Belial
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 172 von Jason Dark, erschienen am 25.07.1995, Titelbild: Mónica Pasamón
Als...
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Belial
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 172 von Jason Dark, erschienen am 25.07.1995, Titelbild: Mónica Pasamón
Als mich Raniel, der Gerechte, besuchte, wußte ich, daß es Probleme geben würde »Belial ist da! Belial - der Engel der Lügen, der Leibwächter Luzifers. Oder der Engel der Finsternis, wie schon in den alten Schriftrollen von Qumran zu lesen war.« »Was will er?« »Er will die Macht, John. Er will die Menschen unterdrücken und sie in Luzifers Höllenloch führen. Er will die Wahrheit zur Lüge erklären und so dafür sorgen, daß sich die Menschheit selbst zerstört.« »Und wir sollen ihn stoppen?« »So ist es, John...«
Das Unwetter kam mit einer Wucht, als wollte es die Grenzen zwischen Himmel und Hölle sprengen. Es war gegen Abend. Die Welt, ob Himmel oder Erde, erinnerte in der Dämmerung an eine Palette aus Zwischentönen. Aschgraue Wolken bildeten unheimliche Wände am Himmel, die sich aus mehreren Schichten zusammensetzten. Daraus hervortauchende Blitze zerschnitten hell die schraffierten Wolkenberge, und ein grollender Donner kündete das Unheil an. Es würde kommen. Es war nicht aufzuhalten. Und die Menschen würden in einer schrecklichen Angst leben und an das Ende der Welt denken… Billy Wilson duckte sich, als er das Haus verließ. Er hörte noch die warnenden und mahnenden Worte seines Klavierlehrers, der die Stunde früher abgebrochen und dem Zwölfjährigen geraten hatte, so rasch wie möglich nach Hause zu fahren, denn am Himmel braute sich ein Unwetter zusammen. Billy selbst hatte es nicht gesehen, er war zu sehr in das Klavierspiel vertieft gewesen. Sein aufmerksamer Lehrer dagegen war immer wieder zu dem großen Fenster gegangen und hatte hinausgeschaut. Bei jeder Rückkehr an den Flügel war sein Gesicht sorgenvoller gewesen. Der Junge war die schmale Steintreppe hinuntergerannt und hatte den Schutz des Hauses verlassen. Das Rad lehnte an der Bruchsteinmauer, die auf der vorderen Seite die Grundstücksgrenze markierte. Er hatte nur wenige Schritte zu laufen, als der erste Windstoß heranfegte, von einem schauerlichen Heulen begleitet. Wie ein wildes Tier packte der Wind den Jungen, und er riß alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. Bill kam sich vor wie ein Zuschauer, der in das Geschehen nicht eingreifen konnte. Da segelte ein Hut quer über die Straße, da fegten plötzlich mehrere Zeitungen hinter dem Hut her, als wollten sie ihn einholen. Da rollten kleine Holzkloben auf die Fahrbahn, die der Sturm von einem größeren Stoß gelöst hatte, und Billy sah mit Schrecken, daß die wilde Bö auch sein Rad nicht verschonte. Sie riß es einfach um. Das Rad war Billys Heiligtum. Er hatte lange dafür gespart. Als er dieses für ihn wertvolle Kleinod fallen sah, löste sich ein Schrei der Entrüstung aus seinem Mund. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die erneute Bö an, wobei er sich bis zu seinem Rad regelrecht vorkämpfen mußte, um es zu packen und wieder aufzurichten. Er schaffte es. Der Wind wühlte sein Haar hoch, als wollte er jede einzelne Strähne aus dem Kopf reißen. Er ließ die Kleidung knattern und
flattern, er peitschte das runde Gesicht des Jungen, es fegte in die Augen hinein und ließ sie tränen. Billy hielt sein Rad an der Lenkstange fest umklammert. Es sollte ihm nicht noch einmal umgerissen werden, er würde dafür kämpfen. Wenn er es nicht schaffte, nun gut, dann fielen eben beide um, aber nicht mehr das Rad allein, das war er ihm einfach schuldig. Und dann war alles vorbei! So plötzlich, wie der Wind aufgetreten war, hatte er sich auch wieder zurückgezogen. Kein Lufthauch mehr, keine Strömung, die Welt hielt den Atem an, und was zuvor von der wilden Bö weggefegt worden war, blieb einfach liegen. Der Junge atmete durch. Er schüttelte den Kopf, weil er mit der erneuten Veränderung nicht zurechtkam. Das Haus seines Lehrers stand am Ortsausgang. Um in das Dorf hineinschauen zu können, mußte sich Billy umdrehen. Er tat es auch, weil er die Stimmen der Erwachsenen gehört hatte, die sich diese Bö auch nicht erklären konnten. Einige Bewohner hatten ihre Häuser verlassen und waren nach draußen gelaufen. Sie standen auf den schmalen Gehsteigen beisammen, schauten in den Himmel, schüttelten die Köpfe, sprachen miteinander, weil jeder auf eine Erklärung des anderen wartete, doch Antworten bekamen weder die Fragenden noch die Gefragten. Die Bö blieb ein Rätsel. Jeder, der sie erlebt hatte, war froh, daß es vorbei war. Nur blieb eine gewisse Unruhe zurück, die Menschen schauten schon öfter hoch zum Himmel, als würden sie ihm nicht trauen, und auch Billy Wilson verhielt sich so. Er stand mit seinem Rad dort, wo der Gehsteig endete. Der Junge dachte daran, daß sein Rückweg bis zum elterlichen Haus noch sechs Meilen betrug, keine lange Strecke für einen geübten Radfahrer wie ihn, die riß er immer auf einer Backe ab, aber die plötzliche Bö hatte ihn doch verwirrt. Sechs Meilen nur, trotzdem… Billy fuhr an, nachdem er die Mappe mit den Notenblättern mit Hilfe des starken Gummibandes auf dem Gepäckträger festgeklemmt hatte. Er fuhr zügig. Zweimal begegneten ihm andere Radfahrer, dann war er wieder allein auf der Strecke zwischen den beiden Nachbarorten. Und er versäumte es nicht, immer wieder einen Blick zum Himmel zu werfen. Das hatte er auf seinen sonstigen Fahrten nur selten getan, aber ihm stecke noch die Kraft der unheimlichen Sturmbö in den Knochen. Das war schon ungewöhnlich gewesen, und dieser Himmel über ihm sah auch anders aus. Es hätte eigentlich ein Winterhimmel sein müssen, aber als das konnte er ihn nicht ansehen. Der Junge wunderte sich über die Wolkenformationen, sie sahen einfach anders aus als sonst. Sie
schoben sich zusammen und übereinander, hatten unterschiedliche Farben, und manchmal leuchteten die helleren Flecken dazwischen wie die Stapel kleiner Seen. Da oben braut sich etwas zusammen, dachte der Junge. Selbst die Luft kam ihm anders vor. Sie war sehr klar, nur wunderte er sich, daß er sich darüber nicht freuen konnte. Es hatte sich zugleich abgekühlt, und die Luft schnitt in sein Gesicht. Billy Wilson strampelte weiter. Es drängte ihn, nach Hause zu kommen. Rechts führte das Band der wenig befahrenen Verbindungsstraße entlang. Links von ihm lag der Wald, der bis zu seinem Dorf reichte. Auf der anderen Straßenseite wuchs kein einziger Baum. Da war das Land flach, mit einer klaren Sicht bis hin zum fernen Horizont. Wiesen und Felder, im Sommer grün und blühend, jetzt aber, im Winter, ähnlich aussehend wie der trübe Himmel hoch oben. An der linken Seite huschte der Wald vorbei. Geheimnisvoll. Eine Welt für sich. Billy Wilson kannte die Strecke genau, und er wußte stets, wie weit es noch bis zu seinem Ziel war. Ungefähr die Hälfte der Strecke lag bereits hinter ihm. Normalerweise war er froh, wenn er das merkte, an diesem frühen Abend jedoch war er es nicht. Noch immer steckte die Furcht vor dem Wind in ihm, und er wunderte sich auch darüber, daß die Dunkelheit noch nicht weiter fortgeschritten war. Es schien, als wollte die Natur der Jahreszeit einen Streich spielen und den Tag bewußt verlängern, um Sicht und Platz für etwas anderes zu schaffen. Aber für was? War die Welt nicht mehr in Ordnung? Der Blick nach rechts gestattete ihm die freie Sicht über das Feld hinweg. Dort war alles so klar, als hätte jemand mit einem riesigen Tuch Staub gewischt. Eine Klarheit wie in einem riesigen Spiegel, und der Junge kam auch mit dieser Beobachtung nicht zurecht. Einen Moment später erschrak er so stark, daß er beinahe das Vorderrad durch eine heftige Bewegung verrissen hätte. Nur mühsam konnte er sich im Sattel halten, denn nicht das Gelände hatte bei Billy für das Erschrecken gesorgt, sondern der unendlich wirkende Himmel mit seinem düsteren Farbenspiel, letzten Sonnenstrahlen dazwischen, die schleiergleich die Wolken durchteilten, um in der Ewigkeit zu versickern. Einen derartigen Himmel hatte Bill in seinem zwölfjährigen Leben noch nicht gesehen. Er war von diesem Anblick so überrascht, daß er abbremste, stehenblieb, wobei er sein Rad zwischen den Beinen festklemmte. Das da oben war grandios – und unheimlich.
Ja, Billy empfand den Anblick als unheimlich. Ein Schauer rieselte über seinen Körper. Er spürte, wie sein Gesicht käsig bleich wurde, und er hatte im nächsten Moment eine Vision. Er glaubte nicht mehr daran, daß er nach Hause kam. Irgend etwas würde passieren. Der Junge drehte sich, er blickte nach vorn, und in der Ferne des flachen Landes sah er bereits die Umrisse des Dorfes, in dem er lebte. Einige Sekunden wartete der Junge ab, wischte dann Wasser aus seinen Augen und wollte wieder in den Sattel steigen. Er befand sich noch in der Bewegung, als es geschah. Plötzlich erwischte ihn wieder eine Bö, und diesmal machte der brutale Windstoß mit ihm, was er wollte… *** Der Windstoß hatte Billy an der rechten Seite erwischt und schleuderte ihn nach links, hinein in den Wald. Während das Rad im Unterholz hängenblieb, rollte der Junge ein Stück weiter, bis er mit der Schulter gegen einen Baumstumpf prallte und leise aufschrie. Verletzt war er nicht. Allein die mörderische Kraft des Sturms war für diese Lage verantwortlich gewesen. Der wütende Orkan spielte mit Menschen wie mit Bällen. Auf dem Bauch blieb Billy Wilson liegen. Er hatte auch keine Zeit, sich um seine Schulter zu kümmern, denn um ihn herum toste eine wahre Hölle. Der Orkan jagte über das Land und verschonte auch den Wald zwischen den beiden Dörfern nicht. Um Billy herum tobte eine Musik, wie er sie noch nie gehört hatte. Fremdartige Töne vereinigten sich zu einer heulenden und mörderischen Sinfonie, die brüllte, schrie, jammerte, säuselte, mal schrecklich wurde, dann für einen Moment zusammenbrach, als sollten die Instrumente neu gestimmt werden. Das Heulen oder Toben war nicht gefährlich. Es gab andere Dinge, die dem Jungen Sorgen bereiteten. Der Orkan zerrte und riß an den Bäumen. Er packte Zweige, Geästs, er schlug um sich, riß vieles los, was nicht mehr in Saft und Kraft stand, und er schleuderte die abgerissenen Gegenstände wie nutzlosen Sperrmüll durch den Wald. Billys Gesicht war verzerrt. Er fürchtete sich. Das Bersten des alten Geäst quälte sein Gehör. Er traute sich nicht, sich aufzurichten, die Gewalten waren unberechenbar. Sie glichen einem Inferno der Natur, die sich in einem rasenden Anfall von Haß und Wut befand, um sich an den Menschen zu rächen. Und dann war der Donner da.
Ein mächtiger Schlag, der alle anderen Geräusche übertönte, erschütterte die kleine Welt. Dabei erschreckte er den Jungen so sehr, daß dieser laut aufschrie. Er hatte das Gefühl, auseinandergerissen zu werden, aber der Donner war nicht schlimm. Der folgende ebenfalls nicht, da hatte sich Billy bereits an ihn gewöhnt. Die Donnerschläge dröhnten über den Himmel. Sie wurden von langen, scharfen Blitzen begleitet, die Billy bemerkte, obwohl er den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen hielt. Die Blitze ähnelten Speeren aus Licht. Sie jagten eindrucksvoll dem Erdboden entgegen. Billy hatte die erste Angst überwunden, doch er befürchtete, von herumfliegenden Ästen getroffen zu werden, doch noch war das Glück auf seiner Seite. Er war bislang unverletzt. Langsam richtete er sich auf. Scharfer Wind erfaßte ihn, und Billy schaute Richtung Straße und dann zum Himmel. Die Luft war klar. Es fiel noch kein Regen. Das breite Wolkenband war gerissen. Es zeigte freie Flächen, die in einem ungewöhnlichen Licht glänzten. Sonnenstrahlen fielen in langen Bahnen der Erde entgegen, nachdem sie die Wolken passiert hatten. An der linken Seite war der Himmel dunkler, an der rechten zeigte er eine breite Aufhellung, und dazwischen – ja, was war das? Billy wußte nicht Bescheid, er war völlig von der Rolle. Er schüttelte den Kopf, er war starr, er schluckte, er zitterte, und er merkte nicht, wie er sich langsam aufrichtete. Der Wind war noch da, aber nicht mehr so stark. Er wehte und umsäuselte Billy. Dafür interessierte er sich nicht, auch nicht für den Regen, der urplötzlich niederging. Etwas anderes hatte ihn in seinen Bann gezogen. Es war ein bestimmter Regenschleier, der sich praktisch auf eine Zone konzentrierte. Und zwar ihm gegenüber, auf dem Feld, der Wiese, wo das Gelände so flach war. Dort zeichnete er sich ab, und gleichzeitig glaubte Billy, inmitten des Schleiers eine Bewegung zu sehen. Oder waren es nur Wolken? Er hatte keine Ahnung, er war nur der Beobachter, aber er hatte seine Umgebung vergessen, auch wenn er bis auf die Haut durch den Regen naß geworden war. Alles war anders geworden. Die Luft, der Wind, der Regen. Nur nach vorn konnte er schauen, und dort sah er dann, was passierte. Regen und Wolken hatten etwas entlassen. Eine Gestalt. Ein Mensch? Billy Wilson wußte nicht, ob er es glauben sollte. Es war einfach zu unwahrscheinlich und unheimlich. Gebannt schaute er zu…
*** Ich hatte Suko als ersten aus dem Lift treten lassen und folgte ihm mit langsameren Schritten. Wir waren vom Büro aus nach Hause gefahren und freuten uns auf einen Feierabend. Gemütlich wollten wir den Tag ausklingen lassen. Mehr wollten Suko und ich nicht. Normalerweise wäre einer von uns schon vorgegangen, um die Wohnung zu erreichen, aber Suko war stehengeblieben und wartete auf mich. Ich stoppte ebenfalls, weil ich überrascht war. »He, was hast du? Keine Sehnsucht nach Shao?« »Das wollte ich dich gerade fragen.« »Ob ich Sehnsucht habe?« »Nein, das nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Unsinn. Ich wollte dich nur fragen, was mit dir los ist.« »Wie? Mit mir?« Suko verdrehte die Augen. »Mit wem sonst, John? Oder siehst du noch einen anderen?« »Das nicht.« »Dann raus mit der Sprache.« Ich hob die Schultern. »Ob du es glaubst oder nicht, ich habe mich in den letzten Stunden nicht eben wohl gefühlt.« Suko nickte. »Das habe ich bemerkt.« »Schön.« »Kennst du auch den Grund?« Mein Freund ließ einfach nicht locker. »Keine Ahnung.« Damit hatte ich nicht gelogen. Mir war der Grund tatsächlich unbekannt. Ich hatte schon darüber nachgedacht, weshalb mir so komisch gewesen war, hatte es dann auf das Wetter geschoben oder auf einen Virus, der schon länger in mir steckte und sich nun endlich freie Bahn verschafft hatte, um mir eine Grippe zu >schenken<. »Da muß wohl etwas in der Luft liegen, und mich hat es erwischt.« »Wie äußert sich das, abgesehen davon, daß man es dir einfach ansieht, John.« »Ich bin nicht in Form. Eine Leck-mich-Stimmung. Weiche Knie und so. Völlig lustlos. Keinen Appetit und auch keinen Durst auf ein Bier oder auf ein Glas Wein.« Ich winkte ab. »Jedenfalls nichts von Besorgnis, das trifft schließlich jeden.« »Grippe?« »Ist auch drin.« »Was willst du tun? Dich ins Bett legen?« »Du hast mir die Antwort schon vorweggenommen. Ich haue mich tatsächlich aufs Ohr.« »Dann gute Nacht.« Suko schaute mich noch einmal an, grinste und war der Meinung, daß er oder Shao noch nach mir schauen würden, ob es mir besserging.
»Einigen wir uns darauf. Sollte es mir schlechter gehen, sage ich euch Bescheid. Dann kann mir Shao einen von ihren Tees kochen, die ja besonders gut heilen sollen.« »Das kann sie schon jetzt.« »Nein, nein! Mach nur nicht die Pferde verrückt! Laß alles, wie es ist.« »Wie du willst.« Wir waren zuletzt vor unseren Wohnungstüren stehengeblieben und schlossen zugleich auf. Ich verschwand sehr schnell in meinen vier Wänden, weil ich nicht auch noch von Shao mit Fragen gelöchert werden wollte, obwohl sie es bestimmt gut meinte. Aber irgendwo mußte Schluß sein, und ich wollte einen Schlußstrich unter diesen Tag ziehen. Meine Jacke hängte ich an der Garderobe auf, preßte die Hände gegen die Stirn, atmete tief durch und ging zunächst einmal ins Bad, um mich zu erfrischen. Das kalte Wasser tat meinem Gesicht gut. Im Gegensatz zum Wasser fühlte sich die Haut direkt heiß an. Ich hatte Fieber, das paßte mir gar nicht. Fieber kann den stärksten Mann umhauen. Ihn auf das Lager schmeißen, wie es so schön heißt, ihn schwächen, und gerade eine Schwäche konnte und durfte ich mir bei meinem Job nicht erlauben. Ich trocknete mich ab, ging dabei einige Schritte hin und her. Ein Test und ich fühlte mich be…scheiden. Da war es sicherlich am besten, wenn ich mich aufs Ohr legte. Wie ein müder Krieger betrat ich den Wohnraum, in dem es viel zu warm war, obwohl ich die Heizung bereits zugedreht hatte. Es konnte auch an meiner inneren Hitze liegen, daß ich mich so fühlte. Aus der Küche holte ich mir etwas zu trinken, Mineralwasser, und ein Glas nahm ich ebenfalls mit. Hinlegen? Nein, auf keinen Fall. Ich würde mich auf die Couch hocken und die Glotze einschalten. Mich irgendwie ablenken, denn über meinen komischen Zustand wollte ich nicht unbedingt nachdenken. Die Fernbedienung fand neben dem Glas ihren Platz. Ich trank erst mal und legte den Kopf zurück. Dann dachte ich in Ruhe über meinen Zustand nach. War ich wirklich krank? Oder war ich auf dem Weg, krank zu werden? Es war alles möglich. Jetzt, wo ich Ruhe hatte und über alles nachdachte, kam mir mein Zustand schon seltsam vor. Krank fühlte ich mich trotz der Hitzewallungen eigentlich nicht. Okay, es war eine gewisse Mattheit vorhanden, aber von einer direkten Krankheit wollte ich nicht sprechen. Es war wahrscheinlich etwas anderes, denn eine innere Aufgeregtheit hielt mich umfangen. Ich war einfach nicht mehr derselbe, ich war nervös, stand wie auf dem Sprung, als würde jeden Moment etwas auf
mich zukommen, das mich bereits belauerte und sich noch in einer Wartestellung befand. Ich kam auch zu einem Ergebnis. Es war das sogenannte ungute Gefühl, das mich umklammert hielt. Nicht mehr und nicht weniger, eben dieses verdammte Gefühl, mit dem ich nicht zurechtkam. Eine Nervosität, vielleicht sogar unbegründet, denn es war nichts passiert, doch ich wurde sie nicht los. Wer mich kennt, der weiß auch, daß ich auf diese gewissen Gefühle schon sehr achtgab. Sie hatten mich bisher nicht im Stich gelassen. Des öfteren waren sie eine Warnung gewesen, und diese Warnung wiederum wurde an mein Nervensystem weitergegeben. Ich nuckelte an meinem Wasser, das mir auch nicht schmeckte, aber ich war einfach zu faul, um mir aus dem Kühlschrank eine Flasche Saft zu holen. Statt dessen griff ich zur Fernbedienung. Klack – und die Glotze war an. Was tobte über den Bildschirm? Al Bundy, der große Schuhverkäufer, hatte mal wieder Probleme mit sich selbst und seiner tollen Familie. Er war sauer, weil seine Tochter den falschen Freund brachte, falsch gekleidet war und sowieso alles falsch machte, was den großen Al zu wahren Wutausbrüchen veranlaßte. Ich schaltete um. Werbung, wie schön. Der andere Sender brachte Nachrichten, und in der Meldung steckte eine Portion Gewalt. Die Welt litt unter den Kriegen, da konnte man nur den Kopf schütteln. Überall waren Menschen dabei, sich die Köpfe einzuschlagen, ob in Europa, Asien, Afrika oder Südamerika. Die Nachrichten endeten mit dem Wetter, dessen Voraussage sich auch nicht eben blendend anhörte. Regen, Wind, hin und wieder ein Sonnenstrahl, eben das typische Inselwetter. So zappte ich weiter. Dabei hatte ich eigentlich gedacht, meine innere Aufgeregtheit und äußerliche Mattheit loszuwerden, leider war das nicht der Fall. Besonders stark nahm die innere Unruhe zu. Ich kam mir vor wie jemand, der auf ein bestimmtes Ereignis wartete, aber nicht wußte, wann es ihn erwischte. Schlimm… Was war das nur? Ich schob es einzig und allein auf meine Person. Suko hatte damit nichts zu tun. Ich konnte meine körperliche Unstimmigkeit auch nicht als Symptome eines grippalen Infekts ansehen, das war einfach nicht so. Hier stimmten einige Dinge nicht mehr, das seelische Gleichgewicht war aus den Fugen geraten.
In meinen Gliedern spürte ich ein Kribbeln, als würde Strom durch die Adern rinnen. Nach weiterem Zappen erwischte ich einen lokalen TV-Sender, der Meldungen aus London brachte. Dieser Sender wurde viel gesehen, denn in einer Riesenstadt wie London passierte Tag und Nacht unheimlich viel. Da ging es richtig rund, da war der Bär los, im positiven als auch im negativen Sinne. Aber mehr im negativen. Man hatte mal wieder unbekannte Tote aus der Themse gefischt. Diesmal hatte man die Leichen sofort identifizieren können. Zwei stadtbekannte Crack-Dealer waren es gewesen, das deutete wiederum auf einen Bandenkrieg in der Rauschgift-Szene hin. Ich beneidete die Kollegen wirklich nicht um ihren Job. Die Reporterin sprach davon, daß London an gewissen Tagen zu einer regelrechten Drogenhölle wurde. Was sie genau damit meinte, behielt sie für sich. Der nächste Bericht. Es ging um die Busse, die Doppeldecker, und es ging auch um Verluste, die sie angeblich einfuhren. Dann war das Bild verschwunden. Als letzte Szene hatte ich noch einen dieser Busse gesehen, gefüllt mit lachenden Menschen, die bei strahlendem Sonnenschein durch Londons Straßen fuhren. Und jetzt? Schnee, nur Schnee! Dieses grauweiße Geriesel, das den Bildschirm von einer Seite zur anderen ausfüllte und keinem Bild überhaupt eine Chance gab, auch nur als Schattenriß sichtbar zu sein. Die Veränderung auf der Glotze hinterließ bei mir ein Stirnrunzeln, bevor ich umschaltete. Das gleiche Bild! Nur Schnee. Auch der nächste Kanal brachte kein anderes. Alle Kanäle zeigten Schnee. Das mußte eine allgemeine Störung sein. Oder meine Glotze hatte ihren Geist aufgegeben. Nach fünf Jahren war das wohl ein wenig früh. Ich ärgerte mich nicht lange, sondern griff zum Telefon, um herauszufinden, ob Suko nebenan das gleiche Phänomen erlebte. Shao hob ab und Heß mich erst gar nicht zu Wort kommen. Sie erkundigte sich nach meiner Krankheit und sprach mit einer Stimme, deren Klang zu einer Beerdigung gepaßt hätte. »Bitte, Shao, ich bin okay«, redete ich schnell dazwischen. »Du brauchst dir meinetwegen nicht den Kopf zu zerbrechen. Ich wollte euch nur etwas fragen.« »Möchtest du einen Tee?« »Nein.« »Was dann?«
»Meine Glotze ist wohl im Eimer. Auf allen Kanälen ist nur Schnee zu sehen. Jetzt wollte ich wissen, ob das bei euch drüben auch der Fall ist. Wenn ja, handelt es sich um eine allgemeine Störung.« Die Antwort erfolgte prompt. »Bei uns ist alles in Ordnung. Die Kiste läuft.« »Aha.« »Dann liegt es an deinem Apparat.« »Das glaube ich auch. Und vielen Dank für die Auskunft, Shao.« Sie ließ nicht locker. »Soll ich dir nicht doch einen Tee bringen, John? Er wird dir bestimmt guttun.« »Wenn ich ihn haben möchte, sage ich Bescheid.« »Wie du willst.« Puh, das war mal wieder hart gewesen. Frauen können manchmal wie Kletten sein. Da kommt dann eben immer wieder das Mütterliche bei ihnen durch, aber davon wollte ich nichts wissen. Den Ton hatte ich abgestellt, schaute auf das Rieseln, überlegte und wußte dabei nicht, wonach ich eigentlich forschte. Etwas störte mich. Es war nicht allein der defekte Fernseher, es war etwas anderes, das mir nicht paßte. Es lag an meiner Wohnung, an meiner Umgebung, ich hatte einfach den Eindruck, nicht mehr allein im Zimmer zu sein. Unsinn… Und doch, das Gefühl blieb. Der Schnee rieselte weiterhin über den Bildschirm, und er verteilte sich auch auf meinem Rücken, denn dort spürte ich das kalte Gefühl. Da war etwas… Ich hielt den Atem an. Nichts war in der Wohnung zu hören. Außerdem saß ich steif im Sessel, wie jemand, der sich darauf vorbereitet, im nächsten Moment in die Höhe zu springen. Allein? Nicht allein? Hinter mir! Plötzlich wußte ich Bescheid. Das Unbekannte befand sich in meinem Rücken, und ich brachte es auch mit dem Versagen der Glotze in Verbindung. Ich sprang nicht in die Höhe, sondern versuchte nur, mich so normal wie möglich zu verhalten. Obwohl es mich jetzt drängte, drehte ich mich langsam um. Dabei stemmte ich mich schon hoch, weil ich über die hohe Lehne hinwegschauen wollte. Ich war nicht mehr allein. Jetzt, wo ich mich gedreht hatte, sah ich die Gestalt vor mir stehen. Eine Person, die ich kannte, die sich nicht verändert hatte. Es war Raniel, der Gerechte! ***
Mit allem hätte ich gerechnet, damit allerdings nicht. Ich spürte den Druck in meinen Knien, hatte Mühe, normal zu stehen und stützte mich mit einer Hand an der Sesselkante ab. Raniel war halb Engel, halb Mensch. Einer, der sporadisch auftauchte und wachte, der auch zusammen mit einem Jungen namens Elohim seinen Weg ging. Er sah aus wie immer. Dunkel gekleidet, wie jemand aus der Biedermeierzeit. Er trug einen dunklen Mantel, ein Rüschenhemd, dessen Stoff aus dem Ausschnitt der Weste quoll. Sein Haar war ebenso dunkel wie der Stoff der Kleidung. Es war aus dem Gesicht gekämmt, erinnerte an das Gefieder eines Vogels und floß weit hinein bis in den Nacken, wo es sich leicht zusammenrollte. Raniel sagte nichts, er schaute mich nur an, als wollte er mir Zeit geben, in seinem Gesicht zu forschen. Es war ein männliches Gesicht, aber auch düster, was an den sehr dunklen Augenbrauen lag, die sich am Ende der Stirn wie zwei Balken abmalten. Eine gerade Nase, ein weicher Mund, dafür ein härteres Kinn, so daß sich in diesem Gesicht Frauliches und Männliches vereinigte. Raniel war ein Phänomen. Ein Engel und ein Mensch zugleich. Jemand, der ein Schwert perfekt führen konnte, einer, der aufpaßte und wachte, denn er gehörte nicht zu den Engeln, die ihren Weg noch suchten und dabei nicht wußten, auf welche Seite sie sich stellen sollten. Gerade in letzter Zeit hatten wir Fälle mit dämonischen Engeln erlebt, da brauchte ich nur an Josephiel zu denken. Damit hatte Raniel nichts gemein. Er war auch kein Engel, der das Feuer brachte, er war einfach der Gerechte, und er versuchte auf seine Art und Weise, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, was mit unseren Gesetzen nicht immer übereinstimmte. Es war komisch, aber ich fühlte mich besser, als ich ihn anschaute. Das ging urplötzlich, und ich konnte wieder tief durchatmen. Auch der Schauer auf meinem Rücken war verschwunden, selbst das weiche Gefühl in den Knien spürte ich nicht mehr. Ich brauchte Raniel nicht zu fragen, wie er in meine Wohnung gelangt war. Einer wie er schaffte es eben, und wahrscheinlich hatte seine Energie für diese Störung meines Fernsehers gesorgt. Ich suchte nach Worten, um Raniel würdig zu begrüßen, er aber schnitt mir schon im Ansatz mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ich möchte, daß du mir zuhörst, John Sinclair.« »Okay, nichts dagegen. Aber ich würde vorschlagen, daß wir uns setzen. Da redet es sich besser.« Er überlegte einen Moment, dann stimmte er zu. In verschiedenen Sesseln nahmen wir Platz. Ich schenkte Wasser nach, bot Raniel ebenfalls etwas an, aber er wollte nicht. Er saß einfach nur da, schaute mich an, wobei sein Blick trotzdem in die Ferne gerichtet sah, wie
jemand, der durch einen anderen hindurchsieht. Sicherlich sah und beschäftigte er sich mit Vorgängen, die mir verborgen blieben. Dann bewegten sich die dunklen Augen. Er zog die Brauen zusammen und hob die rechte Hand wie jemand, der um Aufmerksamkeit bittet. Das brauchte er bei mir nicht, denn aufmerksam war ich von selbst – und gespannt. »Du kannst dir nicht denken, weshalb ich bei dir erschienen bin?« fragte er. »Nein, das kann ich nicht.« »Du hast auch nichts gespürt?« »Was sollte ich gespürt haben?« »Ihn!« Ich lauschte dem dunklen Klang seiner Stimme. Es war eine interessante Stimme. Sie klang hart, aber trotzdem weich, man brauchte sich vor ihr nicht zu fürchten. »Tut mir leid, Raniel, aber ich weiß nicht, wovon du redest.« »Das hatte ich mir gedacht. Ich habe dich den Tag über beobachtet, vielleicht hast du meinen Einfluß gespürt und…« »Und ob ich den spürte. Ich fühlte mich krank, kaputt, wenn du verstehst, was ich meine.« Er nickte. »Aber was sollte ich denn gespürt haben?« kam ich wieder auf das Thema zurück. »Er kommt.« »Wer?« »Belial!« Nach dieser Antwort >klickte< etwas in meinem Hirn, aber ich kam damit noch nicht zurecht. Gehört hatte ich den Namen schon, nur lag es länger zurück, und ich wollte in diesem Augenblick auch nicht darüber nachdenken, denn der Gerechte würde mich schon einweihen, davon ging ich einfach aus. »Nun, John?« »Im Moment habe ich keine Verbindung, aber der Name ist mir nicht fremd.« »Das ist schon gut.« »Er klingt nicht gerade positiv.« »Das ist er auch nicht. Belial ist böse. Belial wurde im Alten Testament das Tier genannt, der König der Lügen. Er soll angeblich einer der ersten Engel gewesen sein, die damals vom Himmel herabstürzten. Er ist wie Luzifer ein Engel der Finsternis, er haßt das Licht. Die Bruderschaft der Essener, die in Qumran lebte, kannte ihn ebenfalls als den Engel der Finsternis. Belial ist auch eine Absurdität und Verteufelung eines bestimmten Namens. Aus dem Gott Bei wurde Baal, daraus dann Beelzebub. Belial ist das Tier, der Engel der Lügen, was auch die Hebräer erkannt hatten, denn in ihrer Sprache bedeutet Belial wertlos. Er war nicht in der Lage, jemals die Wahrheit zu sagen. Er hat immer
gelogen.« Der Gerechte runzelte die Stirn. »Jetzt bist du in etwa informiert, was da auf dich zukommen kann.« »Warum auf mich?« »Ganz einfach. Weil du es bist, dem eine besondere Aufgabe zugefallen ist. Aber das brauche ich dir nicht erst zu erkläret, du müßtest es selbst wissen.« »Irgendwo stimmt das auch«, sagte ich und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Raniels Erklärungen hatte ich akzeptiert, ich war ihm auch dankbar, daß er sie mir übermittelt hatte, aber meine Gedanken drehten sich weiterhin um Belial und vor allen Dingen darum, daß mir der Name bekannt vorkam. Nicht nur, weil ich ihn vielleicht mal gelesen hatte, nein, da steckte mehr dahinter. Ich mußte indirekt mit ihm zu tun gehabt haben, kam aber nur nicht dahinter, was und wo das gewesen war. Auch Raniel merkte, was in mir vorging. »Kennst du ihn, John? Erinnerst du dich?« »Ja und nein«, murmelte ich. »Gehört habe ich von ihm, und zwar sehr konkret.« »Das kann noch nicht lange zurückliegen.« »Denke ich auch.« »Hat er dich angegriffen oder es versucht?« »Nein, das nicht. Dann hätte ich mich erinnert. Zwischen uns ist es nur zu einer flüchtigen Begegnung gekommen. Ich ärgere mich jetzt darüber, daß die Erinnerung weg ist, aber…« »Wie hast du ihn gesehen? Als Erscheinung, als Geistwesen, das sich plötzlich zeigte?« Es war ein guter Hinweis, über den ich näher nachdachte. Ich bat Raniel, mich in Ruhe zu lassen und versuchte, die letzten Fälle vor meinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen. Da kam schon einiges zusammen. Siege und kleinere Niederlagen wechselten sich ab, und ich ging davon aus, daß meine Begegnung mit Belial nicht eben zu den großen Siegen gezählt hatte. »Ein Spiegel, John… eine Mauer… eine Wand – er ist in der Lage, überall zu erscheinen.« Ich hob den Kopf. »Was hast du gesagt? Eine Wand?« »Unter anderem.« Meine rechte Hand schnellte hoch. Ich schnippte mit den Fingern. »Verflixt, du hast recht. Genau das ist es gewesen. Eine Wand nämlich. Ich erinnere mich an einen Fall in Ostdeutschland.*
* Siehe John Sinclair Nr. 851. »Wir jagten das bleiche Gesicht«
Dort habe ich ein altes Stasi-Gefängnis besucht. Ich habe auch den Fall gelöst, denke ich, aber zum Schluß ist mir jemand erschienen. Keine Gestalt, nur ein sehr böses Gesicht, das sich in der Wand abmalte. Zuerst war die Stelle noch dunkel, dann hörte ich eine Stimme, die erklärte, daß sie zurück zur Erde wollte. Nicht die Stimme, sondern…« »Belial!« »Ja, Raniel, ja. Er sagte sogar seinen Namen. Ich erinnere mich jetzt. Er erklärte Suko und mir, daß wir uns seinen Namen gut merken sollten. Belial eben. Dann nahm die alte Kachelwand der Mordkammer wieder die normale Form an.« »Das ist er gewesen, John. Da hat er es schon einmal versucht, es aber nicht geschafft.« »Und jetzt?« »Wird er einen zweiten Versuch starten.« »Wo?« Raniel hob die Schultern. »Das kann ich nicht sagen. Die Welt ist riesengroß, wobei ich allerdings glaube, daß er sich dort zeigt, wo es auch Sinn hat und er seine Feinde besiegen kann. Ich gehöre ebenso dazu wie du, John.« Rasch trank ich einen Schluck Wasser. »Ich kann mir denken, weshalb ich zu seinen Feinden gehöre, ganz allgemein gesehen, aber warum denn in diesem speziellen Fall.« Raniel deutete mit dem linken ausgestreckten Zeigefinger auf meine Brust. »Du trägst das Kreuz.« »Und…« »Denk an die Buchstaben.« »Die Insignien der vier Erzengel.« »Ja. Denn sie sind seine Todfeinde. Belial haßt sie. Er hat sie schon seit Urzeiten gehaßt. Während sie die Wahrheit verkündeten, hat er gelogen, immer noch gelogen. Er ist der Engel der Falschheit, der Lügen, und er will sich dank seiner Kraft die Erde auf diese Art und Weise Untertan machen. Die Menschen lügen schon genug, aber Belial möchte, daß sich dies noch verstärkt. Keiner mehr soll sich noch auf den anderen verlassen können. Wenn jeder jeden anlügt, wird es zu einem gewaltigen Chaos kommen, die Menschen werden sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. Da vertraut der Mann seiner Frau nicht mehr, die Kinder nicht ihren Eltern und so weiter – falls es dazu kommt und falls wir den Engel der Lügen nicht vorher stoppen können.« Die Worte waren mir unter die Haut gegangen. Ich kannte Raniel gut genug, um zu wissen, daß er bestimmt nicht log. Er war das Gegenteil, er war der Gerechte, und er saß besorgt vor mir. Daß er mich besucht hatte, sah ich auch als Beweis dafür an, daß er allein nicht zurechtkam. Er brauchte Menschen, die ihm halfen und sich nicht scheuten, gegen den Engel der Lügen anzugehen.
So konnte ich mich wieder auf einen neuen Feind gefaßt machen. »Und du bist sicher, daß er kommt?« »Falls er nicht schon hier ist.« »Wie können wir das feststellen?« »Es wird nicht heimlich oder hinterrücks ablaufen. Wenn Belial diese Erde betritt, wenn er seine Sphären verläßt, wird er immer von etwas Ungewöhnlichem begleitet, das weiß ich, so gut kenne ich ihn auch. Es gehört eben zu seinen Lügen, daß im Sommer hier Schnee fällt oder die Wüsten überschwemmt sind.« »Hört sich schaurig an.« »Es ist auch schlimm.« »Und wie kann ich ihn stoppen?« Raniel hob die Schultern. »Es wird nicht einfach sein. Möglicherweise stehst du vor deiner schwersten Aufgabe überhaupt. Ich weiß nicht, inwiefern dir dein Kreuz dabei helfen kann, aber es gibt einen Weg, und den will ich dir aufzeigen. Man muß Belial der Lüge überführen. Er ist der Engel der Lügen, glaubt aber, die Wahrheit für sich allein gepachtet zu haben. Was wir als Lüge ansehen, ist bei ihm die Wahrheit. Seine Welt ist auf den Kopf gestellt, das wird die einzige Chance sein, die wir haben. Aber es wird bestimmt nicht einfach sein.« »Ja, das glaube ich auch. Die Aussichten scheinen nicht eben himmlisch zu sein.« Raniel konnte über diesen Vergleich nicht mal lächeln. Wir waren bei unserem Gespräch warm geworden, was nicht allein an der Wärme im Zimmer lag, denn ich dachte an die Zukunft und kam mir doch ziemlich klein vor, obwohl ich als Sohn des Lichts bezeichnet wurde. Da türmten sich schon jetzt die Probleme zu einem gewaltigen Berg vor mir hoch. »Du kannst mich fragen, John.« »Sehr gern. Wie kann ich feststellen, daß sich Belial schon auf der Erde befindet?« »Du mußt die Augen offenhalten. Es wird ein Ereignis geben, das außergewöhnlich ist. Man wird darüber berichten, und dann kannst du handeln.« »Schnee im Sommer, Überschwemmung in der Wüste…« »So ähnlich, John.« »Noch einmal«, sagte ich. »Belial weiß, daß er hier auf der Erde nicht nur Freunde hat.« »Darüber ist er informiert.« »Wunderbar. Dann wird er seine Feinde kennen. Unter anderem dich, aber auch Suko und mich.« »Euch besonders, John.« »Warum gerade uns?«
»Du hast es mir selbst gesagt. Denk an die Warnung, die er euch in dieser Zelle übermittelt hat. War sie nicht deutlich genug? Hattet ihr euch nicht seinen Namen merken sollen?« »Das stimmt.« »Dann wird er euch zu finden wissen, das glaube ich fest. Er kennt den Weg, er ist der Lügner, er ist raffiniert.« »Gut, und wie sieht er aus?« »Ein Engel…« »Wie du?« »Nein, er ist…« Raniel überlegte einen Moment. »Ich komme damit schlecht zurecht. Ich kann ihn nicht beschreiben. Er ist eine Gestalt mit dunklen Flügeln, wenn er will. Er ist alt und jung zugleich, häßlich und schön…« »Also unbeschreiblich?« »Ja, du mußt ihn sehen.« »Was ja auch wohl geschehen wird, wenn deine Befürchtungen und Voraussagungen eintreffen.« Raniels Lippen zeigten ein Lächeln. Zum erstenmal seit seinem Erscheinen reagierte er so. »Ich hoffe, daß es geschehen wird, und zwar früh genug, John. Belial darf auf keinen Fall dazu kommen, seinen Einfluß auszuweiten. Er darf nicht an die Menschen heran und sie unterdrücken. Er wird dafür sorgen, daß die Wahrheit als Lüge gehandelt wird und die Lüge als Wahrheit. Das muß verhindert werden.« »Durch mich.« »Ja.« »Und wer wird mir noch zur Seite stehen?« »Dein Freund Suko.« »Damit habe ich gerechnet, könnte mir aber auch vorstellen, daß es dich hindrängt.« Raniel hielt sich zurück. Ich glaubte nicht, daß er zu feige war, sich den Problemen zu stellen. Er sagte nur: »Wir werden sehen, John. Erst einmal müssen wir ihn finden.« Ich schob mein Glas mehr der Tischmitte zu. »Wenn alles so eintrifft, wie du es dir vorgestellt hast, müßten wir eine Spur finden können.« Ich lächelte, als ich an meine nächsten Worte dachte. »Wir können die Technik mitbenutzen. Ich bin zwar kein Freund der großen Datenautobahnen und der totalen Kommunikation, aber ich denke schon, daß wir uns diese Technik als Helfer zur Seite stellen sollten. Alles wird heutzutage registriert und katalogisiert. Wenn irgendwo irgend etwas Ungewöhnliches passiert, bleibt es der Öffentlichkeit nicht verborgen, denke ich. Also werden wir auch herausfinden können, wann und wo Belial seinen Auftritt haben wird oder schon gehabt hat.« »Das wünsche ich uns.« Raniel stand auf. Auch ich erhob mich und fragte: »Was ist mit dir? Wo willst du jetzt hin?«
»Ich lasse dich allein und sage dir nur, daß du mich zu gegebener Zeit schon finden wirst.« Er ging auf die Wohnzimmertür zu und hob dabei den rechten Arm zum Gruß. Ich schaute ihm verwundert nach, wobei ich gleichzeitig wußte, daß es keinen Sinn hatte, ihn aufhalten zu wollen. Trotzdem blieb ich auf seiner Spur. Der Gerechte durchquerte den schmalen Flur und öffnete die Wohnungstür, ohne sich noch einmal umzuschauen. Er verließ meinen Bereich wie ein normaler Gast. Neben der Garderobe war ich stehengeblieben und starrte gegen die Tür. Dann lief ich hin, öffnete sie, wollte noch mit Raniel sprechen, aber er war verschwunden. Er hätte den Aufzug noch nicht erreicht haben können, aber er war nicht mehr da. Dafür ein anderer Mieter, der mich überrascht anschaute und eine Kiste Bier in einer Hand hielt. »Ist was, Mr. Sinclair?« »Nein, nein«, erwiderte ich etwas verwirrt. »Ich habe nur nach einem Gast Ausschau gehalten.« »Hier im Flur war niemand.« »Sind Sie sicher?« »Absolut. Ich trage zwar das Bier bei mir, aber ich habe nichts getrunken.« »Okay, danke.« Der Mann verschwand in seiner Wohnung, ich in meiner. Nachdenklich bewegte ich mich auf das Telefon zu und rief nebenan bei Shao und Suko an. Diesmal meldete sich Suko. »He, geht es dir wieder besser? Deine Stimme klingt so.« »Ja, ich fühle mich gut.« »Und?« »Kommt mal rüber.« »Mit oder ohne Tee?« »Ohne. Wenn ich etwas trinken möchte, dann einen doppelten Whisky.« »Hoi, was ist passiert?« »Ich werde es dir gleich erklären, Suko! Mach dich auf eine heiße Suppe gefaßt, die wir auszulöffeln haben…« *** Billy Wilson war fasziniert! Die Mischung aus Wolken, Dunst und Regen hatte den Boden erreicht. Ein großes, graues Gebilde, das eigentlich hätte verschwommen sein müssen, sich aber trotzdem klar in den Wasserschleiern abzeichnete.
Der Junge hatte sich hingestellt und war bis zum Wegrand vorgegangen, ohne es eigentlich zu merken. Er stand unter einem Schock, schaute über die Straße hinweg, die unter einem Schleier begraben lag, und er schien den Regen nicht zu registrieren, der ihn bereits bis auf die Haut durchnäßt hatte und auch weiterhin auf ihn niederprasselte. Was passierte dort? Zischender Dampf wallte der Straße entgegen. Er hörte ein Geräusch und schaute nach links. Wie ein unheimlicher und tiefliegender Schatten erschien dort ein Fahrzeug. Die Scheinwerfer waren eingeschaltet, aber ihr Licht reichte kaum aus, um die Fahrbahn zu erhellen. Es wurde vom Dunst geschluckt. Der Wagen kam näher, war plötzlich auf gleicher Höhe, und seine Räder schleuderten die Wasserfontänen zu beiden Seiten wie Surfwellen in die Höhe. Daß auch Billy erwischt wurde, störte ihn nicht. Er sah nur, wie das Licht der Scheinwerfer plötzlich erlosch, der Fahrer sein Auto nicht mehr in der Spur halten konnte und es ins Schlingern geriet. Es schleuderte plötzlich von einer Seite zur anderen. Selbst die Heckleuchten gaben kein Licht mehr ab. Wie ein großer Schatten verschwand das Fahrzeug in den Regen- und Wolkenschleiern, und wenig später hörte der Junge einen krachenden und knirschenden Laut. Da mußte das Auto in den Graben gerutscht sein. Vorbei… Billy aber lief nicht hin, denn seine Augen waren dorthin gerichtet, wo das Unglaubliche geschah. Wuchtig klatschten die unzähligen Regentropfen auf den Boden und hatten überall große Pfützen hinterlassen. Auf der Straße, auf den Feldern, im Wald. Und dem jungen Zuschauer kam es vor, als wäre der Regen dabei, den Dunst an einer gewissen Stelle wegzuwaschen. Genau auf der anderen Seite der Straße, wo die Wolke so ungewöhnlich niedergefallen war. Es gab sie nicht mehr, dafür aber sah er etwas, das ihm den Atem raubte. Aus der Wolke war jemand gekommen. Eine Person, eine Gestalt, ein Tier, ein Mensch? Billy konnte es nicht genau sagen. Von Blitzen umzuckt und vom dröhnenden Donner umtost hockte dort etwas auf dem Boden, das aussah wie ein übergroßer, klatschnasser, schwarzer Klumpen. Ein Ding, das der Himmel oder die Wolken ausgespieen hatte, weil es das einfach nicht mehr wollte. Bill wußte nicht, was er damit anfangen sollte. Er spürte nur die bedrückende Furcht, die von dieser Gestalt ausging. Es war etwas, das er nicht kannte, das ihn abstieß, aber auch neugierig machte. Donner und Blitz. Scharfe Lanzen, die von Riesenhänden aus den Wolken geschleudert wurden. Ein böses Unwetter. Wind, wild wie ein Tier, der an Billys Gestalt zerrte und ihm das Regenwasser literweise entgegenpeitschte.
Doch er blieb stehen, und er sah auch, wie sich die Person oder Gestalt bewegte. Der dunkle Rücken zuckte. Etwas Dunkles glitt in die Höhe und teilte sich dabei. Es sah aus, als wäre es ein Flügel, und Billy wischte das Wasser vor seinen Augen weg. Dann blickte er wieder hin. Ja, er hatte sich nicht geirrt. Es waren tatsächlich zwei Flügel, die sich aufgerichtet hatten, aber die Gestalt selbst traf noch keine Anstalten, sich zu erheben. Sie hockte noch immer am Boden, den Oberkörper und damit auch den Kopf nach vorn gebeugt, und zwar so weit, daß seine dichte Haarflut nach vorn gefallen war und vor seinem Gesicht hing wie ein nasser dichter Schleier. Billy wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte, daß er so wenig von der Gestalt sah. Er entschloß sich, zunächst einmal abzuwarten und nicht über die Straße auf den anderen zuzugehen. Er wollte auch nicht weglaufen, nur zusehen, und dabei war es ihm egal, ob ihn der Regen umflorte oder nicht. Seine eigene Sicht war nicht mal so schlecht. Ihm kam es vor, als wäre diese Klarheit nur auf eine bestimmte Stelle begrenzt, eben dort, wo er sich aufhielt. Der andere bewegte seine Arme. Er drückte sie einfach vor und glitt mit den Handflächen über die nasse Erde hinweg. Dann stemmte er seinen Rücken in die Höhe, und alles deutete darauf hin, daß er nicht mehr länger in dieser Haltung bleiben wollte. Er würde aufstehen. Er stand auf. Ruckartig, als wüßte er über seinen jungen Beobachter genau Bescheid. Nicht nur sein Körper bewegte sich, auch die Haare teilten sich bei dieser Bewegung und fielen rechts und links des Gesichts zur Seite, so daß sie wie ein dunkler Vorhang wirkten, wobei das Gesicht des Mannes die Bühne war. Ja, es war ein Mann. Über die Schultern hinweg schauten die abgerundeten Kanten der beiden Flügel. Billy stellte mit Entsetzen fest, daß diese Gestalt keinen Faden am Leib trug. Sie war völlig nackt, trug weder einen Lendenschurz, noch Schuhe. Er hatte sich jetzt zu seiner vollen Größe aufgerichtet und blieb im Regen stehen, als wäre dieser überhaupt nicht vorhanden. Er spürte ihn nicht, er ließ sich begießen wie eine Blume, die nach Wasser lechzt. Noch hielt er den Kopf gesenkt, so daß es Billy nicht möglich war, sein Gesicht zu sehen. Das änderte sich. Bill schaute gespannt und auch entsetzt zu, wie der andere seinen Kopf allmählich in die Höhe drückte, und auch der Regen störte nicht, denn diese Gestalt schien ihn
beeinflussen zu können. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß Billy den Fremden so klar vor sich sah? Ja, es war ein Gesicht. Es war auch ein menschliches Gesicht, aber Billy war alt genug, um auch in Gesichtern lesen zu können. Er wußte, daß es gute und weniger gute Gesichter gab. Zu manchen hatte er sofort Vertrauen, zu anderen nicht. Dieses Gesicht gehörte zur zweiten Kategorie! Daß es alt und grau war, störte den Jungen eigentlich nicht. Es war einfach nur schrecklich, es war böse, was sich besonders in den Augen ausdrückte. Augen, die keinen menschlichen Ausdruck zeigten. Sie waren farblos und wirkten auf eine gewisse Weise verschlagen. Billy hatte gelernt, daß er solchen Augen nicht trauen konnte. Sie verhießen nichts Gutes. Die Nase war lang, der Kopf saß schief; Billy sah auch den Mund, der geschlossen war, wobei die Enden des Mundes nach unten zeigten. Sie gaben dem Gesicht des Fremden einen nachdenklichen, traurigen, aber auch einen gefährlichen und bösartigen Ausdruck, der den normalen Betrachter verwirren konnte. Billy Wilson wußte nicht, wie er reagieren sollte. Er stand einfach nur da, als wäre er auf der feuchten Erde festgenagelt worden. Der Donner war kaum noch zu hören, ein fernes Grollen trieb über den Himmel, mehr nicht. Auch die Blitze hatten sich verzogen. Nur noch ein harmloses Wetterleuchten durchzuckte die Wolken. Aus der Ferne hörte Billy den Klang einer Feuerwehrsirene. Vielleicht hatte irgendwo der Blitz eingeschlagen. Billy kümmerte sich nicht darum. Er war aus der normalen Welt, der Realität, entfernt worden, für ihn gab es nur die schreckliche Gestalt. Nackt, grau und böse! Nicht mal ein Körper, der besonders stark wirkte, eher schmächtig, doch darauf kam es letztendlich nicht an. Es zählte eigentlich nur das, was diese Gestalt ausstrahlte, und das war eben das Unfaßbare für Billy. Der andere stand dort. Er wartete. Er nickte dem Jungen zu, aber der bewegte sich nicht vom Fleck. Dann hob der nackte Fremde den rechten Arm und winkte Billy zu sich. Billy schrak zusammen, doch es war ihm nichts anzusehen. Er spürte den kalten Strom, der durch sein Inneres floß, und er ahnte, daß er nicht widerstehen konnte. Der andere, der aus dem Himmel, dem Unwetter oder aus den Wolken Gekommene, der war stärker. Nicht nur, was seine Körperlichkeit anging, sondern auch seine geistige Kraft. Es gab nichts, was Billy noch hielt. Ohne es zu wollen, machte er den ersten Schritt und setzte dabei das rechte Bein nach vorn, dabei rutschte er über den seifig gewordenen Boden, fiel aber nicht hin, ging weiter, näherte sich der nassen Straße, die mehr einem dunklen Bach glich, und er spürte dabei die geistige Macht der anderen Gestalt. Der Junge war
nicht in der Lage, sie richtig einzuschätzen. Er nahm sie zur Kenntnis und wußte, daß er nicht gegen sie ankam. Billy betrat die Straße. Um seine Füße herum schwamm und gurgelte das Wasser. Der Wind war frischer und kälter geworden. Er spielte mit dem Wasser. Wieder winkte der Fremde. Billy nickte. Er mußte gehen, der andere wollte etwas von ihm. Er würde ihm etwas mitteilen, etwas ungemein Wichtiges, daß er, noch ein Kind, der Welt weiterzugeben hatte. Dann hörte er die Schreie. Sie paßten nicht in seine augenblickliche Lage, sie rissen ihn einfach hervor, und Bill blieb stehen, um seinen Kopf nach rechts zu drehen. Es regnete nicht mehr, es war heller geworden, und die Welt um ihn herum sah aus wie frisch geputzt. Allein aus diesem Grunde sah er die Umgebung so gestochen scharf, und er sah auch den Mann, der mit rudernden Armen und blutüberströmt über die Straße taumelte. Billy kannte ihn. Es war der Pferdehändler aus dem Nachbardorf, und es mußte auch der Mann sein, der mit seinem Wagen vorhin bei dem Unwetter verunglückt war. Je näher er kam, um so deutlicher konnte Billy ihn erkennen. Diese Person glich einer Figur aus einer anderen Welt, sein Gesicht sah einfach furchtbar aus. Er war mit der Stirn irgendwo gegen geschlagen. Der Mann jammerte. Er lief aber weiter. Er ging dabei wie ein künstlicher Mensch, als wäre er ein Roboter, und er schwenkte plötzlich nach rechts ab, da er ein neues Ziel gefunden hatte. Es war der Nackte. Und der Mann mit den Flügeln wartete auf ihn. Billy konnte nichts tun, die Szene hatte ihn geschockt, sie war tief unter seine Haut gefahren, er fühlte sich fehl am Platze, er war schrecklich nervös. Tief in seinem Innern ahnte er, daß etwas Schreckliches passieren würde, wobei er nicht in der Lage war, es zu stoppen. »Hil… Hilfe…« Der verletzte Mann brachte das Wort nur mühsam hervor. Er war mit seinen Kräften am Ende, aber er sah in der fremden Gestalt den Retter, wobei ihm nicht bewußt wurde, daß dieser Mann keine Kleidung trug. Belial ließ ihn kommen. Urplötzlich griff er zu. Genau in dem Augenblick, als sich der Autofahrer nicht mehr auf den Füßen halten konnte und dabei war, zusammenzusacken. Starke Hände hielten ihn für einen Moment fest, hoben ihn dann an. Die linke Hand ließ ihn nun los, und der Mann wurde nur mehr von der rechten gehalten.
Belial schaute in sein von Blut bedecktes Gesicht. Er öffnete den Mund. Etwas strömte hervor. Ein Zischen oder Keuchen, der Junge bekam es zwar mit, konnte sich aber keinen Reim darauf machen, und er sah dann, wie der Nackte den anderen zu Boden wuchtete. Ein jammernder Laut erreichte Billys Ohren. Auf dem Boden wand sich der Verletzte, und Belial hob den rechten Fuß an, um ihn auf den Körper des Mannes zu stellen. Nein, nicht auf den Körper, sondern auf den Kopf. Billy preßte die Hände gegen den Mund. Ihn überkam plötzlich eine Vision. In seiner Bibel hatte er eine ähnliche Szene gesehen. Da trat der Erzengel Michael der Schlange ebenfalls auf den Kopf und zertrat ihn sogar. Und hier…? Billy hörte plötzlich ein schreckliches Geräusch. Er schloß die Augen und hielt sich die Ohren zu. Stille, nur Stille. Nichts sehen und nichts hören… *** Lange hielt der Junge es nicht durch. Etwas zwang ihn, wieder die Augen zu öffnen und die Hände von den Ohren zu nehmen. Die Erinnerung war natürlich da, und sie wurde wieder aufgefrischt, als er zur anderen Seite der Straße hinschaute. Dort stand der Nackte noch immer. Es hatte sich kaum etwas verändert. Der Mann aus dem Nachbardorf lag neben ihm, mit dem Kopf zu seinen Füßen, der aber war im hohen Gras verschwunden, und Bill war froh darüber. Es reichte ihm die Erinnerung an das schreckliche Knacken. Belial senkte den Kopf. Sein Blick sagte mehr als Worte. Er streckte den Arm aus, winkte, und Billy nickte ihm zu. Er konnte nicht anders, er mußte gehen. Er tat es so steif, als hätte er lange gelegen. Billy wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war und wie lange das Unwetter angedauert hatte. Es gab nur ihn und den Mann mit den schwarzen Flügeln – ein Engel? Daran wollte Billy nicht glauben. Er kannte Engel anders, hatte zwar nie einen gesehen, da mußte er sich schon auf Zeichnungen und alte Bilder verlassen. Zumeist waren es große, schöne, geisterhafte Gestalten mit fein geschnittenen, gütigen Gesichtern, heller Kleidung und auch strahlenden Flügeln, wobei bei manchen von ihnen ein Heiligenschein über den Köpfen schwebte. Oder er kannte sie als nackte, niedliche Kinder, puppenartig mit aufgeblasenen Wangen, wobei die Engelchen auf irgendwelchen Wolken saßen. Bei diesem Mann mit den dunklen Flügeln stimmten beide Bilder nicht. Er war einfach anders. Er war häßlich, und er war auch abgrundtief
böse, das spürte Billy genau, trotzdem überquerte er die Straße und näherte sich dem Fremden. Der Mann mit den schwarzen Flügeln wartete auf Billy. Er schaute ihm starr entgegen, um die Gestalt neben seinen Füßen kümmerte er sich nicht. Sie war für ihn vergessen, und auch Billy blickte nicht hin. Sein Augenmerk galt einzig und allein der grauen, nackten Gestalt mit dem schmalen, bösen Gesicht, in dessen Haut sich graue Falten eingegraben hatten. Bill blieb stehen. Jetzt brauchte der Nackte nur die Hand auszustrecken, um ihn zu berühren. Das tat er noch nicht. Billy spürte die fremde Aura. Sie glitt auch über seinen Körper hinweg, sie strich am Gesicht entlang, dann durch die Haare, und Billy glaubte sogar, sie knistern zu hören. Der Nackte mit den langen, grauen Haaren wollte nach Billys Hand greifen. Diesmal gab der Junge einen leisen Schrei ab, überrascht von der seltsamen Kälte des anderen. Sie war da, sie übertrug sich auch auf ihn, sie rieselte an seiner Hand und dann an seinem Arm in die Höhe, und er bekam etwas von dem mit, was der Flügelmann abgab. »Ich werde dir etwas sagen, und du wirst mir zuhören. Du wirst meine Botschaft weitergeben, damit viele Menschen erfahren, wer diese Welt betreten hat. Verstanden?« Billy Wilson nickte. »So höre denn gut zu, denn ich bin Belial. Ich bin ein Heiliger. Ich bin aus den Sphären des Himmels zu euch auf die Erde gekommen, ich, der Heilige!« Billy hatte staunend zugehört. Seine Augen waren sehr groß geworden, größer ging es nicht. Er hatte den Worten gelauscht und war von ihnen fasziniert. »Hast du mich verstanden?« Bill nickte. Er lauschte dem Klang der Stimme. Sie war so anders als die eines normalen Menschen. Sie hallte nach, als hätte der Mann vor ihm in einem großen Dom oder in einem weitläufigen Gewölbe gesprochen. Damit kam Billy nicht zurecht. Er wollte etwas erwidern, aber der Hals saß ihm zu. »Wer bin ich?« Billy schaffte ein Flüstern, weil er wußte, daß er jetzt antworten mußte. »Du bist ein Heiliger.« »Gut. Nenn meinen Namen.« »Beliano… Beli…« »Belial!« rief die Gestalt. »Der Heilige!« Seine Stimme donnerte. »Merke dir den Namen, behalte ihn im Gedächtnis und trage ihn hinaus in die Welt.« Billy konnte nur nicken. Er war sprachlos geworden, aber er hatte gemerkt, daß ihn die Hand des anderen nicht mehr berührte. Ihm schoß so viel durch den Kopf. Natürlich hatte er über Heilige gelesen, es gab ja
viele Geschichten, und nie hätte er es sich vorstellen können, einem Heiligen zu begegnen. Töteten Heilige auch? Billy wollte den anderen fragen. Als er hochschaute, war Belial nicht mehr da. Er war weg, verschwunden, wie durch Zauberei. »Ja«, flüsterte Billy Wilson. »Er ist bestimmt ein Heiliger, denn nur Heilige können so etwas…« *** Der Junge war wieder zurück zu seinem Rad gelaufen, das noch immer im Unterholz lag. Um den Toten hatte er sich nicht gekümmert, er hatte ihn vergessen. Nur die Worte des Heiligen gingen ihm durch den Kopf, und er überlegte, ob er den Namen Belial schon mal irgendwo gelesen oder gehört hatte. Nein, wahrscheinlich nicht. Neben dem Rad blieb er stehen. Es hatte durch den Sturz einiges abbekommen. Die Zweige des starren Unterholzes hatten sich regelrecht in die Speichen des Vorderrads geklemmt, und als er sich bückte, um das Rad aufzuheben, zerrte er zu fest daran. Mehrere Speichen wurden verbogen. Noch vor einer Stunde war das Fahrrad ein Teil seiner eigenen kleinen Welt gewesen, jetzt drehten sich die Gedanken um andere Dinge. Billy schob sein Rad ein Stück zurück, stieg dann doch in den Sattel und fuhr davon. Er war naß, er fror, der Wind hatte sich nicht gelegt und erwischte ihn jetzt noch kälter. Er biß in die Haut hinein, und Billy fror, er klapperte sogar mit den Zähnen. Aber er fuhr weiter, er fuhr schnell, brachte seinen Kreislauf in Schwung. Seine Eltern machten sich bestimmt Sorgen. Auch sie mußten das Unwetter erlebt haben. Sie würden jetzt auf ihn warten. Er wunderte sich ein wenig, daß ihm die Mutter nicht entgegenradelte. Der Vater konnte es nicht. Er arbeitete in London bei einer großen Baufirma, die die tollen, hohen Häuser baute. Einmal war Billy mit auf der Arbeitsstelle seines Vaters gewesen und hatte staunend auf dem Dach gestanden. Klein wie Spielzeuge waren die Autos von dort oben gewesen. Das war sein bisher tollstes Erlebnis gewesen, abgesehen von der Begegnung mit dem Heiligen. Sie hatte ihn beeindruckt, und er war begierig darauf, endlich nach Hause zu kommen, um seiner Mutter von diesem Treffen zu berichten. Einen Heiligen zu sehen – Himmel, wer hatte schon die Gelegenheit dazu? Das war etwas Einmaliges, und er war auch gespannt darauf, wie wohl seine Freunde reagierten, denn es würde sich bestimmt herumsprechen. Allmählich schritt die Dunkelheit fort. Noch bewegten sich nur die Schatten der Dämmerung über den Himmel, aber das war normal, das
sah nicht nach einem Unwetter aus. So was erlebten die Menschen hier jeden Tag. An der linken Seite war der Wald verschwunden. Das Feld dort gehörte bereits zum Ort, und Billy schaute dorthin, wo immer die kleine Scheune stand. Nein, gestanden hatte! Sie war nicht mehr da, nicht mehr so vorhanden, wie er sie in Erinnerung hatte. Der Orkan war einfach zu stark gewesen und hatte den Bau umgeblasen. Billy Wilson war so perplex, daß er anhielt, abstieg und sich die Sache betrachtete. Das Holzhaus war bei dem Orkan regelrecht zusammengekracht. Die Bretter bildeten einen wirren Haufen auf dem Boden. Einige waren auch erst weiter entfernt liegengeblieben. Der Junge mußte niesen. Ein Schauer durchrieselte ihn. Er fror wieder stärker, selbst der Gedanke an das Treffen mit dem Heiligen konnte ihm keine Wärme geben. Er schwang sich in den Sattel und trat kraftvoll in die Pedalen. Der Dorfeingang rückte näher. Auf der Hauptstraße fühlte sich Billy bereits besser und beschützter. Er wollte nicht sehen, welche Schäden der Orkan hinterlassen hatte, sein Zuhause wartete. Er rollte in eine schmale Gasse hinein, fuhr an der dornigen Hecke der Crichtons vorbei, rollte dann über den freien Platz, wo auch der Bus hielt, und er sah schon das Dach seines Elternhauses am Ende der Straße, wo auch Gärten lagen. Nichts passiert. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als er bremste. Das Elternhaus schien unversehrt zu sein. Sein Vater hatte ihm extra einen Ständer vor dem Haus gebaut, in den er das Vorderrad hineinschob. Billy schloß nicht ab, das brauchte er hier nicht. Er lief die Stufen hoch. Seine Mutter öffnete ihm bereits die Tür, bevor er klingeln konnte. »Billy!« rief sie. Der Junge blieb stehen. »Mum…« Dana Wilson schloß für einen Moment die Augen. »Mein Gott, Junge, daß du hier bist – endlich!« Sie ließ ihre Blicke vom Kopf bis zu den Füßen an Billy entlanggleiten und bekam einen nicht gelinden Schreck. »Du bist ja völlig naß.« »Es hat unterwegs geregnet, Mum.« »Das hat es auch hier. Und du hast dich nicht untergestellt?« »Nein.« »Dann rein mit dir und ab unter die heiße Dusche.« »Okay, Mum, aber ich muß dir was erzählen. Das glaubst du… das glaubst du bestimmt nicht. Aber es ist passiert, es ist die Wahrheit, Mum. Ich habe…« Er stand in der Diele, die Worte überschlugen sich, doch
Dana Wilson griff energisch zu und schob ihren Sohn in Richtung Bad. Sie half ihm dabei, aus der feuchten, schweren Kleidung zu schlüpfen, und Billy erzählte, was er erlebt hatte, doch seine Mutter hörte nicht hin. Sie schob ihn unter die Dusche, zog den Vorhang zu und wollte aus dem Bad gehen, als Billy noch einen letzten Satz sagte. »Und dann hat der Heilige sogar noch jemand getötet, Mum. Ein Heiliger, stell dir das vor!« Dana Wilson behielt die schon offene Tür in der Hand und drehte den Kopf. »Was hast du gesagt?« Billy schaute hinter dem Vorhang hervor. »Ja, er hat den Pferdehändler aus Cockfield umgebracht…« *** Wenn Dana Wilson allein war, frönte sie gern ihrem Laster. Dann setzte sie sich hin und rauchte eine Zigarette, was ihr Mann nicht gern sah und sich deshalb immer aufregte. Heute aber brauchte sie die Beruhigung, zu abstrus war das, was ihr Billy berichtet hatte. Sie setzte sich an den Küchentisch, ihren Lieblingsplatz, und zündete sich ein Stäbchen an. Dann holte sie aus dem Schrank die Flasche Gin und kippte die klare Flüssigkeit in ein Wasserglas, nahm einen Schluck und dachte darüber nach, was Billy berichtet hatte. Es war schlimm, sehr schlimm… Ein Toter aus Cockfield. Der Pferdehändler. Aber stimmte das auch? Dana kippte den ersten Schluck. Sie schüttelte sich, dann mußte sie husten, weil sie sich verschluckt hatte. Mit den gespreizten Fingern strich sie durch das dunkelblonde Haar. Nun erst wurde ihr richtig klar, was der Junge da berichtet hatte. Auch von diesem seltsamen Heiligen. Es war unglaublich auf der einen Seite. Auf der anderen aber saugte man sich so etwas nicht aus den Fingern, und wenn es einen Toten gab, dann würde er auch gefunden werden. Sie würde Billy noch einmal fragen. Und zwar gleich. Dana trank noch einen Schluck, bevor sie mit einer entschlossenen Bewegung die Zigarette ausdrückte. Dann stand sie auf. Im selben Augenblick wurde die Tür geöffnet. Billy betrat die Küche, eingehüllt in seinen weißen Bademantel mit den bunten Comicfiguren. »Okay, Mum?« »Setz dich, bitte.« »Ich habe Durst.« »Im Kühlschrank ist frische Milch.«
»Gut.« Er schielte auf die Ginflasche und den Aschenbecher, bevor er sich umdrehte und aus dem Fach die Milchflasche nahm. Ein Glas holte er ebenfalls, schenkte sich ein, dann setzte er sich zu seiner Mutter. »Ich möchte dich etwas fragen, Billy«, sagte sie. »Über den Heiligen?« »Genau.« »Es gibt ihn.« »Ich denke nicht, daß du mich angelogen hast, Billy Aber ich möchte alles ganz genau wissen, verstehst du?« Sie winkelte die Arme an und legte sie auf die Tischplatte, so rutschte sie etwas näher zu ihrem Sohn hin. »Auch über den Tod des Pferdehändlers.« Der Junge hob die Schultern und trank von der Milch. »Das habe ich dir alles erzählen wollen, Mum, ich hatte ja auch schon damit angefangen, aber du hast mir vorhin nicht richtig zugehört.« Dana Wilson gab ihren Fehler zu. »Da bin ich sehr nervös gewesen. Es hat ja auch unglaublich geklungen. Inzwischen konnte ich nachdenken und bin auch ruhiger.« Der Junge akzeptierte es, indem er nickte. Dann sagte er leise: »Irgendwo war der Heilige toll. Ich habe ihn gesehen; er ist aus dem Himmel gekommen, zusammen mit Donner, Blitz und Regen. Es war einfach grandios.« Bevor sich ihr Sohn in Schwärmereien verlor, kam seine Mutter zur Sache. Sehr detailliert stellte sie ihre Fragen und erhielt Antworten. Aus ihnen ergab sich ein Bild, das sie kaum glauben konnte. Es war einfach zuviel für sie und unglaublich. So etwas konnte es nicht geben, das hatte sich der Junge ausgedacht, aber er war glücklich, wie Dana seinem Gesicht ansah. Wahrscheinlich dachte er über den komischen Heiligen nach. Sie wollte ihn nicht noch einmal auf den Toten ansprechen, sondern sicherheitshalber dem Konstabler Bescheid sagen. Der Mann gehörte zu einem Revier, das für mehrere Dörfer zuständig war. Hin und wieder ließen sich die Beamten bei den Bewohnern blicken, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung war. Billy blieb in der Küche zurück und trank seine Milch. Dana verschwand im Flur, wo das Telefon auf einem Regalbrett seinen Platz gefunden hatte. Wichtige Nummern waren auf einem Zettel notiert worden, unter anderem auch die der Polizei. Die Frau wählte. Es war nicht besetzt, deshalb atmete sie auf. Nach dem plötzlichen Unwetter riefen sicherlich zahlreiche Leute bei der Polizei an, um das eine oder andere zu melden. Auch Dana gab die Meldung durch, und sie erlebte einen Beamten, der verdattert war. »Tot> haben Sie gesagt, Madam?« »Ja, mein Sohn.« »Und wo genau soll das gewesen sein?« Sie beschrieb ihm die Stelle so gut wie möglich, gab noch ihren Namen und die Anschrift durch, bevor sie um einen Rückruf bat, weil sie
schließlich selbst Bescheid wissen wollte. Man versprach ihr, sich darum zu kümmern, und Dana kehrte wieder zurück in die Küche, wo ihr Sohn saß und Milch trank. »Wo bist du gewesen, Mum?« »Ich habe telefoniert.« »Mit der Polizei?« »Richtig.« Billy lächelte versonnen. »Ich glaube nicht, daß sie den Heiligen finden wird. Er ist toll. Er ist den Menschen bestimmt überlegen.« »Das kann sein.« Bill wies gegen die Decke. »Und er kam wirklich aus dem Himmel oder den Wolken, das habe ich gesehen. Ich stand im Regen, auf der anderen Straßenseite. Es war toll!« »Sicher.« »Er hatte nichts an, Mum. Trotzdem kam er mir kaum nackt vor. Der war einfach anders, obwohl er aussah wie ein Mensch. Das alles muß ich dem Pastor erzählen. Der wird sich wundern, wenn er hört, daß ich einen Heiligen gesehen habe.« Dana Wilson schüttelte den Kopf. »Mein lieber Junge, du solltest dich nicht zu weit nach vorn wagen. Ob Heilige oder Scharlatane, es gibt da immer wieder Menschen, die versuchen werden, andere auszunutzen, wenn du verstehst…« »Nein.« »Du willst es nicht.« »Du hältst den Heiligen für einen Lügner?« »Nicht direkt, aber…« »Wenn du ihn gesehen hättest, Mum, würdest du ganz anders darüber reden.« »Kann sein, aber ich habe ihn nun mal nicht gesehen, und ich weiß auch nicht, ob Heilige töten, und der, den du gesehen hast, der hat ja wohl einen Mord begangen – oder?« »Weiß nicht so recht.« »Bitte, Billy, jetzt mach aber halblang!« Dana Wilson hatte beschlossen, das Thema zu wechseln. »Möchtest du etwas essen?« »Hunger habe ich nicht. Ich wollte eigentlich fernsehen. Ich kann ja später Cornflakes essen.« »Okay, wenn du willst.« »Muß ich mich noch mal anziehen?« »Sicherlich nicht.« »Danke, toll…« Billy rutschte vom Stuhl und verließ die Küche. Sein Ziel war das eigene Zimmer, in dem auch eine Glotze stand. Alle Kinder aus seiner Klasse besaßen einen eigenen Fernseher. So hatten sich auch
die Wilsons dazu entschlossen, ihm einen Apparat zu kaufen. Allerdings bestimmte Dana, wann ihr Sohn davor sitzen durfte und wann nicht. Sie blieb in der Küche zurück, grübelnd und nachdenklich. Sie rauchte wieder eine Zigarette und nahm noch einen kräftigen Schluck Gin. Manchmal war es verdammt mies, als Frau allein in einem Dorf zu hängen, auch wenn sie auf ihren Sohn achtgeben mußte. Fünf Tage in der Woche war ihr Mann weg von Zuhause. Da schuftete er als Vorarbeiter auf der Baustelle. Okay, er verdiente gut, und Miete brauchten sie hier auch nicht zu zahlen, sie hatten den Bau des Hauses durch ein Erbe finanzieren können, aber dieses Kaff Ronston machte sie noch verrückt. Dana befürchtete, hier zu versauern, einzugehen, zu vertrocknen und mit vierzig schon auszusehen wie andere mit sechzig. So konnte das nicht weitergehen. Sie schielte auf die Flasche. Die Pausen zwischen den Schlucken wurden immer kürzer. Wenn sie nicht abrutschen wollte, mußte sie den Alkoholkonsum drastisch einschränken. Dana wollte unbedingt mit ihrem Mann darüber reden. Außerdem wurde Billy älter. Er würde ihre Fürsorge bald nicht mehr benötigen, und dann sah es noch trauriger für sie aus. Dana schaute dem Rauch der Zigarette nach, der sich unter der Deckenlampe verteilte. Nun ja, wenigstens war durch Billys Bericht etwas Abwechslung in ihr eintöniges Leben gekommen, alles andere würde sich zeigen. Später, viel später. Sie gähnte, ohne richtig müde zu sein. Die Tür zum Flur hatte sie nicht geschlossen. Sie hörte aus dem Zimmer des Jungen Geräusche. Da lief die Glotze, und irgend jemand schoß in einem Film immer. Das war auch nicht die richtige Unterhaltung für einen Zwölfjährigen. Aber was sollte sie machen? Andere Kinder aus Billys Klasse hockten bis tief in die Nacht vor der Glotze. Billy war nicht so. Ihm machte sogar der Klavier-Unterricht Spaß, und sein Vater hatte ihm versprochen, zu Weihnachten ein Klavier zu kaufen. Bis dahin war es noch eine Ewigkeit! Und trotzdem würde die Zeit wieder einmal dahinrasen, so daß man sich später fragte, wo eigentlich das Jahr geblieben war. Das alte Telefon klingelte und riß Dana aus ihren Gedanken. Sie sprang von ihrem Platz hoch und lief in den Flur. Auch Billy hatte die Tür geöffnet. Er stand auf der Schwelle und schaute seine Mutter an. Dana hörte einer fremden Männerstimme zu. Der Mann hatte zwar seinen Namen genannt, doch sie hatte ihn nicht behalten. Er war von der Polizei, und er forderte Dana Wilson auf, im Haus zu bleiben. »Gut, das mache ich, aber warum?« »Sie haben recht gehabt. Wir haben die Leiche gefunden…«
Dana Wilson erbleichte. Dann legte sie auf, schaute ihren Sohn an und bekam einen eisigen Schauer… *** Der andere Morgen. Ein Tag, an dem das Wetter nicht wußte, ob es sich für Sturm, Regen oder Sonne entscheiden sollte. Aus diesem Grunde blieb es bei dem Wechsel. Wir hatten den Rover genommen und waren mit ihm zum Yard gefahren. Diesmal kamen wir ohne größere Staus durch, und natürlich drehten sich unsere Gespräche einzig und allein um Belial, vor dem Raniel gewarnt hatte. Suko und ich wußten nicht, ob er seine Welt oder sein Reich schon verlassen hatte, es würde auch schwer sein, es herauszufinden, aber sein Auftreten sollte ja mit gewissen Vorgängen verbunden sein, die aus dem Rahmen fielen. Danach wollten wir forschen, das hatten wir uns fest vorgenommen. Wir waren zu früh, Glenda befand sich noch nicht im Büro, aber die Zeitungen waren schon gebracht worden. Sie lagen in einem Ablagekorb, der wegen der vielen Blätter überquoll. Ich hob den Packen an. »Du die eine Hälfte, ich die andere?« »Einverstanden.« Im Büro verteilten wir sie auf dem Schreibtisch, nahmen sie uns aber noch nicht vor, da wir erst die Meldungen der Kollegen durchschauen wollten. In der letzten Nacht war nicht viel im Großraum London passiert, vor allen Dingen nichts Ungewöhnliches, denn an Mord und Totschlag hatte man sich leider schon gewöhnt. Suko griff nach der ersten Zeitung. Den anderen Bogen legte er in die Ablage. Ich wollte auch nach einem Blatt fassen, als ich plötzlich stutzte. Auf der ersten Seite eines der zahlreichen Boulevardblätter las ich etwas über das Wetter. Das war normal, schnell ein Überblick, aber dieses Wetter war den Leuten sogar eine Schlagzeile wert gewesen. Toter beim plötzlichen Unwetter, das zwei Dörfer heimsuchte. Ich nahm die Zeitung an mich, vertiefte mich in den Bericht und bekam nicht mit, daß Glenda Perkins inzwischen eingetroffen war und damit begann, Kaffee zu kochen. Erst als der Duft meine Nase kitzelte, schaute ich hoch. »Guten Morgen, Mr. Sinclair.« »Hi, Glenda.« »Was war denn mit dir los? Du hast nicht bemerkt, daß ich gekommen bin. Liegt es an mir? Bin ich zu alt geworden? Sehe ich nicht mehr gut aus, oder was ist los?« »Du siehst super aus, Glenda.«
»Und das soll ich dir jetzt glauben?« »Ja, die rehbraune Cordhose, der gelbe Pullover und die taillierte Jacke, das alles habe ich mit einem Blick erkannt, meine Liebe.« »Korrektur. Für diesen Blick hattest du allerdings eine lange Anlaufphase nötig.« »Stimmt.« »Und was war so wichtig für dich?« »Der Wetterbericht.« Nach dieser Antwort erwachte auch Suko aus seiner Lethargie. Er schielte mich über den Schreibtisch hinweg an, seine Augen zeigten sich erstaunt. »Den habe ich doch auch gelesen«, sagte er, »aber als so interessant habe ich ihn nicht angesehen.« »Bei meinem Blatt stand er auf der ersten Seite.« Suko ließ seinen Blick über die anderen Gazetten schweifen. »Was ist daran so besonders?« »Er war sehr modifiziert. Hier wurde über ein plötzliches Unwetter am vergangenen Abend geschrieben, das über zwei Orte unweit Londons hinweggebraust ist. Es hat sogar einen Toten gegeben.« »Vom Blitz erschlagen?« fragte Suko. »Das steht dort nicht.« »Gib mal her.« Ich reichte Suko die Zeitung, und Glenda stellte sich neben ihn, um mitzulesen. Sie wunderte sich lautstark darüber, daß ich mich dafür so interessierte, und sie fragte nach den Gründen. »Laß Suko erst mal lesen.« Der Inspektor senkte das Blatt sehr schnell. Glenda und ich warteten auf seinen Kommentar. Er enttäuschte uns nicht, aber er stellte dabei eine Frage. »Und? Glaubst du wirklich, daß es das Ereignis ist, auf das wir gewartet haben?« »Ich kann es dir nicht sagen. Es ist zumindest ungewöhnlich. Ein plötzliches Unwetter, nur auf zwei Orte begrenzt, das paßt einfach nicht in die Wetterregel hinein. Zumindest nicht in unseren Breiten. Das wurde auch geschrieben.« »Anomalien gibt es immer!« meldete sich Glenda. »Mich stört der Tote.« »Ein Toter stört immer«, erklärte Suko. »Aber warum störte er dich in diesem Fall?« »Weil nicht dabei gestanden hat, wie er genau ums Leben kam. Oft wird geschrieben, daß bei einem Unwetter ein Mensch vom Blitz erschlagen wurde, das aber ist hier nicht zu lesen, und da könnte ich mir schon meine Gedanken machen.« »Ich nicht«, gab Glenda zu. Mein Lächeln war wissend. »Das kannst du auch nicht, Glenda, denn du weißt nicht, was wir wissen.«
»Aha, dann informiert mich mal.« Glenda Perkins gehörte zu den Vertrauenspersonen, die wir ohne weiteres einweihen konnten. So erfuhr sie von dem abendlichen Besuch des Gerechten in meiner Wohnung, und ich berichtete von seinen Warnungen vor Belial. Glenda nickte langsam. »Verstehe«, murmelte sie und setzte sich auf die Schreibtischkante zwischen uns. »Ihr denkt also jetzt, daß dieser Belial die Verantwortung für das Unwetter trägt?« »Genau darauf laufen meine Gedanken hinaus.« »Was ist mit dir, Suko?« »Ich stimme John zu!« »Soll ich nachhaken?« »Laß mal. Das werden wir schon machen.« Ich räusperte mich. »Es hat einen Toten gegeben, und mich würde wirklich interessieren, wie er ums Leben gekommen ist. Die Dörfer heißen Cockfield und Ranston, Suko. Es muß doch herauszufinden sein, welche Kollegen sich um den Fall gekümmert haben, falls er überhaupt einer ist.« »Ich hole erst mal Kaffee«, sagte Glenda und verschwand in ihrem Büro. Suko und ich machten uns an die Arbeit. Die Kollegen aus London waren für den Fall nicht zuständig. Wir erfuhren, daß wir uns mit denen aus High Wycombe in Verbindung setzen sollten, da würde man uns mehr sagen können. Glenda kam mit dem Kaffee und blieb bei uns. Ich wählte die Nummer, die man mir gegeben hatte, und ich dachte daran, daß ein großer Teil der Polizeiarbeit aus telefonieren bestand. Es wurde abgehoben, und eine forsche Stimme meldete sich. Ich brachte meine Wünsche vor und wurde weiter verbunden. Diesmal hörte ich eine andere Stimme, müde und mürrisch. Der Kollege hieß Bexhill und stand im Range eines Chief Inspectors. »Ich rufe wegen des Unwetters von gestern abend an«, sagte ich, nachdem ich mich vorgestellt hatte. »Darüber las ich in der Zeitung. Ich erfuhr auch, daß es einen Toten gegeben hat.« »Das stimmt, Mr. Sinclair.« »Gut oder nicht gut. Es kommt darauf an, wie man es sieht. Können Sie mir mehr über den Toten sagen? Wissen Sie, wie er umkam? Durch einen Blitzschlag oder…« »Nein, das wäre normal gewesen, obwohl das verdammte Unwetter schon unnormal und unerklärbar ist. Aber der Mann wurde ermordet. Man hat ihm den Kopf zertreten.« Ich schluckte und war stumm. »He, haben Sie gehört?« »Ja, das habe ich. Wie sieht es mit Spuren aus?«
Der Kollege lachte. »Wir haben sogar einen Zeugen, einen zwölfjährigen Jungen. Er hat den Killer gesehen. Sie werden es kaum glauben, aber er sprach von einem Heiligen.« »Wovon, bitte?« »Von einem Heiligen. Das können Sie glauben oder nicht. Der Junge jedenfalls war nicht davon abzubringen, daß es ein Heiliger gewesen ist, der plötzlich auftauchte.« »Das ist seltsam.« »Wie Sie richtig sagten. Was interessiert denn Scotland Yard daran?« »Wahrscheinlich alles. Ich hätte gern den Namen des Jungen und die genau Anschrift.« Bexhill brummte etwas, aber er zeigte sich auch weiterhin kooperativ. Ich bekam beides und noch eine Zusatzbemerkung. »Wissen Sie, Mr. Sinclair, ich bin froh dabei, daß Sie sich um die Sache kümmern. Der Umgang mit Zwölfjährigen ist nicht so mein Fall. Wir haben ihn noch in der Nacht verhört, jetzt wird er schlafen, denke ich. Wenn Sie die Protokolle einsehen wollen, steht dem nichts im Wege.« »Mir geht es um den Jungen.« »Auch okay. Ich denke, wir hören noch voneinander.« »Bestimmt.« Glenda und Suko hatten mitgehört. Sie sahen meinen triumphierenden Blick, nachdem ich aufgelegt hatte. »Das, Freunde, ist genau die Spur, die wir brauchen.« »Wieso das denn?« fragte Glenda kopfschüttelnd. »Ihr sucht einen Dämon, aber keinen Heiligen.« »Irrtum, Glenda. Belial ist der Dämon der Lügen. Er hat dem Zeugen weich gemacht, daß er ein Heiliger ist, und der Junge hat es geglaubt. Ich bin sicher, daß es so gelaufen ist.« »Da stimme ich zu«, sagte Suko. Glenda hob die Schultern. »Wie ich euch kenne, werdet ihr bald in dieses Kaff fahren. Wie hieß es noch gleich?« »Ronston.« »Ah ja. Trinkt ihr denn noch einen Kaffee?« Ich grinste sie an. »Immer. Wir brauchen doch unser morgendliches Aufputschmittel…« *** Ronston empfing uns mit böigem Wind und einem wolkigen Himmel, durch den ein helles Blau schimmerte. Die Häuser sahen allesamt gepflegt aus, als fühlte man sich mehr zu Oxford hingezogen als zum Moloch London. Vor dem Haus der Familie parkte ein Streifenwagen. Der müde Beamte wurde wach, als wir ebenfalls anhielten und ausstiegen. Er sah sofort,
wohin wir wollten. Sein Kollege war einkaufen gewesen, er kehrte mit einer Tüte zurück. »Wo wollen Sie hin?« Wir hatten keine Lust, uns auf große Diskussionen einzulassen und präsentierten unsere Legitimationen, von denen sich der Mann durchaus beeindruckt zeigte. »Außerdem weiß Chief Inspector Bexhill Bescheid«, sagte Suko. »Aha, gut.« Ein richtiger Vorgarten gehörte nicht zum Haus. Die Fläche war mit Bruchsteinen ausgelegt worden, wir entdeckten einen Fahrradständer, dann wurde die Haustür geöffnet, und eine ungefähr fünfunddreißig Jahre alte Frau schaute uns mißtrauisch entgegen. Das mußte die Mutter des Zeugen Billy Wilson sein. Die Frau trug ein graues Wollkleid, das eine rote Brosche schmückte. Ihr Gesicht zeigte Ermüdungserscheinungen. Die Haarfarbe war blond. Mir fielen die ziemlich farblosen Augen besonders auf. »Was wollen Sie?« Wieder zeigten wir unsere Ausweise, und die Frau zog die Augenbrauen zusammen. »Scotland Yard?« »Richtig.« »Sie sind Mrs. Wilson?« fragte Suko. »Ja.« »Dürfen wir eintreten?« Sie überlegte. »Warum? Es ist alles gesagt worden^ denke ich. Oder halten Sie Chief Inspector Bexhill für unfähig?« »Wir haben noch einige spezielle Fragen zu den Beobachtungen Ihres Sohnes. Und es ist sehr wichtig!« drängte ich. »Er schläft wohl.« »Schade, aber wir müssen mit ihm reden.« Widerwillig gab sie uns den Weg frei, schloß hinter uns die Tür, nachdem sie noch einen Blick auf den Polizeiwagen geworfen hatte. Nun ließ sie uns im Flur stehen. Es roch nach Kaffee und nach Zigarettenrauch im Haus. »He, ist da Besuch gekommen?« Als die Jungenstimme aufklang, saugte Mrs. Wilson den Atem durch die Nase. »Ja, Billy, es sind zwei Männer, die mit dir reden wollen. Scotland Yard.« »Wau!« Ich mußte lächeln, plötzlich schoß ein braunhaariger Junge aus seinem Zimmer hervor. Er trug einen bunten Jogginganzug und leichte Turnschuhe. Seine Augen blitzten, der Mund war zu einem breiten Lächeln verzogen. »Seid ihr wirklich von Scotland Yard?« »So ist es, Billy«, sagte Suko, stellte sich vor und nannte auch meinen Namen. »Toll. Nur wegen mir?« »Du hast etwas gesehen?«
»Ja, ja.« Seine Augen blitzten. »Ich habe einen Heiligen gesehen. Einen richtigen Heiligen! Mir wollte keiner glauben, aber es stimmt. Ich habe erlebt, wie er kam, das war schon cool.« »Kannst du uns das der Reihe nach erzählen?« Er schaute mich an und nickte. »Klar, mach ich.« »Kommen Sie mit in den Wohnraum«, bat Dana Wilson. »Es ist schade, daß mein Mann nicht hier ist, aber er arbeitet in London und kann leider nicht von der Baustelle weg. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Wollen Sie Kaffee? Ich habe frischen in der Kanne?« »Gern«, sagte ich lächelnd. Sie ließ uns zurück. Durch das große Fenster schauten wir in einen winterlichen Garten. Wir sahen einen Teich, neben dem ein krummer Baum stand. Ich sah einen kleinen Brunnen und Beete. Die Einrichtung des Zimmers war zeitlos, sie bestand aus einem hellen Kiefernholz und ließ den Raum nicht zu dunkel aussehen. Wir hatten uns an einen Ecktisch gesetzt. Suko strich Billy über das Haar. »Du bist müde, nicht wahr?« »Nein.« »Aber…« »Das war doch spannend. Die Polizisten wollten alle was von mir. Sie haben fast nur mit mir gesprochen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie aufregend es war.« Billy bewegte sich hüpfend auf seinem Stuhl. »Echt stark war das.« »Bestimmt!« sagte Suko. »Ich hatte nämlich zum erstenmal so richtig mit der Polizei zu tun. Die Nachbarn haben vielleicht geschaut – ho, ho, das war schon was.« »Nun reiß dich mal zusammen und mach die beiden Herren nicht verrückt!« sagte Mrs. Wilson, als sie den Raum betrat. Auf einem Tablett hatte sie alles aufgebaut. Für ihren Sohn hatte sie Kakao gekocht. Wir halfen ihr beim Decken des Tisches, was sie verwunderte, doch sie gab keinen Kommentar ab. Mrs. Wilson schenkte Kaffee ein. Ich nahm etwas Zucker, auf die Milch verzichtete ich. Der junge rührte seinen Kakao um. Ich beobachtete ihn dabei und kam zu dem Entschluß, daß er die Begegnung mit dem >Heiligen< gut überstanden hatte. Angst schien er keine zu haben. Belial hatte es vorzüglich geschafft, sein wahres Gesicht zu verbergen, allein durch Worte und nicht durch Taten. Und die schreckliche Tat schien sich in seinem Gedächtnis nicht festgesetzt zu haben. Wahrscheinlich hatte er sie gar nicht mitbekommen. Er saß mir gegenüber, und ich sagte: »Es ist zwar nicht schön für dich, Billy, aber würdest du uns trotzdem den Gefallen tun, alles von Anfang an zu erzählen?« »Wirklich alles?« »Ja.«
»Auch von dem Sturm?« »Klar doch.« »Gut, mach ich.« Er trank einige Schlucke von seinem Kakao und schob dann die Tasse aus seiner Nähe weg, weil er bei seinen Erzählungen die Hände über die Tischdecke bewegte. Wir hörten sehr genau zu, und wir stellten fest, daß der Junge schon Routine bekommen hatte, was das Schildern seiner Erlebnisse anging, denn er sprach ziemlich flüssig. Nur selten legte er eine Pause ein, dann trank er jedesmal von seinem Kakao, und immer dann, wenn die Sprache auf Belial kam, war er begeistert. »Du hast ihn dir ganz genau angesehen?« fragte Suko. »Sehr sogar.« »Kannst du ihn denn richtig toll beschreiben?« »Mach ich.« Wir hörten gespannt zu, sahen aber, daß Dana Wilson ab und zu den Kopf schüttelte. Sie schien ihrem Sohn nicht zu glauben. So wie Billy uns Belial beschrieb, konnte man ihm nicht positiv gegenüberstehen. Daß der Junge es trotzdem tat, bewies uns, wie tief er in seinem Bann steckte. »Hat er dir denn etwas zum Abschied gesagt?« fragte Suko. Billy überlegte. »Nein, was sollte er mir denn gesagt haben?« »Daß er dich wieder einmal besuchen will. Daß er irgendwann zurückkehrt?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Glaubst du denn, daß du ihn noch einmal wiedersehen wirst?« »Das kann ich auch nicht sagen. Kommen Heilige denn zu Menschen?« Die Frage gefiel Billys Mutter überhaupt nicht. »Junge, bitte, er ist kein Heiliger. Warum glaubst du uns das nicht?« »Aber er hat es gesagt!« »Das sagen viele.« »Ich glaube es.« »Und was war mit Mr. Thorpe, dem Pferdehändler?« »Er ist verunglückt.« »Und er kam zurück.« »Ja, Mum.« »Aber jetzt lebt er nicht mehr!« Wir waren gespannt, was Billy entgegnen würde, doch er blieb einfach nur sitzen und schaute ins Leere. Suko und mich interessierte auch weniger der Mord als eben dieser verfluchte Belial, der aus seiner Dimension hervorgekommen war, um auf der Erde Furcht und Schrecken zu verbreiten, und zwar in Form von Lügen, wie er es bei Billy Wilson bewiesen hatte. »Und er hat dir wirklich nicht gesagt, ob und wann er zurückkehren will?« »Nein, Mr. Sinclair.« »Möchtest du ihn denn noch einmal treffen?«
Plötzlich leuchteten seine Augen. »Klar, ich möchte ihn treffen. Er war doch super.« »Wenn er das auch will, wird er sich vielleicht bei dir melden, Billy.« »Das wäre toll.« »Bestimmt nicht«, sprach seine Mutter dagegen. »Ich möchte keinen Mörder im Haus haben!« Billys Augen weiteten sich. »Mum, aber er ist…« »Heilig, ich weiß, Billy. Für dich, aber nicht für mich und die beiden Herren hier.« »Wenn ihr ihn seht, werdet ihr das auch glauben.« Suko lächelte ihn an. »Es kann sein, Billy. Zuvor aber müssen wir ihn suchen.« »Das könnt ihr ruhig.« Ich war mit meinem Latein so ziemlich am Ende und wußte nicht, was ich den Jungen noch fragen sollte. Daß es Suko ähnlich erging, sah ich seinem Gesicht an. Wir wollten uns so langsam verabschieden, als es schellte. Der durchdringende Ton ließ uns alle zusammenzucken. »Wer ist das denn?« fragte Billy und wollte aufstehen, um nachzuschauen, aber seine Mutter drückte ihn zurück. »Ich sehe nach.« »Gut.« Sie stand auf und verließ das Zimmer. Billy schaute ihr lächelnd nach. »Kann sein, daß der zu mir kommt. Das wäre vielleicht toll. Er steht plötzlich vor der Tür und klingelt, weil er mich besuchen möchte. Ist das nicht super?« »Das glaube ich nicht«, sagte Suko. »Haha, du kennst den Heiligen nicht.« Er setzte ein wissendes Gesicht auf. »Heilige sind eben anders als wir Menschen, das habe ich schon in vielen Büchern gelesen.« »Wenn du das sagst.« »Ihr müßt mir glauben.« Wir hörten Mrs. Wilsons Stimme. »Können Sie mal bitte kommen?« rief sie in den Flur. Suko und ich warfen uns einen nachdenklichen Blick zu, dann standen wir auf und sahen wenig später die beiden Polizisten auf der Treppe stehen. Mrs. Wilson hielt die Tür offen, sie hob dabei die Schultern, um uns anzudeuten, daß sie von nichts eine Ahnung hatte. »Was ist denn los?« fragte Suko, als er an der Frau vorbeiging. »Das möchten wir gern im Wagen besprechen.« Der Polizist, der zuvor das Essen geholt hatte, deutete auf das Fahrzeug. Der Mann war ziemlich klein und korpulent. Die blaue Uniformjacke spannte sich über dem Bauch, und auch die Mütze war ihm etwas klein. Sein jüngerer Kollege überragte ihn deutlich.
Ich ging hinter meinem Kollegen her. Mrs. Wilson blieb in der offenen Tür stehen, denn sie war neugierig geworden. Neben dem Streifenwagen trafen wir uns. »So«, sagte Suko, »was haben Sie uns zu berichten?« Der Dicke sprach. »Wir haben ihn gesehen.« »Ihn? Wen?« »Den Mann mit den Flügeln.« In unseren Köpfen schrillten die Alarmsirenen. »Moment mal«, sagte ich, »Sie meinen wirklich, daß der Mann mit den dunklen Flügeln bei Ihnen gewesen ist?« »Ja.« »Und weiter?« Der Polizist holte tief Luft. Bauch und Brustkorb dehnten sich noch mehr aus. »Es war einfach super, kann ich Ihnen sagen. Es war wirklich toll. Er ist unbeschreiblich. Er ist ein Mensch und doch kein Mensch.« »Sondern?« »Ein Heiliger«, flüsterte sein Kollege. »Er kam von oben.« Der Mann verdrehte die Augen, als wollte er zum Himmel schauen. »Stellt euch das mal vor. Da kommt jemand aus den Wolken auf die Erde nieder. Ein Heiliger und…« »Hat er auch etwas zu Ihnen gesagt?« fragte Suko. »Ja, er sprach über die Menschen, und er hat uns vor dem Bösen gewarnt. Er hatte erklärt, daß die meisten Menschen dem Bösen zugetan sind, und wir haben uns das gemerkt.« »Es gibt auch Ausnahmen«, sagte ich. »Davon sprach er nicht.« »Und was ist dann geschehen?« wollte Suko wissen. »Ist der Mann verschwunden?« »Ja«, antwortete der Polizist und nickte. »Er ging davon.« Seine Augen leuchteten. »Es war unwahrscheinlich. Ich hatte das Gefühl, als wollte er seine Schwingen ausbreiten und jeden Augenblick abheben. Heilige sind Engel, das weiß ich jetzt!« »Nun ja, wenn Sie das meinen.« »Doch, doch.« »Er hat Ihnen also nicht gesagt, was Sie zu tun oder zu lassen haben?« Der Mann überlegte einen Moment. »Er hat uns eine Botschaft mit auf den Weg gegeben.« »Und die lautet?« »Daß es viele schlechte Menschen gibt. Fast alle sind schlecht. Nur wenige Ausnahmen sind…« »Zu viele schlechte Menschen!« schrie sein jüngerer Kollege, der es geschafft hatte, sich unbemerkt von uns ein paar Schritte zu entfernen. Er hätte nicht schreien sollen, so aber waren wir gewarnt, wirbelten
herum und sahen, wie er seine Waffe hervorriß, gräßlich dabei lachte und sofort anfing, auf uns zu schießen… *** Wieder waren es die berühmten Bruchteile von Sekunden, die über Leben und Tod entschieden. Wir warfen uns zu verschiedenen Seiten in Deckung und hörten im selben Augenblick das Krachen der Schüsse. Die Waffe wurde von einer beinahe tanzenden Gestalt festgehalten, die sich vom Gehsteig entfernte und noch immer feuerte, ohne uns allerdings zu treffen, denn wir lagen bereits auf dem Boden. Dafür sägten die Kugeln in das Blech des Streifenwagens, sie zertrümmerten auch ein Fenster. Ein Geschoß erwischte den Kollegen des Uniformierten. Der dicke Mann schrie erstickt auf. Dann preßte er seine Hände gegen den Leib und ging in die Knie. Der jüngere lachte irr. Sofort schoß ich. Meine Kugel fegte ihn um. Ich hatte seinen Oberschenkel erwischt. Suko hatte beinahe gleichzeitig gefeuert. Die zweite Kugel traf den Mann in die Schulter. Wir hatten ihn kampfunfähig geschossen. Er fiel auf die Straße und lag dort wie ein großes, blaues Insekt. Es war still geworden. Keine Schüsse mehr, keine Echos, nur das Wimmern des Getroffenen hörten wir. Ich ging auf ihn zu, erwischte mit einem Blick die Tür des Wilsonschen Hauses und sah Dana wie eine Statue auf der Schwelle stehen. Noch gab es kein Geschrei, noch rannten die Nachbarn nicht zusammen, es war die Ruhe vor dem Sturm, der sicherlich gleich losbrechen würde. Der angeschossene jüngere Polizist lag auf dem Rücken. Ich wollte mich um ihn kümmern, Suko war bei dem Kollegen, der aus einer Waffe getroffen worden war. Ich beugte mich über den Mann. Er hatte seine Mütze verloren. Das Haar war so fahl wie die Mähne eines Löwen. Er keuchte, doch in seinen Augen sah ich einen Glanz, der mir nicht gefiel. Trotz seiner Schmerzen konnte er es nicht lassen, von dem Heiligen zu sprechen, der ihn so stark beeindruckt hatte. »Er ist gekommen. Er hat die Welt beglückt. Alle haben auf ihn gewartet, jetzt hat er ihnen den Gefallen getan. Er wird die Spreu vom Weizen trennen.« »Was meinst du damit?« »Daß er die Welt verändern kann. Alle sind Lügner, nur er ist heilig. Auch ihr beide seid Lügner gewesen. Er hat es uns gesagt, deshalb mußten wir auch töten. Wir werden alle Lügner töten – alle!«
Allmählich und nur durch diese Worte allein bekam ich eine Vorstellung von dem, was uns erwartete. Das hatte sich nicht gut angehört. Wir hatten Glück gehabt, auch Billy, denn er war nicht so stark beeinflußt worden, daß er irgendwelche Taten beging, doch wenn ich den Faden weiterspann, dann kamen mir apokalyptische Gedanken, denn Belial würde in der Lage sein, Menschenmassen zu beeinflussen und sie seinem dämonischen Willen zu unterwerfen. Ich hörte den Verletzten kichern, als wäre er gar nicht von einer Kugel getroffen worden. Er war besessen! Wie konnte ich das ändern? Belial war ein Schwarzer Engel und gehörte sicherlich nicht zu den Freunden des Kreuzes. Ich wagte den Versuch. Wir befanden uns mitten auf der Straße. Ich hörte die ersten Tritte, die Rufe der herbeieilenden Menschen, die sich einfach nicht aufhalten lassen wollten. Sie wollten, sie würden sehen, was da passiert war. Mir war es egal. Ich hielt mein Kreuz bereits in der Hand, berührte die Gestalt vor mir und hörte ihren irren Schrei. Dann sprang der verletzte Körper plötzlich in die Höhe. Blitze umtanzten ihn wie Feuerzungen. Er schrie noch immer und schien in der Luft zu schweben, bevor er mit einer ruckartigen Bewegung zusammensackte und auf der Straße liegenblieb. Tot? Nein, er war nicht tot, nur bewußtlos und er würde vergessen können. Als ich mich erhob, stürmte Suko aus dem offenen Hauseingang. Er winkte mir zu. Ich war schnell bei ihm und hörte, daß er einen Notarzt angerufen hatte. »Leider auch einen Leichenwagen«, fügte er wesentlich leiser hinzu. »Dann ist der Kollege tot?« »Herzschuß, John.« »Verdammt!« »Und was war mit dem zweiten?« Ich hob die Schultern. »Er stand unter Belials Einfluß, ich konnte ihn davon befreien, doch er ist noch bewußtlos. Zum Glück.« In knappen Worten berichtete ich meinem Freund, was mir widerfahren war, und ich entdeckte im Gesicht des Inspektors einen nicht eben gelinden Schauer. »Woran denkst du?« fragte ich. »An die Zukunft.« »Ich auch, und die sieht wenig rosig aus. Hier haben wir erlebt, wozu Belial fähig ist. Sollte er sich London ausgesucht haben, stehen uns schwere Zeiten bevor.« Ich schaute in Richtung Süden, wo die Stadt lag.
»Dabei habe ich das Gefühl, daß er daran nicht vorbeikommt. Zwischen Millionen von Menschen kann er seine Macht beweisen.« »Falls wir ihn nicht stoppen.« »Wie?« Suko hob die Schultern. »Raniel?« Ich lächelte knapp. »Er ist eine Hoffnung, mehr nicht. Er hat mir allerdings auch gesagt, daß Belial sich meiner annehmen will. Es kann durchaus sein, daß er seine tödliche Spur bis zu einem gewissen Ort zieht, um es dort zu einem Duell kommen zu lassen. Der große Kampf zwischen ihm und mir, zwischen Gut und Böse, wenn ich das mal so übertrieben ausdrücken darf.« Ich räusperte mich. »Und davor, Suko, habe ich eine ehrliche Angst.« »Du wirst, sollte es soweit kommen, nicht allein sein.« »Das kann ich nur hoffen.« Wir schafften es nicht mehr, uns zu unterhalten, denn das Gedränge wurde chaotisch. Unzählige Fragen strömten auf uns ein, und auch das Heulen einer Sirene war zu hören. Was nun folgte, war langweilig, es gefiel mir nicht, aber wir konnten uns nicht dagegen wehren. Auch Polizeiarbeit mußte übernommen werden. Es gehörte zu unserem Job, doch zuvor stieg ich in den Rover, um Sir James zu informieren. Er würde Augen machen und meine Befürchtungen sicherlich teilen. *** Wir lernten auch Chief Inspector Bexhill kennen, einen etwas farblosen Menschen mit müden Augen und einem gewaltigen roten Schnauzbart, hinter dem sich der Mund versteckte. Bexhill war aus dem Bett geholt worden und sofort gekommen, obwohl seine Frau mehr als geschimpft hatte. Aber ein toter und ein verletzter Kollege waren Grund genug gewesen. Das Hauptquartier war im Haus der Wilsons eingerichtet worden. Vor der Tür hatten die Kollegen eine Zone abgesperrt, in der sie ihrer Arbeit nachgingen. Billy war auf sein Zimmer geschickt worden. Dana Wilson stand in der Küche und trank einen Schluck Wasser, mit dem sie zwei Beruhigungstabletten einnahm, die ihr der Polizeiarzt auf ihr Bitten hin gegeben hatte. Bexhill war noch nach draußen gegangen, Suko hielt sich bei ihm auf. Ich stand in der Küche. »Was ist in dieser Welt nur los?« fragte Mrs. Wilson. »Ich… ich… begreife es nicht mehr. Ich komme damit einfach nicht zurecht. Diese Welt ist völlig aus den Fugen geraten.« »Sie war schon immer so.« »Nein, Mr. Sinclair, sie war einmal anders.«
Ich hob die Schultern und holte mir einen Stuhl heran. Dann setzte ich mich an den Tisch. »Sie ist nie anders gewesen, auch die Menschen haben sich im Prinzip nicht verändert. Möglicherweise haben Sie es nur nicht bemerkt, Mrs. Wilson. Sie leben doch hier wie auf einer Insel. Die Großstadt ist weit entfernt und…« »Leider«, sagte sie. »So würde ich das an Ihrer Stelle nicht sehen…« »Hören Sie doch auf, Mr. Sinclair. Bin ich hier etwa sicher? Wie sicher ich hier bin, das habe ich in der letzten halben Stunde erlebt. Es ist einfach furchtbar. Vor meinem Haus wird ein Mensch erschossen, ein anderer schwer verletzt, und das in einem verschlafenen Ort wie Ronston. So etwas ist…« »Die Ausnahme.« Sie wollte etwas erwidern, doch beide hörten wir die Tritte im Flur, und dann erschien Chief Inspector Bexhill in unserem Blickfeld. Er schaute kurz in die Küche und nickte mir zu. »Entschuldigen Sie mich bitte, Mrs. Wilson, ich muß einige Worte mit meinem Kollegen reden.« »Ja, natürlich, tun Sie das.« Ich verließ den Raum und hörte die Frau noch seufzen. Uns war das Wohnzimmer zur Verfügung gestellt worden, und wir nahmen am Tisch Platz. Suko war nicht mitgekommen, er wollte sich um den Jungen kümmern, unsere einzige Spur zu Belial. Bexhill schaute auf seine auf dem Tisch liegenden, gefalteten Hände. »Ich habe mich mittlerweile über Sie schlau gemacht, Mr. Sinclair. Ich weiß jetzt, womit Sie sich beschäftigen, und Sie haben vorhin etwas angedeutet, mit dem ich nicht zurechtkomme.« »Wie meinen Sie das?« »Nun ja, Sie sprachen da von einem Heiligen. Was hat es damit auf sich?« Ich hob die Schultern. »Ich könnte es Ihnen natürlich sagen, Mr. Bexhill, doch es wäre wirklich nur reine Spekulation, verstehen Sie?« »Trotzdem…« »Gut. Jemand ist erschienen.« »Erschienen?« Bexhill strich über seinen Bart. »Das hört sich geheimnisvoll an.« »Sie kennen die Aussagen des Jungen.« Wieder seufzte er. »Leider, und ich will Ihnen ehrlich sagen, daß ich mit ihnen nicht zurechtkomme. Sie sind mir einfach zu unrealistisch.« »Ihnen vielleicht.« Er schaute mich düster an. »Sie glauben Billy also.« »Ja.« »Das akzeptiere ich, Mr. Sinclair. Ich akzeptiere es auch deshalb, weil ich den Verlust eines Kollegen betrauern muß und ein anderer verletzt
ist. Ich habe Ihre Aussagen, ich zweifle nicht daran, aber…«, er ballte die rechte Hand zur Faust, »warum, verdammt? Warum ist das alles passiert? Kann man da kein Motiv erkennen?« »Es war er?« »Die Erscheinung.« »Dann höre ich zu«, sagte er nickend. »Bitte, erzählen Sie mir mehr über ihn.« »Es ist sehr wenig, und in der Praxis können Sie nur die Aussagen des Jungen einsetzen. Vergessen Sie auch, daß Sie es mit einem Menschen zu tun haben. Es ist eine Person, die auf den Namen Belial hört. Es ist ein alttestamentarischer Name und…« »Hatte er zwei Flügel?« »Ich gehe davon aus.« Bexhill schaute mich skeptisch an. »Dann ist er wohl ein Engel, denke ich mal. Gibt es überhaupt gefallene Engel? Ich habe bisher nur über sie in irgendwelchen biblischen Schriften gelesen, in düsteren Warnungen und Vorhersagen, und ich kann nicht daran glauben, daß diese Wesen in der Wirklichkeit bestehen, praktisch in unser normales Leben eingreifen.« »Es gibt sie.« »Hm.« Der Chief Inspector blieb ruhig. »Wie ich schon erwähnte, ich habe mich über sie erkundigt, auch über Suko. Hätte mir ein anderer so etwas erzählt, hätte ich ihn für verrückt gehalten. Aber das sind Sie anscheinend nicht.« »Stimmt.« Ich lachte mein Gegenüber scharf an. »Wissen Sie, Mr. Bexhill, ich bin zwar kein großer Engel-Experte, aber ich weiß, daß viele Engel außer ihren Namen auch Spitznamen haben, die auf ihre Eigenschaften und Tätigkeiten hindeuten.« »Auch dieser Belial?« »Ja. Er ist der Engel der Lügen. So wurde er schon in alttestamentarischer Zeit betrachtet. Belial, der Engel der Lügen, der angetreten ist, um Menschen auf den falschen Weg zu bringen, denn sie sollen ihm seine Lügen glauben.« Er blies gegen die Tischdecke und das Geschirr, das noch immer zwischen uns stand. »Eine verdammt harte Nuß, die Sie da knacken wollen, Mr. Sinclair. Ich weiß ja, daß Sie daran glauben, und wenn alles stimmt, hätten wir ja schon den Beweis bekommen.« »Sicher, das ist Billy Wilson. Er hat Belial gesehen, erlebt und geglaubt, daß er ein Heiliger ist. So ist diese Lüge schon auf fruchtbaren Boden gefallen.« »Und bei den Kollegen auch?« »Leider.«
Bexhill dachte einen Moment nach. »Ist denn der Mensch so leicht beeinflußbar?« »In diesem Fall schon. Sie dürfen nicht vergessen, daß in diesen Mächten die magische Kraft von Jahrtausenden steckt. Dieser Fall kann apokalyptische Ausmaße annehmen.« Ich weihte den Mann ein und berichtete von meinen Befürchtungen, was die Riesenstadt London anging, wenn Belial es schaffte, in diesem Häusermeer zu verschwinden. Der Chief Inspector war kaum in der Lage, etwas zu sagen. Er hörte einfach nur zu, schüttelte einige Male den Kopf und suchte dann in seiner Manteltasche nach einer Pillendose. Ihr entnahm er eine kleine Tablette, die er hastig und ohne Flüssigkeit schluckte. »Das muß ich«, erklärte er mir. »Der Job schlägt mir auf den Magen. Ich hatte mal eine Entzündung, kein Wunder, ist eine Berufskrankheit.« Er schüttelte sich. »Soll ich näher über Ihre apokalyptischen Voraussagen nachdenken, Mr. Sinclair?« »Besser nicht.« »Danke.« »Warum?« »Ich will mich da raushalten. Mir reichen die normalen Mordfälle, und ich will Ihnen glauben, daß sich Belial in Richtung London bewegt, falls er nicht schon dort ist.« »Das ist zu befürchten.« »Haben Sie denn schon darüber nachgedacht, wo sie ihn möglicherweise treffen können?« »Nein, aber ich rechne damit, daß er dort erscheint, wo viele Menschen versammelt sind. Wissen Sie, er muß ja seine Lügen unters Volk bringen, wenn ich das mal so salopp sagen darf.« »Ja, das stimmt!« brummelte der Chief Inspector, »bei einzelnen Personen ist die Chance zwar groß, aber die Reichweite ist gering. Obwohl sich das auch ändern kann.« »Wie meinen Sie das denn?« »Nun ja, Mr. Sinclair, es ist so«, Bexhill griff wieder in seine Manteltasche, wahrscheinlich brauchte er eine neue Pille, aber die holte er nicht hervor, sondern hielt plötzlich seine Dienstwaffe in der Hand, und die Mündung glotzte über den Tisch hinweg und genau auf mich. »Jetzt wissen Sie, was ich meine, Sinclair! Er ist ein Heiliger, und ich werde es nicht zulassen, daß Sie versuchen, ihn zu stoppen. Sie nicht, Sinclair…!« *** Suko hatte die Tür zu Billys Zimmer geschlossen und sich auf das Bett gesetzt. »Na, wie ist es?«
Der Junge saß am Fenster. Er drehte sich um, so daß er den Inspector im Profil sah. »Wie soll es schon sein? Keiner glaubt mir. Ihr auch nicht.« »Doch.« »Stimmt nicht!« Suko wollte vom Thema ablenken und schaute sich um. »Schön hast du es hier!« kommentierte er. »Das Holzbett, die bunten Bezüge, die Tapeten, die vielen kleinen Autos und die Gitarre, das alles gefällt mir gut.« Er deutete auf die Wand über dem Bett. »Die Bilder dort, hast du sie selbst gemalt oder sind die gekauft?« »Selbst gemalt.« »Alle Achtung, das könnte ich nicht.« Billy grinste. »Ein Lehrer hat mal zu meiner Mutter gesagt, daß ich künstlerisch begabt bin.« »Er hat sich nicht geirrt.« »Mal sehen. Aber in Mathe bin ich nur unterer Durchschnitt.« »Das kann ich nicht beurteilen.« »Hat auch ein Lehrer gesagt.« »Dann wird es wohl stimmen.« Billy hockte auf seinem Drehstuhl und bewegte sich hin und her. »Ich sehe, daß dir mein Zimmer gefällt, Suko. Wie bist du denn aufgewachsen?« Der Inspektor winkte ab. »Längst nicht so toll. Auch nicht in England oder in Europa.« »Wo dann?« »In Asien, in China.« »Aha.« »Sogar in einem Kloster.« »Bitte?« »Ja, ich habe eine bestimmte Erziehung erhalten, und Spielzeug gab es bei uns nicht.« »Was habt ihr denn gemacht?« »Man hat uns im Kloster viel gelehrt. Es waren weise Lehrer gewesen.« »Wie die in den Kung-Fu-Filmen?« »Fast.« Billy reagierte aufgeregt. »Dann kannst du auch Kung Fu oder Karate…?« »Ein wenig.« »Boohh – toll.« Billy staunte. »Würde ich auch gern machen.« »Warum tust du es nicht? Man sollte immer das tun, was man gern macht und keinen anderen Menschen stört, denn du darfst die Rücksicht dabei nicht vergessen.« »Weil ich dann nicht mehr am Klavier sitzen und spielen kann. Ich brauche ja meine Hände.« »Daran habe ich nicht gedacht.« »Ich kann nur das eine oder das andere.«
»Richtig. Manchmal muß man sich entscheiden.« Billy lächelte. »Ich habe mich bereits entschieden.« »Für was denn?« »Für den Heiligen.« Plötzlich klemmte die Faust wieder in Sukos Magen fest. Die letzten drei Worte hatten ihm klargemacht, weshalb er eigentlich im Zimmer dieses Jungen saß. Nicht nur zum Plaudern. Es ging um eine teuflische, um eine sehr böse Sache. Es ging um Mord und um ein apokalyptisches Wesen, das es schaffte, die Menschen zu beeinflussen. Er blieb sehr ruhig, als er Billy fragte: »Du glaubst an ihn, wie?« »Ja. Ich kann ihn nicht vergessen.« »Auch jetzt nicht.« »Ich muß immer an ihn denken, und ich habe sogar das Gefühl, in seiner Nähe zu sein.« »Nein…!« »Doch, doch.« Billy nickte. »Kannst du mir denn mehr darüber sagen?« Billy schüttelte den Kopf. »Warum nicht?« »Weil du nicht sein Freund bist. Du hast mir nicht geglaubt, daß er heilig ist. Ich aber glaube es. Ich habe doch gesehen, wie er vom Himmel kam.« Er deutete auf seine Stirn. »Mit meinen eigenen Augen habe ich das gesehen.« Suko nickte. »Das mag alles stimmen«, gab er zu, »aber kannst du dir auch vorstellen, daß Belial gelogen hat?« »Gelogen?« hauchte Billy und beugte sich erregt vor. »Gelogen, sagst du? Ein Heiliger soll gelogen haben?« »Kann doch sein.« »Aber ein Heiliger lügt nicht. Dann wäre er doch nicht heilig.« Gegen diese Logik kam Suko nicht an, da mußte er passen, was Billy wiederum verwunderte. »Du sagst ja nichts.« »Was sollte ich dazu auch sagen?« »Es ist nicht leicht, mit Heiligen zurechtzukommen«, erklärte er altklug. »Da muß man schon das erlebt haben, was ich erlebt habe. Und ich weiß auch, daß ich ihn bestimmt noch einmal sehen werde. Er kehrt zurück, zu mir, er wird mir noch etwas sagen.« »Wann denn?« »Das weiß ich nicht, Suko. Ich kann doch einem Heiligen keine Vorschriften machen.« »Sehe ich ein, Billy. Könntest du mir einen Gefallen tun, wenn ich dich darum bitte?« »Klar – welchen?«
»Könntest du mich verständigen, wenn du mit ihm Kontakt hast? Ich möchte Belial auch kennenlernen.« »Hm.« Billy überlegte. »Meinst du das denn auch ehrlich?« »Ich würde dich nicht anlügen.« Der Junge schnalzte mit der Zunge. »Das glaube ich dir sogar. Ja, du würdest mich nicht anlügen, du nicht. Du bist nicht so wie viele andere. Meine Mutter hat mir…« Er sprach nicht zu Ende, denn beide hörten den Schuß. Und der war nicht draußen, sondern in der Wohnung aufgeklungen… *** Dana Wilson verstand die Welt nicht mehr, obwohl sie mit John Sinclair über gewisse Probleme gesprochen hatte. Sie gehörte zu den Menschen, die auf dem Land aufgewachsen waren und schlimme Dinge nur aus dem Kino oder vom Bildschirm her kannten. Überhaupt nichts wußte sie über Magie. Plötzlich aber war sie in ihr Leben getreten. Es hatte sie erwischt wie ein brutaler Faustschlag, und am schlimmsten empfand sie es, daß ihr Sohn damit konfrontiert worden war. Mit ihm war etwas geschehen. Er hatte es ihr genau erklärt, doch für die Frau war es nicht nachvollziehbar. Sie konnte die Dinge nicht begreifen, und sie wollte auch nicht länger darüber nachdenken. Nur etwas kam ihr immer wieder in den Sinn oder brach sich freie Bahn. Es war der mütterliche Instinkt, der dafür sorgte, daß sie, sie ganz allein, ihr Kind beschützen mußte. Nichts anderes geht es. Nur ihr Kind, ihren Sohn, ihren Jungen, den einzigen. Sie stöhnte auf. Die Hände hielt sie zu Fäusten geballt. Und zwischen Fingern spürte sie den feuchten Schweiß. Das alles regte sie innerlich auf, und in der Küche kam sich Mrs. Wilson so verloren vor, weil nicht sie bei ihrem Sohn war, sondern der Polizist. Wer wußte denn schon, wie er Billy behandelte, obwohl Dana ihm nichts Böses zutraute. Trotzdem, sie war die Mutter, und sie würde auch nachschauen. Dieser Polizist hatte nicht über ihren Jungen zu bestimmen, sondern sie allein, die Mutter. Noch einmal strich Dana Wilson ihre Kleidung glatt, dann schritt sie auf die Tür zu. Im Flur blieb sie stehen. Das Innere des Hauses kam ihr verdächtig still vor. Nur von draußen hörte sie die Stimmen der neugierigen Nachbarn, die bestimmt gern zu ihr gekommen wären, aber zwei Polizisten standen vor der Tür als Wächter, und im Garten hielten sich zwei weitere Beamte auf.
Wie in einem Gefängnis, dachte Dana. Ich sitze hier wie in einem Knast, und das in meinem eigenen Haus. Sie schüttelte den Kopf, ging weiter und hörte das Stimmengemurmel der beiden Polizisten aus dem Wohnraum. Sie hatten die Tür nicht geschlossen, und Dana war plötzlich neugierig und wollte erfahren, worüber sich die beiden Männer wohl unterhielten. Sicher, es ging um den Fall, aber damit auch um Billy und sie. Auf Zehenspitzen schlich sie weiter. Ein schlechtes Gewissen hatte sie nicht. Zudem hoffte sie darauf, daß die Beamten ihr Haus so schnell wie möglich wieder verließen. Dann würde sie absperren, mit Billy allein bleiben und noch mal mit ihrem Mann in London auf der Baustelle telefonieren, denn der wußte überhaupt noch nicht, was hier noch geschehen war. Zwei Schritte weiter befand sich die Wohnzimmertür. Bills Schuhe standen im Weg. Dana schritt darüber hinweg, ging wieder vor – und schaute nach links. Sie wollte nur einen raschen Blick in das Zimmer werfen und dann weitergehen, es sei denn, sie wäre angesprochen worden. Es sah nicht so aus. Beide Männer saßen sich gegenüber, und einer von ihnen zog plötzlich eine Pistole und richtete sie auf John Sinclair. Dana konnte nicht anders. Sie mußte einfach schreien! *** Diesen Schrei hörten Bexhill und ich. Nur reagierten wir unterschiedlich. Während der Chief Inspector nach links zur Tür hin schaute, weil ihn der Schrei aus seiner Starre gerissen hatte, tat ich genau das Gegenteil. Ich wuchtete den Tisch blitzschnell in die Höhe und rammte ihn auch nach vorn. Die harte Abrundung erwischte Bexhill, er wurde mitsamt seinem Stuhl zurückgeschleudert, sein Arm flog hoch, er schoß und jagte die Kugel schräg in die Decke. Mich hielt nichts mehr. Ich hechtete über die Tischplatte hinweg und hatte die Kakaokanne gepackt, mit der ich zielsicher zuschlug. Die Kanne landete auf dem Kopf des Kollegen, ohne zu zerbrechen. Aber sie sorgte bei Bexhill für eine Irritation. Er wußte plötzlich nicht mehr so recht, wo er sich befand. Er stöhnte auf, er rollte sich vom Tisch weg, war zu schlapp, um den rechten Arm anzuheben, und ich stand schon blitzschnell neben ihm. Mit einer harten Drehbewegung wand ich ihm die Waffe aus der Hand und steckte sie in den Gürtel. Der Kollege lag zwischen der Wand und dem Tisch. Er stöhnte leise. Seine Augen hatten einen etwas glasigen Ausdruck bekommen. In der
Türöffnung tauchte Suko auf und ließ seine Beretta sinken, denn er sah, daß ich alles im Griff hatte. »Was war los?« fragte er trotzdem. Ich deutete auf Bexhill. »Er wollte mich erschießen!« »Was?« »Ja, der Kollege.« Ich spürte im nachhinein das Zittern. »Aber eigentlich nicht er, sondern unser Freund Belial.« »Verstehe ich noch nicht!« gab Suko zu. Ich hob die Schultern. »Das ist auch schwer zu begreifen. Ich denke mal, daß Bexhill ihm in die Quere gekommen ist. Nicht mehr und nicht weniger.« »Belial hat auf ihn gelauert.« »Auch.« »Dann müßte er sich ja hier in der Gegend herumtreiben«, sagte mein Freund. Er lachte plötzlich, weil ihm mein Blick nicht gefiel. »Was ist denn?« »Du kannst recht haben!« »Ja, und wer wird uns darüber genauer Auskunft geben?« Ich schaute auf Bexhill, der noch immer angeschlagen war. Er hatte die Tischkante unter das Kinn bekommen, und dort breitete sich schon ein blauer Fleck aus. »Oder Billy!« sagte Suko. »Nein, nein, nein!« Dana Wilsons Stimme klang, als wäre eine Sirene eingeschaltet worden. »Nicht Billy, das kommt nicht in Frage. Nicht der Junge!« Suko ging auf die Frau zu und drückte sie in den Flur zurück. »Keine Sorge, Mrs. Wilson, wir werden uns um Billy kümmern und dafür sorgen, daß ihm kein Haar gekrümmt wird.« Die Frau schnappte nach Luft. Sie war erregt. »Meine Güte, können Sie das überhaupt versprechen?« »Ja, kann ich.« »Aber ich…« »Bitte, Mrs. Wilson, warten Sie ab. So lange, bis wir mit unseren Kollegen gesprochen haben. Gehen Sie zu Ihrem Sohn ins Zimmer, das wird am besten sein.« »Gut, danke!« flüsterte sie und verschwand. Suko blieb zurück. Er schaute zu, wie ich meine Arme in die Achselhöhlen des Kollegen schob und ihn hochhievte. Ich schleifte ihn zu einem Sessel und drückte ihn hinein. Suko hob inzwischen den Tisch auf. Das Geschirr war nicht zerbrochen, der dicke Teppich hatte es verhindert. »Ich besorge mal Wasser«, sagte Suko und ließ mich mit dem Chief Inspector zurück.
Bexhill machte den Eindruck eines Menschen, der aus einem tiefen Schlaf erwacht war. Er strich über seine Stirn, räusperte sich, kniff die Augen zu, öffnete sie wieder und betastete sein Kinn, das eine grünblaue Färbung bekommen hatte. Dann sah er mich. Seine Brauen zogen sich zusammen. »Verdammt noch mal, was ist passiert?« »Sie wollten mich töten!« »Bitte?« Wenn er gekonnt hätte, er wäre aus dem Sessel gesprungen, so aber blieb er hocken. »Ja, Sie wollten mich töten!« »Aber nein…« »Doch, Sie zielten bereits mit dieser Waffe auf mich.« Ich holte sie hervor, und der Kollege starrte darauf, dann schüttelte er den Kopf. Ich entlud sie vor seinen Augen und reichte sie ihm zurück. »Nur zur Sicherheit, mein Lieber.« Er sagte nichts. Er schluckte nur, war bleich im Gesicht, grübelte und war wenig später froh, als Suko kam und ihm das gefüllte Wasserglas reichte. »Es wird Ihnen guttun.« Bexhill trank sehr langsam und schaute uns dabei an. »Ich…ich… muß einen Blackout gehabt haben«, sagte er schließlich, als er das Glas absetzte. »Einen richtigen Blackout. Meine Güte, wenn ich näher darüber nachdenke, dann… dann…« »Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Bexhill, wir werden gemeinsam versuchen, dies aufzuklären.« Er blickte mich skeptisch an. »Meinen Sie?« »Bestimmt.« »Ich weiß nicht.« Dann grinste er. »Aber einen harten Punch haben Sie schon, Kollege.« »Das war nicht ich, das war der Tisch.« »Ach.« Ich klärte ihn auf, und wieder konnte der Kollege nur den Kopf darüber schütteln. Ich sprach aber auch davon, daß er nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen sein mußte, sondern von einer anderen Kraft dazu verleitet worden war. »Ja, Kollege Sinclair, das sehe ich ein. Aber wie war das möglich?« »Denken Sie mal nach. Es muß auf der Fahrt hierher gewesen sein. Sie waren doch allein – oder?« »Ich saß in meinem Wagen.« »Und?« Bexhill hustete in seine hohle Hand. »Nichts«, sagte er dann. Das paßte mir nicht. »Sie wollen nichts gespürt haben, Bexhill?« Er hob die Schultern und seufzte dabei. »Verdammt noch mal, was sollte ich denn gespürt haben?« »Genau kann ich Ihnen das auch nicht erklären. Es stand fest, daß Sie unter einen fremden Einfluß geraten sind. Das ist eine Tatsache, daran
gibt es nichts zu rütteln. Sie müssen doch gemerkt haben, wie es passierte. Dieser andere Einfluß kann sie nicht so ohne weiteres übernommen haben. Daran glaube ich nicht.« Der Chief Inspector dachte nach. »Ja«, sagte er nach einer Weile und nickte. »Ja, da ist etwas gewesen, Sie haben recht, Mr. Sinclair. Bevor ich den Ort hier erreichte, fühlte ich mich sekundenlang wie benebelt. Es war kein Blackout, aber ich hatte das Gefühl, für einen Moment nicht mehr ganz da zu sein.« Er blickte mich fragend an. »Möglicherweise kennen Sie das?« »Ja, so etwas habe ich auch schon durchgemacht.« »Ich habe es auf die Nachtschicht geschoben, Mr. Sinclair. Darüber denke ich jetzt natürlich anders. Es muß also der Moment gewesen sein, wo die anderen oder das andere Kontakt mit mir aufgenommen hat. Stimmen Sie mir da zu?« »Hundertprozentig.« Bexhill atmete scharf. »Was ist es denn gewesen? Können Sie mir das genau sagen?« »Nein, nicht hundertprozentig. Einigen wir uns darauf, daß es eine andere Macht war.« »Andere Macht, wie?« »So ist es!« Der Kollege überlegte, doch er kam mit dieser Vermutung nicht zurecht. Aber was sollte er tun? Wir würden unsere Karten nicht offen auf den Tisch legen. »Ich will Ihnen ja keine Vorschriften machen, aber sollen wir es nicht dabei belassen?« Ich lächelte, bevor ich sprach. »Es wird uns nichts anderes übrigbleiben.« Bexhill war noch nicht hundertprozentig überzeugt. »Es ist mir verdammt peinlich, das muß ich Ihnen sagen. Und Sie informieren meine Vorgesetzten nicht über diese… nun ja…« »Wir werden den Mund halten!« »Danke.« Ich drehte mich um und sah Suko dabei an, der ein Gesicht machte, als wollte er fragen, wie es denn nun weiterging. Eine verbindliche Antwort konnte er von mir auch nicht erwarten. Belial war verschwunden, und wir würden ihn kaum aus seiner Deckung hervorlocken können. Er zeigte sich nur, wenn er wollte. Eine direkte Spur gab es nicht. Aber er würde sie legen, das stand fest. Und diese Spur würde typisch für ihn sein. In meinen Vorstellungen sah ich die schlimmsten Dinge, ohne daß sich allerdings konkrete Bilder hätten hervorschälen können. Es war einfach grauenhaft, und ich schaffte es einfach nicht, die Bilder wegzuwischen.
Sukos Stimme hörte ich nur leise, obwohl er fast neben mir stand. »John, Mrs. Wilson ist hier.« Ich drehte mich um. Die Frau stand schon im Zimmer. Sie machte einen nervösen und auch ängstlichen Eindruck. »Was ist geschehen?« wollte ich von ihr wissen. »Es ist komisch, Mr. Sinclair. Mit mir ist nichts, aber mit meinem Sohn.« »Und was ist mit ihm?« »Er ist so seltsam. So abwesend. Ich habe mal gesehen, wie jemand reagiert, der Drogen oder Beruhigungspillen genommen hat. So ähnlich kommt er mir vor.« »Hat er denn etwas zu Ihnen gesagt?« »Ich habe nichts verstanden.« »Wir schauen nach.« Suko schloß sich uns an, als wir zu Billys Zimmer gingen. Der Junge saß auf seinem Bett, und seine Mutter hatte sich nicht geirrt. Er sah tatsächlich verändert aus. Blaß und nachdenklich, wie jemand, der vergeblich ein Problem zu lösen versuchte. Sein Blick war ins Leere gerichtet, er bewegte die Augenlider, runzelte die Stirn und war kaum ansprechbar, zumindest nicht mit leisen Worten. Erst als Suko seine Stimme anhob, schaute Billy auf. Mein Freund lächelte ihn an. »He, Billy, was ist los mit dir? Du sitzt hier wie bestellt und vergessen. Hast du etwas? Gibt es irgendwelche Probleme, die dich quälen?« Billy runzelte die Stirn und leckte sich die Lippen. »Ich weiß es nicht genau, Suko.« »Okay, aber etwas weißt du?« »Das schon.« »Sag es mir.« Bill hob den Arm so langsam, als würde er träumen. Einige Fingerkuppen legte er gegen die Stirn, nickte vor sich hin und meinte mit bleiern klingender Stimme: »Da ist etwas in meinem Kopf, Suko.« Der Inspektor war in die Knie gegangen. »Kannst du mir sagen, was es genau ist?« »Nein, etwas Fremdes und doch Bekanntes.« Er schaute plötzlich hoch. »Jemand hat gelacht.« Pause… »Was noch?« Billys Lippen zuckten. »Dann hat die Stimme auch etwas gesagt.« »Sie hat vom Sterben gesprochen.« »Und was hat sie genau gesagt?« »Sie sprach davon, daß viele, viele Menschen sterben werden. In der großen Stadt…« »Belial!« sagte ich.
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, das… das… kann ich nicht glauben. Ein Heiliger tötet doch nicht – oder…?« Da waren wir anderer Meinung! *** Die Apokalypse hatte London erreicht, und Belial war zufrieden! Er war gegangen, einfach nur gelaufen, denn er wußte sehr genau, wo sein Ziel lag. Er roch die Stadt, er roch die Menschen. Er roch, daß dort alles konzentriert war, was die Menschheit ausmachte. Gegensätze, die zwischen den Menschen Gräben aufrissen, in die er hineinstoßen konnte wie die glühende Lanze in eine frische Wunde. Er würde sich die Opfer aussuchen können. Lügen, lächerlich machen, das alles gehörte dazu. Er würde die Familien auseinandertreiben, er würde dafür sorgen, daß der Sohn dem Vater nicht mehr gehorchte, die Tochter nicht der Mutter, er würde die alten Bande zerstören. Er würde nur an sich selbst denken, denn der große Luzifer sollte merken, daß er ihn nicht grundlos geschickt hatte. Belial – Luzifers Diener, Luzifers Leibwächter. Einer aus der ganz alten Zeit, in der an Menschen noch nicht zu denken war. Aber die Menschen waren entstanden, sie hatten sich vermehrt, sie gingen zum Großteil ihren eigenen Weg und kümmerten sich einen Dreck um die Dinge, mit denen damals alles begonnen hatte. Zur Lüge gehören auch der Tod und die Verdammnis. Belial liebte beides, und er würde auch dafür sorgen, daß sie ihn anbeteten. Die Lüge würde für sie alle zur Wahrheit werden. Die alten Regeln waren überholt. London! Er sah die Stadt mit seinen besonderen Augen. Er sah sie verkleinert wie auf einer großen Panoramakarte vor sich liegen. Ein weites Gebiet, über dem der Himmel allmählich grau wurde, weil sich die Dämmerung heranschlich. Die Stadt, dieser lebendige, quirlige Moloch, lag vor ihm. Belial stöhnte, er hielt sich abseits, aber er wollte nicht mehr am Boden stehen, sondern hineinschweben in den grauen Himmel. Belial war ein Engel. Ein Wesen zwischen den Fronten. Nicht erklärbar, aber mit einer menschlichen Gestalt vergleichbar. Plötzlich schwebte ein riesiger, grauer Vogel durch die Luft, trieb mit mächtigen Flügelschlägen der Dämmerung und den Wolken entgegen, war einfach nicht zu halten und glitt über den Boden hinweg wie ein großer Schatten. Er hätte auch normal nach London hineingehen können, das aber war nicht möglich. Zu viele Hindernisse hatten sich aufgebaut, die Welt war längst nicht mehr so wie bei ihrer Entstehung. Hier ging alles anders,
hier hatten sich die Menschen die Regeln geschaffen, nach denen sie lebten. Er sah es von oben. Er schaute auf die Häuser, er blickte hinein in die Schluchten der Straßen, er sah die Autos, die Lichter, und er sah auch die Menschen, die sich nicht in ihren Häusern aufhielten. Alles war so fremd für ihn, gleichzeitig aber sehr bekannt. Ein Lächeln huschte über sein graues Gesicht. Niemand hatte ihn gesehen, niemand würde ihn sehen, wenn er hoch über den Dächern dahinschwebte. Es gab keinen Grund, ihn anzuschauen. Er war nicht zu hören, er glitt dahin wie ein langer Schatten und bewegte seine Schwingen kaum. Einer, der durch die Wolken floß, der von ihnen wie von Wasserstreifen umschmeichelt wurde. Sie glitten an ihm entlang, sie waren wie Schleier, und zwischen ihnen lagen oft genug die klaren Inseln, die einen Blick in die Tiefe gestatteten. Künstliches Licht kämpfte gegen das Herannahen der Dunkelheit an, ohne sie jedoch besiegen zu können. Es gab keine Chance, es war alles anders geworden. Die Finsternis würde siegen, und auch er würde sich mit der Finsternis verbünden. Nicht nur das: Er war die Finsternis! Es tat Belial gut, so zu denken. Seine dünnen Lippen lächelten. Der Vergleich gefiel ihm. Er war die Finsternis! Er würde die Dunkelheit in die Seelen der Menschen hineinbringen, und dafür sorgen, daß die Lüge zur Wahrheit wurde. Seine Wahrheit zählte, alles andere war uninteressant geworden. Es gab nur seine Wahrheit, die der alten Zeit. Er spürte den Wind. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Der Wind war gut, er brachte ihm die Botschaft mit, die ihm gefiel. Der Geruch der Menschen, ihre Ausstrahlung, die in ihm den Hunger nach Seelenkraft hochtrieb. Da kam einiges zusammen, das ihm Freude bereitete. Wunderbare Welt, seine Welt würde es werden. Alles würde sich ändern. Sie würden ihm gehorchen, und er würde dem großen Luzifer die Welt und die Menschheit zu Füßen legen. Belials Lächeln verschwand. Urplötzlich nahm sein Gesicht einen harten, einen lauernden Ausdruck an. Die Augen funkelten in mehreren Farben zugleich. Über seine nackte Gestalt zog sich ein Schauer hin, denn etwas Furchtbares drängte von unten hoch und erreichte ihn wie eine düstere Botschaft. Da war was… Er flog weiter, aber er war jetzt auf der Hut. Sein Interesse galt einzig und allein dem anderen aus der Tiefe. Es strömte hoch, es war nicht zu riechen oder… Belial war verwirrt.
Er schüttelte sich, flog jetzt Kreise und schaute weit über die Stadt hinweg. Seine scharfen Augen suchten den Himmel ab. Er wußte plötzlich, daß in dieser Weite nicht nur die Wolken wie lange Schatten lagen, sondern auch etwas anderes sich ausbreitete. Eine Botschaft… Ahnten die Menschen etwas? War ihnen bewußt geworden, daß er sich auf dem Weg befand? Belial konnte es nicht glauben. Alles war anders geworden, obwohl sich vor und über ihm nichts verändert hatte. Er spürte es trotzdem, es war wie ein Stich gewesen, der seine Seele getroffen hatte. Anders… Jemand wußte genau Bescheid, daß er sich in der Nähe aufhielt. Dieser Jemand war kein Mensch, er war ein anderer. Einer, den er nicht unterschätzen durfte. Jemand, der ihm auf der Spur war, der mehr über ihn wußte als ein Mensch. Aber wer? Kalt war es plötzlich. Er schaute nach vorn und sah die Lichter, die über den Himmel segelten. Sie irritierten ihn für einen Moment, weil dort ebenfalls etwas flog. Es hatte nichts mit ihm zu tun. Es war von den Menschen erschaffen worden, ein großer Vogel, der sich allmählich zu Boden senkte. Seine Flügel waren starr. Die Warnung blieb auch darin, als der Vogel verschwunden war. Kein anderer konnte ihm das Wasser reichen, zumindest kein Mensch, davon war er überzeugt, obwohl es einige Menschen gab, die es auch mit ihm aufnehmen würden. Darüber aber wollte er nicht nachdenken, so weit war die Zeit noch nicht fortgeschritten. Es gab andere Dinge zu tun, um die er sich kümmern mußte. Keine Menschen… Wer dann? Belial wurde unruhig. Er bewegte sich noch immer im Kreis, aber er sank tiefer. Plötzlich fühlte er sich in der Luft nicht mehr wohl. Er würde sich zwischen den Häusern der Stadt verstecken, obwohl er wußte, daß es nicht viel helfen würde. Das andere blieb… Belial war klar, daß ihn jemand aufgespürt hatte. Einer, der ihm auf der Spur war, und er erinnerte sich daran, ihn schon einmal erlebt zu haben. Er hatte ihn nicht gesehen, doch er hatte seine Ausstrahlung gespürt. Wieder glitt er tiefer. Seine Augen richteten sich auf ein breites Band, das die Stadt in zwei Hälften teilte. Es floß krumm und zeigte eine dunkle Oberfläche, auf der einige Reflexe schimmerten, als würden ihm zahlreiche Augen zuzwinkern.
Irritation erfaßte Belial. Er mochte es nicht, wenn jemand versuchte, ihm auf den Fersen zu bleiben. Er suchte sich seine Feinde selbst aus, nicht sie sollten den ersten Schritt tun. Aber hier hatte jemand den ersten Schritt getan. Schon ziemlich lange, und er würde dem anderen auf die Spur kommen. Die Welt war einfach zu klein für ihn und den Feind. Er schwebte in die Nähe des Flusses hinab. Er sah das sich bewegende Band aus Wasser und Wellen, und sein Blick streifte auch über die erleuchteten Brücken hinweg. Belial stellte sich vor, wie sie zerbrachen, in das Wasser hineinfielen und Menschen und Fahrzeuge mit sich rissen. Eine Vision der Zukunft, aber durchaus möglich. Wenn die Menschen anfingen zu lügen, dann würden sie auch das zerstören, was sie aufgebaut hatten, ohne darüber nachzudenken. Der Gedanke gefiel ihm. Er gefiel ihm sogar sehr gut, und ein scharfes Lachen verließ seinen Mund. Von unten her drangen ihm die widerlich stinkenden Gase entgegen, mit denen sein feiner Geruchssinn nicht zurechtkam. Er ekelte sich. Er haßte die anderen… Er landete. Belial streckte sich. Die Flügel an seinem Rücken klappten zusammen, und für einen Moment rutschte er mit beiden Füßen über den Boden, bis er zur Ruhe kam. Er war mitten in der Stadt gelandet, in der Nähe des Flusses, und trotzdem kam er sich einsam vor. Es waren keine Menschen in der Nähe, nur so etwas wie Natur. Gärten, kleine Häuser darin, auch Zäune aus Holz oder Draht. Damit kam er nicht zurecht. Er kannte so etwas nicht und ging auf eines der Häuser zu. Da roch er die Menschen… Belial blieb stehen. Sie befanden sich in seiner Nähe, aber sie waren versteckt. Hinter der Wand, im Haus… Der Engel der Lügen lächelte, und er wußte plötzlich, daß es ein weibliches und ein männliches Wesen waren. Er sah jetzt auch das Licht. Es schimmerte durch die Ritzen hinter einem Fenster hervor. Der Vorhang schloß nicht fugendicht. Belial strich an dem Fenster vorbei und drehte sich nach rechts, um an die Schmalseite des Hauses zu gelangen und damit auch an die normale Eingangstür. Menschen, Fleisch und Blut, auch Seelen. Er spürte es immer deutlicher, und in seinem Innern reifte ein Plan, der ihm würdig genug erschien, von
ihm ausgeführt zu werden. Er würde mit ihnen spielen, er würde sie manipulieren, er würde… Ein Lachen erschreckte ihn. Es war hinter ihm aufgeklungen, und Belial ärgerte sich, weil er den anderen nicht gehört hatte. Der hatte sich einfach an ihn herangeschlichen, beinahe schon lautlos, und dem Lachen folgten Worte. »He, was bist du denn für eine komische Gestalt? Willst du zum Karneval gehen? So wie du läuft doch nur jemand rum, der sich verkleidet. Spielst du hier den Engel?« Belial sagte nichts. »Ich habe übrigens eine Kanone, du Engel. Damit schieße ich auch auf dich. Die Hügel helfen dir nichts. Also nimm schön die Hände hoch, tritt von der Tür weg und lehne dich gegen die Wand. Wir lassen uns in unseren Geschäften nicht stören, das kann ich dir versichern, du Lumpenhund.« Belial hatte zugehört. Er wußte genau, was der andere von ihm wollte, nur störte er sich nicht daran. Sehr langsam drehte er sich um und hob sogar die Arme an. »Gut, das machst du gut, aber du sollst dich…« Die Stimme verstummte, denn plötzlich stand der Lügenengel vor ihm. Trotz der Dunkelheit bekam der Typ mit der Ledermütze und der Kanone in der Hand seinen Mund nicht mehr zu. Seine dunkle Hautfarbe schien bleich zu werden. Schweiß perlte auf seiner Stirn, er saugte die Luft ein, und der Mund verbreiterte sich zu einem Grinsen. Es war nicht ernst gemeint, denn es spiegelte nur die Angst wider, die der junge Mann fühlte. Nicht so Belial! Er schüttelte leicht den Kopf. Dann packte er zu. Und er griff die rechte Hand des anderen. Die Waffe störte ihn nicht. Seine Hand war so groß, um sie beinahe ganz zu greifen. Mit einer nahezu locker anmutenden Bewegung bog er den Lauf in die Höhe, und der dunkelhäutige Aufpasser tat nichts, um sich zu wehren. Er stand einfach nur da, ohne den Mund zu schließen. Es knackte, als irgend etwas in der Waffe brach. Noch ein Knacken. Das war schon der Handknochen des Mannes. Glühender Schmerz fraß sich seinen Arm hoch. Schreien konnte der Aufpasser nicht. Alles ging zu schnell. Zudem stand er unter Schock. Belial riß den Menschen in die Höhe. Und wie er das tat, deutete darauf hin, daß ein Mensch für ihn eigentlich nicht mehr war als eine Puppe. Ein zischender Laut drang dem Engel entgegen, das war alles. Belial schmetterte den anderen zu Boden. Es gelang ihm noch, den Menschen zu drehen, so daß er mit dem Kopf zuerst gegen die Steine prallte. Ein dumpfer Laut erklang, und Belial ließ seinen Feind los. Er brauchte sich um ihn nicht mehr zu kümmern, jetzt waren die anderen an
der Reihe. Sein Instinkt hatte ihn hergeführt, er hörte das Lachen der weiblichen Stimme, und er nickte vor sich hin. Für ihn stand fest, daß sie so bald nicht mehr lachen würde. Die Tür war kein Hindernis. Er hob ein Bein an und rammte es vor. Das Krachen war noch nicht verklungen, als die Tür bereits auf dem Boden lag und er die Laube betreten hatte. Belial sah sich um. Seine Augen saugten in Sekundenbruchteilen auf, was sich in seiner Umgebung befand. Auf dem Boden hockten eine Frau und ein Mann. Beide waren noch jünger. Zwischen ihnen stand ein oben offener Rucksack, der mit Geldscheinbündeln gefüllt war. Sie waren dabei, das Geld nachzuzählen, das sicherlich von einem Raub stammte. Beleuchtet wurde die Szene von dem Licht mehrerer Kerzen, die im Raum verteilt standen. Belial hatte sie aus ihrer Beschäftigung hervorgerissen. Beide schauten ihn aus schockweiten Augen an. Zuerst reagierte der Mann. Er sprang in die Höhe, griff unter seine schwarze Jacke, um dort eine Waffe hervorzuholen. Der Tritt erwischte ihn, als er noch nicht richtig stand. Er schrie nicht einmal, als er gegen die Wand klatschte, daran herabrutschte und dort liegenblieb. Die Frau oder das Mädchen hatte es mit ansehen müssen. Sie wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie konnte auch nichts tun, der andere war zu schnell. Bevor sie sich noch zur Seite bewegen und die Flucht ergreifen konnte, hatte eine Hand sie erwischt. Die Finger griffen in ihren Nacken, sie drückten den Kopf nach unten, und dann tat Belial etwas Schreckliches. Für ihn waren die Menschen Gewürm, nicht mehr als Gewürm. Er ließ die Frau auf dem Bauch liegen und kümmerte sich um das Geld. Sollte er es mitnehmen? Er hatte sich noch nicht entschieden. Zuerst schaute er sich in dem kleinen Raum um und fand eine schmale Tür, die in eine Abstellkammer führte. Dort standen einige Gartengeräte, aber er sah auch zwei graue Kittel unterschiedlicher Länge. Belial entschied sich für den längsten. Er streifte ihn über, und der Kittel war weit genug geschnitten, um auch seine Flügel zu verdecken. Nur ein kleiner Buckel zeichnete sich unter dem Stoff an seinem Rücken ab. Er war zufrieden. Einige Geldbündel stopfte er sich in die Seitentaschen. Geld bedeutete ihm zwar nichts, aber in der normalen Welt war es schon wichtig.
So ausgerüstet verließ er den Ort des Schreckens. Im Garten blieb er stehen und schaute in den mittlerweile dunkel gewordenen Himmel. Er hätte zufrieden sein können, sehr sogar. Er war es nicht. Irgend etwas störte ihn. Etwas war anders… Jemand war ihm auf der Spur. Und das gefiel Belial überhaupt nicht… *** Noch jemand hatte London erreicht, denn dieser Jemand war auf der Suche. Der Gerechte konnte es einfach nicht zulassen, daß jemand wie Belial die Stadt und damit auch deren Menschen unter seine Kontrolle brachte. Raniel war der Gerechte, und diesen Namen trug er nicht umsonst. Es widerstrebte einfach seinem Gefühl nach Gerechtigkeit, dieses zuzulassen, und er würde die entsprechenden Gegenmaßnahmen einleiten, das stand für ihn fest. Im Prinzip hatte er mit der Menschheit nicht viel am Hut, denn er gehörte nur zur Hälfte zu ihnen. Trotzdem mußte er sich auf der anderen Seite stellen, denn das hatte er schon immer getan. Raniel ging dabei den Weg des Rächers. Er nahm auf keine menschlichen Gesetze Rücksicht, er vernichtete seine Feinde, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnten. Das hatte er mehr als einmal bewiesen, unter anderem in einer Schule, die von einem Psychopathen gestürmt worden war. Der Kerl hatte die Kinder, die Lehrer und auch die Schule abfackeln wollen, aber Raniel hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht und dabei so gehandelt, wie er es für richtig hielt. Damals hatte er John Sinclair, den Geisterjäger, kennengelernt und hatte erfahren müssen, daß es auch Menschen gab, die so ähnlich dachten wie er. Nur hielten sich Sinclair und seine Freunde an die Gesetze, die eben von den Menschen gemacht worden waren, um ein mehr oder weniger friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Für ihn war das nichts. Er ging seinen Weg, und das hatte er auch seinem Sohn Elohim eingeimpft, einem Jungen, der erst allmählich gemerkt hatte, welche Vergangenheit auf ihm lastete. Elohim war nicht mit ihm gekommen. Auf dieser Rachetour wollte sich der Gerechte einzig und allein auf sich selbst verlassen. Etwas anderes kam nicht in Frage. Er wußte, daß Belial London erreicht hatte. Er hatte eine gewisse Spur hinterlassen, die Raniel sehr genau erkannte. Er wußte, welchen Weg er zu gehen hatte, und er würde ihn gehen. Bis zum Ziel.
Die Aura des anderen war da, aber sie wurde schwächer. Dabei war sie vor kurzem noch überdeutlich gewesen. Nun verlor sie sich wie ein Hauch im Wind. Raniel stand dort, wo er die Spur verloren hatte. Ein Gartengelände umgab ihn, eingepackt in die Dunkelheit des Abends, der allmählich der anbrechenden Nacht entgegenlief. Der Himmel war nicht völlig dunkel. Zu stark strahlte die Stadt noch ab und schickte ihre künstlichen Lichtreflexe in die Höhe. Raniel schritt lautlos durch das Gelände. Eine dunkle Gestalt, deren langer Mantel im Wind wehte. Sie sah aus wie ein düsterer Vampir, der seine Gruft verlassen hatte und auf Blut wartete. Plötzlich sah er den Schein. Licht sickerte aus einem Fenster. Es war relativ schwach, und wer es sehen wollte, mußte schon genau hinschauen. Raniel hatte hingeschaut, er bewegte sich auf das Licht zu. Sehr bald stand er vor dem kompakten Umriß einer gemauerten Laube. Hinter ihr ragten die kahlen Zweige irgendwelcher Obstbäume in die Höhe. Raniel schritt auf den Eingang zu. Sehr bald schon sah er die Gestalt bewegungslos am Boden liegen. Er bückte sich. Vor ihm lag ein Toter. Raniel nickte nur, drehte sich und sah die aufgebrochene Tür. Das Licht der Kerzen strahlte ihm weich entgegen, und dennoch war es von der Kälte des Todes durchdrungen, die der Gerechte wie einen eisigen Hauch bemerkte. Er betrat die Laube, und nach dem zweiten Schritt verkanteten seine Gesichtszüge noch stärker. Die Frau war tot, der Mann ebenfalls. Zwischen den beiden Leichen stand der Rucksack mit dem Geld. Raniel ging davon aus, daß es geraubt war. Belial hatte gezeigt, wozu er fähig war. Er war unberechenbar, denn er verbreitete nicht nur seine Lügen, er tötete auch aus reiner Lust. O ja, er gehörte zum engsten Kreis des absolut Bösen. Luzifer würde mit ihm zufrieden sein, sehr zufrieden sogar. Raniel drehte sich um. Hier konnte er nichts mehr tun. Er war einfach zu spät gekommen. Aber hätte es etwas genutzt, wenn er pünktlich gewesen wäre? Dann wäre es zu einem Kampf zwischen ihm und dem Engel der Lügen gekommen. Die Zeit war noch nicht reif, es mußte dauern, er mußte sich erst auf die Begegnung vorbereiten und… Aus seinem Mund drang ein Schrei der Wut. Er hielt die Arme ausgebreitet und die Hände zu Fäusten geballt. Dann drehte er sich um und ging weg. Es wurde Zeit.
Es war nicht nur zwölf, es war bereits fünf Minuten später… *** Billy Wilson nickte uns zu, als wollte er von uns eine Bestätigung seiner Antwort erhalten, doch wir hielten uns zurück und kamen auf ein anderes Thema zu sprechen. »Du hast die Stimme tatsächlich gehört?« fragte ich den Jungen. Er antwortete mit einem ernsten Nicken. »Und du bist dir sicher, daß sie vom Sterben gesprochen hat? Daß viele Menschen sterben werden?« »Ja, das bin ich.« »Wo? Weißt du denn, wo die Menschen sterben sollen?« »In der Stadt, John.« »Die ist groß.« Billy hob die Schultern und schloß den Mund. Er wollte nichts mehr sagen. Seine Mutter stand neben ihm und rang nach Luft. »Sie… Sie werden ihm doch nicht glauben – oder?« Suko antwortete ihr. »Auch wenn es Ihnen schwerfallen wird, Mrs. Wilson, aber Sie müssen akzeptieren, was da geschehen ist. Ihr Sohn hat sich zwar von heute auf morgen äußerlich nicht verändert, aber er ist Zeuge eines Vorfalls geworden, der uns noch unerklärlich erscheint, den wir aber akzeptieren müssen.« »Das sehe ich nicht ein, Mr. Sinclair.« Sie strich ihrem Sohn über den Kopf. »Auch wenn Billy beinahe so groß wie seine Mutter ist, aber er ist noch ein Kind. Sie können ihm nicht so viel zumuten.« »Das stimmt, Mrs. Wilson. Wir muten ihm auch nicht zuviel zu. Es sind andere Kräfte.« »Wieso Kräfte?« »Belial.« »Dieser komische Heilige!?« »Es ist kein komischer Heiliger, Mum!« widersprach der Junge energisch. »Nein, das ist er nicht. Ich habe ihn doch gespürt!« Billy deutete wieder auf seinen Kopf. »Er war hier, er war hier drin. Dort hat er gedanklich getobt.« »Sicher.« »Mehr sagst du nicht?« Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Billy. Ich kann dir auch nicht helfen.« Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. »Ich weiß nicht, was ich da tun soll.« »Sie nichts, Mrs. Wilson«, erklärte ich. »Wenn etwas getan wird, dann übernehmen wir das.«
Die Frau überlegte, bevor sie mich mit stumpfem Blick anschaute. »Sie sind Menschen – Polizisten! Nichts gegen Sie, ich bin Ihnen auch dankbar, und ich weiß, daß Sie an gewisse Dinge glauben, die ich mir nicht vorstellen kann. Aber meinen Sie denn im Ernst, daß Sie gegen eine Gestalt wie diesen… na ja, diesen Heiligen überhaupt ankommen? Glauben Sie das?« »Es wird für uns schwer werden«, gab ich zu, »sogar sehr schwer. Aber wir werden uns stellen. Zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen versichern, daß mein Freund und ich auf keinen Fall so blauäugig sind, wie es vielleicht scheint. Wir haben Erfahrungen sammeln können. Wir werden nicht unvorbereitet in diesen Kampf hineingehen, das steht fest. Auch wenn es Ihnen schwerfällt, sie sollten versuchen, uns zu vertrauen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Nach einer Weile des Nachdenkens nickte Mrs. Wilson. »Sicher, ich muß Ihnen sogar vertrauen. Aber tun Sie mir einen Gefallen, lassen Sie meinen Sohn aus dem Spiel.« »Ich weiß nicht, ob das machbar ist.« »Warum nicht?« »Schauen Sie, Mrs. Wilson«, sagte Suko. »Ihr Sohn ist unsere Spur zu dieser Person. Er hat mit ihr Kontakt. Er weiß möglicherweise, wo wir ihn finden können. Ich kenne den Grund nicht, weshalb sich Belial mit ihm in Verbindung gesetzt hat. Vielleicht will er auch, daß Billy uns zu ihm führt. Er räumt uns die Steine aus dem Weg, die zu Stolperfallen werden können. Daran sollten Sie denken, und mein Freund und ich werden alles daransetzen, um Ihren Sohn zu schützen. Wir sind sogar davon überzeugt, daß dieser angebliche Heilige Ihrem Sohn nichts antun wird. Er braucht ihn. Hätte er ihm etwas antun wollen, dann wäre es schon längst passiert.« Dana Wilson schauderte zusammen. »Ich weiß nicht, ob ich das alles glauben soll. Ob Sie überhaupt recht haben. Niemand kann mir das bestätigen.« »Das stimmt, doch manchmal entstehen Konstellationen, die man einfach akzeptieren muß, Mrs. Wilson, und man muß versuchen, das Beste aus derartigen Situationen zu machen. Wir sind ja auch nicht unerfahren. Ihr Sohn soll uns nur hinführen, wir werden ihn aus der eigentlichen Auseinandersetzung heraushalten. Natürlich müssen Sie letztendlich Ihre Zustimmung geben, aber ich würde dazu raten, denn dieser Fall kann große Kreise ziehen.« Die Frau dachte nach. Ein paarmal hob sie die Schultern, weil sie unschlüssig war. »Was sagst du denn dazu, Billy? Bitte, ich weiß, daß ich dich zu nichts zwingen kann. Du stehst jetzt vor einer Entscheidung, die du allein treffen mußt.«
Billy umarmte seine Mutter. Dabei sprach er: »Mum, ich möchte gehen. Ich muß es tun.« »Dann willst du ihn wiedersehen?« »Auch das.« »Denkst du dabei nicht an die Gefahr?« flüsterte Dana. »Ich glaube nicht, daß es für mich gefährlich sein wird.« »Für wen dann?« »Andere Menschen. Ich möchte nicht, daß sie in Gefahr geraten. Außerdem hat er mir doch gesagt, daß er ein Heiliger ist. Und Heilige…« »Bitte, Billy.« »Schon gut, Mum.« Dana Wilson suchte nach einem Taschentuch, da sie plötzlich weinen mußte. Dann startete sie einen letzten Versuch. »Könnte ich denn nicht mit Ihnen fahren? Wäre das nicht besser?« »Nein, Mrs. Wilson«, erwiderte ich. »Das wäre sogar schlechter, denn auf Sie würde Belial keine Rücksicht nehmen. Da ist er brutal. Billy braucht er, Sie nicht.« »Und was ist mit Ihnen?« »Keine Sorge, wir sind es gewohnt, uns gewissen Feinden zu stellen. Verlassen Sie sich darauf.« »Das muß ich dann wohl«, murmelte sie. Billy lächelte seine Mutter an. »Es wird schon gutgehen, Mum.« »Meinst du wirklich?« »Ja!« Noch einmal umarmte sie ihren Jungen. Aus dem Sessel erhob sich Chief Inspector Bexhill. Noch immer sah er etwas mitgenommen aus. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt. »Tun Sie es, Mr. Sinclair, bitte tun Sie es. Ich habe ihn erlebt, es war furchtbar. Er muß gestoppt werden.« »Das sehen wir auch so.« »Können wir dann fahren?« fragte Billy. »Sicher«, sagte Suko. »Wir sind bereit«. Er streckte Billy die Hand entgegen, die der Junge auch ergriff. Es war ein Schutz, er sollte sich geborgen fühlen. »In London arbeitet auch mein Vater. Dort ist eine riesige Baustelle. Vielleicht können wir ihn besuchen.« »Das werden wir schon!« versprach Suko. Dana Wilson war uns vorausgeeilt. Sie nahm die Jacke des Jungen und streifte sie ihm über. Noch einmal umarmte und küßte sie ihn. »Alles Gute, Billy!« »Danke, Mum.« Wir traten hinaus ins Freie. Ich war als erster gegangen und schaute mich um. Es hatte sich nichts zum Negativen hin verändert. Bexhills Leute waren noch am Tatort, und der Chief Inspector, der uns gefolgt
war, verabschiedete sich von mir mit einem Händedruck. Dabei schaute er mir fest in die Augen. »Es bleibt bei Ihrem Versprechen, Mr. Sinclair?« »Sie können sich darauf verlassen, Kollege.« »Danke.« Billy wurde von uns in die Mitte genommen, als wir zum Rover gingen. Er hielt den Kopf gesenkt, wie jemand, der seine eigenen Schritte zählt. Er war nicht verlegen, sondern ziemlich normal, sprach von seinem Vater, der sich sicherlich wundern würde, wenn er hörte, was Billy erlebt hatte. Da ich fuhr, hatte Suko sich neben unseren Schützling auf den Rücksitz gesetzt. Bevor ich startete, drehte ich mich um. »Wir fahren also nach London?« vergewisserte ich mich. »Klar, John.« »Kannst du auch sagen, wohin wir dort fahren sollen?« Er hob die Schultern. »Nein, das kann ich nicht. Ich… ich… weiß es noch nicht.« »Stehst du denn weiterhin mit ihm in Kontakt?« Billy zog ein enttäuschtes Gesicht. »Nein, John, im Moment nicht. Ich will nur fahren.« »Das sollst du auch.« Ich startete. London wartete auf uns, aber wir wußten nicht, was uns dort erwartete… *** Belial war in der Stadt. Er war in der richtigen Stadt. Er war dort, wo sich das Leben abspielte, wo die Gestalten der Nacht wach wurden, weil der Tag endlich vorbei war. Bunte, schrille und schräge Typen, die in die Discos strömten, die sich den Frust von der Seele schreien und tanzen wollten, die endlich etwas Luft bekamen, die man ihnen tagsüber nicht ließ. Jungle – das war der neue Tanz! Ein Mittelding, zwischen Techno- und afrikanischen Kulttänzen. Jungle war in London kreiert worden. Jungle gehörte zur Szene, und wer etwas auf sich hielt, tanzte ihn. In den Geburtsstätten des Tanzes wurde die Nacht zum Tage gemacht; hier explodierte das Leben. In den riesigen Glitzer- und Lichtpalästen, die mit den Tanzhallen und Discos der vergangenen Jahre überhaupt nichts mehr zu tun hatten. Hier kochte die Welt über, und die Menschen waren glücklich. Die Konventionen wurden gebrochen. Es interessierte keinen, wie der andere aussah. In London konnte sich jeder kleiden und frisieren, wie er es gern hätte, wie er sich wohl fühlte. Und nur deshalb kamen auch diese schrillen Outfits zustande. Es war einfach wunderbar, in der Szene zu leben und die Nacht durchzumachen. Die Büchsen mit dem Bier wurden mit auf die Tanzflächen genommen, um stets wieder auftanken zu können.
Belial wußte dies alles nicht. Er würde auch nie darüber nachdenken, er brauchte einzig und allein einen Ort, wo sich viele Menschen versammelten, über die er die Kontrolle bekam. Lügen verbreiten… Er lachte, als er daran dachte und im Schatten eines Bretterzauns stehenblieb. Dahinter lag ein leeres Grundstück, das demnächst bebaut werden sollte. Dann würde auch die neue Disco verschwinden müssen, die in der alten Halle untergebracht worden war, einem ehemaligen Umspannwerk. Die Versorgungsgesellschaft hatte es aufgegeben, da sie Platz für mehr Kapazitäten benötigte. Der Bau war nicht abgerissen, sondern vermietet worden. Die Disco lag günstig, denn vor dem großen Ziegelsteinbau existierte ein großer Parkplatz. Im Boden verankerte ferngesteuerte Scheinwerfer strahlten den Bau an. Die Lichtkegel glitten über die Außenwände hinweg, erreichten das Dach, strahlten gegen den Himmel, kehrten wieder zurück, und all die bunten Farben verliehen dem Gebäude etwas Lebendiges. Das sah auch Belial. Er blieb stehen, umgeben vom Stimmenwirrwarr der ankommenden Gäste. Niemand kümmerte sich um ihn. Niemand nahm Anstoß an seinem Outfit. Im Vergleich zu vielen anderen Gästen sah er sogar noch normal aus. Alle strömten zum Eingang der Disco, der nicht erst geöffnet werden mußte. Er stand auf wie ein breites und hohes Maul. Mädchen und Jungen gingen in die Höhle, um das Leben zu genießen, um zu lachen, zu schreien, zu tanzen. Irgendwann würden sie dann wie benommen den Schuppen verlassen, denn auch Musik konnte eine Droge sein. Belial ließ sich treiben. Er schloß sich einer Gruppe düster gekleideter Gestalten an, die sich auf dem Kirchentrip befanden. Die jungen Leute trugen Mönchs- oder Nonnenkleidung. Sie waren mit Kreuzen und kleinen Heiligenbildern behängt, sie gaben sich ernst und gelassen, doch so ganz wollte die Tracht nun nicht passen, denn keine Nonne in einem Kloster trug einen Rock mit einem dermaßen langen Schlitz. Die weiblichen Gäste taten es. Sie hatten sie sogar verbreitert, damit das nackte oder bestrumpfte Fleisch ihrer Beine zu sehen war und auch die manchmal farbigen Strapse ins Freie lugten. Belial wußte mit diesen Personen nichts anzufangen. In seinem Bild, das er sich von der Welt gemacht hatte, wirkten sie wie Fremdkörper. Auch diese Gruppe warf Belial nicht einen Blick zu. Sie strebte dem Eingang entgegen, aber sie hatte es geschafft, den Engel der Lügen noch neugierig werden zu lassen.
Musik dröhnte ins Freie. Schrille und harte Rhythmen. Es gab keine Melodien mehr, es wurde einfach nur ein gewisses Lebensgefühl transportiert, den Alltag, den Frust, einfach alles hinausschreien, sich gehen lassen und nur der Musik gehorchend. Eine Kasse gab es ebenfalls. Hinter ihr hockte ein schmalschultriger Bursche mit Pickeln im Gesicht. Flankiert wurde er von zwei schrankbreiten Aufpassen, die sich ihre Nasen mit roten Ringen geschmückt hatten. Sie trugen so enge Anzüge, als gehörten sie zur alten Star-Treck-Besatzung. Waffen waren an ihnen nicht zu sehen, die lagen sicherlich in Bereitschaft. Die Gruppe vor Belial blieb stehen und zahlte den Eintritt. Sie bekamen einen Stempel auf die Hand und durften passieren. Dann war die Reihe an Belial. Er griff in die Tasche und legte einige Pfundnoten hin. Der picklige Jüngling griff nach dem Stempel um ihn auf den Handrücken zu drücken. Das wollte Belial nicht. »Nein«, sagte er. »Das muß aber sein.« »Reicht das Geld nicht?« »Doch!« »Behalte es. Alles.« Der Picklige glotzte starr auf das Geld. »Hast du das ernst gemeint?« erkundigte er sich. »Ja.« Belial ging weiter. Er wurde auch nicht aufgehalten. Die beiden Aufpasser hielten sich zurück. Sie flüsterten nur mit dem Kassenclown, dann teilten sie sich das Restgeld. Sehr bald schon war Belial in der Menge verschwunden. Er mußte sich erst orientieren und stellte nun fest, daß der gesamte Raum praktisch nur aus einer einzigen Tanzfläche bestand. Erst an der gegenüberliegenden Seite gab es so etwas wie eine lange Theke, an der Getränke verkauft wurden. Hinter ihr schufteten sechs Angestellte, drei Männer und drei Frauen, die Glitzerkleidung trugen und grell geschminkt waren. Belial interessierte sich nicht für sie. Es machte ihm auch nichts aus, daß er stehengeblieben war und die Tänzer behinderte. Ihn interessierte etwas anderes. Es war die Kabine, die unter der Decke und über der Tanzfläche schwebte. Sie sah auch deshalb wie eine verglaste Baggerschaufel aus, weil sie von einem mächtigen und schräg nach vorn gereckten Arm gehalten wurde. Eingerahmt wurde die Kabine von zahlreichen Scheinwerfern, die ihre bunten und kreisenden Lichtspeere über die Körper der Gäste ergossen
und manche von ihnen aussehen ließ wie Kasperlefiguren auf einer kleinen Kinderbühne. Belial lächelte. Es war ein wissendes Lächeln, das da über seine Lippen hinwegglitt, denn die Kabine war sein Ziel. Das war die Zentrale, er sah dort einen Mann, dessen Glatze schimmerte. Der DJ. stand vor einem Mischpult, wo er LPs, CDs und Kassetten einlegte. Zwischendurch sprach er ins Mikro und heizte die Stimmung an. Sein Organ schrillte aus zahlreichen Lautsprechern. Er war der große Zampano, er dirigierte, die anderen tanzten nach seiner Pfeife. Eine junge Frau mit grün gefärbten Haaren huschte an Belial vorbei. Er nahm sie nicht zur Kenntnis. Für ihn war die Gondel über der Tanzfläche wichtiger. Er mußte hinein. Seine Kräfte wollte er nicht ausspielen. Er hätte auf sie zufliegen können, aber das war nicht gut. Später wollte er sein Inkognito lüften. Es gab deshalb nur eine Möglichkeit für ihn. Er mußte den normalen Weg gehen. Belial schlug einen Bogen, um den Ort zu erreichen, wo der lange Tragearm begann, an dem die verglaste Kabine hing. Um die Tanzenden kümmerte er sich nicht. Er ging stur weiter, und es störte ihn auch nicht, wenn er angerempelt wurde oder er anrempelte. Der breite Arm war auf einer eisernen Plattform befestigt. Diese wiederum hatte man mit dem Boden verankert, da konnte nichts bewegt werden, und an der Außenseite des Armes führte eine Leiter in die Höhe. Belial blieb stehen. Er schaute die Leiter hoch. An deren Ende sah er die Rückwand der Kabine. Sie war nicht verglast, deshalb hatte man auch die Tür einbauen können. Sehr gut! Er lächelte, ging den letzten Schritt und wollte seinen Fuß auf die unterste Sprosse stellen, als sich plötzlich eine schwere Hand auf seine linke Schulter legte. Belial blieb stehen. Die Hand zog ihn von der Leiter weg. Finger gruben sich in seine Schulter, der Stoff war dabei kaum ein Hindernis. Belial gab dem Druck nach und ließ sich herumziehen. Ein Aufpasser starrte ihn an. Auch er trug einen Ring in der Nase. Sein Grinsen war kalt und böse. Das Gesicht schimmerte dunkel, weil Bartschatten auf den Wangen wuchsen, und der kleine Mund sah aus wie eine feuchte Wunde. »Willst du da hoch?« Belial nickte. »Hast du eine Erlaubnis?« »Nein!« »Dann verpiß dich, Schmächtiger, sonst trete ich dich in den Boden, verstanden?«
Belial nickte. Er hatte verstanden, aber er wollte nicht weichen. Die Hand lag noch immer auf seiner Schulter, und Belials Gesicht verdüsterte sich weiter, als sich die Augenbrauen zusammenzogen. Auch der Aufpasser erkannte die Veränderung. Er wußte nicht mehr, was er tun sollte. Von dieser Gestalt ging etwas aus, das er noch nie in seinem Leben gespürt hatte. Eine unheimliche, gefährliche, vielleicht auch tödliche Aura streifte ihn. Was tun? Wenn er sich zurückzog, wenn dies von anderen gesehen wurde, war sein Respekt dahin. Er kam zu keinem Ergebnis, denn das ließ der andere einfach nicht zu. Belial hob den linken Arm an, drückte die Hand an seine Brust vorbei und umfaßte das Gelenk des Mannes. Er drückte es zusammen. Der Aufpasser hatte schreien wollen. Er brachte aber nur ein Stöhnen zustande, das in der Geräuschkulisse unterging. Mit der anderen Faust schlug ihm Belial auf den Kopf. Der Mann brach zusammen und blieb vor dem Podest liegen. Belial schleifte ihn in den Schatten. Es war ihm auch egal, ob seine Tat beobachtet worden war. Ihm kam es darauf an, das Ziel zu erreichen, um von dort oben die Menschen regieren zu können. Ohne daß er aufgehalten wurde, stieg er die Leiter hoch, und er knöpfte dabei seinen Kittel auf. Er wollte frei und beweglich sein, wenn er sich den Massen zeigte. Nach vorn gebeugt und sich an den Griffen festhaltend erklomm er Sprosse für Sprosse. Es gab keinen mehr, der ihm den Weg zum Ziel streitig machen wollte. Sollte die Hintertür oben verschlossen sein, er würde sie leicht eintreten können. Davor blieb er stehen, drehte den Kopf und warf einen letzten Blick zurück. In dieser Gegend hielten sich kaum Gäste auf, und wenn, dann tanzten sie nicht, sondern standen zusammen und versuchten, sich zu unterhalten, was bei diesem Lärm nicht so einfach war. In der Kanzel würde es anders sein, das Glas war dick und schallgedämpft. Belial nickte. Dann legte er seine Hand auf die Türklinke. Einen Moment später zerrte er die Tür auf, und nun betrat er das Allerheiligste des DJ. Jetzt war er fast am Ziel… *** Noch jemand war auf der Suche – Raniel, der Gerechte! Über London hatte die Nacht ihren dunklen Mantel ausgebreitet, und Raniel streunte durch die Finsternis, die oft genug von grellen, bunten Lichtern durchbrochen wurde. Das ließ beinahe vergessen, daß es Nacht war.
In dieser künstlich wirkenden Umgebung bewegte er sich weiter. Er achtete nicht auf die anderen Menschen, deren Gestalten und Gesichter schemenhaft an ihm vorbeiglitten. Sein Gedanke galt einzig und allein dem Engel der Lügen, der großen Gefahr für London, dem lügnerischen, mordgierigen Leibwächters Luzifers, der geschickt worden war, um das Chaos über die Menschen zu bringen. Raniel spürte den anderen. Er war da. Er gehörte selbst zu den unerklärlichen Personen. Halb Engel, halb Mensch. Er war in der Lage, Grenzen zu überwinden, doch in diesem Fall bewegte er sich voran wie jeder andere Mensch auch. Die Aura des Bösen hatte ihn in ein bestimmtes Gebiet hineingetrieben, in ein Ghetto, das zu einem Sammelplatz junger Menschen geworden war. Raniel konnte es noch nicht richtig nachvollziehen. Er hatte die Glitzerwelt der City verlassen und bewegte sich durch düstere Gegenden, wo Menschen lebten, die bei offenen Fenstern schliefen. Die Dunkelheit war ein Schutz für ihn, aber auch für seinen Gegner. Nahe einer kleinen Grünfläche blieb der Gerechte stehen. Er war an einem Punkt angelangt, wo er sich entscheiden mußte. Raniel wußte genau, daß sein Freund nicht mehr weit von ihm entfernt war. Er roch die Fluten der Themse. Jenseits der Grünfläche huschten immer wieder helle Streifen dicht über den Belag einer Straße hinweg. Dahinter, jenseits der Grünfläche, da mußte er sich irgendwo aufhalten. Da hatte er sein Ziel gefunden. Raniel wartete nicht mehr. Er durchquerte den kleinen Park. Mit seinem empfindlichen Gehör nahm er etwas wahr, was eigentlich nicht so recht paßte. Es war Musik. Keine Melodie, ein hartes Wummern und Dröhnen. Der Gerechte wartete noch einen Moment. Seine Nasenflügel blähten sich, als wollte er den Geruch seines Feindes aufsaugen. Dann ging er, und sein Ziel lag dort, wo er die Musik gehört hatte. Er würde Belial finden und stellen. Wobei er nur hoffte, daß er noch Hilfe bekam, denn allein gegen Belial anzugehen, war nahezu unmöglich… *** Auf der Fahrt in Richtung Süden war meine Hoffnung doch ziemlich gesunken, den Engel der Lügen rasch zu finden. Ich glaubte nicht daran, daß der städtische Moloch ihn so rasch freigeben würde. In London befand er sich in einer Welt, in der er praktisch alles hatte. Verstecke und Menschen. Mehr brauchte er nicht. Es war sein äußerer Kosmos, von dem aus er in das Innere würde vorstoßen können.
Große Hoffnung setzte ich auch auf den Jungen, aber Billy verhielt sich stumm. Ab und zu sah ich sein Gesicht im Innenspiegel. Es war völlig ohne Ausdruck, glatt und nicht mal nachdenklich. Billy kam mir vor wie jemand, der sich in sein Schicksal gefügt hatte, dem es egal war, wohin er gebracht wurde. Auch darüber dachte ich nach und fragte mich, ob ich mich vielleicht geirrt hatte. Möglicherweise war er doch nicht der große Trumpf, auf den wir setzten. Vielleicht steckte er auch mit Belial unter einer Decke oder wurde von ihm manipuliert, ohne daß er es selbst wußte. Je mehr Zeit verstrich, um so dringender wurden die Fragen, die sich allmählich zu einem gewaltigen Berg hochtürmten. Als ich an einer Ampel hielt, blickte ich zurück. Billy erwiderte meinen Blick nicht. Suko saß grüblerisch neben ihm. Auch er schwieg. Ich räusperte mich. Billy schaute nicht hoch. Seine Hände lagen auf den Oberschenkeln. Er wirkte wie ein braver Schüler, dem der Lehrer Stillsitzen verordnet hatte. Als ich ihn ansprach, zuckte er leicht zusammen. »Geht es dir gut, Billy?« »Ja – schon.« »Und sonst?« Er hob die Schultern. »Laß ihn in Ruhe, John«, sagte Suko. »Er wird schon früh genug reden.« »Das hoffe ich.« »Es ist grün geworden, du kannst fahren.« Ich hob die Schultern und ließ den Rover ausrollen. Ich fuhr immer in Richtung Süden, um so die City zu erreichen. Die Vororte Edgware und Hendon hatten wir bereits passiert und näherten uns Hampstead. Der Verkehr verdichtete sich. Alte Häusermeere rahmten die Straßen ein, dazwischen schauten die Mündungen der kleineren Querstraßen hervor. Es gab Kreise, Ampeln und Grünflächen, historische Bauten, U-BahnStationen und einiges mehr, was eine Großstadt ausmachte. Restaurants, Kinos und kleine Theater. Es waren noch viele Menschen unterwegs, die am Abend und auch in der Nacht Abwechslung Vom normalen Alltag suchten. Als Billy hustete, wurde ich aufmerksam. Ich sah im Innenspiegel, wie er sich bewegte. Er schaute blitzschnell von rechts nach links, als wollte er etwas entdecken, was draußen an uns vorbeiglitt. Suko stellte ihm eine Frage. Ich hörte nicht, was er sagte, aber der Junge nickte. »Was ist denn?« »Er spürt ihn, John!« »Gut, und wo?« »Das steht noch nicht fest. Fahr einfach weiter. Behalte die Richtung bei. Okay?«
»Er ist am Fluß!« Billys Stimme erschreckte mich für einen Moment. Sie hatte tonlos geklungen. »Weißt du wo?« »Nein.« »Ich fahre weiter.« »Ja.« In den folgenden beiden Minuten schwiegen wir. Suko kümmerte sich um seinen Schützling. Er flüsterte wieder mit ihm. Diesmal hörte ich besser zu, und verstand auch Billys Antwort. »Musik…« Damit kam ich nicht zurecht. Ich verkniff mir eine Gegenfrage, während in der Ferne schon die berühmte und jetzt angestrahlte Tower Bridge zu erkennen war. Sie schien wie ein gewaltiges Denkmal des Industriezeitalters in der Dunkelheit zu schweben. Ich hielt weiterhin auf die Brücke zu, schaute aber auch in den Innenspiegel, um Billy sehen zu können. Er wischte mit seiner Handfläche über Stirn und Augen. Dann bewegte er seine Lippen, flüsterte, und Suko, der das Wort verstanden hatte, nickte. »Stepney, John.« »Verstanden.« Stepney war ein Vorort nördlich der Themse, nicht weit von unserem Standort entfernt und bereits nahe der Docks. Der Hafen lag also in unmittelbarer Reichweite. Gab es dort Verstecke? Sicherlich. Billy hatte den Begriff Musik erwähnt, und darüber mußte ich ebenfalls nachdenken. Wieso kam er darauf? Was hatte Belial mit Musik zu tun? Die Verbindung war auf der einen Seite etwas extrem, allerdings glaubte ich nicht daran, daß sie falsch war. »Du mußt mir sagen, Billy, wie ich fahren soll.« »Ja, ja, mach ich…« Kurz vor der Zufahrt zur Tower Bridge war ich in die Cable Street eingebogen. Sie führte in Richtung Osten, geradewegs nach Stepney hinein. An ihrem Ende zweigten die Stichstraßen ab, die zu den Docks führten. In dieser Gegend wurde viel renoviert und neu gebaut. Alte, nicht mehr rentable Docks und Werften waren abgerissen worden. Auf dem frei gewordenen Gelände sollten tolle Wohn- und Geschäftshäuser entstehen, doch die Rezession hatte vielen Maklern und Spekulanten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es gab Objekte, die zwar fertig aber nicht belegt waren, weil niemand die Mietpreise bezahlen konnte. Andere Bauten standen halbfertig in der Gegend, und wieder andere waren erst gar nicht in Angriff genommen worden. Aber die Gegend zog trotzdem Menschen an. Viele Künstler, auch schräge Nachtvögel und Geschäftemacher, die in Nischen eintauchten und mit Läden aller Art ihr Geld verdienten.
In dieser Gegend hatten sich Tätowierer ebenso niedergelassen wie Leute, die gebrauchte Kleidung anboten. Es roch international, wobei Gyros und Döna den Fisch & Chips starke Konkurrenz machten. Wenn wir in dieser Umgebung blieben, dann wunderte es mich, daß Belial sie sich ausgesucht hatte. Er würde die Menschen möglicherweise manipulieren können, aber es waren Personen ohne Macht und Einfluß. Ich an seiner Stelle hätte den Hebel woanders angesetzt. Ich wollte mich nicht zu sehr in Gedanken verlieren und fuhr jetzt langsamer, um so schnell wie möglich reagieren zu können, wenn Billy mir einen Hinweis gab. Er saß längst nicht mehr so ruhig auf seinem Platz. Immer wieder drehte er den Kopf, hob den Arm, setzte auch mal an, um etwas zu sagen, schwieg dann, weil er sich nicht traute oder sich nicht sicher war, auch die Wahrheit zu sprechen. »Musik«, sagte er wieder und diesmal lauter. »Welche?« fragte Suko. »Sie ist sehr laut. Auch schrill und hart. Kein Klavier, keine Geigen, aber…« »Techno?« »Hab ich mal von gehört.« »Weißt du denn, was das ist?« »Nicht genau, aber es ist keine Musik für einen Heiligen.« Er glaubte wohl noch immer daran, daß Belial ein Heiliger war. Wir widersprachen ihm auch nicht und warteten ab. »Sie wird lauter…« »Gut«, sagte Suko lobend. »Kannst du uns denn sagen, aus welcher Richtung sie kommt?« Billy hob die Schultern. »Laß dir Zeit, oder sollen wir stoppen?« »Wäre gut.« Ich hatte das Gespräch mitbekommen und suchte bereits nach einer Parklücke. Vergeblich. Deshalb stellte ich mich in die zweite Reihe und schaltete die Warnblinkanlage ein, deren Schein den Rover geisterhaft umhuschte. Wieder warteten wir. Billy Wilson senkte den Kopf und preßte die Hände seitlich dagegen. Dann flüsterte er: »Zum Wasser – ja, zum Wasser…« »Gut, dann werde ich gleich nach rechts fahren.« Ich hatte die Warnblinkleuchte noch nicht ausgeschaltet, als Billy schon weitersprach. »O nein«, flüsterte er, »O nein…« »Was ist denn?« Er schüttelte wild den Kopf. Suko wollte ihn ruhig halten, doch Billy bewegte sich noch in seinem Griff. »Der Heilige… der Heilige… er… er tut es!« »Was tut er?« rief Suko.
Billy starrte ihn an und fing an zu weinen… *** Die schwebende Kabine war tatsächlich schalldicht, so hatte der DJ. gehört, daß jemand hinter ihm die Tür geöffnet hatte. Er selbst hatte sich hingestellt, die Hände auf den Rand der Konsole gestützt und sich so vorgebeugt, daß er nach unten schauen und alles überblicken konnte. Seine Augen waren starr auf das Gewimmel der Tanzenden gerichtet, das sich aus zuckenden Frauen- und Männerleibern zusammensetzte und voll auf die Musik abfuhr. Belial betrat die Kabine und schloß die Tür. Der DJ. drehte sich erst gar nicht um. Er sagte nur zwei Worte: »Hau ab!« Genau das tat Belial nicht. Er war gekommen, um abzuräumen, um seinem Namen alle Ehre zu machen, und ein normaler Mensch wie dieser DJ. konnte ihn nicht aufhalten. »Bist du noch nicht weg?« »Nein!« erwiderte Belial. Zugleich streifte er seinen grauen Kittel ab. Die Antwort hatte den Mann mit der Glatze erstarren lassen. Er wartete noch einen Moment ab, dann drehte er sich langsam um, und Belial gab ihm auch die Zeit. »Ohhh«, keuchte BA. Jackson, der Plattenaufleger und Anmachstar. »Das darf doch nicht wahr sein!« Er hatte schon unzählige schräge Vögel in seinem Reich, doch der Typ, der vor ihm stand, setzte allem die Krone auf. Das war der absolute Hammer. Ein nacktes, geschlechtsloses Wesen mit einem mageren, bleichen Körper und langen, grauen Haaren, die sogar die Schultern wärmten, einem grauen Gesicht mit Furchen und Falten, einem breiten Mund und Augen, die nachdenklich, glanzlos und auch bösartig zugleich aussahen. Über die Schultern hinweg ragten die abgerundeten Kanten irgendwelcher Gegenstände, die durchaus mit den Enden von zwei Flügeln vergleichbar waren. BA. Jackson war entsetzt. Er selbst sah ja nicht gerade uniform aus mit seiner Glatze und den beiden Drachen-Tattoos darauf. Über den nackten Oberkörper hatte er eine knallrote Weste gestreift, und an seinen Handgelenken klimperten zahlreiche Armreifen aus Metall und Plastik. Um den Hals hatte er sich eine Kette aus Zähnen gehängt. Seine Beine, die Hüften und noch einiges mehr wurden von einer schwarzen Samthose umschlossen, und ebenso schwarz wuchs das Bärtchen wie ein Dreieck an seinem Kinn. Auf Körperschmuck hatte er verzichtet, dabei eignete sich die lange Nase bestens, um dort einige Ringe hineinzudrücken. Die Augenbrauen hatte er sich bis auf zwei dünne Striche abrasiert, er war eben ein Freak und zugleich jemand, der plötzlich eisige Furcht bekam.
Das war kein Spaß. Bisher hatte es noch niemand geschafft, an dem Aufpasser dort unten, der nur Dogge genannt wurde, vorbeizukommen. Diesem komischen Typen war es gelungen, und was mit Dogge geschehen war, konnte sich Jackson an zwei Fingern ausrechnen. »Was willst du hier?« Belial grinste nur. Er schaute sich um, vor allen Dingen durch die vordere Glasscheibe nach draußen, aber nicht auf den Boden. Mehr interessierte ihn der Disco-Himmel und die Lichtreflexe. Die Masse der Gäste wogte tiefer, und auf sie kam es Belial an. »Ich habe dich was gefragt.« »Das weiß ich!« »Dann gib mir Antwort.« B.A. Jacksons Stimme klang längst nicht mehr so sicher. Ein schriller Klang hatte sich hineingemischt, auch ein Zeichen der Angst. »Ich will deinen Job!« Der DJ. wollte lachen. Er hatte schon den Mund geöffnet, als ihm einfiel, es doch lieber zu unterlassen. So etwas konnte ihm der andere übelnehmen. Jackson wußte plötzlich nicht mehr, was er mit seinen Händen tun sollte. Er bewegte sie über den Rand der Konsole hinweg. Als er hinschaute, sah er die Schweißspuren. Er schwitzte nicht, weil es warm war. Nein, das hatte einen anderen Grund, es war die Angst. Um Zeit zu gewinnen, stellte er eine dumme Frage, wollte den anderen nicht vergraulen. Die Musik lief weiter, kein Gast protestierte. Er war mit den Klängen der neuen CD zufrieden. »Bist du denn vom Fach, Meister?« Belial hörte die Worte. Nur wußte er nicht, was er damit anfangen sollte. »Wie meinst du das?« »Ja, Mann.« Jackson gewann allmählich Oberwasser. Die Angst bohrte nicht mehr so tief. »Kannst du das hier bedienen? Ist nicht einfach, fast schon eine Wissenschaft.« »Meinst du?« »Klar, verdammt!« »Das glaube ich nicht.« Jackson brannte schon lange eine Frage auf der Zunge, die er jetzt stellte. »Was ist mit Dogge?« »Wer ist das?« »Der Mann unten!« Belial hob die Schultern. »Ich weiß nicht genau, ob er tot ist. Kann aber sein.« Der DJ. schnappte nach Luft. Plötzlich schwitzte er wieder stärker und fuhr durch sein Gesicht. »Verdammt noch mal, weißt du, was du da gesagt hast?« »Genau!«
Die Antwort verschlug selbst dem sprachschnellen DJ. die Sprache. Er stellte sich plötzlich die Frage, wer diese Gestalt war. Sie kam ihm vor wie ein böser Engel, wie jemand, der eine andere Welt verlassen hatte, um in der Welt der Menschen seine Zeichen zu setzen. Für ihn war das einfach Wahnsinn, verrückt, irre. Das… das… war nicht so leicht nachvollziehbar. Und überhaupt, der war kein Mann und keine Frau. Scheiße, der war gar nichts. »Du kannst gehen!« sagte Belial. »Ich?« schrillte Jackson zurück. »Wer sonst?« »Scheiße, das ist mein Platz!« »Nicht mehr!« Belial blieb gelassen. Er hatte es nicht weit, bis zum Pult, und B.A. Jackson sah mit Schrecken, daß er auf ihn zukam. Dieses verdammte graue Etwas, das den Namen Mensch nicht verdiente, sah so aus, als wollte es ihm an die Wäsche. Jackson wollte den Arm heben und den anderen wegstoßen, aber Belial reagierte gelassen. Er griff zu und hielt die rechte Hand des anderen fest. Dabei lächelte er. Jackson glotzte in das graue Gesicht. Er sah die Augen, und er sah darin etwas, das er nicht beschreiben konnte. Unsagbar böse und schlimm, auch rein menschenverachtend, bösartig hinterlistig – und mordlüstern. Der DJ. begriff. »Nein!« flüsterte er. »Nein, bitte nicht. Nein, ich werde nicht…« »Doch, du wirst!« »Wie denn?« »Sterben!« Jacksons Gelenk befand sich noch immer in dieser stahlharten Fingerpresse. Jetzt packte auch die andere Hand zu. Sie erwischte ihn an der Hüfte, und einen Moment später schwebte Jackson über dem Boden. Er schrie und zappelte mit den Beinen, doch niemand konnte seine Schreie hören, denn das Mikro war abgestellt. Noch in der Luft drehte ihn Belial herum. Ihm war es egal, ob er zappelte oder nicht, er hatte seinen Plan und würde ihn bis zum bitteren Ende durchführen. »Schau hinaus!« Jacksons Mund war weit aufgerissen. Belial kümmerte sich nicht um menschliche Schreie. Ihm bereiteten sie Vergnügen. Er war das Grauen und der Tod in einer Person. Dann schleuderte er den Körper vor. Nie hätte Jackson gedacht, daß er so schreien könnte. Er prallte gegen die Scheibe, die sofort zerbrach. Belial hörte den Knall. Er sah die Scherben, die Splitter, und er schaute zu, wie der Körper des DJ. in die Tiefe segelte, genau auf die Köpfe der Tanzenden zu…
*** Belial genoß das Bild. Er hätte sich keinen besseren Auftritt wünschen können. Als wäre er schon öfter in dieser Kabine gewesen, schaltete er mit sicherer Hand wieder das Mikrofon ein, denn später sollte jeder seine Botschaft hören. Zunächst aber schaute er zu, was unten auf der großen Tanzfläche passierte. Trotz des Lärms hatten einige Tänzer das Brechen des Glases gehört. Vielleicht hatten sie auch gerade nach oben geschaut, dann sahen sie, wie der Körper des DJ. Jackson in die Tiefe segelte, umgeben von höllisch scharfen Glasstücken. Wenn sie trafen, gab es zumindest Verletzte. Die ersten Schreie gellten. Sie kamen zu spät. BA. Jackson und auch die Scherben landeten inmitten der Tanzenden, und im Nu war in der Disco die Hölle los. Der fallende Körper hatte einige Tänzer mitgerissen und zu Boden geschleudert. Auch die Scherben fanden ihre Ziele. Plötzlich spritzte Blut wie ein schauriger Regen durch die Luft. Ein Junge brach zusammen. Sein Hals war blutrot. Das neben ihm tanzende Mädchen erwischte es im Rücken. Die Wucht einer Glasscheibe schleuderte sie nach vorn. Der Schrei war kaum auszuhalten. Das Mädchen fiel auf den Bauch. Die Scherbe steckte wie ein breites Dreieck in seinem Rücken. Und Belial schaute zu. Das war seine Zeit. Das war seine Welt. Er hörte sich selbst lachen, während unter ihm das Chaos ausbrach. Wer eben konnte, flüchtete aus der Gefahrenzone, während vier andere Gäste zusammen mit B.A. Jackson liegenblieben. Jeder wußte Bescheid. Bis in die hintersten dunklen Knutschecken der Disco hatte sich das Geschehen herumgesprochen, und es hätte zu einer Panik im ganzen Haus kommen müssen. Das ahnte auch Belial, deshalb trat er an das Pult. Das Mikro hatte er aus der Halterung gezogen. Er baute sich dort auf, wo die Scheibe zersprungen war. Die Flügel hatte er ausgebreitet und das Mikro vor seinen Mund gehalten. Aus zahlreichen Lautsprechern dröhnte seine Stimme, und sie war auch bis hinaus auf den Parkplatz zu hören. »Ich bin Belial. Ich bin der Leibwächter Luzifers, und ich bin erschienen, um endlich sein Zeitalter anbrechen zu lassen. Schaut auf mich, schaut auf den Schwarzen Engel und folgt mir nach…« ***
Der Gerechte fror! Es lag nicht am Wetter, die Kühle machte ihm nichts aus, es war eine andere Kälte, die ihn erreichte und allmählich in seinen Körper hineinstieg. Sie drängte sich hoch, und es gab nichts, was sie nicht erreichte. Jede Faser, jeder Muskel des Körpers wurde erwischt, sogar die dunklen Haare fühlten sich kühl an und gleichzeitig wie durch Elektrizität aufgeladen. Belial war dafür verantwortlich. Er hatte es geschafft, und der Gerechte mußte zugeben, zu spät gekommen zu sein. Der Engel der Lügen war schlauer gewesen. Geschickt hatte er es verstanden, seinen Vorsprung auszunutzen und auszubauen. Auch der Geisterjäger war ihm nicht auf die Spur gekommen, denn Belial war immer einen Schritt schneller gewesen. Raniel wußte Bescheid. Er hatte herausgefunden, wo sich der Todfeind aufhielt. Es war leider so eingetreten, wie er es sich vorgestellt hatte. Menschen – Belial brauchte Menschen. Er brauchte sie so wie seine Opfer Wasser und Brot. Er und seine Artgenossen hatten schon seit Urzeiten versucht, die Menschen in ihre Gewalt zu bringen. Bei den ersten Primaten überhaupt hatten sie sich gezeigt, waren aber von ihnen nicht verstanden worden. Später, bei einem zweiten Anlauf der Evolution, die über das Dasein als Affe hinauslief und wo das Gehirn bereits fast gleich mit den Menschen der Gegenwart gewesen war, hatten es die Engel des Bösen wieder versucht. Sie waren nicht begriffen worden, aber man hatte ihr Kommen festgehalten. Alte Höhlenzeichnungen wiesen darauf hin, denn Wissenschaftler hatten nicht nur Tierzeichnungen an den Wänden gefunden, sondern auch Wesen, die schaurig und fremd aussahen. Wie Belial und Konsorten… Raniel beeilte sich. Er hörte die Musik aus dem offenen Eingang dringen, er sah auch die grellen Lichter der Außenbeleuchtung wie zuckende Flammen über die Fassade huschen, und aus der offenen Tür drang ebenfalls das tanzende Licht. Und dann war die Musik weg. Sie wurde abgelöst. Schreie gellten nach draußen. Schreckliche Rufe, die den Gerechten noch blasser werden ließen. Und da wußte er, daß er zu spät gekommen war. Belial hatte mit seinem Blutbad bereits begonnen… *** Auch wir waren unterwegs.
Noch immer, wie ich dachte, und das gefiel mir nicht. Mit jeder Minute, die verging, konnte dieser verfluchte Lügenengel Oberwasser gewinnen, was ich auf keinen Fall wollte. Ich mußte ihn stellen, ich mußte ihn vernichten, und ich hoffte nur, daß Raniel mir dabei half, aber auch von ihm war weit und breit nichts zu sehen. Suko und ich mußten uns auf Billy verlassen. Nur er wußte den Weg. Er stand in Kontakt mit seinem >Heiligen<. Suko beobachtete den Jungen und registrierte jedes Wort aufmerksam. Ich war in eine dunkle Straße hineingefahren, und wir erreichten einen leeren Platz, von dem aus wieder einige Straßen abzweigten, die nicht asphaltiert waren. Auf dem Boden lag schwarzer Sand oder Schotter. Da ich nicht wußte, welche Straße ich nehmen sollte, hielt ich an. Das Licht der Scheinwerfer verlieh dem Belag einen falschen Glanz. »Weißt du Bescheid, Billy?« fragte Suko. Der Junge schaute nach vorn. Nach einer Weile nickte er. »Ja«, flüsterte er dann. »Du mußt geradeaus fahren. Ich höre die Musik nicht mehr!« Er schrie plötzlich. »Keine Musik, Schreie. Himmel, die sterben! – O neiiinnnn!« Schüttelfrost erfaßte ihn und machte ihn fertig. Er tobte auf dem Sitz, trat gegen die Rückbank, und mein Freund Suko hatte Mühe, den Jungen zu halten. »Fahr weiter, John!« Es gab in diesem Augenblick nichts, was ich lieber getan hätte… *** Belial hatte die ersten Sätze an >sein Volk< gerichtet. Es waren schon biblische Worte im Umkehrsinn gewesen, und jetzt wartete er auf die Wirkung. Sie zeigte sich sofort. Ein großes Schweigen entstand. Es gab keine Angst, keine Panik, zu der es nach den Vorgängen eigentlich hätte kommen müssen, nein, davon war nichts zu spüren. Alle Gäste schauten erfurchtsvoll zu ihm hoch. Der Engel der Lügen stand nicht ganz im Licht, aber jeder konnte ihn sehen, denn auch die Gäste, die ihren Platz an der Theke gefunden hatten, waren nun nach vorn gekommen, um Belial zu huldigen. Die Menschen erkannten die Hügel, was sie hätte irritieren müssen, doch ihnen schien es die normalste Sache der Welt zu sein. Hier herrschte Belial, das war seine Welt. Allein sein Charisma hatte die Menschen in Staunen versetzt, und es mischte sich mit Angst und Furcht, die in den Gesichtern lagen. Belial war zufrieden. Er lächelte. Seine Augen bewegten sich. Sie strahlten und gaben etwas ab, das die Menschen akzeptierten, denn
niemand war da, der sich akustisch wehrte oder sich innerlich gegen den Besucher gestemmt hätte. Etwas aus den Urzeiten war in die moderne, digitalisierte Welt eingebrochen. Es hatte die alte Botschaft mitgebracht, und kein Computer hätte die Menschen so in seinen Bann schlagen können wie eben die mächtige Gestalt des Schwarzen Engels. Der neue Herr wartete einige Minuten ab, bis sich auch der letzte an seinen Anblick hatte gewöhnen können. Noch einmal schaute er nieder, nickte und rief mit lauter Stimme: »Es ist der Beginn einer neuen Zeit. Ihr seid die Geburtshelfer der eigentlichen Strömung, denn euer Gott, wer immer es auch gewesen sein mag, ist tot. Es gibt ihn nicht mehr. Der neue Gott ist da, und er heißt Luzifer!« Das letzte Wort hatte er hinausgeschrieen. Es zitterte wie ein Donnerhall durch die alte Fabrik, und es erreichte jedes Ohr. Niemand erhob seine Stimme, um zu widersprechen, die Menschen waren in Ehrfurcht erstarrt, sie ließen sich lenken, sie schworen allen ihren Idealen ab, ohne es genau mitzubekommen, denn die Ausstrahlung des Engels der Lügen war einfach zu groß. Und Belial genoß diese neue Macht. Das hatte er sich immer erträumt, deshalb war er geschickt worden. An seine Feinde, die es auch hier gab, dachte er nicht. Für ihn allein zählte nur die neue Macht, die er über die Menschen hatte. »Ich bin der, der ich schon immer war. Ich habe an seiner Seite gestanden und gekämpft. Nun hat er mich zurückgeschickt, um das zu fordern, was ihm gehört. Menschen, Diener, die zu ihm hochschauen, die in seinem Namen die guten Taten vollbringen. Ja, ihr werdet gute Taten vollbringen, das kann ich euch schwören. Vergeßt alles, vergeßt euer Leben, es ist einfach lächerlich gewesen. Was sind schon Begriffe wie Freundschaft, Liebe und Familie? Es ist nichts, es ist Unsinn! Jeder muß an sich selbst denken, nur an sich selbst. So kann euer Leben dann in Luzifers Bahnen hineingleiten. Jeder ist sich selbst der Nächste. Jeder muß für sich allein kämpfen, denn die alten Tugenden, die man euch genannt hat und zu denen ihr erzogen worden seid, interessieren nicht mehr. Denkt an euch, das Leben gehört euch, die Welt gehört euch, und denkt immer daran, daß auch diese Welt regiert werden muß.« Belial legte eine Pause ein. Er wollte seine ketzerischen Worte zunächst wirken lassen. Auf der anderen Seite wartete er auf einen Widerspruch, der nicht erfolgte. Er konnte kein Exempel statuieren, niemand stellte sich offen gegen ihn, und er glaubte auch daran, daß die zumeist jungen Leute hier auch innerlich auf seiner Seite standen. Er hatte es geschafft! Die da unten waren unter seinen Worten zu Wachs geworden, das er nach Belieben formen konnte. Er hätte froh sein müssen, doch er war es nicht, denn die Zuhörer waren ihm zu brav.
Da mußte er etwas dagegen tun. Er wollte es ihnen zeigen und beweisen, und er würde sie mit einbeziehen. Seine Blicke streiften über die Köpfe hinweg. Wer war besonders geeignet für einen Test? Eigentlich alle. Damit gab sich Belial nicht zufrieden. Er wollte in etwas eindringen, er wollte sie demütigen und ihnen zeigen, zu welchen Kräften die Hölle auch jetzt noch fähig war. Ja, sie und das Böse wie Luzifer waren die eigentlichen Herren der Welt. Viele Menschen wußten es nur nicht, man mußte sie immer wieder daran erinnern. Er lächelte kalt, als er ein Paar gefunden hatte. Ein junges Mädchen und sein Freund. Beide standen dicht beisammen, hielten sich umarmt, die Köpfe aber so gedreht, daß sie hoch zur Gondel schauen konnten. Beide waren etwa zwanzig Jahre jung. Beide waren bunt gekleidet, im Glitzerlook. Die Haare trugen sie superkurz. Er wollte ihnen noch mehr zeigen. Über die Konsole hinweg stieg er auf den Rand der Gondel. Er schwebte hoch über ihnen, balancierte, und es sah so aus, als würde er jeden Augenblick nach unten kippen. Was auch geschah. Plötzlich rutschte Belial ab, fiel – ein Aufschrei der Zuschauer zeugte von der Angst, die sie um ihren neuen Herrn und Meister hatten, doch da irrten sie. Belial zeigte ihnen, wozu er fähig war. Er breitete seine dunklen Schwingen aus, und jeder Zuschauer wurde Zeuge, wie er durch die Luft segelte. Das Staunen war zu hören. Keiner hatte jemals einen Engel gesehen, zumindest nicht in natura. Was sie bisher zu Gesicht bekommen hatten, waren verkleidete Gestalten gewesen. Wesen aus der Werkstatt eines phantasiebegabten Künstlers, aber keine Engel. Belial flog seine Runden. Er sah alles, er glitt über sie hinweg. Es war kaum ein Geräusch zu hören, wenn er seine Flügel bewegte und die großen Kreise zog. Staunend schaute man ihm zu. In den Augen der Gaffer stand Bewunderung, eine gewisse Furcht, aber auch Lust zu lesen. Die ersten duckten sich, als Belial seine Flughöhe veränderte und sich allmählich in die Tiefe sinken ließ. Der Wind streifte die Haare der Zuschauer, fuhr durch ihre Gesichter. Er war wie ein Bote aus einer anderen Welt. Mit einem plötzlichen Ruck richtete sich Belial auf. Jetzt stand er in der Luft. Er schwebte über den Köpfen der Zuschauer, ließ sich langsam zu Boden gleiten, und genau an der Stelle, wo er auftreffen würde, schufen die Gäste Platz. Die Landefläche für den neuen Götzen entstand, der den Platz sofort ansteuerte und mit beiden Beinen zuerst den Boden berührte. Belial war genau dort gelandet, wo auch das Pärchen stand, das er sich für seine Demonstration ausgesucht hatte. Die beiden spürten irgendwie, daß sie es waren, mit denen sich der Lügenengel beschäftigen wollte.
Sie konnten nicht wegschauen. Wie unter einem Bann drehten sie ihm die Gesichter zu, bleich, ängstlich, dennoch voller Erwartung steckend. Sie wußten, daß etwas auf sie zukam, aber sie wußten nicht, wann und wie es genau geschehen würde. Belial schaute sie an. Die beiden schwiegen. Belial lächelte noch breiter, und in seinen kalten Augen entstand ein Glitzern, das auch etwas von der großen Vorfreude wiedergab, die er schon spürte. Ihm war klar, daß sie nicht gegen ihn ankamen. Er war ihr Herr und Herrscher. Sie würden alles tun, was er wollte. Sie würden ihm auch in den Tod folgen. Sie waren ihm hörig. Genau das hatte Belial gewußt. Es war ihm egal, wer von den beiden eine Antwort gab, als er sich ihnen zuwandte und auch das gespannte Schweigen der anderen Gäste registrierte. Ein jeder wußte, daß etwas passieren würde, aber keiner wagte auch nur im Ansatz, die entsprechende Frage zu stellen. Belial beherrschte hier alles. Er winkte mit einem Finger. »Kommt etwas näher zu mir, ihr beiden. Freut euch, daß ich euch ausgesucht habe.« »Ja…« »Wie schön.« Er streckte ihnen die Hände entgegen, ohne sie jedoch zu berühren. »Ihr gehört zusammen?« »Ja.« »Ihr liebt euch?« Die beiden schauten sich an. Ihre Gesichter waren noch so jung, irgendwo stellten sie die perfekte Unschuld da, im Vergleich zu der Gestalt, die vor ihnen stand. »Nun?« »Wir lieben uns!« flüsterte das Mädchen. Es hatte die Worte kaum ausgesprochen, als Belial reagierte. Er legte seinen Kopf zurück, öffnete den Mund, und ein gellendes Gelächter drang daraus hervor. Es war ein Lachen, wie man es kaum auf der Welt kannte. Es war ein teuflisches Lachen und nicht einfach zu beschreiben. In diesem Gelächter vereinigte sich so manches. Der Triumph der Hölle, der Sieg des Bösen über das Gute, wenn man es vereinfacht sah, und auch die Verachtung den Menschen gegenüber, die Belial ihnen entgegenbrachte, weil sie nur Figuren in einem dämonischen Spiel waren, die sich leicht hin- und herschieben ließen. Aber er brauchte sie, und er amüsierte sich auch über ihre Einfältigkeit, wie sie nur Menschen zeigen konnten. Liebe – was war schon Liebe? Einfach lächerlich, so etwas. Liebe war Lüge, Liebe gab es nicht, man liebte sich nicht, man hatte nur Angst und Respekt vor dem Höheren. Aber Liebe gehörte zu dem, was Luzifer und
Belial haßten, und sein Gelächter endete in einem gellenden Schrei, mit dem er dem Gefühl des Hasses freie Bahn ließ. Dann verstummte er. Es wurde still – wie wohl noch nie bei vollem Haus. Die Kontrolle hatte einzig und allein der Engel der Lügen. Und er würde seine Botschaft verbreiten, keiner sollte ihm entkommen, das stand fest. Er kümmerte sich wieder um das Paar. Die beiden standen auch weiterhin engumschlungen vor ihm, die Blicke in das graue, alte und trotzdem alterlos wirkende Gesicht gerichtet. Die Haare bestanden aus grauen Strähnen, die zu beiden Seiten des Kopfes glatt nach unten hingen und die nackten mageren Schultern wärmten. Der Lügenengel war kein Mann wie aus dem Fitneß-Studio, er war eine schmächtige Figur, und trotzdem ging von ihm eine Kraft aus, die andere zittern ließ. Er freute sich über die Furcht des jungen Paars, wartete noch etwas, bevor er eine erneute Frage stellte. »Ihr liebt euch also?« »Ja!« »Liebe?« höhnte er. »Was ist Liebe?« Beide schauten sich verunsichert an. »Sagt es, los!« »Das… das… können wir nicht!« flüsterte der Junge. »Wir wissen nicht, was Liebe ist. Wir spüren es nur. Wir gehören zusammen, wir wollen auch zusammenbleiben und…« Ein höhnisches Gelächter fegte ihm die Worte vom Mund. »Liebe und zusammenbleiben, daß ich nicht lache! Es ist der reine Wahnsinn, wenn ihr so denkt. Die Liebe gehört nicht in diese Welt. Merkt ihr das denn nicht? Es gibt keine Liebe…« »Aber… aber… was gibt es dann?« stotterte das Mädchen. »Das werde ich dir beweisen. Ich bin euer Herr, nur meine Ideologie zählt.« Er ging einen Schritt auf die Kleine zu, die so brav aussah, trotz der lila geschminkten Lippen. Belial faßte sie an. Das Mädchen zuckte kurz zusammen, dann aber folgte sie ihm, als er sie zu sich heranzog. Einen Moment später lag sie in seinen Armen, und er drückte sie nach hinten, damit der Rücken auf seinem ausgestreckten Arm Platz hatte. »Ich werde euch beiden zeigen, was Liebe ist«, flüsterte er. »Ich werde es euch zeigen.« Er küßte das Mädchen. Es war ein brutaler, ein geraubter Kuß. Die Kleine wehrte sich kaum, sie trampelte nur mit den Füßen, dann sank sie in seinem Arm zusammen. Als er kurz seine Lippen von ihren löste, drang allen das wollüstige Stöhnen entgegen, das den Mund des Mädchens verließ. Belial freute sich. Seine lange Hand fuhr wie die Klaue eines Hohns über den jungen Körper. Er faßte sie überall an und demonstrierte, was für ihn Liebe bedeutete.
Nichts, gar nichts! Und das sagte er ihnen auch. Er schrie sie dabei an. Er erklärte ihnen, wie wenig die Liebe zählte, denn sie, sein Opfer, war das beste Beispiel dafür. »Und so wird es euch allen in Zukunft gehen. Liebe ist Lüge, der Haß und der Egoismus werden regieren; und ich allein werde euer Anführer sein.« Schweigen. Zahlreiche Augenpaare waren auf Belial gerichtet. Er hielt noch immer das Mädchen fest, das mit einem seltsam entrückten Ausdruck in Belials Gesicht schaute. »Nun«, höhnte er. »Willst du mir sagen, daß du ihn liebst?« »Nein!« »Haßt du ihn?« »Ja!« »Haßt du ihn wirklich?« »Ja!« »Willst du es beweisen?« »Ja!« »Ich tue alles!« »Ha!« rief Belial in die Menge der Zuschauer. »Habt ihr es gehört? Sie tut alles. Sie ist bereit, alles zu tun, und so liebe ich das. Es ist meine Liebe, meine Definition, die schon seit Urzeiten Bestand hat. Ihr werdet sehen, wer stärker ist, sie wird es euch beweisen. Ich brauche eine Waffe!« Blitzschnell war dieser Themenwechsel erfolgt. Zu schnell, um die Gäste sofort handeln zu lassen. Sie warteten ab, sie schauten sich an, der eine verließ sich auf den anderen. »Eine Waffe!« Belials Forderung wurde erfüllt. Im nahen Hintergrund geriet Bewegung in die Menge, und jemand schob sich nach vorn, der bereits ein aufgeklapptes Messer festhielt. »Ja«, sagte Belial lobend, »das ist wunderbar. Darauf habe ich direkt gewartet. Ich danke dir.« Er nahm das Messer entgegen und lächelte bösartig. Wenig später tanzte die Klinge vor dem Gesicht des Mädchens, und Belial fragte: »Siehst du es?« Sie nickte. »Nimm es!« Die Kleine streckte die Hand aus. Für alle sichtbar blieb sie sekundenlang in dieser Pose, und selbst Belial weidete sich an diesem Anblick. »Schaut auf das Messer!« rief er. »Schaut genau hin, und ihr werdet erleben, wie diese verdammte Liebe auch äußerlich zerstört wird. Daß es sie nicht gibt, daß es nur die Lüge gibt und den Haß. Liebe ist Lüge, sie wird es euch beweisen. Wie heißt du?«
»Eve!« Das Mädchen schaute wie in Trance auf die Klinge, die vor ihrem Gesicht aufragte. »Und wie heißt dein Freund?« »Albert!« »Sehr gut, Eve. Du hast gesagt, daß du Albert liebst, nicht wahr?« Eve drehte mit einem Ruck den Kopf. »So?« höhnte sie, »habe ich das tatsächlich?« »Etwa nicht?« säuselte Belial. »Du enttäuschst’ mich. Du hast gesagt, du würdest ihn lieben.« »Nein, ich liebe ihn nicht.« »Was stimmt denn nun?« »Weiß nicht!« keuchte Eve. Wieder diese säuselnde Frage. »Oder haßt du deinen Freund etwa? Sag, haßt du ihn?« »Nein, auch nicht.« »Was dann?« »Er ist mir egal!« flüsterte Eve. »Er ist mir egal, ich hasse und liebe ihn nicht.« »Das ist gut, Eve, das ist sogar sehr gut. Wenn er dir egal ist, dann braucht er auch nicht mehr bei dir zu sein. Oder irre ich mich?« »Du irrst dich nicht!« Belial nickte und tätschelte sie. »So ist es gut, Eve, so ist es wunderbar. Albert ist dir egal. Albert kann dir egal sein, und dir kann auch egal sein, ob er lebt – oder nicht?« »Ja!« Belial riß die Arme hoch, die Hände waren gespreizt. Er wirkte wie der große Guru, der alles unter Kontrolle hatte. »Wenn er dir egal ist, dann töte ihn. Zeige uns allen, die wir hier zuschauen, daß es dir nichts ausmacht. Nimm das Messer und stoße es ihm in die Kehle. Los, tu es!« Eve hörte die Worte. Dann nickte sie. Die Klinge sank nach unten. Sie drehte ihre rechte Hand. Alberts Hals lag frei. Sie konnte ihn nicht verfehlen. Ihre Augen zogen sich zusammen. Sie zielte genau. Albert rührte sich nicht. Er stand da wie eine Statue. Seine Arme hingen starr wie zwei Stöcke zu beiden Seiten des Körpers nach unten. Der Blick war ins Leere gerichtet. »Jetzt töte ihn, Eve!« »Nein, sie tötet ihn nicht!« ***
Die Stimme war laut gewesen, peitschte über die Köpfe der Gäste hinweg, und sie hatte sich angehört, als würde sie keine Widerspruch dulden. Ein entsetztes und auch überraschtes Schweigen breitete sich aus wie eine schwere Decke, die jeden Gast berührte. Es war niemand da, der sich rührte, und es konnte sich auch keiner vorstellen, daß es jemand unter ihnen gab, der dem großen Belial Widerstand entgegensetzte. Und doch waren die Worte keine Täuschung gewesen, das wußte auch Belial, der auf Eve schaute und sich darüber ärgerte, daß sie dem Befehl ebenfalls gefolgt war. Noch immer stand sie vor ihrem Freund, zielte mit der Messerspitze auf dessen Hals, ohne allerdings zuzustoßen. Im Hintergrund entstand Bewegung. Nicht mal weit vom Ort des Geschehens entfernt, und Belial sah seinen bösen Zauber zusammenbrechen. Er hatte nicht sofort widersprochen, weil er noch über die Stimme nachdenken mußte, die ihm nicht ganz unbekannt gewesen war. Jemand hatte zu den Leuten gesprochen, der aber nicht auf seiner Seite stand, und das ärgerte ihn. »Töte ihn, Eve!« Sie nickte. Ihre Hand zuckte zurück, weil sie ausholen wollte, doch bevor sie das Messer nach vorn wuchten konnte, war plötzlich die andere Hand da, und zugleich stürzten mehrere Gäste zu Boden, weil der Ankömmling keine Rücksicht nehmen konnte. Eve schrie auf. Nicht vor Triumph, sondern weil die andere Hand ihr Gelenk so brutal umfaßte. Sie wollte den Befehl noch immer ausführen und dabei nach vorn rucken, das aber ließ Raniel nicht zu. Er setzte seine Kraft gegen die der jungen Frau ein, und er bog ihren Arm zurück, obwohl Eve alles versuchte. Das Messer rutschte aus ihren Fingern und landete mit einem klirrenden Geräusch am Boden. Belial knurrte. Er hatte nicht eingegriffen, denn er wußte plötzlich, wer sein Feind war. Ausgerechnet der Gerechte. Raniel, halb Mensch, halb Engel. Jemand, der auf keiner Seite stand, der einfach nur Gerechtigkeit wollte, und das paßte Belial nicht. Mit einem Ruck schleuderte Raniel Eve in die Arme ihres Freundes, der das Mädchen festhielt wie ein Stück Holz. Auch die anderen taten nichts, sie drängten sich um diesen einen Mittelpunkt, weil sie ahnten, daß es zu einer Machtprobe zwischen den beiden Gestalten kommen würde. Beide wollten den Sieg, beide jedoch aus verschiedenen Gründen, und einen Kompromiß würde es zwischen ihnen nicht geben. »Du kennst mich, Belial.« »Ja, wer kennt dich nicht?« »Dann weißt du auch, weshalb ich gekommen bin?«
»Nein, aber du wirst es mir sagen.« »Ich bin hier um dich wieder in die Tiefen der Verdammnis zurückzustoßen. Du wirst dorthin gehen, woher du gekommen bist. Auf dieser Welt ist kein Platz für dich. Du bist kein Engel, du bist der Tod. Du bist ein Gebilde der Lüge. Du willst den Menschen das nehmen, was du haßt. Mögen einige von ihnen auch noch so schlecht sein, es ist aber keiner so abgrundtief böse wie du. Ich habe dein Kommen gespürt, und ich habe mich darauf einrichten können. Deshalb bin ich dir auf den Fersen geblieben. Der Engel der Lügen, der Verleumder, der Verderber darf nicht regieren. Was die Essener damals über dich geglaubt haben, ist falsch gewesen, sie glaubten an die Endzeit, aber auch daran, daß die Söhne des Lichts irgendwann die Söhne der Finsternis schlagen würden, wie die Menschheit aus den alten Schriftrollen von Qumran jetzt weiß. Sie wußten auch, daß der Kampf nicht mehr zu ihrer Zeit eintreten würde, deshalb haben sie ihn auf die endzeitliche Weltbühne verlagert. Es steht geschrieben, daß der Endzeitkönig Belial heißen soll, der sich zum Herrn des Himmels erheben will und einige seiner himmlischen Wesen zu Boden wirft, um sie zu zertreten, so wie er selbst auch schon einmal zertreten worden ist. Doch die frommen Männer aus Qumran haben sich geirrt. Ihr Weltbild des Dualismus stimmt nicht. Es gibt nicht nur Gut und Böse, es gibt Zwischentöne, Heerscharen von Dämonen zwischen Himmel und Erde, so daß ihre Voraussagen nicht mehr stimmen.« »Hast du genug geredet?« höhnte Belial. »Fast.« »Und was wolltest du mir sagen?« »Daß deine Macht begrenzt ist. Daß du es nicht schaffen wirst, dich zum König zu machen. Nicht für Belial, nicht der Herr der Lügen, nicht der Engel der Lügen und Luzifers Leibwächter. Dagegen stehe nicht nur ich, sondern auch meine Freunde, die ebenfalls wissen, daß du dein Reich verlassen hast.« »Ich werde siegen!« »Nein, du wirst es nicht!« »Wer will mich stoppen? Wer ist so vermessen und will Belial aufhalten? Wer?« »Ich!« »Und wie willst du es schaffen?« »Ich weiß es.« »Sag es mir!« forderte Belial. »Nein, ich behalte es für mich. Du wirst es dann merken, wenn es soweit ist. Ich habe vorhin von den Essenern und den Schriftrollen am Toten Meer gesprochen, und dort habe ich auch die Antwort gefunden, Belial. Du bist nicht unbesiegbar, auch wenn dich die Essener als eine
ultimative Tötungsmaschine angesehen haben und in dir das absolut Böse vermuteten. Aber unbesiegbar bist du nicht…« Belial schwieg. Er suchte nach einem Ausweg. Er hatte noch soviel vor. Hier in der Disco hatte er den Anfang machen wollen. Er wollte zunächst die jungen Menschen an sich binden, denn ihnen allein gehörte die Zukunft, und er durfte keinen Respekt verlieren. Raniels Worte hatten ihn stark verunsichert. Er kannte die Schriften der Essener nicht genau, doch er wußte, daß es für sie einen Engel des Lichts gab und einen Engel der Finsternis, Belial, eben. Und über ihnen beiden stand Gott. So hatten die Essener geglaubt, und sie hatten Belial in den schlimmsten Farben gezeichnet. Er war nicht nur der Engel der Lügen gewesen, er war hinterlistig, näherte sich den Menschen heimtückisch, um zuerst ihre Seelen zu übernehmen und dann ihr Fleisch, denn er war gierig und hatte einen unstillbaren Hunger. Das alles wußte Belial. Den ersten Punkt hatte er überwunden. Er hatte den Menschen hier seine Ideologie eingepflanzt, er hatte längst ihre Seelen übernommen, denn sie waren nur allzu bereit, seinen großen Lügen zu glauben. Und er hatte sich auf den zweiten Teil gefreut, aber Raniel stand vor ihm und hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. In seiner dunklen Kleidung wirkte der Gerechte wie ein Rächer aus der Totenwelt. Damit konnte er vielleicht andere abschrecken, nicht aber Belial, den Engel der Lügen. »Willst du den Kampf?« Raniel nickte. »Wenn es sein muß, dann auch ihn.« »Und du glaubst daran, daß du mich besiegen kannst? Mich, einen Boten Luzifers?« »Ich werde es versuchen!« Plötzlich lachte Belial auf. Wieder gellte diese teuflische Lache durch den Raum, und es waren nicht wenige, die sich erschreckten. »Ohhh, da kriege ich aber Angst, eine schreckliche Angst. Ich zittere schon, siehst du?« Er zitterte tatsächlich. Sein Körper schwankte hin und her, er sank in die Knie, er legte den Kopf schief, um an Raniel entlang in die Höhe schauen zu können. Er sah aus wie eine Gestalt, die aufgegeben hatte, sie lag auf den Knien, sie bat, sie flehte, sie reckte Raniel die Hände entgegen, und er schaute auf sie nieder. Lüge, nichts als Lüge, dachte er. Nur eine verdammte Lüge. Er gibt nicht auf, er nicht! Aber Raniel wollte es trotzdem versuchen. Er bewegte seine Hände in eine bestimmte Richtung, wo unter seiner Kleidung etwas verborgen war, daß er mitgenommen hatte. Das gläserne Schwert!
Seine Waffe, die Bibel des Gerechten, wie er es nannte. Er hatte durch das Schwert schon Leben gerettet, und er würde versuchen, den Lügenengel damit zu vernichten. Belial schaute zu. Er kniete in einer hündischen Ergebenheit vor seinem Feind. Mit Jammerstimme fragte er: »Töten? Willst du mich wirklich töten, Raniel?« »Hast du etwas anderes verdient?« »Ich werfe mich vor dir in den Staub, Gerechter. Ich werde, wenn du es willst, deine Füße küssen. Ich neige mich in Demut, denn ich weiß deine Kraft einzuschätzen, aber ich bitte dich, auf den Gnadenstoß zu verzichten. Tu es nicht, bitte, ich will mein Leben ändern, ich will tun, was du befiehlst.« Es war eine lächerliche Szenerie, aber sie war sehr gut gespielt, das wußte Raniel. Vor ihm lag nicht irgendwer, sondern Belial, der Engel der Lügen. Und Raniel wußte sehr genau, daß er nicht die Wahrheit sprach. Er war der Lügner, die Wahrheit wäre für ihn vernichtend gewesen. Er konnte sie einfach nicht hören. Raniel hob sein Schwert an. Er schaute dabei auf das graue Haar des Dämons, das sich am Nacken teilte. Kein Pardon mehr. Er schlug zu! *** Mein Kreuz erwärmte sich! Ich hatte es längst gespürt, noch bevor wir ausgestiegen waren. Wir standen auf einem großen Parkplatz vor einer zur Disco umgebauten alten Fabrikhalle. Derartige Vergnügungstempel schössen in London wie Pilze aus dem Boden, blieben für ein paar Monate in, bevor sich die Masse der Vergnügungssüchtigen wieder einen anderen Ort aussuchte. Die Disco war gut besucht, das erkannten wir an der Menge der abgestellten Autos und Motorräder. Aber auch mit Fahrrädern waren die Gäste gekommen, und wir suchten nach Lücken, um unseren Rover parken zu können. Es gab genügend, ich konnte sogar ziemlich nahe an den Eingang heranrollen. Schon beim Aussteigen fiel mir die Stille auf. Es drang kein Lärm aus der offenen Tür, keine Musik, kein Stimmenwirrwarr. Die Außenbeleuchtung erhellte mit ihrem bunten Schein die Finsternis, und auch innen zuckten die farbigen Streifen über die Köpfe der Menschen hinweg. Keiner von ihnen bewegte sich. Kein Tanz, keine Unterhaltung. Ich rammte die Tür zu. Zugleich mit mir waren auch Suko und der Junge ausgestiegen. Suko hielt unseren Schützling fest, der mehr als nervös war und mit seinem zuckenden rechten Arm ständig auf den Eingang
deutete. »Der Heilige, dort ist der Heilige. Ich spüre ihn, ich weiß es sehr genau. Er hält sich dort auf…« »Schon gut«, murmelte Suko, »schon gut…« »Ich will zu ihm.« »Jetzt nicht.« »Doch, ich…« »Laß ihn hier, Suko!« »Okay, ich bleibe auch zurück.« Suko warf einen Blick auf das Kreuz, das ich hervorgeholt hatte. Ich faßte es nicht an, sondern hielt die Kette fest, so daß mein Talismanen nach unten baumelte. Er schwang leicht hin und her, wobei er von einer hellen Aura umspielt wurde. Er spürte das Böse, das sich in unserer Nähe aufhielt, und weil es so heftig reagierte, mußte das Böse einfach stark und uralt sein. Ich lief in die Disco hinein. Das Licht wies mir den Weg, der jedoch von anderen Gestalten versperrt war. Ich sah nur die Rücken der bunt gekleideten Gäste. Die jungen Leute hatten keinen Blick für ihre Umgebung. Sie konzentrierten sich einzig und allein auf einen bestimmten Vorgang in der Mitte der Disco. Was dort allerdings ablief, konnte ich nicht erkennen, auch wenn ich ein paarmal in die Höhe hüpfte. Oder blitzte da etwas auf? Es war möglich. Ich wollte mir eine Gasse bahnen, um durchzukommen, als alles anders wurde. Plötzlich hörte ich ein gellendes, unheimlich böse klingendes Lachen, und dann huschte etwas über meinen Kopf hinweg, direkt auf den Ausgang zu. Ich sah nur einen Schatten, aber ich wußte, daß Belial über mich hin weggeflogen war… *** Treffer! Nein und ja! Raniel hätte treffen müssen, er traf auch, aber in diesem Augenblick bewies Belial, wie mächtig er war. Er löste sich praktisch vor den Augen des Gerechten auf. Er huschte an der Seite seines Schwertes entlang in die Höhe, und sein Gelächter hallte wie Triumphgeschrei der Hölle durch die alte Fabrik. In dieses Lachen hinein rief er seinen Namen, während er mit ausgebreiteten Flügeln unter der Decke herschwebte wie ein großer, böser Vögel, der nicht zu fangen war. Wieder stieß er das Gelächter aus. Er verhöhnte seinen Feind – und huschte auf den Ausgang zu. Dann war er weg!
*** Suko mußte Billy Wilson schon fest an der Hand halten, denn der Junge wollte einfach nicht in seiner Nähe bleiben. Immer wieder wollte er weg, wollte sich aus dem Griff befreien, er schrie und bettelte, aber Suko schüttelte den Kopf. »Ich will zu dem Heiligen, Suko! Er ist mein Freund! Er hat mich gerufen! Ich bin ein Kind, er will Kinder! Ich habe ihn als ersten gesehen! Er hat sich mir gezeigt, und ich weiß, daß es etwas zu bedeuten hat. Er will mich, nur mich…« »Du bleibst bei mir!« »Aber der Heilige ist…« Suko war nahe dran, die Geduld zu verlieren. Er wollte Billy auch nicht weh tun, aber er mußte ihn so hart anpacken, sonst hätte sich der Junge befreit. Er wäre in sein Verderben gelaufen, denn Belial war kein Heiliger, er war der Engel der Lügen. Er belog jeden, um ihn als seine Beute zu bekommen. Und er befand sich in der Disco, denn auch Suko hatte das gellende Gelächter gehört. Belial befand sich auf der Siegerstraße. Und Suko fühlte sich plötzlich selbst nicht mehr sicher. Er ahnte, daß es auch zwischen ihm und Belial zu einem Kampf kommen sollte, und dabei wollte er sich frei bewegen können, nicht mit dem Jungen als Hindernis. »So, du bleibst im Wagen.« »Nein…« Billy stemmte sich gegen den Boden. Gegen Sukos Kraft kam er nicht an. Er zerrte den Jungen auf den Rover zu. Dort wollte er ihn förmlich hineinstopfen, um selbst freie Bahn zu haben und ihn in eine relative Sicherheit zu bringen. Er zerrte mit der rechten Hand die Tür auf. Mit der linken hielt er Billy fest. Und dann war alles anders. Plötzlich huschte der Schatten heran. Er jagte wie ein lautloser Torpedo durch die Luft, und der Inspektor spürte die verdammte Nähe des anderen. Er drehte sich um, weil er irgend etwas unternehmen wollte. Dazu kam er nicht mehr. Belial war zu schnell. Und Belial wollte den Jungen! »Der Heilige!« hörte Suko Billy schreien, bevor ihn ein mörderischer Hieb gegen den Wagen wuchtete, von dessen Karosserie er abprallte und auf dem Boden landete. Dort blieb er leicht benommen liegen und dachte trotz allem an seinen Schützling. Er raffte sich auf. Sehr langsam zog er sich am Wagen in die Höhe und starrte zum Himmel. Obwohl er alles andere als fit war, wußte er, daß es
sich bei dem schlimmen Bild nicht um eine Halluzination handelte. Es entsprach leider der Wahrheit. Belial hatte den Jungen geraubt und jagte mit seiner Beute in den Nachthimmel hinein… *** Ich kam mir vor wie jemand, der überhaupt nichts mehr wußte. Wohin sollte ich laufen? Nach rechts, tiefer in die Disco hinein, oder nach links, dem Ausgang zu? Ich war gekommen, um gegen Belial zu kämpfen, das war vorbei, denn er war über mich hinweg in Richtung Ausgang gehuscht und dort verschwunden. Ich wollte ebenfalls hinlaufen, als die Gaffer eine Gasse öffnen mußten, weil sich vom Zentrum her jemand mit großen Schritten dem Ausgang näherte. Es war – ich bekam große Augen – Raniel, der Gerechte. Und er machte auf mich wirklich nicht den Eindruck eines Siegers. Bei meiner Ankunft hatte ich über die Köpfe der anderen hinweg etwas blitzen sehen, und nun erkannte ich, daß es das gläserne Lichtschwert war, das Raniel in einer Hand hielt, aber den Eindruck machte, als wollte er die Waffe fortschleudern, weil sie ihn im entscheidenden Augenblick im Stich gelassen hatte. Er sah nicht nach rechts und nicht nach links. Sein Blick galt einzig und allein dem Ausgang, denn natürlich wußte auch er, daß Belial entkommen war, was er keinesfalls zulassen durfte. Ich schrie seinen Namen. »Raniel!« Der scharfe Ruf stoppte ihn. Ich wußte, daß er, wenn er einmal draußen war, sich in die Luft erheben konnte, um die Suche nach Belial fortzusetzen, da aber wollte ich ein Wörtchen mitreden. Wir starrten uns an. »Er ist weg, John!« »Ich weiß!« »Er hat es wieder geschafft! Er hat mich belogen. Ich wußte, daß er mich belügen würde, aber er war schneller als mein Schwert!« Raniel sah aus, als wollte er die Waffe kurzerhand wegwerfen, so sehr stand er unter Druck. Allmählich kam wieder Leben in die Gäste. Sie begriffen erst jetzt, was da passiert war, ich hörte die ersten Schreie, und Raniel erklärte mir mit lauter Stimme, daß es Tote und Verletzte gegeben haben mußte, doch um sie konnten wir uns nicht kümmern. Wir wurden in den folgenden Sekunden förmlich aus der Disco gespült, denn die Leiber der Gäste vereinigten sich zu einem gewaltigen Strom. Bevor man uns zu Boden trampelte, verließen auch wir den Ort des Geschehens, rannten aber nicht weiter auf den Parkplatz hinaus, sondern blieben links des Eingangs stehen, mit dem Rücken an der Mauer. Wo sich Suko aufhielt, konnte ich nicht sehen, da mir die nach
draußen strömenden Gäste die Sicht nahmen, aber ich wußte, daß wir verloren hatten. Belial war doch raffinierter, als ich angenommen hatte. Und ich machte mir Sorgen um Billy Wilson, der sich ebenfalls noch in der Nähe befand. Auch die letzten Gäste verließen den Bau. Unter ihnen befand sich eine schreiende junge Frau, die an der linken Schulter stark blutete und von zwei Helfern gestützt wurde. Es würde nicht mehr lange dauern, dann erschienen die Kollegen, zuvor aber wollte ich mich in der Disco umschauen und sehen, welch blutige Spur Belial hinterlassen hatte. Ich ging allein zurück, denn Raniel wollte nicht. Meine forschen Schritte verlangsamten sich, als ich erkennen mußte, wer da auf dem Boden lag, umgeben von Scherben, bewegungslos und blutend. Es waren vier Gäste, die es erwischt hatte. Die nach unten rasenden Glasstücke waren wie Schwerter gewesen, und mein Magen krampfte sich zusammen, wobei ich gleichzeitig den bitteren Gallengeschmack in meinem Mund spürte und auch Mühe hatte, ein Würgen zu unterdrücken. »Belial!« flüsterte ich, »du verfluchtes Ungeheuer. Ich werde dich kriegen, ich werde dich stoppen…« Meine Hände ballten sich zu Fäusten, die Arme zuckten, ich kam mir so verflucht verloren vor, dann drehte ich mich langsam um. Wie durch eine fremde Welt ging ich zurück, angestrahlt von den bunten Lichtern, die mir schon pervers vorkamen, zumindest in einer derartigen Lage. Auspuffwolken und der Lärm startender Motorräder und Autos wehten mir entgegen. Es kam mir vor wie ein stinkender Abschied des Lügenengels. Bei unserem Rover sah ich die Umrisse meiner Freunde, vom Licht der Außenleuchten nur schwach getroffen. Ich vermißte Billy. Plötzlich schlug mein Herz schneller. Ich ging auch nicht mehr so langsam und brauchte nur einen Blick in Sukos Gesicht zu werfen, um Bescheid zu wissen. Trotzdem fragte ich: »Billy…?« »Leider, John.« »Was ist mit ihm passiert?« »Belial hat ihn geholt, und ich habe es nicht verhindern können. Es ging zu schnell. Ich wundere mich, daß er mich nur ausgeschaltet und nicht getötet hat, aber in diesem Fall ist ihm der Junge wohl wichtiger gewesen als ich.« Meine Antwort verschluckte ich. Dafür starrte ich ins Leere, wie jemand, dem alle Felle davongeschwommen waren. »Er ist uns allen
entkommen«, murmelte ich nach einer Weile. »Auch ich habe ihn nicht stoppen können. Tut mir leid.« Selbst Raniel sah geknickt aus. Er starrte zu Boden, er dachte nach, während in der Ferne das Heulen der Sirenen zu hören war. »Wir sollten verschwinden!« schlug ich vor. »Die Kollegen werden uns nur aufhalten mit ihren Fragen, mögen sie auch noch so berechtigt sein.« Suko und der Gerechte waren einverstanden. Da der Klang sich sehr schnell verstärkte, mußten wir uns beeilen. Und das taten wir auch. »Wohin?« fragte Suko, als wir im Wagen saßen. Ich hob nur die Schultern und startete trotzdem… *** »Ich kann fliegen!« jubelte der Junge. »Es ist so herrlich, Belial, ich kann fliegen!« »Ja, mit mir!« »Du bist toll!« »Das weiß ich!« »Bist du wirklich ein Heiliger?« rief Billy gegen das Brausen des Windes an. »Natürlich!« Der Junge war zufrieden. Belial hielt ihn mit seinen knochigen Händen fest, aber so, daß Billy auf dem Bauch lag und in die Tiefe schauen konnte. Er war begeistert. Er hatte alles vergessen, seine Eltern, die Polizisten, er starrte nur aus dieser Höhe auf die Erde nieder. Es war Abend, die Dunkelheit schwamm wie ein riesiges Meer über der Stadt, aber unter ihm und weit entfernt schimmerten die Lichter in einer Pracht, wie er sie zuvor noch nie wahrgenommen hatte. Ein See aus Lampen und Lichtern, eine Welt, die wie fern aussah und doch so nah war. Herrlich… Sie hatten sich nicht zu weit von ihrem Ziel entfernt, und Billy stellte fest, daß der Heilige einen Bogen flog. Er bewegte seinen Körper nach links, und die unter ihnen liegenden Lichter verschwanden. Statt dessen starrten beide auf eine lichtlose Fläche, in die von unten her Gerippe und kahle Mauern hineinragten, denn sie befanden sich oberhalb einer gewaltigen Baustelle. Krahne reckten ihre starren Arme schräg in den Himmel. Es roch nach Staub und Beton, und als Belial tiefer sank, da schaute der Junge auf eine rechteckige freiliegende Fläche. Es war das hellgraue Dach einer Etage, die als letzte fertiggestellt worden war, wobei das Haus selbst sicherlich noch höher gebaut wurde.
Da landeten sie. Der Wind peitschte in das Gesicht des Jungen. Belial ließ ihn los, und Billy taumelte einige Schritte weiter, bis er den nötigen Halt gefunden hatte. Dann blieb er stehen, etwas verunsichert, aber gedanklich noch bei seinem ungewöhnlichen Flug. Er drehte sich langsam um, und ihm kam allmählich zu Bewußtsein, daß der schöne Flug mit dem Heiligen ein jähes Ende gefunden hatte. Belial hatte den Jungen nicht aus den Augen gelassen. Er hockte vor einer brusthohen Betonplatte, als wollte er seinen nackten Körper vor dem Wind schützen. Die Flügel hatte er zusammengelegt, nur die oberen Enden schauten über die Schultern hinweg. Billy ging auf ihn zu. »Ist unsere Reise zu Ende?« »Nein.« Eine Lüge, aber Billy merkte es nicht. »Wann geht sie denn weiter?« »Später.« Wieder eine Lüge, denn Belial wollte etwas ganz anderes. Er starrte Billy aus den Augen an, die selbst dem Jungen Angst einflößten. Zum erstenmal, denn er sah plötzlich das wahre Gesicht des Engels der Lügen und glaubte nicht mehr, einen Heiligen vor sich zu haben, was er ihm auch sagte. »Du bist kein Heiliger.« »Doch, das bin ich!« log Belial. »Nein, denn ich habe Angst. Vor einem Heiligen brauche ich keine Angst zu haben.« »Warum hast du denn Angst?« »Du siehst mich so an!« Er lachte. »Tue ich das?« »Ja.« »Und?« »Was willst du?« »Dich!« Billy ging zurück. Seine Furcht hatte sich verstärkt. »Aber was willst du denn mit mir?« »Ich brauche dich. Ich brauche deine Seele, ich brauche dein Fleisch. Du bist jung, ich bin gierig und hungrig.« Er lachte boshaft und drückte sich hoch. »Neinnnn…!« brüllte Billy, dem es wie Schuppen von den Augen fiel, weil er das wahre Gesicht des angeblich Heiligen zum erstenmal präsentiert bekam. Es war schrecklich für ihn. Er wußte nicht, was er tun sollte, denn Belial kam näher und näher. Billy wich zurück. Der Platz auf dem Dach war begrenzt. Es gab nichts, wo er sich verstecken konnte. Der Einstieg zur Etage darunter war mit Brettern bedeckt, auch dort konnte er nicht hin.
»Nicht, bitte nicht…« Billy streckte ihm die Arme entgegen, als könnte er ihn so aufhalten. Belial schüttelte den Kopf. Seine grauen Haare wirbelten und klatschten wieder zurück. »Ich habe Hunger. Ich will Seelen, ich will auch Blut und Fleisch. Du bist ein Kind, du bist so herrlich rein. Ich werde es bekommen!« Billy wußte, daß er nicht log. Er sehnte sich zurück nach seinen Freunden, die die Wahrheit schon längst erkannt hatten. Und jetzt? Er drehte sich um. Dann rannte er weg, stolperte aber über einen Stein. Sein Schrei zitterte durch die Luft, hinaus in die Weite, während der Körper an der Hauswand entlang dem Boden entgegenraste. *** »Wo steckt er?« Meine Frage war von Suko und Raniel verstanden worden, und ich erwartete zumindest von Raniel eine Antwort, denn er hatte durch seinen Besuch bei mir Belials Kommen angekündigt. »Ich weiß es noch nicht.« »Spürst du ihn denn?« »Ja, seinen Einfluß.« »Und wie können wir ihn stoppen?« fragte Suko. »Schafft John es mit seinem Kreuz?« »Weiß ich nicht. Aber es gibt eine Chance. Wir müssen ihn der Lüge überführen.« »Wie?« rief ich. »Er lügt doch immer.« »Einer echten Lüge.« »Bitte?« »Ja, ja, eine Lüge. Wir müssen ihn zu einer Lüge überreden, ohne daß er es merkt, ohne daß er sich dessen bewußt wird. Nur so können wir ihn packen. Was ich in der Disco versucht habe, war nicht mehr als ein Ablenkungsmanöver. Er muß lügen und dabei denken, er hätte die Wahrheit gesagt.« »Das ist kompliziert.« »Stimmt, John!« Ich blieb wieder bei der Realität. »Zunächst müssen wir ihn und den Jungen finden. Billy hoffentlich lebend, und da…« »John, fahrt weiter!« Seine harte Stimme hatte mich unterbrochen. Dem Klang war anzuhören gewesen, daß Raniel möglicherweise etwas erfahren hatte. »Wohin?« »Geradeaus – bitte.« »Gut.«
Wir hatten uns noch nicht allzu weit von der großen Disco entfernt. Es war uns auch gelungen, den anfahrenden Polizeiwagen zu entwischen. Diese Dinge würden wir später klären, wichtiger war jetzt der Junge und natürlich Belial. »Er ist in der Nähe!« flüsterte Raniel. Er saß neben mir und hatte sich nicht angeschnallt. Sein Kopf bewegte sich. Er schaute durch die rechte Seitenscheibe, aber auch durch die Frontscheibe und suchte immer wieder den Himmel ab. »Da kommt gleich die Baustelle«, sagte ich. »Stimmt.« Ich fuhr weiter. An der linken Seite erschien der Schatten des halbfertigen Komplexes. Ob er jemals zu Ende gebaut werden würde, war fraglich. Das schoß mir auch nur wie nebenbei durch den Kopf. Ich mußte mich auf die Fahrerei konzentrieren. Die große Wandtafel tauchte auf. Dort war aufgeführt worden, wer hier alles baute, welche Firmen daran beteiligt waren und so weiter. In der Nähe standen auch die Kräne auf ihren mächtigen Betonsockeln oder auf Schienen, wenn sie beweglich sein mußten. »Stopp!« Es war wie ein Schrei, der da aus Raniels Mund gedrungen war, und ich trat auf die Bremse. Der Gerechte wurde nach vorn geschleudert. Er stützte sich aber ab und öffnete gleichzeitig die Tür, um seinen Körper ins Freie zu wuchten. Er war schneller als Suko und ich. Wir aber sahen beim Aussteigen, warum er sich so beeilt hatte. »Mein Gott!« flüsterte mein Freund und starrte in die Höhe. Auch ich schaute nach oben. Wir sahen die kleine Gestalt, die über den Dachrand hinweggefallen war und schreiend in die Tiefe stürzte. Es war Billy, er würde zermalmt am Boden liegenbleiben, aber es gab jemand, der befand sich nicht mehr in unserer Nähe. Raniel, halb Engel und halb Mensch, war es gelungen, seinen Körper in die Höhe zu teleportieren, und er stieg dem fallenden Körper entgegen. Sehr schnell sogar, und er erreichte den Jungen in Höhe der vierten Etage, für uns gerade noch erkennbar. Billy fiel in seine auffangbereiten Hände. Das Gewicht des aufgefangenen Körpers riß Raniel in die Tiefe. Er taumelte an den nächsten beiden Etagen entlang, und für einen Augenblick sah es so aus, als würde ihm der Junge aus den Fingern rutschen. Uns blieb beinahe das Herz stehen, aber der Gerechte griff nach und hielt seine >Beute< fest. Dann sank er mit Billy in den Armen dem Boden entgegen. Dicht bei uns kam er auf.
Billy konnte nicht sprechen. Totenbleich und völlig geschockt lag er in Raniels Armen. Er wirkte wie eine Puppe. Nur das Zittern seiner Lippen bewies uns, daß er noch lebte. »Ich habe ihn«, sagte Raniel, und auf seinem hellen Gesicht erschien ein Lächeln. Wir konnten nicht sprechen. Mein Magen war zu einem Klumpen geworden. Zudem fühlte ich mich etwas wie ein Verlierer, denn ich hätte Billy nicht retten können. »Danke.« »Es war nur gerecht, daß er lebt!« erklärte Raniel. »Und ich werde ihn auch weiterhin beschützen.« »Das kannst du am besten.« Suko war etwas zur Seite gegangen, um an der Hausfront in die Höhe zu schauen. Viel sah er nicht, aber er suchte Belial. Zu sehen bekam er nur die leeren, viereckigen Fensterhöhlen, die Gerüste, die Kräne mit ihren starren Armen, aber nicht den Engel der Lügen. »Ich sehe ihn nicht«, erklärte Suko enttäuscht. »Dabei muß er doch in der Nähe sein.« »Und er hat den Jungen in die Tiefe geschleudert«, sagte ich. »Warum tat er das?« »Moment!« meldete sich der Gerechte. »Davon bin ich noch nicht überzeugt, John.« »Nein…?« »Er braucht ihn. Er will zuerst die Seele, dann den Körper. Billy ist ein Kind, er ist rein, und wenn das Böse etwas Reines bekommen kann, setzt es alles daran, um…« Raniel stoppte mitten im Satz. »Warum sprichst du nicht weiter?« »Er ist nicht mehr oben.« »Ist er hier?« Der Gerechte hob die Schultern. Einen Augenblick später drang aus dem Dunkel nahe der Hauswand eine böse klingende Stimme. »Der Junge gehört mir!« Da wußten wir, daß Belial es noch einmal versuchen würde… *** Was hatte Raniel noch gesagt? Wir mußten es schaffen, ihn zu einer Lüge zu verleiten, wobei er überzeugt sein sollte, die Wahrheit gesprochen zu haben. Dann war er schwach und auch besiegbar. Aber wie würden wir ihn zu einer Lüge überführen können? Ich wußte es nicht, und wir mußten auch damit rechnen, daß er seine Schwachstelle kannte. Raniel hielt den Jungen fest. Er hatte ihn gegen seine Brust gepreßt und erweckte nicht den Eindruck, als wollte er ihn freiwillig loslassen. Billy
hielt sein Gesicht gegen die Kleidung gedrückt, er wollte auch den >Heiligen< nicht mehr sehen. Wahrscheinlich hatte er oben auf dem Hausdach endlich die Wahrheit erfahren. Ich hatte meine rechte Hand in die Tasche gesteckt, wo die Finger das Kreuz umschlossen. Ich spürte die Wärme, sie nahm zu, ich würde es bald nicht mehr halten können, aber ich merkte zugleich, daß diese Wärme auch durch meinen Arm strahlte und mir ein Gefühl der Sicherheit gab. Dann holte ich das Kreuz hervor. Nicht sehr schnell, nein, ich zog die Hand langsam aus der Tasche. »Zeig dich, Lügenengel!« Raniel hatte ihn angerufen. Wir hörten das Lachen und anschließend die Forderung, daß der Junge ihm gehörte, denn er hatte ihn sich ausgesucht. Billy war der erste gewesen, der ihn gesehen hatte, und deshalb wollte er ihn haben. »Du kannst ihn dir holen!« »Das werde ich auch!« »Dann komm her!« Belial kam nicht. Wir hatten ihn auch noch nicht entdeckt, weil es im Schatten der Mauer einfach zu finster war. Ich wußte auch nicht, was ihn davon abhielt, sich den Jungen zu holen. War es mein Kreuz, das ich an der Kette festhaltend, auf die Motorhaube des Rover gelegt hatte? »Ich warte nicht mehr lange!« sagte der Gerechte. »Keine Sorge, ich komme!« Heimtücke schwang in der Stimme mit. Sie war einfach widerlich. Aber Belial machte sein Versprechen wahr, er schob sich aus dem Dunkel der Mauer nach vorn. Seine nackte Gestalt wurde zu einem grauen Schatten, der sich lautlos auf uns zu bewegte. Das Gesicht erinnerte mich an eine böse Fratze. Er schaute Suko an, der wie auf dem Sprung stand und seinen Stab aus der Innentasche geholt hatte. Belial blickte auf das schimmernde Kreuz auf der Motorhaube. Er spie davor aus. Dann sah er den Gerechten. Raniel redete flüsternd auf den Jungen ein, bevor er ihn von sich wegdrückte und Belial zuschob. Verdammt, wollte er Billy opfern? Mich durchfuhr ein heißer Schreck. Ich stand kurz davor, das Kreuz zu aktivieren und sollte es vielleicht auch tun, allein, um festzustellen, ob es gegen den Engel der Lügen eine Chance hatte. »Liebst du ihn?« fragte Raniel plötzlich. Belial lachte breit und schmierig. »Ja, ich liebe diesen Jungen!« Die Lüge, das war sie! Wir hatten ihn erwischt. »John, die Formel!«
Und diesmal schrie ich sie hinaus in die Nacht. »Terra pestem teneto – salus hic maneto!« Und das Kreuz reagierte! *** Licht! Licht – wohin wir schauten. Bleich, kalt, dennoch strahlend, als wäre eine riesige Lampe eingeschaltet worden. Es funkelte, es gleißte, es breitete sich noch aus. Wir konnten uns in dem Licht aufhalten. Auch Belial! »Gelogen!« schrie der Gerechte. »Du hast gelogen. Du hast dich überrumpeln lassen, du hast es nicht wissentlich getan. Es ist dir so rausgerutscht, du hast der Wahrheit, der reinen Wahrheit Tribut zollen müssen, und die Wahrheit ist der Anfang. Aber sie ist für dich das Ende, Engel der Lügen!« Belial schrie. Er war zusammengebrochen. Er hockte auf seinem häßlichen und knochigen Hinterteil, und er war nicht mehr in der Lage, sich zu erheben. Die Kraft meines Kreuzes griff ihn an. Sie schaffte es, ihn schwach zu machen, sie zerrte an ihm, sie drang durch seine dünne Haut, wo sie Wunden riß. Blut sickerte plötzlich aus seinem schmallippigen Mund hervor. Er reagierte wie ein Mensch, er war eben zu menschlich geworden, und als er seine Hügel ausbreitete, wirkte die Bewegung lächerlich und einfach schlapp. Er würde sich nicht mehr in die Höhe stemmen können. Er würde hier vergehen, und wir erhielten die Chance, ihn endgültig sterben zu sehen, einen Leibwächter Luzifers, des absolut Bösen. Wirklich töten, wirklich sterben? Unsere Hoffnung zerrann, denn etwas anderes erschien, das dem Kreuz die Kraft nehmen wollte. Zugleich spürten wir die wahnsinnige und auch unerklärliche Kälte, die auf uns niederfiel wie ein dickes Tuch und uns auch weiterhin einrahmte, ohne daß wir etwas dagegen unternehmen konnten. Die Kälte nahm mir die Luft. Ich taumelte zur Seite und war froh, mich am Rover abstützen Zu können. In meiner unmittelbaren Nähe hörte ich Suko scharf und röchelnd atmen, schaute hin, sah aber nicht ihn, denn etwas anderes war zusammen mit der Dunkelheit auf uns niedergefallen. Ein Gesicht! Nicht schön, nicht häßlich, aber mit Augen versehen, in die ich kaum hineinschauen konnte. Es waren die Augen des Bösen, und das Gesicht gehörte dem mächtigsten der gefallenen Engel – Luzifer! Er war also erschienen, um das Finale zu diktieren, und ich konnte nur alles auf die Kräfte meines Kreuzes setzen. Würden sie es schaffen, die
anderen Geister, die Erzengel zu mobilisieren, damit sie sich als Quartett gegen Luzifer stellten, so, als sollte sich der alte Kampf, in der Genesis niedergeschrieben, hier wiederholen? Nein, es geschah nicht. Luzifers Aura war erschienen, um seinen Leibwächter zu schützen. Und wir konnten von Glück sagen, daß die immense Strahlung des Kreuzes den Schutz bildete. Wir standen in ihr, wir schauten zu und erlebten das Geschehen wie auf einer perfekten Spiegelfläche abgebildet. Belial blutete. Er war fertig. Er hielt den Mund offen. Rote Füssigkeit strömte, und dicke Klumpen purzelten hervor. Er sackte nun in sich zusammen. Aber da war der mächtige Schutz in Form eines Mauls, in dem der Engel der Lügen verschwand. Als hätte ihn das Böse einfach geschluckt. Belial war weg. Und die Weiße Magie meines Kreuzes brach zusammen… *** Wir schauten uns an. Und wir waren nicht in der Lage, auch nur ein Lächeln aufzusetzen. Zu sehr hielt uns noch der Schock gefangen, und Raniel war der erste, der sich regte. Er stellte Billy Wilson auf den Boden und hielt ihn an der Schulter fest, damit der Junge nicht zusammenbrach. »Ich bringe ihn zurück«, sagte er. »Gut.« Ich nickte. »Und dann?« »Wir sehen uns. Ihr habt ja hier noch einiges zu erledigen.« Er wollte gehen, aber meine Stimme hielt ihn zurück. »Was ist mit Belial?« Der Gerechte lachte. »Er wird bei Luzifer sein, sich dort ausheulen und seine Wunden lecken.« Das hatte ich mir auch gedacht, und ich hoffte, daß er möglichst lange damit zu tun hatte. Sein erster Auftritt hatte uns gereicht. An einem zweiten waren wir nicht interessiert…
ENDE