr Aussehen. Vorgestern nacht (ich konnte wieder mal nicht schlafen) wollte ich nach ihr sehen. Sie war nicht in ihrem Zimmer. Vielleicht ist Dir aufgefallen, daß Voll mond war. Um eins in der Früh schien er hell in den Garten. Und da streunte sie mit den Katzen umher, trug keinen Fetzen am abgemagerten Leib, und ihre Haare waren total zerzaust. Wie weggetreten gaffte sie in den Himmel. Vielleicht ist es falsch von mir, einfach nur darauf zu warten, daß sie sich wieder von alleine fängt. O Gott, vielleicht wäre es richtiger, sie in die Heilanstalt einweisen zu lassen. Kann sein, daß Du mir das gleiche rätst, wenn ich Dir nun erzähle, was ich vergangene Nacht gesehen habe. Du weißt, Enid hat früher in der Anstalt einen Malkurs gegeben. Aus der Zeit stammt ein Porträt, das Arne Horsfall gemalt hat. >Porträt< ist eigentlich nicht das richtige Wort. Das Bild stellt vermutlich eine Frau dar - ohne Haare oder Augenbrauen. Ihr Gesicht ist weiß und wahrscheinlich mit weißer Schuhcreme gemalt worden. Die blaßblauen Augen sind die einzigen Farbflecke im Bild. Sie hat beide Hände vor den Kopf geschlagen und scheint zu schreien, wie von Sinnen. Mehr ist nicht zu sehen. Oder doch; fast hätte ich's vergessen. Der kleine Finger einer Hand ist schwarz und wie ein Dorn angespitzt. Ich hasse das Bild. Als ich es das erstemal sah, bekam Enid von mir zu hören, daß sie es besser weggeworfen hätte. Aber es hängt immer noch in ihrem Zimmer, und Enid hat inzwischen selber mindestens sechzehn Gemälde produziert, die ganz ähnlich sind, wenn auch in der Ausführung sehr viel besser. Alle stellen diese nackten,
haarlosen, weißgetünchten Typen dar, um die (ich hoffe, Du erschrickst nicht) Hunderte von Lunamotten herumschwirren! Du erinnerst Dich doch an den Abend, als wir draußen auf dem Hof nach Kokons gesucht haben? Bilder davon dekorieren jetzt das ganze Haus, es sei denn, Enid hat sie zu anderen Zwecken gemalt. Mich quälen Alpträume: von Höhlen, von SchuhcremeGestalten, die darin liegen. Aber diese Gestalten sind nun nicht mehr weiß, sondern pech-schwarz, vermutlich deshalb, weil sie verbrannt sind wie meine Eltern. Von diesen Träumen erwache ich am ganzen Leibe zitternd, Duane, und bis ich wieder einschlafen kann, vergehen Stunden. In den vergangenen zwei Wochen bin ich sechsmal von diesen Schauerbildem aufgeschreckt worden, die mich auch schon im Krankenhaus geplagt haben. Letzte Nacht hatte ich zur Abwechslung mal einen ganz anderen Traum, und obwohl ich mich schäme, muß ich Dir davon berichten. Als ich nach meinen deprimierenden Gedanken an Janis endlich eingeschlafen war, träumte ich, nackt zu sein und über eine eigentümliche, kahle Landschaft hinwegzufliegen, die aus Vulkanen und Gletschern bestand. Ich flog in einer Gruppe von Schuhcreme-Gestalten (weiß), die alle zu meinen Freunden zählten. Zu Anfang war der Traum gar nicht so übel; Fliegen macht Spaß. Problematisch ist nur, daß der liebe Gott uns nicht mag. Warum nicht, entzieht sich meiner Kenntnis. Auf jeden Fall war er wütend, und das Wetter schlug um. Ringsum zuckten Blitze über den Himmel, und plötzlich bin ich ganz allein. Meine Freunde sind verschwunden. Mit einem Male weiß ich nicht mehr, wie man fliegt. Aus allen Wolken zu stürzen, macht keinen Spaß!! Die Vulkane sind weg; ich sehe unter mir nichts als Bäume, falle durch das Laub hindurch und pralle auf, bin aber nicht etwa tot. Ungelogen. In Träumen stirbt man nicht, oder? Trotzdem geht es mir ziemlich dreckig. Ich kriege keine Luft mehr, und als ich wieder zur Besinnung komme, bist Du da! Der gute, alte Duane. Wir befinden uns offenbar in den Tropen zwischen Palmen und
exotischen Tieren. Giraffen. Große, gefleckte Katzen lauern im hohen Gras. Die Sonne scheint sehr hell und macht mir angst,warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil sie mich zu verbrennen droht. Allerdings liege ich im Schatten, flach auf dem Rücken. Ich sehe alles, kann mich aber nicht bewegen. Ich bin wie vereist: Zehen, Finger, Tittchen, einfach alles; schockgefroren, kann ich nicht mal atmen. Mein Hals steckt in einer würgenden Schlinge, doch Du befreist mich davon. Es ist eine grüne Ranke, Duane. Du läßt sie schnell in Deiner Hosentasche verschwinden, als sie sich plötzlich in eine Schlange verwandelt, was ich nicht sehen soll... Und dann wache ich am äußersten Bettrand auf, dicht an die Wand gedrängt, und ich war... nein, das eigentlich Peinliche werde ich Dir nicht verraten. Das war letzte Nacht oder vermutlich heute früh. So gegen drei Uhr. Wenn ich von >Aufwachen< spreche, so ist das nur zum Teil richtig, denn irgendwie döste ich weiter. Ich ging ins Badezimmer, um einen Schluck zu trinken. Da hörte ich Enid in ihrem Zimmer. Sie redete, vielleicht auch jemand anders. Die Stimme klang reichlich kindisch. Ich schlich den Korridor entlang, und je mehr ich mich ihrem Zimmer näherte, desto kälter wurde mir. Ich atmete kleine Dampfwölkchen aus. Als ich schließlich die Zimmertür öffnete, schlug mir eiskalte Luft entgegen. Ehrenwort. Und es war nebelig wie in einer Kühlkammer für Fleischwaren. Die Fenster standen wie gewöhnlich sperrangelweit offen. Enid lag auf dem Bett, schien aber nicht zu schlafen, sondern ohnmächtig zu sein. Plötzlich bewegte sich etwas, und ich sah dieses Etwas vom Boden zu Enid ins Bett springen. Es war in ein Laken gehüllt und hüpfte zweimal auf und ab. Himmel, was habe ich mich erschreckt! Vom Bett aus flog es mit einem Satz aufs Fensterbrett, wobei das Laken verlorenging. Ich sah das Unding, das einem von Enids Porträts entsprungen zu sein schien, noch ein paar Sekunden lang mit den Händen - oder Pfoten - am Sims hängen; dann verschwand es wie ein weißer Blitz in der Dunkelheit hinterm Haus. Noch so ein mutiertes Albinobärchen? Oder gar
Schlimmeres? Zu dem Zeitpunkt war ich hellwach, konnte aber nicht glauben, was meine Augen da gesehen hatten. Ich bin so sehr an den Anblick dieser scheußlichen Gemälde von Enid gewöhnt, daß sie mich sogar im Traum verfolgen und wahrscheinlich schon fest in meinem Bewußtsein verankert sind. Darum kann ich nicht mit Gewißheit sagen, ob das, was ich zu sehen glaubte, wirklich geschehen ist. Auf jeden Fall hatte ich große Mühe, Enid aufzuwecken. Es scheint, als würde sie von Tag zu Tag ein bißchen mehr von uns abrücken. Duane, es ist alles so schrecklich! Womit haben wir das verdient? Heute abend werde ich mich mit dem Schlafsack in Enids Zimmer legen und auf sie aufpassen. Vor allem werde ich dafür sorgen, daß die Fenster geschlossen bleiben. Falls es ihr immer noch nicht bessergehen sollte, wenn Ted von seinem Jagdausflug zurückkehrt, werden wir sie ins Landeskrankenhaus bringen. Dort muß es doch einen Arzt geben, der Bescheid weiß und sie heilen kann. Der Brief ist reichlich lang geworden. Meine Hand ist vom Schreiben ganz verkrampft. Außerdem ist im Haushalt noch einiges zu tun. Gleich ist es sieben und schon fast dunkel. Enid braucht jetzt was zu essen. Mir selbst ist der Appetit vergangen. Duane, ich wünschte... Was soll's? Deine Freundin Marjory
l Duane erhielt den Brief drei Tage später, mehr oder weniger zufallig. Es war ein Freitagabend. Er spielte gerade den Babysitter für seine vierjährige Halbschwester Raybeth und Emmy Mc 370
Clure, ein anderes kleines Mädchen von nebenan. Duanes Stiefmutter Nannie Dell, eine politisch aktive Frau, war zu ei ner Sitzung des kommunalen Planungsausschusses gegangen, der über die Verkehrswege und Straßenbeschilderung von Williamson County beriet. Ihrem Alter gemäß ließen sich die beiden Mädchen nur schwer bändigen. Da es gegen sieben Uhr nun schon recht dunkel und kalt wurde, mußte Duane sie aus dem Sandkasten herein in die Wohnung holen; doch im Fernsehen lief nichts, das sie interessierte. Also stürmten die zwei durchs Haus unter der Aufsicht von Duane, der gleich zeitig versuchte, ein paar Kapitel aus Moby Dick zu lesen, je nem Wälzer, den er für nahezu undurchdringbar erachtete, aber für die Schule lesen mußte, zumal eine Arbeit darüber fällig war. Plötzlich wurde es sonderbar still im Haus, und Duane rief vom Wohnzimmer aus: »Kinder, wo seid ihr?« »In der Küche«, antwortete Raybeth. »Was macht ihr da?« »Plätzchen essen.« Emmy kicherte, und Raybeth flüsterte ihr etwas zu. Duane legte das Buch aus der Hand und ging in die Küche. Die Mäd chen hatten eine Schachtel Zimtkekse geöffnet und Milch in Gläser gefüllt, was aber nicht ohne Malheur abgegangen war, denn vom Tisch tropfte es auf den Boden. Mit Handtüchern versuchten sie gerade, die Pfütze aufzuwischen. »Ist aus Versehen passiert«, entschuldigte sich Raybeth und zeigte dem Halbbruder einen Schmollmund, über den er nicht anders als lachen konnte. Raybeth jedoch hatte nur wenig Sinn für Humor, und weil sie es nicht leiden konnte, wenn sich jemand über ihr Ungeschick lustig machte, versetzte sie Duane einen Tritt vors Schienbein. Normalerweise packte Duane sie dann bei den Fußgelenken, ließ die Kleine kopfüber in der Luft baumeln und drohte, sie solange zu schütteln, bis ihre blauen Augen wie Murmeln zu Boden fallen würden. Allerdings hatte er dann immer eine Strafpredigt von Nannie Dell zu erwarten, die ihm haarklein zu bedenken gab, welche Schäden durch den Blutstau in Raybeths kleinem Gehirn ent 37l
stehen könnten, und mit Nannie Dell zu diskutieren hatte kei nen Zweck. Sie war die Tugend und Geduld in Person und verteidigte ihn außerdem immer, wenn es Konflikte mit Vater John Wesley Eggleston gab, der allzuoft äußerst gereizt und schroff sein konnte. »Ich mach' das schon«, sagte Duane. »Eßt nur eure Kekse.« Er spülte, wrang das Handtuch über dem Waschbecken aus und wischte den Tisch trocken. Anschließend brachte er den leeren Milchkarton zum Abfalleimer, doch der war bis zum Rand gefüllt, und so beschloß Duane, den vollen Papiersack in die Mülltonne neben der Garage umzupacken. Der Papiersack aber war aufgeweicht und riß, worauf der ganze Abfall von drei Tagen auf dem Küchenboden landete. Die Mädchen kreischten vor Vergnügen. »Duane hat Schweinerei gemacht!« Er wurde rot vor Wut, sagte aber nichts. Eierschalen, Kaf feesatz, abgenagte Rippen, Fett. Scheiße. Ein praller, weißer Briefumschlag, mit Tesafilm zugeklebt, erregte seine Auf merksamkeit. Er streifte einen Teebeutel davon ab und ent deckte, daß der Brief von Marjory stammte und am fünfzehn ten abgestempelt worden war. Duane war empört. Wieso steckte sein Brief im Abfalleimer? Hatte Nannie Dell ihn aus Versehen weggeworfen? Unmöglich. Dazu war sie viel zu pe dantisch, gerade was Rechnungen und Schriftverkehr anging. Der Brief schien also mit Absicht im Abfall gelandet zu sein. Er legte das Kuvert auf die Spüle, kehrte den verstreuten Abfall zusammen und trug ihn in einem neuen Papiersack hinaus zur Mülltonne. »Lies uns 'ne Geschichte vor!« verlangte Raybeth, als er zu rückkam. Mädchen in ihrem Alter konnten schrecklich an strengend sein. »Wenn ich fertig bin, du Stinker«, knurrte Duane. »Mama hat dir verboten, mich so zu nennen!« »Halt den Mund, Raybeth. Geh in dein Zimmer und such dir schon mal ein Buch raus. Ich komme gleich nach.« Als die Mädchen die Küche verlassen hatten, riß Duane 372
den Umschlag auf und las, an die Spüle gelehnt, den Brief. Zuerst war er verblüfft, dann verärgert und schließlich so erschüttert, daß ihm fast der Atem stockte. »Duane! Du wolltest doch kommen!« »Augenblick noch, Raybeth. Spiel solange was anderes.« In der Küche war ein Telefonanschluß. Duane suchte in der Brieftasche nach Marjorys Nummer. Seine Hände zitterten, und er mußte ein zweitesmal wählen. Neunzehnmal ließ er es klingeln, bevor er aufgab. Duane kaute auf den Lippen herum. Sein Gesicht war ganz heiß. Dann langte er wieder zum Hörer und warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war Viertel vor neun. Die Mädchen hätten schon um halb zu Bett gebracht werden müssen. Er wählte die Nummer der Auskunft von Sublimity in Tennessee und wurde schließlich mit dem örtlichen Polizeirevier verbunden. »Ich würde gern mit einem Ihrer Beamten, und zwar mit Herrn Lufford sprechen.« »Ted Lufford hat die Woche freigenommen.« »Kann ich ihn zu Hause erreichen? Wie ist seine Nummer?« »Junger Mann, wir sind hier nicht die Auskunft.« »Würden Sie ihn vielleicht für mich anrufen und darum bitten, daß er sich bei mir meldet? Mein Name ist Duane Eggleston. Ich wohne in Franklin. Schauen Sie, es ist sehr, sehr wichtig.« Während er auf Teds Rückruf wartete, ging Duane nach oben. Vor Aufregung kribbelte ihm der Magen. »Ich will ein Bad nehmen.« »Na schön, dann laß schon mal Wasser einlaufen.« Das Telefon klingelte, als die Mädchen mit neununddreißig Plastikspielsachen in der Wanne saßen und im Wasser herumplantschten. Duane lief über den Korridor ins elterliche Schlafzimmer und nahm dort den Anruf entgegen. »Mr. Eggleston? Hier ist Wachtmeister Purloe vom Poli zeirevier von Caskey County. Sie baten mich darum, mit dem Kollegen Lufford in Kontakt gebracht zu werden. Mir 373
wurde mitgeteilt, daß er verreist ist und erst Sonntagabend zurückerwartet wird. Tut mir leid.« »Danke«, sagte Duane und schluckte. Er legte den Hörer auf und dachte: Boyce. »Duane, wir wollen jetzt raus aus der Wanne.« »Ja, Momentchen noch. Bin gleich da.« Es war halb zehn, als er die Mädchen endlich im Bett hatte und ihnen die versprochene Gutenachtgeschichte vorlas. »Nicht so schnell!« Duane holte Luft und las langsamer. Dann deckte er die beiden zu, ließ das Licht brennen und sagte auf dem Weg nach draußen: »Jetzt wird geschlafen.« Unten im Flur ging er sofort ans Telefon. »Hallo?« »He, Boyce. Hier ist Duane.« »Ich bin nicht Boyce, sondern der Bruder.« »Ach so. Wie geht's, Lamar? Deine Stimme hat sich verän dert, seit ich dich das letztemal gesehen habe. Ist Boyce zu Hause? Ich muß ihn unbedingt sprechen.« »Nein, er ist mit dem Football-Team unterwegs und kommt erst nach Mitternacht zurück.« »Mist. Zur Zeit ist anscheinend keiner zu erreichen.« »Ich wäre auch gern zum Spiel gegangen, muß aber zu Hause bleiben.« »Tja, war schön, mit dir zu reden, Lamar. Bestell Boyce, daß er mich anrufen soll, wenn er zurück ist, egal wie spät.« Duane legte auf. Der Ofen war an; trotzdem war ihm kalt. Wieder versuchte er, Marjory ans Telefon zu klingeln, aber ohne Erfolg. Duane dachte darüber nach, noch einmal bei der Polizei dienststelle anzurufen. Was ist los? Nun, ich glaube... will sagen... es könnte sein, daß... ach, zum Kuckuck, fahren Sie endlich hin zum Haus der Wallers. Vielleicht ist was passiert. Womöglich sind sie schon tot... Duane hörte, wie Nannie Dell dem Nachbarn, der sie im Auto mitgenommen hatte, eine gute Nacht wünschte. Sein 374
Vater war auf Geschäftsreise. Das Auto stand zwar in der Ga rage, aber Nannie Dell konnte nicht fahren. John wollte es ihr nicht beibringen, da er sie am liebsten zu Hause wußte. Das elterliche Schlafzimmer war für Duane streng tabu, nur Raybeth durfte sich dort aufhalten. »Duane!« rief Nannie Dell, kaum daß sie zur Tür hereinge kommen war. Er gab keine Antwort und hockte wie erstarrt am Rand des Doppelbettes, über dem eine handgenähte, sternförmig gesteppte Decke ausgebreitet lag. Nannie Dell kam die Treppe hoch und steuerte geradewegs auf Raybeths Zimmer zu. Dort war alles still und friedlich. Sie kehrte um, öffnete die Tür zum Schlafzimmer und blieb wie angewurzelt stehen. »Was hast du hier zu suchen, Duane?« Er starrte sie an. Sie trug einen grauen Rock und einen orangefarbenen Pullover. Wie gewöhnlich hatte sie das Haar zu Zöpfen geflochten, die glänzend und schnurgerade bis über die Brüste herabfielen. Duanes starrer Blick verunsicherte sie. Sie befeuchtete die vollen, ungeschminkten Lippen und setzte ein Lächeln auf, das ihr allerdings ein wenig zu verkrampft ge riet. »Du weißt doch, daß wir dich hier im Schlafzimmer nicht sehen wollen. Ist was passiert?« »Ja.« »Was denn? Du siehst ja ganz verstört aus. Gib mir ein paar Minuten Zeit, dann können wir miteinander reden.« Duane zog Marjorys Brief aus der Jeansjacke, ohne seine Stiefmutter aus den Augen zu lassen. Sie klimperte ein paarmal mit den langen Wimpern und spitzte die Lippen. »Der Brief ist von Marjory Waller«, sagte Duane mit vor Wut zitternder Stimme. »In den letzten Monaten hat sie mir dreimal geschrieben. Auch angerufen hat sie. Was ist mit den Briefen passiert? Und warum ist mir von ihren Anrufen nichts gesagt worden?« Nannie Dell holte tief Luft, faßte Geduld, rief die Tugend um Beistand und legte die Hände zusammen fast wie zum Ge bet. 375
»Nun, Duane...«, begann sie. Doch der Junge sprang vom Bett und fuchtelte so wild mit dem Brief in der Luft herum, daß sie erschrocken zurückwich. »Ich will wissen, was dir einfällt, einen an mich adressierten Brief in den verdammten Abfall zu werfen?« »Duaaane!« Er fing an zu schluchzen. »Ich muß schon viel ertragen, was hier im Haus passiert. Was der Alte mir zumutet, geht auf keine Kuhhaut. Dich hab' ich immer gut leiden können. Aber weißt du eigentlich, was du da getan hast?« »Duane, du weckst die Kinder noch auf.« »Ist mir egal. Das laß ich mir nicht gefallen! Ich mach' mir Sorgen um Marjory und weiß keinen Rat mehr.« »Duane, dein Vater und ich... ach, es sind so schreckliche Dinge geschehen. Und wie im Fernsehen darüber berichtet wurde! Dich hat man als jungen Delinquenten dargestellt und die Sache mit dem gestohlenen Auto wieder aufgerollt. Ver stehst du nicht? Dein Vater wollte nicht, daß du noch tiefer in die Sache mit reingezogen wirst und weiter mit einem Mäd chen Kontakt hältst, von dem wir nichts wissen. Denk darüber in Ruhe nach, und ich bin sicher, daß John dich nur zu schützen versucht...« Duane wandte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ab. Er fühlte sich gedemütigt und ohnmächtig. »Dieser Scheißkerl. Ich hasse ihn, ich hasse ihn!« »Duane, ich bin empört. Sprich nie, nie wieder so von dei nem Vater...« »Na schön. Und mit ihm werde ich auch nie mehr sprechen. Mir reicht's.« Tränen kullerten über Nannie Dells hübsche Wangen. »Duane, das meinst du doch nicht wirklich so, oder? Ent schuldige, mir war selbst nicht wohl dabei, Johns Anordnun gen zu befolgen. Aber ich konnte meinen Mann nicht hinter gehen. Duane, ich bin sicher, wenn wir das Problem in Ruhe bereden, wird alles wieder gut.« »Nein.« Er wischte sich die Tränen ab und starrte sie an. »Wenn du gesehen hättest, was mir in dieser Höhle zu Gesicht 376
gekommen ist, würde dir die Zunge am Gaumen festkleben. Und du würdest nie wieder beten, Nannie Dell, denn du wüßtest, es hätte keinen Zweck!« Schniefend rannte Duane hinaus auf den Flur und in sein Zimmer, schloß die Tür hinter sich ab und warf sich aufs Bett, wo er den Kopf tief in die Kissen vergrub, um Nannie Dells flehende Stimme nicht hören zu müssen und um sein Schluchzen zu unterdrücken.
2 Gegen halb elf sahen sie die Scheinwerfer des Pickups auf der gewundenen Fahrspur im Nationalpark von Evernola. Die beiden Höhlenforscher standen auf und schütteten die kalt gewordenen Kaffeereste aus den Blechbechern ins Lagerfeuer. Sie winkten dem Fahrer zu, der im Näherkommen mit dem Fernlicht blinkte. Drei Männer saßen in dem Kleinlastwagen, der Wayne Buck Vedders, dem Polizeibeamten von Wingo County, gehörte. Die beiden anderen waren Ted Lufford und dessen Vetter, ein Sprengstoffexperte namens Bill Whipkey. Ted machte seine Begleiter mit den beiden Höhlenforschern bekannt, die es vorzogen, nur beim Vornamen genannt zu werden. Sie waren relativ klein gewachsen, reichlich verdreckt, vollbärtig, rochen aus allen Knopflöchern und trugen orangefarbene Overalls sowie zerbeulte Schutzhelme mit Karbidlampen. Fünf Tage lang waren sie unter der Erde gewesen. Derjenige, der sich Rex nannte, rollte eine handgemalte Karte auseinander und sagte: »Sieht aus, als hätten wir ge funden, wonach Sie suchen. Es ist ein großer Raum, an die tausend Meter von hier entfernt. Die Wände stehen waben förmig zueinander, und auf dem Boden liegt haariges Zeug herum.« Ted nickte. »Und Gerippe. Alvy, wie viele Leichen hast du gezählt?« 377
»Zwei Dutzend. Was Schaurigeres hab' ich in meinem gan zen Leben nicht gesehen.« »Im Ernst. Besonders mulmig wurde uns, als das Radio auf einmal losplärrte. All die schreienden Stimmen!« Rex kicherte nervös. »Ich dachte schon, jetzt sind die Zombies hinter uns her. Auf dem Kopf hab' ich zwar nicht so viele Haare, aber ich bin sicher, daß meine Löckchen am Sack schlagartig weiß ge worden sind.« Vedders sagte: »Hätten Sie wie ich auch noch eins dieser Schreckgespenster herumwieseln sehen, wären Sie wahr scheinlich aus den Latschen gekippt.« »Was sind das für Typen?« wollte Rex wissen. »Wir wissen nur eins«, antwortete Ted. »Um natürliche Wesen handelt es sich nicht, und wir müssen zusehen, daß sie nicht an die Oberfläche kommen. Das Ordnungsamt hat aber vorgeschlagen, daß sie rausgeholt und anständig begraben werden.« »Haben Sie die Gerippe selbst gesehen, Wachtmeister?« »Nein, aber sie sind mir deutlich beschrieben worden.« Der Mann namens Alvy sah zu, wie Whipkey seine Ausrü stung von der Ladefläche des Pickups bugsierte. »Scheiße, wenn da Nitroglyzerin bei ist, müßt ihr ohne mich auskom men.« »Wir arbeiten ausschließlich mit Plastiksprengstoff«, beru higte Ted. »Und damit kennt sich Billy bestens aus.« »Gut. Denn um bis zu dieser Kammer vorzudringen, müssen drei bis vier Steilwände überwunden und etliche Engpässe durchkrochen werden.« »Was verstehen Sie unter einem Engpaß?« fragte Vedders. Alvy grinste und zeigte dabei, daß er keine Zähne mehr hatte. »Ein Loch im Fels, das halb so groß ist wie Tante Min nies After. Wer da durch will, muß erst mal den Bauch einzie hen. Überall pinkelt's von der Decke, und die Luftfeuchtigkeit ist an die hundert Prozent. Das ist die schlechte Nachricht, und jetzt kommt die gute: Durchsichtige Alligatoren waren keine zu sehen. Die können uns schon mal nicht gefährlich werden.« 378
Bill Whipkey schleppte seinen Rucksack ans Lagerfeuer. In der anderen Hand hielt er einen unverpackten Klumpen Sprengstoff. »Auf dem Bauch rumzukriechen, paßt mir über haupt nicht. Wenn ich losziehe, dann immer nur Erster Klasse, und das Zeug hier ist meine Freikarte.« Rex musterte den Klumpen und schüttelte bedenklich den Kopf. »Passieren schon mal Fehler damit?« »Ich warte immer noch auf den ersten.«
3 Um elf Uhr lag Nannie Dell bereits im Bett. Sie hatte einen ge sunden Schlaf, so daß Duane sich um sie keine Gedanken ma chen mußte. In der Küche versuchte er noch einmal, Marjory telefonisch zu erreichen, obwohl er im Grunde keine Hoffnung auf Erfolg hatte. Mit jedem Klingelzeichen, das unbeantwortet blieb, geriet er nur noch mehr in Panik. Schließlich legte er den Hörer auf und ging hinaus in die Garage, die ihm als Werkschuppen diente. Dort bewahrte er all das auf, was ihm ins Haus zu bringen verboten war: Terrarien mit lebenden Skorpionen und Taran teln, mehr als zweihundert präparierte Schmetterlinge, die, auf dunkelblauen Samt gepinnt, in selbstgebauten Schaukästen untergebracht waren. Zu seiner Sammlung gehörten außerdem viele verschiedene Puppen, Kokons, getrocknete Salamander und Schädel von Nagetieren. In einem Behälter aus Glas krabbelten Käfer, mit denen er zur Zeit herumexperimentierte: Er versuchte, deren Tag-Nacht-Rhythmus zu beeinflussen und hatte zu diesem Zweck eine Neonröhre über dem Glaskasten installiert. Am Rand der Werkbank stapelten sich Fachbücher. Nun stöberte er in einem Pappkarton herum, der etliche Utensilien für seine Feldforschung enthielt: Fangnetze, Ein machgläser sowie eine Zweiliterflasche Betäubungsmittel. In 379
einem anderen Winkel der Garage fand er eine altmodische Unkrautspritze, deren Tank er mit Tetrachlorkohlenstoff füllte. Er hielt einen Moment lang inne und starrte wie entrückt mit leerer Miene auf die ausgebreiteten Flügel zweier Luna motten, die nebeneinander in einem der Schaukästen aufge spießt steckten. Die rötlichen Flecken leuchteten im Licht der Neonröhre. Duane fing an zu zittern; in der Garage war es empfindlich kalt geworden. Marjory hatte in ihrem Brief nichts von Motten erwähnt, und somit hatte er eigentlich keinen Grund zu befürchten, daß... Unsinn. In der Magengrube schmerzte ihn ein heftiges Zie hen; sein Mund verzerrte sich vor Abscheu und Reue. Er hatte entsetzliche Angst davor, sich erneut diesen schaurig weißen Flügelwesen zu stellen, deren unheimlicher Anblick die Seele gefrieren ließ. Diesmal... Nein. Diesmal war er auf sie vorbereitet. Marjory, die er im Ungewissen gelassen hatte, war schutzlos und auf seine Hilfe angewiesen, vorausgesetzt, daß es nicht schon zu spät dafür war. Duane wußte, wo die Schlüssel für den Buick Riviera zu fin den waren, nämlich in der Nachtkonsole seines Vaters. Er wußte aber auch und mußte sich nicht erst davon überzeugen, daß Nannie Dell die Schlafzimmertür verriegelt hatte. Er hatte ihr mit seiner Wut angst gemacht, und außerdem fürchtete sie schon seit langem uneingestandenermaßen etwas anderes: sein sexuelles Verlangen nach ihr. Daß er auf ihrem Bett auf sie gewartet und sie mit unanständigen Worten angeherrscht hatte, war fast wie eine Vergewaltigung gewesen. Er hatte Schuldgefühl und Scham in ihren Blicken entdeckt, Zeichen schwachen Aufbegehrens gegen die verwerfliche Tatsache, daß sie ihm zugeneigter war als sein leiblicher Vater; aber anstatt dadurch versöhnlicher gestimmt zu werden, hatte das versteckte Geständnis Duane nur noch aggressiver gemacht, auf gefährliche Weise erregt. Er brauchte die verdammten Schlüssel nicht! Das Auto des Vaters aufzubrechen und es zu stehlen, käme einem Akt der 380
Rache gleich und wäre die endgültige Trennung von der Fa milie. Sein Vater würde ihn ohnehin mit einem Fußtritt vor die Tür setzen, sobald er zurückkehrte und hörte, was Nannie Dell zu sagen hatte. Dem konnte Duane nun zuvorkommen, indem er nach Sublimity fuhr; und am Morgen, wenn er denn den nächsten Sonnenaufgang erlebte, würde er schon weit, weit weg sein. Trauer schnürte ihm die Kehle zu, doch Tränen konnte er keine mehr vergießen. Er brauchte nicht länger als dreißig Sekunden, um die Zün dung kurzzuschließen und den Motor zu starten. Um fünf nach elf war er auf der Straße nach Brentwood und Nashville. Von der Autobahn hielt er sich fern aus Angst, in eine Kontrolle zu geraten und wieder ins Gefängnis gesteckt zu werden.
4 Die Höhlenforscher Rex und Alvy hatten den Weg vorsorglich markiert und zum besseren Vorankommen Ted Lufford und seine Begleiter mit Knieschonern ausgerüstet. Ihr Gepäck enthielt alles weitere, das für eine Höhlenexpedition gebraucht wurde, so zum Beispiel mehrere Strickleitern, die gerade unerfahrenen Leuten den Abstieg in das Höhlensystem von Dantes Mühle erleichterten. Auf dem Felsvorsprung einer dreißig Meter tiefen Steilwand legten die Männer eine Zigarettenpause ein. Bill Whipkey sah sich staunend in der kahlen Kammer um, die Rex bereits >Drachenmaul< genannt und mit diesem Namen in der Karte verzeichnet hatte. Die Männer warfen lange Schatten über wulstige Wände und Stalaktiten, die wie Reißzähne von der Decke hingen. »Da kann einem ja jetzt schon mulmig werden«, meinte Whipkey. »Das Beste kommt noch«, entgegnete Alvy. »Was ist eigentlich so besonders an den Leichen? Wie sehen sie aus?« 381
»Wie Mumien«, antwortete Ted. »Negermumien.« »Ach, das ist doch halb so wild. Vielleicht hat vor langer Zeit irgendein Indianerstamm hier seine Toten bestattet.« »So locker nehmen Sie's bestimmt nicht, wenn die Toten plötzlich aufstehen und rumspazieren«, entgegnete Wayne Buck Vedders, und seine kreisrunden Augen verliehen seinen Worten glaubhaften Nachdruck. »Aber ich muß mich korri gieren: Sie spazieren nicht, sondern krabbeln unter der Decke entlang.« Rex lachte, doch aus seinem Lachen wurde ein Hustenanfall. »Haben Sie das etwa mit eigenen Augen gesehen?« »Allerdings, und Lufford ist mein Zeuge. Es war wie ein Kind von fünf oder sechs Jahren, und Sie hätten mal hören sollen, wie das Miststück geflucht hat.« »Aha. Sprechen kann es also auch«, wunderte sich Alvy. »Haben Sie ihm nicht was auf den Hosenboden gegeben, Wachtmeister?« »Nein, aber in den Kopf geschossen. Doch das hat ihm kaum was ausgemacht.« Für eine Weile herrschte Schweigen. Rex drückte seine Zigarette aus und steckte den Stummel in die Tasche. »Und wohin ist die Rotznase dann verschwun den?« »Keine Ahnung. Aber sie wird bestimmt noch irgendwo hier unten sein.« »Ist doch interessant, daß uns keiner was davon gesagt hat, bevor wir in die Höhle abgestiegen sind«, meinte Rex. Alvy schnaufte und sagte zu Vedders: »Von mir aus können Sie soviel Scheiße von sich geben, wie Sie wollen, Mann. Aber besser wär, Sie holten sich im stillen einen runter.« Vedders grinste, schlug die Jacke auf und zog einen schwe ren Revoler aus dem Schulterhalfter. »Wenn ich mir einen runterhole, dann damit.« »Mann o Mann«, spottete Rex. »Wir sind doch Freunde, oder?« »Wenn Sie das Ding hier abfeuern, Meister, sind wir ein für allemal taub«, gab Alvy zu bedenken. 382
»Keine Bange, ich hab' vorgesorgt und die Patronen mit Quecksilber geladen.« »Und was bringt das?« »Mit den Dingern bin ich mal testhalber auf Kaninchen losgegangen. Von denen ist nicht mehr übriggeblieben als Pfötchen und Löffel.« Rex gähnte und richtete sich aus der Hocke auf. »Meine Herren, mit Ihnen zu reden, macht wirklich Spaß. Aber wir haben noch eine Strecke zurückzulegen.«
5 Duane konnte Marjorys Haus nicht mehr finden und mußte bei einer Tankstelle am Ortsrand von Sublimity nach dem Weg fragen. Es war kurz vor zwölf, als er langsam die Old Forge Road entlangrollte und in die Auffahrt einbog. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, daß das Verandalicht brannte und Marjorys alte Rostbeule, der 62er Plymouth, vor dem Haus parkte. Enids Auto war nicht zu sehen. Er blieb vor dem überdachten Eingang stehen, stieg aus und sah sich um. Bis auf das Verandalicht war alles dunkel im Haus. Wahrscheinlich schliefen die Schwestern. Eine der Katzen beäugte ihn scheu und verkroch sich, als er die Stufen hinaufstieg. Die Haustür zierte ein Gesteck aus getrockneten Kornähren und eine aus Kreppapier geschnittene schwarze Katze. Er öffnete das Fliegengitter, drehte am Klingelknauf und hörte es drinnen läuten. Das Verandalicht schimmerte in den Flur hinein bis hin zu den ersten Treppenstufen, doch der Rest lag im Dunklen. Duane war nervös und hatte Kopf schmerzen von der Autofahrt, zumal die Stärke der Brillen gläser nicht mehr ausreichte. Außerdem mußte er dringend aufs Klo. Er hätte an der Tankstelle die Toilette aufsuchen sollen. Hallo, Marjory, wie geht's, ich muß mal pinkeln. Duane hoffte darauf, daß im Obergeschoß ein Licht auf 383
scheinen würde und Enids oder Marjorys Stimme zu hören wäre. Dann könnte er davon ausgehen, daß alles in Ordnung sei, und sich wieder auf den Weg machen. Komm schon, Mar jory. Noch einmal ließ er es klingeln. Sein Atem beschlug ihm die Brille. Es war so still. Und so kalt. Die Kälte schien vom Haus abzustrahlen und durch seine zugeknöpfte Jeansjacke zu dringen. Duane erschauderte. Er legte die Hand um den Türknauf und schreckte zurück. Eiskalt. Schließlich versuchte er es noch einmal. Die Tür war verriegelt. Von einem Fenster zum anderen schlich er nun, schirmte die Augen mit den Händen ab und spähte durch die Scheiben. Zu sehen waren nur die Umrisse von Möbelstücken im Wohnund Eßzimmer. Stille. Frustriert kehrte er in den Vorgarten zurück. Das obere rechte Eckzimmer gehörte Enid. Marjorys Schlafzimmer lag auf der Rückseite des Hauses, der Terrasse und dem Tümpel zugewandt. Duane biß die Zähne aufeinander vor Kälte und dem Druck auf der Blase. Er ging ums Haus herum und stellte sich in eine Ecke, die von der Straße aus nicht einzusehen war. Auf dem Nachbargrundstück hob sich der Scheunengiebel dunkel ab vom schimmernden Nachthimmel. Duane pinkelte über die Blumen, die bereits erfroren zu sein schienen, und überlegte, was ihm nun zu tun übrigblieb. Nicht viel, und bevor die Nacht um war, würde er in seiner kriminellen Karriere ein gutes Stück vorangekommen sein. Marjory verbrachte vielleicht die Nacht bei Rita Sue. Mög lich auch, daß sie tief und fest schlief und die Türglocke nicht hörte. Aber warum war das Haus so kalt? Im Inneren schien die Temperatur unter den Gefrierpunkt gesunken zu sein, und in der Nähe des Hauses war es nur knapp über Null. Duane knöpfte den Hosenstall zu und wandte sich der rück wärtigen Veranda zu, besann sich dann aber eines anderen und kehrte zum Buick seines Vaters zurück. Er hatte den Motor laufen lassen. Als er die Wagentür öffnete, sah er in der spiegelnden Fensterfläche einen Schatten von hinten auf sich zufliegen. Duane duckte sich und warf einen Arm in die Luft. Ein eisig brennender Schmerz fuhr ihm durch die Hand, als 384
das Etwas darüber hinwegstreifte und mit elegantem Flügel schlag davonsegelte, blaßgrün im Mondlicht und mit zwei glühenden Punkten. Eine Lunamotte. In der Nähe schienen sich noch weitere aufzuhalten, flockenhafte Silhouetten über dem mondbeschienen Wäldchen am Rand des Grundstücks, hinter der zugewucherten Pferdekoppel und leerstehenden Ställen. Duane nahm die Unkrautspritze von der Rückbank, ohne den Blick vom Himmel abzuwenden in Erwartung neuerlicher Attacken, womöglich von den größten Nachtschwärmern überhaupt, deren Flügel aus Menschenhaut gemacht waren. Seine Kehle war ausgetrocknet, sein Herz steinschwer; die Finger und das Gesicht fühlten sich taub und blutleer an. Er dachte nun nicht mehr daran, ins Haus einzubrechen, zumal er sicher war, niemanden darin zu finden. Statt dessen behielt er die Motten im Auge und den mit Rauhreif überzo genen Giebel der Scheune neben dem schimmernden Tümpel. Langsam bewegte er sich darauf zu. Nach der Hälfte der Strecke knirschten die Schuhe über erstarrtes Gras, in dem scharf umrissene Fußspuren zurückblieben. Der Atem dampfte in windstiller Luft und begleitete ihn wie ein weißes Gespenst. Plötzlich fielen ihm andere Abdrücke im Rasen auf, die vom Weg zum Haus abzweigten und zum Stall führten. Duane blieb stehen. Es ließen sich mindestens zwei voneinander ver schiedene Fußspuren ausmachen; die einen stammten offenbar von einem Kind; auch die anderen waren klein und schienen von einer Frau hinterlassen worden zu sein. Abdrücke nackter Füße. Und zwischen den Abdrücken verlief eine Schleifspur. Die barfüßige Frau und das Kind hatten allem Anschein nach einen schweren Gegenstand vom Haus in die Scheune bugsiert. Duanes Zittern hatte schon das Ausmaß spastischer Krämpfe erreicht. Trotz der Kälte spürte er es zusätzlich frostig den Rücken hinunterlaufen. Aus der Stille löste sich ein leises Sirren vom Flügelschlag unzähliger Motten. Aus der Ferne tönte wie wehklagend das Signalhorn einer Diesellok. 385
Fünfzig Meter hinter ihm schlug plötzlich eine Fliegengittertür zu. Er wirbelte herum. Sie stand auf der untersten Verandastufe und starrte ihm entgegen. Die Kapuze ihrer dunklen Jacke hatte sie über den Kopf gezogen. Die Augen oder das Gesicht waren nicht zu se hen, aber dennoch erkannte er sie sofort. »Enid!« Seine Stimme schallte weit in die nächtliche Stille, und prompt fing jenseits des Tümpels ein Hund an zu kläffen. Duane eilte aufs Haus zu, stolperte aber nach wenigen Schrit ten über seine vor Kälte tauben Füße, ging zu Boden und prallte unsanft mit dem Knie auf. Vor Schmerzen stöhnend, raffte er sich auf und hastete weiter. Enid war losgelaufen, aber nicht ihm entgegen, sondern in Richtung auf den Buick, der mit laufendem Motor in der Ein fahrt stand. Duane glaubte erkennen zu können, daß sie keine Schuhe an den Füßen hatte. »Enid, warte! Wo is t...« Sie zögerte keinen Augenblick und sprang in den Wagen. Die Scheinwerfer leuchteten auf, und der Wagen setzte zurück, langsam und ruckend, als säße ein Anfänger am Steuer. Vielleicht behinderten sie die nackten Füße beim Fahren. Duane ignorierte das schmerzende Knie und rannte los. Der Buick blieb einen Moment lang stehen; der Motor schien abgewürgt zu sein, und die Hinterreifen steckten in ei nem Beet voll gelber Chrysanthemen. Vom Scheinwerferlicht geblendet, konnte Duane die Gestalt am Steuer nicht ausma chen, bis er den mit Kies bedeckten Fahrweg erreicht hatte. Ihre Augen waren groß und ernst und wie mit schwarzer Schminke ummalt. Das aus dem Kapuzenausschnitt auftau chende Gesicht war kaum wiederzuerkennen; es sah schreck lich bleich und künstlich aus, zerbrechlich wie weiße Eier schale und wie für eine vorgezogene Halloween-Party zu rechtgemacht. »He, bleib stehen!« brüllte Duane, dem nichts Besseres ein fiel. »Das ist der Wagen meines Vaters. Ich hab' ihn gestoh len!« 386
Enid trat aufs Gaspedal. Die Antriebsräder drehten durch; der Buick setzte ruckartig zurück, rammte die Hauswand und raste dann nach vorn, direkt auf Duane zu. Mit einem Hechtsprung brachte er sich vor dem herbeiflie genden Wagen in Sicherheit, der um Millimeter an einem Fei genbaum vorbeischleuderte und die Einfahrt hinabraste. Als Duane wieder auf den Beinen stand, sah er nur noch die Rück lichter. Enid fuhr über die Old Forge Road in westlicher Rich tung davon. Duane hielt immer noch die Spritzpistole in der Hand, hinkte durch den Hintereingang ins Haus und rief immerzu nach Marjory. Daß er schließlich einen Lichtschalter fand, half ihm auch nicht weiter, denn der Stromanschluß schien unterbrochen zu sein. Das Haus war eisig kalt und nur vom Mond erhellt. »Maaaanjorryyyy!« Doch anstatt das Haus zu durchsuchen, machte er wieder kehrt, eilte über die Veranda hinunter in den Garten und folgte den Spuren über das gefrorene Gras bis zu einem breiten Scheunentor, das verklemmt oder verriegelt zu sein schien. Den Griff zu berühren schmerzte so sehr, als hielte er die Hand ins Feuer. Aber er biß die Zähne aufeinander und zerrte am Tor, das sich schließlich um einen Spaltbreit öffnen ließ. Duane steckte die sperrige Spritze hinter den Jackenaufschlag, griff mit beiden Händen in den Spalt, stemmte die Fersen in den gefrorenen Boden und rüttelte mit wütender Kraft am Tor. Die alten, rostigen Angeln knarrten, und das Tor klaffte auf. Drinnen war es wie Weihnachten, wie Weihnachten in der Hölle. Das Mondlicht fiel durch Seidengespinst, das so dünn war wie aus gefrorenem Atem gewebt. Darin verfangen flat terten zahllose Motten, deren schillerndes Glühen von der fei nen Seide bunt aufgefächert wurde. Myriaden von Fäden liefen wie die Kabel einer gewaltigen Hängebrücke zu einem Knotenpunkt in der Stallmitte zusammen, wo ein klobiger Gegenstand vor einer Reihe von Verschlägen auf dem Boden 387
lag. Duane brauchte eine Weile, um zu erkennen, worum es sich handelte. Aus dem wattigen Knäuel traten rote Schien beine und Füße zum Vorschein, Rippenstücke, wie von Ratten abgenagt. Doch für Ratten war es hier, in diesem Schlupfloch der Teufel, viel zu kalt, so kalt, daß auch Duane sich kaum mehr bewegen konnte. »Mein Gott... Marjory...« Alastor blickte auf. Mit kaninchenhaften Kaubewegungen durchwalkte er einen Fetzen Haut, und das Blut troff ihm übers Kinn auf den kleinen, weißen Leib. Offenbar kaute er auch auf Lunamotten herum, um sie mit der Haut zu vermengen, die bereits einen schillernden Glanz angenommen hatte. Er kauerte über dem Kopf des enthäuteten Leichnams, und seine Augen leuchteten so ekelhaft wie das Fleisch von... »Du widerliches Schwein.« Alastor kicherte. »Birka hat's mir erlaubt. Sie findet, daß ich jetzt alt genug bin, um für meine Flügel selbst zu sorgen. Sie wird mir auch helfen, wenn sie kommt. Heute nacht kommen alle. Das hat sie gesagt.« »Du widerliches Schwein!« Duane konnte kaum mehr se hen, so dicht dampfte der Atem, der sofort vorm Gesicht ge fror. »Sie wird nicht kommen. Ich hab' nämlich mit eigenen Augen gesehen, wie sie ertrunken ist.« »Haha«, alberte das Zwergenmonstrum. »Das glaubst du. Wir vom Huldufölk können gar nicht ertrinken. Sie geht über den Grund des Sees und steigt am Rand wieder raus. Verstehst du? Wir sind nicht kleinzukriegen.« Alastor schloß die kleine Faust um den durchwalkten Hautlappen und leckte sich die Lippen. Dann streckte er die krummen Beinchen und grinste Duane zu. Jeder einzelne Zahn glühte wie Radium. »Aber euch kriegen wir klein.« »N-nein, das sch-schafft ihr nicht«, stammelte Duane. Er wußte, daß es höchste Zeit war, die Flucht zu ergreifen, spürte aber, daß ihm die Beine nicht mehr gehorchten. Sie waren steif gefroren, die Füße in den dünnen Mokassins ohne Ge fühl. Auf dem Gesicht schien sich eine feine Kristallschicht ge 388
bildet zu haben. Nur die Hände waren halbwegs warm geblie ben; sie steckten tief in den Jackentaschen. Er starrte auf die Überreste am Boden, auf die weißen Füße Marjorys, die noch Haut umspannte. Alastor stand auf, legte sein Werkstück auf einer Seidendecke ab, von der kleine Eiszapfen herabhingen. »Ich brauche dich«, sagte er. »Ich brauche dich, bevor du so durchfroren bist, daß ich dir die Haut nicht mehr abziehen kann. Und die brauche ich.« »R-r-rühr mich nicht an. Ich w-w-w-warne dich...« Alastor sprang auf in das Seidengespinst und krabbelte wie eine Spinne herbei, die auf ein zuckendes Opfer reagiert. So schnell war er, daß Duane ihn bloß als Schatten wahrnahm, aus dem Augen und Zähne hervorfunkelten und schrilles Ge lächter tönte. Duane wankte einen Schritt zurück und verfing sich in fe ster, klebriger Seide. Er ließ sich zusammensacken, schwebte mit den Knien dicht über dem Boden und langte mit der Hand in die Jacke. Auch ohne hinsehen zu müssen, wußte er, daß Alastor schon fast herangekommen war. Gefrorener Schleim verstopfte ihm die Nase. Duane atmete durch den Mund und drohte am eisigen Schwall zu ersticken. »Was hast du da?« wollte Alastor wissen, als Duane die Spritze beidhändig in Anschlag brachte. Alastor war kaum ei nen halben Meter entfernt und griff aus mit seiner Stachelhand. Duane öffnete das Ventil und besprühte den Gnom mit Te trachlorkohlenstoff. Der kleine Teufel reagierte wie jedes normale Kind, das in siedend heißes Badewasser geworfen wird. Nur schreien konnte er nicht, denn seinen Lungen fehlte die Luft dazu. Aber erbrechend krümmte er sich im seidenen Gespinst; die weiße Haut nahm eine fast menschliche Färbung an und sonderte einen Gestank aus, der übler war als die Chemikalie, die aus der Düse auf ihn einspritzte. Dann wurde die Haut violett und schließlich dunkelgrün wie verfaulendes Fleisch. Immer wieder versuchte er, Duane mit dem tödlichen Stachel zu tref fen. Vergebens. Das schreckliche Speien nahm kein Ende, ob 389
wohl der Magen nichts enthielt. Erbrochen wurden der Magen selbst, die Speiseröhre und schließlich die nutzlosen Lungen, bröckchenweise. Der Gnom tobte auf dem festen Kokon herum, während das Fleisch am Skelett zu verwesen schien und die Knochen zum Vorschein traten. Duane hielt die Luft an und spritzte weiter auf Alastor ein, voll ins Gesicht, und er sah, wie die Augen in ihren Höhlen schmolzen, die kleinen Radiumzähne aus dem Mund fielen und verglimmten wie die vergifteten Motten ringsum. Schließlich mußte Duane selber erbrechen und würgte im Konzert mit den vibrierenden Seidenfasern, in Schwingung gebracht von den wilden Krämpfen Alastors. Der löste sich zusehends auf, bis nur noch nackte Knochen übrigblieben und ein grinsender Totenkopf. Duane sah alles, nur eines nicht... Den hohlen, schwarzen Stachel. Wo war der Stachel? Im Stall hatte sich mittlerweile ein frostiges Schweigen breitgemacht. Zu hören war nur noch Duanes keuchender Atem. Das giftige Gas in der Luft machte ihn schwindelig. Der Stachel, der Stachel! Du mußt ihn finden... Doch wenn er nicht ersticken wollte, mußte er sofort den Stall verlassen. Kaum hatte er torkelnd das Tor erreicht und frische Luft geschnappt, als ihn ein zaghafter Hilferuf auf der Schwelle bannte.
6 Enid Waller steuerte den Buick Riviera am Campingplatz von Dantes Mühle vorbei in Richtung auf den Teich und das Mu seumsdorf. Der Uhr im Armaturenbrett zufolge war es zehn Minuten vor eins. Für die Strecke von Sublimity hatte sie eine Dreiviertelstunde gebraucht. Doch Zeit und Dauer nahm Enid längst nicht mehr zur Kenntnis. Im Dorf angelangt, bremste Enid auf Schrittgeschwindigkeit ab und hielt Ausschau nach der Einmündung jenes Schot 390
terwegs, der für Autos eigentlich gesperrt war. Bald hatte sie den Pfad gefunden und folgte ihm einige hundert Meter in den Wald. Dickicht und tiefhängende Zweige kratzten am Buick entlang. Kurz darauf hielt der Wagen an; anscheinend hatte Enid die richtige Stelle gefunden. Weil kein Schlüssel im Zündschloß steckte, ließ sie den Motor laufen und stieg aus. An den Kotflügel gelehnt, schaute sie hinauf zum klaren Sternenhim mel, lauschte den Käuzchen im Wald und dem Geraschel der kleinen Tiere im Unterholz. Die rechte Hand steckte in der Parkatasche und umfaßte eine Zickzackschere. Geduldig war tete sie, die Augen nach oben gerichtet. Die Temperatur lag bei fünf Grad und sank merklich ab. Aber kalt war ihr nicht. Zu Anfang leuchtete es herab wie von einem Stern, der ein wenig größer war als die anderen, farbig schillerte und langsam knapp oberhalb der Baumwipfel entlangschwebte. Dann, als Enid näher hinsah, wurde die seltsame Erscheinung größer und nahm eine klar umrissene Gestalt an samt zweier Flügel wie die eines Schmetterlings, aber unendlich viel schöner. Sie kam nun durch eine Schneise im Wald herbeigeflogen, und Enid war ganz ergriffen vor Bewunderung. Sie sah in ein ovales, nonnenhaft strenges Gesicht, aus dem stechend blaue Augen hervorleuchteten, und die sanft schwingenden Flügel umschleierten den Blick. Ein oder zwei Meter vor Enid setzte Birka auf dem Boden auf. Sie war völlig nackt, ihr Körper ideal geformt und weiß wie eine Marmorstatue. Enid wollte sie berühren, ließ aber die eine Hand in der Tasche und die andere zur Seite herabhängen. Ich bin so froh, daß du gekommen bist, Enid. Enid fuhr mit der fast blutleeren Zunge über die Lippen und zeigte sich verblüfft. »Gut so. Du nimmst mich zwar wahr, kannst mich aber noch nicht verstehen. Ich fürchtete schon, Alastor hätte sich über mein Verbot hinweggesetzt und dich schon umgewandelt.« 39l
»Umgewandelt?« »Dich zu einer von uns gemacht. Er ist so übereifrig, wie Kinder nun mal sind, und sticht mal hier zu, mal da, oft ohne Wirkung, manchmal erfolgreich, aber bisweilen auch mit ka tastrophalen Folgen, dann nämlich, wenn ein Wesen entsteht, das weder der Menschheit noch dem Huldufolk zuzurechnen ist. Schwamm drüber.« Birka trat auf Enid zu und schob ihr die Parkakapuze vom Kopf. Enids Haare waren an einer Seite sehr dünn geworden. Behutsam setzte ihr Birka die Kapuze wieder auf. »Bald wirst du zu uns gehören. Doch zuerst brauchen wir deine Hilfe. Willst du uns helfen, Enid?« Ihre Bitte wirkte so falsch wie das Lächeln. Aber Enid war so verwirrt über die Veränderungen, die ihr während der vergangenen Wochen widerfahren waren, daß sie diese feinen Nuancen nicht zu unterscheiden vermochte. Wieder leckte Enid die Lippen, holte die Zickzackschere aus der Tasche und sagte: »Ist es das, was ich mitbringen sollte?« Birkas Augen funkelten. »Ja, mein Liebling. Damit wird's klappen. Und nun sollten wir uns auf den Weg machen. Ich darf die anderen nicht länger im Stich lassen. Unsere Zuflucht wurde entweiht, und es ist mit noch Schlimmerem zu rech nen.« Während Birka das sagte, faltete sie die Flügel zu einem kleinen Päckchen zusammen, das in einer Hand Platz fand. »Übrigens, wie geht es deiner lieben, kleinen Schwester?« »Marjory?« Enid zog die Stirn kraus und sagte gleichgültig: »Oh, ich glaube, sie ist tot. Er wollte, daß ich ihm helfe, sie in die Scheune zu schleppen. Das habe ich getan, und dann bin ich gleich hierhergekommen.« »Tja, Marjory zu verlieren, ist mir ganz und gar nicht recht, aber hin und wieder muß man den Jungen gewähren lassen. Du verstehst? Sonst kommt er noch auf dumme Gedanken und bringt uns alle in Gefahr. Komm, folge mir. Der Weg ist ein bißchen mühsam, aber du schaffst es, nicht wahr?« »Ja.« »>Ja, Birka.< Hmm?« »Ja, Birka«, wiederholte Enid gehorsam. 392
7 Duane sträubte sich, in den Stall zurückzukehren, obwohl es darin langsam wärmer zu werden schien, als sei mit Alastors Auflösung ein Kältegenerator außer Kraft gesetzt worden. Der Hund vom Nachbarhof schlug wieder an und heulte über den Teich. Gleichzeitig wurde das Stöhnen im Stall im mer lauter. Duane war völlig hilflos, wußte aber, daß er sofort etwas unternehmen mußte. Er drückte mit seiner Schulter ans Tor und drückte es so weit wie möglich auf, um das Mondlicht ins seidenversponnene Innere leuchten und die kalte, giftver seuchte Luft nach draußen strömen zu lassen. Der Mond be strahlte nun das gräßliche Bündel aus Knochen und Haut, zu dem Alastor geschrumpft war. Das chemische Gift hatte den Gnom unschädlich gemacht und endgültiger eingeschläfert, als es eine Würgerfeige zu tun vermochte. Doch der Schrecken hielt Duane nach wie vor gepackt. Die Knochen, der enthäu tete Leib, die großen Füße - der Anblick Marjorys würde ihn Zeit seines Lebens bis in die Träume hinein verfolgen. Die Füße — sie waren jetzt dank des helleren Lichts deutlich zu erkennen und, wie Duane bemerkte, viel größer, vor allem aber häßlicher als die von Marjory. Duane huschte hinein in den Stall, über gefrorenes Stroh und vorbei an den schwarzen Überresten Alastors, die Augen starr auf den Leichnam am Boden gerichtet. Da lag keine Frau, sondern ein Mann: mager, graubärtig, mit lückenhaftem Gebiß. Die dunklen Augen waren weit auf gerissen und mit einem Eisfilm überzogen, der Schrecken im Ausdruck für alle Zeit fixiert. Wer? Ein Verwandter von Mar jory? Duane hatte ihn nie zuvor gesehen. Er schien seit Stun den tot zu sein. Ausgeschlossen, daß er die stöhnenden Laute von sich gegeben hatte. Als sich Duane tiefer hinabbeugte, um das Gesicht des Toten in Augenschein zu nehmen, raschelte es weiter hinten in der Scheune. So heftig fuhr er herum, daß er die Balance ver lor und vor einer rostigen Kette, die vor einen der Verschläge 393
gespannt war, zu Boden stürzte - wieder auf das schon zuvor lädierte Knie. Vor Schmerzen schrie er laut auf. In der äußersten Ecke des Verschlages geriet ein Schlafsack in Bewegung, und wieder meldete sich das leise, kraftlose Stöhnen. Duane kroch auf allen vieren herbei, wühlte mit der Hand eine erstarrte Ratte auf, die unterm Stroh verborgen lag, und rüttelte am Schlafsack. »Marjory! Marjory?« Es rührte sich im Schlafsack. Duane ertastete einen Ellbogen hier, ein Knie dort, die Form ihres Kopfes, suchte hastig nach dem Reißverschluß, zerrte ihn auf und brach sich einen Fingernagel dabei ab. Der Verschluß klemmte und ließ sich nur Stück für Stück öffnen. Wie gekalkt schimmerte ihre Haut unter den strohblonden Haaren hervor; ihre Augen waren geschlossen. Die Angst hielt Duane für einen Moment zurück. Was, wenn...? Dann faßte er sie an. Sie war kalt, was nicht verwunderte, und er fragte sich nur, wie weit die Körpertemperatur herabsinken konnte. Aus dem Schlafsack schlug ihm hoffnungsvoll der menschliche Gestank von Urin entgegen. Wieder zerrte er am Reißverschluß. Marjory stöhnte matt. Sie war splitternackt in den Sack gesteckt worden. »Eeeeniiid«, rief sie, ohne die Zähne auseinanderzunehmen. »Marjory, ich bin's, Duane!« Er hatte den Reißverschluß zur Hälfte geöffnet und machte sich daran, sie aus dem Sack zu ziehen. »Komm, komm, laß uns von hier verschwinden!« Ein Arm war schon draußen; schlaff hing die Hand herab. Kurz entschlossen packte er das Sackende und schüttelte Marjory heraus, die sich sogleich am Boden zusammenkugelte. »Nein, Marjory, steh auf!« Er hievte sie auf die Beine, die jedoch über Kreuz herabhin gen und ungestützt einzuknicken drohten. Dem ersten An schein nach fehlte ihr nichts; sie wirkte lediglich verwirrt und benommen. Hatte sie womöglich einen Gehirnschaden erlit ten? Oder Schlimmeres? Duane wollte Klarheit. Er schlang einen Arm um ihre Taille und fuhr mit den Fingerspitzen prü 394
fend über ihren Nacken. Von einem Einstich war nichts zu spüren. »Marjory? Sprich mit mir. Ich bin Duane.« »Twei...« Sie schnappte nach Luft. »Sprich mir nach: Duane«, verlangte er und schleppte sie zum Tor hin. Ein winziges Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht; die Au gen öffneten sich einen Spaltbreit. »Du bist... Twein?« »Ja. Und bald ist alles wieder gut.« »Ich weiß. Du bis' da. Das is' gut.« »Versuch zu gehen, Marjory. Verdammt, ich kann dich nicht...« »Wohin, Twein?« »Ins Haus. In die Badewanne. Du mußt was anziehen.« »Hab' nichts an... du siehst mich nackt.« Als sie den Verschlag verlassen hatten, entglitt Marjory sei nen Armen. Sie wankte zwei Schritte weiter, stürzte dann der Länge nach zu Boden und prallte mit dem Gesicht auf den Leichnam. Marjory schlug die Augen auf und starrte reglos auf Alastors Opfer. Duane hatte sie wieder aufgerichtet, als sie ihm den Kopf zuwandte und fragte: »Was ist mit Mr. Crudup passiert?« »Er ist tot, Marjory.« Diese Antwort schien eine Blockade in ihrem Kopf aufzu brechen. Das bislang ausdruckslose Gesicht verzerrte sich, und keuchend stieß sie hohle, stammelnde Laute aus. »Neiiin... neiiin... hol ihn... weg von mir...« Sie zitterte so heftig, daß er sie kaum festhalten konnte. »Marjory, wer ist im Haus?« »Er!« japste sie und klappte mit den Zähnen. »Nein. Den hab' ich nämlich schon. Schau. Da auf dem Bo den. Mehr ist nicht von ihm übriggeblieben. Er kann dir nichts mehr anhaben.« Duane war nicht zimperlich; unsanft zerrte er an ihrem Kopf und zwang sie, den Blick auf den kleinen Schädel zu richten. Marjory jammerte und rief: »Hör auf! Du tust mir weh.« 395
»Sind noch mehr von denen im Haus?« »Nein. Er... o Gott... er war in Enids Zimmer... durchs Fenster eingestiegen. Wo ist Enid?« »Sie ist weg, Marjory. Mit dem Auto meines Vaters, das da mit heute schon zum zweitenmal geklaut wurde. Komm jetzt.« Marjory aber hatte all ihre Kraft schon verbraucht und brachte keinen Fuß mehr vor den anderen. Duane mußte sie zum Stalltor schleppen. Fast hatte er es erreicht, als sich ein spitzer Gegenstand durch die Sohle des rechten Mokassins bohrte und ihm in den Fuß stach. Duane zuckte zusammen und konnte gerade noch verhindern, mit Marjory zu Boden zu fallen; sein Blick blieb stur auf das fünfzig Meter entfernte Haus gerichtet. Marjory erholte sich langsam und trat mit den Füßen auf. Als die Stufen zur Veranda erreicht waren, konnte sie fast wieder auf eigenen Beinen stehen, zitterte aber um so heftiger. Sie war, wie Duane vermutete, mindestens ebenso kalt wie damals in der Höhle, als er sie aus dem See gefischt hatte. Inzwischen wußte er, wie Unterkühlung zu behandeln war. Zur Hölle mit Enid. Er wollte sich jetzt nur noch um Marjory kümmern. Duane bugsierte sie hinauf ins Badezimmer und setzte sie in die Wanne. Im Haus war immer noch kein Strom. Es schien zwar wärmer geworden zu sein, aber auch er hatte angefangen zu zittern, und zu allem Überfluß schmerzte der angepiekte Fuß. Immerhin funktionierte der Gasanschluß; also ließ sich das Wasser erhitzen. Er füllte die Wanne und sorgte dafür, daß Marjory aufrecht sitzen blieb. Doch seine Kräfte schwanden nun auch dahin. Ein grauer Schleier schob sich vor seine Augen, und bleierne Müdigkeit überkam ihn. Hatte auch er sich unterkühlt? Duane zerrte die Kleider vom Leib und stieg zu Marjory in die Badewanne. Das Wasser schwappte fast über. Marjory schlang die Arme um ihn. Schnatternd saßen sie einander gegenüber. Er fing an, ihr das Herz zu massieren, so heftig, wie er konnte. »Duane?« Erleichtert stellte er fest, daß sie aufgehört hatte, mit den 396
Zähnen zu klappern. Auch seine Schüttelanfälle ließen nach, doch sein Herz fühlte sich an wie ein kaltes Eisenstück. Mar jory schien so müde zu sein, daß sie die Augen kaum mehr auf zuhalten vermochte. »Duane?« »Uhmmm.« »Sind wir jetzt... verheiratet?« Das Lachen wollte ihm nicht gelingen. »Mit Heirat ist vorläufig noch nichts, Marjory. Zuerst muß ich mich bewähren.« »Oh.« Offenbar hatte sie ihn nicht verstanden. »Vielleicht steckt mich mein Vater...«, er seufzte kummer voll, »in die Armee, um mich aus dem Haus zu haben.« Duane konnte nicht länger an sich halten und schluchzte. Erschöpft und unschuldig wie Kinder hielten sich die beiden in der überfließenden Wanne umschlungen.
8 Noch einmal in die Höhle hinabsteigen zu müssen, war für Ted Lufford ein schwerer Gang. Daß er womöglich Ärger mit seiner Behörde bekommen würde, kratzte ihn wenig. Was ihm zu schaffen machte und den Puls in die Höhe trieb, war das Gefühl, verschluckt zu werden, als er mit den anderen den Höhleneingang passierte. Die Männer sagten nur das Nötigste und versuchten, keine Kraft zu verschwenden. Rex und Alvy führten die Gruppe an; sie hatten nach Tagen der Suche einen günstigen Einstieg aus findig gemacht. Ted und Wayne Buck Vedders folgten ihnen auf Schritt und Tritt durch einen erdigen, steil abfallenden Schacht, den auch Tiere zu benutzen schienen. »Ja«, sagte Rex, »irgendwo nisten auch Fledermäuse, wo genau, weiß ich nicht.« »Fledermäuse?« knurrte Vedders. »Über Nacht schwärmen sie aus, schätze ich. Wir müssen 397
aufpassen, daß wir beim Ausstieg nicht mit denen ins Gehege kommen. Aber ohne die Fledermäuse hätten wir das Loch nicht gefunden. Weiter jetzt und links halten, meine Herren!« »Ich höre Wasser«, keuchte Ted Minuten später. »Ja, ja. Gleich wird's ein bißchen rutschig.« »Was soll das heißen?« Sie hatten sich bis auf wenige Schritte einer scheinbar glatten Felswand genähert. Alvy grinste. »Er nennt das Tante Minnies After. Wir sind gleich da, und dann werden Sie schon sehen, was Sache ist.« Bill Whipkey schnallte den Rucksack ab. »Jetzt geht's an die Arbeit.« Alvys Miene verriet Skepsis. »Ich weiß nicht. Könnte durchaus sein, daß du mit deinen Krachern die Tante endgültig verstopfst.« »Quatsch. Wofür hältst du mich. Ich könnte den Boden unter euch wegsprengen, ohne daß ihr einen einzigen Dreckspritzer abbekommt. Allerdings wird's ein bißchen laut werden.« Ted schaute auf die Uhr. Es war kurz nach eins. »Beeilung«, sagte er. »Ich hab' ein ungutes Gefühl.«
9 Birka spürte die Erschütterung im Boden und wußte, daß es sich um keine natürliche Felsbewegung, sondern nur um eine Explosion handeln konnte. Enid hockte da mit hohlem Blick und schmerzender Brust. Die nackten Füße bluteten aus mehreren Wunden. Sie schaute auf, als Birka ihre Schulter berührte. »Komm, wir haben nicht mehr viel Zeit.« Mühsam richtete sich Enid auf. Du empfindest keinen Schmerz. Deshalb können wir jetzt zügig weitergehen.
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Enid nickte. Menschsein ist wirklich lästig. Enid sah auf zu den Lunamotten, die über ihren Köpfen tanz ten, und wähnte sich vom Licht einer geheimnisvollen Vision geblendet. Birka lächelte, zeigte sich aber weiterhin besorgt. Mit sanftem Nachdruck trieb sie Enid zur Eile an.
10 Innerhalb von drei Stunden hatten sie knapp über einen Kilo meter unter der Erde zurückgelegt. Ted war völlig orientie rungslos. Zum x-tenmal fragte er: »Seid ihr sicher, Jungs, daß wir...?« »Da an der Wand ist doch unsere Markierung, oder?« ent gegnete Rex und richtete die Stirnlampe auf das Kalkzeichen, das durch den niedrigen Stollen wies. Rex wirkte absolut si cher. Eins seiner Augen war gerötet und geschwollen; ein Körnchen steckte unterm Lid. »Na schön, aber wie weit ist es noch?« Weder von Rex noch von Alvy kam eine Antwort. Ted sah sich nach Wayne Buck Vedders um, aus dessen dreckver schmiertem Gesicht das Weiß der Augen leuchtete. Er machte einen hundeelenden Eindruck und war ganz außer Atem. Bill Whipkey bildete das Schlußlicht und summte eine monotone Melodie vor sich hin. Die Enge schien ihn nicht zu stören. Über eine kurze Strecke mußten sie durch knöcheltiefes, eis kaltes Wasser waten, dann stieg der Weg an und weitete sich wieder. Alvy schritt zuversichtlich voraus, blieb aber kurze Zeit später stehen, als sich der Strahl seiner Stirnlampe in dunklen Tiefen verlor. Von den hohen Wänden glimmten hier und da ein paar Lunamotten. Dem kleinsten Geräusch folgte ein scharfes Echo. Ted spürte mit Erleichterung einen kalten Luftzug im feuchten Gesicht. 399
Alvy schaltete das elektrische Licht an, das mit einem Metallring am Overall befestigt war. »Wir sind gleich da«, sagte er und klang dabei ganz und gar nicht wohlgemut. »Meine Herren, vor Ihnen liegt das Zombieland.« Der Reihe nach schauten sie durch ein schroff umrandetes Loch in der Wand. Dahinter, knapp zwei Meter tiefer, schimmerte im tanzenden Licht von Alvys Lampe ein weiter, wildwuchernder Seidenbausch, der wie eine Schneeverwehung den Boden bedeckte. »Erinnert mich an Spinnweben«, meinte Bill Whipkey. »Da bringt mich nichts runter«, erklärte Vedders ent schieden. »Ich mag keine Spinnen, und verteufelt kalt ist's hier au ßerdem.« »In der Tat«, bestätigte Alvy. »An die fünf Grad kälter als hier. Um den Gefrierpunkt.« »Ist das die Stelle, die Sie gesehen haben?« wollte Rex von Ted wissen. »Ich hab' gar nichts gesehen. Aber nach der Beschreibung von Duane sind wir am richtigen Ort. Was hältst du davon, Billy?« Billy ließ den Strahl seiner hellen Stablampe über die Wände gleiten, in denen etliche Löcher klafften, und die Tropfsteine unter der Decke muteten wie Reißzähne an. Vereinzelt klebten glühende Lunamotten am Fels. »Sieht nicht gut aus«, sagte er. »Wir stecken wohl in einem Schweizer Käse. Unmöglich, die Decke zielgenau einstürzen zu lassen. Und wenn ich versuche, die ganzen Löcher zu stopfen, müssen überall Sprengsätze angebracht und verdrahtet werden. Das dauert Stunden.« Ted fuhr sich mit dem Handrücken über die verdreckte Stirn. Die Augen taten ihm weh vom vielen angestrengten Sehen in der Dunkelheit, und der Kopf schmerzte. Er hatte immer noch ein ungutes Gefühl. Jetzt, da er so dicht am 400
Ziel war, drängte es ihn nach draußen. »Wieviel Plastik hast du dabei?« »Zwanzig Pfund.« »Laß uns alles auf einen Haufen werfen, mitten in die Kammer, und gib ihm Zunder.« »Mann, je nachdem, wie's da drunter aussieht, stürzt der Boden ab bis zum Erdkern.« »Um so besser.« »Wenn das Zeug hochgeht, war's ratsam, ganz weit weg zu sein.« »Wie stellen wir's an?« »Kein Problem. Ich hab' drei Zeitzünder mitgebracht. Die stellen wir auf drei Uhr ein und ziehen Leine. Aber wo stecken eigentlich die Zombies, die du uns versprochen hast? Ich seh' keine. Bislang hat der Ausflug nichts gebracht, wofür man den Auftakt der Jagdsaison verpassen möchte.« »Die sind da unten«, versicherte Rex. »Mit jedem Schritt stolpert man drüber.« »Los jetzt. Packen wir endlich die Leitern aus«, sagte Ted. Mit Mauerhaken verankerten sie zwei Strickleitern. Rex und Alvy stiegen als erste ab; ihr Atem dampfte wie aus Schloten. Ted folgte. Bill Whipkey blieb mit Vedders zurück, um die Sprengsätze vorzubereiten: drei Pakete mit je einem Zünder. Whipkey pfiff ein Liedchen durch die Zähne, während er arbeitete. Vedders lehnte nervös an der Wand und leuchtete von Zeit zu Zeit in die Kammer. »Keine Bange. Hier sind keine Fledermäuse.« »Man kann nie wissen.« Alvy stöberte mit Handschuhen im Seidengespinst herum und brachte ein pechschwarzes Gesicht zum Vorschein. Ledrig die geschlossenen Lippen auch beim zweiten Fund. Ted spürte, wie ihm das Herz krampfte. 401
»He, das ist mir vorher gar nicht aufgefallen«, flüsterte Rex. »Sieh dir bloß mal an, was da um den Hals hängt. An scheinend sind die beiden hier mit Ranken erwürgt worden.« »In der Tat.« Alvy kramte weiter, als wollte er Inventur aufnehmen. »Hier liegt ein kleiner Knirps«, sagte er. »Mann, wie konnten die sich nur so gut halten?« Vedders' Licht streifte Alvys Rücken und huschte flakkernd über die Wand. Alvy langte tiefer in den Kokon und richtete sich schließlich auf. »He, schaut euch das an!« rief er und hielt ein zerschnittenes Rankenstück in die Höhe. »Hier muß auch jemand gelegen haben. In dem Wattezeug klebt irgendeine Flüssigkeit.« Er drehte den Kopf, und der rötliche Strahl seiner Karbidlampe schwankte auf Teds Ge sicht. »Wir sollten jetzt lieber den Rückzug antreten«, schlug Ted vor. »Bill, wann bist du endlich fertig?« »Moment, ich bin gleich soweit.« Das Licht aus Vedders' Lampe traf Alvy mitten ins Ge sicht, und er hob die freie Hand, um die Augen abzuschirmen. Dann wanderte der Strahl weiter, machte wenig später aber jäh halt. »Um Himmels willen«, schrie Vedders. »Verschwindet da unten! Beeilt euch!« Der Kokon hinter Alvy war in Bewegung geraten und wogte wie eine schimmernde Welle, aus der ein kahler Schädel auftauchte, weiß wie aus Marmor gehauen. Aus dem schaurig schönen Gesicht blitzten blaue Augen voller Leben und Wut, anklagend und tödlich. Bedächtig löste sie sich aus dem Seidengespinst und langte pfeilschnell mit der Hand unter Alvys Kinn. Er zuckte zusammen und erstarrte. Der Helm rutschte ihm in die Stirn, und das Licht der Karbidlampe strahlte ihm mitten ins Gesicht. Aus Alvys aufgeschlitzter Kehle spritzte fingerdick das Blut; er sackte in sich zusammen und klammerte verzweifelt die 402
Hände um den Hals, während das Leben allmählich aus ihm herauspumpte. »Verdammt«, stöhnte Rex. »Was, zum Teufel, ist das denn?« Ted packte ihn beim Kragen und zerrte ihn durch die wi derspenstigen Seidenstränge zur Strickleiter hin. Doch Rex brauchte nicht länger überredet zu werden und kletterte um sein Leben. Birka rückte schließlich näher auf Ted zu. Er sah ihr in die Augen. »Wußte ich's doch«, sagte er verächtlich und rührte sich nicht vom Fleck. Daß er keine Angst zu haben schien, ver unsicherte Birka merklich. Ihr Lächeln wirkte verkrampft. »Du schon wieder«, sagte sie. »Und wie ich sehe, sind Sie auch nicht kleinzukriegen.« »Unsereins lebt ewig.« »Und was soll ich davon halten...?« Die eine Hand steckte in der Tasche, mit der anderen deutete er auf die Seidengruft. Rex hatte inzwischen das Loch erreicht. Ved-ders hielt den Lampenstrahl auf Birka gerichtet, die sich wie ein Traumbild von der Dunkelheit abhob. Wie viele noch? dachte Ted. Wie viele außer ihr sind auf freiem Fuß? Sie wußte genau, was in seinem Kopf vorging. Aber auch er verstand es sehr wohl, aus ihrer Miene zu lesen. Birka kniff die haarlosen Brauen zusammen, und damit verriet sie die Antwort auf seine Frage. Sie war allein; vorläufig jedenfalls. Ted faßte Mut, und den brauchte er dringend, wollte er die nächsten Sekunden durchstehen. Der Stachel! Wie schnell sie damit war! »Die Kollegen hier machen einen ziemlich toten Eindruck auf mich.« »Sie schlafen nur und werden bald aufwachen.« »Was Sie nicht sagen...« Ted stockte und atmete tief durch, da er die Fassung zu verlieren drohte. »Wenn Sie an 403
deren Zustand etwas ändern können, warum haben Sie's nicht längst getan?« Sie lächelte wehleidig, sagte aber nichts und trat einen Schritt näher. Die rechte Hand schwebte entspannt auf Brusthöhe; der lange, schwarze Stachel war abgespreizt von den marmornen Fingern. Ted wußte seine panische Angst kaum mehr zu bändigen. »Sie brauchen doch Hilfe, stimmt's? Denn Ihnen ist es nicht möglich, die... Schläfer zu berühren. Hab' ich recht?« »Ted!« rief Vedders mit erstickender Stimme. »Weg! Geh mir aus der Schußlinie!« »Nicht schießen! Das hat keinen Zweck. Ich komm' schon alleine zurecht. Wir sind... wie alte Freunde.« Und an Birka gewandt, sagte er: »Wie heißen Sie? Oder ist es da, wo Sie herkommen, nicht üblich, Namen zu tragen?« Und bleib mir ja vom Hals, du Miststück! Du bist wirklich ein cleveres Kerlchen. Vielleicht sollten wir dich in unsere Reihen aufnehmen. Ich frage mich nur, welche Tricks hast du noch auf Lager? »Ich heiße Birka.« »Ted.« »Ich weiß. Ich weiß alles über dich. Von Enid.« Enid! Ausnahmslos alles, Ted, sogar deine Vermutungen, was unsereins betrifft. Mal sehen, ob du dich ablenken läßt... Lichtstrahlen huschten hin und her, und Vedders brüllte: »Vorsicht, hinter dir!« Ted fiel prompt auf das Ablenkungsmanöver herein, drehte sich um und sah Enids bleiches Gesicht im Ausschnitt der Parkakapuze. Vom hellen Licht geblendet, neigte sie den Kopf und hob abwehrend die Arme. In der einen Hand steckte eine klobige Zickzackschere. 404
»Birka!« rief sie mit schriller Stimme, und anstatt sofort über Ted herzufallen, hielt Birka inne, um den köstlichen Moment zu genießen. Tja, mein Lieber, das Herzchen hier war längstens deine Freundin... Mit wildem Gebrüll riß Ted ein frisch geschnittenes Stück Würgeranke aus der Tasche, das am Ende mit einem schweren Senklot versehen war und wie eine Peitschenschnur durch die Luft flog. Bevor Birka reagieren konnte, wickelte sich ihr die Schlinge um den Hals. Der Mund gefror in stummem Schrei, die hellen Augen blitzten wie irre. Mit beiden Händen packte sie die Ranke, und sogleich schwärzten sich die Finger. Sie tobte, schlug mit der Stachelhand aus, doch Ted parierte und zerrte am losen Ende der langen Ranke, die er wie eine Angelschnur zwischen den Fäusten hielt. Birka drohte zu stürzen, trat berserkerhaft um sich, verfehlte aber ihr Ziel. Die Augen schienen sich zu verflüssigen, der Hals war schwarz angelaufen. Sämtliche Adern unter ihrer Haut traten dunkel hervor, verästelt wie ein laubloser Baum vor dämmerndem Hintergrund. Immer tiefer versank sie im schimmernden Kokon. Überwältigt vom Schwarzen Schlaf, erloschen die glimmenden Augen. Nein! Ich schenke dir die ganze Welt... du wirst König sein wie kein anderer. Dafür kann ich sorgen. Aber befreie mich! 0 Ted, bitte tu mir das nicht an... Ted ließ nicht locker und sah zu, wie ihre Lippen erschlafften, die Lider zuklappten und schwarz wurden wie der ganze Körper von den Fußsohlen bis zum kahlen Scheitel. Birka war abgetaucht in tiefste Nacht. »Enid?« Sie stand immer noch an derselben Stelle, schockiert, ge blendet. 405
Ted straffte den Knoten um Birkas verschrumpelten Hals und hastete durch die Seide auf Enid zu. »Bill, hast du die Ladungen fertig?« Enid wandte sich fluchtartig ab, als er sie erreichte und mit der Hand das kalte Gesicht berührte. Abwehrend stieß sie mit der Schere auf ihn ein, ohne jedoch zu treffen. Er war auf ihren Widerstand gefaßt, zumal er wußte, daß sie nicht bei Verstand war. Die Schere hatte er schnell ihrer Hand entwunden und in die Tasche gesteckt. Als er dann die Arme um sie schlang, gab sie sich leise wimmernd geschlagen. »Einer von euch muß mal runterkommen und mir helfen. Die Zombies beißen nicht mehr. Der Spuk ist vorbei, ein für allemal. Wir müssen Enid hier rausschaffen... und Alvy oder das, was von ihm übriggeblieben ist.« Daß ihm die Stimme hysterisch überschlug, war ihm selber bewußt, doch das kümmerte ihn nicht. »Wir müssen die Hölle in die Luft blasen, und zwar sofort. Los, Bill, bring mir das Zeug! Wir sprengen!«
11 Duane erwachte aus tiefem Schlaf, als das Telefon zu läuten anfing. Erst nach und nach kam ihm zu Bewußtsein, daß er nicht zu Hause war, nicht im eigenen Bett lag. Marjory hatte sich dicht an ihn geschmiegt und blies ihm ihren Atem in den Nacken. Sie schlief tief und fest, ohne sich vom Klingeln stören zu lassen. Duane fing an zu zittern; ihm war kalt trotz all der aufgeschichteten Decken, die er im Haus zusammengetragen hatte. Er löste sich von Marjory, die murrend zur Seite rollte und statt seiner ein Kissen in die Arme nahm. Die Zähne klapperten heftig, als er ihren bloßen Po streichelte, bevor er aufstand und eine der Decken um sich wickelte. 406
Der Schmerz im rechten Fuß ließ ihn zum Telefon hinken, das nun schon seit gut drei Minuten klingelte. Der Apparat war in Enids Zimmer. Eines der Fenster stand offen, und kalte Luft strömte herein. Draußen war es stockfinster bis auf ein entferntes Stra ßenlicht. Er dachte an Zähne, die wie Radium glühten, an die Knochen im Stall, den Leichnam. Sein Magen rebellierte. Sein Fuß tat weh. »Hallo?« »Mit wem spreche ich?« Es war Ted. Duane jubelte vor Erleichterung: »Ted. Ich bin's, Duane.« »Duane? Du mußt deutlicher sprechen. Ich bin noch ganz taub von... Was machst du bei den Wallers? Wie geht's Marjory?« »Besser, glaube ich. Sie schläft. Wir haben... Hör zu. Er war hier. Alastor. Du weißt, wen ich meine? Ich habe von ihm erzählt.« »Ja, ja, ich weiß, der Gnom. Was ist passiert?« »Ich hab's ihm gegeben. Mit Tetrachlorkohlenstoff. Wie eine Motte hab' ich ihn abgespritzt. Es war schrecklich. Aber er ist...« Duane hustete und würgte. »Entsetzlich. Er hat jemanden umgebracht. Marjorys Nachbarn Mr. Crudup. Die Leiche liegt im Stall. Alastor hat ihm die Haut abgezogen, bevor ich... Du mußt sofort kommen.« »Später. Es gibt hier noch einiges zu tun. Aber das erzähle ich dir alles noch.« »Ted! Enid hat mein Auto gestohlen, ich meine das Auto meines Vaters. Mit ihr stimmt was nicht, du mußt sie finden.« »Sie ist bei mir, Duane. Enid ist bei mir, und es geht ihr soweit ganz gut. Ich bringe sie morgen früh nach Hause. Bleibst du, bis ich komme?« 407
»Ja. Augenblick noch, Ted! Was soll ich tun, wenn hier noch mehr von diesen Ungeheuern auftauchen?« »Das wird nicht der Fall sein. Dafür habe ich heute nacht gesorgt. Sie sind alle begraben, zwanzig, dreißig Meter unter Felsen.« »Wie...?« »Das kann ich dir jetzt wirklich nicht erklären. Bis später.« »Ich muß meinem Vater unbedingt das Auto zurückbrin gen.« »Mach dir keine Sorgen, Duane, und paß auf Marjory auf.« Als Duane den Hörer auflegte und von der Bettkante auf stand, war der Schmerz im Fuß so unerträglich, daß ihm Funken über die Netzhaut schwammen, und er dachte: der Stachel. Der Magen schien zu gefrieren. Duane hatte Mühe, Luft zu holen, und die Angst wurde schlimmer als das Klopfen im Fuß. Der Stachel. Im Badezimmer durchwühlte er das Medizinschränkchen und fand eine Nagelschere sowie eine Stecknadel mit grünem Kopf. Unter warmem Wasser wusch er die Schere mit Seife ab und setzte sich dann auf den Wannenrand, winkelte das rechte Bein aus und befühlte die Fußsohle. Die Einstichstelle war mittlerweile auf Taubeneigröße an geschwollen und hart wie eine Schwiele, unter der sich eine besonders giftige, lebensbedrohliche Flüssigkeit gesammelt hatte. Duane biß mit aller Kraft die Zähne aufeinander und stach mit der Schere die Zyste auf. Sein Schrei gellte durchs ganze Haus. Marjory fand ihn nackt auf dem Badezimmerboden hocken. Schluchzend hielt er den blutenden Fuß gepackt. Wortlos kniete sie sich daneben und öffnete seine geballte Faust. In 408
der blutigen Handfläche lag ein zersplitterter Überrest des teuflischen Stachels. Sie nahm das schwarze Ding und spülte es die Toilette hinunter. »Hast du alles rausgekriegt?« »Ich weiß nicht.« Marjory setzte sich zu ihm und hob vorsichtig den ver letzten Fuß, beugte sich darüber und schloß den Mund über der Wunde. Er schlang den Arm um sie und legte den Kopf auf ihre Schulter. Marjory saugte, spuckte über den Bodenfliesen aus und saugte von neuem. Schließlich stand sie auf, ging zum Waschbecken und spülte den Mund aus. Dann kehrte sie ihm den Rücken zu, hockte sich zwischen seine Knie, nahm, ohne ein Wort zu sagen, den Fuß wieder in die Hände und fuhr mit der Zunge über die Wunde. Als sein Körper zu zittern aufhörte, drehte sie sich um, nahm rittlings auf seinem Schenkel Platz und küßte ihn. Der Ge schmack des eigenen Blutes auf ihren Lippen brachte ihn endgültig in Erregung. Er schlang ihr die Arme um die Hüften. Marjory nippte an seinem Mund, zuerst mit den Lippen, dann mit der Zungenspitze. »Oh, Marjory, mir ist immer noch so kalt.« »Komm, gehen wir ins Bett.« Ihr Körper, ihre Umarmung, ihre sinnlichen Küsse waren eher beruhigend als verführerisch. Er spürte die Wärme zurückkehren und glaubte zu träumen: von wilder Natur und Meeresstränden unter heißer Mittagssonne. Sie wiegte ihn an ihrer Brust; ihr Herzschlag lullte ihn ein. Von dem pochenden Schmerz im Fuß war nicht mehr als eine dumpfe Reizung zurückgeblieben. Zwischen knospendem Grün, im Schatten dorniger Sträucher lag sie lustvoll seufzend unter ihm; und dann war erschöpfte Stille. Sie schlief noch, als er am Morgen erwachte. Im Bett auf gerichtet, blickte er zur frostbeschlagenen Fensterscheibe, 409
auf der im Licht der ersten Sonnenstrahlen goldene Tupfer flirrten. Er berührte Marjorys Schulter, streichelte ihre Brust, und sie regte sich lächelnd, ohne aufzuwachen. Glücklich sein, war, wie er fand, zuviel verlangt; er wollte trösten und getröstet werden. Der Stachel, dachte Duane. der Stachel der Stachel der Stachel An diesem Tag war Eden um zwei Kinder ärmer geworden.