Bakunin - Leben und Werk Herausgeber: Jonas Osswald Diskordia Verlag Heidenheim 24. Dezember 2003
Inhaltsverzeichnis 1 ...
11 downloads
415 Views
200KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Bakunin - Leben und Werk Herausgeber: Jonas Osswald Diskordia Verlag Heidenheim 24. Dezember 2003
Inhaltsverzeichnis 1 Biographie
2
2 Bakunin innerhalb des libert¨ aren Spektrums
2
3 Auseinadersetzung mit Marx
3
4 Auszug aus ”Das unfaßbare Individuum”
5
5 Kernstellen aus Staat und Staatlichkeit 5.1 Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Staatskommunismus . . . . . . . . . 5.3 Empirismus . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Soziale Revolution . . . . . . . . . . 5.5 Kollektivismus . . . . . . . . . . . . . 5.6 Analyse von Machteinfl¨ ussen . . . . . 5.7 Internationalismus . . . . . . . . . . 5.8 Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
1
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
6 6 8 9 10 11 12 15 15
Bakunin - Leben und Werk
1 Biographie Bakunin wurde 1814 in Prjamuchino, in der N¨ahe von Moskaui, geboren. Schon als Junge las Bakunin zeitgen¨ossische Philosophen und liebte es mit seinen GEschwistern zu diskutieren. Bakunin kam aus einer altadligen Familie und schlug zun¨achst eine Milit¨arlaufbahn ein. Er war Offizier der kaiserlichen Garde, schied dann aber unter dem Einfluss der radikalen Moskauer ”Westler” aus dem Dienst aus und lebte ab 1841 in Dresden und Paris, wo er 1844 Karl Marx und Pierre Joseph Proudhon kennen lernte, wobei er sich mehr zu Prodhoun hingezogen f¨ uhlte. 1848/49 engagierte er sich in den Revolutionen in Paris und in Deutschland. Wegen seiner Beteiligung am Dresdner Aufstand im Mai 1849 wurde Bakunin in Sachsen zum Tode verurteilt, vor der Vollstreckung des Urteils jedoch nach Russland ausgeliefert. In Russland wurde er dann zun¨achst in der Peter-und-Pauls-Festung in Sankt Petersburg in Einzelhaft festgehalten; hier schrieb er seine revolution¨ar-anarchistischen Theorien nieder und sandte sie 1857 als Bittschrift an Zar Alexander I. Als sich seine restlichen adligen verwanten sich auch noch f¨ ur Bakunin aussprachen wurde er in Abmilderung seiner Strafe nach Sibirien verbannt. 1861 konnte er fliehen und gelangte u ¨ber Japan und die USA nach London. Seither widmete sich Bakunin beinahe ausschließlich der Verbreitung seines anarchistischen Gedankengutes in ganz Europa. 1863 organisierte er den polnischen Aufstand mit; außerdem rief er in Russland anarchistische Bewegungen ins Leben, die in der Folge mehrere Attentate auf hochrangige russische Politiker und Milit¨ars durchf¨ uhrten. Ab 1864 nahm Bakunin an der Ersten Internationale teil, wurde aber zusammen mit seinen Anh¨angern 1872 wegen seiner zunehmenden Parteinahme f¨ ur den Anarchismus und nach seinem Bruch mit Marx ausgeschlossen. In den siebziger Jahren lebte er u. a. in Italien, wo er ebenfalls eine anarchistische Organisation, die sp¨atere Alianza della Rivoluzione Sociale, gr¨ undete. 1876 starb Bakunin, er war sein ganzes Leben lang verfolgt und verleumdet worden, er hatte keins seiner B¨ ucher ver¨offentlichen k¨onnen.
2 Bakunin innerhalb des libert¨ aren Spektrums B. geh¨ort zu den zentralen Figuren des libert¨aren Sozialismus und kann als dessen Mitbegr¨ under und erster Organisator gelten. Mit B. entwickelt sich der Anarchismus erstmals zur revolution¨aren Massenbewegung, in Spanien und Italien h¨alt der Sozialismus sogar insgesamt zuerst in Gestalt von B.s Anarchismus Einzug. In Rußland wirkt B. auf die gesamte Generation der 70er Jahre: Selbst G. Plechanow war zu Beginn seiner Karriere ”Bakunist”. Als Stammvater des Anarcho-Syndikalismus erstreckt sich sein Einfluß ferner auf L¨ander wie Frankreich (Syndikalismus vor dem Ersten Weltkrieg) und Deutschland (Anarcho-Syndikalismus in der Weimarer Republik). Zum Teil erkl¨art sich diese Breitenwirkung durch die Pionierrolle, die B. vor dem Hintergrund der Auff¨acherung des Sozialismus in Sozialdemokratie, Kommunismus und Anarchismus in der zweiten H¨alfte des 19. Jahrhunderts zugefallen ist. W¨ahrend sich Kommunismus und Sozialdemokratie von Marx und Engels herleiten und in ihnen beide staatssozialistischen Ans¨atze tats¨achlich lautstarke Begr¨ under fanden, w¨are die antiautorit¨are Spielart des Sozialismus ohne
Hrsg: Jonas Osswald
2/16
Bakunin - Leben und Werk B. vielleicht von vornherein massenm¨aßig u ¨berrollt worden. Durch seine Ideen und seine mitreißende T¨atigkeit hat aber B. der libert¨aren Bewegung einen Platz gesichert und ihr den Weg geebnet. In diesem Sinne geh¨oren B.s Ideen str¨omungs¨ ubergreifend dem gesamten herrschaftslosen Sozialismus an, sie bilden sozusagen das Urgestein antiautorit¨aren Gedankengutes. So haben sich entgegen ihrer sonstigen Differenzen so unterschiedliche Libert¨are wie z.B. der IndividualAnarchist Benjamin R. Tucker und Peter Kropotkin, der gewaltfreie Anarchist Ferdinand DomelaNiewenhuis und Johann Most, ebenso Gustav Landauer, Erich M¨ uhsam, Emma Goldmann und viele andere auf B. bezogen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist B. erst in den 60er Jahren im Zuge der Studentenbewegung f¨ ur gr¨oßere Kreise interessant geworden, wenn auch zun¨achst h¨aufig nur als legend¨are Gestalt und revolution¨are Symbolfigur. Bakunin hat mit unvergleichlicher Intensit¨at dem emanzipatorischen Gehalt des Anarchismus Ausdruck gegeben, der radikalen Emp¨orung gegen jede Entm¨ undigung des Menschen. Aber nicht nur mit seiner Kritik am aristokratischen, parlamentarischen oder sogar prophetisch am parteikommunistischen Herrschaftssystem hat er wichtige antiautorit¨are Fundamente freigelegt. So hat er z.B. auch gegen die Kirche als institutionalisierte Religion, die den Menschen mit einer u uckt, Position bezogen, und ebenso eine Wissenschaft, die ¨berm¨achtigen Gottesvorstellung erdr¨ ¨ sich unkontrollierbar von der Gesellschaft entfernt, sch¨arfstens kritisiert, in der Uberzeugung, daß aus einem religi¨os oder selbst wissenschaftlich begr¨ undeten F¨ uhrungsanspruch schon immer generelle Machtanspr¨ uche gegen¨ uber der Gesellschaft abgeleitet worden sind. Zur Kennzeichnung seiner Ideen hat sich B. eine Zeitlang auf den Begriff Kollektivismus bezogen, mit dem er die Vorstellung einer basisorientierten und auf dem Kollektiveigentum beruhenden Gesellschaftsorganisation verband, deren ¨okonomischer Ausdruck das Vorwiegen assoziierter Arbeit und ein Aufweichen der Trennung von Hand- und Kopfarbeit sei. Gr¨oßere Bedeutung als seine ¨okonomische Konzeption haben aber vielleicht f¨ ur heute seine von Proudhon inspirierten f¨oderalistischen Freiheitsideen, die ein fester Bestandteil seiner anarchistischen Konzeption geworden sind. So hat B. zum Ende seines Lebens die Anarchie definiert als ßelbst¨andige und freiheitliche Organisation aller Einheiten oder Elemente, die die Gemeinden bilden, und (...) deren freie F¨oderation von unten nach oben - nicht auf Befehl irgendeiner Obrigkeit, und sei es einer gew¨ahlten, und nicht nach den Richtlinien irgendeiner gelehrten Theorie, sondern infolge einer v¨ollig nat¨ urlichen Entwicklung von Bed¨ urfnissen aller Art, die sich aus dem Leben selbst ergeben“(Bakunin 1999, S. 364). B.s Vision war die weitestgehende Verwirklichung gesellschaftlicher Freiheit, die er f¨ ur das einzige Milieu hielt, ¨ın welchem die Intelligenz, die W¨ urde und das Gl¨ uck der Menschen sich entwickeln und wachsen k¨onnen“(Bakunin 1923, S. 268). B.s Anarchismus k¨onnte, auf einen Begriff gebracht, als radikaler, emanzipatorischer Humanismus bezeichnet werden.
3 Auseinadersetzung mit Marx Bakunin war 1868 individuell in die 4 Jahre zuvor gegr¨ undete Internationale Arbeiter Assoziation, die ber¨ uhmte erste Internationale eingetreten. Wenig sp¨ater folgten ihm als Sektionen die Gliederungen seiner Allianz der sozialistischen Demokratie. Angesichts der unterschiedlichen politischen Auffassungen und des v¨ollig gegens¨atzlichen Temperaments war der Zusammenstoß von Marx und Bakunin nur eine Frage der Zeit. Es war von Beginn an ein Kampf um die Macht. Im Einsatz ihrer Mittel waren sich beide Seiten durchaus ebenb¨ urtig: Statutenfragen, Tricks, Rekrutierungen, vertrauliche Mitteilungen, Stellvertreterkriege. Pers¨onlich sollten sich beide nie mehr entgegentreten.
Hrsg: Jonas Osswald
3/16
Bakunin - Leben und Werk Der Kern der Auseinandersetzung aber war der Zusammenprall zwischen autorit¨ arem Kommunismus und libert¨ arem Sozialismus. Doch wo liegen die inhaltlichen Unterschiede zwischen Kommunisten und Anarchisten die zu diesem ersten großen Bruch f¨ uhrten und in der Geschichte bis heute immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern verursachten? Bevor ein Versuch gestartet werden kann diese Frage zu beantworten ist es wichtig festzustellen, dass es weder bei den Kommunisten und noch viel weniger bei den Anarchisten eine einheitliche Lehre gibt, unter der wir alle Anh¨anger einer Richtung zusammenfassen k¨onnen. Trotz dieser notwendigen Differenzierung lassen sich einige grundlegende Unterschiede in den Ideen der Kommunisten und Anarchisten feststellen. Die Abschaffung des Kapitalismus und die Befreiung der Arbeiterklasse aus der Unterdr¨ uckung durch die Bourgeoisie als Ziel ist beiden eigen und auch die staatenlose, freie Gesellschaft streben beide an. Nur unterscheiden sie sich fundamental in der Ansicht, wie dieses Ziel zu erreichen sei. Wie schon oben erw¨ahnt lehnen die Anarchisten den Staat grunds¨atzlich ab und sind willens mit jeder Regierung zu brechen. ¨ Sie glauben nicht, dass eine Ubernahme des Staates, wie die Kommunisten sie propagieren, die L¨osung des Problems sein kann, da der Staat das Problem ist. Die Kommunisten hingegen sind ¨ der Uberzeugung der Staat und die Staatsgewalt m¨ ussten u ¨bernommen werden um sich gegen die Angriffe der Konterrevolution sch¨ utzen zu k¨onnen und um systematisch den Kapitalismus abzuschaffen. Ist dies erreicht w¨ urde, nach Meinung der Kommunisten, der Staat u ussig ¨berfl¨ werden und absterben. Gerade hier sind die Anarchisten skeptisch, da sie bezweifeln, dass ein kommunistisches Regime die F¨ uhrung und damit verbundene Macht wieder abgeben w¨ urde. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass die Anarchisten Recht behalten sollten. Alle Versuche u ¨ber den Staatssozialismus den Kommunismus zu errichten sind gescheitert und endeten in einer Diktatur der Partei oder einzelner Diktatoren und nicht der des Proletariats. Zwar haben Anarchisten und Kommunisten auch nach dem Bruch in der ersten Internationalen zusammengearbeitet, aber es endete oftmals tragisch f¨ ur die Anarchisten. Hier w¨are z.B. die russische Revolution und der spanische B¨ urgerkrieg zu beachten. Es sollte sich zeigen das speziell Marx machtgeil war und mit aller Kraft versuchte den Einfluss der Anarchisten einzud¨ammen. Es ging um die große Frage der ”politischen Form” der sozialen ¨ Revolution. Marx votierte f¨ ur die (Ubergangs-) Diktatur des Proletariats und stellte sich damit in die Tradition der Jakobiner und Montagnards von 1792/93, die u ¨ber Babeuf, Buanarotti und Blanqui lebendig geblieben war und sp¨ater von Lenin fortgef¨ uhrt werden sollte. Bakunins Traum war die Permanenz der Barrikaden, die F¨oderation Aufst¨andischer Gruppen und Regionen. Seine Traditionslinie war die der revolution¨aren Sektionen der Kommune von Paris und der spontanen Basisorganisationen des Volkes, welche in der R¨atebewegung fortleben sollte. In jedem sozialrevolution¨aren Prozeß wird sich diese Kontroverse wiederfinden. Bakunin wandte sich vehement gegen jede Organisation von Oben nach Unten und gegn den Staat als Motivation der sozialen Revolution. Der Staat und seine Organe waren f¨ ur ihn identisch mit Unterdr¨ uckung. Freiheit aber kann nur durch Freiheit geschaffen werden, das war sein Credo, davon sollte er niemals Abstand nehmen. Wenn es in den neoliberalen Zeiten des Ausschlußes und der universellen Konkurrenz eine Botschaft geben sollte, wenn es u ¨berhaupt eine Botschaft geben sollte, dann vielleicht diese Dialektik der Anerkennung, diese enthusiastische Ode an die Freiheit, wie sie Bakunin in ”Gott und der Staat” niederschrieb: ”Nur solange ich die Freiheit und das Menschentum aller Menschen, die mich umgeben, anerkenne, bin ich selbst Mensch und Frei. Nur wenn ich ihren menschlichen Charakter anerkenne, anerkenne ich auch den meinen... Ein Sklavenhalter ist kein Mensch, sondern ein Herr. Weil er
Hrsg: Jonas Osswald
4/16
Bakunin - Leben und Werk das Menschentum seiner Sklaven nicht kennt, kennt er sein eigenes nicht... Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die mich umgeben, Frauen und M¨anner, ebenso frei sind wie ich. Die Freiheit der anderen, weit entfernt davon, eine Beschr¨ankung oder die Verneinung meiner Freiheit zu sein, ist im Gegenteil ihre notwendige Vorraussetzung und Bejahung”. Marx erkannte fr¨ uh die bedrohung die von Bakunin ausging, so schrieb er im Juli 1869 an Engels: ”Es soll sich in acht nehmen. Sonst wird er offiziell Exkommuniziert” Zur ersten offenen Auseinandersetzung kam es dann auf dem Baßler Kongress im September 1869 bei der Frage des Erbrechts. Die Anarchisten wollten die Abschaffung, die Marxisten votierten dagegen und verloren. Das wollte Marx nicht hinnehmen, er berief 1871 eine private Konferenz nach London ein, an der Bakunin nicht teilnehmen konnte. Dort verabschiedeten die Kommunisten eine Resolution das eine politische Partei gegr¨ undet werden sollte. Marx betrachtete danach den ”Zwischenfall Bakunin” als erledigt. Er hatte sich aber geirrt, es war ihm nicht gelungen die Anarchistischen Ideen in der ersten Internationalen auszurotten. Deshalb brief Marx den n¨achsten Kongress der 1. Internationalen nach Den Haag ein, da er wusste das Bakunin nicht aus der Schweiz verreisen konnte, da er im Rest Europas Steckbrieflich gesucht wurde und zudem Schwerkrank war. Endlich war Marx an seinem Ziel: Bakunin und sein Freund James Guilaume wurden ausgeschlossen. Drei ganze Jahre hatte Marx gebraucht, bis er ein so g¨ unstiges Abtimmungsverh¨altnis erreicht hatte. Und diese Abstimmung wurde auch immer wieder in Zweifel gezogen, da Deligierte auftauchten, von denen vorher nie jemand etwas geh¨ort hatte. Die Internationale war nun nichtmehr das ”Zentralorgan der Revolution” und hatte ihr Selbstbewusstsein verloren. Sie l¨oste sich 1876 in Philadelphia auf.
4 Auszug aus ”Das unfaßbare Individuum” Gott gab Satan recht und erkannte an, daß der Teufel Adam und Eva nicht betrogen hatte, als er ihnen Erkenntnis und Freiheit versprach als Belohnung der Ungehorsams, zu dem er sie verleitet; denn sobald sie von der verbotenen Frucht gegessen hatten, sagte Gott zu sich (siehe die Bibel): ”Sieh da, der Mensch ist wie einer von Uns geworden, er kennt das Gute und das B¨ose; hindern wir ihn also, die Frucht des ewigen Lebens zu essen, damit er nicht unsterblich werde wie Wir”. Lassen wir die fabelhafte Seite dieses Mythos beiseite und betrachten wir seinen wirklichen Sinn. Dieser ist sehr klar. Der Mensch hat sich befreit, er hat sich von der tierischen Natur getrennt und sich als Mensch gebildet; er begann seine Geschichte und seine eigentlich menschliche Entwicklung mit einem Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Emp¨orung und dem Denken. Drei Elemente oder drei Grundprinzipien bilden die wesentlichen Bedingungen aller gemeinschaftlichen und pers¨onlichen menschlichen Entwicklung in der Geschichte: die menschliche Animalit¨at das Denken die Emp¨orung. Dem ersten entspricht die soziale und private Wirtschaft, dem zweiten die Wissenschaft, dem dritten die Freiheit. Die allgemeine Idee ist immer eine Abstraktion und schon dadurch in gewissem Grade eine Verneinung des wirklichen Lebens. Ich stellte als Eigenschaft des menschlichen Gedankens und folglich auch der Wissenschaft fest, daß sie von den wirklichen Tatsachen nur ihren allgemeinen Sinn, ihre allgemeinen Beziehungen, ihre allgemeinen Gesetze erfassen und benennen kann, mit einem Wort das in ihren best¨andigen Verwandlungen Bleibende, wie ihre materielle, individuelle
Hrsg: Jonas Osswald
5/16
Bakunin - Leben und Werk Seite, die sozusagen von Wirklichkeit und Leben vibriert, aber gerade dadurch fl¨ uchtig und unfaßbar ist. Die Wissenschaft versteht den Gedanken der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst, den Gedanken des Lebens, nicht das Leben. Hier liegt ihre Grenze, die einzige f¨ ur sie wirklich un¨ uberschreitbare Grenze, die eben in der Natur des menschlichen Gedankens selbst, des einzigen Organs der Wissenschaft, begr¨ undet ist. Bakunins umfangreichste Schrift sollte revolution¨arer Propaganda in Rußland dienen. Nach H.Stuke (s.u. S.414) ”f¨orderte ’Staatlichkeit und Anarchie’ wirkungsvoll die Ausbreitung seiner Ideen in Rußland, obwohl es nirgends zur Bildung einer rein bakunistischen Organisation kam.” Die gleichzeitig in Westeuropa nahezu unbekannte Schrift behandelt stark historische Inhalte; Bakunin nimmt diese jedoch ¨ofters zum Anlaß, an ihnen seine Ideen zu entwickeln .
5 Kernstellen aus Staat und Staatlichkeit Zusammengestellt von der Interationelen Bakunin Arbeitsgemeintschaft. Staat und Staatlichkeit ¨ bezieht sich auf die Situation in Russland, l¨asst sich aber auf die heutige Ubertragen, da Bakunin niemals zu sehr ins Detail geht.
5.1 Staatlichkeit ”Kein Staat, wie demokratisch auch immer seine Formen sein m¨ogen, und sei es die gereifteste politische Republik - was mit Volksrepublik Ja nur im Sinne jener unter dem Namen Volksvertretung bekannten L¨ uge bezeichnet werden kann - kein Staat also kann dem Volk das geben, was es braucht, n¨amlich die freie Organisation der eigenen Interessen von unten nach oben, ohne jede Einmischung, Bevormundung oder N¨otigung von oben, weil jeglicher Staat, selbst der republikanischste und demokratischste, letzten Endes nichts anderes darstellt, als die Beherrschung der Massen von oben nach unten, durch eine intellektuelle und eben dadurch privilegierte Minderheit, die angeblich die wahren Interessen des Volkes besser erkennt, als das Volk selbst. So ist es also f¨ ur die besitzenden und herrschenden Klassen entschieden unm¨oglich, den Leidenschaften und Bestrebungen des Volkes gerecht zu werden; deshalb bleibt nur ein Mittel - staatlicher Zwang, mit einem Wort, der Staat , weil Staat gleichbedeutend ist mit Zwang , Herrschaft durch Zwang, wenn m¨oglich getarnt, notfalls aber auch ohne Umschweife und offen.” (S.439/40) ” ... staatlich, und d.h. in all ihren inneren und ¨außeren Erscheinungsformen mit legalem Zwang verbunden ... ” (S.543) ”Das bedeutet, daß Gambettas Staat f¨ ur das Volk ebenso dr¨ uckend und verheerend sein wird, wie alle vorhergegangenen, die zwar offener, aber keineswegs gewaltsamer verfahren sind; und eben weil er sich in weiterreichende demokratische Formen h¨ ullt, wird er der gierigen, reichen Minderheit eine ungest¨orte und unbeschr¨ankte Ausbeutung der Arbeit des Volkes in st¨arkerem und wesentlich zuverl¨assigerem Ausmaß garantieren. Als Staatsmann der neuesten Schule f¨ urchtet Gambetta weder weitreichende demokratische Formen noch das allgemeine Wahlrecht. Er weiß besser als jeder andere, wie wenig Garantien sie f¨ ur das Volk enthalten, wie viele dagegen f¨ ur die es ausbeutenden Personen und Klassen; er weiß, daß der Despotismus der Regierung nie so schrecklich und so stark ist, wie wenn er sich auf die Pseudo-Vertretung eines Pseudo-Volkswillens st¨ utzt.” (S.440) ”Auf dieser Fiktion einer Pseudovolksvertretung und auf dem wirklichen Faktum, daß die Volksmassen von einer kleinen Handvoll Privilegierter regiert werden. Gew¨ahlter oder sogar nicht Gew¨ahlter durch die Menge des Volkes, das man zu den Wahlen zusammengetrieben hat,
Hrsg: Jonas Osswald
6/16
Bakunin - Leben und Werk und das nie weiß, wozu und wen es w¨ahlt; auf diesem vermeintlichen und abstrakten Ausdruck dessen, was angeblich das ganze Volk denkt und will, wovon aber das lebendige, reale Volk auch nicht die geringste Vorstellung hat, darauf basiert in gleicher Weise die Theorie der Staatlichkeit und die Theorie der sogenannten revolution¨aren Diktatur. Der ganze Unterschied zwischen revolution¨arer Diktatur und Staatlichkeit besteht nur in den ¨außeren Umst¨anden Faktisch bedeuten sie beide das Gleiche: die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit im Namen der Angeblichen Dummheit ersterer und der angeblichen Weisheit letzterer. Deshalb sind sie auch gleich reaktion¨ar und haben, die eine wie die andere, als unmittelbares und notwendiges Ergebnis die Sicherung politischer und ¨okonomischer Privilegien f¨ ur die herrschende Minderheit und die politische und wirtschaftliche Versklavung der Volksmassen.”(S.564/5) ”Man muß schon ein Esel, ein Ignorant, ein Verr¨ uckter sein, wenn man glaubt, daß irgendeine Konstitution, sogar die liberalste und demokratischste dieses Verh¨altnis des Staates zum Volk zum Bessern ¨andern k¨onnte; ... das Volk befreien, seine Lage verbessern, das ist einfach Unsinn! Es kann nur eine n¨ utzliche Verfassung f¨ ur das Volk geben, n¨amlich die Zerst¨orung des Reiches.” (S.481) ”Solange es einen Staat gibt, muß es auch Herrschaft geben und folglich auch Sklaverei; ein Staat ohne offene oder verborgene Sklaverei ist undenkbar - das ist der Grund, weshalb wir Feinde des Staates sind.” (S.612) ”Politische Freiheit ohne wirtschaftliche Gleichheit und u ¨berhaupt politische Freiheit, d.h. Freiheit im Staate, ist eine L¨ uge.” (S.465) ”Der weise Staatsmann, Sch¨ uler Machiavellis und Lehrer Bismarks, (Friedrich II) glaubte nur an seine ´Staatsraison´, wobei er sich aber wie eh und je auf die (Armee), auf die Wirtschaft und auf eine m¨oglichst perfekte Organisation der inneren Verwaltung st¨ utzte, die nat¨ urlich eine mechanische und despotische war. In der Tat besteht darin nach seiner wie auch unserer Meinung das eigentliche Wesen des Staates. Alles u ¨brige sind lediglich unschuldige Verzierungen ... (S.425) ”Heutzutage kann ein ernstzunehmender starker Staat nur ein einziges zuverl¨assiges Fundament haben - eine milit¨arische und b¨ urokratische Zentralisation. Zwischen einer Monarchie und einer Republik, und sei es der demo-kratischsten, gibt es nur einen einzigen wesentlichen Unterschied: in der ersteren wird das Volk im Namen des Monarchen von der Beamtenschaft, zum großen Nutzen der privilegierten, besitzenden Klassen, aber auch f¨ ur ihre eigenen Taschen, unterdr¨ uckt und ausgeraubt; in der Republik wird das Volk von derselben Seite, zum Nutzen derselben Taschen und Klassen unterdr¨ uckt und ausgeraubt, jetzt nur im Namen eines Volkswillens. In der Republik ist es das Scheinvolk, das legale Volk, das Volk, das angeblich durch den Staat repr¨asentiert wird, welches das lebendige und reale Volk unterdr¨ uckt und untere dr¨ ucken wird. Aber f¨ ur das Volk wird es keineswegs leichter, wenn der Stock, mit dem man es schl¨agt. Stock des Volkes genannt wird.” (S.439) ”Regierung des Staates f¨ ur das ganze Volk - dieses letzte Wort ... der demokratischen Schule ist eine L¨ uge, hinter der sich der Despotismus einer herrschenden Minderheit verbirgt, und zwar eine um so gef¨ahrlichere, als sie sich als Ausdruck des sogenannten Volkswillens gibt.” (S.613) ”Die Bourgeoisie in allen L¨andern Europas f¨ urchtet die soziale Revolution am meisten und weiß, daß es f¨ ur sie vor dieser Gefahr keine andere Rettung gibt als den Staat und deshalb will und fordert sie immer einen m¨oglichst starken Staat oder einfach eine Milit¨ardiktatur. Um aber ihrer Eitelkeit zu gen¨ ugen und auch um die Volksmassen leichter betr¨ ugen zu k¨onnen, w¨ unscht sie, daß diese Diktatur in die Form einer Volksvertretung gekleidet sei, die es ihr erlauben w¨ urde, die Volksmassen im Namen des Volkes selbst auszubeuten.” (S.538) ”Das ist das unvermeidliche Ergebnis des kapitalistischen Monopols, das immer und u ¨berall
Hrsg: Jonas Osswald
7/16
Bakunin - Leben und Werk die St¨arkung und Ausweitung staatlicher Zentralisation begleitet. Das privilegierte und auf wenig H¨ande konzentrierte Kapital ist heutzutage, man kann schon sagen, zur Seele jeden politischen Staats geworden, der bei ihm, und nur bei ihm Kredit aufnimmt und ihm daf¨ ur uneingeschr¨anktes Recht auf Ausbeutung der Arbeit des Volkes einr¨aumt.” (S.630) ”... weder dem deutschen noch irgendeinem anderen Proletariat ist es m¨oglich, sich von der ¨okonomischen Sklaverei zu befreien, ohne das jahrhundertealte Gef¨angnis des sogenannten Staates zu zerst¨oren.” (S.593/4) ¨ ”Das sind die Uberzeugungen der sozialen Revolution¨are, und deshalb nennt man uns Anarchisten. Wir ’protestieren nicht gegen diese Bezeichnung, denn wir sind in der Tat Feinde jeglicher Macht, weil wir wissen, daß Macht ebenso zersetzend auf den wirkt, der sie hat, wie auf den, der ihr gehorchen muß. Unter ihrem verderblichen Einfluß werden die einen zu ehrgeizigen und habgierigen Despoten, Ausbeutern der Gesellschaft zum eigenen Vorteil oder dem ihres Standes, und die anderen zu Sklaven.” (S.564)
5.2 Staatskommunismus ”(Autorit¨are Sozialisten) behaupten, daß ein ... Staatliches Doch, eine Diktatur, ein unvermeidliches und vor¨ ubergehendes Mittel zur vollst¨andigen Befreiung des Volkes sei: Anarchie oder Freiheit ist das Ziel, Staat oder Diktatur - das Mittel. So ist es also zur Befreiung der Volksmassen erst n¨otig, sie zu knechten. ... Sie versichern, daß allein die Diktatur, nat¨ urlich die ihre, die Freiheit des Volkes schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann, als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie ertr¨agt, nur Sklaverei zeugen und n¨ahren kann; Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden, d.h. durch einen allgemeinen Volksaufstand und durch die freie Organisation der Arbeitermassen von unten nach oben.” (S.615) ”Wenn sie (die Macht) erst erlangt haben werden, so werden sie unweigerlich zum Feind des Volkes, .,. . und um die Macht zu halten, wenn auch nur befristet, sind sie gezwungen, nach neuen Kraftquellen - nun bereits gegen das Volk - ... zu suchen.” (S.619/20) ”Und in der Tat kann staatliche Macht nicht das Ergebnis einer .Volksrevolution sein; m¨oglicherweise kann sie das Ergebnis eines Sieges sein, den irgendeine Klasse u ¨ber einen Volksaufstand errungen hat ... ” (S.547) ”Verfechter einer Vorherrschaft der Wissenschaft u ¨ber das Leben, doktrin¨are Revolution¨are, sie alle verteidigen mit dem gleichen Feuer, wenn auch mit verschiedenen Argumenten, die- Idee des Staates und der Staatlichen Macht, weil sie darin, vollkommen logisch, das ihrer Ansicht nach einzige Heil der Gesellschaft sehen. Vollkommen logisch deshalb, weil sie dann, wenn sie einmal von der unserer Ansicht nach v¨ollig falschen These ausgehen, daß das Denken dem Leben vorausgeht, ... notwendigerweise zu dem Schluß kommen, daß deshalb, weil Denken, Theorie und Wissenschaft wenigstens heute der Besitz nur einiger weniger sind, eben diese wenigen die Anf¨ uhrer des gesellschaftlichen Lebens sein m¨ ussen, und nicht nur die Initiatoren, sondern auch die Leiter aller Volksbewegungen, und daß am Tag nach der Revolution die neue gesellschaftliche Organisation nicht durch die freie Vereinigung von Volksassoziationen, Kommunen, Amtsbezirken und Distrikten von unten nach oben, entsprechend den Bed¨ urfnissen und Instinkten des Volkes geschaffen wird, sondern allein durch die diktatorische Gewalt dieser gelehrten Minderheit, die angeblich dem Willen des ganzen Volkes Ausdruck verleiht.” (S.564) ”Sie werden die Z¨ ugel der Regierung in einer starken Hand konzentrieren, weil das unwissende Volk einer sehr starken Betreuung bedarf; sie werden eine einzige Staatsbank gr¨ unden, die die ganze kommerziell-industrielle, landwirtschaftliche und sogar wissenschaftliche Produktion auf sich konzentriert, und die Masse des Volkes in zwei Armeen aufteilen: in eine industrielle und
Hrsg: Jonas Osswald
8/16
Bakunin - Leben und Werk in eine landwirtschaftliche, unter dem unmittelbaren Kommando von staatlichen Ingenieuren, die eine neue privilegierte, wissenschaftlich-politische Klasse bilden werden.” (S.617) ”...und so werden sie bereits nicht mehr das Volk, sondern sich selbst repr¨asentieren und ihren Anspruch darauf, das Volk zu regieren.” (S.613)
5.3 Empirismus ”Wer vom abstrakten Denken ausgeht, der wird niemals das Leben einholen, denn von der Metaphysik zum Leben f¨ uhrt kein Weg. ... Der lebendige, konkrete und vern¨ unftige Weg, das ist in der Wissenschaft der Weg vom realen Faktum zum Gedanken, der dieses Faktum umfaßt, ausdr¨ uckt und damit auch erkl¨art; in der Welt der Praxis geht dieser Weg vom Leben der Gesellschaft aus, mit dem Ziel, eben dieses Leben vern¨ unftig zu regeln, seinen Anweisungen, Bedingungen und Bed¨ urfnissen und seinen mehr oder weniger leidenschaftlichen Forderungen entsprechend.” (S.560) ”Wir revolution¨aren Anarchisten und K¨ampfer f¨ ur Bildung, Emanzipation und volle Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens des ganzen Volkes, die wir eben deshalb Feinde des Staates und jeglicher Verstaatlichung sind, behaupten im Gegensatz zu ... allen gelehrten und ungelehrten Anh¨angern der G¨ottin Wissenschaft, daß das nat¨ urliche und gesellschaftliche Leben immer dem Denken vorausgeht, welches nur eine seiner Funktionen, nie aber sein Resultat sein wird; daß sich dieses Leben aus seiner eigenen unersch¨opflichen Tiefe heraus in einer Reihe von verschiedenartigen Fakten, aber niemals abstrakten Reflexionen entfaltet, und daß die letzteren, die immer vom Leben hervorgebracht werden und niemals selbst Leben hervorbringen, nur als Marksteine auf seine Richtung und auf die verschiedenen Phasen einer selbst¨andigen und nat¨ urlichen Entwicklung hinweisen.” (S.563) ”Selbst die rationalste und tiefsinnigste Wissenschaft kann nicht die Formen des zuk¨ unftigen gesellschaftlichen Lebens erahnen. Sie kann nur die negativen Bedingungen definieren, die sich logisch aus der strengen Kritik an der bestehenden Gesellschaft ergeben. So ist man in der Sozial¨okonomie mit dieser Kritik zur Ablehnung des erblichen Privateigentums gekommen und damit zu einer abstrakten und gleichsam negativen Konzeption vom Kollektiveigentum als notwendiger Voraus-setzung der zuk¨ unftigen Gesellschaftsordnung. Dieser Weg f¨ uhrte schließlich zur Ablehnung selbst der Idee des Staates und der Herrschaft, d.h. zur Ablehnung einer Regierung der Gesellschaft von oben nach unten im Namen eines wie auch immer gearteten Pseudorechts, sei es theologisch oder metaphysisch, g¨ottlich oder wissenschaftlich-rational, und folglich zur entgegengesetzten und damit negativen Position - zur Anarchie, d.h. zur selbst¨andigen und freiheitlichen Organisation aller Einheiten oder Elemente, die die Gemeinden bilden und zu deren freier F¨oderation von unten nach oben - nicht auf Befehl irgendeiner Obrigkeit, und sei es einer gew¨ahlten, und nicht nach den Richtlinien irgendeiner gelehrten Theorie, sondern infolge einer v¨ollig nat¨ urlichen Entwicklung von Bed¨ urfnissen aller Art, die sich aus dem Leben selbst ergeben. Deshalb ist kein Gelehrter in der Lage, das Volk zu lehren, oder auch nur f¨ ur sich selbst zu bestimmen, wie das Volk am Tag nach der sozialen Revolution leben wird und leben soll. Das wird sich vielmehr erstens aus der jeweiligen Situation eines Volkes und zweitens aus den Bestrebungen ergeben, die in ihm auftreten oder st¨arker wirken, keinesfalls aber durch Richtlinien und Erl¨auterungen von oben und u ¨berhaupt durch keinerlei am Vorabend der Revolution erdachte Theorien.” (S.636) ”(Doktrin¨are Sozialisten) verstehen nicht, daß das Denken sich aus dem Leben ergibt, und daß man, um das Danken zu ¨andern, zun¨achst das Leben ¨andern muß. Gebt dem Volk die ganze Weite des menschlichen Lebens, und es wird Euch durch die tiefe Rationalit¨at seines Denkens
Hrsg: Jonas Osswald
9/16
Bakunin - Leben und Werk erstaunen.” (S.645) ”Man nehme ... den ungebildetsten und d¨ ummsten Menschen; sp¨ urt man in ihm nur wirklich Instinkte auf und ehrliche, wenn auch unbestimmte Bestrebungen im Sinne der Idde der sozialen Revolution, dann soll man nicht erschrecken, wie wild auch immer seine tats¨achlichen Vorstellungen sein m¨ogen, sondern sich ernsthaft und liebevoll mit ihm befassen und dann sehen, wie umfassend und leidenschaftlich er unsere Idee aufnehmen und sich zu eigen machen wird, oder vielmehr seine eigene Idee, denn sie ist nichts anderes, als der klare, vollkommene und logische Ausdruck seines eigenen Instinkts; so hat man ihm eigentlich nichts gegeben, nichts Neues gebracht, sondern nur das erkl¨art, was schon l¨angst in ihm gelebt hat, bevor er uns begegnet ist. Und deshalb sage ich, daß niemand irgend jemandem irgend etwas geben kann. ... Leben, Entwicklung und Fortschritt verdankt das Volk allein sich selbst. Dieser Fortschritt vollzieht sich selbstverst¨andlich nicht auf dem Wege des Buchstudiums, sondern durch das nat¨ urliche Anwachsen von Erfahrung ... ” (S.643)
5.4 Soziale Revolution ”Auch das entsetzliche Elend, selbst wenn es viele Millionen Proletarier ergreift, ist noch keine ausreichende Gew¨ahr f¨ ur eine Revolution. ... Wenn man sie erst zur Verzweiflung gebracht hat, dann wird es schon eher m¨oglich, daß sie sich emp¨oren ... (das) setzt (aber) ein mehr oder weniger klares Bewußtsein von der M¨oglichkeit einer besseren Lage voraus ... Aber auch Armut und Verzweiflung sind zu wenig, um die Soziale Revolution hervorzurufen. Sie k¨onnen private oder h¨ochstens lokale Revolten ausl¨osen, aber sie reichen nicht aus zur Erhebung ganzer Volksmassen. Dazu bedarf es außerdem noch eines Volksideals ... notwendig ist ferner eine allgeneine Vorstellung vom eigenen Recht und ein tiefer, leidenschaftlicher... Glaube an dieses Recht. Wenn sich ein solches Ideal und ein solcher Glaube im Volk findet, dazu noch Armut,’die es zur Verzweiflung treibt, dann ist die Soziale Revolution unabwendbar und nahe, und keine Macht der Welt kann sie verhindern.” (S.447/8) ”Um erfolgreich gegen milit¨arische Gewalt k¨ampfen zu k¨onnen, die k¨ unftig vor nichts mehr Achtung hat und zudem noch mit den schrecklichsten Vernichtungswaffen ausger¨ ustet und bereit ist, bei der Zerst¨orung nicht nur von H¨ausern und Straßen, sondern von ganzen St¨adten mit all ihren Bewohnern von ihnen Gebrauch zu machen, um also gegen eine so wilde Bestie ank¨ampfen zu k¨onnen, muß man eine andere, nicht weniger wilde, daf¨ ur aber gerechtere Bestie haben: die organisierte Revolte des ganzen Volkes, die soziale Revolution, welche genauso erbarmungslos ist wie die milit¨arische Reaktion und vor nichts zur¨ uck schreckt.” (S.591) ”Diese destruktive Leidenschaft reicht zwar als Grundlage einer revolution¨aren Tat bei weitem nicht aus, aber ohne sie ist eine Revolution undenkbar, unm¨oglich, denn es kann keine Revolution geben ohne weitreichende, leidenschaftliche Zerst¨orung, ohne rettende und fruchtbringende Zerst¨orung, weil n¨amlich aus ihr und nur durch sie neue Welten entstehen.” (S.444) ”Zerst¨oren wollten (die Deutschen) nichts. Damals hatten sie dazu ebensowenig Lust wie heute, obwohl das die unbedingte und wichtigste Voraussetzung jeder ernsthaften Revolution ist.” (S.546/7) ”Der allgemeine, ¨offentliche und private Bankrott -die erste Bedingung f¨ ur eine sozial-¨okonomische Revolution .,. (S.445) ”Es ist klar, daß die Volksmassen die Freiheit, nach der sie d¨ ursten, nicht von einem theoretischen Sieg abstrakten Rechts erwarten k¨onnen; sie m¨ ussen die Freiheit mit Gewalt erobern, wozu sie ihre elementaren Kr¨afte außerhalb des Staates und gegen ihn organisieren m¨ ussen.” (S.604)
Hrsg: Jonas Osswald
10/16
Bakunin - Leben und Werk ”Aus der Bourgeoisie schließen sich diesen Kreisen nur die Wenigen an, die die derzeitige politische, o¨konomische und soziale Ordnung von Herzen hassen und der Klasse, aus der sie hervorgegangen sind, den R¨ ucken gekehrt haben, um sich ganz der Sache des Volkes zu widmen. Solche Leute sind nicht sehr zahlreich, daf¨ ur aber sehr wertvoll, allerdings nur dann, wenn sie aus Haß gegen das allgemeine Herrschaftsstreben der Bourgeoisie die letzten Reste pers¨onlichen Ehrgeizes in sich ausgemerzt haben; in diesem Fall, ich wiederhole, sind sie wirklich wertvoll. Das Volk gibt ihnen Leben, elementare Kraft und ein Bet¨atigungsfeld; daf¨ ur bringen sie ihm Sachkenntnis sowie Abstraktions- und Analysierungsverm¨ogen mit und die F¨ahigkeit, sich zu organisieren und zu verb¨ unden und schaffen somit jene bewußte k¨ampferische Kraft, ohne die ein Sieg undenkbar ist.” (S.421) ”In Italien u ¨berwiegt jenes bettelarme Proletariat, von dem Marx und Engels ... mit tiefster Verachtung als vom Lumpenproletariat sprechen und das ganz zu Unrecht, denn in ihm, und nur in ihm, nicht in jener ... verb¨ urgerlichten Schicht der Arbeitermasse, ist der ganze Geist und die ganze Kraft der zuk¨ unftigen sozialen Revolution.” (S.422/3) ”Das Alte wiederholt sich nie. Der moderne Staat, der erst die alte Idee der Herrschaft vollkommen verwirklicht hat, ebenso wie das Christentum die letzte Form des theologischen Glaubens oder der religi¨osen Knechtschaft verwirklicht, - der b¨ urokratische, milit¨arisch-polizeiliche und zentralistische Staat, der aus der Notwendigkeit seines inneren Wesens danach strebt alles, was um ihn herum existiert, lebt, sich bewegt und atmet, an sich zu reißen, zu unterwerfen und zu ersticken - dieser Staat ... liegt in den letzten Z¨ ugen. Seine Tage sind gez¨ahlt, und von seinem Fall erwarten alle V¨olker ihre endg¨ ultige Befreiung.” (S.458/9) ”Das ist der breite Weg des Volkes, der Weg zur wirklichen und vollkommenen Befreiung, jedem erreichbar und daher wahrhaft volkst¨ umlich, der Weg einer anarchistischen sozialen Revolution, die ohne Anstoß von außen aus dem Volk selbst entsteht und alles zerst¨ort, was das ¨ gewaltige Uberstr¨ omen des Volkslebens hindern k¨onnte, um dann aus der Tiefe des Seins eines Volkes neue Formen einer freien Gesellschaft zu schaffen.” (S.560/1)
5.5 Kollektivismus ”... das ¨okonomisch notwendige Prinzip der kollektiven Bebauung des gemeinsamen Bodens ... das Prinzip, nach dem der Ertrag oder sein Gegenwert gleichm¨aßig verteilt wird, und zwar nach strengster Gerechtigkeit, nicht einer juristischen, sondern einer menschlichen Gerechtigkeit, welche von den F¨ahigen und Starken mehr, von den Unf¨ahigen und Schwachen weniger Arbeit verlangt und den Lohn nicht nach dem Arbeitsmaß, sondern nach den Bed¨ urfnissen jedes einzelnen verteilt.” (S.652) ”Die Vernichtung des Staats und des juristischen Rechts wird notwendig die Vernichtung des pers¨onlichen Erbeigentums und der juristischen Familie, die ja auf diesem Eigentum basiert, zur Folge haben, da beide keinerlei menschliche Gerechtigkeit zulassen.Allein die Vernichtung des Staats, des Eigentumsrechts und der juristischen Familie macht es m¨oglich, das Leben des Volks von unten nach oben auf der Basis der kollektive Arbeit und des kollektiven Eigentums zu organisieren ... (S.657) ”Kooperation in jeder Gestalt ist zweifellos die rationale und gerechte Form der zuk¨ unftigen Produktion. Um aber ihr Ziel erreichen zu k¨onnen - die Befreiung der arbeitenden Massen und ihre volle Entlohnung und Zufriedenstellung - ist es unerl¨aßlich, daß Land und Kapital in jeder Hinsicht zum Kollektivbesitz gemacht werden. Solange das nicht geschieht, wird die Kooperation in den meisten F¨allen von der allm¨achtigen Konkurrenz des Großkapitals und des Großgrundbesitzes unterdr¨ uckt werden; in den seltenen F¨allen, wenn es zum Beispiel der einen oder anderen, notwendig mehr oder weniger beschr¨ankten Produktivgenossenschaft gelingt, diesen Kampf auszuhalten und zu u ¨berleben, ist das Resultat dieses Erfolgs nur die
Hrsg: Jonas Osswald
11/16
Bakunin - Leben und Werk Entstehung einer neuen privilegierten Klasse von kollektiven Gl¨ ucklichen in der Masse des not¨ leidenden Proletariats. So kann also bei den herrschenden Bedingungen der sozialen Okonomie die Kooperation der Arbeitermassen nicht befreien, nichtdestowenigerbietet sie jedoch den Vorteil, daß sie sogar in der jetzigen Zeit den Arbeiter lehrt, sich zusammenzuschließen, sich zu organisieren und ihre eigenen Angelegenheiten selbst¨andig zu verwalten.” (S.639) ”Kooperation kann deshalb ... nur in unbedeutendstem, um nicht zu sagen winzigem Ausmaß gedeihen, und auch das nur, solange das alles erdr¨ uckende Kapital und die noch st¨arker dr¨ uckende Regierung nichts bemerken noch sp¨ uren.” (S.640) ... kooperative Versuche, die nur kurzfristigen und kaum anhaltenden Nutzen, und auch den h¨ochstens einer kleinen Anzahl von Arbeitern bringen werden.” (S.608) ¨ ” ... und darin sind sich alle modernen, zwar bourgeoi-sen, aber doch seri¨osen Okonomen einig, wenn sie anscheinend widerwillig die Schw¨ache des kooperativen Systems aufdecken, in dem sie doch, und das wohl zurecht, gleichsam den Blitzableiter sehen, der sie vor dem Gewitter der sozialen Revolution sch¨ utzt.” (S.639)
5.6 Analyse von Machteinfl¨ ussen ”(Die bourgeoisen Sozialisten) waren so sehr von der Wirksamkeit ihrer parlamentarischen Entscheidungen und Verordnungen u ¨berzeugt, daß sie das einzige Mittel vernachl¨assigten, der staatlichen Macht der Reaktion die revolution¨are Macht des Volkes entgegenzustellen, indem sie diese Macht organisierten.” (S.588) ”Die ... Radikalen waren ganz vom parlamentarischen Spiel absorbiert und verloren jeden ¨ Sinn f¨ ur alles Ubrige. Sie glaubten allen Ernstes an die Kraft parlamentarischer Entscheidungen ... ” (S.586) ”Gr¨oßtenteils sind (diese bourgeoisen Sozialisten) n¨amlich schlechte Revolution¨are und einfach eitle Egoisten und Feiglinge. Dazu kommt noch, daß sie ihrer Stellung nach zu den gebildeten Klassen geh¨oren und den Komfort, den erlesenen Luxus und den eitlen geistigen Genuß außerordentlich sch¨atzen, wovon das Leben dieser Klassen so erf¨ ullt ist. Sie begreifen, daß die Volksrevolution, ihrem Wesen und Ziel nach grob und r¨ ucksichtslos, vor der Zerst¨orung der bourgeoisen Welt nicht haltmachen wird, in der es sich so gut lebt; so haben sie keineswegs die Absicht, gr¨oßere Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen, wie sie mit dem ehrlichen Dienst an der Sache der Revolution verbunden sind, noch wollen sie Zweifel an sich bei den zwar nicht so liberalen und beherzten, aber dennoch wertvollen Besch¨ utzern aufkommen lassen, bei den Verehrern, Freunden und Genossen nach Bildung, Lebensumst¨anden, Luxus und materiellem Komfort; nein, sie wollen ganz einfach f¨ ur sich keine solche Revolution und f¨ urchten sie, da diese Revolution sie von ihrem Piedestal (Denkmalsockel) herunterholen und sie pl¨otzlich aller Vorteile ihrer gegenw¨artigen Situation berauben w¨ urde.” (S.645/6) ”Wegen dieses Hasses und dieser Furcht haben sie die ganze Arbeiterbev¨olkerung auf den Weg der sogenannten legalen und friedlichen Agitation, deren Ergebnis gew¨ohnlich zu sein pflegt, daß ein oder zwei Arbeiter oder sogar ein literarisierender Bourgeois aus der sozialdemokratischen Partei in das ... Parlament gew¨ahlt wird. Das ist aber f¨ ur den deutschen Staat nicht nur ungef¨ahrlich, sondern im Gegenteil als Blitzableiter, als Ventil, sogar h¨ochst n¨ utzlich.” (S.631/2) ” ... (dann) bleibt nur Betrug: f¨ ur die ehrlosen und ehrgeizigen Parteif¨ uhrer Ehrungen und Gewinn f¨ ur die eigene Tasche, f¨ ur die Masse der einfachen Arbeiter Sklaverei.” (S.477) ”Sehen wir einmal den mit seinem Schicksal zufriedenen Bourgeois an, - besteht denn auch nur die geringste Hoffnung, daß man ihm jemals das Recht des Proletariats auf volle Entfaltung seiner Pers¨onlichkeit und auf den gleichen Anteil an allen Annehmlichkeiten und Segnungen des gesellschaftlichen Lebens erkl¨aren, oder daß man ihm die Rechtm¨aßigkeit und heilsame
Hrsg: Jonas Osswald
12/16
Bakunin - Leben und Werk Notwendigkeit einer sozialen Revolution beweisen k¨onnte? Nein, man wird das nicht einmal versuchen, ... weil man sich davon u ¨berzeugen wird, daß dieser Bourgeois ... nicht verstehen und auch nicht zum Sozial-Revolution¨ar werden w¨ urde ... aus dem einfachen Grunde, weil das Leben nicht jenes instinktive Streben in ihm herausgebildet hat, welches unserem sozial-revolution¨aren Denken entspr¨ache.” (S.642) ”Eine solche (revolution¨are) Zerst¨orung ist mit dem bourgeoisen Bewußtsein, mit der bourgeoisan Zivilisation, unvereinbar, da diese Zivilisation ganz auf der fanatischen Verg¨otterung des Eigentums beruht. Der B¨ urger oder Bourgeois wird eher Leben, Freiheit und Ehre opfern, als daß er auf sein Eigentum verzichtete. Ein Anschlag auf sein Eigentum oder dessen Zerst¨orung zu welchem Zweck auch immer - ja schon der bloße Gedanke daran - erscheint ihm als Sakrileg (Gottesl¨asterung) .” (S.444) ”Die Slawische Sektion (der IAA), die sich zum Materialismus und Atheismus bekennt, wird alle Arten von Gottesdienst und alle offiziellen und inoffiziellen Konfessionen bek¨ampfen und wird, indem sie in Wort und Tat voll f¨ ur die Gewissensfreiheit aller und f¨ ur das heilige Recht jedes einzelnen, seine Ideen zu verk¨ unden, eintritt, alles daran setzen, die Idee einer Gottheit in all ihren religi¨osen, metaphysischen, doktrin¨ar-politischen und juristischen Erscheinungsformen zu ¨ vernichten in der Uberzeugung,daß diese gef¨ahrliche Idee immer noch jegliche Art von Sklaverei gerechtfertigt hat.” (S.657) ”Die b¨ urgerlich gebildete Welt muß die entfesselten Kr¨afte des Volkes bezwingen und unterwerfen, um dann mit Bajonetten, Peitsche und Kn¨ uppel, die nat¨ urlich von irgendeinem Gott gesegnet und von der Wissenschaft f¨ ur vern¨ unftig erkl¨art werden, wie fr¨ uher die Masse der einfachen Arbeiter zur Arbeit zu zwingen ... ” (S.436) ”Wir werden die Gelehrten um ihrer Verdienste willen ehren, aber zur Rettung ihres Verstandes und ihrer Moral sollte man ihnen keinerlei gesellschaftliche Privilegien geben, und ihnen ¨ keine anderen Rechte zugestehen, als das allgemeine Recht auf Freiheit, ihre Uberzeugung, Gedanken und Kenntnisse zu verk¨ unden. Macht darf weder ihnen noch auch sonst jemandem gegeben werden, denn wer Macht besitzt, der wird nach dem unwandelbaren sozialistischen ... Gesetz unweigerlich zum Unterdr¨ ucker und Ausbeuter der Gesellschaft.” (S.562) ”Unter den gr¨oßten Genies hat es bisher nur wenige gegeben, die wirklich etwas f¨ ur das Volk getan haben; die Genies’ in einem Volk sind besonders aristokratisch, und alles, was sie bisher getan haben, diente nur dazu, einer ausbeutenden Minderheit zu Bildung, St¨arke und Reichtum zu verhelfen ... ” (S.643) ”Der moderne Staat, dessen einziges Ziel in der organisierten, gr¨oßtm¨oglichen Ausbeutung der Arbeit des Volkes zugunsten des in wenigen H¨anden konzentrierten Kapitals besteht: und das bedeutet nichts anderes als den Triumpf ... der Hochfinanz, unter dem m¨achtigen Schutz von Finanz-, Verwaltungs- und Polizeigewalt, welche sich in erster Linie auf das hilit¨ar st¨ utzt, ihrem Wesen nach also despotisch ist, auch wenn sie sich gleichzeitig hinter dem parlamentarischen Spiel eines Scheinkonstitu-tionalismus verbirgt.F¨ ur die heutige Kapitalbildung und Bankspekulation bedarf es zu ihrer weiteren und vollst¨andigen Entfaltung jener gewaltigen Zentralisation durch den Staat, wodurch es u ¨berhaupt erst m¨oglich wird, die Millionen und Abermillionen des einfachen arbeitenden Volkes ihrer Ausbeutung zu unterwerfen ... Kapitalbildung und Bankspekulation kommen ... gl¨anzend mit der sogenannten repr¨asentativen Demokratie aus; denn diese moderne Staatsform, die auf der Pseudo-Herrschaft eines Pseudo -Volkswillens basiert, welcher angeblich durch sogenannte Volksvertreter in PseudoVolksversammlungen zum Ausdruck gebracht wird,vereinigt in sich die beiden Voraussetzungen, die Kapitalbildung und Bankspekulation zur Erlangung ihrer Ziele ben¨otigen, n¨amlich staatliche Zentralisation und die Tat- ) sache, daß der Herrschaftsanspruch des Volkes einer intellektuellen Minderheit unterworfen wird, die das Volk unter dem Vorwand, es zu vertreten, regiert und unweigerlich ausbeutet ...Jede Ausbeutung der Arbeit des Volkes ist bitter f¨ ur das Volk, ganz
Hrsg: Jonas Osswald
13/16
Bakunin - Leben und Werk gleich, mit welchen politischen Formen von Pseudovolksherrschaft und Pseudovolksfreiheit sie auch verbr¨amt sei. Kein Volk wird sich ihr gern unterwerfen, auch wenn es von Natur aus noch so f¨ ugsam ist oder noch so gewohnt, der Gewalt zu gehorchen; deshalo ist st¨andiger Zwang, also Polizeiaufsicht und Milit¨argewalt, unumg¨anglich.” (S.428/9) ”Wenn man irgendeine politische Macht ungef¨ahrlich machen will, wenn man sie befrieden, bezwingen will, so gibt es dazu nur ein Mittel - sie vernichten. Die Philosophen haben nicht verstanden, daß es gegen politische Macht keine anderen Garantien geben kann, als die v¨ollige Vernichtung, daß in der Politik, wo M¨achte und Fakten gegeneinander k¨ampfen, wie in einer Arena, Worte, Versprechungen und Eide nichts bedeuten, und das schon allein deshalb, weil jede politische Macht, solange sie wirklich Macht bleibt, sogar ohne und gegen den Willen der Obrigkeit und der Herrscher, die sie lenken, von Natur aus und bei Gefahr der Selbstvernichtung unbeirrbar und um jeden Preis die Verwirklichung ihrer Ziele anstreben muß.” (S.581) ”Alles, was in der Sprache der Politik Recht genannt wird, ist nur die Heiligung eines durch Gewalt geschaffenen Faktums.” (S.604) ”Solange (Reformer) jung und noch nicht durch den Staatsdienst korrumpiert sind, zeichnen sich diese Leute meistens durch ihren ... Demokratismus und Sozialismus aus. Aber kaum haben sie den Dienst angetreten, so fordern eherne Logik der Position und Sachzw¨ange, die charakteristisch sind f¨ ur gewisse hierarchische und politisch g¨ unstige Beziehungen, das Ihre, und die jungen Patrioten werden von Kopf bis Fuß Beamte ... Zudem erweisen sich die Erfordernisse einer gewissen Position immer st¨arker als Gef¨ uhle, Pl¨ane und gute Absichten.” (S.470) ¨ ” ... der Patriarchalismus ... ein Ubel ... gegen das mit allen Kr¨aften zu k¨ampfen, wir verpflichtet sind ... Es hat das ganze ... Leben verformt, hat ihm jenen Charakter starren Stumpfsinns und hoffnungsloser Verkom-” menheit verliehen, den Charakter jener tiefverwurzelten L¨ uge und gierigen Heuchelei und schließlich jener sklavischen Servilit¨at, der dieses Leben so unertr¨aglich macht. Die Familie, die schon von ihrer rechtlichwirtschaftlichen Basis her unmoralisch ist, wurde durch den Despotismus des Ehemanns, des Vaters und dann des ¨alteren Bruders zur Schule triumphierender Gewalt und R¨ ucksichtslosigkeit, t¨atlicher Niedertracht und Unzucht zu Hause ... gewohnt, in der Familie wiederspruchslos zu gehorchen, f¨ahrt er auch in der Gesellschaft fort, zu gehorchen, und sein M¨antelchen nach dem Wind zu h¨angen; er ist geschaffen, Sklave zu sein und zu bleiben ... ” (S.643) ”Im (Staat) ist alles dem einen Interesse unterworfen, n¨amlich der Gr¨oße einer alles bezwingenden Macht ... alles u ute der Industrie, des ¨brige, das Volk, selbst Standesinteressen, die Bl¨ Handels und der sogenannten Zivilisation sind nur Mittel, dieses einzige Ziel zu erreichen. Ohne eine gewisse Zivilisationsstufe, ohne Industrie und Handel kann kein Staat und besonders nicht der moderne existieren, weil der sogenannte nationale Reichtum, der nicht im entferntesten das Volk betrifft, sondern den Reichtum der privilegierten St¨ande, Macht ist.” (S.520) ... jene Wahrheit, die durch die ganze vergangene und gegenw¨artige Geschichte der menschlichen Gesellschaft, der V¨olker und Staaten gest¨ utzt wird, daß n¨amlich das ¨okonomische Faktum immer dem juristischen und politischen Recht vorausgegangen ist.” (S.571) ”Andererseits strebte diese Regierung unmittelbar ihr Hauptziel an - n¨amlich zun¨achst die Grundlage f¨ ur eine preußische Hegemonie in Deutschland zu schaffen ... auf einem Wege, der ihr selbst ungleich vorteilhafter und angenehmer erschien als der Weg liberaler Reformen oder gar der F¨orderung der deutschen Wissenschaft - n¨amlich auf dem Wege der Wirtschaft; dabei mußte sie auf w¨armste Sympathien der ganzen reichen Handels- und Industriebourgeoisie, der ganzen Welt der ... Finanziers in Deutschland stoßen, denn das Gedeihen aller dieser Gruppen verlangte unbedingt eine staatliche Zentralisation in weitestem Maße.” (S.566)
Hrsg: Jonas Osswald
14/16
Bakunin - Leben und Werk 5.7 Internationalismus ”Es gibt nichts Unsinnigeres und zugleich Sch¨adlicheres, nichts Verderblicheres f¨ ur das Volk, als das Pseudo-prinzip der Nationalit¨at als Ideal aller Bestrebungen des Volkes aufzustellen. Die Nationalit¨at ist kein allgemein menschliches Prinzip, sondern eine historische, lokale Tatsache, die wie alle wirklichen und harmlosen Tatsachen unbezweifelbar ein Anrecht auf allgemeine Anerkennung hat. Jedes Volk oder sogar jedes ganz kleine Volk hat sein seinen Charakter, seine besondere Art zu existieren, zu sprechen, zu f¨ uhlen, zu denken und zu handeln; und dieser Charakter, diese Art, die gerade das Wesen der Nationalit¨at ausmachen, ergeben sich aus dem gesamten historischen Leben und aus allen Lebensbedingungen des Volkes.Jedes Volk ist genau wie jedes Individuum nolens volens (ob es will oder nicht) das, was es ist, und hat das unbestreitbare Recht, es selbst zu sein. Darin besteht das ganze sogenannte nationale Recht. Wenn aber ein Volk oder ein Individuum nur auf eine Art und nicht anders existieren kann, so folgt daraus noch nicht, daß das Volk oder das Individuum das Recht oder gar einen Nutzen davon h¨atte, Nationalit¨at bzw. Individualit¨at als besondere Prinzipien hinzustellen, und daß sie sich damit ewig herumschlagen m¨ ußten. Im Gegenteil, je weniger sie an sich selbst denken, und je mehr sie von allgemein- menschlicher Substanz durchdrungen sind, um so mehr belebt sich die Nationalit¨at des einen und die Individualit¨at des anderen und um so mehr bekommen beide Sinn.” (S.463/4) ”Aber die Soziale Revolution kann nicht eine Einzelrevolution eines einzigen Volkes sein; sie ist ihrem Wesen nach eine internationale Revolution, d.h. die Slawen, die ihre Freiheit suchen, m¨ ussen um dieser ihrer Freiheit willen ihre Bem¨ uhungen und die Organisation ihrer nationalen Kr¨afte mit den Bem¨ uhungen und der Organisation der nationalen Kr¨afte aller anderen L¨ander verbinden. Das slawische Proletariat muß massenhaft der Internationalen Arbeiterassoziation beitreten.” (S.466) ”Die Slawische Sektion (der IAA), die die Befreiung der slawischen V¨olker anstrebt, beabsichtigt dabei jedoch keineswegs die Organisation einer besonderen slawischen Welt, die aus Nationalgef¨ uhl V¨olkern anderer Rasse feindlich gesinnt w¨are. Es wird im Gegenteil ihr Bestreben sein, die slawischen V¨olker in die Gesamtfamilie der Menschheit zu u uhren.” (S.558) ¨berf¨
5.8 Zukunft ”Trotz der ungeheuren Entwicklung der modernen Staaten, ja als Folge dieser endg¨ ultigen Entwicklung, die u ¨origens vollkommen logisch und mit unbedingter Notwendigkeit gerade das Prinzip der Staatlichkeit ad absurdum gef¨ uhrt hat, wurde klar, daß die Tage des Staates und der Staatlichkeit gez¨ahlt sind, und daß sich die Zeiten f¨ ur eine v¨ollige Befreiung der Arbeitermassen n¨ahern: die Zeiten ihrer freien gesellschaftlichen Organisation von unten nach oben, ohne jede ”’Einmischung einer Regierung; einer Organisation, die auf freien wirtschaftlichen B¨ undnissen unter den V¨olkern, ungeachtet aller alten Staatsgrenzen und aller nationalen Unterschiede auf der einen Grundlage beruht, und zwar der Grundlage produktiver, ganz vermenschlichter und bei eller Vielfalt v¨ollig solidarischer1 Arbeit.” (S.463) ”Es wird die Zeit kommen, da es keine Staaten mehr gibt, - auf ihre Zerst¨orung sind alle Anstrengungen der Sozialrevolution¨aren Partei in Europa gerichtet - eine Zeit, da sich auf den Tr¨ ummern der politischen Staaten das v¨ollig freiheitliche und von unten nach oben organisierte, unabh¨angige br¨ uderliche B¨ undnis der unabh¨angigen Produktivassoziationen, Gemeinden und regionalen F¨oderationen erheben wird, die unterschiedslos, da freiheitlich, Menschen aller Sprachen und Nationen umfassen.” (S.511) ¨ ”Entsprechend dieser unserer Uberzeugung haben wir weder die Absicht noch die geringste
Hrsg: Jonas Osswald
15/16
Bakunin - Leben und Werk Lust, unserem oder einem anderen Volk ein beliebiges Ideal einer Gesellschaftsstruktur anzuh¨angen, das wir uns angelesen oder selbst ausgedacht haben, sondern wir suchen dieses Ideal ¨ im Volk selbst, in der Uberzeugung, daß die Volksmassen in ihren mehr oder weniger historisch entwickelten Instinkten, in ihren t¨aglichen Bed¨ urfnissen und in ihren bewußten und unbewußten Bestrebungen alle Elemente ihrer zuk¨ unftigen normalen Organisation tragen; und da jegliche staatliche Macht, jede Regierung ihrem Wesen und ihrer Stellung nach außerhalb des Volkes, u ¨ber ihm steht und unbedingt danach streben muß, es einer Ordnung und Zielen zu unterwerfen, die ihm fremd sind, so erkl¨aren wir uns zu Feinden jeglicher Macht einer Regierung und eines Staates, zu Feinden staatlicher Ordnung u ¨berhaupt, und glauben, daß das Volk nur dann gl¨ ucklich..und frei sein kann, wenn es sich selbst sein Leben schafft in einer Organisation von ¨ unten nach oben, mit selbst¨andigen und v¨ollig freien Vereinigungen ohne jede offizielle Uberwachung, nicht aber ohne vielf¨altige und gleich unabh¨angige Einfl¨ usse von Personen und Parteien.” (S.563) ”Die durchgehend f¨oderative Organisation von unten nach oben der Arbeiterassoziationen, Gruppen, Gemeinden, Bezirke und schließlich Provinzen and Nationen - diese einzige Vorraussetzung f¨ ur eine wahre und nicht fiktive Freiheit ... (S.428) ”Wir sind davon u ¨berzeugt, daß sie undenkbar ist und eine L¨ uge bleibt, solange die Menschheit in eine Minderheit von Ausbeutern und eine Mehrheit von Ausgebeuteten unterteilt ist. Wenn ihr die Freiheit f¨ ur alle wollt, dann m¨ ußt ihr mit uns die Gleichheit aller wollen.” (S.624) Zerst¨orung aller Staaten , Vernichtung der bourgeoisen Zivilisation , freie Organisation von unten nach oben durch freie B¨ undnisse , Organisation des von den Fesseln befreiten einfachen Arbeitervolks , der ganzen befreiten M enschheit und Aufbau einer neuen Welt f¨ ur die ganze Menschheit .” (S.635)
Hrsg: Jonas Osswald
16/16