Beth von Adrian Doyle / Timothy Stahl
Schon einmal folgte Lilith Eden dem Zeitkorridor in Uruk bis an den Anfang allen...
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Beth von Adrian Doyle / Timothy Stahl
Schon einmal folgte Lilith Eden dem Zeitkorridor in Uruk bis an den Anfang allen Lebens. Damals trat sie dem Schöpfer selbst gegenüber – und brachte den Vampiren tausendfachen Tod. Nun wagt sie den Schritt ein zweites Mal, in einen halb zerstörten, unsicheren Korridor. Und begegnet dem Geist einer Freundin, die sie einst tötete: Beth MacKinsey. Beth ist gefangen im Strom der Zeit, seit Jahrhunderten schon, und wird verfolgt von einem finsteren Jäger. Nur Lilith kann ihr die Erlösung bringen. Doch ihr Hilferuf stößt auf taube Ohren. Denn die Halbvampirin ist vergiftet vom Bösen …
Was bisher geschah … Bei der Flucht aus den Gefilden der Hölle werden die Persönlichkeiten von Lilith Eden und ihres ärgsten Feindes Landru gelöscht. Doch Gabriel, eine Inkarnation Satans, schließt mit Landru einen Pakt und gibt ihm die Erinnerung zurück. Daraufhin gaukelt dieser Lilith eine falsche Identität in Mayab, einer von Kelchmagie abgeschirmten Stadt in Mesoamerika vor. Bei einem Abstecher zum Dunklen Dom erfährt Landru, daß ein weiterer Kelchhüter erwacht sein soll. Auch er selbst gehörte einmal zu jenen, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire verbreiteten. Doch Anum hat den Dom bereits verlassen. Aus der EWIGEN CHRONIK, der Geschichtsschreibung des Bösen, erfuhr er von Landrus Machtgelüsten und Versagen. Nun will er das Schicksal seines Volkes in die eigenen Hände nehmen. Landru erringt die CHRONIK, kann aber selbst nicht darin lesen – eine Fähigkeit, die Lilith jedoch besitzt. In Mayab zwingt er Lilith, ihm daraus vorzulesen. Doch seine Frage nach dem Wirken des Satans endet im Fiasko: Lilith beginnt wie besessen, die Blutbibel zu zerstören! Wenig später geht die magische Welt Mayab unter. Landru und Nona fliehen; Lilith bleibt mit der CHRONIK zurück. Da taucht Gabriel auf und bietet auch ihr einen Pakt an, den sie annehmen muß, will sie überleben. So sichert sich Satan ihre Loyalität. Um Lilith vollends auf die Seite des Bösen zu ziehen, bringt er sie mit Hidden Moon zusammen. Mit dem Arapaho-Vampir verbindet Lilith ein seltsames Schicksal: Seit sie sein Seelentier tötete, absorbiert sie das Böse aus Hidden Moon. Die lange Trennung beider ließ die dunkle Macht in dem Indianer wuchern – und nun erhält Lilith eine Überdosis und verfällt dem Bösen! Auch die Werwölfin Nona ist Bestandteil in Gabriels großem Plan. Nach den Ereignissen in Mayab läßt er sie eine vergessene Erinnerung durchleben: 1635 traf sie in ihrer Geburtsstadt Perpignan auf
den Satan, der dort tote Kinder aus ihren Gräbern raubte, um ihnen wieder Leben einzuhauchen. Noch weiß sie nicht um die tiefere Bedeutung dieses Vorfalls. Lilith bricht nach Uruk auf, um Aufschlüsse über jene Geschehnisse zu erhalten, die ihr die unvollendete CHRONIK nicht schildern konnte. Uruk ist auch das Ziel Anums. Dort hofft er seine Schwester Felidae zu finden, um sie für ihre Beteiligung am Niedergang der Alten Rasse zu strafen. Doch Uruk war auch schon rund drei Jahrhunderte zuvor das Ziel einer Reise. Damals brach die Zeitdiebin Beth, Liliths ehemalige Freundin, dorthin auf, um einen Weg zurück in die Zukunft zu finden. Beth gelangte 1705 nach Uruk, wurde aber, bevor sie den Zeitkorridor betreten konnte, von den Dienern zweier Albinos überwältigt, die Beth schon während des ganzen Wegs nach Uruk verfolgt hatten. In der Gegenwart indes empfängt Lilith beim Betreten des von Amun wieder aktivierten Zeitkorridors einen flehendlichen Hilferuf …
Prolog Perpignan, 1666 Raoul Steen schloß die Augen und lauschte. Das tat er gern, wenn er sich im Keller des Hauses aufhielt, zu dessen Hüter er bestellt worden war, und ein jedes Mal kam es ihm dabei vor, als würde er das aufeinander abgestimmte Ticken vieler Uhren hören. Die Illusion war so perfekt, daß Raoul sich in die Zeit zurückversetzt fühlte, als er noch mit Marie in der Wohnung über seiner Werkstatt gewohnt hatte. Bevor er sein böses Weib erwürgt – und bevor der Herr dieses Hauses sie ihm wieder zurückgeben hatte …
Raoul öffnete die Augen. An das Zwielicht im Keller würde er sich nie gewöhnen, allzu fremd war es, allzu gespenstisch drang es, nein, atmete es aus Wänden, Decke und Boden. Ihn schauderte. Dann, eine Sekunde später, tat er sein Grausen mit einem Achselzucken ab und trat an den Kokon heran, der ihm am nächsten stand. Wie groß sie geworden sind, dachte er. Zuneigung erwachte. Eine Zärtlichkeit, hart an der Grenze zum nächsten Frösteln. Er betrachtete die Schläfer als seine und Maries Kinder. Als den Ersatz für die Sprößlinge, die sie nie miteinander haben konnten. Er hatte ihnen Namen gegeben. Eines Tages, als er wieder einmal in das Gewölbe hinabgestiegen war, um nach dem Rechten zu sehen, waren sie ihm einfach eingefallen – und vergessen hatte er sie danach nicht wieder. Auch Marie kannte die Namen, obwohl sie den Keller mied; wahrscheinlich, weil der Inhalt der Kokons sie an die Zeit erinnerte, als sie noch im Salz gelegen hatte …
Raoul lächelte abseitig. Er war zufrieden, denn der Herr dieses Hauses hatte seinem Leben neuen Sinn gegeben. »Natan, mein Sohn«, murmelte er und streckte die Hand nach dem Schläfer aus, der in dem durchsichtigen, mit der Decke verknüpften Gespinst zusammengerollt wie in einem Nest lag. Oder wie einst im Leib seiner leiblichen Mutter, dachte Raoul. Er hatte den Schlafenden schon gekannt, als dieser noch ein kleines Kind gewesen war. Inzwischen waren er und seinesgleichen zu Mann oder Frau gereift. Besondere Männer und Frauen. Die nicht aßen noch tranken. Niemals. Woher sie dennoch die Kraft zogen, um zu gedeihen, wußte auch Raoul nicht zu sagen. Und obwohl sie sich so prächtig entwickelt hatten, war er oft versucht gewesen, sie aus ihren Kokons herauszuschälen und hinauf in den Garten zu schaffen, ihnen ein klein wenig frische Luft und Sonne zu gönnen … Gewagt hatte er es letztendlich nicht. Zu groß war die Angst gewesen, vielleicht zu zerstören, was im Entstehen begriffen war. Zu groß auch die Angst vor Strafe. Bleich, fast weiß war die Haut der erwachsen gewordenen Kinder, die das Licht eines hellen Tages nicht kannten und wohl deshalb auch nicht vermißten. Kein Haar sproß an ihren Körpern. »Welche Farbe ihre Augen wohl haben mögen?« sinnierte Marie manches Mal – Marie, deren eigene Augen vom Salz zerfressen waren und die außerhalb des Hauses weder leben noch hätte sehen können. Im Haus war vieles anders als draußen. Raoul sprach nicht darüber, aber er selbst fürchtete den Moment beinahe, da sich die Lider eines Tages heben würden, weil die Schläfer erwachten. Er fürchtete ihn, weil er sich vorstellte, den Blick aus vielleicht ebenfalls weißen Augen nicht zu ertragen … Aber der Tag des Erwachens war fern. Manchmal war Raoul felsenfest überzeugt, ihn nicht mehr zu erleben. Im Gegensatz zu Ma-
rie war er alt geworden. Einunddreißig Jahre war es her, daß er in die Dienste des Herrn getreten war, dem dieses Haus gehörte. Seit ebenso langer Zeit hatte er keine Uhr mehr repariert und seine Werkstatt nicht mehr aufgemacht. Er hatte sie verkauft und lebte seither vom Erlös. Sein neues Zuhause war hier. Einmal alle vierzehn Tage erledigte er seine Einkäufe. Ein seltsamer Kauz, hinter dessen Rücken getuschelt wurde. Aber das focht ihn nicht an. Nicht mehr. Er hatte ohnehin keine Wahl. Aus dem Vertrag, den er damals geschlossen hatte, würde er nicht mehr herauskommen, selbst wenn er dies gewollt hätte … Würde ich denn wollen? Raoul ballte kurz die Hand, die er nach dem Kokon ausgestreckt hatte, zur Faust. Als er sich dabei ertappte, öffnete er sie schnell wieder. Kreatürliche Angst brachte sein Herz zum Rasen. Eine vertraute, schreckliche Angst, die sogleich die Erinnerung an jene Nacht emporspülte, als er dem Dieb gefolgt war, der Kinderleichen von den Friedhöfen der Stadt gestohlen hatte. Tote Kinder, deren kleine Herzen inzwischen groß geworden waren und wieder zu schlagen begonnen hatten. Wie kunstvolle Uhren. »Natan, mein Sohn …« Er hörte sich selbst dabei zu, wie er die Worte wiederholte. Der Klang seiner Stimme schien ihm Halt in einem Anflug von Desorientierung zu geben. Er zog seine Hand zurück, ohne das Gespinst berührt zu haben, den Kokon, der aussah, als bestünden seine Fäden aus nichts anderem als einer besonderen Sorte Licht. So besonders wie die Kinder, die sie eingesponnen hatten … Raoul verließ den Keller über die breite Treppe. Oben wartete Marie. »Du hast kaum noch zu essen«, sagte sie. »Es wird Zeit, daß du deine Besorgungen erledigst.«
Wie sehr sie sich kümmerte. Was ein bißchen Tod doch ausmachen kann, dachte Raoul abstrakt. Er wußte noch genau, warum er sie damals umgebracht hatte – er hatte es einfach nicht mehr ertragen, nach seinem Unfall tagein, tagaus als Krüppel von ihr verspottet zu werden*. Sacht streichelte er über ihr sprödes Gesicht. Dabei bemühte er sich, sie so zu sehen, wie sie einmal gewesen war, bevor das Salz sie in Mitleidenschaft gezogen hatte. »Ich bleibe nicht lange«, sagte er. »Laß dir ruhig Zeit«, erwiderte sie ebenso sanft. »Und wenn du zurückkehrst, erzähl mir, was sich alles getan hat – draußen.« Er bewunderte sie, weil es sie immer noch interessierte, was in der Welt vorging, die sie nicht mehr betreten durfte. Weil es nicht mehr ihre Welt war. Weil ein Schritt über die Schwelle des Hauses das betrogene Fleisch daran gemahnt hätte, daß es kein Anrecht mehr auf Leben besaß … Er verließ die gemeinsame Zuflucht. Den Hort der toten Kinder. Man schrieb den 2. September des Jahres, und ein warmer Wind trug Salzgeruch vom Meer herüber, als Raoul Steen durch den verwilderten Garten auf die Straße hinaus trat. Das windschiefe Haus, aus dem er gekommen war, lag am Ende einer Sackgasse. Ganz in der Nähe klapperte ein von lachenden, schreienden Kindern gezogener Handwagen über das holprige Pflaster. Als die Lumpenkinder den Alten mit der Krücke entdeckten, hielten sie kurz inne, als müßten sie überlegen, ob sie etwas von ihm zu fürchten hatten. Offenbar gelangten sie zum gegenteiligen Schluß, denn plötzlich plärrten sie boshafte Verhöhnungen, um anschließend, so schnell ihre gesunden Beine sie trugen, in einem Seitenweg zu verschwinden. Raoul blieb gelassen. Er humpelte zum nächsten Krämerladen. Die Krücke, auf die er sich stützte, brauchte er nur hier draußen. Drin*siehe VAMPIRA T38: »Das Gift des Bösen«
nen war er kein Krüppel – so wenig wie Marie dort tot war. Der Ladenbesitzer hatte seine Kundschaft kommen sehen und hielt die Tür auf. Er kannte Raoul noch aus der Zeit, als dieser sich als Uhrmacher verdingt hatte. Und es war schon Teil ihres Begrüßungsrituals, daß er grinsend zur Wand hinter der Verkaufstheke zeigte, wo eine Uhr mit schweren Pendeln befestigt war, und lamentierte: »Sie ist schon wieder kaputt. Könnten Sie nicht doch mal danach sehen …?« Raoul verneinte wie jedesmal. Er tat es freundlich, aber bestimmt. »Meine Hände zittern. Ich fasse keine Uhr mehr an. Ich hab’s dem Herrn geschworen.« Welchem Herrn er meinte, verschwieg er wie üblich und verließ sich darauf, daß der Krämer ihn auch diesmal mißverstand. Es waren bescheidene Dinge, die er einkaufte, fast ausschließlich Lebensmittel, die zur Not auch ein paar Tage länger hielten. Je älter er wurde, desto schwerer tat er sich damit, das Haus zu verlassen, das auch ihn beschützte. Kein Mensch hatte sich seit dem Fortgang des Herrn dorthin verirrt. Völlige Ruhe umgab das kleine Anwesen. Manchmal dachte Raoul, daß er dem eigenen Altern vielleicht ein Schnippchen hätte schlagen können, wenn er noch mehr Vorräte gehamstert und das Haus noch seltener verlassen hätte. Es kam ihm nämlich vor, als bekäme selbst die Zeit den Zutritt in das Haus des Herrn verwehrt … Aber das waren Ideen, die ihm immer nur im Hirn herumspukten, wenn er seine Einkäufe erledigte. Er war nicht wirklich unzufrieden mit seinem Los. »Gibt’s was Neues?« fragte er den Krämer, als er ihm die Münzen auf den Tresen zählte. Der dickliche Mann mit dem schütteren Haar wollte erst den Kopf schütteln, schien sich dann aber zu erinnern, wie lange er seinen Stammkunden nicht zu Gesicht bekommen hatte. »Die Engländer, sagt man, haben ihre Flotte gegen die Holländer losgeschickt. Aber
eine Schlacht ist noch nicht entbrannt.« Raoul nickte. Die Fehde der beiden Seemächte hatte schon beinahe Tradition. Ihn persönlich belastete sie wenig. Auf Perpignan würde ein solcher Krieg keinen Einfluß haben. »Was macht die Pest?« fragte er ruhig. Kurz flackerte Angst in den wäßrigen Augen des Ladenbesitzers. Dann sagte er mit schwankender Stimme: »Wieder einer – wie letzten Monat … Wie jeden Monat …« Raoul nickte. Seit Jahren ging das so, und niemand wußte es zu erklären: Zwölf Pestopfer in jedem Jahr, keines mehr und keines weniger, und immer traf es Menschen, die besonders gesund und kräftig gewirkt hatten. Wenn es eine Epidemie war, dann eine überaus absonderliche, die niemand in den Griff bekam und von der die Bewohner der Stadt nur noch unterschwellig beunruhigt wurden. Es gab zu viele andere Krankheiten, an denen mehr Menschen starben. Um in Panik zu verfallen, gab es keinen Grund … Raoul erzitterte unmerklich. Wirklich nicht? Nicht für mich jedenfalls, dachte er – und glaubte daran. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken zum Erwecker der toten Kinder, der damals fortgegangen war und Raoul hatte wissen lassen, daß er nicht vorhatte, je wiederzukehren. »Meine Kinder werden zu mir finden, wenn es an der Zeit ist«, hatte er seinem Diener zum Abschied erklärt. Wann das sein würde, hatte er nicht offenbart, aber Raoul in der Meinung bestärkt, es könnte höchstens ein paar Jahre dauern. Nun waren Jahrzehnte daraus geworden, und es gab Tage, an denen Raoul bezweifelte, daß die Schläfer überhaupt jemals erwachen würden. Vielleicht wurden sie ja auch vergessen? Vielleicht altern sie zu Tode, ohne ein einziges Mal die Augen aufgeschlagen zu haben und sich ihres wiedergewonnenen Lehens bewußt geworden zu sein …?
Der Krämer räusperte sich. Raoul erkannte, daß ihm schon eine ganze Weile der Korb mit den Waren entgegengehalten wurde. Rasch griff er danach und murmelte einen Dank. »Bis bald«, sagte er und verließ den Laden. »Bis bald«, wiederholte der Ladenbesitzer mechanisch und sah zu, wie Raoul, den Korb in der einen, den Krückenschaft in der anderen Hand, wieder heimwärts humpelte. Heimwärts … Wie normal es für ihn geworden war, dort, wo Marie auf ihn wartete, auch sein Zuhause zu sehen. Sie stand mit weit aufgerissenen Augen hinter der Tür, als er eintrat. Ihre Züge waren grimassenhaft verschoben, und zuerst fiel Raoul keine mögliche Erklärung dafür ein. Bis sie ihm den Grund stammelnd nannte. Der Korb fiel ihm aus der Hand, aber er bückte sich nicht, um ihn aufzuheben. Das, was sich über den Boden verstreute, hatte keine Bedeutung. Nicht mehr. »Sie erwachen?« echote er heiser. Er glaubte es erst, als er die Treppe hinunter in den Keller gehastet war. Das Gewölbe war völlig verändert. Die Kokons existierten nicht mehr. Nur flirrende Fetzen schwebten wie gewichtslose Flusen durch die Luft. Die Nester aber waren verschwunden, und ihr Inhalt … Raouls Blick ruckte von einer der stolz aufrecht stehenden Gestalten zur nächsten. Sie waren nackt, ohne Ausnahme. So nackt wie zu Zeiten, als sie noch geschlafen hatten. Ihre Augen, dachte Raoul als nächstes, ihre Augen sind offen. Vom befürchteten Weiß blieb er verschont, aber das Rot, das ihm entgegenstach, dörrte ihn innerlich förmlich aus, als schürften die Blicke der Bleichen auf dem Grund seiner Seele nach etwas, das …
ihnen gehörte. Raoul wurde schmerzhaft bewußt, daß seine Seele wahrhaftig verpfändet war. An IHN. An den, der gegangen und nicht wiedergekehrt war, in all der Zeit nicht! Eine der Gestalten trat ihm aus der Phalanx entgegen, und Raoul erkannte Loth, dessen Stimme er nie zuvor gehört hatte. »Vater …«, sagte Loth brüchig. Der bin ich nicht, dachte Raoul und empfand große Erleichterung darüber, es tatsächlich nicht zu sein. Die Fremdheit, die der wache Loth ausströmte, hatte eine solche Dimension, daß er ihn um keinen Preis der Welt weiter als seinen »Ziehsohn« betrachten mochte. »… ist tot«, vollendete Loth den begonnenen Satz in unerwarteter Weise. »Tot?« Hinter Raoul erklangen Schritte. Marie rief seinen Namen. Dann fühlte er ihre kalte Hand auf seiner Schulter. Sie bebte, und Raoul verstand ihre Aufgewühltheit nur allzu gut. »Beruhige dich«, sagte er, ohne sich nach ihr umzudrehen. »Wir haben nichts zu fürchten.« Er schwieg kurz und vergewisserte sich dann bei Loth: »Das haben wir doch nicht?« »Nein«, sagte Loth. Sein kahler Schädel und die brauenlosen Augen, in denen eine unbekannte Glut glomm, zogen Raouls Blicke an. »Zu fürchten habt ihr nichts. Eure Zeit ist einfach um.« Marie schrie leise auf. Raoul drehte sich jetzt doch nach ihr um und hielt ihren Arm. Gleichzeitig fragte er: »Um? Was heißt das?« »Ganz einfach, wir werden nicht mehr gebraucht«, sagte Zoe, die nun ebenfalls auf Raoul zutrat. Sie hatte Brüste von ungleicher Größe und Form. »Keiner von uns. Dieses Haus hat seinen Sinn verloren. Es darf endlich sterben, und es wird sterben, sobald wir es verlassen haben.« Die bleiche Zoe redete wie von etwas Lebendigem. Raoul räusperte sich und stellte die Frage, die ihn von allen, die ihm auf der Zunge lagen, eigentlich am wenigsten interessierte: »Wohin wollt ihr ge-
hen?« Loth zuckte die Achseln, ratlos, wie es schien. »Das wissen wir nicht. Noch nicht.« Zum ersten Mal bemerkte Raoul etwas wie Trauer in den roten Augen – nicht nur in Loths Pupillen, sondern in einem jeden Blick, dem er begegnete. »Ich habe ein Recht zu erfahren, was geschehen ist«, sagte er fast trotzig. »Ich habe die Hälfte meines Lebens auf euch aufgepaßt. Und nun soll ich …?« Natan unterbrach ihn kalt: »Wir haben dich nicht darum gebeten. Außerdem gäbe es dich längst nicht mehr, hättest du damals nicht in den Handel mit Ihm eingewilligt!« »Ihr … wißt davon?« Raoul hob die freie Hand und faßte sich unbehaglich an die Kehle. Natan antwortete nicht. Statt dessen sagte Loth: »Du und sie«, er zeigte auf Marie, die wie Espenlaub zitterte und deren zerfressene Züge so voller Anspannung waren, daß Raoul fürchtete, die verätzte Haut könne aufbrechen, »ihr sollt beide euren Lohn erhalten. Nutzt den Aufschub, den wir euch – und dem Haus – gewähren. Eine einzige Nacht bleibt euch, nachdem wir gegangen sind. Dann …« Die Bleichen setzten sich in Bewegung. Stumm nahmen sie Abschied. Einer nach dem anderen schritt an Raoul und Marie vorbei, die Treppe hinauf. Als Raoul seine Frau genauer ansah, erfaßte ihn Schwindel. Sie war in einer Weise verändert, daß er sie nicht länger schöndenken mußte. Sie war es. Sie war … »Marie?« »Ich weiß. Ich fühle es auch. Es ist – unbeschreiblich. Sie haben das getan. Allmächtiger …« Als Zoe an ihnen vorbei wollte, verstellte Raoul ihr den Weg. »Halt!« sagte er. »Wer seid ihr? Woher habt ihr diese Macht, die … Seiner gleichkommt? Ihr könnt nicht einfach gehen! Ihr könnt die
Jahre, die ich euch geopfert habe, nicht mit einer einzigen Nacht aufwiegen …!« Um Zoes bleiche Lippen schmiegte sich Verachtung. »Wir können und werden. Und jetzt mach den Weg frei, oder die Schonfrist ist verwirkt!« Raoul trat beiseite. Kurz darauf war er mit Marie allein. Einer wunderschönen, begehrenswerten Marie, die das Salz nie zerschunden hatte und der Raouls Alter nichts auszumachen schien. »Vater ist tot«, hallten Loths Worte in dem ehemaligen Uhrmacher nach. Was war geschehen? War der Unheimliche, der diese Kinder einst gestohlen und hierher gebracht hatte, tatsächlich gestorben? Konnte einer wie er überhaupt sterben, und wenn ja, woran oder … wodurch? Eine Tür schlug. Das Haus schien in seinen Grundfesten zu seufzen. Oder zu ächzen. »Sie sind gegangen«, wisperte Marie. Er hatte gar nicht mehr gewußt, was für eine verführerische Stimme sie in ihrer Jugend, in ihrem ersten Leben besessen hatte. »Ja«, sagte er einsilbig. Er fühlte sich müde. Er fühlte sich ausgenutzt. Und weggeworfen. »Du wirst in meinen Armen sterben«, hauchte Marie. »In meinem Schoß. Ich werde versuchen, es dir leicht zu machen. Obwohl …« »Obwohl?« »… ich mich selbst fürchte.« »Du bist tot!« Er wußte nicht, woher die Lust kam, ihr wehzutun. Sie noch einmal zu verletzen. Sie dafür bezahlen zu lassen, was sie ihm einst angetan hatte, bevor er sie mit einem Tuch um den Hals erdrosselt hatte. »Du hast es längst hinter dir – alles!« »Das ist nicht wahr. Daß ich weiß, was uns erwartet, macht es viel
schlimmer …« Er schwieg. Dann zog er sie an sich und vergrub seine Hände in ihren Haaren. Tränen rollten aus seinen Augen. Das Salz darin ließ sie erstarren. Doch dann entspannte sie wieder, zog ihn zu Boden. »Komm her. Berühre mich. Ich fühle mich gut an. Noch ein einziges Mal fühle ich mich gut an. Und du … du bist auch verändert. Jung und stark. Ich wünschte, ich hätte einen Spiegel, daß du mir glaubst …« Er glaubte ihr nicht. Sie log. Sie meinte es gut. Raoul vergrub sein Gesicht zwischen ihren Brüsten. Sie hatte sich das Kleid selbst vom Leib gerissen. Es lag am Boden, dämpfte die Kälte aus dem Mittelpunkt der Erde. Sie war so weich, so zart. Und sie duftete wie damals, als er das erste Mal bei und auf ihr gelegen hatte. Nachts im Heu eines Bauern, als er in ihre warme, feuchte Grotte vorgestoßen war. Wie von Sinnen … Raoul hörte auf, sich diese letzte Gnade verderben zu wollen. Er küßte Maries Bauch und ihr Geschlecht. Es schmeckte köstlich. Er konnte nicht glauben, wie lange er ohne diesen Genuß ausgekommen war, wie lange es ihm genügt hatte, einfach bei ihr zu sein. »Ich liebe dich«, flüsterte seine Frau. Sie war nicht tot. Sie war nie tot, dachte Steen. Er schloß die Augen, um zu glauben, was er sich vorgaukelte. Ich bin nicht alt, und Marie liegt nicht im Salz. Ich habe nie die Hand gegen sie erhoben, sie hat mich nie verhöhnt. Dies ist eine Nacht von vielen, die noch folgen werden in unserer kleinen Wohnung über den Uhren. Immer wieder drang er in sie. Im Rhythmus des Tickens, das in seinem Kopf erwacht war. Das ganze Haus tickte. Eine Nacht lang. Weder er noch Marie merkten, wie es schließlich aufhörte. Abrupt. Und für immer …
* 38 Jahre später Uruk, Mesopotamien Tyk, der Vampir, transformierte aus seiner Fledermausgestalt zurück in die biegsame Form eines jungen Mannes. In der Mitte einer Senke lag die Treppe, die Mos Iranshars Männer auf Geheiß der Frau, die jetzt regungslos im Sand lag, freigegraben hatten. Tyk kannte die Frau nicht. Er wußte nur, daß er selbst ebenfalls auf Geheiß aktiv geworden war. Von allein wäre er nie auf die Idee gekommen, Bagdad, wo seine Sippe beheimatet war, den Rücken zu kehren, um nach Al Basrah an die Küste des arabischen Meeres zu reisen und dort das Blut einer Handvoll auserwählter Männer zu trinken. Auserwählt von IHNEN, nicht von mir, dachte Tyk bitter und vermochte seine Nervosität kaum noch im Zaum zu halten. Die abwärts führende Treppe inmitten öder Wüstenlandschaft übte eine schier unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. Dieses nur scheinbar von seiner Neugier ausgelöste Gefühl quälte ihn beinahe ebenso wie der magische Bann, der ihn aus der Mitte seiner Sippe herausgerissen hatte und der von gänzlich anderer Natur war als die Kraft, mit der Vampire normalerweise selbst den Willen anderer beugten. Daß seine Peiniger keine Vampire waren, wußte er längst. Was aber nicht hieß, daß er wußte, was sie waren. Menschen? Unmöglich, dachte Tyk. Doch selbst dafür fehlte ihm letztlich jeder Beweis. Die fiebrigen Blicke der Araber, die von der bewußtlosen Frau umgebracht worden waren, bohrten sich wie gebündeltes Licht aus
Brenngläsern in seine Haut. Der Tod hatte sie zu Dienerkreaturen gemacht – zu seinen Dienern. Aber die Tatsache, daß der Vampir selbst unter der Knute fremder Herren stand, minderte ihren Wert. Insekten, dachte Tyk verächtlich, wobei er eigentlich sich selbst verachtete, weil er versagt hatte. Ich sollte sie zertreten und ihre Asche mit dem Sand der Wüste vermählen! Ich sollte das Blut der hellhäutigen Frau trinken und mich aus dem Staub machen …! Wunschdenken. Wieder schweifte sein Blick weg von den mumifiziert erscheinenden Untoten, die gestern noch voll im Saft gestanden hatten, hin zu der knabenhaft schlanken, blonden jungen Frau, die das geändert hatte. Sie hat sie schrumpeln und sterben lassen – wie? Die beiden albinoiden Gestalten, die Tyk aus Bagdad entführt hatten, mußten über geradezu hellseherische Fähigkeiten verfügen, wie anders hätten sie das Verhalten und die Gegenwehr der Frau so genau voraussehen können? Tyk schmälte die Augen, und als er endlich sprach, sogen die Kreaturen seine Worte in sich auf, als wäre es frisches Blut, das ihre dürstenden Kehlen benetzte. »Nehmt sie und reitet mit ihnen gen Westen! Hütet sie wie eure toten Herzen. Noch vor Sonnenuntergang werdet ihr die Berge erreichen. Bis dahin habe ich euch eingeholt.« »Eingeholt, Herr?« erhob einer der Untoten den Einwand. »Ihr kommt nicht mit uns?« Es tat wohl, »Herr« genannt zu werden. Auch wenn es ein barmherziger Trugschluß war. »Ich komme nach«, versprach Tyk, während er – für seine Diener unbemerkt – mit sich rang. Die Treppe und das Tor an ihrem Ende übten solche Faszination auf ihn aus, daß er sich einredete, nachsehen zu müssen, was es damit auf sich hatte – schon allein um den Herren auch eine wirklich erschöpfende Auskunft über die Situation vor Ort geben zu können.
Nach seiner Erwiderung zögerten die Dienerkreaturen nicht länger. Tyks Vampirkeim lieh ihnen übermenschliche Kraft – Kraft, die in keinem Verhältnis zu ihren jetzt völlig vergreisten, ledrig verdorrten Körpern stand. Sie fesselten die immer noch ohnmächtige Gefangene an Händen und Füßen und zerrten sie aus der Senke zu den Reittieren, mit denen sie am Vortag hier angekommen waren. Angekommen, um zu sterben. Und ich? dachte Tyk. Was erwartet mich? Dort unten … Kälte durchkroch die Windungen seines Gehirns. Die in ihm angestaute Verzweiflung drohte Überhand zu nehmen. Bagdad … die Seinen … In diesem Augenblick hatte er keine Hoffnung, sie jemals wiederzusehen. Dennoch setzte er Fuß um Fuß auf die Stufen und ging hinab. Der Magnetismus der Tiefe, der Magnetismus des Fremden überstieg sogar den Bann seiner Herren, der Archonten. Archonten? So hatten sie sich genannt. Archonten … Tyk erreichte das Tor, hinter dem der Tunnel lockte. Endlose Weite. Und eine Stimme, die ihn willkommen hieß …
* Die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten. Siegmund Freud Von irgend etwas erwachte sie. Seltsamerweise galt Elisabeth’ erster Gedanke Karim, dem Quajaren … … bis ihr wieder einfiel, daß dieser tot war. Daß sie ihn verblutet im Zelt neben der Ausgrabungsstätte gefunden hatte. * Danach wa*siehe VAMPIRA T39: »Die Reise nach Uruk«
ren die Ereignisse eskaliert. Zuletzt hatten sich die Helfer, die sie in Mos Iranshars Karawanserei in Al Basrah angeworben hatte, als mit Vampirkeimen verseuchte Feinde entpuppt. Feinde, die Elisabeth sogar daran gehindert hatten, sich in den freigelegten Zeitkorridor bei Uruk zu begeben, um mit dessen Hilfe die Zukunft zu erreichen, aus der sie vor nun fast hundert Jahren in diese finstere Vergangenheit verschlagen worden war. Dunkle Jahre lagen hinter ihr. Jahre, die den Haß in ihr geschürt hatten – den Haß gegen die Frau, durch deren Hände sie einst im Korridor der Zeit gestorben war! Auch Lilith Edens wegen wollte sie in die Zukunft zurück. Um Rache zu nehmen … Elisabeth hielt die Augen noch geschlossen. Ihr Schädel fühlte sich an, als wäre er in tausend Stücke zersprungen. Beim Kampf gegen die Männer, die durch ihre Schuld zu Dienerkreaturen geworden waren, war sie mit dem Kopf gegen Stein geschleudert und daran gehindert worden, sich aus dieser Zeit davonzustehlen. Stehlen … Dieses Wort bestimmte ihr Dasein, seit sie nach ihrem Tod im Prag des Jahres 1618 wiedergefunden hatte: als todbringendes Wesen, das allem Lebendigen in seiner Nähe die Kraft und Lebenszeit raubte, um selbst davon zu zehren! Elisabeth hatte viel über sich nachgedacht, und im nachhinein kam es ihr vor, als hätte das gestohlene Leben es ihrem körperlosen Geist erst ermöglicht, sich eine neue Hülle zu bauen. Und um sie zu bewahren, bedurfte es auch heute noch des Diebstahls fremder Lebensenergie und Zeit … Vorsichtig hob sie die Lider. Schon vorher hatte sie gespürt, daß sie bäuchlings auf dem Rücken eines Reittieres angebunden worden war. Nun sah sie die Details. Grelles Tageslicht quälte ihre Augen. Sie blinzelte. Um sie herum waren stumme Begleiter: Die Männer, die sie vor dem freigegrabe-
nen Tor des Korridors überwältigt hatten. In wessen Diensten sie standen, war Elisabeth noch unklar, aber sie war sicher, daß sie sich nicht aus eigenem Antrieb zu dieser Vorgehensweise entschlossen hatten. Jemand – naheliegenderweise ein Vampir – steckte dahinter. Aber wer? Etwa …? Sie schluckte. Etwa Landru, den es schon zu dieser Zeit gegeben hatte und mit dessen Wirken sie auch in diesem zweiten Leben schon einmal konfrontiert worden war, Jahre zuvor in Jerusalem? Ging sie nach der Heimtücke, mit der Falle um sie herum zugeschnappt war, konnte eigentlich nur ein so mächtiger Vampir wie der Kelchhüter dahinterstecken! Dabei war unerheblich, wie er ihr auf die Schliche gekommen war. Erheblich waren nur die Folgen, die daraus erwachsen würden, wenn tatsächlich er die Fäden zog. In der Zukunft, die Elisabeth kannte, hatte Landru erst nach Lilith Eden von der Existenz des Zeitkorridors erfahren. Der Schaden, den ein veränderter Lauf der Geschichte nehmen würde, wenn Landru – gegenwärtig noch im Besitz des Lilienkelchs – dreihundert Jahre früher von der Bedeutung dieses Tunnels durch die Zeit erfuhr, war nicht absehbar! Alles konnte sich ändern – alles! Lilith Eden würde vielleicht nie geboren werden … Ist es nicht das, was du willst? Nein! Elisabeth wollte Rache, ganz profane Rache, aber um Lilith den Mord im Korridor büßen zu lassen, mußte sie ihr erst noch einmal gegenüberstehen! Sie entschied sich, ihren Entführern ein Signal zu geben, daß sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war. Offenbar achteten sie überhaupt nicht auf sie. Stur und hölzern saßen sie in den Sätteln ihrer Kamele und hatten den Blick in die Richtung gewandt, in die sie auch ritten. Westen.
Am Stand der sinkenden Sonne war zu erkennen, daß die kleine Karawane westwärts zog, auf Berge zu, von denen Elisabeth annahm, daß sie zur schroffen Kulisse des Zagros-Gebirges gehörten. »Wohin bringt ihr mich? Ich verlange –« Sie verstummte, als einer der Untoten sein Kamel auf sie zu lenkte. »Wir kennen das Ziel nicht. Unser Herr hat uns nur aufgetragen, vorauszureiten.« »Wer ist euer Herr?« Das Leuchten in den Augen der Dienerkreatur war Elisabeth nicht fremd. »Schweig jetzt!« krächzte der ausgemergelte, vom Wind der Zeit ausgedörrte Mann. Ich habe ihn auf dem Gewissen, dachte Elisabeth. Ich habe ihn getötet und den Keim in ihm aktiviert. Eigentlich hätte der Anblick des Mannes sie nicht nur mit Entsetzen, sondern auch mit tiefer Scham erfüllen müssen. Aber das tat er nicht. »Ich werde schweigen, wenn du mir meine Frage beantwortet hast.« »Du wirst ihn kennenlernen. Er muß uns bald eingeholt haben. Er vermag zu fliegen …« Das vermochte jeder Vampir. »Sein Name!« forderte Elisabeth, der in der unbequemen Haltung das Blut in den Kopf schoß, was die vorhandenen Schmerzen verstärkte. Aber das ließ sie den anderen nicht merken. »Tyk«, sagte die Dienerkreatur. »Der Name des Meisters ist Tyk. Und er –« Bevor Elisabeth ihren Zweifeln Ausdruck verleihen konnte, ob dies der echte Name des »Meisters« war, fuhr es ohne jede Vorwarnung wie ein Blitz in ihre Entführer – in jeden von ihnen! »Was ist?« fragte sie, als der neben ihr reitende Blutsauger erst zusammenzuckte und dann regelrecht versteinerte.
Im nächsten Moment rann nicht nur aus seinem Mund, sondern aus allen Kehlen – sie selbst ausgenommen – ein gespenstischer Seufzer. Elisabeth sah, wie sich die Pupillen des Untoten explosionsartig erweiterten, bis das düstere Feuer darin auch das Weiß der Iris vereinnahmte. Die Lippen des am nächsten befindlichen Mannes zitterten unkontrolliert, öffneten und schlossen sich wie das stumme Maul eines Fisches. Im nächsten Moment riß er am Zügel und brachte das Kamel fast zum Sturz. Auch das Tier, an dem Elisabeth festgezurrt war, kam abrupt zum Stehen. Ein Hagel sinnloser Worte prasselte aus dem Mund des Untoten, der linkisch aus dem Sattel gesprungen war und nun auf die Gefangene zustapfte. Bis auf einen Schritt kam er heran, streckte die zitternden Arme nach Beth aus und grub die Hände in den Stoff des Kleides, das sie trug. Wahnsinn flackerte in seinen Augen. Elisabeth zerrte an ihren Fesseln und schrie: »Faß mich nicht an! Dein Meister wird dir den Hals brechen, wenn du mir etwas antust!« Sie hatte keine Ahnung, wie der Meister tatsächlich reagieren würde. Es spielte auch keine Rolle, denn Elisabeth sah das Leuchten der Gier im Blick des Untoten. Gier und Wahnsinn vermischten sich binnen Sekunden zu etwas, dem sie in ihrer Lage nichts entgegenzusetzen hatte. Brutal wurde sie vom Kamel gezerrt und in den Sand geschleudert. Hinter ihrer Stirn pochte Schmerz mit solcher Gewalt, daß sie erneut kurz das Bewußtsein verlor. Als nächstes sah sie die gefletschten Zähne des außer Rand und Band Geratenen näherkommen. Der häßliche Greis kauerte wie eine Kröte auf ihr und nagelte sie mit seinem Gewicht an den Boden. Elisabeth mobilisierte sämtliche Reserven, aber sie war gefesselt, und ihr Gegner verfügte nicht nur über die Stärke eines Irren, son-
dern auch über die Zielstrebigkeit eines völlig ausgehungerten Tiers. Sie wollte, aber sie konnte nicht verhindern, daß es geschah. Daß sich die Zähne eines Hundertjährigen in ihr eigenes, seltsam altersloses Fleisch bohrten, darin schürften und fanden, wonach Vampire ewig dürsten …
* Zur gleichen Zeit Rote Augen starrten in die Weite, die sich hinter dem Tor bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. »Was hast du mit ihm gemacht?« formulierten Lippen, beinahe so bleich wie der Rest des in ein schlichtes Gewand gehüllten Körpers. Langsam drehte sich der Schemen dem Fragesteller zu – dem dunklen Schattenriß, in dessen Umarmung Tyk gerade verschwunden war. Spurlos. »Bist du die Erlöserin?« kam es dumpf aus dem Gebilde, das die entfernte Kontur eines Menschen besaß, aber ständiger Veränderung unterworfen schien. Schwach zeichneten sich in einem Moment weibliche Rundungen darauf ab – im nächsten Augenblick war sich der Beobachter in der Vorkammer aber schon nicht mehr sicher. Wie ein Gespenst war das, was den Vampir verschlungen hatte. »Eine absurde Frage.« »Du hast recht.« Der Schemen glitt näher, blieb aber jenseits der Schwelle stehen, hinter der ein breiter, in diffuses Licht getauchter Gang begann. »Du bist nicht die, die ich erwarte. Wer dann? Und was willst du hier?« »Wer oder was bist du?« »Ich bin die Wächterin. Ich entscheide, wem ich den Zutritt gestat-
te und wem nicht.« »Den Zutritt wohin?« »Wohin möchtest du?« »In die Vergangenheit.« »Das ist möglich.« »Ich weiß. Aber es ist nicht einfach, oder?« »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Warum bleibst du draußen, wenn du ins Gestern willst. Die Türen sind hier. Du hast doch keine Angst vor mir?« »Nein.« »Was hindert dich dann?« »Mein Verstand«, sagte der Bleiche. »Du hast den, den ich vorausschickte, gerade getötet – oder etwa nicht?« »Von wem redest du?« Natan machte eine unbestimmte Geste. »Es ist nicht wichtig. Aus was bestehst du? Wer hat dich erschaffen?« Der Schemen zuckte hilflos. »Gefalle ich dir nicht? Bist du nicht berauscht von meiner Schönheit?« Natan begriff. Es liegt an mir, dachte er. Wahrscheinlich sah Tyk etwas völlig anderes in diesem … Ding als ich. Aber ich bin nicht empfänglich für Gaukeleien. Er kehrte dem Schemen den Rücken. »Bleib! Wohin willst du?« »Keine Sorge.« Der Archont steuerte unbeirrbar die Treppe an, die er hinter Tyk herabgestiegen war. Tyk, der nie erfahren würde, daß ihm Natans Neugier, nicht die eigene, zum Verhängnis geworden war. »Ich komme wieder. Wir kommen wieder. Bald …« Seit des Vaters Tod, seit ihrem Erwachen in Perpignan warteten sie auf diesen Moment – ein paar Tage mehr oder weniger waren bedeutungslos …
*
Elisabeth schrie noch, als die Dienerkreatur bereits von ihr heruntergezerrt worden war und ein morsches Splittern verriet, wie der Wahn von ewigem Durst nun doch beendet worden war. Für immer. Benommen schaute Elisabeth zu ihrem Retter, der dem Blutsauger das Genick gebrochen hatte und unter dessen zupackenden Händen sich ihr Peiniger wie brüchiges Papier aufzulösen begann. »Wer –?« »– ich bin?« Der kahlköpfige Fremde lächelte ein gänsehauterzeugendes Lächeln. »Ein Freund, der offenbar gerade zur rechten Zeit kam.« Elisabeth’ gefesselte Hände fuhren zu ihrem Hals. Aus der Bißwunde sickerte noch Blut, aber ein wenig Konzentration reichte aus, um das Rinnsal versiegen zu lassen. »Ein Freund mit einem Namen?« fragte sie. »Ich bin Loth.« »Loth … Auch diesen Namen habe ich noch nie gehört.« Sie versuchte sich aufzurichten. »Woher willst du mich kennen?« Mechanisch hielt sie Ausschau nach den anderen Dienerkreaturen, aber alles, was sie fand, waren verwaiste Kleidungsstücke, die wie achtlos neben den Kamelen im Sand der Wüste lagen. »Wir haben dich nie mehr aus den Augen gelassen, seit wir von dir erfuhren.« »Wir?« »Die, die sind wie ich.« Die sonderbare Art, wie er über sich selbst sprach, verursachte Elisabeth eine Beklemmung, fast so stark wie die Gefühle, die ihr unmittelbar nach Tobias’ Tod die Luft abgeschnürt hatten. »Nie mehr aus den Augen gelassen … Das klingt, als wäre ich von dir … von euch belauert worden.« »Wir waren über jeden deiner Schritte informiert. Und wir wuß-
ten, daß der Tag kommen würde, da du die schützenden Mauern verläßt.« »Das Monte Cargano?« Wie vulkanische Lava glomm der Blick des Albinos. »Wir sollten nicht hier darüber reden.« »Wo denn?« Die Arroganz des Überlegenen schmiegte sich um den Mund des Kahlköpfigen, der auch über keinen Bartwuchs oder sonstige Behaarung zu verfügen schien. »In der Feste Ophit«, antwortete er. »Die Feste Ophit? Wo ist das?« »Dort«, er zeigte zu den nahen Bergen, »wo uns die anderen erwarten, die schon eingetroffen sind und von unserem Kommen wissen.« Er machte keinerlei Anstalten, Beth von ihren Fesseln zu befreien. Scheinbar mühelos hievte er sie zurück auf das Kamel, von dem die Dienerkreatur sie heruntergezerrt hatte, und irgend etwas hinderte Elisabeth daran, auch nur an Gegenwehr zu denken. »Du bist kein Freund«, sagte sie. »Auch wenn du mich gerettet hast, vermittelst du mir das Gefühl, daß das, was mir droht, viel schlimmer sein wird als das, was ich von ihm –«, sie deutete auf die Asche, »– hätte befürchten müssen …« Der Bleiche setzte sich hinter sie in den Sattel und trieb das Kamel an. Zunächst hatte es den Anschein, als wollte er nicht auf Elisabeth’ Bemerkung eingehen. Dann aber hörte sie ihn doch noch sagen: »Furcht ist eine gute Basis. Offenbar begreifst du den Ernst der Lage. Das wird dich hoffentlich davor bewahren, Fehler zu begehen.« »Was wäre ein solcher Fehler?« »Es wird nicht nötig sein, dir das zu erklären.« Elisabeth wünschte, sie hätte diese Überzeugung geteilt. »Was ist überhaupt in die Untoten gefahren? Was hat sie dermaßen den Verstand verlieren lassen?«
»Der Tod ihres Herrn. Sie müssen ihn gefühlt haben. Unsichtbare Bande verknüpfen Diener und Herrn …« »Der Vampir, der seinen Keim in sie pflanzte, ist gestorben?« Elisabeth spürte, wie ihr Herz einen Takt übersprang, weil sie immer noch in Betracht zog, es könnte sich um Landru in einer Inkognito-Identität handeln. »Dieser … Tyk?« »Ja.« »Wie ist er gestorben?« »Er ging durch das Tor, das sie freigegraben haben.« »Und das tötete ihn?« »Etwas, das dort wacht, tötete ihn.« »Du warst dabei?« »Nein. Natan, mein Bruder, war dabei. Die Bande zwischen uns sind ungleich stärker als bei Vampiren. Ein jeder von uns besitzt stets alles Wissen des anderen. Jede neue Erfahrung teilt sich zur gleichen Zeit jedem von uns mit, ganz gleich, wie groß die räumliche Entfernung zwischen uns ist.« Elisabeth wußte nicht, was sie von dieser Aussage halten sollte. »Verrate mir, wie dieser Tyk aussah«, wechselte sie das Thema. »Warum willst du das wissen?« »Wenn ich mich nicht sehr täusche, wollen du und deinesgleichen einiges von mir wissen. Wäre es da keine schöne Geste, wenn ihr mir etwas entgegenkommen würdet?« Der Albino verweigerte ihr eine Beschreibung des Vampirs, der im Korridor der Zeit umgekommen war. Er gab keine Begründung dafür. Elisabeth begriff plötzlich, daß dieser Mann auch mit Karims Tod zu tun, ihn vielleicht sogar befohlen hatte, und in heilloser Wut und Verzweiflung entlud sie ihre Kräfte, wollte sie ihn bestehlen wie sie schon Dutzende Menschen vor ihm. Wollte. Daß er ein Unmensch war, erkannte sie zu spät. Als bliese jemand eine Kerze aus, erlosch jede Wahrnehmung …
* Als sie das nächste Mal zu sich kam, mußte mindestens eine Stunde vergangen sein. Elisabeth lag auf fauligem, verlausten Stroh in einem abgeschlossenen Raum, der Ähnlichkeit mit dem Kerker in der Prager Burg hatte, wo sie einstmals gefangengehalten worden war, bevor man sie wie eine Ausgeburt der Hölle auf dem Scheiterhaufen hatte verbrennen wollen.* Die Sonne mochte gerade untergegangen sein. Nur noch schwaches Licht fiel durch schießschartengroße Wandöffnungen herein. Niemand war bei ihr, und außer dem leisen Weinen des Windes, der sich an den Kanten des Gemäuers brach, drang kein einziger Laut an Elisabeth’ Gehör. Sie versuchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was bei der Attacke auf den Albino über sie gekommen war, aber es mißlang. Da war nur noch das Gefühl, in völlige Leere gegriffen zu haben und dann kopfüber in einen Abgrund, eine bodenlose Tiefe gestürzt zu sein, gerade so, als enthielte der Mann, der sie aus den Klauen der Blutsauger gerettet hatte, kein noch so geringes Quentchen Lebenszeit … Sie setzte sich auf. Ihre Fesseln waren gelöst, wenigstens das. Ist dies die Feste Ophit? dachte sie, eingedenk Loths Worte. In die gegenüberliegende Wand gehauen entdeckte sie die Darstellung einer Schlange, die sich selbst in den Schwanz biß. Ein universelles Sinnbild für den immerwährenden Kreislauf des Werdens und Vergehens? Oder steckte mehr dahinter? Gehörte der Rätselhafte, der sie hierher gebracht hatte, einer Gemeinschaft an, die Tieferes mit diesem Symbol verband? Elisabeth stand auf und ging zur Tür ihrer Zelle. Wie erwartet, *siehe VAMPIRA T16: »Die Zeit des Bösen«
war sie verriegelt. Von innen gab es keine Möglichkeit, den Verschluß zu öffnen. Sie war immer noch nicht ganz bei sich. Seit dem verlorenen Kampf vor dem Eingang zum Zeitkorridor hatte sie das Gefühl, von der Wirklichkeit ein kleines Stück abgerückt zu sein. Die lange unterdrückte Erkenntnis, ein Anachronismus in dieser Zeit zu sein, rückte wieder stärker in ihr Bewußtsein, und sie fragte sich, was passieren würde, wenn man sie in dieser Zelle einfach vergessen würde. Konnte sie überhaupt auf so profane Weise sterben? Daß sie sich angewöhnt hatte, normale Nahrung zu sich zu nehmen, war nur ihrem Streben entsprungen, nicht unnötig aufzufallen. Eine Notwendigkeit in dieser Existenz schien es nicht zu sein. Sie ballte die Fäuste, als ihr klar wurde, wie wenig sie eigentlich wußte. Über sich. Auch nach einer Zeitspanne, die einem erfüllten Menschenleben entsprach, hatte sie keine wirkliche Idee, was sie war. Und wie es weitergehen würde, wenn es ihr doch noch gelingen sollte, den Korridor bei Uruk zu benutzen, um in die Zukunft zurückzukehren. Wo immer es Menschen gab, würde eine Monstrosität wie sie ihr »Futter« finden. Aber wo würde es enden? Wie würde sie eines Tages aus dem Leben scheiden? Konnte sie überhaupt sterben? Dunkler und dunkler wurde es in ihrer Zelle. Die winzigen Fenster lagen zu hoch, um einen Blick ins Freie zu erhaschen, und jener Loth, der sie hierher verschleppt hatte, schien anderweitig beschäftigt zu sein. Aber wenn dies alles von ihm und seinesgleichen inszeniert wurde, wenn sie hinter dem Mord an Karim stecken und vielleicht sogar schon in Rom ihre Finger im Spiel hatten, dann werden sie mich nicht lange in Frieden lassen. Dann werden sie kommen und mir sagen, warum sie diesen Auf-
wand betreiben – warum sie skrupellos über Leichen gehen, nur um meiner habhaft zu werden …! Sie setzte sich zurück auf das Stroh, auf dem sie wach geworden war. Mit angezogenen Knien, das Kinn aufgestützt und die Augen geschlossen, schweiften ihre Gedanken zu Landru zurück. Die Vorstellung, Wesen wie Loth könnten in der Lage gewesen sein, auch einen Mächtigen vom Kaliber des Kelchhüters für ihre Pläne einzuspannen, verursachte ihr nicht nur Übelkeit, sondern Grauen. Landru, Lilith Edens Erzfeind … Landru, der in Jerusalem … Jerusalem? Es ist lange her, dachte Elisabeth. 1666, im Jahr, als der Teufel zu London besiegt wurde, als Salvat und seine Illuminaten die wichtigste Schlacht aller Zeiten schlugen – eine Schlacht, die von Menschen und Vampiren fast unbemerkt blieb … In Jerusalem war nichts davon zu spüren. Nein, Jerusalem hatte damals andere Sorgen … Fast unmerklich brach sich die Erkenntnis in ihr Bahn, daß schon ihre erste Reise nach Uruk, ihr erster Versuch, den Zeitkorridor für ihre Rückkehr in die Zukunft nutzbar zu machen, in einem ähnlichen Fiasko wie diesem geendet hätte, wenn … ja, wenn ihr damals niemand beigestanden hätte. Jerusalem. Die Gedanken von Elisabeth kreisten immer enger um die Stadt mit dem beispiellosen Fluidum. Landru und Jerusalem … Beide nahm sie mit in den unruhigen Schlaf, in den sie schließlich fiel. Und in ihren Träumen durchlebte sie noch einmal, was damals geschehen war. In einer Zeit, als sie gemeint hatte, an der Schuld zugrunde gehen zu müssen, Satan zur Flucht verholfen und ihm sogar ein Kind geboren zu haben. Das Leben unter den Illuminaten, selbst das Zusammenleben mit Tobias war unerträglich geworden, und sie hatte Abschied genommen, im Glauben, nie mehr ins Monte Carga-
no zurückzukehren. Es war anders gekommen. Alles war anders gekommen durch die Macht. Die Macht der Liebe …
* Elisabeth’ Erinnerung an 1666 Jerusalem war ein besonderer Ort, in vielerlei Hinsicht. Die lange Reihe ihrer Besonderheiten begann bereits damit, daß es dem Reisenden vorkommen mußte, als wolle sich die Stadt ihm nicht zeigen, geschweige denn, daß er durch eines ihrer Tore trat. Und doch mochte es zu jener Zeit, die mir selbst heute schon längst vergangen und kaum mehr wirklich erscheint, keine Stadt auf der Welt gegeben haben, in die mehr Menschen je ihren Fuß gesetzt hatten. Jedenfalls – in seine Berge versunken, offenbarte Jerusalem sich erst dann dem Blick eines Fremden, als der beinah schon vor den meterhohen Mauern stand, ganz gleich, aus welcher Richtung er auch kam. Mein ganz eigener Eindruck war, als würde sich die Stadt just in dem Augenblick erst aus sandfarbenen Nebeln erheben, da ich die Kuppe des letzten Hügels auf meinem Weg von Norden her erklommen hatte. Wie hingezaubert lag Jerusalem auf einmal in meinem Blickfeld: eine Majestät in lehmgetöntem Gewande, gekrönt von den Kuppeln und Dächern der prachtvollen Bauten, die sich, stolzen Häuptern gleich, noch weit über die Befestigungsmauern erhoben. Ein Hort von lebendiger Mystik war dieses Jerusalem – und doch ganz anders, als ich es mir ausgemalt hatte, fern von hier. Ich hatte viel gelesen im Kloster Monte Cargano, das mir in den vergangenen Jahren als Heimstatt gedient hatte, nicht aber zur Hei-
mat geworden war. Die Illuminaten hüteten – neben ungezählten Geheimnissen, die ich nicht hatte ergründen können in all der Zeit – einen wahren Schatz an Schriftstücken, Dokumenten und Büchern in ihrer Klosterfestung, vieles davon uralt und manches gewiß einmalig auf der Welt. Jerusalem und das Heilige Land darum hatten reichlich Erwähnung gefunden in jenen Schriften. Teils waren die Aufzeichnungen zwar religiös und mystisch verbrämt, andere Berichte indes beschrieben in sehr persönlichen Worten den Zauber dieser Stadt und der Stätten dort. So hatte ich mir insgesamt doch ein recht umfassendes und facettenreiches Bild von Jerusalem machen können. Das hatte ich bis zu diesem Moment nun geglaubt – – tatsächlich aber war diese Stadt größer und schöner, als es sich in Worte fassen ließ, beeindruckender als jede Vorstellung; und all dies auf eine Art, die sich dem bloßen Auge nicht erschloß. Mir war, als berühre der eigentümliche Odem Jerusalems selbst über die Distanz meine Haut wie ein Hauch, der über eines Menschen Lippen fährt. Und er drang tiefer in mich, um dort etwas anzurühren, von dem ich meinte, ich besäße es längst nicht mehr: meine Seele … Ich fröstelte in der Wärme des Heiligen Landes. Unwillkürlich war ich stehengeblieben auf jener Hügelkuppe, und als ich mir dessen bewußt wurde, beschloß ich, ein paar Minuten noch zu verharren. In Wirklichkeit aber mußte ich Stunden dort zugebracht haben, stumm und starr der Faszination und meinen zu eigenem Leben erwachten Gedanken ergeben. Denn als ich endlich weiterging, hatte die Sonne ihre tägliche Wanderung übers Firmament um ein beträchtliches Stück fortgesetzt und beschien die Mauern Jerusalems nun fast schon von Westen her, ließ sie buchstäblich in gänzlich anderem Licht erscheinen als eben noch. Ums Haar hätte ich mich von neuem in ihrem Anblick verloren; beinahe war mir, als müßte ich mich zum Weiterlaufen zwingen, meinen müden Füßen mit wirklichen Worten befehlen, sich zu bewegen.
Ich erinnere mich des Gedankens, der mir auf dem letzten Stück dieses Weges durch den Sinn ging, so klar und deutlich, als dächte ich ihn jetzt zum ersten Mal: Vielleicht rührt mich der Anblick Jerusalems deshalb in solchem Maße, weil es meine letzte Station ist in dieser Welt – in dieser Zeit … Denn tatsächlich würde ich kaum mehr größere Orte passieren auf meinem Weg dorthin, wo ich dieses Leben einer Elisabeth Stifter abstreifen wollte, um in mein früheres (zukünftiges!) zurückzukehren. Inwiefern eine solche Rückkehr, die Wiederaufnahme meines Lebens als Beth MacKinsey in der Zukunft überhaupt möglich wäre, darüber hatte ich mir in Jahrzehnten verboten, tiefschürfend nachzudenken. Weil ich fürchtete, mich könnte der Mut verlassen, wenn ich eine Antwort auf jene Frage fände … Ich würde sie finden, wenn ich in Uruk erst getan hatte, weswegen ich dorthin ging. Und dann – erst dann! – würde ich diese Antwort akzeptieren müssen. Wie sie auch ausfallen mochte … Der Gedanke, daß mein Aufenthalt in dieser Zeit sich dem Ende zuneigte, hätte mich erfreuen sollen. Aber er tat es nicht, noch immer nicht; nicht in dem Maße jedenfalls, wie ich es erwartete. Tief in mir (oder gar nicht so tief?) gab es etwas, das fest verwurzelt war mit dieser Welt und Zeit – und mehr noch mit jemandem, der darin lebte. Tobias Stifter … Ich hatte ihn im Monte Cargano zurückgelassen, ihn verlassen – absoluter, endgültiger, als jede andere Frau dieser Welt einen Mann verlassen konnte. Ich würde buchstäblich verschwinden, nicht an einen fernen Ort, sondern in eine ferne Zeit. In eine andere Welt. Würde ich dort glücklich werden? Konnte ich glücklich werden ohne Tobias, der mir in über 30 Jahren auch ohne Heirat der beste Mann gewesen war, den eine Frau sich wünschen konnte? Ich schüttelte den Kopf im stummen Selbstgespräch. Ich ging nicht zurück in die Zukunft, um glücklich zu werden. Sondern um Rache
zu nehmen! An meiner Mörderin … Verzeih Uruk … Ich spuckte aus, angewidert und voller Haß, als ihre Worte in mir widerhallten, schal und leer. Du wirst lernen, Uruk zu verfluchen, Lilith Eden! dachte ich bitter und bis ins Mark grabeskalt … Einen winzigen Teil seiner Faszination büßte Jerusalem ein, kaum daß ich die Stadt durch das Säulentor – auch Damaskus-Tor genannt, weil es auf die Straße mündet, die zur syrischen Hauptstadt führt – betreten hatte. Die Vielfalt der sich hier tummelnden Nationen, daran hatte auch die osmanische Herrschaft nichts geändert, war schon nach wenigen Schritten innerhalb der Stadtmauern nicht zu übersehen, und ihr Anblick gemahnte mich daran, daß der Boden des Heiligen Landes und auch der Jerusalems wieder und wieder von Blut getränkt worden war. Sie waren im Laufe der Jahrhunderte ein ums andere Mal Schauplatz mörderischer Kämpfe um die Vorherrschaft zwischen drei Weltreligionen gewesen, und im Namen seines eigenen Gottes hatte kein Menschenvolk je Gnade gekannt … Nichtsdestotrotz wirkte der Zauber Jerusalems freilich stärker auf mich als die Beklemmung, die seine blutige Historie in mir wecken wollte. Was mir geschriebene Worte nicht hatten vermitteln können, verstand ich nun, da ich Jerusalems Luft atmete, die Leib und Seele gleichermaßen zu vitalisieren schien. Ich erfaßte, was Menschen seit nunmehr 1600 Jahren aus aller Welt gen Jerusalem pilgern ließ, und obschon ich diesen Grund begriff, konnte ich ihn doch nicht benamen. Was mir die Bedeutung dieses Ortes allerdings noch vertiefte, anstatt ihn mir zu entfernen. Ich gestehe, daß selbst mir der Gedanke, meine Füße würden just jetzt denselben Boden berühren wie vor über sechzehnhundert Jahren die Seines Sohnes, ein Gefühl tiefer Ehrfurcht und Demut einflößte. Natürlich wußte ich, daß das Jerusalem jener Zeit inzwischen metertief unter dem Schutt der Geschichte begraben lag und die
heutige Stadt quasi auf deren Ruinen errichtet worden war; aber das Wissen um die Nähe dieses wahrlich Heiligen Bodens genügte mir, um mit den Wallfahrern zu fühlen. Vielleicht wirkte Jerusalem auf mich sogar in ärgerem Maße als auf andere. Weil ich überzeugter sein konnte, daß Jesus Christus tatsächlich unter den Menschen gewesen war. Denn immerhin hatte ich erfahren müssen, daß auch sein Versucher, der Widersacher, keine Ausgeburt religiöser Phantasien war. Schließlich hatte ich ihm einen leiblichen Sohn geboren … Wieder schauderte ich, nicht vor Ergriffenheit oder ähnlichem diesmal, sondern aus Ekel vor mir selbst. Und um so mehr zog es mich nach Uruk, zum magischen Korridor, wo ich alles, was mir das Leben in dieser Zeit angetan hatte, endlich ablegen und vergessen wollte. Bis dorthin jedoch lag noch ein weites Wegstück vor mir, und ich konnte nicht anders, als in Jerusalem Rast einzulegen, bevor ich meine Reise fortsetzte. Ich mußte zu Kräften kommen. Meinem Herzenswunsch, endlich heimzukehren, zum Trotz sehnte ich mich doch nach einem halbwegs bequemen Lager, nachdem ich die vergangenen Nächte unter freiem Himmel auf Stein und Moos und mehr wachend denn schlafend zugebracht hatte. Ein verlorenes Lächeln kräuselte meine Lippen, für einen flüchtigen Moment nur, aber es genügte, um mir noch mehr Aufmerksamkeit inmitten all der Menschen zu verschaffen, als mir ohnedies schon zuteil wurde. Eine alleinreisende Frau, noch dazu blond und wohl das, was man hübsch nannte (an Komplimenten hatte es mir in all den langen Jahren jedenfalls nie gemangelt), erregte Aufsehen in dieser Zeit, hier wie überall, wo ich auf meiner Reise von Italien aus Station gemacht hatte. Daß ich dennoch weitgehend unbehelligt und in jedem Fall unbeschadet geblieben war, schien mir zu dieser Stunde, da ich Jerusalem gerade erst betreten hatte, noch wie ein kleines Wunder. Den wahren Grund sollte ich erst später erfahren …
Natürlich hätte ich mich meiner Haut zu wehren verstanden, ganz gleich, wie kräftig etwaige Gegner auch gewesen wären. Ich hätte sie zu Greisen gemacht, noch ehe sie auch nur im Ansatz begriffen hätten, wie ihnen geschah! Aber dazu hatte es nicht kommen müssen, worüber ich letztlich doch froh war. Weil ich anderen nicht länger zu meinem Vorteil schaden wollte. Es bestand auch keine Veranlassung mehr dazu; ich brauchte mein Leben nicht mehr künstlich zu strecken, indem ich anderen ihre Zeit stahl – stand ich doch im Begriff, es selbst zu beenden … Dennoch, die Verlockung, es zu tun, war bisweilen gewaltig und kaum widerstehlich. Und zugegeben, das eine oder andere Mal hatte ich mein verfluchtes Talent doch genutzt auf meinem Weg, wenn auch nicht zu dem Zwecke, meine eigene Zeit zu verlängern. Ich hatte den Betroffenen lediglich kleine Kostproben dessen offeriert, was geschehen konnte, wenn sie mir verweigerten, wonach ich verlangte: In der Nähe von Athen, so entsinne ich mich, habe ich einem reisenden Händler die Hand eines alten Mannes »angehext«, als er mir die paar Münzen für eine warme Mahlzeit nicht geben wollte, um die ich ihn bat; und in Damaskus wird ein junges Mädchen mit engelsgleichem Gesicht heute noch jedem Burschen Entsetzen einjagen, sobald er ihrer dürren, faltigen Schenkel ansichtig wird. Das dumme Ding hätte mir besser ohne Widerspruch und übelste Beleidigungen ein Quartier zur Nacht gerichtet … Es war, als hätte der Gedanke an jenes Nachtlager in Damaskus (das weichste, komfortabelste übrigens, in dem ich während meiner ganzen Reise geruht habe) gereicht, mich meiner Erschöpfung zu erinnern. Meine Lider schienen mir mit einemmal bleischwer, ebenso meine Beine und Füße. Aus müden Augen hielt ich Ausschau nach einer Herberge, in der ich unterkommen konnte – und fühlte mich sogleich um einiges munterer, als ich gewahr wurde, daß ich ganz offenbar in ein weniger belebtes Viertel der Stadt abgetrieben worden war! Ich hatte mich ganz meinen Gedanken hingegeben und
vom Strom der Menschen tragen lassen, und als hätte es sich um einen wirklichen Strom gehandelt, hatten seine Ausläufer mich an den Gestaden angespült wie Treibgut. Augenblicklich fühlte ich mich weniger wohl in meiner Haut. Die Lehmbauten zu beiden Seiten warfen tiefe Schatten, die enge Gasse lag in wattigem Halbdunkel, mein Blick reichte kaum bis zur nächsten Ecke, zudem schon die Dämmerung über Jerusalems Mauern kroch. Keine Menschenseele war auszumachen, was bei den Sichtverhältnissen nicht gleichbedeutend damit sein mußte, daß niemand in der Nähe gewesen wäre. Im Gegenteil fühlte ich mich beobachtet, angestarrt aus den Schatten und den düsteren Fensterhöhlungen der Häuser, die mir sowohl links als auch rechts so nahe waren, daß ich ihre Wände mit ausgestreckten Armen zugleich berühren konnte. Das Gefühl, von heimlichen Blicken verfolgt zu werden, hatte mich während meiner gesamten Reise begleitet. Daß ich es jetzt und hier derart bewußt empfand, beunruhigte mich um so mehr. Zumal ich spüren konnte, was in den Schädeln hinter diesen starrenden Augen vorging. Die Blicke unterwegs hingegen waren von anderer Art gewesen, nicht wirklich unangenehm – eher hatte ich mich von ihnen … behütet gefühlt. Was mir indes erst jetzt im Vergleich wirklich auffiel. Gelegenheit, dieses doch reichlich seltsame Empfinden weiter zu hinterfragen oder mich auch nur darüber zu wundern, blieb mir nicht. Anderes forderte und band meine Aufmerksamkeit. In die Schatten, die wie konturlose Pfropfen an beiden Enden der Gasse saßen, geriet Bewegung. Im ersten Augenblick sah es aus, als würden Teile dieser Schatten selbst Gestalt annehmen, um sich mir dann zu nähern. Doch so war es freilich nicht (wenngleich ich es nicht ausgeschlossen hätte; immerhin hatte ich im Laufe meiner beiden Leben allerhand Unmögliches gesehen und erleiden müssen). Es waren schlicht finstere Gestalten, die da auf mich zukamen,
vier an der Zahl. Daß ich nicht vor Angst zitterte, irritierte sie zwar sichtlich, hielt sie jedoch nicht auf. Erst meine Frage ließ sie stehenbleiben. »Nun, wer von euch will als erster sterben?«
* Ich hatte Arabisch gesprochen, eine Sprache, die ich kaum beherrschte. Mein Wortschatz mochte gerade genügen, um in dieser Region nach einer Mahlzeit zu verlangen oder dem rechten Weg zu fragen. Mit jedmöglicher Antwort aber würde ich wohl schon an die Grenzen meines Sprachverständnisses stoßen … Daß die vier Kerle auf meine Worte reagierten, bewies mir aber zumindest, daß ich mich einigermaßen klar ausgedrückt haben mußte. Ihre Verblüffung war nicht von Dauer. Nur ein paar Sekunden lang standen sie reglos da, in kaum fünf oder sechs Schritt Entfernung, dann begann einer von ihnen, ein bärtiger Geselle mit nicht einmal unsympathischem Gesicht, rauh und doch fast wohltönend zu lachen, und die anderen fielen schließlich mit ein. Der Bärtige fragte mich etwas, das ich dahingehend interpretierte, daß er wissen wollte, ob ich noch mehr solcher Späße auf Lager hätte. »Noch viel bessere«, erwiderte ich. »Du –«, ich zeigte auf den Bärtigen und winkte ihn mit dem Finger zu mir, »– komm her.« »Das hatte ich ohnehin vor«, sagte er. Seine Stimme klang dunkel und warm; fast bedauerte ich, daß er üble Absichten verfolgte. Dennoch würde ich nicht zögern zu tun, was zu tun war, um meine Haut zu retten. Mein eigenes Hemd war mir noch immer näher als das eines jeden anderen. Der Bärtige kam. Als er auf Armeslänge heran war, hieß ich ihn, stehenzubleiben. Er gehorchte, lächelnd, nicht grinsend, und sein
Lächeln spiegelte sich sogar im Blick seiner dunklen Augen wider. »Du tust mir leid«, sagte ich, beinahe erschrocken über die Ehrlichkeit in meinem Ton. »Du hast es in der Hand, meinen ach so bedauernswerten Zustand zu ändern«, meinte er. »Du weißt gar nicht, wie recht du hast«, lächelte ich traurig. Ich stahl ihm nur ein Jahr, zuerst; dann noch eines. Er selbst mochte es kaum merken, meinem in dieser Hinsicht erfahrenen Blick aber konnten die Anzeichen dafür, daß sein Alter wider jede Natur fortschritt, nicht entgehen. Die Fältchen um seine Augen vertieften sich, erstes Grau mischte sich in sein Haar und seinen Bart … Als er mir gegenübergetreten war, mochte er um die Dreißig gewesen sein. Ich trieb ihn über die Vierzig. Und weiter. Immer schneller. Mit unverändertem Lächeln. Während ihm das seine auf den schmaler werdenden Lippen gerann. »Was …?« entfuhr es ihm. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie ihm geschah; er konnte sie nicht haben. Er spürte nur, wie die Kraft ihn verließ, aus seinem Fleisch und seinen Muskeln floh, als würde sie auf wundersame Weise abgesaugt. Ich lachte im Stillen. Genauso war es ja auch! Ich saugte ihm die Kraft aus dem Leibe, herüber in den meinen. Seine Hand tastete zu der Scherpe, die er um die Hüfte geschlungen hatte. Die Finger wollten sich um den Griff des Krummdolches schließen, der darin steckte … Ich forcierte mein unsichtbares Tun. Die dunkelgetönte Haut seiner Hand wurde fleckig, spannte sich in der einen Sekunde wie altes Leder, in der nächsten wie Pergament über die Knochen. Seine Finger wurden dürr wie Spinnenbeine, doch ungleich kraftloser … Den Dolch zu fassen oder gar zu ziehen war ihnen längst unmöglich. Der Verfall schritt fort, wanderte über sein Handgelenk zum Un-
terarm und höher. Seine Haut welkte, das Fleisch darunter dörrte, Elle und Speiche wurden spröde wie Glas. Vor Entsetzen bleich im Gesicht verfolgte der längst Graubärtige mit schreckensstarrem Blick, was die rasende Zeit ihm antat. Als der Alterungsprozeß schließlich seine Schulter erfaßt hatte, stoppte ich ihn. Nicht, weil ich Gnade lassen wollte – oder doch? Ich setzte mein Talent an anderer Stelle seines Körpers von neuem an, tief in ihm. Er mußte glauben, eine knöcherne Faust würde sich um sein Herz schließen. Dabei war es doch nur ich, die es ihm gleichsam austrocknete, bis es in seiner Brust zu Staub zerfiel im Versuch, einen allerletzten und doch schon unmöglichen Schlag zu tun … Der Fremde – ganz bewußt hatte ich mir seinen Namen nicht nennen lassen, denn zu wissen, mit wem man es zu tun hat, hatte es nie leichter gemacht – starb mit staunender Miene. Und gewiß in höherem Alter, als er es ob seines schurkischen Lebenswandels auf natürlichem Wege wohl je erreicht hätte … Ich wandte mich seinen drei Kumpanen zu. Sie waren nähergetreten, ohne mir jedoch wirklich nahezukommen. Trotzdem las ich in ihren Zügen, daß sie den Tod ihres Anführers nicht ungesühnt lassen wollten! Schon hielten sie ihre Waffen – einen kurzen Säbel der eine, schartige Dolche die anderen – in den Händen und kamen mit zwar angstvollen, aber doch zu allem entschlossenen Blicken auf mich zu, umkreisten mich mit der Geschmeidigkeit angriffslustiger Raubtiere. Ich griff nach dem Nächststehenden – – und ließ es sein. Weil sie in eben diesem Augenblick alle Wut und Entschlossenheit verloren, ganz so, als sei ihnen beides wie aus heiterem Himmel vergangen. Ohne jedes weitere Wort steckten sie ihre Waffen weg, wandten
sich ab – und gingen davon, verschwanden einfach. Ihre Schritte verklangen. Völlige Stille umfing mich, gespenstisch und lähmend. Was, fragte ich mich, war nur in sie gefahren? Ich hatte doch nichts getan, was sie so abrupt von ihrem Vorhaben, mich zu töten, hätte abbringen können – noch nichts … Ich verstand, wie man so sagt, die Welt nicht mehr. Aber ich kam mit mir überein, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern die glückliche Fügung schlicht hinzunehmen. Denn alles Nachsinnen hätte zu keinem Ergebnis geführt. Und war mir während meiner Reise nicht schon Ähnliches widerfahren? Nicht in solch dramatischer Situation zwar – aber hatte sich das Blatt nicht manches Mal unerwartet und ohne mein echtes Zutun zu meinen Gunsten gewendet? Vielleicht, dachte ich damals, hat sich das Glück dieser Welt ja endlich meiner besonnen? Und mit leisem Lächeln fügte ich halblaut hinzu: »Zu spät – ich verlasse dich trotzdem!« Ich wandte mich um und ging zurück in jene Richtung, aus der ich gekommen war. Wieder fühlte ich mich aus dem Geheimen heraus beobachtet – – aber nicht bedroht. Nur behütet …
* In Jerusalem eine Herberge zu finden erwies sich als einfaches Unterfangen. Die Hiesigen nutzten die Pilgerströme zu ihren privaten Gunsten und boten Unterkünfte in jedweder Preisklasse an. Ich bezog notgedrungen ein kostengünstiges Quartier, das unweit der Klagemauer lag. Aber ich stellte ohnedies keine allzu hohen Ansprüche. Ein Bett und eine Waschgelegenheit genügten mir, und beides fand ich hier vor. Ich vermutete, daß es sich bei dem Gebäude, in dem ich mich ein-
gemietet hatte, um ein ehemaliges Kloster handelte, oder zumindest etwas in dieser Art. Schließlich gründeten sich in Jerusalem beinahe schon regelmäßig irgendwelche neuen Orden und Glaubensgemeinschaften und wurden bisweilen ebenso rasch wieder aufgelöst, so daß mein Schluß durchaus naheliegend schien. Zumal die Kammern, die man Reisenden hier anbot, klein und spartanisch eingerichtet waren und sich entlang dunkler Flure aus grob behauenen Steinen reihten, ganz so wie in einem Kloster eben. Die kargen Mahlzeiten wurden in einem weitläufigen Saal eingenommen, der mit langen Holzbänken und ebensolchen Tischen bestückt war. Und die Betreiber dieser Herberge ließen mich in ihrem Auftreten und ihrer Wortkargheit an Betbrüder denken, die möglicherweise von ihrem Glauben abgefallen waren, um sich fortan der Weltlichkeit zu widmen, wo sich mit den Pilgern klingende Münze verdienen ließ. Im Grunde war es mir gleich, ich wollte nur eines – schlafen nämlich; nachdem ich etwas gegessen hatte. Deshalb saß ich nun inmitten des besagten Saales unter einem, wie ich schätzte, knappen Hundert Leute, die hier ebenfalls Unterkunft gefunden hatten. Hätte ich mir den Bau nur von draußen besehen, würde ich nicht geglaubt haben, daß so viele Menschen darin einen Schlafplatz finden konnten. Als ich aber eine Weile durch die Gänge spaziert war, hatte ich mich von der verwinkelten und somit raumnutzenden Bauweise überzeugen können, so daß ich nun der Meinung war, daß die Herberge mit dieser Anzahl von Gästen noch nicht einmal zur Gänze ausgebucht war. »Wo kommt Ihr her?« Fast erschrocken wandte ich das Gesicht zur Seite und sah in ein Paar blauer Augen, die selbst im Schatten sandfarbener Locken noch strahlten. Der schmale Mund darunter verzog sich zu einem jungenhaften Lächeln. »Verzeiht meine Neugier«, fuhr der Fremde fort. »Sprecht Ihr denn überhaupt meine Sprache?«
Ich nickte, sein Lächeln erwidernd. Das Französische verstand und sprach ich fließend. »Ich komme –«, begann ich, und gerade noch gelang es mir, die Wahrheit hinter meinen Lippen zu halten. »– aus Italien. In der Nähe von Rom war ich …«, wieder zögerte ich und beendete den Satz dann anders, als ich es vorgehabt hatte: »… habe ich gelebt.« Denn zu Hause war ich im Monte Cargano nie gewesen. »Und was führt Euch nach Jerusalem?« fragte der andere munter weiter. Dankend nickte er nebenher dem Kuttenträger zu, der ihm wie mir einen hölzernen Napf mit Hirsebrei auf den Tisch stellte und einen Kanten Brot dazulegte. »Was jeden Pilger ins Heilige Land führt«, erwiderte ich und nahm schon den ersten Löffel meiner Mahlzeit. »Ihr habt lange nichts gegessen, hm?« bemerkte mein Banknachbar mit spitzbübischem Grinsen. Ich nickte kauend. »Schon eine Weile her, in der Tat.« »Warum nehmt Ihr solche Strapazen auf Euch, um nach Jerusalem zu gelangen?« »Vielleicht nur, um zu erfahren, ob die Strapazen sich gelohnt haben.« »Und? Haben sie sich gelohnt?« »Kann ich noch nicht sagen.« Ich wollte das Geplauder nicht in diese Richtung weiterlaufen lassen, weil ich keine Lust hatte, mich in Allgemeinplätze zu flüchten oder gar in Widersprüche zu verstricken. Immerhin log ich streng genommen schon mit jedem Wort. »Ihr seid ein neugieriger Bursche«, tadelte ich ihn milde, während auch er zu essen begann. »Dabei habt Ihr mir noch nicht einmal Euren Namen genannt, geschweige denn, was Ihr in Jerusalem treibt. Ihr scheint mir kein Pilger zu sein, wenn ich nach Euren Fragen schließen kann.« In gespielter Betroffenheit ließ er den Löffel sinken. »Verzeiht meine Unhöflichkeit. Ich heiße Pascal.«
»Nur Pascal?« Er nickte. »Den Namen meiner Familie führe ich nicht mehr. Sie ist Vergangenheit.« »Es tut mir leid, ich wollte nicht –«, begann ich, doch er unterbrach mich lächelnd. »Das konntet Ihr nicht wissen, und es ist überdies nicht so, wie Ihr vielleicht meinen mögt. Nicht meine Familie hat mich verstoßen, sondern ich habe sie verlassen – weil ich Jerusalem fand.« »Das verstehe ich in der Tat nicht«, gab ich zu. Seine Worte verwirrten mich. Und schürten zugleich meine Neugier. »Einst kam auch ich als Pilger ins Heilige Land«, erklärte Pascal. »Doch anders als die allermeisten kehrte ich nicht wieder heim – weil ich in Jerusalem etwas fand, das sich mir an keinem anderen Ort der Welt geboten hätte.« »Und worum handelt es sich dabei?« fragte ich, als er nicht weitersprach, sondern nur geheimnisvoll und eigentümlich glückselig lächelte. »Das läßt sich nicht in Worte kleiden«, sagte er dann, »nicht in solche wenigstens, die andere verstehen könnten. Was dieses Besondere Jerusalems ausmacht, das muß schon jeder für sich selbst herausfinden. Mir jedenfalls ist diese Stadt mehr als nur zur Heimat geworden – sie ist für mich der Ort, an dem wahrer Sinn mein Leben erfüllt und …« Er hielt inne, und sein Blick ließ mich erkennen, daß er meinte, schon zuviel über sich erzählt und von seinen Beweggründen verraten zu haben. »Sprecht ruhig weiter«, ermunterte ich ihn. »Es interessiert mich, was Ihr zu sagen habt.« Er schüttelte den Kopf, hastig fast, und widmete sich wieder konzentriert seinem Mahl. Beinahe schien es mir, als wolle er sich mit dem faden Hirsebrei selbst den Mund stopfen. »Wie lange seid Ihr schon in Jerusalem?« fragte ich nach einer
Weile, in der auch ich schweigend gegessen hatte, ehe der laue Brei vollends kalt wurde. »Seit drei Jahren«, antwortete Pascal, »oder seit vieren.« »Dann seid Ihr ein sehr junger Pilger gewesen«, meinte ich. Er konnte jetzt kaum älter als Zwanzig sein. »Ich verließ mein Heimatdorf an meinem fünfzehnten Geburtstag.« »Wo wart Ihr denn daheim?« »In der Nähe von Paris. Seid Ihr je dort gewesen?« »Ja«, sagte ich, und mit wehem Lächeln dachte ich: So viele Jahre vor deiner Geburt, daß du es mir nicht glauben würdest … »Wie ist Euer Name überhaupt?« fragte er dann. »Elisabeth.« »Nur Elisabeth?« hakte er nach, im gleichen Ton wie ich zuvor bei ihm, und schelmisch lächelnd. »Elisabeth … Stifter.« Allein Tobias’ Namen auszusprechen, ließ ihn mich von neuem schmerzlich vermissen. »Das klingt nicht sehr italienisch«, befand Pascal. »Ich bin keine gebürtige Italienerin.« Dabei wies ich auf mein blondes Haar. »Das dachte ich mir schon. Wo stammt Ihr her?« wollte Pascal wissen. Ja, ging es mir durch den Sinn, wo stamme ich her …? Aus Sydney? Ich lachte bitter in Gedanken. Sydney war lange her – oder lag noch weit in der Zukunft, wie man es eben nahm … Andererseits – war ich denn letztlich nicht hier, um dorthin zurückzukehren – nach Sydney, in mein Leben dort? Ich seufzte. »Habe ich etwas Falsches gesagt?« fragte Pascal besorgt. »Ich wollte –« »Schon gut, vergeßt es«, winkte ich ab. »Wie Ihr meint.« Er schabte den letzten Rest des Breis aus dem Teller, dann erhob er sich.
»Ihr geht?« fragte ich und fügte dann noch hinzu, nur um irgend etwas zu sagen: »Wohnt Ihr eigentlich auch hier?« Ich wies vage in die Runde. Pascal nickte. »Ja, man überläßt mir eine Kammer, weil ich den Betreibern ab und an ein wenig zur Hand gehe. Nun, ich habe noch … etwas zu erledigen. Entschuldigt mich.« »Gute Nacht«, wünschte ich. Wieder nickte er, stumm, ohne meinen Gruß zu erwidern. Schweigend ging er. Ein seltsamer Bursche … Ich sah ihm nach, bis er meinen Augen entschwunden war. Dann ließ ich den Blick über die hier Sitzenden schweifen, aus … irgendeinem Grund … Weil ich mir mit einemmal wieder beobachtet vorkam? Ja! Unsere Blicke begegneten sich, und mir schien es, als würden sie sich für einen zeitlosen Moment ineinander verfangen. Als sei ihnen etwas gemein, das sie aneinander band. Ich erschrak, schauderte. Denn um nichts in der Welt wollte ich mit ihm etwas gemeinsam haben! Obwohl ich keinen Grund dafür zu benennen vermocht hätte, wäre ich danach gefragt worden. Weder war es sein Aussehen, das dieses mein Gefühl begründet hätte, noch tat der andere etwas, mit dem er meine tiefe Antipathie weckte. Er sah nur her zu mir, und selbst das auf eine Weise, die zufällig sein konnte. Aber sie war es nicht! Das zumindest spürte ich ganz deutlich. Er stierte herüber, als wüßte er, wer … oder vielmehr was ich war! Ich jedoch war überzeugt, ihn nicht zu kennen, ihm nie begegnet zu sein. Oder …? Sein Gesicht war mir jedenfalls fremd. Diese schier maskenhaft starren Züge, die glatte, wie poliert wirkende Haut – ich hatte sie ganz gewiß nie zuvor gesehen. Und doch war da etwas, das wie eine Art Band von ihm zu mir führte … Aber was hätte mich mit ihm, einem Fremden, verbinden sollen?
Ich zwang mich, den Blick zu senken, weil ich den seinen nicht länger ertragen wollte. Doch hielt ich es nur vier, allenfalls fünf Sekunden aus. Dann hob ich das Gesicht wieder, wie unter Zwang, um erneut dorthin zu sehen, wo er saß – – gesessen hatte. Sein Platz war verwaist. Und weit und breit war er selbst nicht mehr zu sehen. Als hätte sich der Boden unter ihm aufgetan, um ihn zu verschlingen. Spüren allerdings konnte ich ihn noch immer, seinen Blick – oder die Kälte wenigstens, die darin gewesen war. Es schien mir, als wäre der Fremde unsichtbar geworden und würde mich nach wie vor anstarren, aus seinem unmöglichen Versteck heraus. Ich hatte es sehr eilig, den Speisesaal zu verlassen und in meine Kammer zu kommen. Und bis ich deren Tür endlich hinter mir schließen konnte, fühlte ich mich beobachtet – – und bedroht.
* Obwohl ich nach meiner Ankunft in Jerusalem hundemüde gewesen war, fand ich auch jetzt, da es schon auf Mitternacht zugehen mußte, noch keinen Schlaf. Seit Stunden wälzte ich mich auf den strohgefüllten Säcken, die mir als Matratze dienten. Ein ums andere Mal war ich aufgestanden, in der Enge meiner Kammer hin und hergelaufen, nur um mich meiner schmerzenden Füße zu erinnern und der Tatsache, daß ich vor Erschöpfung in Schlaf fallen mußte – und doch gelang es mir nicht. Ich wußte nicht, woher meine Unruhe rührte. Ganz gewiß lag sie nicht an den lamentierenden Lauten, die der Nachtwind durch das glaslose Fenster an mein Ohr trug. Trotzdem wünschte ich mir, gereizt wie ich war, daß ich ein anderes Quartier gewählt hätte, weit weg von dieser »Klagemauer«.
Für die Juden hieß dieses letzte Relikt jenes Tempels, den Salomon einst hatte errichten lassen, bis heute Westmauer, Kothel HaMa’aravi auf hebräisch. Dabei handelte es sich um den letzten Überrest vom westlichen Teil der Stützmauern des Plateaus des Jahwe-Heiligtums der Juden. Sie spürten hier die Shechina, die Gegenwart Gottes, und fanden sich deshalb zum Beten an ihrem Fuße ein. Die Christen faßten diese Gebete als Wehklagen auf, und daher kam ihre Bezeichnung »Klagemauer«. Ich konnte die Namensgebung in dieser Nacht nur allzu gut nachvollziehen … Aber meine Schlaflosigkeit konnte nicht in den jüdischen Gebeten ihren Grund haben. Die Müdigkeit hätte mich eigentlich taub dafür machen müssen. Statt dessen aber spürte ich ein Kribbeln wie von Ameisenheeren, die geradewegs durch mein Fleisch marschierten, in mir; eine Nervosität, die mich belebte, ohne jedoch die bleierne Schwere aus meinen Gliedern vertreiben zu können. So lag ich also da, müde zwar und doch nicht imstande, die Augen für mehr als ein paar Minuten geschlossen zu halten. Und das Räderwerk meines Denkens lief ohne Unterlaß … Je länger es Gedanke um Gedanke produzierte, desto absurder schien mir alles. Mein ganzes Vorhaben war – reiner Wahnsinn! Wie auch mein Leben … Ich dachte an Tobias Stifter. Und ich sehnte mich nach seiner Wärme, die mir selbst eine Nacht wie diese erträglich gemacht hätte. Ich dachte an Uruk. Und ich fragte mich, was ich dort vorfinden und vor allem tun würde. Hatte ich denn mehr als nur eine Idee? Fehlte mir nicht ein Plan? Ich dachte an Lilith Eden. Und ich verbat mir die unzähligen Fragen, die ihr bloßer Name in mir aufwarf. Die widersprüchlichen Emotionen, die sie in mir wachrief, vermochte ich indes nicht so leicht zu kontrollieren und zu besänftigen. Ich spürte nur, daß Haß noch immer eines der mächtigsten darunter war. Gut so …
Meine Ruhe zu finden, dabei halfen mir die hochgepeitschten Gefühle freilich nicht. Im Gegenteil drehte ich mich nun noch öfter von einer Seite zur anderen. Inzwischen mußte eine weitere Stunde vergangen sein. Die Gebete der Juden an der Westmauer klangen weniger laut zu mir, nur ein paar Männer und Frauen schienen entschlossen zu sein, Gott die ganze Nacht hindurch anzuflehen, ihm zu danken und ihn zu bitten, worum auch immer. Gott, dachte ich, und bitterer Geschmack sammelte sich auf meiner Zunge. Was mochte ich in Seinen Augen sein? Ob ich Ihm wohl noch als verlorenes Schaf galt? Oder war ich längst jenseits von Gut und Böse? Müßig, darüber nachzudenken. Aber meine Gedanken entzogen sich seit Stunden schon meiner bewußten Steuerung. Verdammt, was war es nur, das mich nicht schlafen ließ? Hatte es mit dem Fremden zu tun, dessen Blick mich drüben im Speisesaal für Sekunden in Bann geschlagen und, wie ich meinte, noch bis hierher verfolgt hatte? Das war Nonsens! Ich hatte auf meiner Reise wahrlich wundersamere und unangenehmere Dinge erlebt, und keines davon hatte mich um den Schlaf gebracht. Schritte klangen auf, draußen auf dem Flur. Nichts Ungewöhnliches, schließlich hatte nicht nur ich Quartier in dieser Herberge bezogen. Daß diese Schritte meine Tür jedoch nicht passierten, sondern unmittelbar davor verstummten, war schon seltsam. Und das Kratzen und Schaben am Holz der Tür schließlich alarmierte mich regelrecht! Ich fuhr im Bett auf, starrte sitzend zur Tür hin, deren Rechteck sich im Dunkeln nur schwach vom schattengrauen Mauerwerk abhob. Den Riegel hatte ich von innen vorgelegt, und trotzdem schwang die Tür jetzt auf. Spaltbreit erst nur. Ein schmaler Streif von Kerzenlicht kroch wie etwas Lebendiges zu mir herein.
Wer war es, der da in meine Kammer dringen wollte? Unwillkürlich dachte ich wieder an den Fremden, dessen Anblick mich am Abend so tief beunruhigt hatte. Knarrend bewegte die Tür sich um ein weiteres Stück. Die Kontur einer Gestalt zeichnete sich im Kerzenschein, der den Flur vage erhellte, ab – die schmale Silhouette eines Jünglings … »Pascal?« flüsterte ich ins Dunkel. Er verharrte wie festgefroren. Seinen Blick jedoch spürte ich wie tastende Berührungen auf meiner Haut. »Seid Ihr … bist du es?« fragte ich. Ganz sicher war ich mir nicht. Erst seine Stimme verschaffte mir Gewißheit. »Es tut mir leid –« Ich glaubte zu wissen, weshalb er gekommen war. Ich lächelte. So lange, bis mir mein Irrtum bewußt wurde! Eine zweite Gestalt tauchte auf, größer und kräftiger als Pascal, eine Kerze in der Faust haltend, deren Flamme ihrer beider Gesichter aus der Düsternis schälte. »Was –?« begann ich, aber der zweite, den ich nicht kannte, unterbrach mich, indem er Pascal einen Stoß gab und ihn aufforderte: »Nun tu es schon!« Wovon sprach er? Wollten sie mich zu zweit –? Das traute ich Pascal nicht zu! Ich wußte nicht, wie sehr ich mich in ihm täuschte. Wußte nicht, wozu er tatsächlich imstande war – was er wirklich war … Er hob die rechte Hand. Etwas Dunkles ruhte darin. Ein – Stein? »Pascal, was willst du?« fragte ich endlich. »Was hast du vor? Was soll dieser Auftritt?« Er wiederholte nur seine eigenen Worte: »Es tut mir leid.« Und dann, noch ehe ich ihn danach befragen konnte, zeigte er mir, was ihm leid tat. Der Stein aus seiner Hand – raste auf mich zu! Ohne daß er ihn geworfen oder seinen Arm auch nur um einen Deut bewegt hätte. Es
war, als flöge der Stein aus eigener unmöglicher Kraft … Ich kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Weil der Stein jeden meiner Gedanken auslöschte, als er mit einem dumpfen Geräusch gegen meine Stirn schlug.
* Modriger Geruch und Kellerfeuchte umwaberten mich wie Nebel. Und Stimmen … All das nahm ich zwar wahr, aber ich erfaßte nichts davon wirklich. Weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, den Schmerz zu bezähmen, der wie ein blutgeiles Tier hinter meiner Stirn wütete und mein Hirn in Fetzen riß. Erst nach einer Weile wagte ich es, meine Augen zu öffnen – oder wollte es wenigstens tun. Meine Lider schienen miteinander verschweißt. Erst als ich, unter neuen Schmerzen, ein paar Wimpern gelassen hatte, konnte ich die Augenlider heben. Blut aus meiner Stirnwunde mußte sie verkrustet haben. Stirnwunde? Pascal! Dieser kleine Bastard … Ich wollte seinen Namen rufen, aber meine Zunge lag wie ein Fremdkörper in meinem Mund. Nur ein unverständliches Lallen kam über meine Lippen. »Sie wacht auf!« hörte ich jemanden rufen. »Macht euch bereit!« befahl ein anderer. Schritte näherten sich mir, Kleidungsstoff raschelte. Mein Blick war noch trüb und degradierte meine Umgebung zum Schattentheater. Obwohl es höllisch weh tat, blinzelte ich einige Male, und nach dieser Tortur hatte sich mein Blick wenigstens einigermaßen geklärt. Zwar nahm ich die Gestalten um mich her noch wie durch welliges Glas wahr, aber immerhin konnte ich sie erkennen – und sehen, was sie in den Fäusten hielten.
Annähernd meterlange Holzspieße, stark wie Kinderarme. Und die Spitzen waren allesamt auf mich gerichtet. Als wollten die Männer mich – pfählen. Wie einen Vampir! »Pascal, du Kretin, was soll das?« fauchte ich. »Bist du von Sinnen? Ich werde –« Der junge Bursche stand in der Mitte der Reihe, die aus fünf Männern bestand. Im Halbkreis hatten sie um mich herum Aufstellung genommen. »Gar nichts wirst du tun!« Nicht Pascal hatte gesprochen. Er sah nur stumm und betreten auf mich herab. Seine Hände, die den Pfahl umklammerten, zitterten. Hinter ihm und seinen »Spießgesellen« wurden Schritte laut. Die Männer wichen etwas zur Seite, damit der andere zwischen sie treten konnte. Ich hatte erwartet, daß es sich um jenen Mann handeln würde, der mich im Speisesaal der Herberge angestarrt hatte. Ich irrte mich. Diesen Mann hatte ich nie zuvor gesehen. Und ich wünschte, ich hätte ihn nie sehen müssen. Nicht nur, weil die Situation, in der ich mich – aus welchem Grund auch immer – befand, an sich höchst unerfreulich war, sondern weil dieser Mann mir Angst machte. Mir, die ich doch keinen Menschen wirklich zu fürchten brauchte, weil ich jedem überlegen war! Aber – konnte ich auch ihm die Stirn bieten? Ich bezweifelte es. Und wagte kaum den Versuch … Großgewachsen und von hagerer Statur war er, dennoch wirkte er stark. Eine Kraft wohnte ihm spürbar inne, die über das Körperliche hinausging. Und in seinen seltsam farblosen Augen ersetzte ein ganz eigenartiges Funkeln Iris und Pupille; etwas, das von Wahnsinn kündete – und von vielen namenlosen Dingen mehr. Es erinnerte mich an das Heraufziehen eines Sturmes, dessen Vorboten schon zu spüren wa-
ren. »Du hättest diese Stadt nicht betreten sollen«, sagte er ohne jede Einleitung. »Keine Kreatur wie du darf Jerusalem mit ihrer Anwesenheit und ihrem Tun besudeln und entweihen!« »Ich wollte sowieso gerade gehen«, erwiderte ich in einem schwachen Anflug von Galgenhumor. »Nirgendwohin wirst du mehr gehen!« donnerte er. »Nur deine Asche werde ich von den höchsten Zinnen Jerusalems in alle Winde zerstreuen.« »Das versuch nur«, raunte ich. Allen Mut raffte ich zusammen. Ich würde es tun. Ich mußte es tun! Dringender als jemals zuvor. Ich mußte es wenigstens versuchen … Angespannt sah ich dem anderen entgegen. Ich setzte meine unsichtbaren Näpfe an ihn, um ihm in Sekunden zu nehmen, was die Natur ihm an Jahren noch gewähren wollte. Gleich mußten die Linien seines Gesichtes sich tiefer in die sonnengegerbte Haut graben, seine Schultern kraftloser werdend herabsinken … Doch nichts von all dem geschah. Er schien noch nicht einmal zu registrieren, daß ich ihm etwas antun wollte, geschweige denn, was es war. Er widerstand mir! Was war er? Ein Vampir? Unmöglich! Und doch – nur bei der Alten Rasse hatte meine Fähigkeit bislang versagt … »Stirb!« knirschte er. »Stirb wie jeder Blutsauger, der es wagte, Jerusalem heimzusuchen!« »Blutsauger?« echote ich. »Aber ich bin kein –« »Leugne es nicht! Es gibt keinen Zweifel.« »Remigius, Meister, ich bitte Euch …« Pascal hatte sich zu Wort gemeldet. Zaghaft und leise nur, aber doch unüberhörbar, um sich für mich zu verwenden!
»Was willst du?« fragte der, den er als Remigius angesprochen hatte. »Vielleicht«, fuhr er zögernd fort, »spricht sie die Wahrheit. Ich sagte Euch doch bereits, nachdem ich sie ausfindig und ausgehorcht hatte, daß ich nicht glaube, sie sei ein Vampir.« »Natürlich ist sie einer!« fuhr Remigius auf. »Zweifelst du etwa am Orakel? Ich nicht! Und ich bin mir dessen sicher, daß sie –«, sein Zeigefinger stieß wie ein knöcherner Dolch in meine Richtung, »– den Menschen das Wertvollste nimmt, was sie besitzen!« Damit hatte er sogar recht … In mir wollte etwas zerbrechen. Ich fühlte mich zusammensinken wie das sprichwörtliche Häuflein Elend. »Aber ihr Blut!« unternahm Pascal einen weiteren Versuch zu meinen Gunsten. »Es ist rot wie unseres –« »Mag sein, daß sie nur eine ihrer Kreaturen ist, die sie vom Tode auferstehen lassen und zu ihren Dienern machen«, entkräftete Remigius auch dieses Argument Pascals. »Dann ist es um so mehr unsere Pflicht, sie zu erlösen – ihrer Seele Frieden zu geben.« Pascal gab nicht auf, und ich bewunderte ihn für seinen Mut. Um so mehr, da ich sah, daß die anderen Männer ihn verstohlen musterten, als hätte er den Verstand verloren. Sich gegen Remigius aufzulehnen mochte in diesem seltsamen Bunde schlimmste Konsequenzen haben, das konnte ich mir nur allzu lebhaft vorstellen. »Womöglich hat das –«, das folgend Worte schien ihm nicht recht von den Lippen zu wollen; fast mußte er es hervorpressen, »– Orakel nicht sie gemeint? Vielleicht hat sich eine andere schwarzblütige Kreatur in die Stadt geschlichen?« »Unsinn!« schmetterte Remigius den Einwand ab. Sein dunkles Gewand plusterte sich wie das Gefieder eines aufgebrachten Riesenvogels. »Nein, nein«, kam da eine Stimme aus der Finsternis des Gewölbes, in das man mich geschleift hatte. »Euer junger Freund liegt
ganz richtig mit seiner Annahme.« »Wer –?« Remigius starrte aus geschmälten Augen in die Dunkelheit. Eine Gestalt löste sich daraus, ohne Eile, fast schon gemächlichen Schrittes. Und diesmal handelte es sich um jenen Mann, den ich in dieser Nacht schon zweimal zu sehen erwartet hatte. Ich erkannte ihn im blakenden Fackelschein, obwohl sein Gesicht – nicht mehr jenes war, das er im Saal der Herberge getragen hatte! Er hatte es offenbar abgelegt wie eine Maske … … und die Züge, die darunter lagen, waren mir vertraut! Flüsternd floß sein Name aus meinem Mund, und sein bloßer Klang war von solcher Kälte, daß ich etwas wie Rauhreif auf meinen Lippen zu spüren meinte. »Landru …?«
* Er schien nicht gehört zu haben, daß ich seinen Namen kannte. Und auch die anderen widmeten ihre Aufmerksamkeit ganz Landru, ließen mich außer acht. Er kam näher. Er trug einen ledernen Beutel bei sich, von dem ich wußte, was darin war – noch war, in dieser Zeit. Der Lilienkelch, dessen Hüter Landru im Jahre 1666 noch war. Den er von Sippe zu Sippe trug, um ihnen vampirischen Nachwuchs zu schenken. Und der ihm im nächsten Jahrhundert von Felidae gestohlen werden würde … Nun war Landru also nach Jerusalem gekommen, wo es nach Remigius’ Worten keine Vampire gab. »Wer bist du, daß du es wagst, mir so dreist gegenüber zu treten?« fragte Remigius den Hüter. Landru war inzwischen bis auf wenige Schritte herangekommen. Und weder verhehlte er, wer er war, noch, was seine Absicht war.
Seine Hand verschwand in der ledernen Tasche und kam mit dem Kelch wieder zum Vorschein. »Ich bin der Verwalter dieses Grals«, sagte er ruhig, »und ich bin gekommen, um endlich auch Jerusalem damit zu weihen. Nachdem ich die geeigneten Täuflinge gefunden habe.« »Du redest wirr«, befand Remigius. Offensichtlich wußte er nichts über das Unheiligtum der Alten Rasse. So stimmte es also, daß kein Mensch je etwas vom Kelch und seinem Zweck gehört hatte, stellte ich fest. Remigius gab seinen Männern einen Wink. »Greift ihn!« Dem ersten, der sich ihm näherte, schlug Landru in geradezu erschreckend beiläufiger Geste mit dem Kelch den Schädel ein. Die anderen wagten keinen Schritt mehr in seine Richtung. Nach demjenigen, der mit blutverschmiertem Schopf zu Boden gestürzt war, bückte sich Landru, packte ihn und zog ihn hoch. Ob der arme Kerl schon tot war, oder ob nur noch Reflexe seinen Körper zucken ließen, wußte ich nicht. Es tat auch nichts zur Sache … Landru hielt ihn so, daß ihm der Kopf in den Nacken fiel, dann fletschte der Hüter die Lippen, offenbarte seine langen Augzähne – und hieb sie dem anderen regelrecht in den Hals! Das Blut seines Opfers indes soff er nicht. Landru war es allein um den Effekt gegangen. Und der tat seine Wirkung. Wenn auch wohl anders, als der Hüter es sich erhofft haben mochte … Denn die Männer wichen nicht angstbebend von ihm ab – sondern rückten im Gegenteil geschlossen auf ihn zu, angefeuert und vorwärts gepeitscht von Remigius’ Worten! »Er ist einer von ihnen!« rief er zürnend. »Laßt ihn nicht entkommen – pfählt ihn!« Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen den Möglichkeiten, die mir blieben. Sollte ich die Chance zur Flucht nutzen? Oder mußte ich (der Gedanke allein war schon blanker Irrwitz!) etwas zu Landrus Unterstützung tun? Nicht, weil mir an ihm lag, sondern lediglich um den Lauf der Geschichte nicht zu verändern!
Was würde geschehen, wenn es diesen Männern gelang, den Hüter hier und heute zu pfählen? Würde in der Zukunft, beginnend schon mit dieser Minute, alles anders werden? Und würde ich in der Folge nicht durch Lilith Edens Hand sterben – weil es dann womöglich keine Lilith Eden geben würde? Oder war all dies, wie es hier geschah, schon Teil der wirklichen Historie? Mir schwindelte ob all dieser Fragen, die ich nicht zu beantworten wußte. Und instinktiv entschied ich mich für einen Weg, der mir offenstand – den zur Flucht! Ich erhob mich, während Landru gegen die pfahlbewehrten Männer kämpfte, die mehr als ihre Muskelkraft in die Waagschale warfen. Was waren das nur für Kerle …? Fast erinnerten sie mich an die Illuminaten. Ich verbat mir, genauer hinzusehen und weiter darüber nachzudenken, um mich nicht von meinem Vorhaben abbringen zu lassen. Remigius’ Stimme traf mich wie ein Dolch, ihr Klang legte sich kettengleich um mich und zwang mich in Starre. »Bleib stehen, Weib! Du bist die Nächste!« »Das wird sie nicht sein!« Die andere Stimme peitschte aus dem Dunkel des Gewölbes. Und sie lähmte mich kaum minder als die Remigius’. Denn sie zu hören, hätte ich nie erwartet – nie mehr …
* »Tobias!« Er trat aus den Schatten, rannte zu mir, schloß mich in seine Arme. Ich genoß seine Nähe, nur eine einzige Sekunde lang, die mir wie ein Geschenk des Himmels schien.
»Wer im Namen des Allmächtigen bist du?« brauste Remigius’ Stimme. »Tobias Stifter«, stellte sich mein Mann vor. »Mein Name wird dir nicht geläufig sein – denn du hast Monte Cargano verlassen, ehe ich mich der Illuminati anschloß.« »Er ist – einer von euch?« entfuhr es mir erstaunt. »Er war es«, erklärte Tobias. »Salvat jagte ihn davon.« »Salvat!« Remigius spie den Namen des Illuminati-Führers förmlich aus. »Dieser Narr! Er war blind für das, was wir für die Welt und ihre Menschen tun können. So tat ich es eben ohne ihn! Er hat mich nicht davongejagt, Tobias Stifter, ich habe ihn verlassen – ihn und seine erbärmliche, schwache Brut.« Ein Schrei, geboren aus Zorn und Furcht, zitterte durch das Gewölbe. Landru? Die anderen hatten ihn zu Boden gerungen. Und einer von ihnen – Pascal! – hob just in dieser Sekunde seinen Pfahl, um ihn dem Hüter ins schwarze Herz zu stoßen. Remigius war abgelenkt. »Komm!« zischte mir Tobias zu. Er sah, daß mir ein Dutzend Fragen und mehr auf der Zunge brannten, und sagte nur: »Später. Schnell weg von hier!« Ich ließ mich nicht von ihm mitziehen. Wie angewurzelt blieb ich stehen. »Was ist? Wir müssen fliehen – jetzt oder nie!« drängte Tobias. Seine Augen funkelten energisch unter buschigen Brauen, die in den Jahrzehnten zu einem Gespinst von Silberfäden geworden waren. »Nein, wir müssen ihm helfen!« erwiderte ich und deutete hinüber, wo Landru am Boden lag. »Was redest du da? Ich habe genug gehört, um zu wissen, was er ist«, begehrte Tobias auf. »Vertrau mir«, sagte ich nur. »Und tu etwas!«
»Stoß zu!« befahl Remigius in diesem Augenblick. »Jetzt!« schrie ich. »Tobias – bitte!« Den Bruchteil einer Sekunde lang sah er mir noch fest in die Augen, und ich spürte seinen Blick tief in mir. Dann, als habe er dort erkannt, wie ernst ich es meinte, nickte er und wandte sich den Männern um Remigius und Landru zu. »Ich wünsche mir«, hob er an, ganz ruhig und nicht einmal sonderlich laut, »daß ihr alle einschlaft.« Ich spürte, daß etwas geschah. Daß etwas von Tobias ausging, aus seinem Innersten herausströmte und hinüber zu den anderen glitt. Wie unsichtbarer Nebel, der jeden ihrer Sinne umhüllte und schließlich betäubte, bis die Männer alle hinsanken, wie vom Schlag getroffen. Stille schlich sich ein. Fast Totenstille. Auf dem Weg hinaus aus den unterirdischen Gewölben mußte ich Tobias stützen. Das Nutzen seiner besonderen Gabe, die Macht des Wünschens, hatte ihn Kraft gekostet, viel Kraft. Deshalb setzte er sie kaum einmal ein, und schon gar nicht in solchem Maße wie eben. Ich konnte ihm nicht genug danken, nicht mit Worten … Und für Taten war er im Augenblick entschieden zu schwach. Hatte ich anfangs noch geglaubt, wir würden uns in einem gewöhnlichen Kellergewölbe befinden, mußte ich meine Meinung schon bald revidieren: Wir liefen durch ein vergangenes, durch ein untergegangenes Jerusalem! Die Heilige Stadt war in der Vergangenheit etliche Male erobert und zerstört worden, und stets hatte man auf ihren Ruinen neu gebaut. Wieder kam Ehrfurcht über mich. Denn – vielleicht – hatte ich jetzt doch noch den Boden jenes Jerusalems berührt, das zu Beginn unserer Zeitrechnung existiert hatte …
* Wir verließen Jerusalem noch in derselben Nacht. Uruk wurde unser beider Ziel … Denn wie hätte ich Tobias jetzt noch verbieten können, mich zu begleiten? Nach allem, was er für mich auf sich genommen und getan hatte? Er berichtete mir in den Tagen unserer Reise, wie er mir heimlich bis Jerusalem gefolgt war, und wie er ein ums andere Mal aus dem Verborgenen heraus seine schützende Hand über mich gelegt hatte, indem er sich wünschte, das Unheil möge mich verschonen. Über Remigius, den abtrünnigen Illuminaten, der sich Jerusalem zu seinem Sitz erkoren hatte, konnte er mir indes kaum etwas erzählen. Was Tobias über ihn wußte, hatte er selbst nur aus zweiter Hand erfahren, und es schien, als wollte man im Monte Cargano vergessen, daß es je einen Bruder Remigius dort gegeben hatte. Nicht einmal über sein Talent, das ihn für die Illuminati erst prädestiniert hatte, wie bei Tobias die Macht des Wünschens, wußte er etwas. Während des ganzen Weges hinab nach Uruk, den wir teils zu Fuß, teils auf Kamelen oder Pferden zurücklegten, drang Tobias nicht mit Fragen in mich. Wir waren einmal übereingekommen, vor meinem Aufbruch aus Italien, daß ich ihm nicht sagen würde, weshalb ich nach Uruk wollte. Kurz vor unserem Ziel allerdings tat ich es dann doch endlich. Ich sah ihm an, daß er kaum verstand, was ich ihm da erzählte. Aber er glaubte es mir, jedes Wort. Und er akzeptierte meinen Wunsch. Die Stelle im Wüstensand, unter der jener Korridor durch die Zeit seinen Anfang nahm, fand ich so sicher, als sei sie mit einem riesigen Kreuz markiert. Schweigend nahm Tobias die Werkzeuge aus dem Gepäck unseres
Lastentieres. Und ebenso stumm stieß er das Blatt seiner Schaufel in den hartgebackenen Sand, um mit dem Graben zu beginnen. »Du scheinst es eilig damit zu haben, mich loszuwerden.« Der milde Zynismus in meiner Stimme verletzte mich nur selbst. »Du weißt, daß es nicht so ist«, erwiderte Tobias, ohne im Graben innezuhalten. »Für jeden Tag, den ich noch mit dir verbringen dürfte, würde ich einen Tag meines Lebens opfern.« Er schwieg einen Moment lang und fuhr dann fort: »Aber ich verstehe, daß du – nach Hause möchtest. Und ich möchte, daß du glücklich bist. Also tue ich, was dazu erforderlich ist.« Und so grub er weiter. Daß du glücklich bist … glücklich bist … glücklich. Glücklich! GLÜCKLICH! Tobias’ Worte hallten wie Echos in mir wider. Würde ich denn glücklicher sein – in meiner zukünftigen Zeit? Ohne ihn? Ohne – meinen Mann … »Nein.« Tobias schien mich nicht zu hören. Ich hatte auch nur geflüstert. Laut aber sagte ich: »Tobias, bitte – hör auf!« Er hielt inne und sah auf. »Womit?« Schweigend wies ich auf seine Schaufel. »Aber warum?« fragte er verwirrt. »Weil …«, antwortete ich, »… weil ich mit dir glücklich bin. Und bleiben will.« »Du meinst …?« setzte er an. Seine Züge bebten. »Heißt das, du – bleibst?« Ich nickte stumm, nur in Gedanken antwortete ich ihm: Bis daß der Tod uns scheidet. Dieses unser Glück würde irgendwann enden. Die Zukunft aber würde auf mich warten. Denn die Zeit konnte mir nicht davonlaufen …
*
In der Feste Ophit 38 Jahre und einen Traum später Elisabeth wurde von derber Hand geweckt. »Steh auf! Meinen Bruder Natan verlangt es, dich zu sehen!« Noch ganz gefangen in den Splittern der Erinnerung, schlaftrunken und aus jedem inneren Gleichgewicht geworfen wollte sich Elisabeth aufrichten. Durch die Spalte im Mauerwerk fiel das Licht eines neuen Tages zu ihr herein, aber Loths Anblick ernüchterte sie nur zögerlich. Tobias, dachte sie, mein lieber Mann … Ein undefinierbarer Ausdruck umschmiegte Loths Züge wie eine Maske. »Was ist los mit dir? Wer dich ansieht, möchte nicht glauben, daß du die Eine unter Millionen bist, von der unser Vater uns Kunde schenkte! Komm jetzt! Auch die anderen werden in Kürze eintreffen. Und dann kannst du uns beweisen, wie besonders du bist!« Elisabeth schwieg. Sie klaubte mit Daumen und Zeigefinger einen toten Käfer auf, der neben ihr lag. Er sah … merkwürdig aus. Der Chitinpanzer war stumpf und brüchig, die Weichteile wie eingetrocknet. Beth ließ ihren Fund angewidert fallen und entdeckte rings um sich im Stroh weitere Insekten gleichen Zustands. In ihrem Mund breitete sich ein Geschmack aus, als hätte sie einen der Käfer zerkaut. Jetzt bestehle ich schon Schaben, dachte sie und schüttelte sich bei dem Gedanken, das Leben stumpfsinniger Insekten in sich aufgenommen zu haben. Letztlich half es ihr, die Erinnerung an Tobias wieder in den Winkel ihres Gehirns zurückzuschieben, aus dem der Schlaf sie hervorgekramt hatte. Sie stand auf und unterdrückte das Verlangen, Loth aussehen zu lassen wie die toten Käfer. Sie hatte es schon einmal versucht, und die erlittene Qual war ihr noch zu gegenwärtig, um sie erneut herauszufordern. »Du hast meine Fesseln entfernt – hast du keine Angst, ich könnte
flüchten?« fragte sie, bereits während sie ihm zur Tür hinaus folgte. »Hör dir an, was wir dir zu bieten haben – danach wirst du wissen, warum eine Flucht dumm wäre.« »Dumm?« »Wir kennen dich vielleicht besser als du dich selbst.« Elisabeth sparte sich ihren Widerspruch für später auf. »Wer hat diese Festung erbaut? Ihr?« Leise hallten ihre Schritte von den glatten Wänden eines mäßig erhellten Korridors wider. Überall lagen Schmutz und Unrat. Elisabeth gewann nicht den Eindruck, durch ein bewohntes Gebäude zu gehen. »Wir? Nein. Die Feste Ophit wurde vor langer Zeit von Anhängern der gnostischen Lehre errichtet. Ophiten, die danach trachteten, die Ungläubigen dieses Landes zu bekehren.« Elisabeth war nicht mit den Hintergründen der Gnosis vertraut. Salvat hätte sicher ausführlich darüber referieren können, aber Salvat war fern, und trotz der ungewissen Situation bedauerte sie es keine Sekunde, der erdrückenden Nähe des Engels entronnen zu sein. Ist seine Nähe weniger erdrückend? spottete eine innere Stimme, die zweifellos auf Loth anspielte. Elisabeth ging nicht darauf ein. »Dann hat auch das Symbol in meiner Zelle nichts mit euch zu tun?« »Welches Symbol?« »Die Schlange, die sich selbst verspeist.« Loths Antwort war keine Antwort. »Die Schlange hat mit jedem zu tun«, behauptete er. Bei dieser Andeutung blieb es, und Elisabeth war viel zu angespannt, um das Thema weiterzuverfolgen. Wenig später mündete der Gang in einen großen Saal, in dem es keinerlei Mobiliar gab bis auf einen steinernen, runden Tisch in seiner Mitte. Die Stühle – falls es überhaupt je Sitzgelegenheiten gegeben hatte – waren entweder fortgeschafft oder vom Zahn der Zeit
zernagt worden. An den Tisch gelehnt stand ein Zwilling Loths – zumindest auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen wurden die Unterschiede deutlich. Natan, um keinen anderen konnte es sich handeln, war breitschultriger als Loth und insgesamt von kräftigerer Statur, aber ebenso haarlos und bleichhäutig. Sein Gesicht wirkte, sah man von den stechenden, giftroten Augen ab, weich und verletzlich. Die Augen zerstörten alles … »Tritt näher.« Loth unterstrich die Aufforderung des zweiten Albinos mit einer drängenden Handbewegung. Elisabeth gehorchte, ohne dies für sich selbst als Zeichen völliger Unterwürfigkeit zu betrachten. Sie war neugierig. Sie wollte endlich die Hintergründe ihrer Verschleppung erfahren. Unweit von Natan blieb sie stehen, drückte die Lenden gegen den kühlen Stein der Tischplatte und schürzte die Lippen. »Loth sprach von einem Angebot …« »Später«, sagte der Albino, der sie fast um Haupteslänge überragte. »Reden wir zuerst über das, was du für uns tun kannst – und wirst. Danach sollst du wissen, was dein Lohn dafür sein wird.« Elisabeth nickte. »Werde ich auch erfahren, wer ihr seid?« fragte sie. »Und wen Loth andauernd mit ›unser Vater‹ meinte? Ihr seid keine echten Brüder, oder?« »Wir sind mehr als das, auch ohne daß wir identische Väter und Mütter hatten.« Elisabeth wußte nicht, warum ihr plötzlich der Schweiß ausbrach und sie zu zittern begann. Tief in ihr drin wurde etwas von Natans Worten berührt. Sie atmete schneller. »Genauer! Redet in Sätzen mit mir, die ich auch verstehen kann – nicht in immer neuen Rätseln!« »Ganz einfach«, ergriff Loth nach einem Blickwechsel mit Natan das Wort. »Was uns verbindet – uns alle, nicht nur ihn und mich, sondern einen jeden Archonten –, ist der Tod. Einst starben in einer
Stadt zwölf kleine Kinder, Mädchen und Jungen. Binnen weniger Wochen rafften Hunger und Krankheit sie dahin, und unmittelbar nach ihrem Ableben wurden sie bestattet, wie es Brauch war. Er, den du kennst und der auch dich gut kannte, grub sie wieder aus. Er gab ihnen eine zweite Chance und bewahrte sie davor, von den Würmern und Maden gefressen zu werden, bevor ihr Leben überhaupt hatte beginnen können …« Elisabeth nutzte die Pause, die Loth einlegte, um zu fragen: »Diese Kinder … gehört ihr dazu?« »Wir gehören dazu«, bestätigte Natan und nahm den begonnenen Faden auf. »Es dauerte lange, bis der Tod die Klauen, die er um uns geschlossen hatte, wieder öffnete. Bis unsere Herzen wieder schlugen und erste Gedanken wie Blitze in finsterer Nacht durch unsere kalten Gehirne stoben. Und noch viel länger dauerte es, bis aus Kindern Erwachsene geworden waren. Männer und Frauen, die ihrem gemeinsamen Vater verpflichtet sind – auch über seinen Tod hinaus.« »Er ist gestorben?« Ein leiser, ein schrecklicher Verdacht regte sich bei den Worten der Albinos in Elisabeth. »Ja. Deine Hilfe bewahrte ihn nicht vor dem Untergang.« »Meine Hilfe …« Wie taub waren plötzlich nicht nur Elisabeth’ Lippen. Sie fühlte sich ganz und gar wie in Eiswasser getaucht. »Ich sehe«, sagte Natan, »du begreifst, von wem die Rede ist.« Schmerz durchbohrte Elisabeth’ Kehlkopf wie ein Dolch, als sie reflexartig schluckte. »Euer Vater starb in London? In dem Jahr, als das Große Feuer wütete?« »Sein Tod verursachte das Große Feuer«, erwiderte Loth. »Fast vierzig Jahre ist es nun her, daß uns der Schock erwachen ließ. Und daß Er in uns strömte …« Wenn es überhaupt noch eine Steigerung der Kälte gab, die Elisabeth umpanzerte, dann bekam sie es nach diesen Worten Loths zu spüren.
»In euch strömte …?« stammelte sie. »Wollt ihr sagen, dieser Satan hat überlebt – in euch?« Die Stille zwischen ihrer Frage und der Antwort aus Natans Mund schien eine Ewigkeit anzuhalten. Dann verneinte der Albino. »Wenn es so wäre, wäre alles gut, und wir befänden uns seit vierzig Jahren bei der Ernte, nicht auf der Suche.« »Was Natan meint«, sagte Loth, »ist, daß unser aller Vater sich in seinen letzten Atemzügen an uns erinnerte. Du hast ihm die Flucht vor seinen Jägern ermöglicht und ihn mit deinen besonderen Kräften dreißig Jahre überspringen lassen: von 1635 bis 1665. Aber seine Fährte zu verwischen vermochte er auch dadurch nicht. Ein Jahr darauf wurde er entdeckt, und sein Erzfeind versetzte ihm den Todesstoß.« »Salvat.« »Sprich diesen Namen nicht aus!« »Im Moment seines Todes«, sprach Natan weiter, »überbrückte Sein Geist die Entfernungen und fuhr in unsere zu diesem Zeitpunkt noch dahindämmernden Gehirne. Mit einem Schlag schenkte er uns einen Abglanz Seiner eigenen Macht und das Wissen um die Zusammenhänge, die zu seinem Ende geführt hatten. Zuletzt trug er uns auf, nach dir zu suchen.« »Nach mir?« »Schon kurz nach deinem Sturz aus dem Zeitkorridor ist er dir in einer Seiner Gestalten begegnet – und hat in dir gelesen. Seither hat er dich nie mehr aus den Augen verloren. Du, dein Wissen und deine Gabe wurden Teil seines Plans. Charles war nur eine Fingerübung. Deine wahre Aufgabe hast du nie erfahren, weil der Alte Feind es vereitelte und alles zunichte machte!« Hitzewallungen lösten die Kälte in Elisabeth ab. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn und wischte den Schweiß ab. Charles.
Charles Bélier. Eine – Fingerübung … Sie würgte laut. Sie erbrach sich. Es war ihr egal. In diesem Augenblick spielte es für sie keine Rolle, daß sie Schwäche zeigte. In dem Moment, als sie sich auf einen der Albinos stürzen wollte, brachte die klirrende Stimme des anderen sie zur Räson: »Ich sollte dich doch erinnern, wenn du im Begriff stehst, einen Fehler zu begehen. Das ist gerade der Fall. Zügele dich. Hör dir zu Ende an, was wir zu sagen haben.« Elisabeth bekam ihre Gefühle mühsam unter Kontrolle. Sehr, sehr mühsam. »Sagt, was ihr noch zu sagen habt. Sagt, was ihr von mir wollt!« »Wir wissen jetzt, wo der Korridor der Zeit beginnt. Sein Zugang liegt frei. Aber ich bezweifele, daß wir uns darin zurechtfänden.« »Ihr wollt ihn benutzen?« »Auf diese Gelegenheit warteten wir, seit unser Vater uns beschenkte und erweckte. Wir hielten uns nur zurück, um Seinen Erzfeind nicht auf uns aufmerksam zu machen.« »Salvat?« »Du sollst seinen Namen nicht –« »Schon gut. Ihr erwartet offenbar, daß ich euch führe – Lotsendienste leiste. Aber wohin wollt ihr?« »Liegt das nicht auf der Hand?« Elisabeth schüttelte den Kopf. »In die Zeit vor der Vereinigung des Dreigestaltigen in Heidelberg«, sagten Loth und Natan im Chor. »Wir wollen unseren Vater vor dem, was ihn in der Heiliggeistkirche erwartet, warnen. Dann wird es nie soweit kommen, daß der, dessen Namen wir nicht aussprechen, ihn mit seiner Klinge schwächt. Dann wird unser Vater nie mit deiner Hilfe flüchten müssen. Die Dreigestalt wird anderswo ungestört zusammenfinden, und niemand wird die Macht von jenseits des Tores danach noch aufhalten können …!«
* Etwa eine Minute stand Elisabeth nur da. Regungslos. In ihr tobten die Gefühle, aber äußerlich wirkte sie wie von einem Bannstrahl getroffen. Schließlich sagte sie ein einziges Wort: »Niemals.« »Niemals?« Die beiden Albinos blickten zu ihr herüber, als betrachteten sie ein kleines, schwachsinniges Kind, dessen Gebrabbel sie nicht ernstnehmen mußten. »Ein solches Vorhaben würde ich nicht einmal unterstützen, wenn ich es könnte!« »Du kannst es. Wer außer dir sollte sonst dazu in der Lage sein? Unser Vater hat sich nicht in dir geirrt. Du hast uns zum Korridor geführt und zuletzt vor seinem Eingang unter Beweis gestellt, welche Kräfte in dir schlummern.« »Ich weiß nicht, ob ich es kann. Erst wenn ich im Korridor wäre, wüßte ich, ob sich mein Vorhaben verwirklichen läßt.« »Was ist dein Vorhaben?« Beth sah keinen Grund, es zu verheimlichen. Vielleicht wußten sie es längst – wie sie so vieles wußten. »In die Zukunft zurückzukehren, aus der ich stamme.« »Uns interessiert nur die Vergangenheit. Die Zukunft wird von ihr geprägt. Und wenn wir erreichen, was wir wollen, wirst du sie nicht wiedererkennen.« »Deshalb darf euer Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt werden.« Die Albinos wirkten jetzt wieder völlig ruhig, fast arrogant in ihrer Selbstsicherheit. »Wir haben die Macht, dir einen guten Preis für deine Zusammenarbeit zu zahlen«, sagte einer von ihnen. »Ich bin nicht käuflich!« »Vielleicht doch …«
Elisabeth schüttelte den Kopf. Natan sagte: »Überleg es dir. Ich frage dich noch einmal, wenn die anderen eingetroffen sind.« »Ich brauche nicht zu überlegen! Mein Entschluß steht fest.« Der Albino lächelte nachsichtig. Loth faßte Elisabeth am Arm und dirigierte sie zu der Tür, durch die sie gekommen waren. Schweigend leitete er sie zu ihrer Zelle zurück. »Du bist fast wie wir«, sagte er, als sie davor angekommen waren. »Warum verhältst du dich so feindselig?« »Weil wir Feinde sind!« Er schüttelte den Kopf. »Feinde würden dir nicht anbieten, was wir dir schenken wollen.« »Was sollte das sein?« »Sieh es dir an. Da drinnen wartet es.« Er zeigte auf die Tür, trat selbst einen Schritt vor und öffnete sie für Elisabeth, die sich einen Ruck gab und ohne bestimmte Erwartung eintrat. Daß sich die Tür hinter ihr wieder schloß und ein Riegel vorgeschoben wurde, registrierte sie schon nicht mehr. Der junge Mann, der auf dem Strohlager Platz genommen hatte, sah verwirrt und fassungslos zu ihr auf … … so fassungslos, wie sie selbst war. »Tobias …?« rann es über ihre Lippen.
* Ein jugendlicher, noch nicht – wie in den späten, gemeinsamen Jahren – oft in sich gekehrter, jeden seiner Schritt abwägender Tobias Stifter saß dort im Stroh und wirkte ebenso überrascht, freudig überrascht wie die Eintretende! »Tobias …«, wiederholte Elisabeth. Sie wollte, aber sie konnte sich
nicht bremsen. Ungestüm eilte sie auf ihn zu und zog ihn an den Armen, die er ihr bereitwillig entgegenstreckte, in den Stand. »Lisabeth!« Nur er hatte sie so gerufen, in der harten Sprache seiner Geburt, nur er! »Wie kommst du hierher?« Der Grat zwischen Freude und Entsetzen war so schmal, daß sie nicht glaubte, ihn beschreiten zu können, ohne abzustürzen. Aber er schien den dunkel vibrierenden, unheilschwangeren Ton in ihrer Stimme nicht zu bemerken. »Ich – weiß es nicht. Eben war ich noch im Kloster. Wir haben miteinander gesprochen, draußen im Hof … Aber nun …?« »Wir waren zusammen?« »Natürlich waren wir zusammen!« Sie konnte die Augen nicht von seiner strahlenden Jugend wenden. Wie lange das her war – und wie anders die Hülle damals ausgesehen hatte, als sie vom prasselnden Feuer des Scheiterhaufens im Innenhof des Monte Cargano vertilgt worden war … Sie konnte es ihm nicht sagen. Was hätte sie auch sagen sollen? Seine Worte mochten es suggerieren, aber es war unmöglich, daß die Albinos Tobias – den echten Tobias Stifter – aus der Vergangenheit hierher geholt hatten. Es mußte eine Illusion sein. Eine – Täuschung! Genug! dachte sie. Es reicht! Sie schloß die Augen, zählte bis zehn und öffnete sie wieder. Tobias war immer noch da. Natürlich. Sie fühlte ihn ja auch; die ganze Zeit hatten sie einander nicht mehr losgelassen! »So eine Teufelei kann sich nur die Brut des Teufels ausdenken!« flüsterte Elisabeth gepreßt. »Was meinst du?« »Nichts. Gar nichts.« Sie suchte seine Augen.
Es waren seine Augen. Es war der Ausdruck darin, in den sie sich verliebt hatte – immer wieder verlieben würde … Aufhören! Es hörte nicht auf. Sie wußten genau, was sie taten. Elisabeth war sicher, daß sie betrogen wurde – aber sie hätte nicht zu sagen vermocht, wie dieser Betrug funktionierte. Der Mann, der seine Hände um ihre schmale Taille gelegt hatte, war aus Fleisch und Blut. Und schlimmer: Es war Tobias’ ureigene Art, sie so zu anzufassen, fest und doch zärtlich, fordernd – NEIN! Er ist es nicht! Sie zuckte zurück. Sein Blick brach ihr das Herz. »Entschuldige …« Sie trat wieder auf ihn zu. Streichelte sein Gesicht, in dem es kaum ein Fältchen, sein Haar, in dem es keine einzige graue Strähne gab. »Was hast du? Wo sind wir?« Ja, wo? Und du – wer bist du? Der Köder, beantwortete sie sich die Frage selbst. Der Lohn, mit dem sie mich dazu bringen wollen, ihnen gefällig zu sein – ihnen zu helfen, ihren monströsen Plan in die Tat umzusetzen … Ihr Widerstand schmolz in seiner Nähe. Sie hatte ihn nicht nur vermißt – ein Teil von ihr war mit ihm gestorben, und nun … nun fühlte sie wieder, wie sie immer gefühlt hatte, wenn sie einander nah gewesen waren. »Später«, wiegelte sie ab. »Ich erkläre es dir später.« »Alles ist so – fremd«, sagte er. »Dieses Symbol dort in der Mauer … Sind wir unter Gnostikern?« »Ja«, sagte Elisabeth. »Und jetzt sei still.« »Warum?« »Weil ich mich zu dir legen möchte. Weil ich an nichts anderes mehr denken kann als daran, dich in mir zu spüren, auf mir, deine Muskeln, deine geschmeidige Haut, deinen – Atem!« »So hast du noch nie geredet.«
»Und so werde ich nie wieder reden«, erwiderte sie und zog ihn zu Boden. Es war kein Traum. Es war ein Betrug, aber einer, mit dem sie ihr ganzes Leben lang hätte zubringen können, ohne je enttäuscht zu werden! Sie wußte es. Das war ihr Angebot. Das war der Preis, den sie zahlen würden, wenn Elisabeth sie durch den Korridor der Zeit bis zur richtigen Stelle führte: zwölf bleiche, haarlose Wesen, die Tobias dauerhaft wiedererstehen lassen würden – wenn Elisabeth sich erkenntlich zeigte. Erkenntlich … Was für ein perverser Gedanke! Sie schälte Tobias aus seinen Kleidern, öffnete ihre Schenkel und lenkte ihn dazwischen. Dann bäumte sie sich ihm entgegen. Er war stark und rücksichtsvoll wie bei ihrem ersten Mal. Sie schrie vor Lust. Sie zwang sich zu vergessen, wo sie war. Wer sie hörte. Wer auf ihre Antwort wartete … Unter Tobias’ Stößen durchlebte sie Hölle und Paradies. Und mehr als einen Höhepunkt. Wie sollte sie ein solches Angebot ablehnen? Wie sollte sie dazu nein sagen …?
* Als sein Atem ruhig und flach geworden war, löste sie sich vorsichtig aus seiner Umarmung. Er durfte nicht wach werden, weil sie es dann nicht über sich gebracht hätte! Noch einmal sah sie ihn an: Er schlief wie ein glückliches, zufriedenes Kind – ein Junge, der mit seinem Lieblingsspielzeug im Arm
eingeschlafen war. Elisabeth bedauerte nicht, was sie getan hatte. Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür. Im Grunde erwartete sie nicht, daß sie überhaupt eine Chance hatte, davonzukommen. Vielleicht beobachtete der Feind jeden ihrer Schritte. Vielleicht warteten Natan und Loth bereits hinter der Tür … Aber sie hätte sich nicht verziehen, wenn sie es nicht wenigstens versucht hätte! Die Tür war neu. Aus frischem Holz gezimmert. Die Türen der Ophiten waren längst – wie ihre Stühle, wie alles Mobiliar – zerfallen. Und diese hier, diese Tür gab Elisabeth nun dem Zerfall preis! Sie ließ sie altern! Sie ließ sie tausend Jahre alt werden, so morsch, daß sie nur mit der Hand dagegen drücken mußte, um sie beiseite zu räumen, staubwirbelnd in sich zusammenfallen zu lassen! Draußen stand niemand. Es war dunkel. Nur der Mond warf etwas Helligkeit durch die Risse und Schründe, die sich in der Festung gebildet hatten. Elisabeth folgte seinem Licht wie einem schönen Duft. Niemand stellte sich ihr in den Weg. Ungehindert überwand sie die Zinnen der felsfarbenen Trutzburg und rannte dann wie schwerelos durch den Sand … Sie floh von der Feste Ophit … floh von den bleichen, rotäugigen Archonten, die zu spät von ihrer Flucht Notiz nahmen. Zu spät, um eine besondere Frau einzuholen, die – in Maßen – über die Zeit gebot und diese Fähigkeit nun nutzte, um ihrem Lauf Flügel zu verleihen. Ein neuer Tag brach an, als sie die Ausgrabungsstätte erreichte und ohne Zögern die Treppe hinabstürmte. »Willkommen«, sagte eine Stimme. Eine Stimme, die sie so wenig fürchtete wie den Korridor, aus dem der Gruß zu ihr wehte. Sie überwand die Schwelle.
Nichts, dachte sie, konnte schlimmer sein als das, was sie hinter sich gelassen hatte. Aber sie irrte. Der Korridor erinnerte sich an sie. Und der Korridor ließ sie spüren, was sie war. Eine Verdammte! Eine ruhelose Seele, deren Körper längst zu Staub zerfallen war und der die Prothese, mit der Elisabeth sich viele Jahre in fremder Zeit herumgetrieben hatte, nun wieder an sich nahm. Zeit. Mein Gott, ich war wirklich nie mehr als Stoff gewordene Zeit! Nie würde sie den Weg in die Zukunft finden – denn sie hatte keine Zukunft mehr! Sie würde hier bleiben und warten müssen, bis die Zeit auf ganz normalem Wege verstrichen war. Jahrhunderte … Am Anfang war nur leises Erschrecken. Doch dieser Schrecken nahm kein Ende. Eine Ewigkeit trieb Elisabeth durch einen Kerker, wie er grausamer nicht sein konnte – und einsamer. Das Wächterwesen nahm keine Notiz von ihr. Niemand beachtete sie. Sie hatte alle Zeit der Welt, um ihre Taten zu büßen – – und zu begreifen, daß sie Lilith Eden, ihre Mörderin, nicht mit anderen Maßstäben messen durfte als sich selbst. … wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein … Eine Seele war heimgekehrt. Heim in ihr Grab. Bis eines Tages …
* Gegenwart Im Korridor der Zeit
Nur einen einzigen Schritt hatte Lilith Eden getan … … aber es trennte sie mehr als nur dieser eine Schritt von ihrer Welt, ihrer Wirklichkeit. Ihrer Zeit. Sie hatte die Schwelle zum magischen Korridor in den Ruinen Uruks übertreten. Wie schon einmal, vor mehr als zwei Jahren. Damals, um den Kerker der vampirischen Ur-Mutter aufzusuchen und sie daraus zu befreien.* Doch Lilith erinnerte sich nicht daran. Was sie darüber wußte, hatte sie allein aus der EWIGEN CHRONIK erfahren, jenem Buch aus Menschenhaut, in dem mit Blut die andere, die geheime Geschichte dieser Welt niedergeschrieben worden war. Aber obwohl sie dieses Wissen quasi nur aus zweiter Hand erhalten hatte, spürte Lilith doch auf unbestimmbare Weise, daß das Betreten des Zeittunnels diesmal ganz anders war als damals. War es der Korridor selbst, der sich verändert hatte? Von draußen hatte er gewirkt wie ein Schlauch, der sich ins Nirgendwo wand und von purpurfarbenem Flackern durchdrungen war. Das stroboskopartige Licht und die stete unmögliche Bewegung des Tunnels hatten in den Augen geschmerzt. Dennoch war Lilith eingetreten. Und jetzt, da sie sich darin befand, präsentierte sich der Korridor gänzlich anders als eben noch – erschreckend anders! Noch weniger als zuvor erinnerte er an einen Tunnel; vielmehr schien er zu einer ganz eigenen Welt geworden zu sein, deren Ende im Nirgendwo der Zeiten lag. Schwacher, flackernder Purpurschimmer tauchte alles in vage Helligkeit, wie das Licht einer sterbenden Sonne. Konturlose Schatten wie aus geronnener Nacht türmten sich um Lilith her, so weit ihr Blick reichte. Wahllos verstreuten Felstrümmern gleich reihten sie sich in die Endlosigkeit. Und in den Klüften dazwischen nistete unsichtbar etwas derart Fremdes, daß selbst Lilith, deren Seele vom Bösen vergiftet war, schauderte. *siehe VAMPIRA H47: »Lebende Runen«
Es ist fast so, dachte sie, als wäre dieser Tunnel etwas Lebendiges … oder wenigstens doch von etwas wie abseitigem Leben erfüllt … Der Gedanke entsetzte sie auf einer tieferen Ebene ihres Bewußtseins. Instinktiv drehte Lilith sich um, wo die Gegenwart, ihre Realität lag – gleich dort, jenseits der Schwelle. Nur einen Schritt entfernt … Sie brauchte ihn nur zu tun, diesen einen Schritt, und schon würden die alptraumhaften Eindrücke vergangen sein. Kann denn überhaupt irgend etwas vergehen, hier, im Korridor der Zeit? fragte sich Lilith, eher unbewußt denn wirklich interessiert. Oder ist alles ewig, unvergänglich im wörtlichen Sinne, was an diesem endlosen Ort je geschah, geschieht und geschehen wird? Die bloße Überlegung verursachte Lilith Schwindel, und ihr weiter zu folgen konnte nur in Verwirrung führen und mußte schließlich in Wahnsinn münden. Denn genau das war dieser Ort im Grunde – der schiere Wahnsinn! Eine Unmöglichkeit per se. Und doch war er. Schon immer. Und er würde ewig sein. Aufhören! schrie Lilith stumm in ihre rotierenden Gedanken. Als versuche jemand, mit bloßen Händen ein Karussell in rasender Fahrt zu stoppen, so langsam beruhigte sich ihr überbordendes Denken. Noch immer sah sie zurück, hinaus in die Vorkammer des Zeitkorridors. Doch sie beließ es beim Hinaussehen, kehrte nicht um, ging nicht zurück. Weil etwas sie im Tunnel hielt. Jemand … Nur – wer? Wessen Stimme hatte sie da eben gehört? Aus dem Nichts war sie zu ihr gedrungen, lautlos und doch machtvoll und dröhnend, als hallten die Worte aus unsichtbarem Munde zwischen den schattenhaften Dingen wider, die den Korridor in eine ebenso bizarre wie unheimliche Landschaft verwandelten. Lilith hatte gefragt, wer da zu ihr sprach – und eine Antwort erhal-
ten, die nur noch mehr Fragen aufwarf.* »Wie kannst du mich vergessen? Mich, die du hier vor langer Zeit geopfert hast …? Ich … Allmächtiger, er kommt näher! Er hat mich gefunden! Gott sei meiner Seele gnädig …« Lilith schauderte, als würde sie von eisigem Wind gestreift. Sie meinte die Antwort nicht wirklich gehört zu haben; vielmehr hatte sie die Worte – die letzten spürbar von Entsetzen und Panik erfüllt! – empfangen und empfand sie wie fremde Gedanken, die sich mit Macht zwischen ihre eigenen drängten. Aber – sie ergaben keinen Sinn! Nicht für Lilith jedenfalls. Nicht, solange sie nicht wußte, mit wem sie es zu tun hatte. »Wer bist du?« fragte sie deshalb noch einmal, eindringlicher diesmal, beinahe selbst schon flehend. Lilith lauschte dem Klang ihrer Stimme nach. Sie schien kaum zu tragen an diesem Ort. So urgewaltig die andere auch klang, ihre eigene schien von den dunklen Formationen ringsum regelrecht aufgesaugt zu werden. Doch Liliths Worte verhallten nicht ungehört. »Wer ich bin?« kam es zurück, auf dieselbe mysteriöse Weise wie zuvor. Und dann, so knapp und doch betont, als würde dieses eine Wort, der Name Antwort auf jede noch offene Frage sein: »Beth …« Beth MacKinsey, vervollständigte Lilith im Stillen, ganz ohne bewußtes Zutun. Sie hielt inne, horchte gleichsam in sich hinein. Was rührte Beth MacKinsey in ihr an? Welche Empfindungen löste der Name in ihr aus? Nichts … Sie fand nur eine merkwürdige Nüchternheit in sich. Die allerdings genügte, um Lilith zu erschrecken und von neuem frösteln zu lassen! Sie wußte, was sie mit Beth MacKinsey einmal verbunden hatte; *siehe VAMPIRA T39: »Die Reise nach Uruk«
daß sie mehr als nur Freundinnen gewesen waren. Aber sie wußte es eben nur – wie so vieles andere – aus der EWIGEN CHRONIK. Das Buch hatte Lilith nur Wissen vermitteln können. Ohne Details und bar all dessen, was Lilith einst persönlich damit verbunden hatte. Gefühle, Wärme vermochte das in Blut Geschriebene nicht zu transportieren, nicht einmal wachzurufen. Beth war unleugbar Teil ihrer Vergangenheit, aber eben nur ein Teil. Ein Mosaikstein im Gesamtbild. Einer von vielen … Die Aufzeichnungen in der BLUTBIBEL endeten damit, daß Lilith den Dunklen Dom, die Heimstatt der Hüter im Berge Ararat mit ihrem Tun dem Untergang geweiht hatte. Danach, so hatte es darin noch geheißen, war sie nach Kairo aufgebrochen, wo sie von Beth MacKinsey erwartet worden war … Aber was war dann geschehen? Was war mit Beth passiert? Wie war sie in den Korridor der Zeit gelangt? Und weshalb war sie gerade jetzt (oder immer noch?) hier? All diese Fragen und eine Unzahl mehr brannten Lilith förmlich auf der Zunge. Aber sie wußte kaum, mit welcher sie beginnen sollte, und so brachte sie nur ein lahmes »Was tust du hier?« zuwege. »Was ich hier tue?« gab Beth giftig zurück, haßsprühend, kalt und verächtlich. »Ich verrecke! Seit einer Ewigkeit! Bin weder tot noch lebendig, sterbe nur.« Beth’ Worte schwammen in Bitternis. Panik färbte ihre Stimme erst im folgenden wieder: »Und wenn er mich bekommt, dann wird er mir noch Schlimmeres antun. Ich weiß, ich spüre es!« »Beth«, begann Lilith, verwirrt und hilflos, »ich verstehe nicht … Was ist geschehen? Wovon sprichst du? Und wer ist er?« Es war, als sei ein Damm in ihr gebrochen, hinter dem sich ein Meer von Fragen aufgestaut hatte, das sich jetzt über ihre Lippen ergießen wollte. Beth MacKinseys Erwiderung ließ auf sich warten. Einen winzigen Moment lang dachte Lilith, Beth könnte etwas zugestoßen sein, und zugleich wuchs ihr Zweifel, ob die Freundin aus der Vergangenheit
überhaupt dagewesen war – in welcher Form, auf welche Weise auch immer … Aber dann nahm Lilith etwas wahr – Beth’ Gegenwart? Es geschah ohne Worte, allein auf der Ebene bloßen Empfindens. Sie spürte – Beth’ Gefühle, teilte ihre Angst. Und fühlte plötzlich eine scheinbar grundlose Erleichterung – – genau in dem Moment, da Beth sich wieder zu Wort meldete. »Er ist … nein, nicht verschwunden. Aber er hat sich – zurückgezogen. Er wartet ab, lauert …« »Beth, von wem sprichst du? Wer um alles in der Welt ist er?« »Ich weiß es nicht. Kann nicht sehen, seit …« Sie brach ab. »Seit wann?« hakte Lilith nach und fügte dann verzweifelt und drängend hinzu: »Was ist geschehen? Rede endlich, Beth!« »Du stellst dich nicht nur dumm«, erkannte Beth MacKinsey. »Du scheinst tatsächlich nichts zu wissen. Nichts mehr von …« »Ich habe vieles vergessen«, erklärte Lilith. »Meine Erinnerung wurde mir genommen, mein Leben gestohlen, und es klaffen noch viele Lücken …« »Mich sollst du nie vergessen«, unterbrach Beth, und ihr Tonfall entsprach ganz dem einer Drohung. Lilith verstand nicht, aus welchem Grund Beth so mit ihr sprach. »Ich wollte dich nie vergessen, Beth«, erwiderte sie, »glaub mir.« »Den Teufel werde ich tun!« Einen Augenblick lang schwieg sie betroffen, als hätten ihre eigenen Worte sie erschreckt. Dann fuhr sie fort, leise und leidenschaftlich: »Eines aber tu’ ich gern – deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen. Du sollst erfahren und ewig wissen, was du getan hast – was du mir angetan hast! Wie es endete …« Lilith sah irritiert in die Runde, als hoffe sie, die verlorene und vergessene Freundin doch irgendwo ausfindig machen zu können. »Beth«, sagte sie zaghaft, »bitte, zeige dich. Ich möchte dich sehen. Und mit dir reden. Was auch geschehen ist, laß uns darüber reden!« Am Schluß wohnte ihrem Ton etwas beinahe Bettelndes inne.
»Reden?« Beth lachte gehässig auf. »Mit Reden ist nichts getan. Spüren sollst du es, Lilith Eden – leiden sollst du. Wie ich! Seit einer Ewigkeit …« »Beth …?« »Da, nimm!« brauste es durch Liliths Gedanken. »Und quäle dich damit! Mein Schmerz sei dein Schmerz – meine Liebe!« Etwas – sichtbar, aber unmöglich zu identifizieren – raste auf Lilith zu. Sie fühlte sich wie vom Schlag einer eisigen Faust getroffen, taumelte. Doch was immer sie da berührte, es ließ nicht von ihr ab, sondern – drang in sie! Ignorierte Haut und Fleisch, eroberte ihr Denken im Sturm und ersetzte es durch fremde Gedanken. Durch Beth MacKinseys Erinnerung – – an ihren Tod.
* Nicht in die ferne Zeit verliere dich, den Augenblick ergreife, der ist dein. Friedrich von Schiller, Übersetzung des »Macbeth« von Shakespeare Niemals werde ich meinen Tod vergessen … … und ewig soll meine Mörderin ihn bedenken! Dazu tu’ ich, was ich kann. Denn dies ist meine Rache! Beth MacKinsey erwartete, Genugtuung – oder wenigstens doch etwas Vergleichbares – zu verspüren, als sie jenen kleinen, aber bedeutsamsten Teil ihrer Erinnerungen gleichsam auf Lilith Eden hetzte. Doch sie empfand – nichts. Das Gefühl der Freude darüber, daß sie ihre Mörderin büßen ließ, blieb aus. Im Gegenteil bedauerte sie Lilith, beinahe jedenfalls. Vielleicht, dachte Beth, hat mein Tod, die Tatsache, daß Lilith mich kalt-
blütig hingerichtet hat, an Bedeutung verloren in der Flut all jener Ereignisse … So vieles ist seitdem geschehen, soviel Furchtbares, daß sich unmöglich bestimmen läßt, was davon am schlimmsten war. Und es endete, wo es begann – hier, in diesem Tunnel. In Uruk. Vielleicht schließt sich der Kreis. Von neuem … Vor Jahrhunderten hatte Beth als Elisabeth Stifter Zuflucht gesucht im Korridor der Zeit. Er hatte ihr Weg sein sollen aus der Vergangenheit hin in die Zukunft, die sie als Beth MacKinsey nicht mehr hatte erleben dürfen. Hier hatte sie ihr Leben fortsetzen und ihren eigenen Tod rächen wollen! Mit Triumph hatte dieser Gedanke sie erfüllt, als sie sich nach gelungener Flucht aus der Gefangenschaft in der Wüstenfestung endlich in den magischen Korridor gestürzt hatte. Denn wem war dies schon beschieden – Rache zu nehmen an der eigenen Mörderin? Doch nichts von all dem war Beth vergönnt. Der magische Tunnel hatte ihr nicht zur Rettung gereicht, sondern war ihr zum Kerker geworden! Zu wenig hatte sie über die Beschaffenheit, die Struktur des Zeitkorridors gewußt und ihre eigenen Kräfte und Fähigkeiten maßlos überschätzt. Die jahrzehntelange Macht hatte Elisabeth blind gemacht für die eigenen Grenzen. So hatte sie letztlich den Preis dafür zahlen müssen – und einmal mehr war dieser Preis ihr Leben, ihre Existenz gewesen. Der Korridor hatte sich von ihr nicht manipulieren, nicht in die Zukunft verlängern lassen. Statt dessen hatte die Macht dieses Ortes, die jeder Beschreibung nur spotten konnte, ihrerseits reagiert und Elisabeth Stifter als das entlarvt, was sie ihr endloses Leben lang gewesen war – gestohlene Kraft. Geraubtes Leben. Nur Zeit … Der magische Tunnel durch die Jahrhunderte und -tausende hatte Elisabeth Stifter verschlungen, gefressen, sie sich buchstäblich einverleibt! Er hatte ihren Körper aufgelöst und seine Substanz wieder zu dem gemacht, was sie ursprünglich war – bloße Energie …
Einzig Elisabeth’ Innerstes, ihr Wesen, ihre Seele war übriggeblieben. Und fortan gefangen gewesen im Korridor. Über alle Zeit. Wie es angehen konnte, daß sie sich nicht quasi selbst begegnet war, als sie mit Lilith den Korridor aufgesucht hatte, wußte Beth nicht zu sagen. Vielleicht hatte die Zeit selbst dafür gesorgt, daß es nicht geschah. Vielleicht einfach deshalb, weil es nicht hatte geschehen dürfen … Beth MacKinsey hatte Jahrhunderte gehabt, um darüber nachzusinnen. Ohne je eine Antwort zu finden. Eine Spanne, die einem Menschen eine Ewigkeit bedeuten mußte, war verstrichen, vollkommen ereignislos. Beth war allein gewesen, zum bloßen Sein verdammt. Keine irdische Gefangenschaft konnte schlimmer sein, und keine Folter quälender als die Geißelung allein durch eigene Gedanken, die nie aufhörten und kein Echo in einem fremden Geist fanden. Längst hatte Beth nicht mehr daran geglaubt, daß sich an all dem je etwas ändern würde – – bis er gekommen war! Er, von dem sie nicht wußte, wer und was er war. Wie sollte sie auch – ohne Augen zu sehen, reduziert auf pures Empfinden? Immerhin genügte dies aber, um zu erkennen, daß er anders war als alles, was Beth in ihren beiden Leben kennengelernt hatte. Seine Präsenz war – nichtmenschlich. Gewaltig. Und unsagbar fremd. Nicht einmal Landru und Salvat, die beiden abseitigsten Wesen, die Beth je getroffen hatte, waren diesem vergleichbar. Wie er in den Korridor gelangt war, wußte Beth nicht. Aber sie spürte, daß er nicht allein war. Und diese zweite Präsenz kannte und erkannte Beth. Es war – – Felidae? Sie erinnerte sich, wie sie der in ein Riemenkleid geschirrten Vampirin an Liliths Seite einst begegnet war. Felidaes Existenz hatte in Verbindung gestanden mit der des magischen Tunnels; sie war zur Wächterin des Korridors geworden – und hatte ihr Leben verloren.
Wie ging es an, daß sie nun wieder auftauchte? Beth erfuhr weder dies noch anderes, das ihr weiteren Aufschluß über die Ereignisse gegeben hätte. Denn er vernichtete Felidae! Bestrafte sie für einen Verrat, den sie in seinen Augen begangen hatte. Die Art und Weise, in der er es tat, bekam Beth ihrer beschränkten Wahrnehmung wegen nicht mit. Wohl aber registrierte sie die Urgewalt, mit der es geschah. Und Felidaes Schmerz! Er sprengte die Kraft alles Vorstellbaren, war schiere Agonie, und Beth, die nur etwas wie seinen Widerhall empfangen hatte, fühlte sich davon wie erschlagen, selbst zerbrochen. Taub und fast dem Tode nahe kam sie sich vor. Sie kam erst wieder zu sich, als er sich ihr näherte. Wie ein Raubtier, das Beute witterte. Er suchte und tastete nach ihr; sicher nicht, um nur zu erfahren, mit wem er es zu tun hatte. Beth war überzeugt, daß sie Felidaes Schicksal teilen würde, wenn er ihrer habhaft wurde – oder daß ihr ein noch grausameres bevorstand! Sie floh. Entzog sich ihm, so gut sie konnte und die Gegebenheiten es zuließen. Auf Dauer jedoch würde sie ihm nicht entkommen können. Irgendwann, bald schon, würde er das Terrain gut genug kennen, um sie überall aufzuspüren, ganz gleich, wo und wie sie sich auch verkriechen mochte. Und dann, als Beth schon meinte, seinen imaginären Odem auf ihrer nackten Seele zu spüren, wurde ihr Aufschub gewährt von einer Seite, mit der sie nie und nimmer gerechnet hätte … Liliths Erscheinen hatte den anderen unvermittelt zum Rückzug bewegt! Er war nicht vollends verschwunden. Beth war sich seiner Gegenwart nach wie vor bewußt. Wäre sie noch zu riechen imstande gewesen, hätte sie gemeint, seine Nähe wahrzunehmen wie übelsten Kloakengestank, der sich nicht verflüchtigte, sondern nur geringfü-
gig abnahm. Er lauerte. Sondierte. Prüfte, mit wem er es da zu tun hatte. Und dann schlug er zu! So plötzlich und mit solcher Macht, daß Beth zu spüren glaubte, ihr Herz, das sie seit Unzeiten nicht mehr besaß, würde schockgefroren! Einem lautlosen Orkan gleich raste er auf sie zu, selbst körperlos, aber seine pure Macht, sein nacktes Wesen würden genügen, sie zu zerreißen, zu zermalmen. Unvorstellbares würde er ihr antun, ihre Seele vergewaltigen, verwüsten, verheeren. Stumm schrie Beth auf, und doch tat sie es lauter, eindringlicher, als sie es mit ihrer echten Stimme je vermocht hätte. Ihr ganzes Sein, alle Kraft lagen in diesem Schrei, und er galt jener, die allein Beth noch retten konnte – – ihrer Mörderin … »Lilith!«
* Anum war nach Uruk gereist, weil er hier zu finden hoffte, was die EWIGE CHRONIK ihm nicht hatte verraten können: alles über das Schicksal der Alten Rasse – seines Volkes. Dessen Geschichte sich gänzlich anders entwickelt hatte, als es prophezeit gewesen war – nicht der Triumph der Hohen Zeit markierte ihren Höhepunkt, sondern der Niedergang der vampirischen Rasse. Aus der BLUTBIBEL – jenem Buch, das den Hütern des Lilienkelchs bestimmt war, auf daß sie nach vieltausendjährigem Schlaf daraus erführen, wie die Geschicke der Welt ihren Lauf genommen hatten – hatte er nicht alles über das Mißlingen des einstigen Planes erfahren. Wohl aber die Namen jener, die schuld daran waren: Landru. Sein Bruder, der versagt hatte. Felidae. Seine Schwester, früher Ea genannt, die ihr Volk verraten hatte.
Und das sogeheißene Kind zweier Welten, Lilith Eden … Ihrer aller Spur führte nach Uruk. Zum Korridor der Zeit. Und um sie zur Verantwortung zu ziehen war Anum dorthin gereist, wo sie – er und seine Geschwister – schon einmal über die Menschen geherrscht hatten, vom Weißen Tempel Uruks aus. Der entweihte Kelch, der nicht mehr zur Taufe vampirischen Nachwuchses taugte, hatte ihm das Tor zum Tunnel geöffnet * – und eines seiner Geheimnisse, vielleicht sein letztes offenbart: Felidae! Sie, auf deren Fährte sich Anum voller Haß gesetzt hatte, war die ganze Zeit über bei ihm gewesen – im Lilienkelch! So tief darin verborgen, daß seine Versuche, den Gral zu reinigen und wieder seinem ursprünglichen Zweck nutzbar zu machen, sie nicht hatten aufstöbern können. Nicht der geringste Verdacht war ihm gekommen, und Anum wurde in diesem Augenblick, da ihm Felidae erschien, fast schmerzhaft bewußt, daß nicht einmal er selbst den Kelch wirklich und in aller Konsequenz zu beherrschen vermochte … Wie Phönix aus der Asche entstieg Felidae dem Unheiligtum, nachdem Anum es in eine paßgenaue Wandvertiefung der Vorkammer zum Tunnel gesetzt hatte. Als purpurflirrender Schemen, ohne Körper und feste Kontur, nur reiner Geist. Doch betörend schön wie eh und je … Anums inzüchtige Gedanken, von der Erinnerung an längst vergangene und nie wiederkehrende Zeiten heraufbeschworen, verbrannten im Feuer von Zorn und Haß, so machtvoll und gewaltig, wie er sie niemals zuvor empfunden hatte! Lautlos lachte ihm Felidae ins Gesicht, dreist, doch konnte sie ihre abgründige Furcht vor ihm hinter der Maske aufgesetzten Lachens kaum verbergen. Schon wollte Anum sie erschlagen, ihren Geist zerschmettern kraft seines Geistes, der die Macht eines schlichten Hüters weit übertraf, als Felidae floh, über die Schwelle, hinein in den Tunnel der Zeit … *siehe VAMPIRA T39: »Die Reise nach Uruk«
… den Anum sich anders vorgestellt hatte. Er hätte nicht einmal konkret benennen können, was er jenseits des Tores erwartet hatte. Einen Anblick, wie er sich ihm nun tatsächlich bot, jedenfalls nicht. Doch fand Anum kaum Gelegenheit, seine Eindrücke gedanklich in Worte zu fassen. Denn von neuem überschlugen sich die Ereignisse. Etwas griff nach ihm. Jemand? Ihm war, als schnitten Skalpelle aus blankem Eis und doch schärfer als jedes Metall durch seine Haut, sein Fleisch und immer tiefer. Wer führte sie? Felidae? Ihr gespenstisches Lachen umspielte ihn wie Sturmwind. »Ea!« schrie er. »Was tust du? Ich –« Seine Stimme brach ab, als die kalten Klingen etwas in ihm kappten. Als sie – seinen Geist vom Leibe trennten! Anum fühlte sich gleichsam aus seiner fleischlichen Hülle herausgeschält. Und als ihm schließlich jede Möglichkeit genommen war, sich seiner körperlichen Kraft zu bedienen, erfaßten ihn die jenseitigen Winde, die noch immer Felidaes Lachen zu ihm trugen, und rissen ihn mit sich – hinein in den Korridor! Anum vermochte nichts dagegen zu tun; hilflos war er dem Sog ausgeliefert. Ganz wie ein Blatt im Winde trieb sein Geist in den Schlund des Tunnels … … bis die unsichtbare Kraft schließlich von ihm abließ. Ihn quasi ausspuckte auf den Boden, der wie erstarrte Nacht war. Anum fühlte sich gedemütigt. Und dieses Gefühl schürte ein anderes, ließ es lohen wie das mächtigste Feuer, das je gebrannt hatte, und sein Haß auf Felidae war das Öl im Feuer seines Zorns. »Verräterin!« Anums Gedanke rollte wie Donner durch das schattenhafte Tunnelreich. »Dafür wirst du büßen – und für alles, was du unserem Volke angetan hast!« Von fern kam Felidaes Antwort. »Anum, du Narr. Was glaubst du, wer du bist, daß du dich den Wünschen unserer Mutter entgegen-
stellen dürftest? Warum willst du Rache nehmen für etwas, das in ihrem Sinn geschah?« »Es kann unmöglich in Mutters Sinn sein, was aus ihren Kindern und Nachkommen geworden ist!« grollte Anum. »Und noch ist es nicht zu spät, die Weichen des Schicksals neu zu stellen.« Er mühte sich, seine Wut im Zaum zu halten, wollte Felidae in Sicherheit wiegen. Ein Gedanke genügte ihm, sich ihr zu nähern, langsam, um sie nicht zu schrecken. Noch nicht … Und tatsächlich verließ sie ihr Versteck, zeigte sich ihm offen, wahrte aber noch Distanz. »Das steht dir nicht zu«, wandte sie ein. »Weshalb nicht?« fragte er. »Wer sollte mich daran hindern? Bedenke – ich bin nicht länger nur ein Hüter. Ich bin mehr – ich bin einzigartig auf dieser Welt! Ein Gott!« »Du überschätzt deine Ma-« Anum ließ seine Schwester nicht ausreden. Seine Attacke erfolgte überraschend und so schnell, daß Felidae sich nicht zur Wehr setzen konnte. Und ohnedies wäre sie der Kraft ihres Bruders unterlegen. Sein schierer Geist riß den ihren nieder, begrub ihn unter sich und zerschmetterte ihn. Doch ließ es Anum in seiner Wut nicht damit bewenden. Er brachte es fertig, Teile der geronnenen Schatten ringsum herzunehmen, um Felidaes zerstörtes Ich darin einzukerkern. So entstand die bizarrste Formation inmitten des magischen Korridors. Anum betrachtete sie als Mahnmal im Meer der Zeit, als sichtbares Zeichen dafür, daß eine neue Ära anbrach und … Wieder kam er nicht dazu, den Gedanken fortzuspinnen. Denn wieder lenkte ihn etwas ab … eine Aura. Die Präsenz eines anderen Wesens. Waren er und Ea nicht allein gewesen im Korridor der Zeit? War jemand Zeuge ihrer Begegnung geworden? Landru etwa? Nein, nicht sein elender Bruder, stellte Anum fest, kaum daß er die Umgebung zu sondieren begonnen hatte. Sein Wesen hätte er unter
tausenden erkannt, ohne jeden Zweifel. Wer aber war es dann, der sich hier vor ihm verbarg? Anum nahm die Fährte auf, folgte ihr witternd wie ein Wolf. Und wurde alsbald fündig! Irritiert erkannte er, daß er es mit einer simplen menschlichen Präsenz zu tun hatte. Wie konnte es einen Menschen hierher verschlagen haben? In welchem Zusammenhang mochte er mit den Geschehnissen stehen, die in der EWIGEN CHRONIK festgehalten waren? Er wollte es herausfinden, würde sich die Antworten holen, indem er sich der unbekannten Wesenheit kurzerhand bemächtigte. Ihr Wissen würde zu seinem werden. Danach war immer noch Gelegenheit, den Tunnel zu verlassen. Schnell mußte Anum allerdings erkennen, daß ihm dieses Andere überlegen war. Gewiß nicht an Macht, wohl aber, was die Kenntnis des Korridors betraf. Ein ums andere Mal entging ihm sein Opfer, indem es sich an kaum zugänglichen Stellen zwischen den Schatten verbarg, und immer wieder fand es ein Schlupfloch, wenn er es schon gestellt zu haben meinte. Und schließlich, als er sich des anderen Geistes schon sicher wähnte, geschah von neuem etwas, das den Lauf der Dinge veränderte. Jemand betrat den Korridor. Jemand, der Anum vertraut war, obgleich sie einander nie zuvor begegnet waren. Aber die CHRONIK hatte ihm genug über dieses andere Wesen verraten, daß er auf Anhieb wußte, mit wem er es zu tun hatte – – mit dem Kind zweier Welten: Lilith Eden! Im allerersten Moment wollte Anum sich auf sie stürzen. Immerhin stand auch sie auf der Liste derer, denen sein ganzer Haß galt, weil sie maßgeblich daran beteiligt waren, daß der Plan von der Hohen Zeit vereitelt worden war. Doch dann besann Arnim sich eines anderen. Er zog sich zurück,
wartete ab, um mehr darüber zu erfahren, weshalb Lilith Eden ausgerechnet jetzt hier auftauchte. Denn Wissen mochte auch einem Hohen Macht bedeuten. So hörte Anum, wer das andere Wesen war, das er eben noch verfolgt hatte, und in welchem Verhältnis diese Beth MacKinsey zu Lilith Eden stand. Schließlich befand er, daß dieses Weib namens Beth ihm nicht von Nutzen sein konnte. Und er beschloß, sie zu vernichten, bevor er sich endlich mit Lilith Eden befassen würde …
* Beth’ Erinnerung flutete Liliths Hirn und Herz. Sie erfuhr nicht einfach nur, was Beth damals widerfahren war, sondern erlebte und erlitt es, als sei sie selbst davon betroffen. Lilith Eden starb Beth MacKinseys Tod … In welch ein Dilemma war ich nur hineingeraten? Mein Leben hatte sich binnen weniger Monate in schieren Wahnsinn verwandelt. Beginnend mit dem Tag, an dem ich Lilith Eden kennenlernte – ein Vampirin. Oh, pardon, eine Halbvampirin; schließlich war ja zumindest ihr Vater ein Mensch … In der folgenden Zeit hatte ich noch ganz andere Ungeheuerlichkeiten zu akzeptieren gelernt. Etwa, daß es neben den Vampiren, die seit Jahrtausenden im Geheimen die Fäden der Weltmacht zogen, auch Werwölfe gab … Und daß … Ach, was soll’s? Warum darüber nachdenken? Warum sich daran erinnern? Jetzt, da ich die nächste Stufe des Irrsinns erklommen habe … Mit Lilith bin ich von Kairo nach Uruk gereist. Duncan Luther (der doch eigentlich tot ist!) und ein paar andere Männer haben in der Wüste den Eingang zu einem Tunnel freigelegt. Und in diesen Tunnel will sie nun eintreten, um …
Ja, um was? Ich weiß es nicht, habe längst aufgehört, irgend etwas von dem, was um mich herum und mit mir geschieht, verstehen zu wollen. Aber ich spüre, daß sich etwas Entscheidendes anbahnt. Etwas, das die Welt verändern könnte. Ich weiß nicht, woher dieses Gefühl rührt; es ist einfach da, und ich begreife es. Und es macht mir Angst. Ich fürchte mich. Ich fürchte um Lilith. Und um – mich … Etwas ist mit Lilith geschehen. Sie hat aus diesem verdammten Kelch getrunken, schwarzes Blut! Und es hat sie verändert. Ich lese es in ihrem Gesicht, sehe es in ihrem Blick, mit dem sie mich mustert. Anders, als sie es je getan hat. »Lilith, bitte …« Das ist nicht mehr Lilith Eden. Nicht mehr die Lilith, die ich kenne und – liebe … »Was hast du getan? Wie konntest du nur …?« frage ich, panisch, fast hysterisch. Kaltes Grausen will mir Herz und Seele aus der Brust fressen. Nicht nur Liliths wegen. Auch der Anblick der Toten (Liliths Diener), die uns passieren und im Korridor verschwinden, entsetzt mich bis ins Mark hinein. Es ist, als würde ich erst jetzt, in diesem Augenblick, und nur allmählich begreifen, welcher Art die Ereignisse sind, deren Teil ich längst schon bin. Lilith spricht zu mir. Redet von der Zeit, da ich in Landrus Bann stand und ihm hörig war. Ich bitte sie, aufzuhören. Daran will ich nicht mehr denken. An so vieles will ich nie mehr denken müssen. »… versuche dich zu erinnern«, sagt sie. »Es würde dir helfen.« »Wobei?« erwidere ich. Sie scheint meine weiteren Worte nicht zu hören, läßt mich nicht ausreden. Meine Verzweiflung wird übermächtig. Was geschieht nur? Was kann ich tun? Nichts … Ich weiß es und will es doch nicht wahrhaben. »Es würde dir helfen«, sagt Lilith kalt, ohne jede Emotion, »beim Sterben – vielleicht …«
Genauso kalt bleibt ihr Blick, und kalt sind auch ihre Hände, die mein Gesicht berühren und fassen. Ich verstehe nicht, was sie tut, will es nicht verstehen, wünsche mir, Lilith würde mich so sanft und zärtlich berühren wie ungezählte Male zuvor … … aber sie tut es nicht. Sie tut es hart und brutal. Und dann entschwin det ihr Gesicht aus meinem Blickfeld. Einen winzigen Moment lang sehe ich noch in den Tunnel hinein. Dann erlischt auch dieses Bild. Verbrennt in Schmerz. Und beinahe meine ich noch, das Geräusch meiner brechenden Halswirbel zu hören … Ich habe mir nie Gedanken über den Tod gemacht. Habe mir nie vorzustellen versucht, wie es sein müßte, zu sterben. Heute weiß ich, daß ich es nie auch nur hätte erahnen können. Denn heute weiß ich, wie es ist. Schlimmer als alles Vorstellbare. Und vielleicht erlitt nie jemand einen schlimmeren Tod als ich. Weil ich hier sterben mußte, an diesem Ort, da die Zeit eine ganz besondere Rolle spielt. Der Korridor der Zeiten nahm mich auf. Und spie mich aus. Hinein in ein Leben, das kein Geschenk, sondern Verdammnis war. Ewige Verdammnis. Nur der Hölle auf Erden vergleichbar … Längst war Lilith Eden in die Knie gegangen, zusammengebrochen unter fremdem Schmerz, der ihr aufgezwungen worden war. Und die eigene Schuld lastete dazu noch auf ihr wie tonnenschweres Gewicht. Sie teilte Beth MacKinseys Leid. Und ihren Haß auf ihre Mörderin. Lilith haßte sich selbst für das, was sie getan hatte. Das dunkle Gift in ihrer Seele feite sie nicht dagegen. Der Mord an Beth wog schwerer, wirkte auf einer gänzlich anderen Ebene ihres Bewußtseins. Lilith wollte nie mehr aufstehen, sich Beth nicht mehr stellen müssen. Denn keine Worte konnten vergessen machen oder auch nur entschuldigen, was sie ihr angetan, wozu sie Beth verdammt hatte.
Alles, alles war Lilith bereit zu tun, wenn Beth ihr nur verzeihen wollte. Aber was konnte sie tun? Nichts … Ein Schrei, so eindringlich und flehend wie nichts, was sie je gehört hatte, riß Lilith endlich doch aus jenem unsichtbaren Kokon, in den Verzweiflung, Schuld und Trauer sie gesponnen hatten. »Lilith!« »Beth? Ich …« »Hilf mir, Lilith! Er kommt! Rette mich! Du mußt … … du bist es mir schuldig!«
* »Helfen? Beth, wie kann ich dir helfen?« Angst färbte auch Liliths Stimme, Unsicherheit ließ sie zittern. Lilith sah noch immer nicht, was da im Korridor eigentlich geschah. Das bloße Szenario hatte sich nicht verändert. Aber sie spürte, daß etwas passierte. Daß die Ereignisse im Unsichtbaren sich zuspitzten! Und dann brach der Sturm los. Ohne jedes Geräusch, ohne etwas zu bewegen. Lilith erkannte seine unbändige Gewalt auf andere Weise. Die Ausläufer dieses Sturms drangen in sie und tobten dort wie ein Orkan über Land und Meer, peitschten ihre Sinne, wollten ihr Denken entwurzeln. Aber Lilith widerstand. Denn die hauptsächliche Macht dieser Gewalten konzentrierte sich ganz offenbar auf Beth MacKinsey! Sie schrie und heulte selbst mit der Stimme eines Sturmes, flehte stammelnd um Gnade – und bettelte Lilith um Hilfe an. »Wie kann ich dir helfen?« schrie Lilith verzweifelt und voller Entsetzen. Welche Höllenqual mußte Beth ausstehen? Und was konnte sie, Lilith, dagegen tun? Alles würde sie tun – wenn sie nur wüßte, was …!
»Muß … fliehen …«, kam es von Beth zurück. Die andere Macht schien selbst ihre Worte verschlingen zu wollen. »Muß Schutz … suchen … Wo … er mich … nicht … erreichen kann …!« Ein Laut entrang sich Liliths Kehle und floh über ihre Lippen, so fremd und seltsam, daß er sie erschreckte. Beth’ Seele suchte Schutz; einen Ort, an dem sie sicher war. Wie und wo sollte eine solche Zuflucht zu finden sein? »Öffne dich!« Lilith spürte Beth’ Nähe, und wäre ihre Seele greifbar gewesen, so hätte Lilith sie jetzt berühren können. »Was …?« fragte sie lahm. Sie verstand nicht … oder doch? »Beth, ich …« »Tu es!« brüllte Beth mit aller Kraft, die sie noch aufzubringen imstande war. »Jetzt!« Und Lilith tat es. Sie breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken, doch beides waren eher symbolhafte Gesten und nicht wirklich von Bedeutung für das, was Lilith geschehen ließ. Sie entspannte sich, wurde locker. Öffnete ihr Bewußtsein – und mehr noch. Sie machte ihr Innerstes empfänglich, riß alle Schranken nieder – – und ließ Beth MacKinsey ein! Es war kaum zu beschreiben. Lilith wähnte sich für einen zeitlosen Moment im Auge eines Sturms von nichtirdischer Gewalt, die genügen mochte, um eine ganze Welt zu verheeren. Sie fühlte sich eingesponnen in ein Netz von gleißenden Blitzen, die sich inmitten ihrer Brust entluden. Und dann – – war es vorbei. So übergangslos, wie es begonnen hatte. Aber nichts war mehr wie vorher. Lilith war nicht mehr allein. Beth MacKinsey war bei ihr. In ihr. Und würde es immer sein … Verzeih Uruk, bat Lilith in Gedanken, wie schon einmal.
Sie erhielt auch diesmal keine Antwort. Keine vernehmbare. Aber sie spürte eine Wärme im Herzen, die nicht die ihre war. Eine Wärme, wie sie ihr nur Beth MacKinsey zu schenken vermocht hatte. Damals, in ihrem gemeinsamen Leben. Das jetzt von neuem und ganz anders begann. Wieder waren Lilith Eden und Beth MacKinsey mehr als nur Freundinnen. So stark verbunden, wie zwei es nur sein konnten. Sie waren – eins.
* Er kam! Lilith spürte seine Nähe, wie es Beth zuvor getan hatte. Was sie je gewußt und empfunden hatte, war nun in Lilith, war ein Teil von ihr, mit ihren eigenen – allzu spärlichen – Erinnerungen und Gedanken verschmolzen. Der Korridor! durchraste es Lilith. Ich muß ihn … abschalten! Abschalten? Wie? Sie wich einen Schritt zurück, taumelte, stürzte und gelangte dabei über die Schwelle. Aus den Trümmern der Vorkammer richtete sie sich auf, sah sich gehetzt um. Seine Präsenz raste heran. Jenseitige Kälte und übler Brodem wehten Lilith aus dem Tunnel entgegen, wurden unerträglich. Der Kelch! Nimm den Kelch! Los! Die Gedanken flüsterten den Worten einer Fremden gleich hinter Liliths Stirn. Sie nickte. Ein Sprung brachte sie zur Wand der Kammer, wo der Lilienkelch in einer Vertiefung stand. Ihre Finger schlossen sich darum, nahmen das Gefäß heraus. Wollten es tun … … doch der Kelch verkantete sich! Und er kam! Näher und immer näher, rasend schnell.
Lilith spürte etwas wie eiskalte, geisterhafte Hände, die nach ihr griffen. Sie zerrte am Kelch, wandte mehr Kraft auf. Etwas wollte sich um ihr Herz schließen, berührte ihre Seele wie der Tod selbst. Dann – endlich … hatte sie ihn. Mit leisem Schaben und Klirren löste sich der Lilienkelch aus der Wand! Lilith kippte nach hinten, stürzte erneut. Nur aus den Augenwinkeln bekam sie mit, wie der Korridor erlosch. Ein lautloser Schrei, der die Kammer wie Donner vibrieren ließ, drückte Lilith zu Boden, weil das Brüllen wie eine feurige Walze über sie hinwegrollte. Dann erst kehrte Stille ein. Vollkommen wie die des Todes. Die Geräusche, die Lilith beim Aufstehen verursachte, klangen widernatürlich laut. Der Kelch, fiel ihr ein, als sie in der Hocke dakauerte, wo ist er? Beim Sturz hatte sie ihn fallen gelassen. Dicht vor dem Tor war er liegengeblieben. Einen Moment lang wünschte Lilith fast, er wäre über die Schwelle gerollt und für immer verschwunden. Auf allen vieren kroch sie darauf zu. Und dann sah sie – ihn.
* Anum brüllte vor Zorn und Enttäuschung! Und vor – Furcht? Nie hätte er sich diese Regung eingestanden, und doch war sie unleugbar in ihm. Denn schon wähnte er sich auf ewig gefangen im Korridor der Zeit, der sich um ihn her auflöste. Das Weib namens Beth war ihm entkommen, auf eine Weise, die er niemals in Betracht gezogen hätte. Und Lilith Eden war dabei, das Tor zum Tunnel zu schließen, noch bevor er ihrer habhaft werden konnte!
Alle Macht konzentrierte Anum auf seine Flucht. Er raste, stürzte dem Ausgang zu, während sich das Tor bereits zusammenzog. Immer schmaler wurde die Öffnung. Zurück! trieb sich Anum an. Ich muß zurück in meinen …! Zu spät … Finsternis umfing Anum. Schwärze wie von jahrtausendealtem Blut.
* Er war schön im klassischen Sinne. Und mehr als das. Ein Zauber ging von ihm aus, dem Lilith sich nicht zu entziehen vermochte. Und sie wollte es auch gar nicht. Obgleich er wie tot in den Trümmern lag, fühlte Lilith sich ihm verfallen. Wie mußte es erst sein, wenn er sich rührte und erwachte? Lilith schauderte. Aber es waren wohlige Schauer, die sie durchliefen, und sie wünschte, sie würden nie vergehen. Was geschieht nur mit mir? dachte sie, doch der Gedanke schwand, als würde er fortgeweht wie ein welkes Blatt vom Herbstwind. War er denn tot? War vielleicht auch er ein Opfer des Wesens geworden, das sie und Beth im Korridor der Zeit verfolgt hatte? Lilith kroch näher, beugte sich über den Körper, suchte nach Lebenszeichen. Sie fand nichts, und doch wußte, spürte sie, daß er lebte. Wo kam er her? Warum hatte sie ihn zuvor nicht entdeckt? Egal. Er war da, und nur das zählte. Wer war er? Die Antwort auf diese Frage mußte Lilith erfahren, und sie würde alles tun, um sie zu bekommen. Ihre Hände strichen über seine Kleidung, fühlten die starren Muskeln darunter, hart und glatt wie Porzellan. Sanft fuhren ihre Finger die Linien seines Gesichtes nach. Sie verlor sich in ihm, ohne sich dessen bewußt zu sein, und sie wollte, daß es niemals endete. Daß
der Bann, der sie hielt, nie mehr brach. Sie mußte ihn fortbringen von hier. Lilith schaffte es, sowohl den Fremden als auch den Kelch hochzuheben und die zweiundzwanzig Stufen hinaufzutragen, die aus der Vorkammer des Korridors zur Wüste emporführten. Ein leichter Wind trieb Staubschleier wie tanzende Geister umher, im Licht der untergehenden Sonne rotgolden schimmernd. In einiger Entfernung gewahrte Lilith kantige Umrisse. Darauf hielt sie mit ihrer Last zu, ohne außer Atem zu geraten. Ihre Kraft übertraf die eines Menschen bei weitem. Bald schon erreichte sie ein Lager aus Zelten und Baracken – in dem der Tod reiche Ernte gehalten hatte! Ein Bild des Grauens bot sich Lilith, doch ihr Blick war blind dafür, ihr Herz taub für Entsetzen. Sie schien die Toten nicht zu sehen und den Gestank von beginnender Verwesung und Blut nicht zu riechen, als sie durch das Lager lief, den Fremden auf beiden Armen tragend, den Kelch in der Faust. Sie ging auf einen staubigen Geländewagen zu. Die Wappen an den Türen wiesen ihn als Eigentum der irakischen Armee aus. Lilith setzte sich hinter das Steuer, drehte den im Zündschloß steckenden Schlüssel, doch der Motor gab keinen Laut von sich. Nicht anders war es bei zwei anderen Fahrzeugen, die Lilith zu starten versuchte. Als sie schon fürchtete, sich zu Fuß auf den weiteren Weg machen zu müssen, wurde sie auf ein Geräusch aufmerksam. Ein Schnauben und Stampfen. Hinter einer der Baracken traf sie auf ein knappes Dutzend angepflockter Pferde. Sie wählte zwei davon aus, die ihr am kräftigsten schienen. In dem windschiefen Gebäude fand sie Sattel und Zaumzeug, das sie den Pferden anlegte, dann hievte sie den Fremden auf eines der Tiere und sorgte mit Stricken dafür, daß er nicht herabfallen konnte.
Schließlich schwang sie sich in den Sattel des zweiten Pferdes, nahm das andere an die Leine und ritt los, der untergehenden Sonne entgegen, in jene Richtung, wo in weiter Ferne ihr Ziel lag. Wo sie und der Fremde unbehelligt bleiben würden von Liliths ewigen Feinden … Beth MacKinsey hatte einen solchen Ort einst kennengelernt. Und somit kannte ihn Lilith Eden nun auch. In der Heiligen Stadt hatte es in der Vergangenheit keine Vampire gegeben. Und während sie gen Jerusalem ritten, hoffte Lilith, daß sich daran nichts geändert hatte … ENDE
Rendezvous der Rache Leserstory von Marko Tesch Mein Kopf wird zur Seite gedrückt. Ich höre schon die Wirbel knirschen, und der Abend läuft wie ein Film noch einmal vor meinem inneren Auge ab. Ich traf dieses Mädchen vor zwei Nächten in meiner Stammkneipe und war sofort von ihr fasziniert. Sie hatte so etwas Anziehendes, das nicht nur auf ihre Schönheit zurückzuführen war, außerdem kam sie mir irgendwie bekannt vor. Sie hieß Nicole, und ich stellte mich ihr als Nick vor. Von Beruf bin ich Auftragskiller, doch dies mußte sie nicht wissen. Ich fragte sie, ob wir uns schon einmal begegnet wären, doch sie verneinte. »Aber vielleicht meiner Schwester, wir sehen uns in gewisser Hinsicht ähnlich«, entgegnete sie. Wir trafen uns die Nacht darauf wieder. Ich weiß, daß man Frauen nicht gleich in der ersten Nacht abschleppen sollte. Die Gefahr, das sie dich dann abblitzen lassen, ist zu groß, außerdem hat man ja Anstand. Doch heute war es soweit. Nach unserem romantischen Abendessen bei Kerzenlicht und leiser Musik saßen wir auf der Couch und küßten uns leidenschaftlich. Ihre Küsse waren fordernd und beherrschend. Ich mag das und jauchzte leicht auf, als sie mich leicht in die Unterlippe biß. Blut floß. Nicole strich leicht mit der Zunge darüber und begann an der Wunde zu saugen. Sie sog meine Unterlippe in ihren Mund und entließ sie mit einem leichten Hauch ihres Atems wieder. Ich sagte scherzend zu ihr: »Whow, du bist ja ein kleiner Vampir.« Sie blickte auf, und in ihren Augen war ein Funkeln, das ich nicht zu deuten vermochte. Ich tat es als Begierde ab. Ein tödlicher Fehler, den ich später bitter bereuen sollte.
Ihr Top fiel hinab. Was für eine Frau! sagte ich zu mir. Ihre Brüste pendelten vor meinen Augen. Ich knabberte leicht und zärtlich an den Knospen. Dann drehte ich mich mit ihr, und wir gingen beide zu Boden. Ich hielt meine Rechte unter ihren Kopf, damit sie nicht hart aufschlug. Die andere Hand wanderte nach unten, schob ihren Rock nach oben und bemerkte erst jetzt, das sie gar keinen Slip trug. Wie vorausschauend sie doch war! Plötzlich drehte sie uns beide mit einem Ruck herum. Es kam so überraschend, daß ich mit den Kopf hart auf den Teppich aufschlug. Kurz vom Schmerz benommen, bemerkte ich, wie Nicole sich an meiner Hose zu schaffen machte. O Mann, dachte ich, immer noch in dem Glauben, ich würde die Fäden in diesem Spiel ziehen. Ich lag jetzt auf dem Rücken, und sie saß auf mir. Ihr Schoß war warm, ihr Becken vollführte einen Tanz, der mich in unendliche Ekstasen brachte. Ich walkte dabei ihre Brüste. Es war herrlich. »Ich wünschte, diese Nacht würde nie zu Ende gehen«, dachte ich laut. »Oh, sie wird zu Ende gehen«, sagte Nicole mit einem merkwürdigen Unterton in ihrer Stimme. Ich achtete nicht darauf, denn es war soweit: Der Höhepunkt unserer Leidenschaft war gekommen – und damit auch mein Ende. Sie strich mir die Haare aus dem von Schweiß glänzenden Gesicht. Ihre Lippen küßten meinen Hals, und ohne Vorahnung überkam mich ein Schmerz, an meiner Schulter geboren. Ein Biß, der meine Hauptschlagader zerriß, und ein Sog, welcher mein Blut in Nicoles Mund trieb! Der stetig und fordernd blieb, wie ihre Küsse. Mein Körper wurde müde … Nun kann ich mich kaum noch bewegen. Ich will sie fortstoßen, doch kein Muskel gehorcht mir mehr. Mir wird schwarz vor Augen. Ich spürte, wie die Lebensenergie aus meinen Körper fließt, aus der Wunde an meinem Hals. Ich sterbe und weiß nicht einmal, warum. Das letzte, was ich noch vernehme, bevor mich endgültig die Dun-
kelheit des letzten Schlafes einhüllt, ist ein … Jaulen?
* Ich schrecke auf. Ein Zittern überkommt mich und – Durst. Nicole sitzt noch immer nackt über mir, und blutige Linien sind zu sehen, die einen Weg zeichnen von ihren Mundwinkeln zu ihrem Kinn. Sie nimmt ihren Zeigefinger der linken Hand, fährt damit vom Kinn aufwärts zum Mund. Mit einem wohligen Schmatzen leckt sie das Blut vom Finger. Dann sieht sie mich an. »Bevor du endgültig zur Hölle fährst, sollst du wissen, warum du stirbst. Du hast meine Schwester getötet! Ihr Mann hatte dich beauftragt. Er hat seine gerechte Strafe schon bekommen, und nun bist du dran. Du wirst dich doch noch an Marie erinnern?« Ich nickte. »Sie war erst fünfundzwanzig.« Ein Schluchzen kommt über ihre blutverschmierten Lippen. »In zwei Monaten wäre sie bereit gewesen für die Bekehrung und hätte ein Platz unter den unsrigen gefunden. Doch nun ist sie auf ewig tot …« Nicoles Hände verwandeln sich in Pranken, ihr schönes Gesicht wird zu einer Fratze des Schreckens. Sie nimmt meinen Kopf in die Pranken und dreht ihn mir auf meinen Rücken. Als ich endgültig aus dieser Welt scheide, nehme ich noch ein Wort wahr, das in Nicoles mutierter Schnauze jaulend mitklingt. Das Wort heißt Rache. © Marko Tesch, Dorfstr. 37, 19386 Broock ENDE
Endzeit von Uwe Voehl Die Erde, beherrscht von dunklen Mächten und gepeinigt von Anarchie, Angst und Tod. Menschen, die unter der Diktatur eines Vampirfürsten ihr elendes Dasein fristen. Als die Werwölfin Nora eines Morgens erwacht, ist nichts mehr so wie gestern noch. Gestern? Wie lang hat sie geschlafen? Jahrzehnte? Was ist seither geschehen? Wie eine Fremde in fremder Welt erkundet Mona die Stadt, die einst New York City hieß. Jetzt ragt eine gigantische Festung mitten im Central Park auf. Hier residiert das Böse. Hier wird sie Antworten finden. Oder den Tod …