Buch Das älteste Gewerbe der Welt? Mag sein, doch Belle de Jour, ein Londoner Edel‐Callgirl, bewe...
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Buch Das älteste Gewerbe der Welt? Mag sein, doch Belle de Jour, ein Londoner Edel‐Callgirl, beweist mit ihren intimen Aufzeich‐ nungen, dass diese Profession auch einer modernen jungen Frau wunderbar gemäß kann. Vorausgesetzt, sie mag tabulosen Sex und versteht es, stets getreu dem Motto zu leben: »Tu nichts für Geld, was du nicht auch so tun wurdest.« Schon als sie die Fotografin ihrer Dating‐Agentur frustrierte, weil sie sich einfach nicht das Lachen über die absurde Situation des lasziven Posie‐ rens verkneifen konnte, entdeckte Belle de Jour die komischen Seiten ihres Gewerbes – und beschloss, darüber zu schreiben. Heraus kam ein preisgekröntes Online‐Tagebuch, das sich un‐ gebrochener Beliebtheit erfreut, und bald darauf Buchverträge in der ganzen Welt. In ihren intimen Aufzeichnungen erfahren die Leser nicht nur, was Belle zu dieser doch nicht ganz gewöhn‐ lichen Berufswahl bewog, was es mit dem Boy, N und den vier As auf sich hat oder welche Dessous zu welchem ›Anlass‹ passen, sondern vor allem natürlich, was Männer wirklich wollen – und was Frauen tatsächlich darüber denken. Und das immer offen, manchmal schockierend und stets herrlich frech. Autorin Belle de Jour ist das Pseudonym eines Londoner Edel‐Callgirls. Und obwohl sich Heerscharen von Journalisten die Köpfe zer‐ brochen und die Finger wund geschrieben haben, bleibt ihre wahre Identität ihr süßes Geheimnis. Nach dem durchschlagenden Erfolg ihres Online‐Tagebuches und der daraus resultierenden Aufzeichnungen in Buchform schreibt Belle nun Artikel für Medien rund um den ganzen Erd‐ ball – von The Daily Telegraph bis zur Tribune.
Belle de Jour
Die intimen Aufzeichnungen eines Londoner Callgirls Aus dem Englischen von Andrea Fischer
GOLDMANN
Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »The Intimate Adventures of a London Call Girl« bei Weidenfeld & Nicolson, London. Verlagsgruppe Random House FSC‐DEVU‐0100 Das FSC‐zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher aus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier. 2. Auflage Deutsche Erstausgabe Januar 2006 Copyright © der Originalausgabe 2005 by Bizrealm Limited All rights reserved Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: Design Team München Redaktion: Sigrun Zühlke An – Herstellung: Str. Satz: DTP Service Apel, Hannover Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN‐10: 3‐442‐46069‐7 ISBN‐13:978‐3‐442‐6069‐4 www.goldmann‐verlag.de 0H
F und N gewidmet
Dieses Buch wäre ohne die Unterstützung und Geduld von Patrick Walsh und Helen Garnons‐Williams nicht möglich gewesen, auch ihren Angestellten und Mitarbeitern gilt mein Dank.
Zuerst muss ich eines klarstellen: Ich bin eine Hure. Das ist nicht einfach so dahergesagt. Ich meine das nicht in dem Sinne, als hätte ich einen langweiligen Schreibtisch‐ job oder würde in den neuen Medien arbeiten. Ich kenne viele, die behaupten, ein einjähriger Zeitvertrag oder ein Job als Verkäufer, das sei schon so etwas wie Prostitution. Stimmt nicht. Ich weiß das, denn ich hatte Zeitverträge und habe für Geld gevögelt. Beides hat nichts miteinander zu tun, nicht im Geringsten. Das sind zwei völlig verschiedene Sonnensysteme. Außerdem muss man wissen, dass ich in London lebe. Diese beiden Tatsachen haben möglicherweise etwas mit‐ einander zu tun. London ist keine billige Stadt. Wie fast alle meine Freunde bin ich nach der Uni voller Hoffnung auf einen Job hergezogen. Wenn schon keinen gut bezahl‐ ten, dann wenigstens einen interessanten oder einen, in dem es vor gut aussehenden, heiratsfähigen Männern nur so wimmelt. Aber solche Stellen sind rar gesät. Irgend‐ wann landet fast jeder, so wie meine Freunde A2 und A3, die in ihren akademischen Kreisen durchaus geschätzt werden, in der Finanzbuchhaltung. Bloß das nicht! Erbsen zählen ist schlimmer als der Tod. Auf der Liste der abtör‐ nendsten Berufe kommt der Buchhalter noch vor dem Uniprofessor. Prostitution ist eine regelmäßige, aber nicht besonders anstrengende Arbeit. Ich lerne viele Menschen kennen. Si‐ 7
cher, die meisten sind Männer, die ich normalerweise nur einmal treffe und mit denen ich schlafen muss, auch wenn sie behaarte Leberflecke und nur noch drei Zähne im Mund haben oder wenn sie verlangen, dass ich ihre Ge‐ schichtslehrerin aus dem letzten Schuljahr spiele. Aber das ist immer noch besser, als die Uhr anzustarren, auf dass sie die nächste offizielle Pause im trostlosen Gemeinschafts‐ raum anzeige. Wenn meine Freunde also mit dem strapa‐ zierten Vergleich kommen, im Angestelltenverhältnis müs‐ se man sich prostituieren, dann nicke ich wissend und bedaure ihr Schicksal. Anschließend kippen wir unsere Cocktails und fragen uns, was aus unseren Zukunftsplänen geworden ist. Die Pläne meiner Freunde sind wahrscheinlich auf einer Zufahrtsstraße zur Reihenhaussiedlung gestrandet, mein Traum macht regelmäßig für Geld die Beine breit. Wobei – ich bin ja nicht über Nacht zur Nutte geworden. Ich landete in London wie tausend andere frisch ge‐ backene Hochschul‐Absolventen. Ich hatte nur ein kleines Studiendarlehen zurückzuzahlen und etwas angespart, dachte also, ich käme eine Zeit lang über die Runden. Doch bald hatten Miete und unzählige triviale Ausgaben meine Ersparnisse aufgezehrt. Mein Tagesablauf sah folgenderma‐ ßen aus: Stellenanzeigen durchforsten, kriecherische Be‐ werbungsschreiben verfassen, obwohl ich wusste, dass ich niemals zum Vorstellungsgespräch geladen würde, und abends vorm Schlafengehen wie wild onanieren. Die Selbstbefriedigung war der Höhepunkt jedes Tages – mit Abstand. Ich stellte mir vor, als Testerin bei einem Büro‐ artikelhersteller zu arbeiten; dafür musste ich mir unzähli‐ ge Klemmen an die Oberschenkel heften und wurde da‐ bei kräftig gebumst. Oder ich malte mir aus, als persönliche Assistentin einer einflussreichen Geschäftsfrau an ihren 8
Schreibtisch gekettet und von einem ihrer Sklaven geleckt zu werden, der wiederum auf einem Dildo hockte. Oder in einem Desensibilisierungsbecken zu treiben und von un‐ sichtbaren Händen gezwickt und an der Haut gezogen zu werden, erst sanft, dann immer stärker. London war nicht die erste Großstadt, in der ich gelebt habe, aber sie war mit Sicherheit die größte. In anderen Städten kann es immer passieren, jemanden zu treffen, den man kennt, oder immerhin einen Menschen lächeln zu se‐ hen. Hier nicht. Die Züge sind voll gestopft mit Pendlern, die ehrgeizig versuchen, sich gegenseitig im Zeitunglesen oder Musikhören zu übertreffen – ein ständig eskalierender Krieg. Einmal saß eine Frau in der Northern Line neben mir und hielt sich die Metro so dicht vor die Nase, dass ich erst nach drei Haltestellen merkte, dass sie nicht las, son‐ dern weinte. Ich musste mich zusammenreißen, kein Mit‐ leid mit ihr zu haben, und noch mehr, nicht selbst loszuheu‐ len. Und so sah ich zu, wie meine kärglichen Ersparnisse schwanden, während der Kauf einer Travelcard zum Höhe‐ punkt der Woche wurde. Ich bin süchtig nach ständig neu‐ en Dessous, doch selbst die Einschränkung des Neuerwerbs von Spitzenhöschen konnte das Problem nicht lösen. Kurz nach dem Umzug bekam ich eine SMS von einer Frau, die mir von meinem Freund N vorgestellt worden war. London ist Ns Stadt, er kennt hier alles und jeden. Falls man wirklich über sechs Ecken jeden auf der Welt kennt, deckt er bei mir die ersten vier ab. Als er sich also mächtig ins Zeug legte, um mir diese Frau ans Herz zu legen, spitzte ich die Ohren. »Hab gehört, dass du in der Stadt bist – wür‐ de dich gerne treffen«, stand in der SMS. Sie war eine kom‐ pakt gebaute, anziehende ältere Frau mit messerscharfem Akzent und teurem Geschmack. Als wir uns trafen, dachte 9
ich erst, sie sei eine Klasse zu hoch für mich. Aber kaum drehte sie mir den Rücken zu, gab N mir flüsternd mit wil‐ den Gesten zu verstehen, sie würde abgehen wie nichts und stehe auch auf Frauen. Ich wurde sofort feucht. Besser ge‐ sagt: klitschnass. Zwei Wochen lang behielt ich die SMS gespeichert; mei‐ ne Phantasien wurden immer heißer und heftiger. Es dauer‐ te nicht lange, da hatte sie sich in die strenge Latexchefin meiner abendlichen Phantasien verwandelt. Die Huren und sexbesessenen Sekretärinnen meiner Träume beka‐ men Gesichter – ihres. Ich simste zurück. Fast umgehend rief sie an und sagte, sie und ihr Neuer würden gerne in der nächsten Woche mit mir essen gehen. Tagelang überlegte ich, was ich anziehen sollte, leistete mir einen Frisörbesuch und neue Unterwäsche. Als es so weit war, riss ich alle Klamotten aus dem Kleiderschrank und zog mich mindestens zehnmal um. Schließlich ent‐ schied ich mich für einen eng anliegenden Pulli in Aqua‐ marinblau und eine Hose in Anthrazit – sah vielleicht ein bisschen nach Bürohilfe aus, war aber durchaus sexy. Ich kam dreißig Minuten zu früh im Restaurant an, obwohl ich den Laden schon eine halbe Stunde gesucht hatte. Der Kell‐ ner sagte, ich könne mich erst an den Tisch setzen, wenn alle da seien. Ich gab mein letztes Geld für einen Drink an der Bar aus und hoffte, dass ich das Essen nicht würde be‐ zahlen müssen. Gemurmelte Gespräche vermischten sich mit der dahin‐ plätschernden Hintergrundmusik. Alle sahen aus, als wären sie älter als ich. Mehr Geld in der Tasche hatten sie auf je‐ den Fall. Einige kamen wahrscheinlich direkt von der Ar‐ beit, andere hatten sich offensichtlich zu Hause frisch ge‐ macht. Immer wenn die Tür aufging, zog es eisig herein, be‐ gleitet vom Geruch trockenen Herbstlaubs. 10
Dann kamen die beiden. Wir wurden an einen Ecktisch geführt, wo uns das Personal besonders gut im Blick hatte. Ich saß zwischen den beiden. Er ließ den Blick über meinen Pulli wandern, sie sprach über Kunstgalerien und Sport. Irgendwann legte er die Hand auf mein rechtes Knie, und ihr Fuß im Seidenstrumpf fuhr mein Bein hinauf. Aha. Darauf waren sie also aus, dachte ich – hatte ich es nicht die ganze Zeit gewusst? Die beiden waren klasse; älter als ich, aber völlig freizügig. Es gab keinen Grund, nicht mit ihnen ins Bett zu gehen. Bei der Essenswahl orientier‐ te ich mich an ihnen: reichhaltige, buttrige Gerichte. Das Pilzrisotto war so schwer, dass man es kaum vom Teller be‐ kam. Ich musste es mit den Zähnen vom Löffel kratzen. Der Fisch war noch nicht zerlegt, seine glasigen Äugen starrten uns an. Die Frau leckte sich die Finger. Ich glaube, sie tat es mit Absicht. Ich schob die Hand über ihre hauten‐ ge Hose in ihren Schritt, sie umklammerte mit beiden Bei‐ nen meinen Knöchel. In dem Augenblick kam die Kellne‐ rin zu dem Schluss, unseren Tisch vernachlässigt zu haben. Sie brachte eine Auswahl von Petit fours. Der Mann fütter‐ te mit der einen Hand seine Freundin, mit der anderen umfasste er meine, während ich ihren Schoß kraulte. Sie kam schnell, fast lautlos. Ich streifte mit den Lippen ihren Hals. »Erstklassig«, murmelte er. »Und jetzt noch mal.« Gesagt, getan. Nach dem Essen verließen wir das Restau‐ rant. Er bat mich, oben ohne auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Sie fuhr. Auf der kurzen Strecke zu ihrem Haus umfasste er meine Brüste von hinten und kniff mir in die Nippel. Ich ging nackt vom Auto zur Haustür und musste, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war, auf die Knie. Sie verschwand im Bad, während er mich ein paar grundsätzli‐ che Unterwerfungspraktiken üben ließ: unbequeme Stel‐ 11
lungen aushalten, in unbequemen Stellungen schwere Din‐ ge tragen, in unbequemen Stellungen schwere Dinge tra‐ gen und dabei seinen Schwanz in den Mund nehmen. Sie kehrte mit Kerzen und Peitschen zurück. Ich hatte zwar schon heißes Wachs und eine Reitgerte auf der Haut zu spüren bekommen, aber dabei die Beine in der Luft und brennende, tropfende Kerzen in mir stecken zu haben, war doch eine neue Erfahrung. Nach zwei Stunden drang er in sie ein und drückte dabei ihr Gesicht in meine Muschi, in‐ dem er seinen Schwanz wie die Domina in meinen Phanta‐ sien einsetzte. Wir zogen uns an, sie ging duschen. Er brachte mich nach draußen, um mir ein Taxi zu besorgen. Legte den Arm um mich. Vater und Tochter, hätte man denken können. Wir gaben ein nettes Pärchen ab. »Eine tolle Frau hast du da«, sagte ich. »Hauptsache, sie hat Spaß«, meinte er. Ich nickte. Er winkte ein Taxi heran, drückte mir mehre‐ re Scheine in die Hand und sagte, ich könne mich immer wieder melden. Erst als ich schon fast zu Hause war, faltete ich die Scheine auseinander und sah, dass es mindestens das Dreifache des Fahrgeldes war. Ich begann zu rechnen – Miete, die Tage bis zum Monats‐ ende, Nettogewinn des Abends. Ich meinte, mich eigentlich wundern oder ärgern zu müssen, benutzt und dafür auch noch bezahlt worden zu sein. Doch das tat ich nicht. Die beiden hatten ihren Spaß gehabt, und für Leute mit Geld waren die Kosten für ein Abendessen und ein Taxi durch‐ aus zu verkraften. Und ich hatte mich, ehrlich gesagt, auch nicht gerade gelangweilt. Ich bat den Taxifahrer, einige Straßen von meiner Woh‐ nung entfernt zu halten. Meine Absätze klapperten über das Pflaster. Es war Anfang Herbst, aber noch ziemlich warm. 12
Die roten Flecken vom heißen Wachs glühten unter meiner Kleidung. Die Vorstellung, Geld für Sex zu bekommen, war gesetzt und schlug Wurzeln. Zunächst jedoch begrub ich mein Interesse an der Prostitution. Ich lieh mir Geld von Freun‐ den und ließ mich auf eine ernsthafte Beziehung zu einem jungen Mann ein. Das war so lange eine angenehme Ab‐ wechslung, bis das erste Überziehungsschreiben meiner Bausparkasse mit dem Vorschlag eintrudelte, doch einmal wegen eines Kredits vorstellig zu werden. Nach jedem miss‐ lungenen Bewerbungsgespräch und jeder Absage brach der alte Virus wieder aus und begann zu jucken. Ich konnte nicht vergessen, wie großartig ich mich in jener Nacht auf der Rückbank des Taxis gefühlt hatte. Ich könnte das. Ich musste mich mal schlau machen. Und kurz nachdem ich mich dazu entschlossen hatte, be‐ gann ich mit einem Tagebuch ... 13
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Ein Kunde saugte an meinen Brustwarzen. »Bitte vorsichtig da, die sind empfindlich, bekomme meine Tage«, sagte ich und leitete seine Hände behutsam um. »Was ist deine schönste Phantasie?«, fragte er. »Vier Männer entführen mich, ziehen mich aus und fes‐ seln mich hinten auf der Rückbank. Sie halten an, steigen aus und wichsen durchs offene Fenster auf mich.« »Sind Pferde in der Nähe?« »Jede Menge. Wir sind mitten auf dem Land. Auf einem Bauernhof. Die Männer sind Bauern.« »Kannst du die Pferde riechen?« »Ja, ich rieche sie. Sie werden unruhig in den Ställen und machen Lärm. Hengste haben Riesenschwänze, stimmt’s?« »Oh, ja. Allerdings.« »Als die Bauern fertig sind, schleppen sie mich in den Stall.« »Lass dich nicht vom Hengst besteigen!« »Oh, nein, der ist zu weit weg. Er ist zu groß! Das Pferd ... der Hengst ... er ist völlig außer sich, nicht zu bändigen. Nein, der ist viel zu groß. Es hört sich an, als würde er die Stalltür eintreten.« Wiehern und Schnauben. 16
So manches habe ich erst während der Arbeit gelernt: Heutzutage, wo Zwölfjährige heiße Stiefel und Omis glit‐ zernde Minikleider tragen, erkennt man eine Prostituierte beim Betreten des Flughafenhotels von Heathrow an ihrem Designerkostüm. Hundertprozentig. Die Anbahnung eines Termins läuft eigentlich immer auf dieselbe Weise ab: Der Kunde besucht die Website und mel‐ det sich bei der Agentur. Die Agentur ruft mich an, sagt dem Kunden zu, er wartet. Ich bin normalerweise innerhalb von zwei Stunden einsatzbereit. Eine Stunde fürs Haareaus‐ zupfen, Duschen, Schminken und Frisieren, die andere für die Taxifahrt zum Treffpunkt. Für die Kosmetik habe ich ein eigenes Regal, die übrigen Toilettenartikel stehen woanders. Ich stelle mich vor den langen Spiegel und gehe die einzelnen Schritte durch: Pu‐ der und Parfüm, Slip, BH und Strümpfe, Kleid, Schuhe, Make‐up und Haare. Ich wechsle zwischen drei Outfits: ein unauffälliges, aber hautenges graues Jerseykleid, ein in Weißtönen kariertes Kostüm und ein schickes schwarzes Leinenkleid mit passendem Blazer. Dazu gibt’s eine schier unendliche Auswahl an Unterwäsche und Schuhen. Die drei Sekunden vorm Betreten eines Hotels sind die wichtigsten. Hat es Glastüren? Wenn ja, schnell nach den Aufzügen suchen! Bloß nicht reingehen und stehen blei‐ ben oder gar das Personal nach dem Weg fragen. Flott ge‐ hen, mit leichtem Nicken grüßen. Wenn man die Aufzüge oder Toiletten nicht sofort entdecken kann: ab in den näch‐ sten Korridor und sich dort orientieren. Wenn man über‐ haupt einen Eindruck hinterlassen will, dann den einer gut gekleideten Dame. Wir sind schließlich Geschäftsfrau. 17
Was durchaus nicht gelogen ist. Aufzüge sind praktisch. Man hat Zeit, noch mal das Han‐ dy hervorzukramen und der Agentur zu simsen – die wollen wissen, ob man pünklich ist. Wenn man Verspätung hat, sagt die Agentur dem Kunden Bescheid. Falls nötig, noch mal Lipgloss nachlegen, die Kleidung zurechtzupfen. Nie‐ mals schwitzen oder einen hektischen Eindruck machen. Kurz und bestimmt an der Tür klopfen. Beim Eintreten grü‐ ßen: »Hallo, mein Schatz, freut mich, dich zu sehen.« Und immer: »Tut mir Leid, dass du warten musstest.« Selbst wenn man pünktlich ist. Auch wenn man die Uhr nach dir stellen kann – für den Kunden haben sich die letzten Minu‐ ten quälend in die Länge gezogen. Nervös darf jeder sein – nur du nicht. Mantel ablegen, hinsetzen. Meistens bietet der Kunde etwas zu trinken an. Niemals ablehnen. Zumin‐ dest ein Wasser nehmen. Direkt zu Anfang das Geld kassieren. Einmal habe ich das vergessen. Der Kunde lachte. »Du bist scheinbar neu im Job«, sagte er. Als ich anschließend zum Frischmachen auf die Toilette ging, schob er das Geld in den Toaster in seiner Küche. Nie vor dem Kunden nachzählen; dazu ist später noch genug Zeit, falls man misstrauisch ist. Pünktlich wie‐ der verschwinden. Wenn er will, dass man länger bleibt, muss er die Agentur anrufen, einen Preis vereinbaren und sofort zahlen. Zum Abschied ein kleiner Kuss. »War mir ein Vergnügen. Vielleicht bis zum nächsten Mal!« Beim Verlas‐ sen des Hotels dem Personal zunicken und so schnell ver‐ schwunden sein, wie man gekommen ist. Draußen sofort die Agentur anrufen oder ihr simsen. Wenn die Agentur‐ chefin nichts von einem hört, ruft sie zuerst den Kunden, dann das Hotel, die eigene Security, falls in der Nähe, und schließlich die Polizei an. Sie weiß Bescheid. Sie hat das mal alles selbst gemacht. 18
Meine Agenturchefin ist süß, eine ganz Liebe. Wenn sie mich fragt, wie es gelaufen ist, sage ich immer, der Kunde war nett, ein Gentleman, auch wenn das manchmal nicht ganz zutrifft. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht. Es kann immer mal vorkommen, dass man daneben greift – wie ich damals, als ich einem von Natur aus nicht großzügig bedachten Kunden zum Abschied mit dem Zei‐ gefinger zuwackelte. Ups. Egal, vielleicht hat er es gar nicht gemerkt. Das Leben geht weiter.
Der Verkehr im Zentrum von London ist unberechenbar, und man kommt besser zu früh als zu spät zu einem Termin. Gestern hatte ich eine Buchung in der Nähe vom Leicester Square. Ich war eine halbe Stunde zu früh und ging deshalb noch in einen Plattenladen, um die Zeit totzuschlagen. Ich mag Plattenläden, und Musik mag ich auch. Der La‐ den gehörte aber zu einer Kette; im Erdgeschoss gab’s nur DVDs und Bücher über Musik. In einigen Regalen standen tatsächlich CDs, jedoch nur Bestseller und Sonderangebo‐ te. Ich schlich nach oben, zu Jazz und Blues. Die meisten Kunden waren junge Leute, die zu viel Zeit hatten – so wie ich (bloß nicht so stark geschminkt). Ob mein Kunde wohl schon am vereinbarten Treffpunkt war, fragte ich mich. Vielleicht war er ja noch unterwegs, mögli‐ cherweise sogar hier? Ich schaute mich um. Ein großer blonder Mann stand am Ende des Ganges. Attraktiv, Typ un‐ schuldiger Hochschullehrer. Ich schlenderte an ihm vorbei und warf einen Blick über seine Schulter. Seine schmalen Finger spielten mit einer CD von Isaac Hayes. »Guter Geschmack«, raunte ich. Vor Schreck hätte 19
er sie beinah fallen gelassen. Ich muss einen seltsamen An‐ blick geboten haben: völlig aufgedonnert, dazu der bau‐ schige Mantel und das Gesicht wie eine Gruselmaske. Was für eine Schnapsidee, ihn anzusprechen! Ich hastete nach unten, meine Absätze klapperten auf den Treppenstufen. Als ich den Runden traf, war er natürlich nicht der Typ aus dem Plattenladen. Es war eine mehrstündige Buchung, ich sollte bis zum Morgengrauen bleiben. Die Agenturchefin hatte so viele positive Rückmeldungen über meine Fähigkeiten als Domi‐ na erhalten, dass sie das S/M‐Angebot auf der Website jetzt offensiver bewarb. Ich persönlich bin kein dominanter Typ, aber es macht mir nichts aus, so zu tun. Scheinbar fuhren jetzt alle Kunden auf diese Nummer ab. Er: »Es gibt doch nichts Aufregenderes, als mit jeman‐ dem zu bumsen, den man nicht kennt.« Ich: »Darf ich dich da zitieren?« »Ja.« Er überlegt. »Was machst du da mit den Händen?« Ich hatte die Finger gespreizt, schwebte also quasi über ihm. »Ich will die Bilder nicht von der Wand reißen.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Gut. Sei lieber vorsichtig.« Mensch, Junge, wir sind doch nicht bei dir zu Hause! Hm. Reichlich aufmüpfig für einen Sklaven, dachte ich. Etwas später ... Er: »Du bist eine Wahnsinnsnummer, Süße.« Ich: »Wusste gar nicht, dass man das wirklich sagt. Kenne ich nur aus dem Kino.« »Irgendwoher muss ich meine Sprüche ja haben.« Kurz vor Sonnenaufgang traf ich N vor dem Hotel. Er ist ein guter Freund, wir hatten mal was miteinander, er weiß, womit ich mein Geld verdiene. Im richtigen Licht geht er als George Clooney durch. Na ja, im Dunkeln. N grinste. 20
»Und, war’s nett?« Ich schlug den Mantel auf und zeigte ihm die beiden Peitschen. »Ach, du hattest die Überzeu‐ gungsmittel dabei. Also war es nett.« »Doch, schon. Zum Schluss bekam er keinen mehr hoch, da haben wir die Minibar leer getrunken und Fernse‐ hen geguckt.« Wir setzten uns in Ns Wagen, der am Stra‐ ßenrand stand. »Und er hat mir ein silbernes Pustefix ge‐ schenkt.« Ich holte das Geschenk aus der Tasche. Es lag in einem Holzkästchen, das mit goldenen und schwarzen Bändern verziert war, und hatte die Form einer kleinen Sektflasche. Ich war nicht müde, N auch nicht. »Hast du Lust, Seifen‐ blasen zu pusten?«, fragte N, als wir über eine Brücke fuh‐ ren. Er wendete, wir rollten am grünen Ufer entlang. Das Licht der Dämmerung ließ das Wasser dunkel glitzern. N kennt sich aus mit den Gezeiten der Themse; er hat schon gesehen, wie Leichen aus dem Fluss gezogen wurden. Er weiß, wo man bei warmem Wetter Schildkröten und See‐ hunde findet. N zeigte mir ein Haus. Im Keller sei ein Swim‐ mingpool, da seien sie in seiner Schulzeit immer schwim‐ men gewesen. Auf der Brücke musste er an die Frau den‐ ken, die sich dort hinuntergestürzt hatte. Sie hatte mehrere Lagen Kleidung an und Steine in den Taschen, aber nicht bedacht, dass sich die Luft zwischen den Stoffschichten fängt – sie konnte gar nicht ertrinken. Als die Rettungsboo‐ te sie aus dem Wasser zogen, hatte sie sich gewehrt: »Ich will nicht, ich will nicht!« Ich lehnte mich mit halb geschlosse‐ nen Augen zurück und lauschte seinen Londoner Legen‐ den. Bei Sonnenaufgang standen wir schließlich am Bahn‐ hof von Charing Cross und pusteten Blasen aus Seifenlau‐ ge, vermischt mit trübem Themsewasser, auf die ersten Pendler. 21
Kleine Handtaschen? Pah! Und wenn die Mode winzige Täschchen noch so sehr als letzten Schrei anpreist ... Man bedenke, dass ich beim Verlassen des Hauses normaler‐ weise folgendes bei mir habe: eine Nagelschere (lose Fäden sind der größte Feind eines ge‐ pflegten Aussehens) einen Stift (ich habe ein gutes Gedächtnis, aber kann ich mich darauf verlassen ?) Handy (um mich vorher und nachher bei der Agentur zu mel‐ den) Kondome (aus Polyurethan und aus Latex; manche Männer sind allergisch) einen Löffel Gleitmittel Lipgloss (nach Oralsex Lippenstift auflegen ist zu aufwän‐ dig) Kompaktpuder und Wimperntusche einen kleinen Parfümflakon (Zitrusduft ist nett) Taschentücher Slip und Seidenstrümpfe zum Wechseln Schlüssel, Scheckkarten, den üblichen Kram sowie bei Bedarf Nippelklemmen, Ballknebel und eine mehr‐ schwänzige Gummipeitsche
Es leuchtet ein, dass eine geräumige Reisetasche genau das Richtige für mich ist. Das alles in ein Fendi‐Täschchen zu stopfen, wäre schwarze Magie, die nicht mal Houdini be‐ herrschte.
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Heute habe ich mir über eine Redewendung Gedanken ge‐ macht, die mir gar nicht mehr so präsent war: »auf den Strich gehen«. Auf den Strich gehen! Was für eine interessante Vorstel‐ lung! Vor meinem inneren Auge sehe ich einen Hochseil‐ akrobaten, der auf einem Seil tanzt, einen betrunkenen Autofahrer, der bei der Verkehrskontrolle versucht, über die weiße Linie zu balancieren, ein Mädchen mit knieho‐ hen Stiefeln und Minirock, das am Straßenrand steht. Ich habe nette Eltern. Klar, ich bin voreingenommen, aber es stimmt trotzdem. Obwohl ich vor zigJahren ausgezogen bin, spreche ich fast täglich mit mindestens einem von beiden. Eigentlich wissen sie nicht, womit ich mein Geld verdie‐ ne. Sie wissen, dass es mit Sex zu tun hat, mehr nicht. In An‐ betracht der bürgerlichen Empfindlichkeiten meiner Mut‐ ter gehe ich davon aus, dass sie ihren Freundinnen erzählt, ich sei Vertreterin für Reizwäsche und Sexspielzeug oder so was Ähnliches. Während sie also offiziell nichts wissen, gehe ich davon aus, dass sie inoffiziell unterrichtet sind. Zumindest eine Ahnung haben. Sie sind schließlich nicht blöd. Ohne besonderen Anlass rief ich zu Hause an. »Hallo, mein Schatz«, sagte Papa. »Immer noch auf der Straße? Hahaha.« »Haha«, erwiderte ich lustlos. »Ist Mama da?« Er grummelte etwas und reichte das Telefon weiter. 23
»Wann kommst du uns besuchen?«, fragte sie. Kein Hal‐ lo. Keine Frage nach dem Befinden. Seit alters her hält sich in ihrer Familie niemand mit Höflichkeiten auf. Immer auf den Punkt, das ist ihr Motto. »In ein paar Wochen vielleicht.« »Was macht die Jobsuche?« Ich begann zu stammeln und zu stottern. Ich konnte mich nicht erinnern, was ich ihr beim letzten Mal erzählt hatte. Dass ich eine Stelle suche oder ein Forschungsprojekt aufnehme? Dass ich mich für ein Graduiertenprogramm interessiere oder schon dafür beworben habe? »Läuft nicht schlecht, habe ein paar Sachen an der Angel, aber noch nichts Konkretes.« Tatsächlich war das nicht komplett gelogen, ich hatte wirklich ein Bewerbungsgespräch gehabt. Nein, nein, Kommando zurück: Es war kein echtes. Ich hatte Anweisung, einen Kunden in einem Hotel zu treffen. Er schickte mir seine speziellen Vorstellungen über meine Gesprächstaktik per E‐Mail. Er suche eine schüchterne, ja jungfräuliche Sekretärin, die seiner Überzeugungskraft machtlos gegenüberstehe. Selbstredend sollte sie von A bis Z alles beherrschen (und zwar nicht nur das Alphabet). Wir waren schnell fertig und wieder wir selbst. Im Bade‐ zimmer fand ich eine Creme mit Zitrusgeruch und massier‐ te damit seine steifen Schultern. »Findest du meine Phantasien seltsam?«, fragte er. »Wieso seltsam?« »Findest du, dass sie erniedrigend für Frauen sind?« Ich wählte meine Worte vorsichtig. »Ich finde, dass sie hier richtig aufgehoben sind.« Wir unterhielten uns noch eine Weile. Interessanterweise hatten wir einiges gemein‐ sam – seine Mutter kommt daher, wo mein Vater herstammt und umgekehrt. Wir kamen auf die kleinen Dörfer, die Ge‐ 24
wohnheiten der Menschen, das Essen, den Sport zu spre‐ chen. Plötzlich überfiel mich Heimweh, und ich sehnte mich plötzlich nach einem Besuch bei meinen Eltern. Meine Mutter schien mit meiner ausweichenden Antwort zufrieden. »Sag vorher Bescheid, ja? Und ob du jemanden mitbringst. Dann kann ich die Zimmer fertig machen.« »Klar«, log ich. Einen Termin abzusprechen, wäre sinnlos gewesen, denn sie vergisst alles, grundsätzlich. Wenn ich dann mit den Koffern in der Hand vor der Tür stehe, ruft sie völlig überrascht: »Ach, wolltest du heute kommen? Ich dachte, morgen!« Sie reichte mich an Papa zurück. »Grüß diesen netten Mann mit der Brille von mir«, flötete er. Er meint A4, einen freundlichen, äußerst klugen Typen, der unablässig grinst. Mein Vater erwähnt gerne beiläufig, ich würde ihn hoffent‐ lich irgendwann heiraten. Keine Ahnung, ob das ein Zei‐ chen für Altersstarrsinn oder ein misslungener Kuppelver‐ such ist. A4 war meine dritüetzte Beziehung. Aber wir sind noch befreundet. Ich seufzte, wünschte den beiden ein schönes Wochenende und legte auf.
Als Callgirl zu arbeiten, ist nicht mein erster Abstecher in die Welt der käuflichen Liebe. Ich will den Verkauf einer hübsch arrangierten Auswahl von Dildos nicht mit dem echten Aus‐ tausch von Körperflüssigkeiten vergleichen. Das scheinheili‐ ge Getue von Angestellten, die nicht mal die Kabinen in der Peepshow sauber machen müssen, kann ich nicht ertragen. Es ist schön und gut, die Lagerhaltung von Gummischwän‐ zen zu kontrollieren, aber es berechtigt noch lange nicht dazu, auf Stripperinnen, Pornodarstellerinnen und Prosti‐ 25
tuierte herabzublicken, weil die angeblich nichts für die Emanzipation der Frau tun. Egal. Vielleicht war es mein ungewöhnlicher Lebenslauf, der zu meinem jetzigen Job geführt hat. Hier eine kurze Zu‐ sammenfassung: • Als Studentin litt ich unter chronischem Geldmangel. • Jemand schlug Striptease vor. Mit »jemand« meine ich meinen damaligen Freund A1. Mit »vorschlagen« meine ich seinen Satz: »Ich war mal mit einer Stripperin zusam‐ men, die hat mich und meine Freunde mit in die Läden genommen – fand ich super.« • Die Arbeit war nicht besonders anspruchsvoll; die Mädels jagten mir allerdings Angst ein. • Ich musste ständig lachen, wenn sich Männer zwischen den Auftritten mit mir unterhalten wollten. Wer will die Spitzfindigkeiten der griechischen Tragödie mit einem Mädchen im durchsichtigen BH diskutieren? • Okay, Obiges streichen; das leuchtet mir natürlich ein. (Kleiner Tipp ans Kulturprogramm der BBC!) •Es war nur was für den Übergang. Ich bekam einen Rie‐ senschreck, als ein Tutor von der Uni auftauchte. Ich er‐ griff die Flucht. Ein paar Jahre später: • War mit einer Mitbewohnerin auf einer ziemlich abge‐ fahrenen Party. • War schwarz gekleidet und hatte eine Peitsche dabei. Die Mitbewohnerin war als Miss World verkleidet, eigentlich egal, aber lustig. • Eine Frau sprach uns an, unterhielt sich länger mit mir; sie habe eine Wohnung und alles da. 26
• Ich bekam deutlich mehr Geld als fürs Strippen, ich muss‐ te mir dauernd das Lachen verkneifen. • Ich hörte wieder auf, als ich einen »anständigen« Wo‐ chenendjob in einer Buchhandlung fand – weniger gut bezahlt, aber dafür Massen von Büchern. • Im Rückblick kein kluger Entschluss. Genug der Erinnerungen. Ich habe heute Geburtstag und bin entschlossen, ihn stilvoll zu feiern. Als der Boy und ich uns gestern Abend gegen neun für mei‐ ne Geburtstagsfeier fertig machten, als alles rasiert, gebürs‐ tet und geschrubbt war, füllten wir ein Sexquiz in einer von diesen Hochglanz‐Zeitschriften aus. Ja, ganz richtig: Ich bin ein Callgirl mit Freund. Mit ei‐ nem Freund, der weiß, womit ich mein Geld verdiene. Wir sind seit gut einem Jahr zusammen. Er wohnt allerdings nicht in London. Und ja, es gibt Reibungspunkte. Was an sich nicht schlecht ist. Im Bett sogar sehr nützlich. Meinem Freund ge‐ fällt mein Job nicht, aber er hat selbst ein paar abscheuliche Angewohnheiten, beispielsweise kippt er Leuten Rum ins Glas, wenn sie gerade nicht aufpassen, außerdem wählt er die Konservativen. Er knöpfte sein weiches dunkelblaues Hemd zu, das ihm seine Mutter geschenkt hatte. Ich saß vor der Frisierkom‐ mode, schlug die Beine übereinander und las ihm mit ver‐ führerischster Stimme die Fragen vor: »Zu welcher Zeit ist ein Mann am besten zu erregen? a) morgens, b) mittags oder c) abends?« 27
Mit erhobener Augenbraue betrachtete er sich im Spie‐ gel. »Steht da nicht: ›immer‹?« 22 Uhr: Treffen mit A2 (ein Ex von mir), A4 (der Schlaue) und anderen Freunden im Blue Posts. Wir neh‐ men die großen Ledersessel am Kamin in Beschlag. Ich be‐ ginne, so viel Alkohol wie möglich in meinen Magen zu pumpen. 24 Uhr: In irgendeinem Club in der Nähe. Alles ein biss‐ chen verschwommen. Unzählige Kurze gekippt, unter an‐ derem Schnaps – grässlich. Handschuhe verloren. 2 Uhr: Durch die jüngsten Besuche im Fitness‐Studio toll‐ kühn geworden, behaupte ich, den Boy stemmen zu kön‐ nen. Schwanke auf den hohen Absätzen und lande mit ihm auf dem Boden. Wenn ich nicht so betrunken gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich reichlich dämlich ge‐ fühlt. 3 Uhr: Oxford Street – Wir marschieren in einer Reihe und singen »Seven Nation Army« von den White Stripes. Keiner kennt den Text so richtig, nur den Teil mit Wichita. Unterwegs gehen die letzten Gäste verloren, die sich nicht schon zur Bushaltestelle verdrückt haben. Irgendwann danach: Taxi. Zwanzig Minuten später tau‐ meln wir grob Richtung Bett. 9 Uhr: Ich gehe zur Toilette. Als ich zurückkomme, steht der Boy in der Schlafzimmertür. »Mach die Augen zu!«, sagt er. Ich gehorche. Er schiebt einen Arm unter meinen Ober‐ körper und einen unter meine Knie und trägt mich zum Bett. Vorsichtig legt er mich hin. Ich fühle weiches Vlies un‐ ter mir. »Du kannst sie wieder aufmachen«, sagt er. Er hat eine weiche weiße Schaffelldecke auf dem Bett ausgebrei‐ tet, die gleiche, die er zu Hause hat. »Herzlichen Glück‐ wunsch«, flüstert er, und wir lieben uns drei Mal. Ein wirklich schöner Geburtstag. 28
Es geht nichts über ein paar entspannende freie Tage. Je‐ den Morgen verpasste SMS‐Nachrichten und Anrufe in Ab‐ wesenheit von der Agentur. Abgesehen davon sind die Vorteile einer kleinen Pause eher geistiger Natur (auch wenn man natürlich die Mög‐ lichkeit hat, ein paar Maschinen zu waschen). Einige profa‐ ne Dinge lernt man ebenfalls. Zum Beispiel, wie schön es ist, die Haare ein bisschen wachsen zu lassen, sodass sie mit Wachs wieder gründlich entfernt werden können. Außer‐ dem wurde ich daran erinnert, wofür Schamhaare eigent‐ lich gut sind. Als Gleitmittel. Doch, wirklich. Das werden die Kunden leider nie erfahren.
Die Agenturchefin hat angerufen. »Süße, hier ist säähr net‐ ter Herr, findet deine Fotos säähr schön. Hast du Zeit?« »Leider nicht«, sagte ich und hoffte, dass der Boy nichts mitbekommt. »Aber der Herr ist säähr nett.« »Tut mir Leid, nein.« Ein paar Monate nach dem Treffen mit der älteren Frau und ihrem Freund machte ich im Internet eine allem An‐ schein nach kleine, diskrete Agentur ausfindig. Durch das Wunder der modernen Kommunikationstechnik ist jede Seite im Internet nur noch drei Mausklicks von einem Be‐ gleitservice entfernt. Im Vergleich zu anderen war die Ho‐ mepage zurückhaltend gestaltet, die Mädchen machten ei‐ nen attraktiven Eindruck und waren kurz und knapp be‐ 29
schrieben. Die meisten wirkten völlig normal – keine auf‐ gestylten, künstlichen Beautys, aber auch keine hässlichen Muttis aus der Nachbarschaft, bei denen es einen schüttelt. Es waren Durchschnittsfrauen, wenn auch nackt und ritt‐ lings auf der Gartenmauer. Nach einer E‐Mail und dem Zu‐ senden meiner Fotos rief ich schließlich an, um einen Ter‐ min mit der Chefin zu vereinbaren. Wir wollten uns im Res‐ taurant eines Hotels in der Innenstadt treffen. Sie klang sehr jung und hatte einen starken osteuropäischen Akzent. Eine Polin? Durfte ich danach fragen? »Wie erkenne ich Sie?«, fragte ich. »Wie sehen Sie aus?« »Früher meinten alle, ich würde wie Brooke Shields aus‐ sehen«, sagte sie. »Oh, dann sind Sie bestimmt sehr schön!« »Nein, jetzt bin ich alt und verbraucht. Jetzt sagen alle, ich sähe aus wie Daryl Hannah.« Am Ende des Gesprächs hatte ich das Gefühl, den Boy be‐ trogen zu haben. Ich war damals noch nicht lange mit ihm zusammen, und schon ging ich los und machte einen Ter‐ min mit einer Zuhälterin, um als Hure zu arbeiten. Ob er da‐ mit ein Problem haben würde? Was für eine dämliche Frage. Ich ging seine möglichen Reaktionen im Kopf durch: • Er macht sofort Schluss und erzählt es allen Freunden. • Er macht sofort Schluss, schämt sich aber zu sehr, um es seinen Freunden zu erzählen. • Er macht nicht Schluss, bekommt aber Angst und wird unsicher, weil er mit einer Hure zusammen ist. • Er macht nicht Schluss, bekommt aber Angst, weil er es eigentlich gar nicht schlecht findet. • Er will mitmachen, unentgeldich. • Er will mitmachen und verdient mehr als ich. • Er ist einverstanden, und es läuft weiter wie bisher. 30
Die ersten drei Möglichkeiten schienen ziemlich reell, die Wahrscheinlichkeit der letzten vier reichte von »auf keinen Fall« bis zu »nie und nimmer«. Natürlich hätte ich vor dem Treffen mit der Agenturche‐ fin einen Rückzieher machen können, aber ich tat es nicht. Zwischen dem ersten Mail‐Kontakt und dem Gespräch ver‐ gingen mehrere Tage. Ich ging einkaufen und deckte mich mit Kosmetik ein. Als es so weit war, brauchte ich den gan‐ zen Vormittag, um mich fertig zu machen. Ich musste die Augenwimpern hochbiegen, das Haar glätten und mir Ge‐ danken um die Kleidung machen. Sexy, aber nicht zu nut‐ tig? Also das dunkle Seidenoberteil. Jung, aber seriös? Ein gut sitzender Mantel. Der Ausschnitt so tief wie möglich. Na‐ türlich Stiefel – schließlich ist es Herbst in London. Meine Fingernägel sind ein Albtraum in Acryl, aber ich hatte keine Zeit mehr, das zu ändern. Ich habe die hässliche Angewohn‐ heit, an meiner Nagelhaut zu kauen. Das verurteilt sämtii‐ che Bemühungen von Kosmetikerinnen zum Scheitern. Auf dem Weg zum Treffpunkt kam ich an einem Filmpla‐ kat vorbei und redete mir ein, tatsächlich eine gewisse Ähn‐ lichkeit mit Catherine Zeta‐Jones zu haben. Okay, war nur ein Witz. Ich war zu früh und ging zur Toilette. Das Make‐up war an einigen Stellen schon eingezogen, an anderen wurde es brüchig. Ich drehte das kalte Wasser an, sprenkelte mir ein paar Tropfen ins Gesicht, tupfte sie wieder ab und legte neuen Lipgloss auf. Besser. Damals wusste ich noch nicht, dass dieses kleine Ritual zum zentralen Thema meiner Ar‐ beit als Prostituierte werden würde. Ich steckte den Kopf ins Restaurant und sah, dass es so gut wie leer war – und das mittags unter der Woche. Die asiatische Kellnerin lief ge‐ langweilt um die Kübel mit den Plastikpflanzen herum. Auf den Job hätte ich auch keinen Bock gehabt. 31
Die Agenturchefin rief an und bat mich, einen Tisch am Fenster zu nehmen. Wozu? Damit sie mich von draußen mustern und schnell weglaufen konnte, falls ich ihr nicht in den Kram passte? War es eine besonders ausgeklügelte Fal‐ le, irgendein Trick? Sie wollte wohl eher auf Nummer Si‐ cher gehen. Ich bestellte einen Kaffee und wartete. Dann kam sie. Sie sah aus wie angekündigt: langes blon‐ des Haar, Pferdegesicht. Enges Kleid und absolut heiße Bro‐ katstiefel, passend zur Handtasche. Im Vergleich dazu waren meine schokoladenbraunen Straßentreter ziemlich plump. »Hallo, Süße.« Bussis. Wir beschlossen, uns zu du‐ zen. Während des Essens musste sie mehrmals telefonieren, und ich stellte fest, dass sie fließend Deutsch und Arabisch sprach. Sie hatte eine herrische Art, auf die die Freier be‐ stimmt abfuhren. Sie erkundigte sich nach meinen Erfah‐ rungen. Ein bisschen S/M, ein bisschen Strippen, bisher kein Sex mit Kunden, alles lange her. Sie nickte. Sie fragte, ob ich liiert sei; ich bejahte. Sie erzählte mir von ihrem Part‐ ner, er wüsste nicht, womit sie ihr Geld verdiente. Ich konn‐ te es kaum glauben – ihr Telefon hatte bereits dreimal ge‐ klingelt. Sie bestellte einen Kräutertee. Ich Kaffee. Ich spürte ih‐ ren Blick auf mir lasten, als ich einen Löffel Zucker in die Tasse gab. Keine Ahnung, ob es Neid oder Missbilligung war. »So, und jetzt müssen wir über dein Profil sprechen. Hast du A‐Level gemacht?« Ja, sicher, aber mein Schulabschluss liegt doch schon Jah‐ re zurück! Wer hätte gedacht, dass die allgemeine Hoch‐ schulreife Voraussetzung für diese Art von Arbeit ist? Viel‐ leicht waren die Kunden doch anspruchsvoller, als ich ver‐ mutet hatte. »Wieso?« »Du weißt schon.« Ihre Stimme wurde ein Flüstern. »Das 32
heißt: anal.« Musste die Kellnerin mir gerade in diesem Mo‐ ment Kaffee nachschenken? Konnte sie nicht irgendwo ein paar Olivenölfläschchen zurechtrücken? »Ach, so! Doch, das mache ich. Aber nur, wenn ich am Abend vorher kein Curry gegessen habe.« Wir lachten. Die Chefin sagte, sie brauchte aktuellere Fotos für ihre Kartei. Die Bilder, die ich ihr geschickt hätte, seien nicht ge‐ eignet. Das seien keine richtigen Werbebilder, sie zeigten mich in diversen Stadien der Trunkenheit, und auf einem hätte ich vorne etwas auf der schwarzen Seidenbluse, das verdächtig nach Erbrochenem aussähe. Erstklassig. Wieder Bussis, dann war sie fort. Auf der Rechnung blieb ich sitzen. Glücklicherweise hatten wir offenbar eine ähnliche Einstel‐ lung zum Essen, will sagen, auch sie bewunderte es gerne aus der Ferne. Daher wurde es nicht allzu teuer für mich: ein Tee, einen Kaffee und ein unberührtes pappiges Pain au chocolat – acht Pfund. Wahrscheinlich ein Schnäppchen. Ich verfrachtete den Boy ins Auto und winkte ihm nach, bis er am Ende der Straße war. Noch bevor er die Autobahn er‐ reicht hatte, schickte er mir einen Kuss per SMS. Vor über einem halben Jahr habe ich diesen Job angefan‐ gen, und er ist immer noch mit mir zusammen. Nicht dass es einfach gewesen wäre, besonders als ich es ihm beichten musste. Der Boy kam zu einem Bewerbungsgespräch nach Lon‐ don. Ich wusste nicht, wie ich ihm von meinem neuen Beruf erzählen sollte. Vorsichtig sein und die Grenzen der Wahr‐ heit ein wenig dehnen, falls nötig? »Schatz, ich muss dir et‐ was sagen: Ich treffe mich für Geld mit Männern, aber ich 33
behalte immer meine Sachen an, und sie bleiben im Neben‐ zimmer und wichsen in Alufolie. Jedes Mal. Hab ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?« Oder ganz direkt sein und abwarten, was passiert: »Süßer, ich bin ‘ne Nutte. Ist dir der fette Modeschmuck noch gar nicht aufgefallen?« Bei Sandwiches und Kaffee und später auf dem Weg die Straße hinunter zur Bäckerei erzählte er von seiner Familie und seiner Arbeit. Er hörte gar nicht mehr auf. Zwischen zwei Bissen Baklava platzte es dann aus mir heraus. Er sag‐ te nichts, sondern schürzte nur die Lippen und nickte. Immerhin erhob er kein Protestgeschrei. Ich atmete tief durch. »Wenn du willst, dass ich aufhöre, mache ich natür‐ lich sofort Schluss damit.« Er schwieg noch immer. Wir verließen den Laden und schlenderten durch den Sonnenschein. Laub fiel aufs Pflas‐ ter, knisterte unter unseren Füßen, es roch nach Erde und Moder. Ich fiel in seinen Schritt ein. Wir joggen zusammen, ich kenne seinen Rhytihmus. Er legte den Arm um mich, wollte etwas sagen, bekam aber nichts heraus. Nahm einen neuen Anlauf. »Du wirst es nicht glauben: Ich habe drüber nachgedacht, und ich glaube, es ist in Ordnung.« Ich gab ihm einen Kuss. Wir gingen in die British Library, um uns das Buch von Lindisfarne anzusehen. Der Boy er‐ klärte mir, es sei ein Evangeliar in gotischer Schrift, auf Häuten verfasst. Ich bin nicht ganz à jour mit den Feinhei‐ ten des Christentums, gehe aber davon aus, dass die King‐ James‐Bibel normalerweise nicht auf Abfallprodukten von Schlachthäusern publiziert wird. Die schlichte Kunstfertig‐ keit klang faszinierend. Im Dämmerlicht des Ausstellungs‐ saals leuchtete das goldene Pergament mit fast animalischer Intensität. Die europäische Kunst jener Zeit scheint sich vor allem für das brutale Ende von Heiligen und das Verschlin‐ gen von Jungfrauen interessiert zu haben. Der Boy erzählte 34
mir von seiner Reise auf die Insel Lindisfarne, als er mit dem Auto beinahe im Meer gelandet war. Ich lachte, und das schrille Geräusch zerriss die ehrfürchtige Stille. Wir gin‐ gen nach Hause, sahen fern, kochten etwas und spielten an‐ schließend im großen weißen Bett Löwe und Jungfrau. (Er war der Löwe.)
Kunde: »Warum machst du das eigentlich?« Ich: »Weiß gar nicht, ob ich darauf eine Antwort habe.« »Aber irgendetwas musst du dir doch selbst sagen.« »Hm, vielleicht gehöre ich zu den Menschen, die Dinge ohne einen besonderen Grund tun, nur weil sie nicht wis‐ sen, warum sie sie nicht tun sollten.« »Wenn also jemand zu dir sagen würde, du sollst von der Brücke springen ...« »Käme auf die Brücke an. Und darauf, was ich dafür be‐ komme. Wieso?« »Ach, nur so. Bläst du mir jetzt einen?« Eine meiner stärksten Phantasien ist ein Faustfick mit dem Boy. Er hat es noch nicht gemacht, aber ich würde es gerne tun. Zum einen hat er die schönsten Hände, die ich je bei einem Menschen gesehen habe, männlich wie weiblich. »Künstlerhände« nenne ich sie, und er spreizt gern die Fin‐ ger, damit ich sie bewundern kann. Sie tasten unter meiner Kleidung, wenn wir in der Öffentlichkeit sind. Ich bin nur selten sicher vor ihnen. Das macht mir nichts aus. Ich möch‐ 35
te auf seine Hand gepflanzt sein, Teil seines Körpers sein, ihm ausgeliefert. Obwohl regelmäßig im erotischen Einsatz, bin ich ein bisschen zu eng für die Faust des Boys. In den schlauen Bü‐ chern steht, das komme mit der Zeit, aber mal ehrlich: Ich bin ein viel beschäftigtes Mädchen; ich kann nicht herum‐ sitzen und seine geölten Finger in meine Weichteile stop‐ fen. Außerdem ist das ja wohl alles andere als romantisch. Ich weiß, die Frauen in den Pornoblättern machen das heutzutage alle. Damals, als Oralsex unter normalen Men‐ schen noch als Gipfel des Verruchten galt, sah man in Hard‐ core‐Magazinen nur Analverkehr. Heute, wo Analsex quasi schon zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird, fahren die richtig Harten auf Fisten ab. Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht in Führung gehen könnte, wenn ich einfach ei‐ nen Trend überspringe und mit Analfisten weitermache. Aber die Damen, die zu so was in der Lage sind, haben ent‐ weder ein deutlich vermindertes Schmerzempfinden oder einen Eisenbahntunnel als Mutter. Meine Erfahrungen mit dem Faustfick lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstmals als Jugendliche mit einem Freund. Er wollte es, ich wollte es. Er hatte schmale Hände, ich war klatschnass. Wir waren jung und töricht und hatten nie mehr als zwanzig intime Minuten in den Häusern unserer Eltern. Also leiste‐ ten wir uns ein zünftiges Wochenende in einem Hotel auf dem Land. Kaum waren wir auf dem Zimmer, lag ich auch schon auf dem Bett, alle viere von mir gestreckt, und er stell‐ te sich mannhaft der Aufgabe, seine Finger in mich zu schieben. Plötzlich kratzten seine Fingernägel an meinen Muttermund: Aua! Danach habe ich es erst mal nur noch in Gedanken getan. Das zweite Mal war mit N. Vorjahren, als wir noch zusam‐ men waren. Er wollte es, ich hatte so meine Zweifel. Die Sa‐ 36
che mit dem Jugendfreund lag lange zurück, aber der ste‐ chende Schmerz war mir noch gut in Erinnerung. N jedoch war erfahren; er wusste, wie er die Finger drehen und das Handgelenk wenden musste, um die ganze Hand in mich zu schieben, ohne dass ich eine unfreiwillige Hysterektomie verpasst bekam. Leider hat N Hände, mit denen er meine Taille umfassen kann. Seiner Ex‐Freundin hatte er oft die Faust reingeschoben, manchmal während er sie gleichzeitig in den Arsch fickte. Aber sie war auch eins achtzig groß und ungefähr doppelt so breit wie ich. Wir versuchten es zigmal, schafften es aber nie richtig. Ich übte mit allen möglichen Gegenständen: Gemüse, Dildos, einer Taschenlampe mit besonders großem Griff. Vergeblich. Beim dritten Mal war ich diejenige, die es versuchte, und siehe da: Meine Hand gelangte dahin, wo zuvor noch keine Hand gewesen war. Nämlich in eine Frau, die gerade mit ih‐ rem Freund in Italien telefonierte. Er hatte mich dafür be‐ zahlt, sie in einer Stunde so oft wie möglich zum Orgasmus zu bringen. An dem Tag erkannte ich, dass in der Scheide kein Vakuum entstehen darf. Sonst bekommt man die Faust nämlich nicht wieder heraus. Es sei denn, man ist auf die Saugwirkung aus. Und damit meine ich nicht die von Dolly Buster. Urgh. Das vierte Mal war mit einem Kunden. Zusammen mit ihm entdeckte ich, dass ich für fremde Hände unerreichbar bin (sozusagen), meine eigenen aber schmal genug sind. Ich musste sie seltsam verdrehen, aber es funktionierte. Endlich passte es. Anschließend wurde mir klar, dass es kei‐ ner schwarzen Magie bedarf, die Faust hineinzubekommen; sie wieder herauszuziehen, das ist die Schwierigkeit. Als ich nach Hause kam, rief ich den Boy an, um ihm von der Faust zu erzählen. Ich ließ unerwähnt, dass ein Kunde dabei gewesen war. »Kannst du das jetzt auch?«, fragte er. 37
»Vielleicht«, sagte ich. Im Schlafanzug, im Bett. Unter der Bettdecke. »Ich bin aber schon fast eingeschlafen.« »Ach.« Schweigen. »Könntest du es denn mal beschrei‐ ben?«, bat er. Natürlich konnte ich das. »Und es mir beim nächsten Mal zeigen?« Ja, natürlich, Süßer, immer. Von dir bekomme ich nie genug. Komm her, nimm mich mit. Als ich aufwachte, hatte ich eine SMS von ihm: »Das Beste im Leben ist umsonst. Am meisten fehlen mir deine Zärt‐ lichkeiten, xx.«
Ich hockte zwischen den Beinen eines Mannes. Seine Ober‐ schenkel waren glatt, ich fuhr mit den Fingerspitzen über die Innenseiten. »Wie war dein Urlaub?« »Gut, gut. Japan ist wirklich interessant. Warst du schon mal da?«, fragte er und lehnte sich auf dem Bett zurück. »Nein.« Ich nahm seinen harter werdenden Schwanz in die Hand und schob sanft die Vorhaut zurück. Er wurde steifer und länger in meiner Hand. »Was gefällt dir da be‐ sonders?« »Die Japaner sind ein komisches Völkchen«, sagte er und stockte kurz, als ich sein Glied mit den Lippen umschloss. »Da gibt es Häuser, in denen eine volle U‐Bahn simuliert wird. Die Körper reiben aneinander ...« Der Schwanz rutschte mir aus dem Mund. Ich bearbeitete den Schaft mit der Faust. »So was habe ich mir auch schon vorgestellt«, sagte ich. »Ich bin in einer übervollen Studen‐ tenkneipe, habe einen kurzen Rock an, stelle mich an die Theke und beuge mich vor, und jemand stellt sich hinter mich. Es ist so eng in dem Laden, dass ich nicht weg kann. Er bumst mich von hinten, und keiner merkt was.« 38
»Hm, hört sich gut an.« »Versprichst du mir was?«, fragte ich. »Wenn du mich je‐ mals in einer Kneipe siehst, stellst du dich dann hinter mich und machst das?« »Versprochen«, sagte er und schob mir seinen Ständer wieder in den Mund. Der Boy ist da; ich habe keine Kunden. Wir waren im Fit‐ ness‐Studio. Vorgeblich, damit ich vor ihm angeben kann, aber in Wirklichkeit, damit er mir seine Kraft zeigt. Zuerst an der Rudermaschine. Ich hasse dieses Teil. Wie die Pest. Sie ist eine Erfindung des Teufels. Sie will mich fer‐ tig machen. Doch mit Freude setze ich mich neben den Boy und sehe zu, wie er sich die Maschine Untertan macht. Nach fünf Minuten erscheinen die ersten Schweißperlen in sei‐ nem Nacken. Nach zehn Minuten lenkt mich das Muskel‐ spiel seiner Unterarme ab. Eine herrliche halbe Stunde spä‐ ter wäre ich ihn am liebsten angesprungen. Entsprechend atemlos machten wir uns ans Bankdrü‐ cken (kann ich nicht) und ans Bankziehen (kann ich). Es genügt wohl zu sagen, dass ich dem Mann nicht im Entfern‐ testen das Wasser reichen kann. Zur Krönung scheuchte ich ihn zu den Klimmzügen. Vier mal sechs, ohne T‐Shirt, damit selbst die Kraftprotze mit ih‐ ren Stiernacken, die im Studio quasi zu Hause sind, anerken‐ nen mussten, wer der Größte ist. Verneigt euch vor diesen männlichen Pheromonen, ihr narzisstischen Muskelpakete! Um uns wieder in den Griff zu bekommen, machten wir das, was ich gut kann: dehnen. Ist vielleicht ein Klischee, aber ich konnte schon immer mit den Beinen hinter den 39
Kopf. Angetörnt von den Verrenkungen, stark nach Schweiß riechend und so verzweifelt, wie nur Liebende auf Entfer‐ nung sein können, kamen wir nicht mehr über den Park‐ platz hinaus. Gut, kamen wir schon, aber unsere Klamotten nicht. Und von würdevollem Auftreten konnte nicht mehr die Rede sein. Ach ja, die Freuden junger Liebe ...
Die Agenturchefin und ich hatten bei unserem Treffen alle möglichen Dienstleistungen besprochen, nur eine nicht: Oralverkehr. Aber auf der Webseite, für alle lesbar, werde ich als FN angepriesen: Französisch natur. Also ohne Kon‐ dom. Um ehrlich zu sein: Wenn sie gefragt hätte, ich hätte mich einverstanden erklärt. Ich habe es schon mit Kondom gemacht, aber meine Lippen reagieren allergisch auf Latex und Spermizid, sie schwellen an und jucken. Außerdem wohnt allen Formen des Verkehrs ein gewisses Risiko inne, im Vergleich zu anderen ist es beim Oralsex noch gering. Mit Herpes am Mund würde ich es nicht machen. Oder wenn ich ernsthafte Bedenken hätte, was die Haftkraft mei‐ nes Lippenstiftes angeht. Und ich schlucke, schon immer. Wenn man’s erst mal im Mund hat, wird es durch Ausspucken nicht besser. Außer‐ dem: Frauen schmecken auch nicht anders. Eine Schulka‐ meradin sagte einmal, Sperma schmecke wie eine Mischung aus Austern und Kupfergeld. Kann ich nicht bestätigen, da ich bisher weder Austern noch Kupfergeld probiert habe, aber wahrscheinlich kommt es dem ziemlich nah. 40
Gestern Abend bin ich auf der Suche nach einem Taxi das schäbige Ende der Fulham High Street hinuntergelaufen. An der Ecke ist eine Buchhandlung. Nicht eins von diesen schrecklichen Warenhäusern, die den Kunden mit riesigen Stapeln remittierter Michael‐Moore‐Titel und Café latte zum Mitnehmen anspringen, sondern eine von der wunder‐ bar schrulligen Sorte. Eine Buchhandlung, deren Inhaber den Geschmack seiner Kunden kennt, der weiß, was man als Letztes gekauft hat, und entsprechende Empfehlungen ab‐ gibt, selbst wenn man jahrelang nicht da war. Das sind diese Buchhändler, die offenbar in ihrem Laden wohnen und entweder zig Exemplare eines Hemdes besitzen oder es nie wechseln. Der Inhaber eines solchen Ladens ist immer männlich, ausnahmslos. Leider war die Buchhandlung geschlossen. Vielleicht auch zum Glück – ich hatte eine Menge Geld dabei, ausrei‐ chend Zeit und bin nicht in der Lage, muffig riechenden Buchhändlern eine Abfuhr zu erteilen. Als Studentin habe ich mehr Geld für Bücher als für Essen ausgegeben – leider hatten sie nicht mal entfernt etwas mit meinen Fächern zu tun. Aber diese Buchhandlung war dunkel und verschlos‐ sen. Vor der Tür standen ein paar Taschenbücher in einem schlichten weißen Regal. Keine Ahnung, ob das Schenkun‐ gen für oder von der Öffentlichkeit waren. Neugierig wie ich bin, überflog ich die Titel. So stieß ich auf den besten Spruch, den ich je auf einem Taschenbuch gelesen habe: »Mädchen kommen überall hin, wenn sie an sich glauben und Nerz tragen.« Na, klar! Aber sicher! Wie wahr, und wie wunderbar! Hol‐ ly Golightly lässt grüßen! Da ich unsicher war, ob die Bücher 41
zum Verkauf standen, aber wusste, dass dieses Buch meines werden musste, zögerte ich einen Moment und warf dann ein Pfund durch den Briefschlitz. (An dieser Stelle ist vielleicht der Hinweis angebracht, dass ich keinen Nerz besitze. Ich habe eine ziemlich schöne Uhr, wahrscheinlich der am ehesten politisch korrekte Lu‐ xusartikel, den man noch tragen kann. Ich möchte mir nicht vorwerfen lassen, Tierquälerei oder Kartellbildung in Entwicklungsländern zu unterstützen. Die eventuelle Aus‐ beutung von Schweizer Uhrmachern belastet mich hinge‐ gen nicht so besonders.) Falls es Sie interessieren sollte: Bei dem Buch handelt es sich um B.F.s Tochter von John P. Marquand, der auch die Mr.‐Moto‐Romane geschrieben hat. Köstlichster Schrott! Mickey Spillane trifft Françoise Sagan bei Saks in der Fifth Avenue – und das 1946. Sex and the City ist nichts dagegen!
Fängt die Weihnachtszeit jedes Jahr früher an? Letzte Wo‐ che habe ich, glaube ich, gesehen, dass jemand eine Lich‐ terkette aufhängte, und meine Nachbarin hat seit Juli rotes Lametta im Fenster – ich schwöre es. Alle befinden sich im Ausnahmezustand, und obwohl es noch einen Monat dau‐ ert, steht es mir jetzt schon bis hier. Sicher, ich habe eine niedrige Toleranzschwelle, da ich keine Christin bin. Schreckliches aus der Weihnachtszeit: • Ich werde gebeten, rote Dessous mit Pelzbesatz zu tra‐ gen, was beweist, dass nur Männer so etwas für eine gute Idee halten. Und dass sie eine sehr sonderbare Kindheit gehabt haben müssen, um den Weihnachtsmann ero‐ 42
tisch zu finden. Vielleicht ist es beruhigend zu wissen, dass diese Perversion extra kostet. • Menschen, die »X‐mas« sagen. So heißt das nicht! • Das Geschwafel gläubiger Christen, wir sollten uns doch in Erinnerung rufen, »um was es bei dem Fest eigenüich geht«. Es geht doch um die Menschwerdung unseres Herrn Tommy Hilfiger, nicht wahr? • Freunde, für die einem einfach kein Geschenk einfällt. Zu dieser Kategorie gehört A3, Das Einzige, was er sich je‐ des Jahr leistet, ist eine Dauerkarte für Manchester Uni‐ ted. Was kauft man einem Mann, der glaubt, bereits alles zu haben? Ich frage A4 um Rat, der schlägt Socken vor. • Kunden, die mich fragen, was ich »zwischen den Jahren« mache. Ich kann mich nämlich nicht entscheiden, wel‐ che Antwort besser ist: eine aalglatte Lüge (ich ziehe am Knallbonbon von Donovan) oder die profane Realität (ich schleppe mich in den Norden, um die Menorah an‐ zuzünden) . Aber die Weihnachtsferien sind toll, weil ... • ... das ganze Land einfach entscheidet – sei es göttliches Recht oder ein ungeschriebenes Privileg –, nicht zur Ar‐ beit zu gehen. Dementsprechend rechnet niemand da‐ mit, dass die Kommunikation einwandfrei funktioniert. • ... Mince Pies so toll riechen. Weil es tief schürfende, lei‐ denschaftliche Diskussionen um das Thema Mince Pie gibt. Weil Einkaufsbummel hauptsächlich unternommen werden, um Mince Pies zu erwerben. Weil ich wegen Mince Pies auf das resdiche Essen verzichte. • ... die Jahresendhektik mir ein gutes Geschäft beschert. Ich komme mir vor wie eine barmherzige Samariterin der käuflichen Liebe. 43
• ... ich die Leute treffe, die ich kenne und mag. Leute, die ich kenne und auch betrunken mag. In diesem Jahr wünsche ich mir grässliche Geschenke von alten Tanten. Her mit den Wollsocken und bestickten Taschentüchern, bitte! Ich hatte nacheinander zwei Kunden, die nur wenige Stra‐ ßen voneinander entfernt waren, und dazwischen eine Stunde Zeit. Es regnete und war zu windig, um in der Stun‐ de irgendetwas zu unternehmen. Deshalb suchte ich mir ei‐ nen passend gelegenen Pub in der Nähe von Southwark und ging etwas trinken. An der Theke bestellte ich einen doppelten Rum Soda. Unter der Woche sieht man nicht oft Blondinen mit Stilet‐ toabsätzen im Pub, aber ich bin es gewöhnt, eine gewis‐ se Konfusion zu verursachen, wenn ich ein Lokal betrete. Über dem Kamin hing ein Fernseher, es lief Fußball. Alle schauten zu, ich auch. Von der siebzigjährigen Bardame abgesehen – oder soll ich »Baroma« sagen? – war ich die einzige Frau im Raum. Doch mir wurden weder verächtliche noch lüsterne Blicke zugeworfen. Nachdem die Männer mich registriert hatten, wandten sie sich wieder ihren Gläsern und dem Fußball zu. Das Spiel war offenbar sehr wichtig. Es endete unentschieden. Vom hinteren Tisch kamen ein paar Männer an die Theke, um neues Bier zu bestellen. Ei‐ ner wartete neben mir aufsein Lager. »Als Sie reingekommen sind, dachten wir erst, Sie wären vielleicht das Maskottchen.« 44
»Ach, ja?«, sagte ich, einigermaßen verwirrt. »Ist egal, Celtic steht immer noch oben.« »Aha. Na, ich habe mein Bestes getan.« Er lachte und ging zurück an seinen Tisch. Erst da merk‐ te ich, dass ich die ganze Zeit meinen Hut aufgehabt hatte, und der ist grün‐weiß gestreift. Tolles Maskottchen! Ich trank aus und ging zum nächsten Termin. Ich weiß, Vorsorge ist wichtig. Natürlich nehme ich sie ernst – bei meinem Job, bei all den Menschen, mit denen ich zu tun habe. Und schließlich lebe ich in einer Stadt, in der Krankheiten aus aller Her‐ ren Länder einfliegen. Und dann der Dezember: Vorweih‐ nachtszeit, allerorten Betriebsfeiern, das Geld wird zum Fenster hinausgeworfen und die Menschen tun Dinge, die ihnen sonst nicht im Traum einfallen würden. Denn, hey, das Jahr ist bald vorbei, wir haben es uns verdient. Und am nächsten Morgen wachen sie auf und wissen nicht mehr, was sie gemacht haben und mit wem sie zusammen gewesen sind. Und selbst wer es noch weiß, kann nie sicher sein, ob er sich angesteckt hat oder nicht. Ich bin eine Virenschleuder. Klar, niemand ist völlig ge‐ feit davor, aber es gibt Menschen, deren Risiko größer ist, trotz der ganzen Vorsichtsmaßnahmen, die es heute gibt: kostenlose Behandlung, Impfungen, Werbekampagnen. Mir ist das wirklich ein Anliegen. Callgirls bekommen kein Krankengeld. Und Gott bewahre, dass wir im Kranken‐ haus landen. Ich möchte alle beruhigen. Hiermit gebe ich bekannt: Ich habe mich gegen Grippe impfen lassen. 45
Gestern Abend eine späte SMS vom Boy: »Wir waren nach der Arbeit noch eingeladen, Sitze gerade in einem Baum.« Draußen ist es kalt. Ich hoffe, dass es sein zusammenge‐ schrumpeltes Gemachte sicher nach Hause schafft und bald wieder aufgewärmt werden kann. Wir hatten uns an seinem Geburtstag kennen gelernt, vor knapp einem Jahr. Er brachte die Tanzfläche im Club zum Glühen – buchstäblich. Die Rausschmeißer bekamen rote Gesichter, als er mit seinen betrunkenen Freunden herein‐ kam. Sie waren nicht die Einzigen. Ich konnte den Blick nicht von diesem Mann abwenden, der sich geschmeidig wie Wasser bewegte und mit seinen Armen und Beinen umging, als seien sie nur provisorisch an seinem Körper befestigt. Auf der überfüllten Tanzfläche bildete sich schnell ein Kreis um ihn und seine Freunde. Lachend rempelten sie sich gegenseitig an, wie kleine Jungs. Seine Augen glänzten, wahrscheinlich vom Alkohol. Inmitten der nichts sagenden Angeber fiel er mit seinen Locken und Sommersprossen auf. Ich forderte einen gemeinsamen Freund auf, mich ihm vorzustellen. Es war zu laut, er sah mich an und grinste, ver‐ stand aber kein Wort. Ich hielt mich abseits und wartete. Als er zur Toilette ging, folgte ich ihm. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte ich. »Danke.« Er lächelte. Er schien mich nicht wiederzuer‐ kennen, aber immerhin schielte er ganz interessiert auf mein Oberteil. Ha, dachte ich. Die Sache hat Potenzial. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er war überrascht, wehrte sich aber nicht. Am Armel zog ich ihn in einen kleineren, ruhigeren Raum. Wir suchten uns ein rotes Plüschsofa und kuschelten uns darauf. 46
»Das kannst du doch nicht machen«, sagte er. »Wieso nicht?« »Du kennst mich doch gar nicht. Wie ich heiße, wo ich herkomme. Du weißt nichts über mich.« »Ich weiß, dass ich dich will«, erwiderte ich und umspann‐ te mit der Hand die kräftigen Muskeln seines Arms. Seine Hände, die auf meinen Hüften ruhten, waren die schönsten und größten, die ichje bei einem Mann gesehen hatte. In dem Augenblick wurden wir von einer anderen Frau unterbrochen – vielleicht war sie auch gar keine, das war im Dunkeln schwer zu sagen. »Tolle Stiefel«, sagte sie zu mir. »Danke.« Ich trug kniehohe Lederstiefel mit Schwin‐ del erregenden Absätzen. Eigentlich konnte ich darin nur humpeln, aber sie waren es wert. Der Boy betrachtete sie, »Die sind wirklich ziemlich geil«, sagte er und strich mir übers Knie. Ich schmolz dahin. »Aber wir gehen besser nicht zurück auf die Tanzfläche. Du brichst dir ja das Bein, wenn du darin tanzt.« »Dann müssen wir uns wohl was anderes suchen, hm?« »Denke schon«, grinste er, und wir fummelten noch eine Weile herum. Dann blickte ich auf die Uhr. Zeit für Aschen‐ brödel zu verschwinden. »Komm mit zu mir!«, raunte er mir ins Ohr und nestelte am Reißverschluss meines linken Stie‐ fels. Von so einer Aufforderung träumt jede Frau. Unwider‐ stehlich. »Ich habe einen Freund«, sagte ich. Der Hinweis schien mir durchaus angebracht. Der Boy sagte, das sei ihm egal. Genau genommen, lebte ich in einer offenen Beziehung, aber ich wusste, dass dieser Mann nichts für eine Nacht war. Dafür war er viel zu interessant, er knisterte förmlich vor Energie. »Hm«, sagte ich, »entweder du bekommst mich nur heute Nacht und dann nie wieder, oder wir verabreden uns jetzt. Was willst du?« 47
»Ich will dich auf jeden Fall nicht nie mehr wiedersehen«, sagte der Boy. Ich zuckte mit den Schultern – schade, scha‐ de! »Bist du abgebrüht!«, sagte er grinsend, ließ sich von mir aber die Telefonnummer geben. Dann brachte er mich zu den Türstehern. Seine Freunde waren noch im Club. Wir zö‐ gerten. Ich hätte ihn immer noch fragen können, ob er mit‐ kommen wollte, ich wünschte mir ja nichts sehnlicher. Doch ich wusste, dass er standhaft bleiben würde. Ich fuhr nach Hause und sagte meinen Mitbewohnern, ich hätte mich verliebt. Dass ich dabei voll wie eine Haubit‐ ze war und versuchte, einen Kranz mit vier Kerzen auf dem Kopf zu balancieren, tut nichts zur Sache. Ein paar Tage später traf ich mich mit dem Boy abends in einer Bar, aber es passierte nichts. Ich fühlte mich durch das Versprechen bei unserem Kennenlernen unter Druck ge‐ setzt. Er versuchte es – ein tiefer Blick hier, eine zögern‐ de Berührung da –, akzeptierte aber schnell die Grenzen. Auch wenn er absolut wusste, was bon ton war – er war kein Flegel. Oder er wusste den richtigen Augenblick abzuwar‐ ten. Meine damalige Beziehung war bereits zum Scheitern verurteilt. Als ich mich schließlich von meinem Freund trennte und nach London zog, war der Boy gerade in Brigh‐ ton umgezogen. Er half mir, die Kisten hochzutragen. Zum ersten Mal vögelten wir zwischen den Umzugskartons, den Koffern und Bücherstapeln. Auf dem Holzboden. Noch Wochen später hatte ich Schürfwunden auf dem Rücken.
Ich habe das Regal mit der Schminke aufgeräumt, verkrus‐ tete Flaschen mit eingetrocknetem Nagellack und makeup‐ verschmierte Schwämme fortgeworfen. Am Anfang habe ich 48
meinen Job für einen netten Zeitvertreib gehalten, aber inzwischen mache ich ihn schon seit ein paar Monaten. Er ist fast Routine geworden, aber ich weiß noch, wie der An‐ fang war. Als ich mich für den ersten Kunden zurechtmachte, hatte ich das Gefühl, mich für die Bühne anzumalen. Ich erinne‐ re mich, dass ich mir eine flüssige Foundation und eine feste zurechtlegte; Lidschatten, Lidstrich und Wimperntu‐ sche; Konturenstift, Lipgloss. Ich hatte früh angefangen. Zu früh. Aber ich hatte keine Ahnung, wie es laufen würde, wie lange es dauerte. Ich duschte und trocknete mich im weiß gekachelten Ba‐ dezimmer gründlich ab, überprüfte, dass ich beim Wachsen und Rasieren kein Haar vergessen hatte. Ein kleiner Deo‐ spritzer. Jeweils ein Tropfen Parfüm in den Ausschnitt und in die Armbeugen. Ich zog einen weißen Spitzen‐BH, Slip und halterlose Strümpfe an, fönte das Haar. Scheitel rechts oder links? Wie soll das Haar fallen? Hochstecken oder nicht? Wuschelig oder glatt? Ich glättete lediglich die Spit‐ zen, damit sie sich in der feuchten Nachtluft nicht kräusel‐ ten. Kleine Perlenohrringe. Ich zog das Kleid über den Kopf, dann begann ich mit dem Schminken. Foundation, aber kein Puder. Leicht mit einem feuchten Tuch abtupfen, das nimmt überflüssige Farbe auf. Violetter Lidschatten – nur ein Hauch. Ein feiner silberweißer Lidstrich im inneren Augenwinkel. Katzenau‐ gen? Auf Vamp oder Schulmädchen machen? Meine Hand zitterte leicht. Ich drehte die Wimperntusche auf, wischte mit einem Papiertuch darüber, ließ sie kurz antrocknen. Legte eine Schicht auf. Dann noch eine. Meine Augen im Spiegel sprangen schwarz aus dem Ge‐ sicht hervor. Ich zog die Konturen meiner Lippen nach, wusste aber nicht, wie dick ich auftragen sollte, wie viel sich 49
bei ihm abreiben würde. Was sollte ich mitnehmen? Hätte ich noch Zeit, mich kurz frisch zu machen? Mit der Spitze des kleinen Fingers applizierte ich einen Tupfer flüssiges Rouge auf die Lippen. Dann Lipgloss. Viel. Ich dachte an den Tipp der Agenturchefin: »Männer lieben glänzende Lippen.« Man braucht wohl kein Genie zu sein, um den Grund zu erraten. Ein bisschen Gel, damit das Haar nicht ins Gesicht fällt. Eine Spange hält es zurück. Ich zog die Schuhe an, schloss die Riemen an den Fesseln. Schwarze Lackstilettos, die viel Spann zeigen. Unglaublich hohe Absätze, aber ich war in ihnen schon hinter einem Bus hergelaufen und hatte oft bis in den frühen Morgen darin getanzt. Fick‐mich‐Schuhe. Dann der Mantel. Ein Halstuch in traditionellen Schul‐ farben oder lieber ein blauer Hauch von Nichts? Das blaue hinterlässt Spuren auf dem Mantel; ich entschied mich da‐ gegen. Es war ein kalter Abend. Dunkelblaue Handschuhe mit kleinen Knöpfen am Handgelenk. In das Revers des Mantels setzte ich eine Schmetterlingsbrosche. Ich war ner‐ vös, atmete tief durch. Immer noch eine Viertelstunde Zeit. Ich hatte einen trockenen Mund. Ging in die Küche und goss mir ein Glas ein. War Alkohol fehl am Platz? Keine Ah‐ nung. Ein Glas konnte nicht schaden. Meine Lippen hinter‐ ließen einen rosaroten Halbmond auf dem Glasrand. Ich packte meine Handtasche. Mir war warm in Mantel, Hals‐ tuch und Handschuhen. Immer noch zehn Minuten, bis das Taxi kommen würde. Im Stadtplan schlug ich nochmals den Ort des Treffens nach. Ich wollte das Teil nicht mit mir herumschleppen. Der Treffpunkt war in der Nähe eines U‐ Bahnhofs. Wenn ich mir den Weg zum Bahnhof merkte, konnte ich den Plan zu Hause lassen. Ich ging nach unten, vor die Tür. Der kalte Wind spielte mit dem feuchten Haar in meinem Nacken. Ich sah die Stra‐ 50
ße hinunter. Niemand unterwegs. Nur wenige Autos kamen vorbei. Ein Bus hielt an der Haltestelle. Niemand stieg ein; er fuhr weiter. Hinter ihm erschien ein kleiner Wagen, ein Mann schaute aus dem Fenster. Das musste das Taxi sein, dachte ich. Achtung! Von jetzt an bin ich im Dienst. Lä‐ cheln, winken, Ziel angeben. Ab jetzt bin ich jemand an‐ ders. Der Fahrer hielt vor dem Haus, ich zahlte. Den Weg hin‐ auf, Messingklopfer an der Tür, darüber ein Außenlicht. Mir Fiel eine Strähne ins Gesicht. Ich nahm die Spange her‐ aus und schüttelte das Haar. Lächelte. Klopfte an die Tür. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Am nächsten Morgen erwachte ich in meinem eigenen Bett. Betrachtete meine Hand, stundenlang. Sollte sich ir‐ gendetwas verändert haben? Musste ich mich missbraucht fühlen, war ich ein Opfer? Ich wusste es nicht. Die Feinhei‐ ten des Feminismus schienen mir fehl am Platz. Alles fühlte sich an wie immer. Die Hand war dieselbe, ich war dieselbe. Ich stand auf und machte Frühstück. Der Boy sucht seit einiger Zeit eine neue Stellung (einen Ar‐ beitsplatz, keine sexuelle, obwohl: Auch da wird jedes Ange‐ bot dankbar angenommen). Schon lange fühlt er sich un‐ wohl in seinem Job, aber andererseits sei der eine sichere Sache, dieses spreche dafür, jenes dagegen – so geht es hin und her. Seine Kollegen kennt er schon von der Uni. Aber einer wurde nun entlassen, und der Boy merkt zunehmend, dass die höheren Tiere in der Verwaltung ihm immer ge‐ nauer auf die Finger gucken. Ich schlage ihm das Militär vor, nicht nur weil ich denke, dass er in der Uniform eine 51
tolle Figur abgeben würde. Er Mailt mir seinen Lebenslauf, damit ich ihn ein bisschen überarbeite. Nach einer halben Stunde schicke ich ihn zurück. Kurz darauf klingelt das Telefon. Der Boy ist dran, er lacht. »He, Süße, das ist super ... aber ich glaube nicht, dass ich das so abschicken kann.« »Nein? Wieso nicht?« »Zunächst mal glaube ich nicht, dass die Armee sich für meine Penislänge interessiert.« »Das kann man nie genau wissen! Wer weiß, wer das Vor‐ stellungsgespräch führt.« Ich hatte gehört, dass es beim Mi‐ litär inzwischen sehr modern zugehen soll. »Klingt gut.« Ich hörte, wie er die Mail herunterscrollte. »Kurze Erholungszeit zwischen zwei Ejakulationen gehört nicht unter die Überschrift ›Besondere Fähigkeiten‹.« »Mir ist das aber wichtig, mein Süßer.« »Zweifellos. Und was steht hier unter Hobbys? ›Oralsex, aktiv und passiv‹?« »Stimmt das etwa nicht?« Wir mussten beide lachen. Kurz kam mir der Gedanke, ihm meinen Berufszweig vor‐ zuschlagen, aber das würde ihn nicht reizen. Der Boy ist so unflexibel wie ein Fischbeinkorsett. Mich hingegen halten die meisten unserer Bekannten für eine Frau ohne jede Mo‐ ral. Selbst die, die nicht wissen, womit ich mein Geld verdie‐ ne. 52
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Der Kunde hatte große Hände mit langen, tastenden Fin‐ gern, die mich an den Boy erinnerten. Er streichelte meine Brüste, meine Oberschenkel, erkundete mein Inneres. Ich zuckte zusammen. »‘tschuldigung, hab ich dir wehgetan?«, fragte er. Ich lag auf der Seite, er wie ein Löffel hinter mir, die »an‐ stößigen« Finger hatte er von hinten zwischen meine Beine geschoben. »Nur ein bisschen.« Ich nahm seine rechte Hand und musterte die Fingernägel. Sauber, aber etwas zu lang. Und ziemlich schief. »Kaust du Nägel?« »Ja.« Ich rollte mich übers Bett und griff nach meiner Tasche, die auf dem Boden stand. »Warte mal kurz.« Ich holte ein kleines silbernes Kosmetiktäschchen hervor und zog eine Sandblattfeile heraus. Er schauderte. »Beim Feilen läuft es mir eiskalt den Rü‐ cken runter«, sagte er. »Hat für mich was von Fingernägeln, die über eine Tafel kratzen.« »Vertrau mir«, sagte ich und schmirgelte seine Nägel glatt. Er fuhr mit dem Daumen über die polierten Ränder, lobte den Unterschied. »Du bist viel zu nett für diesen Job«, sagte er zärtlich, woraus ich schloss, dass er bisher entweder nur schlechte Erfahrungen gemacht hatte oder dass alle Nutten nett sind und ich einfach bloß seine erste war. Ich hoffe, es war Letzteres. 55
So. Was fängt eine junge Frau mit einem freien Tag an? Zuerst mal natürlich neue Unterwäsche kaufen. Den nächsten Termin habe ich erst morgen, also jede Menge Zeit zum Vorbereiten. Der Boy ist nicht da; T kann nicht mit in die Muckibude. Versuche vergeblich, mich mit l A1, A2 und A4 zum Mittagessen zu verabreden. Bin gesund, hab keinen Kunden. Also mache ich es mir mal so richtig gemütlich. Es ist nichts zu erledigen, keine Termine, keine Wäsche. Ich habe Zeit zum Kochen (der Abwasch kann war‐ ten). Keine Putzfrau da, keine Anrufe von der Agentur. Muss nirgends hin, nichts tun. Bin ganz allein mit mir. Am besten, ich hole den Vibrator raus. In London gibt es einen, der gerade dafür bezahlt hat, mir eine Stunde lang den Arsch zu lecken. Wünschen wir uns das nicht alle: dass uns jemand die Rosette poliert und das auch noch toll findet? Wenn mir vorher jemand gesagt hätte, dass es so perfekte Kunden gibt, hätte ich viel früher angefangen.
»Hast du’s schon mal mit einer Frau gemacht?«, fragte der Kunde und streichelte meine Brüste. »Ja«, sagte ich. Er seufzte. »Schon oft. Aber privat.« letzte Mal ist schon eine Weile her. Der Boy beschwert sich 56
manchmal, weil er weiß, was ich schon gemacht habe, und gerne auch mal einen Dreier probieren würde. Aber ich weiß, welche Probleme in der Beziehung entstehen kön‐ nen, wenn man sich ein zweites Mädchen dazuholt. Am bes‐ ten nimmt man eine Professionelle. Vielleicht irgendwann mal. Im Moment nicht. »Bist du lesbisch?« »Nein, ich mag bloß gerne Frauen.« Beim Sex wahr‐ scheinlich genauso gern wie Männer. Aber leben tue ich lie‐ ber mit einem Mann, was wohl heißt, dass ich letztendlich hetero bin. Zu diesem Schluss bin ich wenigstens nach einer nervenaufreibenden Identitätskrise während meines Studi‐ ums gekommen. Ich schlafe mit Frauen, aber ich will mit keiner zusammen sein. Ich habe mir noch mal die Website der Agentur angesehen. Hin und wieder überarbeitet die Chefin die Beschreibun‐ gen der Mädchen, um die eine oder andere ein bisschen in den Vordergrund zu rücken oder auf einen Neuzugang hin‐ zuweisen. Ich mache mich ganz gut inmitten der anderen Mädchen auf der Seite und verglichen mit den anderen im Netz. Nichts besonders Auffälliges; eine von Hunderten. Man staunt immer wieder, wie viele Callgirls in London arbeiten. Für jeden geilen Geschäftsmann der Welt scheint es min‐ destens eine langbeinige blonde oder brünette Sexgöttin zu geben, dazu noch die eine oder andere heiße Hausfrau. Ich weiß noch, wie es war, als ich mich zum ersten Mal auf der Seite entdeckte. Meine Beschreibung gefiel mir recht gut. Damit hatte ich nicht gerechnet, nachdem ich 57
die Aufnahmen mit der Fotografin hinter mich gebracht hatte. Sie hatte das Bild ein bisschen zurechtgeschnitten, ein wenig mit Photoshop gezaubert, aber die Frau auf den Bildern war ich, unverkennbar. Ob mich jemand erkennen wurde? Sei nicht albern, schalt ich mich. Niemand, der dich kennt und dich auf der Seite einer Begleitagentur fin‐ det, gibt zu, dort gesurft zu haben. Vielleicht, dachte ich voller Schrecken, geht jemand einen Schritt weiter und bucht mich sogar! Die Fotografin der Agentur hatte sich mit mir im Hotel verabredet. Sie war niedlich, bis sie den Mund aufmachte. Sofort begann sie, an mir herumzumäkeln. »Das muss mehr Haar sein«, sagte sie und zog einen Kamm hervor, der aus‐ sah, als hätte er bei einem der besseren Hundefrisöre des Landes Dienst getan. Mit pinkfarbenem Konturenstift mal‐ te sie mir einen vollen Schmollmund. Die Unterwäsche, die ich mitgebracht hatte, noch in der Verpackung, wurde als unpassend abgetan – will sagen, viel zu geschmackvoll. »Dir würde etwas ... hm, Violettes stehen«, sagte sie und warf mir ein billiges Spitzenhemdchen zu. Immerhin war es ungetra‐ gen, das Preisschild war noch dran. So fand ich mich in Far‐ ben wieder, die ich niemals tragen würde, dazu völlig aty‐ pisch geschminkt. Mit wild aufgeplustertem Haar räkelte ich mich auf den Hotelmöbeln. »Die Beine gerade in die Luft!«, befahl sie. Meine Beine zitterten vor Anspannung Eine Positur nach der anderen musste ich halten. »Und jetzt ... entspannen!« Sie machte Aufnahmen von gut einem Dutzend Stan‐ dardposen. »Und, findest du’s langweilig?«, scherzte sie »Ja.« Kritisch musterte sie mich. »Dir ist langweilig? Das ist schlimm.« »War nur ein Witz. Eigentlich finde ich es super aufre‐ 58
send«, sagte ich und drückte zum dreißigsten Mal meine Brüste zusammen. »Schade, die Bikininähte. Sieht total nach Siebziger‐Jahre‐ porno aus.« Und das sagt mir eine, die mir gerade ein pink‐ farbenes Latexhöschen aufgedrängt hat? Sie wechselte den Film und schoss den nächsten voll. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch mehr Verrenkungen gab. Nach ei‐ ner Stunde hatte ich genug und durfte wieder meine Zivil‐ kleidung anziehen. »Beim nächsten Mal gebe ich dir den Namen von einem Salon, den ich kenne, der macht unglaubliche Gesichtsbe‐ handlungen«, sagte sie, kleiner Nackenschlag zum Abschied. Subtile Anspielungen sind offenbar nicht ihre Stärke. Das Urteil fiel nach wenigen Stunden. Zu meiner Über‐ raschung war die Chefin sehr angetan von dem Ergebnis. »Süße, diese Bilder sind fabelhaft«, gurrte sie am anderen Ende der Leitung. Ich habe festgestellt, dass sie sich nie mit Namen meldet, sondern einfach drauflos redet. Scheinbar kommt sie aus dem gleichen Stall wie meine Mutter. »Danke, ich dachte schon, ich würde nicht entspannt ge‐ nug aussehen.« »Nein, die sind toll! Würdest du mir einen Gefallen tun? Könntest du ein bisschen was über dich schreiben, für die Homepage? Bei den meisten Mädchen mache ich das selbst, aber du müsstest das doch gut selber hinkriegen.« Sie schien erfreut, wieder mal eine Akademikerin für die Agen‐ tur eingespannt zu haben; vielleicht gibt sie Nachlässe für Uni‐Absolventen? Du lieber Himmel! Ich bin eine knackige, schlanke ... nein, so nicht. Amu‐ sant, savoir faire? Bitte nicht. Dynamisch, teamfähig ... kommt der Wahrheit schon näher. Wo kann man Lebens‐ läufe für Huren abschreiben? 59
Irgendwann war ich mit dem Ergebnis einigermaßen zu‐ frieden. Die Machart der Agenturseite hatte mir auf Anhieb gefallen, insbesondere die Beschreibungen der Frauen. Sie wirkten ehrlicher und weniger pornographisch als andere – keine Prahlereien über Maße und sagenhafte Fähigkeiten, Nirgends wurde garantiert, das abgebildete Girl könne Feu‐ erwehrschläuche schlucken, sei eine wilde Sexbestie oder habe die Mittelseiten einschlägiger Magazine geschmückt. Die kitschige Wäsche aus dem Fundus der Fotografin wirkte auf den Fotos zu meiner Überraschung anziehender und raffinierter als in Wirklichkeit (was ich ihr gegenüber natür‐ lich um nichts in der Welt zugegeben hätte). Und nachdem ich die sonderbaren Positionen auf Hunderten von Bildern gesehen hatte, kamen mir auch meine Verrenkungen nicht mehr so unnaturlich vor. Ein gutes Werbefoto zu machen, ist eine Kunst. Es muss perfekt sein, das ist das Mindeste. Die Versuchung ist daher groß, Pixel zu manipulieren. Andererseits fühlen sich die Frauen, denen der Anblick ihres Körpers gefallt, denen gegenüber benachteiligt, die sich am liebsten mit Compu‐ tertechnik auf den Laufsteg schummeln würden. Eine Durchsicht der Fotos ergab folgende Trends: • vornübergebeugt von hinten: In der Stellung sieht jede Frau gut aus. Wahrscheinlich doubelt die pummelige Vanessa Feltz dabei Heidi Klum. Wenn man das aufgedunsene Gesicht nicht in Nahaufnahme bestaunen kann, braucht man sich hinterher nicht zu wundern, wenn es wenige (oder mehr) ist als erwartet. Siehe auch: »auf allen vie‐ ren« und »ausgestrecktauf dem Bauch«. • zusammengedrückte Brüste: Ein AA‐Cup kann aus dieser Perspektive die Ausmaße von Katie Price annehmen, er muss nur entsprechend gequetscht werden. Bloß: wozu 60
das Ganze? Viele Männer mögen kleine Brüste. Einer sagte mal, mehr als ein Mundvoll sei Verschwendung (meine passen perfekt in die Hand, aber das müssen Sie mir schon glauben. Ich verrate auch nicht, in wessen Hände). • von oben tief in den Ausschnitt: siehe oben. • auf Zehenspitzen: Nein, die abgebildete Frau ist keine Bal‐ letttänzerin; sie will nur, dass ihre Beine länger wirken. Ich schätze, wenn Gott gewollt hätte, dass wir die nackten Füße in die Luft strecken, hätte er keine Stilettos erfin‐ den lassen. • Stola/Pehüberwurf: dicke Oberarme, ist doch klar ... • aufgestellter Kragen, lange Haare im Gesicht Doppelkinn oder gar kein Kinn. Ist Julie Burchilis Trick, was ja wohl alles sagt. • kniehohe Stiefel und enger Rock: Im wahren Leben unglaub‐ lich sexy. Wer hat noch nicht über den milchigweißen Streifen Haut am Oberschenkel einer schönen Frau strei‐ chen wollen? Auf Werbefotos gibt es allerdings gute Gründe für Frauen, nicht mehr als drei Zentimeter Bein zu zeigen. • im Schaumbad: verdeckt eine Vielzahl von Sünden. • Brücke: wie vornübergebeugt von hinten, nur andershe‐ rum. Ziemlich sicheres Indiz für einen Bauch. Ich per‐ sönlich mag lieber Frauen mit etwas auf den Rippen, als dass ich jemanden zwinge, stundenlang die Luft anzuhal‐ ten. • übereinander geschlagene Beine: unrasiert (im Schritt). • Socken: ebenso. • Zöpfe und jugendliche Kleidung: ist in Wirklichkeit vierund‐ dreißig. 61
Ich war mit N, der Londoner Klatschpresse in persona, in der Muckibude verabredet. Danach wollte er bei mir essen. Er ist ein großer Pornofreak und hat eine entsprechende Sammlung von Zeitschriften. Er erzählte mir, er wolle mit einem Kollegen nach Amsterdam fahren. »Dann holt euch doch ein Mädel für einen Dreier, wenn ihr schon mal da seid!«, schlug ich vor und beugte mich über den Lenker meines Trimmrades. Der Dreier ist sein größter Traum. Direkt nach Omas und Pferden. N tut mir Leid. Nachdem er ein‐ oder zweimal die Won‐ nen des Gruppensexes genossen hat, ist er wie besessen da‐ von. Beispielsweise war er derjenige, der wollte, dass ich de‐ tailliert über die Nacht mit der feinen Dame und ihrem Freund berichtete; ich musste für ihn sogar illustrierende Zeichnungen anfertigen. »Wieso? Glaubst du, holländische Frauen machen das lie‐ ber als englische?« »Das nicht, aber du könntest sie ja bezahlen.« »Hm«, machte er. N ist ein attraktiver Mann. Auch wenn er nichts gegen Prostitution als solche hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich tatsächlich eine Nutte neh‐ men würde. Er verfiel auf dem Laufband in einen langsa‐ men Trott. Ich trat in die Pedalen. »Wenn Bordelle nicht verboten wären, könnte ich alle Mädchen mieten«, sin‐ nierte er. »Jetzt wirst du aber habgierig«, schimpfte ich. »Wenn ich mich recht erinnere, reicht dir normalerweise eine.« Es hat‐ te nur wenige Ausnahmen gegeben. In grauer Vorzeit hat‐ ten er und ich mal einen Dreier gehabt, aber soweit ich weiß, hatte er es seitdem nicht mehr versucht. 62
»Autsch.« Aber er grinste. Und wenn er grinst, weiß ich wieder, wie sexy ich ihn und die Lachfältchen um seine Au‐ gen fand. Dann sieht er aus wie ein Filmstar. »Besteht viel‐ leicht die Möglichkeit, dass du –« »Sorry, mein Süßer, aber der Zug ist schon Vorjahren ab‐ gefahren.« Iiih, ein Freund, der mich buchen will. Auf den Gedanken war ich noch gar nicht gekommen. Muss mir vor‐ nehmen, alle zukünftigen Anfragen in dieser Richtung im Keim zu ersticken. Insbesondere, da nicht alle denselben Kenntnisstand über meine Arbeit haben. A2 weiß Bescheid, A1 und A4 wissen im Groben, um was es geht, aber nichts Genaues, und je weniger A3 weiß, desto besser. N bekommt natürlich alles brühwarm erzählt, selbst die unappetittlichs‐ ten Details. Das Laufband ächzte unter seinem Gewicht. »Hast du die Maschine jetzt lange genug gequält? Ich hab nämlich Hun‐ ger.« Er fuhr mich nach Hause. Es war noch nicht spät, aber be‐ reits so dunkel, als sei es Mitternacht. N ist in London ge‐ boren und aufgewachsen; er fuhr über Seitenstraßen und Schleichwege, deren Existenz mir bis dato nicht bekannt war. Die Luft war noch feucht vom nachmittäglichen Re‐ gen, auf den Straßen glänzten rote und weiße Lichter, ich rollte das Beifahrerfenster hinunter, um dem Summen der Reifen auf der Straße zu lauschen. »Wie viel erzählst du ei‐ gentlich deinem Typen?«, fragte er nach einer langen Pau‐ se. N und der Boy kennen sich, halten aber nicht viel von‐ einander. Da sie nicht in derselben Stadt leben, treffen sie sich glücklicherweise nur selten. »Genug.« »Kann mir nicht vorstellen, dass er das toll findet.« »Kann mir nicht vorstellen, dass er eine Wahl hat«, sagte ich selbstsicherer, als mir zumute war. Sollte er starke Ein‐ 63
wände dagegen haben, würde ich mir etwas anderes su‐ chen. Wahrscheinlich. Verabredung mit einem Banker in einem Hotel in der Nähe der Bond Street, Wir tranken einen Kaffee, plauderten eine Weile über New York, gingen zum Geschäftlichen über. Und wie man so sagt: Die Geschäfte liefen gut. Er: »Das war mein erstes Mal anal.« Ich: »Echt? Wundert mich.« So verwundert war ich viel‐ leicht auch wieder nicht, weil ich schon öfter Männer hatte, die es bei mir zum ersten Mal versuchten. Aber mich wun‐ derte, dass er es vorher nicht gesagt hatte, und ich bestaun‐ te seine räumliche Vorstellungskraft und wie geschickt er sein Glied in mir bewegt hatte, »Hat mir wirklich gefallen.« »Ich würde’s dir sagen, wenn es für mich das erste Mal war, aber dann wüsstest du, dass es gelogen ist.« Er lachte. »Und, wie war ich?« »Sehr gut. Immer dran denken: Jede Menge Gleitmittel’ nehmen und zuerst mit den Fingern weiten. Hast du ja ge‐ tan.« »Danke, lieb von dir.« »Na, den härteren Part hattest ja du. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Etwas später ... Er: »Ich verstehe nicht, warum meine Kollegen lieber et‐ was mit einem Mädchen aus dem Büro anfangen und ihre Ehe aufs Spiel setzen, wenn sie statt dessen eine wie dich ha‐ ben können.« 64
Ich nickte. Dem hatte ich nichts hinzuzufügen. »Muss was mit Machtgefühl zu tun haben. Oder sie wol‐ len vor den Kollegen angeben. Trotzdem«, er erschauderte leicht, wie ein Mann, der weiß, dass der schwache Schatten seines Eherings noch zu sehen ist, »ich würde nicht das Risi‐ ko eingehen, dass sich so eine kleine Aushilfe Wochen oder Monate später bei meiner Frau meldet.« Wir hatten beide noch Zeit vor unserem nächsten Termin und unterhielten uns über libanesische Restaurants in Lon‐ don (durch die Bank gut) und über italienische (sämtlich schlecht). Später ließ er kurz durchblicken, dass er schon einmal versucht hätte, mich zu buchen. Ich freute mich, dass er hartnäckig geblieben war. »Hast du einen Freund?«, fragte er. »Ja«, sagte ich. Ich betrat das Hotel, einen weiten Mantel um mich ge‐ schlungen. Nicht als Schutz vor dem kalten Wetter, sondern aus Vorsicht, damit keines meiner Utensilien herausfiel. Der Kunde zog sich aus, und ich breitete die von ihm erbe‐ tenen Gegenstände aus: Augenbinde, Peitsche, Würgehals‐ band und Nippelklemmen. »Ich habe das noch nie gemacht«, sagte er mit einem Sei‐ tenblick auf die Peitsche. Voller Zweifel. Also wirklich! Das war doch seine Idee gewesen, nicht meine. »Dann werde ich besonders vorsichtig sein«, sagte ich. Wir wussten beide, dass es gelogen war. Nach genau einer Stunde waren wir fertig. Manchmal ist der Beruf zu schön, um wahr zu sein. 65
Schlechte Laune; hab nichts Ordentliches zu schreiben. Nur einige Beobachtungen: Kleine Liebeskunde • Liebe auf den ersten Blick: überwältigendes Verlangen, den nächsten Wandschrank von innen zu erkunden (oder die Toiletten im Pub, den Garten, die Gasse um die Ecke). • wahre Liebe: kann der Familie ohne übermäßige Furcht vor Peinlichkeiten (seitens der Familie) vorgestellt wer‐ den. • ewige Liebe: (Ehe‐) Paar, das seit Jahren nicht mehr mitein‐ ander, sondern mit anderen schläft. •Liebesheirat Bund zwischen zwei Königshäusern. • die große Liebe: der nichtsnutzige Kommilitone aus dem letzten Unijahr, der acht Stunden täglich vor dem Com‐ puter hockte und immer die ganze Nutella aufaß. Die Er‐ innerung an ihn wird mit den Jahren rosiger. • verliebt sein: kurzfristiger Zustand, in dem man sich für ei‐ nen anderen Menschen fast so interessiert wie für sich selbst. • lieben: Bereitschaft zu unvorstellbarer Nähe. • Mutterliebe: Bereitschaft zu unvorstellbarer Nähe. • Geschwisterliebe: in den meisten Weltreligionen verboten. • Lover: kommt vorbei, wenn der Partner »geschäftlich unterwegs« ist (will sagen: seine Geliebte trifft). • liebenswert: niedlich. Abwertend gemeint (so wie »ansehn‐ liche Beine« nichts anderes sind als dicke Stampfer). • lieb: kaum noch erträglich (»Was für ein lieber Mensch Hoffenlich unternehmen wir noch mal etwas mit ihm!« • Liebestrank: momentan scheinbar das Einzige, das den 66
Boy zum Anrufen bringen kann. Langsam fühle ich mich einsam.
N brachte mich nach Hause. Er hatte schon gegessen, ich war hundemüde. Ich bereitete ein Sandwich für mich und Tee für uns beide, er las mir derweil aus der Zeitung vor. Dann wollte ich ihn rauswerfen, um in Ruhe baden zu können. Wie lange hatte ich mir schon kein gemütliches Schaumbad mehr gegönnt! »Ich warte so lange«, sagte er. Manchmal ist er komisch und stur, und weil ich zu müde zum Streiten war, beließ ich es dabei. Als ich aus dem Badezimmer kam, befahl er mir, mich bäuchlings aufs Bett zu legen. Dann massierte er mich von hinten, vom Nacken bis zu den Füßen. Ich hätte mich ja be‐ dankt, aber ich denke, meine zufriedenen Seufzer waren aussagekräftig genug. In der Tür blieb er kurz stehen. »Da‐ für will ich natürlich nächstes Mal einen geblasen haben«, sagte er. »Mindestens.« »Das ist nur komisch, weil ich weiß, dass du es ernst meinst, Süßer.« Nicht alle Männer fragen vorher um Erlaubnis. Ich den‐ ke da ganz speziell an einen. Große, starke Kerle hatten schon immer eine besondere Anziehungskraft auf mich. Aber nie hat mich einer zu irgendetwas gezwungen. Nur ei‐ ner. Aber den flehte ich geradezu darum an. Es war schwere Körperverletzung, garniert mit Küssen. Nennen wir ihn W. Als wir uns kennen lernten, hatten wir beide andere Partner, aber das war egal. Was wir miteinan‐ der machten, galt sowieso nur im weitesten Sinne als Ge‐ schlechtsverkehr. 67
Er war groß und gut gebaut, ein erfolgreicher Sportler. Eine Woche lang flirteten wir miteinander, dann verabrede‐ ten wir uns für den Freitagabend. Beim Anziehen dachte ich an ihn, an seine langen, schweren Arme und großen Hände, und ich merkte, dass etwas Sonderbares in mir vor‐ ging. Ich konnte mich eher auf der Faust dieses Mannes als in seinen Armen vorstellen. Er sah aus, als sei er in der Lage, Hackfleisch aus mir zu machen. In einem fort malte ich mir aus, wie er mir wehtat. Von der Vorstellung wurde mir übel. Gleichzeitig machte sie mich heiß. Wir trafen uns am Südufer. Eine Zeit lang standen wir in einem überfüllten Pub herum, dann gingen wir in einen Comedy‐Club, wo ich mich hemmungslos mit Gin Tonic be‐ trank. Die Leistungen der Comedians reichten von schlecht bis peinlich. Ich begann mir auszumalen, wie W mir seine breite Schulter ins Gesicht rammte. Ich ging nach unten zur Damentoilette. W folgte mir. »Du willst mich doch nicht auf dem Klo fertig machen, oder?«, fragte ich und nestelte an seinem Hemd. Mein Kopf reichte gerade mal bis zu seiner Brust. Ich roch das saure Aroma seines Schweißes und war noch erregter. »Ich verfolge dich nicht«, sagte er. »Nur ein bisschen.« Zur Abschreckung biss ich ihn. Der Stoff schmeckte flu‐ sig. Ich biss gerade so fest zu, dass es wehtat. Aber er zuckte nicht mit der Wimper. »Also gut«, sagte er und nahm mein Gesicht in die Hände, »dafür wirst du mir büßen. Wir sehen uns draußen.« Ich war unsicher auf den Beinen, hängte mich auf dem Weg zu meiner Wohnung an seinen Arm. Wir blieben ste‐ hen, ich blickte zu ihm auf. Er hob mich hoch, stellte mich auf eine Bank. Dort gab er mir den ersten Kuss. »Nehmt euch ein Zimmer!«, riefen ein paar Jugendliche von der anderen Straßenseite. 68
Taten wir nicht. Jedenfalls nicht an dem Abend. Einen Tag später. Es war das in Pastellfarben eingerichtete Haus einer Ho‐ telkette in Hammersmith. Ich nahm nicht mal eine Reiseta‐ sche mit. Kaum waren wir im Zimmer, warf er mich aufs Bett und setzte sich rittlings auf mich. Er zog seinen Schwanz hervor, schob ihn mir aber nicht in den Mund oder zwi‐ schen die Brüste, sondern schlug mir damit ins Gesicht. So fing es an. Nachdem er mich beim ersten Mal so heftig geschlagen hatte, dass mein Mund voller Blasen war, gab es kein Zurück mehr. »Ich habe noch nie eine Frau zum Wei‐ nen gebracht«, sagte er. »Gefällt mir.« Von Romantik und Liebe war keine Rede. Nur wir beide, wo auch immer wir ungestört waren, und seine Hand. Wenn wir an kalten Ta‐ gen an einem Park vorbeifuhren, hielt er plötzlich an, wir stiegen aus und er ballerte mir eine. Durch die Kälte tat es noch mehr weh. Meine Hose wurde triefnass. Ich musste mir Erklärungen für die blauen Flecken aus‐ denken. »Bin gegen eine Tür gelaufen«, log ich. »Hab’s beim Training ein bisschen übertrieben« oder »Blauer Fleck? Wo?« Dann kam das Wochenende, als W ein Zimmer im König‐ lichen Ärztecollege reservierte. Dort können Mediziner wohnen, die zu Besuch in London sind; keine Ahnung, wie er sich da reingewanzt hatte. Wir saßen auf dem schmalen Bett, sahen uns eine Pornodoku an und futterten Pizza. Ich aß zu viel. Als ich seinen Schwanz in den Mund nahm, war er mir plötzlich zu groß. Mir wurde schlecht. Ich kotzte ihm Pizza und Cola light auf die Oberschenkel. Sein Schwanz wurde noch härter. Er riss an meinen Haaren, bis ich wein‐ te. Dann wichste er auf mein verweintes, mit Erbrochenem verschmiertes Gesicht. Das Bad in diesem College teilte man sich mit dem Nebenzimmer. Als ich auf den Flur trat, 69
kam ein junger Inder aus dem Zimmer gegenüber. Er streif‐ te mich mit einem Blick und blieb starr vor Schreck stehen. Der junge Arzt musste uns gehört haben, wenn auch viel‐ leicht nicht jede Kleinigkeit, denn er schien sich über das Erbrochene auf meinem T‐Shirt zu wundern. Zaghaft wink‐ te ich ihm zu. »Ähm, wer von euch ist der Arzt?«, fragte er peinlich be‐ rührt. »Ich«, log ich und ging an ihm vorbei zur Toilette. Ihm fiel fast die Kinnlade herunter. W fand die gegenseitige Anziehung ebenso verblüffend wie ich. »Was denkst du eigentlich, wenn ich dich schlage?«, fragte er eines Nachmittags. Wir saßen auf einer Bank im Regents Park und sahen den Gänsen und Schwänen zu. Alle paar Minuten, wenn niemand vorbeilief, scheuerte er mir eine. »Nichts«, sagte ich. Es war einfach der Augenblick, wenn seine Hand aufhörte, meine Wange zu streicheln, und ich wusste, dass der Schlag kommen würde; das heftige Klatschen seiner Hand auf meiner Wange; der stechende Schmerz, der mir die Tränen in die Augen trieb; das warme Glühen danach. Es war vielleicht der einzige Moment, in dem mein Kopf völlig leer war. Es tat weh, aber der Schmerz war neutral; es war kein Hass, keine Abscheu dabei. Es war purer, reinigender Schmerz, eine neue körperliche Erfah‐ rung. Wie ein Orgasmus, bei dem man sich selbst, den an‐ deren, die ganze Welt vergisst. »Wirst du sauer auf mich?« »Nein.« W war nur einmal bei mir zu Hause. Er peitschte mich an‐ fangs im T‐Shirt, dann oben ohne aus und hörte erst auf, als es blutete. In der Dusche bepinkelte er mich von oben bis unten, dann drückte er mein Gesicht in die Pfütze und 70
schlug mir auf die Rückseite der Oberschenkel. Er spritzte mir ins Gesicht und hielt mir danach einen Spiegel hin. »Ein Bild für die Götter«, sagte er seufzend. Die Augen vol‐ ler Sperma, blinzelte ich in den Spiegel und sah eine Frau mit brennendroten Wangen in einem weiß gekachelten Bad. Er hatte Recht: Es sah toll aus. Natürlich nicht wie in ei‐ nem Hochglanzmagazin. Ich grinste breit. Während eines Urlaubs in Schottland schrieb ich W heimlich SMS. »Habe ein Lunchpaket gegessen und an dei‐ ne großen Hände gedacht«, lautete die erste, zögerliche. Dann: »Vergiss bitte beim nächsten Mal nicht Taschenlam‐ pe und Seile.« Eines Nachts stand ich in der kalten Luft draußen und wurde von Mücken zerstochen, während W mir detailliert schilderte, was er mit mir vorhatte. Am nächsten Morgen schrieb ich ihm: »Nachdem du mir erzählt hast, wie du mich prügeln und schänden würdest, bin ich triefnass ins Haus zurückgeschlichen.« Doch ich war in jemand anders verliebt, in einen sehr gut aussehenden, sanften Mann, der mich nicht mal auf dem Klo belauscht hätte und schon gar nicht auf die Idee gekommen wäre, mein Gesicht mit Kot zu beschmieren. Die Affäre war zu aufgeputscht, als dass sie eine Chance gehabt hätte. Sie würde zwangsläufig mit einem Streit, ei‐ nem Gefängnisaufenthalt oder – am schlimmsten – als Spie‐ ßerehe mit gelegendichem S/M light enden. Auch W konn‐ te diese Vorstellung nicht ertragen, und so leiteten wir eines Abends unter fadenscheinigsten Ausreden das Ende unse‐ rer Beziehung in die Wege. Und ich gab ihm – höflich, aber doch bestimmt, wie eine Frau in einem film noir – eine Ohr‐ feige. »Gib’s zu, das wolltest du schon die ganze Zeit«, sagte er. Trotz allem begehrte ich ihn weiter. Zwei Wochen später 71
schickte ich ihm eine Nachricht: »Hab noch immer Kratzer von deinen Fingernägeln an der linken Brust. Du fehlst mir.« Gestern Abend Anruf vom Boy. Endlich. Das übliche Klagen und Zähneknirschen, sowohl sexuell als auch wegen unse‐ res Schicksals, als unglückliches Liebespaar durch die A23 getrennt zu sein. Gegen Ende des Gesprächs wurde es prosaischer. »Mein Vater ist diese Woche ein paar Tage in London.« »Ach, was macht er hier?« »Umschulung«, sagte der Boy. »Er hat absolut keinen Bock. Er hasst London. Ich meine, was soll man tun, wenn man allein in dieser Stadt hockt und keinen kennt?« Mir fiel sofort etwas ein. Lieber Gott, lass ihn bitte keine Begleitagentur anrufen. »Ach, der kommt schon zurecht. Dein Vater ist ein netter Kerl, den nimmt schon einer mit vor die Tür.« Bitte, bitte, lass ihn keinen Begleitservice be‐ stellen! Und wenn das nicht zu unverschämt ist... bitte lass es nicht mich sein. »Deine Mutter könnte doch mitkom‐ men.« »Nein, die hat zu viel zu tun.« Scheiße. Die Vernunft sagt mir, dass es statistisch gesehen unwahrscheinlich ist. Aber ich habe in den nächsten beiden Tagen drei Hoteltermine und mache mir so meine Ge‐ danken. Wenn ich irgendetwas gelernt habe, dann dass a) Fremdgehen zur Natur des Menschen gehört und b) die Sterne sich immer gegen mich stellen. 72
Bin gestern Abend zu einem Kunden nach Bedford gefah‐ ren und habe noch einen späten Zug nach Hause erwischt. Der Bahnsteig war so gut wie leer: eine relativ junge Prosti‐ tuierte in Sportschuhen und mit Kopfhörern, ein paar ein‐ same Frauen. Ich fragte mich, ob sie von der Arbeit kamen, und wenn ja, warum so spät? Die Züge hatten Verspätung, es kam mir vor, als warteten wir eine Ewigkeit. Eine Gruppe Halbstarker kam herein, betrunken und grölend. Einer beäugte mich von oben bis unten, die ande‐ ren ärgerten den Dicken der Gruppe. Sie nahmen ihm sei‐ nen Schuh fort und gaben ihn nicht wieder zurück. Ein zu‐ nehmend gemeines Spiel, das darin gipfelte, den Schuh aus dem Fenster gegen einen anderen Zug zu werfen. Der Di‐ cke tobte und warf sich auf zwei Jungen. In Harpenden stie‐ gen sie aus – o Wunder! –, und bis Kentish Town gehörte der Wagen mir ganz allein. Ich war grundlos glücklich und ging zu Fuß nach Hause, anstatt mir ein Taxi zu nehmen. Hohe Absätze und Betrun‐ kene können mir keine Angst machen. Wenn man sein Le‐ ben auf Stilettos verbringt, kann man mit Straßenpflaster umgehen, außerdem habe ich schon so viele Anmachen mit einem Schulterzucken abgetan, dass ich ein Buch darüber schreiben könnte. Ich sang vor mich hin, ein Lied über ein Paar, das sich gegenseitig umbringen will. Mehrmals rum‐ pelten leere Nachtbusse an mir vorbei. Ein Mann auf einem Fahrrad überholte mich und rief: »Tolle Beine ! « Er verlang‐ samte und sah sich über die Schulter um, wartete auf meine Reaktion. Ich grinste und bedankte mich. Er radelte weiter. Es war kalt und klar. Ich schaute in den Himmel und staunte über die vielen Sterne. 73
Die Agenturchefin rief an und nannte mir die Daten für ei‐ nen Kunden, den ich bei Waterloo treffen sollte. »Ein säähr netter Mann«, sagte sie. Ich entschied mich für das weiße Outfit, hauptsächlich weil ich eine neue Spitzencorsage hatte, die noch nie das Tageslicht (oder besser, die Lichter der Nacht) gesehen hat‐ te, aber auch weil alle anderen Strümpfe Laufmaschen hat‐ ten. Er hatte zwei Stunden gebucht, weshalb ich davon aus‐ ging, dass er entweder etwas Ausgefallenes verlangen oder sich würde unterhalten wollen. Letzteres war der Fall. Ich betätigte den Messingklopfer \ an der Tür, ein ziemlich kurz geratener Mann öffnete. Älte‐ res Semester, aber nicht uralt. Tiefe, eindrucksvolle Falten um den Mund, dünne Lippen. Entzückendes Haus, hübsch eingerichtet. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich seinen finanziellen Wert abschätzte. Wir tranken zwei Flaschen gekühlten Chardonnay, unterhielten uns über die Spielleidenschaft des Sultans von Brunei und hör‐ ten CD. »Du fragst dich bestimmt, wann es losgeht«, sagte er lächelnd. »Stimmt.« Ich saß barfuß auf dem Boden und schaute zu ihm auf. Er beugte sich vor und küsste mich. Ich kam mir vor wie bei einer ersten Verabredung, es lief so zögerlich. Ich stand auf und zog das Kleid über den Kopf. »So einfach«, sagte er und fuhr mir über Hüften und Oberschenkel. Der dünne Stoff meiner Corsage raschelte unter seinen trockenen Händen. Er stand auf, drehte mich um und legte mich auf den Tisch. Dann drückte er den Mund auf den Zwickel meines Slips, ich fühlte den heißen Hauch seines Atems durch den Stoff. Er richtete sich wie‐ 74
der auf, um das Kondom überzustreifen, schob mein Hös‐ chen zur Seite und nahm mich von hinten. Es war schnell vorbei. »Ich nehm dich mit in den Urlaub, Schätzchen«, sagte er. »Du hast es verdient, aus der Stadt herauszukommen.« Das stimmte natürlich nicht, aber es war nett von ihm, es zu sa‐ gen. Er hatte unzählige flauschige Handtücher und eine riesi‐ ge Badewanne. Ich blieb eine Stunde länger, als er gebucht hatte, wir aßen Chips und tranken Wein. Es war sonderbar; ich fand, das Taxi kam viel zu früh. Er fragte mich nach mei‐ nem richtigen Namen und meiner Nummer. Ich zögerte; es war gegen die Richtlinien der Agentur. Andererseits hatte die Chefin selbst angedeutet, dass es durchaus Mädchen gab, die das machten. Ich nannte ihm beides und schickte der Chefin eine SMS, ich sei auf dem Heimweg. Draußen war es kalt, schon bei den wenigen Schritten vom Haus zum Taxi. Ich trug einen langen Mantel und ei‐ nen Wollschal und war unheimlich erleichtert, dass ich nicht bis zur nächsten U‐Bahnstation oder zur Bushaltestel‐ le laufen musste. Der Taxifahrer war aus Croydon, und wir unterhielten uns über Orlando Bloom, das Feuerwerk zu Sylvester und über Weihnachtsfeiern. Ich behauptete, ich würde bei einem bekannten Steuerberater arbeiten. Wahr‐ scheinlich glaubte er mir keine Sekunde lang. Ich fuhr nicht nach Hause, sondern dirigierte ihn zu einem Club in Soho. Die Geldscheine juckten in meinen Fingern. N ist Rausschmeißer in einem Schwulenclub. Unter ande‐ rem. Ich sah kurz rein, um mich zu erkundigen, wie es um seine Erkältung steht, und um sein Ansehen durch meine Anwesenheit zu heben. Vielleicht funktioniert der Trick mal, wenn wir uns irgendwo treffen, wo Heteros verkehren. »He, Süßer, darf man auf eine Drag Queen eifersüchtig 75
sein?«, fragte ich seufzend, als eine Kopie von Doris Day in einem weißen Pelzcape an mir vorbeischwebte. »Auf wen bist du diesmal neidisch?«, fragte er. Ich wies mit dem Kinn auf die blonde Göttin. »Ach, brauchst du nicht«, sagte er. »Angeblich braucht er jeden Tag drei Stun‐ den zum Rasieren.« Das erinnerte mich an meine eigenen Prozeduren und Probleme. Es gibt keine optimale Enthaarungsmethode. Nach dem Rasieren hat man schreckliche Stoppeln, be‐ sonders im Winter. Ich habe die Zeit zwischen zarter Haut und hässlichen Pickeln gestoppt: drei Minuten. Enthaa‐ rungscremes riechen ätzend und erwischen nie sämtliche Haare. Diese vibrierenden Epiliergeräte sollten nur an Ma‐ sochisten verkauft werden, und gewachst wird man meis‐ tens von einer hundert Kilo schweren Philippina namens Rosie. Außerdem hat man am nächsten Tag einen furchtba‐ ren Ausschlag. Ich will mich nicht beschweren; dies ist lediglich eine sachliche Feststellung über das Leben als Frau. Hat wahr‐ scheinlich was mit dem Baum der Erkenntnis zu tun. Zum Ausgleich für all die Schmerzen haben wir aber auch ein paar schöne Eigenschaften bekommen. Babyweiche Intim‐ zone, einfach sauber zu halten. Erhöhte Empfindlichkeit. Ich muss irgendwie damit klarkommen, bin ich doch von Natur aus mit dermaßen dicken Haarwurzeln gesegnet, dass die meisten Tiere der Arktis mich darum beneiden würden. Meine Mutter dagegen scherzt gerne, sie komme, locker mit einmal Rasieren pro Jahr aus. Sobald ich eine Ra‐ sierklinge in die Finger bekommen konnte, hantierte ich damit herum; als Jugendliche spielte ich sogar mit dem Ge‐ danken, mir sämtliche Haare von den Armen zu entfernen. Mein Enthaarungssystem ist eine Kombination aus Rasie‐ ren und Wachsen, weil ich mir nicht gerne etwas aus den 76
Achselhöhlen reißen lasse. Aus dem Schritt hingegen – kein Problem. Komisch, nicht? »Ich weiß, wie sich das anfühlt«, sagte ich im Spaß zu N, der gerade zur Seite trat, um eine Gruppe johlender Stu‐ denten durchzulassen. »Und, wie war’s?«, fragte er, den Blick wieder auf die Stra‐ ße gerichtet. »Gut«, sagte ich. »Netter Typ.« »Single?« »Könnte geschieden sein.« Ich zuckte mit den Schultern. »Hingen überall Bilder von seiner Frau oder Ex.« »Kinder?« »Zwei, schon erwachsen.« »Mensch, das könnt ich nie«, sagte er. »Lügner.« Schweigend saßen wir im Auto. Im Haus brannte Licht. »Ich dachte, er wäre unterwegs«, sagte ich. »War er auch«, entgegnete der Boy. »Jedenfalls bin ich davon ausgegangen.« Er sah aus, als würde er jeden Augen‐ blick weinen. »Komm doch bitte mit rein! Du bist mein Gast. Ich will, dass du mitkommst Er kann sich doch mal kurz zusammenreißen, wenn er sowieso gleich gehen will.« Ich wusste, dass es einen Grund gab, warum der Boy im‐ mer mich besuchen kam statt andersherum. Beim letzten Besuch vom Boy trafen wir uns mit seinem Freund S zum Frühstück. Nun hatte H gerade mit S Schluss gemacht. S wusste allerdings nicht, dass seine Freundin H zuvor mehrere Wochen lang mit dem Mitbewohner vom Boy geschlafen hatte. Wir hatten beschlossen, ihm nichts zu 77
erzählen. S machte jedenfalls einen relativ munteren Ein‐ druck und fängt jetzt mit dem Motorradführerschein an, da er ja keine Freundin mehr hat, die ihm das verbieten könn‐ te. Er hat bereits beschlossen, seine zukünftige Maschine »Heißer Ofen« zu taufen. Ich stellte mich spontan für eine Testfahrt zur Verfügung, sobald sein Teil richtig heißgelau‐ fen war. Egal, dieser Mitbewohner vom Boy, der mit S’ Ex‐ freundin gepoppt hatte, betrog seine eigene Freundin E, die ebenfalls im Haus wohnte, durchschnittlich dreimal pro Woche. Diese E hatte keinen Schimmer, aber der Boy und ich machten uns keine Illusionen über den Charakter sei‐ nes Mitbewohners. Was ist in solchen Situationen besser als den Mund zu hal‐ ten? Ich griff zu meinen Taschen, wir gingen zur Haustür. Der Boy öffnete sie und steckte vorsichtig den Kopf um die Ecke. »Ähm, hallo, bist du noch da?«, rief er fröhlich. »Ich wollte nur sagen, ich bin da, und ich hab –« »NEIN!«, brüllte der Mitbewohner. »Diese Frau kommt mir NICHT ins Haus! « Angeblich mag der Mitbewohner mich wegen meiner Ar‐ beit nicht. Aber er hat mich nicht immer gehasst. Meine Theorie sieht anders aus: Er kann mich nicht leiden, weil ich eine der wenigen Frauen bin, die er niemals im Leben bekommen könnte. Nicht mal, wenn er dafür bezahlen wür‐ de. Denn der Mitbewohner ist jung, gut aussehend, schlau und gut betucht. Er hat nie irgendwelche Probleme bei Frauen und weiß das auch. Er hat es in den letzten drei Jah‐ ren mindestens zehnmal bei mir versucht, aber ohne Er‐ folg. Ich könnte unmöglich heimlich etwas mit dem fast bes‐ ten Freund vom Boy anfangen. Und seine Freundin E ver‐ dient wirklich nicht noch eine Affäre direkt vor ihrer Nase. 78
Schon lustig, wann die Moral auf einmal ihr Haupt erhebt, was? Betrügen? Okay, damit komme ich klar. Aber lügen? Nein danke. »Hör mal, sie ist morgen früh gleich wieder weg, du brauchst sie nicht –« »Ich habe NEIN gesagt, verstanden?« Der Mitbewohner darf das; es ist sein Haus. Noch gute zehn Minuten ging es so weiter. Alles andere als entzückt, setzte ich mich ins Auto und wartete. Als der Boy zurück‐ kam, fuhren wir zur Imbissbude und schlichen uns eine Stunde später heimlich ins Haus, weil der Mitbewohner in‐ zwischen fort sein musste. Allerdings hatten meine Laune und meine Libido unter dem Zwischenfall gelitten. Doch mit einigen Tassen heißem Kakao und einer einstündigen Massage war durchaus noch etwas zu machen. »Was sollen wir bloß tun, Mäuschen«, fragte er, halb ein‐ geschlafen. »Was sollen wir nur tun?« »Komm nach London und zieh mit mir zusammen«, sprudelte es aus mir heraus. Es war eh Zeit, dass ich in einen angenehmeren Stadtteil zog, wo die Cracksüchtigen nur an der Haustür vorbeischwanken und nicht davor zusammen‐ brechen. »Ist doch eine Geldfrage«, sagte er. »Du kannst von meinem Geld leben, solange du einen Job suchst«, sagte ich. »Ich kann mir das leisten.« Oh, Shit, das hätte ich besser nicht gesagt... »Das kommtjetzt ziemlich überraschend für mich«, sagte er. »Du könntest deine Familie mit dem Flugzeug besuchen und brauchtest nicht mehr mit dem Auto fahren«, führte ich an. » Stimmt.« 79
»Und ich habe schönere Möbel.« Meine Wohnung ist in dem nichts sagenden blumigen Geschmack eingerichtet, den Vermieter der aufstrebenden Art bevorzugen. »Aber du musst dich nicht jetzt entscheiden. Ich bin auch nicht belei‐ digt, wenn du nicht willst. Ist nur ein Angebot.« Aah, die Be‐ dingungen modernen Zusammenlebens verhandeln! Wer hat gesagt, Romantik sei tot? Damit wäre immerhin ein Problem gelöst: das des streit‐ lustigen Mitbewohners. Aber vielleicht hätte der Boy ziem‐ lich schnell keine Lust mehr, wenn er mit meinem täglichen Kommen und Gehen konfrontiert wurde. Ich für meinen Teil könnte ein freundliches Gesicht und eine Fußmassage als Ausgleich für das, was meine Füße in den Stilettos täglich mitmachen müssen, gut gebrauchen. Da ich immer bar bezahlt werde, bin ich ziemlich oft in der Bank, fast jeden Tag. Kassierer sind von Natur aus neugieri‐ ge Menschen, und sie müssten strohdumm sein, wenn sie nicht wüssten, warum ich mehrmals pro Woche mit Bün‐ deln von Geldscheinen hereinkomme, die ich auf zwei Kon‐ ‘ ten einzahle, und nur eines davon gehört mir. Eines Tages legte ich den Einzahlungsbeleg mit einem Zettel vor, auf dessen Rückseite der Boy etwas gezeichnet hatte. Er hat mal Kunst studiert, irgendwann in grauer Vor‐: zeit, und kritzelt immer noch gerne auf herumfliegendem Papier herum. Die Kassiererin drehte den Zettel um, be‐ trachtete zuerst die Zeichnung und dann mich. »Das ist gut. Ist das von Ihnen?«, fragte sie. »Ähm, ja, ich bin ... Karikatu‐ rist«, log ich. Die Kassiererin nickte, glaubte mir. Daher nehmen die Bankangestellten jetzt an, ich würde mein Geld 80
mit Zeichnen verdienen. Ob sie auch den nächsten logi‐ schen Schritt machen und sich fragen, warum eine angese‐ hene Künstlerin sich nur bar bezahlen lässt, ist mir unbe‐ kannt. Ein Vorteil meines Berufs ist, dass man seine Erledigun‐ gen nicht unbedingt in der Mittagspause machen muss. Deswegen gehe ich gerne am frühen Nachmittag einkau‐ fen. »Wohnen Sie in der Nähe?«, fragte eines Tages der Le‐ bensmittelhändler am U‐Bahnhof, als ich Äpfel und Kiwis aussuchte. »Direkt um die Ecke«, sagte ich. »Ich bin Kindermäd‐ chen.« Was völlig abstrus ist, da ich noch nie Kinder im Schlepptau hatte und immer nur für eine Person einkaufe, es sei denn, der Boy übernachtet bei mir. Dennoch erkun‐ digt sich der Verkäufer jetzt hin und wieder, wie es den Kin‐ dern gehe. Ich treffe meine Nachbarn eher selten, höchstens am Abend, dann sehen sie mich aufgedonnert in Kleid oder Kostüm, stark geschminkt, mit frisch gewaschenem Haar, wenn ich gerade ins Taxi steige. »Gehen Sie aus?«, fragen sie dann. »Zur Verlobung meiner besten Freundin«, erwidere ich. Oder: »Ich treffe mich mit Kollegen.« Sie nicken und wün‐ schen mir viel Spaß. Ich schlüpfe aus der Tür und frage mich, welche Geschichte ich dem Taxifahrer auftischen werde.
War heute mit den As Mittag essen. Sie treten nicht immer im Pulk auf, aber wenn, ist kein Restaurant vor ihnen sicher. 81
A1, A2, A3 und A4 warteten beim Thai auf mich. Überra‐ chenderweise kam ich als letzte, normalerweise sind drei von ihnen von Natur aus bummelig. Wir begrüßten uns mit Küsschen und setzten uns an einen Ecktisch. A1 drückte mein Knie und ließ ein opihaftes Gackern er‐ tönen. A2 blinzelte in die Speisekarte. A3 schaute fins‐ ter drein – macht er immer –, und A4 grinste in die nähere Ferne. »Und, was habt ihr heute noch vor, Jungs?«, fragte ich. »Nichts von Bedeutung«, antwortete A1. Seine wohl ge‐ setzten Worte erinnern an einen Lehrer. »So gut wie nichts«, sagte A2. A4 grinste mich an. »So viel wie möglich von deiner Zeit verschwenden.« »Habt ihr denn nichts zu tun?« Die vier leben nicht alle in London, kommen aber geschäftlich regelmäßig her. »Theoretisch schon«, knurrte A3. Er hat rotblondes Haar. Ein sturer Mann aus dem Norden. Das ist durchaus als Kompliment gemeint. »Nur Mist«, sagte A2 und sah mich an. »Und wie ist es bei dir? Hast du was vor, einen Termin?« »Erst später«, erwiderte ich. Die Kellnerin wollte unsere Bestellung aufnehmen. A1 orderte für alle die Spezialität des Hauses. Keiner wusste, was es war. Auch egal. A3 schien sich nicht von der Speisekarte trennen zu können. A2 er‐ kundigte sich nach dem Boy. »Ich habe ihn gefragt, ob er mit mir zusammenwohnen möchte«, erklärte ich. »Fehler«, sagte A1. »Großer Fehler«, echote A2. A3 murmelte etwas Unverständliches. A4 grinste weiter vor sich hin. Deshalb mag ich ihn am ; liebsten. 82
Mein Telefon summte in der Tasche. Die Agenturchefin Sie fragte, ob ich für vier in Marylebone sein könne. »Ist das die Uhrzeit oder die Zahl der Männer?« Sie mein‐ te die Zeit. Ich schaute auf die Uhr. Kein Problem. Die As ta‐ ten so, als würden sie nicht lauschen. Die meisten Leute heben verwundert die Augenbrauen wenn sie hören, dass ich fast nur mit Männern befreundet bin, mit denen ich größtenteils sogar geschlafen habe. Aber mit wem soll man auch sonst schlafen, wenn nicht mit Be‐ kannten? Mit Fremden? Ja, ja, schon gut. Ich habe Spaß am Sex, seit ich zum ersten Mal mit A1 schlief. Ich kann mich noch gut an den Nachmittag erin‐ nern. Seine große Gestalt schluckte das Licht des einzigen Fensters in seiner Wohnung. Ich lächelte zu ihm auf. Wir waren nackt, ineinander verschlungen. Er griff nach unten, umfasste meinen rechten Knöchel und legte mein Bein quer über den anderen Oberschenkel. Dann legte er sich auf mich und drang in mich ein. »Was machst du da?«, fragte ich. »Ich will deinen Arsch spüren«, sagte er. Auch wenn das nicht das erste Mal für mich war – bewahre! –, so war es doch etwas völlig Neues. Endlich ein Mann, der wusste, was er wollte, und noch besser: der auch wusste, wie er es be‐ kam. A1 und ich gingen mehrere Jahre miteinander. Es war keine einfache Beziehung, außer beim Sex. Sobald wir nackt waren, war alles möglich. Ich wusste, dass ich ihn um alles bitten konnte, er mich ebenfalls. Meistens gingen wir auf die Wünsche des anderen ein, waren aber auch nicht beleidigt, wenn ein Vorschlag abgelehnt wurde. Er war der erste Mann, dem ich glaubte, als er sagte, ich sei schön, der erste Mensch außerhalb einer öffenüichen Dusche, dem ich 83
mich nackt zeigen mochte. Und ich bewunderte seinen Körper: A1 ist groß, aber nicht zu groß, muskulös und be‐ haart. Sein dunkles glattes Haar und seine rauchige Stimme sind herrlich anachronistisch. Ein Mann wie er wäre in den fünfziger Jahren ein großer Industriemagnat gewesen. Wir stritten uns wie die Kesselflicker. Ich konnte nicht mit der Leidenschaft umgehen, die ich für ihn empfand. Sie war mir zu heftig und unbeherrschbar, Quecksilber in mei‐ nen Händen. Im Schlafzimmer machten wir alles wieder gut. Oder auf dem Küchentisch. Oder auf seinem Schreib‐ tisch, wenn sein Chef nicht mehr da war. Im Fahrstuhl. In der Poststelle der Universität. Wir taten es auf jede erdenkliche Weise: exotische Num‐ mern (Doppelpenetration, Zucht, goldene Dusche), aber auch unvorstellbar abgeschmackte (Missionarsstellung, und er guckt dabei Fußball im Fernsehen). Inzwischen habe ich mit anderen Ausgefalleneres gemacht, hatte aber nie wieder das Gefühl, derart meine eigenen Grenzen auszu‐ testen. Er war der Erste, der mich mit einem Paddel von hinten bearbeitete; dafür verabreichte ich ihm Schläge mit einem doppelten Ledergürtel, während er sich über das Sofa beugte und schützend die Hand vor die Geschlechtsteile hielt. Seine beeindruckend abwechslungsreiche Porno‐ sammlung war der erste Hardcore, den ich zu sehen bekam, zusammen erwarben wir neue Magazine und sortierten sie voll Freude nach Kategorien. Seine Lieblingsgenres – Was‐ serspiele, Analverkehr, Frauen mit Sperma im Gesicht, das wie Froschlaich aussieht – hatten ihren festen Platz; doch auch Dinge, die ihn nicht anmachten wie Sodomie und les‐ bischer Sex, schaute er gerne an, denn er war Sammler. Den Körper eines anderen mit ausdrücklicher Erlaubnis be‐, trachten zu dürfen und eben nicht einen heimlichen Blick, 84
in der Sporthalle zu riskieren oder verstohlen hinüberzulin‐ sen, bevor das Licht ausgeht, das war herrlich. Die Beziehung mît A2 begann einige Jahre nach der Sa‐ che mit A1. A2 war ein einfühlsamer Liebhaber. Nicht sanft sondern kräftig und bedächtig. Ich hatte den Eindruck dass er jede unnötige Bewegung vermied, mich entzückten seine langen, gemessenen Schritte. Manchmal sah er mit seiner blassen Haut und dem hellen Haar wie ein Jugend‐ licher aus. Oder noch kleiner – wie ein zu groß geratener Junge. Von Anfang bis Ende unserer Beziehung fühlte sich jede seiner Berührungen immer völlig richtig an. Keine an‐ deren Finger, keine andere Zunge kam jemals so nah an meine Vorstellung vom perfekten Liebhaber heran. Sein Körper war drahtig und muskulös. Groß, aber nicht riesig. Kein Gramm zu viel. Er hatte eine Waschmaschine, ich nicht. Eines Tages kam ich mit der Wäsche vorbei und fand einen Slip von mir in der leeren Trommel. »Was macht der denn hier drin?«, fragte ich. »Du hast mir gefehlt, als du letztes Wochenende gefahren bist, da habe ich ihn angezogen«, erklärte er. Ich prüfte das Gummiband. A2 hatte schmale Hüften; die Unterwäsche schien nicht über Gebühr gedehnt zu sein. »Vielleicht sollten wir dir welche kaufen«, ulkte ich. »Sollten wir vielleicht wirklich«, gab er voller Ernst zu‐ rück. Ich hatte einen Schlüssel von ihm. Wenn ich zu Hause ge‐ frühstückt hatte (bei Hunger pochiertes Ei auf Toast, an‐ sonsten Cappuccino und eine Scheibe Challah), fuhr ich mit dem Fahrrad zu ihm. Er stand meistens spät auf und duschte gerade, wenn ich eintraf. Die Schlafzimmertür stand offen, ich ging direkt zur Kommode. In der Schubla‐ de lagen mindestens zwei Dutzend Damenslips. Ich suchte 85
einen aus, legte ihn in die Schublade seines Nachttischs und kehrte ins Vorderzimmer zurück. Er kam aus dem Bad und zog sich an. Kein Wort über den Slip, der war für später. Wir verbrachten fast den ganzen Tag zusammen. Er ar‐ beitete von zu Hause aus; ich hatte damals in der Buch‐ handlung unregelmäßige Arbeitszeiten. Wenn ich dort war, machte er regelmäßig Pause und brachte mir Kaffee oder Tee. Wir lasen zusammen die Literaturbeilagen, ich gab ihm die Leseexemplare neuer Bücher aus dem Lager. Mei‐ ne Kollegin war eine verrückte, Absinth trinkende Frau mittleren Alters, dazu der selten anwesende, immer unzu‐ friedene Chef. Fast jede Woche übernahm ich die Hälfte der Stunden meiner Kollegin, es machte mir nichts aus. Ich hatte schließlich Bücher um mich – in rauen Mengen! Und wie aufregend es war, wenn mal ein bedeutender Autor in den Laden kam! Allerdings musste ich feststellen, dass die meisten Schriftsteller in der Tür stehen blieben und nach ihren eigenen Büchern suchten, ehe sie zu mir an die Kasse kamen und mich begrüßten. Nach der Arbeit wartete A2 zu Hause auf mich. Ohne Worte ging es direkt aufs Sofa. Da saß er, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und ich öffnete seine Jeans mit den Zähnen. Ist viel schwerer, als man glaubt. Dann blitzte die erste Seide oder Spitze auf, und sein harter Schwanz drück‐ te gegen den Stoff. Ich schob mein Gesicht in seinen Schritt und roch den Schweiß, den Urin des Tages, die ersten Lust‐ tröpfchen in der Wäsche. Ich knabberte an ihm, leckte ihn, bis die Unterhose an ihm klebte. A2 zupfte gerne an mir herum, drehte mich hin und her. Er entkleidete mich vollständig, behielt selbst aber den Slip an. Wenn er in mich eindrang – fast immer anal –, schob er das Höschen zur Seite, sodass es in seine Peniswurzel schnitt und um seine Eier spannte. 86
Nach ein paar Monaten reichten die Höschen nicht mehr. Ich kaufte ihm ein kurzes, buntes Sommerkleid. Er probierte es an. Lachend bumste ich mit ihm in seinem Kleid. Ich war nur ein klein wenig deprimiert, weil er schmalere Hüften und schönere Beine hatte als ich. »Komm, wir gehen zum Ausverkauf«, sagte er irgend‐ wann einmal. Ich musste nicht fragen, ob wir nach Schnäppchen für ihn oder mich suchten. Bald lagen meh‐ rere kurze Kleider neben den Unterhosen in der Schub‐ lade. Ich wusste, dass es eine andere Frau gab. Hatte er mir schon gesagt, bevor wir miteinander schliefen. Wahrschein‐ lich redete ich mir ein, es sei so gut wie vorbei mit ihr, denn sie wohnte viele Stunden entfernt und hatte ihn, soweit mir bekannt war, immer schlecht behandelt. Aber irgendwann fuhr er Freunde in der Stadt besuchen, in der auch sie leb‐ te. Einige Tage versuchte ich zu ignorieren, wie sein Schlüs‐ sel in meiner Tasche juckte, dann knickte ich ein. Ich nahm sein Haus auseinander, suchte nach einem Hinweis auf die‐ se Frau: E‐Mails, Bilder. Ein Foto insbesondere brach mir das Herz: Sie mit ihrem lächelnden, hübschen Gesicht in ei‐ nem rosa Satinpyjama, bis zum Bauchnabel offen. Ich fand ihren Namen, ihre Nummer, rief sie an. Es meldete sich nie‐ mand. Ich hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeant‐ worter: »Hallo, ich bin eine Freundin von A2, würde gerne mal mit dir sprechen – keine Sorge, ist kein Notfall.« Sie rief mich an. »Hallo«, sagte sie. Es klang müde. Ich musste mich beherrschen, um sie nicht anzuschreien. Das Herz klopfte mir bis zum Halse. »Weißt du, wer ich bin?«, fragte ich. »Ich habe schon von dir gehört«, sagte sie. Ich erzähl‐ te ihr von A2 und mir. Da war sie still. »Danke«, sagte sie schließlich. Einen Tag, nachdem er zurück war, ließ ich 87
mich mit seinem Schlüssel herein, aber er war nicht unter der Dusche. Er wartete auf mich. Ich hätte diese Frau völlig durchein‐ ander gebracht. Mit welchem Recht ich das getan hätte? Darauf gab es keine Antwort. Ich zitterte vor Wut. Wel‐ ches Recht hat man schon, eifersüchtig zu sein? Ein Lehrer hielt den Mädchen unseres Jahrgangs einen Vortrag über die Ehe. »Liebe ist eine Entscheidung«, erklär‐ te er vor einem Raum hormonell aufgeladener Jugend‐ licher. Wir höhnten. Liebe ist keine Entscheidung, da er‐ zählen uns Filme und Musik etwas anderes. Liebe ist eine Macht, ein Segen. Wir waren in dem seligen Alter, da man dem besten Freund des Bruders im eigenen Zimmer einen bläst und trotzdem an die einzig wahre Liebe glaubt. Dann verliebte ich mich in jemanden, der mir wehtat Langsam konnte ich den Standpunkt meines Lehrers bes‐ ser verstehen. Man muss die Tür öffnen, damit jemand ein‐ treten kann. Sobald er eingetreten ist, hat man keine Kon‐ trolle mehr. Das ist verständlich, völlig logisch. Meine Gefühle kontrollieren, das wollte ich. Aber die ers‐ te Eifersucht zerriss mich genauso wie die erste Liebe. A2 und ich stritten und bumsten, bumsten und stritten, dann stritten wir immer häufiger und bumsten immer seltener. Und wenn wir miteinander schliefen, war es anders. Vor‐ her hatte er Damenwäsche angezogen und sich übers Sofa gebeugt. Lachend peitschte ich ihn von hinten aus. Nach ei‐ nigen Minuten liefen wir ins Badezimmer, wo er aufgeregt die Hose herunterzog und sich im Spiegel betrachtete. Wenn das Stoffmuster noch nicht auf seiner Haut war, muss‐ ten wir weitermachen. Danach peitschte ich ihn aus, bis seine Haut aufplatzte und blutete. Bis er mir sagte, ich solle aufhören. Wenn ich bei ihm übernachtete, hielt mich A2 im Schlaf 88
umarmt. Ich trete und schlage nachts immer um mich; er hielt mich fest. Ich reibe meine Beine aneinander wie eine Grille; er wärmte meine kalten Füße zwischen seinen Bei‐ nen. Wenn er die Hand auf meinen Bauch legte, wachte ich auf und wunderte mich nicht nur über seine Reglosigkeit – schlafend war er nur wenig lebhafter als im wachen Zu‐ stand –, sondern auch über seine Art, sich völlig auszulie‐ fern. Der Körper des Menschen ist schutzlos: Der Fortbe‐ stand unserer Art wird von dem bestimmt, was unter unse‐ rer Haut ist. Wir haben keine Stacheln, die uns schützen. Ich hätte ihm jedes Mal wehtun können, wenn er schlief. Wenn er sich umdrehte und mir den Rücken zukehrte, hät‐ te ich ihn verletzen können. Einmal wachte ich vor dem Wecker auf. Die Vorhänge wa‐ ren zur Seite gezogen; es war ein grauer Morgen. Ich hörte einen Seufzer und drehte mich zu A2 um, weil ich dachte, er sei wach. Er war noch im Halbschlaf, seine langen Arme steckten in einem seltsamen Winkel unter dem Kopfkissen. »Warum schiebst du deine Hände so komisch darunter?«, fragte ich, denn seine Ellenbogen stakten hervor, während seine Hände unter dem Bettzeug versteckt waren. »Damit du sie mir nicht abreißt«, murmelte er und schlief weiter. Draußen im Baum begann der erste Star zu singen. Er machte Schluss mit der anderen Frau, aber ich habe ihm nie so recht geglaubt, und so lebten wir uns auseinan‐ der, schliefen immer seltener miteinander, bis er irgend‐ wann eine andere hatte und ich einen neuen Freund. Wir freuten uns für einander. 89
N und ich hatten beim Sport einen kleinen Streit. Nichts Ernstes, also nicht, wessen Gesäßmuskeln mehr von Sprün‐ gen beim Konditionstraining profitieren, sondern unter‐ schiedliche Meinungen zu dem Thema »Zugang zu öffent‐ lichen Mitteln und Einrichtungen«. Er wollte den Zugang beschränken. Möglich, dass mir die Worte »paranoider Aus‐ länderfeind« durch den Kopf gingen, vielleicht sogar über die Lippen kamen. Wir konnten uns gerade noch beherrschen, einander zu erwürgen, und einigten uns auf ein Risotto bei mir. Dort unterhielten wir uns über unverfängliche Themen wie Schu‐ he, Rugby und wer in Die Spielerfrauen den besten Ausschnitt hat. Irgendwann werden wir dieses Schisma beseitigen – sowohl die Ausschnittfrage als auch die Sache mit der Ausweispflicht. Obwohl, Meinungsverschiedenheiten lassen sich nicht so schnell beilegen, wenn man nicht mehr mit‐ einander vögelt. Die Agenturchefin ist wirklich süß, aber öfter mal etwas wirr. Es war so: Ich saß in einem Taxi, und der Fahrer ver‐ suchte, das Royal Kensington Hotel zu finden. Das es leider nicht gibt. Ich hatte eine Viertelstunde Verspätung. Schließ‐ lich kamen wir auf die Idee, dass es das Royal Garden Hotel in Kensington sein müsse. Der Fahrer wartete, während ich an der Rezeption Name und Zimmernummer kontrollierte. Es stimmte tatsächlich. Ich gab dem Taxifahrer ein Zeichen, er könne fahren. 90
Der Kunde war frisch geduscht und trug einen weißen Frotteebademantel. Wir gingen ins vordere Zimmer der Suite, wo eine andere Frau saß und Wein trank. Sie war be‐ reits oben ohne, eine zierliche Blondine aus Israel. Ich zog ihr Rock und Schuhe aus und löste die Bänder an ihrem schwarzen Seidenslip mit den Zähnen. Man hatte mir gesagt, sie sei seine Freundin, aber irgendetwas stimmte nicht an der Sache. Er schien sie genauso wenig zu kennen wie mich. Falls sie eine Prostituierte war, dann nicht von meiner Agentur. Aber ich kann mich auch irren, und wenn man mit Mann und Freundin einen Dreier macht, tut man sehr gut daran, sich gründlich der Frau zu widmen. Es fiel mir nicht schwer – sie roch nach Babypuder und schmeckte nach warmem Honig. Wir gingen ins Schlafzimmer. Er bearbeitete mich von hinten, sie kniete vor mir und verwöhnte mich mit Zunge, Fingern und einem Minivibrator. Ich fand seinen außerge‐ wöhnlich glatten Körper faszinierend, er musste eine Men‐ ge Zeit mit Wachsen verbringen, dachte ich. Sein langer, un‐ gepflegter Bart schwächte diese Wirkung allerdings ab. Der Schnäuzer kitzelte und kratzte, als er mir die Möse leckte. »Ich weiß ja nicht, was du geplant hast«, sagte ich, als mei‐ ne Zeit sich langsam ihrem Ende zuneigte, »aber ich fände es stark, wenn du uns beiden ins Gesicht spritzen würdest.« Die Israelin leckte sich die Lippen und zwinkerte mir zu. Eine Nutte. Hundertprozentig. Anschließend zog ich ein kleines Fläschchen Aprikosenöl hervor, und sie verwöhnte mich und den Mann mit einer herrlichen Massage. Wenn es mir nicht so toll gefallen hät‐ te, wäre ich neidisch auf ihr Können gewesen. Ich sammelte meine Siebensachen zusammen, während sie seinen Rü‐ cken knetete und walkte. Der Kunde holte meinen Mantel. Ich gab der Israelin ei‐ 91
nen Kuss und wies mit dem Kinn auf das Massageöl in ihrer schmalen Hand. »Behalt es, du kannst mehr damit anfan‐ gen als ich.« Er kam zurück und legte besitzergreifend den Arm um sie, und wieder war ich unsicher. Begleitservice? Freundin? Ich wusste es nicht. Er bezahlte mich und gab mir noch einmal die gleiche Summe als Trinkgeld. Ich fahre nach Hause, Verwandte und Bekannte besuchen, wie es bei uns Sitte ist. Der Boy ist für einige Wochen bei sei‐ nen Eltern, wie man es bei ihm so macht. Meiner Meinung nach sollte man manche Dinge nicht mit Fremden teilen, zum Beispiel der eigenen Familie dabei zuzusehen, wie sie sich betrinkt und auf dem Klo einschläft. Bahnfahren gehört zu den aufregendsten Errungen‐ schaften der Moderne. Obwohl wir keinen Mangel an schnelleren, billigeren oder bequemeren Reisemöglichkei‐ ten haben, bestehen wir darauf, an einer überholten und, wenn ich so sagen darf, überaus beschwerlichen Transport‐ méthode festzuhalten. Welche Beförderungsart erwartet vom Benutzer, sich auf eigene Faust zum Punkt der Abreise zu begeben, so lange zu warten, bis sich der Betreiber be‐ quemt, die Reise beginnen zu lassen, ewig herumzusitzen, ohne auch nur so etwas wie warmes Wasser angeboten zu bekommen und sich an dermaßen eng angeordneten Sit‐ zen und Tischen vorbeizuquetschen, dass man zwangsläufig Körperkontakt mit jedem Perverso zwischen King’s Cross und Yorkshire bekommt? Ich liebe Bahnfahren, ist längst War, oder? Da ich die Strecke schon so oft gefahren bin, weiß ich, kurz bevor die Stimme des Schaffners durch die Sprechan‐ 92
lage kommt, dass es nur noch eine Minute bis zum Bahnhof ist und welcher Waggon dem Ausgang am nächsten ist. Selbst wenn mich niemand abholt und ich zwanzig Minuten auf ein Taxi warten muss, empfinde ich helle Freude, sobald ich auf den Bahnsteig trete. Ich könnte jeden blind durch den Bahnhof führen. Das erhebende Gefühl, angekommen zu sein, hält an, zumindest bis ich in die Auffahrt meiner El‐ tern einbiege. Oder auch nicht. Kurz nach Sonnenuntergang bin ich mit Papa spazieren ge‐ gangen. Er behauptet, er bekomme Krämpfe in den Beinen vom vielen Herumsitzen. Ich vermute jedoch eher, dass er meiner Mutter aus dem Weg gehen will, die es mit den Feierlichkeiten maßlos übertreibt. Sie nimmt jeden Anlass, den sie bekommen kann, begeht fünf oder sechs Feiertage gleichzeitig. Als wir das letzte Mal mit ihr sprachen, versuch‐ te sie, die Familie für ein Eid‐Feuerwerk zu begeistern. Da ich nur eine vage Vorstellung habe, was Eid überhaupt ist, wer es feiert und welche Schuhe man am besten trägt, wenn man hinten im Garten steht und den Kopf nach bunten Schießpulvereruptionen reckt, zog ich den Spaziergang vor. Die Luft war frostig, Wangen und Ohren kribbelten. Wir kamen an einem Cottage vorbei, aus dessen Schornstein Rauch aufstieg. »Kohle«, sagte Papa mit entschiedener Stimme. Als ich klein war, hatten wir einen Holzofen. Da‐ mals kochten wir damit. Ich war untröstlich, als wir einen Elektroherd und ein künstliches Kaminfeuer bekamen. Als wir zurückkehrten, stand vor unserem dunklen Haus ein nervöser Fremder, der versuchte, sein Auto von unse‐ rem zu trennen. Er trat von einem Fuß auf den anderen 93
und bemühte sich, ein unschuldiges Gesicht zu machen, was ihm jedoch nicht gelang, weil die vordere Stoßstange seines Wagens sich in unseren Kombi verkeilt hatte. Papa pfiff vor sich hin. »Ooh, das wird meine Frau aber nicht freuen«, sagte er zu dem Mann, als könne die bloße Androhung mütterlichen Unmuts einen völlig Fremden da‐ von abhalten, davonzulaufen. Er umkreiste den Unfallort, obwohl selbst ich sehen konnte, dass der Schaden unerheb‐ lich war. Aber der andere hatte offenbar ein bisschen zu viel Weihnachtslikör getrunken und bekam es mit der Angst. »Ich weiß nicht«, sagte Papa und zog die Luft ein. »Könn‐ te ein großer Schaden sein.« Der Mann bettelte um Gnade. Die übliche Geschichte – Punkte auf dem Führerschein, schlecht versichert, Frau zu Hause gebiert gerade eine viel‐ köpfige Hydra und ist nur zu retten, wenn er rechtzeitig zu‐ rückkommt. »Ich sage Ihnen was«, begann mein Vater und strich sich übers Kinn. »Sie geben mir zweihundert, und wir sind quitt.« »Ich hab nur einundzwanzig dabei.« »Einundzwanzig plus die Flasche Whisky auf dem Beifah‐ rersitz.« Ein kurzes Nicken, dann reichte der Mann die Ware her‐ über. Mein Vater ging in die Hocke, und mit vereinten Kräf‐ ten trennten sie die Stoßstangen voneinander. Der Fremde stieg in seine Limousine und fuhr langsam und voller Dank‐ barkeit davon. Wir winkten ihm nach. »Na, das war ja potenziell aufregend«, sagte Papa, als er die Haustür aufschloss. Er gab mir die Hälfte des Geldes. »Kein Wort davon zu Mama, ja?« 94
Die erste Prostituierte, die ich kennen lernte, war eine Be‐ kannte meines Vaters. Es war auch zur Weihnachtszeit; ich ging noch zur Uni. Mein Vater ist kein Zuhälter, das schwöre ich. Er hat nur die Angewohnheit, sich unmögliche Aufgaben aufzuhal‐ sen. Wäre er katholisch und tot, er wäre mit Sicherheit auf dem besten Weg zur Heiligsprechung. Seine Nächstenliebe reicht von der Wiedererweckung todgeweihter Restaurants bis zur Rehabilitierung todgeweihter Frauen. Diese Ange‐ wohnheit führte bei meiner Mutter zu einer gewissen, nicht gerade geringen Frostigkeit, aber sie hat inzwischen einige Jahrzehnte Zeit gehabt, sich an sein großes Herz zu gewöh‐ nen. Noch bevor er den Mund aufmacht, weiß sie, wenn er wie‐ der eine verlorene Seele unter seine Fittiche genommen hat. »Du bringst mir nur zu einem Anlass Blumen mit«, motzte sie aus der Küche. »Und wir haben heute keinen Hochzeitstag.« Vielleicht sollte man doch eher ihren Name an den Vatikan herantragen. Die Freuden der Weihnachtszeit gingen in jenem Jahr ziemlich an mir vorüber, weil ich mich kurz zuvor getrennt hatte (abgesehen davon, dass ich keine Christin bin). Die profanen Begleiterscheinungen sind manchmal lustig, gele‐ gentlich unangenehm, in jenem Jahr waren sie für mich un‐ erträglich. Ich sah nur Menschen, die sich an einem Ereig‐ nis erfreuten, dem im größten Teil der Welt nur minimale Bedeutung zugeschrieben wird und das sich in Massen billi‐ gen Lamettas und ungewollter Geschenke erschöpft. Eines Nachmittags stand ich in der Bank Schlange und sah mein verzerrtes Spiegelbild in einer billigen roten Christbaumku‐ 95
gel. Ich dachte, wie vergänglich und bedeutungslos doch al‐ les ist: die Ferien, die Bank, die Welt im Allgemeinen. Ich war nicht einmal mehr in der Lage, mich über meine Ein‐ samkeit zu ärgern. Resignation. Und so tat ich, was jedes verwöhnte Kind täte: Ich fuhr für ein paar Wochen nach Hause, um ordentlich zu schmollen. Um mich wieder aufzubauen, schlug mein Vater vor, mit ihm eine seiner »Bekannten« zu besuchen. Sie sei, erzählte er mir, frisch aus dem Gefängnis entlassen; sie hätte wegen Betruges in Verbindung mit ihrer Drogensucht gesessen. Nachdem sie das Sorgerecht für ihre Kinder zurückerhalten hätte, arbeite sie nun als Putzfrau im Hotel und versuche, sich ein neues Leben aufzubauen. Entzückend. Ich lächelte gezwungen; wir machten uns auf, die Frau zu besuchen. Eine Viertelstunde fuhren wir schweigend. »Wir wissen ja beide, dass deine Mutter das nicht gutheißt«, sagte er unver‐ mittelt. Eine überflüssige Feststellung. Schweigend betrachtete ich die einkaufenden Menschen‐ massen. »Sie ist eine wirklich nette Frau«, beteuerte er. »Ihre Kin‐ der sind ganz reizend.« Mein Vater ist ein miserabler Lügner. In ihrer deprimie‐ renden Küche erzählte sie uns von ihrem entzündeten Dau‐ mennagel, wegen dem sie eine Woche krank geschrieben war. Ihre beiden Söhne waren so, wie ich sie mir vorgestellt hatte: der ältere, um die fünfzehn, begaffte mich mit mei‐ nen drei Schichten dicker Kleidung, während der jüngere nicht vom Fernseher zu trennen war. Ich musste immerzu an meinen letzten Freund denken, der mich aus heiterem Himmel verlassen hatte, weil ich an‐ geblich arrogant bin und wenig Verständnis für andere Men‐ schen aufbringe. Wieder ein bisschen schlauer geworden. Die Frau und mein Vater gingen, mit dem älteren Sohn 96
nach draußen, um sein Fahrrad zu begutachten, eine Rost‐ laube von der Müllkippe, das vor der Tür lag. Mein Vater ist handwerklich geschickt und versprach, sich um das Rad zu kümmern. Ich wusste, dass es eher auf eine Summe Bargeld zu Händen des jungen Mannes als auf die Auferstehung des Rades hinauslaufen würde. Ich wurde im Haus zurückgelas‐ sen, wo ich finster den jüngeren Sohn anstarrte, der die Fernbedienung malträtierte. Kaum waren wir allein, drehte er sich zu mir um. »Willst du mein Vögelchen sehen?« Du liebe Güte! War das ein mir unbekannter Euphe‐ mismus? »Ja«, sagte ich zögernd. Wir gingen zum Fenster, er öffnete es. Davor stand eine große Stechpalme. Er schnalzte mit der Zunge und wartete. Ich hörte nur die Geräusche von Motorrollern und das Grö‐ len von Betrunkenen aus einem Pub. Er schnalzte abermals und pfiff. Da piepste eine kleine Blaumeise auf und kam aus dem Busch auf seine Schulter geflogen. Er streckte die ge‐ öffnete Hand aus, und der Vogel setzte sich darauf. Der Kleine drehte sich zu mir um und sagte, ich solle ebenfalls die Hand aus dem Fenster strecken. Ich gehorch‐ te. Er zeigte mir, wie ich die Hand wegziehen solle, damit die Meise nach unten fiel, und wie ich sie wieder auffangen konnte. »So habe ich dem Vögelchen das Fliegen beige‐ bracht«, sagte er. »Du hast ihm das Fliegen beigebracht?« »Ja, seine Mutter wurde von einer Katze gefressen, da ha‐ ben wir das Nest reingeholt«, erklärte er. »Wir haben Gril‐ len besorgt und die Kleinen mit der Pinzette gefüttert.« Es seien sechs gewesen, aber nur ein Vogel hätte überlebt. Er führte mir noch ein Kunststück vor: Die Meise saß auf seiner Schulter, er hielt ihr abwechselnd das rechte, das linke und wieder das rechte Ohr hin, und sie zwitscherte ihm hinein. 97
Die anderen kamen zurück, der ältere Bruder war rot im Gesicht vor Genugtuung, meines Vater Brieftasche erleich‐ tert zu haben. Der Vogel flog nach draußen, der Kleine schloss das Fenster. Erschöpft schilderte die Mutter ein an‐ deres Zipperlein, das ihrer Meinung nach auf die schlechte Qualität des Essens in den Gefängnissen Ihrer Majestät zu‐ rückzuführen war: »Man bekommt so gut wie nichts, stän‐ dig hat man Hunger, und trotzdem wird man dick.« Wir blieben noch auf eine Tasse Tee und einen Schokoladenku‐ chen, dann fuhren mein Vater und ich schweigend nach Hause.
Trenchcoat? Ja. Dunkle Sonnenbrille? Ja. Eine Stunde Alibi bei den Eltern? Ja. Ich bin draußen, frei. Ich war pünktlich am Treffpunkt. Er kam zu spät. Ich trank einen Kaffee und tat, als läse ich Zeitung. Unbemerkt schob er sich durch die Tür, setzte sich mir gegenüber. Ich grüßte stumm und schob das Päckchen über den Tisch. Unauffällig hob A4 den Deckel an und sah hinein. »Ist das auch die richtige Ware?«, fragte er. »Gibt nichts Besseres«, erwiderte ich. »Wirkt garantiert.« Er atmete erleichtert aus, seine Schultern entspannten sich. »Wenn ich fragen darf: Brauchst du wirklich so viel da‐ von, um eine Woche bei deinen Eltern zu überstehen?« »Sonst bringen die mich um.« Wieder hob er den Deckel an und sog tief den Geruch ein. »Sobald sie Lunte riechen, kann ich sie mit diesen Schokotrüffeln ruhig stellen. Das garantiert mir wenigstens ein paar Stunden Ruhe.« 98
»Geheimrezept«, schwindelte ich. In Wirklichkeit war es aus dem Internet. Butter, Schokolade, Sahne und Rum. So simpel, dass selbst ich es nicht verbocken konnte. A4 und ich sind ein paar Jahre miteinander gegangen, eine Zeit lang wohnten wir sogar zusammen. Wir hatten, wie man so sagt, kein Geld für die Butter auf dem Brot, aber wir kamen gut miteinander aus, hatten viele gemein‐ same Interessen. Besonders gerne klagten wir über den Rest der Welt. Es ging so lange gut, bis ich wegzog – der ers‐ te von mehreren erfolglosen Versuchen, eine ordentliche Anstellung zu finden. Als ich letztens erfuhr, dass er unser gemeinsames Haus für eine »Bruchbude« hielt, war ich wirklich enttäuscht. Ich hatte nur schöne Erinnerungen daran. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte A4. Er ist der Mann, nach dem sich mein Vater immer erkundigt, so als wären wir noch zusammen. Von ihm habe ich die meisten Fotos. Eins steht in einem Silberrahmen in meinem Bücher‐ regal: Er ist in den Bergen, sieht zur Kamera hoch, zu mir, hat eine Hand ausgestreckt, um die Balance zu halten, und grinst. Süßer Typ. Grinst viel. »Du kannst dich irgendwann revanchieren.« Das Leben im Norden fehlt mir. Alle Geschichten darüber stimmen. Die Leute da oben sind wirklich freundlicher. Die Pommes sind wirklich besser. Alles ist tatsächlich billiger. Wenn die Frauen im Winter ausgehen, haben sie wirklich weniger an. Möchte mich gerne wieder für weniger als fünf Pfund be‐ saufen können. 99
Seit Wochen warte ich nun schon darauf, das sagen zu kön‐ nen: Fröhliche Weihnachten, hohoho! Ich muss lachen. Wir haben Chanukka, ich esse gerade weißes Schokoladengeld, obercool. Kein Zeichen eines Ge‐ schenks vom Boy, alles andere als cool. Mein erstes Tagebuch habe ich zum siebten Geburtstag be‐ kommen. Zum Glück sind die meisten Bände inzwischen verloren gegangen. Heute Morgen war ich so gelangweilt, dass ich einen Schreibtisch aufräumen wollte und dabei mehrere Jahre alte Tagebücher fand. Ich habe damals in Hausaufgabenhefte mit Blumen auf dem Umschlag ge‐ schrieben. Sie stammen aus der Zeit, als ich N kennen lern‐ te. Wir legten sofort los (eine zurückhaltende Umschrei‐ bung für »nahmen uns ein Zimmer im erstbesten Hotel«). Als wir ein paar Tage später erstmals Luft holten, erzählte er von seiner Freundin J. Sie sei für einen Dreier zu haben. Das hätte er schon mehrmals mit ihr gemacht. Er schwor auf ihre Schönheit und überwältigende Erotik. Wir saßen in seinem Auto und betrachteten den Fluss bei Hammersmith. »Gern«, sagte ich. Ich war noch nicht oft mit Frauen zusammen gewesen, aber da wir an diesem ei‐ nen Wochenende schon so weit gekommen waren, hatte ich das Gefühl, einverstanden sein zu müssen. Er rief sie an, ver‐ abredete sich, und so liest sich die Geschichte in meinem Tagebuch: 100
Wir trafen uns mit J bei ihr zu Hause und gingen brun‐ chen. Das Essen war in Ordnung, wir redeten über Sex und Unterwasserarchäologie. Wieder zurück bei ihr machte ich heißen Kakao für N und mich. Als er das Zimmer kurz verließ, küsste sie mich und fragte, mit wie vielen Frauen ich schon zusammen gewesen sei. Acht oder neun, log ich. Wir tranken den Kakao im vorderen Zimmer, dann verabschiedete sich N auf ein Nickerchen. J führte mich ins Schlafzimmer, wo ein großes weißes Bett stand. Auf dem Kopfkissen stand in geschwungener Schrift »La Nuit«. Wir küssten und streichelten uns. J kam mir klein vor, bis ich die Schuhe auszog: In Wirklichkeit sind wir beide gleich groß. Ihr Hintern sah super aus in der gestreiften beigen Hose, aber nackt noch besser. Am Abend zuvor hatte N mir gesagt, ich hätte den schönsten Arsch, den er je gese‐ hen hätte, aber der von J war, glaube ich, noch geiler. Ihr Hals, ihre Haut, ihr Haar – alles roch so gut, dass ich mich plötzlich für meinen Schweiß schämte. »Hat N das gemacht?«, fragte sie, als sie Kratzer auf meiner Schulter entdeckte. Ich zeigte ihr die blauen Flecken auf meinen Oberschenkeln und die Spuren seines Schwanzes in meinem Gesicht. Sie befahl mir, mich hinzulegen, verband mir die Augen und fesselte meine Hände. Dann strich sie mir mit einer weichen, mehrschwän‐ zigen Peitsche über den Rücken. »Weißt du, was das ist?« – »Ja.« – »Willst du es?« Die härtesten Schläge sparte sie sich für meine Brüste auf und bumste mich dann mit einem doppelköpfigen Dildo. Als ich den Mund in ihren Schritt drückte, machte sie mich los und zog mir die Maske ab. Ich leckte sie durch den Slip, dann zog ich ihn aus. J war untenrum rasiert. 101
Es war leicht, es ihr mit den Fingern zu besorgen. Danach entdeckte ich, dass N uns von der Tür aus zu‐ sah. Ich fragte ihn, wie lange er dort schon stehe. »Seit sie dir die Augen verbunden hat«, sagte er. »Ich konnte euch schon im Flur riechen.« In dem Moment kam Js Freund nach Hause. Hier wird das Tagebuch etwas vage. Kurz und gut: Er hatte ein Problem mit N, genauer gesagt wollte er nicht, dass N seine Freun‐ din anfasst. Genervt verkündete N, wenn das so sei, dürfte Js Typ mich auch nicht berühren. Deshalb versuchte N, mich zu fisten, leider erfolglos. Ich war so abgelenkt, dass ich nicht kommen konnte. J blies ihrem Freund einen, danach duschten wir alle einzeln und tauschten Telefonnummern aus. N brachte mich nach King’s Cross und fragte, ob ich noch was für die Fahrt brauchte. Etwas, für das sich zu leben lohnt, witzelte ich. Essen und Sex, antwortete er prompt, und ich lachte. Schon mehrmals habe ich ihn seitdem an dieses Aufblitzen philosophischer Erkenntnis erinnert, aber er behauptet, sich nicht mehr daran zu erinnern. Als ich durch den Bahnhof lief, fühlte ich mich federleicht, be‐ nommen. Glücklich. »Tja«, sagte er schulterzuckend, bevor sich die Türen des Zuges schlossen, »vier in einem Bett ist wohl einer zu viel.« Auf der Fahrt gen Norden masturbierte ich. Es war nicht leicht, der Wagen war voll, immer neue Leute saßen neben mir. Ich wollte es aber auch nicht auf der Toilette machen. Egal, ich hatte ja Stunden Zeit. Meine Hose machte ich so langsam wie irgend möglich auf. Schließlich war es so weit, als gerade eine Asiatin neben mir saß, die mit ihrem Freund einige Reihen hinter uns sprach. Ich hatte einen Mantel auf dem Schoß und tat, als schliefe ich. Danach rief ich N an, 102
um ihm davon zu berichten. Es war, glaube ich, in der Nähe von Grantham. Ich habe noch nie zu den Menschen gehört, die an Silvester gute Vorsätze fassen. So etwas führt unweigerlich zu Absti‐ nenzlerfeten, schlecht beratenen Eheschließungen oder Schlimmerem. Einmal habe ich mir vorgenommen, ein Jahr lang vor dem Zähneputzen Zahnseide und Mundwas‐ ser zu verwenden. Erst danach (ungefähr 1,4 Millisekunden später) wurde mir klar, dass man einen solchen Standard der Zahnhygiene unmöglich auch nur eine Woche lang durchhalten kann und dass es außerdem unattraktiv ist. Möchte man morgens aufwachen und der Süßen neben sich bis auf die Mandeln starren? Ein anderes Mal habe ich mir vorgenommen, ein Tage‐ buch zu führen und nicht aus Langeweile oder Vergesslich‐ keit damit aufzuhören. Wunderbarerweise schaffte ich es bis zur Sechs‐Monats‐Grenze, angespornt von der gleichzei‐ tigen Lektüre der Tagebücher von Kenneth Tynan und Sa‐ muel Pepys. Bei mir fehlten natürlich Geschichten, in de‐ nen meine Perücke entlaust wird oder ich die Nacht mit Tennessee Williams durchzeche. Andererseits: So richtig kann man ja doch nicht aus sei‐ ner Haut. Ich habe länger darüber nachgedacht, welche gu‐ ten Taten und Vorsätze mir in den nächsten zwölf Monaten helfen würden. Hiermit nehme ich mir vor, dass ich nie wieder ein No‐ name‐Gleitmittel kaufen werde. Nie wieder! Ich glaube, die‐ sen Vorsatz kann ich sogar halten. 103
Aah, im Schoße des Elternhauses geborgen! Wie tröstlich, wie gesellig! Jedes Jahr das Gleiche, ich ersticke! Ich bin wieder auf dem Weg nach Hause, bevor Mama die Beule im Auto be‐ merkt. Das Telefon klingelt. Ich: «Ja, bitte?« Agenturchefin (kann nur sie sein): »Schätzchen, schläfst du?« »Ähm, nein?« »Oh, gut. Du hörst dich so entspannt an. Ich denke im‐ mer, ich bin selbst entspannt, aber du bist immer noch viel entspannter als ich. Liest du viel?« »Ähm, ja?« »Dann liegt es daran. Menschen, die lesen, sind immer so entspannt. Egal, ich hätte einen Termin für dich, jetzt sofort. Ich weiß auch nicht, was da im Moment los ist, aber alle sind ganz verrückt nach dir.« Angeblich sollen Puff‐ mütter ihre Lieblinge haben, sollen manchen Mädchen mehr Kunden verschaffen als anderen, aber ich habe das noch nicht feststellen können. Es scheint gute Wochen zu geben, in denen ich Angebote ablehnen muss, und schlecht te, in denen ich mich frage, ob sich überhaupt noch jemand meldet. Aber die Chefin wirkt immer gleich bleibend sach‐ lich. »Ähm, ja?« 104
»Säähr gut, Schätzchen. Ich simse dir alles Weitere. Viel Spaß noch beim Lesen.« Ich musste ein anderes Taxi als sonst nehmen. Der Fahrer machte sich nicht gerade beliebt bei mir: Zuerst fuhr er nach Osten, dann schlug er einen sehr weiten Bogen, der halb Islington einschloss. Ich telefonierte mit A4 und achte‐ te nicht sonderlich auf den Weg. Als wir zwanzig Minuten später in eine Straße einbogen, die nur drei Häuserblocks von meiner Wohnung entfernt liegt, wurde ich sauer. »Da wäre ich ja zu Fuß schneller gewesen!« »Ähm, tja, der Verkehr zu dieser Tageszeit ... «, sagte er. Ich sah nach rechts und nach links. Nirgends ein Auto zu entdecken. »Ich glaube es einfach nicht!« Wenn das so weiterging, würde ich zehn Minuten zu spät kommen. Ich rief die Agentur an, um Bescheid zu sagen. Südlich des Hyde Parks fädelte sich der Taxifahrer in ei‐ nen ellenlangen Stau ein, den selbst ich hatte umfahren können. »Entschuldigung, aber haben Sie überhaupt die geringste Ahnung, wo Sie hinfahren?« »Aber sicher.« »Aha. Ich komme nämlich zu spät zu einem Meeting.« Sie wissen schon, so ein Meeting, wo man mitten in der Nacht in einem durchsichtigen Kleid, passendem BH und Slip und hakerlosen Seidenstrümpfen aufkreuzt. »Kennen Sie ‘nen besseren Weg?«, fragte er patzig. »Nee, aber das ist ja auch nicht meine Aufgabe.« »Der Verkehr, und dann die Uhrzeit, da kann ich nichts machen »So ein Blödsinn! Sie hätten mindestens zehn andere Strecken nehmen können. Sie kutschieren mich jetzt seit geschlagenen zwanzig Minuten durch die Nachbarschaft. Und fahren dann sehenden Auges in einen Stau hinein! Ich bitte Sie, ich bin doch nicht von gestern!« 105
Er sah in den Rückspiegel, um sich persönlich davon zu überzeugen. »Wie gesagt, ich kann es nicht ändern.« »Eine Entschuldigung wäre jetzt nett.« Schweigen. Zehn Minuten krochen wir in völliger Stille voran. Ich war stink‐ sauer. »Könnte ich bitte aussteigen?« »Aber sicher, kein Problem.« Ich verließ das Taxi, ohne zu bezahlen. Es herrschte viel Verkehr. Wir waren gerade an einem Taxistand am Ende der Nortfi End Road vorbeige‐ kommen; ich steuerte geradewegs darauf zu. Der neue Fah‐ rer brachte mich innerhalb von fünf Minuten ans Ziel, und das zum Schnäppchenpreis von vier Pfund. Ich gab ihm sechs Pfund Trinkgeld. Der Kunde hatte glücklicherweise Verständnis und bot mir etwas zu trinken an. Ich liebe den klassischen Englän‐ der: Internatsausbildung, an die dreißig, Manager in der Firma seines Vaters. Solche Menschen sagen »Wohlsein!« anstelle von »Prost!«. Verehren Boris Johnson. Ich zog mich am Treppenabsatz bis auf die Unterwäsche aus. Er sah mir zu, wie ich langsam die Treppe hinaufstieg. Oben blieb ich stehen und sah mich über die Schulter um. »Und, was möchtest du machen?« »Ich möchte mit dir schlafen.« »So richtig à la Barry White?« »Ja, genau.« Fast eine ganze Stunde lang wühlten wir in den Laken. Er hatte dichtes, weiches Haar, das leicht metal‐ lisch roch. »Was kann ich tun, damit du kommst?«, fragte er. »Das ist ziemlich kompliziert. Dann wären wir die ganze Nacht lang hier.« Ich komme nicht bei Kunden. Manche Frauen lassen sich nicht küssen – das halte ich für Blödsinn Sind doch nur Lippen. Aber den Orgasmus spare ich mir für andere auf. Fällt mir nicht sehr schwer. Ich bin noch nie besonders schnell gekommen. »Hört sich toll an.« 106
»Ja, aber hast du eine Tischbohrmaschine und sechs Zie‐ gen? Außerdem stehen die Sterne gerade nicht günstig.« »Sehe ich ein. Merke ich mir fürs nächste Mal.« Beim Ab‐ schied drückte er mir seine Karte in die Hand, er würde ger‐ ne mal etwas mit mir trinken gehen. »Jetzt bist du dran«, sagte er, als ich die Treppe hinunter zum wartenden Taxi schritt. Auf dem Rücksitz wagte ich im blitzenden Licht der Straßenlaternen einen Blick auf die Karte. Rosa und grün, geprägt, schicke Schrift. Als Single wäre ich versucht gewe‐ sen, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie ein Pärchen, das sich in so einer Situation kennen lernt, das seinen Be‐ kannten erklären soll. »Diese Art Mann gefällt mir nicht«, sagte die Chefin, als ich sie auf dem Heimweg anrief. »Der schreibt bestimmt eine Beurteilung.« Es gibt Chatrooms von Freiern, wo die Eigenschaften verschiedener Begleitdamen diskutiert wer‐ den. Selbst wenn man sicher ist, zufrieden stellend gearbei‐ tet zu haben, ist das keine Garantie für eine positive Kritik. Wenn wir uns bloß wehren könnten, den Männern bei‐ spielsweise anschließend Noten geben! Das Taxi fuhr zum dritten Mal um einen Häuserblock in Kensington. Die müssen wirklich glauben, ich bin blöd. »Und, wie war er so?« »Ein richtiger Gentleman.« Ungläubiges Schnauben am anderen Ende. »Ich habe ihn um den kleinen Finger gewi‐ ckelt.« Ich hatte mir diese Antwort sehr schnell angewöhnt, auch wenn sie nicht zutraf. Ich will nicht, dass sich die Che‐ fin Sorgen macht, und ich will ihre Gunst nicht verlieren. 107
»Ich habe hier einen Kunden, der auf dich pinkeln will«, sagte die Chefin. Ich schwöre, wenn mal irgendjemand mein Telefon abhört und die Protokolle liest, hält er mich bestimmt für eine – ähm, Moment, ich bin ja eine. »Er will was?«, fragte ich, obwohl ich sie sehr gut verstan‐ den hatte. »Pinkeln. Auf dich. Keine Sorge, Schätzchen, du brauchst dabei nichts anzuhaben. Du bist in der Wanne.« »In was für einer Wanne? Voll mit Urin?« »Nein, in einer ganz normalen Badewanne.« Ich seufzte. »Du weißt doch, dass ich Erniedrigung nicht mache.« Zumindest nicht auf der Arbeit. Ich weiß, es klingt sonderbar, aber selbst wenn W mich schlimmstens miss‐ handelte, wusste ich immer, dass er es aus Liebe tat. Einen Fremden würde ich so etwas nicht machen lassen. »Nein, so ist das nicht, Schätzchen«, erwiderte sie. »Er will dich nicht erniedrigen. Er möchte ein Mädchen anpin‐ keln, das Spaß daran hat.« Schließlich erklärte ich mich einverstanden, aber nur gegen eine beträchtliche Erhöhung meines Honorars. Der Kunde war ganz nett, aber unglaublich schüchtern. Wir unterhielten uns eine Zeit lang und tranken etwas – ich ei‐ nen Schnaps, er ein großes Bier. Macht eine richtig volle Blase, vermute ich. Als es so weit war, zog ich ihn von der Hüfte abwärts aus, streifte meine Kleidung ab und kniete mich in die leere Badewanne. Er sah mich an, schaute auf die Wand über mir und seufz‐ te. Mehrere Minuten lang tat sich nichts. Mir wurde lang‐ sam kalt. »Alles in Ordnung?«, fragte ich. »Es funktioniert nicht. Ich bin zu geladen«, sagte er. Er 108
schaute mich wieder an. »Wenn ich dich ansehe, bekomme ich einen Ständer. Wenn ich zur Seite gucke und mir vor‐ stelle, was ich gleich mache, dann krieg ich auch ‘ne Latte.« »Dann denk doch an was, das dich nicht anmacht.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel: Wie deine Mutter Unterwäsche für dich kauft. Sie schleppt dich hinter sich her. Mit deinen fünfund‐ dreißig Jahren!« Er musste lachen. Ich spürte, wie die ersten Tröpfchen auf meinen Hals trafen und meine Brüste hin‐ unterrollten. Danach duschte ich, er sah mir zu. Als ich mir die Haare föhnte und mich anzog, gab er seltsame, drucksende Ge‐ räusche von sich. »Alles in Ordnung?«, fragte ich. »Ich glaube, ich kann noch ein bisschen«, sagte er errö‐ tend und wies auf seinen Schwanz. »Du musst es nicht tun, aber ich könnte in ein Glas machen und –« »Ähm, nein, vielen Dank«, sagte ich. »Hygiene und Si‐ cherheit und so.« »Manche trinken es für die Gesundheit«, schlug er vor. »Ja, und manche glauben, es wäre gesund, ausschließlich Fleisch zu essen.« Ich zog den Mantel an und küsste ihn auf die Wange. »Vielleicht ein andermal, wenn ich mich länger darauf vorbereiten kann.« Silvester allein in London. Der Boy wollte zu Besuch kommen, das hatte er mir je‐ denfalls gesagt. Gestern Nacht rief er spät an und meinte, er könne nicht kommen. Er sei in den Skiurlaub gefahren, ich könnte ja zu ihm runterfliegen. Keine zwölf Stunden mehr bis Mitternacht. Am 31. Dezember. 109
Ich hatte nicht mal gewusst, dass er in Urlaub fahren wollte. Warum war er nicht bei mir? Weil Umbuchen natür‐ lich zu teuer wäre. Es wundert mich, wie jemand, der an‐ geblich immer über so wenig Bargeld verfügt, genug zu‐ sammenkratzen kann, um die Alpenhänge herunterzu‐ wedeln. Aber mit seiner Freundin Silvester feiern, das ist nicht drin. Dennoch stöberte ich im Netz, um zu sehen, ob ich nicht durch irgendein Wunder in Frankreich aufwa‐ chen könnte. Bei British Airways konnte man erst wieder für den 2. Januar buchen. Es war sogar zu spät für Lastmi‐ nute, com. Voller Bedauern lehnte ich ab. Es schien ihm, ehrlich ge‐ sagt, nicht allzu viel auszumachen. Ob ich misstrauisch wur‐ de? Sicher. Sein Begleiter bei dieser kleinen Spontanreise ist niemand anders als der Mitbewohner, der mich nicht lei‐ den kann. Ich ging in die Stadt, aß etwas, ging zum Frisör, lief im V&A herum. Was meine kleinen Äuglein erspähten: • Alle, die bei King’s Cross in die U‐Bahn stiegen, verließen sie bei Knightsbridge wieder, sodass die Wagen praktisch leer waren. • Einen Mann, der mit zwei Hunden spazieren ging, einem großen Rottweiler und einem kleinen Mops. Beide hat‐ ten schwarzes Fell und waren kräftig gebaut; wenn der Mops drei Schritte machte, machte der Rottweiler einen. • Ein Mädchen, das sich einen Lachs‐Käse‐Bagel mit Pom‐ mes reinschob. • Drei Männer nebeneinander mit den gleichen schwar‐ zen Strickmützen. • Drei Mädchen aus der anderen Richtung mit sich bei‐ nden rosa Strickschals. 110
Direkt vor dem Naturgeschichtlichen Museum auf der Ex‐ hibition Road ist das Herbstlaub von Tausenden von Reifen zu einem orangegoldenen Muster auf dem Asphalt zer‐ drückt worden. 111
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Gestern Abend haben N und ich uns im Zentrum getroffen, um uns gegenseitig etwas vorzujammern. Ich gehe an Neu‐ jahr nicht gerne aus, aber allein zu Hause sitzen ist noch schlimmer. Momentan trinkt N am liebsten Bailey’s auf Eis, also praktisch Pudding im Glas. Als ich mein Glas hob, wur‐ de ich von einer Frau gerammt, einer gemeinsamen Be‐ kannten. Der halbe Inhalt landete auf meiner Jeans. »Was hat die denn für ein Problem?«, regte ich mich auf. »Der würde mal eine Woche in einem türkischen Puff gut tun«, sagte N, Und so verbrachten wir den Rest des Abends mit dem Erstellen einer Liste, wessen Benehmen durch eine Woche Bordellurlaub unserer Meinung nach nur ver‐ bessert werden könnte: Naomi Campbell Penelope Keith Prinzessin Anne Chérie Blair KatiePrice (obwohl, der könnte es sogar gefallen) Samantha Fox Blairs Labour‐Frauen Elizabeth »Liz« Hurley Lady Victoria Hervey Myleene Klass alle Ex‐Frauen und Kinder von Jagger Theresa May 114
Tara Palmer Tompkinson Sophie Ellis Bextor jede Blondine, auf die die Bezeichnung »It~Girl« zutrifft oder die einen Bindestrich im Nachnamen hat. Zum Thema Orgasmus bei der Arbeit: Ich komme nicht. Ich setze die Zahl von Orgasmen nicht mit Spaß am Sex gleich. Guter Sex bedeutet für mich nicht, einen Orgasmus herbeiführen zu können. Mit neunzehn – falls ich mich recht an die Unterhaltung erinnere – wurde mir klar, dass es beim Sex um die Intensität des Genusses geht, und dafür muss man nicht unbedingt zum Höhe‐ punktkommen. Allerdings weiß ich auch noch, dass es in diesem Ge‐ spräch hauptsächlich um Erfahrungen mit Säureverletzun‐ gen ging. Dennoch blieb mir die Erkenntnis im Gedächtnis haften, dass beim Sex der Weg das Ziel ist. Jetzt mal ehrlich: Ich betreibe Dienst am Kunden, meine Arbeit ist kein Selbsterfahrungstrip. Die Kunden zahlen für ihren Orgasmus, nicht für meinen. Doch viele Männer – weitaus mehr, als man meinen würde – kommen nie. Keiner hat je angedeutet, dass das ein Ver‐ sagen meinerseits sei. Manchmal geht es ihnen nur um menschliche Wärme, eine erotische Berührung, um die Nähe eines anderen. Fast immer, wenn ich’s recht bedenke. Die Unfähigkeit mancher Männer, in mir zu kommen, soll in keiner Weise als Unzulänglichkeit verstanden wer‐ den. Was ihren Teil unseres Geschäfts angeht, haben sie großen Spaß; und ich genieße Sex nicht nur wegen des kör‐ perlichen Kitzels. Begehrt zu werden ist schön. Sich schick 115
anzuziehen ist schön. Absolut toll ist es, ohne jede Angst, den anderen zu verletzen, den eigenen Körper zu ge‐ nießen, oder jemanden zum Orgasmus zu bringen, ohne Angst zu haben, nie wieder von ihm zu hören. Manchmal macht ein Wettlauf Spaß, auch wenn man nicht ins Ziel kommt. SMS vom Boy: »Wie geht’s dir? Bin traurig und habe Angst, dass du nichts mehr von mir wissen willst.« Manchmal frage ich mich, ob ich anormal bin. Ein biss‐ chen zu kalt für die Liebe, gefühllos. Sobald jemand das Interesse an mir verliert, reagiere ich ebenso. Wie man so schön sagt: Reisende soll man nicht aufhalten. Ich gebe den Leuten keine echte Chance. Vielleicht weil ich einfach weiß, wann es keinen Sinn mehr hat. Romanti‐ sche Träume sind reiner Egoismus, hat A1 einmal gesagt. Derselbe Mensch hat gefordert, Frauen über dreißig sollten kein langes Haar mehr tragen dürfen. Er ist also wahr‐ scheinlich keine zitierfähige Quelle, aber sei’s drum. Wenn ich auf die SMS vom Boy nicht antworte, tue ich uns beiden einen Gefallen, Es sind schon andere Sachen passiert, Zwischenfälle, über die ich nicht nachdenken oder schreiben wollte, weil ich Angst hatte, vorschnell zu urteilen. Es war ja möglich, dass es sich noch einrenkt. Auch jetzt noch. Ich könnte ihn anrufen oder ihm eine Nachricht schicken, aber das ist so ein ärm‐ licher Ersatz für echte Kommunikation. Wenn ich mir selbst nicht klar über meine Gefühle bin, wie soll ich sie für jemand anderen in verständliche Sätze fassen? Wenn ich zu lange warte, wird mir die Entscheidung sowieso abgenommen. 116
Ich beschloss, shoppen zu gehen und Geld für Unterwä‐ sche auszugeben. Dann wollte ich alle Einkäufe auf den Bo‐ den werfen, um mein Schicksal aus einem I‐Ging von Satin und Spitze zu lesen. Sollte der Gott der Mieder und Bustiers entscheiden! Ich erstand eine Kombination in schokola‐ denbrauner Spitze mit rosa Satinbändchen zwischen den BH‐Schalen und seitlich am Höschen. Sie war weder für die Arbeit noch für den Boy gedacht. Die U‐Bahn war voller Schnäppchenjäger und Touristen. Ich versuchte zu raten, was in den glänzenden Einkaufstü‐ ten war. Eine Packung Papiertaschentücher? Comics? Par‐ füm? Es war ein Massenexodus in den Norden der Stadt; bei jeder Haltestelle drängten Leute hinaus. Eine Frau konnte es nicht erwarten, nach Hause zu kommen; sie riss das Pa‐ pier auf, noch ehe sie den Mantel ausgezogen hatte; ein Mann packte eine neue CD aus, die Plastikfolie fiel zu Bo‐ den. Heute gehe ich mit Freunden zu einem Essen, das jedes Jahr stattfindet. Die Männer quetschen sich in ihre seit letz‐ tem Jahr auf mysteriöse Weise geschrumpften Smokings und lästern über den spärlichen Hauptgang. Die Frauen huschen, die Haare duftig wie Blütenblätter, in Jersey‐ und Glitzerstoffen von Tisch zu Tisch. Die U‐Bahn ruckelte meiner Heimat zu. Die Musik in meinem Kopfhörer war beschwingt – leichter Pop von 2003, eine Sammlung der besten Stücke. Als ich hochschaute, entdeckte ich, wie nah sich der gelbe Handlauf an der De‐ ckenleuchte befand, und fuhr mit den Fingerspitzen über die Abdeckung. Durch die holprige Fahrt schwankte ein Kinderwagen so stark, dass er die Einkaufstüten der Mutter umstieß. Ich musste grinsen. Weiter hinten im Wagen starr‐ te mich ein kahlköpfiger Mann an. 117
Bei der offiziellen Veranstaltung gestern Abend war N an meiner Seite – rein platonisch, versteht sich. Ich war noch immer sauer auf den Boy und vertrat die harte Linie: »Alle Männer sind Schweine, es sei denn, sie zahlen, dann sind sie zahlende Schweine.« N zeigte Verständnis und fügte sich bereitwillig in seine Rolle als »Schwein«. Das hieß wahr‐ scheinlich, dass er mit mir schlafen wollte. Wir duschten bei mir und zogen uns an. Ich band ihm seine Fliege um. Er wollte eigentlich eine fertige anziehen, aber ich bestand auf der altmodischen Version. Ich zeige mich nicht öffentlich mit einem Mann, dessen Fliege in eine der folgenden Kategorien fällt: zum Anklemmen, dre‐ hend oder metallisch‐glänzend. Lustige Abendkleidung hat ihre Zeit und ihren Ort. Meiner Meinung nach ist sie außer Mode, seit Charlie Chaplin das Zeitliche gesegnet hat. Mit trockenen Kehlen gingen wir zum Vorglühen in eine Bar, die unter einer anderen Kneipe versteckt war. Dort tra‐ fen wir uns mit anderen geladenen Gästen. N stellte mich vor. Eine vergnügte kleine Schwarzhaarige, die starke Ähn‐ lichkeit mit Nigella Lawson hatte, hängte sich an mich. »He, hallo«, grüßte sie mit näselndem Akzent. »Ich bin T!« Ihr Kleid konnte ihre Brüste so gerade eben halten, ich gab ihm keine großen Chancen, den Abend zu überstehen. Ich warf N einen Blick zu, der besagte: »Kennst du diese Frau?« Er erwiderte ihn mit einem, der besagte: »Nein, aber vielleicht will sie ja mit mir schlafen?« Sie legte mir ihre perfekt manikürte Hand aufs Knie. »Oh, ich liebe deinen Akzent! «, begeisterte sie sich. »Woher kommst du?« »Aus Yorkshire«, antwortete ich. »Und du?« 118
»Aus Michigan.« Bezaubernd. Irgendwann wurden die Leute unruhig, wir zogen weiter, zur eigentlichen Veranstaltung. Leider saß T mit ihrer Begleitung drei Tische weiter. Da an unserem Tisch fast nur Ehepaare waren, fand ich mich neben der Ehefrau eines gemeinsamen Bekannten wieder. Betrunken musterte sie N und mich. Als N sich jemand anderem zuwandte, sagte sie: »Und, seit wann seid ihr beiden wieder zusammen?« »Ähm, äh, wir warten es einfach mal ab. Wir sind nur be‐ freundet.« »Aber sicher.« Verschlagen zwinkerte sie mir zu, um zu signalisieren, dass sie mir kein Wort glaubte. Ihr Urteil hätte vielleicht vernichtender gewirkt, wenn sie sich nicht im sel‐ ben Moment Rotwein übers Kleid gegossen hätte. Die Reden waren der Höhepunkt des Abends. Auf einen mit vielen Medaillen ausgezeichneten Teilnehmer der Para‐ lympics, der einen scheinbar endlosen Vorrat an Sexwitzen zum Besten gab, folgte eine Persönlichkeit aus der Sport‐ welt, dann ein schmerbäuchiger Mann mit silbernem Haar. Die Redner waren so schlecht, dass selbst ich – eine blutige Anfängerin auf jedem Gebiet, außer dem der sexuellen Er‐ tüchtigung – nur zwanzig Minuten lang so tun konnte, als sei ich unglaublich gefesselt. Dann brachen alle in die Disco auf. Ich tanzte, trank, tanzte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie N im Hinter‐ grund T einen Knopf an die Backe redete. Der Gute, dachte ich. Danach ging sie mit ihrem Begleiter tanzen, und ich quetschte ihn aus. »Du schlauer Fuchs! Hat sie dir ihre Nummer gegeben?« »Ehrlich gesagt, ist sie eher an dir interessiert.« »Ach, ja?« Ich schaute auf die Tanzfläche, wo sie von drei Männern herumgewirbelt wurde, eine Herausforderung an die Zentrifugalkraft und deren Auswirkung auf handelsübli‐ 119
che Stoffe. Soweit ich sehen konnte, weigerte sich das Kleid noch immer zu verrutschen. Ob reiner Zauber oder ein doppelseitiges Klebeband dahinter steckte, weiß ich nicht. »Ja, aber ich glaube, ich habe deine Chancen trotzdem auf null gesenkt.« »Warum?« »Ich habe gesagt, du tätest es nur, wenn ich mitmachen dürfte.« »Du dämlicher Kerl!« Ich boxte ihn in die Schulter, was mir mehr wehtat als ihm. Er küsste mich auf die Stirn. »Ich schütze dich nur vor dir selbst, Süße.« Kleine Sexkunde • Sex Shop: Hier wird kein Sex verkauft. Lexikalisch so, als würde man einen Gemüsehändler »Schlachter« nennen. • heißer Sex: möglichst perfekte Reproduktion der visuellen Wirkung von Pornographie. Siehe auch: Telefonsex. • guter Sex: Man bekommt alles, was man will. • schlechter Sex: Ein anderer bekommt alles, was er will. • Sexmaus: eine durchaus anziehende Frau, leider oft ab‐ hängig von den Stützen und Streben ihrer Unterwäsche. • sexuell: Das Wort beschreibt meistens Paarungsrituale von Tieren oder die keimenden hormonellen Bedürfnisse von Jugendlichen. Wird nie bei echten sexuellen Erleb‐ nissen verwendet, oder wenn, dann mit Gekicher. Eine Ausnahme bestätigt die Regel: Lieder von Marvin Gaye. • Sexualerziehung: Schnittstelle zwischen Banane und Kon‐ dom. Keine nützlichen Informationen. • Sexbombe: Massenvernichtungswaffe. 120
Ich drückte auf die Klingel. Es kam nichts aus der Sprechan‐ lage, die Tür wurde sofort geöffnet. Der Kunde zog seine Wohnungstür auf und verschwand auf einen Drink in der Küche. Die Wohnung war sauber, fast steril. Überall Rauch‐ glasspiegel. Ich hatte das Gefühl, mich in einem Restaurant zu befinden. Kaum zu glauben, dass dies das Heim eines Studenten sein sollte, wie die Agenturchefin gesagt hatte. Doktoranden‐Stipendien sind vielleicht hoch genug, um je‐ des Semester ein paar Züge durch die Gemeinde zu ma‐ chen, doch ich wage zu bezweifeln, dass sie die Kosten für eine Dame der Nacht abdecken. Er: »Du brauchst nicht so nervös zu sein.« Ich (überrascht): »Ich bin ganz locker. Was studierst du denn?« »Erzähl ich dir später.« Er nannte mir seinen Namen. »Wirklich?«, fragte ich. Es war ein seltener, altmodischer Name. »Mein Freund heißt auch so.« Exfreund, korrigierte ich mich. Nicht mehr im Präsens an ihn denken. Wir unterhielten uns über die Umzugspläne des Kunden; er wollte nach Nordlondon, wo es angeblich die »weltweit höchste Dichte von Psychotherapeuten« gibt. Da ich einige Leute kenne, die da wohnen, kann ich das sehr gut nach‐ vollziehen. Er: »Du bist komisch drauf. Ich werde nicht ganz schlau aus dir.« Ich: »Eigentlich bin ich ganz normal.« »Ein offenes Buch, oder wie?« »Kann man so sagen.« Später ... 121
Ich: »Was studierst du noch mal?« Er: »Psychoanalyse.« Womit wir Gefährten waren, wenn nicht sogar Kollegen. Die Unterhaltung schweifte ab zu Evolutionsbiologie und der Rolle von Pheromonen bei der gegenseitigen Anzie‐ hung. Offenbar bringt man mit jemandem, dessen Geruch man attraktiv findet, eher Kinder mit wenigen Erbfehlern hervor. Normalerweise beginnt mit solchen Gesprächen keine Liebesbeziehung, aber bei mir würde es durchaus funktionieren. Er wollte intensiven, sinnlichen, zungen‐ zentrierten Sex. Mir gefielen die Spiegel. Er spreizte meine Beine und nahm mich anal, glitt hinein und heraus. Nach‐ dem er gekommen war, ging ich mich waschen und ent‐ deckte das neueste Buch von Richard Dawkins im Badezim‐ mer. Ich (beim Anziehen): »Hat mir Spaß gemacht. Und du riechst gut.« Er: »Super, das heißt, wir können Kinder bekommen.« Wir mussten beide lachen. »Noch nicht so ganz.« Einige Geschäfte hatten noch geöffnet; das Geld juck‐ te mir in der Tasche. Mit klappernden Absätzen ging ich durch eine Passage zur U‐Bahnstation. Am Ende des geka‐ chelten Ganges lagen Kartons – Obdachlose. Ich weiß nie, ob ich ihrem Blick ausweichen soll oder nicht, ob ich einen großen Bogen um sie machen soll oder nicht. Warum füh‐ len wir uns so unwohl in ihrer Nähe? Liegt auf Obdachlosen ein Fluch, der auf uns übergeht, sodass wir selbst mittellos dastehen, wenn wir zu nah herankommen? Zwei junge Männer unterhielten sich. Einer sah mir ent‐ gegen. Breiter nordenglischer Akzent. Das Echo meiner Schuhe und das Gewicht des Geldes in meiner Tasche wa‐ ren mir deutlich bewusst. Ein netter Mensch hätte ihnen et‐ was gegeben, oder? 122
Blödsinn, sagte eine andere Stimme in mir. Davon wür‐ den sie sich nur Drogen kaufen. Mein Gott, wie arrogant! Wer hat sich denn gerade für Geld bumsen lassen? Na, gut. Aber zumindest habe ich Arbeit. Ich lasse mich nicht hängen. Ich bekomme Geld für etwas, das ich auch umsonst machen würde. Vielleicht sind die beiden nur Rucksacktouristen, die sich über eine kleine Unterstützung freuen würden. Oder es sind Vergewaltiger. Hinter ihrem Lager machte der Gang eine scharfe Rechtskurve. Die beiden jungen Männer – übrigens alles andere als hässlich – schauten auf, als ich vorbeiging. »So spät noch unterwegs?«, fragte der eine. Ich grinste. Hätte ihnen die Wahrheit sagen können. »Party«, erwiderte ich. »Cool«, sagte der mit dem Bart. Dann unterhielten sie sich weiter. Ohne langsamer zu werden oder zu stolpern, entschwand ich aus ihrem Blickfeld. Er: »Weißwein, oder?« Ich: »Ja, sehr nett von dir.« Er reicht mir ein Glas; wir sto‐ ßen an und trinken. »Etwas trockener als sonst« »Ich dachte, ich probier ihn mal aus.« Wenn ein Stammkunde immer häufiger bucht, werden die Regeln gelockert. Kunden sollen bei einem Termin nicht unter dem Einfluss von Drogen stehen – genauso we‐ mg wie wir –, auch wenn ein bisschen Alkohol nicht aus‐ drücklich verboten ist. Da ich schon mehrmals bei diesem 123
Mann gewesen bin, weiß ich, dass er vor der Begegnung mit mir eine Tüte durchzieht. Ich rieche den Joint und wunde‐ re mich eigentlich nur, dass er seiner Leistung keinen Ab‐ bruch tut. Gestern Abend war ich etwas zu früh – es war Dienstag und wenig Verkehr – und habe ihn auf frischer Tat ertappt. Außerdem benutzt er ab und zu ein Inhaliergerät. Mir ist klar, dass das nicht verboten ist (glaube ich jedenfalls nicht), ich habe auch nichts gegen Drogenkonsum. Leben und leben lassen, schadet ja keinem usw. Ich nehme nur sel‐ ten härtere Sachen als Spirituosen, obwohl meine Freunde von der Uni wahrscheinlich etwas anderes behaupten wür‐ den. Gestern Abend lag er im Schlafzimmer auf dem Boden, ich saß rittlings auf ihm. Mit geschlossenen Augen griff er zum vertrauten braunen Fläschchen und nahm eine Nase voll. Dann bot er es mir an. Was soll’s, dachte ich und schnüffelte. Als er zehn Minuten später wieder fragte, tat ich es erneut. Mann, was für ein Gefühl! Meine Kopfhaut, mein Ge‐ sicht, meine Ohren pochten, als ob ich rot würde, nur viel lauter. Jedes Geräusch wurde verstärkt, klang ein wenig blechern. Meine Finger fühlten sich an wie Pfoten, riesen‐ groß. Gott sei Dank dauerte es nur ungefähr eine Minute. Die Wirkung, meine ich. Der Sex dauerte länger.
In diesem Beruf kann man gewisse Dinge nicht richtig ernst nehmen. Erstens: den öffendichen Nahverkehr. In einem norma‐ 124
len Job kann man sich, wenn man zwanzig Minuten zu spät kommt, vielleicht entschuldigen mit: »Northern Line [grummel, grummel], immer dasselbe.« Doch wenn ein vernachlässigter Ehemann nur sechzig Minuten Zeit zwi‐ schen dem Mittagessen und dem nächsten Termin hat, wenn er eine Viagra eingeworfen hat und mit harter Latte wartet, dann darf man nicht zu spät kommen. Die Taxifah‐ rer und ich sind mittlerweile dicke Freunde ... Zweitens: auffordernde Blicke im öffentlichen Nahver‐ kehr. Glauben die Leute, ich würde ihnen zu einem gehei‐ men Liebesnest folgen? Oder wollen sie sich an meine Fer‐ sen heften – Liebe auf den ersten, nur leider überfüllten und mit zehn Minuten Verspätung ankommenden Blick? Reine Chance. Drittens: One‐Night‐Stands. Mit meinem Beruf ist es wie in der Armee: Es macht mir Spaß, und ich bekomme Geld dafür. Manchmal macht es nicht so viel Spaß, aber bezahlt werde ich immer. Ich habe in einer Woche mehr Oralsex mit Kunden als in meiner gesamten Studienzeit. Viertens: Beziehungsprobleme. Ich will keine Prostituier‐ te ohne Freund sein. Ich will den Boy haben! Wir haben Waffenstillstand geschlossen. Doch, wirklich. Fünftens: Mode. Stiefel mit flachen Absätzen, kurzes Haar, abgeschnittene Hosen, lange Flatterröcke? Niemand würde mich mehr buchen!
Der Boy hatte Geburtstag; er kam zu Besuch. Er war sauber und höflich, benahm sich wie ein Musterknabe. Der Abend verlief locker, entspannt, harmonisch. Ich lehnte mich im‐ mer stärker an ihn, irgendwann legte er den Arm um mich. 125
Gott sei Dank, dachte ich. Es war nur eine Episode. Nichts, worüber man sich den Kopfzerbrechen müsste. Wir beschlossen, die Freunde in Wimbledon mit der fa‐ denscheinigsten Ausrede früh zu verlassen (besser die Bett‐ federn quietschen lassen, mein Schatz), saßen dann aber ewig in der U‐Bahn fest. Nachdem wir eine Stunde lang in Earl’s Court gehockt hatten und seine Wenigkeit an meiner Schulter eingeschlafen war, wurden wir umgeleitet. An der Gloucester Road stiegen wir um. Doch in der Piccadilly Line ging es wieder von vorne los. Ich überlegte es mir anders, zerrte den Boy nach draußen und winkte ein schwarzes Taxi heran. »Wie viel kostet das?«, fragte er. »Keine Sorge, ich zahle«, sagte ich. Er beugte sich vor, um den Fahrer nach dem Preis zu fragen. »Hör bitte damit auf«, schimpfte ich und schob ihn auf den Rücksitz. Ich lotste den Fahrer zur ersten Bank, an der ich Geld ziehen konnte. Als ich wieder einstieg, schmollte der Boy. »Das Taxameter ist weitergelaufen, während wir gewartet ha‐ ben«, motzte er. »Hat uns mit Sicherheit ein Pfund gekos‐ tet.« Das störte mich nicht. »Er musste ein paar Minuten war‐ ten«, erklärte ich. Da wir ein schwarzes Taxi genommen hat‐ ten und kein Minicab, war ich ziemlich sicher, dass der Fah‐ rer uns nicht hin und her kutschieren würde – egal für wie viel Geld. Ich wohne relativ weit draußen, bis ins Zentrum kostet es durchaus 40 Pfund. Bei der Arbeit übernimmt der Kunde die Kosten. Angesichts der Entfernung und der Uhrzeit würden wir dankbar sein müssen, wenn wir mit 20 Pfund hinkämen. Der Boy zog einen Schmollmund, nahm seine Hand von meiner und schaute beleidigt aus dem Fenster. Als wir nur noch gute zwei Meilen entfernt waren, sagte 126
er: »Ich glaube, wir steigen hier aus, das ist nah genug.« Das Taxameter war gerade auf 20 Pfund gesprungen, aber ich hatte hohe Absätze an und keine Lust, eine halbe Stunde durch die Kälte zu wandern, wenn wir uns längst im Bett vergnügen konnten. Böse funkelte ich ihn an. »Wenn du aussteigen und zu Fuß gehen willst, bitte schön!« Ich hatte nicht die Absicht, auch nur einen Schritt zu tun. Es war sein Geburtstag, ich hatte ihn eingeladen, was bedeutete schon Geld, wenn man sich bald zu Hause in den Armen liegen konnte? Die Ampel sprang auf Grün. Nervös sah der Fahrer in den Rückspiegel. »Ähm, woll’n Se jetzt aussteigen, oder was?«, fragte er. »Nein«. Der Boy verschränkte die Arme vor der Brust und rutschte noch tiefer in den Sitz. Keine fünf Minuten später waren wir sicher bei mir zu Hause angelangt. Peinlich berührt wegen des Aufstandes, gab ich dem Fahrer drei Pfund Trinkgeld. Wir stiegen die Treppe empor. Ich schloss die Tür auf und trat ein. »Also«, sagte ich. »Also was?« »Möchtest du dich vielleicht entschuldigen? Ich bin stink‐ sauer.« »Es ist unglaublich, dass du dich von dem so hast abzo‐ cken lassen!« »Es ist unglaublich, wie du dich benommen hast! Es ging doch nur um Geld.« »Das war viel Geld.« »Es ist mein Geld, und ich habe bezahlt, damit wir beide nach Hause kommen. Eine Runde im Pub hätte genauso viel gekostet« Auftakt zu einem ewig langen Streit, in dem die Hure iro‐ nischerweise den Standpunkt vertritt, Geld sei unwichtig, 127
während ihr Freund alle Ausgaben und Kosten aufzählt, die er im vergangenen Jahr für sie auf sich genommen hat. Wenn er wirklich den Beruf wechseln möchte, sollte er es mal als Buchhalter versuchen. Der Streit war ziemlich plötz‐ lich vorbei, als ich einen Scheck mit dem ungefähren Be‐ trag meines Stundensatzes ausstellte und ihn dem Boy in die Hand drückte. »Reicht das?«, fragte ich. »Bist du jetzt glücklich?« Er marschierte direkt weiter zur Nachbarin, um ihr glän‐ zendes technisches Spielzeug zu bestaunen. Es gibt kein schlimmeres Geräusch als das gierige Gekicher einer Rot‐ haarigen, die ein Handheld vor ihrem Ausschnitt präsen‐ tiert. Ich las mich fast eine Stunde durch Eisenbahnfahrpläne. Wir waren erschöpft vom nächtelangen Streiten. Er muss‐ te einen Zug in London Bridge bekommen, ich war mit Freunden verabredet, sodass wir das Haus gleichzeitig ver‐ ließen. In der U‐Bahnstation ließen wir einen Platz zwi‐ schen uns frei. Er studierte einen Londoner Stadtplan. Die Bahn der Northern Line hielt an. Die Waggons vor unserer Nase waren leer. Ich stieg ein. Die Türen blieben noch einen Augenblick geöffnet. Ich setzte mich hin und schaute mich um – er war mir nicht gefolgt. Ich sah nach draußen. Der Boy war nicht mehr da. Die Türen schlossen sich. Ich setzte mich wieder, legte den Kopf auf die große Ta‐ sche auf meinem Schoß und seufzte. Die Haltestellen zogen vorbei. Leute stiegen ein, ein paar größere Gruppen, sie unterhielten sich. Ich stieg in Euston aus und überlegte, ob 128
ich nicht wieder zurückfahren sollte. Nein, sagte ich mir, er wird längst weg sein. Aber ich blieb auf dem Bahnsteig ste‐ hen, wartete mehrere Züge ab, nur für den Fall. Nach zehn Minuten gab ich auf und stieg in die nächste Bahn. Mir gegenüber saß ein junger Asiate, daneben ein Mädchen mit Kopftuch und Kopfhörern und eine gelangweilt dreinbli‐ ckende Blondine mit Einkaufstüten. Kurz vor London Bridge tauchte plötzlich ein Gesicht vor mir auf. Ich fuhr zusammen. Es war der Boy. Ich war über‐ rascht, wusste nicht, was ich sagen sollte. Offenbar die fal‐ sche Reaktion. »Schon gut«, sagte er und stellte sich in die Tür. »Woher kommst du?«, fragte ich. »Was soll das heißen? Ich war die ganze Zeit hier.« »In diesem Zug? In diesem Wagen?« »Ja.« Er zog die Nase hoch, hielt sich am Handlauf fest, sah aus dem Fenster. Der Zug wurde langsamer, fuhr in den nächsten Bahnhof ein. »Danke, dass du geschrien hast. Jetzt glauben alle, ich wäre ein Dieb oder so.« »Ich habe gar nicht geschrien. Du hast mich bloß er‐ schreckt. Warst du wirklich in dieser Bahn? Das kann nicht sein.« »Ich habe die ganze Zeit neben dir gestanden.« »Nein, ich habe mich umgeguckt. Ich habe in Euston ge‐ wartet. Du kannst nicht hier gewesen sein.« Er stieg aus. Die Menschenmasse teilte sich, wich ihm aus. »Wenn du mit mir reden willst, dann steig aus.« Ich setzte mich wieder. »Kann nicht. Wenn du mit mir re‐ den willst, dann steig ein.« »Nein, steig du aus.« Die Türen wollten schließen. Ich rief seinen Namen, zog ihn mit hoher, schriller Stimme in die Länge. »Sei nicht so stur! Bitte!« 129
Die Türen schlossen sich, der Zug fuhr an. Als ich den Boy zum letzten Mal sah, winkte er. Ich seufzte. Der Zug war so gut wie leer. Die Blondine mit den Einkaufstüten beugte sich vor. »Er hat gelogen«, sagte sie. »Er ist erst in Bank eingestiegen.«
Analverkehr ist der neuste Trend. Alle mal melden, wer sich noch an die Zeit erinnern kann, als selbst bekannte Pornostars sich dieser Praxis verweiger‐ ten, als man nur hinter vorgehaltener Hand darüber tu‐ schelte, als nur Schwule und Urologen regelmäßige Besuche des Hintereingangs vornahmen. Wenn ein Mann von seiner Frau verlangte, sie solle sich bücken und es wie bei den alten Griechen über sich ergehen lassen, flatterte ihm kurze Zeit später das Scheidungsgesuch ins Haus, mindestens aber be‐ kam er einen Monat lang verbranntes Essen vorgesetzt. Aber da ja inzwischen jeder alles kann, ist »anal« etwas ganz Normales geworden. Wenn die Mädels früher fragten, ob man einem Jungen einen blasen und trotzdem Jungfrau bleiben könne, so wollen sie heute wissen, ob man »rein« bleibt, wenn man nur das Hintertürchen öffnet. Hurra, sage ich, denn anal ist herrlich. Allerdings hatte ich den Vorteil, über mehrere Wochen hinweg vorsichtig und rücksichtsvoll von einem Mann an diese Praktik heran‐ geführt zu werden, der Lust darauf hatte, dass ich ihn auf‐ nehmen konnte, und deswegen die nötige Geduld auf‐ brachte. Er begann mit Massage und Stimulation des Anus, dann führte er seine gut geölten Finger ein. Es dauerte nicht lang, bis kleine Vibratoren zum Einsatz kamen. Als es schließlich so weit war, flehte ich ihn geradezu an, es zu tun. 130
Und der Rest der Welt scheint auch nicht untätig gewe‐ sen zu sein, denn heutzutage macht es einfach jeder. Als es Thema in Sex and the City war, zuckten meine Freundinnen nur mit den Schultern. »Ja, und?«, sagten sie. »Das machen wir schon seit Jahren.« Ich gehe davon aus, dass die junge Sopranistin Charlotte Church nächstes Jahr ein glitzerndes T‐Shirt tragen wird, auf dem steht: »Meine Barbie lässt es sich ins Spundloch be‐ sorgen.« Vielleicht sollte ich ihr so eins machen lassen. Analverkehr ist also der neuste Trend. Längst nicht mehr so undenkbar wie früher. Gestern Abend habe ich mir mit N ein Magazin angesehen, das er mir mitgebracht hatte. Dar‐ in wurde eine Frau im Seniorenalter in beide Löcher gefis‐ tet. Und sie grinste. Ich war nicht mal erstaunt. Eigentlich schockiert mich nur noch wenig. Aber eine Sache geht mir doch nahe – jedes Mal. Ich weiß jetzt, dass Analverkehr der neuste Trend ist, weil mich gerade meine Mutter anrief, um mir davon zu erzäh‐ len. Da ich sie schon am Telefon hatte, dachte ich, ich könnte die Sache mit dem Boy bei ihr loswerden. Ich muss ihr zugu‐ te halten, dass sie nicht dazwischen redete. »Du arme kleine Maus«, sagte sie schließlich, und da liefen mir die ersten Tranen die Wange hinunter. Ja. Ich arme kleine Maus. Wie gut, dass ich eine so mitfühlende Mutter habe. Die mich dann am Telefon hängen ließ, während sie die gesamte Ge‐ schichte meinem Vater brühwarm erzählen musste, Wort für Wort. Sie waren sich einig, dass ich für ein paar Tage nach Hau‐ se kommen sollte. Ich hatte dem nichts entgegenzusetzen. 131
Mein Kopf sackte Richtung Tischplatte. Ich konnte die dampfende Teetasse nicht mehr halten. Ich wollte kein Frühstück. Meine Mutter seufzte. Offenbar wollte sie etwas loswerden. »Zumindest steigert jede gescheiterte Beziehung meine Ansprüche an die nächste«, murmelte ich. »Schätzchen, hast du denn keine Angst, dass deine An‐ sprüche eines Tages so hoch sind, dass niemand mehr an sie herankommt?« Hätte ich die Kraft gehabt, über den Becherrand zu schauen, hätte ich ihr einen bösen Blick zugeworfen, der alle bösen Blicke der Welt hätte abwehren können. »Ich weiß ja nicht mal, warum es passiert ist«, stöhnte ich. »Ich meine, ich weiß, wie es dazu gekommen ist, aber nicht im Allgemeinen.« Mein Vater raschelte mit der Zeitung und machte ein be‐ sorgtes Gesicht. »Zerbrich dir nicht den Kopf, Süße«, sagte er. »Wahrscheinlich hat er eine andere und nur einen Grund gesucht, um Schluss zu machen.« »Oh, danke, das hilft.« Wobei ... vielleicht stimmt das ja. Es gab tatsächlich ein paar Situationen, SMS, Telefonate, die mir komisch vorka‐ men. Und dann diese Sache vor ein paar Monaten. »Du kannst mich nicht mehr überraschen«, hat der Boy immer gesagt. Das war sein Spruch. Meistens wenn wir eine kleine Auseinandersetzung hatten, wenn ich ihm wehgetan hatte und ein einziges falsches Wort alles kaputt machen konnte. »Du kannst mich nicht mehr überraschen«, sagte er dann, und ich wusste, dass kurz darauf die Aufzählung folgen wür‐ de: »Was du im letzten Jahr falsch gemacht hast.« Deshalb 132
verließ ich dann den Raum und ging auf Tauchstation: Tür zu, Fernseher an, ins Badezimmer oder was auch immer. Ich kannte seine Liste in‐ und auswendig. Sie begann mit der Episode am Anfang unserer Beziehung, als ich kurz zu ei‐ nem Ex zurückgekehrt war, beinhaltete aber auch weniger konkrete Punkte, beispielsweise, dass ich ihn anderen als »meinen« Freund oder einfach nur als Freund vorgestellt hatte. Also setzte ich Kopfhörer auf. Nach einer Stunde Funkstille würde er kommen und sich entschuldigen. Eines Dezembermorgens erwachte ich mit besonders gu‐ ter Laune. Die Sonne ging gerade auf, ich weiß nicht, wa‐ rum ich schon ausgeschlafen hatte. Was sagst du, ich kann dich nicht mehr überraschen? Na, warte ab ... Ich ging zum Bahnhof Kentish Town und nahm den nächsten Zug gen Süden. Ein Taxi setzte mich vor seiner Haustür ab. Die Luft war feucht und roch nach Salz. Es war noch keine neun Uhr. Die Hintertür ist normalerweise nicht verschlossen; ich wollte seinen Mitbewohner nicht wecken. Also schlich ich die Treppe hinauf und legte die Hand auf den Türknauf zu seinem Zimmer. Drehte am Knauf: erfolglos. Noch einmal. Das Haus stammt vom Anfang des 19. Jahrhunderts; bei Feuchtigkeit verzieht sich manchmal das Holz. Aber nein, die Tür war verschlossen. Ich klopfte. Mein Mut sank. Im Zimmer hörte ich es flüstern. Das Bett quietschte. »Hallo?«, raunte jemand hinter der Tür – der Boy. »Ich bin’s«, sagte ich. »Oh.« Unterdrücktes Gemurmel. »Ähm, könntest du mich reinlassen?« »Warte hinten im Garten. Ich komme runter.« Sinkender Mut? Ich war fix und fertig. Ich hatte einen Kloß im Hals. »Was ist los?«, brachte ich hervor. 133
»Kannst du nach draußen gehen?«, fragte er, etwas lauter. Im Zimmer waren noch andere Geräusche zu hören. »Nein«, rief ich. »Lass mich herein!« Er kam heraus, ganz schnell. Schloss die Tür sofort wie‐ der hinter sich. Ich stürzte mich darauf. Er ließ mich nicht vorbei. »Herrgott noch mal! Mach doch keine Szene!«, sagte er. Flehend schaute er mich an. So nicht, dachte ich. Da ist doch jemand im Zimmer! Aber ich kam nicht an ihm vorbei. Er ging die Treppe hin‐ unter, schleppte mich hinter sich her. »Was ist da los, verdammt noch mal?«, kreischte ich. Ich hörte, wie sich andere Türen im Haus öffneten, seine Mit‐ bewohner kamen heraus, um zu sehen, was da vor sich ging. Er schob mich in die Küche. Ja, da oben sei ein Mäd‐ chen gewesen, gab er zu. Die Freundin seines Mitbewoh‐ ners. Im Klappbett? Nein, in seinem Bett. Was für ein Mäd‐ chen, schrie ich. Mach mir keine Szene, sagte er immer wieder. Mach mir keine Szene. Sie sei Ärztin, erklärte er. Bei der Armee. Die Freundin eines Freundes, aber es sei nichts gewesen. Nichts außer poppen, oder wie? Man liegt doch nicht zu‐ sammen in einem Bett und ... du hast gar nichts an unter dem Bademantel, stimmt’s? Ich griff ihm in den Schritt. Er war nackt. »Vertrau mir«, flehte er. »Warte im Café am Ende der Straße. Wir können später drüber reden, ja?« »Dir vertrauen? Wie denn das? Ich soll dir vertrauen?« Seine Gesichtszüge entgleisten. Er begann, mir Vorhal‐ tungen zu machen: Er spielte die Hurenkarte aus. Den Ausdruck »in Harnisch geraten« habe ich nie richtig verstanden. Ich wusste nie, was damit gemeint war. Er ist ein Spruch wie »Wie bist du denn drauf?« oder »Nimm ihn!«, 134
der sich einer Erklärung verweigert und sich nur aus dem Kontext erschließen lässt. Jetzt hatte ich Kontext: Ich geriet in Harnisch. »Du hast mich noch nie mit jemandem im Bett erwischt! Und das wird auch nie vorkommen! Ist das der Preis, den ich für meine Ehrlichkeit zahlen muss?« Ich schaufle mir mein eigenes Grab, dachte ich. Niemand findet Aufrichtig‐ keit wichtiger als Treue. Ich bumse, um meinen Lebens‐ unterhalt zu verdienen, und ja, ich sage ihm, was er wissen will, aber ... Ich habe mein Herz am rechten Fleck, denke ich. Mir fiel einfach kein Argument mehr ein. Ich ging. Ich fuhr ans Meer und wartete, bis die Geschäfte öffneten, dann kaufte ich mir eine Tüte Mäusespeck mit Kokosraspeln. Das Wasser stand hoch, der Wind schäumte das Meer zu weißen Schaumkronen auf Immer wieder klin‐ gelte mein Handy – der Boy. Ich stellte es ab. Er hinterließ Nachrichten. Es sei nichts passiert, schwor er bei allem, was ihm heilig war. Das Ganze sei eine Intrige seines Mitbewoh‐ ners gewesen. Der, der mich nicht leiden kann. Die Ärztin (blond und schlank – ich hatte lange genug im Gebüsch auf der anderen Straßenseite gewartet –, aber nicht hübsch, al‐ les andere als das) sei völlig betrunken gewesen und in sei‐ nem Bett eingeschlafen, in Unterwäsche. Er sei zu müde ge‐ wesen, um das Klappbett für sich selbst aufzubauen oder nach unten zu gehen und auf dem Sofa zu schlafen. Wie auch immer. Ich rief nicht zurück. Ich fuhr mit dem Zug nach Hause und nahm drei Buchungen für den Tag an. Später hörte ich Charles Mingus und trank Portwein bis in den frühen Morgen, mit dem Geruch von Schweiß und La‐ tex in der Nase. Über SMS‐Botschaften rauften wir uns irgendwann wieder zusammen. Noch immer saß ich am Frühstückstisch meiner Eltern, die kalte Teetasse in den Händen. Daddy faltete die Zeitung 135
zusammen und ließ sie neben mir liegen. Fahr nach Hause, geh arbeiten, begrab das Ganze, sagte ich mir. Ich musste kurz vor einem Termin einige Erledigungen ma‐ chen. Perfekt geschminkt, mit Kostüm und hohen Absät‐ zen, ging ich von der Bank zum Hotel. Als ich am Park vor‐ beikam, blieb ein Mann stehen. »Mein Gott, sehen Sie toll aus! Sind Sie Fotomodell?« Wahnsinn! Hat so ein Spruch jemals funktioniert? »Nein, ich arbeite in der Nähe.« Schnell überlegen: Was liegt in der Nähe? »In der Royal Albert Hall.« Etwas Unwahrschein‐ licheres hätte mir nicht einfallen können. Er: »Und, gefällt’s Ihnen da?« Ich: »Doch, es macht Spaß. Ich habe interessante Kolle‐ gen.« »Alles richtige Primadonnen, was?« »Ja.« Demonstrativ sah ich auf die Uhr. »Hm, ich bin zum Mittagessen verabredet, muss mich beeilen.« »Sind das echte Feinstrümpfe?« »Ja, sicher!« »Sie sehen wirklich super aus! Am liebsten würde ich mit Ihnen ausgehen.« »Na, man weiß ja nie. Bis dann.«
Sich selbst zu fisten, wird mit der Zeit immer einfacher. Es wird zunehmend von Kunden verlangt, die lieber zusehen, als selbst tätig zu werden – und davon gibt es viele. Trotz‐ 136
dem glaube ich nicht, dass ich mich jemals anal fisten könn‐ te, selbst wenn ich noch so oft üben würde. Es gab allerdings mal einen, der wissen wollte, wie viele Finger ich mir hinten in den Arsch schieben konnte, während er mich bumste. Durch die dünne Wand, die die beiden Gänge trennt, konn‐ te ich deutlich seine geschwollene Eichel fühlen. Ich wa‐ ckelte mit den Fingerspitzen und kitzelte seinen Schaft. Er kam schnell, blieb hart, fickte mich ein zweites Mal und dann ein drittes Mal. Er (fällt nach dem dritten Mal in einer Stunde erschöpft aufs Bett) : »Früher war ich besser, echt.« Ich (ziehe meine Strümpfe hoch): »Wie meinst du das?« »Der kleine Soldat hat’s hinter sich. Ich würde mich wun‐ dern, wenn er sich in diesem Monat noch mal erhebt.« »Kann ich als Frau nichts zu sagen, aber ich finde, er hat sich hervorragend geschlagen.« Ich tätschelte das ver‐ schrumpelte gute Stück. »Toll gemacht, Kleiner! Du hast dir eine Pause verdient.« »Dir macht deine Arbeit richtig Spaß, oder?« »Sonst wäre es auch schwierig, glaub ich. Meine Phanta‐ sie ist nicht stark genug, um mich abzulenken, wenn ich doppelt penetriert werde.« N und ich tranken Tee bei mir und hörten Radio. »Also gut«, sagte er, »stell dir vor, du bist auf einer einsamen Insel im Südpazifik. Welche fünf Schallplatten nimmst du mit? « »Viel Rock, viel Blues.« Ich überlegte kurz. »Wahrschein‐ lich mindestens drei Blues‐Platten.« »Allein auf einer einsamen Insel? Zieht Blues da nicht zu sehr runter?« 137
»Ich lebe ja längst auf einer einsamen Insel. Nur dass London nicht in der Südsee liegt, sondern kalt und nass ist.« »Und zwischendurch kommt der eine oder andere Frei‐ tag vorbei«, sagte er und massierte meine Füße. Zur Musik von Robert Johnson schliefen wir auf dem Sofa ein. Was ich gerne mag (aber Kunden selten von mir verlan‐ gen): • selber kommen: Warum sollte es sie auch interessieren? Wenn ich mit jemandem zusammen bin, der die geheime Landkarte meines Körpers noch nicht kennt, dauert es eine halbe Ewigkeit, bis es so weit ist, und er muss seine Zunge stärker antreiben als eine Industriesäge. Natürlich spiele ich den Orgasmus vor, wenn es überhaupt jemand verlangt. • Glaskugeln: tausendmal besser als Liebeskugeln aus Gum‐ mi. Billiger als ein Glasdildo. Je nach Größe und Zustand der Öffnung kann man Kugeln mit unterschiedlichem Durchmesser nehmen. Wenn sie rauskommen, machen sie ein nettes Geräusch; genauso schön ist das kühle Ge‐ fühl beim Reinschieben. • Lebensmittelsex: Ich bin noch nie dafür bezahlt worden, je‐ mandem Schokoladensoße vom Körper zu lecken oder mich ablecken zu lassen. Privat halte ich mich für eine le‐ ckere, appetitliche Mahlzeit (Achtung: Ich meine nicht das Einführen von Gemüse, das man anschließend eh wegwirft). • mich normal kleiden: Sex mit Unbekannten ist geil. Sex mit 138
einem Unbekannten, der aussieht, als hätte er nicht da‐ mit gerechnet, ist noch geiler. Außerdem bin ich ein fau‐ ler Mensch. • den Mann anschließend waschen: Ich seife mit Vorliebe Männerkörper ein; ich knie mich gerne leicht unterwür‐ fig hin, fahre ihm mit der Hand am Bein enüang, hebe vorsichtig seine Füße an, um sie zu säubern. Auch Män‐ ner abzutrocknen, finde ich herrlich: Ich stelle mir vor, wo ich am liebsten zuerst getrocknet würde (Gesicht und Haar), wo vorsichtig getupft werden muss (Achselhöhlen und Genitalien) und was oft vergessen wird (Kniekehlen, die Stelle zwischen den Schulterblättern). Viele Männer wollen auch mich baden, vielleicht haben sie dieselbe Vorliebe. • rimmen: Ich mache es, wenn der Mann sich vorher gründ‐ lich mit Seife und heißem Wasser gewaschen hat. Es fühlt sich an, als würde man die Zunge zwischen zusammenge‐ presste Lippen schieben. Es ist eine Herausforderung; hier hat die kleinste Zungenbewegung die größte Wir‐ kung – Cunnilingus im Miniaturformat. Was Letzteres angeht – das wird bei mir ständig gemacht. Ich kann mich wirklich nicht beklagen. • ein Tier nachmachen: Ich habe immer geglaubt, man wür‐ de mich darum bitten. Hat aber noch kein Kunde getan. • Figuren aus den Simpsons nachmachen: Hat nichts mit Sex zu tun, aber ich kann es ziemlich gut – besonders Mil‐ house und den Comickopf. Wer weiß, vielleicht lerne ich mal einen Mann mit einer Schwäche für Patty und Selma kennen. Dann habe ich meinen wahren Meister gefun‐ den. Heute Abend bin ich verabredet. Richtig altmodisch verab‐ redet mit einem Mann, der meinen richtigen Namen kennt 139
und mich auf dem Festnetz anruft. Klar, kann sein, dass er ein Trugbild ist, aber das weiß ich erst hinterher. Ich habe seit Jahren keine richtige Verabredung mehr ge‐ habt. Er ist ein Bekannter von N, was uns über die erste Kon‐ versationshürde half, doch ich habe schnell eine Schwäche für sein Aussehen, seine Stimme und seinen Humor entwi‐ ckelt. Ich war erstaunt, dass ich mich beim Flirten genau so unbeholfen und unsicher fühlte wie immer. Wurde ich ner‐ vös, als ich ihm etwas auf den Anrufbeantworter sprechen musste? Ja, Habe ich mir stundenlang überlegt, was ich bei unserem Treffen anziehen würde? Ja. Habe ich mich mit Kleinigkeiten gequält, alle paar Stunden seinen Namen er‐ googelt? Und wie! Habe ich Herzklopfen bekommen, wenn ich eine SMS oder E‐Mail von ihm gesehen habe? Allerdings! Wir gingen zusammen aus – Details sind unwichtig – und sprachen über uns selbst und darüber, wie sehr wir uns zum anderen hingezogen fühlten. Immer wenn ich glaubte, un‐ beobachtet zu sein, betrachtete ich seine Hände. Er muss das auch mit meinen getan haben, denn plötzlich, im Zug, hielten wir Händchen (o Gott, wir hielten Händchen!), er erkundete meine Finger mit den Lippen (schauder, Schau‐ der) , ich legte den Kopf an seine Schulter (es passte per‐ fekt), er roch an meinem Haar (oh, ja, bitte!). Dann verdarben wir alles, indem wir bumsten. Vielleicht lag es an den zwei, drei Gläschen Wein. Vielleicht lag es an der Musik, die so stark hämmerte, dass mein Kopf sich drehte. Und so tat ich, was ich niemals hätte tun dürfen: Ich schaltete von Kuscheln und Küssen direkt auf Hure. Und dieser arme Mann bekam die volle Breitseite ab: 140
spitze Schreie, Handfesseln. Das ganze schweißgebadete Programm mit quietschenden Bettfedern, geweckten Nach‐ barn, Dirty Talk, Schwanzlutschen, ins Gesicht spritzen und dem »Nimm mich, Baby «‐Gestöhn. Sofort anschließend schlief er ein, aber ich konnte die Augen nicht schließen, weil ich wusste, was gerade passiert war. Ich hatte superhei‐ ßen, aber völlig seelenlosen Sex mit jemandem gehabt, von dem ich bis zu diesem Punkt eigentlich mehr hatte haben wollen. Es gibt da so ein Sprichwort, dass wohl niemand die Milch kauft, wenn’s die Milch umsonst gibt. (Kennt das je‐ mand?) Wir standen früh auf und zogen uns an. Er brachte mich zum Bahnhof, ich nahm den ersten Zug nach Hause. Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen und kam mir total bescheuert vor. Merke: Kein Sex beim ersten Date. Gestern Nacht habe ich vom Boy geträumt. Ich war in einem Restaurant mit Bar, das über einen Tun‐ nel mit einer Art Unterwelt verbunden war, die sich in einem verfallenden religiösen Monument befand. Hinten war ein Spielplatz (weiß auch nicht, warum, Träume sind halt so). Ich trank ein Glas mit einer Frau aus dem Fitness‐ studio, die Riesentitten hat. Riesentitte und ich unterhiel‐ ten uns, ich schilderte das Ende meiner Beziehung, sie er‐ kundigte sich nach dem Namen meines Ex‐Freundes. Ich nannte ihr seinen Vornamen. Den Nachnamen fügte ich selbst hinzu. »Ach, ihr kennt euch?«, wollte ich fragen, drehte mich stattdessen um und sah, dass Riesentitte ihn persönlich ansprach. Er war mit seiner neuen Freundin da, einem bekannten Pornostar. 141
Großes Unbehagen, als sich Riesentitte und der Boy be‐ grüßen. Ich grinse den Pornostar an, unerklärlicherweise ist die Frau nackt. Dann gehen der Boy und ich nach drau‐ ßen, über einen grasbewachsenen, ansteigenden Tunnel zum Spielplatz. Ich bleibe stehen und lege mich hin, er kau‐ ert sich hinter mich. Er sagt, er würde mich vermissen, der Sex mit mir würde ihm fehlen. Ich merke, dass er härter wird und mir den Schwanz zwischen die Oberschenkel schiebt. »Das geht nicht«, sage ich. Er drückt sich die ersten Zenti‐ meter in mich hinein. Da kommt der Pornostar (mit dem mein Ex im richtigen Leben nicht zusammen ist, wie ich für die Unterbelichteten noch mal klarstellen muss – dies ist ein Traum), immer noch unerklärlicherweise nackt, und legt sich vor mich auf den Rücken. Ich stürze mich auf sie. Sie sagt mir, sie mag es nicht, wenn ihre Klitoris direkt stimuliert wird. Ich reibe die Haut über dem Kitzler und lutsche an ihren inneren Schamlippen. Der Boy besteigt mich von hinten. Ich erwachte, halb ins Bettlaken gewickelt, war aber nicht gekommen. Ich muss einfach immer an seine Hände den‐ ken, seine Hände ... Wie sich sein Haar anfühlte ... Wie im Sommer die Haut auf seinem Rücken roch ... Wenn es mal schief läuft, dann so richtig. Gilt das eigentlich auch fürs Gegenteil – wenn’s mal gut läuft? Die letzten Buchungen waren nichts als Zeitverschwen‐ dung und Absagen. In einem gewissen Maß kommt das im‐ mer mal vor – wie der Mann, der mich für die ganze Nacht buchen wollte, sich aber nicht in der Agentur meldete, 142
nachdem er im Hotel eingecheckt hatte. Daher kannte ich zwar seinen Vornamen und wusste Zeit und Ort, konnte aber natürlich nicht über alle Etagen laufen und an jeder Tür klopfen, bis ich ihn gefunden hatte. Man stelle sich das vor: »Zimmerservice! Nein? Dann ver‐ such ich’s mal nebenan ...« Ein paar Tage später rief er bei der Agentur an und ent‐ schuldigte sich. Angeblich hatte er sich die Nummer nicht notiert und deshalb nicht angerufen. Na, klar! Manchmal bin auch ich diejenige, die absagt. Ich werde nervös, wenn ein Kunde Ort und Zeit mehr als einmal än‐ dert. Zu genaue Vorstellungen und Ansprüche an mich ma‐ chen mich ebenfalls argwöhnisch. Etwas Besonderes anzu‐ ziehen ist kein Problem. Sich wie die siebzigjährige Groß‐ mutter zu kleiden und meinen eigenen Schaum zum Einbalsamieren mitzubringen, hingegen schon. Ein emp‐ findliches Freak‐Radar ist unabdingbar in diesem Job. Es ist immerhin eine Arbeit, die in Bezug auf Sicherheit irgendwo zwischen Atomwaffeninspektor und Zeugwart beim Rugby rangiert. Nur dass ich leider keinen Ganzkörperschutzan‐ zug oder Schuhe mit Spikes trage. Des Weiteren habe ich gelernt, einer mehr als drei Tage im Voraus vorgenommenen Buchung nicht zu trauen. Män‐ ner, die das tun, rufen fast nie zurück, um den Termin zu be‐ stätigen. Anfangs dachte ich, mein Auftragsbuch würde Wo‐ chen im Voraus gefüllt sein, aber die zuverlässigsten Anrufe kommen sechs bis zwölf Stunden vorher, auch von Stamm‐ kunden. Je länger im Voraus ein Termin vereinbart wird, desto stärker drückt scheinbar das Gewissen. Oder die Män‐ ner lösen das Problem schlichtweg im Handbetrieb. Die Sun‐ day Sport nimmt zwar den Schwanz nicht in den Mund und massiert auch nicht den Rücken, aber sie liegt im Zeitschrif‐ tenladen an der Ecke und kostet weniger als ein Pfund. 143
Lahme Ausreden, Absagen, aggressive Patienten, zweifel‐ hafte Medikamente im freien Verkauf. Jetzt weiß ich, wie sich ein Arzt für Allgemeinmedizin fühlt. Immerhin sind die vier As für ein paar Tage bei »Chez Belle« abgestiegen. Zitat vom letzten Abend: A2: »Und, was machen wir morgen?« A1: »Also, auf jeden Fall holen wir uns direkt als Erstes eine Flasche Whisky, das steht fest.« Es gibt keine besseren Kumpel, ich schwöre es. Bei N rückt das Einjährige der letzten Trennung näher. Ich bin der Überzeugung, dass die Schmerzen genauso lange dauern wie die Beziehung selbst, was eigentlich bedeuten würde, dass er vor rund neun Monaten darüber hätte hin‐ weg sein müssen. Seine Ex ist ein launisches Mädchen. Ich war nie davon ausgegangen, dass es länger halten würde. Ich behielt Recht, aber so was sagt man seinem Freund nicht, kurz nachdem Schluss ist. Beispiel: »Ich habe ihr zu Weihnachten und zum Geburtstag eine Karte geschickt, und sie hat mir noch nicht mal eine SMS zurückgeschrieben. « Ich denke: Natürlich nicht, du Dummerchen. Sie ist wahrscheinlich längst mit einem Öl‐Magnaten verheiratet und hat eine ganze Horde Kinder. Ich sage: »Wie unver‐ schämt! Das gehört sich wirklich nicht.« N hat die reizende Fähigkeit, von seinen Ex‐Freundinnen nur das Beste zu denken. Darüber beschwere ich mich na‐ türlich nicht. »Anbetungswürdig« ist ein Adjektiv, das mehr meiner Ehemaligen im Mund führen sollten. Da sich seine Ex nicht bei ihm melden will, sucht N alle anderen unsterb‐ 144
lich Geliebten auf, die ihm je über den Weg gelaufen sind – wie in High Fidelity. Letzten Monat hat er mit »der Ersten« angefangen. Einige Wochen lang telefonierten sie miteinander. Es war wirklich süß. Die Gespräche mit ihr schienen viele Erinne‐ rungen wachzurufen; wie sie sich kennen gelernt hatten, wie er ihr jahrelang heimlich den Hof machte. Warum sie nie heiraten oder Kinder haben wollte. Der traurige, unfrei‐ willige Abschied, als er sie zum letzten Mal sah. Wie wir alle mag ich entsagungsreiche Geschichten. Geschichten, die gut ausgehen, gefallen mir allerdings noch besser. Dann verabredete sich N mit der Ersten, und seine Er‐ innerungen waren nicht mehr rosig umwölkt, sondern un‐ verblümt sexuell. Er hätte nie eine Frau mit größeren Brüs‐ ten gehabt. Sie hätte ihm alles beigebracht, was man als Mann wissen muss, wenn man auf eine Frau steigt. Wie sie auf den Geschmack von Sperma reagierte ... und so weiter. Ich denke: Keinen von meinen Ex‐Freunden würde ich noch mal zurücknehmen. Da bin ich mir fast hundertpro‐ zentig sicher. Meistens. Hängt davon ab, woher der Wind weht. Ich sage: »Schätzchen, das ist toll. Es wird bestimmt noch besser als damals.« »Du meinst, die Dinger sind noch besser als früher?«, gab er zurück und knetete die Luft. »Klar. Ja, glaube ich.« Er sah mich an und grinste. »Wenn ich sie also ins Bett be‐ komme und sie einverstanden ist, machst du dann einen Dreier mit uns?« Ich denke: Auf gar keinen Fall, Süßer. Sie wird niemals ein‐ verstanden sein, und wenn doch, würde ich mich weigern. Ich sage: »Versuch es, Schätzchen. Je mehr, desto besser!« N legte mir den Arm um die Schultern. »Du bist die beste Frau, die es gibt, weißt du das?« 145
Fürs Erste wird er weiterhin in dem glücklichen Glauben bleiben. Aus zuverlässiger Quelle habe ich erfahren, dass seine Erste ihm lediglich zugestanden hat, sie zum Abschied ungelenk zu umarmen. Er kann mich weiter für eine sexuel‐ le Samariterin halten, ohne dass ich es je beweisen muss. »Süße, kannst du heute Nachmittag einen Termin anneh‐ men?« Ich lackierte gerade meine Zehnägel und war schlecht gelaunt. »Nein, ich habe leider meine Tage.« Entweder rechnet die Chefin unsere Zyklen nicht richtig nach, oder sie ist zu höflich, mich der Lüge zu bezichtigen. Aber diesmal war es nicht gelogen. Vor, ähm, zwei Wo‐ chen hatte ich geflunkert. »Dieser Mann, er ist säähr reich«, sagte sie. »Er fragt im‐ mer nach dir.« »Ich kann nicht«, gab ich knapp zurück. Ich war mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigt, zum Beispiel der Frage, wo ich das Nurofen hingelegt hatte. Außerdem woll‐ te ich den Nagellack nicht verschmieren und Zeitung lesen. »Ich glaube nicht, dass er auf blutige Bettlaken steht.« »Er ist im Hotel.« »Dann eben das Hotel. Wie auch immer«, sagte ich. »Schätzchen, den anderen Mädchen rate ich immer, ei‐ nen kleinen Schwamm zu nehmen.« »Einen kleinen Schwamm?« Was soll das sein, eine An‐ spielung auf ein vergessenes Verhütungsmittel der Neunzi‐ ger? Oder der Auftakt zu einer Dammbruchdiskussion über Fetischphantasien mit schweren griechischen Taucherhel‐ men? 146
»Man schneidet einfach von einem sauberen Schwamm eine Ecke ab und schiebt sie in die –« »Schon gut, verstehe schon, wie es funktioniert«, sagte ich erschaudernd. Da ich vor vielen Jahren einmal vor dem Sex vergessen hatte, den Tampon herauszunehmen, war ich nicht darauf erpicht, diese Erfahrung zu wiederholen. Die Vorstellung, dass mir jemand gegen den Muttermund ram‐ melt, während ich mir immer größere Sorgen mache, wie ich den synthetischen Schwammfetzen wieder herausbe‐ komme oder, wenn es nicht klappt, schließlich in der Not‐ aufnahme lande, war alles andere als verlockend. Und was wäre, wenn er mit den Fingern mal so richtig gründlich Höhlenforschung betreiben wollte? »Es müsste eine Stunde lang halten. Wenn die anderen Mädchen ihre Tage haben, mache ich ihnen auch immer nur Termine für eine Stunde. Das klappt schon, Schätz‐ chen.« Sie hatte natürlich Recht, auch wenn es vielleicht ein bis‐ schen schwierig werden könnte, dem nächsten Gast in mei‐ ner Küche zu erklären, warum ein Stück dieses Abwasch‐ utensils fehlt. Was das Herausholen angeht: Ehrlich gesagt, kam der Runde nicht mal ansatzweise an den Schwamm heran. Zu meiner großen Überraschung hat »Erstes Date« wieder angerufen. Er hatte mein schlechtes Gewissen nicht be‐ merkt; er war zum Wandern im Norden gewesen und hatte sich nicht melden können. So viel zum Thema brutale Ab‐ fuhr. Allein schon seine Stimme zu hören, brachte mich zum Lächeln. Vielleicht lohnte es sich doch. 147
Er lud mich zu einem Theaterstück ein. Leider halte ich mir die Abende immer zum Arbeiten frei, und mein Konto war gerade nicht im schwarzen Bereich. Das muss an dieser verflixten Angewohnheit liegen, Geld für Spitze und Seide auszugeben. Ich lehnte bedauernd ab, fragte aber, ob wir uns später in der Woche treffen wollten. »Du kannst mir ruhig einen Korb geben, ich bin nicht be‐ leidigt«, sagte er. »Oh, nein, so habe ich das nicht gemeint«, ruderte ich zu‐ rück. »Ich würde dich gerne wieder sehen.« Nicht jeder Mann nimmt dich mit ins Theater, wenn er weiß, dass er bei dir landen kann. Für die meisten wäre Sex beim ersten Tref‐ fen eine Ausrede, bei allen folgenden Verabredungen eine Dose Bier aufzureißen und sich den Grand Prix anzusehen. Aber »Erstes Date« war scheinbar netter. Viel netter. »Ver‐ sprochen?« Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme. »Versprochen«, sagte ich und lächelte zurück. Es ist chinesisches Neujahr. Normalerweise wüsste ich das nicht, aber heute hat mir ein Kunde zum Abschied zwei in Goldfolie gewickelte Glückskekse geschenkt. Mir kommen Kekse nicht besonders traditionell vor, aber ich fand die Vorstellung nett, dass ein zufällig in einem Stück Gebäck gefundener Zettel Aufschluss über meine Zukunft geben könnte. Wohl nicht weniger zutreffend als das Horoskop in der Metro. Auf dem ersten Zettel stand: »Nächste Woche erhältst du einen erfreulichen Anruf.« Das fand ich zum Piepen komisch. Welche Woche war denn gemeint? Die, als die Botschaft gedruckt wurde, die 148
Woche, als der Keks geöffnet wurde, oder einfach allgemein »die nächste Woche«? Ein Pedant konnte behaupten, dass, wenn besagter erfreulicher Anruf nicht zwischen dem heu‐ tigen Tag und dem 29. Januar zustande käme, damit tat‐ sächlich die folgende Woche gemeint sei. Im zweiten Keks stand: »Im nächsten Jahr werden Sie im Fernsehen sein.« Das macht mir weitaus mehr Angst (denn ich will es wirk‐ lich nicht hoffen), auch wenn die Prophezeiung denselben Überlegungen unterworfen ist wie die erste. Wenn ich nicht im Jahr des Affen im Fernsehen erscheine, dann wahr‐ scheinlich im Jahr des Hahns. Aus davon vollkommen unabhängigen Gründen wäre mir irgendwie lieber, es wäre bald das Jahr des Hengstes ... Ein sonderbarer Nebeneffekt der Arbeit ist meine Empfind‐ lichkeit in Bezug auf Körpergerüche. Ich dusche normalerweise nicht direkt nach dem Sex. Ich habe einen Stammkunden, der mich in seinem Haus mit Schwamm und Mandelseife badet, aber bei den anderen warte ich lieber und dusche erst zu Hause. Daher gehe ich manchmal nach draußen zum Taxi oder steige die Treppe zu meiner Wohnung hinauf und bekom‐ me so einen Hauch in die Nase. Nicht unbedingt von Sex, einfach nur einen fremden Geruch. Das Aroma seiner Haut oder seines Haars oder der Handcreme, die jetzt an meiner Haut und meiner Kleidung ist. Manchmal ist mein eigener Geruch daruntergemischt, und sobald ich kann, ziehe ich mich aus und schnuppere in den Falten meiner Kleidung. 149
Ob mich der Duft an den jeweiligen Mann erinnert? An‐ geblich ist Geruch das am stärksten mit der Erinnerung ver‐ knüpfte Sinnesorgan. Und angeblich wird es am stärksten vernachlässigt. Düfte sind halt so flüchtig. Kräftige Gerüche ist man schnell leid, aber von einem bestimmten Aroma, einem feinen Hauch, der Assoziationen hervorruft, kann man oft nicht genug bekommen. Der Boy roch stark, aber nicht unangenehm. Er schwitz‐ te immer unglaublich heftig. Wenn er nach einer langen Nummer im Schlafzimmer aufstand, rann ihm der Schweiß von Rücken und Brust. Kein stinkender Schweiß, sondern ein salziger Geschmack, manchmal leckte ich ihn trocken. Selbst beim Petting standen ihm kleine Schweißperlen auf dem Rücken. Eine Berührung, und seine Hände wurden feucht. Er schwor mir bei allem, was ihm lieb war, dass ich die einzige Frau sei, die diese Wirkung auf ihn hätte. Ich zog ihn immer auf, er sei anscheinend ein halber Hund, so wie er hechelte. Beim Überqueren der Straße roch ich neulich ein After‐ shave, das auch der Psychoanalytiker benutzt haben muss. Ich erinnerte mich, den glatten grünen Flakon in seinem Badezimmer gesehen zu haben. Eines Morgens zog ich ein Paar Schuhe an, das mich unerklärlicherweise an einen Kunden erinnerte. Hatte ich damals gedacht: Dieser Mann riecht nach Leder, alten Turnschuhen, verschwitzten So‐ cken? Nein. Aber die Verbindung war da, sie war frappie‐ rend, und mittags musste ich die Schuhe ausziehen, weil sie mich unablässig an die Arbeit erinnerten. Das sind Vor‐ kommnisse aus der jüngsten Vergangenheit, keine Beweise für mein Langzeitgedächtnis. Manchmal geht jemand an mir vorbei, der wie A1 riecht. Wir sind schon so lange nur noch Freunde, dass es mir vor‐ kommt, als stammte unsere intime Beziehung aus einem 150
anderen Zeitalter. A1 roch nach heißem Sand. Wenn mir je‐ mand mit diesem Duft über den Weg läuft, muss ich mich zusammenreißen, ihm nicht zu folgen. Ihm nicht am Arm festzuhalten, damit er nicht in der Masse untergeht, ihm keine Nachricht zuzustecken. Ich wurde gerne wissen, wel‐ ches Parfüm diese Männer benutzen. Ich möchte wissen, welches Recht sie haben, nach purem Sex zu riechen. N hat eine Freundin, Angel, die ebenfalls anschaffen geht. Ich treffe sie hin und wieder, weil wir die gleichen Stamm‐ kneipen haben. Ich habe schon immer ihre Figur bewundert, aber nie selbst so aussehen wollen. Angel besteht aus langen, wohl‐ geformten Beinen und einem Knackarsch, hat aber keiner‐ lei weibliche Rundung. Sie ist der personifizierte Triumph des gestalterischen Willens über den Körper, hat unendlich langes Haar und kein Gramm zu viel am Körper. Es wäre nicht das Schlechteste, eines Tages in ihrem Versace‐gewan‐ deten Body aufzuwachen. Aber es wäre das Schlimmste, die‐ se Figur durch eigene Kraft erreichen zu müssen. Vor ein paar Tagen war ich abends unterwegs und ging kurz auf die Toilette, um Lippenstift nachzulegen. Leider handelte es sich um eines dieser hypermodernen Badezim‐ mer mit trogähnlichen Waschbecken, aus denen das Wasser nur so spritzt, und diesen indirekt von unten beleuchteten Minispiegeln, durch die Schlüsselbein und Kinn gewaltige Schatten nach oben werfen. In dem Licht sieht keine Frau vorteilhaft aus. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die Toilette von einem Frauenhasser entworfen worden war, entdeckte 151
ich Angel. Sie hockte auf dem Boden und weinte. Fast wäre ich wieder gegangen; sie hatte mich noch nicht bemerkt. Aber irgendetwas an der zerbrechlichen Rundung ihrer Schultern hinderte mich daran. »Alles in Ordnung?«, flüs‐ terte ich und kniete mich neben sie. Es sprudelte nur so aus ihr heraus: Ärger mit Män‐ nern, Familienprobleme, die verpatzte letzte Operation, der Grund dafür. Vor mehreren Jahren war eine Frau in Lon‐ don brutal angegriffen worden. Nun stellte sich heraus, dass Angel das Opfer gewesen war. Heute jährte sich dieses Erlebnis. »Das warst damals du?« Sie nickte. »Oh, das tut mir schrecklich Leid.« Sie zeigte mir die Narben der plastischen Chirurgie, di‐ rekt am Haaransatz. Ich nahm sie in den Arm. Ich erzählte ihr von meinen letzten Jahren, wie ich meine Familie und meine Zukunft verloren hatte, dass ich mich manchmal wie ein auf dem Ozean herumtanzender Korken fühlte. Dass alles oft nur schlimmer wird, wenn man versucht, sich zusammenzureißen und Haltung zu bewahren. Ja, das Leben ist wirklich eines der schwersten. Eigentlich müss‐ ten uns diese Prüfungen stärker machen. Nein, man muss nicht immer lächeln, nicht jeden Tag. Es sei nicht alles ihr Fehler. Fast eine ganze Stunde blieb ich auf der Toilette. Andere Frauen kamen und gingen, stiegen über uns hinweg, schlu‐ gen einen Bogen um uns. Dann stand Angel auf, zupfte ihre Kleidung zurecht, bürstete sich das Haar. Auch wenn ich nicht erwartete, dass dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen uns würde, glaubte ich doch, nun auf gewisse Weise mit ihr verbunden zu sein. Keine dicken Kumpel, die freitagabends zusammen Fern‐ 152
sehen gucken und Schokolade verschlingen. Aber vielleicht doch ein freundliches, unausgesprochenes Einverständnis. Ein leichtes Nicken quer durch den Raum. Ein winziger Ge‐ heimbund. Gestern Abend habe ich sie wieder gesehen. In einem an‐ deren Club, auf einer anderen Toilette. Ich grüßte sie. Sie ignorierte mich schlichtweg. Beleidigt lief ich zu N. »Tja«, meinte der, »ich nehme mir immer viel Zeit für sie, aber sie kann innerhalb von zehn Sekunden von anhänglich auf un‐ nahbar schalten, ohne dass man weiß, was passiert ist.« Ich rief die Agenturchefin an, um mit ihr die Arbeitszeiten der nächsten Woche zu besprechen. Sie kicherte die ganze Zeit vor sich hin, was nicht so recht zu ihrem eiskalten, ost‐ europäischen Halbgöttinnen‐Image passt. »Ähm, alles in Ordnung?« Vielleicht ging es ihr gerade nicht gut, oder sie verpasste gerade trödeligen Kunden fröhlich ein paar Peitschenhiebe ... »Schätzchen, kennst du ›The Darkness‹?« »Ja, und?« »Ach, nichts, ich könnte mich nur kaputtlachen über die Band. Die ist so lustig.« »Hm, auf ihre Weise wahrscheinlich schon.« Vielleicht bin ich ja extrem voreingenommen, aber ich finde, dass je‐ mand, der aussieht, als sei er unter Beihilfe von Austin Po‐ wers’ Zahnarzt aus Robert Plant und Steve Perry gekreuzt worden, seinen Anspruch als Rockidol verwirkt hat. »Könn‐ te ich vielleicht bis auf weiteres Montag‐ und Mittwoch‐ abend frei haben?« »Aber sicher, Schätzchen. Wann immer du willst.« Dann 153
hob sie zu einer trillernden Wiedergabe von »Get Your Hands Off My Woman« an, was ein wenig dadurch beein‐ trächtigt wurde, dass ihr Falsett nicht einmal ansatzweise imstande war, die stratosphärischen Höhen des Originals zu erreichen. Ich hoffe ernsthaft, dass sie dabei nicht in einer weißen, geschnürten Lackhose herumstolzierte. Anderer‐ seits würden manche Männer vielleicht ungeahnte Sum‐ men für so einen Auftritt hinlegen (wenn er nicht schon längst eine feste Größe in den feineren Striplokalen war). Letztens wurde ich gefragt, was ich nicht für Geld tun wür‐ de, aber mir fiel nichts Gutes ein. Jetzt steht als Erstes auf der Liste: einen spindeldürren Sänger mit Überbiss aus Lowestoft nachahmen. Gestern Abend hatte ich Freunde zu Besuch. Es gab eigent‐ lich nichts zu feiern, es war nur eine Ausrede, um den Fla‐ schenvorrat zu dezimieren, der seit ewigen Zeiten bei mir herumsteht. Ich rief ein paar Leute an, verschickte ein paar E‐Mails, alles auf den letzten Drücker. Zum Glück ist »Chez Belle« so geräumig, dass die rund ein Dutzend Gäste, die sich in der Lage sahen vorbeizukommen, alle Platz fanden. Ich musste niemanden aufs Dach schicken. Das tue ich Leu‐ ten bei diesem Wetter nur ungern an. Nachdem irgendwann die Kunst der italienischen Re‐ naissance und die des goldenen Zeitalters in Holland disku‐ tiert wurde, schlug das Gespräch einen eleganten Bogen zur Royal Academy, wo angeblich Bilder von Frauen mit Sperma auf dem Körper ausgestellt werden. Wenn das stimmt, dann muss ich da aber so was von hin. Um drei Uhr morgens waren außer mir noch zwei ziem‐ 154
lich betrunkene, aber hilfsbereite Gäste da, die Schüsseln und Gläser einsammelten, die Spülmaschine einräumten und die Nachbarskatze verscheuchten. Fahren konnten die beiden auf keinen Fall mehr. Sie mussten bei mir übernach‐ ten. Leider waren es N und »Erstes Date«. Unsere Unterhaltung schleppte sich dahin, bis es eindeu‐ tig zu spät war, noch irgendetwas anderes anzufangen. N hatte es allem Anschein nach nicht eilig, »Erstes Date« ebenso wenig. Ich nehme an, er wollte wieder mit mir allein sein. Normalerweise wäre ich längst im Bett gewesen; ich hoffte, einer der beiden würde aufgeben und nach Hause gehen, aber Fehlanzeige. »Nun«, sagte ich schließlich, »in mein Bett passen zwei, und wir sind zu dritt, das heißt, einer hat Pech und muss auf der Couch schlafen.« Die beiden sahen sich an. Dann mich. Keiner meldete sich freiwillig fürs Sofa. Keiner meldete sich fürs Bett. »Da ihr beide so groß seid, warum nehmt ihr nicht das Bett? Ich bin die Einzige, die klein genug fürs Sofa ist.« Wie‐ der keine Reaktion. »Wie sie alle ›hier‹ schreien!« Es verging eine weitere Minute in Schweigen, in der ich die Blicke zu deuten versuchte, die sie wechselten. »Ich neh‐ me das Sofa«, bot »Erstes Date« an. Wir zogen uns nachein‐ ander im Badezimmer um, ich brachte ihm ein Steppbett und zwei Decken. »Erstes Date« breitete die Decken aus. »Wird kalt heute Nacht«, sagte ich. »Willst du nicht die Steppdecke nehmen?« Er zuckte mit den Schultern. »Lass sie hier liegen, nur für den Fall.« N und ich gingen hoch ins Schlafzimmer. N machte die Tür zu. »Lass das!«, flüsterte ich. »Sonst denkt er, wir wür‐ den miteinander schlafen.« Ich lehnte die Tür an. »Stört dich das? Außerdem schläft er wahrscheinlich längst.« 155
Ich weiß nicht, warum mich das störte. Es kam mir ein‐ fach nicht richtig vor, die Tür ganz zu schließen. Einige Stunden später wachte ich mit trockenem Mund auf. Ich ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. »Erstes Date« lag zusammengerollt auf der Couch. Er hatte sich die Steppdecke geholt, sah aber trotzdem sehr unter‐ kühlt aus. Ich ging ins Schlafzimmer, holte das Schaffell und wickelte es ihm um die Füße. Er schlief weiter. Manche Menschen sind entweder vertrauensseliger, als ich erwarten würde, oder ich wirke vertrauenswürdiger, als ich eigentlich bin. Kürzlich nötigte ich meine Vermieterin zu einer kleinen Renovierung meiner Wohnung. Mit der Aus‐ rede, die Kücheneinrichtung müsse sowieso größtenteils er‐ setzt werden, konnte ich eine komplette Chintz‐Entsorgung durchsetzen. Das wird hoffentlich in dem heidnischen Ritu‐ al gipfeln, alle Drucke von Colefax und Fowler auf einen fröhlich knisternden Scheiterhaufen zu werfen. Bis es so weit ist, werde ich mit gelegentlichen Störungen im Haushalt zu rechnen haben. Nichts Schlimmes, nein, nur lästig. Ich unterhielt mich mit einem der As über die an‐ stehende Renovierung. »Also, wenn die auf der Arbeit in die Pötte kommen, bin ich die nächsten zwei Wochen auf einer Konferenz. Willst du meine Schlüssel?« »Gerne, Süßer, aber hast du keine Angst, dass ich deinen Teppich schmutzig mache?« A1 hat einen berüchtigten Putzfimmel; es ist bekannt, dass er für die Habseligkeiten seiner Freundin nur ein Regal freihält. Selbst wenn er mit ihr zusammenwohnt. 156
»Ich vertraue dir«, sagte er und trank seinen Whisky Soda. »Du weißt ja, wie meine Zeitung gebügelt sein muss.« Ach, wenn das bloß ein Witz wäre … Nächster Fall: Ein Kunde buchte mich jüngst für einen längeren Abend in seinem Haus. Nachdem fast eine ganze Flasche Gin geleert, seine Bettfedern erprobt und so gut wie alles gesagt war, ging er kurz duschen. Solche Pausen machen mich nervös. Nicht dass ich vor‐ hätte, das Haus leer zu räumen, aber wenn er es mir an‐ schließend vorwürfe, würde ich es zugeben, selbst wenn ich nichts getan hätte. Wenn in der Schule die gesamte Jahr‐ gangsstufe wegen des Verhaltens eines einzelnen Schülers einen Tadel erhielt, fühlte ich mich immer am stärksten an‐ gesprochen. Besonders wenn ich nichts mit der Sache zu tun hatte. Die meisten Kunden sind vorsichtig. Wenn ich jemanden zu Hause statt im Hotel treffe, verschiebt er das Baden auf später oder schlägt vor, gemeinsam mit mir zu duschen, da‐ mit er mich nicht allein lassen muss. Mich stört das nicht. Aber dieser Kunde zog seinen Bademantel über und ver‐ schwand im Badezimmer. Ich saß auf der Couch. Überlegte, ob ich mir seine CD‐Sammlung anschauen sollte, fand das aber unhöflich. Aufmerksam musterte ich die Aquarelle an der Wand. Und da ich nichts anderes zu tun hatte, nirgends mehr anrufen musste, nichts zu lesen hatte, tat ich, was je‐ der vernünftige Mensch getan hätte. Als er aus dem Bad kam, stand ich in der Küche und erle‐ digte den Abwasch. Vielleicht bin ich doch vertrauenswürdiger, als ich dach‐ te. 157
Gestern Nachmittag hat es geschneit. Am University Colle‐ ge kamen die Studenten aus der Studentenvertretung und der Archäologie und bewarfen sich mit Schneebällen. In Zweier‐ und Dreiergruppen liefen Mädchen vorbei, un‐ ter Regenschirme geduckt. Obwohl es schon dunkel war, herrschte ein gedämpftes, diffuses Licht: Das warme Glü‐ hen der Straßenlaternen wurde von den großen flauschigen Schneeflocken reflektiert. Ich habe mich mit A2 getroffen, der seit Urzeiten keine Verabredung mehr gehabt hat. Vor kurzem hatte er aller‐ dings auf einer Konferenz eine Frau kennen gelernt, aus Manchester. Ziemlich lange Anreise nur für Sex. Er versi‐ cherte mir, es ginge ihm nicht nur um Sex. A2 ist ein toller Typ, aber ein miserabler Lügner. Wir setzten uns in einen Gastropub und beobachteten, wie sich draußen auf der eisigen Straße die Busse vorbei‐ schoben. Es war eins dieser Etablissements mit Massen von Ledersitzen und wenig freiem Raum, wo um sieben Uhr automatisch die Musik aufgedreht wird, egal wie viele Gäste da sind. Wir mussten uns praktisch anschreien, um uns bei dem Lärm verstehen zu können. »Was hältst du eigentlich von Latex?«, brüllte A2. »Latex?«, fragte ich, unsicher, richtig gehört zu haben. »Keine schlechte Idee.« Leider reagiere ich neuerdings all‐ ergisch auf das Material. Nachdem ich einem Kunden ei‐ nen geblasen hatte, bekam ich geschwollene, kribbelnde Lippen. Sicher, ein wissenschaftlicher Beweis ist das noch nicht. Kann genauso gut das Spermizid auf dem Kondom gewesen sein. »Nein, ich meine so ...« Er tat, als zöge er einen Gummi‐ handschuh über, »Latex halt. Das Gefühl als solches, ver‐ 158
stehst du, beim –« »Ach, du bist schon beim Gummisex?« »Diese Frau ist einfach toll«, sinnierte er. »Hast du das schon mal gemacht?« Das große Quietschen? »Nicht im Ganzkörperanzug, nein. Meinst du so richtig mit Katheter und Maske und so? Nee.« Urgh. Der abtörnendste Satz, den ich mir vorstellen kann, ist wahrscheinlich: »Schieb dir das mal in die Harn‐ röhre!« »Ich möchte es gerne mal ausprobieren.« »Pass auf, du wirst ihr Angst einjagen!« »Es war doch ihre Idee. Also, hast du irgendwelche Tipps?« »Jede Menge Babypuder, würde ich sagen. Ich möchte mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie das riecht.« »Hmm, ich schon.« Wie kommen die Leute nur auf solche Ideen? Und muss man darin nicht ganz schön schwitzen? »Du Freak! Du hast behauptet – ich zitiere –, es ginge nicht nur um Sex.« »Musst du gerade sagen.« »Wer, ich?« Gespielt entrüstet legte ich die Hand auf die Brust. »So was würde ich nie im Leben machen! Ich bin so sauber und rein wie der ... du weißt schon«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf den Schnee draußen. »Natürlich nicht! Trinkst du noch was?«, rief A2, um das grässliche Coverstück einer unaussprechlichen Boygroup zu übertönen. »Was Heißes, wenn es das gibt. Mit jeder Menge Alkohol. Nur so ist diese Musik zu ertragen. Und die Vorstellung von dir auf einer Gummipuppe.«
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Bei diesem Wetter muss man resignieren, den Leitspruch »Kleidung kann nicht dünn genug sein« kurzzeitig auf‐ geben und neue Regeln aufstellen. Am besten lässt sich die momentane Kleiderordnung so beschreiben: Socken, Strumpfhose, Netzstrümpfe plus Hose; neue Mode nach dem Motto »Auf dass ich keine Öffentliche Toilette benut‐ zen und alles ausziehen muss«. Vielleicht ist das ein kleiner Preis, den man dafür zahlen muss, im Winterwunderland des Schneematsches zu leben. An Tagen wie diesem würden nur dem gemeinsten Kerl Sätze über die Lippen kommen wie: »Sieht aus, als wärst du etwas runder um die Hüften geworden«. Weshalb ich N um‐ bringen und seine Leiche unter dem ewigen Eis von Hamp‐ stead Heath verscharren musste. Alle Geschworenen wer‐ den Verständnis haben. 160
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»Erstes Date« hat sich mit mir zu einem Theaterstück getroffen. Keine West‐End‐Produktion mit Riesenbudget, nein: Er schlug mir vor, ein Stück anzusehen, das Freunde von ihm in einem Pub aufführten. Es war von einem meiner Lieblings‐Rennaissance‐Autoren der Renaissance; ich war skeptisch, was die Umsetzung anging. »Du wirst staunen, was sie daraus gemacht haben«, versicherte er mir. »Ein Zweipersonenstück.« Ich musste kichern. Ich nehme an, bei Schauspielern be‐ deutet dieser Ausdruck etwas anderes als bei Callgirls. Am Morgen nach der Party, als er im Wohnzimmer und N in meinem Bett geschlafen hatte, waren wir alle früh aufge‐ standen und hatten eine Tasse Kaffee in der Küche getrun‐ ken. Ich hatte die beiden an die Tür gebracht, N in seinem Auto hinterhergewinkt und war mit »Erstes Date« zu sei‐ nem gegangen, das um die Ecke stand. Ich hatte Angst, dass er sich für die Kühle, die ich ihm gegenüber an den Tag ge‐ legt hatte, rächen würde. Aber nein, er hatte mir zum Ab‐ schied ein Küsschen auf den Mund gegeben. Vielleicht hat‐ te er doch eine zweite Chance verdient. Heute Abend fuhr ich mit der U‐Bahn durch die ganze Stadt zu dem Treffen mit ihm. Er war schon da und trank ein Glas mit einem Freund, den er mir vorstellte. Dieser Freund bildet sich noch heute etwas drauf ein, vor Urzeiten mal das Kindergesicht einiger Werbespots gewesen zu sein. Da er mindestens fünfzig sein muss, war es nicht weiter ver‐ 163
wunderlich, dass ich das beworbene Produkt nicht kannte – und schon gar nicht die Reklame. Wir sprachen kurz über Computer. Ich halte sie für grässliche Geräte, deren einzi‐ ger Zweck darin besteht, die Produktion und Verbreitung von Pornographie zu erleichtern. Letztendlich wie Männer. So schlecht also auch wieder nicht. Das Zweipersonenstück wurde im ersten Stock gegeben. Ich wusste ziemlich schnell, dass es mir nicht besonders ge‐ fallen würde, aber die langen, muskulösen Oberschenkel von »Erstes Date« drückten gegen meine, er lachte an den richtigen Stellen, und abgesehen von dem übertriebenen Spiel vier Meter vor uns war es nett, mit ihm zusammen im Dunkeln zu sitzen. Anschließend stellten sich die Zuschauer unten an der Theke an. Ich entdeckte den Hauptdarsteller und schloss mich der Masse an, die ihm großzügig unverdientes Lob spendete. »Und, was meinst du wirklich?«, fragte ein Freund von »Erstes Date« mit süffisantem Grinsen, als der Schauspieler sich abgewandt hatte. »Blutleer«, sagte ich. »Leidenschaftslos.« »Wieso?« »Das könnte selbst ich besser«, entgegnete ich. Ich schau‐ te »Erstes Date« an und rezitierte eine Zeile des Hauptdar‐ stellers. Dabei strich ich über sein Hemd, als sei er Helena von Troja. Er machte mit, indem er meine Annäherungsver‐ suche schelmisch abwies. Erwartungsvoll sahen wir seinen Freund an. »Ihr habt Recht«, sagte er. »Erstes Date« und ich leerten unsere Glä‐ ser und verdrückten uns. Er bot an, mich nach Hause zu bringen. Es lag nicht auf seinem Weg, dennoch war ich einverstanden. Wir sprachen über dies und das. Ich erklärte, wie die Be‐ 164
ziehung zum Boy in die Brüche gegangen war. Er erzählte mir von seiner letzten Freundin. Ich musste an A2 denken, und plötzlich sprudelte es aus mir heraus: »Irgendwann ka‐ piert man, dass man jemanden nicht zurücklieben muss, bloß weil der in einen selbst verliebt ist. Genauso wenig kann man jemandem vorschreiben, dass er sich nicht in ei‐ nen verlieben darf.« Es gab eine Pause. »Stimmt«, sagte er und sauste um Hyde Park Corner. »Ich liebe dich nämlich.« Oh, nein, bitte nicht! Am liebsten hätte ich mir die Zunge abgebissen. »Danke«, sagte ich. Und im selben Augenblick wusste ich, dass ich nicht dasselbe für ihn empfand. Noch nicht. Vielleicht niemals. Wir fuhren zu mir, bumsten, schliefen ein. Er wachte früh auf – der Lebensrhythmus ei‐ nes ehrlichen Angestellten. Schweigend frühstückten wir, dann fuhr er nach Hause. Kunde: »Darf ich dich filmen?« Ich (entdecke die nur handgroße Videokamera): »Nein.« »Ach, bitte! Dein Gesicht kommt auch gar nicht drauf.« Na, toll, vielen Dank! »Nein, tut mir Leid. Die Agentur gestattet keine Fotos oder Videos.« »Ich will nur sehen, wie deine Schamlippen auseinander gehen, wenn ich meinen Schwanz reinschiebe.« »Okay, das können wir machen. Aber nur über einen Spiegel. Keine direkte Aufnahme.« »Andere Mädchen machen das.« »Ich bin nicht andere Mädchen.« (Zieht eine Flunsch) : »Andere Mädchen von deiner Agen‐ tur.« 165
Glaubt er wirklich, dass ich es mir jetzt anders überlege? Mein Guter, selbst wenn du Fotos von deinem Hund auf meiner Mutter hättest ... »Tut mir Leid, nein.« »Nicht mal ein Foto? Eigentlich bin ja nur ich zu sehen.« »Nein.« Langsam ging er mir auf den Geist, aber was ent‐ scheidender war: Es ging alles von seiner Zeit ab. Ich lächel‐ te lieb, lehnte mich an ihn und spielte mit seinem obersten Hemdknopf. »Sollen wir anfangen?« Das taten wir, allerdings würzte er unsere Sitzung mit Kommentaren wie »Wow, ist das geil, davon würde ich gerne ein Foto machen!« oder »Du solltest wirklich Pornos dre‐ hen, echt!«. N und ich haben tatsächlich mal mit dem Ge‐ danken gespielt, uns ein Sabbatjahr zu verdienen, indem wir in Polen osteuropäische Haut auf Zelluloid bannen – aber das ist wieder eine andere Geschichte. Er ließ einfach nicht locker. Irgendwann fiel es mir sogar schwer, bei der Sache zu bleiben und mich entsprechend zu bewegen, weil ich das Gefühl nicht loswurde, beobachtet zu werden. Am Ende der Stunde war ich so nervös, dass ich das ganze Zimmer nach versteckten Kameras absuchte. Immer‐ hin waren wir in einem Hotel und nicht bei ihm zu Hause, doch als er zur Toilette ging, riss ich die Schubladen auf und sah unterm Bett nach. Meiner Erfahrung nach ist es nicht schlecht, auf der Hut zu sein. Damit bin ich immer gut gefahren. Ich bin noch nie übers Ohr gehauen worden und möchte sichergehen, dass das nie passiert. Auch deshalb lasse ich mich über eine Agentur vermitteln. Ich weiß, dass ich eine relativ gute Position im Gewerbe habe. Nicht alle, aber viele Prostituierte sind drogenabhän‐ gig, leben in gewalttätigen Beziehungen und werden von Kunden missbraucht. Wahrscheinlich bin ich naiv, weil ich meine Kolleginnen nie frage, ob sie mit ihrer Arbeit glück‐ 166
lich sind. Ganz ehrlich: Ich habe erst ziemlich spät als Ju‐ gendliche mitbekommen, dass es so was wie käufliche Frau‐ en überhaupt gibt. Aufgrund der Kleidung lässt sich jeden‐ falls kaum darauf schließen, ob ein Mädchen tanzen geht oder halt woanders hin. An der Uni kam ich mal von einer langen Nacht nach Hause. Ich wohnte in einem Mietshaus in der Nähe des Zen‐ trums, das Taxi ließ mich am Ende der Straße heraus. Als ich mit den Schlüsseln in der Hand vor der Tür stand, sprach mich ein Mann an. »Lust auf schnelles Geld, Süße?« Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, was er meinte. »Oh, nein.« Ich war nicht besonders auffällig ge‐ kleidet – na, gut: Ich ging zur Uni, und Studentinnen, die vom Tanzen nach Hause kommen, sind immer ein wenig leicht geschürzt. Der Mann hatte sich einfach vertan. Aber ich kreischte nicht panisch herum, lief nicht weg und grins‐ te auch nicht höhnisch. »Wirklich nicht?«, fragte er. Gelegentlich liefen in meiner Gegend Stricherinnen he‐ rum. Einmal ging ich eine Zeitung kaufen und sah ein Mäd‐ chen, das die Hauptstraße entlangstöckelte. Sie war ange‐ zogen, als wollte sie auf die Piste, dabei war es helllichter Tag. Für eine Studentin war sie zu jung, unterernährt. Ein anderes Mal saß ich mit Freunden in einer Kneipe, als eine Frau hereinkam, um einen 20‐Pfund‐Schein zu wechseln. Die Barkeeper sahen sich vielsagend an; sie kannten die Dame. »Nein, wirklich nicht«, sagte ich zu dem Mann, hätte aber beinah hinzugefügt: Danke für das Angebot. 167
Die Renovierung meiner Wohnung geht gut voran, auch wenn mir nicht viel einfällt, was ich zum Thema Innenein‐ richtung schreiben könnte. Ich begnüge mich mit der Fest‐ stellung, dass der alte Stil (Laura Ashley auf LSD mit Peter Max auf Tahiti) durch einen etwas zeitgemäßeren ersetzt wird. Gestern wurde ein höchst interessanter Gegenstand an‐ geliefert. Vor einigen Jahren hatte die Vermieterin von ei‐ ner Firma Polster anfertigen lassen. Die Abmessungen des Sofas waren noch archiviert. Jetzt war die Polsterei so nett, schicke neue Bezüge für das ausgestopfte Monster zu lie‐ fern (das Sofa, nicht die Vermieterin). Kurz nach Mittag wurden die neuen Bezüge zugestellt, zusammen mit einer detaillierten Anweisung, wie sie aufzuziehen seien. Ein Werkzeug war auch dabei, das beim Aufziehen helfen sollte. Was soll ich sagen? Dieses Werkzeug sieht wie ein Paddel aus. Und zwar ein Paddel erster Güte. Es ist aus demselben warmen Holz wie das Sofa und hat einen glatten, gerunde‐ ten Stiel, dessen Form den geschwungenen Couchbeinen nachempfunden ist. Dazu besitzt es eine schmal zulaufen‐ de, flache Seite, mit der die Polster anscheinend in ihre neue Haut gedrückt werden sollen. In meinen Augen ist das keine Polsterhilfe, sondern ein edles, supergeiles Züchti‐ gungswerkzeug. Es hat sogar einen Lederriemen am Griff! Und es passt zu meiner Einrichtung. Ich betrachtete erst das Paddel, dann den Lieferanten. »Muss ich das hinterher zurückgeben?« »Was? Nein, behalten Sie’s oder werfen Sie’s weg. Wir brauchen es nicht mehr.« 168
»Danke.« Ein schöneres und unerwarteteres Geschenk habe ich seit Jahren nicht bekommen. Als wäre jetzt schon Valentinstag. Kunde (stellt den Kommodenspiegel auf den Boden): »Ich möchte sehen, wie du dir beim Onanieren zuguckst.« Na, das ist ja mal was Neues! »Womit?« »Zuerst mit den Händen. Dann mit dem Vibrator.« »Und du ...?« »Nein, nein, ich sehe nur zu.« Er gab mir einen Stuhl, ich setzte mich hin. Schlüpfte aus dem Höschen und zog das Kleid bis zur Hüfte hoch. Ich konnte bis ins Verderben sehen – ein seltener Anblick. Si‐ cher, nach dem Wachsen und vor einem Termin schaue ich mal kurz nach, ob alles in Ordnung ist, aber das hier war et‐ was anderes. Bei der Arbeit und beim Sex zu Hause spielen Handspiegel eine große Rolle, aber hier saß ich nun allein, ohne einen Partner. Belle aus der Perspektive einer Fliege. Und da ich ein selbstverliebter Mensch bin, war ich ebenso fasziniert wie der Kunde. Ich beobachtete, wie meine Schamlippen praller, roter, feuchter wurden. Viel dunkler, als ich gedacht hatte, fast violett, so wie eine Eichel. Die Öffnung selbst wurde größer, klaffte auseinander. Ich hörte leichte Schmatzer, so als wür‐ de sich ein Mund öffnen und schließen. Meine Hand rieb immer schneller, meine Hüften bewegten sich heftiger. Es war, als würde ich mich im Fernsehen beobachten. So musste es auch für ihn sein, denn er schenkte meinem Spie‐ gelbild viel mehr Aufmerksamkeit als mir selbst. Zuerst frag‐ te ich mich, warum man jemanden fürs Onanieren bezahlt. 169
Er hatte ja nicht viel davon. Dann verstand ich es: Er wollte Regie führen. Kurz bevor ich den Punkt ohne Wiederkehr erreichte, wurde ich langsamer und wechselte die Position, vorgeb‐ lich damit er besser sehen konnte, aber in Wirklichkeit, um nicht zu kommen. Es war erstaunlich schwer, fast eine ganze Stunde lang den Finger vom Abzug zu lassen. Er saß auf dem Bett, dann kniete er sich vor mich, kam immer näher an den Spiegel heran, bat mich gelegentlich, das Tempo zu ändern, den Vi‐ brator anders einzusetzen, meine freie Hand zur Seite zu nehmen, aber er berührte mich nicht. Als er kam, spritzte er aufs Glas. Schwer tropfte das Sperma über mein Spiegel‐ bild auf den Teppich. Ich kam durchnässt und schlecht gelaunt nach Hause. Bei Ladbroke Grove war ich von einem Regenschauer über‐ rascht worden, und das ohne Schirm. Ich war mit einem Mann verabredet gewesen, und sagen wir einfach nur, es war nicht gut gelaufen. Ich hatte drei Anrufe in Abwesen‐ heit, alle vom Handy der Agenturchefin. Ich rief sie zurück. »Hallo, tut mir Leid, dass wir uns verpasst haben.« »Schon gut, Schätzchen.« Ausnahmsweise hörte sie mal keinen furchtbaren Hair‐Rock. »Ich hatte einen Kunden für dich.« »Ich war zum Mittagessen verabredet und habe das Han‐ dy zu Hause liegen lassen. Wer war es denn?« »Dieser säähr nette Herr. Er fragt immer nach dir.« »Aha.« Das passiert ungefähr einmal die Woche. »Der Franzose?« 170
»Er ist so ein liebenswerter, feiner Herr.« »Ja, und er bucht mich immer von einer Stunde auf die andere. So schnell kann ich mich nicht fertig machen.« Da‐ für wohne ich zu weit entfernt von Zone 1. »Er hat doch wahrscheinlich ein anderes Mädchen genommen, oder?« »Ja. Aber er fragt immer nach dir, Schätzchen.« »Dann soll er beim nächsten Mal etwas früher Bescheid sagen, ja?« »Hm.« Ich hörte eine andere Stimme im Hintergrund, die Chefin verfiel in ein seltsames Schweigen, dann flüster‐ te sie: »‘tschuldigung, muss aufhören! Bis bald, tschüssl« Wahrscheinlich saß sie neben ihrem Freund, der nicht weiß, womit sie ihr Geld verdient. Sonderbar, das Ganze – aber schließlich ist ihr Job strafbar, nicht meiner. Kurz danach eine SMS von »Erstes Date«: »Torture Gar‐ den? Hast du Lust?« Lust auf den Foltergarten? Na, und ob! Wenn er so ver‐ sucht, am Ball zu bleiben – nicht schlecht! Ich bin dabei, mit Pauken und Schellen. An meinen Nippeln selbstver‐ ständlich. Ging gestern an der U‐Bahnstation Monument durch einen gekachelten Gang zur District Line. Da stand ein Straßen‐ musiker, der Dylan‐artige Riffs auf der Gitarre spielte und sich dazu Texte über die vorbeigehenden Leute ausdachte. »... und ich sagte, mein Freund, da wird eine Frau sein / sie wird an dir vorübergehen / du wirst sie an ihrem weißen Kleid und den rosa Schuhen erkennen, / und sie ist wun‐ derschön ... « Ich musste grinsen, sah auf meine Schuhe hinunter: vorn 171
offene Pumps in Altrosa. 40er oder 70er Jahre, je nachdem, wie man sie kombiniert. »... mein Freund, du wirst sie erkennen, / du wirst diese Frau an ihrem Lächeln erkennen ... « Ich ging weiter, lachend, und sah mich noch einmal grin‐ send um, bevor ich um die Ecke bog. Nach dem Fitness‐Studio kam N vorbei, um mir bei den Pols‐ tern zu helfen. »Helfen« hieß »auf ihnen sitzen, während ich Tee koche«, was ja irgendwie auch hilfreich ist. Irgendje‐ mand muss schließlich den ersten Fleck aufs Polster ma‐ chen. Einen Teefleck natürlich! (Was denn sonst?) Ns Blick fiel sofort auf das als Kissenquetscher getarnte Paddel. Als ich mit den dampfenden Tassen ins Wohnzim‐ mer kam, schlug er sich damit bereits probeweise auf die Oberschenkel. »Neues Werkzeug?«, fragte er. »Wurde mit dem Sofabezug geliefert«, erklärte ich. »Spitze!« Eine andere Exfreundin von N, diejenige, die ihm das Herz gebrochen hat, geht jetzt auch in unser Studio. Mir ist aufgefallen, dass sie immer dann auftaucht, wenn er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht kommt. Manchmal halte ich mich etwas länger in der Umkleidekabine auf, für den Fall, dass sie sich mit jemandem unterhält. Wenn ich etwas über ihre aktuelle Situation herausfinden könnte, würde ich reich belohnt. Falls sie weiß, wer ich bin, so hat sie sich noch nichts anmerken lassen. Ich bin noch unschlüssig, ob ich es ihm erzählen soll. Wir hatten den Tee erst zur Hälfte geleert, als das Gespräch wieder auf diese Frau kam – wie jedes Mal. 172
»Vielleicht sollte ich sie einfach mal anrufen«, sagte er. »Aber wenn sie einen neuen Freund hat, komme ich mir blöd vor. Und wenn nicht, verstehe ich nicht, warum sie sich von mir getrennt hat.« »Wenn einer nicht mehr will, kann niemand was dran än‐ dern.« »Ich weiß. Ich dachte nur, jetzt, wo ich mit allem klar bin, könnte ich – heilige Scheiße!« »Was hast du?« »Guck mal aus dem Fenster!« Ich gehorchte. Ich sah eine Wohngegend, gegenüber am Straßenrand geparkte Autos. In manchen Häusern brannte Licht, in anderen nicht. Fast unsichtbarer, vom Wind ge‐ peitschter Regen, eine schräge orange Ebene unter der Straßenlaterne. »Ja, und?« »Der Wagen da. Der ist von deinem Ex.« Ich kniff die Augen zusammen. Sie sind nicht mehr das, was sie mal waren, aber ich fahre selbst kein Auto und habe den normalen Abstand zwischen Nase und Zeitung beim Lesen auf knapp zwei Zentimeter herabgesetzt. Trotzdem: Das sah wirklich ganz nach dem Wagen des Boys aus: ein Fiat, dessen Nummernschild mit »V« beginnt, einen halben Block weiter. Ich erschauderte. Am Fenster war es kalt, ich zog die Vor‐ hänge zu. »Von der Marke gibt es viele.« »Als ich kam, war er noch nicht da«, sagte N. »Und in dei‐ ner Nachbarschaft fährt keiner so ein Auto.« Ich setzte mich wieder aufs Sofa und nahm die Teetasse in die Hand. »Hm. Glaube nicht. Weiß nicht.« Eine Stunde später fuhr N nach Hause. Das Auto war nicht mehr da. 173
Rückblick: Wir befinden uns in der Mitte der Achtziger. Manchmal schickte mich meine Mutter im Sommer unter der Woche zu einer jüdischen Jugendgruppe. Meistens hin‐ gen wir in einem Gemeindezentrum herum, machten Brett‐ spiele oder wurden zu sonderbaren Sportarten gezwungen, deren Regeln niemand kannte, wie beispielsweise Korbball. Manchmal machten wir Ausflüge. Einmal fuhren wir mit zwei kleinen Bussen an den Strand. Es war nicht warm, aber der Strand sei ein Juwel (er‐ zählte man uns), wir sollten den Tag nicht verbummeln (sagte man uns ebenfalls). Eine Lehrerin hatte mal einen verblichenen Seestern aus dem Urlaub mitgebracht und mit in die Schule genommen. Den ganzen Tag lief ich bar‐ fuß am Strand entlang und suchte einen. Es gab natürlich keine. Einige Mädchen saßen im Schneidersitz im seichten Wasser und taten so, als würden sie sich das Haar mit Sand waschen. Sie fragten, ob ich mitmachen wollte, aber ich lehnte ab. Es war mir zu kalt. Die Gruppenleiter bürsteten uns gründlich ab, als wir zu‐ rück in den Bus wollten. Doch als wir zu Hause ankamen, war noch immer alles voller Sand, weshalb die Erwachsenen die Mädchen in einen und die Jungen in einen anderen Raum schickten, wo alle die Badesachen ausziehen und die Handtücher ausschlagen mussten. Zwischen den beiden Räumen war eine Abstellkammer, und die Jungen merkten nicht, dass sie von zwei älteren Mädchen beobachtet wur‐ den. Ich durfte nicht hineinschauen. Nicht dass ich’s nicht versucht hätte, aber die älteren Mädchen waren so groß, dass sie die Sicht verstellten. Sie ließen niemanden heran. Sie beschrieben, was sie sahen (unzutreffend, wie ich später 174
erkannte). Jahrelang glaubte ich, das männliche Glied laufe vorne spitz zu und sei am Schaft geriffelt – wie sonst sollte man damit »nageln« können? Damals gab es ein Lied, das die älteren Mädchen alle toll fanden. Sie stritten darum, welche von ihnen den Sänger am meisten liebte, wessen Name zusammen mit seinem am besten klänge. Seine vorgebliche Asexualität war ihnen egal. Nein, nicht egal: Sie machte ihn noch begehrenswer‐ ter. Er war völlig anders als die Jungen um uns herum. Er sah toll aus, antiquiert, wie aus einer anderen Welt, und er kam aus Manchester. Und wenn wir nur eines wussten, dann dass Manchester entschieden cooler war als unsere Stadt. Jahre später stehe ich irgendwann nach der Uni in mei‐ ner ersten Wohnung und packe in der Küche Geschirr aus. Da kommt dieses Lied im Radio. Ich höre es zum ersten Mal ohne einen Chor zwölfjähriger Mädchen. In dem Sommer mit der Jugendgruppe gab ein Freund meiner Eltern mir den Spitznamen »Klein‐Alice«. Wie in »Alice im Wunderland«. »Wo ist denn Klein‐Alice?«, riefen alle, und ich kam stolz herbeigelaufen. Ich wurde zu Veran‐ staltungen mitgenommen, damit ich die Leute mit meinem Grips und meinem Gedächtnis beeindruckte. Ich wurde ge‐ radezu vorgeführt, zur allgemeinen Unterhaltung: das klei‐ ne Genie. Ich weiß, dass ich bevormundet wurde, aber gleichzeitig fühlte ich mich geschmeichelt, weil ich bei den Erwachsenen mitreden konnte. Ein Freund der Familie wollte nur unter der Bedingung bei uns essen, dass er ne‐ ben mir saß. Er fragte mich nach meiner Meinung in politi‐ schen Fragen, und ich staunte, dass ich tatsächlich eine hat‐ te. Wenn auch eine völlig unfundierte. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Dann bat er mich, Gedichte auf‐ zusagen. Eine Zeile nach der anderen gab er mir vor. Ich wiederholte sie. »Irgendwann verstehst du das vielleicht 175
mal«, sagte er lachend. Und so sitze ich allein in der Küche und lausche diesem Lied als Erwachsene, nicht als Klein‐Alice. Der Text ist ei‐ gentlich ziemlich traurig. Plötzlich merke ich, dass mir Trä‐ nen die Wangen hinunterlaufen. Kleine Fickkunde • guter Fick: Mensch mit enormer Stimmgewalt, informiert die Nachbarschaft darüber, dass gerade sexuelle Aktivitä‐ ten stattfinden. Hinterlässt keine Spuren und ruft nicht sofort wieder an. Kurz: Eigentlich sollte er für seine Diens‐ te Geld nehmen. • schlechter Fick: zählt die Blümchen auf der Tapete und spricht danach von Verlobung. • abgefickt: jemand, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr sexuell aktiv ist. • »Fucking Hell!’«: Ort, der von sonnenstudiogebräunten Blondinen bevölkert wird, die lieber über Diäten, Spiri‐ tualität und Schoßhündchen reden, als echten Sex zu ha‐ ben. (Siehe auch: Chelsea, Tantalus.) • ausgefickt: wird nicht mehr regelmäßig gefickt. In der letzten Woche hatte ich drei Verabredungen. Das be‐ deutet entweder, dass meine Freunde sich Sorgen um mein emotionales Wohlergehen machen, oder dass sie Angst vor den Folgen haben, wenn ich zu lange Single bin. Ich will 176
nicht so schnell zu eng mit »Erstes Date« verbandelt sein. Er ist nett, wir haben Spaß zusammen, aber je länger ich über ihn nachdenke, desto eher kommen mir seine Absichten, nun ja, ein bisschen zu ... intensiv vor. Leider entsprach keiner der Herren so ganz dem, was ich mir als Partner vorstelle. Junggeselle Nummer eins war ein netter Kerl – groß, ge‐ heimnisvolle dunkle Augen, umwerfender walisischer Ak‐ zent. Wenn es irgendetwas gibt, das mich verrückt macht, dann ist es das samtweichen Timbre der Männer aus dem Westen. Ich weiß, das ist oberflächlich, aber wir haben schließlich alle unsere Schwächen. Leider war der Typ wohl nicht genauer über meinen Broterwerb aufgeklärt worden. Während der Vorspeise gab er eine Anekdote zum Besten, die darin gipfelte, dass er sich über seinen besten Freund lustig machte, weil der »mit der Schwester einer Hure zusammen« sei. Aha. Nun gut. Scha‐ de. Aber das Essen war gut. Junggeselle Nummer zwei traf sich mit mir in einem Pub und war bereits betrunken, als ich kam. Auch er ein Pracht‐ exemplar, doch leider mit ausgesprochenen Schwierigkei‐ ten, das Verhältnis zwischen Körper und Schwerkraft auszu‐ tarieren. Nach einer halben Stunde klammerte er sich Hilfe suchend an die Theke. Da hatte er bereits herausgefunden, dass ich denkbar ungeeignet bin, ihn mit seinen rund hun‐ dert Kilo zu stützen. Ein paar Stunden später standen wir vor einem Club Schlange. Es regnete und war allgemein ätzend, aber es wurde immer nur einer reingelassen, obwohl der Laden al‐ les andere als voll war. Junggeselle Nummer zwei nahm An‐ stoß an dieser Zumutung und beschloss, die Rausschmeißer darauf anzusprechen. Worauf sie – verständlicherweise – ih‐ rem Namen alle Ehre machten. Ich kratzte das, was von ihm 177
übrig geblieben war, vom Bürgerstieg, brachte ihn im Taxi nach Hause und legte eine Tüte Erbsen zuerst in die Tief‐ kühltruhe und dann auf seine geschwollene Wange, bevor ich mich verabschiedete. Da er bereits weggedämmert war, bekam er das wahrscheinlich nicht mehr mit. Junggeselle Nummer drei gehörte zu der Sorte Mensch, für die der Spruch erfunden wurde: »Besser den Mund hal‐ ten und für dumm gehalten werden, als den Mund aufma‐ chen und alle Zweifel beseitigen.« Nachdem ich eine ge‐ schlagene Stunde munter vor mich hin geplaudert hatte (ich habe persönlich kein Problem damit, für dumm gehal‐ ten zu werden), brachte er ein paar Knaller: »Ich bin nicht gerade ein Freund von [Fach, das ich an der Uni studiert habe].« Da wischt er ein akademisches Fachgebiet mit einer einzi‐ gen Bemerkung beiseite. Kein Problem, schon gut, ich bin nicht empfindlich in solchen Dingen. Und weiter ging’s im Text, nun mit Musik, einem Thema, zu dem er ein bisschen mehr zu sagen hatte. »Ich hör mir alles an, bloß kein Country 8c Western.« Wie, ein Leben ohne Dolly Parton? Und was ist mit Patsy Cline? Und den Flying Burrito Brothers? Zugegeben, die aktuelle Elite aus Nashville ist erschreckend eintönig, aber deswegen Bands wie Wilco and Lambchop gleich völlig ab‐ schreiben? Um es mit den Worten der Country‐Diva zu sa‐ gen: Und dafür habe ich mir die Beine gewachst? Ich saß hinten im Taxi und döste fast ein. Es war einer von diesen Tagen, an denen man schon müde aufwacht und es nicht mehr besser wird. Mein Handy klingelte. 178
»Schätzchen, hoffentlich alles in Ordnung bei dir?« Es war die Chefin. Ich hatte vergessen, sie nach dem letzten Kunden anzurufen. »Entschuldigung, doch, mir geht’s gut.« Das Taxi fuhr gen Norden, die Straßen waren leer. »War alles in Ordnung, der Typ war sehr nett.« »Das sagst du immer. Du hörst dich so zufrieden an.« »Zufrieden? Kann sein. Ich bin nicht unzufrieden.« Ich meine, der Mann hatte ausgesehen wie ein kleiner Troll, aber das interessiert sie ja nicht. »Deshalb hast du auch noch nie mit aggressiven Kunden zu tun gehabt.« Ich musste lachen. Verglichen mit echten Beziehungen sind diese Männer reine Schmusekatzen, obendrein noch leicht zufrieden zu stellen. Damit komme ich ohne weiteres klar, selbst wenn ich müde und nicht ganz bei der Sache bin. »Das liegt wahrscheinlich nur daran, dass du so gut auf mich aufpasst«, entgegnete ich. Kurz danach war ich zu Hause und ging zu Bett. Das Han‐ dy legte ich für alle Fälle unters Kopfkissen, weil ich noch ei‐ nen Anruf erwartete. Gegen Mitternacht klingelte es. »Schätzchen, bist du noch wach? Kannst du noch einen Termin übernehmen?« »Mrrf arrm mmmmpf fhmmm.« »Schon gut, schlaf ein bisschen. Bleib glücklich, Schätz‐ chen.« Normalerweise habe ich eine ganz positive Meinung von Kunden, schließlich sind sie sozusagen das Wasser, in dem meine Seife schwimmt, und meistens sind sie ganz ange‐ 179
nehm. Wenn ich jemanden treffe, ist es, als würden sich zwei Schiffe in der Nacht begegnen. Wenn beispielsweise je‐ mand tierisch auf die Reize seiner Schulkrankenschwester von 1978 abfährt oder unbedingt will, dass ich mit heiserer Pornofilm‐Stimme die Zeitung vorlese, während er sich vor‐ stellt, die Nachrichtensprecherin Fiona Bruce von hinten zu nehmen, reiße ich mich einfach zusammen und ziehe die Sache durch. Aber manches geht selbst mir zu weit. Manchmal schaudert es mich bis ins Innerste. Das, was ich gestern Nachmittag im Hotel erlebt habe, beispielsweise als »nettes Intermezzo« zu bezeichnen. Beim heiligen Tommy Hilfiger, Mensch, hat denn hier niemand mehr Geschmack? Natürlich hat die Chefin keine Ahnung. Ich bin alles ande‐ re als glücklich. Es ist die selige Zeit der Zweisamkeit, wenn wir den Jahrestag der Köpfung eines christlichen Märtyrers mit dem Austausch überteuerter Geschenkartikel begehen. Der unglaubliche Hype um den Valentinstag ist aller‐ dings so mächtig, dass er selbst mich fertig macht. Das liegt nicht nur daran, dass ich allein bin, bin ich ja eigentlich auch nicht – ist man in London selten –, ich habe Freunde en masse und genug Arbeit. Nein, es ist eher das gegenseitige Verwöhnen, das Liebespaare zur Schau stellen. Ich gönne jedem seinen Spaß. Ich freue mich über knut‐ schende Pärchen in der U‐Bahn, selbst wenn sie schwange‐ ren Frauen und alten Damen den Platz wegnehmen. Von ganzem Herzen ermutige ich jeden, der eine mehr oder we‐ niger bessere Hälfte hat, sie an diesem Tag mit Liebe zu überschütten. 180
Was mich auf die Palme bringt, ist das schamlose Abkas‐ sieren von Maniküre‐Künstlern, Frisören und Herstellern heißer Lingerie. Ich breche mir einen ab, um das ganze Jahr über babyweiche Haut zu haben und in Seide gehüllt zu sein, und was habe ich davon? Nix. Aber wer im Februar ein Verwöhn‐Wochenende für zwei bucht, dem winken die Preisnachlässe! Wirklich, ich finde, ich habe etwas Besseres verdient. Selbst wenn der Valentinstag das Lifestyle‐Pendant zu Weihnachten sein sollte – wie wäre es denn, wenn man mal den Leuten, die einen den Rest des Jahres über Wasser hal‐ ten, ein Zückerchen zuwirft? Habe das Thema mit der Frau diskutiert, die letztens den Auftrag erhielt, meinen Busch zu stutzen. Irgendwie er‐ schloss sich ihr meine Logik nicht so ganz. Da ich am Wochenende nichts zu tun hatte, fuhr ich Ns Mut‐ ter besuchen. Sie ist eine tolle Frau in hervorragender kör‐ perlicher und geistiger Verfassung, kürzlich Witwe gewor‐ den. Es erschien mir angebracht, den Valentinstag mit einem Menschen zu verbringen, dessen Einstellung zu Männern so zusammengefasst werden könnte: »Ach, Schätzchen, wenn man einen Netten gefunden hat, stirbt er eh auf dir drauf.« Sie überlegt, ob sie das Haus verkaufen soll, jetzt, wo alle Kinder groß sind und sie allein ist. »Es ist jetzt bestimmt ganz schön leer«, sagte ich vorsich‐ tig. Bei Gesprächen mit Älteren weiß man nie, wie schnell man in ein Fettnäpfchen tritt. »Nein, gar nicht«, gab sie zurück. »Ich habe doch meine kleinen Geister.« 181
»Natürlich«, erwiderte ich. Schrullige Alte. Ich dachte nicht weiter darüber nach. Später machten wir einen Spaziergang durchs Viertel. Es ist ein vernachlässigter Fleck im Norden Londons, der noch nie richtig »in« war. Dort gibt es immer noch einen Schlach‐ ter (der allerdings keine Würstchen von freilaufenden Tam‐ worth‐Schweinen mit Koriander aus biologisch kontrol‐ liertem Anbau an spätberufene Gourmands verkauft), die Kneipen sind schlichte Gaststätten, die nicht um die Auf‐ merksamkeit des Michelins oder Gault Millauts buhlen, und die Anwohner fahren normale Autos, keine Landrover‐ Kolosse, oder noch schrecklicher: mit dem öffentlichen Nahverkehr. Kurz gesagt: Es ist j.w.d. Und dafür eigentlich ganz süß. Wir gingen im Laden an der Ecke einkaufen, holten eine Zeitung und Sandwiches. Ich bestand darauf, in der Bäcke‐ rei zwei Küchlein mit rosa Zuckerguss und kleinem Plastik‐ herz mitzunehmen. Wir gingen weiter, zum Friedhof hin‐ unter. Das Wetter war nicht besonders gut, eher grau und windig, aber ein wenig blauer Himmel war durch die Wol‐ kendecke zu sehen. Ns Mami setzte sich schwerfällig auf eine Bank neben einem Grabstein. »Na, los, lies mal!« Ich gehorchte. Eine Familie – Vater, Mutter und vier Töchter –, ihre Namen und Lebensdaten in der gewunde‐ nen Schrift der frühen viktorianischen Zeit. »Fällt dir etwas auf?«, fragte sie. »Alle sind am gleichen Tag gestorben. Was ist da passiert?« »Es hat gebrannt«, erklärte sie. »In dem Haus, in dem ich wohne.« Eine weißhaarige Dame mit einem Terrier blieb stehen und winkte Ns Mutter zu, während ihr Hund das ewi‐ ge Andenken eines hoch dekorierten Offiziers beschmutz‐ te. »Sie lagen im Bett und schliefen.« 182
»Du willst mich auf den Arm nehmen!«, sagte ich. Den‐ noch hatte ich das Bild von vier Mädchen vor Augen, die im Bett liegen, während Decken und Flanellpyjamas Feuer fan‐ gen. Tragödien, die wir heutzutage mit Zentralheizung und schwer entflammbaren Möbeln zu verhindern wissen. So was passiert nur noch, wenn ein bankrotter Vater durchdreht und die ganze Familie mit sich in den Untergang reißt. »Wenn du morgen aufwachst, dann geh in die Küche und prüfe, ob es nach Rauch riecht.« »Woher soll ich wissen, dass du nicht einfach den Toast hast anbrennen lassen?«, fragte ich grinsend. »Ich bin das nicht«, sagte sie. »Es sind die vier kleinen Geister, die im Bett lagen und schliefen.« Wir gingen nach Hause, lasen die Zeitung und aßen Sandwiches. Ich schrieb N eine SMS, dass es mir bei seiner Mutter gut gefalle. Insge‐ heim fragte ich mich, ob ich in der Nacht überhaupt würde schlafen können. Jeder knackende Zweig, jede Windböe klang wie ein knisterndes Feuer, alle paar Minuten saß ich aufrecht im Bett und glaubte, Feuer zu riechen. Die Küche am nächsten Morgen war rauchfrei, dazu eine SMS: »Viel Spaß. Pass auf, dass sie dir keine Geistergeschich‐ ten erzählt. LG, N.« Als ich mir die Haare fönte, klopfte es an der Tür. Es war ei‐ ner der Handwerker, er hielt eine Rose in der Hand. »Ähm, öhm«, machte er. Wie reizend! »Ist die für mich?«, fragte ich. Die Handwerker sollten ei‐ gentlich inzwischen fertig sein, aber es gibt Probleme mit der neuen Spülmaschine, die sie einer sensiblen Seele wie mir entweder nicht zumuten möchten oder schlichtweg 183
nicht in Worte fassen können. Ihr morgendlicher Teekon‐ sum und ihre vagen Versicherungen, bald sei alles fertig, werden langsam zu festen Bestandteilen meines täglichen Lebens. Ich wüsste nicht, ob ich hart bleiben könnte, wenn einer von ihnen auf die Idee käme, unseren Bund zu zemen‐ tieren. Vielleicht müsste ich eine dramatische Teebeutel‐ knappheit vortäuschen. »Wie lieb!« »Ist nicht von mir«, stammelte er. »Ich meine, ich meine ... sie ist nicht von mir, ich soll sie Ihnen nur geben.« »Süß. Ist ein Zettel dabei?« »Hab nichts gesehen.« »Und von wem ist sie bitte?« »Keine Ahnung.« Er dachte kurz nach und kratzte sich , mit dem Plastikrohr, das die Blüte umschloss, am Kinn. »Von so ‘nem Kerl.« »Wie sah er aus? « »Normal.« Gut zu wissen, dass die vagen Aussagen der Handwerker nicht lediglich dazu dienen, sich den Teenachschub zu si‐ ehern. Ich nahm an, dass weitere Nachfragen, beispiels‐ weise ob der Märchenprinz zu Fuß oder mit dem Auto ge‐ kommen sei, mit ebenso unproduktiven Antworten bedacht würden. »Na, dann vielen Dank fürs Überbringen«, sagte ich und nahm die Blume in Empfang. Der Handwerker trollte sich zu seinem Wagen. Auf dem Plastikröhrchen klebte der Name des Floristen und Obsthändlers um die Ecke – kein großer Anhaltspunkt. Angesichts der Kunden‐ massen, die sich in dieser Woche durch seinen Laden ge‐ schoben haben müssen, glaube ich nicht, dass sich dort je‐ mand erinnern kann, wer die Rose gekauft hat. Ich habe alle in Frage kommenden Kandidaten befragt, aber niemand will die Verantwortung für die freundliche 184
Geste übernehmen. Daraus folgt, dass ich einen Stalker ha‐ ben muss, aber da dies ein guter Monat für Stalker ist, will ich’s mal gut sein lassen. Wer hat behauptet, die romanti‐ sche Liebe sei tot? 1992 hatte ich bereits seit sechs Jahren Französisch. Ich konnte es nicht besonders gut. In der Schule lasen wir nie etwas Interessantes. Ich hatte eine kanadische Freun‐ din, Françoise, die Marguerite Duras »sexy« fand. Deshalb kaufte ich das kürzeste ihrer Bücher, das ich finden konn‐ te, weil mein Französisch nicht besonders gut war und ich am Übersetzen keinen Spaß mehr hatte. Das Buch hieß L’Amant. Übersetzungen sind in vielerlei Hinsicht wie Pasta. Weil man sich nicht auskennt, kauft man das, was gerade im An‐ gebot ist. Ein Hörbuch, in dem der Komiker Keith Harris Günther Grass liest? Na, klar. Die Bios als Comic? Her da‐ mit! Doch je mehr man die Originale zu schätzen lernt, des‐ to anspruchsvoller wird man. Ausgestattet mit den einfachs‐ ten Hilfsmitteln, versucht man sich an einer leichten Über‐ setzung, und das Ergebnis ist gar nicht so schlecht. Die Freunde sind beeindruckt. Ehrlich gesagt, man selbst auch. Man investiert mehr Zeit und Mühe, die Reaktionen sind positiv. Schließlich macht man Ernst mit der Pastaherstel‐ lung bzw. der Grammatik und wird zu einer Nudel‐ bzw. Übersetzungsmaschine. Man kauft Sekundärliteratur, tritt in die entsprechende Gesellschaft ein und schaut die richti‐ gen Sendungen im Fernsehen. Irgendwann wird einem klar, wie zeitraubend dieses Hobby ist, und noch schlimmer, wie langweilig einen die Freunde finden, wenn man über 185
nichts anderes mehr reden kann als die Typenbezeichnun‐ gen von Hartweizen bzw. Hesse im deutschen Original. Man lässt es sein. Wer dranbleibt, macht es am Ende zu seinem Beruf und ist auf allen Partys bald das gesellschaftliche Pen‐ dant zu einer Handgranate. Doch selbst wenn man nicht mehr versucht, seine eigene Pasta bzw. Übersetzung herzustellen, hat man inzwischen gerade ausreichend Kenntnisse gesammelt, um das ur‐ sprüngliche Produkt nicht mehr genießen zu können. Nie wieder wird man »einfach einen Teller Pasta« essen oder »einfach ein nettes Buch« lesen. Es schmeckt einfach nicht mehr, es ist nur noch unverbindlicher, pappiger Standard, westeuropäischer Einheitsbrei. Aus diesem Grund kaufte ich mir L’Amant im Original; ich wollte sehen, ob ich es le‐ sen konnte. Außerdem war es die einzige Ausgabe, die auf dem Umschlag nicht für den Film warb. Nichts verleidet mir ein Taschenbuch so schnell wie der gefürchtete Auf‐ druck: »Jetzt auch im Kino!« Ich begann mit der Lektüre. Das Buch gefiel mir nicht, ich fand es alles andere als sexy. Über zehn, fünfzehn Seiten kann Duras die Hitze in Asien, ein Seidenkleid, einen Hut beschreiben. Sie schildert ein Mädchen wie mich: klein für ihr Alter, schweres Haar, dabei zierlich und geheimnisvoll. Françoise musste gelogen haben. Niemand, der aussieht wie ich, kann sexy sein, dachte ich. Vielleicht erahnte ich manchmal ansatzweise, was gemeint war, obgleich es dem Verständnis nicht zuträglich war, unablässig in der französi‐ schen Grammatik nachzuschlagen, um die wohlgesetzten Worte der Autorin zu enträtseln. Dann wurde ich überrascht. Am Ende des Buches – das ich nicht verraten werde, weil eine Wiedergabe die Wucht des Geschehens mindern würde (auch wenn das Ende nicht überraschend kommt) – war ich in Tränen aufgelöst. Mir 186
brach etwas das Herz, das mir gar nicht zugestoßen war. Ich lernte, zu welchen Gefühlen ich imstande war. Von Zeit zu Zeit lese ich das Buch wieder. Oftmals, wenn ich mich allein fühle. Das Ende kommt immer wieder so plötzlich, und es berührt mich immer auf dieselbe Weise. Früher war es mal einfach, peinliche Gegenstände im Ein‐ kaufswagen unter den anderen Waren zu verstecken. Das ist natürlich eher ein gesellschaftlich akzeptierter Trick als eine schlaue Finte. Keine Supermarkt‐Angestellte lässt sich von einem extrastarken Deo, versteckt zwischen Apfelsinen, in die Irre führen; aber es ist einfach nicht nett, inmitten ei‐ nes ansonsten unauffälligen Bergs von Lebensmitteln eine Bemerkung über einen entzündeten Daumen zu machen. Schließlich haben wir alle einen Körper. Andererseits: Kauft man zu viel Auffälliges auf einmal, fordert man hämische Bemerkungen geradezu heraus. Wer sieht, was ich für gewöhnlich an Kosmetikartikeln kaufe, könnte auf die Idee kommen, ich mache Besorgungen für mindestens sechs Transsexuelle nach der OP. Deshalb gehe ich für den normalen Einkauf in eine Drogerie, für die aus‐ gefallenen Dinge woanders hin. Einkauf in Drogerie 1: Shampoo Zahnpasta Badesalz Gelmaske mit Gurke Luffa‐Handschuh 187
Die schlimmste Bemerkung dort ist ein fürsorgliches: »Oh, eine Gesichtsmaske! Sie wollen sich verwöhnen?« In Droge‐ rie 2 sieht es hingegen so aus: Tampons Pessar (wegen Überreizung) Kondome Minzbonbons ohne Zucker Gleitmittel Pflegetücher für nach dem Wachsen Selbstbräuner Rasierklingen Kaliumcitrat (gegen Blasenentzündung) Darauf kommt ein mäßig interessiertes: »Am Ende vom zweiten Gang steht was gegen Mundgeruch, falls Sie das brauchen.« Dumme Kuh. Die Handwerker haben sich jetzt an das ärgerliche Problem mit meiner Tiefkühltruhe begeben. Das ist eine Überra‐ schung, nicht weil ich ihnen kein Fachwissen über kom‐ plexe Kondensatorsysteme zutraue, sondern weil ich über‐ haupt nicht wusste, dass mit dem Ding etwas nicht stimmt. »Was ist das für ein Geräusch?«, fragte einer von ihnen gestern Nachmittag, während er eingehend eine gesprun‐ gene Bodenfliese betrachtete (die er selbst beschädigt hat‐ te, wie ich schnell hinzufügen möchte, ein unglücklicher Unfall beim Aufstellen der neuen Geschirrspülmaschine, da just zu dem Zeitpunkt eine meiner eher üppigeren 188
Art Nachbarinnen beschloss, ihre tägliche Joggingrunde zu drehen). »Weiß ich nicht«, sagte ich und blickte von der Zeitung auf. »Wahrscheinlich die Tiefkühltruhe.« An ihr gelegentli‐ ches grillenähnliches Surren hatte ich mich gewöhnt; ich fand es beruhigend. Er öffnete die Truhe. »Du lieber Himmel! Wann wurde die zum letzten Mal abgetaut?« Abgetaut? Machen die Dinger das nicht von selbst, wenn man sie nur lange genug in Ruhe lässt, so wie die jahrzehn‐ tealten Gummistiefel hinten im Schrank ihre Löcher hof‐ fentlich selbstständig geflickt haben werden, falls und wenn ich sie das nächste Mal hervorziehe? »Keine Ahnung, ob ich das schon mal gemacht habe.« Er begutachtete die öde Landschaft aus eisüberzogenen Brotlaiben und mumifizierten Wodkaflaschen. »Ist Ihnen klar, dass der Vakuumverschluss wegen der Eisbildung hier nicht mehr richtig arbeiten kann?« Hä? »Wie bitte?« »Die Tür schließt nicht mehr richtig. Die Truhe macht dieses Geräusch, weil sie ständig versucht, die entweichende Kaltluft zu ersetzen.« Das würde den kalten Luftzug in der Küche erklären. »Deshalb bekomme ich aber keine neue Kühltruhe, oder?« »Nein.« »Und das Abtauen gehört auch nicht zu Ihren Aufga‐ ben?« »Nein.« Schade, dass man keine neuen Haushaltsgeräte von der Vermieterin bekommt, wenn man die alten vernachlässigt hat. Bei der nächsten Verlängerung muss ich mir den Miet‐ vertrag wirklich mal etwas genauer ansehen. Während der Handwerker also Pause machte, Tee trank und die zahlrei‐ 189
chen, vielgestaltigen Zerstreuungen eines der besseren Sen‐ sationsblättchen dieses Landes genoss, attackierte ich die Eislandschaft wie ein unerschrockener Polarforscher oder zurückgebliebener Großstadt‐Kannibale mit einem Gemü‐ semesser, das ich in mit Trockentüchern umwickelten Hän‐ den hielt. Die Bodenfliese ist immer noch nicht ersetzt. A2 mit seiner Latexliebe ist überaus glücklich mit seinem neuen Fetisch und äußerst besorgt um mein seelisches Wohlergehen. Ich verkneife mir die Bemerkung, dass ich lieber allein bleibe, falls die Alternative zum Singledasein darin besteht, wie eine explodierte Gummifabrik zu rie‐ chen. Vielen Dank auch. Wir trafen uns auf eine Tasse Kaffee und um zu sehen, was so auf dem Markt war. Besser gesagt: Er sichtete den Markt, während ich mich nach allen Kräften bemühte, sei‐ ne unvermeidlichen Kuppelversuche ins Leere laufen zu lassen. »Links hinter mir«, tuschelte A2. Ich reckte den Hals, um zu sehen, wer da war. »Nein, guck nicht so da hin! Nur ganz kurz! « Wo sind wir denn hier? In der Grundschule? Willst du mich küssen ?Ja oder nein, bitte ankreuzen. »Du hörst dich schon an wie meine Mutter«, sagte ich naserümpfend. »Außerdem ist der Typ zu klein.« »Woher willst du das wissen? Er sitzt doch noch.« »Glaub mir, ich weiß Bescheid.« Blaues Button‐Down‐ Hemd aus Baumwolle, in die Hose gestopft, hohe Taille. »Der hat bestimmt alle Romane von Patrick O’Brian zu Hause.« 190
»Das kann doch nicht wahr sein !« A2 sieht scheinbar den Wald vor lauter Gummibäumen nicht mehr. »Du kannst doch nicht jemanden wegen seines Geschmacks ablehnen – oder schlimmer noch, was du für seinen Geschmack hältst.« »Das kann ich wohl, und ich tue es auch.« Als wir kurz darauf gemeinsam ein Pain au chocolat ver‐ zehrten, entdeckte er einen anderen geeigneten Liebhaber. »Links von dir. Der Große. Liest gerade.« Ich drehte mich um. Ein wirklich lang geratenes Exem‐ plar verstaute seine Beine unter dem Tisch, in der Hand ein Taschenbuch, Requiem für einen Traum. »Nicht schlecht«, sinnierte ich. Doch dann ... nein! »Iiih, ein Raucher, vergiss es!« »Aber du warst doch schon mit Rauchern zusammen.« »Das ist vorbei«, sagte ich. »Wenn man schon ein teures, sinnloses Hobby haben muss, dann besser Skifahren. Oder noch besser: mir teure, sinnlose Sachen kaufen.« »Wenn du so weitermachst, wirst du einsam sterben.« Und das sagt mir ein Mensch, der mir mit dreiundzwan‐ zig Jahren eröffnete, er habe seit sechs Monaten keinen Sex mehr gehabt und nehme sich deshalb vollständig vom Markt? Das sagt mir ein Mensch, der sich jahraus, jahrein nach seiner ersten Freundin verzehrt, die er seit seinem siebzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen hat? Wer sol‐ che Freunde hat, der braucht keine Verwandten mehr! Ich spottete: »Wie, in meinem Alter soll ich es schon hin‐ ter mir haben? Außerdem, mein talkumgepuderter Freund, sterben wir sowieso alle allein.« 191
Ich habe einen Kunden, den ich jetzt zum zweiten Mal ge‐ troffen habe. Scharf geschnittenes Gesicht, hohe Wangen‐ knochen, glasklare Augen und beneidenswerte Wimpern. Ein cooler Mensch, auf eine herbe Art gut aussehend. Lie‐ benswürdig, klug. Wir sprechen über Bücher, er ist Inge‐ nieur und hasst seine Arbeit, wir unterhalten uns über The‐ aterstücke und Filme. Ich schwärme von Ben Kingsley in dieser oder jenen Rolle, von Anthony Sher. Er muss grinsen. Keine Ahnung, warum er Single ist. Vielleicht will er einfach allein sein? Ich verließ das Mietshaus in Richtung Fluss, um mir ein Taxi zu suchen. Auf dem Weg zum Taxistand kam ich am Eingang einer U‐Bahnstation vorbei, wo ein Mann ohne Beine hockte und bettelte. »Eine Spende für die Behinderten, eine Spende für die Behinderten«, leierte er vor sich hin. Eine Schweißperle lief meinen Oberschenkel hinab, viel‐ leicht der einzige Teil von mir, der wirklich warm war. Der Tropfen sickerte ins Strumpfband. Kurz darauf hörte ich wieder die Stimme des Mannes ohne Beine. »Eine Spende fur die Behinderten, eine Spende für die Behinderten.« Er. sprach etwas eintönig, ein Singsang, der zum Rhythmus der. Schritte um ihn herum passte. »Eine Spende für die Behin‐ derten, eine Spende für die Behinderten.« Ich stand Schlange, längere Zeit kam kein Taxi. Ein klei‐ ner, untersetzter Mann mit überquellenden Plastiktüten trat auf mich zu. »Hast du Jesus als deinen Herrn erkannt?«, fragte er. Aus seinem Mund klang es reflexhaft, eine nichts sagende Phrase, die er jedem zur Begrüßung entgegenwirft. »Tut mir Leid, bin Jüdin«, entgegnete ich. Meine Stan‐ 192
dardantwort. Eigentlich ist es für mich eher eine kulturelle als eine religiöse Frage, aber es reicht allemal, um mir die Verrückten vom Hals zu halten. Er nickte verständnisvoll, sein Blick verharrte auf Höhe meiner Schulter. »Die Juden wollten einen König, und Gott schickte ihnen einen, aber er war manisch‐depressiv! Er hat sich draußen in den Büschen versteckt und die Leute ange‐ schrien.« »Kein besonders nützlicher König, würde ich sagen«, gab ich zurück. »Ich werde frieren da oben auf der Brücke«, sagte er, sammelte seine Einkaufstüten zusammen und ging weiter. Heute habe ich bekommen: 1£ Wechselgeld (von 2£, habe den Bus genommen), ein Paar weiße Socken (aus dem Fitness‐Studio, hatte ich dort vergessen), einen Personal‐Alarm‐Anhänger (von einem Freund), ein Silberarmband mit Bernstein (von einem Kunden), fünf von diesen komischen leuchtenden Plastikblu‐ men (von einem nicht zahlenden Bewunderer), die Handwerkerrechnung (wollte das nicht die Ver‐ mieterin übernehmen?), vielsagende Blicke von einem Taxifahrer (er wusste of‐ fenbar Bescheid), eine Erkältung (siehe erster Eintrag oben). Das heißt also, das viel gepriesene, verbesserte öffentliche Transportwesen von Ken Livingstone erweist sich als durch‐ 193
aus »öffentlich«, jedenfalls trifft die Bezeichnung eher zu als »Transport«. Egal, eine gute Zeit, um sich mit ein paar schönen Büchern zurückzuziehen und sich von den Liebs‐ ten Pfannkuchen bringen zu lassen. Das geheimnisvolle Auto ist wieder da. Ich will nicht hinse‐ hen, kann aber auch nicht wegschauen. Ich weiß nicht, ob ich es mir nur einbilde; darf nicht vergessen, alle Türen ab‐ zuschließen; die Handwerker sehen mich schon so komisch an; überlege, ob ich mir eine Kraushaarperücke und eine riesige Sonnenbrille à la Jackie O kaufen soll, und zwar nicht nur, um einen auf Retro zu machen. Ansonsten geht es mir etwas besser, danke der Nachfrage. Er: »Ähm, du hast da ein ... ich weiß nicht, ob ... « Ich (blicke mich über die Schulter zu dem Mann um, der hinter mir kniet): »Alles in Ordnung, Süßer?« »Da ist ein ... Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ...« Ich bekam Angst – was meinte er? Eine Narbe vom Rasie‐ ren? Ein Büschel Haare, das ich vergessen hatte? Ein wo‐ chenalter Tampon? Ein Stummelschwanz? »Was denn?« »Du hast hier blaue Flecken auf den Oberschenkeln.« »Ach, so! Das kommt nur, weil du nicht der Erste bist, der diesen Weg etwas heftiger beschreitet, mein Schatz. In Ord‐ nung? Wir können es auch anders machen.« »Ach, nee«, sagte er, wurde härter und stieß kräftiger zu. »Erzähl mir lieber, wie es passiert ist.« 194
A1 hatte einen runden Geburtstag. Seine Freundin bereite‐ te alles vor und reservierte einen Tisch bei einem über‐ schätzten Inder in Clerkenwell. Dafür, dass sie keinen Ge‐ schmack hat, war es ganz in Ordnung. Ich freute mich darauf, in einer großen Gruppe auszu‐ gehen. Die Arbeit ist manchmal anstrengend. Es ist so, als hätte man ständig neue Verabredungen mit Unbekannten, Blind Dates, bei denen man sich bemüht, immer schön lo‐ cker flockig zu bleiben, obwohl man weiß, dass nur sehr we‐ nig dabei herauskommt. Das zehrt. Die jüngste Flut echter Verabredungen war da nicht unbedingt hilfreich. Und auch wenn ich gerne mit meinen engsten Freunden in Cafés und Bars herumhänge, besteht doch immer die Gefahr, sich irgendwann so gut zu kennen, dass man jegliche Konversa‐ tionsfähigkeit verliert. Schließlich kann man nur mit Leu‐ ten, die man seit der Pubertät kennt, sich die Zeit so vertrei‐ ben: » Weißt du noch ... « plus Handbewegung. »Ja, genau wie in dem Film damals. « » O Gott, und was B immer mit dem Arm machte!« Jedes Zitat aus Star Wars. Anspielung auf die Politik der Neunziger. Zufriedenes Schweigen oder halbstündige, unerklärliche Lach‐ anfälle. Es ist nicht einfach, diese Festung zu erobern. Die Freun‐ dinnen von N und den As fühlen sich immer außen vor, auch wenn sie noch so charmant sind und die tollsten Ta‐ lente haben. Es gab mal eine, die war in einer Kommune in 195
Südafrika aufgewachsen, hatte ihr Haus komplett selbst ge‐ baut und war noch nie bei McDonald’s gewesen (eigentlich ein bewundernswerter Zug). Aber da sie nicht aus Die Braut‐ Prinzessin zitieren konnte, saß sie ständig völlig ahnungslos herum, besonders als A2 versuchte, ihr mit der Erklärung, das Leben sei Schmerz, einen Heiratsantrag zu machen – leider vergeblich. Wir müssen öfter vor die Tür. Unter Leute. Normale Leu‐ te. Ich kam spät, todschick in einer schwarzen Seidenbluse und einer super sitzenden Hose. Hochgestecktes Haar, un‐ auffällige Perlenohrringe. Okay, vielleicht sah ich wie eine Gruftie‐Sekretärin aus. Aber egal. Die Tischgesellschaft war lebhaft, die Getränke flossen in Strömen, die Gespräche wa‐ ren wunderbar, herrlich normal. Ich saß gegenüber von N, der seine Freundin Angel mitgebracht hatte (die Professio‐ nelle, mit der ich vor einem Monat aneinander geraten war). Anscheinend war sie wieder zu Verstand gekommen, sie wirkte fröhlich und vergnügt. Irgendwann beim Essen bat mich Angel um mein Handy‐ ihr Akku sei leer –, um eine SMS zu verschicken. Da ich ein argloser Mensch bin und gerade heftig mit dem blauäugi‐ gen Adonis zu meiner Rechten flirtete, prüfte ich anschlie‐ ßend nicht, was sie wem geschickt hatte. Und so war ich überrascht, als »Erstes Date« auftauchte. Er lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Er sah sich um und setzte sich neben Angel. Interessant. Ich hätte wissen müs‐ sen, dass sich die beiden kennen, hätte sie aber niemals für ein Paar gehalten. Adonis lächelte ebenfalls und stellte sich quer über den Tisch vor. »Erstes Date« schüttelte ihm die Hand. »Und, mit wem bist du hier?«, fragte Adonis. »Mit ihr«, sagte er und nickte mir zu. 196
Ich lachte nervös. »Ach, ja?« »Hast du mich nicht eben eingeladen?« Wütend schaute ich Angel an. »Das hat vielleicht so aus‐ gesehen«, sagte ich. »Aber ich bin es nicht gewesen – tut mir Leid.« Für den Rest des Essens verschwendete ich meine Auf‐ merksamkeit an das blasse, schüchterne Mädchen ne‐ ben mir, während sich Adonis und »Erstes Date« – die, wie sich herausstellte, gemeinsame Bekannte hatten – angeregt über die Studienzeit unterhielten. N verabschiedete sich früh, Adonis verdrückte sich höflich, am anderen Ende des Tisches gingen die Gäste zu jemandem nach Hause. Ich blieb mit Angel und »Erstes Date« zurück. Sie schlug vor, in eine Bar zu gehen, die sie kannte, und ging ihr Auto holen. »Erstes Date« und ich traten auf die Straße. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Schon vergessen«, erwiderte ich, obwohl das nicht der Fall war. »Ich wusste nicht, dass die SMS nicht von dir war.« »Natürlich nicht.« »Bin ich ... bin ich im Weg?« Ich sah ihn an, wütend auf die Situation, wütend darüber, gelinkt worden zu sein, auch wenn er selbst keine Schuld daran trug. Wütend darüber, wütend zu sein. Wieso regte ich mich überhaupt auf? Am meisten störte mich seine Ver‐ wundbarkeit, sein Bedürfnis, von mir gebraucht zu werden. Seine Stimme hatte diesen seltsamen Klang ... »Ich liebe dich nämlich.« Eben. Ich seufzte und schloss die Augen. Lange standen wir auf dem Bürgersteig und schwiegen. Ich sah auf meine Schuhe, er schaute mich an. Ich wollte diese Situation nicht, ich wollte nicht so sein. Ein Mann kam vorbei und fragte nach 197
dem Weg; wir schickten ihn zur nächsten Querstraße. Angst überkam mich, ein schwarzer Nebel legte sich über mich, dieses Gefühl, in der Falle zu sitzen, umgeben von wohlmei‐ nenden Freunden, gefangen vom Schicksal. »Ich nehme ein Taxi«, sagte ich schließlich. »Allein. Treff du dich mit Angel in der Bar, sonst denkt sie, wir hätten sie im Stich ge‐ lassen.« Oder seien zusammen nach Hause gegangen, fügte ich in Gedanken hinzu.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich drei Anru‐ fe in Abwesenheit und eine SMS. Die ersten beiden Nummern kannte ich nicht. Keine Nachricht hinterlassen. Nicht unüblich, aber ich hatte so ein Gefühl. Ich rief zurück. »Guten Morgen. Haben Sie mich zufällig gestern Abend angerufen?« Beide waren verwirrt, beide kannten mich nicht, hatten aber, wenn man der Anrufliste vertrauen konnte, versucht, mich zu erreichen. Es stellte sich heraus, dass Angel mehr als eine SMS verschickt hatte. Die Leute hatten versucht, sie unter meiner Nummer zu sprechen. Ich bin so bescheuert! Immerhin waren es keine Telefo‐ nate ins Ausland. Der dritte Anruf in Abwesenheit war von »Erstes Date«, irgendwann spät nachts. Die SMS war auch von ihm: »Bist du immer noch mit N zusammen? Wenn ja, ist dir klar, dass ich nichts davon wusste?« Seufz. Ich rief ihn an. Er saß bereits am Schreibtisch. »Hallo, sorry, dass ich dich bei der Arbeit störe.« »Schon gut.« Er klang überrascht 198
»Ich hab deine SMS bekommen.« Er sagte nichts. »Ich bin nicht mit N zusammen. Seit Jahren nicht mehr. Wer hat dir das erzählt?« Immer noch keine Antwort. »Schon gut, ich muss gar nicht fragen, oder?« »Es sieht aus, als hättet ihr ein so enges Verhältnis, und da ihr beide Single seid ... « »Heißt das automatisch, dass wir mehr als gute Freunde sein müssen?« »Ähm, nein, heißt es nicht.« Er überlegte. »Aber Angel war richtig erstaunt, als sie hörte, dass wir beide ein Paar sind. Sie hat gefragt, obichnichtvondirundNwüsste.« »Entschuldige bitte mal ... wir beide sollen ein Paar sein?« »Hm.« »Gut, mal abgesehen davon – du glaubst jemandem, den du kaum kennst, mehr als mir, was mein Leben angeht?« »Ähm ...« »Das darf doch echt nicht wahr sein!« »He, beruhige dich. Ich liebe dich. Du bist mir wichtig. Ich ...« Aaah, schon wieder diese schrecklichen Worte! »Ich emp‐ finde aber nicht so. Falls du das bisher noch nicht wusstest, dann weißt du es jetzt. Ich will deine Gefühle nicht schlecht machen, ich sage auch nicht, dass sie falsch sind, aber du weißt rein gar nichts über mich. Was du fühlst, berechtigt dich zu gar nichts.« Oh, hör besser auf, Belle! Ich weiß, dass ich laut geworden war und alles falsch herauskam. Ich wollte nichts von ihm, aber ich wollte das jetzt ein für alle Mal klä‐ ren, ohne dass er mich für das größte Arschloch aller Zeiten hielt. Nein, vergessen wir das. Je eher er begreift, desto schnel‐ ler kann er sich jemanden suchen, den er wirklich liebt. Ich will nicht mit ihm sprechen. Ich will das hier nicht. Ich muss jetzt hart sein. 199
»Das ist bestimmt nur ein großes Missverständnis. Wir können mit ihr reden, dann wird sie bestimmt ... « »Ach, lass es gut sein. Ich will nicht mehr darüber spre‐ chen. Ich will nicht mit ihr reden. Auch nicht mit dir. Mir ist das Ganze eigentlich ziemlich egal.« »Aber ich ... « »Tschüss.« Schweigen. Ich sah sein Gesicht vor mir, ich wusste, wie ich an seiner Stelle aussehen würde und in dieser Situation schon ausgesehen habe. Würde er jetzt um eine Gnaden‐ frist betteln oder es mit Anstand nehmen? Zu seinen Gun‐ sten muss ich sagen, dass er sich für Letzteres entschied. »Tschüss. Viel Glück für die Zukunft. Du wirst mir fehlen.« »Danke«. Ich legte auf. Ging zum Computer und schickte dieser Frau eine gesalzene E‐Mail wegen der SMS und ihres Gesprächs mit »Erstes Date«. Es kam mir feige vor, mich hin‐ ter einem virtuellen Vorhang zu verstecken, aber ich bezwei‐ feite, dass ich am Telefon würde ruhig bleiben können. Tip‐ pen, durchlesen, abschicken. Dann frühstückte ich, ein we‐ nig traurig, ein wenig mitgenommen. Selbst der Gedanke, dass eigentlich sowieso alles egal war, heiterte mich nicht so recht auf.
Wenn ein bisschen Zeit vergangen ist, fällt einem oft nicht mehr ein, wann, warum und wieso man jemanden mochte. Es ist schön, aus sicherer Entfernung an Verflossene zurück‐ zudenken. Zum Beispiel an den Jungen, der mich mit fünf‐ zehn im Schwimmbad betatscht hat. An die Beziehung zu dem Schulfreund, die scheiterte, weil er eine Abneigung ge‐ gen Cunnilingus hatte. An A1, dessen Fähigkeit, mit mei‐ 200
nem Körper umzugehen, gleichzeitig lustig und beängsti‐ gend war. An das erste Mal mit einem, an den ich immer noch voller Zuneigung denke, in den ich mich schnell und heftig verliebte, oder an die tausend Male, die wir danach zusammen waren, und an das letzte Mal mit ihm. An die Männer, von denen ich nicht genug bekommen konnte. An ihren Geruch, ihre Haut, ihren Geschmack. An all die Male, die ich mit dem Boy zusammen war und hoffte, er würde jetzt endlich aufhören zu reden und mit mir bum‐ sen, weil ich noch nie mit jemandem auf diese Art gekom‐ men war, noch nie. An die Male, wo Sex nicht nur ein körper‐ liches Bedürfnis, sondern ebenso eine spirituelle Erfahrung war. Und dass mich diese Erlebnisse wochenlang trugen, wie Perlen auf der Schnur einer todgeweihten Beziehung. Es ist nett, sich an Menschen zu erinnern, mit denen es schon war. Auf diese Weise verfliegt die Zeit in Zügen und Taxis. Ich verbringe noch ein wenig Zeit bei meinen Eltern, ehe sie in Urlaub fahren. Lasse mir den neuesten Klatsch be‐ richten, mache Umstände und bin im Weg, so wie es sich für die älteste Tochter gehört. Aha, meine Mutter muss nächsten Monat zu einer Hoch‐ zeit. Eine Zeremonie, bei der die beiden Bräute weiß tragen und Ringe austauschen werden. Und wenn sie nicht gestor‐ ben sind ... Die beiden sind alte Bekannte der Familie. Un‐ sere Freude könnte nicht größer sein. Nur findet Mama lei‐ der keine Begleitung für den Termin. Denn ihr sonstiger Partner, mein Vater, hat angeblich »nicht die richtige Ein‐ stellung«. 201
Dabei hat er gar nichts gegen Lesben (welcher Mann hat das schon, zumindest theoretisch?), er ist auch nicht beses‐ sen vom heiligen Sakrament der Ehe (Anmerkung für die Mächtigen dieser Welt: In einer Zeit, in der die bestverdie‐ nende Künstlerin der Welt in Jeans und Baseballkappe be‐ trunken zum Altar stolpern darf, nur um die Verbindung vierundzwanzig Stunden später wieder annullieren zu las‐ sen, in der aber treue Lebensgefährten sich nicht als Ehe‐ leute bezeichnen dürfen, in so einer Zeit ist wirklich etwas faul im Staate Dänemark). Nein, ganz im Gegenteil hat Pa‐ pas übertriebene Begeisterung für das freudige Ereignis dazu geführt, dass er von der Gästeliste gestrichen wurde. Denn er besteht vollen Ernstes darauf, für den anschlie‐ ßenden Empfang Stripper zu bestellen. Mein Vater gehört nicht zu den Leuten, die Witze machen, nein, schlimmer:, Er ist berüchtigt für sein mangelndes gesellschaftliches Feingefühl. Wir saßen bei Bagels, er gab die Geschichte zum Besten. Mutter verdrehte die Augen, anscheinend ein genetisch programmierter Reflex. »Männliche oder weibli‐ che?«, fragte ich, ein wenig zu interessiert. »Oh, nein!«, stöhnte Mama. »Weibliche!«, rief er. »Überall nackte Weiber!« Habe ich schon erwähnt, dass mein Vater ein peinlicher Perversling ist? Liegt wahrscheinlich auch im Blut. »Ich weiß ja nicht, ob das so recht zu einer Hochzeit passt«, sagte ich. Mama nickte weise, ihr schwarzer Pagenkopf wippte. »Ge‐ nau.« Zu Papa sagte sie: »Siehst du? Siehst du? Niemand fin‐ det deine Idee gut –« »Nein«, unterbrach ich sie. »Das ist keine gute Idee. Aber ein Junggesellinnenabschied mit Strippern, das wäre doch was –« »Bring ihn nicht auf solche Ideen!« Wütend funkelte 202
meine Mutter mich an, während Papa schadenfroh begann, plane zu schmieden. Gestern war ich mit Mama einkaufen. Seit Jahren sind wir nicht mehr gemeinsam auf einen Laden losgelassen wor‐ den, aber eins steht fest: Die Angestellten werden noch ih‐ ren Kindern und Kindeskindern von unserer Einkaufstour erzählen. Wir sind laut, wir arbeiten im Team, haben richtig Geld auf der Tasche und lassen uns zwischen Schuhen und Unterwäsche von nichts aufhalten. Sie ist auf dem Florida‐Trip (okay, welche Dame in ihrem Alter ist das nicht?). Drucke à la Lily Pulitzer, grelle Farben, Seidenstoffe, weiße Hosen. Ich bin genetisch darauf pro‐ grammiert, dasselbe zu wollen, wohne aber in einer schmut‐ zigen Stadt. Man kann keine beigen Wollsachen tragen, wenn man ständig im Dreck sitzen muss. Zuerst ging es zu den Schuhen. Gleiche Größe, gleicher Geschmack: Auf der Suche nach Riemchensandalen in Frùhlingsgrûn und Blau stellte sie drei Läden auf den Kopf; ich ebenfalls, nur suchte ich Schuhe in Beige und Schwarz. Handtaschen, Kostüme, Unterwäsche: Alles ging vor uns in die Knie. Mama muss mindestens drei Outfits erstanden ha‐ ben, die sie zur Hochzeit tragen kann, dazu so viel Urlaubs‐ kleidung, dass sie eine ganze Armee hätte ausstatten kön‐ nen. Mit Mühe konnte ich sie von perlenbestickten Twinsets mit Blumendruck abhalten; sie warnte mich, meine Knö‐ chel wirkten in den auf alt gemachten Schuhen »knubbe‐ lig«. Das ist die Macht der bedingungslosen Liebe. Nur eine Mutter kann ihrer Tochter »Man sieht deinen Slip!« in ei‐ 203
ner Lautstärke zurufen, die das Gebäude fast zum Einsturz bringt, und das überleben. Sie: »Schätzchen, Grün steht dir ja sooo gut! Gefällt dir das nicht?« Ich: »Weiß nicht, darin sehe ich so großbusig aus.« Sie (reckt ihren eigenen gewaltigen Vorbau) : »Man kann gar nicht großbusig genug aussehen. Oder willst du ausse‐ hen wie ein kleines Mädchen?« Und wirft das Kleidungs‐ stück zu meinen Sachen. Ich erschaudere in Ehrfurcht vor dem überlegenen Intel‐ lekt. 204
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àtnctù, l& / mar& 206
Bin noch im Norden, schlafe auf dem Sofa von einem der As, suche einen guten Masseur und trinke zu viele Cocktails mit Tequila. Hier gibt es eine Katze. Sobald sie mich sieht, springt sie auf meinen Schoß und fängt an zu schnurren wie ein eingerosteter Motor. Im Moment ist es sehr gemütlich und kuschelig. Ich spiele mit dem Gedanken, nie mehr nach London zurückzukehren. War nur Spaß! In ein oder zwei Tagen bin ich wieder da. In meiner brandneuen, zarten pastellblauen Unterwäsche. Scheinbar ist es unser aller Los, Angst vor dem Alter zu ha‐ ben. Wenn man jung ist, kann man sich nicht vorstellen, je‐ mals so alt wie die Verwandten zu werden, und genauso we‐ nig, dass sie ihrerseits einmal jung waren. Wenn das erste Hochgefühl der Jugend verflogen ist, be‐ kommt man es so langsam mit der Angst. Die Blicke alter Menschen auf der Straße – vor kurzem noch hat man sie einfach übersehen – scheinen sich in einen zu bohren. Du bist auch bald so weit, mögen sie sagen. Es ist nicht lange her, da sah ich meine eigene Zukunft. Genauer gesagt: Ich hörte sie. Ich war bei meinen Eltern. Mutter und Großmutter unterhielten sich in der Küche. Sie wussten nicht, dass ich 207
jedes Wort verstehen konnte, da ich im Zimmer um die Ecke meine E‐Mails bearbeitete. Allerdings achtete ich nicht weiter auf ihr Geplauder, bis ein Wort meine Aufmerk‐ samkeit erregte: Schamhaar. Meine Mutter sagte zu ihrer Mutter: »Ich fühle mich alt. Erst letztens habe ich festgestellt, dass mein Schamhaar jetzt fast völlig grau ist.« Worauf meine Großmutter antwortete: »Das findest du schlimm? Dann wart mal ab, bis es dir ausfällt.« Ich glaube, ich gebe mir lieber jetzt gleich die Kugel, be‐ vor es zu spät ist. Nur mit einem der vier As habe ich nicht geschlafen. Mit A3. Als wir uns kennen lernten, spürten wir eine unmittel‐ bare, überwältigende Anziehungskraft. Wir schmusten he‐ rum, gingen aber nicht weiter. Er wohnte in einer anderen Stadt, und als er nach Hause fuhr, fühlte ich mich allein. Es war dieses Gefühl, wenn die gesamte angestaute Energie in die Beine zieht und man ein‐ fach nur noch rennen will, immer weiter, bis man von einer Klippe springt. Ich vertraute mich A2 an. Ich war schwer verliebt und musste den Mann wieder sehen. Wir entwickelten einen Plan: Ich würde A3 überraschen und am Wochenende vor seiner Tür stehen. Mal sehen, was passieren würde. Ich hatte noch vier Tage, um alles vorzube‐ reiten. Ich tat, was jedes Mädchen tun würde: Ich schlief mit A2. Noch dabei? Nein? Wie wär’s hiermit: Damals war ich mit A4 zusam‐ men. Es lief zwar nicht mehr richtig, aber wir waren noch 208
ein Paar, so gerade. Das sinkende Schiff zu verlassen, stand ganz oben auf meiner Liste. Es sah aus, als böte sich hier eine gute Gelegenheit. A4 war also unterwegs, auf einer Konferenz, ich schlafe mit unserem gemeinsamen Freund A2 und plane, mich A3 an den Hals zu werfen. Als das Wochenende kommt, stehe ich vor A3s Tür. Er hatte eine Freundin. Ich wusste es nicht. Erst als sie mir die Tür öffnete. Ihr fragendes Lächeln sagte mir, dass sie keine Ahnung hatte, was vor sich ging, und ich kam mir genauso blöd vor. Ich verdrückte mich wie Paula Radcliffe auf Speed. A4 und ich trennten uns in aller Form; A2 und ich versuch‐ ten es noch mal, aber es klappte nicht. Inzwischen hat sich al‐ les eingerenkt, die vier sind miteinander befreundet. Die meisten Leute, die uns treffen, halten A4 für meinen Mann, A2 für meinen Bruder und A1 für unseren Onkel – nicht weil er so alt aussieht, wie wir ihm versichern, sondern weil er so viel Autorität ausstrahlt. Aber immer dräut dieses kleine Pro‐ blem mit A3. Selbst nach all den Jahren ist er noch mit dem Mädchen von damals zusammen. Und wenn wir manchmal ausgehen und er sich besäuft, wird er besonders anhänglich. Aber das reicht nicht, mein Schatz. Du kommst um Jahre zu spät. Vor ein paar Tagen waren wir abends gemeinsam essen. A2 stellte mich einem Kollegen vor. Als ob er mich auf ihn hätte aufmerksam machen müssen! Der Mann war mir ins Auge gefallen, kaum dass er den Raum betreten hatte. »Nett«, flüsterte ich A2 zu. »Ich dachte, er wäre genau dein Typ«, grinste er zurück. Das war er. Schick gekleidet, sportliche Figur und Hände, die ich schon auf meinem gesamten Körper fühlen konnte. Klug, höflich, hübsche Lippen. »Und, woher kommt er?« 209
»Ursprünglich aus dem Süden.« »Aha. Wo hast du den die ganze Zeit versteckt?« »Er wohnt in San Diego.« »Oh. Warum?« A2 zuckte mit den Schultern. »Beruflich.« Ich runzelte die Stirn. Ich wollte keine Wiederholung der Geschichte mit »Erstes Date«. Eine Affäre auf 10000 Kilome‐ ter Entfernung kam nicht in Frage, es sei denn, ich bekom‐ me die Reisekosten ersetzt. Ich habe den Ozean schon ein‐ mal für ein goldenes Herz überquert und dann feststellen müssen, dass es nicht die Mühe wert gewesen war. Dennoch flirtete ich während des Essens mit A2s Kollegen und den an‐ deren Kerlen. Gesellschaftlicher Schmierstoff. Schließlich war A2 müde und fuhr nach Hause. Dr. California überließ er den fähigen Händen von mir, A3 und A4. Wir gingen in einen Pub. A3 war sturzbetrunken. »Schö‐ ner Pferdeschwanz«, sagte er und strich mir übers Haar. Er schloss die Finger um die Strähnen und zog daran. Die Haut in meinem Nacken kitzelte. Versteh mich keiner falsch: Ich könnte den Kerl immer noch anspringen, aber von Dreiecksbeziehungen habe ich die Nase voll. »Danke«, sagte ich und entzog mich seinem Griff. Dr. California stellte Billardkugeln auf. Mehrere Stunden drehten wir vier unsere Kreise um den Tisch, ich zusammen mit meinem offiziellen Ex A4, er mit meinem inoffiziellen Schwärm A3. Ein paar Leute kamen vorbei, die ich seit Jarw ren nicht mehr gesehen hatte; wir lachten und erzählten uns die neusten Geschichten. Mein Blick folgte Dr. Califor‐ nias geschmeidigem Körper durch den Raum, wie er die Kugeln abschätzte, sich auf den Stoß vorbereitete, wie er selbstbewusst den Unterarm nach vorne durchzog. Können macht mich einfach an. Wenn er den Queue an mich weiterreichte, fuhr ich 210
manchmal mit der Hand über seinen Rücken. Knackiger Arsch. A3 beobachtete mich wütend, wurde immer besoffener und aggressiver. Irgendwann grummelte er etwas über den letzten Zug nach Hause. Auf dem Weg nach draußen zog er mich grob an sich. Ich küsste ihn auf die Nase. »Gute Nacht«, trällerte ich. Er umarmte mich noch fester, hob mich hoch, ich stand auf Zehenspitzen. Vor versammelter Mannschaft drückte er mir einen Kuss auf den Mund. Seit Jahren war er nicht mehr so direkt gewesen. Ich wandte das Gesicht ab. Heiß at‐ mete er mir ins Ohr. »Sei vorsichtig! Ich möchte nicht, dass der Neue sofort verdorben wird«, sagte er und ging. Wir stellten die Queues beiseite und tranken aus. A4 hol‐ te die Jacken und ging zur Tür. Ich legte Dr. C die Hand auf den Arm und hielt ihn zu‐ rück, bis A4 draußen war. »Darf ich dich küssen?« »Bitte«, sagte er. Wir knutschten in der offenen Tür und verstellten dabei den Ausgang. »Wo schläfst du?«, fragte er. Auf A2s Sofa, erklärte ich. »Ich habe ein riesiges Bett im Hotel«, sagte er. »Super!« A4 wartete draußen und winkte uns nach, bis wir um die Ecke verschwunden waren. Ungefähr eine Straße vor dem Hotel sagte Dr. C: »Du kannst dich nicht an mich erinnern, oder?« »Nein.« »Wir haben uns vor drei Jahren schon mal kennen ge‐ lernt. Ich fand dich damals schon toll.« »Tut mir Leid, das weiß ich nicht mehr.« Er grinste. Wir durchquerten die schwach beleuchtete Lobby des Hotels und stiegen hoch in den ersten Stock. Unterwegs nickte ich einem Bekannten zu. Wie klein die 211
Welt doch ist! Bis morgen früh werden alle meine Freunde und Verwandten Bescheid wissen, dachte ich. Kaum hatten wir die Tür hinter uns geschlossen, gingen wir uns an die Wäsche. Dr. Cs Körper war so tadellos, wie der Mann gekleidet war. Seine Hände waren so herrlich, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich nahm seinen Penis in den Mund. »Ah, das ist klasse«, murmelte er. »Amerikanerin‐ nen wissen einfach nicht, wie man mit der Vorhaut um‐ geht.« Er fühlte sich gut an, er schmeckte und roch wunderbare Der Sex war toll, anders als bei der Arbeit. Es machte Spaß ich genoss seinen Körper, freute mich, meinen mit ihm zu teilen. Ich konnte einfach nicht aufhören, ihn zu berühren an ihm herumzuknabbern, ihn zu begehren. Es kam mir vor, als sei ich schon immer mit ihm zusammen gewesen. Immer wieder nahm er mich mit beeindruckendem Eifer. Wenn er kam, fuhren die Muskelkontraktionen wie eine Schallwelle auch durch mich hindurch, lösten den Alarm bei mir aus und brachten mich von innen zum Orgasmus. Wir schliefen einige Stunden, wachten auf, vögelten er‐ neut. Lauschten den Morgennachrichten im Radio. Das, Übliche: Bomben, Todesfälle, Wahlen im Ausland. Wir re‐ deten nicht viel miteinander. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Danke, das war herrlich, du weißt ja, dass wir uns nicht wiedersehen, oder? In wenigen Stunden würde ich nach London zurückkehren; er flog später nach San Diego. Und doch war es ein angenehmes Schweigen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es in eine lange Beziehung münde‐ te. Ich putzte mir die Zähne. Als ich aus dem Bad kam, war er bereits angezogen. Er sah zu, wie ich meinen Mantel um‐ warf, ich musste meinen Zug erreichen. »Brauchst du ein Taxi?«, fragte er. 212
Wie oft habe ich diese Frage schon gehört? »Nein, danke, ich gehe zu Fuß.« »Ist es nicht weit?« »Nein.« Er stand auf, kam zu mir. Legte mir die Hände auf die Hüften und küsste mich zärtlich. Ich lese bestimmt zu viel hinein, oder? Es war ein Kuss, der mehr versprach, falls ich dazu bereit war. Eine offene Frage, deren Antwort bereits bekannt war. »Komm gut heim«, sagte er. »Auf Wiedersehen«, erwiderte ich und ging. Kalifornien ist Tausende von Meilen entfernt. Ich lächelte vor mich hin. Der Morgen war wärmer und strahlender, als ich Grund ge‐ habt hätte zu erwarten. Ich bin wieder in London – ein ganz annehmbarer Früh‐ lingstag, nicht mörderisch heiß, aber angenehm genug, um draußen zu sitzen und die Zeitung zu lesen und sich zu überlegen, ob man den Mantel zu Hause lassen soll. Unter‐ wegs traf ich S, einen Freund vom Boy. Als Letztes hatte ich gehört, dass ihn die Rothaarige sitzen gelassen hatte, die sich mit dem Mitbewohner vom Boy die Zeit vertrieb. Theo‐ retisch ist S auch ein Freund von mir – obwohl wir uns nicht besonders gut kennen –, aber ich gehe davon aus, dass alle, die nicht innerhalb von 24 Stunden nach der Trennung an‐ gerufen, mir ein warmes Getränk angeboten oder mir mit‐ geteilt haben, dass die Männer sowieso alle Schweine sind, eher auf der Seite des Boys stehen. Ich lachte und winkte ihm zu. Er überquerte die Straße und küsste mich auf die Wange. »Das ist ja ewig her!«, sagte er. »Wie geht’s dir?« 213
»Ich strotze vor Gesundheit, wie immer«, erwiderte ich. »Und vor was sonst noch ... Wie läuft’s mit den Motorrad‐ stunden? « »Super gut«, sagte er. »Ich seh mir heute Nachmittag eine Ducati 996 an.« Zuverlässigstes Zeichen für einen neuen Jünger: Er streut unverständliche Fachbegriffe ins Ge‐ spräch ein. Der Gute! »Abgefahren«, entgegnete ich. »Oder besser doch nicht.« Wir lachten. »Hast du Lust, etwas essen zu gehen?« Wir setzten uns in ein trostloses orientalisches Café und aßen undefinierbares Fleisch in einer Tütensuppe. Wenigs‐ tens war Tee in Unmengen vorhanden, heiß und gratis. S ist jetzt mit einer Frau zusammen, die er in einem Zirkel von Motorradfreaks in Lederkluft kennen gelernt hat. Er muss‐ te sich beeilen, und ich bekam langsam eine Glutamat‐Ver‐ stopfung, deshalb gingen wir zusammen zur U‐Bahnstation Bayswater. »Ich weiß nicht, ob ich dich fragen soll, aber –« »Ich warte schon die ganze Zeit darauf, dass du damit an‐ fängst.« Wir blieben stehen. Die vom Mittagessen zurückkehren‐ den Angestellten schoben sich an uns vorbei. »Hm, mich interessiert nur, woran seiner Meinung nach unsere Bezie‐ hung kaputtgegangen ist?« Eine Riesenschleimspur, ich weiß, aber meine Neugier ist einfach zu groß. S wedelte hilflos mit den Händen. »Ach, das übliche Männergerede«, sagte er. »Zu wenig Zeit, zu große Entfer‐ nung ... Ich denke, in Wirklichkeit ist er noch nicht wirklich erwachsen.« »Das musst du nicht sagen, um mir einen Gefallen zu tun.« Ich lächelte ihn an. »Aber es stimmt. Er hat nicht viel Erfahrung mit Frauen.« 214
»Wenn er so weiter macht, wird das auch nicht besser wer‐ den, falls ich das sagen darf.« Den Spruch konnte ich mir einfach nicht verkneifen. »Habe ich ihm auch gesagt.« S seufzte und schaute de‐ monstrativ auf die Uhr. Wahrscheinlich hielt ich ihn auf. Außerdem war ich nervig, nur erpicht darauf, das Scheitern meiner letzten Beziehung zu analysieren. Nichts schlägt Männer wirkungsvoller in die Flucht. S gab mir einen Kuss auf die Wange. »War jedenfalls schön, dich wiederzuse‐ hen.« »Hat mich auch gefreut. Viel Spaß mit dem Bock!« (Höschen heute: Schmetterlingsdruck, am Beinabschluss total süße rosa Spitze.) Erhole mich gerade von der Kostümparty gestern und der Hopserei zur schlechtesten Musik der letzten zwanzigjahre. Ein Rabbi hat sich auf den Boden geworfen und getan, als schwimme er, während ein als Baum verkleideter Mann an‐ stößig über ihm tanzte. Scheinbar fühlen sich Juden durch die Tradition verpflichtet, an Purim aus der Rolle zu fallen und sich die Kante zu geben. Im Vergleich dazu ist Karneval ganz schön brav, was? Habe den ganzen Morgen meinen Kater gepflegt und verschiedene Ausgaben von Big Issue gelesen, eine von je‐ dem obdachlosen Verkäufer, der mir am Freitag über den Weg lief. Dabei mummle ich Gebäck, das mir ein Freund ganz früh heute Morgen vorbeigebracht hat. Muss gleich wieder ins Bett. Höschen heute: keins. Wer trägt schon Höschen im Bett? 215
Manchmal bin ich so ausgelaugt, dass ich nichts dagegen hätte, wenn jemand anders meinen Knochenjob überneh‐ men würde. Ich würde derweil kräftigende Ausflüge in den Norden machen. Die Auswahl der Frauen, die diese Ver‐ antwortung übernehmen wollen, müsste allerdings absolut wasserdicht sein. Ein wichtiges Kriterium für den Job wäre natürlich Intelli‐ genz. Und bretfharte Bauchmuskeln. Ich könnte von heute bis in alle Ewigkeit Sit‐ups machen und hätte trotzdem kein Waschbrett unterm Busen. Flach ist mein Bauch, das schon. Aber er ist halt kein Sixpack, nicht mal ein Viererpack alko‐ holfreies Bier. Wozu dieses masochistische Ochsen im Fit‐ ness‐Studio? Ich sollte meine Arbeit an ein besser aussehen‐ des Double outsourcen und stattdessen zu Hause bleiben, Geschichten verfassen und Plätzchen essen. Frauen, die ich nicht aus dem Bett werfen würde, wenn sie mich doubeln: Karolina Kurkova Carolina Kluft theoretisch alle Karolinas Anna Kurnikowa Anna Nicole Smith viele, aber nicht alle Annas Lisa Lopes Lisa Simpson eine ansehnliche Menge Lisas dieser Welt Liz Taylor Liz Hurley Ihre Majestät Liz II 216
Bitte kurzes Bewerbungsschreiben (DIN A4, einseitig) an die bekannte Adresse, dazu eine Erklärung, warum Sie ich sein möchten, plus alle Adressen und Referenzen. Mein imaginärer Assistent wird die Bewerbungen sichten und sich zwecks Terminabsprache für das Vorstellungsgespräch mit Ihnen in Verbindung setzen. Bitte Ganzkörperfoto in bester Unterwäsche beilegen. Schein ist wichtiger als Sein – wie immer. Der Kunde war ein junger Mann, nicht viel älter als ich. Er trug ein enges T‐Shirt und eine weite Hose, lässiger Stil, so wie meine Freunde sich kleiden. Ich fühlte mich aufgedonnert, overdressed in meinem Kostüm, zu stark geschminkt. »Hallo ... «, sagte ich lächelnd und sprach ihn mit seinem Namen an. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass ich an der falschen Tür geklopft hatte. Würde ein Mann eine nicht bestellte Nutte wegschicken? Wahrscheinlich erst, wenn sie Geld verlangt. »Hallo«, erwiderte er. Er hatte wunderschöne, glatte braune Haut und einen amerikanischen Akzent. Sein ge‐ samtes Gepäck lag im Zimmer herum, Massen von Büchern. Ob er geschäftlich hier sei? Ja, sagte er. Am nächsten Mor‐ gen würde er wieder abfliegen. Er wies mit dem Kinn auf das Geld in einem Umschlag auf dem Schreibtisch. Ich steckte es ein, ohne nachzuzählen. Viele Kunden sind geschäftlich in London. Die meisten buchen eher zu Beginn ihres Aufenthalts ein Callgirl. Wenn es ihnen gefällt, machen sie noch einen zweiten Termin mit ihr. Wenn das Mädchen nicht die Richtige war, bleibt immer 217
noch genug Zeit, um eine andere auszuprobieren. Da die‐ ser Typ bis zum letzten Tag gewartet hatte, vermutete ich, dass er entweder nicht damit gerechnet hatte, auf dieser Reise für einen Fick zahlen zu müssen, oder dass er sich aus Verzweiflung oder Langeweile ein Mädchen bestellt hatte. »Rot‐ oder Weißwein?«, fragte er mit Blick auf den Inhalt der Minibar. Um ehrlich zu sein, trinke ich lieber Spirituo‐ sen, ich nehme aber nur, was mir ausdrücklich angeboten wird. Wenn die Frage allgemein bleibt – zum Beispiel: »Was möchtest du trinken?« –, nehme ich das, was der Mann auch wählt, oder ein Glas Wasser. Mein Mund wird immer schnell trocken, und der erste Lippenkontakt sollte feucht, einladend, aber nicht nass sein. Er hielt mir ein Glas hin, wir prosteten uns zu – halb iro‐ nisch »auf neue Freundschaft« – und tranken. Ich entdeck‐ te, dass er eine Tätowierung auf dem Arm hatte. Ein kleiner schwarzer Dolch, der bedrohlich echt wirkte. »Hübsch«, sagte ich und betastete das Tattoo. Der erste Körperkontakt ist manchmal schwer zu bewerkstelligen. Wenn der Mann einen an der Tür mit einem Kuss begrüßt, ist es nicht schwer, Intimität herzustellen, doch meistens ist der Kunde nervös. Dann suche ich einen Vorwand, um ihn zu berühren. Am besten, es geschieht fast zufällig, so wie bei einer Verabredung, wenn die Nähe des anderen eine un‐ . ausgesprochene Erlaubnis zum Streicheln und Küssen be‐ deutet. Er nahm mir das Weinglas fort und drückte mich rück‐ lings aufs Bett. Seine Unterarme waren kräftiger als sein nicht ganz so straffer Bauch. Der sah eher aus wie bei einem in die Breite gegangenen ehemaligen Sportler. Ich blickte zu ihm auf, die Lippen leicht geöffnet. Seine Hose hing in den Kniekehlen, er trug keine Unterwäsche. Da schoss mir durch den Kopf, dass er mich mit einer gewissen Rück‐ 218
sichtslosigkeit behandelte und nichts auf der Welt ihn auf‐ halten würde, wenn er mir jetzt etwas antun wollte. Ich beugte mich vor und nahm seinen Schwanz in den Mund. Da ich mit »allen Services« angepriesen werde, weiß ich, dass mich viele Kunden für Analverkehr buchen. Darauf bin ich eingestellt. Normalerweise blase ich ihnen erst mal einen, dann gibt es einen kurzen Abstecher in die Vagina, bis sie mich nervös fragen, ob sie über die Hintertür rein dürfen oder sich zufällig‐absichtlich im Eingang verirren. Dieser Mann tat nichts von beidem. Er drückte mich aufs Bett, beugte sich über mich und bog mir die Beine über den Kopf. Er leckte an seinen Fin‐ gern und schob mir drei auf einmal in die Möse. Ich zog seine Hand wieder heraus und lutschte die Finger ab. Ich schmecke mich selbst gerne; zum einen mag ich es einfach auf der Zunge, zum anderen weiß ich gerne, was da unten los ist. Ich ließ ihn innehalten und rollte mich auf die Seite, zog ein Kondom aus der Tasche und drückte mir eine große Portion Gleitmittel auf den Finger. Während er das Gummi auspackte und überstreifte, schmierte ich mir den Anus ein. Er vergrub die Finger wieder in meiner Möse, kippte mich mit seiner Hand nach oben und zielte mit dem Schwanz auf meinen Arsch. Sofort versank er der Länge nach darin. Er hatte das mit Sicherheit vorher schon mal gemacht – es war genau der richtige Winkel für sein Ding. Eine halbe Stunde lang bumste er vor sich hin, nagelte mich buchstäblich auf dem Bett fest. Ich konnte nur stöh‐ nen und ermunternde Geräusche von mir geben. Seine Hand grub in mir herum, er rieb über die Scheidenwand, um seinen Schwanz durch die Muskeln hindurch zu fühlen. Ich spürte die ersten Zuckungen, dann sein Sperma im Arsch. 219
Er wollte nicht gehalten werden. Ich ging zur Toilette und wusch mich, dann zog ich mich an. Wir sprachen über Iris Murdoch, dann ging ich. Draußen war kein Taxi zu fin‐ den; ich lief bis zur Regent Street, wo die Lichter der Ge‐ schäfte und der Autos zur Illusion verschwammen. Heute Morgen habe ich Kirschblüten entdeckt, es muss Frühling sein. Möglich, dass sie schon seit Wochen knos‐ pen, aber der Baum vor meiner Haustür hat ganz plötzlich ausgeschlagen und steht nun in voller Blüte. Die Tage wer‐ den länger. Heute sind die Handwerker abgezogen. Der Rothaarige stand drucksend in der Küche, während die Vermieterin die weißen Wände und die schmucken Kiefernholzregale be‐ ! gutachtete. Sie schien mit dem Ergebnis nicht halb so zu‐ frieden wie ich, sagte aber nichts, sondern unterschrieb die Rechnung und ging. Der andere Handwerker, der große, wies mit dem Kinn auf den Tisch, wo er die Ersatzschlüssel abgelegt hatte. »Vielen Dank! Ich hatte mich schon richtig an Sie ge‐ wöhnt«, sagte ich. »Nein, Ihnen vielen Dank«, erwiderte er in der Tür (in ei‐ nem Südlondoner Akzent, den ich nicht mal ansatzweise nachzuahmen wage, schon gar nicht schriftlich – die Fest‐ stellung muss genügen, dass die Handwerker meine Aus‐ sprache von »Raum«, »Haus« und »Jahr« ebenso witzig fan‐ den wie ich ihre). »Sie sind vielleicht’ne Marke, wirklich!« Ich musste so lachen, ich wäre beinah geplatzt. Und was ich für eine Marke bin! Eine in einem grünen Samtstring, um genau zu sein. 220
Er: »Das ist mein erstes Mal.« Ich: »Das erste Mal mit einem Callgirl?« »Nein, mein erstes Mal überhaupt.« Leidenschaftliches Gefummel. Er: »Sag mir, was ich machen soll! Deshalb wollte ich, dass es beim ersten Mal eine Professionelle ist. Ein normales Mädchen sagt mir so was nicht.« Etwas später ... Er: »Jetzt mal ehrlich: Wie war ich?« Ich: »Angenehm. Du hast schöne Hände. Bist du Musi‐ ker?« Er nickt. »Was hältst du von mir im Allgemeinen?« »Du bist nett. Intelligent. Sportlich. Die Frau, die dich mal bekommt, kann von Glück reden.« »Wenn du mich woanders sehen würdest, fändest du mich attraktiv?« »Wie alt bist du?« »Neunzehn.« »Nicht, wenn ich wüsste, wie alt du bist.« Er runzelt die Stirn. Ich versichere ihm, dass er älter als neunzehn aussehe. Allerdings hätte ich auch nicht mit Neunzehnjährigen geschlafen, als ich selbst in dem Alter war. Das scheint nicht zu helfen; er wirkt noch deprimierter. »Ich fände dich toll, ehrlich. Du bist ein ganz Gefähr‐ licher.« Wieso, will er wissen. Jetzt muss ich vorsichtig sein. Etwas Ehrliches, aber Net‐ tes sagen, das nicht zu schmeichelhaft klingt. Die Versu‐ chung zu lügen ist groß. »Ich möchte nicht die Erste sein, die dir das Herz bricht.« 221
Wieder runzelt er die Stirn. Dabei brauchte er sich gar keine Gedanken zu machen. Es gibt überall genug Frauen, i die das mit Freude täten.
Pub‐Spiele für Huren, Teil 1 von 1
F R EU N DI NN EN ODE R LE SBE N?
Die Regeln sind lächerlich einfach: Man zeige sich mit einer Freundin, aber ohne – das ist wichtig! – zu knutschen oder eng zu tanzen. Jetzt gilt es, alle Personen in erreichbarem Umkreis zu überzeugen, dass man ein Paar ist. Warum Lip‐ penkontakt verboten ist? Weil Hetero‐Frauen öffenüich mit Mädels rummachen, um Hetero‐Männer aufzugabeln. Das lief einmal so erfolgreich, dass ich einen Kerl, alles andere als ein Gentleman, in die Schranken weisen muss‐ te, als er sich an eine Freundin heranmachte. Ich schob ihr den Arm unter und erklärte lautstark: »Verpiss dich, Jun‐ ge – die Lady gehört mir. Wollen wir nach draußen gehen, oder soll ich dir direkt hier in den Arsch treten?« Der trauri‐ ge Vertreter seiner Art schlich bedrückt von dannen. Leider wurde meine Ritterlichkeit von der betreffenden Frau nicht entsprechend sexuell entlohnt. Beliebte Variante: Hock dich in eine Ecke des Raumes, und versuche herauszubekommen, ob die Frauen, die miteinander sprechen, Freundinnen oder »Freundinnen« sind. An der Uni haben wir auf diese Weise manch nette Stunde verbracht. 222
D I E LA NG EWEI LE IN P E R SO N
Quatsche einen Abend lang, was das Zeug hält. Du bist frei‐ beruflicher Consultant; deine Hobbys sind unter anderem südamerikanische Rotweine, japanische Kultur und die zweite Staffel von Buffy auf DVD. Deine Diskussionsthemen reichen von Hypotheken über Hochproteindiäten bis zu der Frage, warum Kensington und Chelsea nicht zur Stauzo‐ ne gehören sollten. Empfehle voller Begeisterung die So Bar, den Front Room und andere. Ich habe miterlebt, wie sich die besten Köpfe meiner Ge‐ neration bei Tapas und Gesprächen über Parkbeschränkun‐ gen in Zone 2 geschlagen geben mussten. I CH WI LL G ENA U DAS , WA S SI E AUCH HAT
Jeder wollte doch wohl schon mal in der Öffentlichkeit ei‐ nen Orgasmus vortäuschen, oder? Mach es wie in der Bai‐ ley’s‐Werbung und genieße dein Getränk intensiver als offi‐ ziell vertretbar. D E R U NGLA UBLI C H E B ER U F
Denk dir einen abgedrehten Beruf aus, den du dem nächs‐ ten Mann auftischst, der dich anmacht (er wird frü‐ her oder später danach fragen; Männer sind konversations‐ technisch berechenbar). Hier einige Favoriten: Luftakro‐ bat, Handyklingeltonprogrammierer, Fußmodell, Gamelan‐ Spieler. Denk dir möglichst viel Spezialwissen für deinen falschen Lebenslauf aus! Extrapunkte gibt es, wenn er den‐ selben Beruf hat: »Wirklich? Du bist Epidemiologin? So ein Zufall! Ich auch!« 223
SPRECHEN KE IN E ENG LI SCH
Erklärt sich von selbst. Besonders lustig, wenn man nicht wie eine Ausländerin aussieht. S P RI C H S T DU M I T MIR? H M?
»... also, ich war gerade dabei, Waffen aus Serbien rauszu‐ schmuggeln, ja? An der Grenze wurde ich von der UN ge‐ stoppt. Die hatten natürlich keine Ahnung, dass ich total auf Speed war und eine abgesägte Schrotflinte unter der Jacke hatte ...« Spiel den Taxi‐Driver! Jag den Leuten Angst ein! Würze die Unterhaltung großzügig mit Verweisen auf Kala‐ schnikows, deine Begeisterung für John‐Woo‐Filme und die Zeitschrift Soldier of Fortune. 99 Prozent der Männer werden vor einer geistesgestörten, möglicherweise bewaffneten Frau schreiend Reißaus nehmen. Mit den übrigen ein Prozent kann man machen, was man will ... Könnte lustig werden. Aber immer schön auf die Rückendeckung achten! I NF O RMA TI ON S KOLLA PS
Je extremer, desto besser. Erörtere alle Einzelheiten deines Sexuallebens in voller Länge (und Lautstärke). Rimmen, S/M und Bondage, Onanierphantasien mit dem Opposi‐ tionsführer Michael Howard und einem genetisch mutier‐ ten Schwein. Alles ist erlaubt. Die Höchstpunktzahl be‐ kommt der, bei dessen Geschichten die meisten Gäste de Raum verlassen. Fast alle meine Gespräche laufen so ab. 224
D I E TIC KEN DE UH R
»Ich freue mich wirklich, dich kennen zu lernen ... denn nach meiner Basaltemperatur heute Morgen habe ich in den nächsten 24 Stunden einen Eisprung. Wohnst du in der Nähe, oder soll ich ein Taxi rufen?« A UF DEM FAL SC HE N F U SS E R WIS C H T
Sprich einen beliebigen Herrn an. Überrasche ihn mit der Eröffnung, dass er vor kurzem mit dir geschlafen und sich nie wieder gemeldet hätte. Du seist völlig durcheinander. Schildere lautstark das Auf und Ab eurer leidenschaftlichen Nacht. Wohlüberlegte Hinweise auf sein Versagen in ent‐ scheidenden anatomischen Bereichen können dieses Spiel wirkungsvoll ergänzen. Aber Vorsicht! Wenn er mit Freunden da ist, macht er die Punkte, nicht du. Am besten, du fängst ihn allein oder zu‐ sammen mit seiner Freundin auf dem Heimweg ab. Aber übertreib es nicht! Die Hasen von Ex‐Partnern zu kochen, kann zur Sucht werden. WAS ZU M … ?
Beginne ein Gespräch mit einem vollkommen Fremden, als würdet ihr euch seit Jahren kennen und er sei gerade mit‐ ten in eine Unterhaltung geplatzt. Verwende Körperspra‐ che, die auf Vertrautheit schließen lässt, berühre ihn beiläu‐ fig am Arm, erkundige dich nach seiner Familie und so wei‐ ter. Man beachte: So habe ich A1 kennen gelernt. 225
D I E WAH RH EI T
Erzähle einem Mann, du seist Callgirl. Lache anschließend. Niemand wird dir glauben. »Ach, ich veräpple dich nur. In Wirklichkeit bin ich Nonne.« Das Scheitern der Beziehung war von Anfang an absehbar. Der Mann bezahlt Frauen für Sex, ich bin eine Hure – irgendwann würde es ihn zur nächsten ziehen. Aber ich hatte mich an ihn gewöhnt. Ich liebe ihn nicht, gebe aber zu, dass ich mich genauso gerne die ganze Nacht mit ihm unterhalte, wie ich mit ihm schlafe. In seinem Badezimmer steht eine große Wanne mit gol‐ denen Hähnen. An der Wand hängen vier Zeichnungen von einem Dorf in Frankreich. Er sagt, es seien Geschenke des Malers. Ich habe diese Bilder so oft betrachtet, dass mir einmal beim Baden auffiel, dass die Handwerker sie nach dem Streichen falsch aufgehängt hatten. Er hatte es noch gar nicht bemerkt! »Ja, stimmt«, sagte er und blinzelte die Aquarelle an. »Gut aufgepasst!« Er weiß sehr viel über mich, dieser Mann. Er kennt mei‐ nen richtigen Namen und weiß, was ich studiert habe. Oft sagt er – er arbeitet in einer verwandten Branche –, wenn ich je einen Job brauchte, müsste ich ihn nur anrufen. Zig‐ mal hat er mir schon seine Visitenkarte zugesteckt. Es ist, als ob ich einen Onkel hätte, der für mich sorgt. Und mich fickt. Manchmal ficken wir nicht mal richtig. Er mag kein La‐ tex, und ich gehe von Natur aus kein Risiko ein. Deshalb 226
wichst er dann auf mich. Ich lege mich aufs Bett oder auf die Couch, manchmal auch auf den Boden, ein oder zwei Kissen unterm Kopf, und er hockt sich auf meinen Ober‐ körper, direkt unterhalb der Brüste. Ich spiele mit meinen Nippeln und seinen Eiern, er drückt mir seinen Schwanz ins Gesicht. Hinterher suchen wir uns einen Spiegel und analysieren das Ergebnis. Er bekommt Punkte für Konsis‐ tenz, Treffsicherheit und Menge. Und weil er mich gerne badet, lässt er das Sperma ein bisschen antrocknen und tupft nur ein wenig mit einem feuchten Flanelllappen ab. In den letzten Wochen haben wir uns mehrmals verpasst. Wir hatten nie einen festen Tag, trafen uns allerdings meis‐ tens unter der Woche. Nach 10 Uhr. Ich hatte in letzter Zeit viel zu tun. Er ebenso. Wenn er mich nicht erreichen kann, nimmt er ein anderes Mädchen von der Agentur. Ich stelle fest, dass ich seinen Anruf verpasst habe und simse zurück. So läuft das seit ein paar Wochen. Allmählich fehlt mir das Glas Champagner, das er mir immer zur Be‐ grüßung einschenkt. In meiner Abwesenheit hat er dreimal angerufen. Er wird nervös. Es ist wie das Ende einer Beziehung: das Klammern, der grundlose Argwohn. Dann der Schlussstrich: eines Morgens eine SMS. »Es ist uns wohl nicht vergönnt, uns wiederzusehen. Du wirst mir fehlen, X.« Er wird mir auch fehlen. Keine Ahnung, ob sich meine Einstellung oder meine Fä‐ higkeiten als Hausfrau gerade tiefgreifend ändern, aber ich habe keinen Bock mehr, Arbeitsunterwäsche von privater 227
Wäsche zu trennen. Das bedeutet nicht, dass ich jetzt in ei‐ nem langweiligen String zur Arbeit gehe, aber manchmal stehe ich im Gemüseladen, und unbeabsichtigt lugt ein Zentimeter Spitzenrüsche oder gestreifter Satin aus meiner Jeans. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass das in man‐ chen Kulturen ein erwünschter Effekt ist. Mich schaudert es bei der Vorstellung. N rief an. »Hab dich länger nicht gesehen.« »Stimmt.« »Alles in Ordnung?« »Ja.« »Du lügst.« Er hatte Recht, wie immer. »Was ist los?« »Keine Ahnung. Vielleicht, weil es die ersten richtigen Frühlingstage sind. Ich bin im Sonnenschein am Fluss ent‐ langgelaufen und hab gedacht, dass ich dasselbe vor einem Jahr mit jemandem getan habe, den ich liebte und heiraten wollte.« »Das muss in der Luft liegen. Ich habe heute auch an meine Ex gedacht.« Das ist die Frau, die ihn ohne jede Vorwarnung abserviert hat. »Ich komme vorbei, wenn du willst.« Ich seufzte schwer. »Bin in zehn Minuten da.« N klopfte laut vernehmlich und schloss dann selbst auf. Ich saß auf der Couch und runzelte die Stirn. »He, Süßer«, sagte ich und fuhr mir durchs Haar. »Wollen wir nicht eine Kleinigkeit essen gehen?« Ich hatte keinen Hunger. Wir gingen trotzdem. »Wenn du deinen Ex mit seiner Neuen treffen würdest«, sagte N beim Salat, neben ihm stand ein Glas ekliges Pub‐Ge‐ bräu, »was glaubst du, wie sie aussähe?« – »Fett, hoffe ich.« – 228
«Ich fände es gut, wenn meine Ex mit einem total perfekten Typ zusammen wäre, der nur leider impotent ist.« »Nein, nicht fett. Dumm muss sie sein. « »Ein perfekter Typ, nur leider impotent und mit schreck‐ lichen Schwiegereltern.« »Eine dumme Kuh, die komisch riecht.« »Oh, das ist gut! Die übelste Beleidigung. Der Typ muss impotent sein, schlimme Schwiegereltern haben und ihr verbieten, arbeiten zu gehen.« N leerte sein Glas und mach‐ te sich an meins, das ich kaum angerührt hatte. »Seine Neue ist bestimmt dumm, riecht komisch und hat einen furchtbaren Musikgeschmack.« Ich überlegte, ob ich mein Glas zurückfordern sollte. Aber es war schon zu spät. Er leerte mindestens die Hälfte in einem Schluck. »Ach nee, das kannst du streichen. Er würde sich nie für eine mit schlechtem Geschmack interessieren. Das würde er vorher abchecken.« N leerte das Glas Bitter. »Impotent und Glatze.« »Seine Neue verliert in fünf Jahren alle Haare. Ganz be‐ stimmt. Davon bin ich überzeugt.« »Ihr Neuer ist impotent, hat eine Glatze und betrügt sie. Denn sie weiß, dass ich das niemals getan hätte.« »Seine Neue ist dumm, riecht komisch und ist eine Null im Bett.« »Eine Null im Bett. Das ist das Nonplusultra.« N grinste. »Der Neue hat eine Glatze, ist impotent und fistet sie nicht.« »Nicht? War sie denn so heiß darauf?« »Oh, ja«, versicherte er. »Habe ich dir nie von der Faust und der Gurke erzählt? Gleichzeitig?« »Noch schlimmer: Du hast keine Fotos davon gemacht! « »Wir haben immer gesagt: Wenn beruflich nichts mehr geht, könnte sie damit immer noch Geld verdienen.« 229
»Sie scheint Talent zu haben. Kein Wunder, dass du auf sie abgefahren bist.« Ich zupfte am feuchten Bierfilz. »Seine Neue ist dumm, und zwar nicht nur intellektuell minderbe‐ mittelt, sondern auch zu blöd, um die Klappe zu haken. Plus: Sie schläft mit einem seiner Brüder.« »Mit welchem?« »Egal. Nein, noch besser: mit seinem Vater.« »Aber sie riecht trotzdem komisch, oder?« »Na, klar!« »Ihr Neuer hat eine Glatze, ist impotent, fistet sie nicht und ist klein.« »Wieso klein?« Ich bin selbst nicht viel größer als eine Parkuhr und finde, das sagt nichts über meinen Wert als Mensch aus. Wenigstens wird mir beim schnellen Aufstehen nicht schwindlig. Ätsch. »Nur so, weil sie groß ist. Ich will, dass sie so oft wie mög‐ lich auf seine Glatze runtergucken muss.« Er stellte das lee‐ re Glas vor mir ab. »Okay.« Ich grinste. »Sie fehlt dir noch immer, was?« »Allerdings. Und du liebst ihn noch immer, oder?« »Das weißt du doch.« »Ich finde das komisch«, sagte er. »Eigentlich bin ich über sie hinweg, aber wenn das so ist, niüsste ich doch versu‐ chen, bei anderen Frauen zu landen, anstatt ihnen aus den Wegzugehen.« »Ah, die Phase kenne ich«, sagte ich. »Ich bin momentan so drauf, dass ich potenziell viel versprechende Beziehun‐ gen von Anfang an vermurkse. Außerdem habe ich eine Heidenangst, dass der Boy plötzlich auftaucht, wenn ich je‐ manden gefunden habe, mit dem es klappen könnte.« N massierte seinen Bauch. Der Pub war leer, nur ein paar Angestellte und ein Pärchen waren da, das erschrocken auf sein undefinierbares, überteuertes Essen starrte. »Sollen wir 230
gehen?« Ich nickte. »Ich hab genug getrunken. Ich kann dich nach Hause bringen und anpissen, wenn dich das glücklich macht.« Ich spitzte die Lippen und tat, als würde ich es mir über‐ legen. Dann wechselte ich das Thema. Ob es besser sei, ein gebrochenes Herz zu haben oder gar nicht zu wissen, wie sich das anfühlt? N meinte, da er das Gefühl nun kenne, wolle er nicht, dass es je einem wegen ihm so ginge. Man wisse ja nie, meinte er. »Vielleicht brichst du mir das Herz.« Er legte die Arme um mich und kitzelte mich. Ich wand mich heraus. »Du kleiner Giftzahn!«, sagte er. »Ich kann dir nicht das Herz brechen. Du liebst mich nicht.« »Hör auf!«, sagte ich. Lächelnd, aber streng. Er wusste, dass ich es ernst meinte. Er stand auf, zog den Mantel an, ging zum Ausgang. Ich sagte, ich würde zu Hause direkt ins Bett gehen. »Nachdem du unser Gespräch in den Computer getippt hast«, korrigierte er mich. Verabschiedete sich und war fort.
Ooh, meine neuen Lieblingsdessous: gerüschtes rosa Sei‐ denhöschen mit antiker Spitze und passendem BH. Schade, dass ich sie nur unter Jeans und Pulli trage, wenn ich Milch kaufen gehe. Einmal bin ich direkt nach einem Vorstellungsgespräch zu einem Kunden gegangen. Es funktionierte, aber perfekt war es nicht; meine Kleidung passte so gerade zu einem ge‐ schäftlichen Termin am Nachmittag, das Make‐up stimmte auch, aber es war ein bisschen sonderbar, Kondome neben dem Lebenslauf in der Tasche zu haben. Ich hatte ein biss‐ 231
chen Angst, dass jemand beim Vorstellungsgespräch in mei‐ ne Tasche guckt und sie entdeckt. Würde das die Aussicht auf einen Arbeitsplatz eher ver‐ bessern oder verschlechtern? Und ja, mir wurde der Job an‐ geboten, aber ich habe ihn dann doch nicht genommen. Es war wieder so ein Bürokram, wo man nach einem Jahr noch kein Stück weiter ist. Einmal habe ich mich in einer Museumstoilette für einen Kunden fertig gemacht. Das war am Anfang, als ich noch glaubte, die Freier würden meine Tür belagern. Ich lief in einem leichten Sommerkleid, Riemchensandaletten, La‐ texteilen und mit Slips zum Wechseln in der Tasche he‐ rum – nur für den Fall der Fälle. Damals war mir noch nicht klar, dass ich nicht im Akkord arbeiten muss, um meine Kos‐ ten zu decken, und dass die meisten Freier sich ein oder zwei Stunden vertrösten lassen, wenn sie mich wirklich wol‐ len. Wenn nicht, ist es auch egal – andere Mütter haben auch zahlende Söhne. Während Dutzende von Touristinnen auf die Toilette gin‐ gen, legte ich Lipgloss und Wimperntusche auf. Wenn es eine Einheits‐Uniform für Gruppenreisende gibt, muss sie so aussehen: Dreiviertelhose, weiße Turnschuhe, weite T‐ Shirts mit der Aufschrift des letzten Reiseziels, Sonnenblen‐ de, Pferdeschwanz, Schultertasche. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was diese Touristinnen von mir dachten. Der Kunde stand mit runter gelassener Hose vor mir. Ich,saß in einem Sessel. Meine weiße Bluse war halb aufgeknöpft. »Ich will meinen Namen auf dich spritzen«, sagte er. 232
Ich grinste. »Du kannst mir nichts vormachen, der Satz ist aus 1999.« Er beäugte mich. Oh, nein, dachte ich. Ich muss meine Zunge hüten. »Fan von Amis?«, fragte er beiläufig und spiel‐ te an sich herum. »Amis ist nicht schlecht«, sagte ich, griffin die Bluse und zog meine Brüste aus dem BH. »Pfeil der Zeit ist ganz schön raffiniert.« Ein erster Lust‐ tropfen glänzte auf seiner Eichel. »Sehr anspruchsvoll. Gutes Buch für eine lange Zug‐ fahrt.« Unter seinem anerkennenden Blick zupfte ich an meinen Brustwarzen. Es war heiß und eng im Zimmer. Das Wetter war in letz‐ ter Zeit nicht schlecht gewesen. Ich überlegte, ihn zu bit‐ ten, die Heizung abzustellen. »Ich möchte riechen, wie sich dein Schweiß mit meinem Sperma vermischt«, sagte er, als könne er Gedanken lesen. Später hatte ich noch einen Kunden. Ein großes Hotel in Lancaster Gate. Das Zimmer war klein und üppig dekoriert, wirkte dadurch noch beengter. Für das Geld, das die hier verlangen, erschien es mir ziemlich voll gestopft. Ein Zim‐ mer am Ende des Ganges. Er war in Hemdsärmeln. Hemdsärmelig unter einem Sak‐ ko. Ich hasse das, das beißt sich genauso wie weiße Socken zu schwarzen Schuhen. Das Fenster stand auf. »Deine Nippel sind schon hart«, sagte er (Balkonette‐BH aus schwarzer Spitze, dazu passender Slip im Herrenlook). Das Fenster war weit geöffnet. Ich legte ihm die Arme um die Schultern. »Ist es nicht ein bisschen kalt hier drin?« »Mir nicht.« »Aber du hast doch schon Gänsehaut auf dem Arm.« Ich grinste und zog die Gardinen vors Fenster. 233
»Ist gut für den Stoffwechsel.« »Ich glaube, da fällt mir was Besseres ein«, sagte ich. Ich glaube, heute bleibe ich zu Hause. N ist mit einer gan‐ zen Tonne Pornohefte aus Belgien zurückgekommen, da‐ bei die stets zuverlässige Lady Anita F (Hotter Than Hell!!) und ein anderes Blatt mit einem appetitlichen Mädchen mit Bu‐ bikopf auf dem Titel, das auf einen armen Kerl pieselt, der es zweifellos verdient hat. Ich werde berichten, wenn etwas Interessantes, ähm, abgeht.
Heute ist einer der ersten schönen Tage. Die Leute lassen ihre Mäntel zu Hause, die ersten fischbauchfahlen Arme tauchen auf. Ich holte mir eine Zeitung und ging, vom Son‐ nenschein gelockt, immer weiter. Nach einer Stunde stand ich vor einem interessanten Schaufenster. Der Laden war mir schon öfter im Vorbei‐ fahren aufgefallen, aber immer geschlossen gewesen. Der Name des Geschäfts gefiel mir. Er erinnerte mich ziemlich an meine Arbeit. An der verschlossenen Tür hing ein klei‐ nes Schild, auf dem stand: »Bitte beide Klingeln drücken.« Ich schellte und wartete. Ein Mann ließ mich hinein. Er lächelte. Drinnen war es eng, voll gestopft mit Klamotten, Modeschmuck und golde‐ nen Engeln. Ich befühlte die Kleider an den Stangen. Hüb‐ sche Sachen, aber nicht gerade tragbar, alles wirkte ein biss‐ chen gruftimäßig. Und teuer. Ich frage mich oft, wie solche 234
Läden existieren können. Das Angebot spricht nur so weni‐ ge Kunden an, dass man verzweifelt hofft, die zehn bis fünf‐ zehn Frauen, für die dieses Geschäft der Himmel auf Erden ist, möchten in naher Zukunft zufällig an dieser Straße vor‐ beikommen. Der Mann verschwand hinten, die Türglocke klingel‐ te. Ein junges Mädchen kam herein, wahrscheinlich seine Tochter. Sie trug ein Minikleid und einen Pulli, dazu rosa Gummistiefel. Als er zurückkam, sprach sie ihn mit Vorna‐ men an. Der Vornamen‐Vater bat seinen Sprössling, etwas einzu‐ packen. Das Mädchen seufzte und murrte. Also, meine El‐ tern sind kein Ausbund an Normalität, aber sie haben im‐ mer dafür gesorgt, dass ich in den Ferien ein paar Wochen weg war. Es war das Beste für alle Beteiligten: Sie wurden von ihren elterlichen Verpflichtungen entbunden, und ich musste nicht mindestens zweimal am Tag die Augen verdre‐ hen und meckern, wie ungerecht die Welt sei. »Na, toll«, fauchte das junge Mädchen und machte sich daran, eine Brosche unter rund zwei Quadratmeter schwarzem Seiden‐ papier zu begraben. Der Tonfall kam mir sofort bekannt vor, eine Kreuzung aus Internatserziehung, verständnisvol‐ len Eltern und allgemeinem südenglischem Akzent. Nichts bringt mich derart auf die Palme wie eine Vorpubertieren‐ de, die glaubt, sie sei die Tollste der Welt und würde irgend‐ wann entsprechend verehrt werden. Es klingelte, fast unmittelbar darauf verschwand der Vor‐ namen‐Vater. Jetzt tauchte eine winzige Frau auf, die vom Scheitel bis zur Sohle in Klamotten aus dem Laden geklei‐ det war. Kurz, sie sah aus wie ein schwarzviolettes Baiser. Sie und das Mädchen beklagten sich sofort über die Kälte im Laden. Die widerborstige Kleine verschwand und verlangte von ihrem Erzeuger, etwas dagegen zu unternehmen. Ich 235
war wirklich beeindruckt: In ihrem Alter hatte sich mein Re‐ pertoire wahrscheinlich auf Sätze wie »ich weiß nicht« und »lass mich in Ruhe« beschränkt. »Wird Ihnen schon geholfen?«, fragte mich die Frau. Ich bin nicht besonders groß, war aber mit Sicherheit einen ganzen Kopf größer als diese Miniatur‐Morticia. Mit ihren dicken Schichten schwarzer Miederware und ihren schwe‐ ren Röcken sah sie aus wie eine New Romantic nach einem unglücklichen Unfall in einer Tapetenfabrik. Vor circa fünf‐ zigjahren. »Ich sehe mich nur um, danke.« Morticia klebte an mir, während ich höflich Brokatmän‐ tel und Krinolinenröcke befingerte. Sie wären vielleicht für mich in Frage gekommen, wenn sie jeweils fünf Kilo we‐ niger Stoff gehabt hätten. »Sie haben Ihr Schaufenster hübsch dekoriert«, sagte ich, in der Hoffnung, ein kleines Gespräch würde die Frau vertreiben. »Ich komme oft auf dem Weg zur Arbeit vorbei, habe aber noch nie hereinge‐ schaut.« »Wo arbeiten Sie denn?«, erkundigte sie sich. Jetzt aufpassen, Mädel! »Im V&A«, erwiderte ich. »Wo?« »Im Victoria und Albert.« Das schien ihr auch nicht mehr zu sagen. Wie konnte sie das Kostümmuseum nicht ken‐ nen? Ausgerechnet sie, die total verkleidet herumlief! »Im V&A‐Museum.« »Ach, im Museum«, sagte sie, als täte sie mir einen Gefal‐ len. Mensch, Alte, dachte ich, das ist doch direkt um die Ecke! »Haben Sie das hier – ähm – entworfen?«, fragte ich. »Ja«, erwiderte sie desinteressiert und drehte sich zu ihrer Tochter um. Beschwerte sich, es sei immer noch schrecklich kalt. Ich fragte mich, ob sie unter Blutarmut litt, 236
und hätte ihr beinah vorgeschlagen, sich auf einem heißen Stein zu sonnen. »Hübsch«, brachte ich hervor. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte sie unge‐ duldig. Ich hatte gerade ein zartes, aber nicht zu schweres Paar Schmetterlingsohrringe in der Hand, entschied mich aber aus Prinzip dagegen. Morticia drängte mich zur Tür, öffnete den Riegel und jagte mich zurück an die warme Luft. Traumatisiert von dem Erlebnis, ging ich schnur‐ stracks zum Laden auf der anderen Straßenseite und ließ dort 60 Pfund für ein Paar funkelnder Glasohrringe. Eigentlich verlange ich so wenig vom Leben. Ich will doch nicht mehr als: • einen Haarschnitt, der immer gut aussieht, unabhängig von Windstärke oder ‐richtung • angelächelt werden, wenn ich jemanden anlächle • in Schuhen, in denen man größer wirkt und die dazu noch gut aussehen, tatsächlich laufen zu können • dass nur wirklich Behinderte auf Behindertenplätzen parken • alle Dinge, die mit der Küche zu tun haben, augenblick‐ lich beherrschen • hin und wieder ein bisschen Sonnenschein • ein weltweites Verbot polyphoner Klingeltöne • ein weltweites Verbot von Handys, die einem keine ande‐ re Wahl als polyphone Klingeltöne lassen • das Ende allen Leids, rückwirkend bis zum Anfang der Zeit. 237
Gestern war ich mit A4 in einem polnischen Restaurant es‐ sen. Es war uns als Alternative zu den affektierten Yamswur‐ zel‐Trattorien und koscheren Bagel‐Lieferanten Nordlon‐ dons empfohlen worden. Für die einen bin ich zu skeptisch, für die anderen zu weltlich. Im Restaurant war es dunkel, es war in den schweren Erdtönen der Siebziger gehalten. An der Wand hingen minderwertige Reproduktionen polni‐ scher Historienschinken. Die Fettschicht konnte ohne wei‐ teres aus der Küche meiner Kindheit importiert sein, das Es‐ sen hätte direkt vom Herd meiner Mutter stammen kön‐ nen: Borschtsch mit Roter Beete, Sahne und Gemüse; latkes aus Bratkartoffeln mit Apfelmus und Sauerrahm. Die Kell‐ nerinnen waren ebenso schwerfällig und dumpf; sie hatten blonde Pferdeschwänze und trugen graue Schürzen um ihre wabbeligen Taillen. Wenn sie den Gast überhaupt be‐ dienten, dann nur grummelnd, so wie ich es auf meinen Reisen nach Nordosteuropa in Restaurants erlebt habe. Al‐ les – alles – war gebraten und hatte eine Kohlbeilage. Ich war hingerissen. Unser Tisch stand am Fenster. Wir schauten auf den Bürgersteig und den mittäglichen Verkehr: Geschäftsleute mampften Pommes; vor der Bank und der Apotheke bilde‐ ten sich Schlangen, ein chinesischer Imbiss quoll über von Studenten. Im polnischen Restaurant jedoch waren wir in einer anderen Welt, durch das quietschende Geräusch ei‐ nes mechanischen Speisenaufzugs abgeschirmt von dem Lärm da draußen. Wir mussten grinsen, als eine Frau am Nebentisch nur mit Mühe die Speisekarte entzifferte. Hier gab es kein Essen für Kalorien‐ oder Imagebewusste (ich hatte vorsichtshalber das 238
Frühstück ausfallen lassen). Während diese Frau auf die Hauptspeise wartete, winkte sie eine der langsamen Kellne‐ rinnen herbei. »Machen Sie auch Cappuccino?«, fragte sie. A4 und ich mussten ein Lachen unterdrücken. Die rosige Kellnerin runzelte die Stirn. »Cappuccino?«, wiederholte die Frau. Sie ahmte das Geräusch der aufgeschäumten Milch nach: »Psch, psch, psch!« Die Kellnerin schüttelte den Kopf und ging von dannen. A4 und ich heulten fast vor Lachen. Ich ging mir den Nachtisch ansehen. Ein Apfelstrudel in unzähligen Lagen Blätterteig, bestäubt mit Puderzucker. Schwere Sahnetörtchen. Als ich an meinen Platz zurück‐ kehrte, schlug mir ein Mann auf den Hintern. Ich blickte auf den Tisch. Vier Typen im Anzug, mittleres Alter, Geschäftsleute. Kannte ich diesen Mann? Ich wusste es nicht, konnte sein Gesicht nicht einordnen. Ein ehemali‐ ger Kunde? »Ähm, bringen Sie uns bitte noch etwas Brot?«, forderte er. Ich lachte, ein kurzes, scharfes Bellen. »Sorry, ich arbeite hier nicht«, sagte ich und ging weiter. Komisch. Ich bin eine billige Freundin. Ganz schön feiste Behauptung, wenn man mehrere hun‐ dert pro Stunde nimmt. Aber es stimmt. Kunden versichern mir oft, dass ein Callgirl ebenso viel kostet, wie auf einer Geschäftsreise eine Frau aufzugabeln; schließlich muss ein Mann eine gewisse Zeit und ein bisschen Geld für Geschen‐ ke und Unterhaltung investieren, um eine Frau ins Bett zu bekommen. Und ein Callgirl stiehlt sich nicht hinterher ins Haus und brät die Kaninchen seiner Kinder. 239
Aber ich spreche gar nicht von der Arbeit. Um zu beurtei‐ en, ob meine Dienste ihr Geld wert sind, ist ein bestimmtes Niveau in Mathe erforderlich, über das ich leider nicht ver‐ füge. Ich meine das normale Leben, da bin ich eine billige Freundin. Auf dem Papier klingt das super. Ich sorge selbst für mei‐ nen Transport, kaufe mir mein eigenes Bier, vielleicht sogar ihm. Und sollte es zu einer Beziehung kommen, mache ich keinen großen Wirbel um Geschenke, Urlaub oder andere Zeichen der Zuneigung. Ich verlange nur die Zuneigung selbst. Wenn man mit mir ausgeht, bezahle ich meinen Teil. wenn der Mann vergisst, an einem wichtigen Jahrestag ei‐ nen Platz im Restaurant zu reservieren, dann lache ich und sage, ich würde eh lieber zu Hause bleiben. Ich verlange keine tyrannisch glänzenden Kleinode in blassblauen Tiffa‐ nykästchen. Wenn ich etwas sehe, was mir gefällt, kaufe ich es mir. Falls der Mann mir etwas Besonderes schenkt, bin ich ihm natürlich dankbar. Aber ich erwarte es nicht. Ich bin ein pflegeintensiver Garten, bezahle aber sozusa‐ gen die Gärtner selbst. Es hat einige Zeit gedauert, bis mir klar wurde, dass Män‐ ner so etwas nicht attraktiv finden. Sie genießen die Jagd, die Vorstellung, dass sich der Wert einer Frau nach der Mühe bemisst, mit der man ein Lächeln oder einen Kuss von ihr ergattert. Selbst wenn sie im Bett eine Niete ist – hat der Mann erst mal ihre eisengestählten Oberschenkel mit Wochenendurlauben auf Sardinien und funkelnden Edel‐ steinen auseinander gedrückt, dann ist er so dankbar, dass ihm der Rest egal ist. Das heißt wahrscheinlich, dass man schlechter im Bett ist als die eigenen Vorfahren, da die Notwendigkeit, mit sprachlicher Begabung einen Partner zu erobern, systema‐ tisch aus der Bevölkerung herausgezüchtet wird (Achtung: 240
keine wissenschaftlich bewiesene Behauptung!). Es könnte auch bedeuten, dass Frauen mit Rehaugen, nach innen ste‐ henden Füßen und dümmlichem Lächeln auf lange Sicht die Oberhand gewinnen. Der französische Film noir schenkte uns eine Bezeich‐ nung für diesen wartungsarmen Typ Frau, verkörpert von Ingrid Bergman und anderen kühlen Blondinen. Sie wa‐ ren, vulgär ausgedrückt, Spitzenweiber. Ein Spitzenweib bombardiert den Mann nicht mit tränenreichen Anrufen nach dem Motto: »Warum gehst du mit deinen Kumpels Fußball gucken, wenn du mit mir Sisalmatten aussuchen könntest?« Ein Spitzenweib nimmt ihm die Trennung nicht übel, und wenn doch, erwähnt sie es mit keinem einzigen Mucks. Ein Spitzenweib ist die Gestalt, die sich in der Dun‐ kelheit verliert. Du wirst sie nie wieder sehen, aber auch nie vergessen. Ein Spitzenweib verbringt viel Zeit allein und trinkt dabei harte Sachen. Ein Spitzenweib wird nie im Blütenregen aus der Kirche treten. Ein Spitzenweib wird nie Mama werden, auch keine zum Anbeißen. Ein Spitzenweib wird nie einen Mann haben, der zu Pro‐ stituierten geht. Ach, vergessen wir das. Als ich gestern Abend meine E‐Mails abrief, bot HotMail ei‐ nen Link zu »Flirttipps aus der Tierwelt«. Ich wusste sofort, dass die Seite ebenso wenig unterhaltsam und lustig sein konnte, wie man auf dem Aufkleber einer Shampooflasche hohe Literatur erwarten kann. Deshalb hier meine eigene Sammlung von Flirttipps aus der Tierwelt: 241
• Unser guter Freund und Evolutionsgenosse Canis familia‐ ris (der Haushund) zeigt uns, dass man am besten wild drauflos stößt, wenn man nicht weiß, welches Loch man nehmen soll. Irgendwo landet man immer. • Shrimps haben das Herz im Kopf. Die Männchen haben weder Herz noch Kopf. • Die Zunge der Giraffe ( Giraffa camopardalis) ist einen hal‐ ben Meter lang. Sie kann sich damit selbst die Ohren le‐ cken. Wer ebenfalls dazu in der Lage ist, hat vielleicht eine Laufbahn vor sich, an die er noch gar nicht gedacht hat. • Delphine haben Gruppensex. Wenn diese quietschen‐ den grauen Fischfresser das können, dann können wir es schon lange. • Weibchen der Gattung Bonobo (Pan paniscus), enge Ver‐ wandte des Menschen, sichern sich mit sexuellen Gefäl‐ ligkeiten einen höheren Status in der Gruppe oder Fut‐ ter. Sollte man im Hinterkopf behalten, falls einem beim nächsten Einkauf das Kleingeld fehlt. • Es gibt Ringelwürmer, die sich selbst verzehren, wenn sie keine Nahrung Finden. Leider verfügen Männer, die kei‐ nen Sex finden, selten über diese Begabung. • Mit ihren Analdrüsen markiert die Katze, Gattung Felis, ihr Territorium. Auch gegenseitig erkennen sich Katzen am Geruch. Fraglich, ob diese Erklärung das Hotel über‐ zeugen wird, keinen Aufschlag für Reinigungskosten zu verlangen. • Segelfisch, Schwertfisch und Makohai erreichen beim Schwimmen Höchstgeschwindigkeiten von über 70 Stun‐ denkilometern. Wenn man einen unangenehmen Zeit‐ genossen in einem Club trifft, wird man höchstwahr‐ scheinlich nicht so schnell verschwinden können. • Löwen paaren sich bekanntlich mehr als 50‐mal am Tag. 242
Das ist wahrscheinlich das einzige Kriterium, das den Lö‐ wen für den Titel »König der Tiere« qualifiziert. • Das Horn des Rhinozeros besteht aus Haar. Männern, de‐ nen es an Horn mangelt, sei jedoch nicht geraten, dieses Manko mit längerem Haar zu kompensieren. • Die Pille für die Frau funktioniert auch bei Gorillas. Wer schneller ein Verhütungsmittel und einen weiblichen Gorilla findet als einen Partner, hat ein Riesenproblem. Zeit ist ein rares Gut. Manche Gelegenheit kommt nur einmal. Man nehme sich ein Vorbild an den Schwalben der Gattung Hirundo. Sie paaren sich im Flug, egal wie viele Artgenossen dabei sind. Nebenbei: Bei der Recherche für diese Liste stieß ich auf eine Seite mit Delphindildos. Damit meine ich nicht Dildos in Form von Delphinen, sondern Dildos von der Größe und Form eines Delphinpenis. Iih! N und ich waren zum Frühstück im »Schmierigen Löffel« verabredet (er: vollständiges englisches Frühstück mit Pom‐ mes; ich: Rührei auf Toast). Er schläft in letzter Zeit nicht gut, und man kann es ihm ansehen. Er weiß aber nicht, wa‐ rum. Vielleicht Überstunden, vielleicht familiäre Sorgen, vielleicht das Gefühl, es müsse Frühling sein, obwohl es draußen so kalt und feucht ist, dass die innere Uhr noch nach der Winterzeit tickt. Ein gemeinsamer Bekannter setz‐ te letzte Woche das Gerücht in die Welt, die Uhren würden am Muttertag vorgestellt, nicht an diesem Wochenende. Das hat ihn fertig gemacht. Seitdem hat er keine Nacht mehr richtig geschlafen. 243
Er hat Geschichten gehört, Geschichten über mich. Man erzähle sich so einiges. Nichts Weltbewegendes, nur der eine oder andere Spruch käme wieder bei ihm an. Habe ich schon erwähnt, dass N das Zentrum der Londoner Gerüch‐ teküche ist? Man nenne ihm einen Namen – er kennt je‐ manden, der einen kennt. Ob das wahr sei, was man gehört habe? Er weiß die Antwort. Er ist ein Dealer, und seine Dro‐ ge ist Information. Hinter diesen Geschichten steckt Neid; wie so oft der Ur‐ sprung der schlimmsten, schädlichsten Gerüchte. Neben anderen Motiven. Ich hasse diesen »Sturm und Drang«. Ich habe mit jemandem geschlafen, der mich gebeten hat, nicht darüber zu sprechen. Ich habe nicht mal darüber ge‐ schrieben, aber dieser Typ ist losgezogen und hat es – nun ja – fast der halben Stadt erzählt. Intime Dinge. Die mir nichts ausmachen. Aber mich erst um Verschwiegenheit bit‐ ten und dann das genaue Gegenteil davon tun, das kann ich nicht vertragen. Als Liebhaber disqualifiziert. »Vielleicht sollte ich mit ihm sprechen«, schlug ich vor. »Keine gute Idee«, meinte N. Er führte mir vor Augen, wie jung und hilflos dieser Mann sei; ich wurde ihm wahr‐ scheinlich eher die Wange tätscheln und flötend vergeben, als ihm eine Backpfeife zu verpassen, was er eigentlich ver‐ dient hätte. »Die Beweislast liegt bei ihm. Es wird ihm pein‐ lich sein, wenn er einen von uns das nächste Mal trifft.« »Vielleicht sollte ich ein paar Gerüchte über ihn in die Welt setzen.« »Behalte deine Meinung für dich. Ist auf lange Sicht bes‐ ser.« »Aber ich spüre, dass meine bösen Antennen jucken«, sagte ich und wackelte mit den Zeigefingern. »Lass es.« »Ach, Scheiße, da fällt mir ein ...« 244
»Was?« »Als er gehen wollte, hat er mich gefragt, ob es stimmt, dass ich mit dir und einer anderen Frau einen Dreier ge‐ macht hätte.« »Und, was hast du gesagt?« »Ja.« N zuckte zusammen. »Na ja, mir ist es egal, und dir scheinbar auch, und ich glaube, die Frau macht sich auch nichts draus. Aber wieso interessiert ihn das überhaupt? Wenn ich er wäre, hätte ich mich gefragt und nicht dich.« »Genau. Oder er hätte fragen sollen, ob ich schon mal ei‐ nen Dreier versucht hätte, wenn es ihm nur darum gegan‐ gen wäre, mich zu einem zu überreden.« »Eben. Wieso ist er so erpicht auf etwas derart Triviales aus meinem Privatleben, wenn er kurz vorher mit dir im Bett war?« N kratzte seine Bartstoppeln. »Eine Affäre zu viel«, sagte er. »Pass auf, was du über das Intimleben ande‐ rer Leute erzählst.« Ich zuckte mit den Schultern. Trank den sehr starken, sehr frischen Kaffee. Erfragte, ob ich noch mal das Auto vor meinem Haus gesehen hätte. Hatte ich. N wollte wissen, ob ich irgendwas brauchte. Ich verneinte. »Hör auf, wenn’s irgendwie geht«, sagte er. »Womit? Mit dem Job, dem Haus oder dem Ex?«, gab ich zurück. »Mit allen dreien«, entgegnete er. »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber pass auf, dass du immer ein Kaninchenloch zum Verschwinden hast.« Er schob eine Toastkruste über den Teller. Als wir Platz nahmen, war das Café voll gewesen, jetzt war es fast leer. Ich kaufte ein Stück Möhrenkuchen für später. Er gab der Kell‐ nerin Trinkgeld und fuhr mich nach Hause. Während der Fahrt ließ er die linke Hand auf meinem Knie liegen. 245
»Sei einfach vorsichtig«, sagte er. Ich winkte ihm nach und ging nach oben. (Höschen heute: durchsichtig schwarz mit cremefarbe‐ nem Spitzenrand und einem Guckloch hinten. Steht mo‐ mentan ganz oben auf meiner Favoritenliste.) Habe mir fürs Wochenende Besuch eingeladen. N will vor‐ her vorbeikommen und die Wohnung saugen. Er hat sich freiwillig anerboten. Ich frage mich: Wenn ich den Abwasch stehen lasse, übernimmt er den dann auch? Ich treffe meine Nachbarn nicht oft, meistens wenn ich gerade gehe. Entweder meinen sie also, dass ich ein un‐ glaublich aufregendes Leben voller Partys und Premieren führe, oder sie wissen Bescheid. Oder sie denken, dass ich mich einfach gerne schick mache. Egal, sie sind jedenfalls fast immer leise. Bis auf letzte Nacht, als ich um zwei Uhr nach Hause kam und eine Stunde lang von einem Geräusch wach gehalten wurde, als wenn Bücher gegen die Wand ge‐ worfen würden. Sonderbar. Außerdem habe ich im Fitness‐Studio festgestellt, dass meine Achillessehnen in letzter Zeit etwas kurz geworden sind. Man sagt mir, das käme davon, wenn man ständig hohe Absätze trägt. Ich weiß, dass wir jedes Jahr mit der Pro‐ paganda bombardiert werden, flache Schuhe seien niedlich und sogar sexy, aber mich zu flachen Absätzen zum Rock zu überreden kommt dem Versuch gleich, die Siedlungen in der West Bank zu räumen. Ich muss die Sehnen einfach mehr dehnen.
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Ich habe im Laufe der Jahre viele gute Ratschläge erhalten, aber niemand hat je einen Kommentar zu der vielleicht größten Herausforderung meines Arbeitsalltags abgege‐ ben: zum Umgang mit anormalen Schwänzen. Penisse können in vielfacher Hinsicht sonderbar sein. Manche haben ein ungewöhnliches Längen‐Breiten‐Ver‐ hältnis, sind seltsam gebogen oder erinnern merkwürdiger‐ weise an Champignons. Es gibt wahrscheinlich mehr anor‐ male als normale. Ziemlich viel Spielraum zur Entfaltung ei‐ ner »Persönlichkeit«. Die meisten Abweichungen fallen in die Kategorien »selt‐ sam, aber nicht beunruhigend« oder »komisch, aber medi‐ zinisch unauffällig«. Aber wenn ein Glied in keine dieser Klassen passt, fehlen auch mir die Worte. Was soll ich machen? Offensiv damit umgehen? Einfach staunen: »Mann, was für ein abgefahrenes Gerät!« Ein Min‐ destmaß an medizinischem Interesse aufbringen: »Warst du damit schon mal beim Arzt?« Erschrocken zusammenzu‐ cken? Fragen, wie ich mit dem Teil umgehen soll? Oder wäre es dem Herrn lieber, wenn ich es ignoriere? Ich hatte das Vergnügen, einen Kunden mit einem völlig normalen Penis zu treffen. Auf den ersten Blick normal. Seine Vorhaut allerdings war ungewöhnlich. Sie war nicht oben geöffnet, so dass man die Eichel durchschieben konn‐ te, sondern an der Seite. An der Seite. Seines Penis. Auf halber Höhe des Schafts. Die Öffnung war zu klein, um den Schwanz hindurchzu‐ schieben. Wodurch er immer unter der Vorhaut blieb, auch im erregten Zustand. Ich lächelte. Sah seinen Schwanz an, sah ihn an. Sagte nichts. Er gab mir keinen Tipp. Sollte ich mich der völlig 247
verdeckten Eichel widmen oder der einige Zentimeter ent‐ fernten Öffnung (aus der ein Lusttropfen sickerte)? Der Mann war älter als ich und geschieden. Es hatte also schon mal jemand diese Abnormität gesehen. Ob es wehtat, wenn er einen Ständer hatte? Hatte er Probleme bei bestimmten Stellungen? Hatte es Auswirkungen aufs Kondom? Wäre es beleidigend, danach zu fragen? Ich verteilte meine Aufmerksamkeit gleichmäßig auf Ei‐ chel und Öffnung und achtete darauf, den Schaft nicht zu fest zu umfassen. Als wir zum Verkehr kamen, drückte ich beim Überstreifen die Spitze des Gummis zu, damit sich der Samen dort sammelt, obwohl ich nicht wusste, ob es nötig war. Er nahm mich von hinten, sagte aber nicht, ob es einen besonderen Grund dafür gab. Anschließend zog er das Kon‐ dom selbst ab. Ich konnte das Ergebnis leider nicht persön‐ lich in Augenschein nehmen. Bin schon wieder mit jemandem verabredet worden. Dies‐ mal mit einem, der mir lediglich als »dein zukünftiger Ehe‐ mann« vorgestellt wurde. Nö, setzt mich gar nicht unter Druck ... Ich habe da so eine Freundin. Eigentlich ist sie keine richti‐ ge Freundin, sondern eher eine Bekannte, die man nicht mehr los wird. Normalerweise bin ich nicht unhöflich, wirk‐ lich nicht. 248
Ich habe sie über A3 kennen gelernt, der vor ein paar Jah‐ ren »fast was mit ihr gehabt hätte«. Das heißt, er wollte etwas von ihr, bis er herausfand, wie furchtbar sie in Wirklichkeit ist. Aber als es so weit war, gab es kein Zurück mehr. Wie schon Churchill sagte: Wenn man durch die Hölle muss, nicht stehen bleiben! Wir nennen sie Sididima. Abkürzung für: »Sind die dick, Mann!« Da diese Anspielung auf ihre riesigen, ähm ... Län‐ dereien so umständlich auszusprechen ist, beschränken wir uns auf die Geste, mit beiden Händen vor der Brust Halb‐ kreise zu bilden. Beispiel: »Ich habe letztens [Geste] getroffen. Sie macht gerade eine Diät mit wenig Kohlenhydraten.« »Ja, und? Funktioniert es?« Da die Vorteile von [Geste] rein körperlicher Natur sind, hat sie auch einen entspre‐ chenden Hintern. Vom Mittelteil ganz zu schweigen. Plus Waden, an denen man ein Ausflugsschiff von der Themse festmachen könnte. Als Reaktion nur erhobene Augenbrauen. Bedeutet: Wenn überhaupt, ist sie noch breiter geworden. [Geste] hat wahrscheinlich im Verhältnis zu tatsächlich verlorenen Pfunden die meisten gescheiterten Diäten und Fitness‐Club‐Mitgliedschaften aufzuweisen. Versteh mich keiner falsch! Es ist unhöflich, sich über anderer Leute Gewicht lustig zu machen. Beispielsweise weiß jeder, dass A4 ein, zwei Kilo zu viel mit sich herum‐ trägt, aber niemand von uns verliert darüber auch nur ein Wort. Über [Geste] jedoch darf man sich lustig machen, weil sie jede Frau, die dünner ist als sie, automatisch als ess‐ gestört bezeichnet. Also letztendlich die gesamte Bevölke‐ rung, ausgenommen die Leute in ein paar gruseligen Vor‐ orten von Glasgow und einige jüdische Babbes in Miami. In einem Gespräch mit [Geste] kommt früher oder später ein 249
Satz vor wie: »Ich habe letztens Ruth getroffen. Sie hat ge‐ rade ein Kind bekommen und jetzt schon wieder ihr altes Gewicht zurück – muss essgestört sein –, und sie hat mir er‐ zählt, ihr Typ hätte eine neue Band …« und so weiter und so fort. Endlos. Sie hat letztens deine Mutter getroffen? Ess‐ gestört. Die Blondine in Teachers? Essgestört. Die neue schlanke Vanessa Feltz? Bulimikerin. Anders herum: Knab‐ bert man vor ihren Augen auch nur einen Zwieback – fress‐ süchtig! Egal. Letzte Woche war A3 in der Stadt und rief mich an, ob wir zusammen essen gehen wollten. Das Ganze war schlecht organisiert, er hatte zwei Termine vorher, einen in Bayswater und einen in der City. Tagsüber habe ich dagegen keine Probleme; deshalb verabredeten wir uns für 15 Uhr am Freitag. Eine Stunde vorher holte ich mir ein Sandwich, trieb mich in Geschäften rum, kam im Restaurant an. Die Angestellten sahen ein bisschen indigniert aus, in den Stun‐ den nach dem Mittagessen noch Gäste zu haben. Ich ver‐ spürte nicht das leiseste Schuldgefühl. Wortlos führte mich ein pickeliger Studententyp an unseren Tisch. Er platzierte mich gegenüber von [Geste] und ihrer prächtig gepolsterten Büste. Verflucht, ich hatte nicht ge‐ wusst, dass sie auch da sein würde! Hätte ich es gewusst, wäre ich nicht gekommen. Sonst war niemand da. [Geste] wühlte im Brot und in den Oliven herum. So viel zum The‐ ma Diät mit wenig Kohlenhydraten. »Hallo, Süße«, sagte ich lächelnd. Ich hoffte, freundlich zu wirken, obwohl ich das genaue Gegenteil empfand. »Was für eine Überraschung, dich hier zu treffen!« Ich erkundig‐ te mich nach ihrer Familie. Sie brachte mich auf den neues‐ ten Stand: Wer zu dünn sei, wer mehr essen solle und wie viel Kilo in letzter Zeit bei ihr allein durch Diät und Sport buchstäblich dahingeschmolzen seien. Natürlich sah man 250
nichts davon. Sie bot mir ein Stück Brot an. Da ich von dem Sandwich noch ziemlich satt war, lehnte ich ab. »Wirklich nicht?«, fragte sie. Ihre Augen streiften meine Brust, die auch bei aller Phantasie nicht die Größe meines Kopfs erreicht, geschweige denn die ihrer. »Du bist doch hoffentlich nicht eine von diesen ... « Ich setzte eine Leidensmiene auf und legte die Hand auf die Brust. »Ich bin magenkrank«, sagte ich und verzog die Mundwinkel, als müsse ich weinen. »Hat man letzten Monat rausgefunden. Meine Gedärme fallen quasi raus, ich kann kein Gluten verdauen, ich hatte Ausschlag am ganzen Kör‐ per.« »O Gott ... wie furchtbar! Wirklich?«, fragte sie mit offe‐ nem Mund. Verschwörerisch beugte ich mich vor. »Am schlimmsten ist dieser explosionsartige Durchfall«, flüsterte ich. In dem Moment kamen unsere Tischnachbarn und nahmen Platz. »Du kannst dir wirklich nicht vorstellen, wie schrecklich das ist. Hast du ein Glück! Wie froh wäre ich, endlich wieder pralle Oberschenkel zu haben!« Beim Essen musste ich natürlich pochierten Fisch und ei‐ nen schrecklichen Salat mummeln, aber es lohnte sich, weil sie eine Stunde lang den Mund hielt und keinen Bissen zu sich nahm. Normalerweise bin ich ein netter Mensch, ehr‐ lich.
Der Kunde hockte vor mir und rieb wie wild an seinem Glied. »Ich spritz dir gleich ins Gesicht«, sagte er. Das sagte er nun schon zum sechsten Mal in zehn Minuten. Es kam mir vor, als würde er sich selbst davon zu überzeugen versuchen. 251
Das war alles: »Ich spritz dir gleich ins Gesicht.« Keine Anweisungen für mich, obwohl ich mit meinen Brüsten und Nippeln spielte, meine Finger ableckte, die ich zuvor in mich gesteckt hatte, in der Hoffnung, es würde helfen. Vor‐ her hatte ich nur gewusst, wann ich wo zu sein hatte und dass ich stark geschminkt sein sollte. Meine Anstrengungen schienen nicht zu verfangen. Er sah die Wand an, nicht mich. Gelegentlich wurde seine wil‐ de Hand langsamer, dann ließ er den Penis auf meine Lip‐ pen sinken. Er wurde weich, ich lutschte ihn wieder hart. Kein einziges Mal schaute er nach unten. Dann ging es wie‐ der los mit dem Wichsen. Und das Mantra: »Ich spritz dir gleich ins Gesicht.« Ich räkelte mich auf den Laken und stöhnte. Keine Reaktion. Ich beugte mich vor und leckte an der Innenseite seiner Oberschenkel. Ebenfalls keine Reak‐ tion. Eine halbe Stunde später war er immer noch dabei. Ich murmelte beruhigend vor mich hin, sondierte die Lage, forschte mit den Fingern herum, fragte vorsichtig nach. Aber offenbar wollte er nichts von mir. Ich sollte die Lein‐ wand sein, die er bemalte. Ich fühlte mich wie jungfräu‐ licher Ton, ich wollte mich in etwas verwandeln, in irgendei‐ ne Phantasie, durfte aber nicht. Er sackte in sich zusammen und fiel verschwitzt auf mich. »Tut mir Leid, Süße, aber es klappt einfach nicht«, sagte er, als hätte ich ihm den Floh ins Ohr gesetzt. Seltsamerweise verlief das Treffen mit meinem »Zukünfti‐ gen« nicht wie geplant. Für mich der Beweis dafür, dass mei‐ ne Freunde mir keinen Mann aussuchen sollten. Aber A1 252
lässt sich davon nicht beeindrucken und ist fest entschlos‐ sen, sich nicht nur als Kuppler einen Namen zu machen, sondern vor allem die Ursache meiner Beziehungsproble‐ me zu erkunden. Während ich in seinem Haus nach einem Stück Kuchen suchte, surfte er im Internet herum. Es fand sich nichts. Also schloss ich einen Pakt mit dem Teufel und braute eine Tasse Kakao aus dem von der Hitze verbogenen Ende eines Flake‐Riegels, dem Großteil eines wächsernen Schokorie‐ gels aus einer Armeeration plus Nescafé. Ölig drehte sich die Flüssigkeit in einem weißen Becher. »Wann und wo bist du geboren? «, fragte A1. »Wieso?« »Für ein Geburtshoroskop.« Online‐Astrologie ist ein si‐ cheres Zeichen für den bevorstehenden Zusammenbruch der Gesellschaft. Ich verriet’s ihm trotzdem. »Oje. Ojemi‐ ne.« »Was ist?« Ich nippte an meinem fettigen Kakao. Wider‐ lich, das schon, aber nicht unbefriedigend. Ich muss ein‐ fach eine bessere Lösung für den Umgang mit meinen Hor‐ monschwankungen finden. Es ist Frühling, da muss lang‐ sam die Bikinifigur her. »Mars steht im Krebs.« (Oder was auch immer er sagte. Ich bin in diesem speziellen Bereich des Aberglaubens nicht auf dem Laufenden.) »Was heißt das genau?« »Du bist emotional beeinflussbar.« »Benachrichtige die Presse! Ich frage mich, wer das noch nicht wuss te!« 253
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angeln Etymologie: von mhd. angeln, ahd. angul, zu ahd. ango= Ha‐ ken Wortart: Verb 1. das Fangen von Fischen mit einer Angel betreiben; durch Angeln fangen, zu fangen versuchen 2. etwas entfernter Befindliches vorsichtig zu fassen, zu er‐ greifen suchen 3. eine andere Person, meistens jünger und unerfahrener, für sich gewinnen Seit ein paar Monaten beobachte ich einen Mann im Fit‐ ness‐Studio. Das ist eine Ausnahme, ehrlich. Ins Studio geht man zum Trainieren, vielleicht ein bisschen wegen der sozialen Kon‐ takte. Aber die weit verbreitete Vorstellung, Muckibuden seien zur Fleischbeschau da, geht völlig an der Realität vor‐ bei. Andererseits, wenn man jemanden in dieser stretch‐ bekleideten, endorphin‐schwangeren Atmosphäre kennen lernt, kann man sich getrost darauf verlassen, dass er einen im schlimmsten Zustand gesehen hat, schweißgebadet und mit aufgelöster Frisur, und einen trotzdem attraktiv fand. Irgendwie möchte ich aber nicht mit jemandem zusam‐ men sein, der mich regelmäßig im schlimmsten Zustand sieht. 256
Zu Beginn des Jahres fiel mir dennoch ein Mann ins Auge. Schüchternes Lächeln, weiches Haar, eindrucksvoll muskulöser Körper. Ich holte Erkundigungen ein. Brachte seinen Namen in Erfahrung. »Schwul«, verkündete N, der selbst zwar nicht homose‐ xuell ist, aber behauptet, das zuverlässigste Schwulenradar aller Heteros im Süden Englands zu besitzen. Er spinnt, aber ich sage lieber nichts. »Hundert pro.« »Glaub ich nicht«, erwiderte ich seufzend und bemühte mich, den Gegenstand unseres Gesprächs nicht anzuglot‐ zen, der sich gerade an den Gewichtsscheiben vorbeidrück‐ te. »Zehn Pence, dass er schwul ist.« Wenn das keine Kampfansage war! »Zehn dagegen.« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, N rieb sich die Hände, »die größte Anglerin der Stadt einmal verlieren zu sehen.« Gespräche mit Kunden sind nicht das, was man gemeinhin als »normal« bezeichnet, doch sie unterliegen strengen Re‐ geln. Man erfährt, woher einer kommt, was er so macht. Die meisten Männer sind auf Geschäftsreise und nehmen se‐ xuelle Dienstleistungen nicht regelmäßig in Anspruch. Ein bisschen Geplauder ist entspannend für beide. Es gibt einen feinen Unterschied zwischen Interesse und Neugier. Auch wenn das Buchen einer Prostituierten gewis‐ se Ähnlichkeit mit einem ersten Date hat, sind manche Er‐ kundigungen schlichtweg verboten. Dazu gehören Fragen nach den Eltern, der genauen Anschrift (ich arbeite aus‐ schließlich außer Haus), dem Autokennzeichen ... Weil man sich jedoch höchstwahrscheinlich nie wieder 257
sieht, kann der Kunde andererseits Fragen stellen, die bei anderen Männern eine unmittelbare Begegnung mit dem Bürgersteig zur Folge hätten. Kontext ist alles. Beispiel Nummer 1 : »Willst du mal irgendwann heiraten und Kinder haben?« Ich mag Kinder, schon. Besonders, wenn sie wieder bei ihren Erzeugern sind. Manchmal – gelegentlich – becirct mich der Charme eines frühreifen Kindes. Dann denke ich, ein paar Kurze großzuziehen wäre keine schlechte Idee. Wenn es jemanden gäbe, der sich der Sprösslinge zwischen elf und sechzehn annähme, würde das die Vorstellung er‐ heblich verführerischer machen. Kunden sind vielleicht die Einzigen, denen ich eine ehr‐ liche Antwort gebe. Die Zwiespältigkeit in Bezug auf die Gründung einer Familie, die Unsicherheit, ob diese Welt dazu geeignet ist, sich an andere Wesen zu ketten, plagt mich wirklich. Da viele Kunden verheiratet sind und Kinder haben, können sie das nachvollziehen. Manche wollen mir helfen. Sie lieben ihre Kinder und die Familie. Doch, schon ... Allerdings haben sie gerade für Sex bezahlt, oder nicht? Meine Eltern sind manchmal unvorsichtig genug, mich nach meinem Kinderwunsch zu fragen. Sie erhalten die Standardantwort: »Ich habe einfach noch nicht den richti‐ gen Mann gefunden.« Jeder Liebhaber, der es wagt, diese Erkundigung einzuholen, ist in null Komma nichts wieder auf dem Weg Richtung Single‐Hölle. Beispiel Nummer 2: Fragen nach meinem Film‐, Litera‐ tur‐ und Musikgeschmack. Potenzielle Partner erhalten eine ehrliche Antwort. Mein Geschmack auf den einzelnen kulturellen Gebieten ist viel‐ leicht seltsam, aber er gehört mir. Jeder Mann, der die Hoff‐ nung hegt, irgendwann seine Habseligkeiten mit meinen zu 258
verschmelzen und den Haushalt führenden Homo erectus in der Olduvai‐Schlucht neu zu inszenieren, wird mit einem Musikgeschmack leben müssen, der am besten mit dem Be‐ griff »selektiv« zu umschreiben ist. Bei Kunden versuche ich den jeweiligen Geschmack her‐ auszufinden und nicht zu stark vom ausgetretenen Pfad des Mainstreams abzuweichen. Wenn ich die Spitzfindigkeiten des Free Jazz erörtere, während er zwischen meine Titten wichst, nutze ich die Privilegien meiner Position vielleicht doch ein wenig aus. Beispiel Nummer 3: »Mit wie vielen warst du schon im Bett?« Kunden fragen das nie. Manche wollen wissen, wie lange ich schon arbeite. Ob sie dann versuchen, aus meiner Ant‐ wort die Zahl meiner verflossenen Liebhaber abzuleiten, ist mir unbekannt. Da ich manchmal nur sehr sporadisch ar‐ beite, können sie eigentlich nicht auf die richtige Summe kommen. Nicht‐Kunden fragen immer. Wenn ich glaube, dass der Mann Spaß versteht, nenne ich ihm eine Zahl, die in etwa zutrifft. Oder wenigstens in derselben Größenordnung liegt. Die genaue Antwort kenne ich selbst nicht. Buchhal‐ ter‐Typen mit besonders viel Humor bekommen von mir eine mathematisch genaue Zahl mit fünf Stellen hinter dem Komma. Wenn ich einen spaßresistenten Typ vor mir habe, versuche ich, das Thema zu wechseln oder die Frage an ihn zurückzugeben. Wen interessiert das überhaupt? Quantität ist keine Ga‐ rantie für Qualität. Regelmäßigkeit genauso wenig. Auch eine niedrige Gesamtsumme gibt keinen Aufschluss über die Persönlichkeit. Eine hohe Zahl von Ex‐Freunden könn‐ te genauso gut bedeuten: »Bei mir fühlen sich die Männer wohl, und ich habe nur deshalb so wenig Stalker, weil ich 259
mir meine Partner immer sorgfältig aussuche.« Genauso gut könnte es heißen: »Ich bin eine fette notgeile Schlam‐ pe mit einem Alkoholproblem«. Es gab Männer – und Frauen –, die, schockiert von meiner Antwort, vor sich hin murmelten: »Aber du siehst doch so nett aus!« Ich bin nett. Wirklich. Mit siebzehn hat mal einer mit mir Schluss gemacht, weil er mein dritter Freund war. Das fand er untragbar. Der nächste Typ, Nummer vier, fand die Anzahl meiner Ehe‐ maligen untragbar gering. Manchen kann man es halt nie recht machen. Mit neunzehn hatte ich zum letzten Mal einen Lover, der mehr Partner gehabt hatte als ich (soweit mir bekannt ist). Beispiel Nummer 4: »Wir haben nur eine Viertelstunde. Kann ich dir in den Mund spritzen?« Im normalen Leben folgt darauf bestenfalls eine Grimas‐ se, schlimmstenfalls eine einstweilige Verfügung. Bei der Arbeit reichen die typischen Antworten von »Na, dann mal los!« bis zu »Meinetwegen, aber ich fände es besser, wenn du mir ins Gesicht spritzt«. Seit ein oder zwei Jahren wird mir allmählich bewusst, dass ich die erste Blüte der Jugend hinter mir habe. Die Magi‐ notlinie war ausgerechnet die Musik. Als ich nach längerer Abstinenz von der Popkultur wieder einmal Videos guckte, stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass die Leute, die Lio‐ nel Richie nicht mehr aus seinen Anfangs tagen kennen, ihn für so was wie den großen Zampano des Softrocks halten. Lionel war allgegenwärtig, mit Afrokrause, dicken Goldket‐ ten, sehr authentisch. Falsch, völlig daneben! Gibt es denn 260
niemanden mehr, dessen frühe Erinnerungen ans Musik‐ fernsehen von Mr. Richies Anblick verklebt sind, wie er mit Hundeblick und angeklatschtem Haar herumschmalzt? Manchmal mache ich mir ernsthaft Sorgen um die junge Generation, ehrlich. Was mich daran erinnert, dass meine Mutter bald Ge‐ burtstag hat. Ich darf nicht vergessen, ihr das Tzedakah‐ Kästchen mit Neil Sedaka zu basteln, das ich ihr verspro‐ chen (bzw. angedroht) habe.
kleben Etymologie: mhd. Kleben, ahd. kleben = kleben, anhaften, zu mhd. klîben, ahd. kltban – anhaften, (an)kleben, verw. mit Klei Wortart: Verb 1. durch die Wirkung eines Klebstoffes oder aufgrund einer Klebkraft fest an etwas hängen, an, auf etwas haften 2. Klebkraft haben 3. an der Oberfläche in einem Zustand sein, der das Kle‐ benbleiben von etwas oder an etwas bewirkt 4. sich nicht überwinden, entschließen können, etwas auf‐ zugeben, sich von etwas zu trennen, zu lösen 5. an jmdm. kleben: das Objekt seiner Begierde nicht aus den Augen lassen, ihm durch den Raum folgen, um wahrge‐ nommen zu werden. Ich stand am Papierspender und tupfte mir gerade den Schweiß vom Hals, als ich die Zehn‐Pence‐Wette erblickte. Er bereitete ein Gerät vor, das nach foltermäßigem Bank‐ 261
drücken aussah. Als er sich umdrehte, um ein Gewicht her‐ unterzunehmen, schob ich mich hinter ihn. »Abwechselnd?«, fragte ich. Muckibuden‐Sprech für: »Wollen wir abwechselnd Gewichte stemmen?« Wird nicht als Anmache gewertet. Wer sich an einen heranmachen will, stellt sich eher daneben und guckt zu. Die Frage war natürlich lächerlich. Ein Gewicht, das er mit dem kleinen Zeh hebt, erreiche ich wahrscheinlich nicht mal nach zehn Jahren Training. »Heben?«, fragte er. Weiche, nette Stimme. »Vielleicht die Stange plus zwanzig«, erwiderte ich. Hey, ich hörte mich echt an, als wüsste ich, wovon ich spreche. Er nickte. Wir machten jeder drei Durchgänge. Wenn er an der Reihe war, stand ich auf der anderen Seite der Stan‐ ge und beobachtete, wie sich das Langarmshirt über seine Brust spannte. Wenn ich dran war, bemühte ich mich, ernst und cool zu sein. Nicht das herum albernde, schwache We‐ sen, das ich bei N immer bin. Als wir fertig waren, ging jeder in einen anderen Bereich. Cool bleiben, Mädchen, dachte ich. Lauf ihm nicht nach. Nicht an ihm kleben. Eine halbe Stunde später ging ich durch den Konditions‐ bereich. Er war am Rudern, schon seit mehreren Minuten – die ersten Schweißtropfen erschienen gerade an seinem Haaransatz. Ich setzte mich in eine Rudermaschine ein paar Meter weiter und schnallte die Füße fest. »Du hast es dir heute aber schwer vorgenommen, was?«, fragte er. Ich grinste. »Mach ich nur zum Abwärmen.« Ich ruderte fünf Minuten und betrachtete dabei verstohlen sein Spie‐ gelbild in der Scheibe. Inzwischen lief ihm der Schweiß in Strömen. Er hatte sein Oberteil ausgezogen. Als ich fertig war, verschwand ich durch die hinter ihm liegende Tür. Da‐ bei erhaschte ich einen Blick auf seinen Rücken. Herrlich, 262
wie sich die Muskeln bei jedem Schlag spannten! Kleine Tröpfchen rannen seine Wirbelsäule hinunter. Ich war allein im Gang zu den Umkleidekabinen. Warte ein bisschen, sagte ich mir. Wenn er gleich kommt, kannst du etwas sagen. Lass das sein! Sonst merkt er, dass du auf ihn gewartet hast. Feigling! Schlampe! Was hätte ich denn schon sagen sollen? »Oh, wie gerne wäre ich diejenige, die dir den Schweiß ableckt?« Und dann einfach gehen? Die Tür öffnete sich. Ich wartete nicht ab, um zu sehen, wer es war. Ruckzuck war ich auf dem Klo ver‐ schwunden. N und ich waren italienisch essen. Wir saßen draußen und warteten auf den ersten Gang. Es war ein milder Abend; ich war ein bisschen kaputt von einer langen, frustrierenden Trainings‐Session im Fitness‐Studio. Das Bier stieg mir di‐ rekt zu Kopf. Wir unterhielten uns über den kommenden Monat, über seine derzeitige Arbeit, über die Frauen, die er gut fand. Ich gestand, im Internet ein bisschen nach dem Boy herum geforscht zu haben. Scheinbar Gedankenübertragung: Bisher war N so rück‐ sichtsvoll gewesen, seine Ex nicht zum Thema zu machen, aber jetzt erklärte er, er hätte dasselbe getan. »Und, hast du was gefunden?«, fragte ich. Nichts, antwortete er. Vielleicht sei sie verheiratet. Vielleicht sei sie fortgezogen. Ich fand, das sei zu früh. Sicher, sie war ein impulsiver Mensch, aber sich so schnell fest zu binden, das wäre selbst für ihre Ver‐ 263
hältnisse deutlich übereilt. Er erkundigte sich, ob ich etwas gefunden hätte. »Nicht viel«, sagte ich. »Aber es reicht.« Der Boy ist umge‐ zogen, hat aber wahrscheinlich keine Freundin. Also nichts Weltbewegendes. Wir tranken unser Bier. Das Essen kam. Die Vorspeise war größer, als wir erwartet hatten. N aß mei‐ nen Teller leer. Dann kam der zweite Gang. Ich hatte nur ei‐ nen Salat. Wahrscheinlich hatte ich Schuldgefühle, die In‐ timsphäre des Boys verletzt zu haben, dennoch: Ich konnte es einfach nicht lassen. »Beidseitiges Klammern«, diagnostizierte N. »Stimmt.« Eine Weile saßen wir schweigend da, aßen und schickten die allgegenwärtigen Pfeffermühlendreher mit ihren dildomäßigen Utensilien fort. »Und, in letzter Zeit mal ein nettes Mädchen mit dicken Titten kennen gelernt?«, fragte N unvermittelt. Ich musste so heftig lachen, dass ich mich fast am Rucola verschluckt hätte.
Kind Etymologie: von mhd. kint, ahd. kind, eigentlich = Gezeug‐ tes, Geborenes, subst. 2. Part, eines Verbstammes mit der Bedeutung »gebären, erzeugen« Wortart: Substantiv 1. ein junger Mensch beiderlei Geschlechts zwischen Ge‐ burt und Jugend. 2. jemand, der sich durch andere Menschen, von Orten oder der Sachlage stark beeinflussen lässt 3. ein Produkt oder Ergebnis 264
4. ein Mensch, der nach meinem zehnten Geburtstag gebo‐ ren ist. »Rate mal!«, freute sich N. »Was?« Ich war nicht in der Stimmung für Ratespielchen. »Ich habe mit deinem kleinen Freund geredet«, erklärte er. »Mit welchem kleinen Freund?« N sprach von der Zehn‐ Pence‐Wette. »Und, was hast du erfahren?«, erkundigte ich mich. »Er ist Student.« »Heutzutage studieren alle möglichen Leute. Was willst du damit sagen?« »Er ist achtzehn!« Oh, nein, das darf doch nicht wahr sein! So sieht keiner mit achtzehn aus. »Du willst mich verarschen! « »Er ist im ersten Semester und studiert irgendein Inge‐ nieurwesen.« Ich runzelte die Stirn, dachte daran, wie glatt und makel‐ los das Gesicht von Zehn‐Pence war. Und wie höflich er war. In meinem Kopf läuteten Alarmglocken: Gut aussehende Männer bleiben nicht lange nett. »Mannomann«, seufzte ich. »Es sollte ein Gesetz geben, das Jugendlichen verbietet, mit männlichen Körpern herumzulaufen. Das ist einfach ungerecht!«
»Und, war’s nett gestern?«, erkundigte sich N. Wir waren beim Training. Ich lehnte mich an die Wand neben der Tür zur Männer‐Umkleide. Er schnürte sich die Turnschuhe. An den schwarzen Brettern hingen jede Menge Flugblätter. 265
Yoga, Krankengymnastik, Hallenfußball (fünf gegen fünf) und etwas, das »Ultimativ« hieß. Ultimatives was? Ultimati‐ ves Dehnen? Ultimatives Naturduschen? Her mit der Gum‐ mimatte! »War in Ordnung«, erwiderte ich. Gestern hatte A3 Ge‐ burtstag gefeiert. Ich wollte eigentlich nicht hin, weil ich Angst hatte, der Boy würde auftauchen. Als ich N das erzähl‐ te, meinte er, ich solle mich davon nicht abhalten lassen. Und so hatte ich mir den Kopf zerbrochen, was ich anzie‐ hen sollte, mit dem Gedanken gespielt abzusagen und war dann doch gegangen. N wärmte sich auf dem Laufband auf. Auf dieser Seite des Studios stehen die Geräte am Fenster. Welcher Architekt wohl geglaubt hat, der Anblick widerrechtlich geparkter Autos und herum torkelnder Jugendlicher könne die Sport‐ treibenden inspirieren? »War dein Ex da?« »Allerdings.« Der Boy war spät gekommen, kurz bevor die Gesellschaft die Bar verließ und in einen Club weiterzog. Ich sprach gerade mit A3. Wir beäugten die Leute im Raum und schätzen sie auf ihre Bumsbarkeit ab. »Der Typ im roten Hemd?« – »Nur betrunken.« – »Er oder du?« – »Beide.« Da erblickte A3, der in Richtung Tür saß, den Boy. »Und was ist mit dem da im blau karierten Hemd?«, fragte er. Ich drehte mich um, sah den Boy und erschauderte. »Arschloch.« »‘tschuldigung, war gemein von mir«, sagte A3. »Schon gut.« »Und, hat er was gesagt?« N steigerte die Geschwindigkeit und begann zu joggen. »Nein, er ist auf Abstand geblieben.« Das Schlimmste an dem Abend war gewesen, dass ich nicht wusste, ob der Boy überhaupt kommen würde. Ich konnte mich kaum mit je‐ mandem unterhalten, ständig schweifte mein Blick durch 266
den Raum. Wenn ich jemanden sah, der Ähnlichkeit mit ihm hatte, wurde mein Mund trocken, und ich bekam kein Wort mehr heraus. Sobald ich jedoch wusste, dass er da war, hatte ich mich entspannt. Der Boy sah mich nicht an, und ich ihn nicht. Er blieb am Rande einer großen Gruppe und unterhielt sich mit ge‐ meinsamen Bekannten. N und ich joggten jetzt beide. Schweiß lief mir das Schlüs‐ selbein hinunter. »Hattest du bei jemandem Erfolg?«, er‐ kundigte er sich. »Nicht so richtig«, sagte ich. »In der Bar war so ein Typ, der tauchte ganz plötzlich auf. Riss mich an den Haaren und biss mir in den Hals. Dann war er weg.« »Echt? Und, was hast du gemacht?« »Nichts.« Aber ich hatte butterweiche Knie bekommen. Der Fremde hatte mich am Haar gerissen und mir in die Augen gesehen. Ich hatte seinen Blick erwidert. Er riss stär‐ ker. Wir ließen uns nicht aus den Augen. Ich wusste, dass all meine Freunde zusahen. Scheiß drauf. Dann ging der Un‐ bekannte zu seinen Leuten zurück. Ohne ein Wort. »Was hat er dann getan?« »Nichts.« »Wirklich nicht?« N lief weiter. »Vielleicht war es eine Wette. Und, wann warst du zu Hause?« »Ziemlich spät. Beziehungsweise früh.« Wir waren noch in einen Nachtclub gegangen. Ich unterhielt mich mit einer Freundin von A3, sie stammt aus seiner Heimatstadt, eine sehr hübsche Kleine mit Stoppelschnitt. Ich fand sie immer schon ziemlich gut und wusste, dass der Boy mich beobach‐ tete (ich konnte ihn hinter mir hören). Wir stellten uns an und gingen rein. Die Musik war old school, es lief sogar Vanil‐ la Ice. Ich konnte nicht aufhören zu tanzen. Der Boy hielt sich am Rande. 267
Ich ließ mich in einen Sessel fallen, stark verschwitzt. A3 nahm meine Beine und legte sie auf seinen Schoß. Er mas‐ sierte meinen Spann in den offenen schwarzen Stilettos. Irgendjemand machte ein Foto von uns. Ich schloss die Au‐ gen in der Hitze und dem Nebel des Clubs. Musik hatte schon immer die Macht, meine Laune zu heben. Vielleicht war es auch der Alkohol. Ich vergaß alles um mich herum. N sprang vom Laufband und begann mit Dehnübungen. »Und das war’s? Du hast getanzt und bist nach Hause gegan‐ gen?« »Nee – mindestens vier Typen haben versucht, mich an‐ zumachen.« Einer kniete sich neben mich, als ich mit ge‐ schlossenen Augen im Sessel lag und die Musik genoss. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so glücklich aus‐ sieht«, sagte er. Haha, dachte ich. »Danke«, sagte ich. Wir unterhielten uns. Er wollte tanzen, ich nicht. »Und, hast du Telefonnummern bekommen?« N dehnte seine Kniesehnen und zuckte zusammen. »Nur eine interessante. Von British Airways.« »Mann oder Frau?« »Mann.« »Gut aussehend?« »Tun die doch alle.« Der Boy war lange geblieben, aber um drei Uhr morgens war er schließlich gegangen. Der har‐ te Kern gab zu Ehren des Geburtstagskindes eine Runde nach der anderen aus. Der Flugsteward war hartnäckiger als die anderen Männer, die ich an dem Abend kennen gelernt hatte. Er gab mir seine Karte. Ich winkte ihm zum Abschied zu, als wir aus dem Club zu unserem Bus wankten. »An die Gewichte?«, fragte N und steuerte auf die Angst einflößende Bank in der Ecke zu. »Sicher, aufgeht’s!« 268
Ich griff in meine Tasche und zog eine Schachtel Kondome hervor. Er hielt mir den Apparat vors Gesicht. Ich riss die Verpackung auf, hielt den Schaft umschlossen und drückte das zusammengerollte Gummi auf die Eichel. »Muss das wirklich sein?«, fragte der Kunde. »Leider ja«, sagte ich seufzend. »Das Risiko ist sonst zu groß.« »Ich vertraue dir«, sagte er. »Sehr lieb von dir«, erwiderte ich lächelnd. »Ich weiß nur leider nicht, wo dieses Teil« – ich wies auf das Gerät vor mir – »vorher war.« »Ach so«, sagte er und schwieg. »Ist bloß, dass ich den Ge‐ ruch nicht mag, den die Dinger hinterlassen.« Ich dachte nach. »Ich könnte ihn im Badezimmer mit heißem Wasser und Seife gründlich waschen. Dann brauch‐ ten wir kein Kondom«, bot ich an. »Wäre das in Ordnung?« Ist gegen meine Überzeugung. Aber das Risiko für ihn war gering, für mich war es gleich null. Er seufzte erleichtert. Es war ein großer, fleischiger schwarzer Dildo; der Schwanz des Kunden blieb wohl ver‐ wahrt hinterm Reißverschluss. Ich nahm den Dildo mit zum Waschbecken und wusch sorgfältig die Seife ab, damit der Kunde sie nicht mehr schmeckte, wenn er später meinen Saft vom Dildo lecken würde.
War gestern in einem Club. Angel war auch da. Sie hatte ei‐ nen Rock an, eher ein überbreiter Gürtel. Die Frau hat ein‐ 269
fach unglaubliche Beine. Die Musik war laut; wir haben nicht miteinander gesprochen. Ich hätte auch gar nicht ge‐ wusst, was ich hätte sagen sollen. Wir tanzten und hüpften und sangen zusammen, als der DJ »That’s Entertainment« von The Jam spielte. Wir musterten die Typen, die uns zusa‐ hen – keiner war alt genug, um das Lied zu kennen. Damals wahrscheinlich noch nicht mal auf der Welt gewesen. Ich grinste verschlagen. Dann suchte ich mir einen jungen Kerl aus, einen gro‐ ßen, dünnen, sommersprossigen Typ, der wie eine lang gezogene Version des Boys aussah. Ich führte ihn in Rich‐ tung Toilette. Wir knutschten, ich schob sein dunkelgrünes Hemd hoch, leckte seine Brustwarzen. »Wohnst du in der Nähe?«, fragte er überrascht. Ich schüttelte den Kopf und erkundigte mich nach seiner Adresse. Ebenfalls zu weit. Kei‐ ne andere Wahl: Ab durch die Hintertür! Wir fickten auf der Treppe neben den Müllcontainern. Es ist allgemeiner Konsens, dass man bekommt, was man verdient. Ich sehe das anders. Manchmal bekommt man et‐ was geschenkt, dann wieder muss man zahlen, doch das eine ist nicht besser als das andere. Unbezahlter Sex mit Fremden hat Nachteile, sicher. Aber wo gibt es die nicht? Lässt man sich auf einmalige Num‐ mern ein, ist man anfallig für Stalker, Beziehungen und an‐ dere sexuell übertragbare Krankheiten. Aus irgendeinem Grund hat unsere Nation beschlossen, dass die ewige Liebe durchaus damit beginnen kann, besoffen in einem über‐ füllten Nachtclub herumzuknutschen. Das ist falsch. Müs‐ sen wir hier direkt mal klar stellen. 270
Die Männer, denen ich in meinem Arbeitsleben begeg‐ net bin, kann man unter einem einzigen Oberbegriff zu‐ sammenfassen: schüchtern. Ob es darum geht, nach »Was‐ serspielen« zu fragen oder die Hintertür zu nehmen – Freier scheinen sich im Großen und Ganzen unwohl dabei zu fühlen, das zu verlangen, worauf sie als zahlende Kunden Anspruch haben. Wenn man eines sicher sagen kann, dann Folgendes: Je ausgefallener ein Wunsch, desto öfter ruft er vorher die Agenturchefin an. Ein Mann für eine Nacht hin‐ gegen nimmt, was er bekommen kann. Versteh mich keiner falsch! Die Hemmungen des Kun‐ den, seine geheimsten Wünsche auszusprechen, finde ich entzückend. Sogar niedlich. Aber es ist schon lustig, wenn ich einen Mann frage, was er gerne machen würde, und er antwortet: »Worauf du Lust hast.« Also nach Hause gehen, im Schlafanzug Fernsehen gu‐ cken und einen heißen Kakao trinken? Dann käme ihm mein Honorar wohl ein wenig überhöht vor. Aber noch bes‐ ser ist ein gemurmeltes: »Ach, du weißt schon, das Übli‐ che.« Nein, weiß ich nicht. Bei ihm ist das »Übliche« vielleicht Freiluftbondage mit einer ganzen Horde Ponygirls. Ist es je‐ denfalls bei mir. Der typische Disco‐Hengst andererseits fordert seine Be‐ dürfnisse mit einer Kompromisslosigkeit ein, die ich erfri‐ schend finde. Er ist da, du bist da, der DJ spielt »Carmina Burana«, das definitive Zeichen, den Mantel zu holen und zu gehen. Ihr seid die Einzigen in der Taxischlange, die sich nicht gegenseitig mit der Zunge die Mandeln abtasten. Es ist längst absehbar, was als Nächstes geschehen wird. Unter Garantie werden innerhalb der nächsten halben Stunde ge‐ wisser Leute Weichteile auf einer Überwachungskamera zu sehen sein. Und um ehrlich zu sein: Ich schnappe mir kei‐ 271
nen x‐beliebigen Mann, weil ich ihn als festen Partner will. Ich verlange nicht mehr als eine gründliche Muttermund‐ massage, und ich werde selten enttäuscht. Oder, wie N es formuliert: Wenn man weiß, dass man den anderen eh nie wiedersieht, warum soll man dann nicht ein bisschen experimentieren? Wer, wenn nicht ein Fremder, würde darauf bestehen, meine Weiblichkeit erst mit zerstoßenem Eis zu kühlen, be‐ vor wir zur Sache kommen? Wer sonst würde – erfolglos – versuchen, mich beim Autofahren zu fisten (Achtung: im Stadtverkehr nicht ratsam!)? Kein Kunde würde das wagen. Er hätte Angst, dass ich den Taschenrechner raushole und seinen Extrawunsch mit Aufpreis berechne. In Begleitagenturen ist oft von »Girlfriendsex« die Rede – Sex wie mit der eigenen Freundin. Es ist unsere gefragteste Dienstleistung. Ich bin schon von wohlmeinenden Kerlen, die mich nur von der Website kannten, halb totgeknuddelt worden. Ich habe mit einsamen Herren Rotwein getrunken und Fernsehen geguckt, bis draußen das Taxi hupte. Und meines Wissens hat noch kein nachts aufgegabelter Typ zu‐ sammen mit mir auf der Tagesdecke gelegen und mir Ge‐ schichten über seine Kindheit in Afrika erzählt. Der letzte Gentleman – diese Bezeichnung ist ein bisschen weit hergeholt –, der mit mir nach Hause ging, blieb genau neunzig Minuten. Wir taten es, überlegten, ob wir noch mal sollten, dann nervte er mich mit Gerede über seine Ex, zog sich an und verschwand. Ich war ein wenig beleidigt, dass er die angebotene Tasse Tee abgelehnt hatte. Dennoch ging ich zufrieden ins Bett. Ich hatte bekommen, was ich von dem Abend erwartet hatte: einen guten, heftigen Fick. Kunden sind eine ganz eigene Spezies. Mancher hat mich schon in den Urlaub eingeladen, sich erkundigt, ob es meiner Meinung nach außerirdisches Leben gibt, und un‐ 272
ter Absonderung poetischer Lobeshymnen auf die Propor‐ tionen meines Gesichts meine Schuhe geputzt. Das raffi‐ nierteste Kompliment, das ich je von einer Zufallsbekannt‐ schaft bekommen habe, war hingegen: »Kaffee? Ein saube‐ res Handtuch? Super – bei dir ist es ja wie im Hotel! « Oh, nein. Ich war schon in zig Hotels. Und Männer zah‐ len nicht für flauschige Handtücher.
Der Kunde buchte mich zum zweiten Mal. Er arbeitet als Ordnungshüter. Beim ersten Mal hatte er mich zu einer halbformellen Veranstaltung seines Arbeitgebers mitgenom‐ men. Ich war offenbar nicht das einzige gekaufte Mädchen dort, nach dem Zahlenverhältnis von heißen Schnecken im heiratsfähigen Alter zu schmerbäuchigen Polizeibeamten zu urteilen. Oder aber die Öffentlichkeitsarbeit der Metro‐ politan Police zahlt sich auf unerwartete Weise aus. Ich saß neben meinem Kunden. Einer seiner Kollegen, ein junger Schotte, glotzte mir unverblümt in den Ausschnitt. Beim zweiten Mal traf ich den Kunden in seiner Woh‐ nung. Er stellte mir jede Menge Fragen, wahrscheinlich weil wir nun allein waren. Das kann heikel sein: Ist er bloß neu‐ gierig oder ein potenzieller Stalker? Wie man so schön sagt: Die Sonne ist wie die Wahrheit – ihr Nutzen hängt ganz da‐ von ab, wie weit sie entfernt ist. Deshalb habe ich mir einen Lebenslauf zurechtgebastelt, der nicht ganz, aber größtenteils stimmt. Minimale, aber verstandliche Abweichungen bezüglich Heimatstadt, Uni‐ versität, Abschluss, Anschrift. Es gibt Fragen, die leichter zu beantworten sind: »Hast du schon mal als Domina gearbeitet?« 273
»Schätzchen, so habe ich angefangen.« Als Studentin habe ich kurze Zeit als Domina gewirkt. Es hat mir keinen besonderen Spaß gemacht, deshalb habe ich bald wieder aufgehört. In erster Linie weil es mir schwer fiel, mich zu verstellen. Vielleicht kann ich mich, weil ich von Natur aus eher unterwürfig bin, besser in Menschen einfühlen, die gerne dominiert werden. Dennoch muss ich manchmal den Part der Domina übernehmen. »Wirklich?« Der Kunde nickte und spitzte die Lippen. »Wirklich.« Er war groß, über eins achtzig. Breitschultrig und stark. Wahrscheinlich Mitte vierzig. Glatze. Und Single, aber das ist bei meinen Kunden nichts Besonderes. »Das finde ich ... faszinierend.« Wie kommt es, dass Männer, die einen mit bloßen Händen auf sieben verschiedene Arten toten könnten, im Schlafzimmer zahme Kätzchen sein möchten? »Hast du schon mal jemandem die Kontrolle überlas‐ sen?«, fragte ich. Ersaß in einem spießigen Sessel, ich hock‐ te zu seinen Füßen, trank Shiraz und strich über die Rück‐ seite seiner Beine. »Das wollte ich immer, aber ... « »Schätzchen«, sagte ich und streichelte sein Kinn. »Du musst dich nicht schämen. Dafür bin ich doch da!« Wer zum ersten Mal Sklave ist, ist leicht zu führen; er will die Domina zufrieden stellen. Es dauert Monate, bis der Unterworfene hintenherum versucht, die Kontrolle zu übernehmen. Ich fragte ihn, ob ich ihn fesseln solle. Ja, sag‐ te er, aber womit? Da ich nicht vorbereitet war, bat ich um ein paar Krawatten. Er führte mich nach oben ins Schlaf‐ zimmer und holte welche. Ich befahl ihm, sich auszuziehen. Er gehorchte. Ich saß im Schneidersitz auf dem Bett. Dann sagte ich ihm, er solle aufs Bett kommen. Kurz zögerte er. »Leg dich hin, Gesicht 274
nach oben, Arme und Beine ausstrecken!«, wiederholte ich schroff. Er gehorchte. Ich zog den Rock, hoch und krabbel‐ te, immer noch mit Schuhen, auf ihn. Dann setzte ich mich rittlings auf seine Brust und fesselte seine Hände ans Bett. Am Fußende war nichts zum Befestigen, deshalb wickelte ich die Krawattenenden um die Rollen des Gestells und hoffte, sie würden halten. Ich merkte, dass er den Hals reck‐ te, um mit dem Mund an meinen Hintern zu kommen. »Leg dich hin!«, schnauzte ich ihn an. »Du fasst mich erst an, wenn ich es dir sage ! « Es war normaler Sadomaso, nichts Besonderes. Ganz leichte Folter‐ und Schmerzspiele. Aber am Ende waren meine Schuhe sauberer als vor dem Kauf. N hat ein neues Thema: Jetzt geht es nicht mehr um Sport und Titten, er konzentriert sich ganz auf Muschis. Auf seine Katze, meine ich. Ns Muschi schleppt sich seit einiger Zeit dahin, sie kommt nicht mal mehr die Treppe herauf, anders als mein geliebtes ehemaliges Raubtier, das sich darauf verlegt hatte, katzengleich in ein Nest voll kleiner, hilfloser Vögelchen zu hechten, mit katzenartigen Reflexen von einem Ast zum nächsten zu springen und sämtliche Baumbewohner kat‐ zenhaft zu Tode zu erschrecken. Ns Muschi kam mit umwickelter Pfote und verkniffener Miene vom Tierarzt zurück. Wie mir erklärt wurde, hatte man ihr dort einen Dorn von der Größe einer Maus aus dem Fuß gezogen. Es hatte sich ein Abszess gebildet, der ... ähm, das Ganze ist zu ekelig und medizinisch, um es hier auszuwalzen. »Eiter abziehen« gehörte scheinbar auch 275
dazu. N umsorgt das Tier mit der zärtlichen Hingabe einer Krankenschwester. Wirklich süß. Als wir gestern Abend aus dem Studio kamen, bot er mir nicht an, mich nach Hause zu bringen, schlug auch nicht vor, etwas essen oder trinken zu gehen. Er murmelte etwas von Verbandswechsel und rannte fast zum Parkplatz. Ich grinste. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, du hast eine kleine Muschi nebenbei.« Kaffeetrinken mit N und A1 aus keinem besseren Grund, als mein Liebesleben zu sezieren. Schon wieder. »Und, was war mit dem Typ von British Airways?«, erkundigte sich N und trank einen Americano. »Hätte was werden können. Aber er hat abgesagt, am Wo‐ chenende, telefonisch«, berichtete ich. Es war ärgerlich. Zu‐ gegebenermaßen war er wohl wirklich öfter in der Luft als am Boden, aber das dürfte doch kein Hindernis sein! Sich nicht zu sehen, kommt meiner Meinung nach in den besten Beziehungen vor. »Hat er einen Grund genannt?«, wollte N wissen. »Zu viel Arbeit. Keinen Bock.« »Hat er das wirklich gesagt?«, fragte N verdutzt. »Nein, ich umschreibe nur.« Wahrscheinlich ist es allzu verwegen anzunehmen, ein Mann sei so arglos, wirklich die W7ahrheit zu sagen, wenn er behauptet, er habe im Job zu viel zu tun. A1 zuckte mit den Schultern. »Na, hoffentlich weiß er, was ihm entgeht.« »Das bezweifle ich. Wir haben nur geknutscht.« Dreimal getroffen,jede Menge Telefonate, eine Flut von E‐Mails. Er‐ gebnis: lediglich ein paar ungelenke Umarmungen und ein 276
bisschen Zungenhakeln, bevor Aschenbrödel verschwinden musste. In Anbetracht meiner jüngsten Erlebnisse erschien es mir falsch, ihn zu sehr zu drängen. Ganz offensichtlich hatte ich bei ihm nicht die richtigen Knöpfe gefunden, wo immer sie sein mochten. »Echt?«, staunte N. »Ich hätte wenigstens einmal mit dir geschlafen.« »Danke, Schatz«, sagte ich und blies ihm einen Kuss zu. »Ich habe da einen Freund«, begann A1. »Er ist ein biss‐ chen kurz geraten, aber sonst ... « »Ist das ein Euphemismus? Ich kenne deinen kleinen Freund bereits, danke«, sagte ich und schielte auf seine Jeans. »Autsch«, machte A1. Dann, zu N: »Sie wird gemein. So ist sie nur, wenn sie nicht regelmäßig gevögelt wird.« Ich kenne da so ein Mädchen. Sie ist nett, aus gutem Hause, spricht feinstes Englisch, hat die besten Manieren. Ich kenne sie schon seit mehreren Jahren, seit dem Stu‐ dium. Wie bei mir war auch ihr Abschluss so gut wie wertlos. Wie ich zog sie nach London, um ihr Glück zu versuchen. Und stellte fest, dass sie in erster Linie Schulden machte. Ein Zeitvertrag nach dem anderen oder zwei, drei freiberuf‐ liche Projekte nebeneinander, damit man genug Geld ver‐ dient, um die winzige, nicht besonders teure Wohnung be‐ zahlen zu können. Diese Frau weiß nicht genau, was sie will. Sie kann sich eine wissenschaftliche Karriere vorstellen, doch eher um der grausamen Welt zu entfliehen als aus wahrer Liebe zur Literatur. Wenn ich sie alle paar Wochen mit Freunden im 277
Pub treffe, sieht sie aus wie eine ungepflegte Bibliothekarin. Doch ich habe gesehen, wie sie sich bewegt: Sie könnte sehr viel attraktiver sein. Sie hat unglaubliche Beine. Ich weiß auch, dass sie längere Zeit depressiv war. Sie hat Narben, die das beweisen. Die Männer in ihrem Leben sind entweder gewalttätig oder Versager. Ich spendiere ihr ein Bier, wenn es zu spät ist, um noch eine Runde zu bestellen, weil ich weiß, dass sie es sich nicht leisten kann. Sie gibt ihr weniges Geld für Bücher aus. Sie liest gerne, diese Frau, und wenn man das richtige Thema findet, dann fuchtelt sie, eine Zigarette zwischen den Fin‐ gern, mit ihren milchweißen Armen herum und entwickelt diese oder jene Theorie oder erklärt diesen oder jenen Au‐ tor zum verkannten Genie. Meistens jedoch bekommt man kaum ein Wort aus ihr heraus, und ich bemühe mich doppelt so sehr wie bei ande‐ ren, das Gespräch in Gang zu halten. Denn auf die Frage: »Und, wie läuft’s so bei dir?«, antwortet sie immer ehrlich. Es läuft nie besonders gut. Was könnte sie aufmuntern? Wer weiß? Chronischer Geld‐ mangel ist eins ihrer Probleme. Angst vor jeder Frau zu ha‐ ben, die sich ihrem aktuellen Freund auf mehr als eine Vier‐ telmeile nähert, ist auch nicht gerade hilfreich. (Ja, sie hat ein‐ oder zweimal den Trick mit der ungeplanten Schwan‐ gerschaft versucht. Natürlich hat sie dem Typen nichts un‐ tergejubelt, aber mal hier und da günstigerweise die Pille vergessen, wenn er mal ein bisschen mehr an die Kandare genommen werden musste.) Ich weiß nicht, aber manchmal denke ich – okay, es ist kein Allheilmittel –, dass ein paar Monate als Prostituierte ihr richtig gut tun könnten. Sich richtig schick machen und lächeln müssen. Die Miesen auf dem Konto abbauen. Keine Zeit haben, sich den Kopf zu zerbrechen. 278
Aber das kann ich ihr nicht sagen. Sie wartet auf die Zusa‐ ge für die Finanzierung ihrer Doktorarbeit im Herbst. Über ein völlig sinnloses Thema. Resultat Etymologie: Vom französischen résultat zu lateinisch resulta‐ tum, von re‐, zurück, und saltare, springen. Wortart: Substantiv 1. Ergebnis einer Rechnung, Auszählung, Messung O.A.; 2. etwas, das sich aus entsprechenden Bemühungen usw. als Ergebnis ermitteln, feststellen lässt; 3. was ich sagen werde, wenn ich N als den Narr überführe, der er ist. Denn es geht nicht ums Geld, es geht ums Prin‐ zip. N und ich gingen in einen Club, wo er vor ein paar Jahren mal gearbeitet hat. Sie spielen die übliche Lala, aber weil wir die Türsteher kennen, müssen wir nicht anstehen, son‐ dern kommen immer rein. Es war knüppelvoll, die üblichen Gesichter. Einige tanzten, rüttelten und schüttelten sich, andere standen an der Theke und checkten die Lage. Eine Fleischbeschau, aber nicht unangenehm. Ich setzte mich auf eine weiße Ledercouch und sah mich um. Da: ein be‐ kanntes Gesicht in einer kleinen Männergruppe: Zehn‐Pen‐ ce. Ich stieß N an. »Hab ich doch gesagt!«, triumphierte er. Nehme ich we‐ nigstens an, denn ich konnte ihn bei der Musik nicht verste‐ hen. Er machte entsprechende Mundbewegungen. Ich wuss‐ te, was er meinte, und zuckte mit den Schultern. Mit Män‐ 279
nern unterwegs zu sein, bedeutet doch nicht zwangsläufig, dass man schwul ist. Und die Wette war noch offen. Ich sah, dass sich Zehn‐Pence von seiner Gruppe löste und zur Theke ging. Allein. Gut, denn eine Konfrontation vor seinen Leuten würde bestimmt nicht funktionieren. Ich folgte ihm. Tippte ihm auf die Schulter. »Ja?« Er drehte sich um, erkannte mich, lächelte. »Das hört sich jetzt bestimmt komisch an«, sagte ich ent‐ schuldigend. »Aber ich gewinne zehn Pence, wenn du nicht schwul bist.« »Wie bitte?« Die Musik war laut, er beugte sich vor, um mich besser verstehen zu können. »Ich habe gesagt, ich gewinne zehn Pence, wenn du nicht schwul bist.« »Mit wem hast du gewettet?«, fragte er. »Darf ich nicht verraten. Ist das wichtig?« Er grinste. Überlegte. Beugte sich vor und küsste mich. Er hatte weiche Lippen, ein wenig feucht, sie verweilten kurz auf meinen. »Du hast gewonnen«, sagte er. Ich lächel‐ te. Wir gingen in verschiedene Richtungen davon. Ich lief zu N, hängte mich an seinen Arm. »Gewonnen!«, rief ich ihm ins Ohr. »Bist du jetzt sauer?« »Ich beweise dir das Gegenteil«, sagte er und wühlte in seinen Taschen herum. »Meinetwegen.« Ich grinste. »Bis dahin: Her mit der Ma‐ rie!« 280
Potenzielle Schlupflöcher – ein paar Überlegungen: Kyle of Tongue Pro: Wird von Kinderschändern und Frischluftfanatikern bevorzugt. Fahren tierisch auf die einmalige Landschaft ab. Contra: »Trübselig« trifft es nicht so ganz. Was soll man von einem Ort halten, dessen Hauptstraße regelmäßig von der Flut verschluckt wird? Umgebung von London Pro: So geisttötend, langweilig und schrecklich, dass nie‐ mand auf die Idee käme, ich könnte die neue Nachbarin sein. Contra: So geisttötend, langweilig und schrecklich, dass nie‐ mand auf die Idee käme, ich könnte die neue Nachbarin sein. Westengland Pro: Molkereierzeugnisse, Moore, Strände. Pasteten und Ponys. Im Sommer kann man braungebrannte Surfer an‐ schmachten. Contra: Es fahren zwar Züge hin, aber ich bin nicht sicher, ob sie auch wieder zurückfahren. Nordamerika Pro: Mein entzückender Akzent könnte die Leute freund‐ lich summen (Freigetränke?). Contra: Texas macht mir Angst. 281
Südamerika Pro: Sonne, interessantes Essen, Berge. Contra: Das angebliche Kontingent geflüchteter Nazis könnte sich als Einschränkung für das gesellschaftliche Le‐ ben herausstellen. Australien und Umgebung Pro: Kenne dort ein paar Leute, angeblich gutes Wetter, an‐ nehmbare Süßwaren. Contra: Das angebliche Kontingent geflüchteter Briten könnte sich als Einschränkung für das gesellschaftliche Le‐ ben herausstellen. Mittelmeer Pro: Super Wetter, erstklassiges Essen, billiges Wohnen, an‐ nehmbares Unterhaltungsprogramm, nicht besonders weit weg. Contra: Ballermann ist nicht so ganz das, was ich suche. Fulham Pro: Anständige Verkehrsanschlüsse. Contra: Was sagt es über einen Ort aus, wenn die Flucht‐ möglichkeiten sein größtes Plus sind? Israel Hmm, nein. Weil ... ach, nein. Noch nicht. EastAnglia Pro: Gutes Bier. Aah, nichts ist herrlicher als ein Glas India Pale Ale an einem sonnigen Nachmittag. Contra: Ästhetisch unschöne Ausbuchtung auf der Land‐ karte. 282
Afrika Pro: keine Ahnung Contra: Ich hatte mal einen Kunden aus Zimbabwe. Hörte sich an, als lebe es sich dort momentan nicht so gut. New York Pro: Sehr menschelnd. Contra: Traut man dem Fernsehen, herrscht dort ein un‐ glaublicher Paarungsdruck. Hier bin ich das einzige Alpha‐ weibchen, das Stilettos trägt, dessousbesessen ist und Pulit‐ zer‐Preisträger liest. Die Konkurrenz dort könnte hart sein. Besonders wenn man sich um einen arbeitslosen BWLer balgt, der noch bei seinen Eltern in der Bronx wohnt. In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass ich mehr Zeit außer‐ halb Londons als in der Stadt verbringe. Das derzeit gute Wetter ist angenehm, kommt aber leider zu spät und reicht nicht. Ich packe schon wieder: Slips (unzählige), Bücher (Dodsworth, Mein Name ist Asher Lev, ein paar anspruchslose Krimis und die allzeit zuverlässige Brautprinzessin), außer‐ dem Sunblocker. Bin auf der Suche nach Stränden. Melde mich mit detail‐ lierten Analysen von einigen der oben aufgezählten Orte zurück.
Als ich klein war, sind wir jedes Jahr in den Urlaub gefahren. Es waren keine exotischen Reiseziele, und immer fuhren wir ohne meinen Vater. Bis zur Rente behauptete er, zu er‐ schöpft von der Arbeit zu sein, dann konnte er die Ausrede nicht länger bemühen. Im letzten Schuljahr war mein Cou‐ sin mein bester Freund. Wir hatten denselben Teint die 283
gleichen scharf geschnittenen Gesichtszüge, beide Som‐ ersprossen. Die Leute hielten uns für Zwillinge. Wir be‐ nahmen uns wie Geschwister, neckten und schlugen uns. Doch in jenem Jahr war eine neue unterschwellige Span‐ nung hinzugekommen: Wir beobachteten uns argwöh‐ nisch, lauerten auf Zeichen, dass der eine mehr wusste als der andere. In dem Jahr also fuhren unsere Mütter mit allen Kindern gemeinsam in den Urlaub. Nach Brighton. Ich war noch nie so weit im Süden gewesen. Der Wagen war mit sechs Perso‐ nen proppenvoll. Die Fahrt kam mir länger vor, als sie wahr‐ scheinlich war. Die Schwester meiner Mutter, also meine Tante, hatte zu unserer Unterhaltung eine Tüte voll Kas‐ setten mitgenommen. Sie hatte einen anderen Musikge‐ schmack als wir, aber dankenswerterweise keinen so altmo‐ dischen wie meine Mutter. Wir kannten alle Texte und san‐ gen bei heruntergekurbelten Fenstern laut mit. Die Sonne lachte vom Himmel. Wir freuten uns auf den Urlaub. Dort angekommen, ging es sofort zum Strand, aber es war feucht und windig. Drei Tage hielt das schlechte Wetter; wir hatten nichts zu tun. Die Mütter blieben zu Hause und sahen fern; wir Kinder machten uns auf die Suche nach ei‐ ner Spielhalle. Ich schlug alle Herausforderer im Air Ho‐ ckey, bis keiner mehr gegen mich antreten wollte. Wir ga‐ ben unser ganzes Geld für Zuckerwatte, Glücksspiele und Pommes aus. Ich weiß noch, dass ich eines Tages ins Hotel zurückkehr‐ te, als die Mütter noch fernsahen. Mein Cousin war im Bad und sang. Offenbar war ihm nicht bewusst, dass sich die ei‐ gene Stimme unter der Dusche zwar gut anhört, aber auch für alle anderen zu vernehmen ist. Es war ein Lied von Ma‐ donna, und die eindeutigen sexuellen Anspielungen wühl‐ ten mich auf – von seinem Falsett ganz zu schweigen. Unge‐ 284
wollt stellte ich mir vor, wie er die Tänzer im Video nach‐ ahmte. Dann fiel mir wieder ein, dass ich am Morgen selbst unter der Dusche gewesen war, als die anderen über Straßenkar‐ ten und Zeitungen hockten, und »I Touch Myself« von The Divinyls gesungen hatte. Ich wohne in einem Hotel direkt am Fluss in Spanien. Der Fluss ist nur wenige Kilometer lang; kurz darauf mündet er ins Meer. Ich gehe spazieren, nicht weit vom Hotel. Es ist sehr warm, frühlingshaft, die Blumen lenken mich ab. Die Luft riecht trockener und sauberer als in England. Die Batterien in meinem Fotoapparat sind schwach, aber ich kann noch ein paar Blumen aufnehmen. Pinkfarbene Bougainvilleen, orange sternförmige Blüten, die ich noch nie gesehen habe, winzige rosa Blumen an den Zweigen ei‐ nes Baumes mit glatter Rinde. Wenn es hier eines gibt, dann sind es Straßencafes. Ich setze mich unter einem Sonnenschirm mit der Werbung ei‐ nes einheimischen Gebräus auf einen grünen Plastikstuhl, trinke eine Sangria und fühle mich wie die Obertouristin. Manchmal sprechen mich Männer an, meistens reden sie jedoch miteinander. Ich habe den Eindruck, sie achten zu‐ erst auf das Haar einer Frau. Weil ich die falschen Schuhe zum Spazierengehen anha‐ be, muss ich früh umkehren. Ich nehme jedoch nicht die gleiche Strecke über die Hauptstraße zurück, sondern ma‐ che Umwege über kopfsteingepflasterte Gassen, wo weißer und gelber Putz von den Hauswänden fällt. Ich entdecke 285
zwei Kirchen. Ihre Namen sind auf fröhlich bunten Ka‐ cheln in die verputzten Wände eingelassen. Ich will ein Foto machen, aber die Batterien sind endgültig leer. Ich könnte neue kaufen, weiß aber das Wort für Batterie nicht, und außerdem ist mir meine Fremdheit hier bereits zu stark be‐ wusst. Das Hotel ist eine kühle Oase.
Ich bin also sechzehn, oder zumindest fast. Eines Tages bin ich mit meinem Cousin im Schwimmbad, bei der Leiter am tiefen Ende. Er erkundigt sich nach ein paar Mädchen, die ich kenne. Ich ärgere mich ein bisschen, dass er den üb‐ lichen Geschmack hat, was Frauen betrifft: groß gewachsene Blondinen oder Brünette mit einem Vorbau, der alle Blicke auf sich zieht. Viele Jungen haben Gunstbeweise von diesen Mädchen bekommen, aber meinen Cousin und seine freaki‐ gen Freunde würdigen sie keines Blickes. Er weiß das. Unsere Freundschaft wird langsam unbehaglich. Weil wir verwandt sind, können wir alles teilen und tun das auch. Aufgrund unseres Alters fühlen wir uns zueinander hinge‐ zogen – was natürlich verboten ist. Wenn wir tatsächlich mal über Sex reden, kleiden wir das Thema, schüchtern und clever, wie wir sind, in die neutralsten Sätze. »Wenn ich nicht dein Cousin wäre und dich nicht ken‐ nen würde, fände ich dich wahrscheinlich gut.« »Ich dich auch. Wenn ich nicht deine Cousine wäre. Und ich dich nicht kennen würde.« Wir wissen, was wir damit sagen wollen. Es folgt unan‐ genehmes Schweigen, dann meist ein Furzgeräusch, um uns auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Diese Freundschaft ist Vorbote der Art von Beziehung, die ich im 286
Studium haben werde: zu blassen, sanften Jungen, die zu schüchtern sind, um ihre Begierde in Worte zu fassen, bis sie so betrunken sind, dass es ihnen egal ist. Es sind quasi dieselben Typen, mit denen ich während der Schulzeit ge‐ gangen bin, nur mit besserem Zugang zu Alkohol. Manch‐ mal zeigen sich Freunde meines Cousins an mir interessiert er wehrt sie mit Beteuerungen ab, ich sei ein richtiger Junge (»Wenn sie das hören würde, würde sie dich so was von ver‐ möbeln!«) oder sehr reif (»Ein Kind wie dich würde sie kei‐ nes Blickes würdigen!«). Und wie frühreif ich war! Einmal im Kino habe ich sogar einen Jungen nicht rangelassen, man glaubt es kaum. Da sind noch andere Sachen. Wir werden es erst in einem Jahr wissen, aber ich will studieren, mein Cousin nicht. Er macht gute A‐Levels und hat entsprechende Angebo‐ te, bleibt aber nicht dran, und seine Mutter macht keinen Druck. Er will zur Marine oder Automechaniker werden. – Ich finde, er ist verrückt. Zehn Jahre später steht er als Zuar‐ beiter in einer Großküche. Ich hieve mich aus dem Schwimmbecken, krabble zu unseren Handtüchern und nehme sie mit an den Becken‐ rand. »He«, meint er, etwas lauter als notwendig, »du gehst so komisch. Heißt das, dass du keine Jungfrau mehr bist?« »Allerdings«, sage ich, ohne das Gesicht zu verziehen. Er kommt aus dem Wasser, ich werfe sein Handtuch hinein. So zeige ich ihm, dass mir etwas an ihm liegt. Er weiß nicht, ob ich ihm etwas vormache, und hakt nicht nach. Ich lege mir trotzdem eine Geschichte zurecht, nur für den Fall. Seine Mutter holt uns ab. Wir sitzen hinten im Auto. Er flüstert einen Namen nach dem anderen. »Marc? »Nein.« Marc ist in meiner Klassenstufe und größer als 287
die anderen. Außerdem spuckt er beim Reden, ohne es zu merken, und läuft mir zu oft hinterher. »Justin?« »Nein.« Ich bin in Justin verknallt; das weiß nur mein Cousin. Ich hoffe, dass er es nicht weitererzählt. Bevor ich zur Uni gehe, werde ich Justin das alles in einem Brief geste‐ hen. Dann wird er nie wieder mit mir reden. Er spürt mein Unbehagen. »Eric! Bestimmt!« Den hatte ich mir als Kandidaten ausgesucht. »Auf kei‐ nen Fall!«, sage ich, verdrehe aber nicht seine Brustwarzen. Damit würde ich die neue Form der Intimität wieder zerstö‐ ren, die meine Lüge erschaffen hat. Es ist sowieso egal. Kaum einen Monat später ist es wirk‐ lich so weit, mit dem besten Freund meines Cousins. Zwar zucke ich zusammen, aber ich halte den Mund. Und soweit ich weiß, bin ich am Tag danach nicht anders gegangen als vorher. Ich fliege gen Osten, nach Italien, um Freunde zu treffen. Das kleine Flugzeug ist überfüllt, die stark geschminkte Flugbegleiterin schreit ein Kind an, das unablässig den Gang hoch‐ und runterläuft, selbst beim Starten und Lan‐ den. Es ist unklar, zu wem es gehört; die Eltern machen kei‐ nen Versuch, den Kleinen aufzuhalten. Nachdem ich mein Gepäck in der kühlen gekachelten Halle des Hotels abgestellt habe, rufe ich als Erstes meine E‐ Mails ab. Überraschung: eine Nachricht von Dr. C aus San Diego, der sich meine Adresse von A2 hat geben lassen. Es ist eine kurze, aber herzliche Botschaft, zwei Tage alt. Ich antworte mit einer ebenso kurzen, fröhlichen Nachricht. 288
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Von dem Apartment aus, in dem ich wohne, kann man den Fischmarkt riechen. Das stört mich eigentlich nicht. Bitte keine dummen Sprüche über Nutten und Fischgeruch! Der größte Haken an dieser Örtlichkeit sind die Lastwa‐ gen, die um vier Uhr morgens vorbeirumpeln, um ihren Fang abzuliefern. Die Männer, die hinten auf den Ladeflä‐ chen stehen, rufen sich Dinge zu und laden ab. Dann ist es ungefähr eine Stunde lang ruhig, bis die ersten Kunden kommen. Na, wahrscheinlich ist es langsam mal an der Zeit, dass ich lerne, wozu es gut ist, mit der Sonne aufzustehen. Um den besten Fisch zu ergattern, beispielsweise.
Ich ging mit einer kleinen Gruppe an den Strand. Außer mir war noch ein anderes Mädchen dabei; die Jungs saßen ein wenig abseits auf den Kieselsteinen. Alle zogen sich aus und legten sich zum Bräunen auf ihre Handtücher. Ich kenne das andere Mädchen nicht besonders gut. Vor ein paar Tagen haben wir uns unterhalten; sie erkundigte sich nach meinem Alter. »Fünfundzwanzig«, sagte ich, ein paar Jahre unterschla‐ gend. Sie ist höchstens neunzehn. »Wow!«, machte sie, ehrlich überrascht. »Das hätte ich 291
nicht gedacht.« Ich zuckte mit den Schultern. Als ich jünger war, wurde ich immer für älter gehalten; jetzt kehrt sich das um. »Das glaubt dir keiner«, sagte sie hilfsbereit. »Selbst wenn du behaupten würdest, du wärst zwanzig, würde man dir das abkaufen.« Aber nur Leute unter zwanzig, dachte ich. Trotzdem lieb von ihr. Ich war am Lesen. Ein junger blonder Mann hörte Musik über Kopfhörer und sang laut mit – völlig schief. Ich musste grinsen. Andere warfen sich eine Frisbeescheibe zu oder spielten im seichten Wasser. Als ihnen langweilig wurde, ka‐ men sie zurück an den Strand. Das andere Mädchen blätterte in einer Zeitschrift herum und hörte Musik. »Ist meine Sonnenbrille sehr dunkel?«, fragte sie leise. »Doch, so gut wie schwarz«, entgegnete ich. »Du kannst also nicht sehen, wo ich hingucke?«, wollte sie wissen. »Nein, kann ich nicht.« »Gut«, sagte sie, stützte den Kopf auf die Hand und beob‐ achtete die Jungen. Ich merkte, dass sie einen bestimmten im Visier hatte. Ihr Freund war zu Hause geblieben. Das erste Mädchen, mit dem ich geschlafen habe, war die Freundin eines Freundes. Einer meiner besten Kumpel an der Uni war ein gut aus‐ sehender, dünner, etwas kurz geratener Jude mit Rotschopf, der Dr Who liebte und auf den alle Frauen abfuhren. Wa‐ rum, weiß ich nicht. Es war einfach so, wir Hebten ihn. Wir nannten ihn »Der mit dem Hüftschwung«, weil er auf 292
jeder Bar‐Mizwa die Tanzfläche zum Kochen brachte. Er hatte eine geschmeidige Figur, sah absolut heiß aus, und beim Zeus, war ich verknallt in ihn! Wir hatten nie was mit‐ einander, obwohl er im ersten Jahr jede verfügbare Frau in der Clique vögelte. Es schien da einfach eine Grenze zu ge‐ ben, die nicht überschritten werden durfte. Irgendwann hatte er eine feste Freundin. Ich konnte es ihm nicht übel nehmen, denn seine Jessica war ein unglaub‐ lich scharfes Gerat mit zierlichen kaffeebraunen Schultern und dunkelblondem Haar, das immer in perfekten Locken lag. Eines Abends luden »Hüftschwung« und Jessica mich mit meinem damaligen Freund in einen Club ein. Ich kannte den Laden nicht; er lag in einem anderen Stadtteil. Ich wuss‐ te nicht, was ich anziehen sollte. In Jeans, Flipflops und ei‐ nem dünnen schwarzen Seidenoberteil ohne BH traf ich mich mit den anderen in einem Pub. Jessica und ich stan‐ den in der Mitte des Raumes, die Typen holten uns etwas zu trinken. Plötzlich merkte ich, dass alle uns anstarrten. Wir tranken ein paar Bier und zogen weiter zu unserem Ziel. Es war ein Schwulenclub. Mein erster. Da es Samstag‐ abend in einer mittelgroßen Stadt war und die Türsteher nicht allzu wählerisch beim Einlass sein konnten, war das Publikum gemischt. Es waren schwule und lesbische Pär‐ chen da, Studentengruppen, altere Herren ohne Beglei‐ tung, die sich an die Theke klammerten, und Männer in Frauenkleidung, aufgemacht wie ihre eigene Traumfrau. Es hingen goldene Käfige herum, aber niemand tanzte darin. Ich wusste nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte. Mein Freund schon: Er schaute zu Boden. Den gesamten Abend. Die Musik war nicht gut, aber es war wild und laut, wie da‐ mals in allen Discos. »Hüftschwung« und Jessica wirbelten mich auf der Tanzfläche umher. Sie waren ein faszinieren‐ 293
des Paar, zu klein und zu cool, um es in Worte zu fassen. Jes‐ sicas leicht knochige Schultern bewegten sich höchst sug‐ gestiv, die ärmellose Wickelbluse Heß ihren Rücken frei. Ich hatte mich schon öfter zu Frauen hingezogen gefühlt, aber noch nie hatte ich eine so unverhohlen betrachtet. Hier war das nicht mal fehl am Platz. »Hüftschwung« nahm mich beiseite. »Sie will was von dir«, sagte er. Sollte das ein Witz sein? Diese Miniatur‐Göt‐ tin? Doch kaum hatte er es ausgesprochen, wusste ich, dass es stimmte. Es war, als sei ein Schalter umgelegt worden. Ich konnte mir vorstellen, mit ihr zur Toilette zu gehen und sie zu lecken, während sie lachend auf dem Spülkasten saß. Ich konnte mir vorstellen, meine Finger, den Hals einer Bierfla‐ sche und anderes in sie hineinzuschieben. »Aber du bist doch mit ihr zusammen«, erwiderte ich. Als ich das sagte, wurde mir klar, wie albern und dumm sich das anhörte. Er zuckte mit den Schultern. Er wollte sich um meinen Freund kümmern. Er sagte, das täte er oft für sie – Mädchen ansprechen. Ich war baff. »Hüftschwung« brachte uns nach Hause. Mein Freund wurde als Erster abgesetzt, Gott sei Dank. Dann fuhren wir zu Jessica. Ihre Eltern waren unterwegs oder im Bett, oder es war ihnen egal – ich hab’s nie herausgefunden. Sie nahm mich an die Hand und betrat das Haus, als sei es das Nor‐ malste der Welt. Ihr Freund wartete, bis sie ihm vom Flur aus zuwinkte, dann fuhr er weiter. Sie hatte den schmälsten, zartesten Hals, den ich je gesehen habe. Ihre Lippen waren, die weichsten, die ich je geküsst habe. 294
Am späten Vormittag betrat ich ein Geschäft. Die siziliani‐ sche Sonne stand schon hoch am Himmel; die Leute such‐ ten Schatten. Auf einem Regal lagen Früchtekuchen in bunter Verpa‐ ckung. Ich wollte einen nehmen, aber selbst auf Zehenspit‐ zen kam ich nicht an die Süßigkeit heran. Hinter mir er‐ schien ein Mann. »Kann ich Ihnen helfen?« »Könnte ich einen davon haben?«, fragte ich. »Kommt drauf an«, erwiderte er. »Kann ich auch was von Ihnen haben?« Wir sind weiter nach Kroatien gezogen. Zum ersten Mal seit vierzehn Tagen habe ich eine Zeitung gekauft. Sie ist voll mit schrecklichen Bildern, die nachdenklich machen über Politik, Krieg und Kriegspolitik. Sicher, so was gab es schon immer, wir können es bloß erst jetzt in bunten Bildern be‐ trachten. Rechtschaffene Empörung und Backlash sind manchmal Folge des Unwissens, denn wer hat geglaubt, es würde nicht dazu kommen? Brauchen wir wirklich Bilder, um zu glauben? Sind wir wirklich empört, dass Regierungen tun, was wir längst wissen? Vielleicht denkt man dann, nur eines im Leben sei um‐ sonst (der Tod), auf nur eines könne man sich verlassen (dass das Leben hart ist), Freiheit und Eigentum seien Illu‐ sionen, die nur im Kopf existierten. Klügere Leute mögen sich längst diese Gedanken gemacht und sie ad acta gelegt haben, wieso also höre ich nicht endlich mit diesem däm‐ 295
lichen Philosophieren auf? Guck mal da, eine Frau mit ei‐ nem gestreiften Hut, die mit einem rosa Pudel Gassi geht! Ich will mich nicht über diese Dinge lustig machen, ich hoffe nur auf ein leichtes Hoch in der Sexterror‐Abteilung bei der Arbeit, wenn ich nach Hause komme. Das würde mir unendlich gut tun. Draußen strahlt die Sonne. Ich gehe spazieren, höre seit ein paar Tagen den ganzen Tag lang Musik. Es hilft: Alle glau‐ ben, ich könne mit den Kopfhörern nichts verstehen, des‐ halb spricht mich niemand an. Das ist schön. Ich beherr‐ sche die Sprache nicht sonderlich gut. Wenn ich die Geräu‐ sche um mich herum hören möchte, stelle ich das Gerät ab und lasse die Ohrstöpsel drin. Ich grinse viel. Die Leute lä‐ cheln zurück. Sind sie überall auf der Welt so viel glück‐ licher als bei uns? Sieht ganz danach aus. Nein, ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich war in einer Bar und habe mich mit einem Mann in meinem Alter unterhal‐ ten. Mit einundzwanzig hatte er schon drei Kriege hinter sich. »Warum sind die Menschen so grausam?«, fragte ich naiv. »Meiner Erfahrung nach sind alle Menschen grausam.« »Aber warum?« »Weil wir nicht wissen, was wir sonst tun sollen.« Dann schwiegen wir. Er trank aus und betrachtete lächelnd mei‐ nen Reiseführer. Das Lächeln besagte: »Was suchst du? In deinem Buch wirst du es nicht finden.« Nicht dass ich den Reiseführer oft benutzen würde. Ich laufe einfach in eine beliebige Richtung. Auf diese Weise habe ich das verfallene, längst verlassene jüdische Viertel, eine vergessene Filmku‐ 296
lisse und das Meer entdeckt, das ich nicht so nah vermutet hatte. Sein Lächeln war so verständnisvoll, so ehrlich, dass ich förmlich spürte, wie das Wohlwollen, zusammen mit ein wenig Mitleid, aus ihm herausströmte. Vielleicht versuchte er auch einfach nur, mich anzuma‐ chen. Engländerinnen haben im Ausland einen wirklich erschreckenden Ruf. Wurde in den letzten zehn Jahren irgendwann mal eine Broschüre an Männer im Ausland ver‐ teilt, in der stand, die kleinen Mädchen von der Insel hätten es unglaublich nötig? (Ich meine, ich habe es wirklich nötig, schon, aber ich bin im Urlaub, du Schleimer. Also lass mich in Ruhe!)
Sex im Urlaub ist immer der beste. Ich hab’s überall getan: in Poole, in Blackpool, im Swimmingpool. Hinterher wird das Bett gemacht, die gebrauchten Kon‐ dome aus dem Mülleimer geleert, die muffelnden, feuch‐ ten Handtücher kommen in die Wäsche. Und wenn die Leute unter einem die ganze Nacht kein Auge zumachen, weil man oben so laut ist – was soll’s? Entweder wissen sie nicht, wer man ist, sind am nächsten Morgen eh abgereist, oder man kichert sie am nächsten Morgen beim Frühstück mit roter Birne an. Schließlich ist man im Urlaub, und nur der größte Griesgram missgönnt einem dort eine gesunde, stärkende körperliche Ertüchtigung. A1 ist immer mit mir ans Meer gefahren, wenn ich schlecht drauf war. Ihm hat es keinen besonderen Spaß ge‐ macht: überall Sand, für einen so ordentlichen Mann wie ihn ein Gräuel, außerdem bekommt er schnell Sonnen‐ brand. Das heißt, die meiste Zeit des Ausflugs ging dafür 297
drauf, den Teil seines Rückens mit Sonnenmilch einzucre‐ men, an den er nicht herankam. Einmal waren wir unter‐ wegs, und er vergaß, Sunblocker auf seine Füße zu schmie‐ ren. Eine ganze Woche lang konnte er keine Socken oder Schuhe anziehen. Aber er tat es für mich, damit ich meinen Akku aufladen konnte, wie er immer sagte. Und weil er wusste, dass er mit einem einmaligen Fick im Bed and Breakfast belohnt wer‐ den würde. A2 hatte mehr Freude am Weg als am Ziel. Er fuhr stun‐ denlang Auto; in einer Woche kreuzten wir durchs gesam‐ te Land und übernachteten, wo es uns gerade gefiel. Wenn wir eine Nacht in den schottischen Highlands verbrachten, konnte man fast darauf wetten, dass wir keine vierundzwan‐ zig Stunden später in einem schäbigen Gasthaus in Devon hocken würden. Außerdem nahm A2 gerne Fotos aus dem Fenster des fahrenden Autos auf. Ich musste immer lachen und ihm ins Lenkrad greifen. Wir hielten vor verlassenen Gebäuden, lustigen Straßen‐ schildern und großen Bäumen und fotografierten uns. Wir legten Decken in kleine Wäldchen und liebten uns, wäh‐ rend die Mücken einen Angriff auf seinen Hintern starte‐ ten. An einem Freitagnachmittag blies ich ihm einen auf der Autobahn Richtung Norden. Bei all unseren Reisen übernachteten wir wohl nie zwei‐ mal im gleichen Haus. Bis wir eines Abends in einem Hotel am Ende der Welt eincheckten, auf das wir durch die Schil‐ der aufmerksam geworden waren. Freundlich begrüßte uns die Frau an der Rezeption. Nur drei Tage vorher hatten wir dort geschlafen. Und es schon wieder völlig vergessen. A3 und ich waren einmal unterwegs, Höhlen besichtigen. In der völligen Dunkelheit, in der absoluten Stille unter der Erde, nahm er zum ersten Mal meine Hand. Mir fällt kein 298
Ereignis vorher oder nachher ein, das mich so erschaudern ließ. A4 und ich haben ganz zu Anfang mal Urlaub am Strand gemacht. Die Freundin seines Mitbewohners wollte Herz‐ muscheln haben. Wir bekamen keine und fuhren an drei Strände, um nach einem Verkäufer Ausschau zu halten. Es war ein sehr heißer Vormittag. Am ersten Ziel plätscherte das Meer in einer seichten Bucht, der Strand war ein reiner Muschelhaufen. Wir gingen ins Wasser, es war genauso warm wie die Luft. Es kam mir vor, als badete ich in Schweiß. Wir fuhren weiter. Im zweiten Dorf gab es keinen Parkplatz. Wir hielten am Straßenrand und betrachteten Strand und Wasser. Da wir noch etwas unbeholfen miteinander waren, hatten wir nicht viele Gesprächsthemen. Der dritte Strand war herrlich, sandig und leer. Mit A1 war ich dort öfter gewesen. Der Wind frischte auf, es war nicht mehr so heiß. Das Wasser erstreckte sich meilenweit, große Wellen rauschten heran. A4 zog sich bis auf die Bade‐ hose aus. Ich bestaunte seine Schönheit, musste ihn einfach immer betrachten. Er sprang in die Brandung und plansch‐ te fröhlich herum. Ich ging zum Wasserrand und tauchte den Fuß hinein. Es war eisig kalt! Ich zuckte zurück. »Bist du verrückt?«, rief ich seinem auf‐ und abhüpfen‐ den Kopf zu. »Ist dir nicht kalt?« »Total erfrischend!«, rief er zurück, und selbst auf die gro‐ ße Entfernung konnte ich seine Zähne klappern hören. Ich lachte mich halb tot. Auf dem Heimweg fuhren wir an un‐ zähligen Bauernhöfen vorbei. Im letzten Tageslicht wühlten Schweine im Dreck. Im Radio liefen alte Lieder, Swing, wir lauschten in glücklichem Schweigen. Um mich zum Lachen zu bringen, sagte er zwischendurch: »Wie erfrischend!« Aber der beste Urlaub mit ihm – und wir waren oft unter‐ 299
wegs – war Zelten. Einmal stellten wir ein großes Zelt im Wald neben einem kalten Bachlauf auf und blieben meh‐ rere Tage. Das Wasser war eisig kalt, wir badeten nackt. Ein riesiger abgestorbener Baum ragte aus dem Wasser, darauf nahm er mich immer wieder. Es fühlte sich herrlich urtüm‐ lich an. Bis ein Naturliebhaber vorbeikam und im seichten Wasser he rum planschte, als wären wir gar nicht da. Sex im Urlaub ist der beste. Niemand, den man anrufen muss, keine Arbeit, keine Nachbarn. Und wenn man Glück hat, kein Handyempfang. Prickeln pur. Genau das suchen wahrscheinlich auch meine Kunden. Es gab keine Direktflüge zurück. Ich verbrachte eine Nacht in Rom, in einem großen Wohnheim in der Innenstadt. Der Laden um die Ecke war scheinbar der einzige, der am frühen Abend geöffnet hatte, denn er war proppenvoll. Ich erstand Brot, Tomaten, Ricotta al forno. Ich gehe gerne in anderen Ländern einkaufen. Schlendere durch die Gän‐ ge, prüfe, was den meisten Platz in den Regalen einnimmt. In der Tschechischen Republik sind es Fleischpasteten,; für eine Person, in Spanien Sangriaflaschen, die mit ihrem Schraubverschluss wie Wasserflaschen aussehen, und be‐ sonders seltsam ist das Angebot, das man den Käufern in Nordamerika vorsetzt. Unter anderem Rasierklingen, Luft‐ ballons und getrocknetes Fleisch. Die Küche im Wohnheim war groß und gut eingerichtet. An den Tischen saßen junge Leute und unterhielten sich lautstark. Ich setzte mich an eine Ecke, aß ein Sandwich und las Zeitung. Wickelte zwei Brötchen und Käse fürs Früh‐ stück in Papier ein. 300
Neben mir saßen mehrere Engländer, die aber nicht ge‐ meinsam unterwegs waren. Ich fragte einen, woher er kom‐ me. Aus Cheddar, sagte er. Aha, machte ich. Da kannte ich früher mal einen. Ich fragte ihn, was er in Rom so mache. Nicht viel, entgegnete er. Er hätte sich mit einer Freundin getroffen, aber die sei schon wieder weg. Ob ihm Italien ge‐ falle? Ja. Er zeigte mir auf einer Straßenkarte alle Orte in Rom, an denen er schon gewesen war. Im Schrank mit den frei verfügbaren Lebensmitteln lag ein süßes Brot, eine Co‐ lomba. Wir aßen es auf. Auf dem buttrigen Teig klebten Ha‐ gelzucker und kandierte Orangenschalen. Einer aus der Gruppe fragte uns, ob wir mitkommen wollten zum Eises‐ sen. »Welche Sorten gibt’s denn?«, fragte ich. »Alle«, erwiderte er. Der Typ aus Cheddar war einverstan‐ den. Es war spät, aber offenbar hatte die Eisdiele noch ge‐ öffnet. Wir gingen fast eine Stunde zu Fuß. Langsam erwachte die Stadt wieder zum Leben, überall liefen Leute herum. Ich freute mich, in Gesellschaft dieser Männer zu sein. Alle waren lustig und klug, obwohl ich den aus Cheddar be‐ sonders mochte. »Diese hier?«, fragte ich, als wir an einer Gelateria vorbeikamen. »Nein, die nicht«, sagte er. »Die an‐ dere ist besser.« Er hatte Recht. Ich musste lachen, als wir schließlich un‐ ser Ziel erreichten. In dem großen, hell erleuchteten Ge‐ schäft gab es wirklich jede erdenkliche Eissorte: Nutella, Ferrero Rocher, Erdnussbutter, Obst, von dem ich noch nie gehört hatte. Hier gab es mehr Schokoladensorten, als an‐ dere Eisdielen überhaupt an Sorten im Angebot haben. Ich war happy, nahm eine Waffel mit Kokosnuss und Mango. Wir ließen uns gegenseitig probieren und holten uns dann noch mal jeder ein Hörnchen. 301
Als wir auf einer kleinen Piazza standen, verschwand der andere Typ. Ich weiß nicht, wohin. Der aus Cheddar und ich unterhielten uns über Zwillinge und Sex und über Zwil‐ linge, mit denen er gerne mal schlafen würde, Sachen, die man eigentlich nur im betrunkenen Zustand erzählt, bloß dass wir nicht betrunken waren. Vielleicht hatten wir einen Eiscreme‐Schock. Ich erkundigte mich nach seinem Beruf. Er ging noch zur Uni. Studierte irgendwas mit Chemie. Kein Geld an den Hacken, klar. Einmal hätte man ihm ei‐ nen Job als Stripper angeboten. Und, hast du’s gemacht, fragte ich. Nein, entgegnete er. Schade, ich hab eine Zeit lang damit Geld verdient. Während des Studiums. »Echt?«, fragte er. Ich nickte. In dem Moment kam der andere zurück. Wir wechselten das Thema. Die Männer wollten zum Trevi‐Brunnen. Sie kannten ihn bereits und wollten ihn mir zeigen. »Wie oft warst du schon in Rom?« Ungläubiges Staunen. »Und du warst noch nie an der Fontana di Trevi?« Wir gingen weiter. Gut geklei‐ dete Pärchen verschwanden in hell erleuchteten Restau‐ rants. Am Brunnen waren Massen von Touristen, obwohl es schon gegen zwölf Uhr sein musste. Überall wurde billiger Elektronikschrott angeboten. Kleine Asiatinnen, die mir bis zur Achselhöhle reichten, verkauften Rosen. Im Wasser la‐ gen Münzen und Müll. Angeblich kehrt man irgendwann nach Rom zurück, wenn man Geld in den Brunnen wirft, Aber wozu es gut ist, das Papier von Süßigkeiten hineinzu‐ schmeißen, das weiß ich nicht. Wir gingen weiter. Am Fluss entlang, über eine Brücke. Zu beiden Seiten standen Engel. Wir hielten inne, sprachen über Bildhaue‐ rei, über Tizian. Dass der männliche Körper besser in Stein gehauen aussieht, der weibliche besser gemalt. Wir schauten auf die Karte, nahmen die Straße zum Pe‐ 302
tersdom. Blieben auf dem Platz stehen. In der Mitte ist ein Obelisk, eine in den Himmel weisende Nadel. In London steht auch einer. Komisch, dass wir die Steine einzeln durch die Welt getragen haben. Die Ägypter haben sie immer im Pärchen aufgestellt. Das ist so, als baute man nur ein halbes Minarett oder nur das Schiff einer Kirche. Man kann auf die Kuppel des Petersdoms steigen, sagte ich. Auf dem Dach ist ein Souvenirgeschäft, das von Nonnen geführt wird. Man kann Postkarten vom Vatikan kaufen und sie vom Dach aus verschicken. Das ist meiner Ansicht nach das Tollste an die‐ ser Religion, der es an wundersamen Dingen wahrlich nicht mangelt. Wir gingen zurück. Vorbei an Ruinen, alten römischen Säulen, zu Scherben zerfallen. Irgendwie – ich weiß nicht mehr, warum –wurde ich an ein Gedicht erinnert. Ich sagte es auf. Die Männer unterhielten sich über Kinderfernse‐ hen. Cheddar erzählte vom singenden, klingenden Bäum‐ chen. Wir kannten es nicht. Aber keiner von den beiden hatte als Kind Der kleine Prinz gelesen. Kurz gab ich die Ge‐ schichte wieder. »Wie grausam«, meinte Cheddar. »Wie kann man Kin‐ dern so was erzählen?« Ich zuckte mit den Schultern. Vor einem Restaurant stand ein Roller, der mit silbernen Blumen beklebt war. Wir kauften uns ein ekliges, überteuertes Stück Artischocken‐ Pizza und teilten es uns. Im Wohnheim ging der andere Typ ins Bett. Cheddar und ich blieben noch auf, unterhielten uns, unter anderem über Brighton. Ich kritzelte auf eine Papierserviette, er woll‐ te sie behalten. Er meinte, er wolle am nächsten Morgen zum Vatikan, um den Papst zu sehen. Sich zum Beichten an‐ stellen. Die Beichtstühle seien in einer langen Reihe ange‐ ordnet, nach Sprachen. Ob ich mitkommen wolle. 303
»Mein Flug geht um acht«, sagte ich. »Ich muss noch ein bisschen schlafen.« Es war fünf Uhr. »Ich glaube, ich bleibe auf«, sagte er. »Wenn du so weitermachst, wirst du nicht alt.« »Ich hab noch nichts ins Tagebuch geschrieben«, sagte er. »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.« Er brachte mich auf meine Etage, wir tauschten unsere E‐Mail‐Adressen aus und küssten uns kurz auf der Treppe. Als ich endlich zu Hause war, konnte ich vor Müdigkeit nur noch schnell die E‐Mails checken. Nachricht von Dr. C, er komme bald nach England und würde mich gerne sehen. Muss erst darüber schlafen. Als ob es da was zu überlegen gäbe ... Vor der Reise nach Rom hatte ich einen Anruf und eine SMS von der Agenturchefin verpasst. Sie hatte einen Ter‐ min für halb zehn angekündigt. Ich rief zurück. »Tut mir wirklich Leid, aber ich muss ab‐ sagen, ich bin nicht da.« »Ach so, Schätzchen. Aber diesärr Mann, weißt du, er ist so nett –« »Nein – ich bin gar nicht da. Ich bin im Urlaub. Ich kom‐ me erst Montagabend zurück.« Wie ich ihr in den letzten Wochen mehrmals am Telefon gesagt und in E‐Mails ge‐ schrieben hatte. »Wirklich? Er hat ausdrücklich nach dir gefragt.« 304
Ob ich wirklich nicht da bin? Doch, da bin ich mir ziem‐ lich sicher. Es sei denn, Nordlondon ist plötzlich ein sonni‐ ger Ort am Mittelmeer voll blühender Pflanzen. Könnte ja sein. »Leider ja.« »Soll ich ihn fragen, ob er stattdessen morgen einen Ter‐ min bei dir haben will?« Sag mal, bist du taub, oder was? »Ich kann morgen nicht. Ich bin erst am Montag zurück.« Sie seufzte. Herrgott noch mal! Der Typ will mich doch nicht heiraten! Es geht doch sicherlich auch mit einem ande‐ ren Mädchen von der Agentur. Das sagte ich ihr, so höflich wie möglich. »Vielleicht solltest du deine Arbeit ein bisschen ernster nehmen«, erwiderte sie bissig und legte auf. Zehn Minuten später bekam ich eine SMS: »Auftrag verloren.« Ich habe ihr heute gesimst, aber noch nichts gehört. Argh! Ich sehe scheinbar aus wie der größte Trottel der Welt. Wurde gerade nacheinander von drei Jugendlichen derselben Wohltätigkeitsorganisation angesprochen, auf ei‐ ner Straße. Echt, Jungs, habt ihr nicht mitgekriegt, wie ich einen nach dem anderen abwimmle? Spendensammler Nr. 1: »Woher kommen Sie?« Ich: »Rate mal!« »Aus Barnsley.« »Nein. Und du?« »Aus Barnsley.« Spendensammler Nr. 2: »Wie heißen Sie?« Ich: »Linda.« (So heiße ich natürlich nicht.) »Super, Lucy. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, wie viele Menschen irgendwann geisteskrank werden?« 305
»Das nicht, aber mir ist bewusst, dass das Kurzzeitge‐ dächtnis zunehmend zum Problem wird.« Spendensammler Nr. 3: »Schätzen Sie mal, wie viele Men‐ schen in England irgendwann geisteskrank werden!« Ich: »Jeder dritte. Hab ich alles schon vor einer halben ; Minute gehört, vielen Dank.«
Es gibt einen Kunden, der kennt meinen richtigen Namen und meine Telefonnummer. Er rief an und fragte, warum ich keine Termine mehr mache. Sollte er als Stammkunde nicht als erster erfahren, wenn ich nicht mehr verfügbar wäre? »Das stimmt ja gar nicht«, sagte ich. »Hast du was anderes gehört?« Er erzählte, er hätte vor ein paar Wochen angerufen, und die Chefin hätte gesagt, ich sei im Urlaub. Ja, war ich auch, entschuldigte ich mich. Dann hätte er gestern wieder nach‐ gefragt. Sie hätte gesagt, ich sei für unbestimmte Zeit ver‐ reist, und ihm jemand anders angeboten. Ließ die Frau mich gerade auf nicht sehr subtile Weise fal‐ len? Ich besuchte unsere Website. Ich bin noch drauf, aller‐ dings deutlich nach unten gerutscht. Egal. Er fragte, ob er mich in der nächsten Woche privat buchen könne. Ich sag‐ te, ich würde es mir überlegen.
Was man nicht notwendigerweise über Belle wissen muss, aber vielleicht wissen will: 306
Ich singe gern Wenn ich allein bin, höre ich Musik oder singe. Meine Freunde müssen das immer wieder ertragen. Unter der Du‐ sche trällere ich immer. Einmal habe ich mich vergessen und auf der Toilette eines Kunden gesungen. Als ich her‐ auskam, lachte er. Ich singe gerne, aber leider nicht be‐ sonders gut. Ich liebe Parfüm Besonders wenn es nach Citrus oder Lavendel riecht. Auch an anderen Menschen (vernünftig dosiert). Die Konsistenz von Nahrungsmitteln ist mir wichtiger als ihr Geschmack Rohe Pilze, Kirschtomaten, eingelegtes Gemüse und Fon‐ dant fühlen sich auf der Zunge gut an. Pasta, Erdnussbutter und gegarte Möhren nicht. Ich kann giftige von ungiftigen Pilzen unterscheiden (meis‐ tens) Zugegebenermaßen ist das keine Fähigkeit, die man oft braucht. Ich erkenne die meisten Wildblumen der Sorte Ehrenpreis (Gattung Veronica). Nutzt weder Männlein noch Weiblein. Die beste Freundin meiner Mutter hat den Tag meiner Ge‐ burt vorhergesagt Gruselig. Zu meiner perfekten Party würden gehören ... William Styron, Katharine Hepburn, Flipflops, Noel Co‐ ward, Iman, Cashewnüsse, Alan Turing, Margaret Mead, Dan Savage, Fruchtcocktails, Ryan Philippe und ein Kerker. 307
Eigentlich möchte ich nicht ohne Agentur arbeiten Egal, was passiert. Dort werden die Kunden auf Herz und Nieren geprüft und bekommen (normalerweise) nicht mal meine Telefonnummer. Ich hänge schon so ständig am Hö‐ rer und habe miterlebt, wie die Chefin in der Öffendichkeit Anfragen abgeben musste. Ich habe noch anderes zu tun als das, über das ich hier schreibe. Wenn ich Termine für mich selbst machen musste, käme ich zu gar nichts mehr. Ich habe noch immer nichts von der Chefin gehört Man sollte meinen, dass sie zumindest den Anstand besitzt, mich an einem sonnigen Wochenende in Ruhe zu lassen. Je ne regrette rien Wenn man den Lehrbüchern Glauben schenkt, macht mich das zur Psychopathin. Wenn man den modernen Glamour‐ Magazinen traut, macht mich das zur unabhängigen Frau von heute. Die Chefin und ich stehen immer noch auf Kriegsfuß. Sie hat nicht angerufen, und ich habe nicht versucht, sie zu erreichen. Mir ist natürlich klar, dass ihr Verhalten eine der wichtigsten Disziplinierungsmaßnahmen im Repertoire von Kupplerinnen ist, aber ich habe trotzdem keine Lust, mich bei ihr zu melden. »Entschuldigung, aber weißt du noch, wer ich bin?« Darf mich trotzdem nicht zuknallen. Ich habe mich schon immer gefragt, nach welchem Grundsatz die Profile auf der Website verschoben werden. Jetzt bin ich etwas schlauer. 308
Ach, die neu gewonnene Freiheit! Kein Druck mehr, Ter‐ mine zur Maniküre, zum Wachsen oder für sonst was zu ma‐ chen oder einzuhalten. Obwohl, ich muss sagen: Wenn die Sonne herauskommt und ich mich im Bikini in den Garten lege, könnte es sein, dass jemand mit der Heckenschere an‐ gelaufen kommt. Als ich gestern Abend nach einem Besuch bei A3 zur U‐ Bahnstation ging, kam ich an einem Geschäft vorbei, das mit der fürchterlichsten Girlande geschmückt war, die ich je gesehen habe: Babyfüße aus Gips! In Pastellfarben be‐ malt. Sie kamen direkt aus der Mauer. Bitte versichere mir jemand, dass der biologische Fortpflanzungsimpuls nicht zwangsläufig mit dem Verlust jeglichen Geschmacks ver‐ bunden ist! Es reicht schon, den Mädchen den Vibrator ma‐ dig zu machen, weil sie Angst haben, mit Gummibärchen schwanger zu werden. Immer noch kein Ton. »Ich will nicht mehr!«, stöhnte ich. Die Chefin und ihre kalte Schulter gehen mir langsam an die Substanz. Sicher gibt es zahllose andere Agenturen, doch die Vorstellung, mich von einer neuen Firma vertreten zu lassen, erscheint mir eine Sackgasse. Ich habe sogar schon einen alten Le‐ benslauf hervorgekramt und überlegt, wie ich ihn auf den neuesten Stand bringen kann, ohne dass die Lücken darin aufklaffen wie der Grand Canyon. »Gut, aber mach keine faulen Kompromisse«, sagte N. Ich verdrehte die Augen. Haben wir das Zeitalter nicht hin‐ ter uns gelassen, da Aufrichtigkeit wichtiger war als Zah‐ lungsfähigkeit? Alle meine Freunde haben einen tollen Be‐ 309
ruf, einen Gatten oder eine Gattin, Eigentum oder einen Rentenfonds. Manche gleich mehr davon. Ich zog seine Wortwahl in Zweifel. »Was ›faule Kompromisse‹ heißt?«, gab er zurück. »Nichts für Geld zu machen, was man für umsonst nicht tun würde.« »Ich fummle mir ständig an den Fingernägeln rum. Trotzdem lässt sich daraus kein anständiger Beruf ma‐ chen!« Es kam schärfer heraus als beabsichtigt. »Sei nicht so sarkastisch! «, sagte N. »Das steht dir nicht.« Es gibt letzten Endes nur einen Rettungsanker, bei dem eine Frau in ihrer größten Verzweiflung Zuflucht suchen kann. Wenn alles andere versagt, wenn das Konto von den schwarzen in die roten Zahlen rutscht, wenn der Überzie‐ hungskredit erschöpft ist und die Bank einem Briefe in gesetzten Worten schickt. Dann muss sich eine Frau zu‐ sammenreißen und dem Unvermeidlichen ins Auge sehen: Den Stellenanzeigen. Ich fing bei den Schreibtischjobs an. Allgemeine Compu‐ terkenntnisse? Ja. Organisationstalent? Und ob! Diszipli‐ niert und belastbar? Allerdings. Engagiert? In welcher Hin‐ sicht? Termine machen und Faxe verschicken? Muss man heute engagiert sein, um Briefe zuzukleben und Anrufe durchzustellen? Ist vielleicht nichts für mich. Ich ging die Stellenange‐ bote durch, für die man einen akademischen Abschluss braucht. Deprimierend: Je höher der Abschluss, desto niedriger das Einstiegsgehalt. A2 und A4 als Akademiker bestätigen meinen Verdacht, dass Forschungsstipendien hinterhältige Pläne der Mächtigen sind, kluge Menschen vom Nachden‐ ken über Fragen von weltweiter Bedeutung abzuhalten. Wa‐ rum soll man sich um Politik und andere Probleme von gro‐ 310
ßer Tragweite kümmern, wenn man sich mit anderen um ein Stipendium von 5000 Pfund schlagen kann? Ich bin fest entschlossen, nicht aufzugeben, obwohl die Zei‐ tungen und Websites den Verdacht nähren, die Wirtschaft in London basiere auf genau drei Faktoren: 1. Texten und redigieren: Kenne ich, habe ich gemacht... nun ja, nicht so richtig. Ich habe versucht, da hineinzu‐ kommen, aber nichts als Absagen erhalten, von wissen‐ schaftlichen Zeitschriften bis zum Wochenblatt der Walrosse. Den besseren Philatelie‐Organen des Landes war ich nicht mal eine Antwort wert. 2. Zeitverträge und Persönliche Assistenz: Das habe ich wirklich schon gemacht und möchte es nie, nie wieder tun. Schwielen an den Fingern vom Zukleben der Bu‐ chungsbelege eines Börsenmaklers – das ist dann doch zu hart. Diese Erniedrigung, die Schuluniform eines an‐ deren Menschen Kindes von der Reinigung zu holen – dagegen sind Kaviarspiele gar nichts! 3. Prostitution: der Ruin. Ich könnte mich selbständig machen. Dann würde ich nicht mehr ein Drittel meines Honorars an die Agentur abtreten müssen. Anderseits müsste ich meine Kunden selbst über‐ prüfen, zu jeder Tages‐ und Nachtzeit erreichbar sein, mein Image pflegen, mich um meine Sicherheit kümmern und so weiter. Zu viel Arbeit für mich allein. Ich hätte kaum noch Zeit, Termine zum Wachsen zu machen, von anderen uner‐ lässlichen Wartungsarbeiten ganz zu schweigen. 311
Briefe, Anträge. Herunterladen, ausdrucken, ausfüllen. Umschläge und Briefmarken für Briefe, auf die ich wahr‐ scheinlich nie eine Antwort erhalten werde. Gestern am späten Nachmittag dann der Anruf einer Personalabtei‐ lung. Man möchte mich zum Vorstellungsgespräch einla‐ den. Für eine Stelle, die ich gerne hätte. Ich bin in der engeren Wahl! Es sind wirklich nicht mehr viele im Ring. Ich habe gute Chancen. Das ist es – ich bin raus! Nach den Beschreibungen auf der Website zu urteilen, stammen viele Mädchen – vielleicht nicht die Mehrheit, aber ein großer Prozentsatz – nicht aus Großbritannien, sondern aus Osteuropa, Nordafrika, Asien. England betreibt einen blühenden Import von Anbietern im Sexgewerbe. Ich frage die anderen Frauen nicht nach ihren Gründen, diesen Job zu machen. Es geht mich nichts an. Ich wurde nicht gezwungen, für die Agentur zu arbeiten, die anderen hoffentlich auch nicht. Wenn die Agentur wirklich ein Stall von Illegalen unter der Knute eines brutalen Zuhälters wäre, würden dort nicht so viele Engländerinnen arbeiten. Oder vielleicht doch? Mir wird klar, dass sich meine momentane Situation gar nicht so stark von der jordanischer und polnischer Mäd‐ chen unterscheidet. Vielleicht sind sie mit einem Studen‐ tenvisum hier und haben hohe Schulden. Irgendwie bin ich immer davon ausgegangen – es wurde mir nicht garantiert, das nicht, aber indirekt vermittelt –, dass ich für einen gu‐ ten Schulabschluss und einen akademischen Grad irgend‐ wann mit einer ansehnlichen Karriere belohnt würde. Jetzt 312
sitze ich hier und frage mich, was besser ist: ein auf sechs Monate befristeter Job als Farbkorrektorin von Zeitschrif‐ ten oder die Stelle als stellvertretende Filialleiterin eines Einzelhändlers in bester Lage. Und bewerbe mich zusam‐ men mit Hunderten anderer Uni‐Absolventen um diese jämmerlichen Brosamen. Aber zuerst muss ich jetzt Blusen bügeln und mir Gedan‐ ken über die möglichen Fragen beim Vorstellungsgespräch machen.
Ich stand früh auf, um den Zug nicht zu verpassen. Dieses London kannte ich nur vom Hörensagen: Männer in Anzü‐ gen und Frauen in Kostümen bevölkerten die Bahnsteige, warteten auf einen Platz in den überfüllten Waggons. Die meisten Menschen wirkten leicht benommen, noch nicht ganz wach; andere waren offenbar schon früh aus den Fe‐ dern und hatten ihr Zeitmanagement zur Wissenschaft ge‐ macht. Ich fragte mich, ob einige der frisch geschminkten Frauen wohl schon um halb fünf aufstehen, damit sie um acht Uhr so makellos aussehen. Der Zug war pünktlich und der Weg zur Firma kürzer als gedacht. Um die Ecke war ein Café, wo ich einen Tee trank, um die Zeit totzuschlagen. Eine Frau, deren Englisch man bestenfalls als rudimentär bezeichnen kann, bereitete mein Getränk zu und goss Milch hinein, lange bevor der Tee durchgezogen war und ich sie aufhalten konnte. Ich saß an einem kleinen Tisch mit Blick auf die Straße. Jeder um mich herum, Handwerker wie Büroangestellte, war über eine Zeitung gebeugt. Ich hatte keine, sondern betrachtete die vorbeieilenden Menschen. 313
Als ich eintraf, waren die anderen beiden Bewerber schon da. Wir stellten uns gegenseitig vor, unterhielten uns kurz über unsere beruflichen und privaten Gemeinsamkei‐ ten. Dann dackelten wir in einen anderen Raum, wo wir vor den anderen und den Firmenrepräsentanten einen kurzen Vortrag halten mussten. Anschließend wurden wir ins erste Zimmer zurückgeschickt und einzeln zum eigentlichen Ge‐ spräch gebeten. Ein brünettes Mädchen mit Puddinggesicht war als Erste dran. Als sie zur Folterbank schritt, lächelte mich der ande‐ re Kandidat matt an. »Als ich Sie gesehen habe, wusste ich, dass ich keine Chance habe«, sagte er. Ich hatte dasselbe ge‐ dacht. Meine Noten und Referenzen waren besser als seine, aber er hatte mehr Berufserfahrung. »Das ist doch Blödsinn«, sagte ich. »Es könnte jeder von uns werden.« Von uns beiden, korrigierte ich mich heim‐ lich, denn es stand so gut wie fest, dass die mit dem Pud‐ dinggesicht keine Chance hatte. Ihr Studium hatte nur ent‐ fernt mit der zu vergebenden Aufgabe zu tun, Berufserfah‐ rung besaß sie so gut wie keine. Außerdem hatte sie sich durch ihren Vortrag gestottert, und auch der Inhalt war nicht sonderlich beeindruckend gewesen. Der zweite Kan‐ didat wurde zum Gespräch gebeten und verschwand offen‐ bar direkt danach. Er kam jedenfalls nicht ins Zimmer zu‐ rück. Schwitzend betrat ich den Raum. Bloß nicht gegen den Tisch laufen, dachte ich. Nichts fallen lassen. Auf der ande‐ ren Seite saßen drei Personen: ein großer dünner Mann, ein älterer Herr mit Brille und eine ungefähr dreißigjährige Frau mit kurzem dunklen Haar. Sie befragten mich abwechselnd. Bald war die Arbeitstei‐ lung klar: Der Altere sagte nur wenig, war offensichtlich das höhere Tier. Der Dünne stellte Fragen in Bezug auf meine 314
Person, das übliche, wo meine Schwächen lägen und wo ich ^ich beruflich in fünf Jahren sähe. Die jüngere Frau über‐ nahm die technische Abteilung, vor der ich am meisten Angst hatte. Aber ich überlegte jedes Mal, bevor ich antwor‐ tete. Manchmal merkte ich, dass ich beim Zurechtfegen der Antwort den Anfang des Satzes vergaß, aber ich hielt es für besser, etwas Ordentliches zu sagen, als ziellos abzuschwei‐ fen. Am Ende erhoben sich die drei mit mir. Man würde sich ziemlich schnell entscheiden, sagten sie, sie brauchten so bald wie möglich Verstärkung. Ich könne in den nächsten Tagen mit einem Anruf oder einem Brief rechnen. Da ich die letzte Bewerberin war, verließen sie den Raum mit mir. Der ältere Mann und die junge Frau gingen den Korridor hinunter zu ihren Büros. Der große Mann erbot sich, mich zum Ausgang zu begleiten. Schweigend standen wir im Aufzug. Ich lächelte. »Ich habe Sie vor drei Jahren mal bei einer Konferenz gesehen«, sagte er. »Interessante Vorstellung.« «Danke«, sagte ich. Verflucht. Meinen Vortrag vorhin hatte ich aus dem alten von damals recycelt. Wir liefen durch stille, mit Teppich ausgelegte Flure. Er erzählte von seiner Arbeit, die ihn merklich begeisterte. Ich mag Menschen, die für etwas brennen. Ich stellte ihm Fra‐ gen, spielte den Advocatus Diaboli, ließ aber durchblicken, dass ich eigenüich seiner Meinung sei. Am Ende wartete er mit mir in der Schlange, bis das Taxi kam, das mich zur U‐ Bahnstation bringen sollte. Herzlich gab er mir die Hand und drückte die Tür hinter mir zu. Als der Wagen losfuhr, blieb er am Bordstein stehen. Mein Herz raste. Das war gut gelaufen, dachte ich. Ich habe jemanden auf meiner Seite. 315
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Angel hat angerufen. Ich war überrascht; ich hatte sie nur hin und wieder kurz gesehen und nicht gedacht, dass ich noch mal von ihr hören würde. Sie weinte. Ich saß im Taxi und konnte sie nicht richtig verstehen, aber es hörte sich an, als sei es auch in ihrer Um‐ gebung laut, vielleicht war sie auf der Straße oder neben dem Eingang zur U‐Bahn. Ich sagte ihr, ich sei unterwegs zu einem Freund, sie könne später noch mal anrufen oder auf einen Kaffee vorbeikommen, wenn sie reden wolle. Sie kam tatsächlich vorbei. Lächelnd schwebte sie herein; sie schien sich beruhigt zu haben und sich zusammenzurei‐ ßen, aber ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie zusammenbrechen würde. Was sie dann auch eindrucks‐ voll tat. Sie war gerade sitzen gelassen worden. Eine Bezie‐ hung (ich muss gestehen, dass ich gar nichts davon wusste) war beendet worden. Per E‐Mail. Ich war schockiert. »Egal, was passiert ist, so kann man doch nicht mitjemandem umspringen«, tröstete ich sie. Ich goss kochendes Wasser in die Cafetière, ließ den Kaffee zie‐ hen, wahrscheinlich zu lange, drückte den Filter hinunter und goss ihr einen Becher des dampfenden Gebräus ein. »Wer war es denn?«, fragte ich, ein wenig neugierig. »Weißt du das denn nicht?«, gab sie zurück und sah mich mit tränenverschmiertem Gesicht an. »Du wirst lachen.« Es war »Erstes Date«. Ach, du Scheiße. 318
»Und was am schlimmsten ist: Er betet dich immer noch an.« Noch größere Scheiße. Wie soll man jemanden trösten, der gerade – zweifellos neben anderen Gründen – wegen ei‐ nes Hirngespinstes sitzen gelassen wurde? »Das tut mir un‐ glaublich Leid«, flüsterte ich. »Du kannst alles, du bist so begabt«, jammerte sie. »Von mir sind immer alle enttäuscht, ich weiß auch nicht.« »Das darfst du nicht persönlich nehmen. Wenn jemand von dir enttäuscht ist, dann ist das sein Problem.« Schofeli‐ ge Antwort, ich weiß, aber ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Die Frau war nur eine flüchtige Bekannte, kei‐ ne Freundin, außerdem war sie anstrengend. Aber sie tat mir Leid. Ich habe das selbst alles schon durchgemacht, auf beiden Seiten. Vor ein paar Wochen bekam ich eine Einladung. Ich habe noch nicht geantwortet, weil ich nicht weiß, was ich machen soll. Eine Freundin lädt anlässlich ihrer Verlobung zu einem Wochenende auf dem Lande ein. Es wird bestimmt nett: Gartenpartys, betrunken am Lagerfeuer sitzen und singen. Normalerweise hätte ich in null Komma nichts zugesagt, wenn es nicht ein Hindernis gäbe: den Boy. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch eine Einladung erhalten hat. Bei den meisten Ex‐Freunden wäre mir das egal, aber ich habe kein einziges Wort mehr mit ihm ge‐ wechselt, seit wir uns damals auf dieser Geburtstagsfeier ignoriert haben. Das geheimnisvolle Auto habe ich auch nicht mehr gesehen, weshalb ich keine Ahnung habe, ob er 319
noch leidet, mich hasst oder mich vollkommen vergessen hat. Ich weiß noch nicht mal, was ich am schlimmsten fän‐ de. Es würde nur eine Minute dauern, die zukünftige Braut anzurufen und nach ihm zu fragen, aber dann wüsste sie, dass ich mir Gedanken mache. Und wenn ich dieses Pärchen auch nur ein klein wenig kenne, dann weiß ich, dass der Verdruss anderer Menschen sein bevorzugtes Ge‐ sprächsthema ist. Also sage ich am besten gar nichts. So ein Wochenende auf dem Land könnte ich gut ge‐ brauchen. Bisher der beste Grund, hinzufahren.
Zusammen mit N und A3 analysierte ich das Bewerbungsge‐ spräch. N hat keine genaue Vorstellung davon, was ich stu‐ diert habe, hält aber immer zu mir und ist überzeugt, dass ich die Stelle bekomme. A3 arbeitet andererseits in dersel‐ ben Branche und ist höchst skeptisch – wie ich leider fest‐ stellen musste. Ich habe das Gefühl, einen Engel und einen Teufel auf meiner Schulter sitzen zu haben, wie im Comic. Die Vorstel‐ lung, deren 200 Kilo zusätzlich zu tragen, bringt mich aller‐ dings zum Lachen.
»Sie ziehen dich zumindest in die engere Auswahl«, sagte N. »Ich war mal bei einem Bewerbungsgespräch in New‐ castle, da wurde ich angerufen, noch bevor ich im Zug Rich‐ tung Heimat saß. Absage.« 320
»Was wolltest du denn in Newcastle?«, fragte ich. N warf mir einen unergründlichen Blick zu. »Uninteres‐ sant«, sagte er. »Die Sache ist, du musst mehr Geduld ha‐ ben. Du wirst schon Bescheid bekommen.« Er hat bestimmt Recht, trotzdem zerbreche ich mir den Kopf. Hätte mein Vortrag besser sein müssen, hätte ich die Fragen klüger beantworten können? Hat irgendetwas an meiner Kleidung oder meinem Verhalten sie abgeschreckt? Wie war ich im Vergleich zu den Mitbewerbern? Falls ich die Stelle bekomme: Kann ich mich behaupten oder werde ich scheitern? Und: Gibt es gute Männer in der Firma?
Mögliche Gründe, warum sich noch keiner bei mir gemel‐ det hat: • Sie stellen jemand anders ein und haben vergessen, es mir mitzuteilen. • Sie wollen mich einstellen und haben vergessen, es mir mitzuteilen. • Sie bieten den Job erst jemand anderem an und warten auf dessen Antwort, bevor sie den anderen Bewerbern absagen. • Sie sagen den anderen Bewerbern ab, bevor sie den erfolgreichen Kandidaten anrufen (mich). • Der Brief ist in der Post verschollen. • Der Brief ist nicht in der Post verschollen, sondern wurde im falschen Haus zugestellt. • Der Brief wurde im falschen Haus zugestellt, dessen Be‐ wohner auf dem Weg zur Tür verstarb. Bisher wurden we‐ der er noch der Brief gefunden. 321
• Der Brief wurde im falschen Haus zugestellt, dessen Be‐ wohner einen Hund hat, der den Brief gefressen hat. • Der Brief wurde mir zugestellt, doch zur Prüfung meines Scharfsinns getarnt als eine von tausend Postwurfsen‐ dungen, die mich täglich erreichen, sodass ich ihn verse‐ hentlich weggeworfen habe. • Der Brief wurde mir zugestellt und löste sich auf der Stel‐ le in Luft auf. •Der Brief wurde mir zugestellt, aber kurz darauf erlitt ich ein akutes Schädel‐Hirn‐Trauma, das meine Erinnerung an den Brief und das Trauma auslöschte. • Mein Gehirn hat die gelöschten Episoden ersetzt, sodass ich sie nicht nur vergessen habe, sondern nicht mal uner‐ klärliche Erinnerungslücken habe. • Ich habe das Bewerbungsgespräch nur geträumt. • Der Brief wurde nicht abgeschickt. • Sie haben sich noch nicht entschieden.
Ich habe das Warten nicht länger ausgehalten und in der Personalabteilung angerufen. Die Frau am anderen Ende war freundlich, auch wenn ich ihr dreimal die Nummer des Stellenangebots nennen musste. Sie entschuldigte sich – an‐ geblich hatte es Probleme in der internen Kommunikation gegeben, die Briefe waren nicht abgeschickt worden, ob‐ wohl die Entscheidung bereits gefallen war. Ich kaute an den Fingernägeln der linken Hand, während sie nachschaute. »Ah, da habe ich Sie«, sagte sie. »Sieht aus, als hätten Sie’s geschafft Mein Herz machte einen Sprung. Ich grinste. »Wirklich?« »Sie sind doch Louise, oder?« 322
Genauso schnell fiel mein Herz in die Magengrube. »Ähm, nein.« Das Mädchen mit dem Puddinggesicht. Wie konnten sie die mir vorziehen? »Ach, das tut mir jetzt aber Leid!«, zwitscherte sie. »Dann haben Sie es leider nicht geschafft.« Ich bedankte mich und legte auf. Anruf von Dr. C, der seine Eltern besucht und nächste Wo‐ che bei mir vorbeikommen will. Zumindest habe ich durch die momentane Situation mehr Freizeit. Silberstreif am Ho‐ rizont und so weiter. Ich fahre auf jeden Fall zu der Verlo‐ bung auf dem Land. Nichts hat die Kraft, ein verwundetes Ego derart aufzurichten wie Alkohol und Fürten. Das heißt, ich werde das ganze Wochenende fort sein. Murphy’s Law: Ist man in der Stadt, ohne Möglichkeit, her‐ auszukommen, sind die Tage glühend heiß und sonnig; in dem Augenblick, in dem ich das Stadtgebiet verlasse, gießt es in Strömen. Und ich trage offene Schuhe und eine weiße Hose. Wer an diesem Wochenende schlechtes Wetter zu er‐ tragen hat, bei dem muss ich mich entschuldigen: Alles ganz allein meine Schuld. Die Vorteile von Sex mit dem Ex: • Man ist nicht negativ überrascht, wenn man ihn nackt sieht. Der eklige Leberfleck ist noch genau da, wo er vor‐ her war. • Man muss hinterher nicht linkisch nach Adresse oder Te‐ lefonnummer fragen. Es ist kein Zufall, wenn man sie nicht hat. 323
• Er weiß, welche Knöpfchen er drücken muss, wie viele es sind, wie lange man drücken muss und ob sie von links nach rechts, von oben nach unten oder in kleinen Krei‐ sen bewegt werden. Und die Nachteile: • Es gibt wahrscheinlich einen guten Grund, warum man nicht mehr mit ihm zusammen ist, einen sehr guten Grund. • Einer von beiden glaubt anschließend, man sei wieder zusammen. • Es gibt null Möglichkeit, den Freunden davon zu er‐ zählen, ohne hinterher wie der größte Idiot aller Zeiten dazustehen. Sie haben einen schließlich nach der Tren‐ nung ertragen müssen, oder? Verdammt. Ich muss den Kopf noch ein bisschen öfter ge‐ gen die Wand schlagen. Melde mich zurück, wenn ich wie‐ der Verstand in mich geprügelt habe. Hm, ja. Sex. Mit jemandem, mit dem ich nie wieder Sex zu haben gedachte. Der Boy. Der verdammte Boy. Hab’s noch nicht verarbeitet. Ist ein heilloses Durchein‐ ander. Er hat mich nach London zurückgefahren, jetzt will er nicht mehr gehen. Ich möchte allerdings festhalten, dass es Spaß gemacht hat, bis die leicht beschwipste postkoita‐ le Phase vorbei war und das furchtbare, schreckliche »Oh nein, nicht schon wieder! « einsetzte. 324
Es war mehr als gut. Er saß auf meiner Brust und fickte mich in den Mund, nahm mich von hinten, von oben und unten. Ich grinste und fragte, wodurch er mit der Zunge so gut geworden sei. Vielleicht brachte ihm eine geniale Nutte gerade die Tricks bei. »Weiß ich nicht«, sagte er. »Ich denke einfach oft daran.« Ich kam heftiger, schneller und länger als sonst, und kurz dachte ich: »Wenn er nie wieder einen dummen Spruch macht, könnte ich damit leben.« Murphy’s Law, Nummer 2: Keine halbe Minute, nachdem ich das gedacht hatte, machte er den Mund auf und sagte etwas total Dämliches. Und draußen regnete es, sodass ich keinen Vorwand hatte, die Wohnung zu verlassen, ein biss‐ chen herumzulaufen und erst dann wieder zurückzukom‐ men, wenn er verschwunden sein würde. Bei Sex mit dem Ex geht’s nicht ums Warum, sondern ums Wie (wie lange geht es gut, wie komme ich hier weg?). Mit den meisten meiner Verflossenen bin ich jetzt befreundet, und die meisten meiner Freunde sind meine Verflossenen, mit denen ich hinterher in der Regel nicht mehr schlafe. Zum einen oder anderen Mann geht die Verbindung verlo‐ ren, meistens weil es in der Beziehung nur wenig gab, wor‐ auf sich eine Freundschaft aufbauen ließe. So war es mit dem Boy gewesen. Als er gestern ging, wollte er mich zu einem Termin fah‐ ren. Gott sei Dank, dachte ich, dann zieht er also ab und kommt hoffentlich nie wieder. Bevor wir aufbrachen, fragte er mich allerdings, ob ich Geld dabei hätte. Hatte ich nicht. Ich habe immer weniger Geld dabei als die Queen, nur nach der Arbeit nicht. Er fuhr an einem Geldautomat vor‐ 325
bei, damit ich etwas abheben und ihm das Geld für die To‐ maten zurückgeben konnte, die er gekauft hatte. (Wohlge‐ merkt: Sie waren der Ersatz für meine Tomaten, an denen er sich gütlich getan hatte. So kaufte ich meine eigenen To‐ maten also zum zweiten Mal.) Kopfschüttelnd stieg ich aus dem Wagen. Ging zum Geld‐ automaten. Hob einen nagelneuen Zehner ab – so teuer waren die Tomaten nicht gewesen, aber vielleicht würde er noch einen Zuschlag für mein Klopapier fordern – und kehrte zum Ayto zurück. Drückte ihm das Geld in die Hand, schlug die Tür von außen zu und ging. Eine Minute später eine SMS: »Tanke gerade nach, falls ich dich noch irgendwohin bringen soll. Komm zurück!« Ich antwortete nicht. Er rief an. Ob er mich mitnehmen solle? Ja, wenn du dich wie ein normaler Mensch benimmst, erwiderte ich. Ich erklärte ihm, wo ich gerade war, und sag‐ te, er könne mich aufgabeln. Eine Minute später war er wie‐ der am Telefon. Er wäre am Ende der Straße und könne mich nicht sehen. Das liegt daran, dass ich weitergehe, er‐ klärte ich. Legte auf. Er rief erneut an, fragte, wo ich sei. Ich beschrieb die Straße, das Haus, an dem ich gerade vorbei‐ ging, den eingeschlagenen Weg. Legte auf. Die nächste SMS: »So was Dämliches! Ich bin die ganze Zeit nur 10 m hinter dir. Ich wusste genau, dass das so läuft, wie immer.« Eine Minute später hielt sein Wagen neben mir. Ich blieb stehen. Er öffnete die Beifahrertür. »Hab gerade deine SMS bekommen«, sagte ich. »Und?« »Tschüss!« Entschlossen drückte ich die Tür zu und ging weiter. Er blieb auf der Straße stehen, bis jemand hupte. Dann fuhr er zum nächsten Kreisverkehr und verschwand. Das war’s. Ich setzte Kopfhörer auf. Das nächste Lied han‐ 326
delte davon, wie jemand durch eine Tür ging. Ich fühlte mich gut und musste so heftig grinsen, dass mir Tränen in die Augen traten. Habe gestern Abend einen Anruf bekommen. Nein, kein Termin – A1 hatte irgendeine Krise, und seine Frau war nicht aufzutreiben. Er hinterließ vier Anrufe in Abwesen‐ heit und eine unverständliche Nachricht. Als ich ihn zu‐ rückrief, sprang sofort der Anrufbeantworter an. Männer! Obwohl es spät war, lieferte ich mich auf Gedeih und Ver‐ derb der Londoner U‐Bahn aus und fuhr zu ihm. Auf dem Weg zu A1 musste ich zweimal umsteigen. Zu der Tageszeit habe ich immer Angst, den letzten Zug zu ver‐ passen und mit meiner Travelcard hilflos in Earl’s Court zu hocken. Die Tube ist das bei weitem unsozialste bisher erfundene Verkehrsmittel. Im Bus kann man andere vor Keimen schüt‐ zen, indem man ihnen in die Haare niest. In der Tube ist man gezwungen, sich den Luftraum mit jedem verschleim‐ ten Bakterienträger zwischen hier und Uxbridge zu teilen. Und obwohl man die Nase in den Achselhöhlen völlig frem‐ der Menschen hat und mehr Viren als in einem Crichton‐ Roman aufeinander treffen, darf man auf keinen Fall je‐ mandem in die Augen sehen. Unter normalen Umständen ist das nicht schwer. Groß‐ städter sind Meister des taxierenden Blicks: Andere Perso‐ nen werden in einem Sekundenbruchteil abgeschätzt und dann wieder ignoriert. Aber wenn man in einer rumpeln‐ den Blechkiste auf der holprigen Strecke nach Dollis Hill gefangen ist, weiß man einfach nicht mehr, wohin mit dem 327
Blick. Man muss gucken. Darf aber nicht. Deshalb sind Ta‐ schenbücher so beliebt; sie dienen als Schild, hinter dem man sich verstecken kann und als Entschuldigung, sich nicht festzuhalten und über die Berge kostenloser Metros zu stolpern, die im Gang liegen. Während ich auf die District Line wartete, merkte ich, class mich jemand beobachtete. Ich tat, als sähe ich auf die Uhr, und schaute die Gleise hoch und runter. Ein jüngerer Mann in einem Anzug. Checkte wahrscheinlich einfach die Leute auf dem Bahnsteig ab. Sollte er doch. Ich musste dringend duschen und schlafen, war also eher keinen zwei‐ ten Blick wert. Der Zug fuhr ein. Ich setzte mich. Er nahm mir gegenü‐ ber Platz. Guckte er schon wieder? Nein. Ignorieren! Ich be‐ trachtete seine Hand. Sie war schön, wohlgeformt. Sehr at‐ traktiv. Ich lehnte die Stirn an den seitlichen Handlauf. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass er mich wiederholt musterte. Auf jeden Fall öfter als nötig. Er kam mir aber nicht vor, als sei er auf der Jagd. Vielleicht überleg‐ te er nur, warum ich unterwegs war, so wie ich es auch stän‐ dig tue. Er war bestimmt betrunken. Wer fährt schon nachts nüchtern im Anzug U‐Bahn? Ich sah auf. Seine blauen Augen waren auf mich gerich‐ tet. Coole Sau. Ich konnte nicht anders, ich musste grinsen. Er verzog keine Miene. Schnell schauten wir beide zur Sei‐ te. Grrr, dachte ich. Dumme Kuh. Aber ich kann einfach nicht anders; wenn mich jemand unerwartet anschaut, muss ich lachen. Ich muss völlig bescheuert gewirkt haben. Zwei Haltestellen. Sein Kopf wandte sich mir wieder zu. Ich sah ihn an, grinste. Streckte die Zunge heraus. Jetzt lachte er. Sah wieder fort. Okay, noch zwei Haltestellen. Wir schauten demonstrativ 328
in unterschiedliche Richtungen. Eigentlich ziemlich obszö‐ ne Blickvermeidung. Bald musste ich aussteigen. Ich reckte mich. Ich merkte, dass er hinübersah, wich seinem Blickje‐ doch aus. Würde er reagieren? Ich könnte ihm beim Aus‐ steigen zuwinken. Irgendetwas sagen. Ich erhob mich. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Die Türen öffneten sich. Los, nick ihm wenigstens zu, dachte ich. Dann: Lauf mir nach, komm mit! Ich trat auf den Bahn‐ steig. Nein, warte, lass das. Er kam nicht. Einfach ein be‐ trunkener Typ im Anzug auf der Fahrt nach Hause. Der Zug verschwand in der Dunkelheit. (A1 ging’s übrigens gut. Nur ein bisschen müde und ge‐ fühlsduselig. Will heißen: besoffen.) Stand gestern mit meiner Freundin C an der Theke ei‐ nes Clubs. N wollte zu uns stoßen, hatte aber gesimst, er käme später. Wir standen vor unseren Getränken, vermie‐ den kühl jeden Blickkontakt und ignorierten die grässliche Musik, die der DJ auflegte. Ein Typ kam auf uns zugeschwankt. »Hallo, die Damen«, sagte er. Ich dachte: Ist das nicht ein bisschen früh, um der‐ art breit zu sein? »Mein Freund hat heute Geburtstag, ähm, er steht da drüben ... « Er wies auf eine Gruppe von Män‐ nern mit fragenden Mienen. Cs Gesicht war bereits zur Maske erstarrt, sie lächelte cool. War nicht klar ersichtlich, dass wir nicht angebaggert werden wollten? Doch dem jungen Herrn ging es gar nicht ums Baggern. »... und mein Freund lässt fragen, ob ihr ihm eure Titten zeigen würdet.« 329
Cs Maske blieb starr. »Leider nein.« Sie lächelte höflich und wandte sich ihrem Cocktail zu. Ich grinste einfältig. »Wirklich nicht? Wo er doch Geburtstag hat und so, mei‐ ne ich.« »Nein«, sagte ich, weniger freundlich, und drehte mich weg. C und ich bestellten nach. N kam wirklich ziemlich spät. Wir versuchten, uns trotz der noch lauteren Musik zu unterhalten, aber es ging nicht. Am Ende lächelten wir in die ungefähre Richtung der anderen. C fummelte am Pelz‐ besatz ihres unglaublich weichen Pullovers herum. Wieder stolperten Männer auf uns zu. Wir drehten uns gar nicht mehr um. Es war der Typ von eben mit seinem Freund. »Hallo, die Damen«, sagte der zweite. Ich habe das Gefühl, Männer nennen Frauen nur dann »Damen«, wenn sie was von ihnen wollen. »Ich hab heute Geburtstag, und da dachte ich, ob ihr beide mir vielleicht bitte eure Titten zeigen würdet?« Gut. Wenigstens hatte er »bitte« gesagt. Cs Miene war un‐ ergründlich. »Nein.« »Nein«, wiederholte ich. »Wirklich nicht?«, fragte er mit Bettelmiene. Funktioniert so was jemals, fragte ich mich. Er hat nicht mal Geld dafür geboten, verflucht noch mal! Frauen sollen sich also gratis wie Nutten aufführen, um keine Spielverder‐ ber zu sein, während echte Prostituierte Spott und Hohn er‐ tragen müssen. Man muss sich doch wundern! »Nein«, sagte eine Stimme hinter den beiden Kerlen. Es war N, einen Kopf größer als die beiden. Schnell verdrück‐ ten sie sich. N fuhr C und mich nach Hause. C ist jung, fast noch ju‐ gendlich. In Wirklichkeit ist sie Mitte zwanzig, aber sie be‐ nimmt sich wie eine Achtzehnjährige. Auf eine nette Art. Wir sprachen übers Heiraten. Sie erkundigte sich nach 330
Ns Lebensumständen, warum er noch Single sei. Sie fragte, ob ich irgendwann heiraten und Kinder haben wolle. Ich verneinte. Sie auch nicht, entgegnete sie. »Ach, das kommt schon noch«, sagte N zu ihr. »Du fin‐ dest irgendwann den Richtigen, und dann macht man’s doch.« Sie wollte aufbegehren, hielt aber den Mund. »Was glaubst du denn, wie meine Zukunft aussieht?«, fragte ich N. »Unverheiratet ins Grab?« Er sah auf die Straße. Suchte seine Worte sorgfältig. »Ich glaube, dass du deinen Weg gewählt hast und nicht willst, dass dir jemand in die Quere kommt«, erklärte er. »Deine Freiheit ist dir wichtiger als alles andere. Ich denke schon, dass es so sein wird, wenn du es so willst. Vielleicht überlegst du es dir irgendwann mal anders, aber da muss schon ein ganz besonderer Mann kommen. Ich glaube, du wirst noch lange Single sein.« Ich lag auf dem Bett und las. Das Telefon klingelte. Dr. C. »Am Anfang der Straße, hast du gesagt?« »Am Ende der Straße.« Eigentlich weiß ich nie genau, was wo ist, aber wenn er nicht vor der Haustür stand, musste er wohl am falschen Ende sein. Eine Minute später klopfte es an der Tür. »Am Ende der Straße?«, fragte ich grinsend. Sein Lächeln war netter, als ich es in Erinnerung hatte. Er hatte eine Tasche dabei und war in einem alten blauen Auto gekommen. Es gehöre sei‐ nem Bruder, sagte er. Ich bat ihn herein. Er ließ die Tasche neben der Couch fallen. Shit, dachte ich. Hätte Decke und Kissen rauslegen sollen. Damit er 331
nicht denkt, dass ich auf jeden Fall mit ihm schlafen will. Wir sahen uns an, sagten nichts, grinsten. »So.« »Gut. Kleiner Spaziergang?« » Gerne.« Wir liefen stundenlang durch die Gegend. Es fiel mir gar nicht auf, bis die Sonne plötzlich hinter den Bäumen ver‐ schwand. Er erzählte von seiner Familie, seiner Arbeit. Ich bewunderte seine hübschen Lippen und Hände. Wir setz‐ ten uns auf eine Bank und sahen zu, wie dicke Frauen mit ihren kleinen, noch dickeren Hunden Gassi gingen. »Zurück?« »Gerne«, sagte er. Ich erbot mich, ihm etwas zu kochen. »Ehrlich gesagt, habe ich keinen großen Hunger«, meinte er. Ich auch nicht. Er holte eine große Flasche Likör aus der Tasche. Es konnte nicht viel mehr Platz für anderes drin sein. Wir setz‐ ten uns mit einer Schale Eiswürfel an den Küchentisch und machten uns an die Flasche. Ich war angeheitert, er ebenfalls, aber auf eine nette Art, wie in unserer ersten Nacht. Als Gläser und Flasche leer wa‐ ren, nahm ich ihn mit ins Schlafzimmer. Wir küssten und streichelten uns durch die Klamotten. »Deine Brüste sehen geil aus in dem Teil«, sagte er. »Darf ich dich was fragen?« Alles, hätte ich fast gesagt. »Was denn?« »Darf ich deine Brüste auspeitschen? Durch das Top, meine ich?« Ich holte eine mehrschwänzige Gummipeitsche hervor. Er begann mit leichten Schlägen. Ich lachte. »Du kannst ru‐ hig stärker machen«, sagte ich. Er gehorchte. Es tat weh. Ich bin schon heftiger ausgepeitscht worden, es machte mir un‐ glaublichen Spaß. Ich konnte nicht aufhören zu lachen. Er sagte nichts, sondern lächelte. Es war so absurd. Schließlich 332
legte er die Peitsche zur Seite und fuhr mir mit den Händen unter den Stoff. »Deine Haut ist ganz warm«, sagte er. Er hob das Shirt an. Ich trug keinen BH. »Die sind ganz rot.« Er drückte mich gegen die Wand und nahm mich. Dann fielen wir ins Bett und schliefen auf der Stelle ein. Das Telefon weckte mich. Ich war müde und meldete mich, ohne vorher auf die Nummer zu schauen. »Ja?« »Hallo.« Es war der Boy. Ich erschauderte. Ich hätte aufle‐ gen sollen, tat es aber nicht. »Wo bist du?«, wollte er wissen. »Zu Hause.« Warum lügen? Keine Zeit zum Nachdenken. »Und du?« »Vor der Tür.« »Oh.« Ich legte den Hörer zur Seite. Reckte mich, weckte vorsichtig den schlafenden Mann neben mir. »Ähm, unten ist Besuch«, erklärte ich. Er musste es an meiner Stimme gehört haben. »Wer denn?« »Mein Ex.« Ein finsterer Blick huschte über sein Gesicht. Was ich jetzt machen wolle. »An die Tür gehen, denke ich.« Er meinte, das müsse ich nicht tun. Ich könne auch die Poli‐ zei rufen. Ich erwiderte, das sei mir bekannt. Wir zogen uns an. Er ging in die Küche. Ich an die Tür. Da stand der Boy. In kurzer Hose und T‐Shirt. Sein Auto parkte gegenüber. Er war allein. Es war ruhig auf der Straße. Er fragte, ob er hereinkommen könne. In der Küche nickte er Dr. C zu. Ich stellte die beiden ein‐ ander vor. Fragte, ob jemand Tee wolle, Frühstück. Beide bejahten. Ich machte das Radio an. Es war mir viel zu still im 333
Raum. Ich stellte mich an den Herd und bereitete Rührei; legte Brot zum Toasten unter den Grill. Plauderte mit den beiden über das Wetter (schön), über die Musik im Radio (schlecht) und die Nachrichten (deprimierend). Ich deck‐ te den Tisch und stellte jedem einen Teller hin. Der Boy, den Kopf tief über den Teller gebeugt, schaufel‐ te sofort los. Es war sonderbar, ihn nach so vielen Monaten wieder am Tisch sitzen zu sehen. »Isst du kein Rührei?«, fragte Dr. C. »Nur eine Scheibe Toast«, sagte ich. »Leichte Kost«, erwiderte er grinsend und begann. Die beiden schwiegen. Ich konnte mich nicht setzen, lief vor der Spüie auf und ab, knabberte an der Kruste. Der Boy war schnell fertig und fragte, ob er die Toilette benutzen dürfe. Ich erlaubte es ihm. Er hatte noch nie fragen müssen. Als er fort war, flüsterte Dr. C: »Warum hast du mir nichts von ihm erzählt?« »Da gibt’s nichts zu erzählen«, flüsterte ich zurück. »Ich hab ihn seit Monaten nicht gesehen.« Der Boy kam wieder rein. Ob er mit mir reden könne. Ich sagte, ja. Wir standen in der Küche und schwiegen. Dr. C sah uns an. Der Boy fragte, ob er im Schlafzimmer mit mir reden könne. Ich sagte, ja. Wir gingen nach oben. Ich ließ die Tür auf. Er nahm auf dem Bett Platz und bedeutete mir, mich neben ihn zu setzen. Ich gehorchte. Ich wusste, dass man uns in der Küche hören konnte. »Ich muss dich etwas fragen, und ich will, dass du ehrlich bist«, sagte er. Ich begehrte auf. Welches Recht hatte er, mich irgendet‐ was zu fragen? Und wann hatte ich ihn jemals belogen? »Was denn?«, fragte ich. »Schläfst du mit diesem Mann?« »Ja.« 334
»Hat er hier übernachtet?« »Ja.« Ich fragte mich, wie lange der Boy schon vor der Tür gestanden hatte. »Ich kann nicht glauben, dass du mir das antust«, sagte er. Jetzt war ich baff. Musste ich ihm jeden Mann melden, mit dem ich ins Bett ging? Musste ich mich vor ihm recht‐ fertigen, mich um seine Meinung kümmern, mich über‐ haupt um anderer Leute Meinung kümmern? Ich bat ihn zu gehen. Er blieb ruhig. Seltsam ruhig. Sonst ist der Boy immer zappelig und redet in einem fort, jetzt war er still und ge‐ fasst. Er meinte, er würde allein hinausfinden; ich bestand darauf, ihn nach unten zu begleiten. Nach draußen. Ich trat mit ihm vor die Tür und zog sie hinter mir zu. Dr. C saß in der Küche. Er hörte, wie das Schloss hinter mir einrastete. Ich hatte keinen Schlüssel. Was auch immer der Boy tun würde – ich wollte nicht zulassen, dass er sich an einem Fremden vergriff. Er würde mit mir vorlieb nehmen müs‐ sen. Das wurde ihm sofort klar. Seine Wangen leuchteten. »Ich muss mit ihm reden«, sagte er mit plötzlicher Dring‐ lichkeit. »Nein«, entgegnete ich und verschränkte die Arme. »Ich muss mit ihm reden«, wiederholte der Boy. »Er kann dich ja haben, ich will nur, dass er weiß, was er mir ... was er mir weggenommen hat.« »Er hat dir nichts weggenommen. Er kennt dich über‐ haupt nicht. Warum auch? Du hast mich gehen lassen. Zwei‐ mal.« Der Boy wollte in die Wohnung. Ich lehnte ab. Er bat abermals darum, immer wieder. Ich blieb hart. Ich wusste, dass es nicht seine Art war, mich zu schlagen, wollte mich jedoch nicht darauf verlassen. Ich fragte mich, wann er zusammenbrechen würde. Hin und wieder gingen 335
Leute vorbei, es war ein normaler Montagmorgen. Falls ich Hilfe brauchte, war das von Vorteil. Der Boy merkte, dass er mit seinem Betteln nichts er‐ reichte. »Komm, bitte«, jammerte er. »Der Mann ist groß ge‐ nug. Er kann doch auf sich selbst aufpassen.« »Du rührst ihn nicht an?«, fragte ich. »Ich rühre ihn nicht an, versprochen.« »Lügner!« Seine Arme waren verschränkt, aber er ballte unablässig die Fäuste, die Knöchel wurden abwechselnd rot und weiß. Da standen wir. Er sah mich an. »Geh zu deinem Auto und fahr!«, sagte ich. Er rührte sich nicht. Ich wiederholte den Satz. Er ging. Ich folgte ihm bis durchs Gartentor. Sah zu, wie er ins Auto stieg. Langsam schob er den Schlüssel ins Zündschloss. Ich wartete, bis er losfuhr. Kehrte zurück und klopfte an meine Wohnungstür. Dr. C machte auf. Wir gin‐ gen ins Schlafzimmer und bumsten. Heute Morgen ist Dr. C gefahren. Er musste in den Süden. Ich grinste und machte das Bett, während er seine spär‐ lichen Habseligkeiten packte. Ich wusste nicht, ob wir uns wiedersehen würden. Die blauen Flecken auf meiner Brust verblassten bereits, würden aber möglicherweise länger hal‐ ten als unsere Beziehung. Ich wusste es nicht, es war mir auch egal. An der Ecke stand ein Auto. Ich konnte es vom Fenster aus sehen, und er wusste es. Der Boy. Ich brachte Dr. C zu seinem Wagen und winkte ihm nach, ging zurück ins Haus und schloss die Tür hinter mir. Das Telefon klingelte. Ich ging nicht dran. 336
Kurz darauf klingelte es wieder. »Ja?«, meldete ich mich. »Kann ich reinkommen?«, fragte der Boy. Ich sagte, ich würde nach draußen kommen, verschloss die Tür hinter mir und ließ die Schlüssel in meine Tasche gleiten. Hielt das Handy fest, nur für den Fall. Er kam mir entgegen, bis zum Gartentor. Bat wieder, mit hereinzudürfen. Ich verneinte abermals. Wir würden in seinem Auto reden oder gar nicht. Er versuchte es erneut, doch als er merkte, dass ich nicht nachgab, ging er mit mir zu seinem Wagen. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und lehnte die Tür nur an. »Es tut mir Leid, ich hab so viel falsch gemacht, ich weiß das. Es tut mir so Leid«, sagte er. Er hatte rote Augen, seine Schultern waren eingefallen. Eine Welle des Mitgefühls überrollte mich. Aber ich hielt den Mund. Er entschuldigte sich immer wieder, weinte. Ich ließ ihn reden. Ich dachte an die vielen Male in unserer Beziehung, wo er sich nicht ent‐ schuldigt hatte, wo es mich fertig gemacht hatte. Ich dachte an die wenigen Male, bei denen er es getan hatte, ich ihn ; schnell beruhigt und ihm versichert hatte, es sei nicht seine Schuld. Diesmal unterbrach ich ihn nicht. Es sollte alles aus ihm heraus. Es war schwer anzusehen. Ich hätte ihm helfen, seiner Qual ein Ende bereiten können. Ich wusste, dass ich uns die nächsten zehn Minuten erheblich erleichtern konnte, viel‐ leicht auch, wenn wir Glück hatten, die nächsten zehn Tage, bis wir erneut streiten würden. Ich musste nur sagen, dass ich ihn zurücknehmen würde. Doch mir war klar, dass der nächste Streit immer um die Ecke lauern würde. Er konnte jetzt noch so viel versprechen – Menschen ändern sich nicht einfach so. Nicht dass sie es nicht könnten, aber sie tun es nicht über Nacht. Ich hatte die Nase voll. 337
Und das sagte ich ihm. Ich flüsterte, ich sei es einfach leid. Er schluchzte, hörte aber auf zu betteln. Das war es dann, dachte ich. Erinnerte mich an das, was N im Auto gesagt hatte. Verurteilte ich mich gerade zu mei‐ nem selbst gewählten Schicksal? War dies nicht nur seine letzte Chance, sondern auch meine, für alle Zeit? »Ich habe dich so geliebt«, sagte er schließlich. »Ich dich auch«, entgegnete ich. Und wusste, dass es wirk‐ lich das letzte Mal war. Und dass er es ebenfalls spürte. Komme gerade aus dem Studio zurück, verschwitzt und müde. Habe aus reiner Gewohnheit den Wasserkessel ange‐ stellt, wollte eigentlich gar nichts trinken. Aber man sagt ja, man soll Tee trinken, wenn einem heiß ist. Auf der Küchentheke summte das Telefon. Ich sah auf die Anzeige. Die Agenturchefin. Habe kurz überlegt, fast hätte ich sie auf die Mailbox sprechen lassen. Dann bin ich doch drangegangen. »Schätzchen, ich hätte einen Termin für dich, zwei Stun‐ den ...« Hatte ich mich verhört? »Aha.« Wochen des Schweigens, und jetzt plötzlich ohne jede Vorwarnung ein Termin? »Wie geht’s dir denn?« »Gut, Schätzchen, gut. Habe ich dich geweckt?« Ich käme gerade aus dem Studio, erklärte ich. Fand sie toll. »Man muss was für sich tun«, sagte sie und fuhr schnell fort: »Hör zu, dieser Mann wohnt im Claridge, er würde dich gerne um zehn Uhr sehen.« Ein zweistündiger Termin mit allem Drum und Dran, plus Fahrtkosten. Der höchste Stunden‐ satz für das Normalprogramm. 338
Ich biss mir auf die Lippen. Geschenkter Gaul und so wei‐ ter. Aber ich hatte A3 bereits zugesagt, mich später mit ihm im Pub zu treffen. Und hatte mich seit Jahren nicht wach‐ sen lassen. Allein die Schamhaarhecke zu stutzen, würde eine Stunde dauern. Außerdem war ich müde, hatte nichts gegessen und tausend andere Sachen. »Tut mir Leid, das schaffe ich nicht. Das übernimmt bestimmt gerne eine von den anderen«, schlug ich höflich vor. »Ihm hat die Beschreibung von dir gefallen, er hat aus‐ drücklich nach dir gefragt, Schätzchen. Ein bisschen flun‐ kern ist ja kein Problem, aber ich kann ihm doch kein ande‐ res Mädchen schicken!« Ach, du liebe Güte! Eine Kupplerin mit Gewissen! Hatte ich da womöglich irgendwas falsch verstanden? Meine Stimme wurde lauter. »Ich würde wirklich gerne, aber ich habe schon was anderes vor.« Ich hätte es zeiüich geschafft, so gerade eben. Das Geld hätte ich gut gebrau‐ chen können. Aber ich wollte nicht. A3 wartete auf mich, ich konnte mir keinen schöneren Abend vorstellen, als ihn mein Bier austrinken zu lassen und ihn von seiner Arbeit er‐ zählen zu hören. »Gut, Süße«, flötete sie. »Du bist immer so lustig. Wir sprechen uns, ja?« »Bis bald. Schönen Abend.« Die Sonne scheint. Und da ein Teil des Hauses, in dem ich wohne, einen fast uneinsehbaren Garten hat, der einem dennoch das Gefühl gibt, nackt in der Öffentlichkeit zu sein, habe ich mich das ganze Wochenende draußen ge‐ grillt. 339
Gesundheitsexperten werden sagen, man könne nur bei völliger Abstinenz gesund bleiben. Ich setze dagegen auf »safer bräunen«. Wer seine zarte Mädchenhaut den Son‐ nenstrahlen aussetzt, muss sich schützen, immer. Außerdem frage ich mich, ob es an der Zeit ist, Kunden zu Hause zu empfangen. Wie man so schön sagt: Es muss nicht immer Kaviar sein. Nicht dass ich schon mal Kaviar gegessen hätte. Koschere Vorschriften und so weiter. Deshalb vielleicht: Wie man so schön sagt: Es muss nicht immer gefillte Fisch sein. Ich bin Schriftsteller, sagte der Kunde. Tatsächlich, fragte ich. Was schreibst du so? Genre‐Literatur, erklärte er. Er nannte einen Beststeller aus der New York Times und einen bekannten Titel. Ach so, sagte ich. Wie Mickey Spillane. Ge‐ nau, erwiderte er. Mir hat das Ende von Das Wespennest im‐ mer so gut gefallen, sagte ich. Wo Hammer der Heldin das Négligée herunterreißt. Diese eine Nacht der Leidenschaft. Ich saß auf seinem Schoß. Er streichelte meine Ober‐ schenkel. »Fühlt sich wie Strapse an«, meinte er. (Er hatte Recht. ) »Was möchtest du machen?«, erkundigte ich mich. »Einfacher Mann, einfache Wünsche«, erwiderte er. »Ich würde gerne in den Mund einer nackten Frau spritzen.« Diese Art des Verkehrs mag teuer erscheinen, aber wenn man sich überlegt, wie viel Geld und Mühe man auf einer Geschäftsreise aufbringen muss, um eine Frau zu umgar‐ nen, nur damit es hinterher möglicherweise dazu kommt, dass sie nackt ist und man ihr in den Mund spritzt, ehe man 340
wieder zum Flughafen muss, dann ist das gar nicht so kost‐ spielig. Und bei mir ist der Erfolg garantiert. Er zog mir das Höschen aus, wir entkleideten uns gegen‐ seitig. Er legte sich aufs Bett. »Du erinnerst mich an jeman‐ den, in den ich mal verliebt war«, sagte ich. Er sah mich zweifelnd an. Es stimmte: Er hatte die hohe Taille und die asketischen Glieder eines in Tempera gemalten Heiligen aus dem vierzehnten Jahrhundert – den Körper und das Ge‐ sicht von A2. Ich kitzelte ihn am Fuß und küsste die Innen‐ seite seiner Oberschenkel. Dann lutschte ich ihn ein paar Minuten und erkundigte mich, was ihm noch gefallen würde. Rimmen, sagte er. »Bei dir oder bei mir?« Ich sollte ihn lecken. Also schob ich seine Beine weiter auseinander und tastete mich zwischen seinen Pobacken vor. »Ich glaube, es geht besser, wenn du ein Kis‐ sen unterm Hintern hast.« Er gehorchte. Sein Arschloch war rosa, weich und unbehaart. Es schmeckte leicht nach Seife. Ich schloss die Lippen wieder um seinen Schwanz und reizte das Loch mit einem feuchten Finger. Er kam schnell und heftig, das Sperma schoss mir in den Mund. »Das war nur eine halbe Stunde«, sagte ich. Er hatte für eine ganze bezahlt. »Möchtest du vielleicht noch mal?« »Nee, tut mir Leid«, sagte er. »Bin zu alt dafür. Zu müde.« »Soll ich noch ein wenig bleiben, wir können uns unter‐ halten. Oder soll ich gehen? Du kannst dich auch umdre‐ hen, dann versuche ich mich an einer Rückenmassage.« »Mir wär’s recht, wenn du jetzt gehst. Dann schlafe ich glücklich und zufrieden ein.« »Ich würde dir ja viel Glück mit den Büchern wünschen, aber es hört sich an, als brauchtest du es nicht«, sagte ich. »Ich kauf mir mal eins.« »Hol dir erst mal ein Taschenbuch«, meinte er. »Um zu sehen, ob es dir überhaupt gefällt.« 341
Ich zog mich an, legte Lippenstift auf. Das Geld war in ei‐ nem Briefumschlag des Hotels. »Hat Dashiell Hammett nicht gesagt: ›Man bezahlt eine Frau nicht für das, was sie tut, sondern damit sie hinterher geht.‹?« »Kann schon sein.« Er grinste schläfrig. Vorsichtig zog ich die Tür hinter mir zu. Draußen war nur ein Taxi. Ich stieg hinten ein und wurde im Licht und zu den Geräuschen der nächtlichen Großstadt nach Hause gefahren. Zentaur 06‐04‐21
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