Lesen und schreiben können — das ist für uns etwas so Selbstverständliches, daß wir kaum noch darüber nachdenken. Wir h...
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Lesen und schreiben können — das ist für uns etwas so Selbstverständliches, daß wir kaum noch darüber nachdenken. Wir haben ja längst vergessen, daß wir alle auch einmal „ABC-Schützen" waren, mit unserem ersten Lesebuch, mit der „Fibel", die freilich mehr Bilder als Buchstaben enthielt. Die ersten Bücher unserer Kindheit — lange noch vor der Schulzeit — waren Bilderbücher, herrlich bunt und aus guten Gründen möglichst unzerreißbar, und mit diesen Bilderbüchern ist jeder von uns den jahrtausendealten Menschheitsweg noch einmal gegangen: vom Bild zum Schriftzeichen oder Buchstaben, vom Buchstaben zum Wort, vom Wort zum Satz, zur Buchseite, zum Buch. Wunderbar, all die Bücher, aus denen man uns bisher nur vorgelesen hatte, nun selber lesen zu können — den Struwwelpeter und Max und Moritz, die Sagen und Legenden, und natürlich vor allem die Märchen, die immer so verheißungsvoll anfingen: Es war e i n m a l . . . 2
Ja, und nun können wir also lesen und schreiben — und wir sollten froh und dankbar sein, daß wir die Möglichkeit hatten, es zu lernen! In der indischen Hauptstadt New Delhi zum Beispiel — ebenso wie in Damaskus, Istanbul, Teheran und anderen Städten des Orients — sitzen noch heute auf dem Markte die „Schriftgelehrten", dicht umlagert von den „Analphabeten", den des Lesens und Schreibens Unkundigen, die sich hier gegen klingende Münze ihre Briefe vorlesen und auch beantworten lassen. Und als vor wenigen Jahren in Ägypten die ersten allgemeinen politischen Wahlen stattfanden, da waren die Stimmzettel mit verschiedenen Bildsymbolen bedruckt, deren Bedeutung von Mund zu Mund verbreitet wurde; denn mit einem Stimmzettel, der nur Schrift aufwies, hätte die ägyptische Landbevölkerung wenig anfangen können. Nicht viel anders ist es im Süden Italiens, auf Sizilien etwa, wo bei der Volkszählung im Jahre 1951 ein Drittel aller Erwachsenen sich als „Analphabeten" bekannte. Kein Wunder also, daß man in den Wohnstätten der Sizilianer mehr Rundfunk- und Fernsehgeräte findet als Bücher und daß eine Unterschrift oft nur aus drei mühevoll hingcmalten Kreuzchen besteht . . . Und aus den USA, deren Bevölkerung noch 3'°/o Analphabeten aufweist, berichtete der große deutsche Physiker Albert Einstein ein hübsches Erlebnis: Auf einer Eisenbahnfahrt bemerkte er mit Schrecken, daß er seine Brille zu Hause vergessen hatte, und bat deshalb den farbigen Zugschaffner, ihm eine Stelle aus dem Fahrplan vorzulesen. Der antwortete sehr höflich: „Tut mir schrecklich leid, mein Herr — aber ich kann a u c h nicht lesen . . ." In Deutschland ist das Analphabetentum schon seit Ende des 19. Jahrhunderts fast vollständig ausgemerzt. Das erste deutsdie „ABCBuch" erschien 1544, also kaum ein Jahrhundert nadi Erfindung der Buchdruckerkunst, und hundert Jahre später, nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, gab der Nürnberger Drucker und Verleger Comenius „zum Gebrauch der kleinsten studierenden Jugend" ein reich illustriertes Jugendlehrbuch heraus: „Die Welt in Bildern", dessen Titelblatt einen „aufgeweckten" Hahn zeigte, mit dem Leitspruch : Studiere fleißig spät und früh — sei munter wie der Kikeriki... Im Wandel der Jahrhunderte haben freilich auch die Lehrmethoden des Leseunterrichts mancherlei bedeutsame Entwidmungen erfahren. Während man früher das sogenannte „synthetische", das vom Einzelbudistaben her aufbauende Verfahren anwandte, hat sich in neuester Zeit immer mehr das „analytische", das ganze Wort auflösende Lehrverfahren durchgesetzt. Diese „Ganzheitsmethode" geht nicht vom Einzelbudistaben, sondern vom Wortganzen aus, ja eigentlich vom gesamten kindlidien Lebenskreis; sie entspricht dem 3
— unbewußten — System, mit dem jede junge Mutter ihr Kind sprechen lehrt. Mit dem Erkennen von Buchstaben und Wortbildern ist es allerdings noch längst nicht getan. „Die guten Leutchen wissen ja nicht, was es einen für Zeit und Mühe kostet, lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziel w ä r e . . .", bekannte Goethe auf dem Gipfel seines Ruhms, und wollte damit sagen, daß „Lesen" eben eine Kunst ist. Zur Beherrschung dieser Kunst hilft uns Goethes Wort, daß ein Blick ins Buch und zwei Blicke ins Leben erst die rechte Mischung ergeben. Je mehr wir uns dem Leben, den Forderungen des Tages zugewandt und verpflichtet fühlen, um so reicheren Nutzen und Gewinn werden wir auch von den treuen Lebensfreunden haben, denen dieser 400. Lesebogen gewidmet ist: den Büchern.
Wie rauh und streng es früher in den Schulstuben zuging, beweist dieser Holzschnitt aus dem Jahre 1592. Vom „Einbläuen" des Lehrstojfs sind wir inzwischen abgekommen. 4
Vor über tausend Jahren lebte im Kloster St. Gallen, nahe dem Bodensee, eine fromme und hochgelehrte Frau namens Weibrath oder Wiborada. Von Kindheit an war sie gottesfürchtig, haßte alle Kleiderpracht, floh die Eitelkeit der Welt und tat Gutes den Armen und Kranken. Ihre Liebe galt den Büchern; aus einem prächtig geschriebenen und kostbar eingebundenen Psalterium lernte das fidelfräulein Wiborada — sie stammte aus einem der vornehmsten Geschlechter des Aargaues — die Gesänge Davids und weihte fortan ihr Leben dem Lobe Gottes und der Pflege der in der Klosterbibliothek verwahrten Bücher, die sie mit schönen Hüllen versah. Nach einer Romreise ließ sich Wiborada in der Nähe des St. Gallener Klosters in eine Zelle einmauern und verbrachte ihre Tage mit geistlichen Übungen; und ihre tiefe Einsicht ins Weltgeschehen ließ sie auch kommende Dinge voraussehen •— so den verheerenden Raubzug der Ungarn, die sengend und brennend durch die deutschen Lande vorstießen bis nach dem Bodensee. In der höchsten Not eilte der Abt von St. Gallen zu der im Rufe der Heiligkeit stehenden Klausnerin und erbat Hilfe und Rat. Da sprach Wiborada: „Zuerst rette die Bücher! — Dann die heiligen Gefäße und die übrige Habe des Klosters." Also tat der Abt, und ließ in der Nähe des Klosters eine stark befestigte Burg errichten und die Kostbarkeiten der Abtei dort sicher verwahren. Als nun die Ungarn Kloster und Burg belagerten, beschwor man die Klausnerin, ihre abseits und ungeschützt liegende Zelle zu verlassen und sich in den Schutz der Wehrbauten zu begeben. Aber Wiborada weigerte sich — ihr genügte, daß die Bücher in Sicherheit waren. Auf der Suche nach den verborgenen Schätzen drangen die Ungarn durch das Dach in die türenlose Zelle ein und erschlugen die wehrlose Frau, die sterbend Gottes Gnade und Vergebung für ihre Mörder erflehte. St. Gallen aber und seine Bücher waren gerettet. Im Jahre 1047 wurde Wiborada in Rom — in Anwesenheit Kaiser Heinrichs III. — zur Ehre der Altäre erhoben und damit die einzige Heilige der Schweiz; sie gilt seitdem als Schutzpatronin der Bibliotheken und der Bücherfreunde — und weil ja auch unsere Leser zu den Bücherfreunden oder „Bibliophilen" gehören, haben wir die Geschichte der frommen Frau hier einer alten Chronik getreulich nacherzählt. Ihrem Beispiel 5
haben in den Schreckenstagen des Zweiten Weltkrieges viele Männer und Frauen nachgeeifert,, die unter Lebensgefahr die ihnen anvertrauten Bibliotheksschätze vor den Brand- und Sprengbomben in Sicherheit brachten oder noch aus dem Trümmerschutt bargen, getreu der Mahnung Wiboradas: „Zuerst rette die Bücher..." Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts waren alle Bücher handgeschrieben; es gab meist nur ein einziges Exemplar oder einige wenige Abschriften, die kaum zu ersetzen und dementsprechend teuer waren. Im Jahre der Heiligsprechung Wiboradas, 1047, verkaufte ein Südtiroler Mönch namens Ulrich ein von ihm selbst geschriebenes Meßbuch, und für den Kaufpreis erwarb er einen großen Weinberg in der Nähe von Bozen, den er seinem Kloster schenkte. In gleicher Weise tauschte hundert Jahre später eine Nonne die von ihr geschriebene Bibel gegen ein großes Landgut ein; und ein gewisser Antonius Pecatellus aus Palermo verkaufte um 1455 — als Gutenberg schon in Mainz seine 42zcilige Bibel druckte! — einen schönen Meierhof für 120 Goldgulden, um sich für dieses Geld eine Abschrift der Werke des römischen Geschichtsschreibers Titus Livius erwerben zu können. Der Verkäufer konnte seinerseits für den Erlös ein großes Landgut bei Florenz kaufen. Verständlich, daß diese kostbaren Bücher wie ein Kronschatz verwahrt und gehütet wurden; wie ein Kronschatz mußten sie auch manchmal, wenn ihre Besitzer in Geldschwierigkeiten gerieten, als Pfand für größere Darlehen dienen. „Den schönsten Tag seines Lebens" nannte der italienische Humanist Francesco Petrarca (1304—1375) den Tag, an dem er in der Dombibliothek von Verona eine uralte Handschrift mit Briefen Ciceros entdeckte und mit eigener Hand abschreiben durfte. Das Geistesgut des griechischen und römischen Altertums wäre uns unwiederbringlich verloren ohne den Sammeleifer der großen „Bibliophilen", der Päpste, Kaiser und Könige, der Klöster und ersten Universitäten. Ihnen verdanken wir auch die Erhaltung und Überlieferung der heiligen Schriften des Christentums und anderer Wcltreligionen. „Und alle Bücher, die je geschrieben wurden, vom ältesten bis zum jüngsten, stehen in einem geheimnisvollen Zusammenhang. Denn keiner, der ein Buch geschrieben, ist durch sich selbst geworden, was er ist; jeder steht auf den Schultern seiner Vorgänger. So bildet der Inhalt aller Bücher ein großes Geisterreich auf Erden. In diesem Sinne ist der Geist des Menschengeschlechts eine unermeßliche Einheit, der jeder angehört, der einst atmete und schuf, und jeder, der jetzt atmet und Neues wirkt. Was heute geschrieben wird, ist morgen Besitz von vielen anderen." 6
Zu Lebzeiten der Hl. Wiborada entstand der Codex aureus von St. Emmeram zu Regensburg, der jetzt zu den hostbarsten Schätzen der Bayerischen Staatsbibliothek gehört. Der Einbanddeckel — ein Meisterwerk der Goldschmiedekunst — ist mit 59 Smaragden, 21 Saphiren und 72 Perlen geschmückt.
Über Johannes Gutenbergs große Tat, über die weltweite Wirkung seiner Erfindung und die Weiterentwicklung der Buchdruckerkunst bis zur Setzmaschine und zur Schnellpresse berichtet der Lux-Lesebogen 169 (Gutenberg), der auch die Entwicklung der Schrift und der Beschreibstoffe behandelt. Gutenberg hat wohl anfänglich versucht, seine Erfindung geheimzuhalten, aber noch zu seinen Lebzeiten verbreitete sich die Buchdruckerkunst über ganz Europa. Es war eben eine Erfindung, die „in der Luft lag", die Zeit war reif dafür wie für die Entdeckung neuer Erdteile. Die bis zum Jahre 1500 entstandenen Drucke nennen wir „Wiegendrucke" oder „Inkunabeln" (nach lat. „in-cunabula" = Windel, Wiege). Man schätzt die Gesamtzahl dieser „Wiegendrucke" auf etwa 40 000 mit einer Durchschnitts-Auflage von 500 Exemplaren, so daß also schon in den ersten 32 Jahren nach Gutenbergs Tod (1468) zwanzig Millionen Bücher gedruckt worden sind — in etwa 1200 Druckereien, von denen sich übrigens die meisten nicht in Deutschland, sondern in Italien befanden. So gab es zum Beispiel um 1500 in Venedig 151 Druckereien, und davon waren 40 in deutschem Besitz. In einer dieser venezianischen Druckereien arbeitete auch Meister Erhard Ratdolt, der schon im Jahre 1470 in seiner Vaterstadt Augsburg eine der ersten deutschen Druckereien gründete. Ratdolt gehört zu den bedeutendsten Bahnbrechern der neuen „Schwarzen Kunst"; 7
er pflegte als erster den Mehrfarbendruck und den Druck mit Goldfarbe, auch das erste Schriftmusterbuch und die ersten Notendrucke stammen aus seiner Werkstatt. Neben religiösen Schriften druckte er vor allem geographische und astronomische Werke, darunter die Schriften des großen deutschen Astronomen Johannes Regiomontanus, die so bedeutungsvoll für das Werk des Kopernikus wurden. In der Vorrede zu einem dieser Bücher beklagt Ratdolt die früher so wenig erfolgreichen Bemühungen um die Verbreitung der Wissenschaften und führt als Hauptgrund hierfür den Mangel an Buchdrukkereien an, die die wichtigsten wissenschaftlichen Werke der Öffentlichkeit hätten zugänglich machen können. Aber das werde jetzt anders werden, da die Buchdruckerkunst von Tag zu Tag immer mehr Bücher hervorbringe, so daß nichts Wertvolles mehr verlorengehen könne. Meister Ratdolts Augsburger Druckerei blüht noch heute — als Deutschlands älteste Buchdruckerei —, und auf ihren modernen Rotationsmaschinen wurde auch dieser Lesebogen, werden alle Lesebogen gedruckt. In unseren Tagen kann übrigens auch das älteste in deutscher Sprache gedruckte Buch seinen fünfhundertsten Geburtstag feiern; es trägt den schönen Titel „Edelstein" und entstand zwischen 1460
So wie in Gutenbergs Mainzer Werkstatt sah es wohl in den meisten Druckereien der „Inkunabelzeit" aus: eine hölzerne Druckpresse, eine Fcuerstelle zum Letternguß, und an der Decke hängen die noch druckjeuchten Bogen zum Trocknen . , . 8
Links: Der Hl. Hieronymus bei der Bibelübersetzung. Rechts: Die erste deutsche Papiermühle. und 1463 in der Werkstatt des Bamberger Druckers Albert Pfister, der auf eine bis heute noch nicht geklärte Weise in den Besitz von Gutenbergs Drucktypen zu dessen 36zeiliger Bibel gekommen war und sich diese Typen zum Druck deutscher Texte selbst zurechtgefeilt hat. Der „Edelstein" ist eine Sammlung antiker Fabeln, die von dem Berner Dominikanermönch Ulrich Boner um die Mitte des 14. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt und in Reimverse gebracht worden sind. Das Büchlein, von dem leider nur noch zwei Exemplare erhalten sind, enthält 206 Holzschnitte und ist auf einem pergamentartigen Papier gedruckt, mit einem Ochsenkopf als Wasserzeichen. Zu den berühmtesten Buchdruckern der „Inkunabelzeit" gehört — neben Erhard Ratdolt — der Venezianer Aldus Manutius, ein begeisterter Humanist, der von 1495 bis 1515 vor allem Werke antiker Autoren wie Aristoteles und Vergil in einer hervorragenden Schrift- und Satzgestaltung gedruckt hat. Er war auch einer der ersten, die ihre Druckwerke in einer eigenen Buchbinderei binden ließen, während die meisten Drucker noch auf lange Zeit hinaus die Bücher ungebunden lieferten; seine Bucheinbände, die zum Teil schon mit der später beliebten Goldprägung versehen sind, weisen erstmals Pappe als Einlage auf, an Stelle des bis dahin üblichen Holzes. Noch eine andere nicht unwesentliche Neuerung ist mit dem Namen des Manutius verbunden: Er wich von dem herkömmlichen, ein wenig unhandlichen Folio- und Quartformat für Bücher ab und gestaltete seine Druckwerke in wesentlich kleinerem und praktischerem Format — diese Bücher werden heute als sogenannte „Aldinen" sehr gesucht und hoch bezahlt. Aldus Manutius hat auch als erster Drucker bei der Herstellung seiner Werke Kursiv-, also Schrägschriften, verwendet. 9
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in den dramatisch bewegten Zeiten der Glaubensspaltung, wuchs der Bücherstrom zur Springflut an; Flugschriften, Traktate und Handzettel für und gegen die Reformation wurden in vorher nie erreichten Auflagen verbreitet, und Luthers deutsche Bibelübersetzung war der erste „Bestseller" auf dem Büchermarkt. „Der Buchdruck erreichte es, daß mit Luther zum erstenmal ganz Deutschland unter dem Eindruck eines einzigen Menschen stand", schreibt der Historiker Lortz, und der Reformator selbst war sich der ungeheuren Bedeutung der Buchdrukkerkunst für seine Sache wohl bewußt: „Die Buchdruckerei ist eine löbliche Kunst, gleichsam die letzte Posaune der Welt, durch die die Stimme des Evangeliums zu guterletzt in aller Welt die Menschen ruft. Sie ist das vortrefflichste Juwel deutschen Landes . .. Die hohen Wohltaten der Buchdruckerei sind mit Worten nicht auszusprechen. Durch sie wird die Heilige Schrift in allen Zungen und Sprachen eröffnet und ausgebreitet, und durch sie werden alle guten Künste und Wissenschaften erhalten, gemehret und auf unsere Nachkommen fortgepflanzt." Nach vorsichtiger Schätzung wurde Luthers Übersetzung des Neuen Testaments schon zu seinen Lebzeiten in einer Auflage von über hunderttausend Exemplaren verbreitet.
Der Buchhändler der Reformationszeit verkaufte nicht nur Bücher, sondern auch die vielbegehrten Flugblätter und Streitschriften. 10
Hohe Auflagen erreichten auch die Werke des Erasmus von Rotterdam, des Thomas a Kempis und Sebastian Brants. Breidenbachs „Fahrt ins Heilige Land", die erste „Reisebeschreibung", erschien bis zum Jahre 1500 bereits in zwölf Auflagen in deutscher, lateinischer, italienischer, französischer und spanischer Sprache. Noch vor der Halbjahrtausendwende brachte der erste große deutsche Verleger, Anton Koberger in Nürnberg, ein mit 1809 Holzschnitten geschmücktes Riesenwerk heraus: Hartmann Schedels berühmte „Weltchronik", die allerdings ein Mißerfolg wurde, weil die „liebe Konkurrenz", nämlich Johannes Schönspcrger in Augsburg, sofort einen unberechtigten, wesentlich billigeren Nachdruck der „Weltchronik" herstellte. Der erste bedeutende Verleger hatte also schon die gleichen Sorgen, die auch heute noch seinen Berufskollegen das Leben oft so schwer machen.
Nach einer alten Überlieferung hat Kaiser Friedrich III. den Buchdruckern bereits um 1460 ein Zunftwappen verliehen (Mitte). Links das Signet — das V erlagszeichen — des französischen Lexikonverlags Larousse; rechts das Signet des Verlags Plön in Paris.
Während in den ersten Jahrzehnten nach der Erfindung der Buchdruckerkunst die Drucker gleichzeitig auch „Verleger" waren, bildete sich schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein eigenes Verlagswesen heran. Der Nürnberger Anton Koberger ist uns bereits bekannt; er besaß eine Druckerei mit 24 Pressen und beschäftigte 100 Gesellen. Nach dem Mißerfolg seiner „Weltchronik" gab er seine Druckerei auf und betätigte sich nur noch als Verleger, er ließ seine Bücher bei fremden Druckereien herstellen und bezahlte sie 11
mit einem Teil der Auflage, worüber die Drucker allerdings nicht immer sehr erfreut waren — Bargeld wäre ihnen lieber gewesen. Kobcrger unterhielt Buchlager und Buchläden in vielen Städten Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Polens; er organisierte auch als erster einen regelrechten „Reise- und Versandbuchhandel" und beschickte die Messen in Leipzig und Frankfurt. Schon in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts wurde Frankfurt am Main zum bedeutendsten Treffpunkt der Drucker, Verleger und auch der Autoren. Die Frankfurter „Buchmesse", die alljährlich vieltausend Bücherfreunde und Buchhändler nach Frankfurt lockt, kann also auf eine fast fünfhundertjährige Tradition stolz sein. Nach der Trennung von Druckerei und Verlag gab der Verleger seine Bücher bei einem fremden Buchdrucker in Auftrag; er verkaufte diese Bücher, indem er als „Buchführer" von Stadt zu Stadt reiste, und nahm auch noch Bücher anderer Verleger mit auf die Reise. Er führte also eine Bücherauswahl mit sich, ein „Sortiment", und daher haben die Buchhändler noch heute die Berufsbezeichnung „Sortimenter". Eine weitere Aufgabenteilung brachte das 17. Jahrhundert: Um diese Zeit kamen die ersten „Sortimentsbuchhandlungen" auf, also die Buchläden, wie wir sie heute noch kennen und schätzen, während die Verleger nur noch ihre eigenen Bücher an den „Sortimenter" lieferten, der sie seinerseits dann dem Publikum zum Kaufe anbot. Daß diese Regelung noch immer Gültigkeit hat, können wir aus vielen Verlagsprospekten ersehen, in denen es heißt: „Wir schicken Ihnen immer gern unsere Verlagsverzeichnisse, aber die Lieferung unserer Bücher erfolgt nur durch den Buchhandel . . ." Kobergers bittere Erfahrung, daß der „Erfolg" eines Buches niemals mit absoluter Sicherheit voraus zu berechnen ist — diese Erfahrung haben bis heute alle großen Verleger immer wieder mit gutem Gelde bezahlen müssen. Der Verleger Vittorio Klostermann bekannte einmal, „daß es gute Bücher gibt, die schlecht gehen, und daß es sehr schlechte Bücher gibt, die sich gut verkaufen. Der augenblickliche Erfolg kann nie als Maßstab dienen. Es ist geistesgeschichtlich höchst interessant, festzustellen, daß, je bedeutender ein Werk ist, in der Regel der Anfang seiner Verbreitung schwierig oder sogar aussichtlos war, und daß jede überdurchschnittliche Leistung eine gewisse Zeit zur Auswirkung braucht. Goethes Schrift über ,Die Metamorphose der Pflanzen', die 1790 in einer Auflage von 600 Exemplaren erschien, war vierzig Jahre später, zu Goethes Tod, noch nicht verkauft, und daß Schopenhauers Hauptwerk ,Die Welt als Wille und Vorstellung' in der ersten Auflage vom Verlag 12
Aus dem von Johann Friedrich Cotta eigenhändig geführten HonorarKontobuch für Herrn Geheimrat v. Goethe. Brockhaus wegen Unverkäuflichkeit wieder ,eingestampft' werden mußte, ist allgemein bekannt. Nietzsches Werke wurden zu seinen Lebzeiten auf seine Kosten gedruckt und blieben unverkauft liegen. Nietzsche hat mehr Exemplare verschenkt als verkauft. Erst nach seinem Lebensende begann die Nachfrage nach seinen Büchern. Also, weder der Name des Autors noch der Inhalt verbürgen den finanziellen Erfolg. Auch Albert Einsteins erste Veröffentlichung über seine Entdeckung der .Relativitätstheorie' erschien zunächst in einer Auflage von 500 Exemplaren und blieb größtenteils unverkauft . . . " Wir sehen: Das Risiko des Verlegers ist groß. Er muß zunächst — ohne zu wissen, ob er sein Geld jemals wiedersieht, den Drucker bezahlen, den Buchbinder, den Graphiker, der den Einband und LJmschlag geliefert hat, und meistens braucht auch der Herr Verfasser noch einen kleinen Vorschuß. Dann muß der Verleger für das neue Buch werben — das kostet auch Geld. Dazu kommt meist noch allerhand persönlicher Ärger und Verdruß, zum Beispiel mit den Autoren: „Da ich mit der Verfasserin von ,Goethes Briefwechsel mit einem Kinde' in Hinblick der Kommissionsgebühren in einige Kollision gekommen bin, und ich mit unbilligen Leuten, vorzüglich aber mit Weibern, nichts zu tun haben will, fand ich es für nötig, ihr die noch nicht abgesetzten Exemplare zurückzusenden." Das ist eine Anzeige des Verlegers Dümmler aus dem Jahre 1837, und die Verfasserin, mit der er „nichts mehr zu tun haben wollte", war Bettina von Arnim . . .
Was Goethe in seinen ersten Verleger Guschen schrieb, das haben seither viele Verleger in ahnlicher Form von ihren Autoren zu hören bekommen: „Also — ich kann nicht sagen, daß mir der Anblick der drei Exemplare meiner Schriften Vergnügen verursacht hatte. Das Papier scheint eher ein gutes Druckpapier als ein Schreibpapier, das Format ichwindet beim Beschneiden gar sehr zusammen, die Budistaben wirken stumpf, die Farbe ist wie das Papier, so daß die Bande eher einer Zeitsdirift ähnlich sehen als einem Budic, dai dodi längere Zeit dauern tollte . . . " Sehr vornehm schrieb Christoph Wilhelm von Hufeland, der große Arzt (siehe Lux-Lesebogen Nr. 371) an seinen Verleger: „Was das Honorar betrifft, so können Sie wohl glauben, daß es mir dabei auf einige Taler mehr oder weniger nicht ankommt, und es liegt gerade in meinen Grundsätzen, daß, wenn Sie weniger drucken, ich nodi weniger Honorar erhalte. Nur glaube ich, daß Sie bei dieser Schrift, die wegen ihrer Gemeinnütz.igkeit gewiß viel Absatz erwarten kann, gewiß mehr drucken könnten . . ." Kurz und bündig äußerte sich Ernst Moritz Arndt: „Werter Herr und Freund. Alles — Papier und Geld — wohl und dankbar erhalten. Gebe Gott ein gutes deutsdies Jahr und Ihnen zur Messe treue Zahler!" Viele erfolgreidie Verleger handelten — meist wohl unbewußt — nach der Erkenntnis des Philosophen Immanuel Kant: „Ein erfahrener Kenner der Buchmadierei wird als Verleger nidu erst darauf warten, daß ihm von schreibseligen, allzeit fertigen Sdiriftstellern ihre eigene Ware zum Verkauf angeboten wird. Er wird sidi vielmehr — wie der Direktor einer Fabrik — sowohl den Inhalt wie auch die Fasson ausdenken, welche mutmaßlich die größte Nadifrage oder jedenfalls die schnellste Abnahme geben wird . . . " So ist es zu erklären, daß ein „Not- und Hilfsbüdiiein für Bauersleute" in den Jahren 1788 bis 1811 eine Auflage von einer Million erreidite — eine Zahl, die auch mandiem Verleger unserer Tage „interessant" sein würde. Oberhaupt sind „Praktische Ratgeber" aller Art, volkstümliche Nachsdilagewerke und ähnliche Bücher, wenn sie nur einigermaßen zuverlässig und ansprechend aufgemacht waren, stets recht erfolgssidiere Verlagsobjekte gewesen, solange nicht allzuviele „Konkurrenzobjekte" auf den Markt kamen. Es darf auch nicht vergessen werden, daß viele Verleger durch den Massenabsatz verhältnismäßig an.prudisloser Büdier erst die finanziellen Möglidikciten zur Herausgabe „überdurchsdinittlidier" und bedeutender Werke erhalten haben. Zum Verlegersein gehört immer — neben unternehmerisdiem Wagemut, kaufmännisdier Geschicklichkeit und ein wenig Glück — audi eine ganze Portion Idealismus. 14
So kostbar waren früher die Bücher, daß man sie in den Bibliotheken zum Schutz gegen Diebstahl .an die Kette" legte. Auch in dieser barocken Pultbibliothek sehen trir die „libri catenati", die angelten Bücher, nach Sachgebieten geordnet in staubschützenden Regalen.
Wie entsteht denn nun eigentlich ein Buch? Schon sind wir wieder beim Verleger; denn aus dem schönsten Roman, aus dem tiefsinnigsten handgeschriebenen Gedichtband wird nie ein Buch, wenn sich nicht ein Verleger findet, der sich entschließt, diese „Handschrift", — dieses „Manuskript" also — drucken zu lassen und zu „verlegen", das heißt in möglichst viele „Soriimenis-Buchhandlungen" zu „verlagern", wo er, hoffentlich, recht viele Käufer findet. Allerdings: Es gibt für den Verfasser des Romans oder des Gedichtbandes auch noch eine andere Möglichkeit, sich „gedruckt" zu sehen — nämlich die sogenannten „Eitelkcitsverlage", die vor allem in den USA sich großer Beliebtheit erfreuen. Diese Verlage nehmen jedes Manuskript an, das ihnen vorgelegt wird, sofern der Verfasser bereit und in der Lage ist, sämtliche Kosten für den Druck, die Werbung und den 15
Vertrieb leinet Buches iclbti zu übernehmen. Und deren jjibt es ..drüben" 10 viele, d.tlJ zwischen 1950 und i960 zehn Prozent aller in den USA gedruckten Bücher auf diese kuriose Weise erschienen iiiul . . .
„Sucht Ihr der Weisheit Schatz — gebt guten Büchern Platz!-' lautet die Überschrift zu diesem Kupferstich aus dem Jahre 1711. Er zeigt einen Buchhändler mit seinen Gehilfen, die eine neu angekommene Bücliersendung auspacken. Die Bücher wurden damals in Fässern und Ballen transportiert. 16
Honoré Doumier: Der Gelegenheitsdichter, der politische Literat, der vorlesende Autor Aber das sind natürlich nur mehr oder weniger erheiternde „Randerscheinungen" des Verlagswesens. Normalerweise erhält der Verleger das Manuskript vom Autor, also vom Verfasser, unaufgefordert oder auf besondere Aufforderung zur Prüfung zugesandt; es j;ibt aber auch Manuskripte, die vom Verleger ..angeregt" oder ausdrücklich bestellt werden — dies ist zum Beispiel bei wissenschaftlichen Werken oder sogenannten „Sachbüchern" oft der Fall. I >i-r Verleger wird also das eingegangene Manuskript selbst sorgfältig prüfen oder es seinem „Lektor" zur Prüfung übergeben. Der Lektor berät auch — nach Prüfung des Manuskripts — den Verleger über Annahme oder Ablehnung. Im Falle der Annahme schließt der Verleger mit dem Verfasser einen „Verlagsvertrag" ab, in dem die beiderseitigen Rechte und Pflichten (Honorar, Hohe der Auflage, Übersetzungsrechte usw.) festgelegt werden. Nach Abschluß des Vertrages wird das Manuskript vom Lektor nochmals — in engstem I in vernehmen mit dem Verfasser — „bearbeitet", das heilst, es werden etwa vorhandene Unklarheiten im Text beseitigt oder stilistische Verbesserungen vorgenommen. Zu gleicher Zeit werden Verfasser. Verleger und Lektor auch gemeinsam den endgültigen Titel testlegen, meistens unter Hinzuziehung des „Werbeleiters", der den vorgesehenen Titel auf Werbewirksamkeit und Zugkraft prüfen wird. Der Titel — also das ist schon eine ganz wichtige Sache! Zunächst muß festgestellt werden, ob es den geplanten Titel in der gleichen oder ähnlichen Form etwa „schon gibt"; dann empfiehlt sich die Wahl eines anderslautenden Titels. Wenn nämlich ein Buch mit dem gleichen oder auch nur zum Verwechseln ähnlichen Titel schon früher erschienen ist, kann der Verlag des zuerst erschienenen Buches auf Unterlassung des gleichen oder ähnlichen Titels bestehen. V
Daß der vom Verfasser gewählte Titel nicht immer der erfolgreichste ist, hat Friedrich Schiller erkennen müssen, dessen Trauerspiel „Luise Millerin" erst in die Theater- und Literaturgeschichte eingegangen ist, als es den von dem Schauspieldirektor IfTland „erfundenen" Titel „Kabale und Liebe" erhielt. Viele erfolgreiche Buchtitel stammen nicht vom Vert. lern vom Verleger, zum Beispiel Spenglers „Untergang des Abendlandes" oder Ernst Wiecherts Roman „Das einfache Leben". Als unerschöpfliche Fundgrube für Romantitel hat sich die Bibel erwiesen: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein", „Und es ward Licht", „Und sagte kein einziges Wort", „Die Kraft und die Herrlichkeit", „Und sie schämeten sich nicht . . . " — die Liste könnte nach Belieben verlängert werden. Noch ein Rezept erwies sich als werbewirksam: Man wählte drei Hauptwörter, möglichst mit dem gleichen Anfangsbuchstaben (Alliteration) und machte Buchtitel daraus wie „Bauern, Bonzen, Bomben", „Götter, Gräber und Gelehrte", „Männer, Mächte, Monopole" oder „Forscher, Fallen, Fabeltiere" usw. Als recht erfolgssicher gelten auch sechssilbige Titel: „Im Vi < nichts Neues", „Der liebe Augustin", „Der fidelc Bauer", „Ein gewisses Lächeln", „Bild der Jahrhunderte", „Hannclcs Himmelfahrt" usw. Von einem guten Titel kann zweifellos eine gewisse Magie ausgehen — ja, manch ein Buchtitel ist zum „Geflügelten Wort" geworden« wie etwa „Vom Winde verweht", „Und keiner weint mir nach", „Wohin rollst du, Äpfelchen" oder „Frag nicht zuviel". Wenn endlich der „richtige" Titel des geplanten Buches gefunden ist, dann wandert das Manuskript in die „Herstellungsabteilung" des Verlages. Der „Hersteller" ist wieder ein sehr wichtiger Mann: Er „kalkuliert" das Buch — das heilst er wird zunächst versuchen, die voraussichtlichen Herstellungskosten mit dem voraussichtlichen Ladenpreis abzustimmen. Mit Hilfe des Manuskripts berechnet der Hersteller den Umfang des Buches, das heißt die Seitenzahl, dann wird das Format, die Buchgröße, festgelegt, das Papier ausgewählt und die für den Satz zu verwendende Schrift bestimmt. Auch die Schrift soll dem Inhalt des Buches entsprechen: Man wird also für einen Roman eine andere Schrift wählen als für ein „Fachbuch", für einen Lyrikband eine andere als für ein Lexikon. Damit ist aber die Aufgabe des „Herstellers" noch längst nicht beendet. Bildtafeln und Illustrationen müssen beschafft werden; Farbe und Material des Einbandes werden festgelegt, ein Graphiker wird mit der Gestaltung des Einbandes und des Schutzumschlags beauftrag'Inzwischen ist das Manuskript zur Druckerei „in Satz" gegangen. Mit Hilfe der modernen Setzmaschinen, die wie riesige Schreibma18
Der „Winkelhaken"— das wichtigste Handwerksgerät des Schriftsetzer ichinen aussehen, kann man in einer Stunde sechstausend Buchstaben setzen — hundert Buchstaben in der Minute! Der fertige Satz wird nicht auf Buchseiten abgedruckt, sondern auf lange Papierstreifen, die sogenannten „Fahnen", und diese „Fahnen" werden dem Verfasser des Buches zur „Korrektur" übersandt. Der Verfasser wird diese „Fahnen" sorgfältig mit seinem Manuskript vergleichen und etwaige Fehler „korrigieren". Für diese Arbeit gibt es eine Anzahl bestimmter „Korrekturzeichen", die jedem Setzer vertraut sind und ihm die Verbesserung der Fehler nach den Wünschen des Verfassers ermöglichen. Nach beendeter Korrektur können die „Fahnen" in der Druckerei „umbrochen", das heißt zu einzelnen Seiten im Format des geplanten Buches aufgeteilt werden. Als „Bogenkorrektur" gehen die gesetzten Seiten nochmals an den Verlag und an den Verfasser zur zweiten Korrektur — das ist die letzte Gelegenheit, noch stehengebliebene Fehler auszumerzen, denn diese „Bogenkorrektur" muß mit der Druckreif-Erklärung an die Druckerei zurückgesandt werden. Druckreif-Erklärung, das heißt: Der Verfasser oder der Verleger versieht die Bogenkorrektur mit seiner Unterschrift, mit dem Datum und dem Vermerk „Imprimatur" (lat. „es werde gedruckt"). Für evtl. übersehene Fehler ist nun der „Imprimatur"-Erteilende verantwortlich. Wenn alles gut geht, hat der Graphiker in der Zwischenzeit seine Entwürfe für Einband und Schutzumschlag geliefert und mit ihnen den Beifall von Verleger und Verfasser gefunden; es können also die für den Einband erforderlichen Prägestempel in Auftrag gegeben werden. Für die Herstellung und Gestaltung des Einbandes gibt es heute eine Vielzahl von Möglichkeiten: Halb- oder Ganzleinen, Halb- oder Ganzleder, Pappbände, Einbände aus KunststofTFolien und anderem Material wie Holzfurnier oder auch Metallfolie — auch Seide, Samt oder Pergament werden verwendet —, je nach dem Inhalt, dem „Wesen" des Buches und nach den zu vertretenden Kosten. Das gilt auch für den Schutzumschlag, dessen Herstellungskosten sich unter anderem nach dem gewählten Druckverfah19
ren, dem P.ipier, der Anzahl der verwendeten Farben und der Lakkierung richten. Die uns so vertrauten Schutzumschläge gibt es erst seit etwa 60 Jahren; sie haben sich über ihre ursprüngliche Aufgabe, den Einband zu schützen, längst weiterentwickelt zu einem bedeutenden, oft den Verkaufserfolg entscheidend beeinflussenden Werbemittel. Auch in der Druckerei herrscht jetzt Hochbetrieb. Dort hat man den Satz nach einem ganz bestimmten Schema zu Druckbogen zusammengestellt, von denen jeder H> Seiten umfaßt; deshalb steht bei vielen Büchern auf der Seite 17 ganz unten links eine winzige 2, die bedeutet, daß dies die erste Seite des zweiten Druckbogens ist. Nun sind noch mancherlei andere Vorbereitungen zu treffen, ehe die Druckmaschine anlaufen kann. Leider müssen wir bei der kurzen Schilderung der Buchherstellung viele Arbeitsgänge „unterschlagen", weil sonst unser Lesebogen viel zu lang würde. Wir wollen aber annehmen, daß wir jetzt „druckfertig" sind — die Druckmaschine läuft auf vollen Touren und kann in einer Stunde 25C0 bis 3500 Bogen — also ungefähr 50 000 Buchseiten — drucken. Die „ausgedruckten" Bogen kommen nach einer gewissen Trockenzeit in die Buchbinderei, in die Falzmaschine und dann in die Heftmaschine, sofern nicht, wie dies neuerdings oft geschieht, das Buch an Stelle der Heftung „gclumhcckt" bzw. ,,geklebt" wird. Da-, i-.t ein besonders bei Taschenbüchern angewendetes Bindes erfahren, mit dem die Buchseiten am Rücken durch einen Spezialleim unter Druck und Wärme so fest miteinander verbunden werden, daß auch ohne Heftung ein dauerhafter Band entsteht. Der Band oder „Buchblock" wird nun beschnitten und oben mit einem „Farbschnitt" — seltener „Goldsdtnitt" — versehen. Die inzwischen fertiggestellte Einbanddecke wartet ebenso wie der fertiggedruckte und vielleicht noch lackierte Schutzumschlag schon auf den Buchblock, der nun „gebundden" wird. Dann ist das Buch fertig — es wird noch einmal in sauberes Papier eingeschlagen, und dann können die Bände in großen Paketen an den Verlag abgeliefert werden. Hier wartet man schon auf die Bücher, denn die Werbeabteilung hat das neue Werk bereits durch Anzeigen und Prospekte angekündigt, und vom „Sortiment", also von den Buchhandlungen, sind schon viele Bestellungen eingegangen oder von den Vertretern des Verlags entgegengenommen worden. Manchmal sind es so viele, daß die „erste Auflage" des Buches schon „durch Vorbestellungen vergriffen" ist und die zweite Druckauflage vorbereitet werden kann. Nun leuchtet uns das neue Buch aus dem Schaufenster der Buchhandlung entgegen: „Soeben erschienen." 20
Die schönen Ladengeschäfte, die den Straßen unserer Städte ihr Gepräge geben, gibt cv erst veit etwa hundert Jahren — seit man die Möglichkeit hat, große Tafelglasscheiben für die Schaufenster herzustellen. Schaufenster betrachten, das ist immer ein ganz be deres Vergnügen, vor allem, wenn es die Schaufenster einer Buchhandlung sind. Aber man sollte sich nicht mit dem Betraditen der Schaufenster begnügen, sondern — und das recht oft — in die Budihandlung gehen; wir werden dort freundlich empfangen und können uns in aller Ruhe die gefüllten Regale, die auf den Ladentischen ausgebreiteten Schätze betraditen. Und wer will, der kann sidi auch in einen der bereitstehenden Sessel setzen und in den Büchern blättern, die ihn interessieren. Um 1800 gab es in Deutschland etwa fünfhundert Buchhandlungen; heute sind es schon viele Tausende, große und kleine, und alle bieten uns in reicher Fülle das, was wir suchen — vom Taschenbuch bis zum vielbändigen Lexikon, vom kleinen Gesdienkbänddien bis zur Klassikerreihe. Die größte Buchhandlung der Welt ist in London, es ist ,.!•• Buchhandlung": ein riesiges Gebäude in der Charing Cross Road. Hier stehen ständig auf Regalen über drei Millionen Büdier, die aneinandergereiht eine Länge von 48 Kilometern ergeben würden, hier kann man den ganzen Tag über lesen, ohne daß man zum Kaufentschluß aufgefordert wird. Zu Foyles Buchhandlung gehören natürlich audi nodi eine Musikalienabteilung und ein Schallplattengeschäft, wie man es auch in unseren Buchhandlungen manchmal finden kann. Die Buchabteilung selbst ist in einzelne ,,Länder" aufgeteilt, in der deutschen Abteilung werden ständig die widitigsten deutschen Neuerscheinungen ausgestellt und finden reges Interesse. 21
Mit einem hübschen Einfall hat ein Wiener Buchhändler den begeisterten Beifall seiner Landsleute und der vielen fremden Besucher der alten Kaiserstadt gefunden: Er hat seine Buchhandlung mit einem kleinen Kaffeehaus verbunden, einem „Libresso", mit Tischen und Sesseln, in denen man bei einer Tasse Kaffee alle gewünschten Bücher — um schonende Behandlung wird freilich gebeten! — in Ruhe durchblättern kann. Viele Buchhandlungen haben auch eine eigene Jugendabteilung eingerichtet — es soll also niemand meinen, daß eine Buchhandlung nur „etwas für Erwachsene" ist! Jeder Buchhändler freut sich ganz besonders, wenn er junge Menschen in seinem Laden begrüßen und sie fachmännisch beraten kann. Vorlesenachmittage, JugendbuchAusstellungen und „Autogrammstunden" sollte man sich nicht entgehen lassen; es ist immer reizvoll, ein geliebtes Buch mit der eigenhändigen Unterschrift des Verfassers zu haben, der sich seinerseits über den „personlichen Kontakt" mit seinen jungen oder älteren Lesern freut. Erinnern wir uns der Worte von Wilhelm Busch: Rührend schöne Herzgeschichten, Die ihm vor der Seele schweben, Weiß der Dichter zu berichten —.Wovon aber soll er leben . . .? Was er fein zusammenharkte, Sauber eingebundne Werklein, Trägt er eben auch zu Markte, Daumlcr. Der verhungerte Dichter Wie der Bauer seine 1-erklcin .. . Honorar heilst „Ehrengeschenk"; aber das lateinische Wort sagt nicht, daß die Dichter des Altertums „Honorare" erhalten hätten. Autorenhonorare waren früher ebenso unbekannt wie irgendwelche „Urheber"- oder Verlagsrechte: Jeder konnte Aristophanes und Sophokles, Horaz und Vergil abschreiben und verkaufen, sooft er wollte. Auch die 60 000 Golds-tücke, die der persische Dichter lirdu.i (um 1000 n. Chr.) für sein „Königsbuch" erhalten haben soll, waren nur ein „freiwilliges" Geschenk seines Herrschers. Martin Luther hat weder für seine Bibelübersetzung noch für seine zahllosen übrigen literarischen Arbeiten jemals auch nur einen roten Heller erhalten — er bekam nur einige „Freiexemplare" seiner Werke, und die hat er verschenkt. Die ersten „Schriftsteller", die von ihren Büchern einigermaßen leben konnten, waren Erasmus von Rotterdam, Ulrich von Hütten und Sebastian Brant. Shakespeare, der aus ärmlichen Verhältni stammte, starb als schwerreicher Mann, aber nicht dank irgendwelcher Honorare für seine Bühnenwerke, sondern weil er als Schau22
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Spieler und Teilhaber des Globe-Theaters viel verdiente. Audi Molicre wurde all Sdiauspieler reidi, nidit als Autor. Daniel Defoc mußte seinen Roman „Robinson Crusoe" für zwanzig Pfund, das sind etwa vierhundert Mark, verkaufen und starb im Elend; Klopstock erhielt von seinem Verleger für den „Messias" als Sonderhonorar einen Frack und einen Hut, und Immanuel Kant erbat sich für die „Kritik der reinen Vernunft" außer zweihundert Talern nodi eine nahrhafte Sondergabe: 16 Würste und 2 Pfund Schnupftabak. Johann Peter Hebel, der Verfasser des unsterblichen „Sdiatzkästleins", erhielt in seinem ganzen Leben 600 Gulden für alle •eine Werke, und bemerkt dazu: „Einen Teil davon bedurfte ich, um Schulden zu bezahlen, und ein kleiner Teil zerrann in fröhlidiem Lciditsinn beim Wein. Idi werde wohl so arm sterben, wie idis mein Leben lang war . . . " Goethe hingegen erwies sich als vorzüglidier Gesdiäftsmann und kühler Rechner — er hat von seinem Verleger Cotta insgesamt etwa eine Million (nadi heutigem Gelde) erhalten, und seine Erben bekamen bis 1865 nodi einmal die gleiche Summe. Goethe war auch der erste deutsdie Schriftsteller, dem (für die Gesamtausgabe seiner Werke) ein urheberrechtlicher Schutz gewährt wurde, so daß niemand unbefugt seine Schriften nadidrucken konnte. Sein Gesudi an Großherzog Karl August: „ . . . s o würde es um so wünschenswerter sein, daß der Verfasser von unausgesetzten Bemühungen seines Lebens billig-müßigen Vorteil ziehe, weldier durdi den in Deutsdiland nodi nidit zu hindernden Nachdruck gewöhnlidi verkümmert w i r d . . . " , fand gnädiges Gehör, und zum erstenmal erschien in einem Budi der Vermerk: Unter des durdilauditigsten deutschen Bundes sdiützenden Privilegien. Mancher versteht's eben, und mancher n i d i t . . . Eduard Mörike zum Beispiel starb als armer Mann, während Charles Dicken-, der in seiner Kindheit fast verhungert wäre, ein Millionen vermögen hinterließ, ebenso Johann Nestroy, der österreichisdie Komödiendiditer. Alexander Dumas der Ältere war in seiner Jugend so arm, daß er sich zur Premiere seines ersten Bühnenstücks einen weißen Kragen aus Papier schneiden mußte; später verdiente er mit seinen Romanen — darunter der „Graf von Monte Christo" und „Die drei Musketiere" — etwa fünf Millionen Goldmark, die er aber bei -.einem Tode bis auf den letzten Pfennig wieder durchgebradit hatte. Dumas der Jüngere verdiente mit der „Kameliendame" wieder einige Millionen und auch Emile Zola, der Dichter der Armen und Entrechteten, starb als Millionär. Zola war auch sein eigener „Werbefachmann": Er ließ M\ alle Bäume der Pariser Straßen Reklame23
Zettel kleben mit der Aufschrift „Lest NANA, den neuen Roman v i.11 Emile Zola!" Balzac, der ungeheuer Fleißige, kam jedoch sein 1 el'en lang nicht aus den Schulden heraus, und Oscar Wilde, der zeitweise über eine halbe Million jährlich verdiente, mußte vor seinem Tode Freunde und Fremde um geringe Geldbeträge bitten — für Brot und Butter. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurden viele Unterhaltungsschrihsiellcr, deren Werke heute längst vergessen sind, zu Millionären, so die Damen Marlitt und von Kschstruth, die Herren Eben, Herzog und Voß; und die großen „Erfolgsschriftsteller" unserer Zeit sind noch besser dran durch mancherlei „Nachdruckhonorare", die sie für den Abdruck ihrer Arbeiten in Illustrierten oder tiir die Verfilmung erhalten. Aber die „Bestseller" von heute werden zum großen Teil in wenigen Jahrzehnten ebenso vergessen sein wie die „Bestseller" der Jahrhundertwende; ja — es hat sich immer erwiesen, daß ein zu rascher, zu lauter „Erfolg" die Gefahr des ebenso raschen Vergessenwerdens mit sich bringt. Als der verstorbene russische Schriftsteller Boris Pasternak vor einigen Jahren überraschend mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, da verdrängte sein Roman „Doktor Schiwago" eine Zeitlang alle anderen Neuerscheinungen; das Buch wurde mehr gekauft als gelesen und ist heute schon last vergessen. Wer kennt das erfolgreichste Buch der letzten fünfzig Jahre? Viele haben noch nie von ihm gehört, denn es ist ein „Fadlbucfa" und heißt „Tabellenbuch für das Metallgewerbe". Als „Erfolgsbücher" mit ständig steigenden Autlage/illern gelten die Romane von Thomas Mann und Hermann Hesse, die „Biene Maya" von Bonseis, die heiter-ernsten Werke Wilhelm Buschs; darüber hinaus gibt es viele lachhücher und Nachschlagewerke, die abseits der „Bestsellerliste" mit schöner Regelmäßigkeit in immer neuen Auflagen erscheinen und die den Verfassern auch entsprechend regelmäßige Einnahmen sichern. Wir wollen uns aber von den Spitz.enhonoraren der Erfolgreichen nicht täuschen lassen, denn sie sind ja nur der Gipfel einer riesigen Pyramide von Unbekannten, von Erfolglosen, von rasch wieder Vergessenen. Und auch die manchmal redit beträchtlichen „Literaturpreise" sind keine Garantie für die dauernde Wirkung eines literarischen Werkes. Denken wir angesichts so vieler Augenblickserfolge an Gellerts Vers: Berühmt zu werden ist nicht schwer! Man muß nur viel tür kleine Geister schreiben . .. Doch bei der Nachwelt groß zu bleiben — Dazu gehört schon etwas mehr. 24
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] >ie Lutherbibel, die ganze Heilige Schrift in deutscher Sprache, die im Jahre 1534 in der Wittenberger Druckerei des I Luis Lullt gedruckt wurde, kostete damals 2 Gulden und 8 Groschen. Das war ein recht hoher Preis, wenn man bedenkt, daß um diese Zeit ein Arzt etwa 16 Gulden jährlich verdiente, ein Hacker 12 Gulden und eine Dienstmagd gar nur einen Gulden. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Bibel das meistübersetzte Buch der Welt; sie ist in über tausend Sprachen und Dialekten erschienen, und die Gesamtauflage all dieser Übersetzungen, die jetzt etwa 700 Millionen beträgt, erhöht sich alljährlich um 25 Millionen. Jeder kann sich heute die Bibel kauten, sogar als Taschenbuch, und vieltausend Exemplare werden von den Missions- und Bibelgesellschaften kostenlos verteilt. Und doch ist die Heilige Schrift noch heute das zugleich billigste und teuerste Buch der Welt: Eines der wenigen Exemplare, die es noch von Gutenbergs lateinischer Bibel gibt, wurde vor einigen Jahren für eineinhalb Millionen Mark verkauft. 1961 erschien in einem französisdien Verlag ein Teil des Neuen Testaments, die „Apokalvpse" (Die Offenbarung des Johannes) in einem einzigen, handgeschriebenen Exemplar, das zwei Millionen Mark kostet. Dieses zur Zeit „teuerste Buch der Welt" war in vielen Städten Europas ausgestellt, und die Besucher konnten neben den schönen Schriftseiten auch die merkwürdigen Illustrationen bestaunen, die verschiedene moderne Künstler, wie Salvador Dali, Bernard Büffet und andere, dazu beigesteuert haben. Von dem „Surrealisten" Dali stammt auch der Entwurf zu dem 210 Kilo schweren „Einband" des Buches; er ist aus Bronze gegossen und unter anderem mit zahlreichen Edelsteinen verziert. Kritische Betrachter neigen allerdings zu der Ansidit, daß es sich hierbei weniger um ein Kunstwerk als um eines der vielen „kuriosen" Bücher handelt, zu denen auch die „größten" und die „kleinsten" Bücher gehören. Das unbestritten größte Buch der Welt ist ein anatomischer Atlas, der in der Bibliothek der Wiener Staatsgewerbeschule aufbewahrt wird. Er ist 1,90 Meter hoch und 90 Zentimeter breit und wurde um 1830 in Holland gedruckt. Zu den kleinsten Büchern gehört ein 1897 in Padua gedrucktes Buch, es enthält auf seinen 208 Seiten im I ormat 6 mal 6 Millimeter unter anderem bisher unveröffentlichte Briefe Galileis. Noch viel kleiner ist ein vor wenigen Jahren von dem Kölner Notenschreiber Schmitz handgeschriebenes Buch: Es ist nur dreieinhalb Millimeter breit und viereinhalb Millimeter hoch und berichtet auf seinen 77 Seiten über den Bau des Kölner Doms. Den Weltrekord an Winzigkeit hält aber ein Büdilein, das vom Mainzer Gutenbergmuseum herausgegeben wird. Die Schrittfläche 25
jeder Seite dieses Budics, das das Varerunser in sieben verschiedenen Sprachen enthält, ist nur 3 Millimeter groß. Das köstliche Werkchen ist nidit geschrieben, sondern „riditig" gedruckt, mit metallenen Lettern, die in der Originalgröße handgeschnitten, also nidu etwa photographisch verkleinert wurden. Das gewaltigste Budiwerk aller Zeiten ist der von einem diinesisdien Kaiser im 15. Jahrhundert herausgegebene „Thesaurus", ein handgeschriebenes „Lexikon" von 22 937 Bänden, in denen angeblich alles menschliche Wissen jener Zeit zusammengefaßt ist. Die Chinesen sdicinen überhaupt eine Vorliebe für vielbändige Werke zu haben, denn auch eine um 1725 auf kaiserlichen Befehl herausgegebene Sammlung literarischer Texte umfaßt 5020 Bände. Gegenüber diesen Riesenwerken wirkt der amtliche Bericht über den amerikanischen Bürgerkrieg in 130 Binden gerade/u bescheiden. Ein europäisches Budiwerk, dessen Abfassung sdion über drei Jahrhunderte in Anspruch genommen hat, ist die Geschidite der christlichen Heiligen, die in lateinischer Sprache gesdiriebenen „Acta Sanctorum", von der bisher 63 Bände erschienen sind. Für die Fertigstellung der noch ausstehenden 25 Bände rechnet man mit einer Frist von nochmals zwei Jahrhunderten, so daß das Werk etwa um das Jahr 2150 vollständig vorliegen wird.
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Daß uns viele wertvolle Bücher aus alter Zeit erhalten geblieben sind, verdanken wir den Kirdicnfürsten und weltlichen Herrschern, den Mönchen und den privaten Bücherlitbhabern, die ihre in jahrzehntelanger Sammeltätigkeit zusammengebrachten Schätze sorgfältig hüteten und sie späterhin oft den Bibliotheken vermachten. Fünf Jahre nach Gutenbergs Tod erschien in Köln eines der ersten Werke über die Liebe zum Buch, das „Philobiblon". Sein Verfasser war der Bischof Richard de Bury, der Lordkanzler des englischen Königs Edward III., und von einem Titel stammt unsere Bezeichnung „Bibliophilie" für Bücherliebhaberei. Vierhundertachtzig Jahre später lebte in Köln ein Bibliophile namens Pastor, der seine kostbaren Bücher nur mit Glacehandschuhen anzufassen pflegte. Als im Zweiten Weltkrieg sein schönes Haus von Brandbomben getroffen wurde, wollte ein Diener die Bücher, um sie zu reiten, zum Fenster hinaus auf die schmutzige, regennasse Straße werfen, aber Pastor hinderte ihn daran mit den Worten: „Lassen Sie das — ich kann meine Bücher nicht im Schmutz liegen sehen!" Also erlitten die unersetzlichen Bücher — zum Teil nur noch in einem Exemplar vorhandene Erstausgaben vor allem des 18. Jahrhunderts — den reineren Flammentod. Ein anderer Bücherliebhaber, der vor etwa hundertsiebzig Jahren lebte, besaß in über zehn Städten private Bibliotheken; seine Büchersammlungen und seine Weinkeller übertrafen nach der Meinung Walter Scotts alle anderen der Welt. Dieser Mann — er hieß Richard Heber — schaffte sich jedes Buch gleich dreimal an: ein Exemplar für die Bibliothek, eins zum Lesen und eins zum Ausleihen. Zeitgenössische Literatur schätzte er wenig, er kaufte sich aber dennoch jedes neuerschienene Buch, freilich ohne es der Lektüre zu würdigen . .. Wenn das Buchtrsammeln zur Leidenschaft wird, dann kommt es zu so merkwürdigen Erscheinungen wie dem Florentiner Bibliothekar Antonio Magliabecchi, der im 17. Jahrhundert lebte — Junggeselle natürlich, und ein Sonderling dazu. Er lebte nur für seine Bücher und mit seinen Büchern, die seine Behausung bis zur Decke anfüllten und ihm nicht nur als Sitzgelegenheit, sondern auch als Nachtlager dienten. Weniger harmlos war die Bücherleidenschaft des Spaniers Vincente, der um 1800 in einem Kloster nahe Tarragona die Bibliothek verwaltete. Nach der Plünderung des Klosters — während der Herrschaft der Königin Christine von Bourbon — brachte er einen großen Teil der Klosterbibliothek unrechtmäßig in seinen Besitz und eröffnete damit ein Antiquariat in Barcelona. Fr verkaufte aber nur die Bücher von geringem Wert; die Kostbarkeiten behielt er für sich, bis ihn die Not zwang, auch einige wertvolle 17
Bände zu versteigern, die er jedoch nach und nach alle wieder bei den neuen Besitzern stahl. Vincente scheute vor keinem Mittel zurück: Bei einer Versteigerung überbot ihn einmal ein anderer Antiquar im Kampf um ein Buch, das nadi Meinung von I adileuten nur nodi in einem einzigen Exemplar existierte. Der neue Besitzer konnte sich seines Sieges nicht lange freuen — er kam in der Nadit darauf bei einem Brande um, der sein Haus in Asdie und Trümmer legte. Brandstiftung! In den Tagen darauf wurden neun Bürger ermordet, die Vincente der ruchlosen Tat verdächtigt hatten; man verhaftete ihn und fand bei der Durdisudiung seines Hauses das von ihm aus dem brennenden laden seines Gegners gestohlene Buch . .. Nadidem man ihm feierlich zugesidiert hatte, daß seine Bibliothek als Ganzes erhalten bleiben würde, brach er zusammen und gestand — er gestand nicht nur die Brandstiftung und die Morde, er gab auch zu, schon früher viele Mensdien getötet zu haben, um ihre Bücher rauben zu können. Kurz vor seiner Hinrichtung erfuhr er. daß von dem Budie, um dessentwillen er zum Brandstifter und Mörder geworden, doch noch ein zweites Exemplar vorhanden war. Auch der Magister Tinius, der um 1800 in Sachsen lebte, ist aus Büdierleidensdiaft zum Raubmörder geworden. Der Schäfersohn, der schon in der Schule durch seine ungewöhnliche Begabung autgefallen war, wirkte nach Beendigung meiner Studien in verschiedenen gelehrsamen Berufen und vermehrte seine kostbare Büchersammlung nadi und nadi auf über 60 000 Bände. Das Geld dazu verschaffte er sich durch Untersdilagungen, durch Diebstähle aus der Kirchenkasse und endlidi durch mehrere Raubmorde, die ihn für lange Jahre in den Kerker brachten. Der von vielen wegen seiner Kenntnisse bewunderte Mann hat seine Verbrechen niemals eingestanden. Am Ende seines Lebens bedauerte er, nicht wie sein Vater ein einfacher Sdiäfer geworden zu sein . . . Den wenigen Sonderlingen, die eine krankhaft übersteigerte I iebe zum Buch auf Abwege getrieben hat, steht die große Zahl der Büdiersammler gegenüber, die ihre Bibliothek oft unter Verzicht auf andere Annehmlichkeiten des Lebens und unter schweren Opfern zu vermehren verstanden. Zu ihnen gehört auch Gotthold Ephraim Lessing, der sich zeitlebens für die Erhaltung wertvollen Schriftgutes und für die Verbreitung des guten Buches eingesetzt hat, nadi seinem Motto: Wer wird nidu seinen Klopstock loben! Doch wird ihn jeder lesen . . .? Nein! Wir wollen weniger erhoben, Doch fleißiger gelesen -ein . . . 28
I in einziges Buch wurde entscheidend für den Lebensweg dei Pfarrerssohnes Heinrich Schliemann; ein Buch, das er als Achtjähriger von seinem Vater zu Weihnachten erhielt. Eli war eine illustrierte Weltgeschichte mit vielen Bildern, von denen eines den Knaben so fesselte, daß es sein Schicksal entschied: das erregende Bild des brennenden Troja. Schliemanns abenteuerlichen Aufstieg zu Reichtum, Macht und Forscherruhm schildert der Lux-Lesebogen Nr. 90 ,,l >u I nideckung Trojas" als treffendes Beispiel für die Erkenntnis, daß Bücher nicht nur ihre Schicksale haben, sondern audi zum Schicksal werden können. Viele Bücher der großen Religionen: die Bibel, der Koran und der Talmud sowie die Schritten der griechischen Philolophen, die Bücher des heiligen Augustinus und des Thomas von Aquin haben den Gang der Menschheitsgeschichte bestimmt. Am Beginn de^ Marxismus und Leninismus stand das Buch von Karl Marx „Das Kapital". Die Bücher Einsteins leiteten das Atomzeitalter ein, und die Schriften von Darwin und Freud führten in neue Reiche wi\scnschaftlicher Erkenntnisse. I > ai Buch des vierundzwan/igjährigen Goethe: „Die Leiden des jungen Werther" wurde für eine ganze Generation das Ideal Hellender Empfindsamkeit, aber auch des Weltschmerzes. Werthers Selbstmord löste eine wahre Selbstmordepidemie aus, Werthers Kleidung, Haartracht und Gebärden wurden für die Jugend so vorbildlich wie für unsere Jugend das Gehabe mancher Filmhelden, und % iele Leser — darunter Napoleon — zitierten ganze Teile des Buches auswendig, so daß Goethe selbst mit Redit von der Wirkung leines Buches sagen konnte: „Jeder Jüngling sehnt sich, *.o zu lieben — j< dt Mädchen, 10 geliebt zu sein . . . " 24
Das Rassenproblem, die Negerfrage, die gerade in unseren Tagen in den USA entscheidenden Lösungen zustrebt, wurde zum erstenmal erkennbar durdi ein Budi: durdi „Onkel Toms Hütte" von Harriet Bccdicr-Stowe. Zehn Jahre nach dem Erscheinen des Budies — in diesem Zeitraum wurden davon über eine Million Exemplare verkauft — proklamierte Präsident Abraham Lincoln die Freiheit der Negersklaven in ganz Nordamerika; das war der Auftakt zum amerikanisdien Bürgerkrieg, nach dessen für die Nordnaaten siegreichem Ende Lincoln die Verfasserin im Weißen Hause empfing und mit den Worten begrüßte: „Sie sind also die kleine Frau, die den großen Krieg gemacht h a t . . . " Vor dem Ersten Weltkrieg erschien ein Buch des Admirals T. Mahans mit dem Titel „Der Einfluß der Seemacht auf die Geschichte". Der deutsche Kaiser Wilhelm II. bekannte, daß er dieses Buch nidit „lese, sondern versdilinge", und fügte hinzu: „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser!" Das Werk, das kaum in die breitere Öffentlichkeit gedrungen ist, wurde auch von Engländern, Amerikanern und Japanern fleißig studiert und bewirkte schließlich ein allgemeines Wettrüsten zur See, eine Zusammenballung riesiger Kriegsflotten, die im Atlantik und im Pazifik bedeutsame militärische Entscheidungen herbeigeführt haben. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen erschien in Paris eine kleine Schrift über die „Tanks", wie man damals noch die Panzerwaffe nannte. Geschrieben von einem völlig unbekannten französischen Offizier, fand das Büdilein
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in Frankreich wenig Beachtung, aber dafür studierten es die Generalstäbler der neuen deutschen Wehrmacht um so gründlicher: Es wurde — so bekannten führende Generäle wie Guderian und Manstein später — zur Grundlage der deutschen „Blitzsiege" von 1939 und 1940. Der Verfasser gelangte später — allerdings nicht wegen seines Buches — zu Weltruhm. Er heißt Charles de Gaulle und ist seit einigen Jahren Staatsoberhaupt Frankreichs. Politische Bücher teilen meist das Schicksal der von ihnen vertretenen Ideenwelt: Stalins Werke zum Beispiel, die in der Zeit seiner Diktatur eine Auflage von über fünfzig Millionen erreichten, Mild jetzt schon zum großen Teil wieder eingestampft, und Hitlers Buch „Mein Kampf", das bis 1943 eine Auflage von acht Millionen hatte — es wurde jedem Brautpaar auf dem Standesamt überreicht! — hat heute nur noch Bedeutung als Schlüssel zur Erkenntnis einer der dunkelsten Epochen deutscher Geschichte. Immer noch gilt dai weise Wort des Philosophen Lichtenberg: „Mehr als das Gold hat das Blei die Welt verändert — und mehr als das Blei in der Flinte das im Setzerkasten des Buchdrucker." Als vor vierzig Jahren die ersten Rundfunkstationen ihre Sendungen ausstrahlten, fürchtete man, daß dies vielen Menschen die „Lust am Lesen" nehmen werde. Das Gegenteil ist eingetreten: Der Rundfunk hat der Literatur ganz neue Liserschichten erschlossen. Heute wird das Fernsehen als gefährlicher Konkurrent des Buches und des Lesens beargwöhnt, was vielleicht auch für einige Jahre des Übergangs vom „Reiz der Neuheit" zum altgewohnten Übermittlungsgerät zutreffen mag. Auf lange Sicht aber wird auch das lernsehen das Lesen weniger verdrängen als vielmehr lordern, so wie ja auch die Musiksendungen des Rundfunks die Freude am Konzertbesuch beträchtlich gesteigert haben. Weder Wort- noch Bildfunk können das gedruckte Wort ersetzen, das uns jederzeit aufs neue dienstbar wird zur notwendigen Wissenserweiterung, zur Belehrung, zur Unterhaltung. Die moderne, ein wenig oberflächliche Sucht nach „Tempo" bringt übrigens auch so merkwürdige Ersdicinungen hervor wie das „Schnell-Lesen", wofür in Amerika und England bereits zahlreiche Lehrinstitute eingerichtet worden sind. Auch der amerikanische Präsident Kennedy hat einen solchen Lehrgang besucht und soll durch eifriges Training bereits ein Lesetempo von 1200 Wörtern erreicht haben; das ist etwa fünfmal so schnell, wie ein Durchschnittsamerikaner liest. Ein anderer amerikanischer Schncll-Leser rühmt sich, alle siebenunddreißig Bühnenwerke Shakespeares in genau 91 Minuten und 27 Sekunden „gelesen" zu haben, wohl nach dem Grundsatz: Lies jetzt — begreife s p ä t e r . . . 31
Aber leibst solche fragwürdigen Glanzleistungen werden noch übertreffen von den elektronischen „Lesemaschinen", die in der Sekunde 240 Buchstaben „erlassen" können. Im Gegensatz zu dem modischen Sport des Schnell-Lesens kommt den elektronischen Rechen-, 1 und Übersetzungsmaschinen eine außerordentliche Bedeutuni; für den wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt zu, ebenso der Mikrophotographie, die es uns ermöglicht, den Inhalt ganzer Bibliotheken in einer Aktentasche zu befördern. Wir stehen ja erst am Anfang des „Lese-Zeitalters" — denn nach den Feststellungen der „UNESCO", einer Organisation der Vereinten Nationen, kann die Haltte aller heute lebenden erwachsenen Menschen noch immer nicht lesen und schreiben. F.s bleibt also aul diesem Gebiet noch sehr viel zu tun und zu helfen — mit Schulen und Kursen, mit der Verbreitung von Lehrbüchern und Unterrichtsmaterial, bis einmal — in ferner Zukunft — alle Menschen lesen gelernt haben und teilhaben können am Glück und Reichtum der Bücherwelt.
Zeichnung von
Wilhelm Busch
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobttky Die ITmschlagvorderseite zeigt einen Ausschnitt aus dem Gvoti> Carl Spilcu'eg „Der Bücherwurm" in der Liechtensteingalcrie W Reinbrandts Gemälde „Der Evangelist Matthäus" (Vorschaubild) entstand vor etwa 300 Jahren. Die eindrucksvolle Plastik „Der Leser" auf der Umschlagrückseite Ist ein Werk des großen Bildhauers Crtui Barlach, der vor fünfundzwanzig Jahren — Im Oktober 193« — starb. L u x - L e s e b o g e n 4 0 0 (Geschichte) H e f t p r e i s 3 0 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte —Bestellungen (vlerteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-LeseboRen sind in jeder guten Buchhandlung vor— Druck: Hieronymu> Mühlberger. Augsburg — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München — Herausgeber: Antonius Lux.