Robert Lamont
Blutfeinde Professor Zamorra Hardcover Band 4
ZAUBERMOND VERLAG
Alle halten ihn für tot. Doch Sarkana, das bisherige Oberhaupt der dämonischen Vampirfamilien, ist lebendiger als je zuvor. Als die Clans ausgerechnet Tan Morano, Sarkanas Erzfeind, zum neuen Oberhaupt ernennen wollen, taucht der Totgeglaubte wieder auf. Ein mörderischer Kampf zwischen den Vampiren entbrennt, dem immer mehr Menschen zum Opfer fallen. Sarkana und Tan Morano kennen kein Pardon. Schließlich sind sie nicht nur gegenseitig Blut feinde. Auch Professor Zamorra, der Meister des Übersinnlichen, der alles unternimmt, um weitere Opfer der dämonischen Auseinan dersetzung zu verhindern, ist seines Lebens nicht mehr sicher. Und dann ist da noch der Silbermond-Druide Gryf, dessen Verhältnis zu Tan Morano ein ganz spezielles ist. Ein Vorfall aus der Vergangen heit wirft seine Schatten bis in die Gegenwart …
Vorwort Schon wieder Vampire? Hatten wir die nicht erst im vorigen »Pro fessor Zamorra«-Buch? Natürlich hatten wir. Aber da Vampire ein sehr beliebtes Völkchen sind, über das es viele bissige Geschichten zu erzählen gibt, mag man es uns verzeihen, dass wir uns schon wieder mit ihnen befas sen. Zumal es in Buch 3 um die Lebens- und Entwicklungsgeschich te des geheimnisvollen Fu Long ging, hier aber ein völlig anderes Thema angesprochen wird: Der Machtkampf um die Herrschaft über die rivalisierenden Vampirfamilien. Und, wie es bei Vampiren üblich ist, geht es dabei recht blutig zu. Wesentlich gesitteter und friedliebender sind wir in Verlag und Redaktion, wenn wir Lesermeinungen erhalten. Wir nehmen sie zur Kenntnis, freuen uns über Lob und ärgern uns über Kritik, und ver suchen natürlich, noch besser zu werden. Also: Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat (oder vielleicht auch nicht, was schade wäre), schreiben Sie uns! Entweder per Brief an den ZAUBERMOND-Ver lag, oder auch an die Leserbriefseite der Zamorra-Heftserie des BAS TEI-Verlags, die von unseren Büchern begleitet und ergänzt wird – oder per E-mail an
[email protected]. Mehr über Zamorra, bis herige und künftige Bücher, Autorenporträts, Leseproben gibt es im Internet unter http://www.zaubermond.de, und zudem auch Informa tionen über das weitergehende, umfangreiche Verlagsprogramm in Sachen Mystery, Grusel und Horror. Tschüss Biss demnächst – Ihr und Euer Werner K. Giesa Altenstadt, im März 2003
1. Leben … Drago starb.
2. … und Tod Als Drago endlich tot war, nach über sieben langen, qualvollen Stunden, wandte sich Gino diSarko angewidert ab. »Schafft das weg, und wischt den Dreck auf«, ordnete er an. Sein Zynismus stör te niemanden, am wenigsten ihn selbst. Mit etwas schwerfälligen Schritten verließ er den Raum, in dem Ion Drago sieben Stunden lang gestorben war, ohne dabei zu verraten, was diSarko wissen wollte. Sieben Stunden, in denen Drago Stück für Stück zerlegt wor den war. Wenn seine Schmerzensschreie diSarko nicht so sehr ge nervt hätten, er hätte Drago für seine Hartnäckigkeit und Treue so gar bewundert. So aber verabscheute er den Toten. Drago hätte es viel leichter haben können. Vielleicht hätte er nicht einmal sterben müssen. Er hätte nur sagen müssen, was diSarko wissen wollte. Aber er hatte es nicht getan. Narr! Der Vampir bleckte die Zähne. So viel Blut, das sinnlos ver geudet worden war! So viel Schmerz … fast unerträglich die Schreie des Delinquenten. Warum hatte er nicht aufgegeben? Er hätte seinen Folterern viel erspart! Und nun: alles vergebens. Gino diSarko warf sich in einen großen, bequemen Ledersessel. Er sah den Schatten, der über ihm schwebte. Sarkanas Schatten! Sarkana war tot, er hatte tot zu sein, er musste tot sein. Das Ober haupt der Vampirsippen! Gino diSarko hatte Sarkanas Erbe angetre ten. Er baute seine Machtposition aus, intensiver und konzentrierter, als es Sarkana jemals getan hatte. Aber wenn Sarkana nicht tot war, wenn er noch lebte – würde er über kurz oder lang die Macht über die Vampirfamilien zurückfor
dern. Das gefiel diSarko überhaupt nicht. Er hatte sich an die Macht gewöhnt. Er wollte sie nicht wieder verlieren. Und nun hatte irgendjemand das Gerücht aufgebracht, Sarkana sei noch am Leben! Es pflanzte sich rasch fort. Plötzlich behauptete Ion Drago, erst vor kurzem mit Sarkana gesprochen zu haben! DiSarko erfuhr davon und ließ Drago sofort gefangennehmen, um ihn zu verhören. Drago sollte ihm den Weg zu Sarkana zeigen! Aber er hatte es nicht getan. Unter der Folter stritt er bis zuletzt al les ab. Dabei gab es glaubwürdige Zeugen, die seine Behauptung gehört hatten. Nun war er tot. Das war äußerst ärgerlich, aber nicht mehr zu än dern. Ab einem gewissen Punkt der Folter war der Tod unabwend bar geworden. Man konnte nur versuchen, die Schmerzen noch wei ter zu steigern. Aber selbst das und die Erkenntnis, rettungslos ver loren zu sein, hatten ihn nicht zum Reden gebracht. Welche Treue, dachte diSarko. Er wünschte sich, dass andere auch so treu zu ihm halten würden, wenn es darauf ankam. Dennoch war es wichtig, Sarkana zu finden, und ihn zu töten. Er hatte noch zu viele Anhänger. Schon jetzt zeichnete es sich ab, dass diese sich dem neuen Sippenchef gegenüber zurückhaltend zeigten und ihn nicht mehr vorbehaltlos unterstützten. Kehrte Sarkana wirklich zurück, würden sie alle zu ihm halten, und diSarko war ab gemeldet. Er konnte dann froh sein, wenn sich Sarkana nur katzen freundlich bei ihm bedankte, dass er die Clans zusammengehalten und ihre Machtpolitik fortgeführt hatte. Danach würde er wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwin den. Gut, sicher nicht völlig. Aber wer einmal an der Spitze der Machtpyramide war, verzichtet ungern und tritt in die zweite oder dritte Reihe zurück. Sarkana musste sterben, ehe aus dem Gerücht über seine Rückkehr Wahrheit wurde!
Aber zuerst musste er gefunden werden!
Dunkle Wolken zogen über die verfallene Burgruine in den Karpa ten dahin und verdunkelten den Mond. Die Luft roch nach Regen und Gewitter. Unten im Dorf steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten. Es würde wieder eine jener Nächte … und sie prüften, ob noch überall Knoblauch vor den Fenstern und Türen hing, ob kaltes Eisen auf der Türschwelle lag, und ob das Kruzifix mit einem schnellen Handgriff von der Wand zu nehmen und einem Eindring ling entgegen zu halten war. »Dummer Aberglaube«, nannten sie es bei Tageslicht – die moder ne Zeit machte auch vor kleinen, abgelegenen Dörfern nicht Halt. Aber in den Nächten fürchteten sie den Schrecken der BlutsaugerTyrannei. Vor allem in Nächten wie dieser, wenn der Mond hell strahlte und die Gewitterwolken jagten, wenn in der Burgruine Lichter zu tanzen schienen, als lebe dort jemand und feiere rau schende Feste. Doch niemand wagte es, den Berg hinauf zu steigen und sich zu vergewissern. Nicht in der Nacht, und auch nicht am Tag. Lieber er trug man die Unsicherheit und hoffte, statt sich des Grauens zu ver gewissern. Vlad Brescu sah aus dem Fenster über das Tal hinweg. »Da unten zittern sie wieder, diese Narren«, sagte er. »Sie sehen die Lichter, fürchten sich und beten zu ihrem Gott, dass er ihnen hilft. Aber warum sollte er das tun?« Er zeichnete ein Muster in die Luft. Aus der düsteren Gewitter wolke, die immer mehr vom Mondlicht verbarg, zuckte ein Blitz, verästelte sich und schlug in einem der Häuser ein. Dort gingen die Lichter aus. Wenig später entstand ein anderes Licht. Es flackerte wild, wurde größer.
Der Vampirdämon lächelte, ohne die Fangzähne zu blecken. »Sie werden natürlich uns die Schuld geben. Völlig zu recht …« Nicolae Tepes, der seine Ahnenreihe auf den legendären Vlad Te pes, den »Pfähler«, zurückführte, welchem man einst den Namen »Dracula« gab, seufzte. »Warum tust du das?«, fragte er. »Sie fürch ten uns doch auch so schon genügend.« »Es macht Spaß«, sagte Brescu. »Wir sind nicht zum Spaß hier, mein Bester«, warf Don Jaime deZ amorra ein, der Spanier. »Wir haben etwas zu diskutieren. Ich glau be, wir sind gleich komplett.« Er wies nach draußen. Im Burghof stoppte gerade ein VW Phaeton neben diversen anderen Luxusfahrzeugen – Cadillac Seville, Merce des S-Klasse, Rolls-Royce. Sogar ein Oldtimer war zu sehen – ein Hi spano-Suiza, zu seiner Zeit doppelt so teuer und dreimal so gut wie Rolls-Royce. Jaime deZamorra wollte sich nicht von dem betagten Vehikel trennen, das immer noch zuverlässig seinen Dienst tat. Der Motor verstummte, die Lichter erloschen. Ein breitschultriger Hüne, über zwei Meter aufragend, entstieg dem Fond und reckte sich. Dann schritt er dem Haupteingang entgegen. Der Fahrer des Wa gens blieb im Fahrzeug zurück. Er war ein Diener ohne jeden eige nen Willen. Ohne den ausdrücklichen Befehl seines Meisters würde er nicht einmal essen oder trinken. Wenig später gesellte sich der Hüne zu der kleinen Runde. »Wir sind doch noch nicht komplett?«, fragte er. »Ich vermisse diSarko in unserer illustren Runde. Und Morano.« »Wir vermissen sie nicht«, sagte Vlad Brescu. »Beide erhielten kei ne Einladung.« Der Hüne sah sich um und kratzte sich am Kinn. Es klang, als rei be Eisen über Holz. So verfallen die Burg von außen wirkte, so ge mütlich war es in ihrem Inneren. Die ängstlichen Menschen unten im Dorf ahnten wahrscheinlich nicht einmal, wie es hier aussah. Vlad Brescu gehörte zu jenen, die es gern bequem hatten. Das fla ckernde Licht, das unten im Tal zu sehen war, stammte zwar von
Kerzen, aber die Räume waren mit sanftem elektrischen Licht er hellt, es gab Telefone, Fernseher, Computer mit Internetanschluss. Brescu verließ seinen Platz am Fenster und nahm in einem beque men, lederbezogenen Ohrensessel Platz. Er sah in die Runde. Nicolae Tepes, Don Jaime deZamorra, Menelaos Papageorgiu, Mu stafa Yltik, Peer Glynn, Sir Albert Woltingshire, Akiro Toyoda, Pier re Gaullet, Basta Mobuto und Pjotr Wassilowitsch Somkow, der Hü ne. Zusammen mit Vlad Brescu, Tan Morano und Gino diSarko wa ren sie die mächtigsten Vampirfürsten, die Anführer der stärksten Clans. Ihr gemeinsames Oberhaupt war derzeit Gino diSarko, als Nachfolger des Sarkana. Er entstammte dessen Familie, wenn auch die genauen Verwandtschaftsverhältnisse nicht eindeutig klar wa ren. »Vielen von uns gefällt es nicht, dass Gino diSarko einfach den Vorsitz über die Familien an sich gerissen hat, nur weil er der Sarka na-Familie entstammt«, sagte Brescu. »Er ist äußerst arrogant, aber er richtet diese Arroganz leider nicht nur nach außen, sondern auch gegen uns alle. Ich denke nicht, dass er als Herr der Vampirfamilien geeignet ist.« »Sarkana war es auch nicht«, warf Menelaos Papageorgiu ein. »Zu alt, zu verknöchert, zu festgefahren in den Traditionen. Er konnte sich nicht auf die moderne Zeit einstellen.« »Was ist daran falsch, Traditionen zu bewahren?«, fragte Sir Al bert scharf. »Klar, das musste ja von einem Engländer kommen«, näselte Pier re Gaullet. »Albernes, arrogantes Piratenvolk …« »Halt dein Maul, Froschfresser, oder ich stopfe es dir!«, konterte Sir Albert wenig vornehm. Brescu, der Burgherr und Gastgeber dieses kleinen Konvents, beugte sich vor. »Wir sind nicht hier, um uns zu streiten«, sagte er. »Sondern wir sind hier, um über die Zukunft unserer Familien zu bestimmen. Ich
sage, dass diSarko kein geeigneter Führer ist. Wir brauchen einen anderen, besseren auf diesem Posten.« »Dich, Brüderchen, wie?«, brummte der russische Hüne. »Tan Morano«, gab Brescu gelassen zurück. »Ah, deshalb wurde er nicht eingeladen«, dachte Somkow laut nach. »Du willst ihm keine Chance geben, abzulehnen. Wir wählen ihn, und er muss akzeptieren, wie? Das funktioniert nicht. Ich kenne Morano. Er hat keine derartigen Ambitionen. Er will in Ruhe gelas sen werden, mehr nicht.« »Außerdem ist er ein Einzelgänger«, sagte Sir Albert. »Er ist kein Familienoberhaupt, weil es keine Morano-Familie gibt.« »Und genau das ist der Grund, aus dem wir ihn wählen sollten«, sagte Brescu. »Er wird nie in die Verlegenheit kommen, zwischen den Interessen seiner und der anderen Familien abwägen zu müs sen. Er ist einfach von Natur aus neutral.« »Er wird die Wahl nicht annehmen«, sagte Mustafa Yltik. »Wir werden ihn dazu zwingen.« »Wie denn? Womit denn?« Der türkische Vampir lachte auf. Pierre Gaullet erhob sich. »Ich denke, diese ganze Diskussion ist ohnehin völlig nutzlos«, sagte er. »Egal, ob wir diSarko ertragen oder Morano an seine Stelle setzen – beide müssten in Kürze wieder ins zweite Glied zurück tre ten.« »Wieso das?«, fragte Papageorgiu und fügte spöttisch hinzu: »Weil etwa du dich als Kandidat bewirbst?« Gaullet schüttelte den Kopf. »Weil Sarkana noch lebt«, sagte er trocken.
»Das ist ein Gerücht«, schrie Papageorgiu auf. »Ja …«, dehnte Gaullet. »Eines, das Ion Drago das Leben gekostet
hat. DiSarko ließ ihn zu Tode foltern, um herauszufinden, wo Sarka na sich aufhält. Glaubst du wirklich, unser hochverehrter Gino wür de das grundlos tun? Drago war ein Narr, der den Mund nicht hal ten konnte.« »Aber du weißt, wo Sarkana steckt?«, schnappte Brescu. »Sehe ich so aus? Wüsste ich es, wäre ich längst bei ihm, um ihn meiner Loyalität zu versichern. Ich bin kein Selbstmörder. Ich weiß, wo sich die Macht zeigt. Erinnert euch, dass Sarkana schon einmal für tot gehalten wurde. Damals, als er sich mit Asmodis anlegte. Und? Plötzlich war er wieder da!« »Aber Asmodis nicht, dieser Verräter an der Hölle«, sagte Som kow. »Ich glaube nicht, dass Asmodis ihm eine neue Chance gege ben hätte. Stygia dagegen …« Tepes winkte ab und spie aus. »Vergiss Stygia!«, zischte er. »Sie wird sich nicht mehr lange auf dem Thron halten. Und Calderone auch nicht, Satans neuer Ministerpräsident!« »Was nichts daran ändert, dass Sarkana wider Erwarten noch lebt«, fuhr Gaullet fort. »Es ist doch völlig unwichtig, ob wir diSarko akzeptieren oder Morano an seine Stelle setzen. Sarkana wird den einen wie den anderen davonjagen.« »Bislang hat er sich noch nicht offen gezeigt«, sagte Brescu. »Viel leicht wird er es auch nie tun. Ich denke, er ist nach wie vor tot, und jemand hat ein Gerücht in die Welt gesetzt, um uns alle zu verunsi chern. Vielleicht ist sogar Professor Zamorra dieser Gerüchtestreu er.« »Warum siehst du mich dabei an?«, fauchte Don Jaime deZamor ra. »Nur weil ich einen ähnlichen Namen trage und über tausend Ecken mit seinem längst ausgestorbenen spanischen Familienzweig verwandt bin?« »Getretener Werwolf heult«, grinste Brescu, wurde aber sofort wieder ernst. Somkow, der russische Hüne, stoppte mit drohend ge ballter Faust die Zornestirade, mit welcher sich Don Jaime dagegen verwahren wollte, mit einem verlausten und verflohten Werwolf
verglichen zu werden. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, fuhr Brescu fort. »Die eine lautet: Sarkana ist tot. Dann können wir diSarko davonjagen und Morano zum Oberhaupt wählen. Die andere lautet: Sarkana lebt noch. Dann müssen wir ihn aufspüren, töten und anschließend die erste Mög lichkeit durchsetzen.« »Sarkana töten? Das ist gegen das Gesetz der Schwarzen Familie«, protestierte Yltik. »Kein Dämon darf grundlos einen anderen Dä mon töten.« »Wir töten einen Hochstapler, der behauptet, Sarkana zu sein«, sagte Brescu. »Hat jemand ein Problem damit?« »Es ist eine Lüge«, beharrte der türkische Vampir. »Niemand wird sich für die Wahrheit interessieren.« »Gino diSarko!« »Wer sagt denn, dass er diese Sache überleben muss?«, fragte Bres cu spöttisch. »Willst du ihn etwa auch töten?« »Ich doch nicht«, versicherte Brescu. »Nein, das wird ein anderer erledigen. Keiner von uns, aber vielleicht Professor Zamorra.« »Du siehst mich schon wieder so komisch an«, keifte Don Jaime los. »Und du leidest unter Verfolgungswahn im fortgeschrittenen Sta dium«, erwiderte Brescu. »Er leidet nicht, er genießt es«, spöttelte Tepes. »Kann nicht sein«, brummte Somkow. »Genuss ist russische Erfin dung.«
Es gab Nächte, die konnte man einfach aus dem Kalender streichen, fand Pierre Gaullet. Diese war eine davon. Sie saßen zusammen, pa laverten, und irgendwie war alles so widersinnig. Sie dachten ernst
haft darüber nach, einen der ihren zu töten, einen Vampirfürsten, einen Vampirdämon höchsten Ranges! Und wozu das alles? Gaullet war nicht bereit, Sarkana in den Rücken zu fallen. Sarkana mochte nicht gerade die modernste Auffassung vertreten, aber wie schon Sir Albert sagte: Was war falsch daran, Traditionen zu bewah ren? Sarkana hatte die Vampirfamilien lange Zeit angeführt. Er, aller dings auch sein derzeitiger selbsternannter Nachfolger Gino diSar ko, arbeiteten daran, den Clans mehr Macht und Einfluss zu ver schaffen. Die Vampire waren die edelsten der Schwarzen Familie. Aber das behaupteten andere auch. Vor allem die Corr, seit sie nicht mehr von Zorrn, sondern von Zarkahr angeführt wurden. Der wäre ohnehin gleich auf den Thron des Ministerpräsidenten LUZIFERs gerückt, wenn man ihn nur ließe. Diese verdammten Spitzohrigen hielten sich für etwas Besonderes. Ärgerlicherweise hatten sie unter Lucifuge Rofocale erheblich an Einfluss gewonnen; bei wichtigen Entscheidungen mussten sie gefragt werden. Vielleicht war Lucifu ge Rofocale selbst ein Corr gewesen; niemand wusste das ganz ge nau. Aber Sarkana hatte die Macht der Corr brechen und die Vampire an die Spitze der Machtpyramide bringen wollen. DiSarko trat in seine Fußstapfen. Warum also ihn, oder Sarkana selbst, beseitigen? Nur, um Tan Morano an die Macht zu hebeln? Ausgerechnet Morano! Oft genug hatte dieser zu verstehen gege ben, dass man ihn in Ruhe lassen solle, dass er mit den Ränkespielen und Machtkämpfen nichts zu tun haben wollte. Er wäre ein äußerst schwaches Oberhaupt der Vampirsippen, was die politischen Ambi tionen anging. Er mochte ein großer, starker, alter und mächtiger Dämon sein, aber er war ungeeignet für das, was sich Vlad Brescu und andere von ihm erhofften. Gut, er hatte sich mit Sarkana angelegt. Vielleicht ging die Aggres sion auch von Sarkana aus – wie auch immer. Aber als Sarkana ver
schwand und für tot gehalten wurde, wäre es Morano leicht gefal len, sich an die Spitze der Clans zu setzen; immerhin hatte er Sarka na ausgetrickst und besiegt. Aber Morano hatte es nicht getan. Er besaß keinen Ehrgeiz, keine Machtsucht. Gaullet konnte sich nur einen Grund vorstellen, aus dem Brescu und andere ihn zu ihrem Oberhaupt machen wollten: Sie hofften, ihn lenken zu können. Er sollte eine Marionette sein, an deren Fäden sie zogen. Nach außen hin das Aushängeschild der Clans, und an sonsten eine Figur auf dem Schachbrett. Gaullet sah in die Nacht hinaus. Er hatte sich auf einen Söller zu rückgezogen. Unten vergnügten sich die anderen. Der offizielle Teil der Zusammenkunft war beendet, die Orgie folgte, an deren Ende es etliche blutleere Mädchenkörper geben würde. Mädchen, die nicht aus der unmittelbaren Umgebung stammten; das wäre zu auffällig gewesen. Die Sterblichen im Dorf sollten sich fürchten, aber nicht in Panik geraten. Das machte sie nur unberechenbar. Das Gewitter war vorüber. Aber immer noch verdunkelten Wol ken die Sterne, und der Mond kam nur hin und wieder durch Lücken zum Vorschein. Gaullet hörte das Lachen und die Schreie aus den unteren Räumen. Nichts davon reizte ihn, an der Orgie teil zunehmen. Er dachte an die Zukunft. An seine und die der Clans. Sarkana war zurückgekehrt. Eine Auseinandersetzung war unver meidbar. Gaullet wusste, auf welcher Seite er stehen würde. Er hoffte nur, dass die anderen rechtzeitig zur Vernunft kamen. Wenn nicht … Schulterzuckend wandte er sich um und stieg die regennassen Steinstufen hinunter. Es wurde Zeit, dass Brescu etwas gegen den immer rascher fortschreitenden Verfall seiner Burg tat. Es gab schon fast keinen Raum mehr, der regendicht war und an dessen Wänden
kein Moos wuchs. Aber Brescu sah dieses Bauwerk nur als einen ge heimen Konferenzort an. Normalerweise wohnte er in einem kleinen Palast. Gaullet wandte sich seinem Gästezimmer zu. Er hatte keine Lust, sich zu den anderen zu gesellen. Den ungeliebten Sonnenaufgang konnte er auch allein erwarten.
Sarkana fühlte die Nähe des Todes. Der Tod war sein ständiger Be gleiter geworden, seit vielen Jahren. Seit Morano wieder aufgetaucht war, dem der Silbermond-Druide Gryf ap Llandrysgryf einst einen Eichenpflock ins Herz gerammt hatte. Irgendwie war Morano nach langer Zeit wieder ins Leben zurückgekehrt; oder war es nur ein Ge rücht, dass Gryf ihn getötet hatte? Sarkana hatte es bis heute nicht herausfinden können. Es war unumgänglich, dass er und Morano aneinander gerieten. Und Tan Morano hatte gesiegt … glaubte jener. Doch die Krallen des Todes verfehlten den uralten Vampir, ver fehlten ihn immer wieder. Und jetzt war Ion Drago tot. Sarkana wusste es. Drago, dieser Tölpel! Er hatte sich verplappert, hatte irgendwem erzählt, er habe sich mit Sarkana getroffen. Und prompt hatten sie ihn einkassiert. Natürlich, es war unvermeidlich. Nicht eine Sekunde lang hatte Sarkana erwogen, Drago zu helfen, ihn zu befreien. Er hatte nur gehofft, dass dieser Trottel nicht noch mehr erzählte. Denn der alte Vampir wusste, dass Gino ihn beseiti gen wollte. Gino war machtsüchtig. Er würde nicht freiwillig wieder zurücktreten. Sarkana könnte ihn töten, dann wäre das Problem bereinigt. Aber das wollte der Uralte nicht. Es gab Gesetze: kein Vampir tötet einen
anderen Vampir. Es sei denn, ein Tribunal beschließt es so. Sarkana achtete die alten Gesetze und Traditionen. Er hielt sich daran, auch wenn es ihm oft schwer fiel. Tan Morano gehörte zu je nen, die sich nicht daran hielten. Er hatte einen anderen Vampir be denkenlos ermordet, und er würde auch Sarkana ermorden, wenn sich ihm eine Chance bot. Beinahe wäre es ihm ja schon einmal gelungen … Sarkana verdrängte dabei, dass es seine eigene Waffe war, die Mo rano gegen ihn gerichtet hatte … es war ein unangenehmer Gedan ke; Sarkana wollte ihn vergessen. Dennoch – er musste Morano aus schalten. Wenn nicht selbst, dann durch einen Helfer. Einen Men schen. Einen Vampirjäger. Gryf ap Llandrysgryf? Er schied aus. Er würde niemals für Sarkana arbeiten. Er war zu schlau. Und er hatte sicher nichts vergessen … Zamorra …? Vielleicht! Aber auch der war schlau. Sarkana musste sehr vorsich tig sein, wenn er etwas erreichen wollte. Denn der Tod war sein Be gleiter und wartete nur darauf, ihn endlich in sein schwarzes Reich im Nichts zu holen. Erinnerungen kamen …
3. Spuren im Sand der Zeit
Flashback: Florida, Key West, 1997 »Erinnerst du dich an Yolyn?«, fragte Sarkana. Gryf ap Llandrysgryf schüttelte langsam den Kopf. »Sie war meine Tochter«, sagte Sarkana. »Du trägst die Schuld an ihrem Tod.« »Yolyn? Sie war auch eine Vampirin?« »Natürlich!«, brüllte Sarkana ihn an. »In Elanrhyddlad hast du sie er mordet!« Gryf schloss die Augen. Er entsann sich nur zu gut an die Geschehnisse in jenem kleinen Dorf in Wales. Aber nicht an einen bestimmten Namen. »In Uanrhyddlad sind viele Vampire gestorben«, sagte er. »Ich habe mich gewehrt.« »Aber sie war meine Tochter!«, tobte Sarkana. »Und dafür wirst du ster ben!« »Du bist ein Narr, Sarkana. Glaubst du im Ernst, es würde etwas än dern? Deine Tochter wird sich nie wieder aus dem Staub zurückformen, zu dem sie verfallen ist. Aber dich wird man mehr jagen denn je zuvor. So wie deine Tochter einen Vater hatte, habe ich viele Freunde. Du kannst mich ermorden, Sarkana. Aber danach wirst du selbst nicht mehr lange existie ren.« »Zamorra, pah!«, fischte der Vampir. »Du glaubst, er könnte dich rä chen?« »Nicht nur er. Sie werden alle hinter dir her sein. Ich habe viele Freun
de. Sogar dort, wo du es nicht vermutest.« »Was willst du damit sagen?«, knurrte der Vampir. »Finde es selbst heraus«, sagte Gryf. »Ich werde dich zwingen, es mir zu sagen.« Sarkana beugte sich über sei nen Gefangenen. Seine Zähne blitzten auf. »Wenn du meinen Keim in dir trägst, wirst du mir bedingungslos gehorchen. Ah«, lachte er wild auf. »Das ist eine hervorragende Idee. Dann brauche ich dich nicht einmal selbst zu töten. Ich brauche dir nur zu befehlen, dich umzubringen, und du wirst es tun.« Gryf schnellte sich empor, wollte sich wehren. Aber Sarkana war viel stärker. Der Vampir versetzte ihm einen Hieb, der den Druiden zurück schleuderte. Dann senkte er sein Gebiss auf Gryfs Hals, um ihm die Schlagader aufzureißen. »Lass es«, sagte eine Stimme hinter ihm. Sarkana schrak auf. »Morano!«, stieß er hervor. »Was willst du hier?« »Es spricht nicht für dich, dass du meine Annäherung nicht bemerkt hast«, erwiderte Morano. »Vielleicht spricht es aber auch für mich. Und nun gib mir den Druiden.« Mit wenigen Schritten war er bei Sarkana. Radikal packte er den Sippen führer, riss ihn hoch und schleuderte ihn zur Seite. Der Alte fauchte auf und bleckte die Zähne. Für einen Augenblick war er versucht, sich auf Mo rano werfen. Aber dann tat er es doch nicht. Der alte Kodex hielt ihn zu stark gefangen. Kein Vampir tötet einen anderen Vampir, außer, ein Tri bunal fällt das Todesurteil … Aber Morano hatte diese Hemmung schon lange vorher verloren. Er setz te sofort nach, drang auf Sarkana ein. Der alte Vampir floh. Er wich dem Kampf aus. Mit einem gewaltigen Sprung brach er durch das nächste Fenster und stürmte davon. Er verwandelte sich in seine Flug gestalt, schwang sich in die Luft und verschwand als flatternder Punkt am Nachthimmel. Er verwünschte sich selbst. Er floh, statt Morano in die Schranken zu verweisen. Ich werde alt, stellte der Vampir fest.
Er war so darauf konzentriert gewesen, den Silbermond-Druiden zu tö ten, dass Moranos Auftauchen ihn völlig aus dem Konzept gebracht hatte. Morano hatte ihn verwirrt, und Morano hatte es tatsächlich gewagt, Sar kana anzugreifen. Die Flucht war ein Fehler. Später, als Ruhe eingekehrt war, analysierte Sarkana die Lage und stellte dabei fest, dass Morano einen anderen Vampir ermordet hatte. Damit hatte er sich außerhalb der Regeln gestellt. Und Sarkana erklärte ihn für vogelfrei.
Flashback: Die Katakomben von Paris, 1998 Roquette Burie ging ihrer Bestimmung entgegen. Ihrem Sterben, das auch Tan Morano den Tod bringen würde. Denn ihr Blut war vergiftet wor den … Sie betrat die Ruine, folgte dem Mann, den sie sofort erkannt hatte, ob gleich sie ihn nie zuvorgesehen hatte. Aber er war es, nach dem sie sich unwiderstehlich sehnte. Etwas an ihm zog sie magisch an – im wahrsten Sinne des Wortes! Der Mann stieg die Kellertreppe hinunter. Roquette folgte ihm. Unten in der Düsternis des Kellers blieb er stehen; er musste ihre Schritte gehört haben. Und dann … … warf sie sich ihm entgegen; alles Denken war ausgeschaltet und in ihr gab es nur noch das brennende Verlangen, sich diesem Mann bedingungs los hinzugeben. Er sollte, er musste sie lieben – und ihr Blut trinken. Seinen Tod trinken … Morano starrte das Mädchen verblüfft an. Roquette sprang ihn förmlich
an, warf sich ihm in die Arme, drängte sich wild und ungestüm an ihn. Er schrie auf als er sie von sich stieß. Das Mädchen stolperte, stürmte beinahe und prallte gegen eine andere Gestalt. Gegen Sarkana, der hier war und zusehen wollte, wie Tan Morano seinen Tod trank! Ihm flog der hübsche, lebende Giftköder in die Arme! Und was so anziehend auf Morano gewirkt hatte, wirkte auch bei Sarka na, der davon überrascht wurde. Unwillkürlich biss der Vampir zu! Sarkana trank! Da lachte Morano wild auf. Er schaffte es, sich abzuwenden und davon zustürmen, an Sarkana vorbei, der in diesem Moment zu beschäftigt war, ihn festzuhalten. Morano rannte in die Katakomben-Tiefe hinein, nur fort von hier, so weit weg wie möglich von der magischen Anziehungskraft des vergifteten Blu tes, weg und in Sicherheit. Die Magie, die auf Morano abgestimmt war, hatte auf Sarkana nicht die gleiche verheerende Wirkung, aber er war ein Vampir, und so unterlag auch er dem Zwang des vergifteten Blutes. Aber schon nach den ersten Schlucken begriff er, was er da tat. Er war nicht Morano. Auf ihn war das Blut nicht abgestimmt. Er konnte sich wieder lösen und das Mädchen von sich stoßen. Aber er spürte das Gift, das er getrunken hatte, bereits. Die Magie wirkte auf ihn nur schwach, das Gift aber war für jeden Vam pir tödlich. Sarkana stöhnte auf. Wieder verloren! Er taumelte davon, ergriff die Flucht. Von Morano war längst nichts mehr zu sehen. Sarkana bewegte sich durch die Katakomben, durch die labyrinthischen Gänge und Kammern. In seinem Körper brannte ein mörderisches Feuer. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass er noch nicht genug von dem Gift ge trunken hatte, um daran zu sterben.
Nur ein winziger Hauch von Hoffnung … bis er irgendwann vom Schmerz überwältigt zusammenbrach und die Besinnung verlor. Aber selbst in diesem Zustand kämpfte sein Körper noch, kämpfte bis …
Er hatte überlebt – mühsam genug. Lange, sehr lange hatte er ge braucht, um sich zu erholen. In der Zwischenzeit geschah vieles, und Gino riss die Macht an sich, als es kein Lebenszeichen von Sar kana mehr gab. Ausgerechnet Gino diSarko, der Italiener, der sich mit Sterblichen einließ, mit der Mafia. Zwar versuchte er wie Sarkana, die Vampire an die Spitze der Höllenhierarchie zu bringen, aber er machte Ge schäfte mit der Opfer-Rasse! Er schreckte vor nichts zurück. Lange hatte Sarkana sich zurückhalten müssen. Er hatte sein eige nes Gift zu schmecken bekommen, das er Morano zugedacht hatte, und wurde seither für tot gehalten. In einem Versteck kurierte er sich aus. Nun wollte er nicht noch eine weitere Niederlage hinneh men. Er wollte seine Führungsposition zurück, aber dafür musste er stark sein, so stark wie niemals zuvor. Deshalb brauchte er Zeit. Das Gift hatte ihn doch sehr geschwächt. Er musste alles endgültig überwunden haben, ehe er wieder in Erscheinung trat. Jetzt, nach fünf Jahren, war es soweit. Jetzt war wieder mit ihm zu rechnen. Aber Gino würde nach dieser Handvoll Jahre der Macht nicht frei willig gehen. Sarkana musste ihn dazu zwingen. Und da war immer noch Tan Morano. Der eigentlich tot sein musste und dennoch lebte. Der sich gegen das Gesetz stellte. Und der dennoch erstaunliche Sympathien besaß. Aber Sarkana war ein Kämpfer. Er würde sie beide überwinden. Er würde wieder das Oberhaupt der Vampirclans sein. Schon bald!
4. Heißes Blut Danielle Leclerc hatte Feierabend. Mehr als zehn Stunden lang hatte sie aufgepasst, dass niemand Johnny Madrid an den Kragen ging, zusammen mit zwei Kollegen, die nicht unbedingt mit Feuereifer bei der Sache waren. Johnny Madrid war das Pseudonym eines recht mittelmäßigen, wie Danielle fand, Schauspielers, der aber in letzter Zeit vorwiegend ins Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten war, weil er sich mit der Parascience-Sekte angelegt hatte. Es gab versteckte Morddrohungen. Die Polizei nahm diese Dro hungen weniger ernst als der Bedrohte selbst, und hatte ihm nur ge raten, sich eine Waffe zur Selbstverteidigung zu beschaffen. Aber von Waffen hielt Johnny Madrid wenig; er verabscheute sie und hat te schon oft genug Probleme damit, sie in seinen Filmen zu benut zen. Also hatte er bei einer Security-Firma Bodyguards angemietet, und zu denen zählte Danielle. Sie mochte ihren Job, auch wenn ihr Bruder sie immer wieder da von abzubringen versuchte, weil er meinte, es sei zu gefährlich, vor allem für eine Frau. Aber sie besaß den 2. Dan in Karate, und sie war eine perfekte Schützin, die einer Fliege auf hundert Meter Entfer nung das linke Vorderbein abschoss. Außerdem wurde sie recht gut bezahlt. Warum also nicht? Damit aufhören konnte sie immer noch, wenn sie den Mann fürs Leben traf, heiratete und Kinder bekam. Bis dahin aber wollte sie ein wenig Geld zusammensparen, um etwas unabhängiger zu sein. Und es reizte sie immer wieder, hinter die Kulissen der High Society blicken zu können, egal, ob sie es mit Wirtschaftsmagnaten oder Politikern zu tun hatte. Dennoch war sie diesmal froh, dass ihre Schicht zu Ende war. Johnny war einfach unausstehlich mit seinem Macho-Gehabe. Dani elle parkte ihren Wagen in der Tiefgarage ein, ließ sich vom Lift in
ihre Wohnetage tragen und schloss die Tür hinter sich. Die Schuhe flogen irgendwohin. Die Jacke irgendwie schräg an den Garderobehaken. Das Clipholster mit der Pistole … nein, das trug sie in ihr kleines Arbeitszimmer und legte die Waffe in der Schreibtischschublade ab. Sie war stolz darauf, die Pistole noch nie eingesetzt zu haben außer auf dem Schießstand. Bislang hatten ihre Karate-Kenntnisse gereicht. Aber es war Vorschrift, im Dienst be waffnet zu sein, für den Fall der Fälle. Sie stellte fest, dass sie immer noch das kleine Funkgerät am Gür tel und das Headset mit Hörerbügel und Mikrofonsteg am Ohr trug, über das sie im Einsatz mit ihren Kollegen in Verbindung war. Sie nahm das Set ab und warf es auf die Schreibtischplatte. Raus aus den Klamotten, duschen und es sich mit einer Flasche Wein und einem Buch für eine Stunde gemütlich machen? Oder erst Wein und Buch, dann die Dusche und schließlich das Bett? – Der Rock flog irgendwohin. Gerade wollte sie Bluse und BH abstreifen, als der Türsummer sich meldete. Sie zuckte zusammen. Wer wollte um diese Zeit etwas von ihr? Es war früher Morgen. Die ganze Nacht über hatten sie und ihre bei den Kollegen mit Johnny Madrid durch Diskotheken und Striploka le ziehen müssen; Danielle war erschöpft und müde. In einer der Discotheken hatte sie einen Mann gesehen, der ihr außerordentlich gut gefiel und den sie ganz bestimmt nicht von der Bettkante gesto ßen hätte, aber zu mehr als einem Blickwechsel hatte es nicht ge langt, weil sie auf diesen Arsch mit Ohren Johnny Madrid aufpassen musste. Um so erstaunlicher war es, dass sie während der Heim fahrt an ihn hatte denken müssen. Erneut hörte sie den Summer. Und dann zum dritten Mal. Der ist aber verdammt hartnäckig, dachte sie. Wie ein Gerichtsvollzie her oder Jehovas Zeugen.
Sie nahm das Clipholster wieder aus der Schreibtischschublade, zog die Pistole heraus und ging zur Tür. Wer um diese Morgenstun de unangemeldet bei ihr klingelte, war verdächtig. Vielleicht wuss ten Johnny Madrids Todfeinde inzwischen, wo seine Leibwächterin wohnte, und wollten sie ausschalten oder auf ihre Seite zwingen. Nach allem, was Danielle inzwischen über Parascience wusste, hatte sie durchaus mit einer Gehirnwäsche zu rechnen. Sie blickte durch den Türspion. Sie stutzte. Das war doch der Mann aus der Discothek, der ihr so gefallen hat te! Er war alles andere als der typische Disco-Gast. Dafür wirkte er ein wenig zu alt. Er mochte Mitte 40 sein. Auch sein Outfit passte nicht zu den Disco-Freaks, was ihr schon in der Nacht aufgefallen war. Er trug einen zweireihigen Maßanzug mit Weste und Krawatte. Statt des obligatorischen Einstecktuchs in der Brusttasche seiner An zugjacke trug er eine Rose im Knopfloch. Danielle öffnete die Wohnungstür so weit, wie die Sperrkette es zuließ. »Was wollen Sie?«, fragte sie. »Bitte, lassen Sie mich eintreten. Ich möchte mit Ihnen reden«, sag te der Fremde mit einer sonoren, sympathischen Stimme. »Worüber? Und wer sind Sie überhaupt?« »Mein Name ist Morano«, sagte er und lächelte. »Tan Morano.«
Sie überlegte. Besuch würde sie noch länger vom Schlaf abhalten, und auch von der erwünschten Zeit der Entspannung. Andererseits interessierte der Mann sie. Er hatte etwas, das sie magisch anzog. Ein verrückter Gedanke ging ihr durch den Kopf. Vielleicht mit ihm zusammen einschlafen, später wieder gemeinsam aufwachen für ein spätes Frühstück? Ein wenig Spaß und Entspannung, wie sie
ein Buch nicht geben konnte … »Kommen Sie herein«, sagte sie. Und ahnte nicht, dass sie damit die magischen Worte gesprochen hatte, die einem Vampir ungehinderten, fortwährenden Zutritt zu ihrer Behau sung gewährte. Sie löste die Sperrkette und trat zur Seite. Tan Morano kam herein. Er musterte sie lächelnd, sah die Pistole in ihrer Hand, reagierte aber nicht darauf. »Was wollen Sie von mir?«, fragte Danielle. »Ich habe eine lange, arbeitsreiche Nacht hinter mir, bin müde und …« »Ich wollte Sie kennenlernen«, sagte Morano. »Warum? Wer sind Sie?« »Sie gefallen mir«, sagte er. »Und ich möchte Ihnen ewiges Leben schenken.« »Oh nein. Ewiges Leben schenken … etwas Dümmeres ist Ihnen nicht eingefallen?« Er ging an ihr vorbei zum Wohnzimmer. »Ich hielt es für originell«, sagte er. Etwas an ihm war … hypnotisierend. Sie versuchte sich aus dem Bann zu befreien, den Mann rational zu sehen. Aber jedesmal, wenn sie ihn ansah, wurde ihr Widerstand schwächer. Warum hatte sie ihn in die Wohnung gelassen? Sie hätte ihm die Tür vor der Nase schließen sollen! Sie wollte doch ihre Ruhe haben! Andererseits … ein wenig Sex … ein one-night-stand… Warum nicht? Ich muss verrückt sein, dachte sie. Er ist ein völlig fremder Mann. Ich kenne ihn nicht, ich weiß nichts von ihm. Was will er hier? Mich kennen lernen, hat er gesagt. Warum? Sei schlau und schmeiß ihn 'raus, Danielle, ehe es kompliziert wird! »Warten Sie einen Moment«, bat sie. Ihr fiel ein, dass sie nur in Bluse und Slip vor ihm stand, bizarrerweise mit der Pistole in der Hand. »Ich ziehe mir etwas an und besorge uns etwas zu trinken.«
»Nein«, sagte Morano. »Warum so umständlich? Bleiben Sie ein fach, wie Sie sind. Sie sehen bezaubernd aus, Mademoiselle. Ich be wundere Ihre Schönheit.« »Und deshalb sind Sie hierher gekommen?«, fragte sie. »Um eine halb nackte Frau zu bewundern?« Wirf ihn 'raus, solange du noch kannst! Sie sah sich selbst, wie sie die Pistole auf ihn richtete. »Gehen Sie«, forderte sie. »Sofort, oder ich schieße!« Aber es war nur das, was sie dachte. Nicht das, was sie tat. Er lächelte. Es war ein warmes, sympathisches Lächeln, das ihren Widerstand weiter schmelzen ließ. »Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?«, fragte sie schwach. »Ich bin Ihnen gefolgt«, sagte er leise. »Ist Ihnen das nicht aufge fallen?« Sie schüttelte den Kopf. Es war völlig verrückt – darauf hatte sie überhaupt nicht geachtet. Wenn sie jemand zu beschützen hatte, ging sie in ihrem Job total konzentriert auf; nichts entging ihren scharfen Sinnen. Aber in eigener Sache … »Was wollen Sie von mir, außer mich kennenzulernen und zu bewundern?« »Können Sie sich das nicht vorstellen, Danielle?«, fragte er. Sogar ihren Namen kannte er. Nun gut, der stand an der Türklin gel … »Nein«, sagte sie. »Ja. Monsieur Morano, Sie sollten jetzt besser ge hen.« »Wollen Sie das wirklich, Danielle?« »Ja. Nein …« Er trat auf sie zu, stand ganz dicht vor ihr und nahm ihr die Pistole aus der Hand. Er lächelte immer noch. »Wir werden eine wunderbare Zeit miteinander haben«, sagte er. »Ziehen Sie sich aus … und überlassen Sie alles andere mir …« Und Danielle Leclerc zog sich aus.
Nicole Duval zog sich an. Dazu verwendete sie Professor Zamorras Hemd, das ihr gerade knapp bis über den Po reichte, und war dann der Ansicht, damit völlig ausreichend bekleidet zu sein. Sie fühlte noch seine Wärme auf ihrer Haut, und sein Hemd duftete nach ihm; es war, als wäre sie in seine Haut geschlüpft. »He«, protestierte er. »Und was soll ich jetzt anziehen?« »Gar nichts«, beschloss sie spontan. »Du bleibst am besten so, wie du bist.« Dabei betrachtete sie ihn eingehend, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Bedächtig nickte sie. Dann breitete sie die Arme aus und zog Zamorra an sich, spürte seine Haut, spürte, was sie in der letz ten Stunde ausgiebig genossen hatte. »Frühstück aufs Zimmer?«, flüsterte sie. Zamorra nickte nur und küsste sie einmal mehr. Nur ungern ließ er sie wieder los, als sie zum Telefon ging und den Zimmerservice anrief. Sie waren relativ früh dran, was ihre eigenen Gewohnheiten an ging. Ein Blick auf seine Uhr verriet dem Professor, dass es noch nicht einmal 9 Uhr morgens war. Nicole und er waren Nachtmen schen; die Jagd auf Dämonen und andere Kreaturen der Finsternis brachte es mit sich. Deshalb fanden sie selten vor Mittag aus dem Bett. In einem Hotel jedoch mussten sie sich den örtlichen Gepflogen heiten anpassen, wenn sie noch etwas vom Frühstück mitbekommen wollten. Und kleine Herbergen, in denen man die Frühstückszeit noch aushandeln konnte, boten natürlich nicht den Komfort und Service, auf den Zamorra Wert legte. Am vergangenen Tag hatte Zamorra eine Gastvortrag an der Sor bonne gehalten. Heute nachmittag stand er den Studenten noch ein mal für eine Sprechstunde zur Verfügung. Die Zeit wollte Nicole für einen Einkaufsbummel nutzen. Sie war an den Sprechstunden eben
sowenig interessiert wie umgekehrt Zamorra an ihren Einkaufsorgi en. Nicole probierte stundenlang in den einschlägigen Boutiquen die ausgefallensten Kleider aus, kaufte im Regelfall das, was am ausge flipptesten und teuersten war – und trug es dann vielleicht drei oder vier Mal. Ähnlich ausufernd war ihre Perückensammlung, mit der sie sich täglich ein anderes Aussehen geben konnte. Und wenn sie das nicht tat, färbte sie ihre ureigenste Haarpracht immer wieder mal um. Zamorra, Professor der Parapsychologie und Dämonenjäger, hatte einst an der Sorbonne studiert und auch einige Jahre gelehrt. Inzwi schen hielt er nur noch Gastvorträge; auf eine feste Semester-Anstel lung konnte er sich längst nicht mehr einlassen. Er konnte nie sicher sein, ob er nicht in den nächsten Stunden zur entgegengesetzten Sei te der Erdkugel reisen musste. Er war ein Auserwählter. Das war Pri vileg und Verpflichtung zugleich. Vor nunmehr fast 30 Jahren hatte er sich dieser Aufgabe verschrie ben. Und er sah immer noch fast so jung aus wie damals. Er alterte nicht. Er hatte vom Wasser der Quelle des Lebens getrunken, war uns terblich geworden. Nur Gewalt konnte sein Leben beenden, keine Krankheit, kein Alter. Er fragte sich längst, wann Menschen in sei nem Umfeld, die dieses Geheimnis nicht kannten, misstrauisch wur den. So wie er, war auch Nicole durch das Wasser unsterblich gewor den, obgleich sie keine Ausenvählte war. Zamorra hatte ihre Unsterb lichkeit mit einem Trick erzwungen; er liebte diese Frau wie nieman den sonst auf der Welt, und er wollte sie nicht an seiner Seite altern und sterben sehen. Aber was hatten sie beide von der Unsterblichkeit? Sie lebten länger als jeder andere Mensch. Aber ihnen blieb viel weniger Zeit, dieses Leben auch zu genießen. Es war ein schlechter Tausch. Sie befanden sich in ständiger Gefahr, von ihren dämoni schen Gegnern getötet zu werden, sie mussten Risiken eingehen, um ihrerseits die Dämonen und ihre Helferkreaturen unschädlich zu
machen. Es konnte sein, dass es von heute auf morgen mit der Uns terblichkeit, mit ihrem ganzen Leben, vorbei war, wenn einer von ihnen einen Fehler beging. Jeder Polizist, jeder Soldat hatte die Chance, irgendwann pensioniert zu werden, falls er nicht in Aus übung seines Dienstes getötet wurde. Aber für Zamorra und Nicole gab es keine Pensionierung. Ihr Kampf gegen die Kräfte der Dunkel heit währte bis ans Ende ihres Lebens – wann immer das sein moch te. Es gab für sie keine Zeit des Ausruhens, keine Möglichkeit, sich eines Tages zurückzuziehen. Zamorra, doppelt so alt, wie er aussah, trat ans Fenster. Es ging zur Straße hinaus. Er sah auf der anderen Seite vor einem Wohn block einen dunklen Bentley Mulsanne im Halteverbot und dachte sich nichts dabei. In einer Stadt wie Paris waren solche Luxuslimou sinen an der Tagesordnung. Zamorras Gedanken schweiften wieder ab. Sein alter Gegenspie ler, Professor Bellemont, Dekan der psychologischen Fakultät, zu der auch die Abteilung Parapsychologie gehörte, war zwangspen sioniert worden. Sein Nachfolger war ein relativ junger Bursche, mit dem Zamorra erst recht nichts anfangen konnte. Mit Bellemont hatte er prächtig streiten können, der neue war aalglatt und bot keine An griffspunkte. Immerhin stand er der Parapsychologie nicht ganz so negativ gegenüber wie Bellemont, der diesen Unterbereich am liebs ten gecancelt hätte. Nur – seinen Allerweltsnamen konnte Zamorra beim besten Wil len nicht im Gedächtnis behalten. Es war verrückt: er konnte sich an Tausende unwichtige Dinge erinnern, aber nicht an den Namen die ses Professors! Jemand klopfte an der Tür. »Herein«, rief Nicole. Der Zimmerkell ner, einen Servierwagen vor sich her schiebend, errötete dezent, als er Nicole in ihrer luftigen Bekleidung sah, und errötete noch mehr, als er Zamorra ohne Bekleidung sah. Geradezu fluchtartig ver schwand er wieder, ohne auf das obligatorische Trinkgeld zu war ten.
»Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert«, zitierte Ni cole und drapierte die Frühstücksbestandteile und sich selbst äu ßerst dekorativ auf dem Bett. Angesichts entsprechend schwanken der Kaffeetassen beschloss Zamorra, sich diesem verführerischen Arrangement mit höchster Konzentration zu widmen. Eine Stunde später parkte der Bentley nicht mehr vor dem gegen überliegenden Haus.
Danielle Leclerc öffnete die Augen. Sie zitterte, aber sie fühlte sich unwahrscheinlich wohl. Morano hatte alle ihre Erwartungen weit übertroffen. Er drängte nicht, er nahm sich Zeit, er ließ sie genießen, wie es noch keiner der Männer zuvor fertig brachte, die durch ihr Bett gestrolcht waren. Jetzt lag sie einfach nur da, die Arme ausge breitet, und wusste, dass er ihr die schönsten Stunden ihres bisheri gen Lebens geschenkt hatte. Er beugte sich vor, küsste sie. Seine Fingerkuppen strichen sanft über ihren Hals. Dann erhob er sich. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. »Aber wenn du willst, komme ich wieder!« Und ob sie wollte! Sie sah bedauernd zu, wie er sich ankleidete. Immer wieder lächel te er ihr zu. »Ich bringe dir etwas mit«, versprach er. »Wann bist du wieder hier?« »Wahrscheinlich um die gleiche Zeit«, sagte sie. »Der Dienst … ich rufe dich an. Gib mir deine Karte.« Er nahm ein schmales Kärtchen aus einem Lederetui und legte die Karte auf den Nachttisch. Dann setzte er eine dunkle Sonnenbrille auf und streifte Handschuhe über. »Bis später«, sagte er. Sie konnte es kaum erwarten, bis er wieder zu ihr zurückkehrte. Als sie hörte, wie die Wohnungstür sich hinter ihm schloss, richtete
sie sich auf. Sie wollte ihm nachlaufen, ihn noch einmal berühren. Aber die Beine gaben unter ihr nach. Sie konnte sich gerade noch ab fangen. Sie tastete nach der Visitenkarte. Sie schimmerte metallisch, und im ersten Moment sah sie überhaupt nichts, aber dann, als sie sie leicht drehte, erschienen Buchstaben. Ein Name und eine HandyNummer, sonst nichts. Keine Adresse … Sie legte die Karte wieder beiseite, erhob sich erneut vom Bett. Diesmal schaffte sie es zu gehen. Sie fühlte sich unendlich müde, er schöpft und glücklich, als sie das Bad erreichte. Sie wollte duschen, aber dann entschied sie sich anders. Sie wollte einschlafen mit dem Duft seines Körpers auf ihrer Haut. Sie sah in den Spiegel über dem Waschbecken. Waren da nicht zwei kleine, rote Flecken an ihrem Hals? Dort, wo Morano sie zuletzt berührt hatte? Sie tastete danach, konnte aber nichts fühlen. Langsam kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, warf sich auf das völlig zerwühlte Laken. Kopfkissen und Decke befanden sich ir gendwo, waren im süßen Liebeskampf verloren gegangen. Es störte sie nicht. Sie streckte sich aus, schloss die Augen und gab sich dem Schlaf und ihren Träumen hin.
Tan Morano trat auf die Straße hinaus. Das Tageslicht konnte ihn nicht vernichten, dafür war er schon viel zu alt und im Laufe der Jahrhunderte resistent geworden. Zwar trug er sicherheitshalber stets Sonnenbrille und Handschuhe, um sich dem Sonnenlicht nicht mehr als nötig auszusetzen, aber er konnte sich bei Tage bewegen wie ein Mensch. Er pflegte auch nicht in einem Sarg mit Heimaterde zu schlafen, wie es alte Klischees erwarteten. Darüber waren Vampire seiner Art längst hinweg. Und – er besaß ein Spiegelbild … Das allerdings war auch für die uralten Vampirdämonen unge
wöhnlich. Er war in dieser Hinsicht der einzige, soweit er informiert war. Er trat zu seinem Wagen. Hinter dem Scheibenwischer steckte ein Strafzettel wegen Parkens im Halteverbot. Kurz sah er sich um; Dut zende von Autos parkten hier falsch. Eines schien neu hinzu gekommen zu sein. Schulterzuckend steck te ihm Morano seinen Strafzettel an die Scheibe. Gegenüber ragte das imposante Gebäude eines Hotels auf. Plötz lich hatte Morano ein seltsames Gefühl. Vorhin schon einmal, wäh rend er Danielle verwöhnte und ihr heißes, süßes Blut trank, hatte er einmal kurz so empfunden, als widme ihm jemand seine Aufmerk samkeit, aber dieses Gefühl war ganz schnell wieder verschwunden. Diesmal war es etwas anderes. Befand sich im Hotel jemand, den er kannte? Aber wer? Freund oder Feind? Eher Feind. Freunde … welcher Vampir hatte die schon? Nicht einmal unter seinesgleichen. Da gab es nur Rivalität und Revier kämpfe, weil jeder dem anderen das Futter neidete. Wenn nicht die Clanführer mit eiserner Hand für Ruhe gesorgt hätten, wenn nicht das Oberhaupt aller Vampirfamilien die Kontrolle über alle ausübte, wäre es längst schon zu erbitterten Kriegen gekommen. Morano wandte sich ab. Es war nicht die richtige Zeit, sich um je nen zu kümmern, dessen Nähe er vage fühlte. In der nächsten Nacht … dann war er auch wieder stärker. Ein wenig Einfluss hatte das Ta geslicht auch auf ihn immer noch. Er stieg in den Bentley Mulsanne, rangierte ihn auf die Straße und fuhr davon. Dass nur wenige Minuten später ein Mann aus einem Hotelfenster sah und die Limousine nicht mehr vorfand, ahnte er nicht.
Nach dem ausgedehnten Frühstück erfrischten sich Zamorra und Ni
cole, was fast für eine weitere Stunde Verzögerung unter der Dusche geführt hatte, kleideten sich an und verließen das Hotel. Zamorra wollte die Zeit nutzen, einen kleinen, unscheinbaren Laden in einer der Seitenstraßen aufzusuchen, um sich nach Büchern ganz speziel ler Art umzuschauen. Die studentische Sprechstunde fand ja erst am Nachmittag statt. Der Laden war vom Hotel aus zu Fuß erreichbar. Zamorra kannte ihn noch aus seiner Zeit als Student und später als Dozent. Klein, düster, vollgepackt mit Vitrinen und Regalen, in denen sich uralte Schriften und seltsame Artefakte befanden. Für jeden Bühnenzaube rer wäre es die Adresse, sich mit Dekorationsmaterial einzudecken. Aber für jeden echten Zauberer gab es hier auch allerlei Fetische und vor allem Schriften, die die Welt längst vergessen hatte. Hin und wieder entdeckte Zamorra hier ein Schnäppchen für seine Biblio thek. Meist waren diese Bücher, Folianten oder sogar Schriftrollen und Pergamente aberwitzig teuer. Doch in Anbetracht ihrer Selten heit – manchmal waren sie einmalig im Universum – waren die hor renden Preise durchaus gerechtfertigt. Noch mehr aber, wenn man bedachte, wie gefährlich diese Bücher in der Hand eines Unkundi gen werden konnten. Oft genug waren die darin niedergelegten Zaubersprüche und Anweisungen nur zu verdammt echt … Kaum auszudenken, wenn sich ein Krawallo-Teenie von seinem Taschengeld, das er normalerweise für Computergames verschleu derte, so ein Buch kaufte, um innerhalb der Clique damit anzuge ben, und dann die Zaubersprüche auch noch ausprobierte …! Zumal meist die Betonungen der Wortsilben von Ungeübten falsch gesetzt wurden und dann bei dem Zauber etwas ganz anderes herauskam als beabsichtigt … Inzwischen war es etwa elf Uhr. Die Sonne wollte nicht so recht durch die Smogglocke über Paris brechen. Als Zamorra und Nicole die Straßenseite wechselten, pflückte gerade jemand seinen Strafzet tel vom Scheibenwischer seines betagten Citroën, stutzte und brach in wütende Flüche aus. »Das ist doch nicht zu fassen … un glaublich … so eine Frechheit«, kam es zwischen den Verwünschun
gen hervor. »Damit kommt der nicht durch! Den bringe ich um! Den zeige ich an!« »Falsche Reihenfolge, Monsieur«, mischte Zamorra sich schmun zelnd ein. »Erst anzeigen, dann umbringen.« »Was zum Teufel … ach, schauen Sie sich das doch an, hier! Das ist eine bodenlose Unverschämtheit!« Der Mann in Jeans, Karohemd und Baskenmütze wedelte mit dem Strafzettel vor Zamorras Gesicht herum. »Gern, Monsieur«, sagte Zamorra und schnappte ihm den Zettel aus der Hand, um selbst den gewünschten Blick darauf zu werfen. »Tja, Ihr Fahrzeug steht nun mal im Halteverbot, da gibt's nichts zu löten an der Holzkiste. Ich glaube kaum, dass Sie mit der Anzeige gegen den Polizisten durchkommen …« »Aber schauen Sie doch! Das Kennzeichen!« Zamorra schaute. Das Kennzeichen auf dem Strafzettel stimmte nicht mit dem des Citroëns überein. »Das ist eine englische Zulassung«, entfuhr es ihm. Er war schließ lich oft genug auf der Insel unterwegs, um zu wissen, nach welchem System dort Zahlen und Buchstaben vergeben wurden. Er selbst hat te dort ein Auto an seinem Zweitwohnsitz, dem Beaminster-Cottage in der Grafschaft Dorset, stationiert. »Ah – natürlich! Ein Engländer!«, tobte der Baskenmützenmann weiter. »Das ist mal wieder typisch!« Während er die traditionelle Erbfeindschaft zwischen Engländern und Franzosen in prächtigen Farben beschwor, steckte Zamorra ihm wortlos das Knöllchen in die Hemdtasche und wandte sich Nicole zu, die dem tobenden Falsch parker amüsiert zuschaute. »Das Kennzeichen ist bekannt«, sagte er leise. »Deshalb heißt es ja auch Kennzeichen. Andernfalls müsste es Un kenntniszeichen heißen«, erwiderte Nicole süffisant lächelnd. »Es ist mir bekannt«, fuhr Zamorra fort. »Es gehört zu einem dun kelblauen Bentley Mulsanne. Und rate mal, wem der gehört.«
»Tan Morano?«, stieß sie hervor. Zamorra nickte. »Und rate mal, was vor unserem Frühstück hier im Halteverbot parkte.« »Der Bentley.« »Morano ist wieder aus der Versenkung aufgetaucht«, sagte Za morra. »Und er ist wieder hier, hier in Paris.«
»Bist du sicher?«, fragte Nicole, während sie weiter schlenderten. »Chef, es ist Jahre her. Du könntest dich irren. Eine ähnliche Folge von Buchstaben und Zahlen …« »Ich irre mich nicht«, widersprach er. Sie fuhr fort: »Morano verschwand spurlos, sein Auto wurde ver kauft oder versteigert oder was auch immer. Ich denke, Morano ist längst tot. Ebenso wie Sarkana, mit dem er sich damals anlegte, in den Katakomben.« »Morano galt schon einmal als tot«, erinnerte Zamorra. »Gryf pfählte ihn. Es ist eine Ewigkeit her. Und trotzdem tauchte Morano plötzlich quicklebendig wieder auf. Warum soll sich das jetzt nicht wiederholen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Mir wäre es lieber, wenn er tot wäre und tot bliebe«, sagte sie et was unbehaglich. Zamorra verstand. Sie hatte mit Tan Morano geschlafen. Der Vampir war der einzige Mann, der sie jemals in sein Bett bekommen hatte, seit sie mit Za morra zusammen war. Sie liebte Zamorra bedingungslos, sie war ihm treu, widerstand allen Versuchungen, auch wenn sie mal attrak tiven Männern hinterher schaute. Zamorra tat das bei den süßen Mädels ja auch. Aber sie wollte ihn nicht betrügen. Es war viel span nender, sich gegenseitig von den erotischen Fantasien zu erzählen und Rollenspiele durchzufuhren. Ebenso sah es bei Zamorra aus;
auch er hatte bislang jeder Versuchung widerstanden. Und dann war sie ausgerechnet bei dem Vampir schwach gewor den! Er hatte ihr Blut getrunken, er hatte sie zur Vampirin machen wol len. Doch sie war gegen den Keim resistent, so wie Zamorra gegen den des Kobradämons Ssacah. Eine Hexe aus Brasiliens Regenwald hatte Nicole einst immunisiert. Sie konnte keine Vampirin mehr werden. Morano hatte das zu spät begriffen. Aber vermutlich interessierte es ihn nicht einmal. Ihm war nur wichtig, einem Rivalen die Frau weggenommen zu haben. Einem Rivalen, der noch dazu sein Tod feind auf magischem Gebiet war. Zamorra legte den Arm um Nicole und zog sie zu sich heran. Er küsste sie zärtlich. »Vergiss die Sache endlich«, bat er dann leise, »wie ich sie auch vergessen habe. Du weißt, dass ich nicht eifersüch tig bin.« Sie wusste, dass er log. Sicher hatte er ihr verziehen, davon war sie überzeugt, denn sie kannte ihn vielleicht besser als er sich selbst. Aber er trug es Morano immer noch nach. Und wenn er eine Chance bekam, würde er Mora no töten. Nicht, weil jener ein Blutsauger, eine Geißel der Mensch heit war, sondern weil er versucht hatte, ihm Nicole wegzunehmen. Aus dem allgemeinen Kampf gegen die Kreaturen der Nacht war in diesem Fall eine ganz persönliche Angelegenheit geworden. »Was ist, wenn Morano wirklich tot ist und der Bentley jetzt von demjenigen gefahren wird, der ihn damals kaufte oder ersteigerte?« »Dann hätte er jetzt eine französische Zulassung«, sagte Zamorra. »Nein, Nici. Es ist Morano selbst, der sich hier zeigt.«
Während sie weitergingen, überlegte der Parapsychologe, weshalb Morano ausgerechnet hier auftauchte. Hatte es etwas mit Zamorra
zu tun? Belauerte der Vampir ihn, um ihn zu töten? Oder war es nur Zufall, dass sich ihre Wege gerade jetzt wieder kreuzten? Dass Zamorra sich jetzt in Paris aufhielt, war nicht schwer heraus zufinden. Die Gastvortrag an der Sorbonne war sogar plakatiert worden, damit auch Nicht-Studenten bei Interesse daran teilnehmen konnten. Und wenn Morano eines der Plakate gesehen hatte, oder ihm jemand die Information zutrug … Zamorra grübelte noch, als Nicole ihn am Ärmel zupfte und stoppte. »He, wo willst du hin? Wir sind am Ziel!« Er zuckte zusammen. Beinahe wäre er an dem kleinen Laden vor beigelaufen. Er kehrte um, öffnete die Ladentür und ließ Nicole an sich vorbei eintreten. Es war wie gewohnt düster in dem relativ kleinen Raum. Der Tür gong rief einen jungen Mann aus dem schmalen Durchgang zu den hinteren Räumen hervor. Zamorra hatte ihn noch nie gesehen. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Jüngling unverbindlich. »Ich hatte eigentlich gehofft, Abdul Alhazred zu treffen«, sagte Za morra. Das war der Spitzname des Ladeninhabers, angelehnt an den Autor des legendären Necronomicon, von dessen wenigen übrigge bliebenen Exemplaren sich eines in Zamorras Besitz befand. »Wen, bitte?« »Monsieur Alphonse«, sagte Zamorra. »Ihm gehört doch der La den.« »Gehörte«, erwiderte der Jüngling. »Wenn Sie ihn kannten, waren Sie sicher lange nicht mehr hier. Monsieur Alphonse ist vor einem halben Jahr verstorben. Seither führe ich das Geschäft.« »Sie sind sein Sohn?« »Gott bewahre! Sein Schwiegersohn. Mein Name ist Gerard Le clerc. Der alte Spinner hat mir den Laden vererbt. Aber ich werde ihn wohl bald aufgeben. Mit diesen Sachen lässt sich kein Gewinn erzielen. Pardon, Monsieur, aber so sehr diese Dinge für manche Leute interessant sein mögen, sicher auch für Sie, es bringt doch
nichts in die Kasse. Ein Kunde pro Woche reicht nicht, um leben zu können.« »Und wovon hat dann Monsieur Alphonse leben können?«, warf Nicole ein. »Von seinem Vermögen, das er bis auf den letzten Euro verbraucht hat. Er war ein Narr. Das hier war seine Welt, aber …« Leclerc zuck te mit den Schultern. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, fuhr er fort. »Abdul Alhazred hätte es gewusst«, schmunzelte der Parapsycho loge. »Mein Name ist Zamorra. Ich habe oft hier gekauft.« »Der Zamorra? Der Dämonenjäger?« Zamorra nickte. »Alphonse hat oft von Ihnen gesprochen«, gestand Leclerc. »Er hat Sie irgendwie verehrt, fast vergöttert. Aber ich habe Sie mir älter vorgestellt. Er erzählte, dass Sie schon vor dreißig Jahren bei ihm ge kauft haben. So alt sehen Sie aber nicht aus.« »Ich bin ein Zauberer«, sagte Zamorra. »Zauberer altern nicht.« »Unsinn. Zauberer haben immer einen bis zu ihren Füßen reichen den grauen Bart, über den sie ständig stolpern, und sie tragen spitze Hüte.« »Mein Bart und mein spitzer Hut sind für die Augen der Normals terblichen unsichtbar«, sagte Zamorra. »Darf ich mich trotzdem ein wenig umsehen? Ich verspreche auch, nicht zu stolpern und in die Auslagen zu stürzen.« Leclerc grinste. »Wehe, wenn doch! Dann müssen Sie den ganzen Laden leerkaufen.« Zamorra sah sich um. Viele Dinge, die hier auf einen neuen Besitzer warteten, kannte er noch von seinem letzten und vorletzten und vorvorletzten Besuch her. In diesem Punkt hatte Leclerc wohl Recht: Gewinn warf dieser Laden sicher nicht ab. Der Umsatz musste minimal sein. Allerdings, bei den Preisen … wer gab schon tausend Euro für ein kleines Büch lein aus, das noch dazu auseinanderzufallen drohte, wenn man es
nur anschaute? Das war etwas für Sammler oder für Jäger wie Za morra. Aber von denen gab es auf der ganzen Welt nicht genug, um diesen Laden in die Gewinnzone zu bringen. Er stöberte und fand tatsächlich einen Wälzer, den er noch nicht kannte und der magische Praktiken im alten China behandelte – er freulicherweise nicht in chinesischer Sprache abgefasst. Das Buch konnte ihm vielleicht wertvolle Hinweise liefern, wenn er es wieder mit Fu Long oder gar Kuangshi zu tun bekam. Also schleppte er es zur Ladentheke. Das handgemalte Preisschild forderte 4990 Euro. Ein verdammt stolzer Preis. »Das wollen Sie wirklich haben?«, fragte Leclerc kopfschüttelnd, der während Zamorras Suche versucht hatte, mit Nicole anzubän deln. »Nun gut, ich will Ihnen nicht zu nahe treten …« »Aber Sie halten mich für total bescheuert«, half Zamorra aus. »Sie bekommen das Buch für … ach, sagen wir, zweihundert Euro«, sagte Leclerc. »Was verschafft mir diesen Vorzugspreis? Doch nicht die Tatsa che, dass ich der große Zamorra bin, von dem Ihnen Monsieur Alphonse vorgeschwärmt hat?« »Unsinn«, sagte Leclerc. »Ich will das Zeug loswerden. Was ich vorhin sagte, Sie müssten den ganzen Laden leerkaufen, war nicht mal ein Scherz. Ich werde hier demnächst den großen Räumungs verkauf starten. Dann bekommen Sie das Buch vielleicht sogar für fünfzig.« »Bis dahin hat es vielleicht ein anderer gekauft. Aber ich will es haben.« »Wie Sie wünschen. Ich werde froh sein, wenn diese Bude hier leer ist. Vielleicht mache ich eine Teestube daraus. Oder ein Internetcafe. Oder was auch immer. Jedenfalls etwas, das auch Gewinn abwirft.« »Kann ich mit Kreditkarte bezahlen?«, fragte Zamorra. Leclerc lachte auf. »Das haben Sie doch früher auch nicht, oder? Alphonse war selbst dafür zu altmodisch. Bares ist Wahres, pflegte
er zu sagen. Tut mir Leid, ich selbst hatte keine Lust, hier noch tech nisch aufzurüsten, da ich den Laden ohnehin kippen will.« »Ich schreibe Ihnen einen Scheck.« »Geben Sie mir die 50 Ausverkauf-Euro, und die Sache ist erledigt«, sagte Leclerc. »Sie sind ein schlechter Geschäftsmann«, stellte Zamorra fest und blätterte einige Scheine auf den Tisch, während Ledere das Buch in eine Plastiktüte stopfte. »Ich hätte auch den Originalpreis bezahlt.« »Ich will den ganzen Krempel loswerden«, sagte Leclerc. »Ich habe die Einkaufspreise nicht bezahlen müssen, ich nehme auch nichts mehr herein, und wenn ich das alles auch gewaltig unter Einstands preis verkaufe – mir ist's egal.« Zamorra nahm die Tüte entgegen und legte seine Visitenkarte auf die Theke. »Wenn Sie Ihren Räumungsverkauf beginnen«, sagte er, »rufen Sie mich bitte an. Ich meine das ernst. Es gibt hier einige Schätze, die nicht in falsche Hände fallen sollten. Und Sie sollten wirklich nicht zu billig verkaufen.« »Sie sind ein wahrer Menschenfreund«, sagte Leclerc. Er ging vor aus und öffnete Zamorra und Nicole die Tür.
»So was habe ich ja noch nie erlebt«, gestand Nicole, als sie zurück zum Hotel gingen. »Der Junge hat doch 'nen Lattenschuss. Der ver schleudert unschätzbare Werte für nichts.« »Ich kann das verstehen«, sagte Zamorra. »Er hält seinen Schwie gervater für einen Spinner. Diese Bücher und Artefakte sind nicht seine Welt, sie bringen keinen Profit. Er will einen Schlussstrich zie hen. Da ist es ihm egal, was er dabei einnimmt. Räumungsausver kauf zu jedem Preis.« »Dafür ist er nicht clever genug«, sagte Nicole. »Ich an seiner Stelle würde dann die Preisschilder an den Auslagen wegnehmen, oder al les komplett neu auszeichnen.«
»Ich weiß nicht – vielleicht würde er damit den Rest der wenigen Stammkunden verschrecken.« Nach einer Weile sagte sie: »Weißt du eigentlich, dass du fürchter lich fies und gemein bist?« »Ich? Nie und nimmer.« »Doch!«, behauptete sie. »Dieses Buch, das du gerade gekauft hast – du wirst natürlich wollen, dass sein Inhalt digitalisiert und im Computer gespeichert wird. Und wer muss das wieder mal machen? Ich! Und wenn du demnächst den ganzen Laden aufkaufst, kommt noch mehr zusätzliche Arbeit auf mich zu. Dabei schaffe ich es so schon kaum, unsere riesige Bibliothek elektronisch zu sichern …« »Aber du wirst es sicher schaffen«, war Zamorra zuversichtlich. »Schließlich bist du die beste Sekretärin, die ich kenne.« »Gut, dass du nicht Sklavin gesagt hast«, vermerkte sie. »Aber für diese Mehrbelastung an Arbeit verlange ich einen Extra-Bonus.« »Sprich's lieber nicht aus … du ziehst es ja doch kaum mal an …« Sie grinste so breit wie nur eben möglich.
Am frühen Abend befand sich Zamorra bereits wieder im Hotel, als Nicole endlich eintraf. Ein Page brachte einen ganzen Stapel flacher Kartons, stapelte sie auf und streckte dann in Richtung Zamorra die Hand wegen Trinkgelds aus. Mit freundlichem Lächeln wies dieser auf Nicole. Nachdem sie dem Pagen einen Euro zugesteckt hatte, funkelte sie Zamorra böse an. »Elender Knauser!« »Die Zeit der Kavaliere ist vorbei«, sagte er leichthin. »Die Zeit der Emanzipation verändert auch alle Traditionen.« Sie ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich hatte dich eigentlich noch gar nicht erwartet«, sagte sie. »Ich dachte, du prügelst dich noch mit den Studenten herum.«
»Es kamen weit weniger, als ich hoffte. Gerade mal eine Hand voll«, sagte er. »Offenbar lässt selbst in der Fakultät das Interesse an Fakten rapide nach. Zwei waren nur da, weil sie Autogramme auf eines meiner Fachbücher wollten.« »Ich glaube, Serien wie ›Akte X‹ und Ähnliches haben da eine Menge kaputtgemacht«, vermutete Nicole. »Die Leute glauben, die ganzen paranormalen Phänomene sind nur Fantasie, die gibt es nur im Film, aber nicht in Wirklichkeit.« »Aber das hier sind Studenten, die sich ernsthaft mit eben diesen Phänomenen befassen.« Zamorra schüttelte den Kopf. »Es wundert mich immer weniger, dass die Dämonen immer mehr Macht bekom men. Wenn dann auch noch Leute wie Leclerc Fachläden führen und nicht im Geringsten von dem überzeugt sind, was sie verkaufen …« Sein Handy meldete sich mit einer kurzen Melodie – die Anfang stakte von »Sympathy for the Devil«. »Wer zum …« Nicole warf ihm das Gerät zu, das neben ihr auf dem kleinen Tisch lag. »Finde es heraus, indem du einschaltest.« Was er auch tat. Sein erster Gedanke war, vom Château Montagne aus angerufen zu werden, weil wieder mal irgendwo auf der Welt etwas passiert war, worum er sich kümmern musste. Aber es war nicht Butler William, sondern Gerard Leclerc. »Profes sor? Sind Sie noch in der Nähe?« »Was sich so Nähe nennt. Haben Sie den Schlussverkauf auf heute abend vorverlegt?« »Das ist es nicht.« Leclerc klang etwas nervös. »Ich weiß, es ist et was verrückt, aber meine Schwester …« »Nun reden Sie schon«, drängte Zamorra. »Was ist mit ihr?« »Ich habe mich vorhin mit ihr getroffen. Sie … sie hat kein Spiegel bild.«
Die Hotelbar hatte um diese Zeit noch nicht geöffnet. Deshalb saßen sie jetzt in Zamorras und Nicoles Suite. Gerard Leclerc fühlte sich offenbar alles andere als wohl. »Erzählen Sie«, bat Zamorra. »In aller Ruhe. Sie wissen, dass wir Sie ganz bestimmt nicht auslachen werden.« Im Gegenteil, er fand es mutig, dass der Skeptiker Leclerc sich überwunden und ihn angeru fen hatte, und dann auch noch hierher gekommen war. »Danielle arbeitet als Bodyguard für eine Sicherheitsfirma«, sagte er. »Bevor sie ihren Dienst antritt, oder wenn sie Feierabend macht, kommt sie manchmal bei mir vorbei und besucht mich in meinem Laden. Diesmal war es vor Dienstantritt; sie macht Nachtdienst. Muss irgendeinen Promi-Prollo bewachen, weiß der Teufel, wen. Der ist wahrscheinlich so wichtig wie ein Kaffeesack in Brasilien. Mir egal, sie verdient gutes Geld damit. Sie kam, und als sie dabei an einem Spiegel vorbei ging, sah ich kein Abbild. Ich dachte erst, ich hätte mich getäuscht. Aber dann sah ich es ein zweites Mal, und danach habe ich sie während des Gesprächs dazu gebracht, sich di rekt neben dem Spiegel zu postieren – nichts, kein Abbild.« »Sie sind absolut sicher?« »Hören Sie, Professor. Sie haben gesagt, Sie würden mich nicht auslachen. Ich weiß nicht mal, ob es richtig ist, dass ich zu Ihnen ge kommen bin. Aber das ist etwas, das ich nicht verstehe, und Sie sind Experte für Dinge, die niemand versteht. Alphonse redete oft von Ihnen. Menschen, die kein Spiegelbild haben, sind doch Vampire, oder?« »So sagt man.« »Sagt man so, oder ist es so?« »Es ist so«, sagte Nicole. »Das heißt also, Danielle ist ein Vampir. Ich fasse es nicht. Ich kann es immer noch nicht wirklich glauben. So etwas gibt es doch nicht wirklich. Das sind Romane und Filme.«
»Die Bücher, die Ihr Schwiegervater verkaufte, gab es auch wirk lich. Gerard, verramschen Sie sie nicht zu billig. Ich kenne einige dieser Werke, habe sie selbst in meiner Bibliothek. Sie sind gefähr lich.« »Aber was ist nun mit Danielle?« »Wann haben Sie sie zuletzt vor einem Spiegel gesehen?« »Keine Ahnung. Mann, Professor, ich habe Wichtigeres zu tun, als sie im Bad zu beobachten. Dass der Spiegel im Laden so passend stand, ist Zufall. Er soll angeblich einem Vassago oder so ähnlich ge hört haben.« Nicole lachte auf. Zamorra winkte ab. »Der Spiegel des Vassago … dass Abdul Al hazred auf so etwas hereingefallen sein soll, begreife ich nicht. Denn bei Vassagos Spiegel handelt es sich nicht um einen wirklichen Spie gel, sondern um eine Wasserfläche, die durch eine magische Be schwörung aktiviert werden muss. Dabei ist es egal, ob es sich um das Wasser in einem Kochtopf, im Waschbecken, in der Badewanne oder um einen Ozean handelt. Aber das Ding, was Sie im Laden ste hen haben, ist ein Witz, mehr nicht. Das können Sie sich in der Flur garderobe aufhängen.« »Ich kann's auch lassen …« »Wo ist Ihre Schwester jetzt?«, fragte Zamorra. »Im Dienst.« »Wann ist der beendet?« »Wahrscheinlich morgen früh. Je nachdem, wie lange ihr Schutz befohlener sein Nachtleben auszukosten gedenkt. Der flippt derzeit von Disco zu Disco, wie Danielle sagte, und sie muss aufpassen, dass er nicht von einer Sekte umgebracht wird. Parasäence schimpft die sich wohl.« Zamorra und Nicole sahen sich an. Sie hatten mit dieser Sekte auch schon zu tun gehabt. Sie war einst von Elron Havard, einem mittlerweile verstorbenen, unfähigen Autor grottenschlechter
Science Fiction-Romane, gegründet worden, der begriff, dass er mit seinen Machwerken nicht annähernd so viel Geld verdienen konnte wie mit dem Glauben der Menschen. Der Religionsaspekt der Sekte war dabei nur vorgeschoben und wurde zusätzlich als »Wissen schaft« getarnt – doch diese so genannte Wissenschaft erschöpfte sich darin, parabegabte Menschen mit ihren besonderen Fähigkeiten zu missbrauchen und überhaupt alle Angehörigen der Sekte einer stetigen Gehirnwäsche zu unterziehen, um sie zu gefügigen Sklaven zu machen. Mehr noch – das Interesse von Parasäence galt vor allem wirtschaftlicher Macht. Es war weniger eine Sekte als ein Konzern, nur schaffte dieser Konzern es immer wieder, als »Religion« aner kannt zu werden. Gerade eben vor einem halben Jahr hatte Parasä ence es hinbekommen, in Zamorras Nachbarland Deutschland von der Steuer befreit zu werden … Aber diese Sekte war jetzt nicht das unmittelbare Problem, son dern Leclercs Schwester. Denn zumindest mit Vampirismus hatte diese mit teilweise faschistoiden Methoden arbeitende Sekte nichts zu tun. »Wo wohnt Ihre Schwester?«, fragte Zamorra. »Gleich gegenüber«, sagte Leclerc.
Zamorra atmete tief durch. »Gegenüber? Im dem Hochhaus?« »Sicher. Deshalb kann sie ja eben mal bei mir im Laden 'reinschau en. Ist ja nicht weit.« »Morano«, sagte Nicole leise. Zamorra nickte. Deshalb also hatte der Bentley heute vormittag genau hier im Hal teverbot gestanden. Morano hatte Danielle Leclerc zur Vampirin ge macht. »Haben Sie einen Schlüssel zu Danielles Wohnung?«, fragte Za morra.
»Ja. Sie zu meiner auch. Was soll das bedeuten? Und was ist Mora no?« Der Dämonenjäger erhob sich. »Bitte, geben Sie mir den Schlüssel. Ich möchte mich in der Wohnung ein wenig umsehen.« Auch Leclerc stand auf. »Gefällt mir zwar nicht, aber ich bringe Sie hin.« »Sie verstehen nicht, Monsieur«, sagte Zamorra. »Ich bat Sie, mir den Schlüssel zu geben. Es ist nicht gut, wenn Sie dabei sind.« »Ich werde den Teufel tun, Sie unbeaufsichtigt in Danielles Woh nung zu lassen«, sagte Leclerc. »Was soll das, Mann?« »Lass ihn mit dabei sein, Chef«, sagte Nicole. »Vielleicht wird er danach mehr verstehen.« »Also gut …«
Eine Viertelstunde später standen sie in der Wohnung. Sie war un aufgeräumt, aber wen störte das? Zamorra betrat das Schlafzimmer. Das erste, was ihm auffiel, war das völlig zerwühlte Bett; nach ih rem Erwachen hatte Danielle wohl nicht mal daran gedacht, ein we nig Ordnung zu schaffen. Das zweite war eine metallisch schim mernde Karte auf dem Nachttisch neben dem Bett. Zamorra griff vorsichtig danach. Im gleichen Moment spürte er, wie sein Amulett schwach vibrierte. Die handtellergroße, magische Silberscheibe trug er wie immer an einer Halskette unter dem Hemd. Der Zauberer Merlin hatte dieses Amulett einst aus der Kraft einer entarteten Sonne geschaffen und dar aus Zamorras wirksamste Abwehrwaffe gegen dämonische Kräfte geformt. Merlins Stern warnte seinen Besitzer soeben vor Schwarzer Magie. Zamorra betrachtete die metallische Karte näher. Aus einem be stimmten Blickwinkel konnte er Schriftzeichen erkennen, Buchsta ben und Zahlen. Einen Namen und eine Telefonnummer. Der Name
war Tan Morano. Zamorra prägte sich die Telefonnummer ein. In der Küche fand er einen Notizblock. Er riss ein Blatt ab und schrieb die Nummer zusätzlich auf. Ursprünglich beabsichtigte er, mit dem Amulett eine Zeitschau durchzuführen, einen Rückblick in die Vergangenheit, um Morano hier zu sehen. Doch nach dem Fund der Visitenkarte konnte er dar auf verzichten. Er war sicher, dass Danielle Leclerc erst heute zur Vampirin gemacht worden war. Es passte zu Morano, ihr seine Visi tenkarte zu geben. Hätte er sie schon Tage vorher mit dem Vampir keim infiziert, hätte diese Karte hier kaum noch gelegen. Ruf mich an, lockte sie. Zamorra nahm sein TI-Alpha-Handy und tastete die Rufnummer ein. Es dauerte eine Weile, dann meldete sich ein Anrufbeantworter. »Ich weiß, dass du hier bist«, sagte Zamorra. »Dein Tod lässt herz lich grüßen.« Dann schaltete er wieder ab. Morano würde seine Stimme erkennen. Zamorra war gespannt, wie der Vampir auf diese Provokation rea gierte.
»Was bedeutet das?«, drängte Leclerc. »Was haben Sie vor?« »Ich will dem Vampir eine Falle stellen«, sagte er. »Ich will ihn dazu bringen, dass er wütend wird. Wut macht leichtsinnig.« »Ich komme immer noch nicht so ganz damit zurecht«, gestand Leclerc. »Dass es Vampire wirklich gibt … Wenn ich nicht mit eige nen Augen gesehen hätte, dass Danielle kein Spiegelbild hatte, ich …« Er verstummte. »Was werden Sie tun?«, wiederholte er nach einer Weile seine Fra
ge von vorhin. »Ich möchte den Wohnungsschlüssel für eine Weile behalten«, sagte Zamorra. »Geben Sie ihn mir, bitte.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage«, protestierte Leclerc. »Warten Sie erst mal meine Erklärung ab. Ihre Schwester wird nach Dienstschluss heimkommen. Wenig später wird der Vampir hier auftauchen.« Leclerc schüttelte den Kopf. »Jeder weiß, dass Vampire nur nachts aktiv sind. Das Sonnenlicht ist für sie tödlich. Wenn Danielle Feier abend hat, ist es Feiermorgen. Der Vampir wird in seine Gruft zu rückkehren. Er will ja nicht zu Staub zerfallen, oder?« »Sie unterschätzen das«, sagte Zamorra. »Sie glauben all das, was in Filmen und Romanen über die Blutsauger verbreitet wird. Es stimmt nicht immer. Dieser hier – ich kenne ihn. Er ist uralt und im mun. Er kann sich auch bei Tageslicht im Freien bewegen, und er tut das auch. Wann sonst, glauben Sie, sollte er Ihre Schwester gebissen haben? Sie ist die Nacht über im Einsatz.« »Es kann Tage her sein.« »Dann hätte diese Karte nicht hier gelegen. Sie stammt von dem Vampir. Er war heute in den frühen Morgenstunden hier.« Er wusste es, weil er das Auto gesehen hatte, aber das konnte er Leclerc nicht sagen, ohne total unglaubwürdig zu werden. »Sie sind ja verrückt, Professor.« »Wenn Sie das meinen, warum haben Sie sich dann an mich ge wandt? Ich möchte abwarten, bis der Vampir kommt, die Wohnung betritt, und eine Minute später folge ich ihm und sorge dafür, dass er niemals wieder Unheil anrichtet.« Was er nicht aussprach, war, dass er kaum noch eine Chance sah, Danielle Leclerc zu retten. Der Vampirkeim hatte in ihr unheimlich schnell gewirkt. Normalerweise dauerte dieser Vorgang Tage. Aber wenn sie jetzt schon kein Spiegelbild mehr hatte, war sie so gut wie verloren.
»Sie sagten, Sie kennen diesen Vampir«, sagte Gerard. »Hatten Sie schon einmal mit ihm zu tun?« »Ja«, sagte Nicole an Zamorras Stelle. »Das heißt also, dass er Ihnen entwischt ist«, schlussfolgerte Ge rard Leclerc. »Das klingt nicht gerade ermutigend. Was, wenn das hier wieder passiert?« »Es wird nicht wieder passieren«, versicherte Zamorra. »Diesmal erwische ich ihn.« »Ich werde Ihnen den Wohnungsschlüssel nicht überlassen«, sagte Leclerc. »Wenn Sie dem Vampir auflauern wollen, können Sie das auch draußen auf dem Hausflur oder sonstwo. Dafür müssen Sie nicht in die Wohnung eindringen.« »Ich kann Sie nicht zwingen«, sagte Zamorra. »Aber es macht die Sache nur schwieriger. Gehen wir.« Eine Viertelstunde später waren sie wieder auf der anderen Stra ßenseite im Hotelzimmer. Leclerc war gegangen. Zamorra war nicht sicher, ob er ihn wirklich überzeugt hatte. Mit etwas Pech tauchte der junge Bursche im entscheidenden Moment wieder auf und woll te seiner Schwester helfen. Das wäre das Dümmste, was passieren konnte. »Willst du Morano wirklich im Hausflur abfangen?«, fragte Nico le. »Nein. Ich komme auch anders in die Wohnung.« Zamorra tippte gegen das Amulett, das vor seiner Brust hing. »Es hat mir schon ein mal geholfen, eine Tür aufzuschließen.« »Es war nicht gut, dass du Morano angerufen hast«, sagte sie. »Er ist jetzt gewarnt. Und an deine Verunsicherungsstrategie, ihn wü tend und leichtsinnig zu machen, glaube ich nicht. Das funktioniert bei Morano nicht.« »So gut kennst du ihn?« »So schätze ich ihn ein. Er ist schlau. Er hat ein wenig von dir. Du würdest doch auch nicht blindwütig in eine Falle laufen, die er dir
stellt.« Zamorra lächelte. »Ich werde ihm gleich zwei Fallen stellen«, sagte er. Er benutzte die Wahlwiederholung seines Handys und rief den Vampir erneut an. »Weißt du, wo du mich finden kannst? Ich bin dir ganz nahe. Ich habe dich gesehen, wie du heute früh Blut trankst. Ich bin dein Tod.« Wieder erreichte er damit nur den Anrufbeantworter. »Was soll das jetzt?«, fragte Nicole. »Das ist doch keine zweite Fal le!« »Doch«, sagte Zamorra. »Die erste Falle ist Danielles Wohnung. Die zweite ist dieses Hotelzimmer. Er muss sich entscheiden. Und entweder hier oder drüben ist er dann fällig.« »Haben wir zufallig einen geweihten Eichenpflock bereit? Mann, unser ganzes Waffenarsenal ist im Château Montagne! Hier haben wir nur dein Amulett!« Schließlich konnte ja vorher keiner damit rechnen, was aus einem harmlosen Trip zu einer Gastveranstaltung werden würde. Zamorra lächelte. »Und daran haben sich schon mehrere Vampire die Zähne ausge bissen …«
5. Kaltes Blut Morano hörte die Anrufe ab. Zamorra, durchzuckte es ihn. Er kannte die Stimme nur zu gut. Za morra, der Dämonenjäger! Sein alter Feind! Jetzt wusste er, wessen Präsenz er in den Morgenstunden gefühlt hatte, als er sich mit Danielle Leclerc beschäftigte. Zamorra war ihm nahe, ganz nahe. Zamorra in Paris? Im Hotel! Das Nobelhotel gegenüber Danielles Wohnung. Dort musste er sein. Es war sicher ein Zufall. Zamorra hatte niemals damit rechnen können, dass Morano ausgerechnet hier auftauchte. Aber wie hatte er ihn erkannt? Bei ihren ersten Begegnungen hatte Zamorra Mora no nicht als Vampir identifiziert. Der Blutfürst konnte seine entspre chende Aura verbergen. Auch etwas, das er anderen Vampiren vor aus hatte. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Zamorra begriff, womit er es bei Tan Morano zu tun hatte. Und Morano konnte sich nicht vorstellen, dass der Meister des Übersinnlichen inzwischen soviel hinzugelernt hatte, dass er die Anwesenheit des Vampirs nun auch durch Stein mauern hinweg über die Distanz wahrnehmen konnte. Es musste et was anderes sein, womit Morano sich ihm verraten hatte. Das Auto. Vielleicht hatte Zamorra es gesehen. Morano hing an dem Wagen. Er war groß, komfortabel und zuver lässig. Damals, als man ihn für tot hielt, in den Katakomben von Pa ris umgekommen, hatte er dafür gesorgt, dass dieses Auto in seine Hand zurückkehrte. Manchmal war es wohl doch nicht so gut, alte
Gewohnheiten zu pflegen. Er musste vorsichtig sein. Zamorra war ein starker Gegner. Er hat te sicher nichts vergessen. Damals hatte Morano ihn schwer getrof fen, als er Zamorras Gefährtin verführte. Zamorra musste Wut und Hass verspüren. Das machte ihn leichtsinnig. Deshalb hatte er jetzt schon zweimal … … angerufen … Er kannte Moranos Handy-Nummer! Woher? Die Visitenkarte, die Morano in Danielles Wohnung hinterlassen hatte! Es gab keine andere Möglichkeit. Zamorra hatte sie gefunden. Aber wieso? In welcher Beziehung stand er zu Danielle Leclerc? Hier stimmte etwas nicht. Morano dachte sorgfältig nach. Er ging davon aus, dass ihm Za morra in Danielles Wohnung eine Falle stellte. Ob mit deren Wissen oder ohne, spielte keine Rolle. Mit den Telefonaten wollte er Morano vermutlich provozieren und seinerseits zum Leichtsinn verführen. Weißt du, wo du mich finden kannst? Ich bin dir ganz nahe. Ich habe dich gesehen, wie du heute früh Blut trankst. Es gab nur eine Möglichkeit, wie Zamorra ihn beobachtet haben konnte: vom Hotel aus. Dort also befand sich Zamorras Ausgangsbasis. Der Vampir lächelte dünn. Er war kein Narr. Er würde weder in die eine noch in die andere Falle gehen. Zamorra rechnete damit, ihn entweder in Danielles Wohnung zu erwischen, oder bei dem Versuch, Zamorra im Hotel zu töten. Morano musste stattdessen etwas tun, womit sein Gegner nicht rechnete. Er gab eine Telefonnummer in sein Handy ein … Danielle Leclerc zuckte zusammen, als ihr Handy sich per Vibrati on meldete. Sie hatte gerade vor drei Stunden ihren Dienst begon nen, und Johnny Madrid schien heute noch unausstehlicher zu sein als in den letzten Tagen.
Sie trat ein paar Schritte beiseite und nahm den Anruf entgegen. »Morano«, hörte sie. »Wie geht es dir, meine Liebe?« »Woher hast du diese Telefonnummer?«, fragte sie überrascht. »Dein Handy lag in deiner Wohnung auf einem Tisch und war standby. Ich war so neugierig, die Funktion eigene Nummer aufzuru fen, und ich habe ein sehr gutes Gedächtnis. Geht es dir gut?« »Den Umständen entsprechend. Ich bin im Dienst.« »Jetzt nicht mehr«, vernahm sie Moranos sanfte, einschmeichelnde Stimme. »Du wirst etwas für mich erledigen.« »Das geht doch nicht«, widersprach sie. »Wie stellst du dir das vor? Ich kann hier nicht weg.« »Du kannst und wirst«, sagte er eindringlich. »Du wirst dir folgen de Telefonnummer einprägen.« Er nannte sie, mehrmals hinterein ander, jedesmal eindringlicher. Danielle konnte sich nicht dagegen wehren, die Zahlenfolge verankerte sich immer tiefer in ihrem Be wusstsein. »Du wirst dort anrufen«, fuhr Morano dann fort. »Du wirst den Angerufenen in deine Wohnung bestellen. Sein Name ist Zamorra. Du wirst ihm sagen, dass du seine Hilfe brauchst. Du bist von einem Vampir gebissen worden. Er kann dich heilen und retten. Hast du verstanden, Danielle?« »Das – das ist doch alles unmöglich! Es ergibt keinen Sinn.« »Du wirst dort anrufen«, wiederholte Morano. »Du wirst Zamorra in deine Wohnung bestellen. Du wirst ihm sagen …« Er wiederholte seine Worte, immer und immer wieder, ließ Dani elle keine Zeit zum Nachdenken oder zum Widerspruch. Es war wie Hypnose. Seine Stimme bedrängte sie sanft, unterwarf ihren Willen bald. »Wenn er deine Wohnung betritt, wirst du ihn erschießen«, sagte Morano. »Nein! Du bist verrückt!«
»Du wirst sofort deine Wohnung aufsuchen, Zamorra anrufen und ihn zu dir bitten, und wenn er deine Wohnung betritt, erschießt du ihn. Du wirst sofort deine Wohnung aufsuchen, Zamorra anrufen und ihn zu dir bitten, und wenn er deine Wohnung betritt, erschießt du ihn. Du wirst sofort deine Wohnung aufsuchen, Zamorra anrufen und ihn zu dir bitten, und wenn er deine Wohnung betritt, erschießt du ihn. Du wirst sofort deine Wohnung aufsuchen, Zamorra anrufen und ihn zu dir bitten, und wenn er deine Wohnung betritt, erschießt du ihn. Du wirst sofort deine Wohnung aufsuchen, Zamorra anrufen und ihn zu dir bitten, und wenn er deine Wohnung betritt, erschießt du ihn.« Es hämmerte auf sie ein. Sie unterlag dem Einfluss. Sie merkte nicht, dass die Telefonverbindung längst unterbrochen war. Sie steckte ihr Handy wieder ein, und ohne ein Wort zu Johnny Madrid oder zu ihren beiden Kollegen zu sagen, wandte sie sich ab und ging davon. Moranos Worte hallten in ihr nach. Sie konnte sich dem Be fehl nicht entziehen. Auch wenn es ihr nicht bewusst war – er hatte sie mit dem Vam pirkeim infiziert. Er hatte sie auf sich geprägt. Sie musste ihm gehor chen, ob sie wollte oder nicht. Sie musste. Und – sie tat es. Als ihre Kollegen merkten, dass sie nicht wie vermutet kurz zur Toilette gegangen, sondern einfach verschwunden war, befand sie sich bereits fast wieder in ihrer Wohnung. Auf weitere Anrufe reagierte sie nicht. Dafür gab es in ihrem Den ken keinen Platz mehr. Sie konnte nur noch tun, was Tan Morano ihr befahl, und nichts anderes mehr. Du wirst sofort deine Wohnung aufsuchen, Zamorra anrufen und ihn zu dir bitten, und wenn er deine Wohnung betritt, erschießt du ihn. Das war es, was sie tun musste. Es gab keinen anderen Weg.
Morano wusste, dass Danielle tun würde, was er verlangte. Der Vampirkeim war stark in ihr. Morano hatte mehr von ihrem Blut ge trunken, als er es normalerweise bei anderen tat. Dadurch war auch der Vampirkeim in ihr viel schneller stark geworden. Warum er dafür gesorgt hatte, wusste er nicht – aber jetzt stellte es sich als richtig heraus. Er konnte sie als Werkzeug und Waffe benut zen. Sie war ihm hörig. Auch wenn ein Teil von ihr noch opponierte – der Zwang war stärker. Danielle Leclerc befand sich in Tan Mora nos Bann. Er war gespannt darauf, wie diese Auseinandersetzung verlaufen würde. Ließ Zamorra sich tatsächlich auf diese Weise überrumpeln? Es war ein interessantes Spiel. Zug um Zug. Morano war nicht sicher, ob er es gewinnen konnte – zu diesem Zeitpunkt. Aber zumindest verlieren konnte er es nicht. Davon war er überzeugt. Er parkte den Wagen in einer Seitenstraße, dann bezog er als Fuß gänger Position und wartete ab. Schon nach kurzer Zeit sah er Dani elles Kleinwagen, den sie in die Garage des Wohnblocks fuhr. Es konnte nicht mehr lange dauern …
Zamorras Handy meldete sich. Im ersten Moment nahm er an, dass Morano sich mit einer ähnlichen Nachricht zu revanchieren versuch te, wie Zamorra sie ihm hatte zukommen lassen. Doch das Display zeigte ihm eine Telefonnummer an, die er nicht kannte. »Ja?«, meldete er sich knapp. »Sind Sie Zamorra?«, fragte eine unbekannte Frauenstimme. »Wer will das wissen?« »Danielle Leclerc. Sie sind Monsieur Zamorra?« »Wenn Sie nichts dagegen haben – ja. Woher haben Sie meine Te lefonnummer?«
Danielle zögerte kurz. »Von der Auskunft«, sagte sie dann. »Bitte, Sie müssen mir helfen.« »Wobei?« »Ich wurde von einem Vampir gebissen«, sagte sie. »Sie müssen mir helfen, bitte!« »Von einem Vampir? Sind Sie sicher, dass Sie mir nicht einen Bä ren aufbinden wollen?«, fragte Zamorra. »Und wie kommen Sie dar auf, dass ausgerechnet ich Ihnen helfen könnte? Woher wissen Sie überhaupt von mir?« »Ein Freund … machte mich auf Sie aufmerksam …« »Wie heißt dieser Freund?« »Ist das wichtig? Es geht um meine Existenz! Helfen Sie mir.« »Wenn Sie meine Telefonnummer von der Auskunft haben, wis sen Sie sicher auch, dass ich in einem Schloss an der südlichen Loire wohne. Wo finde ich Sie?« »In Paris.« Sie nannte die Straße und Hausnummer. »Südliche Loi re?«, fragte sie dann nach. »Wirklich? So weit entfernt?« »So weit entfernt«, bestätigte Zamorra. »Darüber hinaus kann ich Ihnen nicht helfen. Vampire – das ist doch Unsinn. Ich wünsche Ih nen noch eine angenehme Nacht.« Zamorra schaltete die Verbindung aus und legte das TI-Alpha zur Seite. »Was war das denn?«, fragte Nicole, die nur die Hälfte des Ge sprächs mitbekommen hatte. Er teilte ihr mit, was Danielle Leclerc ihm erzählt hatte. »So sieht also Moranos Reaktion aus«, schloss er. »Er versucht nun seinerseits, mich in eine Falle zu locken. Aber das ist doch recht pri mitiv aufgezogen.« »Bist du sicher, dass Morano dahinter steckt?« Er nickte. Woher sollte Danielle von ihm wissen? Von ihrem Bruder ganz si
cher nicht. Mit dem hatte sie gesprochen, bevor er zu Zamorra ge gangen war. Woher hatte sie seine Telefonnummer? Von der Auskunft ganz si cher nicht. Zamorras und Nicoles Handy-Nummern waren in kei nem öffentlichen Verzeichnis registriert. Kein Telefonauskunftsbüro konnte sie kennen. Aber Tan Morano kannte diese Nummer. Zamorra hatte ihn zwei mal angerufen, und er hatte garantiert die Telefonnummer gespei chert. Also konnte er sie an Danielle weitergeben. Sie sollte Zamorra anlocken. Und an ihrer Stelle würde Morano auf Zamorra warten. »So dämlich kann er nicht sein«, warnte Nicole. »Die Falle sieht anders aus. Er muss doch damit rechnen, dass du diesen Versuch sofort durchschaust. Chef, diese Danielle Leclerc wurde von ihm ge bissen. Sie trägt den Keim in sich, und der muss schon weit fortge schritten sein, wenn sie kein Spiegelbild mehr hat. Also ist sie Mora no hörig. Sie tut genau das, was er sagt. Sie ist es, von der jetzt die Gefahr für dich ausgeht.« Zamorra lächelte. »Deshalb habe ich ihr ja auch vom Schloss an der Loire erzählt. Sie wird jetzt annehmen, dass ich Stunden brauche, um herzukommen. Sie weiß nicht, dass ich direkt im Haus gegenüber bin. Deshalb wird sie nicht damit rechnen, dass ich jetzt auftauche.« »Du willst jetzt also tatsächlich hinüber.« Zamorra nickte. »Da ist noch etwas«, sagte Nicole. »Gerard sagte, Danielle habe derzeit nachts Dienst. Wieso ist sie dann in ihrer Wohnung?« »Morano wird sie dazu gebracht haben. Oder – er lauert mir an ih rer Stelle auf.« »Glaube ich nicht«, widersprach Nicole. »Dafür ist er zu schlau. Er scheut die direkte Konfrontation, das zeigt schon, dass er sein Opfer vorschickt.« »So sehe ich das auch«, sagte Zamorra. »Trotzdem werde ich jetzt
in Danielles Wohnung gehen. Halte mir bitte den Rücken frei.« »Worauf du dich verlassen kannst!« Sie küsste ihn. »Wir werden doch wohl noch mit einem lausigen Blutsauger fertig werden!«
Als sie das Hotel verließen, sahen sie sich zunächst auf der Straße um. Es war bereits dunkel geworden. Aber die Laternen spendeten genügend Licht. »Kein Bentley weit und breit«, sagte Zamorra. In den Haltever botszonen auf beiden Seiten der Straße parkten lediglich Unmengen von Cityflöhen – kleinen, stadtgeeigneten Autos, die auch in die winzigsten Parkplätze passten; eines blockierte eine Feuerwehrzu fahrt. »Morano ist hier«, flüsterte Nicole, »links, die Straße entlang, im Schatten eines Hauseingangs. Dort beobachtet er.« »Woher weißt du das?« »Ich spüre seine Nähe«, sagte sie. »Außerdem habe ich sehr gute Augen.« Zamorra glaubte ihr. Bevor sie von der brasilianischen Waldhexe Silvana geheilt und immunisiert worden war, hatte sie selbst den Vampirkeim in sich getragen. Sie war mit Morano intim gewesen. All das verband. Und – sie hatte einmal Schwarzes Blut in ihren Adern gehabt. Seit jener Zeit konnte sie die Nähe anderer Schwarz blütiger spüren, und seit jener Zeit war sie Telepathin. »Er sieht uns«, sagte Nicole. »So, wie ich ihn sehen kann. Ich gehe ins Hotel zurück. Geh du ins Haus. Wenn Morano kommt, fange ich ihn ab. Bleibt er nur auf Beobachtungsposten, werde ich ihn mir auf einem anderen Weg holen.« »Wie willst du das tun, ohne Waffe?«
Sie lachte leise. »Vergiss nicht, dass er mir mit seinen Zähnen nicht schaden kann. Es läuft also auf einen reinen Körpereinsatz hinaus. Ich werde ihm das Gesicht auf den Rücken drehen. Ich denke, er wird dann erhebli che Probleme haben, nicht sofort zu Staub zu zerfallen.« »Er ist dir an Kraft überlegen.« »Ich werde mit ihm fertig«, sagte sie. »Ich bezweifele, dass er sich in Kampfsportarten gut auskennt. Als Vampir verlässt er sich auf seine Magie und seine Körperkraft. Ich werde trotzdem vorsichtig sein, cheri. Ich gehe kein unnötiges Risiko ein. Du bitte auch nicht.« Zamorra ahnte, weshalb Nicole Morano abfangen wollte. Es ging ihr darum, tabula rasa zu machen, einen Schlussstrich zu ziehen. Ra che dafür, dass er sie damals verführt hatte. Hoffentlich überschätzte sie sich damit nicht. Schon einmal hatte er sie ›überwunden‹. Vielleicht schaffte er es jetzt ein zweites Mal. Nur stand dann diesmal nicht das Bett am Ende der Kunst, sondern ein Sarg. So, wie es Nicole klar war, dass Morano sie niemals zu einem Vampir oder zu einer Dienerin machen konnte, weil der Keim nicht in ihr zündete, so musste es auch Morano klar sein. So blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er musste sie töten. Und damit würde er zugleich auch einen gewaltigen Schlag gegen seinen Feind Zamorra führen. Hoffentlich beging Nicole jetzt keinen Fehler … Sie küssten sich noch einmal, dann kehrte Nicole ins Hotel zurück. Zamorra überquerte die inzwischen kaum noch befahrene Straße. Die Haustür war offen; er konnte ungehindert eintreten. Den Weg hinauf zu Danielle Leclercs Wohnung kannte er. Er betätigte nicht die Türklingel. Er benutzte das Amulett, um das Schloss zu öffnen. Lautlos trat er ein.
Nicole beobachtete, wie Morano herankam. Der Vampir bewegte sich zielstrebig auf das Haus zu. Hin und wieder sah er zum Hotel, als wolle er sich vergewissern, dass von dort aus keine Gefahr mehr drohte. Aber Nicole befand sich längst nicht mehr im Eingangsbe reich. Sie hatte das Hotel blitzschnell durch einen Nebenausgang verlassen und befand sich bereits auf der gleichen Straßenseite wie Morano, nur ein paar Meter hinter ihm. Sie bewegte sich in den Schatten. Spürte er ihre Nähe nicht? Sie hatte ihn doch wahrgenommen! Oder war seine Wahrnehmung längst nicht mehr auf Nicole ge prägt, sondern vielleicht jetzt auf sein vermutlich letztes Opfer, Da nielle Leclerc? Nicole ahnte nicht, dass sie mit dieser Vermutung genau ins Schwarze traf. Der Vampir betrat das Haus. Nicole ließ ihm einige Sekunden Vorsprung. Dann folgte sie ihm. Er stand vor dem Lift und hatte den Rufknopf betätigt. Der Pfeil zeigte aufwärts. »Falsche Richtung«, sagte Nicole. »Zur Hölle geht's abwärts!« Und im gleichen Moment griff sie Morano an!
Zamorra schloss die Wohnungstür lautlos hinter sich. Der winzige Flur war erleuchtet, und hinter einer angelehnten Tür sah der Dä monenjäger Lichtschimmer. Auf leisen Sohlen näherte er sich. Den anderen Türen gegenüber blieb er dennoch misstrauisch. Links, weit offen, der Raum dahinter dunkel. Die Küche, wie das hineinfallende Flurlicht ihm verriet. Eine weitere Tür geschlossen, kein Lichtschimmer durchs Schlüsselloch. Vermutlich das Bad. Rechts zwei Türen geschlossen, auch kein Schimmer.
Er war ziemlich sicher, dass in den dunklen Räumen niemand auf ihn lauerte. Danielle Leclerc rechnete noch nicht mit ihm, und der Vampir war irgendwo draußen. Also … das erleuchtete Zimmer. Zamorra ließ die angelehnte Tür ganz behutsam nach innen schwingen. Er sah eine junge Frau in einem Wohnzimmer. Sie trug Rock und Bluse, und am Bund des halblangen Rockes haftete ein Clipholster mit einer Pistole. Natürlich, als Bodyguard … Sie hatte eine Schrank tür geöffnet; dahinter befand sich eine winzige Hausbar. Die Frau nippte gerade an einem alkoholischen Getränk. Unwillkürlich fiel Zamorra ein Vers von Wilhelm Busch ein: Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör. Allerdings schien dieses Stöffchen etwas höherprozentig zu sein. Plötzlich schien sie Zamorras Nähe zu spüren. Sie wirbelte herum. »Hallo, Mademoiselle Leclerc«, sagte er. »Wer sind Sie?«, stieß sie hervor und wechselte das Glas von der rechten in die linke Hand. »Was wollen Sie, wie sind Sie hereinge kommen?« »Erkennen Sie meine Stimme nicht?« »Zamorra?« Er nickte. Blitzschnell warf sie ihm das Glas entgegen. Er duckte sich. Sie zog die Pistole, die sie durchgeladen und entsichert getragen haben musste, und schoss sofort – in genau die Richtung, in welche Za morra auswich. So, als hätte sie vorausgeahnt, wie er sich bewegen würde. Die Kugel verfehlte ihn nur um Millimeter – weil er seinerseits ge ahnt hatte, wie sie reagierte, und sich darauf einstellen konnte. Das Glas zerschellte irgendwo hinter ihm. Zamorra täuschte eine Bewe gung nach links, sah das Aufblitzen der Mündung und entging dem zweiten Schuss fast noch knapper als dem ersten. Dann war er bei
ihr. Er wollte ihr die Waffe aus der Hand schlagen, aber sie blockte ihn ab. Er erkannte die Kampftechnik und stellte sich sofort darauf ein. Er beherrschte mehrere Kampfsportarten, ebenso wie Nicole, und kom binierte sie miteinander, wo es sich als nützlich erwies. Sein ständi ges Training erwies sich jetzt als nützlich. Danielle Leclerc war schnell, unglaublich schnell. Zamorra hatte Mühe, sie abzuwehren, wobei ständig die Gefahr bestand, dass sie erneut auf ihn schoss, weil sie die Pistole immer noch in der Hand hielt. Das allerdings war auch ihr Handicap. Schließlich schaffte Zamor ra es, sie niederzuschlagen. Benommen sackte sie zusammen. Er griff zu und entriss ihr die Walther PPK. Das Magazin auszuwerfen und die noch im Lauf steckende Patrone 'rauszuhebeln, war fast eine einzige Bewegung. Er kickte das Magazin mit schnellem Fuß tritt unter einen der Sessel. Während des rasend schnellen Kampfes hatte sich die Wohnzim mereinrichtung ein wenig verändert. Der Tisch war umgekippt, die offene Schranktür weggebrochen, ein Sessel lag quer und die Steh lampe war am Boden zerschellt. Die Wohnungsnachbarn, durch die Schüsse und den Kampflärm aufgeschreckt, würden sich wohl eben so schnell wie wütend vor der Tür versammeln und vermutlich auch die Polizei rufen. Vor der hatte Zamorra die wenigste Furcht; er hatte auch in Paris seine Beziehungen. Gefährlicher waren die Nachbarn. Die mochten annehmen, dass er Danielle Leclerc hatte umbringen oder wenigstens vergewaltigen wollen. Entsprechend würden sie reagieren. Er hoffte, dass sie nicht die Tür aufbrachen, ehe die Polizei hier war. Jetzt bedauerte er es, dass er die PPK endaden hatte. Aber im ers ten Moment hatte er es für sicherer gehalten. Danielle raffte sich mühsam wieder auf. Sie kämpfte darum, die Kontrolle über sich zurückzuerhalten. »Morano hat verlangt, dass Sie mich töten, nicht wahr?«, sagte er.
Sie stützte sich auf die Lehne des Sofas, das ebenfalls ein wenig verschoben worden war. »Was wissen Sie von Morano?« »Mehr als Sie, Danielle. Er ist ein Vampir, ein Blutsauger. Er hat Sie zu seiner willenlosen Sklavin gemacht. Fühlen Sie nach Ihrer Halsschlagader. Merken Sie da etwas?« »Sie sind ja verrückt«, sagte sie heiser. Langsam streckte sie die Hand aus. »Geben Sie mir die Waffe. Sofort.« Zamorra schüttelte den Kopf. Er fragte sich, was er mit Danielle tun sollte. Er konnte sie doch nicht einfach umbringen, nur weil sie vom Vampirkeim infiziert war. Dass sie es tatsächlich war, dass die Behauptung ihres Bruders stimmte, sah er deutlich. Die Jalousie des Wohnzimmerfensters war nicht heruntergelassen, die Nachtschwär ze draußen machte die Fensterscheibe zum Spiegel, zumal die Gar dine nur einen kleinen Teil der Fläche abdeckte. In diesem Spiegel sah er zwar sich selbst, nicht aber Danielle. Das Amulett verhielt sich ruhig. Es warnte nicht. Nur vorhin, wäh rend des Kampfes, als sie sich gegenseitig berührten, hatte es sich er wärmt und damit auf Schwarze Magie hingewiesen. Aber es schien Danielle nicht als besonders gefährlich einzustufen. Schön, auch das Amulett hatte sich schon häufig geirrt, und es kam auch häufig zu Fehlfunktionen. Aber … »Haben Sie selbst schon Blut getrunken?«, fragte er. »Was?« Er wiederholte seine Frage. Als sie ihn verwirrt anstarrte und nicht wusste, was sie sagen wollte, näherte er sich ihr. Er hielt die Pistole auf sie gerichtet, so, dass sie nicht sehen konnte, dass das Magazin sich nicht mehr im Griff befand. Offenbar hatte sie selbst noch gar nicht realisiert, was mit ihr ge schehen war! Sie schien nicht zu wissen, dass Tan Morano sie zu ei ner Vampirsklavin gemacht hatte! In ihren Augen blitzte es auf, als er zu ihr trat. Er sah, wie ihr Kör
per sich verspannte. Sie machte sich wieder angriffsbereit. »Denken Sie nicht mal dran«, sagte er. »Ich werde sofort schießen, wenn Sie sich auch nur ein falsches Muskelzucken erlauben.« »Sie wollen auf eine Frau schießen?«, zischte sie. »Sie wollten ja auch auf einen Mann schießen. Sie haben es sogar getan. Und jetzt machen Sie den Mund auf.« »Was?« »Den Mund auf!«, brüllte er mit höchster Lautstärke. »Ich will Ihre verdammten Zähne sehen!« Sie taumelte zurück, gehorchte aber instinktiv. Ihre Zähne sahen normal aus. Er wusste, dass sie bei Vampiren dann lang wurden, wenn der Blutsauger ein Opfer reißen und dessen Lebenssaft trinken wollte. Ansonsten waren sie normal kurz – fast normal. Ein paar Millimeter ragten sie dann doch vor, aber erst, wenn der Vampir bereits ein Opfer gefunden hatte. Wer gerade erst zum Vampir geworden war, aber noch nicht selbst Blut getrunken hatte, dessen Augzähne wie sen diese minimale Verlängerung noch nicht auf. Zamorra atmete auf. Vielleicht ließ sich in diesem Stadium doch noch etwas machen. Vielleicht war Danielle noch zu retten. Dazu brauchte er sie jedoch im Château Montagne. Hier, in ihrer Wohnung in Paris, konnte er nichts für sie tun. Aber wie brachte er sie zum Château? Freiwillig würde sie kaum mitkommen. Sie stand unter Moranos Bann, war ihm hörig. Sie würde nur tun, was der Vampir ihr befahl. Jemand betätigte die Türklingel. Die Nachbarn waren da. In Danielles Augen blitzte es auf.
Morano schien mit Nicoles Auftauchen und ihrer Attacke nicht ge
rechnet zu haben. Er versuchte halbherzig auszuweichen, aber da war sie schon bei ihm und fällte ihn mit einem Handkantenschlag gegen die Halsschlagader. Lautlos brach er zusammen; mitleidlos sah sie zu. Sie atmete tief durch. Das war viel zu einfach gegangen. Sie blieb misstrauisch, als sie sich neben ihn hockte und prüfte, ob er tatsächlich ohne Besinnung war. Das war jetzt die Gelegenheit, ihm das Genick zu brechen. Einfach seinen Kopf packen, ihn drehen, immer weiter, bis es knackte … und noch weiter … mit aller An strengung, bis zur Not Fleisch riss und das Gesicht tatsächlich nach hinten zeigte … Das war die zweite Möglichkeit, einen Vampir zu töten; die erste war der Eichenpflock durchs Herz. Allerdings ließen sich auf diese Weise auch normale Menschen tö ten, nicht nur Vampire! Sie griff zu, umschloss seinen Kopf mit beiden Händen, um ihn zu drehen, während sie ein Knie auf seine Brust setzte, um seinen Oberkörper zu fixieren. Sie dachte daran, dass er sie dazu gebracht hatte, Zamorra mit ihm zu betrügen, und sie wusste bis heute nicht, wie er das geschafft hatte. »Du Lump«, flüsterte sie. »Du Dreckskerl! Du Pestratte!« Aber dann zögerte sie. War es nicht zu einfach, ihn jetzt zu töten, da er ohne Besinnung war? Sie konnte ihm jetzt ja nicht einmal mit auf seinen letzten Weg geben, warum er starb. Aber sicher wäre es ein Fehler, zu warten, bis er wieder aufwachte. Dann konnte er sich wehren, und er war stark. Vampire verfügten über eine wesentlich größere Körperkraft als Menschen. Und dies mal würde sie ihn nicht so einfach überrumpeln können. Nein, es war besser, wenn sie ihn unwissend sterben ließ. Auch wenn es ihren Hass nicht löschte, ihre Abscheu. Abscheu? Damals, als sie mit ihm schlief, empfand sie ihn als
überaus charmant. Aber vielleicht war sie da nicht Herrin ihrer Sin ne gewesen. Jetzt jedenfalls wollte sie seinen Tod. Sie begann, den Kopf langsam zu drehen. Den Kopf eines Wehrlosen. Was sie tat, war Mord, auch wenn dieser Begriff sicher nicht auf Morano anwendbar war; schließlich war er kein Mensch, sondern eine blutgierige Bestie. Wieder zögerte Nicole. Eine Erinnerung durchzuckte sie. Damals, als sie Commander Nick Bishop tötete, den Hohepriester des Ssacah-Kultes. War das nicht auch Mord gewesen? Zumindest konnte man es so auslegen, aber es gab keine Zeugen, es gab nur Nicoles unbändigen Zorn auf diesen unmenschlichen Diener des Kobra-Dämons. Sie wusste, dass sie damals richtig gehandelt hatte. Sie hatte der Menschheit sehr viel erspart. Sie würde ihr auch jetzt vieles ersparen, wenn sie Tan Morano tö tete. Jetzt – oder nie! »Jetzt«, flüsterte sie und setzte zum kraftvollen Ruck an. Im gleichen Moment öffnete sich die Aufzugtür. Morano hatte den Lift noch angefordert, ehe Nicole ihn attackierte, aber es hatte bis jetzt gedauert, bis die Kabine kam. Vermutlich, weil sie vorher noch anderswo im Haus ihre Stopps hatte. Zwei Männer mittleren Alters traten heraus. Einer stolperte fast über Morano und Nicole. Genau in dem Moment, als sie sich end gültig entschloss, den Vampir zu töten. Der Mann schien blitzartig zu begreifen, was hier vor seinen Au gen geschah. »Nein!«, stieß er hervor, griff nach Nicole und hebelte sie von dem Vampir weg. Denn er wusste nicht, was er tat …
»Sie kommen hier nicht mehr lebend 'raus«, flüsterte Danielle Le clerc. »Sie sind erledigt, Zamorra. Wenn ich Sie nicht töte, machen es
die da draußen. Ich brauche nur zu schreien, und sie treten die Tür ein und helfen mir.« »Dann werden Sie selbst bereits tot sein«, bluffte Zamorra. »Wol len Sie das riskieren?« Er hielt die Waffe immer noch auf sie gerichtet. Mit der anderen Hand fischte er sein Mobiltelefon aus der Tasche. Er rief den Spei cher ab und wählte dann das Polizeipräsidium an. »Ist Chefinspektor Courtois im Dienst? Wenn ja, möchte ich ihn dringend sprechen. Mein Name ist Zamorra.« Er rechnete nicht wirklich damit – aber dann hatte er unwahr scheinliches Glück, weil Alfonse Courtois noch in seinem Büro war. »Professor, Sie haben ein unglaubliches Talent dafür, anständige Menschen zu unanständigen Zeiten aufzuschrecken. Ich war gerade dabei, in Hut und Mantel zu schlüpfen und endlich Feierabend zu machen, weil meine Frau schon seit drei Stunden auf mich wartet und ich mal wieder Überstunden noch und nöcher machen musste … Alles muss man selber machen heutzutage …« »Ich werde Ihrer Frau einen riesigen Strauß Blumen schicken«, sagte Zamorra. »Lieber ein riesiges Fass Spätburgunder«, brummte Courtois. »Was wollen Sie?« »Ich brauche Ihre Hilfe. Ich habe hier eine Vampirin, und vor der Tür ein zähnefletschendes Rudel Nachbarn, die mich lynchen wol len. Schicken Sie mir einige Beamte, die für Ordnung sorgen, bitte.« Er nannte die Adresse. Dabei ließ er Danielle nicht aus den Augen. Sie belauerte ihn nach wie vor und wartete darauf, dass er einen Fehler machte. Draußen wurde inzwischen nicht mehr nur geklin gelt, sondern mittlerweile mit den Fäusten gegen die Tür gehäm mert. »Hören Sie den Lärm, Chefinspektor? Es ist wirklich dringend.« »Ich schicke Ihnen ein paar Leute. Und ich komme selbst. Aber die Entschuldigung für meine Frau müssen Sie persönlich vortragen,
mein Bester …« Er legte auf. Zamorra ließ das TI-Alpha wieder in seiner Jackenta sche verschwinden. »Sie sollten die Leute da draußen beruhigen, Mademoiselle Le clerc«, sagte er. »Sonst ist hier gleich die Hölle los, wenn die Polizei kommt.« Sie war damit völlig überfordert. Starrte ihn nur düster an und schien nach wie vor auf ihre Chance zu warten, ihn doch noch zu überrumpeln und zu töten. An der Tür donnerte es. Jemand hatte sich wohl dagegen gewor fen, um sie aufzubrechen. Noch hielt das Holz stand. So positiv es an sich zu bewerten war, dass sich die Nachbarn in diesem Haus umeinander kümmerten, statt seelen- und interesselos nebeneinander zu wohnen, so verhängnisvoll konnte es nun für Za morra werden. Das war eine Variante des Geschehens, die er nicht einkalkuliert hatte. »Morano hat Ihnen befohlen, mich zu töten«, sagte er. »Wehren Sie sich gegen diesen Befehl. Versuchen Sie, Sie selbst zu sein und nicht seine Sklavin!« »Was wissen Sie denn schon von Morano?«, schrie sie auf. »Mehr als Sie«, sagte er leise. »Viel mehr …« Und er dachte an Ni cole, die sich um den Vampir kümmern wollte. Sie durfte keinen Fehler begehen …
»Verdammt, Sie wollen den Mann umbringen!«, stieß jener hervor, der Nicole von Morano hochgerissen hatte. »Sind Sie wahnsinnig? Lucien, ruf die Polizei!« Der andere fahndete nach seinem Handy. Nicole überlegte nicht lange. Noch hatten die beiden sich ihr Ge sicht, ihr Aussehen nicht exakt eingeprägt. Also handelte sie sofort. Mit den beiden Männern zu diskutieren, hätte ohnehin nichts ge
bracht. Was sollte sie ihnen auch erzählen? Dass der Mann am Bo den ein Vampir war, der unschädlich gemacht werden musste? Kei ne Chance! Da wurde höchstens der Verdacht geschürt, dass sie, die potenzielle Mörderin, nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, wie der Volksmund sagt. Sie reagierte blitzartig. Der Mann, der sein Handy noch nicht ganz aus der Tasche hatte, wurde von einem Taek-Won-Do-Tritt erwischt. Der andere machte den Fehler, Nicoles linken Arm freizulassen. Sie nutzte die Möglich keit und hieb ihm rücklings die Faust ins Gesicht. Sofort war sie frei, wirbelte herum und versetzte ihm einen betäubenden Kung-FuSchlag. Dann wandte sie sich dem Handymann zu. Der ging in Bo xerhaltung. Sein Pech; Nicole unterlief seine Deckung mit einem recht unfairen Tritt und betäubte ihn mit einem Handkantenschlag, als er verzweifelt stöhnend vor ihr einknickte. Jetzt hatte sie hier noch zwei Männer zu ihren Füßen liegen … Nur noch zwei. Der erste war fort! Und die Liftkabine trug ihn aufwärts! Den kurzen Moment der Auseinandersetzung hatte Tan Morano genutzt. Er musste genau jetzt erwacht sein und war geflohen. Nicoles Faust hämmerte gegen die Lifttür. »Verdammt!« Sie nahm die Treppe, spurtete hinauf. Sie wusste, in welcher Etage Danielle Leclerc wohnte. Aber dann stellte sie plötzlich fest, dass der Lift vorher gestoppt worden war. Morano wollte gar nicht zu Le clerc! Er stieg vorher aus! Nicole, die ein aberwitziges Treppentempo vorgelegt hatte, musste wieder zurück. Zwei Etagen tief. Da sie zu spät bemerkt hatte, dass der Lift zu früh stoppte, hatte der Vampir einen erheblichen Vor sprung gewonnen. Sie erreichte die Etage, in welcher der offene Lift stand. Von Mora
no war nichts mehr zu sehen, aber ein Fenster am Ende des Korri dors stand offen. Nicole rannte hinüber. Aber sie konnte Morano am Nachthimmel nicht mehr erkennen. Er war ihr entwischt. Aber auf der Fensterbank lag ein Schuh. Nicole nahm ihn an sich. Natürlich – wenn der Vampir seine Fluggestalt annahm, konnte er seine Kleidung nicht mit transformieren. Sie war von ihm abgefal len, er hatte sie zusammengerafft, hatte sie bei seiner Flucht mitge nommen. Nur einen seiner Schuhe hatte er in der Eile nicht mehr erwischt. Den hatte jetzt Nicole. Sie lächelte, nur teilweise zufrieden. »Damit kriege ich dich, mein Feind«, murmelte sie.
Sie kehrte zum Lift zurück. Der war inzwischen schon wieder unter wegs. Nicole zuckte mit den Schultern. In einem Haus mit so vielen Etagen und Wohnungen herrschte auch abends noch reger Betrieb. Sie brauchte nur noch vier Treppen zurückzulegen. Auch wenn sie von der Jagd etwas außer Atem war, nahm sie jetzt die Treppenstu fen. Sie bewegte sich langsam, schonte ihre Kräfte. Sie war sicher, dass Zamorra leichter mit Danielle Leclerc fertig wurde als sie selbst mit Tan Morano. Aber als sie dann die Etage erreichte, blieb sie verblüfft stehen. Der Lift war hier oben, aber auch eine wütende Menschenmenge vor Le clercs Tür, und dazu etliche uniformierte Polizisten, die lautstark auf die Menschen einredeten. Die mussten nach oben gefahren sein, während sie in der anderen Etage Morano zu folgen versuchte. Was zum Teufel ist hier passiert?
Plötzlich sah sie ein bekanntes Gesicht. Das musste Alfonse Cour tois sein. Er trug Zivil, wie immer, aber er schien die Aktion zu lei ten. Nicole legte den Schuh am Korridorrand auf den Boden, ging auf den Chefinspektor zu und sprach ihn an. Er wandte den Kopf. »Ach, Sie sind auch hier, Mademoiselle? Hätte ich mir denken können. Sagen Sie – haben Sie etwas mit den beiden Bewusstlosen im Parterre zu tun?« »Ich?«, fragte Nicole. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Was ist hier passiert?« »Das halbe Haus scheint in Aufruhr zu sein. Entschuldigen Sie mich.« Er wandte sich ab und brüllte los: »Jetzt ist Schluss mit lustig! Ende der Vorstellung, endgültig! Wer sich in einer Minute noch hier vor dieser Tür befindet, wird festgenommen, wegen öffentlicher Ru hestörung!« Während die Menschen sich langsam und mit sichtlichem Wider willen zurückzogen, dachte Nicole über Courtois' Formulierung nach. Sie sind auch hier? Er wusste also, dass sich Zamorra hier be fand. Sein Erscheinen und das der Uniformierten waren kein Zufall. »Was ist hier los?«, fragte sie. »Ihr Chef sitzt wohl ein wenig in der Klemme«, knurrte Courtois. Er schlug gegen die Tür. »Professor! Die Polizei ist hier! Machen Sie auf.« »Öffne bitte«, rief auch Nicole. Da endlich öffnete Professor Zamorra die Tür.
Sie rückten die Sessel und den Tisch wieder zurecht und ließen sich darauf nieder. Die uniformierten Polizisten blieben draußen vor der Tür. Danielle funkelte Zamorra und den Chefinspektor aus ihren grünen Augen zornig an. Zamorra hatte die Walther PKK auf den Tisch gelegt.
»Was ist passiert?«, fragte Courtois. »Dieser Mann hat mich in meiner eigenen Wohnung überfallen und mit meiner eigenen Waffe bedroht!«, fuhr Danielle auf. »Sie müssen ihn verhaften! Er wollte mich ermorden!« »Die Geschichte ist ein wenig länger«, sagte Zamorra. »Abgesehen davon, dass ich mich frage, wie ich jemanden mit einer entladenen Waffe ermorden kann.« »Der Möglichkeiten gibt es mehrere«, brummte Alfonse Courtois. »Ich hatte schon Fälle, in denen Bierdeckel oder sogar Briefpapier das Mordwerkzeug waren – die Papierkanten können sehr scharf sein und Adern aufschneiden. Aber – erzählen Sie die lange Ge schichte. Ich habe Zeit.« Er zog ein Lederetui hervor, klappte es auf und begann, eine der darin befindlichen Pfeifen zu stopfen. Er setzte den Tabak in Brand, lehnte sich zurück und sog genussvoll an der Pfeife. Der magere, grauhaarige Mann hielt grundsätzlich nichts für un möglich. Bevor sein Kollege Pierre Robin wegen seiner ungewöhnli chen Aufklärungsmethoden und seiner hundertprozentigen Aufklä rungsquote dem Mobbing diverser Kollegen zum Opfer fiel und nach Lyon strafversetzt wurde, arbeiteten Courtois und Robin zu sammen, waren fast befreundet. Sie standen auch heute noch mit einander in Verbindung. Durch Robin erfuhr Courtois auch von Za morras besonderen Fähigkeiten. Die beiden Männer waren sich sehr ähnlich. Zamorra kannte Courtois nicht anders als in seinem abge tragenen braunen Garbadine-Anzug, und er kannte seinen Freund Robin nicht anders als in zerknitterter Kleidung, die aussah, als habe der Lyoner Chefinspektor mindestens eine Woche lang darin über nachtet. Der Pariser Chefinspektor wusste jedenfalls über Zamorras Aktivi täten Bescheid. Gerade deshalb hatte Zamorra ausgerechnet ihn an gerufen. Vor einiger Zeit hatten sie miteinander zu tun gehabt, als es um Halias Höllenreiter ging. Zamorra erzählte. Von Tan Morano, dem Vampir. Von der langen,
intensiven Feindschaft. Und davon, dass Danielle Leclerc sich unter dem Einfluss des Vampirs befand. Was diese natürlich sofort vehement abstritt. Courtois produzierte Rauchwolken. »Offiziell gibt es keine Vampi re«, sagte er nach einer Denkpause. »Offiziell, Professor, kann ich also nichts tun. Das sollten Sie wissen.« Zamorra nickte. »Was haben Sie jetzt vor?«, fragte der Chefinspektor. »Ich muss Mademoiselle Leclerc mitnehmen ins Château Monta gne. Nur dort gibt es vielleicht eine Chance, sie zu heilen. Aber ich fürchte …« »… dass sie sich gegen diese Überstellung erheblich sträuben wird«, erkannte Courtois. »Zumal es sich dabei um Freiheitsberau bung handelt. Da haben Sie verdammt schlechte Karten, Professor.« »Mir muss niemand helfen!«, fuhr Danielle auf. »Was soll diese ganze abscheuliche Scharade? Verlassen Sie meine Wohnung, Sie alle! Sofort!« Courtois erhob sich. Er nickte Zamorra und Nicole zu. »Die junge Dame hat Recht. Und wenn sie Anzeige gegen Sie, Pro fessor, erstattet wegen Einbruchs, kann niemand etwas dagegen tun. Allenfalls steht Aussage gegen Aussage.« Zamorra nickte. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen. »Ich verlange, dass Sie ihn verhaften«, rief Danielle. »Er hat mich bedroht, er wollte mich töten.« »Aber geschossen haben Sie, oder?« »In Notwehr!« Courtois zuckte mit den Schultern. »Professor, ich kann hier nichts für Sie tun. Die Situation ist ziemlich klar – für die Juristen. Was die Vampir-Story angeht, das ist eine völlig andere Geschichte. Aber da lässt sich offiziell erst recht nichts machen. Tut mir Leid, dass ich Ih
nen nicht weiter helfen kann. Aber die Rechtslage ist eindeutig.« »Verhaften Sie ihn!«, forderte Danielle weiterhin. »Da es höchstens etwas Sachschaden gegeben hat, ist das nicht er forderlich. Sie können Anzeige erstatten, Mademoiselle Leclerc. Ei ner der uniformierten Kollegen wird die Anzeige aufnehmen und weitergeben.« »Und Sie sorgen dafür, dass sie unter den Tisch fällt?« »Sicher nicht«, sagte Courtois. »Sie werden das jederzeit nachprü fen können.« Er verließ, die Pfeife zwischen den Lippen, den Raum und die Wohnung. Nicole begleitete ihn zur Tür. »Eigentlich«, flüsterte Courtois ihr zu, »müsste ich Ihren Chef tat sächlich festnehmen. Ich tanze hier auf einem verdammt dünnen Drahtseil. Aber ich habe gesehen, dass diese Frau sich nicht im Fens ter spiegelte. Das ist doch Vampirismus, nicht wahr?« Nicole nickte. »Machen Sie nur keinen Fehler«, raunte Courtois. »Ich würde Sie beide nicht schützen können.« Dann war er endgültig draußen. »Was jetzt?«, fragte Nicole leise, als sie zu Zamorra zurückkehrte. »Eine große Hilfe war er ja nicht.« »Oh doch – er hat mir den Lynchmob vom Hals gehalten. Ver dammt, ich konnte doch nicht ahnen, dass das alles so ausufert.« »Sie werden sich noch wundern, wie das alles noch weiter aus ufert«, fauchte Danielle. »Und jetzt 'raus aus meiner Wohnung!« »Mich hält hier nichts mehr«, sagte Zamorra. »Aber ich werde mich mal bei Ihrem Chef erkundigen, weshalb sie gerade jetzt nicht im Dienst sind.« Er verspürte nicht einmal Genugtuung, als er sah, dass Danielle to tenbleich wurde.
Als sie gingen, befanden sich auch die uniformierten Polizisten nicht mehr im Haus. Courtois hatte sie gleich wieder mitgenommen. Wenn Danielle jetzt Anzeige erstatten wollte, musste sie erst wieder einen Beamten herbeibitten – oder sich selbst zu einer Dienststelle bemühen. Ob sie das tat, war fraglich. Nicole barg den Schuh, auf den niemand geachtet hatte. »Eine Trophäe?«, fragte Zamorra. »Mehr als das. Morano ist mir leider entwischt. Aber mit diesem Schuh können wir ihn kriegen.« »Wie stellst du dir das vor?« »Ein wenig Voodoo.« »Bist du verrückt?«, entfuhr es Zamorra, während der Lift sie ab wärts trug. »Puppenzauber? Schwarze Magie?« »Ich will, dass er stirbt. Du willst, dass er stirbt.« »Aber der Zweck heiligt nicht alle Mittel!«, protestierte der Dämo nenjäger. »Es gibt Grenzen, die wir nicht überschreiten dürfen und können. Wenn wir uns der Schwarzen Magie bedienen, sind wir nicht besser als die, die wir bekämpfen.« »Aber wie sollen wir sonst an ihn herankommen? Das hier war doch das klassische Eigentor! Um ein Haar wärst du tatsächlich ver haftet worden! Jeder andere außer Courtois hätte dich in U-Haft ge nommen! Hausfriedensbruch, Gewaltanwendung und vielleicht noch ein paar Kleinigkeiten mehr! War gar nicht gut, dein Plan. Und was haben wir dabei erreicht? Nichts! Morano ist fort, Danielle ist eine Vampirin.« »Eine, die selbst noch kein Blut getrunken hat. Wenn wir sie ins Château holen können, könnte ich ihr vielleicht noch helfen. Hier fehlen mir die Mittel.« Sie verließen den Lift. Die beiden Männer, die Nicole niederge schlagen hatte, waren fort. Wenigstens etwas, dachte sie. Sie war si cher, dass die beiden sie nicht wiedererkennen würden. Dafür hatte
die Auseinandersetzung sich viel zu schnell abgespielt. »Und wie willst du sie ins Château bringen?«, griff Nicole den Fa den wieder auf. Zamorra zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wenn ich ein Teleporter wäre, wie Gryf oder Teri, könnte ich sie mir schnappen und uns einfach per zeitlosem Sprung ans Ziel ver setzen. Niemand würde etwas merken. Aber leider bin ich kein Sil bermond-Druide.« Sie verließen das Haus und traten auf die Straße hinaus. »Ich könnte«, überlegte Nicole, »zum Château fahren und die Dinge hier her holen, die du brauchst. Wenn ich sofort losfahre … etwa 450, 460 Kilometer … dein BMW marschiert annähernd 250, und in der Nacht sind die Straßen und Autobahnen weitgehend frei …« »Und die Tempoüberschreitung weisen sie dir an den Mautstellen nach …« »Trotzdem«, bot sie an. »Auch bei legaler Fahrweise könnte ich in etwa zehn Stunden wieder hier sein, alles in allem.« Zamorra schüttelte den Kopf. »Es geht schneller. Wir beauftragen einen Kurierdienst, der die Sachen bei uns abholt und hierher bringt. Das spart die Hälfte der Zeit und kostet auch nicht sehr viel mehr als Benzin und Bußgeldbescheide für zu schnelles Fahren.« »Es ist später Abend, Chef. Es ist Nacht.« »Kuriere fahren auch nachts, wenn man sie dafür bezahlt.« »Und wenn sie in der Zwischenzeit Blut trinkt, war alles für die Katz.« »Das wäre es auch, wenn du selbst fährst«, sagte Zamorra. »Wir müssen ihr Trinken eben verhindern, bis ich mich um sie kümmern kann.« »Und wie?« »Sie muss das Haus verlassen und auf Jagd gehen. Dabei erwi schen wir sie und halten sie fest. Denn fliegen kann sie nicht. Dafür bedarf es mehr als nur eines Bisses von Morano. Auch wenn ihre
Verwandlung unnatürlich schnell voran ging, gibt es doch Gren zen.« »Und was, wenn sie einfach beim Nachbarn klingelt und den in den Hals beißt?«
Danielle Leclerc war verwirrt. Sie sollte eine Vampirin sein? Welch ein Unsinn! Und dann dieser Zamorra … Morano hatte ihr aufgetragen, ihn zu töten. Sie hatte es nicht ge schafft. Was nun? Morano würde enttäuscht sein. Was, wenn er sie daraufhin verließ, wenn er niemals wieder zu ihr zurückkehrte? Sie begann, ihre Wohnung aufzuräumen, die Möbel wieder zu rechtzurücken. Dabei fand sie das Magazin ihrer Waffe. Sie ging hinüber in ihr kleines Arbeitszimmer, füllte Patronen nach und schob das Magazin dann wieder in den Griff. Sie hatte zweimal auf Zamorra geschossen und ihn zweimal verfehlt! Dabei war sie eine erstklassige, perfekte Schützin – auf dem Schießstand. War es so, wenn man auf Menschen schoss statt auf eine Zielschei be? War man dann nicht so perfekt? Gab es eine Hemmschwelle? Sie wusste nicht mehr, was sie denken und tun sollte. Ihre Gedan ken waren ein wirbelndes Karussell. Eine Achterbahn. Ein Kreisver kehr ohne Ausfahrt. Sie sollte jemanden töten? Aber warum? Warum wollte Morano das? Und warum gehorchte sie ihm einfach? Es ist so, und es hat alles seine Richtigkeit. Nein! Sie war doch keine Mörderin! Im Gegenteil, sie arbeitete in einem Beruf, in dem sie Menschen vor dem Getötetwerden schützte! Wie konnte sie da einfach … Aber Morano hatte es ihr aufgetragen. Ihr, einer Vampirin? Vampire, entsann sie sich, ertragen kein Sonnenlicht. Aber sie war
doch bei Tageslicht draußen gewesen, immer, bis heute! Vampire haben kein Spiegelbild! Sie hatte doch … War da nicht etwas? Hatte sie sich heute nicht nur verschwommen im Spiegel gesehen? Sie ging ins Bad hinüber. Sie sah in den Spiegel. Und sie sah sich nicht. Da brach eine Welt zusammen. In einer dunklen Seitengasse lan dete Tan Morano nach seiner Flucht und verwandelte sich zurück in menschliche Gestalt. Er legte die Kleidung wieder an, die bei seiner Verwandlung von ihm abfiel und die er hastig zusammengerafft und -gerollt mit sich genommen hatte. Er flog nicht gern. Eben dieses Umstands wegen. Es gab Vampire, die auch ihre Klei dung transformieren konnten. Zu ihnen gehörte Morano nicht. Des halb bewegte er sich lieber wie ein Mensch unter Menschen. Das war, vor allem bei Tage, wesentlich unauffälliger. Ein Schuh fehlte. Er musste ihn verloren haben. Schuhe ließen sich ersetzen. Er humpelte von einer Gasse zur anderen, bis er sein Auto erreich te, und stieg ein. Per Knopfdruck senkte er die Rückenlehne etwas ab. In dieser Ruhestellung dachte er nach. Sein Plan hatte nicht funktioniert. Zamorra war schlauer gewesen als er, dessen war er in diesem Moment sicher. Der Feind würde nicht in die Falle gegangen sein. Und ausgerechnet Nicole Duval hatte ihn, den Vampir, angegrif fen! Er spürte Nackenschmerzen und ahnte, worauf die zurückzufüh ren waren. Duval hatte versucht, ihm das Gesicht auf den Rücken zu drehen. Aber es war ihr nicht gelungen, weil im letzten Moment an dere Menschen hinzu kamen. Morano hatte es im Augenblick seines
Erwachens registriert und sofort die Flucht ergriffen. Er stand un gern im Rampenlicht des Interesses. Und genau in das wäre er mög licherweise geraten. Duval! Dass Zamorra ihn töten wollte, war ihm völlig klar. Aber dass auch Duval es versuchte, erschreckte ihn. Er hatte sie wohl gewaltig unterschätzt. Es war vielleicht besser, wenn er sich vorerst zurückzog. Dem Kampf ausweichen, verschwinden. Zamorra würde nicht sehr lange nach ihm suchen, sondern eher auf eine andere Chance warten. Aber es war sicherer, vorher noch etwas anderes zu tun. Danielle Leclerc war ein Problem. Sie war mit dem Keim infiziert, und über kurz oder lang würde sie selbst auf Jagd gehen und somit zu einer »echten« Vampirin wer den. Zwar nach wie vor ihrem Meister hörig, der sie »geschaffen« und geprägt hatte, aber dennoch eigenständig. Sie würde Opfer fin den und deren Blut trinken, sie würde den Keim weitergeben. Das wollte Morano nicht. Wenn er sich zurückzog, konnte er sie nicht mehr die Dinge leh ren, die für einen Vampir wichtig waren – abgesehen davon, dass er es ohnehin nicht wollte. Er hatte von ihrem Blut trinken wollen, eine Weile, ein paar Tage oder Wochen … ein wenig Spaß mit ihr haben, durch den Sex ihr Blut zum Kochen bringen, damit es um so süßer schmeckte … und sie irgendwann, wenn es an der Zeit war, beseiti gen. Er wollte mit ihr keine weitere echte Vampirin schaffen. Es gab schon einige in Paris. Zu viele konnten nicht mehr unauffällig jagen. Man musste vorsichtig sein. Wenn er sie wirklich hätte »behalten« wollen, hätte er ihr diese Vorsicht beibringen müssen. Nicht in der Nachbarschaft jagen, nicht zu gierig sein. Sich tarnen. Viele Kleinigkeiten, die der eigenen Si cherheit dienten, auch wenn sie Einschränkungen der persönlichen
Freiheit mit sich brachten. Aber wozu? Er sah in ihr nur ein Gefäß mit einem wundervollen Trank; ein Ge fäß, das irgendwann leer war und dann fortgeworfen wurde. Jetzt musste er es vorzeitig fortwerfen. Verschwendung. Aber es ging nicht anders. Und es war am besten, wenn er gleich jetzt reinen Tisch machte. Er rief Danielle erneut an. Ihre Stimme klang sehr unsicher und verwirrt. Um so leichter fiel es ihm, sie zu beeinflussen. »Du wirst ein Fenster öffnen«, befahl er ihr und wusste, dass sie es auch wirklich tat. Er bekam sie diesmal schneller und leichter in den Griff als bei seinem Mordauftrag. Dann öffnete er die Autotür, verwandelte sich wieder in seine Fluggestalt, und noch während seine Kleidung von ihm abfiel, ver ließ er den Bentley, kickte die Tür mit einem Schlag seiner Schwinge zu und erhob sich in die Nachtluft. Er hatte es nicht weit.
Minuten vorher ließ sich Danielle auf ihr Sofa fallen. Sie war ent setzt, wusste nicht, was sie sagen und denken sollte. Sie besaß kein Spiegelbild! Es konnte nur ein Albtraum sein. Aber … Sie entsann sich, was Zamorra sie gefragt hatte. Er ist ein Vampir, ein Blutsauger. Er hat Sie zu seiner willenlosen Skla vin gemacht. Fühlen Sie nach Ihrer Halsschlagader. Merken Sie da etwas? Sie tastete danach. Und sie spürte jetzt zwei kleine Narben, die sie nicht im Spiegel hatte sehen können, weil sie kein Spiegelbild mehr besaß. Zwei kleine Narben … Bissmale!
Tan Morano ein Vampir? Er hatte sie gebissen und ebenfalls zu ei ner Vampirin gemacht? Es fiel ihr immer noch schwer, das zu glauben, obgleich sie die Fakten nicht mehr leugnen konnte. Aber so etwas gab es doch nur in Romanen und Filmen. Das hatte sie bisher immer geglaubt. Ich träume, dachte sie. Das ist alles ein A.lbtraum. Eine Halluzination. Aber was, wenn es doch Wirklichkeit war? Dann brauchte sie Hilfe! Da war Moranos Mordbefehl. Sie sollte Zamorra anrufen und ihm erzählen, sie sei eine Vampirin und brauche seine Hilfe. Das kam doch nicht von ungefähr. Zamorra musste sich mit diesen Dingen auskennen, denn er war ja tatsächlich erschienen, nur viel früher, als sie dachte. Und so, wie er sich aufgeführt hatte, schien er sich tat sächlich auszukennen. Also doch kein Albtraum, sondern Realität. Vielleicht konnte er ihr wirklich helfen. Langsam griff sie zu ihrem Handy und betätigte die Wahlwieder holung. Zamorra meldete sich sofort. »Bitte …«, flüsterte sie. »Helfen Sie mir.« »Zweite Auflage der Falle?«, hörte sie ihn spöttisch sagen. »Darauf falle ich nicht herein.« »Es ist keine Falle«, sagte sie. »Ich brauche Ihre Hilfe jetzt wirklich. Ich werde Sie nicht anzeigen. Ich werde Sie nicht töten. Ich … ich bin wirklich eine Vampirin, ich weiß es jetzt. Oder nein … ich glau be es … ich will es nicht glauben … ich habe kein Spiegelbild. Kön nen Sie mir helfen? Bitte, Zamorra!« »Steht zufällig Morano hinter Ihnen und diktiert Ihnen diesen Text?« »Nein«, presste sie verzweifelt hervor. »Bitte, kommen Sie! Ich … ich habe Angst vor mir selbst, Angst vor dem, was aus mir wird.«
»Öffnen Sie die Wohnungstür«, sagte Zamorra. »Und warten Sie ab.« »Ja.« Sie unterbrach die Verbindung. Dann ging sie zur Tür und ließ sie angelehnt zurück, als sie wieder umkehrte. Ihr Handy mel dete sich. Tan Morano rief sie an …
»Du willst doch jetzt nicht wirklich noch einmal zu ihr gehen?« Ni cole schüttelte den Kopf. »Du musst den Verstand verloren haben!« »Es klang echt«, sagte er. »Sie ist voller Verzweiflung und Unsi cherheit. Vorhin war sie sicher und überzeugt. Diesmal grübelt sie.« »Aber du kannst ihr nicht helfen.« »Ich kann sie überreden, mit uns zu kommen. Wir fahren mit ihr noch in dieser Nacht heim ins Château. Alles Weitere ergibt sich dann.« »Das geht nicht gut, Chef«, murmelte Nicole. »Das geht nicht gut …« »Verlass dich auf mich«, sagte er. »Aber wir können nicht mitten in der Nacht auschecken«, erinner te sie. Sie standen noch vor dem Hoteleingang, und Nicoles Blick wech selte zwischen dem Wohnblock und dem Hotel hin und her. »Ich hinterlege einen Scheck und den Zimmerschlüssel. Um die Rechnung und deren Zustellung können sie sich morgen früh küm mern. Wir wissen ja, was unser trautes Heim hier kostet … Ich gehe jetzt hinüber.« »Tu's nicht«, warnte Nicole. Aber Zamorra marschierte schon über die Straße, wieder zum Wohngebäude auf der anderen Seite. Nicole Duval begann zum ersten Mal ernsthaft an seinem Ver stand zu zweifeln.
Wie befohlen, öffnete Danielle das Wohnzimmerfenster. Nächtli che Kühle drang ins Zimmer ein. Und mit ihr kamen Insekten, vom Licht der Deckenlampe angezogen. Danielle achtete nicht darauf. Sie setzte sich wieder auf das Sofa. Sie spürte den Hauch des Durchzugs. Im Treppenhaus musste ein Fenster offen sein. Die Wohnungstür klackte hin und wieder leise gegen das Schloss, rastete aber nicht ein. Danielle wartete. Auf Zamorra und den Tod.
Zamorra war bei weitem nicht so sicher, wie er sich gab. Vielleicht war es doch eine Falle. Aber etwas in Danielles Stimme alarmierte ihn. Diesmal brauchte sie wirklich Hilfe. Und wenn er jetzt und hier etwas tun konnte, sie aus dem Bann des Vampirs zu befreien, muss te er das tun. Diese Chance bekam er sicher kein zweites Mal. Wenn er Danielles Verhalten richtig einschätzte, befand sie sich momentan in einer sehr instabilen Lage. Das musste er nutzen. Warum bewegte der Lift sich nur so langsam? Endlich erreichte er die Etage. Zamorra hastete über den Korridor, fand die angelehnte Tür. Vorsichtshalber betätigte er die Klingel; er wollte Danielle nicht mit seinem überraschenden Auftauchen er schrecken. Einer spontanen Eingebung folgend, drückte er dabei nicht mit ei ner Fingerkuppe, sondern mit dem Knöchel auf den Klingelknopf. Auch die Tür berührte er nicht mit der Hand, sondern schob sie mit der Schulter auf. Er trat ein. Wie vorhin brannte auch jetzt nur im Wohnzimmer Licht. Die Wohnzimmertür stand indessen weit offen. Zamorra trat ein. Er sah das offene Fenster. Und er sah die Tote.
Übelkeit stieg in ihm auf. Er ging langsam zum Fenster, sog die küh le Nachtluft in seine Lungen. Langsam beruhigte sich sein aufge wühltes Innenleben wieder. »Morano«, flüsterte er. Der Vampir war schneller gewesen. Vielleicht nur um ein paar Sekunden, aber das hatte gereicht. Danielles Kehle war eine einzige aufgerissene Wunde. Ihre Klei dung war von Blut überströmt, ebenso das Sofa und der Teppich. Und es sah nicht danach aus, als hätte es einen Kampf gegeben. Sie war ein willenloses Lamm auf der Schlachtbank. Morano hatte sich nicht damit zufrieden gegeben, ihr die Kehle zu zerfetzen. Er hatte auch dafür gesorgt, dass sie nicht als Vampirzom bie wieder aus dem Grab aufstehen konnte, indem er ihr das Gesicht auf den Rücken gedreht hatte. Zamorra verzichtete auf einen zweiten Blick. Immer noch am Fenster stehend, nahm er sein Handy und rief Courtois an. »Verdammt, Zamorra, ich bin auf dem Weg nach Hause«, knurrte Courtois. »Was ist los?« »Es gibt schon wieder Ärger«, sagte Zamorra leise. »Vor ein paar Minuten rief mich Danielle Leclerc an und bat mich zu ihr. Sie schi en mir völlig durcheinander und wollte meine Hilfe. Sie hatte wohl begriffen, dass sie eine Vampirin geworden war. Ich habe sie gerade gefunden. Sie ist tot, und sie sieht als Tote gar nicht gut aus. Wissen Sie, wie viele Liter Blut aus einem Menschen strömen können?« »Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob Sie sie umgebracht haben«, sagte Courtois. »Vielleicht mit einem Eichenpflock oder so …« »Unsinn!«, gab Zamorra zurück. »Ich wollte ihr helfen, nicht sie umbringen.« »Obwohl sie eine Vampirin ist – war?«, verbesserte sich der Chef inspektor.
»Es gab eine Chance. Aber jener, der sie zur Vampirin machte, kam mir zuvor und hat sie ermordet. Aus welchem Grund auch im mer.« »Verdammt«, stöhnte Courtois. »Wenn ich nicht wüsste, wieviel Robin von Ihnen hält, wären Sie jetzt endgültig baufällig, Mann. Ha ben Sie Fingerabdrücke hinterlassen?« »Natürlich. Bei dem Kampf vorhin blieb das nicht aus.« »Ich meine jetzt.« »Nein, glaube ich.« »Ich komme sofort und schaue mir das erstmal allein an. Bleiben Sie, wo Sie sind. Verdammt, ich komme in Teufels Küche durch Ih ren gottverdammten Scheiß …« Es dauerte etwa zwanzig lange Minuten, bis Courtois die Woh nung betrat, deren Tür immer noch angelehnt war. Die Zwischen zeit nutzte Zamorra, um Nicole telefonisch über das, was passiert war, in Kenntnis zu setzen. »Du hättest nicht hingehen sollen«, warf sie ihm vor. »Ihren Tod konntest du nicht verhindern, und du reitest dich jetzt nur noch im mer tiefer in den Sumpf hinein.« Vorwürfe änderten nichts an den Fakten. Courtois warf nur einen flüchtigen Blick auf die Tote und wandte sich dann ab. Er schluckte einige Male heftig. »Ich glaube nicht, dass Sie das getan haben«, sagte er dann leise. »Ich glaube nicht, dass das überhaupt ein Mensch getan hat.« »Es war der Vampir«, sagte Zamorra. Courtois nickte. »Sicher. Aber niemand wird Ihnen das glauben.« »Sie verhaften mich also?« Der Chefinspektor schwieg. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte Zamorra. »Ich hab's auch noch nicht gesehen, ich teste es jetzt an. Aber schauen Sie ganz ge
nau zu.« Er hob die Hand und rief sein Amulett. Es hing normalerweise an einer silbernen Halskette vor seiner Brust, für gewöhnlich unter dem Hemd verborgen. Eine handteller große, silberne Scheibe, in deren Mitte sich ein stilisierter Drudenfuß befand. Er wurde umgeben von den zwölf Tierkreiszeichen und schließlich von einem Band mit hieroglyphischen Zeichen, die bis heute jedem Übersetzungsversuch trotzten. Sie waren leicht erhaben gearbeitet. War das Amulett aktiv, ließen sich die scheinbar festge fügten Zeichen mit leichtem Daumendruck millimeterweise ver schieben und lösten damit bestimmte magische Aktionen aus, um sofort wieder in ihre Ursprungsposition zurückzugleiten und scheinbar unverrückbar fest zu sein. Obwohl Zamorra dieses Amulett seit fast drei Jahrzehnten besaß und benutzte, hatte er immer noch nur einen winzigen Bruchteil dessen herausgefunden, was es zu bewirken vermochte. Hinzu kam, dass es sich im Laufe der Zeit verändert hatte – Dinge, die früher möglich waren, funktionierten plötzlich aus unerfindlichen Grün den nicht mehr. Dafür offenbarten sich plötzlich ganz andere, unge ahnte Möglichkeiten … Das Amulett folgte dem Ruf und materialisierte unter Courtois' verblüfftem Blick in Zamorras erhobener Hand. »Wie – wie haben Sie das gemacht?« »Ein kleiner Zaubertrick«, sagte Zamorra. »Aber nicht wie auf der Show-Bühne, sondern das hier ist wirkliche Magie und keine Gauk lerei. Achten Sie auf den Drudenfuß und auf das, was er uns zeigen wird.« Zamorra hielt das Amulett so, dass Courtois es im Blickfeld hatte. Dann konzentrierte er sich auf ein posthypnotisches Schaltwort, mit dessen Hilfe er sich in eine Art Halbtrance versetzte. Dann löste er die Zeitschau aus. Er brauchte nicht weit in die Vergangenheit zu gehen. Nur eine halbe Stunde. Dann ließ er das Bild wieder vorwärts laufen, das sich
in der Mitte des Amuletts zeigte, wo sich eben vorher noch der Dru denfuß befunden hatte. Beide sahen sie, wie Danielle auf dem Sofa saß. Sie schien auf et was zu warten. Plötzlich schwebte eine riesige Fledermaus zum offenen Fenster herein. Kaum im Zimmer angelangt, verwandelte sie sich. Von ei nem Moment zum anderen stand da ein nackter, hochgewachsener Mann. Er sprang Danielle an, die nicht einmal eine Abwehrbewe gung machte oder Erschrecken zeigte. Er riss seinen Mund auf; Courtois sah spitze, lange Eckzähne. Mt ihnen zerfetzte der Nackte die Kehle der jungen Frau. Dann packte er zu, verdrehte ihren Kopf mit einem brutalen, schnellen Ruck um 180 Grad, verwandelte sich in die Fledermaus zurück und verschwand durchs Fenster in der Nacht. Das Blut schoss aus der Wunde hervor, verteilte sich überall. Nicht ganz eine halbe Mnute später betrat Zamorra das Zimmer. Er löschte die Zeitschau und seine Halbtrance. »Nun?«, fragte er. »Was ist das für ein verdammter Trick?«, keuchte Courtois. »Magie. Kein Trick. Sie haben gesehen, was sich hier wirklich ab gespielt hat.« Alphonse Courtois war fassungslos. Von Magie und übersinnli chen Phänomenen zu hören, war etwas anderes, als sie zu erleben. »Hat jemand gesehen, dass Sie dieses Haus und diese Wohnung betraten?«, fragte er dann leise. »Ich hoffe, nicht.« »Sie hoffen … Was soll ich jetzt bloß mit Ihnen anfangen? Sie sind der Tatverdächtige Nummer 1. Leclerc wollte Sie anzeigen. Um das zu verhindern, haben Sie sie umgebracht.« »Nur meine Sekretärin und Sie waren in der Wohnung, als Daniel le mit der Anzeige drohte.«
»Trotzdem … Mann, ich weiß, dass Sie nicht der Täter sind, aber das hilft niemandem weiter. Warum zum Teufel haben Sie mich nicht einfach aus der Sache herausgehalten und sind über die Feuer leiter getürmt, als die anderen Hausbewohner draußen vor der Tür Krawall machten?« »Feuerleiter?« »Haben Sie die nicht gesehen?« Courtois deutete auf das offene Fenster. »Da draußen.« »Woher sollte ich davon wissen?« »Ja, woher … und was soll ich jetzt machen? Moment mal … was ist das denn?« Courtois hatte eher zufällig wieder zu der Leiche ge sehen. Die veränderte sich. Sie wurde alt, runzlig, schrumpelig. Ein Ver fallsprozess setzte ein, der von Minute zu Minute schneller vonstat ten ging. Nach zehn Minuten war die Tote skelettiert. Nach weiteren zehn Minuten gab es nur noch Staub, der aus der zusammengefallenen Kleidung rieselte. »Vampire«, sagte Zamorra leise, »zerfallen zu Staub, wenn sie ster ben.« Courtois nickte. »Sie haben ein unglaubliches Glück«, sagte er und sah den Professor an. »Es war gut, dass ich diesmal allein gekom men bin. Wir waren beide jetzt nicht hier, Zamorra. Wir haben beide nichts gesehen, nichts gehört. Wir verlassen diese Wohnung. Es gibt keine Leiche, also gibt es keinen Mörder. Danielle Leclerc ist ver schwunden. Sie kann deshalb auch keine Anzeige gegen Sie erstat ten. Alles verläuft im Sande. Die Akte über Ihr unbefugtes Eindrin gen vom frühen Abend wird geschlossen. Und Sie, Professor – Sie tun mir so etwas niemals wieder an, haben Sie verstanden? Sonst drehe ich Ihnen höchstpersönlich den Hals um!« Zamorra nickte. »Ist Ihnen klar, was passiert, wenn das hier herauskommt? Uns al
len passiert?«, fragte der Chefinspektor eindringlich. »Ich bin mei nen Job los, und wir beide landen vor Gericht. Nie wieder, Zamorra!« »Danke«, presste der Dämonenjäger hervor. »Ich weiß Ihre Unter stützung zu schätzen. Und Sie haben einen sehr großen Gefallen bei mir gut.« »Danken Sie nicht mir, sondern den Vampiren, die zu Staub zerfal len, Sie verdammter Narr! Und – vergessen Sie nicht das Fass Spät burgunder für meine Frau!« »Ganz sicher nicht, Chefinspektor«, sagte Zamorra heiser. »Ganz sicher nicht …«
»Wir kriegen ihn«, sagte Nicole. Sie erwartete Zamorra in der Hotel halle. Immer noch trug sie Moranos Schuh in der Hand. »Hiermit kriegen wir ihn, den verdammten Hund.« »Kein Voodoo!«, warnte Zamorra energisch. »Kein Voodoo«, versicherte Nicole. »Trotzdem! Wir packen ihn – mit der Zeitschau!« »Was hat der Schuh damit zu tun?« »Wenig. Wir wissen aber auf jeden Fall, dass er zu Fuß hierher kam. Wäre er von Anfang an geflogen, hätte er ja kein Kleidungs stück verlieren können, nicht wahr? Ich habe schon darum gebeten, den Wagen vorzufahren, falls wir seinen Bentley verfolgen müssen. Komm … es liegt zeitlich noch gar nicht lange zurück. Kein Risiko …« Zamorra nickte. Die Gefahr war relativ gering. Je weiter die Zeit schau in die Vergangenheit reichen musste, um so stärker war der Kraftaufwand. Die Magie forderte ihren Preis. Etwa bei 24 Stunden war die absolute Grenze; vorher kam schon die totale Erschöpfung, danach vermutlich der Tod. Zamorra hatte bislang noch nicht den Ehrgeiz entwickelt, das auszuprobieren. Er war sicher, dass auch sei
ne relative Unsterblichkeit ihn in diesem Fall nicht retten konnte. »Aber ich verstehe immer noch nicht, was dieser verdammte Schuh damit zu tun hat.« »Eigentlich gar nichts. Er war nur der Auslöser für meine Idee.« »Hm«, brummte Zamorra. Auf diese Idee hätten sie auch ohne das vertrackte Ding kommen können. Draußen fuhr ein Hotelpage den BMW vor. »Komm«, drängte Ni cole. »Ich fahre, du kümmerst dich um die Zeitschau. Erfreulicher weise haben wir jetzt kaum noch Verkehr. Wir haben also relativ gute Chancen, ihn zu erwischen.« Sie stiegen ein. Nicole brachte den Wagen bis dorthin, wo sie an fangs Morano gesehen hatte, wie er sie beide belauerte. Zamorra stieg aus und begann mit der Prozedur. Schließlich sah er den Vam pir. Als dieser sich »rückwärts« fortbewegte, folgte Zamorra ihm zu Fuß. Nicole lenkte den BMW im Schritttempo neben ihm her. Vor sichtshalber hatte sie die Warnblinkanlage eingeschaltet, damit nicht irgendein zufällig vorbeikommender rasender Verrückter ihr ins Heck knallte. Zamorra ging schneller, verfiel beinahe in Laufschritt. Er wollte die Prozedur beschleunigen, um nicht zu viel Zeit und damit auch Kraft zu verlieren. Schließlich bog er in eine Seitenstraße ein. Nach einem Dutzend Metern blieb er stehen. Seine Halbtrance erlaubte ihm, nicht nur das Bild der Vergangen heit, sondern auch die reale Umgebung wahrzunehmen, allerdings überlagerte sich das alles ein wenig, und seine Reaktionen waren nicht besonders schnell. Nicole stoppte den 740i und stieg aus. »Was ist?« Zamorra antwortete nicht. Nicole sah ihm über die Schulter. Die Dunkelheit störte nicht, das Bild im Amulett war deutlich erkenn bar. Zamorra sah es noch deutlicher, nicht nur in der Silberscheibe, sondern auch in seinem Bewusstsein in »Großaufnahme«.
Da parkte der Bentley, der in der Gegenwart nicht mehr hier stand. Zamorra änderte die Zeitrichtung, näherte sich der Gegenwart wieder. So lange, bis der Vampir zum zweiten Mal zu seinem Auto zurückkehrte und einstieg. Morano machte sich diesmal nicht die Mühe, sich wieder anzukleiden. Er fuhr sofort los. »Hinterher«, murmelte Zamorra. Er eroberte den Beifahrersitz sei nes Wagens. Nicole klemmte sich wieder hinter das Lenkrad. Sie richtete sich nach Zamorras Kursanweisungen. Zunächst ging es nur langsam vorwärts. Morano arbeitete sich durch den Stadtverkehr. Er kam zwar recht zügig voran, aber das war eher nachteilig für seine Verfolger, die an jeder Kreuzung prü fen mussten, ob er geradeaus fuhr oder abbog. Schließlich verließ Morano die Riesenstadt über eine Schnellstraße, vorbei an SaintGermain und dann schließlich in nördlicher Richtung; die Autobahn mied er. »Jetzt kriegen wir ihn«, triumphierte Nicole. Der BMW war dem Bentley fahrtechnisch unbedingt überlegen. Auf der Nationalstraße drehte Nicole richtig auf. Um diese späte Stunde war mit Geschwindigkeitskontrollen kaum noch zu rechnen. Sie fuhr, so schnell es die Straße und das geringe Verkehrsaufkom men zuließen, allerdings ohne Risiko und ohne andere Verkehrsteil nehmer zu gefährden. An Abzweigungen bremste sie, um Zamorra Gelegenheit zu geben, ein eventuelles Abbiegen des Vampirs festzu stellen. Aber er blieb auf der Strecke. »Wir kommen ihm näher«, sagte Zamorra plötzlich. »Sein zeitli cher Vorsprung ist auf die Hälfte geschrumpft.« Mehr als eine Stunde später waren sie immer noch unterwegs. Mo rano konnte nur noch ein paar Kilometer vor ihnen sein. Wohin wollte er? »Calais«, murmelte Nicole. »Er will nach England.«
Das schien sein Reich zu sein, seine Domäne. Dort hatten sie sich einst kennengelernt. Morano floh dorthin, wo er Heimspiel zu ha ben glaubte. »Wir packen ihn noch vorher«, war Nicole sicher. Zamorra antwortete nicht. Er spürte, wie seine Kraft nachließ. Es war nicht nur die zeitliche Distanz, sondern auch die Dauer der Zeitschau, die an ihm zehrte. So lange wie jetzt war er noch nie in diesem Zustand gewesen. »Lass es«, sagte er und löste sich endgültig aus der Halbtrance. »Wir schnappen ihn uns ein andermal.« Nicole schüttelte den Kopf. »Jetzt sind wir dran, und wir jagen ihn bis in die Hölle! Ich weiß, dass wir ihn noch erwischen! Spätestens im Hafen!« »Und wenn er den Tunnel nimmt?« »Auch dann kriegen wir ihn!« Sie kriegten ihn nicht. Rund zehn Kilometer vor dem Ziel gab es einen Unfall. Ein Tanklastzug kam einige hundert Meter vor ihnen ins Schleudern und stürzte um. Nicole schaffte es, den BMW mit einer Vollbrem sung noch rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Aber die Straße war dicht. Abgesehen von Erste-Hilfe-Maßnahmen für den Fahrer und das Benachrichtigen von Feuerwehr und Polizei verloren sie auch dadurch Zeit, dass sie zurückfahren und eine andere Strecke neh men mussten. Als sie eintrafen, war Tan Morano längst auf dem Weg nach England. Bis die nächste Fähre oder der nächste Tunnelzug fuhr, war es auf jeden Fall zu spät beziehungsweise riskant, auf der britischen Seite die Zeitschau erneut zu benutzen. Tan Morano war ihnen entwischt.
6. Vampirblut Tan Morano nahm die Niederlage mit Gelassenheit. Immerhin hatte auch Zamorra es nicht geschafft, seinerseits Morano zu töten. Es stand wieder einmal unentschieden. Manchmal konnte der Vampir nicht umhin, seinem Gegner Achtung zu zollen. Was ihn wesendich tiefer traf als diese Patt-Situation, war, dass ausgerechnet Nicole Duval versucht hatte, ihn zu töten. Darauf war er nicht gefasst gewesen. Aber nun wusste er, wie er sie einzuschätzen hatte. Er mietete sich in einem Hotel in einer mittelenglischen Kleinstadt ein. Der Komfort war so mittelmäßig wie die Stadt, aber es reichte ihm. Einen eigenen, festen Wohnsitz hatte er früher einmal gehabt, aber das Castle war verfallen in jener Zeit zwischen der Pfählung und seiner Rückkehr ins Leben. Vermutlich lohnte es sich nicht, es restaurieren und wieder bewohnbar machen zu lassen. Morano hat te es zwar noch nicht durchgerechnet, aber er sah wenig Chancen. Nicht etwa des Geldes wegen. Er war vermögend. Ein sehr, sehr langes Leben hatte auch in die ser Hinsicht seine Vorteile. Geld konnte arbeiten und sich vermeh ren. Früher einmal hatte er seine Opfer ausgeplündert. Das hatte er längst nicht mehr nötig, und in Zeiten elektronischer Kontoführung war es auch wesentlich schwieriger; zumindest für jemanden wie ihn, der alles andere als ein Hacker war. Er besaß genug eigenes Geld. Aber sein altes Castle renovieren zu lassen, würde Aufmerksam keit erregen. Und das war das Letzte, was er wollte. Also ließ er es weiter verfallen. Er wusste natürlich, warum kein anderer Vampir es in Besitz ge
nommen hatte. Es gab jede Menge Fallen, die Morano einst instal liert hatte. Dafür hatten andere Vampire seinen einstigen Machtbereich unter sich aufgeteilt, als er damals »starb«. Diesen Machtbereich zumin dest wollte er wieder beanspruchen. Die britischen Inseln gehörten ihm. Alle anderen Vampire, die sich dort tummelten, hatten sich sei nen Anweisungen zu beugen. Aber längst hatte sich eine andere Führung etabliert. Als der ver dammte Silbermond-Druide Gryf Morano einst den Eichenpflock ins Herz stieß, hinterließ der Vampirfürst ein Machtvakuum, das schon bald von anderen ausgefüllt wurde. Und diese anderen wollten nicht zurückgeben, was ihnen nicht ge hörte. Morano zeigte Geduld. Er hatte Zeit, viel Zeit. Die anderen misstrauten ihm, weil er nicht kämpfte. Er forderte nur, reagierte aber nicht auf ihre Ablehnung. Morano ging einen anderen Weg. Warum sollte er sich mit ande ren Vampiren um seinen Herrschaftsbereich prügeln? Er würde sie beseitigen, ganz unauffällig, einen nach dem anderen. So, dass ihm selbst keiner etwas nachweisen konnte. Kein Vampir tötet einen anderen Vampir. Ein schöner, hehrer Vorsatz. Aber schon Sarkana hatte ihn durch brochen. Und auch Morano war nicht gewillt, nur dieses Vorsatzes wegen zu verzichten. Er machte es nur unauffälliger, stiller. Auf ihn fiel kein Verdacht. Sein Zimmertelefon klingelte. Er überlegte, ob er sich melden soll te, und entschied sich nach dem fünften Klingeln dafür. »Sir, Besuch erwartet Sie.« Wer weiß, dass ich hier bin?, durchfuhr es ihn. Zamorra konnte es sicher nicht sein. Der hatte die Spur verloren, sonst wäre er längst aufgetaucht. Seit dem Vorfall in Paris waren
zwei Wochen vergangen; Zeit genug für den Dämonenjäger, nach Morano zu suchen und ihn aufzuspüren. Aber es war ihm nicht ge lungen. Morano war sicher, dass Zamorra jetzt auf eine andere Chance wartete, statt die Zeit mit Recherchen zu vergeuden. »Wer ist es?« »Sir Albert Woltingshire«, lautete die Antwort. Morano zögerte mit einer Antwort. Dann sagte er: »Ich komme nach unten.« Er legte auf. Woltingshire. Alter britischer Vampiradel, behaftet mit jeder Men ge Standesdünkel und in seinem Denken noch in vergangenen Jahr hunderten. Morano dagegen hatte gelernt, sich anzupassen. Wenn er sich behaupten wollte, musste er der neuen Zeit ihren Tribut zol len. Es brachte ihn nicht weiter, sie einfach zu ignorieren. In Jahren gezählt, war Morano der Ältere. Aber was die innere Einstellung anging, war Woltingshire wesentlich älter. Er war es schon damals gewesen, in alten Zeiten … Morano ging nach unten. Das Hotel hatte eine kleine Bar. Dort er wartete Woltingshire ihn. »Woher weißt du, dass ich hier bin?«, fragte Morano grußlos. »Aber, aber!«, tadelte der andere. »Wir wollen doch unsere Manie ren nicht vergessen, oder? Ein wenig Respekt und Höflichkeit kann niemals schaden.« »Na schön, Sir Albert«, sagte Morano. »Ganz wie Sie wollen. Und jetzt hätte ich gern eine Antwort auf meine Frage.« »Sie sind immer noch unhöflich, Mister Morano.« »Und Sie schmeiße ich gleich 'raus, wenn Sie nicht zur Sache kom men, Sir Albert. Wie haben Sie mich gefunden, und was wollen Sie von mir? Meine Zeit ist knapp bemessen.« Woltingshire räusperte sich. »Ihr Ton gefällt mir gar nicht, Mora
no. Dabei bin ich nur hier, um Ihnen eine frohe Botschaft zu verkün den.« »Dann los. Ich bin ganz Ohr.« Woltingshire war außer Fassung. Er hatte nicht einkalkuliert, dass ihm Morano in dieser burschikosen Form entgegentreten könnte. »Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich den Beschluss noch weiter mittragen kann«, sagte er. »Aber er wurde mehrheitlich gefasst. Mis ter Morano, wir haben Sie zum Anführer all unserer Clans und Sip pen gewählt.« Morano starrte ihn an. »Das ist nicht Ihr Ernst, Sir Albert!« »Es ist unser aller Ernst«, versicherte Woltingshire. »Nach Sarka nas Ableben übernahm Gino diSarko die Führung. Aber er ist unge eignet. Wir wollen ihn nicht länger. Wir wollen Sie, Mister Morano.« »Auf die Idee, mich selbst zu fragen, ob ich das überhaupt will, ist wohl niemand gekommen?« »Ach, kommen Sie, natürlich wollen Sie es. Und Sie haben die richtige Einstellung zur Macht. Sie werden sie nicht für eigene Zwe cke missbrauchen, sondern …« »Geschwätz«, winkte Morano ab. »Das ist nichts als albernes Ge schwätz. Ich will diese Macht nicht. Ich bin nicht im Geringsten an der Herrschaft über die Vampirfamilien interessiert. Ich möchte nur in Ruhe mein eigenes Leben führen. Das einzige, was ich will, ist, meinen früheren Machtbereich England wieder unter meiner Kon trolle zu haben, nicht mehr und nicht weniger. Aber Herr aller Clans … das ist es nicht, was ich will. Wollen Sie alle das nicht begreifen?« »Was Ihren Machtbereich angeht, Mister Morano, darüber ließe sich in diesem Fall vielleicht reden.« »Ach, ja? Mit wem müsste ich denn dann reden? Ich habe schon so lange geredet, dass ich allmählich die Lust daran verliere. Ich weiß, dass Sie, Sir Albert, einen großen Teil meiner einstigen Domäne ein kassiert haben. Ich rede gerade mit Ihnen. Geben Sie mir zurück,
was mir gehört.« »Ich glaube, es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu diskutieren«, sagte Woltingshire. »Es geht doch um Ihre Übernahme der Clansführerschaft.« »Als Herr aller Vampirsippen könnte ich Ihnen befehlen, den Platz zu räumen«, sagte Morano kalt. »Ist Ihnen das eigentlich bewusst?« Woltingshire wurde ein wenig blasser. »Wenn Sie befehlen …« »Sie sind ein verdammter Narr, Sir Albert«, sagte Morano. »Ich werde dieses Amt nicht antreten. Erzählen Sie das all denen, die mich gewählt haben.« »Die Alternative wäre Sarkana.« Woltingshire sah Morano lauernd an; er wartete auf eine Reaktion. Aber wenn er glaubte, Morano damit überraschen zu können, sah er sich nun getäuscht. »Ich weiß, dass Sarkana noch lebt«, sagte Morano. »Mag er sich mit diSarko auseinandersetzen. Ich werde es jedenfalls nicht tun. Und nun verschwinden Sie. Sofort.« »Sie sind wirklich sehr unhöflich, Mister Morano«, murrte Wol tingshire. »Ich hoffe, Sie wissen, welche Chance Sie sich entgehen lassen.« »Die Chance, eine Marionette in den Händen anderer Vampirfürs ten zu sein? Sie haben mich mit dieser Wahl überfahren, und Sie werden mich immer wieder zu überfahren versuchen. Sie werden mich immer wieder dazu bringen, Dinge zu tun, die ich nicht will, die aber zu Ihrem Nutzen sind. Nein, das Spiel mache ich nicht mit. Raus jetzt! Aus meinen Augen!« »Eines Tages werden Sie Ihre Entscheidung bereuen«, sagte Wol tingshire. »Soll das eine Drohung sein?« Der andere schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Wer wäre ich denn, Ihnen drohen zu wollen? Es war nur eine Vermutung.«
»Eher eine Zumutung«, brummte Morano, erhob sich und ging. Er kehrte in sein Zimmer zurück, verriegelte die Tür sorgfältig hinter sich und versah sie mit einem Zauber, den Woltingshire oder andere garantiert nicht durchdringen konnten. Dasselbe machte er mit den Fenstern. Dann ließ er sich rücklings auf das Bett fallen und verschränkte die Arme unter dem Hinterkopf. Er als Herr der Vampirfamilien! Es war eine verlockende Option. Aber es entsprach nicht seiner Art, sich so zu exponieren. Er blieb lieber im Hintergrund. So konnte er viel unauffälliger agieren. Er war schon immer ein Einzelgänger gewesen, und er wollte es auch künftig bleiben.
Zwei Tage später versammelten sie sich erneut, aber diesmal nicht in Vlad Brescus Burggemäuer. Sir Albert war der Gastgeber. »Er weigert sich strikt, das Amt anzutreten, in das wir ihn gewählt ha ben«, sagte Woltingshire. »Ich habe ihn nicht überzeugen können.« »Er ist eben ein elender Sturkopf«, sagte Nicolae Tepes. »Damals wie heute. Ich werde ihn nie verstehen. Wir bieten ihm die Macht, und er schlägt sie aus. Unfassbar.« »Vielleicht befürchtet er, als Oberhaupt das bevorzugte Angriffs ziel Professor Zamorras zu werden«, überlegte Pierre Gaullet. »Was schaut ihr mich denn schon wieder so misstrauisch an?«, fauchte Don Jaime deZamorra. »Wie oft muss ich noch sagen, dass ich mit diesem Zamorra nichts …« »Bleib ruhig, Brüderchen«, brummte Pjotr Wassilowitsch Somkow. »Niemand will dir etwas am Zeug flicken. Wenn Morano nicht will, können wir ihn nicht zwingen. Dann müssen wir weiter mit Gino diSarko leben. Aber ich schätze, über kurz oder lang wird Sarkana wieder nach der Macht greifen. Und ich möchte beide nicht als Oberhaupt haben. Was also tun wir?«
»Wir stehen wieder vor dem Problem, das wir schon einmal streif ten – sowohl Sarkana als auch diSarko zu töten.« »Und danach wird Morano den Thron besteigen?« Woltingshire schüttelte den Kopf. »Den Erzengel wird er tun. Wir werden dann eher einen von uns wählen müssen.« Vlad Brescu lächelte dünn. »Du …«, begann Somkow, aber Brescu hob die Hand und wies auf Don Jaime. »Wie wär's mit ihm?« »Ihr wollt doch nur, dass ich …«, begann Don Jaime zischend. »Wenn du nicht willst, zwingen wir dich nicht dazu, so wie wir auch Morano nicht zwingen können.« »Don Jaime ist für dieses Amt völlig ungeeignet«, protestierte Woltingshire. »Man schaue sich ihn doch nur an. Diese ständige Pa ranoia … und vor allem, wer wird ihn ernst nehmen, wo er doch den Namen eines unserer Feinde trägt? Die Schwarze Familie wird ihn nicht akzeptieren.« »Da hört ihr es!«, keifte deZamorra. »Da hört ihr es alle! Ich werde diskriminiert und verachtet, nur weil ich …« »Wie ich schon sagte: Paranoia«, übertönte Woltingshire ihn. »Wir sollten das Fell des Bären nicht verkaufen, ehe wir ihn erlegt haben«, mahnte Somkow zur Ruhe. »Noch ist Gino das Oberhaupt. Noch leben Morano und Sarkana. Wenn wir diese Probleme besei tigt haben, dann können wir uns darum kümmern, wer von uns die Nachfolge antritt.« »Endlich ein vernünftiges Wort«, seufzte Gaullet. Der Hüne grinste ihn an. »Vernunft, Brüderchen«, verriet er, »ist russische Erfindung.«
Drei Tage später traf sich Pierre Gaullet mit Sarkana an einem ver borgenen Ort.
Er war sehr vorsichtig. Er wollte nicht Ion Dragos erbärmliches Schicksal teilen, der sich dummerweise verplappert hatte. Gaullet hatte zwar angedeutet, dass Sarkana noch lebte, aber nicht wie Dra go im Suff behauptet, er wisse, wo Sarkana sich aufhalte. Genau das war Drago zum Verhängnis geworden. Gaullet achtete sorgsam darauf, dass niemand ihm folgte. Kein Mensch, kein Vampir, kein anderer Dämon. Er wollte nicht durch einen dummen Zufall bemerkt werden, der ihn sein Leben kosten konnte. Er wusste, dass Gino diSarko vor nichts zurückschreckte, um seine Macht zu erhalten. Auch nicht vor dem Foltermord an einem Artge nossen. Schließlich saßen sie sich gegenüber, Sarkana und Gaullet. Sarkana sah sehr ungesund aus, fand Gaullet. Er schien immer noch an den Folgen der Blutvergiftung zu leiden. Aber er strahlte eine Aura der Stärke aus, die gar nicht zu seinem Aussehen passte. »Sie wissen längst, dass du noch lebst, mein Fürst«, sagte Gaullet. »Ich weiß«, erwiderte Sarkana. »Drago war zu leichtsinnig.« Dabei sah er Gaullet nachdenklich an. »Mir kannst du vertrauen, mein Fürst. Ich will nicht so enden wie Drago, und ich will auch nicht, dass sie dich töten. Genau das haben sie vor. Sie wollen dich und Gino ermorden lassen und Morano auf ihren Schild heben.« Sarkana fauchte. »Morano weigert sich – noch«, fügte Gaullet hinzu. »Aber das stört die anderen nicht. Wenn er nicht will, werden sie auch ihn kalt stel len und jemanden aus ihrem Kreis wählen. Sie wollen die Verände rung um jeden Preis.« »Was, wenn sie dich wählen?«, fragte Sarkana. »Dazu müssten sie zuerst dich töten, mein Fürst. Du kennst meine Loyalität. So lange du lebst, werde ich dich unterstützen.« »So lange ich lebe …«, echote Sarkana bedächtig. »Was wäre im
Falle meines Todes?« »Daran will ich nicht denken.« »Denke daran. Was wirst du dann tun?« »Ich würde mich wählen lassen und versuchen, die Mörder zu be strafen.« »Du bist wenigstens teilweise ehrlich«, sagte Sarkana. »Ich bemühe mich. Ich habe von deiner Protektion immer profi tiert. Warum sollte ich undankbar sein?« »Ja, warum solltest du …« »Sie wollen Zamorra auf dich hetzen.« »Zamorra? Wie sollte er mich aufspüren? Er weiß doch nicht, wo er mich zu suchen hat. Oder würdest du mich verraten?« »Nein!« »Oder meinst du Don Jaime deZamorra?« Da lachte Pierre Gaullet. »Den ganz bestimmt nicht! Die Rede ist von jenem, den sie alle den Meister des Übersinnlichen nennen.« »Sie wissen nicht, wo ich bin«, sagte er. »Also können sie es ihm auch nicht verraten – es sei denn, du plauderst es aus.« »Niemals!« »Also wird man versuchen, mich in eine Falle zu locken«, überleg te Sarkana. »Aber wo wir gerade beim Thema Falle sind … kannst du mir sagen, wo sich Tan Morano derzeit aufhält?« »Ich kann es herausfinden«, versprach Gaullet. »Tu es. Und berichte es nicht nur mir, sondern sorge irgendwie da für, dass es auch Professor Zamorra erfährt. Ich bin daran interes siert, dass er Morano tötet.« »Du wirst mit meiner Arbeit zufrieden sein, mein Fürst«, ver sprach Gaullet.
Vlad Brescu überlegte. Er dachte an die zurückliegenden Diskussio nen, und je länger er grübelte, umso stärker wurde in ihm der Ver dacht, dass Pierre Gaullet wusste – oder zumindest ahnte –, wo sich Sarkana befand. Aber seine Versuche, Gaullet bespitzeln zu lassen, schlugen fehl. Der Franzose war schlau, fast schon zu schlau. Er schüttelte jeden Verfolger ab, egal wohin es ihn trieb, und er sorgte dafür, dass er auch in seinem Domizil unbehelligt blieb. Brescu fragte sich, wieviel Gino diSarko von alledem mitbekam. Es konnte doch nicht alles völlig an ihm vorbeigehen! Seit Drago schweigend gestorben war, hatte diSarko keine weite ren Aktivitäten gezeigt, um Sarkana aufzuspüren. Das war erstaun lich, musste er doch damit rechnen, dass der alte Vampir alles daran setzte, wieder Oberhaupt der Familien zu werden! Hier stimmte ir gendetwas nicht! Brescu beschloss, sich einmal näher mit Gino darüber zu unterhal ten. Und Professor Zamorra ein wenig Arbeit zu beschaffen …
Gaullet suchte Woltingshire auf. Der war von dem Überraschungs besuch alles andere als begeistert. »Ah, der kontinentale Erbfeind begibt sich in meinen Machtbereich. Machen Sie es kurz, Monsieur, umso schneller können Sie danach wieder Froschblut saufen. Auf mich wartet eine Verabredung mit einer bezaubernden jungen Da me. Meine Zeit ist knapp bemessen.« »Dafür reden Sie erstaunlich viel und langatmig. Kein Wunder, dass die Engländer ihr großes Reich von einst verloren haben, wenn jeder von ihnen so viel schwätzt.« »Nun kommen Sie endlich zur Sache!«, forderte Woltingshire. »Sagen Sie mir, wo ich Morano finde.« »Aus welchem Grund sollte ich das tun?« »Ich möchte noch einmal versuchen, ihn zu überreden.«
Woltingshire lachte spöttisch auf. »Glauben Sie im Ernst, Ihnen könnte gelingen, was ich nicht geschafft habe? Sie, ein Franzose? Morano ist Brite!« Gaullet grinste. »Eben deshalb ja. Ich gehöre nicht zu denen, die sich in seinem einstigen Machtbereich ausgebreitet haben. Vielleicht ist er deshalb eher bereit, mir zuzuhören.« »Narr«, brummte Woltingshire. »Aber wie Sie wollen. Blamieren Sie sich ruhig.« Er nannte Gaullet Moranos Aufenthaltsort. »Und jetzt verschwinden Sie endlich. Ihre Anwesenheit beleidigt mich.« Gaullet schluckte die Frechheit unkommentiert. Er war nicht hier, um mit dem arroganten Woltingshire zu streiten. Er hatte erreicht, was er wollte – er wusste jetzt, wo Morano zu finden war. Vorsichtig, wie er von Natur aus war, überprüfte er die Adresse, ehe er Sarkana wieder aufsuchte.
Gino diSarko fragte sich, was Vlad Brescu von ihm wollte. Sie waren alles andere als Freunde. DiSarko wusste nur zu gut, dass Brescu da mals gegen ihn gestimmt hatte, als er zu Sarkanas Nachfolger er nannt wurde. Brescu versuchte auch ständig, bei jeder Entschei dung, welche diSarko traf, ein Haar in der Suppe zu finden. Dabei griff er häufig zu den abstrusesten Argumenten. DiSarko fragte sich, warum die anderen Brescu überhaupt noch ernst nahmen. Das Oberhaupt der Vampirfamilien streifte seine Anzugjacke ab und warf sie seinem Diener zu. Der kehrte wenig später mit zwei Gefäßen zurück, in denen es rot schimmerte. »Nur eine Konserve«, entschuldigte sich diSarko. »Mir fehlte es in den letzten Tagen an der Zeit, Lebendware zu erjagen. Aber es ist relativ frisch; gerade drei oder vier Tage alt. Cervocampo«, er nickte seinem Diener zu, »hat es aus einem Krankenhaus besorgt.« Eine Blutkonserve! Es war eine Frechheit, die einem Vlad Brescu anzubieten! Diese Form der Gastfreundschaft war der reinste Hohn.
»Danke, aber mein Durst hält sich in Grenzen«, lehnte Brescu ab. »Aber es wird dich interessieren, was ich dir zu erzählen habe.« »Dann mach's kurz, mein Bester.« DiSarko verzichtete selbst auf einen Schluck von dem Konservenblut und ließ sich in einen beque men Sessel fallen, ohne seinem Besucher ebenfalls Platz angeboten zu haben. »Ich habe gerade eine Besprechung mit dem Ministerprä sidenten hinter mir und bin ebenso müde wie gereizt. Dieser Berlus coni ist zwar ein halbwegs brauchbares Werkzeug, aber ihm fehlt der Weitblick.« »Sarkana lebt«, sagte Brescu. DiSarko lachte spöttisch auf. »Ist das alles, was du mir zu erzählen hast? Verschwende nicht meine wertvolle Zeit.« »Es ist nicht alles«, sagte Brescu. »Pierre Gaullet weiß, wo sich Sar kana aufhält.« Kurz richtete diSarko sich auf, dann ließ er sich wieder zurücksin ken. »Ion Drago wusste auch, wo sich Sarkana befindet. Er schwieg bis in den Tod. Glaubst du, dass Gaullet gesprächiger sein wird? Und glaubst du, dass die anderen ruhig zuschauen werden, wenn ich ihn foltern lasse? Über Drago hat sich niemand aufgeregt. Ein unwichti ger, kleiner Kerl, der hin und wieder das Maul zu weit aufmachte. Aber treu bis in den Tod. Gaullet aber ist ein Fürst!« »Wer sagt, dass du ihn foltern sollst? Lass ihn verfolgen, dann führt er dich zu Sarkanas Versteck. Ich weiß, dass er es derzeit häu fig aufsucht. Er hält Kontakt zu Sarkana und ist ihm treu ergeben.« »Du selbst hast ihn nicht verfolgen lassen?« Es war ein wunder Punkt. Brescu war gezwungen, eine Schwäche einzugestehen. »Er ist meinen Spionen bisher immer entwischt. Aber du hast vielleicht bessere Leute, Gino.« DiSarko erhob sich. »Mein lieber Vlad«, säuselte er. »Beschaffe mir Sarkanas Adresse und kehre mit ihr zu mir zurück. Jetzt aber hast du meine Erlaubnis,
dich zu entfernen. Ich bedarf ein wenig der Ruhe, ehe die Nacht be ginnt.« Zähneknirschend entfernte Brescu sich. Jetzt musste er doch tun, was er eigentlich vermeiden wollte – sich selbst um Sarkanas Ver steck kümmern. Er hatte gehofft, die Sache auf den Anführer abwäl zen zu können. Aber der hatte einen offiziellen Auftrag aus dem ge macht, was Brescu bisher unter der Hand versucht hatte und daran gescheitert war. Er war jetzt im Zugzwang – er musste Sarkanas Versteck finden!
DiSarko nickte seinem Diener zu und wies auf die beiden Trinkge fäße mit dem Konservenblut. »Du kannst das trinken«, gewährte er. Cervocampo strahlte, schnappte die beiden Gefäße und ver schwand. Er würzte das Blut noch mit einigen zerpressten Kakerla ken und einer Spinne und wurde minutenlang zum Genießer. Währenddessen dachte diSarko über Brescu nach. Was versprach dieser sich davon, wenn Gino Sarkana fand und beseitigte? Es brachte ihn doch nicht weiter vorwärts! Zudem war diSarko nicht willens, solche Praktiken zu dulden. Zumindest nicht offiziell. Inoffiziell wandte er sie natürlich eben falls an, aber nach außen hin sollten sich die Vampirfamilien doch ein wenig von den anderen Dämonen innerhalb der Schwarzen Fa milie unterscheiden. Sie waren edler als die anderen und hatten der lei Ränkespiele nicht nötig, die bei anderen Sippen an der Tagesord nung waren. Sobald er Sarkana erledigt hatte, würde er Brescu vor ein Tribunal bringen und aburteilen lassen. Cervocampo hatte das Gespräch mit gehört und würde es jederzeit bezeugen. Aber selbstverständlich wollte diSarko das Feld auch nicht Brescu allein überlassen. Er wusste ja jetzt, dass er Pierre Gaullet verfolgen lassen musste. Genau das würde er tun. Verfolgt von Spürhunden
gleich zweier Vampire hatte Gaullet nur wenig Chancen, sich uner kannt davonzuschleichen. Und anschließend konnte Professor Zamorra ihn beseitigen. Ein kleiner Tip an den verfluchten Meister des Übersinnlichen, und Gaullets Tage waren gezählt. Wer nicht für Gino war, war gegen ihn. Alles war jetzt nur eine Frage der Zeit.
Pierre Gaullet überlegte, wie er Professor Zamorra die Information zukommen lassen konnte, wo sich Tan Morano jetzt aufhielt. Im merhin hatte Sarkana ihm das aufgetragen. Aber er konnte ja nicht einfach das Château Montagne aufsuchen, an die Tür klopfen und es Zamorra sagen. Wahrscheinlich wäre er schon tot, ehe er auch nur den Mund aufmachte. Er konnte es telefonisch versuchen. Die Frage war, wie Zamorra auf einen Anruf reagierte. Das war Gaullet etwas zu unsicher. Zu dem bestand die Gefahr, dass der Dämonenjäger den Anruf zurück verfolgte und irgendwie merkte, mit wem er es zu tun hatte. Viel leicht führte er dann einen magischen Angriffsschlag durch die Tele fonleitung aus. Vielleicht überschätzte Gaullet den Professor, was diese Dinge an ging, aber er war ein alter, vorsichtiger Vampir, der nur durch sein Misstrauen so lange überlebt hatte. Besser einmal zu vorsichtig als tot. Schon zu viele hatten Zamorra unterschätzt. Sie lebten alle nicht mehr. Gaullet wollte ihr Schicksal nicht teilen. Es gab eine sicherere Möglichkeit, Zamorra zu ködern. Der Dämo nenjäger lebte in der Nähe eines kleinen Dorfes an der südlichen Loire. Hier ließ sich vielleicht einhaken. Pierre Gaullet begab sich direkt dorthin. In den frühen Abendstun den erreichte er die kleine Ortschaft; auch er gehörte wie die meisten
uralten Vampirfürsten zu jenen, welchen das Tageslicht nicht mehr wirklich schaden konnte. Das machte vieles leichter. Als er einen etwa zwölfjährigen Jungen an der Straße sah, stoppte er seinen Wagen. Die Fensterscheibe der Beifahrertür glitt auf Knopfdruck abwärts. Gaullet sprach den Jungen an, der starkes Misstrauen zeigte. »Kennst du Professor Zamorra?«, fragte der Vampir. »Warum wollen Sie das wissen? Wer sind Sie, Monsieur?« »Ich habe etwas für den Professor«, sagte Gaullet. »Warum tragen Sie am Abend eine Sonnenbrille, Monsieur?«, fragte der Junge misstrauisch. Verdammt, dachte Gaullet. Der ist ganz schön auf Draht, der Knabe! »Ich habe eine Augenkrankheit«, log er. »Ich vertrage die Helligkeit nicht so gut.« »Dann sollten Sie abends nicht mehr Auto fahren, Monsieur.« Gaullet beugte sich zum Beifahrerfenster und hielt dem Jungen einen Briefumschlag entgegen. »Kannst Du diesen Brief bitte dem Professor geben?« Mit einer Heftklammer war an dem Umschlag noch ein ZwanzigEuro-Schein befestigt. »Das Geld ist für dich, für deine Mühe«, sagte Gaullet. »Warum geben Sie es dem Professor nicht selbst?« »Ist er denn gerade hier in der Nähe?« Schulterzucken. »Weiß ich nicht. Manchmal ist er in seinem Château, manchmal nicht. Manchmal sitzt er hier auch mit den Leu ten in der Kneipe. Geben Sie den Brief doch dem Wirt.« »Wenn du dir das Geld nicht verdienen willst … meinetwegen.« Gaullet zog die Hand zurück. Da griff der Junge zu. »Mache ich«, versprach er. »Herzlichen Dank.« Gaullet wuchtete sich zurück und fuhr wieder los. Ganz bewusst ging er das Risiko nicht ein, in der Kneipe viel
leicht tatsächlich auf Zamorra zu stoßen. Da war es besser, wenn der Junge den Umschlag überbrachte. Bis Zamorra ihn erhielt, befand sich Gaullet längst in sicherer Entfernung. Er gab Vollgas. Der Wagen raste mit durchdrehenden Rädern und überhöhter Geschwindigkeit davon. Die Fensterscheibe surrte wäh rend der Fahrt nach oben. Der Junge versuchte sich das Kennzeichen des Wagens zu merken. Aber irgendwie konnte er es nicht richtig erkennen. Er sah den unadressierten Umschlag an, dann zupfte er den Geld schein ab und ließ ihn in der Hosentasche verschwinden. Zwanzig Euro waren eine Menge Geld für einen Zwölfjährigen. Und das alles nur, um dem Professor diesen Brief auszuhändigen? Manche Leute mussten wirklich verrückt sein.
Als nächstes suchte Gaullet Sarkana auf, um ihm Moranos Aufent haltsort mitzuteilen. Aber Sarkana, der alte Fuchs, befand sich nicht mehr in seinem bisherigen Unterschlupf. Es gab nur einen ver schlüsselten Hinweis, den wohl niemand außer Gaullet enträtseln konnte. Sie trafen sich in einem Fernzug, der Griechenland zum Ziel hatte. Sarkana hatte gleich drei Schlafwagenabteile gebucht, die nicht unmittelbar nebeneinander lagen. Als Vampir konnte er not falls außerhalb des Zuges von Fenster zu Fenster fliegen, um jeweils von einem seiner Abteile zum anderen zu wechseln. Auch Gaullet betrat den Zug in seiner Fluggestalt. Er hatte es na türlich nicht mehr geschafft, rechtzeitig zum Bahnhof zu gelangen und dort zuzusteigen. So schnell war sein Sportwagen nun auch wieder nicht. Vorsichtshalber hatte er sein Kleiderbündel mitgebracht und zog sich in Ruhe an, als Sarkana ihn durch das Fenster in sein Abteil ein ließ. »Mord im Orient-Express?«, spöttelte er. »Dies ist nicht der legendäre Orient-Express – auch wenn er mo
dernisiert seit ein paar Jahren wieder auf der Schiene ist«, sagte Sar kana. »Endstation wird Athen sein.« »Was treibt dich dorthin?« »Es ist für jemanden in meiner Lage nicht gut, zu lange an einem Standort zu verbleiben.« »Warum ausgerechnet Griechenland? Morano befindet sich in ei ner mittelenglischen Kleinstadt. Ich habe übrigens auch Professor Zamorra einen entsprechenden Hinweis zukommen lassen.« »Dann wird er sich hoffentlich um dieses Problem kümmern. Mich wird in Griechenland kaum jemand suchen, es sei denn, du bist ver folgt worden.« »Ich war wie immer sehr vorsichtig, und ich habe keinen Verfolger bemerkt. Willst du dich nicht selbst um Morano kümmern?« »So lange nicht, wie es andere Möglichkeiten gibt«, sagte Sarkana. »Eines verstehe ich nicht«, sagte Gaullet. »Warum gibst du dich nicht einfach zu erkennen und beanspruchst deinen alten Rang wie der? Sie müssen es akzeptieren, ob sie wollen oder nicht.« »Ganz so einfach ist es nicht«, sagte der Uralte. »Sie haben sich daran gewöhnt, dass ich nicht mehr da bin. Gino wird seinen Platz nur ungern räumen. Sie alle werden gegen mich intrigieren. Sagtest du nicht selbst, dass sie sogar Morano zum Oberhaupt wählen woll ten? Wenn Gino jetzt von zwei Seiten bedrängt wird, wird er um sich beißen wie ein tollwütiger Straßenköter. Er ist machtsüchtig – ebenso wie ich …« Sarkana machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Ich werde erst alle Verräter beseitigen, so oder so. Danach trete ich mein Amt wieder an. Derzeit sind es zu viele, die gegen mich stehen. Sie könn ten mich sogar vor ein Tribunal zitieren und anklagen. Hast du nicht mitbekommen, was sich vor einigen Monaten in den Schwefelklüf ten abspielte?« Gaullet stutzte. »Was meinst du?« »Du weißt es wirklich nicht? Astardis, Satans Ministerpräsident,
wurde getötet. Wenig später tauchte er wieder auf. Doch es war nicht der echte Astardis, sondern ein MÄCHTIGER, der seine Aura kopierte. Erfreulicherweise wurde er entlarvt und verjagt. Aber es ist ein Präzedenzfall. Jetzt tauche ich als Ex-Toter auf, und man wird mich ebenfalls für einen MÄCHTIGEN halten!«(siehe »Professor Za morra«-Heftserie Nr. 744-751) »Das ist absurd.« »Aber es könnte geschehen. Ich werde es nicht darauf ankommen lassen. Erst müssen ediche der Verräter verschwinden. Und das kann ich besser organisieren, solange ich nicht im Rampenlicht ste he. Jetzt bin ich weitgehend unbeobachtet. Wird ein Vampir getötet, kann es Zamorra gewesen sein, oder der Druide Gryf ap Llandrys gryf, oder sonst irgendjemand. Bin ich Oberhaupt, wird man mich nicht nur fragen, was ich getan habe, um diese Anschläge zu verhin dern. Man könnte sie mir sogar vorwerfen. Die Zeit ist noch nicht reif, Pierre, mein treuer Freund.« »Du ziehst dich jetzt also erst einmal nach Athen zurück.« »Es muss nicht Athen sein. Vielleicht bin ich tags darauf schon ganz woanders. Ich bin ein ruheloser Rachegeist. Und ich werde sie mir holen, einen nach dem anderen, die damals Morano nicht zur Rechenschaft zogen, als er mich fast getötet hätte, sondern die ihn jetzt auch noch auf ihren Schild heben wollen.« Dass er seinerseits Morano hatte vergiften wollen und dabei in sei ne eigene Falle getappt war, ignorierte er vorsichtshalber. Das war ja auch etwas ganz anderes. Der Zug raste durch die Nacht. Inzwischen musste er die Grenze zur Schweiz hinter sich gelassen haben. In der Tat klopfte kurz dar auf jemand an die Abteiltür, und eine junge Frau in der Uniform des Schweizer Bahnpersonals tauchte auf. »Wenn ich um Ihre Fahrkärtli bitten dürfte …«, vermeldete sie in ausgeprägtem Dialekt. Freundlich reichte Sarkana ihr sein Ticket. Sie prüfte es, gab es zu rück und wandte sich dann Gaullet zu. »Ich besitze kein Fahrkärtli«, eröffnete ihr der Vampir.
»Oh! Ich fürchte, dann chaben Sie jetzt ein Problemli!« »Bestimmt nicht«, sagte Sarkana. »Bitte, schließen Sie die Abteil tür.« Er sah der Kontrolleurin in die Augen. Sein Blick hatte eine starke hypnotische Wirkung. Die junge Frau zog die Tür zu. Sarkana verstärkte die Hypnose. Er konnte das frische Blut in den Adern der jungen Frau geradezu wittern. Aber es war noch zu kalt … es musste erhitzt werden … dann schmeckte es wesentlich besser … und man wollte ja genießen, nicht nur konsumieren … »Sie haben Zeit«, sagte der Vampir einschmeichelnd. »Sehr viel Zeit. Hier ist es gemütlich. Ihnen wird warm. Sie sind unter Freunden, unter sehr guten Freunden. Es ist Zeit für die Liebe. Legen Sie alles ab, was Sie stört …« Sie entkleidete sich. Sarkana lächelte immer noch. Er nickte Gaullet zu. »Wir teilen al les brüderlich«, gestand er seinem Freund zu. »Die Liebe und das Blut.« Und sie genossen es. Auch die Kontrolleurin genoss es, von den beiden Männern von einem Höhepunkt zum anderen gebracht zu werden. Sie wand sich unter den aufreizenden Berührungen, den streichelnden Fingern, sie stöhnte vor Lust, ihr Blut kochte, sie konn te nur mühsam ihre Schreie unterdrücken. Als sie endlich wirklichen Grund zum Schreien hatte, war sie längst erschöpft und einer Ohnmacht nahe, in welche die beiden Vampire sie dann doch noch hinein trieben. Und sie tranken heißes, süßes Blut … Etwas später drehte ihr Sarkana in eiskalter Ruhe das Gesicht auf den Rücken; sie war ohnehin fast schon blutleer. Sie starb im Gefühl, das größte, grenzenloseste Glück ihres Lebens genossen zu haben. »Problemli erkannt, Problemli gebannt«, sagte er zynisch. »Und Dürstli gestillt. Schmeiß sie und ihre Sachen aus dem Fensterli.«
Das geschah in einem Tunnel. Der Körper der Toten prallte von der Tunnelwand ab und war kaum noch als menschlich zu erken nen, als die Räder des letzten Wagens in der Ferne verschwanden.
Cervocampo legte seinem Herrn und Meister die Morgenzeitung vor. Gino diSarko blätterte sie durch; ihn interessierte vorwiegend der politische und wirtschaftliche Teil. Aber diesmal blieb sein Blick an einer Schlagzeile haften. »Blutleerer Körper in einem Schweizer Eisenbahntunnel gefun den.« Gino las den Text an und erfuhr dabei, dass in einem Zug eine Kontrolleurin vermisst wurde. Sie sei spurlos verschwunden, hieß es. Der Verfasser des Artikels schlussfolgerte, dass der Leichnam der der Kontrolleurin sein könne, dass aber die zuständige Polizei sich in dieser Hinsicht sehr bedeckt halte. DiSarko hatte auch unter den Sterblichen viele Kontakte und In formanten. Er begann zu telefonieren. Nur wenige Stunden später wusste er, in welchem Zug die Kontrolleurin vermisst wurde. Ein Zug, der von Paris nach Athen fuhr und inzwischen längst seine Endstation erreicht hatte. »Sarkana«, murmelte er. »Er setzt sich in den Osten ab.« Natürlich bestand die Möglichkeit, dass Sarkana irgendwo zwi schendurch ausgestiegen war. Das festzustellen, war kaum zu über prüfen. Aber da gab es noch etwas anderes. Sowohl diSarkos als auch Brescus Spürhunde hatten festgestellt, dass Pierre Gaullets Auto an einem der Stopp-Bahnhöfe dieses Zu ges geparkt war, noch in französischem Bereich. Es war also davon auszugehen, dass Gaullet irgendwann in der nächsten Zeit dorthin zurückkehrte. Wenn man ihn dort abfing, konnte man ihn nach Sar kana befragen. Vielleicht war er ja nicht ganz so stur wie der Narr
Drago. Und wenn doch – gab es eben einen Vampirfürsten weniger. DiSarko würde ihn nicht selbst töten, nicht ganz zu Tode foltern lassen. Er würde ihn, wenn er wirklich nicht redete und jeder Folter widerstand, schließlich einem Vampirjäger vor die Füße werfen. Gaullet war nicht Drago, nach dem kein Hahn mehr krähte. Drago war ein kleines Licht gewesen. Gaullet war ein Fürst. Aber er war nicht unangreifbar. Und – er war nicht unsterblich … Pascal Lafitte setzte sich an den Tisch und legte eine Zeitung vor Zamorra hin, die so gefaltet war, dass ein Artikel besonders hervor stach. »Wird dich interessieren«, sagte er. »Doch nicht schon wieder ein Fall?«, seufzte der Professor. Er winkte dem Wirt. »Einen Weißwein für Pascal!« »Lieber einen Cognac – ausnahmsweise«, protestierte Lafitte laut. Mostache, der Wirt, reagierte geschäftstüchtig. »Einen Weißwein und einen Cognac …« »Idiot!«, blaffte Lafitte. »Nur den Cognac, du Erzkapitalist!« »Ein Volk, das seinen Wirt hungern lässt, verdient nicht zu leben«, sagte Mostache. Zamorra grinste; Mostache brachte tatsächlich beide Getränke. La fitte schob das Weinglas zurück. »Sauf's selber!« »Danke für deine freundliche Einladung«, grinste Mostache, mar kierte den Wein trotzdem auf Lafittes Deckel und prostete ihm dann zu. »Du bist wirklich ein Arsch mit Ohren, Mann!«, ächzte Lafitte. »Reg' dich nicht auf. Du hast doch den Zamorra-Rabatt. Der gleicht das wieder aus«, behauptete Mostache und kehrte in den Si cherheitsbereich hinter seiner Theke zurück. Zamorra fischte einen jungfräulichen Bierdeckel aus dem Ständer, warf ihn Lafitte hin und kassierte dessen Deckel ein. »Trink auf mei
ne Rechnung«, sagte er. Lafitte verdrehte die Augen. »Ruhe«, warnte Zamorra. Pascal Lafitte, Vater zweier Kinder, war der geborene Pechvogel und von Beruf arbeitslos … jedesmal, wenn er einen Job fand, hielt das nur ein paar Monate vor. Nicht, weil er schlecht arbeitete, son dern weil in sagenhafter Regelmäßigkeit die Firmen, die ihn einstell ten, kurz darauf Konkurs anmeldeten oder von anderen geschluckt wurden, was mit Personaleinsparungen einher ging – und er war dann, obgleich Familienvater, als einer der Ersten fällig, weil er als einer der Letzten eingestellt worden war. Zamorra gab ihm eine Art Nebenjob; er hatte Zeitungen aus aller Welt abonniert, die er zwar selbst nie las, die aber Pascal Lafitte durchforschte und nach Mel dungen suchte, die in Zamorras Fachgebiet trafen. Dafür zahlte Za morra ihm ein dem Arbeitsaufwand angemessenes Honorar. Und oft genug hatten Lafittes Recherchen den Parapsychologen auf Din ge gestoßen, um die er sich kümmern musste. Normalerweise scannte Lafitte die Artikel ein und schickte sie per DFÜ direkt in das Rechnersystem von Château Montagne. Aber manchmal kam er auch selbst zum Château hinauf, wenn er plau dern wollte, oder man traf sich wie jetzt in der Dorfkneipe. Am »Montagne-Tisch« war für ihn immer ein Platz frei. Zamorra und Nicole genossen es wieder einmal, mit den Leuten aus dem Dorf zu plaudern, mit denen sie eine durchaus herzliche Freundschaft verband. Zamorra war alles andere als der hochherr schaftliche Schlossherr, auch wenn ihm die größten Ländereien in der Umgebung gehörten, die er an Leute aus dem Dorf verpachtet hatte. Es war eine seltsame Gemeinschaft; die Menschen im Dorf wussten, dass er Dämonen jagte, und sie hatten selbst entsprechen de Erlebnisse erlitten und wussten, was sie Zamorra zu verdanken hatten. Sogar an seinen »Hausdrachen« hatten sie sich gewöhnt, der hin und wieder ins Dorf herunter kam; ein erst hundert Jahre zählender
Jungdrache, der aus dem Drachenland stammte, aber erst dann wie der dorthin zurück konnte, wenn er erwachsen war – doch diesen Zeitpunkt kannte er wohl nicht einmal selbst. Seinem tollpatschigen Verhalten nach würde es auch noch sehr lange Zeit dauern … Zamorra und Nicole hatten sich von Butler William ins Dorf chauffieren lassen, weil sie einfach wieder einmal mit alten Freun den plaudern und sich entspannen wollten; William würde sie spä ter auch wieder abholen, weil sie beide nach einigen Schoppen Wein oder Krügen Bier oder Gläschen Likör nicht mehr Auto fahren woll ten. Es gab immer noch kleine Probleme mit Paris, und Zamorra wollte sich einfach mal für ein paar Stunden völlig davon lösen. Gerard Fronton saß mit am »Montagne-Tisch«, Charles, der Schmied, André Goadec, der größte Weinbergpächter der Umge bung, Charlotte, die einer Clique junger Leute angehörte, die schon einige Abenteuer mit Zamorra erlebt hatten, und Pater Ralph, der Dorfgeistliche. Charlotte bemühte sich wie immer, besonders freizü gig zu sein und trat mit ihrer durchsichtigen Bluse ohne störenden BH in direkte Konkurrenz zu Nicole Duval, die in einer Pariser Bou tique für viel Geld ein paar luftige Chiffontücher erstanden hatte, die sich kaum überdeckten, vom Modeschöpfer aber »Kleid« ge nannt wurden und mehr von dem zeigten, was Nicole nicht darun ter trug, als sie verbargen. Pater Ralph kommentierte das erotische Auftreten der beiden Damen mit abgrundtiefem Seufzen; er hatte es schon vor vielen Jahren aufgegeben, gegen die »Sünden des Flei sches« zu predigen, weil er einsah, dass er damit gegen Windmüh lenflügel kämpfte. »Wo ist denn der Rest deiner Clique?«, fragte Nicole. Charlotte zuckte mit den Schultern. »In St. Etienne im Kino. Die gucken sich ›Commando Spatial‹(»Raumpatrouille/Raumschiff ORION«, deutsche Kult-SF-TV-Serie aus den 60ern des vorigen Jahr hunderts, in etliche Dutzend Länder erfolgreich verkauft.) an. Lange Filmnacht, alle sieben Folgen hintereinander. Nichts gegen Science
Fiction-Filme, aber schwarzweiß und mit dieser lächerlichen Trick technik von damals … nee, nix für Mutters Älteste. Wenn's ein Film mit Leonardo diCaprio wäre …« »Ich glaube, an den haben seine Eltern noch gar nicht gedacht, als ›Commando Spatial‹ gedreht wurde«, schmunzelte Nicole. »Übri gens, der Hauptdarsteller dieser TV-Serie, Dietmar Schönherr, hatte etwas später im deutschen Fernsehen eine Show, in der es in einer Folge zu einem damals gar schröcklich fürchterbaren Skandal kam – eine seiner Quizkandidatinnen, und die auch noch jugendlich, igitt und pfui, trat in einer durchsichtigen Bluse auf wie du jetzt. Da gab es bei den Alemannen fast einen Volksaufstand. Das waren noch Zeiten …« »Was?«, stieß Charlotte hervor. »Ich trage hoffnungslos veraltete Mode aus den 60ern oder 70ern?« Sie knöpfte die Bluse auf und wollte sie abstreifen. »Das antike Zeug muss weg, sofort!« »Langsam«, warnte Nicole. »Siehst du nicht Pater Ralphs vor wurfsvollen Blick?« »Hm«, machte Charlotte. »Vor allem sehe ich die hoffnungsvollen Blicke dieser sabbernden Geier.« Damit deutete sie auf den Rest der Herrenrunde. »Aber ich trage keine Mode von vorgestern.« Und somit fiel die Bluse der Gesinnung ihrer Trägerin zum Opfer und achdos zu Boden. »Charlotte, Charlotte«, seufzte Nicole. Sie wusste, dass das Mäd chen extrem freizügig war – und nebenbei auch noch ein wenig nymphoman. Aber selbst für Nicole, die gern auf Kleidung verzich tete, war das hier doch ein wenig zu übertrieben. Derweil hatte Zamorra sich den Zeitungsartikel vorgenommen. Charlottes textile Veränderung nahm er nur am Rande wahr. Die blutleere Leiche einer Frau war in einem Eisenbahntunnel in der Schweiz gefunden worden. Alles deutete darauf hin, dass sie schon tot und blutleer gewesen war, ehe der Zug sie überrollte. Also … ein Vampir am Werk!
Unwillkürlich musste er an Tan Morano denken. Aber so etwas war nicht Moranos Stil. Was sich da im Tunnel abgespielt hatte, war wohl eher eine Art »Entsorgung«, um es brutal beim Namen zu nen nen. Morano ging dezentere Wege, erledigte so etwas weit unauffäl liger. Aber welcher Vampir kam dann dafür in Frage? Noch ehe er darüber nachgrübeln konnte, betrat ein etwa zwölf jähriger Junge die Schankstube. Er sah sich um, entdeckte Zamorra und sah natürlich auch die busenfreie Charlotte. Er zuckte etwas zu sammen, errötete. In der Hand hielt er einen Umschlag. »Herr Pro fessor?« »Ja?« Zamorra erhob sich und ging dem Jungen entgegen, wobei er darauf achtete, Charlotte mit seinem Körper zu verdecken. Wozu eigentlich?, fragte er sich dabei. Der Junge sieht am Zeitungskiosk, wenn er sein Mickymausheft kauft, auf den Titelbildern der Illustrierten mehr nackte Frauen, als er in der Realität jemals zu Gesicht bekommt. »Ich soll Ihnen das hier geben, Professor«, sagte der Junge. »Von wem?« »Weiß ich nicht. Pardon, Herr Professor. Da war ein Mann, vor zwei Tagen, in einem schnellen Sportwagen. Er gab mir dem Um schlag und sagte, ich sollte ihn Ihnen geben. Ich wusste natürlich nicht, wann Sie hierher kommen, aber jetzt …« »Vor zwei Tagen«, sagte Zamorra. »Wie sah der Mann aus?« »Keine Ahnung. Er trug eine Sonnenbrille, obgleich es Abend war, und er war ziemlich bleich. Mehr weiß ich nicht.« »Was war das für ein Auto? Sportwagen, sagtest du?« »Ich habe versucht, mir seine Nummer zu merken, aber er war zu schnell weg.« Zamorra nickte nachdenklich. Er drückte dem Jungen einen 5Euro-Schein in die Hand. »Für deine Mühe«, sagte er. Der Junge begriff, dass er zu verschwinden hatte. Ohnehin fühlte er sich in der Kneipe nicht wohl. Er wusste, dass er ohne Begleitung
eines Erziehungsberechtigten hier nichts zu suchen hatte, aber vor hin hatte er gesehen, wie der Professor und seine Begleiterin aus ei nem Auto stiegen, das dann wieder verschwand; das war wohl Za morras BMW. Der Luxusschlitten war selbst den Jugendlichen und Kindern bekannt. Manche der Erwachsenen mokierten sich darüber, dass der Profes sor keine französischen Autos mehr fuhr, wie er es früher mal getan hatte. Aber der Junge, wie viele der anderen, fand den BMW super cool, und dass Zamorras Freundin einen alten Heckflossen-Cadillac von 1959 fuhr, noch dazu als Cabriolet, in weiß mit rotem Leder, war einfach megakrass. Er flitzte davon. Zwanzig Euro von dem Fremden und nochmal fünf vom Professor nur für eine Briefübergabe, das war echt cool. So was konnte ihm ruhig jeden zweiten Tag passieren. Zamorra kehrte an den Stammtisch zurück. Aller Augen richteten sich auf den Briefumschlag, den er in der Hand hielt. »Glotzt nicht so dämlich«, knurrte er. »Wenn's ein Liebesbrief ist, wollen wir wissen, was drin steht«, hetzte Gerard Fronton. »Komm, mach schon auf. Oder sollen wir das tun? Ich lese gern vor.« »Kannst du überhaupt lesen?«, fragte Goadec spöttisch. »He, ich war immerhin bei der Fremdenlegion!«, blaffte Fronton ihn an. »Dann kannst du schießen, aber ob du lesen kannst …« »Ich lese dir gleich die Leviten, du Weinpanscher!« »Und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen«, übertönte Pater Ralph sie alle. »Seid ihr kläffende Köter oder ver ständige Menschen?« »Oh, manchmal weiß ich das gar nicht so genau«, sagte Fronton. »In der Legion bist du nichts als ein armer Hund, und manchmal darfst du auch beißen.« Zamorra öffnete den Umschlag.
Darin befand sich ein kleiner Papierbogen. Beschriftung: der Name Tan Morano und die Adresse eines Hotels in einer mittelenglischen Kleinstadt, sowie der Zusatz: »Schnell han deln!« Morano. Schon wieder. Das konnte kein Zufall sein. Zamorra faltete das Papier zusammen und steckte es ein. Den Zei tungsartikel riss er heraus. Da wartete möglicherweise einiges an Recherchen auf ihn und Nicole. Ein Vampiropfer in der Schweiz … und auf der anderen Seite Morano in England … Der verdammte Ärger in Paris, der noch längst nicht ausgestanden war … aber Paris war nicht England. Zamorra beschloss, heute nicht mehr aktiv zu werden. Sondern mit Nicole und den Freunden noch ein paar Schoppen Wein zu trin ken, vielleicht auch ein paar kleine Schnäpse dazu, und erst morgen wieder richtig zuzulangen. Vielleicht war es falsch, die Zeit verstreichen zu lassen. Aber blin der Eifer schadet nur, wie das Sprichwort sagt. Sicher war es besser, erst mal eine Nacht lang darüber zu schlafen und dann erst zu han deln. Zumindest der Brief war schon wenigstens zwei Tage alt. Da kam es wohl auf ein paar Stunden mehr oder weniger nicht an. Der Abend in Mostaches Kneipe wurde noch lang. Charlotte zog irgendwann weintrunken noch erheblich mehr aus als nur ihre Blu se, sehr zum Missfallen von Mostaches besserer Hälfte, die zwi schendurch immer wieder mal in den Schankraum kam, um auszu helfen oder ein paar Appetithäppchen aus der Küche herein zu brin gen. Irgendwann spät in der Nacht sorgte Nicole dafür, dass Char lotte und ihre wild im Lokal verstreute Kleidung sicher nach Hause kamen. Butler William fischte Nicole und Zamorra auf und holte sie zurück ins Château. Mostache, der Wirt, rieb sich die Hände; das Ta
gesgeschäft war wieder einmal hervorragend verlaufen.
»Du solltest sehr, sehr vorsichtig sein«, warnte Sarkana, als er in Athen den Zug verließ und sein Gepäck in ein Taxi verladen ließ. »Rechne damit, dass du verfolgt wurdest, und dass sie nach deiner Rückkehr auf dich warten.« »Sie werden es nicht wagen, sich an mir zu vergreifen«, sagte Gaullet. »Vertrau darauf nicht zu sehr. Die alten Gesetze, sie scheinen nicht mehr zu gelten.« Wieder versäumte er zu erwähnen, dass er selbst sie gebrochen hatte. »Es geht um Macht, um sehr viel Macht.« »Was ist mit Gino?«, fragte Gaullet. »Er hat sich ja selbst zum An führer gemacht, und er wird nicht dulden, dass ihm Morano vor die Nase gesetzt wird, oder dass du zurückkehrst.« »Versuche, Zamorra auf ihn anzusetzen, wie du ihn auf Morano angesetzt hast«, sagte Sarkana kalt. »Oder diesen Silbermond-Drui den, Gryf ap Llandrysgryf. Dann fällt auf uns kein Verdacht.« »Aber wie kann ich diesen Gryf finden? Ich weiß wie wir alle, dass es ihn gibt, aber ich weiß nicht, wo man ihn erreichen kann.« »Das«, sagte Sarkana, »kann ich dir auch nicht sagen. Ich bin zu abgeschnitten von allen Informationen.« Gaullet fühlte, dass sein Gönner log, und er war darüber bestürzt. Aber er zeigte es nicht. »Du weißt aber, wo er früher zu finden war?« »Auf Mona, der kleinen Insel vor der Nordküste von Wales. Dort hat er eine Blockhütte. Aber er ist selten dort. – Ich muss jetzt fort; mein Taxi wartet.« »Wo werde ich dich finden?« »Ich lasse es dich wissen«, sagte Sarkana. »Aber nicht jetzt. Und folge mir nicht. Du könntest deine Verfolger auf meine Spur lenken.«
»Ich wurde nicht verfolgt!«, beharrte Gaullet. »Da wäre ich mir nicht so sicher … aber sicher ist, dass ich morgen nicht mehr hier sein werde.« Er schritt davon und stieg in das Taxi ein, in dessen Kofferraum sich bereits sein Gepäck befand. Pierre Gaullet sah dem davonfah renden Wagen nach. Er fühlte sich ein wenig im Stich gelassen. Vertraute Sarkana ihm nicht mehr? Ein Mann und eine Frau beobachteten die Szene. Ihre Haut war unnatürlich blass, und sie konnten sich nur im Frei en bewegen, weil es bereits dämmerte und die Sonne hinter den Hü geln verschwand. Sie waren beide noch nicht alt genug, das Licht zu ertragen. Aber sie nahmen ihren Auftrag ernst; er war so wichtig wie ihr Leben, das sie verloren, wenn sie versagten. Sie befanden sich am Rand des Bahnhofsvorplatzes in einem Zei tungskiosk, der um diese Zeit bereits geschlossen hatte. Das Tür schloss zu knacken, war das geringste aller Probleme. Jetzt beobach teten sie durch einen Jalousiespalt, wie die beiden gesuchten Vampi re sich voneinander verabschiedeten. Einer fuhr per Taxi davon. Sie hatten Glück, dass Sarkana tatsächlich bis zur »Endstation« ge fahren und nicht vorher ausgestiegen war. Sonst hätten vielleicht andere Beobachter an anderen Bahnhöfen, von Gino diSarko alar miert, den Gesuchten entdeckt. So jedoch ernteten sie beide den Ruhm. »Ich übernehme Gaullet, du Sarkana«, sagte der Mann. Die Frau bleckte die Zähne. »Mich dürstet«, gestand sie. »Ich konnte seit Tagen kein frisches Blut mehr trinken.« »Unser Auftrag geht vor«, sagte der Mann. »Wenn Gino diSarko weiß, wo er Sarkana findet, werden wir beide genügend Blut trinken können. Aber bis dahin dürfen wir nicht auffallen.« »Ich weiß«, seufzte sie. »Ich muss es noch ein wenig aushalten.
Aber lange kann ich es nicht mehr.« »Der Auftrag geht vor.« Natürlich, so war es. Damit musste sie leben. Sie war eine treue Dienerin ihres Herrn. Die Sonne war inzwischen endgültig untergegangen. Nur einen Hauch Restlicht der Abenddämmerung gab es noch, der rasch da hinschwand. Draußen, weit außerhalb der Stadt, war es jetzt viel leicht noch heller, aber die Smog-Glocke über Athen sorgte für frü hes Zwielicht. Die Frau nahm ihre Fluggestalt an. Die zusammenfallende Klei dung ließ sie, wo sie war. Sie würde hierher zurückkehren. Dann schlüpfte sie zur Tür hinaus und stieg rasch empor. Niemand achtete auf die enorm große Fledermaus, die einem Taxi folgte.
Pierre Gaullet fühlte sich plötzlich beobachtet. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, sah sich aber sehr aufmerksam um. Dennoch konnte er den Beobachter nicht entde cken. Es wimmelte von Menschen auf dem Bahnhofsgelände. Dar unter jemanden zu entdecken, der sich für Gaullet interessierte, war praktisch unmöglich. Der Vampir pflegte stets auf die Warnung seines Unterbewusst seins zu achten. Vielleicht war alles ganz harmlos, vielleicht war es nur ein Bahnpolizist, der ihm eher zufälliges Interesse schenkte, oder eine Reisende, der er gefiel. Immerhin sah er ziemlich gut aus und achtete auf ein attraktives Äußeres. Vielleicht war es aber auch ein Verfolger, wie Sarkana es befürch tete. Der alte Knabe hatte für so etwas einen sechsten Sinn entwickelt. Also disponierte Gaullet um. Ursprünglich wollte er ins Bahnhofs gebäude zurückkehren und sich informieren, wenn der nächste Zug
in Richtung Frankreich ging. Denn die ganze Strecke von Athen bis zurück zu seinem Auto zu fliegen, ging über seine Kraft. Jetzt aber erschien ihm das zu riskant. Er wollte erst den Beobach ter abschütteln, oder zumindest herausfinden, wer er war. Also stieg er selbst in ein Taxi. Er sah den Fahrer an und lächelte, ohne die Zähne zu zeigen. »Eine Stadtrundfahrt bitte«, sagte er. »Jetzt, am Abend? Da kann ich Ihnen höchstens die Nachtlokale zeigen, nur haben die jetzt noch nicht geöffnet.« »Dennoch«, sagte Gaullet. »Bitte eine Stadtrundfahrt. Athens Se henswürdigkeiten bei Tage kenne ich bereits. Ich möchte erleben, welches Erscheinungsbild sie bei Dunkelheit zeigen. Wenn Sie nun bitte fahren möchten?« »Wie Sie wollen«, murmelte der Fahrer misstrauisch. »Sie bezah len, ich fahre und sage Ihnen die wunderschönen Stätten an.« Er nahm Funkkontakt mit seiner Zentrale auf und meldete die Fahrt. »So soll es sein«, sagte Gaullet. Er lehnte sich zurück und ließ sich durch das abendliche Athen chauffieren.
Sarkana rechnete fest mit einem Verfolger. Aber er wartete ab. Das Taxi stoppte vor dem Hotel, das er dem Fahrer genannt hatte. Sarka na hypnotisierte ihn und suggerierte ihm, den Fahrpreis bezahlt zu haben. Außerdem trug er ihm auf, in genau einer halben Stunde wieder hier zu sein. Dann stieg er aus. Der Taxifahrer half ihm, das Gepäck ins Hotel zu tragen. Sarkana sah sich nicht um. Er glaubte das Schlagen großer Schwingen hoch oben am dunklen Abendhimmel zu hören. Vögel dieser Größe gab es in Städten nicht. Es musste sich um einen Vampir handeln, der in seiner Fluggestalt Kreise zog. Sarkana checkte ein. Er erhielt eine kleine Suite. Als der Concierge
nach dem Pagen schellen wollte, um das Gepäck nach oben tragen zu lassen, schnellte Sarkanas Hand vor und hielt die des Mannes fest. »Nein«, sagte er leise. »Das Gepäck schicken Sie per Kurier ins As toria. Und zwar in genau einer Stunde.« »Ich verstehe nicht, mein Herr …« »Das müssen Sie auch nicht verstehen. Mein Gepäck und ich … nun, wir empfinden sehr wenig füreinander. Es ist so streitsüchtig … deshalb möchte ich, dass es anderswo ein Quartier findet, nicht in meiner unmittelbaren Nähe.« Der Concierge schüttelte verwirrt den Kopf. Er hielt den Gast für verrückt. Sarkana schrieb einen Scheck aus. »Für Ihre Bemühung«, sagte er. »Beordern Sie bitte einen Kurier hierher, der das Gepäck abholt.« Dann nahm er die Schlüsselkarte entgegen und ließ sich vom Lift aufwärts tragen. Dass zu dem Scheck kein Konto gehörte, würde der Empfänger nicht mehr feststellen. Denn das Papier war an Stellen, die Sarkana selbst nicht berührte, mit einem Kontaktgift präpariert, das in etwas mehr als einer Stunde wirksam wurde. Dann war Sarkana längst nicht mehr hier. Und morgen würde ihn ohnehin niemand mehr fin den. Er hatte nicht vor, länger als eine Nacht in Athen zu bleiben. Aber zunächst musste er den Verfolger abschütteln. Er betrat seine Suite. Sie gefiel ihm durchaus, aber er würde nicht hier bleiben. Er öffnete die Balkontür und trat hinaus, um zu lau schen. In der Tat vernahm er wieder das ferne Flappen von Flug häuten. Der beobachtende Vampir befand sich immer noch in der Nähe. Sarkana blieb etwa zehn Minuten auf dem Balkon. Zeit genug für den das Hotel umkreisenden Spion, ihn auf jeden Fall zu bemerken. Dann kehrte Sarkana in die Suite zurück, schaltete in jedem der Zimmer die Beleuchtung ein, zog aber die Gardinen vor, so dass nie
mand im Vorbeiflug wirklich sicher sein konnte, wo er sich gerade befand. Auch den Fernseher nahm er in Betrieb. Es musste so wir ken, als befinde er sich in der Suite. Seinen Mantel und das Jackett warf er über Sessellehne und Sofa. Er konnte darauf verzichten. Stattdessen nahm er aus dem Bad ein Handtuch und rollte es zusammen. Die Hemdsärmel krempelte er hoch. Die Balkontür ließ er weit offen. Dann kehrte er in den Korridor zurück und nahm den Lift nach unten. Sein Gepäck stand noch da. »Der Kurier ist benachrichtigt«, teilte ihm der Concierge mit. Sarkana nickte ihm zu. Er brauchte nicht auf die Uhr zu schauen, um festzustellen, dass die halbe Stunde beinahe vergangen war. Draußen fuhr das Taxi vor. Perfekt. Sarkana rollte das Handtuch auseinander und wickelte es zu ei nem Turban um seinen Kopf. »He, was tun Sie da?«, rief der Con cierge ihm halblaut nach, aber der Vampir beachtete ihn nicht wei ter. Er verließ das Hotel. Vorsichtshalber veränderte er noch seine typische Gangart, nahm etwas kürzere Schritte. Wer ihn aus der Fer ne sah, würde nicht Sarkana in ihm vermuten, sondern vielleicht einen Inder. Er bestieg das Taxi. »Nett, dass Sie gekommen sind«, sagte er und riss sich den »Tur ban« wieder vom Kopf. »Fahren Sie mich zum Astoria, schnell.« Der Fahrer gab Gas.
Gaullet konnte spüren, wie er beobachtet wurde. Damit stand fest, dass Sarkana sich nicht irrte: Jemand war hinter ihm her. Das hieß aber auch, dass jemand hinter Sarkana her sein musste.
Sie waren zusammen am Taxistand gewesen. Und wenn nun Gaul let verfolgt wurde, hieß das, die anderen waren zu zweit. Denn sonst wäre Sarkana derjenige, dem das Interesse galt. Von dem Mo ment an, in welchem er aufgespürt wurde, war Gaullet uninter essant. Aber für jemanden scheinbar nicht uninteressant genug … »Halten Sie an«, verlangte er. Der Fahrer stoppte den Wagen. Gaullet hielt sich nicht lange damit auf, ihn zu hypnotisieren, um ihm vorzugaukeln, er habe den Fahr preis erhalten. Er hob den angewinkelten linken Arm und hieb dem Fahrer blitzartig die Faust an den Kopf. Während der Mann benom men zur Seite sank, löste Gaullet den Sicherheitsgurt, bekam so mehr Bewegungsfreiheit und hieb dem Fahrer die Handkante gegen die Halsschlagader. Jäh verlor der Mann die Besinnung. Gaullet sprang aus dem Taxi und rannte los. Er verschwand zwi schen den Häusern in der Dunkelheit. Die Schatten nahmen ihn auf. Dort lauerte er. Wo blieb jener, der hinter ihm her war und ihn beobachtete? Nach einer Weile vernahm er Schritte, die sich ihm näherten. Wei che Ledersohlen. Unwillkürlich zog Gaullet die Brauen hoch. War das wirklich ein anderer Vampir, der ihm nachstellte? Er hätte ihm während der Taxifahrt nur fliegend folgen können. Dann aber müss te er jetzt, nachdem er seine Fluggestalt aufgab, nackt sein, außer, er gehörte zu den ganz wenigen Spitzenkönnern, die ihre Kleidung mit transformieren konnten. Die andere Lösung war, dass der Verfolger seine Kleidung wäh rend des Fluges zusammengepackt mitgenommen und jetzt wieder angelegt hatte. Aber das hielt Gaullet für zu unwahrscheinlich. Noch waren zu viele Menschen auf der Straße unterwegs; es hätte jemandem auffallen können. Ein solches Risiko ging kein Vampir ein. Oder wenn, dann nur in äußersten Ausnahmefällen. Aus dem Dunkeln heraus beobachtete Gaullet. Er sah den Licht
spalt zwischen den Häusern; die Straße war beleuchtet und zeigte ihm Menschen, die vorbei gingen, und das gegenüber befindliche Haus. Und dann trat ein Mann in den Zugang zu Gaullets Versteck. Sein Gesicht konnte der Vampir nicht erkennen; es lag im Dun keln. Aber er sah einen durchtrainiert wirkenden großen Mann im Jeansanzug, mit wirrem Haar, und einmal blitzte es metallisch auf; der Mann schien ein Stirnband zu tragen. »Hallo, Blutsäufer«, sagte der Mann. »Ich gehe mal davon aus, dass du in der Falle sitzt und diesen Abend nicht überlebst.« Er griff unter seine Jeansjacke. Gaullet sah, wie der Mann einen Holzpflock hervorholte, und dann einen Hammer. Ein Vampirjäger! Aber wie hatte er Gaullet trotz der Autofahrt verfolgen können? »Warte«, stieß der Vampir hervor. »Lass uns reden.« »Worüber? Du zögerst deinen Tod nur hinaus. Staub zu Staub, Blutsäufer. Hier endet dein Weg.« Ein Lichtstrahl von der Straße her traf den Jäger. Plötzlich erkann te Gaullet ihn. »Gryf!«, stieß Llandrysgryf!«
er
überrascht
hervor.
»Du
bist
Gryf
ap
Die Vampirin drehte noch einige Runden um das Hotel. Sie fragte sich, ob jemand wie Sarkana wirklich so leichtsinnig sein konnte. Er hatte sich auf dem Balkon seiner Suite gezeigt. War das eine Provo kation, eine Falle, oder fühlte er sich hier wirklich sicher? Vorhin hatte ein Inder das Hotel verlassen, aber dem schenkte die Vampirin keine Beachtung. Ein Tourist, wie viele. Er wollte viel leicht zu einem Restaurant, oder er wollte sich ins Nachtleben Athens stürzen.
Der Mann hätte sie durchaus interessiert – genauer gesagt, sein Blut. Aber ihr Partner hatte Recht. Der Auftrag ging vor. Wenn sie genau wussten, wo Sarkana sich aufhielt, und das Gino diSarko mit geteilt hatten, konnten sie ihre eigenen Wege gehen. Nicht früher. Gut, sie kannte Sarkanas Aufenthaltsort jetzt. Sie brauchte nur ein Telefon zu benutzen und ihren Clanchef anzurufen. Aber sie zöger te. Etwas stimmte hier nicht. Während sie ihre Runden durch die Luft zog, überlegte sie sorgfäl tig. Es galt, vorsichtig zu sein. Sarkana war schlau und gefährlich. Er hatte nicht viele Jahrhunderte überlebt, weil er leichtsinnig war und Fehler beging. Deshalb konnte sie sich auch nicht vorstellen, wieso er, der doch wissen musste, dass er verfolgt wurde, sich plötzlich so offen zeigte. Er konnte sich einfach nicht so sicher fühlen. Schließlich landete sie auf dem Balkon und verwandelte sich zu rück. Sie war bereit, jederzeit wieder zu verschwinden. Einem Kampf würde sie unbedingt aus dem Weg gehen. Aber sie wollte wissen, welches Spiel Sarkana trieb. Lautlos huschte sie in den großen Wohnraum. Sie spürte keine Ab wehrmagie. Es schien keine Falle zu geben, die auf sie wartete. Da lag der Mantel, die Jacke … der Fernseher lief … alles deutete darauf hin, dass Sarkana sich hier befand. Aber er hielt sich nicht in der Suite auf! Die Vampirin murmelte eine Verwünschung. Der alte Fuchs war ihr entwischt! Plötzlich musste sie wieder an den Turbanträger denken, der das Hotel verlassen hatte, kurz nachdem in der Suite alle Lichter angin gen. Sollte der …? Sie schlug die Faust gegen die Wand. Es konnte Zufall sein, aber vielleicht hatte Sarkana sich in dieser Verkleidung aus dem Haus ge schlichen! Turban und Hemd … keine Jacke, kein Mantel … beides
lag hier! Aber auch kein Gepäck, und von dem war hier nichts zu sehen! Warum nicht? War es nicht in die Suite gebracht worden? Aber der Turbanträger hatte auch nichts mitgenommen, als er das Hotel ver ließ. Die Vampirin zischte eine Verwünschung. Nun, vielleicht wusste der Concierge mehr. Sie wollte schon losstürmen, als ihr ihre Nacktheit bewusst wurde. Ihre Kleidung lag in jenem kleinen geschlossenen Zeitungskiosk. Sie riss noch einmal die Tür zum Bad auf. Da hingen Frotteemän tel mit eingesticktem Wappen des Hotels. Einen davon zog sie an. Natürlich würde sie damit äußerst seltsam aussehen, wenn sie im Foyer erschien, aber das war noch allemal besser, als nackt aufzut auchen – oder gar in ihrer Fluggestalt! Sie verließ die Suite, lehnte die Tür aber nur an für den Fall, dass sie vielleicht noch einmal hierher zurück musste. Dann eilte sie über den Korridor und ließ sich vom Lift nach unten tragen.
Der Silbermond-Druide nickte. »Ich scheine ja ziemlich berühmt zu sein«, sagte er. »Und du willst mich jetzt umbringen.« »Hast du etwas anderes erwartet?«, fragte Gryf. »Ich könnte dir von Nutzen sein«, sagte Gaullet. »Wenn du mich tötest, bringt dich das nicht weiter. Es gibt dann einen meiner Art weniger, aber das ist auch schon alles. Ich könnte dir helfen, einen weit größeren Erfolg zu erzielen.« Der blonde Mann im Jeansanzug grinste. Im Schatten war das eher zu ahnen als zu sehen. Aber seine Augen leuchteten wie Phosphor. Diese Farbe und diese Glut waren für Pierre Gaullet der letzte Be weis, dass er es tatsächlich mit Gryf ap Llandrysgryf zu tun hatte.
Gryf war älter als Gaullet, viel älter. Er sah aus wie Anfang 20, aber man sagte ihm nach, dass er schon über 8000 Jahre alt war. Die Silbermond-Druiden waren extrem langlebig. Wenn sie nicht durch Gewalt zu Tode kamen, starben sie allenfalls, wenn sie selbst das wollten. Aber wer wollte schon freiwillig sterben? Gryf ap Llandrysgryf war eine Besonderheit unter seinen Artge nossen. Er hasste Vampire und verfolgte und tötete sie, wo immer er sie fand. Auf sie hatte er sich regelrecht spezialisiert. »Du willst mit deinem Geschwätz nur dein Leben um ein paar Mi nuten verlängern«, sagte er. »Rede ruhig. Du entkommst mir nicht. Hinter dir ist eine undurchdringliche Mauer, nach oben kannst du auch nicht – wenn du fliehen willst, musst du schon durch mich hin durch.« Er klopfte dabei mit dem Hammer gegen den Pflock. »Könn te aber sein, dass das nicht so ganz in deinem Sinn funktioniert, Langzahn.« Gaullet wusste, dass der verdammte Druide Recht hatte. Der Vam pir hatte sich selbst in diese Sackgasse manövriert. Er konnte tat sächlich nicht fliegend entkommen, wie er zu seinem Entsetzen be merkte – der Spalt zwischen den beiden Häusern, der hinter ihm vermauert war, existierte nur im Parterre. Darüber hatte man ihn zugebaut. Hier unten standen ein paar Müllkübel; vermutlich des halb hatte man den Bereich nicht ebenfalls verschlossen. Er saß in der Falle. Aber wie hätte er mit einem Vampirjäger, noch dazu mit Llandrysgryf, rechnen können? Er war davon ausgegan gen, dass ihm diSarko einen Verfolger auf den Hals hetzte, um her auszufinden, wo sich Sarkana befand. Aber das hier … »Wie hast du mich gefunden?«, stieß er hervor. »Zufall«, grinste der Silbermond-Druide. »Reiner Zufall. Ich spürte deine Präsenz. Und nun solltest du es uns beiden nicht zu schwer machen. Du hast ohnehin keine Chance.« »Ich habe eine Information für dich. Lass mich am Leben, und ich verrate sie dir.«
»Haha«, machte der Druide. »Sind es die Lottozahlen der kom menden Woche?« »Unsinn!«, schnaubte Gaullet. »Es ist viel interessanter und wichti ger für dich. Ich weiß, wo sich Tan Morano aufhält. Und – ich bin neben ihm selbst der einzige, der es weiß!« Gespannt wartete er auf Gryfs Reaktion. Der Name Tan Morano musste dem Vampirjäger doch bekannt sein. Als Gryf nicht antwortete, fuhr er fort: »Die Clanchefs haben ihn zu Sarkanas Nachfolger gewählt. Wenn du ihn pfählst, kannst du den Clans einen schweren Schlag versetzen.« »Sarkanas Nachfolger, ach ja«, sagte Gryf nach einigen Sekunden spöttisch. »Richtig, das kam gestern in den Fernseh-Nachrichten. Er zähle mir keinen Unsinn. Nach wie vor ist Gino diSarko das Ober haupt.« »Trotzdem bin ich der einzige, der weiß, wo Morano sich aufhält«, log Gaullet. »Wenn du mich verschonst, verrate ich es dir, und du kannst ihn erledigen.« »Du bist eine Ratte«, sagte der Druide. »Nein, schlimmer als das. Für dich gibt es keinen passenden Begriff. Du wirst zum Verräter an einem deiner eigenen Spezies, nur weil du dein jämmerliches Leben retten willst. Du widerst mich an. Ich habe nicht die geringste Lust, mir an dir meine Finger schmutzig zu machen.« Er wandte sich zur Seite. Jetzt sah Gaullet am goldenen Stirnband, das der Druide trug, das legendäre Silbermond-Emblem aufblitzen. »Du lässt mich also am Leben?«, stieß er hervor. »Das wiederum sagte ich nicht.« Gryf fuhr blitzschnell herum. Seine Hand mit dem Eichenpflock stieß vor. Das Holz berührte Gaullets Brust. Die andere Hand mit dem Hammer kam! Ein furchtbarer Schlag – die Pflockspitze durch drang die Kleidung, stieß durch Fleisch und kratzte am Knochen, traf das Herz – »Neeeeeeeiiiiiiiiin!«, kreischte Gaullet. »Neeeeiiiiin, waaaarteeee
…« Es war zu spät. Gryf ließ den Pflock los, berührte mit der Hand die Stirn des Vam pirs. Fühlte, wie sie unter der Berührung aufweichte, irgendwie zer pulverte. Sein Para-Sinn arbeitete auf Hochtouren, durchbrach eine starke Barriere. Pierre Gaullet zerfiel zu Staub. Seine Kleidung fiel raschelnd in sich zusammen. Gryf ap Llandrysgryf hob die Hand. Seine Lippen formten einen Zauberspruch. Aus der Hand zuckte ein helles Licht, traf Vampir staub und Kleidung. Feuer loderte auf und verzehrte beides. Nicht einmal Asche blieb übrig. Selbst wenn irgendwann einmal ein Bluts tropfen auf diese Stelle fiel – er würde den Vampir niemals wieder zum Leben erwecken können. Da war nichts mehr. Nichts.
Die Vampirin betrat das Foyer. Sie eilte zur Rezeption. Der Mann hinter dem langgezogenen Pult wirkte sehr, sehr müde. Er schien sich nur schwer aufrecht halten zu können. Dass ihn eine Frau im Bademantel ansprach, schien ihn nicht ein mal zu irritieren. »Der Gast aus Suite 401«, sagte sie. »Hatte er kein Gepäck? Und hat er das Hotel wieder verlassen? Wann und warum?« »Ich verstehe nicht«, sagte der Concierge schwerfällig. Es schien, als sei er betrunken. Die Vampirin beschloss, sich nicht lange mit Fragen oder Hypnose aufzuhalten. Sie hatte Durst, verdammten Durst, und wenn sie ihn jetzt stillte, wurde alles für sie nebenbei auch noch einfacher. Ein Rundblick verriet ihr, dass im Moment niemand sonst zugegen war. Da umrundete sie das Pult und trat zu dem Concierge. »Was – was wollen Sie?«, fragte er. »Was soll das?« Sie umarmte ihn und biss in seinen Hals. Ihre Fangzähne stanzten
Löcher in seine Schlagader. Sein Blut sickerte hervor. Es war relativ kalt. Ein wenig Sex hätte es erhitzt und viel schmackhafter gemacht. Aber dazu fehlte ihr die Zeit, es war der falsche Ort, und es war der falsche Mann. Sein Aussehen reizte sie einfach nicht. Nun, es ging auch so. Sie trank sein Blut. Sie saugte es aus ihm heraus, mit aller Kraft, die sie hatte. Es floss, es strömte, und so, wie sie trank, wie es ihr Gesicht und den weißen Bademantel besudelte, so floss auch der Vampirkeim in das Opfer hinein, breitete sich um so schneller aus, je mehr Blut sie trank. Fast geriet sie in einen Rausch. Sie konnte sich gerade noch bremsen. Jeden Moment konnte ein Hotelgast oder jemand vom Personal auftauchen. Sie ließ von ihrem Opfer ab, das völlig apathisch an der Wand lehnte und leicht zitterte. Sie wischte sich mit dem Ärmel das Ge sicht sauber. Sie schüttelte sich. Das Blut hatte einen Teil ihres Durstes gelöscht – einen kleinen Teil nur, aber immerhin. Jedoch schmeckte es ir gendwie bitter. Der Mann befand sich jetzt in ihrer Gewalt. Er war ihr Diener, auch ohne Hypnose. Der Vampirkeim, der sich rasend schnell in ihm ausbreitete, sorgte dafür. Die Vampirin begriff, dass sie dem Mann fast zu viel Blut abgezapft hatte. Das war natürlich gut, weil er so schneller hörig wurde, aber er war auch extrem geschwächt. Er schwankte, drohte zu stürzen. Sie wiederholte ihre Frage von vorhin. »Er verließ das Haus«, flüsterte der Concierge. Er hatte Mühe, die Worte richtig zu formen. »Sein Gepäck … wurde von einem … Ku rierdienst geholt …« »Wohin gebracht?«, drängte die Vampirin, die ahnte, dass das Ge päckziel auch Sarkanas Ziel war. »Astoria«, murmelte der Concierge.
Und brach zusammen. Die Vampirin duckte sich, tastete nach seinem Puls. Der schlug nicht mehr. Das Herz stand still. Keine Atmung. Ihr Opfer war so eben gestorben. Aber doch nicht durch den hohen Blutverlust, den sie ihm zuge fügt hatte! Es musste noch etwas anderes im Spiel sein. Aber was? Sie ließ den Toten liegen, wo er lag. Astoria! Dorthin wich Sarkana also aus. Er hatte seine Verfolger abschütteln wollen; er hatte nie mals beabsichtigt, in diesem Hotel zu übernachten! Er hatte sie her eingelegt! Sie eilte zur Tür. Draußen verwandelte sie sich blitzschnell, glitt aus dem zu Boden fallenden Bademantel hervor und schwang sich in die Luft, noch ehe jemand etwas bemerkte. Hier hielt sie nichts mehr. Ihr neues Ziel war das Astoria, Sarkanas wirklicher Unterschlupf. Dort würde sie ihn finden. Dann ein Anruf zu Gino diSarko, und der Herr aller Vampire würde die Angelegen heit selbst in die Hand nehmen. Sie selbst hatte dann ihre Schuldig keit getan. Während des Fluges wurde ihr übel. Das bittere Blut stieg ihr wie der in den Hals. Hier stimmt was nicht!, durchfuhr es sie. Zur Übelkeit kam Schwindel und Orientierungsverlust. Sie musste auf einem Hausdach landen. Sie übergab sich, aber das half ihr auch nicht weiter. Und plötzlich begriff sie, was geschehen war. Der Concierge, der so müde wirkte und tot zusammenbrach … er musste vergiftet worden sein! Und sie selbst hatte sein vergiftetes Blut getrunken …
Das wurde ihr jetzt zum Verhängnis. Sie starb. Sie hatte einen tödlichen Fehler begangen, und es blieb ihr keine Zeit mehr, ihn noch irgendwie zu korrigieren. Sie hatte keine Mög lichkeit mehr, Sarkanas mutmaßlichen neuen Aufenthaltsort an Gino weiterzugeben. Sie konnte jetzt nur noch hoffen, dass ihr Part ner bei der Verfolgung Gaullets mehr Erfolg hatte und von ihm er fuhr, wohin Sarkana geflüchtet war. Sie starb. Als die Sonne aufging, lag sie tot auf dem Hausdach. Sie zerfiel zu Staub.
Gryf betrachtete die Stelle noch eine Weile, an der Pierre Gaullet ge storben war. Hatte der wirklich angenommen, er könne sich mit ei ner Information über Tan Morano freikaufen? Welch ein Narr! Gryf hatte die Information auch so bekommen. Mit seiner druidi schen Telepathie hatte er sie dem Sterbenden entrissen. Langsam steckte Gryf Pflock und Hammer wieder in die Innenta schen seiner Jeansjacke zurück. Dann trat er wieder auf die Straße hinaus. Da stand noch das Taxi mit dem bewusstlosen Fahrer. Der Silbermond-Druide sah zum Nachthimmel hinauf. Kein einziger Stern war zu sehen. Aber da war etwas anderes. Ein Schatten am Himmel, dunkler als das Dunkel, und dieser Schatten entfernte sich. Ein weiterer Vampir! Kurz erwog Gryf, die Verfolgung aufzunehmen. Aber dann ent schied er sich dagegen. Der Vampir war schon zu weit weg. Gaullet war näher gewesen. »Neue Nacht, neues Glück«, murmelte Gryf. Er war sicher, dass er dem flüchtigen Blutsauger schon bald wieder begegnen würde. Das
konnte einfach nicht ausbleiben. Athen war eine riesige Stadt, in der sich jemand jahrelang verborgen halten konnte. Aber nicht vor ei nem Vampirjäger, der über spezielle Para-Sinne verfügte. Gryf wür de ihn finden und ebenfalls in ein Häufchen Staub verwandeln. Morgen, übermorgen … Heute beschloss Gryf, das Athener Nachtleben zu erkunden. Gera de in diesem Moment erwachte der Taxifahrer aus seiner Bewusstlo sigkeit. Der Druide stieg ein und lächelte dem Mann zu. »Wo gibt's denn hier eine brauchbare Discothek?«
Der am Nachthimmel verschwundene Vampir erstattete Menelaos Papageorgiu Bericht. Der Sippenführer befand sich seit kurzem wie der in seiner »Festung«, einer Villa weit außerhalb der Stadt. Men schen kamen nur selten einmal hierher. Die Zufahrtstraße war eher ein Feldweg, der an den heißen Tagen riesige Staubfahnen aufwarf und sich bei Regen in eine nahezu unpassierbare Schlammstrecke verwandelte. Niemand vermutete hier in dieser schwer zugängli chen Abgeschiedenheit ein bewohntes Haus. Papageorgius Einfluss reichte weit über Athen hinaus. Er be herrschte mittlerweile die gesamte Peloponnes und Kreta, einen Teil der ägäischen Inseln, und streckte seine Finger immer weiter nach Norden aus. Vampire, die sich seiner Familie nicht unterordnen oder eingliedern wollten, wurden nach und nach verdrängt. Der einzige Bereich, der ihm wirklich ernsthaft verwehrt blieb, war der Olymp und ein beträchtlicher Teil des umgebenden Landes. Da hat ten andere, mächtigere Dämonen die Hand drauf, mit denen sich Papageorgiu nicht offen anzulegen wagte. Er regierte monarchistisch. Seinem Wort hatten alle anderen zu ge horchen. Auch wenn er andere Vampire nicht töten ließ, gab es doch viele Möglichkeiten, sie unter Druck zu setzen und zum Gehorsam zu zwingen. Papageorgiu achtete auch darauf, dass es nie zu viele Opfer in einer Region gab. Er wollte die Menschen nicht so miss
trauisch machen, dass sie plötzlich den Behauptungen von Vampir jägern glaubten. Darüber hinaus hatte er schon vor langer Zeit angefangen, seine Fäden auch in der Politik der Menschen zu ziehen, ähnlich wie es Gino diSarko in Italien tat. Man konnte nie genug Verbündete haben – selbst unter dem Schlachtvieh, wie er die Sterblichen verächtlich nannte. »DiSarkos Jäger sind tot«, sagte der Berichterstatter. »Die Frau zer fiel auf einem Hausdach zu Staub, der Mann wurde von einem Vampirjäger vor meinen Augen getötet. Ich konnte nicht eingreifen. Ich beobachtete sie beide längere Zeit, und ich bin sicher, dass zu mindest die Frau wusste, wo Sarkana sich jetzt verbirgt. Der Mann dagegen war wohl eher ahnungslos. Aber er muss meine Nähe ge spürt haben, denn er versuchte mich abzuschütteln. Es wäre ihm nicht gelungen, aber dann tauchte plötzlich der Vampirjäger auf.« »DiSarkos Knechte haben also ihr Wissen nicht weitergeben kön nen?« »Ganz sicher nicht.« »Das verschafft uns auch keinen besonderen Wissensvorsprung«, überlegte Papageorgiu. »Aber wenigstens hat diSarko erst recht kei nen Vorteil. Wie sieht es mit Vlad Brescus Suchern aus? Weißt du et was von ihnen? Auch er hat seine Beobachter und Verfolger ausge schickt.« »Ich konnte keinen von ihnen bemerken.« »Hm. Wir müssen Sarkana weiterhin suchen. Ich will, dass wir ihn eher finden als die anderen.« »Natürlich.« Der Vampir senkte den Kopf. Dann sagte er leise: »Fast hätten wir noch eine andere Information bekommen. Aus dem kurzen Gespräch, das ich belauschte, ging hervor, dass diSarkos Spi on immerhin wusste, wo Tan Morano zu finden ist.« »Erwecke ihn. Träufele Blut in seinen Staub«, stieß Papageorgiu hervor.
»Das geht nicht. Der Vampirmörder hat alles mit seiner Magie ver brannt.« »Mit Magie …?« »Ich glaube, es handelte sich um den berüchtigten Gryf ap Lland rysgryf.« Papageorgiu zuckte zusammen. »Der ist hier in der Stadt? Oh, das ergibt völlig neue Perspektiven! Wir müssen es irgendwie schaffen, ihn auf Sarkana zu hetzen. Ich weiß, dass die beiden eine Blutfehde miteinander haben. Der verdammte Druide hat vor Jahren Sarkanas Tochter, oder eine seiner Töchter, ermordet. Sarkana schwor ihm Rache. Wenn wir es schaffen, die beiden aufeinander zu hetzen … da lacht mein altes Herz!« »Aber wie sollen wir das tun? Jeden von uns, der sich ihm nähert, wird er töten.« »Jeden von uns Vampiren, sicher. Aber wer sagt denn, dass wir keinen Menschen auf ihn ansetzen können? Der Druide hat eine große Schwäche, und das ist Sex. Schönen Mädchen stellt er noch lieber nach als edlen Geschöpfen unserer Art. Um so wichtiger ist es, zu erfahren, wo Sarkana sich aufhält, verstehst du? Wir müssen es wissen. Und dann …« In seinen dunklen Augen glomm ein boshafter, gelblicher Schim mer auf. »Finde es heraus, um jeden Preis! Wenn du Unterstützung brauchst, wirst du sie sofort bekommen.« Der andere Vampir nickte devot. »Ich werde es schaffen«, ver sprach er. »Nichts anderes wollte ich hören.« Menelaos Papageorgiu grinste diabolisch.
7. Schatten der Vergangenheit Irgendwie war Gryf in dieser Nacht nicht so recht bei der Sache. Die Mädchen waren schön und feurig, aber ausnahmsweise reizten sie ihn nicht. Irgendwann zog er sich zurück, suchte die kleine Herberge auf, in welcher er sich einquartiert hatte, und warf sich rücklings auf sein Bett. Es war eine der wenigen Nächte in seinem Leben, in denen er al lein schlief. Und sein Leben zählte immerhin weit mehr als 8000 Jahre. Als er etwa 20 war, hatte er seinen Alterungsprozess gestoppt, wie es je dem Silbermond-Druiden möglich war. Wenn er wollte, konnte er ihn auch wieder in Gang setzen und erneut zu einer beliebigen Zeit stoppen. Manche taten es, um die körperliche Reife des Alterns zu erfahren. Andere, weil sie ihrer Ansicht nach schon lange genug leb ten und eines Tages sterben wollten. Gryf wollte das nie. Er gefiel sich in seiner immerwährenden Jugend. Er war alt, aber er war kein weiser Philosoph, der feststellte, dass es für sein Weltbild nichts Neues mehr geben würde, und der deshalb von der Lebensbühne abtrat, weil er glaubte, alles gesehen und erlebt zu haben, was man sehen und erleben konnte. Gryf hatte diese seine Artgenossen nie mals verstanden. Aber das musste er auch nicht. In der Gesellschaft der Silbermond-Druiden redete niemand dem anderen drein, mach te keiner dem anderen Vorschriften. Und gerade jetzt, da es nur noch sehr, sehr wenige von ihnen gab, hielt Gryf es für besonders wichtig zu überleben. Jeder einzelne von ihnen, der noch existierte, hatte die Verpflichtung, weiterzuleben! 8000 Jahre war er alt, und er konnte immer noch wie ein Junge la chen. Obwohl er es einige Male fast verlernt hatte. Anfangs in dem
kleinen Dorf Llandrysgryf in Wales, in dem er aufwuchs und dessen Namen er angenommen hatte – die Sprache der Silbermond-Drui den war im Laufe der Jahrtausende zur Sprache der Waliser gewor den. Damals waren die Bewohner des Dorfes fast alle von Vampiren niedergemetzelt worden. Er hasste Vampire. Seit jenen Tagen tötete er sie, wo immer er sie fand. 8000 Jahre, von denen er die meiste Zeit auf der Erde zugebracht hatte. Er war hier geboren worden, er hatte den Silbermond nur sel ten einmal besucht. Dort besaß er nicht einmal einen Lebensbaum. 8000 Jahre menschlicher Geschichte, in denen sich Dinge abge spielt hatten, von denen die offizielle Geschichtsschreibung nichts wusste. Die menschliche Zivilisation wurde in ihrem Entstehen erst für viel später angesetzt, und doch hatte es sie hier und da schon auf relativ hohem Niveau gegeben, selbst in den Ländern des kalten Nordens, nicht nur in Afrika, Mesopotamien und dem Mittelmeer raum. Vier Jahrtausende vor Gryfs Geburt versank Atlantis zum ers ten Mal in den Fluten, noch früher Lemuria. Damals schon waren Menschen in Raumschiffen schneller als das Licht zu den Sternen geflogen. Aber das Wissen darum war verschollen und verschüttet. Wo man es fand, wurde man lächerlich gemacht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Die Geschichtsbücher würden komplett neu geschrieben werden müssen … und Gryf, Merlin und andere waren Zeitzeugen … Doch wer fragte sie schon? Irgendwann – vielleicht vor tausend Jahren? Oder waren es weni ger? Er wusste es nicht mehr. Manche Dinge verschwammen in der Erinnerung, ließen sich nicht mehr eindeutig zuordnen. Es war ein fach zu viel, was sein Gedächtnis ständig aufzunehmen hatte. Er musste verdrängen, vergessen, um nicht wahnsinnig zu werden. Ir gendwann war er auf den Vampir Tan Morano gestoßen, und er hat te ihn gepfählt. Er war sicher gewesen, Morano getötet zu haben.
Doch jetzt, in der jüngeren Gegenwart, lebte Morano wieder! Er war nicht tot. Irgendwie hatte er Gryf getäuscht. Seither ver brannte der Druide die zerstäubenden Überreste aller von ihm getö teten Vampire mit magischem Feuer, um zu verhindern, dass auch nur einer von ihnen noch einmal wiederkehrte, so wie Morano es tat. Gryf hasste Morano. Denn dieser hatte ihn in seine Schuld ge zwungen. Vor fünf, sechs Jahren? Und jetzt erfuhr Gryf aus dem Bewusstsein des sterbenden Pierre Gaullet, wo er Morano finden konnte! Aber da war noch mehr ge wesen, und es ging dem Druiden nicht mehr aus dem Kopf. Es spukte in ihm herum, kam immer wieder in den Vordergrund. Des halb hatte er die Mädchenjagd für diese Nacht beendet. Er sah im mer wieder die Gedankenbilder, sah immer wieder die Falle, aus der Morano ihn befreite – ausgerechnet Morano, sein Feind! Und nun war Gryf diesem Feind verpflichtet … Er hasste ihn, aber sein Ehrenkodex ließ es nicht zu, dass er Mora no tötete, solange seine Schuld nicht abgetragen war. Doch vielleicht ergab sich hierfür jetzt eine Chance. Denn es schien ein seltsames Intrigenspiel zu laufen, von dem Gryf aber nur Gedan kenfragmente aufgefangen hatte, die nicht recht zueinander passen wollten. Vielleicht sollte er sich einmal mit Zamorra darüber unter halten … Lange, sehr lange lag er noch wach in dieser Nacht.
Flashback: Florida, Key West, 1997 Seit acht Jahrtausenden schon verfolgte Gryf alle Vampire. Und er hatte Yolyn getötet, Sarkanas Tochter. Damals in Llanrhyddlad, einem Dorf auf der Insel Anglesey nördlich von Wales.
Jetzt: Key West, ein kleines Haus am Strand, und zwei hübsche Mäd chen, die nichts anderes wollten, als mit ihm durch die Kissen zu toben. Gryf erhob sich, nahm noch einen Schluck von dem Wein und ging zur Wohnzimmertür. Etwas mit ihm stimmte nicht. Sue folgte ihm zur Tür und nach draußen. Es war zu fortgeschrittener Stunde kühler geworden draußen, und der vorhin noch bewölkte Himmel öffnete sich und geigte helles Mondlicht und ein paar Sterne. »Du bist ein Vampirjäger. Zumindest Carina hält dich dafür. Was bist du eigentlich wirklich, Mann mit dem seltsamen Namen?« Er guckte mit den Schultern. »Ich bin all das, was du von mir glaubst, dass ich es sei.« »Das ist keine vernünftige Antwort«, sagte sie. »Warum interessierst du dich eigentlich so sehr für mich?«, fragte er. »Es kann dir doch egal sein, wer oder was ich bin. Wir sind uns begegnet, wir verbringen eine Nacht miteinander, und wir werden uns wieder tren nen. Und wahrscheinlich niemals wieder sehen. Die Welt ist gar nicht so klein, wie man gewöhnlich annimmt.« Sie wandte sich ab und ging wieder ins Haus. Gryf sah ihr überrascht nach. Plötzlich merkte er, dass er unbewusst ver sucht hatte, nach ihren Gedanken zu greifen. Aber das hatte nicht funktio niert! Andere kleine Para-Tricks funktionierten auch nicht mehr. Es war, als sei er in dieser Hinsicht taub und stumm geworden – und gelähmt, denn er konnte sich auch nicht mehr per zeitlosem Sprung von einem Ort zum anderen bewegen. »Eine Falle«, murmelte er. »Es ist eine Falle.« Ich muss hier weg, dachte er. Und zwar ganz schnell! Ehe es zu spät ist! Er fühlte sich seltsam kraftlos und entschlusslos. Schon einmal war es jemandem gelungen, ihn dermaßen zu blockieren. Er hatte es nie begriffen, bis die Dämonenfürstin Stygia ihn mit der Nase darauf stieß: »Darf ich dich an Tan Morano erinnern? Wie lange ist es
her? Hundert Jahre? Fünfhundert? Tausend? Er hat dich damals so wun derbar eingeseift … und du Narr hast geglaubt, ihn getötet zu haben …« Er entsann sich jetzt an ihre damalige Behauptung. Sollte die Fürstin der Finsternis die Wahrheit gesagt haben? Lebte Morano doch noch? War er es, der den selben uralten Trick von damals noch einmal aus dem Hut zog und Gryf auf seinem Para-Sektor lahmlegte? Er sah wieder zur Tür. Etwas geriet in sein Blickfeld, auf das er vorher nicht geachtet hatte. Ein magisches Symbol. Ganz klein nur. Gerade mal einen Zentimeter umfassend. Völlig unauffällig. Dass er es dennoch gese hen hatte, war reiner Zufall. Dass es wie ein magisches Symbol aussieht, kann auch ein Zufall sein, dachte etwas in ihm, das seine Apathie wieder größer werden ließ. Er rieb mit dem Daumen über die kleine Bleistiftzeichnung. Sie ver wischte, weil das Graphit auf dem glatten Kunststoff nicht richtig haften konnte. Gryf spürte keine Erleichterung. Auch jetzt gelang es ihm noch nicht, das Haus zu verlassen. Und seine Para-Kräfte wirkten immer noch nicht wieder. Er konnte weder per zeitlosem Sprung verschwinden noch Ge danken lesen oder sonst etwas tun. Er fühlte sich krank und hilflos. »Was tust du da?«, fragte Carina. »Nichts«, sagte Gryf. Er entfernte sich von der Tür – und sah wieder ein magisches Muster. An der Tischkante. Gryf löschte es ebenfalls. Das Denken fiel immer noch so schwer, aber er hatte das Gefühl, dass es schon etwas besser ging. Der Anfang war gemacht. Er musste weitersuchen und ein Zeichen nach dem anderen löschen. Irgendwann würde die Wirkung so schwach werden, dass er ihr entkommen konnte. Da entdeckte er das dritte Zeichen. Im gleichen Moment begriff er das System. Die Architektur des Hauses … die Orte, an denen magische Zei chen angebracht worden waren … Es mussten ein paar hundert Zeichen sein. 343, wenn er sich nicht irrte – sieben mal sieben mal sieben.
Doch er kam nicht dazu, sich um die weiteren Zeichen zu kümmern. Denn in diesem Moment der Erkenntnis tauchte der Besucher auf. Der den Tod brachte. Gryf starrte den Mann an. Der war ein Vampir! Schritt für Schritt näherte der Vampir sich ihm, und Gryf schaffte es ein fach nicht, etwas zu tun. Er war wie gelähmt. Der Vampir öffnete den Mund. Er packte Gryf bei den Schultern, um ihn festzuhalten, während er ihn biss. Da endlich schaffte der es, seine Apathie zu überwinden. Mühsam mobilisierte er seine Kräfte. Ein verbissener Kampf begann. Der Vampir hatte die besseren Karten. Er war entschluss freudiger und stärker. Wo Gryf erst überlegen musste, wie er sich den Blutsauger am besten vom Hals hielt, langte der bereits zu. Plötzlich war noch jemand da. Mischte sich in den Kampf ein. Für ein paar Augenblicke hatte Gryf Luft. Instinktiv floh er aus dem Wohnzimmer in die Küche. Er schnappte sich einen der Stühle und zertrümmerte ihn am Türrahmen. Ein Stuhlbein in der Hand, kehrte er zurück. Es war nicht zugespitzt, aber er hoffte, dass es trotzdem reichte. Er streckte es, mit beiden Händen gepackt, vor, um es dem Vampir in die Brust zu rammen. Der Blutsauger brüllte. Ob Gryf mit seiner Aktion Erfolg hatte, bekam er schon nicht mehr mit. Jäh tauchte ein Schatten neben ihm auf, und er sah eine Handkante auf sich zukommen. Dann gingen alle Lichter aus, und er versank in einem schwarzen Nichts. Als er die Augen wieder öffnete, sah er über sich die bösartig grinsende Fratze eines Vampirs. Sarkana! »Du steckst also dahinter«, murmelte er. »Fahr zur Hölle, du altes Unge heuer!« »Oh«, grinste Sarkana. »Ich glaube, da unterliegst du einer kleinen Ver wechslung, mein Freund. Du bist es, der zur Hölle fährt.« Gryf spürte Schmerz und sah, dass der Vampir ihm mit seinen krallenar
tigen langen Fingernägeln ein Muster aus dünnen, magischen Zeichen in die Haut geritzt hatte. Es blockierte erneut seine Para-Fähigkeiten. Gryf wollte nicht sterben. Er schnellte sich empor, wollte sich wehren. Wenn es schon nicht mit Druiden-Magie ging, dann wenigstens mit nor maler Körperkraft. Aber der Vampir versetzte ihm einen Hieb, der ihn zurückschleuderte. Dann senkte er sein Gebiss auf Gryfs Hals, um ihm die Schlagader aufzu reißen. »Lass es«, sagte Morano. Sarkana schrak auf. »Morano!«, stieß er hervor. »Was willst du hier?« »Gib mir den Druiden.« Mit wenigen Schritten war er bei Sarkana, riss ihn hoch und schleuderte ihn zur Seite. Der Alte fauchte auf und bleckte die Zähne. Für einen Au genblick sah es so aus, als wolle er sich auf Morano werfen. Aber dann tat er es doch nicht. Morano dagegen setzte sofort nach. Der alte Vampir floh. Mit einem gewaltigen Sprung brach er durch das nächste Fenster und stürmte davon. Er schwang sich in die Luft und verschwand als flatternder Punkt am Nachthimmel. Ein dünnes Lächeln spielte um Moranos Lippen, als er sich Gryf zu wandte. »Morano«, keuchte der Druide. »Tan Morano! Du bist es wirklich? Aber du bist doch tot! Ich habe dich selbst gepfählt!« »Vielleicht bin ich ein Doppelgänger«, sagte der Vampir. »Vielleicht bin ich auch Morano selbst. Aber ich habe dein Leben gerettet. Du bist mir ver pflichtet, Gryf ap Llandrysgryf. Ohne mich hätte Sarkana dich bereits getö tet. So aber bist du frei. Das verdankst du mir.« »Warum?«, keuchte Gryf Morano hob die Brauen. »Warum tust du das? Warum hast du es nicht zugelassen, sondern ihn vertrieben?« Der Vampir lächelte wieder. »Vielleicht ist es mir wichtiger, dass du lebst. Sarkana steht mir im We ge. Ich kann ihn nicht vernichten. Du könntest es. Damit könntest du die
Schuld abtragen – mein Freund vom Silbermond. Und du wirst doch nicht zum Verräter an dir selbst werden …«
Nein, das konnte er nicht. Den Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, konnte er nicht töten. Nicht, ehe er sich revanchiert und diese Schuld abgetragen hatte. Er schlief unruhig in den wenigen Stunden, die ihm von der Nacht verblieben. Immer wieder schlich sich Morano in seine Träume. Irgendwann erhob Gryf sich, weil er einfach nicht mehr vernünftig schlafen konnte, stellte sich unter die Dusche und fühlte sich danach auch nicht sehr viel besser. Er wollte mit Zamorra darüber reden, aber der Tag war noch zu jung; um diese Uhrzeit würde der Dämo nenjäger noch schlafen. Sofern er sich überhaupt gerade im Château Montagne befand und nicht wieder einmal irgendwo in dieser oder einer anderen Welt unterwegs war, um dieselbe zu retten. In diesem Fall war's einfach Pech. Aber wenn Zamorra erreichbar war, dann … In Gryf reifte eine Idee …
8. Eine Frage der Ehre Nicole Duval war schon vor Zamorra aufgestanden und fuhr in den Vormittagstunden ins Dorf hinunter. Es kam ihr alles ein wenig un wirklich vor. Um diese Stunde war sie nur ganz selten einmal hier unterwegs. Das kleine Dorf wirkte ziemlich leer. Die Kinder waren in Feurs oder Roanne in der Schule, und wer Arbeit hatte, arbeitete – im Dorf, auf den Feldern, in den Weinbergen, oder irgendwo weit außerhalb. Nur wenige Menschen zeigten sich auf der Straße, vor den Häusern oder in den Gärten. Nicole stoppte ihren Cadillac vor der Poststelle. Die befand sich in einer Privatwohnung. Mehr musste nicht sein. Jean-Claude, der Posthalter, regelte alles von daheim aus. Er trug auch die Briefe und Päckchen und Pakete aus, aber Zamorra wollte ihm den Weg hinauf zum Château nicht mehr zumuten, nachdem der nicht mehr junge Mann mehr und mehr Probleme mit seinen Beinen bekam. Also hat ten sie abgesprochen, dass er anrief, wenn Post fürs Château kam, und irgendwer, sei es Zamorra selbst, Nicole, Butler William oder Lady Patricia Saris, holte dann alles ab. Über kurz oder lang würde Jean-Claude in Rente gehen, und vermudich gab es dann keinen Nachfolger. Dann wurde die Brief- und Paketpost wahrscheinlich direkt von Feurs aus zugestellt. Und wieder einmal würde ein kleines Stück dörflicher Idylle ster ben. Nicole stieg aus – und sah Charlotte, die gerade aus dem Haus kam, einen schmalen Briefumschlag in der Hand, den sie wohl auch gerade selbst abgeholt hatte, um Jean-Claude den Weg zu ersparen. Charlotte verdrehte die Augen. »Ich muss mich gestern abend wohl sehr … hm … verrückt benommen haben, wie?«, fragte sie. »Wie bin ich überhaupt nach Hause gekommen?«
»In Mostaches Schubkarre«, log Nicole. »Wir haben dich darin zu sammengefaltet und heimgefahren. Mädchen, wie viel hattest du da eigentlich getankt?« »Gar nicht so viel … glaube ich. Hoffe ich«, seufzte Charlotte. »Be vor ihr kamt, wollte ich mal von einem der Spezialrezepte probie ren, die Asmodis Mostache geschenkt hat.« »Ihr grundgütigen Götter und Götterchen«, seufzte Nicole. Sie kannte diese »Spezialrezepte«. Sie selbst rührte sie aus gutem Grund nicht an, und auch von den Männern vertrug sie kaum einer richtig. Die hauten durch bis zur Schuhsohle. Der Ex-Teufel Asmodis hatte sie dem Wirt zur Verfügung gestellt, als eine Art Ausgleich dafür, dass er bei seinen Besuchen in Mostaches Kneipe grundsätzlich das Bezahlen vergaß. Meistens musste dann Zamorra die Zeche über nehmen. Das forderte zumindest Mostache, dem es eigentlich gar nicht recht war, dass der Ex-Teufel grundsätzlich immer in seiner Schänke erschien, wenn er mit Zamorra reden wollte. Dabei war das begründbar. Das Château Montagne war weißmagisch abgeschirmt, und mit dieser Abschirmung hatte Asmodis nach all den Jahren sei ner Abkehr von der Hölle immer noch seine Probleme. Er zog »neu tralen Boden« vor. Spezialrezept! Das also war es. Kein Wunder, dass die an sich schon freizügige Charlotte total ausgeflippt war! »Was habe ich denn alles angestellt?«, fragte sie zaghaft. »Ach, gar nicht mal so viel. Du hast dich nur komplett ausgezogen und wolltest mit Goadec schlafen, direkt im Lokal. Mostaches Frau ist stinksauer auf dich. Irgendwann haben wir deine Klamotten ein gesammelt und dich nach Hause gebracht. Warte mal, hinterher ha ben wir noch was gefunden. Hier …« Nicole beugte sich in den offe nen Wagen, griff ins Handschuhfach und holte einen knapp ge schnittenen Slip hervor. »Hätte ich dir in den Briefkasten gesteckt, aber da wir uns hier gerade treffen …« »Scheiße«, sagte Charlotte. »Da bin ich wohl wirklich komplett aus dem Ruder gelaufen. – Goadec, sagtest du? Bin ich bescheuert? Der
ist doch viel zu alt und zu fett …« »Gestern abend gefiel er dir.« »Ich rühre nie wieder eines von diesen Asmodis-Getränken an«, versprach Charlotte. »Nie wieder! Ausgerechnet André Goadec! Ich fasse es nicht. Ich hoffe, ihr habt mich zurückgehalten?« »Haben wir. Ihm selbst war die Anmache auch nicht so ange nehm.« »Das verstehe ich. Ich glaube, ich muss mich bei einer Menge Leu te entschuldigen.« Während sie sich unterhielten, kam Jean-Claude aus dem Haus. »Nicole«, sagte er. »Hier ist ein Telegramm für deinen Herrn und Gebieter. Kam gerade herein.« »Sonst nichts?« »Das kleine Päckchen noch, wie am Telefon gesagt.« Er hielt Nico le beides entgegen, die es auf den Rücksitz ihres Cabrios warf. »Telegramm«, murmelte Nicole. »Wer schickt im Zeitalter der Fax geräte und E-mails denn noch Telegramme?« »Vielleicht Leute, die keine Faxgeräte und Computer haben. Da von soll's noch ein paar auf der Welt geben«, sagte Jean-Claude spöttisch. »Pardon, du hast natürlich Recht. Man vergisst das so schnell, wenn man nur noch mit der modernsten Supertechnik arbeitet. Es soll ja sogar noch Leute geben, die altmodische Briefe verschicken.« »Handschriftlich verfasste«, stellte Charlotte klar und wedelte mit ihrem Slip – um dann leicht zu erröten und um so stärker mit dem Briefumschlag zu wedeln, den sie in der anderen Hand trug. »Den hier meinte ich natürlich.« »Ein Liebesbrief?«, schmunzelte Nicole. »Geht dich nichts an!«, erwiderte Charlotte energisch. Nicole winkte ab. »Ich will's ja auch gar nicht wissen.« Sie stieg wieder in ihr Cabrio und fuhr zum Château zurück. Charlotte und
Jean-Claude sahen ihr nach. »So ein Auto will ich auch haben«, seufzte Charlotte. »300 PS, vier sitziges Cabrio … und diese Wahnsinns-Heckflossen …« »Baujahr 1959 und kaum noch Ersatzteile zu kriegen, und wenn, dann zu horrenden Preisen«, ergänzte der Posthalter. »Und etwa dreißig oder mehr Liter Benzin auf lausige 100 Kilometer Strecke. Über sieben Liter Hubraum – du zahlst dich dumm und dämlich, Mädchen.« »Und trotzdem sieht das Auto affengeil aus. Man darf doch wohl noch ein bisschen träumen?« »Sicher. Wenn nur die Träume Flügel kriegen und die Füße auf dem festen Boden bleiben«, sagte Jean-Claude. »Heirate einen Mil lionär, oder werde selbst Millionärin, dann kannst du dir so ein Traumauto leisten.« »Was soll ich mit Millionen?«, fragte sie. »Was ist schon Geld? Es sichert ab, aber macht es auch glücklich?« Sie wandte sich ab und ging davon. Etwas erstaunt sah Jean-Claude ihr nach. Er spürte, dass sie ihre Worte ernst meinte, aber gerade das hatte er von dem leichtlebig wirkenden Mädchen nicht erwartet.
Als Nicole ihren Spritfresser-Oldtimer wieder in der Garage ein parkte, die noch vor hundert Jahren ein Pferdestall gewesen war, sah sie den Silbermond-Druiden, der auf der Eingangstreppe des Châteaus hockte. »Warum wartest du denn hier draußen?«, fragte sie ihn verblüfft. »Ich wollte noch ein wenig die frische Luft genießen«, sagte er. »Eben war ich noch in Athen. Da kannst du um diese Jahreszeit kaum atmen. Zu viele Autos, zu viel Abgase, die unter der Tageshit ze nicht aufsteigen können. Alles bleibt unten, wie in Tokio. Das sind Städte, die ich im Sommer gar nicht mag.«
»Es zwingt dich ja auch niemand, dort zu leben.« Nicole gab ihm einen Begrüßungskuss. »Komm mit 'rein. Zamorra müsste inzwi schen auch den Schlaf der Ungerechten hinter sich haben. Stören wir ihn, indem wir beim Frühstück besonders laut schmatzen.« »Gute Idee«, grinste der Druide. Es dauerte dann fast noch eine Stunde, bis sie sich am Frühstücks tisch versammelten; mittlerweile zeigte die Uhr 11 an. Zamorra gähnte ausgiebig. »Was treibt dich her, alter Freund?«, wollte er dann wissen. »Das klingt, als wärst du von meinem Besuch nicht sehr erbaut.« »Ach, Unsinn. Ich gestatte nur meiner Neugier, sich lautstark zu äußern«, erwiderte Zamorra. »Du weißt, dass ich dich gern hier se he.« »Weil du weißt, dass ich meine Finger von deiner Gefährtin lasse, weil ich keinem Freund die Frau wegnehme«, sagte Gryf. »Sonst hättest du mich längst mit Katzendreck erschossen.« »Oder dein Bumsdings in einer Mausefalle gefangen«, grinste der Parapsychologe. »Also, was treibt dich her?« »Vampire«, sagte Gryf. »Och nö!«, seufzte Zamorra. »Hä?«, machte Gryf. »Möchtest du deine Aussage vielleicht in grundlegenden Teilen revidieren?« »Wieso?« »Weil wir gerade erst gewaltigen Vampir-Ärger hatten. In Paris. Der Ärger ist noch gar nicht ausgestanden, weil Gevatter Staatsan walt immer noch nicht so ganz glauben will, was Onkel Zamorra und der Sheriff behaupten. Jetzt fängst du auch noch mit Vampiren an – scher dich zum Teufel.« »Nach dir, Alter«, sagte Gryf und füllte sich Kaffee nach. »Was ist passiert?«
Zamorra und Nicole erzählten es ihm. »Und dann bekam ich ges tern abend einen Zettel zugesteckt, auf dem ein Unbekannter mir die derzeitige Adresse von Tan Morano mitteilt und schnelles Han deln fordert«, schloss der Parapsychologe. »Tan Morano«, echote Gryf. »Wie schön … genau deshalb bin ich hier.« Weshalb Nicole plötzlich den Umschlag mit dem Telegramm her vorzog, wusste sie selbst nicht. Normalerweise hätte sie den in Za morras Büro auf den Schreibtisch gelegt. Jetzt aber riss sie den Um schlag einfach auf, las den Text – und reichte das Papier wortlos an Zamorra weiter. Der runzelte die Stirn. »Die Adressen von Tan Morano und Gino diSarko«, murmelte er. »Weißt du, von wem das Telegramm stammt? Es hat keinen Absender. Seltsam …« Nicole sah zum an der Wand befindlichen Bildtelefon, das über Tastatur und Spracheingabe auch Zugriff zum Computersystem des Châteaus erlaubte. »Telefonmodus ein«, sagte sie laut in Richtung des Mikrofons. »Ver bindung mit Jean-Claude.« Der Computer wählte. Der Posthalter selbst besaß nur ein norma les Telefon, deshalb blieb der Bildschirm dunkel. »Duval«, sagte Nicole. »Jean-Claude, das Telegramm, das du mir vorhin gabst – woher kam das? Auf dem Papier selbst gibt es keine Hinweise.« »Ich schaue mal nach.« Nach nicht einmal einer Minute meldete der Posthalter sich wieder. »Pardon, aber das kann ich nicht zurück verfolgen. Wenn kein Absender verzeichnet ist … da ist nichts mög lich.« »Schade. Trotzdem herzlichen Dank. – Telefon aus.« »Morano und diSarko«, sagte Gryf nachdenklich. »Wisst ihr, nach wem das stinkt? Nach Sarkana!« »Bei Morano vielleicht«, sagte Zamorra. »Aber Gino diSarko ge
hört zu Sarkanas Familie. Außerdem ist Sarkana tot.« »Denkst du. Er lebt. Ich bin sicher. Da laufen Intrigenspiele inner halb der Vampirfamilien … und ich traue Sarkana durchaus zu, dass er seinen Neffen ans Messer liefert, um selbst wieder Chef zu wer den.« »DiSarko ist sein Neffe? Woher weißt du das?« »Ich jage Vampire. Ich kenne sie.« »Das ist jetzt der zweite Hinweis auf Tan Morano«, sagte Zamorra nachdenklich. »In beiden Fällen stimmen die genannten Adressen überein.« »Und ich kann dir die dritte Übereinstimmung liefern, die ich von einem Vampir habe, der nicht einmal mehr Staub ist. Was wirst du tun?« »Morano töten!«, stieß Nicole hervor. Zamorra sah sie an. »Er gehört mir«, sagte sie. »Ich habe es dir damals geschworen. Ir gendwie hat er es geschafft, mich in sein Bett zu bekommen. Ich habe dich mit ihm betrogen, Zamorra, und dafür werde ich ihn tö ten. Ich habe schon die letzte Nacht darüber nachgedacht, vielleicht konnte ich deshalb nur so wenig schlafen. Wenn wir wissen, wo er steckt, müssen wir hin und ihn umbringen. Das habe ich ihm da mals versprochen. Er hat mich ausgelacht und behauptet, ich könne das nicht mehr, seit wir intim waren. Aber ich kann es!« »Und ich kann es nicht dulden«, sagte Gryf. »Wie bitte?«, stieß Nicole hervor. »Habe ich mich gerade verhört?« »Ich kann es nicht dulden«, wiederholte der Druide. »Ich werde dich daran hindern müssen, Nicole.«
»Das ist nicht dein Ernst, ja?«, sagte Zamorra. »Er ist ein Vampir! Du selbst …«
»Ich selbst kann in diesem Fall nicht anders«, sagte Gryf. »Und ge nau deshalb bin ich hier. Nicht nur, um mal wieder mit euch eine dufte Party zu feiern.« »Das musst du uns nun aber schon mal näher erklären«, verlangte Nicole. Und der Druide erklärte. Er erzählte davon, wie Morano ihm das Leben rettete, und dass er dem Vampir dadurch verpflichtet war. »Eine verdammte Zwickmühle«, erkannte Zamorra. »Wie willst du da wieder herauskommen?« »Ihr werdet Morano in seinem Unterschlupf angreifen«, sagte Gryf. »Und ich werde ihn vorher warnen – oder ich hole ihn aus der Falle heraus, die ihr ihm stellt. Dann habe ich wiederum ihn gerettet, und wir sind quitt.« »Aber er lebt weiter, und er kann …« Gryf winkte ab. »Was danach passiert, ist mir völlig egal. Ich sehe nur eine Chance, mit eurer Hilfe meine Schuld abzutragen. Ich sagte schon, da scheint ein großes Intrigenspiel zu laufen. In dem sind wir alle nur Schachfiguren. Morano können wir nicht schlagen, aber …« »Doch, das können wir«, sagte Nicole. »Trotz deiner Ehrenschuld, Gryf.« »Und wie stellst du dir das vor?«, wollte er wissen. Sie lächelte. »Zamorra weiß, wo Morano zu finden ist. Er wird dort auftauchen und versuchen, den Vampir zu töten. Du weißt aber auch, wo er ist, und um deine Schuld abzutragen, musst du Zamorra daran hindern, Morano zu pfählen. Da du andererseits niemals gegen Zamorra kämpfen wirst, bleibt dir nur eine Möglichkeit, deinen Lebensretter deinerseits zu retten: Du schnappst ihn dir und nimmst ihn per zeit losem Sprung mit dir. Er fühlt sich in Sicherheit, ist dir dankbar, und du bist entschuldet.« »Und weiter? Das ist doch noch nicht alles«, sagte Gryf. »Natürlich nicht«, sagte Zamorra, der Nicoles Plan begriff. »Du
ziehst dich zurück, bist frei. Aber du hast ihn an einen ganz be stimmten Ort teleportiert.« »Das heißt …« »… dass an diesem bestimmten Ort ich warte«, ergänzte Nicole. »Und ich werde Morano dann töten. Dich, Gryf, trifft kein Schatten der Ehrlosigkeit. Er hat dich gerettet, du hast ihn gerettet. Was da nach kommt, ist eine ganz andere Sache.« »Es ist ein Trick.« »Natürlich ist es ein Trick. Aber du kannst dir nichts vorwerfen.« »Ich weiß jetzt, wie es laufen soll. Also bin ich befangen. Ich weiß zwar, dass ich ihn vor Zamorra rette, aber gleichzeitig zu Nicole in den Tod schicke.« »Vielleicht hätten wir dir den Plan nicht so offen darlegen sollen«, sagte Zamorra. »Aber – wir sind ehrlich zu dir, mein Freund. Du bist hier, weil du unsere Hilfe willst. Sie sieht so aus, wie eben dargelegt. Nun entscheide dich. Deine Ehre wird nicht befleckt, so oder so.« »Spitzfindigkeiten …« »Siehst du das wirklich so?« Gryf schwieg. »Also machen wir es so«, sagte Zamorra. »Und danach kümmern wir uns um Gino diSarko«, ergänzte Nico le.
Die Bildtelefonanlage meldete sich. »Gespräch akzeptiert«, sagte Nicole, noch ehe Zamorra es in Rich tung des Mikrofons rufen konnte. Auch diesmal blieb der Bildschirm dunkel. »Charlotte«, meldete sich die Anruferin. »Nicole, ich hatte doch vorhin einen Brief bei der Post abgeholt. Du erinnerst dich?« »Handschriftlich abgefasst.« Nicole schmunzelte.
»Und aus Griechenland«, sagte Charlotte. »In Athen abgestem pelt.« »Ah, deine Liebesaffäre vom letzten Urlaub.« »Quatsch! Ich bin nie in Athen gewesen! Und ich hatte auch noch nie einen Griechen in meinem Bett! Deshalb hat mich das ja so er staunt.« »Athen, soso …«, murmelte Gryf und brachte seinen Stuhl soweit in Kippstellung, dass er gerade noch die Balance halten konnte. Za morra grinste; er kannte das noch von Schule und Universität her und entsann sich, wie oft seine Mitschüler bei solchen Balanceakten polternd zu Boden gegangen waren. Was nicht selten zu Strafarbei ten geführt hatte … »Du rufst aber ganz bestimmt nicht an, nur um mir zu erzählen, dass der Brief aus Athen kommt, oder?«, hakte Nicole nach. »Natürlich nicht. Er enthält nämlich nur einen Namen und eine Adresse.« »Lass mich raten«, sagte Nicole. »Tan Morano, und die Adresse ist die eines Hotels in einer mittelenglischen Stadt.« »Woher weißt du das?« »Einfach nur geraten.« »Das glaube ich nicht!«, protestierte Charlotte. »Es muss doch ir gendwas mit euch und eurer Arbeit zu tun haben!« »Das wiederum kannst du doch jetzt nur raten.« »Natürlich, aber deine Reaktion – schließlich kenne ich überhaupt keinen Menschen namens Tan Morano. Ich habe niemanden, den ich in Athen kenne, der Brief hat keinen Absender, keine Unterschrift … ich verstehe das nicht. Wenn er eigendich für euch ist, wieso wurde er dann an mich geschickt?« »Das ist mir allerdings auch ein Rätsel.« »Wollt ihr den Brief haben, um ihn zu untersuchen?« Zamorra winkte ab.
»Nein«, sagte Nicole deshalb. »Aber bewahre ihn vorläufig auf. Vielleicht kommen wir später noch einmal darauf zurück. Danke, dass du uns angerufen hast.« Charlotte legte auf. Nach ein paar Sekunden schaltete das Bildtele fon automatisch ab. »Athen«, sagte Gryf leise und wippte leicht mit dem auf der Kippe stehenden Stuhl. »Sarkana! Er hat den Brief geschickt. Garantiert. Aber woher kennt er die Adresse dieses Mädchens?« »Vielleicht hat er sich schon einmal unbemerkt im Dorf umge schaut. Oder er hat die Adresse von jemandem, den er als Kurier be nutzte … Dieser Typ vor zwei Tagen, der dem Jungen den Briefum schlag gab … vielleicht war das einer von Sarkanas Helfern.« »Es gefällt mir nicht, dass Vampire hier einfach so durchs Dorf strolchen und sich auch noch auskennen«, sagte Zamorra. »Wir soll ten diesen Spuk möglichst schnell beenden. Das heißt, wir müssen Morano und Sarkana unschädlich machen. Und das, so bald es geht. Sarkana zu schnappen, dürfte schwierig werden.« »Er ist in Athen. Ich kann ihn finden«, sagte Gryf »Er wird schon nicht mehr dort sein. Er muss damit rechnen, dass wir versuchen, seine Spur zu finden. Vielleicht ist er längst in Mazedonien oder in der Türkei, oder sonstwo. Wir sollten uns also an das halten, was wir sicher haben: Morano, und danach diSarko. Es ist an der Zeit, dass wir den Vampirsippen einen Schlag versetzen. Wir haben jetzt die Chance dazu. Also lasst uns einen Plan schmieden, wie und wo wir die Falle aufbauen, in die du Morano teleportierst.« »Mir ist immer noch sehr unwohl bei diesem Gedanken«, sagte der Druide. »Tut mir Leid, aber ich kann nicht über meinen Schatten springen. Es ist eine Frage der Ehre. Ich kann nicht an mir selbst zum Verräter werden.«.
Sarkana befand sich tatsächlich nicht mehr in Athen. Er saß um die
se Zeit in einem Flugzeug, das ihn nach Rom brachte. Die Ewige Stadt galt als ein heißes Pflaster nicht nur für Vampire, sondern auch für alle anderen Dämonen. Die Macht der Kirche und des Kreuzes zeigte sich hier in geballter Form. Aber das war die Theorie. Die Praxis zeigte, dass sich die Schwarz blütigen gerade hier besonders sicher fühlen konnten, schon allein, weil niemand mit ihrer Anwesenheit rechnete. Nicht umsonst hatte Gino diSarko sich hier eingenistet. Der einzige, den das derzeitige Oberhaupt der Sarkana-Familie und aller Vampirclans hier wirklich zu fürchten hatte, war Zamorras Freund Ted Ewigk. Aber nicht ein mal der schien zu ahnen, wie es unter der Oberfläche einer schein bar heilen Welt brodelte. Nun, die Vampire machten auch nicht un bedingt für sich Reklame. Sie waren vorsichtig. Gerade in Rom mussten sie es sein. So wie auch in Mekka oder in Jerusalem. Sarkana wollte allerdings auch nicht in Rom verweilen. Es war eine Zwischenstation. Als nächstes Ziel würde er Frankreich neh men. Wenn Zamorra bis dahin nichts gegen Tan Morano unternom men hatte, wollte Sarkana ihn unter Druck setzen. Da war eine junge Frau, deren Adresse er kannte. Er hatte ihr einen Brief geschickt, und er war sicher, dass sie die richtigen Schlüsse ziehen und Zamorra unterrichten würde. Die Dorfbewoh ner waren schließlich über Zamorras Betätigungsfeld informiert, sie wussten, dass er Schwarzblütige jagte. Wenn er nicht spurte, würde Sarkana ihn erpressen. Zamorra konnte nicht zulassen, dass die Frau zu einem Vampiropfer gemacht wurde. Er musste handeln! Zuvor hatte Sarkana in Rom aber noch etwas anderes zu erledi gen.
»Was ist mit deiner Hütte auf Anglesey?«, fragte Zamorra.
»Was soll damit sein?« »Hast du momentan einen Gast? Teri, oder sonst irgendwen?« Gryf schüttelte den Kopf. »Derzeit nicht. Wozu auch, wenn ich nicht da bin? Es müsste schon ein Überraschungsbesuch sein, der dort auf mich wartet.« »In Ordnung«, sagte Zamorra. »Dann wird Nicole mittels der Re genbogenblumen dorthin reisen. Sie wird sich irgendwo in der Um gebung verbergen und darauf warten, dass du Morano hintelepor tierst. Mich selbst bringst du bitte vorher in diesen kleinen Ort. Ich werde Morano attackieren, du rettest ihn und bringst ihn in deine Hütte. Dort ist er sicher, weil es deine Behausung ist. Sobald er sich sicher fühlt, schnappt ihn Nicole und pfählt ihn.« Gryf schwieg. »Du bist immer noch nicht überzeugt?«, fragte Zamorra. »Es gefällt mir nicht. Ich bin gezwungen, ihn auf diese Weise zu verraten. Ich befördere ihn doch nur aus der einen Falle in die ande re!« »Aber beim ersten Mal rettest du ihm das Leben, und ihr beide seid quitt! Du bist ein Feind der Vampire. Du bist auch Moranos Feind, selbst wenn du ihm dein Leben verdankst.« »Es ist alles eine Aktion«, sagte Gryf. »Das gefällt mir nicht.« »Es sind zwei Aktionen!«, widersprach Zamorra. »Komm, Gryf, es ist eine einmalige Chance – für uns alle! Und danach gibt es einen Langzahn weniger.« Der Druide sah Nicole an. »Du willst unbedingt, dass er stirbt, nicht wahr?« »Er hat mich dazu gebracht, Zamorra untreu zu werden. Das ist wie eine Vergewaltigung. Eine Vergewaltigung nicht des Körpers, aber der Seele. Ich wollte das nie, und ich weiß bis heute nicht, warum ich es getan habe. Und ich habe geschworen, dass ich ihn da für töten werde.«(siehe »Professor Zamorra«-Heftausgabe Nr. 638: »Geliebter Vampir« von Robert Lamont)
Sie zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »Und, bei aller Freundschaft, Gryf – du wirst mich niemals daran hindern können.« »Auch dann nicht, wenn du vorher gegen mich antreten müsstest?« »Auch dann nicht«, sagte sie entschlossen. »Dieser Stachel sitzt zu tief. Ich wurde zu etwas verleitet, gezwungen, das ich niemals woll te. Auch das ist eine Frage der Ehre.« »Was ist nun?«, fragte Zamorra. »Sitzen wir noch ein paar Jahr hunderte hier und diskutieren, oder packen wir's an?« Gryf kämpfte mit sich. Dann endlich nickte er.
»Ich bin nicht sicher«, sagte Nicole, als sie sich auf ihre Aktion vor bereiteten, »ob er wirklich mitspielt. Er hat zwar genickt, aber nichts versprochen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gryf uns hereinlegt«, sagte Za morra. »Wir sind Freunde, wir sind Kampfgefährten. Wir haben schon so oft füreinander unseren Hals riskiert … wenn er mitmacht, dann richtig.« »Dein Wort in Merlins Ohr«, murmelte Nicole. Sie schlüpfte in ih ren schwarzen Lederoverall, ihren »Kampfanzug«, wie sie ihn nann te, in die Stiefel, und schlang den Gürtel um die Hüften, an dem eine Magnetplatte saß. An diese konnte ein E-Blaster geheftet werden, eine der legendären Strahlwaffen der Ewigen. In der Gürtelschließe fand in einer Aussparung ein Dhyarra-Kristall Platz. »Glaubst du, dass du das alles brauchst, nur um einen Vampir zu töten?«, fragte Zamorra kopfschüttelnd. »Blaster, Dhyarra … was noch?« »Dieser Vampir ist Tan Morano«, sagte sie. »Ich fürchte, mit einem geweihten Eichenpflock allein lässt der sich nicht umbringen. Und ich will absolut nicht, dass er überlebt. Dafür hat er mir … uns … zu
viel angetan!« »Hm«, machte Zamorra. Er trug normale Kleidung, das Amulett am Silberkettchen vor der Brust unter dem Hemd, und überlegte, ob er tatsächlich ebenfalls mehr an Ausrüstung mitnehmen sollte. Im merhin war ja geplant, dass kein echter Kampf gegen den Vampir stattfand. Gryf sollte Morano ja rechtzeitig in vermeintliche Sicher heit bringen. Unter diesen Umständen sollte das Amulett eigentlich reichen. Dennoch nahm er schließlich auch noch einen E-Blaster an sich. Diese Waffen ähnelten normalen Pistolen, nur dass sie anstelle der Magazine spezielle Hochenergie-Akkus besaßen, die zwischendurch immer wieder aufgeladen werden konnten. Sie verschossen Laser strahlen, aber auch Elektroschocks, je nach Einstellung. »Fertig?«, fragte er. »Fertig«, nickte Nicole. Sie küsste ihn. Dann machte sie sich auf den Weg. Sie verschwand im Château-Keller. Als vor etwa einem Jahrtausend der unselige Leonardo deMontagne dieses Bauwerk errichten ließ, wurden zu gleich Schächte in den gewachsenen Fels getrieben. Entweder war damals Magie im Spiel, oder Leonardo hatte Hunderte und Tausen de von Sklaven dabei regelrecht verschlissen, die Gänge und Kaver nen aus dem Fels zu meißeln. Die unterirdischen Anlagen waren dermaßen weitläufig, dass selbst nach mehr als einem Vierteljahr hundert noch längst nicht alle Räume erforscht waren. Nicole suchte den Regenbogenblumendom auf. Das war ein großer, kuppelförmiger Raum, unter dessen Decke eine winzige Miniatursonne schwebte, die für permanentes Tages licht sorgte. Weshalb sie frei schwebte, und woher sie ihre Energie bezog, war ein Rätsel. Aber dieses Licht sorgte dafür, dass unter der künstlichen Sonne Blumen wuchsen. Sie ragten mannshoch auf, blühten ganzjährig, und ihre Blütenkelche schimmerten in allen Far ben des Regenbogenspektrums. Damit nicht genug, dienten sie als Transportmittel.
Wer zwischen sie trat und eine konkrete gedankliche Vorstellung von seinem Ziel hatte, wurde augenblicklich und ohne Zeitverlust dorthin versetzt. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich bei diesem Ziel um einen Ort oder eine Person handelte. Es mussten nur auch dort Regenbogenblumen in einer nicht zu großen Distanz wachsen; ohne sie als »Gegenstation« funktionierte es nicht. Diese »Gegenstationen« mussten dabei nicht einmal unbedingt auf der Erde wachsen und blühen. Sie konnten sich auf anderen Plane ten oder in anderen Dimensionen befinden; entsprechende Schran ken gab es nicht. Sogar Zeitreisen in die Vergangenheit waren mög lich. Die Zamorra-Crew benutzte die Regenbogenblumen als preiswer tes Transportmittel, und der Professor war bemüht, an so vielen Or ten in der Welt wie nur möglich weitere Blumen anzupflanzen, um auf unkomplizierte Weise große Distanzen zu überbrücken. Denn Flugreisen kosteten nicht nur Geld – sie sorgten auch oft für Schwie rigkeiten. Flüge konnten überbucht sein oder ausfallen, die Kontrol len wurden nach den Terroranschlägen der letzten Jahre immer schärfer und brachten Ärger, wenn Zamorra und Nicole beispiels weise ihre Blaster mitnehmen wollten oder mussten … und die Flü ge brauchten natürlich ihre Zeit. Ein Schritt von einer Regenbogen blumen-Kolonie zur anderen fand dagegen innerhalb einer Sekunde statt. Dem Dämonenjäger ging dabei allerdings auch nicht aus dem Kopf, dass Pater Ralph schon mehrmals vor den Blumen gewarnt hatte. »Da gibt es einen Pferdefuß«, sagte er, aber er war selbst nicht in der Lage zu definieren, wie der Haken an der Sache aussehen mochte. Nicole erreichte die Blumen. Sie trat zwischen sie und konzentrier te sich auf Gryfs kleine Hütte auf Anglesey. Der nächste Schritt ließ sie auf der Insel zwischen den dortigen Blumen hervortreten. Inner halb einer Sekunde hatte sie die Distanz zwischen Südfrankreich und Nordwales zurückgelegt.
Ein kleiner Wald, eine Lichtung. Nicht weit entfernt gab es einen Bach. In direkter Sichtweite stand die Blockhütte des SilbermondDruiden. Nicole suchte sie auf. Sicherheitshalber checkte sie ab, ob auch alles so war, wie sie es sich vorstellte. Die Hütte war leer, niemand anwesend, so wie Gryf es gesagt hat te. Dennoch war Nicoles Vorsicht berechtigt. Es hätte sein können, dass die Druidin Teri Rheken wieder einmal hier aufgetaucht war und auf Gryf wartete, oder dass jemand aus dem gar nicht so weit entfernten Ort mit dem nur für Waliser ohne Zungenverknotung aussprechbaren Namen Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrn drobwllllandysiliogogogoch hierher gekommen war. Dieses Dorf war ausgerechnet durch einen Schneider, der im ver gangenen Jahrhundert auf Anglesey lebte, zu seinem Namensband wurm gekommen. Dem Mann erschien der ursprüngliche Name des Ortes, Llanfairpwllgwyngyll, nicht aufmerksamkeits- oder werbe trächtig genug, und so hängte er eine Silbe nach der anderen dran, bis der längste Ortsname der Welt entstand.(Welcher in der Überset zung lautet: »St. Mary's Kirche am Teich mit dem weißen Hasel busch über dem Strudel und bei St. Tysilio's Kirche in der Nähe der roten Höhle«. Was auch nicht einfacher auswendig zu lernen ist, aber Autoren, die über diesen Ort schreiben, zur Zeilenschinderei übelster Art verhilft.) Und das etliche Meter lange Schild am Bahnsteig war das wohl weltweit begehrteste Objekt fotografierender Touristen … Nichts in der Hütte war anders als sonst. Ein Tisch, ein Stuhl, ein sehr bequemes, für mindestens zwei Personen reichendes Nachtla ger aus übereinander gestapelten Fellen, ein Kühlschrank, ein Tele fon, das nicht angeschlossen war, aber auf magische Weise dennoch funktionierte und über das Gryf erreichbar war, sofern er sich da heim aufhielt, sowie ein Bücherregal. Nicoles Blick streifte die Buch rücken. Unter anderem fielen ihr »Mutabor« und »Gestrandet auf Bittan« von W. K. Giesa auf, »Engelszorn« von Dario Vandis und Martin Kay, »Ulysses« von James Joyce, »Babylon« und »Hatschep
sut« von Hanns Kneifel, »Lord of Darkness« von Robert Silverberg, »Die Chatten-Saga« von Rolf W. Michael, »Foundation« von Isaac Asimov, »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« von Heinrich Böll, »Krieg und Frieden« von Lew Nikolajewitsch Tolstoi, »Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein« von Boris und Arkadij Strugatzki, »Zi geunerehre« von Robert deDigue, »Ein Tag wie der andere« von C. R. Munro, dazu Bibel, Koran und Talmud – das Interessengebiet des Druiden schien sehr weit gespannt zu sein. Interessanterweise gab es keine Fach- und Sachbücher über Para psychologie, Magie und Okkultismus, obgleich Gryf sich zuweilen als Parapsychologe ausgab. »Kulturbanause«, murmelte Nicole. »Wenigstens ein paar von Za morras Fachbüchern hättest du dir ruhig anschaffen können …« Sie verließ die Hütte wieder und überlegte, wo sie am besten Posi tion beziehen konnte. Sie hoffte, dass es nicht zu lange dauerte, bis Gryf mit dem Vampir hier auftauchte …
Zamorra nickte Gryf zu. »Auf geht's«, sagte er. Der Druide wirkte alles andere als zufrieden mit sich und der Welt. Sollte Nicole Recht haben? Würde er seine Mitarbeit doch noch verweigern? Zamorra griff nach seiner Hand. »Ich habe keine konkrete Vorstellung von dieser Stadt und diesem Hotel«, sagte Gryf seltsam steif. »Musst du die für den zeitlosen Sprung haben?«, konterte Zamorra. »Reicht nicht ein ›ungefähr‹?« Der Druide seufzte. »Jaaa … doch«, dehnte er unlustig. Dann machte er die entscheidende Bewegung, die den zeitlosen Sprung auslöste, und riss dabei Zamorra mit sich an einen anderen Ort. Zwei weitere Sprünge folgten, dann befanden sie sich in einer klei
nen Stadt, die sehr provinziell und sehr englisch aussah, wie Zamor ra registrierte. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, hakte Zamorra nach. »Überprüf's einfach«, erwiderte Gryf. »Da ist das Hotel. Drinnen wird man dir sicher den Straßennamen sagen können. Ich entferne mich jetzt – ich muss meinen Lebensretter schützen.« »Warte«, sagte Zamorra. »Du …« Er sprach ins Leere. Gryf hatte sich per zeitlosem Sprung entfernt. »Verdammt«, murmelte der Parapsychologe. Ganz so hatte er sich das alles nicht gedacht, sondern mit noch ein wenig Unterstützung durch den Druiden gerechnet. Aber offenbar wollte Gryf sich in die ser Sache nicht noch mehr engagieren. Zamorra konnte ihn verstehen. Gryf befand sich in einer fürchterli chen moralischen Zwickmühle. Ausgerechnet einer seiner größten Feinde hatte ihm das Leben gerettet. Dass das aus taktischem Kalkül und nicht aus Humanität geschah, spielte für ihn dabei keine Rolle. Die Tat zählte, nicht das Warum. Natürlich wusste Gryf ebensogut wie Zamorra, warum Morano den Druiden damals rettete. Eben, um ihn auf seine Seite zu zwin gen! Es musste für den Vampir ein unglaublicher Triumph gewesen sein, als er es schaffte, ausgerechnet einen der besten Freunde und wertvollsten Mitarbeiter Zamorras auf diese Weise aus dem Verkehr zu ziehen beziehungsweise ihn sich zu verpflichten. Aber Gryf konnte nicht aus seiner Haut. Das war das Problem. Vor allem für den Druiden selbst, aber jetzt auch für Zamorra. Der wünschte sich fast, dass Gryf nicht mit ins Spiel gekommen wäre. Andererseits hätte er es dann nicht so einfach gehabt, hierher zu ge langen. Er betrat das Hotel. »Ist Mister Tannamore in seinem Zimmer?«, erkundigte er sich. Tannamore war der Name, unter dem der Vampir schon einige Male aufgetreten war – in England als Yard-Inspector, in Florida als
FBI-Agent. Für Zamorra lag es nahe, dass er sich hier jetzt wieder dieses Namens bediente. »Sorry, Sir, aber ein Mister Tannamore gehört nicht zu unseren Gästen.« »Und ein Mister Morano?«, fragte Zamorra. »Warum wollen Sie das wissen? Sie stellen sehr seltsame Fragen, Sir.« Zamorra lächelte. Er legte seinen Sonderausweis des britischen In nenministeriums auf die Holzplatte, die die Rezeption darstellte. Diesen Ausweis hatte er vor Jahren erhalten, weil er dem damaligen Innenminister einen sehr großen Gefallen getan hatte – und der Aus weis besaß zeitlich unbegrenzte Gültigkeit! Er verlieh Zamorra einen polizeiähnlichen Status und sogar die Berechtigung, innerhalb des britischen Commonwealth eine Waffe zu führen. Was von eminen ter Bedeutung war, seit vor etlichen Jahren jeglicher privater Waf fenbesitz verboten worden war. »Leute meiner Art stellen immer sehr seltsame Fragen«, sagte Za morra lächelnd und steckte seinen Sonderausweis wieder ein. »Darf ich nun um Ihre Antwort bitten?« »Mister Morano befindet sich in seinem Zimmer«, sagte der kleine Mann, der aussah wie ein Beamter drei Tage vor der Pensionierung. »Zimmernummer?« Der Mann nannte sie ihm. »Lassen Sie es sich bitte nicht einfallen, anzurufen und meinen Be such anzukündigen«, sagte Zamorra. Dann benutzte er die Treppe, um eine Etage höher zu gelangen, dorthin, wo Tan Morano sich ein quartiert hatte. Er lauschte an der Tür und hörte Stimmen. Gryf war bereits vor Ort. Zamorra drückte die Klinke nieder, aber die Tür blieb verschlos sen. Sie war verriegelt. Also klopfte er an.
»Zimmerservice«, rief er. Keine Antwort. Da setzte er das Amulett an, um die Tür aufzuschließen, und stürm te ins Zimmer.
Im Rom gelandet, verstaute Sarkana sein Gepäck in einem Schließ fach, buchte gleich einen Flug nach Lyon in Frankreich, der in etwa drei Stunden ging, und hatte einen Teil dieser Zeit zur Verfügung, das zu tun, weshalb er hierher gekommen war. Er nahm ein Taxi und ließ sich vom Aeroporte da Vinci in einen Randbezirk der Stadt bringen. Dort befand sich Gino diSarkos Villa. Sarkana kannte sie. Er war schon früher einige Male hier gewesen, wenn er seinem Neffen Gino einen Besuch abgestattet hatte. Die Vil la war klein, aber fein und verfügte über ausgedehnte Kellerräume. In denen war schon so manches Opfer diSarkos verschwunden. Der Vampir beschäftigte einen etwas debilen Diener und mehrere Wächter, die dafür sorgen sollten, dass kein Unbefugter Haus und Grundstück betrat oder beflog. Die Wächter waren Gino hörig. Er trank zuweilen von ihrem Blut, aber nie so viel, dass sie selbst zu echten Vampiren wurden. Sie mussten schließlich auch bei Tage ak tiv sein können, und das funktionierte nicht mehr, wenn der Keim sich endgültig durchsetzte. Um auch dem Tageslicht zu widerste hen, musste man schon sehr alt sein, wie Sarkana, Morano, Gaullet und andere Fürsten. Selbst Gino hatte hier noch oftmals Probleme. Aber je älter er wurde, um so geringer wurden sie. »Warten Sie«, befahl Sarkana dem Taxifahrer, als dieser vor dem schmiedeeisernen Tor stoppte. Von der Grundstücksmauer war nur wenig zu sehen; sie war nach außen von Buschwerk umwachsen. Auf der Innenseite ragten Bäume empor und überschatteten einen Teil des Grundstücks. Das Tor war verschlossen, aber es machte Sarkana keine Schwie
rigkeit, als er dieses knackte. Dabei löste er Alarm aus. Das war durchaus beabsichtigt. Er war erst ein Dutzend Meter weit gegangen, als drei Männer sich ihm näherten. Einer führte zwei riesige, graue Hunde mit sich, die wild an den Leinen zerrten. Bei Nacht hätte Sarkana sie für Werwöl fe gehalten. Aber die brauchten die Dunkelheit, um sich zu verwan deln, und bis dahin dauerte es noch Stunden. Sarkana blieb stehen. Die drei Wächter rechneten mit einem menschlichen Eindringling, einem Vampirjäger vielleicht, nicht aber mit einem der ältesten und mächtigsten Blutsauger dieser Erde. Sie erkannten ihn nicht einmal. »Das hier ist Privatbesitz. Verlassen Sie unverzüglich das Gelände, Signore«, befahl einer von ihnen energisch. »Oh, das wäre aber nicht gut«, sagte Sarkana. »Ihnen würde ein unvergleichliches, einmaliges Erlebnis entgehen.« »Und was soll das sein?« Der Vampir grinste. »Ihr Tod«, verriet er. Dabei streckte er eine Hand aus und wies mit gespreiztem Zeige- und Mittelfinger auf den ersten der beiden Hun de. Das Tier wurde sofort ruhiger. Von Sarkana ging etwas aus, das ihn hypnotisierte. Der Graue legte sich nieder und atmete nur noch langsam. »Was machen Sie da?«, fragte der Hundeführer. »Sehen Sie das nicht? Ich entwaffne Sie, Amico!« Er führte dieselbe Prozedur bei dem zweiten Wolfshund durch. »Das finden wir gar nicht mehr lustig«, stellte der erste der drei Männer fest und zog eine Pistole, die er auf Sarkana richtete. »Ver schwinden Sie, so lange Sie noch können!« »Das ist kein Mensch!«, entfuhr es dem dritten plötzlich. »Ich kann seine Aura spüren! Das ist ein Vampir!« Zwei Sekunden später war er tot. Blitzartig war Sarkana über ihm und zerschmetterte mit einem Fausthieb sein Genick. Ebenso blitzar
tig wandte er sich den beiden anderen zu und tötete sie. Der Mann mit der Pistole kam nicht einmal mehr zum Schuss. Er war durch Sarkanas rasend schnelle Aktion dermaßen entsetzt, dass er einen Augenblick zu lange zögerte. Der alte Vampir tötete auch die beiden Wolfshunde. Alles dauerte nicht einmal zwanzig Sekunden. »Es gibt doch kein gutes Wachpersonal mehr heutzutage«, seufzte Sarkana. »So zerbrechlich … so leicht umzubringen … Da bin ich von früher her Besseres gewohnt.« Kalten Herzens setzte er seinen Weg fort.
Unversehens tauchte Gryf ap Llandrysgryf in Tan Moranos Hotel zimmer auf. Der Vampir schreckte empor, ging sofort in Kampfstellung. Dann aber entspannte er sich. »Oh, Gryf, mein Freund«, sagte er. »Der Druide, der mir einst einen Pfahl ins Herz stieß. Was treibt dich dazu, einen toten Feind zu besuchen?« »Tot? Nein, du bist nicht tot. Aber man will dich töten«, sagte Gryf. »Und besser, als ich es damals konnte.« »Das ist nicht gerade das, was ich eine neue Nachricht nenne«, er widerte Morano. »Erzähl mir etwas, was ich noch nicht weiß. Oder bist du es etwa selbst, der mich ermorden will?« »Das kann ich nicht«, sagte Gryf reserviert. »Seit jener Nacht auf Key West.« »Ah, du hast es also nicht vergessen.« Morano lächelte. »Ich habe dich also richtig eingeschätzt.« »Warum hast du mich eigentlich damals gerettet, Bestie?«, fragte Gryf. »Nur, um mich auf deiner Seite zu haben? Oder steckt noch mehr dahinter? Vielleicht willst du mich eines Tages gegen Zamorra einsetzen? Ich habe lange nachgedacht, aber ich finde den wirkli
chen Sinn deines Tuns nicht.« »Du denkst nicht geradlinig genug, das ist dein Problem. Du rech nest immer und überall mit Hinterlist und Intrigen. Ich bin ehrlich. Mir reicht es, dass du mir kein zweites Mal Schaden zufügen kannst.« »Und diesmal werde ich dir sogar helfen«, sagte der Druide. »Lobenswert. Wie geht diese Geschichte weiter?« »Du wirst es in wenigen Augenblicken erleben, Langzahn. Zamor ra hat herausgefunden, wo du dich versteckst. Er ist hier, um dich zu töten. Er ist dir näher, als du ahnst.« Moranos Augen wurden schmal. »Woher weiß er …?« »Er erhielt Hinweise, und so erfuhr auch ich es. Zamorra ist …« Etwas geschah an der Tür. Ein Kratzen, dann ein Klicken. Im nächsten Moment flog sie nach innen auf. Ein Mann stürmte herein, passierte mit wenigen Schritten den schmalen Durchgang und war auch schon im Wohnraum. Silbern leuchtete etwas in sei ner Hand. Zamorra! Sein Amulett! Morano fühlte sich überrumpelt. Einen Moment lang verlor er sei ne Souveränität. Mit einem Wutschrei wandte er sich zur Flucht durchs Fenster. Das silbrige Licht des Amuletts griff nach ihm. Aber auch noch etwas anderes. Zwei harte Fäuste! Ein kurzes Schwindelgefühl packte den Vampir. Dann veränderte sich seine Umgebung, und zusammen mit Gryf stolperte er über eine Baumwurzel und kam zu Fall. Er riss sich los und sprang wie der auf. Fast ebenso schnell war auch der Druide wieder auf den Beinen. Die beiden starrten sich an. »Was – war das?«, fragte Morano. Er gewann seine Ruhe rasch wieder.
»Das war ein zeitloser Sprung«, erklärte Gryf. »Ich habe dich in Si cherheit gebracht. Zamorra kann dir auf diesem Weg nicht folgen, und er weiß auch nicht, wohin ich dich gebracht habe.« Tan Morano nickte bedächtig. Er begann, Schmutz von seiner Klei dung zu klopfen. »Du hast dich also tatsächlich gegen deinen Freund gestellt«, sagte er. »Das ist bemerkenswert. Ich habe nicht wirklich damit gerech net.« »Es blieb mir nichts anderes übrig«, sagte Gryf. Er wirkte auf eine seltsame Weise erleichtert, aber dennoch irgendwie bedrückt. »Du hattest Recht, Langzahn, als du damals sagtest, ich könne nicht zum Verräter an mir selbst werden.« Er wandte sich zur Seite. »Du hast damals mir das Leben gerettet, und ich habe es jetzt dir gerettet«, sagte er. »Damit sind wir quitt.« »Bist du sicher?«, fragte Morano. »Ja.« »Da ist noch eine andere Sache«, erinnerte der Vampir. »Es liegt schon lange zurück. Damals hast du mich getötet. Mein Dank an dich dafür steht noch aus.« Gryf fuhr herum. »Willst du mich jetzt umbringen? Das schaffst du nicht, niemals«, sagte er. »Außerdem – du existierst doch nach wie vor. Ich muss mich damals getäuscht haben. Du kannst nicht wirklich tot gewesen sein.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Morano. »Eines Tages wirst du möglicherweise die Wahrheit erfahren. Bis dahin haben wir noch eine Rechnung miteinander offen. Aber ich werde sie nicht hier und nicht jetzt begleichen. Es ist die falsche Zeit, der falsche Ort. Wo überhaupt befinde ich mich jetzt?« »Das herauszufinden überlasse ich dir«, sagte der Druide. »Es wird dir sicher bald gelingen. Ich gebe dir allerdings noch einen an deren Hinweis: Unseren Erkenntnissen zufolge weiß Sarkana von
deinem Versteck. Er ist es wohl, der Zamorra auf dich hetzte. Und vielleicht auch noch einige andere.« Noch ehe Morano etwas sagen konnte, machte Gryf eine schnelle Vorwärtsbewegung und verschwand wie ein Schatten, den hellstes Licht trifft. Per zeitlosem Sprung war er fort. Tan Morano ballte ganz langsam die Fäuste. »Sarkana«, flüsterte er, und es klang wie ein Fluch.
Sarkana betrat das Haus, ohne dass ihn etwas oder jemand daran hinderte. Er konnte die Präsenz seines Neffen spüren. Vermutlich erging es jenem umgekehrt ebenso. Aber Sarkana hatte nicht vor, sich lange in der Villa aufzuhalten. Er blieb nur so lange, bis er Cervocampo traf, den Diener. Der Mann starrte ihn verblüfft an. »Sie – Sie sind hier?« »Und ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte Sarkana. Er zog einen Eichenpflock aus der Innentasche seines Mantels hervor. Verständnislos starrte der Diener den zugespitzten Pflock an. »Was soll ich damit?« »Sterben«, sagte Sarkana und rammte ihm das Holz ins Herz. Er brauchte dazu keinen Hammer. Seine enorme körperliche Kraft reichte dafür völlig aus. Sarkana ließ den Toten achtlos fallen. Rotes Blut sickerte rund um den Eichenpflock aus der Wunde. Cervocampo war kein Vampir, nur ein armer Narr, der nicht einmal wusste, weshalb sein Leben hier endete. Sarkana zog einen Bogen Briefpapier hervor, glättete es und tauch te dann den Zeigefinger in das hervorquellende Blut. Er schrieb da mit ein paar Worte, steckte eine Kante des Papiers zwischen die Zähne des Toten und verließ die Villa. Er eilte zur Straße zurück, zum Taxi, und stieg ein.
»Fahren Sie zurück zum Flughafen«, verlangte er. »Fahren Sie wie der Teufel, damit ich meine Maschine noch erwische.« Es wurde in der Tat Zeit, das Gepäck aus dem Schließfach zu ho len und einzuchecken. Da diSarkos Villa am Stadtrand lag, war die Rückfahrt kein Pro blem, das Verkehrschaos der Innenstadt blieb ihnen erspart. Eine Stunde später saß der Vampir im Flugzeug nach Lyon. Alles ging so rasch. Eben sah Zamorra den Vampir und den Drui den noch vor sich, im nächsten Moment waren beide verschwunden – gerade noch, ehe das Silberlicht des Amuletts Morano erreichen konnte. Zamorra entspannte sich. Es hatte funktioniert. Gryf hatte den Vampir gerettet und war da mit von seiner Ehrenschuld befreit. Und Nicole bekam ihre Rache. Sie würde Morano vernichten. Etwas schade war es schon; Zamorra hätte das gern selbst erledigt. Dass der Blutsauger ihm die Frau ausgespannt hatte, die er liebte wie nichts und niemanden sonst auf der Welt, hatte ihn damals sehr tief getroffen. Er wusste, dass es nicht Nicoles Schuld war. Er mach te ihr keine Vorwürfe. Denn sie war zu ihm zurückgekehrt, innerlich verzweifelt über diesen Ausrutscher. Sein Zorn galt nicht ihr, sondern Morano. An sich war Zamorra nicht einmal eifersüchtig. Seine Gefährtin war attraktiv und lebens- und liebeshungrig. Wenn sie etwas ande res ausprobieren wollte, okay. Man redete darüber, und die Sache war klar. Er wusste nur zu gut, dass ihm selbst so etwas auch jeder zeit passieren konnte. Bisher war es nie geschehen; seit die Liebe zwischen ihm und Nicole entflammt war, diese stille Glut, die von einer Sekunde zur anderen heiß loderndes Feuer wurde, um dann wieder als Glut auf den nächsten Vulkanausbruch der Leidenschaft zu warten – seit jener Zeit hatte er keine andere Frau mehr berührt, obgleich er früher, in seiner Jugendzeit, alles andere als ein Kind
von Traurigkeit gewesen war. Er entsann sich an das WoodstockFestival, an dem er teilgenommen hatte – wieviele Mädchen waren es damals gewesen? Drei, vier? Die wilden Studentenfeten in Paris und Berkeley … Oder Plato's Retreat, dieses Nobel-Etablissement, in dem in den 70ern gigantische Swinger-Orgien gefeiert worden wa ren und von dem heute niemand mehr sprach … Nur von seinen Studentinnen hatte er sich später, als er seinen Lehrstuhl hatte, im mer sorgsam fern gehalten. Das hätte nur Ärger gegeben. Wenn Nicole zwischendurch mal einen anderen Mann ausprobie ren wollte – in Ordnung, solange sie wieder zu Zamorra zurück kehrte. Aber dass es ausgerechnet ein Vampir war … das war es, was ihn am meisten traf. Ausgerechnet eine jener Kreaturen, die zu ihren ab soluten Feinden zählten! Nun, ab heute würde es dieses Problem nicht mehr geben. Tan Morano starb an diesem Tag. Und damit war die Angelegenheit er ledigt. Zamorra ging zur Zimmertür und schloss sie. Nicht jeder, der draußen auf dem Korridor vorbeiging, musste einen neugierigen Blick hineinwerfen. Danach sah Zamorra sich im Zimmer um. Er durchsuchte das Gepäck des Vampirs. Aber es gab nichts, was für ihn von Interesse war. Er konnte es hier zurücklassen. Mochten sich andere darum küm mern. Plötzlich tauchte Gryf wieder auf. Zamorra sah ihn fragend an. »Alles in Ordnung? Hat es geklappt?« »Lass uns von hier verschwinden«, erwiderte der Druide. »Es ist vorbei.« Er streckte die Hand nach Zamorra aus. »Nicole hat es also geschafft?« »Hast du jemals erlebt, dass sie etwas nicht schafft?«, stellte Gryf
die Gegenfrage. »Komm jetzt, oder hält dich hier noch etwas? Im Château ist es sicher gemütlicher als in dieser Bude.« Zamorra nickte. Irgendetwas an dem Druiden wollte ihm nicht ge fallen. Er antwortet wie ein Politiker, dachte er. Er erzählt viel, aber er sagt nichts. Dennoch ergriff er die Hand des Druiden und ließ sich mit ihm in den zeitlosen Sprung zum Château Montagne ziehen. Er fragte sich, was der Mann an der Rezeption denken würde, wenn Zamorra nicht wieder unten auftauchte, und wenn man feststellte, dass auch Tan Morano fort war und er nie zurückkehren würde … Aber das war nicht Zamorras Problem.
Gino diSarko spürte die Anwesenheit eines mächtigen Vampirs. Aber es hatte sich doch kein Besuch angemeldet! Wer drang hier un erlaubt ein? Minuten später wusste er es, als sein Wachpersonal sich nicht mel dete und er Cervocampo fand. Mit einem Eichenpflock im Herz, und mit einem Zettel zwischen den Zähnen. Wütend riss er dem To ten das Papier aus dem Mund und las den mit Cervocampos Blut geschriebenen Text. Danke ab! Oder du stirbst wie dieser hier. Ich kann dich überall finden und töten, aber du weißt nicht, wo ich bin. Gib zurück, was mir zusteht. Dann darfst du leben. Eine Unterschrift gab es nicht, aber Gino wusste auch so, wer ihn heimgesucht hatte. Sarkana! Er war hier, ganz in der Nähe! Das Blut war noch nicht restlos getrocknet. Gino spürte, wie die Präsenz des anderen Vampirs schwächer wurde. Er war nicht mehr
im Haus, er entfernte sich. Gino rannte nach draußen. Er sah nichts von Sarkana, aber er hörte einen Automotor, dessen Geräusch rasch leiser wurde. In der Nacht wäre es ihm leicht gefallen, seine Fluggestalt anzu nehmen und dem Fahrzeug durch die Luft zu folgen. Aber es war noch Tag, die Sonne schien. Gino konnte sie für eine Weile ertragen, aber nur in Menschengestalt und bekleidet. Sarkana hatte den Zeitpunkt für seine Attacke sehr gut gewählt. Er entkam, und Gino konnte ihm nicht folgen. Er konnte ihm nicht ein mal seine Wächter hinterher jagen. Sie waren tot. Während Gino bis zum Tor lief, hatte er sie gesehen, und auch die beiden Wolfshunde. Sarkana hatte ganze Arbeit geleistet. Gino ballte die Fäuste. Er musste Sarkanas Drohung ernst nehmen. Der konnte ihn tatsächlich überall finden und töten. Sein Eindringen in die Villa war der beste Beweis. »Du schmutziger alter Mann«, murmelte Gino diSarko hasserfüllt. »Du bist tot! Tot! TOT!« Er schrie es hinaus. Aber es änderte nichts. Gib zurikk, was mir zu steht, Sarkana wollte wieder das Oberhaupt aller Familien werden. Er war jetzt nicht mehr der Gejagte, er hatte zum ersten Mal zurück geschlagen. Und er würde es immer wieder tun. So lange, bis er er reicht hatte, was er wollte. Aber Gino hatte sich in den letzten Jahren an die Macht gewöhnt. Er wollte sie nicht mehr abgeben, nicht einmal teilen. Langsam kehrte diSarko in die Villa zurück. Etwas Ungeheuerli ches war geschehen: Jemand hatte das Oberhaupt aller Familien an gegriffen und bedroht! »Ich werde«, knurrte diSarko, »eine Versammlung einberufen. Wir werden Sarkana ächten, und dann werden wir ihn jagen bis ans Ende der Welt.«
Tan Morano sah sich um und versuchte, sich zu orientieren. Er be fand sich am Rand eines kleinen Waldstücks. In der anderen Rich tung gab es weite Felder, und er sah eine Straße und Hochspan nungsmasten einer Stromleitung. Er ging auf die Straße zu. Dabei dachte er darüber nach, was Gryf ihm mitgeteilt hatte. Sarkana spann also wieder seine Intrigen! Bis heute hatte Morano nicht begriffen, weshalb sich Sarkana ge gen ihn stellte. Tan hatte ihm nie seine Position als Oberhaupt der Familien streitig gemacht. Er wollte nicht herrschen. Das hatte er auch Sir Albert Woltingshire begreiflich zu machen versucht, als dieser ihm den Beschluss der Versammlung mitteilte, ihn, Morano, zum neuen Oberhaupt zu wählen anstelle des Sarkana-Nachfolgers diSarko. Morano wollte einfach nur seine Ruhe haben. Und er wollte ein fach nur wieder seine einstige Domäne England unter Kontrolle nehmen können. Warum dann dieser Streit, dieser Hass? Es konnte höchstens daran liegen, dass vielleicht Angehörige der Sarkana-Familie Moranos Besitz unter sich aufgeteilt hatten in jenen Jahrhunderten, als Morano verschollen war. Das war an sich nor mal, denn man durfte einen Machtbereich nicht einfach verwaisen lassen. Irgendwer musste die Kontrolle übernehmen. Aber wenn der ursprüngliche Herr wieder auftauchte, sollte es doch normal sein, ihm zurückzugeben, was ihm zustand. Früher, vor tausend und mehr Jahren, war es jedenfalls so gewe sen. Aber Vampire wie Sarkana dachten in dieser Hinsicht wohl an ders. Sie pochten darauf, dass die Zeiten sich allgemein geändert hatten und mit ihnen Sitten und Gebräuche. Andererseits gehörte doch gerade Sarkana eher zu den Traditionalisten. Morano fragte sich, woher Sarkana wusste, wo er zu finden war. Und er musste wieder an Sir Albert Woltingshire denken, der ihn in seinem Hotel aufgesucht hatte. Er dachte auch an die Bemerkung
Woltingshires, Morano werde seine Entscheidung noch bereuen, die Wahl nicht anzunehmen. Sir Albert war der einzige, der gewusst hatte, wo Tan Morano zu finden war! Er musste Sarkana informiert haben! Er war der Verräter! Während er darüber nachdachte, erreichte Morano die Straße. Sie war schmal, und wenn sich zwei Autos hier begegneten, wurde es mehr als eng. Aber so wie es aussah, fuhr hier morgens ein Auto hin und abends eines zurück … Eine Viertelmeile weiter erreichte Morano eine Kreuzung. Einer der Wegweiser sagte ihm, dass er sich nicht weit von der kleinen Stadt entfernt befand, in der er sein Hotelzimmer bewohnte. Das gab ihm Auftrieb. Er beschleunigte seine Schritte und näherte sich der Stadt. Es wurde Zeit, seinerseits Sir Albert Woltingshire einen Besuch abzustatten …
Nicole Duval wartete. Nichts geschah. Über eine Stunde lang! Da lief doch etwas nicht nach Plan. Sie wartete noch einmal eine Viertelstunde, dann rief sie über ihr Handy Zamorra an. Der Profes sor meldete sich nicht, und das Display zeigte Nicole an, dass die Rufumleitung aktiviert wurde, die sie mit der Visofonanlage von Château Montagne verband. Sie wollte schon abbrechen, als die far bige Anzeige wechselte. Sie zeigte das Kaminzimmer des Châteaus, und ein paar Meter von der Aufnahmeoptik des Bildtelefons ent fernt erkannte sie Zamorra – und Gryf. Die beiden waren also wie der zu Hause! Aber wo war der Vampir? »Nicole!«, stieß Zamorra beunruhigt hervor. »Was ist passiert? Wir warten auf dich und …« »Nichts ist passiert!«, erwiderte sie. »Absolut nichts! Deshalb rufe
ich ja an.« Die Bildübertragung war durch den kleinen Schirm nicht beson ders gut und hakte auch ein wenig. Die TI-alpha-Mobiltelefone der Tendyke Industries-Tochterfirma Satronics waren zwar kleine Alles könner, die nicht nur UMTS-fähig waren und Fotos mailten, son dern auch als Bildtelefone zur Visofon-Anlage im Château kompati bel waren, aber Nicole schien in einem ungünstigen Funkbereich zu sein. Zuweilen flirrte das Bild, brach zusammen und wurde dann wieder neu aufgebaut. Wie auch immer, direkte Reaktionen von Za morra und Gryf auf ihre Worte konnte sie nicht deuten. »Was heißt das?«, fragte Zamorra. »Dass Morano bis jetzt nicht hier aufgetaucht ist!«, sagte Nicole verärgert. »Gryf, du solltest ihn doch hierher bringen!« »Ich glaube, ich gehe jetzt lieber«, hörte sie den Druiden leise sa gen. Die Bildübertragung zeigte ihr, dass Zamorra ihn festhielt. »Du bleibst hier, mein Freund. Kann es sein, dass du uns einiges zu er klären hast?« »Scheiße!«, blaffte Nicole, schaltete ab und klemmte das Handy wieder an den Gürtel. Dann verließ sie ihre Deckung und rannte zu den Regenbogenblumen hinüber, um sich ins Château zurückverset zen zu lassen. Sie war sicher, dass sie den Keller selten so schnell durchquert hat te wie diesmal, hetzte die Treppe hinauf, in die große Eingangshalle mit den Ritterrüstungen, und dann zum Kaminzimmer. Gryf hockte wie ein Häufchen Elend im Sessel. Zamorra wanderte wie ein hungriger Tiger im Zimmer auf und ab. Das Kaminfeuer flackerte wie von der Unruhe infiziert, hin und wieder knackte das heiße Holz. »Was ist passiert?«, wollte Nicole wütend wissen. »Ich warte auf Morano, bis mich der Efeu überwuchert, und ihr zwei hockt hier und …«
Zamorra deutete auf Gryf. »Er sagte, du hättest Morano erledigt, und brachte mich hierher zurück. Seitdem warten wir auf dich.« »Moment!«, wehrte sich der Druide. »Das habe ich so nicht gesagt, sondern nur, dass es vorbei ist.« »Und wo ist Morano?«, fuhr Nicole ihn an. »Warum hast du ihn nicht in deine Hütte gebracht?« Gryf sah zu Boden. »Ich konnte es nicht«, sagte er leise. »Ich kann nicht verlangen, dass ihr das versteht. Aber … es wäre doch dasselbe gewesen, als hätte ich ihn von Zamorra töten lassen. Es ging einfach nicht. Ich kann doch nicht meinen Lebensretter ans Messer liefern. Ganz egal, ob es ein Mensch, ein Silbermond-Druide oder ein Dämon ist!« »Das hatten wir doch schon diskutiert«, fuhr Zamorra ihn an. Er wollte nicht glauben, was er da hörte, obgleich er es beinahe geahnt hatte, nach Gryfs etwas seltsamem Verhalten. »Du rettest ihn vor mir, ihr seid quitt, und Nicole …« »Es war dieselbe Aktion, es war nur eine Aktion, nicht zwei«, ver teidigte sich Gryf. »Begreift ihr das nicht? Immer noch nicht? Ich konnte nicht anders handeln.« »Wo ist Morano jetzt?« »Ich weiß es nicht«, sagte Gryf. »Ich habe ihn außerhalb der Stadt abgesetzt. Aber ich glaube nicht, dass er sich jetzt noch da befindet, oder wieder in sein Hotelzimmer zurückgekehrt ist. Ich habe ihm gesagt, dass Sarkana seinen Aufenthaltsort kennt und ihn uns verra ten hat.« »Warum hast du ihm nicht gleich auch noch ein Flugticket be sorgt?«, stöhnte Zamorra auf. »Hast du den Verstand verloren? Warum machst du so etwas? Du bist uns in den Rücken gefallen, wie es noch nie jemand geschafft hat.« Der Druide sah immer noch den Teppich an. »Ich konnte nicht an ders«, sagte er. »Meinetwegen kündigt mir jetzt die Freundschaft …
aber: was hättet ihr an meiner Stelle getan?«
Das war eine verdammt gute Frage. Weder Zamorra noch Nicole wussten, wie sie darauf ehrlich antworten sollten. Sie nahmen diese Frage mit in die Nacht. Gryf hatte sich schon früh in das Gästezimmer zurückgezogen, das immer für ihn bereit stand, war er doch ein gern gesehener Gast. Bis jetzt, dachte er. Bis jetzt. Aber wie wird es zukünftig sein? Ich habe meine Freunde enttäuscht. Ich habe sie sogar gewissermaßen verraten, wenn man es ganz streng sieht. Ihr habe ihren Plan durchkreuzt und Nico le um ihre Rache betrogen. Und das nur, um mein eigenes Ehrgefühl nicht anzukratzen, meine Prinzipien nicht zu verletzen. Aber muss man nicht hin und wieder auch mal seine Prinzipien zurückstellen? Ist Ehre wirklich so wichtig? Wer wird es mir denn danken, außer mir selbst? Ich habe meine Freunde enttäuscht, um mich selbst nicht zu enttäu schen. Ich habe einem Vampir Freiheit und Leben geschenkt … ausgerech net einem Vampir! Einem Todfeind! Vampire haben die Menschen in mei nem Dorf massakriert. Vampire versklaven Menschen, nehmen ihnen die Freiheit und das Blut. Sie töten bedenkenlos. Und ich? Ich lasse eine solche Bestie laufen, nur weil sie mir das Leben gerettet hat! Und das nicht aus Humanität, sondern aus eiskaltem Kalkül! Hat Morano es verdient, wie ich ihn behandelt habe? Aber ich kann doch nicht zum Verräter an mir selbst werden … War er nicht stattdessen zum Verräter an seinen Freunden gewor den? In dieser Nacht fand Gryf ap Llandrysgryf keinen Schlaf. Was war richtig, was war falsch? Er wusste es nicht, er fand den Ausweg aus dem Dilemma nicht. Aber er hasste Tan Morano jetzt nur noch um so mehr, weil dieser Vampir es auch noch geschafft hatte, einen Keil zwischen ihn und seine Freunde zu treiben. Fast wünschte er sich, damals nicht geret
tet worden, sondern gestorben zu sein. Aber all das lag nicht in seiner Hand. Wie auch immer: Fortan war die Jagd wieder offen. Die Schuld war beglichen. Und die Drohung Moranos wegen des einstigen Pfählens war auch noch da. Tan Morano war wieder Feind. Wenn Zamorra und Nicole dem Druiden nicht die Freundschaft aufkündigten, war er in Sachen Morano ab jetzt wieder ihr Verbün deter; ein zuverlässiger Verbündeter. Mehr denn je war er daran in teressiert, diesen Vampir zu vernichten. Auszulöschen, auszutilgen. Nicht einmal Staub von ihm übrig zu lassen. Die Gewissensqual, die Demütigung … das war mehr, als Gryf er tragen wollte. Er, der eigentlich immer als der strahlende Sonnyboy galt. »Ich bringe dich um, Tan Morano«, flüsterte er. »Und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben tue!« Genau dasselbe sagte in einem anderen Zimmer im gleichen Mo ment Nicole Duval und fügte hinzu: »Nicht mehr nur, weil er mich verführte, sondern auch, weil er Gryf in eine ausweglose Lage ge bracht hat. Chef, er versucht uns auseinander zu dividieren. Teile und herrsche …« Zamorra, neben ihr ausgestreckt auf dem Bett, schloss die Augen. »Er ist ein Meister der Intrigen«, sagte er. »Und er ist unglaublich clever. Er hat uns eine Menge voraus. Ich bin froh, dass nicht er Fürst der Finsternis ist, sondern die recht dümmliche Stygia. Gegen Morano hätten wir kaum eine Chance.« »Wir haben eine Chance«, widersprach Nicole. »Und zwar jetzt. Wir müssen am Ball bleiben, wir müssen ihn hetzen. Er darf nicht mehr zur Ruhe kommen.« »Aber wir werden ihn nicht mehr finden«, sagte Zamorra. »In die sem Punkt dürfte Gryf Recht haben – er hat längst seinen Standort gewechselt.« »Aber …«
Zamorra öffnete die Augen wieder, rollte sich auf die Seite und legte Nicole den Zeigefinger auf die Lippen. »Auch wenn es dir gar nicht gefällt«, sagte er, »und mir ebensowe nig: Überlasse es Gryf, ihn zu finden und zu töten. Gryf ist jetzt frei, und er wird alles tun, Morano unschädlich zu machen. Er hat uns gegenüber etwas gutzumachen, und er wird nicht eher ruhen, bis Morano Staub ist. Wir dagegen kümmern uns um Sarkana, d'accord?« »Aber nicht mehr in dieser Nacht«, flüsterte Nicole und knabberte an Zamorras Finger. Sie schmiegte sich eng an ihren Gefährten. »Halt mich fest, ganz fest … ich brauche dich …« Stunden später schliefen sie ein, erschöpft und entspannt. Die wir ren, düsteren Gedanken bekamen keine Chance.
In dieser Nacht geschah noch etwas. Sarkana erreichte, aus Lyon kommend, mit einem Mietwagen das kleine Dorf unterhalb des Châteaus. Er wusste, nach wem er suchen musste. Charlotte wohnte allein. Sie war bei ihren Eltern ausgezogen, weil sie nicht wollte, dass diese ständig über ihr Liebesleben Protokoll führten. Natürlich bekamen sie alles mit, immerhin war das Dorf klein. Aber sie konnten keine ständige Kontrolle mehr ausüben. Das Geld war es Charlotte wert, das sie für die kleine Wohnung am an deren Ende des Ortes bezahlte. Auch wenn der Vermieter, dessen Frau vor zwei Jahren gestorben war, zu viel redete. Wenn der erst mal anfing, hörte er vor Jahresende nicht wieder auf zu quasseln. Aber damit konnte Charlotte einigermaßen leben; sie schaltete ihre Ohren einfach auf Durchzug. Hier im Ort eine Wohnung zu finden, war einfach. Die meisten jungen Leute wanderten ab in die Städte, wo sie Ar beit bekamen, die besser bezahlt wurde und leichter war als die Ar
beit in den Weinbergen oder auf den Feldern des Dorfes. Und die Alten starben nach und nach aus. Längst standen einige Häuser leer. Deren Erben wollten hier nicht mehr wohnen. Sie kamen allenfalls hin und wieder noch zu Verwandtenbesuchen. Charlotte gehörte zu denen, die hierbleiben wollten, so lange es möglich war. Und irgendwann, eines Tages, wenn ihre Eltern star ben, würde sie deren Haus übernehmen. Das dazugehörige Land würde sie vermutlich verpachten oder verkaufen. Das hatte sie mit den Eltern längst abgeklärt; die hatten ihr dazu geraten. Aber das Haus wollte sie behalten. Das war ihre Heimat. Nur jetzt nicht, da sie lieber allein leben wollte. Da konnte sie tun und lassen, was sie wollte, ohne dass ihr ständig jemand dreinrede te. Gerade vor einer Viertelstunde hatte sie Bertrand verabschiedet. Er gehörte zu der kleinen, wilden Clique, zu der sie sich vor etlichen Jahren zusammengeschlossen hatten. Nein, diesmal war sie nicht mit ihm ins Bett gegangen wie in anderen Fällen mit ihm, mit Frede ric und auch schon mal mit Corinne, sondern sie hatten einfach nur zusammengesessen und geplaudert. Sie räumte ein wenig auf, nahm den letzten Schluck direkt aus der Flasche und brachte die Weinglä ser und den Aschenbecher zum Spülen in die Küche, als die Türklin gel anschlug. Sie sah auf die Uhr; es war bereits eine Stunde nach Mitternacht. Wer wollte um diese ungewöhnliche Zeit noch etwas von ihr? Hatte Bertrand etwas vergessen, oder packte es ihn plötzlich, doch noch mit Charlotte das Bett zu teilen? Nicht, dass sie etwas dagegen ge habt hätte … Sie ging die Treppe hinab zur Haustür. Vorhin, als sie Bertrand verabschiedete, hatte sie sie abgeschlossen, wie es der Vermieter verlangte. Jetzt musste sie sie wieder aufschließen, um zu sehen, wer etwas von ihr wollte. Sie öffnete die Tür. Vor ihr stand ein völlig fremder Mann.
»Was – was wollen Sie? Wer sind Sie?«, fragte Charlotte. Der Fremde sagte kein Wort, aber er deutete mit zwei Fingern sei ner linken Hand auf Charlottes Augen. Irgendwie verschwamm alles um sie herum. Dass sie dem Fremden in sein Auto folgte, begriff sie nicht. Eben sowenig, dass sie die Haustür weit offen stehen ließ.
Sir Albert Woltingshire zeigte sich alles andere als begeistert von Tan Moranos Besuch. »Sie kommen zu einem sehr ungünstigen Zeit punkt, mein Lieber«, sagte er. »Gerade bin ich dabei, dieses Haus zu verlassen.« »Wohin treibt es Sie?«, fragte Morano. »Das wissen Sie nicht? Haben Sie keine Einladung erhalten?« »Nein. Wohin?« »Nach Rom«, sagte Woltingshire. »Ach ja, ich vergaß – Sie haben ja abgelehnt, das neue Oberhaupt zu werden, und die Einladung stammt von Gino diSarko. Das dürfte der Grund sein, weshalb man Sie nicht informierte.« Morano nickte. »Das wird es sein«, sagte er. »Nun, wir werden wohl beide nicht an dieser Versammlung teilnehmen.« »Was soll das heißen?«, fragte Woltingshire. »Ganz einfach«, sagte Morano. »Sie sind ein Verräter, Sir Albert. Sie haben mir die Vampirjäger auf den Hals gehetzt. Wundert es Sie nicht, dass ich noch lebe?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Woltingshire. »Ich rede davon, dass Sie als Einziger wussten, wo ich Unterkunft gefunden habe. Dass Sie dieses Wissen an Sarkana weitergaben.« »Das ist eine böse Unterstellung!«, fuhr Woltingshire auf. »Wer sagt so etwas?« »Ein Vertrauter.«
»Er lügt.« »Dieser Vertraute hat keinen Grund zum Lügen«, sagte Morano. »Sie sind erledigt, Sir Albert. Haben Sie noch irgendeinen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen kann?« Woltingshire starrte ihn an. Er sah in Moranos Augen, wie ernst er die Sache nahm. »Sie müssen den Verstand verloren haben, Morano«, sagte Wol tingshire. »Gehen Sie. Besinnen Sie sich.« »Ich war nie mehr bei Sinnen als jetzt«, sagte Morano. »Und ich hasse Verrat. Sie sind tot, Sir Albert.« »Das – das wagen Sie nicht«, keuchte Woltingshire. »Der Kodex! Kein Vampir tötet einen anderen!« »Ja, Sir Albert, da haben wir ein kleines Dilemma, nicht wahr? Sie haben den Kodex ein wenig umgangen. Sie haben natürlich nicht selbst versucht, mich umzubringen. Sie haben stattdessen andere vorgeschickt. Das ist aber nichts anderes, als hätten Sie es selbst ge tan.« »Das ist nicht wahr!«, schrie Woltingshire, der sich wirklich keiner Schuld bewusst war. Er entsann sich, dass er Pierre Gaullet Moranos Aufenthaltsort genannt hatte. Aber Gaullet war doch niemand, der gleich zum Feind lief und … Oder …? Morano ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken. »Im Gegensatz zu Ihnen, Sir Albert, bin ich ehrlich«, sagte er. »Ich schicke keinen ande ren vor. Ich erledige das selbst. Ich werde Sie jetzt töten.« »Das dürfen Sie nicht!«, schrie Woltingshire. »Interessiert das jemanden?«, fragte Morano und griff an. Woltingshire war ein starker Gegner, der sich verzweifelt wehrte und mit allen verfügbaren Mitteln um sein Überleben kämpfte. Aber die Mittel reichten nicht. »Staub zu Staub«, murmelte Tan Morano und ging.
9. Jäger und Fallensteller Irgendwann erwachte Charlotte. Sie stellte fest, dass sie sich in ei nem Kellerraum befand. Aber garantiert nicht in ihrem eigenen, und auch nicht in dem ihres Elternhauses. Es war also kein Albtraum, sondern böse Wirklichkeit – jemand hatte sie entführt! Sie lag halb auf der Seite; der Entführer hatte ihre Füße gefesselt und ihre Hände auf dem Rücken zusammengebunden! Ihr Versuch, sich von der Fesselung zu befreien, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Der unheimliche Fremde hatte ganze Arbeit geleistet. Und es gab in diesem Keller auch nichts, was sie als Schneidewerkzeug verwenden konnte. Nicht einmal eine Glasscher be. Durch ein kleines, vergittertes Fenster drang etwas Tageslicht. Aber es reichte nicht aus, den Kellerraum richtig zu erhellen. Die Luft roch nach Moder und Nässe. Vermutlich waren die Wände nicht richtig isoliert. Und sie hatte ein Problem, das allmählich größer wurde. Am gest rigen Abend hatte sie mit Bertrand zusammen den zweitgrößten Feind des Menschen, den Alkohol, bekämpft und in diesem Sinne zwei Flaschen Wein niedergemetzelt. Ihre Blase machte sich immer nachhaltiger bemerkbar. Aber wie sollte sie sich erleichtern, wenn sie durch ihre Fesselung beinahe bewegungsunfähig war? Sie begann laut zu schreien. Nach einer Weile tauchte ihr Entführer tatsächlich auf. Er schaltete die Deckenlampe ein. »Hören Sie mit dem verdammten Geschrei auf!«, fuhr er sie zornig an. »Wie soll man da ruhig schlafen können?« »Sie verfluchter Zyniker!« schrie sie ihn an. »Sie reden von Schlaf,
nachdem Sie mich entführt haben? Ich muss zur Toilette, schnells tens!« Er sah sie nachdenklich an. Sie hatte ihrerseits Gelegenheit, ihn zu betrachten. Er war alt, schätzungsweise um die 60, und im gelblichen Licht der nackten Glühbirne in der am Kabel von der Decke herabbaumelnden Fas sung wirkte sein Gesicht totenblass. Er sah aus wie der wandelnde Tod, fand sie. »Erst müssen Sie etwas für mich tun«, sagte er. »Haben Sie nicht zugehört?«, fuhr sie ihn an. »Es ist dringend! Ich muss …« »… ein paar Worte sprechen«, sagte er kalt und nahm ein Handy aus der Jackentasche. Mit einem Tastendruck wählte er eine vorein gestellte Rufnummer an. Charlotte wand sich. »Hören Sie, ich kann doch nicht …« »Still!«, fauchte ihr Entführer. »Oder ich paralysiere Sie wieder. So wie vorhin …« Er hielt das Handy ans Ohr. »Ah, hier ist ein guter Freund von Ihnen, Professor Zamorra«, sag te er. »Ich habe Ihnen Hinweise zukommen lassen, wo Sie Tan Mo rano finden. Töten Sie ihn.« Er lauschte kurz. Dann sagte er: »Weil ich sonst meine Geisel töte. Sie kennen sie. Es ist eines der Mädchen aus Ihrem Dorf. Möchten Sie mit ihr reden? Bitte …« Er hielt das Handy vor Charlottes Gesicht. »Sagen Sie etwas«, zischte er. »Schreien Sie um Hilfe.« Sie blieb stumm. Da kniff er ihr in den Oberschenkel, dass sie vor Schmerz aufschreien musste. »Hier ist Charlotte«, keuchte sie dann. »Helfen Sie mir. Er ist wahnsinnig!« Der Totenbleiche nahm das Handy wieder zu sich zurück. »Haben
Sie es gehört, Professor? Das Mädchen stirbt, wenn Sie Morano nicht töten, aber vorher trinke ich ihr Blut. Und Sie können es nicht ver hindern. Sie wissen nicht, wo ich bin. Ihr Pech. Also handeln Sie.« Er lauschte wieder. »Ich will einen Beweis«, verlangte er dann. »Bringen Sie mir seinen Kopf.« Dann, nach einer kurzen Hörpause: »Dann bringen Sie mir den Druiden. Wenn ich sicher bin, dass Morano tot ist, lasse ich das Mädchen frei. Sie haben exakt sechs Stunden Zeit.« Danach: »Das ist Ihr Problem, Professor. Sie verfügen über ent sprechende Möglichkeiten, ich weiß es. Und ich weiß auch, dass Sie mich innerhalb dieser sechs Stunden niemals finden werden. Und selbst wenn, wird es zu spät sein, denn wenn Sie ohne einen Beweis für Moranos Tod erscheinen, stirbt das Mädchen sofort!« Dann schaltete er das Handy ab. »Kann ich jetzt endlich zur Toilette?«, keuchte Charlotte. »Selbstverständlich.« Er löste ihre Fußfesseln. »Aber kommen Sie nicht auf dumme Gedanken!«
Am anderen Ende der Verbindung war jemand während des Ge sprächs sehr wach geworden. Der Anruf hatte ihn und Nicole aus dem Schlummer gerissen. Zamorra hatte das Gespräch noch im ge meinsamen Schlafzimmer entgegengenommen. »Das ist Sarkana«, sagte Zamorra. »Und er glaubt meine Behaup tung nicht, dass Gryf Morano getötet hat. Er will einen Beweis …« »Den niemand von uns erbringen kann«, begriff Nicole düster. »Das heißt, er wird Charlotte töten. In sechs Stunden. Warum ausge rechnet sie?« »Weil er ihre Adresse kannte«, sagte Zamorra. »Denke an den Brief, den er ihr geschickt hat und der eigentlich an uns gerichtet war. Er kennt sich hier aus. Vielleicht hat er sich umgeschaut, wäh
rend wir anderswo in der Welt unterwegs waren. Dann war er so gut wie ungestört.« »Denkst du, wir können ihn in diesen sechs Stunden finden?« Zamorra nickte. »Sicher.« Er nahm sein und Nicoles Handy an sich und wechselte vom Schlafzimmer in sein Büro. Drei Bildschirmar beitsplätze standen an dem hufeisenförmig geschwungenen Schreib tisch zur Verfügung. Zamorra aktivierte einen von ihnen und rief über den Computer die Telefonnummer des Handys ab, mit dem der Vampir ihn angerufen hatte. Dann übertrug er diese Nummer in den Speicher der beiden Mobiltelefone. »Wofür ist das gut?«, fragte Nicole, die ihm ins Arbeitszimmer ge folgt war. »Reine Vorsichtsmaßnahme«, sagte er. »Frühstück fallt heute aus. Duschen, ankleiden, und dann hinunter ins Dorf.« »Du glaubst, dass Sarkana sich dort versteckt hält?« »Ich glaube, so leichtsinnig ist er nicht. Aber von dort aus können wir seine Spur verfolgen.« Eine halbe Stunde später stoppte der metallicsilbeme 740i vor dem Haus, in dem Charlotte wohnte. Zamorra und Nicole stiegen aus. Eigentlich hatten sie auch Gryf mitnehmen wollen. Aber er befand sich nicht mehr im Château, als Zamorra ihn wecken wollte. Er musste schon vor ein paar Stunden verschwunden sein. Ohne Ab schiedsgruß. Zamorra konnte ihn verstehen. Der Druide scheute eine weitere Konfrontation. Er musste erst einmal wieder mit sich selbst ins Rei ne kommen. Und vielleicht hatte er sich ja auch schon auf Moranos Spur gesetzt … Ganz sicher war Zamorra dessen allerdings nicht. Er ging davon aus, dass Gryf zunächst eher Zeit zum Nachdenken brauchte. Gerade, als Nicole den Zeigefinger auf den Klingelknopf legen wollte, schwang die Haustür auf. »Ach, ihr seid's«, sagte der alte Mann, dem das Haus gehörte. »Ihr
wollt sicher zu Charlotte. Da habt ihr aber Pech. Die ist nicht hier, und sie tut auch gut daran, mir so schnell nicht wieder unter die Au gen zu kommen.« »Weshalb?«, fragte Nicole. »Wie oft habe ich ihr gesagt, sie soll die Haustür abends von innen abschließen! Es gibt jede Menge Einbrecher auf der Welt, die nur auf unabgeschlossene Türen warten! Wie oft habe ich es ihr gesagt! Und heute früh stand ihre Wohnungstür sperrangelweit offen, und die Haustür ebenfalls! Die muss die ganze Nacht über offen gewesen sein! Um zehn Uhr habe ich mich zum Schlafen hingelegt, da war sie zu und abgeschlossen, das weiß ich! Da hatte Charlotte noch Besuch. Diesen Bertrand Sasson. Mich geht's ja nichts an, was sie treibt und mit wem sie es treibt, aber verdammt noch mal, sie soll die Tür ab schließen! Hat sie nicht gemacht, die Tür stand weit offen und …« Zamorra fragte sich, ob es eine Möglichkeit gab, den Redefluss des Alten irgendwie zu stoppen, ohne einen Knebel benutzen zu müs sen. »22 Uhr«, sagte er und gähnte. »Das sind jetzt etwa elf Stun den.« »… die Polizei gerufen«, redete der Alte derweil unverdrossen weiter. »Die haben meine Wohnung durchgesehen, aber wir haben nichts gefunden, das ein Einbrecher gestohlen haben könnte, Gott sei Dank …« Natürlich, dachte Zamorra. Was ein Einbrecher gestohlen hat, kann sich ja wohl nicht mehr an Ort und Stelle befinden, du Depp! »Und was ist mit Charlottes Wohnung?«, fragte Nicole. »… werde sie 'rausschmeißen, das werde ich! Wenn sie sich nicht an die Hausordnung halten kann, gehört sie nicht hierher! Stellt euch das mal vor! Da steht die Tür die ganze Nacht über sperrangel weit offen, und jeder kann nach Belieben ein- und ausgehen und al les leerklauen! Das ist einfach unglaublich! Sie kriegt die Kündi gung, fristlos! Ich will doch nicht ständig Einbrecher im Haus haben …« Zamorra und Nicole verzichteten darauf, ihn daran zu erinnern,
dass es in den letzten 20 Jahren in diesem Dorf nicht einen einzigen Einbruch gegeben hatte. Der einzige Dieb, der sich vor ein paar Jah ren mal hier herumgetrieben hatte, trug einen roten Pelz und hatte in Pater Ralphs Hühnerstall die totale Panik ausgelöst. So lange, bis Gerard Fronton, der Ex-Legionär, sein Gewehr aus dem Schrank holte und eines Nachts ein Schuss die Dorfbewohner aufschreckte. Von einer Mordanklage hatte man allerdings abgesehen, und der Kopf des Hühnerdiebs hing jetzt als Trophäe in Frontons Wohnzim mer. »Was ist mit Charlottes Wohnung?«, wiederholte Nicole ihre Frage laut und energisch. »Hat die Polizei sich auch da umgesehen?« »… bin doch nicht lebensmüde und lasse mich von einem Einbre cher ermorden …« »Ruhe jetzt! Nicht reden, zuhören! Und antworten!«, donnerte Zamor ra den Alten an. »Ist das denn zu fassen?« Der Mann zuckte zusammen. »Äh, was bitte? Ach so. Pardon, mein Junge, ich glaube, manchmal rede ich etwas zuviel. Das pas siert mir immer, wenn ich wütend bin, und ich bin jetzt sehr wü tend! Da lässt dieses Mädchen einfach die Haustür …« »Es reicht«, sagte Zamorra. »Wo ist der Knopf zum Abschalten?« Nicole nahm ihn bei der Hand und zog ihn an dem alten Mann vorbei ins Haus und die Treppe hinauf. Der Alte verstummte end lich und sah den beiden erstaunt nach. »Er kann nicht mehr anders«, vermutete Nicole leise. »Er ist allein. Allein und einsam. In der Dorfkneipe sehen wir ihn doch kaum mal. Vermutlich hat er irgendwann mit Selbstgesprächen angefangen, und inzwischen kann er nicht mehr unterscheiden, ob er mit sich oder mit anderen redet. Solche Menschen brauchen Hilfe, kein An schnauzen. Bedenke, er ist über 90!« Zamorra seufzte. »Trotzdem ist es nervtötend«, sagte er. »Warte ab, bis wir beide in sein Alter kommen. Vielleicht werden wir dann genauso.«
»Wir sind beide unsterblich durch das Wasser der Quelle des Le bens…« »Ja. Unsere Körper altern nicht mehr. Was ist mit unserem Geist? Bleibt der auch ewig jung? Schau dir Merlin an. Er wird immer wunderlicher.« »Der ist aber auch ein paar Jahrtausende älter als wir …« Nicole zuckte mit den Schultern. Inzwischen hatten sie Charlottes Wohnung erreicht. Die Tür stand immer noch weit offen. Sie sahen sich um. Es gab keine Spuren einer gewaltsamen Entfüh rung. Und die Polizei, von der der alte Mann redete, war sicher auch nicht in dieser Wohnung gewesen. Vermutlich nicht mal im Haus; wahrscheinlich bildete er sich das nur ein. Bei fortschreitender Al tersdemenz waren echte Erinnerungen und Wunschdenken nicht mehr klar zu trennen. Der Mann benötigte Hilfe. Nicole beschloss, bei der nächsten Gelegenheit mit Pater Ralph darüber zu reden. Der konnte diese Hilfe am ehesten organisieren. Zamorra nahm sein Amulett zur Hand. »Zeitschau?«, fragte Nicole. Er nickte. Es handelte sich um maximal elf Stunden; eine Verfolgung war also durchaus möglich. Damit rechnete Sarkana sicher nicht. Der Professor versetzte sich in die nötige Halbtrance und ging in der Zeit zurück. Tatsächlich zeigte das Amulett keine Polizei, die Nacht war ruhig, und dann, gegen ein Uhr nachts, also sogar schon nach »nur« etwa acht Stunden, tauchte der Vampir auf. Er war in der Projektion deutlich sichtbar. Sarkana! Es gab nicht den geringsten Zweifel! Er hypnotisierte Charlotte und nahm sie mit sich. Willenlos folgte sie ihm. Zamorra hatte das Amulett wieder auf »Vorwärts« gepolt. Er ar beitete sich die Treppe hinab, und Nicole half ihm dabei, nicht zu stolpern und zu stürzen. Unten stand immer noch der alte Mann. Er staunt sah er Zamorra an, der das Amulett in der Hand hielt und kaum noch auf seine Umgebung achtete. »Vielen Dank für die Hilfe«, raunte Nicole dem Alten zu und gab
ihm einen Kuss auf die Wange. Dann zog sie die Haustür hinter sich und Zamorra zu, und ehe der Alte sich von seinem Erstaunen erho len konnte, waren sie bereits am Auto. Nicole half Zamorra beim Einsteigen und setzte sich hinter das Lenkrad. Sie hatte den anderen Wagen gesehen, den Sarkana benutzte; ein Blick auf das Amulett verriet es ihr. Sie blieben am Ball und folgten dem Wagen – Stunden nach der Tat, aber die Spur war längst noch nicht kalt.
Der Vampir hatte auch Charlottes Handfesseln lösen müssen, damit sie tun konnte, was sie tun musste. Aber darüber hinaus half es ihr wenig, sich vorübergehend wieder frei bewegen zu können. In der kleinen Toilette gab es nichts, was Charlotte von Nutzen hätte sein können. Es gab nicht einmal ein Fenster, durch das sie hätte flüchten können, nur eine Ventilatorbelüftung in der Wand. Sie musste also wieder zurück zu dem Vampir, er würde sie in den Kellerraum brin gen und erneut fesseln … und alles war wie zuvor. Fieberhaft überlegte sie, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab zu fliehen. Sie war ein Druckmittel des Vampirs gegen Professor Za morra. Sicher, der war bestimmt schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden, aber es war für ihn immer ein Risiko. Charlotte wollte es ihm möglichst ersparen. Aber wie? Oben an der Decke befand sich als einzige Lichtquelle eine kleine Lampe mit zwei Glühbirnen. Charlotte riss gut ein Dutzend Blätter Toilettenpapier von der Rolle, stellte sich auf den Schüsselrand und konnte die Lampe erreichen. Sie hatte Glück – das Abdeckglas war nicht verschraubt, sondern mit Spangen gesichert. Die konnte sie lö sen und drehte dann, vom Papier gegen die Hitze der Glühbirne ge schützt, eine der beiden heraus. Vorsichtig legte sie sie im Waschbe cken ab und befestigte das Lampenglas dann wieder. Es war jetzt zwar nur noch halb so hell, aber vielleicht merkte der Vampir das
nicht. Immer noch vom Papier geschützt, zerdrückte sie die Glühbirne. Zwei größere Scherben wickelte sie ein und steckte sie in die Gesäß tasche ihrer Jeans. Den Rest versenkte sie im Spülkasten. Das alles so geräuschlos wie eben möglich vonstatten gehen zu lassen, war nicht gerade einfach. Ganz zum Schluss betätigte sie die Spülung und verließ die kleine Kammer dann wieder. Der Vampir hatte auf sie gewartet. Er griff nach ihr und band ihr blitzschnell die Hände mit vorbereiteten Schlingen wieder zusam men, die er nur noch zuziehen und verknoten musste. Und diesmal band er sie nach vorn … Scheiße! Wie sollte sie jetzt an ihre Gesäßtasche mit den dünnen Glasscherben kommen? Der Vampir stieß sie von sich, wieder zurück in ihr Kellergefäng nis. Er versetze ihr einen Schlag, der sie auf die Pritsche fallen ließ. Sie konnte gerade noch verhindern, auf der Tasche zu landen … »Kommen Sie nicht auf irgendwelche dummen Gedanken!«, warn te er. »Ich weiß, dass Sie irgendetwas beabsichtigen. Lassen Sie es lieber. Es macht mir nichts aus, Sie zu töten.« »Das werden Sie doch ohnehin tun!« »Das hängt von Professor Zamorra ab«, sagte er, schaltete die De ckenlampe aus und verließ den Raum. Draußen knirschte der Schlüssel zweimal im Türschloss. Charlotte erhob sich vorsichtig wieder. Was nun? Wie sollte sie mit vorn gefesselten Händen ihre Gesäßtasche erreichen? Sie öffnete den Bund wieder und streifte die Jeans bis zu den Knien hinunter. Jetzt hatte sie Spielraum genug, mit ein paar Verrenkungen an die Tasche zu kommen und das eingewickelte Glas herauszunehmen. Dann begann sie, die Verschnürung an ihren Knöcheln durchzutren nen. Trotz ihrer Beweglichkeit kein einfaches Unterfangen, zumal sie nur wenig sehen konnte. Das kleine Kellerfenster ließ sehr wenig
Licht herein. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis die Schnittkante des Glases endlich durchkam. Jetzt endlich konnte sie wenigstens ihre Füße wieder frei bewegen und ein paar Schritte in ihrem Gefängnis tun – nachdem sie die Jeans wieder hochgezogen hatte. Sie ging zur Tür, knipste die Deckenlampe an und kehrte wieder zu ihrer Pritsche zurück. Nächster Schritt: die Beine so anwinkeln, dass die Schuhsohlen ge geneinander liegen. Die Glasscherbe zwischen den Sohlen einklem men und dann ganz vorsichtig damit beginnen, die Handfesseln aufzuschneiden. Schließlich war sie froh, zwei Scherben mitgenom men zu haben – die erste zerbrach unter falschem Druck in viel zu kleine Fragmente. Aber dann war sie endlich frei. Jetzt musste sie nur noch einen Weg finden, aus diesem Kellerloch zu entkommen. Das kleine Fenster schied aus; da passte nicht ein mal ein Kind hindurch, und zudem war es vergittert. Also blieb nur die Tür. Die war abgeschlossen. Und es gab nichts, was sie als Werk zeug verwenden konnte, um das Schloss zu knacken. Der Dorn ihrer Gürtelschnalle vielleicht – aber den müsste sie da für zurechtbiegen. Das Werkzeug dafür fehlte ihr. Sie lehnte sich neben der Tür an die Wand. Direkt neben dem Lichtschalter. Und plötzlich kam ihr eine Idee. Vorhin hatte der Vampir das Licht eingeschaltet, als er den Kellerraum betrat. Sicher würde er das beim nächsten Mal auch tun. »Na warte, Freundchen«, murmelte sie. »Damit erwische ich dich …«
Nicole fuhr, und Zamorra sagte ihr den Weg an, den ihm die Zeit schau verriet. Ihre anfängliche Hoffnung, Sarkana verstecke das
Mädchen und sich in einem der leerstehenden Häuser des Dorfes, erfüllte sich nicht. Sarkana fuhr nach Süden, in Richtung Veauche, wo er von der Hauptstraße abbog. Die beiden Jäger folgten ihm wei ter. Seinen Zeitvorsprung konnten sie nicht einholen, da sie sich vor sichtig orientieren mussten und die Strecke ohnehin nicht weit ge nug war, aber es reichte schon, ihm örtlich näher zu kommen. Er würde eine Überraschung erleben. Sie verließen Veauche. Gut einen Kilometer hinter dem Ort befand sich ein kleines, verfallenes Haus. Nicole fuhr daran vorbei. »Stopp!«, rief Zamorra ihr zu. »Zurück … hier ist er von der Straße abgebogen, er …« »Ich weiß«, sagte Nicole. Ihr war klar, dass Zamorra bei seiner Konzentration auf die nächtlichen Vergangenheitsbilder seine weit räumige Umgebung vernachlässigen musste. »Ich habe seinen Wa gen gesehen. Er ist in diesem Haus. Du kannst die Zeitschau been den.« Zamorra löste sich aus der Halbtrance. Vorsichtshalber fror er das Vergangenheitsbild ein, um hier gleich wieder ansetzen zu können, falls es nötig wurde. Dann musste er sich nicht wieder durch den ganzen Zeitstrom hangeln, was Kraft und Zeit kostete. Er fühlte sich etwas müde. Auch wenn es nur wenig mehr als acht Stunden waren, die er überbrücken musste, machte sich das schon durch Kraftver lust bemerkbar. »Warum hältst du nicht an?«, fragte er, weil Nicole immer noch weiterfuhr. »Weil dein BMW ebenso wie mein Cadillac ein zu auffälliges Fahr zeug ist. Renault, Citroën, Fiat oder sogar Volkswagen gibt's hier an jeder Straßenecke. Aber einen 7er BMW nicht. Das muss Sar kana misstrauisch machen, wenn er gerade aus dem Fenster schaut, und noch mehr, wenn wir vor seiner Hütte vorfahren.« »Glaubst du im Ernst, er schaut um diese Tageszeit aus dem Fens ter?« »Trotzdem kann Vorsicht nicht schaden«, warnte Nicole. »Wir ma
chen uns zu Fuß an ihn heran.« Sie entdeckte einen Feldweg, von dem aus das Haus nicht zu se hen war, also musste es umgekehrt genauso sein. Sie parkte den BMW so, dass er jederzeit wieder auf die Straße hinaus fahren konn te, und dass ein Traktor noch an ihm vorbei kam. »Wir schleichen uns also an wie die Indianer«, brummte Zamorra. Er schätzte den Fußmarsch auf weit mehr als einen halben Kilome ter. Das war im Risikofall entschieden zu weit. Wenn sie Charlotte befreien konnten, ohne Sarkana dabei zu töten, hatten sie bei ihrer Flucht den Vampir im Nacken. Zamorra war sicher, dass Sarkana zu denen gehörte, die sich auch bei Tageslicht im Freien bewegen konnten. »Anschleichen?«, nörgelte Nicole. »Auf dem Bauch kriechen wie die Schlange nach der Vertreibung aus dem Paradies? Das ruiniert meine Kleidung! Die war teuer, Chef!« »Ich weiß«, seufzte Zamorra eingedenk seiner Kontoauszüge. »Entweder werde ich dir unverzüglich das Gehalt kürzen oder die Bekleidungszulage streichen müssen. – Am besten letzteres.« »Aber dann habe ich schon in ein paar Tagen nichts mehr anzuzie hen!«, protestierte Nicole. Zamorra grinste sie an. »Wie schön!«
Es dauerte eine Weile, aber Charlotte schaffte es, den Lichtschalter aus der Wand zu rupfen! Diesmal konnte sie den Dorn der Gürtel schnalle als Hebelwerkzeug benutzen, bis der Schalter so weit aus der Unterputzdose ragte, dass sie ihn mit bloßen Händen endgültig herausreißen konnte. Jetzt hing er nur noch an den beiden Stromka belenden. Sie klickte die Deckenlampe aus. Ihr reichte das verbliebene Däm merlicht. Noch einmal kräftig reißen, fluchen und wieder reißen –
und sie hatte den Schalter in der Hand, die beiden blanken Kabelen den ragten drohend aus der Unterputzdose. Sie ließ den Schalter fallen. Jetzt musste sie ganz vorsichtig sein. Sie bog die Kabelenden so, dass jeder, der blindlings den Schalter benutzen wollte, beide berühren musste. Charlotte war überzeugt, dass das auch einem Vampir Probleme bereiten musste. Wenn ihn der Elektroschock traf, hatte sie die Möglichkeit, an ihm vorbei zu flüchten, ihn vielleicht sogar noch in den Raum hineinzu stoßen, die Tür zuzuziehen und abzuschließen. Dann war er gefan gen … Da begann sie wieder laut zu rufen und hoffte, dass der Vampir so bald wie möglich reagierte.
Unterdessen hatten Zamorra und Nicole das Haus erreicht. Es wirk te verfallen und unbewohnt. Es gab keine Gardinen, die Fenster scheiben waren stark verschmutzt, eine von ihnen zerschlagen. Ge strüpp wucherte an der Fassade empor. Hier und da bröckelte der Putz von der Wand, einige Dachziegel fehlten. Es musste schon sehr lange leer stehen. Nur das Auto vor der Tür deutete darauf hin, dass sich derzeit jemand im Innern des Hauses befand. Zamorra trat an den Wagen, warf einen Blick durchs Fenster. »Nicht abgeschlossen, Türschlüssel steckt«, stellte er trocken fest. »Das finde ich äußerst zuvorkommend – das wird unser Fluchtwa gen, falls etwas schief geht.« Nicole befand sich bereits an der Haustür. »Komm«, drängte sie. »Ich kann ihn spüren!« »Er dich dann wohl auch«, seufzte Zamorra und aktivierte sein Amulett. Nicole löste den Blaster von der Magnetplatte an ihrem Gürtel und stellte ihn auf Lasermodus ein. »Ich werde ihn ein wenig ablenken«, sagte Zamorra und griff zum Handy. Er wählte die gespeicherte Rufnummer von Sarkanas Gerät
an. Irgendwo drinnen im Haus musste jetzt dessen Mobiltelefon klingeln. Es dauerte ein paar Sekunden, bis eine knarrende Stimme sich meldete. »Ja? Wer stört?« Zamorra grinste. Auch wenn seine eigene Handynummer jetzt an gezeigt wurde, konnte die dem Vampir nichts sagen. Er kannte sie nicht; er hatte seinerseits Zamorra ja im Festnetz angerufen. »Brandschutzversicherung Lösch und Teich, mein Name ist Lapin«, haspelte er mit verstellter Stimme und so schnell, dass Sar kana außer »Brandschutz« nicht sehr viel verstehen konnte. »Mon sieur, uns wurde mitgeteilt, dass sie das kleine Landhaus der Fami lie Garou übernommen haben und eingezogen sind. Deshalb …« »Wovon reden Sie überhaupt?«, grollte Sarkana. »Was soll der Quatsch? En …« »Warten Sie, Monsieur«, kiekste Zamorra. »Legen Sie nicht auf, es ist sehr wichtig. Es geht um die Versicherungspolice der Garous. Die muss doch jetzt auf Sie überschrieben werden. Vielleicht können wir auch gleich einen für Sie noch günstigeren neuen Vertrag machen. Wir haben jetzt ganz neue, verbesserte Konditionen, was Löschwas serschäden angeht, und es kostet Sie nur zehn Euro im Jahr mehr und …« Währenddessen drang Nicole ins Haus ein. Es roch nach Moder und Nässe. Die Feuchtigkeit kroch durch das Dach und die Wände nach drinnen. Überall zeigten sich riesige Stockflecken an den Wän den. Stellenweise blätterte die Tapete in breiten Bahnen ab. Hier half keine Sanierung mehr, nur noch ein Abriss. Offenbar hatte Sarkana ihre Annäherung an das Haus nicht beob achtet, sonst hätte er sie wahrscheinlich bereits auf böse Weise emp fangen. Aber er war wohl ahnungslos. Deshalb ließ er sich auch in das Gespräch verwickeln. Zamorra redete wie ein Weltmeister und ähnelte darin plötzlich Charlottes Vermieter. Gerade wies er auf Blitz und Hagelschlag hin, und auf Heizkissen, die unversehens in Brand geraten konnten …
Nicole hörte ihn nur undeutlich. Sie wusste, dass er ihr langsam ins Haus folgte, während sie nach dem Vampir suchte. Sie konnte seine Anwesenheit wahrnehmen, ihn aber nicht lokalisieren. Plötz lich hörte sie ihn sprechen. Er befand sich in einem Zimmer nur wenige Schritte von Nicole entfernt! »Hören Sie endlich auf mit Ihrem albernen Geschwätz«, hörte sie den Vampir sagen. »Es ist mir völlig egal, was Sie von mir wollen. Schluss jetzt!« »Aufgelegt«, hörte sie Zamorra nur ein paar Meter hinter sich sa gen. Sie trat die Zimmertür ein. Die flog krachend nach drinnen. Der Vampir wirbelte herum. Nicole hielt den Blaster auf ihn gerichtet. »Du hättest wenigstens eine Versicherung gegen Laserbeschuss abschließen sollen«, rief sie ihm zu und schoss. Dass sie ihn erst ansprach, war ein Fehler. Er erkannte die Gefahr, mit der er es zu tun hatte. Er schleuderte Nicole das Handy entgegen. Unwillkürlich duckte sie sich. Der blassrote, nadelfeine Strahl fauchte an Sarkana vorbei und setzte einen Sessel in Brand. Der Vampir machte aus dem Stand einen wei ten Sprung durch das zerberstende Fenster. Nicole verriss auch den zweiten Schuss. Jetzt brannte der Fensterrahmen und die Tapete. Mit ein paar Sprüngen war die Jägerin am Fenster. Zamorra rannte zurück, nach draußen, um Sarkana dort abzufangen. Nicole machte es kürzer. Sie turnte auf die Fensterbank und sprang hinaus. Zwei Meter tief ging es hinab. Wo war der ver dammte Blutsauger? Sie rechnete damit, dass er ihr hier auflauerte. Aber dann sah sie verstreute Kleidung. Er musste während seiner Flucht die Flugge stalt angenommen und aus seiner Kleidung herausgeglitten sein. Und das am hellen Tag! Er musste die Sonne verdammt gut vertragen, wenn er das riskier
te. »Wo steckst du?«, murmelte Nicole. Vergeblich suchte sie am Himmel nach einer davonrasenden Riesenfledermaus. »Ich bin hier«, sagte Zamorra, der ums Haus herumgelaufen war. »Dich meine ich nicht.« Sie lauschte in sich hinein. Die Präsenz des Vampirs war nicht mehr zu spüren. Er kauerte also auch nicht auf dem Dach, um sie beide von dort aus überraschend anzugreifen. »Das Miststück ist im Schutz der Sträucher dicht über dem Boden geflüchtet«, vermutete Nicole, »so wie wir uns angeschlichen ha ben.« »Mit der Zeitschau kriegen wir ihn trotzdem«, sagte Zamorra. »Querfeldein? Wenn er schlau ist, bleibt er ein paar Kilometer weit im Gelände und zieht dann hoch. Wir holen ihn nicht mehr ein, und durch die Luft schon gar nicht. Oder kannst du neuerdings fliegen?« Er schüttelte den Kopf. »Du hast Recht«, sagte er. »Er hat's mal wieder geschafft, dieser Lump. Silbermond-Druide müsste man sein und teleportieren kön nen …« »Immerhin«, sagte Nicole, schaltete den Blaster vorsichtshalber auf Betäubung zurück, sicherte ihn und heftete ihn wieder an die Ma gnetplatte. »Immerhin dürfte er keine Gelegenheit gehabt haben, Charlotte zu töten. Mitgenommen hat er sie auch nicht. Demzufolge muss sie sich irgendwo im Haus befinden. – Verdammt, das Feuer!« Sie rannten zurück ins Haus, in das Zimmer. Aber das Problem hatte sich schon von selbst erledigt. Die überall sitzende Feuchtigkeit hatte dafür gesorgt, dass die Flammen erstarben. Hier und da glühte es noch ein wenig, sowohl am Sofa als auch an der Tapete, aber sicher nicht mehr lange. Nicole schüttelte den Kopf. »Diese Bruchbude kann man nicht mal mehr ordentlich abfackeln. Da braucht wirklich niemand eine Brandschutzversicherung. Wo ist jetzt Charlotte?« »Suchen hilft«, bemerkte Zamorra.
In diesem Moment hörte er die Hilferufe. »Keller!«, stieß er hervor. »Sie ist unten.« Er eilte zur Treppe und stürmte hinunter, lauschte wieder. Dann wusste er, hinter welcher Tür die Rufe erklangen. Draußen steckte ein Schlüssel. Zamorra drehte ihn, ließ die Tür nach innen auf schwingen und stand vor einem fast dunklen Raum, in dem er kaum etwas erkennen konnte. Unwillkürlich tastete er nach dem Lichtschalter.
Sarkana war in den Schutz eines Waldes geflogen. Tageslicht und Sonne machten ihm arg zu schaffen. Er verwandelte sich in mensch liche Gestalt zurück und suchte Schatten und Dunkelheit. Seine Haut schmerzte. Er war zwar alt genug, um den Tag zu ertragen, aber nicht in dieser extremen Form. Der Waldschatten reichte nicht. Sarkana begann zu graben. Er hob eine Mulde aus, legte sich hinein und zog die Erde wieder über sich, bis er vollständig bedeckt war. Zu atmen brauchte er nicht. Er fragte sich, wie Zamorra und Duval ihn gefunden hatten. Es war völlig un möglich, und doch hatten sie es geschafft! Sie hatten ihn so über rumpelt, dass er nicht einmal seine Geisel einsetzen konnte! Jetzt konnten sie sie natürlich befreien. Sarkana hasste Zamorra dafür, und er hasste Niederlagen. Viel leicht war es ein Fehler gewesen, den Dämonenjäger in sein Intri genspiel gegen Morano mit einbeziehen zu wollen. Er hoffte jetzt, dass Zamorra ihn hier im Wald nicht ebenfalls auf spürte. Dann waren Sarkanas Chancen gleich Null. Eine direkte Konfrontation konnte er nicht überleben. Deshalb war er auch sofort geflüchtet, als Duval auf ihn schoss. Er wartete reglos, bis die Sonne unterging. Dann erhob er sich aus dem Boden und flog in der Dämmerung zurück zu dem verfallenen Haus. Sie warteten nicht mehr auf ihn, aber sein Mietwagen war
fort. Immerhin fand er seine Kleidung wieder, die er bei der Ver wandlung verloren hatte. Seine anderen Sachen befanden sich in ei nem Hotel in Lyon. Er bündelte die Kleidung, nahm sie zwischen die Klauen und machte sich fliegenderweise auf den langen Weg dorthin. Nebenbei war es an der Zeit, dass er wieder mal eine kleine Stärkung zu sich nahm. Er bedauerte, dass er sich nicht zuvor an seiner Gefangenen erfrischt hatte.
Im letzten Moment warnte Zamorra ein unbestimmtes Gefühl – aber er konnte die Bewegung nicht mehr stoppen. Der elektrische Schlag schmetterte ihn einen Meter zur Seite. Etwas huschte an ihm vorbei, versetzte ihm dabei einen kräftigen Stoß. Dann flog die Tür hinter ihm zu und er hörte den Schlüssel knirschen. »Verdammt«, keuchte er. Seine Armmuskeln schmerzten, über die Schulter bis in den Brustbereich hinein. Er war froh, dass es die rech te Seite war … Wer zum Teufel hatte da blanke Drähte aus der Wand führen las sen? Er raffte sich mühsam vom Boden auf. Der Schlag in den Nacken, den er zusätzlich erhalten hatte, hätte ihn beinahe betäubt. Er tau melte ein wenig, brauchte etwas Zeit, wieder fest zu stehen. Da wurde die Tür wieder geöffnet. Unwillkürlich ging er in Angriffshaltung. »Bist du okay?«, hörte er Nicoles Stimme. Dann sah er die beiden Frauen nebeneinander stehen, Charlotte und Nicole. »Mehr oder weniger«, knurrte er. »Eher weniger. Hast du ver sucht, mir zu demonstrieren, dass der Mensch physikalisch betrach tet ein Halbleiter ist?« Er deutete in Richtung des Lichtschalters. »Ich wusste doch nicht, dass du hereinkommst«, seufzte Charlotte. »Ich wollte den Vampir damit erwischen!«
»Wunderbarer Trost«, murmelte Zamorra. »Da versucht man sei nen Mitmenschen 'ne gute Tat überzubraten, und wird zum Dank fast geröstet und fast erschlagen. Das nächste Mal, wenn du dich entführen lässt, such dir einen anderen Retter.« »He, das war doch nicht so …« »Ich weiß«, stoppte er ihre Rede. »Ist einfach dumm gelaufen, ich hatte Pech.« »Habt ihr wenigstens den Vampir erwischt?« »Nein. Ist mit dir alles in Ordnung? Hat er dich gebissen?« »Nein. Willst du es prüfen?« »Ich glaub's dir auch so«, sagte Zamorra nach einem kurzen Blick wechsel mit Nicole. »Lasst uns von hier verschwinden, ehe wir in dieser muffigen Bude auch noch Schimmel ansetzen. Charlotte, hat er irgendwas erzählt von dem, was er beabsichtigt?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mal, warum er ausgerech net mich als Geisel genommen hat. Aber es ist gut, dass ihr mich ge funden habt. Wie ist euch das so schnell gelungen?« »Alter Pfadfindertrick«, wich Zamorra aus. »Unmögliches wird so fort erledigt, nur Wunder dauern ein bisschen länger … und jetzt 'raus aus diesem Trümmerpalast.« Draußen blieb er am Auto des Vampirs stehen. Die Endziffer 69 des Kennzeichens wies auf das benachbarte Rhone-Departement hin; Zamorras und Nicoles Autos trugen die Endziffern 42 für den Loire-Verwaltungsbezirk. Die Vampirkutsche war also in Lyon zu gelassen. Zamorra griff ins Handschuhfach und fand die Unterlagen einer Autovermietung. Er grinste wie ein maghrebinischer Teppichhändler, der gerade den Steuereintreiber des Scheichs gehörig eingeseift hatte. »Ich setze euch beide beim BMW ab und fahre mit diesem Mietwa gen nach Lyon weiter«, sagte er. »Mal sehen, ob ich da nicht etwas mehr über unseren langzahnigen Freund herausfinde. Ich komme via Regenbogenblumen zurück oder rufe an, wenn ich Verstärkung
brauche.« »Wir können doch gleich mitkommen«, wurde Charlotte zur Hel din. »Nichts da«, entschied Nicole. »Dich bringe ich nach Hause. Schät ze, du hast erstmal genug erlebt und erlitten.« »Irgendwie hast du ja Recht«, seufzte Charlotte. »Ich dachte nur, ich könnte etwas wiedergutmachen.« Zamorra grinste. »Zieh dich einfach beim nächsten Mal in Mosta ches Kneipe wieder aus, und alles ist bestens geregelt.« Nicole schüttelte den Kopf. »Du bist ein elender Sexist, Chef, hat dir das schon mal jemand gesagt?« Zamorra nickte. »Und dieser Je mand hat völlig Recht …«
Der Muskelschmerz durch den Stromschlag war vergangen. Wäh rend Zamorra nach Lyon fuhr, rief er Chefinspektor Pierre Robin an und bat ihn um Unterstützung. Sie waren Freunde, Robin hatte schon oft genug gemeinsam mit dem Dämonenjäger Dinge erlebt, die dem normalen Beamtenverstand widersprachen. »Musst du mich immer um Schützenhilfe bitten, wenn ich an fünf anderen Fäl len gleichzeitig arbeiten muss und der Staatsanwalt sie lieber ges tern als heute gelöst sehen will? – Schon gut, ich komme.« Sie trafen gleichzeitig bei der Autovermietung ein. Zamorra gab den Wagen ab. Das sorgte für einiges Erstaunen, war er doch nicht selbst der Entleiher. Als sich dann auch noch Robin als Leiter der Mordkommission vorstellte, wurde man äußerst aufmerksam. »Wir wüssten gern etwas mehr über den Entleiher«, sagte Zamor ra. »Zum Beispiel seinen Wohnsitz, beziehungsweise seine derzeiti ge Adresse.« »Hat er etwas ausgefressen?« »Könnte man so sagen«, brummte Robin, den Zamorra am Telefon in groben Zügen informiert hatte. Wie immer wirkte er beinahe wie
ein Clochard in seiner sehr nachlässigen Kleidung. Aber der äußere Eindruck täuschte. Robin war ein cleveres Kerlchen, das sich gern unterschätzen ließ. »Dürfen wir mal die Unterlagen einsehen?« Er las die Eintragungen. Einmal lachte er kurz auf und schüttelte den Kopf. Dann seufzte er. »Die hinterlegte Kaution sollten Sie vorerst einbehalten und mit Benzinkosten und gefahrenen Kilometern verrechnen«, sagte er. »Ob Monsieur Anarkas den verbleibenden Rest jemals zurückfor dern wird, steht in den Sternen. Danke für Ihre Mitarbeit.« »Aber was ist denn nun passiert?« »Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit«, sagte Robin. »Sie werden verstehen, wenn wir uns zu einem laufenden Ermittlungs verfahren nicht äußern dürfen-können-wollen; Nichtzutreffendes bitte streichen.« Er verließ mit Zamorra das kleine Bürogebäude und hörte gerade noch die Sekretärin ihren Chef fragen: »Was ist das denn für ein ko mischer Vogel?« »Er hat sich also als Anarkas eingetragen«, sagte Zamorra. »Ein leicht durchschaubares Anagramm.« »Aber nur für jemanden, der seinen Namen kennt«, erwiderte Ro bin. »Lustig ist der Wohnsitz, den er eingetragen hat. Einer der Vor orte von Paris, nur die Straße, die er genannt hat, gibt's da nicht, und im ganzen Kaff ist keine dreistellige Hausnummer wie eingetragen.« »Deshalb hast du gelacht?« Robin nickte. Er hatte früher in Paris Dienst getan, ehe er nach Lyon versetzt wurde. »Ich habe in diesem Vorort gewohnt«, fügte er hinzu. »Und ich besuche noch hin und wieder die Nachbarn. Selbst wenn die Straße ganz neu gebaut worden wäre, müsste ich's wissen. Dein Vampir ist ein Clown.« »Also haben wir keinen Anhaltspunkt, wo ich ihn erwischen kann.« »Doch, haben wir«, widersprach Robin. »Er hat seine Hoteladresse
hier in Lyon angegeben.« Er nannte das Hotel. »Ich danke dir, mein Freund«, sagte Zamorra. »Dann werde ich ihm da mal einen Überraschungsbesuch abstatten.« »Wir, Herr Professor«, widersprach Robin. »Wir werden ihn besu chen, nicht du allein.« »Du nimmst ein großes Risiko auf dich. Du bist nicht für einen Kampf gegen einen Vampir gerüstet.« »Aber ich kann dir den Rücken freihalten und Gäste und Personal wegscheuchen«, sagte Robin. »Das ist doch auch schon was.« »Und deine fünf ungelösten Fälle?« »Da müssen meine beiden Assistenten eben ein paar Überstunden einlegen. So einfach ist das.«
Sarkana landete in einer stillen Gasse, kleidete sich an und legte den Rest des Weges mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. Als er das kleine Hotel betrat, spürte er, dass er nicht allein war. Ein anderer Vampir befand sich in der Nähe. Sie gaben nicht auf, seine Verfolger. Irgendwie mussten sie seine Spur wieder gefunden haben. Er ließ sich den Zimmerschlüssel geben und ging die Treppe hin auf. Dabei lauschte er mit seinen besonderen Sinnen nach dem ande ren. Der befand sich nicht vor Sarkana, sondern hinter ihm! Wo er gelauert haben konnte, begriff der alte Vampir nicht. Er musste vorhin an ihm vorbeigegangen sein, ohne ihn zu sehen. Der Bursche war gut! Aber nicht gut genug für einen alten Fuchs wie Sarkana. Der hatte die oberste Treppenstufe erreicht, als er sich umwandte, mit einem weiten Sprung, bei dem jeder Mensch sich die Knochen gebrochen hätte, den Treppenabsatz erreichte und mit dem nächsten Sprung wieder im Parterre anlangte. Da sah er den Verfolger direkt vor sich.
Der wollte gerade ebenfalls die Treppe benutzen. Sarkana packte zu, riss den anderen die Stufen hinauf und versetzte ihm dabei ein paar wuchtige Hiebe. Mit einer solchen Aktion hatte sein Verfolger nicht gerechnet. Er war nicht fähig, sich zu wehren. Sarkana hastete mit ihm die Treppe wieder hinauf, in den Korridor. Da endlich wich die Schreckstarre des Überraschten, und er begann um sich zu schlagen, um sich aus Sarkanas Griff zu befreien. Der Alte versetzte ihm einen betäuben den Fausthieb, schleifte ihn mit sich und erreichte die Tür seines Zimmers. Aufschließen, hinein, und es war Ruhe. Niemand hatte etwas mitbekommen. Die anderen Hotelgäste wa ren sicher irgendwo in der Stadt unterwegs. Um diese Tageszeit kein Wunder. Und der Typ an der Rezeption konnte auch nichts ge sehen und gehört haben, weil er gleich nach der Schlüsselübergabe wieder davongeschlurft war. Sarkana betrachtete den anderen Vampir. Seinem Aussehen zufol ge konnte er zu Vlad Brescus Clan gehören. Und er musste zu jenen gehören, die das Tageslicht ertrugen, sonst wäre er nicht um diese Zeit aktiv. Sarkana wartete, bis der andere wieder erwachte. »Warum kommt Brescu nicht selbst, wenn er etwas von mir will?«, fragte er dann. »Brescu? Er … er wusste doch gar nicht, wo …« »Und er wird es auch nicht erfahren«, erklärte Sarkana trocken. »Ich habe es satt, ständig verfolgt und gejagt zu werden. Du wirst deinem Fürsten sagen, dass ich ihn töte, wenn er mich nicht in Ruhe lässt. Ich finde ihn überall. Er wird mich nirgendwo finden.« »Das heißt – ich kann gehen?«, stieß der Jäger überrascht hervor. Er hatte damit gerechnet, dass Sarkana ihn tötete. Es hieß, in Athen habe er einige Verfolger umgebracht. Sarkana nickte. »Du kannst gehen«, sagte er. »Sonst könntest du ihm die Nachricht ja kaum überbringen, oder? Aber danach wirst du
sterben, denn Vlad Brescu verfügt nicht über das Gegengift.« »Gegengift?«, keuchte der Vampir entsetzt. »Was …« »Ich habe dich vergiftet«, erwiderte Sarkana. »Aber warum?« »Als warnendes Beispiel, damit Brescu merkt, dass ich es ernst meine.« »Aber ich – ich habe dir doch gar nichts getan! Ich bin nur sein Diener, sein Werkzeug … Herr, wenn ich dir sage, wo du Brescu fin dest, wirst du mir dann das Gegengift geben?« »Ich kenne seinen Wohnsitz.« »Aber dort wird er die nächsten Nächte nicht sein. Er reist nach Rom. Gino diSarko hat eine Versammlung einberufen. Genaues weiß ich nicht, aber es geht wohl darum, dich zu töten, Herr.« Meine Warnung wirkt, dachte Sarkana. Mein lieber Herr Neffe be kommt Angst. Jetzt will er die anderen endgültig gegen mich mobil ma chen, nur damit er seine Macht nicht wieder an mich abtreten muss … Rom also. Eine Versammlung. Dort konnte Sarkana sie alle erwi schen. Wenn er nur die Hälfte von ihnen umbrachte, würden die an deren vor ihm kuschen. Er beschloss, endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Er hatte zu lange nur gespielt, zu viel Zeit verloren. Das fand jetzt ein Ende. Nach dieser Versammlung würde er wieder das Oberhaupt aller Vampirfamilien sein. »Du bekommst dein Gegenmittel«, log Sarkana und verabreichte dem anderen das Gift. »Und nun verschwinde!« »Ich danke, Herr! Ich eile nach Rom, um Vlad Brescu deine Bot schaft auszurichten!« Sarkana verzog die Mundwinkel zu einem höhnischen Grinsen, als der Vampir davon eilte. Er war auf den Bluff mit dem Gift hereinge fallen. Dabei hatte er es erst jetzt erhalten. Er würde Rom nicht erreichen. Nicht einmal mehr die Hoteltür. Es wirkte sehr schnell. Robin
stoppte seinen zivilen Dienstwagen, einen schon recht betagten Ci troën XM, vor dem Hotel. Der Etat sah nicht vor, dass er ein moderneres Fahrzeug bekam, so lange das alte noch fahrtüchtig war. Allerdings machte sich das Alter inzwischen schon erheblich bemerkbar; die Werkstattaufenthalte häuften sich. Aber der Polizei präfekt war der Ansicht, permanente Flickschusterei sei günstiger als eine teure Neuanschaffung. Sie stiegen aus. Zamorra musterte die Fassade des Hauses. »Nicht gerade das, was ich als Herberge bevorzuge«, sagte er. »Aber gut für jemanden, der unauffällig bleiben will.« Robin ging voraus. An der Rezeption hieb er auf die Klingel. Ein Mann in ver schwitztem Karohemd schlurfte aus einem Nebenraum heran. Robin zeigte ihm seinen Dienstausweis. »Ist Monsieur Anarkas im Haus?« »Kenne ich nicht.« »Sarkana«, verbesserte Zamorra. Vielleicht hatte der Vampir sich hier mit seinem richtigen Namen eingetragen. Zamorra sah einen Mann mittleren Alters die Treppe herunter kommen. Er schien betrunken zu sein, denn er konnte sich kaum auf den Beinen halten. »Natürlich. Monsieur Sarkana kam von einer Viertelstunde. Was wollen Sie von ihm? Hören Sie, ich habe die Polizei nur sehr ungern im Haus. Das ist schlecht fürs Geschäft, wenn es sich herumspricht.« »Welches Zimmer?«, fragte Robin. Im nächsten Moment erwärmte sich Zamorras Amulett kaum merklich. Es registrierte die Nähe eines Schwarzblütigen. Der Betrunkene war ein Vampir! Betrunkene Vampire gibt's nicht, dachte Zamorra. Mit diesem hier war etwas nicht in Ordnung. Ohne an ein eventuelles Risiko zu denken, ging er zu ihm. Der Vampir stürzte ihm regelrecht in die Arme. »Was ist denn jetzt los?«, fragte Robin.
»Polizei«, keuchte der Vampir. »Sie sind von der Polizei? Er … er hat mich vergiftet! Sarkana … ich sterbe …« »Er ist noch oben?«, fragte Zamorra. »Ja.« Der Vampir nannte die Zimmernummer. »Du bist kein Poli zist«, stöhnte er dann auf. »Ich spüre eine starke Magie. Du bist der Meister des Übersinnlichen, ja?« »Ja.« »Räche mich … vernichte ihn … er will nach Rom … zu Gino … die Versammlung … bei Gino diSarko …« Dann sank er in sich zusammen. Zamorra konnte kein Leben mehr in ihm spüren. Augenblicke später setzte der Zerfall ein. Der tote Vampir zerfiel zu Staub. Nur seine Kleidung blieb zurück. Robin sah den Mann im Karohemd scharf an. »Was Sie gerade ge sehen haben, vergessen Sie«, sagte er scharf, »oder Sie haben zwei mal die Woche die Drogenfahndung in Ihrem Wanzenbrutlabor! Haben wir uns verstanden?« Der andere nickte stumm. Zamorra hetzte die Treppe hinauf. Er warf sich gegen die Zimmer tür, den Blaster schussbereit in der Hand. Aber das Zimmer war leer. Nur das Gepäck war noch vorhanden. Sarkana hatte durch das offene Fenster die Flucht ergriffen. Wieder einmal. Langsam ging der Dämonenjäger wieder nach unten. Er winkte Robin zu, und gemeinsam verließen sie das Hotel. »Ich danke dir für deine Hilfe«, sagte er. »Wenn du willst, lass Sar kanas Gepäck beschlagnahmen und suche nach einem Hinweis auf seinen wirklichen Unterschlupf. Ich gehe nach Rom, dorthin will er.« »Was ist das für ein Feldzug, den du da führst?« »Ich will endlich reinen Tisch machen«, sagte Zamorra. »Und zu
mindest einen dieser Supervampire zur Strecke bringen – Sarkana eben. Fährst du mich in den Park zu den Regenbogenblumen?« »Sicher. Brauchst du Hilfe?« »In Rom nicht. Danke für alles.«
Sarkana spürte Zamorras Nähe gerade noch rechtzeitig. Schon wieder Zamorra! Wie schaffte der das nur immer wieder? Der Mann war die reinste Pest. Und abermals scheute der Vampir die direkte Auseinandersetzung; er konnte gerade noch entweichen. Sein Ziel war jetzt Rom. Keine Tändelei mehr, sondern – Machtan spruch. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn. Wer gegen ihn war, war des Todes. Die Zeit des Versteckspiels und Abwartens, wie sich die Machtkonstellationen verschoben oder festigten, war vorbei. Sarkana erreichte den Flughafen. Ein Vampir in einem Flugzeug – für andere ein peinlicher Witz, für ihn eine Notwendigkeit. Er muss te sich schonen. Er würde in Rom all seine Kraft benötigen. Er wünschte, er besäße die Fähigkeit anderer Dämonen, sich durch Ma gie an einen beliebigen Ort zu versetzen. Aber das blieb den Vampi ren verwehrt. Die Maschine nach Rom war ausgebucht, die letzten Fluggäste checkten gerade ein. Sarkana ging dennoch an Bord. Einen der Flug gäste bat er recht autoritär beiseite, tötete ihn an einer Stelle, wo ge rade kein anderer Mensch in der Nähe war, und nahm dessen Aus weis, Ticket und Handgepäck an sich. Er hypnotisierte das Boden personal, durchschritt die Kontrollen ungehindert und ließ sich auf einem der Sessel nieder. Nur wenig später startete das Flugzeug und brachte ihn nach Rom. Er ahnte nicht, dass zur gleichen Zeit auch ein anderer Vampir dorthin unterwegs war – sein Blutfeind Tan Morano!
Zamorra kehrte mittels der Regenbogenblumen ins Château Monta gne zurück. Seine Gefährtin wartete bereits auf ihn. »Er ist mir schon wieder entkommen«, seufzte er. »Hat Gryf sich inzwischen wieder gezeigt?« Sie schüttelte den Kopf. »Typischer Fall von schlechtem Gewissen«, vermutete sie. »Entweder versucht er, sein Problem ir gendwie zu verarbeiten, oder er ist längst wieder auf Morano-Jagd.« Zamorra nahm eher ersteres an. Er kannte den Druiden gut genug, um zu wissen, wie schwer das alles jetzt für ihn sein musste. »In Rom findet eine Vampir-Versammlung statt«, fuhr er fort. »Sarkana ist dorthin unterwegs.« »Wo in Rom? Das ist eine ziemlich große Stadt mit sieben Hügeln und -zigtausenden von Häusern.« »Gino diSarko hat die Versammlung einberufen«, sagte Zamorra. »Also gehe ich mal davon aus, dass sie in seinem Haus stattfinden wird.« »Und du weißt ganz zufällig, wo das steht«, bemerkte Nicole sar kastisch. »Das nicht. Aber Ted Ewigk wird es feststellen können.« »Sicher. Sein zweiter Name ist ›Doktor Allwissend‹.« »Könntest du für ein paar Jahre deinen Pessimismus auf Eis legen?«, fragte Zamorra an. »Es ist immerhin einen Versuch wert, oder?« »Wenn es um Morano ginge, wäre meine Begeisterung erheblich höher«, versicherte Nicole. »Bei einer solchen Versammlung dürften sich etliche Famili enoberhäupter einfinden«, sagte Zamorra. »Selbst wenn wir weder Sarkana noch Morano erwischen – wir haben die Chance, auch unter den anderen aufzuräumen. Sie rechnen nicht mit unserem Erschei nen. Wir können die ganze Führungsspitze beseitigen.« »Klar, das machen wir so ganz nebenbei aus dem Handgelenk. Verdammt, Zamorra, das Risiko ist unglaublich groß! Von wem hast
du die Information? Was, wenn es eine Falle ist?« »Ich glaube nicht daran. Ein sterbender Vampir verriet es mir. Sar kana hat ihn ermordet, hat ihn vergiftet. Der Sterbende wollte Ra che.« »Das ist doch ein abgekartetes Spiel!« »Bei einem Sterbenden?« Zamorra schüttelte den Kopf. »Kein Vampir tötet einen anderen Vampir. Das ist ein uraltes Gesetz. So wohl Morano als auch Sarkana haben dieses Gesetz gebrochen.« »Das haben Gesetze nun mal so an sich, dass sie gebrochen wer den«, sagte Nicole schulterzuckend. »Und deshalb willst du dich in ein halsbrecherisches Unternehmen stürzen, von dem du noch nicht mal richtig weißt, wie du es anpacken wirst?« Er nickte. »Dann bin ich dabei.«
Wenig später befanden sie sich in Rom. Die Villa ihres Freundes Ted Ewigk verfügte ebenfalls über Regenbogenblumen, welche die Di stanz zwischen dem südlichen Loire-Tal und der Metropole am Ti ber auf ein paar Schritte zusammenschrumpfen ließ. Zamorra hatte seine und Nicoles Ankunft vorher telefonisch ange kündigt. Sie hatten Glück; Ted Ewigk befand sich daheim. Er war von Beruf Reporter, aber er hatte in seinen jungen Jahren eine derar tige Erfolgssträhne gehabt, dass er schon seit langem von den Zin sen seines Vermögens leben konnte und sich heute nur noch mit Fäl len befasste, die ihn besonders berührten. Den Rest überließ der in zwischen 49jährige dem »Nachwuchs«. Nebenbei besaß der blonde Hüne, der aussah wie ein Wikinger auf Raubzug, neben der deutschen auch die italienische Staatsangehö rigkeit und zusätzlich einen italienischen Diplomatenpass. Was aber noch wichtiger war – er besaß eine Menge Beziehungen. Zamorra wäre garantiert am römischen Verwaltungsapparat ge
scheitert – zumal längst überall Feierabend war. Für Ted Ewigk war es nur der Aufwand einiger Telefonate, herauszufinden, wo sich Gino diSarkos Villa befand. Danach sah er Zamorra und Nicole fra gend an. »Braucht ihr Unterstützung?« »Kann nicht schaden«, sagte Zamorra. »Zu dritt sind wir ein Lö we.« »Miau.« Ted gähnte. »Mir ist gerade nicht nach Katzenfutter. Aber diese Vampirbude ausräuchern – das könnte mir gefallen. Ich bin dabei. – Was ist eigentlich mit Gryf? Der ist doch eigentlich von uns allen der große Vampirjäger.« »Sieht aus, als hätte er eine Auszeit genommen«, sagte Zamorra. »Wir werden es auch ohne ihn schaffen.«
10. Asche zu Asche, Blut zu Staub Ted Ewigk stoppte seinen Rolls-Royce Silver Seraph in einigem Si cherheitsabstand zu der Vampirvilla und schaltete Scheinwerfer und Motor aus. »Verblüffend«, sagte er. »Dass sich ein Blutsauger wie Gino diSarko hier einnisten konnte, ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe. Na ja«, schwächte er seine Selbstkritik ab, »wann befasse ich mich schon mal mit Vampiren? Mein Metier sind die Außerirdischen …« Sie stiegen aus. Es war längst dunkel geworden – die Zeit der Vampire war ge kommen. »Wie gehen wir vor, Chef?«, fragte Ted. »Wir sondieren erst mal«, sagte Zamorra. »Wer ist anwesend, wo im Haus finden wir sie, welche Sicherheitsmaßnahmen müssen wir überwinden?« »Und welche Fluchtwege haben wir?«, fügte Nicole hinzu. »Vor ausgesetzt, es geht schief, werden wir sehr schnell sein müssen. Wir brauchen wenigstens drei Fluchtwege – für jeden von uns. Denn es ist im Falle einer Falle besser, wenn wir uns trennen. Dadurch müs sen sie sich aufteilen, und es kommen weniger Gegner auf jeden von uns.« »Klingt irgendwie vernünftig«, sagte Ted. Er klopfte auf den Blas ter an seinem Gürtel. »Aber das alles ist mir zu kompliziert und ver worren. Wir lassen erst gar nicht zu, dass wir flüchten müssen. Wir gehen 'rein, spucken Laser auf alles, was kreucht und fleucht und lange Zähne hat, und gehen wieder 'raus.« »Wenn wir vorzeitig entdeckt werden, sieht die Sache weniger lus tig aus«, stellte Zamorra klar.
Ted zuckte mit den Schultern. »Es gibt eine noch viel einfachere Möglichkeit«, sagte er. »Wir jagen die ganze Villa in die Luft.« »Und du hast zufällig ein paar Bomben in der Hosentasche«, läs terte Nicole. »Nein. Aber meinen Machtkristall. Wir könnten uns eine Menge Ärger ersparen. Wir sprengen das Ding, und Ruh' is'.« Zamorra schüttelte den Kopf. Er wusste, welche unglaubliche Kraft der Dhyarra-Kristall 13. Ordnung entfesseln konnte, über den Ted Ewigk verfügte. Der magische Sternenstein konnte ganze Plane ten zerstören, wenn man seine Energie voll ausnutzte. »Das kommt nicht in Frage«, sagte er. »Vielleicht hat diSarko auch menschliches Personal. Das gilt es zu schonen.« »Gebissenes, vom Keim infiziertes Personal«, sagte Ted. »Das vielleicht noch gerettet werden kann.« »Okay«, wehrte Ted ab. »Du hast ja recht. Sprengen wir also nicht. Und wann fangen wir nun an mit unserer Aktion?« »Jetzt«, entschied Zamorra.
Sie hatten sich in dem großen Raum versammelt, den Gino diSarko eigens für solche Zusammenkünfte eingerichtet hatte. Er sah in die Runde. Nicolae Tepes, Don Jaime deZamorra, Menelaos Papageorgiu, Mu stafa Yltik, Peer Glynn, Akiro Toyoda, Basta Mobuto, Vlad Brescu und Pjotr Wassilowitsch Somkow. »Ich danke euch für euer Kommen«, sagte Gino. »Warum ist Sir Albert nicht hier?« Über Pierre Gaullet verlor er kein Wort; er wuss te, dass Gaullet tot war. »Vielleicht hat er die Nachricht nicht erhalten«, vermutete Don Jai me. »Er hat sie bestätigt«, sagte diSarko. »Trotzdem ist er nicht hier.«
»Vielleicht hat Sarkana auch ihn ermordet«, sagte Brescu. »So wie er etliche von uns ermordete, die versuchten, ihn aufzuspüren.« Papageorgiu nickte. »Sarkana ist zu einer Gefahr für uns alle ge worden. Er muss schnellstens unschädelig gemacht werden.« »Unschädlich«, korrigierte Somkow. »Heißt so, weil russische Er findung.« »Unschädelig«, wiederholte der Grieche. »Schlagt ihm den Kopf ab. Er hat mich einige meiner treuesten und zuverlässigsten Diener gekostet.« »Um genau das zu beschließen, haben wir uns hier versammelt«, sagte diSarko. »Also ein Tribunal?« »Mehr als das. Bei einem Tribunal müssten wir erst drei Richter wählen, den Delinquenten vorführen … Warum so umständlich, wenn es auch einfacher geht?« »Können wir seinen Tod überhaupt ohne das Urteil eines Tribu nals beschließen? Das Gesetz …« Gino diSarko bügelte den Redner ab. »Sarkana selbst hat das Ge setz mehrfach gebrochen und damit unter Beweis gestellt, dass er es nicht anerkennt. Warum sollten wir es dann auf ihn anwenden? Wer ist dafür, dass er unverzüglich getötet wird?« »Dazu müssen wir ihn erst einmal haben«, wandte Papageorgiu ein. »Aber wir wissen doch nicht einmal, wo er sich derzeit aufhält!« »Hier«, sagte in diesem Moment eine laute Stimme.
Tan Morano stand in der Dunkelheit. Er konnte seinen Blutfeind spüren. Er selbst war nicht wahrnehmbar. Er konnte seine vampiri sche Ausstrahlung perfekt tarnen. Darauf war auch Zamorra schon einmal hereingefallen, vor etlichen Jahren. Sarkana wusste nicht, dass Morano sich ganz in der Nähe befand.
Morano ahnte, was der Uralte beabsichtigte. Sarkana würde unter den anderen Vampiren aufräumen und jeden, den er als Verräter ansah, töten. Morano konnte sich zwar nicht vorstellen, wie Sarkana das durchziehen wollte, aber er war sicher, dass es ihm gelang. Wie auch immer … Es kam Morano entgegen. Nach dem Kampf würde Sarkana ge schwächt sein. Dann konnte er, Morano, in Erscheinung treten und mit wenig Aufwand Sarkana töten. In dieser Situation würde nie mand ihn anschließend anklagen. Tan Morano lächelte. Besser konnte es gar nicht laufen. Wenn er Sarkana tötete, konnte er mit der Dankbarkeit der anderen rechnen. Vor allem, da er selbst ja nicht die Herrschaft über die Familien an strebte. Er würde England als seine Domäne zurück bekommen. Diese Forderung mussten sie ihm erfüllen, und weitere Forderungen hatte er nicht in seinem Programm. Morano beobachtete, wie Sarkana in die Villa eindrang. Jetzt hing alles davon ab, wie stark Sarkana war. Morano gab sich einen Ruck. Er musste hinterher, um im günstigsten Moment einzugreifen. Es durfte nicht zu früh sein. Von Sir Albert wusste er, dass auch er selbst auf der Abschussliste der anderen stand. Er musste also als Retter in höchster Not auftreten, damit sie ihm die Füße küssten. Wenn Sarkana sofort erledigt wurde, klappte das natürlich nicht. Den musste er selbst killen, um den erhofften Effekt zu erzeugen. Morano setzte sich in Bewegung. Da trat ihm jemand entgegen. Er erschien einfach zwischen den Bäumen, die Morano als Deckung dienten. »So spät abends noch allein unterwegs?«, fragte der Druide Gryf spöttisch.
Gino diSarko wandte sich um. Auch die anderen drehten die Köpfe. Ein alter Mann stand in der offenen Tür. Seine Fangzähne waren
gebleckt. »Sarkana«, sagte Gino leise. »Du wagst es wirklich, hierher zu kommen, hochgeschätzter Onkel? Weißt du nicht, dass du tot bist?« »Du wünschst es dir«, sagte Sarkana. »Weil du dich an die Macht klammerst. Aber ich war nie tot. Ich war nur lange fort.« Der Alte setzte sich in Bewegung, schritt langsam auf Gino zu. Er musterte die anderen. Riskierten sie es, ihn anzugreifen, wenn Gino den Be fehl gab? Er glaubte es nicht. Er besaß immer noch genug Autorität, und die Art, wie er ihnen jetzt entgegen trat, wie er in die Höhle des Löwen vorstieß, beeindruckte sie. Sie hatten ihn verfolgt, gejagt, und er hatte sich seinen Verfolgern immer wieder entzogen, hatte sie ge tötet. Jetzt stellte er sich ihnen selbst entgegen, den Vampirfürsten, die glaubten, sich seiner Macht und seinem Einfluss entziehen zu können. Seine Stimme wurde allmählich lauter. »Aber ihr alle«, sagte er, »ihr konntet nicht warten. Nein, ihr wolltet nicht warten! Ihr habt mich für tot erklärt. Welch ein Schock, als ihr feststellen musstet, dass es mich noch gibt!« Schritt für Schritt näherte er sich seinem Neffen. »Haben sie dich gewählt, Gino, oder hast du dich selbst zum An führer gemacht?« »Ich wurde gewählt.« »Es war Verrat«, sagte Sarkana laut. »Die Wahl ist unrechtmäßig, denn sie fand ohne meine Zustimmung statt. Ich bin nie von mei nem Amt zurückgetreten, und du, Gino, bist nicht das Oberhaupt al ler Clans! Ich lebe immer noch, und ich bin immer noch der, der ich war!« »Nicht mehr lange«, flüsterte Gino ihm hasserfüllt zu. »Ver schwinde, solange du es noch kannst!« »Auf einem Schiff«, fuhr Sarkana ungerührt fort, »nennt man es Meuterei, wenn sich die Mannschaft gegen ihren Kapitän erhebt. Wisst ihr, was man mit Meuterern macht? Man knüpft sie in die Ra
hen, den Seevögeln zum Fraß! Und was glaubt ihr wohl, was Kapi tän Sarkana mit euch Meuterern machen wird?« »Packt ihn«, sagte Gino frostig. »Reißt ihn in Stücke!« Somkow, Brescu und Papageorgiu erhoben sich. Aber Sarkana hatte sich vorbereitet. Er zog eine kleine Waffe unter dem Mantel hervor. Eine Bolzenpistole mit mehreren Läufen. In je dem Lauf steckte ein spitzer Holzpflock. Er richtete die Waffe auf Gino – und löste den ersten Schuss aus. Auf kurze Distanz, gerade mal zwei Meter, jagte der von einer Stahl feder geschleuderte Bolzen direkt in diSarkos Vampirherz. Sarkana drehte sich blitzschnell und schoss erneut. Er traf Brescu und den Griechen. Somkow erstarrte, als er die Waffe auf sich gerichtet sah, und hob abwehrend die Hände. »Tu's nicht«, sagte er. »Ich bin auf deiner Seite.« »Wer sich gegen mich erhebt, stirbt«, erwiderte Sarkana kalt. »Du hast dich gegen mich erhoben.« Der vierte Bolzen sirrte durch die Luft und schlug in Somkows Herz. Sarkana wandte sich wieder Gino zu. Der hielt sich noch aufrecht, obgleich er bereits zerfiel. Er spie Staub aus. »Die Engel sollen dich vierteilen, du Bastard«, zischte er. »Du Mör der!« »Die alten Gesetze gelten nicht mehr«, sagte Sarkana. »Ab jetzt be ginnt eine neue Zeit. Aber du wirst sie nicht mehr erleben …« Gino zerfiel endgültig. Als Sarkana sich wieder den anderen zuwandte, wurden auch die zu Staub. Ungerührt lud Sarkana seine Bolzenpistole wieder auf und spann te die Federn. Er sah die Überlebenden an. Nicolae Tepes, Don Jaime deZamorra, Mustafa Yltik, Peer Glynn, Akiro Toyoda, Basta Mobu to. Sie waren viel zu geschockt, als dass sie diese kurze Chance hät ten wahrnehmen können, über den Alten herzufallen und ihn zu tö
ten. Jetzt war es zu spät. Sie hatten gesehen, wie schnell, sicher und überaus präzise Sarkana seine Waffe einsetzte. Wenn sie ihn jetzt an griffen, würde er vier von ihnen töten. Die beiden letzten konnten ihn vielleicht überwältigen. Aber wer von ihnen blieb denn am Le ben? Keiner wollte sterben. Das Risiko war zu hoch. »Du bist unser Oberhaupt«, sagte Don Jaime. »Was wir getan ha ben, war falsch. Gino hat uns dazu verleitet.« Sarkana lächelte kalt. »Euer Treffen in Vlad Brescus Burg fand ohne Gino statt«, sagte er. »Ihr wolltet auch ihn abservieren und stattdessen Tan Morano auf euren Schild heben.« »Was – woher weißt du davon?«, keuchte Peer Glynn. »Pierre Gaullet war mein Freund«, sagte Sarkana. »Wir führten ein langes Gespräch während einer langen Bahnfahrt. Gaullet war der einzige, dem ich wirklich vertrauen konnte. Ihr anderen habt mich verraten, und ihr wolltet auch Gino verraten. Ihr seid Pack.« Seine Hand mit der Bolzenpistole pendelte hin und her. Schließlich senkte er sie – um sie blitzartig wieder zu heben und Glynn einen Bolzen ins Herz zu schießen. Im nächsten Moment brach die Hölle los.
Tan Morano und Gryf standen sich gegenüber. »Dein Weg endet hier«, sagte der Druide. Morano schüttelte den Kopf. »Du wirst mich nicht aufhalten«, sag te er. »Ich bin hier, um Sarkana zu töten.« »Und ich bin hier, um dich zu töten«, sagte Gryf. »Wie hast du mich gefunden?« »Vielleicht war es Zufall«, erwiderte der Druide. »Vielleicht habe ich aber auch gezielt nach dir gesucht. Wen interessiert es schon? Ich bin hier, und du kannst mir nicht mehr entkommen. Nicht dieses Mal.«
»Du redest zuviel«, sagte Morano. »Gib den Weg frei und lass mich tun, was ich tun muss.« »Ich werde dich töten«, sagte Gryf. »Danach werde ich mich um Sarkana kümmern. Reicht dir das als letzter Trost?« Morano ging weiter, immer näher auf Gryf zu. Der Druide war fassungslos. Begriff Morano nicht? Er konnte sich doch nicht so sicher fühlen! Warum wich er nicht aus, warum floh er nicht? Oder warum griff er den Druiden nicht seinerseits an? Gryf ging ihm entgegen. Von einem Moment zum anderen stan den sie sich unmittelbar gegenüber. Gryfs Hände flogen hoch, pack ten zu. Morano machte eine Abwehrbewegung. Aber es reichte nicht. Der Vampir stürzte zu Boden. Im nächsten Moment war Gryf über ihm, setzte beide Knie auf Moranos Arme. Mit seinem Gewicht hielt er den Vampir am Boden. Dann griff er nach dessen Kopf, bekam ihn mit beiden Händen zu fassen und drehte ihn. Morano stemmte sich dagegen. Er versuchte, Gryf abzuschütteln und zugleich dem Druck zur Drehung zu wider stehen. Gryf wunderte sich etwas, wieso der Vampir nicht all seine Körperkraft einsetzte. Die Blutsauger waren körperlich grundsätz lich viel kräftiger als ein Mensch. Gryf hatte damit gerechnet, Drui denmagie einsetzen zu müssen, um des Vampirs Herr zu werden. Aber das war nicht nötig. Er hatte ihn auch so im Griff. Noch ein paar Zentimeter weiter drehen – das Genick würde bre chen. Die Halsmuskeln überdehnten sich bereits deutlich. Immer noch arbeitete Morano dagegen an. Noch ein paar Zentimeter … Noch ein paar … Noch … Gryf ließ los. »Verdammt«, murmelte er. »Du kannst es nicht«, sagte Morano. »Du kannst mich nicht töten. Immer noch nicht.« Ich weiß, dachte Gryf verzweifelt. Du musst es mir nicht auch noch
extra sagen. Er richtete sich auf und gab Tan Morano frei. »Verschwinde«, sagte er brüchig. »Das ist deine letzte Chance. Flieh, so lange du es noch kannst.« Es waren hohle Worte. Er brachte es nicht fertig, Morano umzubringen. Nicht durch Pfählung, und nicht dadurch, dass er ihm das Gesicht auf den Rücken drehte. Und ich hatte gedacht, wir wären quitt. Aber offenbar war da doch noch mehr. Auch der Vampir erhob sich. Er sah Gryf stumm an und machte einige Kopfdrehungen, um die Halsmuskeln wieder zu entspannen. Dann ging er einfach weiter. »Verdammt!«, schrie Gryf ihm nach. »Warum kannst du verfluch te Bestie nicht einfach sterben?«
»Keine menschliche Dienerschaft«, raunte Ted Ewigk. »Die Herren Vampire wollen wohl unter sich sein. Wir könnten also doch spren gen.« »Wir können's auch lassen«, sagte Zamorra. »Wir erledigen die Blutsauger und schauen, wer sich als Erbe der Villa meldet. Viel leicht stoßen wir dadurch auf noch viel mehr Vampire.« »Dich hat wohl das Jagdfieber gepackt«, kritisierte Nicole. »Ich bin froh, wenn wir diese Sache sauber hinter uns bringen.« »Also los!« Den Raum, in dem sich die Vampire versammelten, hatten sie beim Überprüfen des Gebäudes schnell gefunden. Sie brauchten sich ihm nur noch zu nähern, einzudringen und auf die Blutsauger zu schießen. »Merde«, stieß Zamorra hervor, der voranging. Er sah, dass die Tür an der Stirnseite des Korridors offen stand! Er sah auch noch mehr. Da war Sarkana, der eine seltsame Waffe
in der Hand hielt! Aber Sarkana achtete nicht auf die Tür und den Korridor. Niemand sah her. Etwas Unvorhergesehenes schien sich im Versammlungsraum abzuspielen. »Sarkana«, flüsterte Zamorra. Sekundenlang richtete er den Blaster auf den Vampir. Er konnte ihn mit einem gezielten Schuss in Brand setzen. Aber er ließ es. Der Überraschungseffekt gegenüber den an deren Vampiren war dann vorbei. »Allons!« Auf leisen Sohlen stürmte er vorwärts. Nicole und Ted folgten ihm. Innerhalb weniger Sekunden hatten sie den Versamm lungsraum erreicht. Zamorra sah einen zusammenbrechenden Vam pir, in dessen Brust ein aus Sarkanas seltsamer Waffe abgeschosse ner Eichenpflock steckte. Er sah fünf weitere Vampire. Sarkana fuhr herum. Er schoss einen Bolzen auf Zamorra ab. Der duckte sich, wurde gestreift. Nicole und Ted schossen. Aber nicht auf Sarkana, sondern auf die anderen Vampire. Sie hatten damit ge rechnet, dass Zamorra sich des Alten annahm. Zwei der Vampire wurden von den Laserschüssen durchschlagen. Die Wundkanäle brannten wie Zunder. Die Körper der Blutsauger loderten auf. Gellende Schreie ertönten. Sarkana schoss seine Waffe leer und hetzte zum Fenster, sprang hindurch. Schon wieder einmal!, durchfuhr es Zamorra. Er feuerte auf einen weiteren Vampir. Der duckte sich weg, verwandelte sich in seine Fluggestalt und folgte durch das Fenster dem Alten. Ted und Nicole machten den beiden letzten Blutsaugern den Garaus. Weitere Laser schüsse trennten den Brennenden die Köpfe ab und beendeten ihre Todesqual. Mit ein paar Sprüngen war Zamorra am Fenster und hechtete hin durch. Draußen rollte er sich ab, federte wieder hoch und sah sich unversehens einer Gestalt gegenüber, einem Mann, dessen Gesicht eine schwache Ähnlichkeit mit seinem eigenen hatte. Ehe er reagie ren konnte, fällte ihn ein wuchtiger Handkantenschlag. Er bekam nicht mehr mit, dass der Vampir sich über ihn beugte und von seinem Blut trinken wollte. Auch nicht, dass Nicole am
Fenster erschien und einen Laserschuss abfeuerte. Aber sie konnte nicht richtig zielen, weil sie sonst Zamorra getroffen hätte. Der Vam pir ließ sofort von ihm ab und hetzte davon, während er sich aber mals verwandelte. Plötzlich sah Nicole Tan Morano! Irritiert richtete sie die Waffe auf ihn. Der andere Vampir entkam. Nicole schoss abermals. Aber Morano schien das vorausgeahnt zu haben. Mit unglaublicher Schnelligkeit wich er aus. Gerade in dem Moment, als Nicole ihn mit einem sauber gezielten Schuss zur Stre cke bringen wollte, stieß Ted sie an, und der Laserstrahl verfehlte den Vampir. »Was ist mit Zamorra?«, fragte Ted besorgt. »Merde!«, entfuhr es Nicole. »Morano kann sich bei dir bedanken! Ich habe ihn verfehlt, und – weg ist er!« »Morano?«, staunte Ted. »Der war auch hier?« »Draußen! Frag mich nicht wieso! Verdammt!« Sie kletterte nach draußen und lief zu Zamorra. Dabei sah sie sich in alle Richtungen um. Weder von Sarkana noch von den beiden anderen Vampiren war noch etwas zu sehen. Sie waren geflohen. Zamorra war bewusstlos. Nicole untersuchte ihn rasch und stellte erleichtert fest, dass er nicht verletzt war. Als sie aufblickte, sah sie Gryf ap Llandrysgryf neben Ted Ewigk stehen. »Ich konnte ihn nicht töten«, sagte Gryf leise und wie geistesabwe send. »Schon zum zweiten Mal nicht.« »Wen?« »Morano … Was ist mit Zamorra?« »Bewusstlos.« »Morano war hier, weil er Sarkana töten wollte«, fuhr Gryf fort. Er malte mit drei Fingern ein Zeichen in die Luft. Augenblicke später erwachte Zamorra. Er richtete sich mit Nicoles Hilfe auf. »Mann, hatte der Bursche einen Schlag«, stöhnte er und rieb sich Hals und Nacken. »Old Shatterhands ›Jagdhieb‹ ist nichts dagegen. Wieso hat mich das Amulett eigentlich nicht gegen diese Flugratte geschützt?« Das fragte sich Nicole allerdings auch. Aber es kam häufig vor,
dass die magische Silberscheibe nicht ganz so reagierte, wie sie es ei gentlich tun sollte. Zamorra versuchte sich an das Gesicht des Vam pirs zu erinnern. Diese Ähnlichkeit … sie war nicht stark, aber – sie hätten Brüder sein können. »Lasst uns gehen«, sagte er rau. »Wir sind hier fertig, oder? Die Vampire dürften eine gewaltige Niederlage erlitten haben.« »Den Kleider- und Staubresten zufolge neun«, sagte Ted. »Unter ihnen Gino diSarko selbst. Ich möchte wissen, warum Sarkana selbst einige von ihnen getötet hat.« »Ich nicht«, murmelte Zamorra. Er hätte es mit der Zeitschau her ausfinden können, aber er wollte es nicht. Er wollte nur noch fort von hier und zurück ins Château Montagne. Ausruhen, sich erholen, Nicoles Nähe und Wärme genießen. Er war müde, er war erschöpft, und er war angeschlagen. Wenn Gryf und Ted sich um die entflohe nen Vampire kümmern wollten – sollten sie es tun. Zamorra wollte jetzt nur noch ausruhen. Und er hoffte, dass nun alles vorbei war.
»Es ist noch lange nicht vorbei«, murmelte Tan Morano. »Es wird nie vorbei sein, solange Sarkana und Zamorra leben.« Der alte Feind war geflüchtet; ihn wieder aufzuspüren, gestaltete sich vermutlich schwierig. Nach diesem Massaker musste er noch vorsichtiger sein als je zuvor. Davon ging Morano aus. Sarkana selbst sah das alles etwas anders. Er konnte die Tötung al ler anderen Vampirfürsten Zamorra anlasten und war damit selbst aus dem Schneider. Wenn er jetzt wieder als Oberhaupt aller Vam pirfamilien auftrat, gab es niemanden mehr, der ihm Widerstand leisten würde. Außer Morano vielleicht, aber der blieb lieber im Hintergrund. Er tat auch gut daran. Sobald er sich öffentlich zeigte, würde Sarkana ihn vernichten oder vernichten lassen. Nach wie vor war Tan Morano vogelfrei.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte Sarkana noch nicht, dass einer aus der Versammlung überlebt hatte – ausgerechnet Don Jaime deZamorra! Einer, der die Wahrheit verkünden konnte: dass es Sarkana selbst war, der fünf Vampire der Versammlung ermordet hatte. Sarkana dachte wieder an Morano. »Eines Tages«, murmelte er, »erwische ich dich doch noch. Es ist nur eine Frage der Zeit. Und dann bist du tot, mein Blutfeind!«