Wolf von Niebelschütz
Barbadoro 1
Ein Kabinettstück aus dem Nachlaß des großen Romanciers: Kaiser Barbarossa im Kampf...
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Wolf von Niebelschütz
Barbadoro 1
Ein Kabinettstück aus dem Nachlaß des großen Romanciers: Kaiser Barbarossa im Kampf mit der Sowjetarmee! Lustvoll sprengt Niebelschütz die Form der historischen Novelle; Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen zu einer phantastischen Wirklichkeit.
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Wolf von Niebelschütz
BARBADORO Erzählung
Eugen Diederichs Verlag 3
Mit einem Nachwort von Ilse von Niebelschütz
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Niebelschütz, Wolf von: Barbadoro: Erzählung Wolf von Niebelschütz. 1. Aufl. – Köln: Diederichs, 1982. ISBN 3-424-00731-5
1. Auflage 1982 ©1962 by Eugen Diederichs Verlag; Köln Umschlaggestaltung: Roland Poferl, Niederkassel Satz: Letterteam, Köln Druck und Bindung: Rieder, Schrobenhausen ISBN 3-424-00731-5 maoi
n 2003
2003/III-1.0
Der Text folgt der Ausgabe des Eugen Dietrichs Verlages seiten- und zeilenkonkordant wiedergegeben in der Weiss.
Non-profit – Nicht zum Verkauf bestimmt. 4
Die Elfen schweben über dem Wasser, dachte der Pfarrer, das ist nicht gut. Aberglaube, sagte sein Verstand, er als Gottesmann hatte zu glauben, indessen reimt sich auch Furcht mit Heldentum, wie er von manchem Ritterkreuzträger wußte, der zugab, geschlottert zu haben, bevor ihm die Tat gelang. Der Pfarrer, um der Anfechtungen Herr zu werden, dachte an den Heiligen Antonius, den die Dämonen bedrängten, und an die große Lähmung, die dem Krieg folgte, den Vampyr, der in den Seelen der Menschen saß, ihre Herzen leer sog und die Länder verspeiste; an den Hunger, die Russen, die zwei Deutschland seither; an die Kinder daheim und an die alte Mutter drüben. Heute noch, dachte er freudig, bin ich bei ihr, dachte es zweigeteilt, einmal als Sohn mit seinen eigenen Worten und einmal biblisch mit denen des Erlösers zu dem Schacher: Heute noch wirst du mit mir im 5
Paradiese sein; auch diese Anfechtung teilte sich, die Musik der Kantate trat hinzu, Actus tragicus mit allen OrchesterStimmen, mit ihren Flöten und mit der Gesangskoloratur, dazwischen tropften die ersten Vogellaute, ein verworren zaghaftes Probieren, das erinnerte ihn an die Oper, und die Oper daran, daß er den Eisernen Vorhang zu überschreiten im Begriff stand – weshalb er Schuh und Strümpfe auszog und in die Hand nahm, Tau hing in den Gräsern, Nebel im Buschwerk, und der Vorhang war weder ein Vorhang noch von Eisen, sondern grünes Feld im tiefen Morgengrau, voll von Poesie, Geheimnis und lauernder Drohung. Hier schied sich das russisch Besetzte vom nichtrussisch Besetzten, jenseits lag die vom Diesseits geängstigte Freiheit, aber zumindest für eine Woche würde er das mißtrauische »Stoj!« nicht mehr hören müssen, den Haltruf, der alles, nur nichts Gutes, bedeuten konnte. Aber nichts war zu vernehmen außer Vogelkonzert und Actus tragicus, bis end6
lich der Grenzfluß zu seinen Füßen strömte– schnelles, leises Gurgeln. »Stoj!« Der Körper duckte sich, lief ein, zwei, drei Meter im Kieselbett und fiel vornüber mit dem Gesicht in die Fluten, die ihn inmitten wolkiger Rötung nach drüben wälzten, doch selbst im Schlamm eines Uferloches hielt er Schuh und Strümpfe so fest umkrampft, als seien sie das kostbarste Besitztum; und so erhob er sich mit ihnen. »Barbanera«, sagte jemand neben ihm. »Der Eiserne Vorhang ist etwas löchrig. Gestolpert?« »Ich fürchte: ja«, erwiderte der Pastor, beglückt, daß der Fremde ihm aufhalf, und die seltsame Ironie des Gesichtes, das er, so blaß es war, zu kennen glaubte, beunruhigte ihn nicht einmal, denn sie enthielt ein noch seltsameres Arcanum von Güte. »Woher kenne ich Sie nur?« fragte er zutraulich. »Vom Dreikönigsschrein des Kölner Domes.« Die Lippen lächelten dünn, das rechte Auge kniff sich zusammen. »Im 7
übrigen hat jeder eiserne Vorhang seine Ausstiegstür, nicht wahr?, und der Tenor steigt hindurch, weil die Leute applaudieren, sie meinen zwar nicht ihn, sondern die Sopranistin, aber Tenöre merken immer als Letzte, daß sie eigentlich längst tot sind, nun, mancher merkt es nie. Die Leitstelle ist dort hinten an der großen Weide.« Der Pastor, in den Windungen des Baches talwärts schlendernd, fand eine Ansammlung von etwa zwanzig Gestalten beiderlei Geschlechtes, um einen Kartentisch gruppiert, an dem ein napoleonischer Offizier die Parole ausgab. »Unnötig«, sagte der Offizier, als der Pfarrer seinen Namen nennen wollte, »Sie heißen bei uns .. Tragicus heißen Sie.« – »Deckname?« fragte der Pfarrer. – »Wie Sie wollen. Sie gehen zunächst nach Burgschlöden in Thüringen und melden sich im Schloß beim Sofakissen. Die Losung ist Barbanera.« Demnach verfügte sich Tragicus nach Burgschlöden, einem mächtigen Bau mit Mauern von gut zwei bis drei Metern Dik8
ke, daher, was man versucht hatte, nur unter Schwierigkeiten abzutragen, auch das Dach war zum Teil fortgeschleppt, ein Flügel neu gedeckt, allerdings ärmlich und trostlos, und am Hauptportal, das ohne Türen in den Mittag gähnte, las man, daß hier das Erholungsheim der Partei ein usurpiertes Wohnrecht besaß. Wie nun aber das Sofakissen finden? Er ging an dem Pförtner vorbei, wunderte sich zwar, daß kein Anruf erfolgte, indessen gaben auch seine Schritte keinen Hall, und noch größer wurde sein Befremden, als er, weil Stimmengewirr ihm sagte, daß dort Menschen seien, den Saal betrat, denn niemand nahm Kenntnis von ihm. Die Leute saßen merkwürdig steif vor ihren Suppentellern, er setzte sich auf einen freigebliebenen Stuhl und lauschte der Rede eines Funktionärs, der den Speisenden vorhielt, alles das, was sie da zu erleben glaubten, sei nicht existent im Sinne weder der Doktrin noch der materialistischen Wissenschaft – aber während er das sagte, verfärbte sich 9
sein Gesicht, eine Terrine zerschellte, der Aufwärter, der sie trug, fiel dumpf auf den Rücken, es wurde vollkommen still, und mitten in die Stille hinein sagte eine zittrige Alte-Damen-Stimme voll geheimer Trauer und Ratlosigkeit die sechs armseligen Worte: Wo ist denn nur mein Sofakissen? Darüber erhob sich ein gewaltiger Tumult, das halbe Erholungsheim stürzte ins Freie, die andere Hälfte umscharte bleich entschlossen den Ohnmächtigen, man rief nach dem Krankenwagen, der Funktionär drehte wild an der Telephonscheibe, und gegessen wurde nicht mehr. Inzwischen war Tragicus zu der Dame getreten, die nach alter Mode ein fußlanges Volantkleid in verschossenem Violett trug, darüber zierlich ein Spitzenhäubchen, und noch immer mit bekümmertem Ausdruck in der Saaltür verweilte. »Barbanera«, sagte er, »ich soll mich bei Ihnen melden.« – »Barbanera«, erwiderte das Sofakissen. »Wie schön, daß Sie doch da sind. Kommen Sie, wir gehen auf mein 10
Zimmer. Tür und Fenster sind zwar vermauert, aber es macht nichts, wir schlüpfen durch den Haarriß. Ach, ich freue mich, nun endlich abreisen zu dürfen, ich soll zu dem Kongreß nach Ungarn, und Sie werden mich hier vertreten, bis ich zurück bin oder bis Sie anderweitig abgelöst werden. Jeden Mittag einen roten Bart« Tragicus erkundigte sich beklommen nach dem Inhalte dieses ihm fremden Begriffes und erfuhr, daß, was er soeben erlebte, ein roter Bart gewesen sei. »Wenn Sie auftreten wollen, brauchen Sie nur Barbarossa zu sagen, dafür bedürfen Sie freilich einer Spezialgenehmigung von Seiten der Obrigkeit, sonst verderben Sie Ihre Zensur. Für Rückfragen wählen Sie blau, Barbazzurra, und wollen Sie von denen hier etwas wissen, so genügt es durchaus, Sie sprechen einmal kurz grün, Barbaverde, dann hören Sie die Gedanken, ohne sich selber zu exponieren. Damit Gott befohlen, Schuh und Strümpfe werden das ihre tun.« 11
Unter solchen Worten verflüchtigte sich die Häubchendame, und der Pfarrer fand sich allein. Er wartete die Nacht ab, dann machte er dem Verunglückten seine Visite, der in Fiebervisionen vor sich hin phantasierte. Doch erfuhr er nicht eben Wichtiges, außer daß die Dame seit Generationen das Sofakissen hieß, daß sie der angestammten Herrschaft zugehöre und man es ihr wohl nachfühlen könne, wenn sie bedacht sei, das Erholungsheim zu vertreiben, wie jüngst ihre Familie vertrieben wurde. »Sie kommen zurück«, flüsterte der alte Mann,»alle kommen sie zurück, denen Unrecht geschah, sie sind ja nur begraben, sie sind nicht tot.« »Können Sie mir Auskunft geben«, sagte der Pastor, »wie ich als christlicher Pastor..?« Seinem Inneren wurde tief übel, er schloß die Augen, und als er sie neuerdings öffnete, erschrak er, denn auf der Fiebertafel, unterteilt von den Koordinaten der Lineatur, erschien blaß, schwermütig und spöttisch der Kopf des eleganten Herrn von dem Dreikönigs12
schrein. »Barbanera«, stammelte Tragicus. »Barbadoro«, verbesserte leise das Bild, »fasse Mut, wir sind nicht allein«, blickte noch um ein Kleines hinab und verging. Unterdeß kam die Nachtschwester gewandelt, sie fühlte dem Fiebernden den Puls, dann stürzte sie hinaus, den Stationsarzt zu holen, der nach kurzer Untersuchung, das inhaltsschwere Wort »Exitus« auf den Lippen, den Raum wieder verließ, während der Tote sich erhob. »Barbanera«, sagte er mit deutlicher Erleichterung, »denken Sie, ich darf zu Haus bleiben, als Ihr Nachfolger. Ihnen soll ich – ohne Tadel – bestellen, daß für Aufgaben wie die hiesige Erbitterung und Härte benötigt werden; die Elefantin erwartet Sie auf dem Schlosse Stolpen in Sachsen.« Es bedurfte einiger Rückfragen, dorthin zu gelangen, »Barbazzurra bitte«, rief er verzagt ins Morgengrau und konnte sich kaum genug verwundern über die ausgesuchte Hilfsbereitschaft, die ihm aus dem 13
Leeren entgegentönte. »Jawohl, das verstehen wir. Warten Sie dort, wo Sie jetzt sind. H.B. wird Sie mitnehmen.« H.B., als er endlich kam, entpuppte sich als der napoleonische Offizier vom Grenzbach, lehnte jedoch das Offizierspatent ab. »Zahlmeister-Laufbahn«, beteuerte er, »man munkelt, ich sei Intendanturrat und im Zivilstande ein weltberühmter Autor gewesen. Wenn wir Glück haben, sehen wir den Schlafrock– « »Wer ist der Schlafrock?« bat Tragicus. Der Intendanturrat blickte ihn mißtrauisch an. »Barbebleue!« verlangte er und erhielt die Verbindung. »Ici AscheBé. Sagen Sie, ist dieser Novize ein Kandidat? Aha. Befremdet mich, doch viel jünger. Ne quittez pas, on vous parle! Sprechen Sie selbst.« So erfuhr Tragicus, was ihm erfahrenswert und zuträglich sei, erführe jeder bei gegebener Zeit, er möge die Geduld haben, seiner Neugier zu steuern. »Der Schlafrock ist ein sächsischer Kurfürst, König von Polen.« 14
Die Strecke wurde angenehm schnell unter leichtem Geplauder absolviert, doch ergab sich noch kurz vor Stolpen eine Verzögerung insofern, als die zwei Wanderer auf einen Kommilitonen stießen, der hier Dienst tat und sie um Zeugenschaft bemühte. Er trug als Mörder den Kopf unter dem Arm, sprach infolgedessen aus der Gegend der Hüfte, und was er sprach, klang aufgeregt. Denn laut Befehl warf er an diesem Kreuzweg den vorbeifahrenden Automobilen die Windscheiben ein, heute aber war sowjetisches Militär das Opfer geworden und inzwischen mit namhaftem Aufgebot, mit Wünschelrutengängern, Geologen, Radargeräten und ähnlichem Unfug an den Ort des Verbrechens zurückgekehrt. Es stellte sich heraus, daß die Feldwache aus nicht registrierten, lokal sächsischen Beständen herrührte, von Bartfarben wußte der Mordbube nichts, doch klärte ein einfacher Anruf H.B.’ s die Situation, und so machten die Drei einen klassischen weißen Bart – Barbabianca lautete 15
der terminus technicus – , indem sie einzeln je eine Kolonne Wissenschaft auf sich zogen, in drei verschiedene Richtungen lockten und abschließend einen Wasserlauf übersprangen. Der Zwischenfall, nebenbei, hatte sein Gutes, denn der schlichte Mann erzählte, wie ihm der Schnabel gewachsen war, von der Burg Stolpen und ihrer Herrlichkeit, die schon damals verfiel, von August dem Hufeisenknacker und von den dreihundertundvierzig Kindern des starken Herrn, von den Weibern zumal, der Königsmarck, der Lubomirska, der Cosel, die es am tollsten trieb, und später, sagte er,»später hat er sie verstoßen, gottlob, da hat sie hübsch auf Stolpen sitzen müssen, und dann hat sie dem Luther abgeschworen und hat zweihundert Bibeln gehabt und mit Lippenrot darin herumgemalt, und bei der Nacht sind die Rabbiner durch den Schornstein zu ihr ins Schloß gestunken, und in dem Siebenjährigen Krieg ist sie uralt in die Grube hinunter, spukt aber noch, die Hex!« 16
Darüber kniff er die Augen zusammen: auf der Landstraße, mitten hindurch zwischen den Militärwagen, sah man achtspännig eine Karosse heranpreschen, sie sauste lautlos unterhalb der Baumkronen auf den Köpfen der russischen Soldaten einher, bog über Feld in wundervoller Kurve, und als sie hielt, winkte die gewaltige Gestalt, die ganz allein in einem geblümten Schlafrock den Fond füllte. Der Bauchredner sank ins Knie. »Bürschchen«, verfügte der König, »die Majestät Unseres Sohnes hat dir den Kopf nicht vor die Füße legen lassen, damit du schwatzest, jetzt ist es ausgekommen, und dich sind wir los. Du gehst zurück dorthin, wo du exekutiert wurdest, da ist jemand, der dich mitnimmt, zur Reichsarmee, marsch! Belieben die Herren, einzusteigen!« Der Mörder trottete vondannen, während Majestät, jedes Gespräch verschmähend, den Wagen wenden ließ. Tragicus wurde im Tal unterhalb der Burg abgesetzt, wobei er glücklich war, das düstere 17
Gemäuer, das da verfallen und unwirtlich auf dem Bergkegel sich reckte, vorerst nicht betreten zu müssen. »Barbaverde«, fragte er, ohne sichtbar zu werden, ein kleines Kind, »kannst du mir sagen, ob die Cosel – « aber das Kind, bei dem bloßen Namen bereits, lief unter panischem Gekreisch fort. Eine verhärmte Bäuerin, aus dem Hause stürzend, fing es in ihren Röcken, Nachbarn sammelten sich, bald hob ein Tuscheln an. Immer dichter wurde das Knäuel, züngelnder das Rufen nach Brandstiftung, so stark der Sog durch die Gassen, daß schließlich der Dorfgewaltige geschritten kam. »Recht so, ihr Leute«, lobte er, doch da verkehrte die Stimmung sich, man redete schweigend, schwieg beredt, man empfand plötzlich, was echte Geister zu erscheinen bewegt – bis, als der Parteigeist eben sprechen wollte, ein stoppliger Alter mit jenseitigem Blick ihn vertraulich am Ärmel zupfte.»He!« rief er heiser,»he du, merkst du’ s, grad vor dir steht einer, einer von drüben, einer der dich anschaut, 18
schaut dir ganz still ins Gesicht Und ja: der begreift was...« Da wandte Tragicus, weil ein Würgen ihm aufstieg, sich ab und ging langsam zum Ort hinaus, ging wie im Traum den steilen Schotterweg aufwärts, querte erschauernd das Torhaus, querte Höfe, die so tief waren, daß niemals ein Sonnenstrahl sie erreichen konnte, unendliche Korridore, immense Säle, voll von verstaubten, erblindeten Spiegeln, in denen er nichts von sich selber sah, dann kamen Treppen, ohne Aufhören gewendelt, Winkel darin eingeschnitten, die zu tieferliegenden Gemächern führten, riesige gotische Balken, in denen der Schwamm, Türen, in denen der Holzwurm saß, verschimmelte Ahnen an den phosphoreszierenden Wänden, Ampeln, die in der streichenden Luft schaukelten – »Barbanera?« fragte eine Stimme. – »Barbanera! Zur Stelle!« rief Tragicus. – »Spät«, erwiderte die Stimme. »Kommen Sie. Ich bin Carolus Wasa. Zwar ist mein königlicher Vetter noch in der Audienz, 19
denn er hat ihr viel abzubitten, mir auch, er trat mir das Abendland in Stücke... nun ja, Sie erlauben, daß ich bedeckt bleibe. Ew. Gnaden waren Pastor, bevor Sie den grauen Rock anzogen? Soso, evangelisch. Die Elefantin präferiert den Judaismus, mein Herr Vetter schwärmte fürs Katholische, politisch, inzwischen ist’ s ihm egal, und regiert werden wir ohnehin durch ältere Herrschaften, die von der Glaubensspaltung lediglich kennen, was in den Geschichtsbüchern steht. Aber ich muß zugeben, der Chef des Generalstabes, exzellenter Mann. Übrigens sind wir Evangelen weitaus die Mehrzahl, wir gestatten uns zu viel Selbstmorde. Nein hören Sie diesen Menschen! sein bißchen Hirn dachte schon damals nur Porzellan!« In der angrenzenden Kammer, im tiefsten Dämmer der Täfelung, saß wahrhaftig der geblümte Schlafrock und berichtete dem dunkelsten Fleck von soeben beendigter Inspektion. »Wir waren bei den Brühls, Gräfin, Sie wissen..« – 20
»Ich weiß«, sagte ein rauhes Organ, »des Herrn Sohnes höchst sauberer Herr Minister; waren Sie in seiner Residenz?« – »Pförten!« rief der Schlafrock, »das Schwanen-Service! Tausendvierhundert Stück Porzellan, jedes einzeln entworfen, einzeln dekoriert, und noch komplett, Gräfin! Gewesen! Wir selber sahen es: Wasserpolacken, Nachfahren jener stolzen Polen, die zu regieren wir die Ehre hatten, bis dieser – ä.. Karl kam, dieser Wasa, um uns das Abendland in Stücke zu treten – Schwanenhals für Schwanenhals haben sie vom Service heruntergeschlagen, die Gräber ihrer Leute damit geschmückt, Vandalismus! Sadismus! Barba-, fast hätten wir rossa gesagt– « »Sagen Sie nera, mon ami, denn da steht jemand. Komm her, mein Sohn.« »Wenn solche Greuel«, grollte der Schlafrock, »das Abendland nicht wach rütteln – « »Ah was«, verfügte die Norne, »das Abendland. Carolus hat die gleiche Litanei, verteidigte es gegen den Teufel Zar 21
und holte sich Hilfe bei Beelzebub Sultan, alles Zank und Stank und Neid und Phrase, mach dich sichtbar, Carolus. Dies Bürschchen ist uns geschickt worden, damit wir es zu einer rotfesten Seele erziehen. Barbazzurra. Ja bitte. Hier spricht die Elefantin. Geben Sie den Chef. Hallo Chef. Hier ist der kleine Tragicus. Hören Sie, Chef, das geht nicht. Ich würde ihn nur quälen. Der Junge hat ganz einfach noch nichts erlebt; erleben lassen, der erzieht sich allein, hat etwas viel zu Feines, um bei uns zu verkehren. Gemacht Ende. Also, mein Junge, du hast Urlaub; geh nach Hause, da wirst du gebraucht; wir fahren ohnedies bald nach Ungarn zu dem Kongreß. Verflüchtige dich.« So passierte der Pfarrer denn bei tiefer Nacht in seinem dörflichen Sprengel ein, sah das berankte, windschiefe Haus, darin er gewohnt hatte, als er noch Pfarrer war, manche Erinnerung kam ihm, ja, eine gewisse Klarsicht ergriff Besitz von seinem Wesen, und er fürchtete sich. Gut eine halbe Stunde umstrich er 22
zitternd das Rosenbeet, dann aber übermannte ihn wilde Sehnsucht, er schlüpfte durch das Schlüsselloch, gewahrte besorgt, daß der Riegel, den er selbst nicht bewegen konnte, zurückgeschoben in der Rast ruhte, und horchte auf das Gröhlen der Besatzung. »Barbaverde«, flüsterte er, »schieb den Riegel vor.« Die Witwe runzelte im Traum die Brauen, seine Kinder warfen sich unruhig in ihren Bettchen. Er setzte sich trauernd vor die aufgeschlagene Bibel, der Totenschein lag darin, heute morgen gekommen – Beides naß von Tränen. »Wir entschlafen nicht alle«, las er, »doch werden wir alle verwandelt, und das plötzlich.« O seine einfachen Gedanken damals! Darüber hörte er einige Betrunkene vor dem Gartentor sich auf Russisch bereden, das Törchen quietschte, Schritte knirschten über den Kies, ein Dietrich nackerte im Schloß, »wo ist Frau?« grunzte es aus dem Flur, und noch immer saß der Pastor, mit sich und der Welt zerfallen, vor dem Buch der Bücher. Immer 23
war es ihm Wegweiser gewesen und Trost und Halt, jetzt konnte er es nicht einmal umblättern, er hörte, wie in der Küche das Geschirr fiel, »komm Frau!« röhrten die Trunkenen, torkelten zurück auf den Flur, ein Kind erwachte weinend – mit Gewalt riß er sich fort von den feuchten Seiten, wehte zum Schlafgemach hinaus und stand, indem er Barbarossa sagte, mit gebreiteten Armen vor der Kammertür. Der Erfolg mutete ihn seltsam an. Es waren ja Russen, die Drei; und es waren Soldaten. Von Jugend auf gottlos erzogen, herangewachsen einzig mit dem Molochsbilde des Staates vor Augen, schlugen sie voll nie gekannten Entsetzens das Zeichen des Kreuzes, unter Jammern, Ernüchterung und Reue stolperten sie laut und lauter schreiend vor der Erscheinung her, bis sie erschöpft an der Kirchenschwelle niedersanken, mit Fäusten gegen die Bohlen hämmerten und zu dem Gott ihrer Voreltern um Gnade beteten. Dies umgekehrt ernüchterte den 24
Pastor, er ließ ab von ihnen, auch er voll Reue. »Barbazzurra«, verlangte er. »Ich fehlte gegen das Gebot« – »Sie hatten Erlaubnis«, erwiderte eine sanfte Stimme. »Morgen früh Autobahnbrücke Magdeburg, westliches Ufer.« Auf der Mündung einer Kanone sitzend, überschritt er die Elbe bei Dämmergrau. Eine sowjetische Panzerdivision rumorte zur Börde, in Süd flimmerten die Lichter der erwachenden Stadt, die Schlote des Industriegeländes ragten samtschwarz in das opalene Blau des Himmels, erste Vogelkehlen zwitscherten ihr begeisterlos Lied, fahlgelb unter Nachtschatten wälzte der Strom sich zwischen Buhnen dahin. Tragicus sprang ab, er hatte den Gefechtsstand erspäht. Auf dem Rasenstück zwischen den Fahrbahnen, in respektvoller Entfernung umgeben von einer Menge schweigender Schemen, begutachtete der Divisionär, ein im Hungerlager von Torgau zu Tode gemarterter Fabrikant, das rasselnde Défilé. »Im 25
Namen des Kaisers«, sagte er, »verleihe ich Ihnen für selbständiges Handeln die nächsthöhere Stufe des Bewußtseins. Wissen Sie, was Sie sind?« – »Jawohl, Herr Divisionär. Ein Gespenst« – »Sind Sie begraben?« – »Jawohl. Ohne Segen verscharrt« – »Haben Sie Ihr Grab besucht?« – »Nein, Herr Divisionär.« – »Warum nicht?« – »Mein Leib war mir gleichgültig.« – »Da scheint man Sie nicht eben gequält zu haben.« – »Nicht im Geringsten, Herr Divisionär. Es ging schnell und schmerzlos.« – »Gratuliere. Was waren Sie im Zivilstand?« – »Evangelischer Pfarrer.« – »Wundert mich. Immerhin, wir haben Meerbischöfe und den Erzkanzler Rainald. Kennen Sie Magdeburg? Ausgezeichnet. Bei uns, wie Sie vielleicht ahnen, gibt es nichts Zufälliges. Mit einem Wort: wir sind ohne Verbindung mit dem Feldmarschall Grafen Tilly. Sie haben ihn zu finden und auf die Burg Berlepsch im Weserland zu bringen, von da zu Barbadoro.« In der Tat, es gab keinen Zufall, klare Ver26
quickung bestimmte just ihn, den Henker der nun abermals hingerichteten Stadt zu suchen. Er wußte, in welchem Hause Tilly spukte, er wußte die Gäßchen noch, durch die man dahin gelangte, entsann sich sogar der Stunde und ihrer Umstände, unter denen sein Feldwebel ihm von dem Tappen und Sporenklirren auf dem Dachboden erzählte: an die Erde Frankreichs gepreßt, während die englischen Jagdbomber mit ihren Bordwaffen die (Chaussee harkten und das Basaltpflaster in Splittern durch die Luft sirrte. Vielleicht, meinte der Feldwebel, seien es nur die gewaltigen Zugbalken gewesen, die, wenn des Tages die Sonne darauf geschienen, sich in kalten Herbstnächten knackend zusammenzogen, aber, wie immer ein Rationalist des Phaenomen erklären möge, den Geräuschen lag keine Logik zu Grunde, es spukte ohne die Wetterbedingung, spukte gegen sie, spukte trotz Konstellation auch manchmal nicht, Es sei indessen ein recht gutmütiges Gespenst, das niemandem Leides tue, ja, 27
selbst der zweite Hausgeist, ein erschlagener Mönch drunten im Keller, der Garage für das Motorrad, wäre gewiß kaum virulent geworden, hätte nicht eines Tages ein Dieb sich der Maschine bemächtigen wollen. Der Pastor, um den Weg nicht zu fehlen, nahm auch diesmal den Hauptbahnhof zum Anfangspunkt, mußte freilich ums Haar die Augen wischen, da der erste Blick bereits, über fast einen Kilometer applanierten Geländes hinweg, ihm die Kastanie im Garten zeigte – der Untergang 1945 konnte dem Untergang 1631 Paroli bieten! Wie viele Menschen mochten in jener Kolossalnacht durch Phosphorkanister und stürzende Ruinen ohne geistlichen Trost von einer Sekunde zur nächsten grausam aus dem Leben gerissen sein, wie viele in Gewölben verschüttet, verbrannt, erstickt, wie viele am Hunger vergangen, am Januarfrost erfroren, wie viele als Geister noch anwesend? Hierüber wurde ihm bald und ergiebig Auskunft: es war eine unerhört volkrei28
che Stadt, Barbanera von allen Seiten, Kragen und Bestürmungen, Tausende und aber Tausende von Schemen wehten zum Domplatz, wo, wie man hörte, Musterung erfolgte, und wenig später sah Tragicus wirklich den Divisionsstab zur Kathedrale einbiegen, die ernst und gewaltig, trauernd und dunkel vermöge ihrer herausgeschleuderten Maßwerkfenster auf das Treiben hinabblickte. Von dem Fachwerkhause stand nichts mehr, außer den Kellern. »Barbanera!« rief der Pastor. »Niemand da?« Von der Gartenmauer kletterte ein Männchen eilfertig herunter. »Was heißt Barbanera?« fragte er giftig, »wir sind nicht beigetreten, der Tscherklas wohnt hier, der gallige Kerl, hundert Jahre jünger und spielt sich auf, kein Mensch mag ihn leiden – Tscherklas! schnall die Sporen um! ein Gesäß für deine Stiebel ist da!« »Ich soll einen Gruß ausrichten«, unterbrach Tragicus,»von dem Sohn Ihrer letzten Herrschaft, dem Sie das Motorrad bewachten.« 29
Tief aus den Katakomben hörte man leises, metallisches Klirren, hörte man Schlurfen und Trappen wie von weichen Schuhen. Der Mönch, behend auf die Kastanie entsprungen, die mit abgeblühten Kerzen gesund und wohlig vor der Brandmauer des Nachbarhauses prangte, wisperte von oben weiter. »Hihi«, kicherte er, »großer Generalissimus – Gustavus Adolphus freilich, hört Ihr, Herr Klas, wie er Euch nannte? kß-kß: alter Korporal!!« Hier fuhr eine verbissene Gestalt im Lederkoller aus der Kellerluke und schoß blind vor Zorn auf den Baum zu. »Gott zum Gruße, Herr Feldmarschall«, sagte Tragicus artig. Wie angewurzelt blieb Tilly stehen. »Zum Gruße«, murmelte er düster. »Gott?– hat mich verworfen, hat mich gekettet an diese Stadt und meine Frömmigkeit für nichts gerechnet. Säumte ich je, das Meßopfer zu feiern, je die bestimmte Zahl Gebete zu sprechen? Ich kann Garten und Haus nicht verlassen, alle Seelen 30
warten darauf, mich zu zerreißen – mich, der ich betete, als Magdeburg brannte.« »Betete!« rief es aus der Kastanie. »In einer Stunde kommt wieder, knurrtet Ihr, Händchen gefaltet, als der Obrist v. Bardeleben – « »Still von Bardeleben! Es ist wahr, ich lag im Gebet, ich gebot nicht Einhalt, die Ketzer sollten brennen, ich war ja General der Liga, Papist, und mein Gemüt von eiserner Härte. O diese tragische Stadt .. Habt Ihr mir etwas zu sagen? Sagt es mir unten in meinem Hauptquartier. Und du da oben, Kakerlak– « »Auf dem Domplatz«, bat der Pfarrer, »werden Seelen gemustert, vielleicht lassen der Herr Feldmarschall ihn gehen?« – »Den? Wer will den nehmen? Konnte er nicht gehen, bevor ich kam? Aber daß ich ihn nicht ließ, das, mein Freund, war eine Frage des principii, weiter nichts. Ich möchte wohl wissen, ob der Friedländer sich beugte.. und Pappenheim! und Isolanii!! warum sind die nicht hier? Zerrissen, wie? Sie werden mich zerreißen ..« 31
– »Ich habe Auftrag«, erklärte Tragicus, »Ew. Gnaden unter sicherem Schutze und so lang es noch Zeit ist, zu meinem allerhöchsten Herrn – « »Wer ist der allerhöchste Herr?« fragte Tilly lauernd. Tragicus wollte Barbadoro sagen, kam aber nur bis Barba. »Rossa!« schrie Tilly. Ein hohes Quietschen auf der Gasse machte ihn zusammenfahren; ein Automobil krachte mit kreischenden Bremsen vor die Gartenmauer. »Barbarossa«, wiederholte Tilly, »mit dem werde ich auskommen. Seit drei Jahrhunderten warte ich darauf, schließlich bin ich Feldmarschall. Gehn wir?« »Barbabianca«, murmelte Tragicus, »bitte sagen Sie Barbabianca. Die Leute ängstigen sich.« Tilly gehorchte, leicht verärgert, war im Übrigen ein etwas umständlicher Herr, denn vor dem Hause fiel es ihm bei, den Dom noch einmal sehen zu müssen, weil er in dreihundertzwanzig Jahren nur 32
dreihundertzwanzig glückliche Stunden gehabt habe, »in der Silvesternacht, wenn der Schnee lag und die Fackeln oben auf die Turmgalerie und den Umgang traten und die Posaunen bliesen, ketzerische Posaunen wohl, indessen: sie erinnerten mich an den Jüngsten Tag, an die Hoffnung.. Oh, wann kommt der Jüngste Tag? Wo treffen wir den Kaiser?« »Auf der Burg Berlepsch, Herr Feldmarschall.« »Nein«, seufzte Tilly zerschmettert, »nicht nach Berlepsch, ich war schon froh, in Magdeburg büßen zu müssen, in Berlepsch holt mich der Teufel. Bitte versuchen Sie, ich will ja, ich will mich unterwerfen, nur bitte nicht in Berlepsch.« Da verlangte der Pfarrer Barbazzurra, und Stolz erfüllte ihn, als er bemerkte, daß er auf immer neue Leitungen geschaltet wurde, bis eine seltsam spöttisch-gütige Stimme ihm anbefahl, sich mit dem Gefangenen auf dem Kyffhäuser zu melden. 33
Sie trafen spät nachmittags ein, wobei sie den ganzen Weg ein sehr tiefsinniges Gespräch führten, doch konnte keiner dem anderen Aufklärung darüber geben, was zu begreifen Beide sich mühten, und friedlos blieb ihr Herz. Der Berg fand sich abgeholzt, Schemen waren nicht zu sehen, wohl aber eine Menge von einzeln streunenden Sowjetsoldaten, die unter fröhlichen Scherzworten nach den Raben und Krähen schossen. Eine Reihe starker Militärlastwagen fegte die Serpentinen empor, da hatten es Tilly und Tragicus einfacher, sie stapften gemächlich durch die Schneisen der Baumstrünke, die in halber Mannshöhe maschinell abgesägt waren, und standen bald in etlicher Entfernung vor dem Denkmal, das eine vaterländische Zeit voll kindlichen Heldensinnes dem Rotbart errichtet hatte.
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Der Stuhl ist elfenbeinern, Darauf der Kaiser sitzt; Der Tisch ist marmelsteinern, Worauf sein Haupt er stützt. Sein Bart ist nicht von Flachse, Er ist von Feuersglut, Ist durch den Tisch gewachsen, Worauf sein Kinn ausruht. Er nickt als wie im Traume, Sein Aug’ halb offen zwinkt, Und je nach langem Raume Er einem Knaben winkt. Er spricht im Schlaf zum Knaben: Geh hin vors Schloß, o Zwerg, Und sieh, ob noch die Raben Herfliegen um den Berg. l lud wenn die alten Raben Noch fliegen immerdar, So muß ich auch noch schlafen Verzaubert hundert Jahr.
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»Schlecht gereimt«, sagte jemand hinter ihnen, »aber gut empfunden. Willkommen, meine Herren. Die Russen bohren in unserem Denkmal. Graf Dassel«, fügte er unter leichter Verneigung hinzu. »Ich hatte das Vergnügen, ein halbes Jahrtausend älter zu sein, und bin es, in frischem Zusammenhang, neuerdings – mindestens was Erfahrung betrifft, übers Vergnügen läßt sich streiten.« »Dassel..«wiederholte Tilly. Wenngleich nicht größer als von mittlerer Statur, wirkte er massig gegenüber der Zierlichkeit des Erzkanzlers, in dessen außergewöhnlich feinen Zügen Musikalität, Erotik und Ironie geschrieben standen, unbeschadet er zu Lebzeiten Fürst der Römischen Kirche gewesen. Tragicus bewunderte ihn schrankenlos – unbeschadet er ein evangelisches Pfarramt bekleidet und von Rom nur im privatesten Kämmerlein etwas gehalten hatte. »Als tragisch, mein lieber Tragicus«, fuhr Barbadoro fort, da der Feldmarschall sich nicht äußerte, »bezeichnen heutige For36
scher ein Mischgefühl aus Erschütterung und Erhebung. Ich hoffe, es wird Ihnen gelingen, meinen Sie nicht?« Der Pastor lächelte unsicher, wie er, wenn unsicher, vor jedem Major gelächelt hatte. Das Auge voll Gold und Güte blickte ihn verwirrend an. Noch mehr verwirrte der Straßenanzug. »Sie verdecken die Erschütterung, habe ich recht?« »Zu Befehl, Eminenz.« »Lassen wir die Eminenz. Sie verdecken auch die Erhebung. Das ist sehr modern. Und doch geht unser ganzes Dasein, das verlorene, das jetzige und das zukünftige, nur um Erhebung. Erhebung zu Gott; Läuterung; wie Sie wollen. Denn wenn es Theoretiker gibt, die das Tragische allein anerkennen, wo es verstrickt ist in Schuld, so liegt sie eben hier. Sonst wären weder Sie noch ich tragisch. Marschall, Sie langweilen sich?« »Allerdings! Ich möchte wissen, welches Kommando ich erhalte!« »Dieser tapfere Herr«, äußerte Barbado37
ro,»hat ein Schicksal am Bein, das Schicksal einer kleinen Seele in großer Position; einer säumigen Seele. Wenn Schiller geahnt hätte, was ein Revenant ist, so hätte er die Tragödie Tillys schreiben können, während mein Dassel sich eher für Goethe eignet. Ein Erzbischof, der gegen den Papst für den Kaiser kämpft, und dann rafft ihn einfach die Pest dahin, der Kaiser ertrinkt bei den Türken, um für den Papst Jerusalem zu erobern, und der Papst hat nicht gesiegt – hübsches Thema.« »Kommen wir zu meinem Kommando«, bat Tilly. Barbadoro kniffte das linke Auge, das ihm belustigend kleiner geraten war als das rechte; doch was die Lippen, diese merkwürdig weichen, fraulichen Lippen sagten, erwies sich als schneidend hart. »Graf Tilly«, sagten sie, »mein Adjutant hat Sie nicht belogen, ich mußte Sie aus Magdeburg entfernen, der Platz ist wichtig. Ein Kommando steht auf ganz anderem Brett; das kann ich niemandem 38
anvertrauen, dem die Erkenntnis fehlt, niemandem, der Verbrechen beging. Warum aufbrausen? Ich werfe Ihnen nicht Ihre sechsunddreißig Schlachten vor, sondern Magdeburg und Berlepsch, und nicht was Sie taten, sondern was Sie nicht taten. Sie gehen nach Berlepsch – « »Ich gehe gar nicht!« rief Tilly, »ich gehe zum Kaiser!« »Sie gehen zum Kaiser und dann nach Berlepsch. Ich begleite Sie. Tragicus, folgen Sie auch.« Der Generalissimus zögerte. »Was soll ich dem Kaiser denn sagen?« »Ihre Sache. Bitte, nach Ihnen.« Noch immer rasselten – schärfer zu hören, je näher man kam – die Steinbohrer im Denkmal, noch immer knallten Schüsse in den Schwarm der Krähen und Raben. »Gut gut«, bemerkte der Erzkanzler. Man durchquerte die Lastwagen und, wo sie im Wege waren, auch die Körper des Pioniertrupps. Kein Schemen bewachte die Baulichkeit, was den Feldmarschall 39
denn doch höchlich verwunderte. »Sitzt der Kaiser tatsächlich da drin?« »Aus Spaß«, bestätigte Barbadoro. »Irgendwo muß man sein Hauptquartier haben, es liegt schön zentral, und wir sind beweglich.« An einem schlechten, wackligen Wehrmacht-Schreibtisch saß in der Tat der Kaiser: mit gezwirbeltem Bärtchen entlang der Kinnladen und auf der Lippe, stark ergraut und etwas maskenhaft, auch das Haar zwirbelte sich unter dem Stirnband bis fast zu den Brauen hinab, sehr akkuraten, erstaunten, heftig gewölbten Brauen. »Graf Tscherklas v. Tilly«, meldete der Marschall, »bittet gehorsamst um Wiederverwendung.« Ein Feldtelephon schrillte – Anlaß genug, zu erkennen, daß der stehende Herr am schmalen Ende kein staufischer, sondern Sowjet-Offizier war. »Störung über Störung«, murmelte der Kaiser und wartete geduldig, bis sich der Russe in unverständlichen, gurgelnden, schleifenden Lauten ausgebrüllt hatte. 40
»Signor Rainaldo, was will dieser, hö, aufgeregte Mann? macht Ihr das mit ihm ab.« »Graf Tilly, Majestät, war weit nach Eurer Zeit kaiserlicher Feldhauptmann, rangiert in Klasse C. Tätigkeit wie bei C vorgesehen. Bisher Magdeburg, versetzt nach Berlepsch.« »Übles Subjekt also. Ja, mein Lieber – hö. Hmkm.« Die tiefe Stimme räusperte sich verlegen.»Hat er denn wenigstens Fähigkeit, sich zu läutern?« Indessen schrillte neuerlich das Telephon, der Offizier sprach kurz hinein, hängte ab, nahm Mütze und Koppel von der Wand, den Apparat unter den Arm und entschwand. Der Kaiser schüttelte mehrmals mißbilligend den Kopf. »Grußdisziplin ..« sagte er.»Ergo, was hält mein Erzkanzler von der Läuterung?« »Er wird sich läutern, Majestät« Mitten bei dem Wort Majestät erfolgte ein ungeheurer Schlag durch das ganze Gebäude, das, zu gewaltigen Brocken auseinandergerissen, hoch in die Abendluft klumpte, um donnernd zurück auf den 41
Berg zu stürzen. »Ich glaube, wir sitzen im Freien«, bemerkte Barbarossa. Und mit gemütlichem Grollen fügte er hinzu: »Nehmen wir den Mann mit nach Ungarn, nach Berlepsch geht er halt später. Barbanera.« So sprach die Erscheinung und war nicht mehr. Der Himmel verdüsterte sich zusehends. Noch glühte am Horizont breites Abendrot, noch schimmerten aus der Goldenen Aue Helme und Unstrut in Windungen herauf, aber schon über fernen Chausseen schwebten die Insektenlichter der Automobile durch das Wesenlose, schon begann voll heroischer Melancholie das satte Schwarzgrün der Harzberge in Traum zu sinken. Die Drei standen schweigend. »Niemand«, sagte der Kanzler endlich, »kann wissen, mein lieber Cholericus, denn ich muß Ihnen einen Decknamen verleihen, oder soll ich Sie deutsch Koller nennen? niemand kann wissen, was Gott der Herr gewollt hat, indem er Seelen schuf; indem er einzelnen Menschen Seele gab, 42
anderen nicht; und indem dennoch jene anderen Unbeseelten – dies ist die gegenwärtige Situation – uns Einzelne überwuchern dürfen. Warum er den Seelen erlaubt, in neue Leiber zu schlüpfen, wie es Tragicus bald erlaubt wird; warum unter den Seelen solche sind, die, obwohl sie gut waren, umgehen, und solche, die, obwohl verderbt, nicht zurückkehren vom Grabe; und warum überhaupt die Meisten tatsächlich ruhen dürfen bis zu dem letzten Tag – dies Alles sind Weltgeheimnisse. So viel immerhin steht fest, mit dem christlichen Begräbnis hat es wenig zu schaffen, nichts mit dem Jüngsten Gericht, außer man nähme den biblischen Chronisten wörtlich, der da voll Zartsinn und Rücksicht von Auferstehung im Fleische spricht. Als Seelen stehen wir auf, als Seelen leben wir zwischen den Leben, und wer vom Reiche der Luft wiederkommt, wird vergessen haben, was vorher war, höchstens daß hie und da ein schattenhaftes Erinnern ihn überfliegt an Gesichter, als seien sie ihm begegnet. Die 43
Nicht-Erinnerung ist eines der liebevollsten Geschenke Gottes; Erinnerung, wie der Koller sie hatte, eine der härtesten Strafen, Traben am Göpel der Schuld; und was Gott mir, in der Summe all Eurer Vergangenheiten, zu tun befahl, Ihr Freunde, ist eine Last von Gnade, nur mir zu tragen gewährt..« Die milde Stimme verklang, die Gestalt war lang schon zergangen, blaß leuchtete ein magisches Lächeln. »Weiß der Koller noch, was er gewesen ist?« Tiefe Stille. »Frag ihn, Tragicus.« Der Schimmer zerrieselte auf dem spielenden Laub einer Buche, und mit ihm rieselte das Gedächtnis des Grafen Tilly davon. Es verstrich gute Weile, bevor sich der Pfarrer wieder zurechtfand, bevor Weihe und Zauber, Verstörung und Glück ihn in die Freiheit entließen. »Barbazzurra bitte.« Die Befehle kamen klar aus dem Äther: er habe den Koller einzuweisen, ihn nach Berlepsch in 44
Marsch zu setzen und selber sofort nach Sopron zu den Manövern zu gehen. Meldung in der Lehrerbildungsanstalt beim Sofakissen. »Ach..« sagte er leise. »Danke.« Und es fiel ihm nicht einmal schwer, den Degradierten zu ermutigen, aber der Koller fragte so arglos zurück: »Braucht es da Mut?«, daß Tragicus nicht mehr zweifeln konnte, auch der Gestürzte werde dereinst erhoben, Stufe um Stufe. Damit trennten sie sich. Bei Sonnenaufgang überschritt er das Leitha-Gebirge. Es schienen wirklich Manöver im Gange: ungeheures Grummeln und Mahlen, wie es nur Panzermassen zuwege bringen. Er sah sie freilich nicht. Er sah den Neusiedlersee glitzern, ein Meer von Gold, sah Nebelschleier auf den Waldstücken wogen, alles flötete, streckte sich, schwoll von Säften und Daseinslust, eine Lokalbahn puffte der Stadt entgegen, da Haydn gelebt und musiziert hatte, ach, und je fröhlicher der Pastor an den Fröhlichen dachte, an Paukenschlag und Kindersinfonie, an Tau45
ben-Arie und Salve Regina, je düsterer grub sich von jenseits der Grenze das Höllen-Orchester der modernen Brutalität in sein Bewußtsein, denn die Grenze, die sah er genau, wie sie gekurvt und gezackt als breiter, unbestellter Graben sich durch das Land, durch Forst und Acker, ja mitten durch ein Dorf fraß, ins Wasser sprang, um drüben weiterzulaufen, und noch auf dem Wasser blieb sie erkennbar, dort schossen Patrouillenboote hin und her, in graziösem Bogentanz WellenArabesken zaubernd, die sehr lustig gewesen wären, hätten nicht eben in diesem Augenblick Maschinengewehrgarben den Morgen zertackert. Österreich duckte sich. Eine dicke Tasche, zum Bersten gefüllt mit böswilligem, feuerspeiendem, schnellfüßigem Stahl, so lag der Soproner Zipfel dem Burgenland auf der Brust; mitten darin, wie eine Spinne, die Tastfüße der Straßen bis zu den Zollschranken vorgeschoben, lauerte Sopron selbst, das alte Ödenburg, übergleißt von sowjetischen Jägern, die 46
insektenhaft von Feldflugplätzen aufstiegen; und wiederum inmitten Soprons gab es also eine Lehrerbildungsanstalt, mitten im Herzen der Spinne ein Sofakissen– seltsame Doppelwelt, da Haydn die Stunde regierte, Salve Regina mit Silberchören die reine Luft durchzitterte. »Barbanera«, sagte ein geigenleichtes Stimmchen zu Pastors Füßen. »Ei schön Barbanera! Wer bist denn du so früh am Tage?« »Die Elfe von Seibersdorf! ich muß ins Hauptquartier. Gehst du auch nach Donnerskirchen? Du, da ist Schützenfest – wollen wir Karussell fahren?« Die Elfe wollte, der Pastor wollte, als dritter wollte ein Heinzelmann, der reiste als Meldegänger nach Donau-Petronell, und da sie drei waren, hatten sie dreierlei Glück. Erstes Glück: auch ihm gebrach es an Pflichtauffassung; zweites Glück: er verstand sich auf Schalthebel; denn, drittes Glück: das Karussell wurde elektrisch betrieben statt mit Muskelkraft. Übrigens war er bucklig, kam obendrein 47
aus der Buckligen Welt, »dös is a Gebirg, schimpft sich nach uns. No«, rief er, »Hoch Wechsel und Joglland, Gahns und Schneeberg, Hohe Wand, Dürre Wand bis oben hinauf zum Wienerwald, überall san – uijegerl, i derf nix verraten. Alsdann, san mer feesch«, und setzte das Ringelspiel in Gang. Musik um fünf Uhr in der Früh? Ganz Donnerskirchen lief zusammen, die Kinder jubelten und die Alten bekreuzigten sich, die Schausteller entkrochen im Nachtgewand ihren Wohnwagen, ängstliches Tuscheln, der Priester nahte mit dem Weihwasserkessel – was tun? Aussteigen, da Respekt vor der Kirche befohlen war! Aber weil Jahrmarkt so schön ist, und weil zunächst ja das Karussell besprengt werden mußte, hüpften sie schnell noch zu jenem Wunder-Institut, das sich, ein Hohn auf jeden Nicht-Wichtelmann, ’ Selbstfahrer’ nennt, »Ihr fahrt’ s mit mir!« rief der Wichtelmann, »auf geht’ s!«, und das einsame Elektromobil – o, wie schrieen die Dörfler! – sauste kreuz 48
und quer durch die Arena, bumste mit seiner Bauchbinde aus Gummi gegen die andern und funkte wieder davon, bis auch hier, leider, die Geistlichkeit über den Frohsinn geriet, ihn zu vertreiben. Tragicus fühlte sich sehr erfrischt, heimlich nur litt er an schlechtem Gewissen, nahm also Abschied und war bald vor dem Eisernen Vorhang angelangt. Gras und Unkraut wuchsen aus dem Pflaster, der Selbstherrscher aller Reußen blickte, auf Latten gemalt, verschlagen in die Runde, eine feiste Saatkrähe saß mit staunenswert ähnlichem Gesichtsausdruck über der Abschlußleiste, ließ den Steert wippen und spendete hinter seinem Rükken den Ungarn, was sie vor seinen Augen an Österreichischem verdaut hatte. Die Spende fiel auf den schräg betonierten Hang, der hinunterführte in einen zehn Meter breiten, von doppeltem Stacheldraht beidseitig gesäumten, von Bluthunden durchkeuchten Graben. Drohend ragte ein Maschinengewehrturm in den herrlichen Azur, die Linsen 49
der jetzt abgeschalteten Scheinwerfer betrachteten kalt ein Skelett, bei welchem der dazugehörige Geist die Wache hielt. »Barbanera«, sagte der Pastor. »Haben Sie keine Leitstelle? Wenn Sie mögen, kann ich Sie mitnehmen, ich gehe nach Sopron.« »Und ich komme von Sopron!« »Barbazzurra bitte. Hier ist ein nicht Registrierter– « »Mehrere«, unterbrach der nicht Registrierte. »Der ganze Graben liegt voll – Überschrift Freiheit.« »Freiheit«, wiederholte der Pastor. »Was ist Freiheit..«, wobei er vergaß, daß der Generalstab in der Leitung war. – »Das geht Sie gar nichts an«, tönte es aus dem Äther,»Definitionen sind Sache der ChefAbteilung. Alles, was Sie da finden, nach Sopron.« Sie suchten die Kameraden zusammen, einer der Aufgegriffenen war just aus der Lehrerbildungsanstalt geflüchtet. »Ach, spukte es schon?« »Nichts gemerkt. Wäre auch nicht der 50
Grund gewesen. Wir ließen uns ja extra nach Sopron versetzen, wollten weg von diesem Regime, nach Triest, Genua, weg über den Ozean, nur weg. Und dann hieß es, wir werden verlegt, neunzig Kilometer landeinwärts, aus! in unser Gebäude kam ein Stab.« »Ich verstehe. Die Manöver..« »Manöver nennst du das? Du hast Nerven. Krieg ist das, der alter Herr Heldentod ist das, und wir Junglehrer hätten uns freiwillig melden müssen, oder auf nach Sibirien. Ihr macht euch ja keinen Begriff, ihr da drüben, von dem, was euch blüht, ihr quasselt vom Abendland, als wärs eine Bunkerlinie – Leitartikel gegen Kanonen!« »Ich bin auch aus dem Osten«, wandte Tragicus ein, »bin auch unter den Eisernen Vorhang geraten. Im Übrigen besteht das Abendland nicht nur aus Zeitungen, der Iwan nicht nur aus Kanonen. Jedenfalls haben wir ein Sofakissen und er keinen Erzkanzler.« »Sofakissen, stimmt«, sagte der Lehrer, 51
»spukte doch. Drum sollten die Panzerheinis in unsern Kasten – da liegt er.« Sie waren auf dem Marktplatz angelangt, einem schönen Marktplatz, auch wenn die Baulichkeiten der Historie von blutigen Ereignissen nicht sehr alten Datums sprachen. In der Rathausfront wie im Gemäuer des Stadtturmes klafften Risse und Breschen, deutlich zeigte sich Fäulnis an der hohen Zwiebelbekrönung, doch hatte man die notwendigeren Dinge zu tun nicht versäumt, hatte die Erker der Komitatsverwaltung mit Transparenten der politischen Größen geschmückt, ein Panzerkarree stand angetreten, und von der Turmloggia winkte ein M.G.-Nest beherrschend in die Straßenflucht. Nun, nicht die Russen allein waren da, auch chinesische Siedler und einige Ungarn sah man vor den Geschäften flanieren, dazwischen Geister über Geister, ja, mitten auf dem sowjetischen Befehlstank schlug soeben der Kommandeur des Zwischenreiches seine Schreibstube auf. Tragicus lieferte die Neulinge ab, wurde belobigt 52
und unverzüglich zum Sofakissen geschickt. »Höchste Zeit!« rief die Häubchendame. »Die Division ist hinaus, das Armeekorps zieht ein. Denken Sie, man hat mich parteioffiziös zum Präzedenzfall gemacht! O, ich bin schrecklich aufgeregt und gewiß ein wenig überarbeitet. Indessen, wer wollte der Gesundheit leben, wenn große Dinge auf dem Spiel stehen? Gott, und ich plaudere! dabei erfolgt doch jetzt der Verwirrungs-Angriff: nämlich Punkt Zwölf, das sagte mir Eminenz Barbadoro, während Sie Karussell fuhren, Punkt Zwölf stellen Sie ihm, dem Kommandierenden General natürlich, Schuh und Strümpfe auf den Tisch. Übrigens das noch, bevor ichs vergesse: Exzellenz, behauptet man, ist schießwütig. Ich begleite Sie.« »Angenehm«, erwiderte Tragicus. Er wartete bei den Ordonnanzen, bis die Uhr Zwölf zu schlagen begann, und trat ein, wobei er bedachte, wenn denn geschossen werde, könne es nützlich sein, die Aufstellung so zu wählen, daß die Kugel 53
ein praktisches Ziel habe, stellte sich demnach vor die Gipsbüste des schnauzbärtigen Generalissimus, Mareschallissimus, sprach Barbarossa und löste sich langsam von der Wand. Erfolg über alles Erwarten: der General nahm blitzschnell den geladen und entsichert bereitliegenden Revolver, es knallte, der Selbstherrscher bröckelte stäubend zu Boden, die Ordonnanzen stürzten herein, und dann kam der Kommissar, um mit eisigem Blick auf die Gipstrümmer den hohen Vorgesetzten zu verhaften. So trieben sie es Tage und Nächte, nicht nur bei den Spitzen, erhielten auch jeden Morgen neue Gehilfen, so daß es weder an Variabilität noch an Steigerung mangelte – bis das Armeekorps sich ausquartierte, die Armee ein kurzes Gastspiel gab, der Oberbefehlshaber ins Irrenhaus ging und endlich die Heeresgruppe oder, wie die Russen sie nennen, die Front mit einem leibhaftigen Marschall auf den Plan trat. 54
Nun, dieser Marschall erwies sich als überlegener Kopf. Klug genug, den Kommissar und – zur Kontrolle des Kommissars – einen weiteren Zeugen ständig im eigenen Zimmer zu haben, nahm er das Ganze für einen Spaß, unterhielt sich mit Tragicus, verwirrte das Sofakissen durch zärtliches Ballgeflüster, bot Wodka an, doch wie humorvoll immer sich die Kolloquien gestalteten, auch er konnte nicht hindern, daß in den Abteilungen wüster Aberglaube Platz griff, Soldaten kopfüber aus den Fenstern sprangen, die Wachen bestechlich wurden, Putzfrauen heimlich bei Frühgrau mit Priestern in das Gebäude rückten – und da beging er den Fehler, der seiner glanzvollen Laufbahn ein Ende setzte. Denn eines Mittags erschien, im vergitterten Polizei-Auto aus dem Kerker geholt, der Kardinal. Zwar wußte, als er kam, niemand, daß dieser Zuchthäusler in seinem beige-violett gestreiften Pyjama Kardinal sei; aber das Gerücht: das wußte sofort, mit wem 55
es zu tun hatte, und als er ging, wußte es jeder. Massen von aufgeregten Leuten sammelten sich vor der Lehrerbildungsanstalt, einen Märtyrer sahen sie nicht alle Tage, sie sanken ins Knie, und der Gefangene spendete ihnen stumm den Segen. Dann riß man ihn in die Grüne Minna, Gläubige und Ungläubige zerstreuten sich, mit ihnen lief die Vermutung von Haus zu Haus, flüsterte, raunte, schwoll, und es nutzte wenig, daß der Marschall die Räumung der Stadt befahl, im Gegenteil: mit dem evakuierten Zivil rann die heimliche Runde weit in die Tiefe Ungarns hinein, jeder einzelne Priester bis hinauf zu den Bischöfen tat das Seinige, und hatte der Marschall gehofft, es mit dem Entmachteten bequem zu haben, so irrte er nicht nur, sondern indem er ihn rief, schlug er die Tür zu den Bischöfen zu. Was der Primas weigerte, weigerten sie alle; wo sie hätten einlenken können, konnten sie es nun auf keinen Fall, außer er ermächtige sie, und das vermied er. Sie wollten sich nicht einmal festlegen, ob es 56
Gespenster gebe oder nicht gebe: mit Logik nicht zu fassen, mit Drohung nicht einzuschüchtern, blieb ihr Dogma im feinen Höhennebel mystischer Begriffe, ihr Ton konziliant, ihr Stehvermögen bewundernswert, denn anfangs gab es für sie keinen Stuhl, später übergingen sie die Aufforderung, sich zu setzen. Inzwischen hatte der Marschall mehrmals auf den Tisch geschlagen, viele Flaschen Wodka getrunken, manches KatzMaus-Gespräch mit seinem Kommissar geführt, bis dieser endlich die Krallen einzog, um eine Idee zu äußern, auf die der Marschall, wie der Marschall behauptete, nie verfallen wäre: nämlich die Grüne Minna gegen ein Limousinchen zu tauschen, geschmeidigkeitshalber, und den Alten getrost in sein Ornat zu stecken. Geschmeidigkeitshalber fehlte der Marschall am nächsten Tag, sodaß Kardinal und Politkommissar allein sich beredeten, pünktlich zur Stunde des Sofakissens. Aber das Sofakissen blieb aus. Höchst rät57
Selhaft. Der Fürstprimas, während sein Gastgeber überallhin nach Gespenstern telephonierte, sah weder Schuh und Strümpfe noch irgend ein anderes Phaenomen, sondern lächelte verquält und erklärte milde, die Frage von GeisterErscheinungen ex officio nur an der Spitze des Episkopates behandeln zu können, nicht vor weltlichem Forum; nebenbei wundere ihn, daß ein so junges Gebäude dergleichen aufweisen solle, obendrein in Masse – »wie viel, sagten Sie, sind es? dreiundsiebzig? Gleichwohl, ich las vor einigen Wochen, daß selbst in einem transportablen Holzhaus frischer englischer Fertigung, einem Haus, in welchem kein Schicksal stattfand, hellichten Tages die Weiße Frau umging. Ihre Zeitung knüpfte daran den Kommentar, es zeige sich der Grad von Hysterie, den die britische Insel mittlerweile erreicht habe. Halten Sie, Herr Kommissar, auch dies hier– « »Genosse Kommissar«, verbesserte der Partner. 58
»Hält mein Gesprächspartner«, fuhr der Kardinal beharrlich fort, »die Soproner Erscheinungen– « »Ihre Frage, Genosse Bischof, lenkt ab von dem Tatbestand, daß, wenn es Gespenster gibt, dies hier Gespenster sind – was mich persönlich kalt läßt – , und daß sie, falls katholisch, von einem katholischen Geistlichen gebannt oder von uns in die Luft gesprengt werden, und zwar noch heute, wir haben es satt.« Die Lehrerbildungsanstalt flog in der Tat am gleichen Abend auseinander, worauf man die Bischöfe am nächsten Mittag neuerdings bat, diesmal zum Palais eines hingerichteten Industriellen, wo sich der Marschall soeben etabliert, soeben den Besuch des Sofakissens empfangen hatte. »Wenn es Gespenster gibt«, erklärte der Fürstprimas, »so scheinen sie, was mir nicht bekannt war, Anhänglichkeit an das Militär zu besitzen. Sie sagen, es seien katholische Gespenster. Sie sagten in meinem Prozeß, ich sei Privatperson. Demnach will ich versuchen, das, was Sie 59
stört, zu bannen. Damit weihe ich dieses Haus; nach den Lehren der Kirche darf ich ein Haus, in welchem Ketzer, Heiden oder Gotteslästerer wohnen, nicht weihen. Ich muß also bitten, entweder meinen Wagen bestellen oder ausziehen zu wollen.« »Genosse Privatperson«, entgegnete der Marschall, »Sie sind ein raffinierter Dialektiker. Weihen Sie das Haus, ich gehe auf Jagd, und morgen, indem ich zurückkomme, wird es von selbst entweiht.« Er lachte gemütlich, verließ mit seinen Herren den Raum und fuhr davon. Es dauerte bis an den Beginn der Nacht, ehe die Front eine dritte Unterkunft gefunden und die zweite geräumt hatte, deren Wände unter Gebeten mit Weihwasser genetzt wurden, worauf man für den Kardinal ein spartanisches Feldbett ins Eßzimmer stellte. Aber der Kardinal schlief nicht Denn kaum daß er sich niederlegte, trat aus dem Park durch das Fenster eine junge Frau, die er kannte, er kannte ihren Fall, 60
der seinerzeit bis zu ihm gegangen, kannte sogar den Dolch. Er erhob und bekreuzigte sich. Was er gesehen, war der Geist einer hochgeborenen Selbstmörderin, die einst auf dem Schlosse ihrer Eltern, während die Eltern zu Budapest in der Oper weilten, von Einbrechern im Bett überrascht und vergewaltigt wurde, sich bald darauf Mutter werden fühlte, als gute Ungarin das Innenministerium, als gute Katholikin das Erzbischöfliche Ordinariat um öffentliche Genehmigung anging, die entehrende Frucht beseitigen zu dürfen – was beide so lange verweigerten, bis das Kind geboren und im Findelhaus deponiert war. Dies getan, verschickte die junge Dame Begräbnis-Einladungen und stieß sich ein Messer, das sie zuvor hatte weihen lassen, ins Herz. »Es war dies die einzige Möglichkeit«, sagte der Kardinal, »dich nicht ohne Segen gehen zu lassen, meine Tochter.« »Zweifellos, Eminenz«, bestätigte ein schlanker Herr und verneigte sich. Auch 61
ihn kannte der Kardinal, er selbst hatte ihn bis unter den Galgen geleitet und den Leichnam noch einmal eingesegnet – wie es für den obersten ungarischen Seelenhirten gegenüber einem vor Gott schuldlosen Ministerpräsidenten des Königreiches Ungarn sich gehörte. Die Selbstmörderin war verblaßt, und während der Kardinal vergeblich darüber sann, warum dieser vorbildliche, gewissenhafte und fromme Diplomat, der, weil christlich gestorben, keinen Grund haben konnte zu spuken, dennoch spukte, verblaßte auch er, einen Moment freilich zu spät: im Zergehen setzte er sich leicht auf einen der vielen Damaststühle, die rings an den Wänden standen. Da griff der Kardinal, so allein, wie er hier war, nach dem Brevier, ließ seine Augen über die Stuhlreihen wandern und sagte leise: »Ihr alle, meine friedlosen Schwestern und Brüder, die ihr beladen seid mit Schicksal! sollt wissen, daß ich als Fürst unserer Kirche euch leugne; als Bruder in Christo euch kenne; als Mann euch lie62
be; als Ungar euch helfe – so wahr Gott mir helfe! Amen.« »So sollen Sie wissen, Eminenz«, erwiderte ein Unsichtbarer,»daß die viertausend ermordeten polnischen Offiziere aus dem Walde von Ratyn draußen im Park stehen, und daß niemand gegen die Heilige Kirche handelt, sondern Bedacht übt, damit die Heilige Kirche ihrerseits handeln kann.« »Tod dem Verräter!« schrie der Kommissar, die Türflügel sprangen auseinander, Maschinenpistolen richteten ihre Mündungen auf den Kamin. »Festnehmen.« Eine Flut von Beschimpfungen ergoß sich über den Kardinal, das Feldbett wurde umgestoßen, eine Faust holte aus – Stille. Gespensterhaft wachsendes Licht erhellte grünlich den weiten Raum, überall auf unzähligen Stühlen sah man ernst und bewegungslos durchscheinende Gestalten sitzen, in den Nischen der Türen und Fenster standen sie, auf der Terrasse drängten sie sich, und aus dem Park 63
schritt ein matt goldenes Gewand heran. Hier verloren die sowjetischen Mannschaften ihre Fassung, blindlings schossen sie Garbe um Garbe in den Haufen, der Kardinal verharrte aufrecht im Gebet, ein Querschläger tötete den Politkommissar, Kommandos auf den Korridoren, weitere Soldaten mit weiteren Maschinenpistolen sicherten den Eingang, doch wurde nicht mehr gefeuert, sondern, angesichts der goldenen Erscheinung, die ja längst perforiert sein mußte, stattdessen aber blaß und schmal, zierlich, von Edelsteinen besät, als nicht zu beirrendes, funkelndes Etwas durch die Glastür eintrat – angesichts solcher Ungeheuerlichkeit machten sie in panischem Entsetzen kehrt, rannten um ein Haar den Marschall nieder, »der Fritz!« schrieen sie, »der Fritz!«, womit sie die Deutschen meinten, und der Marschall befahl seinen Dolmetsch. Er hieß den Kommissar fortschaffen und wartete geduldig, bis das Gefolge zur Stelle war, stützte sich lässig auf seinen Säbel 64
und schaute dem goldenen Gegenüber unter abgründigem Schweigen fest, ja neugierig ins Auge. »Was haben Sie mir zu sagen?« fragte er auf Russisch, aber siehe, der Geist antwortete in Latein, und so wurde der Kardinal bemüht. »Herr Marschall«, erklärte der Kardinal, »mein Bruder im Amte, Erzbischof gleich mir, obschon fast achthundert Jahre älter, Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation– « »Gibt es nicht mehr«, unterbrach der Marschall, indem er die Lippen schürzte. Auch der Erzkanzler schürzte die Lippen. Er hat hinabgenommen Des Reiches Herrlichkeit Und wird einst wiederkommen Mit ihr, zu seiner Zeit. »Gedichte interessieren nicht«, bemerkte der Adressat »Mich interessieren Fakten. Wer ist Er, und wieviel Divisionen stellt er ins Feld?« 65
Ein hereinklirrender Generalleutnant enthob den Ranzier der Antwort. »Die Mappe..« meldete der neue Herr. »X-Zeit kam soeben per Funk.« Ein Aufatmen ging durch die Versammlung. Hurrahs wurden ausgebracht, Umarmungen getauscht. Der Erzkanzler lächelte. »Sie brauchen nicht zu öffnen«, sagte er,»in siebenundzwanzig Minuten überschreiten die Vorausabteilungen Ihrer Heeresgruppe den Eisernen Vorhang. Nicht England oder Amerika, die Sie gelähmt wähnen, halten die Grenze besetzt, sondern wir. Auf militärischen Widerstand treffen Sie ernsthaft erst bei den Schweizern – falls Sie bis dahin gelangen.« Der Kardinal übersetzte flüssig, übersetzte auch die Exklamation »Unverschämtheit!«, die der Oberbefehlshaber, indem er die Mappe öffnete, dem Kanzler an die Mitra warf. »Impudentia sive non«, replizierte Barbadoro, »Europa ist eine Sage, Herr Marschall. Ein Himmel aus Traum, ein 66
Gebirge von Vergangenheit, ein Land der Geister, die über den Flüssen schweben, und die Flüsse verraten nicht, wie viel Tränen sie führen, wie viel Blut. Jedes alte Haus hat hier sein Schicksal, sein Geheimnis und sein Gespenst. Ihr könnt die Häuser abtragen – die Geister tragt ihr nicht davon. Den Ermordeten und den Mörder, den Verunglückten und den Gefallenen – alle diese Toten, die ihren Tod nicht vergessen, weil er zu stark war, nehmt ihr in Kauf, indem ihr das Land betretet, beherrscht und besitzt. Ihr glaubt es zu besitzen! ihr besitzt nur, was oben ist. Darunter liegt alles ausgehöhlt: Gräber neben Gräbern, unendlich bis tief nach Rußland hinein. Der Reiche, der mit dem Gelde Verbrechen beging; der Herzog, der die Macht mißbrauchte; die Liebende, deren Liebe verraten wurde – sie sind alle noch da. Es sind noch da die durch euch Erschlagenen von 1831 in Polen, von 1848 in Ungarn und die Millionen von toten Offizieren, toten Soldaten, toten Mädchen seither. Ihr mögt einwen67
den, es seien lauter Einzelne – bis heute. Wenn ihr den Materialismus auf eure Fahnen schriebt, und wenn der Begriff Organisation euch heilig wurde, und wenn es leider wahr ist, daß dieses alte Abendland euch keine Idee mehr entgegenzustellen weiß, sondern in Angst vergeht vor eurer Doktrin und euren Panzern, so ist doch das Eine auch wahr: seit gestern mobilisieren wir das Reich der Luft. Lassen Sie anfahren!« »Haben Sie gehört, meine Herren?« rief der Marschall. »Lassen Sie anfahren. Der Krieg wird heute Nacht erklärt. Geben Sie die Befehle durch, hier sind sie, achte und dreizehnte Panzer voraus. Das Wort ist an Ihnen, Genosse Erzkanzler.« »Tragicus«, sagte der Erzkanzler, »Flutwelle der Donaunixen in den Finser Kanal, Offiziere von Katyn diesseits des Kanals in die Panzer. Omnes Barbarossa.« Der evangelische Geist verließ das Palais im selben Moment wie des Marschalls Adjutant, der Eine durch die Tür zum Park, der Andere durch das Hofportal, um 68
in der neuen Stabsunterkunft ans Telephon zu stürzen. »Ich bewundere Ihren Gleichmut, Marschall«, bemerkte Barbadoro,»und freue mich, daß ich gerade Sie mir zum Gegner aussuchte.« Der Marschall entzündete eine Zigarette. »Auch?« fragte er knapp und reichte das Etui hinüber. »Es hängt mit dem Unglauben zusammen«, erklärte er, indem er dicke Wolken blies und das Etui, da es nicht genommen wurde, wieder einsteckte; »ein Gegner, den ich nicht erschießen kann, ist kein Gegner. Kardinal, Zigarette? Ihr seid mir alle eine Spur zu feierlich. Indessen, verehrtes Gespenst, gebe ich das Kompliment mit Vergnügen zurück. Sie scheinen ein talentierter Generalstäbler, es würde mich freuen zu erfahren, ob ein Befehlshaber darüber schwebt, der die Nerven liefert Ich für mein Teil, wie Sie sehen, bin ganz ohne Nerven. Die Operationen laufen von allein, ich brauche – Ordonnanz, Wodka brauche ich.« Der Wodka wurde gebracht. Die Gespen69
ster verharrten in Schweigen, während der Marschall, anordnend, plaudernd, signierend, ihre Gesundheit trank. Im Norden hörte man das infernalisch knirschende Rollen, mit welchem zwölf komplette Tank-Regimenter sich in Marsch setzten. Dann brach es ab. »Die Offiziere von Ratyn«, meldete Tragicus, »sind im Park wieder angetreten.« »Danke.« Barbadoro, das rechte Auge vergrößernd, einen tief schmerzlichen Zug um die ironischen Lippen, blickte sekundenlang still auf die laute Gruppe an der Gegenwand und flüsterte, was ihm endlich Gewißheit war: »Wir werden sie lähmen.« Minuten später wurde es auch dem Marschall Gewißheit. Zwei kriegsstarke sowjetische Panzerdivisionen, ohne feindliches Gebiet nur berührt zu haben, waren auf rätselhafte Weise, indem teils die Brücken sich unter ihnen hoben, teils die Besatzungen, wie man vermutete, beim Anfahren einem Herzschlag erla70
gen, mit Mann und Maus – bis auf die Stäbe – in den wogenden, strudelnden, bisher ganz glatt fließenden Finser Kanal gerollt und umgekommen. »Sofort in die Kübel«, befahl der Marschall mit Ruhe. »Bestellen Sie meinen Wagen.« Allein gelassen, ging er festen Ausdrucks und festen Schrittes auf den Widersacher zu, strich vorsichtig, staunend, über die viele, faltige, funkelnde Luft und sagte: »Gratuliere; glänzend gemacht. Ich kann nicht klagen, Sie spielten mit offenen Karten. Aber, wie erwähnt, die Operation läuft von allein, ich brauche mich darum nicht mehr zu kümmern. Finden Sie es wohl sehr vermessen, wenn ich Sie bitte, Ihrem Verein beitreten zu dürfen? Ich möchte recht gern von drüben zuschauen.« Er zog, während der Kardinal noch dolmetschte, die Pistole und schoß sich mitten vor die Stirn. »Das muß doch lustig sein«, murmelte er befriedigt, und so starb er tapfer als ein Herr. 71
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NACHWORT
Die Erzählung »Barbadoro«, ursprünglich als Novelle größeren Umfangs angelegt, entstand in verschiedenen Fassungen 1952, also zwischen den beiden großen Romanen »Der Blaue Kammerherr« (1949) und »Die Kinder der Finsternis« (1959), in einer Zeit, als der Autor sich aus materieller Notwendigkeit mit Auftragsarbeiten wirtschaftshistorischer Art zu beschäftigen begann. Von diesen ist außer der Biographie »Robert Gerling« (1954) keine im Handel erschienen. Über die Leistung und den ungeheuren Fleiß jener Jahre, meist verbunden mit Termindruck, wird vielleicht ein späterer Biograph einmal berichten können (an Archivmaterial mangelt es nicht), den literarisch interessierten Zeitgenossen jedoch lag nichts Sichtbares vor, sodaß die Frage eines Journalisten anläßlich des Interviews über »Die Kinder der Finsternis«, warum Wolf von Niebelschütz 73
zehn Jahre »geschwiegen« habe, berechtigt erscheint. Dennoch existieren aus dieser Zeit neben den posthum veröffentlichten andere dichterische Arbeiten, viele Entwürfe, Fragmente, ganze Szenarien, Dialoge, die später Verwendung finden sollten; es existiert als abgeschlossenes Manuskript eine umfangreiche »respektlose Epistel« über eine Reise nach Italien, die von Niebelschütz kurz vor dem bereits beschlossenen Druck zurückzog, um sie nochmals zu überarbeiten, was sein früher Tod verhinderte. Die durch die Industrieaufträge bedingte Arbeitsweise – tagsüber Besprechungen, Werksbesichtigungen, Reisen, Einarbeiten in immer neue Materien – ließ ihm für seine poetische Welt wenig Zeit, und er tat, was er im Grunde haßte: er fuhr »zweigleisig« – Industrie am Tage, Poesie bei Nacht – , wenn ein eigener Stoff ihn bedrängte. Was ihn am Barbadoro-Stoff bedrängte, wird an dieser letzten Fassung – der einzigen, die er selbst akzeptierte – , einer 74
radikal zusammengestrichenen »Kurzfassung zum Vorlesen«, am ehesten den Lesern klar, welche die Jahre nach der Währungsreform mit allen ihren Begleiterscheinungen im geteilten Deutschland bewußt erlebten. Damals gab es noch keine »Mauer«, aber unzählige Menschen, die beim Versuch, heimlich Verwandte jenseits der Ostgrenze zu besuchen, entdeckt und erschossen wurden; es gab im Westen die Anbetung des Goldenen Kalbes Wohlstand, den trostlosen Leerlauf aufwendiger »Partys« aus Prestigegründen, und der Begriff »Abendland« wurde selbst in gebildeten Kreisen ängstlich vermieden; wer ihn benutzte, wurde als rückständig beargwöhnt. Einen Menschen wie Wolf von Niebelschütz, der in all seinen Vorträgen zwischen 1946 und 1951 leidenschaftlich für die Erhaltung unserer abendländischen Kultur und ihrer Werte gekämpft hatte, mußte die Verarmung des geistigen Lebens und die Verkümmerung der Seelen tief beunruhigen. 75
So entstand die Vision eines Zwischenreiches der Geister, durchorganisiert und zum waffenlosen Eingreifen bereit, wenn der Ungeist des krassen Materialismus über das Abendland kommt Ein verschlüsseltes Gedankenspiel, Irreales durch Phantasie in scheinbare Realität umgesetzt; historische Figuren vergangener Jahrhunderte scheinbar existent, verknüpft mit Jugenderlebnissen des Autors. Zum Beispiel Tilly, der 1650 Magdeburg brennen ließ: wo sonst konnte sein friedloser Geist spuken als in dem 1506 erbauten, reizvoll schiefen Fachwerkhaus, das als einziges den Brand überstanden hatte und jahrelang von der Familie von Niebelschütz bewohnt wurde? Alle Niebelschütz-Kinder waren überzeugt, das nächtliche Poltern, Knarren, Tappen und Schlurfen auf dem Boden unterm Dach könne nur von Tilly stammen. Die Mutter, Elisabeth, auch sie phantasiebegabt und manche köstliche Geschichte amüsant-humorvoll übertreibend, be76
handelt das Thema in ihren Aufzeichnungen »Das Haus an der Kreuzgangstraße« allerdings vorsichtiger, indem sie den Jugendübermut ihrer Söhne erwähnt, die »auf den weitläufigen übereinanderliegenden offenen Böden, die durch eine waghalsige Treppe miteinander verbunden waren, mit ihren Freunden Räuber- und Versteckspiele inszenierten. Dafür spukte dann der aufgescheuchte Geist des Hauses in der Nacht umso unheimlicher, sodaß Jella« (eine der Töchter) »in dem darunterliegenden Zimmer aus ihren Mädchenträumen aufgeschreckt wurde und zitternd zu mir ins Bett kroch. Selbst der Vater, der nicht an Gespenster glaubte, wurde von dem merkwürdigen nächtlichen Gepolter gestört. Es war ein Gerumpel, als würden Möbelstücke hin- und hergeschoben, doch immer nur zu gewissen Zeiten – dann war alles wieder still und friedlich.« Vom unheiligen Mönch, der in einem unterirdischen Gang Unzucht mit einer Nonne getrieben haben soll, wird in 77
einem alten Buch berichtet. Und fängt man einmal an, sich mit Geistern zu beschäftigen, so hört man plötzlich auch im Gespräch mit ganz unterschiedlichen Personen von unheimlichen, unerklärlichen Erlebnissen; dazu gehört der Mörder mit dem Kopf unterm Arm, der an einer bestimmten Kreuzung manche Autofahrer so erschreckte, daß sie mit ihrem Wagen verunglückten; dazu gehört die Häubchendame, die ab und an durch ein Schloß wehte und einmal gar Diebe verjagte, die eine Gruft berauben wollten. Zeitungsberichte über Spukhäuser in England, auch wenn sie ironisiert wurden, paßten zum Thema. Vielleicht sollte die Herausgeberin – was sie sich aus Respekt vor dem Autograph ihres Mannes, das er ihr schenkte und nach dem dieser Druck entstand, versagt – die Bezeichnung »Erzählung« ändern in »Utopie«. Diese Einsicht gewann sie nach der wiederholten Lektüre des Vortrages »Das Abendland als geistige Erscheinung«, von Wolf von Niebel78
schütz 1944 in Frankreich gehalten. »Wer vom Abendland spricht, spricht vom Geiste«, heißt es dort, und die Bedrohungen, die er bereits damals kommen sah, bestätigten sich nach 1948, die Hoffnung auf ein geeintes Europa verflüchtigte sich mehr und mehr. Insofern ist die »Utopie«, obwohl 1952 entstanden, heute von erstaunlicher Aktualität. In der breiter angelegten romanhaften Fassung lag »Barbadoro« dem Verlag schon einmal zu Beurteilung vor: Sie stieß vor 30 Jahren, in einer Zeit der ganz aufs Greif- und Inventarisierbare bedachten Nullpunkt-Literatur, auf Unverständnis. Die Neuentdeckung »Barbadoros« fällt nun zusammen mit dem Anwachsen der Erkenntnis, daß das Phantastische ein wichtiges Teil unserer Realität ist. Der Wunsch der Herausgeberin ist es, daß der Leser Ermutigung durch Rückbesinnung auf unsere vergangene, aber lebendige große abendländische Kultur finde: »Europa ist eine Sage, ein Himmel 79
aus Traum, ein Gebirge von Vergangenheit, ein Land der Geister, die über den Flüssen schweben...« Ilse von Niebelschütz
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