Felissa Mühlich Übergewicht als Politikum?
Felissa Mühlich
Übergewicht als Politikum? Normative Überlegungen zur Ern...
17 downloads
781 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Felissa Mühlich Übergewicht als Politikum?
Felissa Mühlich
Übergewicht als Politikum? Normative Überlegungen zur Ernährungspolitik Renate Künasts
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15816-7
Danksagung Danksagung
An dieser Stelle möchte ich in verschiedene Richtungen meinen Dank dafür aussprechen, dass meine Diplomarbeit nun in dieser Form vorliegt: 1.
2.
3. 4.
Meinen Familien. Zum einen meinen Eltern Wolfgang Mühlich und Christine Mühlich-von Staden, von denen ich als meiner ersten Tischgemeinschaft Genussfreude und Qualitätsbewusstsein beim Essen gelernt habe und die mein Studium mit all seinen Eskapaden finanziell und emotional begleitet haben. Zum anderen meiner neuen Familie und Tischgemeinschaft Matthias und Anton, mit denen nicht nur die Gaumenfreuden sich fortsetzen. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Meinen Betreuern Bernd Ladwig und Bodo Zeuner mit ihren jeweiligen Colloquien (dem Colloquium Recht und Theorie der Politik respektive dem allgemeinen Diplomandencolloquium des OSI), die mich vom Brainstorming bis zum fertigen Konzept darin bestärkt haben, meine eigenen Ideen zu verfolgen, und diese hilfreich kommentierten. Denjenigen, die die Arbeit in Teilen oder als ganze kommentierten und korrigierten: Johanna Jäger, Regine von Staden, Juliane Neumann, Tanja Broser, Anne Sander und Mia Konstantinidou. Harald Seitz vom aid infodienst e.V. und Karolin Lüddecke von der Dr. Rainer Wild – Stiftung danke ich für Informationen zum ernährungswissenschaftlichen Forschungsstand, und schließlich noch Beate Rössler für die freundlichen Antworten auf meine Nachfragen.
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Danksagung ....................................................................................................................... 5 Inhaltsverzeichnis.............................................................................................................. 7 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................... 9 Vorwort (Prof. Dr. Bernd Ladwig)................................................................................ 11 1
Einleitung................................................................................................................... 15 1.1 Problemaufriss: Ist Übergewicht ein Politikum? ............................................... 15 1.2 Zum Forschungsstand ........................................................................................ 18 1.2.1 Politikwissenschaft ................................................................................... 18 1.2.2 Ernährungssoziologie ............................................................................... 21 1.2.3 Ernährungswissenschaft ........................................................................... 21 1.2.4 Ernährungspsychologie ............................................................................ 23 1.3 Fragestellung: Sollte Übergewicht ein Politikum sein? ..................................... 25
2
Theoretische Aspekte................................................................................................ 27 2.1 Privatheit: Drei Verständnisse............................................................................ 27 2.1.1 Zum Begriff des Privaten ......................................................................... 27 2.1.2 Privatheit klassisch-liberal: John Stuart Mill............................................ 29 2.1.3 Privatheit kommunitaristisch: Amitai Etzioni .......................................... 36 2.1.4 Dezisionale Privatheit bei Beate Rössler: Modern liberal........................ 40 2.1.5 Zusammenfassung und Kritik................................................................... 45 2.2 Autonomie und Ernährung ................................................................................. 48 2.2.1 Autonomie ................................................................................................ 48
8
Inhaltsverzeichnis 2.2.2 … und Ernährung ..................................................................................... 50
3
Dokumentenanalyse.................................................................................................. 55 3.1 Berichte des Ministeriums.................................................................................. 56 3.1.1 Beschreibung und Einordnung des Dokuments........................................ 56 3.1.2 Analyse nach inhaltlichen Aspekten......................................................... 57 3.2 Regierungserklärung „Eine neue Ernährungsbewegung für Deutschland“ .......... mit anschließender parlamentarischer Diskussion ............................................ 62 3.2.1 Beschreibung und Einordnung der beiden Dokumente............................ 62 3.2.2 Analyse nach inhaltlichen Aspekten: Regierungserklärung..................... 63 3.2.3 Analyse nach inhaltlichen Aspekten: Parlamentsdebatte ......................... 65 3.3 Die Dickmacher – Warum die Deutschen immer fetter werden und was ............. wir dagegen tun müssen .................................................................................... 71 3.3.1 Beschreibung und Einordnung des Dokuments........................................ 71 3.3.2 Analyse nach inhaltlichen Aspekten......................................................... 72 3.4 Zusammenschau der Ergebnisse ........................................................................ 88
4
Diskussion .................................................................................................................. 91 4.1 Wie privat ist die individuelle Ernährungsweise................................................ 91 4.2 Welche der ernährungspolitischen Maßnahmen verletzen dezisionale ................. Privatheit? – Oder: Wird jetzt gegessen, was vom Amt kommt?...................... 96 4.3 Wie plausibel wird die Notwendigkeit für ein politisches Eingreifen in ............... individuelle Ernährungsweisen und damit unter Umständen auch in .................. dezisionale Privatheit begründet?.................................................................... 102
5
Fazit.......................................................................................................................... 109
6
Literaturverzeichnis ............................................................................................... 113
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
aid BMI BMVEL BSE BVerfG DGE EU WHO WZB
aid infodienst Verbraucherschutz, Ernährung, Landwirtschaft e.V. Body Mass Index Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Bovine Spongiforme Enzephalopathie Bundesverfassungsgericht Deutsche Gesellschaft für Ernährung Europäische Union Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation) Wissenschaftszentrum Berlin
Vorwort Prof. Dr. Bernd Ladwig Vorwort Übergewicht ist zum politischen Thema geworden. Politiker verschiedener Parteien erwecken den Eindruck, falsche Ernährung gehe die Allgemeinheit etwas an und der Staat könne ihr „zu Leibe rücken“. Wesentlichen Anteil an dieser Politisierung hat die frühere Bundesministerin Renate Künast. Sie hat Übergewicht unter Stichworten wie „Chancengleichheit“ und „Kostenentwicklung im Gesundheitswesen“ zum Gegenstand staatlichen Handelns und auch moralischer Appelle gemacht. Ist sie damit zu weit gegangen? Hat sie nicht die Privatsache, wie wir uns ernähren, ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt? Mit diesen Fragen befasst sich Felissa Mühlich. Ihr Buch beruht auf einer Diplomarbeit am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin, die mit dem „Lorbär 2007“ für die beste Abschlussarbeit ausgezeichnet worden ist. Gewürdigt wurde damit eine wunderbar klare und differenzierte Argumentation, die zudem ausgesprochen innovativ ist: Frau Mühlich hat das Thema Übergewicht normativ, aus der Perspektive der zeitgenössischen politischen Philosophie, betrachtet. Mir ist keine Arbeit bekannt, in der dies zuvor versucht worden wäre. Mühlichs Leitgesichtspunkt ist der Wert der Privatheit. Sie will klären, worin dieser Wert besteht und welches Urteil über Künasts Ernährungspolitik er nahe legt. Liberale Autoren betrachten Privatheit typischerweise anders als kommunitaristische, weshalb Mühlich zunächst auf diese in der neueren politischen Philosophie übliche Unterscheidung eingeht. Genuin liberal ist das Argument, Privatheit sei wertvoll, weil sie zu einem selbstbestimmten Leben gehörte. Privatheit spielt etwa die Rolle eines Rückzugsraumes, in dem wir frei von öffentlichem Druck und Überwachung erwägen können, wie wir leben wollen. Dagegen geht kommunitaristischen Autoren wie Amitai Etzioni die Wertschätzung von Privatheit in westlichen Gesellschaften eher zu weit. Sie gestehen ihr zwar einen gewissen Eigenwert zu; vor allem aber sehen sie Gefahren für Solidarität und Gemeinwohl. Man könnte nun meinen, die Politisierung von Privatheit folge einer klar kommunitaristischen Linie, während für Liberale das ganze Thema politisch tabu sein müsste. Es ist kein geringer Vorzug von Mühlichs Studie, dass sie diese einfache Annahme als zu einfach erweist. Ausgehend von einer dezidiert liberalen Konzeption von Privatheit, gewinnt die Autorin eine sehr differenzierte Sicht
12
Vorwort
auf Künasts Kampagne. Als kritischer Schlüssel dient ihr der Begriff „dezisionale Privatheit“, den sie von der liberalen Feministin Beate Rössler übernimmt. Gemeint ist die Freiheit von Personen, selbst zu entscheiden, wer ihre Lebensführung, ihre Überzeugungen und Haltungen beurteilen darf und wer nicht. Nicht jeder soll etwa das Recht haben, mit mir über den Nährwert des Inhalts meines Kühlschrankes, meiner Küchenkammer und meiner Hausbar zu streiten. Und klassisch liberal ist die Begründung, die Rössler und Mühlich für solche Zugangskontrollen zum Raum der Rechtfertigung geben: Dezisionale Privatheit ermögliche und stütze die Autonomie von Personen. Damit ist vorgezeichnet, woran Mühlich Art und Charakter von Eingriffen in die Privatsphäre messen wird: Gefährden sie Voraussetzungen oder Aspekte personaler Selbstbestimmung oder tragen sie umgekehrt zu deren Stärkung bei? Implizit ist damit zugleich ein Aspekt von Gerechtigkeit berührt: gehen doch liberale Theorien davon aus, dass alle Personen ein gleiches Recht auf Selbstbestimmung haben. Dieses normative Zwischenergebnis bringt Mühlich zunächst in einer Dokumentenanalyse zur Geltung. Sie sichtet nacheinander Berichte aus Künasts Ministerium, eine Regierungserklärung mit anschließender Diskussion im deutschen Bundestag sowie das von Künast als Autorin vertretene populäre Buch „Die Dickmacher“. Das Ergebnis ist ernüchternd: Auf keiner Seite erfährt Privatheit die differenzierte Würdigung, die ihr zukäme: Stattdessen wird sie wahlweise als Kampfbegriff verwendet oder Gesichtspunkten der Gerechtigkeit („Chancengleichheit“) oder des Gemeinwohls („Kostenentwicklung im Gesundheitswesen“) untergeordnet. Und Künasts ernährungspolitische Initiativen selbst? Hier gelangt Mühlich zu einem zwiespältigen Urteil. Manche Handlungsempfehlungen der Ministerin stellen Privatheit nicht in Frage und lassen sogar deren Stärkung erwarten. Das gilt vor allem für eine verbesserte Verbraucherinformation. Anders sieht Mühlich das von Künast angestoßene „Gemeinschaftsprojekt pro Gesundheit und kontra Fett“: Es ergreift Partei zugunsten ganz bestimmter Lebensweisen, die überdies als solche von Bessergestellten erkennbar sind. So stützt es zumindest symbolisch Strukturen der Ungleichheit, verletzt das Gebot größtmöglicher ethischer Neutralität des liberalen Staates und könnte sogar zur Stigmatisierung übergewichtiger Menschen beitragen. Mühlich erkennt hier eine an Etzionis Kommunitarismus erinnernde Unterschätzung des Wertes von Privatheit. Künast lasse Kriterien vermissen, die eine Abgrenzung zulässiger, weil autonomiefördernder, von unzulässigen Eingriffen in die Privatsphäre erlaubten. Zwar hebt sie zu Recht Gesichtspunkte der Chancengleichheit hervor. Aber sie neigt auch zu gefährlich vagen Beschwörungen des Gemeinwohls, denen keine zureichend differenzierte Verteidigung des Wer-
Vorwort
13
tes von Privatheit gegenüber steht. So droht dieser tatsächlich Gefahr durch ernährungspolitischen Übereifer. Mühlichs Einwände geben ein zugleich antipaternalistisches und realistisches Freiheitsverständnis zu erkennen: Politik sollte die Möglichkeiten einer verantwortlichen, von Überlegung geleiteten Lebensführung verbessern, ohne erwachsenen Menschen substantiell vorzugeben, worauf eine solche Lebensführung hinauszulaufen habe. Insgesamt zeigt sich, dass Ernährung weder gänzlich privat ist noch gänzlich in die Öffentlichkeit gehört. Einige Aspekte des Themas gehen die Politik etwas an, andere eher nicht. Die politische Philosophie kann keine direkten Handlungsanweisungen geben, aber wichtige Gesichtspunkte hervorheben und ihren Stellenwert erläutern. Felissa Mühlich hat das für ein von moralisierenden Betrachtungen heimgesuchtes, doch von normativer Theorie noch kaum erkundetes Thema eindrucksvoll gezeigt.
Problemaufriss: Ist Übergewicht ein Politikum?
15
1 Einleitung
1.1 Problemaufriss: Ist Übergewicht ein Politikum? Neuerdings hat sich ernährungspolitisch zu der Bekämpfung von Hunger ein weiteres Problem gesellt: Fettleibigkeit oder Adipositas1. Weltweit steht ungefähr eine Milliarde Hungernder einer Milliarde Übergewichtiger gegenüber. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht sogar von einer weltweiten Adipositas-Epidemie, der „globesity“2, obwohl es sich dabei nicht im eigentlichen Sinne von Ansteckung um eine übertragbare Krankheit handelt.3 Zwar sind überwiegend wohlhabende Industrieländer – allen voran die USA – davon betroffen, doch auch in so genannten Entwicklungsländern häufen sich Krankheiten, die mit starkem Übergewicht in Verbindung gebracht werden.4 Es hat sich ein breiter Konsens von der WHO über die Europäische Union (EU) bis hin zu nationalstaatlichen Institutionen darüber herausgebildet, dass Übergewicht eines der herausragenden gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit sei und dass politisch etwas dagegen unternommen werden müsse.5 Schätzungen gehen davon aus, dass innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre zwei Drittel der Europäer übergewichtig und davon die Hälfte sogar fettleibig sein könnte, was den Verhältnissen in den USA entspräche (Europäische Kommission 2003: 8). Diejenige, die in Deutschland maßgeblich die Diskussion um Übergewicht und die gesellschaftlichen Folgen angestoßen hat, ist die ehemalige Ministerin 1
Adipositas ist der medizinische Fachausdruck für Fettleibigkeit. Wortkreation aus „global“ und „obesity“, dem Englischen Begriff für Adipositas bzw. Fettleibigkeit. 3 Die WHO meint dazu: „Modern dietary patterns and physical activity patterns are risk behaviours that travel across countries and are transferable from one population to another like an infectious disease, affecting disease patterns globally.” (WHO 2003: 5) 4 Weltweit seien mehr als eine Milliarde Erwachsene übergewichtig, und davon mindestens 300 Millionen fettleibig. Es wird angenommen, dass rund 115 Millionen Menschen in Entwicklungsländern an Krankheiten leiden, die mit Fettleibigkeit in Verbindung gebracht werden (http://www.who.int/nut/obs.htm; download 15.11.2005). 5 Der Sachstandsbericht über die Arbeit der Europäischen Kommission im Bereich der Ernährung in Europa (Europäische Kommission 2003) beschäftigt sich fast ausschließlich mit dem Ernährungsproblem Fettleibigkeit. Gefordert wird beispielsweise ein Tätigwerden der Gemeinschaft zur „Propagierung gesunder Ernährungsweisen und die Erziehung der Verbraucher zur Auswahl der richtigen Lebensmittel und zu vermehrter körperlicher Betätigung“ (ebd.: 8). 2
16
Einleitung
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Renate Künast. Nicht zuletzt durch ihr Buch Die Dickmacher – Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen (2004) hat sie begonnen, das Thema Übergewicht in die gesellschaftspolitische Diskussion zu bringen und seitens der Politik zu verkünden, wie eine gesunde Ernährung auszusehen habe. Insbesondere für die zunehmende Fettleibigkeit von Kindern und Jugendlichen6 sollte ein breiteres Problembewusstsein in Politik und Gesellschaft geschaffen werden. Eine Überlegung, die in diesem Zusammenhang weniger oft angestellt wird ist die, ob es wirklich Aufgabe von Politik ist oder sein sollte das Ernährungsverhalten der Bevölkerung hin zu einer ‚gesunden Ernährung’ zu beeinflussen. Denn ist nicht das, was wir essen, Teil unserer Privatheit? Wie lässt sich diese Art von Ernährungspolitik als Intervention in das Ernährungsverhalten von Individuen mit verschiedenen normativen Vorstellungen von Privatheit in Einklang bringen? Welche Argumente werden zu Gunsten einer Intervention vorgebracht? Können diese auch dann als legitim angesehen werden, wenn es darum geht Einschnitte in die Privatheit Einzelner zu rechtfertigen? Staatliche Versuche, die Ernährung der Bevölkerung zu beeinflussen, sind an sich nichts Neues. Bereits in der Antike haben griechische und römische Stadtstaaten versucht, durch Qualitäts- und Preiskontrollen die Ernährung der Bevölkerung zu lenken. In der Neuzeit werden die Anfänge des Politikfeldes Ernährungspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts verortet und liegen in der Bekämpfung von Mangelernährung und Unterversorgung als Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung. Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts sollte durch ernährungspolitische Maßnahmen die militärische und industrielle Leistungskraft der Bevölkerung gesteigert werden. Dabei ging es hauptsächlich um die Garantie einer Mindestversorgung (food security) und die die Qualität der Nahrungsmittel betreffende Lebensmittelsicherheit (food safety). In einer dritten Phase seit Ende des zweiten Weltkrieges ist als weiteres Element das Ernährungsverhalten selbst als Gegenstand politischer Interventionen dazugekommen. Nachdem die grundlegende Versorgung gesichert war, sollten sich alle besonders ‚gesund’ ernähren (Burnett/Oddy 1994). Im Zeitalter von „globesity“ und den vermuteten Folgekosten dieser Entwicklung für Gesellschaften hat das politische Interesse am Ernährungsverhalten Einzelner noch zugenommen. Die ehemalige Ministerin Künast forderte nicht nur diffus eine ‚gesunde Ernährung’, sondern sie spezifizierte wie diese auszusehen habe und wollte, dass sich die Bevölkerung gemeinschaftlich an diesem Ideal orientiert. Unter dem aktuellen Minister Horst Seehofer soll dem Thema Ernährung ein noch größerer Stellenwert eingeräumt werden, weshalb das Ministerium als eine seiner ersten Amtshandlungen in Ministerium 6
Nach einem Artikel der taz beispielsweise haben bereits 13% der Schulanfänger Übergewicht (die taz vom 18.11.2005, S. 22).
Problemaufriss: Ist Übergewicht ein Politikum?
17
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz umbenannt wurde, sodass Ernährung nun im Namen auch an erster Stelle steht.7 Der große Stellenwert, den die individuelle Ernährungsweise der Bevölkerung für die Politik heute hat, ist also nicht selbstverständlich. Weder historisch, noch, wie ich vermute, normativ. Eine der Aufgaben politikwissenschaftlicher Forschung ist es, über das zu reflektieren, was Gegenstand von Politik sein kann oder sollte. Darin, dass sich die Aufgaben von Ernährungspolitik in den wohlhabenden Industrieländern von der Vermeidung von Hunger (Garantie eines Minimums) nun über den Wunsch gesundheitliche Risiken insgesamt zu reduzieren – und das eben durch Steuern der individuellen Ernährungsweise - in gewisser Weise hin zur Kontrolle eines Maximums entwickelt haben, sehe ich einen Konflikt mit Vorstellungen von Privatheit, wie sie liberalen Gesellschaften zu Grunde liegen. Während die Garantie eines Minimums an Nahrung grundlegend für staatliche Legitimität ist (vgl. dazu auch Barlösius 1999: 201) und es seit 1976 auch ein Menschenrecht auf Nahrung gibt, scheint es, dass das Ernährungsverhalten jenseits von Mangel nicht in den Zuständigkeitsbereich von Politik fällt. Und doch gibt es Argumente für ein Eingreifen der Politik auf diesem Gebiet. Eines betrifft die prognostizierten Kosten für das Gesundheitssystem als Folge ernährungsbedingter Krankheiten.8 Ein weiteres gründet sich auf die soziale Ungleichverteilung des Risikos, übergewichtig zu werden. Einkommensschwache Schichten sind hiervon wesentlich stärker betroffen (siehe u.a. Prahl/Setzwein 1999, Barlösius 1999, DGE 2004). Mit Blick auf soziale Gerechtigkeit allgemein, und insbesondere auf die Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien, werden egalisierende Maßnahmen gefordert. Übergewicht ist also de facto zu einem Politikum geworden. Doch sollte das normativ, besonders mit Blick auf Privatheit, so sein?
7
Vgl. dazu eine Rede des Staatssekretärs im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Gert Lindemann, vom 28.11.2005: http://www.bmelv.de/index-000315E5805D13909F316521C0A8D816.html, download 2.1.2006. 8 In den USA kosteten 2003 die Folgeerkrankungen von Übergewicht 75 Milliarden Dollar. In Deutschland werden nach Schätzungen jährlich zwischen 13 und 70 Milliarden Euro ausgegeben (u.a. Künast 2004: 65ff).
18
Einleitung
1.2 Zum Forschungsstand 1.2.1 Politikwissenschaft Das Thema Ernährung spielt in der Politikwissenschaft insgesamt bislang eine untergeordnete Rolle.9 Das Vorzeichen ist dann meist Hunger und nicht Übergewicht, wie beispielsweise in der Entwicklungspolitik.10,11 Im Bereich Politische Ökonomie wird die Internationale Politische Ökonomie der Ernährung erforscht. Hier geht es um die globale Arbeitsteilung bei der Nahrungsmittelproduktion und die Produktionsweise. Mit Methoden wie der „commodity chain“Analyse wird die Architektur weltweiter Warenketten analysiert, z.B. nach der Verteilung von Macht und Gewinn. Da das Ernährungsverhalten Einzelner dabei nur bedingt eine Rolle spielt, kann dieses Feld hier vernachlässigt werden. Die ökologischen Diskurse um Nachhaltigkeit, bei denen es um nachhaltige Konsum- und Lebensstile geht, beinhalten auch immer Ernährungsaspekte; ebenso viele Arbeiten zu Zeitpolitik, die sich unter anderem mit Veränderungen bei der Mahlzeitenordnung auseinandersetzen. Veränderungen in der Mahlzeitenordnung wie ein Rückgang der regelmäßigen und frisch zubereiteten Familienmahlzeiten, werden für zunehmendes Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen mitverantwortlich gemacht. Auf der Schnittstelle dieser beiden Bereiche angesiedelt ist die Dissertation von Dagmar Vinz Zeiten der Nachhaltigkeit – Perspektiven für eine ökologische und geschlechtergerechte Zeitpolitik (2005a). Das Politikfeld Ernährung ist kein eindeutig abgrenzbares politisches Regelungsfeld, da es Überschneidungen mit anderen Politikfeldern wie Gesundheits-, Landwirtschafts- und Verbraucherschutzpolitik gibt. Zudem ist das Politikfeld seit der BSE-Krise stark im Wandel begriffen. In der Bundesrepublik war Ernährungspolitik lange Bestandteil der Landwirtschaftspolitik -deren Kräfteverhältnisse, dargestellt als „Iron Triangle“12, seit der BSE-Krise kritisch beleuchtet werden- und der Gesundheitspolitik. Ein Ergebnis aus dieser Umstrukturierung 9
Obwohl, wie Fichtner unterhaltsam bemerkt, die Geschichte des Essens immer auch eine der Politik war, „wenn es um vergiftete Brunnen und um Schierlingsbecher ging, um Friedensschlüsse und Kriegserklärungen, während in Spiegelsälen die Champagnerkelche klirrten und das Ochsenfleisch tranchiert wurde“ (Fichtner 2004: 19). 10 Die Länder, die zu den Empfängerländern in der Entwicklungszusammenarbeit gehören, haben (noch) mehr Probleme mit Hunger und Unterernährung, als mit Übergewicht. 11 z.B. Timmer u.a. (1983), Pinstrup-Andersen (1993). 12 Damit ist eine von der öffentlichen Kontrolle weitgehend unbehelligte Interessen-Allianz von Landwirtschaftlichen Interessengruppen, Landwirtschaftlichen Behörden und Agrarpolitik gemeint, der vorgeworfen wird, dass sie „politisch berechnende Policies [generiere], die nur einen kleinen Teil der Gesellschaft bevorzugen. Ziele wie beispielsweise Verbraucherschutz, Produktqualität oder nachhaltige Ernährung, die dem Großteil der Bevölkerung zugute kommen, bleiben bei solch einem Arrangement außen vor.“ (Waskow/ Rehaag 2004: 6; dazu auch Barlösius 1999).
Zum Forschungsstand
19
war die Schaffung des neuen Ministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft in dem nun ehemals verstreute Kompetenzen für Ernährung und Verbraucherschutz gebündelt werden sollen, sodass der gesamte Weg der Nahrungsmittel „vom Acker bis zum Teller“ in die Zuständigkeit eines Ministeriums fällt. Politikfeldanalysen betrachten relevante Akteure, Strukturen und Prozesse eines Politikfeldes und deren Auswirkungen auf Politikergebnisse (policy outcomes). Als Ergebnisse von Ernährungspolitik behandeln frühere Politikfeldanalysen überwiegend die traditionelleren Aspekte food security und food safety, was damit zusammenhängt, dass das politische Interesse an und Problembewusstsein für Übergewicht - wie oben ausgeführt - noch relativ neu ist. Seit Anfang der 90er Jahre wird aber zunehmend Politik bezüglich des Ernährungsverhaltens mitberücksichtigt.13 Dabei soll es um eine nachhaltige und gesunde Ernährungsweise der Bevölkerung gehen (u.a. Waskow/Rehaag 2004). Dieses Politikziel wird aber nicht weiter normativ hinterfragt. Ernährung spielt auch eine wichtige Rolle für Public Health. Für Public Health gibt es bislang keine einheitliche Entsprechung im Deutschen. Damit ist „Theorie und Praxis der auf Gruppen bzw. Bevölkerungen bezogenen Maßnahmen und Strategien der Verminderung von Erkrankungs- und Sterbewahrscheinlichkeiten sowie der Gesundheitsförderung [gemeint]. (…) Public Health analysiert und beeinflußt hinter den individuellen Krankheitsfällen epidemiologisch faßbare Risikostrukturen, Verursachungszusammenhänge und Bewältigungsmöglichkeiten. Wissenschaftlich ist Public Health eine Multidisziplin, politisch sollen die aus Public Health gewonnenen Entscheidungskriterien und Handlungspostulate querschnittsartig in nahezu allen Politikfeldern Berücksichtigung finden.“ (Rosenbrock 1992: 198; Dazu auch Fülgraff 1994)
Das Krankheits- und Sterbegeschehen in der Bevölkerung soll hauptsächlich durch Förderung von Gesundheit über Prävention verbessert werden. Zwei Strategien lassen sich hier unterscheiden: Verhältnis- und Verhaltensprävention. Es gelte „für Verhältnisse zu sorgen, in denen die Bürger ihre beste Form entfalten können, und (…) sie zu einem Verhalten zu ermuntern, mit der sie ihrer besten Form näher kommen“ (Fülgraff 1994: 594). Verhältnisprävention zielt auf gesellschaftliche, Arbeits-, Lebenswelt- und Umweltbedingungen, die Gesundheit ermöglichen bzw. behindern. Durch Verhaltensprävention hingegen sollen Risikofaktoren wie Rauchen, Drogenkonsum und Ernährungsweise, die im individuellen Verhalten liegen, beeinflusst werden. Modell dieser Strategie ist dabei der 13
z.B. Kjaernes u.a. (1993); am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) gibt es eine Forschungsgruppe Public Health, ehemals Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik, die sich auch mit Ernährungspolitik als gesundheitlicher Präventionspolitik befasst. Einige Publikationen dieser Reihe, u.a. Köhler (1990), behandeln auch Über- und Fehlernährung.
20
Einleitung
aufgeklärte Konsument, „der seine gesundheitlichen Ziele optimiert“ (Köhler 1990: 5). Die Arbeit, die meiner Fragestellung von der Themenkombination her am nächsten kommt, weil es sowohl um Übergewicht, als auch um die Grenze öffentlich/privat geht, stammt aus dem US-amerikanischen Public HealthKontext. Im Aufsatz How the Personal Becomes Political: Prohibitions, Public Health, and Obesity (2002) vergleichen die Autoren Rogan Kersh und James Morone Fettleibigkeit mit anderen Public Health Themen und untersuchen, welche Elemente dazu beitragen, aus privatem Verhalten einen Gegenstand politischer Regulierung zu machen. Sie gehen davon aus, dass die US-amerikanische Regierung Adipositas bald wie Alkohol, Rauchen, Drogen und Sexualität zu regulieren versuchen wird. Ob das allerdings unter normativen Aspekten so sein sollte ist weder Gegenstand ihrer Untersuchung, noch anderer auf diesem Gebiet.14,15 Die Grenze zwischen öffentlich und privat gilt als eine der „großen Dichotomien“ (Weintraub/Kumar 1997) der Politischen Philosophie. Dementsprechend groß ist auch die Zahl der Veröffentlichungen, wobei darunter keine ist, die sich mit der Grenze zwischen öffentlich und privat bezogen auf Ernährung beschäftigt. Als Schlüssel zu diesem Gebiet verwende ich Der Wert des Privaten (2001) von Beate Rössler, da die Autorin von einem aktuellen Standpunkt aus sowohl ausführliche Begriffsklärungen vornimmt, als auch fragt, warum wir Privatheit überhaupt schätzen sollten. Sie unterscheidet drei Arten von Privatheit: lokale, informationelle und dezisionale Privatheit. Letztere scheint mir hinsichtlich der Versuche der Ernährungspolitik, das Ernährungsverhalten von Individuen zu beeinflussen, die wichtigste, da dezisionale Privatheit sich darauf bezieht „vor unerwünschtem Zutritt im Sinne von unerwünschtem Hineinreden, von Fremdbestimmen bei Entscheidungen und Handlungen geschützt zu sein.“ (2001: 25) Das Thema Ernährung bzw. Übergewicht ist zwar bisher in der Theoriediskussion noch nicht im Zusammenhang mit Privatheit untersucht worden, aber gelegentlich werden Aspekte aus dem Ernährungsgeschehen als Beispiele für genuin
14
Ich will in dieser Arbeit, auch wenn es viel versprechend wirkt, keinen ausführlichen Vergleich zwischen Übergewicht und anderen Public Health Themen wie Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum anstellen. Zum einen, weil der Konsum von Nahrung im Gegensatz zu Zigaretten, Alkohol oder Drogen lebensnotwendig ist und ich daher einen großen qualitativen Unterschied bezogen auf das menschliche Leben sehe. Zum anderen aber auch, weil das den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. 15 In gewisser Weise wird von einigen Studien empirische Kritik geübt, die direkt auf normative Grundlagen der Disziplin abzielt. Dabei geht es um Folgen von Verhaltensprävention, die soziale Problemlagen eher verschärfen, als soziale Ungleichheit zu mindern (Köhler 1990, Fülgraff 1994). Dazu sind übergewichtige Menschen sozialer Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt, insbesondere weil angenommen wird, Übergewicht lasse sich mit entsprechendem Willen reduzieren.
Zum Forschungsstand
21
private Handlungen gebraucht, so beispielsweise bei Geuss (2002: 17) der individuelle Einkauf von Lebensmitteln für den eigenen Verzehr. 1.2.2 Ernährungssoziologie In verschiedenen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen spielt Ernährung eine Rolle, und zwar mittlerweile auch Fehl- und Überernährung. Besonders relevant für meine Fragestellung ist hier die Ernährungssoziologie. Ende der 1990er Jahre sind hierzu mehrere Grundlagenwerke erschienen: Soziologie des Essens (1999) von Eva Barlösius, Ernährung und Gesellschaft (1999) von Bayer, Kutsch und Ohly, und Soziologie der Ernährung (1999) von Prahl und Setzwein. Diese widmen sich dem Thema Essen aus soziologischer Sicht systematisch und umfassend. Einige Aspekte, die auch für diese Arbeit wichtig sind, wie Ernährung und soziale Ungleichheit, werden dort behandelt. Was bei aktuellen Diskussionen um Übergewicht in der Bevölkerung nämlich eine große Rolle spielt, ist die Feststellung, dass so genannte Unterschichten in besonderem Maße davon betroffen sind. Angesichts der Folgekosten von Übergewicht für die Allgemeinheit u.a. durch das Gesundheitssystem fordert beispielsweise der Historiker Paul Nolte eine politische Intervention in Unterschichtskulturen, weg von fürsorglicher Vernachlässigung und hin zu mehr Eigenverantwortlichkeit (Nolte 2004). Auch Renate Künast weist auf die soziale Komponente von Übergewicht hin, und fordert deshalb ein politisches Eingreifen zur Herstellung von Chancengleichheit bei Kindern und Jugendlichen (u.a. Künast 2004: 27). 1.2.3 Ernährungswissenschaft Im Falle der Ernährungspolitik hängen Politik und Wissenschaft besonders eng zusammen. Eva Barlösius weist darauf hin, dass seit dem 19. Jahrhundert ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse verwendet werden, um staatliche Eingriffe im Bereich der Nahrung zu legitimieren (Barlösius 1999: 201). Der Ernährungswissenschaft als Grundlage für Ernährungspolitik kommt daher eine Schlüsselposition zu. Deshalb ist auch ein Überblick über den ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisstand zum Thema Übergewicht und Adipositas wichtig.16 Wie wird Übergewicht festgestellt? Welche Ursachen für Übergewicht werden 16 Da es in der Ernährungswissenschaft – anders als in den Politik- und Sozialwissenschaften – zu den Themen Übergewicht und „gesunde Ernährung“ eine wahre Publikationsflut gibt, habe ich hier eine Auswahl getroffen, die sich auf Empfehlungen der Ernährungswissenschaftler Harald Seitz vom aid infodienst e.V. und Karolin Lüddecke von der Dr. Rainer Wild – Stiftung stützt.
22
Einleitung
genannt, wie beispielsweise genetische Disposition, Fast Food oder eine veränderte Mahlzeitenordnung? Welche Folgen hat Übergewicht für die Gesundheit des Einzelnen? Gibt es überhaupt eine allgemeinverbindliche ‚gesunde Ernährung’? Wodurch ist das individuelle Ernährungsverhalten beeinflusst? Welche Eingriffsmöglichkeiten bieten sich aus ernährungswissenschaftlicher Sicht in das Ernährungsverhalten Einzelner? Bei der Frage, ob jemand zu dick oder zu dünn ist, wird nicht dem subjektiven Empfinden getraut, sondern einem objektivierenden Maß, dem Body-MassIndex (BMI). Er beschreibt das Gewicht einer Person im Verhältnis zu deren Größe.17 Diese Definition von Übergewicht ist aber umstritten, weil der BMI als Maßstab für Fettleibigkeit und Übergewicht nur bedingt tauglich sei, da Körperbau und Verteilung des Fetts bei diesem Maß keine Rolle spielen (Pötzl 2005). Die Ursachen von Übergewicht und Adipositas sind vielfältig und können von den Betroffenen keineswegs immer beeinflusst werden. Denn neben Bewegungsmangel, Essgewohnheiten und verschiedenen psychosozialen Einflüssen sind auch genetische Faktoren für Adipositas verantwortlich, deren Erforschung aber noch am Anfang steht. (dazu u.a. Bouchard 1997, DGE 2004). Meist wird von einer unausgewogenen Bilanz bei Kalorienbedarf und –verbrauch ausgegangen, was aber auch nicht unumstritten ist (Pudel/Westenhöfer 1998). Als negative Folge erhöht Übergewicht das Risiko für eine Vielzahl möglicher Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems und der Gelenke sowie für Schlaganfall und Diabetes mellitus Typ 2, aber auch für verschiedene Krebserkrankungen. Die Rolle der Ernährung bei der Entstehung chronischer Krankheiten ist laut Ernährungsbericht 2004 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) gut belegt. Dagegen allerdings behaupten andere, dass die vorhandenen statistischen Bezüge nur ein gemeinsames Auftreten von Übergewicht und bestimmten chronischen Erkrankungen dokumentieren und keinen ursächlichen Zusammenhang beweisen (Pollmer/Warmuth 2000). Auch wenn vor allem Essgewohnheiten und Bewegungsmangel für die Entstehung von Übergewicht verantwortlich gemacht werden, gibt es keine allgemeingültige ‚gesunde Ernährung’ (u.a. Barlösius 1999). Verwirrend ist auch die sich überschlagende und sich oft widersprechende Vielzahl an neuesten Erkenntnissen in den Medien. Am wenigsten umstritten ist wohl ein Regelkatalog der DGE, der zehn Grundsätze umfasst: Vielseitig essen; reichlich Getreideprodukte und Kartoffeln; täglich fünf Portionen Obst und Gemüse; Milch und Milchprodukte täglich; ein- bis zweimal wöchentlich Fisch, Fleisch/Wurst/Eier mäßig; wenig Fett; Zucker und Salz in Maßen; reichlich Trinken; nährstoffschonendes 17 Gewicht in kg: (Körpergröße in cm)2 ; BMI > 18,5=Untergewicht; BMI 18,5-24,9=Normalgewicht; BMI 25-29,9=leichtes bis mittleres Übergewicht; BMI 30-39,9=schweres Übergewicht; BMI <40=massiv gefährdendes Übergewicht (u.a. aid 2005).
Zum Forschungsstand
23
Garen; sich zum Essen Zeit nehmen; Gewichtskontrolle und Bewegung (aid 2005a). Visualisiert werden diese Empfehlungen in verschiedenen LebensmittelPyramiden (z.B. www.dge.de). Aber auch diese Richtlinien provozieren Kritik. Das entfant terrible der Ernährungslehre, Udo Pollmer, bestreitet, dass es bei der physiologischen Einzigartigkeit der Menschen eine Ernährungsweise geben könne, die für alle gleich vorteilhaft wäre und hält auch die allgemeine Empfehlung von fünf mal Obst und Gemüse am Tag eher für schädlich (in einem Interview: Ludwig/Pötzl 2005). Trotz dieser Unklarheiten sind sich Ernährungswissenschaftler aber prinzipiell darin einig, dass es eine Ernährungsweise gibt, wie die oben beschriebene, die eher dazu geeignet ist Gesundheit auf längere Sicht zu erhalten und zu fördern, als andere. Die individuelle Ernährungsweise ist Ergebnis einer Vielzahl unterschiedlicher Aspekte, die sich teilweise auch untereinander beeinflussen: das Nahrungsangebot; genetisch bedingten Vorlieben wie einer angeborenen Neigung zu Süßem und Salzigem, oft in Verbindung mit Fett (u.a. aid 2005b: 16); kulturelle Regeln zu Auswahl und Zubereitung der Speisen, z.B. über Tabus, Mahlzeitenordnung, aber auch über geschlechtsspezifische Unterschiede wie beim Fleischverbrauch und bei Schönheitsidealen (u.a. Diehl 1996, DGE 2004); Ernährungswissen; Geschmacksprägungen; die sozioökonomische Lage, die auch Einfluss auf Geschmackspräferenzen und Lebensstil hat (u.a. Barlösius/Feichtinger/Köhler 1995); und anderes mehr. Im Bereich der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen herrscht noch weitestgehend Unklarheit darüber, welchen Anteil die jeweiligen Einflussfaktoren am Ernährungsverhalten haben. 1.2.4 Ernährungspsychologie Doch obwohl es die oben beschriebenen Richtlinien für eine gesunde Ernährungs- und Lebensweise gibt, ist es so, dass bei weitem nicht alle sich daran halten und dass es eine Kluft zwischen dem Alltagshandeln der Bevölkerung und dem prinzipiell verfügbaren Wissen über ‚gesunde Ernährung’ und dessen Umsetzung gibt18 (vgl. u.a. Pudel/Westenhöfer 1998, Bayer/Kutsch/Ohly 1999). Insgesamt ist umstritten, wie stark sich das Ernährungswissen tatsächlich auf das Ernährungsverhalten auswirkt, denn im Ernährungsbericht 2004 der DGE werden Ergebnisse aus der 2. Bayerischen Verzehrsstudie präsentiert, nach denen mit steigendem Ernährungswissen der Verzehr von Obst, Gemüse, Milch und Milchprodukten, sowie Tee signifikant steige und der von Fleisch und Wurstwaren sinke, was auch positiven Einfluss auf die Nährstoffzufuhr insgesamt habe. 18
Im Ernährungsbericht 2004 (DGE 2004) wird beispielsweise festgestellt, dass im Durchschnitt weniger als die Hälfte der empfohlenen Obst- und Gemüsemenge verzehrt werde.
24
Einleitung
Deshalb werden Informations-, Aufklärungs- und Beratungsmaßnahmen doch für sinnvoll gehalten (DGE 2004: 68ff). Es ist jedoch sicher nicht einfach, das individuelle Ernährungsverhalten umzustellen, selbst wenn man weiß, wie das idealerweise auszusehen hätte. Mit psychologischen Erklärungen und Modellen dafür beschäftigt sich die Ernährungspsychologie. Wichtige Grundlagenwerke sind hier Ernährungspsychologie (1998) von Volker Pudel und Joachim Westenhöfer oder auch Die Psychologie des Essens und Trinkens (1995) von Alexandra W. Logue. Nach Pudel (1986, zitiert in Pudel/Westenhöfer 1998) können drei verschiedene Komponenten unterschieden werden, die unser Essverhalten lenken: Innensteuerung, das ist die biologische Regulation; Außensteuerung, das heißt kulturell-familiäre Einflüsse; und kognitive Kontrolle, damit sind bewusste Maßnahmen zur Steuerung des eigenen Ernährungsverhaltens gemeint, wie bestimmte Diäten. Während Säuglinge und Kleinkinder sich noch ‚instinktiv’ nach ihrem Hunger oder Durst richten, funktioniert diese natürliche Regulierung ab einem bestimmten Alter nicht mehr, da die inneren, neurobiologischen Signale des Gehirns, das unseren Stoffwechsel und andere körperliche Vorgänge regelt, mit zunehmendem Alter von äußeren Einflüssen, wie Erziehung, Werbung und Gewöhnung überlagert werden. Insgesamt wird von einem starken Einfluss der frühkindlichen Prägung auf unser Ernährungsverhalten ausgegangen. Einige Studien legen den Verdacht nahe, dass bereits im Mutterleib eine Prägung des Geschmacks stattfindet, des Weiteren scheint besonders die Ernährung in den ersten Lebensjahren prägend für das spätere Leben zu sein. Spätestens nach dem Abstillen beginne, so Pudel/Westenhöfer ein „sozio-kultureller Lernprozeß, der im Grunde dem Erlernen der Muttersprache sehr ähnlich“ sei (Pudel/Westenhöfer 1998: 38). Über „Kontaktlernen“, einen Mechanismus der als mere exposure effect bezeichnet wird, beginnen Kinder bestimmte Speisen zu mögen, weil sie ihnen oft angeboten werden. Eltern, Geschwister und sonstige nahestehende Personen sind für Kinder Vorbilder, die auch im Ernährungsverhalten nachgeahmt werden. Im späteren Leben orientieren sich Kinder an so genannten Peer Groups. Markenprodukte und ,angesagte’ Lebensmittel werden wichtiger auch in Abgrenzung zu den eigenen Eltern (aid 2005b: 11, Pudel/Westenhöfer 1998). Auch gesellschaftliche Gewichtsnormen und Schönheitsideale haben hier maßgeblichen Einfluss (Diehl 1996), sowie Werbung. Wie groß der Einfluss der Werbung auf das Ernährungsverhalten genau ist, sei noch nicht ausreichend untersucht, doch ein Einfluss allgemein wird nicht bestritten (Diehl 1996, DGE 2004). Das Essverhalten ist insgesamt so besonders stabil, weil durch die tägliche Nahrungsaufnahme eine starke Habitualisierung bzw. Gewohnheitsbildung erfolge (Pudel/Westenhöfer 1998). Während innere Einflüsse im Lauf des Lebens an Bedeutung verlieren, sind weitgehend äußere Einflüsse ausschlagge-
Fragestellung: Sollte Übergewicht ein Politikum sein?
25
bend, die aber wiederum von einer mehr oder weniger starken kognitiven Kontrolle ergänzt werden (ebd.). Aus ernährungspsychologischer Sicht gibt es unterschiedliche Einschätzungen darüber, welche Eingriffs- bzw. Korrekturmöglichkeiten beim Ernährungsverhalten zur Bekämpfung von Übergewicht bestehen und wie Erfolg versprechend diese sind. Eine reine Ernährungsaufklärung und Vermittlung von fundiertem Ernährungswissen wird im Allgemeinen nicht für ausreichend gehalten. Dazu seien verhaltenstherapeutische Maßnahmen wie die „kognitive Umstrukturierung“ nötig, wobei das Ernährungsverhalten, wie bereits erwähnt, als besonders stabil gilt (aid 2005b, Pudel/Westenhöfer 1998). Für eine erfolgreiche Bekämpfung von Übergewicht bei Kindern ist es zudem notwendig, dass sich das Ernährungsverhalten des gesamten Umfeldes mit ändert (u.a. Diehl 1996, Thimm 2005, Stachow/ Stübing 2004). 1.3 Fragestellung: Sollte Übergewicht ein Politikum sein? Ausgehend von der Feststellung, dass Übergewicht de facto zu einem Politikum geworden ist, weil es als politisches Problem auf der politischen Agenda auftaucht, möchte ich in dieser Arbeit genauer untersuchen, ob Ernährungspolitik bezüglich des Ernährungsverhaltens von Individuen in Konflikt mit deren Privatheit steht. Da die individuelle Ernährungsweise konventionell, oder vom allgemeinen intuitiven Verständnis her, als Privatsache gilt, liegt der Verdacht nahe und tatsächlich taucht immer wieder die Feststellung auf, dass sich die Politik hier in etwas einmische, das Teil der bürgerlichen Privatheit sei (u.a. Kjærnes 1993: 10; Barlösius 1999: 204). Diese Feststellung führt aber weder zu einem Infragestellen dieser Politik, noch zu einer Diskussion über mögliche Zusammenhänge zwischen Privatheit und Ernährungspolitik und bisher auch zu keiner sozial- oder politikwissenschaftlichen Untersuchung. Deshalb ist Ziel dieser Arbeit eben diese Feststellung aufzugreifen und das Verhältnis von Ernährungspolitik und Privatheit zu untersuchen. Konkret soll das am Beispiel der Ernährungspolitik unter Renate Künast bezüglich der Bekämpfung von Übergewicht geschehen. Damit soll ein Vorstoß gewagt werden, zum einen grundlegende Überlegungen zur Verbindung von Privatheit und Ernährung/Übergewicht anzustellen, zum anderen bereits bestehende staatliche Initiativen auf diesem Gebiet in deren Verhältnis zu Privatheit zu sehen und drittens auch Rechtfertigungsgründe zu betrachten mit deren Hilfe staatliche Eingriffe in individuelles Ernährungsverhalten legitimiert werden könnten.
26
Einleitung
In dieser Arbeit verfolge ich drei Thesen, nach denen ich das Verhältnis zwischen staatlichem Handeln und Privatheit bei der Problematik Übergewicht beurteile. Jede der Thesen beinhaltet ein anderes Bewertungskriterium dafür, ob ein gegebenenfalls kritikwürdiger Eingriff ins Private vorliegt. Danach hängt es gemäß der ersten These vom jeweiligen Begriff des Privaten ab, ob eine bestimmte politische Maßnahme als problematischer Eingriff ins Private gewertet wird. Der zweiten These zufolge ist Art und Charakter der tatsächlichen Maßnahmen entscheidend. Laut der dritten These kommt es noch darauf an, wie ein solcher Eingriff ins Private legitimiert wird, denn Privatheit ist kein absoluter Wert und es kann für ein Tätigwerden der Politik gute Gründe geben, obwohl dezisionale Privatheit davon gegebenenfalls negativ betroffen wäre. Im Theorieteil präsentiere ich deshalb zwei Aspekte, die zur Klärung meiner Frage etwas beitragen: Privatheit und Autonomie.19 Dabei geht es mir hauptsächlich um den Privatheitsbegriff, von dem ich drei Varianten vorstellen will. Geklärt werden soll dabei auch, mit welchen Argumenten Eingriffe ins Private gerechtfertigt werden könnten. Solche Argumente können auf der Ebene der Handelnden angesiedelt sein, indem beispielsweise behauptet wird, dass diese Bedingungen der Freiheit und Autonomie nicht erfüllen, wie Suchtkranke20 und teilweise Minderjährige. Deshalb ist auch Autonomie der zweite zu erläuternde Begriff. Politische Maßnahmen könnten aber auch berechtigt erscheinen, wenn die Folgen privater Handlungen Anderen – und abstrakter, der Gesellschaft – schaden, z.B. wenn Kindern eine falsche Ernährung vorgelebt wird oder wenn der Gesellschaft über das Gesundheitssystem Kosten aufgebürdet werden. Ziel dieses Teils ist es, Fragen und Bewertungskriterien zu entwickeln, mit denen dann konkrete Inhalte ernährungspolitischer Maßnahmen darauf überprüft werden können, ob sie einen Eingriff in die Privatsphäre darstellen und wenn ja, ob ein solcher Eingriff gerechtfertigt erscheint. Um zu einer begründeten Aussage über das Verhältnis der Ernährungspolitik von Renate Künast und Privatheit zu kommen, werden Aussagen zu den oben genannten Aspekten mit Hilfe einer Dokumentenanalyse gesammelt. Als Quellen dienen die ernährungspolitischen Publikationen des damaligen Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft aus der Ministerialzeit Renate Künasts, eine Regierungserklärung derselben, sowie ihr Buch Die Dickmacher. In der Diskussion werden dann die Ergebnisse der Analyse im Zusammenhang mit meinen drei Thesen betrachtet und bewertet.
19 Wichtig wäre hier noch ein gesonderter Abschnitt zu dem Aspekt Gleichheit/Gerechtigkeit, der Umfang und Kapazität dieser Arbeit überstiegen hätte. 20 Hier spielen begriffliche Unklarheiten eine wichtige Rolle: ist Adipositas Fettleibigkeit oder Fettsucht?
Privatheit: Drei Verständnisse
27
2 Theoretische Aspekte
2.1 Privatheit: Drei Verständnisse In diesem Abschnitt werden verschiedene normativ-theoretische Aspekte betrachtet, die zur Beantwortung der Frage, ob sich die Politik mit Übergewicht und der individuellen Ernährungsweise beschäftigen sollte, wichtig und nützlich sind. Dabei sollen relevante Gesichtspunkte erläutert werden, die einen Beitrag zur Klärung des Sachverhalts leisten können, und mit deren Hilfe die Aussagen aus den empirischen Quellen strukturiert und bewertet werden sollen. Als erstes werde ich auf den Aspekt Privatheit eingehen, der Ausgangspunkt sowohl für meine Überlegungen zum Verhältnis Staat/individuelles Ernährungsverhalten ist, als auch einen Haupt-Kritikpunkt der Opposition an der Ernährungspolitik Renate Künasts darstellt. Privatheit ist der Ausgangs- und Schwerpunkt meiner theoretischen Herangehensweise. Davon abgeleitet ist Autonomie der zweite wichtige Begriff, den es zu erläutern gilt. 2.1.1 Zum Begriff des Privaten Wie bereits erwähnt, zählt das Begriffspaar öffentlich und privat zu den „großen Dichotomien“ (Weintraub/Kumar 1997) der Politischen Philosophie. Damit werden die allgemein als komplementär betrachteten Bereiche öffentlich/politisch einerseits und privat andererseits voneinander unterschieden.21 Vorstellungen von Privatheit sind in vielen Gesellschaften spätestens seit der klassischen Antike vorhanden, die jeweilige Bedeutung variiert jedoch historisch und kontextabhängig; darauf weisen verschiedene Autoren hin (vgl. dazu u.a. Moore 1984, Geuss 2001, Rössler 2001, Etzioni 1999). Als besonders prägnant und einflussreich für die moderne politische Theorie gilt die Definition der amerikanischen Philosophin Sissela Bok (Smith 2001). Privatheit sei, so Bok, „the condition of being protected from unwanted access by others – either physical access, personal information or attention“ (Bok 1982). An Bok angelehnt präsen21
Ich werde mich in dieser Arbeit auf Privatheit und damit nur eine Seite der Unterscheidung beschränken.
28
Theoretische Aspekte
tiert Beate Rössler in Der Wert des Privaten (2001) eine Definition des Privaten, die der enormen Bandbreite des Begriffs gerecht zu werden versucht. Nach Rössler gilt etwas dann als privat, „wenn man selbst den Zugang zu diesem ‚etwas’ kontrollieren kann“, sollte, oder darf.22 Ein Schutz des Privaten bedeutet dann den Schutz vor unerwünschtem Zutritt anderer (Rössler 2001: 23f.). Dabei können zur besseren Strukturierung drei Dimensionen des Privaten unterschieden werden: dezisionale, informationelle und lokale Privatheit. Eine Kontrolle des Zugangs anderer ist im Falle der lokalen Privatheit konkret physisch, denn damit ist der Zutritt zu eigenen Räumen, oder der eigenen Wohnung gemeint. Bei der informationellen und dezisionalen Privatheit ist die Zugangskontrolle metaphorisch. Erstere betrifft den Schutz vor Eingriffen in und Verbreitung von persönlichen Daten und letztere den Schutz vor Einspruch gegen individuelles Verhalten (ebd.: 25). Für die vorliegende Arbeit ist in erster Linie dezisionale Privatheit entscheidend, mit der Handlungsweisen, die wir als privat bezeichnen, Schutz vor Einspruchs- und Eingriffsmöglichkeiten anderer beanspruchen können. Mit der begrifflichen Bestimmung ist aber noch nicht gesagt, was genau als privat gilt, denn das ist – wie bereits erwähnt – wandelbar und kontextabhängig. Auch Rössler weist darauf hin, dass nichts „‚natürlicherweise’ in den Bereich des Privaten“ gehöre, dass die Trennlinie zwischen dem, was als öffentlich oder als privat gelte, sozial konstruiert sei23 (ebd., ebenso Geuss 2001). Wenn aber nichts generell in den Bereich des Privaten fällt, so lässt sich nur für einen bestimmten Zusammenhang feststellen, was jeweils als privat bezeichnet wird. Daraus ergibt sich meine erste These, dass es vom jeweiligen Begriff des Privaten abhängt, ob eine bestimmte politische Tätigkeit oder Maßnahme als problematischer Eingriff verstanden werden kann. Um einen tatsächlichen normativen Bezug von Privatheit und Ernährung herzustellen, ist es deshalb notwendig, einen oder mehrere konkrete Begriffe von Privatheit zu verwenden. Deshalb stelle ich hier drei verschiedene Begriffe des Privaten vor: einen klassischliberalen von John Stuart Mill, einen kommunitaristischen von Amitai Etzioni und einen modernen liberalen Begriff, – den dezisionaler Privatheit – von Beate Rössler. Ich beschränke mich aus folgenden Gründen auf liberale und kommunitaristische Vorstellungen von Privatheit24: Liberale Vorstellungen sind in diesem Kontext besonders wichtig, weil die Unterscheidung zwischen einem öffentli22
Die ausführlichen Begriffsklärungen finden sich bei Rössler 2001: 16ff. Es können jedoch manche Bereiche kulturell sehr tief verankert als privat gelten. Solche Bereiche bezeichnet Rössler als „verordnete Privatheit“ (Rössler 2001: 26). Dazu gehören körperliche Funktionen und Nacktheit. Essen gehört zwar zu den körperlichen Notwendigkeiten, doch sind die Aspekte, die kulturell tief verankert als privat gelten, solche, die stark mit Schamgefühlen belegt sind. Bei Essen ist das normalerweise nicht der Fall. 24 Ich gehe in dieser Arbeit aber nicht allgemein auf die Kontroverse zwischen Kommunitarismus und Liberalismus ein. Siehe hierzu den von Axel Honneth (1993b) herausgegebenen Sammelband. 23
Privatheit: Drei Verständnisse
29
chen und einem privaten Bereich in liberalen Theorien einen besonders großen Stellenwert besitzt. Die Unterscheidung zwischen einem öffentlichen und einem privaten Bereich ist für diese konstitutiv, denn „in dieser Trennung bringt sich der für den Liberalismus grundlegende Gedanke des Schutzes der individuellen Freiheit und Autonomie von Personen vor unzulässigen Eingriffen oder Bestimmungen des Staates zum Ausdruck“ (Rössler 2001: 27). Das Prinzip der ethischen Neutralität des Staates gegenüber individuellen Ideen des Guten kommt hier zum Ausdruck, denn es beinhaltet eine Trennung zwischen pluralistischen Ideen des Guten auf der einen Seite und „allgemein gültigen und zustimmungsfähigen staatlichen Regelungen“ (ebd.: 30) auf der anderen, also zwischen Ethik und Moral25. Außerdem sind liberale Vorstellungen für diese Arbeit relevant, weil Deutschland und andere westliche Industrieländer, die bislang am meisten von der „Fett-Epidemie“ betroffen sind, liberal verfasste Gesellschaften sind. Das soll noch ergänzt werden von einem kommunitaristischen Verständnis von Privatheit, weil durch die soziale Kodierung von Übergewicht auch Begriffe wie „Unterschichtskultur“ (Nolte 2004) oder die mangelnde Integrierung unter eine „gesunde Leitkultur“ in der Debatte auftauchen und weil die erhoffte Ernährungswende als Gemeinschaftsprojekt verstanden wird. Die drei Begriffe des Privaten stelle ich anhand folgender Fragen dar: 1. Wie wird die Notwendigkeit für bzw. die Funktion von Privatheit beschrieben bzw. begründet? 2. Wie wird der Bereich des Privaten bestimmt? 3. Wodurch wird Privatheit verletzt? 4. Ist die individuelle Ernährungsweise Teil des Privaten? Und ist auch Übergewicht dadurch geschützt? 2.1.2 Privatheit klassisch-liberal: John Stuart Mill Ich beschränke mich hier auf J.S. Mill als klassisch liberalen Theoretiker, weil es bei ihm überwiegend um Handlungsfreiheit und Handlungsdimensionen geht, und somit dezisionale Privatheit und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung im Vordergrund stehen. In On Liberty (1859) will Mill „Wesen und Grenze der Macht, welche die Gesellschaft rechtmäßig über das Individuum ausübt“ (Mill 1988: 5) bestimmen. Ein Bereich privater Freiheit, in dem unterschiedliche Lebenspläne und Vorstellungen vom guten Leben entworfen und gelebt werden können, wird unterschieden von einem Bereich öffentlicher Regulierung. Das Private begründet sich dabei aus individuellen Freiheitsrechten und ist auch 25
Was nicht heißt, dass nicht „jeder Staat tatsächlich immer schon bestimmte kulturelle Vorentscheidungen getroffen hat, immer schon ‚ethisch imprägniert’ ist, und sich dies nicht nur in der Verfassung, sondern auch in der Rechtsprechung und der generellen Administration zum Ausdruck bringt und als solches reflektiert und kritisiert werden muss.“ (Rössler 2001: 183)
30
Theoretische Aspekte
Ausdruck von diesen. Individuelle Freiheitsrechte sichern die Möglichkeit, einen eigenen Lebensplan zu entwerfen und damit eigene Ideen und Vorstellungen eines guten Lebens zu entwickeln (vgl. auch Pesch 2005). On Liberty kann als Begründung dafür gesehen werden, dass es einen möglichst großen Bereich individueller privater Freiheit geben müsse, der den öffentlichen Gesetzen, auch den moralischen, gegenüber steht (dazu auch Rössler 2001: 60). Das Private hat also bei Mill – wie in anderen liberalen Theorien – die Funktion, die Pluralität von Lebensentwürfen und individuelle Freiheit zu schützen. Negative Freiheitsrechte dienen dazu, „die (moderne) Idee von Autonomie und Freiheit zu schützen, und zwar gegenüber unzulässigen Eingriffen des Staates wie gegenüber der Gesellschaft“ (Rössler 2001: 28). Die verschiedenen liberalen Konzeptualisierungen des Privaten von Hobbes bis heute – darunter auch die von Mill – bringen alle „den Begriff des Privaten in funktionalen Zusammenhang mit dem der Freiheit“ (ebd.: 15). Dieser funktionale Zusammenhang wird dann aber nicht genauer bestimmt, wenn es um die nähere Bedeutung des Privaten und dessen Verbindung mit Freiheit geht. Somit lässt sich sagen, dass hier eine Notwendigkeit für Privatheit zwar beschrieben, aber die genaue Verbindung zwischen Freiheit und Privatheit nicht begründet wird. Bestimmt wird der Bereich des Privaten bei Mill daher auch durch individuelle Freiheiten und beinhaltet die Gebiete, in die der Staat sich nicht einmischen kann und soll: „Aber es gibt einen Tätigkeitsbereich, an welchem die Gesellschaft im Unterschied zum Individuum – wenn überhaupt – nur indirekt Interesse hat. Dieser schließt alle Einzelheiten des persönlichen Lebens und Treibens ein, die nur ihn selbst angehen, oder wenn sie andere auch betreffen, sodann nur mit ihrer freien, unabhängigen und nicht durch Täuschung erlangten Zustimmung und Teilnahme.“ (Mill 1988: 19)
Dieser Bereich des „Individualismus“ (ebd.: 105) soll vor Eingriffen des Staates geschützt sein, weil entgegen den allgemeinen Regeln der Gesellschaft, sei „bei den privaten Belangen des einzelnen [sic!](…) dieser berechtigt, nach seinem individuellen Antrieb frei zu handeln“ (ebd.). Zu diesen Belangen zählt Mill die „Freiheit des Geschmacks und der Studien, Freiheit, einen Lebensplan, der unseren eigenen Charakteranlagen entspricht, zu entwerfen und zu tun was uns beliebt, ohne Rücksicht auf die Folgen und ohne uns von unseren Zeitgenossen stören zu lassen – solange wir ihnen nichts zuleide tun –, selbst wenn sie unser Benehmen für verrückt, verderbt oder falsch halten.“ (ebd.: 20)
Wie in diesem Zitat bereits anklingt, ist der Bereich des Privaten und der individuellen Freiheit bei Mill begrenzt durch das harm principle:
Privatheit: Drei Verständnisse
31
„Man kann einen Menschen nicht rechtmäßig zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, weil dies besser für ihn wäre, weil es ihn glücklicher machen, weil er nach Meinung anderer klug oder sogar richtig handeln würde. Dies sind wohl gute Gründe, ihm Vorhaltungen zu machen, mit ihm zu rechten, ihn zu überreden oder mit ihm zu unterhandeln, aber keinesfalls um ihn zu zwingen oder ihn mit Unannehmlichkeiten zu bedrohen, wenn er anders handelt. Um das zu rechtfertigen, müßte das Verhalten, wovon man ihn abbringen will, darauf berechnet sein, anderen Schaden zu bringen. Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht, ist jemand der Gesellschaft verantwortlich. (…) Über sich selbst, über seinen eigenen Körper und Geist ist der einzelne [sic!] souveräner Herrscher.“ (ebd.: 16f)
Die Unterscheidung, die Mill hier im harm principle trifft ist die nach Handlungen, deren Folgen nur einen selbst betreffen und die deshalb privat sind, und Handlungen, deren Folgen auch Dritte betreffen und die deshalb von allgemeiner Relevanz sind. Denn das Private als individuelle Handlungsfreiheit endet, wo andere durch eine bestimmte Handlung ‚affiziert’ sind, bzw. ihnen Schaden zugefügt wird. Die Unterscheidung der Bereiche privat/politisch nach Arten und Folgen des Handelns ist weit verbreitet und findet sich auch in neueren Werken: „‚Public’ and ‚private’ are used, descriptively and/or normatively, to distinguish different kinds of human action – and, beyond that, the different realms of social life (…) in which they occur.“ (Weintraub 1997: 7) Auch die einflussreiche Definition von John Dewey verwendet dieses Kriterium: „Wenn die Folgen einer Handlung hauptsächlich auf die direkt in sie verwickelten Personen beschränkt sind, oder für auf sie beschränkt gehalten werden, ist die Transaktion eine private. (…) Wenn sich jedoch herausstellt, daß die Folgen (…) über die (…) direkt Betroffenen hinausgehen, daß sie das Wohl vieler anderer beeinflussen, dann bekommt die Handlung einen öffentlichen Charakter (…) die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem [muss nämlich] auf der Grundlage der Reichweite und des Umfanges derjenigen Handlungsfolgen gezogen werden, die so wichtig sind, daß sie der Kontrolle bedürfen, entweder durch Unterbindung oder durch Förderung. (…) Die Öffentlichkeit besteht aus all denen, die von den indirekten Transaktionsfolgen in solch einem Ausmaß beeinflußt werden, dass es für notwendig gehalten wird, sich um diese Folgen systematisch zu kümmern.“ (Dewey 2001: 27ff)
Welche Lebensbereiche aber konkret zu denen gehören, aus denen sich der Staat heraushalten soll und welche Bereiche zu den öffentlich zu regelnden gehören, ist nicht eindeutig, sondern unterlag und unterliegt Veränderungen und ist auch Ergebnis von politischen Prozessen. Dabei spielt sicherlich auch die genaue Interpretation des harm principle und dem darin enthaltenen Kriterium des
32
Theoretische Aspekte
Schadens eine Rolle.26 Deshalb bezeichnet Rössler diesen bisher verwandten Begriff liberaler Privatheit als rechtlich-konventionell: rechtlich, weil er sich auf individuelle Freiheiten stützt, und konventionell, weil die genaue Grenze zwischen öffentlich und privat Ergebnis von Übereinkünften und Konventionen sei (vgl. Rössler 2001: 45). Der Vollständigkeit halber will ich noch kurz auf eine zweite charakteristische Verwendungsweise des Privaten in liberalen Theorien eingehen, die mit der rechtlich-konventionellen durchaus in Widerspruch steht. Darauf weist unter anderem auch Beate Rössler hin. Neben dem rechtlich-konventionellen Verständnis existiert auch bei Mill ein quasi-natürliches Verständnis, wonach das Private gleichgesetzt wird mit der Familie, dem Zuhause, mit Reproduktion und dem Bereich „der Frauen“, der dem öffentlichen Bereich der „Männer“ unterlegen sei.27 „[A]ls privat gilt zum einen die Freiheit, das Leben nach eigenen Präferenzen, nach eigenen individuellen Kriterien des Guten leben zu können – in diesem Sinn redet beispielsweise Mill von der ‚privaten Freiheit’. Privat werden folglich Lebensdimensionen genannt in dem Sinn, dass hier die vom liberalen Staat gesicherte Freiheit der Lebensführung in ganz unterschiedlichen Hinsichten zum Ausdruck kommen kann und geschützt ist. Doch privat wird zum anderen weiterhin ein inhaltlich qualifizierter, nämlich geschlechtsspezifisch kodierter Bereich genannt: jener traditionell der Familie gewidmeter Bereich, der reproduktiven Sphäre von Kindererziehung und – nicht nur – emotionaler Versorgung, der Bereich der ‚Natur’ und deshalb der Frauen.“ (Rössler 2001: 44)
Das quasi-natürliche Verständnis ist es vor allem, das von feministischer Seite kritisiert wurde.28 Auf dieser Grundlage fordert Rössler eine Neuinterpretation der liberalen Unterscheidung privat/öffentlich, die keinen Widerspruch zur Idee allgemeiner und gleicher Freiheit darstellt. Sie geht – entgegen anderen feministischen Ansätzen die eine solche Unterscheidung radikal ablehnen29 – davon aus, 26
Geuss (2002) bemerkt hierzu, dass diese Unterscheidung nach Handlungsfolgen sehr relativ sei, weil sie von mehreren Dingen abhängt: dem Wissen über mögliche Folgen, welche Folgen als Folgen gelten und wie entschieden wird, welche Folgen der Kontrolle bedürfen. Es lässt sich sicher anders darüber streiten, ob man durch die gesundheitlichen Folgekosten der eigenen Lebensführung anderen schadet, wenn Dritte über Solidarsysteme mit dafür aufkommen müssen, als wenn keine solchen Systeme bestehen. Darauf werde ich später noch zurückkommen. 27 Rösslers Kritik beruht aber überwiegend auf Mills Schrift The Subjection of Women (1869), die in dieser Arbeit sonst nicht betrachtet wird. 28 Das will ich hier allerdings nicht weiter ausführen, weil für diese Arbeit das rechtlichkonventionelle Verständnis ausschlaggebend ist. Mehr zur feministischen Kritik beispielsweise bei Cohen (1997) und Pateman (1983). 29 Hier beispielsweise Brown (1995).
Privatheit: Drei Verständnisse
33
dass eine Trennung der Sphären nicht prinzipiell problematisch sei, sondern nur die geschlechtsspezifische Chiffrierung (ebd.: 48f). Wodurch könnte nun Privatheit im Mill’schen Sinne verletzt werden? Seitens des Staates wären beispielsweise paternalistische Maßnahmen problematisch, die die Bürger ggf. gegen deren freien Willen vor Schaden bewahren sollen. Die klassisch-liberale Freiheit schließt nämlich die Möglichkeit der Selbstschädigung ein, was bei Mill deutlich wird, wenn er den Einzelnen als souveränen Herrscher über den eigenen Körper beschreibt und zwar auch, wenn man nach Ansicht Anderer richtiger handeln könnte. Allerdings kennt der Antipaternalismus auch Ausnahmen, z.B. wenn wie bei Süchten, Personen kein freier Wille unterstellt wird oder werden kann, oder wenn es um Kinder geht. Zum anderen könnte Privatheit auch durch die öffentliche Meinung verletzt werden, wobei sich Mill hierzu widersprüchlich äußert. Einerseits kritisiert er die Macht der öffentlichen Meinung bzw. die „Werkzeuge moralischen Druckes“ der Gesellschaft (Mill 1988: 21) und bekräftigt, dass wir uns von unseren Zeitgenossen bei der Umsetzung unserer Lebenspläne nicht stören lassen sollen. Mill macht also einerseits deutlich, dass die Freiheit des Privatlebens durch eine Einmischung der Öffentlichkeit gestört werden kann. Andererseits könne man aber versuchen, jemanden zu überzeugen, anders zu handeln (ebd.: 17). An anderer Stelle bezeichnet er es sogar als „Liebesdienst“, andere auf Fehlverhalten oder „die Verderbtheit ihres Geschmacks“ aufmerksam zu machen und bedauert, dass das im Allgemeinen als „unmanierlich oder anmaßend betrachtet würde“ (ebd.: 106). Um zu bestimmen, ob nach Mill die individuelle Ernährungsweise als Teil des Privaten verstanden werden kann, und ob auch Übergewicht durch Privatheit geschützt würde, scheinen folgende Fragen ausschlaggebend zu sein: 1. Ist die Ernährungsweise Teil oder Ausdruck einer individuellen Idee des Guten und damit eine ethische Frage? 2. Werden durch die Handlungsweise im Sinne des harm principle Dritte negativ betroffen? 3. Gibt es in diesem Fall Ansatzpunkte, mit der sich paternalistische Maßnahmen begründen ließen? Ich schlage hier folgende Einordnung vor: Ernährung gehört nach Mill zu Privatheit im Sinne des quasi-natürlichen Verständnisses, weil sie – zumindest traditionell – in der Sphäre des Hauses passiert und einen Teil der Reproduktionsarbeit darstellt. Ernährung ist auch konventionell gesehen Teil des Privaten, weil Essen zu einem guten Leben gehört und zwar nicht nur ausreichend Nahrung, sondern auch in ihrer jeweiligen kulturellen und symbolischen Bedeutung (z.B. die Verbindung von Fleisch mit Wohlstand und Macht, oder bestimmte bewusste und ethisch oder moralisch
34
Theoretische Aspekte
motivierte Entscheidungen, Dinge nicht zu essen wie gerade eben Fleisch).30 Doch wie ist das mit Übergewicht? Auch starkes Übergewicht zumindest von Erwachsenen müsste noch durch Privatheit geschützt sein, da man sich ja selbst schädigen darf und der Einzelne über sich und seinen Körper ein „souveräner Herrscher“ ist. Aber: Schädigt oder beeinträchtigt man durch Übergewicht auch andere?31 Das einschlägige Argument sind hier zum Beispiel die Gesundheitskosten, die für die Allgemeinheit in einem Staat entstehen, der über soziale Sicherungssysteme – wie eben die solidarisch organisierten gesetzlichen Krankenkassen – Daseinsrisiken auffangen will. Bedeutet das dann automatisch, dass, wenn es solidarisch organisierte Krankenkassen gibt, Übergewicht und darüber dann auch die individuelle Ernährungsweise, die ja eindeutig eine der Ursachen für Übergewicht darstellt, nicht mehr zum Bereich des Privaten zählt und so auch nicht von staatlichen oder gesellschaftlichen Einsprüchen geschützt werden muss? Das oben beschriebene harm principle von Mill, nach dem der Staat auf intolerables Verhalten reagiert, ist historisch verbunden mit einem staatlichen Leitbild, das nur wenig gemein hat mit dem heutigen Staat, der flächendeckend agiert und Daseinsrisiken auffangen will. Manche fordern deshalb eine Abschaffung dieser staatlichen Tätigkeit: „Fat people can impose costs on others only if the government forces taxpayers to pick up the tab for their health care or prevents insurers and employers from discriminating based on weight. Eliminate these distortions (…) and weight control would be purely a private matter.” (Sullum 2004: 13)
Ein weiterer Aspekt, bei dem Dritte durch eine bestimmte Ernährungsweise negativ betroffen sind, ist die Situation von übergewichtigen Familien, bei denen die Eltern ihre ungünstige Ernährungsweise an ihre Kinder weitergeben. Das sind Fälle, bei denen Kindern von ihren eigenen Eltern – vermutlich in deren bestem Wollen – so ernährt werden, dass die Gesundheit der Kinder Schaden nehmen kann. In Schweden ist beispielsweise Eltern das Sorgerecht entzogen worden, weil deren fünfjähriges Kind 43 kg wog und damit zu verfetten drohte (Deutscher Bundestag 2004: 10328 A). Will man Übergewicht bei Kindern be30
siehe dazu u.a. auch Barlösius (1999), Bayer/Kutsch/Ohly (1999). Hier könnte man generell die Frage stellen, ob man, wenn man in Gemeinschaft mit Anderen lebt oder in einer Gesellschaft, nicht immer in gewisser Weise diese irgendwie beeinträchtigt oder betrifft. Dazu Isaiah Berlin: „Sofern ich in einer Gesellschaft lebe, beeinflußt mein Tun das Tun anderer und wird von diesem beeinflußt. Selbst die Abgrenzung der Sphären des privaten und des gesellschaftlichen Lebens, um die sich Mill so eifrig bemüht hat, wird bei näherem Hinsehen hinfällig. Fast alle Kritiker Mills haben darauf hingewiesen, daß alles, was ich tue, zu Ergebnissen führen kann, die anderen Menschen schaden.“ (Berlin 1995: 236).
31
Privatheit: Drei Verständnisse
35
kämpfen, so geht das nur, wenn sich auch das Ernährungsverhalten der Erziehungsberechtigten ändert (siehe dazu Abschnitt 1.2.4.). Ist über den Umweg „Kind“ dann doch ein Eingriff in deren Privatheit möglich?32 Eltern sind in ihrem Erziehungsverhalten immer auch bestimmten Normen verpflichtet, beispielsweise dem Kindeswohl. Damit ist das gesamte Wohlergehen eines Kindes gemeint, sowohl seelisch als auch körperlich. Ein Staat darf nur in begründeten Ausnahmen in das Erziehungs- und Sorgerecht der Eltern eingreifen. Hauptansatzpunkt ist hierbei eine Gefährdung des Kindeswohls.33 Unterernährung und Vernachlässigung sind klassische Beispiele für Verstöße gegen das Kindeswohl. Neuerdings zählt, wie das schwedische Beispiel zeigt, auch Über- oder Fehlernährung dazu. Das ist nicht ganz unproblematisch, weil andererseits Eltern auch nicht das Sorgerecht entzogen wird, wenn sie beispielsweise in ihrer Wohnung rauchen und ihre Kinder so zum Passivrauchen zwingen. Über das Kindeswohl könnte es also gegebenenfalls zu Einschränkungen des Verhaltens der Eltern oder zu einer notwendigen Verhaltensänderung kommen, wenn im Interesse des Kindes und im Namen des Kindeswohls eine Gewichtskontrolle und Ernährungsumstellung im Umfeld eines Kindes notwendig wird. Solange man von autonom handelnden Erwachsenen ausgeht und ausgehen kann, sind für Mill paternalistische Maßnahmen problematisch. Wie bereits erwähnt, können unter bestimmten Bedingungen solche Maßnahmen auch bei eigentlich mündigen Bürgern und Bürgerinnen gerechtfertigt werden. Dazu zählen Handlungen und Verhaltensweisen, bei denen Zwang, Unfreiwilligkeit oder Unkenntnis im Spiel sind bzw. eine Rolle gespielt haben. Eine typischer Fall dafür sind Drogengesetze, da bei abhängigen Personen nicht von einem freien Willen ausgegangen wird. Hier ist zum Beispiel auch interessant, ob Adipositas jeweils als Fettleibigkeit oder Fettsucht verstanden wird. Denn als Fettsucht würde es ja dann auch in die Kategorie Sucht fallen mit der Implikation, dass der Wille der betreffenden Person bezüglich ihres Essverhaltens nicht frei ist. Auch der dritte Punkt, Unwissenheit, könnte es zulassen, dass ein Staat beim Er32
Damit soll aber nicht angedeutet werden, dass Kinder die Privatsache ihrer Eltern wären. Kinder haben zum einen selbst Ansprüche auf Privatheit (dazu u.a. Rössler 2001: 130f, Fußnote 116), zum anderen müssen Eltern sich in ihrer Erziehung auch an bestimmte Normen halten. 33 Worin das Kindeswohl genau liegt und wodurch es folglich gefährdet wird, ist Sache der Rechtsauslegung und unterliegt somit Veränderungen. Das BGB räumt seit 1996 Kindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung ein. Genauer heißt es seit dem Jahre 2000 in § 1631 Abs. 2 BGB: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen, psychische Beeinträchtigungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." Diese rechtlichen Veränderungen gehen wohl auch auf die UN Kinderrechtskonvention (http://www.ohchr.org/english/law/pdf/crc.pdf) zurück, die 1989 von der UN Vollversammlung verabschiedet worden war, und die auch die BRD ratifiziert hat, allerdings nicht vorbehaltlos wegen Art.6 GG, der Eingriffe in die Erziehung der Eltern weitgehend verbietet.
36
Theoretische Aspekte
nährungsverhalten insofern interveniert, als er über Bildungsangebote für die Verbreitung von Ernährungswissen und Kochkenntnissen sorgt. Bei Kindern sind paternalistische Maßnahmen erlaubt und sogar geboten, weil sie noch nicht vollständig autonom handeln. „Es ist vielleicht kaum nötig zu betonen, daß diese Lehre nur auf Menschen mit völlig ausgereiften Fähigkeiten anzuwenden wäre. Wir reden nicht von Kindern oder jungen Leuten, die noch nicht das Alter erreicht haben, wo sie das Gesetz als Mann oder Frau mündig spricht. Wer sich noch in einem Stande befindet, wo andere für ihn sorgen müssen, den muss man gegen seine eigenen Handlungen ebenso schützen wie gegen äußere Unbill.“ (Mill 1988: 17)
Kinder sind in Mills Überlegungen zur Freiheit nicht eingeschlossen, da es ihm um die gleichberechtigten Verhältnisse der Individuen auf gesellschaftlicher Ebene geht. 2.1.3 Privatheit kommunitaristisch: Amitai Etzioni Die Perspektive, die Amitai Etzioni in The Limits of Privacy auf das Private hat, unterscheidet sich deutlich von der Mills. Wo es Mill darum geht, dass der Bereich privater Freiheiten möglichst groß ausfallen soll, ist Etzionis Ausgangspunkt der, dass das Private im gegenwärtigen Amerika und in der USamerikanischen Rechtsprechung mit einem Recht auf Privatheit einen zu großen Raum einnehme und damit das Gemeinwohl in Form von öffentlicher Sicherheit und Public Health untergrabe. Eine übermäßige Betonung von Privatheit und individuellen Freiheitsrechten führe dazu, dass die Pflichten und die soziale Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft aus dem Blick geraten (Etzioni 1999: 5). In gewisser Weise identifiziert also auch Etzioni – hier trifft er sich mit Mill – Privatheit mit individueller Freiheit. Insgesamt ist Etzionis Verwendung des Privatheitsbegriffes uneinheitlich und unklar; so wechselt er ziemlich unberechenbar zwischen den drei Aspekten lokal, informationell und dezisional hin und her ohne sie aber jemals systematisch voneinander zu unterscheiden. Einmal kritisiert er informationelle Privatheit mit dem Argument, dass Eltern ein Recht darauf haben zu erfahren, ob ihr Kind von jemandem betreut wird, der wegen Pädophilie vorbestraft sei (ebd.: 2). Oft geht es ihm eigentlich um lokale Privatheit, wenn er bei privaten Dingen verlangt, dass Individuen sie außer Sicht- und Hörweite von Dritten ausüben, oder wenn Privatheit für ihn bedeutet, dass man etwas außer Sichtweite der Allgemeinheit tun darf (ebd.: 197). Die größten Schwierigkeiten hat Etzioni aber mit dezisionaler Privatheit. Er unterscheidet auf unverständliche Weise Privatheit
Privatheit: Drei Verständnisse
37
von dezisionaler Privatheit (ebd.: 207ff) und hat offensichtlich kein Verständnis dafür, dass sich private Handlungen oder Entscheidungen in der Öffentlichkeit abspielen können und damit aber trotzdem noch private Handlungen bleiben. Wie bei Mill wird auch bei Etzioni eine Notwendigkeit von Privatheit nicht begründet, eher die Notwendigkeit ihrer Einschränkung. Privatheit ist für ihn eher schädlich, weil sie individualistische Ideale über Ideale der Gemeinschaft stellt. Deshalb beschreibt er einen kommunitaristischen Begriff des Privaten, der die Gegensätze Privatheit und Gemeinwohl wieder in eine Balance bringen soll, indem Privatheit gegen andere Güter abgewogen werden kann und soll. Seine eigene Auffassung von Kommunitarismus ist dementsprechend die einer Theorie, die individuelle Freiheitsrechte gegen soziale Verantwortung und Gemeinwohl abwägt (ebd.: 5). Das Ergebnis einer solchen Abwägung würde bei Etzioni allerdings anders ausfallen als bei der oben zitierten radikal liberalen Position des Kolumnisten Jacob Sullum. Während Sullum dafür plädiert, den Sektor Public Health abzuschaffen, wäre Etzionis Ergebnis eher eine Einschränkung von Privatheit. Insgesamt geht es Etzioni, wie der Titel seiner Monographie The Limits of Privacy schon aussagt, um eine eingrenzende Bestimmung des Privaten. Er will keinen großen Bereich aufzeigen, aus dem der Staat sich heraushalten sollte, sondern beschäftigt sich gerade mit dessen Möglichkeit der Einschränkung: „Under which moral, legal, and social conditions should this right be curbed? What are the specific and significant harms that befall us when we do not allow privacy to be compromised?“ (ebd.: 3) Seine Überlegungen, wie und wogegen Privatheit gegebenenfalls abzuwägen wäre, münden in seinen ‚kommunitaristisch ausbalancierten’ Begriff des Privaten. Dabei ist er sich durchaus bewusst, dass er wackeligen Boden betritt: „To reconceptualize privacy, a highly revered right, may seem offensive, almost sacrilegious. We traditionally view individual rights as strong moral claims with universal appeal, indeed we perceive them as inalienable rights. Although we also realize that individual rights were formulated under certain historical conditions, we tend to conceive of these formulations as truths rather than mores fashioned for a given time that are open to amendment as conditions change.“ (ebd.: 188)
Da sich eben diese Umstände verändert hätten, sei nun ein ‚zeitgemäßes’ Verständnis von Privatheit notwendig. Das sei auch nicht weiter problematisch, da ja Privatheit gerade kein einheitliches Konzept sei, sondern über die Zeit und je nach kulturellem Hintergrund unterschiedlich interpretiert und nuanciert: „In other words, privacy is hardly a near-sacred concept that cannot be reformulated.“ (ebd.) Doch wie genau sieht dann Etzionis Begriff des Privaten aus und welchen Bereich bestimmt dieser?
38
Theoretische Aspekte
Das Private soll – gemäß Etzionis Vorstellungen – ein Bereich sein, in dem man legitimerweise keine Rechenschaft über sein Tun ablegen muss. Diese Legitimität leitet sich bei ihm aber nicht von übergeordneten Prinzipien wie Freiheit oder Autonomie ab, sondern wird von der Gesellschaft bestimmt und dann von staatlicher Überwachung ausgenommen, wobei staatliche Überwachung oder Kontrolle von Verhaltensweisen bei ihm dann den Normalfall darstellt: „I suggest that a sound communitarian treatment of privacy views it as the realm in which an actor (…) can legitimately act without disclosure and accountability to others. Privacy thus is a societal license that exempts a category of acts (…) from communal, public and governmental scrutiny.“ (Etzioni 1999: 196)
Die entscheidende Frage, die man laut Etzioni stellen müsste, um zu entscheiden, ob etwas normativ zum Privaten gehöre ist: „[H]ow much and what kinds of conduct are legitimately exempted from social scrutiny?“ (ebd.: 199) Die Antwort darauf sei je nach soziokulturellem Kontext bestimmt durch Konventionen, wobei aber Privatheit auch nicht komplett zerstört werden dürfe: „Privacy cannot be extended to the point where it undermines the common good; conversely, duties set to maintain social order cannot be expanded to the point where they destroy privacy.“ (ebd.) Allerdings gibt Etzioni keine Richtschnur vor, nach der man einigermaßen objektiv entscheiden könnte, ob in einem bestimmten Fall eher das Gemeinwohl in Gefahr ist oder Privatheit. Er sieht also Grenzen der Definitionsmacht der Gemeinschaft/Gesellschaft über das Private, doch entwickelt er keine klaren Kriterien, mit denen sich eine solche Grenze beschreiben oder begründen lassen könnte. Deshalb bleibt auch ziemlich unklar, wodurch das Private verletzt werden kann. Vermutlich könnte Etzioni eine solche Grenze auch gar nicht begründen, weil er dem Privaten, wie bereits erwähnt keinen eigenen übergeordneten Wert zuschreibt. Der Richtwert, den Etzioni hier aber gibt, ist in gewisser Weise eine Art harm principle: Wenn private Handlungen dem Gemeinwohl in Form von beispielsweise Public Health entgegenstehen, wenn negative Folgen von – seiner Meinung nach privaten Handlungen – in der Öffentlichkeit sichtbar werden auch in Form von finanziellen Kosten für die Allgemeinheit, so sei der Staat damit zum Eingreifen und Kontrollieren legitimiert. In solch einem Fall müsse Privatheit, wie bereits erwähnt, abgewogen werden gegen das Interesse der Gemeinschaft. Was Etzionis Begriff von Mills unterscheidet und was, wie sich noch zeigen wird, ein Stück in die Richtung von Beate Rösslers Verständnis von Privatheit geht, ist seine Einschätzung der Rolle der Wirtschaft. Etzioni bemerkt dazu, dass eine Gefährdung individueller Privatheit meist von Seiten des Staates vermutet werde, dabei komme die Gefährdung eher aus dem Gewinnstreben der Privat-
Privatheit: Drei Verständnisse
39
wirtschaft. Dazu gehören deren Datensammlungen und Informationssysteme über Konsumentenverhalten und die Schlüsse, die sie daraus in Form von Werbung oder Produktplacement zieht: „Consumers, employees, even patients and children have little protection from marketeers, insurance companies, bankers, and corporate surveillance. If privacy is to be better protected from commercial intrusions, a new approach needs to be developed.” (Etzioni 1999: 10)
Entsprechend Etzionis stark lokal angehauchtem Begriff würde die individuelle Ernährungsweise schon in den Bereich des Privaten gehören, weil sie normalerweise zu Hause und außer Sichtweite der Gesellschaft ausgeübt und ausgelebt wird. Das wäre in einer Gemeinschaft so lange problemlos, wie dadurch keine gemeinschaftlichen Interessen verletzt würden. Würde sich aber aus diesem Ernährungsverhalten ein für die Gemeinschaft kostspieliges Gesundheitsproblem von größerem Ausmaß ergeben, wie das bei Übergewicht und anderen ernährungsbedingten Krankheiten der Fall ist, oder zumindest behauptet wird, so wäre auch die individuelle Ernährungsweise Angelegenheit der Politik bzw. unterläge dann rechtmäßig staatlicher Regulierung und Kontrolle. Damit es gar nicht erst so weit komme, plädiert Etzioni für mehr Kontrolle durch die Gemeinschaft: „[I]mportant social formulations of the good can be left to private choices – provided there is sufficient communal scrutiny! That is, the best way to curtail the need for government control and intrusion is to have somewhat less privacy [Privatheit hier verstanden als lokale!].“ (ebd.: 213)
Wenn also eine Einmischung in privates Verhalten durch die Politik vermieden werden soll, so gehe das am besten, wenn die Gemeinschaft oder der „dritte Bereich“, wie Etzioni auch sagt, über die Entscheidungen oder Verhaltensweisen Einzelner wacht. Positive Beispiele für eine solche soziale Kontrolle sind für ihn die geringen Raten an Alkohol- und Drogenmissbrauch in religiösen Gemeinschaften, deren Normen solches Verhalten ablehnen: „[T]he community (…) relies on subtle social fostering of prosocial conduct by such means as communal recognition, approbation, and censure. These processes require the scrutiny of some behaviour, not by police or secret agents, but by friends, neighbours, and fellow members of voluntary associations.“ (ebd.: 213)
40
Theoretische Aspekte
2.1.4 Dezisionale Privatheit bei Beate Rössler: Modern liberal In Der Wert des Privaten (2001) geht es Beate Rössler um ein normatives Verständnis von Privatheit für und in modernen liberalen Gesellschaften. Wie bereits erwähnt, unterscheidet sie drei Dimensionen des Privaten: lokal, informationell und dezisional. Ich werde im Folgenden ihren Begriff der dezisionalen Privatheit34 vorstellen, da diese Dimension für das individuelle Ernährungsverhalten die relevante ist. Der dezisionalen Privatheit liegt das allgemeine Verständnis zu Grunde, dass es Bereiche des Lebens gibt bzw. geben sollte, bei denen man begründet sagen kann, dass sie andere nichts angehen, dass man bei bestimmten Lebensdimensionen einen symbolischen Zugang anderer durch Kritik oder andere Eingriffe abweisen kann. „Unter einen solchen Schutz können dann bestimmte Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit gerechnet werden, dazu können Lebensstilfragen gerechnet werden, dazu können fundamentalere Entscheidungen und Handlungen gerechnet werden wie die Frage, in welche Kirche man geht oder was man studiert, ganz generell Lebensprojekte, die eine Person verfolgt: also Handlungs-, Verhaltens- und Lebensweisen, und allgemein Ziele und Projekte.“ (Rössler 2001: 144)
Je bedeutsamer dabei eine Entscheidung, Handlung oder Lebensweise für eine Person sei, desto stärker würde eine Einmischung zurückgewiesen und desto weniger sei man bereit, Rechenschaft über sein Tun abzulegen (ebd.: 145). Ähnlich klassisch-liberalen Konzeptualisierungen des Privaten wie der von Mill, geht es Rössler mit der dezisionalen Privatheit um den Schutz von Handlungen und Lebensweisen, deren Fundamente in individuellen Freiheiten und Freiheitsrechten liegen, und die daher auch schon durch verschiedene Rechte geschützt sind. Doch lasse sich Privatheit, so Rössler, nicht nur auf individuelle Freiheit reduzieren, sondern weise über sie hinaus, da die Verwirklichung von Freiheit und Selbstbestimmung in sozialen Kontexten stattfindet. Der Schutz von dezisionaler Privatheit sei gerade wichtig, weil man zum unbehelligten Ausleben dieser Freiheiten im sozialen Raum auf Schutz vor Einsprüchen und Kommentaren Anderer angewiesen sei. Rössler stellt genau die Frage, die die beiden anderen Autoren vernachlässigt haben: Was genau ist die Funktion und der Wert von Privatheit für die indi34
Rössler verweist hier auf eine begriffliche Schwierigkeit die sich daraus ergibt, dass in der amerikanischen Rechtsprechung in dem berühmten Urteil Roe vs Wade ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch mit dem Recht auf dezisionale Privatheit begründet wird. Dies habe den Begriff stark geprägt, obwohl es bei der Begründung in diesem Fall zu einer Verwechslung von Privatheitsrechten und Freiheitsrechten gekommen sei. Siehe dazu genauer Rössler 2001: 170-179.
Privatheit: Drei Verständnisse
41
viduelle Freiheit? Die Lücke, die sich bei klassisch-liberalen Theoretikern wie Mill daraus ergebe, dass diese Privatheit in einen funktionalen Zusammenhang mit Freiheit bringen, diesen Zusammenhang dann aber nicht weiter be- und ergründen, will Rössler schließen und dort ist auch ihre zentrale These angesiedelt. Sie will zeigen, „dass wir Privatheit deshalb für wertvoll halten, weil wir Autonomie für wertvoll halten und weil nur mit Hilfe der Bedingungen von Privatheit und mittels Rechten und Ansprüchen auf Privatheit Autonomie in all ihren Aspekten lebbar, in allen Hinsichten artikulierbar ist.“ (ebd.: 26)
Bei ihr begründet sich also die Notwendigkeit von Privatheit auf den Schutz von Freiheit als Autonomie, der von individuellen Freiheitsrechten allein nicht gewährleistet werden könne (ebd.: 146ff).35 Da man es als das Ziel und den Kern von moderner Freiheit ansehen könne, ein autonomes Leben zu ermöglichen und da aber Autonomie nicht ausreichend durch Freiheitsrechte geschützt würde, sei diese „angewiesen auf die Substantialisierung dieser Freiheitsrechte in Rechten und Ansprüchen auf den Schutz des Privaten“ (ebd.: 26). Ansprüche auf Privatheit weisen über individuelle Freiheitsrechte hinaus, weil sie in allen sozialen Kontexten eingefordert werden können, in denen individuelle Freiheiten gar nicht betroffen sind. Als Beispiele für solche Situationen nennt Rössler, wenn jemand sich im Supermarkt einen Porno kauft und der Kassierer das irgendwie kommentiert, oder wenn Eltern ihrer Tochter hineinreden, welche Freunde sie haben solle. In solchen Fällen ist nicht die individuelle Freiheit betroffen, sondern dezisionale Privatheit. Hier ist im Gegensatz zu Mill und erst recht zu Etzioni ganz klar, dass meine Nachbarn mir keinen Liebesdienst erweisen, wenn sie mein Verhalten kritisieren, solange es sich im Rahmen des liberal-demokratisch Möglichen bewegt. Durch was aber lässt sich der Bereich der dezisionalen Privatheit bei Beate Rössler genau bestimmen? Entsprechend ihrer Definition müssten sicherlich alle Aspekte einen Schutz durch Privatheit beanspruchen können, die man als wichtig für die individuelle Autonomie ansehen kann. Individuelle Autonomie benötige den Schutz von Privatheit nicht nur gegenüber dem Staat und durch dessen Regelungen, sondern in sozialen Bezügen allgemein (ebd.: 37). Die dezisionale Privatheit beschreibt dazu einen sozialen Schutzraum, in dem individuelle Freiheit gelebt werden kann ohne die Kommentare und Wertungen anderer – Lob 35 Der Zusammenhang von Privatheit und Autonomie wird allerdings nicht nur von Rössler betrachtet oder gesehen. In der International Encyclopedia of the Social Sciences heißt es im Beitrag von Smith zu Personal Privacy:„Privacy allows people the possibility of freedom, and thus autonomy and personal choice.“ (2001: 11250)
42
Theoretische Aspekte
eingeschlossen (ebd.: 156). „Die Idee einer selbstbestimmten Lebensweise zieht also in allen sozialen Beziehungen eine Grenzlinie ein, diesseits deren [sic!] ein Einmischen zurückgewiesen werden kann.“ (ebd.: 155) Damit ist dieser Begriff nicht auf einer rechtlichen Ebene, weil es nicht nur um formale Möglichkeit für Privatheit geht. Ansprüche auf Privatheit seien daher meist nicht-juridisch und finden ihren Ausdruck in Konventionen, deren normativer Wert darin besteht, „dass sie die Versuche von Personen schützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen“ (ebd.: 148). Eine Verletzung dieser Konventionen empfände man dann als Übergriff. Die genaue Grenzlinie lässt sich bei Rössler aber nur schwer ausmachen, da diese Linie wiederum bestimmt wird durch den sozialen Kontext und abhängig ist von den jeweiligen Adressaten von Ansprüchen, den jeweiligen Aspekten und den Artikulationen des Respekts, die jeweils gefordert sind. Bei den Adressaten von Ansprüchen unterscheidet Rössler zwischen intimen Anderen, freundschaftlichen Anderen, Bekannten, nicht unbedingt freundschaftlich verbundenen Anderen und anonymen Dritten. Durch die Adressaten ergeben sich auch die Aspekte deretwegen man Zurückhaltung beanspruchen kann. Man könne von den Anderen immer bei den Dingen Zurückhaltung verlangen, die für die jeweilige Beziehung nicht konstitutiv und damit nicht relevant seien. Genau bestimmt würde das durch Konventionen, die aber nicht im Gegensatz zu individueller Autonomie stehen dürfen. Als Beispiele nennt Rössler hier den eigenen Erziehungsstil, den man seinen Freunden gegenüber als Privatsache deklarieren kann, oder die eigene Wahl der Kleider, die anonyme Dritte nicht zu interessieren haben. Artikuliert werden soll der Respekt generell durch Zurückhaltung, die aber je nach Kontext auch wieder andere Formen annehmen kann von Indifferenz bis Nichtbeachtung (ebd.: 154f). Weil sich die Grenze des Bereichs, der durch dezisionale Privatheit geschützt werden soll so schwer bestimmen lässt, lassen sich auch mögliche Verletzungen dieser Grenze nur schwer bestimmen, aber: wenn eine bestimmte Lebensweise Schutz durch dezisionale Privatheit beanspruchen kann, so ist von allen anderen Zurückhaltung verlangt. Ein bloßer Kommentar und sei es auch Lob, würde – wie bereits erwähnt – nach Rössler schon die Grenze der Privatheit verletzen. Durch Ansprüche auf Privatheit entstünden typische Konflikte, so könne nicht jeder Kommentar „sich auf das Recht auf Meinungsfreiheit berufen, aber auch nicht jeder Kommentar kann mit dem Argument der Verletzung dezisionaler Privatheit zurückgewiesen werden.“ (2001: 159) Bei solchen Konflikten, in denen zwei Prinzipien wie die Meinungsfreiheit des einen gegen die Privatheit des anderen stehen, müsse der Kontext genau analysiert werden. Dazu verweist Rössler auf die Unterscheidung zwischen Ethik und Moral und auf die Kriterien,
Privatheit: Drei Verständnisse
43
wem gegenüber man wegen welcher Handlung welche Art von Gründen geben müsse. Kurz gesagt, sei ein Problem ethisch, „wenn nur ich betroffen bin, moralisch dann, wenn andere involviert sind. Handlungs- oder Rechtfertigungsgründe (bei Konflikten) muss ich dann – ethisch – nämlich nur den ethischen anderen gegenüber, also nur in persönlichen Beziehungen, geben, während diese Gründe bei moralischen Problemen im Prinzip allen anderen gegenüber gegeben werden müssen. Die Sorte Gründe, um die es dann geht, sind zum einen, ethisch, solche, die als gute gelten können allein aus der parteilichen Perspektive der ersten Person; während Gründe bei moralischen Problemen sich beziehen (müssen) auf die unparteiische Perspektive eines jeden möglichen anderen. Beispiele für ethische Probleme sind solche, die ausschließlich die Frage meines eigenen (guten) Lebens betreffen, eindeutig moralische ‚irreduzibel intersubjektive’, sind etwa Fragen der gerechten Verteilung.“ (ebd.: 163)
In ähnlicher Weise unterscheidet Rainer Forst in Kontexte der Gerechtigkeit (1994) vier Sphären voneinander: eine ethische, eine rechtliche, eine politische und eine moralische. Wenn die individuelle Ernährungsweise zu Fragen des guten Lebens und damit zu den ethischen Fragen gezählt werden kann, so bedeutet das, dass ich mich wegen ethischer Fragen nur gegenüber ethischen Anderen rechtfertigen muss und nicht zum Beispiel gegenüber meinen Mitbürgern, gegenüber anderen Rechtssubjekten oder moralischen Anderen. Aber handelt es sich hierbei tatsächlich um ein ethisches Problem, oder vielleicht doch um ein moralisches? Beate Rössler ist der Meinung, dass gerade bei Angelegenheiten der Privatheit Ethik und Moral schwer voneinander zu trennen seien: „in privaten Lebensprojekten, das charakterisiert sie gerade, sind ethische und moralische Probleme unheilbar verflochten“ (ebd.: 164). Wie aber lässt sich dann bestimmen, ob es sich in einem Fall wie der individuellen Ernährungsweise um ein ethisches oder moralisches Problem handelt? Und wie stark müsste man gegebenenfalls ethische Entscheidungen vor den ethischen Anderen rechtfertigen? Nach Rössler muss dezisionale Privatheit hier in einem sehr strikten Sinn verstanden werden können, weil man es sonst mit einem reduzierten Begriff des Privaten zu tun hätte: „das ‚Gründe-geben-Müssen’ hat seinen Autonomie ermöglichenden Sinn nur dann, wenn es nicht zu Einschränkungen durch die (ethischen) Anderen führt; bestimmte Ideen autonomer Entwürfe sind vorstellbar gerade dann, wenn Subjekte sich zurückziehen können auf prinzipiell private Dimensionen ihres Lebens, nicht durch die Erprobung im angenommenen oder tatsächlichen Urteil anderer, sondern gerade in dezidierter Unabhängigkeit von ihnen oder gegen sie. Ein zu starker Begriff der Anerkennung oder Zustimmung (auch nur ethischer) anderer geht einher mit einem reduzierten Begriff des Privaten.“ (ebd.: 169)
44
Theoretische Aspekte
Kann das individuelle Ernährungsverhalten gemäß der bisherigen Darstellung dann Schutz durch dezisionale Privatheit beanspruchen? Und Übergewicht? Die individuelle Ernährungsweise gehört sicherlich in den ‚Zuständigkeitsbereich’ von dezisionaler Privatheit, weil es sich dabei eindeutig um ein Element des Lebensstils und der Lebensweise handelt. Wenn Ernährung zu den privaten Handlungsweisen zu zählen ist, würde ein Versuch, diese gegen den Willen der Betroffenen zu kommentieren oder zu beeinflussen dezisionale Privatheit verletzen, denn dann hätten wir den Anspruch, „vor unerwünschtem Zutritt im Sinne von unerwünschtem Hineinreden, von Fremdbestimmen bei Entscheidungen und Handlungen geschützt zu sein.“ (ebd.: 25) Doch wie bedeutsam ist eine freie Wahl unseres Essens für uns? Und wie stark müsste eine solche Wahl dann vor Einsprüchen wie Kampagnen zu einer ‚gesunden Ernährung’ geschützt werden? Eine Antwort auf diese Fragen ergibt sich vor allem aus dem Verhältnis von Ernährung und Autonomie, das ich im zweiten Abschnitt des Theoriekapitels noch genauer untersuchen will, da, wie bereits gesagt, der Sinn und Zweck von dezisionaler Privatheit nach Rössler darin liegt, Autonomie zu schützen. Es kommt dabei meiner Meinung nach auf die Frage an, wie stark die individuelle Ernährungsweise mit Autonomie verbunden ist, oder wie groß unsere Autonomie in Ernährungsfragen eigentlich ist. Welche Aspekte wie beispielsweise Tradition, Warenangebot, Kochkenntnisse und Werbung beeinflussen unser Ernährungsverhalten? Ein staatlicher Eingriff zugunsten von individueller Autonomie, wie beispielsweise bestimmte Werbeeinschränkungen und strengere Kennzeichnungspflichten, könnte in dem Licht sogar auch zum Schutz individueller Privatheit geboten sein. Man könnte auch argumentieren, dass ein staatlicher Eingriff zum Schutz von individueller Autonomie notwendig ist, wenn Personen durch extremes Übergewicht nicht nur ihre Gesundheit gefährden, sondern die Funktionsfähigkeit ihres Körpers erheblich einschränken. Wenn sie zum Beispiel nicht mehr laufen können oder nicht durch Türen passen. Das wäre dann nach Rössler vermutlich auch kein Eingriff ins Private, weil der Eingriff zum Schutz von Autonomie gemacht würde. Was auch noch darauf hindeutet, dass Ernährungsfragen und auch Übergewicht Schutz durch dezisionale Privatheit beanspruchen können, ist, dass es sich hierbei um körperliche Themen handelt und Rössler diese auch als körperliche Privatheit beschreibt (ebd.: 159). Nach Rössler fallen unter diesen Schutz auf jeden Fall unerwünschte Kommentare über den eigenen Körper und damit auch Bemerkungen zum Körpergewicht. Dazu könnten auch schon Gewichtindizes gehören. Diese legen fest und damit behaupten sie das auch in gewisser Weise, dass Menschen ab einem relativ willkürlichen Wert X, z.B. einem BMI über 30,
Privatheit: Drei Verständnisse
45
fettleibig oder krankhaft fettleibig seien. Der Einzelne kann sich aber mit dem tatsächlichen Gewicht noch durchaus schön und gesund fühlen. Auch wenn man Ernährung prinzipiell im Bereich des Privaten verortet, so ist damit noch nichts über eine Differenzierung nach sozialen Kontexten gesagt, wie sie Beate Rössler beschreibt. Ich schlage hier vor, dass der soziale Kontext, in dem die individuelle Ernährungsweise und Übergewicht relativ unproblematisch auch ungefragt eine Rolle spielen können, der der intimen anderen wie Partnern und Familienangehörigen ist. Das ist traditionell (und ideal) gesehen der Bereich gemeinsamer Mahlzeiten, des körperlichen und seelischen Wohlbefindens und der Fürsorge. Doch auch hier ist Zurückhaltung wichtig, wenn auch nur wohlwollende Zurückhaltung und nicht strikte Indifferenz (vgl. ebd.: 157). Kommentare von anonymen Dritten oder Regierungsvertretern würden hier Privatheit verletzen. Im Abschnitt zu Mill bin ich kurz drauf eingegangen, dass die Ernährungsweise zu den ethischen Fragen gehört, da sie stark symbolisch und kulturell aufgeladen ist. Wenn es aber eine ethische Frage ist – wenigstens solange man nur sich selbst ernährt –, dann muss man sich – wenn überhaupt – höchstens den ethischen Anderen gegenüber rechtfertigen. Selbst wenn der Staat anfängt, die Folgen der Ernährungsweise seiner Bürgerinnen und Bürger als moralisches Problem zu sehen, muss das noch nicht für Jede/n einsichtig sein; bzw. falls die Ernährungsweise wirklich überwiegend eine moralische Frage ist, muss es Gründe geben, die dies jedem einzelnen plausibel erscheinen lassen. 2.1.5 Zusammenfassung und Kritik Die größten Unterschiede zwischen den drei Verständnissen von Privatheit bestehen zwischen den beiden liberalen Konzeptionen einerseits und der kommunitaristischen. Während Mill und Rössler beide einen sehr weiten Begriff des Privaten haben, der sich auf individuelle Freiheit bzw. Freiheit als Autonomie gründet36, zielt das kommunitaristische Verständnis von Etzioni darauf ab, Privatheit gegenüber anderen Gütern einzuschränken, wobei letztlich nichts begründet auch gegen die Gesellschaft in den Bereich des Privaten gehören kann. Dabei – so scheint es – zielen die Begriffe jeweils auch auf andere Arten des Konfliktes. Während es Rössler und Mill um Konflikte zwischen dem unterschiedlichen Freiheitsstreben von einzelnen Personen geht, stehen bei Etzioni Konflikte zwischen dem Verhalten Einzelner und der Gemeinschaft im Vordergrund. Dabei, das hat sich gezeigt, gewinnt im Zweifelsfall die Gemeinschaft. 36
Es bleibt aber unklar, welche Rolle Privatheit über Freiheit hinaus bei Mill spielt, weil er Privatheit mit Freiheit identifiziert (vgl. dazu auch Rössler 2001).
46
Theoretische Aspekte
Begriffe des Privaten sind, wie eingangs erwähnt, zumindest teilweise konventionell. Wenn man zum Schluss kommt, dass Privatheit auf irgendeine Weise wertvoll und schützenswert ist, dann kann das Kriterium des Schadens, das bei Mill und bei Etzioni eine entscheidende Rolle spielt, eigentlich keine zentrale Rolle spielen – jedenfalls nicht bei einer substantiellen Beschreibung. Es wäre dann zu willkürlich, das Private ganz – bei Etzioni – oder teilweise – bei Mill und Dewey – von Konventionen und momentanen Interpretationen, dessen was beispielsweise ein problematischer Schaden für die Allgemeinheit sei, abhängig zu machen. Bei Mill und Dewey sind der Gesellschaft dann wenigstens durch individuelle Freiheitsrechte Grenzen der Interpretation auferlegt. Aus diesem Grund ist es auch so wichtig nach dem Wert des Privaten zu fragen und nach substantiellen Gründen zu suchen, weshalb etwas privat sein sollte: Wenn Privatheit mehr sein soll, als eine „ideologische Konkretion“ (Geuss 2002: 21) – damit sind Überlegungen gemeint, „die Mitgliedern bestimmter Gruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt unwiderstehlich plausibel erscheinen (…), obwohl Außenstehende in ihnen nur einen Schleier der Illusion (…) erkennen können“ (ebd.: 20) – so müsse es um die Frage nach dem Wert des Privaten gehen. Genau das leistet Rössler mit ihrem Begriff des Privaten. Im Unterschied zu den anderen Theoretikern beschäftigt sie sich mit der Frage, warum wir Privatheit wichtig und schützenswert finden, nämlich wegen unserer Autonomie. Deshalb hat ihr Begriff auch eine andere Reichweite. Bei Rössler ist man nicht nur privat und frei, solange andere nicht betroffen sind, sondern gerade auch wenn und weil andere von den eigenen Handlungen betroffen sein können. Da individuelle Freiheiten und Freiheitsrechte wichtig sind auch als Schutz gegen staatliche oder gesellschaftliche Willkür, lehne ich Etzionis Begriff des Privaten ab und stimme Beate Rössler zu, wenn sie meint: „Privatheit kann, wegen ihrer funktionalen Verbindung mit dem Begriff der Autonomie, nicht verstanden werden als ein von der Gesellschaft Subjekten zugestandener, gewährter, erlaubter Bereich oder Freiraum, sondern muss stärker begriffen werden, als Anspruch und Recht von Individuen (…).“ (Rössler 2001: 146)
Rösslers Begründung, dass Privatheit wichtig ist für Autonomie gerade in Situationen, in denen individuelle Freiheitsrechte gar nicht betroffen sind, finde ich einleuchtend. Der Nachteil ist nur, dass dadurch der Begriff sehr weit wird. Ihre Bestimmung des Privaten bleibt nicht auf die Beziehung Staat-Bürger beschränkt, sondern kann und soll in allen sozialen Bezügen Anwendung finden. Das hat den Vorteil, dass sich so auch Übergriffe durch die öffentliche Meinung kritisieren lassen, die sicherlich eine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit bewirken. Bei Rössler sind wertende Übergriffe der Öffentlichkeit, im Gegensatz zu Mill, sicher nicht als Liebesdienst zu bewerten. Das hat aber auch den Nach-
Privatheit: Drei Verständnisse
47
teil, dass das Konzept an Trennschärfe verliert gerade zur Klärung der Beziehung Bürger–Staat, um die es hier hauptsächlich geht, weil es je nach sozialer Beziehung und konkretem Aspekt eine andere Form der Zurückhaltung verlangt, die Rössler selbst nicht bis ins Detail darstellt und wahrscheinlich auch nicht darstellen kann. Wenn auf gesellschaftlicher Ebene ein neues Problem auftritt, was bei Übergewicht der Fall ist, müssen wahrscheinlich auch die Grenzen staatlicher Einflussnahme neu verhandelt werden. Dabei spielt, so meine erste These, der jeweilige Begriff des Privaten eine Rolle, wobei man mit allen vorgestellten Begriffen die individuelle Ernährungsweise prinzipiell als Element des Privaten verstehen kann. Mit Mills Konzeption wären staatliche Maßnahmen bezüglich des privaten Ernährungsverhaltens dann unproblematisch, wenn man entweder begründet sagen kann, dass Dritte davon negativ betroffen werden oder wenn klar ist, dass eine Verhaltensweise erzwungen, unfreiwillig oder aus Unkenntnis passiert. Bei Etzioni währen staatliche Maßnahmen möglich, wenn durch die Ernährungsweise das Gemeinwohl in Form von Kosten im Gesundheitswesen bedroht wäre. Und bei Rössler, wenn diese Maßnahmen dem Schutz von individueller Autonomie dienen. Deshalb hängt es neben dem Begriff des Privaten, so meine zweite These, auch von der Art der politischen Maßnahme ab, ob man von einem problematischen Eingriff ins Private sprechen kann. Ein wichtiger Aspekt, der bei Beate Rösslers Überlegungen zu Privatheit deutlich wurde, ist dabei Autonomie. Er wird im nächsten Abschnitt im Zusammenhang mit Ernährung noch näher betrachtet. Ich vermute, dass nicht alle politischen Maßnahmen, die das individuelle Ernährungsverhalten im Visier haben, automatisch eine Verletzung von dezisionaler Privatheit sind. Mir erscheint es sogar zwingend, bestimmte Maßnahmen zum Schutz individueller Autonomie in Ernährungsfragen zu ergreifen, die dann konsequenterweise auch als Schutz von dezisionaler Privatheit verstanden werden müssen. Dazu würden dann beispielsweise Einschränkungen bei irreführender Werbung und genauere Produktinformationen gehören. Das oben als Begründung für Privatheit problematisierte Kriterium des Schadens spielt für meine dritte These wieder eine Rolle. Danach hängt es auch von der Legitimation des Eingriffs ins Private in Form einer Güterabwägung ab, ob eine bestimmte Maßnahme problematisch ist oder nicht. Prinzipiell gebe ich Etzioni recht, wenn er feststellt: „Although we cherish privacy in a free society, we also value other goods. Hence we must address the moral, legal, and social issues that arise when serving the common good entails violating privacy.” (Etzioni 1999: 2) Bei ihm bedeutet das aber in der Praxis ein relativ unkritisches Einschränken von Privatheit zu Gunsten unqualifizierter Gefährdungen des Gemeinwohls. Privatheit ist zwar kein absoluter Wert. Sie kann mit anderen Gütern
48
Theoretische Aspekte
in Konflikt treten, beispielsweise mit dem Kindeswohl, oder mit Gerechtigkeit. Dann muss aber begründet zwischen den verschiedenen Aspekten abgewogen werden. 2.2 Autonomie und Ernährung 2.2.1 Autonomie Im Abschnitt zu Privatheit wurde deutlich, dass eine mögliche Begründung dafür, warum Privatheit wichtig ist, darin liegt, dass sie Versuche von Individuen, ein autonomes Leben zu führen, schützt. Deshalb betrachte ich in diesem Abschnitt nun etwas genauer den Begriff der Autonomie und auch seine Verbindung zu Ernährung. Wie bei Privatheit, so gibt es auch bei individueller Autonomie verschiedene konkurrierende Vorstellungen. Diese hätten, so Gerald Dworkin, als einzige Gemeinsamkeit, „that autonomy is a feature of persons and that it is a desirable quality to have“ (Dworkin 1988: 6; zitiert nach Rössler 2001: 95). Das Verständnis von Freiheit als Autonomie, um das es Rössler geht, wenn sie einen funktionalen Zusammenhang zwischen Freiheit und Privatheit erkennt und begründet, und der auch meinen Überlegungen hier zu Grunde liegt, ist Freiheit als individuelle Selbstbestimmung. Nach Rössler ist eine Person dann autonom, „wenn sie sich die Frage stellen kann, welche Person sie sein will, wie sie leben will, und wenn sie dann so leben kann“ (Rössler 2001: 39).37 Diese Auffassung von Autonomie wird allgemein als Kern des modernen Freiheitsverständnisses gesehen (u.a. Ladwig 2004a, Honneth 1993a, Rössler 2001, Taylor 1988, Raz 1988). Über Autonomie kann die Art und Weise, in der Personen „frei“ genannt werden können, näher bestimmt werden. Autonomie als Selbstbestimmung ist dabei eine substantiellere Form von Freiheit, die über äußere Handlungsfreiheit hinausgeht und auch Willensfreiheit verlangt. Denn als in einem allgemeinen Sinn „frei“ kann eine Person bezeichnet werden, die frei ist zu handeln. Aber, um autonom genannt werden zu können, muss eine Person auch in ihrem Wollen frei sein: „Being autonomous is usually taken to mean being self-governing in one way or another; an autonomous state is one in which a person’s will is genuinely their own.” (Stoljar 2001: 1009; Hervorhebung im Original) Willensfreiheit bedeutet, dass eine Person bei einer bestimmten Entscheidung auch hätte anders wollen können, das heißt dass sie in der Lage ist ihren eigenen Willen zu lenken 37
Ähnlich bei Taylor: „Freiheit als Selbstverwirklichung [setzt voraus], daß wir imstande sind, das zu tun, was wir wirklich wollen, unserem wirklichen Willen zu folgen oder die Bedürfnisse unseres wahren Selbst zu erfüllen.“ (1988: 125)
Autonomie und Ernährung
49
(Rössler 2001: 87, Ladwig 2004a: 87). Dazu benötigt eine Person bestimmte mentale Fähigkeiten, ein Minimum an praktischer Rationalität, damit sie Pläne entwickeln, Alternativen erkennen und Gründe für ihr Handeln geben kann (Ladwig 2004a: 88f, auch Raz 1988: 373). Besitzt ein Subjekt ein solches Minimum an Rationalität, ist es potentiell selbstbestimmt und wird als Person bezeichnet (Ladwig 2004a: 87). Das heißt, dass Menschen im Normalfall diese mentale Fähigkeit besitzen.38 Und wenn sie diese besitzen, gelten sie als mündig und als für ihr Handeln verantwortlich. Nur wenn eine Person in ihrem willentlichen Handeln frei ist, ist sie auch für ihr Tun verantwortlich. Es kann also nicht um absolute „Bedürfnistransparenz und Bedeutungsintentionalität“ (Honneth 1993a: 154) als Voraussetzung von Autonomie gehen, wie bei klassischen Autonomieauffassungen. Diese Voraussetzungen sind sowieso durch verschiedene Umstände eingeschränkt, wie beispielsweise durch unsere kulturelle oder soziale Situiertheit. Aber auch durch unbewusste Triebe und Motive können uns unsere Bedürfnisse nicht auf eine absolute Art transparent sein, und so wie wir in unserem Denken von erlernten sprachlichen Bedeutungssystemen abhängig sind, sind wir es auch in unserem Wollen. Es handele sich dabei, so Honneth, um „Mächte oder Kräfte, die in jedem Vollzug individuellen Handelns wirksam sind, ohne daß das Subjekt sie je vollständig kontrollieren oder auch nur durchschauen könnte“ (ebd.: 150). Insgesamt stellt sich daher die Frage: „How can agents be genuinely self-governing in the face of the physical and social forces in which they are embedded, and which appear to determine their states and capacities?” (Stoljar 2001: 1010). Eine Möglichkeit, mit diesen Tatsachen aus dem Prozess menschlicher Sozialisation und Subjektwerdung umzugehen, ist, wie Honneth vorschlägt, diese als Konstitutionsbedingungen des Subjekts und nicht als solche Hindernisse für Autonomie zu begreifen, dass diese am Ende gar nicht mehr möglich scheint.39 Es geht dann, ausgehend von der individuellen Grundvoraussetzung eines Minimums an Rationalität und der Erkenntnis, dass Selbstbestimmung nicht in einem absoluten Sinn möglich ist, um das größtmögliche Maß an Autonomie. Rössler spricht deshalb bei Autonomie von einem graduellen Begriff (Rössler 2001: 90, 119; auch Raz 1988: 373). Selbst wenn man annehme, „dass das entscheidende Ich jedenfalls nicht gänzlich Herr im eigenen Haus ist, dass man sich als nie vollkommen transparent in seinen Wünschen und Bedürfnissen begreift, 38
Ausnahmen bilden hier z.B. kleine Kinder, die noch nicht, Alzheimer-Patienten, die nicht mehr, und schwer geistig Behinderte, die überhaupt nicht ein selbstbestimmtes Leben führen können (Ladwig 2004a). Wegen psychischer Störungen wie starken Ängsten kann jemand auch in seiner Willensfreiheit oder Handlungsfreiheit eingeschränkt sein. 39 Eine andere Konsequenz, die beispielsweise Ferrara aus diesen Erkenntnissen zieht ist, den Autonomiebegriff durch Authentizität zu ersetzen (Ferrara 1994). Rössler dagegen versteht Authentizität als Bedingung für Autonomie (Rössler 2001: 109).
50
Theoretische Aspekte
so kann man doch auch unter ebendieser Prämisse versuchen, so autonom und reflektiert wie möglich zu sein“ (Rössler 2001: 115). Nach Feinberg lassen sich mögliche Hindernisse für Freiheit und damit auch Einschränkungen von Autonomie in vier Gruppen unterteilen: natürliche äußere Hindernisse und soziale äußere Hindernisse; natürliche innere Hindernisse und soziale innere Hindernisse (Feinberg 1973, zitiert nach Ladwig 2004a: 87). Zu den natürlichen äußeren Hindernissen zählen beispielsweise Naturgewalten, während Zwang oder Manipulation typische soziale äußere Hindernisse sind. Ein natürliches inneres Hindernis könnte eine Behinderung sein, und zu den sozialen inneren Hindernissen zählen beispielsweise Unwissenheit oder ein Mangel an Bildung, aber auch Armut (vgl. Ladwig 2004a). 2.2.2 … und Ernährung Abgesehen von der individuellen Ernährungsweise gibt es eine ganz grundlegende Verbindung zwischen Autonomie und Ernährung. So ist es eine fundamentale Vorbedingung für jede Art von Autonomie, dass die menschlichen Grundbedürfnisse, wie zum Beispiel nach Nahrung, befriedigt sind. Denn wenn jemand die ganze Zeit um sein Überleben kämpfen muss, so bleibt wenig oder kein Raum dafür, sich zu fragen, wie man gerne leben würde, also einen Lebensplan zu entwerfen (vgl. dazu auch Rössler 2001: 92); des weiteren wären durch einen solch starken Fokus auch die Optionen zu sehr eingeschränkt (Raz 1988, Ladwig 2004a). Deshalb zählen Amartya Sen und Martha Nussbaum auch eine ausreichende Ernährung zu den „Funktionsweisen“, die allen offen stehen müssen, während „Fähigkeiten“, das sind die tatsächlichen Handlungsoptionen, wie der individuelle Gebrauch der zu Verfügung stehenden Nahrung, Sache der individuellen Selbstbestimmung ist, wie ggf. auch die dann freie Entscheidung keine Nahrung zu sich zu nehmen (Nussbaum/Sen 1993; Ladwig 2004a). Über diese Grundvoraussetzung für Autonomie heraus kann eine Person dann – gemäß dem graduellen Autonomiebegriff – in ihrer Ernährungsweise in verschiedenen Graden selbstbestimmt sein. Wie wichtig einer Person Autonomie gerade im Zusammenhang mit Ernährung ist, hängt wieder von ihren persönlichen Vorlieben ab, z.B. welchen Stellenwert Ernährung für individuelle Vorstellungen von einem guten Leben hat. Eine freiwillige geringe Selbstbestimmung in einem bestimmten Lebenszusammenhang wie Ernährung stellt noch nicht die generelle Willensfreiheit einer Person in Frage: „Als autonom im Ganzen kann man sich auch dann begreifen, wenn man in verschiedenen Hinsichten des Lebens sich als nicht sonderlich autonom verstehen kann (…)“ (Rössler 2001: 119).
Autonomie und Ernährung
51
Wie schon in der Einleitung deutlich wurde, unterliegt unsere Ernährungsweise vielfältigen Einflüssen, die auch als Hindernisse für eine möglichst autonome Ernährungsweise gedeutet werden können. Wegen dieser z.T. sehr komplexen Einflüsse ist oft von Essen als einem „Totalphänomen“ die Rede. „[I]hm liegt ein Gewebe aus Werten, Tabus, religiösen Pflichten und Verboten zugrunde, ein feines Flechtwerk der Erfahrungen, Traditionen, der familiären, dörflichen, regionalen, nationalen Überlieferung und Mythisierung, und es spielt dabei keine Rolle, wie bewusst sich der einzelne Esser solcher Phänomene ist: Sie sitzen so oder so immer mit am Tisch, sie liegen immer mit auf dem Teller, und mit jedem Gabelbissen werden sie zum Munde geführt und einverleibt. Totalphänomen Essen: Wir haben es noch nicht einmal ansatzweise verstanden.“ (Fichtner 2004: 19)
Ich schlage vor, diese Einflüsse folgendermaßen in das oben genannte Schema von Feinberg einzuordnen40: Unter äußeren Einflüssen auf das Ernährungsverhalten verstehe ich in erster Linie das Nahrungsangebot. Dabei hat sich dieser Einfluss, durch die Veränderungen in der Produktions- und Wirtschaftsweise von der Selbstversorgung hin zu einem fordistischen und post-fordistischen Ernährungssystem, von einem „natürlichen“ zu einem „sozialen“ Aspekt entwickelt. Das Warenangebot bildet sozusagen den äußeren Rahmen für das Essverhalten.41 Gut sortierte Supermärkte führen heute ca. 8000 Artikel, meist als Fertig- oder Convenience-Gerichte (Hirschfelder/Portz 2005). Problematisch an dieser Entwicklung scheint es zu sein, dass über diese hoch verarbeiteten Produkte viele ihre Freiheit und Wahlmöglichkeit beim Essen an eine nicht transparente Lebensmittelindustrie verschenken: „Tatsächlich haben wir längst die Kontrolle verloren über die Verfahren, nach denen unser Essen behandelt, haltbar und schmackhaft gemacht wird. Unaufgeklärte, auch: entmachtete Esser, die wir geworden sind, haben wir die Fertigungsmethoden und Hilfsstoffe der Industrie buchstäblich zu schlucken […].“ (Fichtner 2004: 98)
Kontrolle über das eigene Essen bzw. dessen Zubereitung wird aber nicht nur über das Supermarktsortiment eingeschränkt, sondern auch beim Essen in der Öffentlichkeit, wie in Restaurants, Kantinen, u.ä..
40 Die einzelnen Einflüsse können nicht immer zweifelsfrei den Bereichen „natürlich“ oder „sozial“ zugeordnet werden, was sicher auch damit zusammenhängt, dass die natürlichen Grundlagen unseres Essverhaltens wie Hunger und Nahrungsangebot so stark kulturell überformt sind (u.a. Pudel/Westenhöfer 1998, Barlösius 1999). 41 Angesichts der bestehenden Wirtschaftsweise könnte man hier auch noch radikaler fragen, ob unsere Bedürfnisse nicht alle falsch bzw. unauthentisch sind, weil von Profitinteressen gelenkt.
52
Theoretische Aspekte
Als weiterer wichtiger äußerer sozialer Einfluss ist hier Produktwerbung zu nennen, die besonders bezogen auf Kinder für problematisch gehalten wird. Auch wenn, wie bereits beschrieben, der genaue Einfluss von Werbung auf das Ernährungsverhalten noch nicht exakt bestimmt ist, so ist ein solcher nicht zu leugnen. „Die gesendeten Werbespots formen und verstärken die Nahrungspräferenzen der kindlichen Zuschauer und veranlassen auch den Kauf der Produkte, sei es durch das Kind selbst oder die vom Kind beeinflußten Eltern.“ (Diehl 1996: 64) Erst Jugendliche könnten mehr und mehr den manipulativen Charakter von Fernsehwerbung erkennen, kritische Einstellungen entwickeln und den Einflussversuchen der Werbung widerstehen (ebd.). „Wie gut die Werbung gearbeitet hat, sieht man auch daran, daß für jedes dritte Kind, selbst aus ländlichen Gebieten Deutschlands, Kühe lila sind.“ (Schworm 1996: 28) Ein dritter Aspekt, den ich noch den äußeren sozialen Einflüssen zuordne, ist Zeit bzw. Zeitmangel. Es ist nicht zuletzt eine Frage der Zeit, ob man aus unverarbeiteten Zutaten eine Mahlzeit zubereitet oder aus Fertigprodukten. Neben der fehlenden Zeit zur Essenzubereitung spielt das Thema Zeit auch noch bei Veränderungen im Mahlzeitenrhythmus eine Rolle, die ebenfalls mit für das steigende Übergewicht verantwortlich gemacht werden. Zu den natürlichen inneren Einflüssen auf das Ernährungsverhalten zählen natürliche und genetisch bedingte Vorlieben und ggf. bestimmte körperliche Bedarfslagen wie Diabetes, die eine besondere Ernährungsweise verlangen. Unter normalen Umständen sind die natürlichen Vorlieben keine problematische Einschränkung, auch weil sie mit fortschreitendem Alter von kulturellen und kognitiven Aspekten fast vollständig überlagert werden (siehe Abschnitt 1.2.4). Problematisch hingegen wäre hier eine Sucht, wobei nicht eindeutig ist, ob diese tatsächlich zu den natürlichen Hindernissen zu rechnen ist oder zu den sozialen bzw. gleich zu mangelnden Voraussetzungen von Freiheit allgemein. Jedenfalls ist jemand, der unter Magersucht oder Bulimie leidet, in seinem Essverhalten nicht frei und selbstbestimmt, sondern auf eine bestimmte Wahl festgelegt, in diesem Fall nichts zu essen oder das Gegessene zu erbrechen. Ein anderer Fall ist, wie bereits erwähnt, die umstrittene Übersetzung des Begriffs Adipositas mit Fettsucht. Damit wird den Betroffenen unterstellt, ihr Essverhalten nicht regulieren zu können. Paternalistische Maßnahmen könnten so gerechtfertigt erscheinen. Unter soziale innere Einflüsse fallen meines Erachtens Aspekte wie kulturelle Vorstellungen, wirtschaftliche Möglichkeiten, habituelle Geschmacksprägung, schichtspezifische Vorlieben, Ernährungswissen und Kenntnisse über die Bedürfnisse des eigenen Körpers. Von diesen hängt wiederum die schichtspezifische Ungleichverteilung von Übergewicht ab (u.a. Barlösius/Feichtinger/Köhler 1995). Es stellt sich die Frage, wie viel Wissen über Nahrungsmittel, Speisenzu-
Autonomie und Ernährung
53
bereitung oder über die Zusammensetzung von Fertigprodukten notwendig ist, damit von einer mündigen und autonomen Entscheidung der Konsumenten ausgegangen werden kann. So spricht Ullrich Fichtner von einem weit verbreiteten „kulinarischen Analphabetismus“ und bezweifelt, dass mit einem Kenntnisstand, der nur zur Aufrechterhaltung der eigenen Körperfunktionen mittels Fertigprodukten befähige, schon die Voraussetzung für aufgeklärte Zeitgenossenschaft oder für ein gelingendes Leben geschaffen seien (Fichtner 2004: 22). Das halte ich für übertrieben, bzw. für ein Missverständnis, denn bei einer grundsätzlich vorhandenen Fähigkeit, den eigenen Willen zu lenken, kann man sich auch entscheiden „Ungesundes“ zu essen oder sich aus Bequemlichkeit von Fertiggerichten zu ernähren. Wie viel man über Essen wissen muss, kommt letztlich auf die eigenen Ansprüche an. Voraussetzung dazu sind aber allgemein verständliche Verbraucherinformationen, eine entsprechende Allgemeinbildung diese zu verstehen, bzw. Kenntnisse darüber, wie sich die gewünschten Informationen beschaffen lassen. Als problematisches Signal lässt sich hier aber doch werten, dass wenig Bewusstsein in der Bevölkerung über den geringen Verbreitungsgrad von Kochkenntnissen besteht, bzw. dass sich hier ein Wahrnehmungswandel abzeichnet: so definieren viele es heute als eigene Kochleistung, eine Tüte aufzureißen, mit kochendem Wasser zu mischen und daraus eine Suppe zu rühren (Vinz 2005b: 19; Fichtner 2004).42 Zur Mündigkeit von Konsumenten und Konsumentinnen gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Das wird in neueren Untersuchungen zur möglichen Rolle von Verbraucherinnen und Verbrauchern, mehr Nachhaltigkeit bei der Produktions- und Ernährungsweise zu bewirken, deutlich. Einerseits werde diesen über Nachfrage eine hohe Gestaltungsmacht zugeschrieben, andererseits wird diese verneint und die KonsumentInnen werden als abhängig „von den vorgekochten Fertiggerichten und den Geschmacksvorgaben der Ernährungsindustrie“ gesehen (Vinz 2005b: 25). Vermutlich liegt „die Wahrheit“ wie so oft in der Mitte: „Die große Freiheit mag Utopie sein, aber es sind doch eigene Bewegungen immer möglich, eigene Lebensweisen, eigene Entscheidungen, eigenes Essen. Wir mögen in Korsetten zu leben gezwungen sein, gewiss, aber wir sind nicht anonymen Mächten hilflos ausgeliefert.“ (Fichtner 2004: 35)
42
Empirische Grundlage ist hierfür die IGLO-Forum Studie (1995) Genussvoll essen, bewusst ernähren – Gemeinsamkeiten am deutschen Tisch, Hamburg.
Autonomie und Ernährung
55
3 Dokumentenanalyse
Die sozialwissenschaftliche Dokumentenanalyse wurde aus der Quellenanalyse der Geschichtswissenschaft entwickelt und gehört zu den interpretativen Verfahren. Laut Werner Reh ist die Quellen- und Dokumentenanalyse auch für politikwissenschaftliche Forschung „unverzichtbar“ (Reh 1995: 203). Trotzdem wird sie in politikwissenschaftlichen Methodenlehrbüchern eher vernachlässigt. Die Folgen davon sind eine uneinheitliche Terminologie und unterschiedliche, vage Angaben zur Vorgehensweise. Im Allgemeinen wird entsprechend der Fragestellung eine Quellenauswahl getroffen, die alle für die Fragestellung einschlägigen Quellen umfassen sollte. Diese Quellen werden in ihrer Aussagekraft bewertet, bevor dann die eigentliche sprachliche und inhaltliche Analyse durchgeführt wird (vgl. dazu ebd.). Nach Atteslander gehe es um eine „intensive, persönliche Auseinandersetzung mit dem Dokument, welches in seiner Einmaligkeit möglichst umfassend durchleuchtet und interpretiert wird“ (Atteslander 1971: 67, zitiert nach Mayring 1993: 33). Da es mir um eine inhaltliche Aufschlüsselung der Quellen geht, entspricht mein genaueres Vorgehen der Inhaltlichen Strukturierung nach Philipp Mayring (1988), einer Version der dort als „qualitative Inhaltsanalyse“ bezeichneten Methode.43 Ziel einer solchen Strukturierung ist es, unter vorher festgelegten Gesichtspunkten „bestimmte Themen, Inhalte, Aspekte aus dem Material herauszufiltern und zusammenzufassen“ (Mayring 1988: 82). Wonach in den Quellen genau gesucht wird, hängt von der Fragestellung ab. In einem ersten Durchgang werden die Fundstellen im Material gekennzeichnet, bei denen das gesuchte Thema angesprochen wird. Dann werden die Fundstellen extrahiert und die Inhalte zusammengefasst. Die aus dem Material herausgearbeiteten Inhalte können dann im breiteren Rahmen der Fragestellung diskutiert und kritisiert werden (ebd.). Als Quellen habe ich regierungsamtliche Veröffentlichungen Renate Künasts und des BMVEL gewählt, sowie das von Renate Künast selbst geschriebene Buch Die Dickmacher. Regierungsamtliche Quellen sind für meine Fragestellung wichtig, da die offizielle Politik und Haltung von Renate Künast als Bun43
Dokumentenanalyse ist begrifflich schwer zu unterscheiden von Inhaltsanalyse. Eine Inhaltsanalyse arbeite eher quantitativ, so Reh (1995), und stamme aus der Kommunikationswissenschaft, die Dokumentenanalyse dagegen aus der Geschichtswissenschaft. So klar ist die Trennung aber nicht, denn andere Autoren sprechen von einer „qualitativen Inhaltsanalyse“ (Mayring 1988 und 1993).
56
Dokumentenanalyse
desministerin gegenüber Ernährung und Übergewicht normativ untersucht werden soll. Da die meisten ernährungspolitischen Publikationen über den aid44 und in Absprache mit diesem erscheinen, bleiben als wichtigste Dokumente die regelmäßigen Ernährungs- und Agrarpolitischen Berichte des Ministeriums und die Regierungserklärung Renate Künasts Eine neue Ernährungsbewegung für Deutschland vom 17.06.2004. Das Buch Die Dickmacher ist keine regierungsamtliche Äußerung, die sonst mit anderen Ressorts oder dem Kabinett hätte abgestimmt werden müssen, sondern wurde von Frau Künast als Privatperson und ohne Arbeitsbeteiligung des Ministeriums veröffentlicht. Das Dokument ist jedoch für meine Fragestellung auch wichtig, weil Renate Künasts persönliche Ansichten zum Thema Ernährung und Übergewicht dort ausführlich dargestellt werden, die sicherlich ihre Positionen als Ministerin beeinflussen, und das noch in einer publikumswirksamen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglichen Weise. Die drei Materialarten Regierungserklärung, Berichte des BMVEL und Die Dickmacher werde ich zunächst getrennt von einander darstellen und analysieren, damit die jeweiligen Besonderheiten nicht aus dem Blick geraten. Antworten zu den folgende Fragen, die sich auch aus den theoretischen Aspekten herleiten, werde ich aus den Dokumenten herausarbeiten: 1. Wie wird Übergewicht thematisiert und welche Ursachen für Übergewicht und Adipositas werden genannt? 2. In welchen Zusammenhängen taucht „Privatheit“ bzw. die Grenze zwischen öffentlich und privat in den Dokumenten im Kontext von Ernährungspolitik direkt oder indirekt auf? 3. In welchem Zusammenhang taucht „Autonomie“ direkt oder indirekt auf? 4. Wie wird die Notwendigkeit von politischem Handeln bezüglich der Ernährungsweise und Übergewicht begründet oder abgelehnt? 5. Welche politischen Instrumente sollen zum Einsatz kommen, bzw. wie soll politisches Handeln hier aussehen? Welche politischen Maßnahmen gibt es bereits? 3.1 Berichte des Ministeriums 3.1.1 Beschreibung und Einordnung des Dokuments Das BMVEL hat während der Amtszeit Renate Künasts als Ministerin verschiedene Berichte herausgegeben, die sich auch mit Verbraucher- und Ernährungspolitik befassen. Dazu gehört der Agrarbericht 2001, der in den folgenden Jahren 2002-2004 als Ernährungs- und Agrarpolitischer Bericht erschienen ist und seit 44
Der aid infodienst Verbraucherschutz, Ernährung, Landwirtschaft e.V. wird zu 80% über das Ministerium finanziert.
Berichte des Ministeriums
57
2005 Agrarpolitischer Bericht heißt. Aus letzterem jedoch wurden die Abschnitte zur Ernährungs- und Verbraucherpolitik ausgelagert in einen neuen Verbraucherpolitischen Bericht 2004. Sprachlich sind alle diese Quellen – gemäß ihrem Berichtcharakter – sachlich gehalten. Bis auf den Verbraucherpolitischen Bericht sind die Berichte nach §4 und §5 des Landwirtschaftsgesetzes von 1955 erschienen, wonach die Bundesregierung jährlich über die Lage der Landwirtschaft und in diesem Bereich geplante politische Maßnahmen informieren muss. 3.1.2 Analyse nach inhaltlichen Aspekten 3.1.2.1 Wie wird Übergewicht thematisiert und welche Ursachen für Übergewicht und Adipositas werden genannt? Der Agrarbericht 2001, derjenige Bericht der kurz nach Renate Künasts Amtsantritt erscheint, und der Ernährungs- und Agrarpolitische Bericht 2002 stehen ganz im Zeichen von BSE. Das Thema Übergewicht spielt noch keine Rolle. Im Vorwort zum Ernährungs- und Agrarpolitischen Bericht 2003 wird das Thema Übergewicht erstmalig erwähnt und zwar in Verbindung mit der steigenden Zahl übergewichtiger Kinder. Im Abschnitt zu Zielen und Schwerpunkten der Ernährungspolitik wird berichtet, die Bundesregierung habe „das Thema Ernährung in den Fokus der Politik gestellt“ und zwar nicht nur wie bisher als Lebensmittelsicherung, „vielmehr müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher bei einer gesunderhaltenden Ernährungs- und Lebensweise unterstützt werden“ (BMVEL 2003: 7). Dabei gehe es darum, der steigenden Zahl ernährungsbedingter Krankheiten entgegenzuwirken. Bei der Beschreibung der Ernährungssituation 2002 wird die Entwicklung des Ernährungsverhaltens der Bevölkerung noch positiv bewertet: „Insgesamt gesehen hat sich der Verbrauch an Lebensmitteln aus gesundheitlicher Sicht in eine günstige Richtung entwickelt – mehr Gemüse, mehr pflanzliche und weniger tierische Fette, mehr Fisch. Auch der Verbrauch von alkoholischen Getränken hat zugunsten alkoholfreier Getränke abgenommen.“ (BMVEL 2002: 14)
Der gleiche Passus findet sich auch im Bericht von 2003, doch mit einem relativierenden Zusatz: der Anteil Übergewichtiger in der Bevölkerung wächst und nur 40% verzehren die empfohlene Menge Obst und Gemüse (BMVEL 2003: 11). Es wird festgestellt: „Trotz des gestiegenen Gesundheitsbewusstseins und einer Verbesserung der Ernährungssituation fällt es immer noch vielen Menschen schwer, ihr eigenes Ernäh-
58
Dokumentenanalyse rungsverhalten zu ändern und das oftmals vorhandene Wissen in eine gesund erhaltende Ernährung umzusetzen. In der öffentlichen Wahrnehmung werden zudem die gesundheitlichen Probleme, die von falscher Ernährung ausgehen, weniger beachtet als Fragen der Sicherheit von Lebensmitteln. Langfristige Risiken von Fehlernährung, wie z.B. Überernährung mit der Folge von Übergewicht und Fettsucht, HerzKreislauf-Erkrankungen, Fettstoffwechselstörungen oder einige Krebsformen, motivieren die Verbraucher nicht in notwendigem Ausmaß, ihre Ernährung dauerhaft umzustellen.“ (ebd.)
Die Ursachen von Übergewicht werden hier also überwiegend im Ernährungsverhalten der Einzelnen gesehen. Ein weiterer Aspekt des Ernährungsverhaltens, der vor allem in Die Dickmacher eine Rolle spielt, wird im Bericht 2003 erwähnt, doch dort nicht problematisiert – die veränderte Mahlzeitenordnung. In unserer zunehmend mobilen Gesellschaft sei besonders bei jungen Erwachsenen „das klassische Drei-Mahlzeiten-Muster mit selbst bereiteten Speisen in den Hintergrund [ge]treten“ (ebd.). Im Bericht 2004 ist das Thema Übergewicht zu einem gesellschaftlichen Problem avanciert. 2003 tauchte es im Vorwort in Verbindung mit der Ernährung von Kindern und Jugendlichen auf, 2004 ist Übergewicht „nicht nur ein Problem der Betroffenen, es droht zu einem massiven gesellschaftlichen Problem zu werden, wenn wir jetzt nicht gegensteuern“ (BMVEL 2004a: Vorwort). Es wird auch näher erläutert, was eine gesunde Ernährung sei: „Vollwertig essen und trinken, genießen sowie sich bewegen – das sind drei wichtige Säulen für mehr Gesundheit und Lebensqualität. Eine gesundheitsförderliche Ernährung hat das Ziel, den Organismus mit allen notwendigen Nährstoffen in ausreichender Menge, im richtigen Verhältnis und in der richtigen Form zu versorgen.“ (ebd.: 10)
3.1.2.2 In welchem Zusammenhangen taucht „Privatheit“ bzw. die Grenze zwischen öffentlich und privat in den Dokumenten im Kontext von Ernährungspolitik und Übergewicht direkt oder indirekt auf? Ob die individuelle Ernährungsweise grundsätzlich ein privates oder politisches Thema ist, spielt in den Berichten direkt keine Rolle. Übergewicht wird aber als politisches Thema gesehen. In der Feststellung, dass Übergewicht nicht nur ein Problem der Betroffenen sei, sondern perspektivisch auch ein massives gesellschaftliches (s.o.), steckt die Vorstellung, dass etwas zu einem öffentlichen Problem wird, wenn die Folgen nicht nur die Individuen sondern auch die Gemeinschaft betreffen.
Berichte des Ministeriums
59
3.1.2.3 In welchem Zusammenhang taucht „Autonomie“ direkt oder indirekt auf? In den Berichten spielt Autonomie unabhängig von Übergewicht und der individuellen Ernährungsweise eine Rolle, wenn es ganz allgemein um Verbraucherschutz und Wahlfreiheit geht, die die Regierung über ihre Informationstätigkeit stärken will: „Wahlfreiheit der Verbraucher ist ein wesentliches verbraucherpolitisches Anliegen der Bundesregierung. Objektive Information ist eine wichtige Voraussetzung für die freie Wahl zwischen den Lebensmitteln.“ (BMVEL 2002: 9f)
Beachtenswert ist hier, dass das Ergebnis der „freien Wahl“ für Künast schon festzustehen scheint. Bei ausreichender Information würden die Verbraucher ihre Kaufentscheidungen gemäß dem Motto „Klasse statt Masse“45 treffen und so insgesamt zu einer Verbesserung der Nahrungsmittelqualität beitragen (ebd.). Grundsätzlich geht die Politik von mündigen Verbrauchern aus: „Die Verbraucherpolitik der Bundesregierung ist am Leitbild des selbstbestimmten und informierten Verbrauchers orientiert“ (BMVEL 2004b: 5). Dieser benötige wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse in seinem freien Handeln Unterstützung durch unabhängige Informationen: „Weil Lebensmittel in einer für Außenstehende häufig unüberschaubaren Wertschöpfungskette erzeugt werden, erscheinen den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Risiken für Gesundheit und Umwelt oftmals kaum abschätzbar. Sie haben daher ein weitreichendes Informationsbedürfnis. (…) In immer komplexer werdenden Märkten suchen die Verbraucherinnen und Verbraucher nach Orientierung und Sicherheit. Um ihnen Wahlfreiheit zu ermöglichen, müssen geeignete Informationen bereitgestellt und für Transparenz der Produktionsverfahren gesorgt werden.“ (BMVEL 2003: 14)
Auch in Fragen der individuellen Ernährungsweise wird den Einzelnen ein hohes Maß an Handlungs- bzw. Willensfreiheit unterstellt. In den Berichten herrscht die Meinung vor, dass Konsumentinnen und Konsumenten prinzipiell ihre Ernährung umstellen und eine weitere Gewichtszunahme stoppen könnten, wenn sie nur genügend motiviert wären (ebd.: 11, 14). Andererseits wird extremes Übergewicht aber auch als Fettsucht (ebd.: 11) bezeichnet. Diese Wortwahl deutet wiederum in eine andere Richtung, weil einem Süchtigen kein freier Wille unterstellt wird, zumindest nicht im Bereich seiner Sucht. 45
Dieses Motto ist gleichzeitig ein weiterer Buchtitel Renate Künasts, der in Auseinandersetzung mit der BSE-Krise entstanden ist (Künast 2002).
60
Dokumentenanalyse
3.1.2.4 Wie wird die Notwendigkeit von politischem Handeln bezüglich Ernährungsweise und Übergewicht begründet oder abgelehnt? Warum gerade politisches Handeln hier nötig sei, wird in diesen Dokumenten nicht weiter begründet, sondern einfach berichtet: „Die Bundesregierung hat das Thema Ernährung in den Fokus der Politik gestellt.“ (BMVEL 2003: 7) Unterschiede im Gewicht und der Ernährungsweise zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen werden zwar angesprochen – „[i]n den verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind dabei durchaus Unterschiede feststellbar“ (ebd.: 11) – aber nicht als Frage der Gerechtigkeit thematisiert. 3.1.2.5 Welche politischen Instrumente sollen zum Einsatz kommen, bzw. wie soll politisches Handeln hier aussehen? Und welche politischen Maßnahmen gibt es bereits? In den Berichten wird deutlich, dass die Politik in diesem Bereich stark an Leitbildern orientiert ist, wie dem vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutz und dem selbstbestimmten und informierten Verbraucher. Schon bevor das Thema Übergewicht aufkam, hatte die Verbraucheraufklärung im Ernährungsbereich einen hohen Stellenwert. Im Agrarbericht 2001 wird die Verbreitung von anbieterunabhängigen und wissenschaftlich gesicherten Informationen über Lebensmittel zu den wesentlichen Aufgaben der Agrar- und Ernährungspolitik gezählt (BMVEL 2001: 59, ebenso BMVEL 2002: 63). Im Bericht 2002 geht es vor allem um die Neuausrichtung der Verbraucher-, Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik am neu etablierten Leitbild des vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes, dem Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen zukomme. Durch diese Veränderung sei der staatliche Verbraucherschutz insgesamt gestärkt worden (BMVEL 2002: Vorwort ohne Seitenangabe). Pläne zu einem neuen Verbraucherinformationsgesetz werden präsentiert. Dieses soll der „Stärkung des selbstbestimmten Verbraucherverhaltens“ (ebd.: 9) dienen. Durch Verbraucherbildung und -beratung sollen die Konsumierenden auch lernen diese Informationen besser einzuordnen. 2003 heißt es dazu: „Die Sicherstellung ausreichender Informationsrechte und die Förderung von Informationsangeboten sind wichtige Elemente der Verbraucherpolitik.“ (BMVEL 2003: 7) Das Bundesverfassungsgericht habe mit dem Beschluss vom 26. Juni 200246 noch stärker
46
In diesem Beschluss geht es um eine Liste, die das Bundesministerium für Jugend. Familie und Gesundheit 1985 veröffentlicht hatte, um vor Weinen mit Diethylenglycol (DEG) zu warnen. Dagegen hatten betroffene Weinkellereien geklagt, weil sie sich in ihrer grundrechtlich geschützten Wett-
Berichte des Ministeriums
61
betont, wie wichtig die Informationstätigkeit der Bundesregierung im Bereich des Verbraucherschutzes sei, um das Recht auf Wahlfreiheit der Verbraucher sicherzustellen (ebd.: 14). Im Bericht 2003, der sich wie erwähnt erstmalig auch mit Übergewicht befasst, gibt es über diese allgemeine Informationstätigkeit hinaus aber eine bedeutsame Änderung. Denn dem allgemeinen Anspruch der dahingeht, dass „die Verbraucherinnen und Verbraucher bei einer gesunderhaltenden Ernährungs- und Lebensweise unterstützt werden“ (ebd.: 7) müssen, wird eine ‚unspezifische Zielgruppenorientierung’ zugefügt: es gelte über Aufklärung auch „diejenigen zu erreichen und zu motivieren, die bisher aus unterschiedlichen Motiven keine Veranlassung oder Möglichkeit sehen, ihre ungünstigen Ernährungsgewohnheiten zu ändern“ (ebd.: 14). Der Verbraucherpolitische Bericht 2004 fasst unter die Ziele des vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes, der ursprünglich zur Wahrung der Lebensmittelsicherheit gedacht war, auch die Prävention von Krankheiten, die durch das Ernährungsverhalten mit verursacht werden. Da diese Krankheiten weiter zunähmen, sehe die Bundesregierung „eine wesentliche Aufgabe darin, Verbraucherinnen und Verbrauchern Anregungen für die Umsetzung einer gesund erhaltenden Lebensweise zu geben, insbesondere für eine ausgewogene Ernährung und reichlich Bewegung“ (BMVEL 2004b: 4). Doch mit welchen Maßnahmen plant das Ministerium bzw. die Regierung dem Problem Übergewicht entgegenzusteuern? Zum einen soll ein neuer Entwurf des Verbraucherinformationsgesetzes eingebracht werden, das vorher im Bundesrat abgelehnt worden war. Dies werde auch durch den oben genannten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts unterstützt. Zum anderen solle die Verbraucheraufklärung weiter gestärkt werden und „Anleitung zu einer gesunden Ernährung“ geben (BMVEL 2003: 51). Dazu gehört die Förderung von Einrichtungen wie der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), dem aid infodienst – Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und den Verbraucherzentralen, aber auch eigene Projekte und Kampagnen wie „Fit Kid – Die Gesund-Essen-Aktion in Kitas“, „Kinderleicht! – Besser Essen! Mehr Bewegen!“ und die „Plattform Ernährung und Bewegung e.V.“ (BMVEL 2003 und 2004b).
bewerbsposition gefährdet sahen. Die Klage wurde vom BVerfG zurückgewiesen (http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20020626_1bvr055891.html).
62
Dokumentenanalyse
3.2 Regierungserklärung „Eine neue Ernährungsbewegung für Deutsch land“ mit anschließender parlamentarischer Diskussion 3.2 Regierungserklärung 3.2.1 Beschreibung und Einordnung der beiden Dokumente Regierungserklärungen werden meist vom jeweiligen Bundeskanzler oder der jeweiligen Bundeskanzlerin vor dem Bundestag abgegeben, um die Politik der Regierung für die beginnende Legislaturperiode vorzustellen. Dies kann auch, wie im vorliegenden Fall, während einer Legislaturperiode durch eine/n Fachminister/in oder den/die Kanzler/in zu aktuellen politischen Themen geschehen. Eine Regierungserklärung besitzt keine juristische Bedeutung, doch wird ihr eine verfassungspolitische zugeschrieben (Blickpunkt Bundestag Glossar 1999). Diese Deutung sei allerdings, so Bernd Guggenberger, „einer durch die parlamentarische Praxis inzwischen überholten Vorstellung von Gewaltenteilung verpflichtet“, da die an der Regierung beteiligten Fraktionen selbst an der Erklärung im Vorfeld beteiligt seien und sich so einer „Billigung“ nicht verweigern könnten (Guggenberger 1997: 481). Inhaltlich sind Regierungserklärungen „meist eine Mischung aus grundsätzlichen Positionsbestimmungen und konkreten Lösungsbeschreibungen“, wobei sie auch der „Politikkosmetik“ dienen. Das bedeutet, dass zugunsten einer positiven Selbstdarstellung oft kontroverse Fragen vermieden werden (ebd.). Darin liegt eines der quellenkritischen Probleme bei dieser Traditionsquelle. Politischen Reden komme, so Werner Reh, nur „eine geringe Aussagekraft zu“, weil sie „vom institutionalisierten Zwang zum politischen Erfolg“ geprägt seien (Reh 1995: 233). Üblicherweise findet jedoch unmittelbar an eine Regierungserklärung eine Parlamentsdebatte statt, bei der die Opposition direkt Kritik und Erwiderungen abgeben kann, so auch hier. Betrachtet man die gesamte Debatte mit den Beiträgen der Opposition und anderer Redner und Rednerinnen der Regierungsparteien, ist eine Untersuchung vielversprechend, weil sich dann „die politischen Ziele, Schwerpunkte, Ansatzpunkte für Kritik, interessenmäßigen und ideologischen Bindungen herausarbeiten“ (ebd.) lassen.
Regierungserklärung
63
3.2.2 Analyse nach inhaltlichen Gesichtspunkten: Regierungserklärung 3.2.2.1 Wie wird Übergewicht thematisiert und welche Ursachen für Übergewicht und Adipositas werden genannt? Die Regierungserklärung beginnt mit einer Darstellung des Problems Übergewicht. Durch Formulierungen wie „Übergewicht und seine Folgen sind ständig wachsende Probleme“, „dramatischen Auswirkungen“, „Epidemie“, „alarmierend“, „nicht zu finanzieren“ und „schweres individuelles Leid“ (Deutscher Bundestag 2004: 10322 A-C) soll die Dringlichkeit des Themas hervorgehoben werden. Zusammen mit den gewählten Beispielen wird ein wahres Horrorszenario an die Wand gemalt: rund eine Milliarde Übergewichtige weltweit, davon 300 Millionen adipös; jährlich 71 Milliarden Euro Folgekosten im Gesundheitswesen durch ernährungsbedingte Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzerkrankungen, orthopädische Erkrankungen und Diabetes Typ II bereits bei Kindern und Jugendlichen; ein 38 kg schweres, drei Jahre altes Mädchen stirbt an Herzinfarkt; laut einer britischen Studie soll die jetzige junge Generation als erste vor ihren eigenen Eltern sterben; Fettleibigkeit wird zur Todesursache Nr.1 (ebd.: 10322 B-10323 A). Veränderungen im Lebensstil werden als Hauptursache für das steigende Übergewicht gesehen (ebd.: 10322 C). Weitere wichtige Faktoren, die genannt werden, sind biologischer, sozialer, psychologischer und kultureller Art, oder auch wirtschaftlich-strukturelle Gründe wie Produktwerbung und die Produktion energiereicher Lebensmittel (ebd.: 10323 D). 3.2.2.2 In welchem Zusammenhangen taucht „Privatheit“ bzw. die Grenze zwischen öffentlich und privat in den Dokumenten im Kontext von Ernährungspolitik und Übergewicht direkt oder indirekt auf? In der Regierungserklärung taucht privat in folgender Formulierung direkt auf: „Es geht um die Situation im privaten und – wie in der Schule – im öffentlichen Raum“ (ebd.: 10323 B). Das Private wird hier in lokalem Sinne verwendet. Was damit gesagt wird ist, dass sich Menschen sowohl im privaten Zuhause als auch in der Öffentlichkeit ernähren und dass die Politik Veränderungen der Ernährungsweise nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch in den privaten Haushalten bewirken soll.
64
Dokumentenanalyse
3.2.2.3 In welchem Zusammenhang taucht „Autonomie“ direkt oder indirekt auf? Autonomie wird nur indirekt angesprochen, wenn es bei den Maßnahmen um strengere Regeln für die Lebensmittelwerbung und -kennzeichnung geht oder um Wissensvermittlung rund um Lebensmittel und deren Zubereitung in Schulen (ebd.: 10323 D-10324 A), weil diese Maßnahmen die Entscheidungsfreiheit stärken sollen. 3.2.2.4 Wie wird die Notwendigkeit von politischem Handeln bezüglich Ernährungsweise und Übergewicht begründet oder abgelehnt? Es werden zwei Gründe genannt, weshalb sich Regierung und Parlament mit diesem Problem beschäftigen müssen. Erstens werde man zukünftig „die Kosten des Gesundheitssystems nicht im Rahmen halten können“ (ebd.: 10322 D) und zweitens sei die zunehmende Fettleibigkeit insbesondere von Kindern und Jugendlichen eine „Frage der Gerechtigkeit“ (ebd.: 10323 C). Gleichheit und Gerechtigkeit kommen für Renate Künast dadurch ins Spiel, dass es „einen evidenten Zusammenhang zwischen Armut, Herkunft, Bildung und Übergewicht“ gebe. Gesundheit sei ein wichtiges Startkapital im Leben „unabhängig vom Geldbeutel der Eltern“. Es dürfe nicht sein, „dass in Zukunft die Herkunft das Gewicht und damit die Chancen dieser Kinder bestimmt“ (ebd.: 10323 B). Chancengleichheit stellt, so scheint es, ihren eigentlichen Referenzpunkt dar, denn die Kosten werden im Folgenden nicht mehr erwähnt. Die Regierungserklärung schließt auch mit der Wiederholung ihres zentralen Punktes, gute Ernährung sei „eine der zentralen Fragen der Gerechtigkeit“ (ebd.: 10326 A). 3.2.2.5 Welche politischen Instrumente sollen zum Einsatz kommen, bzw. wie soll politisches Handeln hier aussehen? Und welche politischen Maßnahmen gibt es bereits? Um eine Veränderung herbeizuführen fordert Künast eine gesamtgesellschaftliche Strategie, die alle Lebensbereiche der Kinder und alle möglichen Akteure mit einbezieht. Handeln im Namen der Gerechtigkeit sollen alle: „die Eltern, die Schule, die öffentliche Hand, Unternehmer und die Betroffenen“ (ebd.: 10323 C). Das Hauptaugenmerk aller Maßnahmen solle Prävention sein, denn das sei „immer die beste Alternative und das Gebot der Stunde“ (ebd.: 10323 D).
Regierungserklärung
65
Als bisherige Maßnahmen der Regierung nennt sie die Kampagne „Kinderleicht! – Besser Essen! Mehr Bewegen!“, „Fit Kid“ einen Beratungsservice für Kitas, den Deutschen Präventionspreis für vorbildhafte Projekte der Prävention, Fördern von Gemeinschaftsverpflegung, Forschungsprojekte zu Ernährungs- und Verbraucherbildung, Unterstützung von Sportangeboten für dicke Kinder in Sportvereinen. Renate Künast betont zum Ende nochmals, dass Prävention „nicht allein vom Staat getragen werden“ könne und dass „ein breites gesellschaftliches Bündnis“ (ebd.: 10325 C) nötig sei. Deshalb werde gerade mit allen gesellschaftlichen Akteuren eine Plattform „Ernährung und Bewegung“ aufgebaut. Zu diesen Akteuren zählt Künast die Lebensmittelwirtschaft, Eltern, Vertreter des Sports, Kinderärzte, Gewerkschaften und Krankenkassen (ebd.: 10325 D). 3.2.3
Analyse nach inhaltlichen Aspekten: Parlamentsdebatte
3.2.3.1 Wie wird Übergewicht thematisiert und welche Ursachen für Übergewicht und Adipositas werden genannt? In den Redebeiträgen von CDU/CSU und FDP kommt prinzipiell Zustimmung zum Ausdruck, dass das Thema Übergewicht im Bundestag aufgegriffen werde solle. Allerdings wird das Wie kritisiert, zum Beispiel die Form der Regierungserklärung. Diese sei unverhältnismäßig, da weder ein Gesetzentwurf präsentiert noch „über ein herausragendes politisches Ereignis“ diskutiert werde (ebd.: 10326 B). Außerdem würde Künast darin keine Zusammenhänge „‚erklären’“ (ebd.: 10330 B) und keine konkreten Handlungsanweisungen geben (ebd.: 10334 D).47 Die vorgetragenen Zahlen zu Häufigkeit und Zunahme von Übergewicht entsprechen denen der Ministerin, doch wird der große Stellenwert, den Renate Künast dem Thema beimisst, kritisiert. Es solle „in einem vernünftigen Verhältnis zu anderen Themen“ stehen (ebd.: 10326 B). Das Schreckensszenario wird zurückgewiesen, insbesondere die erwähnte britische Studie, nach der die jetzt junge Generation vor ihren Eltern sterben werde, wird als „Schwachsinn“ bezeichnet (ebd.: 10331 A). Eine Abgeordnete hat „durchaus Verständnis für die Menschen (…), die sich fragen: Habt ihr in Berlin keine anderen Sorgen?“ (ebd.: 10340 A). Als Ursachen von Übergewicht werden genetische Veranlagung, fehlende soziale Kompetenz und mangelnde Bewegung genannt. Der Aspekt Bewegung 47
Ich will hier nicht weiter verfolgen, ob es sich dabei um rein polemische Äußerungen handelt, oder ob diese Kritik berechtigt ist, da es mir nicht um die formale Angemessenheit einer Regierungserklärung geht, sondern um die Inhalte.
66
Dokumentenanalyse
wird insgesamt gegenüber dem Faktor Ernährung herausgestellt. Die Ernährung allein und insbesondere einzelne Lebensmittel seien „nicht für die Entstehung von Übergewicht verantwortlich“ (ebd.: 10331 B). Gewichtsunterschiede seien „im Wesentlichen auf Unterschiede der körperlichen Aktivität (…) zurückzuführen“ (ebd.). Eine Mitschuld der Lebensmittelwirtschaft und ihrer Produkte am zunehmenden Übergewicht wird zurückgewiesen (ebd.: 10332 B). Die Redebeiträge von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verteidigen und erweitern das von Renate Künast bereits Gesagte. Die relativierende Haltung der Opposition wird als „hartnäckige Realitätsverweigerung“ (ebd.: 10332 B) gebrandmarkt. Es müsse „dringend“ etwas getan werden (ebd.: 10328 B). Mit drastischen Formulierungen wird der Anteil, den die Lebensmittelhersteller am steigenden Übergewicht der Bevölkerung und somit auch an 60 Prozent aller Todesfälle durch chronische Erkrankungen hätten, beschrieben und bekräftigt. Durch eine „Werbemaschinerie“ würden „Kinderhirne [ge]impft“ (ebd.: 10329 D), weil die Produkte nicht das hielten, was die Produktinformation verspreche. Die Regierungsparteien würden „nicht billigend in Kauf nehmen, wie die Menschheit in den Klauen von Cola und von Hamburgern krepiert“ (ebd.: 10332 D). 3.2.3.2 In welchem Zusammenhangen taucht „Privatheit“ bzw. die Grenze zwischen öffentlich und privat in den Dokumenten im Kontext von Ernährungspolitik und Übergewicht direkt oder indirekt auf? Von der FDP werden Grenzen staatlichen Handelns und politischer Steuerung postuliert, aber nicht begründet. Dabei wird der Regierung vorgeworfen, eben diese Grenzen zu missachten: Lösungswege müssten „von unten kommen“ (ebd.: 10330 C); Frau Künast missbrauche das Thema „in unverantwortlicher politischer Weise“ (ebd.); „nicht Sie müssen wollen, sondern die Bürger“ (ebd.: 10331 B); der aufgezeigte Ansatz sei nicht „ganzheitlich“, sondern „staatsbezogen“ (ebd.: 10330 D). Die Opposition wolle sich zwar nicht aus „der staatlichen Verantwortung zurückziehen“, jedoch ist die deutliche Aufforderung: „rücken Sie davon ab, von oben bestimmen zu wollen, was unten passiert.“ (ebd.: 10332 A). Auch von CDU/CSU wird kritisch nach der „Rolle, die der Staat beim Thema Ernährung einnehmen kann“ (ebd.: 10326 B), gefragt. Die Möglichkeiten staatlichen Handelns oder politischer Steuerung seien begrenzt, weil Schuld und Verantwortung für Übergewicht bei den Betroffenen liege und „der Staat oder das Parlament (…) dem Einzelnen ebenso wenig das Rauchen abgewöhnen wie ihn zur Diät zwingen“ könne (ebd.: 10326 C). Für das Ernährungsverhalten der Kinder seien deren Eltern hauptverantwortlich und nicht der Staat: „Sie können
Regierungserklärung
67
doch nicht sagen, dass der Staat eingreifen muss, weil die Eltern es nicht schaffen, ihren Kindern das Richtige zu essen zu geben, zu kochen und sich mit dieser Thematik auseinander zu setzen“ (ebd.: 10335 D). Auch Übergewicht wird als Teil des Privaten gesehen: „Wer Übergewicht hat, trägt auch selbst Verantwortung. Wenn ich zu dick bin, ist das meine Schuld und nicht Ihre.“ (ebd.: 10326 B) Renate Künast wird dazu aufgefordert keine „Ernährungsdiktatur“ (ebd.: 10335 B) zu betreiben. „Wie wir uns (…) ernähren, ist (…) unsere Sache. Ich möchte nicht, dass mir irgendwann ein Ministerium mein tägliches Carepaket vorschreibt. Ich habe das Recht, mich anders zu ernähren, als es mir die Regierung vorschreiben will.“ (ebd.: 10334 D) In den weiteren Redebeiträgen von SPD und GRÜNE werden die Themen Ernährung und Übergewicht als politische Themen verteidigt. Das Thema müsse „uns auch hier, im Plenum, interessieren“ (ebd.: 10328 A), das heißt der Bundestag solle sich damit beschäftigen. Die Landwirtschaftsminister der CDU/FDP Regierungen hätten „Ernährung zu einer Privatangelegenheit gemacht“ (ebd.: 10332 D). Grüne und SPD aber würden „Ernährung weiter auf die politische Tagesordnung setzen, und zwar als politisches Thema“ (ebd.). Das entspräche auch den Forderungen der WHO, die die Opposition selbst erwähne und die vorsehe, „dass ordnungspolitische Instrumente, da wo es nötig ist, einbezogen werden“ (ebd.: 10334 A). Wo „Probleme nicht mehr durch Selbstverantwortung gelöst werden können“, brauche man „Schutz und politische Steuerung“ (ebd.: 10333 A). Ernährung und Übergewicht werden hier entweder der politischen oder der privaten Sphäre zugeschrieben, was aber nicht aus dem Gegenstand selbst begründet wird. Bei diesen Textstellen ist auffällig, dass gewissermaßen eine indirekte Begründung gegeben wird, nämlich die der Verantwortung für die Folgen: wird die Verantwortung für Ernährung und Übergewicht bei den Individuen gesehen, so werden diese Themen als privat interpretiert; werden Einschränkungen bei der Selbstverantwortung gesehen, so wird sie dem Bereich politischer Steuerung zugeschrieben. 3.2.3.3 In welchem Zusammenhang taucht „Autonomie“ direkt oder indirekt auf? Die Vertreter aller Parteien sind sich darüber einig, dass Kompetenz und Informationen Bedingungen für mündige Entscheidungen sind (ebd.: 10329 D; 10341 D). Die Opposition fordert in der Ernährungspolitik, verstärkt auf Eigeninitiative und mündige Bürgern und Bürgerinnen zu setzen: „Wir sind für eine Politik,
68
Dokumentenanalyse
die von einem mündigen Bürger und einer mündigen Bürgerin ausgeht, die von einem mündigen Verbraucher und Kunden ausgeht.“ (ebd.: 10336 D) Durch starkes Übergewicht aber brächten sich einzelne selbst in eine Situation, „dass ihnen keine freiheitliche Teilnahme an unserer Gesellschaft mehr möglich“ sei (ebd.: 10331 B; Hervorhebung im Original). Von der SPD wird dagegen gehalten, dass selbst wenn man vom mündigen Bürger/der mündigen Bürgerin ausgehe, „die Kaufentscheidungen der Verbraucherinnen und Verbraucher (…) natürlich auch eng mit der Angebotsseite und mit der Vermarktung der Produkte verknüpft“ (ebd.: 10329 A) seien. „Natürlich haben Menschen in unserem Land die freie Wahl, das zu kaufen, was sie wollen, doch wir dürfen dabei den Einfluss der Werbung nicht außer Acht lassen.“ (ebd.: 10329 D; Hervorhebung im Original) Die derzeitige Werbung „impfe Kinderhirne“ (ebd.). Deshalb könne im Rückschluss momentan nicht von autonomen Entscheidungen beim Nahrungsmittelkonsum die Rede sein. Obwohl die Opposition wiederholt fordert, die Politik solle vom mündigen Bürger und Verbraucher ausgehen, hält sie es doch für möglich und wünschenswert, dass – auch die Politik – Verbraucher „konditionieren“ solle, „sich bewusst zu ernähren und sich mehr zu bewegen“ (ebd.: 10332 B-C). 3.2.3.4 Wie wird die Notwendigkeit von politischem Handeln bezüglich Ernährungsweise und Übergewicht begründet oder abgelehnt? CDU/CSU und FDP sehen die Rolle, die der Staat bei einer Veränderung individueller Ernährungsgewohnheiten spielen kann, skeptisch. Zwar gebe es auch bei diesem Thema eine „staatliche Verantwortung“ (ebd.: 10332 A), doch lasse „sich gesunde Ernährung nicht gesetzlich und schon gar nicht über den Bund regeln“ (ebd.: 10326 D). Insgesamt wird persönliche Eigenverantwortung gegenüber politischer Steuerung bevorzugt, auch weil befürchtet wird, dass Handeln „von oben“ dicke Menschen stigmatisiere, statt ihnen zu helfen, sich „von unten“ in die Gesellschaft zu integrieren (ebd.: 10331 D). Weil die Individuen allein verantwortlich für ihre Ernährung und ihr Gewicht gehalten werden (s.o.), werfen die Oppositionsparteien der Regierung paternalistische Tendenzen vor: „Der Weg der Bevormundung, den Sie immer wieder gehen, ist mit den liberalen Gedanken der Eigenverantwortung und des Selbst-Könnens nicht in Einklang zu bringen.“ (ebd.: 10330 B) Anders bei SPD und Grünen: das Thema Übergewicht wird über die Kosten, vor allem aber über „Chancengleichheit“ (ebd.: 10328 D) und „soziale Gerechtigkeit“ (ebd.: 10328 B) weiter als politisches Thema begründet. Mitglieder ärmerer Bevölkerungsschichten seien stärker von Übergewicht betroffen, weil
Regierungserklärung
69
sie aus Kostengründen am Essen sparen, sich nicht ausgewogen ernähren und oft nichts über die Folgen einseitiger Ernährung wissen (ebd.). „Dicke Kinder sind arme Kinder“ (ebd.: 10337 A) – dahinter stecke außer Armut im materiellen Sinne noch soziale Ausgrenzung und Diskriminierung, und es fehle eine Betreuung, die gleichzeitig Anleitung „zu gesundem Essverhalten oder einer aktiven Freizeitgestaltung“ (ebd.: 10337 B) wäre. Der Aspekt Diskriminierung taucht hier verglichen mit CDU/FDP in umgekehrter Weise auf. Für SPD und Grüne sind Stigmatisierung und Diskriminierung nicht Folgen von politischem Handeln, sondern Teil der Problembeschreibung. Dicke würden zu Opfern von Diskriminierungen. „Spott und soziale Ausgrenzung führen zu Minderwertigkeitskomplexen“, die das Problem weiter verschlimmern (ebd.: 10337 A). Zwar wird auch durch die Opposition anerkannt, dass dicke Kinder schlechtere Startchancen hätten (ebd.: 10331 D) und dass es „soziale Defizite abzubauen“ (ebd.: 10332 C) gebe, doch wird das nicht als Frage der Gerechtigkeit thematisiert. Eine Ausnahme bildet hier innerhalb der Opposition die Position der fraktionslosen PDS-Abgeordneten, die Übergewicht wie SPD und Grüne als „soziale Frage“ (ebd.: 10339 D) thematisieren. 3.2.3.5 Welche politischen Instrumente sollen zum Einsatz kommen, bzw. wie soll politisches Handeln hier aussehen? Und welche politischen Maßnahmen gibt es bereits? Bei der Problembehandlung setzen auch CDU/CSU und FDP auf Prävention, aber es dürfe kein „Zwangs- und Straffonds für Nahrungsmittelhersteller“48 (ebd.: 10335 A) eingerichtet werden und schließlich könne der Staat den Einzelnen nicht „zur Diät zwingen“ (ebd.: 10326 C). Was der Bund hingegen tun könne sei, „die Zuständigkeiten zu bündeln und zu koordinieren“ (ebd.: 10326 D), sich mit den Ländern über mehr Schulsport zu verständigen, ohne sich zu sehr in deren Kompetenzen einzumischen, und mit anderen Akteuren zu kooperieren, wobei die „Plattform für Ernährung und Bewegung e.V.“ „sicherlich ein richtiger Weg dorthin“ (ebd.: 10327 D) sei. Entsprechend der Problemdiagnose wird gefordert sich stärker um den Aspekt Bewegung zu kümmern, das Ernährungswissen der Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen und Unternehmen zu schonen, deren Produkte an der Situation nicht schuld wären und die sich außerdem bereits für den Jugendsport engagierten (ebd.: 10333 C). Bei den Punkten „mehr Sport“, „Ernährungsaufklärung/ -erziehung“ und „Verantwortungsbewusstsein der Eltern stärken“ zeigen SPD und Grüne weitge48
Die Idee zu einem solchen Fonds wird Frau Künast wiederholt von Politikern der Opposition vorgeworfen. Sie stellt klar, dass sie nie von einem Zwangsfonds gesprochen habe (10335 A).
70
Dokumentenanalyse
hend Übereinstimmungen mit der Opposition, doch darüber hinaus bestehen deutliche Unterschiede. Die Idee einer neuen Ernährungsbewegung für Deutschland wird als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen, zu deren verantwortlichen Akteuren – wie schon in Renate Künasts Regierungserklärung erwähnt – auch „die Lebensmittelindustrie und die Werbewirtschaft“ (ebd.: 10328 C) zählen. Von diesen wird „Mitverantwortung“ und „Selbstverpflichtung“ gefordert, statt sich durch Sponsoring im Sport „frei[zu]kaufen“ (ebd.: 10333 D). Daneben sollen auch „ordnungspolitische Instrumente, da wo es nötig ist, einbezogen werden“ (ebd.: 10334 A). Das Erlernen eines neuen Ernährungsverhaltens sei „keine Aufgabe, die man den Märkten einfach so überlassen“ (ebd.: 10342 C) könne. Gefordert werden zum einen Werbeeinschränkungen bei Kinderlebensmitteln und ein neues Verbraucherinformationsgesetz. Es kommen aber auch Vorschläge wie das Einführen einer „Fettsteuer“ (ebd.: 10337 D). Die wichtige Rolle von Schulen – insbesondere von Ganztagsschulen – zur Verbesserung von Chancengleichheit auch bezüglich der Gesundheit wird betont. Die bereits von der Regierung angeschobene Ganztagsschulbewegung werde in der Gesellschaft „zu mehr Chancengleichheit beitragen und soziale Gerechtigkeit fördern.“ (ebd.: 10328 D) Neben der Wiedereinführung des Lerninhalts „Ernährung“ in Schulen allgemein könne in Ganztagsschulen eine „vernünftige“ Ernährung aller Schüler über frische Mahlzeiten direkt gewährleistet werden. Das Ganztagsschulprogramm solle deshalb auch nicht länger durch die Opposition als „Suppenküchenprogramm“ diffamiert werden (ebd.: 10344 B). Der Vollständigkeit halber sei hier noch kurz die Position der fraktionslosen PDS-Mitglieder erwähnt. Diese unterstützen die Aufforderung der Regierung „an die Lebensmittelindustrie, kalorien- und fettärmere Lebensmittel herzustellen“ (ebd.: 10339 A). Der Hauptpunkt des Beitrags ist jedoch der Zusammenhang zwischen Armut und Übergewicht, der als „soziale Frage“ (ebd.: 10339 D) beschrieben wird. Für eine gesunde Ernährung reiche das Geld in Armen Familien nicht aus. Die „Voraussetzung für eine neue Ernährungsbewegung“ sei deshalb „die Bekämpfung von Armut in Deutschland. Dazu wird gefordert, das „Armutsprogramm“ Arbeitslosengeld II abzuschaffen (ebd.: 10339 C).
Die Dickmacher
71
3.3 Die Dickmacher– Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen 3.3 Die Dickmacher 3.3.1 Beschreibung und Einordnung des Dokuments Wie bereits erwähnt hat Renate Künast Die Dickmacher (2004) als Privatperson und nicht in ihrer Funktion als Ministerin geschrieben.49 Trotzdem wird im Klappentext auf der Rückseite des Buches eindeutig auf ihre politische Rolle angespielt: „Verbraucherministerin Künast zeigt, (…) welche Fehler wir vermeiden sollten und wie eine zeitgemäße Ernährung aussieht“. Außerdem ist von einer „Gesundheitsreform auf dem Teller“ die Rede, was einen offiziellen Charakter des Dokuments suggeriert. Die Dickmacher ist eine Mischung aus Diätratgeber, Gesellschaftsanalyse, Kulturgeschichte und politischen Forderungen. Schon auf der Umschlagseite wird der persönliche und auf Renate Künasts Person zugeschnittene Charakter des Buches deutlich. Darauf ist sie groß abgebildet mit Blick in die Ferne, das heißt vorausschauend, und mit mahnend oder erklärend ausgestrecktem Zeigefinger. Obwohl das Buch in Zusammenarbeit mit Hajo Schumacher geschrieben wurde, wird der Co-Autor erst auf der Titelseite im Innern des Buches namentlich erwähnt. Der ernährungswissenschaftliche Aspekt in Richtung Diätratgeber fällt gleich ins Auge, denn Künasts ausgestreckter Zeigefinger deutet auf die Ankündigung „mit Bildteil Kalorienbomben“, der ca. 20 Seiten umfasst. Trotz Literaturverzeichnis handelt es sich nicht um einen wissenschaftlichen Text, denn es fehlen präzise Literaturangaben. Es ist schwierig, einen Überblick über den Inhalt zu geben, weil der Text auf ca. 300 Seiten wenig dicht geschrieben ist, viele Wiederholungen auftauchen und die Kapitelüberschriften keine abgeschlossenen Sinneinheiten präsentieren. Der Sprachstil ist sehr persönlich – die Leser werden mit „wir“ angesprochen –, wodurch vermutlich Nähe und Komplizenschaft mit den Lesenden erzeugt werden soll. Außerdem spricht Künast viel von sich, ihrer eigenen Kindheit, dem eigenen Gewicht und ihren Schwierigkeiten, selbst Versuchungen zu widerstehen. Ein Vergleich des heutigen Lebensstils mit dem in Künasts eigener Kindheit eröffnet das Buch und wird als Gegensatz immer wieder aufgegriffen: „immer unterwegs und aktiv waren wir“, während die Kinder heute „nur noch virtuell rennen“ und dazu „daddeln und kauen (…), egal, wie das Wetter draußen ist“ (Künast 2004: 11).
49
Sofern sich das überhaupt trennen lässt, da die persönlichen Ansichten in aller Regel auch die Politischen Einstellungen und Ziele mitbestimmen.
72
Dokumentenanalyse
3.3.2 Analyse nach inhaltlichen Aspekten 3.3.2.1 Wie wird Übergewicht thematisiert und welche Ursachen für Übergewicht und Adipositas werden genannt? Bei der Darstellung und Thematisierung des Problems Übergewicht im Buch wird durch die gewählten Formulierungen – wie bei der Regierungserklärung – ein sehr dramatisches und dringliches Bild gezeichnet. Es handele sich „um eine alarmierende Entwicklung“ (ebd.: 16), eine „weltweite Epidemie“ (ebd.: 13), deren Vorboten bereits in Europa angekommen wären, weshalb nun „Eile geboten“ (ebd.: 16) sei. Der „Gegner“ (ebd.: 28) Übergewicht wird personalisiert und als allgegenwärtig und besonders hinterlistig dargestellt: „Ein Problem schleicht in unser Leben“ (ebd.: 17), „die Bäuche haben sich allmählich in unseren Alltag gedrängt“ (ebd.: 16), „bedrohlich schwellende Taille“ (ebd.: 38). Sei das Übergewicht erst einmal da, so sei es „unendlich schwer“ (ebd.: 26), es wieder loszuwerden. Es bedeute „explosionsartig wachsende Kosten“, eine „Bedrohung für das Gemeinwesen“ (ebd.: 28) und es „bedroht die Zukunft eines Landes“ (ebd.: 38). Wenn nichts geschehe, „droht uns ein Kulturkampf, der nur Verlierer kennt“ (ebd.: 29). Es handele sich um einen „Wettlauf gegen die Zeit“ (ebd.: 138) und der „Kampf gegen die Adipositas-Epidemie“ könne nur an der „Präventionsfront“ (ebd.: 300) gewonnen werden. Diese bildhafte Sprache wird auch zur Verdeutlichung ernährungswissenschaftlicher Zusammenhänge gebraucht. Die Rede ist von einer „Steinzeit-Physis“ mit der wir über die „Datenautobahn“ (ebd.: 55) taumeln, von „Hüftringen“, die Überflussbürger wie „Jahresringe“ (ebd.: 42) ansammeln, von einer „Insulinschaukel“ (ebd.: 118) und ähnlichem mehr. Fett wird personalisiert: „Fett ist ein eigensinniges Zeug, zickig und unberechenbar, aber auch sehr anhänglich. Es ist nicht nur träge, sondern eine durchaus schlaue Masse. Es schützt und polstert, es regelt unser Wohlbefinden, es ist verbunden mit dem Gehirn, es will am Körper bleiben. Fett ist nicht leicht wegzukriegen. Und das ist das Unangenehme.“ (ebd.: 35)
Neben der dramatischen und bildhaften Sprache kommt viel Zahlenmaterial zum Einsatz. Das ganze Buch ist gespickt mit Prozentsätzen, Indizes und Studienergebnissen, die die Situation in Deutschland und im internationalen Vergleich darstellen. Gemäß dem unwissenschaftlichen Charakter der Dickmacher, sind diese Zahlen nicht durch Quellenangaben abgesichert und damit nicht ohne weiteres nachprüfbar. Sie wurden auch nicht von Renate Künast selbst recherchiert, denn im Impressum wird Ingo Andert als der dafür Zuständige genannt. Das, ebenso wie die schlaglichtartige Verwendung von Studienergebnissen, spricht
Die Dickmacher
73
dafür, dass es hier nicht um inhaltliche Genauigkeit gegangen ist, sondern um den Effekt, die Dringlichkeit und Drastik des Problems besonders herauszustellen. Die im Buch aufgeführten Ursachen und gesundheitlichen Folgen von Übergewicht entsprechen denen in der Regierungserklärung, sie werden hier jedoch viel ausführlicher dargestellt. Im Zentrum der Ursachen steht der eben genannte veränderte Lebensstil, gekennzeichnet durch Bewegungsmangel und Fehlernährung, bei dem Kinder und Erwachsene täglich „mehr Kalorien auf[nehmen], als sie bei diesem Lebensstil benötigen“ (ebd.: 12). Eine Doppelrolle nehme hier das Fernsehen ein (ebd.: u.a. 16), denn zum einen verhindere es Bewegung und zum anderen werden durch die Werbung Lebensmittel angepriesen, die durch ihre Energiedichte und ihren hohen Verarbeitungsgrad gerade zu den Dickmachern zählen. Als weiteres Element dieses Lebensstils beklagt Renate Künast den „beispiellosen Bedeutungsverlust“, den unser „täglich Brot“ (ebd.: 18) erlitten habe. Zum einen würden Lebensmittel als solche gar nicht mehr wahrgenommen, weil Überfluss und das omnipräsente Nahrungsangebot die „allgegenwärtige Angst vor dem Mangel“ (ebd.: 21) habe verschwinden lassen: „Nie zuvor lebte der Mensch in einem solchen Überfluss und konnte zwischen Dönerbuden, Bäckereien und Schokoriegelregalen Slalom laufen“ (ebd.: 18). Diese allgegenwärtige Verführung durch Snacks am Wegesrand wird immer wieder aufgegriffen: die „Hölle des 21. Jahrhunderts“ (ebd.: 22) seien Feinkostgeschäfte und Fast-Food-Läden; „überall ist das Schlaraffenland, bezahlbare Leckereien gibt es an jeder Ecke, fast minütlich wird unsere Standhaftigkeit geprüft“ (ebd.: 21); „es ist ein permanentes Locken, Werben, Gurren, Duften, dem sich keiner entziehen kann“ (ebd.: 113). Zum anderen hätte Essen seine soziale Bedeutung verloren, weil gemeinsame Essenszeiten immer mehr abnähmen und somit Essen und Gemeinschaft entkoppelt würden. Am Esstisch als sozialem Zentrum des Familienlebens werde sonst Gemeinschaft gepflegt. Man komme „regelmäßig und verlässlich zusammen, dort wird kommuniziert, gelobt und getadelt, dort wird der Mensch für sein Leben mit Erinnerungen von Düften und Geschmack, mit Bedeutungen, Symbolik und sehr viel Emotion aufgeladen. Essen erzeugt immer Wärme, ein Gefühl von Heimat.“ (ebd.: 20)
Der gemeinsame Esstisch fehle heute jedoch nicht nur als soziales, sondern auch als strukturierendes Element. Der „schleichende Verlust gelernter Essenszeiten“, sei ein weiteres Problem des modernen Lebensstils. „Früher gab es Frühstück, Mittagessen, Abendbrot. In der Snackwelt dagegen wird immer und überall gegessen, aber nie so richtig“ (ebd.: 120). Neben dem „Dickmacher ‚moderner Lebensrhythmus’“ (ebd.: 15) sind die Lebensmittelhersteller mit ihren energiereichen Produkten und der teilweise
74
Dokumentenanalyse
irreführenden Werbung für diese Produkte der zweite Schwerpunkt von Künasts Kritik. Hier spricht sie besonders die „Attacken auf Kinder“ (ebd.: 123) an. Durch gezielte Werbestrategien würden Kinder als Konsumenten für bestimmte Produkte gewonnen und damit nachhaltig in ihren Geschmacksvorlieben geprägt. Mehr als die Hälfte der Werbespots im Fernsehen gelte Nahrungsmitteln, die überwiegend gesundheitlich bedenklich seien. „Warnhinweise, welche Relationen im Verhältnis zu Obst und Gemüse einzuhalten wären“ (ebd.: 140), folgten nicht. Es würden nicht nur die Geschmacksvorlieben bei industriell hergestellten Lebensmitteln beeinflusst, sondern auch die Erwartungen der Kinder an frische Ware. Dabei gehe es aber nicht so sehr um deren Geschmack, sondern um „das Aussehen gesunder und frischer Waren, die mit der durchs Fernsehen und Reklame geprägten Vorstellung vom perfekt geformten Lebensmittel nicht übereinstimmen.“ (ebd.: 144) Außerdem würden die Portionen und damit die Kalorienmenge pro Einheit immer weiter vergrößert, weil sich nur noch mit größeren Mengen Absatzzuwächse erzielen lassen. So seien Eiskugeln beispielsweise „von Tischtennisball- auf Bowlingkugelgröße“ (ebd.: 119) angewachsen. Es ist jedoch nicht so, dass Künast den Lebensmittelkonzernen die alleinige Verantwortung am zunehmenden Übergewicht der Bevölkerung gibt: „Natürlich ist es praktisch und einfach, den Marktführer für jede Fehlentwicklung verantwortlich zu machen. Mir ist das jedoch zu einfach. Letztendlich sind es auch die Konsumenten, deren Wünschen entsprochen wird. So wichtig es ist, die Menge an Zucker und Kohlenhydraten im Fast Food zu senken, so bedeutsam ist es auch für jeden Einzelnen, sein Essverhalten zu hinterfragen. Denn unser noch immer wachsender Bedarf an Fertigkost im typischen Leben des 21. Jahrhunderts ist Indiz für unsere Werte und Wertschätzungen, unsere Zeitbudgets, unsere Prioritäten, unser Leben und Arbeiten.“ (ebd.: 124f)
Neben den Kennzeichen moderner Lebensweise und dem Produktangebot zählt Künast noch unsere persönlichen „Prägungen“/„Geschmacksgewöhnungen“ (ebd.: 54) und die zunehmende Bedeutung des Essens als „Psychokrücke“ (ebd.: 121) zu den Entstehungsfaktoren für Übergewicht. Insgesamt sei aber bis heute „unklar, unter welchen Bedingungen die Fettleibigkeit besonders gedeiht“ (ebd.: 136).
Die Dickmacher
75
3.3.2.2 In welchem Zusammenhangen taucht „Privatheit“ bzw. die Grenze zwischen öffentlich und privat in den Dokumenten im Kontext von Ernährungspolitik und Übergewicht direkt oder indirekt auf? In Die Dickmacher finden sich drei verschiedene Aspekte, bei denen erkennbar wird, dass Renate Künast die individuelle Ernährungsweise ursprünglich als Teil des Privaten versteht: einen traditionellen Aspekt, einen lokalen und den der Handlungsfolgen. Durch Veränderungen in der Lebensweise und im Lebensumfeld haben diese Aspekte quasi die Seite gewechselt und machen Ernährung heute zu etwas Politischem. Der traditionelle Aspekt betrifft die Familie als ursprüngliche Nahrungsgemeinschaft und als Vermittlerin von Ernährungswissen und -tradition, die dieser Aufgabe heute weitgehend nicht mehr nachkomme: „Doch wenn Eltern nicht mehr in der Lage sind, gemeinsam mit ihren Kindern zu essen, wenn überlebenswichtige Kulturtechniken, das Wissen um körperliches Wohlbefinden, um Essen und Nährwert, Zusammensetzung und Zubereitung von Speisen in der Familie nicht mehr vermittelt werden, dann wird Ernährungserziehung zur öffentlichen Aufgabe.“ (ebd.: 23)
Beim lokalen Aspekt geht es um die Orte der Nahrungsaufnahme. Wegen flexibleren Tagesabläufen gebe es eine „zunehmende Verlagerung des Essens aus dem privaten Bereich in den öffentlichen Raum“ (ebd.: 117). Wenn aber aktuell nur noch rund 60% der Hauptmahlzeiten zu Hause eingenommen werden, gehe damit einher, dass man zunehmend von Dritten abhängig sei und „die Verantwortung für gute und richtige Ernährung ab[gebe]“ (ebd.: 117). Auch die Folgen unserer Ernährungsweise hätten sich geändert. Übergewicht betreffe heute nicht nur die Einzelnen, sondern die gesamte Gesellschaft, deshalb zählt Renate Künast Übergewicht ganz eindeutig zu den politischen Themen. Es sei „eine der größten (…) politischen Herausforderungen der modernen Staaten“ (ebd.: 15) und eine „Bedrohung für das Gemeinwesen“ (ebd.: 28). Als Beweis dafür, dass Übergewicht ein politisches Thema sei, wertet sie auch eine Entwicklung in den USA. Dort schlage sich die Sorge um das wachsende Gewicht der Bevölkerung bereits im Steuerrecht nieder. Ärztlich verordnete Abmagerungskuren könnten dort von der Steuer abgesetzt werden (ebd.: 38). Das National Bureau for Economic Research schlage insgesamt Steuern und Subventionen als Steuerungsinstrumente gegen Übergewicht vor. Obwohl das Staatseingriffe seien, könnten die positiven Folgen die negativen Aspekte überwiegen, weil sich damit die „galoppierenden Gesundheitskosten“ (ebd.: 77) in den Griff bekommen ließen. Leider führt Künast hier nicht weiter aus, worin die
76
Dokumentenanalyse
negativen Aspekte von staatlichen Eingriffen in individuelles Ernährungsverhalten ihrer Meinung nach genau liegen. Unter der Überschrift „Auf die Folgen schauen“ stellt Künast selbst direkt die Frage, die Kern dieser Arbeit ist: „Ist es überhaupt Angelegenheit der Politik, sich um die Gestaltung des Alltags von mündigen Bürgern zu kümmern?“ (ebd.: 28) Ihrer eigenen Antwort auf die Frage stellt sie rhetorisch die Gegenposition der „konservativen Kollegen“ voraus, die diese Frage mit Bezug auf Privatheit verneinen: „Die Linken wollen doch nur überall herumregulieren (…). Essen sei Privatangelegenheit der Menschen, wer sich wider besseres Wissen mäste, müsse auch mit den Folgen eigenverantwortlich klarkommen.“ (ebd.) Da sich aber die Folgen über den Sozialstaat in Kosten im Gesundheitswesen niederschlagen, werde „solche Menschen eines Tages der Vorwurf ereilen (…), der Allgemeinheit hohe Kosten zu verursachen“ (ebd.). Übergewicht ist also nicht nur ein individuelles und damit privates Thema, sondern über die Folgen auch eines der Gemeinschaft, weil die Kosten „jeder Steuerbürger, jeder Unternehmer, jeder Krankenkassenbeitragszahler“ (ebd.: 29) trage. Deshalb stelle sich, so Künast, insgesamt die Frage, ob „es wirklich demokratisch [sei], Gewinne einer Technik zu privatisieren, Folgekosten aber auf die Gemeinschaft abzuwälzen“ (ebd.).50 3.3.2.3 In welchem Zusammenhang taucht „Autonomie“ direkt oder indirekt auf? Künast geht prinzipiell davon aus, dass Menschen bzw. Verbraucher/innen autonom handeln können: „Uns leitet das Menschenbild des eigenverantwortlichen, gut informierten Verbrauchers, der seine Verantwortung für den eigenen Körper, seine Gesundheit, seine Umwelt und seine Zukunftschancen wahrnimmt.“ (ebd.: 288) Gleichzeitig wird in der bereits erwähnten Beschreibung Künasts der verführerischen Lebensumwelt und der Macht des Fettes über Menschen ein wenig autonomes und daher auch wenig verantwortliches Bild des Menschen gezeichnet. Fett und Übergewicht erscheinen hier als listige Gegner, gegen die der Einzelne eigentlich kaum ankommt, schon gar nicht, wenn überall die „Hölle“ (ebd.: 22) lauert und quasi nach der schwachen Seele trachtet. Durch die Personalisierung der Gegner Übergewicht und Fett und deren Charakterisierung als beson50 An dieser Stelle gibt es einen Bruch in der Argumentation, da erst von Individuen und dann ganz unvermittelt von Unternehmern die Rede ist. Denn die „Gewinner“ sind hier bestimmt nicht die einzelnen Übergewichtigen, sondern wahrscheinlich die Produzenten von dick machenden Lebensmitteln.
Die Dickmacher
77
ders hinterlistig, unberechenbar und allgegenwärtig, erscheinen Übergewichtige in der Darstellung Renate Künasts überwiegend als hilflose Opfer. Opfer ihrer Steinzeit-Physis, die ständig bereit ist zu essen und für Notzeiten zu bunkern, und der modernen Lebenswelt, in der Essen im Überfluss vorhanden ist und trickreich beworben wird. Diesem Locken könne sich, so Künast, keiner entziehen (siehe Abschnitt 3.3.2.1.). Verschiedene innere und äußere Einschränkungen des prinzipiell eigenverantwortlichen Ernährungsverhalten von Individuen oder Einflüsse darauf werden thematisiert. Diese lägen zum einen in der menschlichen Biologie, zum anderen im modernen Lebensumfeld. Bei den physiologischen Aspekten geht es hauptsächlich um Geschmacksprägungen. Eine Vorliebe für Zucker und Süßes beispielsweise sei angeboren: „Die Süße wird immer als angenehm empfunden, von Kindern wie von Erwachsenen. So haben wir es schon im Mutterleib gelernt, denn auch das Fruchtwasser schmeckt süßlich.“ (ebd.: 119) Geschmackliche Präferenzen von Menschen würden noch vor dem Vorschulalter geprägt. Seien bestimmte Vorlieben und Muster dann erst mal vorhanden, könne man sie nur sehr schwer ändern, denn nichts sei so stabil wie das Ernährungsverhalten. (ebd.: 289) Vor allem bei den vielen gravierenden gesundheitlichen und psychischen Problemen, die Dicke trotzdem nicht zum Abnehmen bewegen, fragt Künast: „Wie stark muss die Macht des Appetits sein, wenn er alle diese schweren Probleme übertönt?“ (ebd.: 36) Die menschliche Natur sei „manchmal eben grausam und unerbittlich. (…) Was ich damit sagen will: Unser Kopf – der Intellekt, die Vernunft – weiß ganz genau, was gut ist für uns. Aber gut ist nicht immer das, was wir als lecker empfinden oder gerade wünschen, weil wir allein sind, gestresst oder müde oder einfach nur eine kleine Belohnung brauchen.“ (ebd.: 54)
Für den stärksten Einfluss aus unserem Lebensumfeld hält Künast das energiereiche Lebensmittelangebot und dessen Bewerbung durch die Lebensmittelindustrie im Fernsehen. Besonders kritisch und manipulativ seien hier gesundheitsbezogene Werbeaussagen: „Es mag sein, dass Werbeaussagen nicht unmittelbar in Handlungen umgesetzt werden und dass Süßigkeiten, die mit Gesundheitsaussagen verknüpft werden, auch nicht unmittelbar dick machen. Wenn Werbung allerdings wirkungslos wäre, dann würde ein Unternehmen mit bekannten Süßigkeiten bestimmt nicht 400 Millionen Euro im Jahr für Reklame ausgeben, die auf dem Satz ‚das Beste aus der Milch’ basiert.“ (ebd.: 183)
78
Dokumentenanalyse
Ursprünglich hätten Kinder einen Instinkt für die „richtigen“ Lebensmittel, „doch die natürlichen Instinkte der Kinder haben es schwer. Wer sich einen Nachmittag lang das Kinderprogramm ansieht, der weiß, welch einem Bombardement von Reklame die jungen Zuschauer ausgesetzt sind“ (ebd.: 139). Im Lebensumfeld gebe es aber noch weitere wichtige Faktoren. So stimmt Künast dem von ihr zitierten Unilever-Chairman zu: „Es ist sehr einfach, die Schuld an der Fettleibigkeit auf die Nahrungsmittelhersteller zu schieben. Warum klagen Sie nicht die Elektroindustrie an, vor deren Fernsehern die Menschen den ganzen Tag sitzen? Warum nicht die Softwarebranche für ihre Videospiele oder die Regierungen, weil sie den Schulen das Geld für den Sportunterricht kürzen?“ (ohne Quellenangaben, zitiert in Künast 2004: 178)
Eigenverantwortliche Ernährungsentscheidungen könnten aber durch Ernährungskompetenz, Produktaufklärung und -informationen, und durch Wissen über Nahrungsmittel, deren Wert und dem Umgang mit ihnen gestärkt werden. Die WHO fordere deshalb bereits „‚eine weltweite Ernährungsalphabetisierung’, quasi als Gegenbewegung zur Macht des Fernsehens und der Werbung“ (ebd.: 143f). Das sei heute bei Kindern besonders wichtig. Da diese heute mehr und früher auf sich gestellt seien als früher, sei es wichtiges Erziehungsziel, „Kompetenz zu vermitteln, für die Auswahl, das Sortieren, beim Computer, beim Fernsehen und beim Essen. Sonst machen die Kinder einfach das, was ihnen vorgeführt wird“ (ebd.: 179) und sind dadurch auch in ihrem Ernährungsverhalten noch manipulierbarer. Da man durch Kompetenz und Wissen den äußeren Einflüssen weniger ausgeliefert sei, oder diese ausgleichen könne, findet Renate Künast es auch zu einfach eine Gleichung aufzustellen, nach der ein niedriges Einkommen zwangsläufig eine schlechte Ernährung bedeute. Auch von Sozialhilfe könne man sich gesund und ausgewogen ernähren, benötige dazu aber Wissen: „Es sind hohe Haushaltskompetenzen notwendig, um mit wenig Geld nicht nur viel, sondern auch qualitativ hochwertig einzukaufen.“ (ebd.: 214) Gerade auch bei den gesunkenen Nahrungsmittelpreisen stünde „es einer Familie letztendlich offen (…), was sie für ihr Monatsbudget einkauft“ (ebd.: 218). Im Zusammenhang von Autonomie und Ernährung ist, wie bereits angedeutet, auch relevant, wie der Fachausdruck für starkes Übergewicht Adipositas übersetzt wird, ob mit Fettleibigkeit oder Fettsucht, und wie Adipositas dargestellt wird. Denn wenn starkes Übergewicht als Sucht oder Suchtkrankheit verstanden wird, so kann man bei den Betroffenen nicht von autonomen oder freien Ernährungsentscheidungen sprechen. In Die Dickmacher wird Adipositas überwiegend mit „Fettleibigkeit“ übersetzt und als Gesundheitsstörung bezeichnet (ebd.: u.a. 16). Diese Begrifflichkeit ist allerdings inkonsistent, da auch „Fett-
Die Dickmacher
79
sucht“ (ebd.: 69) verwendet wird. An einer anderen Stelle benutzt Künast diese Begriffe auch als Abstufung. Ein BMI über 30 sei Fettleibigkeit, ein BMI über 35 Fettsucht. Im Englischen wird dafür nur ein Begriff verwendet, nämlich obesity, der noch mit unterschiedlichen Graden näher bestimmt wird. Außerdem vergleicht Künast Übergewicht mit Rauchen und anderen Süchten: „Der Dicke trennt sich ähnlich ungern von seinen Essgewohnheiten wie der Raucher von seiner Zigarette.“ (ebd.: 64) Die Frage aber, ob Übergewicht eine Krankheit sei, habe das Potential für einen Glaubenskrieg (ebd.: 63f). „Vieles spricht dafür, dass Übergewicht ein begünstigender Faktor für zahlreiche Gesundheitsprobleme ist, nicht aber eine Krankheit selbst“ (ebd.: 64), so Künast. 3.3.2.4 Wie wird die Notwendigkeit von politischem Handeln bezüglich Ernährungsweise und Übergewicht begründet oder abgelehnt? Eine Notwendigkeit für politisches Handeln ergibt sich für Künast in erster Linie aus ihrem Verständnis der Übergewichtsthematik als Bedrohung für das Gemeinwesen. Die wachsende Fettleibigkeit solle nicht als individuelles Problem verstanden werden, sondern „als Bedrohung für das Gemeinwesen“ (ebd.: 28). Die beiden gesellschaftlichen Hauptprobleme, die Renate Künast in Die Dickmacher im Zusammenhang mit Übergewicht thematisiert, sind – wie auch in der Regierungserklärung – die Kosten, die der Gesellschaft durch Übergewicht entstehen oder entstehen könnten, und der Zusammenhang zwischen Armut und Übergewicht, der als „Frage der Gerechtigkeit“ verstanden wird. Über diese Problemlagen wird dann zugleich politisches Handeln legitimiert. Die gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Kosten von Übergewicht bestünden überwiegend aus Behandlungskosten von Übergewicht und von ernährungsbedingten Krankheiten und aus Produktivitätsausfällen. Als negative Folgen von Übergewicht und Adipositas nennt Künast eine ganze Liste von Krankheiten über Diabetes und Krebs bis zu Schlaganfall, die fünfzehn Titel umfasst (ebd.: 46ff). Dazu kommen noch Gesundheitsrisiken bei Kindern in einer Liste (ebd.: 50), die dreiundzwanzig Störungen aufzählt und die in abgewandelter Form an anderer Stelle im Buch (ebd.: 186) nochmals auftaucht. Auch die Psyche werde bei Übergewicht in Mitleidenschaft gezogen. So sei „das Seelenleben eines adipösen Kindes vergleichbar mit dem eines jungen Krebspatienten“ (ebd.: 24). Des Weiteren wirke sich Übergewicht negativ auf den Intellekt aus (ebd.: 135). Diese Folgen seien zum einen schlimm für die Betroffenen selbst, die mit diesen Erkrankungen leben müssten, von Diskriminierung betroffen wären und ihren Zustand dazu noch selbst tabuisieren würden, zum anderen sei aber eben auch die Gesellschaft über die Kosten negativ davon betroffen.
80
Dokumentenanalyse
„Kein Gesundheitssystem der Welt kann bewältigen, was Übergewicht und Fettleibigkeit uns an immensen Kosten aufbürden, kein Sozialsystem aufbringen, was Millionen Arbeitsunfähiger benötigen, keine Gesellschaft kann ausgleichen, was das Dicksein an psychosozialen Folgeschäden verursacht, (…) wenn die Kinder mit sich selbst und den anwachsenden chronischen Erkrankungen beschäftigt sind.“ (ebd.: 14)
Der Staat wolle „gesunde Bürger, die leistungsfähig sind und keine unplanmäßigen Kosten verursachen. (…) eine stetig Gewicht zulegende Gesellschaft bedeutet mehr als explosionsartig wachsende Kosten, sie bedroht die Zukunft eines Landes, ökonomisch, gesundheitlich, sozial und kulturell.“ (ebd.: 38)
Insgesamt entstünden volkswirtschaftliche Schäden, „die keine Reform der Welt mehr wird bezahlen können“ (ebd.: 288). Heute würden bereits weltweit 40% der Gesundheitskosten für chronische Erkrankungen aufgewendet, in den USA seien das 2003 75 Milliarden Dollar gewesen, für Deutschland gebe es Schätzungen, die zwischen 13 und 70 Milliarden Euro jährlich liegen. Produktivitätsausfälle durch Übergewicht werden für Großbritannien mit zwei Milliarden Pfund jährlich angegeben, für Deutschland mit 10% weniger an produktiven Lebensjahren (ebd.: 67). Diese Kosten müssten, so Künast, allerdings relativiert werden, weil unklar sei, „ob dieses Geld auch optimal eingesetzt“ (ebd.: 67f) werde. Die Tatsache, dass auch die Wirtschaft damit begonnen habe, sich mit dem Thema Übergewicht auseinanderzusetzen, wertet Künast als Zeichen für die wirtschaftliche Dringlichkeit und allgemeine Wichtigkeit: „Das Thema elektrisiert sogar die Mächtigen der globalen Ökonomie.“ (ebd.: 65) Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2004 sei Fettleibigkeit unter den wichtigsten Zukunftsthemen mit dabei gewesen. Außerdem wirkten sich auch die Zahl der durch Übergewicht und seine Folgen verursachten Todesfälle aus, beispielsweise auf die Risikokalkulationen bei Versicherungen, die deshalb die Entwicklung auch mit Sorge betrachteten. „Wenn die weltweit operierenden Assekuranzen ein Problem als solches akzeptieren, dann ist es an den Weltbörsen und damit an den Tischen der großen Entscheider angekommen.“ (ebd.: 68)51 Neben den vermuteten gesellschaftlichen Kosten ist Gerechtigkeit der zweite Hauptgrund für politisches Handeln, den Künast thematisiert. Dabei sei die Gewichtsentwicklung nicht der Auslöser für soziale Ungleichheit, doch ein „äußerlich sichtbares Merkmal“ von starrer werdenden sozialen Verhältnissen, die 51
Der Rückversicherungskonzern Swiss Re habe sogar einen ökonomisch optimalen BMI festgelegt, der bei 25 liege (ebd.: 71).
Die Dickmacher
81
sich nun auch „in einem klassencharakteristischen Bauch“ manifestieren (ebd.: 221). Weil Dicksein nicht das neue Zeichen von Armut werden dürfe, fordert Künast aus Gründen der Gerechtigkeit „Ernährung und Bildung als Teil des Erziehungs- und Bildungsauftrags öffentlicher Einrichtungen“ (ebd.) zu verstehen. Das Kapitel „Die neue soziale Frage oder Müssen Arme wirklich dicker sein?“ in Die Dickmacher ist direkt diesem Thema gewidmet, obwohl Äußerungen dazu an vielen Stellen auftauchen. Es beginnt mit einer historischen Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Essen und sozialem Status. Ernährung als „sozialer Code“ beinhalte zum einen die Lebensmittel selbst, zum anderen die Tischsitten. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts hätten „Gesellschaftsforscher“ ein Konsummuster beobachtet, das als „Demonstrativkonsum“ bezeichnet wird. Damit sei der Versuch des aufstrebenden Proletariats gemeint, gesellschaftliche und soziale Anerkennung „nicht mehr nur über Einkommenserzielung, sondern auch über Einkommensverwendung“ (ebd.: 208) zu erlangen, frei nach dem Motto: was man kauft, symbolisiert wer man ist. Darin liegt für Künast die Erklärung dafür, dass Übergewicht ein soziales Problem sei, denn was im Fernsehen beworben werde, gelte als Symbol für gesellschaftliches Dazugehören und Status: „Ein Schokoriegel ist die billigste Art, sich mit einem Markenartikel zu schmücken. Wenn es auch für ein repräsentatives Auto nicht reicht oder die angesagten Turnschuhe, dann ist ein Soft Drink oder ein Beutel trendiger Chips der für jeden bezahlbare Weg, um einer markenvernarrten Welt zu zeigen, dass man dazugehört“ (ebd.: 210). „Fast Food wird heute nicht mehr als Nahrung zum Lebenserhalt produziert, sondern als Freizeitvertreib, als essbares Wohlfühlmittel, präzise auf unsere kleinen Schwächen hindesignt, mit der Extraportion Status, Glück oder Gesundheit und Zugehörigkeit. Fast-Food-Artikel, das sind die billigsten Markenwaren, die man kaufen kann, bekannt und als bedeutsam und irgendwie wertvoll geadelt durch Funk und Fernsehen. Sie erlauben auch den Ärmsten der Gesellschaft, ein Stück aus der TVWerbung in der Hand zu halten, das als wertig angesehen wird.“ (ebd.: 116f)
Neben dieser symbolischen Komponente von Ernährung geht Künast hier noch auf den Zusammenhang zwischen Bildung und Gewicht ein, denn statistisch „korrelieren Übergewicht und Fettleibigkeit fast linear mit Schulbildung“ (ebd.: 211), wobei die besser gebildeten auch leichter seien. Dies sei zutreffend für nahezu alle EU Staaten und die USA. Der Zusammenhang sei zwar „augenfällig“ werde aber dennoch oft übersehen:
82
Dokumentenanalyse „In einem Schulsystem, welches sauber zwischen Haupt-, Realschülern und Gymnasiasten differenziert, verlieren viele das Übergewicht als gesellschaftliches Problem aus den Augen, weil es im Umfeld ihrer Kinder nach der Grundschule nicht mehr auftaucht. Das mag ein Grund sein für die Zaghaftigkeit, mit der bislang dem Problem des Übergewichts entgegengetreten wurde.“ (ebd.: 213)
Zusätzlich zur größeren Neigung übergewichtig zu werden, komme bei Angehörigen sozial schwacher Schichten noch hinzu, dass auch das Abnehmen schwerer sei. Zum einen aus Kostengründen, denn im Gegensatz zu den günstigen „Kalorienbomben“ sei organisierte Bewegung teuer: „Ob Fitnessstudio, Abnehmkurse, -präparate oder nur ein Paar Laufschuhe, jedes Mal sind dreistellige Eurosummen fällig“ (ebd.: 219). Zum anderen begünstige Stress, beispielsweise durch Geldsorgen, das Dicksein. Außerdem weise die Gesundheitsforschung darauf hin, dass Prävention von Menschen überhaupt erst bei einer positiven Lebensperspektive angestrebt werde (ebd.: 214). Künasts Hauptaugenmerk liegt insgesamt und noch besonders beim Thema Gleichheit/Gerechtigkeit auf der Gewichtsentwicklung bei Kindern. Sie beschreibt eine heranwachsende „Generation XXL“, bei der die Anteile der Übergewichtigen bei der Einschulung zwischen 20 und 35% liegen – je nach sozialer Herkunft (ebd.: 134). Durch „Übergewicht, das massive physische und psychische Folgen bis hin zu jahrzehntelangen chronischen Erkrankungen hat“ (ebd.: 287), würden Kinder daran gehindert, ihre Chancen zu nutzen. Insgesamt hätten die gesundheitlichen Probleme der heutigen Kinder überwiegend soziale und psychische Ursachen und weniger zu tun mit klassischen Infektionskrankheiten: „Die wachsende Zahl Alleinerziehender, eine flächendeckende Verwahrlosung, die mit einem Verschwinden bürgerlicher Werte und Normen einhergeht, der Rollenwechsel vieler Eltern vom Erzieher zum Entertainer, all diese Faktoren zusammen haben womöglich verhängnisvollere Folgen für die Gesundheit unseres Nachwuchses, als Masern und Mumps je gehabt haben.“ (ebd.: 222)
Hier „geht es um Entwicklungs- und Bildungschancen, die Ausdruck dessen sind, wie eine Gesellschaft mit dem Thema soziale Gerechtigkeit umgeht.“ (ebd.: 287) „Wenn es eine Aufgabe von Politik ist, weit reichende Gerechtigkeit bei den Startchancen ins Leben zu schaffen, dann gehört es sicher dazu, Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln, die mit hinreichender Bewegung und vernünftiger Ernährung zu tun haben. Denn wer dick in die Schule kommt, wird wahrscheinlich auch dick durchs Leben gehen.“ (ebd.: 29)
Die Dickmacher
83
3.3.2.5 Welche politischen Instrumente sollen zum Einsatz kommen, bzw. wie soll politisches Handeln hier aussehen? Und welche politischen Maßnahmen gibt es bereits? Die größte Prämisse bei der Problembehandlung, wie bereits angesprochen, sei Prävention, und zwar insbesondere bei Kindern: zum einen, weil es schwer ist, entstandenes Übergewicht wieder abzubauen, zum anderen weil sich das Verhalten und der Lebensstil von Kindern leichter und nachhaltiger verändern lässt. Dazu sei zum einen Bildung nötig, die Ernährungs-, Bewegungs- und Verbraucherkompetenzen vermittle. Zum anderen müsse auch das Lebensumfeld verändert werden, da viele Ursachen im Mobilitätsverhalten, in der Mediennutzung und im Lebensmittelangebot lägen (ebd.: 287f). Dazu sei ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz nötig. Drei Hauptakteure können hier unterschieden werden: Politik, Wirtschaft und Individuen bzw. Familien. Gemäß ihrer Interpretation der allgemeinen Gewichtszunahme in der Bevölkerung als Bedrohung für das Gemeinwesen, sieht Künast die ideale Antwort in einem Gemeinschaftsprojekt. Als Positivbeispiel und vorbildhaft für eine wünschenswerte Entwicklung in Deutschland nennt sie hier eine Initiative der finnischen Region Karelien. Dort seien die Zahlen für ernährungsmitbedingte Krankheiten zurückgegangen, nachdem sich „die Gemeinschaft (…) vorgenommen [hatte], gesünder zu leben“ (ebd.: 273f). Durch den Staat solle ein solches Gemeinschaftsprogramm gleichsam moderiert und die „Präventionsfront“ (ebd.: 300) organisiert werden. Vergleichbar mit Technikfolgenabschätzung sei es Aufgabe des Staates, auch „bei grundsätzlichen Veränderungen des Lebensstils rechtzeitig eine öffentliche Debatte anzuzetteln über Folgen und Kosten für das Individuum und das Gemeinwesen“ (ebd.: 28f), denn „[i]ndividuelle Chancen werden vertan, die unsere Gesellschaft für einen Aufbruch in das 21. Jahrhundert dringend bräuchte.“ (ebd.: 288) Dabei geht es ihr aber nicht nur isoliert um die Situation innerhalb Deutschlands, sondern auch um Deutschlands internationale Wettbewerbsposition: „Deutschland hat die Chance, sich als ein Standort zu positionieren, der eine neue Zivilisationskrankheit, welche die ganze Erde erfassen wird, am ehesten und effektivsten in den Griff bekommen hat. (…) Warum setzen wir uns nicht zum Ziel, jenes Land zu werden, das weltweit führend ist in Fragen der individuellen und allgemeinen Gesundheit, das der Epidemie Adipositas ein neues und ganzheitliches Konzept entgegensetzt?“ (ebd.: 31)
Diese gesellschaftliche Debatte solle aber keine Moraldebatten nach dem Motto „‚Ist Dicksein nicht ein persönliches Versagen, ein Verhaltensproblem, Mangel an Bewegung?’“ (ebd.: 27) sein. Dies lehnt Künast ab, weil Fettleibige auch
84
Dokumentenanalyse
ohne Schuldkomplex schon genug Probleme hätten. Politik solle hier eher helfen Diskriminierung abzubauen: „Keinesfalls darf mit dem Finger auf Betroffene gezeigt werden, [darf] die öffentliche Meinung gegen sie arbeiten“ (ebd.: 288). Die Maßnahmen, die der Staat direkt ergreifen solle, können grob unterteilt werden in Maßnahmen zur Information, zur Verbesserung der Gemeinschaftsverpflegung in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen und Kindergärten und zur Regulierung von Werbung und Produktinformationen. Für die Politik seien, so Künast, die Kinder „der entscheidende Schlüssel beim Kampf gegen die Volkskrankheit Adipositas“ (ebd.: 222), und das aus zwei Gründen. Zum einen können sie in Geschmack, Gewohnheiten und Lebensstil noch geprägt werden: „Was wir Kindern heute beibringen, das müssen wir später nicht mit viel Geld und Aufwand und oftmals erfolglos zu korrigieren versuchen. Denn alle Studien sind sich einig: Einen erwachsenen Dicken zurück in ein schlankes Leben zu bugsieren, das ist weitaus schwieriger und hat zudem weniger Erfolgsaussichten als bei einem Kind.“ (ebd.: 137)
Zum andern aber, weil man über Kinder „eine moderne Ernährungserziehung automatisch auch in die Familien trage“ (ebd.: 222). Informiert werden soll über öffentliche Einrichtungen, wenn im Elternhaus bestimmte Erziehungsaufgaben wie Ernährungskompetenz nicht erfüllt werden. Das solle durch verschiedene Einrichtungen geschehen, je nach Alter. Bei unter Dreijährigen sollen vor allem die Eltern aber auch Betreuungspersonal durch Kinderärzte und Volkshochschulkurse die notwendigen Informationen über vollwertige Ernährung und Bewegungsförderung der Kinder erhalten. Im Kindergarten sollen Ernährung und Bewegung in den Bildungsauftrag übernommen werden. In der Schule solle es ernährungsbezogenen Unterricht geben und mehr Bewegungsangebote als nur den Schulsport. Außerdem müssten Institutionen der Ernährungsberatung wie die Verbraucherzentralen und der aid infodienst e.V., wenn nicht ausgebaut, so zumindest erhalten werden. Aktuelle Verzehrsempfehlungen sollen in Form einer neuen Lebensmittelpyramide „den Verbraucherinnen und Verbrauchern dann auch flächendeckend kommuniziert“ (ebd.: 296) werden. Die Verpflegung in öffentlichen Einrichtungen müsse auf vollwertiges Essen – möglichst regional, saisonal und „bio“ – umgestellt werden. Für die Schule gebe es bereits ein 4 Mrd. Euro umfassendes Unterstützungsprogramm der Regierung. Die staatlichen Unterstützungsangebote sind allerdings nicht nur auf Kinder beschränkt. Da in der Bevölkerung insgesamt immer mehr Mahlzeiten außer Haus eingenommen werden, müsse es auch außerhalb von Schulen und Kindergärten eine gesunde Gemeinschaftsverpflegung geben: „Gerade die Gemeinschaftsverpflegung birgt zahlreiche Chancen, saisonales und regionales Wissen und Geschmack wieder aufleben zu lassen.“ (ebd.: 293).
Die Dickmacher
85
Die Möglichkeiten staatlichen Handelns seien aber mit Bildungs- und Informationsangeboten noch nicht erschöpft. Es werden weitere Steuerungsmöglichkeiten in Erwägung gezogen, wie eine Regulierung der Lebensmittelwerbung insgesamt und ein Werbeverbot für Säuglingsnahrung auch in den Krankenhäusern. In diesem Zusammenhang bewertet Künast positiv, dass im Ernährungsbericht der WHO den Regierungen eine zentrale Steuerungsrolle zugewiesen werde.52 Künast meint, dass durchaus „kühle ökonomische Faktoren über dick und dünn entscheiden [könnten], wenn der Staat etwas nachhilft“ (ebd.: 77). Sie hält es für möglich, dass man in der Zukunft Reformen durch Kosten erzwingen müsse. Das von Künast als eher wirtschaftsliberal bezeichnete National Bureau for Economic Research (USA) beispielsweise schlage vor, über eine Fett- oder eine Soft-Drink-Steuer die Preise zu verändern. Mit den Einnahmen sollen dann Bewegungsangebote subventioniert werden. Da weltweit, „oft gefördert mit gewaltigem Marketingaufwand, mehr, fetter und kohlenhydratreicher gegessen, (…) zunehmend gesnackt“ und weniger gestillt werde, komme auch der Lebensmittelindustrie eine entscheidende Rolle zu (ebd.: 75). Diese müsse sich ihrer Verantwortung bewusst werden und zum einen Lebensmittel produzieren, die in ihrem Nährwertprofil dem heutigen Lebensstil angemessen seien, zum anderen zustimmen „freiwillig die Zielgruppe junger Konsumentinnen und Konsumenten unter zwölf Jahren nicht mehr aktiv zu bewerben“ (ebd.: 298). Zumindest müsse die Werbung „ehrlich sagen, was in den angepriesenen Lebensmitteln drin ist“ (ebd.: 298). Ein besonders schwieriges Thema in diesem Zusammenhang seien die so genannten Health Claims. Das sind gesundheitsbezogene Aussagen über Lebensmittel, die diesen ein gesundes Image verschaffen sollen, wie beispielsweise „enthält lebenswichtiges Eisen“, obwohl die Lebensmittel selbst kein günstiges Nährstoffprofil aufweisen. Deshalb setze sich die Bundesregierung in Brüssel dafür ein, irreführende Werbung bei Kinderlebensmitteln zu verbieten. Man dürfe keine Arbeitsteilung zulassen, „bei der die einen das Geld verdienen und die anderen knappe Ressourcen des Gesundheitssystems oder der öffentlichen Hand für die Problemlösungen ausgeben“ (ebd.). Auch Softwarehersteller und Medienvertreter müssen sich an der Diskussion beteiligen, weil sie „horrende Summen“ damit verdienen, „Kinder und Jugendliche stundenlang vor die Fernseher und Computer zu holen und dort festzuhalten“ (ebd.: 299). Von den Individuen fordert Renate Künast, das eigene Ernährungsverhalten konsequent zu ändern, denn die Auswahl des Essens sei auch laut Ernährungsbericht der WHO die entscheidende Variable. Das sei auch nicht schwer, besonders in der Gruppe. Künasts Positivbeispiel ist hier, wie bereits erwähnt, Nordkare52
Siehe hierzu WHO (2003).
86
Dokumentenanalyse
lien, eine Region Finnlands, in der die Sterblichkeit durch Herzkrankheiten zurückgegangen sei, nachdem „die Gemeinschaft (…) sich vorgenommen [hatte], gesünder zu leben“ (ebd.: 273). Dazu, was nach Renate Künasts Meinung einen gesunden Lebensstil ausmacht, finden sich verschiedene Passagen. An ernährungswissenschaftlichen Inhalten bespricht sie physiologische Vorgänge rund um Ernährung, Verdauung und Gewicht wie: Sättigungsmechanismus (ebd.: 55), Insulinschaukel (ebd.: 118), Energiebilanz (ebd.: 56) und Kalorienbedarf (ebd.: 180). Außerdem beschreibt sie das Körpermaß Body-MassIndex (BMI) mit dem allgemein festgestellt wird, wer unter-, über- oder normalgewichtig ist (vgl. dazu Abschnitt 1.2.3.). Des Weiteren beschäftigt sie sich mit Diäten und der Frage nach einer „guten“, vollwertigen und ausgewogenen Ernährung. Diäten gegenüber ist sie skeptisch. Die ernährungswissenschaftliche Informationsflut über Diäten und neueste Erkenntnisse stifte meist nur Verwirrung, sei oft wenig rational und veralbere oftmals die Konsumenten (ebd.: 127, 229, 232). Aus den verschiedenen Meinungen, die es in den letzten Jahren über den Verzehr von Kohlehydraten und Fett gegeben hat schließt Künast: „Die Ernährung ist eine hochkomplexe Angelegenheit; Königswege und Patentrezepte sind mit äußerster Vorsicht zu begutachten; Differenzierungen und vor allem Wechselwirkungen sind noch viel zu wenig beachtet.“ (ebd.: 242) Künast erwähnt auch, dass es nicht gesichert sei, dass sich durch Abnehmen die Krankheitsrisiken eines Übergewichtigen senken lassen. Es sehe so aus, „als ob ein Mensch, der einmal schweres Übergewicht hatte, bestimmte Risikofaktoren für den Rest seines Lebens mit sich herumträgt“ (ebd.: 71). Prävention schon in der Kindheit durch gesunde Ernährung und Bewegung werde dadurch noch wichtiger. Doch worin besteht für sie eine gesunde Ernährung? Dazu präsentiert sie den für sie erkennbar aktuellsten Stand der ernährungswissenschaftlichen Empfehlungen, der allerdings – darauf weist Künast hin – auch nur den aktuellen Forschungsstand widerspiegele und selbst hoch kontrovers sei.53 Obst und Gemüse könne man in beliebiger Menge verzehren. Zu Kohlehydraten gebe es sehr unterschiedliche Meinungen bezüglich des Mengenverhältnisses und der Art der Kohlehydrate, z.B. Vollkorngetreide, Kartoffeln, Brot. Künast halte sich hier aus dem Streit heraus und lebe nach dem Motto: „Ich (…) esse, was mir schmeckt, Vollkornbrot zum Beispiel. Am Ende wird sich ohnehin herausstellen, dass jeder Mensch Körner anders verdaut.“ (ebd.: 264) Auch beim Eiweiß sei die ideale Menge unklar. Insgesamt warnt sie vor „Nährstoffextremismus“ (ebd.: 265), also davor, einer Nährstoffgruppe den abso53
Ein Zeichen für die allgemeine Unklarheit seien die nationalen Verzehrsempfehlungen. Diese variieren bezüglich der idealen Menge bestimmter Vitamine oder den Mengenverhältnissen von Fett, Eiweiß und Kohlehydraten in der Nahrung von Land zu Land.
Die Dickmacher
87
luten Vorrang zu geben oder sie weitgehend vom Speiseplan zu streichen. Am besten lasse sich der Konsens in einer dreidimensionalen Ernährungspyramide darstellen, auf deren Grundfläche der Streit um den „optimalen Nährstoffmix“ von den Experten dann ausgetragen werden könne (ebd.: 267ff). Es wird vor allem klar, was man nicht oder nur in kleinen Mengen essen sollte. Dazu gehören Soft Drinks, Schokoriegel und Fertiggerichte wie Tiefkühlpizza. Die weniger eindeutigen Fälle werden im Bildteil „Kalorienbomben“ verdeutlicht. „Schwere“ und „leichte“ Frühstücks-, Snack-, Fast-Food-, Getränke- und Zubereitungsalternativen mit Kalorienangaben sind dort nebeneinander gestellt. Insgesamt lässt sich sagen, dass Künast der leichten Kost Vorrang gibt vor der schweren, Naturbelassenem und dann selbst Zubereitetem vor Fertigprodukten, bei Obst und Gemüse solle man möglichst regionales und saisonales bevorzugen. Nicht nur die Auswahl des Essens müsse sich ändern, sondern auch der soziale Aspekt von Ernährung wieder belebt werden. Essen ist für Renate Künast ganz eindeutig Teil der Kultur. Sie argumentiert mit Paul Noltes Diagnose von der „gesellschaftlichen Verwahrlosung“ (Nolte 2004), zu der sie Massenkultur und Fastfood zählt, und schließt sich dessen Forderung nach mehr „Bürgerlichkeit“ an. Künast sei „nicht bereit, zu akzeptieren, dass der Gebrauch von Messer und Gabel nur eine kurzfristige Laune der Evolution gewesen sein soll. Die Werte von damals, die ein gutes Essen und die damit verbundenen kulturellen Elemente sicherten, die sind für mich nicht konservativ oder spießig, sondern zeitlos und universell.“ (Künast 2004: 129)
„Das Wiederentdecken der gemeinsamen Mahlzeit wäre für viele Familien sicher ein Schritt zurück in die Zukunft.“ (ebd.: 189) Zwar solle die Uhr nicht zurück gedreht werden „in die angeblich gute, alte Zeit, als die Mutter ihr Leben am Herd verbrachte“, doch sollten auch moderne Eltern „für regelmäßige Essstrukturen kontra Kühlschrankselbstbedienung und Dauernaschen sorgen“ (ebd.). Neben dem größeren Engagement, das sie von Familien erwartet, wie gemeinsamen und frisch zubereiteten Mahlzeiten, rechzeitig aufstehen, damit den Kindern noch ein gesundes Pausenbrot bereitet werden könne54 und ähnlichem, ist sie der Rolle der Familie gegenüber gleichzeitig eher skeptisch: „Die Familie kann nicht mehr allein als verlässlicher Ort der Vermittlung der nötigen Grundkompetenzen und Kulturtechniken herhalten.“ (ebd.: 300) 54
Bereits am Schulbrot könne man ablesen, ob sich ein Kind normalgewichtig durchs Leben bewegen werde: „Bei manchen ist es eine Tüte vom Bäcker mit hoch verdichteten Kohlehydraten wie Muffin, Croissant oder Bagel. Andere haben eine Scheibe Vollkornbrot, von der ein Salatblatt lugt, dazu einen Apfel oder Joghurt.“ (ebd.: 133)
88
Dokumentenanalyse
Insgesamt sei ein so komplexes Problem wie Übergewicht nicht einfach zu lösen, erfordere vielfältige Ansätze und eine gesamtgesellschaftliche Zusammenarbeit aller relevanter Akteure. Einzelne Regierungen könnten „allein weder das Gesundheitsproblem Übergewicht bewältigen noch die körperliche Aktivität des Einzelnen fördern“ (ebd.: 299). Es reiche nicht, „nur ein Gesetz zu verabschieden, bestimmte Steuern zu erheben oder zu erhöhen, eine Kampagne zu beschließen oder eine Initiative zu fördern – und schon purzeln die Pfunde“ (ebd.). „Das Ess- und Bewegungsverhalten ist ein sehr widerspenstiger Gegner, zumal die Politik (zum Glück) kaum Einfluss darauf hat.“ (ebd.: 28) 3.4 Zusammenschau der Ergebnisse Bei den analysierten Berichten des Ministeriums wird deutlich, wie relativ plötzlich Übergewicht auf der politischen Tagesordnung erscheint, obwohl sich das Problem schon länger andeutet. 2003 erstmalig erwähnt, gilt es 2004 bereits als massives gesellschaftliches Problem. Außerdem ist die Darstellung von wirklich umgesetzten oder ernsthaft geplanten politischen Maßnahmen dort am zuverlässigsten, weil sachlich über die Arbeit des Ministeriums berichtet wird. Für meine weitere Analyse war der publikumswirksame Charakter sowohl der Regierungserklärung als auch des Buches von Vorteil, weil Künast darin ihr Vorgehen genauer begründet und gerechtfertigt hat, besonders ausführlich natürlich in Die Dickmacher. Da diese Dokumente aber überwiegend der positiven Selbstpräsentation dienen, werden die dargestellten Sachverhalte darin nicht weiter kontrovers diskutiert. Deshalb war es sinnvoll, die Regierungserklärung im Zusammenhang mit der anschließenden Debatte zu betrachten. Besonders deutlich wurden hier Unterschiede in der Thematisierung von Übergewicht: drastisch seitens derer, die Übergewicht als politisches Thema sehen, und relativierend seitens derer, die politisches Handeln hier eher ablehnen. Was bei der Debatte auch noch deutlich wird, ist die stärkere interessensmäßige Bindung von FDP und CDU an die Wirtschaft. Schon bei den Ursachen für Übergewicht spielen dort Werbung und Produktangebot der Lebensmittelwirtschaft nicht nur keine Rolle, sie werden sogar explizit ausgeklammert. Das schlägt sich auch in den Äußerungen der Parteien zum Thema Autonomie nieder. Insgesamt wird vom mündigen und eigenverantwortlich handelnden Verbraucher ausgegangen, dessen Autonomie aber von verschiedenen Seiten gefährdet ist und dessen freie Entscheidungen durch Informationen und Wissensvermittlung unterstützt werden können. Ein großer Unterschied zwischen auf der einen Seite Renate Künast mit den anderen Mitgliedern der Regierungsfraktionen und den CDU- und FDP-Abgeordneten auf der anderen Seite besteht aber in
Zusammenschau der Ergebnisse
89
der Beurteilung von Werbung für die Autonomie der Verbraucher. Für erstere ist Werbung ein potentielles Hindernis auf dem Weg zur freien Entscheidung und sie fordern deshalb strengere Richtlinien, während letztere Werbung insgesamt für unproblematisch halten und keine Verschärfung der Bedingungen für die Lebensmittelwirtschaft wünschen. In ähnlicher Weise schlägt sich der Unterschied auch bei den Auffassungen darüber nieder, was staatliches Handeln sein soll und kann. Aus der Sicht aller politischen Parteien besteht Handlungsbedarf beim Thema Übergewicht. Jedoch ist unklar, wer mit welchen Mitteln was genau tun soll, oder wie Renate Künast selbst über die Debatten in Die Dickmacher bemerkt: „Generell sind sich alle einig, dass es gesünder werden muss. Doch im Detail steckt viel Stoff für Zoff“ (2004: 76). Während allgemeine Informations- und Aufklärungsangebote eine unstrittige Sache zu sein scheinen, scheiden sich die Geister massiv bei Maßnahmen, die ins Wirtschaftsgeschehen regulierend eingreifen sollen, wie Werbeeinschränkungen bei Kinderlebensmitteln oder ein neues Verbraucherinformationsgesetz. Ob Ernährung allgemein Teil des Privaten ist oder nicht, wird weder in den Berichten, noch in der Regierungserklärung thematisiert. In der Parlamentsdebatte ist seitens der FDP von einer nicht näher bestimmten oder begründeten Grenze staatlichen Handelns die Rede, die durch Künasts Politik verletzt werde. Die SPD behauptet, Ernährung sei ein politisches Thema, das vorherige Landwirtschaftsminister nur zu einer Privatangelegenheit gemacht hätten. Auch hier wird aber nichts darüber ausgesagt, weshalb das eine richtiger sei als das andere. In Die Dickmacher wird deutlich, dass sich für Renate Künast die Frage ebenfalls nicht stellt, ob man die individuelle Ernährungsweise und eventuell auch Übergewicht normativ begründet als Teil der Privatheit verstehen könnte – und sie dann zumindest auch unabhängig von möglichen Folgen für die Allgemeinheit betrachten müsse. Bei der Frage, ob Übergewicht ein privates oder ein politisches Thema sei, besteht zwischen den Rednern und Rednerinnen der parlamentarischen Diskussion einen Konsens im Entscheidungskriterium: Wer ist für die Folgen von Übergewicht verantwortlich? Wird die Verantwortung für Ernährung und Übergewicht bei den Individuen gesehen – wie bei CDU und FDP –, so werden diese als private Themen interpretiert. Werden hier Einschränkungen bei der Selbstverantwortung gesehen – wie bei SPD und Grüne –, so werden diese dem Bereich politischer Steuerung zugeschrieben. Während in den Berichten nur festgestellt wird, dass politisches Handeln notwendig ist, begründet Künast in ihrer Regierungserklärung und in Die Dickmacher ein politisches Eingreifen mit den für die Gesellschaft entstehenden Kosten und mit der staatlichen Aufgabe, weitgehend für soziale Gerechtigkeit
90
Dokumentenanalyse
und Chancengleichheit zu sorgen. In der Parlamentsdebatte wird diese Sicht von Abgeordneten von SPD und Grüne unterstützt, während Abgeordnete der Opposition hier zwar von einer staatlichen Verantwortung sprechen, aber vor Paternalismus warnen und wollen, dass eigenverantwortlich gehandelt wird. Sie befürchten außerdem, politisches Handeln könnte hier Dicke stigmatisieren und diskriminieren. Das jedoch ist für die Regierungsfraktionen gerade mit Teil des Problems, weshalb sie politisches Handeln befürworten.
Wie privat ist die individuelle Ernährungsweise?
91
4 Diskussion
Eingangs habe ich drei Thesen formuliert, die im Lauf der Arbeit weiter erläutert wurden. Jede der Thesen beinhaltet ein anderes Bewertungskriterium dafür, ob ein gegebenenfalls kritikwürdiger Eingriff ins Private vorliegt. Danach hängt es gemäß der ersten These vom jeweiligen Begriff des Privaten ab, ob eine bestimmte politische Maßnahme als problematischer Eingriff ins Private gewertet wird. Der zweiten These zufolge ist Art und Charakter der tatsächlichen Maßnahmen entscheidend. Laut der dritten These kommt es noch darauf an, wie ein solcher Eingriff ins Private legitimiert wird, denn Privatheit ist kein absoluter Wert, und es kann für ein Tätigwerden der Politik gute Gründe geben, obwohl dezisionale Privatheit davon gegebenenfalls negativ betroffen wäre. Im Weiteren werden die Ergebnisse aus der Dokumentenanalyse im Zusammenhang mit diesen Aspekten betrachtet. Was lässt sich über die Ernährungspolitik Renate Künasts in Bezug auf ihr Verhältnis zur Privatheit mit Hilfe dieser Kriterien sagen? Ist ein derartig gestaltetes Eingreifen der Politik in die individuelle Ernährungsweise der Bürgerinnen und Bürger problematisch oder wünschenswert? 4.1 Wie privat ist die individuelle Ernährungsweise? Die erste These beruht auf der Feststellung, dass das, was genau als privat gilt, wandelbar und kontextabhängig ist und dass es deshalb auch unterschiedliche Begriffe von Privatheit gibt. Um einen konkreten normativen Bezug zwischen der Ernährungspolitik Renate Künasts und Privatheit herstellen zu können, wurden (in Abschnitt 2.1.) drei verschiedene Verständnisse des Begriffs Privatheit vorgestellt und auf ihre mögliche Verbindung zu den Themen Ernährungsweise und Übergewicht untersucht. Nun soll der angekündigte normative Bezug hergestellt werden. Welche Aussagen zu Ernährung und Privatheit werden in den von mir untersuchten Dokumenten gemacht und mit welchem der vorgestellten Verständnisse stimmen diese am meisten überein?55 55
Die Reichweite meiner Aussagen ist dabei auch auf den untersuchten Sachverhalt Ernährung und Übergewicht beschränkt. Es sollen keine allgemeingültigen Aussagen über den Stellenwert, den Renate Künast oder auch andere Mitglieder der damaligen Regierungsfraktionen Privatheit insgesamt beimessen, getroffen werden.
92
Diskussion
In den Quellen wird Ernährung generell, oder in historischer Perspektive, als Teil des Privaten gesehen, weil sie traditionell und räumlich im Bereich der Familie und des Haushalts angesiedelt war (besonders Abschnitt 3.3.2.2.). Übergewicht wird dagegen als politisches Thema verstanden, weil es als eine Folge der individuellen Ernährungsweise gilt, die nicht nur die Individuen, sondern auch die Gemeinschaft betreffen und zwar über die entstehenden Kosten im Gesundheitswesen und über sich noch weiter verschlechternde Startchancen von Kindern aus ärmeren Verhältnissen (Abschnitte 3.1.2.2., 3.2.2.4.. 3.2.3.4. und 3.3.2.2.). Es scheint, als könnte Ernährung relativ beliebig als politisches oder privates Thema definiert werden und als gebe es dabei keine Grenzen der Konstruktion (vgl. Abschnitt 3.2.3.2.). Wie können diese Aussagen nun theoretisch eingeordnet werden? Da Ernährung in den untersuchten Quellen ohne weitere Begründung, weshalb das so sein sollte und ohne Kriterien für die Einordnung zu benennen, zu den privaten Handlungen gezählt wird, spricht das gegen eine Zuordnung zum Privatheitsbegriff Beate Rösslers. Eine solch differenzierte Sicht der Dinge war in den politischen Dokumenten vielleicht auch nicht zu erwarten. Auch die Begründung dafür, dass Ernährung im Falle von „globesity“ nicht mehr als Privatsache anzusehen sei, geht in Richtung der Verständnisse von Mill und Etzioni. Diese verwenden das Kriterium der Handlungsfolgen, bei dem Spielräume des Privaten dort enden, wo andere von den Folgen negativ betroffen sind. Die relative Beliebigkeit der Zuordnung von Ernährung zu Privatem oder Politischem in den Quellen, bei der keine Grenze – wie etwa bei Mill durch Freiheitsrechte – sichtbar ist, verweist zudem eher auf den Begriff Etzionis. Wie bereits dargelegt (Abschnitt 2.1.3.), bestimmt in seiner Konzeption des Privaten die Gesellschaft was privat sein kann. Es ist jedoch so, dass bei Künast Eingriffe in die Privatheit der Bürgerinnen und Bürger beim Thema Ernährung und Übergewicht nicht rein willkürlich erfolgen. Die Notwendigkeit für ein politisches Eingreifen begründet sich bei ihr auch aus Gerechtigkeitsüberlegungen. Ein weiterer Aspekt legt den Verdacht nahe, dass die Aussagen zu Privatheit am meisten dem kommunitaristischen Privatheitsbegriff von Etzioni entsprechen: Die Gemeinschaft soll sich nach Renate Künasts Wunsch vornehmen, nach einer bestimmten ‚gesunden’ Lebensweise gemeinschaftlich insgesamt gesünder zu leben und sich im globalen Wettbewerb um allgemeine Gesundheit profilieren (Abschnitt 3.3.2.5.). Damit wird aber, wie ich meine, eine partikulare, ethische Lebens- bzw. Ernährungsweise, allgemein verordnet, was dem Neutralitätsprinzip liberaler Gesellschaften widerspricht. Es kann natürlich auch sein, dass das ‚Gemeinschaftsprojekt’ nur unter ‚motivierende Rhetorik’ einzuordnen ist, doch es bleibt problematisch, da potentiell alle von Diskriminierung oder Stigmatisierung betroffen würden, die einer für ‚gesund’ erklärten
Wie privat ist die individuelle Ernährungsweise?
93
Lebens- und Ernährungsweise nicht entsprechen wollen, das aus verschiedenen Gründen nicht können, oder vielleicht trotzdem dick bleiben bzw. weiter zunehmen. Diesen könnte dann unterstellt werden, dass sie das gemeinschaftliche Projekt sabotieren und deshalb wegen möglicher gesundheitlicher Probleme keine Unterstützung verdienen. Diese Konsequenz steht auch im Widerspruch mit anderen ernährungspolitischen Zielen oder Forderungen Renate Künasts. An anderer Stelle weist sie deutlich darauf hin, dass Übergewicht nicht als moralisches Versagen interpretiert werden, bzw. dass die öffentliche Meinung Übergewichtige nicht anprangern dürfe. Genau das wäre meines Erachtens aber die Folge von einem Gemeinschaftsprojekt pro Gesundheit, bzw. kontra Fett und kontra hohe Gesundheitskosten. Es ist auffällig – wenn zwar nicht weiter verwunderlich –, dass in keinem der betrachteten Dokumente die Frage auftaucht, ob die individuelle Ernährungsweise begründet unter den Schutz dezisionaler Privatheit fallen könnte. In der politischen Diskussion wird zwar im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Übergewicht und der individuellen Ernährungsweise über Privatheit gesprochen, doch führen selbst die Verteidiger der Privatheit keine Begründung dafür an, warum das Ernährungsverhalten privat sein sollte. Sie behaupten nur, dass es zur Privatsphäre gehöre (siehe Abschnitt 3.2.3.2.). Auch diejenigen, die das Ernährungsverhalten der Bevölkerung unter anderem mit Hilfe der Politik gerne beeinflussen oder verändern möchten, bewegen sich bezogen auf das Konzept Privatheit argumentativ auf derselben Ebene, weil sie ebenfalls ihre Einschätzung nicht begründen. Hier wird einfach festgestellt, die Ernährungsweise gehöre nicht mehr zu den Privatsachen (Abschnitt 3.2.3.2., 3.3.2.2.). Wie ich versucht habe zu zeigen, ist es jedoch weder so, dass bestimmte Dinge natürlicher Weise zu den schützenswerten privaten Dingen zählen, noch dass es keine solch schützenswerten Bereiche gäbe. Die entscheidende Frage ist hier, wie Raymond Geuss (2002) zutreffend bemerkt, die nach dem Warum. Die Verteidiger der dezisionalen Privatheit bei Ernährungsfragen müssten also begründen, warum diese schützenswert ist. Eine allgemeine Begründung der Notwendigkeit von Privatheit, die jedoch nicht direkt auf Ernährungsfragen bezogen ist, habe ich anhand von Beate Rösslers Der Wert des Privaten (2001) vorgestellt. Dort wird das Private in einen funktionellen Zusammenhang mit Autonomie gebracht: Privatheit ist, neben klassischen Freiheitsrechten, wichtig, um ein autonomes Leben zu ermöglichen. Ziel von Freiheit als Autonomie ist ein den Umständen entsprechend möglichst selbstbestimmtes Leben, das an eigenen Grundsätzen ausgerichtet ist (siehe Abschnitt 2.2.). Das trifft auch auf Fragen des guten Lebens zu, da ethische Fragen von einem pluralistischen Standpunkt aus sich nur individuell beantworten lassen. Autonomie wird gerade deshalb so geschätzt, weil jeder nach eigenen individuellen Ideen des Guten sein Leben
94
Diskussion
ausrichten will. Ist die individuelle Ernährungsweise nun aber ein ethisches oder ein moralisches Problem? Ich plädiere dafür, zwischen dem ausreichenden Vorhandensein von Nahrung und der individuellen Verwendung derselben zu unterscheiden. Ausreichend Nahrung stellt eine Vorbedingung für Autonomie dar und kann als Voraussetzung für ein gutes Leben gesehen werden. Die genaue Verwendung der Nahrung, die sich in individuellen Ernährungsweisen niederschlägt und von u.a. kulturellen und sozialen Einflüssen bestimmt wird, ist ein Aspekt des guten Lebens oder Teil seiner Ausgestaltung.
Abbildung 1:
„Sagt der dicke Mann: ‚Zum Essen ist man auf der Welt.’“ von Wolf Erlbruch aus Die große Frage (2004).
Wie privat ist die individuelle Ernährungsweise?
95
Ernährung gehört meinem Erachten nach deshalb zu den ethischen Fragen, weil für viele Menschen die Auswahl und die Art ihrer Speisen direkt oder indirekt mit ihrem Konzept von einem guten Leben verknüpft sind. Die direkte Verknüpfung ist auf künstlerische Weise von Wolf Erlbruch mit Der dicke Mann (Abbildung 1) umgesetzt worden. Anhand dieser Illustration wird deutlicht, dass Essen selbst Sinn des Lebens sein kann. Verdeutlicht wird das auch in einer Ausgabe von ZEIT Wissen (05/2006). Unter dem Titel „Ist das noch gesund?“ werden verschiedene „Ernährungs-Religionen“ wie Makrobiotik und Veganismus porträtiert (Schurr 2006). Bestimmte Speisegesetze religiöser Art, bei denen eine bestimmte Ernährungsweise aus der Religionsausübung folgt, oder aber auch Formen von habituellem Konsum, mit dem eine Zugehörigkeit zu einem bestimmten kulturellen oder sozialen Lebensstil positiv betont wird sind Beispiele für indirekte Verknüpfungen. Versteht man die individuelle Ernährungsweise aber als ethisches Problem, dann folgt daraus mit Rösslers Begriff der dezisionalen Privatheit, dass man sich für diese nicht gegenüber beliebigen Anderen rechtfertigen muss. Staatliche Angaben darüber, wie eine gesunde Ernährung auszusehen habe, damit die öffentlichen Kassen geschont werden, wären dann problematisch, ganz zu schweigen von einem ‚Gemeinschaftsprojekt gesunde Ernährung’. Wenn Privatheit dem Schutz von individueller Autonomie dient, könnte es aber auch politische Maßnahmen bezüglich des Ernährungsverhaltens von Individuen geben, die Autonomie schützen und die im Rückschluss dann keine problematischen Eingriffe in dezisionale Privatheit wären. Wie im Abschnitt zu Autonomie und Ernährung gezeigt, gibt es auf das Ernährungsverhalten eine Vielzahl von Einflüssen. Dabei ist staatliche Ernährungsaufklärung vermutlich noch einer der geringsten Einflüsse, verglichen mit Werbung. Im Weiteren sollen deshalb die tatsächlich ergriffenen politischen Maßnahmen näher darauf untersucht werden, ob sie einen Eingriff in dezisionale Privatheit darstellen, oder diese gerade schützen helfen, weil sie Autonomie in Ernährungsfragen stärken. Ich plädiere dafür, die individuelle Ernährungsweise trotz ihrer möglichen Folgen als Teil des Privaten zu sehen, weil sie potentiell wichtiger Bestandteil von individuellen Ideen des guten Lebens Schutz vor Einsprüchen anderer verdient. Trotzdem oder gerade deshalb ergeben sich Möglichkeiten die individuelle Ernährungsweise zu beeinflussen, die keine Verletzung des Privaten bedeuten würden: zum Schutz von Autonomie.
96
Diskussion
4.2 Welche der ernährungspolitischen Maßnahmen verletzen dezisionale Privatheit? – Oder: Wird jetzt gegessen, was vom Amt kommt? 4.2 Welche der Maßnahmen verletzen dezisionale Privatheit? Aus Sicht aller politischer Parteien, das wurde in der Dokumentenanalyse deutlich, besteht Handlungsbedarf beim Thema Übergewicht, aber es existieren unterschiedliche Auffassungen darüber, wie staatliches Handeln im Bereich der Ernährung aussehen kann bzw. welche Steuerungsinstrumente zum Einsatz kommen sollen. Die Ernährungspolitik Renate Künasts bezüglich des Ernährungsverhaltens von Individuen stützt sich, das hat die Dokumentenanalyse ebenfalls ergeben, vor allem auf Aufklärung und Information. Das deckt sich auch mit Ergebnissen anderer Studien, wie dem Ernährungsbericht 2004 der DGE. Bislang gibt es keine Gesetze, die das Ernährungsverhalten regulieren, und das ist vermutlich auch nicht zu erwarten. Doch welche Möglichkeiten politischer Steuerung bieten sich dem Politikfeld Ernährung? Welche davon stärken Autonomie bei individuellen Ernährungsentscheidungen? Und welche sind für dezisionale Privatheit problematisch? Allgemein gesprochen gibt es in modernen Staaten eine ganze Reihe an Steuerungsinstrumenten, die eingesetzt werden können, um ein bestimmtes politisches Ziel zu erreichen. Folgende Instrumente können nach Braun und Giraud (2003) unterschieden werden: Zur grundlegenden Sicherstellung wichtiger öffentlicher Güter und Ressourcen dienen dem Staat traditionelle Hoheitsrechte oder direktes Anbieten von Gütern und Dienstleistungen. Will ein Staat gesellschaftliches Handeln beeinflussen, so kann er das über direkte oder indirekte Steuerung. Direkte Steuerung meint dabei staatliche Einflussnahmen über Zwang und rechtliche Regelungen. Bei der indirekten Steuerung werden wiederum drei Arten unterschieden: finanzielle Anreize, Strukturierung und Überzeugung. Finanzielle Anreize wie Steuern oder Subventionen sollen ein bestimmtes Verhalten über materielle Vor- bzw. Nachteile fördern oder hemmen. Mit Strukturierung ist beispielsweise prozedurale Steuerung gemeint, über die ein Staat gesellschaftliche Entscheidungsverfahren mit beeinflussen kann. Durch Überzeugung sollen Adressaten vom Sinn eines erwünschten Verhaltens überzeugt werden. Gängige Instrumente sind hier Information, Appelle und Propaganda (Braun/Giraud 2003: 149ff). Welche Maßnahmen von politischen Akteuren angedacht und eingesetzt werden, korrespondiert mit den jeweiligen Problembeschreibungen und Sichtweisen auf Ernährungsautonomie. Deutlich wurde das vor allem bei der Parlamentsdiskussion. Nur wenn Werbung als ernstzunehmendes Hindernis für Verbraucherautonomie gesehen wird, kommen Werbeeinschränkungen in Frage (Abschnitt 3.4.). Aber: Wie stark können Individuen ihr eigenes Ernährungsverhalten selbst bestimmen, bzw. wie autonom sind sie in ihrem Ernährungs-
Welche der Maßnahmen verletzen dezisionale Privatheit?
97
verhalten? Sind Übergewichtige hilflos ihrer Fettsucht ausgeliefert? Sind sie durch ihr selbstbestimmtes Essverhalten hauptverantwortlich für Übergewicht? Oder sind eher die äußeren Bedingungen wie Warenangebot und Produktwerbung für das Ernährungsverhalten ausschlaggebend? Die Einschätzungen in den untersuchten Dokumenten schwanken zwischen den beiden letztgenannten Varianten. Einerseits „krepieren“ sie in „den Klauen“ der Ernährungsindustrie (Abschnitt 3.2.3.1.), andererseits seien sie nur nicht genügend motiviert, ihr Ernährungsverhalten umzustellen (Abschnitt 3.1.2.5.). Im Großen und Ganzen werden die möglichen Einflüsse auf individuelles Ernährungsverhalten und Ursachen für das steigende Übergewicht relativ ausgewogen dargestellt, ohne einseitig Individuen oder Industrie zu be- oder entlasten. Alle Aspekte, die auch von der Ernährungswissenschaft für relevant gehalten werden (Abschnitt 1.2.3.), kommen vor. Bei meinen Überlegungen zu Autonomie habe ich verschiedene Zugänge zum und Einflüsse auf das Ernährungsverhalten detaillierter dargestellt (Abschnitt 2.2.2.). Bei folgenden halte ich es für möglich, dass politische Maßnahmen dezisionale Privatheit stärken helfen, indem sie generell bessere Voraussetzungen für Ernährungsautonomie schaffen helfen, weil sie größere Spielräume für aufgeklärte und informierte Entscheidungen eröffnen: eine genauere Kennzeichnung der Inhaltsstoffe und Produktionsverfahren bei Lebensmitteln erhöht bei den Konsumierenden die Wahlfreiheit; Einschränkung bei der Werbung für Kinderlebensmittel schützen diese vor Manipulation; Vermitteln von Ernährungswissen und Kochkenntnissen in Schulen und Bereitstellen von Informations- und Aufklärungsmaterialien unterstützen ebenfalls Ernährungsautonomie. Welche politischen Maßnahmen kommen in den analysierten Dokumenten zur Sprache und in welche Gruppe der angesprochenen Steuerungsinstrumente fallen diese? Wie lassen sie sich hinsichtlich ihrer Stellung zu dezisionaler Privatheit bewerten? Bildungspolitik gehört in den Bereich der grundlegenden öffentlichen Güter und Aufgaben. Das Vermitteln von Ernährungswissen und Kochkenntnissen in Schulen als Teil des staatlichen Bildungsauftrages halte ich für wichtig, da diese, wie erwähnt, die Ernährungsautonomie von Kindern und Jugendlichen unterstützen. Eine genaue Gestaltung der Lehrpläne liegt wegen der föderalistischen Arbeitsteilung bei den Ländern. Daneben scheint sich der Bund eine Entwicklung zu Nutze zu machen, die Eingriffsmöglichkeiten in die individuelle Ernährung bietet, welche ich mit Blick auf dezisionale Privatheit ebenfalls für unproblematisch halte: den zunehmenden Außer-Haus-Verbrauch. „[U]nser Essen flieht das Private“ (Fichtner 2004: 160) und es flieht auch in die Mensen und Kantinen öffentlicher Einrichtungen. Dem Staat als Betreiber oder Lizenzgeber dieser Versorgungsbetriebe bieten sich hier Möglichkeiten, auf ein „gesundes“ Angebot hinzuwirken, das die Entscheidungsfreiheit der Kunden und Kundinnen nicht zusätzlich einschränkt, da sich diese
98
Diskussion
ohnehin mit dem bestehenden Angebot begnügen müssen. Die DGE sieht diesen Trend ebenfalls als Chance für Ernährungspolitik mit wenig zusätzlichem Aufwand das Ernährungsverhalten insbesondere von Kindern nachhaltig zu beeinflussen: „Der durch die vorliegenden Ergebnisse belegte Trend einer Zunahme des AußerHaus-Verzehrs in Restaurants und Gemeinschaftsverpflegungseinrichtungen von Schulen und Arbeitsstätten eröffnet vielfältige Chancen zur zielgruppenbezogenen Ernährungsaufklärung und –information. Insbesondere für Kinder und Jugendliche handelt es sich beim Schulfrühstück oder beim Mittagessen in der Schule um sozialräumliche Gelegenheitsstrukturen, in denen sie praktisch erfahren können, dass ein an den Grundsätzen von gesundheitsförderlicher Ernährung orientiertes Angebot schmackhaft, leicht bekömmlich und abwechslungsreich sein kann. Die Entwicklung von Qualitätsstandards für die Ernährungsversorgung im öffentlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen oder Ausbildungseinrichtungen stellt somit einen wichtigen Beitrag zur Wahrnehmung der öffentlichen Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und zu ihrer Gesundheitsprävention dar.“ (DGE 2004: 93)
Als Richtschnur für eine gesunde Ernährung in Schulen gibt es bereits eine Publikation, die im Auftrag des BMVEL vom aid infodienst e.V. und der DGE (2003) herausgegeben wurde: Essen und Trinken in Schulen. Darin wird erläutert, wie die ‚richtige Ernährung’ von Grundschülern aussieht, und bei welchem Verpflegungssystem welche Vor- und Nachteile zu bedenken sind. Außerdem hat der Bund Finanzmittel zur Verfügung gestellt, mehr Ganztagsschulen zu schaffen, mit dem auch Schulküchen finanziert werden sollen (Abschnitt 3.2.3.5.; Vinz 2005a: 215). Eine Stärkung und Verbesserung der Gemeinschaftsverpflegung gerade in Schulen kommt außerdem noch einer Entwicklung entgegen, die auch mit dem zunehmenden Übergewicht in Verbindung gebracht wird: die steigende Berufstätigkeit von Frauen. Deretwegen würden insgesamt in den Familien weniger frisch zubereitete Mahlzeiten gemeinsam gegessen. Es fehlt die Zeit zu kochen und einzukaufen, die Tagesabläufe sind weniger synchron (Abschnitt 3.3.2.1.). Einerseits fordert Renate Künast zwar mehr Engagement von den Familien, z.B. morgens zehn Minuten früher aufzustehen, damit den Kindern ein gesundes Schulbrot mitgegeben werden könne; oder: „Das Wiederentdecken der gemeinsamen Mahlzeit wäre für viele Familien sicher ein Schritt zurück in die Zukunft“ (Künast 2004: 189) und wie bereits zitiert sollen auch moderne Eltern „für regelmäßige Essstrukturen kontra Kühlschrankselbstbedienung und Dauernaschen sorgen“ (ebd.). Da Künast sich aber andererseits der Vielfachbelastung von Frauen bewusst ist, die auch heute noch einen Großteil der Versorgungsarbeit in
Welche der Maßnahmen verletzen dezisionale Privatheit?
99
Familien leisten – „[g]erade Frauen müssen mit den vielfachen neuen Anforderungen zurechtkommen, sollen Supermuttis sein, erfolgreich im Beruf, dabei noch toll aussehen und natürlich jeden Tag ein Drei-Gänge-Menü auf den Tisch zaubern“ (ebd.: 127) – und da es ihr auch nicht darum geht, die Uhr zurückzudrehen „in die angeblich gute, alte Zeit, als die Mutter ihr Leben am Herd verbrachte“ (ebd.: 189), vertritt sie im Großen und Ganzen die Position, dass öffentliche Einrichtungen in die Versorgungslücke springen sollen. Eine neue Kantinenkultur bietet auch nach Vinz (2005a) die Chance, eine gesundheitlich nachhaltige Ernährungsweise zu fördern, ohne die Verantwortung dafür einseitig an Frauen zu delegieren. Diese Maßnahmen – Bildungsangebote in Schulen und „gesundes“ Essen in öffentlichen Einrichtungen verletzen also meiner Einschätzung nach die dezisionale Privatheit nicht. An geplanten regulativen Maßnahmen finden sich in den Dokumenten das Verbraucherinformationsgesetz und strengere Werberichtlinien bei Kindernahrungsmitteln. Bei den ‚Zwangsmaßnahmen’ im Rahmen der direkten Steuerung ist also keineswegs vorgesehen, einzelne zur Diät zu zwingen, oder seitens der Regierung ein tägliches Carepaket vorzuschreiben, wie eine CDU- Abgeordnete befürchtet hatte (Abschnitt 3.2.3.2.). In Abbildung 2 ist diese Angst vor einer solchen Bevormundung überspitzt dargestellt, wenngleich dabei eigentlich die deutsche Asylpolitik angeprangert wird, deren Praxis Menschen unter anderem bei ihren Lebensmitteleinkäufen auf bestimmte Supermärkte und deren Warensortimente festlegt. Dadurch wird aber nochmals deutlich, für wie wichtig es gehalten wird, nicht nur ausreichend Lebensmittel zur Verfügung zu haben, sondern selbst zu entscheiden, wie und womit man sich ernähren möchte. Jedenfalls dienen die angesprochenen regulativen Maßnahmen dem Schutz von Verbraucherautonomie allgemein und insbesondere von Kindern, die Produktwerbung in stärkerem Maß ausgeliefert sind als Erwachsene und gleichzeitig aber die Familieneinkäufe beeinflussen (siehe Abschnitt 2.2.2.). Auch hier sehe ich keine Verletzung der Privatheit. Finanzielle Anreize sind beispielsweise das Subventionieren von Grundnahrungsmitteln. Bislang nicht geplant, aber verschiedentlich diskutiert, gehört auch die erwähnte „Fettsteuer“ in diese Gruppe von Maßnahmen. Zu den strukturierenden Maßnahmen gehört die „Plattform Ernährung und Bewegung e.V.“. Diese wurde von der Bundesregierung, vertreten durch das BMELV, mitgegründet und soll ein breites gesellschaftliches Bündnis werden in das alle wichtigen Akteure einbezogen sind. Einerseits entspricht es der Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit des Problems Übergewicht, dass alle relevanten Akteure in eine solche gesamtgesellschaftlichen Strategie einbezogen werden. Andererseits verletzt
100
Diskussion
aber ein Gemeinschaftsprojekt pro Gesundheit und kontra Fett, wie bereits dargelegt, dezisionale Privatheit und ist potentiell diskriminierend.56
Abbildung 2:
56
„Es wird gegessen, was vom Amt kommt!“, Postkarte vom Förderverein PRO ASYL e.V. anlässlich des Tags des Flüchtlings 2001.
Problematisch ist dabei außerdem, dass sich durch eine solche Maßnahme des Problems nur vordergründig angenommen wird, ohne eine Wirkung zu garantieren. Bei der Plattform wird eine Schwierigkeit darin gesehen, dass die teilnehmenden Unternehmen einseitig den Aspekt Bewegungsmangel gegenüber Ernährung als Hauptursache für Übergewicht herausstellen. Durch das Sponsoring von Jugend- und Breitensportangeboten schaffen diese sich eine positive Presse und der Anteil, den ihre Produkte am Übergewicht von Kindern und Jugendlichen haben, wird verschleiert. Auf diese Gefahr weist auch die Aufforderung hin, die Unternehmen sollen sich nicht aus ihrer Verantwortung „freikaufen“ (Abschnitt 3.2.3.5.).
Welche der Maßnahmen verletzen dezisionale Privatheit?
101
Zu den Überzeugungsinstrumenten zählen Verbraucheraufklärung und Informationstätigkeiten. Darauf stützt sich – wie bereits erwähnt – die Ernährungspolitik Renate Künasts bezüglich des Ernährungsverhaltens von Individuen hauptsächlich. Aufklärung und Information tragen eindeutig zu einer größeren individuellen Ernährungsautonomie bei, auch indem sie dezisionale Privatheit möglicherweise vor Verkaufsstrategien von Unternehmen schützen. Durch die bereits genannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 26.6.2002 wurde die staatliche Aufgabe, durch Informationshandeln die Eigenverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger gegebenenfalls zu stärken, noch bekräftigt. Die Vermittlung von Ernährungswissen könnte unter heutigen Bedingungen individuelle Autonomie stärken, denn „[d]as Essen und seine Weiterungen sind nicht mehr der selbstverständlichen Allgemeinbildung zugeschlagen; es wurde vielmehr längst Stück für Stück an Spezialisten delegiert, der Arbeitsteilung überantwortet, aus dem Alltag verdrängt, und es wird mittlerweile entweder als lästige Notwendigkeit wohl oder übel verrichtet oder als Freizeitspaß missverstanden.“ (Fichtner 2004: 21)
Zum einen ist Informationspolitik, wenn sie Autonomie stärkt also kein Eingriff in dezisionale Privatheit, zum anderen kann Informationspolitik aber durchaus problematisch sein, weil die Grenzen zwischen sachlicher Information und Parteinahmen für einen bestimmten Lebensstil oft genug fließend sind. Wann bekommt Informationspolitik eine problematische Dimension? Wann wird aus sachlichen Informationen ein Eingriff in dezisionale Privatheit? Wenn Künast von einer „gesunden Ernährung“ spricht, an der sich gemeinschaftlich alle orientieren sollen, obwohl ihr bewusst ist, dass es dafür nur Näherungswerte gibt (Abschnitt 3.3.2.5.), kann man das als unerwünschten Kommentar bezüglich privater Entscheidungen werten. Auch wenn von Regierungsmitgliedern in öffentlichkeitswirksamer Weise bestimmte Lebensstile als „ungesund“, „kostspielig“ und als in der Folge „bedrohlich für das Gemeinwesen“ angeprangert werden, so macht das bestimmte Bevölkerungsgruppen in der öffentlichen Wahrnehmung für eine gesellschaftliche Problemsituation verantwortlich. Diese Sicht wird auch in den Berichten des Ministeriums transportiert, wenn es um die genaue Ausgestaltung von Informationspolitik geht. Dort wird, wie bereits erwähnt, eine „unspezifische Zielgruppenorientierung“ festgelegt, nach der es über Aufklärung auch „diejenigen zu erreichen und zu motivieren [gelte], die bisher aus unterschiedlichen Motiven keine Veranlassung oder Möglichkeit sehen, ihre ungünstigen Ernährungsgewohnheiten zu ändern“ (BMVEL 2003: 14) (Abschnitt 3.1.2.3.). Daran ändert auch nichts, dass Renate Künast eigentlich nicht will, dass die öffentliche Meinung gegen Übergewichtige arbeitet, sondern dass sie mit ihrer Politik sogar Diskriminierung abbauen möchte (Abschnitt 3.3.2.5.).
102
Diskussion
Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass die Mittel oder Maßnahmen mit denen eine Regierung versucht, bestimmte Ziele zu erreichen, mit dem politischen Selbstverständnis eines Landes korrespondieren. Für Deutschland ist aktuell die Rede vom Leitbild des kooperativen Staates, der sich in der „Tradition individueller Autonomie und Selbstorganisation“ (Braun/Giraud 2003: 148) verorte, wobei der Staat sich eher in einer koordinierenden Rolle sehe. Dem Staat bleibe „die Funktion, zu therapieren und zu moderieren“ (ebd.: 148f). Diese Charakterisierung lässt sich auch in den analysierten Quellen wieder finden. Der Staat in Renate Künasts Ernährungspolitik kann und will das Problem Übergewicht nicht allein lösen, sondern begreift sich als ein Akteur unter mehreren, aber eben in der Rolle desjenigen, der die „Präventionsfront“ organisiert, Netzwerke initiiert, die gesamtgesellschaftliche Diskussion moderiert und an Unternehmen und Verbraucher appelliert, ihre Verhaltensweisen zu ändern (u.a. Abschnitt 3.3.2.5.). Auch der Informationspolitik komme im kooperativen Staat ein großer Stellenwert zu: „die Information als Steuerungsinstrument [wird] zu einem wichtigeren Bestandteil staatlicher Steuerungsstrategien, vor allem was die Bereitstellung von Orientierungsdaten angeht“ (Braun/Giraud 2003: 169). Interessanterweise ist Kommunitarismus eine der intellektuellen Strömungen, auf die das Leitbild des kooperativen Staates zurückgeht (vgl. ebd.: 159). Dies könnte meine Interpretation der Analyseergebnisse in Abschnitt 4.1. stützen. Dort komme ich zu dem Schluss, dass das Verständnis von Privatheit, wie es in den Dokumenten vorkommt, Gemeinsamkeiten mit der kommunitaristischen Privatheitskonzeption Etzionis aufweist. 4.3 Wie plausibel wird die Notwendigkeit für ein politisches Eingreifen in individuelle Ernährungsweisen und damit unter Umständen auch in dezisionale Privatheit begründet? 4.3 Wie plausibel wird ein pol. Eingreifen begründet? Die Dokumentenanalyse hat ergeben, dass ein politisches Tätigwerden gegen das steigende Übergewicht aus zwei Gründen gefordert und auch durch diese legitimiert wird: einer Gefährdung des Gemeinwesens durch hohe Kosten im Gesundheitswesen einerseits und sozialer Gerechtigkeit andererseits. Diese beiden Argumente werde ich im Folgenden noch näher untersuchen. Zunächst jedoch eine Bemerkung: Wie bereits dargelegt, ist Privatheit kein absoluter Wert und es kann gute Gründe dafür geben, sich bei einer Güterabwägung eher für einen anderen Wert wie beispielsweise Gerechtigkeit zu entscheiden (Rössler 2001). Wenn man also zu der Ansicht kommt, dass die individuelle Ernährungsweise zu den persönlichen Belangen gehört, die begründet unter dem
Wie plausibel wird ein pol. Eingreifen begründet?
103
Schutz dezisionaler Privatheit stehen sollten, so dürfte man sich in diese nicht ohne gute Gründe einmischen. Diese Gründe ließen sich allerdings nur benennen, wenn man sich der Problematik überhaupt bewusst ist. In der Analyse wurde jedoch deutlich, dass bei der Ernährungspolitik wie sie unter Renate Künast ausgestaltet wurde, hierfür kein Problembewusstsein bestand (Abschnitte 3.1.2.2., 3.2.2.2., 3.2.3.2. und 3.3.2.2.). Zumindest für die hier untersuchten ernährungspolitischen Dokumente lässt sich sagen, dass Privatheit als eigenständiger Wert, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielt. Aus eben diesem Grund gibt es in den Dokumenten keine Begründung dafür – und das könnte es auch nicht –, weshalb es notwendig sei, dezisionale Privatheit zu verletzen. Die Begründungen beziehen sich nur auf ein allgemeines Tätigwerden der Politik. Doch nun zur Kostenfrage: An den Ernährungs- und Agrarpolitischen Berichten war die relativ steile Karriere des Themas Übergewicht deutlich geworden: 2003 erstmalig erwähnt, 2004 schon ein „massives gesellschaftliches Problem“ (Abschnitt 3.1.2.1.). In den anderen Quellen wurden regelrechte „Horrorszenarien“ entwickelt. Ohne die Problematik Übergewicht insgesamt leugnen oder schönreden zu wollen, möchte ich an dieser Stelle einige kritische Anmerkungen zu diesen Darstellungen machen. Sachlich angreifbar sind hier sicherlich die eingangs präsentierten Rahmendaten, mit deren Hilfe die Situation so drastisch gezeichnet wird, dass ein sofortiges politisches Einschreiten zwingend erscheint. Tatsächlich werden die ersten bundesweit vergleichbaren Zahlen zur Häufigkeit von Übergewicht und Fettleibigkeit unter Kindern und Jugendlichen gerade vom Robert-Koch-Institut erhoben, liegen also noch nicht abschließend vor (Pötzl 2005: 43). Des Weiteren muss davon ausgegangen werden, dass die in Abschnitt 3.2.2.1. erwähnte britische Studie, nach der die jetzt junge Generation vor ihren Eltern sterben wird, von Künast oder ihren Redenschreiber/innen überzogen interpretiert wurde (Rose 2005: 19). Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass beim Thema Übergewicht eine Bedrohung „systematisch ‚gemacht’“ (ebd.) wird. Die Angaben zu den Kosten, die die Folgeerkrankungen von Übergewicht verursachen sollen, halte ich für unzuverlässig, weil nicht eindeutig getrennt wird oder getrennt werden kann zwischen den Kosten chronischer Krankheiten allgemein und den von Übergewicht mit verursachten Fällen. Nicht alle chronischen Erkrankungen werden schließlich durch Übergewicht verursacht. Oft wird Übergewicht zudem in Aufzählungen sowohl als Krankheitsbild als auch als Krankheitsursache aufgelistet. So dargestellt erzeugt das bei mir den Eindruck, dass es nicht um eine realistische Kostenkalkulation gegangen ist. Neben den dramatischen Zukunftsszenarien, die sich teilweise daraus ergeben, wie Renate Künast mit statistischen Ergebnissen umgeht, drückt sie sich manchmal auch etwas vorsichtiger aus und erwähnt wenigstens beiläufig, dass es
104
Diskussion
sich um Wahrscheinlichkeitswerte und damit um Möglichkeiten handelt und nicht um Gewissheiten: „Fettleibige, das ist die Risikogruppe, die mit großer Wahrscheinlichkeit an ernährungsbedingten Leiden erkranken wird. Übergewicht ist dagegen nicht zwangsläufig gesundheitsgefährdend. Mit ein paar Pfund zuviel kann jemand fitter und fröhlicher sein als ein träger Magerer. Allerdings weisen viele Studien darauf hin, dass ein Übergewichtiger dazu neigt, mit den Jahren immer runder zu werden, also eines Tages fettleibig. Insofern kann Übergewicht ein erster Schritt auf dem Weg zum Gesundheitsrisiko sein.“ (2004: 36)
Die Angst vor explodierenden Kosten im Gesundheitswesen gibt es aber nicht erst, seitdem Übergewicht auf der politischen Bühne seinen Auftritt hatte. Das Gesundheitssystem gilt schon länger als potentiell ruinös. In Das Märchen von der Kostenexplosion (1998) betrachten die Autoren Braun et. al. verschiedene ‚Wahrheiten’ der Gesundheitspolitik. So zum Beispiel die Vermutung, dass das Gesundheitssystem zu teuer sei, immer teurer werde und dass es nur durch mehr Eigenverantwortung genesen könne. Der Begriff von der Kostenexplosion im Gesundheitswesen sei Mitte der 1970er Jahre aufgekommen und halte sich seitdem hartnäckig.57 „Er suggeriert eine akute Bedrohung, die unverzügliches Handeln erfordert und angesichts derer zeitraubende Bedenken zurückgestellt werden müssen“ (Braun et al. 1998: 21). Solche zeitraubenden Bedenken könnten eben auch normative Einwände sein. Die Angst vor unkontrollierbaren Ausgaben in der Zukunft durch eine regelrechten „Krankheitslawine“ halte sich weiter, weil davon ausgegangen werde, dass eine soziale Krankenversicherung stets von möglichen Kostentreibern bedroht sei, „die bis jetzt entweder nicht existiert haben oder von denen mit guten Gründen behauptet werden kann, dass ihre ausgabensteigernden Effekte künftig weitaus stärker sein werden als bisher.“ (ebd.: 35) Dazu gehört heute sicherlich auch der Faktor Übergewicht. Die Autoren 57
Die Autoren Braun et al. (1998) erklären den Sachverhalt folgendermaßen: Grundlage für die Angst vor der Kostenexplosion sei die Steigerungsrate der Beitragssätze, an der die Kostenentwicklung des Gesundheitswesens abgelesen werde. Dabei bleibe aber unklar, ob die Steigerungsrate durch einen Anstieg der Kosten oder durch einen Rückgang der Einnahmen verursacht werde. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass sich der Anteil des Bruttosozialproduktes, der für das Gesundheitswesen ausgegeben werde, sich seit 1975 nicht wesentlich verändert habe und dass aber die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung deutlich zurückgegangen seien. Das bedeutet, dass die Beitragssätze steigen, weil die Kassen durch steigende Arbeitslosigkeit, sinkender Lohnquoten und vermutlich weniger zahlungskräftige Mitglieder ihre Beiträge in den gesetzlichen Kassen einzahlen, geringere Einnahmen haben, und nicht, weil die Behandlungskosten explodieren. Wenn, wie vielfach der Fall ist, die jungen, gesunden und gut verdienenden Beitragszahler in privaten Krankenversicherungen ihre Beiträge bezahlen und nicht in den gesetzlichen Krankenkassen, dann kann das System der Umverteilung nur eingeschränkt greifen, was sich dann in steigenden Beiträgen für die übrigen Versicherten und in Zuzahlungen auswirkt.
Wie plausibel wird ein pol. Eingreifen begründet?
105
halten dagegen, dass „[d]as empirische Wissen über die Entwicklung der Krankheiten und deren Verteilung in der Bevölkerung (Epidemiologie) (…) noch immer enttäuschend gering“ sei und brauchbare Vorhersagen in der Regel nicht zulasse. Es existierten insgesamt „mehr Hinweise, die auf eine Abnahme der Krankheitslast schließen bzw. hoffen lassen, als solche, die auf starke Zunahmen hinweisen würden“ (ebd.: 47). Trotz den Veränderungen im Krankheitsgeschehen hin zu chronischen Erkrankungen, bei denen dann auch Adipositas und seine möglichen Folgen einzuordnen sind, müssten, so die Autoren, keine ausufernden Kosten befürchtet werden. Angesichts der oben ausgeführten Gesichtspunkte halte ich ein bedenkenloses Argumentieren mit den Kosten für fraglich. Neben einer vermuteten Gefährdung des Gemeinwesens durch hohe Kosten im Gesundheitswesen ist soziale Gerechtigkeit der zweite Grund, aus dem in den analysierten Dokumenten ein Eingreifen der Politik gefordert wird. Weil ein statistischer Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Bildung und Übergewicht besteht, sei es eine Frage der Gerechtigkeit etwas gegen das Übergewicht insbesondere von Kindern zu unternehmen (Abschnitte 3.2.2.4., 3.2.3.4., 3.3.2.4.). Auf Gerechtigkeit beruft es sich dabei gut, denn Gerechtigkeit ist eine „Grundnorm des Politischen“ (Ladwig 2004b: 119), eine „moralische Leitidee für Recht, Staat und Politik“ (Höffe 1995: 144) und tatsächlich besteht ein nachweislicher Zusammenhang zwischen Armut und Übergewicht (dazu u.a. DGE 2004). Wenn also von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit bei Kindern und Jugendlichen die Rede ist, handelt es sich sicher um einen „guten Grund“. Zudem ist das Prinzip der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen im Grundgesetz verbürgt (Art. 72 GG). Der Zusammenhang zwischen Ernährung und Gleichheit ist grundlegender Art. So beschreibt Eva Barlösius das Teilen von Nahrung als Ausdruck sozialer Ungleichheit, das nach hierarchischen Regeln erfolgt, beispielsweise, wer welches wie große Stück Fleisch erhält (Barlösius 1999: 12). Aber auch in der Vielfalt der Zubereitungsarten spiegelt sich soziale Ungleichheit innerhalb der Gesellschaftsstruktur wieder. Gesellschaften in denen nur geringe soziale Unterschiede bestehen, weisen wenig unterschiedliche Küchen auf (ebd.: 14). Verglichen mit anderen Differenzierungen bei Nahrungsvorlieben und Essstilen, wie z.B. nach Geschlecht, sind soziale Unterschiede am stärksten ausgeprägt. Essgeschmack ist für den Habitus bei Pierre Bourdieu, aber auch bei anderen Untersuchungen zu Lebensstilen, ein zentrales Element (u.a. Barlösius 1999; Werner 1998). Wenn es also ein erklärtes Ziel der Ernährungspolitik Renate Künasts ist, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit herzustellen, dienen die gewählten Mittel dann diesem Zweck? Diese Frage kann hier nicht ausführlich behandelt werden, doch möchte ich auf einige Unstimmigkeiten hinweisen, die dem er-
106
Diskussion
wünschten Politikergebnis abträglich sein könnten, wenn sie ihm nicht sogar widersprechen. Eine Unstimmigkeit wurde bereits im Zusammenhang mit der ersten These angesprochen. Bei einem Gemeinschaftsprojekt „gesunde Ernährung“ werden unter Umständen diejenigen angeprangert, die sich nicht so verhalten können oder wollen, wie die Gemeinschaft das wünscht. Auch das „Horrorszenario“, mit dem unterstrichen werden soll, dass gegen Übergewicht dringend etwas getan werden müsse, ist – wie bereits erwähnt – eher kontraproduktiv, wenn es darum gehen soll, Diskriminierung abzubauen. Es provoziert dazu nach „Schuldigen“ zu suchen, die wahrscheinlich in den bislang fürsorglich-vernachlässigten Unterschichten (Nolte 2004) gefunden werden. Ein weiteres Problem bei der gewählten Strategie ist mit dem oben beschriebenen Leitbild des kooperativen Staates verknüpft, in dessen Rahmen sich auch die Ernährungspolitik Renate Künasts bewegt. Dieses Leitbild bringt für den Sozialstaat eine Neuorientierung hin zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat mit sich (Dingeldey 2006: 8). Gleichheit meint dort vorwiegend Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit. Strategien dafür sind Prävention und Stärken der Eigenverantwortung von Individuen. Diese Charakteristika treffen auch auf die untersuchte Ernährungspolitik zu. Da diese, wie bereits festgestellt, sich zudem überwiegend auf Aufklärung und Information stützt, lässt sich weiter sagen, dass eher Verhaltensprävention als Verhältnisprävention betrieben wird, wobei die Bürgerinnen und Bürger zu einem gesundheitlich optimierten Verhalten ermuntert werden sollen (siehe auch Abschnitt 1.2.1.). Dabei gilt es folgendes zu bedenken: „Die vorwiegend auf Verbraucherinformation setzende Präventionsstrategie erreicht viele gefährdete Personen nicht und beeinflußt das mit abnehmender Schicht steigende Risiko, an nahrungsbezogenen Erkrankungen zu leiden, nicht ausreichend.“ (Köhler 1990: Abstract; ähnlich auch bei Fülgraff 1994) Braun et. al. erklären diesen Sachverhalt wie folgt: „Verantwortung setzt jedoch sowohl Fähigkeiten als auch Möglichkeiten voraus, autonom zu handeln. Wer an der Gestaltung seiner Arbeits- und Lebensumwelt teilhaben kann und wer dazu die bildungsmäßigen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Fähigkeiten besitzt, kann verantwortlich sein. Sowohl die objektiven als auch persönlichen Voraussetzungen sind sozial ungleich verteilt. ‚Stärkung der Eigenverantwortung’ als Legitimationsformel beim Abbau des Sozialstaats verstärkt diese Chancenungleichheit, die Schwachen werden weiter geschwächt. Das Solidaritätsprinzip wird suspendiert.“ (Braun et. al. 1998: 11)
Der Gesichtspunkt der Eigenverantwortung ist auch unter dem Blickwinkel einer „fairen“ Risikobewertung zu betrachten. Mögliche gesundheitliche Folgen eines als riskant identifizierten Lebensstiles sollen von den Verantwortlichen selbst
Wie plausibel wird ein pol. Eingreifen begründet?
107
getragen werden. Die Autoren sprechen hier plakativ von einer „Sündensteuer“ (ebd.: 103). Es sei aber fast nicht möglich zwischen normalen und riskanten Lebensstilen zu unterscheiden. Wenn aber das individuelle Risiko gegebenenfalls als Berechnungsgrundlage für Krankenkassenbeiträge herangezogen würde, dann entspräche das nicht mehr dem Solidaritätsprinzip, bei dem einkalkuliert werden müsse, dass nicht immer alle sich vernünftig und rational verhalten, sondern eben bisweilen auch riskant. „Solange Autofahren, Rauchen, Alkoholgenuß, und verletzungsanfällige Sportarten Teil der Alltagskultur sind, gehört die Absicherung der damit verbundenen Risiken zum Standardtarif einer jeden Krankenversicherung, egal ob PKV oder GKV. Es ist einfach zu schwierig, die Grenze zwischen ‚riskanten’ und ‚normalen’ Lebensstilen zu ziehen. ‚Workaholics’ und so manches Kantinenessen ließen sich ebenso in die Rubrik ‚riskanter Lebensstil’ einordnen wie der regelmäßige Verzehr gängiger Fastfood-Menüs.“ (ebd.: 103)
Der letzte Aspekt betrifft das Idealbild ‚gesunde Ernährung’, das – so diffus es auch tatsächlich sein mag – bei Künast der ‚Gemeinschaft’ als Orientierung und Ziel dienen soll, was ich bereits in Abschnitt 4.2. unter dem Gesichtspunkt der dezisionalen Privatheit problematisiert habe. Es gilt zu bedenken, dass der ideale Ernährungsstil eher dem Geschmack der Mittel- und Oberschicht entspricht als dem der sozial Unterprivilegierten (Barlösius 1999) und das nicht nur aus materiellen Gründen. Zwar zählen gerade Obst und Gemüse zu den teuren Nahrungsmitteln, die in armen Familien deshalb weniger konsumiert werden (Köhler 1995: 283), doch ist für die schlechtere Ernährung in Armut auch fehlendes Wissen mitverantwortlich. Folgendes lässt sich feststellen: „Evaluiert man (…) die von der Ernährungswissenschaft propagierten ‚vernünftigen’ Kostformen und -zusammenstellungen, dann zeigt sich bei realistischer Betrachtung, daß deren Einhaltung für die Mehrheit der Angesprochenen wohl einen zu hohen Aufwand bedeuten.“ (Diehl 1996: 55)
Als Folge komme es zu einem weiteren sichtbaren Merkmal gesellschaftlicher Marginalisierung: dem bereits zitierten „klassencharakteristischen Bauch“ (Abschnitt 3.3.2.4.). Die Konsummuster, die zu einem solchen Bauch führen können, sind Teil dessen, was heute auch als Unterschichtenkultur bezeichnet wird. Durch diese, so Paul Nolte, würden „Mauern der gesellschaftlichen Marginalisierung errichtet“, die neben geringen Bildungschancen über Esskultur auch Übergewicht beinhalten. Ein Brandmarken dieser Esskultur als „Fehl“-Ernährung solle zwar letztlich zu einer Unterstützung der Betroffenen führen, sei aber gleichzeitig ein öffentliches Parteiergreifen zugunsten bestimmter kultureller
108
Diskussion
Ideale der Schlankheit und Leistungsfähigkeit (Nolte 2004: 63). Bourdieu meint dazu: „Die Eß- und Trinkkultur ist sicherlich einer der wenigen Bereiche, wo die unteren sozialen Schichten der Bevölkerung in einem expliziten Gegensatz zur legitimen Lebensart stehen.“ (1984: 292, zitiert nach Barlösius 1999: 117). Geht es bei den Auseinandersetzungen um ‚gesunde Ernährung’ dann letztlich auch um die Frage, wer die Macht hat, „Eßstile nicht nur als geschmacklos, sondern auch als unmoralisch zu bezeichnen“ (Barlösius 1999: 116f). Wenn Renate Künast öffentlich bestimmte Vorstellungen vom „guten Essen und Leben“ lobt, weil sie ‚gesund’ seien, und wenn sie andere problematisiert, weil sie der Gemeinschaft schaden, so verletzt sie damit die dezisionale Privatheit der Individuen in Ernährungsfragen. Vermutlich erreicht sie dadurch aber keine Angleichung der Lebensverhältnisse, sondern eine Trotzreaktion. Eva Barlösius vermutet, dass „sich hinter dem geringen Erfolg der Ernährungsberatung in unteren sozialen Lagen sozialer Protest verbirgt. Dieser bezieht sich wahrscheinlich weniger auf das ernährungspolitisch angestrebte Körperbild und die propagierte Ernährungsweise. Vielmehr drückt sich darin die Wertschätzung der eigenen kulturellen Vorstellungen von einem ‚guten Essen und Leben’ aus, die entschieden verteidigt werden. Von der Ernährungsaufklärung und -erziehung wird dies häufig als Uneinsichtigkeit und Trotzigkeit interpretiert und nicht als soziales Ringen um einen eigenen Lebensstil, der kulturelle Identität herstellt und sichert.“ (ebd.: 223)
Gerade wenn Ernährungspolitik Gerechtigkeit argumentativ ins Feld führt, müssen die oben angerissenen Unstimmigkeiten beachtet und geklärt werden.
Fazit
109
5 Fazit Fazit
Diese Arbeit geht von der Feststellung aus, dass Übergewicht heute weltweit, aber insbesondere in den westlichen Industrieländern, zu einem Politikum avanciert ist in dem Sinne, dass sich eine problematische Entwicklung auch für das öffentliche Leben abzuzeichnen scheint. Diese Entwicklung ist einerseits problematisch wegen der Kosten, die der Allgemeinheit vermittelt durch das Gesundheitswesen aufgebürdet werden, und andererseits wegen der Verschärfung sozialer Unterschiede. Als Handlungsfeld ist Übergewicht bereits in der Politik angekommen, in der Bundesrepublik vor allem vorangetrieben von der ehemaligen Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Renate Künast. Ausgehend vom Titel dieser Arbeit Übergewicht als Politikum? formuliere ich eingangs zwei Unterfragen: eine nach dem Sein und eine nach dem Sollen. Die erste dieser Fragen lässt sich bejahen, denn Übergewicht ist ein Politikum. Auf die zweite Teilfrage, sollte Übergewicht unter normativen Gesichtspunkten überhaupt ein Politikum sein? versuche ich, in dieser Arbeit eine Antwort zu finden. Kann es wirklich Aufgabe von Politik sein, die individuelle Ernährungsweise der Bevölkerung zu thematisieren und zu beeinflussen? Ist nicht das, was wir essen, Teil unserer Privatheit? Steht eine Ernährungspolitik, die individuelle Ernährungsweisen lenken will, möglicherweise in Konflikt mit normativen Vorstellungen des Privaten? Um mögliche Antworten auf diese Fragen zu erhalten, habe ich drei Thesen aufgestellt, die sich theoretisch und praktisch mit den Begriffen des Privaten und deren Verknüpfung mit Ernährung und Übergewicht auseinandersetzen. Jede der Thesen beinhaltet ein anderes Bewertungskriterium dafür, ob ein gegebenenfalls kritikwürdiger Eingriff ins Private vorliegt. Danach hängt es gemäß der ersten These vom jeweiligen Begriff des Privaten ab, ob eine bestimmte politische Maßnahme als problematischer Eingriff ins Private gewertet wird. Der zweiten These zufolge ist Art und Charakter der tatsächlichen Maßnahmen entscheidend. Laut der dritten These kommt es noch darauf an, wie ein solcher Eingriff ins Private legitimiert wird, denn Privatheit ist kein absoluter Wert, und es kann für ein Tätigwerden der Politik gute Gründe geben, obwohl dezisionale Privatheit davon gegebenenfalls negativ betroffen wäre. Da es in dieser Arbeit konkret um die Ernährungspolitik Renate Künasts geht, werden verschiedene Dokumente, in denen diese Politik dargestellt und begründet wird mit Hilfe einer Dokumentenanalyse erschlossen. Genauer gesagt
110
Fazit
wird eine inhaltliche Strukturierung vorgenommen nach Aspekten, die es zulassen, Renate Künasts Ernährungspolitik entlang der drei Thesen zu bewerten. In der Diskussion versuche ich, anhand der Analyseergebnisse Aussagen über das Verhältnis der Ernährungspolitik Renate Künasts und Privatheit zu treffen: Kann man hier einen unzulässigen Eingriff ins Private kritisieren? Wenn ja, gemäß welchem Begriff von Privatheit? Wird dafür in den Dokumenten ein Problembewusstsein sichtbar? Die Aussagen zu Privatheit in den untersuchten Dokumenten lassen mich zu dem Schluss kommen, dass die Argumentation von Frau Künast dem kommunitaristischen und dem klassisch-liberalen Verständnis von Privatheit am nächsten kommt. Das halte ich für problematisch, da hierbei nicht wie bei Beate Rössler dem Privaten ein eigener Wert zugesprochen wird. Als Folge davon können politische Maßnahmen in ihrem Verhältnis zu Privatheit nicht ausreichend analysiert und begründet werden. Übergewicht ist ein Problem, bei dem es gute Gründe dafür gibt, dass es auch ein Politikum sein sollte, vor allem im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit. Gleichzeitig kann die individuelle Ernährungsweise aber begründbar den Schutz dezisionaler Privatheit beanspruchen, und es liegt nahe zu befürchten, dass durch ein politisches Eingreifen in individuelle Ernährungsweisen diese Privatheit verletzt werden könnte. Es bieten sich aber auch Möglichkeiten politischer Steuerung, die dezisionale Privatheit schützen helfen, weil sie Autonomie schützen: Informations- und Aufklärungsangebote, das geplante Verbraucherinformationsgesetz, Ernährungsbildung in Schulen und ähnliches mehr. Solange eine Ernährungspolitik sich dieser Mittel bedient, muss sie sich nicht vorwerfen lassen, dezisionale Privatheit zu verletzen. Kritisch zu bewerten ist hingegen ein ‚Gemeinschaftsprogramm gesunde Ernährung’, bei dem bestimmte Ernährungsstile lobend hervorgehoben und andere als ‚Bedrohung für das Gemeinwesen’ gebrandmarkt werden. Staatliche Appelle das eigene Ernährungsverhalten an anderen Prinzipien auszurichten, als man das bisher tut oder möchte, verletzen nicht individuelle Freiheit, wohl aber dezisionale Privatheit. Solch eine differenzierte Sicht der Dinge findet sich in den von mir untersuchten Dokumenten nicht. Vielmehr wird der Begriff Privatheit im Sinne eines politischen Kampfbegriffes dazu verwendet, dem politischen Gegner eine Grenzüberschreitung vorzuwerfen. Aber: nicht jede politische Maßnahme, die auf die individuelle Ernährung abzielt verletzt dezisionale Privatheit, da diese nicht nur Schutz vor Einsprüchen des Staates benötigt, sondern auch Schutz vor Einwirkungen Anderer, wie vor einseitiger oder unvollständiger Produktwerbung. Besonders in diesem Punkt, das hat sich in meiner Analyse gezeigt, werden Einflüsse auf den Einzelnen und seine Ernährung von den politischen Akteuren unterschiedlich bewertet.
Fazit
111
Aber selbst wenn eine normative Ernährungspolitik die Privatheit von Individuen verletzen würde, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass sie nicht Thema der Politik sein dürfe, wenn es gute Gründe für eine solche Politik gibt, wie zum Beispiel das Herstellen von Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Das Thema Übergewicht wird in Zukunft sicher nicht nur der bundesdeutschen Politik, sondern auch den Gesellschaften anderer Industrienationen – allen voran den USA – erhalten bleiben. Mit dieser Arbeit bin ich einen ersten Schritt in die Richtung gegangen, auch normativ zu untersuchen, wie Politik mit dem Thema Übergewicht umgeht. Privatheit bzw. die Grenze zwischen politisch und privat war dabei mein Hauptinteresse. Für die politikwissenschaftliche Forschung eröffnet sich ein neues, weitgehend unbestelltes, aber sicherlich lohnendes Feld. Meine Überlegungen zu Ernährung, Übergewicht und Privatheit sind ein Anfang, diesen vielschichtigen Themenkomplex zu erschließen. Wünschenswert wären meiner Meinung nach Untersuchungen der Politik zum Thema Übergewicht in ihrem Verhältnis zu weiteren normativen Aspekten – allen voran zu dem der Gerechtigkeit, der in dieser Arbeit nur am Rande behandelt werden konnte. Dabei wäre es sicherlich nicht nur ernährungspolitisch interessant zu fragen, welche politischen Steuerungsinstrumente tatsächlich geeignet wären, mehr soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit herzustellen.
Literaturverzeichnis
113
6 Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis
Primärquellen BMVEL (2001): Agrarbericht der Bundesregierung, Berlin. BMVEL (2002): Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht der Bundesregierung, Berlin. BMVEL (2003): Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht der Bundesregierung, Berlin. BMVEL (2004a): Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht der Bundesregierung, Berlin. BMVEL (2004b) : Verbraucherpolitischer Bericht der Bundesregierung, Berlin. BMVEL (2005): Agrarpolitischer Bericht der Bundesregierung, Berlin. Deutscher Bundestag (2004): „Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Eine neue Ernährungsbewegung für Deutschland“, in: Stenografischer Bericht, Plenarprotokoll 15/114, 17. Juni 2004, Berlin, S. 10322-10344. Künast, Renate (2004): Die Dickmacher – Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen, München: Riemann.
Sekundärliteratur aid infodienst e.V. (Hg.) (2005a): Vollwertig essen und trinken nach den 10 Regeln der DGE, Bonn. aid infodienst e.V. (Hg.) (2005b): Essen und Psyche: Ansätze für Beratung und Bildung, Bonn. aid infodienst e.V./ DGE e.V. (Hg.) (2003): Essen und Trinken in Schulen, Bonn. Barlösius, Eva (1999): Soziologie des Essens – Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, Weinheim/München: Juventa. Barlösius, Eva/ Feichtinger, Elfriede/ Köhler, Barbara Maria (Hg.) (1995): Ernährung in der Armut. Gesundheitliche, soziale und kulturelle Folgen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: WZB. Bayer, Otto/ Kutsch, Thomas/ Ohly, H. Peter (1999): Ernährung und Gesellschaft: Forschungsstand und Problembereiche, Opladen: Leske+Budrich. Berlin, Isaiah (1995): Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/M.: Fischer. Blickpunkt Bundestag Glossar (1999): „Regierungserklärung“, http://www.bundestag.de/wissen/glossar_daten/R/regierungserkl.html, download 2.2.2006. Bok, Sissela (1983): Secrets: on the ethics of concealment and revelation, New York: Pantheon Books. Bouchard, Claude (1997): “Genetics of Human Obesity: Recent Results from Linkage Studies”, in: Journal of Nutrition, 127(1997), S. 1887-1890.
114
Literaturverzeichnis
Braun, Bernhard/ Kühn, Hagen /Reiners, Hartmut (1998): Das Märchen von der Kostenexplosion: Populäre Irrtümer zur Gesundheitspolitik, Frankfurt/ M.: Fischer. Braun, Dietmar/ Giraud, Olivier (2003): „Steuerungsinstrumente“, in: Klaus Schubert/ Nils C. Bandelow (Hg.) (2003), Lehrbuch der Politikfeldanalyse, München, Wien: Oldenbourg Verlag, S. 147-174. Brown, Wendy (1995): States of Injury. Power and Freedom in Late Modernity, Princeton, New Jersey. Bundesverfassungsgericht (Hg.): Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Urteil vom 26.6.2002: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20020626_1bvr055891.html, download 25.05.2006. Burnett, John/ Oddy D.J. (Hg.) (1994): The Origins and Development of Food Policies in Europe, London/New York: Leicester Univ. Press. Cohen, Jean L. (1997): “Rethinking Privacy: Autonomy, Identity, and the Abortion Controversy”, in: Weintraub, Jeff/Kumar, Krishan (Hg.): Public and private in thought and practice: perspectives on a grand dichotomy, Chicago/London: University of Chicago Press, S. 133-165. de Haas, Veronika (2005): „Ein dickes Problem wächst heran“, in: die tageszeitung, 11.November 2005, S.22. Dewey, John (2001): Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Berlin, Wien: Philo Verlagsgesellschaft. [Original: The Public and its Problems, Swallow Press 1927] DGE (Hg.) (2004): Ernährungsbericht 2004, Bonn. Diehl, Jörg M. (1996): „Sozio-kulturelle Einflüsse im Ernährungsverhalten von Kindern und Jugendlichen“, in: Ministerium Ländlicher Raum Baden-Württemberg (Hg.): Kinderernährung heute, Hohengehren: Schneider Verlag, S. 45-81. Dingeldey, Irene (2006): „Aktivierender Wohlfahrtsstaat und sozialpolitische Steuerung“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 8-9/2006, S. 3-9. Erlbruch, Wolf (2004): Die große Frage, Wuppertal: Peter Hammer Verlag. Etzioni, Amitai (1999): The Limits of Privacy, New York: Basic Books. Europäische Kommission (2003): Sachstandsbericht über die Arbeit der Europäischen Kommission im Bereich der Ernährung in Europa, Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften. Ferrara, Alessandro (1994): “Authenticity and the Project of Modernity”, in: European Journal of Philosophy, 2(3), S. 241-273. Fichtner, Ullrich (2004): Tellergericht. Die Deutschen und das Essen, München: Deutsche Verlags-Anstalt. Forst, Rainer (1994): Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Fülgraff, Georges (1994): „Gesundheit als individuelle moralische Verpflichtung: über Public Health“, in: Leviathan : Zeitschrift für Sozialwissenschaft, H. 4, Jg. 22, S. 593-604. Geuss, Raymond (2002): Privatheit – eine Genealogie, Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Guggenberger, Bernd (1997): „Regierungserklärung“, in: Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Uwe Andersen/ Wichard Woyke (Hg.), Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 480-482. Hammerle, Nancy (1992): Private Choices, Social Costs, and Public Policy: An Economic Analysis of Public Health Issues, Westport: Praeger.
Literaturverzeichnis
115
Hirschfelder, Gunther/ Portz, Tanja (2005): „Von der Brot- und Breispeise zur Tütensuppe und Tiefkühlpizza“, in: Peter Lummel/ Alexandra Deak (Hg.): Einkaufen! Eine Geschichte des täglichen Bedarfs, Arbeit und Leben auf dem Lande Bd. 10, Berlin: Verein der Freunde der Domäne Dahlem e.V, S. 129-144. Höffe, Otfried (1995): „Gerechtigkeit“, in: Dieter Nohlen/ Rainer-Olaf Schultze (Hg.) (1995): Lexikon der Politik, Band 1, München: C.H. Beck, S. 144-152. Hoffmann, Werner/ Schwartz, Wilhelm (1992): „Public Health: Gesundheitspolitik und akademische Disziplin, Entwicklung in den alten Bundesländern“, in: „Wer oder was ist „Public Health“?“, Das Argument, Sonderband 198, Hamburg, Berlin: Argument Verlag, S. 6-24. Honneth, Axel (1993a): „Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophische Konsequenzen aus der modernen Subjektkritik“, in: Christoph Menke/ Martin Seel (Hg.): Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Honneth, Axel (Hg.) (1993b): Kommunitarismus: Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt, New York: Campus Verlag. IGLO-Forum Studie (1995): Genussvoll essen, bewusst ernähren – Gemeinsamkeiten am deutschen Tisch, Hamburg. International Encyclopaedia of the Social & Behavioural Sciences, Neil J. Smelser/ Paul B. Baltes (Hg.), 26 Bände, Amsterdam u.a.: Elsevier. Kersh, Rogan/ Morone, James (2002): “How the Personal Becomes Political: Prohibitions, Public Health, and Obesity”, Studies in American Political Development, 16/2002, S.162-175. Kjærnes, Unni u.a. (Hg.) (1993): Regulating Markets Regulating People: On Food and Nutrition Policy, Oslo: Novus Forlag. Köhler, Barbara Maria (1990): Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik: Ernährung und Ernährungspolitik, Berlin: Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik, WZB (90,203). Köhler, Barbara Maria (1995): „Ernährung in der Armut – Folgen für die Gesundheit“, in: Eva Barlösius/ Elfriede Feichtinger/ Barbara Maria Köhler (Hg.) (1995): Ernährung in der Armut. Gesundheitliche, soziale und kulturelle Folgen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: WZB. Künast, Renate (2002): Klasse statt Masse: die Erde schätzen, den Verbraucher schützen, München: Econ. Ladwig, Bernd (2004a): „Freiheit“, in: Gerhard Göhler/ Matthias Iser/ Ina Kerner (Hg.): Politische Theorie: 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 83-100. Ladwig, Bernd (2004b): „Gerechtigkeit“, in: Gerhard Göhler /Matthias Iser/ Ina Kerner (Hg.): Politische Theorie: 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 119-136. Logue, Alexandra W. (1995): Die Psychologie des Essens und Trinkens, Heidelberg u.a.: Spektrum Akademischer Verlag. Ludwig, Udo/ Pötzl, Norbert F. (2005): „Die Ratschläge sind Hokuspokus“, in: SPIEGEL Spezial „Besser Essen, Besser Leben. Ernährung und Gesundheit“, Nr. 5/2005, S. 60-62.
116
Literaturverzeichnis
Mayring, Philipp (1988): Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken, Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Mayring, Philipp (1993): Einführung in die qualitative Sozialforschung: Eine Anleitung zu qualitativem Denken, Weinheim: Psychologie-Verlags-Union. Mill, John Stuart (1988): Über die Freiheit, Stuttgart: Reclam. Moore, Barrington (1984): Privacy: studies in social and cultural history, Armonk, NY: Sharpe. Nolte, Paul (2004): Generation Reform: Jenseits der blockierten Republik, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 466. Nussbaum, Martha/ Sen, Amartya (eds.) (1993): The Quality of Life, Oxford: Clarendon Press. Pateman, Carole (1983): “Feminist Critiques of the Public/Private Dichotomy”, in: Benn, S.I. und G.F. Gaus (Hg.): Public and Private in Social Life, New York: St. Martin’s Press, S. 281-303. Pesch, Volker (2005): „John Stuart Mill“, in: Peter Massing/ Gotthard Breit (Hg.), Demokratie-Theorien. Von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Pinstrup-Andersen, Per (Hg.) (1993): The political economy of food and nutrition policies, Baltimore u.a.: Johns Hopkins Univ. Press. Pollmer, Udo/ Warmuth, Susanne (2000): Lexikon der populären Ernährungsirrtümer: Mißverständnisse, Fehlinterpretationen und Halbwahrheiten von Alkohol bis Zucker, Frankfurt am Main: Eichborn. Pötzl, Norbert F. (2005): „Das große Fressen“, in: SPIEGEL Spezial „Besser Essen, Besser Leben. Ernährung und Gesundheit“, Heft 5/2005, S.38-43. Prahl, Hans-Werner/ Setzwein, Monika (1999): Soziologie der Ernährung, Opladen: Leske+Budrich. Pudel, Volker/ Westenhöfer, Joachim (1998): Ernährungspsychologie: Eine Einführung, Göttingen u.a.: Hogrefe. Raz, Joseph (1988): The Morality of Freedom, Oxford: Clarendon Press. Rede des Staatssekretärs im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Gert Lindemann, vom 28.11.2005: http://www.bmelv.de/index000315E5805D13909F316521C0A8D816.html, download 2.1.2006. Reh, Werner (1995): „Quellen und Dokumentenanalyse in der Politikfeldforschung: Wer steuert die Verkehrspolitik?“, in: Ulrich von Alemann (Hg.), Politikwissenschaftliche Methoden: Grundriß für Studium und Forschung, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 201-247. Rose, Lotte (2005): „;Überfressene’ Kinder – Nachdenklichkeiten zur Ernährungs- und Gesundheitserziehung“, in: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, Jg. 35, (1) 2005, S. 19-34. Rosenbrock, Rolf (1992): „AIDS: Fragen und Lehren für Public Health“, in: Wer oder was ist „Public Health“?, Das Argument, Sonderband 198, Hamburg, Berlin: Argument Verlag, S. 82-114. Rössler, Beate (2001): Der Wert des Privaten, Frankfurt/ M.: Suhrkamp.
Literaturverzeichnis
117
Schurr, Eva-Maria (2006): „Die Besser Esser“, in: ZEIT Wissen, 05/2006, http://www.zeit.de/zeit-wissen/2006/05/Titel_Ernaehrung.xml?page=all, download 21.08.2006. Schworm, Heidi (1996): „Der Lebensmittelmarkt für Kinder“, in: Ministerium Ländlicher Raum Baden-Württemberg (Hg.): Kinderernährung heute, Hohengehren: Schneider Verlag, S. 25-43. Smith, Janna M. (2001): “Personal Privacy. Cultural Concerns”, in: International Encyclopaedia of the Social & Behavioural Sciences, Neil J. Smelser/ Paul B. Baltes (Hg.), Amsterdam u.a.: Elsevier, Vol. 16, S. 11250-11254. Stachow, Rainer/ Stübing, Kurt (2004): Trainermanual: Leichter, aktiver, gesünder - interdisziplinäres Konzept für Schulung übergewichtiger oder adipöser Kinder und Jugendlicher, Bonn: aid. Stoljar, Natalie (2001): “Philosophy of Autonomy”, in: International Encyclopaedia of the Social & Behavioural Sciences, Neil J. Smelser/ Paul B. Baltes (Hg.), Amsterdam u.a.: Elsevier, Vol. 2, S. 1009-1015. Sullum, Jacob (2004): “The War on Fat. Is the size of your butt the government’s business?”, in: reason. Free Minds and Free Markets, August/ September 2004, http://www.reason.com/news/show/29238.html, download 18.8.2006. Taylor, Charles (1988): Negative Freiheit?, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Thimm, Katja (2005): „Bewegte Kindheit“, in: SPIEGEL Spezial „Besser Essen, Besser Leben. Ernährung und Gesundheit“, Nr. 5/2005, S. 44-48. Timmer, C. Peter u.a. (1983): Food Policy Analysis, Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press. Vinz, Dagmar (2005a): Zeiten der Nachhaltigkeit: Perspektiven für eine ökologische und geschlechtergerechte Zeitpolitik, Münster: Westfälisches Dampfboot. Vinz, Dagmar (2005b): „Nachhaltiger Konsum und Ernährung. Private KonsumentInnen zwischen Abhängigkeit und Empowerment“, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 138, 35. Jg., 2005(1), S. 15-33. Waskow, Frank/ Rehaag, Regine (2004): Ernährungspolitik nach der BSE-Krise: ein Politikfeld in Transformation, Diskussionspapier Nr. 6, Köln: Katalyse Institut für angewandte Umweltforschung. Weintraub, Jeff/ Kumar, Krishan (Hg.) (1997): Public and private in thought and practice: perspectives on a grand dichotomy, Chicago/London: Univ. of Chicago Press. Werner, Georg (1998): Soziale Lage und Lebensstil. Eine Typologie, Opladen: Leske+Budrich. WHO (2003): “Diet, Nutrition and the Prevention of Chronic Diseases”, WHO Technical Report Series 916, Genf: WHO. WHO (o.J.): http://www.who.int/nut/obs.htm, download: 30.11.2005.