Dick Francis Banker Roman
Tim Ekaterin, Vorstandsmitglied einer angesehenen Handelsbank, ist für einen Fünfmil lionenk...
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Dick Francis Banker Roman
Tim Ekaterin, Vorstandsmitglied einer angesehenen Handelsbank, ist für einen Fünfmil lionenkredit verantwortlich, der Oliver Knowles den Kauf des Rennpferdes ›Sand castle‹, Gewinner der berühmtesten Rennen Englands, zu Zuchtzwecken finanzieren, soll. Und die Prämien für die Deckung einer Stute mit ›Sandcastle‹ bringen das Geld, den Kredit zurückzuzahlen. Eine einfache Rechnung – wenn nichts dazwischen kommt…
Dick Francis
Banker
Originaltitel: ›Banker‹
Aus dem Englischen von Malte Krutzsch
Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
© 1993 Diogenes Verlag AG Zürich
ISBN 3 257 22601 2
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Tim Ekaterin, Vorstandsmitglied einer angesehenen Handelsbank, ist für einen Fünfmillionenkredit verantwortlich, der Oliver Knowles den Kauf des Rennpferdes ›Sandcastle‹, Gewinner der berühmtesten Ren nen Englands, zu Zuchtzwecken finanzieren, soll. Und die Prämien für die Deckung einer Stute mit ›Sandcastle‹ bringen das Geld, den Kredit zurückzuzahlen. Eine einfache Rechnung – wenn nichts dazwischen kommt… »Als Jockey schlug Dick Francis alle weit ab. Dasselbe läßt sich heute von ihm als Krimiautor sagen.« Daily Mirror, London »Auch wenn die Helden mit jedem Buch Namen, Alter, Aussehen und Biographie wechseln, sich aus realen Vorbildern zusammensetzen, so sind sie doch unverwechselbar Kreaturen von Dick Francis. Zu ihren typischen Eigenschaften gehören Mut, Ehrlichkeit und ein ausgepräg ter Gerechtigkeitssinn sowie Anstand und Ritterlichkeit gegenüber Frauen, schließlich eine frappierende Hartnäckigkeit, gepaart mit halsbrecherischer Neugierde. Francis’ Lieblinge sind keine zwiespäl tigen, amoralischen, aggressiven Schnüffler, sondern einfach liebens werte Geschöpfe.« Johannes Kaiser/RIAS, Berlin
Der Autor
Dick Francis, geboren 1920, war viele Jahre Englands erfolgreichster Jockey, bis ein mysteriöser Sturz 1956 seine Karriere beendete. Seit 35 Jahren schreibt er jedes Jahr einen Roman. Dick Francis wurde un ter anderem dreifach mit dem Edgar Allan Poe Award und dem Grand Master Award ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau auf den CaymanInseln.
Dick Francis
Banker
Roman
Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch
Diogenes
Titel der 1982 bei
Michael Joseph Ltd., London,
erschienenen Originalausgabe:
»Banker«
Die deutsche Übersetzung erschien erstmals 1983
unter dem Titel: ›Galopp in Gefahr‹ im Ullstein Verlag,
Frankfurt/M., Berlin;
sie wurde vom Übersetzer für diese Ausgabe durchgesehen.
Copyright © 1982 by Dick Francis
Copyright © der deutschen Übersetzung
Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M., Berlin
Umschlagzeichnung von
Tomi Ungerer
Für die großzügige Hilfe danke ich
Jeremy H. Thompson MD FRCPI,
Professor für Pharmakologie,
University of California, Los Angeles,
sowie Michael Melluish und John Cooper
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, 1993
Copyright © 1993
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Diogenes Verlag AG Zürich
120/93/36/1
ISBN 3 257 22601 2
Inhalt Das Buch ......................................................................................... 2
Der Autor......................................................................................... 3
Inhalt................................................................................................ 6
Das erste Jahr
Mai............................................................................................... 7
Juni ............................................................................................ 31
Oktober ...................................................................................... 71
November .................................................................................. 92
Dezember................................................................................. 125
Das zweite Jahr
Februar..................................................................................... 152
April......................................................................................... 172
Oktober .................................................................................... 199
November ................................................................................ 216
Das dritte Jahr
April......................................................................................... 228
Mai........................................................................................... 276
Juni .......................................................................................... 324
Oktober .................................................................................... 385
Dezember................................................................................. 395
Das erste Jahr Mai
G
ordon Michaels stand voll angekleidet im Spring brunnen. »Mein Gott«, sagte Alec. »Was treibt er denn?« »Wer?« »Dein Chef«, sagte Alec. »Der da im Brunnen steht.« Ich ging ans Fenster und starrte hinab: zwei Etagen tiefer auf den Zierbrunnen im Vorhof der Paul-EkaterinHandelsbank. Dort stiegen drei verschlungene Fontänen anmutig in die Luft und fielen als glitzernder, kreisrunder Vorhang nieder. Im Becken stand Gordon, wadentief, in seinem blauen Nadelstreifenanzug, weißem Hemd, Sei denkrawatte und schwarzen Schuhen … triefend naß. Es war seine Reglosigkeit, die mich vor allem beun ruhigte. Unmöglich, dieses äußerst uncharakteristische Verhalten als irgendeinen Ausdruck von Unbeschwertheit, Jubel oder Freude zu deuten. Ich rannte geradewegs aus dem mit dickem Teppich boden belegten Büro, durch den Notausgang, die Fluchten der groben Steintreppe hinunter und über den Marmor der Eingangshalle. Der uniformierte Mann am Wachschalter gaffte mit entblößten Plomben nach der breiten gläsernen Eingangstür, und zwei ankommende Kunden sahen ver blüfft hinter mir her. Ich ging hastig an ihnen vorbei ins 7
Freie und bremste erst bei den letzten Schritten vor dem Brunnen ab. »Gordon!« sagte ich. Seine Augen waren offen. Wasserperlen liefen von dem tropfnassen schwarzen Haar an seiner Stirn herunter und fingen sich hier und da an seinen Wimpern. Der größte Teil des Wassers glitt in einem kristallenen Strom unmit telbar hinter seinen Schultern herab, wobei vereinzelte Tropfen nach vorn auf ihn sprühten wie Regen. Gordons Augen sahen mich ohne zu blinzeln mit ernster Zerstreut heit an, als wüßte er nicht, wer ich war. »Kommen Sie in den Brunnen«, sagte er. »Ähm … wieso denn?« »Die mögen kein Wasser.« »Wer mag keins?« »Die Leute. Die Leute mit den weißen Gesichtern. Sie mögen kein Wasser. In den Brunnen kommen die Ihnen nicht nach. Wenn Sie naß sind, passiert Ihnen nichts.« Seine Stimme klang völlig vernünftig, so daß ich mich verwirrt fragte, ob nicht alles nur ein Scherz war: Aber Gordons Scherze waren normalerweise kleine, kultivierte, funkelnde Kommentare über die Dummheit der Men schen, keine wildwüsten Paukenschläge mit dem Geruch des Surrealen. »Kommen Sie da raus, Gordon«, sagte ich unbehaglich. »Nein, nein. Die warten doch nur darauf. Holen Sie die Polizei! Rufen Sie sie an. Sie soll kommen und die alle mitnehmen!« »Aber wen denn, Gordon?« »Alle diese Leute natürlich. Die mit den weißen Gesich tern.« Sein Kopf schwenkte langsam von einer Seite zur andern, die Augen wie auf eine dicht um den ganzen 8
Brunnen gescharte Menge fixiert. Instinktiv blickte ich ebenfalls um mich, aber das einzige, was ich sehen konnte, waren die Stein- und Glaswände der Bank, wo jetzt ein wachsender Chor von Häuptern ungläubig an den Fenstern erschien. Ich klammerte mich immer noch an den Glauben an ei nen Scherz. »Sie arbeiten hier«, sagte ich. »Die Leute ar beiten hier.« »Nein, nein. Sie sind mit mir gekommen. Im Wagen. Nur zwei oder drei von ihnen, dachte ich. Aber die ande ren, die waren schon hier, wissen Sie. Sie wollen, daß ich mit ihnen gehe, aber hier kommen sie nicht an mich heran, sie mögen das Wasser nicht.« Er hatte die ganze Zeit ziemlich laut gesprochen, damit ich ihn durch den Lärm des Brunnens auch verstand, und die letzte dieser Äußerungen erreichte den Präsidenten der Bank, der mit raschen Schritten vom Gebäude herüber kam. »Also Gordon, alter Kamerad«, sagte der Präsident ener gisch, als er neben mir stehenblieb, »was soll denn das, um Himmels willen?« »Er hat Halluzinationen«, sagte ich. Der Blick des Präsidenten huschte zu meinem Gesicht und wieder zu Gordon. Gordon riet ihm ernsthaft, in den Brunnen zu steigen, weil ihn die Leute mit den weißen Gesichtern dort nicht erreichen könnten, da ihnen Wasser zuwider sei. »Tun Sie etwas, Tim«, sagte der Präsident, also stieg ich in den Brunnen und ergriff Gordons Arm. »Kommen Sie«, sagte ich. »Wenn wir naß sind, rühren sie uns nicht an. Wir brauchen nicht im Wasser zu bleiben. Naß sein genügt.« 9
»Es genügt?« fragte Gordon. »Haben die Ihnen das er zählt?« »Ja, sie rühren niemanden an, der naß ist.« »Aha. Na schön. Wenn Sie sicher sind.« »Ja, ich bin sicher.« Er nickte verstehend, machte auf nur leichten Druck von meinem Arm zwei vernünftig wirkende Schritte durch das Wasser und trat über die kniehohe Einfassung auf die Steinplatten des Vorhofs. Ich hielt ihn weiter fest und be tete im stillen, daß die Leute mit den weißen Gesichtern auf Distanz bleiben würden; und obwohl Gordon ängstlich umherblickte, schien es, daß sie bislang keine Anstalten trafen, ihn zu entführen. Der Ausdruck von Besorgnis im Gesicht des Präsidenten war tief und echt. Er und Gordon waren seit langem eng befreundet. Abgesehen vom Äußeren glichen sie einander sehr; kluge Burschen, intuitiv, mit schöpferischer Einbil dungskraft. Jeder hatte unter normalen Umständen eine Art zu sprechen, die selbst die härtesten Befehle in sanfte Höflichkeit zu kleiden wußte, und beide mochten ihren Beruf. Sie waren beide in den Fünfzigern, beide auf der Höhe ihrer Kräfte, beide recht vermögend. Von Gordon tropfte das Wasser auf die Pflastersteine. »Ich glaube«, sagte der Präsident und warf einen Blick auf die bevölkerten Fenster, »wir sollten hineingehen. In den Sitzungssaal vielleicht. Kommen Sie, Gordon.« Er nahm Gordon Michaels an dem anderen durchnäßten Ärmel, und einer der solidesten Bankiersköpfe Londons trottete gehorsam und durchnäßt zwischen uns. »Die Leute mit den weißen Gesichtern«, sagte ich, wäh rend wir auf stetem Kurs durch die marmorne Eingangs halle zwischen staunenden Beobachtern entlangsteuerten, »sind sie noch da?« 10
»Natürlich«, sagte Gordon. Offensichtlich fuhren auch einige von ihnen mit uns im Lift nach oben. Gordon ließ sie nicht aus den Augen. Die anderen, das entnahmen wir seinem Widerstreben, auf den Flur ins Obergeschoß hinauszutreten, warteten schon auf unsere Ankunft. »Es ist in Ordnung«, ermutigte ich Gordon. »Vergessen Sie nicht, wir sind noch naß.« »Aber Henry nicht«, sagte er und beäugte bang den Prä sidenten. »Wir sind ja dicht beisammen«, sagte ich. »Das geht schon in Ordnung.« Gordon blickte zweifelnd drein, ließ sich aber schließ lich zwischen seinen Helfern aus dem Fahrstuhl ziehen. Die weißen Gesichter teilten sich offenbar vor uns, um den Weg freizugeben. Der persönliche Assistent des Präsidenten kam den Kor ridor entlanggehastet, doch der Präsident gebot ihm mit einem Wink entschieden Einhalt und erklärte, niemand dürfe uns im Sitzungszimmer stören, bis er läute. Gordon und ich schlappten in unseren nassen Schuhen über den dick gewebten Teppich zu dem langen blanken Konfe renztisch aus Mahagoni. Gordon setzte sich bereitwillig in einen der behaglichen Ledersessel, die um ihn herum gruppiert waren. Der Präsident fragte, ob die Leute mit den weißen Gesichtern uns gefolgt seien. »Aber ja«, sagte Gordon und schaute sich um. »Sie sit zen ja auf allen Stühlen am Tisch. Und stehen noch dahin ter. Haufenweise. Sieh doch selbst.« »Wie sind sie gekleidet?« fragte der Präsident. Gordon blickte ihn zwar verwundert an, aber antwortete ohne weiteres. »Weiße Anzüge natürlich. Mit schwarzen Knöpfen. Drei schwarze Knöpfe an der Vorderseite.« 11
»Alle?« fragte der Präsident. »Alle gleich?« »Aber ja, natürlich.« »Clowns«, rief ich aus. »Was?« »Weißgesichtige Clowns.« »Aber nein«, sagte Gordon. »Es sind keine Clowns. Sie sind nicht lustig.« »Weißgesichtige Clowns sind traurig.« Gordon sah bekümmert und argwöhnisch drein und be hielt seine Verfolger gut im Auge. »Was tun wir am besten?« überlegte der Präsident. Er sprach in erster Linie mit sich selbst. An mich gewandt sagte er nach einer Pause: »Ich glaube, wir sollten ihn nach Hause bringen. Er ist offensichtlich nicht gewalttätig, und ich sehe keinen Nutzen darin, einen Arzt herzuholen, den wir nicht kennen. Ich rufe Judith an und verständige sie. Das arme Kind. Ich werde ihn in meinem Wagen fah ren, bin ja vielleicht der einzige, der genau weiß, wo er wohnt. Und ich wäre dankbar, Tim, wenn Sie mitkämen und ihn weiter beruhigen würden.« »Sicher«, stimmte ich zu. »Sein Wagen ist übrigens auch hier. Er sagte, bei der Ankunft war ihm, als seien zwei oder drei Weißgesichter bei ihm gewesen. Der Rest hätte hier gewartet.« »Tatsächlich?« Der Präsident dachte nach. »Er kann noch nicht halluziniert haben, als er zu Hause wegfuhr. Judith hätte es bestimmt bemerkt.« »Er schien auch in Ordnung, als er ins Büro kam«, sagte ich. »Still, aber in Ordnung. Er hat fast eine Stunde an sei nem Schreibtisch gesessen, ehe er rausging und sich in den Brunnen stellte.« »Haben Sie nicht mit ihm gesprochen?« 12
»Er mag es nicht, wenn Leute reden, während er nach denkt.« Der Präsident nickte. »Dann weiter«, sagte er, »schauen Sie mal, ob Sie eine Decke auftreiben können. Bitten Sie Peter, eine zu suchen. Und … ähm … wie naß sind Sie selber?« »Nicht durch, außer an den Beinen. Wirklich kein Pro blem. Es ist ja nicht kalt.« Er nickte, und ich ging los. Peter, der Assistent, fand ei ne rote Wolldecke, die an einer Ecke ohne erdenklichen Grund die Inschrift Feuer trug. Als wir ihm diese behag lich um seine inzwischen nackte Brust gewickelt hatten, ließ sich Gordon diskret zum Wagen des Präsidenten füh ren. Der Präsident selbst glitt hinter das Steuer und fuhr seinen immer noch halb feuchten Passagier durch den kla ren Maimorgen südwärts. Henry Shipton, Präsident der Paul Ekaterin Ltd., war physisch ein stark gebauter Mann, der seine Neigung zum Übergewicht mit rohen Karotten, Mineralwasser und Wil lenskraft bekämpfte. Halb Visionär, halb Spieler, unter warf er gewohnheitsmäßig jede hochfliegende Idee rigoro ser analytischer Prüfung: ein Mann, dessen mächtige Triebimpulse allseits eingespannt und nutzbar gemacht wurden. Ich bewunderte ihn. Das mußte man. Im Verlauf seines Zwanzigjahrespensums (zehn davon als Präsident) war die Paul Ekaterin Ltd. von einer mäßig erfolgreichen Bank zu einer der ersten Liga geworden, weltweit geachtet und an erkannt. Ich konnte den wachsenden Respekt vor dem Namen der Bank in der Öffentlichkeit beinahe exakt er messen, da es auch mein Name war: Timothy Ekaterin, Urenkel von Paul, dem Gründer. In meiner Schulzeit sag ten die Leute immer: »Timothy wer? kat-rin? Wie schreibt 13
man das?« Jetzt nickten sie ziemlich oft nur – und mein ten, ich hätte das entsprechende Vermögen, was nicht zu traf. »Sie sind sehr friedlich, versteht ihr?« sagte Gordon nach einiger Zeit. »Die Weißgesichter?« fragte ich. Er nickte. »Sie sagen nichts. Sie warten einfach.« »Hier im Wagen?« Er sah mich unsicher an. »Sie kommen und gehen.« Zumindest waren es keine rosa Elefanten, dachte ich re spektlos. Doch Gordon war, wie der Präsident, ohne Zwei fel abstinent. Er sah bemitleidenswert aus in seiner roten Decke, der scharfe Verstand verwirrt von Träumen. Das war nun der Kämpfer, der täglich selbstbewußt mit Mil lionen umging, dieser zusammengekrümmte Haufen von Trugbildern, der in nassen Hosen nach Hause fuhr. Die Würde des Menschen war allerorts papierdünn. Er wohnte am Clapham Park in einer spätviktorianischen Stadtvilla, umgeben von mannshohen Gartenmauern. Wir fanden ein cremefarbenes Holztor, das zu einer kurzen kiesbestreuten Auffahrt zwischen gepflegtem Rasen führ te. Judith Michaels stürzte aus der Haustür, dem Wagen des Präsidenten entgegen. Ihre ersten Worte, abwechselnd an Henry Shipton und an mich gerichtet, waren: »Den ver dammten Arzt erwürge ich.« Danach sagte sie: »Wie geht es ihm?«, und danach, mit fühlend: »Komm, Lieber, alles in Ordnung, komm rein, Schatz, wir machen’s dir warm und stecken dich sofort ins Bett.« Sie legte schützend ihre Arme um die rote Decke, als ihr kindlich gewordener Mann aus dem Wagen stolperte. Zu 14
mir und Henry Shipton sagte sie nochmals zornig: »Ich bringe ihn um. Er gehört abgeknallt.« »Von Hausbesuchen halten die nichts heutzutage«, meinte der Präsident zweifelnd, »aber kommen … wird er doch?« »Nein, er kommt nicht. Geht ihr beiden Guten mal in die Küche – da ist etwas Kaffee in der Kanne. Ich bin gleich wieder unten. Komm, Schatz, die Stufen rauf…« Sie half ihm zur Haustür herein und durch eine mit Perserteppi chen ausgelegte Halle zu einem getäfelten Treppenhaus, während der Präsident und ich ihren Wunsch befolgten. Judith Michaels, irgendwo Ende dreißig, war eine brü nette Frau voller Lebenskraft, in die ich mich leicht hätte verlieben können. Ich war ihr vor diesem Morgen schon verschiedentlich begegnet (bei den diversen gesellschaftli chen Anlässen der Bank) und mir jedesmal neu der Wär me und des Zaubers bewußt gewesen, die für sie so selbst verständlich waren wie das Atmen. Ob ich dagegen die leiseste Anziehung für sie besaß, wußte ich nicht und hatte ich nicht herauszufinden versucht, da es kaum das beste für die eigenen Aussichten ist, sich gefühlsmäßig mit der Frau seines Chefs einzulassen. Trotzdem spürte ich den selben alten Ruck und hätte nichts dagegen gehabt, Gor dons Stelle auf der Treppe einzunehmen. Mit diesen, wie ich hoffte, diskret verborgenen Gedan ken ging ich mit Henry Shipton in die Küche und trank den angebotenen Kaffee. »Ein großartiges Mädchen«, sagte der Präsident mit Ge fühl, und ich sah ihn kläglich überrascht an und stimmte zu. Sie kam nach einiger Zeit zu uns, noch immer mehr ver ärgert als beunruhigt. »Gordon sagt, überall im Zimmer sitzen weißgesichtige Leute und wollen nicht weggehen. 15
Es ist wirklich zu schlimm. Es ist eine Zumutung. Ich bin so wütend, ich könnte schreien.« Der Präsident und ich sahen verblüfft drein. »Habe ich es Ihnen nicht gesagt?« Sie musterte uns. »Ach nein, wahrscheinlich nicht. Gordon haßt den Gedan ken, daß jemand von seiner Krankheit erfährt. Sie ist nicht sehr schlimm, wissen Sie. Nicht so schlimm, daß er aufhö ren müßte zu arbeiten oder etwas dergleichen.« »Ähm …«, sagte der Präsident. »Was für eine Krank heit?« »Ich muß es Ihnen wohl erzählen, jetzt wo das passiert ist. Ich könnte diesen Arzt umbringen, allen Ernstes.« Sie holte tief Atem und sagte: »Gordon hat leichten Parkinso nismus. Seine linke Hand zittert ab und zu ein bißchen. Ich nehme nicht an, daß Sie es bemerkt haben. Er verbirgt es vor den Leuten.« Wir schüttelten verständnislos die Köpfe. »Unser alter Hausarzt ist gerade in den Ruhestand getre ten, und der neue Mann ist einer von diesen furchtbar auf geblasenen Leuten, die meinen, sie wüßten es besser als alle anderen. Darum hat er Gordons alte Pillen abgesetzt, die gut halfen, soweit ich das beurteilen kann, und ihm neue verschrieben. Seit vorgestern. Und als ich ihn gerade eben in absoluter Panik anrief, weil ich dachte, Gordon wäre hoffnungslos verrückt geworden und ich würde für den Rest meines Lebens Nervenkliniken besuchen, da sagt er mir locker, nur keine Bange, dieses neue Medikament bewirkt recht häufig Halluzinationen, man muß bloß die Dosis richtig abstimmen. Ich sage Ihnen, wenn er nicht weit weg am anderen Ende einer Telefonleitung gesessen hätte, hätte ich ihm den Hals umgedreht.« Henry Shipton und ich fühlten uns indessen merklich er leichtert. 16
»Sie meinen«, fragte der Präsident, »das Ganze … klingt einfach ab?« Sie nickte. »Dieser verdammte Arzt sagte, wenn Gordon die Tabletten nicht mehr schluckt, dann ist er in sechsund dreißig Stunden wieder völlig normal. Und danach soll er sie wieder einnehmen, aber nur die Hälfte, und abwarten, was passiert. Und falls wir uns Sorgen machten, sagte er sehr zartfühlend, könne Gordon ja übermorgen mal in die Praxis kommen und es mit ihm besprechen. Aber da Gor don bis morgen abend völlig in Ordnung wäre, fänden wir ja vielleicht, daß es nicht nötig sei.« Sie selbst zitterte leicht vor Ärger. Plötzlich schluchzte sie auf, sagte »O Gott« und wischte sich nervös die Au gen. »Ich war so erschrocken, als Sie es mir mitteilten«, sagte sie halb entschuldigend. »Und als ich die Praxis anrief, kriegte ich diese verflucht sture Sprechstundenhilfe und mußte zehn Minuten diskutieren, bis sie mich überhaupt mit dem Arzt reden ließ.« Nach einer kurzen mitfühlenden Pause kam der Präsi dent wie üblich zum Kern der Sache und fragte: »Hat der Arzt gesagt, wie lange es dauern würde, die Dosis richtig abzustimmen?« Sie sah ihn mit einer verzagten Grimasse an. »Er meinte, da Gordon so stark auf eine durchschnittliche Dosis rea giert hätte, könne es bis zu sechs Wochen dauern, ihn völ lig zu stabilisieren. Er sagte, jeder Patient sei verschieden, aber wenn wir durchhalten würden, sei es auf lange Sicht das allerbeste Mittel für ihn.« Henry Shipton fuhr mich gedankenvoll zurück in die Stadt. »Ich glaube«, sagte er, »wir werden im Büro erklären, daß Gordon eine ›Grippe‹ kommen sah und irgendwelche 17
Tabletten nahm, die sich als halluzinogen entpuppt haben. Wir könnten einfach sagen, er hätte sich eingebildet, im Urlaub zu sein und das Bedürfnis nach einem kleinen Bad gehabt. Ist das annehmbar?« »Sicher«, sagte ich milde. »Halluzinogene Medikamente sind schließlich überaus verbreitet heutzutage.« »Ja.« »Kein Grund also, weißgesichtige Clowns zu erwäh nen.« »Nein«, stimmte ich zu. »Oder Parkinsonsche Krankheit, wenn Gordon es nicht möchte.« »Ich werde nichts sagen«, versicherte ich ihm. Der Präsident brummte und verfiel in Schweigen; und vielleicht drehten sich unser beider Gedanken um die ab gedroschene Phrase, daß medikamentös bedingte Neben wirkungen störender seien als die Krankheit. Erst als wir nur noch eine Meile von der Bank entfernt waren, sprach Henry Shipton wieder. Er sagte: »Sie genie ßen jetzt schon zwei Jahre Gordons Vertrauen, nicht?« »Beinahe drei«, murmelte ich nickend. »Können Sie die Festung halten, bis er wiederkommt?« Es wäre unehrlich zu sagen, daß ich die Möglichkeit die ses Angebots nicht seit ungefähr Viertel nach zehn im Hinterkopf gehabt hätte, und so nahm ich es weniger mit Aufregung als mit Erleichterung an. Es gab keine starre Hierarchie bei Ekaterin. »Soundsos Vertrauen genießen«, wie der Hausjargon es ausdrückte, hieß, daß man normalerweise auf dem Weg zu mehr Ver antwortung war, doch im Gegensatz zu den diversen ande ren Zweiunddreißigjährigen, die das Gebäude mit ihren 18
Erwartungen und Hoffnungen bevölkerten, lebte ich mit dem schwerwiegenden Nachteil meines Namens. Aus Angst vor dem Vorwurf der Vetternwirtschaft ließ der Vorstand mich jede Beförderung zweimal verdienen. »Danke«, sagte ich neutral. Er lächelte ein wenig. »Fragen Sie um Rat«, sagte er, »wann immer Sie welchen brauchen.« Ich nickte. Seine Worte waren nicht als Herabsetzung gemeint. Jeder bei Ekaterin fragte die ganze Zeit um Rat. Verständigung zwischen Leuten und zwischen Abtei lungen war eine unbedingte Priorität im Kodex Henry Shiptons, und er war es, der einen Haufen kleiner Büros abgeschafft hatte, um offene Großräume zu bilden. Er selbst saß stets an einem (recht gewaltigen) Schreibtisch in einem Raum, der noch acht ähnliche enthielt. Der seine auf einer Seite flankiert von dem des Vizepräsidenten und auf der anderen vom Chef der Beteiligungsfinanzierung. Weitere Direktoren anderer Abteilungen nahmen eine Reihe gleicher Schreibtische gegenüber ein, sämtlich in bequemer Hörweite voneinander. Wie bei allen Handelsbanken, lief das von Ekaterin be triebene Geschäft anders und getrennt von dem, das die Highstreet-Kette der Clearingbanken tätigte. Bei Ekaterin bekam man niemals wirklich Geld zu sehen. Es gab keine Kassierer, keine »Bankbeamten«, keine Schalter, keine Einzahlungen, keine Abhebungen und kaum irgendwelche Scheckbücher. Es gab drei Hauptabteilungen, jede mit ihrer gesonderten Funktion und jede auf ihrer eigenen Etage des Gebäudes. Beteiligungsfinanzierung half Großkunden bei Fusionen, Übernahmen und bei der Kapitalbeschaffung. Kredite, wo ich mit Gordon arbeitete, lieh Geld an Unternehmen und Industrie. Und Anlagen, die älteste und größte Abteilung, 19
trachtete danach, die bestmöglichen Erträge aus den um fangreichen Investmentfonds von Stiftungen, Firmen, Pen sionskassen, Trusts und Gewerkschaften zu erzielen. Es gab noch mehrere kleine Sektionen wie Verwaltung, die jedermanns Schreibarbeit erledigte; wie Immobilien, die kaufte, verkaufte, entwickelte und verpachtete; wie Recherchen, die sich umhörte; wie Übersee-Investments, die schnell wuchs; und wie Devisen, wo etwa zehn rasende junge Hexenmeister Weltwährungen in Minutenschnelle kauften und verkauften, Millionen mit DezimalstellenMargen riskierten und mit vierzig ausgebrannt waren. Das Leben der dreihundertundfünfzig Leute, die für Eka terin arbeiteten, war darauf abgestellt, Geld zum Arbeiten zu bringen. In der Hauptsache auf die Produktion von Handel, Geschäft, Industrie, Renten und Arbeitsstellen. Es war nichts Schlechtes, vom Wert dessen, was man tat, überzeugt zu sein, und sicherlich gab es einen haltbaren Grundkonsens im Haus, der unerschüttert von den Span nungen an der Oberfläche, den Eifersüchteleien und Terri torialquerelen des Büroalltags bestehen blieb. Die Dinge hatten sich bereits weiterentwickelt, als der Präsident und ich zum Schwarm zurückkehrten. Der Prä sident wurde gleich in der Eingangshalle von einer besorgt wartenden Gestalt aus der Beteiligungsfinanzierung ange fallen, und oben in der Kreditabteilung kicherte Alec in seine Schreibunterlage. Alec, so alt wie ich, litt, beruflich gesprochen, an einem unkontrollierbaren Hang zur Leichtfertigkeit. Er erfrischte das Büro unaufhörlich, da jedoch Hofnarren es selten bis zum Thron brachten, war seine Laufbahn schon jetzt merkbar schlagseitig und sprunghaft. Der Rest von uns war vermutlich hoffnungslos verstaubt. Gott sei gedankt, dachte ich oft, daß es Alec gibt. 20
Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit verstreuten Som mersprossen auf blasser Haut, eine hohe Stirn, eine ver filzte Masse dichter flachsfarbener Locken. Dicke blonde Wimpern blinzelten über wachen blauen Augen hinter goldgerahmter Brille, und sein Mund zuckte gern, wenn er die komische Seite einer Sache entdeckte. Fast jeder mochte ihn auf Anhieb, und erst nach und nach wunderte man sich, ob der Prüfer in Oxford, der ihm eine Eins in Ju ra zuerkannt hatte, an Blindheit gelitten habe. »Was ist los?« fragte ich und lächelte unwillkürlich, um das Gekicher einzuholen. »Wir haben eine undichte Stelle.« Er hob den Kopf und tippte auf die Zeitung, die auf seinem Schreibtisch lag. »Meine Güte«, sagte er mit hämischem Vergnügen, »das kam hier vor einer Stunde, und es scheint, wir sind undicht wie eine durchlöcherte Blase. Wie ein Baby. Wie die Feu erwehr.« Undicht wie die Feuerwehr … nun ja. Er hielt die Zeitung hoch, und alles, jedenfalls eine gan ze Menge, war erklärt. Vor kurzem war eine dünne zwei monatliche Publikation aufgetaucht mit dem Titel Was läuft, wo es nicht sollte, die flugs die Aufmerksamkeit des größten Teils der Nation auf sich gelenkt hatte und von der Polizei, wie es hieß, gierig verschlungen wurde. Als Ab kömmling des forschungseifrigen Journalismus, den Wa tergate nach sich gezogen hatte, wurde Was läuft, wo … angeblich geradezu von Informanten bombardiert, die haargenau verrieten, was lief, und die Zeitung brauchte nur noch den Wahrheitsgehalt der Informationen zu ermit teln; eine Aufgabe, die sie bekanntermaßen nicht immer gründlich erfüllte. »Was steht drin?« fragte ich. »Wenn man die lustigen Seitenhiebe wegläßt«, sagte er, 21
»steht drin, daß irgend jemand bei Ekaterin interne Infor mationen verkauft hat.« »Verkauft…« »Ganz recht.«
»Über eine Übernahme?«
»Woher weißt du das?«
Ich dachte an den Mann aus den Verbundfinanzen, der
vor Ungeduld von einem Bein aufs andere gehüpft war, während er auf die Rückkehr des Präsidenten wartete, und wußte, daß nichts als höchste Dringlichkeit ihn runter an die Tür gebracht hätte. »Zeig her«, sagte ich und nahm Alec die Zeitung ab. Der lediglich »Ts, ts« überschriebene Artikel umfaßte nur vier Abschnitte. In den drei ersten wurde mit verführe rischer Autorität erklärt, daß in Handelsbanken die Mana ger von Investmentfonds die Möglichkeit hätten, schon in einer frühen Phase Kenntnis von einer Übernahme zu be kommen, die seine Kollegen vorbereiteten. Es sei aller dings völlig illegal für einen Manager, aufgrund dieses In siderwissens zu handeln, auch wenn er damit seinen Kun den ein Vermögen verschaffen könne. Die Aktien einer Gesellschaft, die vor einer Übernahme stand, stiegen wahrscheinlich im Wert. Wenn man sie zu einem niedrigen Preis kaufen könne, bevor auch nur das Gerücht einer Übernahme aufkam, seien gewaltige Ge winne möglich. Ein solch unprofessionelles Verhalten von Seiten einer Handelsbank würde wegen der gemachten Profite sofort erkannt, und kein Investmentmanager würde sich in dieser Weise der persönlichen Katastrophe aussetzen.
22
Doch siehe da (fragte der Artikel), was läuft in der Han delsbank Paul Ekaterin Ltd.? Dreimal im letzten Jahr ist man Übernahmen, die von dieser renommierten Firma ge leitet wurden, durch energischen Erwerb der betreffenden Aktien zuvorgekommen. Der Erwerb selbst kann nicht zu den Investmentmanagern Ekaterins zurückverfolgt wer den, doch wir sind unterrichtet, daß die Informationen aus dem Hause Ekaterin kamen und daß da jemand die golde ne Nachricht verkauft hat, entweder gegen bares Geld oder einen Anteil am Gewinn. »Es ist eine reine Vermutung«, sagte ich entschieden und gab Alec die Zeitung zurück. »Da sind überhaupt keine Fakten.« »Ein Eimer kaltes Wasser«, nörgelte er, »ist ein Sonnen tag im Vergleich mit dir.« »Möchtest du, daß es stimmt?« fragte ich neugierig. »Würde den Laden doch ein bißchen beleben.« Und da, dachte ich, lag der Unterschied zwischen Alec und mir. Für mich war der Laden die ganze Zeit lebendig, obwohl ich vor acht Jahren wider Willen dort gelandet war, weil mein Onkel mich dazu gezwungen hatte. Meine Mutter war damals bankrott gewesen, und ihre Wohnung wurde vom Gerichtsvollzieher bis auf das Telefon (Eigen tum der Post) und ein Bett ausgeräumt. Die Pleite meiner Mutter war, wie mein Onkel und ich wohl wußten, ohne Zweifel ihr eigenes Verschulden. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, seine erpresserische Zange anzulegen. »Ich begleiche ihre Schulden und zahle ihr eine Rente, wenn du kommst und in der Bank arbeitest.« »Aber ich will nicht.« »Das weiß ich. Und ich weiß, du bist blöd genug, sie selbst unterstützen zu wollen. Aber wenn du’s machst, 23
wird sie dich ruinieren, wie sie deinen Vater ruiniert hat. Gib nur der Bank eine Chance. Wenn du sie in einem Vierteljahr immer noch haßt, laß ich dich gehen.« Also zog ich mit störrischer Auflehnung aus, um den Weg meines Urgroßvaters, meines Großvaters und meines Onkels zu beschreiten, und innerhalb von drei Monaten hätte man mich mit einer Brechstange loseisen müssen. Wahrscheinlich steckte es mir im Blut. Die ganze großkotzige Teenagerverachtung fürs »Geld raffen«, die ganze hochnäsige Mißbilligung meiner Stu dentenzeit, die ganzen negativen Einstellungen, die mein verkrachter Vater mir vererbte – alles hatte sich in Ver ständnis aufgelöst, in Interesse und schließlich Begeiste rung. Die Kunst des Geldmanagements hatte mich jetzt gepackt wie einen Süchtigen, und mein Berufsleben war so erfüllend, wie nur ein Sterblicher erwarten konnte. »Was glaubst du, wer es war?« sagte Alec. »Falls es jemand war.« »Es muß passiert sein«, sagte er überzeugt. »Dreimal im letzten Jahr … das ist mehr als ein Zufall.« »Und ich wette, daß dieser Zufall alles ist, wovon die Zeitung ausgeht. Die klopfen Sprüche. Werfen einen Kö der aus. Die sagen ja nicht mal, welche Übernahmen sie meinen, geschweige denn nennen sie Zahlen.« Aber wahr oder nicht, die Story allein war schlecht für die Bank. Kunden würden schleunigst abspringen, wenn sie kein Vertrauen mehr haben konnten, und Was läuft, wo … hatte oft genug recht, um Unruhe zu stiften. Henry Shipton verbrachte den größten Teil des Nachmittags da mit, im Konferenzsaal eine Krisensitzung des Vorstands zu leiten, von wo sich kleine Wellen des Unbehagens durch sämtliche Abteilungen ausbreiteten. Bis zum Feier abend hatte so gut wie jeder im Gebäude die Zeitung gele 24
sen, und wenn auch manche es so fröhlich aufnahmen wie Alec, hatte es doch die Wirkung, die Spekulation beinahe vollständig von Gordon Michaels abzulenken. Nur zweimal ließ ich mich über »Grippe« und Tabletten aus: Nur zwei Leute fragten. Wenn am Ruf der Bank selbst gerüttelt wurde, wen kümmerte da ein Hopser in den Zierbrunnen – selbst wenn der Badende alle Kleider ange habt hatte und ein Direktor der Kreditabteilung war. Am nächsten Tag stellte ich fest, daß Gordons Stelle zu vertreten, kein leichtes Spiel war. Bis dahin hatte er mir nach und nach die Entscheidungsgewalt über Anleihen bis zu einem bestimmten Umfang übertragen, alles Größere aber lag ganz allein in seiner Zuständigkeit. Innerhalb meines Rahmens konnte ich also jeden Kredit vermitteln, vorausgesetzt, ich hielt den Kunden für zuverlässig und für fähig, Kapital und Zinsen in angemessenen Raten zu rückzuzahlen. Doch wenn ich falsch entschied, und der Kunde ging bankrott, verloren die Geldgeber sowohl ihr Geld als auch ihren Glauben an meinen gesunden Men schenverstand. Da die Geldgeber ziemlich oft die Bank selbst waren, durfte mir das nicht zu häufig passieren. In Anwesenheit Gordons war das Ausmaß meiner mög lichen Debakel immerhin begrenzt gewesen. Für ihn je doch existierte ein Maximum kaum, wenn es bei Millio nenkrediten für ihn auch normal war, sich mit anderen im Vorstand zu beraten. Diese zwanglosen Beratungen, die schon durch die Großraumstruktur erleichtert wurden, erstreckten sich auch gern über das Mittagessen, das die Direktoren meist gemeinsam in ihrem separaten Speisesaal einnahmen. Es war Gordons Gewohnheit, um fünf vor eins mit erfreuter Miene auf seine Uhr zu sehen und sich freundlich in Rich 25
tung eines Tomatensafts und Lammbratens zu entfernen. Eine Stunde später kehrte er dann mit klarem Kopf und getroffenem Entschluß zurück. Mir war Gordons Arbeit übertragen worden, aber nicht sein Sitz im Vorstand, deshalb kam ich nicht in den Genuß der Mittagessen, und da er selbst der Ranghöchste auf un serer grünen Büroweide gewesen war, stand sonst nie mand seines Formats unmittelbar zur Verfügung. Alecs Rat neigte dazu, zwischen scharfsichtiger Brillanz und aberwitziger Verwegenheit zu schwanken, doch man war nie ganz sicher, wie der Fall gerade lag. Gordon pflegte daher Alec nur ziemlich klare Fälle an zuvertrauen und die weniger klaren mir. Einmal hatte er lächelnd bemerkt, daß dieser Job einem entweder die Ner ven stählte oder sie aufrieb, was ich damals ein wenig überspannt gefunden hatte. Ich begriff jedoch, was er meinte, als ich mich ohne ihn vor eine Aufgabe gestellt sah, die unangerührt auf seinem Schreibtisch lag: ein An trag auf finanzielle Unterstützung für eine Serie von Zei chentrickfilmen. Es war allzu einfach, Sachen abzulehnen … und viel leicht einen Geniestreich wie die Peanuts oder Mickymaus zu verpassen. Ein großer Teil der Bankprofite kam von den Zinsen, die Kreditnehmer zahlten. Wenn wir nichts verliehen, verdienten wir nichts. Alles war offen. Ich griff zum Telefon und lud den hoffnungsvollen Trickfilmer ein, mit seinen Angeboten in die Bank zu kommen. Die meisten von Gordons Projekten waren halbwegs durch, sein größtes im Moment hieß 3,4 Millionen für den Ausbau einer Kuchenfabrik. Daran hatte ich ihn eine Wo che lang arbeiten hören, deshalb machte ich einfach an der Stelle weiter, wo er aufgehört hatte. Ich rief Leute an, die manchmal Kapital zu vergeben hatten, und fragte, ob sie interessiert seien, für ein Stück hausgemachtes Paradies zu 26
zeichnen. Die Bank selbst lieh Gordons Liste zufolge nur dreihunderttausend, weshalb ich mich fragte, ob er insge heim damit rechnete, daß das Volk wieder mehr zum Brotessen überging. Außerdem lag, diskret in einem Hefter versteckt, eine Glanzprospektwerbung für die Beteiligung an einem Mul timillionenprojekt in Brasilien, auf die Gordon mit Blei stift ein Heer von Fragezeichen und zwei Gewissensfragen gekritzelt hatte: Sollen wir oder nicht? Denk an die Brasi lia-Pleite! Ist Kaffee genug? Oben auf der Titelseite stand in Rot ein Nichts-wie-ran-Memo: Vorläufige Antwort bis Freitag. Es war schon Donnerstag. Ich nahm den Prospekt und ging rüber in das andere und größere Büro am Ende des Gangs, wo Gordons Beinah-Gleichgestellter an einem der sieben Schreibtische saß. Auch hier war der Teppichboden üppig und entsprachen die Möbel den Beträgen, mit denen man sich hier befaßte. Nur der Blick aus den Fenstern war anders. Kein Brunnen, sondern die sonnenbeschienene Kuppel der St.-Pauls-Kirche, die sich wie ein Fabergé-Ei aus dem steinernen Rautenmuster der City erhob. »Problem?« fragte Gordons Beinah-Gleichgestellter. »Kann ich helfen?« »Wissen Sie, ob Gordon vorhatte, damit weiterzuma chen?« sagte ich. »Sprach er davon?« Gordons Kollege sah den Prospekt durch und schüttelte den Kopf. »Wer ist denn noch bei Ihnen heute?« »Nur Alec. Ich habe ihn gefragt. Er weiß es nicht.« »Wo ist John?« »Im Urlaub. Und Rupert ist wegen seiner Frau weg.« Der Kollege nickte. Ruperts Frau lag im Sterben; grau sam mit sechsundzwanzig. 27
»Ich würde es herumzeigen«, riet er. »Sehen, ob Gordon in Recherchen, in Übersee oder sonstwo seine Fühler aus gestreckt hat. Bilden Sie sich selbst ein Urteil. Wenn Sie dann glauben, daß es sich lohnt, dranzubleiben, gehen Sie damit zu Val und Henry.« Val war der Chef der Kreditab teilung, und Henry war Henry Shipton. Ich sah, daß es wirklich ein großer Schritt nach oben war, Gordons Arbeit zu machen, und wußte nicht genau, ob ich froh oder trau rig darüber sein sollte, daß die Beförderung nur vorüber gehend war. Den ganzen Nachmittag wanderte ich mit dem Prospekt herum und erfuhr dabei weniger über Brasilien als über die Aufregung wegen des Berichts in Was läuft, wo … Seelenforschung war offenbar in Mode. Lange Gesichter erkundigten sich ängstlich: »Könnte man möglicherweise … ohne es zu wissen … einer interessierten Partei gegen über etwas von einer Übernahme erwähnt haben?« Und die kurze Antwort darauf, schien mir, war nein, man konn te nicht. Geheimhaltung war Bankern allerorts zweite Na tur. Wenn der Artikel in der Zeitung stimmte, mußten drei Personen beteiligt sein: der Verkäufer, der Käufer und der Informant; und zweifellos konnten weder der Käufer noch der Informant in Unkenntnis oder rein zufällig gehandelt haben. Habgier und böser Vorsatz regten sich wie Würmer im Dunkeln. Wenn man von ihnen befallen war, wußte man es. Gordon schien niemanden nach Brasilien gefragt zu ha ben, und für mich war es Zeit zur Entscheidung. Es wäre hilfreich gewesen zu wissen, was die anderen Handels banken dachten, die sechzehn britischen Diskonthäuser wie Schroders, Hambro, Morgan Grenfell, Kleinwort Ben son, Hill Samuel, Warburg, Robert Fleming, Singer und Friedlander, die alle wie Ekaterin davon ausgehen durften, 28
daß die Bank von England ihnen in einer Krise zu Hilfe kommen würde. Gordons Kollegen in diesen Banken würden alle gerade über dem gleichen Prospekt die Lippen schürzen: Millio nen in ein fruchtbares Unternehmen stecken, Millionen zum Fenster hinauswerfen. Die eine oder die andere Fehl entscheidung vermeiden. Welche? Man konnte schwerlich direkt fragen, und es über Flü sterparolen herauszufinden, brauchte etwas mehr Zeit. Ich ging mit dem Prospekt schließlich zu Val Fisher, dem Leiter der Kreditabteilung, der für gewöhnlich an ei nem der Schreibtische gegenüber Henry Shipton saß, zwei Etagen höher. »Nun, Tim, wie ist denn Ihre Ansicht?« sagte er. Ein un tersetzter Mann, sehr gewandt, sehr charmant, mit Nerven wie gehärtetes Eis. »Gordon hatte offensichtlich Bedenken«, sagte ich. »Ich weiß nicht genug über das Vorhaben, und anscheinend auch niemand sonst hier. Ich denke, wir könnten entweder eine vorläufige Antwort mit vorsichtigem Interesse geben und dann ein bißchen mehr rausfinden oder aber einfach Gordons Instinkt vertrauen.« Er lächelte leise. »Was von beidem?« Ja, was? »Gordons Instinkt vertrauen«, sagte ich. »Gut.« Er nickte, und ich ging und schrieb einen höflichen Brief an die Leute in Brasilien, in dem ich Bedauern ausdrückte. Und ich würde auf sechs oder sieben Jahre wahrscheinlich nicht wissen, ob die Entscheidung richtig oder falsch war. Diese Glücksspiele waren alle langfristig. Man warf sein 29
Brot in die Wellen und hoffte, es würde in der Zukunft mit Butter und Marmelade drauf angeschwemmt. Schimmel … zu schade.
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Das erste Jahr Juni
G
ordon rief drei Wochen später an und klang völlig ge sund und wohlauf. Ich warf einen Blick auf seinen Schreibtisch, der stumm und leer dastand, weil der ganze Papierkrieg jetzt auf meinem stattfand. »Judith und ich wollten Ihnen danken …«, begann er. »Wirklich nicht nötig«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen?« »Verlorene Zeit. Es ist lächerlich. Na, egal, wir haben eine halbe Loge in Ascot für nächsten Donnerstag angebo ten bekommen. Wir dachten, es könnte Spaß machen … Wir haben sechs Plätze. Möchten Sie hinkommen? Als unser Gast natürlich. Als ein Dankeschön.« »Liebend gerne«, sagte ich. »Aber …« »Kein aber«, unterbrach er. »Wenn Sie Lust haben, re gelt Henry das. Er kommt selbst mit. Er fand auch, daß Sie einen freien Tag verdient hätten, Sie brauchen sich also nur noch zu entschließen.« »Dann käme ich sehr, sehr gern.« »Gut. Wenn Sie keinen Cut haben, seien Sie unbesorgt. Wir sind nicht in den königlichen Logen.« »Wenn Sie einen tragen … ich habe den meines Vaters geerbt.« »Aha. Gut. Also dann. Donnerstag ein Uhr, zum Lunch. Ich schicke Ihnen die Eintrittskarten ins Büro. Judith und 31
ich freuen uns beide sehr, daß Sie kommen können. Wir sind sehr dankbar. Sehr.« Er klang plötzlich halb verlegen und brach mit einem Klicken die Verbindung ab. Ich hätte gern gewußt, wie weit er sich noch an die wei ßen Gesichter erinnerte, aber mit Alec und Rupert und John sämtlich in Hörweite war es unmöglich gewesen zu fragen. Vielleicht würde er es mir bei den Rennen erzäh len. Vielleicht auch nicht. Zum Pferderennen ging ich jetzt nur noch selten, obwohl ich als Kind unzählige Nachmittage damit verbracht hatte, in der Nähe der Totalisatorschlangen zu warten, während meine Mutter in genüßlicher Qual auf ihre Dutzende von Ahnungen und Goldgruben und Fallgruben und FernerLiefen setzte und tonnenweise Geld verlor. »Ich hab’ gewonnen!« verkündete sie dann strahlend den Umstehenden, indem sie ein unbestreitbares Siegticket schwenkte: Und das Bündel Miese aus demselben Rennen wurde in eine Tasche gestopft und später weggeworfen. Mein Vater gab zur gleichen Zeit in der Bar Drinks aus. Ein liebenswürdiger, spendabler Säufer, mit mehr Gutmü tigkeit als Verstand. Gegen Abend nahmen sie mich dann glücklich miteinander kichernd in einem samt Fahrer ge mieteten Rolls mit nach Hause, und bis ich schon recht alt war, zweifelte ich nie daran, daß dieser zufriedene Wohlstand auf Fels gebaut war. Ich war ihr einziges Kind gewesen, und sie hatten mir eine sehr gute Kindheit geschenkt in dem Sinne, daß ich, wenn ich an Ferien dachte, Yachten auf warmen Meeren oder Weihnachten in den Alpen meinte. Der Bösewicht jener Zeit war mein Onkel, der dann und wann über uns herfiel, um düstere Warnungen darüber auszustoßen, daß sein Bruder (mein Vater) einen Beruf ergreifen müsse. 32
Mein Vater jedoch konnte sich zur »Geldrafferei« nicht entschließen und besaß ohnehin keine echten Fähigkeiten in irgendwelcher Richtung. Er, der keinerlei Sinn für Ar beit hatte, verachtete im stillen die anderen. Er wurde sei nes Lebens in süßem Nichtstun niemals müde, und wenn er sich niemandes Respekt verdiente, gab es andererseits auch wenige, die ihn verabscheuten. Ein schwacher, freundlicher, unintelligenter Mann. Als Vater nicht schlecht. Zu viel mehr aber nicht zu gebrauchen. Er erlag einem Herzanfall, als ich neunzehn war, und damals wurde der Sinn der düsteren Warnungen offenbar. Er und meine Mutter hatten von dem ererbten Kapital meines Großvaters gelebt, und es war nicht mehr viel da von übrig. Gerade genug, um mich durch das College zu schleusen; wenn man achtgab, genug, um meiner Mutter ein kleines Einkommen auf Lebenszeit zu sichern. Nicht genug allerdings, um ihre Wettgewohnheiten zu finanzieren, die sie nicht aufgeben wollte oder konnte. Ei ne Menge weiterer düsterer Warnungen blieb unbeachtet, so daß schließlich, während ich auf längst verlorenem Po sten noch tapfer kämpfte, indem ich (ausgerechnet!) für einen Buchmacher arbeitete, der Gerichtsvollzieher bei uns an die Tür klopfte. In fünfundzwanzig Jahren hatte meine Mutter offensicht lich den größten Teil einer halben Million Pfund verspielt; alles war draufgegangen für Pferde, schnelle und langsa me. Das hätte mir wohl ganz und gar den Rennsport ver ekeln können, doch seltsamerweise hatte es das nicht. Ich erinnerte mich daran, wie sehr sie und Vater sich amüsiert hatten: Und wer wollte sagen, es sei ein schlecht durchge brachtes Vermögen? »Gute Neuigkeit?« fragte Alec, indem er meinen zwei fellos ambivalenten Gesichtsausdruck musterte. 33
»Gordon fühlt sich besser.« »Hm«, sagte er verständnisvoll. »Das sollte er auch. Drei Wochen frei wegen ›Grippe‹...« Er grinste. »Bißchen überzogen.« Ich gab ein unverbindliches Grunzen von mir. »Wir wollen froh sein, wenn er zurückkommt, was?« Ich blickte in sein belustigtes, spöttisches Gesicht und sah, er wußte ebensogut wie ich, daß ich, wenn Gordon er schien, um sein Reich wieder in Besitz zu nehmen, kei neswegs nur erfreut sein würde. Gordons Arbeit zu leisten, hatte mich nach dem ersten atemberaubenden Sprung mit starken Gefühlen von Kraft und Gesundheit erfüllt; ich war Treppen hinaufgerannt, hatte im Bad gesungen und alle Symptome einer Liebesaffäre gezeigt; und wie so manche Liebschaft konnte das die Rückkehr des Ehe manns nicht überstehen. Ich fragte mich, wie lange ich wohl auf eine neue Chance dieser Art warten mußte und ob ich das nächste Mal ebenso berauscht sein würde. »Glaub nicht, ich hätte es nicht bemerkt«, sagte Alec. Seine Augen flimmerten blau hinter der goldgerahmten Brille. »Was bemerkt?« fragte Rupert und hob den Kopf über Papieren, die er seit neunzig Minuten blind anstarrte. Zurück vom Tod und der Beerdigung seiner hübschen Frau, hatte Rupert noch immer einen verschleiert abwe senden Blick und neigte dazu, laufenden Gesprächen hin terherzuhinken. In den zwei Tagen seit seiner Rückkehr hatte er keine Briefe geschrieben, keine Anrufe getätigt, keine Entscheidungen getroffen. Aus Mitgefühl mußte man ihm Zeit lassen, und Alec und ich erledigten weiter hin heimlich seine Arbeit, ohne daß er es mitbekam. »Nichts«, sagte ich. 34
Rupert nickte zerstreut und sah wieder herunter, ein Au tomat in seinem zehrenden Kummer. So schmerzlich, dachte ich, hatte ich nie jemand geliebt. Ich hoffte auch wohl, daß ich es niemals würde. John, der ebenfalls frisch zurückgekommen war, aller dings aus dem Urlaub, glühte von einem noch roten Son nenbrand und hatte Mühe, die grellen Details seiner sexu ellen Abenteuer in die kurzen Pausen zu packen, während denen sich Rupert im Waschraum befand. Weder Alec noch ich schenkten Johns Heldensagen jemals Glauben. Aber Alec fand sie immerhin lustig. Ich nicht. Mir schien da ein Element von Frauenhaß verborgen, als sei jede be sungene Inbesitznahme (real oder nicht) ein Ausdruck von Gehässigkeit. Er gebrauchte nicht direkt das Wort Besitz. Er sagte »vernascht«, »gepimpert« und »hab’ ich’s der Kleinen besorgt«. Ich mochte ihn nicht besonders, und er hielt mich bestimmt für einen eingebildeten Affen; wir waren höflich im Büro und gingen nie zusammen zum Lunch. Er war von uns allen der einzige, der Gordons Rückkehr ungeduldig entgegensah, denn er konnte seine Bestürzung nicht verhehlen, daß ich es war, der die leeren Schuhe ausfüllte, und nicht er. »Natürlich, wenn ich hier gewesen wäre …«, sagte er mindestens einmal am Tag. Alec berichtete, man hätte ihn gegenüber Gordons Beinah-Gleichgestelltem drüben im Gang äußern hören, daß jetzt, wo er, John, zurück sei, Gordons Arbeit ihm übertragen werden solle. »Hast du es selbst gehört?« fragte ich überrascht. »Sicher. Und ihm wurde in deutlichen Worten erklärt, daß der Boss persönlich dir das grüne Licht gegeben hat und daß er, John, gar nichts daran ändern kann. Unser Ca sanova war ziemlich eingeschnappt. Meint, das wär’ doch alles nur, weil du bist wer du bist und so weiter.« 35
»Scheiß auf ihn.« »Lieber du als ich.« Er lachte leise in seine Schreibunter lage und griff zum Telefon, um Förderer für eine Kanali sations- und Kläranlage in Norfolk zu finden. »Wußtest du«, sagte er im Plauderton, während er eine Nummer wählte, »daß es so wenige Rieselfelder in WestBerlin gibt, daß sie den Ost-Berlinern was bezahlen, um den Überschuß loszuwerden?« »Nein.« Ich wollte es auch nicht unbedingt wissen, doch wie üblich war Alec voller unnützer Informationen und besessen von dem Drang, sie weiterzugeben. »Die Ost-Berliner nehmen das Geld und laden das Zeug auf dem offenen Ackerland ab. Unbehandelt, wohlgemerkt.« »Sei doch still«, sagte ich. »Ich hab’s gesehen«, sagte er. »Und gerochen. Absolut widerlich.« »Es war vermutlich Dünger«, sagte ich, »und was hast du in Berlin getrieben?« »Besuch bei Nofretete.« »Die mit dem einen Auge?« »Mein Gott ja, ist es nicht ein Schock? Oh … hallo…« Er bekam Verbindung mit seiner potentiellen Geldquelle und erklärte viel zu lange und mit einer gewissen Wonne die Notwendigkeit zusätzlicher Einrichtungen zur Rück verwandlung des Abwassersumpfes, der die Seen und Flüsse im Südosten ruinierte. »Natürlich kein Konflikt mit einem Wasserwerk zu befürchten.« Er hörte zu. »Dann nehm’ ich Sie rein, ja? Gut.« Er kritzelte eifrig und legte schließlich auf. »Kinderleicht diesmal. Umwelt und so. Spricht das Gefühl an.« Ich raffte einen Stoß meiner eigenen Schriftsachen zu sammen, die alles andere als kinderleicht waren, und ging 36
damit hoch zu Val Fisher, der zufällig fast allein in dem großen Büro war. Henry Shipton, so schien es, war unter wegs auf einem seiner häufigen Ausflüge durch die ande ren Abteilungen. »Es ist ein Trickzeichner«, sagte ich. »Kann ich Sie um Rat fragen?« »Schieben Sie’n Stuhl ran.« Val nickte und winkte ein ladend, und ich setzte mich neben ihn, breitete die Unter lagen aus und ließ mich über den rundum vernünftigen Künstler aus, mit dem ich zwei Wochen zuvor drei Stun den zugebracht hatte. »Er hat von seiner lokalen Bank und bis jetzt von drei Häusern wie uns Absagen bekommen«, sagte ich. »Er hat kein verwertbares Vermögen, keine Sicherheit. Er wohnt zur Miete und kauft sich einen Wagen auf Raten. Wenn wir ihn finanzierten, wäre es auf Vertrauen.« »Hintergrund?« fragte er. »Referenzen?« »Ziemlich solide. Sohn eines Vertriebsleiters. An der Kunstschule hatte er den Ruf eines echten Talents. Ich sprach mit dem Rektor. Der Filialleiter seiner Bank be scheinigte ihm Unbedenklichkeit, sagte aber, daß die Zen trale dem Antrag nicht stattgeben wollte. In den letzten zwei Jahren hat er für ein Studio gearbeitet und ReklameTrickfilme gemacht. Sie sagen, er versteht sein Handwerk aus dem Effeff. Sie wissen, daß er selbständig sein will, sie trauen es ihm zu, und sie wollen ihn nicht verlieren.« »Wie alt?« »Vierundzwanzig.« Val bedachte mich mit einem »O ho ho«-Blick, denn ge nau wie ich wußte er, daß hauptsächlich das Alter des Zeichners schuld an den Ablehnungen der anderen Banken war. 37
»Was verlangt er?« sagte Val, aber auch er sah aus, als hätte er sich schon dagegen entschieden. »Ein Studio, anständig ausgerüstet. Kapital für die Ein stellung von zehn Zeichnern mit der Erwartung, daß es ein Jahr dauern wird, ehe irgendwelche Filme fertiggestellt sind und Geld hereinbringen können. Kapital für Wer bung. Kapital für seinen Unterhalt. Die Tabellen hier ge ben die wahrscheinlichen Ziffern an.« Val schnitt ein Gesicht über den Seiten, ordnete kurz die feinen schmalen Züge neu, legte den gepflegten dunklen Schnurrbart schräg, hob die gewölbten Augenbrauen dem schwarzen Haarschopf entgegen. »Weshalb haben Sie ihn nicht schon abgelehnt?« fragte er schließlich. »Tja«, sagte ich. »Schauen Sie mal seine Zeichnungen an.« Ich schlug eine andere Akte auf und breitete den schreiend bunten Comic aus, der zwei Figuren vorstellte und eine lustige Geschichte erzählte. Ich beobachtete Vals abgeklärtes, weltmüdes Gesicht, während er ihn überflog: sah das erwachende Interesse, hörte das Lachen. »Genau«, sagte ich. »Hm!« Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und starrte mich abschätzend an. »Sagen Sie bloß, Sie meinen, wir sollten ihn annehmen?« »Es ist natürlich ein ungesichertes Risiko. Aber ja, ich denke schon. Allerdings sollten wir ein oder zwei Bedin gungen stellen, wie einen Buchhalter, der sich auf dem laufenden hält, und eine erste Option, künftige Erweite rungen zu finanzieren.« »Tja.« Er grübelte mehrere Minuten lang, sah nochmals auf die Zeichnungen, die mir sogar nach vierzehntägiger naher Bekanntschaft noch lustig erschienen. »Na, ich weiß 38
nicht. Es ist zu sehr, als ob man mit Pfeil und Bogen nach dem Mond zielt.« »Eines Tages könnte man sich diese Filme vielleicht auf Raumfähren ansehen«, sagte ich milde, und er warf mir einen raschen amüsierten Blick zu, während er die Zeich nungen zusammenraffte und sie wieder in den Hefter leg te. »Dann lassen Sie das alles hier, ja?« sagte er. »Ich rede beim Lunch mal mit Henry.« Und mir dämmerte in einem flüchtigen, unbehaglichen Moment die Einsicht, daß sie nicht in erster Linie den Trickfilmer erörtern würden, son dern wie zuverlässig die Entscheidungen waren, die ich traf. Wenn sie mich für einen Narren hielten, würde ich im Nu wieder hinter John auf der Beförderungsliste stehen. Um halb fünf jedoch, als mein internes Telefon läutete, war Val am anderen Ende. »Kommen Sie rauf, und holen Sie Ihre Unterlagen ab«, sagte er. »Henry meint, darüber sollen Sie allein entschei den. Also untergehen oder schwimmen, Tim, es liegt bei Ihnen.« Die erste Bekanntschaft mit dem Royal Ascot Meeting war, je nach der Grundeinstellung, die man hatte, Anlaß zu staunendem Entzücken oder puritanischer Mißbilligung. Entweder hob sich die Stimmung beim Anblick smaragd grünen Rasens, nicht endender Blumen, bunter Kleider, Schlapphüte und eleganter Herren in dezentem Grau, oder man verabscheute den Aufwand, die Leichtfertigkeit, den Skandal aus Champagner und Erdbeeren, während es Hunger auf der Welt gab. Ich gehörte zweifelsohne zu den Hedonisten, von der Er ziehung her wie aus Neigung. Das Royal Meeting in Ascot war, wie es sich traf, das einzige Rennereignis, von dem 39
meine Eltern mich beständig ausgeschlossen hatten, da Kindern der königliche Logenplatz ohnehin an drei von den vier Tagen verwehrt war und meine Mutter sich bei diesem Anlaß mehr für die Gesellschaft als für Wetten interessierte. Die Schule, hatte sie alljährlich entschieden gesagt, gehe vor, obschon sie an anderen Tagen nicht unbedingt vorging. Daher empfand ich ein ganz besonderes Vergnügen, als ich im wiederauferstandenen Staat meines Vaters durch das Tor schritt und mir einen Weg durch die hochgestimmte Menge hinauf in die vereinbarte Loge bahnte. »Willkommen zu der Scharade«, sagte Gordon fröhlich und reichte mir ein sprudelndes Glas. »Ist es nicht toll?« rief Judith aus, ganz sprühende Aufregung in gelber Seide. »Es ist großartig«, sagte ich mit Überzeugung; und Gor don, der sonnenverbrannt und gesund aussah, machte mich mit dem Inhaber der Loge bekannt. »Dissdale, das ist Tim Ekaterin. Arbeitet bei der Bank. Tim – Dissdale Smith.« Wir schüttelten uns die Hände. Seine war dick und warm, wie sein Körper, wie sein Gesicht. »Hocherfreut«, sagte er. »Schon zu trinken? Gut. Kennen Sie meine Frau? Nein? Bettina, Liebling, sag Tim guten Tag.« Er legte den Arm um die schmale Taille eines Mädchens, das nicht halb so alt wie er war, in einem engen, tief ausgeschnitte nen weißen Kleid mit schwarzen Tupfern, das Rücken und Arme freiließ. Zu ihr gehörten auch ein breiter schwarzer Hut, schöne Haut und ein süßes und geübtes Lächeln. »Tag, Tim«, sagte sie. »Wie schön, daß Sie kommen konnten.« Ihre Stimme, dachte ich, war wie der Rest von ihr: kunstvoll fabriziert, verfeinert, nicht aus vornehmster Familie, aber weit weg von der Gosse. Die Loge selbst war ungefähr fünf mal drei Meter; der größte Teil des Raums wurde eingenommen von einer Ta 40
fel, die für zwölf Personen zum Lunch gedeckt war. Die gegenüberliegende Wand bestand aus Fenstern mit Blick über das grüne Rund und einer Glastür, die auf den Aus sichtsbalkon führte. Die Logenwände waren mit hellblauer Jute bespannt wie in einem Haus, und ein zartblauer Tep pich, rosa Blumen und Gemälde verliehen ihr eine weit über die räumliche Ausdehnung hinausgehende Fülle. Die meisten Wände der Logen, in die ich unterwegs hineinge späht hatte, waren von dem einheitlichen Eierschalenton, den die Erbauer ihnen seinerzeit gegeben hatten, und ich fragte mich flüchtig, ob es Dissdale oder Bettina war, der die Verschönerungsideen hatte. Henry Shipton und seine Frau standen in der Tür zum Balkon und schauten abwechselnd hinaus und herein, wie ein Januskopf. Henry prostete mir in einer Begrüßungs geste durch den Raum zu, und Lorna machte wie immer ein Gesicht, als gäbe es etwas auszusetzen. Lorna Shipton, groß, übermäßig selbstbewußt und an diesem reizvollen Tag in streng geschneidertes Grau ge wandet, war eine Frau, von der Geringschätzung aus strömte wie eine kalte Flutwelle, eine Frau, die nicht zu wissen schien, wie sehr Worte verletzen konnten, und kei nen Grund sah, nicht jeden kleinlichen Gedanken auszu sprechen. Ich war ihr etwa ebensooft begegnet, wie ich Judith Michaels getroffen hatte, und meist bei den glei chen Anlässen, und wenn ich Liebe zu der einen unter drückte, war es Ärger, den ich vor der anderen verbergen mußte. Ich nehme an, es war Schicksal, daß es von den beiden Lorna Shipton war, neben die ich beim Lunch pla ziert wurde. Hinter mir trafen weitere Gäste ein, von Dissdale und Bettina mit Kriegsrufen und Küssen begrüßt und in der vagen Art und Weise vorgestellt, daß man sie gleich wie der vergißt. Dissdale befand, daß es weniger Gedränge gä 41
be, wenn alle sich hinsetzten, und so nahm er seinen Platz am Kopf des Tisches ein, ihm gegenüber Gordon mit dem Rücken zum Fenster. Als jeder seine Gäste um sich her umgruppiert hatte, waren zwei Plätze noch frei, einer ne ben Gordon, einer oben bei Dissdale. Gordon hatte Lorna Shipton zu seiner Rechten, daneben ich; der freie Platz zu seiner Linken, dann Henry, dann Ju dith. Das Mädchen rechts von mir lehnte sich die meiste Zeit vor und sprach mit ihrem Gastgeber Dissdale, so daß ich zwar die blaue Chiffon-Rückseite ihrer Schulter recht gut kennenlernte, aber niemals erfuhr, wie sie hieß. Lachen, Plaudern, das Studieren der Rennkarten, Nach füllen der Gläser: Judith hatte gelbe Seidenrosen an ihrem Hut, und Lorna sagte mir, daß mein Cutaway eine Num mer zu klein aussehe. »Er hat meinem Vater gehört«, sagte ich. »So ein dummer Mensch.« Ich blickte ihr ins Gesicht, aber sie drückte nur ihre Ge danken aus, ohne direkte Absicht zu kränken. »Ein schöner Tag fürs Pferderennen«, sagte ich. »Sie sollten arbeiten. Ihr Onkel Freddie wird’s nicht gern sehen, wissen Sie? Ich bin sicher, als er Sie rausgerissen hat, hat er die Bedingung gestellt, daß Sie und Ihre Mutter sich von den Rennplätzen fernhalten. Und jetzt schauen Sie sich an. Es ist wirklich schlimm. Ich werde es ihm na türlich sagen müssen.« Ich fragte mich, wie Henry damit klarkam. Fragte mich (wie man das eben macht), warum er sie geheiratet hatte. Er aber, ein Ohr über den Tisch gespitzt in der Art des gu ten Ehemannes, sagte freundlich zu ihr: »Freddie weiß, daß Tim hier ist, meine Liebe. Gordon und ich haben so zusagen Erlaubnis eingeholt.« Er lächelte mir leise zu. »Gottes Zorn ist abgewendet worden.« 42
»Oh.« Lorna Shipton sah enttäuscht drein, und ich be merkte, wie Judith sich ein Lachen verbiß. Onkel Freddie, Exvizepräsident, jetzt im Ruhestand, be saß immer noch genügend von der Bank, um seine unsicht bare Gegenwart fühlbar zu machen, und ich wußte, daß er die Gewohnheit hatte, Henry zwei-, dreimal die Woche an zurufen, um zu erfahren, was vorging. Aus Interesse, erriet man, nicht aus dem Wunsch, sich einzumischen; so gewiß, wie er sich, nachdem er seine Bedingungen einmal festge legt hatte, niemals bei Mutter und mir einmischte. Dissdales letzter Gast erschien an diesem Punkt mit ei nem unhörbaren Trompetentusch, ein Mann, der auftrat, als wäre er sich seines Nachrichtenwerts wohl bewußt. Dissdale sprang auf die Füße, um ihn zu begrüßen, und quetschte ihm herzlich die Hand. »Calder, das ist großartig. Calder Jackson, bitte sehr.« Entzückensschreie kamen von Dissdales Seite und höfli ches Lächeln von Gordons Kreis. »Calder Jackson«, sagte Dissdale den Tisch hinunter. »Sie wissen schon, der Wun derheiler. Erweckt sterbende Pferde zu neuem Leben. Be stimmt haben Sie ihn schon auf dem Bildschirm gesehen.« »Ah, ja«, erwiderte Gordon. »Natürlich.« Dissdale strahlte und wandte sich wieder seinem Gast zu, der die Schmeichelei mit gespielter Bescheidenheit in sich aufnahm. »Wer soll das sein?« fragte Lorna Shipton. »Calder Jackson«, sagte Gordon. »Wer?« Gordon schüttelte den Kopf, sichtbar ahnungslos. Er hob mir fragende Augenbrauen entgegen, doch ich schüttelte ebenfalls kurz den Kopf. Wir hörten aber zu, und wir er fuhren mehr. 43
Calder Jackson war ein leicht untersetzter Mann mit ei nem Haarschopf, der zum Auffallen geschaffen war. Buch stäblich geschaffen, vermutete ich. Er hatte eine Fülle dunk ler Locken, die reizvoll ergrauten, zum Nacken hin kurz ge schnitten, aber lang und wuschelig oben auf dem Schädel und über seiner Stirn; und er hatte seinen Bart in einem schmalen Saum von den Ohren rund um die Kinnpartie ste hen lassen, auch hier die Haare kraus und buschig, aber grau bis weiß. Von vorn also war sein verwittertes Gesicht umrahmt von Locken; von der Seite sah es aus, als trüge er einen Helm. Oder einen Kohleneimer, dachte ich unschmei chelhaft. Einmal gesehen jedenfalls, niemals vergessen. »Es ist einfach eine Gabe«, sagte er gerade wegwerfend mit einer Stimme, die eher durch ihre Schärfe als durch Lautheit bestach; ein ganz leicht ländlicher Akzent, jedoch aus keiner bestimmten Region; eine aus Beifall geborene Selbstsicherheit. Das Mädchen neben mir war hingerissen. »Wie wunder voll, Sie kennenzulernen. Man hat schon so viel gehört … Verraten Sie uns, jetzt verraten Sie uns doch bitte Ihr Ge heimnis!« Calder Jackson musterte sie sanft, eine Sekunde lang glitt sein Blick über sie hinaus zu mir und wieder zurück. Mich selbst tat er ziemlich klar als uninteressant ab, doch zu dem Mädchen sagte er entgegenkommend: »Es ist kein Geheimnis dabei, meine Liebe. Bloß gutes Futter, gute Pflege und ein paar uralte pflanzliche Heilmittel. Und na türlich … nun … das Handauflegen.« »Aber wie«, fragte das Mädchen, »wie machen Sie das bei Pferden?« »Ich … berühre sie einfach.« Er lächelte entwaffnend. »Und manchmal fühle ich sie dann zittern, und ich weiß, daß die Heilkraft aus mir in sie übergeht.« 44
»Gelingt Ihnen das immer?« fragte Henry höflich, und ich bemerkte mit Interesse, daß er keine Spur von Skepsis in seinem Ton durchklingen ließ: Henry, dessen Leicht gläubigkeit, wenn überhaupt, man in Mikrogramm messen konnte. Calder Jackson nahm seinen Ernst für gegeben und schüttelte langsam den Kopf. »Wenn ich das Pferd ge nügend lange in Pflege habe, geschieht es normalerweise irgendwann. Aber nicht immer. Nein, leider nicht immer.« »Wie faszinierend«, sagte Judith, und auch sie bekam dafür ein freundlich mildes Lächeln. Scharlatan oder nicht, dachte ich, Calder Jackson hatte die Mischung genau raus: ein fesselndes Äußeres, ein bescheidenes Auftreten, keine Erfolgsversprechungen. Und nach allem, was ich wußte, konnte er tatsächlich, was er sagte. Heiler waren ein ural tes Phänomen, warum also nicht ein Heiler von Pferden? »Können Sie auch Menschen heilen?« fragte ich in ei nem Ton, der den von Henry nachahmte. Keine Zweifel. Reine Erkundigung. Der Lockenkopf wandte sich mit mehr Höflichkeit als Interesse mir zu, und geduldig beantwortete er die Frage, die ihm schon tausendmal zuvor gestellt worden sein muß te. Antwortete in einer Folge von Worten, die er vielleicht fast ebensooft benutzt hatte. »Was immer es für eine Gabe ist, die ich besitze, sie wirkt speziell auf Pferde. Ich habe nicht das Gefühl, Menschen heilen zu können, und ich versuche es lieber nicht. Ich bitte die Leute, es nicht von mir zu verlangen, weil ich sie nicht enttäuschen möchte.« Ich nickte dankend, beobachtete, wie sich sein Kopf ab wandte, und hörte zu, wie er bereitwillig auf die nächste Frage von Bettina einging, als sei auch sie noch nie ge stellt worden. »Nein, die Heilung geschieht nur ganz sel ten sofort. Ich muß eine Zeitlang dem Pferd nahe sein. 45
Manchmal nur wenige Tage. Manchmal für ein paar Wo chen. Man weiß es nie.« Dissdale sonnte sich in dem Erfolg, eine Berühmtheit im Netz zu haben, und erzählte uns allen, daß zwei ehemalige Patienten Calders an diesem Nachmittag starten würden. »Stimmt’s nicht, Calder?« Der Lockenkopf nickte. »Cretonne im ersten Rennen, ihr platzten immer Blutgefäße, und Molyneaux im fünften, er kam mit infizierten Wunden zu mir. Ich empfinde sie jetzt als meine Freunde. Ich habe das Gefühl, sie zu kennen.« »Und sollen wir auf sie setzen, Calder?« fragte Dissdale verschmitzt. »Werden sie gewinnen?« Der Heiler lächelte verzeihend. »Wenn sie schnell genug sind, Dissdale.« Alle lachten. Gordon füllte seinen Gästen die Gläser nach. Lorna Shipton sagte unvermittelt, daß sie schon mit unter daran gedacht habe, den Christlichen Wissenschaftlern beizutreten, und Judith hätte gern gewußt, welche Farbe wohl die Queen trug. Dissdales Gesellschaft unter hielt sich lebhaft untereinander, da wurde vom Gang her zögernd die Tür geöffnet. Alle Hoffnungen, die ich gehegt haben mochte, daß Gordons sechster Platz für eine Bettina-Entsprechung in meinem besonderen Interesse bestimmt sei, wurden au genblicklich zunichte. Die Dame, die erschien und die Ju dith mit einem Kuß auf die Wange begrüßte, war näher an vierzig als an fünfundzwanzig und eher gesetzt als ge schmeidig. Sie trug ein bräunlich-rosa Leinenkostüm und einen kleinen weißen Strohhut, umwunden von einem bräunlich-rosa Band. Das Kostüm, diagnostizierte ich, war ein alter Bekannter; der Hut zu Ehren des Anlasses neu. Judith stellte den Neuankömmling vor: Penelope War ner, Pen, eine gute Freundin von ihr und Gordon. Pen 46
Warner setzte sich wie gebeten neben Gordon und plau derte mit Henry und Lorna. Ich hörte halb zu und ver merkte ein paar unsortierte Einzelheiten wie keine Ringe an den Fingern, kein Lack auf den Nägeln, kein Grau in dem kurzen braunen Haar, nichts Gekünsteltes in der Stimme. Achtbar, dachte ich. Eine gute Seele; etwas langweilig. Wahrscheinlich die tragende Stütze ihrer Kir chengemeinde. Eine Kellnerin erschien mit einem vorzüglichen Mittag essen, während welchem man ab und zu Calder vernahm, wie er die Vorzüge von Wasserkresse ob ihres Eisenge halts pries und Knoblauch zur Behandlung von Fieber und Durchfall. »Und für Menschen freilich«, sagte er gerade, »ist Kno blauch im wahrsten Sinn ein Lebensretter bei Keuchhu sten. Sie machen eine Breipackung und binden sie dem Kind jeden Abend um die Fußsohle, in Mull und einem Socken, und am Morgen werden Sie den Knoblauch im Atem des Kindes riechen, und der Husten läßt nach. Kno blauch heilt tatsächlich fast alles. Ein wahrhaft wunderba res lebenspendendes Gewächs.« Ich sah, wie Pen Warner den Kopf hob, um hinzuhören, und dachte, daß ich mich mit der Kirche wohl geirrt hatte. Ich hatte die Weltlichkeit der Augen übersehen, das lange traurige Wissen um menschliche Schwachheit. Eine Frie densrichterin vielleicht? Ja, vielleicht. Judith lehnte sich über den Tisch und sagte hänselnd: »Tim, können Sie nicht mal bei den Rennen vergessen, daß Sie ein Banker sind?« »Bitte?« sagte ich. »Sie schauen jeden an, als ob Sie ausklamüsern, wieviel Sie ihm ohne Gefahr leihen könnten.« »Ihnen würde ich meine Seele leihen«, sagte ich. 47
»Damit ich sie mit Zinsen zurückzahle?«
»Ja, in Liebe und in Küssen.«
Harmloses Zeug, so frivol wie ihr Hut. Henry, der ihr am
nächsten saß, sagte in der gleichen Laune: »Sie sind der zweite in der Schlange, Tim. Ich habe eine erste Option, was, Judith? Zählen Sie auf mich, liebes Kind, bis zum letzten Blutstropfen.« Sie tätschelte ihm liebevoll die Hand und glühte ein wenig von der inneren Wahrheit un serer verspielten Beteuerungen. Calder Jacksons Stimme tönte gerade herüber mit: »Schwarzwurz heilt erstaunlich schnell Gewebe und bringt chronische Geschwüre inner halb von Tagen zum Verschwinden, und natürlich heilt sie auch Brüche in der halben Zeit, die man normalerweise rechnet. Schwarzwurz ist fabelhaft.« Dem folgte eine ganze Menge Spekulation rings um den Tisch über ein Pferd namens Sandcastle, das sechs Wo chen zuvor die 2000 Guineas gewonnen hatte und heißer Favorit für das King Edward VII Stakes war, das Spitzen rennen in Ascot für dreijährige Hengste, das an diesem Nachmittag stattfinden sollte. Dissdale hatte das Guineas in Newmarket selbst gesehen und war begeistert. »Rasenmäheraktion. Frißt regelrecht den Boden auf.« Er trompetete seine Ansichten gutmütig noch in das fernste Ohr. »Großer, schlaksiger Hengst, vol ler Courage.« »Im Derby allerdings geschlagen«, gab Henry zu beden ken. »Ja, schon«, räumte Dissdale ein. »Aber Vierter, wie Sie wissen. Kein kompletter Reinfall, oder?« »Als Zweijähriger war er gut«, sagte Henry nickend. »Super, ja«, schwärmte Dissdale. »Und seine Abstam mung ist nicht zu tadeln. Von Castle aus einer AmpersandStute. Besser geht es kaum noch.« 48
Mehrere Köpfe nickten respektvoll in Unwissenheit. »Er ist mein Banker«, sagte Dissdale, dann breitete er die Arme aus und lachte halb. »Okay, wir haben eine gan ze Loge voller Banker hier. Aber ich steck mein Geld heut in Sandcastle. Kombiniere ihn mit meinen Wetten in jedem anderen Rennen. Dreifach. Vierfach. Was es gibt. Hört alle auf euern Onkel Dissdale. Sandcastle ist der si cherste Banker in Ascot.«Seine Stimme bebte regelrecht vor bekennerischem Glauben. »Er ist einfach unschlag bar.« »Für Sie kommt Wetten nicht in Frage, Tim«, zischte mir Lorna Shipton streng ins Ohr. »Ich bin nicht meine Mutter«, erwiderte ich sanft. »Vererbung«, sagte Lorna düster. »Und Ihr Vater trank.« Ich erstickte ein prustendes Lachen und verspeiste gutge launt meine Erdbeeren. Was immer ich von meinen Eltern geerbt hatte, die Sucht nach ihren kostspieligeren Vergnü gungen war es nicht; eher eine feste Entschlossenheit, nie wieder meine Plattensammlung an einen Gerichtsvollzie her zu verlieren. Diese sturen Herren hatten sogar mein Schaukelpferd einkassiert, auf dem ich mit sechs Jahren meine Fantasie-Grand-Nationals geritten hatte. Sie hatten meine Bücher mitgenommen, meine Skier und meine Ka mera. Meine Mutter war heulend hin und her gerannt; das seien doch meine Sachen, nicht ihre, und sie sollten sie da lassen; und die Männer waren weiter mit unserer ganzen Habe hinausmarschiert, als seien sie taub. Wegen ihrer ei genen entschwindenden Schätze war sie außer sich und hatte sie gelitten, Kummer und Verzweiflung hoffnungslos vermischt mit Schuld. Ich war mit vierundzwanzig alt genug gewesen, um un sere tatsächlichen Verluste mit einem Schulterzucken ab tun und sie (bis auf das Schaukelpferd) mehr oder weniger 49
ersetzen zu können, aber der Zorn dieses Tages hatte mein ganzes seitheriges Leben beeinflußt: Ich hatte geschwie gen, als es geschah, bleich und sprachlos vor Wut. Lorna Shipton zog ihre Mißbilligung lange genug von mir ab, um Henry zu sagen, er solle seine Erdbeeren ohne Sahne und Zucker essen, sonst hätte sie kein Erbarmen, wenn er zunahm, einen Herzschlag erlitt oder Pickel be kam. Henry sah resigniert auf die verbotenen Leckereien, die er ohnehin nicht angetastet hätte. Behüt mich Gott da vor, dachte ich, eine Lorna Shipton zu heiraten. Beim Kaffee-, Brandy- und Zigarrenstadium war die ge ruhsame Sitzordnung dann aufgelöst in Leute, die nach draußen jagten, um auf ihre Hoffnungen im ersten Rennen zu setzen, und ich, kein großer Wettfanatiker, ganz gleich, was Mrs. Shipton dachte, war hinaus auf den Balkon ge schlendert, um die Prozession der Queen zu beobachten, die schlanken Pferde, offenen Kutschen, als sie in golde nem Prunk mit flatternden Federn die grüne Bahn herauf trottete wie aus einem Feenmärchen. »Ist es nicht herrlich?« hörte ich Judiths Stimme an meiner Schulter, und ich blickte in das charaktervolle Ge sicht und begegnete den offen lächelnden Augen. Ver dammt noch mal dachte ich, ich hätte Lust, mit Gordons Frau zu leben. »Gordon ist wetten gegangen«, sagte sie, »darum dachte ich, ich nutze die Gelegenheit … Gordon ist entsetzt darüber, was passiert ist und wir sind Ihnen wirklich dankbar dafür, wissen Sie, was Sie an dem schrecklichen Tag getan haben.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab’ nichts getan, glauben Sie mir.« »Na das ist ja nur die eine Hälfte. Sie haben nichts ge sagt. In der Bank meine ich. Henry sagt, es hat nicht ein Flüstern gegeben.« 50
»Aber … ich konnte doch nicht.« »Eine Menge Leute hätten gekonnt. Nehmen Sie mal an, Sie wären Alec gewesen.« Ich lächelte unwillkürlich. »Alec ist nicht unfreundlich. Er hätte nichts erzählt.« »Gordon meint, er sei so verschwiegen wie ein Markt schreier.« »Möchten Sie runtergehen und die Pferde sehen?« fragte ich. »Ja. Es ist reizend hier oben, aber zu weit vom Leben weg.« Wir gingen hinunter zum Sattelplatz, sahen die Pferde aus nächster Nähe im Ring herumgehen und beobachteten, wie die Jockeys aufsaßen, um gleich auf die Bahn zu rei ten. Judith duftete gut. Hör auf, sagte ich mir. Hör auf da mit. »Das Pferd da drüben«, sagte ich und zeigte hin, »will Calder Jackson geheilt haben. Cretonne. Der Jockey in Hellrosa.« »Setzen Sie drauf?« fragte sie. »Wenn Sie wollen.« Sie nickte mit den gelben Seidenrosen, und wir stellten uns unternehmungslustig in die Schlange, um die Wette zu wagen. Rings um uns wirbelten in grauen Zylindern und luftigen Kleidern die Scharen von Ascot, eine Augenweide im Sonnenlicht, ein Ritual des schönen Scheins, eine Ver drängung der harten Wahrheit. Das ganze Leben meines Vaters war ein Streben nach dem Geist gewesen, den ich in diesen Royal-Ascot-Gesichtern sah; das Streben und die Jagd nach dem Glück. »Was denken Sie?« fragte Judith. »Sie sehen so ernst aus.« 51
»Daß Traumtänzer keinen Schaden anrichten. Laßt Ter roristen träumen und tanzen.« »Als Dauerbeschäftigung«, sagte sie, »wäre es ermü dend.« »An einem Tag wie diesem könnte man sich verlieben.« »Ja, man könnte.« Sie studierte angelegentlich ihr Renn programm. »Aber sollte man?« Nach einer Pause sagte ich: »Nein, ich glaube nicht.« »Ich auch nicht.« Sie blickte mit Ernst und Verständnis und mit einem stillen Lächeln auf. »Ich kenne Sie seit sechs Jahren.« »Ich war nicht treu«, sagte ich. Sie lachte, und der Moment verging, aber meine Erklä rung war ganz offen ausgesprochen und in gewisser Hin sicht akzeptiert worden. Sie zeigte keine Verlegenheit in meiner weiteren Gegenwart, sondern eher zunehmende Wärme, und in beiderseitigem Einverständnis einigten wir uns darauf, für das erste kurze Rennen lieber auf dem Sat telplatz zu bleiben, anstatt ganz hinaufzuklettern und wo möglich festzustellen, daß es vorbei war, wenn wir die Loge erreichten. Die Rücken der Jockeys entschwanden die Bahn hinun ter, als sie zum Start kanterten, und ich sagte der Konver sation halber: »Wer ist Dissdale Smith?« »Oh.« Sie blickte belustigt. »Er ist im Autohandel tätig. Er protzt gern, wie Sie zweifellos bemerkt haben, aber ich glaube nicht, daß er so gut dasteht, wie er tut. Jedenfalls sagte er Gordon, er suche jemand, der sich an den Kosten der Loge hier beteiligt, und fragte, ob Gordon interessiert sei, die halbe Loge für heute zu kaufen. Für die anderen Tage hat er auch Hälften verkauft. Ich glaube, eigentlich soll man das nicht, also sagen Sie es lieber nicht weiter.« 52
»Nein.«
»Bettina ist seine dritte Frau«, sagte sie. »Sie ist ein Model.«
»Sehr hübsch.«
»Und nicht so dumm, wie sie aussieht.«
Ich hörte den trockenen Ton heraus und gestand mir ein,
daß ich selbst herablassend geklungen hatte. »Wohlgemerkt«, sagte Judith verzeihend, »seine zweite Frau war das rassigste Ding auf Erden, sie konnte aber nicht bis drei zählen. Sogar Dissdale bekam die völlige Leere hinter den sensationellen Veilchenaugen satt. Es ist zwar sehr erhebend, wenn alle Männer beim Anblick Ihrer Gattin entbrennen, aber es zieht die Stelzen doch ziemlich wieder weg, wenn die gleichen Männer innerhalb von fünf Minuten totalen Stumpfsinn diagnostizieren und anfangen, Sie statt dessen zu bemitleiden.« »Leuchtet mir ein. Was ist aus ihr geworden?« »Dissdale machte sie mit einem Jungen bekannt, der Millionen geerbt hatte und dessen IQ dem ihren entsprach. Wie ich zuletzt gehört habe, wissen sie sich vor Glück kaum zu retten.« Von unserem Standort aus konnten wir von dem Rennen nicht viel sehen, nur eine Frontalansicht der Pferde, als sie ins Ziel kamen. Mich störte das überhaupt nicht, und als einer der Führenden sich als Träger von Hellrosa erwies, ergriff Judith meinen Arm und schüttelte ihn. »Das ist doch Cretonne, was?« Sie hörte auf die Ansage der Nummer des Siegers. »Ist Ihnen klar, Tim, daß wir, verflixt noch mal, gewonnen haben?« Sie lachte vor Ver gnügen, ihr Gesicht war voll Sonnenschein und Staunen. »Prima für Calder Jackson.« »Sie trauen ihm nicht«, sagte sie. »Ich konnte das jedem von euch ansehen, Ihnen und Henry und Gordon. Ihr habt 53
alle die gleiche Art, den Leuten in die Seele zu leuchten. Sie auch, obwohl Sie so jung sind. Ihr wart alle unglaublich höflich, damit er nichts von euren Vorbehalten merkte.« Ich lächelte. »Das klingt abscheulich.« »Ich bin seit neun Jahren mit Gordon verheiratet«, sagte sie. Wieder entstand ein plötzlicher Moment der Stille, in dem wir uns in wortloser Frage und Antwort anschauten. Dann schüttelte sie leicht den Kopf, und nach einer Pause nickte ich Ergebung, und ich dachte, daß ich mit einer so geradlinig intelligenten Frau auf immer hätte zufrieden sein können. »Holen wir unseren Gewinn gleich ab oder später?« fragte sie. »Gleich, wenn wir ein bißchen warten.« Das gemeinsame Warten, bis die Jockeys sich zurückge wogen hatten und die Entwarnung für die Auszahlkassen gegeben wurde, schien ihr so wenig auszumachen wie mir. Wir sprachen über nichts Besonderes, und die Zeit verging im Flug; und schließlich machten wir uns auf den Rück weg zur Loge, um festzustellen, daß dort auch alle auf Cretonne gesetzt hatten und vom selben Erfolg berauscht waren. Calder Jackson strahlte und sah bescheiden drein, und Dissdale öffnete überschwenglich weitere Flaschen von ausgezeichnetem Krug, dem Champagner der Könige. Die Frau des Gastgebers zum Sattelplatz zu begleiten, war nicht nur akzeptabel, sondern eine erwartete Höflich keit, so daß Gordon unsere Rückkehr mit wohlwollendem Blick begrüßte. Ich war, als ich seine arglose Freundlich keit sah, froh – und zugleich traurig, daß er keinen Grund zu Befürchtungen hatte. Das Juwel in seinem Haus würde dort bleiben und ihm allein gehören. Ungebundene Junggesellen mußten sich damit abfinden. 54
Die ganze Gesellschaft, inzwischen merklich be schwingt, drängte sich zum Großen Rennen auf den Bal kon der Loge. Dissdale sagte, er hätte alles oder nichts auf seinen Banker Sandcastle gesetzt; und obwohl er es mit einem Lachen sagte, sah ich das Zittern in seinen Händen, die mit dem Rennglas fuchtelten. Er steckt zu tief drin, dachte ich. Eine schlechte Art zu wetten. Die meisten anderen, angesteckt von Dissdales Sicher heit, umklammerten glücklich Wettscheine, die Sandcastle in jeder Richtung unterstützten. Selbst Lorna Shipton ge stand Henry mit einem rosa Gluthauch auf beiden kantigen Backenknochen, daß sie nur dies eine Mal, da es ein be sonderer Tag sei, fünf Pfund in Zweierwetten gesetzt habe. »Und Sie, Tim?« frotzelte Henry. »Ihr Hemd?« Lorna wurde stutzig. Ich lächelte. »Mit Knopf und Kra gen«, sagte ich fröhlich. »Nein, aber …«, sagte Lorna. »Doch, aber«, sagte ich, »ich hab’ noch Dutzende von Hemden daheim.« Henry lachte und bugsierte Lorna sanft davon, und un versehens stand ich neben Calder Jackson. »Wetten Sie auch?« fragte ich, um etwas zu sagen. »Nur auf Gewißheiten.« Er lächelte verbindlich in der Art, die kaum seine Augen erwärmte. »Obwohl es bei Gewißheiten fast kein Wetten mehr ist.« »Und ist Sandcastle eine Gewißheit?« Er schüttelte seinen Lockenkopf. »Eine Wahrscheinlich keit. Kein Renntip ist eine Gewißheit. Das Pferd könnte sich krank fühlen. Könnte beim Start getreten werden.« Ich blickte hinüber zu Dissdale, der ein wenig schwitzte, und hoffte für ihn, daß das Pferd sich wohl fühlen und gut aus den Startboxen herauskommen würde. 55
»Können Sie vom Ansehen allein sagen, ob ein Pferd krank ist?« erkundigte ich mich. »Ich meine, wenn Sie einfach zuschauen, wie es im Führring herumgeht, könn ten Sie es beurteilen?« Calder antwortete in einer Weise, die verriet, daß es wie der eine oft gestellte Frage war. »Natürlich können Sie es manchmal sofort sehen, aber meistens würde man ein Pferd, das derart krank ist, nicht auf den Rennplatz bringen. Ich betrachte ein Pferd lieber eingehend. Indem ich bei spielsweise die Farbe unter dem Augenlid und in den Nü stern untersuche. Bei einem kranken Pferd kann, wo ein ge sundes Rosa sein sollte, farblose Blässe sein.« Er brach mit scheinbarer Endgültigkeit ab, als wäre dies das vorgesehene Ende der Replik, doch nach ein paar Sekunden, während die ganze gewaltige Menschenmenge zusah, wie Sandcastle sich beim Kanter zum Start in der Sonne streckte, sagte er beinahe ehrfürchtig: »Das ist ein prächtiges Pferd. Pracht voll.« Mir klang es wie die erste spontane Bemerkung des Tages, und sie vibrierte vor echter Begeisterung. »Er sieht stark aus«, stimmte ich zu. Calder Jackson lächelte wie aus Nachsicht über die Ba nalität meines Urteils im Vergleich mit dem Gewicht sei nes Insiderwissens. »Er hätte das Derby gewinnen müs sen«, sagte er. »Er wurde an die Rails gedrängt, kam nicht mehr rechtzeitig raus.« Mein Platz an der Seite des großen Mannes ging über auf Bettina, die ihren Arm durch seinen fädelte und sagte: »Lieber Calder, kommen Sie mit runter auf die Vordersei te, da sieht man besser als hier hinten.« Sie schenkte mir ein fotogenes kleines Lächeln und zog ihren Gefangenen hinter sich die Stufen herab. Unter einem Raunen, das zu Gebrüll anwuchs, legten die Renner ihre Anderthalbmeilenstrecke zurück; länger als 56
das 2000 Guineas, genauso lang wie das Derby. Sand castle in Scharlach und Weiß machte gar keine gute Figur zu den allgemeinen Stoßseufzern und lag nur an fünfter Stelle, als das Feld um den letzten Bogen ging, und Diss dale sah aus, als drohte ihm ein Herzschlag. Ade, mein Hemd, dachte ich. Ade, Lorna, deine fünf Pfund. Hops geht der Banker, der nicht verlieren kann. Dissdale, unfähig, noch hinzuschauen, ließ sich schwach auf einen der kleinen Stühle sacken, die den Balkon sprenkelten, und in den Nachbarlogen hatten sich die Leu te auf ihre gestellt und sprangen schreiend auf und ab. »Sandcastle ist im Kommen …«, trällerte der Ansager über die Lautsprecher, doch die Schreie des Publikums übertönten den Rest. Die scharlachrot-weiße Farbe war nach außen gegangen. Die Rasenmäheraktion stand der Welt vor Augen. Das Prachtpferd, der große schlaksige Hengst voller Mumm, fraß den Boden auf. Unsere Loge in der Haupttribüne war fast zweihundert Meter oberhalb des Ziels, und als er uns erreichte, hatte Sandcastle immer noch drei Pferde vor sich. Er flog je doch wie der Blitz, und ich fand den Anblick dieses frei fließenden Mutes, dieses kompromißlosen Kämpfens ganz ungeheuer spannend und erregend. Ich packte Dissdale an seiner verzweifelten Schulter und hievte ihn mit Wucht auf die Beine. »Sehen Sie«, brüllte ich ihm ins Ohr. »Schauen Sie hin. Ihr Banker gewinnt. Er ist ein Wunder. Er ist ein Traum.« Er drehte sich mit klaffendem Mund um und starrte in Richtung des Ziels, und er sah … er sah Sandcastle unter dem Aufruhr dahinjagen wie einen Speer, jetzt losgelöst von allen anderen, geradewegs auf den Preis zu. 57
»Er hat gewonnen«, sagte Dissdales Mund schlaff, ob wohl ich ihn inmitten des Lärms kaum hören konnte. »Zum Henker, er hat gewonnen.« Ich half ihm die Stufen hinauf in die Loge. Seine Haut war grau und klamm, und er taumelte. »Setzen Sie sich«, sagte ich und zog den ersten Stuhl heraus, zu dem ich kam, doch er arbeitete sich zittrig zu seinem eigenen Platz am Kopf des Tisches vor. Er kippte fast darauf wie ein Sack und streckte eine bebende Hand nach seinem Champagner aus. »Mein Gott«, sagte er. »Das mach’ ich nie wieder. Nie mehr auf Gottes Erden.« »Was denn?« Er warf mir einen flackernden Blick über sein Glas zu und sagte: »Alles auf einen Wurf.« Alles. Er hatte es schon mal gesagt: »Alles auf den Banker...« Ich dachte, buchstäblich alles kann er doch damit wohl nicht gemeint haben; und doch hätte sonst kaum etwas solche physischen Symptome hervorbringen können. Die anderen strömten mit unbändiger Fröhlichkeit wie der in den Raum. Dank Dissdale hatten alle ohne Aus nahme auf Sandcastle gesetzt. Selbst Calder Jackson be kannte sich auf Bettinas Drängen hin zu einem »kleinen Sümmchen beim Toto«. Wenn er verloren hätte, dachte ich, hätte er es bestimmt nicht zugegeben. Dissdale kletterte von naher Ohnmacht geschwind zu pulstreibenden Höhen, so daß die Farbe in einem hekti schen Rot auf seine dicken Backen zurückkehrte. Niemand schien seinen Beinahzusammenbruch bemerkt zu haben, ganz sicher nicht seine Frau, die possierlich mit dem Hei ler flirtete und weniger als ihren Einsatz zurückbekam. Wieder floß Sekt angenehm durch die Kehlen, und es be 58
stand kein Zweifel, daß für die inzwischen vermischte Ge sellschaft der ganze Tag ein toller Erfolg war. Nach einiger Zeit erbot sich Henry, mit Judith zum Sat telplatz zu gehen. Gordon lud zu meiner Erleichterung Lorna ein, so daß mir die Rätseldame, Pen Warner, über lassen blieb, mit der ich bisher nur die umwerfenden Wor te »Einen schönen guten Tag« gewechselt hatte. »Möchten Sie hinuntergehen?« fragte ich. »Ja, allerdings. Sie müssen aber nicht bei mir bleiben, wenn es zu lästig fällt.« »Sind Sie so unsicher?« Sie machte große Augen und dachte sichtlich um. »Sie sind verdammt grob«, sagte sie. »Dabei meinte Judith, Sie seien nett.« Ich ließ sie an mir vorbei auf den Treppenabsatz und lä chelte, als sie ging. »Ich würde gern bei Ihnen bleiben«, sagte ich, »wenn es nicht zu lästig fällt.« Sie warf mir einen trockenen Blick zu, aber da wir we gen Leuten, die aus der anderen Richtung kamen, hinter einander durch den schmalen Gang gehen mußten, sagte sie kaum noch etwas, bis wir die Fahrstühle, Rolltreppen und die Fußgängerunterführung hinter uns gebracht hat ten und in das Tageslicht des Sattelplatzes getreten wa ren. Es sei ihr erster Besuch in Ascot, erzählte sie. Überhaupt ihr erster Rennbesuch. »Wie finden Sie es?« »Sehr schön. Sehr mutig. Ziemlich verrückt.« »Besteht Normalität in Häßlichkeit und Feigheit?« fragte ich. »Das Leben ziemlich oft«, sagte sie. »Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?« 59
»Und manche sind erst glücklich, wenn sie verzweifelt sind.« Sie lachte leise. »Tragik inspiriert, sagt man.« »Geschenkt«, sagte ich. »Ich wollte lieber in der Sonne liegen.« Wir stellten uns auf die Rundtreppe, um die Pferde zu betrachten, die im Ring herumgeführt wurden, und sie erzählte mir, daß sie in der gleichen Straße wie Judith in einem anderen Haus am Park lebte. »Ich hab’ mein gan zes Leben da gewohnt, lange bevor Judith hinzog. Wir lernten uns zufällig, wie das so geht, da in den Geschäf ten kennen und gingen einfach eines Tages, vor mehreren Jahren, mal zusammen nach Haus. Seither sind wir be freundet.« »Glück gehabt«, sagte ich. »Ja.« »Leben Sie allein?« fragte ich gesprächsweise. Ihre Augen streiften mich mit innerer Belustigung. »Ja, tu’ ich. Sie auch?« Ich nickte. »Ich ziehe es vor«, sagte sie. »Ich auch.« Ihre Haut war hell und noch immer mädchenhaft, nur die füllige Figur erinnerte einen an das Vergehen der Jahre. Sie und der Ausdruck in den Augen, die »Ich-habe-alles gesehen«-Traurigkeit. »Sind Sie Friedensrichterin?« fragte ich. Sie sah verblüfft aus. »Aber nein. Was für eine seltsame Frage!« Ich machte eine Geste der Entschuldigung. »Sie sehen einfach so aus.« 60
Sie schüttelte den Kopf. »Hätte keine Zeit dazu, selbst wenn ich den Drang spürte.« »Aber Gutes in der Welt tun Sie.« Sie war verwirrt. »Wie kommen Sie darauf?« »Ich weiß nicht. Ihre Augen.« Ich lächelte, um jeden Ernst zu verscheuchen, und sagte: »Welches Pferd gefällt Ihnen? Sollen wir eins aussuchen und wetten?« »Wie wär’s mit Burnt Marshmallow?« Sie mochte den Namen, sagte sie, Angebrannter Kau bonbon, also stellten wir uns kurz vor einem Totofenster an und investierten einiges von den Gewinnen aus Creton ne und Sandcastle. Während unseres langsamen Rückwegs durch die Scha ren am Sattelplatz in Richtung Loge stießen wir auf Calder Jackson, der von respektvollen Zuhörern umringt war und uns nicht sah. »Knoblauch ist so gut wie Penicillin«, sagte er gerade. »Wenn Sie zerriebenen Knoblauch auf eine infizierte Wunde streuen, tötet der alle Bakterien …« Wir gingen etwas langsamer, um zuzuhören. »... und Schwarzwurz ist fabelhaft«, sagte Calder. »Sie leimt Knochen zusammen und heilt widerspenstige Ge schwüre in der Hälfte der Zeit, mit der man rechnet.« »Das hat er alles oben schon gesagt«, bemerkte ich. Pen Warner nickte leise lächelnd. »Gute brauchbare Kräutermedizin«, sagte sie. »Da kann man ihm nichts. Schwarzwurz enthält Allantoin, ein wohlbekanntes Zell proliferat.« »Tatsächlich? Ich meine … kennen Sie sich damit aus?« »Mm.« Wir gingen weiter, aber sie sagte nichts mehr, bis wir wieder ganz oben im Durchgang zu der Loge wa 61
ren. »Ich weiß nicht, ob man finden kann, ich tue Gutes in der Welt … aber im Prinzip teile ich Pillen aus.« »Ähm …?« sagte ich. Sie lächelte. »Ich bin eine Dame im weißen Kittel. Eine Apothekerin.« Ich war in gewisser Hinsicht wohl enttäuscht, und sie spürte es. »Tja«, seufzte sie, »wir können nicht alle Glanzlichter sein. Ich sagte Ihnen ja, das Leben sei häßlich und beäng stigend, und von meinem Standpunkt ist es das für meine Kunden oft. Ich sehe täglich Angst … und ich kenne ihr Gesicht.« »Pen«, sagte ich, »verzeihen Sie mir meine Oberfläch lichkeit. Ich bin gehörig beschämt.« Als wir die Loge erreichten, fanden wir Judith dort allein, da Henry abgewandert war, um eine Wette anzulegen. »Ich hab’ Tim erzählt, daß ich Apothekerin bin«, sagte Pen. »Er findet es langweilig.« Ich kam nicht über die ersten Protestworte hinaus, ehe Judith unterbrach. »Sie ist nicht irgendeine Apothekerin. Sie besitzt ein ei genes Geschäft. Die Hälfte aller Ärzte in London empfeh len sie. Sie sprechen mit einer wandelnden Goldmine, die ein unerschöpflich gutes Herz hat.« Sie legte ihren Arm um Pens Taille, und beide sahen mich funkelnd an, vielleicht mit Sympathie in den Augen, aber auch mit der schadenfrohen Überlegenheit der fünf oder sechs Jahre älteren Frau. »Judith!« beschwor ich sie. »Ich … ich…« Ich ließ es sein. »Ach verdammt«, sagte ich. »Trinkt etwas Krug.« Dissdales Freunde kehrten kichernd zurück, so daß der unbeobachtete Augenblick zu Ende war, und kurz darauf 62
kamen Gordon, Henry und Lorna herein. Die ganze Ge sellschaft drängte sich auf den Balkon, um das Rennen zu verfolgen, und weil es eine Zeit jenseits der Wirklichkeit war, siegte Burnt Marshmallow leicht mit drei Längen. Der Rest des Nachmittags verging schnell. In einem Moment fand sich Henry allein neben mir auf dem Bal kon, während drinnen der Tisch zu einem Tee gedeckt wurde, der völlig über meinen strapazierten Magen ging und für den stets hungrigen Henry eine Versuchung war, der er sich körperlich entzogen hatte. »Was macht Ihr Zeichner?« fragte er liebenswürdig. »Finanzieren wir ihn oder nicht?« »Habe ich das … wirklich … allein zu entscheiden?« »Das sagte ich. Ja.« »Nun … Ich habe ihn noch mehr Zeichnungen in die Bank bringen lassen. Und seine Farben.« »Seine Farben?« »Ja. Ich dachte, wenn ich ihn bei der Arbeit sehen könnte, wüßte ich Bescheid …« Ich zuckte die Achseln. »Jeden falls, ich nahm ihn mit in das Privatsprechzimmer und bat ihn, den Entwurf für einen Trickfilm zu zeichnen, während ich zusah; und er machte es, an Ort und Stelle, mit Acryl. Fünfundzwanzig Skizzen in leuchtender Farbe, alles inner halb einer Stunde. Die gleichen Figuren, andere Geschichte, und furchtbar komisch. Das war am Montag. Ich habe … tja … von diesen Zeichnungen geträumt. Es klingt absurd. Vielleicht gehen sie mir zu sehr durch den Kopf.« »Aber Sie haben entschieden?« Nach einer Pause erwiderte ich: »Ja.« »Und?« Mit einem Gefühl, Brücken zu zerstören, sagte ich: »Wir machen Ernst.« 63
»In Ordnung.« Henry schien unbesorgt. »Halten Sie mich auf dem laufenden.« »Ja, natürlich.« Er nickte und wechselte elegant das Thema. »Lorna und ich haben ganz schön was gewonnen heute. Und Sie?« »Genug, daß Onkel Freddie Zustände wegen der Aus wirkung auf meine labile Persönlichkeit bekommen könn te.« Henry lachte laut. »Ihr Onkel Freddie«, sagte er, »kennt Sie vielleicht besser, als Sie glauben.« Am Ende dieses großartigen Nachmittags fuhr die ganze Gesellschaft geschlossen nach unten und begab sich zum Ausgang; zu dem Tor, das auf die Hauptstraße hinausging, und zum Parkplatz auf der anderen Seite und zu dem überdachten Fußweg, der zum Bahnhof führte. Calder ging direkt vor mir an der Spitze, den Locken helm freundlich über Bettina gebeugt, während er mit sei ner kräftigen Stimme ihr und Dissdale für »ein außerge wöhnliches Vergnügen« dankte. Dissdale selbst, nicht nur völlig erholt, sondern ganz aus dem Häuschen vor Freude, da die meisten Schiebewetten über zwei, drei und mehr als drei Pferde getroffen hatten, patschte Calder plump auf die Schulter und lud ihn für das Wochenende »rüber zu mir« ein. Henry und Gordon, zweifellos die nüchternsten der Ge sellschaft, durchkramten ihre Taschen nach Wagenschlüs seln und warfen ihre Rennprogramme in Papierkörbe. Ju dith und Pen unterhielten sich miteinander, und Lorna plauderte huldvoll entspannt mit Dissdales Freunden. Nur ich allein, der etwas neben den Grüppchen herging, schien überhaupt zu sehen, was sich anbahnte. 64
Wir waren draußen auf dem Gehsteig und warteten halb auf eine Möglichkeit, die Straße zu überqueren, um uns bald zu trennen und zu zerstreuen. Alle redeten, lachten, waren beschäftigt; außer mir. Ein Junge stand da auf dem Trottoir, wachsam und still. Ich bemerkte zuerst die feste, brennende Entschlossenheit in den dunklen Augen und schnell darauf die Jeans und das verwaschene Hemd, die scharf mit unserer Ascotklei dung kontrastierten, und dann schließlich mit Unglauben das Messer in seiner Hand. Ich mußte beinahe raten, wen er mit so tödlichem Vorsatz anstarrte, und hatte keine Zeit, auch nur eine Warnung zu brüllen. Er setzte mit verblüffender Geschwindigkeit über den Gehsteig, den Arm bereits im Schwung nach oben. Ich sprang fast ohne Überlegung; sicherlich, ohne Kon sequenzen oder Möglichkeiten abzuwägen. Höchst unban kierhaftes Verhalten. Der Stahl war fast in Calders Bauch, als ich ihn ablenkte. Ich erwischte den Arm des Jungen in einer Art fliegendem Angriff mit meinem Körper und sah blitzartig das Gewebe von Calders Hose, den Glanz auf seinen Schuhen, den Ab fall auf dem Fußweg. Der Junge stürzte unter mir, und ich dachte entsetzt, daß er irgendwo zwischen unseren Kör pern noch die tückische Klinge festhielt. Er wand sich voll Kraft und Wut und versuchte mich ab zuwerfen. Er lag auf dem Rücken, sein Gesicht unmittel bar unter meinem, die Augen wie Schlitze und die Zähne gebleckt zwischen zurückgezogenen Lippen. Ich hatte ei nen Eindruck von dunklen Augenbrauen und weißer Haut, und ich hörte den Atem zwischen seinen Zähnen in rasen der Anstrengung zischen. Seine Hände waren beide unter meiner Brust, und ich spürte, wie er sich genügend Raum zu schaffen suchte, um 65
das Messer umzudrehen. Ich drückte mich mit meinem ganzen Gewicht voll auf ihn, und im Geiste sagte ich: ›Tu es nicht, tu es nicht, du verdammter Narr‹; und ich sagte es um seinetwillen, was mir schon da verrückt erschien, und im nachhinein noch verrückter. Er wollte mir ans Leben, und das einzige, woran ich dachte, waren die Unannehm lichkeiten, die er sich zuzog, wenn es ihm gelang. Wir rangen beide nach Luft, aber ich war größer und stärker, und ich hätte ihn noch eine ganze Weile so halten können, wären nicht die beiden Polizisten gewesen, die auf der Straße den Verkehr regelten. Sie hatten das Hand gemenge gesehen; ihrer Annahme nach einen Mann im Cutaway gesehen, der einen Passanten anfiel; gesehen, wie wir auf dem Boden miteinander kämpften. Das erste jedenfalls, was ich von ihrer Präsenz mitbekam, war der Druck schraubstockgleicher Hände, die sich um meine Arme legten und mich zurückzerrten. Ich wehrte mich mit aller Macht. Ich wußte nicht, daß es Polizisten waren. Ich hatte nur Augen für den Jungen; sei ne Augen, seine Hände, sein Messer. Mit gebieterischer Kraft rissen sie mich los, klemmte der eine mir die Oberarme an die Seiten, indem er mich von hinten umschlang. Ich trat wütend aus und drehte den Kopf, und da erst erkannte ich, daß die neuen Angreifer Marineblau trugen. Der Junge begriff die Situation blitzschnell. Er rollte herum auf die Füße, kauerte einen Sekundenbruchteil wie ein Athlet am Startblock, und ohne den Kopf über Hüfthö he zu heben, schlängelte er sich durch die Menschen masse, die noch dem Tor entströmte, und verschwand im Inneren der Rennbahn. Da drin würden sie ihn niemals finden. Da würde er zu den Billigplätzen fliehen und ein fach am unteren Tor rausgehen. 66
Ich hörte auf, mich zu wehren, doch die Polizisten ließen nicht los. Sie dachten gar nicht daran, den Jungen zu ver folgen. Sie nannten mich ungereimterweise »Sir«, wäh rend sie mich mit Verachtung behandelten, was ich, wäre ich ruhig genug zum Nachdenken gewesen, als ziemlich normal betrachtet hätte. »Herr mein Heiland«, sagte ich schließlich zu einem von ihnen, »was glauben Sie, wie das Messer da auf den Geh steig kommt?« Sie sahen nach der Stelle, wo es lag; wo es hingefallen war, als der Junge ausriß. Achtzehn Zentimeter scharfer Haushaltsmesserstahl mit einem schwarzen Griff. »Er wollte Calder Jackson erstechen«, sagte ich. »Daran habe ich ihn lediglich gehindert. Was glauben Sie, wieso er verschwunden ist?« Inzwischen standen Henry, Gordon, Lorna, Judith und Pen in einem besorgten Kreis ringsherum und versicherten fortwährend der Obrigkeit, daß ihr Bekannter auch in Mil lionen Jahren niemals irgendwen angreifen würde, es sei denn aus bitterster Notwendigkeit, und Calder sah benommen drein und betastete einen Schlitz in seinem Hosenbund. Die Farce löste sich allmählich in stumpfere bürokrati sche Ordnung auf. Die Polizisten lockerten ihren Griff, und ich klopfte den Schmutz von den Knien des väterli chen Anzugs und zupfte meine verdrehte Krawatte zu recht. Irgend jemand hob meinen zerbeulten Zylinder auf und gab ihn mir. Ich grinste Judith an. Es schien eine so lächerliche Mischung aus Tod und Trivialem. Das Nachspiel dauerte den halben Abend und war äu ßerst langweilig: Polizeirevier, harte Stühle, Plastikbecher mit Kaffee. Nein, ich hatte den Jungen noch nie gesehen. 67
Ja, ich war sicher, daß der Junge es speziell auf Calder abgesehen hatte. Ja, ich wußte genau, daß es noch ein Junge war. Um die sechzehn wahrscheinlich. Ja, ich würde ihn wiedererkennen. Ja, ich würde helfen, ein Phantombild zu erstellen. Nein. Meine Fingerabdrücke waren bestimmt nicht auf dem Messer. Der Junge hatte es festgehalten, bis er davon lief. Ja, natürlich konnten sie für alle Fälle meine Fingerab drücke nehmen. Calder, völlig entgeistert, wiederholte noch und noch, er habe keine Ahnung, wer ihm nach dem Leben trachten könnte. Er schien sogar über den bloßen Gedanken entrü stet. Die Polizei blieb hart: Die meisten Leute kennten ihre Mörder, sagte sie, besonders wenn, wie es in diesem Fall möglich erschien, der potentielle Täter seinem Opfer aufge lauert habe. Das sei durchaus möglich, sagte Calder, wegen seiner Fernsehauftritte, doch Calder habe ihn nicht gekannt. Einige der Polizisten übten stumme Zurückhaltung, an dere hatten etwas von trotziger Angriffslust, aber es war Calder allein, der ziemlich bissig darauf hinwies, daß sie, wenn sie mich nicht mit so vollem Einsatz losgerissen hät ten, den Jungen jetzt in Gewahrsam haben würden und nicht nach ihm zu suchen brauchten. »Sie hätten mal erst fragen können«, sagte Calder, doch selbst ich schüttelte den Kopf. Angenommen, ich wäre tatsächlich der Angreifer gewe sen, dann hätte ich den Jungen töten können, während die Polizei die Umstehenden fragte, wer eigentlich wen am Kragen hatte. Erst handeln, dann Fragen stellen war eine Politik voller Risiken, doch anders herum konnte es schlimmer sein. 68
Schließlich verließen wir beide das Gebäude, und Calder versuchte unterwegs sein Bestes mit nicht einstudierten Worten: »Äh … Tim … Zeit, mich zu bedanken … Wenn Sie nicht gewesen wären … ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Sagen Sie nichts«, erwiderte ich. »Ich habe es getan, ohne nachzudenken. Schön, daß Ihnen nichts passiert ist.« Ich war davon ausgegangen, daß alle anderen längst fort wären, doch Dissdale und Bettina hatten auf Calder ge wartet und Gordon, Judith und Pen auf mich; sie standen um ein paar Autos herum und sprachen mit drei oder vier Fremden. »Sie und Calder sind zwar mit der Bahn gekommen«, sagte Gordon, indem er auf uns zutrat. »Aber wir haben beschlossen, Sie nach Hause zu fahren.« »Das ist sehr nett«, sagte ich. »Mein lieber Dissdale …«, sagte Calder, der offenbar noch immer keine Worte fand. »So dankbar, wirklich.« Sie machten einen furchtbaren Wirbel um ihn: den Ge fährdeten, den verratenen Löwen. Die Fremden an den Autos entpuppten sich als Herren von der Presse, für die Calder immer eine Nachricht wert war, lebendig oder tot. Zu meinem Schrecken wiesen sie sich aus, holten Notiz bücher und eine Kamera hervor und schrieben alles auf, was nur irgend jemand sagte. Aus mir holten sie allerdings nichts heraus, denn alles, was ich wollte, war, sie zum Schweigen bringen. Genausogut kann man versuchen, mit ausgestreckter Hand eine Lawine zu stoppen. Dissdale und Bettina und Gordon und Judith und Pen legten sich teuflisch ins Zeug, und so kam es, daß ich es zu einem kurzen Ruhm brachte als der Mann, der Calder Jackson das Leben ge rettet hatte. 69
Niemand schien sich darüber Gedanken zu machen, ob nicht sein Angreifer einen zweiten Versuch unternahm. Ich schaute auf mein Foto in den Zeitungen und fragte mich, ob der Junge es sehen würde und meinen Namen er fuhr.
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Das erste Jahr Oktober
G
ordon kam wieder zur Arbeit, die leicht zitternde Linke verbarg er recht geschickt, so daß sie kaum je mand bemerkte. In Phasen der Aktivität, wie an dem Tag in Ascot, schien er das Tarnen zu vergessen, doch sonst hatte er sich ange wöhnt, vornübergebeugt an seinem Schreibtisch zu sitzen und die Hand zwischen seinen Oberschenkeln zu veran kern. Ich fand es schade. Das Zittern war so geringfügig, daß keiner von den anderen darüber ein Wort verloren hät te, weder laut noch im stillen, aber für Gordon war es of fenkundig eine Belastung. Nicht, daß es sich auf seine Arbeit ausgewirkt hätte. Er war im Juli voller Entschlossenheit zurückgekommen, hat te mir in Gegenwart der anderen kurz für mein Lückenbü ßen gedankt und alle großen Entscheidungen von meinem Schreibtisch zurück auf seinen geholt. John bat ihn, ebenfalls in Hörweite von Alec, Rupert und mir, uns klarzumachen, daß er, John, offiziell der zweite Mann hinter Gordon sei, wenn sich die Notwendigkeit nochmals ergäbe. Er wies darauf hin, daß er älter war und viel länger in der Bank gearbeitet hatte als ich. Tim, so drückte er sich aus, solle sich doch nicht vordrängen. Gordon musterte ihn kühl und sagte, wenn die Notwen digkeit bestünde, werde der Präsident zweifellos alle Fak 71
toren in Betracht ziehen. John machte bittere und leise, doch hörbare Bemerkungen über Begünstigung und unfai res Bevorzugen, und Alec riet ihm ironisch, sich eine Handelsbank zu suchen, wo kein Neffe oder dergleichen in der Belegschaft saß. »Sei nicht kindisch«, sagte er. »Selbstverständlich wol len die, daß die nächste Generation ins Familienunter nehmen einsteigt. Wieso auch nicht? Das ist doch nur na türlich.« Aber John war nicht besänftigt und sah nicht ein, daß sein bitterer Groll gegen mich lauter Zeitvergeudung für ihn war. Der Gedanke an mich schien ihm ständig durch den Kopf zu gehen. Er warf mir wahrhaft böse Blik ke durch das Zimmer zu und ergriff jede Gelegenheit, zu lästern und mich anzuschwärzen. Nachrichten wurden mir vorenthalten und Kunden der Eindruck vermittelt, daß ich inkompetent sei und nur aus familiärem Großmut ange stellt. Mitunter lehnten es Leute am Telefon ab, mit mir Geschäfte zu machen, sie wollten vielmehr John, und ein mal zog ein Anrufer direkt vom Leder: »Sind Sie dieser Playboy, der da besseren Leuten vor die Nase gesetzt wird?« Johns Meckerei war im Grunde zu verstehen: An seiner Stelle wäre ich selbst zynisch gewesen. Gordon unternahm nichts, um die eskalierende Haßkampagne zu drosseln, und Alec fand sie lustig. Ich dachte lange und intensiv darüber nach, was tun, und beschloß einfach, härter zu ar beiten. Ich würde dafür sorgen, daß es John sehr schwer fiel, seine Behauptungen zu untermauern. Seine Aggression zeigte sich an seinem Körper, der voll endet muskulös war und verfehlt für einen Stadtanzug aus sah. Von mäßiger Größe, trug er sein drahtiges braunes Haar sehr kurz, so daß es sich über dem Kragen sträubte, und seine Stimme war laut, als dächte er, Volumen sei gleich Autorität; dieser Irrtum soll ja in Klassenzimmern 72
oder auf Kasernenhöfen recht verbreitet sein, aber auf un serem kultivierten Teppichviereck wirkte er besonders lä cherlich. John war über die Handelsschule durch seinen Ehrgeiz und seine Überredungskünste zum Bankgeschäft gekom men. Ich dachte manchmal, er hätte einen vorzüglichen Exportkaufmann abgegeben, aber das war nicht das Le ben, das er wollte. Alec meinte, es sei Johns größter Spaß, hübschen Mädchen zu erklären »Ich bin Handelsbanker« und ihre Bewunderung zu genießen. Alec war ein Schlitzohr, wirklich, und die Pfeile, die er abschoß, trafen oft ins Schwarze. Es kam ein Tag im Oktober, an dem drei wilde Sachen mehr oder minder gleichzeitig geschahen. Der Trickfilmer rief an; Was läuft, wo es nicht sollte landete mit einem in der ganzen City hörbaren Donnerschlag, und Onkel Fred die fiel zu einer Besichtigungstour über Ekaterin her. Am Anfang waren die drei Ereignisse unverbunden, doch gegen Ende des Tages hatte alles miteinander zu tun. Ich hörte die raschen Eröffnungsworte des Trickfilmers mit sinkendem Mut. »Ich hab’ drei zusätzliche Trick zeichner engagiert, und ich brauche noch fünf«, begann er. »Zehn sind nicht annähernd genug. Ich hab’ die Krediter höhung ausgerechnet, die ich brauche, um sie alle zu be zahlen.« »Warten Sie«, sagte ich. Er redete gleich weiter. »Außerdem brauche ich natür lich mehr Platz, aber das ist zum Glück kein Problem, da hier nebenan ein Lagerhaus leersteht. Ich hab’ eine Pacht dafür unterschrieben und denen gesagt, daß Sie das Geld vorstrecken, und natürlich müssen mehr Möbel, mehr Ma terial…« »Halt«, sagte ich entgeistert, »das können Sie nicht.« 73
»Was? Was kann ich nicht?« Er klang tatsächlich ver blüfft. »Sie können nicht einfach immer höheren Kredit auf nehmen. Sie haben ein Limit. Das dürfen Sie nicht über schreiten. Also kommen Sie um Himmels willen schleu nigst her, und wir wollen sehen, was rückgängig zu ma chen ist.« »Aber Sie sagten doch«, wehklagte seine Stimme, »Sie wollten spätere Erweiterungen finanzieren. Und das tu’ ich doch. Mich erweitern.« Ich dachte grimmig, daß ich für meine Brötchen stem peln gehen würde, sobald Henry das erfuhr. Guter Gott… »Hören Sie«, sagte der Trickfilmer, »wir haben alle wie die Teufel gearbeitet und einen ganzen Film fertigge stellt. Zwölf Minuten lang, unterlegt mit Musik und Ton effekten, alles dran, Vorspann, alles! Und wir haben Rohschnitte von drei weiteren gemacht, noch ohne Musik und sonstige Schnörkel, aber genug … und ich habe sie verkauft.« »Sie haben was?« »Sie verkauft.« Er lachte vor Aufregung. »Es ist fest, ich versprech’s Ihnen. Dieser Agent, zu dem Sie mich ge schickt haben, hat den Verkauf und den Vertrag geregelt. Ich brauche bloß zu unterschreiben. Es ist eine große Fir ma, die sie übernimmt, und ich kriege dicke lebenslängli che Tantiemen. Von weltweitem Verleih haben die ge sprochen, und die BBC steigt auch ein. Aber von jetzt an müssen wir zwanzig Filme pro Jahr machen, nicht sieben, wie ich vorhatte. Zwanzig! Und wenn das Publikum sie mag, ist das bloß der Anfang. Ach verdammt, ich faß es nicht. Aber um zwanzig in der Zeit zu machen, brauch’ ich eine Menge mehr Geld. Geht das in Ordnung? Ich meine … ich war so sicher …« 74
»Ja«, sagte ich leise. »Es geht in Ordnung. Bringen Sie den Vertrag her, wenn Sie ihn unterschrieben haben, und die neuen Zahlen, und wir knobeln die Sache aus.« »Danke«, sagte er. »Danke, Tim Ekaterin, Gott segne Ih re süße Bank.« Ich legte schwach den Hörer auf und fuhr mir mit der Hand über Kopf und Genick. »Sorgen?« fragte Gordon, der herübersah. »Na ja, nicht direkt…« Ein Lachen wie das des Trick filmers stieg mir in die Kehle. »Ich habe auf einen Sieger gesetzt. Ich glaube, ich habe womöglich einen echten Springquell entdeckt.« Das Lachen brach laut hervor. »Haben Sie das schon mal?« »Ah ja«, nickte Gordon. »Natürlich.« Ich erzählte ihm von dem Trickfilmer und zeigte ihm die ursprüngliche Serie von Zeichnungen, die noch in meinem Schreibtisch verstaut waren: Und als er sie durchsah, lach te er. »Lag dieser Antrag nicht auf meinem Schreibtisch«, sag te er und legte seine Stirn in Falten, bemüht, sich zu erin nern, »kurz bevor ich weg war?« Ich dachte zurück. »Ja, wahrscheinlich.« Er nickte. »Ich hatte beschlossen, ihn abzuweisen.« »Tatsächlich?« »Mm. Ist er nicht zu jung oder so etwas?« »Diese Art Talent schlägt bei der Geburt zu.« Er maß mich mit einem kurzen taxierenden Blick und gab mir die Zeichnungen wieder. »Na denn«, sagte er. »Alles Gute für ihn.«
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Die Nachricht, daß Onkel Freddie im Gebäude gesichtet worden war, sickerte durch sämtliche Abteilungen und straffte so manches krumme Rückgrat. Onkel Freddie hat te den Hang, vernichtend treffsichere Urteile über Men schen in deren Hörweite herauszubrüllen, und nicht nur ich hatte die Bank friedvoller (wenn vielleicht auch selbst zufriedener) gefunden, als er sich zur Ruhe setzte. Er war bekannt als »Mr. Fred«, im Unterschied zu »Mr. Mark« (Großvater) und »Mr. Paul«, dem Gründer. Kein Mensch nannte mich je »Mr. Tim«; die Zeiten änder ten sich eben. Wenn er der Tradition treu blieb, würde Onkel Freddie den Vormittag in Anlagen verbringen, wo er selbst sein Büroleben lang gearbeitet hatte, und nach dem Lunch im Sitzungssaal würde er zumindest mal den Kopf in die Beteiligungsfinanzierung stecken, aus Höf lichkeit, und abschließen mit einem Marsch durch Kredite. Unterwegs würde er durch einen ihm eigenen telepathi schen Prozeß erfahren, was das kollektive Herz der Bank bewegte; den, wie er es ausgedrückt hatte, vorherrschen den Duft im Wind schnuppern. Er war bereits eingetroffen, als die Was-läuft-Exemplare in die Waagschale krachten. Alec schnürte wie üblich um die Zeit, zu der sie ausge liefert wurden, zum nächsten Zeitschriftenhändler und kam mit den sechs Ausgaben wieder, die die Bank offiziell genehmigte. Niemand in der City konnte es sich leisten, nicht zu wissen, was vor der eigenen Haustür lief. Alec rangierte herum, brachte ein Exemplar auf jeden Stock und behielt unseres für sich, um es als erster zu le sen, ein Vorrecht, meinte er, das ihm zustand. »Dein Onkel«, meldete er bei seiner Rückkehr, »reißt den armen Ted Lorrimer von Anlagen in Stücke, weil er Winkler Consolidated nicht verscherbelt hat, als selbst ein 76
Waschbär mit Silberblick sehen konnte, daß sie sich bei ihrer Mittelamerika-Operation übernommen hatte und das Genick zum Fangschlag hinhielt.« Gordon lachte leise über den wortgetreuen Bericht, und Alec setzte sich an seinen Schreibtisch und schlug die Zei tung auf. Das normale Büroleben ging etwa fünf Minuten weiter, ehe Alec wie von einer Wespe gestochen aufsprang. »Jesus Christus«, sagte er. »Was ist denn?« »Unser Petzer ist wieder am Werk.« »Was?« sagte Gordon. »Sie lesen’s mal besser.« Er brachte die Zeitung hinüber zu Gordon, dessen Gesichtsausdruck sich von böser Ah nung langsam in Ärger verwandelte. »Es ist unerhört«, sagte Gordon. Er schickte sich an, das Blatt an mich weiterzugeben, aber John, schon auf den Beinen, riß es ihm förmlich aus der Hand. »Ich sollte zuerst drankommen«, sagte er heftig und nahm die Zeitung mit zu seinem Schreibtisch, setzte sich methodisch hin und faltete sie auf der flachen Unterlage auseinander, um zu lesen. Gordon sah ihm ausdruckslos zu, und ich schwieg, um nicht zu provozieren. Als John seine Lektüre gemütlich beendet hatte, wobei er wenig Reaktion außer einem verkniffenen Mund zeigte, gab er Rupert die Zeitung, und Rupert, der sie mit Lauten des Er staunens las und große Augen bekam, brachte sie schließ lich mir. »Es ist schlimm«, sagte Gordon. »Das scheint mir auch.« Ich lehnte mich lang in meinen Sessel zurück und hob den anstößigen Artikel in Augen höhe. Unter der Überschrift »Kleine krumme Touren« stand da: 77
Es ist vielleicht der Leserschaft nicht wohlbekannt, daß in so mancher Handelsbank zwei Drittel der jährlichen Pro fite aus Zinsen auf Darlehen stammen. Anlagen- und Treuhand- und Beteiligungsfinanzierungsabteilungen sind die öffentlichen Gesichter und Aushängeschilder dieser sehr privaten Banken. Ihre Investitionen (des Geldes an derer Leute) an der Börse und ihre Unternehmerrolle bei Zusammenschlüssen und Firmenübernahmen kommen Jahr für Jahr in den Wirtschaftsseiten ganz groß heraus. Treppunter sozusagen liegt der Schwanz, der mit dem Hund wedelt, die heimlichtuerische Kreditabteilung, die still und leise Darlehen aus ihren eigenen prallen Koffern gibt und gewaltige Profite in Form von Zinsen einstreicht, die sie nach ihrem Gutdünken festsetzen kann. Diese Sätze müssen nicht hoch sein. Wer von der Paul Ekaterin Ltd. hat sich selbst effektiv aus diesen Koffern kleine Vermögen zu FÜNF Prozent ge liehen? Wer von der Paul Ekaterin Ltd. hat Privatunter nehmen gegründet, die NICHT die Geschäfte betreiben, für die das Geld angeblich geliehen wurde? Wer hat nicht bekanntgemacht, daß diese Unternehmen ihm gehören? Der Mann auf der Straße (armer Wicht) wäre entzückt, von Paul Ekaterin Ltd. unbegrenzte Summen zu fünf Pro zent zu erhalten, so daß er sie mit Gewinn in etwas ande rem anlegen könnte. Haben Banker nicht auch ihren Spaß? Ich blickte von der vernichtenden Seite auf und hinüber zu Alec, der, wie vorauszusehen, grinste. »Ich wüßte gerne, wer da seine Hand ins Bonbonglas ge steckt hat«, sagte er. »Und wer ihn dabei erwischt hat?« fragte ich. 78
»Hopsa, ja.« Gordon sagte düster: »Die Sache ist sehr ernst.« »Wenn man sie glaubt«, sagte ich. »Aber dieses Blatt…«, fing er an. »Ja, klar«, unterbrach ich. »Es ist schon mal auf uns los, Sie erinnern sich? Damals im Mai. Wie da alle aus dem Häuschen gerieten?« »Ich war daheim … mit ›Grippe‹.« »Ach ja. Nun, hier ging das Bangen endlos weiter, und eine Lösung kam nie auf den Tisch. Die Spalte heute ist genauso vage. Also … angenommen, sie ist bloß darauf angelegt, die Bank in Kalamitäten zu bringen? Wer hat uns auf dem Kieker? Welchem verhinderten Tollhäusler haben wir beispielsweise mal ein Darlehen verweigert?« Alec beäugte mich mit übertriebenem Staunen. »Sher lock Holmes ist uns zu Hilfe geeilt«, sagte er bewundernd. »Jetzt können wir alle essen gehen.« Gordon jedoch meinte nachdenklich: »Es ist schon sehr gut möglich, eine Firma zu erfinden und ihr Kredit zu ge ben. Das wäre nichts als Schreibarbeit. Ich könnte es sel ber. Und jeder hier könnte es wohl, bis zu seiner geneh migten Höchstgrenze, wenn er glaubte, damit davonzu kommen.« John nickte. »Es ist absurd, wenn Tim und Alec daraus einen Witz machen«, sagte er gewichtig. »Der ganze Ruf der Bank steht auf dem Spiel.« Gordon runzelte die Stirn, stand auf, nahm die Zeitung von meinem Schreibtisch und ging, um mit seinem Bei nah-Gleichgestellten in dem Zimmer gegenüber von St. Paul zu sprechen. Um sich greifende Bestürzung, dachte ich; kalter Schweiß auf sorgenvoll gefurchten Bankerstir nen. 79
Ich ließ vor meinem geistigen Auge jeden in der ganzen Abteilung passieren, der neben der Gelegenheit genügend Macht besessen hätte, von Val Fisher bis hinunter zu mir selbst, und kam auf etwa zwölf, die es theoretisch hätten tun können. Aber … nicht Rupert, dessen trauriges Gemüt sich noch grämte, denn er hätte weder die Lust noch die Energie zum Betrug gehabt. Nicht Alec, zweifellos; weil ich ihn mochte. Nicht John: zu sehr von sich überzeugt. Nicht Val, nicht Gordon, undenkbar. Nicht ich selbst. Somit blieben die Leute drüben auf der Nachbarweide, und um sie zu beurteilen, kannte ich sie nicht gut genug. Vielleicht glaubte einer von ihnen tatsächlich, daß eine fette Schiebung nebenbei den Ruin einer Entdeckung wert war, doch wir alle wurden schon großzügig bezahlt, viel leicht gerade aus dem Grund, daß man Versuchungen wahrscheinlich eher widerstand, wenn man nicht sein Geld fürs Benzin zusammenkratzen mußte. Gordon kam nicht wieder. Der Morgen schleppte sich zur Mittagspause, in der John mit der Erklärung davon rauschte, ein Kunde erwarte ihn schon, und Alec Rupert ermutigte, mit ihm auf eine Pastete und ein Bier rauszuge hen. Ich hatte mir wegen der Stille angewöhnt, mittags durchzuarbeiten, und saß noch um zwei allein dort, als Pe ter, Henrys Assistent, kam und mich bat, in das Oberge schoß zu fahren, da ich gewünscht werde. Onkel Freddie, dachte ich. Onkel Freddie hat den Schmier artikel gelesen und wird explodieren wie ein Sprengkopf. Ir gendwie wird er beweisen, daß es meine Schuld ist. Mit ei nem stürmischen Seufzer verließ ich meinen Schreibtisch und nahm den Lift, um dem alten Krieger gegenüberzutreten, bei dem ich mich noch nie im Leben wohl gefühlt hatte. 80
Er wartete im Gang des Obergeschosses, unterhielt sich mit Henry. Beide übertrafen mich mit ihren einssiebenundacht zig um sieben Zentimeter. Das Leben wär nie so unheilvoll gewesen, dachte ich, wenn Onkel Freddie klein gewesen wäre. »Tim«, sagte Henry, als er mich sah, »gehen Sie in das kleine Konferenzzimmer, ja?« Ich nickte und begab mich in den Raum neben dem Sit zungssaal, wo vier oder fünf Stühle um einen quadrati schen blanken Tisch standen. Ein Exemplar von Was läuft, wo … lag darauf, mit Eselsohren vom vielen Blättern. »Also, Tim«, sagte mein Onkel, der hinter mir in das Zimmer kam, »weißt du, was das alles soll?« Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Nein.« Mein Onkel knurrte undeutlich, setzte sich und wies Henry und mir Plätze zu. Henry mochte Präsident sein, mochte formell sogar Onkel Freddies Boß gewesen sein, doch der weißhaarige alte Tyrann besaß immer noch per sönlich die Pacht des Gebäudes und behandelte aus langer Gewohnheit alle Leute darin als Gäste. Henry spielte abwesend mit der Zeitung. »Was glauben Sie?« fragte er mich. »Wer … glauben Sie?« »Womöglich gar niemand.« Er lächelte halb. »Unruhestiftung?« »Mm. Nicht ein einziges konkretes Detail. Das gleiche wie letztes Mal.« »Letztes Mal«, sagte Henry, »fragte ich den Verleger der Zeitung, wo seine Information herstammt. Quellen geben wir nicht preis, sagte er. Noch mal fragen zwecklos.« »Unenthüllten Quellen«, sagte Onkel Freddie, »traut man niemals.« Henry sagte: »Gordon meint, Sie könnten feststellen, Tim, wie viele Unternehmen, wenn überhaupt, von uns 81
Kredit zu fünf Prozent haben. Viele können es nicht sein. Einige noch aus Zeiten, als die Zinssätze niedrig waren. Die wenigen, denen wir früher einen langfristigen Festsatz gewährt haben.« Die wenigen, wenn er das auch nicht sag te, aus der Zeit vor ihm – ehe er solchen unrentablen Zwangsjacken ein Ende setzte. »Falls neuere darunter sind, könnten Sie die herausfinden?« »Ich werde nachsehen«, sagte ich. Wir wußten beide, daß es eher Tage als Stunden dauern würde und vielleicht zu nichts führte. Der Betrug, wenn es ihn gab, konnte bereits ein Jahrzehnt laufen. Ein halbes Jahrhundert. Erfolgreiche Betrüger tendierten dahin, unbe merkt immer und immer weiterzumachen, bis eines Tages per Zufall jemand über sie stolperte. Es mochte beinahe leichter sein festzustellen, wer der Stolperer war und wes halb er die Zeitung informiert hatte anstatt die Bank. »Jedenfalls«, sagte Henry, »wir haben Sie nicht primär deswegen hier heraufgebeten.« »Nein«, sagte mein Onkel grunzend. »Zeit, daß du Di rektor wirst.« Ich dachte: Da hab’ ich mich verhört. »Ähm … bitte?« sagte ich. »Direktor. Ein Direktor«, sagte er ungeduldig. »Bursche, der im Vorstand sitzt. Nie davon gehört, nehme ich an.« Ich sah Henry an, der lächelnd nickte. »Aber«, sagte ich, »so schnell…« »Willst du also nicht?« fragte mein Onkel barsch. »Doch, ich will.« »Gut. Laß mich nicht im Stich. Ich hatte ein Auge auf dich, seit du acht Jahre alt warst.« Ich muß so überrascht ausgesehen haben, wie ich mich fühlte. 82
»Damals erzähltest du mir«, sagte er, »wieviel du ge spart hättest und wieviel du bekämst, wenn du noch vier zig Jahre lang jeden Monat ein Pfund zu vier Prozent Staf felzinsen sparen würdest, bis du schwer alt wärst. Ich schrieb mir deine Zahlen auf und rechnete sie nach, und du hattest recht.« »Es ist eine einfache Formel«, sagte ich. »Ja, klar. Jetzt könntest du das in Vollnarkose. Aber mit acht? Du hattest ein Talent geerbt, wirklich. Nur die Nei gung hatte man dir genommen.« Er nickte schwer. »Sieh dir deinen Vater an. Meinen kleinen Bruder. Betrank sich nett, nie einen bösen Gedanken, aber hatte wohl gefehlt, als die Gehirne verteilt wurden. Sieh dir an, wie nachsich tig er gegen deine Mutter war, wie er sie wetten ließ. Sieh dir das Leben an, das er dir geboten hat. Lauter Vergnü gen, egal, was es kostet. Manchmal bin ich an dir verzwei felt. Dachte, du wärst verhunzt worden. Aber, ich wußte, die Begabung war irgendwo, mochte noch verborgen sein, mochte wachsen, wenn man sie dazu zwang. Und hier bist du, ich habe recht gehabt.« Ich war ziemlich sprachlos. »Wir sind alle einverstanden«, sagte Henry. »Der ganze Vorstand war sich bei unserer Sitzung heute morgen einig, daß es Zeit ist, daß wieder mal ein Ekaterin den ihm ge bührenden Platz einnimmt.« Ich dachte an John, und an den Grad der Wut, die meine Beförderung hervorrufen würde. »Hätten Sie«, fragte ich langsam, »mir einen Direktoren posten gegeben, wenn mein Name Joe Bloggs wäre?« Henry sagte ehrlich: »Wahrscheinlich nicht gerade heu te. Aber bald, das versichere ich Ihnen, ja. Sie sind schließlich fast dreiunddreißig, und ich saß mit vierund dreißig hier im Aufsichtsrat.« 83
»Danke«, sagte ich. »Sie können sich darauf verlassen«, sagte Henry. »Sie haben es verdient.« Er stand auf und schüttelte mir formell die Hand. »Ihr Amt beginnt offiziell am ersten November, heute in einer Woche. Wir werden Sie dann zu einer kur zen Sitzung im Konferenzsaal begrüßen und anschließend zum Lunch.« Sie mußten beide das Ausmaß meiner Freude gesehen haben, und sie selbst sahen auch zufrieden aus. Halleluja, dachte ich, ich hab’s geschafft. Ich hab’s erreicht … Ich habe kaum erst angefangen. Gordon fuhr mit mir im Lift herunter, er lächelte auch. »Die gingen alle seit Monaten schon schwanger damit«, sagte er. »Seit Sie mich vertreten haben, als ich krank war, und mich gut vertreten haben. Jedenfalls erzählte ich ihnen heute morgen Ihr Neuestes von dem Trickfilmer. Einige meinten, das sei einfach Glück. Ich sagte ihnen, Sie hätten inzwischen zu oft Glück gehabt, als daß es ein Zufall sein könnte. Und da haben Sie’s.« »Ich kann Ihnen gar nicht…« »Sie waren es doch selbst.« »John wird einen Schlag bekommen.« »Bis jetzt sind Sie mit seinem Neid immer noch fertig geworden.« »Es schmeckt mir aber nicht.« »Wem schon? Ein Dummkopf, er tut seiner Karriere nichts Gutes.« Gordon erzählte es sofort allen im Büro, und John wurde weiß und marschierte steif aus dem Zimmer. Ich ging ohne Selbstvertrauen eine Woche später zu der Einsetzung und zum ersten Lunch mit dem Vorstand, und 84
dann nach ein paar Tagen, wie es so geht, gewöhnte ich mich an die veränderte Gesellschaft und den höheren In formationslevel. In den Abteilungen hörte man von Ent scheidungen, die gefallen waren; im Speisesaal hörte man, wie Entscheidungen getroffen wurden. »Unsere tägliche Vorstandssitzung«, sagte Henry. »So viel leichter auf die se Art, wenn jeder einfach sagen kann, was er denkt, ohne daß irgendwer mitschreibt.« Gewöhnlich erschienen zehn bis fünfzehn Direktoren zum Lunch, wenn auch auf einen Knopfdruck die verlän gerte ovale Tafel das vollständige Aufgebot von dreiund zwanzig fassen konnte. Ständig verschwanden Leute, um Telefongespräche anzunehmen und um Deals zu machen. Deals, der Kauf und Verkauf von Aktien, hatten dringen den Vorrang vor dem Essen. Das Essen selbst war nicht besonders üppig, allerdings perfekt zubereitet. »Mittwochs immer Lamm«, sagte Henry am Buffettisch, als er sich zwei aus einer Reihe von mageren, garnierten Koteletts nahm. »Irgendeine Art Hähnchen dienstags, Beef Wellington an den mei sten Donnerstagen. Henry ißt nie die Kruste.« Jeden Tag gab es klare Brühe vorher und Obst und Käse danach. Alkohol, wenn man mochte, aber die meisten mochten nicht. Keiner sollte mit Millionen handeln, dessen Gehirn schlafen will, meinte Henry, der regelmäßig Mineralwas ser trank. Eine ziemliche Umstellung das Ganze, nach den einfachen Sandwiches an meinem Schreibtisch. Sie waren alle höflich im Hinblick auf meine vergebli che Suche nach Briefkasten-Firmen, denen die Bank Kre dit zu fünf Prozent gegeben hatte, wenn auch Val und Henry, wie ich wußte, meinen Standpunkt teilten, daß die Meldung auf Bosheit und nicht auf Fakten beruhte. 85
Ich hatte mehrere Tage in dem extrabreiten Büro auf der Rückseite unserer Etage verbracht, wo die eher mechani schen Teile des Kreditgeschäfts besorgt wurden. In diesem gewaltigen Großraum (grauer Teppich diesmal) befanden sich reihenweise lange Tische, die bepackt waren mit Te lefonen, Rechenmaschinen und vor allem Computern. Von dort gingen unsere eigenen Zinsgutschriften hinaus an die Einleger, die uns Geld geliehen hatten, damit wir es für Sachen wie hausgemachten Paradieskuchen und Klär werkanlagen in Norfolk auslegen konnten. Dort herein kamen die an uns gezahlten Zinsen vom Kuchen, vom Wasser, von Trickfilmern und zehntausend ähnlichen. Ma schinen ratterten, Telefone klingelten, Leute hasteten um her. Viele von denen, die dort arbeiteten, waren Mädchen, und es hatte mich oft verwundert, weshalb so wenige Frauen unter den Managern waren. Gordon meinte, es läge daran, daß nur wenige Frauen ihr ganzes Leben dem Geldmachen verschreiben wollten, und John sagte (in den Tagen, als er noch mit mir sprach) mit der für ihn typi schen Verachtung, es liege daran, daß sie es lieber ausgä ben. Jedenfalls gab es keine weiblichen Manager in Kredi te und überhaupt keine im Vorstand. Trotzdem erwies sich als meine größte Hilfe in der Be trugsuntersuchung eine kurvenstarke Rothaarige namens Patty, die den Was läuft, wo-Artikel als persönliche Belei digung aufgefaßt hatte, wie viele ihrer Kolleginnen auch. »Niemand könnte so was vor unserer Nase machen«, protestierte sie. »Ich fürchte doch. Sie wissen, daß es ginge. Aber kein Mensch könnte jemanden von Ihnen zum Vorwurf ma chen, daß Sie es nicht merken.« »Tja … wo fangen wir an?« 86
»Mit allen Kreditnehmern, die einen Festzins von fünf Prozent zahlen. Oder vielleicht vier Prozent, oder fünf Komma sieben fünf, oder sechs oder sieben. Wer weiß, ob fünf stimmt?« Sie sah mich frustriert mit weit offenen Bernsteinaugen an. »Aber so haben wir sie nicht sortiert.« Im Computer sortiert, meinte sie. Jeder Kreditabschluß hatte seinen eigenen Vertrag, der als solcher aus einem einzigen Blatt Papier, aber auch aus einem fünfzigseitigen Kontrakt bestehen konnte, und jeder Vertrag hielt fest, in welcher Höhe der Kreditzins zu erheben sei, wie etwa zwei Prozent über dem geltenden Mindestsatz. Tausende solcher Verträge waren auf Magnetplatten gedruckt und gespeichert. Man konnte jeden beliebigen Abschluß an hand seiner Kennziffer heraussuchen, oder nach dem Al phabet, oder nach den Anfangs- oder Auslaufdaten, oder anhand des Datums der nächsten fälligen Zinszahlung, aber wenn man den Computer fragte, wer zu wieviel Pro zent zahlte, bekam man einen Blankobildschirm und die Mikrochipversion einer langen Nase. »Anhand der Sätze kann man sie nicht ordnen«, sagte sie. »Die Sätze gehen rauf und runter wie Wippschau keln.« »Aber es muß doch noch einige Kredite geben, die fest verzinst sind.« »Ja, schon.« »Wenn Sie also den neuen Zinssatz eingeben, ändert der Computer den fälligen Zins für fast alle Darlehen, aber die mit einem Festzins rührt er nicht an.« »Das stimmt auch wieder.« »Also muß irgendwo in der Anlage ein Code sein, der ihr sagt, bei wem die Sätze bleiben sollen.« 87
Sie lächelte reizend und bat mich um Geduld, und einen halben Tag später präsentierte sie einen fröhlich aussehenden Programmierer, dem das Problem erklärt wurde. »Ja, da gibt’s einen Code«, sagte er. »Hab’ ich selbst reingebracht. Was Sie also wollen, ist ein Programm, das alle Darlehen ausdruckt, an denen der Code hängt. Rich tig?« Wir nickten. Er arbeitete eine halbe Stunde mit einem abgekauten Bleistift auf Papier und tippte dann mit Schwung in den Computer, drückte Knöpfe und freute sich über das Ergebnis. »Sie lassen das Programm hier drauf«, sagte er, »legen dann die Platten ein, und Sie bekommen die Resultate auf dem Zeilendrucker da drüben. Und ich habe Ihnen alles säuberlich mit Bleistift aufgeschrieben, falls jemand Ihre Maschine abschaltet. Dann tippen Sie einfach alles noch mal rein, und Sie sind wieder im Geschäft.« Wir dankten ihm, und er ging pfeifend davon, der Ari stokrat unter den kleinen Leuten. Der Zeilendrucker ratterte mit Unterbrechungen stunden lang drauflos, während wir die gesamte Plattenbibliothek durchgaben, und schließlich präsentierte er eine Liste von etwa hundert der zehnstelligen Zahlen, die zur Identifizie rung eines Kontos dienten. »Also«, sagte Patty unerschrocken, »möchten Sie jetzt einen kompletten Ausdruck von allen Originalverträgen für diese Kredite?« »Ich fürchte ja.« »Bleiben Sie in der Nähe.« Es dauerte auch mit ihrer Hilfe noch zwei Tage, das gan ze daraus resultierende Papier zu sichten, und am Ende konnte ich keine Firmen darunter entdecken, die nach 88
weislich inexistent waren, obwohl man, sofern man nicht alle Adressen tatsächlich abklappern und in Augenschein nehmen wollte, nicht sicher sein konnte. Henry jedoch war gegen diesen Zeitaufwand. »Wir wer den einfach mehr auf der Hut sein«, sagte er. »Noch ein paar Sicherungen entwerfen, mehr Rückschaltung. Könn ten Sie das, Tim?« »Ich könnte es, wenn mir der Programmierer hilft.« »Gut. Gehen Sie ran. Geben Sie uns Bescheid.« Ich wunderte mich laut gegenüber Patty, ob jemand in ihrer eigenen Abteilung, etwa einer der Manager, einen solchen Betrug aufziehen könnte, aber nachdem sie ihre instinktive Empörung überwunden hatte, schüttelte sie den Kopf. »Wer gäbe sich damit ab? Es wäre doch viel einfacher – nein, es ist bald ein Klacks –, eine Fantasiefirma einzuge ben, die uns Geld geliehen hat und der wir Zinsen zahlen. Dann verschickt der Computer auf ewig Zinsgutschriften, und der Lump braucht sie bloß einzulösen.« Henry jedoch sagte, dagegen hätten wir bereits Rat ein geholt, und dieser »bequeme« Weg sei durch systemati sche Kontrollen der Rechnungsprüfer versperrt. Der zeitungsbedingte Trubel ließ von neuem allmählich nach und verschwand aus dem Gespräch, wenn nicht aus dem Gedächtnis. Das Leben in unserem grünen Winkel lief ziemlich so weiter wie vorher, während Rupert sich langsam erholte, Alec Witze riß und Gordon seine linke Hand irgendwo außer Sicht steckte. John litt weiterhin un ter seiner Verranntheit, redete nicht mit mir, sah mich nicht an, wenn er es vermeiden konnte, und erklärte Kun den offenbar rundheraus, daß meine Beförderung fauler Zauber sei. »Reine Kosmetik«, gab Alec seine Rede am Telefon wieder. »Schindet Eindruck auf dem Briefkopf. In Wirk 89
lichkeit bedeutet’s nichts, Sie verstehen. Lassen Sie sich zu mir durchstellen, da liegen Sie richtig.« »Das hat er alles gesagt?« fragte ich. »Wort für Wort.« Alec grinste. »Geh und box ihn auf die Nase.« Ich schüttelte jedoch den Kopf und fragte mich, ob ich mich in das Büro gegenüber St. Paul versetzen lassen soll te. Ich wollte nicht weg, aber es sah aus, als würde John erst wieder zu sich finden, wenn ich ging. Wenn ich ver suchte, John selbst versetzen zu lassen, würde das die Sa che so verschlimmern? Ich merkte nach und nach, daß Gordon, und hinter ihm Henry, mir da nicht helfen würden; ihrer Vorstellung nach war ich jetzt ein großer Junge und sollte in der Lage sein, es selbst zu lösen. Es war eine Freiheit, die Verantwortung mit sich brachte, wie alle Freiheiten, und ich mußte be denken, daß John um der Bank willen ein vernünftiges Mitglied des Teams zu sein hatte. Ich fand, er sollte zum Psychiater gehen. Ich bekam Alec dazu, ihm das im Scherz leichthin zu sagen, als ich außer Hörweite war (»was du brauchst, Caballero, ist ein freund licher Seelenklempner«), doch John erschien sein Ärger rational, nicht therapiebedürftig. Ich versuchte, ihm geradeheraus zu sagen: »Hören Sie, John, ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Ich weiß, daß Sie glauben, meine Beförderung sei nicht fair. Nun, vielleicht ist sie’s, vielleicht nicht, aber ich kann so und so nichts da für. Sie sind doch viel besser dran, wenn Sie sich mit der Sache abfinden und es vergessen. Sie sind gut in Ihrem Job, das wissen wir alle, aber Sie tun sich selbst keinen Gefallen mit dem ganzen Bauchweh. Also halten Sie den Mund, finden Sie sich damit ab, daß das Leben beschissen ist, und lassen Sie uns Geld verleihen.« 90
Es war eine Predigt, die auf taube Ohren stieß, und Hilfe kam schließlich auf dem Weg einer Renovierung. Eine Woche lang, während Anstreicher unsere Wände neu tünchten, wurden wir alle fünf aus dem brunnenwärtigen Büro in das andere gepfercht, die Schreibtische verstopf ten jeden Winkel, Telefonieren war nur möglich, wenn man sich gegen den Lärm das Ohr zuhielt, und selbst nor malerweise friedliche Naturen wurden angespannt bis zum Zerreißen. Machen Sie es den Menschen eng, und Sie ha ben immer Streit. In der Distanz liegt Frieden. Jedenfalls, ich nutzte die Zeit zu einigem heimlichen Überreden und Lavieren, so daß, als wir in unseren eige nen Jagdgrund heimkehrten, John und Rupert zurück blieben. Die beiden ältesten Männer aus dem St.-PaulsBüro kamen mit Gordon, Alec und mir, und Gordons Bei nah-Gleichgestellter erklärte John entgegenkommend, es sei großartig, mal wieder mit einem jüngeren Team von hellen dynamischen Köpfen zusammenzuarbeiten.
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Das erste Jahr November
V
al Fisher sagte eines Tages beim Lunch: »Ich habe einen ziemlich seltsamen Kreditantrag bekommen.« (Es war Freitag: gegrillter Fisch.) »Etwas Neues?« fragte Henry. »Ja: Typ will 5 Millionen Pfund, um Rennpferd zu kau fen.« Alles am Tisch lachte, außer Val selbst. »Ich dachte, das knall’ ich euch mal vor«, sagte er. »Nur so als Versuchsballon. Schaue mal, was ihr meint.« »Was für ein Pferd?« sagte Henry. »Eins namens Sandcastle.« Henry, Gordon und ich blickten Val mit erhöhter Auf merksamkeit an; vielleicht sogar fast mit Spannung. »Sagt euch dreien was, ja?« fragte er und drehte den Kopf von dem einen zum anderen. Henry nickte. »Der Tag, als wir alle nach Ascot fuhren. Sandcastle war da am Start und gewann. Eine fantastische Darbietung. Wunderschön.« Gordon sagte zurückdenkend: »Der Mann, in dessen Lo ge wir waren, rettete sein ganzes Geschäft bei dem Ren nen. Dissdale, wissen Sie noch, Tim?« »Allerdings.« 92
»Ich war vor einigen Wochen bei ihm. Geht auf Wolken. Gott weiß, wieviel er gewonnen hat.« »Oder wieviel gesetzt«, sagte ich. »Ja, na schön«, sagte Val. »Sandcastle. Er gewann die 2000 Guineas, wie ich hörte, und das King Edward VII Stakes in Ascot. Außerdem das ›Diamond‹ Stakes im Juli und das Champion Stakes in Newmarket letzten Monat. Das ist, glaube ich, eine Leistung, die nur der Sieg im Derby oder dem Arc de Triomphe übertrifft. Er war übri gens Vierter im Derby. Er könnte nächstes Jahr als Vier jähriger starten, aber wenn er enttäuschte, wäre sein Wert niedriger, als er im Moment ist. Unser potentieller Kunde möchte ihn jetzt kaufen, und zwar für die Zucht.« Die übrigen Direktoren wandten sich wieder ihren See zungenfilets zu, während sie interessiert unser Gespräch weiterverfolgten. Ein Hengst war doch mal etwas anderes als Chemie, Elektronik und Öl. »Wer ist Ihr Kunde?« fragte Gordon. Gordon liebte Fisch. Er konnte ihn rechtshändig mit der Gabel essen, ohne die Gefahr, ihn zwischen Teller und Mund herunterzuzittern. »Ein Mann namens Oliver Knowles«, sagte Val. »Er be sitzt ein Gestüt. Der Trainer des Pferdes verwies ihn an mich. Wir kennen uns flüchtig, da unsere Frauen entfernt verwandt sind. Oliver Knowles möchte kaufen, der jetzige Besitzer ist gewillt, zu verkaufen. Sie brauchen lediglich Bargeld.« Er lächelte. »Das alte Lied.« »Was ist Ihre Ansicht?« sagte Henry. Val zuckte die maßgeschneiderten Schultern. »Noch zu früh, um eine fundierte zu haben. Aber ich dachte, wenn es euch überhaupt interessiert, könnten wir Tim bitten, mal einen ersten Einblick zu nehmen. Er hat ja schließlich die Voraussetzungen, sagen wir mal, eine längere Bekannt schaft mit dem Rennsport.« 93
Ein Raunen trockener Belustigung ging um den Tisch. »Was meinen Sie?« fragte mich Henry. »Sicher übernehme ich das, wenn Sie wollen.« Irgendwer am anderen Ende moserte, daß es reine Zeit verschwendung wäre und daß Handelsbanken unseres Ka libers sich nicht mit dem Turf verbrüdern sollten. »Unsere eigene liebe Queen«, bemerkte jemand ironisch, »ist mit dem Turf verbrüdert. Und kennt das Stutbuch inund auswendig, wie man erzählt.« Henry lächelte. »Ich wüßte nicht, warum wir nicht we nigstens mal reinschnuppern sollten.« Er nickte in meine Richtung. »Gehen Sie ran, Tim. Geben Sie uns Bescheid.« Ich verbrachte die nächsten Arbeitstage abwechselnd damit, im Verein mit dem Programmierer Bleistifte zu kauen und uns zu einem Konsortium mit drei anderen Banken zusammenzuschließen, um kurzfristig zu hohen Zinsen einer internationalen Baugesellschaft mit einer Liquiditätslücke 12,4 Millionen Pfund zu leihen. Da zwischen telefonierte ich Informationen und Meinungen über Oliver Knowles hinterher, was zu den normalen Er kundigungen vor jedem Kredit für alles mögliche gehör te, nicht nur für den haarsträubenden Preis eines Heng stes. Die Bonität feststellen, nannte man das. Nur wenn die Bonität gesichert war, würde ein Kredit näher in Betracht gezogen. Oliver Knowles, erfuhr ich, war ein vernünftiger, nüch terner Mann mit einem Gestüt in Hertfordshire. Dort stan den drei Hengste mit reichlichen Reserven für gastierende Stuten, und die einhundertfünfzig Morgen Land gehörten ihm voll und ganz, da er sie nach dem Tod seines Vaters geerbt hatte. 94
Im Gespräch mit den Leitern einer Bankfiliale spannte man aufmerksam auf alles, was sie ausließen, doch der Fi lialleiter von Oliver Knowles’ Bank ließ nicht sehr viel aus. Ohne auf die Angelegenheiten seines Kunden im ge ringsten näher einzugehen, sagte er, daß gelegentliche an sehnliche Darlehen bisher immer wie geplant zurückge zahlt worden seien und daß man über Mr. Knowles’ Ge schäftssinn nur Gutes sagen könne. Ein überschwengliches Lob aus solchem Munde. »Oliver Knowles?« fragte eine Rennplatzbekanntschaft aus vergangener Zeit. »Kenne ihn nicht selbst. Ich höre mich mal um«, und eine Stunde später kam der Rückruf mit den Neuigkeiten. »Er scheint ein guter Kerl zu sein, aber seine Frau ist gerade mit einem Kanadier durchge brannt. Er könnte ein heimlicher Frauenprügler sein, wer weiß das? Ansonsten heißt es allgemein, daß er so ehrlich ist wie jeder Pferdezüchter, was Sie nehmen können, wie Sie wollen, und wie geht’s der Frau Mutter?« »Danke, gut. Sie hat voriges Jahr wieder geheiratet. Lebt auf Jersey.« »Fein. Reizende Dame. Hat uns immer Eis gekauft. Sie war mein Schwarm.« Ich legte den Hörer lächelnd auf und versuchte es bei ei ner Kreditschutzgemeinschaft. Alles in Ordnung, sagten sie; Knowles sei kreditwürdig. Ich erklärte Gordon auf der anderen Zimmerseite, daß ich anscheinend nichts als grünes Licht bekam, und beim Lunch am selben Tag wiederholte ich die Neuigkeit für Henry. Er blickte um den Tisch herum, holte sich hier ein Kopfnicken, da ein Stirnrunzeln und jede Menge Un schlüssigkeit. »Wir könnten natürlich nicht alles selbst tragen«, sagte Val. »Und es ist auch nicht gerade etwas, womit wir zu 95
unseren normalen Quellen gehen können. Sie würden uns für Knallköpfe halten.« Henry nickte. »Wir müßten über Bekannte Privatgelder hereinholen. Ich kenne hier oder da einige Leute, die einsteigen könnten. Zwei Millionen, denke ich, mehr soll ten wir für uns nicht in Betracht ziehen. Höchstens zwei einhalb.« »Ich bin dagegen«, ließ sich eine Gegenstimme hören. »Ist doch Wahnsinn. Angenommen, das verdammte Vieh bricht sich ein Bein?« »Versicherung«, beschied Henry den Abweichler milde. In ein kurzes Schweigen sagte ich: »Wenn Sie finden, man sollte noch näher darauf eingehen, könnte ich einige Gutachten über Sandcastles Abstammung einholen und dann Blut- und Fruchtbarkeitstests vereinbaren. Und ich weiß, es ist zwar bei Krediten nicht üblich, aber irgend jemand wie Val, glaube ich, sollte Oliver Knowles mal persönlich treffen und sich seinen Laden ansehen. Es ist zu riskant, eine derartige Summe für ein Pferd zu leihen, oh ne das mit äußerster Sorgfalt zu prüfen.« »Hört nur, wer spricht«, sagte der Dissident, aber ohne Boshaftigkeit. »Mm«, machte Henry überlegend. »Was meinen Sie, Val?« Val Fisher glättete mit der Hand sein stets glattes Ge sicht. »Tim sollte selbst hinfahren«, sagte er. »Er hat die Vorarbeit geleistet, und das einzige, was ich von Pferden weiß, ist, daß sie Gras fressen.« Der dissidierende Direktor sprang in der Hitze seiner Empfindungen fast auf die Füße. »Hören Sie«, rief er, »das Ganze ist doch lächerlich. Wie in aller Welt können wir ein Pferd finanzieren?« 96
»Nun ja«, erwiderte Henry. »Die Zucht von Vollblut pferden ist Big Business, zigtausend Leute rund um den Globus leben davon. Betrachten Sie es als eine Industrie wie jede andere. Wir spekulieren hier mit Schiffbauern, Motoren, Textilien, was Sie auch nennen, und kaputtgehen können die alle. Und keiner davon«, schloß er fast grin send, »kann etwas nach seinem eigenen Bilde schaffen.« Der Dissident schüttelte mächtig den Kopf. »Wahnsinn. Heller Wahnsinn.« »Besuchen Sie mal Oliver Knowles, Tim«, sagte Henry. Tatsächlich hielt ich es für klug, mich allgemein mit den Finanzen der Vollblutzucht vertraut zu machen, ehe ich Oliver Knowles selbst anhörte; nach dem Grundsatz, daß ich dann besser beurteilen könnte, ob sein Vorhaben ver nünftig war oder nicht. Ich kannte selbst niemand, der viel von dem Thema verstand, doch mit das Schönste am Bankgeschäft ist die Verflechtung und Verästelung von Leuten, die Leute ken nen, die Leute kennen, die jemand auftreiben können, der die gewünschte Information hat. Ich schickte das Frage zeichen-Rauchsignal aus, und von entfernten unsichtbaren Gipfeln puffpuffte die Antwort zurück. Ursula Young, erfuhr ich, würde mich ins Bild setzen. »Sie ist Vollblutagentin. Sehr auf Draht, sehr gesprächig, kennt ihr Fach. Sie hat auf einem Gestüt gearbeitet, somit haben Sie da alles zusammen. Sie sagt, sie erzählt Ihnen, was Sie wollen; nur wenn Sie sie persönlich diese Woche sprechen möchten, muß das bei den Doncaster-Rennen am Samstag sein, sonst ist sie zu beschäftigt.« Ich fuhr nordwärts mit dem Zug nach Doncaster und traf die Dame auf der Rennbahn, wo das letzte Flachmeeting des Jahres abgehalten wurde. Sie wartete am Eingang zum 97
Rennverein, wie verabredet mit einem roten Samtbarett, und sie schleifte mich zu einem abgelegenen Tisch in ei ner Bar, wo man uns nicht stören würde. Sie war fünfzig, eisern, gutaussehend, dogmatisch und geneigt, mich als Kind zu behandeln. Aber sie hielt mir ei nen geduldigen und unschätzbaren Vortrag über die Wirt schaftlichkeit der Haltung eines Hengstes. »Bremsen Sie mich«, sagte sie zur Eröffnung, »wenn ich etwas sage, was Sie nicht verstehen.« Ich nickte. »Na schön. Sagen wir, Sie besitzen ein Pferd, das das Derby gewonnen hat, und Sie wollen aus Ihrer Goldmine Kapital schlagen. Sie schätzen ab, was Sie meinen, für das Pferd kriegen zu können, dann teilen Sie das durch vierzig und versuchen, jeden der vierzig Anteile zu diesem Preis zu verkaufen. Vielleicht klappt es, vielleicht nicht. Es hängt von dem Pferd ab. Bei Troy zum Beispiel standen sie Schlange. Aber wenn Ihr Sieger nicht furchtbar gute Zucht ist oder sonst wenig hergemacht hat außer beim Derby, stoßen Sie auf kühles Echo und müssen mit dem Preis runtergehen. Okay soweit?« »Hm«, sagte ich. »Warum bloß vierzig Anteile?« Sie schaute mich staunend an. »Sie haben keinen Schimmer, was?« »Deswegen bin ich hier.« »Nun, ein Hengst deckt vierzig Stuten pro Saison, und die Saison, nebenbei, dauert ungefähr von Februar bis Ju ni. Und die Stuten kommen natürlich zu ihm. Er reist nicht, er bleibt fest zu Hause. Vierzig ist so gerade der Durchschnitt; körperlich, meine ich. Manche schaffen mehr, aber andere verausgaben sich. Also ist vierzig die gängige Zahl. Nun haben Sie, sagen wir mal, eine Stute und haben sich ausgerechnet, Sie könnten, wenn Sie die 98
mit einem bestimmten Hengst paaren, ein Spitzenfohlen bekommen, dann bemühen Sie sich um einen dieser vier zig Plätze. Die Plätze nennt man Nominierungen. Sie be antragen eine Nominierung, entweder direkt bei dem Ge stüt, wo der Hengst steht, oder über einen Agenten wie mich, oder auch per Inserat in der Züchterzeitung. Können Sie folgen?« »Atemlos.« Sie lächelte flüchtig. »Leute, die in Hengstanteile inve stieren, haben manchmal eigene Zuchtstuten, mit denen sie züchten wollen.« Sie hielt inne. »Vielleicht hätte ich deutlicher erklären sollen, daß jeder, der einen Anteil be sitzt, automatisch jedes Jahr eine Nominierung für den Hengst hat.« »Aha«, sagte ich. »Ja. Sagen wir also, Sie haben Ihren Anteil und damit die Nominierung, aber Sie haben keine Stute, die Sie zu dem Hengst schicken können, dann verkaufen Sie Ihre Nominierung an jemand, der eine Stute hat, in der Art, wie ich es schon beschrieben habe.« »Ich verstehe.« »Nach den ersten drei Jahren können die Nominierungen im Preis variieren und werden de facto oft versteigert, aber für die ersten drei Jahre ist der Preis natürlich fest.« »Wieso natürlich?« Sie seufzte und holte tief Luft. »Drei Jahre lang weiß niemand, ob die Nachkommen im großen ganzen Sieger sein werden oder nicht. Die Trächtigkeit geht über elf Mo nate, und die erste Ausbeute an Fohlen nimmt erst mit zwei Jahren an Rennen teil. Wenn Sie’s nachrechnen, heißt das, daß der Hengst drei Saisons gestanden und folg lich einhundertundzwanzig Stuten gedeckt hat, ehe der Vorhang aufgeht.« 99
»Klar.« »Um also die Decktaxe für die ersten drei Jahre festzule gen, teilen Sie den Preis des Hengstes durch einhundert zwanzig und basta. Diese Gebühr wird dafür erhoben, daß der Hengst eine Stute deckt. Diese Summe bekommen Sie, wenn Sie Ihre Nominierung verkaufen.« Ich stutzte. »Heißt das«, sagte ich, »wenn Sie Ihre Nominierung drei Jahre lang verkaufen, haben Sie den Gesamtbetrag Ihrer ursprünglichen Investition wieder herausgeholt?« »So ist es.« »Und danach … jedes Mal, jedes Jahr, wenn Sie Ihre Nominierung verkaufen, machen Sie Reingewinn?« »Ja. Aber versteuert natürlich.« »Und wie lange geht das so?« Sie zuckte die Achseln. »Zehn bis fünfzehn Jahre. Hängt von der Potenz des Hengstes ab.« »Aber das ist doch …« »Ja«, sagte sie. »Eine der besten Kapitalanlagen der Welt.« Die Bar hatte sich hinter uns mit hereinströmenden Men schen gefüllt, die laut redeten und sich gegen die Kälte des rauhen Tages draußen auf die Finger hauchten. Ursula Young akzeptierte einen Aufwärmer in Form von Whisky mit Ingwerwein, während ich Kaffee nahm. »Trinken Sie nicht?« fragte sie mit leichter Mißbilligung. »Tagsüber nicht oft.« Sie nickte abwesend, während ihre Augen die Gesell schaft musterten, in Gedanken schon wieder bei ihrem Job. »Sonst noch Fragen?« sagte sie. 100
»Bestimmt fallen mir welche ein, sobald wir uns tren nen.« Sie nickte. »Ich bin bis zum Schluß der Austragung hier. Wenn Sie mich brauchen, finden Sie mich nach jedem Rennen in der Nähe des Waageraums.« Wir wollten gerade aufstehen, um zu gehen, als ein Mann, dessen Kopf man nicht vergessen konnte, in die Bar trat. »Calder Jackson!« rief ich aus. Ursula sah beiläufig hin. »So ist es.« »Kennen Sie ihn?« fragte ich. »Jeder kennt ihn.« Es lag eine fast bewußte Neutralität in ihrem Ton, als wollte sie nicht bei ihren Gedanken ertappt werden. Die gleiche Reaktion, überlegte ich, die er bei Henry, Gordon und mir hervorgerufen hatte. »Sie mögen ihn nicht?« tippte ich an. »Ich empfinde weder so noch so.« Sie zuckte die Ach seln. »Er gehört zur Szene. Nach dem, was die Leute er zählen, hat er schon bemerkenswerte Heilungen erzielt.« Sie blickte kurz zu mir. »Sie haben ihn wohl im Fernse hen erlebt, bei so einer Lobrede auf den Wert von Kräu tern?« »Ich traf ihn«, sagte ich, »in Ascot im Juni.« »Soll vorkommen.« Sie stand auf und ich mit ihr, ich bedankte mich herzlich für ihre Hilfe. »Lassen Sie nur«, sagte sie. »Gern geschehen.« Sie zö gerte. »Es hat wohl keinen Zweck zu fragen, welcher Hengst der Anlaß für die Plauderei war?« »Nein, tut mir leid. Es ist wegen eines Kunden.« Sie lächelte ein wenig. »Ich bin hier, falls er einen Agen ten braucht.« 101
Wir machten uns auf zur Tür, ein Weg, der uns in Cal ders Nähe brachte. Ich fragte mich flüchtig, ob er mich er kennen, sich nach mehreren Monaten noch an mich erin nern würde. Schließlich war ich nicht so einprägsam wie er selbst, nur eine Standardversion von einsachtzig, mit Augen, Nase und Mund ungefähr an den richtigen Stellen, dunkles Haar obendrauf. »Hallo, Ursula«, sagte er; seine Stimme drang mühelos durch den allgemeinen Lärm. »Bitter kalt heute.« »Calder.« Sie nickte bestätigend. Sein Blick glitt zu meinem Gesicht, tat es ab, umfing wieder meine Begleiterin. Dann hatte er eine klassische Spätzündung, und seine Augen weiteten sich im Wieder erkennen. »Tim«, sagte er ungläubig. »Tim …«, er schnippte mit den Fingern, um sich den schwierigen Namen ins Ge dächtnis zu rufen, »... Tim Ekaterin!« Ich nickte. Er sagte zu Ursula: »Tim hier hat mir das Leben geret tet.« Sie war überrascht, bis er es erklärte, und dann immer noch überrascht, daß ich es ihr nicht erzählt hatte. »Ich las natürlich davon«, sagte sie. »Und gratulierte Ihnen, Calder, zu Ihrem Entrinnen.« »Haben Sie da noch mal was gehört?« fragte ich ihn. »Von der Polizei oder sonst jemand?« Er schüttelte seinen Lockenkopf. »Nein, nichts.« »Der Junge hat es nicht noch mal versucht?« »Nein.« »Hatten Sie wirklich keine Ahnung, wo der herkam?« sagte ich. »Klar, bei der Polizei haben Sie gesagt, Sie wüß ten nichts, aber … na … es könnte doch immerhin sein.« 102
Er schüttelte jedoch sehr bestimmt den Kopf und sagte: »Wenn ich dafür sorgen könnte, daß man den kleinen Ba stard erwischt, täte ich’s auf der Stelle. Aber ich weiß nicht, wer er war. Ich kriegte ihn ja kaum richtig zu sehen, nur gerade so, daß er mir wie der Satan vorkam.« »Was macht das Heilen?« sagte ich. »Die prickelnde Be rührung?« In seinen Augen blitzte es kurz auf, als hätte er die Frage frech und geschmacklos gefunden, doch vielleicht in Erin nerung daran, daß er mir sein gegenwärtiges Dasein ver dankte, antwortete er freundlich. »Lohnend«, sagte er. »Herzerwärmend.« Standardrepliken, dachte ich. Wie gehabt. »Ist Ihr Hof voll, Calder?« fragte Ursula. »Immer ein Platz frei, wenn nötig«, erwiderte er hoff nungsvoll. »Hätten Sie ein Pferd für mich?« »Einer meiner Klienten hat einen Zweijährigen, der ständig krank oder halbtot aussieht, zur Verzweiflung des Trainers, der ihn nicht fit bekommt. Sie – meine Klientin – nannte Ihren Namen.« »Ich hatte schon großen Erfolg mit dieser Art allgemei nem Schwächezustand.« Ursula runzelte unschlüssig die Stirn. »Sie meint, Ian Pargetter würde sie für unloyal halten, wenn sie Ihnen ih ren Hengst schickt. Er behandelt ihn seit Wochen, glaube ich, ohne Erfolg.« Calder lächelte ermutigend. »Ian Pargetter und ich ste hen auf gutem Fuß, das kann ich Ihnen versichern. Er hat sogar selbst schon manchmal Besitzer überredet, mir ihre Pferde zu schicken. Sehr nett von ihm. Wir besprechen jeden Fall, ist klar, und handeln in beiderseitigem Einver nehmen. Schließlich haben wir beide die Genesung des 103
Patienten als vorrangiges Ziel.« Wieder der flüchtige Ein druck eines oft gebrauchten Statements. »Ist Ian Pargetter ein Tierarzt?« fragte ich ohne Neugier. Beide schauten mich an. »Äh … ja«, sagte Calder. »Einer aus einer Gruppenpraxis in Newmarket«, ergänz te Ursula. »Sehr aufgeschlossen. Probiert neue Wege. Dutzende von Trainern schwören auf ihn.« »Fragen Sie ihn nur, Ursula«, hakte Calder nach. »Ian wird Ihnen sagen, daß er nichts dagegen hat, wenn mir Be sitzer ihre Pferde schicken. Auch wenn er ein bißchen viel aufs Handauflegen gibt, zumindest traut er mir zu, daß ich den Patienten nicht kränker mache.« Es war als scherz hafte Selbstherabsetzung gesagt, und wir alle lächelten. Als wir uns wenig später von Calder verabschiedet hatten und die Bar gerade verließen, hörten wir ihn hinter uns schon wieder höflich eine der immerwährenden Fragen beantworten. »Ja«, sagte er, »eins meiner bevorzugten Heilmittel für Dauerhusten bei Pferden ist Süßholzwurzel, mit ein paar Feigen in Wasser gekocht. Man seiht die Mischung durch und rührt sie in das normale Futter des Pferdes …« Die Tür schloß sich hinter uns und schaltete ihn ab. »Man sollte meinen, es würde ihm zu bunt, seine Me thoden zu erklären«, sagte ich. »Mich wundert, daß er niemals schroff wird.« Die Dame sagte einsichtig: »Calder ist abhängig vom Fernsehruhm, guter Öffentlichkeitsarbeit und medizini schem Erfolg, ungefähr in dieser Reihenfolge. Er besitzt ei nen Hof mit etwa dreißig Boxen am Rand von Newmarket – ein normaler Trainingsstall, bevor er ihn kaufte –, und der Hof ist beinahe immer voll. Kurzzeit- und Langzeitwracks, 104
alle aus wahrem Glauben oder als letzter Ausweg zu ihm gebracht. Ich behaupte nicht, irgend etwas von Kräuterkun de zu verstehen, geschweige denn was übernatürliche Heil kräfte anlangt…« Sie schüttelte den Kopf. »Aber es besteht kein Zweifel, daß Pferde, ganz gleich, was er für Methoden hat, normalerweise in viel besserem Zustand von seinem Hof weggehen, als sie hingekommen sind.« »In Ascot sagte jemand, er hätte sterbende Pferde wieder ins Leben zurückgeholt.« »Hm!« »Sie glauben nicht dran?« Sie warf mir einen offenen Blick zu, eine erfahrene Ge schäftsfrau mit einer lebenslangen Hingabe an Vollblüter. »Sterben«, sagte sie, »ist ein relativer Begriff, wenn es nicht mit dem Tod endet.« Ich verwandelte mein Nicken in eine leichte anerken nende Verbeugung. »Aber um fair zu sein«, sagte sie, »ich weiß mit Sicher heit, daß er völlig und dauerhaft eine zehnjährige Zucht stute von der Kolitis X geheilt hat, die üblicherweise töd lich endet.« »Dann sind es nicht nur Pferde im Training, die er be handelt?« »Ach nein, er nimmt alle möglichen Tierchen, vom Pony angefangen bis zum Military. Schauspringer und alles. Aber das Pferd muß es wert sein; dem Besitzer, meine ich. Glaube nicht, daß Calders Klinik so furchtbar billig ist.« »Wucherpreise?« »Nicht daß ich wüßte. Fair vermutlich, wenn man die Ergebnisse bedenkt.« Ich schien fast mehr über Calder Jackson gehört zu ha ben als über Hengstanteile, aber schließlich hatte ich daran 105
auch eine Art begründetes Interesse. Man möchte doch gern, daß ein Leben, das man gerettet hat, von positivem Nutzen in der Welt ist. Ich war jedenfalls froh darüber, daß Calder wirklich Pferde heilte, sei es auch auf seine ei gene, geheimnisvoll-unorthodoxe Art. Ursula Young ging sich ihren Geschäften widmen, und obgleich ich sie wie auch Calder im Laufe des Nachmittags noch zu sehen bekam, suchte ich nicht mehr das Gespräch mit ihnen. Ich fuhr mit der Bahn zurück nach London, ver brachte am Sonntag morgen zwei Stunden am Telefon und fuhr am frühen Sonntag nachmittag mit dem Wagen nach Hertfordshire, um Oliver Knowles zu sprechen. Er wohnte in einem quadratischen, hundert Jahre alten, völlig roten Backsteinhaus, das nach meinem Geschmack mit ein paar auflockernden Kletterpflanzen freundlicher gewirkt hätte. Für verwischte Umrisse jedoch hatte Oliver Knowles keinen Sinn: Eine klare ungeschminkte Ordnung trat in allen Winkeln seines Grundstücks zutage. Sein Land war unterteilt in eine stattliche Anzahl Kop peln verschiedener Größe, jede umschlossen von einem makellosen, aus weißen Querlatten bestehenden Zaun; und allein ihre Erhaltung, schätzte ich, als ich auf dem un krautfreien Kies vor der Eingangstür hielt, mußte ein Vermögen kosten. In der Ferne waren Stuten und Fohlen auf den Koppeln verstreut, meist mit den Köpfen im Gras, um die letzten zarten Triebe des vergehenden Jahres auf zuspüren. Der Tag selbst war kalt, mit einer gedämpften Sonne, die schon fernen Hügeln entgegensank, der Him mel ruhig im Grau des kommenden Winters, die feuchte Luft roch nach Moder, Holzfeuer und welkem Laub. Welke Blätter waren aber nicht zu sehen. Keine Blumen beete, keine Zierhecken, keine Bäume in der Nähe. Ein 106
steriler Geist, dachte ich, hinter einem Geschäft, dessen Ziel Fruchtbarkeit und die Erzeugung von Leben war. Oliver Knowles öffnete auf mein Klopfen selbst die Haustür und erwies sich als angenehmer, hagerer Mann von geschliffener, kultivierter Autorität und höflichem Auftreten. Befehlsgewohnt, diagnostizierte ich. Fällt ihm leicht; zweite Natur. Direkt, entschlossen, selbstbe herrscht. Auch charmant auf eine unterkühlte Art. »Mr. Ekaterin?« Er schüttelte mir lächelnd die Hand. »Ich muß gestehen, ich hatte jemand … älteren erwartet.« Darauf gab es verschiedene Antworten, wie etwa »die Zeit holt’s nach« oder »schon morgen bin ich älter«, aber nichts davon schien angebracht. Statt dessen sagte ich: »Ich erstatte Bericht«, um ihn zu beruhigen, was auch ge lang, und er bat mich in sein Haus. Wie vorauszusehen, war das Innere genauso peinlich sauber, mit Zeitungen und Zeitschriften, die, soweit sichtbar, rechtwinklig auf ihrer Unterlage ruhten. Die Möbel waren antik, wohlpoliert, die Messinggriffe glänz ten, und die Teppiche waren echte alte Perser. Er führte mich in ein Wohnzimmer, das zugleich Büro war, die Wände dicht bedeckt mit gerahmten Aufnahmen von Pferden – Stuten und Fohlen –, und dessen Fenster, über eine weitere Kiesfläche hinweg, Aussicht bot auf einen überwölbten Torweg, der auf einen ausgedehnten Stall hof ging. »Boxen für Stuten«, sagte er, meinem Blick folgend. »Dahinter die Abfohlboxen. Dahinter dann der Deckstand mit den Hengstboxen auf der von hier aus auch wieder hinteren Seite. Der Bungalow meines Stutmeisters und das Pflegerhaus, das sind die Dächer, die Sie da in der Mulde sehen, gleich hinter den Hengsten.« Er zögerte. »Möchten Sie sich vielleicht mal umschauen?« 107
»Sehr gern.« »Dann kommen Sie.« Er ging voran zu einer Tür auf der Rückseite des Hauses, wobei er unterwegs in einer Diele einen Mantel und einen schwarzen Retriever auflas. »Dann mal los, Squibs, alter Junge«, sagte er und beo bachtete liebevoll, wie sich sein Hund begeistert durch die aufgehende Hintertür quetschte. »Bißchen frische Luft wird dir nicht schaden.« Wir gingen hinüber zu dem Stalltor, umkreist und um zickzackt von Squibs mit der Nase am Kies. »Das ist für uns natürlich die ruhigste Zeit im Jahr«, sag te Oliver Knowles. »Aber wir haben unsere eigenen Stuten hier und auch noch so einige in Futter.« Er blickte mir ins Gesicht, um zu sehen, ob ich verstand, und beschloß, es auf alle Fälle zu erklären. »Sie gehören Leuten, die Zuchtstuten halten, aber selbst keinen Platz dafür haben. Sie bezahlen uns für die Unterbringung.« Ich nickte. »Dann haben wir die Fohlen, die letztes Frühjahr von den Stuten geworfen wurden, und natürlich die drei Heng ste. Gesamtzahl achtundsiebzig im Moment.« »Und nächsten Frühling«, sagte ich, »treffen die Stuten, die Ihren Hengsten zugeteilt sind, ein?« »Richtig.« Er nickte. »Sie kommen einen Monat bis fünf Wochen vor der fälligen Geburt der Fohlen her, die sie be reits tragen, so daß sie dem Hengst innerhalb des darauf folgenden Monats nahe sein können. Sie müssen hier foh len, denn die Fohlen wären unmittelbar nach der Geburt zu schwach zum Reisen.« »Und … wie lange bleiben sie hier?« »Etwa drei Monate insgesamt, bis dahin hoffen wir, daß die Stute von neuem trächtig ist.« 108
»Es gibt also nicht viel Pause«, sagte ich, »zwischen den … äh … Schwangerschaften?« Er warf mir einen höflich amüsierten Blick zu. »Stuten kommen neun Tage nach dem Werfen in Gebrauch, aber normalerweise wäre uns das für die Paarung ein bißchen zu früh. Die Rosse – Sie würden es Brunst nennen – dauert sechs Tage, dann folgt eine Pause von fünfzehn Tagen, dann kommt die Stute erneut für sechs Tage in Gebrauch, und diesmal paaren wir sie. Wohlgemerkt«, setzte er hin zu, »wie die Natur nun mal ist, funktioniert dieser Zyklus nicht auf die Minute. Bei manchen Stuten dauert die Rosse nur zwei Tage, bei manchen gleich elf. Wir lassen die Stu te möglichst zwei- oder dreimal decken, während sie in der Brunst ist, um die beste Chance zu haben, daß sie trächtig wird. Eine ganze Menge hängt vom Urteil des Stutmeisters ab, und im Moment hab’ ich da einen Klas semann, er hat ein famoses Gefühl für Stuten, einen sech sten Sinn, möchte man sagen.« Er führte mich rasch über den ersten großen rechtecki gen Hof, wo lange dunkle Pferdehäupter forschend über halboffenen Stalltüren herausspähten, und durch eine Pas sage auf der anderen Seite, die zu einem zweiten Hof von fast der gleichen Größe führte, wo die Türen aber ganz ge schlossen waren. »Keine dieser Boxen ist momentan belegt«, sagte er winkend. »Wir müssen dennoch den Platz haben, wenn die Stuten kommen.« Hinter dem zweiten Hof lag ein dritter, kleinerer, und wieder mit geschlossenen Türen. »Die Abfohlboxen«, erklärte Oliver Knowles. »Alle na türlich leer jetzt.« Der schwarze Hund trottete uns wegkundig voran. Hin ter den Abfohlboxen führte ein breiter Weg zwischen zwei 109
kleinen Koppeln von jeweils einem halben Morgen hin durch, an dessen Ende sich links ein ansehnlicher Stall er hob mit einer Reihe von Fenstern unmittelbar unter dem Dach. »Der Deckstand«, sagte Oliver Knowles sparsam, zog ein schweres Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und schloß eine Tür auf, die in das breite Schiebetor des Ein gangs eingelassen war. Er bedeutete mir, hineinzugehen, und ich fand mich in einem kahlen ausbetonierten Raum, umgeben von weißen Wänden mit den hohen Fenstern oben, durch die schwach die untergehende Sonne schien. »Während der Saison ist der Boden hier natürlich mit Streu bedeckt«, sagte er. Ich nickte abwesend und dachte daran, daß an diesem ruhigen Ort zielbewußt Leben erzeugt wurde, und pro saisch kehrten wir in die Außenwelt zurück, indem Oliver Knowles die Tür wieder hinter uns verschloß. Über einen weiteren kurzen Pfad zwischen noch zwei kleinen Koppeln kamen wir zu einem weiteren kleinen Stallhof, diesmal von nur sechs Boxen, mit Futterkammer, Sattelkammer sowie Heu- und Torflager daneben. »Die Hengste«, sagte Oliver Knowles. Beinahe sofort erschienen drei Köpfe über den Halbtü ren, drei dunkle wässerige Augenpaare, die sich in unsere Richtung drehten. »Rotaboy«, sagte mein Gastgeber, ging zu dem ersten Kopf und brachte überraschend eine Mohrrübe zum Vor schein. Die schwarzen beweglichen Lippen schuckerten über den ausgestreckten Handteller und sogen das Bonbon auf, starke Zähne knirschten ein paarmal, und Rotaboy stupste Oliver Knowles um Nachschub an. Oliver Know les holte eine zweite Möhre heraus, streckte sie hin wie zuvor und tätschelte kurz den Hals des Pferdes. 110
»Er wird nächstes Jahr zwanzig«, sagte er. »Langsam alt, was, alter Junge?« Er ging weiter zur nächsten Box und wiederholte die Mohrrübennummer. »Das hier ist Diarist, er geht auf die sechzehn.« An der dritten Box sagte er: »Das ist Parakeet«, und teil te die Leckerei und den Klaps aus. »Parakeet wird am 1. Januar zwölf.« Er trat ein Stück zurück, so daß er die Köpfe aller drei Pferde auf einmal sehen konnte, und sagte: »Rotaboy war ein hervorragender Hengst und ist es noch, aber mehr als eine oder zwei weitere Saisons kann man realistischerweise nicht erwarten. Diarist ist erfolgreich. Unter seinen Nachkommen sind viele Sieger, aber keiner davon absolute Spitzenklasse wie die von Rotaboy. Parakeet hat sich nicht als so erfolg reich erwiesen, wie ich hoffte. Er zeugt nämlich bessere Ste her als Sprinter, und die Welt ist heutzutage verrückt auf schnelle Zweijährige. Parakeets Junge sind eher besser mit drei, vier, fünf und sechs. Einige aus seinen ersten Jahrgän gen machen jetzt ziemlich gute Jagd- und Hürdenrennen.« »Ist das denn nichts?« fragte ich stirnrunzelnd, da er oh ne sonderliche Freude sprach. »Ich mußte die Taxen für ihn runtersetzen«, sagte er. »Die Leute wollen ihre besten Flachstuten nicht zu einem Hengst schicken, der Hindernispferde zeugt.« »Oh.« Nach einer Pause sagte er: »Sie können sehen, weshalb ich hier neues Blut brauche. Rotaboy ist alt. Diarist ist Mit telklasse, Parakeet ist unmodern. Ich werde Rotaboy bald ersetzen müssen, und ich muß sichergehen, daß ich ihn durch einen Hengst von zumindest gleicher Qualität ersetze. Das Prestige eines Gestüts, ganz abgesehen vom finanziel len Ertrag, hängt von der Zugkraft seiner Hengste ab.« 111
»Ja«, sagte ich. »Ich verstehe.« Rotaboy, Diarist und Parakeet verloren das Interesse an der Unterhaltung und die Hoffnung in Sachen Mohrrüben und zogen sich einer nach dem anderen in die Boxen zu rück. Der schwarze Retriever trottete herum, roch für uns Menschen unvorstellbare Aromen, und Oliver Knowles geleitete mich langsam zurück in Richtung Haus. »Auf den größeren Gestüten«, sagte er, »finden Sie Hengste, die im Besitz von Syndikaten sind.« »Vierzig Anteile?« mutmaßte ich. Er lächelte flüchtig. »Genau. Hengste sind immer im Be sitz von einem bis zu vierzig Leuten. Als ich Rotaboy da mals kaufte, waren fünf andere mit von der Partie. Zwei davon habe ich ausbezahlt – sie brauchten das Geld –, also besitze ich jetzt die Hälfte. Das bedeutet, ich habe zwanzig Nominierungen pro Jahr, und die kann ich mühelos ver kaufen, womit ich sehr zufrieden bin.« Er sah mich for schend an, um sicherzugehen, daß ich verstand, was ich dank Ursula Young auch tat. »Diarist gehört mir ganz. Erst mal war er genauso teuer wie Rotaboy, und er ist Mittelmaß, genau wie die Taxe, die ich für ihn erheben kann. Ich kriege seine vierzig Plät ze nicht immer voll, und wenn das geschieht, lasse ich ihn meine eigenen Stuten belegen und verkaufe die daraus entstehenden Fohlen als Jährlinge.« Fasziniert nickte ich wieder. »Mit Parakeet ist es ganz ähnlich. In den letzten drei Jahren konnte ich nicht die Taxe verlangen, mit der ich angefangen hatte, und wenn ich ihn heutzutage bis auf den letzten Platz besetzt kriege, dann mit Stuten von Leuten, die Jagdrennen bevorzugen, und das zerstört zunehmend sein Flach-Image.« Wir gingen den gleichen Weg zurück, vorbei am Deck stand und über den Fohlhof. 112
»Die Unterhaltung dieses Betriebs ist teuer«, sagte er nüchtern. »Er bringt einen Gewinn, und ich kann gut da von leben, aber ich komme nicht voran. Ich habe hier die Kapazität für einen weiteren Hengst – das heißt, genügend Platz für die zusätzlichen vierzig Stuten. Ich habe einen guten Geschäftssinn und eine ganz hervorragende Ge sundheit, und ich fühle mich unausgefüllt. Wenn ich je mals mehr erreichen soll, brauche ich mehr Kapital … und zwar Kapital in Gestalt eines Weltklassehengstes.« »Womit wir bei Sandcastle wären.« Er nickte. »Wenn ich ein Pferd wie Sandcastle bekäme, würde dieses Gestüt sofort bekannter und geschätzter.« Untertrieben, dachte ich. Die Wirkung wäre elektrisie rend. »So etwas wie Starruhm über Nacht?« sagte ich. »Mm, ja«, gab er mit einem zufriedenen Lächeln zu. »Ich glaube, da könnten Sie recht haben.« In den großen Hof nächst dem Haus war etwas Leben gekommen. Zwei oder drei Burschen schleppten Futter körbe, Heunetze, Eimer mit Wasser und Säcke voll Mist herum. Squibs lief mit wie verrückt wedelndem Schwanz schnurstracks auf einen stämmigen Mann zu, der sich her abbeugte, um ihm die schwarzen Ohren zu kraulen. »Das ist Nigel, mein Stutmeister«, sagte Oliver Know les. »Lassen Sie sich mit ihm bekannt machen.« Und als wir hingingen, setzte er hinzu: »Wenn ich den Betrieb er weitern kann, werde ich ihn zum Gestütsleiter befördern; das gibt ihm mehr Stand gegenüber den Kunden.« Wir erreichten Nigel, der ungefähr in meinem Alter war, mit hellbraunem Kraushaar und auffallend buschigen Au genbrauen. Oliver Knowles stellte mich lediglich als »ein Bekannter« vor, und Nigel behandelte mich mit lässiger Höflichkeit, aber nicht als die mögliche Quelle künftigen 113
Reichtums. Er hatte einen Gloucestershire-Akzent, jedoch nicht ausgeprägt, und ich würde ihn als Farmersohn einge stuft haben, wenn ich gesollt hätte. »Irgendwelche Probleme?« fragte ihn Oliver Knowles, und Nigel schüttelte den Kopf. »Nichts außer der Floating-Stute mit dem Ausfluß.« Sein Verhalten gegenüber seinem Arbeitgeber war selbstbewußt und angstfrei, jedoch gleichzeitig schüch tern, und ich hatte stark den Eindruck, daß Nigels Persön lichkeit Oliver Knowles ebenso zupaß kam wie irgendein Geschick, das er mit Stuten haben mochte. Oliver Know les war in meinen Augen kein Mann, der sich mit krausen, unberechenbaren Charakteren umgab. Das Benehmen aller um ihn herum hatte so ordentlich zu sein wie sein Betrieb. Ich sann müßig über die Ehefrau nach, die »gerade mit einem Kanadier durchgebrannt« war, und in dem Moment trottete ein Pferd mit einer jungen Frau auf dem Rücken in den Hof. Ein Mädchen, verbesserte ich, als sie ihre Füße aus den Steigbügeln kickte und auf den Boden herunter glitt. Ein merklich gerundetes junges Mädchen in Jeans und dickem Pullover, das dunkle Haar zu einem Pferde schwanz gebunden. Sie führte ihr Reittier in eine der Bo xen und erschien schließlich mit dem Sattel und Zaum zeug, das sie vor der Box auf den Boden plumpsen ließ, ehe sie die untere Hälfte der Tür schloß und den Hof über querte, um zu uns zu stoßen. »Meine Tochter«, sagte Oliver Knowles. »Ginnie«, ergänzte das Mädchen und streckte höflich ei ne braune Hand aus. »Sind Sie der Grund, weshalb wir nicht aus waren zum Essen?« Ihr Vater machte unwillkürlich eine Schweigen gebie tende Bewegung, und Nigel sah ganz verständlich interes siert drein. 114
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Kann ich mir nicht denken.« »Na, ich aber«, sagte sie. »Pa mag wirklich keine Ge sellschaften. Er benützt jede nur mögliche Ausrede, damit er dran vorbeikommt, stimmt’s, Pa?« Er bedachte sie mit einem nachsichtigen Lächeln, wäh rend es aussah, als seien seine Gedanken woanders. »Macht mir aber nichts aus, daß ich’s verpaßt hab’«, sagte Ginnie taktvoll zu mir. »Zwölf Meilen hin, und alles Leute in Pas Alter … aber die haben schrecklich gute Par tyhappen und außerdem einen Zitronenbaum in ihrem Gewächshaus stehen. Wußten Sie, daß ein Zitronenbaum alles auf einmal hat – Knospen, Blüten, kleine grüne knubbelige Früchtchen und große dicke Zitronen –, auf ei nen Rutsch und ohne Unterbrechung?« »Meine Tochter«, sagte Oliver Knowles unnötigerweise, »redet sehr viel.« »Nein«, sagte ich, »das mit den Zitronenbäumen war mir neu.« Sie warf mir ein koboldhaftes Lächeln zu, und ich fragte mich, ob sie noch jünger war, als ich zuerst gedacht hatte; und wie per Telepathie sagte sie: »Ich bin fünfzehn.« »Jeder muß da durch«, sagte ich. Sie bekam große Augen. »Haben Sie es gehaßt?« Ich nickte. »Pickel, Unsicherheit, ein neuer Körper, in dem man sich noch nicht wohl fühlt, Hemmungen … fürchterlich.« Oliver Knowles sah erstaunt drein. »Ginnie ist doch nicht gehemmt, oder was, Ginnie?« Sie blickte von ihm zu mir und wieder zurück und ant wortete nicht. Oliver Knowles tat das Thema als ohnehin unwichtig ab und sagte, er müsse sich die Stute mit dem Ausfluß mal ansehen. Ob ich Lust hätte mitzukommen? 115
Ich war ohne Vorbehalt einverstanden, und alle zogen wir über einen der Pfade zwischen den weiß umzäunten Koppeln los, Oliver Knowles und ich vorneweg, Nigel und Ginnie dahinter, Squibs schnupperte an jedem Zaunpfahl und markierte sein Territorium. Zwischen Oliver Know les’ Erklärungen, daß manche Stuten vorzugsweise dau ernd im Freien lebten, andere hineingingen, wenn es schneite, andere nur bei Nacht, andere hauptsächlich in den Boxen lebten, konnte ich hören, wie Ginnie Nigel er zählte, daß die Schule in diesem Halbjahr eine scheußliche Schinderei sei dank der neuen Direktorin, die eine Ge sundheitsfanatikerin wäre, bei der sie alle joggen müßten. »Woher wissen Sie, was Stuten vorziehen?« fragte ich. Oliver Knowles sah zum erstenmal ratlos aus. »Äh…«, sagte er. »Wahrscheinlich … durch die Art, wie sie stehen. Wenn ihnen kalt und elend ist, kehren sie die Schwänze dem Wind zu und sehen gedrückt aus. Manche Pferde tun das nie, auch nicht im Schneesturm. Wenn sie offensicht lich unglücklich sind, bringen wir sie rein. Sonst bleiben sie draußen. Das gleiche gilt bei den Fohlen.« Er hielt in ne. »Vielen Stuten geht es schlecht, wenn man sie drin be hält. Es ist einfach … wie sie sind.« Er schien unzufrieden mit den losen Enden seiner Ant wort, doch ich fand sie beruhigend. Was ich bis jetzt an ihm vermißt hatte, war irgendein Gefühlskontakt mit den Geschöpfen, die er züchtete. Selbst die Möhren für die Hengste hatten etwas Mechanisches gehabt. Die Stute mit dem Ausfluß befand sich auf einer der Kop peln an der Grenze des Gestüts, und während Oliver Know les und Nigel sich ihr Hinterteil besahen und obskure Be merkungen machten wie »Ein bißchen Glück, dann verfohlt sie nicht« und »Klar ist es ja, nichts gelb oder blutig«, ver brachte ich meine Zeit damit, über die letzte Reihe weißer Querlatten auf die Hecke und Weiden dahinter zu schauen. 116
Der Kontrast zu dem Land von Knowles war dramatisch. Statt äußerster Sauberkeit heillose Unordnung. Statt kur zem grünem Gras in wohlgepflegten Rechtecken lange bräunliche Zottelhalme, die ein Heer vertrockneter Disteln durchwucherte. Statt rechteckiger, aus Backstein gebauter Stallhöfe eine baufällige Ansammlung hölzerner Stände, hellgrau von altem Kreosot und regenfest durch Planen, die über die Dachflächen gespannt waren. Ginnie folgte meinem Blick. »Da wohnen die Watcher leys«, sagte sie. »Früher war ich oft da drüben, aber jetzt sind die so schmuddelig und trübsinnig, kein Lachen mehr in Sicht. Und die ganzen Patienten sind praktisch weg, und nicht mal die Schimpansen haben sie noch, sie sagen, das können sie sich nicht leisten.« »Was für Patienten?« fragte ich. »Pferde. Es ist die Watcherley-Klinik für kranke Pferde. Haben Sie davon nie gehört?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist ziemlich bekannt«, sagte Ginnie. »Oder war’s wenigstens, bis dieser Strahlemann Calder Jackson ihnen die Schau stahl. Wohlgemerkt, weit her war es mit den Watcherleys wahrscheinlich nicht, wo Bob ständig in der Kneipe hing und Maggie sich mit den Mistsäcken fast ka puttschleppen mußte, aber wenigstens sind sie lustig ge wesen. Es war so gemütlich da, wissen Sie, auch wenn teilweise die Boxen aus dem Leim gingen und überall das Unkraut wuchs, und die Pferde kamen immer blühend ge sund nach Haus, wenn auch Maggies Knie durch ihre Jeans guckten und sie wochenlang denselben Jersey anhat te. Aber Calder Jackson, sehen Sie, der ist in mit seinen ganzen Labershows im Fernsehen und der Publicity und so, und die Watcherleys sind irgendwie abgedrängt wor den.« 117
Ihr Vater, der die letzte dieser Äußerungen hörte, fügte seine eigene Ansicht hinzu. »Sie sind desorganisiert«, sag te er. »Kein Geschäftssinn. Eine Zeitlang gefiel zwar den Leuten ihr Zigeunerstil, aber wie Ginnie sagt, auf Calder Jackson haben die keine Antwort.« »Wie alt sind sie?« fragte ich stirnrunzelnd. Oliver Knowles zuckte die Achseln. »Mitte Dreißig. Ge gen vierzig. Schwer zu sagen.« »Sie haben wohl nicht einen Sohn um die sechzehn, dünn und impulsiv, der Calder Jackson unheimlich dafür haßt, daß er das Geschäft seiner Eltern ruiniert hat?« »Was für eine merkwürdige Frage«, sagte Oliver Know les, und Ginnie schüttelte den Kopf. »Sie haben nie Kinder bekommen«, sagte sie. »Maggie kann nicht. Hat sie mir erzählt. Sie schenken diese ganze Liebe einfach den Tie ren. Es ist wirklich grausig, was mit ihnen passiert.« Es hätte so toll gepaßt, dachte ich, wenn Calder Jacksons verhinderter Mörder ein Sohn der Watcherleys gewesen wäre. Zu toll vielleicht. Aber es gab vielleicht noch andere wie die Watcherleys, deren Stern gesunken war, als der von Calder Jackson aufging. Ich sagte: »Kennen Sie noch andere Höfe, abgesehen von diesem und Calder Jackson, wo Leute ihre kranken Pferde hinschicken?« »Es wird schon welche geben«, sagte Ginnie. »Muß ja.« »Ganz bestimmt«, sagte Oliver Knowles nickend. »Aber natürlich schicken wir keine Pferde weg, die hier krank werden. Ich habe einen ausgezeichneten Tierarzt, ein Stu tenkenner, kommt Tag und Nacht, wenn Not ist.« Wir traten den Rückweg an, auf dem Oliver Knowles mich auf verschiedene interessante Stuten und Fohlen hinwies und an jeden Kopf in Reichweite Mohrrüben aus teilte. 118
Ginnie ging davon, um nach dem Pferd zu sehen, das sie geritten hatte, und Nigel, um seine Inspektion im Haupthof zu beenden, so daß Oliver Knowles, der Hund und ich al lein ins Haus gingen, Squibs, der arme Kerl, durfte nicht weiter als bis zu seinem Korb in der Diele, doch Knowles und ich kehrten in das Wohnzimmer-Büro zurück, von dem wir aufgebrochen waren. Dank meiner Telefonate am Morgen wußte ich, was der Erwerb und das Management von Sandcastle in steuerli cher Hinsicht bedeuten würde, und ich war auch mit Zah lenkolonnen ausgerüstet, die die fälligen Zinsen umrissen, sollte das Darlehen bewilligt werden. Ich stellte fest, daß ich meine Kenntnisse brauchte, nicht um zu belehren, son dern um mitreden zu können: Oliver Knowles war auf lang vertrautem Boden. »Ich hab’ das natürlich schon oft gemacht«, sagte er. »Ich mußte die Finanzierung für Gebäude regeln, für Um zäunungen, für den Kauf der drei Hengste, die Sie gesehen haben, und für zwei andere vorher. Ich bin es gewohnt, ziemlich umfangreiche Bankdarlehen zurückzuzahlen. Dieses neue Vorhaben ist natürlich vergleichsweise riesig, aber wenn ich nicht glaubte, daß es im Rahmen meiner Möglichkeiten läge, das versichere ich Ihnen, hätte ich es nicht ins Auge gefaßt.« Er warf mir ein flüchtiges char mantes Lächeln zu. »Ich bin kein Traumtänzer, wissen Sie. Ich kenne wirklich mein Geschäft.« »Ja«, sagte ich. »Man sieht es.« Ich erklärte ihm, daß die Höchstlaufzeit eines EkaterinKredits (angenommen, er kam zustande) fünf Jahre betrug, worauf er lediglich nickte. »Das heißt grundsätzlich«, beharrte ich, »daß Sie gegen acht Millionen in diesen fünf Jahren einnehmen müßten, selbst wenn Sie jährlich einen Teil des Kredits mit ent 119
sprechend abnehmenden Zinsen zurückzahlen. Das ist eine ganze Menge Geld … Sind Sie sich bestimmt darüber klar, um wieviel es geht?« »Natürlich ist es mir klar«, sagte er. »Selbst wenn ich Zinszahlungen und die lächerlich hohe Versicherungs prämie für ein Pferd wie Sandcastle einrechne, wäre ich in der Lage, den Kredit in fünf Jahren zurückzuzahlen. Das ist die Spanne, die ich bei der Planung benutzt habe.« Er breitete die Bögen mit seinen sauber geschriebenen Kalkulationen auf dem Schreibtisch aus und deutete auf jede einzelne Zahl, während er erklärte, wie er zu ihr ge langt war. »Eine Decktaxe von vierzigtausend Pfund dürf te ausreichen. Seine Rennleistungen rechtfertigen diese Zahl, und ich habe mich sorgfältigst mit Sandcastles eige ner Abstammung befaßt. Das können Sie sich denken. Es gibt absolut nichts Bedenkliches in der Familie. Keine Spur von erblicher Krankheit oder unerwünschten Nei gungen. Er kommt aus einer gesunden, blaublütigen Linie von Siegern, und es besteht kein Grund, weshalb er nicht entsprechend zeugen sollte.« Er gab mir eine Fotokopie der Stammtafel. »Ich würde nicht erwarten, daß Sie mir einen Kredit einräumen, ohne ein Gutachten hierüber ein zuholen. Bitte nehmen Sie sie mit.« Er gab mir außerdem Kopien seiner Zahlen, und ich packte alles in die Aktentasche, die ich mitgebracht hatte. »Weshalb erwägen Sie nicht, Ihr Risiko auf einund zwanzig Anteile zu halbieren?« fragte ich. »Verkaufen neunzehn. Sie würden die anderen Besitzer noch immer überstimmen – keine Chance, daß sie Sandcastle sonst wohin verschwinden lassen –, und Sie wären weniger be ansprucht.« Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Wenn ich aus irgend einem Grund feststellte, daß die Rückzahlung mir akute 120
Schwierigkeiten bereitet, würde ich, soweit erforderlich, Anteile verkaufen. Aber ich hoffe, in fünf Jahren Sandcastle voll und ganz zu besitzen und außerdem, wie ich Ihnen schon sagte, noch andere Hengste dieses Kalibers angelockt zu haben und zur Weltspitze der Gestüte zu zählen.« Seine angenehme Art verscheuchte jeden Gedanken an Größenwahn, und ich konnte nichts dergleichen bei ihm entdecken. Ginnie kam ein wenig ängstlich-schüchtern mit zwei Be chern ins Büro. »Ich habe Tee gemacht. Mögt ihr welchen, Dad?« »Ja, bitte«, sagte ich sofort, ehe er antworten konnte, und sie sah fast schmerzlich erleichtert aus. Oliver Knowles verkehrte sein beginnendes Kopfschütteln in ein Nicken, und Ginnie sagte, als sie die Becher reichte, wenn ich Zucker wolle, würde sie welchen holen. »Und einen Tee löffel dazu.« »Meine Frau ist fort«, sagte Oliver Knowles unvermit telt. »Kein Zucker«, sagte ich. »Ist prima so.« »Du vergißt doch nicht, Dad, daß ich noch in die Schule muß?« »Nigel fährt dich.« »Er hat Besuch.« »Oh … na schön.« Er sah auf seine Uhr. »In einer halben Stunde dann.« Ginnie wirkte noch erleichterter, besonders, da ich deut lich den Unmut spüren konnte, den er unterdrückte. »Die Schulfahrt«, sagte er, als die Tür sich hinter seiner Tochter schloß, »war eine von den Sachen, die immer meine Frau übernahm. Übernimmt…« Er zuckte die Achseln. »Sie ist auf unbestimmte Zeit weg. Können Sie ja ruhig wissen.« 121
»Das tut mir leid«, sagte ich. »Nicht zu ändern.« Er blickte auf den Teebecher in mei ner Hand. »Ich wollte Ihnen etwas Stärkeres anbieten.« »Schon gut so.« »Ginnie kommt an vier Sonntagen im Halbjahr heim.« Er zögerte. »Sie hat sich noch nicht daran gewöhnt, daß ihre Mutter nicht hier ist. Es ist schlecht für sie, aber was will man, so ist das Leben.« »Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte ich. Er warf mir einen Blick zu, in dem ich sowohl Liebe für seine Tochter als auch Blindheit gegenüber ihren Bedürf nissen las. »Sie müssen wohl«, sagte er nachdenklich, »auf der Heimfahrt nicht irgendwo in die Nähe von High Wy combe?« »Nun«, sagte ich entgegenkommend, »ich könnte schon.« Also fuhr ich dann Ginnie zurück in ihre Schule, hörte mir unterwegs ihre Ansichten über das Joggingpflicht programm der neuen Direktorin an (»unsere Busen wippen die ganze Zeit rauf und runter, verdammt unbequem und sieht absolut verboten aus«) und ihre Meinung über Nigel (»Dad findet, die Sonne scheint aus seinen Sie-wissen schon, und er versteht sich wohl auch ziemlich gut auf die Stuten, sie machen sich blendend, aber was die Burschen hinter seinem Rücken veranstalten, darum kümmert sich keiner. Die rauchen in den Futterschuppen, ich bitte Sie! Das ganze Heu da … Nigel merkt nie was. Einen misera blen Vertrauensschüler gäb’ der ab«) und ihre allgemeine Lebensanschauung (»Ich kann’s gar nicht erwarten, raus zukommen aus der Schuluniform und aus den Schlafräu men und dem Herumkommandiertwerden, und im Unter richt bin ich auch ’ne Niete; die ganze Sache ist ein Un ding. Warum hat sich alles so verändert? Ich war doch immer glücklich, oder wenigstens nicht unglücklich, was 122
ich heutzutage anscheinend meistens bin, und nein, das liegt nicht daran, daß Mama weggegangen ist, jedenfalls nicht speziell, denn so eine Hätschelmutter ist sie nie ge wesen, hat mir immer gesagt, man hält den Mund beim Essen und so weiter … aber Sie müssen sich ja krank langweilen bei den ganzen Geschichten.«). »Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich langweile mich gar nicht.« »Ich bin nicht mal schön«, sagte sie verzweifelt. »Ich kann meine Backen einziehen, bis ich in Ohnmacht falle, aber ich sehe nie blaß und knochig und interessant aus.« Ich blickte in das noch rundliche Kindfrauengesicht, auf die Pfirsichblütenhaut, in die bekümmerten Augen. »Praktisch niemand ist schön mit fünfzehn«, sagte ich. »Es ist zu früh.« »Wie meinen Sie das, zu früh?« »Na«, sagte ich, »mit zwölf beispielsweise bist du noch ein Kind, flach, unentwickelt und so weiter, und vielleicht mit siebzehn, achtzehn bist du ausgewachsen, eine Er wachsene; denk doch nur an die unheimlichen Verände rungen, die dein Körper in dieser Zeit durchmacht. Ausse hen, Wünsche, geistige Einstellung, alles. Daher ist es mit fünfzehn, auf kaum mehr als halbem Weg, noch zu früh, um genau zu wissen, wie das Endergebnis sein wird. Und falls es dich tröstet, du siehst jetzt aus, als ob du in ein oder zwei Jahren schön sein könntest, oder wenigstens nicht unerträglich häßlich.« Eine ganze Strecke lang saß sie schweigsam da, wie es gar nicht ihre Art war, und dann sagte sie: »Weshalb sind Sie heute gekommen? Ich meine, wer sind Sie? Wenn die Frage erlaubt ist…« »Sie ist erlaubt. Ich bin eine Art Finanzberater. Ich arbei te bei einer Bank.« 123
»Oh.« Das klang ein wenig enttäuscht, sie äußerte sich aber nicht weiter, und bald darauf erklärte sie mir nüchtern und präzise den Weg zur Schule. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte sie und gab mir höflich die Hand, als wir neben dem Wagen standen. »Hat mich gefreut.« »Und danke…« Sie zögerte. »Danke jedenfalls.« Ich nickte, und halb schritt, halb lief sie auf eine Gruppe von anderen Mädchen zu, die in das Gebäude gingen. Sie schaute kurz zurück und winkte mir andeutungsweise zu, was ich erwiderte. Ein liebes Kind, dachte ich, als ich den Wagen heimwärts lenkte. Ziemlich durcheinander, aber wer war das nicht in dem Alter. Mittlere Intelligenz, nicht sonderlich hübsch. Ihre Zukunft war ein freier Streifen Sand, der auf Fußabdrücke wartete.
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Das erste Jahr Dezember
E
s kam in die Schlagzeilen der Sporting Life (OLIVER KNOWLES, KÖNIG DER SANDBURG) und tauchte unter weniger fantasievollen Bannern als Titelstory auf den Rennseiten aller anderen Tageszeitungen auf. SANDCASTLE GEHT IN DIE ZUCHT, SANDCASTLE BLEIBT IN ENGLAND, SANDCASTLE-ANTEILE UNVERKÄUFLICH, SAND CASTLE FÜR RIESENSUMME UNTER DER HAND VERKAUFT. Die Story war in allen Fällen kurz und einfach. Einer der Spitzenhengste des Jahres war vom Besitzer eines bislang mittelklassigen Gestüts erworben worden. »Ich bin sehr glücklich«, zitierte man Oliver Knowles allerorten. »Sand castle ist ein Juwel für die britische Vollblutzucht.« Der Kaufpreis, so hieß es in sämtlichen Blättern, lag »nicht weit von fünf Millionen Pfund«, und einige wenige ergänzten »die Finanzierung war privat«. »Tja«, meinte Henry beim Lunch, tippte an die Sporting Life, »nicht viele unserer Kredite erregen so ein Aufse hen.« »Es ist ein Schlag ins Wasser«, unkte der hartnäckige Dis sident, der an diesem Tag zufällig an meinem Ellbogen saß. Henry hörte es nicht und war ohnehin guter Laune. »Wenn eins von den Fohlen im Derby startet, unterneh men wir einen Betriebsausflug. Was meinen Sie, Gordon? Fünfzig Leute in Kabrio-Bussen?« 125
Gordon stimmte mit einem Lächeln zu, als hoffte er, man würde ihn nicht wirklich anhalten, sein Versprechen zu erfüllen. »Vierzig Stuten«, überlegte Henry, »vierzig Fohlen. Ei nes davon dürfte bestimmt doch Derby-Format haben.« »Ähm«, sagte ich aus neu erlangtem Wissen. »Vierzig Fohlen ist ein bißchen hoch veranschlagt. Fünfunddreißig wären schon ganz gut. Manche Stuten ›greifen‹ sozusagen nicht.« Henry zeigte leichte Bestürzung. »Soll das heißen, daß fünf oder sechs Taxen zurückerstattet werden müssen? Wirkt sich das nicht auf Knowles’ Rückzahlungspro gramm aus?« Ich schüttelte den Kopf. »Für ein Pferd von Sandcastles Klasse ist die Taxe Voraussetzung. Zahlbar für erwiesene Dienste, ungeachtet des Resultats. Jedenfalls in Großbri tannien und Europa. In den USA gilt das System: kein Fohlen, keine Taxe, auch für die Elitehengste. Ein leben diges Fohlen, heißt das. Lebendig, auf den Beinen und am Euter.« Henry entspannte sich, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und lächelte. »Sie haben ohne Zweifel viel dazugelernt, Tim, seit das Ganze anfing.« »Es ist faszinierend.« Er nickte. »Ich weiß zwar, es ist nicht üblich, aber was hielten Sie davon, das Geld der Bank aus nächster Nähe im Auge zu behalten? Hätte Knowles etwas dagegen, wenn Sie ab und zu vorbeikämen?« »Ich glaube nicht. Wenn allgemeines Interesse besteht.« »Gut. Dann machen Sie das so. Bringen Sie uns Ver laufsberichte. Ich muß sagen, ich war noch nie von einem Pferd so beeindruckt wie an dem Tag von Sandcastle.« 126
Henrys offene Bewunderung für den Hengst hatte letzten Endes dazu geführt, daß Ekaterin Oliver Knowles drei von den fünf Millionen vorstreckte; Privatpersonen zeichneten die restlichen zwei. Die Fruchtbarkeitstests waren ausge zeichnet gewesen, der Besitzer hatte sein Geld bekommen, und Sandcastle stand bereits im Hengststall in Hertfordshi re neben Rotaboy, Diarist und Parakeet. Der Dezember marschierte auf Weihnachten zu, so daß überall in London Bäume blinkten und an den Nachmitta gen trister Schneeregen fiel. Spontan schickte ich eine mit geschmackvollen Rotkehlchen bedruckte Karte an Calder Jackson, auf der ich ihm alles Gute wünschte, und erhielt beinahe postwendend (im Büro) ein Schreiben, in dem er sich herzlich bedankte und mich fragte, ob ich daran inter essiert sei, irgendwann einmal bei ihm vorbeizuschauen. Wenn ja, so schloß er, möchte ich bitte anrufen – Nummer lag bei. Ich rief an. Er war leutselig und sehr viel ungezwunge ner als sonst. »Kommen Sie nur«, sagte er, und wir verab redeten uns für den nächsten Sonntag. Ich sagte Gordon, daß ich hin wollte. Wir arbeiteten an einem Inter-Bankkredit von neuneinhalb Millionen auf fünf Tage an einen Konkurrenten; eine Sache von kaum mehr als ein paar Anrufen und einem Versprechen. Meine Haare sträubten sich schon fast nicht mehr ob des Um fangs und Tempos solcher Abschlüsse, und mit nur münd licher Zustimmung von Val und Henry hatte ich vor kur zem selbständig einen Kredit von sieben Millionen für achtundvierzig Stunden gewährt. Der Trick bestand darin, nie für einen längeren Zeitraum Kredit zu geben, als wir selbst das nötige Kapital borgen konnten; taten wir das, dann liefen wir Gefahr, einen höheren Zinssatz zurückzah len zu müssen, als wir auf den Kredit erhielten; ein Vor gang, der Val Fisher körperlich schmerzte. Es war einmal 127
passiert, daß er durch einen säumigen Kunden für acht zehn Tage einen Kredit von mehreren Millionen aufneh men mußte, und das hatte er niemals verwunden. Die meisten unserer Transaktionen waren nicht so schwergewichtig, und als nächstes stand auf meiner Ta gesordnung der Antrag, einem Mann fünfundfünfzig tausend Pfund zu leihen, der einen Papierkorb für den Ge brauch im Pkw erfunden hatte und Kapital zur Entwick lung benötigte. Ich las den Brief Gordon vor, der rasch den Daumen nach unten bog. »Schade«, sagte ich. »Es ist ein bitter notwendiger Arti kel.« »Er verlangt zuwenig.« Er drückte seine linke Hand fest zwischen seine Knie und verkeilte sie dort. »Außerdem bleiben noch viel bessere Erfindungen auf der Strecke.« Ich stimmte ihm zu und schrieb einen kurzen bedauernden Brief. Gordon blickte wenig später von seinen Seiten auf und fragte mich, was ich an Weihnachten vorhätte. »Nichts Besonderes«, sagte ich. »Kein Besuch bei Ihrer Mutter auf Jersey?« »Sie segeln in der Karibik.« »Judith und ich haben überlegt…«, er räusperte sich, »… ob Sie Lust hätten, mit uns zu feiern. An Heiligabend zu kommen, drei oder vier Tage dazubleiben? Ganz wie Sie wollen natürlich. Ich möchte behaupten, daß Sie es bei uns nicht allzu aufregend finden würden … aber das Angebot besteht jedenfalls.« War es klug, fragte ich mich, drei oder vier Tage bei Ju dith zu verbringen, wenn drei oder vier Stunden in Ascot schon akut in Versuchung geführt hatten? War es klug, wenn ihr Anblick so viele natürliche Triebe wachrief, so lange und so nah unter ihrem Dach zu schlafen? 128
Höchst unklug. »Möchte ich schon«, sagte ich, »sehr gerne«; und ich dachte, du bist ein verdammter Idiot, Tim Ekaterin, und wenn es dir weh tut, ist es deine eigene alberne Schuld. »Gut«, sagte Gordon mit einem Blick, als meinte er es auch. »Judith wird sich freuen. Sie befürchtete, Sie hätten vielleicht jüngere Bekannte, wo Sie hin wollten.« »Nichts abgemacht.« Er nickte zufrieden und wandte sich wieder seiner Arbeit zu, und ich dachte daran, daß Judith meinen Besuch wünschte, denn hätte sie es nicht gewollt, wäre ich nicht gefragt worden. Wenn ich einen Funken Verstand hatte, fuhr ich nicht hin, aber ich wußte, ich würde es tun. Calder Jacksons Reich in Newmarket, das ich am nächsten Sonntag morgen sah, war ein Juwel der Öffentlichkeits arbeit, wo nichts unterlassen worden war, um die Besucher der Kranken zu erfreuen. Der Hof selbst, ein auf drei Sei ten von Gebäuden umschlossenes Viereck, war kosme tisch mit einem zentralen Rasen und einem anmutigen Baum bepflanzt, und leuchtend bemalte Fässer, jetzt der Blumen beraubt, standen in kurzen Zwischenräumen vor den Stallboxen. Hier und da gab es parkbankähnliche Sitz gelegenheiten, dazu dekorative Pförtchen und Geländer mit Schneckenverzierung in schwarzem Eisen und einen einladenden Torbogen mit der Aufschrift »Zum Erfri schungsraum«. Außerhalb des Haupthofes, nach einer Seite hin, stand ein kleines separates, glänzend weiß gestrichenes Gebäu de. Ein markantes, großes rotes Kreuz hob sich von der Tür ab; darunter das Wort Praxis. 129
Der Hof und die Praxis waren das, was der Besucher zu erst sah. Dahinter stand, von Bäumen abgeschirmt, Calder Jacksons Wohnhaus, mehr vor neugierigen Augen verbor gen als sein Geschäft. Ich parkte neben verschiedenen an deren Wagen auf dem Asphaltstreifen und ging hinüber, um zu klingeln. Die Haustür wurde mir von einem Bedien ten in weißer Jacke geöffnet. Butler oder Pfleger? »Hier entlang, Sir«, sagte er ehrerbietig, als ich meinen Namen nannte. »Mr. Jackson erwartet Sie.« Butler also. Interessant, den bühnenreifen Haarschnitt in seiner hei mischen Umgebung zu sehen, einem altväterlichen Land haus großen Stils. Ich hatte einen Eindruck von Weiträu migkeit, Eichengebälk, Steinfliesenboden, Teppichen, dunklem Eichenmobiliar, großem Ziegelsteinkamin mit brennenden Scheiten … und von Calder im Anmarsch, mit breitem Lächeln und gestrecktem Arm. »Tim!« rief er aus und schüttelte mir kräftig die Hand. »Was für ein Vergnügen, wirklich ein Vergnügen.« »Habe mich auch darauf gefreut«, sagte ich. »Kommen Sie da ans Feuer. Wärmen Sie sich erst mal. Wie wär’s mit was zu trinken? Und … ach … das ist ein Freund von mir …«, er winkte zu einem zweiten Mann, der bereits am Kamin stand, »… Ian Pargetter.« Der Freund und ich nickten einander zu und setzten die üblichen »Fremde begegnen sich«-Zeichen, und der Name purzelte mir durch den Kopf als etwas, das ich irgendwo schon mal gehört hatte, aber nicht ganz unterbringen konnte. Calder Jackson klimperte mit Flaschen und Gläsern und gab mir auf Rückfrage einen Scotch von noblen Propor tionen. 130
»Und für Sie, Ian«, sagte er. »Noch eine Tinktur?« Ah ja, dachte ich. Der Tierarzt. Ian Pargetter, der Tier arzt, der sich nicht scheute, mit Heilpraktikern ohne Li zenz zu verkehren. Ian Pargetter zögerte, aber zuckte die Achseln und hielt sein Glas hin wie jemand, der einer angenehmen Verlok kung nachgibt. »Eine kleine noch, Calder«, sagte er. »Ich muß los.« Er war um die vierzig, schätzte ich; schwer und vertrau enerweckend, mit strohblondem, ergrauendem Haar, ei nem dicken Schnurrbart und dem Flair, sein Leben voll und ganz im Griff zu haben. Calder erklärte, daß ich es sei, der in Ascot das für ihn gedachte Messer abgelenkt habe, und Ian Pargetter gab voraussehbare Kommentare ab von wegen Glück, schneller Reaktion und wer könne Calder bloß umgebracht haben wollen? »Das war insgesamt ein denkwürdiger Tag«, sagte Calder, und ich stimmte ihm zu. »Wir haben alle einen Batzen auf Sandcastle gewon nen«, meinte Calder. »Schade, daß er so früh in die Zucht geht.« Ich lächelte. »Vielleicht gewinnen wir bei seinen Söh nen.« Es war, soviel ich wußte, kein besonderes Geheimnis, woher das Kapital für Sandcastle gekommen war, doch es lag bei Oliver Knowles, das zu enthüllen, nicht bei mir. Ich dachte zwar, es hätte Calder interessiert, aber die Ban kerethik ließ mich schweigen wie gewohnt. »Ein Prachtpferd«, sagte Calder mit der ganzen Begei sterung, die er in Dissdales Loge gezeigt hatte. »Eins von den großen.« Ian Pargetter nickte zustimmend, trank dann auf einen 131
Zug sein Glas aus und sagte, er sei unterwegs. »Lassen Sie mich wissen, wie es diesem Pony ergeht, Calder.« »Ja, natürlich.« Calder trat mit seinem aufbrechenden Gast zur Tür und klopfte ihm auf die Schulter. »Danke fürs Reinschauen, Ian. Weiß es zu schätzen.« Man hörte von der Haustür her, wie Pargetter ging, und Calder rieb, als er zurückkam, die Hände aneinander und sagte, obwohl es kalt draußen sei, hätte ich vielleicht Lust, mich mal umzusehen, bevor seine anderen Gäste zum Lunch einträfen. Wir gingen also hinaus in den offenen Viereckhof, wo Calder von Box zu Box wanderte und mir ein kurzes Resümee der Krankheiten und Aussichten jedes Patienten gab. »Dieses Pony kam erst gestern … es ist angeblich ein preisgekröntes Show-Pony, aber schauen Sie sich’s an. Stumpfe Augen, rauhes Haarkleid, rundum schlapp. Sie sagen, es hat seit Wochen immer wieder Durchfall. Ich bin der letzte Ausweg, heißt es.« Er lächelte philosophisch. »Mir schleierhaft, wieso man mir die kranken Pferde nicht als ersten Ausweg schickt. Aber so geht’s nun mal, zuerst werden immer die regulären Tierärzte versucht. Kann man wohl keinem verdenken.« Wir schritten weiter die Stände ab. »Diese Stute hat Blut gehustet, als sie vor drei Wochen kam. Ich war der letzte Ausweg ihres Besitzers.« Er lächelte wieder. »Jetzt geht’s ihr prima. Der Husten ist fast weg. Sie frißt gut und kommt zusehends in Form.« Die Stute blinzelte uns träge an, als wir davonschlenderten. »Das ist eine zweijährige Stute«, sagte Calder mit Blick über eine Halbtür. »Sie hatte seit sechs Wochen ein infi ziertes Geschwür auf dem Widerrist, ehe sie herkam. An tibiotika hatten sich als nutzlos erwiesen. Jetzt ist das Ge schwür trocken und heilt. Höchst befriedigend.« 132
Wir gingen die Reihe hinunter. »Das ist jemandes Lieblingsjagdpferd, extra aus Glouce stershire gekommen. Ich weiß nicht, was ich für ihn tun kann, obwohl ich es natürlich versuchen werde. Sein Pro blem ist ehrlich gesagt einfach das Alter.« Weiter unten: »Hier ist ein Military-Star. Kam mit stoß weisen Blutungen im Urin zu mir, die widerspenstig gegen Antibiotika waren. Er litt offensichtlich große Schmerzen und war deswegen fast gefährlich zu behandeln. Aber jetzt ist er in Ordnung. Er bleibt noch eine Zeitlang hier, aber ich bin sicher, das Übel ist kuriert.« »Das hier ist ein dreijähriger Hengst, der im Juli ein Rennen gewann, aber dann ging es los, daß ihm Blutge fäße platzten, und trotz Behandlung platzten immer mehr. Er ist seit vierzehn Tagen hier. Letzter Ausweg natürlich!« An der nächsten Box sagte er: »Schauen Sie sich die nicht an, wenn Sie empfindlich sind. Arme kleine Un glücksstute, sie ist so schwach, daß sie den Kopf nicht hochhalten kann, und ihre ganzen Knochen stehen unter der Haut vor. Irgendeine Art zehrende Krankheit. Bluttests haben nicht ergeben, was es ist. Ich weiß nicht, ob ich sie heilen kann. Ich habe ihr bis jetzt zweimal die Hände auf gelegt, aber da war nichts. Kein … Gefühl. Manchmal braucht es lange Zeit. Aber aufgeben würde ich nicht, und Hoffnung besteht immer.« Er drehte seinen Lockenkopf und wies auf eine andere Box weiter vorn. »Da drüben ist ein Hengst, der seit zwei Monaten hier steht und jetzt gerade erst anspricht. Seine Besitzer waren verzweifelt und ich insgeheim auch, aber dann, als ich vor gerade drei Tagen in seiner Box war, konnte ich spüren, wie die Kraft durch meine Arme und in ihn hinein strömte. Am nächsten Tag war er auf dem Weg zur Besserung.« 133
Er redete auf seinem Heimatboden mit weit natürliche rem Fluß und weniger so, als läse er von einem Skript ab, und trotzdem empfand ich die gleichen Vorbehalte gegen über der heilsamen Berührung wie schon in Ascot. Ich war eben ein Zweifler, nahm ich an. Ich hätte nie im Leben mein Vertrauen auf den siebten Sohn eines siebten Sohnes gesetzt, wahrscheinlich, weil mein einziges konkretes Wissen von irgendeinem Menschen, der »die Berührung« gesucht hatte, auf einem engen Freund im College beruhte, der hoffnungslos krebskrank gewesen und als letzte Zu flucht zu einer Heilerin gegangen war, nur um gesagt zu bekommen, daß er am Sterben sei, weil er es wollte. Ich erinnerte mich lebhaft an seinen Zorn und an meinen Zorn um seinetwillen: Und während ich in Calders Hof stand, fragte ich mich, ob dieselbe Frau wohl auch dächte, daß Pferde todkrank wurden, weil sie es wollten. »Gibt es irgend etwas, was Sie nicht behandeln kön nen?« fragte ich. »Irgend etwas, was Sie zurückweisen?« »Leider ja.« Er lächelte kläglich. »Es gibt einige Sachen wie fortgeschrittene Rehe, die mich entmutigen, und was Coryne angeht …«, er schüttelte den Kopf, »… das ist ein Killer.« »Ich kann nicht folgen«, sagte ich. »Entschuldigung. Tja, die Rehe ist ein Hufleiden, bei dem sich schließlich der Knochen auflöst, und zuletzt können die Pferde nicht mehr stehen. Sie legen sich nie der, und Pferde können liegend höchstens einige Tage le ben.« Er sprach mit Bedauern. »Und Coryne«, setzte er hinzu, »ist ein furchtbares Bakterium, das für Fohlen, die es infiziert, tödlich ist. Es bewirkt eine Art Lungenent zündung mit Abszessen in der Lunge. Hoch ansteckend. Ich weiß von einem Gestüt in Amerika, das an einem ein zigen Tag siebzig Fohlen verlor.« 134
Entsetzt hörte ich zu. »Haben wir das in England?« frag te ich. »Vereinzelt schon mal, aber nicht weit verbreitet. Ältere Pferde greift es nicht an. Fohlen von drei Monaten oder darüber sind sicher.« Er zögerte. »Manche ganz jungen Fohlen überleben natürlich, aber oft bleibt vernarbtes Ge webe in der Lunge zurück, das ihre Atmung für Renn zwecke beeinträchtigen kann.« »Gibt es keinen Impfstoff?« fragte ich. Er lächelte nachsichtig. »Pferdekrankheiten sind sehr wenig erforscht, hauptsächlich der Kosten wegen, aber auch, weil Pferde so groß sind und nicht für irgendwelche kontrollierten Testserien in Laboratorien gehalten werden können.« Wieder hatte ich den Eindruck, daß er alles das schon viele Male vorher gesagt hatte, aber es war verständlich, und ich gewöhnte mich daran. Wir setzten den Klinikrund gang fort (Vierjähriger mit allgemeiner Schwäche, Schau springer mit eiterndem Bein) und kamen schließlich zu ei ner Box mit offener Tür. »Diesem hier geben wir Bestrahlung«, sagte Calder, in dem er mir bedeutete hinzuschauen; und im Innern der Box war ein magerer Junge dabei, den Winkel einer Ultra violettlampe auf einem kopfhohen Halter an der Wand einzustellen. Ich schaute jedoch nicht auf den Apfel schimmel, sondern auf den Burschen, denn auf den ersten Blick dachte ich, es sei der Junge, der Calder angefallen hatte. Ich öffnete den Mund … und schloß ihn wieder. Er war es nicht. Aber er hatte die gleiche Größe, gleiche Statur, gleiche Geschmeidigkeit, die gleichen Farbtöne, aber nicht die gleichen Augen, die Kinnpartie oder die schmale Nase. 135
Calder sah meine Reaktion und lächelte. »Für einen Se kundenbruchteil glaubte ich, als ich diesen Jungen in Ascot kommen sah, es sei Jason hier. Aber natürlich war er es nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ähnlich, aber anders.« Calder nickte. »Und Jason würde mich nicht umbringen wollen, was, Jason?« Er sprach mit einer Jovialität, auf die Jason nicht einging. »Nein, Sir«, antwortete er stur. »Jason ist meine rechte Hand«, erklärte Calder herzlich. »Nicht zu entbehren.« Die rechte Hand zeigte sich von der Schmeichelei nicht erbaut und behielt die ganze Zeit eine unbeteiligte Miene bei. Er berührte das graue Pferd und forderte es auf, ein bißchen zu rücken, in der Art, wie man zu einem Gleich gestellten spricht, und gehorsam rückte das Pferd. »Paß auf deine Augen auf mit der Lampe«, sagte Calder. »Wo ist deine Brille?« Jason kramte in der Brusttasche seines Hemdes und zog eine tiefdunkle Sonnenbrille hervor. Calder nickte. »Setz sie auf«, sagte er, und Jason gehorchte. Wenn schon vor her die Beweglichkeit des Ausdrucks gefehlt hatte, gab es jetzt, mit den verdeckten Augen, überhaupt keine Mög lichkeit mehr, Jasons Gedanken zu erraten. »In zehn Mi nuten bin ich hiermit fertig«, sagte er. »Kommt noch was danach, Sir?« Calder überlegte kurz und schüttelte den Kopf. »Nur die Abendrunde um vier.« »Ihre Kranken werden ja bestens gepflegt«, sagte ich als Kompliment. Jasons ausgeblendete Augen wandten sich in meine Richtung, doch es war Calder, der sagte: »Harte Arbeit 136
bringt Ergebnisse.« Und das hast du schon tausendmal ge sagt, dachte ich. Wir erreichten die letzte Box im Hof, die erste, die leer stand. »Unfallbett«, sagte Calder scherzend, und ich lächelte und fragte, wieviel er für seine Patienten berechne. Er antwortete ungezwungen und ohne Erklärung oder Entschuldigung. »Das Doppelte der Trainingsgebühren, die gegenwärtig in den Topställen von Newmarket ver langt werden. Wenn die Tarife steigen, ziehen meine nach.« »Das Doppelte …?« Er nickte. »Ich könnte mehr verlangen, wissen Sie. Aber wenn ich weniger verlangte, würde ich völlig von den ganzen »Letzter-Ausweg«-Leuten überschwemmt, und ich habe einfach nicht den Platz oder die Zeit oder die spiri tuellen Reserven, mehr Fälle anzunehmen, als ich tue.« Ich fragte mich, wie man jemals zu dem Kern des Man nes hinter dem beherrschten, besonnenen Öffentlich keitsgesicht käme, oder ob das Öffentlichkeitsgesicht viel leicht gar keine Fassade war, sondern der Kern selbst. Ich besah mir die körperliche Kraft der Schultern unter dem Helmschopf und lauschte den schlichten Worten, die eine mystische Kraft beschrieben, nahm die dominierende Stimme und das gütige Gebaren hinzu und fand ihn immer noch eher bewunderungswürdig als liebenswert. »Die Praxis«, sagte er und winkte in die Richtung, in die wir gingen, »und meine Drogerie!« Er lächelte über den Witz (wie oft, fragte ich mich, hatte er es schon gesagt?), dann zog er einen Schlüssel hervor, um die Tür aufzusper ren. »Natürlich ist hier nichts Gefährliches oder Illegales drin, aber man muß sich gegen Vandalen schützen. Trau rig, finden Sie nicht?« 137
Die Praxis, die keine Fenster hatte, war im wesentlichen eine große Backsteinhütte. Die Innenwände waren wie die äußeren weiß gestrichen und der Fußboden mit roten Flie sen belegt. Antiseptisch wirkende Schränke mit Glastüren standen längs den beiden Seitenwänden und eine breite Werkbank mit Schubfächern darunter längs der Wand ge genüber der Tür. Auf der Bank eine offenbar empfindliche Waage, Mörser und Stößel sowie ein Paar feiner Gummi handschuhe, hinter dem Glas der Schränke reihenweise Flaschen und Dosen. Alles sehr geschäftsmäßig und or dentlich; und längs der Wand, in der die Tür war, standen drei Haushaltsutensilien: Kühlschrank, Kocher und Spül stein. Calder deutete vage auf die Schränke: »Darin verwahre ich die Kräuter in Tabletten- und Pulverform. Schwarz wurz, Myrrhe, Sarsaparille, Gelbwurz, Fo-ti-tieng, derglei chen mehr.« »Ah …«, sagte ich. »Wofür sind die?« Er ging sie entgegenkommend durch. »Schwarzwurz heilt Knochen und schließt Wunden, Myrrhe ist antisep tisch und gut bei Durchfall und Rheuma, Sarsaparille ent hält männliche Hormone und erhöht die Körperkraft, Gelbwurz heilt Ekzeme, stärkt Appetit und Verdauung, Fo-ti-tieng ist ein belebendes Tonikum, über das nichts geht. Ferner gibt’s da Süßholzwurzel für Husten und Pa paya-Enzyme für die Eiweißverdauung und Passiflora zur allgemeinen Beruhigung und Stabilisierung.« Er zögerte. »Dann natürlich noch Ginseng, was ein fabelhaftes Ver jüngungs- und Stärkungsmittel ist, aber in den Mengen, die man braucht, um ein Pferd nennenswert voranzubrin gen, wirklich zu teuer. Es muß kontinuierlich eingenom men werden, endlos.« Er seufzte. »Für Menschen aller dings ausgezeichnet.« Die Luft in dem fensterlosen Raum war frisch und roch 138
ganz entfernt süßlich, und wie zur Erklärung fing Calder an, mir den Inhalt der Schubfächer zu zeigen. »Hier drin verwahre ich Körner«, sagte er. »Meine Pati enten essen jeden Tag Händevoll davon.« Drei oder vier der Schubladen enthielten große undurchsichtige Plastik tüten, die mit Jumboklemmen verschlossen waren. »Son nenblumenkerne wegen der Vitamine, Phosphor und Kal zium, gut für Knochen und Zähne. Kürbiskerne für die Energie – sie enthalten männliche Hormone – und ferner wegen Phosphor und Eisen. Karottensamen zur Beruhi gung nervöser Pferde. Sesamkörner für die allgemeine Ge sundheit.« Er ging einen oder zwei Meter weiter und zog eine be sonders breite, tiefe Schublade auf, die größere Tüten ent hielt; eher schon Säcke. »Das sind Hopfenreste von der Bierherstellung. Ein famoses Stärkungsmittel voller guter Sachen, und billig genug für den Großverbrauch. Wir ha ben Säcke davon drüben im Futterschuppen, aber die hier verwende ich als Ingredienz für meinen Spezialabsud, mein Stärkungskonzentrat.« »Machen Sie das … auf dem Herd?« fragte ich. Er lächelte. »Wie ein Küchenchef.« Er öffnete die Kühl schranktür. »Ich lagere es hier drin. Mal sehen?« Ich schaute hinein. Fast der ganze Raum wurde von 5 Liter-Plastikbehältern voller bräunlicher Flüssigkeit ein genommen. »Wir mixen es in einem Maischbottich, er wärmt natürlich, und die Pferde gedeihen.« Ich wußte nichts über die Wirksamkeit seiner Heilmittel, doch ich war definitiv beeindruckt. »Wie bringen Sie die Pferde dazu, Pillen zu schlucken?« fragte ich. »In einem Apfel normalerweise. Wir stechen das halbe Kernhaus heraus, tun die Tablette oder Kapsel oder eben 139
auch nur Pulver hinein und setzen den Pfropfen wieder drauf.« So einfach. »Und nebenbei, die meisten meiner Pillen und Kapseln stelle ich selbst her. Einige, wie Schwarzwurz, sind im Handel erhältlich, aber ich ziehe es vor, die getrockneten Kräuter in ihrer Reinform zu kaufen und mache meine ei genen Rezepte.« Er zog eine der unteren Schubladen in der Werkbank auf und hob einen schweren Holzkasten heraus. »Hier«, er stellte ihn auf die Bank und klappte den Deckel auf, »haben wir die Instrumente.« Ich sah ein ganzes Arsenal von Messingwürfeln, jeder ein kleines Quadrat mit einem pillenförmigen Hohlraum in der Mitte. Die Hohlräume variierten von winzig bis gewal tig und von kugelrund bis länglich. »Es ist eine Antiquität«, sagte er mit einer Spur von Stolz. »Frühviktorianisch. Aus der Zeit, als Pillen immer handge fertigt wurden und natürlich geht das noch. Sie stecken die erforderliche Arznei in Pulverform in den Hohlraum der jeweils gewünschten Größe und pressen sie mit dem Stock zusammen, der genau paßt.« Er nahm einen aus einer Reihe von kurzen Messingstöcken aus dem Kasten, führte ihn mit dem Ende in einen der Hohlräume und drückte ihn auf und ab; dann hob er den Würfel ganz heraus und stellte ihn auf den Kopf. »Simsalabim«, sagte er jovial, indem er den ima ginären Inhalt auffing, »eine Pille!« »Hübsch«, sagte ich mit wirklichem Vergnügen. Er nickte. »Kapseln sind schneller und moderner.« Er zog eine andere Schublade auf und zeigte mir kurz die lee ren Ober- und Unterteile einer Unmenge von Gelatinekap seln, wieder in verschiedenen Formaten, wenn auch zu meist ein wenig größer, als Menschen sie leicht schlucken konnten. »Veterinärformat«, erklärte er. 140
Er schloß seinen kostbaren Pillendreherkasten und stellte ihn wieder in die Schublade, wonach er sich aufrichtete und einen aufmerksamen Blick durch den Raum warf, um sicherzugehen, daß alles in Ordnung war. Mit einem be friedigten Nicken öffnete er die Tür zu unserer Rückkehr in die Außenwelt, schaltete das Neonlicht aus und schloß hinter uns ab. Ein Auto kam gerade auf dem Asphalt zum Stehen, und gleich darauf entstiegen ihm zwei bekannte Gestalten: Dissdale Smith und seine schnuckelige Bettina. »Halli-hallo«, rief Dissdale im Herannahen, die Hand schon ausgestreckt. »Calder sagte, daß Sie kommen wür den. Nett, Sie zu sehen. Calder hat Ihnen seine Schätze gezeigt, was? Die Führung, Calder, wie?« Ich schüttelte die Hand. »Calder ist stolz auf seine Errungenschaften hier, stimmt’s, Calder?« »Mit gutem Grund«, sagte ich höflich, und Calder warf mir einen raschen Blick zu und ein echt wirkendes Lä cheln. Bettina schloß langsamer zu uns auf, eine Augenweide in hochhackigen Stiefeln und kuscheligem Pelz, einen weißen Seidenschal um den Hals und glattes dunkles Haar, das schimmernd auf ihre Schultern fiel. Ihr Duft schwebte fein durch die stille kalte Luft. Vertraulich legte sie eine zierliche Hand auf meinen Arm. »Tim, der Retter«, sagte sie. »Calders Held.« Der überdosierte Charme führte mir unerklärlicherweise das entgegengesetzte Bild Ginnies scharf vor Augen, und flüchtig dachte ich, daß die Verheißung lockender war als die Erfüllung, jenes Kind interessanter als diese Frau. Calder brachte uns alle bald in das Wohnzimmer seines Maxi-Landhauses und verteilte von neuem Getränke. Dissdale gestand mir, daß Sandcastle fast buchstäblich 141
sein Geschäft gerettet habe, und im übertragenen Sinn sein Leben, und wir stießen alle auf das Wunderpferd an. Vier weitere Gäste erschienen – ein Ehepaar mit seinen beiden Töchtern um die zwanzig –, und der Anlaß wurde zu einer normal vergnüglichen Lunchparty, nicht anspruchsvoll, nicht denkwürdig, mit gutem Essen, das der Bediente her umreichte, und Zigarren und Kaffee. An einem Punkt erzählte Calder, er führe im neuen Jahr zu einer kurzen Vortragsreise nach Amerika. »Bedauerlicherweise«, sagte er, »werde ich da in Sport clubs sprechen, nicht vor Pferdefreunden. Die amerikani schen Trainer sind nicht empfänglich für mich. Bezie hungsweise noch nicht. Aber andererseits hat auch New market ein paar Jährchen gebraucht, bis es zu dem Schluß kam, daß ich einen Beitrag leisten könnte.« Alle lächelten über die Skepsis der USA und Newmar kets. Calder sagte: »Januar ist oft ein ruhiger Monat hier. Wir nehmen keine Neuzugänge, wenn ich fort bin, und natür lich hält mein Futtermeister nur den Routinebetrieb auf recht, bis ich zurückkehre. Das klappt ziemlich gut.« Er lächelte. »Wenn ich Glück habe, komme ich etwas zum Skifahren, und um ehrlich zu sein, auf das Skifahren freue ich mich viel mehr als auf die Vorträge.« Kurz nach drei brachen alle auf, und ich fuhr zurück nach London durch den kurzen dunkelnden Nachmittag und überlegte dabei, ob die Kräuter des Altertums Ge heimnisse bargen, die wir beinahe willkürlich vergessen hatten. »Koffein«, hatte Calder gegen Ende gesagt, »ist ein Schritt- und Flottmacher, unerhört nützlich. Natürlich in Kaffeebohnen zu finden, in Tee, Kakao und ColaGetränken. Gut bei Asthma. Ein wunderbar starkes Toni 142
kum. Ein Lebensretter bei Schock. Und jetzt in Amerika, ich bitte Sie, wird Koffein zum Bösewicht gestempelt und aus allem rausgefiltert, wo es von Natur aus drin ist. Ge nausogut könnte man den Alkohol aus Brot rausholen.« »Aber lieber Calder«, sagte Bettina, »in Brot ist doch kein Alkohol.« Er blickte sie freundlich zu seiner Rechten an. »Brot, das mit Hefe hergestellt ist, enthält definitiv Alkohol, ehe es gebacken wird. Wenn Sie Hefe mit Wasser und Zucker mischen, erhalten Sie Alkohol und Kohlendioxyd, das Gas, durch das die Hefe aufgeht. Die Luft in einer Bäcke rei riecht nach Wein … simple Chemie, mein liebes Mäd chen, keine Hexerei dabei. Brot ist der Stab des Lebens, und Alkohol tut Ihnen gut.« Es hatte Scherze und erhobene Gläser gegeben, und ich hätte Calder noch stundenlang zuhören können. Die Weihnachtsparty bei Gordon Michaels war in gewis ser Hinsicht ein Echo, da Judiths Apothekerfreundin Pen Warner die meiste Zeit anwesend war. Ich lernte sie ziem lich gut kennen und überaus schätzen, was Judith beab sichtigt haben mochte oder auch nicht. In jedem Fall war es auch hier wieder der Märchentag in Ascot, der die freundschaftlichen Beziehungen geknüpft hatte.»Erinnern Sie sich noch an Burnt Marshmallow?« fragte Pen. »Ich habe mir von meinem Gewinn ein Gemälde gekauft.« »Ich hab’ meinen in Saus und Braus verjubelt.« »Ach ja?« Sie musterte mich von oben bis unten und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Ihr Stil.« »Was ist denn mein Stil?« fragte ich neugierig, und sie antwortete amüsiert: »Intelligente Faulheit und langweili ge Tugend.« 143
»Ganz verkehrt«, sagte ich. »Hm, hm.« Sie erschien mir etwas weniger kompakt als in Ascot, aber das mochte an der veränderten Kleidung liegen; die traurigen Augen, die charaktervolle Würde und der uner wartete Humor waren noch da. Sie hatte offenbar zwölf Stunden an diesem Tag – es war Heiligabend – damit ver bracht, Arzneien an Leute auszugeben, deren Krankheiten kein Gefühl für Timing bewiesen, und geplant, am Mor gen um sechs damit weiterzumachen. In der Zwischenzeit erschien sie bei den Michaels in einem langen festlichen Kaftan und entsprechender Laune, und wir vier aßen im Verlauf des Abends Wachteln mit den Fingern, später Röstkastanien und spielten mit kindlichem Vergnügen ein Brettspiel. Judith trug Rosarot und Perlen und sah aus wie fünfund zwanzig. Gordon hatte mich im voraus aufgefordert, »Zie hen Sie an, was Sie wollen, solange es informell ist«, und glänzte selbst in pflaumenblauem Samtsakko und Fliege. Mein neugekauftes kremfarbenes Wollhemd, das im La den recht theatralisch gewirkt hatte, erschien im Endeffekt ganz richtig, so daß auf allen Ebenen der Abend sich har monisch und fröhlich gestaltete, sehr viel runder und un gezwungener, als ich erwartet hatte. Judiths Haushaltung erwies sich meinen ganzen Auf enthalt hindurch als ein Poem der Unsichtbarkeit. Essen tauchte auf aus Kühltruhe und Schrank, Reste kehrten in Geschirrspüler und Mülleimer zurück. Aufgaben wurden verteilt, wenn unbedingt erforderlich, doch Sitzen und Re den hatten Vorrang, und nichts so Elegantes, sinnierte ich, war jemals ohne harte Vorarbeit zu schaffen. »Pen wird morgen bald nach eins wieder hier sein«, sag te Judith um Mitternacht an diesem ersten Abend. »Dann 144
trinken wir was und packen ein paar Geschenke aus und nehmen um halb vier unser Weihnachtsessen. Morgens gibt es Frühstück, und Gordon und ich gehen in die Kir che.« Sie ließ eine Einladung in der Luft schweben, doch ich schüttelte andeutungsweise den Kopf. »Du kannst dich ja dann um dich selbst kümmern, während wir weg sind.« Sie gab mir einen Gutenachtkuß, zärtlich und auf die Wange. Gordon lächelte und winkte mir zu, und ich ging auf der anderen Flurseite zu Bett und dachte vor dem Ein schlafen eine Stunde lang bewußt überhaupt nicht an Ju dith mit oder ohne ihr Nachthemd – jedenfalls kaum. Das Frühstück nahmen wir in Morgenmänteln ein. Der von Judith war rot, gesteppt und verriet wenig. Sie zogen sich um und gingen in die Kirche. Betet für mich, sagte ich und machte mich zu einem Spaziergang im Park auf. Um den Fuß des silbergestirnten Weihnachtsbaums im Wohnzimmer der Michaels warteten bunt verpackte Ge schenke, und eine heimliche Besichtigung hatte ergeben, daß auch ein von Pen an mich adressiertes darunter war. Ich ging über den windigen Rasen, die Schultern eingezo gen, Hände in den Taschen, ratlos, wo ich eins für sie her nehmen sollte, und fand, wie es öfter vorkommt, durch Zufall eine Lösung. Ein kleiner Junge war da draußen mit seinem Vater, ließ einen Drachen steigen, und ich blieb stehen, um zuzu schauen. »Das macht Spaß«, sagte ich. Der Junge nahm keine Notiz, doch der Vater sagte: »Dem kleinen Lauser kann man’s nicht recht machen. Ich hab’ ihm den geschenkt, aber er will Rollschuhe.« Der Drachen war ein hell phosphoreszierender China drachen mit Schmetterlingsflügeln und einem langen Pa 145
pierkrausenschwanz, der segelte und tanzte wie ein fröhli ches gefesseltes Gespenst am Weihnachtshimmel. »Verkaufen Sie ihn mir?« fragte ich. »Und kaufen dafür die Rollschuhe?« Ich erklärte das Problem, die Notwen digkeit eines sofortigen Geschenks. Vater und Kind berieten sich, und das Geschäft war per fekt. Ich rollte sorgfältig die Schnur auf und trug meine Beute heim, wobei ich mich fragte, was in aller Welt die nüchterne Pharmazeutin von so einem Ding halten würde. Doch als sie es aus dem (von Judith für diesen Zweck ge schnorrten) Goldpapier auswickelte, zeigte sie sich ent zückt, und gleich gingen wir alle wieder hinaus in den Park, um zuzuschauen, wie sie ihn steigen ließ. Der Tag war rundum gelungen. Seit meiner Kindheit hatte ich nicht mehr so schöne Weihnachten erlebt. Ich sagte es ihnen und küßte Judith ungehemmt unter einem Mistelzweig, was Gordon anscheinend nicht störte. »Du bist ein Sonntagskind«, sagte Judith und streichelte mir flüchtig die Wange, und Gordon meinte nickend: »Ein Mann ohne Sorgen, der Kummer nicht kennt.« »Kummer und Sorgen kommen mit der Zeit«, sagte Pen, aber nicht, als ob sie es drohend meinte. »Sie kommen zu uns allen.« Am Morgen des 2. Weihnachtsfeiertags fuhr ich Judith durch London nach Hampstead. Sie wollte Blumen auf das Grab ihrer Mutter legen. »Ich weiß, du wirst mich für albern halten, aber ich fahre immer hin. Sie starb am zweiten Weihnachtstag, als ich zwölf war. Es ist die einzige Möglichkeit, die ich habe, mich an sie zu erinnern … zu fühlen, daß ich überhaupt eine Mutter hatte. Normalerweise fahre ich allein. Gordon findet, ich sei sentimental, und kommt nicht gern mit.« 146
»Gegen Gefühl ist nichts einzuwenden«, sagte ich. In Hampstead hatte ich meine Wohnung in der oberen Hälfte des Hauses eines Bekannten. Ich war mir nicht si cher, ob Judith es wußte, und sagte nichts, bis sie die rosa Chrysanthemen auf der breiten, im Gras versenkten Mar morplatte abgelegt und eine Zeitlang mit den Erinne rungen kommuniziert hatte, die dort schwebten. Erst als wir langsam in Richtung des eisernen Tors zurückgingen, sagte ich neutral: »Meine Wohnung ist eine halbe Meile von hier. Dieser Teil Londons ist mir vertraut.« »Tatsächlich?« »Mm.« Nach ein paar Schritten sagte sie: »Ich wußte, daß du ir gendwo hier wohnst. Erinnerst du dich – du wolltest nicht, daß wir dich von Ascot ganz bis nach Hause fuhren. Du meintest, Hampstead sei zu weit.« »War es ja auch.« »Nicht für Sir Galahad in jener Sternennacht.« Wir erreichten das Tor und hielten an, während sie zu rückblickte. Ich war mir unendlich ihrer Nähe und meines unterdrückten Begehrens bewußt, und sie sah mir unver mittelt in die Augen und sagte: »Gordon weiß auch, daß du hier wohnst.« »Und weiß er, was ich empfinde?« fragte ich. »Weiß ich nicht. Er hat es nicht gesagt.« Ich wollte so sehr diese letzte halbe Meile fahren, dieses kurze Stück auf Rädern, diese weite Reise hin zur Bindung. Mein Körper prickelte … pulsierte … vor Hunger, und ich spürte, wie mein ganzer Körper die Zähne zusammenbiß. »Was denkst du?« sagte sie. »Herrgott … du weißt doch genau, was ich denke … und wir fahren auf der Stelle zurück nach Clapham.« 147
Sie seufzte. »Ja, wahrscheinlich müssen wir.«
»Wie meinst du … wahrscheinlich?«
»Na, ich…«, sie zögerte. »Ich meine, ja, wir müssen. Es
tut mir leid … Ich war nur … für einen Moment … in Versuchung.« »Wie in Ascot?« sagte ich. Sie nickte. »Wie in Ascot.« »Nur hier und jetzt«, sagte ich, »haben wir den Ort und die Zeit und die Gelegenheit, etwas daraus zu machen.« »Ja.« »Und was wir machen werden … ist … nichts.« Es kam halb als Frage, halb als Feststellung heraus: insgesamt eine Unmöglichkeit. »Was kümmert es uns?« sagte sie aufbrausend. »Warum steigen wir nicht einfach in dein Bett und haben unseren Spaß? Warum ist das Ganze so verfilzt mit dämlichen Be griffen wie Ehre?« Wir gingen die Straße hinunter zu meinem Wagen, und ich fuhr unter sorgfältiger Beachtung jeder roten Ampel südwärts, von Stoppsignalen auf dem ganzen Weg nach Clapham groß beäugt. »Es hätte mir gefallen«, sagte Judith, als wir vor ihrem Haus anhielten. »Mir auch.« Wir gingen in einer Art verlorener Zweisamkeit ins Haus, und erst als ich Gordons lächelndes, argloses Ge sicht sah, wurde mir klar, daß ich nicht dahin hätte zu rückkehren können, wenn es anders gekommen wäre. Beim Lunch an diesem Tag, als Pen erneut von ihrer Arbeit zwischen den Pillen wieder aufgetaucht war, erzählte ich 148
ihnen von meinem Besuch bei Calder. Pen, wie vorauszu sehen, war stark interessiert und sagte, sie würde von Her zen gern wissen, was in dem Absud im Kühlschrank war. »Was ist ein Absud?« fragte Judith. »Ein mit Wasser aufgekochtes Präparat. Wenn man et was in Alkohol auflöst, ist das eine Tinktur.« »Man lernt doch wirklich, solange man lebt!« Pen lachte. »Wie steht’s denn mit karminativ, anodyn, vermizid … als Wirkung von Arzneimitteln. Das rollt doch einfach herrlich von der Zunge.« »Und was bedeutet es?« fragte Gordon. »Windtreibend, schmerzstillend, wurmtötend.« Auch Gordon lachte. »Trinken wir etwas anodyne Trau bentinktur.« Er goß Wein in unsere Gläser. »Glaubst du ehrlich, Tim, daß Calder durch Berührung Pferde heilt?« »Ich bin sicher, daß er es glaubt.« Ich überlegte. »Ich weiß nicht, ob er irgend jemand dabei zusehen läßt. Und wenn, was würde man sehen? Bei einem Pferd ist es ver mutlich kein Fall von ›nimm dein Bett und wandle‹.« Judith sagte erstaunt: »Das klingt ja, als möchtest du, daß es wahr ist. Du, den Gordon und Henry aufs Zweifeln trainiert haben.« »Calder ist beeindruckend«, gab ich zu. »Sein Betrieb ebenfalls. Die Honorare, die er berechnet, auch. Er könnte seine Preise nicht so hoch ansetzen, wenn er keine echten Ergebnisse brächte.« »Kommen die Kräuter extra?« fragte Pen. »Ich hab’ nicht gefragt.« »Würdest du das vermuten?« sagte Gordon. »Tja…« Pen dachte nach. »Manche von denen, die Tim erwähnt hat, sind ziemlich exotisch. Gelbwurz – das ist 149
Hydrastis –, früher bekannt als Heilmittel für praktisch al les, was man nennen kann, aber heutzutage meist in win zigen Mengen in Augentropfen verwendet. Muß aus Ame rika eingeführt werden. Und Fo-ti-tieng – das ist Hydroco tyla asiatica minor –, auch der Quell des Elexiers des lan gen Lebens genannt, das wächst, soweit ich weiß, nur in den Tropenurwäldern des Fernen Ostens. Ich könnte mir denken, daß solche Sachen, wenn man sie Pferden verab reicht, unheimlich teuer werden.« War ich von Calder beeindruckt gewesen, so war ich es von Pen wahrscheinlich noch mehr. »Ich wußte nicht, daß Apotheker sich so mit Kräutern auskennen«, sagte ich. »Ich war einfach interessiert, darum hab’ ich ihre Eigen schaften gepaukt«, rief sie aus. »In der offiziellen Pharma zie kommen die uralten Heilkräuter kaum noch vor, ob wohl man eigentlich, wenn man an Fingerhut und Penicil lin denkt, nicht ganz einsieht, warum. Viele Apotheken verkaufen keine nichtrezeptpflichtigen pflanzlichen Heil mittel, aber ich schon, und Ehrenwort, bei einer ganzen Menge Leute scheinen sie zu wirken.« »Und empfiehlst du auch Knoblauchbreiumschläge für die Füße bei Babys mit Keuchhusten?« fragte Gordon. Pen verneinte. Wieder lachten wir. Wenn man an Calder glaubte, sagte Judith ernst, dann glaubte man an ihn, mit samt Knoblauchumschlägen und allem. Zu viert verbrachten wir einen gemütlichen Nachmittag und Abend miteinander, und als Judith und Gordon zu Bett gingen, begleitete ich Pen zu ihrem Haus, wo sie je weils übernachtet hatte, und füllte meine Lunge mit der frischen Luft des Parks. »Sie fahren morgen nach Hause, nicht wahr?« sagte sie, als sie nach ihren Schlüsseln kramte. Ich nickte. »Morgen früh.« 150
»Es hat viel Spaß gemacht.« Sie fand die Schlüssel und steckte einen in das Schloß. »Möchten Sie mit hinein kommen?« »Nein … ich lauf’ mal noch ein bißchen.« Sie öffnete die Tür und blieb darin stehen. »Vielen Dank für den Drachen … das war prächtig. Und adieu für dies mal, obwohl ich glaube, wenn Judith es erträgt, werden wir uns wiedersehen.« »Was erträgt?« fragte ich. Sie küßte mich auf die Wange. »Gute Nacht«, sagte sie. »Und ob Sie’s glauben oder nicht, das Kraut, das wir Pas sionsblume nennen, ist gut gegen Schlaflosigkeit.« Ihr Grinsen strahlte heraus wie das der Edamer Katze, als sie in ihr Haus trat und die Tür schloß, und ich stand hoffnungslos auf ihrem Weg und wollte sie zurückrufen.
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Das zweite Jahr Februar
I
an Pargetter wurde gegen ein Uhr früh am 1. Februar ermordet. Ich erfuhr von seinem Tod durch Calder, als ich ihn an diesem Abend spontan anrief, um ihm verspätet für die Lunchparty zu danken, mich mit der Einladung zu einem Dinner in London zu revanchieren und zu hören, ob ihm seine Amerikatournee gefallen hatte oder nicht. »Wer?« sagte er zerstreut, als ich mich meldete. »Wer? Ach … Tim … Hören Sie, ich kann jetzt nicht reden, ich bin einfach fertig, ein Freund von mir ist ums Leben ge kommen, und ich kann an nichts anderes denken.« »Es tut mir leid«, sagte ich unbeholfen. »Ja … Ian Pargetter … aber ich glaube nicht, daß Sie ihn…« Diesmal erinnerte ich mich sofort. Der Tierarzt; groß, vertrauenerweckend, strohblonder Schnurrbart. »Ich traf ihn mal«, sagte ich, »bei Ihnen zu Hause.« »Tatsächlich? Ach ja. Ich bin so durcheinander, ich kann mich nicht konzentrieren. Also, Tim, rufen Sie bitte ein andermal an, ja?« »Aber natürlich.« »Es ist nicht nur, daß wir seit Jahren befreundet waren«, sagte er, »ich weiß auch nicht … ich weiß wirklich nicht, wie mein Geschäft ohne ihn laufen wird. Er schob mir so 152
viele Pferde zu … ein so guter Freund … ich bin völlig hinüber … Also, rufen Sie ein andermal an … Tim, tut mir leid.« Er legte mit dem Klappern einer zitternden Hand den Hörer auf. Ich dachte damals, er hätte gemeint, Ian Pargetter sei bei irgendeinem Unfall ums Leben gekommen, und erst am nächsten Tag, als mein Blick auf einen kurzen Artikel in einer Zeitung fiel, erkannte ich den Unterschied. Ian Pargetter, ein bekannter, angesehener Tierarzt aus Newmarket, wurde gestern morgen in seinem Haus tot aufgefunden. Die Polizei vermutet ein Verbrechen. Sie gibt an, daß Pargetter Kopfverletzungen erlitten hat und daß offenbar gewisse Medikamentenvorräte verschwunden sind. Die Leiche Pargetters wurde von Mrs. Jane Halson, einer Putzhilfe, entdeckt. Der Tierarzt hinterläßt eine Frau und drei kleine Töchter, die alle zur Zeit des Überfalls au ßer Haus waren. Mrs. Pargetter ist, wie es gestern abend hieß, tief erschüttert und erhält Beruhigungsmittel. Eine Menge lakonischer schlechter Nachrichten, dachte ich, für eine Menge trauernder Hinterbliebener. Er war der erste mir persönlich bekannte Mensch, der ermordet wor den war, und trotz unserer sehr kurzen Begegnung fand ich seinen Tod äußerst beunruhigend; und wenn ich wegen eines fast Fremden so aus der Fassung geriet, wie, fragte ich mich, konnte man überhaupt je die Ermordung von jemand verwinden, den man gut gekannt und geliebt hat te? Wie bewältigte man den Zorn? Wurde man mit dem Drang nach Rache fertig? Ich hatte natürlich Berichte von Ehemännern und Ehe frauen gelesen, die behaupteten, »nicht verbittert« über das Hinschlachten ihres Liebsten zu sein, aber ich hatte 153
das nie verstanden. Ich war wütend wegen Ian Pargetter – wütend, daß irgend jemand sich angemaßt hatte, ihn aus zulöschen. Wegen Ascot und Sandcastle schien mein lange schlum merndes Interesse an Rennbahnen voll wiedererwacht zu sein, und an drei oder vier Nachmittagen in diesem Winter war ich nach Kempton, Sandown und Newbury gepilgert, um mir die Hindernisrennen anzusehen. Ursula Young war ein vertrautes Gesicht geworden, und von dieser energi schen, gutinformierten Vollblutagentin erfuhr ich das mei ste über Ian Pargetters Tod. »Drink?« schlug ich in Kempton vor, während ich den Mantelkragen gegen einen beißenden Wind hochklappte. Sie schaute auf ihre Uhr (ich hatte sie noch nie etwas tun sehen, ohne daß sie die Zeit verglich) und war mit einem Schlückchen einverstanden. Whisky-Mac für sie, Kaffee für mich, wie in Doncaster. »Jetzt erzählen Sie mal«, brüllte sie mir, ihr Glas um klammernd, über dem allgemeinen Lärm einer Bar ins Ohr, die voll war von anderen frierenden Gästen auf der Suche nach innerer Wärme. »Als Sie mir alle diese Fragen über Hengstbuchungen stellten, ging es da um Sand castle?« Ich lächelte, ohne tatsächlich zu antworten, und schirmte meinen Kaffee notdürftig vor andrängenden Ellbogen ab. »Dachte ich mir«, sagte sie. »Schauen Sie – da ist ein Tisch. Nichts wie hin.« Wir setzten uns in eine Ecke, während das Spektakel über unseren Köpfen weiterging und ein Fernsehmonitor lautstark Wiederholungen des letzten Rennens zeigte. Ur sula beugte den Kopf zu mir. »Ein Wahnsinnscoup für Oliver Knowles.« 154
»Sie akzeptieren es?« Sie nickte. »Er wird auf einen Schlag zu den Großen ge hören. Schlauer Zug. Kluger Mann.« »Kennen Sie ihn?« »Ja. Treffe ihn oft bei den Versteigerungen. Er hatte eine großkotzige Frau, die ihm wegen eines kanadischen Mil lionärs oder so jemand davonlief, und vielleicht zielt er deshalb auf die Nobelklasse hin; einfach, um es ihr zu zei gen.« Sie lächelte teuflisch. »Die Frau war eine echte Stra fe, und ich hoffe, er schafft es.« Sie trank ihren Whisky zur Hälfte, und ich sagte, das mit Ian Pargetter sei eine Schande, und ich hätte ihn bei Calder einmal getroffen. Sie verzog das Gesicht in einer Aufwallung von Zorn, stärker als ich ihn empfunden hatte. »Er war den ganzen Abend weggewesen, um einem kolikkranken Junghengst, der Classic-Format hat, das Leben zu retten. Es ist so ab scheulich. Er fuhr erst lange nach Mitternacht heim, und man nimmt an, daß wer immer ihn umgebracht hat, bereits im Haus war und zusammenklaute, was ihm nur in die Finger fiel. Ians Frau und Familie waren auf Besuch bei ihrer Mutter, verstehen Sie, und die Polizei nimmt an, daß der Mörder dachte, das Haus sei die Nacht über leer.« Sie schluckte. »Er bekam einen Schlag auf den Hinterkopf, mit einer Messinglampe von einem der Tische im Wohn zimmer. Einfach so. Nicht vorherbedacht. Einfach … dumm.« Sie sah bewegt aus, wie es wohl jeder sein mußte, der ihn gekannt hatte. »So etwas Sinnloses. Er war ein wirklich netter Mensch, ein guter Tierarzt, alle mochten ihn. Und alles im Grunde für nichts … Die Polizei fand eine Menge Silber und Schmuck zusammengerafft auf ei ner Decke, fertig zum Mitnehmen, aber sie nimmt an, der Dieb kriegte einfach die Panik und ließ es liegen, als Ian 155
nach Hause kam … das einzige, was überhaupt zu fehlen scheint, ist sein Instrumentenkoffer und ein paar Medika mente, die er an dem Abend bei sich hatte … nichts, wofür ein Mord sich lohnt … nicht mal für einen Süchtigen. So etwas war da nicht drin.« Sie verstummte und sah nieder auf ihr fast leeres Glas. Ich bot ihr noch eins an. »Nein, aber danke trotzdem, eins reicht. Ich fühl’ mich so schon ziemlich benebelt. Ich mochte Ian. Er war ein gu ter Kerl. Am liebsten würde ich dem kleinen Aas den Hals umdrehen, das ihn umgebracht hat.« »Ich glaube, Calder Jackson empfindet ganz ähnlich wie Sie«, sagte ich. Sie blickte hoch, das gutaussehende Gesicht um die fünfzig voller echter Teilnahme. »Calder wird Ian schreck lich vermissen. Es gibt nicht gar so viele Veterinäre hier, die sich nicht nur mit einem Geistheiler auf ihrer Schwelle abfinden, sondern ihn tatsächlich als Kollegen behandeln würden. Ian kannte keinen Berufsneid. Sehr selten. Sehr guter Mensch. Macht alles um so schlimmer.« Wir gingen wieder hinaus an die rauhe Luft, und ich ver lor fünf Pfund an diesem Nachmittag, was Lorna Shipton der Ohnmacht nah zu Onkel Freddie hätte eilen lassen, wenn sie es gewußt hätte. Zwei Wochen später stattete ich mit Oliver Knowles’ herzlichem Einverständnis seinem Gestüt in Hertfordshire einen erneuten Besuch ab, und obwohl es wieder Sonntag und noch immer Winter war, hatte sich die Atmosphäre am Ort grundlegend verändert. Wo stiller, müder Beinah winterschlaf gewesen war, herrschte jetzt ein reges und eifriges Treiben. Wo Muttertiere und Fohlen einzeln über die Koppeln verstreut gewesen waren, zog jetzt eine Herde Stuten allein und langsam mit dicken Bäuchen. 156
Ich war kein echtes Landkind gewesen (zehn Hektar be waldete Hügel in Surrey), und mir erschien die Geburt von Tieren immer noch als Wunder und Freude. Für Oliver Knowles bedeutete sie, wie er sagte, andauernde Sorge und Gewinn und Verlust. Sein Verständnis des Wesentli chen klang immer noch klar und voll durch, doch von den Details standen Falten auf seiner Stirn. »Wahrscheinlich«, sagte er frei heraus, als er mich in den ersten der großen Höfe führte, »war das einzige, wor auf ich mich nicht innerlich vorbereitet hatte, der Wert der Fohlen, die jetzt hier geboren werden. Ich meine …«, er winkte umher zu den geduldigen Häuptern, die über die Reihen der Halbtüren blickten, »… diese Stuten sind bei den Tophengsten gewesen. Sie tragen märchenhafte Blut linien. Sie sind Geschichte.« Seine Ehrfurcht war spürbar. »Ich war mir nicht darüber klar, wissen Sie, welche Äng ste sie mir bringen würden. Wir haben immer unser Bestes für die Fohlen getan, versteht sich, nur wenn eins starb, war das keine Tragödie, aber bei dem Lot hier…« Er lä chelte kläglich. »Es ist nicht damit getan, einfach Sand castle zu besitzen. Ich muß sicherstellen, daß unser Ruf für die Behandlung von Zuchtstuten gut und stabil ist.« Wir gingen an einer Boxenreihe entlang, während er mir ausführlich die Abstammung einer jeden Stute, zu der wir kamen, und des Fohlens, das sie trug, erklärte, und selbst für meine unwissenden Ohren hörte es sich an, als hätte jeder Derby- und Oakssieger des letzten halben Jahrhunderts bei der kommenden Generation seine Hand im Spiel gehabt. »Ich hatte keine Mühe, Sandcastles Nominierungen zu verkaufen«, sagte er. »Nicht mal für vierzigtausend Pfund pro Wurf. Ich konnte sogar bis zu einem gewissen Grad wählen, welche Stuten ich annahm. Es war einfach un glaublich, Stuten abweisen zu können, von denen ich dachte, sie würden ihm nicht gerecht.« 157
»Kommt man da in Versuchung«, fragte ich milde, »mehr als vierzig Plätze zu verkaufen? Eine … äh … Zu satztaxe, unversteuert in bar … heimlich noch mitzuneh men?« Er war mehr belustigt als beleidigt. »Ich würde nicht be haupten, daß das noch auf keinem Gestüt passiert ist, das je existiert hat. Aber ich würde es nicht mit Sandcastle machen ... Jedenfalls nicht dieses Jahr. Er ist noch jung. Und natürlich unerprobt. Einige Hengste schauen keine vierzig Stuten an … obwohl Deckscheue dazu neigen, in Familien aufzutreten, und in seinem Stammbaum weist nichts darauf hin, daß er irgend etwas anderes als kraftvoll und fruchtbar sein wird. Ich hätte mich auf alles das nicht eingelassen, wenn Zweifel bestanden hätten.« Es schien, daß er ebensosehr sich selbst zu beruhigen suchte wie mich; als wären Umfang und Verantwortung seines Unternehmens gerade erst durchgedrungen und hät ten ihn im Durchdringen erschreckt. Ich spürte einen Anflug von Bestürzung, beruhigte mich jedoch mit dem Gedanken, daß, mochte auch Pech und Schwefel auf die Erde fallen, Sandcastle seinen Kaufpreis wert war und ohne viel Verlust selbst zu diesem späten Zeitpunkt wiederverkauft werden konnte. Das Geld der Bank war sicher auf seinen Hufen. Es war früher am Tag als mein letzter Besuch – elf Uhr morgens –, und man sah mehr Burschen als zuvor beim Ausmisten der Boxen und beim Futter- und Wassertragen. »Ich mußte zusätzliche Männer einstellen«, sagte Oliver Knowles sachlich. »Vorübergehend, für die Saison.« »War das Anwerben schwierig?« fragte ich. »Eigentlich nicht. Ich mach das jeden Frühling. Die gu ten behalte ich für das ganze Jahr, wenn sie bleiben, natür lich: Diese Stallburschen kommen und gehen, wie’s sie 158
gerade packt, das heißt, die unverheirateten. Ich behalte den Grundstock und laß sie im Herbst und Winter Zäune streichen und so etwas.« Wir schlenderten in den zweiten Hof, wo man die breite Gestalt Nigels über eine Halbtür in eine Box spähen sehen konnte. »Erinnern Sie sich an Nigel?« fragte Oliver. »Meinen Gestütsleiter?« Nigel, vermerkte ich, war gebührend befördert worden. »Und Ginnie«, fragte ich, als wir hinübergingen, »ist sie heute daheim?« »Ja, sie steckt irgendwo.« Er blickte sich um, als erwarte er, daß sie sich beim Klang ihres Namens materialisierte, aber nichts geschah. »Wie läuft’s, Nigel?« fragte er. Nigels buschige Augenbrauen wichen aus der Box zu rück und stellten sich in unsere Richtung. »Floradora frißt wieder«, sagte er, offenbar erleichtert, und zeigte auf die inspizierte Dame. »Und Pattacake ist noch in den Wehen. Geh ich gleich wieder hin.« »Wir kommen mit«, sagte Oliver. »Falls Sie möchten«, setzte er hinzu und sah mich fragend an. Ich nickte und ging mit ihnen weiter den Pfad entlang in das dritte, kleinere Viereck, den Fohlhof. Auch hier, an diesem Ort, der leer gewesen war, herrsch te geschäftiges Leben, und die Box, zu der uns Nigel führ te, war größer als normal und dick mit Stroh ausgelegt. »Fohlen werden gewöhnlich nachts geworfen«, sagte Oliver, und Nigel nickte. »Sie fing gegen Mitternacht an. Einfach faul ist die, was, Mädchen?« Er tätschelte ihren braunen Rumpf. »Sehr langsam. Jedes Jahr dasselbe.« »Dann ist sie nicht für Sandcastle gekommen?« sagte ich. 159
»Nein. Sie ist eine von meinen«, sagte Oliver. »Das Foh len ist von Diarist.« Wir lungerten einige Minuten herum, doch bei Pattacake änderte sich nichts. Nigel, der seine erfahrenen Hände sanft über die Form unter ihren Rippen gleiten ließ, sagte, sie würde vielleicht noch eine Stunde brauchen, und er wolle eine Zeitlang bei ihr bleiben. Oliver und ich gingen weiter, vorbei an dem noch geschlossenen Deckstand und den Pfad hinab zwischen den zwei kleinen Koppeln in Richtung Hengsthof. Eine vierbeinige Gestalt stand in einer der Koppeln, Kopf gesenkt und friedlich. »Parakeet«, sagte Oliver. »Bekommt eigentlich mehr Luft als Gras mit. Es ist für den neuen Graswuchs noch nicht warm genug.« Wir kamen schließlich in den letzten Hof, und da stand er, der vergoldete Sandcastle, und schaute über seine Tür wie jedes andere Pferd. Man konnte es nicht sagen, dachte ich. Zwar lag Haltung in dem wohlgeformten Kopf, auch ein intelligenter Blick und wachsam gespitzte Ohren, aber nichts verriet, daß hier das wunderbare Geschöpf war, das ich in Ascot gesehen hatte. Nie wieder, sinnierte ich, würde irgend jemand die sen pfeilgleichen, gestreckten Galopp sehen, diesen gran diosen, an die Kehle greifenden Mut. Und es schien ein Jammer, daß man ihm seine Fähigkeit versagte in der Hoffnung, er werde sie weitergeben. Ein Pfleger, Besen in der Hand, kehrte verstreuten Torf von der Betongasse vor den sechs Hengstboxen, beobach tet von Sandcastle, Rotaboy und Diarist mit dem gleichen Maß an Interesse, das eine Busschlange einem Straßenmu sikanten entgegenbringen würde. »Lenny«, sagte Oliver, »Sie können Sandcastle runter in die kleine Koppel gegenüber der mit Parakeet bringen.« Er 160
blickte zum Himmel, wie um das kommende Wetter zu schnuppern. »Schaffen Sie ihn wieder in seine Box, wenn Sie zum Abendstalldienst erscheinen.« »Ja, Sir.« Lenny war gut in mittleren Jahren, klein, zäh und von of fensichtlich langer Erfahrung. Er stellte den Besen gegen eine leere Box und verschwand in einem Eingang, um schließlich mit einem Stück Seil wieder aufzutauchen. »Lenny ist einer meiner treuesten Helfer«, sagte Oliver Knowles. »Seit mehreren Jahren bei mir. Er versteht sich auf Hengste und ist viel stärker, als er aussieht. Hengste können ziemlich schwer zu handhaben sein, aber Lenny kommt bes ser mit ihnen zurecht als mit Stuten. Weiß nicht warum.« Lenny befestigte das Seil an dem Halfter, das Sandcastle wie alle anderen Pferde am Platz ständig umhatte. An dem Halfter war eine Metallplakette mit dem Namen des Pfer des angebracht, etwas Unentbehrliches für die Identi fizierung. Trieb man diese ganzen Stuten ohne ihre Halfter zusammen, dachte ich, konnte sie kein Mensch mehr sor tieren. Ich wies Oliver sacht auf das Problem hin, und er wurde regelrecht bleich. »Gott behüte! Malen Sie so was nicht an die Wand. Wir sind sehr vorsichtig. Müssen wir sein. Andernfalls, wie Sie sagen, könnten wir die falsche Stute vom falschen Hengst decken lassen, ohne es je zu ahnen.« Ich fragte mich im stillen, wie oft das schon tatsächlich geschehen war, oder ob effektiv die Möglichkeit bestand, daß zwei Stuten oder zwei Fohlen auf Dauer vertauscht wurden. Die Gelegenheiten zur Verwechslung, wenn nicht zum glatten Betrug, stellten Computermanipulationen in den Schatten. Nigel kam in den Hof, und mit seiner kaum notwendigen Hilfe öffnete Lenny Sandcastles Tür und führte den 161
Hengst hinaus; und man konnte die geschmeidigen Mus keln in all ihrer Kraft sehen, die straffen Sehnen, die sprungfederhaften Gelenke. Der Körper, der sein Gewicht in Gold wert war, tänzelte und knirschte auf der harten Stallgasse, wirbelte ungeduldig herum und schlug ver ständnislos mit dem Kopf. »Ganz von sich eingenommen«, erklärte Oliver. »Wir müssen ihn gut füttern und ziemlich in Schuß halten, aber natürlich bekommt er nicht die Bewegung wie früher.« Wir traten mit unwürdiger Hast zur Seite, um Sand castles ruheloser Hinterhand auszuweichen. »Hat er … äh … schon mit der Arbeit angefangen?« fragte ich. »Noch nicht«, sagte Oliver. »Erst eine von seinen Stuten hat bis jetzt gefohlt. Sie hat die Fohlenrosse fast hinter sich, also wird sie, wenn sie in fünfzehn oder sechzehn Tagen in Gebrauch kommt, seine erste sein. Danach folgt eine Pause – damit er sich besinnen kann! –, dann wird er beschäftigt sein bis in den Juni.« »Wie oft …?« murmelte ich taktvoll. Oliver griff die Frage auf, als hätte er, wie Calder, die gleiche Antwort schon unzählige Male geben müssen. »Es kommt auf den Hengst an«, sagte er. »Manche kön nen morgens eine Stute decken und nachmittags eine zweite und tagelang so weitermachen. Andere haben nicht so viel Ausdauer oder so viel Verlangen. Gelegentlich hat man sehr scheue und wählerische Hengste. Einige davon gehen an manche Stuten nicht heran, aber paaren sich durchaus mit anderen. Manche decken nur alle zwei Wochen eine Stute, wenn überhaupt. Hengste sind keine Maschinen, wis sen Sie, sie unterscheiden sich wie unsereins auch.« Mit Nigel in Bereitschaft führte Lenny Sandcastle aus dem Hof, und in mächtigen Schritten stelzten die langen Vorderbeine neben dem beinah trabenden kleinen Mann. 162
»Sandcastle wird mit Stuten auskommen«, sagte Oliver nochmals entschieden. »Tun die meisten Hengste.« Wir hielten an, während Oliver je zwei Mohrrüben mit Klaps an Rotaboy und Diarist verteilte, so daß wir das Unglück selbst nicht sahen. Wir hörten ein fernes Klap pern und ein Brüllen und den Aufschlag schneller Hufe, und Oliver wurde weiß, als er sich umdrehte, um zu dem Fiasko zu laufen. Ich folgte ihm, ebenfalls sprintend. Lenny lag vor einem der weißgestrichenen Pfosten am Zaun der kleinen Koppel und versuchte benommen, sich aufzurappeln. Sandcastle, frei und aufgeregt, hatte sich auf einen der Pfade zwischen den größeren Koppeln durchge funden und mußte, nach seinem rasenden Tempo zu urtei len, die Zäune für die Rails einer Rennbahn gehalten haben. Nigel stand am offenen Tor der kleinen Koppel, den Mund aufgerissen, als hätte ihn der Schreck gelähmt. Er war immer noch fast sprachlos, als Oliver und ich ihn er reichten, hing aber wenigstens nicht mehr fest. »Um Himmels willen«, rief Oliver. »Bewegung. Holen Sie den Landrover. Er kann da durch das Gelände der Watcherleys auf die Straße.« Er rannte in Richtung seines Hauses davon, während ein zum Teil wiederhergestellter Nigel auf den Bungalow zustolperte, der halb hinter dem Hengsthof in Sicht war. Lenny erhob sich und begann mit Entschuldigungen, aber ich mochte nicht zuhören. Unvertraut mit dem Prob lem und ohne einen Schimmer, wie man fliehende Pferde einfängt, rückte ich einfach in Sandcastles Kielwasser los, folgte seinem Weg zwischen den Koppeln und sah ihn vor mir hinter einer fernen Hecke verschwinden. Ich rannte fast über den grasbewachsenen Pfad zwischen den Zäunen vorbei an den Gruppen gleichgültiger Stuten 163
auf den Koppeln und dachte, daß mein kurzer JanuarSkiurlaub an den Pisten von Gstaad doch noch von prakti schem Nutzen sein konnte; es steckte momentan sehr viel mehr Kraft in meinen Beinen als noch im Juli. Während bei meinem letzten Besuch die Hecke zwi schen Oliver Knowles’ Gestüt und der heruntergekom menen Pferdeklinik der Watcherleys eine dornige, durch gehende Grenze gewesen war, hatte diese jetzt zwei oder drei breite Lücken, so daß man leicht von einer Seite auf die andere gelangen konnte. Ich sprang durch die Lücke, die direkt vor mir lag, und bemerkte fast unbewußt, daß der Verfall des Watcherley-Grundstücks nicht nur aufge hört hatte, sondern teilweise rückgängig gemacht war durch neuerrichtete Zäune und laufende Reparaturen an den Dächern. Ich rannte in Richtung der Ställe über eine distelige Wie se, auf der von Sandcastle nichts zu erblicken war, und durch ein noch ungeflicktes Tor, das auf der anderen Seite offen aus kaputten Angeln hing. Dahinter erreichte ich zwischen Haufen von Schotter und rostendem Eisen den Hof selbst und stieß auf Ginnie, die sich besorgt umschau te, während ein Mann und ein Mädchen mit fragender Miene auf sie zu kamen. Ginnie sah mich laufen, und ihr zunächst instinktiv fröh licher Gruß verwandelte sich fast sofort in Bestürzung. »Was ist denn?« fragte sie. »Ist eine von den Stuten raus?« »Sandcastle.« »O nein …« Es war ein verzweifeltes Aufheulen. »Er kann auf die Straße.« Sie wandte sich ab, rannte schon, und ich lief ihr nach; aus dem Stallhof der Watcherleys, um ihr baufälliges Haus herum und die kurze, verunkrau tete torlose Auffahrt hinunter in die gefährliche Außen 164
welt, wo ein Zusammenstoß mit einem Auto für ein Pferd leicht tödlich enden konnte. »Wir fangen ihn nie«, keuchte Ginnie, als wir die Straße erreichten. »Laufen hat keinen Zweck. Wir wissen ja nicht, wo er hin ist.« Sie war sehr unglücklich: die Augen naß, Tränen auf den Wangen. »Wo ist Dad?« »Ich glaube, er ist mit seinem Wagen raus, auf der Su che. Und Nigel mit einem Landrover.« »Ich hörte ein Pferd bei den Watcherleys durchgalop pieren«, sagte sie. »Ich war in einer der Boxen bei einem Fohlen. Ich hätte nie gedacht … Ich meine, ich dachte, es könnte eine Stute sein…« Ein aufdrehender Wagen kam an uns vorbei, dicht ge folgt von zwei anderen mit mindestens sechzig Meilen die Stunde; der eine überholte riskant einen schweren Sattel schlepper, der an einem Sonntag daheim in seinem Nest hätte sein sollen. Der Gedanke, daß Sandcastle in diesem Schlachtfeld los war, verursachte buchstäblich eine Gän sehaut, und zum erstenmal begann ich an seinen drohen den Untergang zu glauben. Eines dieser anstürmenden Monster mußte ihn erwischen. Er würde über die Straße in ihre Bahn hineintaumeln, wenn er seitlich ausbrach, füh rerlos, hoffnungslos verwundbar … ein 5-MillionenPfund-Verkehrsunfall bahnte sich hier an. »Gehen wir hier lang«, sagte ich und wies nach links. Ein Motorradfahrer röhrte aus dieser Richtung heran, den Kopf gesenkt in schwarzem Blendschutz, zu schnell zum Aufhalten. Ginnie schüttelte scharf den Kopf. »Dad und Nigel wer den auf der Straße sein. Aber da drüben ist ein Feldweg …« Sie deutete schräg über die Straße. »Den könnte er immerhin entdeckt haben. Und da kommt ein kleiner Hü gel, und selbst wenn er nicht da oben ist, könnten wir ihn 165
von dort vielleicht wenigstens sehen … man sieht stellen weise die Straße … Ich reite oft da oben.« Sie war wieder unterwegs, lief, während sie redete, und ich hielt neben ihr Schritt. Ihr Gesicht war verzerrt von der Intensität ihrer Gefühle, und ich empfand ebensoviel Mitgefühl für sie wie Betroffenheit wegen des Pferdes. Sandcastle war ver sichert – ich hatte die Police selbst auf Herz und Nieren geprüft –, doch Oliver Knowles’ Prestige war es nicht. Flucht und Tod des ersten großen Hengstes in seiner Ob hut würden schwerlich künftige Geschäfte anlocken. Der Weg war schlammig und durchfurcht und rutschig von frischem Regen. Außerdem wies er eine ganze Menge Hufabdrücke auf, manche schienen neu, manche übertre ten und alt. Ich zeigte darauf, während wir liefen, und fragte Ginnie, ob sie wüßte, ob welche davon Sandcastle gehörten. »Oh.« Sie hörte plötzlich auf zu laufen. »Ja. Natürlich. Er hat keine Eisen drauf. Der Schmied kam gestern, Dad sagte…«, sie spähte zweifelnd auf den Boden, »… er hätte Sandcastle unbeschlagen gelassen, weil er Lederpolster zum Unterlegen machen wollte … ich hab’ nicht richtig zugehört.« Sie wies mit dem Finger. »Ich glaube, das könnte er sein. Diese neuen Spuren … sie könnten es sein, ja, wirklich.« Sie begann wieder den Pfad hochzulaufen, getrieben jetzt sowohl von Hoffnung wie von Schrecken, fit in ihren Jeans und Pullover und Stiefeletten nach dem ganzen Pflichtjogging in der Schule. Ich dachte, während ich neben ihr lief, daß Matsch je denfalls leicht wieder von Schuhen, Socken und Hosen beinen abging. Der Boden stieg steil an und wurde schma ler zwischen kahlen, kratzigen Büschen; und das Gewirr der Hufspuren führte unerbittlich weiter und weiter. »Sei bitte hier oben«, sagte Ginnie jetzt. »Bitte, Sand castle, sei hier oben.« Die Verzweiflung ließ ihre Beine 166
zittern und brachte Tränen auf ihre Wangen. »Ach bitte … bitte…« Die Seelenangst der Adoleszenz, dachte ich. So real, so überwältigend … so unvergessen. Der Weg wand sich durch die Sträucher und öffnete sich unvermittelt auf einen breiteren Platz, wo stellenweise Gras neben dem durchfurchten Schlamm wuchs; und dort stand Sandcastle, den Kopf erhoben, die Nüstern zuckten im Wind, ein braunschwarzes Geschöpf voll Kraft und Schönheit und Majestät. Ginnie hörte mit einem Schritt auf zu laufen und packte mich heftig am Arm. »Nicht bewegen«, sagte sie. »Ich mach das. Sie bleiben hier. Halten Sie still. Bitte halten Sie still.« Ich nickte gehorsam, respektierte ihre Erfahrung. Der Hengst schien drauf und dran, bei der kleinsten verfrühten Bewegung wieder auszureißen – seine Flanken bebten, die Beine waren starr vor Anspannung, sein Schwanz fegte ruhelos auf und ab. Er fürchtet sich, dachte ich plötzlich. Er ist hier draußen, ist verloren, weiß nicht wohin. Er ist bisher nie frei gewe sen, doch sein Instinkt ist noch wild, noch gegen das Ein gefangenwerden. Pferde wurden nie wirklich gezähmt, nur an Gefangenschaft gewöhnt. Ginnie ging auf ihn zu, gab säuselnde Laute von sich und hielt ihre Handfläche nach oben, eine anbietende Hand, die nichts anzubieten hatte. »Na komm, Junge«, sagte sie. »Komm, mein Junge, sei ein guter Junge, ist al les in Ordnung, komm doch her.« Das Pferd beobachtete sie, als hätte es noch niemals ei nen Menschen gesehen, seine Angst ausgeprägt in einem allgemeinen lebhaften Zittern. Das Seil hing von seinem Halfter herab, das freie Ende geringelt auf dem Boden; 167
und ich fragte mich, ob Ginnie in der Lage war, den Hengst zu halten, wenn sie ihn einfing, wo doch Lenny mit all seiner Kraft ihn losgelassen hatte. Ginnie kam bis auf einen Fuß an die Nase des Pferdes heran, bot ihre offene linke Hand dar und brachte die rech te Hand langsam unter seinem Kinn herauf, um nach dem Halfter selbst, nicht nach dem Seil zu greifen: Ihre Stimme formte leise, besänftigende Laute, und die Anspannung in meinen eigenen Muskeln begann sich zu lösen. In der letzten Sekunde wollte Sandcastle nichts davon wissen. Mit einem Quieken fuhr er herum, warf Ginnie auf die Knie; machte zwei rasende Schritte auf ein Stück dich tes Gebüsch zu, wirbelte erneut herum, legte die Ohren an und beschleunigte in meine Richtung. Hinter mir lag der offene Weg, bergab nach der mörderischen Hauptstraße. Ginnie, am Gesichtsfeldrand noch zu sehen, rappelte sich verzweifelt hoch. Ohne an besonders viel zu denken, außer vielleicht, was das Pferd für ihre Familie bedeutete, sprang ich ihm nicht aus dem Weg, sondern an seinen fliegenden Kopf, krümmten meine Finger sich nach dem Halfter und klammerten sich, als sie dies verfehlten, um das Seil. Er riß mir fast die Arme aus den Gelenken und alle Haut von meinen Handflächen. Er fegte mich von den Füßen, schleifte mich durch den Schlamm und trampelte auf mei ne Beine. Ich hielt trotzdem mit beiden Händen das Seil fest, prallte gegen seine Schulter, seine Knie und zerrte ihn mehr durch Gewicht als Geschick an den Rand des Weges und in die Büsche. Die Büsche fungierten denn auch als Anker. Er konnte mein Gewicht nicht durch sie hindurchziehen, nicht wenn ich das Seil gepackt hielt; und unbeholfen wand ich es um einen Aststrunk als Hebel, und damit war es ausgestanden. 168
Sandcastle stand die Breite des Gebüsches entfernt, fügte sich verärgert in das Unvermeidliche, warf zwar den Kopf hoch und bebte, versuchte aber nicht mehr die wilde Flucht. Ginnie tauchte in der Biegung des Weges auf, sie rannte und sah wenn möglich gequälter aus denn je. Als sie mich erblickte, stolperte und stürzte sie halb und kam hem mungslos weinend zu mir. »Ach, ich bin so froh, so froh, aber das dürfen Sie nie machen, es kann Sie umbringen, Sie dürfen das nie, und ich bin so dankbar, so froh … ach herrje.« Sie lehnte sich schwach an mich und wischte wie ein Kind ihre Augen und ihre Nase an meinem Ärmel ab. »Tja«, sagte ich nüchtern, »was machen wir jetzt mit ihm?« Was wir nach einiger Überlegung entschieden, war, daß ich und Sandcastle bleiben sollten, wo wir waren, und daß Ginnie Nigel oder ihren Vater suchen sollte, denn weder sie noch ich trauten uns zu, unsere Beute ohne Verstär kung nach Hause zu führen. Während sie unterwegs war, machte ich eine Schaden bestandsaufnahme, doch soweit es meine Kleidung betraf, war da nichts, was die Reinigung nicht besorgen konnte, und was die Haut anging, die würde recht bald nachwach sen. Meine Beine, wenn auch geschunden, funktionierten, und nichts war gebrochen oder besorgniserregend. Ich knüllte mein Taschentuch in der leicht blutenden rechten Hand zusammen und dachte bei mir, daß sich eines schö nen Tages die Gewohnheit, auf fliegende Hengste oder Jungs mit Messern loszuspringen, als unklug erweisen könnte. Oliver, Ginnie, Nigel und Lenny erschienen alle mitein ander im Landrover, mit knirschendem Getriebe und Rä 169
dern, die im Schlamm durchdrehten. Sandcastle wurde zu ihrer offensichtlichen Erleichterung für unversehrt befun den, und Oliver erklärte mir energisch, daß man niemals, wirklich niemals, versuchen dürfe, ein durchgehendes Pferd in dieser Weise aufzuhalten. »Tut mir leid«, sagte ich. »Sie hätten dabei umkommen können.« »Das sagte mir Ginnie.« »Sind Sie nicht auf die Idee gekommen?« Er klang bei nahe zornig, die Nachwirkung der Angst. »Haben Sie nicht nachgedacht?« »Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich habe einfach gehandelt.« »Tun Sie das nie wieder«, sagte er. »Und danke.« Er zö gerte und schluckte und versuchte, seine Erschütterung zu überspielen. »Danke, daß Sie auf meine Investition aufge paßt haben.« Lenny und Nigel hatten eine andere Art Halfter mitge bracht, zu dem ein Gebiß und eine furchteinflößende Kinnkette gehörten, und als dieses angelegt war, wurde der gefangene (wenn nicht gedemütigte) Flüchtling abge führt. Mir schien ein Protest in der steifbeinigen Hinter hand zu liegen, ein erklärter Abscheu vor den Ungerech tigkeiten des Lebens. Ich lächelte über diesen bizarren Gedanken; den kläglichen Irrtum, Tieren Gefühle zuzu schreiben, die nur man selbst empfand. Oliver fuhr Ginnie und mich mit dem Landrover zurück, im Schrittempo hinter dem Pferd her, und erzählte, wie Nigel und Lenny es hatten entkommen lassen. »Reine idiotische Nachlässigkeit«, sagte er offen. »Beide müßten es besser wissen. Sie konnten ja sehen, daß das Pferd lebhaft und am Aus-der-Haut-Fahren war, trotzdem 170
hielt Lenny anscheinend bloß mit einer Hand das Seil und langte mit der anderen rüber, um das Gatter aufzustoßen. Er ließ Sandcastle dabei aus den Augen, deshalb war er auf nichts gefaßt, als Nigel irgendeine jähe Bewegung machte und das Pferd stieg und nach hinten preschte. Ich bitte Sie! Lenny! Nigel! Wie können die nach all den Jah ren derart dämlich sein?« Darauf schien es keine Antwort zu geben, also ließen wir ihn einfach draufloswettern, und er grollte immer noch wie ferner Donner, als die Reise endete. Daheim eilte er dann gleich zum Hengsthof davon, und Ginnie bemerkte scharf, wenn Nigel in der Disziplin mit Tieren so lax sei wie mit den Burschen, sei es kein Wunder, daß ein Pferd von Charakter das ausnutze. »Unfälle passieren nun mal«, sagte ich mild. »Ha!« Sie war verächtlich. »Dad hat recht. Dieser Unfall hätte nicht passieren dürfen. Es war absolute Zauberei, daß Sandcastle dabei nicht zu Schaden kam. Selbst wenn er nicht raus auf die Straße gelaufen wäre, er hätte versuchen können, über die Koppelgeländer zu springen – tun freie Pferde oft – und sich vielleicht ein Bein gebrochen oder so was.« Sie klang so verärgert wie ihr Vater und aus dem gleichen Grund: die überströmende Erleichterung nach dem Schrecken. Ich legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie kurz an mich, was sie entsetzlich zu verwirren schien. »Ach je, Sie müssen mich für so dumm halten … und daß ich so weine … und überhaupt.« »Ich denke, daß du ein nettes, liebes Mädchen bist, das einen scheußlichen Morgen hatte«, sagte ich. »Aber jetzt ist doch alles gut, weißt du; jetzt wirklich.« Natürlich glaubte ich, was ich sagte, doch ich war im Irr tum.
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Das zweite Jahr April
C
alder Jackson aß schließlich mit mir zu Abend, wäh rend er sich in London aufhielt, um an einer Weltkon ferenz von Kräuterkennern teilzunehmen. Sehr gern, sagte er, würde er einen der Abende ohne seine Kollegen verbringen, und ich traf ihn in einem Restaurant, weil zwar meine Wohnung durchaus geschmackvoll war, aber meine Kochkunst nicht. Ich spürte sofort eine Veränderung an ihm, obschon sie schwer zu definieren war; mir war fast, als wäre er noch mehr zu einer überlebensgroßen Gestalt geworden. Köpfe drehten sich, und Stimmen flüsterten, als er durch das be lebte Lokal an unseren Tisch kam. Das wäre wegen seines Fernsehruhms nichts Besonderes gewesen, aber jetzt, dachte ich, genoß Calder es wirklich. Noch immer war es keine offene Arroganz, noch immer eine gefällige Be scheidenheit im Auftreten, doch etwas hatte sich verstärkt, kristallisiert, war bei ihm zum beherrschenden Faktor ge worden. Er war jetzt, dachte ich, auch vor sich selbst der große Mann. Ich fragte mich, was, wenn überhaupt, ihn im besonderen verändert hatte, und es zeigte sich, daß es die eine Sache war, die ich am wenigsten erwartet hätte: Ian Pargetters Tod. Über einem Teller voll saftigem Räucherlachs entschul digte sich Calder dafür, wie schroff er mich am Telefon an 172
jenem entnervenden Abend abgewimmelt habe, und ich sagte, es sei nur zu verständlich. »Tatsache ist«, sagte Calder, während er Zitronensaft auspreßte, »ich hatte Angst, mein ganzes Geschäft würde zusammenbrechen. Ians Partner, wissen Sie, haben mich nie gebilligt. Ich fürchtete, sie würden alle Welt gegen mich beeinflussen, nachdem Ian tot war.« »Und es ist nicht so gekommen?« Er schüttelte den Kopf und stellte eine Gabel in Rosa zu sammen. »Bemerkenswerterweise nicht. Erstaunlich.« Er schob den Räucherlachs in seinen Mund und gab im Kau en anerkennende Laute von sich. Ich war mir bewußt und er wohl auch, daß die Ohren der Leute an den Tischen beinahe sichtbar auf seine charakteristische Stimme einge stellt waren, auf die laute und deutliche Aussprache mit ihrem ländlichen Beiklang. »Mein Hof ist immer noch voll. Die Menschen, sehen Sie, haben Vertrauen. Ich mag nicht mehr ganz so viele Rennpferde bekommen, das ist zu erwarten, aber doch immer noch einige.« »Und haben Sie noch mal etwas über Ian Pargetters Tod gehört? Hat man herausgefunden, wer ihn umgebracht hat?« Er sah bedauernd drein. »Hat man sicher nicht. Ich fragte neulich einen seiner Partner, und er sagte, anscheinend stelle niemand mehr Fragen. Er war ziemlich aufgebracht. Und ich bin es auch. Den Mörder zu finden, bringt zwar Ian auch nicht zurück, aber trotz alledem möchte man es wissen.« »Erzählen Sie mir etwas von Ihren neueren Erfolgen«, sagte ich mit einem Nicken, das Thema wechselnd, und nahm mir eine Scheibe papierdünnes Brot mit Butter. »Ich finde Ihre Arbeit ungeheuer interessant.« Ich fand sie au ßerdem so ziemlich das einzige, worüber noch zu reden 173
war, da wir kaum andere Berührungspunkte zu haben schienen. So sehr ich es bedauern mochte, es gab noch immer keine Tendenz zu zwangloser persönlicher Freund schaft. Calder aß noch etwas geräucherten Lachs, während er überlegte. »Ich hatte einen Hengst«, sagte er schließlich, »einen Zweijährigen, der im Training steht. Ian hatte ihn behandelt, und er schien sich gut zu machen. Dann, etwa drei Wochen nach Ians Tod, begann der Hengst im Maul und aus der Nase zu bluten, und es wollte nicht aufhören, und da Ians Partner das Problem nicht klären konnten, be wog der Trainer den Besitzer, das Pferd zu mir zu schik ken.« »Und haben Sie entdeckt, woran es lag?« fragte ich. »Nein, nein.« Er schüttelte den Kopf. »Es war nicht nö tig. Ich legte meine Hände auf ihn, an drei Tagen hinter einander, und die Blutungen hörten sofort auf. Ich behielt ihn insgesamt zwei Wochen bei mir und schickte ihn auf dem besten Weg zu voller Gesundheit nach Hause.« Die angrenzenden Tische waren fasziniert, ich selbst auch nicht weniger. »Haben Sie ihm Kräuter verabreicht?« fragte ich. »Sicher. Natürlich. Und Luzerne in sein Heu. Ausge zeichnet bei vielen Übeln, Luzerne.« Ich hatte nur die verschwommenste Vorstellung, wie Luzerne aussah, abgesehen davon, daß es eine Art Gras war. »Das einzige, was man mit Kräutern nicht tun kann«, sagte er überzeugt, »ist schaden.« Ich hob die Augenbrauen mit vollem Mund. Er quittierte es fast mit einem Grinsen. »Bei gewöhn lichen Arzneimitteln muß man wegen ihrer Stärke und ih 174
rer Nebenwirkungen so aufpassen, aber wenn ich nicht si cher bin, was ein Pferd hat, kann ich ihm sämtliche Kräu ter, die mir einfallen, auf einmal verabreichen in der Hoff nung, daß eins davon ins Schwarze trifft, und ziemlich oft passiert das auch. Es mag hoffnungslos unwissenschaftlich sein, aber wenn ein ausgebildeter Tierarzt nicht sagen kann, was ein Pferd hat, wie soll ich das denn?« Ich lächelte vergnügt. »Trinken Sie etwas Wein«, sagte ich. Er nickte mit dem Lockenhelm, und der Bewegung, die ich nach der Flasche in ihrem Eiskühler machte, kam so fort ein wachsamer Kellner zuvor, der beinahe ehrfürchtig das Glas des Heilers füllte. »Wie war die Amerikareise«, fragte ich, »damals im Ja nuar?« »Hm.« Er nippte an seinem Wein. »Interessant.« Er run zelte die Stirn ein wenig und widmete sich dem Rest sei nes Lachses, so daß ich mich schon fragte, ob das seine ganze Antwort war. Als er Messer und Gabel hingelegt hatte, lehnte er sich jedoch zurück und erzählte mir, der erfreulichste Teil seines Amerikaausflugs seien wie erwar tet ein paar Tage auf den Skihängen gewesen; und wäh rend des Roastbeefs und Burgunders, die folgten, disku tierten wir die ganze Zeit über Wintersportzentren. Bei den Crêpes Suzette fragte ich nach Dissdale und Bet tina und erfuhr, daß Dissdale auf Geschäftsreise in New York gewesen war und daß Bettina eine kleine Rolle in ei nem britischen Film gespielt hatte, was Dissdale mit ge mischten Gefühlen aufgenommen habe. »Zu viele knacki ge junge Hengste da herum«, meinte Calder lächelnd. »Dissdale macht sich sowieso Gedanken, und er war zehn Tage fort.« Ich grübelte kurz über Calders eigenes, anscheinend nicht existierendes Sexualleben: Doch er hatte mich auch 175
nie zusammen mit einem Mädchen gesehen, und zweifel los deutete nichts an ihm auf Homosexualität hin. Beim Kaffee, als mir die Themen ausgingen, fragte ich ihn nach seinem Hof im allgemeinen und wie es seiner rechten Hand Jason im besonderen ginge. Calder zuckte die Achseln. »Er ist weg. Sie kommen und gehen, wissen Sie. Keine Loyalität heutzutage.« »Und Sie befürchten nicht … na ja, daß er Ihr Wissen mitgenommen hat?« Er sah belustigt drein. »Er wußte nicht viel. Ich meine, ich habe Pillen hergenommen und Jason gesagt, welchem Pferd er sie geben soll. So lief das.« Wir beendeten das Dinner recht freundschaftlich mit ei nem Glas Brandy für jeden und einer Zigarre für ihn, und ich gab mir Mühe, bei der Rechnung nicht zusammenzu fahren. »Ein sehr angenehmer Abend«, sagte Calder. »Besuchen Sie mich doch noch mal zum Lunch.« »Sehr gerne.« Wir saßen uns noch einige letzte Minuten in beidersei tiger Wertschätzung gegenüber: zwei grundverschiedene Menschen, verbunden jedoch durch eine Zehntelsekunde auf einem Gehsteig in Ascot. Geretteter und Retter, jeder war unwillkürlich interessiert am anderen. Der Kontakt würde niemals völlig abreißen. Ich lächelte ihn langsam an und bekam ein Lächeln dafür zurück, doch es war reine Oberfläche, ohne Tiefe, ein genaues Spiegelbild meiner eigenen Empfindungen. Im Büro veränderten die Dinge sich allmählich. John hatte zu oft mit seinen sexuellen Eroberungen geprahlt und zu oft über meinen Direktorenstuhl gemeckert. Gordons Bei 176
nah-Gleichgestelltem war so viel vertane Zeit zu bunt ge worden. Ich hatte von Val Fisher in einer möglicherweise zensierten Fassung gehört, daß auf einer kleinen Sonder sitzung, die in meiner Abwesenheit und ohne mein Wissen einberufen worden war, Gordons Beinah-Gleichgestellter erklärt hätte, er möchte John am liebsten mit einem Tritt über die Paulskirche befördern. Man respektierte seine Meinung. Ich hörte eines Tages von Alec lediglich, daß der Moskito, der mich so lange gepiesackt habe, zer quetscht worden sei, und als ich über den Flur ging, um nachzuforschen, hatte ich Johns Schreibtisch leer vorge funden. Seine bullige Präsenz war nur noch ein Beben in der Vergangenheit. »Er will jetzt den Eskimos Klimaanlagen verkaufen«, sagte Alec, und Gordons Beinah-Gleichgestellter korri gierte es freundlich lächelnd zu einer eher wahrschein lichen Partnerschaft mit ein paar Maklern an der Börse. Alec selbst wirkte irgendwie ruhelos, als könne ihn sein Job nicht mehr fesseln. »Für dich ist es in Ordnung«, sagte er einmal. »Du hast die Begabung. Und du hast den Blick. Ich kann eine Goldmine nicht auf fünf Schritt von einem Granatapfel un terscheiden, und die ganzen Jahre habe ich gebraucht, um das zu merken.« »Aber du bist doch ein Zauberkünstler«, sagte ich. »Du kannst Fremdkapital schneller lockermachen als irgendwer sonst.« »Ein gutes Mundwerk, meinst du.« Er sah uncharak teristisch düster drein. »Honig mit ’nem Hammer drin.« Er winkte mit der Hand nach den Tischen unserer neuen älte ren Kollegen, die beide in die Mittagspause gegangen wa ren. »Ich ende mal wie die, immer noch hier, immer noch glattzüngig, als Teil der Einrichtung, wenn ich auf die 177
Sechzig geh’.« Aus seiner Stimme sprach Unglauben, daß ein solches Alter erreicht werden konnte. »Das ist doch kein Leben, oder? Soll das alles sein?« Ich sagte, ich hielte es für möglich. »Ja, aber für dich ist es aufregend«, sagte er. »Ich meine, du hast Spaß dran. Deine Augen glitzern. Das Zimmer hier bringt dich in Schwung. Aber aus mir wird nie ein Direk tor, das müssen wir klar sehen, und ich habe dieses schlei chende Gefühl, daß mir die Zeit wegläuft, und bald wird es zu spät sein, etwas anderes anzufangen.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel als Schauspieler. Oder als Arzt. Oder als Akrobat.« »Dazu ist es zu spät, seit du sechs warst.« »Ja«, sagte er. »Beschissen, was?« Er widmete sich je doch zehn Minuten später mit Leib und Seele dem Auf spüren einer Quelle von hunderttausend Pfund auf mehre re Jahre, um sie zu einem rentablen Satz einem Ge schäftsmann zu leihen, und schnürte den ganzen Nachmit tag mit Eifer und Erfolg solche Kreditpakete zusammen. Ich hoffte, er würde bleiben. Er war die Hefe des Büros: mein Schampus im Brotteig. Was mich anging, so hatte ich mich daran gewöhnt, im Vorstand zu sitzen, und all mählich gemerkt, daß ich ein neues Maß an Selbstver trauen gewonnen hatte. Gordon schien mich unterdessen vorbehaltlos als seinesgleichen zu behandeln, obwohl ich es erst begriff, nachdem er es schon eine ganze Zeit getan hatte. Sein bis dahin schwarzes Haar hatte eine oder zwei graue Strähnen bekommen. Seine rechte Hand zitterte jetzt ebenfalls, und seine Schrift war kleiner geworden unter der Anstrengung, die Finger unter Kontrolle zu halten. Ich beobachtete seine tapferen Bemühungen, normal zu er 178
scheinen, und achtete seine Privatsphäre, indem ich nie mals auch nur einen visuellen Kommentar abgab. Es war mir zur zweiten Natur geworden, überall hinzusehen außer direkt auf seine Hände. Geistig blieb er kraftvoll wie eh und je, doch physisch wurde er insgesamt langsamer. Ich hatte Judith seit Weihnachten nur einmal gesehen, und das war im Büro gewesen, bei einer Abschiedsfeier für den Chef der Beteiligungsfinanzierung, als alle Direk torenfrauen zum Goldenen Handschlag eingeladen wur den. »Wie geht’s dir?« sagte sie mitten in dem Trubel, ein Glas Wein und ein nicht identifizierbar belegtes Brot in der Hand und nach Veilchen duftend. »Gut. Und dir?« »Gut.« Sie trug Blau, mit Diamanten an den Ohren. Mein Blick verriet ihr absolute und verzweifelte Sehnsucht. Ich sah die Anspannung, die es in ihr Gesicht brachte. »Entschuldige«, sagte ich. Sie schüttelte den Kopf und schluckte. »Ich dachte … es wäre vielleicht anders … hier in der Bank.« »Nein.« Sie sah nieder auf das belegte Brot, das breiig und gelb war. »Wenn ich das verflixte Ding nicht bald esse, tropft es mir noch aufs Kleid.« Ich nahm es ihr aus den Fingern und deponierte es in ei nem Aschenbecher. »Investier in ein Salamibrötchen. Die bleiben Stunden hart wie Stein.« »Was meint Tim, in was du investieren sollst?« wollte Henry Shipton wissen, der sich mit strahlendem Gesicht zu uns umdrehte. »Salami«, sagte Judith. 179
»Typisch. Letzte Woche hat er einem Seetangverarbeiter Kredit gegeben. Judith, meine Liebste, laß mich dein Glas auffüllen.« Er ging mit dem Glas zu den Flaschen davon, und wir, wieder allein, doch umringt von tausend Ohren, sahen ein ander an. »Ich habe mir überlegt«, sagte ich, »wenn es wärmer ist, könnte ich mit dir und Gordon – und Pen, wenn sie mag – sonntags mal irgendwohin rausfahren. Etwas Ausgefalle nes. Den ganzen Tag.« Sie brauchte längere Zeit für die Antwort, und ich verstand all das Unausgesprochene, doch schließlich, als Henry wieder nahte, sagte sie: »Ja. Wir würden uns alle freuen. Ich ganz … besonders.« »Hier, bitte«, sagte Henry. »Tim, gehen Sie, und er kämpfen Sie sich Ihren Nachschub selber, und lassen Sie mich mal mit diesem Prachtmädchen reden.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und riß sie fort, und obwohl ich mir den ganzen Abend lebhaft ihrer Gegenwart bewußt war, hatten wir keinen Augenblick mehr allein. Ich litt nicht direkt mit jedem Tag, den sie nicht in der Nähe war: Ihre Abwesenheit glich mehr einem leisen Schmerz im Hintergrund. Wenn ich Gordon täglich im Büro sah, empfand ich weder ständigen Neid, noch haßte ich ihn, noch dachte ich sonderlich viel daran, wo er schlief. Ich schätzte ihn als den anständigen, klugen Mann, der er war, und unsere Bürobeziehung ging ungestört und ruhig weiter. Judith zu lieben war Freude und Qual, Ent zücken und Entzug, verwehrte Wünsche, versagte Träume. Es wäre vielleicht einfacher und vernünftiger gewesen, ir gendeine junge, bezaubernde und ungebundene Fremde kennenzulernen und sich mächtig in sie zu verknallen, doch das einzige, was Liebe niemals hatte, war Logik. 180
»Ostern«, sagte ich zu Gordon eines Tages im Büro. »Fahrt ihr da weg?« »Wir hatten eigentlich Pläne – die sind aber ins Wasser gefallen.« »Hat Judith erwähnt, daß ich gern mit euch – und mit Pen Warner irgendwohin möchte, zum Dank für Weih nachten?« »Ja, ich glaube.« »Ostermontag also?« Er schien angetan von dem Gedanken und berichtete am nächsten Tag, daß Judith Pen gefragt hätte und sie alle ge spannt seien. »Pen nimmt auch ihren Drachen mit«, sagte er. »Wenn’s keine Tagesreise nach Manchester wird.« »Ich laß mir was einfallen«, erwiderte ich lachend. »Sag ihr, es gibt keinen Regen.« Was ich mir letztlich ausdachte, schien ihnen allen ausge zeichnet zu gefallen und auch für die anderen Betroffenen annehmbar zu sein, und dementsprechend holte ich Judith und Pen (aber nicht den Drachen) um halb neun am Ostermontag in Clapham ab. Judith und Pen waren in sprühender Hochstimmung, wenn auch Gordon bereits matt wirkte. Ich schlug vor, den für ihn zwangsläufig recht strapaziösen Tag sausenzulassen, doch er wollte nichts da von hören. »Ich möchte fahren«, sagte er. »Hab’ mich die ganze Woche drauf gefreut. Aber ich setz mich im Wagen mal nach hinten und ruh mich aus und schlaf einen Teil der Strecke.« Also saß Judith neben mir, während ich fuhr, und berührte meine Hand hin und wieder, redete zwar nicht viel, aber stellte mich doch tief zufrieden, indem sie einfach da war. Die Fahrt nach Newmarket dauerte zwei 181
einhalb Stunden, und von mir aus hätte sie geradesogut ewig weitergehen können. Ich brachte sie zu Calders Hof, was Pen absolut faszi nierte. »Aber sagt ihm nicht, daß ich Pharmazeutin bin«, meinte sie. »Er kneift vielleicht den Mund zu, wenn er weiß, daß er ein kundiges Publikum hat.« »Wir werden uns hüten«, versicherte ihr Judith. »Es würde doch völlig den Spaß verderben.« Armer Calder, dachte ich: Aber sagen würde ich ihm auch nichts. Er begrüßte uns so überschwenglich, daß ich Schuldge fühle kriegte, und bat uns zum Kaffee in den großen, ganz mit Eiche getäfelten Wohnraum, wo die Erinnerung an Ian Pargetter peripher um den Kamin schwebte. »Freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte Calder mit scharfem Blick auf Gordon, Judith und Pen, als versuchte er, eine Erinnerung heraufzubeschwören, die zu ihren Ge sichtern paßte. Er wußte natürlich dem Namen nach, wer sie waren, doch Ascot lag zehn Monate zurück, und ob gleich es für ihn ein besonders denkwürdiger Tag gewesen war, hatte er zwischen damals und heute eine ganze Men ge neuer Leute kennengelernt. »Ja doch«, sagte er mit Er leichterung und sich glättender Stirn. »Gelber Hut mit Ro sen.« Judith lachte. »Bravo.« »Jemand so Hübsches vergißt man doch nicht.« Sie nahm es, wie es gemeint war, aber tatsächlich hatte er es nicht vergessen, wie man ja dazu neigte, niemals Leute zu vergessen, deren Lebenskraft die Sonne heraus holte. »Ich sehe Dissdale und Bettina ziemlich oft«, sagte er konversationshalber, und Gordon bestätigte, daß auch er 182
und Judith manchmal Dissdale sähen, wenn auch nicht häufig. Als Gesprächsthema war es kaum umwerfend, diente aber als annehmbare Verschnaufpause zwischen der langen Autofahrt und der großen Führung. Die Patienten in den Boxen waren sämtlich andere, doch ihre Leiden schienen die gleichen zu sein; und ich stellte mir vor, daß man Chirurgen ihre unpersönlichen Reden von dem »Blinddarm in Bett 14« nachsehen konnte, wenn die Insassen Woche für Woche wechselten, die Operation jedoch nicht. »Das ist ein Military-Star, der vor fünf Wochen mit schwerer Muskelschwäche und ohne Appetit hierher kam. Wollte nicht fressen. Taugte nicht zum Reiten. Morgen kommt er nach Hause, stark und topfit. Sieht gut aus, was?« Calder tätschelte den glänzend braunen Hals über der Stalltür. »Seine Besitzerin dachte, er sei todkrank, die Ärmste. Sie hat geweint, als sie ihn herbrachte. Es ist wirklich befriedigend, wissen Sie, wenn man helfen kann.« Gordon sagte höflich, das müsse es wohl sein. »Hier haben wir einen Zweijährigen, noch nicht lange im Training. Kam mit einer hartnäckig infizierten Wunde an der Fessel. Er ist seit einer Woche da, und sie heilt. Höchst erfreulich war, daß ihn der Trainer ohne Verzug her schickte, da ich schon mehrere seiner Pferde behandelt hatte. Diese Stute«, fuhr Calder fort, indem er uns mit sich zog, »kam vor zwei oder drei Tagen mit starken Beschwerden und Blut im Urin. Es freut mich, sagen zu können, daß sie gut anspricht.« Er tätschelte sie wie die anderen auch. »Wodurch kam die Blutung?« fragte Pen, aber nur mit der Betonung eines uninformierten Mitglieds der Allge meinheit. 183
Calder schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Der Tier arzt diagnostizierte eine Niereninfektion, kompliziert durch Kristallurie, das heißt Kristalle im Urin, aber er kannte nicht den Bakterientyp, und alle Antibiotika, die er eingab, versagten. Also kam die Stute her. Letzter Aus weg.« Er zwinkerte mir zu. »Ich überlege, ob ich die gan ze Sache hier nicht einfach umtaufe in ›Letzter Ausweg‹.« »Und Sie behandeln sie«, fragte Gordon, »mit Kräu tern?« »Mit allem, was mir nur einfällt«, sagte Calder. »Und natürlich … mit den Händen.« »Ich nehme an«, sagte Judith schüchtern, »Sie würden niemanden dabei zuschauen lassen …?« »Sie, Verehrteste, jederzeit«, sagte Calder. »Nur, Sie würden nichts sehen. Sie könnten eine halbe Stunde lang dastehen, und nichts geschähe. Es wäre fürchterlich lang weilig. Zumal ich unfähig sein könnte, wissen Sie, wenn jemand wartet und dabeisteht.« Judith lächelte verständnisvoll, die Führung ging weiter und endete wie damals in der Praxis. Pen schaute sich mit freundlich neutraler Miene um und schlenderte dann zu den Glasschränken hinüber, um kurz sichtig den Inhalt zu beäugen. Calder, der sie glücklicherweise zugunsten von Judith ignorierte, zog seine antiquarische Pillenpresse heraus und führte sie stolz vor. »Die ist aber schön«, sagte Judith. »Benutzen Sie sie oft?« »Die ganze Zeit«, erwiderte er. »Jeder Kräuterkenner, der den Namen wert ist, stellt seine eigenen Tabletten und Tränke her.« »Tim sagte, Sie hätten einen Universalzaubertrank im Kühlschrank.« 184
Calder lächelte und machte entgegenkommend den Kühlschrank auf, so daß die braungefüllten Plastikbehälter sichtbar wurden. »Was ist denn drin?« fragte Judith. »Geschäftsgeheimnis«, sagte er lächelnd. »Absud aus Hopfen und anderen Dingen.« »Wie Bier?« sagte Judith. »Ja, vielleicht.« »Pferde trinken wirklich Bier«, warf Gordon ein. »Habe ich jedenfalls gehört.« Pen bückte sich, um eine kleine pfirsichfarbene Pille aufzuheben, die unauffällig im Winkel eines der Schränke lag, und legte sie ohne Kommentar auf die Werkbank. »Es ist so fesselnd alles«, sagte Judith. »Wahnsinnig nett von Ihnen, uns das alles zu zeigen. Ich werde mir Ihre Sendungen mit mehr Begeisterung ansehen denn je.« Calder sprach herzlich auf sie an, wie es alle Männer ta ten, und bat uns noch einmal zu einem Drink ins Haus, ehe wir fuhren. Gordon jedoch zeigte immer noch Anzeichen von Erschöpfung und versteckte zudem jetzt beide Hände in den Taschen, was bedeutete, daß sie nach seinem Ge fühl arg zitterten, also dankten wir übrigen Calder enthu siastisch für sein Willkommen, machten bewundernde Bemerkungen über seine Klinik und stiegen in den Wa gen. »Kommen Sie wieder, wann Sie wollen, Tim«, sagte er, und ich sagte danke und vielleicht käme ich, und wir lä chelten, gefangen in unserer sonderbaren Beziehung und außerstande, sie weiterzubringen. Er winkte, und ich wink te zurück, als ich losfuhr. »Ist er nicht erstaunlich«, sagte Judith. »Ich muß sagen, Tim, ich kann verstehen, wieso du beeindruckt bist.« 185
Gordon brummte und meinte, daß bühnenreife Ärzte nicht unbedingt die besten wären; doch ja, Calder sei be eindruckend. Nur Pen gab nach mehreren Meilen ihren Vorbehalten Ausdruck. »Ich will nicht behaupten, daß er den Pferden nicht eine ganze Menge Gutes tut. Das muß er natürlich, wenn er ei nen solchen Ruf erworben hat. Aber ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, daß er es alles mit Kräutern macht.« »Wie meinst du das?« fragte Judith und drehte sich halb, um sie besser zu sehen. Pen beugte sich vor. »Ich fand eine Pille auf dem Boden. Ihr habt es wahrscheinlich nicht bemerkt.« »Ich schon«, sagte ich. »Sie legten sie auf die Bank.« »Stimmt. Nun, das war kein Kraut, es war schlicht und einfach Warfarin.« »Es mag schlicht und einfach Warifari für dich sein«, sagte Judith. »Aber nicht für mich.« Pens Stimme lächelte. »Warfarin ist ein Medikament, das bei Menschen, und ich möchte behaupten, auch bei Pferden, nach Dingen wie Herzanfällen verwendet wird. Es ist ein Cumarin – ein Antikoagulans. Verhindert die Gerinnung des Blutes und die Verstopfung der Venen und Arterien. Weithin in Gebrauch.« Wir verdauten die Information schweigend eine oder zwei Meilen lang, und schließlich sagte Gordon: »Woher wußtest du, daß es Warfarin war? Ich meine, wie kommst du drauf?« »Ich gehe täglich damit um«, sagte sie. »Ich kenne die Dosierungen, die Größen, die Farben, die Markenzeichen. Man sieht diese Sachen so oft, daß man sie auf einen Blick erkennt.« 186
»Wollen Sie damit sagen«, fragte ich interessiert, »wenn Sie fünfzig verschiedene Pillen in einer Reihe liegen sä hen, könnten Sie die sämtlich identifizieren?« »Wahrscheinlich. Wenn sie alle von großen Pharmapro duzenten kämen und nicht völlig neu wären, bestimmt, ja.« »Wie ein Weinprober«, sagte Judith. »Ein kluges Mädchen«, sagte Gordon. »Es ist bloß Gewohnheit.« Sie überlegte. »Und noch et was in diesen Schränken war wohl nicht ausgesprochen pflanzlich. Er hatte eine oder zwei Tüten Kaliumsulfat, gekauft in Goodisons Gartenzentrum, wo immer das ist.« »Wofür in aller Welt?« fragte Judith. »Ist Kaliumsulfat nicht ein Düngemittel?« »Kalium ist genauso unentbehrlich für Tiere wie für Pflanzen«, sagte Pen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn es ein Bestandteil von dieser Geheimmixtur wäre.« »Was würden Sie denn da noch reintun, wenn Sie sie herstellten?« fragte ich neugierig. »Ach Himmel.« Sie überlegte. »Jede Art von Tonikum. Vielleicht Schwarzwurz, die er mal erwähnte. Vielleicht Koffein. Alle möglichen Vitamine. Einfach ein Misch masch zum Aufmöbeln.« Der schwierigste Teil des Tages hatte darin bestanden, etwas Anständiges zum Essen zu finden, und bei dem Lo kal, das ich über die diversen Feinschmeckerführer her ausgesucht hatte, zeigte sich, was so oft passiert, nämlich daß es seit der Abfassung der Bücher den Inhaber und die Köche gewechselt hatte. Die resultierende Mahlzeit ließ lange auf sich warten und viel zu wünschen übrig, doch die Laune meiner Gäste verzieh alles. »Entsinnst du dich«, sagte Gordon nachdenklich beim Kaffee, »daß du uns auf dem Weg von Newmarket erzählt 187
hast, Calder hätte sich Sorgen um sein Geschäft gemacht, als dieser Tierarzt umgebracht wurde?« »Ja«, sagte ich. »Er war damals besorgt.« »Könnte es nicht sein«, sagte Gordon, »daß der Tierarzt Calder normale amtliche Arzneimittel wie Warfarin zu kommen ließ und daß Calder dachte, seine Vorräte würden ausgehen, als der Tierarzt starb?« »Gordon!« rief Judith. »Wie falsch du bist, Liebling.« Wir dachten indessen alle darüber nach, und Pen nickte. »Er muß eine neue bereitwillige Quelle gefunden haben, möchte ich meinen.« »Aber«, protestierte ich, »würden Tierärzte das denn wirklich machen?« »Sie werden nicht gerade fürstlich bezahlt«, sagte Pen. »Zwar nicht schlecht für meine Begriffe, aber reich sind sie niemals.« »Aber Ian Pargetter war sehr beliebt«, sagte ich. »Was hat das damit zu tun?« sagte Pen. »Nichts was ihn gehindert hätte, ein paar Pillen und Ratschläge für ein dik kes unversteuertes Honorar an Calder weiterzugeben.« »Zu ihrem gemeinsamen Nutzen«, murmelte Gordon. »Die tönernen Füße des Heilers«, sagte Judith. »Welch ein Jammer.« Die Vermutung schien die Freude vom Morgen ein we nig zu dämpfen, doch der Nachmittagsbesuch ließ den Rest des Tages aufgehen. Wir fuhren diesmal zu Oliver Knowles’ Gestüt und fan den das ganze Gelände überflutet von Fohlen und Stuten und Aktivität. »Wie schön«, sagte Judith, als sie über die weißumzäun ten Koppelflächen mit ihren Kolonien von Müttern und Babys hinschaute. »Wie unglaublich toll.« 188
Oliver Knowles, allen vorgestellt, war ebenso herzlich wie Calder und erklärte Gordon mehrmals, er werde seine Dankesschuld gegenüber Paul Ekaterin nie, niemals tilgen können, ganz gleich, wie schnell er auch seinen Kredit ab zahlte. Die Besorgnis und die Zweifel, die ihm bei meinem Fe bruarbesuch angehangen hatten, waren ganz verschwun den: Oliver Knowles war erneut und verstärkt der kompe tente und entschlossene Unternehmer, als den ich ihn ken nengelernt hatte. Die Fohlen hatten sich offenbar gut ge macht. Nicht eine der für Sandcastle vorgesehenen Stuten war ausgefallen, und keine dieser Stuten hatte irgendeine Infektion davongetragen, ein Triumph der Pflege. Er er zählte mir dies alles innerhalb der ersten zehn Minuten und auch, daß Sandcastle sich als äußerst potent und fruchtbar erwiesen hatte und ein Traum von einem Hengst war. »Er ist unermüdlich«, sagte er. »Vierzig Stuten wer den ein leichtes sein.« »Das freut mich«, sagte ich, und meinte es von ganzem Bankerherzen. Mit seinem Hund Squibs auf den Fersen führte er uns al le nochmals durch die Reihe der Höfe, wo das abendliche Ritual des Ausmistens und Fütterns, da es auf vier Uhr zu ging, in vollem Gang war. »Ein Gestüt ist natürlich nicht wie ein Rennstall«, erklär te Oliver gerade Gordon. »Ein Pfleger hier kann sich um weit mehr als drei Pferde kümmern, da sie nicht geritten werden müssen. Und hier haben wir ein flexibleres Sy stem, da die Stuten manchmal drin, manchmal draußen auf den Koppeln sind und es unmöglich wäre, bestimmte Stu ten bestimmten Pflegern zuzuweisen. Also versieht ein Pfleger hier einen bestimmten Teil von Boxen, egal wel che Tiere drin stehen.« 189
Gordon nickte freundlich interessiert. »Warum sind manche Fohlen in den Boxen und manche draußen auf den Koppeln?« fragte Judith, und Oliver er zählte ihr ohne Zögern, es sei deswegen, weil die Fohlen bei ihren Müttern bleiben müßten, und die im Stall stehen den Stuten mit Fohlen kämen bald in die Rosse oder seien bereits in Rosse und würden von ihren Boxen aus zum Hengst geführt. Wenn ihre Brunst vorüber sei, würden sie mit ihren Fohlen auf die Koppeln kommen. »Oh«, sagte Judith, ein wenig verblüfft über diesen Fließbandaspekt. »Ja, ich verstehe.« Im Abfohlhof stießen wir auf Nigel und auch Ginnie, die zu mir gelaufen kam, sowie sie mich sah, mich fest um schlang und mir einen schmatzenden Kuß irgendwo links vom Mund versetzte. Ein ganz schöner Fortschritt an Selbstvertrauen, dachte ich. Ich erwiderte ihre Umarmung, hob sie von den Füßen und wirbelte sie im Kreis herum. Sie lachte, als ich sie herunterließ, und Oliver sah es mit einigem Erstaunen. »Ich kenne sie so extrovertiert gar nicht«, sagte er. Ginnie blickte ängstlich zu ihm und hielt sich an meinem Ärmel fest. »Es hat Sie doch nicht gestört, oder?« fragte sie mich besorgt. »Es schmeichelt mir«, sagte ich ernsthaft und dachte da bei, daß ihr Vater sie noch völlig um ihre Spontaneität bringen würde, wenn er nicht achtgab. Ginnie, beruhigt, hakte sich bei mir ein und sagte: »Kommen Sie, schauen Sie sich mal das neueste Fohlen an. Es ist erst vor zwanzig Minuten auf die Welt gekom men. Es ist ein Hengst. Ein Schätzchen.« Sie zerrte mich fort, und ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf Judiths Gesicht, das eine Mischung von allen möglichen unlesba ren Gefühlen zeigte. 190
»Olivers Tochter«, sagte ich erklärend über die Schulter hinweg und hörte Oliver verspätet Nigel vorstellen. Sie kamen alle, um sich über die Halbtür das Fohlen an zusehen; ein glänzendes kleines Geschöpf, halb liegend, halb hockend auf dem dicken Stroh, nichts als lange Nase, Riesenaugen und gekreuzte Beine; neues Leben, das sich schon bemühte, ein Gleichgewicht zu finden und aufzu stehen. Die Mutter, auf den Beinen, neigte abwechselnd den Kopf zum Fohlen oder sah argwöhnisch zu uns hoch. »Das war ein leichter Fall«, sagte Ginnie. »Nigel und ich haben bloß zugeguckt.« »Hast du schon viele Fohlen auf die Welt kommen se hen?« fragte Pen. »Ach, Hunderte. Mein Leben lang. Die meisten nachts.« Pen blickte sie an, als spürte sie ebenso wie ich das Er regende einer so ungewöhnlichen Kindheit: als hätte sie, wie ich, noch nie eine Geburt irgendwelcher Art miterlebt, schon gar nicht eine ganze Serie mit fünfzehn. »Diese Stute ist für Sandcastle gekommen«, sagte Oli ver. »Und wird das Fohlen das Derby gewinnen?« fragte Gordon lächelnd. Oliver lächelte seinerseits. »Man weiß es nie. Den Stammbaum dafür hat er.« Er atmete tief durch, dehnte seine Brust. »Ich habe bis zu diesem Jahr so etwas nie sa gen können. Kein Fohlen, das hier geboren oder empfan gen wurde, hat in der Vergangenheit ein klassisches Ren nen gewonnen, aber jetzt…«, er griff weit mit dem Arm aus, »… eines Tages, von diesen hier…«, er hielt inne. »Es ist eine ganz neue Welt. Es ist … ungeheuer.« »So gut, wie Sie gehofft haben?« fragte ich. »Besser.« 191
Er hatte doch eine Seele, dachte ich, unter all der militä risch ordentlichen Effizienz. Eine Vision von den Höhen, die er in der Wirklichkeit erreichte. Und wie schnell, frag te ich mich, würde der Glanz zum Alltäglichen werden, die klassischen Sieger zur Routine, die Blaublüter zur ge meinen Herde. Es würde das sein, was er angestrebt hatte; doch in gewisser Hinsicht würde es sich auch abnutzen. Wir verließen das Fohlen und gingen den Pfad hinunter am Deckstand vorbei, wo das Haupttor heute weit geöffnet war und man den dick mit mattbraunem, krümeligem Torf bedeckten Boden sah. Außer einer knappen Erklärung, was sich dort abspielte, wenn er bewohnt war, lieferte Oli ver keinen Kommentar, und wir alle gingen, ohne an zuhalten, weiter zum Kern des Ganzen, zu den Hengsten. Lenny war dort, er führte eines der Pferde in dem klei nen Hof herum, schleppend und mit gesenktem Kopf, als ob er schon geraume Zeit damit beschäftigt wäre. Das Pferd troff vor Schweiß, und nach der Lage der einen ge öffneten, leeren Box vermutete ich, es müsse Rotaboy sein. »Er hat gerade eine Stute gedeckt«, sagte Oliver sach lich. »Danach ist er immer so.« Judith und Gordon und Pen sahen alle aus, als sei das unverhüllt Geschlechtliche des Ortes erdhafter, als sie er wartet hatten, auch ohne daß sie, wie ich irgendwann ein mal, Oliver in aller Ruhe mit Nigel eine Vaginaldesin fektion besprechen hörten. Sie fingen sich indessen tapfer und schauten mit angemessener Ehrfurcht auf den Kopf von Sandcastle, der aus dem Dunkel der Innenbox in Sicht schwebte. Er hielt sich nahezu gebieterisch, als hätte seine neue Rolle seinen Charakter grundlegend verändert; und viel leicht hatte sie es. Ich hatte im Verlauf meines erneuerten 192
Interesses am Rennsport selbst gesehen, wie ständiger Er folg manche Pferde mit definitiver »Ausstrahlung« begab te, und Sandcastle hatte sie, selbst als er damals verloren und verängstigt auf dem Hügel stand, merklich besessen; doch jetzt, nur zwei Monate später, war da ein neuer Zug, den man beinahe Hochmut nennen konnte, eine frische Überzeugung von seiner Überlegenheit. »Er ist prachtvoll«, rief Gordon aus. »Ein Genuß, ihn nach diesem fabelhaften Tag in Ascot noch mal zu sehen.« Oliver gab Sandcastle die üblichen zwei Karotten und ein paar Klapse, behandelte den König als Vertrauten. Weder Judith noch Pen, noch gar Gordon oder ich ver suchten auch nur die empfindliche Nase zu berühren: zweifellos aus Angst, er könnte Finger abbeißen. Bewun derung war gut und schön, doch Abstand hatte etwas für sich. Lenny brachte den sich beruhigenden Rotaboy zurück in seine Box und begann nebenan bei Diarist auszumisten. »Wir lassen zwei Pfleger durchgehend nach den Heng sten sehen«, sagte Oliver. »Lenny hier und noch einen sehr verläßlichen Mann, Don. Nigel füttert sie.« Pen erfaßte den Gedanken hinter seinen Worten und fragte: »Brauchen Sie viel Sicherheitsvorkehrungen?« »Einige«, bestätigte er. »Wir haben schallempfindliche Leitungen um den Hof gelegt, so daß Nigel oder ich vom Haus aus hören können, ob ungewöhnliche Geräusche auf treten.« »Wie Hufe, die spazieren gehen?« tippte Judith. »Genau.« Er lächelte sie an. »Wir haben ferner Rauch alarm und massives Löschgerät.« »Und Ziegelsteinboxen und nachts Kombinationsschlös ser an den Türriegeln und verschließbare Tore an allen 193
Ausgängen zur Straße«, ergänzte Ginnie schwatzhaft. »Dad hat sich die Sicherheit wirklich was kosten lassen.« »Das hört man gern«, sagte Gordon. Ich lächelte im stillen über das klassische Beispiel vom Verriegeln der Stalltür, nachdem das Pferd ausgerückt war, doch in der Tat sah man, daß Oliver hartes Lehrgeld bezahlt hatte und sich glücklich schätzte, eine zweite Chance bekommen zu haben. Nach einiger Zeit begannen wir in Richtung Haus zu rückzuwandern und hielten nochmals im Fohlhof, um uns das neue Hengstbaby anzuschauen, das jetzt zittrig auf den Beinen stand und nach seinem Abendbrot herumsuchte. Oliver nahm mich beiseite und fragte mich, ob ich Sand castle beim Decken einer Stute sehen mochte, ein Punkt, der offenbar in Kürze vorgesehen war. »Ja, gern«, sagte ich. »Alle kann ich nicht einladen – der Platz reicht nicht«, sagte er. »Ginnie wird ihnen mal die Stuten und Saugfoh len auf den Koppeln zeigen und sie dann zum Tee ins Haus führen.« Niemand machte Einwendungen gegen diesen Pro grammvorschlag, besonders da Oliver nicht direkt erwähn te, wo er und ich hin wollten: Judith, dessen war ich si cher, hätte sich lieber uns angeschlossen. Ginnie nahm sie alle und Squibs mit, und ich konnte hören, wie sie sagte: »Da drüben ist noch ein Gehöft. Wir könnten da hingehen, wenn Sie wollen.« Oliver, der beobachtete, wie sie den Weg entlangschlen derten, den Sandcastle in überstürztem Galopp und ich im Sprint genommen hatte, sagte: »Die Watcherleys küm mern sich um alle empfindlichen Fohlen und alle Stuten, die eine Entzündung haben. Das hat sich bestens bewährt. Ich miete ihr Grundstück, und sie arbeiten für mich. Ihre 194
Erfahrung mit kranken Pferden erweist sich als sehr nütz lich.« »Und als ich im Februar kam, waren Sie wohl gerade dabei, ihnen die Zäune auszubessern.« »Stimmt.« Er seufzte kläglich. »Eine Woche noch, und die Gatter wären in der Hecke und vor ihrer Ausfahrt ge wesen, und Sandcastle hätte nie herausgekonnt.« »Nichts Schlimmes passiert«, sagte ich. »Dank Ihnen, nein.« Wir gingen langsam auf den Deckstand zu. »Haben Sie schon mal einen Hengst bei der Arbeit gesehen?« fragte er. »Nein, noch nicht.« Nach einer Pause sagte er: »Es mag Ihnen stark vor kommen. Sogar gewaltsam. Aber für sie ist es normal. Denken Sie daran. Und er beißt sie wahrscheinlich ins Ge nick, aber das ist einmal, damit er die Position hält und ebensosehr ein Ausdruck von Leidenschaft.« »In Ordnung«, sagte ich. »Diese Stute, die wir jetzt decken lassen, ist empfäng lich, daher wird es keine Schwierigkeiten geben. Manche Stuten sind scheu, manche nur langsam erregbar, manche sind reizbar, genau wie bei den Menschen.« Er lächelte leise. »Diese kleine Dame ist geboren für einsame Näch te.« Es war das erste Mal, daß ich ihn so etwas wie einen Scherz über seinen Beruf machen hörte, und ich war bei nahe verblüfft. Als hätten ihn seine Worte selbst über rascht, sagte er nüchterner: »Wir führten sie gestern mor gen zu Sandcastle, und alles ging glatt.« »Die Stuten kommen also mehr als einmal zum Hengst?« fragte ich. 195
Er nickte. »Es hängt natürlich vom Gestüt ab, aber ich bin, wie Sie sich denken können, sehr darauf bedacht, daß alle Stuten hier die bestmögliche Gelegenheit zur Emp fängnis haben. Ich führe sie alle mindestens zweimal wäh rend der Rosse zum Hengst, dann bringen wir sie auf die Koppel raus und warten, und wenn sie erneut in Rosse kommen, heißt das, sie haben nicht empfangen, also wie derholen wir den Deckakt.« »Und wie lange versuchen Sie es noch?« »Bis Ende Juli. Das bedeutet, daß das Fohlen aber erst weit im Juni geboren wird, für Rennpferde spät im Jahr. Bringt ihnen Nachteile als Zweijährige, wo sie dann gegen März- und Aprilfohlen antreten, die mehr Zeit zum He ranwachsen hatten.« Er lächelte. »Mit etwas Glück be kommt Sandcastle keine späten Junifohlen. Man soll zwar den Tag nicht vor dem Abend loben, aber keine der Stu ten, die er vor drei Wochen oder mehr gedeckt hat, ist noch mal in Gebrauch gekommen.« Wir erreichten und betraten den Deckstall, wo die Stute bereits stand, von einem Burschen mit einer lockeren Na senbremse am Kopf festgehalten und von einem anderen gewaschen und gepflegt. »Sie kann’s nicht erwarten, Sir«, meinte dieser zweite, auf ihren Schwanz deutend, den sie hochreckte. Oliver er widerte nur: »Gut.« Nigel und Lenny kamen mit Sandcastle, dem lebhaft be wußt zu sein schien, wo er war und weshalb. Nigel schloß das Tor, um den Ritus abzuschirmen; und die Paarung, die folgte, war schnell und sicher und ausgesprochen urzeitlich. Eine Kopulation voller Wucht und Größe, voller Kraft und Freude, nicht ohne Zärtlichkeit: bemerkenswert anrührend. »Sie sind nicht alle so«, kommentierte Oliver nüchtern, als Sandcastle herausglitt, nach hinten abstieg und seine 196
Vorderbeine mit einem Ruck auf den Boden brachte. »Sie haben eine gute gesehen.« Ich dankte ihm für das Dabeiseinkönnen, und ich meinte wirklich, jetzt mehr von Pferden zu begreifen, als ich mir je vorgestellt hatte. Wir gingen zum Haus zurück, wobei Oliver mir erzählte, daß mit den vier Hengsten gegenwärtig sechs, sieben oder acht Paarungen täglich im Deckstand erfolgten, Sonntage eingeschlossen. Der Verstand stockte einem ein bißchen bei dem Gedanken an all diese tobende Fruchtbarkeit, aber letztlich war sie es ja, worum es bei den fünf Millionen Pfund der Bank überhaupt ging. Selten, dachte ich, hatte irgend jemand das Geld von Ekaterin so fundamental ar beiten sehen. Wir traten den Heimweg gestärkt durch Tee, Gebäck und Whisky an, nachdem Oliver und Gordon gegen Ende ge wetteifert hatten, wer wem am wärmsten dankte. Ginnie schenkte mir eine weitere, aber zurückhaltendere Umar mung und bat mich wiederzukommen, und Judith küßte sie und bot weiblichen Beistand an, falls je benötigt. »Nettes Kind«, sagte sie, als wir losfuhren. »Wächst schnell heran.« »Fünfzehn«, sagte ich. »Sechzehn. Sie hatte vorige Woche Geburtstag.« »Du hast dich gut mit ihr verstanden«, sagte ich. »Ja.« Sie schaute sich nach Pen und Gordon um, die wieder hinten saßen. »Sie hat uns von deiner kleinen Es kapade hier vor zwei Monaten erzählt.« »Darf nicht wahr sein!« »Aber ja«, sagte Pen lächelnd. »Wieso haben Sie nie da von gesprochen?« 197
»Ich weiß warum«, sagte Gordon trocken. »Er wollte nicht, daß im Büro bekannt wird, daß der Kredit, den er befürwortet hat, um ein Haar unter einen Laster geraten wäre.« »Stimmt das?« fragte Judith. »Ungefähr«, gestand ich kleinlaut. »Einige Leute im Vorstand waren ohnehin gegen das Ganze, und daß das Pferd durchgegangen war, hätten sie mir ewig unter die Nase gerieben.« »So ein Feigling«, kicherte Pen. Wir stotterten langsam in dem durch Ampeln geregelten Ostermontagsverkehr zurück nach Clapham, und Judith und Pen kürten es zum besten Tag, den sie seit Ascot er lebt hatten. Gordon döste, ich fuhr ruhig entspannt, und so erreichten wir schließlich das hohe Tor am Park. Ich ging mit ihnen zum bereits verabredeten Abendessen hinein, doch sie alle, nicht nur Gordon, waren müde von dem langen Tag, und ich hielt mich nicht auf. Judith kam mit heraus an den Wagen, um mich zu verabschieden und das Tor zu schließen, wenn ich weg war. Wir redeten im Grunde nicht. Ich hielt sie in den Armen, ihr Kopf auf meiner Schulter, mein Kopf auf ihrem, nah in der dunklen Nacht, doch so weit entfernt wie Planeten. Wir traten auseinander, und ich nahm ihre Hand, un schlüssig, nicht gewillt, allen Kontakt aufzugeben. »Ein fantastischer Tag«, sagte sie, und ich sagte »M hm« und küßte sie ganz kurz. Stieg in den Wagen und fuhr davon.
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Das zweite Jahr Oktober
D
er Sommer war gekommen und gegangen. Er war in diesem Jahr kalt, naß und ungeliebt. Während der Royal-Ascot-Woche war es windig und bedeckt gewesen, und Gordon und ich hatten, beim Durchspielen unserer Optionen hinter unsere Telefone geklemmt, auf den tristen Himmel hinausgesehen und kaum beklagt, daß Dissdale in diesem Jahr keine halben Logen hatte abtreten müssen. Erst mit dem Herbst, viel zu spät, waren Tage voller Sonnenschein wiedergekehrt, und an einem strahlend gol denen Samstag nahm ich den Rennzug nach Newbury, um mir das gemischte Meeting aus zwei Hindernis- und vier Flachrennen anzusehen. Ursula Young war dort, stand in der Nähe des Wiege raums, als ich vom Bahnhof hereinkam, und las gewissen haft ihr Rennprogramm. »Hallo«, sagte sie, als ich sie grüßte. »Hab’ Sie ja ewig nicht gesehen. Was macht der Geldverleih?« »Rentabel«, sagte ich. Sie lachte. »Sind Sie wegen etwas Besonderem hier?« »Nein. Ich will mir bloß frische Luft und ein bißchen Aufregung verschaffen.« »Ich bin mit einem Kunden verabredet.« Sie sah auf ihre Uhr. »Bleibt aber Zeit für einen schnellen Sandwich. Kommen Sie mit?« 199
Ich kam mit und kaufte für sie und mich eine dünne blei che Scheibe geschmacklos weißes Fleisch zwischen zwei dicken, pappigen Scheiben von klitschigem Brot, das Ganze karton- und zellophanverpackt und sündhaft teuer. Ursula aß es mit Abscheu. »Die haben früher richtige leckere Sandwiches verkauft, dick und saftig; handge machte Dinger, die vom Stapel kamen. Ich kann diese ganze widerliche Hygiene nicht ausstehen.« Der Abfall von den Sandwiches übersäte auch wahrhaftig die meisten Tische um uns herum … »Jeder sogenannte Fortschritt entfernt uns von den wirklich guten Sachen«, sagte sie, dogmatisch wie stets. Ich gab ihr vollkommen recht, und wir kauten in freud loser Eintracht. »Wie läuft Ihr Geschäft?« sagte ich. Sie zuckte die Achseln. »Nicht schlecht. Die Creme der Jährlinge geht zu Superpreisen weg. Die haben alle hohe Mindestgebote, weil ihre Produktion so viel gekostet hat – Decktaxen und den Unterhalt für die Stute und das Fohlen schon mal, nicht zu reden von Tierarzthonoraren und den vielen Nebenausgaben. Meine Sorte Kunden gibt sich im großen ganzen mit der zweiten, dritten oder vierten Garni tur zufrieden, und wohlgemerkt, so manches gute Pferd kommt aus den Sonderangeboten.« Ich lächelte über ihren unwillkürlichen Kaufmannston. »Apropos Tierärzte«, sagte ich, »ist der Mord an Pargetter immer noch nicht aufgeklärt?« Sie nickte bedauernd. »Ich unterhielt mich letzte Woche in Newmarket mit seiner armen Frau. Wir trafen uns auf der Straße. Sie ist kaum wiederzuerkennen, das arme Ding, kein Leben in ihr. Sie sagt, sie hat neulich die Poli zei gefragt, ob sie sich überhaupt noch bemühen, und sie haben ihr versichert, daß sie es tun, aber sie glaubt es 200
nicht. Es ist schon so lange her, neun Monate, und wenn sie schon anfangs keine Hinweise hatten, woher wollen sie jetzt welche haben? Sie ist sehr deprimiert, es ist furcht bar.« Ich murmelte mitfühlend, und Ursula redete weiter. »Das einzig Gute, könnte man sagen, ist, daß er eine anständige Lebensversicherung abgeschlossen und die Hypothek auf ihr Haus abgezahlt hatte, so stehen sie und die Kinder we nigstens nicht unversorgt da. Sie erzählte mir, wie vorsich tig er in dieser Hinsicht gewesen sei, und brach dabei in Tränen aus, das arme Kind.« Ursula machte ein Gesicht, als hätte die Begegnung auch sie unglücklich gemacht. »Trinken Sie noch einen Whisky-Mac«, regte ich an. »Zum Aufmuntern.« Sie blickte auf die Uhr. »Na schön. Holen Sie ihn, aber ich zahle. Bin an der Reihe.« Über dem zweiten Drink erzählte sie mir in einem Ton gleichmütiger Gereiztheit von dem Kunden, mit dem sie verabredet war, einem kleinen Trainer von Hindernis pferden. »Er ist so ein Selbstbetrüger«, sagte sie. »Er trifft übereilte Entscheidungen, handelt impulsiv, und wenn et was schiefläuft, fühlt er sich geprellt, verladen und wird böse. Dabei kann er durchaus nett sein, wenn er möchte.« Ich war nicht sonderlich interessiert an dem dünnhäuti gen Trainer, doch als ich mit Ursula wieder hinausging, entdeckte er sie aus einer geringen Entfernung und sprang ihr quasi an den Arm. »Da stecken Sie!« sagte er, als hätte sie kein Recht, ir gendwo anders als an seiner Seite zu sein. »Ich hab’ über all gesucht.« »Es ist doch gerade erst soweit«, sagte sie milde. 201
Er wischte das beiseite, ein kleiner, drahtiger, hitziger Mann von etwa vierzig mit einem flachen Filzhut über ei nem wettergegerbten Gesicht. »Ich wollte, daß Sie ihn sehen, bevor er gesattelt wird«, sagte er. »Kommen Sie, Ursula. Sehen Sie sich seinen Bau an.« Sie machte den Mund auf, um mir etwas zu sagen, doch er schleifte sie fast mit Gewalt fort, ließ ihren Ärmel nicht los und redete ihr unausgesetzt ins Ohr. Sie warf mir einen entschuldigenden, leidgeprüften Blick zu und entschwand in Richtung Sattelplatz, wo die Pferde für das erste Ren nen von ihren Pflegern herumgeführt wurden, ehe sie in die Sattelboxen kamen. Ich ging nicht hinterher, sondern kletterte auf die Stufen des Führrings, in dem mehrere der Starter schon gesattelt umhergingen. Der letzte des Feldes, der einige Zeit später erschien, war in Begleitung des flachen Filzhutes sowie Ursulas, und um etwas zu tun zu haben, sah ich den Na men des Pferdes im Rennprogramm nach. Zoomalong, fünfjähriger Wallach, trainiert von F. Barnet. F. Barnet setzte seinen Vortrag in Ursulas Ohr fort, wo bei er die Worte aus ungefähr fünfzehn Zentimetern ab schoß, was mich irritiert hätte, sie aber ertrug es, ohne mit der Wimper zu zucken. Den flackernden Zahlen auf der Totalisatortafel zufolge hatte Zoomalong in den Augen der Öffentlichkeit eine mittlere Chance, daher setzte ich inter essehalber einen mittleren Betrag darauf, daß er unter die ersten drei kam. Während des Rennens sah ich weder F. Barnet noch Ur sula, aber Zoomalong zoomte lang und hübsch auf den dritten Platz, und ich ging von der Tribüne hinunter zum Absattelring, um mir die übliche RückenklapsSiegerehrung anzusehen. 202
F. Barnet war dort, redete immer noch auf Ursula ein und zeigte auf Partien seines jetzt schwitzenden und stampfen den Schützlings. Ursula nickte unverbindlich, während ihre Augen kundig den Wallach von vorn bis achtern überblick ten, eine nette, kompetente, gutaussehende Fünfzigjährige in rostfarbenem Mantel und braunem Samtbarett. Schließlich wurden die Pferde weggeführt, und der gan ze Zyklus der Aufregung begann sich langsam zum zwei ten Rennen hin zu erneuern. Ohne es zu wollen, sah ich mich wieder in Ursulas Nähe stehen und diesmal machte sie mich mit dem Filzhut be kannt, der vorübergehend zu reden aufgehört hatte. »Das ist Fred Barnet«, sagte sie. »Und seine Frau Su san.« Eine mollige mütterliche Person in Blau. »Und ihr Sohn Ricky.« Ein Junge, größer als sein Vater, brünett, mit angenehmen Zügen. Ich schüttelte allen dreien die Hand, und während ich noch mit dem Sohn in Fühlung war, nannte Ursula mit ih rer klaren Stimme meinen Namen: »Tim Ekaterin.« Die Hand des Jungen zuckte in meiner, als hätte meine Haut ihn verbrannt. Ich wunderte mich, und dann sah ich auf seine Blässe, in die plötzlich erschreckten dunklen Augen, auf den erstarrenden Körper, die aufsteigende Pa nik. Ich würde ihn nicht erkannt haben, wenn er nicht so reagiert hätte. »Was ist los, Ricky?« sagte seine Mutter verdutzt. Seine Stimme klang rauh: »Nichts«, er sah sich um nach einem Fluchtweg, aber es war ihm nur zu klar, daß ich jetzt genau wußte, wer er war, und ihn immer finden konn te, wie weit er auch weglief. »Also, was meinen Sie, Ursula?« wollte Fred Barnet wissen, wieder ganz bei seinem Geschäft. »Kaufen Sie ihn? Kann ich auf Sie zählen?« 203
Ursula sagte, sie müsse sich mit ihrem Kunden beraten. »Aber er war doch Dritter«, beharrte Fred Barnet. »Ein guter Dritter … In dieser Gesellschaft eine ziemliche Lei stung. Und er gewinnt auch, das sag ich Ihnen. Er ge winnt.« »Ich erzähle meinem Kunden alles über ihn. Mehr kann ich nicht versprechen.« »Er gefällt Ihnen aber, stimmt’s? Schauen Sie, Ursula, er ist ein guter Kerl, leicht zu führen, gerade richtig für einen Amateur …« Er redete in diesem Stil noch einige Zeit weiter, während seine Frau mit einem ziellosen Strahlen zuhörte, das überhaupt nichts zu bedeuten hatte. Zu dem Sohn sagte ich im Schutz der aggressiven Wer betrommel seines Vater leise: »Ich möchte mit dir reden, und wenn du mir jetzt davonläufst, rufe ich die Polizei an.« Er warf mir einen unglücklichen Blick zu, blieb aber stehen. »Wir gehen für das nächste Rennen zusammen die Bahn runter«, sagte ich. »Da werden wir nicht gestört. Und du kannst mir erzählen warum. Und dann sehen wir mal.« Es war keine Schwierigkeit für ihn, sich unbemerkt von seinen Eltern abzusetzen, die sich noch auf Ursula konzen trierten, und er kam mit mir durch das Gatter und hinaus auf die Bahn selbst zur Mitte des Rennplatzes, ein wenig stolpernd, als hätte er seine Füße nicht unter Kontrolle. Wir gingen weiter, auf das letzte Hindernis zu, und er er zählte mir, warum er versucht hatte, Calder Jackson zu tö ten. »Es kommt mir nicht mehr vor wie in Wirklichkeit, echt nicht mehr«, sagte er zunächst. Eine junge Stimme, etwas schludriger Akzent, voller Anspannung. 204
»Wie alt bist du?« fragte ich. »Siebzehn.« So gewaltig hatte ich mich nicht geirrt, dachte ich, vor fünfzehn Monaten. »Ich hätte nie gedacht, daß ich Sie noch mal sehe«, sagte er aufbrausend, fast als ob die Schicksalswende ihn ein wenig kränkte. »Ich meine, in der Zeitung stand, Sie arbei ten in einer Bank.« »Tu ich auch. Und ich besuche Rennen.« Ich hielt inne. »Du hast meinen Namen behalten.« »Ja. Konnte ich doch kaum vergessen, oder? Stand ja in allen Zeitungen.« Wir gingen einige Meter schweigend. »Mal weiter«, sag te ich. Er machte eine krampfhafte Gebärde frustrierter Ver zweiflung. »Na schön. Aber wenn ich’s erzähle, dann er zählen Sie es ihnen nicht, ja – nicht Pa und Mama?« Ich warf ihm einen Blick zu, doch seinem besorgten Ge sicht war deutlich anzusehen, daß er genau meinte, was er gesagt hatte: Nicht, daß ich zur Polizei gehen könnte, stör te ihn am meisten, sondern daß ich zu seinen Eltern gehen könnte. »Erzähl mal einfach«, sagte ich. Er seufzte. »Naja, wir hatten so ein Pferd. Dad hatte es. Er hatte es als Jährling gekauft, und er ließ es als Zweijäh riges und mit drei starten, aber es war eigentlich ein Hin dernispferd, und zwar, wie sich rausstellte, ein gutes.« Er zögerte. »Indian Silk hat es geheißen.« Ich runzelte die Stirn. »Aber Indian Silk … hat der nicht dieses Jahr im März in Cheltenham gewonnen?« 205
Er nickte. »Den Gold Cup. Das Superding. Er ist erst sie ben jetzt, und er wird noch Jahre glänzen.« Seine Stimme war bitter von einer Art resigniertem, unterdrücktem Ärger. »Aber er gehört nicht mehr deinem Vater?« »Nein, gehört er nicht.« Mehr Bitterkeit, sehr heftig. »Also weiter«, sagte ich. Er schluckte und ließ sich Zeit, doch schließlich sagte er: »Diesen Monat vor zwei Jahren, als Indian Silk etwa fünf war, gewann er mühelos die Hermitage ›Chase‹ hier in Newbury, und jeder favorisierte ihn für den Gold Cup letz tes Jahr, obwohl Dad meinte, er sei noch ein bißchen jung und brauche Zeit. Dad, sehen Sie, war so stolz auf dieses Pferd. Das beste, das er je trainiert hatte, und es gehörte ihm, nicht jemand anderem. Weiß nicht, ob Sie das verste hen können.« »Ich verstehe es«, sagte ich. Er warf einen blitzschnellen Blick auf mein Gesicht. »Na ja, Indian Silk wurde krank«, sagte er. »Ich meine, es war nichts, wo man den Finger drauflegen konnte. Er verlor einfach seine Schnelligkeit. Er konnte nicht mal daheim richtig galoppieren, konnte die anderen Pferde von Dads Stall nicht schlagen, die er das ganze Jahr lang in die Ta sche gesteckt hatte. Dad konnte ihn nicht für Rennen auf stellen. Er konnte ihn kaum trainieren. Und der Tierarzt kam nicht dahinter, was er hatte. Sie entnahmen ihm Blut proben und was nicht alles, und sie gaben ihm Antibiotika und Abführmittel, und sie dachten, es wären vielleicht Würmer oder so was, aber es waren keine.« Wir hatten das letzte Hindernis erreicht und blieben auf dem struppigen Gras daneben stehen, während andere En thusiasten in Zweier- und Dreiergrüppchen uns von der Haupttribüne her entgegenkamen, um die Pferde aus näch ster Nähe in Aktion zu sehen. 206
»Ich war damals viel in der Schule, ja«, sagte Ricky. »Abends war ich natürlich immer daheim, aber ich hatte Prüfungen und mußte eine Menge Hausarbeiten machen, und ich hab’ eigentlich nicht allzuviel darauf geben, daß Indian Silk so krank wäre und alles. Ich meine, Dad über treibt gern ein bißchen, und ich dachte wohl, das Pferd hätte bloß einen Virus und käme schon wieder hin. Aber es wurde einfach langsam immer schlimmer mit ihm, und eines Tages heulte Mama!« Er stockte plötzlich, als wäre dieser Teil am schlimmsten. »Ich hatte noch nie einen Er wachsenen heulen sehen«, sagte er. »Sie finden es wahr scheinlich komisch, aber mich hat es wirklich furchtbar durcheinandergebracht.« »Ich finde es nicht komisch«, sagte ich. »Jedenfalls«, fuhr er, wie es schien, mit mehr Selbstver trauen fort, »bald war Indian Silk so schwach, daß er kaum noch die Straße hinuntergehen konnte, und er fraß nicht, und Dad war echt verzweifelt, weil niemand etwas unter nehmen konnte, und Mama ertrug den Gedanken nicht, daß er zum Abdecker kommen würde, und dann rief ir gendein Typ an und machte das Angebot, ihn zu kaufen.« »Ein krankes Pferd zu kaufen?« sagte ich erstaunt. »Ich glaube nicht, daß Dad ihm auf die Nase gebunden hätte, wie schlimm es eigentlich um ihn stand. Na, ich meine, an dem Punkt war Indian Silk gerade noch wert, was die Abdecker für seinen Kadaver bezahlt hätten, also nicht viel, und dieser Mann bot fast das Doppelte davon. Aber der Mann sagte, er wüßte, daß Indian Silk keine Rennen mehr bestreiten könne, er wolle ihm aber ein gutes Zuhause und eine hübsche Weide geben, solange es nötig war, und das hieß, daß Dad keine Tierarztrechnungen mehr bezahlen mußte und er und Mama nicht zuzusehen brauchten, wie Indian Silk bloß immer kränker wurde, und Mama brauchte nicht mehr daran zu denken, daß ihn die 207
Abdecker zu Hundefutter verarbeiten würden, darum ga ben sie ihn her.« Die Pferde für das zweite Rennen kamen auf die Bahn und galoppierten an uns vorbei, die Farben der Jockeys leuchteten in der Sonne. »Und was dann?« sagte ich. »Dann geschah wochenlang nichts, und wir kamen so über die Sache hinweg. Aber auf einmal erzählte irgend jemand Dad, daß Indian Silk wieder im Training sei und gut aussehe, und er konnte es nicht glauben.« »Wann war das?« fragte ich. »Im letzten Jahr, kurz vor … vor Ascot.« Eine kleine Menschenmenge versammelte sich auf der Landeseite des Hindernisses, und ich zog ihn ein Stück weiter die Bahn hinunter, wo die Pferde sich zum Ab sprung bereitmachen würden. »Erzähl«, sagte ich. »Meine Prüfungen standen bevor«, sagte er. »Und ich meine, die waren wichtig, sie wirkten sich ja auf mein ganzes Leben aus, nicht?« Ich nickte. »Dann fand Dad heraus, daß der Mann, der Indian Silk kaufte, ihn auf gar keine Weide gebracht hatte; er hatte ihn schnurstracks die Straße runter zu Calder Jackson ge schickt.« »Ah«, sagte ich. »Und da war so ein Mann, der sagte, Calder Jackson hät te die Gabe zu heilen, eine Art Zauber, und hätte Indian Silk einfach berührt und ihn gesund gemacht. Ich bitte Sie … Und Dad kriegte furchtbare Zustände, weil ihm doch jemand vorgeschlagen hatte, er solle das Pferd da hin schicken, zu Calder Jackson, als es ihm so schlecht ging 208
natürlich, und Dad hatte gesagt, mach dich nicht lächerlich, das ist doch alles Humbug. Und dann meinte auch Mama, er hätte auf sie hören sollen, denn sie hatte gesagt, warum’s nicht mal versuchen, schaden kann’s auch nicht, und er dachte nicht dran, und sie zankten sich, daß die Fetzen flo gen, und sie heulte …« Er schnappte nach Luft, da die Ge schichte jetzt fast schneller hervorsprudelte, als er reden konnte. »Und ich kam nicht zum Arbeiten, wo das alles lief, sie sprachen nie von was anderem, und ich hatte die erste Prüfung und saß bloß da und konnte nichts, und ich wußte, ich würde durch alle durchsausen, weil ich mich nicht kon zentrieren konnte … und dann redete eines Abends Calder Jackson im Fernsehen, sagte, er hätte einen Freund herum gekriegt, ein todkrankes Pferd zu kaufen, weil die Leute, denen es gehörte, es sonst einfach hätten sterben lassen, da sie wie so viele Leute nicht an Heiler glaubten, und er hof fe, das Pferd werde eines Tages dank ihm wieder so großar tig sein wie einst, und da wußte ich, daß er von Indian Silk sprach. Und er sagte, er wolle am kommenden Donnerstag nach Ascot … und bei uns schrie Dad herum, Calder Jack son hätte ihm sein Pferd gestohlen, das sei alles schmutzi ger Betrug, was es natürlich nicht war, aber damals glaubte ich ihm … und wie das einschlug, haßte ich Calder Jackson derart, daß ich nicht mehr klar denken konnte. Ich meine, ich dachte, er sei der Grund, weshalb Mama heulte und ich meine Prüfungen versaute und Dad das einzige wirkliche Spitzenpferd verloren hatte, das ihm je im Leben gehören würde, und da wollte ich ihn einfach umbringen.« Jetzt war es heraus. Der Schwall brach plötzlich ab und ließ ein Echo zurück in der Oktoberluft. »Und bist du durch die Prüfungen gefallen?« fragte ich nach einem Moment. »Ja. Durch die meisten. Aber ich hab’ sie Weihnachten wiederholt und gute Noten gekriegt.« Er schüttelte den 209
Kopf, sprach jetzt langsamer, ruhiger. »Ich war schon an dem Abend froh, daß Sie mich davon abgehalten haben, ihn zu erstechen. Ich meine, ich hätte doch mein ganzes Leben weggeworfen, hinterher sah ich das, und ganz um sonst, denn zurückbekommen hätte Dad sein Pferd ja doch nicht, ganz gleich, was ich tat, es war ja ein legaler Kauf trotz allem.« Ich überdachte, was er mir erzählt hatte, während in der Ferne die Pferde Aufstellung nahmen und zu ihrem 3 Meilen-Jagdrennen starteten. »Ich war irgendwie verrückt«, sagte er. »Ich kann es jetzt eigentlich nicht mehr begreifen. Ich meine, ich würde doch nicht herumlaufen und versuchen, Leute umzubrin gen. Würde ich wirklich nicht. Es scheint, als ob ich ein anderer Mensch war.« Adoleszenz, dachte ich, konnte eben wirklich die Hölle sein. »Ich nahm mir Mamas Messer aus der Küche«, sagte er. »Ihr war schleierhaft, wo es hingekommen war.« Ich fragte mich, ob die Polizei es noch hatte; mit Rickys Fingerabdrücken bei den Akten. »Ich wußte nicht, daß so viele Leute in Ascot sein wür den«, sagte er. »Und so viele Eingänge zur Bahn. Viel mehr als in Newmarket. Ich war bald am Verzweifeln, weil ich dachte, ich würde ihn nicht finden. Ich wollte es nämlich früher machen, ja, schon wenn er hinkam. Ich war draußen auf der Straße, lief den Gehsteig rauf und runter, echt verrückt, wissen Sie, hielt nach ihm Ausschau, und das Messer brannte mir fast unterm Ärmel, wie ich auch innerlich gebrannt hab’ … und ich sah seinen Kopf, die ganzen Locken, wie er über die Straße kam, und ich rann te, aber ich kam zu spät, er war schon rein durch das Tor.« »Und dann«, vermutete ich, »hast du einfach darauf ge wartet, daß er wieder rauskam?« 210
Er nickte. »Es waren eine Menge Leute da. Niemand merkte was. Ich nahm an, da er über den Fußweg vom Bahnhof gekommen war, würde er den auch zurückgehen. Es kam mir nicht lang vor, das Warten. Ging im Nu vor bei.« Die Pferde kamen über das nächste Hindernis auf der Bahn und donnerten auf dasjenige zu, an dem wir standen. Der Boden bebte vom Aufschlag der Hufe, die Luft hallte wider von den Flüchen der Jockeys, die halbtonnenschwe ren Pferdeleiber fegten über die Hecke, der Schweiß, die Anstrengung und das Tempo erfüllten Augen, Ohren und Verstand mit pochendem Staunen und waren fort, flogen dahin, ließen Stille zurück. Ich war schon oft herunterge gangen, um von den Hindernissen aus zuzuschauen, hier und auf anderen Bahnen, und die starke, mitreißende Erre gung war nie schal geworden. »Wem gehört denn Indian Silk jetzt?« fragte ich. »Einem Mr. Chacksworth, kommt aus Birmingham«, antwortete Ricky. »Man sieht ihn manchmal bei den Ren nen, wie er sich über Indian Silk besabbert. Aber er war es nicht, der ihn Dad abgekauft hat. Er kaufte ihn später, als er wieder auf dem Damm war. Hat ordentlich geblecht, wie wir hörten. Das machte alles um so schlimmer.« Eine traurige und schändliche Geschichte, das Ganze. »Wer hat denn deinem Vater das Pferd abgekauft?« frag te ich. »Kenne ich nicht … er hieß Smith. Irgendein komischer Vorname. Kann mich nicht erinnern.« Smith. Ein Freund von Calder? »Könnte es«, fragte ich erstaunt, »Dissdale Smith gewe sen sein?« »Ja. Das hört sich so an. Woher wissen Sie das?« 211
»Er war an dem Tag in Ascot mit dabei«, sagte ich. »Auf dem Bürgersteig, direkt neben Calder Jackson.« »Tatsächlich?« Ricky sah bestürzt aus. »Er war ein Lü genmaul, wissen Sie, mit seinem Geschwätz über hübsche Weiden.« »Wer erzählt denn die Wahrheit«, sagte ich, »wenn es um Pferdekauf oder -verkauf geht?« Die Renner waren bereits wieder auf der anderen Seite der Bahn, legten in der zweiten Runde jetzt mächtig zu. »Was haben Sie vor?« sagte Ricky. »Mit mir, meine ich. Sie werden es nicht Ma und Pa erzählen. Das tun Sie doch nicht, oder?« Ich blickte den jungen Mann direkt an, sah die noch an haltende Besorgnis, aber nicht mehr die erste panikartige Furcht. Er schien jetzt zu spüren, daß ich ihn nicht vor Ge richt schleifen würde, darüber hinaus tappte er ziemlich im dunkeln. »Vielleicht sollten sie es wissen«, sagte ich. »Nein!« Seine Erregung stieg rasch an. »Sie hatten so viel Ärger, und ich hätte es so viel schlimmer gemacht, wenn Sie mich nicht gebremst hätten, und hinterher bin ich oft schwitzend aufgewacht davon, was ich ihnen angetan hätte; und das einzig Gute war, daß ich wirklich kapiert hab’, daß man nichts regeln kann, indem man Leute umbringt, damit stürzt man nur seine Familie ins Unglück.« Nach einer langen Pause sagte ich: »In Ordnung. Ich sa ge ihnen nichts.« Und Gott helfe mir, dachte ich, wenn er jemals wieder jemand überfiel, weil er glaubte, immer damit durchkommen zu können. Die Erleichterung schien ihn fast ebensosehr mitzuneh men wie die Angst. Er kniff mehrmals halb die Augen zu und verfolgte mit abgewandtem Kopf das Rennen, das er 212
neut auf die Gerade ging, diesmal in einem kompromiß losen Spurt auf das Ziel. Wieder sah man das Steigen und Fallen des Feldes über die entfernten Hindernisse, doch jetzt hatte die eine Woge sich in mehrere Teile aufgespal ten, strebten die Starter nicht in einem Knäuel, sondern in einer Prozession heran. Ich beobachtete erneut das wilde, erstaunliche Tempo von Pferd und Jockey im Sprung aus nächster Nähe und wünschte mit einigem Bedauern, so hätte ich reiten kön nen: Doch wie bei Alec kam mein Wunsch zu spät, auch wenn ich stark und gesund und erst dreiunddreißig war. Die Pferde galoppierten davon, dem Jubel auf der Tribü ne entgegen, und Ricky und ich setzten uns langsam in ih rem Kielwasser in Bewegung. Er wirkte ruhig und gefaßt nach dem Bekenntnis, mit seiner Seele im reinen. »Was denkst du heute über Calder Jackson?« fragte ich. Er setzte ein schiefes Lächeln auf. »Nichts weiter. Das ist ja so verrückt daran. Ich meine, es war nicht seine Schuld, daß Dad so stur war.« Ich verarbeitete das. »Soll das heißen«, sagte ich, »daß du meinst, dein Vater hätte ihm das Pferd selber schicken sollen?« »Ja, ich glaube, das hätte er, wie Mama es ja wollte. Aber er sagte, das sei Quatsch und zu teuer, und Sie ken nen meinen Dad ja nicht, aber wenn der einen Entschluß gefaßt hat, platzt er bei der geringsten Widerrede, und er brüllt Mama an, und fair ist das nicht mehr.« »Wenn dein Vater das Pferd zu Calder Jackson geschickt hätte, würde es ihm wohl noch gehören«, sagte ich nach denklich. »Ja, allerdings, und glauben Sie nicht, daß er das nicht weiß, natürlich weiß er’s, aber man spielt mit dem Leben, wenn man es sagt.« 213
Wir schlurften zurück über das dichte Gras, und ich frag te ihn, woher Calder oder Dissdale gewußt hatten, daß In dian Silk krank war. Er zuckte die Achseln. »Es stand in den Zeitungen. Er war Favorit für das King George VI. am 2. Weihnachtstag gewesen, aber natürlich trat er nicht an, und die Presse fand heraus, wieso.« Wir kamen wieder an das Tor zur Haupttribüne und gin gen hindurch, und ich fragte ihn, wo er wohne. »Exning«, sagte er. »Wo ist das denn?« »Bei Newmarket. Direkt außerhalb.« Er sah mich mit leicht wiederauflebender Besorgnis an. »Sie stehen doch dazu, ja, daß Sie es nicht verraten?« »Ich stehe dazu«, sagte ich. »Nur…« Etwas stirnrun zelnd dachte ich an den Treibhauseffekt, daß er bei seinen Eltern wohnte. »Nur was?« sagte er. Ich versuchte es anders. »Was machst du jetzt? Gehst du noch zur Schule?« »Nein, ich bin ab, sowie ich diese Prüfungen bestanden hat te. Die brauchte ich aber wirklich. Man kriegt keinen halb wegs anständigen Job mehr heutzutage ohne diese Scheine.« »Dann arbeitest du nicht für deinen Vater?« Er mußte die leise Erleichterung in meinem Ton gehört haben, denn zum erstenmal lächelte er voll. »Nein, ich glaube, das wäre gar nicht gut für seine Laune, und sowie so wollte ich kein Trainer sein. Nichts als Kummer und Sorgen, wenn Sie mich fragen.« »Was machst du denn?« fragte ich. »Ich lerne Elektroingenieur in einer Firma bei Cam bridge. Eine Art Lehrling.« Er lächelte wieder. »Aber 214
nichts mit Pferden, ich nicht.« Er schüttelte kläglich den Kopf und gab sein jungsalomonisches Urteil über das Le ben ab. »Sie brechen einem das Herz, die Pferde.«
215
Das zweite Jahr November
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u meiner großen Begeisterung war der Trickzeichner Trumpf. Seine zwanzig Filme wurden einen Monat lang jeden Werktagabend zur besten Sendezeit für diese Art Humor im Fernsehen gezeigt; um sieben Uhr, wenn ältere Kinder noch auf waren und die Eltern von der Ar beit daheim. Die Nation staunte und kicherte, und der Trickfilmer rief atemlos wegen eines größeren Kredits an. »Ich brauche ein richtiges Studio, nicht dieses umgebau te Lagerhaus. Und mehr Zeichner und Designer, mehr Tontechniker und Ausrüstung.« »In Ordnung«, sagte ich in die erste Pause hinein. »Stel len Sie Ihre Wunschliste zusammen und kommen Sie zu mir.« »Ist Ihnen klar«, fragte er, als hätte er damit selbst Schwierigkeiten, »daß die so viele Filme nehmen, wie ich produzieren kann. Kein Limit. Die sagten, machen Sie das ruhig noch Jahre weiter … sie sagten, bitte machen Sie das weiter.« »Ich bin sehr froh«, sagte ich aufrichtig. »Sie haben mir Vertrauen zu mir selbst geschenkt«, sag te er. »Das glauben Sie mir nie und nimmer, aber Tatsa che. Man hat mich so oft abgelehnt, ich fing an durchzu hängen, aber als Sie mir das Geld für den Start liehen, flog quasi der Korken raus. Die Ideen sprudelten nur so.« 216
»Und sind sie noch am Sprudeln?« »Klar doch. Ich hab’ die nächsten zwanzig Filme schon auf dem Papier skizziert, und die haben wir in Arbeit, und jetzt geh’ ich den übernächsten Schwung an.« »Ist ja fantastisch«, sagte ich. »Und ob. Bruder, das Leben ist wunderbar.« Er legte den Hörer auf und ließ mich ins Leere lächeln. »Der Trickfilmer?« sagte Gordon. Ich nickte. »Geht ab wie eine Rakete.« »Gratuliere.« Wärme und echte Freude lagen in seiner Stimme. Ein so großherziger Mann, dachte ich: unmög lich, ihm schaden zu wollen. »Es sieht aus, als würde er sich in ein Großunternehmen verwandeln«, sagte ich. »Disney, Hanna Barbera, verzehrt euch vor Gram«, sag te Alec von der anderen Zimmerseite. »Gutes Geschäft für die Bank.« Gordon strahlte. »Henry wird sich freuen.« Henry zu erfreuen, war in der Tat unser aller Ziel. »Du mußt zugeben, Tim«, meinte Alec, »daß du selbst eine ziemliche Rakete bist … also, was ist das Geheim nis?« »Man zünde die Lunte an und entferne sich schleunigst«, sagte ich aufgeräumt, und er knüllte eine Seite Notizen zu sammen, um sie nach mir zu werfen, traf aber nicht. Gegen Mitte des Vormittags ging er wie gewohnt die sechs Exemplare von Was läuft, wo es nicht sollte holen, und nachdem er fünf verteilt hatte, setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und las unseres mit Genuß. Ekaterin war dankenswerterweise seit der 5-ProzentGeschichte nicht mehr in den Spürhundspalten aufge 217
taucht, doch es schien, daß einige unserer Kollegen in der Straße kein solches Glück hatten. »Wußtet ihr«, sagte Alec im Plauderton, »daß einige unserer Anlagenberaterfreunde unten an der Ecke sich ein hübsches kleines Sümmchen auf die Kante legen konnten, als Lohn für Geschäfte, die sie Maklern zugeschoben haben?« »Woher weißt du es denn?« fragte Gordon und sah von einem Hauptbuch auf. Alec hob die Zeitung. »Das Evangelium nach diesem Piepmatz.« »Wobei Evangelium gute Nachricht bedeutet«, sagte ich. »Spiel nicht so den Gelehrten.« Er grinste mich gehässig an und las jetzt laut vor: »Entgegen der allgemeinen An nahme fällt die Masse der sogenannten Manager in Han delsbanken nicht in die Feudalkategorie.« Er blickte kurz auf. »Das kann man wohl sagen.« Er fuhr fort: »Wir hö ren, daß vier der Investmentmanager in diesem Institut ihr mittleres Einkommen ganz bequem dadurch aufzubessern pflegten, daß sie drei bestimmten Börsenmaklern Gelder zuschustern. Namen werden in unserer nächsten Ausgabe enthüllt. Achten Sie auf diese Stelle.« »Es ist schon öfter passiert«, sagte Gordon philoso phisch. »Und wird wieder passieren. Die Versuchung ist immer da.« Er runzelte die Stirn. »Trotzdem überrascht es mich, daß die Filialleitung das nicht entdeckt hat.« »Sie wird es jetzt entdeckt haben«, sagte Alec. »Allerdings.« »Es wäre ziemlich einfach«, sagte ich nachdenklich, »ein Computerprogramm zu erstellen, das die Entdeckungs arbeit bei Ekaterin übernehmen könnte, falls wir je fest stellen sollten, daß die Pest sich hier einschleicht.« »Es wäre einfach?« fragte Gordon. 218
»M-hm. Nichts weiter als ein zentrales Programm, das jeden Deal in der Anlagenabteilung mit jedem Börsen makler aufzeichnet, mit leicht abrufbaren laufenden Ge samtsummen. Allen besonders auffälligen Beträgen könn te man nachgehen.« »Aber das ist bestimmt eine Mordsarbeit«, sagte Gordon. Ich schüttelte den Kopf. »Bezweifle ich. Ich könnte un seren zahmen Programmierer mal zu einem Versuch be wegen, wenn du willst.« »Wir fragen die anderen. Sehen mal, was die meinen.« »Das Investment-Management wird ganz schön zetern«, meinte Alec. »Schreien vor empörter Tugend.« »Schützt sie trotzdem vor bösen Andeutungen wie die sen hier«, sagte Gordon und wies auf Was läuft, wo… Der Vorstand stimmte zu, und als Folge davon ver brachte ich noch mal zwei Tage mit dem Programmierer, um Deiche gegen künftige Verlustströme zu bauen. Gordon schien es derzeit nicht schlechter zu gehen, seine Krankheit war offenbar nicht weiter fortgeschritten. Es war unmöglich zu wissen, wie er sich fühlte, da er nicht davon sprach und es haßte, gefragt zu werden, doch Judith hatte mir bei den wenigen Malen, die ich sie seit dem Tag an Ostern gesehen hatte, gesagt, es gehe ihm so gut, wie man nur hoffen könne. Das schönste dieser Zusammentreffen war ein Sonntag im Juli gewesen, als Pen eine Lunchparty in ihrem Haus in Clapham gab; es hatte ein Essen im Garten werden sollen, doch wie so oft in diesem Sommer fuhren kühle Winde dazwischen. Im Haus fand ich es dann viel besser, da Pen Platzkarten für ihren langen Ausziehtisch geschrieben und mich neben Judith gesetzt hatte, mit Gordon zu ihrer Rechten. 219
Die anderen Gäste blieben verschwommen, die meisten waren Ärzte irgendwelcher Fachrichtungen oder Pharma zeuten wie sie selbst. Judith und ich murmelten Höflich keiten in die Gesichter rechts und links von uns, verbrach ten jedoch die meiste Zeit im Gespräch miteinander, in zwei gleichzeitigen Gesprächen vielmehr, das eine mit der Stimme, das andere mit den Augen; beide sehr angenehm. Als die Hauptparty aufgehoben war und sich zerstreut hatte, blieben Gordon, Judith und ich noch zum Abend brot, halfen aber erst Pen, das Geschirr so vieler, wie sie es nannte, »auf einen Schlag zurückgezahlter Dinner« abzu waschen. Es war ein Tag gewesen, an dem sich Gelegenheiten zum Leuteanfassen ganz von selbst reichlich ergaben, wo Küsse und Umarmungen zur Begrüßung gepaßt hatten und warm sein konnten, wo die ganze Welt zuschauen konnte und nichts zwischen Judith und mir sah als eine dauernde und harmonische Freundschaft: ein Tag, an dem ich sie mehr denn je für mich haben wollte. Seitdem hatte ich sie nur zweimal gesehen, jeweils als sie in die Bank kam, um Gordon abzuholen, weil sie ir gend etwas vorhatten. Und jedesmal hatte ich es geschafft, wenigstens fünf Minuten bei ihr zu sein, vorsichtig und steif in der Rolle von Gordons Kollegen, der sich in Höf lichkeit übte, bis Gordon selbst zu gehen bereit war. Es war nicht üblich, daß Ehefrauen in die Bank kamen: Normalerweise trafen die Ehemänner sich mit ihnen dort, wo sie hin wollten. Judith sagte beim zweiten Mal: »Ich werde das nicht oft machen. Ich wollte dich nur sehen, falls du in der Nähe warst.« »Immer hier«, sagte ich. Sie nickte. Sie sah ausgeglichen und frisch aus wie stets, in einem hübschen blauen Mantel, unter dem sich Perlen 220
zeigten. Das braune Haar glänzte, die Augen strahlten, der sanfte Mund lächelte halb, ein Zauber, der ihr angeboren und unbewußt war. »Ich … na ja … habe manchmal Sehnsucht«, sagte sie. »Bei mir Dauerzustand«, sagte ich leichthin. Sie schluckte. »Einfach nach einem bißchen Zusammen sein …« Wir standen in der Eingangshalle, faßten uns nicht an, warteten auf Gordon. »Einfach, dich zu sehen…« Sie schien unsicher, ob ich verstand, doch ich tat es. »Bei mir ist es genauso«, versicherte ich ihr. »Ich denke manchmal daran, nach Clapham zu fahren und da zu war ten, nur damit ich dich die Straße runter zum Bäcker ge hen sehe. Dich einfach sehen, sei es auch nur für Sekun den.« »Das tust du wirklich?« »Allerdings fahre ich nicht. Du könntest Gordon zum Brotkaufen schicken.« Sie stieß ein kleines Lachen aus, der seriösen Umgebung angemessen; und er kam, er eilte, kämpfte sich dabei in seinen Mantel. Ich sprang ihm zu Hilfe, und er sagte zu ihr: »Entschuldige, Liebling, bin am Telefon aufgehalten worden, du kennst das.« »Ich war restlos zufrieden«, sagte sie und küßte ihn, »hab’ mit Tim geplaudert.« »Großartig. Großartig. Dann können wir?« Sie gingen fort zu ihrem Abend, lächelten, winkten und ließen mich in fruchtlosem Hunger nach diesem und je nem zurück.
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Eines Tages im November sagte Gordon im Büro: »Wie wär’s, wenn du am Sonntag zum Lunch vorbeikämst? Ju dith meinte, es sei schon eine Ewigkeit her, seit sie dich richtig gesehen hat.« »Mit Vergnügen.« »Pen kommt auch, sagte Judith.« Pen, meine Freundin; meine Anstandsdame. »Wunderbar«, sagte ich entschieden. »Reizend.« Gordon nickte zufrieden und sagte, es sei ein Jammer, daß wir das Weihnachtsfest vom letzten Jahr nicht wieder holen könnten, er und Judith hätten es so sehr genossen. Sie würden dieses Jahr zu seinem Sohn und seiner Schwiegertochter nach Edinburgh fahren, längst verspro chener Besuch; zu dem Sohn von seiner ersten, vor langer Zeit verstorbenen Frau und seinen Enkeln, siebenjährigen Zwillingen. »Ihr werdet Spaß haben«, sagte ich betrübt. »Es sind lärmende kleine Bestien.« Sein Telefon läutete und meines auch, und es ging wie der ans Geldverleihen. Ich würde pflichtbewußt sein, dachte ich, und Weihnachten bei meiner Mutter auf Jersey verbringen, wie sie es wünschte, und wir würden lachen und Backgammon spielen, und ich würde sie wie üblich traurig machen, weil ich ohne Freundin kam, ohne poten tielle Erzeugerin kleiner Bestien. »Wieso, mein Schatz«, hatte sie vor einigen Jahren mal der Verzweiflung nah zu mir gesagt, »führst du diese völ lig präsentablen Mädchen aus und heiratest sie nie?« »Es gibt da immer etwas, womit ich nicht mein Leben verbringen möchte.« »Aber ins Bett gehst du mit ihnen?« »Ja, Liebes, das schon.« 222
»Du bist zu wählerisch.«
»Anzunehmen«, sagte ich.
»Du hattest noch nicht eine einzige von Dauer«, beklagte
sie sich. »Die Söhne aller anderen Leute bringen es fertig, mit Frauen zusammenzuleben, manchmal auf Jahre, auch wenn sie sie nicht heiraten, also warum kannst du es nicht?« Ich hatte gelächelt über die Ermunterung zu etwas, was man früher einmal Sünde genannt hatte, und sie geküßt und ihr gesagt, daß ich es vorzog, alleine zu leben, aber daß ich eines Tages die Richtige finden würde, die ich immer lieben konnte; und nicht einmal flüchtig war es mir in den Sinn gekommen, daß sie, wenn ich sie fand, mit jemand anderem verheiratet sein würde. Der Sonntag kam, und ich fuhr nach Clapham: bittersüße Stunden wie je. Beim Lunch erzählte ich ihnen zögernd, daß ich den Jungen gefunden hätte, der Calder Jackson habe umbrin gen wollen, und sie reagierten so heftig wie erwartet. Gor don sagte: »Du hast natürlich die Polizei verständigt«, und Judith setzte hinzu: »Er ist gefährlich, Tim.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das glaube ich nicht. Ich hoffe es nicht.« Ich lächelte gequält und erzählte ihnen die ganze Geschichte von Ricky Barnet und Indian Silk und dem Druck, der zu dem Mordversuch geführt hatte. »Ich glaube nicht, daß er so etwas noch mal macht. Er ist schon so weit darüber hinausgewachsen, daß er sich als ein ande rer Mensch fühlt.« »Hoffentlich hast du recht«, sagte Gordon. »Daß ausgerechnet Dissdale Indian Silk gekauft hat«, meinte Pen. »Ist das nicht unglaublich?« 223
»Besonders, wo er doch sagte, er sei knapp bei Kasse und wolle deswegen Plätze in Ascot verkaufen«, setzte Judith hinzu. »M-hm«, sagte ich. »Aber nachdem Calder das Pferd ge heilt hatte, verkaufte Dissdale es ziemlich schnell weiter und machte einen hübschen Gewinn dabei, wie mir scheint.« »Typisches Dissdale-Verhalten«, meinte Gordon ohne Kritik. »Stell dich dem Risiko, setz, was du kannst, kassier die Kröten, wenn du Glück hast, und nichts wie raus.« Er lächelte. »Bis Ascot hatte er wahrscheinlich den IndianSilk-Profit schon verpulvert und war wieder auf Grundeis. Jemand wie Dissdale hat genausoschnell Tausende verlo ren, wie er sie macht.« »Er muß ungeheures Vertrauen zu Calder haben«, sagte Pen nachdenklich. »Nicht ungeheuer, Pen«, wandte Gordon ein. »Bloß doppelt soviel wie ein Abdecker für einen Kadaver zahlen würde.« »Würdest du denn ein todkrankes Pferd kaufen?« fragte Judith. »Ich meine, wenn Calder sagte, kauf ihn und ich heile ihn, würdest du das glauben?« Gordon sah sie zärtlich an. »Ich bin nicht Dissdale, Schatz, und ich würde es, glaube ich, nicht kaufen.« »Und genau deshalb«, rief ich aus, »hat Fred Barnet In dian Silk verloren. Er dachte, Calders Kräfte seien barer Unsinn, und er wollte kein teures Geld hinblättern, um es mit ihnen zu probieren. Aber Dissdale hat’s probiert. Hat das Pferd gekauft und vermutlich auch Calder bezahlt … der mit seinem Erfolg im Fernsehen protzte und sich damit beinah ums Leben brachte.« »Ironisch, die ganze Sache«, meinte Pen. Auch beim Kaffee kam das Gespräch noch einige Male auf dieses Thema. 224
Ich blieb bis um sechs, als Pen zum SonntagabendNotdienst in ihr Geschäft mußte und Gordon anfing müde auszusehen, und fuhr in dem gewohnten Nach-JudithZustand zurück nach Hampstead, halb erfüllt, halb ausge hungert. Gegen Ende November fuhr ich zu einem weiteren Sonn tagmittagessen, diesmal hatte Oliver Knowles mich auf sein Gestüt in Hertfordshire eingeladen. Es ergab sich, nicht überraschend, daß Ginnie aus der Schule nach Hause gekommen war, und sie war es auch, die Squibs herbeipfiff und mit mir durch die Höfe wander te. »Wußten Sie, daß wir damals im Mai hundertund zweiundfünfzig Stuten auf einmal hier hatten?« sagte sie. »Das ist eine Menge«, sagte ich beeindruckt. »Sie kriegten insgesamt hundertundvierzehn Fohlen, und nur eine der Stuten und drei Fohlen sind gestorben. Das ist eine unheimlich gute Leistung, wissen Sie.« »Dein Vater ist sehr erfahren.« »Und Nigel auch. Das muß man ihm lassen.« Ich lächelte über die Formulierung. »Er ist momentan nicht hier«, sagte sie. »Gestern abge reist nach Miami, um sich in die Sonne zu legen.« »Nigel?« Sie nickte. »Er fährt jedes Jahr um die Zeit. Bringt ihn in Form für den Winter, sagt er.« »Immer Miami?« »Ja, es gefällt ihm.« Die ganze Atmosphäre des Ortes war wieder da, wo ich sie kennengelernt hatte, bei den langen kalten Monaten der 225
Trächtigkeit. Ginnie, in ihre Daunenjacke gekuschelt, ver schenkte Möhren aus ihrer Tasche an einige der Stuten im ersten Hof und führte mich, ohne anzuhalten, durch die Leere des zweiten Hofs, des Fohlhofs und am Deckstand vorbei. Wir kamen schließlich wie immer zum Hengsthof, wo die Neugier der Bewohner in dem Moment, da sie unsere Schritte hörten, ihre Köpfe hervorlockte. Ginnie verteilte Mohrrüben und Klapse mit dem Aplomb ihres Vaters, und Sandcastle erlaubte ihr gnädig, seine Nase zu streicheln. »Er ist ruhig jetzt«, sagte sie. »Um diese Jahreszeit ist er auf viel schmälerer Kost.« Ich lauschte dem umfangreichen Wissen hinter den ge lassenen Worten, und ich sagte: »Was willst du machen, wenn du aus der Schule kommst?« »Das hier natürlich.« Sie tätschelte Sandcastles Hals. »Dad helfen. Seine Assistentin sein.« »Nichts anderes?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich liebe die Fohlen. Miterle ben, wie sie geboren werden, und sehen, wie sie aufwach sen. Ich möchte nie etwas anderes machen.« Wir ließen die Hengste allein und spazierten zwischen den Koppeln mit ihren Fohlen und Muttertieren, auf dem Weg zu den Watcherleys, während Squibs uns voraus trottete und seine Zaunpfähle markierte. Das Nachbar grundstück, von dessen verwahrlostem Zustand ich nur bei der Hatz nach den entlaufenen fünf Millionen etwas mit bekommen hatte, erwies sich jetzt als fast so gepflegt wie das Stammhaus, mit starken Anteilen an frischer Farbe und merklich abwesendem Unkraut. »Dad kann Unordnung nicht ausstehen«, sagte Ginnie, als ich mich zu der peinlichen Sauberkeit äußerte. »Die Watcherleys haben wirklich ganz schön Glück, daß Daddy 226
ihnen Miete zahlt und ihr Haus aufmöbelt und sie ange stellt hat, die Tiere in seinem Hof zu betreuen. Bob mag immer noch ein bißchen darüber schimpfen, daß er nicht selbständig ist, aber Maggie sagte mir erst letzte Woche noch, sie wäre allezeit dankbar dafür, daß Calder Jackson ihnen das Geschäft gestohlen hat.« »Er hat es ja wohl kaum gestohlen«, sagte ich milde. »Na, Sie wissen doch, was ich meine. War eben besser drin, wenn Sie pedantisch sein wollen.« Sie grinste. »Je denfalls, Maggie hat sich endlich ein paar neue Anziehsa chen gekauft, und ich freue mich für sie.« Wir gingen in einige der Stände hinein, wo sie die letz ten Mohrrüben weggab und die Insassen liebkoste, Stuten wie auch heranwachsende Fohlen, mit denen sie redete und die auf ihre Berührung freundlich eingingen, indem sie sie sanft anstubsten. Sie erschien ruhig und ganz an dem Platz, wo sie hingehörte, aller Probleme enthoben.
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Das dritte Jahr April
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lec hatte einen Strauß gelber Tulpen mitgebracht, als er Was läuft, wo … holen ging, und sie standen in ei nem Bierkrug auf seinem Schreibtisch, fingen einen Strahl Frühlingssonne ein und hielten sich aufrecht wie Wach soldaten. Gordon notierte etwas in einer Handschrift, die noch winziger wurde, und die beiden älteren Kollegen zählten die Wochen bis zu ihrer Pensionierung. Leben im Büro: ein Durchschnittstag. Mein Telefon klingelte, und die Augen noch auf den Brief eines Tomatenzüchters geheftet, der um mehr Zeit für die Rückzahlung seines ursprünglichen Darlehens bat, da er umgehend ein neues Treibhaus brauche, ergriff ich langsam den Hörer. »Oliver Knowles«, sagte die Stimme. »Sind Sie es, Tim?« »Tag«, antwortete ich herzlich. »Alles in Ordnung?« »Nein.« Das Wort war gräßlich abrupt, und geistig wie körperlich setzte ich mich gerader. »Was ist denn los?« »Können Sie herkommen?« fragte er, statt direkt zu ant worten. »Ich bin ziemlich besorgt. Ich möchte mit Ihnen reden.« 228
»Tja … ich könnte am Sonntag kommen«, sagte ich. »Ginge es heute? Oder morgen?« Ich überblickte den Arbeitsanfall und meine wenigen Termine. »Morgen nachmittag, wenn Sie möchten«, sagte ich. »Wenn es mit der Bank zu tun hat.« »Ja, hat es.« Die Unruhe in seiner Stimme war ganz of fensichtlich und teilte sich mir sofort mit. »Können Sie mir nicht sagen, wo es brennt?« fragte ich. »Ist Sandcastle in Ordnung?« »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich erkläre es Ihnen, wenn Sie kommen.« »Aber Oliver …« »Hören Sie«, sagte er. »Sandcastle ist bei guter Gesund heit, und er ist nicht noch mal ausgerückt oder so was. Es ist zu schwer zu erklären am Telefon. Ich möchte Ihren Rat, das ist alles.« Mehr wollte er nicht sagen, und ich blieb mit dem stummen Hörer in der Hand und ein paar scheußlich schwebenden Fragezeichen im Kopf zurück. »Sandcastle?« fragte Gordon. »Oliver sagt, er ist bei guter Gesundheit.« »Dieses Pferd ist gegen alles versichert – diese Riesen prämien –, also mach dir nicht zuviel Gedanken«, sagte Gordon. »Es ist wahrscheinlich eine Kleinigkeit.« Es hatte sich aber nicht nach einer Kleinigkeit angehört, und als ich am nächsten Tag auf dem Gestüt eintraf, sah ich, daß es keinesfalls eine war. Oliver kam heraus, um mich zu begrüßen, als ich vor seiner Haustür bremste, und sein Gesicht hatte neue tiefe Falten, die vorher nicht da gewesen waren. »Kommen Sie rein«, sagte er, drückte mir die Hand. »Ich bin ernstlich besorgt. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« 229
Er ging mir voran, durchs Haus in das Wohnzimmerbüro und wies mir einen Sessel zu. »Setzen Sie sich, und lesen Sie das«, sagte er und gab mir einen Brief. Für einführende Formeln wie »guten Tag« oder »wie geht’s Ginnie?« war keine Zeit gewesen, lediglich diese nackte Aufforderung. Ich setzte mich und las. Der Brief, datiert vom 21. April, lautete: Lieber Oliver, ich beklage mich nicht, denn natürlich zahlt man seine Taxen und nimmt Risiken auf sich, aber leider muß ich Ih nen mitteilen, daß das Sandcastle-Fohlen aus meiner Stute Spiral Binding mit einem fehlenden halben Ohr zur Welt kam. Es ist nebenbei weiblich, und ich möchte behaupten, daß es sich auf sein Tempo nicht auswirken wird, aber sein Aussehen ist ruiniert. Ein Jammer. Wir sehen uns sicher mal bei den Auktionen. Die Ihre, Jane. »Ist das sehr schlimm?« fragte ich stirnrunzelnd. Als Erwiderung reichte er mir wortlos einen zweiten Brief. Darin hieß es: Lieber Mr. Knowles, Sie baten mich, Ihnen Bescheid zu geben, wie es meiner Stute Girandette, von der Sie so angetan waren, beim Foh len erginge. Sie hat wohlbehalten einen hübschen kleinen Hengst zur Welt gebracht, doch leider starb der nach sechs Tagen. Wir machten eine Obduktion, und dabei 230
wurde festgestellt, daß er mißgebildete Herzklappen hatte, wie Babys mit Kammerdefekt. Das ist ein schwerer Schlag für mich, finanziell wie auch sonst, aber so ist wohl das Leben nun mal. Ihr ergebener George Page. »Und jetzt den«, sagte Oliver und reichte mir einen drit ten. Der Briefkopf war der eines hochangesehenen und be kannten Gestüts, das Schreiben unpersönlich kurz. Sehr geehrter Herr, Stutfohlen, geboren am 31. März von Poppingcorn. Vater: Sandcastle. Fußdeformation, linkes Vorderbein. Getötet. Ich gab ihm die Briefe zurück und fragte mit zunehmend böser Ahnung: »Wie verbreitet sind solche Mißbildun gen?« Oliver sagte eindringlich: »Sie kommen vor. Sie kom men gelegentlich vor. Aber diese Briefe sind noch nicht alles. Ich erhielt zwei Anrufe – einen davon gestern abend. Zwei weitere Fohlen sind auch durch Herzklappenfehler gestorben. Noch zwei! Das macht fünf, mit denen etwas nicht stimmt.« Er starrte mich an, seine Augen waren wie zwei dunkle Löcher. »Das sind viel zu viele.« Er schluck te. »Und was ist mit den andern, den anderen fünfunddrei ßig? Angenommen … angenommen, da sind noch mehr…« 231
»Wenn Sie nichts gehört haben, dann sind sie bestimmt in Ordnung.« Er schüttelte mutlos den Kopf. »Die Stuten sind ja über all verstreut, sie werfen Sandcastles Fohlen dort, wo sie als nächstes belegt werden sollen. Die Gestütsverwalter brauchen mir nicht automatisch mitzuteilen, wann ein Fohlen geboren wird oder was für eins. Ich meine, manche tun es zwar aus Höflichkeit, aber normalerweise nehmen sie sich einfach nicht die Mühe, und ich auch nicht. Ich unterrichte den Besitzer der Stute, nicht den Verwalter des Hengstes.« »Ja, ich verstehe.« »Also kann es noch andere Fohlen mit Mißbildungen geben … von denen ich nicht gehört habe.« Eine lange, bedeutungsschwere Pause entstand, in der das Ungeheure der Lage kalt in mein Bankerbewußtsein drang. Oliver bekam Schweiß auf die Stirn und ein Zucken um den Mundwinkel, als sei die geteilte Angst für ihn eher doppelt als halb so groß. Das Telefon klingelte plötzlich und schreckte uns beide auf. »Gehen Sie ran«, sagte er. »Bitte.« Ich öffnete den Mund, um einzuwenden, daß es doch nur ein Routineanruf wegen irgend etwas anderem auf Erden wäre, aber dann ergriff ich lediglich den Hörer. »Ist da Oliver Knowles?« sagte eine Stimme. »Nein … ich bin sein Mitarbeiter.« »Ah. Würden Sie ihm dann etwas ausrichten?« »Ja.« »Sagen Sie ihm, daß Patrick O’Marr aus Limballow in Irland angerufen hat. Haben Sie das verstanden?« »Ja«, sagte ich. »Bitte weiter.« 232
»Es geht um ein Fohlen, das vor drei oder vier Wochen hier bei uns geboren wurde. Ich dachte, Mr. Knowles soll te besser mal wissen, daß wir es töten mußten, wenn’s mir auch leid tut, ihm schlechte Nachrichten zu bringen. Hören Sie noch?« »Ja«, sagte ich, innerlich hohl. »Das arme Kerlchen ist mit einer Art eingerolltem Huf geboren worden. Der Tierarzt meinte, es könnte sich in ein, zwei Wochen noch richten, tat es aber nicht, darum ließen wir ihn röntgen. Das Kronbein und das Hufbein waren zu sammengewachsen und verkrüppelt. Der Tierarzt meinte, es sei ausgeschlossen, daß die sich richtig entwickeln, und der kleine Hengst würde niemals gehen, geschweige denn Ren nen laufen können. So ein schönes Kerlchen, in jeder ande ren Hinsicht. Jedenfalls, ich informiere Mr. Knowles, weil er natürlich gespannt sein wird, ob Sandcastles erster Jahr gang für ihn gewinnt, und ich wollte klarstellen, warum dieser hier dann nicht dabei ist. Pink Roses heißt die Stute. Sagen Sie ihm das, ja? Pink Roses. Sie kam her, um mit Dallaton gepaart zu werden. Feine Stute. Sie selbst ist wohlauf, teilen Sie das Mr. Knowles mit.« »Ja«, sagte ich. »Es tut mir sehr leid.« »Geht nun mal so.« Der kultivierte irische Akzent klang nicht allzu verzweifelt. »Der Besitzer von Pink Roses ist natürlich tief betrübt darüber, ich glaub’ aber, er war ver sichert gegen eine Tot- oder Mißgeburt, handelt sich also darum, noch ein Jahr zu warten und nächstes Mal mehr Glück zu haben.« »Ich werde Mr. Knowles informieren«, sagte ich. »Und vielen Dank, daß Sie uns Bescheid gegeben haben.« »Schade und alles«, sagte er. »Aber wie’s eben geht.« Ich legte langsam den Hörer auf, und Oliver sagte dumpf: »Noch eins? Nur nicht noch eins.« 233
Ich nickte und berichtete ihm, was Patrick O’Marr ge sagt hatte. »Das macht sechs«, sagte Oliver steif. »Und Pink Roses … das ist die Stute, die Sie Sandcastle decken sahen, letz tes Jahr um die Zeit.« »Tatsächlich?« Ich dachte zurück an die majestätische Paarung, diesen so verheißungsvollen Augenblick. Armer kleiner Hengst, empfangen in Pracht und geboren mit ei nem Klumpfuß. »Was soll ich machen?« sagte Oliver. »Holen Sie Sandcastles Versicherungspolice raus.« Er blickte verständnislos. »Nein, ich meine mit den Stu ten. Wir haben sämtliche Stuten hier, die dieses Jahr zu Sandcastle kommen sollen. Sie haben alle gefohlt bis auf eine, und fast alle sind bereits gedeckt worden. Ich meine … da wächst schon ein zweiter Jahrgang, und wenn die nun … wenn die nun alle …« Er stockte, als bekäme er seine Zunge einfach nicht dazu, die Worte auszusprechen. »Ich war die ganze Nacht wach«, sagte er. »Das erste«, sagte ich nochmals, »ist jetzt ein Blick auf die Police.« Er ging unfehlbar zu einer übersichtlichen Reihe von Aktenordnern in einem Schrank und zog das benötigte Schriftstück heraus, viele Seiten stark, teils gedruckt, teils maschinengeschrieben. Ich schlug es auf und sagte zu Oli ver: »Wie wär’s mit etwas Kaffee? Das dauert eine Ewig keit.« »Ach. In Ordnung.« Er sah sich zerstreut um. »Es wird welcher für mich zum Abendbrot bereitstehen. Ich werd’ ihn einstöpseln.« Er zögerte. »Kaffeemaschine«, erklärte er. Ich erkannte die Anzeichen eines Mundes, der etwas sagte, während der Verstand in etwas anderes verrannt 234
war. »Ja«, sagte ich. »Das wäre prima.« Er nickte mit den gleichen unkoordinierten Hirnschaltungen, und ich vermu tete, wenn er in die Küche kam, würde es ihm schwerfal len, sich daran zu erinnern, weshalb. Die Versicherungspolice war für das Fach, nicht für den Kunden abgefaßt, eine Sammlung jargontriefender Sätze voller Worte, die nur für Leute einen klaren Sinn ergaben, die damit ihr Brot verdienten. Ich las sie aus diesem Grund sehr sorgfältig durch; langsam und gründlich von vorne bis hinten. Sie enthielt viele Definitionen des Wortes »Unfall«, mit Klauseln über die Anzahl der Veterinäre, die konsultiert werden und deren Gutachten eingeholt werden sollten, be vor Sandcastle (im folgenden bezeichnet als das Pferd) aus welchem Grund auch immer auf humane Weise getö tet werden konnte. Sie enthielt Klauseln über Brüche, wor in die Knochen benannt waren, die allgemein als wieder herstellbar zu gelten hatten, und über gängige Muskel-, Nerven- und Sehnenschäden, die nicht als Grund zur Tö tung angesehen würden, sie seien denn von solchem Aus maß, daß das Pferd tatsächlich nicht mehr stehen konnte. Von diesen Einschränkungen abgesehen, galt das Pferd als versichert gegen den Tod, aus welcher natürlichen Ur sache auch immer; als versichert gegen Unfalltod, wäh rend es sich in Freiheit befand (welche Möglichkeit mit Sorgfalt zu verhüten war, grobe Fahrlässigkeit hob die Bedingung auf); als versichert gegen Tod durch Feuer, sollte die Stallung ein Raub der Flammen werden, und ge gen vorsätzlich durch Menschenhand verursachten Tod. Das Pferd war voll versichert gegen böswillige oder unbe absichtigte Kastration und gegen Unfallschäden, welche von Tierärzten, die in gutem Glauben das Pferd behandel ten, verursacht wurden. Es war im Staffeltarif versichert gegen Unfruchtbarkeit, wobei sein voller Wert nur dann in 235
Frage stand, wenn es sich als hundertprozentig unfruchtbar erwies (was, wie Labortests gezeigt hatten, nicht der Fall war). Es war versichert gegen unbeabsichtigte oder böswillige Vergiftung und gegen Impotenz als Folge nicht tödlich verlaufender Krankheit sowie gegen wertmindernde oder tödliche Verletzungen, die ihm ein anderes Pferd zufügte. Es war versichert gegen Tod durch das Wetter (Sturm, Überschwemmung, Blitzschlag etc.) und überraschender weise auch gegen Tod oder Invalidität durch Krieg, Auf ruhr und Krawalle, Ursachen, die normalerweise aus drücklich von der Versicherung ausgeschlossen wurden. Es war versichert gegen vom Himmel fallende Objekte, gegen im Fahren herbeigeführten Zusammenstoß mit me chanischen Objekten auf dem Erdboden, gegen Bäume, die auf es stürzten, und gegen verborgene Quellen, die sich unter seinen Füßen öffneten. Es war gegen jedes vorhersehbare Unglück versichert außer einem. Es war nicht versichert gegen vorzeitigen Ausschluß aus dem Geschäft wegen angeborener Abnor mitäten unter seinem Nachwuchs. Oliver kam mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Be cher mit Tee standen, nicht Kaffee. Er stellte das Tablett auf den Schreibtisch und sah in mein Gesicht, das seine Verzweiflung aber kaum noch zu verstärken imstande schien. »Ich bin nicht dagegen versichert, was«, sagte er, »daß ich einen gesunden, potenten Hengst besitze, zu dem nie mand seine Stuten schicken wird.« »Ich weiß es nicht.« »Doch … ich sehe es Ihnen an.« Er zitterte kaum merk lich. »Als die Police aufgesetzt wurde, haben etwa sechs Leute, darunter ich selbst und zwei Tierärzte, neben den 236
Versicherern an jede nur mögliche Eventualität und jede Vorsorge zu denken versucht. Wir brachten alles hinein, was uns einfiel.« Er schluckte. »Niemand … niemand dachte an einen ganzen Schwung mißgebildeter Fohlen.« »Nein«, sagte ich. »Ich meine, Züchter versichern gewöhnlich ihre Stuten, wenn sie’s wollen, und das Fohlen, um die Decktaxe abzu sichern, aber viele lassen es, weil die Prämien hoch sind. Und ich … ich zahle diese Riesenprämie … und was dann … was dann passiert, ist eine Sache, die wir nie … die nie mand auch nur im Traum für … möglich gehalten hätte.« Die Police, dachte ich, war zu präzis gewesen. Sie hätten sich mit etwas begnügen sollen wie »jeder Faktor, der zur Folge hat, daß das Pferd als nicht für Zuchtzwecke geeig net erachtet wird«; aber vielleicht konnten die Versicherer ihrerseits für eine so frei auslegbare Sache keine Geldge ber finden. In jedem Fall war der Schaden angerichtet. Vollkaskopolicen waren allzuoft nicht das, was sie besag ten; und Versicherungsfirmen zahlten niemals, wenn sie es vermeiden konnten. Meine Haut fühlte sich klamm an. Drei Millionen Pfund aus den Geldern der Bank und zwei Millionen Pfund aus privaten Händen waren in diesem Pferd festgelegt, und wenn Oliver nicht zurückzahlen konnte, würden wir die Verlierer sein. Ich hatte den Kredit empfohlen. Henry hatte das Aben teuer gemocht, und Val und Gordon waren auch dafür ge wesen, doch den Ausschlag hatte mein Bericht gegeben. Ich hätte die Konsequenzen ebensowenig voraussehen können wie Oliver, aber ich fühlte mich ganz persönlich und entsetzlich verantwortlich für den Schlamassel. »Was soll ich machen?« sagte er wieder. »Mit den Stuten?« 237
»Und allem anderen.« Ich starrte ins Leere. Das Fiasko, das für die Bank einen Prestigeverlust und einen scharfen Knick in den Profiten bedeuten würde und für die privaten Geldgeber nur einen schmerzlichen finanziellen Verlust, bedeutete im Endef fekt den völligen Ruin für Oliver Knowles. Wenn Sand castle kein Einkommen erzeugen konnte, war Oliver Knowles bankrott. Sein Geschäft war keine Firma mit be schränkter Haftung, das hieß, er würde sein Gestüt, seine Pferde, sein Haus verlieren; alles, was er besaß. Auch zu ihm würden, wie zu meiner Mutter, die Gerichtsvollzieher kommen, seine Einrichtung und seine Schätze abschlep pen, und Ginnies Bücher und Spielsachen… Ich schüttelte mich im Geiste und körperlich und sagte: »Das vordringlichste ist jetzt, gar nichts zu tun. Verhalten Sie sich ruhig, und erzählen Sie niemand, was Sie mir er zählt haben. Hören Sie erst mal, ob noch mehr von diesen Fohlen … hin sind. Ich werde mich mit den anderen Direktoren von Ekaterin beraten und sehen, ob und wie man Zeit gewinnen kann. Ich meine … versprechen will ich nichts … aber wir könnten einen Aufschub der Rückzah lungen in Betracht ziehen, während wir andere Möglich keiten prüfen.« Er sah verblüfft aus. »Welche Möglichkeiten denn?« »Nun … Sandcastle testen zu lassen. Falls die ersten Fruchtbarkeitstests zum Beispiel nicht gründlich genug waren, könnte womöglich nachzuweisen sein, daß sein Sperma schon immer irgendwie defekt war, und dann würde die Versicherungspolice Sie decken. Wenigstens besteht eine sehr gute Chance.« Die Versicherer, dachte ich, könnten in diesem Fall das Labor verklagen, das ursprünglich die Fruchtbarkeit be scheinigt hatte, doch das wäre dann weder Olivers Pro 238
blem noch meines. Entscheidend war, daß er mit einem Mal ein bißchen fröhlicher aussah und geistesabwesend seinen Tee trank. »Und die Stuten?« sagte er. Ich schüttelte den Kopf. »Aus Fairneß gegenüber den Besitzern müssen Sie wohl sagen, daß Sandcastle aus dem Rennen ist.« »Und ihnen die Taxen zurückerstatten«, sagte er düster. »M-hm.« »Heute wird er zwei gedeckt haben«, sagte er. »Ich habe Nigel gegenüber nichts von der Sache erwähnt. Ich meine, es ist seine Aufgabe, die Sprünge zu organisieren. Er hat einen fantastischen Blick für diese Stuten, er weiß, wann sie empfänglich sind. Ich überlasse es weitgehend seinem Urteil, und heute morgen sagte er mir, daß zwei für Sand castle bereit seien. Ich nickte nur. Mir war elend. Ich habe ihm nichts erzählt.« »Wie viele wären damit noch, äh, ungedeckt?« Er sah etwas umständlich in einer Liste nach. »Die eine, die noch nicht gefohlt hat, und … vier weitere.« 35 Stuten, dachte ich stumpf, konnten diesen Samen tragen. »Die Stute, die noch nicht geworfen hat«, sagte Oliver tonlos, »wurde letztes Jahr von Sandcastle gedeckt.« Ich stutzte. »Sie meinen … eins seiner Fohlen wird hier geboren werden?« »Ja.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Jeden Tag.« Schritte erklangen vor der Tür, und Ginnie, die herein kam, sagte mit ansteigender, fragender Betonung: »Dad?« Sie sah mich sofort, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Hallo! Wie nett. Ich wußte nicht, daß Sie kommen woll ten.« 239
Ich stand auf, um sie mit dem gewohnten Überschwang zu begrüßen, aber sie spürte gleich, daß das nicht der Stimmung entsprach. »Was ist los?« Sie schaute mir in die Augen und dann auf ihren Vater. »Was ist passiert?« »Nichts«, sagte er. »Dad, du lügst doch.« Sie drehte sich wieder zu mir um. »Raus damit. Ich sehe schon, daß etwas Schlimmes pas siert ist. Ich bin kein Kind mehr. Ich bin siebzehn.« »Ich dachte, du wärst in der Schule«, sagte ich. »Bin abgegangen. Nach dem letzten Halbjahr. Hatte kei nen Sinn für mich, zum Sommer wieder hinzugehen, wo mich doch nur das hier interessiert.« Sie sah viel selbstsicherer aus, als wäre die Schulzeit ein Kokon gewesen und sie jetzt der frei fliegende Schmetter ling. Die Schönheit, die sie ersehnt hatte, war noch nicht ganz eingetreten, doch ihr Gesicht war voller Charakter und durchaus reizvoll. Sie würde ihr ganzes Leben, dachte ich, sehr beliebt sein. »Was habt ihr?« sagte sie. »Was ist passiert?« Oliver machte eine kleine Geste der Verzweiflung und Kapitulation. »Irgendwann wirst du’s erfahren müssen.« Er schluckte. »Einige von Sandcastles Fohlen … haben Fehler.« »Was soll das heißen, haben Fehler?« Ich berichtete ihr von allen sechs und zeigte ihr die Brie fe. Beim Lesen wurde sie immer blasser. »O Dad, nein. Nein. Das gibt’s doch nicht. Nicht Sandcastle. Nicht dieser Prachtkerl.« »Setz dich hin«, sagte ich, doch sie drehte sich statt des sen zu mir um, grub ihr Gesicht in meine Brust und hielt sich an mir fest. Ich legte die Arme um sie und küßte ihr Haar und tröstete sie eine Ewigkeit, so gut ich konnte. 240
Am nächsten Morgen, Freitag, fuhr ich ins Büro und be richtete Gordon mit ein wenig knirschenden Zähnen von dem Ergebnis meines Besuches bei Oliver. Er sagte mehrmals »Mein Gott«, und Alec kam von sei nem Schreibtisch herüber, um ebenfalls zuzuhören, die blauen Augen hinter der goldgerahmten Brille blickten diesmal sehr ernst. Seine blonden Wimpern blinzelten, und der Mund war grimmig verschlossen. »Was willst du machen?« fragte er schließlich, als ich endete. »Ich weiß es wirklich nicht.« Gordon bewegte sich, ließ seine Hände in der akuten Be sorgnis unbemerkt auf der Schreibunterlage zittern. »Das dringendste ist wohl«, sagte er, »Val und Henry zu infor mieren. Obwohl mir ein Rätsel ist, was da einer von uns machen soll. Wie du sagtest, Tim, wir werden abwarten müssen, um einzuschätzen, wie verfahren die Lage wirk lich ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendwer mit einer Topstute das Vertrauen hat, sie künftig noch zu Sandcastle zu schicken. Im Ernst, kannst du das, Tim? Würdest du?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« »Na bitte«, sagte Gordon. »Würde keiner.« Henry und Val empfingen die Nachricht mit unverhüllter Bestürzung und erzählten es den übrigen Direktoren beim Lunch. Der Mann, der von Anfang an gegen das Projekt gewesen war, reagierte mit aufrichtigem Ärger und hielt mir eine wütende Standpauke während der gebackenen Seezunge. »Niemand hätte das voraussehen können«, protestierte Henry zu meiner Verteidigung. »Jeder konnte voraussehen«, meinte der dissidierende 241
Direktor bissig, »daß solch ein hirnverbrannter Plan nach hinten losgehen würde. Tim hat zu schnell zuviel Macht erhalten, und schuld ist hier sein Urteil, seins allein. Hätte er Grütze genug gehabt, die Gefahren zu erkennen, hättet ihr auf ihn gehört und den Antrag abgelehnt. Es liegt zwei fellos an seiner Dummheit und Unreife, daß die Bank sich vor diesen Verlust gestellt sieht, und ich werde meine An sichten bei der nächsten Vorstandssitzung zu Protokoll bringen.« Einiges verlegene Gemurmel ging um den Tisch, und Henry sagte mit unerschütterter Liebenswürdigkeit: »Wir sind alle schuld daran, wenn es um Schuld geht, und es ist unfair, Tim als dumm zu bezeichnen, weil er etwas nicht vorhergesehen hat, was der Vorstellungskraft der verschie densten Experten, die die Versicherungspolice aufgesetzt haben, entgangen ist.« Der Dissident wiederholte jedoch seine »Ich-hab’s-ja gleich-gesagt«-Bemerkungen endlos noch beim Käse und Kaffee, und ich saß da und ertrug deprimiert seine Spitzen, da ich ihm die Befriedigung nicht gönnte, mich weggehen zu sehen, bevor er ging. »Was wollen Sie als nächstes unternehmen?« fragte mich Henry, als zu guter Letzt alle recht schweigsam auf standen und zurück an ihre Schreibtische wanderten. »Was haben Sie vor?« Ich war froh, daß er mich stillschweigend in der Positi on, die ich erreicht hatte, ließ und mir die Entscheidungen nicht aus der Hand nahm. »Ich fahre morgen auf das Ge stüt«, sagte ich, »um die Finanzlage durchzugehen. Die Zahlen auszurechnen. Sie müssen fürchterlich sein.« Er nickte bedauernd. »So ein fabelhaftes Pferd. Und kein Mensch, Tim, gleichgültig, was irgend jemand sagt, hätte ahnen können, daß es einen solchen Mangel hat.« 242
Ich seufzte. »Oliver hat mich gebeten, morgen nacht und Sonntag nacht zu bleiben. Ich möchte im Grunde nicht, aber sie brauchen wirklich Unterstützung.« »Sie?« »Ginnie, seine Tochter, ist bei ihm. Sie ist erst siebzehn. Es ist sehr hart für sie beide. Katastrophal, genau gesagt.« Henry tätschelte mir den Arm und ging mit mir zum Fahrstuhl. »Tun Sie, was Sie können«, sagte er. »Lassen Sie uns den genauen Stand der Dinge am Montag wissen.« Ehe ich am Samstag morgen zu Hause wegfuhr, erhielt ich einen Anruf von Judith. »Gordon hat mir von Sandcastle erzählt. Tim, es ist so furchtbar. Diese armen, armen Leute.« »Scheußlich«, sagte ich. »Tim, sag Ginnie, wie leid es mir tut. Leid … wie un möglich Worte sind, man sagt ›tut mir leid‹, wenn man jemand im Supermarkt anrempelt. Das liebe Kind … sie schrieb mir ein paarmal aus der Schule, halt wegen Mäd chenfragen, wie ich’s ihr angeboten hatte.« »Tatsächlich?« »Ja. Sie ist so ein nettes Mädchen. So vernünftig. Aber das … das ist zuviel jetzt. Gordon sagt, sie laufen Gefahr, alles zu verlieren.« »Ich fahre heute hin, um zu sehen, wie er dran ist.« »Gordon sagte es mir. Bitte bestell ihnen von mir alles Liebe.« »Mach, ich.« Ich zögerte ganz kurz. »Für dich alles Lie be von mir.« »Tim…« »Ich wollte es dir nur sagen. Es ist noch dasselbe.« 243
»Wir haben dich seit Wochen nicht gesehen. Das heißt … ich habe nicht.« »Ist Gordon mit dir im Zimmer?« fragte ich. »Ja, das stimmt.« Ich lächelte schief. »Ich höre nämlich von dir, weißt du«, sagte ich. »Er erwähnt dich ziemlich oft, und ich frage nach dir … es bringt dich näher.« »Ja«, sagte sie in vollkommen neutralem Ton. »Ich weiß genau, was du meinst. Ich denke ganz genauso darüber.« »Judith …« Ich holte Luft und zwang Ruhe in meine Stimme, um sie ihrer anzugleichen. »Sag Gordon bitte, ich rufe ihn zu Hause an, wenn er möchte, falls sich was er gibt, das vor Montag besprochen werden sollte.« »Sag’ ich ihm. Bleib dran.« Ich hörte sie die Frage wie derholen und das ferne Antwortgebrumm Gordons, und dann sagte sie: »Ja, er bittet dich darum, wir sind heute abend und auch morgen meist zu Hause.« »Vielleicht gehst du ja ran, wenn das Telefon klingelt.« »Vielleicht.« Nach einem kurzen Schweigen sagte ich: »Ich fahre mal besser los.« »Dann Wiedersehn, Tim«, sagte sie. »Und gib uns Be scheid. Wir werden beide den ganzen Tag an dich denken, ganz bestimmt.« »Ich rufe an«, sagte ich. »Du kannst darauf zählen.« Der Nachmittag war im ganzen so unselig, wie ich erwartet hatte, und in mancher Hinsicht schlimmer. Oliver und Gin nie liefen herum wie bleiche Automaten, machten unzu sammenhängende Bemerkungen, vergaßen, wo sie Sachen hinlegten, und der Lunch à la Ginnie hatte aus zu hart ge kochten Eiern und Päckchen mit Kartoffelchips bestanden. 244
»Wir haben Nigel und den Pflegern nicht erzählt, was vorgeht«, sagte Oliver. »Zum Glück gibt’s eine Pause in Sandcastles Programm. Er hatte sehr viel zu tun, weil fast alle seine Stuten eng aufeinander Mitte März gefohlt ha ben, bis auf vier und die eine, die noch trägt.« Er schluck te. »Und die anderen Hengste, deren Stuten sind natürlich auch alle hier, und wir müssen ihre Fohlen liefern und für die Sprünge sorgen. Ich meine … wir müssen weiterma chen. Wir müssen.« Gegen vier Uhr gingen sie beide hinaus in die Höfe zum Abendstalldienst, wobei sie sichtbar ihre Schultern straff ten, um den Pflegern normal gegenüberzutreten, und ich begann die Zahlenreihen zu addieren, die ich aus Olivers Unterlagen herausgeschrieben hatte. Die Abrechnung war, als ich sie fertig hatte, erschrek kend und besagte, daß Oliver für den Rest seines Lebens ein nicht entlasteter Gemeinschuldner sein konnte. Ich verstaute die Ergebnisse in meiner Aktenmappe und ver suchte, an etwas Konstruktives zu denken; da läutete Oli vers Telefon. »Oliver?« sagte eine Stimme, die irgendwie bekannt klang. »Er ist aus dem Haus«, sagte ich. »Kann ich etwas aus richten?« »Er soll mich anrufen. Ursula Young. Ich gebe Ihnen die Nummer.« »Ursula!« sagte ich überrascht. »Hier ist Tim Ekaterin.« »Nanu?« Für sie kam es genauso unerwartet. »Was tun Sie denn da?« »Nur ein Wochenendaufenthalt. Kann ich helfen?« Sie zögerte ein wenig, sagte dann aber: »Ja, ich glaube schon. Allerdings ist es leider eine schlechte Nachricht für 245
ihn. Enttäuschend, könnte man sagen.« Sie hielt inne. »Ich habe eine Freundin, die ein kleines Gestüt besitzt, ein Hengst bloß, aber ein ziemlich guter, und dieses Jahr war sie so ge spannt, weil eine der für ihn gebuchten Stuten von Sand castle trächtig war. Sie war einfach begeistert, verstehen Sie, daß ein Fohlen von diesem Kaliber bei ihr geboren würde.« »Ja«, sagte ich. »Nun, sie rief mich heute morgen an und weinte.« Ursula schluckte selbst: Sie mochte hart erscheinen, doch Tränen anderer Leute bewegten sie immer. »Sie sagte, die Stute hätte das Sandcastle-Fohlen in der Nacht geworfen, und sie sei nicht dabeigewesen. Gestern abend hätte man der Stute nichts angemerkt, und die Geburt müsse schnell und leicht erfolgt sein, und die Stute sei in Ordnung, aber …« »Aber was?« sagte ich, kaum atmend. »Sie sagt, das Fohlen – ein Weibchen – stand auf den Beinen und nuckelte, als sie heute früh in die Box der Stu te kam, und zuerst war sie außer sich vor Freude, aber dann … aber dann …« »Erzählen Sie«, sagte ich hoffnungslos. »Dann sah sie es. Sie sagt, es ist furchtbar.« »Ursula…« »Das Fohlen hat nur ein Auge.« O mein Gott, dachte ich: guter Gott. »Sie sagt, auf der anderen Seite ist nichts«, sagte Ursula. »Keine richtige Höhle.« Sie schluckte erneut. »Teilen Sie es Oliver mit? Ich fand, er sollte es wissen. Er wird zu tiefst enttäuscht sein. Es tut mir so leid.« »Ich sage es ihm.« »Solche Sachen kommen schon mal vor«, sagte sie. »Aber es bringt einen so aus der Fassung, wenn es Freun den passiert.« 246
»Sie haben ganz recht.« »Dann auf Wiedersehen, Tim. Bis hoffentlich bald ein mal, bei den Rennen.« Ich legte den Hörer auf und fragte mich, wie ich es ihnen bloß sagen sollte, und tatsächlich sagte ich es nicht Ginnie, nur Oliver, der mit dem Kopf in den Händen dasaß, Ver zweiflung in jeder Linie seines Körpers. »Es ist hoffnungslos«, sagte er. »Noch nicht«, sagte ich ermutigend, obwohl ich nicht so überzeugt war, wie es klang. »Erst sind noch die Tests an Sandcastle fällig.« Er sackte nur tiefer zusammen. »Ich lasse sie machen, aber helfen werden sie auch nicht. Die Gene, die nicht stimmen, werden winzig sein. Die sieht niemand, egal, wie stark das Mikroskop ist.« »Man weiß es nicht. Wenn sie die DNS sehen können, warum nicht die Chromosomen eines Pferdes?« Er hob langsam den Kopf. »Selbst dann … es ist eine so entfernte Möglichkeit.« Er seufzte tief. »Ich denke, ich werde das Pferdeforschungsinstitut in Newmarket bitten, ihn mal dazubehalten, mal zu sehen, ob sie was feststellen können. Ich rufe da am Montag an.« »Wahrscheinlich«, sagte ich zögernd, »na, ich weiß, es klingt albern, aber es könnte wohl nichts so Simples sein wie irgendwas, das er gefressen hat? Voriges Jahr, versteht sich.« Er schüttelte den Kopf. »Daran habe ich schon gedacht. Ich habe an ziemlich alles gedacht, glauben Sie mir. Die Hengste bekamen alle das gleiche Futter, und von den Fohlen der anderen sind keine betroffen … zumindest ha ben wir von keinem gehört. Nigel füttert die Hengste selbst aus der Futterkammer dort im Hof, und wir passen 247
immer auf, was wir ihnen geben, damit sie in Form blei ben.« »Mohrrüben?« sagte ich. »Ich gebe jedem Pferd hier Mohrrüben. Alle machen es. Mohrrüben sind gutes Futter. Ich kaufe sie zentnerweise ein und lagere sie im ersten großen Hof, wo die Haupt futterkammer ist. Ich stecke mir jeden Tag Händevoll in die Taschen. Sie haben es ja gesehen. Rotaboy, Diarist und Parakeet, alle haben sie gekriegt. Es kann unmöglich et was mit Karotten zu tun haben.« »Farbe: irgend etwas dergleichen? Etwas Neues in den Boxen, als Sie die ganzen Sicherheitsmaßnahmen einbau ten? Etwas, das er kauen konnte?« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich bin das durchgegan gen, noch und noch. Wir haben sämtliche Boxen genau gleich ausgestattet. In der Box von Sandcastle ist nichts, was nicht auch in den anderen wäre. Sie sind alle genau gleich.« Er bewegte sich unruhig. »Ich war drin, um mich zu vergewissern, daß da nichts ist, woran Sandcastle lek ken könnte, wenn er den Kopf so weit es nur geht über die Halbtür herausstreckt. Da ist nichts, überhaupt nichts.« »Trinkeimer?« »Nein. Sie bekommen nicht immer dieselben Eimer. Ich meine, wenn Lenny sie füllt, bringt er sie nicht unbedingt wieder in genau die Boxen zurück, aus denen sie gekom men sind. Die Eimer sind nicht mit den Namen der Heng ste versehen, falls Sie das meinen.« Ich meinte gar nichts weiter: Ich klammerte mich an Strohhalme. »Stroh…«, sagte ich. »Was wäre mit einer Allergie? Ei ner Allergie gegen etwas in seiner Umgebung? Könnte ei ne Allergie solche Auswirkungen haben?« 248
»Ich habe noch nie von dergleichen gehört. Ich frage aber die Institutsleute am Montag.« Er stand auf, um uns beiden einen Drink einzuschütten. »Es tut gut, daß Sie hier sind«, sagte er, »eine Art Netz über dem bodenlosen Abgrund.« Er gab mir das Glas mit einem schwach angedeuteten Lächeln, und ich hatte den definitiven Eindruck, daß er letzten Endes nicht völlig ka puttgehen würde. Ich rief daraufhin bei den Michaels zu Hause an, und Gordon meldete sich nach dem ersten Klingeln, als wäre er gerade in der Nähe vorbeigekommen. Nichts Gutes zu berichten, sagte ich, außer daß Ginnie Judith lieb grüßen ließe. Gordon sagte, Judith pflücke im Garten Petersilie fürs Abendbrot, und er werde es ihr ausrichten. »Ruf mor gen an«, sagte er, »falls wir helfen können.« Unser eigenes Abendbrot, das Olivers Teilzeithaushälte rin im Kühlschrank bereitgestellt hatte, stopfte die Löcher, die vom Lunch zurückgeblieben waren, und Ginnie ging unmittelbar darauf ins Bett, da sie um zwei aufstehen und mit Nigel draußen auf dem Abfohlhof sein wollte. »Sie geht in den meisten Nächten«, sagte Oliver. »Sie und Nigel geben ein gutes Team ab. Er sagt, sie ist eine große Hilfe, besonders wenn drei oder vier Stuten gleich zeitig fohlen. Ich bin oft selber draußen, aber bei all den Entscheidungen und dem Papierkram dazu schlaucht es mich sehr, wenn ich es zu oft mache. Schlafe beim Essen ein und dergleichen.« Wir gingen auch recht früh ins Bett, und ich erwachte unter dem hohen Plafond des großen Gästezimmers, wäh rend noch tiefe Dunkelheit herrschte. Es war eins dieser schnellen Erwachen, die bedeuten, daß der Schlaf nicht leicht zurückkommt, und ich stieg aus dem Bett und ging ans Fenster, das den Hof überblickte. 249
Ich konnte nur Dächer und Scheinwerfer und einen klei nen Abschnitt des ersten Hofes sehen. Es gab keine sicht bare Aktivität, und meine Uhr zeigte halb fünf. Ich fragte mich, ob Ginnie etwas dagegen hätte, wenn ich ihr im Fohlhof Gesellschaft leistete; und zog mich an und ging. Sie waren alle dort, Nigel und Oliver ebenso wie Ginnie, alle in einer offenstehenden Box, wo eine Stute im Stroh auf der Seite lag. Sie drehten alle den Kopf, als ich heran kam, schienen aber nicht überrascht, mich zu sehen, und grüßten nicht weiter. »Das ist Plus Factor«, sagte Oliver. »Trächtig von Sand castle.« Seine Stimme war ruhig und Ginnies Verhalten genauso, und ich erriet, daß sie Nigel noch immer nichts von den Mißbildungen gesagt hatten. Auch Hoffnung lag in ihren Gesichtern, als wären sie sicher, daß dieses eine immerhin fehlerlos sein würde. »Sie kommt«, sagte Nigel leise. »Auf geht’s.« Die Stute stieß ein Grunzen aus, und ihre schwellenden Sei ten hoben und senkten sich. Wir beobachteten schweigend, was geschah. Eine glänzende, halbdurchsichtige Membran, in der sich ein Huf zeigte, erschien, darauf die lange schlanke Form des Kopfes, sehr rasch darauf das ganze Fohlen, das dampfend hinaus auf das Stroh plumpste, so daß die Mem bran aufriß, die frische Luft den Kopf erreichte, das neue Le ben mit dem ersten flatternden Atmen der Lungen begann. Wundervoll, dachte ich. »Ist es in Ordnung?« sagte Oliver und bückte sich. Nackte Angst stand in seinem Gesicht. »Klar«, sagte Nigel. »Schöner kleiner Hengst. Nur sein Vorderbein ist umgeknickt.« 250
Er kniete neben dem Fohlen nieder, das schon die ersten schwachen Anstrengungen machte, seinen Kopf zu bewe gen, und er streckte sanft beide Hände aus, um das ge beugte Bein ganz von der Membran zu befreien und es zu richten. Er hob es an … und erstarrte. Wir konnten es alle sehen. Das Bein war nicht gebeugt. Es endete in einem Stumpf am Knie. Kein Kanonenbein, keine Fessel, kein Huf. Ginnie neben mir gab ein ersticktes Schluchzen von sich und drehte sich abrupt der offenen Tür zu, der Dunkelheit. Sie machte einen schwankenden Schritt und noch einen, und dann rannte sie: rannte nirgendwohin, rannte weg vor der Gegenwart, der Zukunft, dem Unvorstellbaren. Vor dem hoffnungslosen kleinen Geschöpf auf dem Stroh. Ich lief ihr nach, lauschte auf ihre Schritte, hörte sie auf dem Kies und verlor sie dann, erriet, daß sie das Gras er reicht hatte. Ich ging langsamer in ihrem Kielwasser den Pfad hinunter zum Deckstand, ohne sie zu sehen, doch überzeugt, daß sie irgendwo auf den Wegen bei den Kop peln war. Während meine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, ging ich in diese Richtung und fand sie nicht weit entfernt, auf den Knien neben einem Pfosten, wo sie mit den tiefen Lauten einer völlig erwach senen Verzweiflung schluchzte. »Ginnie«, sagte ich. Sie stand auf, als wäre es ganz natürlich, sich an mich zu wenden, und klammerte sich an mich. Ihr Körper geschüt telt von den Schluchzern, ihr Gesicht fest an meine Schul ter gedrückt, meine Arme eng um sie geschlungen. So standen wir, bis der Ausbruch vorüberging; bis sie ein Ta schentuch aus ihren Jeans zog und sprechen konnte. »Es ist eine Sache, es theoretisch zu wissen«, sagte sie, die Stimme voller Tränen. Ihr Körper zitterte krampfhaft 251
vom Weinen vorher. »Ich hab’ die Briefe ja gelesen. Ich wußte es ja. Aber es sehen … das ist ein Unterschied.« »Ja«, sagte ich. »Und es bedeutet…« Sie schnappte nach Luft, rang um Beherrschung. »Es bedeutet doch, daß wir unser Gestüt verlieren, oder? Alles verlieren?« »Ich weiß noch nicht. Zu früh, um das zu sagen.« »Armer Dad.« Die Tränen glitten langsam an ihren Wangen herunter, aber wie harmloser Regen nach einem Orkan. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir das ertra gen sollen.« »Verzweifle noch nicht. Wenn es eine Möglichkeit gibt, euch zu retten, finden wir sie.« »Meinen Sie damit … Ihre Bank?« »Ich meine alle miteinander.« Sie wischte sich die Augen und putzte ihre Nase und trat schließlich einen Schritt weg von meinen Armen, stark genug, die Zuflucht zu verlassen. Wir gingen langsam zu rück in den Fohlhof und fanden dort niemand mehr außer Pferden. Ich machte die verschlossene obere Türhälfte von Plus Factors Box auf und sah hinein; blickte auf die Stute, die geduldig ohne ihr Fohlen dastand, und fragte mich, ob sie irgendeinen quälenden Verlust empfand. »Dad und Nigel haben es weggeholt, nicht wahr?« sagte Ginnie. »Ja.« Sie nickte, fand sich damit leicht ab. Der Tod war für sie Teil des Lebens, wie für jedes Kind, das mit Tieren groß gezogen wird. Ich schloß Plus Factors Tür, und Ginnie und ich gingen wieder ins Haus, während der Himmel sich im Osten aufhellte zum neuen Tag, Sonntag.
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Die Arbeit am Platz ging weiter. Oliver telefonierte mit verschiedenen Besitzern der Stu ten, die zu den anderen drei Hengsten gekommen waren, meldete die Geburt von lebenden, gesunden Fohlen und von einem, das leider vor der Geburt gestorben war. Seine Stimme klang stark, höflich, beherrscht, der kompetente Kapitän am Ruder, und man konnte förmlich sehen, wie Stunde um Stunde der Stahl in seinen erschütterten Willen zurückdrang. Ich bewunderte ihn dafür; und ich würde darum kämpfen, dachte ich, daß er Zeit gewann, zu einem Kompromiß zu kommen und den endgültigen Ruin abzu wenden. Ginnie, geduscht, satt vom Frühstück, tipptopp in Rock und Pullover, ging fort, um den Vormittag bei den Wat cherleys zu verbringen, und kam lächelnd wieder; die Spannkraft der Jugend. »Die Stuten haben sich von ihren Entzündungen beide erholt«, berichtete sie, »und Maggie sagt, sie hat gehört, daß es bei Calder Jackson in letzter Zeit nicht so gut läuft, sein Hof ist halb leer. Macht Maggie unendlich Laune, sagt sie.« Auch für die Watcherleys, dachte ich flüchtig, konnte das Ende von Olivers Geschäft eine Rückkehr zu Rost und Unkraut bedeuten, doch ich sagte: »Vielleicht nicht genü gend kranke Pferde im Moment.« »Nicht genug kranke Pferde mit reichen Besitzern, meint Maggie.« Am Nachmittag schlief Ginnie auf dem Sofa, wobei sie sehr kindhaft und friedlich aussah, und erst mit dem Erwa chen flutete der Schmerz der Nacht zurück. »Ach herrje…« Die langsamen Tränen kamen. »Ich hab’ geträumt, es wäre in Ordnung. Das Fohlen wäre ein Traum gewesen, bloß ein Traum…« 253
»Du und dein Vater«, sagte ich, »seid tapfere Leute.« Sie schnüffelte ein wenig, drückte sich mit dem Hand rücken auf die Nase. »Meinen Sie damit«, sagte sie lang sam, »daß wir uns, was auch passiert, nicht geschlagen geben dürfen?« »Mm.« Sie sah mich an und nickte nach einiger Zeit. »Wenn wir müssen, fangen wir neu an. Wir werden arbeiten. Er hat das alles schon mal geschafft, wissen Sie.« »Die Fähigkeiten habt ihr beide.« »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind.« Sie wischte die trocknenden Tränen von ihren Wangen. »Weiß Gott, wie es ohne Sie gewesen wäre.« Ich ging zum Abendstalldienst mit ihr hinaus auf die Hö fe, wo das Mistschleppen und Füttern wie stets seinen Gang nahm. Ginnie holte die übliche Tasche voll Mohr rüben aus der Futterkammer, gab hier und da den Stuten welche und unterhielt sich fröhlich mit den Pflegern, wäh rend die sich in die Arbeit knieten. Niemand, der ihr zusah und zuhörte, hätte sich vorstellen können, daß sie befürch tete, der Himmel würde einstürzen. »Abend, Chris, was macht ihr Huf heute?« »Hey, Danny. Hast du die heute morgen reingebracht?« »Hallo, Pete. Sie sieht aus, als würde sie jeden Tag fohlen.« »Abend, Shane. Wie geht es ihr?« »Hey, Sammy, frißt sie jetzt wieder richtig?« Die Pfleger antworteten ihr ganz so, wie sie mit Oliver selbst sprachen, direkt und mit Achtung, und in den mei sten Fällen, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Ich blick te zurück, als wir vom ersten großen Hof in den zweiten gingen, und einen Moment lang hielt ich einen der Pfleger für Ricky Barnet. 254
»Wer ist das?« fragte ich Ginnie. Sie folgte meinem Blick zu dem Pfleger, der über den Hof zum Wasserhahn ging, mit der einen Hand einen leeren Eimer schwenkte und mit der anderen einen Ap fel aß. »Shane. Warum?« »Er erinnert mich an jemand, den ich kannte.« Sie zuckte die Achseln. »Er ist in Ordnung. Sind sie alle, wenn Nigel hinsieht, was er nicht oft genug tut.« »Er arbeitet die ganze Nacht«, sagte ich milde. »Ist was dran.« Die Stuten im zweiten Hof hatten zum großen Teil schon geworfen, und Ginnie hatte an diesem Abend besonders Augen für die Fohlen. Die Pfleger waren bei diesen Boxen noch nicht angelangt, und Ginnie ging zu keiner hinein, sondern wies mich darauf hin, daß Stuten mit jungen Foh len beschützerisch und reizbar sein konnten. »Man weiß nie, ob sie nicht beißen oder treten. Dad sieht nicht gern, daß ich allein zu ihnen reingehe.« Sie lächelte. »Er hält mich immer noch für ein Baby.« Wir gingen weiter zum Fohlhof, wo ein als Dave be grüßter Pfleger gerade eine schwere, langsam gehende Stute in einer der Boxen unterbrachte. »Nigel sagt, sie fohlt heute nacht«, erklärte er Ginnie. »Gewöhnlich hat er recht.« Wir gingen weiter, am Deckstand vorbei, und kamen zu den Hengsten, wo Larry und Ron in der Hofmitte Diarist abschrubbten (der offenbar gearbeitet hatte), was nicht oh ne eine Menge Wasser, Energie und Flüche abging. »Paßt auf seine Füße auf«, sagte Larry. »Er hat mal wie der einen Koller.« 255
Ginnie gab Parakeet und Rotaboy Mohrrüben, und schließlich kamen wir zu Sandcastle. Er sah so großartig, so charismatisch aus wie immer, doch Ginnie gab ihm sein Bonbönchen mit zusammengepreßten Lippen. »Er kann ja wahrscheinlich nichts dafür«, sagte sie seuf zend. »Aber ich wünschte, er hätte in seinem ganzen Le ben kein Rennen gewonnen.« »Oder wir hätten ihn an dem Tag auf der Hauptstraße sterben lassen?« »Aber nein!« Sie war schockiert. »Das hätten wir nicht gekonnt, selbst wenn wir gewußt hätten …« Liebes Mädchen, dachte ich; viele Leute würden ihn per sönlich mit einem Lastauto niedergemäht haben. Wir gingen zum Haus zurück über die Koppeln, wo sie jeden Kopf, der an die Umzäunung kam, streichelte und sich von den letzten der knackigen orangen Leckereien trennte. »Ich kann nicht glauben, daß das alles aufhört«, sagte sie mit einem Blick über die von Pferden gespren kelten Flächen. »Ich kann’s einfach nicht glauben.« Ich deutete ihr und Oliver dezent an, daß es ihnen viel leicht lieber wäre, ich würde diesen Abend nach Hause fahren, doch sie erklärten sich beide dagegen. »Noch nicht«, sagte Ginnie ängstlich, und Oliver nickte bekräftigend. »Bitte bleiben Sie, Tim, wenn Sie können.« Ich nickte und rief die Michaels an und erwischte dies mal Judith. »Lassen Sie mich mit ihr reden«, sagte Ginnie und nahm mir den Hörer aus der Hand. »Ich möchte so gerne.« Und ich, dachte ich bitter, ich möchte auch so gerne mit ihr reden, ihre Stimme hören, durch sie meine Seele er neuern: Ich bin niemandes ewige Säule in der Schlacht, ich brauche auch meinen Trost. 256
Ich bekam meine Krumen, nach Ginnie. Alltägliche Worte, alles andere impliziert; wie immer. »Gib auf dich acht«, sagte sie abschließend. »Du auch«, sagte ich. »Ja.« Das Wort war ein Hauch, schwach und leiser wer dend, als hätte sie beim Aussprechen den Hörer schon vom Mund genommen. Mit einem Klicken brach die Ver bindung ab, und Oliver erklärte markig, daß es Zeit für Whisky sei, Zeit fürs Abendbrot; Zeit für alles vielleicht außer Nachdenken. Ginnie entschied nach dem Abendbrot, daß sie zu unru hig sei, um früh ins Bett zu gehen und statt dessen einen Spaziergang machen würde. »Soll ich mitkommen?« sagte ich. »Nein. Ich bin schon klar. Ich dachte bloß, ich geh’ mal raus. Die Sterne ansehen.« Sie küßte ihren Vater auf die Stirn und zog eine dicke wärmende Wolljacke an. »Ich geh’ nicht vom Gestüt. Du findest mich wahrscheinlich im Fohlhof, wenn du mich brauchst.« Er nickte ihr liebevoll, aber zerstreut zu, und mit einem kurzen Winken für mich ging sie fort. Oliver fragte mich düster, als hätte er nur darauf gewartet, daß wir allein wä ren, wie schnell meiner Ansicht nach die Bank über sein Schicksal entscheiden würde, und wir redeten mit Unter brechungen über seine entmutigenden Aussichten, so daß beim Durchspielen der Möglichkeiten eine Stunde oder zwei vorübergingen. Kurz vor zehn, als wir wahrscheinlich zweimal alles wiederholt hatten, was es zu sagen gab, ertönte ein hefti ges Pochen an der Hintertür. »Wer ist denn das?« Oliver runzelte die Stirn, stand auf und ging nachsehen. 257
Ich hörte nicht die Eingangsworte, sondern nur die be ängstigende Dringlichkeit, mit der sich die Stimme hob. »Sie ist wo?« sagte Oliver laut, deutlich bestürzt. »Wo?« Ich ging schnell auf den Flur. Einer der Pfleger stand in der offenen Tür, nach Luft ringend, mit aufgerissenen Au gen und sah sehr erschrocken aus. Oliver, schon in Bewegung, warf mir einen Blick über die Schulter zu. »Er sagt, Ginnie liegt bewußtlos drau ßen.« Der Pfleger drehte sich um und rannte los, Oliver und ich dicht hinter ihm: Und die Atemlosigkeit des Pflegers, merkte ich bald, war darauf zurückzuführen, daß Ginnie am anderen Ende des Gestüts war, weit hinter Nigels Bun galow und dem Pflegerquartier, ganz an der unteren Auf fahrt nahe dem Tor zur Straße. Wir kamen immer noch rennend dort an, so daß der Pfleger in seiner Atemnot jetzt Haken schlug, und sahen Ginnie auf dem harten Asphalt auf der Seite liegen, wäh rend ein anderer Pfleger neben ihr kniete, dunkle Gestalten im schwachen Mondlicht, verschwommene Schattenrisse. Oliver und ich knieten ebenfalls hin, und Oliver sagte zu den Pflegern: »Was ist passiert, was ist denn passiert? Ist sie gefallen?« »Wir haben sie bloß gefunden«, sagte der kniende Pfle ger. »Wir waren auf dem Rückweg von der Kneipe. Sie kommt aber zu sich, Sir, sie hat geredet.« Ginnie bewegte sich tatsächlich etwas und sagte: »Dad.« »Ja, Ginnie, ich bin hier.« Er ergriff ihre Hand und tät schelte sie. »Wir kriegen dich bald wieder hin.« Erleichte rung lag in seiner Stimme, aber kurzlebig. »Dad«, sagte Ginnie murmelnd. »Dad.« »Ja, ich bin hier.« 258
»Dad…«
»Sie hört Sie nicht«, sagte ich besorgt.
Er drehte den Kopf zu mir, die Augen verschwammen im
Dunkel seines Gesichtes. »Rufen Sie einen Krankenwagen. In Nigels Haus ist ein Telefon. Sagen Sie ihm, daß er schnell einen Krankenwagen herholt. Ich denke, wir bewe gen sie lieber nicht … Rufen Sie einen Krankenwagen.« Ich stand auf, um loszulaufen, doch der atemlose Bur sche sagte: »Nigel ist weg. Hab’s da schon versucht. Da ist keiner. Ist alles zu.« »Ich lauf’ zurück zum Haus.« Ich rannte auf dem Rückweg genauso schnell und hatte Mühe, meine Atemstöße unter Kontrolle zu bringen, um mich verständlich zu machen. »Sie sollen die untere Stra ße aus dem Dorf nehmen … die kleinere rechte Ab zweigung … wo die Straße sich teilt. Fast eine Meile von da aus … breites Farmtor aus Metall auf der linken Seite.« »Verstanden«, sagte unpersönlich ein Mann. »Sie sind gleich unterwegs.« Ich holte die Steppdecke von meinem Bett und lief zu rück über das Gestüt und fand alles ziemlich so vor, wie ich es verlassen hatte. »Sie kommen«, sagte ich. »Wie geht es ihr?« Oliver schlug die Decke um seine Tochter, so gut er konnte. »Sie sagt immer wieder was. Nur Laute, keine Worte.« »Da–«, sagte Ginnie. Ihre Augenlider zitterten und öffneten sich ein wenig. »Ginnie«, sagte Oliver eindringlich. »Hier ist Dad.« Ihre Lippen bewegten sich zu einem leisen ungeformten Murmeln. Der Blick ihrer Augen war leer, ihr Glitzern spiegelte nur Mondlicht, kein Erwachen. 259
»O Gott«, sagte Oliver. »Was ist mit ihr passiert? Was kann passiert sein?« Die beiden Pfleger standen da, stumm und verlegen, kannten die Antwort nicht. »Geht das Tor aufmachen«, sagte ihnen Oliver. »Stellt euch auf die Straße. Winkt dem Krankenwagen, wenn er kommt.« Sie gingen fast erleichtert; und der Krankenwagen kam mit blitzenden Lichtern und zwei energischen Männern in Uniform, die Ginnie, ohne sie viel zu bewegen, auf eine Tragbahre hoben. Oliver bat sie zu warten, während er den Landrover aus Nigels Garage holte, und wenig später brach der Krankenwagen auf zur Klinik, gefolgt von Oli ver und mir. »Ein Glück, daß Sie den Schlüssel hatten«, sagte ich und deutete auf die Zündung. Einfach etwas sagen: irgend et was. »Wir legen ihn immer in die Dose auf dem Bord.« Auf der Dose stand »Johannisbeer-Hustendrops. Nach Bedarf zu nehmen.« Oliver fuhr mechanisch hinter den Rücklichtern vor uns her. »Warum fahren sie nicht schneller?« sagte er, obwohl ihr Tempo ziemlich normal war. »Wollen vielleicht nicht, daß sie geschüttelt wird.« »Glauben Sie, es ist ein Hirnschlag?« sagte er. »Sie ist zu jung.« »Nein. Ich hatte einen Cousin … ein Aneurysma platzte, als er sechzehn war.« Ich blickte in sein Gesicht: faltig, grimmig, konzentriert auf die Straße. Die Fahrt erschien endlos, aber endete vor einer riesigen, strahlendhellen Klinik in einer weitgedehnten Stadt. Die 260
Männer in Uniform öffneten die Hecktür des Krankenwa gens, während Oliver den Landrover einparkte, und wir folgten ihnen in die hellerleuchtete Aufnahme der Unfall station, sahen, wie sie Ginnie in eine mit Vorhängen abge teilte Kabine schoben, beobachteten, wie sie mit ihrer Bahre wieder herauskamen, und dankten ihnen, als sie gingen. Eine Schwester bat uns, auf ein paar Stühlen in der Nähe Platz zu nehmen, während sie einen Arzt holte. Die Stati on war leer, ruhig, alles in Bereitschaft, jedoch kein Be trieb. Zehn Uhr am Sonntagabend. Ein Arzt kam in einem weißen Kittel, mit baumelndem Stethoskop. Ein Inder, jung, schwarzhaarig, der sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen rieb. Er ging mit der Schwester hinter die Vorhänge, und etwa eine Minute hin durch rang Oliver die Hände, außerstande, seine Angst zu beherrschen. Die Stimme des Arztes drang deutlich zu uns, woran der indische Akzent nichts änderte. »Sie hätten sie nicht herbringen sollen«, sagte er. »Sie ist tot.« Oliver war auf den Beinen, federte über den strahlenden Fußboden, zog mit einem heftigen Schwung die Vorhänge zurück. »Sie ist nicht tot. Sie hat geredet. Sich bewegt. Sie ist nicht tot.« Entsetzt folgte ich ihm. Sie konnte doch nicht tot sein, nicht einfach so, nicht so schnell, nicht ohne daß die Kli nik um ihre Rettung lange kämpfte. Es konnte nicht sein. Der Arzt richtete sich über ihr auf, zog seine Hand unter Ginnies Kopf zurück, blickte uns über die kurze Distanz an. 261
»Sie ist meine Tochter«, sagte Oliver. »Sie ist nicht tot.« Eine Art erschöpftes Mitgefühl ließ die Schultern des Arztes sinken. »Es tut mir leid«, sagte er. »Sehr leid. Sie ist gestorben.« »Nein!« Gequält brach das Wort aus Oliver hervor. »Sie irren sich. Holen Sie jemand anders.« Die Schwester machte eine schockierte Geste, doch der junge Arzt sagte sanft: »Es ist kein Puls da. Kein Herz schlag. Kein Zusammenziehen der Pupillen. Sie ist seit vielleicht zehn Minuten tot, vielleicht zwanzig. Ich könnte jemand anders holen, aber da ist nichts zu machen.« »Aber wieso denn?« sagte Oliver. »Sie hat gesprochen.« Der dunkelhäutige Arzt schaute herunter auf Ginnie, die auf dem Rücken lag, die Augen geschlossen, der Kopf von braunem Haar umflossen, das Gesicht sehr blaß. Ihre Strickjacken waren wegen des Stethoskops beide aufge knöpft worden, so daß sich der weiße BH zeigte, und die Schwester hatte auch den Rockbund geöffnet und gelöst. Ginnie sah sehr jung, sehr schutzlos aus, wie sie dort so still und unbeweglich lag, und ich stand wie betäubt, fas sungslos, unfähig wie Oliver, eine solche monströse Ver wandlung hinzunehmen. »Ihr Schädel ist gebrochen«, sagte der Arzt. »Wenn sie sprach, ist sie auf dem Weg hierher gestorben, in der Am bulanz. Bei Kopfverletzungen kann das so gehen. Es tut mir leid.« Das Heulen einer Sirene kam von draußen, und plötzlich eilten Leute lärmend zu den Türen, durch die wir gekom men waren, tönten Anweisungen laut durcheinander. »Verkehrsunfall«, rief jemand, und der Blick des Arztes glitt über uns hinweg der neuen Not entgegen, auf die Zu kunft, nicht die Vergangenheit gerichtet. 262
»Ich muß gehen«, sagte er, und die Schwester reichte mir nickend eine flache weiße Plastikflasche, die sie in der Hand gehalten hatte. »Das können Sie eigentlich mitnehmen«, sagte sie. »Es steckte in ihrem Rockbund, vor dem Bauch.« Sie traf An stalten, Ginnie mit einem Laken zuzudecken, doch Oliver hielt sie davon ab. »Ich tue das«, sagte er. »Ich möchte bei ihr sein.« Der junge Arzt nickte, und er und ich und die Schwester traten aus der Kabine und schlossen die Vorhänge hinter uns. Der Arzt blickte in einer kurzen Ruhepause zu den drei oder vier Bahren hin, die am Eingang erschienen, und holte Luft, als ob er damit Energie aus tiefen inneren Re serven schöpfte. »Ich bin seit dreißig Stunden im Dienst«, sagte er zu mir. »Und jetzt sind die Kneipen dicht. Sonntags zehn Uhr. Be trunkene Fahrer, betrunkene Fußgänger. Immer dasselbe.« Er ging fort zu seinen lebenden und blutenden Patienten, und die Schwester heftete ein Schild »Kein Zutritt« an die Vorhänge von Ginnies Kabine; man werde sich, sagte sie, später um sie kümmern. Ich setzte mich trübsinnig auf einen Stuhl, während ich auf Oliver wartete. Die weiße Plastikflasche war an einer Seite mit einem Etikett beklebt, auf dem »Shampoo« stand. Ich steckte sie in meine Jackentasche und fragte mich, ob es an Überarbeitung lag, daß der Arzt nicht ge fragt hatte, wie es zu Ginnies Schädelbruch gekommen war, ob sie auf einen Felsen oder Bordstein gestürzt … oder geschlagen worden war. Der Rest der Nacht und der ganze nächste Tag waren auf ihre eigene Art schlimmer, eine wahrhaft furchtbare Abfolge von Fragen, Antworten, Formularen und Büro 263
kratie, während die Polizei langsam an die Stelle der Klinik trat und Oliver gegen einen Nebel von Trauer ankämpfte. Mir kam es brutal vor, daß ihn niemand in Ruhe lassen wollte. Für sie war er nur einer mehr in einer langen Reihe von Hinterbliebenen, und obschon sie ihn mit mechani schem Mitgefühl behandelten, wollten sie die Unterschrif ten, Auskünfte und Vermutungen doch für ihren Papier kram und nicht ihm zuliebe haben. Eine Unzahl von Polizisten überfiel am frühen Morgen das Gestüt, und nach und nach kam heraus, daß dieser Landstrich von einem Jäger junger Mädchen heimgesucht wurde, der aus Gebüschen sprang, sie bewußtlos schlug und sich an ihnen sexuell verging. »Nicht Ginnie …«, wehrte Oliver in steigendem Entset zen ab. Der Ranghöchste der Polizisten schüttelte den Kopf. »Es hat nicht den Anschein. Sie trug noch ihre Kleidung. Wir können allerdings nicht ausschließen, daß es derselbe Mann war und daß er von Ihren Stalleuten gestört wurde. Wenn junge Mädchen nachts bewußtlos geschlagen wer den, ist es meistens ein Sexualtäter.« »Sie war doch auf meinem Land«, sagte er ungläubig. Der Polizeibeamte zuckte die Achseln. »Man kennt so was in Vorstadtgärten.« Er war ein blonder Mann von einer Wesensart, die nicht eigentlich rücksichtslos war, sondern langjährige Gewöh nung an scheußliche Erlebnisse verriet. Kriminalober inspektor Wyfold, hatte er sich vorgestellt. Um die fünf undvierzig, vermutete ich, merkte ihm die innere Härte auf Anhieb an und schätzte ihn den ganzen Tag über mehr verbissen als intuitiv ein, auf der Suche nach Erfolg durch straffes Verfahren statt Eingebung. 264
Für ihn stand fest, daß der Überfall auf Ginnie sexuell motiviert war, und irgend etwas sonst zog er kaum in Er wägung, zumal sie kein Geld bei sich gehabt und ausdrück lich gesagt hatte, sie werde das Gestüt nicht verlassen. »Sie könnte mit jemand über das Tor hinweg geredet ha ben«, sagte er, nachdem er selbst einige Zeit an der unte ren Auffahrt verbracht hatte. »Jemand, der die Straße ent langkam. Und dazu kommen Ihre ganzen Stallangestellten, von denen wir detaillierte Aussagen brauchen, wenn es nach ihren vorläufigen Antworten auch scheint, daß sie nicht im Quartier, sondern unten im Dorf, in den Kneipen waren.« Er kam und ging und kam den ganzen Tag hindurch in Abständen mit noch mehr Fragen wieder, und ich verlor völlig das Gefühl für die Stunden. Ich versuchte in und außer seiner Gegenwart und mit und ohne Oliver nicht all zuviel an Ginnie selbst zu denken. Ich dachte, ich müßte wahrscheinlich weinen, wenn ich es tat, was niemandem genützt hätte. Ich verbannte sie in einen versteckten Win kel und wußte, daß ich sie später, allein, herauslassen würde. Irgendwann am Vormittag kam ein Pfleger zum Haus und fragte, was sie wegen einer der Stuten unternehmen sollten, die Schwierigkeiten beim Fohlen hatte, und auch Lenny erschien, um sich zu erkundigen, ob er Rotaboy in den Deckstand bringen solle. Beide standen verlegen da, wußten nicht, wohin mit ihren Händen, sagten, sie seien so erschüttert, das mit Ginnie täte ihnen so leid. »Wo ist Nigel?« fragte Oliver. Sie hätten ihn nicht gesehen, sagten sie. Er sei am Mor gen nicht auf den Höfen gewesen. »Habt ihr ihn nicht aus dem Haus geholt?« Oliver war eher gereizt als bestürzt: noch eine Last mehr für ihn. 265
»Da ist er nicht. Die Türen sind abgeschlossen, und er hat sich nicht gemeldet.« Oliver runzelte die Stirn, griff zum Telefon und drückte die Tasten, lauschte. Keine Antwort. Er sagte zu mir: »Da drüben am Bord hängt ein Schlüs sel zu seinem Bungalow, dritter Haken von links. Würden Sie mal nachsehen … könnten Sie?« »Natürlich.« Ich ging zusammen mit Lenny, der mir wiederholt er klärte, wie fix und fertig die Pfleger wegen des Geschehe nen seien, besonders Dave und Sammy, die sie gefunden hatten. Sie hätten sie alle gern gehabt, sagte er. Alle Pfle ger, die im Quartier wohnten, meinten jetzt, wenn sie frü her zurückgekommen wären, hätte man sie vielleicht nicht überfallen. »Dann wohnen Sie nicht im Quartier?« sagte ich. »Nein. Im Dorf unten. Hab’ ein Haus. Nur die Saisonar beiter sind im Quartier. Es ist den ganzen Winter ja dicht.« Schließlich erreichten wir Nigels Bungalow, wo ich oh ne Erfolg klingelte und auf den Türklopfer hämmerte. Ein wenig kopfschüttelnd steckte ich den Schlüssel ins Schloß, öffnete die Tür, ging hinein. Gardinen waren vor die Fenster gezogen und sperrten das Tageslicht aus. Ich schaltete ein paar Lampen an und ging in das Wohnzimmer, wo Zeitungen, Kleider und schmutzige Tassen und Teller willkürlich verstreut waren und die Luft entfernt nach Pferd roch. Von Nigel keine Spur. Ich schaute in die genauso unor dentliche Küche und machte eine Tür auf, die sich als Ba dezimmer erwies, und eine weitere, die den Blick auf ei nen Raum mit zwei unbezogenen Einzelbetten freigab. Die letzte Tür in dem kleinen Innenflur führte in Nigels 266
Schlafzimmer … und dort lag er, mit dem Gesicht nach unten, vollständig bekleidet auf der Steppdecke. Lenny, noch hinter mir, machte zwei Schritte zurück. Ich ging zum Bett hinüber und fühlte Nigels Genick hin ter dem Ohr. Fühlte den Puls stark wie einen Dampf hammer. Hörte das Schnarren von Luft in der Kehle. Sein Atem würde ein Krokodil narkotisiert haben, und neben ihm am Boden lag eine leere Ginflasche. Ich rüttelte ihn mitleidlos und ohne jedes Resultat an der Schulter. »Er ist betrunken«, sagte ich zu Lenny. »Bloß betrun ken.« Lenny sah trotzdem aus, als müsse er sich übergeben. »Ich dachte … ich dachte.« »Ich weiß«, sagte ich, und instinktiv hatte ich es auch befürchtet, das eine wegen des anderen. »Was machen wir also im Hof?« fragte Lenny. »Ich frag’ mal.« Wir gingen zurück ins Wohnzimmer, wo ich Nigels Te lefon benutzte, um Oliver anzurufen und ihm zu berichten. »Er ist stockbesoffen«, sagte ich. »Ich kriege ihn nicht wach. Lenny möchte Anweisungen.« Nach einem kurzen Schweigen sagte Oliver dumpf: »Er soll Rotaboy in einer halben Stunde zum Deckstand brin gen. Um die Höfe kümmere ich mich. Und, Tim?« »Ja?« »Kann ich Sie bitten … würden Sie … mir hier im Büro behilflich sein?« »Komme gleich zurück.« Der zerrissene, schreckliche Tag schleppte sich weiter. Ich rief Gordon in der Bank an und erklärte meine Abwe senheit, dann auf Gordons Vorschlag hin auch Judith, um 267
den Herzenskummer weiterzugeben, und ich nahm zahllo se hereinkommende Anrufe entgegen, während die Neuig keit sich verbreitete. Draußen auf dem Gestüt wurden na hezu zweihundert Pferde gefüttert und getränkt, und Ge burt und Fortpflanzung gingen unerbittlich weiter. Oliver kam stolpernd vor Müdigkeit gegen zwei Uhr zu rück, und wir aßen, ohne sie zu schmecken, ein paar Eier in der Küche. Er sah mehrmals auf seine Uhr und sagte schließlich: »Was sind acht Stunden von jetzt zurückge rechnet? Ich kann nicht einmal denken.« »Sechs Uhr früh«, sagte ich. »Ach.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich nehme an, ich hätte Ginnies Mutter gestern abend benach richtigen sollen.« Sein Gesicht verzerrte sich. »Meine Frau … in Kanada…« Er schluckte. »Macht nichts, soll sie schlafen. In zwei Stunden verständige ich sie.« Ich ließ ihn mit dieser elenden Aufgabe allein und ver zog mich nach oben zum Waschen, Rasieren und um eine Weile auf dem Bett zu liegen. Als ich zu diesen Zwecken meine Jacke auszog, stieß ich auf die Plastikflasche in meiner Tasche, und ich nahm sie heraus und stellte sie auf das Bord im Badezimmer, während ich mich rasierte. Schon merkwürdig, dachte ich, daß Ginnie sie in ihren Rockbund gesteckt hatte. Eine Plastikflasche mit Sham poo; rund fünfzehn Zentimeter hoch, sechs breit, drei tief, mit einem Schraubverschluß an einem der schmalen En den. Das weiße Etikett »Shampoo« war handgeschrieben und über das dunkelbraune, weißbedruckte Originaletikett der Flasche geklebt, von dem um die Kanten noch ziem lich viel zu sehen war. »Gebrauchsanweisung«, hieß es auf einem Teil des un teren Etiketts. »Gut schütteln. Das Shampoo nicht in die Augen des Hundes bringen. Gut in das Fell massieren und 268
vor dem Ausspülen zehn bis fünfzehn Minuten einwirken lassen.« Am Rand unter dem aufgeklebten Etikett standen in viel kleinerer Schrift die Worte: »Hergestellt von Eagle Inc., Michigan, USA, Reg. Nr. 29931.« Als ich mit Rasieren fertig war, drehte ich den Verschluß ab und kippte die Flasche leicht über dem Becken. Eine dicke grünliche Flüssigkeit erschien, mit einem starken Geruch nach Seife. Shampoo: was sonst. Die Flasche war praktisch voll. Ich schraubte die Kappe wieder auf und stellte sie auf das Bord und dachte eine Weile darüber nach, während ich mit hinter dem Kopf ver schränkten Händen auf dem Bett lag. Shampoo für Hunde. Nach einiger Zeit stand ich auf und ging in die Küche hinunter und fand in einem hohen Geschirrschrank eine kleine Kollektion leerer gespülter Gläser mit Schraubdek keln, wie meine Mutter sie immer für Gewürze und Pick nicks aufgehoben hatte. Ich nahm eins, in das vielleicht eine Tasse voll Flüssigkeit paßte, und ging wieder nach oben, und über dem Waschbecken schüttelte ich die Fla sche gut durch, drehte die Kappe ab und goß vorsichtig über die Hälfte des Shampoos in das Glas. Ich schraubte die Verschlüsse auf die Flasche und das Glas, schrieb, was von dem Originaletikett zu sehen war, in einen kleinen Terminkalender ab, den ich überallhin mitnahm, und verstaute das jetzt halbvolle runde Glas gefäß aus Olivers Küche in meinem Kulturbeutel. Als ich wieder nach unten ging, nahm ich die Plastikflasche mit. »Die hatte Ginnie?« sagte Oliver dumpf, ergriff sie und warf einen Blick darauf. »Wozu denn bloß?« 269
»Die Schwester im Krankenhaus sagte, sie hätte in ihrem Rockbund gesteckt.« Ein Lächeln flackerte auf. »Das hat sie immer gemacht, als sie klein war. Turnschuhe, Bücher, Bindfaden, alles. Um die Hände frei zu haben, sagte sie. Das rutschte ihr immer alles in die Unterhose, und manchmal regnete es lauter Sachen, wenn wir sie auszogen.« Sein Gesicht wur de hoffnungslos trüb bei dieser Erinnerung. »Es ist mir un faßlich, wissen Sie«, sagte er. »Ich denke andauernd, sie käme zur Tür rein.« Er zögerte. »Meine Frau will ein Flugzeug nehmen. Sie sagt, sie ist morgen früh hier.« Sei ne Stimme gab keinen Hinweis darauf, ob die Nachricht gut oder schlecht war. »Sie bleiben heute nacht, ja?« »Wenn Sie möchten.« »Ja.« Oberinspektor Wyfold erschien gerade wieder, und wir gaben ihm die Shampooflasche, wobei Oliver Ginnies Gewohnheit erklärte, Sachen in ihrer Kleidung herumzu tragen. »Warum haben Sie mir die nicht früher gegeben?« fragte er mich. »Ich vergaß, daß ich sie hatte. Es schien so banal im Vergleich zu Ginnies Tod.« Der Oberinspektor ergriff die Flasche an ihrem gezack ten Verschluß und las, was von dem Etikett zu sehen war, und zu Oliver sagte er: »Haben Sie einen Hund?« »Ja.« »Nehmen Sie normalerweise das, um ihn zu waschen?« »Ich weiß wirklich nicht. Ich wasche ihn nicht selbst. Einer von den Pflegern macht es.« »Mit ›Pflegern‹ meinen Sie die Stallangestellten?« »Richtig.« 270
»Welcher Pfleger wäscht Ihren Hund?« fragte Wyfold. »Hm … jeder. Wen ich eben bitte.« Der Oberinspektor holte eine zusammengefaltete, dünne weiße Papiertüte aus seiner Tasche hervor und steckte die Flasche hinein. »Wer hat Ihres Wissens außer Ihnen damit hantiert?« fragte er. »Wahrscheinlich«, sagte ich, »die Schwester in der Kli nik … und Ginnie.« »Und von gestern abend bis jetzt lag sie in Ihrer Ta sche?« Er zuckte die Achseln. »Für Fingerabdrücke aus sichtslos, denke ich, aber wir werden es versuchen.« Er verschloß die Tüte und schrieb auf einen Teil davon etwas mit Kuli. Zu Oliver sagte er fast nebenbei: »Ich bin ge kommen, um Sie nach den Beziehungen Ihrer Tochter zu Männern zu fragen.« Oliver sagte müde: »Sie hatte keine. Sie ist gerade erst von der Schule gekommen.« Wyfold machte kleine ablehnende Bewegungen mit Kopf und Händen, als erstaune ihn die Naivität von Vä tern. »Keine Sexualbeziehung Ihres Wissens?« Oliver war zu erschöpft, um sich zu ärgern. »Nein«, sag te er. »Und Sie, Sir?« wandte er sich an mich. »Welcher Art waren Ihre Beziehungen zu Virginia Knowles?« »Freundschaft.« »Einschließlich sexuellem Verkehr?« »Nein.« Wyfold blickte zu Oliver, der matt sagte: »Tim ist ein Geschäftsfreund von mir. Ein Finanzberater, der das Wo chenende hier verbringt, das ist alles.« Der Polizeibeamte warf mir einen finster-enttäuschten Blick zu, als ob er es nicht glaubte. Ich gab ihm keine nä 271
her erläuternde Antwort, weil ich mich einfach nicht damit abgeben mochte, und was hätte ich sagen können? Daß ich mit viel Zuneigung ein Kind zu einer attraktiven jungen Frau hatte heranwachsen sehen und trotzdem nicht mir ihr schlafen wollen? Seine Gedanken kreisten um Geschlecht liches, nichts anderes zählte. Er nahm schließlich, als er wegging, das Shampoo mit, und Oliver sagte bewundernswert gefaßt, er werde besser hinaus auf den Hof gehen, um noch die Stallkontrolle zu beenden. »Diese Stuten«, meinte er, »diese Fohlen … die brauchen immer noch die beste Pflege.« »Ich wünschte, ich könnte helfen«, sagte ich und kam mir nutzlos vor. »Sie tun es.« Ich ging mit ihm auf die Runde, und als wir den Abfohl hof erreichten, war Nigel dort wiederauferstanden. Seine stämmige Gestalt lehnte am Türpfosten einer offe nen Box, als würde er ohne ihre Stütze zusammenklappen, und das Gesicht, das er uns langsam zuwandte, war um zehn Jahre gealtert. Die buschigen Augenbrauen standen starr über grau verschatteten Augen hervor, gedunsene Haut blähte seine Lider und fiel in tiefen Höhlen auf den Wangen ein. Er war außerdem unrasiert, ungekämmt und halb krank. »Tut mir leid«, sagte er. »Hab’ das von Ginnie gehört. Tut mir sehr leid.« Mir war nicht klar, ob er Oliver sein Mitgefühl ausdrückte oder sich für den Rausch entschul digte. »Ein Großmaul von der Polizei kam an. Ob ich sie umgebracht hätte. Als ob ich das könnte.« Er legte eine zittrige Hand auf seinen Kopf, wie um ihn auf den Schul tern zu halten. »Ich fühle mich miserabel. Selber schuld. Verdiene es ja. Diese Stute fohlt wahrscheinlich heute nacht. Der Dreckspolizist wollte wissen, ob ich mit Ginnie 272
geschlafen hab’. Dachte, ich sollte es Ihnen sagen … da war nichts.« Wyfold, überlegte ich, würde jedem Burschen einzeln die gleiche Frage stellen. Brauchte vielleicht nur Zeit, bis er Oliver selbst fragte; obwohl Oliver und ich, das mußte er einräumen, uns gegenseitig ein felsenfestes Alibi lieferten. Wir gingen weiter zu den Hengsten, und ich fragte Oli ver, ob Nigel sich oft betrank, da Oliver keine große Über raschung gezeigt hatte. »Sehr selten«, sagte Oliver. »Er hat sich ein- oder zwei mal diesen Zustand erlaubt, aber wir haben noch kein Foh len deshalb verloren. Es paßt mir nicht, aber er versteht sich so gut auf die Stuten.« Er zuckte die Achseln. »Ich sehe drüber weg.« Er verteilte Möhren an alle vier Hengste, sah aber Sand castle dabei kaum an, als könnte er den Anblick nicht mehr ertragen. »Morgen versuch ich’s bei dem Institut«, sagte er. »Hab’ ich heute vergessen.« Von den Hengsten ging er ungewohnterweise in Rich tung des unteren Tors, vorbei an Nigels Bungalow und dem Wohnheim, um eine Zeitlang an der Stelle zu stehen, wo Ginnie am Abend vorher in der Dunkelheit gelegen hatte. Die Asphaltauffahrt wies keine Spuren auf. Oliver blick te dahin, wo das geschlossene Tor zwanzig Meter weiter auf die Straße ging, und sagte mit einer hohlen Stimme: »Meinen Sie, sie könnte mit jemandem da draußen geredet haben?« »Sie könnte wohl.« »Ja.« Er wandte sich zum Gehen. »Es ist alles so sinnlos. Und unwirklich. Nichts erscheint wirklich.« 273
Erschöpfung an Geist und Körper übermannte ihn schließlich nach dem Abendbrot, und er ging aschfahl zu Bett, doch ich wollte in der ersten Stille nach diesem lan gen Tag noch einmal hinaus: die Sterne ansehen, wie Gin nie gesagt hatte. Nur an sie dachte ich, während ich langsam über die Pfade zwischen den Koppeln wanderte; meinen Weg be leuchtete ein Halbmond mit kleinen ziehenden Wolken. Schließlich hielt ich an der Stelle, wo ich sie am Morgen vorher in ihrem rasenden Kummer festgehalten hatte. Die Geburt des mißgestalteten Fohlens schien so lange her, dennoch war es erst gestern: am Morgen des letzten Tages von Ginnies Leben. Ich dachte über diesen Tag nach, über die Verzweiflung an seinem Beginn und deren Auflösung am Nachmittag. Ich dachte an ihre Tränen und ihren Mut, an die Ver schwendung von so viel Güte. Das überwältigende, betäu bende Gefühl des Verlustes, das den ganzen Tag ge schlummert hatte, flutete in mein Gehirn, bis sich mein Körper fühlte, als wolle er platzen, als könne er soviel Schmerz nicht bewältigen. Als Ian Pargetter ermordet wurde, war ich um seinetwil len zornig gewesen und hatte angenommen, daß die Wut auf den Mörder um so größer wäre, je mehr man den Toten geliebt hat. Doch jetzt begriff ich, daß Zorn von etwas viel Überwältigenderem verdrängt werden konnte. Was Oliver anging, so hatte er den ganzen Tag über Schock, Benommenheit, Traurigkeit und Unglauben in unbegrenz tem Ausmaß gezeigt, doch von Zorn kaum einen Funken. Es war zu früh, um sich darum zu kümmern, wer sie umgebracht hatte. Die Tatsache ihres Todes allein war zu viel. Zorn war belanglos, und keine Rache konnte ihr das Leben zurückgeben. 274
Ich hatte sie mehr geliebt, als ich geahnt hatte, doch nicht so, wie ich Judith liebte, nicht mit Verlangen und Schmerz und Sehnsucht. Ich hatte Ginnie geliebt wie ein Freund; wie ein Bruder. Ich hatte sie geliebt, dachte ich, seit dem Tag, als ich sie zurück zur Schule gebracht und ihren Ängsten zugehört hatte. Ich hatte sie oben auf dem Hügel geliebt, bei dem Versuch, Sandcastle einzufangen, und ich hatte sie geliebt wegen ihrer Sachkenntnis und ih rer zunehmend erwachsenen Überzeugung, daß hier, auf diesen Wiesen, ihre Zukunft lag. Einmal hatte ich mir ihr junges Leben als einen freien Streifen Sand gedacht, der auf Fußabdrücke wartete. Jetzt würde es keine geben, nur ein blankes, jähes Aus für alles, was sie hätte sein und tun können, für die ganze strahlende Liebe, die sie verschenkt hatte. »Ach … Ginnie«, sagte ich laut, rief ich sie hoffnungslos in quälendem, den Körper erschütternden Kummer. »Gin nie … kleine Ginnie … komm zurück.« Aber es gab sie hier nicht mehr. Meine Stimme flog hin aus in die Dunkelheit, und es kam keine Antwort.
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Das dritte Jahr Mai
D
ie nächsten zwei Wochen hindurch bearbeitete ich mit Unterbrechungen Olivers finanzielles Chaos an meinem Schreibtisch in der Bank und sprach mich bei ei ner Vorstandssondersitzung dafür aus, ihm Zeit zu geben, bevor wir die Zwangsvollstreckung betrieben und ihn alles verkaufen ließen, was er hatte. Ich bat um drei Monate, was als skandalös und völlig ausgeschlossen betrachtet wurde, aber kriegte zwei für ihn, worüber Gordon leise lachte, als wir zusammen im Fahrstuhl nach unten fuhren. »Ich nehme an, zwei Monate hast du gewollt?« sagte er. »Äh … ja.« »Ich kenne dich doch«, sagte er. »Vor der Sitzung spra chen sie von maximal einundzwanzig Tagen, und einige wollten die Liquidatoren sofort einsetzen.« Ich rief Oliver an und sagte es ihm. »Zwei Monate lang brauchen Sie keinerlei Zinsen oder Rückzahlungen aufzu bringen, aber das ist nur vorübergehend, und es ist eine besondere, recht unübliche Konzession. Ich fürchte aller dings, wenn wir keine Lösung für Sandcastles Problem finden oder einen unumstößlichen Zahlungsgrund für die Versicherungsgesellschaft präsentieren können, ist die Prognose nicht gut.« 276
»Ich verstehe«, sagte er. Seine Stimme klang gefaßt. »Ich habe nicht viel Hoffnung, aber trotzdem danke für den Aufschub – wenigstens werde ich in der Lage sein, die Programme für die anderen Hengste zu Ende zu führen und alle Fohlen hierzubehalten, bis sie alt genug sind, um gefahrlos zu reisen.« »Haben Sie etwas wegen Sandcastle gehört?« »Er ist seit einer Woche im Forschungsinstitut, aber bis her können sie nichts an ihm feststellen. Sie haben mir nicht viel Hoffnung gemacht, das sag’ ich Ihnen besser, anhand seines Spermas irgendwie etwas nachweisen zu können, obwohl sie, wie es heißt, noch Proben an ein an deres Laboratorium schicken.« »Sie werden ihr Bestes tun.« »Ja, ich weiß. Aber … ich laufe hier herum, als ob das Ganze mir nicht mehr gehört. Als ob es nicht mein Land ist. Ich weiß innerlich, daß ich es verliere. Nehmen Sie es nicht zu schwer, Tim. Wenn es dazu kommt, werde ich be reit sein.« Ich legte den Hörer auf und wußte nicht, war solche Resignation gut, weil er sich mit dem Kommenden ab finden würde, ohne zu zerbrechen, oder schlecht, weil er vielleicht zu früh aufgab. Eine Unzahl anderer Probleme stand noch bevor, vor allem die Züchter, die ihre Deck taxen zurückverlangten, und er brauchte die Kraft zu sa gen, daß er sie in den meisten Fällen nicht zurückzahlen konnte. Das Geld war bereits auf uns übertragen, und die ganze Situation mußte von Anwälten abgeklärt wer den. Die Nachricht von Sandcastles Schande war bis jetzt nur ein zweifelhaftes Gemunkel hier und dort, doch als die Sa che mit Geschrei aufflog, geschah das vermutlich vorher sehbar in Was läuft, wo es nicht sollte. 277
Die sechs Exemplare der Bank waren am Tag, als Alec sie holte, schon vor dem Lunch zu Fetzen gelesen, und die Blicke, die von der Seite aufsahen, schwankten zwischen Zorn und einem schrägen Lächeln. Die drei kurzen Absät ze mit der Überschrift »Haus auf Sand« lauteten: Baut euer Haus nicht auf Sand. Setzt euer Bankhaus nicht auf eine Sandburg. Die fünf Millionen Pfund, die eine gewisse renommierte Handelsbank für den Erwerb des Hengstes Sandcastle vorschoß, scheinen jetzt von der Flut weggeschwemmt worden zu sein. Bedauerlicherweise hat die Kapitalanlage fehlerhafte Aktien gezeugt, oder im Klartext, mehrere mißgestaltete Fohlen. Jetzt häufen sich Spekulationen darüber, was die Bank tun kann, um ihre Verluste auf ein Minimum zu beschrän ken, da Sandcastle selbst als eine halbe Tonne kostspieli ges Hundefutter betrachtet werden muß. »Sie haben’s geschafft«, sagte Gordon, und ich nickte: Und die Tageszeitungen, die immer Was läuft … als eine Hauptnachrichtenquelle lasen, präsentierten auf den Renn seiten am nächsten Tag vorsichtigere Artikel mit der Fra ge: »Mißbildungen an Sandcastles Jungen?« und schrieben Dinge wie »es geht das Gerücht« und »wir sind zuverläs sig unterrichtet«. Da unser hauseigener Singvogel den Namen der Bank diesmal nicht erwähnt hatte, erwähnte ihn auch keine von den Tageszeitungen, und für sie war natürlich die Bank selbst unwichtig im Vergleich zu der eigentlichen Bedeu tung der Story. Von Oliver wurde in den nächsten Wochentagsausgaben berichtet, er sei gefragt worden, exakt wie viele von Sand 278
castles Fohlen mißgestaltet seien, und er habe geantwortet, er wisse es nicht. Von einigen habe er allerdings gehört, ja. Mehr habe er dazu nicht zu sagen. Noch einen Tag später begannen die Blätter, telefonisch eingegangene Berichte der Gestüte abzudrucken, wo Sandcastles verstreuter Nachwuchs geboren worden war, und die Zahl der Katastrophen stieg. Von Oliver wurde diesmal gemeldet, er habe gesagt, das Pferd befinde sich im Pferdeforschungsinstitut in Newmarket, und alles Er denkliche werde getan. »Eine schlimme Geschichte«, meinte Henry düster beim Lunch, und sogar dem abweichenden Direktor waren die Beleidigungen ausgegangen, außer daß er viermal sagte, wir seien das Gespött der ganzen Stadt, und alles sei mei ne Schuld. »Hat man herausbekommen, wer Knowles’ Tochter um gebracht hat?« fragte Val Fisher. »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Er sagt, die Polizei kommt nicht mehr zu ihm.« Val sah bedauernd drein. »So ein Schlag für ihn, noch zu dem anderen.« Mitfühlendes Gemurmel ging um, und ich fand, ich soll te es nicht dadurch verderben, daß ich ihnen erzählte, was die Polizei von Olivers Stallburschen dachte. »Dieser Wyfold«, hatte Oliver bei einem unserer fast täglichen Gespräche am Telefon gesagt, »der behauptet mehr oder weniger, ich hätte das Schicksal ja herausge fordert, wenn ich mit all den Pflegern hier ein junges Mädchen wohnen ließ. Darüber hinaus scheint es, daß viele von ihnen an dem Abend halb betrunken waren, und da es drei Kneipen im Dorf gibt, waren sie nicht einmal alle zusammen und haben keine Ahnung, wer wo zu welcher Zeit war. Also ist eine von Wyfolds Theorien, daß einer 279
von ihnen sie angefallen hat und Dave und Sammy ihn da bei unterbrachen. Oder aber es war Nigel. Oder aber es war irgendein Fremder, der die Straße entlangkam. Wy folds Benehmen ist ausgesprochen eklig, aber mich schert das nicht mehr. Er kritisiert meine Laxheit, sagt, ich sollte nicht zulassen, daß sich meine Pfleger betrinken – als ob sie jemand daran hindern könnte. Es sind freie Männer. Es ist ihre Sache, nicht meine, was sie mit ihrem Geld und ih rer Zeit am Sonntagabend machen. Ich kann nur einschrei ten, wenn sie am Montagmorgen nicht erscheinen. Und dann noch Nigel selbst!« Einen Moment lang fehlten ihm die Worte. »Wie kann er wohl erwarten, daß die Pfleger halbwegs nüchtern bleiben, wenn er es derart treibt? Und er sagt, er kann sich an nichts erinnern, was an dem Abend war, als Ginnie starb. Überhaupt nichts. Totales AlkoholBlackout. Er ist seitdem sehr kleinlaut.« Die Direktoren, hatte ich das Gefühl, würden von dem allgemeinen Niveau der Unmäßigkeit auch nicht begeister ter sein als der Oberinspektor, und ich fragte mich, ob Ni gels generell lahme Haltung gegenüber den Pflegern von dem Wissen um seine eigene gelegentliche Schwäche her rührte. Die Polizei hatte keine Waffe gefunden, sagte Oliver an einem anderen Tag. Wyfold hatte ihm erklärt, es sei un möglich zu beurteilen, womit der eingedrückte Bruch an ihrer Schädelbasis herbeigeführt worden war. Das Haar über der Bruchstelle wies keine ungewöhnlichen Spuren auf. Der Gerichtsmediziner vertrat die Auffassung, es sei ein einziger, sehr schwerer Schlag erfolgt. Sie müsse so fort bewußtlos gewesen sein. Sie habe nicht einmal etwas gemerkt. Die Phase scheinbarer Halbbewußtheit sei trüge risch gewesen: Teile ihres Gehirns müßten funktioniert haben, doch sie habe überhaupt nichts mehr wahrnehmen können. 280
»Es ist wohl ein Glück«, sagte Oliver. »Bei manchen Mädchen, von denen man hört … wie ertragen deren El tern das?« Seine Frau, sagte er, sei wieder nach Kanada geflogen. Ginnies Tod hatte offenbar Mutter und Vater nicht zu sammengeführt, sondern die Trennung besiegelt. »Das Hundeshampoo?« wiederholte Oliver, als ich frag te. »Wyfold sagt, es war nichts weiter als das, sie haben es überprüft. Er fragte Nigel und sämtliche Burschen, ob es ihnen gehörte, ob sie es benutzt hätten, um Squibs zu wa schen, aber keiner von ihnen hatte. Er denkt anscheinend, Ginnie hat es vielleicht auf der Straße liegen sehen und es aufgehoben, oder sie ist am Tor mit einem Mann ins Ge spräch gekommen, der ihr das Shampoo für Squibs als Köder gab und sie hinterher umbrachte.« »Nein«, sagte ich. »Wieso nicht?« »Weil er dann das Shampoo wieder mitgenommen hät te.« »Wyfold meint, nicht, wenn er es nicht finden konnte, da es dunkel war und sie es sozusagen unter ihrem Rock und zwei Pullovern versteckt hatte, und nicht, wenn Dave und Sammy an dem Punkt auftauchten.« »Möglich wär’s wohl«, sagte ich zweifelnd. »Wyfold sagt, dieses spezielle Shampoo wird in England nicht verkauft, es ist amerikanisch, und es läßt sich un möglich feststellen, wie es hierhergekommen ist. Es gab keinerlei brauchbare Fingerabdrücke: alles verwischt bis auf einige von Ihnen und mir.« An einem anderen Tag sagte er: »Wyfold hat mir darge legt, die am schwersten zu klärenden Morde seien Einzel schläge auf den Kopf. Er sagte, der Fall bliebe offen, doch 281
sie sind wieder mit einem anderen Mädchen befaßt, das auf dem Heimweg vom Tanz ermordet wurde, und dies mal zählt sie eindeutig zu dieser grauenhaften Serie, das arme Kind … Ich hatte noch Glück, Tim, wissen Sie, daß Dave und Sammy da zurückkamen.« Es kam ein schöner Maitag im Büro, an dem Alec ent schied, daß wir etwas frische Luft benötigten, und eines der Fenster öffnete, die auf den Brunnen hinausgingen. Die frische Luft drang dann auch ein, aber wie ein Löwe, nicht wie ein Lamm, und wehte Unterlagen von sämtli chen Schreibtischen. »Das ist ein Orkan«, sagte ich. »Mach um Himmels wil len zu.« Alec sperrte den Wind aus und drehte sich mit einem Grinsen um. »Bitte um Entschuldigung«, sagte er. Wir hoben alle den Hintern und bückten uns wie Ähren leser, um unsere verstreute Arbeit zu bergen, und auf mei ner Suche nach Seite 3 der langen Beurteilung eines ge planten Sportkomplexes widerfuhr mir ein ernster und unwillkommener Schock durch ein kleines hellblaues Blatt aus einem Notizblock. Darauf waren Worte mit Bleistift geschrieben und wellig durchgestrichen, mit anderen Worten darunter. Baut eure Burg nicht auf Sand war durchgestrichen, und ebenso Sandcastle von der Flut ausgelöscht, und darunter stand geschrieben Baut euer Haus nicht auf Sand. Baut euer Bankhaus nicht auf eine Sandburg. »Was ist das?« sagte Alec rasch, als er es in meiner Hand sah, und streckte die eigene aus. »Laß mal sehen.« Ich schüttelte den Kopf und behielt es in der Hand, wäh rend ich das Sportzentrum fertig zusammenraffte, und als 282
die Ordnung überall im Büro wiederhergestellt war, sagte ich: »Komm mit ins Sprechzimmer.« »Jetzt gleich?« »Jetzt gleich.« Wir gingen in den einzigen Raum auf unserer Etage, wo man wirklich ungestört sein konnte, und ich sagte ohne Zögern: »Das ist deine Handschrift. Hast du den Artikel in Was läuft, wo … geschrieben?« Er bedachte mich mit einem gespielten Seufzer, einem zaghaften Lächeln und einem gedehnten Schulterzucken. »Das ist nur Kritzelei«, sagte er. »Es bedeutet nichts.« »Es bedeutet zunächst mal«, sagte ich, »daß du es nicht im Büro hättest herumliegen lassen sollen.« »Wußte ich doch nichts von.« »Hast du den Artikel geschrieben?« Die blauen Augen glitzerten mich reuelos hinter dem Goldgestell an. »Bin wohl auf frischer Tat ertappt.« »Aber Alec …«, protestierte ich. »Ja, ja.« »Und die anderen«, sagte ich. »Die anderen Male, warst du das auch?« Er seufzte wieder und verzog den Mund. »Warst du es?« wiederholte ich und wünschte mir nur, ein Nein von ihm zu hören. »Sieh mal«, sagte er, »was hat es denn geschadet? Ja, es stimmt, die Stories kamen von mir. Hab’ sie tatsächlich auch wie die da selbst verfaßt.« Er wies auf das Notizblatt in meiner Hand. »Und halt mir bloß keinen Vortrag über Treuebruch, denn geschadet hat uns keiner davon. Allen falls genützt.« »Alec …« 283
»Ja«, sagte er, »aber denk doch mal, Tim, was haben die Sachen eigentlich bewirkt? Sie haben alles aufgeschreckt, klar, und man konnte mal lachen, wenn man die ganzen Gesichter sah, aber was sonst? Ich hab’ schon darüber nachgedacht, das kann ich dir versichern. Es war zwar nicht der Grund, warum ich damit anfing, ich wollte bloß Aufregung, das geb’ ich zu, aber wegen dem von mir Ge schriebenen haben wir jetzt viel bessere Sicherheits kontrollen, als wir vorher hatten.« Ich hörte ihm mit offenem Mund zu. »Die ganze Arbeit, die du mit dem Computer gemacht hast, um uns mehr gegen Betrug abzusichern, folgte doch aus dem, was ich geschrieben habe. Und die Jungs von der Beteiligungsfinanzierung, die sind jetzt zugeknöpft bis obenhin, mit einem Reißverschluß am Schnabel, bloß um den Investmentmanagern nichts auszuplaudern. Ich habe genützt, siehst du wohl, nicht geschadet.« Ich stand da und schaute ihn an, die dichten flachsblon den Locken, die blasse Sommersprossenhaut, die Augen, die acht Jahre lang mit mir gelacht hatten. Ich will dich nicht verlieren, dachte ich: Ich wünschte, du hättest es nicht getan. »Und was ist mit dem Artikel über Sandcastle? Was hat der genützt?« sagte ich. Er grinste halb. »Noch nicht zu beurteilen.« Ich blickte auf den vernichtenden Papierfetzen in meiner Hand und schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Du wirst mir sagen«, sagte Alec, »daß ich gehen muß.« Ich blickte auf. Sein Gesicht war völlig ruhig. »Ich wußte, daß ich gehen müßte, wenn du je dahinter kamst.« »Aber liegt dir nichts daran?« sagte ich frustriert. 284
Er lächelte. »Ich weiß es nicht. Ich werde dich vermis sen, und das ist Tatsache. Aber was den Job angeht … na, ich sagte dir ja, er ist nicht mein ganzes Leben, wie er’s für dich ist. Ich mochte ihn zugegeben riesig, als ich her kam. Da wollte ich nichts als ein Handelsbanker sein, es hörte sich toll an. Aber um ehrlich zu sein, wahrscheinlich war ich hinter dem Glanz her, und Glanz läßt nach, wenn man sich erst mal an ihn gewöhnt hat. Ich bin kein über zeugter Geldmann im Grunde … das ist mein voller Ernst, und ich hätte nie gedacht, daß ich das zugeben könnte, nicht mal vor mir selbst.« »Aber du machst es doch gut.« »Bis zu einem gewissen Grad. Aber das haben wir alles schon beredet.« »Es tut mir leid«, sagte ich hilflos. »Ja, schon, tut es mir auch in gewisser Hinsicht, und in anderer wieder nicht. Ich hab’ seit ewigen Zeiten gebib bert, und jetzt, wo ich keine Wahl mehr habe, bin ich so erleichtert wie sonstwas.« »Aber … was willst du machen?« Er lächelte engelhaft. »Ich glaube nicht, daß du es gut heißen wirst.« »Was denn?« »Was läuft, wo …«, sagte er, »hat mir eine Ganztagsstel lung angeboten.« Er sah meinen entgeisterten Gesichtsaus druck. »Ich habe in Wirklichkeit ganz schön viel für sie geschrieben. Über andere Sachen natürlich, nicht uns. Aber in den meisten Ausgaben steht was von mir, ein Ar tikelchen oder zwei, oder eine ganze Spalte. Sie haben mich mehrmals gebeten zu kommen, also gehe ich jetzt.« Ich dachte an all die Tage zurück, an denen Alec wegen der sechs Exemplare hinausgehüpft war und die Stunde 285
darauf mit Kichern verbracht hatte. Alec der Nachrichten sammler, der sämtlichen Klatsch kannte. »Sie bekommen Unmengen Information rein«, sagte Alec, »aber sie brauchen jemand, der das alles richtig ein schätzt, und es gibt nicht gar so viele Handelsbanker, die sich nach so einem Job umsehen.« »Nein«, sagte ich trocken. »Kann ich mir vorstellen. Wird nicht dein Gehalt vor allem viel kleiner sein?« »Ein bißchen«, gab er fröhlich zu. »Aber dafür überlebt mein Bilderstürmergeist.« Ich bewegte mich unruhig, wünschte, die Dinge wären anders gelaufen. »Ich steige hier aus«, sagte er. »Kurz und schmerzlos.« Ziemlich trübsinnig nickte ich. »Und wirst du angeben, warum?« Er sah mich nachdenklich an. »Wenn du es wirklich möch test, ja«, sagte er schließlich. »Sonst nicht. Du kannst es ih nen nach meinem Weggang selbst sagen, falls du willst.« »Du bist ein verdammter Narr«, sagte ich aufbrausend, in dem bitteren Bewußtsein, ihn zu verlieren. »Das Büro wird ohne dich höllisch lahm sein.« Er grinste, mein langjähriger Kollege, und wies auf den Notizzettel. »Ich schicke dir ab und zu ein paar Stichelei en. Du vergißt mich schon nicht. Keine Chance.« Gordon sagte drei Tage später erstaunt zu mir: »Alec verläßt uns, hast du davon gewußt?« »Ich wußte, daß er mit dem Gedanken spielt.« »Aber weshalb? Er versteht seine Arbeit, und er schien doch hier immer zufrieden.« Ich erklärte, daß Alec seit einiger Zeit unsicher gewesen sei und das Gefühl gehabt hätte, eine Veränderung zu brauchen. 286
»Unglaublich«, meinte Gordon. »Ich versuchte es ihm auszureden, aber er ist eisern. Er geht in vier Wochen.« Alec widmete sich tatsächlich seiner Alltagsarbeit mit der Energie und Schwungkraft dessen, dem die Befreiung bevorsteht, und war für den Rest seiner Zeit im Büro un terhaltsamer denn je. Ketten fielen sichtlich von seinem Gemüt ab, und ich ertappte ihn mehrmals dabei, wie er grüblerisch mit einem alles andere als engelhaften Lächeln in seinen Notizblock kritzelte.
Oliver hatte mir auf meine Bitte hin eine Liste von allen Züchtern zugesandt, die im Vorjahr ihre Stuten zu Sand castle geschickt hatten, und ich erkundigte mich zwei oder drei Abende hindurch per Telefon nach den Fohlen, von denen wir nichts wußten. Oliver selbst hatte, als ich ihn fragte, frei heraus gesagt, dieser Aufgabe könne er sich nicht stellen, und ich machte ihm nicht den geringsten Vorwurf: Meine Erkundigungen brachten ein ohrenzer reißendes Maß an Schimpferei hervor. Die endgültige Aufstellung sah folgendermaßen aus: Fünf äußerlich einwandfreie Fohlen, die innerhalb von zwei Wochen wegen innerer Abnormitäten starben. Ein mit einem Auge geborenes Fohlen. (Getötet.) Fünf mit deformierten Beinen geborene Fohlen, ange fangen von einem mißgebildeten Huf bis zu dem fehlen den Unterschenkel von Plus Factors Füllen. (Alle getötet.) Drei mit unvollständigem Ohr bzw. Ohren geborene Fohlen. (Alle noch lebend.) Ein schwanzlos geborenes Fohlen. (Noch lebend.) 287
Zwei mit mißgebildeten Mäulern geborene Fohlen, ähn lich einer Hasenscharte. (Beide getötet.) Ein Fohlen mit einem stark deformierten Kopf. (Gefohlt mit Herzschlag, aber nicht atemfähig; starb sofort.) Abgesehen von dieser schauerlichen Rechnung hatten vier Stuten, die als trächtig nach Hause geschickt worden waren, in der Folge abortiert und waren steril: Eine Stute hatte überhaupt nicht empfangen; drei Stuten hatten noch nicht gefohlt (Kommentar der Züchter ätzend); und vier zehn Stuten hatten lebende, gesunde Fohlen ohne Schäden irgendwelcher Art hervorgebracht. Ich zeigte die Liste Gordon und Henry, die schockiert eine Zeitlang verstummten, als trauerten sie um den präch tigen Renner, den sie so bewundert hatten. »Es kann noch mehr kommen«, sagte ich zögernd. »Laut Oliver sind einunddreißig Stuten, die in diesem Jahr von Sandcastle gedeckt wurden, zweifellos trächtig. Einige davon werden in Ordnung gehen … und einige vielleicht nicht.« »Gibt es denn nicht einen Test, durch den man feststel len kann, ob ein Baby abnorm ist?« sagte Henry. »Kann man den nicht bei den Stuten machen und die mißgebilde ten Fohlen jetzt abtreiben, ehe sie wachsen?« Ich schüttelte den Kopf. »Das habe ich Oliver gefragt. Er sagt, Fruchtwasserpunktion – so heißt das Verfahren – ist bei Stuten nicht möglich. Hat damit zu tun, daß man we gen der Eingeweide, die im Weg sind, nicht mit einer ste rilen Nadel an das Ziel herankommt.« Henry hörte sich mit der Abneigung des Nichtmediziners diese klinischen Realitäten an. »Das dürfte wohl bedeu ten«, sagte er, »daß die Besitzer dieser einunddreißig Stu ten die Fohlen alle abtreiben lassen und ihr Geld zurück verlangen.« 288
»Anzunehmen, ja.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Traurig, nicht? Eine Schande. Ganz abgesehen von dem finanziellen Verlust, eine Tragödie für den Rennsport.« Oliver sagte eines Morgens am Telefon: »Tim, ich muß mit Ihnen reden. Es ist etwas passiert.« »Was?« fragte ich mit dunkler Vorahnung. »Jemand hat angeboten, Sandcastle zu kaufen.« Ich saß da in einem gelinden Schockzustand, sah auf Alec auf der anderen Zimmerseite, der an seinem Bleistift lutschte, während er an seiner Zukunft schrieb. »Sind Sie noch da?« »Ja. Wozu und für wieviel?« »Nun, er sagt, um ihn wieder ins Training zu stecken. Wäre wohl möglich. Sandcastle ist erst fünf. Bis August oder September könnte man ihn wahrscheinlich in Renn form bringen, und er könnte auch nächstes Jahr mit sechs noch gewinnen.« »Du lieber Himmel.« »Er bietet fünfundzwanzigtausend Pfund.« »Hm«, sagte ich. »Und ist das gut oder schlecht?« »Realistisch gesehen, entspricht es seinem Wert.« »Ich berate mich im Vorstand hier«, sagte ich. »Im Mo ment ist es zu früh für ein Ja oder Nein.« »Ich sagte ihm schon, daß meine Banker einwilligen müßten, aber er möchte ziemlich bald eine Antwort, denn je länger der Aufschub, um so weniger Zeit bleibt für Training und Rennen in dieser Saison.« »Natürlich«, sagte ich. »Wo ist er? Sandcastle, meine ich.« 289
»Noch in Newmarket. Aber es ist sinnlos, daß er noch länger dableibt. Die haben keine Lösung gefunden. Sie sa gen, sie wissen einfach nicht, was mit ihm ist, und ich glaube, sie wollen, daß ich ihn abhole.« »Tja«, ich überlegte kurz. »Dann können Sie ihn auch holen, denke ich.« »Werde es in die Wege leiten«, stimmte er zu. »Bevor wir weitergehen«, sagte ich, »sind Sie sicher, daß es ein echtes Angebot ist und nicht bloß irgendein Spinner?« »Ich erhielt ein Schreiben von ihm und habe mit ihm am Telefon gesprochen, und mir erscheint er glaubhaft«, ant wortete Oliver. »Möchten Sie ihn kennenlernen?« »Vielleicht, ja.« Wir machten einen vorläufigen Termin für den folgen den Samstag morgen fest, und quasi nachträglich fragte ich nach dem Namen des potentiellen Käufers. »Smith«, sagte Oliver. »Ein Mr. Dissdale Smith.« Ich fuhr an diesem Samstag mit einem ganzen Heer aufmüpfiger Fragezeichen im Kopf nach Hertfordshire, doch wie es sich ergab, war Dissdale derjenige, der am meisten staunte. Er kam vorgefahren, während ich noch an Olivers Haus stand, ihm noch zur Begrüßung die Hand drückte und von Ginnie sprach. Dissdale war ohne Bettina, und das erste, was er sagte, als er aus dem Wagen stieg, war: »Tag, Tim, was für eine Überraschung, hab’ nicht gewußt, daß Sie Oliver Knowles kennen.« Er kam herüber, stellte sich vor, schüttelte Oliver die Hand und klopfte, nein patschte mir auf die Schulter. »Wie sieht’s denn aus? Wie geht es Ihnen, Tim?« »Danke«, sagte ich mild. 290
Oliver blickte von einem zum anderen. »Sie kennen sich schon?« Dissdale sagte: »Was meinen Sie mit schon?« »Tim ist mein Bankier«, sagte Oliver verwirrt. »Seine Bank Ekaterin hat das Geld für Sandcastle aufgebracht.« Dissdale starrte mich in restloser Verblüffung an und sah aus, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. »Wußten Sie das nicht?« sagte Oliver. »Hatte ich es nicht erwähnt?« Dissdale schüttelte ausdruckslos den Kopf und fand schließlich seine Stimme wieder. »Sie sagten, Ihr Bankier würde kommen … Keinen Augenblick hätte ich gedacht…« »Es ändert ja nicht viel«, sagte Oliver. »Wenn Sie sich kennen, erspart das vielleicht einfach etwas Zeit. Gehen wir hinein. Der Kaffee ist fertig.« Er ging uns voran durch sein makelloses Haus in das Wohnzimmerbüro, wo ein Tablett mit heißem Kaffee in einer Kanne auf dem Schreibtisch stand. Oliver selbst war inzwischen vier Wochen ohne Ginnie in diesem Haus, doch für mich, bei meinem ersten Besuch danach, schien sie noch aufs deutlichste lebendig. Diesmal war ich es, der ständig erwartete, sie käme in das Zimmer, sie nähme mich in den Arm, sagte mit freudestrahlenden Augen hallo. Ich fühlte ihre Gegenwart lebhaft, in einem Maße, daß ich Dissdale anfangs nur mit oberflächlicher Aufmerksam keit zuhörte. »Es wäre vielleicht besser, ihn zu kastrieren«, sagte er eben. »Es gibt besonders in Übersee einige gute Geldprei se für Wallache.« Olivers unwillkürlich entsetzte Reaktion wich mutloser Niedergeschlagenheit. 291
»Es ist zu früh«, sagte ich, »um davon zu reden.« »Tim, sehen Sie doch den Tatsachen ins Auge«, sagte Dissdale eindringlich. »In diesem Augenblick ist das Pferd eine wandelnde Bombe. Ich mache ein Angebot für ihn, weil ich ein Stück weit Spieler bin, das wissen Sie, und ich habe ungeachtet seiner Fehler eine Schwäche für ihn, weil er damals vor zwei Jahren, als wir alle in meiner Loge in Ascot waren, so viel für mich gewonnen hat. Daran erin nern Sie sich, ja?« »Allerdings.« »Er hat mir das Leben gerettet, unser Sandcastle.« »Zum Teil wegen dieses Tages«, sagte ich nickend, »hat Ekaterin das Darlehen für ihn gewährt. Als der Antrag von Oliver einging, hatten Henry Shipton – unser Präsident, wenn Sie sich erinnern – und Gordon und ich das Pferd al le in Aktion gesehen, und deshalb zogen wir den Vor schlag ernsthaft in Erwägung.« Dissdale nickte verstehend. »Eine große Überraschung, trotzdem«, sagte er. »Tut mir leid, daß es Sie und Gordon sind. Daß es Ihre Bank, meine ich, so hart getroffen hat. Ich las natürlich in der Zeitung von den Mißgeburten, und das brachte mich überhaupt auf die Idee, Sandcastle zu kaufen, aber da stand nicht, welche Bank…« Ich fragte mich flüchtig, ob Alec sich diese Auslassung, einmal abgesehen von allem anderen, als etwas Gutes an rechnen konnte. Oliver bot Dissdale noch einen Kaffee an, den er mit Milch und Zucker nahm und fast geistesabwesend trank, während er die möglichen taktischen Varianten durchging, die nach der Entdeckung, daß er es mit Bekannten zu tun hatte, ange raten waren. Da ich selbst mehrere Tage Zeit gehabt hatte, um das zu tun, konnte ich mir denken, wie lange er in etwa brauchen würde für die Neueinschätzung der Situation. 292
»Dissdale«, sagte ich hinterhältig neutral, »rührt die Idee, Sandcastle zu kaufen, von Ihrem Coup mit Indian Silk her?« Seine rundlichen Züge entgleisten wieder vor Schreck. »Woher … äh … wissen Sie davon?« Ich sagte vage: »Wohl auf der Rennbahn gehört. Aber haben Sie Indian Silk nicht für ein Butterbrot gekauft, weil er todkrank schien, und ihn dann zu Calder geschickt?« »Nun…« »Und hat ihn Calder nicht kuriert? Und dann haben Sie ihn weiterverkauft, aber gut diesmal, zweifellos weil Sie das Geld brauchten, brauchen wir ja alle, wonach Indian Silk dann den Cheltenham Gold Cup gewann? Ist es nicht so?« Dissdale hob eine dickliche Handfläche in einer Geste gespielten Kapitulierens. »Weiß zwar nicht, wo Sie das herhaben, aber stimmt, es ist ja kein Geheimnis, so lief die Sache.« »Mm.« Ich lächelte ihn gütig an. »Nun sagte Calder doch aber im Fernsehen, der Kauf von Indian Silk sei ursprüng lich seine Idee gewesen, nicht wahr, deshalb fragte ich mich … frage ich mich, ob das hier auch seine Idee ist. Ich mei ne, hat er vielleicht zufällig eine Neuauflage des Spiels vor geschlagen, das letztes Mal so glücklich ausging?« Dissdale sah mich zweifelnd an. »Da ist ja nichts dabei«, sagte ich. »Ist es Calders Idee?« »Na ja, seine Idee schon«, sagte er im Entschluß, sich anzuvertrauen. »Aber es ist natürlich mein Geld.« »Und, ähm, wenn Sie Sandcastle kaufen, schicken Sie ihn dann auch zu Calder weiter, wie Indian Silk?« Dissdale schien nicht zu wissen, ob antworten oder nicht, aber offenbar beruhigt durch mein wohlwollendes 293
Interesse sagte er schließlich: »Calder meinte, er könnte ihn kurz hochpäppeln, damit er schnell für die Rennen fit wird, ja.« Oliver, der bis jetzt unruhig zugehört hatte, sagte: »Cal der Jackson kann nichts für Sandcastle tun, was ich nicht auch kann.« Dissdale und ich warfen Oliver den gleichen Blick zu, hörten den überzeugten orthodoxen Standpunkt heraus und wußten beide, daß er sehr wahrscheinlich nicht stimmte. »Ich habe in den letzten Tagen nachgedacht«, sagte ich zu Dissdale. »Erst über Indian Silk. Haben Sie Fred Bar net, als sie ihm den Kummerpreis anboten, nicht erzählt, Sie wollten lediglich einem sterbenden Pferd ein nettes ru higes Ende auf irgendeiner stillen Weide verschaffen?« »Nun ja, Tim«, sagte er schlau. »Sie wissen doch, wie es ist. Man kauft zum bestmöglichen Preis ein. Fred Barnet, ich weiß, der läuft herum und meckert, ich hätte ihn be schwindelt, das hab’ ich aber nicht, er hätte sein Pferd ge nauso zu Calder bringen können wie ich.« Ich nickte. »Also seien Sie jetzt mal ehrlich, Dissdale, haben Sie wieder vor, zum bestmöglichen Preis zu kau fen? Ich meine, stellen die fünfundzwanzigtausend Pfund für Sandcastle genauso ein gutes Geschäft dar?« »Tim«, sagte Dissdale, halb gekränkt, halb besorgt. »Was für ein Mißtrauen. Das ist nicht nett, überhaupt nicht.« Ich lächelte. »Glaube trotzdem nicht, daß es klug von mir wäre, meinem Vorstand zu empfehlen, daß wir Ihr Angebot annehmen sollten, ohne es sehr sorgfältig zu prü fen, was meinen Sie?« Zum ersten Mal kam eine Spur von Bestürzung in das pummelige Gesicht. »Tim, es ist ein faires Angebot, das wird Ihnen jeder sagen.« 294
»Ich denke, mein Vorstand wird da auf meistbietend ge hen«, sagte ich. »Wenn Sandcastle verkauft werden soll, müssen wir soviel wieder hereinbringen, wie wir können.« Die Bestürzung wich: Der Mann von Welt kehrte zu rück. »Das ist fair«, sagte er. »Solange Sie’s mich wissen lassen, falls mich jemand überbietet.« »Sicher«, sagte ich. »Eine Versteigerung per Telefon. Wenn wir soweit sind, gebe ich Ihnen Bescheid.« Mit einem Hauch von Besorgnis sagte er: »Warten Sie nicht zu lange. Zeit ist Geld, Sie wissen schon.« »Morgen unterbreite ich Ihr Angebot dem Vorstand.« Er machte zufriedene Miene, doch die Sorge schien noch durch. Oliver nahm die leere Kaffeetasse, die Dissdale noch in der Hand hielt, und fragte ihn, ob er gerne das Pferd sehen würde, das er kaufen wolle. »Ist er denn nicht in Newmarket?« sagte Dissdale und wirkte erneut aus der Fassung gebracht. »Nein, er ist hier. Gestern zurückgekommen.« »Oh. Dann ja, natürlich, ja. Ich würde ihn gerne sehen.« Er schwimmt, dachte ich plötzlich: Aus irgendeinem Grund ist Dissdale sehr, sehr durcheinander. Wir machten den altbekannten Spaziergang durch die Höfe, während Oliver dem neuen Besucher die Anordnung erklärte. Für mich hatten die Reihen sich sichtbar gelich tet, und Oliver sagte mit kaum hörbarem Zittern in der Stimme, daß er wie gewohnt die Stuten mit ihren Fohlen nach und nach heimschicke, wodurch die Futterkosten ab nähmen, weniger Pfleger zu entlohnen seien, allgemein die Ausgaben zurückgingen: Er werde fair spielen mit der Bank, sagte er nüchtern, mit Sicherheit berechnen, was er konnte, und auch auf seine Schulden hin sparen, soweit es ging. Dissdale warf ihm einen amüsiert ungläubigen Blick 295
zu, als gehörte ein solches Ehrgefühl vergangenen Zeiten an, und wir kamen schließlich in den Hengsthof, wo neu gierig die vier Köpfe erschienen. Der Aufenthalt in Newmarket hatte Sandcastle nicht sehr gut getan, dachte ich. Er sah müde und matt aus, bog kaum den Hals, um seine Nase über die Halbtür zu heben, und er war es, der sich als erster von den vieren abwandte und sich in den Dämmer seiner Box zurückzog. »Ist das Sandcastle?« sagte Dissdale enttäuscht. »Ich hatte irgendwie etwas mehr erwartet.« »Er hat drei anstrengende Wochen hinter sich«, sagte Oliver. »Alles, was er braucht, ist ein wenig gutes Futter und frische Luft.« »Und Calders Hand«, meinte Dissdale mit Überzeugung. »Vor allen Dingen diese magische Berührung.« Als Dissdale gefahren war, fragte mich Oliver, was ich dächte, und ich sagte: »Wenn Dissdale fünfundzwanzig tausend bietet, rechnet er zweifellos damit, sehr viel mehr dran zu verdienen. Er hat recht, er ist ein Spieler, und ich wette, er hat irgendeinen Plan im Kopf. Wir müssen ver suchen, abzuschätzen, was für ein Plan das ist, und auf der Grundlage entscheiden, wie wir vorgehen, etwa ob wir den Einsatz verdoppeln oder verdreifachen.« Oliver war verblüfft. »Wie sollen wir das abschätzen?« »Hm«, sagte ich. »Wußten Sie das von Indian Silk?« »Bis heute nicht.« »Schön, mal angenommen, Dissdale geht nach einem Schema vor, wie es Leute häufig tun. Er erzählte Fred Barnet, er wolle Indian Silk auf die Weide bringen, was der Wahrheit genau entgegengesetzt war; er hatte vor, ihn zu Calder zu bringen und ihn mit etwas Glück wieder ins Training zu stecken. Ihnen erzählte er, er hätte vor, Sand 296
castle wieder ins Training zu stecken, also nehmen Sie mal an, genau das hat er nicht vor. Und er deutete auch Kastra tion an, nicht wahr?« Oliver nickte. »Dann würde ich annehmen, daß nichts ihm ferner liegt als Kastration«, sagte ich. »Er möchte nur, daß wir glau ben, das sei seine Absicht.« Ich überlegte. »Wissen Sie, was ich vielleicht täte, wenn ich mit Sandcastle so richtig das Glück herausfordern wollte?« »Was?« »Es klingt ziemlich verrückt«, sagte ich. »Aber bei Cal ders Ruf könnte es immerhin klappen.« »Wovon reden Sie denn?« sagte Oliver in einiger Ver wirrung. »Was für ein Glück?« »Angenommen«, sagte ich, »Sie könnten für ein Butter brot einen Hengst kaufen, dessen gesunde Fohlen wahr scheinlich Rennen gewinnen würden.« »Aber niemand würde riskieren…« »Angenommen«, unterbrach ich ihn, »es bestünde eine fast fünfzigprozentige Chance, ausgehend von den dies jährigen Zahlen, daß Sie ein gesundes Fohlen bekommen. Was wäre, wenn Dissdale Sandcastle für sagen wir tau send Pfund als Deckhengst anbietet, die Taxe nur zahlbar, wenn das Fohlen fehlerlos geboren wird und einen Monat überlebt?« Oliver starrte bloß. »Sagen wir, Sandcastles gesunde Jungen siegen tatsäch lich, was sie wohl sollten. Dieses Jahr gibt es bis jetzt vierzehn davon, vergessen Sie das nicht. Sagen wir, es zeigt sich im Laufe der Zeit, daß seine guten Fohlen das 50-Prozent-Risiko wert sind. Sagen wir, Sandcastle steht in Calders Stall, mit Calders Können in Bereitschaft. Be 297
steht nicht die Chance, daß mit den Jahren Dissdales 25000-Pfund-Anlage einen hübschen, regelmäßigen Ge winn für sie beide abwirft?« »Es ist unmöglich«, sagte er schwach. »Nein, nicht unmöglich. Ein Hasardspiel.« Ich zögerte. »Natürlich würden die Leute nicht ihre Spitzenstuten schicken, aber es gäbe vielleicht genügend Träumer unter den Züchtern, die es darauf ankommen ließen.« »Tim…« »Denken Sie nur mal«, sagte ich. »Ein fehlerloses Foh len von Sandcastle für Kleingeld. Und wenn sie ein miß gebildetes Fohlen bekämen, nun ja, in manchen Jahren könnte ihre Stute abortieren oder sowieso unfruchtbar sein.« Er sah eine Weile auf seine Füße, dann hob er den Blick und sagte: »Kommen Sie mit. Ich muß Ihnen etwas zei gen. Etwas, das Sie wissen sollten.« Er brach auf in Richtung der Watcherleys und fügte un terwegs nichts mehr hinzu. Ich ging neben ihm die ver trauten Wege hinunter und dachte an Ginnie, weil ich nicht anders konnte, und wir gelangten in den Nachbarhof, dessen Sauberkeit den Vergleich mit keinem anderen zu scheuen brauchte. »Hier drüben«, sagte Oliver und trat an eine der Boxen. »Schauen Sie sich das an.« Was ich sah, war eine Stute mit einem saugenden Hengstfohlen: nichts Unerwartetes an diesem Ort. »Es wurde vor drei Tagen geboren«, sagte Oliver. »Ich wünschte so sehr, Ginnie hätte es gesehen.« »Warum gerade dieses?« »Die Stute ist eine von meinen«, sagte er. »Und das Foh len ist von Sandcastle.« 298
Jetzt war es an mir zu staunen. Ich blickte von Oliver zu dem Fohlen und wieder zurück. »Es hat nichts«, sagte ich. »Nein.« »Aber…« Oliver lächelte verzerrt. »Ich wollte sie von Diarist dek ken lassen. Sie war hier bei den Watcherleys, weil das Fohlen, das sie damals hatte, immer kränkelte, aber ihr selbst fehlte nichts. Eines Tages, als sie schon eine Zeit lang in der Rosse war, sah ich hier mal nach ihr, und spon tan führte ich sie in den Deckstand und bat Nigel, Sand castle zu holen, und wir paarten sie an Ort und Stelle. Die ses Fohlen ist das Ergebnis.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Er wird natürlich verkauft werden, wie alles ande re. Ich wünschte, ich hätte ihn behalten können, aber so geht’s eben.« »Er müßte ziemlich viel wert sein«, sagte ich. »Denke ich nicht«, sagte Oliver. »Und das ist der schwa che Punkt bei Ihrem Hasardspiel. Es ist nicht nur das Rennpotential, das bei Versteigerungen den Preis hoch treibt, es ist auch die Zuchtmöglichkeit. Und niemand könnte sicher sein, daß bei der Zucht mit Sandcastles Nachkommen die Erbfehler nicht immer wieder auftau chen. Dadurch wird es unmöglich. Kein ernsthafter Züch ter würde ihm Stuten schicken, ganz gleich, zu welchem Sonderpreis.« Wir standen eine Zeitlang schweigend da. »Es war eine gute Idee«, sagte ich, »solange sie gedauert hat.« »Mein lieber Tim … wir klammern uns an Strohhalme.« »Ja.« Ich sah in sein ruhiges, starkes Gesicht; ein Kapi tän, dessen Schiff im Sinken begriffen war. »Ich würde al les versuchen, um Sie zu retten«, sagte ich. 299
»Und das Geld der Bank?«
»Das auch.«
Er lächelte leise. »Ich wünschte, Sie könnten, aber die
Zeit wird knapp.« Das Datum für die Bestellung der Liquidatoren war fest gesetzt, die Versicherungsgesellschaft hatte sich endgültig gedrückt, die Rechtsanwälte arbeiteten sich heran, und die Frist, die ich für ihn erwirkt hatte, zerrann, ohne daß ein zarter Keim von Hoffnung in den Ruinen gedieh. Wir gingen zurück in Richtung Haus, während Oliver wie üblich die Stuten streichelte, wenn sie an die Zäune kamen. »Das mag wohl nächstes Jahr noch alles hier sein«, sagte er, »und ziemlich genauso aussehen. Irgendwer wird es kaufen … nur ich werde weg sein.« Er hob den Kopf und blickte über die weißgestrichenen Zäune hinweg zu der langen Reihe der Dächer seiner Stäl le. Die Ungeheuerlichkeit des Verlustes seiner Lebens arbeit legte sich wie ein Gewicht auf seine Schultern, und er hatte einen abgehärmten Zug um das Kinn. »Ich versuche, mir nichts daraus zu machen«, sagte er schlicht. »Aber ich weiß nicht ganz, wie ich es ertragen soll.« Als ich an diesem Abend zu Hause ankam, läutete gerade das Telefon. Ich ging durchs Wohnzimmer und dachte schon, es würde in dem Moment aufhören, wo ich es er reichte, doch der Ruf hielt an, und am anderen Ende war Judith. »Ich bin gerade hereingekommen«, sagte ich. »Wir wußten, daß du fort warst. Wir haben es ein- oder zweimal probiert.« »Ich war bei Oliver.« 300
»Der arme, arme Mann.« Judith war sehr betroffen we gen Ginnie gewesen und fand immer noch, daß Oliver mehr Mitgefühl wegen seiner Tochter brauchte als wegen seines Bankrotts, während ich nicht sicher war, ob das noch stimmte. »Jedenfalls«, sagte sie, »Pen bat mich, dich anzurufen, weil sie den ganzen Tag in ihrem Geschäft festsitzt und du außer Haus warst, als sie es versuchte … Sie sagt, sie hat eine Antwort aus USA wegen des Sham poos bekommen, und ob du noch interessiert wärst.« »Ja, natürlich.« »Dann … wenn du sonst nichts vorhast … Gordon und ich haben uns gefragt, ob du wohl Lust hättest, morgen für den Tag herzukommen, und Pen würde den Brief mitbrin gen und ihn dir zeigen.« »Ich werde dasein«, sagte ich glühend, und sie lachte. »Na gut. Bis dann.« Ich war noch vor Mittag in Clapham, und Pen holte beim Kaffee den Brief des Pharmaproduzenten hervor. »Ich habe ihnen eine Probe von dem geschickt, was Sie mir in dem kleinen Glas gegeben haben«, sagte sie. »Und wie Sie wünschten, habe ich einen Teil des Restes hier analysieren lassen, aber ehrlich, Tim, hoffen Sie nicht zu sehr, dadurch herauszufinden, wer Ginnie umgebracht hat, es ist einfach Shampoo, wie es draufsteht.« Ich ließ mir das amtlich erscheinende Schreiben geben, das aus zwei zusammengehefteten Seiten bestand, mit ein drucksvollem Briefkopf. Sehr geehrte Frau, wir haben die Anfrage von Ihrer Apotheke sowie die uns von Ihnen zugesandte Probe erhalten und antworten nun mit diesem Bescheid, der eine Kopie desjenigen ist, den 301
wir kürzlich der Polizei Hertfordshire in gleicher Sache geschickt haben. Das fragliche Shampoo ist unser »Bannitch«, speziell für Hunde entwickelt, die an verschiedenen Hautkrankheiten einschließlich Ekzemen leiden. Es wird an den Fachhandel für zoologischen Bedarf und Hundepflege geliefert, jedoch normalerweise nur auf Anraten eines Tierarztes benutzt. Anbei erhalten Sie wie gewünscht eine Liste der Träger substanzen und der aktiven Wirkstoffe. »Was sind Trägersubstanzen?« fragte ich aufblickend. »Das, was man aus verschiedenen Gründen den Aktiv stoffen beigibt«, sagte sie. »In Tabletten zum Beispiel Kalk, der Masse wegen.« Ich schlug die obere Seite um und las die Liste auf der zweiten. Bannitch Trägersubstanzen Bentonit Äthylenglykolmonostearat acid. citr. Natriumphosphat Glycerylmonoricinoleat Duftstoffe Aktive Bestandteile Captan
Amphotericin
Selen
»Toll«, sagte ich verständnislos. »Was bedeutet das al les?« 302
Pen, die neben mir auf dem Sofa saß, erklärte. »Von oben an … Bentonit ist ein Bindemittel, damit al les zusammenbleibt und sich nicht absetzt. Äthylen glykolmonostearat ist eine Art Wachs, wahrscheinlich soll es Masse geben. Zitronensäure macht die ganze Mischung sauer statt alkalisch, und das nächste, Natriumphosphat, soll den Säuregrad mehr oder weniger konstant halten. Glycerylmonoricinoleat ist eine Seife, die Schaum gibt, und Duftstoffe sind drin, damit der Hund für die Besitzerin schön riecht, wenn sie ihn wäscht.« »Woher weißt du soviel?« fragte Gordon staunend. »Einiges habe ich nachgesehen«, sagte Pen offen, mit einem Lächeln. Sie drehte sich wieder zu mir um und deu tete auf die kurze untere Rubrik der Wirkstoffe. »Captan und Amphotericin sind Medikamente zum Abtöten von Pilzen auf der Haut, und Selen ist ebenfalls pilzfeindlich und wird in Shampoos verwendet, um Schuppen zu besei tigen.« Sie hielt inne und sah mich zweifelnd an. »Ich ha be Ihnen ja gesagt, Sie sollten sich nicht zuviel erhoffen. Da ist nichts von Bedeutung drin.« »Auch nichts in der Probe, was nicht auf der Liste des Herstellers steht?« Sie schüttelte den Kopf. »Die Analyse des britischen La bors kam gestern, und das Shampoo in Ginnies Flasche enthielt genau, was es sollte.« »Was hast du denn erwartet, Tim?« fragte Gordon. »Es war weniger erwarten als hoffen«, sagte ich bedau ernd. »Eigentlich auch kaum Hoffnung. Eben die ganz ent fernte Möglichkeit.« »Von was?« »Tja … die Polizei dachte – denkt –, daß der Zweck des Mordes an Ginnie sexueller Mißbrauch war, wegen dieser anderen armen Mädchen in der Nachbarschaft.« 303
Sie nickten alle. »Aber es überzeugt doch nicht, oder? Nicht, wenn man weiß, daß sie nicht von irgendwoher auf dem Heimweg war wie die anderen und daß sie nicht tatsächlich, nun, an gerührt wurde. Und dann hatte sie das Shampoo … und das Gestüt war in solchen Schwierigkeiten, und mir er schien es möglich, immerhin doch möglich, daß sie ir gendwie entdeckt hatte, daß etwas in dieser Flasche be deutsam war…« Ich zögerte und sagte dann langsam zu Pen: »Wonach ich wahrscheinlich gesucht habe, war ir gend etwas, das man in Sandcastles Futter oder Wasser ge tan haben könnte und das sich auf seine Fortpflanzungs organe auswirkte. Ich weiß nicht, ob das möglich ist. Ich verstehe überhaupt nichts von Medikamenten … Es be schäftigte mich bloß.« Sie saßen schweigend mit großen Augen da, und dann regte sich Gordon und sagte mit hoffnungsvoller Beto nung: »Ist das möglich, Pen? Könnte es so etwas sein?« »Auch nur vielleicht?« hakte Judith nach. »Meine Lieben«, sagte Pen. »Ich weiß es nicht.« Dabei machte sie ein Gesicht, als ob alles, was sie sagte, uns ent täuschen würde. »Ich habe einfach noch nie was in der Richtung gehört.« »Deswegen entnahm ich das Shampoo und gab es Ih nen«, sagte ich. »Es ist ein wirrer und schrecklicher Ge danke, aber ich versprach Oliver, ich würde alles versu chen, wie unwahrscheinlich auch immer.« »Was du andeutest«, stellte Judith fest, »ist, daß irgend jemand Sandcastle absichtlich etwas gegeben haben könn te, damit er Mißgeburten zeugt, und daß Ginnie dahinter kam … und dafür umgebracht wurde.« Es war still. 304
»Ich gehe ein paar Bücher holen«, sagte Pen. »Wir wer den die Wirkstoffe nachschlagen, für alle Fälle. Aber ehr lich, erhofft euch nichts.« Sie ging nach Hause und ließ uns drei in gedrückter Stimmung zurück. Für mich war dies die letzte Möglich keit gewesen, obschon sie, seit ich von Oliver wußte, daß die polizeiliche Überprüfung nur das erwartete Shampoo in der Flasche ergeben hatte, in immer weitere Fernen ge rückt war. Pen kam eine halbe Stunde später mit einem dicken Wälzer, einem Blatt Papier und Sorgenfalten auf der Stirn wieder. »Ich hab’ gelesen«, sagte sie. »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat. Ich habe Spermadefekte nachge schlagen, und es scheint, daß die wahrscheinlichste Ursa che dafür Strahlung ist.« Ich sagte sofort: »Rufen wir Oliver an.« Sie nickten, und ich gab, als ich mit ihm Verbindung be kam, Pens Anregung durch. »Tim!« sagte er. »Ich schau’ mal, ob ich jemand in Newmarket erwische … wenn’s auch Sonntag ist … Ich ruf Sie zurück.« »Allerdings, wie ein Zuchthengst irgendwo in die Nähe einer radioaktiven Strahlungsquelle kommen soll«, sagte Pen, während wir warteten, »wäre selbst schon ein Rätsel ersten Ranges.« Sie blickte nieder auf den Zettel, den sie dabei hatte. »Das ist der Analysebericht des britischen La bors, Rechnung leider inbegriffen. Die gleichen Bestand teile, nur in umgekehrter Reihenfolge aufgeführt, mit Se len an der Spitze, was bedeuten dürfte, daß es der vorherr schende Wirkstoff ist.« Oliver rief nach erstaunlich kurzer Zeit wieder an. »Ich habe den Forschungschef zu Hause erwischt. Er sagt, sie hätten an Strahlung gedacht, sie jedoch verworfen, weil sie 305
eher völlige Sterilität zur Folge hätte, und es sei auch un wahrscheinlich, daß ein Pferd in die Nähe radioaktiver Isotopen gerät.« Er seufzte. »Sandcastle ist nie auch nur geröntgt worden.« »Vielleicht können Sie’s überprüfen«, sagte ich. »Wenn er jemals in irgendeiner Form Strahlung ausgesetzt war, fiele das in die Kategorie unbeabsichtigter oder gar bös williger Schädigung, und die Versicherungspolice hätte uns wieder.« »In Ordnung«, sagte er. »Ich versuche es.« Ich legte den Hörer auf und sah, daß Pen konzentriert in den Seiten ihres großen Pharmakologiebuches blätterte. »Was ist das?« fragte Judith, mit dem Finger deutend. »Toxizität von Mineralien«, erwiderte Pen geistesabwe send. »Äthylenglykol…«, sie blätterte suchend. »Hier…« Sie las die Spalte durch, schüttelte den Kopf. »Das jeden falls nicht.« Wieder schlug sie im Register nach, las die Spalten, schüttelte den Kopf. »Selen … Selen …« Sie blätterte, las die Spalten, schürzte die Lippen. »Hier steht, daß Selen giftig ist, wenn es eingenommen wird, obwohl es auf der Haut heilsam sein kann.« Sie las ein Stück. »Da steht, wenn Tiere Pflanzen fressen, die auf stark selenhal tigem Boden wachsen, können sie eingehen.« »Was ist denn Selen?« fragte Judith. »Es ist ein Element«, sagte Pen. »Wie Kalium und Na trium.« Sie las weiter. »Hier steht, daß es hauptsächlich in Gestein aus der Kreidezeit vorkommt – welch nützliche Information – und daß es zu den giftigsten Elementen zählt, aber in Spuren sowohl für Tiere wie für Pflanzen ein unentbehrlicher Nährstoff ist.« Sie blickte auf. »Da steht, daß es Blumenzüchtern nützt, weil es Insekten tötet, und daß es sich hauptsächlich in Pflanzen ansammelt, die ge deihen, wo es wenig Niederschlag gibt.« 306
»Ist das alles?« fragte Gordon enttäuscht. »Nein, das geht seitenweise. Ich übersetze bloß das We sentliche in verständliches Englisch.« Sie las eine Zeitlang weiter, und dann schien mir, daß sie völlig aufhörte zu at men. Sie hob den Kopf und sah mich an, die Augen groß und dunkel. »Was ist?« sagte ich. »Lesen Sie es.« Sie gab mir das schwere Buch und wies auf die aufgeschlagene Seite. Ich las: Selen wird durch den Darm leicht absorbiert und wirkt auf jeden Teil des Körpers, wobei es sich eher in Leber, Milz und Nieren als in Gehirn und Muskeln festsetzt. Selen ist teratogen. »Was bedeutet teratogen?« fragte ich. »Es bedeutet«, sagte Pen, »daß es zu Mißgeburten führt.« »Was?« rief ich aus. »Sie meinen doch nicht…« Pen schüttelte den Kopf. »Es kann sich nicht auf Sand castle auswirken. Das ist unmöglich. Es würde einfach seinen Organismus vergiften. Teratogene haben nichts mit männlichen Tieren zu tun.« »Sondern …?« »Sie wirken auf den wachsenden Embryo ein«, sagte sie. Ihr Gesicht verzog sich, fast als wäre das Wissen zuviel und würde sie zum Weinen bringen. »Man könnte mißge bildete Fohlen bekommen, wenn man mit Selen die Stuten füttert.«
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Ich fuhr am nächsten Morgen zu Oberinspektor Wyfold, da sowohl Gordon wie auch Henry einräumten, daß die Sache mich berechtigte, mir kurz freizunehmen. Der wuchtige Polizeibeamte schüttelte mir die Hand, wies mir einen Stuhl zu und sagte energisch, er könne mir höch stens fünfzehn Minuten Zeit geben, da am Abend vorher – hatte ich es gehört? – schon wieder ein junges Mädchen vergewaltigt und ermordet worden sei, so daß es insge samt jetzt sechs waren und seine Vorgesetzten und das ganze empörte Land nach einer Festnahme schrien. »Und wir sind noch nicht weiter«, setzte er wütend hinzu, »als vor fünf Monaten, wo es anfing.« Trotzdem hörte er sich an, was ich über Selen erzählte, schüttelte jedoch zum Schluß den Kopf. »Wir haben das selbst nachgesehen. Wußten Sie, daß es Hauptbestandteil eines Antischuppen-Shampoos ist, das in ganz Amerika frei in Drugstores verkauft wird? Es oder etwas Entsprechendes war auch hier erhältlich, aber man hat es zurückgezogen. Da ist nichts Geheimnisvolles dran. Es ist weder selten noch illegal. Ganz alltäglich.« »Aber die Mißbildungen …« »Schauen Sie«, sagte er stur, »ich behalte es im Kopf. Aber es ist doch ein großer Sprung, von einer Flasche ge wöhnlichem Hundeshampoo darauf zu schließen, daß es das ist, was die Fohlen haben. Ich meine, läßt sich das ir gendwie beweisen?« Bedauernd sagte ich: »Nein, läßt es sich nicht.« Kein Tier, so hatte Pens Buch angedeutet, würde Selen länger als einen oder zwei Tage im Organismus behalten, wenn es nur ein- oder zweimal und in nicht tödlichen Mengen gefressen wurde. »Und überhaupt«, sagte Wyfold, »wie wollten Sie ein ganzes Lot Pferde dazu kriegen, daß sie etwas so Scheuß 308
liches wie Shampoo trinken?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, Ihnen liegt sehr daran, den Mörder von Virgi nia Knowles zu fassen, und glauben Sie nicht, daß wir Ihr Kommen nicht zu schätzen wüßten, aber der ShampooFrage sind wir gründlich nachgegangen, das kann ich Ih nen versichern.« Sein Telefon summte, und er griff zum Hörer, den Blick noch in meiner Richtung, doch in Gedanken bereits an derswo. »Was?« sagte er. »Ja, in Ordnung. Sofort.« Er leg te den Hörer auf. »Ich muß los.« »Hören Sie«, sagte ich. »Ist es nicht möglich, daß einer von den Pflegern auch in diesem Jahr den Stuten Selen ver abreicht hat und daß Ginnie irgendwie dahinterkam …« Er unterbrach. »Wir haben versucht, diese Tötung an ei nem dieser Pfleger festzumachen, zweifeln Sie nur nicht daran, aber es gab keinerlei Beweise, überhaupt keine.« Er stand auf und kam um den Schreibtisch herum, ließ mich geistig wie körperlich schon hinter sich. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, Mr. Ekaterin, lassen Sie es uns unbe dingt wissen. Doch für jetzt – tut mir leid, aber es ist ein bestialischer Mensch da draußen, den wir greifen müssen –, und ich bin immer noch der Meinung, daß er es auch bei Virginia Knowles versucht hat und dabei gestört wurde.« Er nickte mir höflich zu, hielt die Tür auf und wartete, daß ich das Büro vor ihm verlassen würde. Ich ging be reitwillig, denn realistischerweise konnte man ihm nicht zumuten, daß er noch weiter meinen unbeweisbaren Theo rien zuhörte, wenn der Tod eines anderen Opfers neuen Schrecken gebracht hatte. Bevor ich wieder zu ihm ging, dachte ich, sollte ich wei terschürfen und zusammenhängende, plausible Fakten prä sentieren, und außerdem wenigstens die Grundlage für ei nen Beweis. 309
Henry und Gordon vernahmen vor der Mittagspause fin ster in der Bank, daß wir gegenwärtig »unzureichende Da ten« in einer Wyfold-Schublade waren. »Aber Sie glauben trotzdem dran, Tim …?« sagte Henry forschend. »Müssen wir«, antwortete ich. »Und ja, ich glaube es.« »Hm.« Er überlegte. »Wenn Sie mehr Urlaub brauchen, dann nehmen Sie sich ihn. Wenn nur die geringste Chance besteht, daß Sandcastle doch nichts fehlt, müssen wir un ser Allerbestes tun, nicht nur, um es uns selbst über zeugend zu beweisen, sondern auch der Allgemeinheit. Das Vertrauen der Züchter müßte wiederhergestellt wer den, sonst würden sie ihre Stuten nicht schicken. Insge samt ist das ein wichtiges Unternehmen.« »Ja«, sagte ich. »Nun, ich werde tun, was ich nur kann«; und nach dem Lunch und einigem Nachdenken rief ich Oliver an, dessen Hoffnungen bislang niemand gestärkt hatte. »Setzen Sie sich hin«, sagte ich. »Was ist los?« Er klang alarmiert. »Was ist los?« »Wissen Sie, was teratogen bedeutet?« sagte ich. »Ja, natürlich. Mit Stuten muß man immer aufpassen.« »Mm … Also, es war ein teratogener Stoff in der Fla sche Hundeshampoo, die Ginnie hatte.« »Was?« Seine Stimme hob sich bei dem Wort um eine Oktave, bebte vor instinktivem, unbedachtem Zorn. »Ja«, sagte ich. »Nun beruhigen Sie sich. Die Polizei meint, es beweist überhaupt nichts, aber Gordon und Hen ry, unser Präsident, stimmen darin überein, daß es die ein zige Hoffnung ist, die uns bleibt.« »Aber Tim …«, die Erkenntnis kam ihm, »… das hieße doch … das hieße doch …« 310
»Ja«, sagte ich. »Es würde heißen, daß Sandcastle immer treu und gut gezeugt hat und den Goldminen-Status zu rückerlangen könnte.« Ich hörte Olivers stoßweisen Atem und konnte seine Pulsgeschwindigkeit nur ahnen. »Nein«, sagte er. »Nein. Wenn Shampoo in eine Ladung Futter geraten wäre, müßten alle Stuten, die es fraßen, da von betroffen worden sein, nicht nur die von Sandcastle gedeckten.« »Wenn das Shampoo zufällig in das Futter kam, ja. Wenn es vorsätzlich verabreicht wurde, nein.« »Ich kann nicht … ich kann nicht…« »Ich bat Sie doch, sich hinzusetzen«, sagte ich eindring lich. »Ja, das stimmt.« Eine Pause trat ein. »Ich sitze«, sagte er. »Es wäre zumindest möglich«, sagte ich, »daß die Leute vom Pferdeforschungsinstitut an Sandcastle nichts finden konnten, weil er tatsächlich nichts hat.« »Ja«, stimmte er leise zu. »Und es ist möglich, Stuten teratogene Stoffe einzu geben.« »Ja.« »Aber Pferde würden kein Shampoo trinken.« »Nein, gerade Vollblüter sind sehr wählerisch.« »Also wie würden Sie ihnen Shampoo geben, und wann?« Nach einer Pause sagte er, immer noch atemlos: »Ich weiß nicht wie. Sie würden es ausspucken. Aber wann ist leichter, und zwar müßte das wohl allenfalls drei bis vier Tage nach der Empfängnis passieren. Da bildet sich die 311
Körperanlage im Embryo … da könnte eine kleine Dosis teratogener Substanz eine Menge Schaden anrichten.« »Wollen Sie damit sagen«, fragte ich, »man braucht ei ner Stute nur einmal Selen zu geben, um für ein mißgebil detes Fohlen zu sorgen?« »Einer Stute was geben?« »Entschuldigung. Selen. Ein Mittel zur Behandlung von Schuppen.« »Du … lieber Himmel.« Er fand langsam die Kontrolle wieder. »Es käme wahrscheinlich auf die Stärke der Dosis an und auf die zeitliche Anpassung. Vielleicht drei oder vier Dosen … Wissen kann das eigentlich niemand, weil es noch keiner probiert hat … Ich meine, es gibt keine Un tersuchungen darüber.« »Nein«, stimmte ich zu. »Aber angenommen, in diesem Fall konnte jemand den Zeitpunkt und die Dosis bestim men und fand auch eine Möglichkeit, das Shampoo ge nießbar zu machen, wer war es dann?« Eine längere Stille trat ein, in der auch seine Atmung sich beruhigte. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Theoretisch könnten es gewesen sein: ich, Ginnie, Nigel, die Watcher leys oder einer von den Pflegern, die letztes Jahr hier wa ren. Sonst war niemand oft genug im Gestüt.« »Wirklich niemand? Was ist mit dem Tierarzt, dem Huf schmied oder einfach einem Freund auf Besuch?« »Es gab aber doch achtzehn mißgebildete Fohlen«, sagte er. »Ich würde meinen, da muß es jemand gewesen sein, der die ganze Zeit hier ein und aus gehen konnte.« »Und jemand, der wußte, welche Stuten herausgreifen«, sagte ich. »Wäre an dieses Wissen leicht ranzukommen?« 312
»Leicht!« brauste er auf. »Das wird hier jedem geradezu eingetrichtert. In allen Futterkammern und im Deckstand selbst hängen Listen, wo draufsteht, welche Stuten von welchem Hengst beschält werden sollen. Nigel hat eine, dann ist eine in meinem Büro, eine bei den Watcherleys – überall. Jeder soll dauernd auf den Listen nachsehen, da mit keine Fehler passieren.« »Und alle Pferde«, sagte ich langsam, »tragen Halfter mit ihren Namen.« »Ja, stimmt. Eine unentbehrliche Vorsichtsmaßregel.« Alles schön handlich, dachte ich, für jemand, der mit be stimmten Stuten etwas im Schilde führte und mit anderen nicht. »Ihr Fohlen von Sandcastle«, sagte ich, »ist einwandfrei … und das könnte daran liegen, daß Ihre Stute auf den Li sten für Diarist vorgesehen war.« »Tim!« »Nehmen Sie es in acht«, sagte ich. »Und geben Sie auf Sandcastle acht.« »Bestimmt«, sagte er glühend. »Und, Oliver … ist der Bursche namens Shane noch bei Ihnen?« »Nein, er ist weg. Dave und Sammy auch, die Ginnie ge funden hatten.« »Könnten Sie mir dann in die Bank eine Liste der Na men und Adressen aller Leute schicken, die im vorigen Jahr für Sie gearbeitet haben, und auch dieses Jahr? Und ich meine alle, sogar Ihre Haushälterin und jeden, der für Nigel gearbeitet oder die Quartiere geputzt hat oder ähnli ches.« »Auch meine Halbtagssekretärin?« »Auch die.« 313
»Sie kommt nur an drei Vormittagen in der Woche.« »Das könnte genügen.« »In Ordnung«, sagte er. »Ich erledige das sofort.« »Ich war heute morgen bei Oberinspektor Wyfold«, sagte ich. »Er hält es aber bloß für einen Zufall, daß Ginnie Shampoo mit einem fohlenschädigenden Stoff bei sich hat te. Wir müssen eine ganze Menge mehr aufbieten, um ihn zu überzeugen. Falls Ihnen also irgend etwas einfällt…« »Ich werde an nichts anderes denken.« »Wenn Dissdale Smith Sie anrufen und auf eine Antwort drängen sollte«, sagte ich, »sagen Sie einfach, die Bank sei noch zu keiner Entscheidung gekommen und hielte Sie hin. Erzählen Sie ihm nichts von dieser neuen Möglich keit. Wir behalten es vielleicht am besten für uns, bis wir beweisen können, ob es stimmt oder nicht.« »Guter Gott«, sagte er angstvoll, »ich hoffe, es stimmt.« Am Abend sprach ich mit Pen und fragte sie, ob sie ir gendeine Methode kannte, das Selen aus dem Shampoo herauszulösen. »Das Dumme ist anscheinend«, sagte ich, »daß man das Zeug, so wie es ist, einfach nicht in ein Pferd reinbekäme.« »Ich kümmere mich drum«, sagte sie, »aber natürlich werden die Chemiker des Herstellers sich ziemlich ange strengt haben, damit das Selen in der ganzen Mischung schwebt und nicht auf den Boden absinkt.« »Es stand aber ›Gut schütteln‹ auf der Flasche.« »Mm, nur könnte sich das auf die Seife beziehen statt auf das Selen.« Ich überlegte. »Na gut, könnte man denn die Seife her auskriegen? Muß ja wohl die Seife sein, was den Pferden nicht schmeckt.« 314
»Ich werde mir die größte Mühe geben«, versprach sie. »Ich frage mal ein paar Bekannte.« Sie zögerte. »Aber viel ist von dem Shampoo nicht übrig, weil ich doch schon die Proben nach Amerika und an das britische Labor geschickt habe.« »Wieviel ist es noch?« fragte ich besorgt. »Ein halber Eierbecher voll. Vielleicht weniger.« »Genügt das?« »Wenn wir mit Reagenzgläsern arbeiten … möglich.« »Und Pen … Könnten Sie oder Ihre Bekannten auch mal abschätzen, wieviel Shampoo man brauchen würde, um eine teratogene Dosis Selen für eine Stute zu erhalten?« »Sie haben wirklich knifflige Fragen auf Lager, liebster Tim, aber versuchen werden wir’s bestimmt.« Drei Tage später ließ sie mir durch Gordon ausrichten, daß sie bis zum Abend vielleicht einige Antworten wüßte, falls ich Lust hätte, nach der Arbeit bei ihr vorbeizu kommen. Ich hatte und kam, und mit einem lächelnden Gesicht öffnete sie ihre Haustür und ließ mich herein. »Etwas zu trinken?« sagte sie. »Ja, schon, aber …« »Alles der Reihe nach.« Vorsichtig schenkte sie Whisky für mich und Cinzano für sich ein. »Hunger?« »Pen…« »Es sind nur Brötchen mit Schinken und Salat. Ich koche nie groß, wie Sie wissen.« Sie verschwand in ihrer selten benutzten Küche und kam mit den Opfergaben wieder, die sich als schön saftig erwiesen und ziemlich so, wie ich sie selbst gemacht hätte. »In Ordnung«, sagte sie schließlich und schob die leeren 315
Teller weg. »Jetzt werde ich Ihnen erzählen, was wir er reicht haben.« »Endlich.« Sie grinste. »Ja. Nun denn, wir gingen von der Prämisse aus, daß, wenn jemand Shampoo als Selenquelle benutzen mußte, dieser Jemand keinen direkten oder leichten Zu gang zu giftigen Chemikalien hatte, womit er gleichzeitig auch nicht über hochentwickelte Apparate verfügte, mit denen man Stoffe voneinander trennen kann – eine Zentri fuge zum Beispiel. Okay soweit?« Ich nickte. »Was wir, so gesehen, also brauchten, war eine einfache Methode, die nur alltägliche Geräte einbezog. Etwas, was jeder überall machen konnte. Also fingen wir damit an, daß wir das Shampoo durch einen Papierfilter laufen lie ßen, und wir glauben, man könnte für den Zweck fast alles nehmen, wie ein Küchentuch, ein Papiertaschentuch oder dünnes Löschpapier. Das tatsächlich beste und schnellste Ergebnis erzielten wir mit einem Kaffeefilter, der immer hin speziell dafür geschaffen ist, sehr feine feste Stoffe zu rückzuhalten, während er Flüssigkeiten leicht durchläßt.« »Ja«, sagte ich. »Sehr logisch.« Pen lächelte. »So kamen wir denn zu ein paar Filtertü ten, in denen sich hoffentlich die mikroskopisch kleinen Selenteilchen verfangen hatten. Die Filter waren durch das Shampoo hellgrün verfärbt. Ich habe Ihnen zur An sicht einen mitgebracht … ich hole ihn.« Sie huschte mit den leeren Abendbrottellern hinaus in die Küche und kam mit einem kleinen Tablett wieder, auf dem zwei Gläser standen. Ein Glas enthielt grün verfärbte Kaffeefilterschnitzel in etwas, das aussah wie Öl, und das zweite Glas enthielt nur ein aufrecht stehendes Reagenzglas, das oben mit einem 316
Korken verschlossen war und am Boden eine ein Zentime ter hohe dunkle Lösung aufwies. »Einer meiner Bekannten in dem Labor versteht viel von Pferden«, sagte Pen, »und er meinte, daß alle Pferde an den Geschmack von Leinsamenöl gewöhnt sind, das sie ziemlich oft als Abführmittel ins Futter bekommen. Also holten wir etwas Leinsamenöl und zerschnitten den Filter und tränkten ihn darin.« Sie zeigte auf das Glas. »Die Se lenteilchen schwammen aus dem Papier in das Öl.« »Sauber«, sagte ich. »Ja. Dann gossen wir also das Ergebnis in das Reagenz glas und warteten einfach vierundzwanzig Stunden oder so, und die Selenteilchen sanken langsam durch das Öl auf den Boden.« Sie sah mir ins Gesicht, um sicherzugehen, daß ich verstand. »Wir übertrugen das Selen von der Sei fen-Wachs-Base, in der es schwebt, auf eine Ölbase, in der es nicht mehr schwebt.« »Ich verstehe schon«, versicherte ich ihr. »In dem Reagenzglas hier«, sagte sie mit der schwung vollen Gebärde eines Taschenspielers, »haben wir also konzentriertes Selen, von dem das überschüssige Öl abge gossen ist.« Sie nahm das Röhrchen aus dem Glas, ohne es zu kippen, und zeigte mir die bräunlich trübe Flüssigkeit darin, am dunkelsten am Boden, oben fast bernsteinhell. »Wir hatten nur so eine kleine Probe zur Verfügung, daß wir mehr als das hier nicht herausziehen konnten. Aber dieses dunkle Zeug ist einwandfrei Selensulfit. Wir über prüften es auf einer Art Abtaster, der sich GasChromatograph nennt.« Sie grinste. »Unsinn, auf hoch entwickelte Apparate zu verzichten, wenn sie gleich neben einem stehen, und wir waren zufällig im Forschungslabor einer Uniklinik.« »Sie sind fabelhaft.« 317
»Ziemlich gut«, bestätigte sie mit komischer Beschei denheit. »Wir schätzten außerdem, daß speziell dieses Shampoo zu fast zehn Prozent aus Selen besteht – ein sehr viel größerer Anteil, als er in Shampoos für Men schen vorkommt. Wir sind alle der Meinung, daß die Menge in dem Reagenzglas ausreicht, Mißbildungen bei einem Fohlen zu erzeugen – oder bei jeder anderen Spe zies, was das angeht. Wir fanden noch viele Hinweise in anderen Büchern – mit verkrüppelten Füßen geborene Lämmer zum Beispiel, wo die Schafe Pflanzen abgefres sen hatten, die auf selenreichem Boden wuchsen. Wir sind der Meinung, daß am entscheidendsten der Zeitpunkt ist, wann die Stute das Selen aufnimmt, und wir glauben, um sicherzustellen, daß das gewünschte Ergebnis eintritt, müßte man drei oder vier Tage lang täglich Selen vera breichen, angefangen zwei oder drei Tage nach der Emp fängnis.« Ich nickte langsam. »Das ist auch die Zeitspanne, die Oliver genannt hat.« »Und wenn man zuviel gäbe«, sagte sie, »eine zu große Dosis, dann bekäme man eher Fehlgeburten als wirklich schwere Mißbildungen. Der Embryo würde nämlich über haupt nur weiterwachsen, wenn der durch Selen verur sachte Schaden relativ gering ist.« »Es waren eine Menge verschiedener Mißbildungen«, sagte ich. »Ja klar. Es kann unterschiedslos jede wachsende Zelle angreifen.« Ich nahm das Reagenzglas und betrachtete den trüben Inhalt genau. »Wahrscheinlich brauchte man nichts weiter zu tun, als das in eine Tasse voll Hafer zu rühren.« »So ist es.« »Oder … könnte man es in eine Kapsel stecken?« 318
»Ja, wenn man die Mittel hat. Im Labor wäre uns das ein leichtes gewesen. Man müßte in dem Fall natürlich mög lichst viel von dem Öl entfernen und nur das konzentrierte Selen in die Kapseln schmieren.« »Mm. Calder würde es wohl können?« »Calder Jackson? Aber ja, ich nehme an, er könnte, wenn Sie’s wollten. Er hat alles, was man dafür braucht.« Sie hob den Kopf, als ihr etwas einfiel. »Er ist übrigens morgen abend im Fernsehen.« »Aha?« »Ja. Es wurde heute abend nach den Nachrichten ange kündigt, ehe Sie kamen. Er wird in dieser Talkshow zu Gast sein … Mickey Bonwiths Sendung … Schon mal ge sehen?« »Ab und zu«, sagte ich nachdenklich. »Die wird doch li ve übertragen, nicht?« »Ja, stimmt.« Sie schaute mich etwas verwirrt an. »Was geht Ihnen denn jetzt durch das Computerhirn?« »Eine kleine Risikoberechnung«, sagte ich langsam, »und einmalige Gelegenheiten, die es zu ergreifen gilt. Und sagen Sie mir, liebste Pen, wenn ich plötzlich noch mal in Calders Praxis stünde, wonach müßte ich da su chen?« Sie starrte mich buchstäblich mit offenem Mund an. Dann fing sie sich und sagte: »Sie meinen doch nicht ernsthaft … Calder?« »Nun«, sagte ich nüchtern. »Was ich wirklich möchte, ist Gewißheit in der einen oder anderen Hinsicht. Denn ich finde schon, auch wenn es traurig ist, das zuzugeben, daß sich, wenn man Dissdales Angebot für Sandcastle mit je mandem verknüpft, der vorsätzlich die Stuten vergiftet, und dann Calders Erfahrung mit Kräutern hineinbringt – 319
zu denen ja auch selenhaltige Pflanzen gehören könnten –, daß sich daraus zumindest ein Fragezeichen ergibt. Da möchte man doch genau wissen, meinen Sie nicht, ob Calder und Dissdale sich darangemacht haben, Sandcastles Wert vorsätzlich zu untergraben, damit sie ihn für ein But terbrot kaufen könnten … Damit Calder eine vielbeachte te, ›Wunderheilung‹ irgendwelcher Art an Sandcastle vollbringen könnte, der danach stets einwandfreie Fohlen zeugen würde und im Ansehen allmählich wieder stiege. Dessen Taxen vielleicht nie mehr auf vierzigtausend Pfund kämen, sich mit den Jahren aber doch auf ein Ver mögen belaufen würden.« »Aber das geht doch nicht«, sagte Pen entgeistert. »Ich meine … Calder und Dissdale … wir kennen sie doch.« »Und Sie müssen in Ihrer Branche, genau wie ich in meiner, schon präsentablen, vertrauenerweckenden Gau nern begegnet sein.« Sie schwieg und starrte mich bekümmert an, bis ich schließlich sagte: »Da ist noch etwas. Wieder nichts, was ich beschwören könnte – aber das erste Mal, als ich zu Calder kam, hatte er einen Pfleger dort, der mich stark an den Jungen mit dem Messer in Ascot erinnerte.« »Ricky Barnet«, sagte Pen nickend. »Ja. Den Namen von Calders Pfleger weiß ich nicht mehr, und ich könnte ihn nach der ganzen Zeit jetzt nicht identifizieren, aber bei Oliver sah ich einen Pfleger na mens Shane, der mich ebenfalls an Ricky Barnet erinnerte. Ich habe keine Ahnung, ob Shane und Calders Pfleger ein und dieselbe Person sind, obwohl es vielleicht nicht der Fall ist, denn ich glaube nicht, daß Calders Pfleger Shane hieß, sonst hätte ich mich erinnert, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Klar«, sagte sie. 320
»Aber wenn – und das ist ein großes Wenn – wenn Sha ne einmal für Calder gearbeitet hat, könnte er noch für ihn arbeiten … indem er Stuten Selen zu fressen gibt.« Pen ließ sich Zeit, ihre lebenserfahrenen Augen blickten ernst, und sie sagte schließlich: »Irgend jemand müßte an Ort und Stelle gewesen sein, um die Fütterung zu über nehmen, und Calder oder Dissdale kommen sicher nicht in Frage. Aber könnte es nicht dieser Aufseher Nigel gewe sen sein? Für ihn wäre es ein leichtes gewesen. Ange nommen, Dissdale und Calder haben ihn bezahlt …? An genommen, sie haben ihm eine Stellung versprochen oder gar einen Anteil an Sandcastle, wenn sie das Pferd erst in Besitz haben?« Ich schüttelte den Kopf. »Ja, die Frage nach Nigel habe ich mir auch gestellt. Aber es gibt einen guten Grund, warum er es wahrscheinlich nicht ist, und zwar, weil er, und er allein, neben Oliver wußte, daß eine der für Diarist vorgesehenen Stuten von Sandcastle gedeckt wurde.« Ich erklärte die Sache mit Olivers spontaner Paarung. »Das Fohlen ist perfekt, könnte es aber durchaus auch nicht ge wesen sein, wenn Nigel das Füttern besorgt hätte.« »Nicht ganz schlüssig«, sagte Pen langsam. »Nein.« Sie bewegte sich leicht. »Haben Sie der Polizei das alles erzählt?« »Hatte ich vor«, sagte ich. »Aber als ich am Montag dort war, bei Wyfold, schien es undenkbar. Es war alles so un wirklich. Nur lauter Vermutungen. Vielleicht falsche Schlüsse. Dissdales Angebot könnte reell sein. Und ein Pferdepfleger, den ich nur eine halbe Minute vor andert halb Jahren gesehen hatte … es ist schwer, sich nach zehn Minuten an ein fremdes Gesicht zu erinnern, geschweige denn nach der ganzen Zeit. Ich habe nur einen Eindruck 321
von starrer Miene und Sonnenbrille … und ich habe nicht denselben Eindruck von Olivers Pfleger Shane. Wyfold ist kein Mann, dem man vage kommen kann. Ich hielte es für besser, etwas Bestimmteres zutage zu fördern, ehe ich wieder zu ihm gehe.« Sie kaute an ihrem Daumen. »Können Sie sich diesen Shane nicht noch mal gut ansehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Oliver entläßt die Pfleger nach und nach, wie er’s jedes Jahr um die Zeit macht, und Sha ne ist schon gegangen. Oliver weiß nicht, wo er hin ist, und hat keine Adresse von ihm, was er nicht für besonders ungewöhnlich hält. Anscheinend können Pfleger endlos von einer Stallung zur nächsten wandern und dabei als Adresse auf ihren Papieren lediglich die ihres letzten oder gegenwärtigen Arbeitgebers vorweisen. Aber ich glaube, wir könnten Shane finden, wenn wir Glück haben.« »Wie denn?« »Indem wir Ricky Barnet im Profil fotografieren und auf Rennplätzen herumfragen.« Sie lächelte. »Es könnte klappen. Vielleicht ja.« »Lohnt den Versuch.« Meine Gedanken schweiften zurück zu etwas anderem, das einen Versuch lohnte, und es schien, daß ihre folgten. »Sie haben doch nicht wirklich vor, in Calders Praxis einzubrechen, oder?« sagte sie. »Das Schloß zu knacken«, sagte ich. »Doch.« »Aber…« »Die Zeit läuft weg, und damit auch Olivers Zukunft und das Geld der Bank. Und … ich habe mir geschworen, ich werde tun, was ich kann.« Sie sah mir neugierig ins Gesicht. »Sie haben keine rich tige Vorstellung von Gefahr, nicht wahr?« 322
»Was meinen Sie damit?« »Ich meine … an dem Tag in Ascot sah ich, wie Sie sich einfach auf den Jungen warfen, auf das Messer. Sie hätten ohne weiteres böse verletzt werden können. Und Ginnie erzählte uns, daß sie vor Angst geheult hat darüber, wie Sie auf Sandcastle los sind, um ihn einzufangen. Sie sagte, es war selbstmörderisch … und trotzdem haben Sie an scheinend nichts dabei gefunden. Und in Ascot, an dem Abend, da entsinne ich mich, daß Sie von den Polizeifra gen gelangweilt waren, nicht hocherregt durch die Berüh rung mit dem Tod …« Ihre Worte verloren sich. Ich dachte über sie nach und fand in mir selbst einen Grund und eine Antwort. »Nichts, was bisher in meinem Leben passiert ist«, sagte ich ernst, »hat mich in wirkliche Todesangst versetzt. Ich glaube … ich weiß, daß es albern klingt … aber ich bin nicht von meiner Sterblichkeit überzeugt.«
323
Das dritte Jahr Juni
A
m nächsten Tag, Freitag, dem 1. Juni, griff ich eine alte Einladung auf und ging zum Vorstand einer Ge bäudeschutzfirma essen, der ich Kredit für die Einführung eines neuen Alarmsystems gewährt hatte. Es überraschte sie nicht sonderlich, daß ich dort war, um sie um einen Gefallen zu bitten, und nach einer fünfmal so kalorienhal tigen Mahlzeit wie bei Ekaterin gaben sie mir drei Schlüs sel, die außer den Kronjuwelen fast alles aufschließen konnten, und einen Intensivkurs für ihre Benutzung gleich dazu. »Diese Dietriche sind ausschließlich zum Türenöffnen in Notfällen bestimmt«, sagten die Schlosser lächelnd. »Wenn Sie im Gefängnis landen, kennen wir Sie nicht.« »Wenn ich im Gefängnis lande, schicken Sie mir bitte ein neues Bund in einer Obsttorte.« Ich dankte ihnen und ging und übte diskret an den Büro türen in der Bank, mit beachtlichen Resultaten. Als ich heimkam, öffnete ich mir die Haustür mit den Schlüsseln und schloß jeden Schrank und jede Schublade, die ein Schlüsselloch hatte, einmal auf und zu. Dann zog ich ei nen dunklen Rollkragenpullover über mein Hemd und meinen Schlips und fuhr ohne großes Zittern nach New market. Ich ließ meinen Wagen ein Stück von Calders Haus entfernt stehen und beendete die Reise zu Fuß, trat 324
gelassen im letzten Licht des langen Sommerabend dämmers in seinen Hof und überzeugte mich mit einem Blick auf meine Uhr, daß es fast zehn war, die Zeit, um die Mickey Bonwith seine Gäste zu Prunksesseln führte und öffentlich in ihren Seelen bohrte. Calder würde eine großartige Vorstellung liefern, dachte ich. Und das Bedauern, das ich wegen meiner Verdächti gungen empfand, wurde doppelt stark, als ich auf die Sil houette seines Hauses vor dem Himmel sah und mich an seine unkomplizierte Gastfreundschaft erinnerte. Die Zu rückhaltung, die im Grunde immer zwischen uns bestan den hatte, erkannte ich nun als meine eigenen instinktiven und unterdrückten Zweifel. Aus dem Wunsch, Wert zu se hen, hatte ich welchen gesehen. Und der Versuch, jetzt zu beweisen, daß ich mich getäuscht hatte, stimmte mich eher traurig als zufrieden. Sein Hof war dunkel und still, die Pfleger längst alle fort. In der Eingangshalle des Hauses brannte ein einziges Licht, ein mattgelber Tupfer, flüchtig zu sehen durch die im sanf ten Wind zitternden Büsche. Hinter den geschlossenen Tü ren der Boxen würden die Patienten dösen, jene Patienten mit eiternden Wunden und blutenden Eingeweiden und al len möglichen Leiden, die auf die Berührung warteten. Sandcastle war, wenn ich recht hatte, dazu ausersehen worden, auch dort zu stehen, während Calder sein »Wun der« vollbrachte, ohne erklären zu müssen, wie er es ge macht hatte. Erklärt hatte er nie: Er hatte immer im Rund funk verkündet, er wisse nicht, wie seine Kraft wirkte; er wisse nur, daß sie funktionierte. Tausende, vielleicht Mil lionen glaubten an seine Kraft. Vielleicht hätten sogar Züchter, diese Getreuen des Traums, zu guter Letzt an sie geglaubt. Ich kam zu der Praxis, einem grauen Block in der he reinbrechenden Nacht, und steckte einen der Dietriche in 325
das Schlüsselloch. Die Zuhaltungen drehten sich ohne Wi derstand, viel geölt und gebraucht, und ich stieß die Tür auf und ging hinein. Fenster waren keine zu beachten. Ich schloß die Tür hin ter mir und schaltete das Licht an und begann sofort mit der Suche, wegen der ich gekommen war: nach Selen in hausgemachten Kapseln, in einem Filtergerät oder in Shampooflaschen. Pen hatte Zweifel gehegt, daß irgend jemand noch ein zweites Jahr Selen verabreichen würde, wenn das erste sich als so wirksam erwiesen hätte, doch ich hatte sie dar an erinnert, daß Sandcastle in diesem Jahr bereits viele neue Stuten gedeckt hatte, ehe Kunde von den mißgebilde ten Fohlen kam. »Wer immer es war, zu dem Zeitpunkt konnte er noch nicht wissen, daß er Erfolg gehabt hatte. Um also sicher zugehen, wird er wohl weitergemacht haben, und viel leicht mit erhöhter Dosis … und wenn dieses Jahr kein Se len verabreicht wurde, wieso hatte es dann Ginnie?« Pen hatte widerstrebend nachgegeben: »Wahrscheinlich suche ich bloß Gründe, damit Sie nicht zu Calder gehen.« »Wenn ich irgend etwas finde, kann Oberinspektor Wy fold später mit einem Durchsuchungsbefehl nachziehen. Machen Sie sich doch nicht solche Sorgen.« »Nein«, hatte sie gesagt und weiter genauso besorgt aus gesehen. Die verschlossenen Schränke auf beiden Seiten von Cal ders Praxis erwiesen sich als Kinderspiel für die Dietriche, doch der Inhalt war ein Rätsel, da so wenige von den Glä sern und Dosen zweckmäßig mit einem Etikett versehen waren. Einige stammten zwar aus dem Handel, aber das schienen vor allem die Kräuter zu sein, von denen Calder gesprochen hatte: Gelbwurz, Schwarzwurz, Fo-ti-tieng, 326
Myrrhe, Sarsaparille, Süßholz, Passiflora, Knoblauch; von allem ein guter Vorrat. Nichts trug entgegenkommend die Aufschrift Selen. Ich hatte eine ziemlich dicke Polyäthylentüte mit einem Reißverschluß auf einer Seite mitgenommen, die ehedem eine Seidenkrawatte mit Tuch beherbergt hatte, ein Weih nachtsgeschenk von meiner Mutter. Da hinein steckte ich systematisch zwei oder drei Kapseln aus jeder Flasche und zwei bis drei Pillen von jeder Sorte sowie kleine KräuterDuftkissen: Und Pen, dachte ich, würde ihre liebe Mühe haben, das alles zu sortieren. Als die Tüte fast halb voll mit Proben war, verschloß ich sorgfältig die Schränke wieder und ging an den Kühl schrank, der ein gängiger Haushaltstyp war und nur eine Magnetzuhaltung hatte. Es waren keine Shampooflaschen drin. Keine Kaffeefil ter. Kein Leinsamenöl. Einfach nur die großen Plastikbe hälter mit Calders Allheiltonikum. Ich dachte, davon könnte ich gleich auch etwas mitneh men, um Pens Neugierde zu stillen, und tat mich nach einem kleinen Gefäß um und fand ein paar leere Arzneiflaschen in einem Schränkchen unter der Werkbank. Überm Spülstein goß ich etwas von dem Stärkungsmittel in eine Arzneiflasche und stellte den Plastikbehälter sorgfältig zurück an seinen Platz im Kühlschrank. Die Arzneiflasche stellte ich zum Mitnehmen bereit auf die Bank und ging endlich an die Schubladen, in denen Calder Dinge wie Hopfen und auch seine antiquarische Pillendreherausrüstung verwahrte. Alles war ordentlich und sauber wie zuvor. Wenn er da wirklich Kapseln mit Selen hergestellt hatte, so konnte ich heute jedenfalls keine Spur davon sehen. Mit wachsender Enttäuschung ging ich jede Schublade kurz durch. Tüten mit Körnern: Sesam, Kürbis, Sonnenblume. 327
Tüten mit getrockneten Kräutern, Himbeerblättern, Luzer ne. Schachteln mit den leeren Hälften von Gelatinekapseln, die auf Inhalt warteten. Leere unbenutzte Pillenfläschchen. Alles wie zuvor: Nichts, was ich nicht schon gesehen hatte. Die größte untere Schublade enthielt immer noch die Plastiksäcke mit Hopfen. Ich machte einen davon auf und fand nur das erwartete, herb riechende Getreide, verschloß den Sack wieder, bewegte ihn etwas, um ihn an seinen Platz zu rücken, und sah, daß unter den Hopfensäcken eine braune Lederaktentasche lag, normale Größe, fünfzehn Zentimeter tief. Mit dem Gefühl, Zeit zu vergeuden, zog ich sie heraus auf die Tischplatte über den Schubladen und versuchte sie zu öffnen. Beide Schlösser waren abgesperrt. Ich kramte nach den Schlüsseln in meiner Hosentasche und drehte den klein sten behutsam hin und her, bis die Mechanismen klickten. Öffnete die Lasche. Fand leider keine Flaschen mit Hun deshampoo, aber andere Dinge, die mich langsam zu Stein erstarren ließen. Der Inhalt sah auf den ersten Blick aus, als gehörte die Tasche einem Arzt: Stethoskop, Stiftlampe, Metallinstru mente, alles in eingebauten Fächern. Ein Karton ohne Deckel barg vier bis fünf Tuben mit antibiotischer Salbe. Eine große Flasche enthielt nur wenige kleine weiße Ta bletten, auf dem Flaschenetikett ein langer Name, den ich kaum lesen und mir erst recht nicht merken konnte, in Klammern darunter »harntreibend«. Ein Block mit Re zeptformularen, leer und gebrauchsfertig. Es waren der Name und die Anschrift des Stempels auf den Rezeptformularen und die schweren, goldgeprägten Initialen auf dem Leder unterhalb des Griffs der Tasche, die mich völlig lähmten. 328
I. A. P. auf der Tasche.
Ian A. Pargetter auf den Rezepten.
Ian Pargetter, Tierarzt, Adresse in Newmarket.
Seine Tasche war verschwunden in der Nacht, als er
starb. Diese Tasche … Mit Fingern, die zu zittern begannen, nahm ich eine der Antibiotikatuben und einige der harntreibenden Tabletten und drei von den Rezeptformularen und steckte sie zu meiner übrigen Beute, dann prüfte ich mit einem Herzen, das mindestens rund zweimal schneller als normal schlug, ob alles an seinem Platz war, ehe ich die Tasche schloß. Ich spürte ebensosehr wie ich hörte, daß die Tür der Pra xis aufging, denn der Luftstrom erreichte mich im selben Moment wie die Abendgeräusche. Ich drehte mich um in der Annahme, einer von Calders Pflegern sei auf einen späten Klinikrundgang gekommen und fragte mich, wie ich je meine Anwesenheit erklären könnte; da sah ich, daß überhaupt keine Erklärung genügen würde. Es war Calder selbst, der durch die Tür kam. Calder mit dem Licht auf seinem Lockenkranz, Calder, der hundert Meilen entfernt hätte sein sollen, um auf dem Bildschirm zur Nation zu sprechen. Sein zunächst überraschter Ausdruck schlug sofort in grimmiges Taxieren um, sein Blick flog von der Arznei flasche mit der Stärkungsmixtur auf der Werkbank zu der of fen daliegenden Tierarzttasche. Schreck, Ungläubigkeit und Wut mündeten in eine unmittelbar gewalttätige Reaktion, und er handelte so schnell, daß ich, selbst wenn ich geahnt hätte, was er tun würde, nicht hätte ausweichen können. Sein rechter Arm holte in einem Bogen aus, kam vor der Wand neben der Tür herunter und zog aus dem Gestell, an 329
dem er fest war, einen schlanken scharlachroten Feuerlö scher. Der Schwung schien mir ununterbrochen. Das rote, massige Unterteil des Feuerlöschers füllte im Bruchteil ei ner Sekunde mein Gesichtsfeld und traf mit einem Kra chen auf meine Stirn. Ich verlor sofort das Bewußtsein. Die Welt kehrte mit der gleichen Art von Ein-AusSchaltung wieder: Eine Sekunde war ich weg, die nächste wach. Keine graue Dämmerzone, keine Sternschnuppen, bloß Ein-Aus, Aus-Ein. Ich lag mit dem Rücken auf stinkendem Stroh in einer elektrisch beleuchteten Pferdebox, aus einem Meter acht zig Höhe argwöhnisch von einem braunen Pferd beäugt. Ich konnte mich in der ersten Minute nicht entsinnen, wie ich dahin gekommen war; es schien eine zu unwahr scheinliche Lage zu sein. Dann kam mir die Erinnerung an eine rote Kugel, die über meinen Augen einschlug und dann, blitzartig, die völlige Besinnung auf den Abend. Calder. Ich war in einer Box in Calders Stall. Ich war dort, weil Calder mich vermutlich hineingesteckt hatte. Bis auf weiteres? fragte ich mich. Bis auf was? Ohne jeden beruhigenden Gedanken traf ich Anstalten aufzustehen, merkte aber, daß ich, wenn auch ganz bei Bewußtsein, doch nicht ganz bei Kräften war. Eine schwindelnde Benommenheit ließ die Wände kippen, als wollten die grauen Betonblöcke sich herabbeugen und auf mich stürzen. Ein wenig fluchend versuchte ich es lang samer noch mal und brachte es auf einen Ellbogen, wäh rend die Augen in ihren Höhlen Hochseil tanzten. Die obere Hälfte der Stalltür öffnete sich abrupt mit dem 330
Geräusch eines aufklinkenden Schlosses. Calders Kopf er schien im Eingang, und sein Gesicht zeigte Schock und Bestürzung, als er mich wach sah. »Ich dachte«, sagte er, »Sie wären bewußtlos … Sie würden nichts merken. Ich hab’ Sie ziemlich schwer ge troffen … Sie müßten eigentlich weg sein.« Seine Stimme, die diese sonderbaren Worte aussprach, klang weiter nichts als normal. »Calder…«, sagte ich. Er blickte mich nicht mehr böse, sondern beinahe ent schuldigend an. »Schade, Tim«, sagte er. »Es tut mir leid, daß Sie gekommen sind.« Die Wände schienen langsamer zu werden. »Ian Pargetter …«, sagte ich. »Haben Sie ihn … umge bracht? Doch nicht Sie?« Calder holte einen Apfel hervor und gab ihn fast geistes abwesend dem Pferd zu fressen. »Leider, Tim. Er war so stur. Er weigerte sich …« Er tätschelte den Hals des Pfer des. »Er wollte nicht, wie ich wollte. Sagte, es sei vorbei, er hätte genug. Er würde mich stoppen, wissen Sie.« Einen Augenblick schaute er auf das Pferd und dann auf mich herunter. »Warum sind Sie gekommen? Ich habe Sie ge mocht. Ich wünschte, Sie hätten es nicht getan.« Ich versuchte erneut aufzustehen, und der Schwindel kam wieder wie vorher. Calder machte einen Schritt zu rück, aber nur einen und hielt an, als er sah, daß ich unfä hig war, aufzustehen und anzugreifen. »Ginnie«, sagte ich. »Nicht Ginnie … Sagen Sie, daß nicht Sie es waren, der Ginnie erschlagen hat…« Er sah mich einfach an und sagte es nicht. Schließlich sagte er bloß, mit deutlichem Bedauern: »Ich wünschte, ich hätte Sie härter getroffen … aber es schien … ausrei 331
chend.« Er trat noch einen Schritt zurück, so daß ich nur den Lockenhelm unter dem Licht sehen konnte und dunkle Schatten, wo seine Augen waren; und dann, während ich mich noch auf die Knie mühte, schloß er die Halbtür und verriegelte sie und schaltete von draußen das Licht aus. Nachtblindheit machte das Aufstehen noch schwerer, aber wenigstens konnte ich die Wände nicht kreisen sehen, lediglich spüren, daß sie sich drehten. Ich merkte, daß ich an einer der Wände lehnte, und schließlich stand ich mehr oder minder aufrecht, das Kreuz abgestützt, auch das Ge hirn allmählich wieder im Lot. Das graue Rechteck des Fensters löste sich nach und nach aus der Schwärze, und als mein vierbeiniger Gefährte den Kopf hob, sah ich den feuchten Glanz eines Auges. Fenster … Fluchtweg. Ich glitt an den Wänden entlang zum Fenster und stellte fest, daß es von innen vergittert war, vermutlich weniger, um die Pferde einzusperren, als um zu verhindern, daß sie das Glas zerbrachen. Fünf starke Stäbe jedenfalls waren oben und unten einbetoniert, und ich schüttelte sie, ohne daß sie sich auch nur einen Millimeter rührten. Durch die staubigen Fensterscheiben hatte ich einen seit lichen Blick über den Hof auf die Praxis, und während ich dastand und mich am Gitter festhielt und zuschaute, ging Calder geschäftig durch den offenen, erhellten Eingang ein und aus, brachte Sachen aus der Praxis zu seinem Wagen. Ich sah, wenn mich nicht alles täuschte, wie Ian Pargetters Tasche im Kofferraum verschwand, und erinnerte mich mit Unbehagen, daß ich den Bund Dietriche in einem ihrer Schlösser hatte stecken lassen. Ich sah auch, wie er einen Armvoll von den Flaschen mit unbeschrifteten Kapseln und mehrere Schachteln unergründlichen Inhalts trug, sie sorgfältig im Kofferraum verstaute und ihn abschloß. 332
Calder war damit beschäftigt, seine Spuren zu verwi schen. Ich schrie nach ihm, rief seinen Namen, doch weder hör te er, noch drehte er auch nur den Kopf. Das einzige Er gebnis waren schreckhafte Bewegungen des Pferdes hinter mir, ein Stampfen mit den Hufen und unruhiges Pendeln um die Box. »Schon gut«, sagte ich besänftigend. »Reg dich ab. Schon gut. Hab’ keine Bange.« Die Angst des großen Tieres legte sich, und durch das Fenster beobachtete ich, wie Calder das Licht der Praxis ausschaltete, die Tür abschloß, in seinen Wagen stieg und losfuhr. Er fuhr über die Auffahrt in Richtung Hauptstraße da von, nicht in Richtung seines Hauses. Die Lichtkegel wischten kurz über die Bäume, als er durch das Tor bog, und waren verschwunden. Plötzlich kam ich mir sehr al lein vor, gefangen in diesem schmuddeligen Raum für Gott wußte wie lange. Die Sicht erweiterte sich langsam, so daß ich durch das trübe Licht des Himmels wieder die Umrisse innerhalb der Box sehen konnte: Wände, Futtertrog … Pferd. Das große dunkle Geschöpf mochte nicht, daß ich da war, und wollte sich nicht beruhigen, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich es von meiner Anwesenheit befreien könnte. Die Decke war massiv, nicht wie in manchen Ställen of fen durch die Sparren bis zum Dach. In vielen wäre es ei nem gelenkigen Mann möglich gewesen, die Trennwand von einer Box zur nächsten zu überklettern, hier indessen nicht; und in jedem Fall bestand keine Aussicht, daß es nebenan besser war. Man würde zwar in einer anderen Box sein, wahrscheinlich aber ebenso schlicht und ergrei fend eingesperrt. 333
In den Hosentaschen hatte ich nichts außer einem Ta schentuch. Taschenmesser, Geld und Hausschlüssel lagen alle in meiner Jacke, im Kofferraum meines unverschlos senen Wagens draußen auf der Straße. Der dunkle Pullo ver, der zur Tarnung, für Tempo und Lautlosigkeit günstig erschienen war, hatte mir nicht einmal eine Münze als Schraubenzieher gelassen. Ich überlegte konzentriert, was ein Mensch mit seinen Fingern tun konnte, das ein Pferd mit seiner überlege nen Kraft nicht fertigbrachte, fand aber im Dunkel der Tür nichts zum Aufdrehen oder zum Losmachen; nir gendwo etwas Greifbares. Es sah unangenehmerweise ganz so aus, als müßte ich hierbleiben, bis Calder wie derkam. Und dann … was? Wenn er vorhatte, mich umzubringen, wieso hatte er das nicht schon besorgt? Noch ein oder zwei Schläge mit dem Feuerlöscher hätten gereicht … und ich hätte nichts davon wahrgenommen. Ich dachte an Ginnie, überzeugt jetzt, daß es so für sie gewesen war; daß sie in einem Augenblick noch gedacht hatte und im nächsten … nicht mehr. Dachte an Ian Pargetter, der durch einen Schlag mit sei ner eigenen Messinglampe gestorben war. Dachte an Cal ders Bestürzung und Kummer über das Ereignis, wahr scheinlich nicht weniger real, obwohl er den Mann, um den er trauerte, selbst umgebracht hatte. Calder, erschüttert über den Verlust eines Geschäftsfreundes … des Freundes, den er erschlagen hatte. Er muß ihn, dachte ich, in einem unbändigen Affekt ge tötet haben, weil … wie hatte er gesagt … weil er nicht weitermachen wollte, weil er Calder abhalten wollte von … Calders Vorhaben. 334
Calder hatte mir mit der gleichen Schnelligkeit einen Schlag versetzt: ohne Pause zum Abwägen, ohne Zeit, an die Konsequenzen zu denken. Und er hatte auch in mir nach einem Freund geschlagen, ohne Zögern, und mir kurz darauf gesagt, daß er mich mochte. Calder hatte, als er den Feuerlöscher schwang, rück sichtslos danach getrachtet, den Mann zu töten, der ihm das Leben gerettet hatte. Calders Leben gerettet … O Gott, dachte ich, wieso hatte ich das bloß getan? Der Mann, in dem ich nur Gutes hatte sehen wollen, hat te nach jenem Tag Ian Pargetter umgebracht, Ginnie um gebracht: Und hätte ich ihn nicht gerettet, wären beide noch am Leben gewesen. Die Verzweiflung dieses Gedankens nahm mich völlig ein, stieg ins Ungeheure, so daß ich, wie neulich bei der Trauer um Ginnie, glaubte, mein Körper könne soviel in nerer Bewegung nicht standhalten. Reue und Schuld konn ten wie Drachenzähne aus guten Absichten erwachsen, und es gab wahrhaftig ungeahnte Wege zur Hölle. Ich dachte zurück an diesen fernen Augenblick, der sich auf so viele Leben ausgewirkt hatte: an den unwillkürli chen Reflex, schneller als ein Gedanke, mit dem ich mich auf Rickys Messer geworfen hatte. Wenn ich mich noch einmal hätte entscheiden können, würde ich weggeschaut haben, ohne etwas zu sehen; ja, ich hätte Calder sterben lassen … hätte Ricky sein Glück versuchen lassen, zuge lassen, daß er sein junges Leben zum Teufel schickt, seine sorgenden Eltern vernichtet. Was danach kam, dafür konnte man nichts. Ein Feuerwehrmann oder ein Seenothelfer oder ein Chi rurg mochte mit dem letzten Einsatz seines Könnens um die Rettung eines Säuglings kämpfen und dann feststellen, 335
daß er einen Hitler, einen Nero, Jack the Ripper losgelas sen hatte. Es konnte nicht immer ein Beethoven oder ein Pasteur sein, dessen Leben man verlängerte. Alles, was man verlangte, war ein durchschnittlicher, mäßig sündiger, normal gutmütiger, halbwegs harmloser Mensch. Und wenn er Pferde heilte … um so besser. Vor jenem Tag in Ascot konnte Calder nicht einmal dar an gedacht haben, Sandcastle zu besitzen, da Sandcastle zu dem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seiner Karriere stand und sein Zuchtwert ungesichert war. Aber Calder hatte wie wir alle die Majestät dieses Pferdes gesehen, und ich hatte die Bewunderung in seiner Stimme selbst gehört. Vernunftmäßig wußte ich, daß ich nicht mehr hätte un terlassen können, was einmal geschehen war, doch für mein Gefühl spielte das keine Rolle. Es hielt weder das verschlingende Elend ab noch gewährte es mir irgendei nen Trost. Kummer und Sorge suchen uns alle heim, hatte Pen ge sagt. Und sie hatte recht. Das Pferd wurde nervös und begann auf dem Boden zu scharren. Ich blickte auf meine Uhr, die Digitalzahlen strahlten in der Dunkelheit: zwanzig Minuten etwa, seit Calder gefah ren war. Zwanzig Minuten, die mir wie zwanzig Stunden erschienen. Das Pferd schwenkte plötzlich in dem Halbdunkel heftig herum und stieß mit seinem Hinterteil gegen mich. »Beruhig dich mal, Junge«, sagte ich besänftigend. »Wir müssen nun mal miteinander auskommen. Schlaf doch.« Die Antwort des Pferdes war ein Krachen seines stahlge faßten Hufes gegen die Wand. 336
Vielleicht mag es nicht, daß ich rede, dachte ich, oder nicht einmal, daß ich mich bewege. Sein Kopf schwenkte zum Fenster herum, während seine massigen Beine rastlos von einer Seite der Box zur anderen stampften, und ich sah, daß es im Gegensatz zu Olivers Pferden kein Halfter trug: nichts, um es festzuhalten, während ich ihm zur Be ruhigung den Nacken tätschelte. Er warf den Hals zurück, schlug heftig mit dem Kopf, und mit einem Vorderbein keilte es nach vorn gegen die Wand aus. Nicht lustig, dachte ich. Entsetzlich, in die Schußlinie so eines sausenden Hufes zu geraten. Um Himmels willen, sprach ich in Gedanken auf das Tier ein, ich tu’ dir doch nichts. Halt nur still. Geh schlafen. Ich stand zu dem Zeitpunkt mit dem Rücken zur Tür, so daß ich für das Pferd völlig im Dunkeln gewesen sein muß: Es wußte allerdings, daß ich dort war. Es konnte meine Anwesenheit riechen, meinen Atem hören. Wenn es mich auch sehen könnte, wäre es dann besser? Ich machte einen zögernden Schritt auf das halbdunkle Rechteck des Fensters zu und bekam beängstigend deut lich, klar und jäh eines seiner Augen zu sehen. Kein Friede. Kein Schlaf. Keine Aussicht auf etwas der gleichen. Das Auge des Pferdes war geweitet, so daß sich das Weiße rings um das gewohnte Dunkel zeigte, und es starrte nicht auf mich, sondern funkelte, wie blind, ins Nichts. Die schwarzen Nüstern sahen riesig aus. Die Lippen zo gen sich, während ich hinschaute, von den Zähnen zurück. Die Ohren waren flach an den Kopf angelegt, und Schaum bildete sich um das Maul. Es war das Gesicht, dachte ich ungläubig, nicht der Unruhe oder der Angst … sondern des Wahnsinns. 337
Das Pferd wich plötzlich zurück, krachte mit der Hinter hand in die rückwärtige Wand und wankte wieder vor, je doch diesmal mit beiden Vorderbeinen über dem Boden, so daß der Schimmer um sich schlagender Hufe silberne Linien ins Dunkel zog, die Füße wie gezielt auf die Wand unterhalb des Fensters trafen. Ich drängte mich in panischer Angst in die Ecke, die Tür und Wand bildeten, doch sie bot keinen wirklichen Schutz. Die Box war rund drei Meter im Quadrat und zweieinhalb hoch, ein Raum, den auch im günstigsten Fall ein Pferd schon halb ausfüllte. Für dieses Pferd war sie im Augen blick eine Zwangsjacke, ein Gefängnis, aus dem herauszu sprengen es unbedingt entschlossen schien. Der Trog, dachte ich. Geh in den Trog. Der Trog war etwa in Hüfthöhe quer über eine der hinte ren Ecken der Box eingebaut; eine ziemlich kleine Metall krippe in einem stabilen Holzgestell. Als Zuflucht war es erbärmlich, aber wenigstens würde ich vom Boden weg sein … Das Pferd drehte sich um, stellte sich auf die Vorderläu fe und fetzte mit einem ungeheuren Doppeltritt nach hin ten, der fünfzehn Zentimeter von meinem Kopf auf der Betonwand aufschlug, und in dem Moment kam mir die Befürchtung, daß das durchgedrehte Tier mich nicht bloß verletzen, sondern töten könnte. Es versuchte nicht bewußt anzugreifen; die meisten sei ner Tritte gingen in andere Richtungen. Es versuchte nicht zu beißen, obschon sein jetzt offenes Maul grimmig aus sah. Es war unkontrollierbar wild, aber nicht auf mich … obwohl das auf so kleinem Raum kaum etwas änderte. Es schien in den nur wenigen Sekunden darauf vollkom men überzuschnappen. Mit einem Tempo, das ich in den flitzenden Schatten nur ahnen konnte, wirbelte, kickte und 338
schmetterte es seine Masse gegen die Wände, und ich wur de schließlich, noch in dem Bemühen, durch diesen Sturm in den Trog zu springen, von einem seiner peitschenden Füße umgehauen. Ich merkte in dem Moment nicht, daß es mir einen Arm regelrecht gebrochen hatte, weil sich das ganze Ding taub anfühlte. Ich schaffte es bis zu dem Trog, wollte hinauf klettern, bekam meinen Fuß hinein … setzte mich auf die Kante … wollte auch den anderen, noch baumelnden Fuß heben … und schaffte es nicht schnell genug. Ein weiterer direkter Tritt krachte in meinen Knöchel, und diesmal wußte ich, daß etwas passiert war. Die Luft über meinem Kopf schien vor Hufen zu zi schen, und das Pferd stimmte ein schrill gurgelndes Wie hern an. Irgendwer, dachte ich verzweifelt, irgendwer würde bestimmt das Getöse hören und kommen … Ich konnte das Pferd wie in Blitzen vor dem Fenster se hen, ein steigender, bockender, kickender, rasender Alp traum. Es fuhr halb sichtbar herum, ging auf den Hinter beinen, den Kopf dicht unter der Decke, die Vorderbeine dreschend, als wollte es unsichtbare Wände erklettern … und mit einem vollen Schlag vor die Brust, hinter dem ei ne halbe Tonne Gewicht lag und kein bestimmtes Ziel, fegte es mich von meinem prekären Sitz. Ich stürzte gekrümmt auf das Stroh und versuchte den Kopf von diesen tödlichen Hufen wegzudrehen, instinktiv Gesicht und Bauch zu retten … und Nieren und Rückgrat ihrem Schicksal zu überlassen. Ein neuer krachender Schlag landete auf meinem Schulterblatt und fuhr wie ein Hammer durch jeden Knochen, und ich spürte, wie sich irgendwo in mir ein Kreischen anbahnte, ein verzerrter Schrei um Gnade, um Entkommen, um ein Ende des Trommelfeuers, um Erlösung von dem Schrecken. 339
Sein Wahn wurde allenfalls schlimmer, und es war das Pferd, das schließlich kreischte, nicht ich. Der Ton erfüllte meine Ohren, hallte wider von den Wänden, betäubend, entnervend, das Geheul von Furien. Irgendwie bekam es einen Huf in meinen zusammenge rollten Körper und schleuderte mich kurz herum, und ich sah, wie es sich über mir wölbte, die Sehnen wie Drähte, auch in ihm die Qual, der Zorn der Götter aus gerecktem Hals hervorbrechend, die Vorderläufe so hoch, daß es ge gen die Decke schlug. Das ist der Tod, dachte ich. Das ist die gräßliche, alles zermalmende Auslöschung. Nur noch diese Sekunde wür de ich sehen und fühlen … und einer seiner Füße würde auf meinen Kopf treffen, und aus mit mir … aus … Ehe ich den Gedanken noch zu Ende gedacht hatte, fuh ren krachend seine Vorderbeine nieder, ein Huf so nah, daß er mein Haar streifte; und dann bäumte es sich er neut, wie von Unerträglichem getrieben, wahnsinnig auf den Hinterbeinen auf, ging sein Kopf wie ein umgekehr ter Donnerschlag himmelwärts, dröhnte der Schädel mit der Wucht eines Rammbocks gegen die Decke. Der gan ze Bau erbebte von dem Anprall, und das Pferd sackte plötzlich ohne einen Laut als mächtige, zusammenbre chende Masse quer über meinen Beinen zusammen, wäh rend Krämpfe seinen Körper durchschauerten, Muskeln in steifen Tritten zuckten, in der Luft noch schrille Echos nachzitterten. Es starb nach und nach bewußtlos widerstrebend. Das Gehirn war schon außer Funktion, während die Nerven botschaften noch zu krampfhaft sich zusammenziehenden Muskeln durchdrangen, richtungsloser Aufruhr in Magen und Därmen wühlte, der Kopf lag unbeweglich auf dem Stroh. 340
Eine Ewigkeit verging, bis es vorbei war. Dann er schlaffte der schwere Körper und lag da in immer währendem, überraschendem Schweigen und nagelte mich unter sich fest. Die Erleichterung darüber, daß es tot war und ich lebte, dauerte ziemlich lange, aber dann, wie es die Menschen so an sich haben, wandelte sich die schlichte Dankbarkeit fürs Dasein in Unzufriedenheit darüber, daß die Lage nicht besser war. Das Roß war mit dem Rückgrat zu mir hin gestürzt, sei ne Masse lag von den Knien abwärts über meinen Beinen; und unter ihm herauszukommen, erwies sich als Unmög lichkeit. Der linke Knöchel, der sich gebrochen anfühlte, prote stierte schreiend gegen jede versuchte Bewegung. Meinen Arm konnte ich aus dem gleichen Grund nicht heben. In der Brust war ein akuter Druck, der das Atmen selbst schmerzhaft und das Husten beängstigend machte; und das einzig Gute, das ich daran finden konnte, war, daß ich auf dem Rücken lag und nicht mit dem Gesicht nach unten im Stroh. Eine sehr lange Zeit verrann quälend. Das erdrückende Gewicht des Pferdes betäubte meine Beine allmählich völ lig und verlegte den Schwerpunkt des Schmerzes auf mei nen ganzen linken Arm, den ich für vollkommen zer quetscht hätte halten können, hätte ich ihn nicht schwach zu sehen vermocht, wie er dalag und aussah wie sonst, eingehüllt im blauen Pullover, etwas vorstehende weiße Manschette, Hand mit sauberen Nägeln, die goldene Uhr am Gelenk. Die körperliche Pein machte Nachdenken eine Zeitlang unmöglich, doch schließlich begann ich, Erinnerungen zu sammenzufügen und Fragen zu stellen, und die größte, na 341
heliegendste Frage war, was Calder machen würde, wenn er zurückkam und mich lebend vorfand. Er würde nicht damit rechnen. Niemand konnte wirklich damit rechnen, daß es einer überlebte, mit einem verrück ten Pferd eingesperrt zu sein, und daß ich es überlebt hatte, war eine Laune des Schicksals. Ich erinnerte mich, wie er dem Pferd einen Apfel gab, während ich zwischen den kreisenden Wänden versucht hatte, mich aufzurappeln. Mit welcher Routine er den Ap fel hinhielt und den Hals des Pferdes tätschelte! Ich erinnerte mich, wie Calder bei meinem ersten Be such erklärt hatte, er gebe den Pferden seine Heilmittel in ausgehöhlten Äpfeln. Aber diesmal war es sicher kein Heilmittel gewesen, diesmal etwas Entgegengesetztes, ein Mittel, das zur Raserei führte, das ein normales, beschla genes Pferd in eine Tötungsmaschine verwandelte. Was hatte er gesagt, als er gesehen hatte, daß ich bei Be wußtsein war? Diese sonderbaren Worte … »Ich dachte, Sie wären weg. Ich dachte, Sie würden nichts merken…« Und noch etwas … »Ich wünschte, ich hätte fester zuge schlagen, aber es schien auszureichen.« Er hatte auch gesagt, daß es ihm leid täte, daß er wünschte, ich wäre nicht gekommen … Er hatte nicht ge wollt, überlegte ich, daß ich es noch fühlte, wenn das Pferd mich tötete. Allermindestens hatte er nicht gewollt, daß ich diesen Tod sah und hörte und erlitt. Als er mich aber wach fand, hatte ihn das nicht daran gehindert, den Apfel zu verfüttern, obwohl er wußte, ich würde sehen, würde hören, würde … leiden. Das Pferd hatte die Aufgabe nicht erfüllt. Wenn Calder zurückkam, würde er den Rest besorgen. Das war sicher. Ich versuchte auf diesen Gedanken hin nochmals, meine Beine hervorzuziehen, wenn auch strittig war, was es ge 342
nützt hätte, wenn es mir gelungen wäre. Es war so qualvoll wie vorher, da die Taubheit sich als vorübergehend erwies. Ich kam ein wenig traurig zu dem Ergebnis, daß es keine angenehme Beschäftigung war, einen gebrochenen Knö chel unter einem toten Pferd hervorzuzerren, und daß es in Anbetracht meiner sonstigen Verfassung tatsächlich nicht ging. Ich hatte mir noch nie etwas gebrochen, nicht einmal beim Skifahren. Ich war nie über die flüchtigen Knuffe der Kindheit hinaus verletzt worden. Hatte nie im Kranken haus gelegen, nie einen Chirurgen bemüht, nie unter Nar kose geschlafen. Vierunddreißig Jahre lang war ich voll kommen gesund gewesen und bis auf Masern und derglei chen niemals krank. Ich hatte sogar gute Zähne. Ich war in jeder Hinsicht unvorbereitet auf den Ansturm derartiger Schmerzen und auch nicht ganz sicher, wie da mit umgehen. Ich wußte lediglich, daß wenn ich versuch te, meinen Knöchel herauszuziehen, die Proteste in mei nem ganzen Körper mir wirklich die Tränen in die Augen trieben und kein Maß an theoretischer Entschlossenheit mir die Kraft zum Weitermachen geben konnte. Ich fragte mich, ob das Feigheit war. Es kümmerte mich nicht be sonders. Ich lag da, während alles steif und kalt und schlimmer wurde, und ich hätte einiges dafür gegeben, so selbstvergessen zu sein wie das Pferd. Das Fensterrechteck wurde schließlich heller. Der neue Tag: Samstag, der 2. Juni. Calder würde wiederkommen und die Sache beenden, und kein besonnener Gerichtsme diziner würde schwören, daß ich den letzten Schlag Stun den nach dem ersten erhalten hätte. Calder würde bestürzt sagen: »Aber ich hatte ja keine Ahnung, daß Tim mich be suchen wollte … Ich war wegen des Fernsehens in Lon don … Ich habe keine Ahnung, wie er sich in eine der Bo xen einsperren konnte … denn möglich ist das schon, wis 343
sen Sie, wenn man nicht aufpaßt … Ich habe keine Ah nung, wieso ihn das Pferd getreten hat, es ist nämlich ein friedlicher alter Knabe, wie man sieht … das Ganze ist ein schrecklicher Unfall, und ich bin erschüttert … zutiefst be troffen …«, und alle würden auf das Pferd schauen, aus dessen Blutbahn die heimtückische Droge verschwunden wäre, und folgern, ich sei ziemlich unintelligent gewesen und hätte außerdem Pech gehabt und schade drum. Ian Pargetters Tierarzttasche war in ein sichereres Ver steck gekommen oder vernichtet worden, und es würde nur noch eine geringe Chance bestehen, Calder als Mörder zu entlarven. Wie man es auch betrachtete, die Aussichten waren entmutigend. Ich mochte mich nicht damit abgeben, mein Handgelenk umzudrehen, um auf die Uhr zu sehen. Die Sonne ging auf und schien schräg mit der blassen Helligkeit der Morgen röte durch das Gitter. Es mußte fünf sein, oder später. Die Zeit trieb dahin. Die Sonne zog weiter. Das Pferd und ich lagen da in trauter Stille, tot und halb tot; wartend. Ein Wagen fuhr schnell draußen vor, und Türen schlu gen. Es ist soweit, dachte ich. Jetzt. Sehr bald. Stimmen ertönten in der Ferne, riefen einander zu. Weiblich und männlich. Fremde. Nicht Calders kantige, klare, laute Öffentlichkeitsstim me. Überhaupt nicht. Die Hoffnung brandete mit einer un geheuren Wucht wieder auf, und ich rief: »Hier … Hier her!«, doch es war bestenfalls ein Krächzen, unhörbar draußen. Was, wenn sie Calder suchten und wegfuhren, wenn sie ihn nicht fanden … Ich nahm jedes bißchen Luft in mei nen Lungen zusammen und schrie: »Hilfe … Hierher.« 344
Nichts geschah. Meine Stimme prallte von den Wänden ab und äffte mich nach, und mühsam holte ich von neuem Luft und brüllte nochmals … und nochmals … und nochmals. Die obere Hälfte der Tür schwang nach außen und ließ blendendes Licht herein, und eine Stimme schrie ungläu big: »Er ist hier. Er ist hier drin …« Der Riegel an der unteren Halbtür klapperte, und das Tageslicht wuchs zu einem Rechteck, und in dem Licht er schienen drei Gestalten, kamen näher, besorgt, redeten ängstlich und froh und brachten Leben. Judith und Gordon und Pen. Judith schluckte, und ich wahrscheinlich auch. »Gott sei Dank«, sagte Gordon. »Gott sei Dank.« »Sie waren nicht heimgekommen«, sagte Pen. »Wir machten uns Sorgen.« »Bist du in Ordnung?« fragte Judith. »Nicht ganz … aber alles ist relativ. Ich war noch nie glücklicher, also was soll’s.« »Wenn wir die Arme unter deine Schultern legen«, sagte Gordon, das Problem überschauend, »müßten wir dich he rausziehen können.« »Tut das nur nicht«, meinte ich. »Wieso nicht?« »Eine Schulter scheint gebrochen zu sein. Hol einen Ab decker.« »Mein lieber Tim!« sagte er verwirrt. »Die kommen mit einem Lastwagen … und einer Win de. Sie sind für tote Pferde zuständig.« »Ja, ich verstehe.« »Und einen Krankenwagen«, sagte Pen, »möchte ich meinen.« 345
Ich lächelte sie liebevoll an, meine ziemlich inkompe tenten Retter. Sie fragten, wie ich dahin gekommen sei, wo ich war, und zu ihrem Entsetzen erzählte ich es ihnen kurz. Und ich fragte sie meinerseits, wieso sie gekommen waren, und sie erklärten, sie seien besorgt gewesen, weil Calders Fernsehauftritt abgesetzt worden war. »Mickey Bonwith ist erkrankt«, sagte Pen. »Sie haben es im Laufe des Abends angesagt. Es würde keine LiveShow mit Mickey Bonwith kommen, bloß eine alte Auf zeichnung; wir bitten um Verständnis, Calder Jackson wird zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt.« »Pen rief uns an, daß du zu ihm wolltest und weshalb«, sagte Judith. »Und wir machten uns Sorgen«, fügte Gordon hinzu. »Sie kamen nicht heim … riefen nicht an«, sagte Pen. »Wir waren die ganze Nacht wach«, sagte Gordon. »Die Mädchen wurden immer unruhiger … also kamen wir her.« Sie waren hundert Meilen gekommen. Bessere Freunde konnte man sich nicht wünschen. Gordon fuhr los, um eine Telefonzelle zu suchen, und Pen fragte, ob ich gefunden hätte, weswegen ich gekom men war. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Die Hälfte von den Sachen war unbeschriftet.« »Red nicht mehr«, meinte Judith. »Was genug ist, ist ge nug.« »Ich kann ruhig.« »Lenkt Sie ab«, nickte Pen verstehend. »Wie spät ist es?« fragte ich. Judith schaute auf die Uhr. »Zehn vor acht.« 346
»Calder wird zurückkommen…« Und die Pfleger auch, dachte ich. Er würde kommen, wenn die Pfleger zur Ar beit antraten. Ungefähr um die Zeit. Er würde Zeugen da für brauchen, wie er mich fand. »Tim«, sagte Pen entschieden, »falls er kommt … Haben Sie irgendwelche Proben entnommen? Hatten Sie dazu Gelegenheit?« Ich nickte schwach. »Sie wissen wohl nicht mehr, was es war …« »Ich habe sie versteckt.« »Wird er sie nicht gefunden haben?« Sie war sanft und auf eine Enttäuschung gefaßt; es sollte nicht vorwurfsvoll klingen. Ich lächelte sie an. »Er hat sie nicht gefunden. Sie sind hier.« Sie blickte sich verständnislos in der Box um und dann auf mein Gesicht. »Hat er Sie denn nicht durchsucht?« sagte sie erstaunt. »Die Taschen … na, muß er doch.« »Ich weiß nicht … aber die Pillen hat er nicht gefun den.« »Wo sind sie denn dann?« »Ich habe von Ginnie gelernt, wie man sich die Hände freihält«, sagte ich. »Sie sind in einer Plastiktüte … unter meinem Hosenbund … in meiner Unterhose.« Sie staunten ungläubig, und dann lachten sie, und Judith sagte mit Tränen in den Augen: »Heißt das … die ganze Zeit …?« »Die ganze Zeit«, stimmte ich zu. »Und schön sachte, wenn du sie herausholst.«
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Manche Dinge würden am besten vergessen, aber sind unmöglich zu vergessen, und ich schätze, die nächste hal be Stunde konnte man zu dieser Kategorie zählen: Am Schluß davon lag ich auf einer tischähnlichen Bahre im Freien, und mein schwergewichtiger Kumpel war halb oben auf der Rampe des Abdeckerwagens, den Gordon mit ungewöhnlicher Überredungskunst zu dieser frühen Stunde herbeigezaubert hatte. Die drei Pfleger, die schließlich zur Arbeit eingetroffen waren, standen mit hilfloser Miene herum, und die beiden Krankenwagenfahrer, die offensichtlich überfordert waren, mühten sich slapstickhaft, über ein schlecht funktionierendes Funkgerät eine Auskunft zu bekommen, wohin sie mich bringen sollten. Gordon erklärte den Leuten des Abdeckers, daß ich es für unbedingt notwendig hielt, dem Pferd eine Blutprobe abzunehmen und daß der Kadaver nicht beseitigt werden dürfe, ehe das geschehen sei. Judith und Pen sahen beide müde aus und gähnten. Ich sah erschöpft ein paar Vögeln zu, die hoch am klaren blauen Himmel kreisten, und wünschte mir, oben bei ihnen zu sein, leicht wie die Luft; und in dieses fesselnde Tableau hinein fuhr Calder. Unmöglich zu wissen, was er dachte, als er den ganzen Be trieb sah, doch als er mit langen Schritten aus seinem Wagen kam, formte sein Mund ein Oval aus Besorgnis und Schock. Er schien zunächst sein Augenmerk auf Gordon zu rich ten und dann auf den Abdeckarbeiter, der eben laut sagte: »Wenn Sie eine Blutprobe haben wollen, müssen Sie uns eine schriftliche Vollmacht geben, daß ein Tierarzt hinzu gezogen und bezahlt werden soll.« Calder blickte von ihm zu dem toten Pferd, das immer noch erst halb auf der Rampe war, und von dort zu der eigentlichen Box des Pferdes, wo die Tür weit offen stand. 348
Von dort drehte er sich verwirrt zu Judith um und sah dann mit Entsetzen die Tüte, die Pen festhielt, die durch sichtige Plastiktüte mit den Kapseln, Pillen und anderen gemischten Schätzen, die deutlich darin zu sehen waren. Pen fand bemerkenswerterweise ihre Stimme und sagte in Worten, die für Calder wie ein Verdammungsurteil ge klungen haben mußten: »Ich habe es Ihnen noch nicht ge sagt … ich bin Pharmazeutin.« »Wo haben Sie das her?« sagte Calder und stierte auf die Tüte, als wollten seine Augen sie verbrennen. »Wo …« »Tim hatte sie.« Ihr Blick ging zu mir, und Calder schien endlich zu be greifen, daß mein Schweigen nicht das des Todes war. Er machte zwei Schritte auf die Bahre zu, blickte mir ins Ge sicht und sah mich lebendig, wach, bei Bewußtsein. Keiner von uns sprach. Seine Augen schienen in die Höhlen zurückzutreten, und die Form des Oberkiefers sprang stark hervor. Er sah an mir die Verheerungen der Nacht, und ich sah in ihm die Erkenntnis zur Gewißheit werden, daß mein Überleben seinen Ruin bedeutete. Ich dachte: Du hättest unbedingt fester zuschlagen sol len; und vielleicht dachte er es auch. Er betrachtete mich mit einer sengenden Intensität, die sich nicht analysieren ließ, wandte sich dann jäh ab und ging mit ruckartigen Schritten zurück zu seinem Wagen. Gordon machte zwei oder drei zögernde Schritte, um ihn vielleicht aufzuhalten, doch Calder ließ, ohne sich umzu blicken, den Motor an, setzte den Fuß auf das Gas, wende te mit kreischenden Reifen in einem engen Halbkreis und peilte das Tor an. »Wir sollten die Polizei rufen«, sagte Gordon, während er ihm nachschaute. 349
Judith und Pen zeigten kaum Begeisterung und ich über haupt keine. Letztlich würden wir die Polizei zwar hinzu ziehen müssen, doch je länger die langwierigen Rituale aufgeschoben werden konnten, um so besser aus meiner Sicht. England war eine kleine Insel und Calder zu be kannt, um weit zu kommen. Pen schaute auf das Plastikwarenhaus in ihren Händen, öffnete dann wortlos ihre Handtasche und steckte das Ganze hinein. Sie warf mir einen kurzen Blick zu und lä chelte leise, und ich nickte erleichtert darüber, daß die Enträtselung der Kapseln ihr und ihren Freunden vorbe halten bliebe. An demselben Samstag, gegen halb drei nachmittags, stieß eine Familie von Ausflüglern auf einen Wagen, der abseits jeder Straße hinter einer Gruppe von Stechginsterbüschen geparkt war. Der Motor des Wagens lief, und die Kinder der Familie sahen, als sie durch die Fenster spähten, auf dem Rücksitz einen zusammengesackten Mann mit einem Schlauch im Mund. Sie erkannten ihn an seinen Lockenhaaren und seinem Bart. Die Kinder befanden sich, wie es hieß, in einem Zustand hysterischen Schocks, und die Eltern waren aufgebracht, als hätte irgendwo ein Amt zu verhindern, daß Selbstmör der die Landschaft verschandelten. Huldigungen an Calders Wundertaten erschienen an die sem Abend im Fernsehen, und ich fand es eine Ironie, daß der Meister, der so viel von Arzneien verstanden hatte, für seinen Abgang Gas gewählt hatte. Er war kaum dreißig Meilen von seinem Stall wegge fahren. Er hatte keinen Brief hinterlassen. Die Leute, die mit ihm an der verschobenen Mickey-Bonwith-Show ge 350
arbeitet hatten, sagten, sie könnten es überhaupt nicht ver stehen, und Dissdale rief Oliver an, um mitzuteilen, daß er in Anbetracht des tragischen Todes von Calder sein Ange bot für Sandcastle zurückziehen müsse. Ich war zu dem Zeitpunkt, als ich dies alles erfuhr, halb in Unmengen schrecklich störenden Gips verpackt, da es mehr knirschende Knochenkanten in meinem Inneren gab, als ich Lust hatte, mir erzählen zu lassen, und hufeisen förmige tiefrote Prellungen obendrein. Man hatte mir ziemlich widerwillig ein Einzelzimmer zugestanden, denn Ungestörtheit beim Kranksein wurde von der Gesundheitsbehörde als verwerflicher Luxus be trachtet, und am Montag abend kam Pen eigens noch ein mal aus London, um über die Laborbefunde Bericht zu er statten. Sie runzelte die Stirn, nachdem sie mich geküßt hatte. »Sie sehen erschöpft aus«, sagte sie. »Krankenhaus macht müde.« »Muß es wohl. Ich hätte nie gedacht…« Sie stellte einen Strauß Rosen in meinen Trinkwasser krug und sagte, sie seien aus Gordons und Judiths Garten. »Sie lassen lieb grüßen«, meinte sie aufgedreht, »und ihr Garten sieht reizend aus.« »Pen…« »Ja. Gut.« Sie zog den Besucherstuhl näher an das Bett, auf dessen Decken ich in meinem Gips und geliehenem Morgenmantel halb saß und halb lag. »Sie haben wirklich, wie man sagt, ins Schwarze getroffen.« »Ernsthaft?« rief ich aus. Sie grinste fröhlich. »Es ist kein Wunder, daß sich Calder umgebracht hat, nicht nachdem er sah, daß Sie am Le ben waren, und hörte, Sie wollten das tote Pferd untersu 351
chen lassen, und wußte, daß Sie doch die ganzen Sachen aus seiner Praxis geholt hatten. Blieb nur das oder jahre lang Gefängnis und absolute Schande.« »Eine Menge Leute würden Schande vorziehen.« »Aber nicht Calder.« »Nein.« Sie öffnete eine schmale schwarze Aktenmappe auf ih ren Knien und zog mehrere maschinenbeschriebene Seiten hervor. »Wir haben gestern den ganzen Tag und heute morgen gearbeitet«, sagte sie. »Aber zuerst sollen Sie hören, daß Gordon sofort die Blutuntersuchung am PferdeForschungsinstitut vornehmen ließ, und heute morgen teil ten sie ihm telefonisch mit, daß das Pferd Äthylisobutrazin erhalten hatte, was der normalen Tierarztpraxis zuwider läuft.« »Was Sie nicht sagen.« Ihre Augen glitzerten. »Die Leute vom Institut sagten Gordon, jedes Pferd, das Äthylisobutrazin erhält, würde vollkommen durchdrehen und buchstäblich versuchen, die Wände hochzugehen.« »Genau das hat es getan«, stellte ich fest. »Es ist ein Medikament, das überall als Beruhigungs mittel für Hunde verwendet wird, damit sie nicht kläffen oder reisekrank werden, aber es hat eine völlig wahn sinnige Wirkung bei Pferden. Ein Markenname davon ist Diquel, falls es Sie interessiert. Die ganze Fachliteratur warnt davor, es Pferden einzugeben.« »Aber es würde normalerweise … in einem Pferd … ab gebaut?« »Ja, in sechs Stunden etwa, spurlos.« Sechs Stunden, dachte ich düster. Sechs Stunden… 352
»In Ihrer Bonbontüte«, sagte Pen, »raten Sie mal, was wir da gefunden haben? Drei Tabletten Diquel.« »Tatsächlich?« Sie nickte. »Tatsächlich. Und jetzt legen Sie die Ohren an, liebster Tim, denn als wir dahinterkamen, was Calder getrieben hat, fehlten uns einfach die Worte.« Sie schienen ihr in der Tat wieder zu fehlen, denn sie saß da und schaute mit abwesender Miene auf die Seiten. »Sie erinnern sich«, sagte sie schließlich, »als wir an Ostern damals zu Calders Stall fuhren, sahen wir doch ein Pferd, das Blut im Urin hatte … Kristallurie nannte er es … was mit Antibiotika nicht zu kurieren gewesen war?« »Ja«, sagte ich. »Er hat des öfteren Pferde davon ge heilt.« »Mm. Und diese Patienten waren vorher von Ian Parget ter behandelt worden, ehe er starb, nicht wahr?« Ich dachte zurück. »Einige sicher.« »Nun … Sie sagten mir doch, bevor man Sie am Sams tag mit dem Krankenwagen wegkarrte, daß manche von den Fläschchen in den Schränken als Aufschrift nur Buch staben getragen hätten wie a+w, b+w und c+s?« Ich nickte. »Drei Kapseln mit jeweils einer transparenten und einer blauen Hälfte enthielten c und s. Vitamin C und Sulfona mid.« Sie schaute mich in Erwartung einer Reaktion an, doch Vitamin C und Sulfonamid klang ziemlich harmlos, und das sagte ich auch. »Ja«, sagte sie, »getrennt bewirken sie nur Gutes, aber zusammen können sie Kristallurie erzeugen.« Ich starrte sie an. »Calder hatte diese Kapseln eigens hergestellt, um über haupt erst die Krankheit des Pferdes zu erzeugen, damit er 353
sie anschließend ›heilen‹ konnte. Und das einzige Wunder, das er dabei zu wirken hatte, bestand darin, die Kapseln nicht mehr einzugeben.« »Mein Gott«, sagte ich. Sie nickte. »Wir konnten es kaum glauben. Es hieß ja doch, daß Ian Pargetter fast mit Sicherheit Bescheid wußte. Denn er war es ja, der dem Trainer oder Besitzer oder Pfleger des Pferdes oder sonstwem eine Flasche mit ›An tibiotika‹-Kapseln geben konnte, damit sie sie täglich aus teilten. Und diese Kapseln waren genau das, was die Pfer de erkranken ließ.« »Pen!« »Ich erkläre wohl besser ein bißchen – falls Sie es ertra gen können«, sagte sie. »Wenn man irgendwem – Pferd oder Mensch Sulfonamide gibt, der sie nicht braucht, rich tet man nicht viel Schaden an, weil Urin normalerweise leicht alkalisch oder nur leicht sauer ist und man das Sul fonamid gut los wird. Aber Vitamin C ist Ascorbinsäure und macht den Harn sauer, und die Säure bildet im Verein mit Sulfonamiden Kristalle, und die scharfkantigen Kri stalle verursachen Schmerzen und Blutungen … ungefähr wie gemahlenes Glas.« Ein ziemlich langes Schweigen trat ein, dann sagte ich: »Das ist teuflisch.« Sie nickte. »Wenn Calder das Pferd erst in seinem Stall hatte, konnte er die Heilung beschleunigen, indem er ihm doppeltkohlensaures Natrium gab, das den Urin wieder al kalisch macht und auch die Kristalle auflöst, und wenn das Pferd noch reichlich Wasser zu trinken bekommt, ist es im Nu wieder fit. Wirklich wie durch Zauberei.« Sie hielt in ne, lächelte und sprach weiter. »Wir haben noch einige andere Sachen getestet, die vollkommen harmlose Heil kräuter waren, und dann kamen wir zu drei weiteren haus 354
gemachten Kapseln, mit hellgrünen Hälften diesmal, und wir nehmen an, da handelt es sich um Ihre a+w.« »Dann mal los«, sagte ich. »Was ist a, und was ist w?« »A ist ein Antibiotikum, und w ist Warfarin. Und bevor Sie fragen – Warfarin ist ein Mittel, das bei Menschen zur Herabsetzung der Gerinnungsfähigkeit des Blutes ange wandt wird.« »Die rosa Pille, die Sie auf dem Boden der Praxis fan den«, sagte ich. »Sie sprachen davon.« »Ah ja.« Sie sah überrascht aus. »Stimmt. Ich hatte es vergessen. Also … wenn Sie bestimmte Antibiotika zu sammen mit Warfarin geben, verstärken Sie die Wirkung des Warfarins in dem Ausmaß, daß das Blut überhaupt kaum noch gerinnt … und das führt zu starken Blutungen aus dem Magen, aus dem Mund, von überall, wo ein Äderchen platzt … während es normalerweise sofort ge rinnen und verheilen würde.« Ich stieß den angehaltenen Atem aus. »Jedesmal, wenn ich hinkam, war ein Bluter da.« Sie nickte. »Warfarin wirkt, indem es drastisch den Ef fekt von Vitamin K herabsetzt, das für die normale Gerin nung nötig ist, also brauchte Calder lediglich die Sache umzudrehen und massenhaft Vitamin K zu füttern, das sich in großen Mengen in Luzerne findet.« »Und b+w?« fragte ich dumpf. »Barbiturat und Warfarin. Anderer Mechanismus, aber wenn man sie zusammen verwendet und dann einfach das Barbiturat wegläßt, kann man eine Art verzögerter Blu tung nach etwa drei Wochen erzeugen.« Sie hielt inne. »Wir haben alle unsere Pharmakologie-Handbücher ge wälzt, und da wird klar und deutlich davor gewarnt, Anti biotika oder Barbiturate, beziehungsweise auch Phenylbu tazone oder anabolische Steroide, Personen zu verabrei 355
chen, die Warfarin nehmen, ohne sorgfältig die Warfarin dosierung darauf abzustimmen. Und sehen Sie«, fuhr sie fort, »zwei Medikamente zusammen in eine Kapsel pak ken, das war wirklich brillant, denn so kam kein Mensch auf die Idee, daß er einem Pferd zwei Mittel gab statt nur einem … und wir meinen, Ian Pargetter könnte Calders Kapseln in irgendeine gängige Flasche gesteckt haben, und der Pferdebesitzer mußte annehmen, er gäbe dem Pferd das, was auf dem Etikett stand.« Ich staunte nur. »Es ist unglaublich.« »Es ist einfach«, meinte sie, »und es wird immer einfa cher.« »Kommt noch mehr?« »Und ob noch mehr kommt.« Sie grinste. »Was ist denn mit den ganzen armen Tieren in extremem Erschöpfungs zustand, die so schwach waren, daß sie kaum laufen konn ten?« Ich schluckte. »Und? Was ist mit ihnen?« »Sagten Sie nicht, Sie hätten in Ian Pargetters Tasche ei ne große Flasche mit nur wenigen Pillen drin gefunden? Eine Flasche mit der Aufschrift ›Diuretikum‹, oder in an deren Worten, Pillen, die den Harnabgang verstärken?« Ich nickte. »Nun, wir haben die identifiziert, die Sie mitgenommen haben, und wenn Sie speziell dieses Thiazid-Diuretikum einfach über einen langen Zeitraum einem Pferd geben, würden Sie damit genau die allgemeine fortschreitende Schwäche erzeugen, die diese Pferde aufwiesen.« Ich war sprachlos. »Und zur Heilung der Schwäche«, sagte sie, »setzen Sie lediglich das Diuretikum ab und stellen gutes Futter und Wasser bereit. Und simsalabim!« Sie lächelte selig. 356
»Chemisch ist es sehr elegant. Die Schwäche wird verur sacht durch ständige, übermäßige Ausscheidung von Kali um, das der Körper zur Kräftigung braucht, und die Hei lung besteht darin, so schnell, wie es gefahrlos möglich ist, wieder Kalium zuzuführen … mit Kalisalzen, die man überall kaufen kann.« Ich schaute sie respektvoll an. Sie genoß ihre Enthüllungen. »Wir kommen jetzt zu den Pferden mit nichtheilenden Geschwüren und Entzündungen.« Auch die waren immer im Stall, dachte ich. »Geschwüre und Entzündungen werden normalerweise ziemlich schnell durch Auftragen antibiotischer Salbe be reinigt. Tja … mittlerweile strotzten wir regelrecht von Verdächtigungen, daher nahmen wir als letztes die kleine Tube mit antibiotischer Salbe, die Sie in Ian Pargetters Ta sche gefunden hatten, und untersuchten sie. Und siehe da, sie enthielt überhaupt keine antibiotische Salbe.« »Was denn?« »Kortisonsalbe.« Sie sah meine Verständnislosigkeit und lächelte. »Korti son ist gut für Ekzeme und Allergien, aber nicht zur all gemeinen Heilung. Genau gesagt, wenn Sie ein Pferd an ritzen und etwas Schmutz in die Wunde schmieren wür den, damit sie sich entzündet, und dann gewissenhaft zweimal täglich Kortisonsalbe auftragen, bekommen Sie ein hübsches kleines Geschwür, das niemals heilt. Bis Sie natürlich Ihr Pferd zu Calder schicken, der seine Hände auf Ihren Liebling legt … und sofort Antibiotika aufträgt, damit die normale Heilung einsetzen kann.« »Lieber Gott im Himmel.« »Tun Sie niemals Kortison auf eine Schnittwunde«, sagte sie. »Das machen viele Leute. Es ist eine Riesendummheit.« 357
»Ich werde mich hüten«, sagte ich mit Betonung. Pen grinste. »Zahncreme wird immer am stumpfen Ende eingefüllt. Wir guckten ganz genau hin und sahen, daß das Ende der Tube aufgehaspelt und dann neu versiegelt wor den war. Sehr clever.« Sie schien fertig zu sein, darum fragte ich: »War das alles?« »Das war alles.« Wir saßen eine Zeitlang da und grübelten. »Es beantwortet eine Unmenge Fragen«, sagte ich schließlich. »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, warum Calder Ian Pargetter umgebracht hat«, sagte ich. »Ian Pargetter wollte mit etwas aufhören … das muß dieser Dreh mit den Krankheiten gewesen sein. Sagte, er hätte die Nase voll. Und sagte, er würde auch Calder davon abhalten. Das muß sein Todesurteil gewesen sein.« Pen fragte: »Hat Ihnen Calder das tatsächlich erzählt?« »Ja, so hat er es gesagt, aber damals begriff ich nicht, was er meinte.« »Mich wundert«, sagte Pen, »wieso Ian Pargetter völlig aufhören wollte. Die müssen doch zusammen ein hübsches regelmäßiges Einkommen gehabt haben. Calder muß ihn schon vor Jahren rekrutiert haben.« »Das Selen«, sagte ich. »Bitte?« »Selen war etwas anderes. Pferde krank machen, um sie zu heilen, damit riskierte man nicht viel bleibenden Scha den, wenn überhaupt. Aber Selen war für immer. Die Foh len würden mißgebildet sein. Ich denke mir, als Calder das vorschlug, stieß der Gedanke Ian Pargetter ab. Empörte ihn wahrscheinlich, denn er war immerhin Tierarzt.« 358
»Und Calder wollte mit all dem weitermachen … und das war ihm einen Mord wert.« Ich nickte. »Calder muß ein Vermögen, nicht bloß ein gutes Einkommen im Visier gehabt haben. Und wenn nicht Ginnie irgendwie an das Shampoo geraten wäre, hät te er es sehr wahrscheinlich auch erreicht.« »Ich wüßte gern, wie sie daran kam«, sagte Pen. »Mm.« Ich rückte unbehaglich auf dem Bett. »Mir ist der Name des Burschen von Calder eingefallen, der so wie Ri cky Barnet aussah. Er hieß Jason. Neulich nachts fiel es mir ein … in diesem Stall … komisch, wie der Verstand arbeitet.« »Was ist denn mit ihm?« sagte Pen mitfühlend. »Ich erinnerte mich, daß Calder gesagt hatte, er gäbe Jason die Pillen, damit Jason sie den Pferden gab. Die Kräu terpillen, meinte er. Aber nach Ian Pargetters Tod muß Calder jemand anderen gebraucht haben, der diese zwei schneidigen Kapseln den Pferden verabreichte … denn er hatte noch Pferde mit denselben Symptomen im Stall, nachdem Ian Pargetter längst tot war.« »Das stimmt«, sagte sie verblüfft. »Nur …« »Nur was?« »Nur, daß wir, als wir letzten Samstag auf den Hof ka men, bevor ich Sie rufen hörte, in verschiedene andere Boxen sahen, und da standen nicht viele Pferde. Der Stall war nicht so voll wie früher.« »Ich glaube«, sagte ich langsam, »das liegt daran, daß Jason drei Monate oder länger auf Olivers Gestüt damit beschäftigt war, Selen in Äpfeln zu verfüttern.« Eine visuelle Erinnerung blitzte in meinem Kopf auf. Äpfel … Shane, der Stallbursche, wie er über den Hof ging, einen Eimer dabei schwenkte und einen Apfel aß. Shane, Jason: ein und derselbe. 359
»Was ist?« sagte Pen. »Fotos von Ricky Barnet.« »Ah ja.« »Die meinen, ich kann morgen hier raus«, sagte ich, »wenn ich darauf bestehe.« Sie sah mich mit gespielter Verzweiflung an. »Was ha ben Sie denn eigentlich gebrochen?« »Sie sagten, hier oben wären es Schulterblatt, Schlüssel bein, Oberarm, Brustbein und Rippen. Da unten«, ich zeigte, »kam ich nicht ganz mit. Ich wußte nicht, daß es so viele Knochen in einem Fußgelenk gibt.« »Haben sie es genagelt?« »Gott weiß.« »Wie wollen Sie denn zurechtkommen?« »Auf meine gewohnt unbeholfene Art.« »Seien Sie nicht albern«, sagte sie. »Bleiben Sie, bis es nicht mehr weh tut.« »Das könnte Wochen dauern … da ist ein Problem mit den Bändern oder Sehnen oder so.« »Was für ein Problem?« »Ich hab’ nicht richtig zugehört.« »Tim.« Sie wirkte genervt. »Na … es ist so langweilig«, sagte ich. Sie verdrehte lachend die Augen zum Himmel. »Ich ha be Ihnen ein Geschenk aus meinem Laden mitgebracht.« Sie langte in ihre Handtasche. »Hier bitte, mit den liebsten Wünschen.« Ich nahm die kleine weiße Dose, die sie mir hinhielt, und sah auf das Etikett an der Seite. Schwarzwurz stand darauf. 360
Sie grinste. »Versuchen könnten Sie es ruhig mal«, sagte sie. »Schwarzwurz enthält immerhin Allantoin, das Kno chen heilen hilft. Und man weiß nie … Calder war wirk lich ein absoluter Fachmann für alle möglichen Medika mente.« Am Dienstag, dem 4. Juni, holte mich Oliver Knowles aus dem Krankenhaus ab, um einige Besorgungen mit mir zu machen und mich dann mit zu sich nach Hause zu neh men, nicht in erster Linie als Samariterakt, sondern damit wir Geschäftliches besprechen konnten. Ich hatte mir ge dacht, er würde meine vorübergehende Invalidität direkt und unsentimental akzeptieren, und das tat er auch; aller dings bemerkte er bei meinem Anblick trocken, daß ich, als ich mich am Telefon bei ihm einlud, von »ein oder zwei Blessuren« gesprochen hätte und nicht von Quadrat metern Gips mit stellenweise draufgeschnürten Kleidern. »Lassen Sie nur«, sagte ich. »Ich kann hopsen, und ich kann sitzen, und mein rechter Arm ist klar.« »Ja. Das sieht man.« Die Schwester, die mich in einem Rollstuhl zu seinem Wagen geschoben hatte, meinte jedoch: »Er kann nicht hopsen, das tut ihm weh«, und reichte Oliver ein Blatt Pa pier. »In der Straße ist ein Laden …«, sie wies mit dem Finger, »wo man Rollstühle mieten kann.« Zu mir sagte sie: »Holen Sie sich einen bequemen. Und einen, in dem Ihr Bein gestreckt liegen kann wie bei dem hier. Schmerzt dann nicht so. In Ordnung?« »In Ordnung«, sagte ich. »Hm. Na … seien Sie vorsichtig.« Sie half mir mit freundlichem Nachdruck in den Wagen und ging mit dem Krankenhaustransportmittel davon, und Oliver und ich befolgten ihren Rat und verstauten den ge 361
polsterten und verchromten Komfort, den uns das ein brachte, im Kofferraum seines Wagens. »Gut«, sagte ich. »Das nächste wäre dann, eine gute So fortbildkamera und einen Schwung Filme zu kaufen.« Oliver fand ein Geschäft und kaufte die Kamera, wäh rend ich so geduldig wie möglich auf dem Beifahrersitz wartete. »Wohin jetzt?« fragte er, als er mit den Päckchen zu rückkam. »Cambridge. Eine Maschinenbaufabrik. Hier ist die Adresse.« Ich gab ihm den Zettel, auf den ich Ricky Bar nets persönliche Anweisungen notiert hatte. »Wir treffen ihn, wenn er von der Arbeit kommt.« »Wen?« sagte Oliver. »Mit wem treffen wir uns?« »Sie werden sehen.« Wir parkten gegenüber dem Werkstor auf der anderen Straßenseite und warteten, und pünktlich um halb fünf setzte der Exodus ein. Ricky Barnet kam heraus und blickte auf der Suche nach uns in diese und jene Richtung, und neben mir hörte ich Oliver zappeln und erstaunt sagen: »Das ist doch Shane«, dann entspannte er sich und setzte zweifelnd hinzu: »Nein, doch nicht.« »Nein, er ist es nicht.« Ich lehnte mich aus dem offenen Fenster und rief ihm zu: »Ricky … hier drüben.« Er überquerte die Straße und blieb neben dem Wagen stehen. »Spring rein«, sagte ich. »Hatten Sie einen Unfall?« fragte er ungläubig. »So ähnlich.« Er kletterte auf den Rücksitz. Er war nicht allzu scharf 362
darauf gewesen, für den Zweck, den ich ihm angedeutet hatte, abgelichtet zu werden, aber er war auch nicht gerade in der Position, sich zu weigern; und ich hatte meinen er presserischen Druck honigsüß klingen lassen, wofür ich auf meine Art irgendwie begabt sein muß. Angetan war er trotzdem nicht, was auch wieder sein Gutes hatte, denn das letzte, was ich wollte, waren vierzig Abzüge, auf de nen er grinste. Oliver fuhr los und hielt auf meine Bitte vor einem an gemessen neutralen Hintergrund einer grau getünchten Fabrikmauer und sagte, er würde die Fotos schießen, wenn ich erklärte, um was es mir ging. »Ricky sieht Shane ähnlich«, sagte ich. »Also nehmen Sie Ricky so auf, wie er Shane am meisten ähnelt. Lassen Sie ihn langsam den Kopf drehen, wie er’s getan hat, als er von der Arbeit kam, und im besten Moment sagen Sie stopp.« »Ist gut.« Ricky stieg aus und trat vor die Mauer, während Oliver auf Brustbilddistanz heranging. Er machte die erste Auf nahme, und wir warteten darauf, daß sie sich entwickelte. Oliver betrachtete sie, grunzte, änderte die Belichtung und versuchte es noch mal. »Das hier geht«, sagte er, als die Farben erschienen. »Sieht aus wie Shane. Ganz erstaunlich.« Mit einem Hauch von Verdrossenheit behielt Ricky sei ne Pose so lange bei, wie man eben braucht, um vier Filme zu schießen. Oliver gab jeden Abzug, der aus der Kamera kam, an mich weiter, und ich legte sie in Reihen auf den Sitz neben mir, während sie sich entwickelten. »Das wär’s«, sagte ich, als die Filme verknipst waren. »Danke, Ricky.« 363
Er kam herüber ans Wagenfenster, und ich fragte ihn ohne besonderen Nachdruck: »Erinnerst du dich, als Indi an Silk vor Entkräftung so krank wurde, welcher Tierarzt ihn da behandelt hat?« »Ja, klar doch, dieser Mann, der umgebracht wurde. Er und seine Partner. Die besten, meinte Dad.« Ich nickte unverbindlich. »Sollen wir dich nach New market mitnehmen?« »Hab’ mein Motorrad, danke.« Wir brachten ihn zurück zu seiner Fabrik, wo ich ihn schließlich mit Lohn für seine Zeit und Mühe aufmunterte, und wir sahen zu, wie er mit dem Schwung gespielter Verwegenheit davonbrauste. »Was jetzt?« fragte Oliver. »Sagten Sie Newmarket?« Ich nickte. »Ich habe ein Rendezvous mit Ursula Young.« Er warf mir einen verwunderten Blick zu, fuhr ohne Einwände und bog zu gegebener Zeit auf den Parkplatz in der Stadtmitte, wohin mich Ursula bestellt hatte. Wir waren als erste dort, da die Aufnahmen weniger Zeit beansprucht hatten als erwartet, und schließlich brachte Oliver eine lange zurückgehaltene Frage vor. »Wofür«, sagte er, »sind eigentlich die Fotos?« »Für eine Suche nach Shane.« »Aber wieso denn?« »Explodieren Sie nicht.« »Nein.« »Weil ich glaube, daß er Ihren Stuten das Selen gegeben hat.« Oliver saß ganz still. »Sie fragten schon mal nach ihm«, sagte er. »Da ging mir durch den Kopf … ob Sie dachten … er hätte Ginnie umgebracht.« 364
Es war an mir, still zu sein. »Ich weiß nicht, ob er es getan hat«, sagte ich schließ lich. »Ich weiß es nicht.« Ursula kam in ihrem Wagen angesaust, blickte auf die Uhr und entschuldigte sich, obwohl sie pünktlich war. Sie schien, wie vorher Oliver und Ricky, über meine unortho doxe Aufmachung bestürzt zu sein, fing sich aber in ihrer gewohnt sachlich-nüchternen Weise, zwängte sich auf den Rücksitz von Olivers Wagen und beugte sich vor, um ihr Gesicht mit unseren auf eine Höhe zu bringen. Ich übergab ihr dreißig der vierzig Aufnahmen von Ri cky Barnet, den sie natürlich sofort erkannte. »Ja schon«, erklärte ich, »aber Ricky sieht aus wie ein Pfleger, der für Oliver gearbeitet hat, und diesen Pfleger wollen wir finden.« »Na schön. Wie wichtig ist das denn?« Oliver antwortete ihr, ehe ich konnte. »Ursula, wenn Sie ihn finden, könnten wir in der Lage sein nachzuweisen, daß Sandcastle nichts fehlt. Und fragen Sie nicht, wie. Glauben Sie’s einfach.« Ihr Mund war aufgegangen. »Und, Ursula«, sagte Oliver, »wenn Sie ihn finden die sen – Pfleger Shane –, besorge ich Ihnen Geschäfte für den Rest meines Lebens.« Ich konnte sehen, daß das für sie als Vollblutagentin mittleren Ranges kein geringes Versprechen war. »In Ordnung«, sagte sie munter. »Abgemacht. Ich fange heute abend noch an, die Bilder zu verteilen, und rufe Sie an, wenn ich was habe.« »Ursula«, sagte ich. »Wenn Sie herausfinden, wo er jetzt ist, sorgen Sie dafür, daß er nicht verscheucht wird. Wir möchten nicht seine Spur verlieren.« 365
Sie sah mich listig an. »Ist das so was wie Polizei arbeit?« Ich nickte. »Außerdem, falls Sie irgend jemand auftun, der ihn früher beschäftigt hat, fragen Sie doch mal, ob vielleicht zufällig ein Pferd, um das er sich kümmerte, krank wurde. Oder sonst ein Pferd im Stall, was das betrifft. Und nennen Sie ihn nicht mit Namen … er heißt nicht immer Shane.« »Ist er gefährlich?« fragte sie direkt. »Wir möchten nicht, daß er nervös wird«, sagte ich. »Nur gefunden.« »Na schön. Ich vertraue Ihnen beiden, also werde ich mein Bestes tun. Und eines Tages erklären Sie vermutlich auch mal, um was es eigentlich geht?« »Wenn er getan hat, was wir glauben«, sagte ich, »wer den wir dafür sorgen, daß es die ganze Welt erfährt. Sie können sich darauf verlassen.« Sie lächelte flüchtig und klopfte mir auf die unvergipste Schulter. »Sie sehen ganz grau aus«, sagte sie, und zu Oli ver: »Tim erzählte mir, ein Pferd hat ihn getreten und ihm den Arm gebrochen. Stimmt das?« »Mir hat er das auch erzählt.« »Und was noch?« fragte sie mich scharf. »Wie sind Sie in diesen Zustand geraten?« »Das Pferd kannte seine eigenen Kräfte nicht.« Ich lä chelte sie an. »Ungeschicktes Vieh.« Sie wußte, daß ich irgendwie auswich, aber sie lebte in einer Welt, wo die Gefahr von Pferdetritten immer ge genwärtig und stets zu meiden war, und sie machte keine Einwendungen mehr. Nachdem sie die Fotos in ihrer ge räumigen Handtasche verstaut hatte, schlängelte sie sich aus dem Wagen und fuhr mit der Zusicherung baldigen Handelns in ihrem eigenen davon. 366
»Was nun?« sagte Oliver. »Eine Flasche Scotch.« Er warf mir einen strengen Blick zu, der dann über mei nen Allgemeinzustand schweifte und in Verständnis auf ging. »Können Sie warten, bis wir nach Hause kommen?« fragte er. An diesem Abend erzählte ich Oliver nach und nach von Pens Analyse der Schätze aus Calders Sprechzimmer und von den drogeninduzierten Krankheiten der Patienten Cal ders. Ich erzählte ihm, daß Calder Ian Pargetter umge bracht hatte und weshalb, und ich erklärte nochmals, wie die Idee, Sandcastle erst in Verruf zu bringen, ihn dann zu kaufen und wiederaufzubauen, dem Indian-Silk-Schema gefolgt war. »Es kann außer Indian Silk noch andere geben, von de nen wir nichts gehört haben«, sagte ich nachdenklich. »Springpferde, Militarypferde, sogar Show-Ponys. Man weiß nie. Dissdale könnte mehr als zweimal mit seinem Kaufangebot für einen hoffnungslosen Fall eingestiegen sein.« »Er zog sein Angebot noch am Abend von Calders Tod zurück.« »Was hat er überhaupt gesagt?« fragte ich. »Er war sehr außer Fassung. Hätte seinen engsten Freund verloren, sagte er, und ohne die Wunderkräfte Cal ders hätte der Kauf von Sandcastle keinen Sinn.« Ich runzelte die Stirn. »Meinen Sie, das war echt?« »Sein Kummer? Ja, bestimmt.« »Und der Wunderglaube?« »Es klang, als glaubte er daran.« 367
Ich fragte mich, ob es zumindest möglich war, daß Diss dale ein unschuldiger, gefoppter Komplize war und nicht gewußt hatte, daß seine günstigen Einkäufe erst krank ge macht worden waren. Seinen Stolz auf die Bekanntschaft des großen Mannes hatte man in Ascot nicht übersehen können, und vielleicht war er nur geschmeichelt und be schränkt, aber nicht niederträchtig gewesen. Oliver fragte schließlich, wie ich das mit den drogenin duzierten Krankheiten und der Ermordung Ian Pargetters herausbekommen hatte, und ich erzählte ihm auch dies so ungeschminkt wie möglich. Er starrte mich an, die Augen auf dem Gips. »Sie haben viel Glück, daß Sie im Rollstuhl stecken und nicht in einem Sarg. Verdammtes Glück.« »Ja.« Er schenkte mir von dem Brandy nach, zu dem wir nach dem Abendbrot übergegangen waren. Die Anästhesie kam angenehm langsam. »Ich fange fast schon an zu glauben«, sagte er, »daß ich irgendwie nächstes Jahr doch noch hier bin, selbst wenn ich dafür Sandcastle und was sonst noch nötig ist verkau fen muß.« Ich trank aus meinem aufgefüllten Glas. »Morgen ma chen wir einen Plan auf der Basis, daß Sandcastles Ruf in den Augen der Welt wiederhergestellt wird. Schlagen die Zahlen nach, sehen nach, wie hoch der Gesamtschaden sein wird, erstellen eine Zeitskala für die Sanierung. Ich kann nichts versprechen, da ich nicht das letzte Wort habe, aber wenn die Bank letztlich ihr Geld bekommt, wird sie im Hinblick darauf, wann, höchstwahrscheinlich flexibel sein.« »Nett von Ihnen«, sagte Oliver und verbarg die Gefühle hinter seiner knappen soldatischen Art. 368
»Offen gestanden«, sagte ich, »gerettet nützen Sie uns mehr als in der Pleite.« Er lächelte schief. »Ein Banker bis zum letzten Bluts tropfen.« Weil Treppen problematisch waren, schlief ich auf dem Sofa, wo Ginnie an ihrem letzten Nachmittag ein Nicker chen gehalten hatte, und ich träumte von ihr, wie sie über einen Weg mit glücklichem Gesicht auf mich zukam. Ich verbrachte ein Gutteil des nächsten Tages in Gedanken an sie, statt mich auf Gewinn und Verlust zu konzentrieren. Am Abend rief Ursula mit Triumph in ihrer kräftigen Stimme an, und auch mit einem durchgehenden Unterton der Verwunderung. »Sie werden es nicht glauben«, sagte sie, »aber ich habe bereits drei Rennställe in Newmarket gefunden, wo er vo rigen Sommer und Herbst gearbeitet hat, und in allen Fäl len ist eines der Pferde im Stall krank geworden.« Ich hatte keinerlei Mühe mit dem Glauben und fragte, welche Art von Krankheit. »Sie hatten alle Kristallurie. Das sind Kristalle …« »Ich weiß, was es ist«, sagte ich. »Und … es ist völlig unfaßbar … aber alle drei waren auf Höfen, die in der Vergangenheit Pferde zu Calder Jackson geschickt hatten, und auch die wurden hinge schickt, und Calder heilte sie auf der Stelle. Zwei der Trainer sagten, auf Calder würden sie schwören, er hat seit Jahren Pferde für sie kuriert.« »Hieß der Pfleger Shane?« fragte ich. »Nein. Bret. Bret Williams. Auf allen drei Höfen gleich.« 369
Sie gab die Adressen der Stallungen durch, die Namen der Trainer und die (ungefähren) Daten, wann ShaneJason-Bret bei ihnen gewesen war. »Diese Pfleger kom men und gehen einfach«, sagte sie. »Er hat da nirgends auch nur einen Monat gearbeitet. Tauchte einfach eines Morgens nicht auf. Das läuft immer so.« »Sie sind fabelhaft, Ursula!« sagte ich. »Ich habe das Gefühl«, meinte sie mit weniger Über schwang, »was ich Ihnen da erzähle, haben Sie erwartet zu hören.« »Gehofft.« »Die Folgerungen sind unglaublich.« »Glauben Sie sie.« »Aber Calder…«, protestierte sie. »Er kann doch nicht…« »Shane hat für Calder gearbeitet«, sagte ich. »Die ganze Zeit. Ständig. Wo er auch hinging, der Zweck war, Patien ten für Calder zu fabrizieren.« Sie schwieg so lange, daß ich schließlich fragte: »Ursu la?« »Ich bin da«, sagte sie. »Möchten Sie, daß ich mit den Fotos weitermache?« »Ja, wenn es geht. Um ihn zu finden.« »Aufhängen ist noch zu gut für ihn«, meinte sie grim mig. »Ich werde tun, was ich kann.« Sie legte auf, und ich berichtete Oliver, was sie gesagt hatte. »Bret Williams? Hier hieß er Shane Williams.« »Wie kam es dazu, daß Sie ihn einstellten?« fragte ich. Oliver blickte stirnrunzelnd zurück. »Gute Pfleger sind nicht so leicht zu finden, wissen Sie. Sie können inserie 370
ren, bis Sie schwarz werden, und kriegen doch nur drittoder viertklassige Bewerber. Aber Nigel meinte, Shane hätte bei der Vorstellung einen guten Eindruck auf ihn gemacht, und wir sollten ihm einen Monat Probe geben, und danach haben wir ihn natürlich behalten und ihn die ses Jahr auch gern wieder genommen, als er anrief und nachfragte, denn er war schnell und kompetent und kannte den Job in- und auswendig, zudem war er höflich und hielt sich an die Zeiten…« »Vorbildlich«, sagte ich trocken. »Unter Pflegern, ja.« Ich nickte. Er mußte wohl gut gewesen sein; stolz gewe sen sein auf den Betrug, mit der Hingabe aller Verräter. Ich hielt mir die Fantasienamen vor Augen und dachte, daß er sich als eine Art Macho-Held gesehen haben mußte, der große Agent einer fremden Macht, der seine Wunsch bilder in den alltäglichen Aufgaben umsetzte, sich seinen Arbeitgebern überlegen fühlte, während er sie voller Ver achtung hinterging. Er konnte Kapseln in die ausgehöhlten Kernhäuser von Äpfeln gesteckt haben, dann außen ein- oder zweimal hin eingebissen, damit es überzeugend wirkte, und den Rest an seine Opfer verfüttert haben. Niemand hätte je Verdacht geschöpft, weil Verdacht undenkbar war. Ich schlief wieder auf dem Sofa, und am nächsten Mor gen rief Oliver Oberinspektor Wyfold an und bat ihn, auf das Gestüt zu kommen. Wyfold brauchte gutes Zureden, erklärte sich widerstrebend bereit und hätte fast auf dem Absatz wieder kehrtgemacht, als er mich in Olivers Büro warten sah. »Nein. Hören Sie«, protestierte er. »Mr. Ekaterin ist mit seinen Ideen schon an mich herangetreten, und ich habe einfach keine Zeit…« 371
Oliver unterbrach ihn. »Wir haben jetzt eine ganze Men ge mehr. Bitte hören Sie sich’s an. Wir verstehen durch aus, daß Sie wegen all der anderen armen Mädchen viel zu tun haben, aber zumindest können wir Ginnie für Sie von dieser Liste streichen.« Wyfold willigte schließlich ein, sich hinzusetzen, eine Tas se Kaffee zu trinken und sich anzuhören, was wir zu sagen hatten. Und während wir ihm abwechselnd und ausführlich erzählten, was sich abgespielt hatte, verflog sein ungeduldi ges Gehabe, und sein angeborener Scharfsinn übernahm. Wir gaben ihm Kopien von den Analysen Pens, die Na men von »Brets« jüngsten Arbeitgebern und die letzten zehn Fotos von Ricky. Er warf flüchtig einen Blick darauf und sagte: »Wir haben diesen Stallangestellten vernom men, aber …« »Nein, haben Sie nicht«, sagte Oliver. »Das Foto zeigt einen Jungen, der aussieht wie er, wenn man sie beide nicht gut kennt.« Wyfold spitzte die Lippen, aber er nickte. »Na schön.« »Wir glauben allerdings, daß er Ginnie umgebracht ha ben könnte, selbst wenn Sie es nicht beweisen konnten.« Wyfold las die Papiere zusammen, die wir ihm gegeben hatten. »Wir werden mit Sicherheit unsere Ermittlungen umstellen«, sagte er und fügte mit einem mürrischen Blick auf mich hinzu: »Wenn Sie es der Polizei überlassen hät ten, Calders Praxis zu durchsuchen, Sir, hätte Calder Jack son nicht die Gelegenheit gehabt, Ian Pargetters Tasche und andere Beweisstücke zu beseitigen. Diese Dinge wer den von Amateuren immer falsch angefaßt.« Er schaute absichtsvoll auf meinen Gipsverband. »Hätten Sie besser den Profis überlassen.« Ich warf ihm einen amüsierten Blick zu, aber Oliver blieb die Luft weg. »Ihnen überlassen«, sagte er, »hätte es 372
überhaupt keine Durchsuchung gegeben … bestimmt nicht rechtzeitig, um meinen Betrieb zu retten.« Wyfolds Miene sagte deutlich, daß die Rettung von Fir men nicht seine Hauptsorge war, doch außer zu erwähnen, daß Schlösserknacken und der Diebstahl von Arznei stoffen einen Gesetzesbruch darstellte, behielt er jede wei tere Mißbilligung für sich. Er war schon aufbruchbereit auf den Beinen, als Ursula erneut anrief, und er konnte fast jedes Wort hören, das sie sagte, weil sie so begeistert war. »Ich bin in Gloucestershire«, rief sie. »Ich dachte, ich pack’ das mal vom anderen Ende her an, wenn Sie verste hen, was ich meine. Mir fiel ein, daß Calder auf wunder bare Weise Binty Rockinghams unschlagbaren Military gaul geheilt hat, der so schwach war, daß er kaum gerade stehen konnte, also fuhr ich her, um sie zu fragen, und was meinen Sie wohl?« »Was?« fragte ich entgegenkommend. »Dieser Bursche hat für sie gearbeitet!« Der Triumph brach hervor. »Ein guter Pfleger, sagt sie, haben Sie Töne? Er nannte sich Clint. Den Nachnamen weiß sie nicht mehr, es ist über zwei Jahre her, und er war nur ein paar Wochen hier.« »Fragen Sie mal, ob der Name Williams sein kann«, sag te ich. Ein Gemurmel entstand am anderen Ende, und dann kam die Stimme von Ursula wieder. »Sie glaubt ja.« »Sie sind ein Schatz, Ursula«, sagte ich. Sie lachte unbefangen. »Möchten Sie, daß ich die Straße runter zu Rube Golgy gehe? Er hatte ein Showpony, das Calder vor längerer Zeit von einer nässenden Wunde ku rierte, die nicht heilen wollte.« 373
»Den einen dann noch, Ursula. Es ist schon ziemlich schlüssig, würde ich sagen.« »Sicher ist sicher«, meinte sie fröhlich. »Und eigentlich macht es mir Spaß, jetzt wo ich über den Schock hinweg bin.« Ich notierte die Einzelheiten, die sie mir nannte, und als sie eingehängt hatte, gab ich die neue Information Wyfold. »Clint«, sagte er verdrossen. »Als nächstes Elvis, würde mich nicht wundern.« Ich schüttelte den Kopf. »Ein Mann von Action, unser Shane.« Vielleicht, weil er das Bedürfnis hatte, wenigstens einen Mord aufzuklären, während man ihn dafür schmähte, daß er seinen Triebtäter nicht fing, verwandte Wyfold seine besten Kräfte auf die Suche. Er brauchte nur zwei Wo chen, um Shane zu finden, der beim Verlassen einer Knei pe in dem kleinen Rennort Malton in Yorkshire festge nommen wurde, wo man ihn verschiedentlich mit gehei men Taten von ungeahnter Kühnheit hatte prahlen hören. Wyfold teilte es Oliver mit, der mich im Büro anrief, in das ich über eine neuinstallierte Rollstuhlrampe an der Vordertreppe zurückgekehrt war. »Er nannte sich Dean«, sagte Oliver. »Dean Williams. Es scheint, daß ihn die Polizei von Yorkshire nach hier überstellt, und Wyfold möchte, daß Sie zu ihm auf die Hauptwache kommen, um Shane als den Mann zu identi fizieren, der in Calders Stall Jason genannt wurde.« Ich sagte, ich würde es tun. Ich sagte nicht, daß ich es, wenn ich ehrlich war, nicht konnte. 374
»Morgen«, setzte Oliver hinzu. »Die haben es eilig, weil sie ihn ohne ausreichende Begründung festhalten oder so was.« »Ich werde dasein.« Ich fuhr in einem samt Chauffeur gemieteten Wagen hin, ein Luxus, für den seit dem Verlassen von Olivers Gestüt mein halbes Gehalt draufging. Ich wohnte näher am Büro als gewöhnlich, bei einem Freund, dessen Wohnung in einem Hochhaus mit Fahr stuhl lag. Die Schmerzen in den unbeweglichen Gelenken weigerten sich hartnäckig zu verschwinden, waren aber dank eines weiteren Geschenks von Pen (über Gordon) meistens zu vergessen. Eine neue Form »normalen« Le bens hatte sich herausgebildet, und alles, was ich mir von ganzem Herzen wünschte, war ein Bad. Ich traf in Wyfolds Polizeistation zur gleichen Zeit ein wie Oliver, und gemeinsam wies man uns in ein Büro, in das Oliver mich schob, als wäre er dazu geboren. Minde stens zwei Monate Leben im Rollstuhl hatte man mir vor hergesagt. Selbst wenn meine Schulter schon früher heilte, würde sie mein Gewicht auf Krücken nicht aushalten. Ge duld! war mir geraten worden. Seien Sie geduldig. Mein Knöchel sei zertrümmert gewesen, und sie hätten ihn zu sammengestückt wie ein Puzzle, und ich könne keine Wunder erwarten. Wyfold kam, schüttelte uns rasch die Hände (ein Fort schritt) und sagte, dies sei keine normale Gegenüber stellung, da Oliver natürlich Shane sehr gut kenne und auch ich ihn offensichtlich kannte, wegen Ricky Barnet. »Sprechen Sie ihn einfach mit Jason an«, sagte mir Wy fold, »wenn Sie sicher sind, daß es derselbe Mann ist, den Sie bei Calder Jackson gesehen haben.« Wir verließen das Büro und gingen durch einen grell be leuchteten Amtskorridor zu einem großen Verneh 375
mungsraum, der einen Tisch enthielt, drei Stühle, einen stehenden Polizisten in Uniform … und Shane, der saß. Er wirkte frech, keineswegs eingeschüchtert. Als er Oliver sah, legte er nahezu keck den Kopf schräg und zeigte nicht Scham, sondern Stolz, nicht Entschuldi gung, sondern ein Hohnlächeln. Mich streifte er nur mit einem flackernden Blick, ohne mich von unseren zwei ganz kurzen Begegnungen her zu erkennen oder Schwie rigkeiten aus meiner Richtung zu erwarten. Wyfold hob die Augenbrauen als Hinweis für mich, daß es zu handeln galt. »Hallo, Jason«, sagte ich. Sein Kopf fuhr augenblicklich herum, und diesmal starr te er mich voll an. »Ich bin Ihnen in Calder Jacksons Stall begegnet«, sagte ich. »Nie im Leben.« Obwohl ich nicht damit gerechnet hatte, erinnerte ich mich deutlich an ihn. »Sie haben ein Pferd bestrahlt, und Calder Jackson riet Ihnen, Ihre Sonnenbrille aufzusetzen.« Er gab sich keine Mühe mehr, es abzustreiten. »Was ist denn dabei?« sagte er. »Ein schlüssiger Beweis für Ihre Verbindung zu dem Hof, möchte ich meinen«, sagte ich. Oliver, anscheinend ebenso empört über Shanes man gelnde Zerknirschung wie über seine Sünden, wandte sich heftig an Wyfold und sagte mit halbunterdrückter Bitter keit: »Jetzt beweisen Sie, daß er meine Tochter umge bracht hat.« »Was!« Shane war entsetzt aufgesprungen, wobei er den Stuhl unter sich umwarf und seine Schlaumeier-Dreistigkeit ihm 376
in einer Sekunde entglitt. »Das war ich überhaupt nicht«, sagte er. Wir beobachteten ihn alle interessiert, und sein Blick huschte schnell von einem Gesicht zum anderen, wo er nur Abschätzung und Zweifel sah und nirgends Bewunderung. »Ich hab’ sie nicht umgebracht«, sagte er belegt mit er hobener Stimme. »Ich war es nicht. Ganz echt, ich war es nicht. Er war es. Er hat es getan.« »Wer?« sagte ich. »Calder. Mr. Jackson. Er hat’s getan. Er war es, nicht ich.« Wieder blickte er verzweifelt über uns hinweg. »Hö ren Sie, ich sage Ihnen die Wahrheit, aber echt jetzt. Ich hab’ sie nicht umgebracht, das war er.« Wyfold begann ihm mit tonloser Stimme zu erzählen, daß er das Recht zu schweigen hätte und daß alles, was er sagte, schriftlich festgehalten und als Beweis verwendet werden könne, aber Shane war nicht klug, und die Angst hatte ihn jetzt zu fest im Griff. Seine Fantasiewelt war an gesichts unvorstellbarer Wirklichkeit verpufft, und ich merkte, daß ich ihm jedes Wort, das er sagte, abnahm. »Wir wußten nicht, daß sie da war, ja. Sie hat uns reden gehört, aber wir wußten es nicht. Und als ich das Zeug weg ins Wohnheim brachte, sah er, daß sie sich da rum drückte, und verpaßte ihr eins. Ich hab’ das nicht gesehen, nicht mitgekriegt, aber als ich wieder hinkam, da lag Gin nie vor ihm am Boden, und ich sagte, das ist die Tochter vom Chef, was er nicht mal wußte, ja, aber er meinte, wenn’s die Tochter vom Chef ist, dann um so schlimmer, weil sie die ganze Zeit da im Schatten gestanden und ge lauscht haben müßte, und sie wäre doch gleich losgerannt und hätte es allen erzählt.« Die Worte, Erklärungen, Ausreden überschlugen sich in selbstgerechter Eindringlichkeit, und glücklicherweise traf 377
Wyfold keine Anstalten, den Schwall in die sorgfältige Amtssprache einer Zeugenaussage zu kanalisieren. Der Po lizist in Uniform, jetzt hinter Shane sitzend, schrieb a tempo in ein Notizbuch und hielt vermutlich das Wesentliche fest. »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Wyfold ungeduldig. »Womit hat er sie denn geschlagen?« Shane verdoppelte seine Anstrengungen, zu überzeugen, und von da an bewunderte ich Wyfolds listig-effiziente Verhörtechnik. »Mit einem Feuerlöscher«, sagte Shane. »Den hatte er in seinem Wagen, ja, und er hielt ihn in der Hand. Er hat sich wegen Feuer immer schwer angestellt. Nie durfte einer in der Nähe von den Ställen rauchen. Dieser Nigel…«, das Hohnlächeln kehrte flüchtig wieder, »… die Burschen ha ben alle im Futterraum, direkt hinter seinem Rücken, ge qualmt. Er hatte keine Ahnung, was lief.« »Feuerlöscher …«, sagte Wyfold zweifelnd und schüttel te den Kopf. »Doch, aber ja. Es war einer. Eins von den roten Din gern, ungefähr so lang.« Shane hielt eifrig die Hände hoch, etwa vierzig Zentimeter auseinander. »Mit dem Stutzen oder was obendrauf. Daran hat er ihn festgehalten und ir gendwie geschwenkt. Ginnie lag lang auf dem Boden, das Gesicht so nach unten, und ich sagte: ›Was haben Sie denn gemacht?‹ und er sagte, sie hätte gelauscht.« Wyfold schniefte. »Es war echt so«, sagte Shane beschwörend. »Was hat sie denn belauscht?« »Wir waren über das Zeug am Reden, ja.« »Das Shampoo …« »Ja.« Er schien nur kurz über das Stichwort eine Spur beunruhigt zu sein. »Ich erzählte ihm, daß das Zeug ja 378
wirklich gewirkt hat, weil am Morgen ein Fohlen mit ei nem halben Bein geboren worden war; dieser Nigel, der wollte es zwar vertuschen, aber bis zum Nachmittag war er halb besoffen und hat’s einem der Pfleger verklickert, da wußten wir es alle. Also sagte ich es Mr. Jackson, und er fand es prima, denn es wurde langsam Zeit, daß wir was hörten, und in den Zeitungen hatte nicht ein Piep gestan den, und er machte sich schon Sorgen, ob er nicht richtig dosiert hatte oder so was. Jedenfalls, als ich ihm von die sem Fohlen mit dem halben Bein erzählte, hat er gelacht, ja, so froh war er, und er sagte, wahrscheinlich wäre das jetzt der letzte Schwung, den ich machen müßte, bloß die sechs Flaschen noch, die er mitgebracht hatte, und dann abhauen.« Oliver sah sehr blaß aus, mit Schweiß unter dem Haar ansatz und weiß geballten Fäusten. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt in dem Bemühen um Selbstbeherr schung, und er hörte die ganze Zeit zu, ohne nur einmal zu unterbrechen oder zu fluchen. »Ich nahm die sechs Flaschen mit zum Wohnheim, aber als ich da hinkam, hatte ich bloß fünf, also ging ich zu rück, um die zu suchen, die mir runtergefallen war, aber das hab’ ich vergessen, ja, als ich ihn vor Ginnie stehen sah und er sagte, sie hätte uns reden gehört, und dann meinte er, ich sollte in seinem Wagen mit runter ins Dorf fahren, er würde mich an einer Kneipe absetzen, wo die anderen Burschen waren, dann könnte ich nämlich schlecht daheimgewesen sein und die Tochter vom Chef umgebracht haben, ja? Unterwegs zum Dorf fiel mir die Flasche wieder ein, die ich hab’ fallen lassen, aber ich dachte, das würde ihn nicht gerade freuen, und sowieso meinte ich, die würde ich schon wiederfinden, wenn ich zurückkam, fand sie aber nicht. Ich dachte, das wäre nicht schlimm, weil doch keiner wußte, wofür sie war, es war ja 379
bloß Hundeshampoo, und sowieso war ich der Meinung, auf die neuen Flaschen lieber zu verzichten bei dem Wir bel, den es wegen Ginnie geben würde. Aber wenn die Flasche nicht gewesen wäre, dann wär’ ich nicht noch mal rausgegangen, ja, und wüßte nicht, daß er es war, der sie umgebracht hat, und ich war es nicht, ich nicht.« Er schien für seine Begriffe an einem Schluß angelangt, doch was Wyfold, Oliver und mich betraf, hatte er zu früh aufgehört. »Wollen Sie damit sagen«, fragte Wyfold, »daß Sie zu sammen mit den anderen Stallangestellten zu Fuß aus dem Dorf zurückgekommen sind und wußten, was Sie finden würden?« »Na ja, schon. Nur daß Dave und Sammy, ja, die sind zuerst zurück gewesen, und als ich hinkam, war ein Kran kenwagen da und alles, und ich hielt mich einfach im Hin tergrund.« »Was haben Sie mit den fünf anderen Shampooflaschen gemacht?« fragte Wyfold. »Wir haben alle Räume des Wohnheims durchsucht. Wir fanden kein Shampoo.« Die ersten überwältigenden Stimmen der Furcht wurden schwächer in Shane, aber er antwortete mit nur geringstem Zögern: »Ich brachte sie ein Stück die Straße runter und warf sie in einen Graben. Das war, nachdem sie alle zum Krankenhaus gefahren sind.« Er nickte in die ungefähre Richtung von Oliver und mir. »Hat mich in Panik versetzt, ein bißchen, als Dave sagte, sie redet irgendwie. Aber hin terher war ich froh, das Zeug weggeschafft zu haben, als sie dann tot war und alles da herumgeschnüffelt hat.« »Sie könnten mir zeigen, welcher Graben?« sagte Wy fold. »Ja, könnte ich.« »Gut.« 380
»Das heißt…«, sagte Shane erleichtert, »Sie glauben, was ich Ihnen erzählt habe?« »Nein, das heißt es nicht«, sagte Wyfold repressiv. »Ich müßte wissen, was Sie normalerweise mit dem Shampoo gemacht haben.« »Was?« »Wie Sie es präpariert und den Stuten verabreicht ha ben.« »Ach so.« Ein Echo der frechen Durchtriebenheit kehrte wieder: ein Straffen der Schultern, ein Kräuseln der Lippen. »Es war kinderleicht, ja. Mr. Jackson zeigte mir, wie. Ich brauchte bloß einen Kaffeefilter in ein Waschbecken zu hal ten und das Shampoo durchzuschütten, damit das ganze Shampoo im Abfluß verschwand und im Papier dieses Zeug zurückblieb, dann stülpte ich den Kaffeefilter einfach um und tränkte ihn in einer kleinen Flasche mit Leinsamenöl aus dem Futterschuppen, und dann rührte ich ein Viertel davon in das Futter, jedenfalls, wenn es für eine Stute war, um die ich mich zu kümmern hatte, oder ich ließ das Zeug auf den Boden sinken und kratzte einen Teelöffel voll raus und schmierte es in einen Apfel für die anderen. Mr. Jackson zeigte mir, wie. Kinderleicht, das Ganze.« »Wie vielen Stuten haben Sie es gegeben?« »Weiß ich nicht genau. Dutzenden, wenn man letztes Jahr mitrechnet. Manche hab’ ich ausgelassen. Mr. Jackson meinte, besser ein paar überspringen als ent deckt werden. Am liebsten war ihm, wenn ich das Öl nahm. Meinte, zu viele Äpfel würden auffallen.« Eine ge wisse Angst kam zurück. »Hören Sie, jetzt, wo ich Ihnen das alles erzählt habe, wissen Sie doch, daß ich sie nicht umgebracht habe, oder?« Wyfold sagte ungerührt: »Wie oft hat Ihnen Mr. Jackson Flaschen mit Shampoo gebracht?« 381
»Hat er ja nicht. Ich meine, ich hatte einen Koffer davon unter meinem Bett. Gleich mitgebracht, als ich einzog, wie letztes Jahr auch. Aber dieses Jahr gingen sie mir aus, des halb rief ich ihn eines Abends vom Dorf aus an, ich brauchte noch welche. Da sagte er, er würde sich mit mir am Sonntag um neun am Hintertor treffen, wenn die Bur schen alle in der Kneipe waren.« »Das Risiko wäre er nicht eingegangen«, sagte Wyfold skeptisch. »Na, ist er aber.« Wyfold schüttelte den Kopf. Shanes Panik kam völlig wieder hoch. »Er war da«, brüllte er fast. »Doch. Er war da.« Wyfold blickte immer noch einstudiert zweifelnd drein und sagte Shane, es wäre am besten, er würde jetzt eine förmliche Aussage machen, die der Sergeant schriftlich festhalten und von ihm unterzeichnen lassen würde, wenn er, Shane, davon überzeugt sei, daß sie das wiedergab, was er uns bereits erzählt hatte: wozu sich Shane in gelinder Verwirrung bereit erklärte. Wyfold nickte dem Sergeant zu, öffnete die Zimmertür und winkte Oliver und mir, zu gehen. Oliver schob mich in wort losem Grimm hinaus. Wyfold sagte mit zufriedener Miene in seiner direkten, schonungslosen Art: »Das wär’s denn, Mr. Knowles, so ist Ihre Tochter gestorben, und Sie haben mehr Glück als andere. Dieser kleine Saukerl sagt die Wahr heit. Stolz auf sich, wie eine Menge Ganoven. Will, daß es die Welt erfährt.« Er schüttelte Oliver mechanisch die Hand, nickte mir kurz zu und ging davon zu seinen ungeklärten Schrecken, deretwegen die Zeitungen nach seinem Blut schrien und andere Väter an ihren Tränen erstickten. Oliver schob mich zurück in die Außenwelt, jedoch nicht direkt dahin, wo mein Chauffeur auf Zeit warten wollte. 382
Ich sah mich eine außerplanmäßige Wendung in einen kleinen Park vollführen, wo Oliver mich abrupt neben der ersten Bank, zu der wir kamen, stehen ließ und ruckartig davonging. Ich sah zu, wie sein Rücken stocksteif hinter Sträuchern und Bäumen verschwand. Im Kummer, wie in allem ande ren, hielt er auf Ordnung. Ein Junge kam auf Rollschuhen den Weg entlang und bremste mit einem scharfen Schlenker vor mir. »Wollen Sie geschoben werden?« sagte er. »Nein. Aber danke trotzdem.« Er sah mich verständnisvoll an. »Kriegen Sie den Stuhl geradeaus gefahren, mit nur einem Arm?« »Nein. Ich dreh’ mich im Kreis und bin am Schluß da, wo ich angefangen habe.« »Dachte ich mir.« Er betrachtete mich ernst. »Genau wie die Erde«, sagte er. Er stieß sich mit einem Fuß ab und segelte auf dem an deren geradeaus davon, und schließlich kam Oliver mit fe sten Schritten zurück. Er setzte sich auf die Bank neben mir, die Augenlider leicht gerötet, im ganzen ruhig. »Entschuldigen Sie«, sagte er nach einer Weile. »Sie ist glücklich gestorben«, sagte ich. »Es ist besser als nichts.« »Wie meinen Sie das?« »Sie hörte, was die getrieben haben. Sie hob das Sham poo auf, das Shane fallen ließ. Sie wollte kommen und Ih nen sagen, daß alles in Ordnung war, daß Sandcastle nichts fehlte und Sie das Gestüt nicht verlieren würden. In dem Augenblick, als sie starb, muß sie voller Freude ge wesen sein.« 383
Oliver hob sein Gesicht zum hellen Sommerhimmel.
»Glauben Sie?«
»Ja.«
»Dann glaube ich es auch«, sagte er.
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Das dritte Jahr Oktober
G
ordon ging auf die Sechzig, das Alter, mit dem jeder bei Ekaterin ausschied, ob er mochte oder nicht. Die Geschäftigkeit junger Hirne, hatte Gründer Paul gesagt, hielt das Geld in Bewegung, und dieses Konzept regierte immer noch das Haus. Gordon empfand wohl Bedauern, doch mir schien, es wurde ausgeglichen durch ein Gefühl der Erleichterung. Er kämpfte jetzt seit drei Jahren gegen seine Schüttel lähmung und hatte die ihm zugeteilte Arbeitsfrist ange sichts des inneren Feindes ehrenhaft beendet. Er sprach davon, daß er sich auf seine Muße freue und daß er und Judith so bald wie möglich auf die Reise gehen würden, um die Pensionierung zu feiern. Vorher allerdings müsse er noch einen Tag zu medizinischen Untersuchungen ins Krankenhaus. »Lästig«, meinte er, »aber sie möchten diese Kontrollen haben und mich in Schuß bringen, ehe wir fahren.« »Sehr vernünftig«, sagte ich. »Wohin fahrt ihr denn?« Er lächelte vor Enthusiasmus. »Ich wollte schon immer mal Australien sehen. War noch nie da, weißt du.« »Ich auch nicht.« Er nickte, und wir setzten unsere normale Arbeit in dem Einklang fort, den wir so viele Jahre hindurch miteinander 385
empfunden hatten. Ich würde ihn wohl arg vermissen, dachte ich, aber schlimmer war, daß ich durch ihn nicht mehr laufend neue Nachricht und Kontakt mit Judith ha ben würde. Die Tage schienen seinem Geburtstag entge genzueilen, und mir wurde es schwerer ums Herz wie sei nes leichter wurde. Olivers Probleme waren nicht mehr die tagtäglichen Kommuniqués beim Mittagessen. Unser Vorstandsdissi dent hatte eingeräumt, daß selbst sicherste Sicherheiten nicht immer gegen gutgeplante Heimtücke gefeit waren, und murrte nicht mehr über meine Rolle bei der Sache, be sonders seit dem Tag, als Henry sich mit seiner stahl sanften Stimme darüber ausließ, daß das Geld der Bank über die Pflichterfüllung hinaus verteidigt worden sei. »Und über den gesunden Menschenverstand«, murmelte Val mir ins Ohr. »Gott sei Dank.« Olivers Misere war von Alec in Was läuft, wo es nicht sollte ausführlich an die Öffentlichkeit gebracht worden, dank umfassender Indiskretionen eines Direktors von Eka terin; nämlich mir. Einige Zeitungen hatten um den Brei herumgeredet, da wegen Shane, der auf seinen Prozeß wartete, die Ge schichte mit den vergifteten Stuten als noch nicht entschie den zu gelten hatte. Alecs Blatt hatte es mit der gewohnten Mißachtung von Heimlichkeiten fertiggebracht, alle und jeden im Vollblutgewerbe wissen zu lassen, daß Sand castle selbst eine felsenfeste Investition war und daß von den bereits geborenen, unversehrten Fohlen keines schäd liche Erbanlagen weitergeben würde. Was die in diesem Jahr gedeckten Stuten anlangt (fuhr das Blatt fort), so ist es ein Lotteriespiel, ob sie mißgebildete Fohlen hervorbringen oder nicht. Züchtern wird empfoh 386
len, ihre Stuten austragen zu lassen, da eine rund fünfzig prozentige Chance besteht, daß das Fohlen gesund ist. Be sitzer von Stuten, die mißgebildete oder fehlerhafte Fohlen hervorbringen, werden, wie verlautet, ihre Decktaxen zu rückerstattet und Unkosten ersetzt bekommen. Die Züchtervereinigung ist dabei, besondere Richtlinien für die Bewältigung dieses Ausnahmefalles zu erarbeiten. In der Zwischenzeit: Fürchten Sie nichts. Sandcastle ist potent, fruchtbar und in Amt und Würden wiederein gesetzt. Bewerben Sie sich ohne Zögern um einen Platz im Programm für nächstes Jahr. Alec selbst rief mich zwei Tage nach dem Erscheinen des Artikels im Büro an. »Wie gefällt er dir?« »Einfach großartig.« »Der Redakteur sagt, die Zeitungshändler in Newmarket haben wie verrückt nach zusätzlichen Ausgaben ge schrien.« »Hm«, sagte ich. »Vielleicht besorge ich mir mal eine Liste von allen Züchtern und Turfagenten und schicke per sönlich – ich meine, anonym – jedem eine Kopie deines Artikels, wenn dein Redakteur einverstanden ist.« »Mach es, ohne ihn zu fragen«, sagte Alec. »Es wäre ihm wahrscheinlich lieber. Wir verklagen dich nicht we gen Copyrightverletzung, das versprech ich dir.« »Danke vielmals«, sagte ich. »Du warst wirklich großar tig.« »Warte ab, bis du die nächste Nummer zu Gesicht kriegst. Daran arbeite ich jetzt. Wunder aus der Tüte heißt der Titel. Wie kommt das rüber?« »Bestens.« 387
»Tote strengen keine Prozesse an«, meinte er fröhlich. »Hoffe bloß, daß ich die Arzneien richtig schreibe.« »Ich hab’ dir doch die Liste geschickt«, wandte ich ein. »Die Setzer«, sagte er, »können Rührei draus machen, nicht zu reden von S-sulfonamid.« »Bis irgendwann mal«, sagte ich lächelnd. »Ja. Im Pub. Machen wir fest.« Sein Wunderwerkartikel in der nächsten Nummer rui nierte Calders Ruf vollständig und trug weiter zur Rehabi litierung Sandcastles bei, und nach einem dritten Schlag auf die Sandcastle-ist-top-Pauke in der darauffolgenden Nummer berichtete Oliver dankbar, daß das Vertrauen in seinen Hengst wie auch in sein Gestüt wieder im Kommen sei. Zwei Drittel der Nominierungen waren bereits ge bucht, und nach dem Rest gingen Erkundigungen ein. »Einer von den Züchtern, dessen Stute jetzt trächtig ist, hat gedroht, mich wegen Fahrlässigkeit zu verklagen, aber die Zuchtverbände wollen ihn davon abbringen. Er kann ohnehin nichts machen, bis Shanes Prozeß gelaufen und bis das Fohlen geboren ist, und ich hoffe einfach bei Gott, daß es gesund ist.« Vom Gesichtspunkt der Bank aus waren seine Angele genheiten nicht mehr im argen. Der Vorstand hatte sich be reit erklärt, die Dauer des Kredits um drei Jahre zu verlän gern, und Val, Gordon und ich hatten die Raten ausgearbei tet, in denen Oliver zurückzahlen konnte, ohne sich lahmzu legen. Alles ruhte letztlich auf Sandcastle, aber wenn sich herausstellte, daß seine Nachkommenschaft das Tempo des Vaters geerbt hatte, würde Oliver am Ende das Prestige und den Wohlstand erlangen, die er angestrebt hatte. »Lassen wir uns trotzdem«, meinte Henry eines Tages lächelnd bei gebratenem Lamm, »trotzdem Rennbesuche nicht zur Gewohnheit werden.« 388
Gordon kam eines Montags ins Büro und sagte, er hätte Dissdale am Tag vorher beim Lunch in einem Restaurant getroffen, das sie beide schätzten. »Es war ihm sichtlich peinlich, mich zu sehen«, erklärte Gordon. »Aber ich hab’ dann doch ganz nett mit ihm ge redet. Er hatte wirklich keine Ahnung, weißt du, daß Calder ein Schwindler war. Er sagt, er kann auch jetzt noch kaum glauben, daß die Heilungen keine Heilungen waren oder daß Calder tatsächlich zwei Menschen umgebracht hat. Sehr still war er, für seine Verhältnisse.« »Ich nehme an«, sagte ich vorsichtig, »du hast ihn nicht gefragt, ob Calder und Dissdale schon vor Indian Silk mal kranke Tiere gekauft, geheilt und verkauft haben?« »Doch, hab’ ich sogar, wegen deines Verdachts. Aber er sagt, das hätten sie nicht. Indian Silk war das erste, und Dissdale meinte ziemlich bedrückt, Calder und Ian Parget ter hätten es wohl nicht ertragen, daß ihre ganze Zeit und Mühe vergeudet werden sollte, und als Ian Pargetter Fred Barnet nicht überreden konnte, es mit Calder zu versu chen, hat Calder eben Dissdale losgeschickt, das Pferd kurzerhand zu kaufen.« »Und es klappte wunderbar.« Gordon nickte. »Außerdem sagte Dissdale auch, Calder sei genauso verblüfft darüber gewesen wie er selbst, daß Ekaterin die Bank war, die den Kredit für Sandcastle ge währt hatte. Dissdale bat mich, dir zu sagen, daß, als er Calder erzählte, wer eigentlich das Geld vorgestreckt hat te, Calder mehrmals ›Mein Gott‹ sagte, den ganzen Abend auf und ab lief und weitaus mehr trank als sonst. Dissdale wußte nicht wieso, und Calder rückte nicht damit raus, aber jetzt glaubt Dissdale, es lag daran, daß Calder Reue verspürte, weil er Ekaterin ausnahm, nachdem ein Ekate rin ihm das Leben gerettet hatte.« 389
»Dissdale«, meinte ich trocken, »versucht immer noch, Entschuldigungen für seinen Helden zu finden.« »Und für seine Bewunderung«, stimmte Gordon zu. »Aber vielleicht ist es wahr. Dissdale sagte, Calder hätte dich sehr gemocht.« Mich gemocht und sich entschuldigt, und versucht, mich umzubringen: das auch. Beweglichkeit war allmählich in meine Schulter und meinen Arm zurückgekehrt. Der körperbeengende Gips war abgenommen, und durch Elektrobehandlung, Gymna stik und Massage war die normale Kraft wiederhergestellt. In der Abteilung Fußgelenk sah es nicht ganz so gut aus: Ich trug nach mehr als vier Monaten immer noch eine Manschette, wenn auch jetzt aus abnehmbarem Aluminium mit Schnallen, nicht Gips. Niemand mochte versprechen, daß ich jemals wieder würde Ski fahren können. Inzwischen waren für alles außer den kürzesten Wegen Stöcke erforderlich. Ich war es leid geworden, meine Treppen in Hampstead nach meiner Rückkehr dorthin rauf und runter zu hopsen, und hatte mir eine Wohnung mit Lift nach oben und Garage im Kellerge schoß gemietet. Und eines Tages fand ich sogar, das Leben war im wesentlichen wieder zumutbar geworden. Das war, als ich mit meinem Wagen da herausfuhr: au tomatische Schaltung, keine Arbeit für den linken Fuß, einfach ideal. Ein oder zwei Tage, bevor er zu seiner Kontrolluntersu chung ins Krankenhaus sollte, erwähnte Gordon nebenbei, daß ihn Judith dann nach Feierabend von der Bank abho len käme, um mit ihm zur Klinik zu fahren, wo er über nachten würde, damit er für die ganztägigen Unter suchungen am Freitag ausgeruht war. 390
Am Freitag abend würde sie ihn wieder abholen, und sie würden zusammen heimfahren, und er könne sich das Wochenende über ausruhen, bevor er am Montag wieder ins Büro kam. »Ich bin froh, wenn das erst vorbei ist«, sagte er offen. »Ich hasse diese ganzen Spritzen und das Geschiebe und Herumgeschubse.« »Wenn Judith dich abgeliefert hat, hätte sie dann wohl Lust, sich von mir ein Abendessen spendieren zu lassen, bevor sie nach Hause fährt?« sagte ich. Er sah interessiert herüber und fand die Idee anscheinend gut. »Würde sie bestimmt liebend gern. Ich frage sie.« Er kam am nächsten Tag wieder und sagte, Judith freue sich, und wir machten unter uns aus, daß Judith, wenn sie ihn im Krankenhaus alleingelassen hatte, zu mir in ein günstig gelegenes Restaurant kommen würde, das wir alle gut kannten. Tags darauf, am Donnerstag, wurde der Plan entsprechend ausgeführt. Sie kam mir strahlend entgegen, ihre Augen sprühten, die weißen Zähne schimmerten; in einem langen Kleid und hochhackigen Schuhen. »Gordon geht’s gut, außer daß er wegen morgen nör gelt«, berichtete sie, »und zu seiner Empörung haben sie ihm fast kein Abendbrot gegeben. Er sagt, wir sollen bei unserem Filetsteak an ihn denken.« Ich bezweifle, ob wir das taten. Ich erinnere mich nicht, was wir gegessen haben. Das Festessen war da vor mir auf der anderen Seite des kleinen Tisches: Judith, die schön aussah und mir unsinnige Sachen erzählte wie die, was mit einem blasierten Kühlschrank passiert, wenn man den Stecker rauszieht. »Was denn?« 391
»Er verliert seine kühle Haltung.« Ich lachte über solchen Nonsens und war völlig be rauscht von dem Gedanken, sie so für mich zu haben, und ich wünschte so heftig, sie wäre meine Frau, daß mir die Muskeln schmerzten. »Ihr wollt nach Australien …«, sagte ich. »Australien?« Sie zögerte. »Wir reisen in drei Wochen ab.« »Es ist so bald.« »Gordon wird übernächste Woche sechzig«, sagte sie. »Das weißt du. Dann kommt die Party.« Henry, Val und ich hatten uns zusammengetan, um Gor don nach seinem letzten Arbeitstag eine kleine Abschieds feier im Büro zu geben, eine Sache, zu der die meisten Kreditmanager und ihre Frauen eingeladen waren. »Ich lasse ihn ungern weg«, sagte ich. »Nach Australien?« »Aus der Bank.« Wir tranken Wein und Kaffee und erzählten uns vieles, ohne ein Wort zu sagen. Erst als wir fast schon gingen, sagte sie zögernd: »Wir werden Monate fort sein, weißt du.« Meine Gefühle müssen sichtbar gewesen sein. »Monate … wie viele?« »Wissen wir noch nicht. Wir möchten alles mitnehmen, was Gordon oder ich immer schon hatten sehen wollen und was sich in einem normalen Urlaub nicht unterbringen ließ. Es soll eine Entdeckungsfahrt werden. Ein bißchen Europa, ein bißchen vom Mittleren Osten, Indien, Singa pur, Bali, dann Australien, Neuseeland, Tahiti, Fidschi, Hawaii, Amerika.« Sie verstummte, ihre Augen lachten jetzt nicht, sondern waren voller Traurigkeit. 392
Ich schluckte. »Wird es für Gordon nicht zu anstren gend?« »Er sagt nein. Er wünscht sich leidenschaftlich die Rei se, und ich weiß, er hat sich immer danach gesehnt, die Zeit zu haben, um die Welt zu sehen … und wir reisen langsam, mit vielen Pausen.« Im Restaurant war es leer geworden, und die Kellner lun gerten mit höflichen Mienen herum. Judith zog ihren blauen Mantel an, und wir gingen hinaus auf den kalten Bürgersteig. »Wie willst du jetzt nach Hause?« fragte ich. »U-Bahn.« »Ich fahre dich«, sagte ich. Sie schenkte mir ein kleines Lächeln und nickte, und wir schlenderten langsam über die Straße zu meinem abge stellten Wagen. Sie setzte sich neben mich, und ich schal tete mechanisch die Scheinwerfer ein und löste die Hand bremse, und ich fuhr den ganzen Weg nach Clapham, oh ne bewußt die Straße zu sehen. Gordons Haus hinter dem großen Tor lag still und dun kel. Judith sah hoch auf seine massigen Formen und dann zu mir, und ich lehnte mich im Wagen hinüber und legte die Arme um sie und küßte sie. Sie kam nah zu mir und erwiderte meinen Kuß mit einem Gefühl und einem Be dürfnis, das so intensiv schien wie mein eigenes, und eine Weile blieben wir so, strömend in Leidenschaft, träumend in tiefer ungewohnter Berührung. Wie im selben Gedanken zogen wir uns beide gleich zeitig zurück und ließen uns langsam in die Sitze sinken. Sie legte ihre Hand auf meine und fädelte die Finger hin durch und hielt sie fest. Ich blickte nach vorn durch die Windschutzscheibe, sah Bäume vor den Sternen: sah nichts. 393
Lange Zeit verging. »Wir können nicht«, sagte ich schließlich. »Nein.« »Erst recht nicht«, sagte ich, »in seinem eigenen Haus.« »Nein.« Nach einer weiteren langen Minute ließ sie meine Hand los und öffnete die Tür neben sich, und ich öffnete auch meine. »Steig nicht aus«, sagte sie, »dem Knöchel.« Ich trat jedoch auf die Einfahrt, und sie kam um den Wagen herum zu mir. Wir umarmten uns, aber ohne uns zu küssen, eine lange hungrige Minute Körper an Körper; Hingabe und Abschied zugleich. »Wir sehen uns«, sagte sie, »auf der Party«; und wir wußten beide, wie das sein würde, mit Lorna Shipton, die von ihrer Wacht über Henrys Gewicht erzählte, und Hen ry, der spitzbübisch mit Judith flirtete, wo er nur konnte, während alle laut redeten und Gordon auf den Rücken klopften. Sie ging hinüber zur Haustür und schloß sie auf und sah sich einmal kurz um, dann ging sie hinein und brachte in einer endgültigen, geteilten, schmerzlichen Entscheidung die Mauern zwischen uns.
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Das dritte Jahr Dezember
I
ch fühlte mich allein und zudem einsam, was ich noch nie gewesen war, und eines Sonntags im Dezember rief ich Pen an und schlug vor, mit ihr essen zu gehen. Sie bat mich, zeitig zu kommen, da sie um vier ihren Laden öff nen müsse. Als ich um halb zwölf da war, duftete der Kaf fee in der Maschine, und Pen versuchte, die Schnur des Weihnachtsdrachens zu entwirren. »Ich fand ihn wieder, als ich nach ein paar Büchern suchte«, sagte sie. »Er ist so hübsch. Wenn wir Kaffee ge trunken haben, lassen wir ihn steigen.« Wir nahmen ihn mit in den Park, und sie ließ nach und nach die Schnur raus, bis der Drachen hoch im Wind flog, kreiste und purzelte und mit seinem Rüschenschwanz flat terte. Er zog uns langsam hinter sich her über das Gras, Pen ganz entzückend konzentriert, und ich einfach froh, wieder an diesem Ort zu sein. Sie blickte über die Schulter zu mir. »Gehen wir zu weit für Ihren Knöchel? Oder zu schnell?« »Nein und nein«, sagte ich. »Nehmen Sie noch die Schwarzwurz?« »Gewissenhaft.« Die Knochen und sonstigen Gewebe um meine Schulter waren schnell geheilt, hatte man mir gesagt, und obwohl 395
der Knöchel noch nicht soweit war, war ich bereit, im Zweifelsfall zugunsten von Schwarzwurz zu entscheiden. Alles, was annehmbare Beweglichkeit wiederherstellen würde, erregte meine Begeisterung: Das Leben mit Man schette und Spazierstock, immer noch langweilig notwendig, machte selbst das Einkaufen zur Qual. Wir hatten eine Stelle auf der Höhe von Gordon und Ju diths Haus erreicht, als ein Windstoß den Drachen plötz lich höher hob, so daß er in leuchtendbunten Schwüngen auf Zickzackkurs und Tauchfahrt ging und seine Rettungs leine sich straff spannte. Ehe irgend etwas zu wollen war, riß die Schnur, und die blendenden Schmetterlingsflügel schwebten frei davon, stiegen in einer Spirale, entschwan den zu einem Umriß, zu einem schwarzen Punkt, zu nichts. »Wie schade«, sagte Pen und drehte sich enttäuscht zu mir um, stockte dann aber, als sie sah, daß mein Blick zu dem hohen, beigen, festverschlossenen Tor hinabgewan dert war. »Lassen Sie sie«, meinte Pen nüchtern, »wie den Dra chen.« »Sie wird zurückkommen.« »Gehen Sie mit einem anderen Mädchen aus«, drängte sie. Ich lächelte schief. »Ich bin aus der Übung.« »Aber Sie können doch nicht ihr ganzes Leben damit zubringen …« Sie schwieg kurz und sagte dann: »Parkin sonsche Krankheit ist nicht tödlich. Gordon könnte achtzig und älter werden.« »Aber ich wünsche doch nicht seinen Tod«, wandte ich ein. »Wie können Sie das denken.« »Was denn?« 396
»Wahrscheinlich, daß es einfach bleibt wie bisher.« Sie ergriff meinen Arm und drehte mich von dem Tor weg, um wieder zu ihrem Haus zu gehen. »Lassen Sie sich Zeit«, sagte sie. »Sie haben Monate. Ihr habt sie beide.« Ich warf ihr einen Blick zu. »Beide?« »Gordon und ich laufen nicht mit geschlossenen Augen durch die Gegend.« »Er hat nie etwas gesagt…« Sie lächelte. »Gordon mag Sie besser leiden als Sie ihn, wenn möglich. Und er vertraut Ihnen.« Sie zögerte. »Las sen Sie sie, Tim, sich selbst zuliebe.« Wir gingen schweigend zu ihrem Haus zurück, und ich dachte an alles, was geschehen war seit dem Tag, als Gor don in dem Brunnen stand, und an alles, was ich gelernt und gefühlt und geliebt und verloren hatte. Dachte an Gin nie und Oliver und Calder, und an all die Tore, durch die ich gegangen war, zu Kummer und Schmerz und der Be kanntschaft mit dem Tod. So viel – zu viel – gedrängt in eine so kleine Zeitspanne. »Sie sind ein Kind des Lichts«, sagte Pen zufrieden. »Sie und auch Judith. Ihr bringt immer Sonnenschein mit. Vermutlich wissen Sie es nicht, aber alles lebt auf, wenn Leute wie Sie hereinkommen.« Sie blickte nieder auf mei nen säumigen Fuß. »Pardon. Wenn Sie hereinhumpeln. Also tragen Sie den Sonnenschein zu einem neuen, jünge ren Mädchen, das nicht mit Gordon verheiratet ist und Ih nen nicht das Herz bricht.« Sie zögerte. »Das ist ein guter pharmazeutischer Rat, also nehmen Sie ihn an.« »Ja, Doktor«, sagte ich. Aber ich wußte, ich konnte es nicht.
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An Heiligabend, als ich gepackt hatte, um nach Jersey zu fahren, und bevor ich ging, gerade noch die Wohnung kontrollierte, klingelte das Telefon. »Hallo«, sagte ich. Es folgte eine Serie von Klicklauten und Summtönen, und ich war im Begriff, den Hörer aufzulegen, als eine atemlose Stimme sagte: »Tim …« »Judith?« fragte ich ungläubig. »Ja.« »Wo bist du?« »Hör zu, hör nur zu. Ich weiß nicht, wen ich sonst bitten soll … nicht an Weihnachten … Gordon ist krank, und ich bin allein, und ich weiß nicht, ich weiß nicht…« »Wo seid ihr?« »Indien … Er ist im Krankenhaus. Sie sind sehr nett, sehr freundlich, aber er ist so krank … bewußtlos … sie sagen Gehirnblutung … ich hab’ solche Angst … Ich liebe ihn doch so …« Sie weinte plötzlich und kämpfte dagegen an, die Worte kamen in Abständen heraus, wenn Beherr schung möglich war. »Es ist so viel verlangt … aber ich brauche … Hilfe.« »Sag mir, wohin«, sagte ich. »Ich komme sofort.« »Ach…« Sie sagte mir, wohin. Ich hatte gepackt und war auf bruchbereit, und ich flog. Wegen des Datums und des abgelegenen Reiseziels gab es Verzögerungen, und ich brauchte vierzig Stunden, um hinzukommen. Gordon starb, bevor ich sie erreichte, am zweiten Weihnachtstag, wie ihre Mutter.
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